"Der Krieg, er schlägt Wunden, so schwer, so tief [...]"

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"Der Krieg, er schlägt Wunden, so schwer, so tief [...]"
„Der Krieg, er schlägt Wunden, so schwer, so tief [...]“
Siegen 1915 – Szenen aus der Provinz
Lyrik und Propaganda
Als nach der anfänglichen Kriegseuphorie in weiten Teilen der Gesellschaft und dem
vielzitierten „August-Erlebnis“ von 1914 ersichtlich wurde, dass die Ehemänner, Väter, Brüder
und Schwager nicht im Handstreich den Feind besiegen und zum Weihnachtsfest wieder zurück
bei ihren Familien sein würden, galt es auch die „Heimatfront“ neu zu mobilisieren. Zur
glühenden Heldenverehrung der „Feldgrauen“ traten in vielen Haushalten persönliche
Schicksalsschläge und Trauerbewältigung, zum patriotischen Opfersinn die Sorge um das eigene
Wohlergehen und das tägliche Überleben angesichts sich abzeichnender wirtschaftlicher Not,
Lebensmittelrationierungen und immer zahlreicher werdenden Verlustlisten. So wurden auch
im Siegerland Durchhaltewillen und Siegeszuversicht propagiert. Als besonders aktiv erwies sich
der jüdische Lehrer, Kantor und Prediger Simon Grünewald (1870-1939) von der Siegener
Synagogengemeinde. [1]
Abb. 1: Titelseite des Gedichtbands von Simon Grünewald (Stadtarchiv Siegen)
In zahlreichen Gedichten hatte er seit 1914 ganz im vaterländisch-martialischen Duktus „die
große Zeit“ des Weltkriegs in all ihren Ausprägungen thematisiert. Die 1915 von der Siegener
Verlagsbuchhandlung Hermann Montanus edierte Anthologie von 12 Kriegsgedichten liefert ein
anschauliches Beispiel für Pomp und Pathos, mit denen Grünewald den „heil´gen Kampf“ gegen
Deutschlands Feinde heraufbeschwor. Selbst rassistische Ressentiments, wie im siebten
Gedicht „Der gute Kamerad Frankreichs“ („Gorilla und Schimpanse, schützt mir Kultur und
Staat. Auch du, mein Orang-Utan, sei ebenfalls von stund´ an mein guter Kamerad“) wurden
gezielt unter das Lesepublikum gestreut, um die Bevölkerung „aufzurütteln“, wie Grünewald es
im neunten Gedicht „Das europäische Gleichgewicht“ formulierte. [2] Natürlich wurde auch die
Siegerländer Mentalität als geradezu prädestiniert für den ersten weltumspannenden Krieg des
20. Jahrhunderts gewürdigt. In der „Siegener Zeitung“ vom 19. Januar 1915 liest man:
„Da zuckte ein Blitz! Krieg! Es ist Krieg!
‚Nun gilt es, Deutschland, Tod oder Sieg!‘
So brauste ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall!
Das war unsrer Helden Schwur und Schrei;
Der Siegerländer war auch dabei.
Sie bieten dem Feinde mutig die Brust;
Für´s Vaterland kämpfen ist himmlische Lust.
Doch ach, mancher Faust entsinkt das Schwert,
Es ruhen viel Helden in fremder Erd`,
In Heldengräbern Reihe an Reih, Manch Siegerländer ist auch dabei. [...]
Der Krieg, er schlägt Wunden, so schwer, so tief;
Wer war es, der da um Hilfe rief?
Der Krieger, der blutend für´s Vaterland stritt,
Der Arme, der unter der Plünderung litt.
Nun bringt man Gaben in Fülle herbei,
Der Siegerländer in erster Reih`.“ [3]
Kinder und Jugendliche zwischen Laubheusammlung und Parademarsch
In das Visier wurden auch Kinder und Jugendlich genommen. Aus dem Atelier des Fotografen
Curt Sparmann aus Siegen stammt laut Prägestempel eine undatierte Foto-Ansichtskarte, die
einen jungen Knaben in Marineuniform zeigt:
Abb. 2: Knabe in Marineunform der SMS Blücher. Undatierte Aufnahme, wohl vor 1915 (Privatbesitz)
Die Kopfbedeckung des kleinen „Fregattenkapitäns in spe“ verweist auf die am 11. April 1908 in
Kiel vom Stapel gelaufene SMS Blücher. Der Große Kreuzer der kaiserlichen Marine wurde am
24. Januar 1915 in der Nordsee von britischen Seestreitkräften versenkt; auch die Presse im
Siegerland berichtete tagelang ausführlich über den Untergang des deutschen Kriegsschiffs, bei
dem knapp 800 Besatzungsmitglieder ihren Tod fanden. Unabhängig von den Fragen nach
Anlass und Aufnahmedatum legt die Fotografie des jungen Burschen nahe, dass bereits Kinder
verstärkt von der Propagandamaschinerie instrumentalisiert wurden. Anschaulich geht dies aus
einer weiteren Postkarte hervor, die dem Stadtarchiv Siegen im Rahmen der Vorbereitungen
für die voraussichtlich im Mai 2016 im Siegerlandmuseum im Oberen Schloss zu Siegen
stattfindende Ausstellung
Siegen an der „Heimatfront“. 1914-1918: Weltkriegsalltag in der Provinz
überlassen wurde. „Zivildienst“ lautet das zunächst unverfängliche Motto. In Kombination mit
dem Untertitel „Dem Vaterland zu Ruhm und Ehr, stellt hier Jungdeutschland Waffen her!“ wirkt
die bildliche Darstellung zweier junger Mädchen mit Granatenattrappen für den heutigen
Betrachter mehr als befremdlich und unheilvoll. In diesem Zusammenhang sei auf die
Aktivitäten der „nicht waffenfähigen Jugend“ zum Zwecke der „militärischen Vorbereitungen“
verwiesen.
Abb. 3. Propagandakarte „Zivildienst“ (Privatbesitz des Autoren)
„Begeistert schart sich die Jugend, deren Brüder und Väter draußen in Ost und West und auf den
Meeren kämpfen und bluten, in den Jugend-Kompagnien zusammen, bestrebt, Körper und Geist
für die große Aufgabe zu schulen und zu kräftigen, um einst mit den Waffen in der Hand das
Vaterland zu schützen“, wie es diesbezüglich in der Siegener Zeitung vom 30. Januar 1915 heißt.
[4] Im Stadtpark Eintracht, anderen öffentlichen Plätzen und Betriebshöfen traf sich Siegens
Jugend, um mit Holzgewehren „bewaffnet“ unter Drill das Paradieren und Exerzieren zu üben.
Ausdrücklich wurden Eltern und Arbeitgeber aufgefordert, das Engagement der Jugendlichen
ab dem 16. Lebensjahr im Sinne der Obersten Heeresleitung zu fördern: „Wohlan ihr Väter und
Mütter, regt eure Söhne zur Teilnahme an! Seht das Treiben der Jungmannschaft nicht als
Spielerei an, sondern als eine ernste vaterländische Pflicht. Bringt auch dafür Opfer. Seid stolz
auf eure Söhne, wenn sie ihre sittlichen und körperlichen Kräfte für den vaterländischen Dienst
stählern wollen. Wohlan ihr Meister, Lehrherren und Arbeitgeber, gewährt den
Jungmannschaften die Zeit, an den Uebungen teilzunehmen.“ [5]
Am 22. Mai 1915 wurde in der „Siegener Zeitung“ von Siegens Landrat Bruno Bourwieg (18651944) ein Aufruf „zum Beitritt in die Jugendkompagnien“ publik gemacht und der Wortlaut
eines Feldpostbriefs des Generalfeldmarschalls Colmar Freiherr von der Goltz (1843-1916) aus
Konstantinopel (heute Istanbul) abgedruckt. „Jugendliche Begeisterung und Liebe zum
Vaterland, Treue zu Kaiser und Reich sind die Grundlagen soldatischer Tüchtigkeit. Aber sie
müssen unterstützt werden durch einen wohl vorbereiteten, kräftigen, ausdauernden und
abgehärteten Körper [...]. Erreicht die gesamte deutsche Jugend das vorgesteckte Ziel, dann
werden wir künftig, mögen die Feinde auch noch einmal so zahlreich sein wie jetzt,
unbesiegbare Heere ins Feld stellen wie die alten Römer in ihrer Glanzzeit“ [6], so die kühne
Prognose des preußischen Militärtheoretikers, der man auch im Siegerland gerne Folge leistete.
Eigens ließ man die Öffentlichkeit am 18. Juni 1915 wissen, dass sämtliche Jugendkompagnien
im Kreis Siegen fortan mit hölzernen Gewehrattrappen ausgestattet worden seien, um eine
„weit vollkommenere militärische Ausbildung“ zu ermöglichen und jenen Prozentsatz
unverbesserlicher junger Leute „von 16 bis 20 Jahren, die aus nichtigem Grund und
unverantwortlicher Teilnahmslosigkeit der militärischen Vorbereitung noch ferngeblieben sind
[...]“ zur aktiven Teilnahme zu animieren. [7]
Unter reger Anteilnahme der Bevölkerung fanden sich am 29. Juli 1915 immerhin 168
Angehörige der Weidenauer Jugendwehr auf dem Bismarckplatz ein, um den „[...] Felddienst
zur Vorbereitung für den Krieg [...]“ öffentlich zu trainieren. [8] Ähnlich begeistert zeigte man
sich auch in Siegen, wo die 2. Jugendkompagnie der Jugendwehr am Sonntag, den 24. Oktober
1915, „in feldmarschmäßiger Ausrüstung“ und „unter klingendem Spiel und Gesang froher
Marsch- und Kriegslieder“ einen rund 30km langen Marsch von Siegen nach Junkernhees und
wieder retour in die Krönchenstadt unternahm. „Trotz der nicht unerheblichen Marschleistung
traf die Jugendkompagnie bei Eintritt der Dunkelheit in strammer Haltung, festem Tritt und
frohen Mutes wohlbehalten wieder in Siegen ein“, wie es in der Presse hieß. [9]
Auch in Fragen der so genannten „Kriegs-Ersatzwirtschaft“ zählte man auf das Engagement von
Kindern und Jugendlichen. Am 7. August 1915 wurde vom Berliner Ministerium für
Landwirtschaft, Domänen und Forsten „das Einsammeln von Eicheln und Bucheln zwecks
späterer Verfütterung im Stalle und durch die Herstellung von Speiseöl aus Bucheln, deren
Preßrückstände zugleich einen guten Futterkuchen für Rindvieh, Schweine und Schafe liefern“
verfügt. Die Sammeltätigkeit „im Interesse der Volksernährung“ sei primär von Frauen und
Kindern durchzuführen. Dr. Bruno Bourwieg als Landrat des Kreises Siegen veröffentlichte die
Bekanntmachung knapp drei Wochen später mit dem Vermerk, dass sich alle Interessierten an
die Oberförstereien zu wenden hätten, um die Erlaubnisscheine zu erhalten. [10] Tatsächlich
schien es Behörden und Kommunalverwaltungen gleichermaßen geboten, hauptsächlich
Schulkinder zum Einsatz zu bringen, um die Bestände an Viehfutter und Pflanzenölen durch die
gezielte Ernte der Früchte von Laubholzbäumen (Eiche, Buche, Rosskastanie, Linde und Ahorn)
zu vermehren, wie es Anfang Oktober 1915 hieß. [11]
Auch in Stadt und Kreis Siegen wurden Schulkinder aller Altersstufen bis Kriegsende
aufgefordert, sich an diesen Sammelaktionen zu beteiligen.
Abb. 4: Plakat „Sammelt Laubheu“ (Stadtarchiv Siegen)
Versorgungsengpässe und Nahrungsmittelknappheit
Bereits Mitte 1915 herrschte in vielen Haushalten Armut. Schon am 19. Oktober 1914 hatte das
christliche Gewerkschaftskartell Petitionen an die Kommunalbehörden von Stadt und Kreis
Siegen eingereicht, um gegen die rigiden Preissteigerungen vorzugehen und Maßnahmen gegen
die rigide Teuerungsrate von Lebensmitteln zu fordern. Die Preise für viele Nahrungsmittel
waren auch im Siegerland vielfach um 100 % gestiegen. Arbeiterbevölkerung und
Kriegerfamilien wurde zudem durch Arbeitslosigkeit und Minderverdienst auf harte
Belastungsproben gestellt. [12] Noch vor dem Kriegsausbruch hatte das deutsche Kaiserreich
zwischen 20 und 25 Prozent seiner Nahrungsgüter, Futtermittel und Düngeprodukte zur
Steigerung des Bodenertrags aus dem Ausland importiert. Infolge der englischen
Handelsblockade ab Herbst 1914 gingen diese Einfuhren drastisch zurück. Parallel brach aber
auch die inländische Agrarproduktion um 30-40 Prozent ein, da wegen der Einberufungen zum
Militär Arbeitskräfte in der Landwirtschaft fehlten und die Heeresleitung Pferde
beschlagnahmen ließ, die dringend in der Erntezeit benötigt wurden. [13]
Die Konsequenz waren Nahrungsmittelknappheit und Lebensmittelrationierungen,
einhergehend mit Hamsterkäufen, Futterdiebstählen und einer sukzessiven Reduzierung des
Warenangebots. Preisanstieg und Wucher hatten die mit zunehmender Kriegsdauer völlig
überforderten Behörden kaum etwas entgegenzusetzen. Beispiel Karlsruhe: Im Sommer 1915
waren höherwertigere Nahrungsmittel für viele zu Luxus geworden. So war der Preis für ein
Kilogramm Brot von Juni 1914 bis Juni 1915 von 0,27 Reichsmark (RM) auf 0,42 RM gestiegen;
der Kilopreis beim Schweinefleisch erhöhte sich unterdessen von 1,60 RM auf 3,10 RM, der
Preis für den Zentner Kartoffeln wuchs von 6,38 RM auf 11,50 RM. Vor allem die Verbraucher in
den großen Städten begehrten gegen diese starke Preiserhöhung wichtiger
Grundnahrungsmittel auf. Eine erste Antwort der Behörden bestand in der Festsetzung von
Höchstpreisen zunächst für einzelne landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Getreide. Bald jedoch
wurden immer mehr Güter der behördlichen Preisbindung unterworfen; auf Getreide folgten
Kartoffeln, Zucker, Butter und Fleisch, bis schließlich alle weiteren Grundnahrungsmittel
einbezogen waren. [14] Die Folgen dieser Preispolitik betrafen auch Stadt und Kreis Siegen:
Preisentwicklung ausgesuchter Lebensmittel in der Stadt Siegen 1914 – 1918 (in Mark)
Lebensmittel
Oktober 1914
März 1915
Oktober 1915
März 1916
März 1917
Rindfleisch
(mindere
Qualität), je
Pfund
Butter, je Pfund
Eier, je Stück
Limburger Käse,
je Pfund
0,45 – 0,50
0,60
0,70 – 1,00
2,20
3,30
2,55
0,20
1,00
2,65 – 3,70
1,60
0,11
0,75
Oktober
1917
Oktober 1918
0,39
2,20
3,20 – 3,76
0,50
(Quelle: Auswertung Presseberichterstattung Siegener Zeitung)
Mit der Brotgetreideordnung vom 25. Januar 1915 und der Einführung einer “Brotkarte“ wurde
ein erster Schritt zur Übertragung der öffentlichen Kriegsernährungswirtschaft auf die
Kommunalverbände (in Preußen bestehend aus allen Landkreisen und kreisfreien Städten)
getan. Das Amt Weidenau informierte zum Beispiel seine Bewohner über das Inkrafttreten zum
1. Februar 1915 und zeigte an, dass fortan „die im Reiche vorhandenen Vorräte von Weizen,
Roggen, allein oder mit anderer Frucht gemischt, auch ungedroschen, für die Kriegsgetreide
Gesellschaft m.b.H. in Berlin, die Vorräte an Weizen, Roggen, Hafer und Gerstenmehl für den
Kommunalverband beschlagnahmt [sind], in dessen Bezirk sie sich befinden.“ [15]
Nicht nur für den Kreis Siegen hatte die neue Bestimmung zur Folge, dass gemäß § 1 nur noch
„Einheitsbrote“ zubereitet werden durften, und zwar Kriegsbrot (Roggenbrot) mit höchsten
80% Roggenmehl und 20% Weizenmehl, und Vollkornbrot (Schwarzbrot, Schrotbrot) mit einem
Verkaufsgewicht von drei oder sechs Pfund. Daneben wurde nur noch die Herstellung von
Weißbrot in Form eines Brötchens mit höchstens 70% Weizenmehl und 30% Roggenmehl
genehmigt, zudem Zwieback.
Abb. 6: Brot- und Mehlbezugskarte des Kreis Siegen vom 9.-15. Mai 1915 (Stadtarchiv Siegen)
Nach § 2 wurde die Abgabe und Entnahme von Brot und Mehl an und durch die Konsumenten
auf 3 ½ Pfund Brot oder 1400 Gramm Mehl wöchentlich für alle Personen über 5 Jahren sowie 1
¾ Pfund Brot oder 700 Gramm Mehl für Kinder unter 5 Jahren beschränkt. [16] Ausdrücklich
untersagt wurde sowohl Bäckern und Konditoren als auch Privathaushalten die Herstellung von
Kuchen. Wohl auch aus diesem Grund trieb der Umgang mit den behördlichen Bestimmungen
zuweilen skurrile Blüten. Wenige Wochen nach Einführung der Brotbücher galten die
zugewiesenen Mengen durchaus als „wohl für einen jeden hinreichend“ [17], aber
Gastwirtschaften wurden ausdrücklich ermahnt, keine „Schnittchen oder Butterbrote“ mehr für
einheimische oder „kreiseingesessene“ Gäste zu schmieren. „Wer dort Brot genießen will, hat
es sich mitzubringen. Die Wirte, die dieser Vorschrift entgegenhandeln, machen sich strafbar“,
heißt es in einer Pressenotiz. [18]
Die bereits Mitte 1915 zu beobachtende Hinwendung zu Surrogaten, oftmals minderwertigen
Ersatzlebensmitteln, und alternativen Rezeptvorschlägen zur Speisezubereitung können als
weiteres Indiz für die alarmierende Situation bei vielen Verbrauchern herangezogen werden.
So ließ man die Hausfrauen im Siegerland etwa wissen, Spinatgerichte doch aus
Rhabarberblättern herzustellen. [19] Daneben bewarb die Tagespresse am 16. Oktober 1915
die Herstellung so genannter “Sparbutter“, um dem Fettmangel entgegenzuwirken. Dazu
sollten 250 Gramm Butter mit 140 Gramm Weizen- oder Kartoffelmehl sowie ¾ Liter Milch und
einem Ei aufgekocht werden, um aus dieser Mischung quasi eine Verdopplung privater
Buttervorräte erzielen zu können. [20]
Auf wenig Gegenliebe stieß die Erzeugung von “Kunsthonig“: 5 Pfund Zucker wurden in 5 Liter
Wasser gelöst, der Mischung dann 50 Tropfen Milchsäure zugefügt und das Ganze schließlich
auf offenem Feuer eingedampft. [21] Die klebrige Masse erfreute sich keiner allzu großen
Beliebtheit und galt insbesondere unter den Soldaten im Felde, die diese „Spezialität“ als
Liebesgabe an die Front geschickt bekamen, als wenig appetitanregender „Magenbeton“.
Abb. 5: Eine 1917 gelaufene Postkarte mit dem Motiv „Magenbeton“ (Privatbesitz)
Ohnehin erwies sich die Qualität der Surrogate immer wieder als Besorgnis erregend. Eher
harmlos wirkt noch die Meldung, wonach im November 1915 Stichproben des
Nahrungsmitteluntersuchungsamtes ergeben hatten, dass in 14 von 25 entnommenen Fällen
gepanschte Milch attestiert werden musste. Die Lebensmittelkontrolleure sprachen von einer
„erheblichen Milchverfälschung durch Wasser“ [22], die naturgemäß zu Missstimmung in der
Bevölkerung führte. Ein ganz anderes Kaliber war allerdings die akute Gesundheitsgefahr solch
zweifelhafter Produkte. Anfang September 1915 mussten die Verantwortlichen die
Öffentlichkeit im Kreis Siegen sogar vor dem Verzehr von minderwertigen Kakaowürfeln
warnen, denn „[...] infolge des großen Feuchtigkeitgehaltes sind sämtliche Würfel mehr oder
weniger stark mit Schimmelpilzen behaftet und wird allein schon aus diesem Grunde vor Ankauf
derselben gewarnt.“ [23]
Neben solchen Meldungen verunsicherte im Sommer 1915 auch der stetige Anstieg von
Gartendiebstählen die Menschen. In Zeiten akuter Versorgungsengpässe stellte das Plündern
privater Kartoffeläcker oder Gemüsefelder beziehungsweise der wiederholte Einbruch in die
Kantine eines Siegener Industriebetriebs [24] weder Mundraub noch ein Kavaliersdelikt dar.
„Lebhafte Klagen werden in neuester Zeit wieder geführt über die häufigen Obst- und
Gartendiebstähle. Es vergeht keine Nacht, in der nicht Obstbäume geplündert werden. Vielfach
werden hierbei ganze Aeste abgerissen und das unter den Bäumen angepflanzte Gemüse
zertreten“, monierte die Lokalredaktion der Siegener Zeitung Ende August 1915. [25]
Die schleichende Erosion der öffentlichen Ordnung und die Verarmung ohnehin
minderbemittelter Familien belasteten den gesellschaftsübergreifenden Solidaritätsgedanken.
Es schwingt nicht wenig Neid und Missgunst in den Zeilen, als am 19. Februar 1915 über die
Festnahme eines „körperlich sehr rüstigen Rentners“ in der Stadt Siegen berichtet wurde: „Im
Besitze des Mannes befand sich ein ganzer Haufen von Butterbroten, teilweise mit Schinken und
Wurst belegt, die sich der Mann hier zusammengebettelt hatte. Jedenfalls wäre es richtiger
gewesen, den Mann auf seinem Bettelgange an seine Pflicht zu arbeiten zu erinnern, als seine
Faulheit durch Verabreichen von Almosen zu stärken.“ [26]
Die Sorgen und Nöte vieler Menschen wurden offenbar nicht selten von Trickbetrügern
ausgenutzt. Die Rechtsauskunftstelle der Siegener Stadtverwaltung ließ am 28. April 1915
vermelden: „Das Unwesen der Wahrsagerinnen und Kartenlegerinnen hat während des Krieges
in erschreckendem Maße zugenommen. Dieses Gesindel bedeutet nicht nur wegen der
Ausplünderung schwacher Wesen eine große Gefahr für die Volkswohlfahrt, es trägt auch
wesentlich dazu bei, die mit vollem Recht im deutschen Volke herrschende Zuversicht auf einen
glücklichen Ausgang des Krieges zu untergraben. [...] Auch der Unfug, der mit dem Verbreiten
von abergläubischen Gebeten, von Haus- und Schutzbriefen, von Kettenbriefen und Kugelsegen
getrieben wird, muß im öffentlichen Wohle wirksam bekämpft werden.“ [27]
Ein Aufschrei der Empörung ging sogar durch die Siegener Öffentlichkeit, als am 13. Juli 1915
das Treiben einer „Schwindlerin“ aufgedeckt wurde, die sich offenkundig über einen längeren
Zeitraum auf Kosten der Allgemeinheit bereichert hatte und die „[...]die Bahnhofsmission
brandschatzte. Um das Mitleid zu erregen, gab sie an, daß ihr Mann in russischer
Gefangenschaft sei. Auf diese Weise ist es ihr gelungen, namhafte Barbeträge und Unterkunft
zu erlangen.“ [28]
Kriegsgefangene
Auch die Stationierung zahlreicher russischer, belgischer und französischer Kriegsgefangenen in
Siegener Industriebetrieben barg in der öffentlichen Wahrnehmung ein gewisses
Konfliktpotenzial. Am 30. Januar 1915 wurden der Bremerhütte in Geisweid einhundert
gefangene russische Soldaten zugeteilt, „[...] die auf der Hütte beschäftigt werden sollen. Die
Leute erhalten Wohnung und Verpflegung auf der Hütte und werden dort von Soldaten des
Landsturm-Bataillons in Siegen bewacht.“ [29] Auch die Geisweider Eisenwerke profitierten
vom Einsatz Kriegsgefangener. So vermeldete die „Siegener Zeitung“ in ihrer Ausgabe vom 3.
April 1915, das zu diesem Zeitpunkt einhundert kriegsgefangene Franzosen in den
Unternehmen beschäftigt seien, übrigens „[...] zur eigenen und der Zufriedenheit der
Werksverwaltung.“ [30] Die Zwangsarbeiter vieler Siegerländer Unternehmen wurden vom
zentralen Kriegsgefangenenlager Meschede, das zum Wehrbereich des XVIII. Armeekorps mit
Sitz in Frankfurt am Main gehörte [31], auf die einzelnen Betriebe verteilt. In Niederschelden
trafen von dort etwa am 8. April 1915 mehr als 30 kriegsgefangene Franzosen ein, „[...] um auf
dem Hochofenwerk der Charlottenhütte beschäftigt zu werden.“ [32]
Abb. 7: Französische Kriegsgefangene in Geisweid auf einer fotografischen Ansichtskarte (Laufzeit 14.05.1915).
Freundliche Leihgabe von Torsten Thomas, Wilnsdorf
Natürlich verlief der Kontakt unter den Vorzeichen der Kriegsgefangenschaft sowie die
Berührung mit der Siegerländer Zivilbevölkerung nicht immer harmonisch. Denunziantentum
und gegenseitiges Misstrauen prägten den Umgang. Anfang April 1915 gerieten zwei Franzosen
in Streit, in dessen Verlauf ein Kontrahent sein Pendant öffentlich beschuldigte, in Frankreich
vier Deutsche erschossen zu haben. „Das Gericht wird die Angelegenheit in die Hand nehmen“,
kommentierte die Presse lapidar. [33]
Ende November 1915 wurde ein 15jähriger Jugendlicher aus Siegen sogar zu einer
Gefängnisstrafe von drei Wochen verurteilt, weil er einem französischen Kriegsgefangenen der
Geisweider Eisenwerke eine Taschenlampe verkauft hatte. Da dem Franzosen später damit die
Flucht gelang, musste sich der junge Mann wegen seines „würdelosen Verhaltens“ vor der
Strafkammer verantworten. [34]
Abb. 8: Streng wurde der Umgang mit Kriegsgefangenen reglementiert (Stadtarchiv Siegen)
Dieses „würdelose Verhalten“ lässt sich jedoch ebenso auf einen Teil jener Besucher in der
Stadt Siegen übertragen, die ein Jahr zuvor am 7. September 1914 dem Durchzug von 93
schwer verletzten französischen Kriegsgefangenen beigewohnt hatten. Auf ihrem Weg zum
Kriegsgefangenenlager Ohrdruf in Thüringen hatte der Tross einen Zwischenstopp in Siegen
einlegen müssen, um in den hiesigen Lazaretten respektive im Kaisergarten, in der
hergerichteten Turnhalle des Siegener Turnvereins sowie im Stadt- und Marienkrankenhaus
medizinisch versorgt werden zu können. Die Presse berichtete, dass eigens abgestellte
Schutztruppen und sogar die Feuerwehr für Ruhe sorgen mussten, um dem Massenandrang
Schaulustiger in der Bahnhofstraße Herr zu werden und die drängelnden Neugierigen zur Räson
zu bringen. Bei dieser Gelegenheit soll es in der Emilienstraße sogar zu Beleidigungen und
anderen verbalen Entgleisungen gegenüber den notleidenden Kriegsversehrten aus Frankreich
gekommen sein. Gerechtfertigt wurde dies unter anderem mit Verweis auf die bedauerlichen
Affinitäten der „Damenwelt“ zum Exotischen. „Es sind natürlich nur solche, die auch den
schwarzen, krausköpfigen Pförtner eines Kinos oder den kratzenden Primas einer
Zigeunerkapelle zum Gegenstande gelegentlicher Schwärmerei auserkiesen, oder die auf die
erste Gelegenheit lauern, ihre mühsam erlernten französischen Brocken endlich einmal an den
Mann zu bringen.“ [35] Man drohte sogar damit, solche „Damen“ zum Wohle des Volkes
zukünftig öffentlich bekannt machen – und damit an den Pranger stellen zu wollen.
Immer wieder wurden auch während des gesamten Jahres 1915 Undiszipliniertheiten und
Sensationsgier – übrigens nicht nur Jugendlicher – bei solchen Anlässen kritisch beschrieben.
Nachdem am 18. April 1915 auf dem Hermelsbacher Friedhof ein seinen Verletzung erlegener
Angehöriger des 1. Bayerischen Feldartillerie-Regiments sowie ein französischer
Kriegsgefangener mit militärischen Ehren beigesetzt wurden, empörte man sich über das
rücksichtslose Benehmen des Publikums, das sich „[...] in ganz ungehöriger Weise benommen
[...]“ habe. Über Schutzhecken und Sträucher sei geklettert worden und man habe im Zuge
dessen ganze Gräber und deren Bepflanzung zertreten, nur um sich einen vermeintlichen Platz
„an der Sonne“ zu reservieren. Sogar von „Ausschreitungen“ unter den „Gaffern“ war die Rede.
[36]
Fazit
Der Marsch in die Hungerkatastrophe des so genannten “Kohlrübenwinters“ 1916/17 (auch
bekannt als “Steckrübenwinter“) hatte bereits 1915 begonnen und manifestierte sich auch im
Kreis Siegen. Propagandistisch gefärbte Durchhalteparolen und Kriegslyrik im Stile Simon
Grünewalds sowie dubiose „Ersatzlebensmittel“ von minderwertiger Qualität machten viele
Siegerländer Familien schon längst nicht mehr satt. Neben der deprimierenden Lage auf dem
Lebensmittelmarkt sorgten sukzessive noch der Brennstoff- und Kohlemangel für eine
Verelendung der breiten, frierenden Masse. Die offiziell festgelegten Mengen der nur noch
gegen Lebensmittelkarten erhältlichen Grundversorgungsmittel waren so gering, dass ihr
Kalorienwert bis Mitte 1917 auf unter 1.000 kcal pro Person sank. [37] Die dramatische
Versorgungslage und Nahrungsmittelknappheit mündete im offenen „Kampf in den Küchen“,
wie es das Nachrichtenmagazin “Der Spiegel“ bezeichnete. Eingedenk der 763.000 Toten, die
allein in Deutschland während der vielzitierten „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ von 1914
bis 1918 an Hunger und Unterernährung starben, ein beklemmendes Szenario.
Die Vorboten des Endes aller Euphorie waren also auch im Siegerland allmählich zu spüren. Die
unverkennbare Zersetzung des gesellschaftlichen Gefüges durch Hunger und soziale Not,
Fragen der öffentlichen Sicherheit infolge zunehmender Kriminalität und die chauvinistische
Einstellung vieler Siegerländer gegenüber den Kriegsgefangenen aus anderen Nationen prägten
das Leben im Jahr 1915.
Christian Brachthäuser, Stadtarchiv Siegen
Quellenangaben:
[1] Zur Biografie von Simon Grünewald vgl. Hartmut PRANGE, Simon Grünewald. Lehrer, Prediger und
Kantor in Siegen (Dokumentation der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland
e.V.). Siegen 2012.
[2] Simon GRÜNEWALD, Die große Zeit 1914/15. Kriegsgedichte. Siegen 1915.
[3] Siegener Zeitung Nr. 15 vom 19.01.1915.
[4] Siegener Zeitung Nr. 25 vom 30.01.1915.
[5] Ebenda.
[6] Siegener Zeitung Nr. 118 vom 22.05.1915.
[7] Siegener Zeitung Nr. 140 vom 18.06.1915.
[8] Siegener Zeitung Nr. 176 vom 30.07.1915
[9] Siegener Zeitung Nr. 251 vom 26.10.1915.
[10] Siegener Zeitung Nr. 200 vom 27.08.1915.
[11] Siegener Zeitung Nr. 232 vom 04.10.1915.
[12] Karl BERINGER, Der Christliche Metallarbeiterverband und sein Wirken im Siegerland. Freiburg im
Breisgau, Univ., Diss., [o.J.], S. 125.
[13] Ebenda.
[14] Ludger GREVELHÖRSTER, Der Erste Weltkrieg und das Ende des Kaiserreiches. Geschichte und
Wirkung. Münster 2004, S. 70.
[15] Siegener Zeitung Nr. 27 vom 02.02.1915.
[16] Siegener Zeitung Nr. 31 vom 06.02.1915.
[17] Siegener Zeitung Nr. 67 vom 20.03.1915.
[18] Ebenda.
[19] Siegener Zeitung Nr. 116 vom 20.05.1915.
[20] Siegener Zeitung Nr. 243 vom 16.10.1915.
[21] Siegener Zeitung Nr. 228 vom 29.09.1915.
[22] Siegener Zeitung Nr. 263 vom 09.11.1915.
[23] Siegener Zeitung Nr. 211 vom 09.09.1915.
[24] Siegener Zeitung Nr. 170 vom 23.07.1915.
[25] Siegener Zeitung Nr. 198 vom 25.08.1915.
[26] Siegener Zeitung Nr. 42 vom 19.02.1915.
[27] Siegener Zeitung Nr. 98 vom 28.05.1915.
[28] Siegener Zeitung Nr. 161 vom 13.07.1915.
[29] Siegener Zeitung Nr. 26 vom 01.02.1915.
[30] Siegener Zeitung Nr. 78 vom 03.04.1915.
[31] Josef Georg POLLMANN, Kriegsgefangene des Ersten Weltkrieges 1914-1918 in den Altkreisen
Arnsberg, Brilon, Meschede und Olpe, in: Südwestfalenarchiv 8 (2008), S. 255-279.
[32] Siegener Zeitung Nr. 83 vom 10.04.1915.
[33] Ebenda.
[34] Siegener Zeitung Nr. 274 vom 23.11.1915.
[35] Siegener Zeitung Nr. 210 vom 08.09.1914.
[36] Siegener Zeitung Nr. 90 vom 19.04.1915
[37] GREVELHÖRSTER (wie Anm. 14), S. 93.
[38] Michael SCHMIDT-KLINGENBERG, Der Kampf in den Küchen, in: Spiegel Special 1 (2004), S. 90-102.