Last und Freude des Kehrens (Von der verlorenen Drachme)

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Last und Freude des Kehrens (Von der verlorenen Drachme)
Gt 08020 / p. 624 / 1.10.2007
Last und Freude des Kehrens
(Von der verlorenen Drachme)
Lk 15,8-10
([3] Er erzählte ihnen aber die folgende Parabel:)
…
(8) Oder welche Frau, die zehn Drachmen hat, wird* nicht, wenn sie eine
Drachme verliert, ein Licht anzünden und das Haus kehren und sorgfältig so
lange suchen, bis sie sie findet?
(9) Und wird, wenn sie sie dann gefunden hat, nicht ihre Freundinnen und
Nachbarinnen zusammenrufen und sagen: Freut euch mit mir, denn ich habe die Drachme gefunden, die ich verloren hatte?!
(10) In gleicher Weise, sage ich euch, herrscht Freude bei Gott und den Engeln** über einen Sünder oder eine Sünderin, der oder die einen Neuanfang
macht.
* Die Verbformen stehen im Präsens, d. h., es ist keine zukünftige Handlungim Blick,
sondern das, was unter den beschriebenen Umständen jederzeit geschehen wird (= zu
geschehen pflegt).
** Wörtlich: »vor den Engeln Gottes« (Begründung der Übersetzung im Text)
Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit)
Die Parabel von der verlorenen Drachme erweist sich durch ihren Beginn mit »oder« (ˇ
ē) als zweite Hälfte eines Doppelgleichnisses, das weitestgehend parallel strukturiert erst
von der Suche nach einem verlorenen Schaf und dann nach einer verlorenen Drachme
erzählt (Lk 15,3.4-7.8-10). Lukas hat das Doppelgleichnis vermutlich selbst zusammengestellt aus thematisch verwandten Stücken, die er in seinem Sondergut (Drachme) und
der Logienquelle vorfand (vgl. zum verlorenen Schaf Mt 18,12-14 und die Auslegung im
Q-Abschnitt dieses Bandes). Zusammen mit der ebenfalls aus dem Sondergut stammenden Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) gestaltete der Evangelist im Zentrum
des Lukasevangeliums so eine Parabeltrilogie, die der Suche Gottes nach dem Verlorenen
gewidmet und die durch eine redaktionell gestaltete Situationsangabe Lk 15,1-2 als Gesprächsangebot an zwei Kommunikationspartner gestaltet ist, die unterschiedlicher nicht
sein könnten. Zum einen richtet Jesus sich an die Frauen und Männern, die als »Zöllner
und Sünder« verrufen sind und scharenweise kommen, um ihn zu hören (vgl. das übertreibende p€nte@ pantes = alle in V. 1). Zugleich antwortet er auf das dadurch hervorgerufene »Murren« der Pharisäer und Schriftgelehrten, deren Kritik in wörtlicher Rede
wiedergegeben wird: »dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen« (V. 2). Die folgenden Parabeln sind daher einerseits als Verteidigung der akzeptierenden Haltung Jesu zu
verstehen, die ihren stärksten Ausdruck in der fröhlichen Tischgemeinschaft fand. Sie
haben aber andererseits in den anwesenden Menschen, die sich selbst im Munde der
Frommen als »Sünderinnen und Sünder« wiederum aus der Gemeinschaft des Gottesvolkes ausgegrenzt fanden, Zuhörer, denen er im Medium der Parabel zu verstehen gibt,
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Last und Freude des Kehrens Lk 15,8-10
wie seine Annahme (prosdffcesqai prosdechesthai) theologisch begründet ist: im Wesen
Gottes nämlich, der sich darüber freut, wenn Menschen zu ihm zurückfinden und »einen
Neuanfang machen«, womit hier das metanoe…n metanoein von V. 10 (siehe auch 15,7)
übersetzt wurde (mehr dazu s. u.). Gegenüber den inhaltlich verwandten Aussprüchen
Jesu, die seine göttliche Sendung beschreiben als »suchen, was verloren ist« (Lk 19,10)
bzw. »Sünderinnen und Sünder rufen zur Umkehr« (Lk 5,32), tragen die Parabeln, die
mit dem Wesen Gottes argumentieren, mehr zur narrativen Christologie des Evangeliums bei, indem sie zeigen: »Das Verhalten Jesu ist das offenbar werdende Verhalten Gottes.« (Trilling 1968,120; ähnlich Holtz 1998,169).
Die Parabel selbst ist als eine lange rhetorische Frage formuliert, die den Zuhörenden einen Alltagsfall (mit Problem in V. 8 und Reaktion auf die Lösung in V. 9) vorlegt
und sich dabei der Zustimmung gewiss weiß. Abgeschlossen wird sie in V. 10 durch eine
mit o˜tw@, lffgw ¢m…n (houtōs legō hymin – so, sage ich euch) eingeleitete Anwendung,
durch die Aspekte des Geschilderten auf die Sphäre Gottes und der Engel übertragen
werden, wobei allerdings Verschiebungen gegenüber den Schwerpunkten der Erzählung
zu sehen sind (s. u.).
Betrachten wir zunächst die Parabel: Protagonistin ist eine Frau, die zehn Drachmen besitzt und eine davon im Haus verloren hat. Diese Ausgangssituation und die Frageform (»welche Frau würde nicht …«) evoziert eindeutig eine Identifikation der Hörerinnen und Hörer mit der Frau, nicht etwa mit der Drachme, woran die Deutung von
Weder (4 1990, 251) scheitert, der Hörer solle »sich selbst als Verlorenen verstehen« lernen
und davon befreit werden »aus eigener Kraft seine Verlorenheit zu überwinden«. Die Frau
tut mit großer Sorgfalt, was nötig ist, um die Drachme zu finden, sie zündet Licht an und
kehrt das Haus (siehe dazu die sozialgeschichtliche Analyse). Nachdem sie die Drachme
gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen (die griechischen Formen
zeigen, dass es sich hierbei ausschließlich um Frauen handelt) und fordert sie zur Mitfreude auf. Diese Aufforderung zur Mitfreude, der keine erzählerische Realisation mehr
folgt, ist als Appell an die LeserInnen zu verstehen, sich mit der Frau und ihren Freundinnen zu freuen (Güttgemanns 1971, 6; Heininger 1991, 142). Den Aspekt der Freude
nimmt die Deutung auf und richtet den Blick nunmehr auf die Freude »vor den Engeln
Gottes über jeden Sünder, der umkehrt«. An diesem Punkt bietet die Parabel nun zwei
Identifikationsmöglichkeiten an, die den in Lk 15,1-2 genannten Zuhörerkreisen entsprechen. Die als »Zöllner und Sünder« stigmatisierten Männer und Frauen, die zu Jesus
gekommen sind, und diejenigen RezipientInnen, die sich – zu Recht oder Unrecht – mit
ihnen identifizieren, dürfen sich als von Gott nicht aufgegebene, vielmehr gesuchte SünderInnen erkennen, deren Umkehr Freude im Himmel auslöst. Die Pharisäer und Schriftgelehrten und alle sich mit ihnen – zu Recht oder Unrecht – identifizierenden RezipientInnen werden aufgefordert, in die Freude der Engel über die Umkehr von Sünderinnen
und Sündern einzustimmen. Eine dritte Möglichkeit lässt die Parabel nicht zu, will man
sie nicht selbst in Frage stellen, etwa, indem man darauf hinweist, dass doch von einem
»Sündigen« und einer »Umkehr« der Drachme keine Rede war. Hier liegen eindeutig Verschiebungen zwischen dem besprochenem Fall und den zur theologischen Übertragung
angebotenen Elementen, doch sollten diese als Absicht des Autors bewertet werden, die in
der Gesamtauslegung noch näher zu befragen ist (s. u.). V. 10 hat außerdem im Gesamtkontext von Lk 15 klar die Funktion der Hinführung und Überleitung zur Parabel vom
verlorenen Sohn, dem paradigmatischen Sünder, der umkehrt (Nolland 1993a, 775).
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Parabeln im Lukasevangelium
Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich)
Es besteht in der Forschung Einigkeit darüber, dass die Heldin der Parabel extrem arm
ist. Darauf weist das ärmliche Haus hin, das keine Fenster hat und daher so dunkel ist,
dass zum Suchen Licht gemacht werden muss. Das Fegen hat wahrscheinlich den Zweck,
die Münze auf dem dunklen Fußboden klappern zu hören oder sie bei Bewegung im
Lichtschein glänzen zu sehen (so schon Jülicher 2 1910, 321, wenig plausibel ist dagegen
die Annahme von Derrett 1979/80, 45, dass hier Assoziationen an die Reinigung der
Häuser zu Passa geweckt werden sollen). Vor allem aber ist es der Besitz von nur zehn
Drachmen, der die Frau als arm kennzeichnet und die Intensität ihrer Suche sowie die
große Freude des Findens verständlich macht. Der Wert einer Drachme schwankte, zur
Zeit Neros war er dem eines Denars gleich und dürfte somit etwa dem Tagelohn eines
männlichen Arbeiters entsprochen haben (vgl. Mt 20,1-16). Steht aber die Armut der
Frau als sozialer Hintergrund des Gleichnisses fest, dann klärt sich die in jüngerer Zeit
diskutierte Frage nach der Rolle des Geldes. Kähler bestreitet, dass es als Zahlungsmittel
des täglichen Bedarfs dient und unterstreicht die Rolle als »Notgroschen«, die Funktion
als »Wertaufbewahrungsmittel«. Zu vergleichen sei verlorener Familienschmuck (Kähler
1995, 111). Möglicherweise handelt es sich auch um die Aussteuer der Frau, wie sie zum
Teil in dem mit Münzen besetzten Kopfschmuck der Braut zur Schau gestellt wurde (so
Schröder 1981, 145-155). Dies würde den besonderen Wert der Münze unterstreichen.
Dem ist entgegenzuhalten, dass die Summe wohl zu niedrig ist, um von einem echten
Notgroschen oder gar von Mitgift zu sprechen, denn länger als wenige Tage würden die
10 Drachmen nicht vorhalten. Plausibler ist die Rekonstruktion von L. Schottroff (3 2001,
138-151), die zeigt, dass gerade die verarmten Bevölkerungsschichten von Geld besonders abhängig waren, weil sie kein eigenes Land mehr besaßen und daher keine Lebensmittel(vorräte) aus eigenem Anbau verzehren oder verkaufen/eintauschen konnten. Sie
waren darauf angewiesen, Lohnarbeit anzunehmen und das tägliche Brot einzukaufen,
weswegen es auch in den kleinen Ortschaften Bäcker gab (das setzen auch Mk 6,36parr.;
Joh 4,8.31 voraus). Die Frau mit den zehn Drachmen ist daher wahrscheinlich am ehesten den Tagelöhnern von Mt 20,1-16 zu vergleichen, mit dem entscheidenden Unterschied, dass Lohnarbeit von Frauen – z. B. in der Textilherstellung – nur etwa halb so
gut bezahlt wurde wie die Arbeit von Männern (zu den Löhnen vgl. L. Schottroff 3 2001,
141-144). Erschwerend kommt hinzu, dass Lohnarbeit nach Bedarf, d. h. unregelmäßig
vergeben wurde. Wenn also die Frau im Gleichnis 10 Drachmen besitzt, dann dürfte dies
alles sein, was ihr zum Leben zur Verfügung stand, bis sie zu einem nicht sicher einschätzbaren Zeitpunkt wieder etwas verdienen konnte. Es sind genau diese kleinen Leute, die
wirklich »von der Hand in den Mund« lebten, die Jesus ermahnte: »Sorgt euch also nicht,
indem ihr sagt: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen?«
(Q 12,29) Wie gut er jedoch ihre Sorgen verstand, zeigt, dass er eine Parabel wie Lk 15,810 erzählen konnte, in der die Frau ihr Glück über die schließlich wiedergefundene
Drachme mit ihren Nachbarinnen und Freundinnen teilt (vgl. zur Rolle von Frauenfreundschaften als Überlebensstrategie der Ärmsten die brasilianische Befreiungstheologin Lamb 1995).
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Last und Freude des Kehrens Lk 15,8-10
Analyse des Bedeutungshintergrundes (Bildfeldtradition)
Suchen von Geld im Haus
Das Suchen eines Geldstücks im dunklen Haus ist in seiner Anschaulichkeit und Alltäglichkeit in der Antike gelegentlich und zu verschiedenen illustrativen Zwecken eingesetzt
worden, wobei sich literarische Berührung aufgrund des geographischen und zeitlichen
Abstands nicht nahelegt. Von Theophrast, dem Nachfolger des Aristoteles als Schulhaupt
der Peripatetiker, ist ein Buch mit 30 Charakterstudien überliefert. Den Pfennigfuchser
beschreibt er folgendermaßen: »Und wenn seine Frau einen trichalkos verliert, ist er imstande, den Hausrat, die Betten und Truhen umzuräumen und zwischen den Brettern zu
suchen.« (Charaktere 10,6, zitiert nach Bovon 2001, 32 Anm. 99). Was dies triviale Paradigma reizvoll macht, ist die Tatsache, dass hier die Frau die fast wertlose Münze verliert, es aber nicht für nötig hält, für die Wiederbeschaffung zu sorgen. Der Mann stellt
selbst das Haus auf den Kopf und kratzt in den Ritzen zwischen den Brettern herum, die
hier den Fußboden (einer ersten Etage?) bilden, weil sein Geiz ihn dazu drängt. Solch
unwürdiges Suchverhalten zeigt die Protagonistin des Jesusgleichnisses nicht, die offenkundig aus Not heraus handelt, weshalb ihre Suche eine so zwingende Notwendigkeit
besitzt, dass sie sogar zum Gleichnis für Gottes Suche nach verlorenen Menschen taugt.
In der Mitte zwischen der Komik des Theophrastbeispiels und der Seriosität der Jesusparabel steht die folgende, Rabbi Phineas ben Jair (um 200 n. Chr.) zugeschriebene
Gleichniserzählung aus dem Midrasch zum Hohenlied 1,9 (um 600 n. Chr.). Sie bietet
eine Auslegung der Verheißung von Spr 2,4 an den, der die Weisheit sucht »wie Silber«
und »wie nach verborgenen Schätzen« nach ihr forscht.
»Wie ein Mensch, wenn er einen Selah oder einen Obolus verloren hat mitten in seinem
Haus, Lichter um Lichter anzündet und Dochte um Dochte, bis er sie findet (zu ihnen
gelangt). Und siehe, die Dinge (verhalten sich) nach dem Schluß vom Geringeren auf das
Größere: Wenn schon für das, was das Leben einer Stunde dieser Welt bietet, ein Mensch
Lichter auf Lichter anzündet und Docht auf Dochte, bis er zu ihnen gelangt und sie findet
– müßtest du nicht nach den Worten der Tora, die das Leben dieser Welt sind und das
Leben der zukünftigen Welt, suchen wie nach diesen Schätzen?« (zit. nach Berger/Colpe
1987, 136 f.).
Wie im Theophrastparadigma so ist auch im rabbinischen Gleichnis der vergleichsweise
geringe Wert der Münze, der in einem Kontrast zum Aufwand des Suchens steht, für die
Interpretation entscheidend. Im Jesusgleichnis ist es gerade der subjektiv hohe Wert, den
eine Drachme für die arme Frau hat, die den Vergleich mit Gottes Handeln ermöglicht.
Suchen und Finden
Metaphorische Aussagen über »suchen und finden«, die auf Gottes Suche nach dem verlorengegangenen Menschen bezogen sind, begegnen viel seltener als die kaum zählbaren
Aufforderungen an die Adresse der Israelitinnen und Israeliten, Gott oder die Weisheit
Gottes zu suchen (Erlemann 1999, 222). Lediglich im Bildfeld von Gott als »Hirten Israels«, das der unmittelbar vorausgehenden Parabel vom verlorenen Schaf zugrunde liegt,
begegnet das ungewöhnliche Thema der Suche Gottes, der die verirrten Schafe zurück613
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Parabeln im Lukasevangelium
bringt (siehe dazu die Auslegung zur Parabel vom verlorenen Schaf). An den in diesem
Bildfeld vorliegenden »Rollentausch Gottes« (Erlemann 1999, 222) knüpft Jesus an und
gestaltet ihn in weiteren Parabeln von der Frau, die eine Drachme sucht, und dem Vater,
der seinem heimkehrenden Sohn gegen alle Konvention entgegenläuft (Lk 15,20).
Weibliche Gottesbilder und Hypostasierungen Gottes (Weisheit, Metanoia)
Die Parabel von der Drachme ist einer der biblischen Texte, in denen die Gottesvorstellung auf Basis eines Vergleiches mit einer Frau geformt wird. Damit gehört er einer Minderheitstradition an, denn Vergleiche mit männlichen Bildspendern waren in Israel häufiger, wenn auch keineswegs alleinherrschend (Schüngel-Straumann 1996). Als Lk 15,810 nächst stehendes atl. Vorbild wird meist Jes 49,15 identifiziert, wo Gott sich um Zion
sorgt wie eine Mutter um ihr Kind. Dass die personifizierte Weisheit (vgl. Spr 9,1-3; 14,1;
Weish 8,2-18 u. ö.) nichts beizutragen habe (so explizit Heininger 1991, 144, implizit die
meisten Ausleger), kann ich nicht finden, gibt es doch deutliche Hinweise darauf, dass in
Jesu Gottesbild Sophiatraditionen eine wichtige Rolle spielten (vgl. Lk 7,35; 11,49;
13,34 f.). Außerdem gibt es in der frühjüdischen Literatur eine besondere Nähe zwischen
Weisheit und Umkehr, wie die jüdische Schrift, die der Bekehrung der Priesterstochter
Aseneth gewidmet ist, beweist, in der die Metanoia (die personifizierte Umkehr) nach
»Funktion und Beschreibung so gottunmittelbar« geschildert wird, »wie anderswo die
Weisheit« (Burchard 1983, 676, Anm. zu JosAs 15,7).
Freude vor den Engeln Gottes (Lk 15,10)
Die Freude »vor den Engeln Gottes« ist nach der unmissverständlichen Parallele von Lk
12,9 (wo »vor den Menschen« und »vor den Engeln« parallel steht) als Freude »im Kreise
der Engel Gottes« vorzustellen (Jülicher II 2 1910, 322). Gegen Jeremias (11 1998, 135) ist
dies nicht einfach gleichbedeutend mit »Gott«, sondern stellt Gott im Kreis seines Hofstaates vor (Walls 1959), so dass »die Freude den ganzen himmlischen Hof erfaßt« (Bovon 2001, 33). An Mitteilung über Details aus der Engelwelt ist Lukas zwar nicht interessiert, aber er kann bei seinen ersten Leserinnen und Lesern Bekanntheit mit der
Vorstellung vom himmlischen Thronsaal Gottes voraussetzen (Hiob 1,6; 1Kön 22,1922; Jes 6,1 f.), die theologisch darin bedeutsam ist, dass sie Gott als eine auf ein Gegenüber bezogene, soziale und emotional ansprechbare Person imaginiert. Bekannt dürfte
auch sein, dass die vor Gott Versammelten »ein Wörtchen mitzureden« hatten, wenn es
um das Schicksal des Einzelnen auf Erden geht (vgl. Hiob 1,9-12). Sehr instruktiv ist die
Aussage, die Mt 18,10 der Parabel vom verlorenen Schaf voranstellt: »Seht zu, dass ihr
nicht einen von diesen Kleinen verachtet. Denn ihre Engel im Himmel sehen allezeit das
Angesicht meines himmlischen Vaters.« Der bereits erwähnte jüdisch-hellenistische Bekehrungsroman Joseph und Aseneth räumt der Metanoia, der personifizierten Umkehr
die Vorzugsstellung im himmlischen Hofstaat ein, die andernorts die Sophia innehat:
»Denn die Umkehr ist in den Himmeln eine Tochter des Höchsten schön und gut sehr,
und sie (selbst) fleht an Gott den Höchsten für dich [Aseneth] alle Stunde und für alle, die
(da) umkehren in (dem) Namen Gottes des Höchsten, weil doch er Vater ist der Umkehr,
und sie (selbst) … ersucht … alle Stunde den Höchsten, und allen, die (da) umkehren,
einen Ort (der) Ruhe bereitete sie in den Himmeln, und sie wird wiedererneuern alle, die
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Last und Freude des Kehrens Lk 15,8-10
(da) umkehren, und sie (selbst) wird aufwarten ihnen in die Ewigkeit-Zeit.« (JosAs 15,7,
zitiert nach Burchard 1983, 676 f.).
Ausgedrückt wird mit den angelologischen Aussagen von Mt 18,10; JosAs 15,7 f. und Lk
15,10 Gottes bevorzugtes Interesse für Menschengruppen, die besonders gefährdet sind,
»verloren zu gehen«: »Kleine« (d. h. in der Welt gering Geachtete), HeidInnen, SünderInnen.
Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte)
Es bietet sich an, die verschiedenen Deutungshorizonte der Parabel an den besonderen
Akzenten festzumachen, die sie gegenüber den beiden sie flankierenden Gleichnissen, die
ebenfalls Gottes Suche nach dem Verlorenen gewidmet sind, auszeichnen (gegen Jülicher
II 2 1910, 325, der im Interesse der Vermeidung jeglicher Allegorisierung darauf beharrt,
dass in Lk 15,3-7.8-10 identische Verdoppelung im Interesse der »Ueberzeugung von der
Allgemeingültigkeit des hier zu illustrierenden Satzes« vorliegt).
1. Von allen drei Gleichnissen in Lk 15 zeichnet sich das Frauengleichnis durch die
größte Nähe zum alltäglichen Leben aus. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf wurzelt
demgegenüber in einer bereits stark theologisch vorgeprägten Bildfeldtradition (Hirtenmetaphorik) und das Gleichnis vom verlorenen Sohn hat den Vorteil, sowohl die innerpsychischen Vorgänge des Bekehrungsprozesses als auch die dadurch hervorgerufene
zwischenmenschliche Dynamik innerhalb einer bewegten Geschichte auszuleuchten.
Muss demgegenüber eine Frau, die ein Geldstück sucht und findet, nicht banal wirken?
Ist die Aufforderung zur Mitfreude an ihre Nachbarinnen und Freundinnen nicht »extravagant« (Erlemann 1999, 226) und nur verständlich, wenn man »das Temperament
und die Sitte eines Orientalen«, den es »zu öffentlichen Demonstrationen« drängt, in
Rechnung stellt (so Jülicher II 2 1910, 324)? Die sozialgeschichtliche Analyse hat gezeigt,
dass den zeitgenössischen Hörerinnen und Hörern die extreme Armut der Frau unmittelbar deutlich gewesen sein muss. Genau darin aber ist die Parabel theologisch ernst zu
nehmen: dass der mühsame Alltag einer Frau, die zu den Allerärmsten gehört, gleichnishaft werden kann für die Suche Gottes nach dem Verlorenen (L. Schottroff 3 2001,
151; Kähler 1995, 114). Mit dieser Art metaphorischer Rede macht Jesus »den Mühseligen und Beladenen«, die er zu sich ruft, deutlich, dass es ihre von der Welt verachtete
Existenz ist, ihr Leben, um das sich Gott sorgt. »Verkauft man nicht fünf Spatzen für
zwei Asse? Doch nicht einer von ihnen ist von Gott vergessen. … Fürchtet euch nicht,
ihr seid viel mehr wert als ein Haufen Spatzen.« (Lk 12,6) Diese Leute, deren Suppeneinlage allenfalls aus Spatzenfleisch bestand und die von einer Drachme (= 1 Denar =
8 Asse) etwa zwei bis drei bescheidene Mahlzeiten erwerben konnten, können die große
Erleichterung der Frau über die wiedergefundene Drachme nachvollziehen. Von Extravaganz ist keine Rede, wo es um das tägliche Brot geht (L. Schottroff 3 2001, 144). Sie,
die den Großen dieser Welt »keinen Pfennig wert« waren, erfahren durch solch ein
Gleichnis, dass auch sie Ebenbilder Gottes sind und zum Gleichnis Gottes werden können, ob Mann oder Frau.
2. Weder Bekehrung (vgl. Lk 15,17 ff.21), noch aktives Verirren (das man dem Schaf
gegebenenfalls unterstellen kann) stehen im Zentrum der Parabel, im Gegenteil, die For615
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Parabeln im Lukasevangelium
mulierungen in V. 8 und 9 (»eine Frau, wenn sie verliert«; »die Drachme …, die ich verloren hatte«) scheinen sogar die Deutung nahezulegen, dass die Frau selbst für den Verlust
ihrer Drachme verantwortlich ist. Trotzdem spricht die Deutung dann von der Freude in
der himmlischen Gemeinschaft über einen Sünder, eine Sünderin, der oder die »umkehrt«
(V. 10). Diese angebliche Inkonsistenz wird in der exegetischen Literatur gern zum Ausgangspunkt literarkritischer Überlegungen genommen (z. B. Heininger 1991, 140). Stattdessen sollte man hier einen bewussten Akzent des Erzählers sehen! Damals wie heute geht
ja nicht jeder verloren in so dramatischen Verfehlungen, wie sie der verlorene Sohn begangen hat. Manch eine gerät unverschuldet in Not und verliert darin den Glauben, manch
einer stellt plötzlich mitten im alltäglichen Einerlei fest, wie verloren er ist. Die bloße Erfahrung des Gefundenwerdens, ausgelöst durch ein Wort, eine menschliche Begegnung,
eine neue Erfahrung, kann dann genug sein, um eine radikale Veränderung der Einstellung
zu Gott, den Mitmenschen und der Welt hervorzubringen. Genau darauf vertraute ja Jesus
mit seiner unüblichen Praxis der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern und anderen Akten der Annahme und des Zuspruchs. met€noia (metanoia) bedeutet wörtlich zunächst eine umfassende Sinnesänderung (Liddell-Scott s. v.: »change of mind or heart«),
das Verbum metanoe…n (metanoein) meint das Sich-neuorientieren in seinen Grundhaltungen und Zielen (Liddel-Scott: »change one’s mind or purpose«). Wenn eine solche
Neuorientierung geschieht, geht das natürlich einher mit Reue, Scham und Trauer über
die bisherige verfehlte Haltung und im religiösen Kontext in der Regel mit einem Gefühl
des Schuldiggewordenseins. Doch sollte man die Begleiterscheinungen nicht für die
Hauptsache halten, wie dies leider oft im Gefolge der Übersetzung »Buße tun« geschieht.
Auch die angemessenere Übersetzung »umkehren«/»Umkehr«, die eine grundlegende
Richtungsänderung anzeigt, wird oft zu eng verstanden als Rückkehr in altvertraute Zustände. Letztere ist aber sicher nicht gemeint bei der Umkehr, die angesichts der von Jesus
verkündigten Ankunft der Gottesherrschaft nötig ist (Mk 1,15), die doch viele alte Zustände zu überwinden verheißt. Lk 15,8 f. setzt den Moment des Gefundenwerdens ins Bild, in
dem die grundlegende Veränderung stattfindet. In der Parabeldeutung musste dieser Zug
in eine menschliche Handlung übersetzt werden, denn Menschen sind keine unbeweglichen Geldstücke, sie können sich dem Gefundenwerden durch Gott entziehen. Dem Suchen Gottes muss auf menschlicher Seite das Sich-von-Gott finden-lassen korrespondieren, das zur Neuorientierung führt. Das aber nennt V. 10 den Akt des metanoe…n.
3. Alle drei Gleichnisse in Lk 15 enden mit dem Mitteilen der Freude über die
Wiederherstellung des Ganzen (Herde, Besitz, Familie). In der durch Lukas geschilderten
Kommunikationssituation zielt dieser Appell über die in Lk 15,2 genannten Pharisäer
und Schriftgelehrten, die murren, anstatt sich über den Erfolg Jesu bei den »ZöllnerInnen
und SünderInnen« zu freuen, auch auf die LeserInnen. Dass die gemeinsame Freude imitatio Dei ist, macht die Parabel von der Drachme auch dadurch deutlich, dass Gott, den
man hinter der Formulierung »im Himmel« Lk 15,7 wird sehen dürfen, sich in Lk 15,10
nicht alleine freut, sondern mit dem ganzen himmlischen Hofstaat (s. o.). »Geteilte Freude ist doppelte Freude« weiß das Sprichwort, und die Vervielfältigung beginnt beim
»Freudenquell«. Nicht sachgemäß scheint der bei Kähler unnötig polarisierende Gegensatz zwischen der Freude »am wiederhergestellten Ganzen« und dem Interesse am Individuum, dessen Betonung als Sündenfall der liberalen Theologie betrachtet wird (Kähler
1995, 113). Schon das Gleichnis lebt gerade in dem Motiv der gemeinsamen Freude über
das wiedergefundene Einzelstück vom Aufeinanderbezogensein von Individuum und Ge616
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Last und Freude des Kehrens Lk 15,8-10
meinschaft. Dabei hat es gegenüber der Parabel vom verlorenen Schaf den Vorzug, auf
einen Vergleich zuungunsten der Nichtverlorenen zu verzichten (vgl. Lk 15,7).
Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte
Die Auslegungsgeschichte zeigt, dass die Parabel von der Drachme meist im Zusammenhang mit den anderen beiden Parabeln vom Verlorenen interpretiert wurde, wobei das
verlorene Schaf und der verlorene Sohn in der Regel erheblich mehr Aufmerksamkeit auf
sich zogen, so dass Linda Maloney von einer »unter den Teppich gekehrten« Parabel
spricht, die es wieder zu finden gelte (Maloney 2002, 34-38). So gesehen wird das Schicksal der Parabel von der Frau und der Drachme selbst zu einer Parabel der verlorenen und
vergessenen Geschichte(n) der weiblichen Hälfte der Menschheit.
Gelegentlich jedoch wurde das Geschlecht der Protagonisten von Lk 15 in die Auslegung einbezogen, meist zur Veranschaulichung abstrakter theologischer Gedanken. So
stehen bei Origenes das verlorene Schaf und die verlorene Drachme für die Heiden, nach
denen der gute Hirt und die Weisheit suchen, und Ambrosius predigt über die dreifache
göttliche Hilfe, die Lk 15 als »Heilmittel gegen das Umherirren« anbietet: »Sie kommt
von Gott, dem Vater, im letzten Gleichnis, von Christus, dem Hirten, im ersten, und
von der Kirche, der Frau, im zweiten.« (Bovon 2001, 34)
Ein schöner Gedanke der traditionellen allegorischen Ausdeutung, der leicht feministisch akualisiert auch heute noch zu inspirieren vermag, ist die bei vielen Kirchenvätern zu findende Deutung, der Mensch werde mit einer Drachme verglichen, weil »er«
das Ebenbild »des« Schöpfers sei (unnötig abgewertet bei Jülicher II 2 1910, 324). Antike
Münzen trugen ja zumeist das Bild des Herrschers bzw. der Herrscherin, die sie hatte
schlagen lassen, insofern eigneten sich die Münzen mit männlichen und weiblichen Konterfeis tatsächlich gut zur Veranschaulichung des Gedankens der Gottebenbildlichkeit.
Wenn nun in der Parabel die suchende Frau und ihre Nachbarinnen ein Bild für die
Schöpferin und ihre himmlischen Freundinnen sind, die in ihrer Suche nach ihren verlorengegangenen Ebenbildern auf Erden keine Mühe scheuen und deren Freude über die
wiedergefundenen Töchter keine Grenzen kennt, sollte dann soviel metaphorische Frauenpower nicht die Kraft haben, zum Leben und zur Freude befreiende Sinnesänderungen
(Akte der metanoia) zustande zu bringen – fernab von herkömmlicher Bußgesinnung?
Annette Merz
Literatur zum Weiterlesen
K. Erlemann, Gleichnisauslegung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen/Basel 1999, 218-228
(Musterexegese zum Gleichnis von der verlorenen Drachme).
C. Kähler, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, WUNT 78, Tübingen 1995, 109-115.
L. Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Gütersloh 3 2001, 138-151.
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