AG 5 Psychopharmaka absetzen

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AG 5 Psychopharmaka absetzen
Rundbrief
AG-Berichte
Ausgabe 4/2015
AG 5 Psychopharmaka absetzen: Wann, warum, wie“
Moderation Peter Lehmann
Neuroleptika („Antipsychotika“) und Antidepressiva können
zwar zu Rezeptorenveränderungen, Toleranzbildung und Entzugsproblemen führen, was Ausdruck einer körperlichen Abhängigkeit darstellt. Allerdings gibt es – im Gegensatz zur Diagnose
„Benzodiazepinabhängigkeit“ – noch keine Diagnose „Abhängigkeit von Neuroleptika“ oder „Abhängigkeit von Antidepressiva“. Insofern können Ärzte Hilfen beim Absetzen nicht mit der
Krankenkasse abrechnen. Es gibt keine stationäre Unterstützung
beim Absetzen und keine Reha-Maßnahmen. Ausnahme ist die
Psychiatrische Klinik Heidenheim, in der Klaus Laupichler bis
zu seinem Tod im April 2015 als Peer-Berater arbeitete. Informationen zu den Bedingungen, in Heidenheim stationäre Hilfe
beim Absetzen zu bekommen, stehen im Internet unter www.
antipsychiatrieverlag.de/fapi/nachrichten-d.htm#dgsp. Auch im
Internet (unter www.peter-lehmann.de/vk) findet sich ein Link
zum Schweizer Arzneimittelkompendium, in dem man nachlesen kann, welche unerwünschte Wirkungen, ansatzweise auch
was Entzugsprobleme betrifft, die Pharmaindustrie mittlerweile
bei ihren Produkten eingesteht.
In der AG bestätigte sich, dass Absetzwillige von Ärzten in der
Regel keine Informationen über Möglichkeiten erhalten, Entzugsprobleme zu verringern. Während der Psychiater Asmus
Finzen 2014 bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft
für soziale Psychiatrie die verweigerte Hilfe beim Absetzen als
Kunstfehler bezeichnete, wurde in der AG auch von kriminellem
Verhalten gesprochen, kann das Vorenthalten von Informationen
doch zu abruptem Absetzen und damit verbunden zu körperlichen Schäden sowie hohem „Rückfall“-Risiko führen. Glücklich
können die sein, die einen kompetenten und hilfsbereiten Arzt
gefunden haben; dies ist hilfreich insbesondere beim stufenweisen Absetzen. Ansonsten muss man, je nach Form und Inhalt der
Pille, diese beispielsweise mit einem Pillenschneider verkleinern oder das Pulver in Apfelmus einmischen. Aber man sollte
genaue Informationen einholen (evtl. vom Apotheker), welche
Maßnahmen möglich sind und welche schädlich. Wenn man
den Absetzprozess in die eigene Hand nimmt, erweist es sich als
sinnvoll, sich im Rahmen von Selbsthilfe gegenseitig zu beraten
und unterstützen, evtl. – wenn man einen fähigen Psychologen
hat – therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen und sich selbst
auf vielfältige Weise informieren und eine eigene Meinung bilden. Aufgrund völlig unterschiedlicher körperlicher, psychischer
und sozialer Ausgangsbedingungen verbieten sich Patent- und
Erfolgsrezepte von alleine.
Als Bestseller unter Neuroleptika erwies sich – zumindest was
die AG betrifft – der Wirkstoff Quetiapin (bekanntester Handelsname: Seroquel). Wie bei anderen niederpotenten und sogenannten atypischen Neuroleptika gilt auch für das niederpotente, das
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heißt eher das vegetative System und die inneren Organe als das
Muskelsystem beeinträchtigende Quetiapin: Je niedriger die Potenz, desto eher ist mit Entzugserscheinungen wie Übelkeit und
Schlafstörungen sowie bei „atypischen“ Neuroleptika besonders
mit mit Rebound- und Entzugspsychosen zu rechnen, desto vorsichtiger und langsamer muss abgesetzt werden. Und nach dem
Absetzen muss damit gerechnet werden, dass die Ursprungsprobleme wiederkommen, diese wollen also auch bearbeitet sein (in
etwa vergleichbar einem Herzinfarkt). Erfahrungsgemäß als hilfreich beim Absetzen erwies sich Bewegung, ausreichend Schlaf,
Fernhalten von Stress, gesunde Ernährung und vieles mehr. Eine
Teilnehmerin berichtete, dass sie gerade das Gegenteil, nämlich
Fast-Food und Stresssituationen als hilfreich empfand. Deshalb
sei es wichtig, immer und immer wieder vor Patentrezepten zu
warnen.
Ebenfalls kein Patentrezept gefunden wurde für den organisierten Selbsthilfebereich. Was tun, wenn die Leute zum Beispiel unter Neuroleptika völlig apathisch geworden sind und kaum mehr
zum Fällen eines Entschlusses fähig sind, ihre Psychopharmaka
zu reduzieren oder ganz abzusetzen? Hier kann das Bereitstellen
von Erfahrungsberichten helfen, die zeigen, dass es prinzipiell
auch nach langer Zeit der Einnahme möglich sein kann, wieder
von den Psychopharmaka wegzukommen. Ein Garantieversprechen kann es allerdings nicht geben, und den Leuten einreden, sie
sollen absetzen, ist ebenso alles andere als erfolgsversprechend.
Der Schutz vor einer erneuten Psychiatrisierung, die unter Psychopharmakaeinnahme oder nach dem Absetzen möglich wird,
durch eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht gemäß
§ 1901a BGB ist offenbar nicht rechtssicher gewährleistet. So
wie jahrzehntelang verfassungswidrig ohne Rechtsgrundlage zwangsbehandelt wurde, werden jetzt – speziell in Bayern
– selbst einwandfrei formulierte Vorausverfügungen und damit
die Gesetze selbst von Gerichten missachtet.
Zum Abschluss der AG wurde über eine in Planung befindliche Fachtagung informiert, zu der kompetente Mediziner,
Pharmakologen, Juristen, Psychologen, Sozialarbeiter und
Selbsthilfeaktivistinnen und -aktivisten eingeladen und bei der
erste Schritte zu einem Lehrplan „Hilfe beim Absetzen psychiatrischer Psychopharmaka“ entwickelt werden sollen. Wie das
Problem der Abhängigkeit von Neuroleptika und Antidepressiva
allgemein bekannt gemacht und ein breites Angebot kompetenter Hilfe entwickelt werden soll, erfordert wohl ein geduldiges,
undogmatisches und zielstrebiges Vorgehen. Bei einigen AGTeilnehmerinnen und Teilnehmern (sowie im Plenum nach der
Berichterstattung) zeigte sich ein mutmachendes Interesse, sich
diesbezüglich zu engagieren.