Ambulante Einstellung der transdermalen Tumorschmerztherapie

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Ambulante Einstellung der transdermalen Tumorschmerztherapie
M E D I Z I N
KURZBERICHT
Lukas Radbruch1
Barbara Donner2
Michael Zenz2
Rainer Sabatowski1
Stefan Grond1
Ambulante Einstellung
der transdermalen
Tumorschmerztherapie
mit Fentanyl
ZUSAMMENFASSUNG
Transdermales Fentanyl ist seit 1995 in Deutschland für
die Behandlung starker Tumorschmerzen im Handel. Bisher mußte die Einstellung während eines stationären Aufenthaltes erfolgen. Dies kann jedoch mit deutlichen Nachteilen bei Patienten mit kurzer Lebenserwartung verbunden sein. Die transdermale Therapie kann ambulant erfolgen, wenn der Arzt mit dem Verfahren vertraut ist und seine Besonderheiten kennt. Eine effektive Langzeittherapie
ist möglich. Die Nebenwirkungen entsprechen denen anderer stark wirksamer Opioide. Es gibt Hinweise, daß die
Inzidenz an Obstipation geringer ist. Transdermales Fen-
tanyl ist eine Alternative zur Therapie von Tumorschmerzen und hat
aufgrund seines Applikationsweges zusätzlich besondere
Indikationen bei Patienten mit Schluckstörungen oder
solchen, bei denen eine gastrointestinale Medikamentenresorption nicht möglich ist. Werden die Therapieempfehlungen beachtet, so ist die transdermale Therapie ebenso
effektiv wie eine Therapie mit anderen retardierten Opioiden.
Schlüsselwörter: Transdermales Fentanyl, Tumorschmerz,
ambulante Einstellung
The Treatment of Cancer Pain With
Transdermal Fentanyl
Transdermal fentanyl is one of the new alternatives in the
treatment of cancer pain. In Germany, legal regulations required that transdermal therapy had to be started during a
hospital stay. This was a disadvantage for cancer pain patients, especially in advanced cancer. Since march 1998 initi-
ation of transdermal therapy in outpatients is
allowed. Analysis of studies of clinical trials demonstrate that conversion to transdermal fentanyl is safe
under respect of the special properties of the transdermal
drug application and that long-term therapy is effective.
Key words: Transdermal fentanyl, cancer pain, outpatienttreatment
M
it transdermalem Fentanyl
wurde ein neues Therapiekonzept zur Behandlung
von Karzinomschmerzen entwickelt.
Ein stark wirksames Opioid wird auf
nichtinvasivem Weg unter Umgehung des Gastrointestinaltraktes appliziert. Fentanyl TTS ist seit 1995
in Deutschland zugelassen (20). Bis
Anfang 1998 war eine Einstellung auf
Fentanyl TTS nur im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes erlaubt.
Für Patienten mit fortgeschrittenen
Erkrankungen bedeutete dies einen
gravierenden Einschnitt in ihr soziales Leben mit einer deutlichen
Einschränkung der Lebensqualität.
Von Patienten und Angehörigen,
aber auch von Hausärzten wurde
immer wieder nach der Möglichkeit
einer ambulanten Einstellung gefragt.
Seit einigen Monaten ist die Zulassungsbeschränkung aufgehoben
und die Therapie mit Fentanyl TTS
kann auch ambulant begonnen werden. Da sich das Therapiekonzept der
transdermalen Applikation deutlich
von den bisher etablierten Verfahren unterscheidet und uns aus eigenen klinischen Erfahrungen Anwendungsfehler bekannt sind (7), möchten wir dies zum Anlaß nehmen, noch
einmal auf die Besonderheiten dieses
Therapiekonzeptes hinzuweisen. Zusätzlich werden einige praktische Tips
für den Umgang mit transdermalem
Fentanyl im Alltag gegeben.
Hintergrund
Fentanyl ist ein stark wirksames
Opioid (Fentanyl : Morphin = 100 :
1) mit kurzer Wirkungsdauer (15).
1
Schmerzambulanz der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin (Direktor: Prof. Dr. med. Walter Buzello) Universität zu Köln
2 Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und
Schmerztherapie (Direktor: Prof. Dr. med.
Michael Zenz), BG-Kliniken Bergmannsheil Universitätsklinik, Bochum
A-2026 (42) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 31–32, 9. August 1999
SUMMARY
Es wurde in ein transdermales therapeutisches System inkorporiert.
Nach der Applikation der Pflaster
durchdringt Fentanyl die Hautoberfläche und bildet ein Depot in der
obersten Hautschicht. Von dort aus
wird es langsam über das Gefäßsystem aufgenommen, um die systemische Wirkung zu entfalten.
Das Hautdepot bewirkt, daß das
System pharmakokinetisch stabil ist
und langsam auf Dosisänderungen
reagiert. An- und Abflutungszeiten
liegen bei zwölf bis 24 Stunden. Die
Dosierung von transdermal appliziertem Fentanyl ist proportional zur
Applikationsfläche (25 µg pro Stunde pro 10 cm2).
Wirksame Fentanyldosierungen
werden über drei Tage aus dem Pflaster abgegeben. Bei nicht ausreichender Schmerzlinderung am letzten Tag ist in der Regel eine Dosiserhöhung indiziert. Falls dann die Nebenwirkungen zu ausgeprägt sind,
sollte das Applikationsintervall auf
zwei Tage verkürzt werden. Dosisän-
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derungen des transdermalen Fentanyl können frühestens nach zwölf
Stunden, in der Regel aber erst nach
zwei bis drei Tagen bewertet werden
(7,8,13,20).
Aufgrund der trägen Pharmakokinetik und damit der schlechten
Steuerbarkeit kann transdermales
Fentanyl zur Akutschmerztherapie
nicht empfohlen werden (4, 16) und
ist in Deutschland für diese Indikation auch nicht zugelassen.
Therapie mit
transdermalem Fentanyl
Die Wirksamkeit von transdermalem Fentanyl wurde in zahlreichen klinischen Studien belegt. Sowohl bei Patienten, die bereits nach
Stufe III des WHO-Stufenschemas
mit stark wirksamen Opioiden behandelt wurden, als auch bei Patienten, die mit Fentanyl TTS primär auf
ein stark wirksames Opioid eingestellt wurden, konnte eine zufriedenstellende Schmerzreduktion erreicht
werden (Übersicht in 5, 9, 12).
Bei der Umstellung auf transdermales Fentanyl hat sich eine
Umrechnung der Tagesdosierungen
von 100 : 1 (mg Morphin oral zu mg
Fentanyl transdermal) bewährt. Eine Tagesdosis von 60 mg oralem retardiertem Morphin entspricht demnach einer Fentanyldosis von 0,6 mg
pro Tag (25 µg pro Stunde) (6). Die
Fentanyldosis wird auf die nächstgelegene Pflastergröße auf- beziehungsweise abgerundet. Eine entsprechende Umrechnungstabelle ist
in der Fachinformation enthalten.
Auch bei höheren Morphindosierungen traten mit diesem Schema keine
Komplikationen während der Umstellung auf transdermales Fentanyl
auf (14).
Umrechnungsfaktoren zur Umstellung von anderen hochpotenten
Opioiden wie zum Beispiel Methadon oder Buprenorphin oder von
parenteralen Opioidapplikationen
wurden bis jetzt leider nicht überprüft. In solchen Fällen wird empfohlen, die Opioiddosis zunächst nach
den gängigen Umrechnungsfaktoren
auf eine orale Morphindosis umzurechnen, und dann im zweiten Schritt
diese orale Morphindosis nach der
Umrechnungstabelle auf die transdermale Fentanyldosis umzulegen.
Dies ist zweifelsfrei ein komplizierter
Vorgang, der durch eine veränderte
Packungsbeilage vereinfacht werden
kann. Bei der direkten Umstellung
von niederpotenten Opioiden (entsprechend der WHO-Stufe 2) auf
transdermales Fentanyl wurde in der
Regel die transdermale Therapie mit
der kleinsten Pflastergröße (0,6 mg
Fentanyl pro Tag = 25 µg pro Stunde)
begonnen. Es resultierte eine zufriedenstellende Schmerzreduktion (10,
13). Leider wird bei TTS Fentanyl im
Gegensatz zu allen anderen Opioiden eine Dosisangabe in µg pro Stunde gewählt.
Ambulante Umstellung
Die ambulante Umstellung von
niederpotenten Opioiden gemäß
WHO-Stufe 2 auf transdermales
Fentanyl konnte bei Patienten mit
Tumorschmerzen ohne schwerwiegende Komplikationen durchgeführt
werden (10, 13, 18). Effektivität und
Indikationen zur
transdermalen Therapie
Tumorschmerz
• Stabiles Schmerzsyndrom
• Tumoren im Kopf-/Halsbereich
oder Tumoren des Gastrointestinaltraktes
• Therapieresistente gastrointestinale Symptome wie zum
Beispiel: Übelkeit, Erbrechen,
Schluckstörungen
• Ausgeprägte Obstipation unter
der oralen Therapie mit hochpotenten Opioiden
• (Eventuell Patientenkomfort
durch reduzierte Tablettenzahl)
Verträglichkeit der ambulanten Einstellung mit transdermalem Fentanyl
waren vergleichbar mit der Therapieeinstellung mit oralem retardiertem Morphin (2).
Umfangreiche Daten liegen von
einer bundesweiten Anwendungsbeobachtung in 172 Klinikabteilungen
an insgesamt 591 Patienten im Alter
von 20 bis 92 Jahren vor (3). 148 Pa-
tienten wurden bereits vor Aufnahme in die Anwendungsbeobachtung
mit transdermalem Fentanyl in
Dosierungen von 25 bis 500 µg pro
Stunde (0,6 bis zwölf mg pro Tag) behandelt.
Die übrigen 436 Patienten wurden auf initiale Dosierungen von 25
bis 100 µg pro Stunde (entspricht 0,6
bis 2,4 mg pro Tag) eingestellt. Von
diesen neu eingestellten Patienten
hatten 19,1 Prozent vorher keine regelmäßige Opioidtherapie erhalten.
Auch bei diesen „opioid-naiven“ Patienten traten keine Komplikationen
während der Umstellung auf. Die
transdermale Behandlung wurde
durchschnittlich 39 Tage (Bereich
ein bis 225 Tage) dokumentiert. Die
Dosierungen betrugen 25 bis 800 µg
pro Stunde (entspricht 0,6 bis 19,6
mg pro Tag).
Die überwiegende Zahl der Patienten mit Tumorschmerzen berichten zusätzlich zu den Dauerschmerzen über Durchbruchschmerzen
oder Schmerzattacken. Transdermales Fentanyl ist ein träges System,
mit dem nicht auf kurzfristige
Schwankungen der Schmerzstärke
reagiert werden kann. Deshalb sollte
dem Patienten eine angemessene
schnell wirksame Zusatzmedikation
für Schmerzspitzen zur Verfügung
stehen. Hier hat sich in den letzten
Jahren schnell freisetzendes Morphin bewährt. Benötigt der Patient
diese Zusatzmedikation häufig, sollte dies als Indikation zur Dosiserhöhung des transdermalen Fentanyls
gesehen werden.
Nebenwirkungen
In einigen klinischen Studien
wurde die Häufigkeit opioidtypischer Nebenwirkungen für das transdermale System untersucht. Gegenüber der Vormedikation mit oralem Morphin nahmen unter der Therapie mit Fentanylpflastern vor allem die Häufigkeit der Obstipation
und der Laxantienbedarf deutlich ab
(1, 6, 8, 14).
Aufgrund des Applikationsweges muß noch ein besonderes Augenmerk auf die Haut gelegt werden.
Kutane Reaktionen auf das Pflaster
werden bei 4 bis 49 Prozent der
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Patienten beschrieben. Meist handelt es sich jedoch nur um ein
Erythem, das aufgrund der Okklusion entsteht und sich nach Entfernung des Pflasters rasch zurückbildet. Erscheinungen wie Papeln oder
Pusteln sind selten (8). Da das Stratum corneum eine wichtige Rolle in
der Resorption von transdermalem
Fentanyl spielt, dürfen die Pflaster
nur auf die intakte Haut aufgeklebt
werden.
Bei Verletzung des Stratum corneum kommt es zu einer deutlich gesteigerten Resorption des Opioids.
Beim Pflasterwechsel sollte jeweils
die Applikationsstelle gewechselt
werden, um Hautschäden durch eine
anhaltende Okklusion zu vermeiden (7).
Opioiden (12, 17). Eine Zulassung
für diese Indikation besteht in
Deutschland jedoch erst seit wenigen Wochen.
Empfehlungen zur
transdermalen Therapie
Fentanyl TTS ist zur Therapie
als hochpotentes Opioid auf Stufe
III der WHO-Stufenleiter zur Therapie von Karzinomschmerzen (19) eine Alternative zu den langwirksamen oral applizierten Medikamenten. Die Indikationen zur transdermalen Therapie sind im Textkasten
Indikation zusammengefaßt. Zugelassen war transdermales Fentanyl
bisher nur zur Therapie von Tumor-
Therapieempfehlungen zur ambulanten Einstellung
mit transdermalem Fentanyl
• Aufkleben des Fentanyl TTS morgens
• Letzte Einnahme des langwirksamen oralen Opioids
mit der ersten Pflasterapplikation
• Umstellung Fentanyl TTS: Morphin : = 100 : 1 (siehe Fachinformation)
• Bei Vorbehandlung mit niederpotenten Opioiden (WHO-Stufe 2) Beginn
der transdermalen Therapie mit der kleinsten Pflastergröße (25 µg pro
Stunde)
• Erste Applikation und erster Pflasterwechsel unter ärztlicher Anleitung
• Pflasterwechsel alle drei Tage (höchstens alle zwei Tage)
• Regelmäßiger Wechsel der Applikationsstelle
• Zusatzmedikation mit einem schnell wirksamen Opioid für die Therapieeinstellung und für Schmerzspitzen
• Kombination mit einem Nichtopioid-Analgetikum
(Richtlinien der WHO)
• Kombination mit Koanalgetika und Adjuvantien (Richtlinien der WHO)
• Bei Überdosierung Entfernung des Pflasters und Überwachung des
Patienten für 24 Stunden
Vereinzelt wurden in den ersten
zwei Tagen nach der Umstellung von
Morphin auf das Fentanylpflaster
Entzugerscheinungen beschrieben,
deren Mechanismus jedoch unbekannt ist (1, 6, 11).
In Deutschland ist Fentanyl TTS
zur Therapie von Tumorschmerzen
zugelassen. Über erste Erfahrungen
bei Nichttumorschmerzen wird berichtet. Bei diesen Patienten scheint
die transdermale Therapie mit ähnlicher Effektivität möglich zu sein wie
mit oral applizierten langwirksamen
schmerzen. Die transdermale Therapie sollte den gleichen Richtlinien
folgen, die in der Therapie mit langwirkenden hochpotenten Opioiden
etabliert sind. Hinzu kommen einige
Hinweise, die durch die transdermale Therapie mit anderer Pharmakokinetik bedingt sind (Textkasten Therapieempfehlungen).
Die ambulante Einstellung auf
transdermales Fentanyl sollte von einem schmerztherapeutisch versierten Arzt vorgenommen werden, der
in der Therapie mit hochpotenten
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Opioiden ausreichend Erfahrung besitzt. In der Einstellungsphase sollten täglich Angaben zur Restschmerzintensität und zu den Nebenwirkungen erfaßt und dokumentiert werden. Die erste Pflasterapplikation und möglichst auch der erste
Pflasterwechsel sollten unter Aufsicht eines Arztes erfolgen.
Stellenwert
im Gesamtkonzept der
Tumorschmerztherapie
Transdermales Fentanyl ist als
nichtinvasives Therapieverfahren mit
einem stark wirksamen Opioid eine
Alternative zur oralen Opioidapplikation.
Besondere Vorteile bietet es bei
Patienten mit gastrointestinalen Resorptionstörungen (zum Beispiel rezidivierendes Erbrechen, Obstruktionen des Gastrointestinaltraktes)
oder Schluckstörungen. Gegenüber
einer invasiven Opioidtherapie, zum
Beispiel mit kontinuierlicher intravenöser oder rückenmarksnaher Applikation, bietet die transdermale
Fentanyltherapie deutliche Vorteile,
da die Komplikationen der invasiven
Verfahren wie Dislokationen oder
Infektionen vermieden werden und
der Patient unabhängig von Kathetern und Pumpen bleibt.
Bei sachgerechtem Vorgehen ist
die Einstellung und die Langzeittherapie von Tumorschmerzen mit
transdermalen Fentanyl ebenso sicher und effektiv wie mit anderen retardierten hochpotenten Opioiden.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-2026–2028
[Heft 31-32]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de)
erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Lukas Radbruch
Klinik für Anästhesiologie und
Operative Intensivmedizin
Universität zu Köln
Joseph-Stelzmann-Straße 9
50924 Köln