Bunte Koalition statt Glaubensgemeinschaft

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Bunte Koalition statt Glaubensgemeinschaft
Bunte Koalition statt Glaubensgemeinschaft.
Reflexionen zur Identität diakonischer Organisationen
Matthias Nauerth
Zusammenfassung in Thesen:
Diakonie ist heute faktisch eine Wertegemeinschaft, keine Glaubensgemeinschaft. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter teilen Werte, nicht aber die Quellen, aus denen sich diese individuell speisen, wie zum Beispiel einen Glauben. Diakonie zeigt sich darin, dass sie bedarfsgerechte Hilfen in voller Breite und Qualitätstiefe anbietet und dieses Handeln in einen christlichen Sinnzusammenhang stellt. Die Herausforderung besteht somit darin, die Anerkennung
diakonischer Handlungskompetenz nicht an persönliche Bekenntnisse zu binden, vielmehr
fachliche Qualitäts- als diakonische Identitätsfragen wahrzunehmen, die Koalition der höchst
verschieden Mitarbeitenden zu gestalten und hinter allem den christlichen Sinnzusammenhang deutlich werden zu lassen.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diakonischer Organisationen sind heutzutage in der Regel nicht mehr durch einen gemeinsamen Glauben verbunden. Sie sind ein fachspezifisch ausdifferenziertes Kollegium, bestehend aus Menschen mit unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen oder ohne religiöses Bekenntnis. Das heißt, die Kollegien sind in religiöser Hinsicht eine bunte Koalition der Verschiedenen, jedoch keine Glaubensgemeinschaft. Dem entsprechend stellt sich die Frage, worin denn dann der Eigensinn von diakonischen Organisationen liegt – und ihre Identität? Diese Frage soll im Folgenden erörtert werden.
Die Säkularisierung und Diversifizierung der diakonischen Mitarbeiterschaften hat in den
letzten Jahren die Frage nach der Identität sozialdiakonischer Einrichtungen rasant beschleunigt. Lange war es üblich, „das Diakonische“ als individuelle Identität zu besprechen, somit
persönliche diakonische Selbstverständnisse von Diakoninnen und Diakonen und engagierten
Christinnen und Christen zu reflektieren und in diesem Sinne professionelle Selbstverständnisse zu thematisieren. Unter Diakonie verstand man die Soziale Arbeit, die durch Christinnen
und Christen unter dem institutionellen Dach diakonischer Verbände realisiert wird.
Auch gegenwärtig besteht in der Diakonie noch die Neigung, von sich selbst als einer Dienstgemeinschaft gläubiger Menschen zu sprechen – auch wider besseres Wissen.1 Es existiert
eine Art Sprach- und Begriffslosigkeit im Hinblick auf die (Un-)Glaubensrealität existierender Mitarbeiterschaften, die womöglich ihre Ursache auch in der damit verbundenen Verunsicherung diakonischer Identität hat. Denn es stellt sich ja in der Tat die Frage, worin sich der
diakonische Charakter einer Organisation zeigt, die von sich sagt, diakonisch zu sein – ohne
dass gesagt werden kann, dass sich die Mitarbeitenden generell durch ihren christlichen Glauben auszeichnen und sich als Mitarbeiterschaft dadurch signifikant von säkularen Trägern
Sozialer Arbeit unterscheiden. Was also macht uns in der Diakonie diakonisch, wenn es nicht
der Glaube jener ist, die in der Diakonie als Fachkräfte arbeiten? Wenn diese Frage klarer
beantwortet werden kann, ist es vielleicht auch möglich, die real existierende Glaubens- und
1
vgl. z.B. das 1. Grundbild der Stiftung Rauhes Haus, in dem der Eindruck vermittelt wird, es sei charakteristisch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Institution, „Kraft und Orientierung aus dem christlichen
Glauben (zu) schöpfen“
(vgl. http://www.rauheshaus.de/fileadmin/user_upload/downloads/Rauheshaus/DRH_Unser_Grundbild.pdf).
Vgl. ebenfalls das Leitbild des Diakonischen Werkes der EKD, in dem ausgedrückt wird, dass Kreuz, Tod und
Auferstehung Jesu ein zentraler Bezugspunkt des Handelns der Mitarbeitenden sei (vgl.
http://www.ekd.de/EKD-Texte/herz_mund_tat_leben_1998_anhang.html).
Unglaubensvielfalt der diakonischen Mitarbeiterschaften gelassener zu betrachten und zu benennen.
Die Auflösung der traditionellen Fundamente diakonischen Eigensinns
Die Beschreibung eines Eigensinns der Diakonie und eine damit verbundene Identitätsbeschreibung erfolgte bisher zum einen im Hinblick auf die Geschichte der Diakonie, sodann in
Abgrenzung zur klassischen Wirtschaft und schließlich in Abgrenzung zu säkularen Anbietern auf den Sozialmärkten. Die Veränderung aller drei Aspekte führen zurzeit zu Identitätsturbulenzen. Denn früher ergab sich der Eigensinn von Diakonie aus den geteilten weltanschaulichen Überzeugungen jener, die hier arbeiteten. Diakonissen, Diakone und Diakoninnen
verrichteten ihren Dienst, ergänzt um pastoral ausgebildete Personen, christliche Fachkräfte
sowie ehrenamtlich tätige Menschen der Kirchengemeinden. Sie teilten weitgehend ein gemeinsames Glaubensbekenntnis.
Mit der sich ab den 1960er Jahren vollziehenden Säkularisierung unserer Gesellschaft und der
gleichzeitigen Ausweitung diakonischer Aufgaben kam es zu einer Erweiterung des Personals
auch um solche Fachkräfte, die zum einen keine Diakone waren und die zudem die in den
Grundsatzpapieren formulierten christlichen Begründungen des Handelns nicht mehr teilten.
Die diakonischen Einrichtungen wandelten sich von Glaubensgemeinschaften zu Wertegemeinschaften, wenngleich die institutionellen Begründungen diakonischer Praxis weiterhin
einen klaren Bezug auf das Evangelium von Jesus Christus beinhalteten2. Aber als Glaubensgemeinschaften lösten sich die diakonischen Organisationen auf – verbunden mit allerlei
Schwierigkeiten und Problemen durch die damit verbundene Kulturveränderung.
Mit dem, was als die „Ökonomisierung“ der sozialen und medizinisch-pflegerischen Dienste
beschrieben wird und zu großen Umstrukturierungen im gesamten Bereich der Hilfen geführt
hat, verwandelten sich diese Wertegemeinschaften einige Jahre später zudem in Dienstleistungsunternehmen. Damit ging ihnen die Fähigkeit verloren, sich gegenüber „der Wirtschaft“
und gegenüber „anderen Anbietern sozialer Dienstleistungen“ klar abzugrenzen. Denn auch
die diakonische Einrichtungen sind nun Anbieterinnen auf einem Sozialmarkt und müssen
ihre Kosten so kalkulieren, dass sie rechtfertigungsfähig sind und betriebswirtschaftlich klug.
Sie vermarkten und verkaufen jetzt „Produkte“. Auch in der Diakonie wird von „Geschäftsfeldern“ gesprochen und man agiert unternehmerisch in Konkurrenz zu anderen Anbietern auf
Hilfemärkten. Damit finden sich diakonische Organisationen in der Situation wieder, als
Wettbewerberin auf dem Sozialmarkt eigennützig darauf bedacht sein zu müssen, sich gegen
die Konkurrenz durchzusetzen und unternehmerischen Erfolg zu haben. Sie gestalten ihre
Angebote und strukturieren sich als Organisation so, dass es im Hinblick auf den wirtschaftlichen Erfolg effizient und effektiv ist. In diesem „Windkanal“ betriebswirtschaftlicher Vernunft bleiben Eigenarten auf der Strecke. Alle werden windschnittig. Worin die alltägliche
operativ-fachliche Praxis diakonischer Unternehmen sich von nicht-diakonischen Unterneh-
2
Vgl. zu dieser Entwicklung z.B. Hans Walter Schmuhl, ,Eine ökonomische Entführung? Zu Ursachen und
Folgen der Verwandlung von diakonischen Wertegemeinschaften in Unternehmen, in: Matthias Nauerth, Michael, Lindenberg, Marcus Hußmann (Hrsg.): Schon lange unterwegs! Und jetzt wohin? Reflexionen zu Geschichte,
Gegenwart und Zukunft der Diakonie anlässlich des Wichernjahres, Bielefeld 2010, 127-141
Ebenso: Hans Walter Schmuhl: Senfkorn und Sauerteig: Die Geschichte des Rauhen Hauses von 1833 bis 2008;
Hamburg 2008.
men unterscheidet, ist höchst unklar und Gegenstand zunehmender Thematisierung. Denn das
passt nicht zu traditionellen diakonischen Selbstbildern und schafft Identitätsprobleme3.
Der Identitätskern heutiger diakonischer Praxis: Qualität und Sinn
Identität kommt aus dem lateinischen „Idem“ und bedeutet „derselbe“, „dasselbe“, „das gleiche“. Es bezeichnet die Eigentümlichkeit eines Wesens. Bezogen auf komplexere Einheiten
bedeutet es die Übereinstimmung der Teile mit dem Ganzen, bezogen auf die Einzelnen bedeutet es das „Identifiziert sein“ des Teils mit dem Ganzen. Der Begriff Diakonie stammt bekanntlich aus dem Altgriechischen und bedeutet Dienst oder Diener. Man versteht hierunter
alle dem Wohl des Menschen geltende Dienste, die – im weiteren Sinne – im Kontext der
christlichen Gemeinde stattfinden.
Dementsprechend stellen sich im Zusammenhang mit dem Thema „diakonische Identität diakonischer Organisationen“ zwei Hauptfragen: Zum einen die Frage nach der Eigentümlichkeit
einer diakonischen Organisation, ihrer Übereinstimmung mit sich selbst. Wenn eine Organisation zum Ausdruck bringt, sie sei diakonisch, stellt sich also die Frage: Stimmen Anspruch
und Wirklichkeit überein? Bezogen auf die Einzelnen in der diakonischen Organisation stellt
sich zudem die Frage nach ihrer Identifikation mit dem Ganzen, deren Teil sie sind. Es ist die
Frage nach der individuellen Übereinstimmung mit der Tatsache, dass die eigene Praxis per
Definition diakonisch ist, weil man Mitarbeiterin oder Mitarbeiter einer Einrichtung ist, die
diakonisch zu sein beansprucht.
Hier soll nun die These vertreten werden, dass Diakonie nicht Ausdruck eines Zusatzes im
praktisch helfenden Handeln sei, der in Zeiten der Säkularisierung zu verschwinden droht.4
Ich bestreite also die Annahme, es gebe „Hilfehandeln“ im Allgemeinen, und diakonisch werde dieses Hilfehandeln erst dadurch, dass ein „Plus“ dazukomme, diakonische Hilfe somit
Hilfehandeln sei, addiert um irgendetwas. Die Pflege einer Kranken oder die Blinddarmoperation in einem evangelischen Krankenhaus, das Beratungsgespräch in einem Familienhilfezentrum, die Tagesbetreuung und die therapeutische Behandlung in einer evangelischen Beratungsstelle, auch die Verwaltungstätigkeiten, die dies ermöglichen, benötigen keinen Zusatz,
durch den sie erst „diakonisch“ werden. Sie sind es – und zwar dann, wenn sie dem Anderen
gelten, ihm dienlich sind, also qualitativ gut sind, entsprechend den fachlichen und fachwissenschaftlichen Standards eines solchen Handelns!
Diakonie ist gerade nicht ein Zusatz zum guten Hilfehandeln, der womöglich noch einem anderen Zweck dient als dem Hilfebedürftigen. „Diakonisch“ wird Hilfehandeln nur durch ihre
Qualität der Dienstbarkeit – sowie durch den Sinnzusammenhang, in dem dieses Handeln
steht. Die zentrale These lautet somit: Hilfehandeln wird nicht durch einen Zusatz diakonisch,
sondern durch ihre Qualität und durch den Deutungsrahmen, in den diese Leistung durch die
Organisation gestellt wird. Oder anders herum formuliert: Diakonisch ist eine Organisation,
deren Leistungsqualität sich maximal an den Bedürfnissen derer orientiert, die die Leistung
3
Vgl. Matthias Nauerth, Michael Lindenberg: Diakonische Identität auf dem Markt. Sechs Thesen und ein Vor-
schlag, in: Nauerth/Lindenberg/ Hußmann, M. (Hrsg.), 2010, 281–293.
4
Ich beziehe mich hier zentral auf die Ausführungen von Johannes Degen: „Normatives Management, Diakonie
und Religion oder: Von der prekären Sichtbarkeit eines Profils der Diakonie“ (2012). Diese liegen mir als unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrags vor, den er im Februar 2012 in Bielefeld hielt. Die folgenden Verweise
beziehen sich auf diesen Text.
empfangen, und die als Organisation diese von ihr organisierten Dienste in den Sinnzusammenhang des Evangeliums stellt. Das heißt auch in der Konsequenz: Der diakonische Charakter der Diakonie wird insbesondere durch Qualitätsverluste bedroht, nicht durch einen mangelnden Glauben der Fachkräfte!
Zur Verortung von Qualität
Mit Qualität ist sowohl die Qualitätstiefe fachlichen Handelns gemeint, ihre Professionalität
und Fachlichkeit, als auch ihre Qualitätsvielfalt, somit die Variationsbreite ihrer Angebote.
Zur Qualitätstiefe gehört es, die Orientierung an den Bedarfslagen der Adressatinnen und Adressaten strukturell abzusichern, höchste fachliche Standards anzustreben und eine „Qualitätsehrlichkeit“ zu entwickeln, die es sich selbst unbequem macht, also wahrzunehmen in der
Lage ist, an welchen Stellen man den eigenen Qualitätsmaßstäben nicht genügt. Wenn sich
die Selbstbindung der Diakonie an fachliche Qualität mit ehrlicher Rechenschaftslegung im
Hinblick auf die (womöglich auch unzureichende) Zielerreichung verbinden würde, könnte
sie in den sozialpolitischen Auseinandersetzungen sogar subversive Kraft entfalten, und zwar
dadurch, dass ein beharrlicher Verweis auf unerreichte Qualitätsstandards jene sozialpolitischen Rahmenbedingungen in Frage stellt, die dies verursachen.5
Zur Qualitätsvielfalt der Diakonie gehört es sicherzustellen, dass immer auch solche Angebote vorgehalten werden, die Menschen berechtigterweise erwarten können, die sich an einen
diakonischen Träger wenden: eine grundsätzliche Religionssensibilität, Seelsorge, Andachten
und Gottesdienste. Allerdings sind diese Leistungen Teil einer Angebotspalette, nicht ihr
Kern. Nicht erst durch sie wird Diakonie zu Diakonie: Das Suchtberatungsgespräch ist diakonisch, auch ohne seelsorgerliche Anteile, so wie auch die Blinddarmoperation und die Altenpflegleistung diakonisch bleiben, ohne dass die handelnde Fachkraft dafür an Gott glauben
muss.
Der Kern der Diakonie ist der Dienst selbst, das fachliche Hilfehandeln, sofern es am Wohl
des Anderen orientiert ist und daher die eigene Qualität zu maximieren sucht. „Die unique
selling position der Diakonie kann nur, und dies ohne irgendeine Einschränkung, in ihrem
Dienst und nicht in dem bestehen, was diesem Dienst gegenüber transzendent ist. […] Die
Dienstleistung der Diakonie hat als solche ihren Wert in sich, indem sie dem Menschen, der
diese Dienstleistung will, dient“6. Sie ist als reine fachliche Leistung Diakonie, egal ob sie
von gläubigen Christen oder humanistisch geprägten Atheistinnen geleistet wird – und es
kann nicht darum gehen, so sagt es der Diakoniewissenschaftler Johannes Degen, ein solches
Hilfegeschehen noch theologisch zu bemalen oder zu interpretieren.7
Zur Verankerung eines Sinnzusammenhangs
Der Sinnzusammenhang einer Organisation besteht in den Begründungen der sie leitenden
Werte. Diese haben die Funktion der Selbstbindung. Der handlungsleitende Wert der Dienstbarkeit, also hilfebedürftigen Menschen optimal zu helfen, begründet sich bei diakonischen
Organisationen aus der biblischen Forderung, so zu handeln. Dieser allgemeine Sinnzusammenhang einer diakonischen Organisation, mit dem sie sich selbst bindet, ist formal in ihren
Verfassungen, Ordnungen und Organisationsleitbildern verankert und wird gesichert durch
5
Vgl. Nauerth, Lindenberg 2010, 288f.
Degen 2012, 7f.
7
Vgl. Degen 2012, 8.
6
das Management jener, die hierüber entscheiden, z.B. Leitungen, Vorstände, Aufsichtsinstanzen. Er ist organisationsintern so lange top-down gesetzt, wie die entsprechenden Entscheidungsträger einer Organisation dies so und nicht anders frei entscheiden und durch ihr normatives Managementhandeln operationalisieren. Innerhalb dieses vorgegebenen normativen
Rahmens, jedoch davon getrennt, kann ein Leitbild der Organisation nur bottom-up gedacht
und entwickelt werden, sofern es die grundsätzliche Orientierung der real existierende Mitarbeitendenschaft zum Ausdruck zu bringen beansprucht. Während also der allgemeine Sinnzusammenhang diakonischer Organisationen christlich ausgewiesen werden muss, muss das
Leitbild der Organisation, das die Praxis der Mitarbeitenden zu beschreiben beansprucht, wertebasiert ausgewiesen werden.8
Diakonische Organisationen verkünden damit eine zweifache Botschaft. Erstens: Sinn und
Zweck dieser Organisation besteht in Werten, die aus der Bibel hergeleitet werden. Zweitens:
Die Praxis der Mitarbeitenden ist zwar an diese Werte gebunden, nicht aber an deren Herleitung. Anstatt das Handeln der säkularisierten Mitarbeiterschaft zu Werbezwecken „theologisch zu bemalen“, ist es nun die vornehme Aufgabe des Diakoniemanagements, deren Vielfalt diversitysensibel anzuerkennen und über die gemeinsame Werteplattform Verknüpfungen
vorzunehmen: die Verknüpfung des christlich begründeten und normativ verankerten Organisationszwecks mit den vielfältigen Begründungen wertebasierter Professionalität.
Zur diakonischen Organisationsidentität
Was heißt das? Organisationen sind durchaus diakonisch, selbst wenn viele ihrer Mitarbeitenden jenen Glauben nicht teilen, den die diakonische Organisation in ihrem Selbstverständnis
bekennt! Und zwar dann, wenn die Organisation sich zum einen als diakonisch versteht, ihren
Auftrag aus der Bibel herleitet und zu deren Erfüllung Menschen zusammenführt, die entsprechende Fachleistungen erbringen können. Zum anderen dann, wenn sie dafür sorgt, dass dieses fachliche Handeln der Mitarbeitenden den Werten der Organisation entspricht, also an den
Bedarfslagen der Menschen ausgerichtet ist, die von ihr Hilfe erwarten.9 Diakonische Organisationen sollen und können Fachkräfte aller (Un-)Glaubensrichtungen einladen, sich an der
Sache der Diakonie zu beteiligen: dem Menschen zu dienen. Denn diakonisch wird das Handeln aller Mitarbeitenden durch deren fachliche Qualität, die im Kulturraum der Diakonie
realisiert wird, nicht aber durch individuelle Frömmigkeit.
Was von allen Mitarbeitenden jedoch verlangt werden muss, ist eine entsprechende Bindung
an den Wert der „Dienstbarkeit“ des fachlichen Handelns, fachwissenschaftlich beschreibbar
als „Subjektorientierung“, also die Ausrichtung des professionellen Handelns an den Bedarfslagen der Adressatinnen und Adressaten der Hilfen und, damit verbunden, an höchster Fachleistungsqualität. Diakonische Kollegien sind eine bunte Koalition verschieden glaubender
Menschen, die dieses gemeinsamen Wertes bedürfen – und der Anstrengung, diesem durch
ihre Praxis zu entsprechen. Was von den Fachkräften aber nicht verlangt werden muss ist,
8
Ohne es an dieser Stelle ausführen zu können, sei darauf verwiesen, dass Organisationen, soziologisch betrachtet, lebensweltlich konstituierte Handlungszusammenhänge sind, die objektive Strukturen ausgebildet haben,
zudem spezifische Kulturen, Subkulturen und subjektive „cognitive maps“. Der Zusammenhang zwischen dem
bindenden Allgemeinen und dem individuell Besonderen ist als „Kultur“ identifizierbar. Damit sind prinzipiell
auch die Orte beschreibbar, an denen sich ein konstant gehaltener Sinnzusammenhang in der Organisation „ablagert“, jenseits von Verfassungen und Ordnungen.
9
Die Wertebindung von Handeln gilt natürlich auch für das Managementhandeln selbst, und es ist eine theoretisch und ggf. empirisch zu klärende Frage, inwiefern sie sich über Normen detailliert beschreiben und ggf. sogar
messend überprüfen ließe.
dass sich dieser Wert aus der gleichen Quelle speist, wie das bei Christinnen und Christen der
Fall ist.
Herausforderungen
Das ist einerseits eine besondere Herausforderung für die Leitungsverantwortlichen in diakonischen Organisationen. Sie müssen a.) sicherstellen, dass der Sinnzusammenhang benannt
und bekannt wird, der die diakonische Organisation trägt und ihre Existenz rechtfertig sowie
b.) alle Mitarbeitenden willkommen heißen, die sich an der Erfüllung jener Aufgaben beteiligen wollen, denen sich die Diakonie verpflichtet fühlt und sie zu einer guten Koalition zusammenführen, unabhängig von ihren jeweiligen religiösen Bekenntnissen und den Quellen
ihrer Werte. Sie müssen c.) den Rahmen für die Ermöglichung höchster fachlicher Qualität
der Leistungserbringung schaffen, da sich in der Fachleistungsqualität diakonische Identität
offenbart. Hierzu gehört auch d.) durch Personalverteilung sicher zu stellen, dass allen legitimen Bedürfnissen der AdressatInnen entsprochen werden kann, auch denen nach seelsorgerischem Beistand und christlicher Gemeinschaft.10
Das ist andererseits eine Herausforderung für die Mitarbeitenden, die den christlichen Glauben nicht teilen, trotzdem aber sich entschieden haben, ihre Fachlichkeit in den Dienst der
Diakonie zu stellen. Sie können erwarten, dass ihre Beteiligung am diakonischen Projekt die
volle Wertschätzung erfährt, müssen sich aber ihrerseits damit identifizieren, dass der diakonische Arbeitgeber ihre fachlichen Leistungen in einen christlichen Sinnzusammenhang hinein nimmt.
Das ist schließlich auch eine Herausforderung für evangelische Ausbildungsstätten und Hochschulen, die Fachkräfte ausbilden und hierbei professionelle Identitätsbildungsprozesse fördern. Sie müssen den diakonischen Sinnzusammenhang verständlich machen und zugleich
verdeutlichen, welchen Platz alle Fachkräfte – unabhängig von ihrem Glaubensbekenntnis –
in der Diakonie haben, sofern sie die Werte teilen, denen sich eine Diakonie verpflichtet zu
fühlen hat, die Diakonie sein will.
Prof. Dr. Matthias Nauerth
Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie (Rauhes Haus)
Horner Weg 170
22111 Hamburg
[email protected]
[email protected]
10
Mit der analytischen Unterscheidung von normativem, strategischem und operativem Management im St.
Gallener Managementmodell liegt hier ein theoretischer Rahmen vor, der für die Beantwortung sich hieraus
ergebender Fragen fruchtbar gemacht werden kann. Vgl. z.B. Peter Hauser, Emil Brauchlin.: Integriertes Management in der Praxis. Die Umsetzung des St. Galler Erfolgskonzeptes. Frankfurt am Main2004.