Gewaltbericht - Gesamtdokumentation pdf 2,13 MB

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Gewaltbericht - Gesamtdokumentation pdf 2,13 MB
AuftragnehmerInnen, Koordination,
Berichterstellung und KonsulentInnenteam
Mit der Erstellung des Berichts wurden beauftragt:
3 das Österreichische Institut für Familienforschung (Teile I bis V)
3 der Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser (Teil VI)
3 das Kinderschutzzentrum Wien (Teil VII)
Koordination und Berichterstellung der Teile I bis V: Mag.a Dr.in Brigitte CIZEK (ÖIF)
in Zusammenarbeit mit
Mag.a Gabriele BUCHNER (ÖIF)
Mag.a Veronika GÖSSWEINER (ÖIF)
Univ.Prof.Mag.Dr.Josef HÖRL (Institut für Soziologie, Universität Wien)
Dipl.Soz.Päd. Olaf KAPELLA (ÖIF)
Mag. Johannes PFLEGERL (ÖIF)
Univ. Lekt. Mag. Dr. Wolfgang PLAUTE (Lebenshilfe Salzburg)
Mag.a Reingard SPANNRING (Institut für Soziologie, Universität Wien)
Mag.a Maria STECK (ÖIF)
mit Unterstützung von
Mag.a Gisela GARY (freie Mitarbeiterin)
Mag.a Sabine BUCHEBNER-FERSTL (Diplomarbeit Medienanalyse)
Koordination des Teils VI: Mag.a Angelika HÖLLRIEGL
Berichterstellung des Teils VI:
Mag.a Birgit APPELT (Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser)
Mag.a Angelika HÖLLRIEGL (ehem. Mitarbeiterin des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser)
DSA Rosa LOGAR (Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser)
Koordination und Berichterstellung des Teils VII:
DDr. Alain SCHMITT (ehem. Mitarbeiter des Kinderschutzzentrums Wien)
Mag.a Sabine FUNK (freie wissenschaftliche Mitarbeiterin)
KonsulentInnenteam
Für Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 o.Univ.-Prof.Dr. Max H. FRIEDRICH (Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und
Jugendalters, Wien)
3 Hon.Prof.Dr. Udo JESIONEK (Jugendgerichtshof, Wien)
Für Teil III: Gewalt gegen Männer
3 Univ.Lekt.Mag. Holger EICH ( Kinderschutzzentrum Wien)
3 Univ. Prof. Dr. Uwe SIELERT, (Christian-Albrechts-Universität, Institut für Pädagogik, Kiel)
Für Teil IV: Gewalt gegen alte Menschen
3 Mag.a Dr.in Margit SCHOLTA (Pro Senectute, Altenbetreuungsschule des Landes Oberösterreich)
Für Teil V: Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen:
3 Mag.a Monika BERGMANN (Lebenshilfe Österreich, Wien)
Der Bericht wurde in der Zusammenstellung nach den AuftragnehmerInnen gegliedert.
Gewalt in der Familie
7 33
Inhalt
Vorwort und Einleitung für die Teile I-V
Brigitte Cizek
Teil I
1
2
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
3
3.1
3.2
4
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
4.6
4.7
4.8
4.9
5
Teil II
1
1.1
1.2
10
Grundlagen zu Gewalt in der Familie
16
Definition von Gewalt
Olaf Kapella, Brigitte Cizek
Entwicklung des Gewaltverständnisses
Brigitte Cizek, Gabriele Buchner
Ein kurzer historischer Abriss über familiäres Gewaltverständnis
Die Feministische Bewegung und ihr Kampf
gegen die Gewalt an Frauen
Kinderschutzbewegung und ihr Kampf gegen die Gewalt an Kindern
Gedanken über eine Kooperation zwischen Frauen- und Kinderschutz-Bewegung
Gewaltforschung
Zusammenfassung
Erklärungsansätze für das Phänomen Gewalt in der Familie
Johannes Pflegerl, Brigitte Cizek
Einleitung
Ansätze zur Erklärung von Gewalt in der Familie bzw.
Gewalt im sozialen Nahraum
Problemstellungen der Forschung
Johannes Pflegerl, Brigitte Cizek
Einleitung
Datenquellen
Methodologische Grundprobleme der Forschung über Gewalt in der Familie
Auswahlverfahren
Erhebung von Daten
Themenspezifische methodische Probleme
Dunkelfeld – „Crux der Kriminalstatistik“
Forschung über Gewalt in der Familie – auch eine Frage der Ethik
Zusammenfassung
Gewalt in der Familie – ein Überblick über die Gesetzeslage
der letzten zehn Jahre
Veronika Gössweiner, Brigitte Cizek
18
20
20
22
24
29
30
34
36
36
37
56
56
56
57
58
59
61
62
66
68
69
Literaturverzeichnis zu Teil I
72
Gewalt gegen Kinder
75
Definition von Gewalt gegen Kinder
Olaf Kapella, Brigitte Cizek
Physische Gewalt
Psychische Gewalt
82
7 43
82
83
Gewalt in der Familie
1.3
1.4
2
2.1
2.2
3
3.1
3.2
3.3
3.4
4
4.1
4.2
4.3
5
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
6
6.1
6.2
6.3
7
7.1
7.2
7.3
7.4
7.5
8
8.1
8.2
8.3
8.4
8.5
Sexuelle Gewalt
Zusammenfassung
Ein kurzer historischer Abriss über Gewalt gegen Kinder
Gabriele Buchner, Brigitte Cizek
Gewalt gegen Kinder – ein Blick in die Vergangenheit
Gewalt gegen Kinder – heute
Ursachen von Gewalt gegen Kinder
Johannes Pflegerl, Brigitte Cizek
Einleitung
Ursachen für physische Gewalt gegen Kinder
Ursachen für psychische Gewalt gegen Kinder
Ursachen für sexuelle Gewalt gegen Kinder
Kinder als Opfer
Gabriele Buchner, Brigitte Cizek
Begriff „Opfer“
Soziodemografische Faktoren und familialer Hintergrund
Zusammenfassung
Täter und Täterinnen
Gabriele Buchner, Brigitte Cizek
„TäterInnen“-Begriff
Physische Gewalt
Psychische Gewalt
Sexuelle Gewalt
Resümee
Exkurs: Geschwisterliche Gewalt
Maria Steck, Brigitte Cizek
Physische Gewalt
Sexuelle Gewalt
Zusammenfassung
Exkurs: Gewalt von Kindern gegen Eltern
Maria Steck, Brigitte Cizek
Gewaltformen
Soziodemographische Faktoren
Ursachen
Folgen
Zusammenfassung
Signale und Folgen gewaltsamer Handlungen an Kindern
Brigitte Cizek, Olaf Kapella, Maria Steck
Einteilung von Signalen und Folgen
Diagnostische Möglichkeiten zur Erfassung von Signalen und Folgen
Einflussfaktoren auf das Ausmaß der Folgen von Gewalterfahrungen
Auswirkungen physischer und psychischer Gewalt
Auswirkungen sexueller Gewalt
Gewalt in der Familie
7 53
84
90
91
91
95
97
97
97
121
122
128
128
128
137
139
139
139
145
147
170
173
174
180
182
184
184
184
186
188
188
189
189
190
194
196
201
8.6
9
9.1
9.2
9.3
9.4
Teil III
1
2
2.1
2.2
2.3
3
3.1
3.2
4
4.1
4.2
5
5.1
Teil IV
1
2
3
4
5
5.1
5.2
5.3
5.4
Zusammenfassung
Prävention und Intervention
Brigitte Cizek, Maria Steck, Veronika Gössweiner
Allgemein
Grundlagen von Prävention und Intervention bei Gewalt
Österreichspezifische Maßnahmen
Zusammenfassung
211
222
245
257
Literaturverzeichnis zu Teil II
259
Gewalt gegen Männer
Johannes Pflegerl, Brigitte Cizek, Maria Steck, Olaf Kapella
271
Einleitung
Historischer Abriss
Formen von Gewalt
Physische Gewalt
Psychische Gewalt
Sexuelle Gewalt
Ergebnisse empirischer Untersuchungen
Empirische Ergebnisse zu Gewalt gegen Männer
aus vergleichenden Direktbefragungen
Untersuchungen über Strafanzeigen
Frauen als Täterinnen – Männer als Opfer
Physische Gewalt von Frauen gegen Männer
Tötungsdelikte von Frauen an Männern
Reaktionen von Männern auf Gewalt
Bewältigungsstrategien von Männern
Zusammenfassung
274
275
279
279
279
280
282
282
287
289
289
290
294
294
300
Literatur zu Teil III
302
Gewalt gegen alte Menschen
Josef Hörl, Reingard Spannring
305
Gewalt gegen alte Menschen – ein spätes Thema
Historische und interkulturelle Variationen von
Status und Macht „der Alten“ in der Familie
Die Bandbreite von Gewalt gegen alte Menschen
Dunkelfeld und Methodenprobleme
Umfang von Gewalterfahrungen alter Menschen
Kriminalität (ohne vorher bestehende Beziehung zwischen Täter und Opfer)
Gewalt in Pflegeeinrichtungen
Gewalt im sozialen Nahbereich
Gewalt in der Familie gegen pflegebedürftige alte Menschen
308
309
7 63
210
211
313
316
318
318
319
320
322
Gewalt in der Familie
5.5
6
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
7
8
8.1
8.2
8.3
8.4
8.5
8.6
8.7
8.8
9
9.1
9.2
9.3
9.4
Teil V
1
2
3
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
4
4.1
4.2
4.3
5
5.1
6
Fallbeispiele von Gewalt gegen alte Menschen im sozialen Nahraum
Ursachen und Bedingungskonstellationen für Gewalt im sozialen Nahraum
(Wechselseitige) Abhängigkeiten zwischen Opfer und Täter
Fehlende Distanzierungsmöglichkeiten
Soziale Isolation bzw. unzureichende soziale Unterstützung
Psychische und körperliche Überforderungssituationen
Biografische Prädispositionen und der intergenerationelle Gewaltkreislauf
Theoretische Erklärungsansätze zur Gewalt gegen alte Menschen
Gespräche mit Expertinnen und Experten
Formen und Orte der Gewalt
Problematik des Dunkelfelds
Überforderungen und wechselseitige Verstrickungen
Negative „Netzwerk“-Effekte
Soziale Problemfamilien
Rolle von Sachwaltern
Rolle des Pflegegeldes
Chancen und Grenzen von Eingriffen und Vorbeugungen
Praxisrelevante Schlussfolgerungen zur Prävention von Gewalt gegen alte Menschen
Die Öffentlichkeit
Die professionellen Kräfte
Die (pflegenden) Angehörigen
Die betroffenen alten Menschen selbst
325
327
327
328
328
329
330
332
334
334
335
335
336
336
336
337
337
339
339
339
340
341
Literatur zu Teil IV
342
Gewalt gegen Menschen mit Behinderung
Wolfgang Plaute
345
Einleitung
Der Begriff Behinderung
Formen der Gewalt
Physische Gewalt
Psychische Gewalt
Sexuelle Gewalt
Sachbeschädigungen, die sich gegen Menschen mit Behinderungen richten
Institutionelle Gewalt
Die Opfer
Risikofaktoren
Die Folgen
Intervention
Die TäterInnen
Gewaltanwendung durch Gruppen bzw. durch einzelne Personen
Lebenswert-Diskussion als ein gesellschaftlicher Hintergrund der Gewalt
gegen Menschen mit Behinderung
348
349
351
351
352
354
356
356
360
360
360
361
362
362
363
Gewalt in der Familie
7 73
7
8
8.1
8.2
Teil VI
1
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
2
2.1
3
3.1
3.2
3.3
3.4
4
4.1
4.2
4.3
5
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
6
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
6.6
Zusammnfassung
Anhang
Formen und Ursachen verschiedener Behinderungsformen
Presse-Meldungen über Gewaltvorfälle in Österreich im Zeitraum 1988-1999
365
366
366
371
Literatur zu Teil V
374
Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder
Birgit Appelt, Angelika Höllriegl, Rosa Logar
377
Einleitung
Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder in der Familie – Grundlagen
Forschung im Bereich Gewalt gegen Frauen
Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in der Familie
Kinder, die vergessenen Opfer – über den Zusammenhang
von Frauenmisshandlung und Kindesmisshandlung
Gewalt gegen Frauen im internationalen Recht und
in internationalen Vereinbarungen
Zusammenfassung
Österreichische Studien zu Gewalt an Frauen in der Familie
Zusammenfassung
Fortbildungs- und Schulungsprojekte
Polizei- und Gendarmerieschulungen
Schulungsprojekt „Gegen Gewalt an Frauen handeln“
Fortbildungsangebote für Familienberatungsstellen
Zusammenfassung
Hilfseinrichtungen zur Intervention und Prävention
Frauenhäuser
Beratungsstellen für Frauen in Gewaltbeziehungen
Zusammenfassung
Initiativen und Reaktionen staatlicher Stellen
Die Plattform gegen die Gewalt in der Familie
Ministerratsvorträge
Campagnen
Schulungsmaßnahmen
Sonstige Maßnahmen
Zusammenfassung
Rechtliche Neuerungen und Änderungen
Das Gewaltschutzgesetz
Änderungen im Bereich des Sexualstrafrechts
Änderungen im Bereich der Strafprozessordnung
Opferrechte, Schadenersatz und Schmerzensgeld
Änderungen im Ärztegesetz 1998
Zusammenfassung
383
384
385
406
414
7 83
417
422
423
431
432
433
435
438
438
439
439
442
444
445
445
447
450
451
451
451
453
453
461
462
464
465
466
Gewalt in der Familie
7
7.1
7.2
7.3
Teil VII
1
1.1
1.2
2
2.1
2.2
3
3.1
3.2
3.3
4
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
4.6
4.7
4.8
4.9
4.10
4.11
5
5.1
5.2
5.3
5.4
Rezeption von Gewalt an Frauen in der Familie durch die Medien
Gewaltberichterstattung in den Medien
Die inhaltsanalytische Untersuchung
Zusammenfassung
467
468
470
494
Literatur zu Teil VI
497
Zwischen Alltäglichkeit und Sensation – die Darstellung innerfamiliäler
Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in den österreichischen Printmedien
Sabine Funk, Alain Schmitt
503
Einleitung
Komplexität von Gewalt in der Familie
Der massenmediale Umgang mit „Material“ und Gewalt
Stand der Forschung
Forschung zur printmedialen Darstellung von Gewalt
Die mediale Darstellung von Opfern und TäterIn
Untersuchungsdesign
Warum diese Studie?
Fragestellungen
Methoden
Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Sollten Sie täglich Zeitung lesen, …
Entwicklung 1989-1999: Ein quantitativer Überblick über den Wandel
Gewaltformen: Dominanz von physischer und sexueller Gewalt
Räumliche Nähe und soziale Distanz
Gechlechterverhältnisse und Altersstrukturen
Anonymisierung – Schutz der Identität der Betroffenen
Die Darstellung von Opfern, TäterInnen und Tat
Die Darstellung der Ursachen und Folgen
Berichte über Gewalt gegen Kinder = Kriminalberichterstattung
Journalistische Eintagsfliegen
Themen und Inhalte der allgemeinen Berichterstattung
Schlussfolgerungen und Diskussion
Gewalt gegen Kinder – ein Medienthema mit Grenzen
Berichterstattung als (verzerrtes) Abbild der Wirklichkeit?
Thematisierung, Information, Nachrichtenfaktoren, Kritik,
Kontrolle, Professionalisierung
Umgang mit den Medien: Einige Hinweise
506
506
509
513
513
514
515
515
515
516
517
517
518
520
522
524
525
526
528
530
530
531
538
538
538
539
Literatur zu Teil VII
543
Verzeichnis der AutorInnen und KonsulentInnen
Gewalt in der Familie
7 93
540
547
Vorwort und Einleitung
für die Teile I-V
Gewalt in der Familie sowie im sozialen Nahraum wird heute in vielen Ländern als gesamtgesellschaftliches Problem erkannt. In den 60-er Jahren
machte die Frauenbewegung in den USA erstmals
auf die Thematik der Gewalt gegen Frauen und C.
Henry Kempe et al. mit ihrem Artikel „The
Battered-Child Syndrome“ (1962) auf die Misshandlung von Kindern aufmerksam. Seit dieser Zeit
widmete sich eine Reihe von WissenschafterInnen
und in der Praxis tätigen ExpertInnen der Erforschung dieser komplexen, in den anglo-amerikanischen Ländern unter dem Begriff „intimate violence“
(Gelles 1988) zusammengefassten Problembereiche.
Um gegen Gewalt in nahen Beziehungsverhältnissen wirksam vorgehen zu können, ist nicht nur
die Zusammenarbeit weiter Gesellschaftsbereiche,
d.h. unterschiedlicher Berufsgruppen notwendig.
Ebenso ist die Kenntnis der kausalen Faktoren, des
Kontextes und der begleitenden Aspekte sowie der
Auslösemomente einerseits und der bereits bestehenden Interventions- und Präventionsmodelle
sowie -strategien andererseits unumgänglich.
Mit dem vorliegenden Bericht wurde daher vom
ÖIF ein umfassendes Werk zum Thema Gewalt in
der Familie und im sozialen Nahraum erstellt, das
sowohl die vielfältigen Formen der Gewalt (physische, psychische, sexuelle Gewalt sowie verschiedene Formen der Vernachlässigung) als auch mögliche
Gruppen betroffener Menschen (Kinder, Männer,
ältere Menschen sowie Menschen mit Behinderungen) einschließt. Dem Themenbereich Gewalt gegen Frauen widmet sich ein eigener Berichtsteil, der
vom AutorInnenteam des Vereins autonomer österreichischer Frauenhäuser erstellt wurde.
Die Thematik Gewalt in der Familie und im
sozialen Nahraum wurde umfassend und unter
Verwendung aktueller nationaler, deutschsprachiger als auch ergänzender internationaler Forschungsergebnisse und -ansätze sowie mittels Datenmaterialien dargestellt, erläutert und diskutiert.
Der Begriff der „innerfamiliären Gewalt“ umfasst verschiedene Formen von Gewalt innerhalb
familiärer und partnerschaftlicher Beziehungen in
all ihren Ausprägungsformen. Godenzi definiert in
seiner gleichnamigen Studie die „Gewalt im sozialen Nahraum“ als „schädigende interpersonale Verhaltensweisen, intendiert oder ausgeübt in sozialen
Situationen, die bezüglich der beteiligten Individuen durch Intimität und Verhäuslichung gekennzeichnet sind. Die Definition impliziert, dass weder
die Blutsverwandtschaft noch der Zivilstand der
Beteiligten begriffsrelevant ist. Einbezogen sind
also auch z.B. Übergriffe von Lebenspartnern allein
erziehender Mütter gegen deren Kinder oder Gewaltakte in Konkubinatsverhältnissen. Die Begriffssetzung ist deskriptiv und folgt einem lokalen
Kriterium (Nahraum) und nicht einer sozialen
Organisationsform (z.B. Familie). Dadurch ist kein
Vorentscheid über allfällige Ursachen oder Einflussvariablen der Gewalt gefällt.“ (Godenzi 1996,
S. 27).
Der Bericht gliedert sich in fünf Teile und wird
durch einen allgemeinen Teil mit einer Darstellung
unterschiedlicher Definitionen von Gewalt eingeleitet. Dies ist im Hinblick auf die Diskussion der
verschiedenen Daten und Statistiken über Inzidenz
und Prävalenz von Gewalt in der Familie notwendig, da diesen zumeist unterschiedliche Definitionen zu Grunde liegen, die eine Vergleichbarkeit nur
bedingt zulassen. Nach einer ausführlichen Darstellung der Entwicklung des Gewaltverständnisses
wird auf verschiedene theoretische Erklärungsansätze und -konzepte eingegangen. Im Kapitel
Problemstellungen in der Forschung wird die
Schwierigkeit der Erforschung von „Gewalt in der
Familie“ diskutiert sowie im Besonderen auf die
Frage nach der Abschätzbarkeit etwaiger Dunkelziffern eingegangen. Die Darstellung der österreichischen Gesetzeslage der letzten zehn Jahre
bezüglich Gewalt in der Familie sowie im sozialen
Nahraum schließt den allgemeinen Teil ab.
Der zweite Teil des Berichts widmet sich der
Thematik der Gewalt gegen Kinder. Neben der
Darstellung der unterschiedlichen Gewaltformen,
7 10 3
Gewalt in der Familie
denen Kinder ausgesetzt sind, zeigt ein historischer
Abriss, dass trotz des gebrochenen Schweigens
bezüglich Gewalt gegen Kinder heute zwar schon
essenzielle Schritte gemacht werden konnten, nach
wie vor aber großer Handlungsbedarf besteht. Im
darauf folgenden Ursachenkapitel wird ein Überblick über die Vielzahl der vorhandenen Erklärungsmodelle zur Thematik Gewalt gegen Kinder
gegeben. Die Darstellung der Situation der Opfer
sowie die Frage nach den TäterInnen wird anschließend näher beleuchtet. Im Kapitel Signale und
Folgen wird den Hilfeschreien der Kinder nach
Gewalterfahrungen sowie deren Folgen nachgegangen. Im Rahmen der Darstellung von Präventionsund Interventionsmaßnahmen wird die Vielzahl der
österreischspezifischen Maßnahmen in diesem
Bereich aufgezeigt. Besonderes Augenmerk wird in
zwei Exkursen auf die von der Forschung vernachlässigte Thematik der Gewalt von Kindern an ihren
Eltern sowie unter Geschwistern gelegt.
Der dritte Teil setzt sich mit der Thematik der
Gewalt gegen Männern auseinander, die einerseits
im Rahmen des Forschungsfeldes Gewalt in der
Familie eine Randstellung einnimmt und andererseits auch ein sehr umstrittenes Themenfeld darstellt. Zu Beginn wird ein kurzer historischer Abriss zu dieser Thematik vermittelt. Nach der Darstellung der unterschiedlichen Formen von Gewalt
gegen Männer folgt ein Überblick über Ergebnisse
internationaler Untersuchungen, in denen die Problematik Gewalt gegen Männer zum Gegenstand
des Forschungsinteresses wurde. Nach dem Eingehen auf die Frage nach den TäterInnen sowie der
Rolle der Opfer werden abschließend unterschiedliche Bewältigungsstrategien dargestellt und diskutiert.
Im vierten Teil wird der Frage nach der Gewalt
an alten Menschen nachgegangen, welche ein gesellschaftlich tabuisiertes und wissenschaftlich unzureichend erforschtes Problemfeld darstellt. Einleitend wird die Bandbreite der Gewalt gegen alte
Menschen aufgezeigt sowie auf einzelne Gewaltformen näher eingegangen. Das Kapitel Dunkelfeld
Gewalt in der Familie
und Methodenprobleme weist darauf hin, dass bei
der Gewalt gegen alte Menschen im sozialen Nahbereich ein noch größeres Dunkelfeld besteht und
Anzeigen und strafrechtliche Verfolgung extrem
selten sind. Im Weiteren wird das Phänomen der
fließenden Grenzen in der Gewaltdefinition bezüglich dieser Thematik beleuchtet. Im Kapitel Umfang von Gewalterfahrungen alter Menschen wird
anhand von authentischen Fällen illustrativ gezeigt,
in welchen konkreten Kontexten Gewaltbeziehungen entstehen können, wie sie sich entwickeln und
welchen Abschluss sie finden. Daran anschließend
wird auf die Ursachen von Gewalt gegen alte
Menschen eingegangen und theoretische Erklärungsansätze werden dargestellt. Praxisrelevante
Schlussfolgerungen zur Prävention von Gewalt
gegen alte Menschen runden diesen Berichtsteil ab.
Der letzte Berichtsteil beschäftigt sich mit der
Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen. Im
Kapitel Definitionen wird aufgezeigt, dass sich
Menschen mit Behinderungen nicht nur nach Art
und Schweregrad der Behinderung, sondern in den
daraus resultierenden Lebensbedingungen unterscheiden. Dadurch wird Gewalt gegen Menschen
mit Behinderungen zu einem sehr komplexen und
schwer zu beschreibenden Phänomen. In der
anschließenden Darstellung unterschiedlicher
Formen der Gewalt wird auf spezifische Formen im
Rahmen dieser Thematik hingewiesen. Im Opferkapitel wird neben der Darstellung von Risikofaktoren auf die Folgen, getrennt nach Gewaltformen, eingegangen und Wege der Intervention
werden aufgezeigt und diskutiert. Abschließend
wird der Frage nach den TäterInnen nachgegangen
und die Ursache von Gewalt an Menschen mit Behinderungen aus einem gesellschaftlichen Hintergrund beleuchtet.
An dieser Stelle möchte ich die Chance ergreifen, all jenen zu danken, durch deren Einsatz dieser
Bericht zu Stande gekommen ist.
Für all die Mühen, die mit der Erstellung dieses
Berichts verbunden waren, ist es mir ein besonderes
7 11 3
Anliegen, in erster Linie den AutorInnen des vorliegenden Berichts zu danken. Durch die einzelnen,
sehr differenzierten Beiträge wurde dem Anliegen
entsprochen, aus unterschiedlichen Blickwinkeln
und für verschiedene Gruppen von Menschen, die
von Gewalt betroffen sein können, diese Thematik
zu beleuchten.
Herzlich möchte ich auch den Expertinnen und
Experten des Konsulententeams danken, deren
Rückmeldungen in die einzelnen Berichtsteile eingeflossen sind und dadurch zu einer Horizonterweiterung geführt haben.
Last but not least bedanke ich mich bei all jenen
AbteilungsleiterInnen und SachbearbeiterInnen des
BMSG, die Rückmeldungen zu den einzelnen
Berichtsteilen gegeben haben. Stellvertretend
möchte ich namentlich Frau Dr. Lisa Lercher nennen, die als zuständige Sachbearbeiterin alle Rückmeldungen seitens des BMSG koordiniert hat. Für
die intensive Zusammenarbeit mit dem ÖIF und
den bereichernden inhaltlichen Diskussionen spreche ich meinen besonderen Dank aus.
Brigitte Cizek
7 12 3
Gewalt in der Familie
Teil I:
Grundlagen zu
Gewalt in der Familie
Gabriela Buchner
Brigitte Cizek
Veronika Gössweiner
Olaf Kapella
Johannes Pflegerl
Gewalt in der Familie
7 13 3
Übersicht
1
2
2.1
2.2
2.2.1
2.3
2.3.1
2.3.2
2.3.3
2.3.4
2.4
2.5
2.5.1
2.5.1.1
2.5.1.2
2.5.2
2.5.3
3
3.1
3.2
3.2.1
3.2.1.1
3.2.2
3.2.2.1
3.2.2.2
3.2.2.3
3.2.3
3.2.3.1
3.2.3.2
3.2.3.3
3.2.4
4
4.1
4.2
Definition von Gewalt
Zusammenfassung
16
18
Entwicklung des Gewaltverständnisses
Ein kurzer historischer Abriss über familiäres Gewaltverständnis
Die Feministische Bewegung und ihr Kampf
gegen die Gewalt an Frauen
Der Feminismus und sein Werdegang
Kinderschutzbewegung und ihr Kampf gegen die Gewalt an Kindern
Die Kinderschutzbewegung und ihr Werdegang
Traditionelle versus neue Kinderschutzarbeit
Kinderschutz-Zentren zur Unterstützung unterdrückter
und misshandelter Kinder
Gründung und Etablierung von Kinderschutz-Zentren in Österreich
Gedanken über eine Kooperation zwischen Frauen- und
Kinderschutz-Bewegung
Gewaltforschung
Allgemeine Gewaltforschung: Mainstream versus Innovation
Merkmale der Mainstreamgewaltforschung
Merkmale der neueren Gewaltforschung
Diskussion über die Forschung zu „Gewalt in der Familie“
Entwicklung der familialen Gewaltforschung
Zusammenfassung
20
20
22
22
24
24
25
26
27
29
30
30
31
31
32
33
34
Erklärungsansätze für das Phänomen Gewalt in der Familie
Einleitung
Ansätze zur Erklärung von Gewalt in der Familie bzw.
Gewalt im sozialen Nahraum
Personenzentrierte Theorien
Psychopathologische Ansätze
Sozialpsychologische Ansätze
Soziale Lerntheorien
Stresstheorien
Symbolischer Interaktionismus
Soziokulturelle und soziostrukturelle Theorien
Ressourcentheoretische Ansätze und Theorien zur Statuskonsistenz
Systemtheoretische Ansätze
Feministische und patriarchatskritische Ansätze
Zusammenfassung
37
37
39
39
40
41
43
43
46
53
54
Problemstellungen der Forschung
Einleitung
Datenquellen
56
56
56
7 14 3
36
36
37
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
4.3
4.4
4.5
4.6
4.6.1
4.6.2
4.7
4.8
4.9
5
Methodologische Grundprobleme der Forschung
über Gewalt in der Familie
Auswahlverfahren
Erhebung von Daten
Themenspezifische methodische Probleme
Methodische Probleme bei der Erforschung von
physischer und psychischer Gewalt
Methodische Probleme bei der Erforschung sexueller Gewalt
Dunkelfeld – „Crux der Kriminalstatistik“
Forschung über Gewalt in der Familie – auch eine Frage der Ethik
Zusammenfassung
57
58
59
61
61
61
62
66
68
Gewalt in der Familie – ein Überblick über die Gesetzeslage
der letzten zehn Jahre
69
Literaturverzeichnis
72
Tabellen, Skizzen und Abbildungen
Abbildung I.1: Kinderschutzzentren in Österreich
28
Skizze I.1:
Ein systemtheoretisches Modell zur Erklärung familiärer Gewalt –
Modell von Straus (Straus 1973, S.118-119) (Eigenübersetzung)
50
Tabelle I.1:
Übersicht über die Gesetze im Zusammenhang
mit Gewalt in der Familie – Stand 1989 bis 2000
70
Gewalt in der Familie
7 15 3
1 Definition von Gewalt
Olaf Kapella, Brigitte Cizek
Der Begriff „Gewalt“ ist fest in unserer Alltagssprache integriert, darunter wird jedoch Unterschiedliches verstanden. Betrachtet man jene Publikationen, die sich mit dem Gewaltbegriff auseinandersetzen, gewinnt man sehr schnell den Eindruck,
dass die Suche nach einem einheitlichen und allgemein gültigen Gewaltbegriff sich als sehr schwierig
gestaltet, ja sogar ein fast unmögliches Unterfangen
darstellt. Je nach Disziplin bzw. theoretischem
Hintergrund werden verschiedene Gewaltbegriffe
verwendet und diese unterschiedlich definiert.
Im Folgenden wird der Versuch unternommen,
einen Überblick über den derzeitigen Diskurs des
Gewaltbegriffes aus verschiedenen Blickwinkeln zu
geben. Im Anschluss daran werden Klassifizierungen vorgestellt, die dieser Auseinandersetzung zu
Grunde liegen
Der Begriff „Gewalt“ lässt sich vom altdeutschen Wort „waltan“ bis zu seiner indogermanischen Wurzel „ual-dh-“ zurückverfolgen. Laut Herkunftswörterbuch steht die indogermanische Wurzel für „stark sein, beherrschen“. Das altdeutsche
Wort „waltan“ bezeichnet das spezifische Merkmal
eines Herrschenden. Das heißt, Gewalt dient zur
Machtausübung, zum Gefügigmachen und wird bei
Ungehorsam zur Bestrafung und zur Unterdrückung angewandt (Duden 1989; Endruweit
1989).
Psychologisch ausgerichtete Publikationen unterscheiden in diesem Zusammenhang zwei Begriffe, jenen der Aggression und der Gewalt.
Den Begriff „Aggression“ beschreibt die Psychologie als eine beabsichtigte Handlung: „Aggression ist eine Verhaltenssequenz, deren Zielreaktion
die Verletzung einer Person ist, gegen die sie gerichtet ist.“ (Bierhoff 1998, S. 5). „Gewalt“ wird in
der Psychologie mit „instrumenteller Aggression“
gleichgesetzt. Eine instrumentelle Aggression
„stellt ein schädigendes Verhalten dar, das durch
den Wunsch nach Bereicherung motiviert ist“, im
Gegensatz zur „impulsiven Aggression“, die durch
Ärger und Frustration ausgelöst wird (Bierhoff
1998).
Eine sehr umfassende Definition von „Aggression“ ist jene von Zillmann (1979). Danach ist eine
Aktivität dann als „Aggression zu definieren, wenn
von der handelnden Person versucht wird, einer anderen Person körperlichen Schaden oder psychischen
Schmerz zuzufügen, und wenn das Opfer gleichzeitig danach strebt, eine solche Behandlung zu vermeiden.“ (Bierhoff 1998, S. 6). Aggression kann
offensiv oder defensiv ausgeübt werden – die defensive Variante kann zum Beispiel der Verteidigung
dienen. Weiters kann unterschieden werden, ob
eine Aggression nicht provoziert oder provoziert
ausgelöst wird (Bierhoff 1998, S. 6).
Szabo beschreibt weiter, dass in der Psychologie
jedes, insbesondere das affektbedingte Angriffsverhalten des Menschen, das auf einen Machtzuwachs des Angreifers und eine Machtminderung
des Angegriffenen zielt, als Aggression bezeichnet
wird. Aggression äußert sich hierbei als Reaktion
auf wirkliche oder vermeintliche Bedrohung der eigenen Machtsphäre (Szabo 1997).
Laut Geen & Donnerstein (1983) liegt Aggression jeder Gewaltanwendung zu Grunde.
Godenzi (1996) verweist darauf, dass man sich
im wissenschaftlichen Definitionsdiskurs auf einen
Minimalkonsens einigen konnte: „Aggression ist ein
Verhalten, welches mit der Absicht ausgeführt wird,
jemandem zu schaden [...]. Kaum festgelegt, erhoben sich Gegenstimmen. Die Definition sei zu eng,
sie schließe konstruktive Aggression aus [...]. Positiv
dürfe eine aggressive Interaktion allerdings nur
dann gewertet werden, wenn sie auf dem Einverständnis aller beteiligten Akteure stattfinde.“
(Godenzi 1996, S. 29).
In diesem Sinn kennt die Psychologie nicht nur
die negative Ausformung der Aggression sondern
verweist auch immer wieder darauf, dass sie eine
dem Menschen innewohnende Kraft ist, die dem
Individuum zu schöpferischen und kreativen Verhalten verhelfen kann und ihm letztlich auch das
Überleben ermöglicht.
Bei soziologischer Betrachtung zeigt sich auch
sehr schnell die Vielschichtigkeit des Begriffes.
7 16 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
„Gewalt bezeichnet destruktiv intendierte
Operationen als ultimatives Mittel der Machtausübung im Rahmen einseitiger Über- bzw. Unterordnungsverhältnisse beruhend auf äußerlicher
Überlegenheit ohne Anerkennung durch die Unterlegenen (violentia). ... Dabei kann eher der interpersonale (vgl. z.B. Werbik) oder eher der gesamtgesellschaftliche Bereich betrachtet werden. ... Ein
institutioneller Gewalt-Begriff, der die ‚intendierte
... Beschädigung von Leib und Leben‘ nicht nur ‚auf
situativ bedingte, spontane Zwangsinteraktionen,
sondern ... auch dauerhafte, rechtlich sanktionierte
Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse‘ (Waldmann, 10) bezieht, soll über den Begriff der strukturellen Gewalt nach Galtung (Waldmann, 8/9;
Matz, 70ff; Zimmermann, 9/10), der eine Verhinderung möglicher Lebensverwirklichung in einer
Gesellschaft als Hinweis auf Gewalt ansieht, hinausführen. Dabei ist rationale, instrumentelle und
irrationale sowie kommunikative Verwendung von
Gewalt möglich; sie kann individuell und kollektiv,
spontan und organisiert ausgeübt werden, manifest
und latent, direkt bzw. indirekt sein, physische und
psychische Wirkungen haben, als legal, illegal, normal oder pathologisch empfunden werden. Aspekte
für Gewalttypologien sind: Beteiligte, Ziele, Objekte, Mittel, Strukturen, Verbreitung und Intensität
(Zimmermann, 12).“ (Endruweit 1989, S. 252).
Nedelmann beschäftigt sich in ihrer Auseinandersetzung mit verschiedenen soziologischen Strömungen bezüglich der Frage des Gewaltbegriffes.
„Im allgemeinen wird Gewalt als ein Mittel zur Erlangung von Macht verstanden. Mit dieser Definition werden zwei, um mit Max Weber zu sprechen,
‚soziologisch amorph(e)‘ (Weber 1972, S. 28) Begriffe miteinander in Beziehung gesetzt, Macht und
Gewalt. Für jede soziologische Gewaltforschung –
gleichgültig, welcher Richtung – ist es daher wichtig,
die Merkmale zu präzisieren, auf die sich der
Begriff Gewalt bezieht.“ (Nedelmann 1997, S. 61).
Nedelmann beschreibt drei Schritte, um den Gewaltbegriff einzuengen:
Gewalt in der Familie
Einen ersten Schritt zur Einengung nimmt laut
Nedelmann Heinrich Popitz vor, indem er von der
so genannten „Verletzungsoffenheit“ spricht.
„Verletzungsmächtigkeit ist nach Popitz die
Fähigkeit, die Verletzungsoffenheit anderer auszunutzen, um Macht zu erwerben, zu steigern oder
auf Dauer zu binden“ (Popitz 1992, S. 44).
Ein zweiter Schritt, der sich in der Soziologie
überwiegend durchgesetzt hat, bedeutet, den
Begriff Gewalt mit dem Merkmal der körperlichen
Verletzung zu verbinden. Nedelmann folgert daraus: „Damit hat sich die Gewaltsoziologie gegen die
Vergeistigung oder Entmaterialisierung des Gewaltbegriffs entschieden, obwohl derartige vergeistigte Auslegungstendenzen (wie sie etwa in dem Begriff der ‚strukturellen Gewalt‘ von Johan Galtung
(1975) zum Ausdruck kamen) die Diskussion eine
Zeit lang beeinflusst haben.“ (Nedelmann 1997,
S. 61).
Der dritte Schritt zur Einengung setzt für
Nedelmann Popitz in seiner Beschreibung der
Aktionsmacht. „Die bloße und die bindende
Aktionsmacht sind nach der Definition von Popitz
an die Absicht des Handelnden gebunden, einen anderen Menschen körperlich verletzen zu wollen.“
(Nedelmann 1997, S. 62).
Bach definiert Gewalt in seinen pädagogischen
Betrachtungen als „eine bestimmte Art der Durchsetzung eines Willens gegenüber anderen Personen,
Sachen und Situationen.“
Als verschiedene Merkmale dieser Durchsetzungsart beschreibt er:
3 das Fehlen rationaler Ordnung (etwa im Begriff
der ‚Naturgewalt‘);
3 die Nichtzustimmung der durch die Einflussnahme Betroffenen (etwa im Begriff ‚der
Waffengewalt‘ – oder in Goethe’s Zeile ‚und bist
du nicht willig, so brauch ich Gewalt‘);
3 in der Umgehung des Rechts, d.h. entgegen allgemeinen Verabredungen (etwa in der Formel
‚Gewalt geht vor Recht‘);
3 in der Inkaufnahme der Beschädigung des Betroffenen;
7 17 3
3 im unangemessenen Umgang mit den betreffenden Personen, Situationen, Sachen (etwa im
Begriff der ‚Vergewaltigung‘);
3 in der Komponente der Feindseligkeit oder
Blindheit gegenüber Betroffenen (Bach 1993).
2. eine breit angelegte Definition von privater
Gewalt, die jede Gewalthandlung (Klaps wie
auch Prügel) als Gewalt konzeptualisiert und
somit auch weniger schädlichere Vorfälle einbezieht (Wetzels 1997; Haller et al. 1998).
Godenzi (1996) fasst die Entwicklungen und die
Bandbreite des Gewaltbegriffes folgendermaßen
zusammen:
„In Anlehnung an die Aggressionsforschung
entstanden Versuche, Gewalt zu klassifizieren. Zunächst wurde die Unterscheidung zwischen der expressiven und der instrumentellen Gewalt aufgenommen (Megargee 1969; Wolfgang 1981). Dann
wurde mit Bezugnahme auf Buss (1961) und
Feshbach (1971) Gewalt differenziert, erstens danach, ob die Handlung persönlich oder sozial motiviert ist, zweitens nach dem Grad der Verantwortung der verursachenden Person und drittens danach, ob Tatalternativen vorliegen (Roberts
1981).“
Galtung führt 1975 eine Unterscheidung in personale Gewalt, die feindliche Auseinandersetzung
zwischen zwei Menschen, und in strukturelle
Gewalt, (Wetzels 1997), die sich auf Ungleichheitsverhältnisse bezieht und dabei den Einzelnen
in seiner eigenen Entwicklung behindert oder bedroht. (Godenzi 1996) „Die entscheidende Frage
zur Differenzierung von personaler und struktureller Gewalt lautet: Gibt es ein handelndes Subjekt,
einen Akteur, oder nicht? Im ersten Fall liegt personale oder direkte Gewalt vor, im zweiten strukturelle oder indirekte. In beiden Fällen können
Menschen verletzt oder getötet oder sonst wie geschädigt werden“, erklärt Bierhoff (Bierhoff 1998,
S. 7).
Haller und Hoelling führen in ihrer Studie
grundsätzlich zwei Zugänge als Leitlinien an, um
die Vielfalt der Ansätze in den Griff zu bekommen:
1. Enge Definition innerfamiliärer Gewalt, die nur
massive, deutlich sichtbare Gewalt anerkennt
und somit zweifelhafte Fälle ausklammert und
Neben den bereits exemplarisch angeführten
Möglichkeiten Gewaltdefinitionen zu Kategorien
zusammenzufassen, gibt es auch eine zusätzliche
Unterteilung nach ihrem Verwendungszweck:
Dazu zählen
3 normative Definitionen wie zum Beispiel Gesetze;
3 klinische Definitionen, die den durch Handlung
erfahrenen Schaden beurteilen;
3 Forschungsdefinitionen, die an klinischen Erkenntnisse als auch an normativen Bewertungen
anknüpfen können, der Schwerpunkt der Fragestellung ist klar ersichtlich;
3 gesellschaftliche Definitionen, die die sozial bedingte Beziehung zwischen Opfer und Täter beschreiben;
3 entwicklungspsychologische Definitionen, die
die mangelnde Reife von Kindern akzentuieren;
3 feministische Definitionen, die die Problematik
der männlichen Dominanz in den Vordergrund
ihrer Projekte stellen (Wetzels 1997).
Zusammenfassung
Insgesamt ist festzustellen, dass eine einzige, allgemeine und in gleicher Weise anwendbare Definition für die Problematik „Gewalt in der Familie/im sozialen Nahraum“ kaum möglich ist. Die
Definition von Gewalt muss im Zusammenhang
mit dem jeweiligen Forschungsvorhaben stehen.
Haller betont die Notwendigkeit von klaren Gewaltdefinitionen im wissenschaftlichen Diskurs,
wodurch eine Voraussetzung für den besseren Umgang mit dem Thema „Gewalt in der Familie“ gegeben ist (Haller et al. 1998).
„Der Einblick in die Auseinandersetzung um einen brauchbaren und klaren Gewaltbegriff zeigt
7 18 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
auf, dass dieser Suchprozess nicht abgeschlossen ist,
vielleicht es auch nie sein wird. Dennoch scheint
eine Folgerung wichtig: Theorien und empirische
Daten müssen auf die ihnen zu Grunde liegenden
Gewaltdefinitionen befragt werden. Nur auf diese
Weise kann einigermaßen beurteilt werden, wie
weit miteinander zu vergleichende Forschungsergebnisse sich auf einen gemeinsamen Begriff beziehen und ob die jeweiligen Konstrukte ‚Gewalt‘
reale Bezugspunkte haben.“ (Godenzi 1996, S. 38).
Gewalt in der Familie
7 19 3
2 Entwicklung des
Gewaltverständnisses
Brigitte Cizek, Gabriele Buchner
In diesem Kapitel wird zunächst ein Überblick
über das Verständnis von Gewalt in der Familie im
historischen Verlauf dargestellt. In diesem Zusammenhang wird weiters auf zwei Richtungen,
nämlich die feministische und die KinderschutzBewegung näher eingegangen, da diese in der geschichtlichen Entwicklung durch ihr hohes Engagement einen wesentlichen Beitrag zur Thematisierung familiärer Gewalt geliefert haben. Abgerundet wird das Kapitel schließlich mit einer
überblicksmäßigen Darstellung der Gewaltforschung allgemein bzw. der familialen Gewaltforschung im Besonderen.
2.1 Ein kurzer historischer Abriss
über familiäres Gewaltverständnis
Es ist anzunehmen, dass Gewalt kein „neues“
Phänomen darstellt – im Gegenteil vermutlich existiert Gewalt ebenso lange, wie die Menschheit
selbst (Godenzi 1994). Schon den so genannten
Urmenschen wird Gewaltanwendung zugeschrieben – die sich jedoch instinktiv und affektiv begründet (Elias 1992; Godenzi 1994; Trotha 1997).
Die mit der Evolution einher gehende Weiterentwicklung des Gehirns und die damit verbundene Ausprägung des Denkens und der Vernunft
führten schließlich dazu, dass der Gewalteinsatz
weniger instinktgebunden erfolgte, sondern vermehrt Entscheidungsprozessen obliegt. Es wäre
allerdings ein Trugschluss anzunehmen, dass deshalb heute grundsätzlich weniger interpersonale
Gewalt ausgeübt wird. Vielmehr wird Gewalt auch
heute ausgeübt, dient jedoch als rationelles Instrument (Godenzi 1994, S. 19).
Richtet man den Blick zur Durchleuchtung des
Gewaltverständnisses in die Vergangenheit, erscheint die Anwendung von Gewalt jahrhundertelang als gesellschaftlich akzeptiert und toleriert –
und dies besonders im familiären Bereich. Vor allem
Kinder nahmen historisch gesehen (bis zum letzten
Jahrhundert!) den untersten Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie ein – sie hatten teilweise
sogar einen noch geringeren Stellenwert als Tiere1
(Ludmann 1996).
Erste Spuren der Thematisierung von Gewalt
finden sich in juristischen Aufzeichnungen des
Römischen Reichs. Hier wurde im Jahr 374 nach
Christus erstmalig eine Kindstötung gesetzlich als
„Mord“ tituliert. Die Begründung für diesen Schritt
lag jedoch weniger in der respektvollen Haltung
gegenüber Kindern, denn Misshandlungen an
Kindern (wie Verstümmelungen, Aussetzen oder
das Töten) wurden von der damaligen Gesellschaft
bedenkenlos gebilligt. Vielmehr sollte diese juristische Ahndung von Kindsmord der damals immer
stärker werdenden Bevölkerungsabnahme in Rom
entgegenwirken (Godenzi 1994).
Aber auch Frauen besaßen kaum Rechte und
standen den Gewalthandlungen ihrer Ehemänner
machtlos gegenüber. Ein Auszug aus einem römischen Gesetzestext demonstriert die Wehrlosigkeit
von Frauen gegen die Gewaltanwendung ihrer
Ehemänner: „Der Ehemann hat das Recht, seine
Frau zu züchtigen, zu verstoßen, zu töten und zu
vergewaltigen.“ (Strasser 1998, S. 25). Wie dieses
Zitat zeigt, machte die Erniedrigung von Frauen
und Kindern auch vor sexueller Ausbeutung nicht
Halt. Sowohl Frauen als auch Kinder (Jungen wie
Mädchen) hatten sich dem Mann sexuell zu unterwerfen. Sie befanden sich gesellschaftlich gesehen
auf der Ebene des Sachwertes2 – und dies nicht nur
innerhalb der familiären Struktur, sondern auch in
außerehelichen Beziehungen und der Sklaverei
(Amann & Wipplinger 1998; Rush 1985).
1
2
7 20 3
„Während es längst Tierschutzverbände gab, waren Kinder so schutzlos wie ehe und je.“ (Ludmann 1996, S. 23).
Schon im Alten Testament wird die geringfügige
Wertigkeit von Frau und Tochter offensichtlich, wenn sie
darin in einem Atemzug mit Vieh und Knecht genannt
werden: „Du sollst nicht begehren des ... Haus, Knecht,
Weib, Vieh und alles was sein ist.“ (Amann & Wipplinger
1998, S. 40).
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
Die Begründung für die allgemeine und besonders auch die gesetzliche Wehrlosigkeit von
Ehefrauen und Kindern gegenüber den Männern
liegt v.a. in den lange Zeit vorherrschenden partriarchalen3 Gesellschaftsstrukturen, in denen der
Mann das Familienoberhaupt darstellte und somit
Machtträger über Frau, Kinder und SklavInnen
(Dienerschaft, Leibeigene, Hörige, Gesinde) war.
Diese patriarchalen Gewaltverhältnisse gewährten
ihm als Hausherrn das Recht uneingeschränkter
Befehlsgewalt über sein Eigentum und damit auch
freie Verfügung über Leben und Tod seiner Familie.
Vor allem die Gewaltanwendung in Form von körperlicher Züchtigung war häufig verbreitet und
betraf in besonderem Maße Kinder. Sie erschien als
die geeignete Methode zur Erziehung und Gewährleistung von Ordnung und Disziplin.
Diese Praktiken körperlicher Gewaltanwendung als Erziehungsmaßnahme erreichten im
18. und 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Jener
Erziehungsstil, auch als „schwarze Pädagogik“
(Rutschky 1993) bezeichnet, hatte zum Ziel, jegliche spontane Regungen von Kindern zu unterdrücken, zu reglementieren und zu bestrafen, um
einen eigenständigen Willen des Kindes gar nicht
erst aufkommen zu lassen oder ihn schon beim
ersten Aufkeimen zu brechen. Diese oberste Gehorsamkeits- und Untergebenspflicht der Kinder
3
4
Patriarchat bedeutet etymologisch „Vaterherrschaft“
und bezieht sich auf eine vaterrechtliche Gesellschaftsform, in der die Familienoberhäupter alles bestimmen (Duden 1974, S. 541). Hierbei war unter Familie
nicht ein Verwandtschaftsverhältnis zu verstehen, sondern ein auf Macht und Eigentum gegründetes Herrschaftsverhältnis (Amann & Wipplinger 1998, S. 22).
Zum Beispiel ist in der Bibel die Züchtigung gerechtfertigt, indem es heißt „(...) nur wer seine Kinder züchtiget,
der liebt sie auch.“ (Altes Testament; zit. in Ludmann
1996). Diese religiös verankerte Berechtigung zur
Prügelstrafe kam in einer besonders ausgeprägten Form
in der calvinistischen Lehre zum Ausdruck, in der
Kinder als „Kobolde der Dunkelheit“ betrachtet wurden
und „sie nur durch Zucht und Strenge ins Licht geführt“
werden könnten (Ludmann 1996, S. 23).
Gewalt in der Familie
wird zum ersten Mal am deutlichsten in der Bibel4
formuliert, womit diese Praktiken auch in religiöser
Hinsicht toleriert waren. Somit stellte die Anwendung von Gewalt besonders in der Erziehung
ein allgemein akzeptiertes Prinzip dar (Ludmann
1996).
Eine erste strukturelle Wende erfolgte mit dem
Entstehen des Kapitalismus und der Entwicklung
der bürgerlichen Kleinfamilie Ende des 18. Jahrhunderts. Ab jenem Zeitpunkt erfolgte eine allmähliche Trennung von Haus und Arbeit und eine
Zweiteilung zwischen Privatraum (Familie) und
Öffentlichkeit. Dies bewirkte eine genau definierte,
geschlechtsspezifische Aufgaben- und Rollenverteilung. Besonders in der Wissenschaft und Religion wurde eine massive Familien- und Mutterideologie produziert, die besagte, „(...) daß die
Ehefrau und Mutter die Haus- und Liebesarbeit für
Kinder und Mann (...)“ zu verrichten habe (Strasser
1998, S. 29). Der Aufgabenbereich des Mannes dagegen war in der Öffentlichkeit angesiedelt und
konzentrierte sich vorwiegend auf die Sicherung
des Erwerbseinkommens. Diese Übertragung der
alleinigen Verantwortung für Kinder und Familie
auf die Frauen führte zu einer starken Verinnerlichung des Mutterbildes bei den Frauen selbst als
auch in der Gesellschaft allgemein. Die Väter verloren ihre unmittelbare Autorität über die Kinder,
griffen aber nach wie vor in strafender Funktion
ein.
Analog mit der Herausbildung dieser „Mutterschaftsideologie“ entwickelte sich eine „MutterKind-Ideologie“ mit der Anforderung, dass die
Mutter in ihren Kindern aufgehen solle. Die Denkund Erlebniswelten der Kinder begannen vermehrt
in den Mittelpunkt mütterlicher Betrachtungen zu
rücken. Durch die Empathie gegenüber den Kindern und durch die Entdeckung ihrer Bedürfnisse
begann der gesellschaftliche Stellenwert des Kindes
stetig zu steigen – es wurde allmählich respektiert.
Trotzdem blieben Kinder nach wie vor rechtloser Besitz ihrer Eltern und erhielten keinen gesellschaftlichen Schutz. Und dies obwohl mit dem In-
7 21 3
Kraft-Treten des Bürgerlichen Gesetzbuches um
1900 das Züchtigungsrecht des Ehemannes gegenüber der Frau fiel. Kinder blieben davon ausgenommen (Strasser 1998).
Die Anerkennung von Kindern als Rechtssubjekte und die Verankerung von Kindesinteressen im Recht erfolgten erst in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhundert.
So wurde zum Beispiel die strafrechtliche Beschränkung des Züchtigungsrechts gegenüber Kindern im österreichischen Strafgesetzbuch im Jahr
1975 festgelegt.
Besonders der rechtliche Schutz der Kinder vor
sexueller Gewalt war bis in das 20. Jahrhundert
hinein nicht gegeben5 – im Gegenteil, man glaubte
noch bis zum 19. Jahrhundert, dass Geschlechtskrankheiten durch Geschlechtsverkehr mit Kindern geheilt werden könnten.
Der Straftatbestand der „Vergewaltigung in der
Ehe“ wurde in Österreich erst vor 11 Jahren (1989)
anerkannt (Strasser 1998).
Es wird augenfällig, dass familiale Gewalt erst
seit relativ kurzer Zeit als gesellschaftliches
Problem wahrgenommen wird. Die Begründung
könnte in der teilweise nach wie vor aufrechten
bürgerlichen Werthaltung liegen, welche die
Familie nach wie vor als den Bereich der tabuisierten Privatsphäre darstellt und wo lange Zeit jedes
Einmischen der Öffentlichkeit in innerfamiliäre
Angelegenheiten als Eingriff in die private Intimsphäre beargwöhnt wurde (Haller et al. 1998, S. 8).
2.2 Die Feministische Bewegung
und ihr Kampf gegen die Gewalt
an Frauen
Der feministischen Bewegung ist es zu verdanken, dass vor etwa 30 Jahren besonders das Thema
5
Und dies trotz erster Campagnen gegen sexuelle Gewalt
gegen Kinder bereits in der Renaissance.
„Gewalt gegen Frauen“ in die Öffentlichkeit getragen wurde und somit erstmals eine Sensibilisierung
für diese Problematik erreicht werden konnte.
Weltweit sahen es Frauen als ihre Aufgabe,
Gewalttaten an „Geschlechtsgenossinnen“ aufzuzeigen und das Phänomen „Gewalt gegen Frauen“
in ein Problem umzuwandeln.
Die feministische Frauenbewegung hat gerade
durch ihre Aufklärungsarbeit einen erheblichen
Beitrag zur Abwendung von Gewalt gegen Frauen
geleistet. Insbesondere der Frauenhausbewegung –
als ein Teil der feministischen Frauenbewegung – ist
es zuzuschreiben, dass die Thematik auch in den
politischen Diskurs Eingang fand, wodurch die
Gründung und vor allem die Verbreitung von
Hilfseinrichtungen zur Unterstützung von Frauen
(wie z. B. Frauenhäuser) überhaupt erst möglich
wurde.
2.2.1 Der Feminismus und
sein Werdegang
Bei der Bestimmung des Begriffs Feminismus
oder feministische Forschung liegt das Grundproblem im Umstand, dass bislang keine einheitliche, allgemein gültige und akzeptierte Definition
besteht. Die Ursache dafür begründet sich damit,
dass völlig unterschiedliche Betrachtungsweisen
feministischer Wissenschafterinnen aufeinander
prallen – besonders, wenn es Fragen zu beantworten gilt, wie: „Ist Feminismus geschlechtsneutral?“
oder „Was ist Gleichheit – mit welchen Männern
wollen Frauen gleichgestellt sein?“ (Godenzi 1994).
Es gelang jedoch, zumindest einen Minimalkonsens aller feministischen Bewegungen zu finden, der aus folgenden gemeinsamen Positionen
besteht (Endruweit & Trommsdorff 1989, S. 210f):
3 Frauen sind wegen ihres Geschlechts benachteiligt (Sexismus).
3 Es treten sowohl ihr Können als auch ihre
„Persönlichkeit“ (d.h. das, was sie sind) hinter
das Geschlechtsmerkmal „weiblich“ zurück.
3 Frauen haben spezifische Bedürfnisse, die nicht
befriedigt oder sogar verneint werden.
7 22 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
3 Die Anerkennung weiblicher Bedürfnisse verlangt eine radikale Bewusstseinsveränderung in
allen Gesellschaften.
Ausgehend von dieser Grundposition bezieht
sich der Feminismus in der Wissenschaft auf drei
Aspekte (Clemens et al. 1986):
1. eine kritische Auseinandersetzung mit der etablierten Wissenschaft;
2. die wissenschaftliche Auseinandersetzung unter
Frauen;
3. die soziale Bewegung der Frauen.
Dabei hat sich die feministische Forschung allgemein in zwei große Lager aufgespalten (Steinert
& Straub 1988). Die eine Position orientiert sich an
einem autonomen und alternativen Wissenschaftsparadigma und widmet sich der Erforschung und
Aufhebung bestehender gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Hierbei basiert die Arbeit mit den
Untersuchungsteilnehmerinnen bewusst auf Betroffenheit, Parteilichkeit und partieller Identifikation mit den Frauen, mit dem Ziel, Missstände
aufzuzeigen und eine gesellschaftliche Sensibilisierung der Thematik zu erreichen. Dieser Forschungszugang ist Teil der Frauenbewegung und
lässt daher ausschließlich Frauen als Wissenschafterinnen zu (Mies 1984).
Die zweite Position erforscht den Status quo
über die Situation der Frauen unter Verwendung
beliebiger wissenschaftlicher Methoden. Dabei
wird Augenmerk darauf gelegt, eine Haltung einzunehmen, die relativ unabhängig von politischen
Diskussionen ist. Weiters sind auch Männer dazu
aufgefordert, feministische Forschung zu betreiben,
sofern sie im Stande sind, sich eine frauenspezifische Sicht anzueignen (Godenzi 1994, S. 123).
Betrachtet man die Entwicklung der Frauenbewegung6 im Verlauf der letzten 50 Jahre besonders in Bezug auf „Gewalt gegen Frauen“, so widmeten sich die großen Vordenkerinnen der Frauenbewegung der 60er-Jahre wie de Beauvoir, Millett
und Firestone kaum der Erforschung offener
Gewalt in der Familie
Gewalttätigkeiten von Männern gegen Frauen, da
ihrer Erklärung nach die Kontrolle über Frauen
durch die patriarchalen subtilen Disziplinierungsmittel unsichtbarer und institutioneller geworden
ist. Gewalt gegen Frauen sei eigentümlich unsichtbar und so auch im wahrsten Sinne des Wortes
namenlos (Edwards 1987; Hagemann-White 1993).
Zu Beginn der 70er-Jahre änderte sich die
Einstellung der Feministinnen zur Frage der offenen Gewalt allerdings. Frauen wie Griffin, Brownmiller und Russell nahmen obige Auffassung nicht
mehr länger hin und konzentrierten sich in besonderem Maße auf die Untersuchung der direkten,
offene Gewaltformen, allen voran der Vergewaltigung. Die von ihnen aufgegriffene Gewaltdiskussion veränderte innerhalb kurzer Zeit sowohl
Sprache als auch Bewusstsein der Öffentlichkeit.
Diese Generation von Feministinnen (auch als
„Neue“ Frauenbewegung bezeichnet) enthüllte
anhand ihrer wissenschaftlichen Analysen die Rolle
gesellschaftlicher Institutionen, die Bedeutung
sozialer Vorurteile und das Ausmaß sexueller
Gewalt. Aus ihrer Perspektive ist die Misshandlung
von Frauen und Kindern weniger ein familiales
oder individuelles Problem, sondern primär
Ausdruck patriarchaler Gewaltverhältnisse. Frauen
seien gesellschaftlich benachteiligt, besonders in
rechtlicher und ökonomischer Hinsicht, weshalb
Macht und Gewalt gleichgesetzt wurden (Honig
1992).
Ihre Publikationen waren schließlich auch
Auslöser zur Gründung von Krisenzentren und
Notrufstellen für vergewaltigte Frauen. Ebenso
erreichten sie eine Modifikation des institutionellen
Umgangs mit sexueller Gewalt (Trotha 1997). Die
6
7 23 3
Die geistesgeschichtlichen Wurzeln und Prämissen liegen im politischen Feminismus des 17. und 18.
Jahrhunderts mit seinem Pochen auf Gleichheit: Man
erkannte, dass Männer als soziale Kategorie Frauen
unterdrücken – deshalb richtete sich die weibliche Kritik
auf die soziale Macht der Männer, nicht jedoch gegen
Männer an sich (Endruweit & Trommsdorff 1989).
Gewaltdiskussion fand vorwiegend auf handlungsorientierter Ebene7 statt, forciert durch Vereine,
wie „Frauen helfen Frauen“ oder „Frauen gegen
Männergewalt“, die vehement nach einer Verbreitung institutioneller Einrichtungen verlangten.
In den 80er-Jahren bildete sich eine Gegenbewegung, die die beiden früheren Positionen
einem dialektischen Diskurs unterzog. Daraus
resultierten drei Fragen, die seitdem in dieser feministischen Forschungsrichtung im Mittelpunkt stehen:
1. Welche Bedeutung hat Gewalt für die Aufrechterhaltung männlicher Herrschaft?
2. Gibt es ein generelles Gewaltphänomen oder
existieren unterschiedliche Gewaltmuster?
3. Inwiefern besteht ein Zusammenhang zwischen
männlicher Gewalt, Dominanz über Frauen
und der sozialen Konstruktion von Sexualität,
insbesondere Heterosexualität?
Während zu Beginn der neuen Frauenbewegung Generalisierungen über das Erleben von
Frauen, ihre Selbstkonzepte und Gefühle sowie die
Sensibilisierung der Öffentlichkeit, d.h. mit diesen
feministischen Themen überhaupt erst eine Auseinandersetzung einzuleiten und öffentliches Bewusstsein zu schaffen, im Vordergrund standen, hat
sich hier im Laufe der Zeit ein Wandel vollzogen.
Mittlerweile sind Feministinnen in der Lage, sich
öffentlich Gehör zu verschaffen und Einfluss auf
die Öffentlichkeit zu nehmen (Hagemann-White
1993). So liegt heute das Bestreben darin, das
Wissen um weibliche Lebensverhältnisse international voranzutreiben. Dies gelang Frauenforscherinnen besonders in den USA, wo sie z. B. den
Studienzweig „women’s studies“ institutionalisieren konnten. Außerdem wird gezielt daran gearbeitet, bestehende Prämissen und Postulate zu revidie7
Dagegen wurden auf akademischer Ebene kaum feministische Gewaltthemen aufgegriffen und haben dort auch
heute noch einen marginalen Stellenwert (HagemannWhite 1993).
ren, indem z. B. die Behauptung, dass es eine allgemeine „Frau“ gäbe, als Mythos dargestellt wird.
Schließlich reiche „Frau“ nicht aus, um eine
Bewegung oder ein Fach zu begründen. Vielmehr
sei heute ein großer Teil der Frauenforschung von
Vielfalt (und weniger Einheit/Gemeinsamkeit) und
kulturellen Relativismen geprägt (Endruweit &
Trommsdorff 1989).
2.3 Kinderschutzbewegung
und ihr Kampf gegen
die Gewalt an Kindern
Einen ebenso wesentlichen Beitrag wie die feministische Bewegung – jedoch in Bezug auf die Gewaltanwendung speziell gegen Kinder – hat die
Kinderschutzbewegung geleistet. Sie richtet(e) den
Fokus u.a. auf die Durchsetzung von Grundrechten
für Kinder. Aber auch jede Form von Misshandlung von Kindern wurde und wird verurteilt
und somit eine breite gesellschaftliche und politische Sensibilisierung und Problematisierung des
Themas Gewalt gegen Kinder angestrebt.
2.3.1. Die Kinderschutzbewegung
und ihr Werdegang
Erste Anzeichen einer Kinderschutzbewegung
lassen sich in der Zeit des aufstrebenden Kapitalismus und zunehmender Industrialisierung
erkennen. Damals herrschten in Fabriken und
Bergwerken Bedingungen einer zunehmend stärker
werdenden Ausbeutung von Kindern als Arbeitskräfte vor – und dies ohne jegliche Rücksichtnahme auf deren Gesundheit und allgemeine
Entwicklung (Egger 1998).
Somit wurde als eine erste bedeutende Kinderschutzmaßnahme die Beschränkung des Arbeitstages für Kinder eingeführt. Die Ausbeutung
der Kinder fand allerdings nicht nur im industriellen und gewerblichen Bereich statt, sondern auch
innerhalb des familialen Nahraumes. Es bedurfte
7 24 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
sowohl der Einschränkung der Heimarbeit von
Kindern als auch der generellen Begrenzung der
absoluten Herrschaftsbefugnisse der Eltern über
Kinder. Um die Jahrhundertwende setzte man sich
daher erstmals intensiver mit den Rechten von
Kindern auseinander, obwohl eine tatsächliche
Verankerung von Kindesinteressen im Recht erst in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte
(siehe Kapitel 2.1).
Der ursprüngliche Gedanke einer Verrechtlichung von Kindesangelegenheiten regte in der
Folge immer mehr Interessengemeinschaften dazu
an, regionale Kinderschutzvereine zu gründen.
Und so gelang es schließlich mit viel Engagement
einen Zusammenschluss der Interessengemeinschaften zu bewerkstelligen. Es erfolgte die Gründung des „Vereins zum Schutze der Kinder gegen
Ausnutzung und Misshandlung“, der im Jahr 1910
auf „Deutscher Kinderschutz-Verband“ (DKSV)
unbenannt wurde (Egger 1998).
Nach einer Auflösung des DKSV durch das
nationalsozialistische Regime in Deutschland, initiierte der Hamburger Arzt Lejeune die Wiedergründung des Verbandes, diesmal unter dem Namen
„Deutscher Kinderschutzbund“ (DKSB). Er konzentrierte sich besonders auf die Bekämpfung der
„elterlichen Gewalt zu übermäßiger Züchtigung“
und forderte eine Sexualerziehung, die auf Triebverzicht ausgerichtet sei. Kampagnen gegen Sittlichkeitsdelikte standen daher eindeutig im Vordergrund (Behme & Schmude 1991, S. 21ff).
Diesem (traditionellen) Kinderschutz wurde
aber bald der Vorwurf gemacht, durch seinen
„appellatorischen Moralismus“ und seine vorrangige Orientierung auf Bestrafung, wirkungslos zu
sein und mit dieser Strategie die vorherrschenden
gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse nur
noch weiter voranzutreiben und zu forcieren
(Egger 1998, S 60).
1976 formierte sich eine Initiativgruppe, basierend auf einer Seminarveranstaltung an der Berliner
Freien Universität unter der Leitung von Reinhart
Wolff, mit dem Namen „Arbeitsgruppe Kinder-
Gewalt in der Familie
schutz“. Diese Arbeitsgruppe setzte sich das Ziel,
das Modell für einen „neuen“ Kinderschutz zu entwickeln. Das Konzept sah u.a. auch die Schaffung
eines Kinderschutz-Zentrums vor (siehe Kapitel
2.3.3).
2.3.2 Traditionelle versus neue
Kinderschutzarbeit
Im traditionellen Kinderschutz standen als
oberste Prämissen die Kontrolle und die Entrechtung der Familie. Dies bedeutet, dass Maßnahmen zur Ahndung der Misshandlung von
Kindern in Form von strafrechtlicher Verfolgung,
Sorgerechtsentzug und Fremdunterbringung getroffen wurden. Allmählich erkannte man jedoch,
dass solche Maßnahmen bestehende Krisensituationen nur weiter verschärften. Die Familien
fühlten sich dadurch nur noch stärker verbunden
und reagierten durch das aufkommende Gefühl des
Verfolgtwerdens mit einer Abwehrhaltung gegen
alles, das von außen an sie heran getragen wurde
(Gautsch 1997). „Die Annahme von Hilfen und die
Möglichkeit, Krisen und familiäre Schwierigkeiten
zu bearbeiten, wurde dabei gänzlich verhindert.“
(Gautsch 1997, S. 4).
Die „neue“ Kinderschutzarbeit geht dagegen
grundsätzlich von einem erweiterten Theorieansatz
aus. In diesem wird „Gewalt“ als ein komplexes
Geschehen beschrieben, bei dem gesellschaftliche,
soziale, psychische und beziehungsdynamische
Faktoren zusammenwirken (Gautsch 1997). Ihr
Ziel ist die Überwindung der Straforientierung, um
so neue Perspektiven der Hilfe für die Betroffenen
wie für die HelferInnen zu eröffnen.
7 25 3
In einem Grundsatzpapier wurden folgende
Prinzipien dieser neu definierten modernen Kinderschutzarbeit festgelegt (Blum-Maurice 1996):
Sensibilisierung der Bevölkerung und der PolitikerInnen zu ermöglichen.
2.3.3 Kinderschutz-Zentren zur
Unterstützung unterdrückter
und misshandelter Kinder
Hilfe statt Strafe
Freiwilligkeit statt Kontrolle
Verstehen statt Manipulation
Aktivieren statt Passivieren
Verbund von (ambulanten und stationären)
Hilfen statt Zersplitterung
Frühe präventive Hilfen anstelle eines
Eingreifens im Nachhinein
Ermutigung gesellschaftlicher Selbsthilfe
Eine nähere Spezifizierung dieser Standards
enthält vereinfacht dargestellt folgende Kriterien
(Blum-Maurice 1996):
3 Der Schutz des Kindes soll in Zusammenarbeit
mit den Eltern und der ganzen Familie durch
die Analyse des Familienproblems gesichert
werden.
3 Eine Bestrafung der Familie (des Täters/der
Täterin) ist ausgeschlossen. Dabei muss unterschieden werden zwischen gegebenenfalls notwendigen Interventionen zur Sicherheit des
Kindes und straforientierten Maßnahmen.
3 Das Angebot richtet sich an die hilfsbedürftige
Familie.
3 Das Hilfsangebot bezieht sich auf die Gesamtheit problematischer Lebensumstände, wobei
die Hilfe nicht aufgesplittet, sondern fachlicher
Rat von anderen eingeholt werden soll.
3 Es erscheint nicht als sinnvoll, Anlaufstellen
gesondert einzurichten.
3 Die Vertraulichkeit wird streng gewahrt. Kontakte zu Dritten finden nur mit Einverständnis
und in der Regel auch mit der Familie statt.
Einen wesentlichen Faktor im Rahmen des
Kinderschutz stellt zusätzlich die Öffentlichkeitsarbeit dar, denn durch sie gelingt es, Kinderschutzarbeit publik zu machen und eine stärkere
Mit dem von der Berliner „Arbeitsgruppe
Kinderschutz“ erstellten Konzept eines „neuen“
Kinderschutzes (siehe Kapitel 2.3.1), war der
Grundstein für die Errichtung des ersten Kinderschutz-Zentrums im deutschsprachigen Bereich –
in der Stadt Berlin (1976) – gelegt. Das Kinderschutz-Zentrum sollte ein Ort sein, der den
Kindern ein Leben ohne Unterdrückung und Misshandlung ermöglicht (Honig 1992). Vordergründige Bestrebungen waren erstens das Aufbrechen
gesellschaftlicher Tabuisierung von familialer
Gewalt. Zweitens sollten Kinderschutz-Zentren
eine Alternative zur bestehenden und ungenügenden sozialpolitischen und therapeutischen Hilfeleistung bieten.
Dieser neue (oder auch alternative) Kinderschutz strebte nicht eine ausschließlich wissenschaftliche Tätigkeit an, sondern verstand sich besonders als soziale Praxis, weshalb zunächst die
Schaffung eines eigenen Terrains, d.h. eigenständige
Problemdefinitionen und Praktiken, erforderlich
waren.
Folglich wurde ein allgemeiner Forderungskatalog für die Kinderschutzarbeit erstellt, der folgende Punkte zum Inhalt hatte (Blum-Maurice
1996):
3 Verstärkung der wissenschaftlichen Forschung;
3 breite Fortbildung für alle beteiligten Berufsgruppen;
3 flankierende sozialpolitische Maßnahmen;
3 ein integriertes Hilfeangebot, das ärztliche,
pädagogische und psychologische Hilfe bereitstellen sollte.
Diese Forderungen sollten nicht nur das Ziel
einer methodischen (d.h. auch therapeutischen) Arbeit mit Betroffenen, sondern auch die grundsätzli-
7 26 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
che Umgestaltung des Helfersystems und seiner
gesellschaftlich-strukturellen Voraussetzungen anstreben (Blum-Maurice 1996).
Wie erwähnt setzten die damals bestehenden
traditionellen Kinderschutz-Systeme das Instrument der Entrechtung der Eltern ein, um Kindern
den erforderlichen Schutz vor Gewalt gewährleisten zu können. Die in den siebziger und Anfang der
80er-Jahre gegründeten Kinderschutz-Zentren
dagegen strebten grundsätzlich familienorientierte
Arbeit im Kinderschutz an. Gemeint ist damit die
Berücksichtigung von unsichtbaren, aber manifesten Bindungen innerhalb des Familiensystems und
ihre prägenden Kräfte für das Kind (Blum-Maurice
1996). Ausgangspunkt ist hierbei die Annahme,
dass Gewalt (speziell gegen Kinder) letztlich ein
Zeichen für das Scheitern der Menschen an belastenden und schwierigen Lebensverhältnissen und
gleichzeitig auch ein Symptom fehlender bzw.
ungeeigneter Unterstützungssysteme ist (Zenz
1992).
Zu Beginn lag die Konzentration der Kinderschutz-Zentren auf der Hilfestellung für und
Unterstützung von körperlich misshandelten Kindern. Erst relativ später wurde auch der Vernachlässigung und dem sexuellen Missbrauch von
Kindern Beachtung geschenkt (Fürniss 1992).
Die anfangs größtenteils ehrenamtlich betriebenen Kinderschutz-Vereine waren durch die laufend
steigende Notwendigkeit konkreter professioneller
Hilfemöglichkeiten (besonders auch im therapeutischen Bereich) mit der Zeit überfordert. Folglich
kam es zur vermehrten Einrichtung von hauptamtlichen Kinderschutz-Stellen. Dies erforderte die
Entwicklung eines therapeutischen bzw. beraterischen Versorgungskonzeptes. In seinen Praktiken
stellt sich der (alternative) Kinderschutz heute weitgehend als psychoanalytisch oder systemisch inspirierte Familientherapie dar (Blum-Maurice 1996;
Honig 1992).
Da in der Zwischenzeit auch öffentliche Institutionen zum Kinderschutz (wie Jugendämter) zunehmend transparenter wurden und sich vermehrt
Gewalt in der Familie
an klientenbezogene Hilfeleistungen orientierten –
an Stelle vorher üblicher obrigkeitlicher Kontrollaufgaben – entwickelten sie sich allmählich zu eher
bürgernahen Dienstleistungsunternehmen (Levold
1990). Dies bewirkte auch eine offenere Haltung
gegenüber Kinderschutz-Zentren und die Bereitschaft zur Kooperation und Vernetzung mit diesen,
was letztlich zu effizienteren und besseren Hilfemöglichkeiten für KlientInnen führte.
2.3.4 Gründung und Etablierung von
Kinderschutz-Zentren in Österreich
Im inhaltlichen Gleichklang kam es 1985 auch
in Österreich (Linz) zur Eröffnung des ersten
Kinderschutz-Zentrums. Dabei wurden folgende
Arbeitsgrundsätze präsentiert:8
Die Entwicklung und Bereitstellung von Hilfen
für Kinder und Eltern in Fällen familiärer Gewalt.
Die Zusammenarbeit mit öffentlichen und privaten Einrichtungen mit dem Ziel einer quantitativen und qualitativen Verbesserung der Angebote
und Hilfen für Kinder und Eltern in Fällen familiärer und struktureller Gewalt gegen Kinder.9
Ausgehend von dieser Einrichtung wurden in
Österreich bis Ende 1998 nach und nach 15 weitere
Kinderschutz-Zentren10 gegründet. Die jeweiligen
Standorte sind in Abbildung I.1 ersichtlich (Unabhängiges Kinderschutzzentrum 1998):
8
9
10
7 27 3
Referat von Reinhart Wolff, anlässlich der Fachtagung
„Aufklärung und Verhütung von Kindesmisshandlung“
(Wolff 1984, S. 8).
Hier wird offensichtlich, dass auch in Österreich (ebenso wie in Deutschland) ein Hauptaugenmerk auf die Vernetzung zwischen öffentlichen und privaten Stellen gelegt wird (siehe oben).
„Kinderschutz-Zentrum“ dürfen sich nur jene Einrichtungen nennen, die sich an den konzeptuellen Grundlagen orientieren und über fachliche und materielle
Voraussetzungen verfügen (Begriffsbestimmung und
Arbeitskriterien der Kinderschutz-Zentren, Graz 1990,
S. 1). Die Gründung des Dachverbandes der Österreichischen Kinderschutz-Zentren fand im Jahr 1992 statt.
Abbildung I.1:
Kinderschutzzentren in Österreich
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Innsbruck
Lienz
Salzburg
Vöcklabruck
Wels
Steyr
St. Pölten
Wien Donaustadt
Wiener Neustadt
10
11
12
13
14
15
Neunkirchen
Graz
Wels
Deutschlandsberg
Knittelfeld
Klagenfurt
4
8
7
5
6
9
3
10
1
12
11
14
2
13
15
Quelle: (Unabhängiges Kinderschutzzentrum 1998) – eigene Darstellung (ÖIF).
Diese österreichischen Kinderschutz-Zentren –
ebenso wie die deutschen – definieren ihren Tätigkeitsbereich als „Neue Kinderschutzarbeit“, um
vor Fehlinterpretationen verschont zu bleiben und
sich deutlich von der alten traditionellen Kinderschutzarbeit abgrenzen zu können.11
In Österreich wurde mit der Schaffung der
unabhängigen Kinderschutz-Zentren insbesondere
beabsichtigt, eine alternative Hilfe im Zusammenhang mit Misshandlungs- und Missbrauchsgeschehen am Kind anzubieten. Daher bieten diese
Zentren Beratung bei allen Formen von Gewalt
gegen Kinder, Jugendliche und Erwachsene an, mit
dem Ziel, den Opfern rasch und zuverlässig zu helfen. Ein großer Teil der Arbeit bezieht sich auf
11
spontane Krisenintervention. Einige österreichische Kinderschutz-Zentren (z. B. Kinderschutzzentrum Wien) stehen in Kooperation mit anderen
Einrichtungen, wodurch in Gefahrensituationen
auch die Möglichkeit einer Fremdunterbringung
des Kindes mit anschließender psychologischer Betreuung gewährleistet ist (Mansoureh-Banou 1998).
Hinsichtlich der methodischen Vorgangsweise
werden für die Hilfeleistung an KlientInnen Erstgespräche, Beratung, Einzel-, Paar- und Familientherapie, telefonische Beratung, Außenkontakt,
Fallkonferenzen mit KlientInnen und Verhaltensbeobachtung etc. angewendet.
Siehe Kapitel 2.3.2.
7 28 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
2.4 Gedanken über eine
Kooperation zwischen Frauenund Kinderschutz-Bewegung
Anhand der Präsentation der beiden Bewegungen – Frauenhaus und Kinderschutz – ist bereits erkennbar, welchen bedeutenden Stellenwert
sie zum Thema familiale Gewalt einnehmen. Beide
tragen seit den 70er-Jahren zur Thematisierung und
Sensibilisierung für das Thema „Gewalt“ bei – und
beide haben sozialpolitischen Charakter (Hege
1999). Für BetrachterInnen von außen erscheint es
so, als hätten beide Gruppierungen durchaus gemeinsame Interessen und Bestrebungen, ist doch
jeder die familiale Gewalt ein besonderer „Dorn im
Auge“. Gemäß Hege (1999) ist bislang jedoch
weder eine Kooperation noch ein Zusammenschluss der beiden Gruppierungen zu Stande gekommen.
In einem Workshop zum Thema „Kinder und
häusliche Gewalt“ in Berlin im Jänner 1999 wurde
neben der Darstellung eines Interventionsprojektes
gegen familiale Gewalt (Projekt WiBlG12 – Universität Osnabrück), auch diese spezifische
Problematik einer bislang fehlenden Kooperation
der Frauenhaus- und Kinderschutz-Bewegung diskutiert.
Der Vorteil einer Kooperation oder eines Netzwerks wäre das Erreichen eines noch stärkeren
politischen Gewichts, gewonnen durch den Austausch von Erfahrungen und der gemeinsamen Entwicklung von Strategien (Hege 1999).
Die Begründung für das bisherige Scheitern
einer Kooperation liegt offenbar in den historischen Wurzeln der beiden Institutionen. Aus der
jeweiligen Geschichte resultierten unterschiedliche
Philosophien, die wiederum Grundlage für die
12 WiBIG = Wissenschaftliche Begleitung Interventionsprojekte gegen häusliche Gewalt. Projektleitung: Prof.
Dr. C. Hagemann-White; stellvertretende Projektleitung: Prof. Dr. B. Kavemann.
Gewalt in der Familie
Ableitung der einzelnen Ziele und Handlungen
sind. „Da beide Gruppierungen mit unterschiedlichen Theoriekonstrukten arbeiten und unterschiedliche Arbeitsansätze haben, machen sie in der
Analyse im Einzelfall unterschiedliche Erfahrungen.“ (Hege 1999, S. 1). Die KlientInnen und somit
NutzerInnen der jeweiligen Institutionen treffen
ihre Vorauswahl je nach Akzeptanz des erkennbaren Leitbildes und Images, das hinter den beiden
unterschiedlichen Institutionen steht.
Was sind nun die wesentlichen Unterschiede
zwischen den beiden Organisationen?
Die Kinderschutz-Bewegung sieht sich als
Hilfesystem, geführt vom Leitgedanken „Hilfe statt
Strafe“ (siehe Kapitel 2.3).
Die Frauenhaus-Bewegung setzt sich speziell
für die Hilfestellung für jene Frauen ein, die sich
nicht alleine aus Gewaltbeziehungen befreien können – somit also nicht ausschließlich für Frauen im
Frauenhaus. Sie schreiben die Gewaltsituation, in
die Frauen (mitsamt ihren Kindern) gekommen
sind, den Männern zu – denn sie sehen Männergewalt als ein Produkt der vorherrschenden patriarchalen Strukturbedingungen (siehe Kapitel 2.2.1).
Es ist gemäß Hege das Verdienst der Frauenhäuser,
dass Gewalt von Männern gegenüber ihren
Familien und Frauen nicht länger geduldet wird.
Zusätzlich versuchen sie, Täter dingfest zu machen
und damit zu stigmatisieren (Hege 1999).
Hierauf verzichtet die Kinderschutz-Bewegung,
denn sie geht davon aus, dass Eltern, die Kinder
schlagen, selbst in schlechter Verfassung seien und
somit das gesamte Familiensystem Hilfe benötige.
Hier werde deshalb auch wesentlich stärker die
Rechtlosigkeit der Kinder betont, und weniger ihre
Situation als Opfer.
Besondere wechselseitige Kritik der beiden
Organisationen erwächst im Hinblick auf die
Zuschreibung der Mutterrolle. Hier prallen zwei
unterschiedliche Wahrnehmungen aufeinander, die
bislang noch zu keinem Konsens geführt haben.
Frauenhäuser kritisieren besonders, dass das
„Mutter-sein-Müssen“ eine enorme Belastung für
7 29 3
misshandelte Frauen darstellt. Gefangen im mütterlichen „Gebrauchtwerden“ fällt die Loslösung aus
den Gewaltverhältnissen erheblich schwerer. Demnach berichteten Frauen immer wieder, die Gewaltsituation nur wegen der Kinder ausgehalten zu
haben – letztlich um ihnen den Vater nicht zu nehmen. Oder sie suchten nur wegen der Kinder
Zuflucht im Frauenhaus, da diese allmählich zu
stark unter dieser familiären Gewalt zu leiden hatten. Hege (1999) formuliert dies wie folgt: „(...)
Frauen der Frauenbewegung unterstellen dem Kinderschutz, dass er der Kinder wegen Frauen immer
wieder in ihre alte Rolle zurückbringen will. Der
Kinderschutz wirft der Frauenhaus-Bewegung vor,
dass sie die Bedeutung der Entwicklung von Kindern – auch in ihrer Beziehung zu ihren Vätern –
hinter der Entwicklung der Frauen zurückstellen.“
(Hege 1999, S. 2).
Dies zeigt, welche grundsätzlich konträre
Wahrnehmung und Einstellung bislang eine Fusionierung oder zumindest eine Kooperation der beiden Gruppierungen unrealisierbar machte.
Um diesen Konflikt zu beheben, bedarf es laut
Hege eines beiderseitigen Umdenkprozesses.
Frauen und deren Kinder könnten nicht nur als in
das Familiensystem „Eingebundene“ betrachtet
werden.13 Es sei nämlich auch wichtig, dass Mitglieder eines Familiensystems als Individuen gesehen werden, die individuell (re-)agieren. Deshalb
müsse auch besonders auf die subjektiven Schädigungen des einzelnen Betroffenen – bedingt
durch familiäre Gewalt – eingegangen werden14
(Hege 1999). Die Parteilichkeit für Frauen, wie sie
bisher in Frauenhäusern bestanden hat und nach
13
14
wie vor besteht, sei hierbei ebenso notwendig wie
jene für Kinder in den Kinderschutz-Einrichtungen. Eine Kooperation könnte daher durchaus bedeutende positive Effekte mit sich bringen, so zum
Beispiel die Entwicklung gemeinsamer Strategien
auf Basis gegenseitigen Erfahrungsaustauschs
(Hege 1999).
2.5 Gewaltforschung
2.5.1 Allgemeine Gewaltforschung:
Mainstream versus Innovation
Obwohl zum Thema Gewalt eine Fülle sozialwissenschaftlicher Literatur existiert, ist der Stand
der Gewaltforschung ungenügend (Trotha 1997).
Begründen lässt sich diese Behauptung erstens
durch die untergeordnete Rolle des Themas Gewalt
in der allgemeinen soziologischen Theorie. Ihre
klassischen Vertreter wie Marx, Durkheim, Simmel
und Weber lieferten zwar im Rahmen ihrer jeweiligen Forschungsschwerpunkte und -annahmen
Aussagen zum Thema oder Begriff Gewalt, jedoch
beschäftige sich (damals) kaum jemand systematisch und tiefgründiger mit diesem Bereich.
Zumeist blieb es bei der Darstellung vereinzelter
Beobachtungen und Anmerkungen15 (Trotha 1997).
Zweitens wird kritisiert, dass in der Gewaltsoziologie der Fokus bislang beinahe ausschließlich
auf die Ursachen von Gewalt gerichtet wurde und
die teilweise unüberschaubar vielfältigen und reich15
Obwohl auf jeden Fall auch die Kenntnis über die zerstörende Wirkung des Beziehungsgefüges einfließen
muss.
Die Sichtweise, dass Kinder und Frauen die Gewalterfahrung und Trennung vom Vater bzw. den Gang ins
Frauenhaus je spezifisch erleben, d.h. auch unterschiedlich erleben, ist inzwischen in vielen Frauenhäusern (zumindest) konzeptionell verankert (Hege 1999).
7 30 3
Zum Beispiel lieferte Emile Durkheim einzelne Beobachtungen über Gewalt und Erziehung (Durkheim 1973)
und diskutierte Georg Simmel den Gewaltbegriff in Zusammenhang mit dem Begriff der Herrschaft („höhere
Gewalt“, „oberste Gewalt“) (Simmel 1968). Ebenso griff
Max Weber in seinen herrschaftssoziologischen Überlegungen den Gewaltbegriff im Zusammenhang mit dem
Gewaltmonopol (und dies ausschließlich im juristischen
Kontext) auf. Weiters veröffentlichte er Beobachtungsergebnisse über das Verhältnis von Religionen und religiösen Bewegungen zur Gewalt (Trotha 1997).
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
haltigen Forschungen im eigentlichen Sinne keine
Soziologie der Gewalt darstellen. Es besteht daher
die Forderung eines Wechsels von den bisher
gestellten „Warum?“-Fragen hin zu den Fragen
„Was?“ und „Wie?“, d.h. dass Auseinandersetzungen mit der Phänomenologie von Gewalt erfolgen
müssten (Trotha 1997). Denn diese sei erst
Voraussetzung für die Bildung einer Theorie der
„Ordnungsformen von Gewalt“ – einer Theorie die
erkläre, dass die Gewalt selbst eine Form sozialer
Ordnung sei und zum Kern des Ordnungsproblems jeder Gesellschaft und Kultur gehöre16
(Trotha 1997).
Dieser Forderung von Trotha nach einer Soziologie der Gewalt hat sich Nedelmann (1997) angeschlossen. Ihre Argumente für die Notwendigkeit eines gewaltanalytischen Wechsels gewinnt
sie aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der
bislang praktizierten und etablierten Gewaltforschung. Im Folgenden soll ihre Abhandlung zur
gegenwärtigen Gewaltforschung – bezogen auf den
deutschsprachigen Raum – kurz vorgestellt werden.
Die gegenwärtige Gewaltforschung befindet
sich auf einem Scheideweg, der in zwei verschiedene Richtungen weist: nämlich einerseits in die
„Mainstreamgewaltforschung“ und andererseits in
die neuere Gewaltforschung (Mutschke & Renner
1995).
2.5.1.1 Merkmale der
Mainstreamgewaltforschung
Die soziologische Mainstreamgewaltforschung
stellt allgemein noch ein relativ junges Forschungsgebiet dar. Hier erfolgt die Erforschung
von Gewalt aus unterschiedlichen, jeweils separierten soziologischen Teildisziplinen wie der politischen Soziologie, der Soziologie des abweichenden
Verhaltens, Entwicklungssoziologie, Jugendsozio-
16
logie und Geschlechtersoziologie etc. Da bisher
kaum eine Vernetzung zwischen den verschiedenen
Personen, die auf dem Gebiet der Gewaltsoziologie
forschen, gelungen ist, existiert folglich keine integrierte „scientific community“.
Die Themenwahl der Mainstreamgewaltforschung richtet sich relativ stark nach zeitpolitischen
Aspekten und modezyklischen Schwankungen17
(Nedelmann 1997). So wurden in den 70er und
80er-Jahren vorwiegend Themen wie Terrorismus
und „Studentenkrawalle“ behandelt. Die 90er-Jahre
sind geprägt von Themen wie „Jugend und Gewalt“
(Henning 1995; Renner 1995), „Gewalt in der
Schule“ (Fuchs 1996; Harnischmacher 1995), „politisch motivierte Gewalt“ (Eckert 1990) „Fremdenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 1995; Heß 1996) und
„Gewalt in der Familie“ (Schneider 1990).
2.5.1.2 Merkmale der neueren
Gewaltforschung
Diese Forschungsrichtung hat sich Anfang der
Neunzigerjahre herausgebildet (v.a. durch das
Hamburger Institut für Sozialforschung) und versteht sich als eine kritische Gegenrichtung zur oben
dargestellten Mainstreamgewaltforschung. Ihr angestrebtes Ziel ist die Etablierung der Gewaltforschung als ein eigenständiges sozialwissenschaftliches Gebiet und die Schaffung einer scientific
community durch VertreterInnen dieser innovativen Gewaltforschungsrichtung. Die behandelten
Themen beruhen nicht auf ministerieller Kommissionsarbeit und werden unabhängig von modezyklischen Themenkarrieren ausgewählt. Demnach
wurden zu Beginn Analysen über den Terror in
17
Es behandelt zum Beispiel u.a. Fragen nach den Institutionen und Prozessen der politischen, sozialen und kulturellen Institutionalisierung der Gewalt (Trotha 1997).
Gewalt in der Familie
7 31 3
„Die Mainstreamgewaltforschung ist in ihrer Organisation, Problemsicht und gesellschaftspolitischen
Grundhaltung stark von formal-politischen Entscheidungsstrukturen, wie etwa der ‚Regierungskommission
zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt
(Gewaltkommission)‘ oder anderen staatlichen Auftraggebern, beeinflußt.“ (Nedelmann 1997, S. 60).
nationalsozialistischen Konzentrationslagern (Sofsky
1990; Sofsky 1993) vorgenommen. Dies nahm später hauptsächlich mit jenen Themen seine Fortsetzung, die sich mit Erscheinungen „extremer Gewalt“ beschäftigten (Sofsky 1996).
Beide angeführten Forschungsrichtungen stehen in Konkurrenz zueinander und liefern sich gegenseitig harte Kritik. So werfen einerseits die
„Innovateure der Gewaltsoziologie“ den etablierten „Mainstreamern“ vor, untauglich für die Erfassung des Gewaltphänomens zu sein. Andererseits
bezeichnen „Mainstreamer“ die grundsätzlichen
Erneuerungsversuche der Gewaltforschung durch
die „Innovateure“ als „gescheitert“ (Nedelmann
1997, S. 60). Letztlich versuchen in dieser Weise
derzeit beide, argumentativ die Oberhand zu gewinnen und der künftigen Gewaltsoziologie den
Weg zu weisen.
2.5.2 Diskussion über die Forschung
zu „Gewalt in der Familie“
Die vielfältige Literatur zu diesem Thema wird
als uneinheitlich und stark divergierend beschrieben und die Erklärungskonzepte von familiärem
Gewalthandeln als lückenhaft, diffus und teilweise
ambivalent kritisiert (Haller et al. 1998). Jedoch
bemühen sich alle AutorInnen darum, die gewalttätige familiäre Realität möglichst objektiv darzustellen, um Betroffenen Hilfe geben und um Präventionsarbeit leisten zu können.
Allerdings birgt das in der wissenschaftlichen
Abhandlung stattfindende stillschweigende Voraussetzen bestimmter Gewaltkonzepte die Gefahr in
sich, dass es zu einer Verkürzung der Komplexität
familiären Gewalthandelns kommt und Artefakte
produziert werden.18
18
Mit zitierten Worten: „Es ist eine Verdinglichung der
sozialen Realität (Honig 1986) von Gewalthandeln in der
Familie in den Sozialwissenschaften festzustellen.“
(Haller et al. 1998, S. 11).
Weiters kann bei der wissenschaftlichen Problematisierung des Themas durch mangelnde Trennschärfe und Übersehen von wichtigen Besonderheiten und Unterschieden die Gefahr drohen, in
ein „politisch-moralisches Apriori“ zu verfallen.
Die Fixierung auf das Sichtbare führe zu einer
Überverallgemeinerung und zu einem Verlust an
Aussagekraft (Haller et al. 1998).
Diese Unterschiedlichkeit und Uneinigkeit in
der Konzeptualisierung trägt letztlich zur Entstehung konkurrierender Thesen über Inhalt und
Legitimität familialer Gewalt bei, woraus in einer
weiteren Konsequenz widersprüchliche Aussagen
resultieren. Dieses Grundproblem der Gewaltforschung ist sowohl im europäischen als auch im
amerikanischen Raum gegeben.
Honig (1986) hat sich mit dieser Problematik
tiefer auseinandergesetzt und versucht drei
Typologien von Diskursen zu bilden. Diese folgenden Diskurse stellen gewissermaßen die Medien des
gesellschaftlichen Konflikts um das Thema familialer Gewalt dar (Honig 1986):
3 Der sozial-administrative Diskurs
Hier wird Gewalt vornehmlich als Missbrauch
des elterlichen Züchtigungsrechts verstanden.
Dieser Diskurs wird größtenteils innerhalb des
Bereichs von Justiz, Polizei, Medizin und öffentlicher Sozialarbeit geführt und enthält strenge
Regelungen und klare Richtlinien darüber, was als
Tatbestand zu gelten hat (straf- und sorgerechtliche
Regelungen und medizinische Diagnosen).
3 Der Diskurs der Helfer
Hier wird familiäre Gewalt nach moderner therapeutischer Zugangsweise, im Sinne des Neuen
Kinderschutzes, von psychosozialen Diensten und
der Familientherapie behandelt. Davon ausgehend,
dass Gewalt in Familien durch Beziehungs- oder
Kommunikationsstörung begründet ist, soll diese
durch therapeutische Behandlung behoben werden.
7 32 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
3 Der politisierende Diskurs der Kinderschutzund Frauenbewegung
Auf Grund der Aufklärungsarbeit und Enttabuisierung sowohl der feministischen als auch der
Neuen Kinderschutz-Bewegung gelang es seit den
frühen 70er-Jahren, ein grundlegendes Problembewusstsein in der Bevölkerung zu erzeugen.
Hierbei rückte man davon ab, Straftatbestände als
Bedingungen für Gewalt zu sehen, sondern vielmehr die „patriarchale Organisation weiblicher
Lebenschancen“ (Haller et al. 1998, S. 14), d.h. die
gesellschaftliche Unterdrückung von Frauen und
Kindern dafür verantwortlich zu machen.
Diese drei Diskurse konkurrieren miteinander
um die Vormachtstellung der sozialen Konstruktion von „Gewalt in Familien“. Dabei versucht
jeder, je nach inhaltlicher Grundannahme, familiale
Gewalt medial als spektakuläres Ereignis darzustellen, wodurch die Gefahr droht, das Bild noch mehr
in Richtung einer Dramatisierungsmetapher
(Mythos Gewalt)19 zu verzerren (Honig 1986).
2.5.3 Entwicklung der familialen
Gewaltforschung
Die Aufgabe der Gewaltforschung besteht vorwiegend darin, Theorien und Methoden zu erstellen, die die Herausbildung und Ausbreitung von
Gewaltphänomenen beschreiben und Wege aufzeigen, um destruktive, gewaltbesetzte Entwicklungen
zu verhindern (Godenzi 1994).
Im Zusammenhang mit der Gewalt im familialen Kontext setzen sich bislang vor allem Kinderschutz- und die neue Frauenbewegung für die öffentliche Diskussion und Behandlung der Thematik
ein. Ausgangspunkt war die medizinische Publikation von Kempe und Mitarbeitern (1962) über Verletzungen misshandelter Kinder („the battered
19
Der Begriff „Mythos Gewalt“ wurde von Tilman
Broszat in seiner Untersuchung über die mediale
Behandlung von Ereignissen familialer Gewalt geprägt
(zit. in Honig 1986).
Gewalt in der Familie
child syndrome“). Dieser Klassiker war ein Zeichen
für die wachsende gesellschaftliche Besorgnis über
Kindesmisshandlungsfälle in den 60er-Jahren
(Godenzi 1994). Besonders Anfang der 70er-Jahre
begann die Zahl wissenschaftlicher Berichte über
Formen familialer und ehelicher Gewalt stark anzusteigen (Gil 1970; Steinmetz 1974).
Straus (1974), ein führender Family-violenceForscher in den USA, führt drei Gründe für das
plötzlich gestiegene Interesse an der Problematisierung von familialer Gewalt an (zit. in Honig
1992):
1. Sensibilisierung der Öffentlichkeit und mit ihr
der SozialwissenschafterInnen für
3 Gewalt durch die alltägliche TV-Präsenz des
Gemetzels im Vietnam-Krieg;
3 spektakuläre politische Morde in den USA;
3 die für jedermann erfahrbar zunehmende
Kriminalität auf den Straßen;
3 der gewalttätige Protest gegen soziale Benachteiligung;
3 Rassendiskriminierung;
3 Armut.
2. Frauenbewegung und Frauenhäuser, die sexuelle Ungleichheit und Ausübung von körperlichem Zwang zur Aufrechterhaltung dieser
Ungleichheit anprangerten.
3. Niedergang des Consensus-Paradigmas in der
Sozialforschung zu Gunsten einer Anerkennung des Konflikts als Voraussetzung individueller und gesellschaftlicher Entwicklung.
In den späten 70er und frühen 80er-Jahren etablierte sich in den Vereinigten Staaten und Canada
der Untersuchungsbereich „family violence“ als
eigenständige, wissenschaftlich anerkannte Forschungsdisziplin. In der Folge entstanden vermehrt
Beiträge zum Thema Gewalt in der Familie (u.a.
Pagelow 1984; Gelles 1985; Gelles 1985; Van
Hasselt 1988; Ohlin 1989; Besahrov 1990). Zusätzlich erschienen – als Zeichen zunehmender Etablierung dieses Forschungsbereichs – einschlägige
wissenschaftliche Zeitschriften wie Journal of
7 33 3
Family Violence, Journal of Interpersonal Violence,
Family Violence Bulletin, Violence und Victims,
Child Abuse and Neglect, Journal of Elder Abuse
and Neglect, Journal of Child Sexual Abuse
(Godenzi 1994).
Im deutschsprachigen Raum wurde familiale
Gewalt erstmals ab den 70er-Jahren in der Wissenschaft thematisiert und problematisiert. Hierbei
entstand im Laufe der Zeit jedoch die Kritik, dass
eine grundsätzliche Uneinigkeit in der Konzeptualisierung existiere. Dies habe zur Folge, dass unterschiedliche Definitionen zum Thema „Gewalt in
der Familie“ bestünden (und auch heute immer
noch bestehen) und dementsprechend verschiedene
Ansätze, v.a. auch hinsichtlich effektiver Hilfemaßnahmen, vorliegen (Honig 1986; Fröschl 1992;
Haller et al. 1998).
Ebenso verhält es sich mit der Qualität der Forschungsergebnisse über „Gewalt in der Familie“.
Sowohl in Amerika als auch in Europa steht die
Forschung in diesem Bereich nach wie vor am
Anfang. Die Forschungsergebnisse seien, gemäß
Weis (1989), qualitativ uneinheitlich und oftmals
inkonsistent. Deshalb wird gefordert, „bessere“
Studien, d.h. Studien, die klare Begriffsdefinitionen
und genauere Erhebungsmethoden enthalten, zu
erstellen, damit es letztlich gelingt, das Verständnis
von privater Gewalt zu verbessern.20 Folglich
könne nur auf diese Weise eine effektivere Prävention und bessere Kontrolle ermöglicht werden
(Weis 1989; zit. in Haller 1998).
Zusammenfassung
Im vorangegangenen Kapitel wurde in einem ersten Teil ein Einblick in die Geschichte des Gewaltverständnisses gegeben. Es konnte gezeigt werden, dass verschiedene Formen von Gewalt im fa20
Siehe dazu auch Kapitel 4.6 „Themenspezifische methodische Probleme“.
milialen Kontext primär gegen Frauen und Kinder
angewandt und lange Zeit gesellschaftlich legitimiert wurden. Erst im 19. und 20. Jahrhundert ist
ein Einstellungswandel im Zusammenhang mit
familiärer Gewalt an Kindern und Frauen zu identifizieren.
Im weiteren Verlauf des Kapitels wurden die
Entwicklungen zweier Strömungen zur Bekämpfung familiärer Gewalt vorgestellt. Einerseits fand
eine Auseinandersetzung mit der feministischen
Bewegung statt, der zu verdanken ist, dass das
Thema „Gewalt gegen Frauen" in die Öffentlichkeit getragen und eine entsprechende Sensibilisierung eingeleitet wurde. Es konnte gezeigt werden, dass ein Einstellungswandel zum Thema „Gewalt in der Familie“ im Laufe der Entwicklung der
feministischen Bewegung stattfand. Andererseits
wurde die historische Entwicklung und die aktuellen Arbeitsgrundsätze der Kinderschutzbewegung
mit einem österreichspezifischen Schwerpunkt aufgezeigt. Die Gegenüberstellung der beiden Strömungen machte deutlich, dass sich Feminismus und
Kinderschutz, obwohl beide Bewegungen seit den
70er Jahren zur Thematisierung und Sensibilisierung in bezug auf familiale Gewalt beitragen, in wesentlichen ideologischen Grundhaltungen unterscheiden. Diese Differenzen in den zugrundegelegten Arbeitshaltungen beider Strömungen sind u.a.
Grund für die geringe Kooperation zwischen
VertreterInnen der beiden Bewegungen.
In einem abschließenden Teil wurde auf verschiedenen Strömungen in der Gewaltforschung
eingegangen (z.B. Mainstream, Innovation). Es
konnte gezeigt werden, dass sich in Abhängigkeit
von den Interessen und Ideologien der ForscherInnen unterschiedliche Gewaltdiskurse entwickelten,
wodurch ein heterogenes Bild der Gewaltforschung
entstand. Aufgrund unterschiedlicher Definitionen
und Ansätze ergeben sich uneinheitliche und inkonsistente, teilweise einander wiedersprechende
Forschungsergebnisse. Insofern wird als Conclusio
des Kapitels gefordert, in der Erforschung familialer Gewalt künftig mit klaren Begriffsdefinitionen
7 34 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
und genauen, der Problematik angepassten, Erhebungsinstrumenten zu arbeiten. Damit könnte der
wissenschaftliche Beitrag zum Verständnis familialer Gewalt verbessert werden.
Gewalt in der Familie
7 35 3
3 Erklärungsansätze für das
Phänomen Gewalt in der Familie
Johannes Pflegerl, Brigitte Cizek
3.1 Einleitung
Über die Frage, warum Gewalthandlungen in
der Familie bzw. im sozialen Nahraum geschehen
und wie diese zu bewerten sind, gehen die
Fachmeinungen zum Teil sehr weit auseinander.
Mitunter kommen WissenschafterInnen zu völlig
gegensätzlichen Deutungsmodellen. Es scheint
heute einzig Konsens darüber zu herrschen, dass
nur multifaktorielle Erklärungsansätze geeignet
sind, um dieses Phänomen entsprechend analysieren und erklären zu können. Am Beginn der
Erforschung dieser Problematik dominierten hingegen eher eindimensionale Modelle. So wurde
etwa einige Zeit die Zugehörigkeit zur untersten
sozialen Schicht als einzig ausschlaggebender
Faktor zur Erklärung von Gewalt in der Familie
angesehen. Zwar wird dieser Dimension auch heute
noch großer Erklärungswert für physische Gewalt
beigemessen, dennoch dominieren Ansätze, die
einen Komplex zusammenwirkender Einflüsse zur
Erklärung von Ursachen für familiäre Gewalt
berücksichtigen (Habermehl 1994). Heute würde
wohl niemand dieses Phänomen auf der Basis eines
einzigen Einflussfaktors allein zu erklären versuchen. Dies bedeutet auch, dass kaum noch jemand
ernsthaft glaubt, eine verbindliche, jedes Gewaltphänomen erklärende Theorie zu finden.
Die Frage nach den Ursachen von Gewalt in der
Familie bzw. im sozialen Nahraum lässt sich somit
nicht bloß durch einfache Aufzählung und
Beschreibung von möglichen Faktoren beantworten. Vielmehr geht es darum, auch die dahinterstehenden Modellannahmen zu betrachten, geben
diese doch Aufschluss darüber, welche potenziellen
Ursachenfaktoren aus theoretischen Überlegungen
überhaupt in den Blickpunkt genommen und welche – sei es bewusst oder unbewusst – außer Acht
gelassen werden.
Wie wichtig die Berücksichtigung von Modellannahmen generell ist, wird an folgenden kurz dargelegten Überlegungen von Honig deutlich. Sie
beziehen sich zwar auf die Problematik der
Begriffsbildung, machen jedoch auch für die Frage
der Klärung von Ursachen deutlich, welche Konsequenzen die Vernachlässigung theoretischer
Reflexion haben kann.
Honig verweist in seinen Überlegungen darauf,
dass die sozialwissenschaftliche Forschung über
Gewalt in der Familie bzw. Gewalt im sozialen
Nahraum mit einem Begriff operiert, der ganz
wesentlich durch die gesellschaftliche Debatte und
Problempolitik geprägt wurde. Folglich kritisiert er
Forschungsdesigns und Modelle, die zur Klärung
möglicher Ursachen Begriffe wie „Gewalt in der
Familie“ bzw. „Gewalt im sozialen Nahraum“ einfach unreflektiert aufgreifen, als handle es sich
dabei um materielle Gegenstände, die im Zusammenhang gesellschaftlicher Debatten quasi „entdeckt“ wurden und die man in der Folge einfach
„vermessen“ könne (Honig 1986). Vielmehr ist es
notwendig, die als relevant erachteten Kriterien und
Faktoren entsprechend zu reflektieren, um nicht
Gefahr zu laufen, etwa bereits bestehende Vorannahmen als Ursachen vorschnell zu bestätigen d.h.
Artefakte zu produzieren. Konkret kritisiert er
etwa jene verhaltenstheoretisch konzipierte Modelle von Gewalt, denen zufolge jede Schlaghandlung, gleich welcher Intensität, unabhängig vom
situativen, beziehungsdynamischen und lebensgeschichtlichen Kontext als körperliche Gewalthandlung begriffen wird. Die Folge ist, dass in solchen Modellen bewaffnete Angriffe mit einem
Messer oder einer Pistole mit einem disziplinierendem Klaps undifferenziert gleichgesetzt werden.
Honig zeigt in der Folge auf, dass die These, nach
der gewisse Formen von Gewalt deshalb bedeutsam
seien, weil sie massenhaft vorkommen, wichtige
Besonderheiten und Unterschiede vernachlässigt.
Die in manchen strikt verhaltenstheoretisch konzipierten Modellen vorgenommene Zusammenfassung der Merkmale „einfacher Klaps“ und „bewaffneter“ Angriff zu einem neu konzipierten Merkmal
„körperliche Aggression“, verhindert es, die Frage
zu beantworten, wie dieses – nun anders konstru-
7 36 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
ierte – Phänomen „körperliche Aggression“ in der
Folge zu einer gesellschaftlich brisanten Information wird. Eine bloße Fixierung auf das Sichtund Messbare führt seiner Ansicht nach zu einer
unglaubwürdigen Überverallgemeinerung und
letztlich zu einem Verlust an Aussagekraft. Die
Folge ist, dass Dramatisierung und Verharmlosung
auf Grund fehlender Trennschärfe der Begrifflichkeiten nahe und schwer differenzierbar nebeneinander liegen (Honig 1986).
3.2.1 Personenzentrierte Theorien
3.2 Ansätze zur Erklärung von
Gewalt in der Familie bzw. Gewalt
im sozialen Nahraum
Für eine Annäherung an die Frage nach den
Ursachen von Gewalt in der Familie erscheint es
deshalb sinnvoll, eine Analyse der Thematik auf
unterschiedlichen Ebenen vorzunehmen. Habermehl schlägt in Anlehnung an Gelles und Straus
(1979) diesbezüglich eine Dreiteilung vor. Damit
wären die wesentlichen Theoriestränge abgedeckt.
1. Ebene der personenzentrierten Theorien:
Erklärungsversuche auf dieser Ebene sehen die
Ursachen für Gewalt in der Familie in den individuellen Eigenschaften von Personen begründet.
Demgemäß wird Gewalt etwa durch innerliche Abweichungen, Abnormalitäten oder defekte Merkmale eines Individuums erklärt. Beispiel dafür sind
psychopathologische Erklärungsansätze.
2. Ebene der sozialpsychologischen Theorien:
Modelle auf dieser Ebene sehen die Gründe für
Gewalt in externen Umgebungsfaktoren, die auf die
Familie einwirken. So werden die Ursachen familiärer Gewalt etwa in den Beziehungen des Individuums mit anderen Personen, Gruppen und Organisationen gesehen. Beispiele dafür sind etwa
stress- und lerntheoretischen Ansätze.
3. Ebene der soziostrukturellen bzw. soziokulturellen Theorien: In Erklärungsmodellen auf dieser
Ebene wird individuelle Gewalt in Verbindung mit
Gewalt in der Familie
sozialen Strukturen und kulturellen Normen und
Werten gesetzt. Zum Teil werden dabei auch
Konzepte personenzentrierter und sozialpsychologischer Erklärungsmodelle integriert. Beispiel dafür
sind systemtheoretische und patriarchatskritische
Erklärungsmodelle (Habermehl 1994).
Im Folgenden sollen entsprechend dieser Gliederung einige der wichtigsten theoretischen Ansätze zur Erklärung von Gewalt in der Familie bzw.
im sozialen Nahraum näher beschrieben und diskutiert werden.
3.2.1.1 Psychopathologische Ansätze
In psychopathologischen Erklärungsmodellen
wird Gewalt in der Familie als Folge von charakterlichen Auffälligkeiten, Persönlichkeitsstörungen
und Intelligenzdefiziten des/der TäterIn betrachtet
(Schneider 1990).
Scully und Marola (1985) haben auf Basis psychopathologischer Literatur grundlegende Handlungsmotive von GewalttäterInnen zu extrahieren
versucht. Ihrer Analyse nach bestehen diese entweder in unkontrollierbaren Impulsen, geistigen
Krankheiten oder Kontrollverlust. In der Folge
haben sie den Versuch unternommen, den Prototyp
des Gewalttäters zu skizzieren. So sei dieser entweder eine geisteskranke oder perverse Persönlichkeit,
die latent homosexuelle Tendenzen aufzuweisen
habe. Sie habe eine unglückliche Kindheit verbracht, deren unverarbeitete, innere Konflikte sich
in einem Angriff gegen eine Mutterfigur Freiraum
zu schaffen versuchen (Scully und Marola zit. nach
Godenzi 1994, S.71-72).
Obwohl in klinischen Untersuchungen eine
Vielfalt von charakterlichen Auffälligkeiten misshandelnder Männer, Väter und Mütter diagnostiziert wurde, ist bisher kein überzeugender Nachweis darüber gelungen, dass Gewalt in der Familie
auf besondere Persönlichkeitsmerkmale oder
-störungen rückführbar ist. Die untersuchten Personen unterschieden sich bezüglich ihrer Persön-
7 37 3
lichkeitseigenschaften meist nicht von der übrigen
Bevölkerung. Dies hat in den Reflexionen und der
Debatte über Gewalt in der Familie zu schwerer
Kritik an diesen Erklärungsansätzen geführt. VertreterInnen dieser Forschungsrichtung wird vorgeworfen, dass die von ihnen verfolgte Sichtweise
zu eng sei und sich in ihrem Ansatz auf eine einzige Ursache, konkret die pathologischen Merkmale
von Individuen, konzentriere. Der Kritik zufolge
sei die Auswahl der Untersuchungspersonen, meist
PatientInnen im Umfeld von Krankenhäusern oder
TäterInnen im Strafvollzug, unzureichend, zu klein
und zu spezifisch (Bograd 1988; Schneider 1990;
Godenzi 1994).
So verwies etwa Gelles in diesem Zusammenhang darauf, dass der psychopathologische Ansatz
mit seiner Tendenz, Gewaltakte zu individualisieren, zu sexualisieren und zu pathologisieren, eine
Politik betreibe, in der die Verantwortung vom
Täter/der Täterin gelöst und dem Opfer angelastet
wird. Gleichzeitig würde der sozialen Situation und
dem gesellschaftlichen Umfeld kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Zudem würden psychopathologische Erkenntnisse über Gewalt in der Familie
bzw. im sozialen Nahraum nicht mit sozialwissenschaftlichen Forschungsresultaten übereinstimmen,
welche die Durchschnittlichkeit der TäterInnen
mehrfach nachweisen konnten. Gelles (1987) kritisiert, dass in der Psychiatrie sehr vieles diffuser
Intuition überlassen bleibe und keine echte Hypothesenprüfung stattfinde.
Auch Schneider weist darauf hin, dass Gewalt in
der Familie in ihren schweren Formen zu weit verbreitet sei, um sie als Folgen unklar definierter
Psychopathien oder psychiatrischer Krankheitsbilder betrachten zu können. Persönlichkeitsmerkmale des Täters würden zwar als verhaltensbeeinflussende Variablen in den Prozess der Gewaltverursachung eingehen. Ungeklärt sei jedoch, ob es
bestimmte Merkmale oder Merkmalssyndrome
gibt, die einen Menschen in besonderer Weise dafür
anfällig machen, seine Familienangehörigen zu
misshandeln. Schneider (1990) kritisiert, dass die
Suche nach Persönlichkeitszügen, die mit Gewalt in
der Familie in Verbindung gebracht werden können, auf einem statischen Ursache-Wirkungsdenken beruhen, das der Prozesshaftigkeit der
Entstehung oder des Abbaus gewaltsamer Verhaltensstile nicht gerecht wird. So bleiben seiner Einschätzung nach etwa jene Rückwirkungen unbeachtet, die gewaltsames Verhalten direkt oder über
vermittelnde innerfamiliäre Verläufe oder soziale
Definitionsprozesse auf die Persönlichkeitsentwicklung der Beteiligten, darunter auch auf jene des
Angreifers, haben können.
Die Kritik an diesen Modellen ist nicht ohne
Wirkung geblieben. So wurde der personenzentrierte Ansatz zunehmend um interaktive, situationale und umweltbezogene Faktoren erweitert.
Godenzi verweist darauf, dass die empirischen
Belege für die große Verbreitung von Gewalt im sozialen Nahraum ein Modell überflüssig machten,
das Gewalt auf die Pathologie einiger Ausnahmeindividuen zurückzuführen beabsichtigte. Vielmehr
arbeiten neuere psychiatrische Studien mit repräsentativen Stichproben, wobei erprobte diagnostische Analyseverfahren zum Einsatz kommen. Er
verweist zudem darauf, dass psychopathologischpsychiatrische Ansätze, die weder monokausal auf
Individuen konzentriert sind noch als ideologische
Waffe eingesetzt werden, wertvolle Beiträge zur
interpersonalen Gewaltforschung liefern können.
Allerdings müsste in Bezug auf die Opfer von Gewaltverbrechen eine Position aufgegeben werden,
welche Gründe für die Gewaltanwendung in der
Persönlichkeitsstruktur dieser Individuen sucht.
Nach Meinung Godenzis könnten psychopathologische Studien hilfreich für die Ausarbeitung von
Therapieprogrammen sein. Seiner Meinung nach
wären Studien über die psychopathologischen
Merkmale von kulturellen Gruppen oder Sozietäten zu fördern, die Gewalthandlungen in Familien und Paarbeziehungen begünstigen oder hemmen (Godenzi 1994, S. 74).
7 38 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
3.2.2 Sozialpsychologische Ansätze
3.2.2.1 Soziale Lerntheorien
Konzepte sozial-kognitiver Lerntheorien zu
Gewalt in der Familie entstanden aus verhaltenstheoretischen Modellen. Der Ausgangspunkt dieser
Konzepte beruht auf der Grundannahme, dass auf
einen bestimmten (Umwelt)Reiz spezifische Reaktionen folgen. Auf dieser Annahme beruhende
Modelle werden in der psychologischen und sozialwissenschaftlichen Literatur als Behaviorismus bezeichnet. Diese Forschungsrichtung gewann innerhalb der Sozialwissenschaften sehr großen Einfluss.
Bandura (1973) etwa, der maßgeblich für die Entwicklung sozial-kognitiver Lerntheorien verantwortlich war, sieht den Menschen als ein mit neurophysiologischen Mechanismen ausgestattetes
Wesen, welche ihn zur Aggression befähigen. Die
Aktivierung dieser Veranlagungen ist jedoch von
bestimmten äußeren Reizen abhängig, die kortikal
kontrolliert werden. Verhalten wird sowohl durch
Imitation als auch durch direkte Erfahrung gelernt.
Gelerntes Verhalten wird demnach durch Modelleinflüsse und Umweltreize ausgelöst. Zu einer
Festigung dieser Fähigkeiten kommt es durch externe stellvertretende sowie selbstbelohnende Verstärkungsarten.
In klinischen Studien und in Repräsentativbefragungen konnte die These bestätigt werden,
dass bestimmtes soziales Verhalten, darunter auch
die Anwendung von Gewalt, erlernt wird. Straus
(Straus et al. 1980) etwa stellte fest, dass das
Lernprogramm bezüglich Gewalt in der Familie im
Wesentlichen drei Lektionen umfasst:
1. Jene, die dich lieben, schlagen dich auch.
2. Gewalt gegen Familienmitglieder ist moralisch
nicht verwerflich.
3. Die Gewaltanwendung ist dann erlaubt, wenn
andere gewaltlose Einflussmittel unwirksam sind.
Familien sind demnach ein bevorzugter Ort und
Übungsplatz, um Gewalttätigkeiten zu beobachten
und zu erleben.
Gewalt in der Familie
Straus et al. beschäftigten sich auch mit der
Frage der intergenerationellen Übertragung von
Gewalt. Konkret illustrierten sie den gewaltzyklischen Mechanismus an drei Generationen. Als
Mitglied gewalttätiger Herkunftsfamilien lernt jede
Generation gewalttätig zu sein. Sie verstehen dies
nicht als Determinismus, da es genügend Menschen
gibt, die Familienmitglieder misshandeln, ohne
selbst als Kind ähnlichen Erfahrungen ausgesetzt
gewesen zu sein. Darüber hinaus gibt es auch Fälle,
in denen geschlagene Kinder später als Erwachsene
keine Gewalt in ihren Familien ausüben (Straus et
al. 1980).
Auch O´Leary entwickelte ein Modell sozialen
Lernens, insbesondere für das Phänomen von Gewalt in Paarbeziehungen. Demnach sind fünf Faktoren für den Gewaltausbruch bzw. -einsatz verantwortlich, darunter:
1. Misshandlungserfahrung;
2. Aggressivität als individuelle Eigenschaft, die
abhängig ist vom persönlichen Konfliktlösungsstil und der eigenen Geschichte als Gewalt ausübendes Individuum;
3. Belastungsfaktoren;
4. Alkohol;
5. Unzufriedenheit mit der Paarbeziehung.
Diese Bedingungen sind miteinander verknüpft,
kein Faktor allein hat Gewaltakte zur Folge. Erst
durch eine sich anhäufende Wechselwirkung
vergrößert sich die Wahrscheinlichkeit, dass dieses
erlernte Verhalten umgesetzt wird (O´Leary 1988).
Zusammenfassend betrachtet gehen lerntheoretische Erklärungsmodelle davon aus, dass Individuen, bedingt durch in der Kindheit geprägte
Erfahrungen, in die Verwendung von Gewalt eingeübt werden. Habermehl verweist auf empirische
Arbeiten die zeigen, dass Personen, die als Kinder
von ihren Eltern körperlich bestraft oder misshandelt wurden oder Gewalt zwischen ihren Eltern
beobachteten, stärker zur Gewaltanwendung in
ihren eigenen Familien neigen, als in gewaltfreien
7 39 3
Familien aufgewachsene Personen. In der Kindheit
eingeübte Gewalt wird auf Stresssituationen übertragen. (Owens & Straus 1975; Zuppinger 1983;
Kalmar 1977; Pizzey 1978; Oliver 1977; Weston
1978). So kommt es zu einer Übertragung von
Gewalt von einer Generation zur nächsten. Selbst
Eltern, die sich auf Grund eigener Erfahrungen in
der Kindheit fest vornahmen, ihre eigenen Kinder
gewaltfrei zu erziehen, neigen dazu, in Stresssituationen auf die in der Kindheit erlernten Reaktionen zurückzugreifen (Habermehl 1994).
An der lerntheoretischen Zugangsweise wurde
kritisiert, dass diese durch ausschließliche Konzentration auf beobachtbares Verhalten die komplexe Vielfalt menschlicher Existenz nicht entsprechend berücksichtige. Weiters können, so Kritiker,
die Erkenntnisse der sozialen Lerntheorie zur
Erklärung von Aggression nicht übertragen werden, da meist nur milde Aggressionsformen untersucht wurden. Wenn das Lernen so einfach wäre,
müsste es auch möglich sein, destruktive Kenntnisse umzulernen. Ebenso wurde Kritik am kognitiven Schwerpunkt der Lerntheorie geübt. Dieser
vermittle den Eindruck, als ob Menschen einzig so
handeln würden, wie es ihren Interessen am besten
entspricht. Die Beschränkung auf Rationalität und
auf Kosten-Nutzen-Analysen biete kaum die
Möglichkeit, spontanes, nicht vorhersehbares und
unlogisches Verhalten zu erklären.
Die Grundthese, dass soziales Verhalten gelernt
wird, lässt sich allerdings kaum ernsthaft bestreiten.
Insofern basieren viele Ansätze auf der Grundüberlegung, dass Menschen Informationen und Motivationen, die sie zum Handeln befähigen, irgendwann in ihrer Lebensgeschichte erlernen. Dies gilt
auch dann, wenn diese Erklärungsansätze andere
Konsequenzen daraus ziehen. Zusammen mit ihnen
kann die Lerntheorie wertvolle Beiträge liefern, da
sie sich bisher schon als sehr anpassungsfähig erwiesen hat. Godenzi (1994) schlägt in diesem Zusammenhang vor, dass der lerntheoretische Ansatz durch
die Frage, welche sozialen und kulturellen Faktoren
das Lernen beeinflussen, ergänzt werden soll.
3.2.2.2 Stresstheorien
Stresstheoretische Modelle gehen von der
Grundannahme aus, dass Gewalt durch bestimmte
Formen von stresshaften Belastungen ausgelöst
wird, die unterschiedlichen Ursprung haben können. Umgesetzt auf die familiäre Situation bedeutet
dies etwas vereinfacht betrachtet, je mehr Ereignisse oder Situationen die Familie und ihre Mitglieder belasten, desto wahrscheinlicher kommt es
zu Gewalthandlungen.
Elmer (1979) zufolge ist die Familie als Institution besonders anfällig für Stress. Sie führt dies
auf die Partnerwahl und die wechselnde Zusammensetzung der Familie zurück. In unterschiedlichen sozialen Schichten können unterschiedliche
Formen von Stress auftreten. Unterschichtfamilien
etwa sind mit Stressfaktoren konfrontiert, die mit
ihrer wirtschaftlichen Lage in Zusammenhang stehen. Konkret sind dies beispielsweise die schlechte
Wohnsituation, Arbeitslosigkeit oder geringfügige
Beschäftigungsverhältnisse, geringe Bildung, mangelnde physische und psychische Gesundheit.
Familien der Mittel- und Oberschicht wiederum
sind anderen Formen von Stress ausgesetzt wie
etwa Karrieredruck, der zu Überbeschäftigung
(meist bei Männern) und in manchen Fällen auch zu
häufigem Wohnortwechsel führen kann. Mit anderen Formen von Stress sind Angehörige aller sozialen Schichten konfrontiert. Dazu zählen etwa psychische und physische Probleme, Eheprobleme,
Alkohol- oder andere Suchtprobleme sowie Isolation von Verwandten, Freunden und Nachbarn etc.
Gelles (1973) hat einen mehrfaktoriellen sozialpsychologischen Erklärungsansatz entwickelt, in
dem der Faktor Stress eine zentrale Stellung einnimmt. In dieses Modell bezieht er psychopathologische und soziale Faktoren mit ein. Berücksichtigung finden sowohl die soziale Stellung der
Eltern, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Schicht, mit der in Bezug auf Gewalt bestimmte Norm- und Wertvorstellungen verbunden
sind sowie die im Prozess der Sozialisation erlebten
Gewalterfahrungen, weiters Persönlichkeitsmerk-
7 40 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
male, Charakterzüge und pathologische Auffälligkeiten. Seinem Ansatz zufolge leben Menschen
unter verschiedenen situationsabhängigen Stressbedingungen. Dazu zählen etwa durch die elterliche
Beziehung bedingter Stress, durch strukturelle
Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Isolation etc. bedingter Stress und durch unerwünschte Kinder
oder Problemkinder verursachter Stress. Geraten
Eltern, die unter diesen Bedingungen leben, in eine
plötzlich auftretende Sondersituation, dann erhöht
sich die Wahrscheinlichkeit der Gewalt am Kind
(Gelles 1973 zit. nach Habermehl 1994, S. 91).
In empirischen Arbeiten konnte der Nachweis
erbracht werden, dass Stress wesentlich zur Entstehung familialer Gewalt beiträgt. Familien, die
einem hohen Grad an Stress ausgesetzt sind, greifen
häufiger zum Mittel körperlicher Gewalt als jene,
die kaum unter stresshaften Bedingungen leben. Zu
den konkret Gewalt verursachenden Stressfaktoren
zählen niedriges Einkommen, geringe Bildung,
Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse, Probleme am Arbeitsplatz und in der Familie, ungewollte Schwangerschaft, Alkohol- oder Drogenkonsum, Trennung oder Scheidung (Straus 1980;
Straus et al. 1980; Creighton 1979; Habermehl
1994) aber auch das Phänomen der Statusinkonsistenz wie oben beschrieben (Hornung 1981).
Kritiker verweisen jedoch darauf, dass stresstheoretische Ansätze einige Problemfelder offen
lassen. Konkret stellt sich etwa die Frage, wieso
Frauen empirisch betrachtet nicht genauso oft
Gewalt in der Familie anwenden, wenn doch die
stresstheoretische Perspektive nahe legt, dass diese
häufig und oftmals sogar noch mehr Stressfaktoren
ausgesetzt sind als Männer. Eine Erklärung dafür
könnte sein, dass sich Männer leichter bedroht
fühlen, konkret also spezifische Stressfaktoren
anders wahrnehmen als Frauen. Möglicherweise
verfügen Männer auch über weniger Stressbewältigungsfähigkeiten. Dennoch bleiben Fragen offen.
Godenzi (1994) schlägt deshalb vor, stresstheoretische Konzepte vermehrt interpretativ anzuwenden.
Strukturelle Komponenten wie Armut oder man-
Gewalt in der Familie
gelnde Ausbildung können zwar objektiv ableitbare Belastungen hervorrufen, dennoch ist die subjektive und situationale Deutung dieser Belastungen
letztlich dafür verantwortlich, ob und in welchem
Ausmaß Gewalt zur Anwendung kommt. Ein
einfacher Ursache-Wirkungszusammenhang auf
Grund von objektiven Stressfaktoren, lässt sich
demnach nicht ableiten.
3.2.2.3 Symbolischer Interaktionismus
Symbolisch-interaktionistische Erklärungsansätze zählen zwar im Spektrum der Forschung über
Gewalt in der Familie nicht zu den etablierten
Theoriemodellen, bieten jedoch durch ihre alternative Sicht- und Zugangsweise ein Gegengewicht zu
anderen Ansätzen. G.H. Mead (1968) der „Vater“
des symbolischen Interaktionismus ging von der
Grundannahme aus, dass menschliches Verhalten
symbolisch strukturiert ist. Demnach wird auch die
Bedeutung von Handlungen symbolisch vermittelt.
Im Unterschied zum Behaviorismus ist in diesem
Ansatz menschliches Verhalten und in der Folge
auch Handeln nicht bloß durch ein einfaches ReizReaktionsschema charakterisiert. Quasi „dazwischen geschaltet“ ist eine Ebene symbolischer Bedeutungen im menschlichen Verhaltensrepertoire.
Zeichen werden interpretiert, wobei sich dieser
Prozess der Deutung zwischen Reiz und Reaktion
schiebt. Dies hat zur Folge, dass die soziale
Wirklichkeit durch die handelnden Personen
immer wieder von Neuem definiert und konstruiert
werden muss. Somit gibt es keine Sicherheiten, auf
die sich die Beteiligten verlassen können, die entsprechenden Bezugspunkte müssen stets neu ausverhandelt werden (Helle 1989).
Für die Erklärung von Gewalt bedeutet dies,
dass eine Handlung nicht auf Grund objektiv zu
messender Kriterien zu einer Gewalttat wird, sondern sich erst durch die von den Individuen der entsprechenden Handlung zugeschriebenen Bedeutungen für den jeweiligen Moment bestimmt lässt.
Dieser Zugang bleibt nicht ohne Konsequenzen.
Denn wenn eine Handlung erst durch die
7 41 3
Definition und Bewertungen anderer als gewalttätig bezeichnet wird, werden psychopathologische
und zum Teil auch lerntheoretische Deutungen in
Frage gestellt. Personen handeln demnach nicht
gewalttätig, weil sie dies erlernt haben oder dazu
getrieben wurden. Vielmehr werden bestimmte
Situationen, in denen es zum Vollzug bestimmter
Handlungen kommt, situativ von den Beteiligten
als gewalttätig definiert. Der Interaktionismus stellt
zudem die von anderen in der Forschung über
Gewalt in der Familie etablierten Ansätzen – konkret der Ressourcen-, Konflikt- und Machttheorien
– vertretene Ansicht, dass Gewalt in Familien eine
messbare, weit verbreitete und Besorgnis erregende
Erscheinung ist, in Frage und steht somit in deutlichem Gegensatz zu diesen (Godenzi 1994).
Honig (1986), ein Vertreter dieser Richtung,
verweist darauf, dass eine Perspektive, die zur
Erklärung von Gewalt die Wirklichkeitskonstruktionen der beteiligten Familienmitglieder in
den Mittelpunkt ihres Interesses stellt, fast zwangsläufig Irritationen hervorrufen muss, weil sie
scheinbar selbstverständliche Unterscheidungen
von Gewalt und Gewaltlosigkeit in Frage stellt.
Dies kann einerseits als Verharmlosung, andererseits als Dramatisierung missverstanden werden.
Honig geht unter Bezugnahme auf Bograd (1984)
von der Annahme aus, dass körperliche Kraft allein
unabhängig davon, wie sie sich auswirken mag,
„Gewalt“ nicht konstituiert, es sei denn, ihr wird
die soziale Bedeutung von „Gewalt“ zugeschrieben. „Die Tatsache, dass ein Mann seine Frau
schlägt, ist nicht zu bestreiten. Ob diese Handlung
,Gewalt‘ ist oder nicht, ob sie gut oder schlecht ist,
normal oder abweichend, ist eine Frage sozialer
Interpretationen.“ (Honig 1986, S.101). Diese
Grundannahme hat ihn dazu veranlasst, einen
Perspektivwechsel zu vollziehen. Im Mittelpunkt
seines Interesses steht nicht die Frage, ob in den von
ihm untersuchten Familien „Kindesmisshandlung“,
„Gewalt gegen Frauen“, „sexueller Missbrauch“
von Mädchen oder andere Formen von Gewalt vorkommen und welche Intensität diese haben. Ihm
geht es vielmehr darum zu untersuchen, wie Situationen beschaffen sind, in denen Männer und
Frauen gewalttätig werden. Sein Anliegen ist es, das
Spektakuläre des Gewaltkonzeptes in den öffentlichen Debatten und die Verdinglichung von Gewalt
in den sozialwissenschaftlichen Modellvorstellungen in Situationsdeutungen von Familienmitgliedern zurück zu übersetzen (Honig 1986).
Familie unterscheidet sich nach Ansicht von
Honig von anderen Intimgruppen durch das
Ausmaß an Zeit, das Familienmitglieder miteinander verbringen sowie durch den expressiven
Charakter und die große thematische Breite der
sozialen Interaktion. Als Institution ist die Familie
charakterisiert durch eine hierarchische Organisation der Geschlechts- und Generationenrollen.
Weiters spezifisch für Familie ist die persönliche
Bedeutung, die sie für ihre Mitglieder hat. Das
beträchtliche emotionale Engagement macht jedoch
verletzlicher für Kränkungen, da es durch die Nähe
zueinander kritisch ist, persönliche Grenzen zu ziehen. Somit könnte man davon ausgehen, dass die
Merkmale von Familie als Intimgruppe und als
Institution die potenzielle Voraussetzung für das
Vorkommen von Gewalttätigkeiten liefern. Dieselben Charakteristika schaffen jedoch andererseits
auch das Potenzial für Vertrautheit. Das Potenzial
für Gewalttätigkeit kann somit als Kehrseite des
Potenzials für Liebe und Intimität betrachtet werden. Honig plädiert jedoch dafür, die These von der
Paradoxie familialer Intimität umzuformulieren.
Nicht die Familie aus sich heraus enthält auf Grund
ihrer Intimität ein Potenzial an Gewalttätigkeit.
Vielmehr, so Honig, wird die Ambivalenz von
Nähe und Konflikt im familialen Lebenszusammenhang durch die festgeschriebene Ungleichheit
und Abhängigkeit spezifisch zugespitzt.
„Weil die Bedeutung von Intimität für die
Familienmitglieder wichtiger wird und damit egalitäre Wertorientierungen an Einfluss gewinnen,
werden Ungleichheit und Abhängigkeit als Strukturmuster familialer Beziehungen delegitimiert im
gleichen Maße, wie individuelle Erwartungen sich
7 42 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
abkoppeln von institutionellen Normierungen.“
(Honig 1986, S.89).
Auf die Frage, welche soziale Bedeutung
Gewalthandeln im Familienleben hat, kommt
Honig auf Basis seiner Untersuchung zur Erkenntnis, dass familiales Gewalthandeln eine Bewältigungsstrategie ist, konkret ein Versuch, angesichts
gegensätzlicher Erwartungen und Ansprüche Normalität im Alltag von Familie herzustellen. „Die
Schilderung von Beteiligten haben sichtbar werden
lassen, wie wenig die Zuschreibung ,Gewalt‘ mit
der Familienwirklichkeit aus der Sicht der Akteure
zu tun hat. Während die öffentlichen Diskurse
unter dem Imperativ rechtlicher, therapeutischer
und politischer Intervention Gewalthandeln nach
den Kriterien der körperlichen Verletzung, Beziehungsstörung, oder Unterdrückung: kurz als Abweichung von einem erwünschten Zustand körperlicher Integrität, psychosozialen Gleichgewichts
oder sozialer Emanzipation codieren, erzählen die
Betroffenen von Gewalthandeln als ,fact of life‘ und
Bestandteil des Familienlebens.“ (Honig 1986,
S. 268). Teilweise handelt es sich um einen unproblematischen und selbstverständlichen Bestandteil,
andererseits wird er auch als ein inakzeptabler
Aspekt von Familie geschildert. Unproblematische
Kriterien legitimer Gewaltanwendung – als Beispiel
dafür gelten immer noch die körperlichen Strafen in
der Erziehung – stehen Formen der Konfliktbewältigung gegenüber, die Gewalt als Mittel der
Konfliktbewältigung ausschließen.
Gewalt in Familien hat resümierend betrachtet
ein diffuses und komplexes Aussehen und lässt sich
kaum als abweichendes Verhalten abgrenzen. Sie ist
Teil des familiären Lebens in Durchschnittsfamilien
(Honig 1986).
Die Kritik an interaktionistischen Erklärungsansätzen zu Gewalt in der Familie setzt an dessen
theoretischen Prämissen selbst an. Mead ging in seinen theoretischen Überlegungen davon aus, dass
gemeinsame Bedeutungen oder Symbole durch
Prozesse der Konsensfindung und der Kooperation
der Beteiligten zu Stande kommen. Godenzi ver-
Gewalt in der Familie
weist darauf, dass die Frage, wie aus einer Vielzahl
von Bedeutungen die situativ passende gewählt
oder durchgesetzt wird, offen blieb. Nicht anders
lässt sich erklären, dass etwa der in anderen
Modellen sehr wohl thematisierte Einfluss von
Macht zur Durchsetzung von Bedeutungen in diesem Theorieansatz nicht entsprechend diskutiert
wurde. Dementsprechend fällt auch sein Urteil
über interaktionistische Gewaltforschung aus.
„Interaktionistische Argumente können einem
Gewaltforscher wie dem Verfasser ganz schön auf
den Geist gehen. Wenn Verstand und Herz nach
jahrelangem Studium der Ursachen, Ausprägungen
und Folgen von Gewalt einigermaßen zerbrechlich
geworden sind und dann behauptet wird, Gewalt
sei ein Mythos, sei nicht messbar, sei ein interaktionelles Geschehen, es gäbe weder Täter noch Opfer
(vor allem in der Therapie eine für die Misshandelnden folgenschwere Position), dann können Unlustgefühle aufsteigen.„ (Godenzi 1994). Allerdings
konzediert er diesem Konzept, dass es Beachtung
verdient, weil darin die Objektivität klassischer
empirischer Zugangsweisen auf „die Wirklichkeit“
problematisiert und mögliche Auswirkungen für
familiale Gewalt offen gelegt werden. Die Gefahr
von Konzepten, die zur Beschreibung familiärer
Wirklichkeit auf Gewaltskalen zurückgreifen, besteht darin, die subjektiven Bedeutungen der Betroffenen zu übersehen. Genau hier setzt der symbolische Interaktionismus an und konzentriert sich
vor allem auf die Sichtweise der Betroffenen
(Godenzi 1994).
3.2.3 Soziokulturelle und
soziostrukturelle Theorien
3.2.3.1 Ressourcentheoretische Ansätze
und Theorien zur Statusinkonsistenz
Ressourcentheoretische Ansätze gehen davon
aus, dass Individuen oder Gruppen bestimmte
Mittel dazu einsetzen, um individuelle oder gruppenspezifische Ziele durchzusetzen.
7 43 3
Goode (1971) hat auf dieser Basis als Erster
einen theoretischen Ansatz speziell für die Erforschung von Gewalt in der Familie entwickelt. Er
folgt einer strukturfunktionalistischen Interpretation von Familie. Demnach sind Macht, Zwang
und Gewalt notwendige Interaktionsmuster zur
Aufrechterhaltung von Ordnung. Konkret geht er
davon aus, dass Familie wie andere soziale Einheiten ein System ist, das bis zu einem gewissen
Grad auf Macht oder deren Androhung beruht.21
Gewalt ist demnach eine von mehreren Ressourcen,
die Individuen dazu veranlassen können, den von
anderen vorgegebenen Absichten Folge zu leisten.
Neben Gewalt bzw. Machtandrohung zählen dazu
ökonomische Faktoren, Prestige oder Achtung,
sowie Sympathie, Attraktivität, Freundschaft oder
Liebe. Nach Ansicht von Goode wird der Gebrauch von Gewalt im Prozess der Sozialisation in
spezifischer Form gelernt. Kinder werden mitunter
auch durch Gewalt dazu gebracht, die gewünschten
Familienmuster als richtig und wünschenswert
anzunehmen. Quasi als „Nebeneffekt“ lernen sie
dabei auch, dass Gewalt als Ressource zur Durchsetzung von Zielen „nützlich“ sein kann.
Zentral ist Goodes Überlegung, dass sich die
meisten Menschen nicht für offene Gewaltanwendung entscheiden, wenn sie über andere Ressourcen verfügen, da die daraus resultierenden
Folgen gerade innerhalb von Familien gravierend
sein können. Je mehr Durchsetzungsmacht Individuen aufbringen können, desto weniger werden sie
auf Gewalt als Ressource zurückgreifen. Durchsetzungsmacht innerhalb der Familie wird ähnlich
wie auf größerer gesellschaftlicher Ebene durch
Faktoren wie Erfolg und Prestige geprägt. Nach
Ansicht von Goode besitzt deshalb ein Ehemann
der Mittel- und Oberschicht über mehr Durchsetzungsmacht als Angehörige unterer sozialer
21
Schichten. Das höhere Sozialprestige, größerer
ökonomischer Besitz und die stärkere Betonung
subtiler Sozialtechniken wie gegenseitige Achtung,
Zuneigung und Kommunikation ermöglichen ihm
größeren Einfluss, sodass Gewaltanwendung als
Mittel der Durchsetzung eigener Zielvorstellungen
nicht notwendig ist.
Gewalt ist nach Ansicht von Goode Bestandteil
bestehender Familienrollen, Familienstrukturen
und Überlieferungen, die im Allgemeinen akzeptiert werden, weil deren Einsatz zur Aufrechterhaltung dieser Rollen und Strukturen, wenn nötig
auch von anderen Familienmitgliedern, Verwandten, Nachbarn und Institutionen der Gemeinschaft speziell durch Polizei und Gericht unterstützt wird.22 Von den meisten Familienmitgliedern
wird dies auch nicht in Frage gestellt. Entsprechend
seiner Eingangsüberlegungen beschreibt Goode
(1971) die Familie als System von Austauschbeziehungen, die idealer weise ausgeglichen sind.
Familienbeziehungen können sich jedoch verändern und das Gleichgewicht des Austausches
gestört werden. Dies geschieht vor allem dann,
wenn das Gefühl entsteht in dieser Austauschbeziehung benachteiligt zu werden. Dieses Ungleichgewicht kann Streit und Gewaltanwendung
zur Folge haben. Die Gefahr von Gewaltanwendungen wird erhöht, wenn keine Bereitschaft
vorhanden ist, sich entweder dem in der Familie
gültigen Normensystem auch unter nachteiligen
Bedingungen zu unterwerfen oder das System zu
verlassen. Große gefühlsmäßige Investitionen in
familiale Beziehungen, hohe potenzielle Kosten im
Falle von Trennung sowie gesellschaftliche Zwänge
22
„Like all other social units or systems, the family is a
power system. All rest to some degree on force or its
threat, whatever else may be their foundation.“ (Goode
1971).
7 44 3
The family structures that are ultimately backed by force
though few challenge them and instead accept them as
given, not to be questioned. Ordinarily, force is not visible here unless some family members reject part of the
structure, whereupon one or more family members,
kinsmen, neighbours, or the community in the form of
the court and police will intervene to reassert the rules
(Goode 1971).
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
die verwandtschaftlichen Beziehungen aufrecht zu
erhalten, veranlassen allerdings viele auch in benachteiligenden Formen des Austausches zu bleiben.
Der Zusammenhang zwischen Ressourcen und
familiärer Gewalt wurde in der Folge empirisch
häufig untersucht. Ein weiterer theoretischer Zugang dazu erfolgte über so genannte Theorien der
Statusinkonsistenz und Statusinkompatibilität.
Diese gehen davon aus, dass ein Ehepartner, in der
Regel meist der Ehemann, auf Grund seines im
Vergleich zum anderen Ehepartners niedrigeren
Status (etwa an Einkommen, Bildung, Besitz etc.)
oder auf Grund der Überlegenheit des Partners aus
Frustration, Geltungssucht oder dem Bemühen
eine dominante Rolle einzunehmen, zu Gewalttätigkeiten gegen Frauen und Kinder als Mittel der
Durchsetzung greift (Godenzi 1994).
O´Brien (1971) etwa erklärt, dass es in Familien
dann zu Gewalt kommt, wenn sich Inhaber übergeordneter Positionen in ihrer Position bedroht
sehen. Er konnte dies konkret bei Ehemännern
nachweisen, die in der ihnen zugedachten Rolle der
Ernährer nicht besonders erfolgreich sind und verschiedene Statuscharakteristika (etwa Bildung und
Besitz) aufweisen, die niedriger sind als die der
Frau.
Hornung et al. (1981) haben die eingangs
beschriebenen Grundüberlegungen weiterentwickelt. Entsprechend der zuvor erwähnten Ausgangsposition gehen sie davon aus, dass Statusinkonsistenz und Statusinkompatibilität das Misshandlungsrisiko erhöhen. Demnach weckt jedes
Statuscharakteristikum, (z.B.: Ausbildungsgrad,
Einkommen, Besitz, etc.), das eine Person besitzt,
Erwartungen über andere Statuscharakteristika dieser Person selbst sowie über Merkmale des/der
EhepartnerIn. Diese Statuserwartungen sind vorwegnehmend und normativ zugleich. Konkret
bedeutet dies beispielsweise, dass von einer Person,
die eine bestimmte berufliche Position – etwa eine
höhere Angestelltenposition – einnimmt und gleichzeitig einen höheren Bildungsabschluss aufweisen
kann, erwartet wird, dass sie auch ein im Vergleich
Gewalt in der Familie
zu mittleren Angestellten höheres Einkommen vorzuweisen hat.23
Erwartungen über den Besitz von Statusmerkmalen entstehen durch ein entsprechend häufiges Vorkommen in der Bevölkerung. Dementsprechend orientiert sich die Definition, ob die
Kombinationen verschiedener Status konsistent
oder inkonsistent sind ebenso an der Häufigkeit des
gemeinsamen Auftretens in der Bevölkerung.
Beispielhaft umgesetzt bedeutet dies, dass der
Besitz von viel Geld bei gleichzeitig niedriger
Bildung dann nicht als statusinkonsistent gedeutet
wird, wenn es in einer Gesellschaft sehr viele
Personen gibt, die diese Merkmalskombination aufweisen.
Während die ursprüngliche Forschung über
Statusinkonsistenz davon ausging, dass die gleichzeitige Besetzung von Statusmerkmalen auf ungleichem Level (beispielsweise viel Geld besitzen und
niedrige Bildung zu haben) psychologischen Stress
hervorrufen kann, gehen Hornung et al. davon aus,
dass vielmehr untypische Kombinationen von
Statusmerkmalen Stress hervorrufen (Hornung
1981). So ist es etwa hypothetisch denkbar, dass in
einer Gesellschaft, in der es üblich ist, viel Geld zu
besitzen und einen „niedrigen Bildungsstand“ zu
haben, der Besitz von Geld bei gleichzeitig hoher
Bildung als statusinkonsistent begriffen wird.
Umgelegt auf die Situation in Familien bedeuten
diese Überlegungen, dass sich die Erwartungen
bezüglich Statuskombinationen von Ehepartnern
nach deren Vorkommen in der Bevölkerung richten. Demnach werden atypische Kombinationen,
d.h. jene, die selten vorkommen, als inkompatibel
definiert. So gesehen sind nach Hornung nicht einfach Rangunterschiede zwischen den Positionen
23
7 45 3
Hornung (1981) erläutert diese theoretischen Überlegungen beispielhaft damit, dass etwa die Statuserwartung
in sehr professionellen Berufsfeldern dahin gehen, dass
die entsprechenden Bewerber eine über den bachelor
Abschluss hinausgehende Qualifizierung aufweisen
können.
von Mann und Frau – also etwa ein höherer
Bildungsgrad und ein höheres Einkommen der
Frau – sondern atypische Kombinationen dafür
verantwortlich, dass Stress in Beziehungen und in
der Folge Gewalt entsteht. Diese führen nach
Hornung zu Gefühlen von Benachteiligung und
Unbilligkeit, wenn die Belohnungen im Vergleich
zu den Investitionen niedrig sind und zu Gefühlen
von Schuld und Unbilligkeit, wenn umgekehrt die
Investitionen im Vergleich zu den Belohnungen
gering sind. Der soziale Prozess des Vergleichens
führt dazu, dass andere Personen in derselben
Berufsstellung oder mit demselben Ausbildungsgrad Bezugsgruppen bilden, an denen man sich
orientiert. Es entspricht dem Sinn dieser Bezugsgruppen, dass die Fairness der Belohnung in Beschäftigungsverhältnissen entsprechend den Investitionen in Bildung und umgekehrt berechnet
wird. Für die Situation in partnerschaftlichen
Beziehungen bedeutet dies, dass Statusinvestitionen
und -belohnungen des Partners an den eigenen
Investitionen und Belohnungen gemessen wird.
Bedingt durch diesen bewertenden sozialpsychologischen Vergleichsprozesse führen die zuvor
beschriebenen strukturellen Bedingungen von
Statusinkonsistenz und Statusinkompatibilität zu
psychologischem Stress und schließlich zu einer
Reihe von Folgen, darunter auch Unzufriedenheit
mit der Ehe. Diese strukturellen Bedingungen und
der Stress, den sie hervorrufen, erhöhen so
Hornung die Wahrscheinlichkeit von gewalttätigem Verhalten in der Ehe (Hornung 1981;
Habermehl 1994).
Schneider (1990) weist darauf hin, dass die Ressourcentheorie mitunter zu anderen empirischen
Ergebnissen führt als andere theoretische Zugänge
wie etwa die feministischen Theorien über Gewalt
im sozialen Nahraum. Konkret konnte in ressourcentheoretisch geleiteten Studien der Nachweis
erbracht werden, dass die ihrem Partner überlegene,
intelligentere, besser ausgebildete und beruflich
erfolgreiche Frau damit konfrontiert wird, von
ihrem ressourcenschwachen Mann misshandelt zu
werden. Der feministische Ansatz gelangt hingegen
zur Vorhersage, dass vor allem die wirtschaftlich
und sozial von ihren Männern abhängigen Frauen
gefährdet sind, Opfer ehelicher Gewalthandlungen
zu werden. Sowohl für die eine als auch die andere
theoretische Position konnten jeweils empirische
Nachweise erbracht werden. Die scheinbare Widersprüchlichkeit lässt nach Ansicht von Schneider
darauf schließen, dass weder eine lineare und direkte Abhängigkeit zwischen der konkreten familiären
Machtverteilung und Gewaltakten noch zwischen
Machtansprüchen, Ressourcenstärke und Gewalt
besteht. Durch die Gegensätzlichkeit der Befunde
wird die Folgerung nahe gelegt, dass sowohl die
einseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau
vom Mann als auch eine relative soziale Überlegenheit der Frau über den Mann die Gefährdung der
Frau steigert.
Über die Konzepte Macht und Ressourcen in
Familien und Paarbeziehungen besteht somit nicht
vornherein Einigkeit. Godenzi verweist darauf,
dass die jeweiligen konkreten Auswirkungen vielmehr Gegenstand von Verhandlungen, Ausgestaltungen und Vergleichsprozessen zwischen den
einzelnen Familienmitgliedern sind. Unentschieden
ist auch, ob sich durch eine Demokratisierung der
Entscheidungsmodalitäten auch das innerfamiliäre
Machtgefüge verändert. Gelingt es, die in der Regel
noch immer Männer begünstigenden asymmetrischen Machtkonstellationen auszugleichen, sind
Auswirkungen auf das Gewalthandeln wahrscheinlich. Sowohl ein Anstieg von Gewalt als Reaktion
von Männern auf ihre unterlegene Stellung, wie in
der Ressourcentheorie beschrieben, als auch vice
versa ein Gewaltrückgang eben auf Grund der stärkeren Position der Frau sind denkbar. Die Situation
scheint somit komplexer als Goode (1994) in seinem ressourcentheoretischen Überlegungen beschrieben hat.
3.2.3.2 Systemtheoretische Ansätze
In diesen Ansätzen wird Familie als System
betrachtet, das sich durch Grenzen von der Umwelt
7 46 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
unterscheidet. Diese können geschlossen oder offen
sein. Ein Charakteristikum ist der Austausch zwischen familialen und außerfamilialen Systemen in
Form von positiven oder negativen Rückkoppelungen (Godenzi 1994).
Systemtheoretische Untersuchungen gehen
über die Analysen kausaler Zusammenhänge oder
so genannte „kausale Schleifen“ (causal loops) hinaus. Unter „kausalen Schleifen“ versteht man
Rückkoppelungsprozesse zwischen sich direkt und
wechselseitig beeinflussenden Faktoren.24 Systemtheoretische Analysen hingegen deuten Rückkoppelungsprozesse aus kybernetischer Perspektive. Ein kybernetischer Rückkoppelungsprozess
beinhaltet daher das Sammeln und Vergleichen von
Information über den Zustand eines Systems und
den Vergleich dieser Information mit den definierten Zielen des Systems. Wenn der tatsächliche Zustand vom Zielzustand abweicht, werden korrigierende Maßnahmen gesetzt. 25
Straus (1973) hat die theoretischen Ansätze der
allgemeinen Systemtheorie auf das Phänomen
Gewalt in der Familie übertragen. Seine Absicht
damit war, bestehende Denkansätze und empirische
24
25
Um sich so einen Rückkoppelungsprozess im Sinne
einer „kausalen Schleife“ beispielhaft vorstellen zu können, denke man etwa an eine übergewichtige Person, die
im Angesicht ihrer äußeren Erscheinung plötzlich Angst
bekommt. Als Folge und mit dem Ziel diese Situation zu
bewältigen – also als Rückkoppelung dieser Bewusstwerdung – beginnt diese Person in der Folge noch
mehr zu essen und wird noch dicker. Dieser Prozess
setzt sich in der Folge schleifenartig fort (Gelles & Straus
1979).
Um sich einen kybernetischen Rückkoppelungsprozess
vorstellen zu können, denke man etwa an ein durch
einen Thermostat geregeltes Heizungssystem. Die Information, also die Raumtemperatur, wird durch ein Thermometer erfasst, weicht die gemessene Temperatur von
der vordefinierten Temperatur ab, schaltet sich das Heizungssystem ein (positive Rückkoppelung), übersteigt
die gemessene Temperatur die vordefinierte Temperatur
schaltet sich das Heizungssystem ab (negative Rückkoppelung).
Gewalt in der Familie
Ergebnisse der Forschung zu Gewalt in der Familie
zusammenzufassen. Er betrachtet Familie als zielsuchendes, zweckdienliches und anpassungsfähiges
System. In seinen Überlegungen wird das Vorhandensein von Gewalt als kontinuierliches Element
sozialer Interaktion der Kernfamilie angesehen.
Familiale Gewalt ist demnach ein Systemprodukt
und keine Folge von Erkrankung oder abweichendem Verhalten einzelner Angehöriger in der
Familie wie das etwa in psychopathologischen Erklärungsmodellen angenommen wird (Gelles &
Straus 1979). Die Entwicklung von Gewalt in
Familien wird dadurch beeinflusst, wie innerhalb
und/oder außerhalb des familiären Systems auf
Gewaltakte reagiert wird. Positive Rückkoppelung
von innen oder außen ruft weitere Gewaltakte hervor, negatives Feed-back stabilisiert oder vermindert die Gewalt.26 Konkret zeigt sich, dass Gewalthandeln oftmals Erfolg hat und somit positiv
verstärkt wird, also eine positive Rückkoppelung
erfährt. Dazu kommt, dass der Einsatz von Gewalt
die Konfliktlagen meist verschärft. Weiters erwarten als gewalttätig etikettierte Personen von sich
selbst eine Wiederholung des gewalttätigen Handlungsmusters, wobei sie von der Umwelt darin oftmals bestätigt werden. Eine Systemanalyse zeigt
alternative Handlungswege auf, die auf Grund
unterschiedlicher Rückkoppelungsprozesse erfolgen können. Somit wird sichtbar, ob Gewalt weitere Gewalt hervorruft, vermindert und stabilisiert
(Godenzi 1994). Straus hat dazu ein Flussdiagramm
26
7 47 3
„What these propositions add up to is the idea that violence is, in part a system product. In brief, the strain of
every day interaction, which constitutes the operation of
the family as a social system, generates accommodations
and conflicts, including violence. Violence as a mode of
operation of the system tends to increase when there is
„positive feedback“ through such processes such as a)
labelling b) creation of secondary conflict over the use of
violence, c) reinforcement of the actor using violence
through successful use of such violence d) the development of role expectations and self-concepts as tough or
violent.“ (Straus 1973, S.106).
entwickelt. In 15 Schritten werden jeweils die Auswirkungen von sowohl positiven als auch negativen
Rückkoppelungen deutlich aufgezeigt und miteinander verbunden (siehe Skizze I.1).
Ein fiktives Beispiel soll das Verständnis dieser
Skizze erleichtern. Herr X, Vater von 2 Töchtern,
45 Jahre alt, 17 Jahre verheiratet, mittlerer Bankangestellter, hat im vergangenen Jahr seine Frau mehrmals geschlagen.
Nach dem systemtheoretischen Modell von
Straus geht es bei der Analyse von Ursachen für
Gewalt in einem ersten Schritt darum, primäre
Ursachenfaktoren festzustellen. (vgl. Liste primärer
Ursachenfaktoren) Bei Familie X handelt es sich
um eine eher „traditionelle“, der Mittelschicht
angehörende Familie, d.h. der Vater arbeitet und die
Mutter ist Hausfrau. Diese Trennung der Geschlechterrollen entspricht dem Willen von Herrn
X, der darauf bestanden hat, dass seine Frau bei den
Kindern zu Hause bleibt. Herr X, der selbst sehr
traditionell aufgewachsen ist, ist in der Kindererziehung sehr streng, während seine Frau eher eine
nachgiebige Rolle einnimmt. Herr X ist keine gläubige Person und neigt zu eher fatalistischen Haltungen. Politisch ist er deklariert rechtskonservativ
eingestellt und steht einer Gleichstellung der Geschlechter sehr skeptisch gegenüber. In seiner eigenen Wahrnehmung neigt er allerdings eher zu
Selbstzweifel und Unsicherheit. Seine Persönlichkeitsstruktur ist von einer Neigung zu Aggressivität geprägt. Immer wieder ist er auch schon
früher gegenüber seiner Frau sehr laut geworden.
Seine berufliche Haltung ist durch eine sehr bürokratische Einstellung gekennzeichnet, allerdings
besteht in seinem Arbeitsumfeld auch wenig
Spielraum für berufliche Selbstgestaltung.
Herr X weist somit einige Merkmale auf, die
nach der Zusammenstellung von Straus zu den
primären Ursachenfaktoren für Gewalt in der
Familie zählen. Als beschleunigender Faktor (siehe
Kasten 2) kommt dazu, dass Herr X im letzten halben Jahr mit massiven Problemen an seinem
Arbeitsplatz konfrontiert wird. Die Bank steht
unmittelbar vor einer Fusion und Herr X zählt zu
denjenigen, dessen Arbeitsplatz im Zuge dieser
Veränderungen gefährdet sein könnte. Dies hat man
ihm an seinem Arbeitsplatz auch immer wieder zu
erkennen gegeben, was ihn in der Folge sehr stark
frustriert.
Dem Modell von Straus theoretisch folgend
kommt es zu einem Rückkoppelungsprozess zwischen bereits bestehenden Ursachenfaktoren und
dazu kommenden beschleunigenden Faktoren.
Einige Zeit hindurch beschränkt sich Herr X zu
Hause zu nörgeln und sich mürrisch zu verhalten,
sieht aber von Gewalttätigkeiten ab. Gewalthandlungen stehen somit (noch) nicht im Einklang
mit den Zielen des Akteurs bzw. Systems (siehe
Kasten 13). Die Alternative erweist sich jedoch als
nicht passend (siehe Kasten 14), sodass sich dieser
Kreislauf einige Zeit immer wieder wiederholt
(siehe Weg Kasten 14 über Kasten 1, Kasten 2,
Kasten 3, Kasten 13 etc.). Als jedoch Tendenzen des
Mobbings spürbar und der Druck auf Herrn X
größer werden, reagiert er zu Hause noch gereizter
als bisher. Er beschuldigt seine Frau, ihre Pflichten
als Hausfrau nicht entsprechend auszufüllen und
sich auf seine Kosten ein schönes Leben zu machen.
Als seine Frau daraufhin sanften Widerstand zu leisten beginnt, rastet er aus und beginnt sie zu schlagen. Dies scheint ihm, wenn zum Teil auch unbewusst, als geeignetes Mittel, um seine Frau folgsam
zu machen.
Entsprechend dem theoretischen Modell von
Straus steht somit die Handlung in Einklang mit
den Zielen des Akteurs (siehe Kasten 3), wodurch
sich die Verübung der Gewalttat erklären lässt
(siehe Kasten 4).
Zunächst fallen die Gewalttätigkeiten, die spontan erfolgen und von kurzer Dauer sind, in der
Umgebung nicht auf. Die Frau zieht sich zurück,
verhält sich jedoch ruhig. Dem Modell entsprechend sind noch keine Bedingungen gegeben, die
eine Etikettierung oder Verstärkung von Gewalt
fördern. Der Kreislauf wiederholt sich somit immer
wieder (Kasten 1 – Kasten 5). Als die Gewalt-
7 48 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
tätigkeiten häufiger und heftiger werden, beginnen
die Nachbarn davon Notiz zu nehmen. Dem theoretischen Modell folgend sind somit Bedingungen
und Prozesse gegeben, die Etikettierung und
Verstärkung von Gewalt fördern. Im konkreten
Fall werden die Gewalttätigkeiten öffentlich und
gleichzeitig auch als gewalttätige Handlungen definiert. Zudem finden sie mit hoher Häufigkeit,
größer werdender Härte und Regelmäßigkeit statt.
Die Nachbarn nehmen die ersten Anzeichen
zunächst noch als einmalige „Ausrutscher„ wahr,
auch wenn bereits Gerede beginnt. Es sind noch
keine Bedingungen gegeben, die eine Internalisierung des gewalttätigen Selbstbildes fördern. Als
sich die Situation zuspitzt – Herr X gerät in seiner
Firma zunehmend stärker unter Druck – kommen
Gewalthandlungen fast täglich vor und werden von
der Außenwelt auch als solche wahrgenommen.
Herr X ist somit mit dem Image des Schlägers behaftet (siehe Kasten 7).
Dem Modell von Straus folgend nimmt er sich
bedingt durch die stigmatisierende Außenwahrnehmung zunehmend selbst als gewalttätig wahr.
Theoretisch betrachtet sind somit Gewalt stabilisierende kognitive und interaktive Prozesse gegeben
(siehe Kasten 8).
Im konkreten Fall stabilisiert sich die Situation
jedoch nicht und die Gewalttaten von Herrn X
erreichen ein Ausmaß, das unerträglich wird (siehe
Kasten 9 bzw. Kasten 11). Die Folge ist, dass die
Frau nach schwerem Ringen und nach Zuspruch
von Freunden beschließt, ihren Mann zu verlassen
(siehe Kasten 12).
suchung über körperliche Misshandlung von
Frauen adaptiert. Sie beschrieb sechs aufeinander
folgende Phasen, die sie bei Misshandlungen von
Frauen beobachten konnte. Demnach wird auf
einer ersten Stufe das „System Familie“ etabliert.
Dabei ist bedeutsam, inwieweit Normen aus früheren oder zeitlich parallelen Systemen (etwa der
Herkunftsfamilie) in das Familiensystem hinein
wirken. In der zweiten Sequenz kommt es zu ersten
Misshandlung durch den Mann. Für den weiteren
Verlauf bedeutsam ist, welche Auswirkungen Gewalt hat, ob es zu positiven oder negativen Rückkoppelungen kommt. Die Folge in der dritten
Phase ist entweder eine Festschreibung oder Destabilisierung von Gewalt. In der vierten Phase stellt
sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt die Frau Gewalt nicht mehr länger ertragen kann. Diesbezüglich kommt Giles-Sims (1983) zum Ergebnis,
dass Frauen meist dann über Handlungskonsequenzen entscheiden, wenn die eigenen Kinder
bedroht sind oder wenn entweder die Kinder oder
Außenstehende Zeugen der Gewalt gegen sie werden. In der fünften Phase verlässt die Frau das
Familiensystem, ein Schritt der in der Regel leichter
fällt, wenn sie auf außerfamiliäre Unterstützungssysteme (Freundeskreis, eigene Familie) zurückgreifen kann. In der letzten Phase entscheidet sich
schließlich, ob die Frau – entweder alleine, in einer
neuen oder in der bisherigen Paarbeziehung –
gewaltfreie Interaktionen etablieren kann, oder ob
sie mit neuen Gewalttätigkeiten konfrontiert wird
(Giles-Sims zit. nach Godenzi 1994, S.132).
Das von Straus vorgelegte systemtheoretische
Konzept wurde dahingehend kritisiert, dass die
aufgestellten Thesen in der Folge nicht empirisch
überprüft worden seien. Dies wird unter anderem
darauf zurückgeführt, dass das Modell für eine derartige Überprüfung zu komplex und daher gar
nicht empirisch überprüfbar sei.
Giles-Sims (1983) hat deshalb die systemtheoretische Zugangsweise konkret für eine Unter-
Gewalt in der Familie
7 49 3
Skizze I.1:
Ein systemtheoretisches Modell zur Erklärung familiärer Gewalt – Modell von Straus
1.) Primäre Ursachenfaktoren1
+
positive Rückkopplung
–
2.) Beschleunigende
negative Rückkopplung
Faktoren2
5.) Sind Bedinnein
gungen gegeben, die Etiket-
–
3.) Steht die Gewalthandlung
ja
4.) Ver-
tierung oder
Verstärkung von
Gewalt fördern?
im Einklang mit den Zielen
übung
des Akteurs oder des
der Ge-
Systems?
walttat
+
ja
6.) Bedingungen und Prozesse, die Etikettierung
8.) Kognitive und interaktive Prozesse, die
und Verstärkung von Gewalt fördern
A) äußere Faktoren:
Gewalt stabilisieren
1.) Geringe soziale Distanz zwischen Aggressor und
A Selbstwahrnehmung als gewalttätig
(bedingt durch Rollenerfahrung und
kontrollierenden Organen
Etikettierung)
2.) Geringer Toleranzlevel in der Umgebung
B
3.) Tat wird öffentlich und wird als
Erwartung von Gewalthandlungen
durch „signifikant“ andere und durch
gewalttätig definiert
sich selbst
B) innere Faktoren
1.) Hohe Häufigkeit, große Härte, Regelmäßigkeit
2.) Hohe Sichtbarkeit
+
3.) Erfolgreich (verstärkt)
ja
4.) Geringe Macht des Aggressors
7.) Sind Bedingungen gegeben,
gegenüber Opfer
+
5.) zugegeben (versus bestritten)
die eine Internalisierung eines
gewalttätigen Selbstbildes
6.) sekundärer Konflikt vorhanden
fördern?
nein
7 50 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
(Straus 1973, S.118-119) (Eigenübersetzung)
+
15.) Aufnahme neuer Rollen für die Verwendung in der Zukunft
(gestaltbildender Prozess)
A) Fallenlassen oder Vermeiden von Gewalt erzeugenden Rollen
B) Entwicklung neuer Rollen, um mit einem andauernden höheren
Grad von Konflikt umgehen zu können, ohne auf Gewalt
zurückzugreifen zu müssen
ja
nein
13.) Alternatives
14.) Ist die Alternative
Verhalten wird an
passend und
den Tag gelegt
akzeptiert?
nein
nein
+
11.) Hat die inakzeptable
9.) Können andere diesen
nein
Level der Gewalt
–
Gewalt einen nicht
akzeptieren und kann
mehr tolerierbaren
das System mit diesem
Grad erreicht?
Level der Gewalt
umgehen?
ja
ja
-
-
10.) Aufnahme neuer Rollen, die
12.) Ausgang:
in der Zukunft einen stabilen
Scheidung,
höheren Grad an Gewalt umfas-
Verlassen, Mord
sen (gestaltgebender Prozess)
Gewalt in der Familie
7 51 3
1
Als primäre Ursachenfaktoren nennt Straus eine Reihe von Variablen auf verschiedener Ebene,
die Gewalt in der Familie beeinflussen können.
A Familiäre Variablen, die sich auf innerfamiliäre Gewalt auswirken
1.)
3
3
3
3
3
3
3
Familienorganisation
Machtverteilung
Trennung der Geschlechterrollen
Solidarität – Integration – Konflikt
Zahl und Stellung der Kinder
Erweiterte Familie versus Kernfamile
Alter der Personen und Dauer der Ehe
Problemlösungsfähigkeit
2.)
3
3
3
3
Position der Familie im sozialen Umfeld
Schichtzugehörigkeit
Wohnumgebung
ethnische Herkunft
Sicherheit
3.)
3
3
3
3
3
3
3
3
3
Werte, Vorstellungen und Persönlichkeit
Individiualismus versus Familiarismus
Nachgiebigkeit in der Kindererziehung
Grad der Zielstrebigkeit
Aktivismus versus Fatalismus
religiöser Glaube
politische Einstellungen
Selbstwahrnehmung
Empathie
Einstellung bezüglich Gleichstellung der
Geschlechter
4.)
3
3
3
3
3
3
Berufsrollen
Beruf der Frau
Beruf des Mannes
indiviualistisch versus bürokratisch
Grad an Prestige und Macht
Grad der beruflichen Selbstgestaltung
Berufsumfeld
2.)
3
3
3
3
psychopathologische Eigenschaften
Psychose
psychopathologischer Charakter
Alkoholismus und Drogenabhängigkeit
Masochismus und Sadismus
B Individuelle Merkmale der Familienmitglieder
1.)
3
3
3
Persönlichkeitseigenschaften
Ausbildung und Intelligenz
Aggressivität
„zwanghafte Männlichkeit„
2
Als Gewalt beschleunigende Faktoren nennt Straus Problemstellungen, für die die betreffende
Person keine Lösungsansätze weiß und entwickeln kann. Weitere beschleunigende Faktoren
sind stressvolle und frustrierende Einflüsse
7 52 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
3.2.3.3 Feministische und
patriarchatskritische Ansätze
Während in den bisher beschriebenen Ansätzen
Gewalt in Familien entweder auf charakterliche
Abweichung bzw. Krankheit von Individuen
zurückgeführt oder als Mittel der Konfliktlösung,
als Ressource oder als Systemprodukt von Familie
beschrieben wird, sehen feministische Ansätze die
physische und sexuelle Gewalttätigkeit von
(Ehe)Männern als brutalsten und deutlichsten
Ausdruck patriarchaler Herrschaft. Feministische
Ansätze lehnen im Unterschied zu allen anderen
theoretischen Perspektiven das Konzept und damit
auch die Rede über familiäre Gewalt ab, weil dies
ihren Grundannahmen zufolge die Wirklichkeit
von Gewalt im sozialen Nahraum verschleiert. Aus
der Sicht der feministischen Forschung wird durch
Begriffe wie „familiäre Gewalt„ der Eindruck erweckt, als ob an den in Familien vorkommenden
Gewalttaten alle Mitglieder potenziell in gleicher
Weise beteiligt wären. Gleichzeitig werden dadurch
sowohl Faktoren wie Geschlecht und Macht nicht
entsprechend berücksichtigt. Im Vordergrund des
Interesses sollten daher vielmehr Konzepte stehen,
die explizit Frauenmisshandlung, Kindesmisshandlung oder sexuellen Missbrauch an Kindern als
Schwerpunkte definieren. Dies würde den empirisch beobachtbaren Tatsachen viel mehr entsprechen (Bograd 1988; Honig 1986; Godenzi 1994).
Aus der Perspektive der betroffenen Frauen
werden drei Themen miteinander verknüpft: Gewalt durch (Ehe-)männer, Gewalt durch „unterstützende“ Institutionen und die Kritik an einer
Wissenschaft, die durch Abstraktion diese Gewaltverhältnisse undurchsichtig macht. Von Interesse
sind nicht nur physische Gewaltanwendung, sondern alle Formen ökonomischer, sexueller und psychischer Ausbeutung von Frauen und Mädchen in
der Familie (Honig 1986).
Bograd (1988) etwa nennt konkret vier Dimensionen, die feministischen Positionen für die Untersuchung der Frage über die Ursachen für die Misshandlung von Frauen gemeinsam sind:
Gewalt in der Familie
1. Die Bedeutung von Macht und Geschlecht;
2. Die Analyse von Familie als historisch gewachsener Institution;
3. Die zentrale Bedeutung der Erfahrung der betroffenen Frauen;
4. Orientierungshilfen für Frauen.
Sie verweist in Bezugnahme auf die erste Dimension darauf, dass Gewalttätigkeit von Männern
oftmals als zufällige und irrationale Handlung
angesehen wird. Feministische Forscherinnen würden dem gegenüber Frauenmisshandlung als Muster ansehen, das nur durch Berücksichtigung des
sozialen Kontextes verständlich wird. Die Gesellschaft ist entlang der Dimension Geschlecht strukturiert. Männer als Klasse haben Macht über
Frauen. Als dominierende Klasse haben sie unterschiedlichen Zugang zu wichtigen materiellen und
symbolischen Ressourcen, während Frauen als
zweitrangig und unterlegen entwertet werden.
Auch wenn es zwischen Männern bedeutsame soziale und ethnische Unterschiede gäbe, ist es ihnen
allen potenziell möglich, Gewalt als machtvolles
Mittel zur Unterdrückung von Frauen einzusetzen.
Selbst wenn es darüber hinaus auch andere Wege
gibt, Frauen in unterdrückten sozialen Positionen
zu halten, ist Gewalt das offenkundigste und effektivste Mittel der sozialen Kontrolle. Misshandlung
und das Schlagen von Frauen verstärkt die
Passivität und Abhängigkeit von Frauen, wobei
Männer dadurch ihr Recht auf Kontrolle und
Autorität geltend machen. Demnach ist die Tatsache der Dominanz von Männern auf sozialer
Ebene der entscheidende Faktor dafür, dass es auf
persönlicher Ebene zu physischer Gewalt an
Frauen kommt (Bograd 1988).
In Bezugnahme auf die zweite Dimension führt
Bograd aus, dass FeministInnen das kulturelle Ideal
von Familie als „friedlicher Hafen in einer herzlosen Welt“ in Frage stellen. In diesem Zusammenhang wird die Gewalt an Frauen nicht als ein seltenes und abweichendes Phänomen betrachtet, das
auf den Zusammenbruch von Familie zurückge-
7 53 3
führt werden kann, sondern als eine vorhersagbare
und allgemein verbreitete Dimension des normalen
Familienlebens in der Gesellschaft angesehen. Feministische Theoretikerinnen haben immer wieder
darauf hingewiesen, dass Gewalt an Frauen sowohl
eng mit
3 der historischen Entwicklung der isolierten
Kernfamilie in kapitalistischen Gesellschaften;
3 der Teilung der Gesellschaft in öffentliche und
private Domänen;
3 mit der Entwicklung von angemessenen Frauen
und Männerrollen;
3 der gegenwärtigen Stellung von Frauen als
rechtlich und moralisch an den Ehemann gebundene Personen verbunden ist (Bograd 1988).
Die dritte Ebene verdeutlicht die feministische
Position, dass ein erster Schritt zum Verständnis der
für Misshandlungen von Frauen verantwortlichen
Faktoren darin bestehen muss, die Erfahrungen von
Frauen aus deren eigener Sicht zu beleuchten. Im
Gegensatz zu vorherrschenden Sichtweisen, die
Frauen als hilflose Opfer oder Provokateurinnen
ansehen, die physische Gewalt selbst heraufbeschwören, würden aus feministischer Perspektive
geschlagene Frauen als Überlebende qualvoller und
lebensbedrohender Erfahrungen betrachtet. Diese
hätten viele Anpassungsfähigkeiten und Stärken
aufzuweisen.
In Bezugnahme auf die vierte Dimension macht
Bograd (1988) deutlich, dass das Ziel von Forschung nicht nur darin bestehen kann, die Position
von Frauen in bereits bestehende Theoriekonzepte
einzubauen, sondern selbst Theorien und Modelle
zu entwickeln, welche die Erfahrungen von Frauen
genauer reflektieren.
Schneider kritisiert an radikal feministischen
Ansätzen, dass diese die gesellschaftlichen Veränderungen, die zunehmend schneller auf eine Gleichstellung von Frauen und eine Aufwertung der Position von Kindern und Jugendlichen in den Familien
hinauslaufen, zu wenig berücksichtigen. Nach Ansicht von Schneider kann gegenwärtig nicht mehr
von einem patriarchalischen Aufbau der Gesellschaft gesprochen werden. Sie verweist allerdings
darauf, dass es wirksame Restbestände traditioneller Rollenbilder und -strukturen gibt. Neue verbindliche Vorbilder konnten noch nicht etabliert
werden. „Konfliktträchtig und gefährlich erscheint
daher gerade das Nebeneinander zwischen nicht
mehr verbindlichen überkommenen gesellschaftlichen Rollenbildern und modernen, aber noch nicht
voll ausgeprägten und anerkannten emanzipatorischen Vorstellungen, das dem einzelnen die Orientierung erschwert.“ (Schneider 1990, S. 532).
Godenzi (1994) hingegen vertritt im Gegensatz
zu dieser Position die Meinung, dass das Phänomen
Gewalt im sozialen Nahraum eine Fokussierung
unter feministischer Perspektive notwendig macht.
Seiner Ansicht nach ist feministische Forschung
„immer auch soziale Aktion oder zumindest
Handlungsanleitung, und eine solche scheint mehr
denn je erforderlich im Umgang mit interpersonaler Gewalt“.
3.2.4 Zusammenfassung
Der vorangegangene Überblick über die wesentlichsten Ansätze zur Erklärung von Gewalt in
der Familie hat deutlich gemacht, dass unterschiedliche, mitunter auch gegensätzliche Ursachen dafür
verantwortlich gemacht werden, dass es zu Gewalthandlungen innerhalb von Familien bzw. im sozialen
Nahraum kommt. Die unterschiedlichen Erklärungsmodelle spiegeln die jeweilige Disziplinenherkunft deutlich wider. In einer Art Zusammenschau
lässt sich zeigen, dass viele sozialpsychologische,
soziologische, zum Teil auch politologische und
auch sozialhistorische Theoriemodelle meist ein
distanziertes, zum Teil auch misstrauisches Verhältnis gegenüber subjektivierenden und individualisierenden Ansätzen haben. Ihr minimales gemeinsames Selbstverständnis lässt sich demnach auf folgenden Nenner bringen: Die betroffenen Personen
müssen sich mit den vorgegebenen Verhältnissen –
wie etwa den Familienstrukturen, dem Geschlechterverhältnis mit der Wohn- und Arbeitssituation,
7 54 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
gesellschaftlichen Institutionen etc. auseinandersetzen. Sie können versuchen, diese zu verändern und
zu gestalten, wobei die jeweiligen Handlungsspielräume dafür unterschiedlich breit sind (Godenzi
1994).
Bringt man die theoretischen Ansätze in Verbindung mit empirischen Ergebnissen bisher
durchgeführter Forschungsarbeiten, so zeigt sich,
dass jene Erklärungsfaktoren am besten bestätigt
werden konnten, die auf sozialpsychologischer
bzw. soziostruktureller Ebene ansetzten. Habermehl (1994) sieht insbesondere drei Gewalt auslösende oder begünstigende Faktoren empirisch am
besten bestätigt. Stress, Kindheitserfahrungen mit
Gewalt und Legitmierung familialer Gewalt durch
Normen und Werte. Intraindividuelle Theorieansätze hingegen, die sich bei der Erklärung von Gewalt in der Familie auf Merkmale und psychiatrische Besonderheiten des individuellen Akteurs
konzentrierten, ließen nach Ansicht von Kritikern
wichtige Einflussfaktoren zum größten Teil unberücksichtigt und betrachteten diese höchstens als
Randerscheinungen.
Gerade die Unterschiedlichkeit der Erklärungsmodelle macht es notwendig, sich mit den jeweiligen zu Grunde liegenden Ansätzen näher auseinander zusetzen. Die Faktoren, die in den Blickpunkt
genommen werden, hängen wesentlich von den
theoretischen Vorüberlegungen ab. Eine empirische
Forschung, die sich ihrer implizit immer vorhandenen theoretischen Vorannahmen nicht bewusst
wird, läuft Gefahr, Artefakte zu produzieren.
Umgekehrt ist es jedoch genauso wichtig, die theoretischen Modelle an die empirische Forschung zu
binden und diese entsprechend den empirischen
Erkenntnissen zu überprüfen und zu verbessern.
Gewalt in der Familie
7 55 3
4 Problemstellungen der
Forschung
Johannes Pflegerl, Brigitte Cizek
4.1 Einleitung
Dieses Kapitel vermittelt einen Überblick über
wichtige, bei der Erforschung des Phänomens
Gewalt in der Familie zu berücksichtigende,
methodische Problemstellungen. Es erfolgt zunächst eine Darstellung der zur Verfügung stehenden Datenquellen, wobei deren jeweilige Vor- und
Nachteile näher thematisiert werden. Daran
schließt eine Zusammenfassung grundsätzlicher, bei
der Erforschung des Phänomens Gewalt in der Familie entstehender methodologischer Fragestellungen an. Im Anschluss daran wird zunächst eine
Übersicht über unterschiedliche, für die Untersuchung von Gewalt in der Familie in Frage kommender Auswahlverfahren gegeben und in der
Folge näher auf die Problematik der Datenerhebung eingegangen. Es folgt eine breite Diskussion über die Problematik des Dunkelfeldes, die für
dieses Forschungsfeld von besonderer Relevanz ist.
Das Kapitel schließt mit einer Reflexion forschungsethischer Fragestellungen.
4.2 Datenquellen
Für eine empirische Erforschung des Phänomens Gewalt in der Familie bzw. Gewalt im sozialen Nahraum ist es zunächst wichtig zu klären,
welche Daten dafür zur Verfügung stehen und welche spezifischen Vor- und Nachteile diese unterschiedlichen Quellen haben. Gelles und Straus
haben zu dieser Frage eine Typologie entwickelt, in
der sie konkret drei Informationsquellen unterscheiden (Gelles & Straus 1988, S. 69ff).
1. Klinische Falldokumente
Dazu zählen in Krankheitsberichten dokumentierte Gespräche mit Patientinnen und Patienten,
wie sie etwa für die frühen medizinischen und psychiatrischen Arbeiten zu Gewalt gegen Kinder und
Frauen als Datenbasis verwendet wurden, weiters
Fallberichte von in Frauenhäusern, Beratungsstellen, Therapiezentren arbeitenden Fachleuten
sowie dort durchgeführte Interviews mit KlientInnen. Gemeinsam ist diesen Quellen, dass sie
zahlenmäßig kleine Ausschnitte von spezifischen
Personengruppen umfassen. Dies hat den Vorteil,
dass mehr spezifische Information über die einzelnen Gewaltfälle vorhanden ist, die sich auf Aussagen von Betroffenen und von den in diesem
Bereich arbeitenden Fachleuten stützen. Dadurch
wird die Möglichkeit geboten, wesentliche Zusammenhänge tiefer zu erfassen und in der Folge auch
besser verstehen zu können. Der Nachteil besteht
darin, dass auf Basis kleiner Fallzahlen und der besonderen Gruppenauswahl (klinische Stichprobe)
kaum Generalisierungen vorgenommen werden
können.
2. Offizielle Statistiken
Anhand dieser lässt sich nachvollziehen, wie
viele Fälle spezifischer Gewalttaten von unterschiedlichen Institutionen wie etwa Polizeidienststellen, Gerichten, Jugendwohlfahrtseinrichtungen
oder psychosozialen Diensten registriert werden.
Der Vorteil dieser Statistiken liegt darin, dass die
Datenerhebung meist kontinuierlich vorgenommen
wird. Dies ermöglicht einen vergleichender Überblick über mehrere Jahre. Darüber hinaus werden
viele dieser Statistiken überregional nach demselben Schema durchgeführt, wodurch es möglich
wird, regionale Vergleiche durchzuführen. Zu
bedenken ist allerdings, dass nur ein kleiner Teil der
tatsächlich verübten Gewalttaten darin erfasst wird,
da viele Fälle nicht zur Anzeige kommen. Es bestehen kaum verbindliche Richtlinien darüber, wann
ein gemeldeter Fall ernst genommen d.h. in der
Folge protokolliert und untersucht werden soll.
Registrierungen sind abhängig von den Einschätzungen der dafür zuständigen Personen. Wie
Untersuchungen zeigen, wirken sich diese oftmals
nachteilig für Angehörige unterer sozialer Schichten aus.
7 56 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
3. Social Surveys (Überblicksstudien)
In social surveys wird im Unterschied zu klinischen Studien bzw. offiziellen Statistiken die „Normalbevölkerung“ zur Datenquelle. Ausgangspunkt
ist die Überlegung, dass Gewalthandlungen im
sozialen Nahraum auch im Alltag von Durchschnittsfamilien vorkommen und nicht nur in klinischer Umgebung behandelte Extremfälle oder
gerichtliche verfolgte Strafdelikte umfassen. Vorteile dieser Datenquellen sind, dass sie auf große
Populationen übertragen werden können, die auch
den Einsatz fortgeschrittener statistischer Analysetechniken zulassen. Diese ermöglichen es in der
Folge auch, verlässliche Zusammenhänge herzustellen und Schlüsse zu ziehen. Zu bedenken ist allerdings, dass durch die Standardisierung von Fragebögen und Gesprächsleitfäden die Datengewinnung eingeschränkt wird. Die Gewaltdynamik
kann durch eine Normierung der Fragestellungen
bzw. durch die aus ökonomischen Gründen oftmals
vorgenommene Beschränkung auf wenige Fragen
nur sehr oberflächlich erfasst werden. Probleme
ergeben sich auch durch die survey Untersuchungen oftmals begleitende Vorkommnisse wie
geringe Rücklaufquoten oder unvollständig ausgefüllte Fragebögen. Zu bedenken ist weiters, dass
verschiedene Personen unterschiedlich auf standardisierte Befragungssituationen reagieren, was in der
Auswertung nicht in adäquater Weise erfasst werden kann.
4.3 Methodologische
Grundprobleme der Forschung
über Gewalt in der Familie
Unabhängig von dem zur Verfügung stehenden
Datenmaterial und den damit verbundenen Vorund Nachteilen stellen sich bei der Erforschung der
Thematik Gewalt in der Familie einige grundsätzliche methodologische Probleme, die es vor einer
näheren Betrachtung methodischer Fragen zu
Gewalt in der Familie
bedenken gilt. Godenzi (1994) unterscheidet hier in
Anlehnung an Larzelere und Klein konkret vier
Problemfelder.
1.) Frage der Übereinstimmung der Daten
zwischen den einzelnen Familienmitgliedern
Bei der überaus heiklen Thematik „Gewalt in
der Familie“ gilt es zu reflektieren, inwieweit Angaben einer einzelnen Person mit jenen anderer
Familienmitglieder übereinstimmen. Eher ist davon
auszugehen, dass es mitunter große Unterschiede in
der Wahrnehmung und Darstellung von Gewalthandlungen gibt. Insofern ist es unabdingbar, die
Perspektiven aller Beteiligten zu erheben, um gültige und zuverlässige Informationen zu erhalten. Zu
bedenken ist in diesem Zusammenhang auch, wie
die Aussagen eventueller Drittpersonen zu werten
bzw. zu gewichten sind, insbesondere dann, wenn
es nicht gelingt alle Betroffenen zu befragen.
2.) Faktor Zeit
Der besondere Umstand, dass von Gewalttaten
betroffene Familienmitglieder oftmals dazu gezwungen sind, mit den TäterInnen weiter zusammenleben zu müssen, erschwert die Forschung in
diesem Bereich. Handlungsabsichten und konkrete
Taten können sich über längere Zeiträume entwickeln und stattfinden. Die Bereitschaft darüber
zu reden, ist aus Angst vor Konsequenzen oftmals
nicht gegeben.
Um Einblick in diese Dynamik zu bekommen,
wäre es notwendig, längere Zeit in Familien als
BeobachterIn zu verbringen. In der Praxis gelingt
es allerdings meist nur, Momentaufnahmen in Form
von Querschnittsanalysen durchzuführen, die
kaum näheren Aufschluss über die Entwicklung
und den Verlauf von Gewalttaten geben.
3.) Problematik der Behandlung heikler Themen
Gerade bei heiklen Themen wie Gewalt in der
Familie kommt es in der Erhebungssituation im
Unterschied zu anderen Forschungsfeldern häufiger entweder zu Antwortverweigerungen oder zur
7 57 3
Vermittlung von sozial erwünschten Antworten.
Dieser betroffen machende Umstand sowie das
Thema an sich verlangen nach einer kritischen
Selbstreflexion der ForscherIn über die eigene
Rolle bzw. Sicht in diesem Forschungsfeld.
4.) Kontext familialer Gewalt
Eine angemessene Interpretation der Aussagen
von betroffenen Familienmitgliedern ist ohne entsprechende Beachtung des sozialen Umfeldes kaum
möglich. Zwar wird in surveys versucht, durch
repräsentative Stichproben alle Bevölkerungsgruppen entsprechend zu berücksichtigen und eine Vielzahl unterschiedlicher Indikatoren zu erheben.
Individuelle Differenzen im Lebensstil zwischen
Familien in ähnlichen sozialen Lagen lassen sich
dennoch meist nicht ausreichend erfassen. Die
Bedeutung von Begriffen und Handlungsmustern,
der Gebrauch von Werturteilen, sowie Anpassungs- und Antwortbereitschaft gegenüber Fachpersonen unterscheiden sich von Familie zu
Familie. Zudem lässt sich der für ein Verständnis
von Gewalthandlungen notwendige gesamte Interaktionszusammenhang zwischen den einzelnen
Familienmitgliedern nur schwer umfassend erheben. Eine Möglichkeit, diesem methodologischen
Problem zu begegnen, ist es, verschiedene Vergleichsanalysen, darunter auch kulturvergleichende
Studien, durchzuführen, in denen Bedeutungsdifferenzen aufgezeigt werden können.
Aus oben genannten Gründen scheint es daher
gerade für ein so sensibles Thema wie Gewalt in der
Familie bzw. im sozialen Nahraum notwendig,
besonders kritisch über das Zustandekommen von
Erkenntnissen zu reflektieren.
Die bisher vorliegenden Konzepte zur Deutung
familiärer Gewalthandlungen und zur Klärung
ihrer Ursachen erscheinen nach Einschätzung von
Haller vielfach diffus und teilweise ambivalent
(Haller et al. 1998). Ein Grund dafür ist, dass die
theoretischen und empirischen Erkenntnisse über
die Thematik zwar zahlreich und vielfältig sind, die
Verbindung zwischen Theorie und Empirie jedoch
oftmals sehr vage bleibt. TheoretikerInnen haben
meist sehr abstrakte Modelle entworfen, deren
empirische Überprüfung auf Grund ihrer Komplexität nicht möglich war. Eher empirisch orientierte ForscherInnen wiederum bearbeiten große
Datenmengen, ohne diese entsprechend auf theoretische Annahmen rückzubeziehen. Schwierigkeiten, auf der Ebene der Erklärungsansätze zu
einem gemeinsamen Nenner zu kommen, lassen
sich auch darauf zurückführen, dass diverse
Modellannahmen zur Erklärung von Ursachen der
Gewalt in der Familie auf sehr unterschiedlichen
Begriffsbestimmungen basieren. Bereits hier scheint
es unüberwindbare Gegensätze zu geben. (Zur
Illustration der Unterschiedlichkeit vorhandener
Begriffe zu Gewalt in der Familie bzw. Gewalt im
sozialen Nahraum siehe Kapitel 1.)
4.4 Auswahlverfahren
Eine besonders heikle Frage betrifft die Auswahl von Personen und Gruppen für Untersuchungen zur Thematik Gewalt in der Familie
bzw. Gewalt im sozialen Nahraum. Dabei gilt es
einerseits abzuwägen, welche Vor- und Nachteile
kleine im Gegensatz zu großen Untersuchungseinheiten haben. Andererseits bedarf es einer
gründlichen Reflexion darüber, welche Personen in
die jeweils auszuwählende Gruppe einbezogen
werden sollen.
Der Nachteil kleiner meist qualitativer Untersuchungen besteht darin, dass diese oftmals zu
wenige Fälle von Gewaltereignissen aufweisen,
repräsentative Aussagen daher nicht möglich sind.
Quantitativ angelegte Stichproben bergen sehr oft
den Nachteil einer Verzerrung. Dieser Nachteil
könnte durch die Bildung von Vergleichsgruppen
ausgeglichen werden, ein methodisches Vorgehen,
das in der Gewaltforschung bisher kaum zum
Einsatz kam. Vergleichsgruppen müssen sorgfältig
7 58 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
ausgewählt werden, gleichzeitig ist genau abzuklären, welche Variablen zusammenpassen und
welche zu kontrollieren sind, alles in allem ein sehr
aufwändiger Prozess. Die Entscheidung für ein
geeignetes Auswahlverfahren hängt somit ganz
wesentlich von den Untersuchungszielen ab.
Kleine, nach qualitativen Kriterien ausgewählte
Untersuchungseinheiten können, wenn sie sorgfältig ausgewählt werden, Aufschluss über nähere
Zusammenhänge zu unterschiedlichen Fragestellungen geben. Sie sind dazu geeignet, Fragestellungen zu beantworten, in denen es um das
Verstehen eines Phänomens geht (Beispiel Einzelfallstudien). Repräsentative Umfragen hingegen
sind das adäquate Instrumentarium, um epidemiologische Schätzungen von bestimmten, die Thematik Gewalt betreffenden Aspekten, durchzuführen, also Fragestellungen zu beantworten, in
denen es darum geht, die Häufigkeit und
Ausbreitung eines Phänomens zu untersuchen
(Godenzi 1994). Besonderes Augenmerk ist dabei
auf die Schulung von InterviewerInnen zu richten,
vor allem dann, wenn die Durchführung qualitativer Interviews geplant ist. Gerade in heiklen
Situationen stehen insbesondere psychologisch und
therapeutisch ausgebildete InterviewerInnen vor
der Herausforderung, ihrer InterviewerInnenrolle
treu zu bleiben und keine therapeutischen Interventionsversuche zu unternehmen. Rollentreue
bedeutet jedoch nicht, der jeweiligen InterviewpartnerIn gegenüber distanziert zu bleiben. Dies ist
eine Gratwanderung, die oftmals nicht leicht
durchzuhalten ist.
4.5 Erhebung von Daten
Spezifische Probleme ergeben sich sehr oft bei
der konkreten Datenerhebung. Dies hängt damit
zusammen, dass man bei der Erforschung von
Gewalt in der Familie erhebungstechnisch vor einer
Doppelproblematik steht. Familie ist ein intimer
Gewalt in der Familie
Lebensbereich, in dem es forschungspraktisch feinfühlig vorzugehen gilt, um entsprechende Informationen von den Betroffenen zu erhalten. Dazu
kommt, dass das Thema Gewalt besonders sensibel
ist und daher häufig mit Antwortverweigerungen
zu rechnen ist. Da die Methode der Beobachtung in
diesem Forschungsbereich nicht verwirklicht werden kann, konzentrierte man sich darauf, die
Techniken der Befragung zu verfeinern. Während
man in den 70er-Jahren vorwiegend offene und
explorative Interviews führte, ging man in den 80erJahren dazu über, die Befragungstechniken zu standardisieren. (Gelles 1987; bzw. Peters et al. 1986).
Diese Veränderung ist unter anderem auf Kritik am
Design früherer Studien zurückzuführen, die auf
Selbstzeugnissen von Familienmitgliedern beruhten
und somit die Gefahr von Verzerrungen – etwa
durch Gedächtnislücken oder durch Selbstdarstellung der Befragten – beinhalteten. Dazu
kam, dass sehr häufig nicht klar genug definierte
Begriffe und Konzepte verwendet wurden,
wodurch die Vergleichbarkeit von Aussagen einerseits innerhalb einer Studie, andererseits zwischen
verschiedenen Studien erschwert wurde. Aus diesem Grund empfiehlt man in der Forschung zunehmend den Einsatz von strukturierten Interviews
mit erprobten diagnostischen Instrumentarien als
Ergänzung zu den offenen Interviewtechniken
(Geffner 1988). Eines der zur Messung des
Gewalthandelns zwischen Intimpartnern am häufigsten verwendeten derartigen Instrumentarien ist
die von Straus entwickelte „Conflict Tactic Scale“,
auf die im Folgenden näher eingegangen wird.
Conflict Tactic Scale
Straus legte bei der Entwicklung dieses Instrumentariums die Annahme zu Grunde, dass
Konflikte zu den sozialen Interaktionen aller
menschlichen Verbände, darunter auch zu den
unterschiedlichen Formen von Familie, zählen. Er
ging dabei von der Frage aus, wie deren Mitglieder
unausweichlich ausbrechende Konflikte lösen. Im
Mittelpunkt des Interesses steht dabei die Frage,
7 59 3
wie alltägliche Konflikte gelöst werden und nicht,
ob die befragten Personen selber misshandelten
oder zu Zeugen von Misshandlungen wurden.
Ausgehend von der Überlegung, dass es ohne vorausgehenden Konflikt nicht zu Gewalt kommt, entwickelte Straus eine Liste von Konfliktlösungstechniken, die drei grundlegenden Kategorien
zugeordnet wurden. Dazu zählen:
1. Vernünftiges Konfliktlösen, welches die Items
wie ruhige Diskussion über den Sachverhalt
oder Einholen von Information, um den eigenen oder anderen Standpunkt abzusichern,
umfasst.
2. Verbal-aggressives Verhalten: Dazu zählen
Items wie beleidigen oder fluchen, schmollen,
den anderen kränken bis hin zu Schläge androhen, etwas werfen, zerschlagen oder auf einen
Gegenstand einschlagen.
3. Physische Gewalt: Die zu dieser Kategorie
zählenden Items reichen von etwas gezielt nach
dem Anderen werfen bis hin zur Drohung mit
einem Messer oder einer Schusswaffe bzw.
Benutzung dieser Gegenstände.
In der letzten Fassung beinhaltet dieses Instrumentarium insgesamt 19 Items bezüglich Konfliktlösungstechniken, die in entsprechenden Untersuchungen für einen Referenzzeitraum von 12
Monaten vor dem Interview abgefragt werden
(Straus 1990; Gemünden 1996).
Diese Erhebungstechnik blieb jedoch nicht
unumstritten. Kritiker wiesen darauf hin, dass familiale Gewalt nicht nur auf innerfamiliale Konfliktsituationen zurückzuführen ist, sondern auch
außerfamiliale Ursachen haben kann. Bemängelt
wurde weiters, dass der Kontext von Gewalt völlig
unbeachtet bleibt. So fehlen konkret etwa Fragen
nach der von den Beteiligten den Ereignissen beigemessenen subjektiven Bedeutung, die Verletzungsfolgen und die von den Beteiligten gezogenen
Konsequenzen. Somit würden die Ergebnisse nur
das widerspiegeln, was aus der Sicht der Akteure als
Gewalt definiert werden kann. Bei der Auswahl
von gewalttätigen Konfliktlösungsstrategien ist es
von Nachteil, nur körperliche Techniken mit einzubeziehen, da auch verbale Bedrohungen äußerst gewalttätig sein können. Kritisiert wurde weiters, dass
die Conflict Tactic Scale keinen Unterschied zwischen dem Versuch zu schlagen und dem Schlagen
selbst macht.
Angesichts dieser Kritik kann bei der Erforschung von Gewalt in der Familie bzw. im sozialen
Nahraum nicht gänzlich auf Tiefeninterviews verzichtet werden, da diese den Befragten mehr Raum
zu eigenen Darstellungen und Beschreibungen
geben als dies bei standardisierten Erhebungen
möglich ist. Bei diesen zeigen die Befragten häufig
Widerstand, wenn intime Fragestellungen auf formale Weise abgehandelt werden, wie dies bei standardisierten Erhebungen oftmals unvermeidlich ist
(Godenzi 1994).
Die Gültigkeit (Validität) der erhobenen Daten
zu prüfen, ist in der Gewaltforschung mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Dies hängt damit
zusammen, dass familiale oder eheliche Gewalthandlungen häufig im Verborgenen geschehen und
nur in wenigen Fällen die Möglichkeit besteht, die
Angaben der befragten Personen anhand von
„objektiv“ erfassten Daten zu überprüfen. Insofern
hat die von Gelles in diesem Zusammenhang gestellte Frage „How do you know the subjects told
the truth?“ seine Berechtigung (Gelles 1987, S. 197).
Die Frage der Validität ist allerdings nicht nur für
Daten von Relevanz, die durch Befragungen gewonnen werden, sondern betrifft auch die in diversen Gewaltstatistiken erfassten Angaben. So hat
etwa Weis darauf hingewiesen, dass in offiziellen
Statistiken Definitionen oftmals unterschiedlich
verwendet bzw. konkrete Fälle nach unterschiedlichen Kriterien angezeigt und registriert werden
(Weis 1989).
Was die Zuverlässigkeit (Reliabilität) der Erhebungsmethoden betrifft, so gibt es dazu in der
Forschung noch wenige gesicherte Ergebnisse.
Godenzi (1994) verweist in diesem Zusammenhang
allerdings darauf, dass dieser Umstand auf eine
7 60 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
Kollision zwischen Anforderungen der Wissenschaftlichkeit einerseits und Fragen der Ethik andererseits zurückzuführen ist. Folgende von ihm
gestellte Frage zeigt, dass die empirische Wissenschaft in diesem Punkt an Grenzen stößt: „Kann es
einer misshandelten Frau zugemutet werden, aus
Reliabilitätsgründen mehrmals zu einer traumatischen Erfahrung befragt zu werden? Ist es nicht
gerade für solchermaßen Betroffene oberste Voraussetzung für ein Gespräch, dass das Gegenüber
ihnen bedingungslos glaubt und kein Gefühl des
Misstrauens aufkommt, welches auch die von den
Forschenden erhofften Angaben gefährdet?“
4.6 Themenspezifische
methodische Probleme
4.6.1 Methodische Probleme bei der
Erforschung von physischer und
psychischer Gewalt
Hauptprobleme bei der Misshandlungsforschung sind – neben den allgemeinen methodischen Problemen wie z.B.: zu kleine Stichprobe,
hohe Drop-out-Rate bei Nachuntersuchungen
(Engfer, 1986) – vor allem (Amelang und Krüger,
1995):
3 Divergierende Auffassungen darüber, was
genau unter Kindesmisshandlung zu verstehen
ist.
3 Auswirkungen seitens nicht kontrollierter oder
kontrollierbarer Faktoren, die das kindliche
Wohlbefinden ebenfalls beeinflussen, jedoch
nicht in direktem Zusammenhang mit den
untersuchten Erlebnissen physischer Gewalt
stehen.
Dazu zählen z.B.(Ziegler, 1994):
3 Durchlaufen unterschiedlicher Pflegestellen
nach Feststellung der Misshandlung bzw. nach
Fremdunterbringung, wieder Rückkehr in die
Ursprungsfamilie und damit zusammenhängend weitere physische Gewalterfahrungen.
Gewalt in der Familie
3 Schweregrad, Dauer und Veränderung der
Familiensituation nach Aufdeckung der Misshandlung sowie das Angebot therapeutischer
Betreuungsmaßnahmen können ebenfalls Auswirkungen haben und demnach der Erforschung
von Misshandlungsfolgen Grenzen setzen.
3 Kontextuelle Auswirkungen, wie z.B.: das
„misshandelnde Milieu“(s.u.).
3 Weitgehendes Fehlen parallelisierter Kontrollgruppen (Elmer und Gregg, 1967; Martin und
Breezley, 1976).
3 Unterschiedliche Ausgangsbedingungen (Alter,
Entwicklungsstand, etc.) werden in der Forschung selten bzw. nur in unsystematischer
Form kontrolliert.
3 Ungenügende Beachtung kindlicher Bewältigungstrategien, Wahrnehmungen und Interpretationen, die allerdings – wie weiter unten
noch erläutert wird – maßgeblich für die weitere Entwicklung des Kindes sind.
Wie soll zudem abgeschätzt werden, ob ein gezeigtes Verhalten erst nach einer Misshandlung aufgetreten ist oder allenfalls schon vorher existent
oder angelegt war? Da die meisten Studien über die
Effekte der Gewalt retrospektiv sind, lässt sich
diese Frage nicht zuverlässig beantworten. Starr
(1988, S 137f.) kommt in diesem Punkt zur Auffassung, dass die bisherigen Kenntnisse über die
Folgen von physischer Gewalt keineswegs gesichert sind, aber zumindest ausreichen, um die Behandlung der Opfer adäquat zu organisieren.
4.6.2 Methodische Probleme bei der
Erforschung sexueller Gewalt
Godenzi verweist in diesem Zusammenhang auf
methodische Mängel bei den meisten Forschungsansätzen zu sexueller Gewalt. Die Probleme, welche er in diesem Kontext beschreibt, gleichen im
Großen und Ganzen den oben erläuterten methodischen Artefakten bei der Erforschung der Folgen
von physischer und psychischer Gewalt:
7 61 3
1. Ein Großteil der Studien ist retrospektiv erhoben. Dies bedeutet, dass oft ein großer zeitlicher
Abstand zwischen der sexuellen Gewalterfahrung und dem Befragungszeitpunkt liegt.
Somit kann nicht wirklich geklärt werden, ob
das beschriebene Symptom eine tatsächliche
Auswirkung der sexuellen Gewalterfahrung ist
oder durch irgend ein anderes Erlebnis verursacht wurde.
2. Die Populationen, die zu solchen Studien herangezogen werden, sind meist nicht repräsentativ für das Gros der Opfer von sexueller
Gewalt. Meist handelt es sich um Menschen, die
Unterstützungsangebote in Anspruch nehmen
(z.B. Mitglieder von Selbsthilfegruppen, PatientInnen von psychiatrischen Kliniken, usw.).
Zu diesem Bereich fehlen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Longitudinalstudien,
welche die persönliche und soziale Entwicklung
über Jahre beobachten. Erhebungen zu bestimmten Symptomen der sexuellen Gewalt erfassen nicht das gesamte Spektrum und stellen
nur Momentaufnahmen dar.
3. Finkelhor verweist weiters auf die Tatsache,
dass ForscherInnen nur selten Kinder untersuchen und dabei vergessen, dass es Auswirkungen der sexuellen Gewalt geben kann, die „nur“
in der Kindheit Bedeutung haben können.
4. Browne und Finkelhor machen auf ein eher wissenschaftsethisches Kriterium aufmerksam. Oft
wird in der Bewusstseinsbildung, vor allem bei
Entscheidungsträgern vergessen, auf das Wort
„kann“ bei den Folgen von sexueller Gewalt
hinzuweisen. Dies hat zur Folge, dass die Opfer
sexueller Gewalt stigmatisiert werden. Opfern
die diese Folgen nicht aufweisen, wird zugeschrieben, das Erlittene zu verdrängen
(Godenzi, 1994).
4.7 Dunkelfeld – „Crux der
Kriminalstatistik“
Abgesehen von den oben beschriebenen methodischen Problemen steht die Forschung über
Gewalt in der Familie bzw. Gewalt im sozialen
Nahraum vor der grundsätzlichen Problematik, die
Gesamtzahl der tatsächlich verübten Delikte bei
weitem nicht erfassen zu können. Eine hohe Zahl
der Fälle bleibt sozusagen „im Dunkeln“, über den
genauen Hintergrund, Art und Schwere dieser
Straftaten können keine Aussagen getroffen werden.
Haller (1996) hat konkret zwei Erklärungen
dafür, warum das Dunkelfeld im Fall von Gewalt in
der Familie bzw. Gewalt im sozialen Nahraum
wahrscheinlich besonders groß ist. Seiner
Beobachtung nach erfolgen Anzeigen erst dann,
wenn sehr schwere sexuelle Gewaltvorfälle sowie
schlimme Gewalthandlungen vorliegen, oder wenn
der oder die TäterInnen unbekannte Personen sind.
Weitere Gründe für hohe „Dunkelziffern“, insbesondere im Fall von physischer bzw. sexueller Gewalt an Kindern ist, dass diese oft noch sehr jung
sind und sich noch nicht mitteilen können. Ältere
Kinder wiederum haben häufig Schwierigkeiten
darüber zu reden. Zudem ist die „Dunkelzahl„ bei
physischer Gewalt oder sexueller Gewalt an Jungen
höher als bei Mädchen, da Jungen in der Regel
weniger darüber sprechen als Mädchen (Friedrich
1998). Eder-Rieder (1998) verweist auf die besondere Täter-Opfer Konstellation im Fall von sexueller
Gewalt an Kindern in der Familie bzw. im sozialen
Nahraum. Das Opfer kann sich an niemanden wenden, zudem wird die Entscheidung über eine eventuelle Anzeige meist von den Eltern getroffen.
Godenzi (1994) zeigt auf, dass vor allem jene Fälle
im Dunkeln bleiben, die nicht physisch oder sichtbar ausgeübt werden. Zudem bleiben meist jene
Fälle unentdeckt, in denen sich die angegriffenen
Personen durch Flucht oder Widerstand wehren
konnten.
7 62 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
Die empirische Forschung ist somit gefordert,
methodische Anstrengungen zu unternehmen, um
dieses „Dunkelfeld“ zu beleuchten, will sie ihrem
Anspruch gerecht werden, das Phänomen Gewalt
in der Familie bzw. Gewalt im sozialen Nahraum
umfassend zu erkennen und zu beschreiben. Dazu
ist es notwendig, die Methoden zur Erhebung dieser „Dunkelzahlen“ bzw. dieses „Dunkelfeldes“
näher zu diskutieren. Vorab scheint es jedoch wichtig, genauer zu bestimmen, was unter den jeweiligen Begriffen gemeint ist.
So verwundert Leders Kritik nicht, wenn er es
ein Ärgernis nennt, dass die Begriffe Dunkelziffer,
Dunkelzahl und Dunkelfeld ohne weitere Differenzierung verwendet werden. „Wenn man meint, dass
sich die moderne Dunkelfeldforschung als bar jeder
wissenschaftlichen Überprüfbarkeit erweist, verwundert es, wie die Termini ,Dunkelziffer‘ und
,Dunkelzahl‘ eine Art Faktizität, eine quantitative
Genauigkeit, prätendieren, die in dieser Weise nicht
existiert.“ (Leder 1998). Bisher konnte weder eine
einheitliche Begriffsverwendung noch eine gänzlich
eindeutige Begriffsdefinition etabliert werden.
Unter dem Begriff „Dunkelzahl“ bzw. auch
„Dunkelziffer“ wird in der Regel das Verhältnis
zwischen der Zahl der statistisch ausgewiesenen
und der wirklich begangenen Straftaten verstanden
(Göppinger 1997). Am ehesten scheint sich allerdings bis dato der Begriff „Dunkelfeld“ durchgesetzt zu haben. Doch auch dieser wird unterschiedlich, manchmal auch sehr ähnlich wie der Begriff
Dunkelziffer, definiert. Brusten etwa bezeichnet als
Dunkelfeld die quantitative Differenz zwischen
den tatsächlich begangenen und den polizeilich
bekannt gewordenen, in der Regel auch statistisch
erfassten Straftaten, die meist auch Hellfeld genannt
werden. Seiner Beobachtung nach wird der Begriff
seltener zur Bezeichnung der Differenz zwischen
tatsächlichen und kriminalstatistisch registrierten
Tatverdächtigen bzw. verurteilten Straftätern verwendet (Brusten 1989, S. 130).
Eisenberg hat eine weitergehende Differenzierung und Gliederung der Begrifflichkeit vorge-
Gewalt in der Familie
nommen. So bezeichnet er als Dunkelfeld sowohl
Fälle, bei denen Tat und Täter nicht offiziell
bekannt sind als auch Delikte, bei denen die Tat,
aber nicht der Täter bekannt ist. Weiter differenziert zählt er dazu auch jene Fälle, in denen man Tat
und Täter offiziell kennt, in denen es aber zu keiner
Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft kommt.
Darüber hinaus umfasst das Dunkelfeld jene
Delikte, die Polizei und Staatsanwaltschaft bekannt
sind, ohne dass es zu einem positiven Abschluss der
Ermittlungen kommt. Grauziffer im engeren Sinn
betrifft seiner Definition nach jene Fälle, in denen
es zu keiner Eintragung in das Bundeszentralregister oder in die Erziehungskartei kommt
(Eisenberg 1985).
Trotz aller Differenzierung haftet dem Begriff
der Eindruck an, dass es sich bei dem Phänomen
Dunkelfeld um etwas Abgegrenztes, Festes, handelt. Dadurch entsteht die Gefahr, vorzugeben das
Offene und Ungeklärte scheinbar festmachen zu
können. Leder verweist in diesem Zusammenhang
darauf, dass Dunkelfeld immer auch etwas sozial
Hergestelltes ist, konstruiert etwa durch den
Anzeigenden oder durch eine konsistente oder
inkonsistente Ermittlungspraxis, weiters durch die
Besonderheit der Registrierung oder durch die Art
der Etikettierung von Instanzen, die soziale
Kontrolle ausüben etc. Dadurch kommt es zu
jeweils unterschiedlichen Ergebnissen (Leder 1998).
Im Vergleich zum Begriff Dunkelzahl allerdings
verdeutlicht der Begriff Dunkelfeld besser, dass sich
das Verhältnis zwischen tatsächlich bekannt gewordenen und nicht erfassten Delikten nicht genau
bestimmen lässt (Göppinger 1997).
Während sich ältere Formen der Dunkelfeldforschung auf ExpertInnenschätzungen und Hochrechnungen stützten, konzentrierte man sich in der
Folge auf die Verbesserung und spezielle Adaptionen der Methoden der empirischen Sozialforschung. Konkret lassen sich zwei Hauptrichtungen
von Dunkelfelduntersuchungen unterscheiden.
3 Die eine Richtung konzentriert sich darauf,
Personen bzw. Gruppen von Personen berich-
7 63 3
ten zu lassen, welche Straftaten sie innerhalb
eines Zeitraumes begangen haben. Zudem wird
keine Rücksicht darauf genommen, ob amtliche
Stellen oder andere Personen davon erfahren
haben, oder ob die berichteten Delikte strafrechtlich sanktioniert wurden. Man bezeichnet
dieses Verfahren auch als TäterInnenbefragung
bzw. als self-report.
3 Dem gegenüber steht die so genannte Opferbefragung, bei der vor allem Methoden der
Meinungsbefragung zur Anwendung kommen.
Eine repräsentative Stichprobe in der Bevölkerung wird danach befragt, ob und wie oft sie
während eines näher definierten Zeitraumes
Opfer von Straftaten wurde.
3 Eine dritte Strategie, die aber nicht als Forschungsrichtung im eigentlichen Sinn bezeichnet wird, ist die Befragung von InformantInnen,
d.h. von Personen bzw. Institutionen, die über
die Begehung von Straftaten bzw. die Umstände
zu Opfern zu werden berichten, ohne selbst
direkt betroffen zu sein.
Die Schwierigkeit bei TäterInnenbefragungen
besteht darin, dass direkte Vergleiche mit den offiziellen Daten der Kriminalstatistik meist nur
schwer möglich sind, da die schwersten Delikte wie
Raub bzw. Vergewaltigung aus der Befragung ausgenommen, dafür aber andere Verhaltensauffälligkeiten wie etwa Verwahrlosung bei Jugendlichen in
die Untersuchung einbezogen werden. Ein Vorteil
gegenüber der Kriminalstatistik ist, zusätzliche
Persönlichkeits- und Sozialdaten sowie die Häufigkeit der Verübung von Straftaten einer TäterIn
erheben zu können. Vergleiche mit der Kriminalstatistik scheitern jedoch sehr oft an der mangelnden
Repräsentativität der durchgeführten Erhebungen.
Opferbefragungen haben demgegenüber vergleichsweise den Nachteil, dass sie sehr oft nur
Informationen über die Tat, nicht aber die Täter liefern. Eine zusätzliche und entscheidende Grenze
dieses Verfahrens liegt darin, dass Delikte ohne
Opfer bzw. ohne individuelle Betroffenheit nicht
erfasst werden. Zusätzliche Fehler ergeben sich,
wenn Opfer die Tat nicht oder nicht richtig als
Delikt erfassen, wie dies nach strafrechtlichen
Kriterien erfolgen würde. Dazu kommt, dass
Delikte, an denen die Opfer selbst beteiligt sind
bzw. solche die ihnen peinlich sind, wahrscheinlich
eher verschwiegen werden. Andererseits kann es
auch zu Übertreibungen kommen, falls eigene
Interessen verfolgt werden.
Im Unterschied zu Deutschland wurden in
Österreich bisher keine Dunkelfelduntersuchungen
in größerem Stile durchgeführt. Die Sicherheitsverwaltung begründete dies etwa damit, dass es
nicht feststeht, ob es zu ihren primären Aufgaben
zählt, derartige wissenschaftliche Untersuchungen
durchzuführen (Österreichische 1997). Auf Grund
des Fehlens von derartigen Forschungsbemühungen auch von wissenschaftlicher Seite gibt es in
Österreich keine Dunkelfelduntersuchungen über
das Phänomen Gewalt in der Familie bzw. Gewalt
im sozialen Nahraum. Dennoch werden, insbesondere über einzelne Gewaltformen in der Familie
bzw. im sozialen Nahraum, immer wieder Hochrechnungen angestellt, die Aufschluss über das
Ausmaß des Dunkelfeldes bzw. der Dunkelzahl
geben sollen. Dabei wird sehr oft aus der Zahl
bekannt gewordener Fälle mittels eines Multiplikationsfaktors auf die Dunkelziffer geschlossen. So
schätzen etwa Kretz, Reichel und Zöchling (1989)
die Dunkelziffer von sexueller Gewalt an Kindern
auf 10-25 000 Fälle pro Jahr. Diese Zahl deckt sich
mit der Einschätzung von Lercher, die ebenfalls
von 10.000 Fällen von sexueller Gewalt an Kindern
pro Jahr ausgeht (Lercher et al. 1997).
Bei Gewalthandlungen gegen Frauen als auch
im Fall von Sexualdelikten wiederum sprechen
ExpertInnen von einer Dunkelziffer zwischen 1:5
und 1:10 (Dimmel 1996). Nähere Angaben über das
Zustandekommen dieser und auch anderer Schätzzahlen werden allerdings meist nicht gegeben.
Diese Tatsache hat in der sozialwissenschaftlichen
Debatte über Gewalt in der Familie bzw. Gewalt im
sozialen Nahraum zu heftiger Kritik an nicht näher
7 64 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
definierten Dunkelzifferangaben geführt. Nichtsdestotrotz halten sich einmal veröffentlichte Zahlen
zu dieser Thematik hartnäckig. So weist Honig darauf hin, dass die in den 60er-Jahren veröffentlichte
Angabe, 95 Prozent aller Fälle über schwere
Körperverletzung an Kindern blieben im Dunkeln,
noch Jahre später immer wieder in der öffentlichen
Diskussion erwähnt wurde. Er kommt in der Folge
zu dem Schluss, dass die öffentliche Präsentation
dieser Angaben offensichtlich eine soziale Funktion
erfülle. Die soziale Bedeutung von Kindesmisshandlungen soll offensichtlich mit dem Ausmaß
ihres Vorkommens begründet und gleichzeitig der
Eindruck des Alltäglichen und Unheimlichen vermittelt werden (Honig 1986). Zu noch kritischeren
Schlussfolgerungen in Bezug auf die Möglichkeit,
die Dunkelziffer von Kindesmisshandlungen erfassen zu können, kommt Kullmer. Er weist darauf
hin, dass die Ermittlung der relativen Häufigkeit
von Kindesmisshandlungen in Deutschland seiner
Einschätzung nach methodisch und praktisch nicht
lösbar ist.
„Alle über die Kindesmisshandlung in der
Bundesrepublik Deutschland veröffentlichten statistischen Zahlenangaben bzw. Daten – sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte betreffend –
müssen wegen grundsätzlicher statistisch-methodischer Einwände als höchst problematisch, wenn
nicht unzutreffend angesehen werden. [...] Da
zudem die Anwendung durchaus gängiger statistischer Verfahren in einem bis jetzt ungebräuchlich
großen Rahmen unerfüllbare Anforderungen implizierte, sind Fortschritte in der einschlägigen statistischen Forschung in naher Zukunft nicht zu erwarten.“ (Kullmer 1982, S. 277).
Resümierend betrachtet lässt sich feststellen,
dass Dunkelfelduntersuchungen trotz methodischer Probleme wertvolle Ergänzungen liefern, um
offizielle Kriminalstatistiken besser interpretieren
zu können, insbesondere die Entwicklung von häufig vorkommenden Straftaten, die keine Schwerstdelikte sind wie etwa Einbruch, Diebstahl und
Sachbeschädigungen. Über diese können Ge-
Gewalt in der Familie
schädigte im Rahmen von Opferbefragungen meist
ohne Hemmungen berichten. Eine bloße Betrachtung des Hellfeldes führt nämlich oftmals dazu, die
„tatsächlichen“ Deliktrate entweder zu über- oder
zu unterschätzen.27
Bloßen Dunkelfeldschätzungen bzw. Hochrechnungen hingegen mangelt es bisher meist an
methodischer Transparenz über das Zustandekommen der entsprechenden Indikatoren. Da es
zur Frage von Gewalt in der Familie bzw. im sozialen Nahraum kaum bzw. in Österreich überhaupt
keine Dunkelfelduntersuchungen gibt, ist man auf
Schätzungen offensichtlich angewiesen, um sich
dem tatsächlichen Ausmaß des Phänomens zumindest anzunähern. Diese sind allerdings aus oben
genannten Gründen mit größter Vorsicht zu interpretieren. Ebenso müssen die in den Medien präsentierten und meist auf Schätzungen beruhenden
Zahlen mit Skepsis betrachtet werden, auch wenn
sie als wissenschaftlich erwiesen dargestellt werden.
Sie verhüllen die Tatsache, dass verlässliche Anhaltspunkte, die eine dem „tatsächlichen Dunkelfeld“ zum Thema Gewalt in der Familie bzw.
Gewalt im sozialen Nahraum gerecht werdende
Annäherung ermöglichen könnten, bislang fehlen.
So zeigt eine neue Studie von Buchebner-Ferstl
27
7 65 3
Die 1986 durchgeführte Replikationsstudie der
Bochumer Opferbefragung von 1975 zeigte etwa, dass
1975 jeder dritte,1986 aber jede zweite schwere
Diebstahl angezeigt wurde. Hätte man alleine das
Hellfeld betrachtet, so wäre man von einem Anstieg der
Diebstähle um 70 Prozentpunkte ausgegangen. Für den
tatsächlichen Anstieg der bekannt gewordenen Delikte
war im Wesentlichen die Verlagerung von früheren
„Dunkelfelddelikten“ in das Hellfeld verantwortlich.
Eine andere Situation ergab sich in Bezug auf die
Entwicklung der Rate bei einfachen Diebstählen. Wurde
1975 von sieben Diebstählen einer angezeigt, so kam
1986 von neun nur noch ein Diebstahl zur Anzeige. Die
Dunkelfelduntersuchung ergab, dass im Vergleichszeitraum deutlich mehr Delikte verborgen blieben und
die „tatsächliche“ Verbrechensrate vermutlich sogar gestiegen ist, obwohl weniger Straftaten zur Anzeige
kamen.
(1999), dass nur bei etwa 15% der in österreichischen Tageszeitungen kolportierten statistischen
Daten, bei denen es sich hauptsächlich um Häufigkeitsangaben zu sexueller Gewalt handelt, auch die
Quelle dieser Angabe genannt wird.
Steht die Forschung zum Thema Gewalt in der
Familie bzw. Gewalt im sozialen Nahraum angesichts der methodischen und forschungspraktischen Schwierigkeiten von Dunkelfelduntersuchungen zu dieser Thematik somit vor dem Dilemma, ihrem Anspruch das Phänomen umfassend erklären zu wollen, nicht gerecht werden zu können?
Ein Ausweg daraus könnte die Durchführung
von groß angelegten Dunkelfelduntersuchungen zu
dieser Problematik sein, die auf Grund der oben
beschriebenen methodischen Schwierigkeiten nur
mit großem Geld- und Zeitaufwand zu bewältigen
wären. Auf dieser Basis wäre es in der Folge wahrscheinlich möglich, methodisch verlässliche
Schätzungen durchzuführen. Wie oben dargelegt,
bezweifeln manche diese Möglichkeit.
Ein anderer, wahrscheinlich einfacherer Weg, ist
es, sich auf kleinere Untersuchungsräume zu beschränken, diese umfassend zu erforschen, in der
Folge aber bewusst auf Hochrechnungen zu verzichten, wie dies etwa Haller et al. (1998) für ihre in
der Steiermark durchgeführten Studie „Gewalt in
der Familie“ entschieden haben. Ihre im Folgenden
dargelegten Argumente scheinen auf Grund der
zuvor beschriebenen Probleme überzeugend: „Da
wir nirgendwo in der Literatur eine nachvollziehbare Begründung für die Multiplikationsfaktoren
fanden, mittels derer von den bekannt gewordenen
Gewaltfällen auf die Dunkelfeldziffer zu schließen
ist, werden wir in dieser Studie von derartigen
Hochrechnungen Abstand nehmen. Wir glauben,
dass die ermittelten Zahlen per se schon eine gewisse Aussagekraft haben.“
4.8 Forschung über Gewalt
in der Familie – auch eine
Frage der Ethik
Da es sich, wie schon mehrfach angesprochen,
bei der Thematik Gewalt in der Familie um ein sehr
sensibles Forschungsfeld handelt, ist die Frage der
Forschungsethik in diesem Fall von besonderer
Relevanz. In diesem Feld tätige WissenschafterInnen tragen besondere Verantwortung, da sie
mit Fragestellungen zu dieser Thematik in das
Privatleben von Betroffenen eindringen und bei
direkten Befragungen Betroffene dazu ermuntern
wollen, über intime, meist sehr leidvolle Erfahrungen zu berichten. Die Frage, wie mit diesen
Informationen umgegangen werden soll, die durch
wissenschaftliche Forschung öffentlich werden,
bedarf einer kritischen Reflexion.
Zu Beginn der Erforschung von Gewalt in der
Familie bzw. im sozialen Nahraum wurde dieser
Thematik nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Erst in den 80er Jahren begann man sich damit differenziert auseinanderzusetzen (Finkelhor 1986;
Geffner et al. 1988).
Die konkrete Diskussion betraf vier in der
sozialwissenschaftlichen Forschung immer wieder
diskutierte Prinzipien:
1.) Informierte Einwilligung
Nach diesem Grundsatz ist davon auszugehen,
dass die am Forschungsprozess teilnehmenden
Untersuchungspersonen ihre Mitarbeit im vollen
Wissen um Ziele, Methoden und Risiken bejahen
oder verneinen können. Zudem muss ihnen die
Möglichkeit offen stehen, jederzeit Fragen zur
Untersuchung zu stellen und bei Ablehnung von
Untersuchungsinhalten, die Chance zum Ausstieg
geboten werden.
In der Gewaltforschung ist die Umsetzung dieses Prinzips mit Schwierigkeiten verbunden. Denn
gibt man vornherein bereits im vollen Umfang
bekannt, welche Zielsetzungen die angestrebte
7 66 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
Studie verfolgt, so ist möglicherweise mit einer
Verzerrung der Ergebnisse zu rechnen. Die
Befragten werden sich im vollen Wissen um die
Zielsetzung einer Untersuchung wohl kaum
freimütig als GewalttäterInnen zu erkennen geben.
2.) Schutz der Untersuchungssubjekte vor
physischen und psychischen Schädigungen?
Unabhängig von den Zielsetzungen einer Studie
ist sowohl die physische als auch psychische Integrität der Teilnehmenden in jedem Fall zu wahren.
Gerade dieser Grundsatz erschwert die konkrete Forschungsarbeit mit Opfern von Gewalt in der
Familie bzw. im sozialen Nahraum, stellt sich doch
gerade in diesem Zusammenhang die Frage, welche
Auswirkungen der Eingriff von ForscherInnen von
außen auf die Betroffenen hat. Sind diese in der
Folge nicht noch mehr gefährdet, weiteren Misshandlungen oder Gewaltakten ausgesetzt zu werden, gerade weil jemand von außen in das Feld
eindringt? Doch nicht nur die Frage, welche Auswirkungen das Eindringen von außen auf die Betroffenen hat, sondern auch die Wahl der Untersuchungsmethode ist in Zusammenhang mit diesem
Grundsatz von Relevanz. Es ist nicht unerheblich
darüber zu reflektieren, welche Auswirkungen
etwa ein Tiefeninterview mit einer Person haben
kann, die über erlittene Gewalterfahrungen berichtet. Was wird dadurch in ihr ausgelöst? Kann man
diese Person in der Folge alleine ihrem Schicksal
überlassen? All das sind heikle Fragen, die es bei
der Planung von Untersuchungen sorgfältig zu
bedenken gilt.
3.) Vertraulichkeit
Dieser forschungsethische Grundsatz besagt,
dass alle Daten, die erhoben werden, vertraulich zu
behandeln sind und ohne Zustimmung der
Betroffenen an andere, in den Forschungsprozess
nicht involvierte Personen, nicht weitergereicht
werden dürfen.
Auch dieses scheinbar ohne Schwierigkeiten zu
gewährleistende Prinzip hat Konsequenzen für die
Gewalt in der Familie
konkrete Forschungspraxis. Welche Schritte sollen
ForscherInnen setzen, wenn sie im Verlauf einer
Untersuchung feststellen, dass die von ihnen
befragten Personen aktuell und direkt von Gewalt
betroffen sind? Es bleibt zumindest die ethische
Frage bestehen, ob der Gewährleistung von Vertraulichkeit oder dem konkreten Schutz vor Gewalthandlungen der Vorzug zu geben ist. Dies ist in
den Sozialwissenschaften generell eine höchst
umstrittene Frage. BefürworterInnen der Vertraulichkeit geben zu bedenken, dass künftige
Forschungsvorhaben gefährdet sind, wenn das
Prinzip der Diskretion preisgegeben wird. Zudem
vertreten diese die Meinung, dass Vertraulichkeit
den Opfern längerfristig zugute kommt, da bisher
zur Thematik Gewalt in der Familie bzw. Gewalt
im sozialen Nahraum in der Forschung erzielte
Erkenntnisse nur durch die Garantie von Diskretion möglich wurden. Andere wiederum vertreten
die Auffassung, dass ForscherInnen in jedem Fall
ethisch dazu verpflichtet sind, Fälle von physischer
und sexueller Gewalt anzuzeigen (Kinard 1985;
Urquiza 1991).
4.) Respektierung der Privat- und Intimsphäre
Nach diesem Grundsatz wird den in den Forschungsprozess involvierten Personen der Schutz
ihrer Privat- und Intimsphäre zugesichert.
In der konkreten Forschung scheint eine Überschreitung von Privatgrenzen nur schwer vermeidbar, da sich wahrscheinlich nur wenige Personen
freiwillig und unaufgefordert an WissenschafterInnen wenden, um über intime Erlebnisse zu
berichten. Vielmehr sind es gerade die Fragestellungen und Erzählaufforderungen der ForscherInnen, die zu diesen Grenzüberschreitungen
führen. Allerdings kann bei Gewährleistung des
oben beschriebenen Prinzips der informierten
Einwilligung nicht mehr von einem willkürlichen
Eindringen in die Privat- und Intimsphäre gesprochen werden. Die kontaktierten Personen sollten
demnach über die Absichten der Untersuchung
informiert werden und jederzeit die Möglichkeit
7 67 3
haben, aus dem Forschungsprozess auszusteigen.
Insofern könnte man davon ausgehen, dass es die
freiwillige Entscheidung einer Person ist, wenn
diese private und intime Dinge erzählt. Dabei wird
jedoch vergessen, dass zwischen ForscherIn und
befragter Person in der konkreten Erhebungssituation kein gleichwertiges Verhältnis besteht.
Dazu kommt, dass methodisch geschulte InterviewerInnen mitunter sehr geübt sind, mit Hilfe
geschickter Befragungstechniken andere dazu zu
bringen, mehr von sich preiszugeben als diese möglicherweise ursprünglich beabsichtigten. Daraus
ergibt sich ein weiteres ethisches Dilemma. Soll
Gewaltforschung das Recht des Einzelnen achten,
Dinge nicht preisgeben zu müssen, auch wenn konkret kontaktierte Personen Gewaltakten ausgesetzt
sind, die für diese schlimme Folgen haben können?
Godenzi weist darauf hin, dass die bisherige
Antwort der ForscherInnen darauf eindeutig ist.
„Im Zweifelsfall kann das Recht auf Privatheit
keine Gewaltübergriffe legitimieren.“ (Godenzi
1994).
4.9 Zusammenfassung
Forschungsarbeiten, die sich mit der Frage von
Gewalt in der Familie beschäftigen, stehen vor einigen schwierigen methodologischen und methodischen Grundproblemen, da diese Problematik nach
wie vor stark tabuisiert wird. So ist etwa davon auszugehen, dass es je nach befragten Personen große
Unterschiede in der Wahrnehmung und Darstellung von Gewalthandlungen gibt. Dazu kommt,
dass die von Gewalttaten betroffenen Personen oftmals weiterhin mit den TäterInnen zusammenleben
müssen, wodurch die Aussagebereitschaft der
Betroffenen beeinträchtigt wird. Zudem ist generell
damit zu rechnen, dass bei Befragungen zu dieser
Problematik häufig Antworten verweigert werden,
da die Intimsphäre der Betroffenen stark berührt
wird.
Diese Umstände erfordern eine besonders
intensive und kritische Reflexion der beteiligten
ForscherInnen, um nicht zu verzerrten Ergebnissen
zu kommen. Dabei erscheint es trotz der beschriebenen Schwierigkeiten notwendig, die Perspektive
möglichst aller betroffenen Personen zu berücksichtigen, um auch entsprechend zuverlässige
Informationen zu erhalten. Während in den 70erJahren generell offene und explorative Interviews
bevorzugt wurden, begann man in den 80er-Jahren
verstärkt standardisierte Befragungstechniken einzusetzen, da bei einer bloßen Konzentration auf
Selbstzeugnisse Verzerrungen befürchtet wurden.
Auf Tiefeninterviews, mit denen es möglich wird,
die Sichtweise der Betroffenen zu erfassen, kann
dennoch nicht verzichtet werden.
Die Forschung über Gewalt in der Familie ist
zudem mit der Problematik konfrontiert, die
Gesamtzahl der tatsächlich verübten Delikte bei
weitem nicht erfassen zu können. Dies lässt sich
darauf zurückführen, dass Anzeigen oftmals erst
dann erfolgen, wenn es zu besonders schwer wiegenden Fällen physischer und sexueller Gewalt
kommt oder wenn es sich bei den TäterInnen um
unbekannte Personen handelt. In Österreich wurden allerdings bisher im Unterschied zu
Deutschland keine größeren Dunkelfelduntersuchungen durchgeführt. Dennoch werden über
einzelne Formen von Gewalt immer wieder
Hochrechnungen angestellt, die Aufschluss über
die Höhe der Dunkelfeldziffer geben sollen.
Nähere Angaben über das Zustandekommen dieser
Schätzungen wurden allerdings meist nicht gegeben
und sind daher mit größter Vorsicht zu interpretieren.
7 68 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
5 Gewalt in der Familie – Ein
Überblick über die Gesetzeslage
der letzten zehn Jahre
Veronika Gössweiner, Brigitte Cizek
Im folgenden Kapitel wird die juristische Lage
bezüglich Gewalt in der Familie/im sozialen Nahraum in einem kurzen Überblick dargestellt. Die
Aufstellung (Tabelle I.1) gibt eine Übersicht über
die relevantesten Gesetze und Gesetzesänderungen
zum Thema Gewalt in der Familie in den letzten
zehn Jahren in Österreich.28
Im Rahmen des Jahres 1989 werden vorerst die
wichtigsten, in diesem Jahr gültigen (aber bereits
zuvor beschlossenen) Gesetze, die den Bereich
Gewalt betreffen angeführt (Stand). Die letzten beiden Kästen (Strafgesetznovelle, JugendwohlfahrtGesetz) beziehen sich auf Gesetzesänderungen aus
dem Jahr 1989 selbst (Neuerungen).
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass
sich die Begriffsverwendung in diesem Kapitel an
die Definitionen in den Gesetzestexten anlehnt.
Dies steht im Gegensatz zu den anderen Kapiteln
des Berichts, die auf eine einheitliche Begriffsverwendung in Anlehnung an das Kapitel 1
„Definitionen zu Gewalt in der Familie“ abstellen.
28
Die rechtlichen Möglichkeiten zum Einschreiten bei
Gewalt in der Familie/im sozialen Nahraum sind in
Österreich im Zivilrecht (inkl. Zivilverfahrensrecht, im
Jugendwohlfahrtsrecht, im Sicherheitspolizeirecht sowie
im Strafrecht (inkl. Strafprozessrecht) geregelt.
Gewalt in der Familie
7 69 3
Tabelle I.1:
Übersicht über die Gesetze im Zusammenhang mit Gewalt in der Familie - Stand 1989 bis 2000
Jahr
Stand 1989
Gesetze/Fundstellen
Strafgesetzbuch (StGB)
Schwerpunktmäßiger Inhalt
Strafbarkeit von
3 Notzucht, ‚geschlechtlicher Nötigung’, ‚Schändung’,
Beischlaf mit Unmündigen’, ‚Unzucht mit Unmündigen’,
‚Blutschande’‚ ‚Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses’,
‚Kuppelei’ (betreffend sexuelle Gewalt)
3 Körperverletzung, Mord, Totschlag, Quälen und
Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser
Personen, Freiheitsentziehung, gefährliche Drohung,
Nötigung, Beleidigung (betreffend körperliche und
psychische Gewalt).
Allgemeines Bürgerliches
Gesetzbuch ( ABGB)
Eltern haben für die Erziehung ihrer minderjährigen Kinder
zu sorgen und ihr Wohl zu fördern.
StGB
Neudefinition der „Vergewaltigung“: Erweiterung auf
männliche Opfer, Einbeziehung der „beischlafsähnlichen
Handlungen“, Wegfall der Voraussetzung der
Widerstandsunfähigkeit
ABGB
Das Verbot der Zufügung körperlichen und seelischen Leides
(„Züchtigungsverbot“) wird ausdrücklich eingeführt bzw.
verdeutlicht.
1990
Exekutionsordnung
Ausweitung der gerichtlichen einstweiligen Verfügung auf
Fälle ohne gerichtsanhängiges Verfahren.
1992
Beitritt Österreichs zur
UN-Konvention über die
Rechte des Kindes
1993
Strafprozessordnung (StPO)
3 Anzeigepflicht für BeamtInnen mit psychosozialen
Beratungs- und Betreuungsfunktionen wird abgeschwächt
3 Möglichkeit der „schonenden Einvernahme“ von
Gewaltopfern
1994
StGB
Einführung des Verbots von Kinderpornografie.
1996
StGB
3 Lockerung bzgl. des Rechts des Erziehungsberechtigten
auf Bestimmung des Aufenthalts des Kindes.
3 Erhöhung der Strafbarkeit von Kinderpornografie
Neuerungen
7 70 3
Gewalt in der Familie
Teil I: Grundlagen zu Gewalt in der Familie
Jahr
1997
Gesetze/Fundstellen
Bundesgesetz zum Schutz
vor Gewalt in der Familie
(Gewaltschutzgesetz, GeSchG)
bzw. Sicherheitspolizeigesetz
(SPG) Exekutionsordnung (EO)
Schwerpunktmäßiger Inhalt
3 polizeiliches Wegweisungsrecht: Exekutive kann Gewalttätige aus einer Wohnung wegweisen.
Gleichzeitig kann ein Rückkehrverbot für 7 bis max.
14 Tage verhängt werden.
3 Verbesserungen bei der Einstweiligen Verfügung (EV):
Antragstellung nicht nur durch Ehegatt/innen, sondern
auch Lebensgefährt/innen, Kinder (vertreten durch
Erziehungsberechtigte oder das Jugendamt), Eltern etc.,
(„nahe Angehörige“), Durchsetzbarkeit der EV
1998
StGB
3 Gleichstellung der sogenannten „beischlafsähnlichen
Handlungen“ mit dem Beischlaf
3 neue Bezeichnungen für die Delikte §§ 206 und 207:
„schwerer sexueller Missbrauch“ statt „Beischlaf mit
Unmündigen“, „sexueller Missbrauch“ statt „Unzucht“ mit
Unmündigen
StPO
3 Verjährungsfrist bei bestimmten Sexualdelikten läuft erst
ab Volljährigkeit
3 Ausweitung der „schonenden Einvernahme“: zwingend
für unmündige Sexualopfer, alle anderen Sexualopfer auf
Antrag.
1999
Verbrechensopfergesetz (VOG) Verbrechensopfer können Kostenzuschuss für psychotherapeutische Krankenbehandlung erhalten.
2000
SPG
Umwandlung des Rückkehrverbots in ein Betretungsverbot
und Verlängerung auf max. 20 Tage.
StPO ( „Diversionsnovelle“)
Einführung von diversionellen Maßnahmen (Alternativen
zum traditionellen Strafverfahren: außergerichtlicher
Tatausgleich, Geldbuße, gemeinnützige Arbeit und
Probezeit [mit oder ohne Auflagen]). Anwendung bei
Gewalt in der Familie theoretisch möglich, nicht aber
(u.a.) bei schwerer Schuld, schwerer sexueller Gewalt,
Mord, Totschlag.
Gewalt in der Familie
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7 74 3
Gewalt in der Familie
Teil II:
Gewalt gegen Kinder
Gabriele Buchner
Brigitte Cizek
Veronika Gössweiner
Olaf Kapella
Johannes Pflegerl
Maria Steck
Gewalt in der Familie
7 75 3
Übersicht
1
1.1
1.2
1.3
1.4
Definition von Gewalt gegen Kinder
Physische Gewalt
Psychische Gewalt
Sexuelle Gewalt
Zusammenfassung
82
82
83
84
90
2
2.1
2.2
Ein kurzer historischer Abriss über Gewalt gegen Kinder
Gewalt gegen Kinder – ein Blick in die Vergangenheit
Gewalt gegen Kinder – heute
Zusammenfassung
91
91
95
96
Ursachen von Gewalt gegen Kinder
Einleitung
Ursachen für physische Gewalt gegen Kinder
Personenzentrierte Ansätze zur Erklärung von Gewalt gegen Kinder
Kriminologische und forensische Analysen
Psychiatrisch-pathologische und psychodynamische Erklärungsansätze
für Gewalt gegen Kinder
Weitere personenzentrierte Ansätze
Zusammenfassende Diskussion personenzentrierter Ansätze
Familienbezogene Ansätze zur Erklärung von Gewalt gegen Kinder
Risikofaktoren für die Misshandlung von Säuglingen und Kleinkindern
Frühgeburt und Untergewicht
Frühkindliche Verhaltensmerkmale
Merkmale früher Mutter-Kind-Interaktion und Kindesmisshandlungen
Elterliche Erziehungskompetenzen und Attribuierungsmuster
Stress, Krisen und Belastungen
Zusammenfassende Diskussion der familienbezogenen Ansätze
Der sozial-strukturelle Kontext von Gewalt gegen Kinder – soziologische
Erklärungsmodelle
Strukturelle Belastungsfaktoren und Kindesmisshandlung
Soziale Isolation
Strukturelle Gewalt
Zusammenfassende Diskussion der soziologischen Erklärungsmodelle
Integrative Modelle zur Erklärung von Gewalt gegen Kinder
Das sozialpsychologische Erklärungsmodell von Gelles
Gewalt gegen Kinder als ethnopsychologische Störung –
das multifaktorielle Erklärungsmodell von Wolff
Ökopsychologische Erklärungsmodelle von Gewalt gegen Kinder
Zusammenfassung
Ursachen für psychische Gewalt gegen Kinder
Ursachen für sexuelle Gewalt gegen Kinder
Personenzentrierte Ansätze
97
97
97
98
98
98
3
3.1
3.2
3.2.1
3.2.1.1
3.2.1.2
3.2.1.3
3.2.1.4
3.2.2
3.2.2.1
3.2.2.1.1
3.2.2.1.2
3.2.2.2
3.2.2.3
3.2.2.4
3.2.2.5
3.2.3
3.2.3.1
3.2.3.2
3.2.3.3
3.2.3.4
3.2.4
3.2.4.1
3.2.4.2
3.2.4.3
3.2.5
3.3
3.4
3.4.1
7 76 3
100
101
103
103
103
104
105
106
107
108
109
109
110
112
113
114
114
116
118
120
121
122
122
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3.4.2
3.4.3
3.4.4
3.4.5
Familientheoretische und familiendynamische Erklärungsansätze
Feministische Theorien
Integrative Theorien
Zusammenfassung
124
124
125
126
4
4.1
4.2
4.2.1.
4.2.2
4.2.3
4.2.4
4.2.5
4.3
Kinder als Opfer
Begriff „Opfer“
Soziodemografische Faktoren und familialer Hintergrund
Anzahl der Opfer
Geschlecht
Alter
Schichtzugehörigkeit
Familialer Hintergrund
Zusammenfassung
128
128
128
128
131
132
133
134
137
Täter und Täterinnen
„TäterInnen“-Begriff
Physische Gewalt
Soziodemografische Faktoren und familialer Hintergrund
Anzahl der TäterInnen
Geschlecht
Alter
Familialer Hintergrund
Exkurs: Körperliche Vernachlässigung
Psychische Gewalt
Zusammenfassung
Sexuelle Gewalt
Soziodemografische Faktoren und familialer Hintergrund
Geschlecht
Alter
Exkurs: Kinder als Täter sexueller Gewalt bedingt
durch sexuell aggressive Impulsivität
Familialer Hintergrund
TäterInnenstrategien
Tatdynamik
TäterInnentypologien sexueller Gewalt
Frauen als Täterinnen
Formen und Motive der sexuellen Gewalt durch Frauen
Frauen als Mitwisserinnen beziehungsweise Unwissende
Täterinnen-Typologien
Unterschiede bei weiblicher und männlicher sexueller Gewaltanwendung
Zusammenfassung
Resümee
139
139
139
139
139
141
142
143
145
145
146
147
147
147
147
149
5
5.1
5.2
5.2.1
5.2.1.1
5.2.1.2
5.2.1.3
5.2.1.4
5.4.1.5
5.3
5.3.1
5.4
5.4.1
5.4.1.1
5.4.1.2
5.4.1.3
5.4.1.4
5.4.2
5.4.3
5.4.4
5.4.5
5.4.5.1
5.4.5.2
5.4.5.3
5.4.5.4
5.4.5.5
5.5
Gewalt in der Familie
7 77 3
153
155
156
160
164
165
167
168
168
169
170
6
6.1
6.1.1.
6.1.2
6.1.3
6.1.4
6.2
6.2.1
6.2.2
6.2.3
6.2.4
6.2.5
6.3
7
7.1
7.2
7.3
7.4
7.5
8
8.1
8.2
8.2.1.
8.2.2
8.2.2.1
8.2.2.2
8.2.2.3
8.3
8.4
8.4.1
8.4.2
8.5
8.5.1
8.5.2
8.6
9
9.1
9.1.1
9.1.1.1
Exkurs: Geschwisterliche Gewalt
Physische Gewalt
Definition
Soziodemographische Faktoren
Ursachen
Folgen
Sexuelle Gewalt
Definition
Soziodemographische Faktoren
Gründe für die Geheimhaltung
Ursachen
Folgen
Zusammenfassung
173
174
174
175
176
179
180
180
181
181
181
182
182
Exkurs: Gewalt von Kindern gegen Eltern
Gewaltformen
Soziodemographische Faktoren
Ursachen
Folgen
Zusammenfassung
184
184
184
186
188
188
Signale und Folgen gewaltsamer Handlungen an Kindern
Einteilung von Signalen und Folgen
Diagnostische Möglichkeiten zur Erfassung von Signalen und Folgen
Medizinische Diagnostik
Psychologische Diagnostik
Allgemeine Methoden der Diagnostik
Spezifische Methoden der Diagnostik
Diskussion
Einflussfaktoren auf das Ausmaß der Folgen von Gewalterfahrungen
Auswirkungen physischer und psychischer Gewalt
Einflüsse des „misshandelnden Milieus“ auf die
Folgeerscheinungen gewaltvoller Erfahrungen
Folgen von körperlicher und psychischer Gewalt
Auswirkungen sexueller Gewalt
Die Dynamik der sexuellen Gewalterfahrung
Folgen von sexueller Gewalt
Zusammenfassung
189
189
190
190
191
191
192
194
194
196
196
197
201
202
203
210
Prävention und Intervention
Allgemein
Begriffsbestimmung
Prävention
211
211
211
211
7 78 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
9.1.1.2
9.1.2
9.1.2.1
9.1.2.2
9.1.3
9.1.4
9.2
9.2.1
9.2.1.1
9.2.1.2
9.2.1.3
9.2.1.4
9.2.2
9.2.2.1
9.2.2.1.1
9.2.2.1.2
9.2.2.2
9.2.2.2.1
9.2.2.2.2
9.3
9.3.1
9.3.1.1
9.3.1.1.1
9.3.1.1.2
9.3.1.2
9.3.1.2.1
9.3.1.2.2.
9.3.1.2.3
9.3.2
9.3.2.1
9.3.2.2
9.3.2.3
9.3.2.4
9.3.2.4.1
9.3.2.4.2
9.3.2.4.3
9.3.2.4.4
9.3.3
9.3.3.1
9.3.3.2
9.3.3.2.1
Intervention
Geschichte der Prävention und Intervention
Historische Entwicklung präventiver Maßnahmen
am Beispiel von Präventionsprogrammen
Historische Entwicklung intervenierender Maßnahmen
am Beispiel der TäterInnenarbeit
Ziele von Prävention und Intervention
Stellenwert von Prävention und Intervention
Grundlagen von Prävention und Intervention bei Gewalt
Ansatzpunkte präventiven Handelns
Gesellschaft
Bezugspersonen
Kinder
Potenzielle TäterInnen
Ansatzpunkte von Intervention
Opferorientierte Intervention
Opferorientierte Interventionsschritte
Opferorientierte Interventionshilfen
TäterInnenorientierte Intervention
TäterInnenorientierte Interventionsschritte
TäterInnenorientierte Interventionshilfen
Österreichspezifische Maßnahmen
Maßnahmen auf politischer Ebene
Gesetzliche Maßnahmen
Neuerungen für Opfer
Neuerungen für TäterInnen
Ministerratsvorträge
Vortrag an den Ministerrat, Juni 1994
Vortrag an den Ministerrat, September 1997
Vortrag an den Ministerrat, Dezember 1998
Initiativen
„Plattform gegen Gewalt in der Familie“
Elternbildung
Campagne: „(K)ein sicherer Ort“
Modellprojekte
Mutter-Kind Pass
LoveTalks©
Prozessbegleitung
Fokussierte Täterenarbeit
Hilfseinrichtungen
Kinder- und Jugendanwaltschaft
Familienberatungsstellen
Kinderschutzzentren
Gewalt in der Familie
7 79 3
212
213
213
219
220
221
222
222
222
223
224
225
228
228
228
230
232
232
233
245
246
246
246
246
247
247
247
248
248
248
249
250
250
250
250
251
251
251
251
252
252
9.3.3.2.2
9.3.3.2.3
9.3.3.2.4
9.3.4
9.3.4.1
9.3.4.1.1
9.3.4.1.2
9.3.4.1.3
9.3.4.1.4
9.3.4.1.5
9.3.4.2
9.3.4.3
9.3.4.4
9.3.4.5
9.3.5
9.3.5.1
9.3.5.2
9.3.5.3
9.3.5.4
9.3.5.5
9.3.5.6
9.3.6
9.4
Männerberatung
Familienberatungsstellen mit dem Schwerpunkt Gewalt
Kinderschutzgruppen
Fortbildungen
Tagungen
Enquete „Erkennen-Verstehen-Helfen“ am 11.9.1996 in Wien
Enquete „Angst vor dem misshandelten Kind“ am 26.11.1997 in Wien
„Opferschutz und Tätertherapie“ am 8.10.1998 in Wien
Enquete „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“ am 25.11.1999 in Wien
Enquete „Es irrt der Mensch so lang er strebt“ am 6.10.2000 in Wien
Schulungen
Arbeitsmappen
Medienpaket „Erzählt uns nichts vom Storch“
Elternbriefe
Studien
„Sexueller Missbrauch von Kindern in Österreich“ (BMUJF 1989)
„Gewalt gegen Kinder“ und „Gewalt gegen Frauen“ (BMUJF 1991)
„Gewalt in der Familie. Ausmaß, Intervention und Prävention.
Eine Befragung von SchulärztInnen“ (BMUJF 1996)
„Arbeit mit Gewalttätern“ (BMUJF 1998)
„Modellprojekt Prozessbegeleitung“ (BMSG 2000)
„Gewalt in der Familie. Eine Bestandsaufnahme zur
Einstellung, Problemhäufigkeit, Intervention und Bedarfsplanung
von ÄrztInnen in freier Praxis und Klinik“ (BMJF o. A.)
Broschüren
Zusammenfassung
252
252
253
253
253
253
253
253
253
253
254
254
254
255
255
255
255
255
Literaturverzeichnis
259
7 80 3
255
256
256
256
257
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Tabellen und Skizzen
Tabelle II.1:
Tabelle II.9:
Definitionen und Termini –
Unterschiedliche Verwendung der Begrifflichkeiten
Merkmale der Täter und Opfer
Vorgeschichte und familiäre Beziehungen
Körperliche Gewalt vonseiten eines Geschwisterteils
gegen Bruder bzw. Schwester in Abhängigkeit vom Lebensalter
(Straus et al. 1981)
Formen körperlicher Gewaltanwendungen zwischen Geschwistern
(Straus et al. 1981) in Abhängigkeit vom Lebensalter (Straus et al. 1981)
Gewaltformen und deren prozentuelle Häufigkeit bei
Kindern unter sechs Jahren (Habermehl 1994)
Häufig festgestellte kognitive und körperliche Retardierungen
(Engfer 1986; Oates 1984; Oates 1986; Elmer 1967; Lynch 1982)
Zusammenschau möglicher Folgen sexueller Gewalt in den
jeweiligen Alters- bzw. Entwicklungsstufen
Intervention nach Hurrelmann
Skizze II.1:
Skizze II.2:
Das sozialpsychologische Erklärungsmodell von Gelles
Der TATZYKLUS
Tabelle II.2:
Tabelle II.3:
Tabelle II.4:
Tabelle II.5:
Tabelle II.6:
Tabelle II.7:
Tabelle II.8:
Gewalt in der Familie
7 81 3
86
151
152
174
175
185
199
208
212
115
158
1 Definition von Gewalt
gegen Kinder
Olaf Kapella, Brigitte Cizek
In diesem Kapitel wird der Schwerpunkt auf die
Definitionen verschiedener Formen der Gewalt
gegen Kinder gelegt. Auf grundsätzliche Fragen zu
Definitionsmöglichkeiten von Gewalt sowie die
Begriffsbestimmung „Gewalt“ selbst wird nicht
mehr eingegangen, da dies bereits im Kapitel 1
„Definition von Gewalt“ im Teil I dieses Berichtes
abgehandelt wurde.
Gewalt gegen Kinder lässt sich in den Ausprägungsformen der physischen und psychischen
Gewalt beschreiben. In beiden Formen wird auch
der Bereich der Vernachlässigung mit eingeschlossen. Einen besonderen Bereich der Gewalt gegen
Kinder stellt die sexuelle Gewalt dar. Diese Gewaltform wurde vor allem in den letzten Jahren vermehrt Gegenstand der Forschung und von Untersuchungen. Dies zeigt sich auch sehr deutlich an
den massiv zunehmenden Publikationen zu dieser
Thematik in den letzten Jahren. Aus diesem Grund
wird auch die Begriffsvielfalt zur Definition der
sexuellen Gewalt sowie die unterschiedlichen
Kategorien von Definitionen ausführlicher dargestellt.
Innerhalb der Definitionen unterscheiden einzelne AutorInnen „leichte“ und „schwere“ Formen
der körperlichen Misshandlung.
„Leichtere“ Formen der Misshandlung werden
oft auch als „normale“ oder „gewöhnliche“ Gewalthandlungen gegen Kinder bezeichnet. Sie beschreiben Handlungen wie schlagen, kneifen, treten, drücken, festhalten, usw. Diese Ausprägungen
von physischer Gewalt sind schwer zu definieren,
da es sich bei einem Großteil um gesellschaftlich
tolerierte Handlungen handelt. Gewalthandlungen
unterliegen gesellschaftlichen Normen und diese
bestimmen, ob eine Handlung noch als Erziehungsverhalten gilt, z.B. eine Ohrfeige, oder ob
sie bereits in den Bereich der physischen Misshandlung einzuordnen ist.
Dieser Problemlage bewusst beschreiben
Garbarino & Gilliam bei ihren definitorischen Kriterien von Gewalt gegen Kinder neben der
3 Absicht des Handelnden, Gewalt auszuüben
und der
3 Wirkung der Gewalt auf das Opfer auch das
3 Problem der gesellschaftlichen Normierung
interpersonaler Gewalt (Godenzi 1996).
1.1 Physische Gewalt
Die „schwere“ Form der körperlichen Misshandlung oder des körperlichen Missbrauches zeigt
sich meist an deutlichen Zeichen wie z.B. Verbrennungen, Brüche, Schnitte, innere Blutungen, Quetschungen, Stichverletzungen, usw. Diese Verletzungen bedürfen meist einer medizinischen Versorgung. Godenzi (1996) spricht bei der „schweren“ Gewaltform von einer weniger sozial tolerierten Form.
Rensen (1992) beschreibt neben den bisher beschriebenen Formen der körperlichen Gewalt, noch
die „fötale Misshandlung“. Unter dieser Gewaltform fasst er z.B. Gewalttätigkeiten gegen eine
schwangere Frau (z.B. das Treten in den Bauch),
rauchen, chronischen Alkoholmissbrauch und
Missbrauch von Drogen zusammen.
Als eine weitere Form der Gewalt gegen Kinder
beschreibt Rensen (1992) die körperliche Vernach-
Verglichen mit anderen Varianten handelt es
sich bei der körperlichen Gewalt an Kindern um
eine eindeutigere – im Bezug auf sichtbare Folgen
(z.B. Verletzungen) – Form der Gewalt.
Bereits 1966 hat Asperger auf dem Deutschen
Kinderärztekongress in Berlin den Versuch einer
Definition von Misshandlung unternommen und
meint:
„Misshandlung ist jede in erzieherischer Absicht erfolgte Einwirkung auf das Kind, die nach
ihrem Grund, ihrer Stärke und ihrer Häufigkeit
eine bedeutende Schädigung hervorruft.“ (Asperger
zit. nach Ulonska & Koch 1997, S.33)
7 82 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
lässigung. Sie umfasst für ihn die Unterlassung von
medizinischer Hilfe, die Unterlassung von
Sicherheitsmaßnahmen (z.B. das Kind unbeaufsichtigt lassen) und die unzureichende Ernährung als
auch Pflege des Kindes.
1.2 Psychische Gewalt
Besonders die Form der psychischen/emotionalen Gewalt ist eine schwierig zu definierende Art
der Misshandlung und auf Grund der Probleme bei
ihrer Messbarkeit auch Gegenstand von wenigen
wissenschaftlichen Untersuchungen (Godenzi
1994).
Psychische Gewalt hinterlässt zwar keine
augenscheinlich sichtbaren „Narben“ wie es z.B.
bei der physischen Gewalt der Fall sein kann, hat
aber für das Kind ebenso „dramatische“ Folgen.
Die psychische Gewalt wird meist beschrieben
als Drohungen, Liebesentzug, verletzende verbale
Äußerungen und Redensarten, Abwendung und
Ablehnung, Zwänge, emotionales Erpressen,
besonders im Bereich der sexuellen Gewalt auch
mit einem Schweigegebot verknüpft, usw.
Rensen (1992) verweist bei der psychischen
Gewalt besonders auf die Ablehnung des Kindes,
die Korruption und das Terrorisieren von Kindern.
Die Gewaltanwendung bei der psychischen Vernachlässigung beschreibt er durch das Isolieren und
Negieren des Kindes durch die Erwachsenen.
Einige AutorInnen beziehen sich auf die
Problematik der Verletzung des Schamgefühls.
Wurmser stellt dar: „Bei jenen Traumata ist es das
,Nichtgesehenwerden‘, der Mangel an Respekt für
die Identität und Individualität, die Missachtung
der Bedürfnisse des eigenen Ausdrucks, der eigenen
Willensentscheidungen, des eigenen Rhythmus, der
eigenen, differenzierten Affektivität, der ein besonders wichtiges, wenn auch verborgenes Trauma ausmacht.“ (Leo Wurmser zit. aus Gottschalch 1997,
S. 20)
Gewalt in der Familie
Gottschalch (1997) stellt weiter fest, dass überall
dort, wo Individuen und Gruppen entehrt und entwürdigt werden, die Scham zu einem Instrument
des Schreckens und der Gewalt wird.
Bründel und Hurrelmann (1994) treffen bei
ihrer Beschreibung unterschiedlicher Gewaltformen eine Unterscheidung zwischen psychischer
und verbaler Gewalt. Die verbale Gewalt umfasst
für sie „die Schädigung und Verletzung eines anderen durch beleidigende, erniedrigende und entwürdigende Worte.“ (Bründel & Hurrelmann 1994,
S. 23)
In seiner Auseinandersetzung mit der Psychodynamik des sexuellen Missbrauches in der Familie
erweitert Hirsch die bereits genannten Formen um
folgende Bereiche, in denen es zur psychischen
Gewalt kommt, bzw. zum „emotionalen Missbrauch“, wie Hirsch ihn nennt:
3 Dass Eltern ihr Kind dazu verwenden, ihre narzisstischen Bedürfnisse zu befriedigen, indem die
Kinder die Fähigkeiten und Begabungen entwickeln müssen, die die Eltern für sich selbst
nicht verwirklichen konnten.
Richter nennt dazu folgende Möglichkeiten
einer narzisstischen Eltern-Kind-Beziehung:
(1) Das Kind soll wie die Eltern werden – also
Abbild von ihnen.
(2) Das Kind soll all die unerfüllten Wünsche
und Ideale der Eltern verwirklichen.
(3) Das Kind muss die Teile der Eltern übernehmen, die sie an sich selber ablehnen und verleugnen, damit diese stellvertretend über das
Kind für sie angreifbar werden.
3 Das Kind wird als Partnerersatz verwendet.
Richter nennt hier drei verschiedene Formen
des Partnerersatzes:
(1) Das Kind stellt für die Eltern die eigenen
Eltern oder gewisse Aspekte von ihnen dar.
(2) Das Kind dient als Ersatz für den Ehepartner und soll teilweise diesen übertrumpfen.
(3) Das Kind soll Geschwister der Eltern ersetzen.
7 83 3
3 Durch den „Terrorismus des Leidens“, d.h. beim
Kind werden durch chronische Krankheiten der
Eltern Schuldgefühle erzeugt.
Dieser Aspekt soll durch ein Zitat von Ferenczi
besser veranschaulicht werden: „Eine ihr Leiden
klagende Mutter kann sich aus dem Kind eine
lebenslängliche Pflegerin, also eigentlich einen
Mutterersatz schaffen, die Eigeninteressen des
Kindes gar nicht berücksichtigend.“
Hier wird dem Kind die Schuld für die Entstehung, bzw. für die Aufrechterhaltung einer
körperlichen (chronischen) Krankheit geben.
Neben diesen Formen der emotionalen Ausbeutung nennt Hirsch (1990) noch die Kindesmisshandlung und den sexuellen Missbrauch in der
Familie. Alle Formen haben für ihn gemeinsam,
dass die Bedürfnisse der Erwachsenen an die erste
Stelle geschoben werden. Die Bedürfnisse der
Kinder, die es im Eltern-Kind-Verhältnis primär zu
befriedigen gilt, werden nicht beachtet.
1.3 Sexuelle Gewalt
„Bis heute gibt es keine allgemeingültige wissenschaftliche Definition sexuellen Missbrauchs an
Kindern. Fest steht, dass sich kaum ein Bereich besser dafür eignet, Macht, Wut und Unterdrückung
auszuleben, als die Sexualität. Sexueller Kindesmissbrauch ist also ein Gewaltdelikt, bei dem Sexualität
bloß als Mittel zum Zweck dient. Er geht meist als
geplante, bewusste und gewaltsame physische und
psychische Schädigung des Kindes vor sich. Um es
nochmals zu betonen: Es handelt sich dabei in Wirklichkeit meist nicht um sexuelle Befriedigung, sondern um sexualisierte Gewalttätigkeit.“ (Friedrich
1998, S. 17)
Der Bereich der sexuellen Gewalt wurde jahrzehntelang aus dem öffentlichen Diskurs über Gewalt in der Familie ausgeklammert. Untersuchungen besonders zur physischen Gewalt in der
Familie haben eine längere Tradition als Untersuchungen zum Themenbereich der sexuellen Gewalt. Dank der feministischen und der Kinderschutzbewegung wurde gerade der Bereich der
sexuellen Gewalt gegen Kinder in den letzten
Jahren sehr stark diskutiert und war Gegenstand
von zahlreichen Untersuchungen.
Die intensive Auseinandersetzung mit diesem
Thema hat auch zu einer Vielzahl von unterschiedlichen Begriffen geführt, die versuchen, das Phänomen der sexuellen Gewalt an Kindern zu beschreiben.
Eine einheitlich abgegrenzte Definition von
sexueller Gewalt an Kindern findet sich jedoch in
der Literatur nicht. Julius & Boehme (1997) sprechen sogar vom Mythos einer gemeinsamen
Definition und verweisen auf die Begriffsvielfalt in
der englischen als auch in der deutschsprachigen
Literatur bezüglich sexueller Gewalt Amann &
Wipplinger (1995) haben die Vielfalt der deutschsprachigen Begrifflichkeiten für sexuelle Gewalt,
ihre Verwendung und die jeweiligen AutorInnen,
die diese Begriffe geprägt haben bzw. verwenden,
aufgezeigt. Eine Übersicht, die nicht den Anspruch
auf Vollständigkeit stellt, ist in der Tabelle II.1.1
dargestellt. (Wipplinger & Amann 1998, S. 15)
Bei dieser Vielzahl von unterschiedlichen Begriffen stellt sich die Frage, wie es überhaupt zur
Ausprägung von so vielen Termini kommen konnte.
Jede/r AutorIn wählt den Begriff für sexuelle
Gewalt an Kindern, der ihrem/seinem Weltbild,
politischem Hintergrund, Ideologie, wissenschaftlichem Bild oder Absicht entspricht. Julius &
Boehme (1997) fassen die Vielfältigkeit der Begriffe
folgendermaßen zusammen: „Insgesamt geht es bei
diesen begrifflichen Auseinandersetzungen um die
Wahrnehmung und Bewertung gesellschaftlicher
Macht- und Gewaltverhältnisse. Die Differenzen
der VertreterInnen oben genannter Begriffe begrenzen sich auf deren ideologische Bedeutungsumfelder. Hinsichtlich der konkreten inhaltlichen
Bedeutung sind die Begriffe jedoch austauschbar.
Dabei wird bei oberflächlicher Betrachtung der
7 84 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Eindruck erweckt, als ob alle wüssten, was mit
,sexuellem Missbrauch’, ,sexueller Ausbeutung’,
,sexueller Gewalt’ oder ,sexueller Kindesmisshandlung’ definiert ist, und dass hierüber Einigkeit
bestehe.“ (Julius & Boehme 1997, S.16).
Lercher macht diese unterschiedlichen Anwendungen des Begriffes in der Literatur und Forschung für die Missverständnisse und die Unsicherheiten bei diesem Thema verantwortlich (Lercher et
al. 1997).
Einige AutorInnen versuchen, die Vielfalt der
dargebotenen Definitionen durch bestimmte Kriterien einzuengen. Die so gebildeten definitorischen
Klassen haben keinen ausschließenden Charakter,
sie dienen der besseren Orientierung und Abgrenzung von Definitionen.
Wie bereits im Grundlagen-Teil besprochen,
kann die Vielfalt an unterschiedlichen Definitionen
nach ihren Inhalten klassifiziert werden. So können
die Definitionen in eng und weit gefasste Definitionen eingeteilt werden oder in unterschiedliche Klassen je nach dem Zweck der jeweiligen Definition (so werden z.B. werden gesellschaftliche,
rechtliche, feministische, entwicklungspsychologische bzw. Forschungsdefinitionen unterschieden).
An dieser Stelle werden jene Kriterien dargestellt, die in der Literatur speziell zur Thematik der
sexuellen Gewalt an Kindern, den Definitionen zu
Grunde liegen. Anhand dieser Kriterien wird der
Versuch einer Bewertung unternommen, inwieweit
eine Handlung als Missbrauch einzustufen ist oder
nicht. Diese sind in unterschiedlicher Anzahl und
Zusammensetzung in fast allen Definitionen wieder
zu finden. Der folgende Überblick (Tabelle II.1) bezieht sich auf in der Literatur diskutierte Kriterien.
3 Die Art der sexuellen Handlung
Der Hauptunterschied bei diesem Kriterium
besteht bei den verschiedenen Definitionen im
Ein- bzw. Ausschluss von Körperkontakt. Wird
z.B. eine sexuelle Handlung die vor einem Kind
vollzogen wird als sexuelle Gewalt definiert
oder nicht?
Gewalt in der Familie
3 Das Ausmaß und die Dauer der sexuellen
Handlung
In manchen Definitionen wird auf die
Zeitspanne, in der sexuelle Gewalt stattgefunden hat sowie auf mögliche Auswirkungen, die
sich in ihrer Schwere unterscheiden, eingegangen.
3 Sexueller Missbrauch durch Zwang und Gewalt
Einige AutorInnen erweitern die Definition von
sexueller Gewalt um das Kriterium von Zwang
und Gewalt. Diese kann physisch als auch psychisch erfolgen. Diskutiert wird auch, dass es sehr
viele subtile Mechanismen gibt, die nicht offensichtlich mit Zwang und Gewalt zu tun haben
(z.B. ein/e TäterIn, der/die das Kind glauben
macht, dass es sich um ein Spiel handelt), auch sie
werden unter dieses Kriterium gefasst.
3 Sexueller Missbrauch durch Blicke und Worte
Einigen AutorInnen weisen daraufhin hin, dass
es sowohl im nonverbalen als auch im verbalen
Bereich zu Handlungen kommen kann, die
einen Missbrauch darstellen.
3 Die Altersdifferenz zwischen Opfer und TäterIn
Die meisten Definitionen von Untersuchungen
fordern eine Altersdifferenz von fünf Jahren
zwischen Opfer und TäterIn. Bei dieser Beschränkung wird die sexuelle Gewalt, die Kinder
durch Jugendliche und Gleichaltrige erfahren
können, außer Acht gelassen, ebenso der psychische, biologische, soziale Entwicklungsstand
des Kindes.
3 Die Absicht der TäterInnen bzw. die Bedürfnisbefriedigung der Mächtigeren
Viele AutorInnen zeigen in ihren Definitionen
auf, dass der Missbrauch der sexuellen Bedürfnisbefriedigung der TäterInnen dient. Es wird
in der Literatur aber nicht nur die Befriedigung
der sexuellen Bedürfnisse des/der TäterIn diskutiert, sondern auch auf andere Bedürfnisse
eingegangen, die der/die TäterIn durch die
sexuelle Gewalt befriedigt. Hier werden z.B.
narzisstische Bedürfnisse auf Macht und An-
7 85 3
Tabelle II.1:
Definitionen und Termini – Unterschiedliche Verwendung der Begrifflichkeiten
Termini
Einige Beispiele für unterschiedliche Verwendung
der Begrifflichkeiten
sexuelle Gewalt
Brockhaus und Kolshorn (1993) verwenden „sexuelle Gewalt“ und
„sexuelle Ausbeutung“ synonym. „Sexuelle Gewalt“ schließt bei ihnen
den Terminus „sexueller Missbrauch“ ein.
Auch bei Glöer und Schmiedeskamp-Böhler (1990) werden „sexuelle
Gewalt“, „sexuelle Misshandlung“, „sexueller Missbrauch“, „sexuelle
Ausbeutung“ und „sexuelle Übergriffe“ gleichgesetzt.
Hartwig (1990) benutzt die Termini „sexueller Missbrauch“, „sexuelle
Ausbeutung“ und „sexuelle Gewalt“ nahezu synonym, betont jedoch
unterschiedliche Aspekte. Mit dem Begriff „sexuelle Gewalt“ hebt sie
die gesellschaftlichen Bedingungen bei sexueller Gewalt hervor.
sexueller Missbrauch
Hartwig (1990) verwendet die Termini „sexueller Missbrauch“, „sexuelle Ausbeutung“ und „sexuelle Gewalt“ nahezu synonym. Sie bevorzugt
jedoch den Begriff des „sexuellen Missbrauchs“, wenn es um die
Familie und deren Umfeld geht.
Auch Wirtz (1989) schlägt vor, die Begriffe „sexueller Missbrauch“ und
„sexuelle Ausbeutung“ synonym zu verwenden. „Sexuelle Ausbeutung“
hebt für sie die Komponente der Macht und Unterdrückung hervor.
„Sexuellen Missbrauch“ verwendet sie, da es der gebräuchlichste
Begriff ist.
Für Kiper (1994) weist „sexueller Missbrauch“ auf den Zusammenhang
mit der gesellschaftlichen Gewalt hin, durch den Kinder ausgebeutet
werden. „Inzest“ verwendet sie, um die Einbettung des Kindes in
Familienkonflikte und die daraus resultierenden ambivalenten Gefühle
hervorzuheben.
Der Terminus „sexueller Missbrauch“ wird von mehreren AutorInnen
kritisch gesehen. Die Bezeichnung des sexuellen Missbrauches legt die
Vermutung nahe, dass eine Person richtig oder falsch benützt werden
kann, d.h. dass es auch einen legitimen sexuellen Gebrauch geben
kann. Die Bezeichnung des „Gebrauchtwerdens“ von Personen
erscheint fragwürdig. (Gloor & Pfister, 1995; Kupffer, 1989; van Vugt &
Besemes, 1990)
sexuelle Misshandlung
Glöer und Schmiedeskamp-Böhler (1990) setzten die Termini „sexuelle
Misshandlung“, „sexueller Missbrauch“, „sexuelle Gewalt“, „sexuelle
Ausbeutung“ und „sexuelle Übergriffe“ gleich.
7 86 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Remschmidt (1989) differenziert zwischen „sexuellem Missbrauch“ und
„sexueller Misshandlung“. Im Unterschied zu sexuellem Missbrauch
spricht Remschmidt von sexueller Misshandlung wenn es zu einer
Gewaltanwendung kommt und zu sexuellen Aktivitäten, die gegen den
Willen der Kinder geschehen.
Gewalt gegen Kinder
Martinius und Frank (1990) und Trube-Becker (1987) subsumieren unter
„Gewalt gegen Kinder“ die Begriffe „sexuellen Missbrauch“,
„Kindesmisshandlung“ und „Vernachlässigung“.
sexuelle Gewalt gegen Mädchen
Kavemann und Lohstöter (1986) wollen durch diese Begrifflichkeit
darauf aufmerksam machen, dass die Mehrzahl der Opfer Mädchen sind.
sexueller Missbrauch an Mädchen Gutjahr und Schrader (1988) wählen den Begriff „sexueller Missbrauch
an Mädchen“, da eine Bezeichnung wie „sexueller Missbrauch von
Mädchen“ zu der Interpretation verleiten könnte, dass betroffene
Mädchen selbst Initiative zu dieser Handlung ergreifen und somit selbst
zur Täterin werden.
sexuelle Ausbeutung
Wirtz (1989) schlägt vor, die Begriffe „sexueller Missbrauch“ und
„sexuelle Ausbeutung“ synonym zu verwenden. Sexuelle Ausbeutung
hebt für sie die Komponente der Macht und Unterdrückung hervor.
Sexuellen Missbrauch verwendet sie, da es der gebräuchlichste Begriff
ist.
Hingegen sprechen Hotaling und Finkelhor (1988) von „sexueller
Ausbeutung“, wenn es um die Erzeugung von Kinderpornografie und
die Vorführung von sexuellen Handlungen durch Kinder geht.
Hartwig (1990) benutzt die Termini „sexueller Missbrauch“ und „sexuelle Ausbeutung“ sowie „sexuelle Gewalt“ nahezu synonym, betont
jedoch unterschiedliche Aspekte. Den Begriff sexuelle Ausbeutung verwendet sie, wenn die Intention der Handlung in den Vordergrund tritt.
Seelenmord
Wirtz (1989) drückt mit dem Begriff „Seelenmord“ die
Unmenschlichkeit und die Vernichtung der menschlichen Würde durch
sexuelle Gewalt aus. Kinder können nicht mehr so denken und fühlen
wie andere Kinder, die Folge ist die Zerstörung der Person und ihrer
sexuellen Identität.
Inzest
Für Moggi (1991) ist „Inzest“ auf sexuelle Kontakte zwischen den
Mitgliedern einer Kernfamilie beschränkt. Es geht ihm nicht primär um
die genetische Verwandtschaft, sondern um Bindung zwischen Eltern
und Kindern. Für Kontakte mit anderen Verwandten schlägt er den
Terminus „intrafamilialer Missbrauch“ vor.
Gewalt in der Familie
7 87 3
Tabelle II.1: Fortsetzung
Definitionen und Termini – Unterschiedliche Verwendung der Begrifflichkeiten
Inzest (Fortsetzung)
Wolfe und Wolfe (1988) dagegen fassen unter „Inzest“ jeden sexuellen
Kontakt zwischen allen Verwandten, ganz unabhängig vom
Verwandtschaftsgrad.
Einige AutorInnen erweitern den Begriff des „Inzestes“ auch auf nichtverwandte Personen. So setzt Marquit (1986) eine Autoritätsposition
der nicht-verwandten Person dem Kind gegenüber voraus, um von
Inzest zu sprechen. Tierney und Corwin (1983) heben zum Autoritätsauch das Vertrauensverhältnis der nicht verwandten Personen hervor.
Für Trepper und Barrett (1991) sind die Begriffe „Inzest“, „inzestuöser
Übergriff“, „Belästigung“ und „intrafamiliärer sexueller Übergriff“ austauschbar.
Kiper (1994) betont dabei die Einbettung des Kindes in
Familienkonflikte und die daraus resultierenden ambivalenten Gefühle.
„Sexueller Missbrauch“ weist für sie auf die Ausbeutung von Kindern
durch die gesellschaftliche Gewalt hin.
Um den Gefühlen der Betroffenen gerecht zu werden sprechen Van
Vught und Besems (1990) von „Inzest“, da der Begriff des sexuellen
Missbrauchs von ihnen kritisch gesehen wird. Bei dem Begriff „sexueller Missbrauch“ kann man den Eindruck gewinnen, dass man eine
Person richtig oder falsch „gebrauchen“ kann und sie somit zu einem
Gebrauchsgegenstand degradiert. Sexueller Missbrauch hat für sie eine
stigmatisierende Wirkung und lässt den Betroffenen wertlos und
schmutzig erscheinen.
erkennung, Nähe, Körperkontakt angeführt.
Diese nicht-sexuellen Bedürfnisse werden jedoch in sexualisierter Form ausgelebt.
3 Die Beziehung zwischen Opfer und TäterInnen
Ein wesentliches Kriterium, das eine Handlung
zur sexuellen Gewalthandlung macht, ist die
Beziehung, die zwischen Opfer und TäterInnen
besteht. Die/der TäterIn nutzt ihre/seine Autoritäts- bzw. Machtposition gegenüber dem
Opfer aus. D.h. es geht hier um ein gesellschaftlich bedingtes Machtgefälle und um einen
Machtmissbrauch durch den/die TäterIn.
3 Die mangelnde Einfühlung des Täters, der
Täterin
Dieser Aspekt weist darauf hin, dass die TäterInnen sich oft nicht der massiven Konsequenzen
ihrer Tat für die Entwicklung des Opfers bewusst sind, im Gegenteil noch positive Aspekte aus
ihrer Sicht definieren.
3 Das Alter, bzw. der Entwicklungsstand des
Opfers
Die meisten Definitionen fassen Kinder bis zum
Alter von 16 Jahren. Eine Spannbreite für diese
Altersbegrenzung besteht von 14 bis 18 Jahren.
Bei der Festsetzung von sexueller Gewalt durch
7 88 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
realer Inzest
Hirsch (1987) weist mit dem Begriff „realer Inzest“ auf den tatsächlich
statt gefundenen sexuellen Missbrauch hin. Somit wird eine
Abgrenzung zu Freuds psychoanalytischer Theorie des Ödipuskomplexes vorgenommen.
Intrafamilialer sexueller Missbrauch Fegert (1987) wählte diese Wortkombination, da sie im Besonderen den
Machtmissbrauch, dem die Kinder in der Familie ausgeliefert sind,
betont. Außerdem umgebe den Begriff „Inzest“ ein wie auch immer
gearteter sexueller Reiz.
Für Moggi (1991) bedeutet „intrafamilialer“ Missbrauch sexuelle
Kontakte mit Verwandten. Kontakte zwischen Eltern und Kind
bezeichnet er als Inzest.
Vater-Tochter-Vergewaltigung
Brownmiller (1987) versucht eine Grenze zum Inzest zu ziehen. „Inzest“
vermittelt für sie einen geschlechtsneutralen Eindruck. D.h. Inzest
kommt zwischen Mutter und Sohn genauso oft vor, wie zwischen Vater
und Tochter. Auch erfasst der Begriff Inzest den Schweregrad der Tat
nicht adäquat, somit prägte sie den Begriff „Vater-TochterVergewaltigung“.
Beziehungsschande
Rust (1986) führt den Begriff „Beziehungsschande“ ein, da für sie die
Begriffe „Inzest“ und „sexueller Missbrauch“ nur anhand des Grades
der Blutsverwandtschaft unterschieden werden. Dies ist irreführend und
unbedeutend, wenn man die Folgen von Missbrauch in Betracht zieht.
Nach (Wipplinger & Amann 1998).
eine Altersbeschränkung wird der psychologische Entwicklungsstand des Kindes außer Acht
gelassen.
3 Das wissentliche Einverständnis des Opfers
Kinder und Jugendliche können auf Grund
ihrer kognitiven, emotionalen und psychischen
Entwicklung einer sexuellen Handlung nicht
zustimmen und/oder die Bedeutung dieser verstehen. Neben dem Aspekt der entwicklungsbedingten Unreife, wird von einigen AutorInnen
auch immer wieder die Frage gestellt, inwieweit
Kinder und Jugendliche in der Lage sind, übergreifende Handlungen abzulehnen.
Gewalt in der Familie
In diesem Sinne ist Julius überzeugt, dass ein
Kind nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer
sexuellen Handlung eines Erwachsenen voll zu
begreifen und somit dieser Handlung auch nicht
bewusst zustimmen oder diese ablehnen kann
(Julius & Boehme 1997).
3 Die Geheimhaltung
Diesen wichtigen Aspekt im Tatzyklus
beschreiben einige AutorInnen. Damit wird die
Dynamik des Missbrauchs, der das Kind ausgesetzt ist, noch deutlicher.
7 89 3
3 Die Missachtung des kindlichen Willens
Besonders Problematisch ist bei sexueller Gewalt jene Form, die angeblich nicht gegen den
kindlichen Willen geschieht. Hier wird außer
Acht gelassen wird, dass die Zustimmung des
Kindes als eine Umdeutung der Situation, bzw.
als eine reine Überlebensstrategie des Kindes zu
verstehen ist.
3 Sich missbraucht fühlen
Dieses Kriterium wird kontrovers diskutiert, da
sexuelle Gewalt traumatische Folgen haben
kann, auch wenn das Kind sich nicht missbraucht fühlt. Das eigene Erleben ist neben den
tatsächlichen Handlungen auch abhängig vom
eigenen Selbstbild und von gesellschaftlichen
Normen und Werten.
3 Die Folgen des Missbrauchs
Das Kriterium, dass sexuelle Handlungen und
Erfahrungen spezifische Folgen nach sich ziehen müssen, wird kritisch gesehen. Bei sexueller
Gewalt kann man nicht von einem punktuellen
Erlebnis ausgehen. Der sexuellen Gewalt unterliegt eine Dynamik, die auch viel später zu
Folgeerscheinungen führen kann. Von einigen
AutorInnen wird auch angemerkt, dass sexuelle
Gewalt Folgen haben kann, aber nicht zwingend haben muss.
3 Die kulturellen Hintergründe der Tat
Einige AutorInnen erachten es als wichtig, auf
den kulturellen Kontext, in dem sexuelle Gewalt stattfindet, hinzuweisen
1.4 Zusammenfassung
Innerhalb der einzelnen Gewaltformen finden
sich in der Literatur unterschiedliche Definitionen,
die auf Grund verschiedener Kriterien zu Stande
kommen. Besonders bem Begriff der sexuellen
Gewalt lässt sich aus diesem Grund in der Literatur
kein einheitlicher Konsens bezüglich einer Definition finden. Dies wird anhand der Vielzahl unterschiedlicher Begrifflichkeiten bei dieser Gewaltform deutlich.
In der jüngsten Literatur sind sich die meisten
AutorInnen einig, dass während einer Gewalthandlung gegen Kinder verschiedene Formen von
Gewalt angewendet werden (Bommert 1993, Haller
et al. 1998; Friedrich 1998). Viele Gewalthandlungen stellen eine Kombination aus den oben angeführten Gewaltformen dar. Eine scharfe Abgrenzung der Bereiche ist nur schwer vorzunehmen.
(Wipplinger & Amann 1998; Julius & Boehme
1997).
7 90 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
2 Ein kurzer historischer Abriss
über Gewalt gegen Kinder
Gabriele Buchner, Brigitte Cizek
Um eine Diskussion über Gewalt gegen Kinder
und mögliche Veränderungen in der Sichtweise dieser Problematik überhaupt zu ermöglichen, bedarf
es zunächst einer Skizzierung der historischen Bedingungen rund um diese Thematik. Hierbei wird
ein breiter Zeithorizont angelegt, um zu verdeutlichen, wie Gewalt gegen Kinder bzw. Ausprägungen
davon seit jeher gesellschaftlich praktiziert, akzeptiert bzw. geduldet waren (und teilweise noch
immer sind). Zuletzt wird der Entwicklungsverlauf
in Bezug gesetzt zu heutigen Formen von Gewalt
gegen Kinder.
2.1 Gewalt gegen Kinder –
ein Blick in die Vergangenheit
Bereits vor Jahrhunderten waren Bestrafung,
Züchtigung, Drohung mit Liebesentzug, Demütigung, Spott und Verachtung geläufige Praktiken
im Umgang mit Kindern. Diese Methoden waren
gesellschaftlich akzeptiert, weil man davon überzeugt war, auf diese Art und Weise Ordnung und
Disziplin anerziehen zu können. So erschienen
diese Praktiken erstens am geeignetsten zur Vermittlung von Werten und Normen und zweitens
galten sie als gottgefällig oder böse Geister vertreibend. Allerdings blieb es nicht nur bei diesen „gewöhnlichen“ Formen der Kindesmisshandlung,
sondern die Praxis reichte weiter bis zur sexuellen
Gewalt, Verstümmelung, Aussetzung und Tötung
(Radbill 1978).
Kinder waren sämtlichen Formen von Gewalt
und Unterdrückung ausgesetzt (DeMause 1980).
Zum Beispiel verweisen bereits Heldenerzählungen, Klagelieder und Gesetze der Sumerer vor
etwa 5000 Jahren auf Kindesmisshandlung und
Kindesmord. Die Tötung speziell von Neugeborenen war zumeist die einzige Lösung, um die
Kinderzahl begrenzt zu halten. Letztlich war diese
Vorgehensweise ein Substitut für unzulängliche
Gewalt in der Familie
Techniken der Verhütung und diente dem Überleben der Gruppe (Janssen-Jurreit 1976).
Größtenteils erfolgten die Kindestötungen in
Form von Aussetzung, Ertränken, Erdrosseln, Ersticken, Lebendig-Begraben, Verbrennen und
Totschlagen, dies besonders in der römischen und
hellenistischen Zeit (Radbill 1968). Hier zählte die
gewaltsame physische und psychische Beeinträchtigung von Kindern zum selbstverständlichen
Recht der Eltern, Bezugspersonen und Erwachsenen (Mansoureh-Banou 1998). Gerade die Tötung von schwachen oder verunstalteten Kindern
war weit verbreitet. Radbill (1978) hat versucht,
Gründe für die Tötung von Kindern zusammenfassend darzustellen:
3 Kindestötung zur Bevölkerungskontrolle (insbesondere bei Völkern, die keine Empfängnis
verhütenden Maßnahmen kannten);
3 Kindestötung auf Grund von Illegitimität (aus
Scham oder wegen fehlender finanzieller
Mittel);
3 Kindsmord auf Grund unzureichender Ernährung (z. B. zu wenig Milch zum Stillen) oder weil
ein Tabu bestand, dass sich der Gatte während
der Stillzeit nicht seiner Frau nähern durfte;
3 Kindestötung aus Geldgier (Ammen kassierten
das Pflegegeld und beseitigten sodann die
Babys) und Machtgier (z. B. Furcht der Könige,
durch neue Erben ihren Thron zu verlieren);
3 Kindsmord aus Aberglauben (Zwillinge, Missgeburten, angeborene Gebrechen, geistige Behinderung oder Geburt bei schlechten astrologischen Zeichen wurden häufig als Unheil angesehen);
3 Kindsmord zur rituellen Opferung (zur Förderung der Fruchtbarkeit, Steigerung der Ernte
oder Vorbeugung von Missernten und Naturkatastrophen);
3 Kindestötung auf Grund von Kannibalismus
(extreme Hungersnot oder die Vorstellung, dass
Fleisch und Blut von erschlagenen Kindern
sowohl Gesundheit und Kraft fördere als auch
Jugendlichkeit verleihe).
7 91 3
In einer Demografie der Kindestötung
(DeMause 1980) wird das vermutlich enorme Ausmaß der Kindermorde deutlich: Demnach wird z.
B. angenommen, dass in der Antike und im frühen
Mittelalter zwischen einem Drittel und der Hälfte
aller neugeborenen Babys getötet wurden
(Mansoureh-Banou 1998).
Im antiken Griechenland waren weiters Knabenprostitution und Päderastie (d.h. „Knabenliebe“
seitens erwachsener Männern inkl. körperlichsexuellem Kontakt) geläufig. So schwärmten reife
Männer von den „haarlosen Schenkeln“ ihrer Knabengeliebten, die sie mit wertvollen Kriegsausrüstungen beschenkten (Braith 1988). Die Männer
nahmen dabei sowohl die Rolle des Liebhabers als
auch jene des Erziehers ein. Sie sahen es als ihre
Aufgabe, ihren Jüngling allmählich in die gesellschaftlichen Aktivitäten (z. B. in eine politische
Runde oder eine Schule) einzuführen (Grandt et al.
1999). War homosexueller Verkehr mit freien
Knaben gesetzlich verboten,1 so hielten sich die
Männer hierfür Sklavenjungen. Weiters wurden
Kinder (Mädchen wie Buben) als eine erste Form
der Schuldentilgung entweder in die Prostitution
verkauft oder verpfändet.
Als sich der christliche Glaube zunehmend auszubreiten begann, wurde zwar dem Kindermord
Einhalt geboten, jedoch blieb die Gewaltanwendung gegen Kinder nach wie vor bestehen. Die
Vermittlung von Gehorsamkeit gegenüber den
Eltern, Autoritätsglauben und Besitzdenken zählte
zu den obersten Prämissen der christlich-patriachalischen Erziehung2 (siehe auch Teil I, Kapitel 2).
1
2
„Der sexuelle Missbrauch kleiner Kinder durch Erzieher,
Pädagogen und Lehrer ist wahrscheinlich in der ganzen
Antike üblich, obgleich es viele Gesetze gibt, um den
sexuellen Mißbrauch von Kindern durch Erwachsene
einzuschränken“ (Amann 1998, S. 41f).
„Das Tötungsrecht verschwand, dagegen wurde dem
elterlichen Züchtigungsrecht und der damit verbundenen, zur Kindesmisshandlung führenden Überschreitung nirgends rechtliche Grenzen gesetzt“ (Ullrich 1964,
S. 18).
Die Bedürfnisse der Kinder blieben dabei vollkommen unberücksichtigt. Im Christentum fand aber
auch sexuelle Gewalt gegen Kinder weite Verbreitung. Kleine christliche Mädchen wurden für
Geld und Macht als Ehefrauen eingetauscht. Zwar
beschloss die katholische Kirche im Mittelalter ein
Ehegesetz, in dem die weibliche Mündigkeit mit
zwölf Jahren festgesetzt wurde. Diese Bestimmung
blieb jedoch in der Praxis größtenteils unberücksichtigt – Ehen alter Männer mit Kindern fanden
nach wie vor statt (Braith 1988).
Im historischen Verlauf hatte die Bibel für das
Christentum prägenden Charakter in vielen Fragen
der gesellschaftlichen Entwicklung – sie war normenbildend im Umgang und in der Behandlung
von Kindern, denn sie diente der Rechtfertigung
gewaltsamer Züchtigung von Kindern (Ludmann
1996).
Es sollte hierbei jedoch nicht unterschlagen
werden, dass sie, v.a. im Neuen Testament, auch
menschliche Forderungen nach Versöhnung, Hilfe,
Beistand für den Nächsten und Liebe enthält. Doch
insgesamt interpretiert Ludmann (1996) die Bibel
als „ein Buch der Macht und Gewalt, die den Gläubigen nicht nur das Recht zur Gewaltausübung einräumt, sondern ihm auch ein reines Gewissen verschafft. Denn alle Gewalt die er erleidet und ausübt,
ist Gottes Wille.“ (Ludmann 1996, S. 48). Diese
Herrschaft Gottes über die Menschen wurde demnach von den Erwachsenen mit dem eigenen Herrschen über ihre Kinder gleichgesetzt. Die Erziehung der „Zöglinge“ betrachtete man als ständige
„Schlacht“ und erforderlichen „Kriegsdienst“
(Ludmann 1996).
In der Neuzeit und im Barock fand zu Zeiten
der Hexenverfolgungen auch die Inquisition von
Kindern statt. Dabei wurden sie zumeist der „Kopulation mit dem Teufel“ bezichtigt und zum Feuertod verurteilt. Dieser Kopulationsvorwurf war stets
Ergebnis einer zuvor vollzogenen Vergewaltigung
durch einen Priester oder Adeligen (Braith 1988).
Gemäß Wirtz (1993) erschien es offenbar einfacher,
Frauen und Kinder als Hexen zu verurteilen und
7 92 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
damit die „reale sexuelle Gewalt zu vertuschen“ als
„die Kirchenvertreter zur Rechenschaft zu ziehen“
(Wirtz 1993, S. 60).
In der Zeit des Barocks häuften sich Kinderbordelle, -handel und -pornografie. Sexuelle Kontakte mit Kindern waren beliebt – der Analverkehr
mit kastrierten Knaben wurde dabei als besonders
anregend empfunden. Säuglinge und Kleinkinder
mussten, bevor sie in ein Bordell verfrachtet wurden, eine schmerzhafte Kastration über sich ergehen lassen. Nach DeMause (1980) wurden kleine
Buben oftmals schon in der Wiege kastriert. Dabei
bediente man sich zum Beispiel der Methode, die
Hoden der Kinder so lange mit den Fingern zu
drücken, bis sie verschwunden waren oder auch die
Hoden mit dem Messer herauszuschneiden, um
diese dann für magische Zwecke zu verwenden.
Erste Campagnen gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern entstanden in der Renaissance,
allerdings gelang bis in das 19. Jahrhundert hinein
kaum eine breite öffentliche Sensibilisierung für das
Problem (Trube-Becker 1998). Erst zu Beginn des
20. Jahrhunderts wandelte sich das gesellschaftliche
Bild vom Kind als Gegenstand und Eigentum der
Eltern zu jenem eines eigenständigen einmaligen
Lebewesens (vgl. Teil I, Kapitel 2). Zudem kam man
zur Erkenntnis, dass bereits im Säuglingsalter
Gefühle wie sexuelle Regungen und Schmerzen
bestehen, die tief im Unterbewusstsein verankert
bleiben (Trube-Becker 1983; Trube-Becker 1998).
Besonders durch Freud (1905) und seine (später
wieder verworfene) Verführungstheorie3 wurde der
3
Freud betonte in seinem Werk „Zur Ätiologie der
Hysterie“ seine Erkenntnis, dass jedem Fall von
Hysterie „ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger
sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend
angehören“ zugrundeliegen (Freud 1896/1997, S. 67).
Diese Ansicht (der sogenannten Verführungstheorie)
revidierte er jedoch einige Jahre später. „Ich mußte dann
doch erkennen, diese Verführungsszenen seien niemals
vorgefallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten
erdichtet“ (Masson 1995, S. 41).
Gewalt in der Familie
Kindheit in dieser Hinsicht eine besondere Beachtung sowohl seitens der PsychologInnen, als auch
von AnthropologInnen, SoziologInnen und MedizinerInnen geschenkt.
Dem Prozess der öffentlichen Anerkennung
und Problematisierung von sexueller Gewalt gegen
Kinder ging ein Sensibilisierungsprozess hinsichtlich der körperlichen Gewalt gegen Kinder voraus.
Da die strenge körperliche Bestrafung lange Zeit
eine vom Glauben gerechtfertigte Methode darstellte, um Disziplin aufrecht zu erhalten und Werte
einprägsam anzuerziehen, dauerte es dementsprechend lange, bis körperliche Gewalt im öffentlichen
Diskurs problematisiert wurde. Philosophen,
Eltern, Lehrer, Priester – viele glaubten, dass die
Prügelstrafe „das einzige Heilmittel für die im
Herzen der Kinder wohnende Torheit“ sei (Helfer
und Kempe 1978, S. 37f). Obwohl gegen das
Schlagen von Kleinkindern für eine Zeit lang sogar
Einwände erhoben wurden, die auch eine Milderung mit sich brachten, erfolgte mit dem Calvinismus (v.a. in den angelsächsischen Ländern) die
Wiedereinführung der Prügelstrafe.
Dabei bestand der hauptsächliche Sinn dieser
körperlichen, institutionellen und psychischen
Gewaltanwendung an Kindern darin, ihren eigenen
Willen zu brechen.
„(...) Wo der Eigensinn und die Bosheit nicht
vertrieben werden, da kann man unmöglich einem
Kinde eine gute Erziehung geben. Sobald sich also
diese Fehler bei einem Kinde äußern, so ist es hohe
Zeit, dem Übel zu wehren, damit es nicht durch die
Gewohnheit hartnäckiger und die Kinder ganz verdorben werden. (...) Die Kinder vergessen mit den
Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit
begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen
benehmen, so erinnern sie sich hernach niemals
mehr, dass sie einen Willen gehabt haben und die
Schärfe, die man wird brauchen müssen, hat auch
eben deswegen keine schlimmen Folgen.“ (Sulzer
1748; zit. in Rutschky 1993, S. 173-176).
Dieser Erziehungsstil der Unterdrückung des
eigenständigen Willens wird als „schwarze Päda-
7 93 3
gogik“ (Rutschky 1993) bezeichnet.4 Relevanz
erhielten diese Grundzüge der Kindererziehung
vorwiegend im 18. Jahrhundert (dem so genannten
Jahrhundert der Erziehungseuphorie), die in Form
von erziehungstheoretischen Schriften festgehalten
wurden.
Das Bild vom Kind war geprägt von tradierten
Ansichten und Geboten. So herrschte zum Beispiel
die Meinung vor, dass Kinder von Grund auf
schlecht und böse seien und diesem Bösen „mit
unablässigem und unnachgiebigem Ernst entgegengearbeitet werden“ sollte (Rutschky 1993, S. 149).
Jene Erziehungsarbeit war mit einer permanent
gewaltsamen, körperlichen Züchtigung verbunden
und letztlich, laut Ludmann, ein Ausdruck der
Ohnmacht. Denn der Erzieher wusste offenbar
kein anderes Mittel als die Demonstration und
Ausübung der eigenen Macht gegenüber dem
schwächeren Kind und der ständigen Forderung
nach einer Unterwerfung (Ludmann 1996). Auch in
öffentlichen Erziehungseinrichtungen wie Schulen
und Heimen bestand das Recht auf Züchtigung –
welches häufig unter Vollzug der Prügelstrafe ausgeübt wurde. Nicht selten verwendete man hierfür
eine Rute als Instrument. Hilfsmittel wie der Haseloder Rohrstock schienen als geeignete Utensilien,
um eine Strafe in gehöriger Distanz zum Kind und
zur Tat ausüben zu können. „Fremde Hilfsmittel
nehmen (...) eine neutrale Funktion ein. Sie verkörpern für das Kind die Gerechtigkeit.“ (Weber 1966,
S. 23).
Die Anerziehung von „tugendsamen Werten“,
wie Gehorsamkeit, Fleiß und Strebsamkeit gewann
besonders im 19. Jahrhundert an Priorität. Der
Grund lag in der zunehmenden Industrialisierung,
die den Bedarf an disziplinierten Arbeitskräften,
d.h. Personen mit möglichst geringen Ansprüchen
und der Bereitschaft 14 bis 16 Stunden zu arbeiten,
ansteigen ließ (Ludmann 1996). Kinder wurden
zunehmend in Fabriken und Kohlengruben einge-
4
setzt – und ausgebeutet: Sie mussten unbefristete
Tag- und Nachtarbeit leisten. Dies ging v.a. zulasten
ihrer Gesundheit. Aber auch ihr intellektueller
Horizont blieb zum Teil äußerst beschränkt. Viele
blieben Analphabeten oder waren außer Stande,
einfache Fragen zu beantworten (Donath 1987).
Mit dem Ausklingen des 19. Jahrhunderts erfuhr die Kindheit eine erste Aufwertung. Dem ging
eine „Verhäuslichung“ der Kindheit voraus, die sich
mit dem Entstehen des Kapitalismus und der bürgerlichen Kleinfamilie im 19. Jahrhundert allmählich mehr und mehr herauskristallisierte. Dabei traten Kindheitsideologien in den Vordergrund, die
von einer „Kindheit im Schutz- und Schonraum
‚Familie‘“ ausgingen5 (Strasser 1998, S. 29). Das
öffentliche Züchtigungsrecht wurde schließlich im
19. Jahrhundert – gleichzeitig mit dem Züchtigungsrecht gegenüber dem Gesinde – abgeschafft.
In der Familie jedoch blieb das Züchtigungsrecht
gegenüber den Kindern bis in das 20. Jahrhundert
hinein nach wie vor aufrecht – dies allerdings in
einer tabuisierten Form: „Tabuisierung des familiären Innenlebens bei gleichzeitiger völliger Überforderung der emotionalen Möglichkeiten der
Familie war somit der beste Nährboden für Gewalt.“ (Strasser 1998, S. 30).
Als Rechtssubjekte wurden Kinder letztlich erst
im 20. Jahrhundert anerkannt, als Kindesinteressen
auch tatsächlich in der Judikatur verankert wurden.
Es entstanden Kinderschutzbewegungen und allmählich wurden Kinderschutzgesetze6 geschaffen
(z.B. Jugendwohlfahrtsgesetz7) (Zenz 1981).
5
6
7
Siehe Teil I, Kapitel 2.1.
7 94 3
Siehe Teil I, Kapitel 2.1.
Siehe Teil I, Kapitel 5.
Das Jugendwohlfahrtsgesetz setzte grundsätzlich beim
Recht des Kindes an. Im Allgemeinen Bürgerlichen
Gesetzbuch dagegen, das vom Recht der Eltern ausging,
wurde die Abschaffung des Züchtigungsrechts gegenüber Kindern erst im Jahr 1978 in Österreich vollzogen
(Strasse 1998, S. 24).
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
2.2 Gewalt gegen Kinder – heute
Führt man sich die historischen Entwicklungen
bezüglich Gewalt gegen Kinder vor Augen, könnte
man meinen, dass in Anbetracht der mittlerweile
bestehenden gesetzlichen Vorkehrungen, des
gestiegenen Status der Kinder, der sinkenden
Fertilität und des vergleichsweise hohen Wohlstands westlicher Industriestaaten etc., kaum noch
Gewalt gegen Kinder bestünde.
Dennoch ist das Ausmaß an physischer, psychischer und sexueller Gewalt nach wie vor beträchtlich. Zum Beispiel wird anhand einer im Jahr 1991
durchgeführten Studie über familiäre Gewalt gegen
Kinder in Österreich (Wimmer-Puchinger et al.
1991) festgestellt, dass der überwiegende Teil der
Eltern psychische und körperliche Gewalt gegen
ihre Kinder als Erziehungsmaßnahme ausüben und
ca. 30%, d.h. beinahe ein Drittel aller befragten
Eltern, ihren Kindern gegenüber schwere physische
Gewalt anwendeten.
Während schwere Kindesmisshandlung und
Kindestötung in den westlichen Industriestaaten
zwar weitgehend geächtet sind, bleibt die körperliche Züchtigung dagegen im Bewusstsein weiter
Kreise der Bevölkerung ein akzeptiertes Mittel der
Erziehung. „Das Schlagen der eigenen Kinder ist
wie zu allen Zeiten ein gesellschaftlich zugestandenes Vorrecht der Eltern.“ (Ludmann 1996, S. 26).
Familiale physische Gewalt gegen Kinder gilt
auch heute noch gesellschaftlich als nicht sanktionswürdig, da sie nach wie vor zu den erziehungswirksamen Methoden zählt. Jedoch ist sie heute in
Österreich keine unumstrittene Erziehungspraktik:
Bei Anwendung – v.a. von „härteren Formen“ –
physischer Gewalt gegen die eigenen Kinder gerät
man unter Erklärungszwang8 (Ludmann 1996) und
macht sich darüber hinaus strafbar.
8
Siehe auch Kapitel 5.2.1.1.
Gewalt in der Familie
International gesehen hat sich, trotz der bestehenden Gesetze zum Schutz der Kinder und der
inzwischen bestehenden UN-Konvention über die
Rechte der Kinder, an der Praxis, eigene Kinder zu
schlagen bisweilen wenig geändert. So ist zwar in
den reichen Ländern mehrheitlich eine breite soziale Absicherung für Kinder gegeben, jedoch gilt zum
Beispiel das Verbot der Kinderarbeit für die so
genannten Entwicklungsländer nicht. Dort müssen
Kinder für einen Hungerlohn schwere manuelle
Arbeit verrichten, damit die Produkte in den
Industriestaaten zu Billigpreisen verkauft werden
können (z. B. Nepal). Zudem wird in Reportagen
wiederholt von Gewaltvorfällen gegen Kinder, die
in manchen Ländern zum Teil noch selbstverständlich und gesellschaftlich akzeptiert sind, berichtet.
Ludmann spricht davon, dass sogar Kindestötungen wie zum Beispiel das Ertränken von erstgeborenen Mädchen in China oder die Ermordung von
unehelichen Kindern in Indien (aus Gründen der
Mitgift oder der Stigmatisierung von allein stehenden Müttern) noch immer vorkommen (Ludmann
1996). Ebenso wird von Verstümmelungen wie der
Beschneidung von Mädchen in verschiedenen
Gesellschaften (z. B. Iran, Irak, Subsahara etc.) oder
der Kinderprostitution besonders in ostasiatischen
Staaten berichtet (Janssen-Jurreit 1976).
Tendenzen einer gesellschaftlichen Sensibilisierung und eines Einstellungswandels in Bezug auf
Gewalt gegen Kinder sind somit, wenn dann vorwiegend in den reicheren westlichen Industriestaaten zu finden. Aber auch hier wird in den
Medien immer wieder über zum Teil sehr schwere
Kindesmisshandlungsfälle berichtet (z. B. „Baby zu
Tode geprügelt“; „Kind in einer Kiste eingesperrt
gehalten“; „Verwahrlosung“ etc.). Dieses Faktum
findet auch in einer aktuellen österreichischen Medienanalyse über die Berichterstattung von Gewaltformen in österreichischen Tageszeitungen seine
Bestätigung ( Buchebner-Ferstl 2000).
Zudem tritt hier eine relativ neue Erscheinungsform sexueller Gewalt, die an Fotografie und Videotechnik gebundene Kinderpornografie, zu Tage.
7 95 3
Obwohl ein gesetzliches Verbot hierfür besteht, werden Kinderpornos informell vertrieben – seit ein paar
Jahren besonders stark durch das Internet.
Zusammenfassung
Der obige Abriss zeigte auf, dass sowohl physische, psychische und sexuelle Gewalt gegen Kinder
eine über Jahrhunderte reichende historische
Tradition haben. Lange Zeit wurden verschiedene
Formen der Gewaltanwendung gegen Kinder gesellschaftlich legitimiert. Insbesondere die körperliche Züchtigung von Kindern galt über historische
Epochen als wirkungsvolle Erziehungsmethode,
Kindern Werte und Normen anzuerziehen. Eine
Trendwende diesbezüglich ist erst relativ spät – im
19 und 20 Jahrhundert – zu beobachten, indem das
öffentliche Züchtigungsrecht von Kindern abgeschafft und Kindesinteressen gesetzlich verankert
wurden. Die Missbilligung von Gewalt gegen
Kinder hat sich trotz internationaler Konventionen
eher in den industrialisierten westlichen Ländern
durchgesetzt. Insofern gehören Gewalterfahrungen
in vielen Nationen nach wie vor zur alltäglichen
Realität von Kindern.
Zusammenfassend zeigt sich, dass wir trotz des
gebrochenen Schweigens bezüglich Gewalt gegen
Kinder heute zwar schon essenzielle Schritte weiter
gekommen sind, uns aber immer noch am Anfang
des Weges befinden und nach wie vor großer Handlungsbedarf besteht.
7 96 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Ursachen von Gewalt
gegen Kinder
Johannes Pflegerl, Brigitte Cizek
3.1 Einleitung
In heute dominierenden Ansätzen der Fachliteratur zur Erklärung von Gewalt gegen Kindern
wird ähnlich wie bei allgemeinen Modellen zur
Erklärung von Gewalt in der Familie im Allgemeinen davon ausgegangen, dass sich Ursachen für
dieses soziale Phänomen nicht durch eine Suche
nach einzelnen determinierenden Faktoren, sondern nur durch Analyse mehrerer sich wechselseitig
beeinflussender Dimensionen finden lassen. Dies
war allerdings in der Forschung über Gewalt gegen
Kinder nicht von Anfang an der Fall. In den 60erJahren wurden vor allem gestörte elterliche
Identitäten, insbesondere jene der Mütter, als auslösender Faktor dafür angesehen, dass es zu Gewalthandlungen an Kindern kommt. Dieser Befund
ergab sich vorwiegend aus medizinisch-psychiatrischen klinischen Studien, die damals die Forschung
zu dieser Thematik dominierten und eindeutig
individualpathologisch geprägt waren. Konkret
wurden in manchen Studien bloß die frühkindlichen Erfahrungen der misshandelnden Eltern als
Ursache für Gewaltakte an Kindern angesehen. Die
in Frage kommenden Väter oder Mütter wären als
Kinder nicht geliebt worden, hätten selbst zu wenig
Wärme und Geborgenheit erfahren und wären
zudem von ihren eigenen Eltern geschlagen worden. Diese Erlebnisse hätten Entwicklungsstörungen zur Folge gehabt, die sich später in Form von
Gewaltausübung gegen die eigenen Kinder auswirkten (Godenzi 1994).
Eindimensionale individualpathologische Erklärungsansätze dieser Art wurden vielfach kritisiert, wie im Grundlagen-Teil bereits ausgeführt ist
(vgl. Teil I, Kapitel 3 „Erklärungsansätze für das Phänomen Gewalt in der Familie“).9 Auch wenn in der
Folge die Erklärungsmodelle vielfältiger und die
empirischen Untersuchungen zu dieser Thematik
zahlreicher wurden, konnte bisher kein Konsens
darüber erzielt werden, welche Faktoren nun tatsächlich entscheidend für die Erklärung von Ge-
Gewalt in der Familie
walt gegen Kinder sind. Je nach Fokus des Interesses treten andere Faktoren in den Mittelpunkt.
Die Komplexität der Thematik spricht dafür,
Ursachen für physische und sexuelle Gewalt in der
folgenden Darstellung zu trennen. Deshalb erfolgt
zunächst ein Überblick über Erklärungsansätze für
physische Gewalt, an die ein Überblick über den
Forschungsstand über psychische Gewalt anschließt. Es folgt eine Zusammenfassung der Ursachenmodelle über sexuelle Gewalt.
3.2 Ursachen für physische
Gewalt gegen Kinder
Um einen Überblick über die Vielzahl der vorhandenen Erklärungsmodelle zur Thematik physischer Gewalt gegen Kinder geben zu können, wird
eine ähnliche Kategorisierung vorgenommen, wie
im Kapitel „Erklärungsansätze für das Phänomen
Gewalt in der Familie“ im Grundlagen-Teil des vorliegenden Gewaltberichtes (vgl. Teil I, Kapitel 4).
Ziegler (1994) hat diesbezüglich vier Ebenen unterschieden, auf die hier anlehnend Bezug genommen
wird. Er differenziert:
1.) Personenzentrierte Ansätze:
In diesen wird die Ursache für Gewalt gegen
Kinder auf Einzeltäter und deren Persönlichkeitsmerkmale zurückgeführt. Dazu zählen psychopathologische Erklärungsmodelle. Auf personenzentrierte Ansätze soll daher in der Folge nur der Vollständigkeit halber kurz eingegangen und hier vor
allem neue, die bisher vorgebrachte Kritik berück-
9
7 97 3
Kurz zusammengefasst wendeten Kritiker ein, dass die
verfolgte Sichweise zu eng sei, wenn sie sich einzig auf
pathologische Merkmale von Individuen konzentrierte,
andere, etwa soziale Faktoren außer Acht lasse und ausschließlich medizinisch registrierte Vorfälle in den Blickpunkt nehme. Die Mehrzahl der Fälle von Kindesmisshandlung und die dahinter stehenden sozialen Ursachefaktoren werden so nicht erfasst.
sichtigende Erklärungsmodelle etwas näher skizziert werden.
2.) Familienbezogene Ansätze:
Im Unterschied zu personenzentrierten Ansätzen werden in diesen Erklärungsmodellen Ursachen für Gewalthandlungen gegen Kinder im
Umgebungsbereich der gesamten Familie gesehen.
Dazu zählen auch sozial-situationale Erklärungsmodelle, welche die Eltern-Kind-Interaktion zur
primären Analyseeinheit machen. Diese Gruppe
von Ansätzen postuliert, dass nicht nur Eltern ihre
Kinder beeinflussen, sondern auch die Kinder selbst
darauf Einfluss haben, wie die Eltern reagieren.
3.) Der sozial-strukturelle Kontext
von Gewalt gegen Kinder:
Dazu zählen Erklärungsmodelle, die gesellschaftliche Problembedingungen, soziokulturelle
Hintergründe und Normen sowie strukturelle
Gewaltmomente berücksichtigen.
4.) Integrative Ursachen-Modelle:
Diese beinhalten all jene Erklärungsmodelle, die
biologische, physiologische, psychologische und
soziologische Erkenntnisse zur Thematik „Gewalt
gegen Kinder“ zu verbinden und integrieren versuchen, um so der Komplexität der Problematik besser gerecht werden zu können.
3.2.1 Personenzentrierte Ansätze zur
Erklärung von Gewalt gegen Kinder
3.2.1.1 Kriminologische und
forensische Analysen
Neben psychopathologischen Erklärungsmodellen über Gewalt gegen Kindern zielen auch kriminologische und forensische Analysen darauf ab,
die Ursachen für Gewalt gegen Kinder allein in
Merkmalen der Gewalt ausübenden TäterInnen zu
suchen. Zu diesem Zweck werden TäterInnenmodelle erstellt, die meist durch einen eng definierten Gewaltbegriff charakterisiert sind. Gewalt wird
dabei auf „gestörte“, wenn auch nicht unbedingt
pathologische Persönlichkeiten zurückgeführt und
die TäterInnen werden allein auf Grund ihres
abweichenden Verhaltens für Gewalthandlungen an
Kindern verantwortlich gemacht. Die entsprechenden Modelle beinhalten meist Typeneinteilungen
von GewalttäterInnen, die aus Strafakten entwickelt werden. Ziegler verweist in diesem Zusammenhang etwa auf eine Arbeit von Becker
(1967), in der dieser zwischen arbeitsunwilligen,
haltlosen, tyrannischen, willensschwachen und hemmungslosen Kindesmisshandlern unterscheidet.
Wissenschaftlich sind solche zum Teil stark biologistisch geprägten Erklärungsansätze heute nicht
mehr haltbar. Ihnen mangelt es meist an fundierten
empirischen Untersuchungen über die misshandelnden Personen, welche sehr oft die Eltern sind.
Zudem weisen die vorgenommenen Untersuchungen oftmals erhebliche methodische Mängel auf,
darunter etwa eine zweifelhafte Repräsentativität,
Willkürlichkeit in der Zusammenstellung der
berücksichtigten Fälle sowie nicht eindeutig definierte diagnostischen Kategorien, die sich keiner
gängigen psychiatrischen Klassifikation zuordnen
lassen. Weiters beinhalten etliche dieser Erklärungsmodelle ideologisch fundierte Vorurteile, die
mitunter auch rassistisch und biologistisch geprägt
sind. Dies hat zur Folge, dass solche Erklärungsmodelle, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen heute beinahe vollkommen verschwunden
sind (Ziegler 1994).
3.2.1.2 Psychiatrisch-pathologische und
psychodynamische Erklärungsansätze für
Gewalt gegen Kinder
Psychopathologische Erklärungsansätze unterscheiden sich von kriminologisch-forensischen
Modellen dadurch, dass die Ursachen für Gewalthandlungen eindeutig auf krankhafte und pathologische Defekte zurückgeführt werden. Zudem
erheben sie den Anspruch, im Vergleich zu kriminologischen Erklärungsansätzen, keine vorurteilsbehafteten Aussagen zu beinhalten (Gelles & Straus
1979).
Als Beispiel wird hier auf den Ansatz von Steele
und Pollock (1978) eingegangen. Diese führen
7 98 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Kindesmisshandlung darauf zurück, dass frühe
Kindheitserfahrungen der Eltern bei diesen psychopathische Zustände verursachen und in der
Folge zu Kindesmisshandlungen führen. Ihrem
Erklärungsansatz zufolge haben Eltern, die ihre
Kinder misshandeln, ein besonderes Muster der
Kindererziehung aufzuweisen, das durch eine
Fehlentwicklung der normalen Funktion mütterlicher Fürsorge gekennzeichnet ist. Demnach werden Kinder vor allem als Quelle der Befriedigung
elterlicher Bedürfnisse nach Bestätigung und
Zuneigung gesehen. Kinder, die diesen Ansprüchen
nicht gerecht werden, verdienen es nach Ansicht
der Eltern, bestraft zu werden. „Es ist kaum übertrieben, wenn man sagt, dass sich die betroffene
Person wie ein angstvolles, ungeliebtes Kind verhält, das sein eigenes Kind erlebt, als sei es ein
Erwachsener, der Trost und Liebe vermitteln
könne.“ (Steele & Pollock 1978, S.174). Die
Umkehrung der Abhängigkeitsrollen wird von
ihnen als „role reversal„ bezeichnet. Steele und
Pollock zufolge haben misshandelnde Eltern in
ihrer frühen Kindheit selbst unter dem Entzug
mütterlicher Zuneigung gelitten. Von ihren Eltern
sind sie mit übermäßigen Forderungen nach
Leistung konfrontiert worden und haben erleben
müssen, als Individuum mit eigenen Bedürfnissen
missachtet zu werden. Der Erziehungsstil der
Eltern wird wieder neu aufgegriffen, indem sie ihre
eigenen Kinder in derselben Weise zu erziehen
beginnen. Somit setzt sich bei misshandelnden
Eltern ein aus der frühen Kindheit stammendes
Muster von fehlendem Vertrauen fort. Steele und
Pollock zufolge ist es Eltern, die ihre Kinder misshandeln, nicht gelungen, altersgemäße IchStrukturen auszubilden. Vielmehr würden sie unter
oralen Konflikten leiden, depressiv sein und sich
wertlos fühlen. Demgemäß erscheint in dem von
ihnen verfolgten Erziehungskonzept die Misshandlung als Strafaktion, bei der der/die Misshandelnde
die Selbstkontrolle verliert.
Ammon (1979) beschäftigt sich in seiner Arbeit
mit Sozialisationsdefizite aufweisenden Borderline-
Gewalt in der Familie
Persönlichkeiten. Charakteristisch für diese ist,
dass sie nach außen hin eine intakte Fassade zeigen,
die allerdings schwere Ich-Konflikte bzw. eine
mangelhafte Ich-Entwicklung bzw. Ich-Identität
zudeckt. Gewalttaten an Kindern können dann entstehen, wenn sich die entsprechende Person erneut
zurückgewiesen und etwa durch den/die EhepartnerIn alleine gelassen fühlt. Kindesmisshandlungen
sind demnach als missglückte Versuche zu werten,
die Ich-Grenzen wieder zu errichten, gerade dann,
wenn diese Grenzen in den aktuellen Beziehungen
nicht mehr wiederhergestellt werden können oder
in ihnen auch die Integration des Ichs bedroht wird.
Ammon kommt in seiner Arbeit zu der Erkenntnis,
dass Menschen ihre in der Kindheit erfahrenen
Misshandlungen in der Regel verdrängen, stattdessen aber schwere Persönlichkeitsstörungen entwickeln. „Man kann es auf die Formel bringen, dass
kindesmisshandelnde Eltern selbst in ihrer Kindheit von ihren Eltern misshandelt wurden oder besser gesagt: Kindesmisshandler waren einmal selbst
misshandelte Kinder.“ (Ammon 1979, S.8). Aus
pschodynamischer Perspektive betrachtet, wird in
dem Erklärungsansatz von Ammon den Störungen
im Mutter-Kind Verhältnis entscheidende Bedeutung für die Entstehung von Kindesmisshandlung
zugemessen. Eltern, die in ihrer Kindheit wenig Zuwendung und emotionale Wärme erfahren haben,
stattdessen hart bestraft, überfordert und mit autoritären Erziehungsprinzipien konfrontiert wurden,
neigen dazu, diese Erziehungsmuster bei ihren eigenen Kindern wieder zu reproduzieren (Ammon
1979; Sommer 1994).
Psychodynamische Erklärungsmodelle beschreiben die Dynamik der Misshandlung demnach
folgendermaßen:
1.) Unterschiedlich beschriebene Defizite in der
Persönlichkeitsentwicklung misshandelnder
Eltern lassen sich durch Störungen in der frühen
Mutter-Kind-Beziehung erklären.
2.) Voll aktualisiert werden diese Defizite im
Erleben der Eltern erst in der Beziehung zum
eigenen Kleinkind. Konkret kommt es zu einer
7 99 3
Vermischung von zwei Erinnerungsinhalten:
Einerseits erleben und durchleiden sie die
Gefühle, die sie selbst als Kind hatten, andererseits kommt es zu einer Vergegenwärtigung des
elterlichen Verhaltens, das sie nun gegenüber
dem Kind reproduzieren.
3.) Seit der Kindheit frustrierte symbiotische Bedürfnisse werden auf das Kind projiziert. Eltern
erhoffen von dem Kind, die ihnen versagte
Liebe und Zuwendung zu bekommen. Verhaltensweisen der Kinder wie etwa Trotz oder weinen werden als Angriff auf das eigene Selbstwertgefühl und somit neuerlich als Kritik und
Ablehnung gedeutet.
4.) Da sich die Eltern nun auch von ihrem Kind
abgelehnt und enttäuscht fühlen, kommt es zu
Aggression. Die Folge ist, dass sie ihr Kind bestrafen und dieses ebenso zurückweisen, wie sie
selbst als Kind zurückgewiesen wurden. Dies
führt dazu, dass der Zyklus der Misshandlung
von einer Generation zur nächsten fortgesetzt
wird. Durchbrochen werden kann dieser nur
durch eine psychotherapeutische Behandlung
der Eltern und der misshandelten Kinder
(Engfer 1986).
3.2.1.3 Weitere personenzentrierte
Ansätze
Eine in den letzten Jahren zunehmend stärker
verfolgte Strategie, die vielfach kritisierten kriminologischen und psychopathologischen Modelle zur
Erklärung von Gewalt an Kindern zu erweitern, war
die Entwicklung von deskriptiven Merkmalsbeschreibungen. Dies führte zu einer unüberschaubaren Vielzahl an Forschungsansätzen, Erhebungen
und Resultaten. Ziel dieser Ansätze war es, einzelne
Faktoren wie Isolation, Einsamkeit, Angst, Depressivität, Frustration, Selbstzentriertheit, Unreife
und Abhängigkeit, Misstrauen, Stressbewältigungsbzw. Problemlöseunfähigkeit u.a. bei den misshandelnden Personen näher zu untersuchen.
Wolfe (1985), der eine Vielzahl der entsprechenden Forschungsarbeiten näher analysierte, stellte
fest, dass sich diese durch zwei Merkmale unterscheiden.
Ein Teil der Untersuchungen richtet seinen
Fokus auf psychologische Persönlichkeitszüge.
Konkret sind dabei generelle Persönlichkeitsmerkmale und spezifische Verhaltensmerkmale im
Umgang mit Kindern von besonderer Bedeutung.
Dabei zeigte sich, dass jene, die Kinder misshandeln, kein einheitliches Charakterbild aufweisen.
Eine eindeutige „Misshandlungspersönlichkeit“
gibt es demnach nicht. Dennoch konnte der Nachweis erbracht werden, dass bestimmte Problemfelder in Bezug auf die misshandelnden Personen
existieren. Wolfe kommt daher zu folgendem
Schluss: Obwohl misshandelnde Eltern keine
Symptome aufweisen, die eindeutig auf psychische
Krankheiten hinweisen, so zeigen sich bei ihnen
doch auf Stress rückführbare Symptome, wie etwa
Depressionen und gesundheitliche Probleme, die
wahrscheinlich ihre Kompetenz als Eltern
schwächen. Die wechselseitige Verbindung zwischen psychologischem Funktionieren und Anpassungsfähigkeit an ein stressvolles Leben erscheint
demnach die genaueste Erklärung für diese Ergebnisse. Vorhandene Charaktereigenschaften können, so Wolfe weiter, keine kausale Erklärung für
Kindesmisshandlungen liefern. Wenn allerdings
Charakteristika wie hohe Frustration, geringe Bewältigungskompetenz und geringe Selbstwertschätzung in Beziehung mit mehreren anderen
Faktoren gesetzt werden und miteinander interagieren, so lassen sich Hinweise zur Erklärung für
Gewalt an Kindern finden (Wolfe 1985).
In dem anderen Teil der von Wolfe analysierten
Studien geht es hauptsächlich um reaktives Verhalten der Untersuchten innerhalb der Familie. Dabei wurde sowohl der Interaktionsstil zwischen den
Familienmitgliedern als auch die Interaktion zwischen den Eltern sowie die Interaktion zwischen
Eltern und ihren Kindern näher untersucht.
Hier zeigte sich ebenfalls wie in den zuvor analysierten Studien, dass für Misshandlungsfamilien
keine einheitlichen und damit für sie typische
7 100 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Interaktionsmuster gefunden werden konnten.10
Wolfe kommt diesbezüglich zu dem Schluss, dass
misshandelnde Eltern nicht notwendigerweise ein
signifikant ablehnenderes Verhalten gegenüber
ihren Kindern nach außen hin ausstrahlen als andere Eltern, darunter besonders jene, die Probleme
mit ihren Kindern haben. Allerdings zeigt sich, dass
es bei misshandelnde Eltern wahrscheinlicher ist,
sich in der Interaktion mit den Kindern ablehnender zu verhalten (Wolfe 1985).
3.2.1.4 Zusammenfassende Diskussion
personenzentrierter Ansätze
Ziegler (1994) weist darauf hin, dass die
Forschung nach spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen den Erkenntnisstand in Bezug auf die
Erklärung von möglichen Ursachen für die Misshandlung von Kindern um einige interessante
Faktoren erweitern konnte. So wurden etwa eine
durch Gewaltanwendung geprägte Kindheit, vergleichsweise hohe Ängstlichkeit, Depressivität und
Rigidität, erhöhte Impulsivität und Aggressivität
bzw. verminderte Aggressionskontrolle und Frustrationstoleranz, geringes Selbstwertgefühl, auf
Grund mangelnder Bewältigungsmechanismen
erhöhte Stress- und Konfliktanfälligkeit (Coping10
Ziegler weist darauf hin, dass die Forschungsarbeiten
über den Interaktionsstil innerhalb von Familien zu vergleichbaren Ergebnissen kommen. So wurde festgestellt,
dass Mitglieder solcher Familien deutlich weniger miteinander und in einem weit negativeren Ton und mehr
ablehnenden Verhalten interagieren als dies in Vergleichsfamilien geschieht. Unklar ist allerdings, ob dies
bereits als typisches Merkmal von Misshandlungsfamilien angesehen werden kann oder ob dies nicht auch
in anderen Familien auftritt. Genauso kritisch sind Untersuchungen zu beurteilen, die einen ablehnenden
Kommunikationsstil zwischen den Eltern als Voraussetzung für unangemessenes und gewalttätiges
Verhalten gegen Kinder ansehen. Auch dazu gibt es
keine eindeutigen Befunde. Uneinheitliche Forschungsergebnisse gibt es auch über die Vermutung, dass misshandelnde Eltern gegenüber ihren Kindern in bedeutendem Maße negativer eingestellt sind (Ziegler 1994).
Gewalt in der Familie
Strategien), weniger (positive) Interaktionen, verzerrte, unsachgemäße Wahrnehmung der Kinder
sowie damit verbundene erhöhte Erwartungen an
sie als mögliche Ursachen für Gewalt an Kindern
untersucht und in einzelnen Untersuchungen auch
Bestätigungen dafür gefunden. Dennoch gelang es
nicht, einen geschlossenen Ursache-Wirkungszusammenhang herzustellen. Ziegler führt drei
Gründe dafür an, weshalb die Erstellung von
Merkmalslisten mit Problemen verbunden ist:
1.) Untersuchungen haben gezeigt, dass nicht alle
Personen, die Gewalt an Kindern ausüben, in
die entsprechenden Merkmalsschemata hineinpassen.
2.) Nicht alle Personen, die einige der oben genannten Merkmale aufweisen, sind deshalb
bereits Kindesmisshandler. Vielmehr besteht die
Gefahr, Personen mit einigen dieser Merkmale
in der Folge ungerechtfertigt als solche zu stigmatisieren.
3.) Eine deskriptive Charakterisierung von misshandelnden Eltern mag zwar als Ausgangspunkt für Erklärungen von Gewalt an Kindern
sinnvoll sein. Der Hinweis auf individuelle psychische Probleme allein kann allerdings dieses
Phänomen nicht ausreichend erklären (Ziegler
1994).
Besonders heftiger Kritik waren psychopathologischen Ansätze ausgesetzt, wie im GrundlagenTeil bereits ausführlich dargelegt wurde (vgl. Teil I,
Kapitel 3 „Erklärungsansätze für das Phänomen
Gewalt in der Familie“). Ziegler verweist ergänzend
dazu auf mehrere Forschungsarbeiten (Anderson &
Lauderdale 1982; Spinetta & Rigler 1972), in denen
der Nachweis erbracht werden konnte, dass der
Anteil der misshandelnden Personen, die als psychopathologisch einzustufen sind, kaum zehn
Prozent beträgt. Dies bedeutet, dass einzelne
Gewaltakte zwar auf psychopathologische Persönlichkeitsmerkmale rückführbar sind, gleichzeitig allerdings nicht jene Bedeutung haben, wie
früher vermutet. Seiner Einschätzung nach fällt es
7 101 3
vor allem Ärzten schwer zu akzeptieren, dass
Gewalt gegen Kinder nur zu einem geringen Teil
auf psychopathologische Störungen der Persönlichkeitsentwicklung zurückgeführt werden kann und
somit deren Zuständigkeitsbereich weit überschreitet (Ziegler 1994).
Engfer führt als Kritik gegen psychodynamische bzw. psychopathologische Modelle unter anderem methodische Einwände an: Frühkindliche
Erfahrungen und Traumata misshandelnder Eltern
lassen sich in psychotherapeutischen Behandlungen
nur retrospektiv feststellen. „Da der Psychotherapeut mit seiner besonderen Verursachungstheorie
der Misshandlung den Patienten bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Kindheit Hebammenhilfe leistet,
sind seine Anteile bei der Rekonstruktion dieser
frühkindlichen Erfahrungen schwer abzuschätzen.
Zudem hat die ,Erklärung’, selbst misshandelt oder
abgelehnt worden zu sein, für den Patienten vermutlich erhebliche Entlastungsfunktion und kann
deshalb bereitwillig akzeptiert werden.“ (Engfer
1986, S. 47).
Sie weist weiters darauf hin, dass nur ein Teil der
Gewalt an ihren Kindern ausübenden Eltern als
Kind selbst misshandelt oder körperlich hart gezüchtigt wurde. Ein Nachweis dieses Zusammenhangs würde entsprechende Längsschnittstudien erfordern, die bisher noch nicht durchgeführt wurden.
Kritisch zu bewerten sei zudem der deterministische
Charakter psychodynamischer bzw. psychopathologischer Erklärungsansätze. Dieser besteht konkret
darin, dass die frühkindliche Erfahrung die Persönlichkeitsstruktur der Eltern in einer Weise fixiert haben soll und alle anderen Lebenserfahrungen und
Entwicklungsmöglichkeiten durch diese Struktur
vorbestimmt sind und als Folge notwendigerweise
zu Misshandlungen führen. Engfer merkt dazu an,
dass nicht nur Mütter durch ihr Verhalten bestimmen,
wie die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder verläuft. Diese wird vielmehr ebenfalls auch durch die
Erfahrungen in der Interaktion mit anderen Bezugspersonen darunter Väter, Geschwister, Großeltern, FreundInnen, LehrerInnen u.a. bestimmt.
Engfer verweist auf Arbeiten wie etwa von
Clarke und Clarke (1979), die gezeigt haben, dass
die Erfahrungen in der frühen Kindheit keineswegs
so prägend sind, wie lange Zeit angenommen.
Vielmehr können auch sehr widrige Bedingungen
in der frühen Kindheit wie etwa Heimaufenthalte
oder extreme Formen der Vernachlässigung durch
nachfolgend günstige Lebensbedingungen weitgehend kompensiert werden. Dies gelte auch für ehemals schwer misshandelte Kinder, deren Persönlichkeitsentwicklung normal verlaufen kann, wenn
sie die Chance erhalten, in einer neuen Umgebung
wie etwa in einer Pflege- oder Adoptivfamilie andere und bessere Erfahrungen zu machen.
Wenn Kinder allerdings auf Dauer d.h. konkret
über die frühe Kindheit hinausgehend in der eigenen Familie mit Ablehnung, Lieblosigkeit und harten Strafen konfrontiert werden und weder bei den
Eltern noch bei anderen Leuten ein liebevolles und
fürsorgliches Verhalten erfahren, ist es denkbar,
dass sie später in ihrer Elternrolle Probleme
haben11 (Engfer 1986).
Trotz der zuvor ausgeführten Einwände haben
psychodynamische Erklärungsansätze wichtige
Anregungen für die weitere Forschung geliefert.
So sind etwa aus psychodynamischen Erklärungsansätzen wichtige Hypothesen entstanden,
die sich später auch überprüfen und bestätigen
ließen. Festgestellt werden konnte etwa, dass misshandelnde Eltern vielfach selbst eine lieblose und
unglückliche Kindheit erlebten und von den eigenen Eltern hart bestraft oder sogar abgelehnt wurden. Die Folge ist, dass viele Eltern unter Selbstwertproblemen und depressiven Zuständen leiden
(Engfer 1986; Ziegler 1994).
11
7 102 3
Engfer (1986) verweist in diesem Zusammenhang darauf,
dass selbst längerfristig schlechte Erfahrungen nicht
zwangsläufig zur Weitergabe der selbst erfahrenen
Gewalt an die eigenen Kinder führen muss. Studien wie
jene von Herrenkohl et al. (1983) hätten gezeigt, dass es
einem Teil der früher misshandelten Kinder gelang, aus
dem Kreislauf der Gewalt auszubrechen.
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Psychodynamische Erklärungsansätze haben
weiters deutlich werden lassen, dass unglückliche
Sozialisationserfahrungen die Verhaltensweisen
und Einstellungen der Eltern wesentlich mitbestimmen und auch Auswirkungen auf die Beziehung zu
den eigenen Kindern haben. Kindesmisshandlung
ist demnach Ausdruck einer misslingenden ElternKind-Beziehung. Wenn auch die elterlichen Anteile
daran überwiegen, wie etwa überhöhte Erwartungen, unerfüllte Zärtlichkeitsbedürfnisse oder autoritäre Strenge, so wird in diesen Ansätzen bereits
deutlich, dass es bei dieser Problematik um die
Abstimmung zwischen elterlichen Wünschen, Erwartungen und den beim Kind vorgefundenen Verhaltensweisen geht. Obwohl diese Modelle vielfach
kritisiert wurden, konnten sie die empirische Forschung anregen und befruchten (Engfer 1986).
Neben diesen inhaltlichen Problemen kommen
methodische Schwierigkeiten dazu, auf die im
Grundlagen-Teil bereits ausführlich hingewiesen
wurde (vgl. Teil I, Kapitel 4 „Problemstellungen der
Forschung“). In einer kurzen Zusammenfassung
der wichtigsten methodischen Einwände zeigt sich,
dass Datenerhebungen immer erst nach dem Vorfall
von Misshandlungen erfolgen. Dies hat zur Folge,
dass die im Fokus des Interesses stehenden Vorfälle
nicht direkt beobachtet, sondern nur retrospektiv
bearbeitet werden können. Dazu kommt, dass in
den entsprechenden Untersuchungen oft nur jene
Personen erfasst sind, die mit besonders schweren
Fällen von physischer Gewalt konfrontiert wurden,
d.h. es kommt nicht selten zu Verzerrungen in der
Auswahl der Stichproben. In vielen Untersuchungen fehlt der entsprechende Vergleich mit Kontrollgruppen. Andererseits sind jene Kontrollgruppen,
die als Vergleich herangezogen werden, oftmals nur
sehr klein dimensioniert.
All die genannten Einwände sind ein Beleg
dafür, dass personenzentrierte Ansätze allein letztlich nur einen beschränkten Erklärungswert aufzuweisen haben, um das Phänomen „Gewalt gegen
Kinder“ umfassend erklären zu können. Dazu ist es
notwendig, auch andere über die individuelle Ebene
Gewalt in der Familie
hinausgehende Faktoren zu berücksichtigen.
Allerdings würde es genauso zu einer Verkürzung
der Sichtweise kommen, wenn in komplexeren
Erklärungsmodellen individuelle Komponenten
vollkommen außer Acht gelassen werden.
3.2.2 Familienbezogene Ansätze zur
Erklärung von Gewalt gegen Kinder
3.2.2.1 Risikofaktoren für die
Misshandlung von Säuglingen
und Kleinkindern
3.2.2.1.1 Frühgeburt und Untergewicht
Die von Bell (1968) entwickelte Überlegung,
dass Eltern nicht nur das Verhalten ihrer Kinder bestimmen, sondern vice versa auch Verhaltensweisen
der Kinder Einfluss auf das elterliche Verhalten
haben, wurde erst in den 70er-Jahren aufgegriffen.
Neuere Erklärungsansätze gehen davon aus, dass
bestimmte Merkmale des Kindes die Betreuung von
Vornherein erschweren und in der Folge auch zur
Misshandlung beitragen können. Diese Erklärungen basieren vorwiegend auf epidemiologischen
Untersuchungen, in denen nachgewiesen werden
konnte, dass der prozentuale Anteil der Frühgeburten bzw. von Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 2500 g zwei bis dreimal so hoch
ist, wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Zu den Faktoren, die bei Frühgeburten bzw. Kindern mit
einem niedrigen Geburtsgewicht das Misshandlungsrisiko erhöhen, zählen einerseits Verhaltensmerkmale nicht ausgereifter Kinder, die ihre Betreuung erschweren und andererseits Routinen in
den Krankenhäusern wie etwa die Unterbringung
des Kindes in der Intensivstation, die zu einer
Unterbrechung des Kontaktes zwischen Mutter
und Kind führen und somit den Aufbau der
7 103 3
Mutter-Kind-Bindung gefährden können (Engfer
1986).12
Ergebnisse von Untersuchungen, in denen zu
früh geborene Kinder sowie Kinder mit niedrigem
Geburtsgewicht mit parallelen Kontrollgruppen
verglichen wurden, kamen allerdings zu vergleichsweise uneinheitlichen Ergebnissen. Mangelnde
Reife der Kinder bei der Geburt sowie ein niedriges
Geburtsgewicht scheinen demnach doch nicht so
misshandlungsfördernd zu sein wie auf Grund der
Ergebnisse epidemiologischer Studien vermutet
wurde. Allerdings weist Engfer (1986) darauf hin,
dass in den bisher durchgeführten Untersuchungen
mit vergleichenden Kontrollgruppen Merkmale wie
Enttäuschung über das Aussehen des Kindes, mütterliche Gefühle von Unsicherheit und Schwäche
sowie Auswirkungen des Schreiverhaltens von
Kindern nicht erfasst wurden.
Auch für die These, dass verspäteter Frühkontakt den Aufbau der Mutter-Kind-Bindung
stört und somit spätere Misshandlungen begünstigt,
konnte auf Basis vieler psychologischer Kontrollgruppenuntersuchungen nicht direkt belegt werden, da die Mutter-Kind-Bindung in keiner dieser
12
Bei unausgereiften Kindern zeigte sich, dass Eltern vom
Aussehen dieser besonders enttäuscht sein können, da sie
meist nicht nur kleiner und zarter, sondern zugleich auch
hässlicher als ausgereift geborene Kinder sind. Neben
der Enttäuschung darüber, ein unausgereiftes Kind geboren zu haben, wurden bei Müttern zudem Gefühle eigener Schwäche sichtbar. Dazu kommen die Sorgen, das
Kind doch noch zu verlieren oder mit einem behinderten
Kind leben zu müssen. Diese Umstände wirken sich
offenbar misshandlungsbegünstigend aus. Eine Betreuung wird im Vergleich zu ausgereiften Kindern
dadurch erschwert, dass sie weniger wach sind und mit
vier Monaten häufiger weinerlich und mit Blickabwendung reagieren, schwieriger zu füttern und krankheitsanfälliger sind. Misshandlungsbegünstigend wirkt
sich zudem die Tatsache aus, dass unausgereifte Kinder
häufíger schriller und arhythmischer schreien als ausgereifte Kinder. Dies kann bei Müttern zu einer belastenden psychophysiologischen Erregung führen (Engfer
1986).
Studien systematisch erhoben wurde. Allerdings
setzt sich zunehmend die Überzeugung durch, dass
die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung
weniger von der kurzen Zeitspanne nach der
Geburt als vielmehr von den darauf folgenden und
sich laufend verändernden Interaktionserfahrungen
zwischen Mutter und Kind abhängt. Um sich
bereits bald auf den Rhythmus und die Signale des
Kindes bzw. auf die neuen Betreuungsaufgaben einstellen zu können, scheint es auch auf ein eventuell
späteres Misshandlungsrisiko bezogen wichtiger zu
sein, dass Mütter nach der Entbindung überhaupt
viel Kontakt zu ihrem Neugeborenen haben.
Für ein erhöhtes Misshandlungsrisiko sind nach
Befunden mehrerer Studien viel eher häufige
Erkrankungen des Kindes im ersten Lebensjahr die
Ursache, die auch eine Folge perinataler Probleme
sein können. Machen diese häufige Krankenhausaufenthalte notwendig, kann es zu einer Störung
der Mutter-Kind- Bindung kommen, vor allem
wenn Mütter durch Betreuung anderer Kleinkinder
daran gehindert werden, das kranke Kind im
Krankenhaus oft genug zu sehen oder selbst zu versorgen. Dazu kommt, dass kranke Säuglinge länger
und intensiver schreien und schwerer zu beruhigen
sind. Diese kindlichen Verhaltensweisen können
bei Müttern Ohnmachtsgefühle und Überforderung bewirken, die in der Folge auch zu Misshandlungen führen (Engfer 1986). Die Reaktion
von Vätern darauf wurde bisher nicht untersucht.
3.2.2.1.2 Frühkindliche Verhaltensmerkmale
Die Ergebnisse der Forschungsarbeiten von
Thomas et al. (1968) haben dazu geführt, den
Beitrag frühkindliche Verhaltens- und Temperamentsmerkmale für die Prognose von Kindesmisshandlungen schon bald systematisch zu erfassen. Er
hat darauf aufmerksam gemacht, dass Kinder mit
äußerst unterschiedlichem Temperament zur Welt
kommen und in der Folge deshalb auch mehr oder
weniger schwierig zu betreuen sind. Thomas
spricht von „schwierigen Kindern“, die dadurch
charakterisiert sind, dass sie schwer an Alltags-
7 104 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
routinen zu gewöhnen, in ihrem Verhalten nur
wenig berechenbar sind, sich schlecht auf neue
Situationen einstellen können und häufig mit
Protest reagieren. Zudem sind sie nach Thomas
häufig verstimmt, weinen viel, bauen negative
Emotionalität rasch auf und bringen diese intensiv
zum Ausdruck.
In der Forschung über Kindesmisshandlung
wurde daher folglich die Hypothese aufgegriffen,
dass „schwierige Kinder“ vermutlich deshalb stärker gefährdet sind misshandelt zu werden, weil sie
die Geduld der Eltern besonders auf die Probe stellen. Dazu durchgeführten Forschungsarbeiten erbrachten allerdings sehr widersprüchliche Ergebnisse und konnten somit keine eindeutigen Belege
dafür erbringen13 (Engfer 1986).
Engfer plädiert dennoch dafür, die Überlegung,
dass Merkmale und Verhaltensweisen des Kindes
seine Misshandlung möglicherweise begünstigen
können, nicht aufzugeben. Sie weist allerdings darauf hin, dass solche Merkmale des Kindes nicht
notwendigerweise bei Neugeborenen beobachtbar
sind, sondern möglicherweise erst im Zusammenhang der sich entwickelnden und veränderlichen
Eltern-Kind-Interaktion entstehen. Aus diesem
Grund sind frühe Symptome einer problematischen
Eltern-Kind-Interaktion für die Vorhersage von
Misshandlungen wahrscheinlich aussagekräftiger
als Auffälligkeiten bei neugeborenen oder sehr jungen Säuglingen (Engfer 1986; Wetzels 1997).
3.2.2.2 Merkmale früher Mutter-KindInteraktion und Kindesmisshandlungen
Für die Vermutung, dass eine misslingende
frühe Mutter-Kind-Interaktion ein bedeutsamer
Faktor zur Erklärung von Kindesmisshandlung
sein kann, ist das von Sameroff (1975) dargelegte
transaktionale Entwicklungsmodell ausschlaggebend. Demnach ist die Beziehung zwischen Mutter
13
und Kind niemals statisch, sondern ein dynamischer Prozess. Genauso wie das Verhalten der
Mutter das kindliche Verhalten beeinflusst, wirkt
nach diesem Modell das kindliche Verhalten auch
wieder auf die Mutter zurück. Die Interaktionspartner verändern einander, ebenso ist ihr Verhalten
zu jedem Zeitpunkt dieser wechselseitigen Prozesse
anders. Dieses wird einerseits durch die vorausgehenden Interaktionserfahrungen bedingt, gleichzeitig stellt es für den weiteren Verlauf der Beziehung
jeweils erneut die entscheidende Einflussgröße dar
(Sameroff zit. nach Engfer 1986, S. 95).
Demnach ist es möglich, dass auch problematische Mutter-Kind-Beziehungen in der Folge einen
günstigen Verlauf nehmen können, wenn die
Mutter im Stande ist, ein temperamentmäßig auffälliges Kind einfühlsam und geduldig zu beruhigen.
Bringen Mütter allerdings bedingt durch persönliche oder familiäre Probleme diese Geduld nicht auf,
kann es zu Schwierigkeiten in der Mutter-KindInteraktion kommen.14 Diese müssen allerdings
nicht dauerhaft sein. Oft gelingt es, vorübergehende Schwierigkeiten und Belastungen zu überwinden und günstigere Formen der Kommunikation
zu entwickeln.
Aus bisher durchgeführten Studien, welche den
Einfluss der frühen Mutter-Kind- Interaktion auf
Kindesmisshandlungen untersuchten, ergibt sich
folgendes Bild: Während zunächst vor allem die
Mütter durch distanziertes, ungeschicktes und
wenig feinfühliges Vorgehen dazu beitragen, dass
Kinder für Bezugspersonen oft widerständiges und
ungehorsames Verhalten entwickeln, können in der
14
Die dazu durchgeführten Studien näher zu beschreiben,
würde den Rahmen dieses Berichtes überschreiten. Vgl.
dazu daher (Engfer 1986, S.90-94).
Gewalt in der Familie
7 105 3
Engfer verweist darauf, dass dies auch auf temperamentmäßig scheinbar einfache Kinder zutrifft. Wenn
es in der frühen Phase der Mutter-Kind-Beziehung zu
einer problematischen wechselseitigen Abstimmung
kommt, indem die Mutter den Säugling etwa ungeschickt
anfasst, ihn mit hektischer Stimulation überfordert etc.,
kann das im Kontakt zur Mutter zu widerwilligen
Reaktionen führen (Engfer 1986).
Folge diese schwer erträglichen Verhaltensweisen
im weiteren Verlauf der Mutter-Kind-Beziehung zu
Konfliktsituationen führen und mitunter auch
gewalttätige Formen der Bestrafung zur Folge
haben. Generell scheinen die später beobachtbaren
Verhaltensmerkmale häufig bestrafter und ungenügend betreuter Kinder für die Erklärung von
Misshandlungen aussagekräftiger als die bei der
Geburt erfassbaren Verhaltenweisen von Neugeborenen. Resümierend betrachtet zeigt sich, dass zwar
kindliche Verhaltensauffälligkeiten ein möglicher
aktueller Auslöser von Mutter-Kind-Problemen
sein können. Allerdings kommt es nur bei einem
Teil der bei der Geburt als Risikokinder erkannten
Gruppe in der Folge auch zu einer Eskalation oder
zu Misshandlungen (Wetzels 1997; Engfer 1986).
Merkmale der Vater-Kind-Interaktion wurden
dem gegenüber nicht in vergleichbarer Weise untersucht.
3.2.2.3 Elterliche Erziehungskompetenzen
und Attribuierungsmuster
Fehlende elterliche Kenntnisse und Fähigkeiten
im Umgang mit den eigenen Kindern werden in
einigen Untersuchungen als bedeutsame Faktoren
zur Erklärung von Gewalt gegen Kinder angesehen.
Dabei sind insbesondere eine dem Kind nicht angemessene Wahrnehmung desselben, viel zu hohe Erwartungen an dieses und mangelnde Kompetenzen,
Probleme zu lösen, die in den entsprechenden
Forschungsarbeiten konstatierten Ursachen. So
kommen etwa Spinetta (1978) und auch Patterson
(1982) in ihren Arbeiten zu dem Ergebnis, dass die
Eltern ihre Kinder mit hohen Erwartungen überfordern. Diese können in der Folge den elterlichen
Vorstellungen nicht nachkommen. Gleichzeitig
sind sich die Eltern der gesamten Breite möglicher,
noch zum Bereich der Normalität zählenden
Verhaltensweisen nicht im Klaren. Dies führt zur
Entwicklung von sehr engen noch als toleriert definierten Erwartungsmustern. Ebenso konnten
Wood-Shuman und Cone (1986) bei Risiko- und
Kontrollgruppen signifikante Unterschiede fest-
stellen, welche Verhaltensweisen von den Mitgliedern der jeweiligen Gruppe als kindliches
Normverhalten eingestuft wurden und welche
nicht. Wenn der tolerierte Verhaltensspielraum
überschritten wird, fehlen zudem oft die notwendigen Fähigkeiten, erfolgreiche Lösungen zu erzielen,
da einerseits die Komplexität der Situation nicht
ausreichend erfasst wird und oftmals keine anderen
Lösungsmöglichkeiten gesehen werden, als autoritäre oder gewalttätig bestrafende Maßnahmen zu
ergreifen (Ziegler 1994).
Ebenso konnten Haller et al. (1998) in ihrer in
der Steiermark durchgeführten Untersuchung über
Gewalt in der Familie den Nachweis erbringen,
dass erzieherische Überforderung der Eltern mit
einigem Abstand die am häufigsten genannte
Ursache bei Fällen von Gewalt gegen Kindern war.
Konkret traf dies auf 64 Prozent der erhobenen
Fälle zu.15 Die StudienautorInnen interpretieren
dies als Ergebnis einer Wechselwirkung. Während
in einigen Fällen wahrscheinlich auffällige Kinder
als Anlass für Gewalthandlungen angesehen wurden, ging Haller davon aus, dass erzieherische
Überforderung oder sogar erzieherische Unfähigkeit der Eltern in den meisten Fällen als die Ursache
für Gewalthandlungen anzusehen war. Neben
Gefühlen der Überforderung macht er auch das
Empfinden von Ohnmacht für die elterliche Ausübung von Gewalt verantwortlich. Ähnlich wie auf
der Beziehungsebene wird diese als Mittel zur vermeintlichen Konfliktlösung insbesondere aber zur
Vermeidung von Konflikten eingesetzt. Demnach
ist Gewalt am Kind als Ergebnis eines beschränkten
15
7 106 3
Insgesamt wurden in dieser Studie 254 Fälle erhoben. In
153 Fällen (64 Prozent) war erzieherische Überforderung der Eltern eine der Ursachen für Gewaltanwendungen. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen,
dass Mehrfachnennungen möglich waren. In 99 dieser
Fälle kam es dabei zu einer Köperverletzung oder einer
gefährlichen Drohung. Das entspricht 71 Prozent aller
Fälle, in denen Köperverletzungen oder gefährlichen
Drohungen nachgewiesen wurden (Haller et al. 1998).
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Kommunikationsrepertoires zu deuten. Den betroffenen Familien wird in diesem Zusammenhang
ein Mangel an Diskussions- und Aushandlungsfähigkeit zugeschrieben (Haller 1998).
3.2.2.4 Stress, Krisen und Belastungen
In einigen in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Untersuchungen konnte gezeigt werden,
dass Stress, Krisen und Belastungen bedeutsame
Ursachen für Gewalt gegen Kinder darstellen. Wie
im Grundlagen-Teil bereits erwähnt, wies etwa
Elmer (1979) in ihrer Arbeit darauf hin, dass die
Familie als Institution aus mehreren Gründen
besonders anfällig für Stress ist. Eine der Ursachen
liegt in der Tatsache, dass die Familie besonders
während der Zeit der Kindererziehung hinsichtlich
ihrer finanziellen Möglichkeiten am labilsten ist.
Wenn Kinder geboren werden, setzt sich die
Familie völlig neu zusammen. Dies hat zur Folge,
dass jedes neue Mitglied seine jeweils eigenen
Schwierigkeiten in den Alltag mitbringt, die es
innerfamiliär zu lösen gilt. Die Familie wird so zu
einer Art Flaschenhals, durch den die individuellen
Probleme jedes Einzelnen „durchkommen“ müssen. Wie im Grundlagen-Teil bereits erwähnt, können in unterschiedlichen sozialen Schichten jeweils
andere Formen von Stress auftreten. Dazu kommt,
dass durch den Strukturwandel von Familie insbesondere Frauen vor neue Herausforderungen
gestellt werden. Da sich ihr gesellschaftliches
Rollenbild gewandelt hat, stehen sie oft vor der
Entscheidung, entweder die Rolle als Mutter mit
der Rolle der Erwerbstätigen unter schwierigen
Bedingungen zu vereinen oder zwischen dem
Verbleib bei den Kindern bzw. der Erwerbstätigkeit
zu wählen. Als Folge von stresshaften Belastungen
kann es zu Misshandlungen von Kindern kommen.
Dabei zeigt sich, dass durch Stress belastete Eltern,
die Misshandlungen ausüben, oftmals übertrieben
hohe Erwartungen an ihre Kinder haben. Unrealistische und unerfüllte Erwartungen können auch
zu Frustration und als Folge dann zu gewalttätigen
Bestrafungen von Kindern führen, wenn diese den
Gewalt in der Familie
Wünschen der Eltern nicht folgen. Andere stressbelastete Eltern neigen dazu, bereits Babys zu misshandeln (Elmer 1979).
Auch Habermehl (1994) konnte den Nachweis
erbringen, dass es einen deutlichen Zusammenhang
zwischen Stress und Gewalt gegen Kinder gibt.
Demnach erleben Kinder mehr Gewalt und Misshandlung, wenn die Eltern Stress ausgesetzt sind.
Dazu zählt Habermehl sowohl durch Kinder verursachten Stress, Stress durch persönliche, finanzielle oder berufliche Probleme, durch finanzielle
Schwierigkeiten, Alkoholkonsum usw. Konkret
kommt Habermehl in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass bei Frauen Stress einen statistisch signifikanten Einfluss auf Gewalt gegen Kinder hat.
Bei Männern hingegen ist der Einfluss der Anzahl
der vorhandenen Stressfaktoren16 nicht signifikant.
Ein stärkerer Einfluss von Stress bei Personen unter
16
7 107 3
Habermehl erstellte für ihre Untersuchung zwei Listen
mit möglichen Stressfaktoren, die 14 bzw. 23 Stressitmes
umfassen. Dazu zählten: Sich vom Schicksal betrogen
fühlen, unter Streit mit einem geliebten Menschen leiden,
sehr einsam sein, sich von niemandem verstanden fühlen,
mit ernsten finanziellen Sorgen kämpfen, von einem
geliebten Menschen hintergangen werden, unter einem
beruflichen Misserfolg leiden, (vorübergehend) arbeitslos sein, Verlust eines geliebten Menschen, Umzug in
eine anderer Wohnung/ein anderes Haus, Schwangerschaft, Überforderung im Beruf, Überforderung im
Haushalt und durch die Kinder, häufiger Alkoholkonsum.
Die Befragten bekamen für jedes Item, das im letzten
Jahr bei ihnen persönlich erfüllt war, einen sogenannten
„Stresspunkt“. In eine umfassendere Stressliste wurden
weitere neun Items aufgenommen. Dazu zählten konkret: Gesundheit, eine harmonische Partnerschaft, beruflicher Erfolg, in der Familie Wärme und Zuneigung finden, ein großer Freundeskreis, sexuelle Zufriedenheit,
ehrliche Anerkennung durch andere Menschen, ein
absolut treuer Ehepartner und zuletzt häufiger Alkoholkonsum des Partners.
Die Befragten erhielten jeweils einen Stresspunkt, wenn
die zuvor genannten neun Vorraussetzungen in den letzten 12 Monaten „nicht gut“ erfüllt waren (Habermehl
1994).
40 Jahren steht in Zusammenhang mit der Anzahl
junger Kinder im Haushalt. Sie ist auffallend größer
als in der Gruppe der über 39-jährigen Personen.
Generell zeigt sich, dass kleine Kinder mehr von
Gewalt betroffen sind als größere. Dies ist darauf
zurückzuführen, dass sie die Eltern, insbesondere
die Mütter, stärker beanspruchen und dadurch
mehr Stress auslösen. Folgende von den in Fußnote
8 genannten Stressfaktoren erwiesen sich dabei als
signifikant in ihrem Einfluss auf Gewalt gegen
Kinder: die Ressourcen Liebe, Anerkennung und
Achtung, Einsamkeit, finanzielle Probleme, beruflicher Misserfolg, Schwangerschaft, Überforderung
im Haushalt und durch die Kinder, Alkoholkonsum sowie Partnerschaftsprobleme. Weiters zeigte
sich, dass sich auch die Partner der Befragten Kindern gegenüber gewalttätiger verhalten, wenn sie
unter dem Einfluss der zuvor genannten Stressfaktoren stehen. Dabei setzten konkret Partner,
denen ehrliche Anerkennung durch andere Menschen fehlt, deren Partnerinnen untreu sind, die
finanzielle Sorgen haben, mit höherer Wahrscheinlichkeit Gewalt gegen ihre Kinder ein. Dazu
kommt, dass Väter, die im Jahr vor der Erhebung
arbeitslos waren, auch häufiger gewalttätig gegen
ihre Kinder wurden (Habermehl 1994).
Trotz der Plausibilität der Argumentation,
Krisen oder Stress als wesentliche Faktoren für Gewalt gegen Kinder verantwortlich zu machen, besteht die Gefahr, Stress zu linear als Verursachungsprinzip für Gewalt gegen Kinder anzusehen. So
verwies Gelles bereits 1975 darauf, dass Belastungen in der Familie, die mit der Kindesmisshandlungen in Zusammenhang stehen, keine ausreichende Erklärung für die Misshandlung von Kindern
darstellen. Um ein darüber hinaus gehendes Modell
der Kindesmisshandlung zu entwickeln, müsste
man erklären, warum Konflikte gerade zu Misshandlungen und nicht zu anderen Reaktionen
führen (Gelles 1975). Ziegler meint, dass abgesehen
von der Problematik, Stressfaktoren im Einzelfall
zu erfassen, die vorliegenden Forschungsergebnisse
auch eine dahingehende Interpretation ermögli-
chen, dass zwischen dem Erleben von Stress und
der Anwendung von Gewalt noch verschiedene
andere Faktoren zu suchen sind. Er verweist in diesem Zusammenhang auf eine von Justice & Calvert
(1985) durchgeführte Untersuchung, in der signifikante Unterschiede im Stressausmaß zwischen den
Gewalt ausübenden Elternpaaren und einer Vergleichsgruppe sichtbar wurden. In dieser Untersuchung waren nicht nur die Stressunterschiede signifikant, sondern auch die Unterschiede zwischen
den Einstellungen der Eltern gegenüber Gewalt.
Die Gruppe Gewalt anwendender Eltern sahen Gewalt als sozial akzeptierte Form des Umgangs mit
Stress oder als Mittel zur Problemlösung (Justice &
Calvert 1985).
Ziegler kommt in seiner Literaturanalyse
schließlich zu dem Schluss, dass spezifische
„Familien-Stress-Theorien“ noch wenig Eingang in
die Literatur zu Ursachen von Gewalt gegen
Kinder gefunden haben. Insgesamt würden eher
personenzentrierte Stresstheorien überwiegen, die
dem familialen Kontext nicht ganz gerecht werden.
Seiner Einschätzung nach könnten allerdings gerade familienorientierte Stresstheorien jenen Anteil
an Ursachenfaktoren zu erklären helfen, die von
gesellschaftlich-struktureller Seite auf die Familie
insgesamt einwirken. Dabei gelte es vor allem aufzuzeigen, wie Stressfaktoren in die Familie als
Ganzes hineingetragen werden, auf die einzelnen
Familienmitglieder übertragen und weitergegeben
und in der Folge von der Familie behandelt und
auch modifiziert werden können (Ziegler 1994).
3.2.2.5 Zusammenfassende Diskussion
der familienbezogenen Ansätze
Insgesamt hat die Forschung über familieninterne Aspekte wesentlich zur Erklärung des Gewaltgeschehens beigetragen. Die Schwerpunktsetzung
auf Familie als Ganzes zeigt, dass eine Reihe von
Umständen in der Familie und deren Umfeld die
Entstehung von Gewalt wesentlich mitbestimmen.
Allerdings konnte der in epidemiologischen Retrospektivstudien erbrachte Nachweis, dass unterge-
7 108 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
wichtige bzw. zu früh geborene Kinder sowie
Kinder mit atypischen oder „schwierigen“ Verhaltensweisen einen hohen Anteil an den Misshandlungsopfern ausmachen, anhand von angelegten
Kontrollgruppenuntersuchungen nicht gestützt
werden. In diesen Studien wurden die oben beschriebenen Verhaltensmerkmale zu früh geborener
Kinder, die als misshandlungsbegünstigend angesehen wurden, nie systematisch erhoben.
Ähnliches gilt für die Kontaktbedingungen auf
der Entbindungsstation, die ebenfalls scheinbar
wenig zur Erklärung von Misshandlungen beitragen können, da das spätere Ge- oder Misslingen
von Mutter-Kind-Beziehungen aus ForscherInnenperspektive methodisch kaum aus den nur wenige
Stunden oder Tage andauernden Phasen des frühen
Kontaktes hergeleitet werden kann.
Insgesamt reichen auch familienbezogene Ansätze nicht aus, Gewalthandlungen an Kindern umfassend zu ergründen. Vielen familienbezogenen
Erklärungsmodellen mangelt es an der Erklärung,
warum es bei Familien mit ähnlichen Charakteristika wie jenen, in denen Gewalttaten vorkommen,
nicht auch zu Gewalthandlungen kommt. Zudem
bleibt offen, warum gerade Gewalt und nicht anderes Verhalten angewandt wird (Ziegler 1994) .
3.2.3 Der sozial-strukturelle Kontext
von Gewalt gegen Kinder – soziologische Erklärungsmodelle
In soziologischen Modellen, die zur Erklärung
von Gewalt gegen Kinder auf sozial-strukturelle
Faktoren Bezug nehmen, wird davon ausgegangen,
dass spezifische, meist ungünstige gesellschaftliche
Rahmenbedingungen den Grad der Belastung von
Familien sowie einzelnen Familienmitgliedern und
das innerfamiliäre Gewaltpotenzial erhöhen. Soziale Rahmenbedingungen können einerseits als
Stressfaktoren wie z.B. Armut, beengte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Isolation oder etwa auch
Umweltbelastungen wie Lärm, Luftverschmutzung, räumliche Dichte und Beengtheit innerfamiliäre Konflikte hervorrufen. Darüber hinaus sind in
Gewalt in der Familie
diesem Zusammenhang auch soziale Normen und
Werte sowie das Ausmaß der Akzeptanz von Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung und Erziehung von Kindern in einer Gesellschaft dafür bedeutsam, inwieweit diese Konflikte auch gewalttätig ausgetragen werden (Ziegler 1994; Wetzels
1997; Engfer 1986). Im Folgenden wird auf einige
der wichtigsten in der Fachliteratur behandelten
sozialen Einflussfaktoren zur Erklärung von Gewalt gegen Kinder näher eingegangen.
3.2.3.1 Strukturelle Belastungsfaktoren
und Kindesmisshandlung
Bei einer überblicksmäßigen Betrachtung der
empirischen Befunde über den Zusammenhang
zwischen strukturellen Belastungsfaktoren und
Kindesmisshandlungen zeigt sich, dass Familien, in
denen Kinder misshandelt bzw. hart bestraft oder
vernachlässigt werden, mehr strukturellen Belastungsfaktoren ausgesetzt sind als andere Familien.
Keinen Konsens gibt es allerdings darüber, welche
Belastungen Gewalt an Kindern in besonderem
Maß fördern.
Engfer konnte in einer Analyse bisher durchgeführter Forschungsarbeiten unter anderem feststellen, dass Alkohol- und Drogenprobleme relativ
häufig in jenen Familien vorkamen, in denen Kinder vernachlässigt wurden. In Familien, in denen
Kinder körperlich misshandelt wurden, ließen sich
diese Probleme allerdings kaum nachweisen
(Engfer 1986).
Zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen
Studien, in denen Belastungsfaktoren wie etwa Armut, finanzielle Probleme oder beengte Wohnverhältnisse untersucht wurden.
Eindeutiger ist der Zusammenhang zwischen
Arbeitslosigkeit und Gewalt gegen Kinder. Sie ist
eine der zentralen Ursachen, die zu wesentlichen
ökonomischen Belastungen für Familien führt, vor
allem wenn sie länger andauert. Arbeitslosigkeit
bringt nicht nur finanzielle, sondern auch soziale
und psychische Erschwernisse für die Beteiligten
mit sich. Sehr oft werden letztere gravierender als
7 109 3
die finanziellen Probleme erlebt. Ziegler (1994) verweist in diesem Zusammenhang auf eine bereits
ältere Arbeit von Martens und Steinhilper (1978), in
der diese einen kausalen Zusammenhang zwischen
dem parallelen Anstieg von Arbeitslosigkeit und
gesetzwidrigen, aggressiven Handlungen grundsätzlich bezweifeln.
Diverse andere Studien kamen allerdings zu
genau gegensätzlichen Ergebnissen. So konnte
nachgewiesen werden, dass Arbeitsverlust erhöhten
Stress bedingt, der in der Folge wiederum einen
Anstieg von Misshandlungen an Kindern zur Folge
hat (Ziegler 1994).
Auch in Hallers Untersuchung wurde deutlich,
dass eine ungünstige wirtschaftliche Situation der
Familie eine wesentliche Ursache für Gewalt gegen
Kinder darstellt. Nach Einschätzung der in der
Studie befragten ExpertInnen ist dies bei 42% der
betroffenen Familien der Fall und neben erzieherischer Überforderung somit der zweithäufigste
Grund für Gewalthandlungen an Kindern. Viele
dieser Familien sind von Arbeitslosigkeit betroffen
und die wirtschaftliche Situation ist besonders gespannt (Haller et al. 1998).
Ziegler (1994) und auch Engfer (1986) machen
allerdings in diesem Zusammenhang auf den fehlenden Konsens darüber aufmerksam, inwieweit
diese Belastungen zu aggressivem Verhalten führen
sowie Kriminalität allgemein oder Gewalt gegen
Kinder im Speziellen zur Folge haben.
In Bezug auf Lebensbelastungen stellt Engfer
zusammenfassend fest, dass Familien, in denen es
zu Kindesmisshandlungen und im Spezifischen zur
Vernachlässigungen von Kindern kommt, sehr oft
hohen Anforderungen ausgesetzt sind. Allerdings
bleibt unklar, ob die festgestellten Belastungsbedingungen Kindesmisshandlungen tatsächlich erklären können. Sie führt dagegen vor allem methodische Bedenken an. Demnach würden in den
wenigsten Studien anspruchsvollere multivariante
Datenanalysemethoden eingesetzt, die den Erklärungsbeitrag von Belastungsfaktoren für die
Vorhersage von Misshandlungen tatsächlich ab-
schätzen könnten. In jenen Studien hingegen, in
denen es zum Einsatz dieser Auswertungsverfahren
kam, zeigte sich, dass Lebensbelastungen nicht so
gewaltfördernd zu sein scheinen, wie in anderen
Untersuchungen vermutet. Dazu kommt, dass vielfach vor allem theoretische Überlegungen über die
psychologischen Vermittlungsprozesse fehlen, mit
deren Hilfe gewalttätige Handlungen an Kindern
erklärt werden könnten.
Sie kommt dabei unter anderem zu dem Schluss,
dass Lebensbelastungen, auch struktureller Art,
nicht unbedingt zu Gewalt gegen Kinder führen
müssen, wenn nicht andere zusätzliche Vorraussetzungen erfüllt sind. Dazu zählen insbesondere
kindbezogene Kognitionen und Affekte, die zu
elterlichen Strafaktionen führen. Ihrer Ansicht nach
lässt sich nur so erklären, warum unter Belastungsbedingungen sehr oft nur bestimmte Kinder zu
Opfern elterlicher Misshandlung werden (Engfer
1986).
3.2.3.2 Soziale Isolation
Bereits in personenzentrierten Untersuchungen
zeigte sich, dass Isolation eine für innerfamiliäre
Gewalthandlungen nicht zu unterschätzende Ursache ist und somit auch zu Misshandlungen an
Kindern führen kann. Sozial ungünstige Strukturbedingungen können persönlichkeitsbedingte Tendenzen der Isolation wesentlich verstärken. Viele
Familien sind nicht nur mit finanziellen Problemen
belastet, sondern ihre Situation ist darüber hinaus
durch soziale Armut charakterisiert. Durch das
Fehlen von Beziehungen zu anderen können im Fall
von Konflikten keine anderen Problemlösungsressourcen aktiviert werden. Isolation wirkt daher
gerade in Krisensituationen stressverstärkend. Daher
sind Familien gerade in diesen Fällen auf Hilfe von
außen, insbesondere auf ein vielfältiges soziales
Netzwerk von Beziehungen angewiesen. Zu den
unterstützenden sozialen Ressourcen zählen nicht
nur Verwandte, FreundInnen, NachbarInnen und
ArbeitskollegInnen, sondern insbesondere auch das
soziale Dienstleistungsangebot (Ziegler 1994).
7 110 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Konkret festgestellt werden konnte, dass vor
allem Familien, die ihre Kinder vernachlässigen,
kaum über soziale Unterstützungssysteme verfügen. Allerdings zeigt sich, dass die bloße Existenz
sozialer Beziehungen körperliche Misshandlungen
nicht verhindern kann.17 Mögliche Annahmen über
die Entlastungsfunktion sozialer Unterstützungssysteme sind daher differenziert zu betrachten. So
erhebt sich etwa die Frage, welche Unterstützungssysteme überhaupt im Stande sind, Familien zu helfen und in der Folge das Misshandlungsrisiko zu
minimieren.
Engfer verweist in diesem Zusammenhang auf
Arbeiten von Starr (1982) und Kotelchuk (1982), in
denen diese den Beleg erbrachten, dass Kontakte zu
professionellen Unterstützungssystemen wie etwa
zu Behörden oder SozialarbeiterInnen, diese Funktion offensichtlich nicht erfüllen können. Zu Kontakten mit VertreterInnen professioneller Unterstützungssysteme kommt es vermehrt bei jenen
Familien, in denen später Misshandlungen nachgewiesen wurden. Behördenkontakte scheinen demnach eher zur Überwachung von Familien zu
führen, in denen die Eltern auch eher angezeigt
werden, wenn sie ihre Betreuungspflicht nicht entsprechend erfüllen. Auch der Kontakt zu FreundInnen, Bekannten und sogar Verwandten hilft nicht
immer Gewalt zu vermeiden. Genauso ist die
Beziehung zwischen EhepartnerInnen kein Garant
für notwendige Unterstützung, auch wenn die
EhepartnerInnenbeziehung vielfach als das wichtigste stressmindernde System angesehen wird. Gerade bei gewaltbelasteten Familien versagt dieses
Unterstützungssystem sehr häufig, da die Beziehung zwischen den EhepartnerInnen so konfliktbeladen ist, dass sie statt stressmindernd zu
wirken zu einem stresserzeugenden Faktor für die
Eltern-Kind-Beziehung wird.
17
Engfer verweist in diesem Zusammenhang sogar auf vereinzelte empirische Belege dafür, dass enge Verwandtschaftsbeziehungen die Anwendung harter Strafen sogar
begünstigen können (Engfer 1986, S. 79f).
Gewalt in der Familie
Somit scheint weniger die Zahl vorhandener
informeller Unterstützungssysteme, als deren Qualität dafür entscheidend zu sein, ob sie entlastend
wirken können und die Eltern-Kind-Beziehung
positiv beeinflussen.
Dazu kommt, dass der vermutete Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und Kindesmisshandlung sich nicht nur so erklären lässt, dass
Kindesmisshandlung unbedingt eine Folge fehlender Unterstützungssysteme sein muss. Denkbar ist
etwa auch, dass Behördenkontakte – gerade wenn
es zu Anzeigen kommt – eine Stigmatisierung der
betroffenen Familie zur Folge haben können, und
diese in der Folge gemieden wird.
Umgekehrt kann die Isolation gewaltbelasteter
Familien auch die Folge von fehlenden Ressourcen
sein. Die betroffenen Familien sind meist nicht nur
weniger im Stande, die alltäglichen Probleme mit
ihren Kindern zu lösen, sondern darüber hinaus
auch als AnsprechpartnerInnen für andere unattraktiv, weil sie selbst wenig Hilfe anbieten können. Neben der Tatsache sozial isoliert zu sein,
können sie daher auch nicht erleben, von anderen
als HelferInnen in Anspruch genommen zu werden. Gerade das könnte aber eine wichtige Erfahrung sein, die für das eigene Wohlbefinden möglicherweise bedeutsamer ist, als einseitig Hilfe in
Anspruch zu nehmen.
Nicht zu unterschätzen ist auch die Tatsache,
dass betroffene Familien oftmals nicht bereit sind,
die angebotene Unterstützung anderer in Anspruch
zu nehmen. Engfer verweist in diesem Zusammenhang auf Untersuchungen von Milner und
Wimberley (1979) sowie von Conger et al (1979),
die nachweisen konnten, dass misshandelnde
Mütter durch ihr geringes Selbstwertgefühl und
depressive Tendenzen daran gehindert sind, soziale
Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. In Krisenzeiten sinkt diese Bereitschaft wahrscheinlich noch
zusätzlich und führt möglicherweise auch zur
Entmutigung jener, die Hilfe anbieten wollen.
Resümierend weist Engfer darauf hin, dass das
Angebot sozialer Unterstützung Familien nicht
7 111 3
zwangsläufig vor gewalthaften Auseinandersetzungen bewahrt. Allerdings darf die Unterstützungsfunktion von sozialen Kontakten auch nicht unterschätzt werden, wenn diese direkt auf die Situation
und die Bedürfnisse der misshandlungsgefährdeten
Familien angepasst sind und in krisenhaften
Situationen entsprechende Hilfen anbieten können
(Engfer 1986).
3.2.3.3 Strukturelle Gewalt
Die Forschungsarbeiten von Galtung (1975)
haben gezeigt, dass gesamtgesellschaftliche Bedingungen von Gewalt mit berücksichtigt werden
müssen. Bei struktureller Gewalt tritt niemand in
Erscheinung, der einem anderen direkt Schaden
zufügen könnte. Die Gewalt ist in das System
eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich auch ungleichen Lebenschancen in der Teilhabe an Besitz, Bildung,
Produktionsmitteln aber auch Rechten. Im Unterschied dazu wird unter personaler Gewalt das individuelle gewalttätige Handeln verstanden (Galtung
1975).
Gil (1975 bzw. 1979) hat diese Überlegungen
aufgegriffen und ein eigenes Modell zur Erklärung
von Gewalt gegen Kinder entwickelt, das in der
Folge für die Kinderschutzarbeit im deutschsprachigen Raum sehr einflussreich wurde. Seiner Ansicht nach ist die Organisation moderner kapitalistischer Gesellschaften gleichbedeutend mit struktureller Gewalt. Er führt dies darauf zurück, dass
die Produktionsmittel in den Händen von wenigen
konzentriert sind und große Teile der Bevölkerung
von der Teilhabe an Besitz, Bildung und sozialem
Prestige ausgeschlossen bleiben. Die soziale Benachteiligung wird vor allem bei Unterschichtangehörigen, die arbeitslos sind oder in Armut
leben, besonders deutlich. Angehörige der Mittelund Oberschicht werden demgegenüber anders mit
struktureller Gewalt konfrontiert, konkret etwa
durch Konkurrenzdruck oder Überforderung bzw.
Vereinsamung, die in gleicher Weise belastend sein
können. Die daraus resultierende Lebenssituation,
eingeschränkte Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigen Erwachsene und
Kinder in gleichem Maße. Allerdings existieren darüber hinaus ideologische und rechtliche Bedingungen, die nach Ansicht von Gil Kinder im Vergleich
zu Erwachsenen besonders benachteiligen. Eltern
haben demnach ein hohes Maß an Verfügungsgewalt über ihre Kinder. Diese sind vor gewalttätigen Übergriffen am wenigsten geschützt, solange
körperliche Strafen, auch wenn sie nicht legitim
sind, als Mittel der Erziehung eingesetzt werden.
Gil weist darauf hin, dass strukturelle Gewalt und
soziale Benachteiligung für Erwachsene Auslöser
für Frustrationen sind. Damit verbundene Lebenssituationen wie Armut, schlechte Wohnverhältnisse, Krankheiten aber auch die Überwachung
durch öffentliche Behörden können mit dem
gleichzeitig vorhandenen Frustrationspotenzial zu
Gewalthandlungen führen. Diese geschehen vor
allem deshalb in Familien, weil hier Gewalt vergleichsweise sanktionslos ausgelebt werden kann.
Kinder werden nach Auffassung von Gil zu bevorzugten Opfern personaler Gewalt, wenn Erwachsene einerseits das aus struktureller Gewalt und
Lebensbelastungen resultierende Frustrationspotenzial an die Kinder weitergeben. Andererseits
ist die Familie bedingt durch ihre hierarchische
Struktur und durch die Ungleichverteilung von
Macht und Ressourcen quasi ein Abbild der strukturellen Gewalt in der Gesellschaft, in der die Kinder vergleichsweise machtlos, benachteiligt und vor
körperlichen Übergriffen am wenigsten geschützt
sind (Gil 1975; Gil 1979; Engfer 1986).
Engfer stellt in kritischer Betrachtung der Überlegungen von Gil zunächst in Frage, ob soziale
Ungleichheit notwendigerweise zu subjektiver
Unzufriedenheit oder Frustration führen muss. Sie
weist darauf hin, dass Unzufriedenheit vor allem
aus der Diskrepanz zwischen subjektivem Anspruch und Entbehrungen, die als fremdverursacht
und vermeidbar angesehen werden, entsteht. Selbst
verschuldete, kollektive und wenig veränderbare
Entbehrungen führen zu weit weniger Unzu-
7 112 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
friedenheit. Dazu kommt, dass mit Armut verbundene Frustrationen viel weniger Aggressionen als
vielmehr Resignation, Depression und psychosomatische Erkrankungen zur Folge hat.
Weiters kommt sie auf Basis von eigenen Untersuchungen zu dem Schluss, dass es nur schwache
Zusammenhänge zwischen bestrafenden Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber Kindern und
väterlichen Arbeitsplatzerfahrungen gibt. Väterliche Frustration am Ende eines Arbeitstages würde
demnach mehr mit in den in der Familie erlebten
oder antizipierten Problemen als mit Arbeitsplatzbedingungen zusammenhängen. Der von Gil
postulierte Zusammenhang zwischen entfremdenden Arbeitsbedingungen als Frustrationsquelle und
gewaltförmigen Vater-Kind-Beziehungen ist daher
ihrer Ansicht nach empirisch nicht belegbar.
Weiters wirft sie die Frage auf, warum aus der
Erfahrung sozialer Ungleichheit entstehende Frustrationen nur innerhalb der Familie zu Gewalttätigkeiten führen sollen. Plausibler wäre doch die
Überlegung, dass sich Frustrationen in Form von
sozialem Protest und Revolutionen gegen die
Herrschaftsverhältnisse selbst richten, wenn sie als
Ursache kollektiver Not und Unterdrückung
erkannt werden.
In Gils Überlegungen bleibt darüber hinaus
weitgehend ungeklärt, warum im Besonderen
Kinder zu Opfern elterlicher Aggressionen werden.
Entsprechend der von ihm postulierten ideologischen Bedingungen, die vor allem Auswirkungen
für Angehörige der Unterschicht haben und für
diese charakteristisch sind, müssten doch beinahe
alle oder zumindest sehr viele Unterschichtkinder
geschlagen werden. Zur Untersuchung des Zusammenhanges zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit
und der Anwendung körperlicher Züchtigung
durchgeführte empirische Untersuchungen konnten dafür keinen empirischen Nachweis erbringen.
Engfer kommt daher in ihrer Analyse zusammenfassend zu dem Schluss, dass Gils These von
der Weitergabe struktureller Gewalt an die Kinder
trotz ihres hohen Plausibilitätsgrades einer diffe-
Gewalt in der Familie
renzierten psychologischen Analyse nicht standhält
(Engfer 1986).
Trotz dieser kritischen Einwände sind Gils
Analysen von Bedeutung, da er als Erster auf die
makrosoziologischen Bedingungen hingewiesen
hat, die gesamtgesellschaftlich betrachtet die
Anwendung von Gewalt gegen Kinder begünstigen
können. Dabei handelt es sich einerseits konkret
um das Ausmaß, in dem eine Gesellschaft die
Anwendung von Gewalt in zwischenmenschlichen
Beziehungen toleriert und andererseits um das
Ausmaß, in dem Kinder in einer Gesellschaft auch
rechtlich geschützt sind. Im Mittelpunkt seines
Interesses stehen daher auch nicht die Motive der
TäterInnen, sondern die gesellschaftlichen Vorraussetzungen von Gewalttaten. Demnach ist
strukturelle Gewalt die Vorraussetzung für individuelle Gewalttätigkeit (Engfer 1986 bzw. Honig
1986).
3.2.3.4 Zusammenfassende Diskussion der
soziologischen Erklärungsmodelle
Im Vergleich zu personen- und familienbezogenen Ansätzen stellen soziologische Modelle zur
Erklärung von Gewalt gegen Kinder eine wichtige
Erweiterung und zum Teil auch ein Korrektiv dar.
Sie machen im Vergleich zu diesen deutlich, dass
vor allem soziale Lebensbedingungen von Familien
zur Erklärung von Gewalt gegen Kinder relevant
sind. Zentrale These vieler soziologischer Erklärungsmodelle ist die Annahme, dass Kinder deshalb
misshandelt werden, weil die Eltern durch eine
Reihe von Lebensbelastungen überfordert sind und
diese Überforderung durch Bezug auf in der eigenen Herkunftsfamilie erlernte Erziehungsmethoden in Form von Aggression an die Kinder weitergeben. Diesen Erklärungsmodellen zufolge kann
die Weitergabe von Gewalt nur durch soziale
Unterstützungssysteme verhindert werden, welche
das familiäre Geschehen überwachen und in
Krisenzeiten auch entlasten. Zudem analysieren
soziologische Erklärungsmodelle Strukturmerkmale von Familie, die auf das familiäre Leben kon-
7 113 3
flikt- und damit in der Folge auch gewaltbegünstigend wirken können.
Kritik wurde allerdings dahingehend geübt,
dass soziale Stressfaktoren sowie sozial geteilte
Normen und Werte für die Erklärung zwischenmenschlicher Gewalthandlungen nur bedingt
geeignet sind, wie sich anhand der Ergebnisse empirischer Untersuchungen zeigt. Demnach sind
Lebensbelastungen per se nicht so gewaltauslösend,
wie das in diesen Ansätzen nahe gelegt wird. Von
Lebensbelastungen und Stress sind auch andere
Familien oftmals noch dazu in einem viel höheren
Ausmaß betroffen, ohne dass es bei diesen zu innerfamiliären Gewalthandlungen kommt. Selbst wenn
bestimmte Lebenssituationen wie Arbeitslosigkeit,
Krankheiten, Ehekonflikte etc. das Risiko von
Gewalthandlungen scheinbar erhöhen, ist dieser
Zusammenhang nicht notwendig gegeben, sondern
kann durch in der Familie und im sozialen Nahraum vorhandene persönliche und soziale Ressourcen gemäßigt werden (Engfer 1986 bzw. Wetzels
1997).
Engfer sieht die Grenze soziologischer Erklärungsansätze darin, dass sie zwar allgemein gewaltfördernde Bedingungen feststellen, gleichzeitig
allerdings nicht erklären können, warum in einer
Familie oftmals nur ein bestimmtes Kind misshandelt wird. Sie hält es in diesem Zusammenhang für
notwendig, elterliche Kognitionen und Affekte in
der Beziehung zu einem bestimmten Kind und auch
das kindliche Verhalten selbst in die Analyse mit
einzubeziehen (Engfer 1986).
3.2.4 Integrative Modelle zur
Erklärung von Gewalt gegen Kinder
Im Bemühen, das Phänomen Gewalt gegen
Kinder zu erklären, standen zunächst biologische,
psychologische und soziologische Theorien konkurrierend nebeneinander. Seit Mitte der 70er-Jahre
wurde allerdings zunehmend der Versuch unternommen, Ansätze verschiedener Fachrichtungen in
neue Erklärungsansätze zu integrieren. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass keine Theorie
alleine eine die Gewalt in allen Fassetten widerspiegelnde Erklärungsbasis vermitteln konnte.
3.2.4.1 Das sozialpsychologische
Erklärungsmodell von Gelles
Gelles (1975) war einer der Ersten, der zu
Beginn der 70er-Jahre versucht hat, diese konkurrierenden Modelle zu verbinden, indem er das so
genannte „sozialpsychologische Ursachenmodell“
zur Erklärung von Gewalt gegen Kinder entwickelte. Er ging dabei von der Annahme aus, dass
Belastungen, Konflikte sowie psychopathologische
Verhaltensweisen keine ausreichende Erklärung für
gewalttätiges Verhalten bieten. In diesem Zusammenhang müsste man seiner Ansicht nach erklären,
warum Konflikte gerade zu Misshandlungen und
nicht zu anderen Verhaltensweisen führen.
Gelles geht zwar auch davon aus, dass ein bestimmter Anteil der Kindesmisshandlung eine Auswirkung psychopathischer Zustände ist (siehe
nebenstehende Skizze II.1 links unten). Diese stellen jedoch nur eine mögliche, gleichzeitig aber nicht
notwendig intervenierende Variable dar. Indem es
die soziokulturellen Ursachen von Kindesmisshandlung analysiert, geht das Modell über monokausale Erklärungen hinaus. Folgende Faktoren
werden dabei integriert (siehe nebenstehende
Skizze II.1)
3 Frustration und Stress
3 strukturelle Bedingungen
3 soziale Position
3 Familienrollen
3 Arbeitslosigkeit
3 Normen in Bezug auf angemessene Verhaltensformen
3 Ausmaß der körperlichen Bestrafung von
Kindern.
3 Rolle des Kindes: Anlage, Verhalten und Forderungen sind in Hinblick auf Kindesmisshandlung nach Gelles sowohl kausale als auch
beschleunigende Faktoren (Gelles 1975).18
7 114 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Skizze II.1:
Das sozialpsychologische Erklärungsmodell von Gelles
Soziale Stellung der Eltern
Alter
Geschlecht
soziökonomischer Stress
Schicht und Lebensmilieu
Werte und Normen in bezug auf Gewalt
‚Subkultur der Gewalt‘
Situationsbedingter Stress
Plötzlich eintretende Situationen
Kindliches Fehlverhalten
Auseinandersetzungen
A. Elterliche Beziehungen
1. Mischehe
2. Ehestreitigkeiten
B. Struktureller Stress
1. Zu viele Kinder
2. Arbeitslosigkeit
3. Soziale Isolation
4. Bedrohung der elterlichen Autorität,
Werte und Selbstachtung
Kindesmisshandlungen
1. Einmalige körperliche
Bedrohung
2. Wiederholte Bedrohungen
3. ‚Psychische
Gewaltanwendung‘ und
verbale Angriffe
C. Durch das Kind verursachter Stress
1. Unerwünschtes Kind
2. ‚Problem Kind‘
(cholerisch, unzufrieden,
Disziplinproblem, krank, körperliche
Missbildungen, resardiert)
Sozialisationserfahrung
Misshandlung
Rollenmodell der Gewalt
Aggression
18
Psychopathische Zustände
Persönlichkeitsmerkmale, Charakterzüge
Mangelnde Kontrolle
Neurologische Störungen
Gelles weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Darlegung dieses Modells von Bestimmungsgrößen für Kindesmisshandlung weder den Zweck hat, eine erschöpfende Liste von Ansätzen zu bieten, noch einen Ansatz zu bevorzugen.
Vielmehr ging es ihm darum, die Komplexität und die zu Kindesmisshandlung führende Wechselbeziehung von Faktoren
darzustellen (Gelles 1975).
Gewalt in der Familie
7 115 3
Gelles trägt in seinem Modell das Anfang der
70er-Jahre bestehende Wissen der bis dahin vorhandenen Ansätze aus den unterschiedlichen Disziplinen zusammen. Gelles hat so entscheidend zur
Kritik an monokausalen Erklärungsmustern und
den vielfältigen methodologischen Schwächen der
klinisch-psychiatrischen Studien beigetragen,
indem sein Modell die Multidimensionalität und
die komplexen Bedingungen von Gewalt in den
Familien aufzeigt.
Honig (1986) verweist allerdings darauf, dass es
sich streng genommen um kein alternatives
Erklärungsmodell handelt, da auf theoretischer
Ebene keine völlige Neukonzeption vorgenommen,
sondern aus verschiedenen Erklärungsmodellen
stammende Faktoren puzzleartig zusammengesetzt
wurden. Als solches entwickelte es sich allerdings
zum Vorbild für andere Untersuchungen. Der in
der Folge entstandene Zuwachs an Wissen über
Gewalt an Kindern und über familiäre Gewalt allgemein stammt wesentlich aus statistischen Analysen von Zusammenhängen zwischen einzelnen
Faktoren bzw. Faktorengruppen, die nach dem
Vorbild von Gelles entwickelt wurden.
3.2.4.2 Gewalt gegen Kinder als ethnopsychologische Störung – das multifaktorielle Erklärungsmodell von Wolff
Im deutschsprachigen Raum war Wolff (1982
bzw. 1983) einer der Ersten, der seinen Erklärungen
für Ursachen von Gewalt gegen Kinder und
Kindesmisshandlung19 ein gesamtgesellschaftliches
Verständnis zu Grunde legte. Ausgangspunkt war
die Überlegung, dass die Ursachen von Kindesmisshandlung als psycho-soziokulturelles Syndrom
nur dann erfasst werden können, wenn man ein
Verständnis von der Entwicklung und der Proble19
Honig verweist darauf, dass die synonyme Verwendung
von „Kindesmisshandlung“ und „Gewalt gegen Kinder“
ein Ineinander von politisch/gesellschaftlicher Gewalt
einerseits und familialer sowie persönlicher Gewalt
andererseits deutlich macht (Honig 1986).
matik der Reproduktionsprozesse gewinnt und ihre
gesellschaftliche Formbestimmtheit herausarbeitet.
Er geht davon aus, dass gesellschaftliche Strukturprobleme wie Entfremdung, Konkurrenz und
Isolierung bei gleichzeitigem Verlust von verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Verhältnissen
in kapitalistischen Produktionsverhältnissen auf die
Beziehungen innerhalb von Familien einwirken.
Die moderne Kleinfamilie steht vor enorm gestiegenen Anforderungen, die Reproduktivkräfte der
Menschen zu stärken, sodass sie über die dem Stand
der Produktionsprozesse entsprechenden Fähigkeiten verfügen und in der Folge auch gesellschaftlich
zu bestehen im Stande sind. Die Eltern-KindBeziehungen stehen nach Aussage von Wolff auf
der Grundlage einer autoritären Erziehungstradition und sind durch gesellschaftliche Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse geprägt.
Kinder würden unter diesen Bedingungen immer
wieder in die Rolle von Objekten gedrängt werden.
Ob Eltern Gewalt anwenden, hängt seiner Ansicht
nach wesentlich davon ab, welche Möglichkeiten
der Entfaltung und Befriedigung ihnen zur
Verfügung stehen.20
Das Phänomen Gewalt gegen Kinder sollte
daher immer auch im Zusammenhang mit gesellschaftlich bedingter, struktureller Gewalt interpretiert werden. Seiner Auffassung nach wäre es ein
Fehler zahlreicher Beiträge, den Zusammenhang
zwischen gesellschaftlicher und persönlicher
Gewalt nicht aufzudecken. Deshalb ist es notwendig, eine neue theoretische Perspektive zu entwickeln, um mehr Verständnis für Kindesmisshandlung und -vernachlässigung in Familien erreichen
zu können, die diese sowohl als Problem individueller Psychopathologie als auch als Familienstörung, weiters als gestörtes Muster der Kindererziehung sowie als gesellschaftliches Problem sozia20
7 116 3
Dies ist seiner Meinung nach auch der Grund, warum in
den untersten Schichten der Arbeiterklasse, die nur sehr
begrenzte materielle Mittel zur Verfügung hat, vermehrt
Kindesmisshandlungen auftreten (Wolff 1983).
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
ler Ungleichheit und politischer Herrschaft beschreibt.
Er verändert daher seinen Forschungsschwerpunkt von einer Analyse der Gesellschaft zu einer
Analyse familialer Soziopathie. Gewalt gegen
Kinder und Kindesmisshandlung versteht er ab diesem Zeitpunkt als ethnopsychische Störung. Darunter versteht er ein „strukturiertes psycho-kulturelles Symptomgefüge, ein Muster, das die moderne
Gesellschaft ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt,
um einen besonderen inter- und intrapsychischen
familialen Konflikt auszudrücken“ (Wolff 1982).
Unter bestimmten Bedingungen wird dieses soziokulturelle Muster der Gewaltanwendung von
Eltern gegen Kinder zum Einsatz gebracht.
Das Erklärungsmodell von Wolff integriert eine
historische, soziologische, psychologische sowie
eine psychoanalytische Dimension von Gewalt.
Daraus ergibt sich folgender Zusammenhang: Historisch betrachtet hat sich die personale Gewalt
minimiert, während die staatliche Gewalt ausgedehnt wurde. Eine Intensivierung und Ausdehnung
von systematischen Sozialisationsverfahren hat zur
Verinnerlichung der in spätkapitalistischen Arbeitsprozessen geltenden Normen geführt. Schließlich
kam es zu einer Abtrennung der Kindheit vom
Leben der Erwachsenen und zu einer Verrechtlichung der Kindheit. Obwohl Kindern mehr Rechte
zugesprochen wurden, sind sie Erwachsenen gegenüber weniger gleichgestellt.
In seiner soziologischen Analyse zeigt Wolff,
dass die Anforderungen an die Familie und ihre
Kompetenz, Kinder zu erziehen, enorm zugenommen haben. Andererseits sind die Chancen, diese
Aufgabe auch zu bewältigen, deutlich gesunken.
Infolge dieser ambivalenten Situation kann das
Muster einer gewaltsamen Konfliktlösung zwischen Eltern und Kindern aktiviert werden.
In einer psychologischen bzw. psychoanalytischen Auseinandersetzung werden individuelle
Aspekte von Kindesmisshandlung näher beleuchtet. Demnach haben misshandelnde Eltern im
Verlauf ihrer Sozialisation eine nur durch wenig
Gewalt in der Familie
liebevollen Umgang charakterisierte Mutter-KindBeziehung erlebt, in der als unterdrückend empfundene Erziehungsmaßnahmen eingesetzt wurden.
Eltern mit diesen Sozialisationserfahrungen sind
demnach Ich-schwache, mit aggressiven Motiven
von außen identifizierte und zugleich auch in ihrer
Liebesfähigkeit beeinträchtigte Persönlichkeiten.
Zur Kindesmisshandlung kann es in der Folge
führen, wenn neben der erwähnten „IchSchwäche“ und der beeinträchtigten Liebesfähigkeit bei betroffenen Personen belastende Faktoren
wie eine wirtschaftlich-finanzielle Notlage, Ehekrise o. Ä. hinzu kommen. Dies kann bedingen,
dass das soziale Muster „gewaltsame Konfliktlösung“ aktiviert wird.
Dem von Wolff entwickelten multidimensionalen Modell zur Erklärung von Gewalt gegen Kinder
liegt ein gesellschaftliches Verständnis dieser
Problematik zu Grunde. Ziel ist es, monokausal
ausgerichtete Erklärungsmodelle sowie personenzentrierte, klinisch-psychiatrische Forschungsansätze der Täter-Opfer-Beziehung zu überwinden.
Er stellt damit das Phänomen Gewalt gegen Kinder
in einen umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhang von Gewalttätigkeit innerhalb sozialer
Beziehungen und struktureller Gewalt.
7 117 3
3.2.4.3 Ökopsychologische
Erklärungsmodelle von Gewalt
gegen Kinder
In ökopsychologischen bzw. ökososzialen
Erklärungsansätzen wird menschliches Verhalten in
seinen gesamten Lebensbezügen zu einem psychologischen bzw. sozialen Untersuchungsgegenstand
gesehen, mit dem Ziel, die Prozesse wechselseitiger
Beeinflussung von Individuen und Umwelt sowie
deren Bedingungen und Auswirkungen wissenschaftlich zu erfassen.21 Bronfenbrenner (1981)
sieht in seinem ökosozialen Modell die ökologische
Umwelt insgesamt als eine hierarchisch geordnete
und netzartig verknüpfte Struktur, die sich auf vier
verschiedenen Ebenen und Umweltsystemen manifestiert, konkret dem Mikrosystem22, dem Mesosystem23, dem Exosystem24 und dem Makrosystem25. Beschreibung, Erklärung und Vorhersage
menschlichen Verhaltens basiert auf dem Wissen
und der Kenntnis dieser vier Ebenen und deren
Vernetzung (Ziegler 1994).
Belsky (1980; 1984) und Garbarino (1976; 1977;
1981) haben den von Bronfenbrenner (1981) entwickelten ökosozialen Erklärungsansatz auf das
Phänomen Gewalt gegen Kinder übertragen und
erweitert. Ihr Ziel war es, die genannten Ebenen in
einem integrativen Modell zu verbinden. Konkret
21
22
23
24
25
ging es darum, alle individuellen d.h. biologischen,
physiologischen und psychologischen Merkmale
aufseiten der Kinder und Eltern, alle Merkmale
familiärer Interaktion sowohl zwischen EhepartnerInnen als auch zwischen Eltern und Kindern,
weiters alle möglichen und relevanten, die Familie
direkt umgebenden und beeinflussenden Gegebenheiten wie Wohnverhältnisse, Arbeits- und Schulbedingungen sowie den gesamtgesellschaftlichen
Kontext, der die vorher genannten Bedingungen
umschließt, in ein einziges Modell zu integrieren.
Zu den von Bronfenbrenner entwickelten vier
Systemebenen wurde eine weitere ergänzt:
3 die ontogenetische Systemebene oder ontogenetische Entwicklung, wie Belsky sie nennt. Die
Absicht war, damit der Geschichte und der
Sozialisation der Eltern mehr Rechnung zu tragen, insbesondere ihrer eigenen Gewalterfahrung als Kinder. Es geht also um die individuelle Entwicklung der Eltern sowie um Einflüsse,
die späteres Gewalthandeln wahrscheinlicher
machen.
3 Auf der Mikroebene lassen sich Strukturmerkmale von Familie wie etwa Aktivitäten,
Rollen und zwischenmenschliche Beziehungen
analysieren, die für die Familie bestimmend
sind.
Nach Mogel besteht die Aufgabe der Ökopsychologie darin, das Wechselwirkungsgefüge Mensch und Umwelt in seiner
ganzen Komplexität, d.h. ganzheitlich nach bestimmten Dimensionen zu analysieren – konkret nach seinen Inhalten und
Formen, nach seinen Bedingungen und Auswirkungen und damit nach seiner Beeinflussbarkeit bzw. Nichtbeeinflussbarkeit
durch die Systembestandteile (Mogel 1984).
Ein Mikrosystem ist nach Definition von Bronfenbrenner ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten sowie Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, welches die Personen in einem vorhandenen Lebensbereich mit den ihnen eigentümlichen
physischen und materiellen Merkmalen erleben (z.B. die Strukturmerkmale einer Familie) (Bronfenbrenner 1981, S. 41).
Ein Mesosystem umfasst nach Bronfenbrenner die Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich
entwickelnde Person beteiligt ist. Ein Mesosystem kann somit als System von Mikrosystemen betrachtet werden.(z.B.:
Bekanntschafts- und Freundschaftsbeziehungen) (Bronfenbrenner 1981).
Unter Exosystem versteht Bronfenbrenner einen oder mehrere Lebensbereiche, an dem/denen die sich entwickelnde Person
nicht selbst beteiligt ist, in dem/denen aber Ereignisse stattfinden, die beeinflussen, was in ihrem Lebensbereich geschieht
oder die davon selbst beeinflusst werden (z.B. Gemeinde- und Schulorganisation) (Bronfenbrenner 1981).
„Den Komplex ineinandergeschachtelter, vielfältig zusammenhängender Systeme [...] betrachten wir als das sichtbare
Ergebnis von überwölbenden, einer Kultur oder Subkultur gemeinsamen ideologischen und organisatorischen Mustern
sozialer Institutionen. Diese generalisierten Muster nenne ich die Makrosysteme.“ (Bronfenbrenner 1981).
7 118 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Meso- und Exosystem wurden von den Autoren zu einer Dimension zusammengefasst.
Diese Systemebenen beschreiben die unmittelbare familiäre Lebenswelt. Wichtige Einflussfaktoren sind etwa die wirtschaftliche Situation
von Familien, Arbeitslosigkeit oder materielle
Armut, aber auch fehlende soziale Unterstützung, die konflikt- und damit in der Folge
auch gewaltfördernd auf das Mikrosystem
Familie einwirken.
3 Zur Ebene des Makrosystems zählen all jene in
einer Gesellschaft wirksamen kulturellen und
sozialen Normen, die gewaltbegünstigend wirken können (Wetzels 1997; Ziegler 1994; Engfer
1986).
Belsky geht davon aus, dass ontogenetische
Faktoren und Faktoren auf der Ebene des Mikrosystems ausschlaggebend für die Erklärung des
elterlichen Erziehungsverhaltens als auch für elterliche Gewalt gegen Kinder sind. Einflussfaktoren
auf der Ebene des Exo- und Makrosystems sind im
Vergleich dazu nur Rahmenbedingungen, die bestehende Risikofaktoren verstärken oder abschwächen
können. Diese werden aber nur über Individuen,
deren Persönlichkeit sowie ihre Interaktionen auf
der Ebene des Mikrosystems der Familie wirksam.
Auf der Ebene des Mikrosystems steht die elterliche Paarbeziehung im Vordergrund. Wie diese
gestaltet wird, kann auf Basis ontogenetischer
Faktoren erklärt werden (Wetzels 1997).
Das sozialökologische Konzept lässt sich nach
Ansicht von Honig (1986) am besten vor dem
Hintergrund des Lebenszyklus von Familien verstehen. Zentral ist der falsche Zeitpunkt, zu dem
wichtige Ereignisse stattfinden. Eine Schwangerschaft zu einem ungünstigen Zeitpunkt etwa erfordert einen oftmals zu raschen Übergang in die
Elternrolle. Zusammen mit schwachen ökonomischen Ressourcen kann dies zu einer Krise für junge
Familien führen. Umgekehrt kann sich eine Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit zur Folge hat, auf
die Eltern-Kind-Beziehung auswirken, indem die
Gewalt in der Familie
Eltern den Versuch unternehmen, die Kontrolle
über die Familiensituation durch strenge Disziplinierung der Kinder zurückzugewinnen. Diese Bedingungen machen Familien strukturell verwundbar. Daraus ergibt sich aber nicht notwendigerweise, dass Kinder misshandelt und vernachlässigt
werden. Dies erfordert die Erfüllung von zwei weiteren Bedingungen: Die Anwendung körperlicher
Gewalt gegen Kinder muss kulturell akzeptiert und
die Familie von sozialen Unterstützungssystemen
ausgeschlossen sein. Relative Armut und der Mangel an Unterstützungssystemen führen zu einer sozialen Verarmung und schwächen die einer Familie
zur Bewältigung von persönlichen Schwierigkeiten
und Beziehungsproblemen zur Verfügung stehenden Ressourcen.
Honig (1986) sieht vor allem in Garbarinos
Modell ein wohlfahrtspolitisches Konzept enthalten. Nicht die Störung ist das Problem, sondern der
Mangel an Ressourcen, um ihr abzuhelfen. Diese
Störung ist strukturell angelegt in der Relation von
Eltern, Kindern und gesellschaftlicher Umwelt.26
Daraus ergibt sich folgende Schlussfolgerung: Die
Veränderung kultureller Wertorientierungen, der
Wandel der traditionellen Familienstruktur und die
Schwächung der wirtschaftlichen Basis von Familie
beeinträchtigen ihre persönlichen Ressourcen, aus
eigener Kraft die Gefährdung von Kindern zu vermeiden, wenn es zu Krisen kommt oder andere
belastende Faktoren dazu treten. Familien ohne
soziale Unterstützung durch NachbarInnen oder
Freundschaften bzw. soziale Dienstleistungen sind
überfordert.
Ziegler (1994) weist darauf hin, dass mit dem
von Garbarino und Belsky (1983) erweiterten ökosozialen Erklärungsansatz die Ursachenvielfalt für
das Phänomen Gewalt gegen Kinder theoretisch
deutlich erklärt und fassbar gemacht werden kann.
26
7 119 3
Nach Honigs (1986) Ansicht unterscheidet gerade diese
theoretische Verbindung Garbarinos Modell von Gelles
„Faktoren-Puzzle“.
Er führt dafür mehrere Gründe an:
1. Die komplexe Abhängigkeit von Gewalt wird
begründet und es kommt zu einer Verknüpfung
von strukturellen und personalen Bedingungen
für Gewalt.
2. Unterschiedlich mögliche, im Einzelfall konkret
zu bestimmende Ursachenzusammenhänge
können abgeleitet werden.
3. Kontextbezogene Gewichtungen der Systemebenen werden möglich. In manchen Fällen lassen sich psychopathologische Persönlichkeitsmerkmale misshandelnder Eltern als Erklärung
favorisieren, in anderen wird eher der Dominanz struktureller Gewaltverhältnisse mehr Erklärungsgehalt zugesprochen.
4. Weiters lässt sich aufzeigen, wo präventive
Maßnahmen angesetzt werden müssen.
Honig (1986) kritisiert am sozioökologischen
Konzept von Garbarino (1983) allerdings, dass
Familie in diesem Modell ausschließlich als
Kindererziehungsinstitution erscheint. Männer,
Frauen und Kinder in Familien entwickeln keine
Eigenaktivität. Das sozialökologische Modell unterstellt, ohne dies explizit zu thematisieren, dass
die moderne Familie sich an die historisch wandelnden Funktionsanforderungen anpasst. Die Möglichkeit, Familie anders als in der traditionellen geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung zu leben,
wird genauso wenig in Betracht gezogen wie jene
Aspekte des sozialen Wandels, die Auswirkungen
auf die Identität des traditionellen Familienmodells
haben. Dort, wo es eine Theorie der Familie geben
müsste, setzte Garbarino ein Konzept von Intaktheit, konkret einen Normalitätsstandard. Dieser
geht als Konstante in sein Modell in der Funktion
sozialer Netzwerke ein: Intaktheit ist dann gegeben, wenn soziale Netzwerke Unterstützung geben
bzw. soziale Kontrolle ausüben. Ohne Problemdefinitionen der Betroffen, d.h. ohne ihre Lebenspläne zu berücksichtigen, lassen sich nach Ansicht
von Honig allerdings weder Intaktheit noch Krisen
von Familien feststellen. „Ohne ein Feed-back zwi-
schen sozialen Ressourcen einerseits, Familienmitgliedern und ihren Vorstellungen andererseits,
wäre das Modell von Garbarino als ein Modell sozialpolitischer Intervention kaum mehr als eine
Rechtfertigung vorbeugender sozialer Kontrolle,
welche die Vielfalt privater Lebensformen und die
Konflikte sowie Ambivalenzen familialer Beziehungsstrukturen zu normalisieren verspricht und
durch den Verzicht auf objektivierte Eingriffskriterien nur flexibler, nicht etwa liberaler wird: eine
sozialhygienische Utopie.“ (Honig 1986, S. 85f).
Engfer kritisiert zudem, dass Garbarino die
Bedeutung von Nachbarschaftssystemen für eine
Reduktion des Misshandlungsrisikos vermutlich
überschätzt, da er die Umstände, unter denen
Personen bzw. Familien bereit sind, Unterstützung
anzunehmen bzw. abzulehnen, nicht näher beachtet
(Engfer 1986). Wie oben bereits erwähnt, sind
betroffene Familien oftmals nicht bereit, die ihnen
angebotene Unterstützung anderer in Anspruch zu
nehmen, etwa weil Mütter durch ihr geringes
Selbstwertgefühl und Depressivität nicht im Stande
sind, soziale Kontakte zu knüpfen und zu pflegen
(vgl. Kapitel 3.2).
Trotz der Kritik hebt Engfer (1986) hervor, dass
Garbarino mit dem sozioökologischen Modell im
Vergleich zu anderen Erklärungsmodellen deutlich
gemacht hat, dass Kindesmisshandlungen nicht nur
ein familieninternes Problem sind, sondern auch
mit den Ressourcen anderer Leute in Zusammenhang stehen, die Familien unterstützen können.
3.2.5 Zusammenfassung
Bei näherer Betrachtung der oben dargestellten
Erklärungsansätze zeigt sich, dass die Begriffsbestimmungen von ErziehungswissenschafterInnen, SoziologInnen, PsychologInnen und ÄrztInnen, die sich mit der Thematik Gewalt gegen
Kinder auseinandersetzen, sehr stark differieren.
In Bezug auf die vorgestellten Ansätze zur Erklärung von physischer Gewalt gegen Kinder lassen
sich trotz der unterschiedlichen Begriffsbestimmungen einige Entwicklungslinien feststellen.
7 120 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Bis in die 70er gab es eine klar erkennbare Tendenz, das Phänomen Kindesmisshandlung auf
der Basis von gerichtsmedizinischen und strafrechtlich-kriminologischen Untersuchungen als
Problem von einzelnen gestörten Persönlichkeiten zu sehen. Diese Erklärungsmodelle basierten meist auf einem personenzentrierten Gewaltbegriff. Sie umfassen alle Modelle, die zuvor
unter den personenzentrierten Ansätzen näher
beschrieben wurden. Den TäterInnen wurde individuell die gesamte Verantwortung für Gewalthandlungen zugewiesen. Sie wurden als
PsychopathInnen und als kranke Persönlichkeiten bezeichnet. Somit wurden mögliche gesellschaftliche Einflüsse von Gewalt nicht in die
Bedingungsanalyse mit einbezogen.
3 Ab Mitte der 70er-Jahre wurde Gewalt zunehmend als ein gesamtgesellschaftliches und politisches Problem angesehen. Im Zuge dieser
Entwicklung wurde das Problem Gewalt gegen
Kinder aus dem Tabubereich befreit und öffentlich skandalisiert.
3 Insgesamt wird in der Geschichte der Erforschung des Phänomens Gewalt in der Familie
eine Tendenz von monokausal ausgerichteten
Theorien zu multidimensionalen Modellen
sichtbar, welche die Komplexität gesellschaftlicher, sozialer und politischer Bedingungen
sowie deren Veränderungen berücksichtigen.
3 Durch die steigende Sensibilisierung für innerfamiliäre Gewaltphänomene wird auch auf
theoretischer Ebene die Komplexität gesellschaftlicher, sozialer und politischer Einflussfaktoren in die Entwicklung multidimensionaler Erklärungsansätze von Gewalt gegen Kinder
einbezogen. Wesentlich verantwortlich dafür
waren die Veröffentlichungen von Galtung
(1975) mit dem von ihm entworfenen Konzept
der strukturellen Gewalt. Das von Wolff (1982)
entwickelte multidimensionale Erklärungsmodell zur Erklärung von Gewalt gegen Kinder
eröffnete einen differenzierteren Umgang mit
familialen Gewaltproblemen. Seinem Erklä-
Gewalt in der Familie
rungsansatz liegt ein explizit gesellschaftliches
Verständnis von Gewalt gegen Kinder zu
Grunde und ist somit ein multidimensionaler
Ansatz zur Erklärung des Gewaltproblems in
der Familie. Ähnlich stellt auch der multidimensionale Erklärungsansatz von Gelles einen
Versuch dar, die Gesamtheit der in einer Krise
zusammentreffenden Belastungs- und Risikofaktoren für das Entstehen gewalttätigen Verhaltens innerhalb von Familien sowie deren spezifische Abhängigkeiten und Bedingungen zu
erfassen.
Insgesamt zeigt sich, dass im Zuge der Entwicklung von eindimensionalen hin zu multifaktoriellen Theorieansätzen deutliche Fortschritte
erzielt werden konnten und somit die Komplexität
der Problematik Gewalt gegen Kinder sichtbarer
wurde.
3.3 Ursachen für psychische
Gewalt gegen Kinder
Psychische Gewalt gegen Kinder ist ein in der
wissenschaftlichen Forschung und Literatur weitgehend vernachlässigter Problembereich. Die einzige sich wissenschaftlicher Methoden bedienende
Untersuchung, die sich explizit mit dieser Thematik
auseinandergesetzt hat, ist die von Levetzow (1934)
veröffentlichte Dissertation zum Thema „seelische
Kindesmisshandlung“. Sie versteht unter seelischer
Kindesmisshandlung ein schweres Schädigen des
seelischen Wohlbefindens eines Wehrlosen, das
ohne vernünftigen Zweck oder außer jedem
Verhältnis zu einem vernünftigen Zweck vor sich
geht. Zu den möglichen Formen seelischer Kindesmisshandlung zählt Levetzow etwa verächtliche
Behandlung, Zwang zu demütigender oder Ekel
erregender Tätigkeit, Einjagen von Furcht und
Schrecken, Verbot des Umgangs mit anderen
Kindern (Levetzow zit. nach Sommer 1994).
7 121 3
Ansonsten können nur vereinzelt Äußerungen zu
dieser Thematik gefunden werden. In den wenigen
bisher veröffentlichten Erklärungsansätzen sieht
Herzka (1989) psychische Gewalt gegen Kinder in
einem Kontrast zwischen den Gewohnheiten und
den Bedürfnissen der Erwachsenen und den altersgemäßen Bedürfnissen des Kindes begründet, die
weitgehend durch seinen Entwicklungsstand bedingt sind. Seelische Gewalt ist seiner Meinung
demnach Ausdruck des Machtkampfes zwischen
Erwachsenen und Kindern. Der Machtkampf liegt
in der Einstellung begründet, dass das Kind nur
vom Erwachsenen zu lernen und sich ihm anzupassen hat.
Insgesamt scheint es sowohl auf methodischer,
methodologischer als auch inhaltlicher Ebene sehr
schwer, eindeutige Kriterien zur Beurteilung psychischer Gewaltanwendung festzulegen. So bestehen fließende Übergänge zwischen gesellschaftlich
noch akzeptiertem Erziehungsverhalten und Verhaltensweisen, die unter dem Begriff psychische
Gewalt gefasst werden können. Der Nachweis psychischer Gewaltanwendung ist auch deshalb
schwierig, da sich die Folgen ebenfalls nicht leicht
objektivieren lassen. Ein seelisch misshandeltes
Kind hat häufig keine deutlich sichtbaren Verletzungen, sondern zeigt ein Fehlverhalten wie etwa
Angst oder trotziges Verhalten, das auf verschiedenste, nicht zwangsläufig psychische Gewaltanwendung hinweist. Somit lassen sich auf der Ebene
der Ursachen nur schwer eindeutig kausale Zusammenhänge zwischen bestimmten Verhaltensformen
der Erziehungspersonen und den psychischen
Störungen des Kindes ziehen (Sommer 1994). Die
Forschung ist in diesem Bereich gefordert,
Anstrengungen zu unternehmen, ihr methodisches
Repertoire zu erweitern, um dieses Phänomen
deutlicher erfassen zu können.
27
3.4 Ursachen für sexuelle
Gewalt gegen Kinder
Ähnlich wie zur Erklärung von physischer
Gewalt gegen Kinder existieren unterschiedliche
Ansätze zur Begründung von sexueller Gewalt
gegen Kinder. Diesbezüglich lassen sich mehrere
Theorieebenen unterscheiden:
1.) Individualisierende Theorien: In diesen Erklärungsansätzen wird sexuelle Gewalt gegen
Kinder auf Einzelpersonen mit oftmals krankhaften Merkmalen zurückgeführt.
2.) Familiendynamische Theorien: Diese sehen die
Ursache sexueller Gewalt gegen Kinder im
System Familie, das durch Störungen belastet
ist.
3.) Feministische Theorien: In diesen Modellen
wird die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern als zentrale Ursache für sexuelle Gewalt
gegen Kinder genannt.
4.) Multifaktorielle Erklärungsmodelle: Diese Erklärungsansätze beschreiben Umstände und
Ursachen von sexuellen Gewalthandlungen an
Kindern auf Basis mehrerer interagierender
Faktoren.
3.4.1 Personenzentrierte Ansätze
Personenzentrierte Theorien zur Erklärung von
sexueller Gewalt gegen Kinder zählen zu den traditionellen Ursachenmodellen. Gemeinsam ist diesen,
dass besondere Charakteristika bzw. Auffälligkeiten des/der TäterIn oder des Opfers im Mittelpunkt der Beobachtung stehen.
So gehen VertreterInnen dieser Richtung etwa
davon aus, dass männliche im Vergleich zur weiblichen Sexualität aus biologischen Gründen aggressiver und zudem mehr auf Angriff ausgerichtet ist.27
Brockhaus verweist in diesem Zusammenhang auf eine Arbeit von Leonhard (1964), in der dieser die Ansicht vertritt, dass
sexuelle Gewalt höchstens aus einem Missverständnis entstehen kann, da es für Männer oft nur schwer erkennbar ist, wann
eine Frau wirklich willig ist oder nicht (Brockhaus 1998, S.90).
7 122 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Zudem wird vermutet, dass Männer einen viel stärkeren Sexualtrieb als Frauen haben, der bei manchen auch krankhaft ausgeprägt ist. Sobald dieser
gereizt wird, lässt er sich nicht mehr kontrollieren
und drängt nach sofortiger Befriedigung. In der
Folge eines „Triebdurchbruchs“ kann es nach der
Konzeption dieser Ansätze auch zu sexuellen
Gewalttaten kommen, wenn Frauen – aber auch
Kinder – Männer reizen. Die Folge eines starken
Sexualtriebs ist, dass Männer sexuell leichter frustriert sind und sich mitunter auch gezwungen
sehen, mit Gewalt ihre Bedürfnisse zu befriedigen,
in manchen Fällen auch Kinder dazu zu missbrauchen. Sexuelle Gewalt an Kindern wird in diesem
Zusammenhang oftmals damit erklärt, dass der
Mann keine Partnerin hat oder diese ihn nicht entsprechend befriedigen kann. Nach Konzeption dieser Ansätze ist demnach die Frau verantwortlich für
sexuelle Gewalt gegen Kinder. Eine Schuld an sexueller Gewalt trifft nach dieser Auffassung aber auch
Mädchen und Frauen, wenn sie einen sexuell frustrierten Täter durch aufreizende Kleidung oder
leichtsinniges Verhalten zu Übergriffen provozieren.
Weit verbreitet ist zudem die Annahme, dass
sexuelle Gewalt ausübende Männer psychisch oder
sozial auffällig sind oder aus sozialen Randgruppen stammen. Demnach weichen die TäterInnen
entweder bedingt durch Frustration oder durch
krankhafte Triebe sexuell von der Norm ab oder
besondere Charakteristika wie etwa psychische
Störungen, moralische Degeneration oder Alkoholabhängigkeit sind für ihr Gewalthandlungen verantwortlich (Brockhaus 1998; Brockhaus & Maren
1993).
Diesen Erklärungsansätzen widersprechen die
empirischen Ergebnisse bisheriger Forschungsarbeiten zum Phänomen sexuelle Gewalt gegen
Kinder. In diesen lässt sich ein Konsens darüber
erkennen, dass es keine einheitliche Täterpersönlichkeit gibt, die Täter weder eine spezielle
soziale Herkunft aufzuweisen haben, noch im
Vergleich zu anderen Männern physisch oder psychisch in besonderer Weise auffällig werden
Gewalt in der Familie
(Heiliger & Engelfried 1995; Brockhaus 1998;
Rijnaarts 1991).
Brockhaus kritisiert deshalb, dass die personenzentrierten Erklärungsansätze dem Phänomen der
sexuellen Gewalt gegen Kinder nicht gerecht werden. Entgegen der in diesen Modellen geäußerten
Vermutung, dass es sich bei sexuellen GewalttäterInnen um abnorme oder kranke Persönlichkeiten handelt, scheinen die TäterInnen eher sozial
angepasst zu sein oder Männlichkeitsvorstellungen
in besonderer Weise anzuhängen. Die gesellschaftliche Dimension des Phänomens wird sehr oft ausgeblendet, in dem man Krankheit oder Zugehörigkeit
zur Unterschicht als Ursache für sexuelle Gewalt
benennt. Darüber hinaus kann sexuelle Gewalt
nicht schlüssig dargestellt werden. In diesem Zusammenhang ist es problematisch, sexuelle Gewalt
als Randphänomen darzustellen. Ausgeblendet
wird ihrer Ansicht auch der geschlechtsspezifische
Aspekt von sexueller Gewalt. Wenn angenommen
wird, dass Männer auf Grund von sexueller
Frustration sexuell gewalttätig werden, stellt sich
die Frage, warum dies bei sexuell frustrierten
Frauen nicht zu ähnlichem Verhalten führt. Indem
sexuelle Gewalt als abweichendes Ausnahmeverhalten gedeutet wird, werden die männlichen Täter
von ihrer Verantwortung entlastet und den weiblichen Opfern die Hauptschuld zugeschrieben. Nach
Auffassung von Brockhaus wird Frauen und
Mädchen suggeriert, sich vor sexuellen Übergriffen
schützen zu können, wenn sie den enge Rahmen
der traditionellen Frauenrolle beibehalten, sich
etwa einen Mann als Beschützer suchen oder nachts
nicht alleine ausgehen.
Zu kurz kommt ihrer Ansicht auch die Analyse,
welche Umstände und Motive einen Täter dazu
bringen, sexuell gewalttätig zu werden. Dies erfordert ebenfalls, das soziale Umfeld in die Erklärung
miteinzubeziehen.
Unter Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven erfordert dies ihrer Ansicht nach, mithilfe eines weiter gefassten Ursachenverständnisses
Faktoren zu identifizieren, die sexuelle Gewalt
7 123 3
bedingen, deren Ausübung ermöglichen und
gewalttätige Beziehungen aufrechterhalten. In diesem Zusammenhang ist es unter anderem notwendig, den Faktor Macht in der Dynamik sexueller
Gewalt mit zu berücksichtigen (Brockhaus 1998;
Brockhaus & Maren 1993 ).
3.4.2 Familientheoretische und
familiendynamische Erklärungsansätze
In den 50er und 60er-Jahren begann man in der
Forschung über sexuelle Gewalt gegen Kinder verstärkt mehrdimensionale Erklärungsmodelle zu
entwickeln und ging zunehmend von der Suche
nach einem einzigen Erklärungsfaktor ab. In diesem Zusammenhang erlangte die Betrachtung der
familiären Situation, in der die betroffenen Kinder
aufwuchsen, zunehmend an Bedeutung (Rijnaarts
1991). Familientheoretische Ansätze sehen die
Ursache von sexueller Gewalt in der Familie im
System Familie und gehen davon aus, dass in diesem eine Störung vorliegt. Es wird angenommen,
dass in einer funktionierenden Familie alle Familienmitglieder gleichberechtigt miteinander
leben. Die Verantwortung für die Ausbeutung wird
daher nicht allein dem/der TäterIn zugeordnet,
sondern auf alle Beteiligten verteilt. Sexuelle
Gewalt dient dann gleichsam als Bindemittel, um
die Familienmitglieder zusammenzuhalten. Sie
wird als Symptom eines „dysfunktionalen Familiensystems“ angesehen, wobei die Familie bereits
vor Beginn der sexuellen Gewalt zerstört ist.
Sexuelle Gewalt dient nach Ansicht von Rijnaarts
(1991) dann gleichsam als Bindemittel, um die
Familienmitglieder zusammenzuhalten.
Zemp und Pircher (1996) kritisieren an diesen
Überlegungen, dass trotz Beachtung familiärer
Komponenten bei innerfamiliärer sexueller Gewalt
durch ihre Hervorhebung und Ausschließlichkeit
innerfamiliäre Abhängigkeits- und Machtverhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen sowie
zwischen Frauen und Männern, unterschiedliche
Rollen und Positionen von Kindern, Männern und
Frauen, sowie insbesondere geschlechtsspezifische
Faktoren unberücksichtigt gelassen werden. Zudem
wird die Bedeutung gesellschaftlicher Faktoren vernachlässigt, die für die Entstehung von sexueller
Gewalt nicht unbedeutend sind. Übersehen wird
auch, dass ein hoher Anteil sexueller Gewalt durch
Personen außerhalb der Kernfamilie des Kindes
stattfindet. Familientheoretische Ansätze können
daher ebenso wenig wie individualisierende
Theorien das Phänomen der sexuellen Gewalt hinreichend oder gar ausschließlich erklären.
3.4.3 Feministische Theorien
In den 80er-Jahren gewannen feministische
Theorien im Zusammenhang mit der Erklärung
von sexueller Gewalt zunehmend an Bedeutung. Im
Unterschied zu individualisierenden oder familientheoretischen Ansätzen betonen sie die patriarchalen Machtstrukturen als grundlegende Ursache für
sexuelle Gewalt an Kindern. Darunter verstehen sie
die hierarchische Organisation aller gesellschaftlichen Institutionen, die sich auch auf die sozialen
Beziehungen auswirken. Innerhalb dieser Strukturen haben Frauen und Mädchen nicht nur weniger ökonomische, politische und soziale Macht,
sondern diese Strukturen führen darüber hinaus zu
ihrer Unterwerfung und Ausbeutung. Innerhalb
gängiger Normen dieses auf ungleicher sozialer
Macht beruhenden Gesellschaftssystems werden
Vorstellungen von Männlichkeit, Sexualität und
Besitz erzeugt. Sexuelle Ausbeutung ist demnach
ein Unterwerfungsritual, das der Aufrechterhaltung
dieser Strukturen dient. Feministischen Erklärungsansätzen zufolge ist auch in der traditionellen
Familie das Machtungleichgewicht zwischen den
Geschlechtern erkennbar. Diese baut nicht nur auf
gesellschaftlicher Ungleichstellung und Ausbeutung auf, sondern fördert diese noch zusätzlich
(Brockhaus 1998; Zemp & Pircher 1996).
Diese Theorien integrieren nicht nur die individuelle oder interaktionelle Ebene sondern auch darüber hinausgehende Faktoren wie Ökonomie, Gesetzgebung, soziale Dienste, etc. Sexuelle Gewalt wird damit in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext gestellt.
7 124 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Neben den in Kapitel 3 des Grundlagen-Teils
vorgebrachten Kritikpunkten an feministischen Erklärungsmodellen (vgl. Teil I, Kapitel 3.2.3.3 „Feministische und patriarchatskritische Ansätze“) allgemein, mangelt es diesen an einer übergeordneten
Theorie über die Wirkmechanismen der angenommenen Bedingungsfaktoren, d. h. an einer Analyse
der sie begleitenden psychischen und interaktiven
Prozesse (Brockhaus 1998). Zudem blenden diese
Erklärungsmodelle oftmals aus, dass auch Jungen
von sexueller Gewalt betroffen sind und Täter nicht
nur Männer sondern auch Frauen sein können (vgl.
dazu Teil III „Gewalt gegen Männer“).
3.4.4 Integrative Theorien
Integrative Theorien zur Erklärung von sexueller Gewalt gegen Kinder verfolgen das Ziel, nebeneinander existierende Erklärungsansätze, die entweder alleine auf psychopathologische Momente
der TäterInnen Bezug nehmen oder aber opferseitig
familiendynamische Aspekte zur Erklärung heranziehen sowie auch gesellschaftliche Bedingungen in
den Vordergrund stellen, zusammenzuführen. So
will man der Heterogenität der verschiedenen
Erscheinungsformen sexueller Gewalt auch theoretisch gerecht werden.
Zu diesen integrativen Theorien zählt etwa das
von Finkelhor (1984) entwickelte Modell der vier
Vorraussetzungen sexueller Ausbeutung, auf das
hier im Folgenden näher eingegangen wird. Er ging
dabei davon aus, dass vier Bedingungen erfüllt sein
müssen, damit es zu sexueller Gewalt an Kindern
kommt. Dazu zählen
1. Motivation: Ein potenzieller Täter muss
Antriebe und Ziel haben, um sexuelle Gewalt an
einem Kind zu verüben. In diesem Zusammenhang
gilt es drei Faktoren zu unterscheiden:
a) Es bedarf zunächst einer emotionalen Kongruenz: Die Bedürfnisse des Erwachsenen oder
des Jugendlichen korrespondieren mit den
Merkmalen des Kindes. Konkret will ein sexuelle Gewalt ausübender Mann sich stark fühlen,
während das Kind machtlos ist.
Gewalt in der Familie
b) Der zweite Faktor bezieht sich auf die sexuelle
Erregbarkeit durch Kinder. Ein sexuell Gewalt
ausübender Mann reagiert mit körperlicher
Lust auf Vorstellungen sexueller Interaktion mit
dem Kind.
c) Als dritter Faktor von Bedeutung ist eine
Blockade des Mannes gegen die Vorstellung,
sexuelle Interaktionen mit erwachsenen Frauen
oder Männern aufzunehmen oder als befriedigend zu erleben. Im Vordergrund steht die
Absicht, sexuellen Kontakt mit Kindern zu
haben, die seinen Wünschen und Vorstellungen
mehr entsprechen.
d) Nicht unbedingt notwendig ist, dass bei jedem
Täter alle drei Faktoren vorhanden sind.
Vorstellbar ist, dass es zur sexuellen Gewalt an
Kindern kommt, ohne dass Kinder einen potenziellen Täter erregen.
2. Überwindung der internen Barrieren: Es sind
mehr Menschen motiviert, an Kindern sexuelle
Gewalt zu verüben als dann tatsächlich ausüben.
Das Motiv alleine reicht also nicht aus, dass es zu
sexueller Gewalt gegen Kinder kommt. Dies hängt
damit zusammen, dass die Schranken gegen sexuelle Gewalt an Kindern groß und weit verbreitet sind.
Erst die Überwindung interner Hemmungen wie
des internalisierten Inzestverbotes ermöglichen den
TäterInnen, ihren sexuellen Impulsen nachzugeben.
In diesem Zusammenhang scheint Alkoholkonsum
als enthemmender Faktor zu wirken. Der Abbau
interner Hemmungen kann ebenso durch eine Verharmlosung bzw. Bejahung von sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern vor
sich gehen. Einflussreich können ebenso gesellschaftliche Normen sein, die Kinder zum Eigentum
von Eltern d.h. quasi zu Objekten machen, über die
Väter und Mütter nach eigenem Ermessen verfügen
können.
3. Überwindung externer Barrieren: Zu den externen Barrieren zählen alle äußeren Bedingungen,
die überwunden werden müssen, damit es zu sexueller Gewalt kommen kann, wie etwa die von
7 125 3
Müttern geäußerten Verdachtsmomente oder das
Schaffen von Möglichkeiten, um mit dem Kind
allein zu sein. Erst wenn diese Hindernisse überwunden werden, kann es zu sexueller Gewalt gegen
Kinder kommen. Ein möglicher Täter etwa, der
beabsichtigt, an einem Kind sexuelle Gewalt zu verüben und sich auch von internen Kontrollmechanismen nicht davon abbringen lässt, kann
dieses solange nicht, als soziale Umstände wie etwa
Bezugspersonen des Kindes ihn daran hindern. Erst
wenn diese ausfallen und keine vergleichbaren fürsorgende Personen gegenwärtig sind, stehen Kinder
vor einem erhöhten Risiko missbraucht zu werden.
4. Überwindung des Opfer-Widerstandes: Wenn
die Barrieren der Motivation, der internen und der
externen Kontrolle überwunden sind, steht ein/e
potenzielle/r TäterIn noch vor möglichen Abwehrstrategien des Kindes. Dies ist allerdings wahrscheinlich die kleinste Hürde, da das Kind im
Vergleich zum Erwachsenen in einer viel schwächeren Position ist, die es ihm erschwert, die Ausbeutung abzuwehren. Der Widerstand des Kindes
kann dann umso leichter gebrochen werden, wenn
dieses emotional vernachlässigt bzw. unsicher ist
und der/die TäterIn vertraut. Wenn es zu sexueller
Gewalt kommt, behindern das Kind oftmals
zusätzliche ambivalente Gefühle wie Zuneigung
und Hass, Schuldgefühle, Machtlosigkeit und Ekel.
Diese vierte Bedingung darf aber nicht so verstanden werden, dass von den Kindern erwartet wird,
sich selbst verteidigen zu können (Godenzi 1994).
Wyrer (1991) hat zu dieser Thematik ein ähnliches Modell vorgelegt, auf das an anderer Stelle ausführlich eingegangen wird (vgl. Kapitel 5 „TäterInnen“).
Nach Auffassung von Finkelhor müssen alle
vier Bedingungen erfüllt sein, damit es zu sexueller
Gewalt gegen sie kommt. Je eher günstige Voraussetzungen auf den verschiedenen Bedingungsebenen gegeben sind, desto eher wird es zu sexueller Gewalt an Kindern durch die Eltern kommen
(Godenzi 1994).
3.4.5 Zusammenfassung
Die Forschung über sexuelle Gewalt an Kindern
blieb im Unterschied zur Auseinandersetzung mit
physischer Gewalt lange Zeit unbeachtet. Verantwortlich dafür sind nach Ansicht von Godenzi
zwei polarisierte historische Phänomene, die sich in
Bezug auf sexuelle Gewalt an Kindern in ähnlicher
Weise auswirken.
1.) Sexualität ist seit Gründung der modernen
Kleinfamilie ein Thema, über das in Familien
nicht explizit gesprochen wird.
2.) Seit der sexuellen Revolution Ende der 60erJahre ist es zunehmend möglich, über Sexualität
scheinbar offen und unverkrampft zu reden und
sich auch in Familien zwischen Eltern und
Kindern unverkrampft zu verhalten. Das zweite
Phänomen hat dazu geführt, die Zwangsherrschaft des ersten aufzulösen.
In Bezug auf sexuelle Gewalt an Kindern haben
beide Phänomene allerdings fatale Auswirkungen.
Wenn ein Erwachsener sexuelle Gewalt an einem
Kind verübt, so wird in der puritanischen Variante
geschwiegen, in der freizügigen darüber „gelacht“.
Das Schweigen einerseits als auch das Tolerieren
andererseits gibt dem/der TäterIn Handlungsfreiheit und überlässt gleichzeitig die Opfer ihrem
Schicksal.
Ein weiterer für die Tabuisierung sexueller
Gewalt an Kindern verantwortlicher Aspekt ist das
Geschlecht der TäterInnen. Wie derzeitige Studien
belegen, ist der überwiegende Teil von ihnen männlich. Da sie in der Gesellschaft nach wie vor zentrale Positionen der Macht in der Massenkommunikation, Justiz, Polizei etc. einnehmen, besteht von
ihrer Seite wenig Interesse an einer öffentlichen
Diskussion. Frauen fiel es lange Zeit schwer, sexuelle Gewalt an ihren Kindern durch Ehepartner,
Freunde und Väter wahrzunehmen und zu bekämpfen. Allerdings haben sie vor einigen Jahren
das Schweigen gebrochen und begonnen, Schritte
dagegen zu unternehmen. Zu bedenken ist auch,
7 126 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
dass auf Grund der idealisierten Mutterrolle Frauen
als Täterinnen kaum beachtet werden.
Zur Erklärung von sexueller Gewalt an Kindern
haben sich im Zuge einer daraufhin auch stärker
beginnenden wissenschaftlichen Diskussion vier
unterschiedliche Erklärungsmodelle, darunter personenzentrierte, familiendynamische, feministische
und multifaktorielle Erklärungsansätze entwickelt.
An personenzentrierten Ansätzen, welche die
Triebhaftigkeit bzw. psychische oder soziale Auffälligkeit der TäterInnen als wesentliche Faktoren
für sexuelle Gewalt an Mädchen verantwortlich
machten, wurde auf Basis empirischer Forschung
Kritik geübt. So konnte nachgewiesen werden, dass
es sich bei sexuellen GewalttäterInnen nicht um
sozial auffällige, sondern um durchschnittliche
Personen handelt. Kritik wird auch daran geübt,
dass bei einer personenzentrierten Betrachtung das
soziale Umfeld als Erklärungsfaktor zu wenig
berücksichtigt wird. Seither geht man zunehmend
davon ab, nur einen einzigen Erklärungsfaktor zur
Analyse heranzuziehen. So wird der familiären
Situation zunehmend Bedeutung zugemessen und
die Verantwortung für sexuelle Gewalt nicht allein
den TäterInnen zugeschrieben, sondern es werden
alle Familienmitglieder dafür verantwortlich gemacht. Kritisiert wurde daran allerdings, dass im
Fall von innerfamiliärer sexueller Gewalt unterschiedliche Machtverhältnisse zwischen Kindern
und Erwachsenen sowie geschlechtsspezifische
Faktoren unberücksichtigt blieben. Zudem finden
gesellschaftliche Faktoren genauso wenig Berücksichtigung wie die Tatsache, dass ein hoher Anteil
sexueller Gewalt durch Personen außerhalb der
Kernfamilie verübt wird.
In den 80er-Jahren wurden feministische Theorien im Zusammenhang mit der Erklärung sexueller
Gewalt zunehmend bedeutsamer. Sie betonen die
patriarchalen Machtstrukturen als grundlegende
Ursache für sexuelle Gewalt an Kindern. Bemängelt
wird allerdings, dass ihnen eine übergeordnete
Theorie über die Wirkmechanismen der angenommen Bedingungsfaktoren, d.h. eine Analyse der sie
Gewalt in der Familie
begleitenden psychischen und interaktiven
Prozesse, fehlt. Darüber hinaus wird ausgeblendet,
dass Jungen von sexueller Gewalt betroffen und
auch Frauen zu Täterinnen werden können.
Als Antwort auf Kritik an bisherigen Erklärungsansätzen zielen integrative Theorien zur Erklärung von sexueller Gewalt gegen Kinder darauf
ab, nebeneinander existierende Modelle zusammenzuführen, um der Heterogenität der verschiedenen
Erscheinungsformen sexueller Gewalt an Kindern
theoretisch gerecht zu werden. Finkelhor hat diesbezüglich ein vierfaktorielles integratives Modell
zur Erklärung sexueller Gewalt entwickelt. Mit den
vier Bedingungen versucht er, den Rahmen für
sexuelle Gewalt zu setzen. Die unter die jeweiligen
Faktoren subsumierten Kategorien können auf
Basis empirischer Forschung noch erweitert werden.
7 127 3
4 Kinder als Opfer
Gabriele Buchner, Brigitte Cizek
Der vorliegende Abschnitt setzt sich einleitend
kritisch mit dem Begriff „Opfer“ auseinander.
Anschließend wird das Ausmaß der Gewalt gegen
Kinder auf der Basis von amtlichen Statistiken und
empirischen Erhebungen beleuchtet.
Diskutiert wird weiters, ob Gewalt in der
Familie im Hinblick auf die Betroffenen ein geschlechtsspezifisches Problem ist, ob Gewalt in bestimmten Schichten gehäuft vorkommt und welches die am meisten betroffenen Altersgruppen
sind.
Im letzten Teil dieses Kapitels wird der Hintergrund von Familien, in denen Gewalt gegen Kinder
verübt wird, näher beschrieben. Neben der Darstellung von Begleitfaktoren familialer Gewalt wird
auch auf die Situation der Geschwister misshandelter Kinder eingegangen.
4.1 Begriff „Opfer“
Wird der Begriff Opfer in der Alltagssprache
verwendet, so assoziiert man damit, dass Betroffene
irgendeine Form von Gewalt (zumeist mehrere
Formen gleichzeitig) am eigenen Leib erfahren
mussten. In Nachschlagewerken wird der Begriff
Opfer vorwiegend in religiösem Zusammenhang
beschrieben (Gottschlich 1997).
Auf wissenschaftlicher Ebene erweist sich die
Begriffsbestimmung als diffizil, weil bereits die
Verwendung des Ausdrucks stark umstritten ist.
Je nach wissenschaftlicher theoretischer Auffassung wird der Begriff entweder akzeptiert und angewendet, weil er (wie auch der Begriff „TäterIn“)
Machtausübung und einen Gewaltakt impliziert
(Wirtz 1997) oder er wird mit derselben Argumentation abgelehnt (Rijnaarts 1991). VertreterInnen familiendynamischer (systemischer) Konzepte
wenden z.B. ein, dass die Verwendung des Begriffs
Opfer die Gefahr birgt, komplexe interfamiliale
Beziehungen zu vereinfacht darzustellen. Ihrer
Ansicht nach haben alle Familienmitglieder –
sowohl die Eltern, die Geschwister als auch das
Opfer selbst – Anteil am Gewaltgeschehen. Die
Familie wird als „kollaborative Einheit“ gesehen,
deren emotionale Defizite sich am besten als OpferOpfer-Interaktion erfassen lassen (Wirtz 1997;
Kummer 1997; Herman 1981).
Von dem Opfer schlechthin kann also, wie die
Debatte zeigt, nicht gesprochen werden. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Opferbegriff hat
u.a. dazu geführt, dass einige ExpertInnen an Stelle
von Opfer den Begriff „survivor“ („Überlebende/r“) verwenden. Mit diesem emotional positiv
besetzten Begriff wird das „Noch-einmal-davongekommen-Sein“ (Wirtz 1997) assoziiert. Der Begriff
stellt einen Bezug zu Aktivität, Hoffnung, Stärke
und zur Möglichkeit der Bewältigung her.
In der aktuellen Gewaltliteratur hat sich auch
die weitgehend wertfreie Bezeichnung „Betroffene/r“ durchgesetzt. Keiner der drei genannten
Begriffe lässt jedoch darauf schließen, welche Form
von Gewalt (physische, psychische oder sexuelle)
ausgeübt worden ist.
4.2 Soziodemografische Faktoren
und familialer Hintergrund
Fundierte empirisch begründete und verallgemeinerbare Erkenntnisse über familiale Gewalt
sind von erheblicher praktischer Relevanz. Sie
erleichtern die gezielte und bedarfsgerechte Entwicklung von problemadäquaten Interventionsund Präventionskonzepten (Ernst 1997; Schwind et
al. 1990; Wetzels 1997).
Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden auf
die Anzahl, geschlechts- und altersspezifische
Merkmale der Opfer sowie auf deren familialen
Hintergrund eingegangen.
4.2.1. Anzahl der Opfer
Wissenschaftliche Untersuchungen über das
Ausmaß der Gewalt gegen Kinder erfolgten bislang
7 128 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
überwiegend auf Basis von Auswertungen erfasster
strafrechtlich relevanter Übergriffe.
Der überwiegende Teil der Fälle von Gewaltanwendung in der Familie wird jedoch weder den
Strafverfolgungsbehörden noch den Sozialdiensten
je bekannt. „Wegen des erheblichen Dunkelfelds
gerade im Bereich der Kindesmisshandlung und des
sexuellen Missbrauchs innerhalb der Familie geben
die offiziellen Zahlen nur wenig Aufschluss über
den wirklichen Umfang des Problems“28 (Schneider
1993, S. 118). So weist die Anzeigenstatistik29 in
Österreich jährlich zirka 500 Anzeigen wegen sexueller Gewalt gegen Kinder auf. Die Dunkelziffer
wird dagegen mit jährlich 10.000 bis 25.000
Kindern als Opfer von sexueller Gewalt angegeben
(Kretz et al. 1996; Schenkel 1993).
3 Die Kriminalstatistiken
In Österreich gibt es eine polizeiliche und eine
gerichtliche Kriminalstatistik. Während die polizeiliche Kriminalstatistik die Zahl der den Sicherheitsbehörden bekannt gewordenen strafbaren
Handlungen erfasst, gibt die gerichtliche Kriminalstatistik Aufschluss über alle rechtskräftigen Verurteilungen durch die österreichischen Strafgerichte.
Die Kriminalstatistiken sind somit die einzigen
Datenquellen, an denen sich das jährliche Ausmaß
gewalttätiger Übergriffe in Österreich ablesen lässt.
Trotzdem werden sie aus folgenden Gründen nicht
als ausreichende Datenbasis für die Analyse der
Verbreitung familialer Gewalt gegen Kinder erachtet (Engfer 1997; Wetzels 1997, S 32f):
3 ExpertInnen gehen davon aus, dass ein Großteil
innerfamilialer Gewaltdelikte niemals zur
Anzeige gelangt (Schwind et al. 1990; Walter &
Wolke 1997). Das Anzeigeverhalten ist abhängig von der sozialen Nähe zwischen TäterIn
28
29
Näheres zum Thema Dunkelfeld siehe Teil I,
Kapitel 4.7.
Die Zahl der Anzeigen wird in der polizeilichen Kriminalstatistik erfasst, die vom Bundesministerium für
Inneres jährlich herausgegeben wird.
Gewalt in der Familie
und Opfer. Empirische Untersuchungen zeigen:
Je enger die Beziehung ist, desto geringer ist die
Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Anzeige
kommt (Kretz et al. 1996; Raupp & Eggers
1993; Ruback 1993; Wetzels & u.a. 1995). Somit
wird angenommen, dass Gewalt gegen Kinder
in der Familie ein größeres Dunkelfeld aufweist
als Delikte, die von FremdtäterInnen begangen
werden.
3 Es ist bekannt, dass „die polizeiliche Erfassung
von Vorfällen zu einem nicht unwesentlichen
Anteil eine Widerspiegelung sozial selektiver
strafrechtlicher Kontrolle darstellt“ (Wetzels
1997, S. 33). Dies bedeutet, dass sowohl Opfer
als auch TäterInnen aus unteren sozialen
Schichten vermutlich eher überproportional
erfasst werden.
3 Geht man davon aus, dass die polizeilich registrierten Vorfälle auf den Anzeigen durch die
Opfer beruhen, ist eine altersspezifische
Verzerrung der Daten anzunehmen. Kinder
(vor allem Kleinkinder) erstatten nämlich von
sich aus nur selten Anzeige, weil sie z.B. (noch)
nicht fähig sind, entsprechende Einrichtungen
von sich aus zu kontaktieren oder aufzusuchen
oder weil sie das Geschehen nicht artikulieren
können. Auch Jugendliche vermeiden es häufig,
über ihre Gewalterfahrung zu sprechen und
Anzeige zu erstatten, weil sie befürchten, durch
die Anzeige die Familie zu zerstören oder Angst
haben, dass sich die Drohungen des/der
Täters/Täterin bewahrheiten (Kretz et al. 1996).
Da sich, wie oben ausgeführt, auf Basis der
Kriminalstatistiken allein keine wissenschaftlich
gültigen Rückschlüsse auf das wirkliche Ausmaß
von Gewalt in der Familie ziehen lassen, wurde versucht, das Problem auf andere Weise zu lösen. So
haben beispielsweise Kavemann und Lohstöter das
Ausmaß von sexueller Gewalt gegen Kinder hochgerechnet und sich dabei sowohl auf Angaben aus
der polizeilichen Kriminalstatistik als auch auf
Dunkelfeldschätzungen bezogen. Die Kombina-
7 129 3
3 Epidemiologische Forschung
in Österreich
Zur Orientierung über die Situation in Österreich werden nachfolgend zentrale Ergebnisse zu
diesem Thema aus vier bekannten österreichischen
Studien dargestellt:30
3 Wimmer-Puchinger (1997) hat in ihrer Untersuchung über familiale Gewalt das Ausmaß der
von ÄrztInnen (aus verschiedenen medizinischen Bereichen wie Kinderklinik, Unfallklinik,
gynäkologische Klinik sowie KinderärztInnen,
praktische ÄrztInnen und GynäkologInnen –
[n= 447]) angegebenen physischen Misshandlungsfälle an Kindern eruiert. Nach dieser Erhebung wurden 1994 in Österreich insgesamt 622
Fälle physischer Gewaltanwendungen bei Kindern diagnostiziert. Im Schnitt behandelten die
jeweiligen ÄrztInnen im Jahr 1994 zwischen
einem und sieben Fällen misshandelter Kinder.
Hinsichtlich der sexuellen Gewalt gegen Kinder
wurden insgesamt 259 Fälle angegeben. Hier
schienen die häufigsten Fälle bei ÄrztInnen in
der Kinderklinik (56%) und gynäkologischen
Klinik (27%) sowie bei den KinderärztInnen
(24%) auf.
Als Fazit stellt die Autorin fest, dass letztlich
nur ein geringer Anteil der tatsächlichen Fälle
physischer und sexueller Gewalt gegen Kinder
ärztlich abgeklärt wird. „Die Gründe dieser
Diskrepanz könnten in der Tatsache liegen, dass
nicht alle Fälle von Gewaltanwendungen zu
erkennbaren Verletzungen führen. Viel eher
lässt sich allerdings vermuten, dass nicht alle
misshandelten Kinder zu einem Arzt/einer Ärztin gebracht und sofern doch, dann von diesem/r oftmals nicht als Opfer oder Betroffene
familiärer Gewalt erkannt werden.“ (WimmerPuchinger & Lackner 1997, S. 29).
3 Habermehl (1994) zeigt in ihrer Untersuchung
über das Ausmaß und die Ursachen von körperlicher Gewalt in der Familie (n=902)31 auf, dass
85% aller Mädchen und 90,5% aller Jungen
zwischen 10 und 15 Jahren bereits irgendeine
Form von Gewalt durch ihre Eltern erlebt
haben. Dabei hängt die Häufigkeit von Gewalt
gegen Kinder von Bedingungsfaktoren wie
mangelnder Zuneigung, Anerkennung, Stress,
mit Gewalt verbundenen Kindheitserfahrungen
und Normen, die die Gewalt billigen und legitimieren, ab. Weiters nehmen gemäß ihrer Untersuchungsergebnisse sozioökonomische Faktoren wie Bildung, Einkommen und Berufsstatus
Einfluss auf das Vorkommen von Gewalt gegen
Kinder. Je niedriger bzw. geringer diese jeweiligen sozioökonomischen Faktoren sind, desto
mehr Gewalthandlungen gegen Kinder kommen vor. Ein wesentlich stärkeres Gewicht als
30
31
tion der Datenquellen ergab, dass in der BRD vor
der Wende jährlich rund 300.000 Kinder Opfer von
sexueller Gewalt wurden. Allerdings wurde diese
lange Zeit kolportierte Zahl im Jahr 1989 auf Grund
von Rechenfehler-Nachweisen revidiert – auf
50.000 bis 60.000 Missbrauchsopfer pro Jahr (Bange
& Deegener 1996, S. 41; Baurmann 1991, S. 230ff).
Insgesamt gesehen erweist es sich auf jeden Fall
als erforderlich, neben den behördlichen Statistiken
weitere Quellen sowie empirische Untersuchungsergebnisse heranzuziehen, um zumindest realitätsnahe Aufschlüsse über das Ausmaß familialer
Gewalt zu gewinnen.
Diese beruhen auf selektiven Stichproben, weshalb eine
Generalisierung bislang nicht möglich war. Zudem ist an
dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass sich zusätzliche
Resultate dieser Untersuchungen an geeigneter Stelle in
den jeweiligen Unterkapiteln der Kapitel 4 und 5 wiederfinden.
7 130 3
Die Stichprobe ergibt sich aus der Summe von Befragten
aus zwei Erhebungen: einerseits wurden 553 Männer
und Frauen zwischen 15 und 59 Jahren und andererseits
349 Buben und Mädchen im Alter von 10 bis 15 Jahren
schriftlich befragt. (Untersuchungszeitraum: Juli bis
November 1986).
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
die sozioökonomischen Ressourcen haben jedoch die Kriterien Zuneigung, Anerkennung
und Achtung. Je mehr Zuneigung und Anerkennung Kinder von ihren Eltern und in
ihrem sozialen Umfeld bekommen, desto seltener werden körperliche Übergriffe erlebt
(Habermehl 1994).
3 Haller u.a. (1998) präsentierten anhand ihrer
Studie (n=563), durchgeführt im Bundesland
Steiermark, Ergebnisse über Fälle familialer Gewalt, die in öffentlichen Institutionen bekannt
wurden. So waren unter den insgesamt 1800
untersuchten Fällen, 700 Kinder von gewalttätigen Übergriffen betroffen, 230 (d.h. ein Drittel)
davon von sexueller Gewalt.
3 Kinzl, Schett, Wanko & Biebl führten 1990/91
eine retrospektive Befragung von Studierenden
der Innsbrucker Universität durch (n=1125).
Erhoben wurden die Häufigkeit sexueller Gewalterfahrungen in der Kindheit und die Auswirkungen auf die Gesundheit und das Beziehungsverhalten. Der für die Untersuchung
entwickelte Fragebogen enthielt folgende
Schwerpunkte: psychosoziale und sozioökonomische Faktoren (Konstanz der Bezugspersonen etc.), Einschätzung des Familienklimas,
Beurteilung des Beziehungsverhaltens, Zufriedenheit mit dem Sexualleben und das Vorliegen
psychischer oder psychosomatischer Störungen.
36% der Studentinnen und beinahe 19% der
Studenten gaben an, vor dem 18. Lebensjahr
sexuelle Gewalt (in- und/oder außerhalb der
Familie erfahren zu haben (Kinzl et al. 1992).
Die Untersuchung zeigte weiters deutliche Unterschiede zwischen der Gruppe einmal sexuell
missbrauchter und mehrmals oder häufig sexuell missbrauchter Betroffener. So stellte sich
etwa heraus, dass die negativen Langzeitfolgen
nicht nur vom Schweregrad, sondern vor allem
von der Häufigkeit der sexuellen Gewalterfahrungen abhängig sind.
Aus der Erhebung von Kinzl et al. lässt sich
ableiten, dass rund jedes dritte bis vierte Mädchen
und jeder fünfte Junge vor dem 18. Lebensjahr
sexuelle Gewalt in- oder außerhalb der Familie
erfahren haben. Aus den anderen dargestellten
Studienergebnissen können diese Zahlen nicht
bestätigt werden, zumal die Studien nicht direkt
miteinander vergleichbar sind, da ihnen unterschiedliche Definitionen von Gewalt zu Grunde
liegen.
Zum Ausmaß der körperlichen Gewalt gegen
Kinder lassen sich aus den dargestellten Studien
keine vergleichbaren Schlussfolgerungen ziehen, da
entsprechende Umrechnungen nicht erfolgt sind
und auch nicht ersichtlich ist, ob Mehrfachnennungen gewertet wurden.
4.2.2 Geschlecht
Amerikanische Studien belegen, dass Knaben
bis zum zirka 12. Lebensjahr häufiger Opfer von
familialer Gewalt sind als Mädchen.32 Danach
ändert sich die Relation (Gil 1975; Straus et al.
1981). „Younger boys are more likely to be abused
than older boys, but the trend seems to change
when the children grow up. The national reported
survey of reported child abuse found that older
girls were more likely to be victimized than younger girls.“ (Gelles & Cornell 1985).
Dieses Ergebnis wurde auch in einer österreichischen Untersuchung bestätigt (Haller 1998).
Festgestellt wurde, dass Knaben bis zum 11.
Lebensjahr deutlich häufiger Opfer körperlicher
Übergriffe werden als Mädchen. Ab dem 11.
Lebensjahr nehmen die gewalttätigen Handlungen
an den Jungen jedoch stark ab und bei Mädchen zu.
Gil (1975) erklärt diese Ergebnisse als Folge der
kulturell bestimmten Einstellung zu Kindern und
Jugendlichen. Demnach sind Buben in der Adoleszenz zunehmend körperlich stärker und somit physisch den Eltern ähnlicher. Sie wachsen gemäß
32
Gewalt in der Familie
7 131 3
Hierbei wurde jedoch nicht nach unterschiedlichen
Gewaltformen differenziert.
Haller (1998) in die nach traditionell-patriarchalischer Erziehungsform noch immer vorherrschende
(überlegene) Männerrolle hinein und sind deshalb
ab dem jugendlichen Alter seltener physischer
Gewalt ausgesetzt (Haller et al. 1998). Bei Mädchen
hingegen führen elterliche Ängste in Bezug auf das
„Dating-Verhalten“ vermehrt zu Konflikten und
Verboten und in weiterer Folge zur Anwendung
körperlicher Gewalt.
Was sexuelle Gewalt betrifft, so zeigen internationale Studien, dass Mädchen zwei- bis viermal
häufiger Opfer sexueller Übergriffe werden als
Buben. Dieses Ergebnis bestätigt sich auch in der
Studie Hallers (1998), in der die Zahl der weiblichen
Opfer viermal höher ist als die der männlichen.
Untersuchungen mit Zufallsstichproben aus der
Allgemeinbevölkerung (in Deutschland) weisen im
Durchschnitt zirka 70% weibliche und 30% männliche Opfer aus (Badgley 1984; Finkelhor 1984;
Finkelhor 1990).
Bei der Betrachtung von Daten aus klinischen
Stichproben fällt allerdings auf, dass der Anteil der
Buben um gut 10% niedriger ist als in Allgemeinbevölkerungssamples. Brockhaus (1993) begründet
dies damit, dass sexuell ausgebeutete Jungen seltener professionelle Hilfe erhalten und auch seltener
schwere Verletzungen vom Missbrauch davontragen als Mädchen. Zudem sind folgende weitere
Kriterien ausschlaggebend für das Ausblenden bzw.
geringere Publikwerden von sexueller Gewalt
gegen Buben (Brockhaus & Kolshorn 1993, S. 62;
Grubitzsch 1997; Bange 1995):
3 Dass auch Jungen Opfer von sexueller Gewalt
werden können, ist bislang kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert. Auch bei professionellen HelferInnen gibt es hierzu noch
Aufklärungsbedarf. Die geringe Aufdeckungsrate von sexueller Gewalt an Jungen durch
außenstehende Personen könnte u.a. auch mit
deren fehlender Sensibilisierung für die
Thematik zusammenhängen.
3 Männliche Opfer von sexueller Gewalt haben
größere Schwierigkeiten als weibliche Betroffe-
ne, sich selbst als Opfer zu sehen, weil der
Opferstatus nicht in das Bild von Männlichkeit
passt.
3 Die traditionelle männliche Geschlechterrolle
vermittelt Jungen, dass sie ihre Probleme alleine
bewältigen müssen. Viele agieren diesem Rollenbild entsprechend, das von Idealen wie
Stärke, Tapferkeit, Unverletzbarkeit und Heldentum geprägt ist. Sie versuchen, Krisen eigenständig und ohne Unterstützung zu bewältigen.
Die Orientierung am Ideal „stark zu sein“ führt
zur Unterdrückung von Emotionen wie Traurigkeit, Schmerz oder Hilflosigkeit. Es wird vermieden, über Gefühle und Schmerz zu sprechen, um von anderen nicht abgelehnt oder als
Schwächling gehänselt zu werden. Vermutlich
suchen Jungen aus diesen Gründen auch seltener Unterstützung von außen.
3 Sexuelle Gewalthandlungen von Müttern an
ihren Söhnen sind oftmals in Pflegehandlungen
eingebunden. Viele Übergriffe sind eher subtil,
sodass klare Tatbestände meist nur schwer
nachweisbar sind (Haller et al. 1998).
3 Jungen, die einen sexuellen Übergriff durch
einen Mann öffentlich machen, müssen in der
Regel gegen das Stigma der Homosexualität
ankämpfen.
4.2.3 Alter
Der Frage, ob für Kinder einer bestimmten
Altersgruppe ein besonders hohes Risiko besteht,
Opfer von Gewalt zu werden, wurde in etlichen
Studien nachgegangen. Die nachfolgend referierten
Untersuchungsergebnisse sollen bei der Beantwortung dieser Frage helfen.
Newson (1976) belegt, dass Kinder jüngeren
Alters unverhältnismäßig oft von elterlicher Gewaltanwendung betroffen sind. Physische Gewalt
wird häufiger gegen Kleinkinder als gegen größere
Kinder angewendet. Zu diesem Ergebnis kommt
auch Engfer (1986). Sie stellt fest, dass besonders
Kinder im Alter bis zu drei oder vier Jahren am
häufigsten Opfer schwerer Formen physischer
7 132 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Gewalt sind. Eine mögliche Begründung für den
hohen Anteil an gewaltbedrohten Kleinkindern
liegt für Straus et al (1980) darin, dass die Eltern
eine körperliche Bestrafung für zielführend halten,
weil sie meinen, dass die Kinder verbale Erklärungen noch nicht verstehen.
Zu den besonders misshandlungsgefährdeten
Kleinkindern zählen zudem frühgeborene Kinder
und Neugeborene mit einem geringen Geburtsgewicht (unter 2,5 kg). Ihr Anteil liegt um das
Doppelte bis Dreifache höher als jener der misshandelten Kinder im Bevölkerungsdurchschnitt
(Schneider 1995). Engfer sieht als Begründung hierfür, dass diese Säuglinge – durch den Mehraufwand
an Fürsorge und Pflege im Vergleich zu „normal
geborenen“ Kindern – insbesondere junge Eltern
häufig vor Belastungen stellen, die für sie nicht
mehr bewältigbar sind (Engfer 1986).
Habermehl (1994) kommt in einer österreichischen Erhebung (n=903) zum Schluss, dass bereits
Säuglinge unter einem Jahr Opfer von elterlicher
Gewalt werden. Darüber hinaus zeigt ihre Untersuchung, dass 88% der von Gewalt betroffenen Befragten bis zum sechsten Lebensjahr selbst Gewalt
erfahren haben bzw. Misshandlungen an ihren jüngeren Geschwistern miterlebt haben. Die Häufigkeit körperlicher Gewaltanwendung durch die
Eltern sinkt mit steigendem Alter des Kindes.
Weiters geht aus der Studie hervor, dass die meisten
gewalttätigen Übergriffe in Familien stattfinden, in
denen die Kinder jünger als sechs Jahre sind.
Ein gängiges Vorurteil über sexuelle Gewalt lautet, dass vor allem Mädchen in der Pubertät von
Übergriffen betroffen sind.
Wissenschaftliche Untersuchungen belegen
jedoch, dass der Großteil der betroffenen Kinder –
Brockhaus (1993) spricht von mindestens 60% –
bereits vor der Pubertät missbraucht wird. Die
größte Gruppe der Betroffenen sind hierbei Kinder
zwischen zehn und elf Jahren (Brockhaus 1993).
Das genannte Vorurteil hält sich dennoch, möglicherweise weil sexuelle Übergriffe in der Familie
häufig erst in der Pubertät aufgedeckt werden.
Gewalt in der Familie
Grund hierfür ist die charakteristische Dynamik
von sexueller Gewalt. Dazu zählt das Erzeugen von
Schuld- und Schamgefühlen durch den/die TäterIn,
die Angst der Opfer sowie Verdrängungsmechanismen. Zudem realisieren Kinder oft erst in der
Pubertät, dass das Verhalten ihrer Eltern nicht der
Norm entsprochen hat (Brockhaus & Kolshorn
1993; Haller et al. 1998).
In deutschen Studien mit Allgemeinbevölkerungssamples sind im Durchschnitt mindestens
10% der Betroffenen von sexueller Gewalt unter
sieben Jahre alt. Angenommen wird, dass der Anteil
von Kleinkindern hierbei stark unterrepräsentiert
ist, da vielen Betroffenen die Erinnerung an ihre
Kleinkindzeit fehlt. Grundlage für diese Annahme
sind klinische Samples. Es bleibt jedoch fraglich,
wie sehr diese der Realität entsprechen, denn kleine
Kinder wenden sich nicht selbstständig an Beratungsstellen und sind folglich auf die Unterstützung von Personen ihres sozialen Umfeldes
angewiesen. Weiters wird familiale sexuelle Gewalt
gegen Kleinkinder seltener als solche definiert und
eventuell auch seltener als solche erkannt (Brockhaus & Kolshorn 1993).
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten,
dass Kinder und Jugendliche jeden Alters von familiärer Gewalt betroffen sein können.
Kleinkinder und frühgeborene Säuglinge sind
einem besonders hohen Misshandlungsrisiko ausgesetzt. Die physische Gewaltanwendung nimmt
jedoch mit steigendem Alter der Kinder ab.
Sexuelle Gewalt wird vor allem an Kindern verübt, die noch nicht in der Pubertät sind. Die größte
Gruppe sind hier die 10- bis 11-Jährigen, wobei
jedoch vermutet wird, dass jüngere Kinder in den
entsprechenden Untersuchungen stark unterrepräsentiert sind.
4.2.4 Schichtzugehörigkeit
Die Studienergebnisse zur Frage, ob Gewalt ein
schichtspezifisches Problem ist, sind widersprüchlich.
7 133 3
Grundsätzlich ist die Überprüfung des Zusammenhangs zwischen Schichtzugehörigkeit und
Ausmaß der Gewalt aus mehreren Gründen
schwierig (Godenzi 1996). Untersuchungen bestätigen in diesem Zusammenhang, dass:
3 es einen schichtspezifischen Unwillen gibt, über
familiale Gewalt zu berichten oder sie zu diagnostizieren, zu protokollieren oder strafrechtlich zu verfolgen (Turbett & O’Toole 1980;
Pelton 1978; Gelles 1986);
3 eine Art sozialer Schutz für Schichtverwandte
besteht und daher eine Distanz zu den „wahren“ GewalttäterInnen, die in einem Etikettierungsprozess ausgegrenzt werden, gegeben ist
(Pfohl 1977);
3 eine große Vielfalt von sozialen Lagen in ein
Einheitskorsett „Unterschicht“ gezwängt wird,
in dem alle gleich auf Deprivationen reagieren
sollen (Steele 1976).
Bei Studien älteren Datums fällt auf, dass Gewalt fast immer mit der Schichtzugehörigkeit der
Betroffenen in Verbindung gebracht wurde (Böhm
1964; Kaplun & Reich 1976; Pelton 1979; Martin &
Walters 1982). Besonders die sexuelle Gewalt gegen
Kinder wurde ausschließlich als ein Phänomen der
Unterschicht gesehen, verbunden mit Alkoholismus, anderen Formen von Gewalt und Promiskuität. Aus heutiger Sicht lassen sich diese Ergebnisse
dahingehend relativieren, als in den genannten
Studien primär Fälle, in denen es zu Verurteilungen
kam, analysiert wurden (Schubert 1999). Diese sind
jedoch nicht repräsentativ, da UnterschichttäterInnen häufiger wegen familialer Gewaltdelikte angezeigt und verurteilt werden als TäterInnen aus
höheren sozialen Schichten. Die höheren Anzeigen- und Verurteilungsraten hängen nicht zuletzt mit der größeren sozialen Kontrolle zusammen, der die unteren Gesellschaftsschichten ausgesetzt sind (Brockhaus & Kolshorn 1993).
In neueren Studien wurde festgestellt, dass
familiale Gewalt nicht nur in so genannten „asozialen“ Familien verübt wird, sondern ebenso in sozi-
al unauffälligen Familien der Mittel- und Oberschicht. Im Gegensatz zu Unterschichtsfamilien
verfügen sie jedoch in vielen Fällen über Ressourcen, die verhindern, dass die Behörden von den
Vorfällen Kenntnis erlangen (Steele & Pollock 1978;
Gelles & Cornell 1986; Russell 1986; Finkelhor
1986b; Bange & Deegener 1996).
Heute sind sich die meisten ForscherInnen
darin einig, dass Gewalt (v.a. sexuelle Gewalt) gegen
Kinder in der Familie in allen sozialen Schichten
gleichermaßen vorkommt (Godenzi 1996; Haller
1998).
4.2.5 Familialer Hintergrund
3 Begleitfaktoren familialer Gewalt
Im Folgenden werden so genannte Begleitfaktoren familialer Gewalt referiert, die sich in Studien herauskristallisiert haben. Diese Faktoren vermitteln einen Eindruck über die vorherrschende
Lebenssituation in Familien, in denen gewalttätige
Übergriffe stattgefunden haben.
Hinsichtlich der vorherrschenden sozialen und
familiären Bedingungen in „Gewaltfamilien“ konnten Richter-Appelt & Tiefensee (1996) in ihrer deutschen Untersuchung über Opfer mit körperlichen
und sexuellen Gewalterfahrungen in der Kindheit
(n=1085) folgende Begleitfaktoren feststellen:
3 Verschlechterung der finanziellen Situation und
der Wohnverhältnisse der Familie (vermutet
wird, dass Eltern ihre Kinder unbewusst für die
verschlechterten Bedingungen verantwortlich
machen und sie deshalb vermehrt misshandeln);
3 Probleme der Eltern in der Partnerschaft;
3 Alkohol- und Drogenmissbrauch;
3 Überforderung der Mutter.
Weiters wurde untersucht, ob sich Familien, in
denen körperliche Gewalt gegen Kinder stattgefunden hat von solchen, in denen sexuelle Gewalt ausgeübt wurde unterscheiden. Die Ergebnisse wurden
getrennt nach dem Geschlecht der Betroffenen ausgewertet.
7 134 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Es zeigte sich, dass in Familien, in denen Mädchen misshandelt wurden:
3 die berufliche Situation des Vaters problematisch war;
3 finanzielle Schwierigkeiten vorlagen;
3 zahlreiche Opfer nicht bei ihren leiblichen
Eltern aufgewachsen waren.
Die genannten Faktoren traten jedoch bei der
Befragung misshandelter Buben weniger zum
Vorschein. Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass in
Familien mit obigen Faktoren eher Mädchen als
Buben misshandelt werden. Vielmehr vermutet
Richter-Appelt, „dass eine Ohrfeige für ein Mädchen etwas anderes bedeutet als für einen Jungen.
Dieser erlebt sie vielleicht als völlig normal und
käme nicht auf die Idee, sich nach häufigen Prügeln
in der Kindheit als körperlich misshandelt einzustufen“ (Richter-Appelt & Tiefensee 1996, S. 377).
Familien, in denen Mädchen sexuell missbraucht werden, lassen sich durch folgende Kriterien charakterisieren:
3 geringe finanzielle Ressourcen;
3 häufige Abwesenheit der Kinder oder eines
Elternteils von zu Hause;
3 Beeinträchtigung des Vaters (z.B. durch
Alkohol- oder Tablettenmissbrauch);
3 Überforderung des Vaters;
3 Fehlen einer Vertrauensperson.
Während bei den weiblichen Missbrauchsopfern die „Beeinträchtigung“ des Vaters eine
große Rolle spielt, so ist es bei den Jungen jene der
Mutter. Demnach bergen „Beeinträchtigungen des
gegengeschlechtlichen Elternteils eine besondere
Gefahr für ein Kind, sich nicht vor den sexuellen
Übergriffen schützen zu können“ (Richter-Appelt
& Tiefensee 1996, S. 377).
In Bezug auf die Stabilität der Familienverhältnisse bzw. der elterlichen Beziehungen sind
die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen
sehr widersprüchlich (Ziegler 1994). Während
Steele & Pollock (1978) feststellten, dass in Fami-
Gewalt in der Familie
lien, in denen Kinder misshandelt wurden, stabile
Beziehungen zwischen den Eltern vorherrschten,
berichteten Bauer & Twentyman (1985), Gaines et
al. (1978) und Gil (1975) von einem hohen Anteil
getrennt lebender oder geschiedener Eltern.
3 Geschwister misshandelter Kinder
Nach den österreichischen Studienergebnissen
von Habermehl (1994) besteht für Kinder, die mit
zwei bis vier Geschwistern aufwachsen, das größte
Risiko, von ihren Eltern geschlagen zu werden. Am
wenigsten gefährdet sind dagegen Kinder aus Einoder Zwei-Kinder-Familien. Dies bestätigen folgende Ergebnisse ihrer Untersuchung, bezogen auf
die Anzahl der Geschwister und die Frage, ob sie
mindestens einer Gewaltform häufig ausgesetzt
waren:
3 ein Fünftel (20%) der Opfer keine Geschwister;
3 ein Achtel (12,4%) ein Geschwister;
3 beinahe ein Drittel (29%) zwei Geschwister;
3 ein Viertel (26%) drei Geschwister;
3 ein Drittel (33%) vier Geschwister;
3 etwas mehr als ein Fünftel (21%) mehr als vier
Geschwister.
Jeweils zirka ein Viertel der Befragten mit zwei
(24%), drei (25%), vier (29%) oder mehr (25%)
Geschwistern erlebten mehr als fünf verschiedene
Gewaltformen (wie z. B. mit einem Gegenstand
nach einer Person werfen, kratzen oder beißen,
Treten, mit der Hand schlagen, mit einem Gegenstand schlagen, verprügeln etc.) (Habermehl 1994).
Dass die Wahrscheinlichkeit, physische Gewalt
durch die Eltern zu erfahren, mit der Anzahl der
Kinder steigt, wurde in zahlreichen Untersuchungen bestätigt. So errechnete Gil (1975), dass der
Anteil der misshandelten Kinder in Vier- oder
Mehr-Kinder-Familien beinahe doppelt so hoch ist
wie in sonstigen amerikanischen Familien. Ähnliche Resultate erzielten auch Straus et al. (1980;
1981).
Begründet werden diese Ergebnisse damit, dass
sich bei steigender Kinderzahl Belastungsfaktoren
7 135 3
und Aufwand im Haushalt erhöhen. Die These lautet: „Je mehr Kinder, desto mehr Stress, desto häufiger Schläge und Misshandlungen.“ (Godenzi
1996, S. 192). Demnach stellt jedes Kind so lange
einen wirtschaftlichen Minusfaktor dar, bis es jenes
Alter erreicht, in dem es schließlich selber zum
Familieneinkommen beitragen kann. Besonders die
Kleinkind- und Grundschulphase stellt Familien
auf eine hohe Belastungsprobe. Kommt es in dieser
Zeit zu einer Verschlechterung der ökonomischen
Situation der Familie, steigt die Gewalthäufigkeit
(Richter-Appelt 1996).
In sehr großen Familien (z. B. mit acht oder
neun Kindern) dagegen sinkt die Zahl körperlicher
Gewaltanwendungen. „Surprisingly the largest
families had no abusive violence toward children.
Parents who have eight or nine children rarely use
violence on their children.“ (Straus 1981, S. 177; zit.
in Ziegler 1994).
In einer Schweizer Untersuchung (Buergin et al.
1979) wurde festgestellt, dass 42% aller von familialer Gewalt Betroffenen Einzelkinder waren.
Ziegler relativiert dieses Ergebnis. Sie meint, dass
Eltern-Kind-Konflikte mit großer statistischer
Wahrscheinlichkeit eher in Vielkinderfamilien als in
kleinen Familien vorkommen (Ziegler 1994).
Im Hinblick auf die Geschwisterposition des
von Gewalt betroffenen Kindes scheinen Erstgeborene häufiger Opfer von physischer Gewalt zu werden als später geborene Kinder (Ziegler 1994;
Engfer 1986). In Anbetracht des steten Fertilitätsrückgangs stellt sich Engfer (1986) die Frage, ob die
relative Häufigkeit von erstgeborenen Kindern
letztlich nicht ein demografisches Artefakt darstellt,
da es durch die sinkende Geburtenzahl immer mehr
Einzelkinder gibt und somit das Kriterium als
Erste/r von mehreren geboren zu sein im eigentlichen Sinne nicht mehr zutrifft.
Auch Creighton (1984) hat sich mit der Frage
der Geschwisterposition näher auseinandergesetzt
und festgestellt, dass:
3 Erstgeborene in Familien mit zwei und mehr
Kindern signifikant häufiger physischer Gewalt
ausgesetzt sind;
3 in Familien, in denen ein Kind misshandelt
wird, grundsätzlich mehr Kinder vorhanden
sind.33
Weiters verfügen erstgeborene Misshandlungsopfer häufig über „typische“ Merkmale bzw.
Ausgangsbedingungen, wie (Engfer 1986):
3 vor- oder unehelich geboren zu sein;
3 ungeplant gewesen zu sein;
3 bei der Geburt eine noch sehr junge Mutter
gehabt zu haben.
Am zweithäufigsten findet die Gewaltanwendung bei Letztgeborenen statt. Die mögliche
Erklärung hierfür könnte gemäß Steinhausen
(1975) darin liegen, dass das zuletzt geborene Kind
nicht „geplant“ war und damit eine „zusätzliche
Belastung der sozioökonomischen Dauerkrise“ der
Familie darstellt (Steinhausen 1975; zit. in Ziegler
1994).
Eine weitere Frage, die sich im Zusammenhang
mit familialer physischer Gewalt gegen Kinder
stellt, lautet, ob immer nur ein bestimmtes Kind in
der Familie davon betroffen ist.
Diese rollentheoretisch begründete und auch als
„Aschenputtel-Syndrom“ (Schreiber 1971) bezeichnete Annahme findet in vielen Untersuchungen Bestätigung. Denn offensichtlich lastet auf diesen Kindern die Rolle des Sündenbocks oder
Prügelknaben. Neuere Untersuchungen zeigen
jedoch, dass Gewalt nicht nur gegen eines, sondern
gegen mehrere oder sogar alle Kinder in der Familie
angewendet wurde34 (Engfer 1986).
33
34
7 136 3
Im Vergleich zu sozioökonomisch ähnlich gestellten
Familien in Großbritannien.
Ebenso sind auch bei Vorkommnis von Vernachlässigung von Kindern, meistens alle Kinder einer
Familie betroffen (Habermehl 1994).
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Gewalttätige Übergriffe auf Kinder scheinen
keine isolierten Einzeltaten zu sein, sondern vielmehr Wiederholungshandlungen (Habermehl 1994).
Viele Opfer von familialer Gewalt haben eine lange
Misshandlungsgeschichte hinter sich. Sie müssen
wiederholt elterliche Gewalt über sich ergehen lassen und mit ihnen häufig auch ihre Geschwister.
Trube-Becker (1982) stellte bei der Untersuchung
von 58 Misshandlungsfällen mit Todesfolge fest,
dass „in fünf Fällen das verstorbene Kind schon
mehrfach wegen Misshandlungsfolgen in Klinikbehandlung war. In acht Fällen war bereits ein weiteres Kind der Familie wegen Misshandlungen
durch die Eltern in einem Heim oder bei
Pflegeeltern untergebracht worden. In zwei Fällen
war bereits ein Kind gestorben (...). Vier der misshandelten Kinder wurden zusätzlich sexuell missbraucht“ (Trube-Becker 1982, S. 36 zit. in
Habermehl 1994).
4.3 Zusammenfassung
Wie aus der Gewaltdebatte deutlich wird, ist
bereits die Verwendung des Begriffs „Opfer“ im
wissenschaftlichen Diskurs umstritten. Begriffe wie
„survivor“ und „Betroffene/r“ setzen sich in der
aktuellen Fachliteratur immer mehr durch.
VertreterInnen familiendynamischer (systemischer) Konzepte betonen darüber hinaus, dass von
dem Opfer in Wirklichkeit nicht gesprochen werden kann. Sie sehen die Familie als „kollaborative
Einheit“, in der es mehrere Opfer und TäterInnen
gibt.
Was das Ausmaß der Gewalt betrifft, so zeigt
sich, dass amtliche Statistiken – wie etwa die Kriminalstatistiken – lediglich einen Ausschnitt der Realität erfassen. Viele Gewaltdelikte gelangen nicht
zur Anzeige, weil
3 mit der sozialen Nähe zwischen TäterIn und
Opfer die Anzeigewahrscheinlichkeit sinkt;
Gewalt in der Familie
3 Kinder häufig die familialen Gewalterfahrungen
verschweigen;
3 untere soziale Schichten durch sozial selektive
strafrechtliche Kontrolle eher überproportional
erfasst werden;
3 durch den Wegfall der Anzeigepflicht die
Meldung von Gewaltfällen beim Jugendamt
nicht zugleich eine Anzeige mit sich zieht.
Sie werden somit auch nicht in den Kriminalstatistiken erfasst.
Um zumindest realitätsnahe Aufschlüsse über
die Thematik zu gewinnen, damit bedarfsgerechte
und problemadäquate Präventions- und Interventionskonzepte entwickelt werden können, sind
epidemiologische Untersuchungen unverzichtbar.
Nachdem es für Österreich bislang nur wenige solcher Studien gibt, besteht hier großer Handlungsbedarf.
Bei geschlechtsspezifischer Betrachtung der
Problematik lässt sich feststellen, dass Buben bis
zum 12. Lebensjahr häufiger Opfer familialer physischer Gewalt werden als Mädchen. Ab dem 12.
Lebensjahr kehrt sich dieses Verhältnis um. Die
Gründe hierfür liegen in physischen und pubertätsbedingten Faktoren.
Hinsichtlich der familialen sexuellen Gewalt
gegen Kinder zeigt sich, dass Mädchen zwei- bis
viermal häufiger Opfer sind als Buben. Dies liegt
u.a. auch daran, dass sexuelle Gewalt gegen Buben
lange Zeit völlig aus der Wahrnehmung ausgeblendet wurde. Zudem stellt es auf Grund eines kulturell geprägten Rollenbildes und des Ideals, als
Junge/Mann „stark“ sein zu müssen, für männliche
Betroffene eine besondere Hürde dar, über die
sexuellen Gewalterfahrungen zu sprechen.
Zur Frage nach den am meisten betroffenen
Altersgruppen geht aus wissenschaftlichen Untersuchungen hervor, dass Kleinkinder (besonders
frühgeborene Säuglinge) dem größten Risiko
ausgesetzt sind. Ausschlaggebend hierfür sind der
größere Aufwand an Fürsorge und Pflege, der für
diese Kinder zu leisten ist und Schwierigkeiten bei
7 137 3
der Bewältigung der Belastungen, denen die Eltern
ausgesetzt sind. Wie in Studien bestätigt wurde,
nimmt jedoch die physische Gewaltanwendung mit
steigendem Alter der Kinder ab.
Festgestellt wurde weiters, dass sexuelle Gewalt
überwiegend an Kindern verübt wird, die noch
nicht in der Pubertät sind. In deutschen Studien
wurde nachgewiesen, dass die größte Gruppe dieser
Betroffenen zehn/elf Jahre alt ist. Dabei wird
jedoch angenommen, dass generell der Anteil der
Kleinkinder stark unterrepräsentiert ist, da sich
Betroffene in Befragungen häufig nicht mehr an
ihre Kleinkindzeit erinnern können. Außerdem
wird sexuelle Gewalt gegen Kleinkinder seltener als
solche erkannt.
Wie internationale Untersuchungen belegen,
sind in Mehr-Kinder-Familien wesentlich mehr
Opfer von physischer Gewalt betroffen als in
Kleinfamilien. Dagegen sinkt das Ausmaß körperlicher Gewaltanwendung in sehr großen Familien
(ab acht Kindern) wieder ab. Hinsichtlich der
Geschwisterposition sind erstgeborene Kinder am
häufigsten Opfer von familialer Gewalt, gefolgt von
Letztgeborenen. Als (ungeplante) „NachzüglerInnen“ stellen sie eine Mehrbelastung in Familien mit
sozioökonomischen Dauerkrisen dar und werden
daher eher zu Opfern gewalttätiger Übergriffe.
Dass Gewalt unabhängig von der Schichtzugehörigkeit der betroffenen Familien vorkommt, gilt
mittlerweile als unbestritten. In älteren Studien
wird noch davon ausgegangen, dass Gewalt ein
Problem der so genannten „Unterschicht“ ist – eine
Sichtweise, die in aktuelleren Untersuchungen
widerlegt werden konnte.
Als unbestritten gilt weiters, dass gewalttätige
Übergriffe in Familien keine „einmaligen“ Vorfälle
sind, sondern überwiegend Wiederholungstaten.
Viele Betroffene haben eine lange Gewaltgeschichte
hinter sich, bis sie entsprechende Hilfe und
Unterstützung erhalten.
7 138 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
5 Täter und Täterinnen
Gabriele Buchner, Brigitte Cizek
Ziel dieses Kapitels ist, anhand vorliegender
wissenschaftlicher Erkenntnisse jene Menschen
näher zu beschreiben, die innerhalb der Familie gewalttätig gegen Kinder werden. Um dem Anspruch
einer systematischen Darstellung gerecht zu werden, wurde auch für diesen Abschnitt die Gliederung nach Gewaltformen übernommen. Beginnend
mit Ausführungen über TäterInnen, die physische
Gewalt in der Familie verüben, werden anschließend Merkmale von Menschen beschrieben,
die psychisch gewalttätig gegen Kinder sind. Den
Abschluss bildet eine Auseinandersetzung mit
sexuell übergriffigen TäterInnen.
Die Abschnitte 5.2. (physische Gewalt) und 5.4.
(sexuelle Gewalt) sind strukturell einheitlich gegliedert. So werden zunächst soziodemographische
Faktoren wie geschlechts- und altersspezifische
Variablen sowie Erkenntnisse über den familialen
Hintergrund dargestellt. Diese Gliederung konnte
im Abschnitt 5.3. (psychische Gewalt) nicht beibehalten werden, weil es hier zu den genannten
Unterpunkten teilweise keine Literatur gab.
Das Unterkapitel 5.4. behandelt darüber hinaus
Aspekte wie TäterInnenstrategien, Tatdynamik und
TäterInnentypologien.
Nachdem sich die Forschung über lange Zeit
ausschließlich mit männlichen Tätern befasst hat
und Täterinnen heute nach wie vor ein „Tabu im
Tabu“ (Zemp & Pircher 1996) darstellen, wird der
Auseinandersetzung mit Frauen als Täterinnen ein
eigener Abschnitt gewidmet.
Moment, welches kennzeichnend für den/die
TäterIn ist. Das Agieren der Person ist dabei geleitet von Handlungsmotiven, die auf individuell verschiedenen Entstehungsbedingungen basieren.
Es kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass ebenso wie beim Opfer auch bei
TäterInnen nicht von dem/der TäterIn gesprochen
werden kann. Es bedarf hierbei der Miteinbeziehung von Begleitfaktoren und Kontextbedingungen wie die jeweils vorherrschenden sozialen,
individuumspezifischen, physischen und psychischen etc. Bedingungen rund um die Person. Zudem ist die Betrachtung der Gewalttat(en) als auch
des Opfers erforderlich, um ein Gesamtbild bzw.
eine Beschreibung der einzelnen TäterInnen erstellen zu können.
Hinsichtlich der Verwendung des Begriffs „TäterInnen“ in geschlechtsspezifischer Hinsicht wurde
folgende Regelung getroffen: Sind von der TäterInnen-Beschreibung sowohl Frauen als auch Männer
betroffen, wurde der Begriff „TäterIn“ gewählt. Im
Fall der Beschreibung von Untersuchungen, die
sich ausschließlich auf männliche Täter beziehen,
wurde bewusst die männliche Bezeichnung („Täter“) beibehalten. Da vor allem bei älteren Studien
häufig keine geschlechtsspezifische Differenzierung
vorgenommen wurde (oder auch teilweise nur
männliche Täter untersucht wurden), findet sich in
jenem Fall der aus der Quellenliteratur entnommene Täter-Begriff im vorliegenden Text wieder.
5.2 Physische Gewalt
5.1 „TäterInnen“-Begriff
In der Literatur wird der Begriff „TäterInnen“
nur selten näher definiert. Rohde-Dachser (1991)
liefert eine allgemeine Definition, welche wie folgt
lautet: „TäterIn sein heißt handeln, und zwar aus
eigenen, nicht von einem idealisierten Selbstobjekt
hergeleiteten Motiven.“ (Rohde-Dachser 1991,
S. 91). Diese Definition impliziert ein aktives
Gewalt in der Familie
5.2.1 Soziodemografische Faktoren
und familialer Hintergrund
5.2.1.1 Anzahl der TäterInnen
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen in
Deutschland zeigen, dass die Hälfte bis zwei Drittel
der Eltern ihre Kinder körperlich bestrafen
(Markefka & Nauck 1993; Wahl 1990). Diese
7 139 3
Angaben treffen auch auf Österreich zu. So kommen zum Beispiel Pernaupt und Czermak (1980) in
ihrer Studie über die Alltagsgewalt (n=2000) in der
Familie zum Ergebnis, dass zwei Drittel der ÖsterreicherInnen ihre Kinder schlagen (Haller 1998).
Auch die Untersuchung von Wimmer-Puchinger
(1991) führt zu ähnlichen Resultaten. Ebenso kann
hier der Mythos von der Ohrfeige, „die noch niemandem geschadet hat“ (Haller et al. 1998, S. 27),
nachgewiesen werden.
Es wird angenommen, dass gerade „mildere“
Formen des Schlagens, Drückens, Tretens usw. am
häufigsten in Familien auftreten. Der Grund könnte in der seit Jahrhunderten bestehenden und noch
immer aufrechten allgemeinen gesellschaftlichen
Akzeptanz dieser „normalen“ Gewaltanwendung
gegen Kinder liegen (Godenzi 1996).
Ältere Studienergebnisse belegen wiederholt,
dass ein hoher Anteil der untersuchten Eltern ihre
Kinder mindestens einmal körperlich bestraft
haben. Untersuchungen aus den 70er-Jahren enthalten sogar Angaben von bis zu 97% (Stark &
McEvoy 1970; Erlanger 1974).
Im Gegensatz zu den „milderen“ Formen körperlichen Gewaltanwendungen gegen Kinder,
scheinen die „härteren“ Formen sozial weniger toleriert. Über das Vorkommen dieser Gewaltform
existieren unterschiedliche und vor allem kaum
aktuelle Angaben: Demnach variiert die Anzahl
von schweren Misshandlungsfällen in den USA
zwischen 6000 (Gil 1970) und einer halben Million
(Light 1974). Straus schätzt laut einer Repräsentativbefragung, dass jedes zehnte amerikanische
Kind mindestens einmal von einem Elternteil verprügelt, gebissen oder getreten wurde (Straus et al.
1980). Allerdings konstatierten Gelles & Straus
(1988) nach einem Resurvey, dass die körperliche
Gewalt gegen Kinder im Vergleich zur Voruntersuchung im Jahr 1975 um beinahe die Hälfte
zurückgegangen war. Dieser Wandel sei besonders
durch „eine öffentliche Sensibilisierung, Modifikationen in der Erziehungspraxis, einem Ausbau der
sozialen Hilfsangebote und eingeleiteter Interven-
tionsprogramme“ hervorgerufen worden (Gelles &
Straus 1988, zit. in Godenzi 1996). Ähnliche
Ergebnisse erzielte Bussmann (1995; 1996), in ihren
repräsentativen Untersuchungen in Deutschland
(Wetzels 1997).
Da die angeführten Studien größtenteils in den
70er-Jahren durchgeführt wurden, besteht gerade
im Hinblick auf die Einführung des Züchtigungsverbots in Österreich Bedarf an neueren Untersuchungen, um festzustellen, ob Einstellungsveränderungen im Zusammenhang mit physischer familialer Gewalt erkennbar sind.
Trotz des Rückgangs scheint es jedoch so, als ob
eine immer größere Zahl an Misshandlungsfällen
öffentlich bekannt würde. Dies liegt offenbar weniger am realen Zuwachs von Gewalt gegen Kinder,
als vielmehr an der diesbezüglich erhöhten Sensibilisierung (Markefka & Nauck 1993). Dies
bestätigt auch das Ergebnis einer österreichischen
Medienanalyse, in der nicht nur ein sukzessiver Anstieg der Anzahl der Fallberichte in verschiedenen
österreichischen Tageszeitungen im Verlauf der
letzten zehn Jahre festgestellt wird, sondern ebenso
eine signifikante Zunahme anderer mit Kindesmisshandlung in Zusammenhang stehender Berichte
(z.B. Berichte über Hilfseinrichtungen, Gesetzesänderungen, Veranstaltungen ...) (Buchebner-Ferstl
2000, S. 68ff).
Trotz der Zunahme an Berichten äußert
Habermehl die Kritik, dass die moralische Vertretbarkeit von Gewalt gegen Kinder nach wie vor nicht
an den körperlichen und seelischen Schäden der
Opfer gemessen wird, sondern in erster Linie an den
Intentionen des Gewaltausübenden, d.h. ob er strafend oder misshandelnd agiert hat (Habermehl
1994).
Es zeigt sich letztlich, dass trotz zunehmenden
Problembewusstseins noch immer große Akzeptanz und weite Verbreitung körperlicher Züchtigung von Kindern durch die Eltern besteht – sofern
die Grenzen zur Misshandlung nicht überschritten
werden. Somit ist die Verbreitung elterlicher Gewalt offenbar noch immer stark von kulturellen
7 140 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
und sozialen Auffassungen zu deren Legitimität
abhängig (Wetzels 1997; Bussmann 1996; Engfer
1997).
5.2.1.2 Geschlecht
Zur Frage, ob mehr Männer oder mehr Frauen
Kinder misshandeln liegen in der wissenschaftlichen Literatur widersprüchliche Aussagen vor.
Ausgehend von österreichischen Daten ist das
Verhältnis zwischen leiblichen Müttern und Vätern
als TäterInnen physischer Gewalt gegen ihre
Kinder in etwa gleich verteilt (Bundeskanzleramt/
Bundesministerium 1994, zit. in Fleischmann 1999,
S. 6):
3 leichte körperliche Gewalt gegen Kinder (Klaps,
Ohrfeige etc.): 61% der Mütter; 67% der Väter;
3 schwere körperliche Gewalt gegen Kinder
(Tracht Prügel, Schläge mit Gegenständen):
29% der Mütter und 26% der Väter;
3 häufige Gewaltanwendung gegen Kinder: 4%
der Mütter, 5% der Väter.
Ebenso zeigt sich in Hallers österreichischer
Untersuchung (1998) das Geschlechterverhältnis
der leiblichen Eltern in Bezug auf tätliche Übergriffe gegen Kinder als ziemlich ausgeglichen (55%
Väter, 45% Mütter). Geht körperliche Gewalt von
Müttern aus, so verteilt sich diese gleichmäßig auf
die Kinder beiden Geschlechts. Dagegen werden
bei Gewaltanwendung durch Väter eindeutig die
Söhne vermehrt Opfer der tätlichen Übergriffe. Als
Erklärung dieses Phänomens gibt Haller das
Vorherrschen des traditionell-patriarchalen Erziehungsstils in den Gewaltfamilien an. „In diesen
Familien sind die Rollen nach klassischem Muster
verteilt; so lernt die Mehrzahl der (...) Buben, wie
‚Mann‘ sich gegen Schwächere durchsetzt.“ (Haller
et al. 1998, S. 71). Gemäß Haller ändert sich jedoch
bei Einbeziehung des gesamten familialen Täterkreises das Geschlechterverhältnis der TäterInnen: Hier zeigte sich in der Studie, dass vorwiegend
Männer familiale physische Gewalt gegen Kinder
anwendeten. Dabei nahmen besonders Stief-,
Gewalt in der Familie
Adoptiv- und Pflegeväter sowie Lebensgefährten
der Mütter einen großen Anteil ein (siehe Kapitel
5.2.1.4 „Familialer Hintergrund“).
Im Vergleich zu diesen österreichischen Ergebnissen weisen internationale empirische Untersuchungen darauf hin, dass (leibliche) Väter eher
körperliche Gewalt gegen Kinder anwenden als
Mütter. So führte zum Beispiel die amerikanische
Studie der „American Human Association“ (1981)
zum Ergebnis, dass in so genannten „vollständigen“
Familien drei Viertel der Väter Gewalt an ihren
Kindern ausübten. Weiters konnte nachgewiesen
werden, dass Buben oft aus anderen Motiven misshandelt werden als Mädchen und Väter wiederum
andere Absichten damit verfolgen als Mütter
(American Human Association 1981). Auch
Creighton (1984) kam zu der Folgerung, dass doppelt so oft Väter als Täter auftreten wie Mütter –
und dies unabhängig davon, ob das Opfer das leibliche oder Stiefkind ist. Seine Erklärung für diese
Entwicklung liegt in der Vielzahl von arbeitslosen
Vätern in gewaltbelasteten Familien (Creighton
1984). Weiters wurde festgestellt, dass die männliche Gewaltanwendung gegen Frauen ein Auslöser
oder Vorläufer von familialer Gewalt gegen Kinder
durch Männer zu sein scheint (Engfer 1986, S. 39;
Bowker 1988).
Interessant erscheint, dass besonders ältere
Studien hingegen Mütter als diejenigen anführen,
die grundsätzlich häufiger physische Gewalt gegen
ihre Kinder ausüben als Väter (Dörmann 1983). Die
Begründung liegt gemäß Engfer (1986) v.a. darin,
dass diese einen relativ hohen Anteil an allein erziehenden Müttern (ca. 20 bis 30%) in das Untersuchungssample mit einbezogen haben. Weiters
wurden die höheren Raten gewaltausübender
Mütter darauf zurückgeführt, dass sie erstens mehr
Zeit mit den Kindern verbringen und zweitens vermehrte Zuständigkeit für die Kindererziehung aufweisen (Wetzels 1997). Zudem seien Frauen, gemäß
Trube-Becker (1982) stärker häuslich gebunden
und überbeansprucht. Faktoren wie Schwangerschaften, die Betreuung von Säuglingen oder das
7 141 3
Alleinsein mit den Kindern können demnach
Auslöser für die Gereiztheit und Unzufriedenheit
der Frau sein, die dann in einer Gewaltanwendung
gegen die Kinder münden kann. In dieser angespannten Verfassung der Mutter könne bereits das
Schreien oder Bocken des Kindes Auslöser für körperliche Gewalt sein (Trube-Becker 1982).
Für Gelles (1975) erklärt sich dieses Phänomen
zusätzlich dadurch, dass die Mutter durch das Kind
ihre Identität und Selbstachtung mehr bedroht oder
gestört sieht als es beim Vater der Fall ist.
Schließlich werde das Verhältnis zwischen Mutter
und Kinder als „natürlicher“ bezeichnet als die
Vater-Kind-Beziehung, da es nicht nur aus verstärkter Zuneigung und Fürsorge besteht, sondern
weil es unter bestimmten Voraussetzungen (z.B.
subjektive Verurteilungen und Voreingenommenheit bei fehlerhaftem Verhalten des Kindes) auch zu
einer größeren Abneigung gegen das Kind führen
könne (Gelles 1975; Ullrich 1964).
Gegen die einseitige Schuldzuweisung an die
Adresse der Mütter in Bezug auf körperliche Gewalt gegen Kinder wird seitens mancher Wissenschafter vehement Einspruch erhoben (Haller et al.
1998; Godenzi 1996; Pagelow 1984a). Anhand korrigierender Befunde wird dies als MütterDiskriminierung – eine Form der Etikettierung der
Mütter als potenzielle oder tatsächliche Misshandlerinnen unter Aussparung der Väter – bezeichnet.
„Zwar wird geschlechtsneutral von elterlicher
Gewalt gesprochen, aber nur mütterliche untersucht.“ (Godenzi 1996, S. 196f). Die Mütter-Diskriminierung werde besonders dadurch fortgesetzt,
indem Forschungsprojekte die Tatsache übersehen,
dass viele Mütter ihre Kinder alleine aufziehen und
Väter daher kaum Gelegenheit zur physischen
Gewaltanwendung hätten. Demzufolge dürfte der
Vergleich zwischen Müttern und Vätern nur dann
angestellt werden, wenn beide zu gleichen Teilen
Zeit und Verantwortung für ihre Kinder investieren. Dies sei jedoch in den vorliegenden Studien
derzeit kaum der Fall (Godenzi 1996).
Wie aus den unterschiedlichen Untersuchungsergebnissen ersichtlich, gelingt es kaum, eindeutige
Aussagen über das Geschlechterverhältnis der
TäterInnen von familiärer körperlicher Gewalt zu
machen. Es bedarf einer ausgefeilten, sensiblen
Vorgangsweise bei der Untersuchung solcher
Fragestellungen (bezüglich Methode, Instrument
etc.). Selbst dann ist noch immer der große
Unsicherheitsfaktor der sozialen Erwünschtheit im
Antwortverhalten der Befragten gegeben, sodass
sich eine Verzerrung der Realität ergeben kann.
Dem Thema „Frauen als familiäre Gewalttäterinnen“ wird im Kapitel 5.4.5 ein eigener Platz
eingeräumt, um gezielt auf geschlechtsspezifische
Aspekte eingehen zu können.
5.2.1.3 Alter
Eine Vielzahl empirischer Untersuchungsergebnisse deutet darauf hin, dass das Alter der TäterInnen, die physische Gewalt gegen Kinder in der
Familie ausüben, am häufigsten zwischen 20 und 35
Jahren liegt (Ziegler 1994).
Andere Studien zeigen jedoch, dass besonders
sehr junge (d.h. eher „infantil-unreife“) Eltern ein
wesentlich höheres Misshandlungsrisiko darstellen
als ältere (Engfer 1986; Habermehl 1994). Dies spiegeln besonders angloamerikanische Untersuchungen wider, in denen Mütter, die schwere körperliche
Gewalt beim Säugling oder erstgeborenen Kind
ausübten, dreimal so häufig unter 20 Jahre alt waren
wie im übrigen Bevölkerungsdurchschnitt
(Creighton 1985). Die Begründung hierfür könnte
gemäß Habermehl (1994) vor allem darin liegen,
dass jugendliche Eltern durch die Geburt eines
Kindes grundsätzlich mehr Belastungen (durch
Unerfahrenheit, unrealistische Erwartungen etc.)
und folglich mehr Stress ausgesetzt sind als ältere.
Bei Miteinbeziehung des Alters der im Haushalt
lebenden Kinder, zeigt sich allerdings auch bei älteren Eltern ein erheblicher TäterInnen-Anteil. So
war in der Untersuchung Habermehls (1994) der
Anteil der gewalttätigen Eltern in Haushalten mit
älteren Kindern generell höher. Jüngere Eltern
7 142 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
übten im Gegensatz zu älteren dafür wesentlich
gefährlichere Formen von Gewalt bei Kleinkindern
aus (Habermehl 1994).
5.2.1.4 Familialer Hintergrund
Sozioökonomische Merkmale
Querschnittuntersuchungen der 70er und
Anfang der 80er-Jahre bestätigten einen statistischen Zusammenhang zwischen belastenden sozioökonomischen Lebensumständen der Familien wie
Armut, Arbeitslosigkeit, schlechte Berufschancen
etc. und familialer Gewalt (siehe dazu Kapitel
4.2.4). Demnach beeinflussen Faktoren wie knappe
finanzielle und wirtschaftliche Ressourcen und
Mangel an sozialen Kontakten die Anwendung
familialer Gewalt (Elmer 1967; Gelles 1979; Gil
1970; Gil 1974; Pelton 1981; Straus et al. 1980).
Diese These fand auch in österreichischen
Untersuchungen ihre Bestätigung (Habermehl
1994, Haller et al. 1998). Demnach wiesen am Beispiel des Bundeslandes Steiermark, bei Einstufung
der gewaltausübenden Elternteile nach Erwerbsstatus, Hausfrauen (57%) und arbeitslose Väter
(32%) die höchsten Anteile in Bezug auf Gewaltanwendung auf. Berufstätige gewalttätige Mütter
waren dabei zu 70% und Väter zu 40% ungelernte
Arbeitskräfte (Haller et al. 1998).
Jedoch enthalten diese Ergebnisse Verzerrungen, da die Anteile an Arbeitslosen bzw. Personen
mit manuellem und ungelerntem Beruf, gemessen
an der Gesamtbevölkerung, in der Stichprobe stark
überproportional vertreten sind. Begründet wird
dies mit dem Auswahlverfahren. Untersucht wurden durch das Jugendamt bekannt gegebene Fälle.
Somit waren gewalttätige Personen, die keinen
Kontakt mit dem Jugendamt hatten, nicht im
Sample enthalten. Zu dieser Gruppe zählen gemäß
Haller besonders Mittelschichtfamilien. Diese hätten, argumentiert er, grundsätzlich mehr Möglichkeiten, ihre sozialen und sonstigen Probleme ohne
Intervention einer Behörde zu lösen. Daher werden
familiale Gewaltfälle in dieser Schicht weniger
Gewalt in der Familie
leicht bekannt, „(...) zumal ja in der Mittelschicht
ein besonders großes Interesse an der Wahrung des
äußeren Scheins gegeben ist“ (Haller et al. 1998, S.
74). Somit teilt er letztlich die Ansicht zahlreicher
weiterer AutorInnen35, die das Phänomen der familialen Gewalt gegen Kinder allen sozialen Schichten
zuschreiben.
Ziegler beschreibt im Rahmen dieser Debatte
drei Hauptgefahren, die bei der Interpretation von
Datenmaterial im Zusammenhang mit familialer
physischer Gewalt und Schichtzugehörigkeit bestehen (Ziegler 1994, S. 24f):
3 Es erweist sich als falsch, das Gewalthandeln als
„Armutsproblem“ zu interpretieren, auch wenn
es unter gegebenen Umständen nahe liegt. Der
Großteil jener, die nämlich den untersten Einkommensschichten angehören, machen keinen
Gebrauch von exzessiver Gewalt. Daten belegen, dass Gewalt auch in höheren oder den
höchsten Einkommensklassen angewendet wird
(Straus et al. 1981; Pianta 1984).
3 Es stellt sich die Frage, ob die Daten wirklich
ein getreues Abbild der Wirklichkeit liefern. Argumente, welche die Fragwürdigkeit der Daten
bestärken sind (1) dass je höher die Gesellschaftsschicht ist, desto größer die Mittel sind,
sich zu wehren bzw. die Tat zu verbergen; (2) in
Familien unterer sozialer Schichten sich die
Gefahr erhöht, als Kindesmisshandler bezeichnet bzw. (fälschlicherweise) als solcher verurteilt zu werden. „However, by virtue of being in
the lower class, families run a greater risk of
being correctly and falsely labeled ‚abusers‘ if
their children are seen with injuries.“ (Gelles &
Cornell 1986, S. 16).
3 Schließlich wird die Klassenaufteilung und -zuordnung grundsätzlich in Frage gestellt, denn
diese ist abhängig von Definitionsbestimmungen und Operationalisierung. Die Schlussinterpretationen fallen nämlich je nach Klassen-
35
7 143 3
Siehe Kapitel 4.2.4.
Modell und Zuweisungsgesichtspunkten unterschiedlich aus (Brown 1984).
Als Fazit lässt sich daraus schließen, dass familiale Gewalt von TäterInnen aller Schichten ausgeübt wird. Da jedoch die Anzeigehäufigkeit bei
Angehörigen aus unteren Schichten grundsätzlich
höher ist, scheinen diese auch in Untersuchungssamples vermehrt auf, wodurch es zu einer verzerrten Abbildung der Realität kommt.
Leibliche bzw. nicht-leibliche Eltern
als TäterInnen
Gemäß der einschlägigen wissenschaftlichen
Literatur zum Thema familiale Gewalt, erfahren
Kinder am häufigsten von denjenigen körperliche
Gewalt, die ihnen am nächsten stehen – nämlich
den Mitgliedern der eigenen Familie, allen voran
den leiblichen Eltern. So ergab zum Beispiel die
deutsche Untersuchung über physische Gewalt
gegen Kinder von Trube-Becker (1982), dass in 42
von 58 Fällen von Kindesmisshandlung mit
Todesfolge die leiblichen Eltern als TäterInnen verurteilt wurden. Von den 80 TäterInnen und
Tatverdächtigen der Misshandlungen ohne tödlichen Ausgang dominierten ebenfalls die leiblichen
Eltern, nämlich 31 Mütter und 25 Väter.
Auch zwei österreichische Studien (Benard &
Schlaffer 1991; Haller et al. 1998) belegen diese
Annahmen. Demnach scheinen in zwei Drittel bis
drei Viertel der Fälle die Eltern oder ein Elternteil
als TäterInnen physischer Gewalt auf. Offenbar
stellen die körperlichen Übergriffe der Eltern auf
die Kinder ein Erziehungsmittel dar. „Die elterliche
Züchtigung bzw. Kindesmisshandlung ist demnach
in vielen Fällen eine Affektreaktion in Situationen,
in denen einer Mutter oder einem Vater die Kinder
wieder einmal ‚über den Kopf wachsen‘.“(Haller et
al. 1998, S. 88). Auch der Machtaspekt wird als
Begründung eingebracht, indem manche Eltern ihre
Kinder verprügeln, da sie sich anders nicht durchsetzen können, jedoch tun sie „(...) dies (nur) solange, als sie ihnen physisch überlegen sind“ (Haller et
al. 1998, S. 88). Als eine weitere Erkenntnis erweist
sich in Hallers Untersuchung, dass in Familien mit
zwei Elternteilen häufiger physische Gewalt angewendet wird, als in AlleinerzieherInnen-Familien
(Haller et al. 1998). Das Vorkommen von körperlicher Gewalt gegen Kinder in Lebensgemeinschaften und Stiefelternfamilien wird damit begründet, dass es Kindern teilweise schwer fällt, den
(neuen) Ersatzvater zu akzeptieren bzw. umgekehrt
der/die PartnerIn Probleme damit hat, die Kinder
des/der LebenspartnerIn so anzunehmen, als wären
es die eigenen (Haller et al. 1998).
Eigene Gewalterfahrungen der TäterInnen
in der Kindheit
Kindheitserlebnisse verbunden mit physischer
Gewalt können ein ausschlaggebender Faktor für
das spätere Verhalten den eigenen Kindern gegenüber sein. Es zeigt sich wiederholt in Untersuchungen, dass Väter und Mütter, die ihre Kinder
misshandeln, meist selbst von den Eltern misshandelt wurden oder körperlicher Bestrafung ausgesetzt waren (Farber & Joseph 1985; Habermehl
1994; Kaufman & Zigler 1989; Kaufman 1993;
Belsky 1989; Widom 1989).
Bereits in den 70er-Jahren stellten ForscherInnen fest, dass Eltern, die in ihrer Kindheit Gewalt
zwischen ihren Eltern und/oder Gewalt gegen sich
selbst erlebt haben, auch ihre Kinder deutlich häufiger misshandelten als Eltern aus gewaltfreien
Familien (Owens & Straus 1975; Steinmetz &
Straus 1973; Kalmar 1977).
Neben der Tatsache, dass Gewalterfahrungen in
der Kindheit dazu beitragen, kulturelle Normen,
die die Anwendung von Gewalt billigen und fördern, zu perpetuieren, zeigt sich eine weitere
Konsequenz: Kinder als Opfer von Gewalt lernen,
dass Gewalt in bestimmten Situationen als Mittel
eingesetzt werden kann, um ein bestimmtes Ziel zu
erreichen (Owens & Straus 1975). „Ein Kind, das
den Einsatz von Gewalt auf diese Weise erlernt hat,
neigt dazu, als Erwachsener, allen guten Absichten
den eigenen Kindern gegenüber zum Trotz, in ähn-
7 144 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
lichen Situationen auf Gewalt als Mittel zurückzugreifen, vor allem wenn andere, adäquatere Mittel
nicht verfügbar sind.“ (Habermehl 1994, S. 37).
Neuere Untersuchungen diesbezüglich haben
weiters ergeben, dass eine tragfähige Bindung des
von Gewalt betroffenen Elternteiles zu einer anderen Bezugsperson (z. B. der/dem PartnerIn) dazu
verhilft, die Kindheitserfahrungen konstruktiv zu
bewältigen. Ein Bewältigungsprozess führt schließlich zur Abnahme bzw. Vermeidung von Gewalt
gegen eigene Kinder (Bender & Lösel 1997; Pianta
et al. 1989; Rutter 1989). Umgekehrt steigt bei Kumulation der Gewalterfahrung bis tief in das Erwachsenenalter hinein das Risiko aktiver Gewalt
gegen die Kinder (Wetzels & u.a. 1995). So ergab
zum Beispiel eine Untersuchung von Wetzels
(1997), dass mit der Häufigkeit der Gewaltanwendung gegen Müttern seitens ihrer Männer auch die
Wahrscheinlichkeit der mehrfachen Misshandlung
von Kindern durch eben diese geschlagenen Mütter
anstieg. Außerdem zeigte sich, dass die von Gewalt
betroffenen Kinder wesentlich aggressiver gegenüber
ihren Geschwistern waren. Daraus lässt sich der
Schluss ziehen, dass offenbar in gewaltbelasteten Familien wechselseitige Aggressionen aufbrechen, die
wieder in Gewalthandlungen münden (Wetzels 1997).
5.4.1.5 Exkurs:
Körperliche Vernachlässigung
Obwohl es zu dieser Thematik kaum empirische Untersuchungen gibt, ist in Fachkreisen
unumstritten, dass besonders bei Kleinkindern Vernachlässigung ein gravierendes Problem darstellt,
da sie zumeist zu erheblichen Entwicklungsbeeinträchtigungen des Opfers führt (Erickson et
al. 1989; Markefka & Nauck 1993).
Zudem konnten anhand bekannt gewordener
Vernachlässigungsfälle folgende familiale Risikofaktoren festgestellt werden (Markefka & Nauck
1993):
3 extreme Armutsverhältnisse und soziale Randständigkeit (Polansky et al. 1981; Pelton 1981;
Stöhr 1990);
Gewalt in der Familie
3 psychische Erkrankungen der Eltern(teile), wie
z. B Depressionen (Markefka 1993);
3 geistige Behinderung oder Alkohol- und Drogenprobleme der Eltern (Markefka 1993).
Da Interventionsbemühungen bei schwerer
Vernachlässigung nur selten erfolgreich sind, ist
zumeist eine Fremdunterbringung der Kinder
unumgänglich (Markefka & Nauck 1993).
5.3 Psychische Gewalt
Auf die Frage, weshalb Eltern psychische
Gewalt im Zusammenhang mit der Erziehung des
Kindes anwenden, findet Derschmidt36 (1999) folgende Antworten:
(1) Die meisten Eltern lieben grundsätzlich ihre
Kinder und wollen eigentlich das Beste für sie –
wie immer sie dann auch mit ihnen umgehen.
(2) Eltern können mit ihren elterlichen Kompetenzen häufig sehr schlecht umgehen. Sie
üben daher zumeist unbewusst und unwillentlich psychische Gewalt am Kind aus. Oft erkennen sie diese nicht als solche, auch wenn sie in
der Kindheit selbst psychische Gewalterfahrungen gemacht haben. In diesem Fall übernehmen sie unter Verdrängung der eigenen seelischen Verletzungen die selben Verhaltensweisen wie ihre Eltern oder fallen auch bei
Bewusstwerden eigener Gewalterfahrungen
automatisch in diese Verhaltensweisen zurück.37
Häufig setzen Eltern psychische Gewalt als
Erziehungsmittel ein, weil sie der Meinung sind,
dass man sie auf diese Art erziehen müsse.
36
37
7 145 3
In der Tagung: „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“
– Psychische Gewalt am Kind. Enquete am 25.11.99.
Veranstalter: Bundesministerium für Umwelt, Jugend
und Familie, Wien.
Erklärt wird dieses Phänomen mit dem Begriff der
Fixierung (Derschmidt 1999).
„Kinder würden so am besten lernen und es sich
am besten merken, wenn mit besonderem
Nachdruck vermittelt werde.“ (Derschmidt
1999, S. 37).
(3) Stehen Eltern unter besonderen Druck durch
Stress oder außergewöhnliche Belastungen (wie
materielle Probleme, Berufsschwierigkeiten,
Scheidung etc.), so ist die Gefahr groß, es am
Kind auszulassen.
Obwohl gemäß Werneck das Ausmaß der physischen Gewaltanwendung in der Erziehung von
Kindern in den letzten Jahrzehnten gesunken ist,
scheint dagegen die psychische Gewalt sukzessive
zuzunehmen. Dieses Faktum werde jedoch, gemessen an den zu erwartenden Spätfolgen psychischer
Gewalt, im Vergleich zur physischen Gewalt in der
Regel noch völlig unterbewertet (Werneck 1999).
Daher bedarf es mehr denn je einer gezielten
Prävention hinsichtlich der Erziehungstechniken,
aber auch hinsichtlich der Haltung und Einstellung
zu Kindern, um psychische Gewaltvorkommnisse
einzudämmen bzw. zu minimieren (Leixnering
1999). Näheres siehe Kapitel 9 „Prävention“.
Damit in Hinkunft auf wissenschaftlicher
Ebene wesentlich detailliertere Aussagen über Verbreitung und Ausmaß psychischer Gewalt gegen
Kinder geliefert werden können, wird die Erforschung mittels qualitativ orientierter Forschungsmethoden (wie z. B. (auto-)biografischer Berichte
von Opfern) empfohlen. „So scheint es nicht nur
sinnvoll, sondern auch notwendig zu sein, das Feld
‚traditioneller‘ Wissenschaft (...) zu verlassen und
über den Weg im weitesten Sinne biografischer
Forschung zumindest ansatzweise Perspektiven zu
entwickeln, die aus dem beobachtbaren Forschungsdefizit hinsichtlich qualitativer Aspekte
von psychischer Gewalt gegen Kinder herausführen können.“ (Sommer 1995, S. 193).
5.3.1 Zusammenfassung
Die Hälfte bis zwei Drittel der Eltern in Österreich wenden nach wie vor mildere Formen körper-
licher Züchtigung bei ihren Kindern an. Zwar ist
gemäß amerikanischer Studien die körperliche
Gewalt gegen Kinder im Vergleich zu den 70erJahren durch gesteigerte öffentliche Sensibilisierung
und auf Grund modifizierter Erziehungspraxis etc.
wesentlich gesunken, jedoch besteht zur Feststellung des aktuellen Züchtigungsverhaltens auf
nationaler und internationaler Ebene noch vermehrter Bedarf nach Untersuchungen.
Bei Betrachtung des Geschlechterverhältnisses
der TäterInnen weisen österreichische Daten eine
Gleichverteilung zwischen Müttern und Vätern auf.
Jedoch ändert sich gemäß Haller (1998) bei Einbeziehung des gesamten familialen Täterkreises (Stief-,
Adoptiv und Pflegeeltern) das Geschlechterverhältnis der TäterInnen zulasten der Männer. Von einer
allgemein höheren Zahl an männlichen als weiblichen GewalttäterInnen in der Familie gehen vor
allem amerikanische Studien aus. Dagegen wird
vorwiegend in älteren Untersuchungen einem
größeren Anteil weiblicher Täterinnen vermehrte
physische Gewalt gegen Kinder zugeschrieben.
Allerdings erheben KritikerInnen anhand korrigierender Befunde vehement Einspruch gegen diese
einseitige Schuldzuweisung an die Mütter und verurteilen diese auf Grund fehlender Miteinbeziehung der Väter als „Mütter-Diskriminierung“.
Demnach dürfte der Vergleich zwischen Müttern
und Vätern als TäterInnen nur angestellt werden,
wenn beide zu gleichen Teilen Zeit und Verantwortung für ihre Kinder investieren, was derzeit
noch kaum der Fall sei.
Das Alter der TäterInnen liegt durchschnittlich
zwischen 20 und 35 Jahren. In angloamerikanischen
Untersuchungen konnte zudem ein erhöhtes Misshandlungsrisiko bei sehr jungen (d.h. jugendlichen)
Eltern festgestellt werden, welches durch mögliche
Überbelastungen begründet ist.
Bei Miteinbeziehung des Alters der im Haushalt
lebenden Kinder üben jüngere Eltern wesentlich
gefährlichere Formen von Gewalt an Kleinkindern
aus als ältere.
7 146 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Untersuchungsergebnisse weisen darauf hin,
dass Kinder, die von den Eltern physische Gewalt
erfahren mussten, im Erwachsenenalter einem erhöhten Risiko zur Gewaltanwendung gegen die
eigenen Kinder ausgesetzt sind. Gelingt jedoch eine
psychische Bewältigung der Gewalterfahrungen in
der Kindheit, so kann dies zur Abnahme bzw.
Vermeidung von Gewalt gegen die eigenen Kinder
führen.
Schließlich besteht entgegen den früheren Annahmen heute weitgehend Konsens darüber, dass
familiale Gewalt von TäterInnen aller sozialen
Schichten ausgeübt wird. Jedoch verfügen Personen
aus mittleren und höheren Schichten über bessere
Möglichkeiten, die Gewaltfälle zu verheimlichen,
weshalb sie auch bedeutend weniger in behördlichen Statistiken und somit in Untersuchungsstichproben aufscheinen.
5.4 Sexuelle Gewalt
5.4.1 Soziodemografische Faktoren
und familialer Hintergrund
5.4.1.1 Geschlecht
Da die Angaben über die Häufigkeit von sexueller Gewalt gegen Kinder stark variieren und da
kaum einheitliche Definitionen verwendet werden,
ist ein Vergleich der Ergebnisse nur selten möglich,
weshalb auch kaum allgemein gültige Aussagen über
das Geschlecht der TäterInnen getroffen werden
können (Wetzels 1996). (Siehe Kapitel 4 „Kinder als
Opfer“)
Aktuelle Zahlen aus Österreich (1997) belegen,
dass zwischen 80% und 95% der Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder von männlichen Tätern
verübt werden (Aktuell 1997). Dabei stehen diese
entweder im Verwandtschaftsverhältnis zu ihnen
oder zählen zum Bekanntenkreis des Opfers. Etwa
ein Viertel der TäterInnen lebt im selben Haus wie
das Opfers38 (Aktuell 1997, zit. in Schubert 1999).
Gewalt in der Familie
Diese Angaben über die Geschlechterverteilung
der TäterInnen decken sich mit internationalen Studienergebnissen (Godenzi 1994; Kavemann 1993).
Ebenso bestätigt z. B. ein von Brockhaus (1993)
durchgeführter Vergleich von 17 empirischen deutschen Untersuchungen im Zeitraum 1979 bis 1992,
dass die überwiegende Mehrheit der Täter männlich
ist. Demnach zeigt sich, „dass bei Mädchen gut
98% (...) und bei Jungen etwa 86% (...) der TäterInnen männlichen Geschlechts sind. Der Anteil von
Frauen an allen TäterInnen beträgt rund 4%.“
(Brockhaus 1993, S. 68f).
Die Angaben des ehemaligen österreichischen
Bundesministeriums für Umwelt, Jugend und
Familie (1996) weichen von diesen deutschen Zahlen nur geringfügig ab. Bei Miteinbeziehung des
Geschlechts des Opfers wurde folgende Geschlechterrelation der TäterInnen festgestellt (Feffer 1996,
zit. in Luttenfeldner 1997):
3 95% der missbrauchten Mädchen wurden von
Männern und 5% von Frauen genötigt;
3 80% der missbrauchten Buben erfuhren von
Männern und 20% von Frauen sexuelle Gewalt.
Zusammengefasst befinden sich männliche
familiale Sexualtäter überwiegend in der Mehrzahl.
Allerdings fällt auf, dass die Täterinnenschaft von
Frauen – im Vergleich zu früher – heute zunehmend häufiger thematisiert und damit publik wird.
Nähere Angaben über weibliche Täterinnen siehe
im Kapitel 5.4.5 „Frauen als Täterinnen“.
In dieser Hinsicht sind zur besseren Vergleichbarkeit und Generalisierung – besonders auch
in Österreich – weitere Untersuchungen nach wie
vor dringend erforderlich.
5.4.1.2 Alter
Lange Zeit war ein Bild des Täters als „perverser Zuckerlonkel“ oder „dirty old man“, der hinter
dem Gebüsch kleinen Mädchen auflauert und sich
mit Süßigkeiten an das Opfer heranmacht, gängig.
38
7 147 3
Nähere Angaben über die Opferzahlen: siehe Kapitel 4.
Die Wissenschaft hat dieses Klischee jedoch eindeutig widerlegt (Brockhaus & Kolshorn 1993).
Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass etwa
die Hälfte aller TäterInnen zwischen 19 und 50
Jahre alt ist und nur ein Zehntel älter als 50 Jahre.
Der größte Anteil findet sich bei Personen im Alter
von Anfang bis Mitte dreißig (Bange 1992;
Finkelhor 1979; Russell 1986).
In einem Vergleich von zwei Studien durch
Bange und Deegener in den Städten Dortmund und
Homburg zeigt sich, dass das Durchschnittsalter
von Familienangehörigen, die sexuelle Gewalt an
Kindern ausüben, bei 31 Jahren (Homburg) bzw. 38
Jahren (Dortmund) liegt. Die innerfamilialen
TäterInnen weisen dabei zu Beginn der sexuellen
Gewaltanwendung zu einem Drittel (Dortmund)
bzw. einem Viertel (Homburg) ein Alter zwischen
41 und 50 Jahren auf. Je ein Drittel ist zwischen 19
und 40 Jahre alt (Bange & Deegener 1996).
Ebenso überwiegt in einer aktuellen, nichtrepräsentativen österreichischen Untersuchung zur
Prozessbegleitung bei sexueller Gewalt gegen
Kinder (n=56) der Anteil der über 30-jährigen
TäterInnen (Lercher et al. 2000). Im Detail sind
demnach
3 etwas mehr als 5% zwischen 16 und 18 Jahre alt;
3 knapp 4% zwischen 21 und 30 Jahre alt;
3 ein Viertel (25%) zwischen 31 und 40 Jahre alt;
3 etwa 27% zwischen 41 und 50 Jahre alt.
Dieses Faktum einer Mehrheit von über 30jährigen TäterInnen spiegelt sich auch in der österreichischen polizeilichen Kriminalstatistik (1998)
wider: denn der Anteil der unter 19-Jährigen ist mit
15 Personen (= 2,7%) von insgesamt 554 Tatverdächtigen relativ gering (Lercher et al. 2000). Im
Gegensatz dazu zeigt z. B. die polizeiliche Kriminalstatistik in Großbritannien, dass der Anteil der
jüngeren TäterInnen dort wesentlich höher ist: Ein
Drittel der Personen, die 1989 einer Sexualstraftat
beschuldigt wurden oder von der Polizei eine
Verwarnung erhielten, war jünger als 20 Jahre
(Lercher et al. 2000).
Österreichische ExpertInnen haben auf Grund
dieser Ergebnisse die These formuliert, dass in Österreich im Unterschied zu anderen Ländern (z. B.
Großbritannien) eher ältere TäterInnen angezeigt
werden. Bei Jugendlichen wird dagegen tendenziell
keine Anzeige gemacht, um ihnen die Zukunft
nicht zu verbauen. Dadurch erfolgt jedoch die Intervention viel zu spät und das Tatverhalten hat sich
verfestigt. Zudem kritisieren in diesem Zusammenhang MitarbeiterInnen einer Einrichtung, die
mit jugendlichen SexualtäterInnen arbeitet
(„Limes“), dass Jugendämter und Gerichte nach
wie vor sexuelle Übergriffe durch Jugendliche zu
wenig ernst nehmen. Dies führt letztlich dazu, dass
die Gewalttat ohne Konsequenzen für die TäterInnen bleibt (Lercher et al. 2000).
Dass nicht nur Erwachsene Sexualstraftaten verüben, sondern auch Jugendliche zum Kreis der
TäterInnen von sexueller Gewalt zählen, bestätigen
zudem zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen (Abel & Rouleau 1990; David 1993; Johnson
1988; Vizard et al. 1995). So kommt zum Beispiel
die Untersuchung von 500 Sexualstraftätern durch
Abel und Rouleau (1990) zum Ergebnis, dass 40%
der Männer, die in der Familie sexuelle Gewalt
gegen Jungen anwendeten, bei ihrer ersten Tat noch
keine 18 Jahre alt waren. Bei den Mädchen lag der
Anteil der unter 18-jährigen SexualtäterInnen bei
25%.
Auch Russel (1986) zeigt in ihrer Täterstudie,
dass 15% der Täter nicht mehr als fünf Jahre älter
waren als die von sexueller Gewalt betroffenen
Kinder selbst (Russell 1986). Gemäß Gordon
(1990) trifft es wesentlich häufiger männliche
Opfer, die von Gleichaltrigen sexuell ausgebeutet
werden als Mädchen (Gordon 1990). Zu diesem
Ergebnis kam auch Bange (1992), indem 42% der
befragten Männer und 28% der Frauen angaben, in
ihrer Kindheit sexuelle Gewalt durch eine Person
erfahren zu haben, die weniger als fünf Jahre älter
war (Bange 1992).
Im Zusammenhang mit sexueller Gewalt bei
gleichaltrigen Kindern muss jedoch zu bedenken
7 148 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
gegeben werden, dass hier eine Grenzziehung
äußerst schwer fällt. Denn von sexueller Gewalt
unter gleichaltrigen Kindern „sollte (...) nur dann
gesprochen werden, wenn die sexuellen Handlungen eindeutig gegen den Willen des einen Kindes
stattfinden. Einige WissenschaftlerInnen setzen
zudem die Anwendung von Zwang und/oder körperlicher Gewalt voraus“ (Bange & Deegener 1996,
S. 103). Gemäß Bange ist diese sehr genaue Unterscheidung zwischen gewalttätigem und nicht
gewalttätigem Verhalten notwendig, um nicht „in
eine neue Prüderie zu verfallen, die den Kindern ihr
Recht auf eine freie Entwicklung ihrer Sexualität
(...) abspricht“ (Bange & Deegener 1996, S. 103).
5.4.1.3 Exkurs:
Kinder als Täter sexueller Gewalt bedingt
durch sexuell aggressive Impulsivität
In der Literatur bestehen nur wenige Untersuchungen, die Kinder und Jugendliche als TäterInnen von sexueller Gewalt gegen Kinder behandeln.
Im Folgenden werden daher Studienergebnisse von
zwei Ärzten (Psychiater und Psychotherapeuten),
die im klinischen Alltag mit TäterInnen im Kindesund Jugendlichenalter arbeiten, vorgestellt. Die
Autoren beziehen sich dabei auf Fälle, denen
gemeinsam ist, dass die Kinder Gewalthandlungen
auf Grund sexuell aggressiver Impulsivität setzten.
Darunter verstehen sie alle Formen von sexuellen Handlungen oder Angriffen, die gegen den
Willen des anderen Kindes gerichtet sind. Weiters
zählen hierzu neben sexueller Gewaltanwendung
durch Kinder und Jugendliche auch Aggressionen
ohne manifest sexuelle Handlungen, die von sadistischen Körperzerstörungsimpulsen begleitet sind
(Romer & Berner 1998).
Anhand der nur (spärlich) bestehenden Literatur zum Thema Kinder mit sexuell aggressiver Impulsivität gelang es den Autoren, zunächst Spezifika herauszufiltern, die in diesem Zusammenhang in
Untersuchungen wiederholt auftraten. Demnach
zeigten sich folgende Störbereiche (Romer &
Berner 1998):
Gewalt in der Familie
3 Vernachlässigung und Misshandlung (Adler &
Schutz 1995, O’Brien 1991);
3 sexueller Missbrauch in der Vorgeschichte der
Mutter in 58% bis 72% der jeweils untersuchten Fälle (Adler & Schutz 1995; O’Brien 1991;
Smith & Israel 1987);
3 schwere Partnerkonflikte der Eltern (Adler &
Schutz 1995);
3 sexualisiertes Familienklima und sexuelle
„Grenzüberschreitungen“
innerhalb
der
Familie, die eine eigenständige Intimitätsentwicklung verhindern (Smith & Israel 1987);
3 wechselnde Intimbeziehungen der Eltern, wodurch die betroffenen Kinder zu parentifizierten Geheimnisträgern werden (Smith & Israel
1987);
3 chaotische Familienstruktur mit nicht hinreichender elterlicher Kontrolle und Aufsicht
(Justice & Justice 1979; Smith & Israel 1987);
3 frühe Störungen der Mutter-Kind-Beziehung
(Okami & Goldberg 1992).
Daraus ist ersichtlich, dass drei besondere Charakteristika ausschlaggebend für das Aufbrechen
dieser tiefgreifenden Entwicklungspathologie bei
Kindern sind:
(1) gestörte Mutter-Kind-Beziehung (z. B. aktive
Bindungsabweisung verbunden mit gleichzeitiger Erotisierung);
(2) schwere Partnerkonflikte der Eltern;
(3) fehlendes väterliches Vorbild (z. B. durch Probleme mit Alkoholismus oder Spielsucht).
Es zeigt sich also, dass dieses Sexualisierungsverhalten betroffener Kinder aus einer negativen
Beziehungserfahrung mit beiden Elternteilen resultiert. Diese verbaut dem Kind die Suche nach Trost
und Anlehnung beim Erwachsenen und führt dazu,
dass es stattdessen versucht, reale Lust- und
Machterlebnisse herbeizuführen, um letztlich die
eigene Angst zu mindern und eine vermisste Nähe
zu finden (Romer & Berner 1998).
7 149 3
Im Folgenden werden die von Romer & Berner
präsentierten acht Fallkasuistiken kurz skizziert
und zusätzlich zwei zusammenfassende Tabellen
über Merkmale und Familienstrukturen der Täter
dargestellt:
3 A (12 Jahre) hat seine beiden jüngeren Schwestern mit der Drohung, sie sonst umzubringen, zu
koitalen Handlungen gezwungen. Er zeigt eine
beeinträchtigte Beziehung zur Realität (Geschichten erfinden, die er selbst glaubt). Er stammt
aus chaotischen Familienverhältnissen (wechselnde
Intimbeziehungen der Mutter, plötzliches Verlassen
der Familie durch die Mutter, vorherige gewalttätige Auseinandersetzungen der Eltern, Vernachlässigung der Kinder, Alkoholprobleme des Vaters).
Neben einer Störung des Sozialverhaltens wird
beim Kind die psycho-dynamische-strukturelle
Diagnose eines Borderline-Syndroms mit schizoiden Zügen festgestellt.
3 B (8 Jahre) hat in der Schule ein Mädchen ins
Gesicht getreten und ein anderes Mädchen mit
einem mit Nägeln besetzten Baseballschläger auf
den Kopf geschlagen. Diese Gewaltakte waren begleitet von Tötungs- und Zerstückelungsfantasien
des Kindes. Das Kind war dabei im Zustand des
„Weggetretenseins“.
Die Mutter wurde als Kind sexuell missbraucht und
hat mit Alkoholproblemen zu kämpfen. Zudem
wurde B. häufig Zeuge von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Mutter und ihren
Partnern sowie von Suizidversuchen der Mutter.
Bei ihr wurde eine Borderline-Persönlichkeitsstörung mit Alkoholismus festgestellt. Den leiblichen
Vater hat der Bub nie kennen gelernt.
Diagnose: Störung des Sozialverhaltens und psychodynamische-strukturelle Diagnose eines BorderlineSyndroms mit schizoiden Zügen.
3 C (12 Jahre) hat bei seinen leiblichen Schwestern wiederholt Gegenstände in die Vagina eingeführt. Die Mutter leidet an Depressionen und
wurde als Kind sexuell missbraucht. Der Vater
weist Spielsucht und ein Alkoholproblem auf und
wird deshalb von der Mutter stark kontrolliert. Das
familiäre Klima ist geprägt von wenig intakten
Geschlechtergrenzen (z. B. die Mutter säubert den
12-jährigen Sohn beim Baden noch immer im
Genitalbereich).
Diagnose: Störung des Sozialverhaltens und psychodynamische-strukturelle Diagnose eines BorderlineSyndroms mit Merkmalen einer narzisstisch gestörten Persönlichkeitsentwicklung.
3 D (14 Jahre) hat einen 5-jährigen Jungen unter
Gewaltandrohung (mithilfe eines Taschenmessers)
dazu gezwungen, sich zu entblößen und mit seinen
Genitalien spielen zu lassen. Er zeigt Selbstunsicherheiten und baut sich eine Fantasiewelt auf, die
er selber für real hält. Die Mutter (Prostituierte) ist
bindungsabweisend und hat D als Baby nach eigenen Angaben nächtelang schreien lassen. Sein
Stiefvater ist gewalttätiger Alkoholiker. D erfuhr
erst mit 14 Jahren zufällig, dass sein Stiefvater nicht
sein leiblicher Vater ist. Dieser hat die Familie nach
einer Krebsoperation der Mutter nach einem Streit
verlassen. Diagnose: depressive emotionale Störung
des Kindesalters und psycho-dynamische-strukturelle Diagnose eines Borderline-Syndroms.
3 E (14 Jahre) ist ein Pflegekind, das den leiblichen Sohn der Pflegeeltern regelmäßig zum Analverkehr gezwungen hat. Zudem sind bei E Diebstahldelikte und andere dissoziale Verhaltensweisen
bekannt (z. B. Töten von Meerschweinchen, „experimenteller“ Tränengasangriff auf ein fremdes
Kind). Die leibliche Mutter (Prostituierte) hat E als
Säugling vernachlässigt und schwer misshandelt
sowie das Kind tagelang in fremden Wohnungen
gelassen. Die Pflegemutter weist ein impulsives
Temperament und Merkmale einer emotional instabilen Persönlichkeit auf, sie geht auf kindliche
Bedürfnisse nicht ein und verhält sich gegenüber E
verführerisch. Der Pflegevater ist eine distanzierte,
kontrolliert wirkende Persönlichkeit, die wenig
emotionalen Kontakt zur Familie hat. Diagnose:
Störung des Sozialverhaltens und psycho-dynamische-strukturelle Diagnose eines Borderline-Syndroms mit schizoiden Zügen.
7 150 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Tabelle II.2:
Merkmale der Täter und Opfer
Merkmale
A
B
C
D
E
F
G
H
Geschlecht
m
m
m
m
m
m
m
m
Alter bei erster
Aggression
11
8
10
14
11
5
13
14
vaginale
Penetration
Angriff
mit Zerstückelungsfantasien
Oralverkehr
manuellgenitale
Manipulation
sexuell
aggressive
Handlung
vaginale manuell- rektale
Penetra- genitale Penetration
Manition
pulation
rektale
Penetration
Anzahl der Opfer
3
2
2
1
1
3
1
2
Geschlecht der Opfer
w
w
w
m
m
m/w
w
m/w
Alter der Opfer
6-9
7-8
3-6
8
6
5-7
8
7-8
Altersdifferenz
Täter/Opfer
2.5
0-1
4-7
6
5
0-1
5
6-7
+
-
+
-
+
-
+
-
(+)
+
(+)
-
(+)
+
-
-
Bezahlung
-
-
-
+
-
-
+
+
soziale Verwahrlosung
+
-
-
-
+
-
-
-
Störung des
Sozialverhaltens
+
+
+
-
+
+
+
+
Emotionale Störung
-
-
-
+
-
-
+
-
Borderline-Syndrom
(psychodynamischstrukturell)
+
+
+
+
+
+
+
+
Drohungen
Gewalt
Quelle: (Romer & Berner 1998)
Legende: + gesichert, (+) wahrscheinlich, - kein Anhalt oder nicht vorhanden
3 F (7 Jahre) hat seit seinem fünften Lebensjahr
verschiedene Kinder unter Gewaltanwendung mit
einem Stock rektal penetriert. Zuhause zeigt er
aggressive Handlungen gegen den fünf Jahre jüngeren Bruder und gegen Tiere. Der außerordentlich
verstört wirkende Junge schottet sich unter ängstlicher Anspannung ab und neigt zu Fantasien, in
Gewalt in der Familie
denen ihn seine Opfer attackieren. Die Mutter
weist Merkmale einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auf (einerseits bindungsabweisend und
andererseits offen verführerisches Verhalten
gegenüber F). Der Vater ist impulsiv und tablettensowie alkoholabhängig, weshalb sich die Eltern (als
F vier Jahre alt war) getrennt haben. Diagnose: Stö-
7 151 3
Tabelle II.3:
Vorgeschichte und familiäre Beziehungen
Vorgeschichte und
familiäre Beziehungen
A
B
C
D
E
F
G
H
Sexuelle Traumatisierung
?
-
-
(+)
(+)
?
-
-
Vernachlässigung
+
+
+
+
+
+
-
?
Physische Gewalt
?
-
-
-
+
+
-
?
Mutter als Kind
sexuell traumatisiert
+
+
+
-
-
-
+
-
Mutter Prostituierte
-
-
-
+
+
-
-
-
Erotisierte Interaktion
Mutter-Sohn
-
-
+
+
+
+
+
?
Mutter bindungsabweisend
+
+
-
+
+
+
-
-
Vater gewalttätig
(Kind Zeuge)
+
+
+
+
-
+
-
-
Vater mit Alkoholproblem
+
+
+
+
-
+
-
-
Vater abwesend
-
+
-
-
-
+
+
-
Vater anwesend, aber
emotional nicht verfügbar
-
-
+
-
+
-
-
?
Quelle: (Romer & Berner 1998)
Legende: + gesichert bzw. vorhanden; (+) wahrscheinlich, ? fraglich oder nicht einschätzbar,
- unwahrscheinlich
rung des Sozialverhaltens und psycho-dynamischestrukturelle Diagnose eines Borderline-Syndroms
mit schizoiden Zügen.
3 G (14 Jahre) hat seine neunjährige Schwester
neben dem Zwang zu manuellen sexuellen Handlungen wiederholt mit übergestreiftem Kondom
zum Oralverkehr gezwungen. Seine Mutter ist in
verwahrlosten Verhältnissen aufgewachsen und
selbst als Kind zum Oralverkehr gezwungen worden. In Gs ersten Lebensjahren war die familiäre
Situation chaotisch, was auch zu einer Vernachlässigung des Kindes geführt hat. Zudem erfolgte eine
Trennung der Eltern auf Grund von außerehelichen
Affären des Vaters. G wurde zum Partnerersatz der
emotional bedürftigen Mutter. Die Interaktion zwischen den beiden wird als subtil erotisiert beschrieben. Diagnose: depressive Störung des Sozialverhaltens und Borderline-Syndrom (psycho-dynamisch-strukturell).
3 H (14 Jahre) hat zwei Buben und ein Mädchen
sexuell missbraucht. Er ist zuvor durch Stehlen und
Lügen sowie Weglaufen von der Schule aufgefallen.
Die familiären Verhältnisse sind chaotisch und mit
häufigen Wohnungswechseln in der Kindheit verbunden. Die Mutter leidet unter einer schweren
Angstneurose und verlässt kaum das Haus. Die
ganze Familie fühlt sich von Nachbarn verfolgt.
Diagnose: Störung des Sozialverhaltens und
7 152 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
psycho-dynamische-strukturelle Diagnose eines
Borderline-Syndroms.
Die Autoren ziehen aus den acht Fällen zusammengefasst folgendes Fazit:
Alle untersuchten Jugendlichen39 wiesen eine
Borderline-Struktur auf, davon vier begleitet mit
schizoiden Zügen. Vier hatten einen labilen Realitätsbezug. Bei zwei Jungen war zwar der Realitätsbezug intakt, jedoch bauten sie sich eine paranoide
Fantasiewelt auf, um die massiven Rachefantasien
gegenüber dem weiblichen Geschlecht oder jüngeren Kindern rechtfertigen zu können. Bei den
Jugendlichen kamen zum Beispiel sexual-aggressive
Handlungen zum Vorschein, wie das Zwingen von
jüngeren Geschwistern zu koitalen Handlungen
oder zum Analverkehr, das Setzen von Gewaltakten wie das Treten in das Gesicht oder das Schlagen von einem mit Nägeln besetzten Baseballschläger auf den Kopf eines Mädchens mit Tötungs- und
Zerstückelungsfantasien.
Weiters stammten alle acht Kinder aus sehr gestörten, teilweise chaotischen familialen Verhältnissen. Sie wurden zum Beispiel häufig Zeugen von
Gewalttaten und anderen Formen von Impulsausbrüchen innerhalb der Familie und in der Hälfte
aller Fälle war die Mutter selber Opfer von sexueller Gewalt in ihrer Kindheit. In fünf der acht Fälle
waren die Mütter aktiv bindungsabweisend, was
sich negativ in der Beziehungsfähigkeit der Kinder
auswirkte. Zusätzlich konnte sich keiner der dargestellten Jungen positiv mit dem Vater identifizieren.
In fünf der acht Fälle lebten die Väter oder Vaterersatzpersonen einen impulsiven Triebdurchbruch
vor (zumeist war hierbei eine Kombination von
Alkoholmissbrauch und Gewalt gegeben). Weiters
waren die Väter in sechs Fällen im Verlauf der
Kindheit der Jungen entweder emotional nicht verfügbar oder gänzlich abwesend.
39
Untersuchungszeitraum: von 1994 bis 1997.
Gewalt in der Familie
Romer & Berner kommen zum Schluss, „dass
eine der sexuellen Aggression vorangehende Viktimisierung der kindlichen Täter ätiologisch weniger
bedeutsam ist als defizitäre Bindungserfahrungen,
gewaltsam agierte familiäre Konflikte, impulsive
Durchbrüche der Väter sowie eine sexuelle Viktimisierung der Mütter in deren Kindheit“ (Romer &
Berner 1998, S. 308).
5.4.1.4 Familialer Hintergrund
3 Schichtzugehörigkeit
Wie bereits im Kapitel 4.2.4 „Opfer: Schichtzugehörigkeit“ beschrieben, vertrat man bis Anfang
der 60er-Jahre die Ansicht, dass sexuelle Gewalt in
der Familie ausschließlich ein Phänomen des Unterschichtmilieus, verbunden mit Alkoholismus,
Gewalt und allgemeiner Promiskuität, sei. Die Begründung für diese Annahme lag in der Tatsache,
dass man nur bekannt gewordene Fälle, d.h. überführte Delinquenten analysierte (Schubert 1999).
Heute bestätigen zahlreiche Untersuchungen,
dass sexuelle Gewalt in der Familie in allen sozialen
Schichten gleichermaßen vorkommt (Baker &
Duncan 1986; Bange & Deegener 1996; Finkelhor
& Araji 1986a; Russell 1986; Schubert 1999).
3 Beziehung zwischen Opfer und TäterInnen
Da nur etwa 10% der TäterInnen in die Kategorie der FremdtäterInnen fallen, kennt der überwiegende Teil der Kinder bereits vor dem Missbrauchsdelikt den/die TäterIn. Ausschlaggebend
für diese Erkenntnis waren besonders die Erfahrungen der Beratungsstellen und Kinderschutzzentren, die sich intensiv mit betroffenen Kindern
und deren sexuellen Gewalterfahrungen auseinandersetzten und dabei ein erhöhtes Vorkommnis von
sexueller Gewalt vor allem innerhalb der Familie
feststellten (Kavemann & Lostöter 1984).
Gemäß Bange & Deegener (1996) entstammen
TäterInnen, die sexuelle Gewalt gegen Mädchen anwenden, zu einem Viertel aus dem nahen Verwandtschaftskreis die Hälfte aus dem Bekannten-
7 153 3
kreis – und zwischen 15 und 25% sind FremdtäterInnen. Bei Jungen reduziert sich im Vergleich
dazu der Anteil der TäterInnen aus dem familialen
Umfeld auf 10 bis 20%. Jedoch fallen sie häufiger
Personen aus dem sozialen Nahraum zum Opfer,
wie zum Beispiel LehrerInnen, FreundInnen der
Familie, NachbarInnen, Pfarrer, ErzieherInnen
usw. (Bange & Deegener 1996).
Lange Zeit wurde im familialen Täterkreis eine
Überrepräsentanz der Väter (leibliche und nichtleibliche) angenommen. Diese kam gemäß
Brockhaus & Kolshorn (1993) dadurch zu Stande,
dass ausschließlich klinische Stichproben herangezogen wurden, in denen diese Tätergruppe überwog. „Dies liegt vermutlich wesentlich in der
besonders traumatisierenden Dynamik dieser Form
sexueller Ausbeutung begründet.“ (...) Darin ist
„auch der Schüssel für die falsche Vorstellung vieler
Praktikerinnen zu sehen, wonach die Täter fast
immer Väter sind. In ihrer Arbeit werden sie
hauptsächlich mit dieser Missbrauchskonstellation
konfrontiert“ (Brockhaus & Kolshorn 1993, S. 76).
Die Täterrelation verändert sich, sobald andere
Stichproben wie z. B. Allgemeinbevölkerungssamples herangezogen werden. Demnach nehmen
die beiden Tätergruppen Onkel und Vaterfiguren
zusammen einen Anteil von etwas mehr als die
Hälfte aller verwandten TäterInnen ein (Finkelhor
1990; Russell 1986; Wyatt 1985). Vaterfiguren stellen dabei rund 7% aller Sexualtäter und ein Viertel
aller verwandten TäterInnen (Brockhaus &
Kolshorn 1993).
Zusammengefasst zeigt sich somit, dass die
Annahme, Väter würden den größten Täteranteil für
familiale sexuelle Gewalt gegen Kinder einnehmen,
unzutreffend ist. Vielmehr sind weitere Verwandte
wie Onkel, Großväter, Brüder oder Cousins bzw.
auch Bekannte und Freunde der Familie in den
engeren Täterkreis mit einzubeziehen.
3 Eigene Opfererfahrungen der TäterInnen –
die Missbrauchter-Missbraucher-Hypothese
Einige ForscherInnen sehen einen engen Zusammenhang darin, dass TäterInnen, die in der
eigenen Kindheit sexuelle Gewalterfahrungen
gemacht haben, später selbst sexuelle Gewalt
anwenden (Eitel 1998; Schubert 1999). Dieser Erklärungsversuch, welcher auch als MissbrauchterMissbraucher-Hypothese bezeichnet wird, fand
allerdings nach wiederholten Überprüfungen nur
bei wenigen Personen Bestätigung (Groth 1979).
Der Großteil falsifizierte die These und äußerte sich
darüber skeptisch (Eich 1992; Garland & Dougher
1990). Gegen diese Theorie spricht vor allem, dass
demgemäß Frauen, die am häufigsten Opfer von
sexueller Gewalt in ihrer Kindheit werden, somit
überwiegend sexuelle Gewalt ausüben müssten,
was wissenschaftlich bislang nicht belegt werden
konnte.
Ebenso bestätigen diesbezügliche Analysen von
Heiliger (1995), dass die Mehrzahl der sexuellen
Gewalttäter keine eigenen Gewalterfahrungen
gemacht hat. Demnach bewegen sich die Angaben
der TäterInnen mit eigenen Missbrauchserfahrungen zwischen 11% und maximal 48% (Eitel 1998).
Monokausale Erklärungsansätze und lineare
Ursachenforschung sind somit für derart komplexe
und dynamische Phänomene, wie die sexuelle familiäre Gewalt eines ist, nicht immer geeignet (Kinzl
1998).
Bange und Enders (1995) führen folgende
Gründe an, weshalb diese Missbrauchter-Missbraucher-Theorien nicht nur unzutreffend seien,
sondern sogar kontraproduktiven Charakter haben
(Bange 1995, zit. in Schubert 1999):
3 Das Tabu um die sexuelle Gewalt gegen Jungen
wird durch diese These verstärkt. Die Jungen
können Angst davor haben sich zu öffnen, weil
sie fürchten, gleich als „kleine“ Täter betrachtet
zu werden.
3 Durch eine stärkere Tabuisierung wird die
Hilfesuche für das Opfer erschwert.
7 154 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Die Beratungsangebote für Opfer könnten zu
sehr darauf abzielen, zukünftiges TäterInnenverhalten zu verhindern. Somit würden die Aufarbeitungsbedürfnisse der missbrauchten Opfer
aus dem Blickfeld geraten.
3 Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu
den HelferInnen könnte erschwert werden,
denn aufseiten der BeraterInnen können Gefühle von Widerstand und Antipathie gegenüber den KlientInnen bestehen, weil sie glauben, es mit potenziellen TäterInnen zu tun zu
haben. Ebenso besteht umgekehrt die Gefahr,
dass die Opfer befürchten müssten, von den
HelferInnen wegen einer potenziellen Täterschaft stigmatisiert zu werden.
3 Schließlich ist es eine ungerechte Vorabbeschuldigung, alle missbrauchten Kinder zu verdächtigen, später selbst GewalttäterInnen zu
werden. Der überwiegende Teil wird gerade auf
Grund der eigenen Gewalterfahrungen nicht
zum/zur TäterIn.
Um ein umfassendes theoretisches Modell zur
Erklärung von sexueller Gewalt überhaupt erstellen
zu können, bedarf es daher vielmehr der Miteinbeziehung von vielfältigen Faktoren (z. B. biologische und physiologische Funktionen, soziale und
familiäre Umwelt, Traumatisierungen etc.). Generell hat bei eigenen nicht verarbeiteten Opfererfahrungen in der Kindheit die möglichst frühzeitige
psychologische Aufarbeitung eine wichtige präventive Funktion (Eitel 1998).
5.4.2 TäterInnenstrategien
Im Zusammenhang mit den Strategien der
TäterInnen, um sich an ihren Opfern sexuell vergehen zu können, kamen Bange & Deegener (1996) in
ihrer Studie zum Ergebnis, dass viele besonders die
emotionale Bedürftigkeit von Kindern ausnutzen.
Demnach gaben 30% der im Kindesalter sexuell
missbrauchten Frauen und 22% bzw. 39% der betroffenen Männer an, dass sie vom/von der TäterIn
durch emotionale Zuwendung zu sexuellen Hand-
Gewalt in der Familie
lungen verführt wurden. Beinahe 41% der weiblichen und 36% der männlichen Opfer gaben an,
dem/der TäterIn überwiegend oder völlig vertraut
zu haben. Zudem gelang es 15 bis 20% der
TäterInnen, die Kinder durch Geschenke und
Lügen über falsche sexuelle Normen sexuell auszubeuten. Bedroht und mit körperlicher Gewalt
gezwungen wurden insgesamt 42% der betroffenen
Frauen und 48% der Männer (Bange & Deegener
1996).
Entgegen der Behauptung Bornemanns (1989)
sind für die Ausübung sexueller Gewalt an Kindern
folglich nicht unbedingt körperliche Gewalt oder
psychischer Druck durch den/die TäterIn erforderlich. Es bestehen spezifische Taktiken, die teilweise
sogar effektiver sind, um den Kindern sexuelle
Handlungen aufzudrängen und sie zum Schweigen
zu bringen (Bange & Deegener 1996; Bullens 1995;
Conte et al. 1989; Elliott 1992). Am häufigsten wird
von Erwachsenen dabei – wie oben demonstrativ
angeführt – die emotionale Bindung mit dem Opfer
oder die Bedürftigkeit des Kindes ausgenutzt
(Bange 1992; Kinzl 1998; Richter-Appelt 1995). Zudem zählt zu diesen Taktiken die Manipulation der
sozialen Umgebung, insbesondere der Bezugspersonen des Kindes (siehe Kapitel 5.4.3 „Tatdynamik“).
Friedrich zeigt z. B. in diesem Zusammenhang
durch Fallbeispiele auf, welche Mittel Täter einsetzen, um sich erfolgreich an ihre Opfer anzunähern
und schließlich sexuelle Gewalthandlungen setzen
zu können. Im Folgenden wird – ausgehend vom
jeweiligen Alter und somit angepasst an die
Entwicklungsstufe des Opfers – beispielhaft je eine
Täterstrategie (von vielen) – angelehnt an Friedrich
– vorgestellt (Friedrich 1998):
3 Vorschulalter des Kindes: Das Kind befindet
sich in der Phase magisch-animistischen Denkens. Die Welt erscheint noch märchenhaft. Der
Täter bezeichnet das Genitale zum Beispiel als
Zauberstab, Wunderstange oder Ähnliches, um
die kindliche Neugierde zu wecken. Dem Kind
wird eine scheinbar magische Welt vorgeführt.
7 155 3
3 Volksschulalter: Hier setzt das logisch-rationale
Denken beim Kind ein und rückt in den Vordergrund. Der Täter muss andere Annäherungsstrategien wählen, wobei er noch immer auf das
neugierig-Machen des Kindes abzielt und die
Entdeckungsfreude und Wissbegierde der
Kinder ausnutzt. So beschenkt er zum Beispiel
das Kind, oder teilt ihm/ihr bestimmte „wichtige“ Aufgaben zu.
3 Vorpubertät und Pubertätsalter: Der Täter versucht auf unauffälligere Art und Weise, die
Neugier bzw. das Interesse des Kindes auf sich
zu lenken (z. B. durch Pornografie). Ganz „zufällig“ werden Pornovideos eingelegt und dann
mit dem Hinweis „Das ist noch nichts für
dich!“ wieder abgeschaltet. Auf diese Art intendiert er, die Schamschranke des Kindes zu herabzusenken, bis schließlich das ganze Material
vorgeführt wird. „Die Konfrontation mit Pornografie ist aber eine Überforderung, die kaum
ein Kind verkraftet.“ (Friedrich 1998, S. 25).
In Anlehnung an Arenz-Greiving (1990) können die Täterstrategien in drei Taktiken zusammengefasst werden (Arenz-Greiving 1990, zit. in
Schubert 1999):
(1) Beschwichtigung: Es wird versucht, dem Kind
einzureden, dass alle Väter diese Spiele machen
und dass sie Spaß machen usw.
(2) Bestechung: Der Täter macht Versprechungen
und Geschenke und schließt eine Art Komplott
mit dem Kind gegen die Mutter.
(3) Bedrohung.
Weitere Strategien sind, das Mitgefühl des Kindes auszunutzen („Ich bin so traurig, nur du machst
mich glücklich.“) oder das Kind zum Geheimnisträger zu machen („Das da ist etwas ganz Besonderes. Das darfst nur du miterleben.“). Das Schweigen kann natürlich auch mit Druck, d.h. unter
Gewaltanwendung und Drohungen erzwungen
werden. In diesem Zusammenhang haben Wyre &
Swift (1991) festgestellt, dass selbst bei verloren
gegangenem Interesse am Missbrauch des Kindes
glaubt, damit fortfahren zu müssen, um auch weiterhin das Schweigen des Opfers zu gewährleisten.
„Indem sie weitermachen, bleiben die Schuldgefühle des Kindes wach. Ist das Opfer erst einmal
diesem regelmäßigen Einfluss entzogen, ist eher
anzunehmen, dass es redet. Jeder Kindesmissbraucher hat Angst, seine Opfer aus dem Griff zu verlieren.“ (Wyre & Swift 1991, S. 78f).
Es wird deutlich, dass TäterInnen auf Grund
ihrer geplanten und somit bewusst gesetzten
Taktiken das betroffene Kind auch ohne körperliche Gewalt zu sexuellen Handlungen und zur Geheimhaltung zwingen können. Dennoch greifen sie
immer wieder zusätzlich auf massive körperliche
Gewalt zurück. Dies gilt besonders für TäterInnen
aus dem Bekannten- und Freundeskreis (Bange &
Deegener 1996).
5.4.3 Tatdynamik
Die Grenze zwischen sexueller Gewalt und
natürlicher, für die Entwicklung des Kindes förderlicher Zärtlichkeit zwischen Vater/Mutter und
Kind ist vor allem daran zu erkennen, ob eine
Intention zur sexuellen Gewalt besteht oder nicht.
Das bedeutet, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder
nicht fließend aus dem liebevollen Körperkontakt
mit dem Kind entsteht, sondern damit ein bewusstes Vorgehen verbunden ist, welches der/die
TäterIn eindeutig festlegt und plant, um letztlich
sein/ihr Ziel der Befriedigung eigener sexueller
Bedürfnisse zu erreichen. Der/die TäterIn befindet
sich somit beim Entschluss sexuelle Gewalt am
Kind auszuüben in einer aktiven Rolle. Behauptungen, dass der Missbrauch ein einmaliger Ausrutscher gewesen sei oder Alkoholeinfluss zur Tat
geführt habe, sind Rechtfertigungsstrategien der
MissbraucherInnen.
Der Tatzyklus ist vergleichbar mit einem allgemeinen „Suchtkreislauf“, aus dem der Ausstieg
schwer fällt. Diese Erkenntnis beruht auf jahrelangen Erfahrungen aus der Arbeit mit MissbrauchstäterInnen (Eitel 1998; Lercher 2000).
7 156 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Dieser „Suchtkreislauf“ wird insbesondere
durch nachstehende Grafik (Skizze II.2) verdeutlicht, welche die Tatdynamik von SexualtäterInnen
(Eldridge 1998) Schritt für Schritt darstellt – beginnend mit der Genese und Vorbereitung zur Tat, bis
hin zum Verhalten der TäterInnen nach dem
Ereignis. Dabei wird, basierend auf der Zusammenarbeit mit Opferschutzeinrichtungen und der Beschäftigung mit TäterInnen, von der Prämisse ausgegangen, dass es bei den TäterInnen ein Verhaltensmuster von der Fantasie bis hin zur Tat gibt.
Somit ist das Verhalten geplant und entsteht aus
verschiedensten Motiven, wobei Wut, Macht, sexuelle Befriedigung, Kontrolle und Angst am häufigsten angeführt werden (Eitel 1998; Wyre 1990).
Eldridge zeigt auf Grund der Arbeit mit den
TäterInnen Folgendes auf (Eitel 1998):
3 Sobald ein Täter/eine Täterin mit sexuellen Gewalthandlungen gegen Kinder begonnen hat,
fällt es ihm/ihr schwer, damit aufzuhören.
3 Er/Sie rechtfertigt seine Tat mithilfe eines so
genannten „verzerrten Denkens“: Hierzu zählen Einstellungen wie „Meine Kinder gehören
mir, ich kann mit ihnen machen was ich will!“,
„Kinder haben auch eine Sexualität, es ist
gesund und förderlich, was ich mit ihnen
mache!“, „Ich bin so lieb, mein Kind hat das
gerne!“ ...
3 Das Opfer wird von dem/der TäterIn als
Sexualobjekt angesehen.
3 Das Gewaltverhalten hat er/sie zuvor vielfach in
der Fantasien durchgespielt und geübt
3 Der/Die TäterIn definiert das Verhalten des
Opfers um und deutet es als Zustimmung („Sie
kam immer wieder zu mir!“).
3 Die Gewalttat ist nicht einmalig vorgefallen und
auch nicht einfach „so passiert“.
3 Der/Die TäterIn stuft sich selbst als passiv-reagierenden Part ein und das Opfer als aktiv.
3 Selbst wenn der/die TäterIn sein/ihr Verhalten
als falsch einstuft, glaubt er/sie nicht wirklich
daran, dass es falsch ist.
Gewalt in der Familie
3 Professionelle um Hilfe zu bitten, erscheint
ihm/ihr immer als „suspekt“. Er/Sie möchte
daher nur in jenem Fall als einsichtig gelten,
wenn er/sie befürchtet, bald entdeckt zu werden. Folglich ist eine Abklärung seiner/ihrer
Motivation vorrangig zu beachten.
Dieser Tatzyklus (Skizze II.2) ist neben der
TäterInnenforschung insbesondere für die konkrete Täterarbeit von erheblicher Relevanz. Er ermöglicht, dass den TäterInnen ihr Verhalten vor Augen
geführt und ihre Rechtfertigungen durchkreuzt
werden. Damit wird Zugang geschaffen, „um sie als
das zu begreifen, was sie sind: manipulativ. Deshalb
ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für
Menschen, die mit TäterInnen arbeiten, dass sie so
klar in ihren Ansichten sind, dass sie sich nicht
manipulieren lassen“ (Eitel 1998, S. 54).
Vorgehen des/der TäterIn (Eitel 1998):
1. Tatfördernde Gedanken, Fantasien, Verhaltensweisen vor dem Missbrauch:
TäterIn denken an Kinder und benutzen sie in
ihren sexuellen Fantasien zur eigenen Erregung.
Dies führt zu unterschiedlichen Verhaltensweisen wie z. B. Respektlosigkeit gegenüber
Kindern, Testen von Verführbarkeit und Käuflichkeit, autoritäres Verhalten etc.
2. Hemmungen werden durch den Aufbau von
entschuldigenden und rechtfertigenden Gedanken und Gefühlen überwunden:
Es bestehen bei dem/der TäterIn anfänglich
noch Hemmungen, seine/ihre Fantasien auch
auszuleben. Er weiß, dass die Umsetzung in die
Tat verboten ist. Daher sucht er/sie Entschuldigungen zum Abbau der Hemmungen
oder versucht sie durch Alkohol oder Pornovideos zu verlieren.
3. Fantasie verstärkt sich:
Mit dem Ausbau der Fantasien und dem gleichzeitigen Masturbieren, verstärkt sich die Bedeutung und Wirkung der Fantasien. Sie werden
7 157 3
Skizze II.2:
Der TATZYKLUS
tatfördernde Gedanken/Phantasien/Verhaltensweisen
vor dem Mißbrauch *)
(Internale Hemmungen sind wirksam bis …)
Hemmungen werden durch den Aufbau von
entschuldigenden und rechtfertigenden Gedanken und
Gefühlen überwunden
Manipulation zum Schutz des
Geheimnisses, Wünsche/Pläne
Phantasie verstärkt sich (Probe) *)
Verdrängen negativer Gefühle durch
beschwichtigende Phantasien,
Interpretation des Opferverhaltens oder
das Versprechen „nie wieder“ *)
Auswählen & Planen *)
(Schuld/Angst)
Phantasien über vergangene
und zukünftige Taten *)
Vorbereitung, um Einwilligung
zu erzielen und Aufdeckung
zu verhindern. Minupulation
des Kindes und jeder Person,
die es schützen könnte. *)
weitere Manipulation, um
Aufdeckung zu verhindern *)
TAT
*) verzerrtes Denken
Quelle: Eldrige 1998
7 158 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
4.
5.
6.
7.
bestimmend für sein/ihr Denken über sich und
andere. Sie destabilisieren ihn/sie und steigern
sein/ihr Verlangen zur Handlung.
Auswählen und Planen:
Der/die TäterIn beginnt, nach Örtlichkeiten
und Möglichkeiten zu suchen, um Kinder anzutreffen und mit ihnen in Kontakt zu kommen.
Er/sie versucht mit ihnen Beziehungen aufzubauen, um Macht über sie ausüben zu können.
Diese Realitäten werden wiederum in Fantasien
eingebaut und ausgestaltet. Schließlich beginnt
er/sie ein bestimmtes Kind auszuwählen. Er/sie
inszeniert die geplante Tat, d.h. wann, wo und
wie er das Kind sexuell missbrauchen wird.
Vorbereitung, um Einwilligung zu erzielen und
Aufdeckung zu verhindern/Manipulation des
Kindes und jeder Person, die es schützen könnte:
Der Kontakt mit dem ausgewählten Kind wird
forciert. Dabei sucht er/sie nach Möglichkeiten,
um eine spezielle Bindung zwischen sich und
dem Kind herzustellen (z. B. durch das Herbeischaffen von Situationen, die dem Kind verboten sind oder das Benutzen eines Geheimnisses des Kindes). Zusätzlich wird die Umgebung
des Kindes mit manipuliert. Er/sie möchte erreichen, dass ihm/ihr die Bezugspersonen des
Kindes vertrauen und sein/ihr spezifisches
Interesse für das Kind als wohl wollend verstehen oder seine/ihre Macht/Autorität als Zuwendung begreifen.
TAT
Weitere Manipulation, um Aufdeckung zu verhindern:
Diese weitere Manipulation betrifft das Kind
und ist mit Drohungen und Einschüchterungen
verbunden (z. B. „Wenn jemand davon erfährt,
komme ich ins Gefängnis, die Mutter kriegt
einen Nervenzusammenbruch und du kommst
ins Heim!“, „Wem glaubst du, wird man eher
glauben, dir als Kind oder mir als Erwachsenem?“, „Du hast doch auch gewollt, dass das
passiert!“).
Gewalt in der Familie
8. Fantasien über vergangene und zukünftige
Taten:
Das Erlebte wird in die Fantasien eingebaut und
weiter ausgestaltet.
9. Schuld/Angst
10. Verdrängen negativer Gefühle durch beschwichtigende Fantasien/Interpretationen des
Opferverhaltens oder das Versprechen „nie wieder“:
Der/die TäterIn fühlt sich schuldig und hat
Angst davor, entdeckt zu werden. Diese Gefühle werden beiseite geschoben durch Rationalisierungen, Entschuldigungen, Uminterpretationen des eigenen und des Opferverhaltens
(z. B. „Sie hat sich nicht gewehrt!“).
11. Manipulation zum Schutz des Geheimnisses,
neue Wünsche und Pläne:
Der Kontakt zum Kind wird erneut aufgenommen und normalisiert („Wir verstehen uns doch
so gut!“) und weitere Manipulationen gesetzt.
Es werden neue Situationen geschaffen, um das
Kind zu treffen und zu verführen. Somit bleiben
seine/ihre Wünsche erhalten und seine/ihre Gedanken kreisen um neue Pläne oder Wiederholung. Schuldgefühle werden durch Entschuldigungen überwunden und der Kreislauf setzt
ab Punkt 2 wieder ein.
Gerade diese langfristigen Wiederholungen der
tätlichen Übergriffe machen das Kind wehrlos. Es
spürt zwar, dass etwas nicht in Ordnung ist, aber es
kann nicht klar unterscheiden, ob das Verhalten
des/der TäterIn richtig ist oder nicht. Zu Beginn
wird die sexuelle Ausbeutung zumeist als Spiel
angebahnt. Der/die TäterIn tobt herum, krault und
kitzelt das Kind. Dabei sind die Übergänge zwischen Spielen, Zärtlichkeiten und sexueller Gewalt
fließend – durch (scheinbar) zufällige Berührungen
im Genitalbereich des Kindes (Braecker & WirtzWeinreich 1991).
Zumeist stellt das Naheverhältnis des/der
TäterIn zum Opfer eine zusätzliche Erschwernis
für das Kind dar, sich dagegen zu wehren. Kommt
7 159 3
vom Kind keine Gegenwehr, gibt es dem/der
TäterIn Auftrieb, die sexuellen Übergriffe fortzusetzen und zu steigern. Zudem kann durch die häufige und fortdauernde Präsenz des/der TäterIn die
Geheimhaltung leichter aufrechterhalten werden –
oft genügen bereits nonverbale Gesten (z. B. mahnende Blicke).
Schließlich gelingt es dem Kind auch im sozialen Umfeld nicht, die erlebten Gewalterfahrungen
zu artikulieren, denn der/die TäterIn hat auch diese
zu seinen/ihren Gunsten manipuliert.
Setzt das Kind mit dem Älterwerden eigenständig Versuche, den sexuellen Übergriffen zu entkommen und sich gegenüber dem/der TäterIn
abzugrenzen, greift dieser/diese meist zu härteren
Mitteln. Die Tat ist dann begleitet von Einschüchterungsmaßnahmen, Zwang und körperlicher
Gewalt gegen das Opfer.
Da Kinder, die innerhalb der Familie sexuelle
Gewalt über sich ergehen lassen müssen, somit
kaum eine Möglichkeit haben, dem/der TäterIn zu
entkommen, versuchen sie über andere Wege,
Widerstand zu leisten. Hierzu zählt zum Beispiel,
dass sie sich nachts vollständig bekleidet ins Bett
legen oder sich in den Bettbezug einwickeln, um es
dem/der TäterIn zu erschweren, ihren Körper zu
berühren. Andere legen Stolpergegenstände in
ihrem Schlafzimmer aus oder holen Geschwister
nachts ins Bett. Verhaltensauffällige und körperliche Veränderungen (z. B. dick oder dünn werden,
Hautausschläge, aggressives Verhalten) können
mögliche Überlebensstrategien des betroffenen
Kindes sein, um entweder die Aufmerksamkeit
Außenstehender auf sich zu lenken, sich vom
Erleben des sexuellen Missbrauchs zu entfernen
oder Anlass zu geben, ihn zu beenden (Braecker &
Wirtz-Weinreich 1991). (Näheres siehe Kapitel 8
„Signale und Folgen“)
Diese Fakten zeigen die Notwendigkeit, präventive Elemente bereits frühzeitig bei der Erziehung der Kinder einzubauen, sodass sie lernen,
Gefahren zu erkennen und abzublocken (siehe
Kapitel 9 „Prävention“).
5.4.4 TäterInnentypologien
sexueller Gewalt
Die TäterInnenschaft von sexueller Gewalt auf
eine spezifische Gruppe devianter Personen einzugrenzen, ist nicht möglich. Sexuelle StraftäterInnen
fallen weder in psychischer noch sozialer Hinsicht
in einer besonderen Weise auf, sodass eine deutlich
erkennbare Unterscheidung von anderen Erwachsenen nicht getroffen werden kann (Brockhaus &
Kolshorn 1993). (Siehe Kapitel 3 „Ursachen“). Das
Problem bei der Beschreibung von TäterInnen besteht vor allem darin, dass über diese bisher relativ
wenig bekannt ist. Wurden Untersuchungen über
TäterInnen vorgenommen, um Persönlichkeitsmerkmale herauszuarbeiten, dann von solchen, die
inhaftiert, angezeigt oder therapeutisch behandelt
wurden. Dass diese TäterInnenschaft nur einen
Bruchteil der tatsächlich existierenden (unentdeckten und unbekannten) TäterInnen darstellt, wurde
bereits im Rahmen der Dunkelfeld-Diskussion
erwähnt (siehe Teil I, Kapitel 4.7 „Dunkelfeld“).
Folglich ist das Wissen über TäterInnen, die sexuelle Gewalt gegen Kinder anwenden, kaum generalisierbar und lässt viele Fragen offen.
Verschiedene AutorInnen haben trotz aller Einwände und Zweifel versucht, TäterInnen bestimmten Kategorien zuzuordnen und eine TäterInnenTypologie zu erstellen. In diesem Abschnitt werden
drei verschiedene Varianten von TäterInnentypologien (nach Weinberg, Groth und Friedrich) vorgestellt. Die Theorien nach Weinberg und Friedrich
bezieht sich ausschließlich auf männliche Täter.
3 Tätertypologie nach Weinberg
Die meisten Inzesttypologien basieren auf jener
von Weinberg aus dem Jahr 1955, der von drei
Grundtypen von Inzesttäter-Persönlichkeiten ausgeht (Weinberg 1955):
3 pädophiler Typ
3 promiskuitiver Typ oder Psychopath
3 endogamer Typ
7 160 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Der pädophile Typ zeigt sich in seinem Verhalten unsicher und psychosexuell unreif. Er fühlt
sich mit erwachsenen Frauen unwohl und tendiert
deshalb zu sexuellen Kontakten mit minderjährigen
Mädchen. Zumeist bleibt es nicht nur bei sexueller
Gewalt an den eigenen Kindern, sondern er missbraucht auch außerhalb der Familie.
Dieser Tätertyp findet sich am seltensten in den
Statistiken wieder. Er unterscheidet sich wesentlich
von der Mehrheit der anderen Täter, da er im
Gegensatz zur Verschwiegenheit und Geheimhaltung, öffentlich auf seinem Recht auf sexuelle
Kontakte mit Kindern besteht.
Beim promiskuitiven Typ fällt auf, dass er nach
dem Missbrauch des Kindes möglichst viele sexuelle Kontakte zu Frauen sucht, wobei sein sexuelles
Interesse eher auf feindseligen Gefühlen beruht und
weniger auf Zuneigung. Für ihn sind Frauen
Sexualobjekte – dazu zählen auch eigene Töchter.
Aus mangelnder Gelegenheit zu sexuellem Kontakt
durch die Abwesenheit, Verweigerung oder
schwindende Anziehungskraft der Frau, sucht er
nach neuen Sexualobjekten, mitunter aus der eigenen Familie.
Der endogame Typ schließlich kommt am häufigsten vor, denn zu ihm zählen auch jene Väter, von
denen man nie angenommen hätte, dass sie ihre
Kinder missbrauchen. Sie suchen sich ihre sexuellen
Opfer ausschließlich innerhalb der Familie, weil sie
nicht den Mut dafür aufbringen, auch mit außenstehenden Frauen und Mädchen sexuelle Kontakte
anzubahnen. Bei diesem Tätertyp handelt es sich um
eher introvertierte Personen mit egozentrischer
Lebenseinstellung, die von der Familie emotional
abhängig sind und diese Abhängigkeit durch ein
„arrogantes, zänkisches, dominantes und äußerst
misstrauisches Verhalten“ (Schubert 1999, S. 60) gegenüber den Familienangehörigen äußern. Der Täter
betrachtet das Opfer als nicht eigenständige Persönlichkeit. Er meint, es sei vielmehr dazu da, ihm –
besonders in Problemsituationen – zu „helfen“.
Dagegen hat dieser Tätertyp außerhalb der
Familie ein scheues und zurückhaltendes Auftreten.
Gewalt in der Familie
Besonders zwei Hauptmerkmale sind beim endogamen Typen gegeben: (1) Herrschsucht gegenüber
Frau und Kindern; (2) Menschenscheu und Inkompetenz im sozialen Umgang.
3 TäterInnentypologie nach Groth
Nach Groth, dessen Typologie sich am meisten
etabliert hat, können (sexuelle) MissbrauchstäterInnen grundsätzlich in zwei Typen unterteilt
werden, nämlich in
3 fixierte TäterInnen
3 regressive TäterInnen (Groth 1978, Groth
1982).
Fixierte TäterInnen fühlen sich bereits in ihrer
Pubertätsphase primär oder ausschließlich von
Kindern angezogen. Selbst wenn sie später sexuelle
Kontakte mit Gleichaltrigen eingehen oder eine Lebensgemeinschaft führen, bleiben Kinder die bevorzugten Objekte ihrer sexuellen Interessen. Ein
besonderes Merkmal dieses TäterInnentyps ist
ihr/sein Versuch, sich an das Verhalten der Kinder
anzupassen. (Sie) Er erlebt sich dabei selbst als
kindlich. In der Fachliteratur bezeichnet man diese
TäterInnen auch mit dem Begriff Pädophile.
Grundsätzlich wird dabei eine Unterscheidung
getroffen, ob der/die TäterIn sexuelle Beziehungen
mit Erwachsenen oder nur mit Mädchen und/oder
Buben hat. Weiters erfolgt eine Differenzierung
nach Kontakten innerhalb oder außerhalb der
Familie. Pädophile weisen wiederkehrende, intensive, sexuelle Drangzustände, Fantasien oder Verhaltensweisen auf, „die ungewöhnliche Objekte,
Aktivitäten oder Situationen beinhalten und klinisch bedeutenden Disstress oder soziale, berufliche oder andere bedeutende Beeinträchtigungen
hervorrufen“ (DSM-IV 1994).
Regressive Typen erleben im Gegensatz zu den
Fixierten eine „normale“ sexuelle Entwicklung. Sie
fühlen sich sexuell eher in Richtung Gleichaltriger
hingezogen. Geraten sie allerdings in kritische
Lebenssituationen oder stehen sie unter Stress (insbesondere in partnerschaftlichen Krisen), so gelingt
7 161 3
es ihnen nicht mehr, die Anforderungen und
Schicksalsschläge zu bewältigen bzw. zu verarbeiten. Sie fixieren sich zunehmend auf Kinder und
beginnen sie sexuell zu missbrauchen. Diese
Regression ist das Ergebnis einer plötzlichen oder
allmählichen Abwendung von einer konventionellen Beziehung zu einem/einer Gleichaltrigen. Das
missbrauchte Kind nimmt dabei für den/die
TäterIn die Rolle eines „Pseudoerwachsenen“ ein
und soll die konflikthafte Erwachsenenbeziehung
ersetzen. Nach der Tat ist der/die TäterIn von
Schamgefühlen geplagt, die ihn/sie aber nicht davon
abhalten, den sexuellen Kontakt am Kind bei
Wiederauftauchen von persönlichen Problemen,
erneut herzustellen.
Simkins et al (1990) erweiterten die Groth’sche
Typologie um einen weiteren TäterInnentypus –
den des soziopathischen Täters. Dieser Typus weist
folgende Merkmale auf (Deegener 1995):
3 Das kritische Kriterium für diesen Typus ist das
Fehlen von echten Schuldgefühlen und Reue gegenüber dem Opfer.
3 Aggressives und manchmal sadistisches Verhalten.
3 „Herzlose“ Haltung gegenüber Frauen und Sexualität.
3 Konflikte mit dem Gesetz (z. B. erschwerter
sexueller Angriff, Einbruch) und andere antisoziale Verhaltensweisen.
3 Drohungen, Einschüchterungen und körperliche Gewalt, um das Opfer zu missbrauchen.
3 Bei Ärger werden Kinder häufig als Sündenböcke benutzt.
3 Obwohl auch Kinder der eigenen Familie missbraucht werden, betrachtet der Täter jedes Kind
als „jagdbares“ Wild.
3 Interaktionen mit anderen Menschen sind ausbeuterisch und manipulativ.
3 Typischerweise besteht wenig oder keine emotionale Zuneigung/Einfühlung gegenüber dem
Opfer.
3 Tätertypologie nach Friedrich
Friedrich geht von der Grundthese aus, dass
jemand zum Täter werden kann, weil er in einer
bestimmten Entwicklungsstufe eine traumatische
Situation erlebt hat, die er im Erwachsenenalter zu
kompensieren versucht (Schubert 1999). Diese
jeweilige Entwicklungsstufe liegt der Gliederung in
verschiedene Tätergruppen mit verschiedenen
Merkmalen zu Grunde. Folglich unterscheidet
Friedrich acht Typen von Tätern (Friedrich 1998):
3 infantile Täter
3 ödipale Täter
3 pubertäre Täter
3 adoleszente Täter
3 Typ „Professor Higgins“
3 geisteskranke Täter
3 senile Täter
3 die Unberechenbaren
Zur Gruppe der infantilen Täter zählen Personen, die im sexuellen Entwicklungsstadium des
„Herzeige-“Alters und der Stufe der Vater-MutterKind-Spiele stehen geblieben sind. Die Störung ist
für gewöhnlich auf Grund einer frühen intensiven
sexuellen Stimuli-Erfahrung entstanden, die sie
unbewusst aufbewahrt haben, um in ihrer Fantasie
immer wieder darauf zurückzugreifen. Indem sie
ihren sexuellen Trieb befriedigen, versuchen sie
diese frühkindlichen Erlebnisse wieder zu beleben
– zumeist in Verbindung mit einem sexualisierten
Spielverhalten. Hierzu wählen sie solche Opfer für
die sexuelle Gewalttat aus, die sich genau in jener
Altersstufe befinden, in der sie die frühkindlichen
Störungen erlebt haben. Der Auslöser für ein solches spätes sexuelles Fehlverhalten kann neben
traumatischen Erlebnissen auch der Mangel an
Zärtlichkeit in der Kindheit sein.
Der ödipale Täter ist in jener psychischen Entwicklung stecken geblieben, in der Knaben und
Mädchen der Geschlechtsunterschied bewusst geworden ist. In jener Entwicklungsphase des Kindes,
richtet sich die Konzentration in besonderem
Ausmaß auf den gegengeschlechtlichen Elternteil.
7 162 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
So ist bei einem Jungen die Mutter der „große
Schwarm“, der Vater wird dagegen zum Konkurrenten, der um die heiß geliebte Mutter mitbuhlt.
Das Kind lernt mit der Zeit, dass es den Konkurrenzkampf mit dem gleichgeschlechtlichen
Elternteil nicht gewinnen kann und die Elternbeziehung nach wie vor weiterbesteht. Das Abfinden mit dieser Niederlage ist ein tiefgreifender
Prozess, der nochmals in der Pubertät auftritt, wo
dann der endgültige Ablöseprozess von den Eltern
stattfindet. Können nun Kinder/Jugendliche diese
enorme Niederlage und unerfüllten Wünsche nicht
überwinden, bleibt ihnen eine seelische Wunde
zurück, deren Schmerz ihr Leben lang anhält. Eine
Konsequenz daraus kann nun sein, dass Männer
diesen unverarbeiteten Konkurrenzkampf mit dem
Vater in eine homoerotische Situation umwandeln,
indem sie sich sexuell an Buben vergehen.
Die Pubertät ist eine Phase, in der es beim Kind
zu einschneidenden körperlichen Veränderungen
kommt. Dies kann den Einzelnen verunsichern und
ihn zur erotischen Beschäftigung mit dem eigenen
Körper oder mit gleichgeschlechtlichen Altergenossen führen: Dies hat den Zweck des Erfahrungsaustauschs und der Entlastung, damit die möglicherweise verloren gegangene Sicherheit wieder gewonnen werden kann. Gelingt es dem Jugendlichen
nicht, eine reifere Sexualität zu entwickeln, wird er
versuchen das erotische Ambiente dieser Altersstufe herzustellen, um so zur Befriedigung seiner
sexuellen Wünsche zu kommen. Dies kann sich
später in homosexuellen Kontakten mit sehr jungen
Knaben äußern oder indem ein unwissendes junges
Mädchen zur Stimulation missbraucht wird – in
beiden Fällen animiert den pubertären Täter besonders der Reiz des Verbotenen zur Handlung.
Adoleszente Täter sind Menschen, die genau auf
jene Stufe, in der Sexualität nicht mehr länger ein
Fantasiegebilde darstellt, sondern in der Anfangsphase erstmals in Form einer sexuellen Annäherung
(wie Necking und Petting) ausgelebt werden kann,
fixiert sind. Sie versuchen diese Erregung der ersten
sexuellen Annäherung – den Reiz des sexuellen
Gewalt in der Familie
Probierens und Experimentierens – ein Leben lang
zu wiederholen. Die Opfer sind dabei zumeist
Heranwachsende, die sich gerade in dieser Entwicklungsphase befinden, und daher selber große
sexuelle Neugier an den Tag legen. Somit sind sie
leicht verführbar und ermöglichen es dem Täter,
sich selbst als den Verführten darzustellen oder zu
behaupten, das jeweilige Opfer wesentlich älter eingeschätzt zu haben.
Der Tätertyp „Professor Higgins“, benannt nach
der Hauptfigur aus dem Musical „My Fair Lady“,
wird als ein Dominierender und von sich und seiner
Auffassung Überzeugter dargestellt, der grundsätzlich davon ausgeht, dass nur er die reife und wahre
Sexualität kenne und an Jugendliche weitergeben
könne. Er übernimmt gerne die Rolle des „Aufklärers über die Welt des Erwachsenen“ und schafft
dabei ein Verführungsambiente, das Kinder und
Halbwüchsige einerseits beeindruckt und andererseits verunsichert. Dabei versucht er seine Opfer
(zumeist aus einer anderen Schicht) in eine völlig
fremde Welt, die aus Einladungen, Reisen, Glanz
und Glamour besteht, zu entführen, damit sie ihm
letztlich aus Dankbarkeit und Hoffnung für den
Verbleib im luxuriösen Leben, jegliche sexuellen
Forderungen erfüllen.
Die Gruppe der geisteskranken Täter ist klein.
Der Täter weist auf Grund von psychotischen Entwicklungen mangelnde Hemm-, Brems-, Kontrollund Steuermechanismen auf und leidet daher häufig
an Wahn oder zumindest an Realitätsverlust. Somit
ist er unfähig, das Alter oder die jeweilige Entwicklung des kindlichen Opfers zu realisieren. Er
betrachtet das Opfer als Objekt, das für krankhafte
und grausame Fantasien missbraucht wird. Diese
Täter sind unberechenbar, d.h. die Handlungen
werden spontan und ohne alarmierende Signale
gesetzt, und können für das Opfer neben körperlicher Verletzung oder Verstümmelung auch den Tod
bedeuten.
Der Anteil der senilen Täter ist im Vergleich zu
den bisher genannten relativ groß (Friedrich 1998).
Unter senilen Tätern werden Männer im vorge-
7 163 3
rückten Alter verstanden, die vor allem sexuelle
Gewalt an Vorschul- und Volksschulkindern ausüben. Im Rahmen einer nachlassenden sexuellen
Potenz, fungiert für sie das Kind dabei als geeigneter Stimulus. Häufig sind es Großväter, die beim gemeinsamen Spielen oder Fernsehen mit dem Kleinkind entweder gezielt oder verleitet durch die in der
Situation entstandene Erregung, die Grenzen zur
sexuellen Gewalt überschreiten. Gemäß Friedrich
ist die Zahl der Fälle, in der ältere Nachhilfelehrer,
(Leih-)Opas, Babysitter und Betreuungspersonen
Kinder sexuell missbrauchten, in den letzten Jahren
angestiegen.
Der Typus des Unberechenbaren hat diese Bezeichnung deshalb erhalten, weil er in keine der bisher genannten Persönlichkeitsstrukturen passt. Er
übt entweder spontan oder ganz gezielt sexuelle
Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aus.
Zusammenfassend kann festgestellt werden,
dass jene drei hier exemplarisch vorgestellten Tätertypologien40 aus Analysen bekannt gewordener
Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder resultieren. Obwohl darin auf Grund der hohen Dunkelziffer nur ein Bruchteil aller SexualstraftäterInnen
enthalten ist, bilden sie doch eine große Unterstützung für die intensive Auseinandersetzung mit
den Begleitfaktoren, die zu sexueller Gewalt
führen. So fällt bei den präsentierten Typologien
auf, dass der Fokus auf die sexuellen Entwicklungsstadien der männlichen Täter – von der Kindheit bis
hin zum Erwachsenenalter – gelegt wurde. Häufig
sind Fehlentwicklungen (z. B. Nichtbewältigung
von kritischen Lebenssituationen, traumatische
Erlebnisse etc.) in der Kindheit ausschlaggebende
Faktoren (z. B. bei pädophilen, regressiven oder
ödipalen Tätern). In anderen Fällen sind Begleitumstände gegeben wie die jeweilige Lebensgeschichte,
40
Auf die Nennung noch weiterer TäterInnentypologien
namhafter ForscherInnen wie z.B. jene von Finkelhor
(1984) wurde verzichtet, da dies den vorgegebenen
Rahmen des Berichts sprengen würde.
feindselige Gefühle gegenüber Frauen und Töchtern (promiskuitiver Typ), soziale Inkompetenz
(soziopathischer Typ) oder nachlassende sexuelle
Potenz (seniler Typ) etc.
Allerdings ist an dieser Stelle anzumerken, dass
diese möglichen Einflüsse keinesfalls einen
Rechtfertigungsgrund für sexuelle Gewalt gegen
Kinder darstellen. Vielmehr bieten TäterInnenprofile eine Grundlage, um damit in der TäterInnenarbeit das jeweilige TäterInnenverhalten vergleichen
zu können. Weiters erleichtern sie den Umgang mit
den TäterInnen und ermöglichen es, langzeitliche
Hilfsmaßnahmen zu setzen. Zudem können mit
ihrer Hilfe Strategien zur Prävention und zum
Opferschutz erarbeitet werden.
5.4.5 Frauen als Täterinnen
„Wenn wir etwas darüber erfahren wollen, in
welchem Umfang Frauen tatsächlich an der sexuellen Ausbeutung von Kindern beteiligt sind, scheint
es unumgänglich, auf Ideologien und verkrusteten
Theorien basierende Denk- und Wahrnehmungsverbote außer Kraft zu setzen und den unvoreingenommenen Blick auf die Problematik zu wagen.
Entsprechende Untersuchungen stehen aus, wären
aber allein schon deshalb dringend erforderlich,
damit Opfern wie Täterinnen Hilfe zuteil werden
kann.“ (Heyne 1993, S. 277).
Dieser Appell zum Thema Frauen als Täterinnen
sexueller Gewalt verdeutlicht, dass diesbezüglich
zunächst eine Aufweichung von Ideologisierungsund Tabuiersierungsprozessen angestrebt werden
muss, um eine vermehrte Sensibilisierung und Problematisierung der Thematik zu erzielen. Während
in der Wissenschaft lange Zeit die Meinung vorherrschte, dass sexuelle Gewalt ausschließlich von
Männern begangen werde und diese vorwiegend an
Mädchen, kam man in den letzten Jahren zur
Erkenntnis, dass auch Frauen sexuelle Gewalt gegen
Kinder ausüben. Dieses Faktum der weiblichen
Täterinnenschaft wird jedoch in der Literatur nach
wie vor als ein „Tabu im Tabu“ (Zemp & Pircher
1996) dargestellt, da (Allen 1991; Elliott 1992):
7 164 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 … sich sexuelle Gewalt durch Frauen kaum mit
unserer soziokulturellen Vorstellung von weiblichem – und mütterlichem – Umgang mit
Kindern vereinbaren lässt und daher zu großer
Erschütterung führt.
3 … dies der Anschauung widerspricht, dass
Frauen keine Aggressivität aufbringen – und
schon gar nicht eine sexuelle Aggression.
3 … es einen groben Gegenpart zum feministischen Ansatz darstellt, der den Ursprung sexueller Gewalt in der männlichen Sozialisation
(„Alle Macht geht von den Männern aus“) sieht
und daher eine Thematisierung von Frauen als
Täterinnen ausgespart bleibt.
3 … sich einfach viele Menschen nicht vorstellen
können, dass eine Frau überhaupt dazu in der
Lage ist, ein Kind sexuell zu missbrauchen. Es
wird in diesem Zusammenhang häufig danach
gefragt, wie sie dies denn tun könne (Elliott
1992). So bemerkte etwa Mathis (1972) „Dass
sie [die Mutter; Anm. d.V.] ein hilfloses Kind zu
sexuellen Spielen verführen sollte, ist undenkbar, und selbst wenn sie es täte – welcher
Schaden kann ohne Penis schon angerichtet
werden?“ (Mathis 1972, S. 53f).
Selbst wenn die Tatsache der sexuellen Gewalt
durch Frauen eingestanden und nicht von vornherein verleugnet wird, lässt sich häufig die Tendenz
der Bagatellisierung des Verhaltens der Frauen feststellen. Die Handlung wird als weniger schädigend
betrachtet oder nur mildere Formen sexueller
Gewalt zur Kenntnis genommen (Heyne 1993).
Es gelingt kaum, europäische oder österreichische Studien über Sexualstraftäterinnen ausfindig
zu machen, da dieser Themenbereich aus den oben
genannten Gründen in Europa erst seit ein paar
Jahren aufgegriffen wurde. Ebenso weichen die
Ergebnisse und Zahlen in den bestehenden
Untersuchungen zu sehr voneinander ab, um ein
deutliches Bild der Realität wiedergeben zu können. Es wird in der Literatur in Bezug auf die
Gesamtzahl der Sexualstraftäterinnen dabei eher
Gewalt in der Familie
von einer „Minderheit“ (ein bis ca. 20%) gesprochen (Elliott 1992; Friedrich 1998).
5.4.5.1 Formen und Motive
der sexuellen Gewalt durch Frauen
Angelehnt an Heyne (1993) bestehen verschiedene Formen der sexuellen Gewalt durch Frauen.
Demnach gliedert sie in Frauen, die alleine missbrauchen und Frauen als Mittäterinnen (zumeist
gemeinsam mit dem Ehe- oder Lebenspartner). Zu
ersterer Gruppe, deren Anteil etwa die Hälfte aller
Sexualstraftäterinnen ausmacht, werden Formen
wie Mutter-Sohn-Inzest, Mutter-Tochter- (auch
Schwester-Schwester)-Inzest, Großmutter-Enkelin-Inzest, Missbrauch von Säuglingen und sadistischer Missbrauch gezählt.
Üben Frauen gemeinsam mit ihrem Partner
sexuelle Gewalt gegen ihre Kinder aus, so geschieht
dies entweder in gemeinsamer Übereinkunft zur
Tat oder durch eine vom Mann initiierte Gewaltanwendung, aus dem eine eigene aktive Täterschaft
der Frau hervorgeht. Es besteht schließlich noch die
Möglichkeit, dass die Beteiligung der Frau zur
sexuellen Gewalt durch den Partner erzwungen
wurde. Zumeist betrifft dies Frauen, die generell
negative Erfahrungen mit Männern hatten und
daher Angstgefühle gegen diese entwickeln. Sie
leben häufig in einer traditionellen Partnerschaft,
ohne selbst einen Beruf auszuüben. Daher fühlen
sie sich von ihrem Partner abhängig und befürchten, ihm nicht zu genügen. Nicht selten mussten sie
bereits in ihrer eigenen Kindheit sexuelle Gewalt
über sich ergehen lassen.
3 Alleintäterinnen
In den überwiegenden Fällen gehört das Opfer
zur Familie der Täterin und ist die gewalttätige
Frau die Mutter des Opfers. Dies bestätigt z. B. die
Studie von Faller (1987), die zum Ergebnis hat, dass
85% der Frauen Mütter von mindestens einem
ihrer Opfer waren. Ebenso zeigt Allen (1991) auf,
dass 70% der Opfer von Täterinnen zu deren engerer Familie gehörten. (59% davon waren eigene
7 165 3
Kinder, Stiefkinder, adoptierte Kinder oder Pflegekinder und 11% Geschwister, Stief- oder Halbgeschwister) (Allen 1991; Faller 1987).
Da Frauen in der Rolle als Mütter und Versorgerinnen des Kindes – häufig in Abwesenheit
anderer Menschen – Pflege- und Erziehungsaufgaben erfüllen, sind sexuelle Gewaltverbrechen
durch Täterinnen allgemein besser zu verbergen
(Elliott 1992).
In der Wissenschaft wurden diverse theoretische Ansätze zur Erklärung des Verhaltens männlicher Sexualtäter erstellt – jedoch ist unklar, ob sie
auch auf Sexualtäterinnen zutreffen. Finkelhor und
Araji (1986) entwickelten vier Kategorien von
Theorien über sexuelle Gewalt gegen Kinder, die
auf beide Geschlechter zutreffen (Elliott 1992;
Finkelhor & Araji 1986a):
3 emotionale Kongruenz
3 sexuelle Erregung
3 Blockierungen
3 Enthemmung.
Theorien zur emotionalen Kongruenz beziehen
sich eher auf den psychosexuellen Entwicklungsstand, niedriges Selbstwertgefühl sowie Narzissmus
und dienen der Klärung emotionaler Motivationen
sexueller Straftaten.
Theorien der sexuellen Erregung basieren auf
frühkindlichen sexuellen Erfahrungen der TäterInnen, wobei insbesondere die atypischen Indikatoren sexueller Erregbarkeit bei dem/der TäterIn ausschlaggebend sind.
Theorien, die sexuelle Gewalt mittels Blockierungen erklären, basieren auf der Vorstellung, dass
Individuen in ihrer Fähigkeit blockiert sind, ihre
sexuellen und emotionalen Bedürfnisse in normalen
erwachsenenorientierten Beziehungen zu erfüllen,
weshalb die Befriedigung bei Kindern gesucht wird
(solche Blockaden können z. B. durch mangelnde
soziale Fertigkeiten oder durch das Scheitern ehelicher Beziehungen entstehen).
Theorien der Enthemmung legen den Fokus auf
enthemmende Faktoren wie Drogen-, Medikamen-
ten- oder Alkoholmissbrauch, psychische Störungen, geistige Behinderung etc. Diese Faktoren
schwächen Widerstände gegen sexuelle Gewalthandlungen an einem Kind oder schalten sie völlig
aus.
3 Frauen als Mittäterinnen
Bei aktiv beteiligten Mittäterinnen, die bewusst
Sexualhandlungen am Kind setzen, um pervertierte
Sexualpraktiken gemeinsam mit dem (oder mehreren wechselnden) Partner/n durchführen zu können, ist häufig eine Verstärkung der Gewalttätigkeit
feststellbar. Während anfänglich oft noch behutsame Berührungen am Kind erfolgen, kann sich dies
bis zu einem Stadium steigern, in welchem schwere
körperliche Verletzungen des Kindes auftreten,
ohne dass dies die Erwachsenen in ihrer sexuellen
Erregung zunächst überhaupt wahrnehmen. Häufig
handelt es sich hierbei um Frauen, die mangels
Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein von
Männern abhängig sind und ständig mit der Angst
leben, von ihnen abgelehnt zu werden. Damit diese
Befürchtung nicht eintritt, sind sie dazu bereit, auf
Verlangen des Partners die sexuellen Übergriffe auf
die Kinder tatkräftig zu unterstützen (Friedrich
1998; Mathews et al. 1989).
In einigen Fällen kommt es auch vor, dass
Frauen, die bislang keinerlei sexuelle Gewalt an
Kindern ausgeübt haben, plötzlich damit beginnen
solche Aktivitäten zu setzen, da sie erfahren oder
bemerkt haben, dass ihr Partner ihre Kinder missbraucht hat. Diese Frauen beschuldigen ihre Kinder
der aktiven Beteiligung und des Verrats und rächen
sich an ihnen durch sexuelle Gewaltanwendung.
Einigen Müttern wurde auch schon der Vorwurf gemacht, dass sie entweder ihre Töchter ablehnen oder sie sich ihrem Partner entziehen und
ihre Tochter in die Rolle der Partnerin drängen. Damit wird der tatsächliche Gewalttäter jedoch immens entlastet und ihm erleichtert, sich von seiner
Verantwortung frei zu sprechen.
7 166 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Motive
Wissenschaftliche Befunde zeigen hinsichtlich
der Motive, die Sexualstraftäterinnen zur Tat bewegen, dass sie sexuelle Gewalt gegen Kinder ebenso
wie Männer aus dem Bestreben nach Macht oder
Kontrolle anwenden (Brockhaus & Kolshorn 1993;
Elliott 1992).
Ein weiteres weibliches Tatmotiv sind mangelnde sexuelle Befriedigungsmöglichkeiten der Frau,
weil sie z. B. ihre Bedürfnisse in der Sexualität mit
gleichaltrigen männlichen Partnern nicht ausleben
kann oder durch eigene Gewalterfahrungen Angst
vor dem Geschlechtsverkehr mit Männern hat.
5.4.5.2 Frauen als Mitwisserinnen
beziehungsweise Unwissende
Neben den Täterinnen und Mittäterinnen, gibt
es noch eine weitere Gruppe, so genannte „silent
partner“. Gemeint sind Frauen, die die Augen vor
den sexuellen Handlungen des Partners bewusst
verschließen und „wegschauen“ (Friedrich 1998).
Sie übergehen dabei aus Uneinsichtigkeit, Scham,
Angst und Mangel an Courage geflissentlich alle
Signale, die das Kind in seiner/ihrer Not aussendet.
Ob die sexuelle Gewaltanwendung an den
Kindern bewusst oder unbewusst von den Müttern
toleriert wird – dafür gibt es kaum Belege. Häufig
kann der Missbrauch durch den männlichen Täter
derart raffiniert inszeniert sein, dass die Mutter die
Situation tatsächlich verkennt. „Viele Frauen
bewerten ein intensives Nahverhältnis ihres Partners zum Kind, verbunden mit viel Zärtlichkeit, als
überaus positiv und kämen dabei nie auf den Gedanken, dass diese Zuneigung auch sexueller Natur
sein könnte.“ (Schubert 1999, S. 74). Zudem kann es
vorkommen, dass die Mutter zwar bemerkt, dass
das Verhalten des Kindes verändert ist, sie diese
Veränderungen jedoch nicht deuten kann, da sie die
Möglichkeit von sexuellen Gewaltvorkommnissen
in der Familie keinesfalls in Erwägung zieht.
Hat die Mutter von den sexuellen Gewalthandlungen nichts bemerkt, stellt sich häufig die Frage,
weshalb dies der Fall ist, beziehungsweise warum
Gewalt in der Familie
sich das Kind nicht der Mutter anvertraut.
Friedrich sieht eines der Hauptprobleme dafür in
der mangelnden Sexualerziehung. Nach wie vor
fehlt teilweise ein freimütiges und offenes Sprechen
über sexuelle Themen, sei es aus Unbeholfenheit
oder aus bewusster Tabuisierung der Sexualität
(Friedrich 1998).
Weiters kann der Grund für das Verschweigen
der sexuellen Gewalt auch darin liegen, dass der
Täter – als ein Meister der Manipulation – sowohl
das Kind als auch die Mutter als potenzielle
Vertrauensperson kontrolliert und alles daran setzt,
dass die beiden nicht über den Missbrauch miteinander reden.
Andere wiederum nennen die familiäre Überlastung der Mütter als Grund dafür, dass sie die ausgestrahlten Signale des Kindes nicht wahrnehmen
konnten oder falsch interpretiert haben (Bundeskanzleramt/Bundesministerium 1994).
Kretz et al (1996) kamen anhand ihrer
Untersuchung zu folgenden weiteren Erklärungsgründen, warum die von sexueller Gewalt betroffenen Kinder sich nicht mit ihrem Problem an die
Mutter gewendet haben:
3 Das Opfer schweigt, um die Mutter zu schützen, da es spürt, dass der sexuelle Missbrauch
auch für die Mutter eine große Demütigung
bedeutet und sie daher die Wahrheit nicht aushalten würde.
3 Das Mädchen fühlt sich als Rivalin der Mutter,
was ihr zumeist durch den Täter so vermittelt
wird.
3 Das Opfer befürchtet einen Familienstreit und
hat Angst davor, dass die Familie auseinander
gehen könnte (dieses Argument verwendet der
Täter häufig als Druckmittel zur Geheimhaltung der sexuellen Handlungen durch das
Opfer).
3 Manchmal erlebt das Kind die Mutter als zu
streng und vermeidet es daher, sich ihr anzuvertrauen.
3 Wird die Mutter im Vergleich zum Vater als sehr
dominant erlebt, kann es sein, dass das Kind den
7 167 3
Vater vor ihr in Schutz nimmt und deshalb
schweigt.
5.4.5.3 Täterinnen-Typologien
Matthews, Matthews & Speltz (1991) gelang es
anhand einer Befragung von Frauen, die selber
sexuelle Gewalt bei Kindern ausgeübt hatten, drei
Kategorien von Täterinnen herauszufiltern:
3 „Teacher/Lover – ausbeuterische Verführung“
3 „prädisponierte Täterinnen“
3 „von Männern gezwungene Täterinnen“
Die Täterinnen der Kategorie „Teacher/Lover –
ausbeuterische Verführung“ zielen besonders auf
den sexuellen Kontakt mit männlichen Jugendlichen ab, indem sie versuchen, diese zu verführen,
um sie für eigene Zwecke auszubeuten. Dabei verlieben sie sich in Jungen und sehen sie gleichzeitig
als gleichwertige Sexualpartner an. Die Beziehung
stellt in ihren Augen eine Affäre dar, weshalb ihnen
auch die Tragweite ihres Verhaltens nicht bewusst
wird.
Prädisponierte Täterinnen sind Frauen, die in
ihrer Kindheit selbst Opfer sexueller Gewalt waren.
Ihre Opfer sind häufig Familienangehörige – vor
allem die eigenen Töchter und Söhne.
In die Kategorie der „von Männern gezwungenen Täterinnen“ fallen jene Frauen die von ihren
Partnern, zumeist unter dem Druck körperlicher
Gewalt, gezwungen werden, sich an der sexuellen
Gewalt gegen das/die Kind(er) zu beteiligen oder
diese selbst auszuüben (siehe oben).
5.4.5.4 Unterschiede bei weiblicher und
männlicher sexueller Gewaltanwendung
Da über die Unterschiede bei der sexuellen
Gewaltanwendung zwischen Frauen und Männern
bislang kaum fundierte Aussagen gemacht werden
konnten, nahm Matthews (1995) im Zuge einer
Programmentwicklung für die Bewährungshilfe
von Sexualstraftäterinnen diese Thematik näher in
Betracht. Im Folgenden werden ihre gewonnenen
Ergebnisse dargestellt, wobei ergänzend anzumer-
ken ist, dass das Geschlechterverhältnis zwischen
männlichen und weiblichen TäterInnen in dieser
Untersuchung bei 800:36 lag.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen
weiblichen und männlichen TäterInnen (USA)
nach Matthews (1995):
Gemeinsamkeiten
3 Sie stammen aus chaotischen, gewalttätigen
Umgebungen; In ihrer Kindheit mussten sie
verbale, seelische, körperliche oder sexuelle
Übergriffe erleben.
3 Sie besitzen innerhalb der Peergroup einen eher
niedrigen Status und haben das Gefühl, nirgends hinzugehören.
3 Sie haben keine Freunde und sind bereit, fast
alles zu tun, um anerkannt zu werden.
3 Sie benutzen oft die selben Argumente und
Tricks, um ihre Opfer zum Mitmachen zu
bewegen.
Unterschiede
3 Keine der Frauen hat andere in die Rolle von
KomplizInnen gedrängt.
3 Frauen benutzen bei der Verübung ihrer Straftaten viel seltener Gewalt als Männer. Wenn sie
körperliche Gewalt anwenden, dann zu einem
geringeren Grad als Männer.
3 Weniger Frauen streiten die Sexualstraftat zu
Beginn ab; sie sind eher bereit, die Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen.
3 Männliche Täter beginnen tendenziell in einem
früheren Alter (Adoleszenz) mit sexuellen
Gewalthandlungen. Nur zwei der 36 Frauen
verübten ihre Taten als Teenagerinnen.
3 Frauen gebrauchen durch die relative Nähe tendenziell weniger Drohungen, um zu erreichen,
dass ihre Opfer Stillschweigen bewahren.
3 Frauen neigen dazu, erlebte Gewalt auf eine
Weise umzusetzen (wie z. B. in Form von
Selbstbestrafung und selbstzerstörerischem
Verhalten wie Hungern oder Prostitution),
bevor sie ihr Handeln gegen andere richten.
7 168 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Zwar problematisiert die Autorin angesichts des
enormen Unterschieds in der Stichprobengröße die
Generalisierbarkeit dieser Aussagen, sie liefert
jedoch wichtige Hinweise, die bei künftigen
Untersuchungen mit berücksichtigt werden können.
Ergänzend dazu konnten in der Literatur weitere Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen TäterInnen ausgemacht werden (Elliott 1992;
Gloer & Schmiederskamp-Böhler 1990; Heyne
1993):
1. Wenn Frauen die Tat gemeinsam mit einer anderen Person verüben, nehmen sie zumeist eine
untergeordnete Rolle ein.
2. Dauer und Häufigkeit der sexuellen Gewalt
sind bei Frauen insgesamt geringer als bei
Männern. Ebenso ist die Anzahl der Opfer pro
Täterin geringer als bei Tätern.
3. Frauen sind nicht wie Männer bis in ein höheres
Lebensalter hinein straffällig (Johnson & Shrier
1987).
Andere AutorInnen stellten dagegen kaum
Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen
TäterInnen fest (Saradjian 1990; Wolfers 1992).
Insbesondere das Faktum, dass Frauen durchaus in
gleichem Ausmaß physische Gewalt beim Missbrauch des Kindes anwenden, findet hier seine Bestätigung. „Die Frage, ob der Machtfaktor einerseits, Gewalttätigkeit andererseits bei missbrauchenden Frauen tatsächlich weniger bedeutsam ist,
ist also nicht ohne weiteres zu beantworten. Mir
drängt sich der Verdacht auf, dass die Betonung
fehlender oder geringerer Gewalttätigkeit im Verhalten missbrauchender Frauen dem Wunsch entspringt, missbräuchliches Verhalten von Frauen zu
verharmlosen.“ (Heyne 1993, S. 285).
5.4.5.5 Zusammenfassung
Das Thema „Frauen als Täterinnen“ wurde
lange Zeit tabuisiert und bagatellisiert, da man
Frauen ein sexuell gewalttätiges Verhalten anatomisch bedingt und auf Grund der sozialen Rollenzuschreibung als Mutter nicht zutraute.
Gewalt in der Familie
In der hierzu spärlich vorliegenden Literatur
geht man von einer Minderheit von Sexualstraftäterinnen (1-20%) aus.
Grundsätzlich können Täterinnen in die
Gruppe der Alleintäterinnen und Mittäterinnen
unterteilt werden. Über Erstere ist bekannt, dass
die Opfer überwiegend aus dem engeren Familienkreis stammen (d.h. leibliche Kinder, Stief-, Pflegeoder adoptierte Kinder). Häufig verschafft sich
dabei die Täterin unter dem Mantel der Kindesfürsorge Raum für die sexuellen Übergriffe am
Kind.
Frauen, die sich gemeinsam mit dem Partner
aktiv an der sexuellen Gewalt beteiligen, können
anhand von wissenschaftlichen Erkenntnissen als
Personen charakterisiert werden, die häufig negative Erfahrungen mit Männern hatten und daher
Angstgefühle gegen diese entwickelt haben. Zudem
macht sie ihr mangelndes Selbstwertgefühl und
Selbstbewusstsein von ihren Partnern abhängig. Sie
leben in der ständigen Angst von ihnen abgelehnt
zu werden und befolgen daher alle ihre Anordnungen – auch die Beteiligung an sexuellen Gewalthandlungen gegen die eigenen Kinder. Es sind
zudem Fälle bekannt, dass Frauen ihre Töchter in
die Rolle der Partnerin ihres Mannes drängen, um
sich ihm damit selbst entziehen zu können.
Als Tatmotive werden am häufigsten das
Streben nach Macht oder Kontrolle sowie mangelnde sexuelle Befriedungsmöglichkeiten der Täterinnen genannt.
Diejenigen Frauen, die sich zwar selbst nicht
aktiv an den sexuellen Handlungen des Partners
beteiligen, diese Übergriffe aber bewusst oder unbewusst tolerieren, werden in der Fachliteratur als
Mitwisserinnen oder „silent partner“ bezeichnet.
Sie übergehen dabei aus Uneinsichtigkeit, Scham
oder mangelnder Courage alle Signale des betroffenen Kindes. Nicht selten arbeitet der Täter mit ausgeklügelten Mitteln. Er manipuliert die soziale
Umwelt, sodass die Mutter zwar eine Verhaltensveränderung beim Kind wahrnimmt, aber die
Situation völlig verkennt. Als Gründe, weshalb sich
7 169 3
die betroffenen Kinder mit ihrem Problem nicht an
die Mutter wenden, werden zumeist die Angst, die
Mutter zu verletzen (durch die große Demütigung)
oder sie zu verlieren angegeben. Es kann aber auch
der Respekt bzw. die Angst vor der dominanten
Mutter ausschlaggebend für das Schweigen des
Kindes sein.
Hinsichtlich der Unterschiede bei der sexuellen
Gewaltanwendung zwischen Täterinnen und
Tätern konnte festgestellt werden, dass Frauen im
Gegensatz zu etlichen Männern keine KomplizInnen suchen, weniger Opfer aufweisen, bei der
ersten Tat ein höheres Alter haben als Männer, sich
eher zur Tat bekennen, weniger Drohungen bei
ihren Opfern anwenden, um sie zum Schweigen zu
bringen und weniger lange und häufig sexuelle
Gewalt am Kind ausüben. Der Beobachtung, dass
sie dabei auch geringere physische Gewalt als
Männer anwenden, wird von einigen AutorInnen
vehement widersprochen.
Auch trotz der scheinbar generell „milderen“
Ausprägung von sexueller Gewalt durch Frauen,
darf hierbei keinesfalls eine Verharmlosung stattfinden. Opfer, die von Täterinnen sexuell missbraucht
werden, weisen nach Auskunft von ExpertInnen,
die mit Opfern therapeutisch arbeiten, neben physischen Verletzungen psychische Schäden auf, die
teilweise schwer überwindbar sind – gleich, ob die
TäterInnen Männer oder Frauen sind.
5.5 Resümee
Ebenso wie allgemein nicht von dem Opfer
schlechthin gesprochen werden kann, ist es auch
nicht möglich von dem/der TäterIn zu sprechen.
Die vielfältigen Bedingungen und Einflussfaktoren
lassen eine solche Pauschalierung nicht zu. Folglich
bestand die Absicht dieses Kapitels darin, wissenschaftliche Erkenntnisse über die vielfältigen
Bedingungen und Umstände rund um familiale
Gewalt gegen Kinder beziehungsweise über die
GewalttäterInnen näher zu bringen.
In der Darstellung wurde die TäterInnenschaft
dabei in die drei Hauptformen von familialer Gewalt (physische, sexuelle und psychische Gewalt)
untergliedert. Über die letztgenannte Gewaltform
können mangels Literatur und ausreichender
Datenbasis nur einige wenige täterInnenspezifische
Angaben präsentiert werden. Zu diesen zählt,
3 die Tatsache, dass psychische Gewalt gegen
Kinder (insbesondere als Erziehungsmittel)
sukzessive zunimmt – im Gegensatz dazu geht
physische Gewalt in der Familie zurück;
3 dass das TäterInnenverhalten bei psychischer
Gewalt in folgende Kategorien unterteilt werden kann: Ablehnung, Isolieren, Demütigen,
Terrorisieren/Bedrohen, Ignorieren und Überfordern/Erpressen des Kindes.
3 das Faktum, dass psychische Gewalt kaum messbar und ihre Folgen nur schwer objektivierbar
sind.
Häufig sind sich dabei Eltern nicht bewusst,
dass sie durch die Anwendung diverser Erziehungsstrategien psychische Gewalt gegen ihre Kinder ausüben bzw. können sie in weiterer Konsequenz die daraus resultierenden Verhaltensveränderungen der Kinder nicht deuten. Folglich bedarf
es mehr denn je einer gezielten Prävention hinsichtlich der Erziehungstechniken aber auch hinsichtlich
der Empathie und Einstellung zu Kindern, damit es
7 170 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
gelingt das Ausmaß psychischer Gewalt einzudämmen beziehungsweise zu minimieren.
Hinsichtlich der physischen Gewaltanwendung
bei Kindern wird davon ausgegangen, dass (heute)
etwa die Hälfte bis zu zwei Drittel aller Eltern in
Österreich milde Formen körperlicher Züchtigung
anwenden. Dies zeigt, dass trotz zunehmenden
öffentlichen Problembewusstseins körperliche
Züchtigung am Kind, z. B. in Form der „gesunden
Watschn“, noch immer sozial akzeptiert und verbreitet ist. Allerdings werden härtere Formen physischer Gewalt inzwischen wenig bis gar nicht mehr
toleriert.
Bei sexueller Gewaltanwendung ist einem
Großteil der Opfer der/die TäterIn bereits vor der
Straftat bekannt. Ein Viertel aller TäterInnen
stammt dabei aus dem nahen Verwandtschaftskreis
des Opfers (dazu zählen insbesondere Onkel und
Vaterfiguren – wie leiblicher Vater, Stiefvater oder
Lebenspartner der Mutter) und etwa die Hälfte aus
dem Bekanntenkreis des Opfers.
In geschlechtsspezifischer Hinsicht ist bei Betrachtung des engeren Familienkreises eine Gleichverteilung zwischen männlichen und weiblichen
TäterInnen physischer Gewalt erkennbar. Bei Einbeziehung der gesamten familialen TäterInnenschaft zeigt sich jedoch ein höherer Anteil männlicher Täter.
Männliche Täter überwiegen auch bei der sexuellen Gewalt gegen Kinder. So zeigen z. B. österreichische Befunde, dass 95% der weiblichen Opfer
und 80% der männlichen Opfer von männlichen
Straftätern missbraucht wurden. Die Tatsache, dass
auch Frauen sexuelle Gewalt an Kindern ausüben,
wurde lange Zeit tabuisiert beziehungsweise bagatellisiert. Selbst wenn in der Literatur von einer
Minderheit weiblicher Sexualstraftäterinnen ausgegangen wird, sind die Gewalterfahrungen für die
Opfer ebenso dramatisch und hinterlassen ebenso
tiefe seelische Wunden wie jene durch männliche
Täter.
In Bezug auf das Alter der TäterInnen physischer Gewalt weist die Altersgruppe der Personen
Gewalt in der Familie
zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr die häufigsten
Gewaltdelikte auf. Amerikanische Untersuchungen
gehen zudem von einem erhöhten Misshandlungsrisiko bei sehr jungen (d.h. jugendlichen) Eltern,
bedingt durch Überlastung, aus.
Bei den SexualstraftäterInnen findet sich der
größte Anteil in der Altersgruppe zwischen 30 und
35 Jahren. Jugendliche StraftäterInnen stellen dabei
in Österreich (im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten) nur eine Minderheit (2,7%) dar.
Im Hinblick auf die Schichtzugehörigkeit von
Gewaltfamilien besteht mittlerweile sowohl bei der
Anwendung physischer als auch sexueller Gewalt
allgemeiner Konsens darüber, dass beide Formen in
allen sozialen Schichten vorkommen. Personen aus
mittleren und höheren Schichten verfügen generell
über bessere Möglichkeiten, die Gewalttaten zu
verheimlichen, wodurch sie auch in geringerem
Ausmaß in Statistiken und selektiven Untersuchungssamples aufscheinen.
Bei Betrachtung der strategischen Vorgangsweise der SexualstraftäterInnen ist unumstritten,
dass der/die TäterIn bewusste Taktiken einsetzt,
um das Interesse des Opfers erfolgreich auf sich zu
lenken und letztlich die Straftat(en) vollziehen zu
können. Dazu zählen z. B. die Ausnutzung einer
emotionalen Bindung zum Opfer oder die Manipulation der sozialen Umgebung des Opfers etc.
Nach erfolgter Tat wird das Kind häufig durch
Drohungen zur Geheimhaltung gezwungen. Manche TäterInnen, vor allem jene aus dem Bekanntenund Freundeskreis des Opfers, setzen dabei zur
Einschüchterung zusätzlich physische Gewalthandlungen.
Anhand der Skizze über die Tatdynamik von
sexuellen StraftäterInnen nach Eldridge 1998) geht
klar hervor, dass mit der sexuellen Gewalt an
Kindern ein rational-durchgeplantes Vorgehen verbunden ist. Somit zählen Behauptungen der
TäterInnen, dass die Tat ein einmaliger Ausrutscher
gewesen sei oder der Alkoholeinfluss maßgeblicher
Anlass dafür war, ausschließlich zu deren Rechtfertigungsstrategien. Gerade um diese Rechtferti-
7 171 3
gungen zu durchkreuzen und den TäterInnen ihr
Verhalten gezielt vor Augen führen zu können, erweist sich das Eldridge-Modell über den Tatzyklus
als bedeutende Arbeitsgrundlage für die konkrete
TäterInnenarbeit. Ein zusätzliches wesentliches
Hilfsmittel, das in der Praxis bei der Arbeit mit
TäterInnen eingesetzt wird, stellen TäterInnenprofile bzw. –typologien dar. Sie bieten Unterstützung beim Umgang mit SexualstraftäterInnen.
7 172 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
6 Exkurs: Geschwisterliche Gewalt
Maria Steck, Brigitte Cizek
Über Formen von geschwisterlicher Gewalt
unterschiedlicher Intensität wird –historisch gesehen – bereits im Alten Testament z.B. in der Erzählung von Kain und Abel berichtet:
„Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde
schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe
einen Mann vom Herrn erworben. Sie gebar ein
zweites Mal, nämlich Abel, seinen Bruder. Abel
wurde Schafhirte und Kain Ackerbauer. Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von
Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines
dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem
Fett. Der Herr schaute auf Abel und seine Opfer,
aber auf Kain und seine Opfer schaute er nicht. Da
überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte
sich. Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es
dich heiß, und warum senkt sich dein Blick. Nicht
wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken,
wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die
Sünde als Dämon.
Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde
Herr über ihn. Hierauf sagte Kain zu seinem
Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem
Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und
erschlug ihn.“ (Fonds 1980, S. 20 4,1)
Zudem beschäftigen sich Märchentexte und
Sagen – die nach C.G. Jung die Themen der
Menschheit über Generationen tradieren (Slunecko
& Sonneck 1999) – häufig mit Gewalt bzw. Inzest
unter Geschwistern. Als mythologische Beispiele
seien an dieser Stelle Aschenputtel, Romulus und
Remus bzw. Siegmund und Sieglinde angeführt
(Bank & Kahn 1991). Das Märchen Aschenputtel
thematisiert z.B. psychische Gewalt unter Geschwistern:
„(...) Die Frau hatte zwei Töchter mit ins Haus
gebracht, die schön und weiß von Angesicht waren,
aber garstig und schwarz von Herzen. Da ging eine
schlimme Zeit für das arme Stiefkind an. ‚Soll die
dumme Gans bei uns in der Stube sitzen!’ sprachen
sie. ‚Wer Brot essen will, muss es verdienen. Hinaus
mit der Küchenmagd.‘ Sie nahmen ihm seine schönen Kleider weg, zogen ihm einen grauen alten
Gewalt in der Familie
Kittel an und gaben ihm hölzerne Schuhe. ‚Seht
einmal die stolze Prinzessin, wie sie geputzt ist!‘ (...)
obendrein taten ihm die Schwestern alles ersinnliche Herzeleid an, verspotteten es und schütteten
ihm die Erbsen und Linsen in die Asche, sodass es
sitzen und sie wieder auslesen musste.“ (Grimm
1984, S.154)
Wie häufig schlagen sich Schwestern und
Brüder im realen Alltag tatsächlich? Wo liegen die
Grenzen zwischen „normaler“ Balgerei und
besorgniserweckender Gewalt bzw. „normalen
Doktorspielen“ und Inzest? Welche Ursachen für
Gewalt zwischen Geschwistern findet man in der
Fachliteratur?
In diesem Kapitel wird versucht, Antworten auf
diese Fragen zu finden, was angesichts der spärlichen aktuellen Berichte in Medien und Fachliteratur zum Thema „geschwisterliche Gewalt“
kein leichtes Unterfangen darstellt. Die Medienanalyse von Buchebner-Ferstl (1999) zeigt u.a. die geringe Präsenz des Themas in der Berichterstattung
österreichischer Tageszeitungen auf. Die Autorin
findet in ihrer Analyse lediglich drei journalistische
Berichte zu ein und demselben Fall geschwisterlicher Gewalt. Weiters finden sich kaum Studien zur
geschwisterlichen Gewalt in der Fachliteratur. So
konnte beispielsweise keine Untersuchung zur psychischen Gewalt unter Geschwistern gefunden
werden.
Auf Grund der geringen Anzahl wissenschaftlicher Publikationen, wird in diesem Kapitel lediglich eine Differenzierung zwischen physischer und
sexueller Gewalt zwischen Geschwistern vorgenommen.
Da es sich beim Thema geschwisterliche Gewalt
um einen spezifischen und abgegrenzten Bereich
der Gewalt in der Familie handelt, wird auf
Definitionen sowie Ursachen, Signale und Folgen
physischer und sexueller Gewalthandlungen zwischen Geschwistern eingegangen. Weiters werden
empirische Ergebnisse zu soziodemographischen
Faktoren dieser beiden Formen geschwisterlicher
Gewalt im Rahmen des Kapitels beleuchtet.
7 173 3
Altersunterschied zwischen den Geschwistern und
den Schweregrad der jeweiligen Gewalthandlung
zu nennen – an (Straus et al. 1981):
6.1 Physische Gewalt
6.1.1 Definition
In den meisten Fällen geschwisterlicher Gewaltaktionen werden dieselben nicht als „Gewalt„ bezeichnet bzw. erkannt (Habermehl 1994), was sich
auch in den verharmlosenden Bezeichnungen für
gewalttätige Übergriffe zwischen Geschwistern
widerspiegelt. So spricht man hier eher von „sich
raufen“, „die Kräfte messen“, „kleiner Balgerei“
oder „Schabernack“ etc. (Bank & Kahn 1991).
Dabei stellt sich die Frage, ob wirklich alle aggressiven Handlungen zwischen Geschwistern harmlos
sind.
Kammerer (1993) unterscheidet in diesem
Zusammenhang zwischen „normalen“ und „extremen“ Formen geschwisterlicher Gewalt.
3 „Normale“ Formen physischer Gewalt
zwischen Geschwistern
Als „normal“ bezeichnet die Autorin physische
Auseinandersetzungen zwischen Geschwistern, als
Unterbrechungen ansonsten friedlicher Spielphasen, die in ihrem Ausmaß das körperliche Wohl
des Kindes mit körperlichen Gewalterfahrungen
nicht übermäßig beeinträchtigen. Normale Formen
physischer Gewalt treten dann auf, wenn sich die
Geschwister gegeneinander behaupten und abgrenzen und noch nicht gelernt haben, wie Konflikte
konstruktiv auf verbaler Ebene ausgetragen werden
können. Kinder werden nicht mit der Fähigkeit zur
verbalen Konfliktaustragung geboren, sondern
müssen diese erst im Laufe ihrer Entwicklung erlernen. Insofern ist die empirisch gemessene Abnahme
der Gewaltrate zwischen Geschwistern mit zunehmenden Alter der Kinder eine logische Konsequenz
der kindlichen Entwicklung zur Konfliktaustragung.
Straus et al. geben folgende Prozentzahlen physischer Gewalttaten von einem Geschwisterteil
gegen einen Bruder bzw. eine Schwester in Abhängigkeit vom Lebensalter – allerdings ohne den
Tabelle II.4:
Körperliche Gewalt vonseiten eines
Geschwisterteils gegen Bruder bzw.
Schwester in Abhängigkeit vom Lebensalter
(Straus et al. 1981)
3-4-Jährige
5-9-Jährige
10-14-Jährige
15-17-Jährige
90%
87%
76%
64%
Gewaltanwendungen unter den oben genannten
Bedingungen sind nach Auffassung von Kammerer
(1993) unbedenklich. Bank & Kahn (1991) sehen
Aggressivität sogar als wesentlichen Bestandteil
kindlicher Interaktion, der nach Abramovitch et al.
(1997) eine notwendige Bedingung für die kindliche
Entwicklung darstellt. Aggression ermöglichen
Kontakt und Wärme – raufen zwei Kinder, ist besonders viel Körperkontakt im Spiel – und die Anwesenheit eines Anderen, auch wenn sie schmerzhaft ist. Geschwisterkonflikte werden in diesem
Zusammenhang als „soziales Labor“ verstanden, in
dem die Kinder lernen, mit Aggression umzugehen
(Bank & Kahn 1991). So ist es nicht weiter verwunderlich, dass neun von zehn Befragten der Studie
von Habermehl (1994) angeben, in ihrer Kindheit
seien Gewalthandlungen in Form von „Schubsen“
und „Knuffen“ unter den Geschwistern vorgekommen.
3 „Extreme“ Formen physischer Gewalt
zwischen Geschwistern
Nicht alle Gewalt, die Kinder gegen ihre
Geschwister einsetzen ist spielerischer Natur oder
lässt sich auf eine noch nicht ausgebildete Form
verbaler Konfliktaustragung, auf natürliche Geschwisterrivalität oder Abgrenzung zurückführen.
7 174 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
So finden Easson & Steinhilber (1961) in ihren
Untersuchungen u.a. „extreme“ Formen von Gewalt als Folge von Hass und Rivalität, mit der Absicht zu verletzen oder sogar zu töten.
In der oben erwähnten Untersuchung von
Straus et al. (1981) finden die ForscherInnen in
ihrer Untersuchungsgruppe innerhalb eines Jahres
folgende Formen von physischen Gewaltanwendungen zwischen Geschwistern:
Tabelle II.5:
Formen körperlicher Gewaltanwendungen
zwischen Geschwistern (Straus et al. 1981)
in Abhängigkeit vom Lebensalter
(Straus et al. 1981)
Stoßen oder Schubsen
Ohrfeigen
Gegenstände nachwerfen
Treten/Beißen/mit der Faust schlagen
Mit einem Objekt schlagen
Verprügeln
Mit einem Messer oder Gewehr bedrohen
Ein Messer oder Gewehr verwenden
74%
48%
43%
42%
40%
16%
0,8%
0,3%
Zudem berichtet Habermehl (1994), dass zwei
Drittel ihrer Befragten angeben, nach Rauferein mit
ihren Geschwistern auch „Kratzer“ und „blaue
Flecken“ davonzutragen. Gerade die letztgenannten Gewaltformen – also Bedrohung bzw. Anwendung von Messern und Schusswaffen – stimmen angesichts ihrer Massivität bedenklich. Noch
besorgniserweckender ist die Tatsache, dass immerhin 4,7% der Kinder angeben, sie hätten irgendwann in ihrem Leben ein Messer oder eine
Schusswaffe gegen ihre Geschwister eingesetzt
(Straus et al. 1981). In solchen Fällen fragen sich
ForscherInnen, wie eine derart extreme Form der
Aggressivität von Kindern gegenüber ihren Geschwistern entstehen kann. Auf mögliche Ursachen
geschwisterlicher Gewalt wird deshalb weiter
unten einzugehen sein.
Gewalt in der Familie
6.1.2 Soziodemographische Faktoren
3 Häufigkeit
Körperliche Gewalttätigkeiten zwischen Geschwistern sind zwar selten untersucht, dürften
allerdings sehr häufig auftreten (Gemünden 1996).
So fand Straus et al. (1981) mehr gewalttätige
Zwischenfälle unter Geschwistern heraus, als von
Eltern gegen Kinder gerichtete Gewalt und Gewalttätigkeiten zwischen erwachsenen PartnerInnen. In
seiner Studie waren 82% der 733 untersuchten
Kinder in einem Zeitraum von einem Jahr gegen
ihre Geschwister gewalttätig geworden. Dabei fassten Straus et al. allerdings alle Formen geschwisterlicher Gewalt – von sehr leichten bis extremen –
zusammen.
Weiters stellen Abramovitch et al. (1979) fest,
dass antagonistisches Verhalten mit Angriffs- und
Gegenangriffsmustern bei Geschwistern eher die
Regel als die Ausnahme bildet. Dobash & Dobash
(1980) fanden in einer Untersuchung an 1044 der
Polizei bekannt gewordenen Fälle von Gewalt gegen
Kinder heraus, dass es sich in 4,8% der Fälle um
physische Gewalthandlungen zwischen Geschwistern handelt. Habermehl (1994) berichtet, dass
91,4% ihrer UntersuchungsteilnehmerInnen von
geschwisterlichen Gewalterfahrungen erzählen.
3 Geschlechterverteilung
Die Burschen erwiesen sich bei Straus et al.
(1981) gewalttätiger als die Mädchen; es handelte
sich dabei allerdings um geringfügige Unterschiede
in der Gewaltrate zwischen Buben und Mädchen.
In der Untersuchung von Habermehl (1994) waren
die Schwestern gleich gewalttätig wie die Brüder.
Ebenso vertritt Kammerer (1993) die Auffassung,
dass Mädchen im Vergleich zu Buben nicht „weniger zimperlich“ mit der Anwendung physischer
Gewalt gegen einen Geschwisterteil sind.
Weiters konnten Unterschiede geschwisterlicher Gewalt bei den jeweiligen geschlechtlichen
Geschwisterkonstellationen beobachtet werden. So
fand Steinmetz (1978) in ihrer Studie an 88
7 175 3
Geschwisterpaaren bei 68% der Buben–Mädchen–
Geschwisterpaare physische Übergriffe, während
dies zwischen zwei Burschen in 61% und zwischen
zwei Mädchen lediglich in 49% der Fall war.
Im Widerspruch dazu stehen die Ergebnisse der
Untersuchung Habermehls (1994), die die höchste
Gewaltrate unter Geschwistern bei reinen Mädchenfamilien und die geringste bei reinen Jungenfamilien
heraus fand.
3 Familiale Hintergründe
Die Ergebnisse von Habermehls Untersuchung
zum Einfluss der Familiengröße haben gezeigt, dass
in Großfamilien die Gewaltrate höher ist als in den
untersuchten Zweikind–Familien.
Eine wesentliche Rolle spielt zudem das Alter
der Eltern bei der Geburt der Kinder. Gewalt zwischen Geschwistern kommt am häufigsten in Familien vor, in denen die Eltern bei der Geburt des
ersten Kindes noch keine 20 Jahre alt waren.
Weiters stellt Habermehl (1994) einen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum der Eltern und
geschwisterlicher Gewalt fest. Je öfter sich Vater
und/oder Mutter betrinken, desto häufiger kommt
geschwisterliche Gewalt vor.
6.1.3 Ursachen
3 Geschwisterrivalität
Der Begriff „Rivalität“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt „Rechte am gleichen Fluss“. Der Rivale war bei den Römern der
Mitberechtigte an einem Wasserlauf und wurde erst
später – zunächst in der Liebe – als Nebenbuhler,
Mitbewerber oder Gegenspieler bezeichnet (Bank
& Kahn 1991).
Rivalität wird häufig als der wesentlichste
Grund für Geschwisterzwiste angeführt, kann
allerdings durchaus auch positiv bewertet werden
(Mähler 1992). So spornt sie an, macht erfinderisch
und fördert die Weiterentwicklung des Individuums. Diese positiven Aspekte der Rivalität gelten
nur, solange Rücksicht auf die Bedürfnisse und
Grenzen des/der Anderen genommen wird. In der
Familie sind dies vor allem die Bedürfnisse und
Grenzen der Eltern und Geschwister (Gottschalch
1997).
Geschwister rivalisieren in vielen Bereichen
miteinander. So geht es u.a. um Liebe oder materielle Zuwendung der Eltern, um die positive Rolle in
der Familie, um Freunde, Schönheit oder Leistung
(Bank & Kahn 1991).
Psychoanalytische TheoretikerInnen gehen speziell auf die Rivalität zwischen Bruder und
Schwester ein (Gottschalch 1997). Dabei nennen sie
den „Penisneid“ bei Mädchen und den „Gebärmutterneid“ bei Buben als mögliche Ursachen für häufige Bruder-Schwester-Konflikte (Gottschalch
1997, S.120). So ist Gottschalch (1997) der Auffassung, dass sich der Neid und die Eifersucht auf
körperliche Charakteristika des andersgeschlechtlichen Geschwisterteils gelegentlich zu Aggression,
Hass und Gewalt steigern.
Geschwisterrivalität ist natürlich und in allen
Geschwisterbeziehungen fühlbar. Wie weit die
Familie zum „Kampfplatz“ geschwisterlicher Rivalität wird und wie sehr diese sich in Aggression und
Hass steigert, hängt nicht nur von äußeren Umständen und der Triebdynamik des jeweiligen
aggressiven Kindes ab, sondern vor allem von der
Fähigkeit der Eltern, mit Geschwisterrivalität umzugehen (Mähler 1992). Wo ein positiver Umgang
mit Rivalität in Familien gelingt, wo Eltern ihren
Kindern die Möglichkeit geben, Besorgnis um die
Anderen zu entwickeln, dort wird die Geschwisterliebe stärker sein als der Hass (Gottschalch 1997).
3 Die Rolle der Eltern
Wie sich Auseinandersetzungen zwischen Geschwistern abspielen und wie sie gelöst oder verstärkt werden, hängt im Wesentlichen von der
Reaktion der Eltern auf geschwisterliche Gewalt
ab. In der Fachliteratur finden sich jedenfalls hauptsächlich Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Elternverhalten und geschwisterlicher Gewalt. Inwiefern z.B. die Persönlichkeit des Kindes
7 176 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
oder andere Kontextfaktoren ebenfalls eine Rolle
spielen, ist wenig bekannt.
Eltern als SchiedsrichterInnen
Die Einmischung in die geschwisterlichen
Angelegenheiten seitens der Eltern bedeutet eine
empfindliche Störung ihres Subsystems, das sich
klar von dem Beziehungsgeflecht zu den Eltern
abgrenzt (Bank & Kahn 1991). Ein Eingriff in dieses Subsystem innerhalb des Gesamtsystems
Familie kann die Wut der Kinder schüren, was dazu
führen kann, dass es zu weiteren aggressiven Auseinandersetzungen zwischen den Geschwistern
kommt. Erst wenn eindeutig klar wird, dass Schläge
unangemessen und ernsthaft werden, ist elterliche
Intervention erforderlich. Werden die Eltern als
SchiedsrichterInnen aktiv, verlangt eine Intervention ihrerseits besonders reifes und konsequentes Verhalten, was bedeutet, dass Eltern mit ihren
eigenen aggressiven Tendenzen relativ gut umgehen
können und sich ihrer moralischen Vorstellungen
klar sein müssen (Bank & Kahn 1991).
Bank & Kahn (1991) beschreiben zwei Kategorien problematischen Elternverhaltens, welche
als Konsequenz geschwisterliche Aggression verstärken bzw. sogar pathologisieren können:
Konfliktvermeidende Eltern: Dies sind Eltern,
die zu schnell, zu oft und/oder zu heftig in geschwisterliche Konflikte eingreifen. Solche Eltern sehen
sich häufig als VermittlerInnen in Konflikten zwischen ihren Kindern; entweder, weil sie gerne über
Recht und Unrecht entscheiden oder aus eigener
Angst vor Aggression. Durch eine solche Haltung
seitens der Eltern nehmen sie ihren Kindern das
Recht auf die eigenständige Lösung ihrer Konflikte.
Dies kann bei den Kindern zu heimlicher und häufig
auch stärkerer Aggression führen oder die Geschwister erstarren und fühlen sich in der Gegenwart ihrer Brüder bzw. Schwestern unbehaglich,
weil sie negative Gefühle ihnen gegenüber nie ausdrücken, entladen und damit auflösen können.
Als längerfristige Folge konfliktvermeidenden
Verhaltens seitens der Eltern nennt Kammerer
Gewalt in der Familie
(1993) das Symptom der „aggressiven Hemmung“.
Dabei sind die Kinder im Kontakt mit anderen –
z.B. SchulkollegInnen – unfähig, sich in konflikthafter Form mit diesen auseinanderzusetzen. Sie
können sich nicht wehren und bekommen somit
häufig den Status der klassischen VerliererInnen.
Konfliktverstärkende Eltern: Sie fördern –
meist unbewusst – die Konflikte zwischen ihren
Kindern und „stacheln“ sie insgeheim an. Dabei
übersehen sie die Schwelle, an der die geschwisterliche Gewalt eskaliert, merken nicht, wenn ein Kind
das andere ausnutzt oder gehen davon aus, dass die
Kinder die aggressiven Handlungen schon „verkraften“ können. Als Ursache konfliktverstärkenden Verhaltens seitens der Eltern führen Johnson &
Szurek (1952) eigene Wut der Eltern gegen ein Kind
an, die sie sich selbst verbieten. Durch die Tatsache,
dass sie ungleiche und langanhaltende Prügelei
nicht unterbinden, ermutigen sie indirekt zur Weiterführung derselben, was zur Befriedigung eigener
Hassgefühle gegenüber dem geschlagenen Kind
führen kann. Untersuchungen zu Gewalt zwischen
Geschwistern unter dem Einfluss konfliktverstärkender Eltern gibt es kaum. Einige Falldarstellungen zu diesem Thema berichten allerdings von umfassenden Gewaltanwendungen zwischen Geschwistern – z.B. versuchtem Ertränken, Vergiften
und Anzünden der Kleider – als Folge konfliktverstärkenden Elternverhaltens (Tooley 1977).
Eltern bevorzugen ein Kind
Geschwisterrivalität – und als extreme Folge
daraus Hass und Gewalt gegen die eigenen Brüder
und Schwestern – entsteht häufig dann, wenn
Eltern ein Kind besonders bevorzugen (Straßer
1998). Bettelheim schreibt im Zuge seiner Analyse
des Märchens Aschenputtel Folgendes:
„Erfährt ein anderes Kind besondere Zuwendung, so sind die Geschwister nur dann gekränkt,
wenn sie das Gefühl haben, dass die Eltern im
Gegensatz dazu von ihnen nicht viel halten oder sie
sogar ablehnen. Diese Angst ist schuld daran, dass
eines der Geschwister oder auch alle miteinander zu
7 177 3
einem Dorn im Fleisch werden können. Die Furcht,
man könnte im Vergleich zu seinen Geschwistern
die Liebe und Achtung der Eltern nicht für sich
gewinnen, entzündet die Geschwisterrivalität.“
(1975/76 zit. nach Gottschalch 1997, S.27)
Die Bevorzugung eines Kindes kann viele Ursachen haben. So führen schon seit vielen Jahren
ForscherInnen die Stellung der Kinder in der Geschwisterreihe als mögliche Ursache für Bevorzugungen seitens der Eltern an (Galton 1874; Altus
1965; Zajonc & Markus 1975). Erstgeborene bekommen mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit
materieller und psychischer Natur. Die Eltern
erwarten mehr – vor allem Selbstständigkeit und
Unabhängigkeit – von ihnen und erziehen sie strenger als Jüngere (Endres 1997). Dieser Prozess
beginnt häufig nach der Geburt des zweiten
Kindes, wenn die Mutter nun ihre ganze Aufmerksamkeit dem Säugling zuwendet. Nachgeborene
Kinder werden häufiger spontaner und mit bedingungsloser Akzeptanz behandelt (Sears et al. 1957).
Ungleichgewicht und in Folge Rivalität und
Aggression können zudem auftreten, wenn bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und Fähigkeiten
eines Kindes von den Eltern besonders geschätzt
werden. Auch das Geschlecht der Kinder kann Anlass für besondere Bevorzugung seitens der Eltern
sein.
Favoritentum gibt es in jeder Familie, auch
wenn sich Eltern vornehmen ihre Kinder völlig
gleich zu behandeln (Endres 1997). Bereits Orwell
(1946) drückte diesen Sachverhalt sehr treffend –
wenn auch nicht für leibliche Geschwister – in seinem Roman „Farm der Tiere“ aus, als er sagte, dass
alle Geschwister gleich, aber manche gleicher sind.
Für die geschwisterlichen Konflikte macht es
einen gravierenden Unterschied, ob Bevorzugung
phasenhaft – auf Grund bestimmter Entwicklungsstadien der Kinder – geschieht und in anderen
Situationen wieder ausgeglichen wird, oder permanent besteht. Für Hass und Gewalt zwischen den
Geschwistern lässt sich daraus ableiten: Ein Kind
muss sich selbst gern haben, bevor es andere lieben
kann. Das setzt voraus, dass es Liebe erfährt. Oft
sind es die sehnlichsten Wünsche nach Liebe und
Zuwendung, die unerfüllt bleiben und dann zu
Hass gegenüber der bevorzugten Schwester oder
dem Bruder führen (Gottschalch 1997).
Streitigkeit und Scheidung
Eltern rivalisieren im Zuge von Ehestreitigkeiten oder im Falle einer Scheidung nicht selten
um die Gefolgschaft ihrer Kinder. So kommt es vor,
dass Eltern, in einem der Kinder den/die „ErsatzpartnerIn“ oder eine(n) Verbündete(n) im Krieg
gegen den anderen Elternteil suchen. Dies tritt häufig dann ein, wenn Demütigungen, Zurückweisungen oder Verletzungen seitens der PartnerInnen
passieren. Das Bündnis mit einem Elternteil kann in
Folge vergiftende Auswirkungen auf die Geschwisterbeziehung haben, vor allem wenn sich Schwester
und/oder Bruder mit dem „bösen“ anderen Elternteil verbünden. Der Konflikt zwischen Vater und
Mutter wird nun auf die Ebene der Kinder übertragen und dort tradiert. Die ausschließliche Identifikation mit einem Elternteil macht es den Geschwistern schwer, positive Anteile des vermeintlich gehassten Elternteils zu finden, was gravierende Folgen für die psychische Gesundheit und
Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zur Folge
haben kann. Weiters verhindert der Streit der
Eltern, dass die Geschwister eine tragfähige, von
Wärme und geschwisterlicher Liebe gekennzeichnete Beziehung zueinander aufbauen können (Bank
& Kahn 1991).
3 Lernen am Modell
In der einschlägigen Literatur wird häufig die
„Theorie des Lernens am Modell“ als mögliche
Erklärung geschwisterlicher Gewalt herangezogen
(Bandura 1979). Endres (1997) meint, dass Kinder
Gewalt gesehen haben müssen, damit es zu gewalttätigen Handlungen ihrerseits kommt. Eine mögliche Lernquelle dafür könnten mediale Miterzieher
darstellen. Gewalt ist längst basaler Bestandteil von
Filmen, Fernsehsendungen und Videospielen – u.a.
7 178 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
solchen, die sich an Vorschul-, Schulkinder und
Jugendliche wenden – geworden. Diese normalisierenden Darstellungen von Gewalthandlungen, zu
denen Kinder tagtäglich Zugang haben, könnten
eine Erklärung für Gewalt von Kindern generell
und speziell im familiären Kontext sein.
Allerdings geht Kammerer (1993) davon aus,
dass mediale MiterzieherInnen alleine für eine lerntheoretische Erklärung geschwisterlicher Gewalttätigkeiten nicht ausreichen. Vielmehr – vor allem
bei den extremen Formen – dürften die Eltern
selbst als Modelle für Gewalthandlungen fungieren.
Wenn die beiden Hauptbezugspersonen sich bzw.
die Kinder auf das Übelste verbal oder physisch
wehtun, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder
dieses Verhalten nachahmen, höher. Habermehl
(1994) fand bei zwei Drittel ihrer Befragten, die
Gewalt zwischen ihren Eltern beobachtet haben,
auch körperliche Gewalthandlungen zwischen den
Geschwistern. Wenn von Eltern vorwiegend Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen
und den Kindern gegenüber gewählt wird, so ist es
nicht verwunderlich, dass Kinder – vor allem
Jüngeren bzw. Schwächeren gegenüber – dieses
Prinzip ihrerseits anwenden (Steinmetz 1976).
Ebenso ist Hilpert (1996) der Auffassung, dass
Gewalt bei Kindern und Jugendlichen generell auf
Erfahrungen und Lernmustern beruht. Seiner
Auffassung nach sind neben den Eltern unter anderem die peer groups Quelle solcher Lernerfahrungen. Die Kinder erfahren in einer gewalttätigen
Umgebung häufig, dass Aggression eine viel versprechende, wenn nicht sogar die einzige Methode
zur Durchsetzung und Sicherung eigener Interessen darstellt. Gewalt wird somit als subjektiv sinnvolle Form der Lebensbewältigung, Konfliktlösung
und Interessensdurchsetzung erfahren.
3 Identifikation mit dem/der AgressorIn
Psychoanalytische Konzepte (Freud 1946) nennen den Abwehrmechanismus der „Identifikation“
als Erklärungsansatz für den erhöhten Zusammenhang zwischen elterlichen und geschwisterlichen
Gewalt in der Familie
Gewaltaktionen. Identifikation mit dem/der
AggressorIn bedeutet dann, dass ein Kind, welches
seitens seiner Eltern Gewalt erfährt, sich in der
Folge von der bedrohten zur bedrohenden Person
verwandelt. Es übernimmt die Haltung des/der
AggressorIn oder imitiert diese(n). Durch das Angreifen einer anderen Person verringert sich für das
Kind subjektiv die Angst vor der eigenen Gefährdung.
Wenn also ein Kind Angst vor den Eltern hat, so
kann Gewalt gegen einen Geschwisterteil der Abwehr derselben dienen (Bank & Kahn 1991).
3 Emotionale Vernachlässigung
Bank & Kahn (1991) führen als weitere Ursache
geschwisterlicher Gewalt emotionale Vernachlässigung an. Bereits Minuchin et al. (1967) nennt
fehlende Struktur und Sozialisationsmängel als Ursachen schwerer Aggressionen unter Geschwistern.
Streit und Prügeleien sind unter solchen Lebensumständen ein Mittel, sich der eigenen Existenz
und Lebendigkeit zu versichern. Der Schmerz gibt
den Kindern die Bestätigung am Leben zu sein, bemerkt zu werden und wirklich zu sein. Das soziale
Umfeld dieser Kinder enthält so wenige Möglichkeiten der Selbstbestätigung und Identitätsfindung,
dass zu extremen Mitteln gegriffen werden muss,
um sich selbst zu erfahren. Kinder, die wenig
Widerstand und Halt erleben, empfinden Gewalterfahrungen und -ausübungen als geradezu ekstatisches Erleben, um ihrem eigenen Ich inne zu werden (Hilpert 1996).
6.1.4 Folgen
Die unzähligen Folgen körperlicher Gewalterfahrungen bei Kindern werden an anderer Stelle
dieses Berichtes (vgl. Kapitel 8.4.2 „Folgen von
körpelicher und physischer Gewalt“) ausführlich
diskutiert. In der Fachliteratur findet man keine
Hinweise darauf, dass physische Gewalt durch
einen Geschwisterteil andere Folgewirkungen mit
sich brächte als körperliche Gewalt durch ein anderes Familienmitglied. Vielmehr wird es bei den
7 179 3
Folgen geschwisterlicher Gewalt von den Einflüssen diverser Kontextfaktoren abhängen, wie
gravierend die Auswirkungen auf die Entwicklung
des jeweiligen Kindes sind.
6.2 Sexuelle Gewalt
6.2.1 Definition
De Jong (1989) nennt vier Kriterien, die die
Unterscheidung von sexueller Gewalt und „normalen Doktorspielen“ – also nicht krimineller, gewaltloser und nicht pathologischer gegenseitiger
Entdeckungsintention bei Geschwistern – erleichtern sollen:
A: Kriterien für sexuelle Gewalt
unter Kindern:
Sexuelle Handlungen von Kindern unter 14
Jahren bei Vorliegen mindestens eines der
folgenden Merkmale:
3 Die Altersdifferenz beträgt fünf Jahre bzw.
mehr.
3 Es werden Gewalt, Zwang oder Bedrohung
angewendet.
3 Penetrationsversuche mit dem Penis
kommen vor.
3 Feststellbare Verletzungen des Opfers
treten auf.
Oder: (Romer & Berner 1998, S. 309)
B: Körperliche Gewaltanwendung begleitet
von sadistischen Körperzerstörungsimpulsen.
Weiters meint Wimmer-Puchinger, dass von
sexueller Gewalt bei Geschwistern nur dann
gesprochen werden sollte, wenn die Altersdifferenz
zwischen den beiden Kindern groß, Gewalt im
Spiel ist und die Beziehung von einem der Kinder
nicht freiwillig eingegangen wird (WimmerPuchinger & Lackner 1997).
Die Initiative für den sexuellen Kontakt liegt
selten gleichermaßen bei beiden Geschwistern,
obwohl in vielen Fällen gegenseitiges „Einverständnis“ besteht. Meist ist eines der Geschwister in
seiner Entwicklung reifer und pocht stärker auf die
sexuellen Kontakte als der andere Teil (Bank &
Kahn 1991).
Bank & Kahn (1991) unterscheiden zwei Formen geschwisterlichen Inzests. Dabei handelt es
sich einerseits um eine gewaltvolle Form sexueller
Übergrifflichkeit zwischen Geschwistern und
andererseits um eine in gegenseitigem Einvernehmen stattfindende sexuelle Handlung zwischen
Brüdern und Schwestern:
Machtorientierter Inzest: Diese Form zeichnet
sich durch aggressive, sadistische, ausbeuterische
und/oder erzwungene Übergriffe aus, die häufig
mit weiteren psychischen und physischen Gewalthandlungen verknüpft sind. Der Aggressor ist hier
häufig der ältere Bruder. Masters & Johnson (1976)
berichten weiters von demütigenden und verletzenden sexuellen Handlungen seitens Schwestern
gegenüber ihren Brüdern. Dieser Typus ist mit den
oben angeführten Definitionen sexueller Gewalt
unter Geschwistern vergleichbar.
Fürsorglicher Inzest: Er geschieht in gegenseitigem Einvernehmen der Geschwister und enthält
viele Elemente erotischer Freude, Lust und Liebe.
Fürsorglicher Inzest tritt vor allem im Kontext
anderer Formen familialer Gewalt auf. Kinder die
von ihren Eltern z.B. nicht genügend Zuwendung
erhalten, bzw. von ihnen geschlagen werden,
suchen unter Umständen die ersehnte Wärme und
Geborgenheit in einer sexuellen Beziehung zu
einem Geschwisterteil. Zudem gehen die
Geschwister dadurch ein Bündnis ein, welches die
Eltern ausschließt, durch das sie stärker sind als
Vater und Mutter und das es ihnen ermöglicht, sich
für all die Demütigungen und Zurückweisungen
seitens der Eltern zu rächen.
7 180 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
6.2.2 Soziodemographische Faktoren
In der Studie von Finkelhor (1979) an CollegestudentInnen mit inzestuösen Erfahrungen geben
21% der befragten Männer und 39% der Frauen an,
Geschwisterinzest in ihrer Kindheit erlebt zu
haben.
Weiters findet man bei Lenz Angaben zu den
Altersunterschieden von geschwisterlichen TäterInnen und Opfern. Durchschnittlich beträgt das
Alter des/der TäterIn 15,5 Jahre während das Opfer
im Schnitt sieben Jahre alt ist (Lenz 1996, S.133).
6.2.3 Gründe für die Geheimhaltung
Sexuelle Gewalt zwischen Geschwistern rangiert in der Hierarchie des Inzesttabus an erster
Stelle (Lenz 1996). Neben den spärlichen empirischen Arbeiten wird weiters in Praxen von PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen kaum von
sexuellen Gewalterfahrungen unter Geschwistern
berichtet. Wenn Fälle sexueller Gewalt unter Geschwistern bekannt werden, sind dies hauptsächlich
solche, in denen Schwestern über sexuelle
Gewalterfahrungen durch Brüder berichten (Bank
& Kahn 1991).
Meiselman (1978) vermutet einige Gründe für
die Geheimhaltung sexueller Gewalthandlungen
zwischen Geschwistern. Die nachstehenden Gründe von Meiselman gelten ausschließlich für die Geheimhaltung seitens der Brüder:
3 War der Bruder selbst der Aggressor, so entspricht der Inzest durchaus noch dem männlichen Ideal von Dominanz, fordernder Sexualität
und Aggressivität.
3 Die Selbstwahrnehmung eines Bruders als
Opfer verletzt das erstrebte männliche Bild von
der größeren Stärke des Bruders gegenüber der
Schwester und kann nur schwer angesprochen
werden.
3 Darüber hinaus würde ihm vermutlich kaum
jemand glauben.
Gewalt in der Familie
3 Inzest ist für den Bruder allgemein weniger problematisch und leichter zu akzeptieren, daher
entsteht selten ein psychotherapeutisch zu behandelnder Leidensdruck.
6.2.4 Ursachen
In einer Zusammenschau qualitativ ausgewerteter psychotherapeutischer Sitzungen von PatientInnen mit geschwisterlichen Inzesterfahrungen
führen Bank & Kahn sowie andere AutorInnen folgende Voraussetzungen und Motive für sexuelle
Gewalt unter Geschwistern auf (Bank & Kahn
1991, S.172f):
3 Gewalt in der Familie
Gewalt gilt allgemein als wesentlicher
Ursachefaktor für sexuelle Übergrifflichkeit zwischen Geschwistern (Adler & Schutz 1995; O´Brien
1991). Hochgradige defizitäre Bindungserfahrungen sehen auch Romer & Berner (1998) als Voraussetzung sexuell aggressiven Verhaltens unter Geschwistern. Bei emotionaler Unzulänglichkeit des
Vaters können sich Töchter, denen männliche Zuneigung vorenthalten wird, an den Bruder wenden
und bei emotionaler Unzulänglichkeit der Mutter
der Sohn an die Schwester (Bank & Kahn 1991).
Sexuelle Erfahrungen zwischen Geschwistern
sind oft aufregend, spannend und intensiv und
bringen Leben in ein deprimierendes, kaltes und
totes zu Hause. Zudem kann Geschwisterinzest
einem Kind Objektkonstanz geben. Die Möglichkeit, mit einem zuverlässigen Anderen zu verschmelzen und sich als ganze Person zu fühlen, ist
gegeben. Inzest kann weiters zum Schutz vor Ängsten werden und einen völligen Zusammenbruch des
Ichs vermeiden (Bank & Kahn 1991). Besonders in
hochgradig gewalttätigen Familien kann Geschwisterinzest als Ausdruck der Angstabwendung
verstanden werden (Romer & Berner 1998).
Weiters erhöhen schwere Partnerkonflikte der
Eltern das Risiko sexuell aggressiven Verhaltens
von Kindern gegenüber ihren Geschwistern (Adler
& Schutz 1995).
7 181 3
3 Rollenkonfusion
Kinder, die versuchen, den Geschwistern gegenüber die Elternrolle einzunehmen, haben meist
nicht genügend Reife und Autorität dazu. Geschwisterinzest kann in diesem Zusammenhang der
Versuch sein, Macht auszuüben und Einfluss zu bekommen.
Weiters kann Konfusion bezüglich der eigenen
Geschlechtsrolle – unter anderem in Form von
Unsicherheit über die eigene „Männlichkeit“ bzw.
„Weiblichkeit“ – dazu führen, dass ein Geschwisterteil seine Bevorzugung oder Attraktivität
für das andere Geschlecht beweisen will. Dies kann
in Extremfällen zu sexueller Gewalttätigkeit gegenüber dem gegengeschlechtlichen Geschwisterteil
führen (Bank & Kahn 1991).
3 Scheidung und Stiefelternschaft
Ein Kind, das der Auflösung der Familie hilflos
gegenüber steht, kann sich durch den Inzest einen
starken Einfluss auf ein Familienmitglied sichern.
Wenn Kinder Stiefvater oder -mutter als Eindringling wahrnehmen, dient der Inzest der Festigung
der Geschwisterbeziehung und erinnert an die
Loyalität zu der „wirklichen“ Familie. Der Inzest
verhindert dann eine positive Identifikation mit
Stiefvater oder -mutter (Bank & Kahn 1991).
3 Sexuelle Gewalterfahrungen der Eltern
Kinder deren Eltern – und hier vor allem deren
Mütter – sexuelle Gewalt erfahren haben, erleben
mit höherer Wahrscheinlichkeit sexuelle Gewalt
von ihren Geschwister als Kinder, deren Eltern
keine sexuelle Gewalt erfahren haben (Adler &
Schutz 1995; O´Brien 1991; Romer & Berner 1998;
Smith & Israel 1987).
6.2.5 Folgen
Ähnlich den oben angeführten Punkten zu den
Folgen körperlicher Gewalt verhält es sich mit den
Folgen sexueller Gewalt unter Geschwistern. In
diesem Zusammenhang finden sich kaum Hinweise
auf unterschiedliche Folgewirkungen bei Opfern,
wenn der/die TäterIn ein Geschwisterteil oder ein
anderes Familienmitglied ist. Die Folgen sexueller
Gewalt unter Geschwistern, die Bank & Kahn
(1991) anführen, werden häufig als Folgen sexueller
Gewalterfahrungen im familiären Kontext genannt.
Bank & Kahn gehen davon aus, dass die Auswirkungen sexueller Gewalt unter Geschwistern
sehr stark von der Dauer des Inzests und dem Alter
der Kinder bei den sexuellen Gewalterfahrungen
abhängen. Sehr junge Kinder können sie unter Umständen so stark verdrängen, dass Inzesterfahrungen später nicht mehr erinnert werden. Bank &
Kahn weisen besonders auf die Prä-Adoleszenz
hin, in der – ihrer Auffassung nach – Geschwisterinzest fast immer schädliche Auswirkungen hat,
weil Kinder gerade in dieser Entwicklungsphase
beginnen, sich intensiv mit ihrer Sexualität auseinanderzusetzen, erste sexuelle Gefühle erleben und
körperliche Veränderungen beobachten. Ein sexueller Übergriff in dieser Phase kann oft starke und
anhaltende Auswirkungen auf die sexuelle Identität
des betroffenen Kindes haben. Prinzipiell gilt für
die Folgen geschwisterlichen Inzests: Je jünger die
betroffenen Brüder und Schwestern, desto verwirrender und potenziell schädlicher sind sexuelle
Gewaltanwendungen seitens ihrer Geschwister
(Bank & Kahn 1991).
6.3 Zusammenfassung
Gewalt zwischen Geschwistern wird von
ExpertInnen als spezifische Form familialer Gewalt
beschrieben. Iunter diesem Aspekt betrachtet, ist
die Anzahl von neueren und repräsentativen wissenschaftliche Abhandlungen zur Gewalt zwischen
Geschwistern eher unbefriedigend.
Wissenschaftliche Zugänge unter anderem darüber was als „natürliche“ oder „normale“ Gewalt zwischen Geschwistern – z.B. in Form von alltäglichen
Balgereien – und was als „extreme“ Form geschwisterlicher Gewalt zu interpretieren ist, sind selten.
7 182 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Weiters findet sich in der Fachliteratur eine
geringe Anzahl an empirischen und theoretischen
Auseinandersetzungen zu den Ursachen, Folgen
und Bewältigungsstrategien im Zusammenhang mit
geschwisterlicher Gewalt. So wird beispielsweise
der Einfluss elterlichen Verhaltens an mehreren
Stellen als Ursache für die Gewalttätigkeit unter
Geschwistern genannt, die Beachtung von weiteren
soziodemographischen Variablen oder Aspekten
der kindlichen Persönlichkeit und Psyche betreffend das Gewaltverhalten gegenüber den Geschwistern wird demgegenüber kaum thematisiert.
Im Zusammenhang mit den Folgen und Bewältigungsstrategien geschwisterlicher Gewalterfahrungen bleibt z.B. die Frage, ob diese tatsächlich mit
den Folgen und Bewältigungsstrategien von Gewalterfahrungen durch andere (z.B. erwachsene)
Familienmitglieder gleichzusetzen sind, offen.
Gewalt in der Familie
7 183 3
7 Exkurs: Gewalt von Kindern
gegen Eltern
Maria Steck, Brigitte Cizek
Gewalt von Kindern gegen Eltern ist eines der
am wenigsten beachteten Themen der Gewaltdiskussion (Agnew & Huguley 1989). Ein öffentlicher
bzw. wissenschaftlicher Diskurs darüber findet
kaum statt. Nur in vereinzelten Abhandlungen
werden die Eltern als Opfer kindlicher Gewaltanwendungen erwähnt.
Bei Gewalt von Kindern gegen Eltern handelt es
sich nicht um ein Phänomen des 20. Jahrhunderts,
wie ein Blick in die Mythologie verrät. Man denke
nur an die Erzählung von König Lear, der von seinen Töchtern umgebracht wurde, oder – zumindest
auf einer symbolischen Ebene – an Ödipus, der seinen leiblichen Vater ermordete.
Die Diskussion über Gewalt von Kindern gegen
ihre Eltern scheint generell auf Ablehnung zu
stoßen und das Thema Gewalt in der Familie wird
meist einseitig, als Gewaltverhalten von Eltern
gegen ihre Kinder, behandelt. So herrscht in unserer
westlichen Zivilisation ein Bild von Kindern, zu
dem gewalttätiges Verhalten gegenüber ihren Eltern
nicht passt (Kammerer 1993). Tatsächlich geht der
größte Teil familiärer Gewalthandlungen seitens
der Eltern aus. Dennoch findet man vereinzelt das
Phänomen „Eltern als Opfer kindlicher Gewalt“
(Habermehl 1989).
Einige der publizierten Studien zum Thema
Gewalt von Kindern gegen Eltern beziehen sich auf
erwachsene Kinder, die gegen ihre alten und betreuungsbedürftigen Mütter und Väter im Zuge der
Heimpflege gewalttätig werden. Gewalt gegen alte
Menschen ist nicht Thema dieses Exkurses. Es wird
an anderer Stelle des vorliegenden Berichts (vgl. Teil
IV: Gewalt gegen alte Menschen) dargestellt. Im
Folgenden wird ausschließlich auf Gewaltdelikte
von nicht-erwachsenen Kindern gegen ihre Eltern
eingegangen.
Dieses Kapitel gibt vorerst einen Überblick zu
den Formen von kindlicher Gewalt gegenüber den
Eltern. Weiters werden soziodemographische Faktoren, wie die Auftrittshäufigkeit von Gewalt gegen
Eltern, das Alter, das Geschlecht und familiale Faktoren gewalttätiger Kinder beleuchtet. Danach wer-
den die Ursachen und Folgen von kindlicher Gewalt gegen Eltern besprochen. Das Kapitel schließt
mit einem Resümee bezüglich der aktuellen Forschungsbefunde zu diesem Thema ab.
7.1 Gewaltformen
Die Formen physischer Gewalt von Kindern
gegenüber ihren Eltern reichen von „an-denHaaren-Ziehen“, „Beißen“ und „Stoßen“, über
„Treten“ bis hin zu „festen Schlägen“ und „Gebrauch von Schusswaffen oder Messern“ (Habermehl 1989; Rensen 1992). Am häufigsten werden
Eltern „geknufft“ oder „geschubst“ (Habermehl
1994). In zirka einem Drittel der vorgefundenen
Fälle kindlicher Gewalt handelt es sich – laut
Aussage der betroffenen Eltern – um schwere körperliche Gewalt (Straus et al. 1981). In seltenen
Fällen kommt es zu Tötungsdelikten seitens der
Kinder an ihren Eltern (Habermehl 1989).
Bezüglich psychischer Gewalt von Kindern
gegen Eltern liegt kaum Literatur vor. Rensen beschreibt zwar Verhaltensweisen wie Ärgern, Quälen, Beschimpfen, Drohen, Erpressen, Stehlen, Verfassen von Drohbriefen sowie Telefon- oder TVTerror seitens der Kinder als Formen psychischer
Gewalt gegen Eltern, nennt allerdings keine statistischen Zahlen zu ihrer Auftrittshäufigkeit (Rensen
1992).
Weiters finden sich kaum Fachpublikationen
zum Thema sexuelle Gewalt von Kindern gegen
ihre Eltern.
7.2 Soziodemographische
Faktoren
Häufigkeit
In einer Studie von Dobash & Dobash (1980)
sind 7% aller 1044 untersuchten Fälle von
7 184 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Gewaltdelikten zwischen Familienangehörigen
gegen die Eltern gerichtet.
Vor allem Straus et al. (1981) untersuchten in
einer repräsentativen Studie für die USA u.a.
Gewalthandlungen von Kindern gegen ihre Eltern.
Dabei stellten sie fest, dass 18% der Kinder ihrer
Untersuchungsgruppe die Eltern innerhalb eines
Jahres geschlagen hatten. Habermehl (1994) fand in
ihrer Untersuchung heraus, dass 20% der befragten
Eltern im letzten Jahr, und 47,6% zu irgend einem
Zeitpunkt Gewalt durch ihre Kinder erfahren
haben.
Das Alter der Kinder
Die meisten physischen Gewaltvorkommnisse
gegen Eltern seitens der Kinder sind in Familien mit
noch nicht schulpflichtigen Kindern zu verzeichnen (Habermehl 1994). In den von Habermehl
(1994) untersuchten Fällen gab es bei 55% der
Familien, in denen das älteste Kind unter sechs
Jahre alt war, im letzten Jahr Gewalt der Kinder
gegen die Eltern. Die Autorin fand bei Kindern dieser Altersgruppe41 am häufigsten folgende „leichte“
Formen gewalttätigen Verhaltens:
Tabelle II.6:
Gewaltformen und deren prozentuelle
Häufigkeit bei Kindern unter sechs Jahren
(Habermehl 1994)
Gewaltform
Einen Klaps geben
Mit der Hand hauen
Mit etwas nach den Eltern werfen
Kratzen, kneifen oder beißen
41
Prozentangaben
34,1%
34,1%
26,8%
16,7%
Die Angaben beziehen sich auf das älteste Kind der
Familie, welches zwischen einem und fünf Jahre alt ist.
Gewalt in der Familie
Mit zunehmendem Alter verringerte sich die
Häufigkeit der meisten Formen kindlicher Gewalthandlungen gegen die Eltern (Habermehl 1994). In
einer Studie von Gelles (1976) wurden Kinder zwischen 10 und 17 Jahren untersucht. In dieser
Untersuchung wendeten 9% der Kinder irgendeine Form der Gewalt gegen die Eltern an.
Der Prozentsatz jener Eltern, die in der
Habermehl-Studie von Gewalterfahrungen durch
ihre Kinder zwischen sechs und 18 Jahren berichteten, war deutlich höher als bei Gelles. Bei
Habermehl gaben 47,6% der Eltern, deren ältestes
Kind zwischen sechs und neun Jahre alt war an,
physische Gewalt durch ihre Kinder erfahren zu
haben. War das älteste Kind 10-13 Jahre alt, berichteten 24,4%, war das älteste Kind 14-17 16% und
war es 18 Jahre oder älter berichteten 5,2% der
Eltern von Gewalt seitens der Kinder gegen sie
selbst (Habermehl 1994).
Betrachtet man die Formen physischer Gewalt,
die Kinder gegen ihre Eltern ausagieren, zeigte sich
in der Untersuchung Habermehls (1994), dass bei
Kindern um das vierzehnte Lebensjahr eine „neue“
Form physischer Gewalt gegen die Eltern auftrat,
die bei kleinen Kindern noch nicht festzustellen
war. Dabei handelte es sich um das „Verprügeln“
der Eltern, das bei den 14-17-Jährigen in 1,8% und
bei den Kindern ab 18 Jahren in 2,5% der untersuchten Fälle anzutreffen war. Im Vergleich zu den
oben beschriebenen Formen kindlicher Gewalt im
Vorschulalter ist dies eine deutlich „schwerere“
Gewalthandlung.
Geschlechterverteilung
Bei den Vorschulkindern wurde kein Unterschied zwischen Mädchen und Jungen in Bezug auf
ihre Gewalttätigkeit gegenüber den Eltern gefunden (Charles 1986).
In der Gruppe der 10-17-jährigen Kinder werden in der Untersuchung von Straus et al. (1981)
mehr Töchter als Söhne gegen ihre Eltern gewalttätig (Gemünden 1996). Hingegen finden sich in
7 185 3
einer Studie von Charles (1986) mehr Buben, die
gegen ihre Eltern die Hand erheben.
Insofern konnte die allgemein verbreitete These,
hauptsächlich Jungen wären gegen ihre Eltern
gewalttätig, nicht durchgehend bestätigt werden
(Agnew & Huguley 1989).
Widersprüchliche Ergebnisse fanden die ForscherInnengruppen zudem in Bezug auf die Geschlechterverteilung bei den Opfern. In der StrausStudie erfolgte ein Drittel der Angriffe gegen den
Vater, während in zwei Dritteln der Fälle die
Mutter von kindlichen Gewalthandlungen betroffen war (Straus et al. 1981). Bei Habermehl (1994)
hingegen berichten häufiger die Väter (53,6%) als
die Mütter (42%), irgendwann Gewalt durch ihre
Kinder erlebt zu haben.
In Bezug auf geschlechtliche Differenzen bei
den Opfern fällt zudem auf, dass Väter häufiger von
ihren Söhnen und Mütter häufiger von ihren
Töchtern angegriffen werden. So zeigt sich, dass
60% aller Angriffe gegen die Väter von Söhnen und
40% von Töchtern ausgehen. Bei Müttern verhält
es sich genau umgekehrt. Hier finden 60% der Angriffe seitens der Töchter und 40% seitens der
Söhne statt (Gemünden 1996). Trotzdem gelangen
die Angriffe der Söhne gegen ihre Mütter häufiger
zur Anzeige (Schindler 1986).
Bei Mordanschlägen von Kindern gegen ihre
Eltern finden Tötungen der Mutter seltener statt als
Tötungen des Vaters (Hentig 1962).
Familiale Faktoren
Habermehl berichtet im Rahmen ihrer Studie zur
Gewalt im familiären Kontext von einem Zusammenhang zwischen der Anzahl der Kinder in einer
Familie und deren Gewaltbereitschaft gegenüber den
Eltern. Bei 19,8% der Familien mit einem Kind
kommt Gewalt seitens desselben gegen die Eltern
vor. Leben zwei Kinder in einem Haushalt mit den
Eltern, so kommt es in 23,7%, bei drei Kindern in
28,6% und bei vier und fünf Kindern in 60% der
untersuchten Familien zu Gewalthandlungen der
Kinder gegen die Eltern (Habermehl 1994).
7.3 Ursachen
Lernen am Modell
In der Fachliteratur findet man durchgehend die
Theorie des „Lernens am Modell“ als Erklärung für
kindliche Gewaltanwendung gegen Eltern
(Bandura 1979). Dabei können unterschiedliche
Personengruppen als Vorbilder fungieren:
Habermehl geht davon aus, dass vor allem
Kinder, die Gewalt am eigenen Körper erfahren –
meist durch die eigenen Eltern – ihrerseits gewalttätig gegen Mutter und/oder Vater werden. So findet die Autorin bei 51,6% der Eltern, die gegen ihre
Kinder gewalttätig waren, Gewalthandlungen seitens der Kinder vor. Dabei müssen Kinder nicht
erst schwer geschlagen werden, um Gewalt „zu erlernen“ (Habermehl 1989). Die Legitimation familiärer Gewalt durch gelegentliche körperliche
Züchtigungen seitens der Eltern reicht nach
Larzelere (1986) aus, um eine erhöhte Gewaltbereitschaft der Kinder gegenüber ihren Eltern zu bewirken. Ebenso meint Gemünden (1996), dass Gewalt gegen Eltern von elterlicher gegen die Kinder
und weiters von der Gewalt zwischen den erwachsenen PartnerInnen abhängt. Seiner Auffassung
nach werden Mütter und Väter, die gegeneinander
Gewalt anwenden, häufiger von ihren Kindern
angegriffen. Diese Annahme konnte zudem von
Habermehl (1994) bestätigt werden. Sie stellte bei
47,1% der Eltern, die gegenüber ihrem Partner/ihrer
Partnerin Gewalt einsetzten, Gewalthandlungen
von Kindern gegenüber ihren Eltern fest.
Weitere Lernmodelle zur Aneignung gewalttätigen Verhaltens gegenüber den Eltern können – vor
allem für Jugendliche – Freunde und Bekannte
sein. Jugendliche, die gegenüber ihren Eltern Gewalt anwenden, verkehren signifikant häufiger mit
peers, die ihre Eltern ebenfalls gewaltsam angreifen
(Schneider 1995). Insofern kann davon ausgegangen
werden, dass sich Jugendliche unter anderem von
Freunden und Bekannten gewalttätiges Verhalten
abschauen. Durch den Einfluss der Gleichaltrigen-
7 186 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
gruppe erfährt Gewalt eine positive Konnotation
und wird unter gewissen Umständen als durchaus
taugliches und gerechtfertigtes Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen angesehen. Zudem geht
Schneider davon aus, dass gewalttätige Jugendliche
kaum Zuneigung für und Achtung vor ihren Eltern
haben (Schneider 1995).
Modellhaft können zudem mediale Gewaltdarstellungen z.B. in Form von Videos, Computerspielen, Fernsehen und Kino für Kinder wirken
(Wegricht 1995).
Spezifische Familienkonstellationen
Rensen (1992) beschreibt drei Familientypen,
in denen körperliche Gewalt gegen die Eltern eingesetzt werden kann, schränkt allerdings ein, dass
nicht alle Eltern in derartig strukturierten Familien
Gewalt erfahren müssen und dass zudem auch bei
anderen Familienkonstellationen Gewalt gegen die
Eltern vorkommen kann. An dieser Stelle sollen
seine Ausführungen kurz dargestellt werden. Die
Beschreibungen der Familientypen spiegeln die Erfahrungen des Autors im Zuge seiner Beratungsarbeit mit Familien wider:
Familien der höheren Schichten: Körperliche
Gewalt gegen Eltern wird bei diesem Familientyp
meist durch das älteste Kind, vorwiegend in dessen
Pubertät, verübt. Die Familie lebt häufig abgeschottet von ihrer sozialen Umgebung, die Eltern sind
höheren Alters und leben keine harmonische Beziehung. Vor allem in Bezug auf die Kindererziehung besteht keine Einigkeit zwischen Mutter und
Vater. Der Vater ist kein adäquater Ansprechpartner für die Mutter, weshalb sie beim ältesten Kind
eine Kompensation dieses Mankos sucht. Das Kind
wird von ihr überbehütet, hat keine Gelegenheit
zur Entwicklung einer selbstständigen Persönlichkeit und seine Frustrationstoleranz ist häufig
äußerst gering. Durch die emotionale Abhängigkeit
der Mutter vom Kind wagt diese nicht, Grenzen
irgendwelcher Art gegenüber dem Kind zu setzen,
wodurch der Sohn/die Tochter häufig egozentrisches und forderndes Verhalten an den Tag legt. Bei
Gewalt in der Familie
geringster Frustration wird das Kind aggressiv und
kann im Zuge eines solchen Wutanfalls gewalttätig
gegen die Mutter werden.
Die praktischen Erfahrungen von Rensen werden weiters von einigen Untersuchungsergebnissen
belegt. Beispielsweise wurde in einer Studie von
Charles (1986) festgestellt, dass der Bildungslevel
von Eltern, die körperliche Gewalt erfuhren, signifikant höher war als jener von Eltern, die nicht
Opfer kindlicher Gewaltdelikte waren. Habermehl
fand ebenfalls eine höhere Häufigkeit von Gewalt
der Kinder gegen Eltern, wenn Letztere einen
Hochschulabschluss hatten. Zudem zeigte sich in
ihrer Untersuchung, dass das Einkommen der
Eltern einen signifikanten Einfluss auf die Häufigkeit von Gewalthandlungen der Kinder gegen die
Eltern hat. Eltern mit einem Einkommen von 2500
DM oder mehr, erfahren am häufigsten Gewalt
durch ihre Kinder (Habermehl 1994).
Mittelklassen-Familien: Auch hinter einer idyllischen, gutbürgerlichen Fassade kann es zu körperlicher Gewalt gegen Eltern durch ein Kind – meist
durch einen temperamentvollen Jungen, der schon
früh Wutanfälle auslebte – kommen. Der Vater ist
häufig physisch und/oder psychisch schwach. Die
Mutter stachelt den Sohn direkt oder indirekt dazu
auf, gegen den Vater körperlich gewalttätig zu sein.
Wird sie selbst von ihrem Kind geschlagen, so verlangt sie keine Hilfe vom Vater, der ihr vermutlich
auch auf Grund seiner eigenen Schwäche nicht beistehen könnte. In der Schule kann sich das Kind
nicht durchsetzen, gilt vielleicht sogar als „Memme“,
zu Hause allerdings „führt es sich auf wie ein kleiner
Tyrann“ (Rensen 1992).
Multi–Problem–Familien: In diesem Familientyp gehört körperliche Gewalt gegen Kinder und/
oder Frau schon seit Generationen zur familiären
Subkultur. Häufig kommt Alkohol- und Drogenkonsum bei den Eltern vor, wodurch sie keine adäquaten Erziehungsverantwortlichen für ihre Kinder
sind. In der Pubertät sind die Eltern ihren Söhnen/
Töchtern häufig nicht mehr körperlich gewachsen,
die Gewalttätigkeit dreht sich um, indem die
7 187 3
Kinder nun gegenüber den Eltern körperliche
Gewalt zeigen. Die jugendlichen GewalttäterInnen
sind meist die ältesten oder die jüngsten Kinder,
wobei sie gewalttätiges Verhalten auch außerhalb
der Familie an den Tag legen. Manchmal wird
gegenüber dem Vater körperliche Gewalt verübt,
meistens aber wenden die Jugendlichen ihre
Aggression gegen die Mutter oder die Geschwister
(Rensen 1992).
Empirische Ergebnisse finden sich bei
Habermehl (1994), die bei Familien, in denen die
Eltern arbeitslos sind bzw. keinen Schulabschluss
haben, mehr Gewalthandlungen der Kinder gegen
die Eltern feststellt.
Neben den Lernmodellen und den Familientypen von Rensen werden als weitere Ursachen
unter anderem extrem antiautoritärer Erziehungsstil seitens der Eltern und emotionaler
Druck auf die Kinder durch Scheidung und Ehezwistigkeiten genannt (Kammerer 1993; Rensen
1992). Habermehl (1994) findet in ihrer Studie, dass
die Unerwünschtheit eines Kindes ebenfalls Einfluss auf seine Gewalttätigkeit gegenüber den
Eltern hat. Haben die Eltern das Kind nicht gewollt, so zeigt dieses in Folge drei Mal so viel Gewalt gegen die Eltern als erwünschte Kinder.
Die zunehmende emotionale Vereinsamung
der Kinder durch elterliche Vollberufstätigkeit
kann ebenfalls zu erhöhter Gewaltbereitschaft seitens der Kinder gegenüber ihren Eltern führen
(Rensen 1992; Wegricht 1995).
und/oder geben sich selbst die Schuld für deren
Vorkommen. Ihren Kindern gegenüber können sie
sich äußerst loyal und abhängig verhalten (Rensen
1992).
Zu den in der Literatur angeführten Folgen von
Gewalterfahrungen der Eltern durch ihre Kinder
zählen – neben objektiv diagnostizierbaren körperlichen Verletzungen – psychosomatische Beschwerden. Rensen (1992) nennt in diesem Zusammenhang
beispielsweise Zittern, Schwitzen, Mundtrockenheit,
Herzklopfen, Bauchschmerzen, Muskelschwäche
und Schwindelgefühle. In extremen Fällen sogar
Angststörungen, Depression, Hyperventilation und
posttraumatische Belastungsstörung.
7.5 Zusammenfassung
Das Phänomen „Gewalt von Kindern gegen die
eigenen Eltern“ existiert. Berücksichtigt man diese
Tatsache, ist die Anzahl veröffentlichter, repräsentativer Studien zu diesem Thema recht unbefriedigend. Auch wenn einige Untersuchungen zu den
Häufigkeiten kindlicher Gewalttaten gegen die
Eltern Stellung nehmen, so fehlt es an adäquaten
und wissenschaftlich fundierten Theorien zu den
Ursachen kindlicher Gewalt und vor allem zu den
Bewältigungsstrategien der, und den Folgen für die
Opfer. Hier wurden lediglich erste, aus der praktischen Arbeit mit Gewaltfamilien abgeleitete,
Erklärungsansätze veröffentlicht.
7.4 Folgen
Über die Folgen unterschiedlicher Gewaltanwendung von Kindern gegenüber ihren Eltern ist
recht wenig bekannt, was in hohem Maß mit der
geringen Bereitschaft der Eltern, über Gewalterfahrungen durch ihre Kinder zu berichten, zusammenhängen dürfte. Zudem bagatellisieren betroffene Eltern häufig die erfahrenen Gewaltdelikte
7 188 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
8 Signale und Folgen gewaltsamer
Handlungen an Kindern
Brigitte Cizek, Olaf Kapella, Maria Steck
Im folgenden Kapitel wird ein Überblick bezüglich der Signale und Folgen von Gewalt an
Kindern gegeben, wobei der Begriff „Signal“ in den
nachstehenden Ausführungen synonym für
„Symptom“ steht. Diese Begrifflichkeiten werden
gemeinsam behandelt, da eine Differenzierung
schwierig ist. Ein Signal, das als Hilfeschrei eines
Kindes zu verstehen ist, kann zugleich auch eine
Folge des Gewaltgeschehens am Kind darstellen.
Das Kapitel besteht aus zwei Hauptteilen,
einem grundlegenden theoretischen und einem
daran anschließenden spezifischen. Im ersten Abschnitt werden verschiedene Kategorienschemata
dargestellt, mit deren Hilfe die unterschiedlichen
Signale und Folgen eingeteilt werden. Diagnostische Möglichkeiten zur Erfassung von Signalen und
Folgen sowie unterschiedliche Einflussfaktoren
runden diesen Teil ab. Im zweiten Abschnitt wird
auf die spezifischen Signale und Folgen, differenziert nach physischer, psychischer und sexueller
Gewalt eingegangen. Eine Einteilung in diese Subkategorien gewaltvoller Erfahrungen erweist sich
zu Forschungszwecken als vorteilhaft und durchaus gerechtfertigt, im realen Alltag der betroffenen
Kinder kommt es jedoch vielfach zu gleichzeitigen
Gewaltanwendungen auf mehreren bzw. allen
Ebenen. Insofern ist es auch nicht verwunderlich,
dass sich viele Folgereaktionen bei den unterschiedlichen Gewalterfahrungen decken.
8.1 Einteilung von Signalen
und Folgen
Es gibt nicht das Signal und nicht die Folge von
Gewalt gegen Kinder, es lassen sich eine Reihe von
Signalen und Folgen auf Grund verschiedener
Bedingungen unterscheiden. Deshalb wurde in der
einschlägigen Literatur der Versuch unternommen,
Kategorien zu bilden, denen die unterschiedlichen
Signale bzw. Folgen zugeordnet werden können.
Gewalt in der Familie
Diese Kategorisierungsschemata lassen sich
nicht in allen Publikationen zu den Auswirkungen
diverser Gewalterfahrungen verfolgen. Unterschiedliche AutorInnen verwenden jeweils andere
Einteilungen. Insofern kann man davon ausgehen,
dass eine klare Unterscheidung bezüglich möglicher Folgen von Gewalterfahrungen kaum möglich
ist. Im Folgenden ein paar Beispiele zur Verdeutlichung:
3 Unspezifische versus spezifische Folgen
(Giardino 1992):
Diese Kategorisierung dient dem Zweck, zwischen Folgen zu unterscheiden, die relativ eindeutig
auf eine Gewalteinwirkung hinweisen bzw. eine
derartige Schlussfolgerung nicht in diesem Ausmaß
zulassen.
Spezifische Folgen sind meist körperlicher
Natur. Werden sie im Zuge einer sorgfältigen medizinischen Untersuchung festgestellt, so ist Gewaltanwendung wahrscheinlich. Spezifische Folgen lassen sich vor allem bei körperlicher Gewalt, insbesondere im Falle der Vernachlässigung sowie bei
sexueller Gewalt feststellen.
Die Palette unspezifischer Folgen, also Zeichen,
die auf Gewalt hinweisen können, keineswegs aber
müssen, ist besonders umfassend. Cohn (1979,
S. 518) meint in diesem Zusammenhang: „At the
time they entered treatment, the children exhibited
a wide range of problems.“ Diese finden sich bei
allen Formen von Gewaltanwendung. Neben den
Gewalterfahrungen spielen aber eine Vielzahl von
kontextuellen Faktoren (siehe Kapitel 8.3 „Einflussfaktoren“) eine wesentliche Rolle dahingehend, welche unspezifischen Folgen bei den Kindern auftreten.
3 Initialfolgen versus Spätfolgen
(Browne & Finkelhor 1986)
Diese Unterteilung gibt Aufschluss bezüglich
der Zeitspanne, wann es zum Auftreten von Folgeerscheinungen gekommen ist.
Initialfolgen treten innerhalb der ersten zwei
Jahre nach Beendigung der Gewalthandlung auf.
7 189 3
Von Spätfolgen spricht man hingegen, wenn sich
die Auswirkungen im Verlauf der späteren Entwicklung des Kindes, d.h. im Jugend- oder Erwachsenenalter zeigen (Gomes-Schwartz 1990; Godenzi
1996).
3 Körperliche versus psychische und
soziale Folgereaktionen
(Wanke & Tripammer 1992)
Bei dieser Möglichkeit werden die Folgen nach
Art ihres Auftretens klassifiziert.
Zu den körperlichen Folgen zählen z.B.: diverse
Verletzungen, Krankheiten, die in Folge von
Gewalterfahrungen auftreten.
Zu psychischen und sozialen Auswirkungen
werden u.a. Verhaltensauffälligkeiten, psychische
Störungen u.v.m. gezählt.
Psychische und soziale Folgen können zudem
in internalisierte – also nach innen gerichtete – versus externalisierte – d.h. nach außen gerichtete –
unterteilt werden (Kendall-Tackett et al. 1993).
8.2 Diagnostische Möglichkeiten
zur Erfassung von Signalen
und Folgen
Die Grundprinzipien der Vorgehensweise bei
medizinischer und psychologischer Diagnostik
werden in den folgenden Ausführungen dargestellt.
8.2.1 Medizinische Diagnostik
Das medizinische Konzept von „Krankheit“
und „Diagnose“ allgemein beschreibt Frick folgendermaßen: „Bei der Erstellung seiner Diagnose
vollzieht der Diagnostiker eine Abbildung von empirischen Daten (den Symptomen) in die Sprache
der Wissenschaft (der Medizin), in ihren Behandlungskontext und in ihren Vorstellungs- und
Erklärungsraum. Dieser Abbildungsprozess läuft
über drei verschiedene Ebenen: von den einzelnen
Symptomen des individuellen Patienten (Daten-
ebene) über das Gesamtbild seines klinischen Erscheinungsbildes (Ebene der Manifestation) hin zu
den Krankheitsmechanismen (nosologische Ebene).“
(Frick et al. 1990, S.70).
Frick erhebt in seiner Auseinandersetzung zur
ärztlichen Urteilsfindung bei der Diagnose Gewalt
am Kind die Forderung, diese als eine „soziale
Rekonstruktion“ zu sehen. Kindesmisshandlung,
-vernachlässigung sowie sexueller Missbrauch werden vor diesem Hintergrund somit als Störung der
Interaktion des Kindes mit seinen Eltern begriffen.
„Das Zuschreiben vorliegender (körperlicher oder
verhaltensmäßiger) Befunde auf dieser speziellen
Interaktionsweise der Eltern/Betreuungspersonen
mit dem Kind sollte man daher richtiger nicht als
‚Diagnose‘, sondern als den Versuch einer Rekonstruktion bezeichnen.“ (Frick et al. 1990, S.72)
Damit sollte z.B. die Diagnose „sexuelle Gewalt“
aus medizinischer Sicht nicht mehr nur als ein „Abhaken von Symptomlisten“ zu verstehen sein.
Den Begriff „sozial“ versteht er im doppelten
Sinn: Einerseits geht es für ihn um das Erkennen
von sozialen Interaktionen und andererseits ist die
Bewertung dieser Interaktion als sexuelle Gewalt
ein sozial gelernter Prozess. (Frick et al. 1990)
Beinhaltet eine Misshandlungsdiagnostik das
Gedankenmodell einer „sozialen Rekonstruktion“,
ergeben sich in der Folge ganz neue Aspekte für
eine Zusammenarbeit von relevanten Nachbardisziplinen der Medizin, mit
3 der Psychoanalyse:
3 Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit der Rekonstruktion von frühkindlichen Prozessen der
Interaktion. Symptome werden hier als Hinweise für eine zugrunde liegende psychische
Störung verstanden.
3 der Kriminologie
3 der Entwicklungs- und Sozialpsychologie:
3 Die Psychologie bietet Erkenntnisse über z.B.
die individuelle Entwicklung, die Wahrnehmung und weitere Gebiete an.
3 der Soziologie:
7 190 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Sie kann helfen, Aspekte der Misshandlung die
außerhalb des Individuums liegen zu beschreiben wie z.B. kulturelle Bedingungen, Legitimation von Gewalthandlungen in einer Gesellschaft. (Frick et al. 1990).
Aus medizinischer Sicht ergibt sich dabei folgender Zweck für eine Diagnoseerstellung:
3 die Zuweisung der/des PatientIn zur geeigneten
Therapie (= Therapiezuweisung);
3 die Vorhersage eines weiteren klinischen Verlaufs einer Erkrankung;
3 als primär wissenschaftlich orientiertes Klassifikationsverfahren, um den Verlauf einer Krankheit genauer beschreiben zu können;
3 als formaler Akt, z.B. für ein Gutachten;
3 als eine vorübergehende Arbeitshypothese, um
für weitere Schritte erst einmal eine Richtung
festzulegen (= interimistische Hypothese)
(Frick et al. 1990).
Am Beispiel des Vorgehens des „von-Haunerschen Kinderspitals“ der Universität in München
soll das Verständnis der „Diagnose sexueller Gewalt“ als „soziale Rekonstruktion“ und die sich
daraus ergebende interdisziplinäre Zusammenarbeit verdeutlicht werden.
Dem Konzept liegt folgendes aufbauendes
Beobachtungsschema zu Grunde:
Wird ein Kind in der Klinik vorstellig, bewerten
die Ärzte anhand verschiedener Symptomlisten
(Subprogramme) die Wahrscheinlichkeit, ob eine
Misshandlung vorliegt. Es handelt sich um drei aufeinander folgende Subprogramme:
3 Das 1. Subprogramm erhebt körperlich relativ
eindeutige Misshandlungssymptome (z.B.
Hämatome, Frakturen, stumpfe Bauchtraumen,
sexuell übertragbare Krankheiten, Verletzungen
im Genitalbereich).
3 Das 2. Subprogramm erhebt unspezifische
Symptome, wie z.B. körperliche Symptome
oder die Umstände für die Aufnahme in der Kli-
Gewalt in der Familie
nik, generelle Versorgung des Kindes (Impfpass
komplett?).
3 Das 3. Subprogramm erhebt unspezifische psychische Symptome (z.B. besonders kontaktarm,
besonders aggressiv, besonders laut, Probleme
beim Essen).
Bleibt die Abfrage aller drei Subprogramme
ohne Ergebnis, ist das ärztliche Personal zu keinen
weiteren Evaluierungsschritten verpflichtet, es
besteht kein Verdacht auf eine Misshandlung.
Tauchen jedoch irgendwo in dieser Untersuchungsreihe Verdachtsmomente auf, dann sollten
eine spezielle „Zusatz-Diagnostik“ (4. Subprogramm) und das Misshandlungsteam der Klinik
eingesetzt werden. Das Misshandlungsteam der
Klinik besteht aus PädiaterInnen, KinderpsychiaterInnen, SozialarbeiterInnen und PsychologInnen.
Das 4. Subprogramm erhebt nur noch zum Teil Zusatzdaten. Es unterscheidet in Informationen über
das Kind, wie z.B. frühere Klinkaufenthalte, Entwicklungsverzögerungen, Geburtskomplikationen
und in Informationen über die Eltern, wie z.B.
Interesse am Kind, Kooperationsbereitschaft, Besuche, Besorgnis, akute Belastungssituationen.
Dem Misshandlungsteam der Klinik bleibt es überlassen, den Verdacht auf Misshandlung anhand der
erhobenen Informationen zu überprüfen und eine
Diagnose zu erstellen (Frick et al. 1990).
Anhand dieses Beispieles lässt sich aus den ersten
zwei Subprogrammen die Vorgehensweise zur klassischen medizinischen Diagnoseerstellung ableiten,
ebenso wird die Erweiterung der „Diagnose sexueller Gewalt“ als „soziale Rekonstruktion“ deutlich.
8.2.2 Psychologische Diagnostik
8.2.2.1 Allgemeine Methoden
der Diagnostik
In der Literatur werden verschiedene diagnostische Hilfsmittel vorgestellt. Einzeln betrachtet stellen sie sicher kein geeignetes Vehikel dar, eine zweifelsfreie Diagnose zu ergeben. Sie bieten sich jedoch
7 191 3
sehr gut an, um mit dem Kind in Kontakt und in ein
Gespräch zu kommen. Sie können die Arbeit, ein
traumatisches Erlebnis des Kindes zu bearbeiten,
erheblich erleichtern.
3 Von verschiedenen AutorInnen werden die
Beobachtungsgabe und die Erfahrungen des/der
UntersucherIn als eines der wichtigsten Hilfsmittel zur Diagnostik bei Gewalt dargestellt.
3 Besonders im Bereich der sexuellen Gewalt
wird als einer der wichtigsten Faktoren für die
Diagnose die Bereitschaft des/der UntersucherIn genannt, überhaupt die Möglichkeit des
Inzest in Betracht zu ziehen.
3 Als Screening-Methode hat sich der Einsatz von
Verhaltensfragebögen bewährt.
3 In Bezug auf Spiel- und Bastelmaterialien (z.B.
Handpuppen, Kasperlepuppen, Puppenhäuser,
anatomische Puppen) können Kinder besonders
ihre Befindlichkeiten, ihre Gefühle und Ängste
spontan zum Ausdruck bringen. Kinder können
sich z.B. hervorragend hinter Puppen verstecken und somit Kontakt zum/r GesprächspartnerIn aufnehmen.
3 Besonders im Bereich der sexuellen Gewalt
wird Kindern oft ein Schweigegebot auferlegt,
weshalb sich der Einsatz von Kinderzeichnungen sehr gut eignet. Malen bieten den Kindern
eine gute Möglichkeit, sich dennoch mitzuteilen. Es muss allerdings beachtet werden, dass
Kinder selten sehr eindeutige Bilder malen. Zudem neigen sie dazu, ihre Zeichnungen zu übermalen, sodass bestimmte Inhalte nur beim Entstehen des Bildes zu erkennen sind.
3 Anhand projektiver Testverfahren (z.B. „verzauberte Familie“, Rorschachtest) können
Kinder ihre erlittenen Traumata auf ein „neutrales“ Material projizieren. Beispielsweise besteht
der Baukasten des Szenotests aus verschiedenen
standardisierten Inhalten, wie biegbare Puppenfiguren, Tiere, Bäume, Symbolfiguren und verschiedene Dinge, die im täglichen Leben von
Bedeutung sind. Mithilfe dieses Baukastens
kann das Kind seine Lebenswelt deutlich
machen (Frei 1993, S. 43; Friedrich 1998, S. 120;
Hirsch 1990, S. 231).
8.2.2.2 Spezifische Methoden
der Diagnostik
Um Gewalterfahrungen diagnostizieren zu
können, wurden verschiedene spezifische Methoden entwickelt, die konkret nach Gewalterfahrungen fragen. Diese werden eingebettet in allgemeine
Methoden, die generell als Kontakteinstieg zwischen Kind und TherapeutIn/BeraterIn gedacht
sind. Viele dieser Methoden wurden vor allem zur
Diagnostik sexueller Gewalt entwickelt. Aus diesem Grund findet sich bei der Darstellung verschiedener diagnostischer Methoden ein diesbezüglicher
Schwerpunkt.
3 Standardisierte Interviews
Interviews zur Erfassung sexueller
Gewalterfahrungen
Diese Form der Interviews wie z.B. das „Interview zur Erfassung sexueller Missbrauchserfahrungen“ (Russell 1984) oder „General Trauma Stress
Questions“ (Ford, Shaw, Sennhauser & Greaves
1993), dienen der Identifikation und Beschreibung
von persönlich erlebten Gewalterfahrungen.
An allen Verfahren dieser Art kritisiert Heim:
Kein Verfahren „wurde in übersetzter Form im
deutschen Sprachraum veröffentlicht. ... Die
Entwicklung deutschsprachiger, multidimensional
konzeptionalisierter, standardisierter klinischer
Interviews zur Einschätzung der Belastung durch
sexuelle Traumata erscheint zukünftig erforderlich,
ebenso wie die Überprüfung der Objektivität,
Reliabilität und Validität der im Interview erhaltenen Angaben.“ (Heim & Ehlert 1998, S. 336).
Interviews zur Erfassung psychopathologischer
Folgen von sexueller Gewalt
Diese Interviews beziehen sich auf die Kriterien
zur Diagnostik einer PTSD (= Posttraumatische
Belastungsreaktion) nach dem DSM-III, bzw. dem
DSM IV.
7 192 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Fragebogen-Verfahren
Vor allem im amerikanischen Sprachraum wurden verschiedene Selbstbeurteilungsverfahren in
Form von Fragebögen entwickelt. Im Hinblick auf
die klassischen Testgütekriterien sind diese Verfahren meist nicht überprüft.
Fragebögen zur Erfassung sexueller
Gewalterfahrungen
Diese Fragebögen setzen sich die psychometrische Erfassung von sexuellen Gewalterfahrungen
zum Ziel. Zu dieser Gruppen gehören z.B. die
„Sexual Experiences Scale“ (Koss & Oros 1982)
oder der „Sexual Abuse Exposure Questionnaire“
(Rowan, Roy, Rodriguez & Ryan, 1994).
Fragebögen zur Diagnostik psychopathologischer Folgen des sexuellen Missbrauchs
Diese Art von Fragebögen dienen einerseits der
Selbstbeurteilung zur Diagnostik der PTSD anhand
relevanter Symptome und andererseits der
Berücksichtigung möglicher Folgeprobleme der
traumatischen Erfahrungen.
3 Biologische Marker
Diese Verfahren bauen darauf auf, dass es sich
bei PTSD um eine stressabhängige Störung handelt.
Durch verschiedene Tests und Untersuchungen sollen so genannte „biologische Marker“ festgestellt
werden, die im Zusammenhang mit PTSD stehen.
Diese Untersuchungen befinden sich noch im Anfangsstadium und wurden zum Großteil an Vietnam-Veteranen durchgeführt. Auf Grund dieses
Faktums sind nicht alle Ergebnisse auf andere
PatientInnen mit einer PTSD übertragbar.
3 Psychophysiologische Messungen
Mittels dieser Vorgehensweise wird der
Zusammenhang zwischen psychischen und körperlichen Prozessen untersucht. Es werden z.B. körperliche Symptome wie veränderter Blutdruck oder
Herzrate bei der Darbietung bestimmter Reize
beobachtet. Bei den psychophysiologischen Merk-
Gewalt in der Familie
malen finden sich ebenso wie bei den biologischen
Markern nur wenige Hinweise auf Veränderungen
bei Opfern sexueller Gewalthandlungen.
Methoden zur Untersuchung selektiver
Aufmerksamkeitszuwendung auf belastungsrelevante Reize
Personen mit einem PSTD werden nach den
DSM-IV-Kriterien einer Angststörung zugeordnet.
Die klinische Psychologie widmet sich seit den
Siebzigerjahren der Untersuchung von Informationsverarbeitungsprozessen bei PatientInnen mit
Angststörungen. Die zugrunde liegende Annahme
besagt, dass AngstpatientInnen „häufig eine mangelnde Introspektionsfähigkeit sowie Verzerrungstendenzen bezüglich auslösender Reize und deren
kognitiver Verarbeitung aufweisen“. Daher wurden
Paradigmen der experimentellen kognitiven
Psychologie eingesetzt (Heim & Ehlert 1998,
S. 347f).
3 Anatomisch korrekte Puppen
Der Einsatz „anatomisch korrekter Puppen“
stellt eine sehr kontrovers diskutierte diagnostische
Methode dar. Es handelt sich um detailliert gearbeitete Puppen, die über einzelne Finger, Ohren,
Mundöffnungen mit Zunge, Hoden und Penis,
Brüste und Klitoris sowie Vaginal- und Analöffnungen verfügen. Ursprünglich wurde sie für
den Einsatz im Rahmen der Sexualpädagogik entwickelt. In letzter Zeit kommt ihnen jedoch immer
mehr eine diagnostische Funktion zur Abklärung
von sexuellen Gewalterfahrungen zu.
Der Diskurs um die anatomisch korrekten
Puppen bezieht sich hauptsächlich auf die Frage,
inwieweit die Darstellung sexuellen Verhaltens
beim Spielen mit den Puppen als ein sicheres
Zeichen für sexuelle Gewalterfahrungen der Kinder
gewertet werden kann. Offenes sexuelles Verhalten,
wie z.B. oral-genitale Kontakte oder vaginaler und
analer Geschlechtsverkehr beim Spielen mit den
Puppen, gilt für einige Fachleute als Zeichen für
eine mögliche sexuelle Gewalterfahrung.
7 193 3
Vor allem zu Beginn der Arbeit mit anatomisch
korrekten Puppen nahm man an, dass die
Darstellung von sexuellem Verhalten ein eindeutiges Kriterium für sexuelle Gewalterfahrungen der
Kinder wäre. Bald aber wurden kritische Stimmen
laut. Untersuchungen mit Kontrollgruppen zeigten, dass anatomische Puppen einerseits keine
Angst bei Kindern auslösen und sie nicht zur
Darstellung von sexuellen Aktivitäten anregten.
Andererseits wurde beim Spielen mit nicht anatomisch korrekten Puppen genauso oft sexuelle
Gewalt von den Kindern dargestellt.
(Hirsch 1990, S. 233; Heim & Ehlert 1998;
Friedrich et al. 1995, S. 120; Greul 1998, S. 371382).
8.2.2.3 Diskussion
Am Ende dieser Ausführungen stellt sich die
Frage, ob sexuelle Gewalt an Kindern als solche
überhaupt mit psychologischen Methoden diagnostiziert werden kann.
Greul (1998) vertritt die Auffassung, dass es
weder die Aufgabe der psychologischen Diagnostik
sein kann, sexuelle Gewalt als solche zu diagnostizieren, noch verfügt die Psychologie über geeignete
Methoden dazu. Um dies zu verdeutlichen zitiert
sie Lammers-Winkelmann: „Sexueller Missbrauch
als solches kann mit psychologischen Methoden
grundsätzlich nicht diagnostiziert werden; diagnostiziert werden können allenfalls Besonderheiten im
Erleben und Verhalten betroffener Kinder, also
mögliche Folgen eines sexuellen Missbrauchs. ...
PädagogInnen und PsychologInnen können lediglich wiedergeben, was ein Kind während des diagnostischen Prozesses, im Interview, über eventuelle sexuelle Handlungen berichtet hat.“ (LamersWinkelmann 1993, S. 140 zit. nach Greul 1998).
8.3 Einflussfaktoren auf das Ausmaß
der Folgen von Gewalterfahrungen
Jedes Kind reagiert auf seine individuelle Weise
auf Gewalterfahrungen, und entwickelt unterschiedliche Symptome. Dies hängt zum einen mit
der Persönlichkeit, Lebensgeschichte und Lebenssituation des Kindes und zum anderen mit den
Merkmalen und dem Kontext der Gewalterlebnisse
zusammen. Janoff-Bulman sprechen von drei
Gruppen von Einflussfaktoren bezüglich des Ausmaßes der Folgen (Wolfe et al. 1988)
1. Die Merkmale der Gewalterfahrung: So spielen
u.a. die Beziehung und emotionale Nähe des
betroffenen Kindes zu dem/der TäterIn, die
Anzahl der TäterInnen, das Alter des Kindes bei
Beginn der Gewalthandlungen, die Dauer des
Zeitraumes, in dem die Gewalterfahrung stattfindet (Bründel & Hurrelmann 1994), die
Häufigkeit der Gewaltvorkommnisse, die
Art/Massivität der Misshandlung sowie die
Androhung oder Ausübung weiterer Gewalt
eine entscheidende Rolle (Sauzier 1990;
Kendall-Tackett et al. 1993). Bange und Enders
(Bange 1995) sprechen in diesem Zusammenhang auch von primären Traumatisierungsfaktoren.
2. Die soziale Unterstützung des betroffenen
Kindes durch andere Personen: Das Vorhandensein einer konstanten Bezugsperson, der das
Kind vertraut, kann den Auswirkungen der Gewalterfahrungen entgegenwirken (Conte 1987).
In diesem Zusammenhang können Unterstützungen seitens einzelner Familienmitglieder,
z.B.: des nicht gewalttätigen Elternteils, der
Geschwister und Großeltern, von LehrerInnen
oder NachbarInnen und natürlich auch therapeutische Maßnahmen genannt werden (Rensen
1992; Bange 1995).
3. Die Copingmechanismen bzw. Belastungsfähigkeit des Kindes (Spaccarelli 1998): In diesem
Zusammenhang spielt die Resilienz, d.h. die
7 194 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
psychische „Widerstandskraft“ des Kindes bzw.
die Fähigkeit, Belastungen bewältigen zu können, eine entscheidende Rolle (Rensen 1992).
Resilienz wird auch als „Abwesenheit“ negativer Auswirkungen (z.B. massiver Angst oder
Depressionen) von kritischen Lebensereignissen beschrieben (Lösel 1996). Auch Vergessen
und Verdrängen von Gewalterfahrungen kann
eine Form der Bewältigung darstellen
(Matthews 1995).
Darüber hinaus findet sich in der Literatur:
3 Die vorangegangene Lebensgeschichte des
Kindes als wichtiger Aspekt (Wolfe et al. 1998;
Comer 1995): Hat ein Kind etwa bereits vor
Beginn der Gewalterfahrung andere einschneidende oder traumatisierende Ereignisse erlebt –
wie etwa die Trennung seiner Eltern, häufige
Wohnungsumzüge oder den Tod eines Familienangehörigen – so kann dies mitunter zu größeren Schwierigkeiten bei der Bewältigung des
Gewaltereignisses führen als bei einer relativ
unbelasteten und stabilen früheren Lebenssituation.
Im Kontext sexueller Gewalterfahrungen wird
genannt:
3 Die Art der Aufdeckung der Gewalterfahrungen (Wolfe et al. 1988) Vor allem die Reaktionen
seitens der Eltern und des Gerichts können für
das betroffene Kind unter Umständen eine
sekundäre Traumatisierung (Bange 1995) mit
sich bringen. Dies ist besonders bei der Aufdeckung sexueller Gewalterfahrungen der Fall,
wenn dem Kind nicht geglaubt wird, ihm
Vorwürfe gemacht werden oder es zur alleinigen Verantwortung gezogen wird. Aber auch
eine Intervention (z.B. wenn das Kind aus der
Familie genommen und in einem Heim untergebracht wird), auf die das Kind nicht sorgfältig
vorbereitet wurde, kann von diesem äußerst
traumatisch erlebt werden.
Gewalt in der Familie
3 Das Geschlecht des Opfers:
Die Auswirkungen sexueller Gewalterfahrungen von Jungen und Mädchen sind in vielen
Aspekten identisch. Allerdings können in wenigen Bereichen folgende Unterschiede bezüglich
der Umstände im Zusammenhang mit sexueller
Gewalt festgestellt werden (Deegener 1997;
Bründel & Hurrelmann 1994; Sgori 1982; Bange
1995; Steinhage 1992):
3 Geschlecht des/der TäterIn;
3 Naheverhältnis zum/zur TäterIn;
3 soziales Milieu;
3 Reaktion anderer Personen bzw. der Gesellschaft auf die sexuelle Gewalthandlung
gegenüber dem Opfer.
Als weitere Einflussfaktoren sind die Auswirkungen des „misshandelnden Milieus“ bei den
Folgen physischer bzw. psychischer Gewalt, die
Dynamik der sexuellen Gewalterfahrung sowie das
Alter des Opfers zu nennen. Da diese Einflussfaktoren differenziert nach unterschiedlichen Gewaltformen untersucht wurden, sind sie zum besseren Verständnis dementsprechend den beiden folgenden Kapiteln bezüglich der Darstellung von
Folgen bei unterschiedlichen Gewaltformen zugeordnet.
7 195 3
8.4 Auswirkungen physischer
und psychischer Gewalt
Im Folgenden werden die Folgen physischer
und psychischer Gewalt in einem Kapitel gemeinsam erörtert, da eine getrennte Behandlung auf
Grund fehlender differenzierender Literatur nicht
zulässig wäre.
8.4.1 Einflüsse des „misshandelnden
Milieus“ auf die Folgeerscheinungen
gewaltvoller Erfahrungen
In den letzten Jahren setzte sich die Auffassung
durch, dass Defizite in der kindlichen Entwicklung
eher Folge eines „misshandelnden Milieus“ als der
tatsächlichen Verletzung sind (Engfer 1986;
Amelang & Krüger 1995). Dabei diskutiert Engers
(1986) drei Milieubedingungen, die zu Defiziten
und Störungen führen können. Die drei Faktoren
und ihre Auswirkungen auf die kognitive und körperliche Entwicklung der Kinder beschreibt die
Autorin folgendermaßen (Engfer 1986, S. 117f.):
3 Mangel an Anregung und Zuwendung: Misshandelte Kinder erfahren in der Interaktion mit
ihrer nahen Bezugsperson vermutlich nicht die
Anregung und Zärtlichkeit, die für eine gesunde
kognitive Entwicklung notwendig sind.
3 Bestrafungen, die Angst erzeugen und aktivitätshemmend sind: Einschränkung des kindlichen Explorationsverhaltens durch Angst vor
elterlichen Sanktionen, die gerade dann passieren, wenn das Kind Gegenstände manipuliert,
lärmt oder aktiv wird. Dadurch werden aber
Verhaltensweisen unterbunden, die für die normale kognitive und motorische Reifung des
Kindes unerlässlich sind.
3 Ungünstige Familienverhältnisse und Lebenslagen: Dazu gehören hauptsächlich instabile
Familienverhältnisse, Ehestreitigkeiten, begrenzte finanzielle und soziale Ressourcen, Krankheiten und eine aggressive Familienatmosphäre.
Dass milieubedingte Auswirkungen auf die
kognitive und geistige Entwicklung von Kindern
gravierend sind, zeigt zudem eine Studie von Elmer
& Gregg (1967). Sie verglichen zwei parallelisierte
Gruppen von Kindern, die zum einen Misshandlung erfahren haben, zum anderen aus sehr ähnlichem Milieu stammten, allerdings keiner Gewalt
ausgesetzt waren. Die Autoren fanden keine Unterschiede zwischen misshandelten Kindern und
Kindern der Kontrollgruppe. Dies interpretierten
sie dahingehend, dass die chaotischen und belastenden Bedingungen in diesen Familien mindestens
genauso ausschlaggebend für die Entwicklung der
Kinder sind, wie die Misshandlung selbst.
Die schwer wiegenden Beeinträchtigungen der
sozial-emotionalen Entwicklung der Kinder sind
vermutlich ebenso wenig wie die festgestellten
Defizite im kognitiven und körperlichen Bereich
auf einzelne Misshandlungen zurückzuführen.
Vielmehr sind auch sie Auswirkungen einer
Familiensituation, die generell bestrafender und
ablehnender mit dem Kind umgeht. Insofern kann
also auch bei den sozio-emotionalen Folgen die
Theorie des „misshandelnden Milieus“ herangezogen werden (Engfer 1986).
Misshandelte Kinder erfahren häufig, dass prosoziale Verhaltensweisen ihrerseits von den Eltern
vielfach ignoriert und gelegentlich sogar bestraft
werden (Patterson 1982). Sie machen also die
Erfahrung, dass sich Wohlverhalten nicht lohnt,
weil die Konsequenzen ihres Verhaltens sowieso
negativ bzw. unberechenbar sind. Die misshandelten Kinder sind ohnmächtig; nicht nur, weil sie im
Akt der Gewalt ihre eigene körperliche bzw. psychische Unterlegenheit und Machtlosigkeit zu
spüren bekommen, sondern auch, weil ihre Anstrengungen Zuwendung, Liebe und Anerkennung
zu erhalten, fruchtlos bleiben. So verlieren sie zunehmend das Gefühl, die Konsequenzen ihres eigenen Handels steuern zu können. Sie entwickeln
unter anderem externale Kotrollüberzeugungen
(s.o.) und damit resignativ-fatalistische Einstellungen, die Nährboden unterschiedlichster psychi-
7 196 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
scher und sozialer Störungen sein können
(Seligman 1975).
Sozial-emotionale Störungen werden verständlicher, wenn man sich die psychologischen
Auswirkungen eines derartigen „misshandelnden
Milieus“ vor Augen führt (Engfer 1986):
Bestrafungssituationen emotionalisieren das
Kind. Diese Emotionen rufen Angst, Ärger, Wut
oder eine Mischung aus all diesen Empfindungen
hervor. Je häufiger ein Kind nun bestraft wird,
desto häufiger und rascher entstehen diese Emotionen und werden auf verschiedenen Kontexte
generalisiert. Weil die Kinder darauf eingestellt
sind, angegriffen oder abgelehnt zu werden, deuten
sie auch jene Handlungen ihrer Interaktionspartner,
die neutral oder positiv gemeint sind, als bedrohlich
bzw. provokativ. Diese Fehlwahrnehmung sozialer
Situationen führt nun zu einem aggressiven Verteidigungsverhalten seitens der Kinder. Dies hat wiederum zur Folge, dass sie sich zwar besser – vor
allem gegenüber Gleichaltrigen – durchsetzen können, dabei aber unter den peers immer weniger
beliebt werden. Nun fühlen sich die Misshandlungsopfer – wie zu Hause – abgelehnt und ausgestoßen, was ihr eigenes Selbstwertgefühl empfindlich stört, zu depressiver Verstimmung oder Freudlosigkeit führt.
Viel bestrafte Kinder neigen mit der Zeit dazu,
negative Schuldzuweisungen und Eigenschaftszuschreibungen zu internalisieren. Sie glauben nun
selbst daran, das „böse Kind“, der „Sündenbock“
zu sein. Ohne die Chance auf korrektive Erfahrungen finden sie sich schließlich mit diesem Selbstbild ab. Untersuchungen (Engfer 1982) zeigen, dass
misshandelte Kinder sich signifikant häufiger als
boshaft, schadenfroh, rücksichtslos und aggressiv,
soziale Regeln verstoßend und eigene Interessen
zum Leid anderer durchsetzend, beschreiben.
Gleichzeitig finden sie sich selbst nicht attraktiv
und liebenswert, sind leicht entmutigt, zeigen massive Minderwertigkeitsgefühle und leiden darunter,
von anderen – z.B. Eltern und Gleichaltrigen – abgelehnt zu werden. Insgesamt sind viel bestrafte
Gewalt in der Familie
und misshandelte Kinder in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung so dramatisch gestört, dass sie mit
ihrem aggressiven und antisozialen Verhalten für
eine delinquente Karriere fast prädestiniert erscheinen. Gerade dieser Zusammenhang zwischen
Misshandlung und Delinquenz findet in neueren
Studien immer stärkere Beachtung (McCord 1983).
8.4.2 Folgen von körperlicher
und psychischer Gewalt
In der Literatur findet sich vor allem bei Auswirkungen körperlicher Gewaltanwendungen, insbesondere der körperlichen Vernachlässigung, die
Unterteilung in spezifische und unspezifische
Folgen.
In Bezug auf psychische Gewalt, insbesondere
der psychischen Vernachlässigung, können keine
spezifischen Auswirkungen beschrieben werden.
Insofern ist ihre Diagnose besonders schwierig.
Aus diesem Grund ist die Sensibilisierung hinsichtlich der Wahrnehmung unspezifischer Folgen
besonders von Bedeutung.
Spezifische Folgen sind bei körperlicher
Misshandlung und körperlicher Vernachlässigung
primär physische Verletzungen, die durch eine differenzierte medizinische Untersuchung festgestellt
werden können. Einschlägige pädiatrische Lehrbücher (Schulte 1988) führen folgende medizinische Befunde – welche sich in erster Linie auf
Untersuchungen von Säuglingen und Kleinkindern
beziehen – auf (Amelang & Krüger 1995):
3 Schädigungen der Haut (Narben, Wunden,
Brand- und Bissverletzungen, Striemen, Hämatome, Würgemale oder blaue Flecken) vor allem
in den Gelenksregionen, Brustbereich, Rücken,
Oberarmen, Ober- und Unterschenkel, Po und
Hals. Speziell im Gesicht können Verletzungen
der Mundregion (Risse der Mundwinkel, Verletzungen des Lippenbändchens, Brandblasen)
auf gewaltsames Füttern oder Zuführen zu
heißer Nahrung hinweisen. Verletzungen im
Augenbereich indizieren ebenfalls rohe Zugriffe.
7 197 3
3 Skelettverletzungen (Frakturen, Fissuren und
Absprengungen vor allem der Knochen an den
Extremitäten und Rippen).
3 Kopf- und Nackenverletzungen (Schädel- und
Hirntraumata durch Schläge auf den Kopf bzw.
Aufschlagen desselben auf einen harten Gegenstand; Quetschungen oder Frakturen der
Schädelknochen, intrazerebrale Blutungen, Blutungen unterhalb der harten Hirnhaut); Gehirnblutungen in Kombination mit Griffmarken an
Nacken, Oberarmen und Oberkörper weisen
auf das „battered child syndrome“ hin, das
durch kräftiges Hin- und Herschütteln des
Kindes auftreten kann.
3 Innere Verletzungen (Darm- und Leberrisse,
Verletzungen des Magens, Lungenrisse und
innere Blutungen).
3 Gedeih- und Wachstumsstörungen (Unterernährung; ungepflegtes Äußeres wie z.B.:
Verschmutzung durch die eigenen Exkremente,
Urinekzeme und Kälteschäden (Berg 1984);
vorangeschrittene Karies, unbehandelte Infektionen im Mundinneren).
3 Vergiftungserscheinungen (Fieber, Schüttelfrost,
Krämpfe, Lähmungen, Sehstörungen durch das
Verabreichen toxischer Substanzen oder die
Nichteinhaltung ärztlicher Verordnungen).
Die angeführten Zeichen körperlicher Gewalt
und körperlicher Vernachlässigung sind keineswegs
nur im Kontext realer Misshandlungen anzutreffen.
Bei den spezifischen Symptomen ist immer zu bedenken, dass sie auch durch Unfälle oder Krankheiten hervorgerufen werden können. Insofern ist
ein Schluss auf Kindesmisshandlung ausschließlich
auf Grund des Vorliegens jener Verletzungssymptome keineswegs gerechtfertigt.
Die wissenschaftlichen Kenntnisse über die
unspezifischen Folgen von körperlicher und psychischer Gewalt auf Kinder sind bislang bescheiden
(Godenzi 1996). Zwar herrscht in der Misshandlungsforschung Einigkeit darüber, dass die Folgen
sowohl psychischer als auch physischer Miss-
handlung gravierend sind und betroffene Kind
lebenslang prägen können – in der Zusammenschau
diverser Studien sprechen die Befunde für eine
mehr oder weniger massive Beeinträchtigung der
körperlichen, kognitiven und sozio-emotionalen
Entwicklung (s.u.) betroffener Kinder – allerdings
haben die Hinweise darüber, wie diese Wirkungen
genau aussehen, oft noch den Charakter von
Vermutungen (Amelang & Krüger 1995). Die verschiedenen elterlichen Gewalttätigkeiten wirken
eher differenziell, also in Abhängigkeit von z.B.:
Alter, Geschlecht, Lebenssituation, oder ausgleichenden positiven Erfahrungen (Lynch 1982;
Mrazek 1987). Weiters muss eine eindeutige Rückführung solcher Auffälligkeiten auf die Misshandlungserfahrungen häufig in Frage gestellt werden.
Wenn also im Anschluss verschiedene Folgen aufgeführt und diskutiert werden, sollen diese nur mit
jenem Grad an Gültigkeit aufgenommen werden,
wie sie auch nach all den Forschungsbeschränkungen noch möglich sind (Ziegler 1994).
Körperliche und kognitive
Beeinträchtigungen
Forschungsstudien haben früher primär körperliche und geistige Schäden als Folge von Misshandlung
gefunden, da man hauptsächlich schwerste Fälle –
zumeist Kleinkinder – zum Gegenstand von Untersuchungen machte und die Nachuntersuchung von
Misshandlungsopfern in den Händen von KinderärztInnen und EntwicklungsneurologInnen lag
(Lynch 1982). Das Ausmaß körperlicher und kognitiver Beeinträchtigungen scheint wesentlich vom
Schweregrad der Misshandlung abzuhängen (Ziegler
1994). Follow-up Studien zeigten zudem, dass körperliche und geistige Behinderungen hauptsächlich
bei jenen Kindern aufzufinden sind, die bereits zum
Zeitpunkt der Misshandlung nicht altersgemäß gediehen waren (Engfer 1986). In diesem Zusammenhang wirft sich vor allem die Frage auf, ob die Beeinträchtigungen als Folge von Gewalthandlungen oder
möglicherweise gar als Mitverursacher in Betracht zu
ziehen sind (Dietrich 1983).
7 198 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Tabelle II.7:
Häufig festgestellte kognitive und körperliche Retardierungen
(Engfer 1986; Oates 1984; Oates 1986; Elmer 1967; Lynch 1982)
Körperliche
Entwicklungsstörungen
Sie beziehen sich meist auf
den Wahrnehmungsapparat (Hör- und
Sehfähigkeit und die
Motorik (Fein- und
Grobmotorik).
Unterdurchschnittlicher
Intelligenzquotient
Ältere Forschungsergebnisse
(1967-1978)
Neuere Forschungsergebnisse
(1976-1984)
25-48%
15%
30-48%
40%
(Den neuere Studien zufolge liegt das
Intelligenzniveau meist innerhalb,
aber auch über dem
durchschnittlichen Bereich.)
Neurologische
Auffälligkeiten
30-53%
Auch neuere Studien zu Folgewirkungen kindlicher Gewalterfahrungen bringen immer wieder
Belege für kognitive und körperliche Schädigungen.
Diese sind jedoch in geringerem Maße aufgeführt
als dies in den älteren Studien der Fall war, wie
Tabelle II.7 veranschaulicht.
Heute – in einer Zeit, in der die Gesellschaft
sensibler für die Problematik Gewalt gegen Kinder
geworden ist und so die Wahrscheinlichkeit frühzeitiger Interventionsmaßnahmen größer ist –
erkennt man zunehmend die Probleme in Bereichen wie sprachliche Entwicklung und Schulleistung (Amelang & Krüger 1995) als Folge von
Misshandlungserfahrungen an.
Misshandlung dürfte sich vor allem auf die
Sprachentwicklung der Kinder schwer wiegend
auswirken. So fanden Beiderwieden et al. (1984) bei
drei Viertel der Kinder, die körperliche Gewalt erfahren hatten eindeutige Abweichungen im Sprach-
Gewalt in der Familie
25%
vermögen. Dabei traten vorwiegend Reduktionen
der Aussprache wie z.B.: Konsonantenverschleifungen, Lispeln, Piepsstimme, und pantomimische
Unterstützung des unvollkommenen Ausgesprochenen bei Klein- und Vorschulkindern auf.
Schulkinder zeigten primär begrenzten Wortschatz,
Sprachversatzstücke, ständige Wiederholungen und
unvollkommen gebildete Sätze. Infantile Babysprache gehörten ebenso wie altkluge und pseudoerwachsene Redeweise zu den auffälligen Sprachstörungen. Der Sprachfluss der Kinder war geprägt
von verschluckten Worten, Hastigkeit und Monotonie.
Die Sprache eines Kindes spiegelt vermutlich
die Qualität seiner sozialen Beziehungen insbesondere zu den engsten Bezugspersonen wieder
(Carroll 1960; Oerter 1987). Äußere Einflüsse –
ungeachtet, ob sie Physis oder Psyche betreffen –
bestimmen den Erwerb sprachlicher Kompetenzen
7 199 3
maßgeblich (Blager 1976). Kinder, die vernachlässigt werden, zeigen in mehreren Studien die gravierendsten Sprachstörungen. Jene Kinder, die „nur“
körperlich misshandelt bzw. beides werden, erfahren eine – wenn auch in höchst negativer Form –
intensivere verbale Stimulierung, was zu einer besseren Sprachentwicklung führt (Allen 1982).
Schulleistungsschwierigkeiten beziehen sich
unter anderem auf die Konzentrationsfähigkeit, die
Leistungsdauer und die Handlungsfähigkeit der
Kinder (Beiderwieden 1984).
Sozial-emotionale Störungen
Psychologische Folgebedingungen von Misshandlungserfahrungen untersucht man seit den
70er-Jahren in systematischer Form (Martin 1976).
Phänomenologische Verhaltensbeschreibungen und
Erfahrungsberichte scheinen aber bereits bei
Hetzer (1936) auf.
Folgende Störungen zeichnen sich durchwegs in
Studien zur psychischen und physischen Misshandlung und/oder Vernachlässigung (Martin 1976;
Kinard 1980; Lynch 1982; Bousha 1984; Oates
1986; Conger 1992) ab:
3 Niedergeschlagenheit, Depression (anaklitische
Depression bei kleinen Kindern), Passivität und
Freudlosigkeit, Gefühle der Hilflosigkeit und
des Kontrollverlustes bzw. externale Kontrollüberzeugungen;
3 Verhaltensprobleme: dazu gehören unter anderem Wutanfälle, Delinquenz, Hyperaktivität,
Ticks, Enuresis, erstarrte Gesichtszüge und aufmerksame Musterung der Umgebung auch als
„frozen watchfulness“ bezeichnet (Ounsted
1975) Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls;
3 soziale Kontaktstörungen (z.B.: Misstrauen,
Schüchternheit, gehemmtes Verhalten, Aggressivität, Ambivalenz, unsichere Bindungsmuster);
3 Schulprobleme wie z.B.: Eigensinn, Ungehorsam, Rücksichtslosigkeit, geringe Frustrationstoleranz, geringer Ehrgeiz;
3 pseudoreifes bzw. überbraves/unterwürfiges
Verhalten vor allem im Beisein der Eltern;
3 autoaggressives Verhalten (z.B.: Selbstverstümmelung, Selbstmordversuche);
3 psychosomatische Beschwerden (Schlafstörungen, Migräne);
3 Essstörungen;
3 psychiatrische Auffälligkeiten (z.B.: Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie, Suchterkrankungen, Zwangsstörungen).
Vor allem Aggressivität und Depressivität haben
sich in den vergangenen Jahren als Hauptproblemfelder im Zusammenhang mit Misshandlung herauskristallisiert (Ziegler 1994). Probleme der
Aggressivität zeigen sich innerhalb der Familie, in
der Schule, im Kontakt mit anderen Personen oder
gegen Gegenstände und Objekte der Umgebung.
Sie kann die unterschiedlichsten Formen wie Zerstörung, Wutanfälle, Ungehorsam, oder Rücksichtslosigkeit annehmen (Ziegler 1994):
Depressivität bildet den Gegenpol zur Aggression. Sie kann sich in Form von Freudlosigkeit,
Niedergeschlagenheit, Schüchternheit und Passivität manifestieren.
Verschiedene AutorInnen berichten, dass bei
ein und denselben misshandelten Kindern sowohl
Depression als auch Aggressivität zu beobachten
waren (Egeland 1981; Egeland 1983; HoffmannPlotkin 1984).
Nach einer Studie von Egeland et al. (1981;1983)
scheinen vernachlässigte Kinder in ihrer psychischen und sozialen Entwicklung am meisten
gefährdet zu sein. Eine mit Vernachlässigung einher
gehende physische Misshandlung muss negative
Effekte nicht notwendigerweise potenzieren, sondern – im Gegenteil – kann diese zum Teil auch vermindern. Möglicherweise wird die geringe bzw.
fehlende emotionale Stimulation vernachlässigter
Kinder durch den Akt der physischen Misshandlung – allerdings in höchst unerwünschter Weise –
kompensiert.
7 200 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Altersabhängige Folgen
In der Literatur werden die Folgen unterschiedlicher Gewalterfahrung auch in Abhängigkeit vom
Alter des Kindes interpretiert und diskutiert
(Deegener 1997). Rensen (1992) unterteilt Auswirkungen von Misshandlungserfahrungen in:
3 Folgen bei kleinen Kindern
3 Folgen bei Heranwachsenden/Adoleszenten
Beispielsweise führt Rensen (1992) an, dass
Knochenbrüche bei kleinen Kindern normalerweise
sehr selten vorkommen und demnach nur bei
schweren Unfällen oder eben Misshandlung auftreten. Folgen körperlicher Misshandlung sind zudem
bei kleinen Kindern meist gravierender. So sterben
14% der misshandelten Kinder unter sechs Jahren,
bei älteren Kindern sind es 5%. Die Folgen psychischer Misshandlung und Vernachlässigung sowie
sexuelle Gewalt verursachen bei kleinen Kindern
ebenfalls schwer wiegendere und hartnäckigere
Schäden – vor allem psychischer Natur – als bei
Älteren. Hirsch (1999a, S. 211f) erklärt dies
folgendermaßen:
„Das misshandelte Kind muss mit extremem
Schmerz, Angst, Erniedrigung und besonders Wut
fertig werden, und der Einzige, an den es sich um
Hilfe wenden könnte, ist der Peiniger selbst, wenn
es sich um einen Elternteil handelt. Solche Einwirkungen im Sinne eines Seelenmords können in
jedem Alter zu schweren Persönlichkeitsstörungen
führen; je jünger ein Mensch ist, desto verheerender
ist die Wirkung.“
Je jünger das Kind beim Erstauftritt der Misshandlung ist, desto weniger weit fortgeschritten ist
seine psychische Entwicklung im Sinne der freudschen Entwicklungsstufen. Insofern gehen vor
allem psychoanalytisch orientierte Konzepte davon
aus, dass frühe Misshandlung stärkere Konflikte
innerhalb des Kindes und in spätere Folge psychische Störungen auslöse (Hirsch 1999a).
Spezifisch für die Adoleszenz ist die Tatsache,
dass sich die Art der Misshandlung seitens der Erwachsenen häufig verändert bzw. Kinder, die vor-
Gewalt in der Familie
her nicht misshandelt wurden nun erstmals – auf
Grund ihrer pubertären Entwicklung – Opfer von
Gewaltanwendungen werden. So können Eltern,
aus Angst vor der sich nun entwickelnden physischen Kraft des Kindes körperliche Misshandlung
einstellen und diese durch psychische Misshandlung ersetzen, bzw. Loslösungsbestrebungen des
Kindes, widerspenstiges Verhalten, körperliche
Attraktivität etc. führen zu erstmaligen Gewaltanwendungen gegen das Kind (Rensen 1992).
Misshandlungen bei älteren Kindern werden
häufig seltener erkannt als bei ihren jüngeren LeidensgenossInnen, was mit einer Reihe von Missverständnissen zusammenhängt: So traut man Pubertierenden fälschlicherweise eher zu, sich wehren
bzw. schützen zu können, die Misshandlung als solche zu verstehen und ihr ein Ende zu setzten. Zudem erleben viele Erwachsene das Verhalten Adoleszenter als bedrohlich und sehen in ihnen nicht so
sehr das Opfer sondern den/die VerursacherIn
elterlicher Überreaktion (Rensen 1992).
Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung sind bei älteren Kindern z.B.: aggressives provozierendes Verhalten, Depression, generalisierte
Angst, Denk- und Gefühlsstörungen sowie Suizidgedanken (Rensen 1992).
8.5 Auswirkungen sexueller Gewalt
Die immer wieder gestellte Frage vieler Eltern,
KindergärtnerInnen oder LehrerInnen, ob man auf
Grund bestimmter Anzeichen oder Symptome
erkennen kann, ob ein Kind sexuelle Gewalt erfährt
bzw. erfahren hat, kann nicht befriedigend beantwortet werden. So können die im Anschluss angeführten möglichen Folgen sexueller Gewalt, aus
dieser resultieren, müssen aber nicht! Abgesehen
von einigen wenigen körperlichen Anzeichen gibt
es keine speziellen Auswirkungen und schon gar
kein „Missbrauchs-Syndrom“.
7 201 3
Lercher et al. (1997) sehen in den Signalen der
Kinder deren Möglichkeit, in ihrem Alltag überleben zu können und bezeichnen sie deshalb auch als
Widerstands- bzw. Bewältigungsstrategien. Diese
Überlebensstrategien sind einerseits sehr konkrete
Signale, mit denen die Kinder – auch wenn sie über
die sexuelle Gewalt schweigen – auf ihre Situation
hinweisen möchten bzw. aus denen sich ablesen
lässt, dass etwas nicht in Ordnung ist, andererseits
aber auch Folgen jahrelanger sexueller Ausbeutung
(Wanke & Tripammer 1992; Friedrich 1998).
Einerseits zeigen Untersuchungen, dass ein Teil
der betroffenen Mädchen und Jungen – zumindest
in den Jahren nach der sexuellen Gewalterfahrung –
keinerlei Symptome entwickeln (Kendall-Tackett et
al. 1993), andererseits meint Friedrich, dass es keine
sexuelle Gewalthandlung gibt, die nicht irgendwelche Verhaltensveränderungen auslöst. Seiner Auffassung nach muss man allerdings die Ausgangslage
kennen – d.h. der Frage nachgehen, wie das Kind
vor der sexuellen Gewalterfahrung war – sowie die
rasch fortschreitenden Entwicklungen des Kindesund Jugendalters mit einkalkulieren (Friedrich
1998).
Bevor auf die Folgen von sexueller Gewalt
näher eingegangen wird, soll vorab die Dynamik
der sexuellen Gewalt besprochen werden, um die
verschiedenen Folgereaktionen in deren Kontext
verstehen zu können.
8.5.1 Die Dynamik der sexuellen
Gewalterfahrung
Finkelhor & Browne haben 1985 ein Modell
entwickelt, das anhand verschiedener Dynamiken
den Einfluss sexueller Gewalt erklärt. Es setzt sich
aus vier Kategorien, den „traumatogenen Dynamiken“ („traumagenic dynamics“) zusammen, wobei
die AutorInnen unter diesem Begriff „Erfahrungen“ verstehen, welche die „kognitive und emotionale Orientierung“ eines Kindes verändern und ein
Trauma verursachen, indem sie das „Selbstkonzept,
die Weltsicht oder die affektiven Kapazitäten“ des
Kindes irritieren oder zerstören (Finkelhor 1988).
Jede der im Folgenden angeführten vier Kategorien kann als Gruppe oder Sammlung verschiedener verletzender oder negativer Einflüsse betrachtet
werden, die jeweils auf einem gemeinsamen Thema
beruhen (Finkelhor 1986):
1. Traumatische Sexualisierung: Durch die sexuelle Gewalt erfährt ein Kind Sexualität, die seinem
Alter und damit seiner/ihrer psychischen, kognitiven und sexuellen Entwicklung (noch) nicht
entspricht. Zudem wird das Kind „in eine intime Beziehung gezwängt, deren Dynamik und
Ausmaß außerhalb seiner Kontrolle liegen“
(Godenzi 1996). Dabei lernt das Mädchen bzw.
der Junge, dass Sexualität mit Gewalt, Machtausübung, Schweigen, Belohnung und Bestrafung verbunden ist. Gefühle und emotionale
Bedürfnisse wie Liebe, Wärme und Geborgenheit werden im Rahmen von sexueller Gewaltausübung benutzt und missbraucht. Die Körper
und Seelen der betroffenen Kinder werden von
den TäterInnen verwendet, um deren eigene
Bedürfnisse zu befriedigen.
2. Verrat: Die Tatsache, dass ein Mädchen oder
Junge zumeist von einer Person, die ihm nahe
steht, der sie/er vertraut und von der sie/er
(emotional) abhängig ist, sexuelle Gewalt erfährt, bedeutet einen Vertrauensmissbrauch am
Kind und damit einen Verrat an diesem. Dieser
Verrat hängt zum einen mit der emotionalen
Nähe des Kindes zu dem/der TäterIn und zum
anderen mit der Art und Weise, wie die sexuelle
Gewalttat zu Stande kommt, zusammen. So
erlebt ein Kind den Verrat dann massiver, wenn
sich eine anfänglich liebevolle Beziehung allmählich zu einer missbräuchlichen entwickelt
und das Kind langsam verführt und manipuliert
wird (Finkelhor 1988). Es kann sich zudem seitens der nicht-gewalttätigen Eltern bzw.
Elternteile oder durch andere Personen verraten
fühlen. Dann nämlich, wenn diese auf das Aufdecken der sexuellen Gewalthandlung mit fehlender Unterstützung, Skepsis oder gar Beschuldigungen des Kindes reagieren.
7 202 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3. Machtlosigkeit: In unserer Gesellschaft befinden
sich Kinder gegenüber Erwachsenen grundsätzlich in einer „minderen Machtposition“
(Godenzi 1996). Durch sexuelle Gewalt werden
ihnen zudem ihre begrenzten Möglichkeiten
nach Selbstbehauptung und Einflussnahme genommen. Darüber hinaus erleben Kinder ihr
Abwehrverhalten in einer sexuellen Gewaltsituation zumeist als wirkungs- und aussichtslos. Zum einen erfahren sie durch sexuelle Gewalt wiederholt eine massive Bedrohung und
Verletzung ihrer körperlichen und psychischen
Integrität. Zum anderen wird durch die sexuellen Gewalthandlungen ihre Fähigkeit, sich
selbst zu schützen und durchzusetzen immer
wieder aufs Neue verletzt.
4. Stigmatisierung: Mädchen und Jungen, die sexuelle Gewalt erfahren (haben), glauben zumeist,
dass sie die Einzigen sind, denen dies widerfahren ist. Sie fühlen sich daher meistens mit ihren
Erlebnissen alleine und ziehen sich von anderen
zurück. Oft gehen sie auch davon aus, dass sie
von anderen Menschen verachten würden,
wenn sie ihnen von ihren Gewalterfahrungen
erzählten. Dies ist leider oft genug tatsächlich
der Fall. Vielen Kindern wird nach wie vor oftmals nicht geglaubt, wenn sie von ihren sexuellen Gewalterfahrungen erzählen. Oftmals werden ihnen dafür sogar die Verantwortung und
Schuld zugeschrieben.
8.5.2 Folgen von sexueller Gewalt
Eine Reihe von unterschiedlichen körperlichen
und psychologisch-sozialen Auswirkungen kann
festgestellt werden, die entweder als unmittelbare
Reaktion auf sexuelle Gewalt oder als Folgeerscheinungen zu einem späteren Zeitpunkt auftreten
und als Anzeichen und Hinweis auf sexuelle Gewalterfahrungen erkannt werden kann. Somit lässt
sich vor allem zwischen so genannten Initial- und
Spätfolgen unterscheiden (Browne & Finkelhor
1986). Auf Grund der oben genannten methodischen Bedenken kommen Browne, Finkelhor und
Gewalt in der Familie
Wolfe sowie Wolfe und Best in Übersichtsarbeiten
allerdings zum Schluss, dass die empirischen Untersuchungen zu den Initialfolgen („initial effects“)
sexueller Gewalt ziemlich ungesichert sind (der
Begriff „initial effects“ wird dem verwandten
Terminus „short-term effects“ vorgezogen, um darauf hinzuweisen, dass solche Anfangssymptome
durchaus auch über längere Zeitperioden andauern
können) (Browne & Finkelhor 1986; Wolfe 1988).
Initialfolgen
3 Körperliche Initialfolgen
Zu den körperlichen Auswirkungen von sexuellen Gewalterfahrungen zählen einige spezifische
Symptome. Lassen sich diese feststellen, so ist es
sehr wahrscheinlich, dass sexuelle Gewalt statt
gefunden hat (Lercher et al. 1997; Giardino 1992;
Deegener 1997); zu diesen zählen:
3 Verletzungen (z.B. Risswunden, Hautschürfungen, Bisswunden, Blutergüsse, Kratzer, blaue
Flecken, Griffspuren etc.) im Genital- und/oder
Analbereich; aber auch an Brust, Oberschenkeln und Hüften;
3 Geschlechtskrankheiten, HIV-Infektion (sofern
eine andere mögliche Ansteckungsquelle ausgeschlossen werden kann) und
3 Schwangerschaft (bei sehr jungen Mädchen, die
erst ihre Geschlechtsreife erreichten).
Neben diesen spezifischen können auch unspezifische körperliche Symptome auf sexuelle
Gewalt hinweisen (Giardino 1992). Unspezifische
körperliche bzw. psychosomatische Symptome
können u.a. sein (Lercher et al. 1997; Giardino
1992; Deegener 1997):
3 ungewöhnlich starke Ausdehnung von Genitaloder Rektalbereich;
3 Fremdkörper in Harnröhre, Blase, Vagina und
Anus;
3 Juckreiz und Wundsein im Genital- oder
Urethralbereich;
7 203 3
3 vaginale Ausflüsse, Blutungen, Infektionen oder
Pilzerkrankungen im Genital-, Rektal- oder
Urethralbereich (insbesondere wenn diese chronisch sind);
3 chronische Harnwegsinfekte, Blasenkatarr und
ungewöhnliche Gerüche im Genitalbereich;
chronisches Einnässen, Einkoten;
3 Essstörungen (Magersucht, Bulimie, Adipositas);
3 chronische Magen-Darm-, Kopf-, Hals und
Unterleibsschmerzen;
chronisches Erbrechen, Übelkeit;
3 häufige Erstickungsanfälle, Kloß im Hals und
übersteigerte Atmung;
3 chronische Hauterkrankungen (Ausschläge,
Ekzeme).
3 emotionale Reaktionen (Verwirrung, Ängste,
Phobien, Traurigkeit bis hin zur Depression,
Schuld- und Schamgefühle, Wut und Zorn,
Misstrauen, niedriges Selbstwertgefühl, Gefühl
der Andersartigkeit);
3 Wahrnehmungsstörungen (Abspalten und Verdrängen der sexuellen Übergriffe, Aufspalten in
„das Kind, das weiß“ und „das Kind, das nicht
weiß“, Flucht in eine Fantasiewelt);
3 autoaggressive Verhaltensweisen (z.B.: Nägelkauen, Haare ausreißen, Schnittverletzungen
mit Messern etc., Zigaretten am eigenen Körper
austöten, mit den Fingernägeln Striemen ziehen
bis hin zum Suizidversuch);
3 akute posttraumatische Belastungsreaktion
(Comer 1995).
Die Ursache unspezifischer Symptome kann
allerdings auch eine völlig andere sein. So können
diese körperlichen Erscheinungen durch Veränderungen der Lebenssituation oder auf Grund jeder
anderen psychischen Belastung eines Kindes entstehen (z.B. Scheidung der Eltern, Erkrankung eines
Elternteiles, Wohnort- oder Schulwechsel etc.).
Zu den externalisierten Initialfolgen rechnet
man:
3 Unangemessenes Sexualverhalten (übersteigerte
Neugier im sexuellen Bereich, nicht altersgerechte sexuelle Beziehungen, ungehemmte
Selbstbefriedigung, sexualisiertes Verhalten mit
Worten und Gesten). Auf Grund von Untersuchungen gilt sexualisiertes Verhalten als häufigste Folgeerscheinung von sexueller Gewalt
(Kendall-Tackett 1998) und wird von Wanke
und Tripammer (1992) als einer der eindeutigsten Hinweise auf sexuelle Gewalt bezeichnet.
Allerdings zeigt nicht jedes Kind, das sexuelle
Gewalt erfahren hat, sexualisierte Verhaltensweisen; und nicht jedes sexualisierte Verhalten
muss notwendigerweise eine Folge von sexueller Gewalt sein.
3 Auffälligkeiten im Sozialverhalten (Regression,
extremes Klammern an bestimmte Bezugspersonen, Weglaufen von zu Hause, Distanzlosigkeit, Schulschwierigkeiten und -schwänzen,
aggressives/gewaltförmiges Verhalten, Misstrauen gegenüber Anderen, delinquentes
Verhalten, sozialer Rückzug, Kontaktschwierigkeiten).
Psychologische und soziale Initialfolgen
Neben den körperlichen Folgeerscheinungen
werden eine Vielzahl an psychischen Symptomen in
Zusammenhang mit sexuellen Gewalterfahrungen
genannt. Auch bei diesen lassen sich Initial- von
Langzeitfolgen unterscheiden. Initialfolgen können
sich auf unterschiedlichste Weise äußern und zeigen
sich vor allem durch plötzlich auftretende Veränderungen im Verhalten des betroffenen Kindes.
Einige AutorInnen schlagen vor, diese Verhaltensänderungen grob in so genannte internalisierte –
also nach innen gerichtete – und externalisierte,
d.h. nach außen gerichtete Symptome zu unterteilen (Kendall-Tackett et al. 1993).
Zu den internalisierten Initialfolgen zählen
vor allem (Bain 1992; Friedrich 1998; Deegener
1997; Lercher et al. 1997):
7 204 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Sprachstörungen (Sprechverweigerung, Stottern, Stammeln).
3 Einnässen und Einkoten.
Spätfolgen
Im Vergleich zu den Initialfolgen sexueller
Gewalt ist die Datenlage bezüglich der Spätfolgen,
in der Literatur auch als Langzeitfolgen bezeichnet,
etwas aufschlussreicher (vgl. zum Vater-TochterInzest: Herman 1985). „Die Befindlichkeiten der
befragten Frauen und Männer können zuverlässiger
erfasst werden als in der Rückschau auf die ersten
beiden Jahre nach dem Ende der sexuellen Gewalt
(Operationalisierung von „initial effects“). Allerdings kann nicht endgültig entschieden werden, ob
ein bestimmtes Verhalten oder eine Eigenschaft
tatsächlich kausal durch die sexuelle Gewalthandlung bewirkt wurde (in einigen multivariaten
Studien ist es immerhin gelungen, die verschiedenen Einflussvariablen besser zu kontrollieren
(Peters1986). Dennoch ist vor allem durch Ergebnisse aus nicht-klinischen Studien erkennbar geworden, dass viele Opfer sexueller Gewalt langfristig unter verschiedenen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen zu leiden haben, die mit
den Erstsymptomen zum großen Teil identisch sind
(Sedney & Brooks 1984; Russell 1986).“ (Godenzi
1996). Die Auswirkungen können sich mit der
Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen verändern. So können sich ursprüngliche Initialfolgen in
ihrer Form und ihrem Ausmaß geben und sich
andere Symptome neu bilden.
Analog zur Vorgehensweise bei der Darstellung
der Initialfolgen, wird im Folgenden zwischen körperlichen und psychisch-sozialen Spätfolgen unterschieden.
3 Körperliche Spätfolgen
Eine Reihe von Studien konnte den Zusammenhang zwischen nachstehenden Spätfolgen und sexueller Gewalt aufzeigen. Dennoch bedeutet ein Auftreten dieser körperlichen Anzeichen keinesfalls
notwendigerweise, dass die jeweilige Person zu
Gewalt in der Familie
einem früheren Zeitpunkt sexuelle Gewalt erfahren
haben muss. Häufige körperliche Erkrankungen
sind psychosomatischer Natur. Lercher et al. (1997)
deuten psychosomatische Symptome als Möglichkeit, erlittene psychische Schmerzen auf den körperlichen Bereich zu verlagern und dadurch besser zu
ertragen. Sie sehen darin aber auch eine Schutzfunktion der Kinder, weitere Übergriffe abzuwenden.
Zu den häufigsten möglichen körperlichen
bzw. psychosomatischen Spätfolgen zählen
(Comer 1995; Deegener 1997; Lercher et al. 1997;
Wimmer-Puchinger & Lackner 1997) u.a.:
3 Geschlechtskrankheiten/AIDS;
3 Störungen der allgemeinen körperlichen Entwicklung;
3 Störungen im psychosexuellen Bereich (sexuelle
Funktionsstörungen, Vaginismus);
3 Wahrnehmungsstörungen (z.B.: nicht-mehrSpüren des eigenen Körpers);
3 Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimie,
Adipositas);
3 chronische Magen-Darm-Beschwerden;
3 chronische Beckenschmerzen;
3 chronische gynäkologische Beschwerden (u.a.
Ausflüsse, Unterleibserkrankungen, Menstruationsbeschwerden, Scheidenpilzerkrankungen);
3 chronische Kopfschmerzen;
3 Rückenschmerzen;
3 Verdauungsstörungen;
3 häufig auftretende Erkältungskrankheiten (vor
allem im Hals- und Rachenbereich);
3 Haltungsschäden, Verspannung;
3 Hauterkrankungen;
3 Asthma;
3 Epilepsie;
3 Autismus.
3 Psychologische und soziale Spätfolgen
Wie schon weiter oben erwähnt, haben sich in
den letzten 15 Jahren (Deegener 1997) zahlreiche
Studien mit der Frage nach den psychischen Spätfolgen von sexueller Gewalt befasst. Obwohl wei-
7 205 3
terhin diskutiert wird, inwieweit zwischen den
Symptomen und früheren sexuellen Gewalterfahrungen tatsächlich direkte und kausale Zusammenhänge bestehen, und nicht andere Faktoren wie
familiäre Bedingungen oder soziodemographische
Aspekte bei der Entstehung der Auffälligkeiten
eine Rolle spielen (Richter-Appelt 1998), lassen sich
eine Reihe von Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Lebensbereichen erkennen: im psychischen
Erleben und Empfinden, im allgemeinen Verhalten,
in Beziehungen und sozialen Kontakten sowie in
intimen Partnerschaften und in der Sexualität.
Zu den am häufigsten angeführten psychischen
Spätfolgen zählen vor allem (Friedrich 1998;
Bründel & Hurrelmann 1994; Peters 1988;
Deegener 1997; Lercher et al. 1997):
3 emotionale Reaktionen (ein vermindertes
Selbstwertgefühl; Scham- und Schuldgefühle,
Depressionen, Angstzustände, Panikattacken);
3 Zwangsstörungen (z.B.: Waschzwang);
3 Schlafstörungen (z.B.: Alpträume);
3 Flashbacks (Erlebensblitze, bei denen die
betroffenen Personen die sexuelle Gewaltsituation plötzlich in ihrer Erinnerung so lebendig erleben, als würde sie gerade nochmals stattfinden);
3 Körperschemastörung;
3 sexuelle Störungen (u.a. Erregungs- und Orgasmusschwierigkeiten, Angst oder Flashbacks bei
sexuellen Kontakten, Verweigern/Negieren
sexueller Bedürfnisse, Sadismus/Masochismus);
3 Drogen-, Alkohol-, Medikamentenabhängigkeit;
3 autoaggressive Verhaltensweisen
3 Selbsttötungsversuche und erhöhtes Selbsttötungsrisiko;
3 posttraumatische Belastungsstörung;
3 Persönlichkeitsstörungen;
3 Psychosen (z.B.: Schizophrenie);
3 dissoziative Störungen (multiple Persönlichkeitsstörung, dissoziative Amnesie, dissoziative
Fugue);
3 Sprachstörungen (z.B.: Stottern);
3 Vernachlässigung der Hygiene und des Aussehens;
3 promiskuöses Verhalten (häufige Wechsel der
Sexualpartner bis hin zur Prostitution);
3 soziale Verhaltensauffälligkeiten (u.a. Beziehungsstörungen wie beeinträchtigte Fähigkeit,
anderen Menschen zu vertrauen und Intimität
herzustellen, sozialer Rückzug bis hin zur Vereinsamung, Beziehungssucht, pseudoerwachsenes bzw. überangepasstes Verhalten, Feindseligkeit);
3 risikohaftes Sexualverhalten (z.B. ungeschützter
Geschlechtsverkehr);
3 motorische Unruhe und Hyperaktivität;
3 veränderte Leistungsfähigkeit (Konzentrationsstörungen bis hin zu gehäufter Unfallneigung,
Lernschwierigkeiten, Legasthenie, extreme
Leistungsmotivation).
Altersabhängige Folgen
Nachdem vor allem psychoanalytische Strömungen (Freud 1981) der sexuellen Gewalt größere
pathologisierende
Bedeutung
als
anderen
Gewalterfahrungen beimaßen, sollen ihre Folgen in
Abhängigkeit vom Alter der Kinder an dieser Stelle
ausführlicher diskutiert werden.
In älteren Studien (Sloane 1942) berichten AutorInnen hauptsächlich über schädliche Folgen
sexueller Gewalt bei älteren Kinder, während negative Auswirkungen bei Kindern in der Latenzperiode deutlich seltener gefunden wurden. Auf
Grund dieser Diskrepanz schlossen die AutorInnen, dass sexuelle Gewalt in der Latenzperiode
wenig schädlich sei, in der Adoleszenz dagegen,
wegen des Bewusstseins, dass es sich hierbei um
Sexualität handelt, zu Schuldgefühlen und schweren psychopathologischen Symptomen führe. Nach
Hirsch (1999b) sind diese Feststellungen über
Auswirkungen sexueller Gewalt bei jüngeren Kindern allerdings Folge oberflächlicher Beurteilungen
der akuten Symptomatik bzw. ihrer Abwesenheit
und sagen nichts über eine schwere Beeinträchtigung aus. Spätere Studien (Meiselman 1979;
7 206 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Shengold 1979; Steele 1981) kommen hingegen zum
Schluss: Je früher sexuelle Gewalt stattfindet, desto
schwerwiegender sind die Folgen.
Sexuelle Gewalt in jungen Jahren führt dazu,
dass die ödipalen sexuellen Phantasien eines Kindes
durch eine Realität ersetzt werden, auf die das Kind
in keiner Weise vorbereitet ist (Freud 1981). Dies
führt zu einer schweren Entwicklungsbehinderung
und engeren Beziehung zwischen TäterIn und verführtem Kind. Sexuelle Gewalt bei jungen Kindern
bedeutet eine Übereinstimmung von sexuellen und
aggressiven Phantasien des Kindes mit traumatischen Einwirkungen von außen, was zu einem
extremen Ausmaß von Kastrationsangst bei Jungen
führt (Greenacre 1956). Nicht so sehr der Übergriff
selbst, als viel mehr die daraus resultierende Angst
wird als pathologisierendes Moment interpretiert
(Hirsch 1999b).
Die folgende Tabelle II.8 liefert eine Zusammenschau möglicher Folgen sexueller Gewalt
in den jeweiligen Alters- bzw. Entwicklungsstufen
(Deegener 1997; Hirsch 1999b):
Gewalt in der Familie
7 207 3
Tabelle II.8:
Zusammenschau möglicher Folgen sexueller Gewalt in den jeweiligen Altersbzw. Entwicklungsstufen
Frühe Kindheit:
orale und anale Phase
(Kleinkinder bis etwa 3 Jahre)
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
Vorschulalter:
ödipale Phase
(3-6-Jährige)
3 Entwicklungsverzögerungen,
3 regressives Verhalten z.B.:Babysprache, Einnässen/Einkoten,
Daumenlutschen, übermäßiges Klammern,
3 Stottern
3 altersunangemessenes sexuelles Spiel,
3 öffentliche und/oder andauernde Selbstbefriedigung,
3 Lügen/Stehlen
3 Schlafstörungen (Albträume)
3 erhöhte Ängstlichkeit
Grundschulalter:
Latenzperiode
(6-9 Jahre)
3 somatische Beschwerden (z.B.: Kopf- und Bauchschmerzen),
3 plötzliche Schulleistungsstörungen,
3 nicht altersgemäße sexuelle Handlungen mit jüngeren oder
gleichaltrigen Kindern,
3 sexuell provozierendes Verhalten,
3 Delinquenz
3 Pseudodebilität
3 Schlaf- und Essstörungen,
3 keine altersentsprechenden sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen,
3 Zwangshandlungen/Ticks (z.B.: ausgeprägtes Baden oder Waschen)
allgemeine Angst,
Verwirrung,
Verstörtheit,
motorischer Unruhe,
Sprachstörungen
Ein- und Durchschlafstörungen,
Ess- und Gedeihstörungen,
Extreme Angst vor Fremden Distanzlosigkeit,
nicht altersgemäßes sexuelles Spiel
frühzeitiges Masturbieren
7 208 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Vorpubertät/
Pubertätsbeginn:
(9-13 Jahre)
3
3
3
3
3
3
3
sozialer Rückzug
mangelndes Selbstwertgefühl
Verschlossenheit
Depressivität
Schulschwänzen
sexualisiertes Verhalten
sexuelle Gewalt an jüngeren Kindern
Heranwachsendenalter:
Adoleszenz
(13-18 Jahre)
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
selbstverletzendes Verhalten
Promiskuität
Weglaufen von Zuhause
Selbstmordgedanken/-versuche
Depressivität
Essstörungen
Drogen-/Alkoholkonsum
Schlafstörungen
erhöhte Ängstlichkeit
Vermeidung von körperlicher Nähe
Vernachlässigung der Hygiene
aggressives Verhalten/Rebellion
Delinquenz
psychosomatische Beschwerden
wenig Freundschaften zu Gleichaltrigen
mangelndes Selbstwertgefühl
Gewalt in der Familie
7 209 3
8.6 Zusammenfassung
Nachuntersuchungen von Kindern, die körperliche Gewalt erfahren haben, dokumentieren
Beeinträchtigungen ihrer Entwicklung sowohl im
Persönlichkeits- als auch im Leistungsbereich. Der
Nachweis, dass derartige Störungen ausschließlich
Folgen der erfahrenen körperlichen Gewalt sind, ist
kaum möglich. Insofern ist davon auszugehen, dass
sowohl die konkrete körperliche Gewalterfahrung
als auch kontextuelle Faktoren diverse Probleme
maßgeblich mit bedingen. Ebenfalls werden nicht
alle betroffenen Kinder auffällig (Mrazek 1987).
Kinder mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz und einer sicheren Bindung erweisen sich beispielsweise besonders resilient. Sie meistern ihre
Entwicklungsaufgaben in den jeweiligen Lebensabschnitten trotz ihrer schweren Kindheit relativ
„souverän“ (Lynch 1982). Durch positive Erfahrungen außerhalb der Familie können sie ihre Gewalterfahrungen eher kompensieren. Je jünger die
Kinder allerdings beim Erstauftritt der körperlichen Gewalterfahrung sind, desto geringer ist die
Chance für derartige positive Erfahrungen.
Ausdruck sexueller Gewalterfahrungen können
viele verschiedene, teilweise sogar einander entgegen gerichtete Erscheinungen bei Kindern sein
(Wanke & Tripammer 1992). Die dargestellten, umfassenden Symptomlisten weisen auf die Unmöglichkeit hin, Angaben über Symptome zu machen,
die jedenfalls auf sexuelle Gewalteinwirkung hinweisen. Zwar bestehen heute kaum mehr Zweifel an
den schädigenden Wirkungen sexueller Gewalt an
Kindern, worin diese im Einzelnen bestehen, wie
sie verlaufen, welche Opfer davon mehr und welche
weniger betroffen sind, erweist sich in vielen
Punkten noch als ungeklärt (Godenzi 1996).
In diesem Zusammenhang scheint es demnach
vielmehr wichtig, für alle Hilfeschreie – seien sie
laut oder stumm – offen zu sein und den Kindern
Vertrauen entgegenzubringen sowie sie in dieser
schwierigen Situation nicht alleine zu lassen, also
nicht wegzuschauen. Jedes Symptom, das ein Kind
zeigt, ist ein Hilfeschrei und muss als solcher ernst
genommen werden. Jedes Symptom ist aber vor
allem eine Chance, mit dem Kind ins Gespräch zu
kommen (Cizek 1995).
7 210 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
9 Prävention und Intervention
Brigitte Cizek, Maria Steck, Veronika Gössweiner
Dieses Kapitel beschäftigt sich sowohl mit Präventions- als auch mit Interventionsmaßnahmen
gegen Gewalt am Kind.
Diese beiden Begriffe werden einleitend,
anhand ihrer Definitionen, Geschichte und Ziele
sowie ihres Stellenwerts näher beschrieben. Anschließend werden die Grundlagen von Prävention
und Intervention dargestellt sowie exemplarisch
belegt. Abgerundet wird das Kapitel durch österreichspezifische Maßnahmen, die sich auf diese
Thematik konzentrieren.
9.1 Allgemein
9.1.1 Begriffsbestimmung
Die Begriffe Prävention und Intervention
werden in Literatur und Praxis unterschiedlich
definiert und daher für unterschiedliche Bereiche
eingesetzt.
Um die Vielfalt aufzuzeigen, werden im Folgenden verschiedene Kategorisierungssysteme aufgezeigt.
9.1.1.1 Prävention
Eine häufig zitierte und verwendete Unterteilung ist jene nach Caplan (1964) in eine primäre,
sekundäre und tertiäre Prävention:42
3 Zur primären Prävention zählt die Förderung
der psychischen und physischen Gesundheit.
Dabei geht es um die Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit bzw. die Verhinderung
von Krankheiten bzw. Störungen.43 Die Maß-
42
43
Auch Amann und Wipplinger (Amann & Wipplinger
1998) lehnen sich in ihrem Standardwerk „Sexueller
Missbrauch. Ein Handbuch“ an diese an.
Unter Störung können sowohl psychische Störungen
(z.B. Anorexia nervosa) als auch Störungen eines
Systems (z.B. Störung des Systems Familie, in dem ein
Familienmitglied Gewalthandlungen gegen ein anderes
setzt) verstanden werden.
Gewalt in der Familie
nahmen können spezifischer (Gesundheitsvorsorge) oder unspezifischer Art (Gesundheitsförderung) sein und zielen sowohl auf die körperliche als auch auf die seelische Dimension ab.
3 Sekundäre Prävention bezieht sich auf Früherkennung und -behandlung von Krankheiten
und Störungen. Die zeitliche Ausdehnung soll
möglichst kurz gehalten werden. Einen möglichen Weg dazu stellt die Identifikation von Risikopopulationen dar.
3 Die tertiäre Prävention beschreibt den Bereich
der Rehabilitation, worin auch die Verringerung
oder Beseitigung der Folgeschäden von Erkrankungen und Störungen für die Betroffenen beinhaltet ist (Schwarzer 1990, S. 429). Es gilt die
Betroffenen in der Bewältigung zu unterstützen, Folgeschäden einer problematischen Entwicklung bzw. Krankheit zu vermeiden und das
Risiko von Rückfällen, Sekundärschäden und
Residualdefekten zu minimieren.
Primäre Prävention will also das Auftreten von
Krankheiten, krank machenden Entwicklungen
und Störungen, sekundäre Prävention die Weiterentwicklung und tertiäre Prävention die Folgen
davon verhindern versuchen (Steingrüber 1977).
Diese Dreiteilung hat sich zwar auf der theoretischen Ebene durchgesetzt, in der Praxis lassen
sich diese drei Bereiche jedoch nicht immer genau
trennen.
Diese Abgrenzungsprobleme haben in der Folge zu weiteren Kategorisierungsversuchen geführt.
Einerseits wurden den drei Ebenen der Prävention
unterschiedliche Inhalte zugeteilt (Thun-Hohenstein 1998) und andererseits wurden grundsätzlich
neue Einteilungen publiziert (Hurrelmann 1995).
So teilt Thun-Hohenstein beispielsweise ein in:
3 Gesundheitsförderung mit dem Ziel der Krankheitsverhütung,
3 primäre Prävention als Krankheitsvorbeugung
unter Berücksichtigung
3 von Risikogruppen,
7 211 3
Tabelle II.9:
Intervention nach Hurrelmann
GesundheitsFörderung
primäre
Intervention
kurative
Intervention
rehabilitative
Intervention
Interventionszeitpunkt
Gesundheit
erkennbare
Risikofaktoren
Krankheit
Krankheits
-Folgen
InterventionsGruppe
Gesamtpopulation
potenzielle
Risikofaktoren
Erkrankte
von Behinderung
Bedrohte
Verhütung d.
Entstehung v.
Krankheiten
Vorbeugung
gegen spezif.
Krankheiten
Behandlung u.
Heilung v.
Krankheiten
Vermeidung
von Folgeerkrankungen
Interventionsziel
Quelle: (Hurrelmann 1995, S. 55)
3 sekundäre Prävention als Unterstützung und
Heilung bei Schäden und
3 tertiäre Prävention als kompensierende, rehabilitierende Vermeidung
von Folgeschäden.
Hurrelmann (1990; 1995) wiederum bezeichnet
alle oben beschriebenen Ebenen als Intervention;
als präventive, kurative und rehabilitative Intervention. Er geht davon aus, dass jeder Eingriff, findet er vor, während oder nach einer Störung statt,
interventionistischen Charakter hat. Präventive
Intervention wird noch einmal unterteilt in: unspezifisch (Gesundheitsförderung) und spezifisch. Die
Unterscheidung (Dreiteilung) wird je nach Stadium
der Entwicklung einer Beeinträchtigung getroffen.
Tabelle II.9 veranschaulicht dies.
Godenzi (1996) wählt eine „Mischform“ aus
dem bisher Beschriebenen, indem er
3 Prävention als Oberbegriff versteht,
3 Intervention im Sinne von „dazwischentreten“,
eher im Zusammenhang mit sekundärer Prävention und
3 Therapie eher im Umfeld tertiärer Prävention
sieht.
Weitere Einteilungen bieten Amann & Wipplinger (1998, S. 657). Sie unterscheiden
3 spezifische (Veränderung spezifischer Zielbereiche) und unspezifische (Veränderung durch
globale Maßnahmen) Prävention,
3 proaktive (stützende Maßnahmen vor einer Gewalthandlung) und retroaktive (Bewältigung
vorhandener Belastungen und Gefährdungen)
Prävention sowie
3 kurzfristige (kurzfristige Effekte) und langfristige (langfristige Effekte) Prävention.
Zudem kann Prävention auf der strukturellen
(z.B. gesellschaftliche Strukturen verändernd) oder
der personalen (Intervention bei Personen oder
Personengruppen) Ebene greifen.
9.1.1.2 Intervention
Intervention wird als ein „Dazwischentreten“
bezeichnet, als die Phase, in der „eingegriffen“ wird
(Godenzi 1994, S. 321).
Dieser Begriff reicht von „Dazwischentreten“
im Sinne einer Verdachtsabklärung über juristisches
Eingreifen und medizinische Maßnahmen bis zu
Psychotherapie und umfasst zwei unterschiedliche
Ebenen:
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Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Schritte, z.B. HelferInnenkonferenz und
3 Hilfen, z.B. Krisenintervention (siehe Kapitel
9.2.2.1 „Opferorientierte Intervention“).
Im Rahmen der Intervention kommt es idealerweise zu einem Zusammenwirken von Kinderschutz, Judikatur und psychosozialer Unterstützung.
In diesem Bericht wird zum Zweck einer eindeutigeren Zuordnung vorgestellter Maßnahmen
der Begriff „Prävention“ im Sinne der Primärprävention, als Gesundheitsvorsorge nach Caplan
verwendet, während von Intervention im Sinne
eines „Eingreifens“ nach Godenzi gesprochen wird.
9.1.2 Geschichte der Prävention
und Intervention
Wie haben sich Maßnahmen zur Prävention und
Intervention im Bereich Gewalt an Kindern entwickelt? Welche Präventions- und Interventionstrends können historisch gesehen unterschieden
werden und wie sieht der aktuelle Stand präventiver
und intervenierender Maßnahmen in Fällen von
Gewalt an Kindern aus?
Mit diesen Fragen beschäftigen sich die beiden
nächsten Abschnitte. Dabei wird zuerst auf die historische Entwicklung präventiver Maßnahmen eingegangen, die am Beispiel der an Kinder gerichteten
Präventionsprogramme skizziert wird. Diese Ansätze werden exemplarisch herangezogen, da sie
einerseits eine weite aktuelle Verbreitung, andererseits eine – verglichen mit anderen Präventionsmaßnahmen – lang zurückreichende Tradition aufweisen.
Danach wird die Geschichte der TäterInnenarbeit als Exempel für die historische Entwicklung
einer möglichen Interventionsmaßnahme bei
Gewalt an Kindern beleuchtet. Diese Vorgehensweise wurde gewählt, weil sich die Auffassung der
ExpertInnen zur Gestaltung der TäterInnenarbeit
im Laufe des 20. Jahrhunderts bedeutend gewandelt
hat und spezifische Konzepte (z.B.: fokussierende
Programme) der TäterInnenarbeit entwickelt wurden. An diesem Beispiel kann die historische
Gewalt in der Familie
Entwicklung bei Interventionsmaßnahmen am
klarsten dargestellt werden.
9.1.2.1 Historische Entwicklung
präventiver Maßnahmen am Beispiel von
Präventionsprogrammen
Viele Maßnahmen im Bereich der Prävention
von Gewalt an Kindern waren und sind auch noch
heute „Aufklärungs- und Erziehungsprogramme“,
die sich direkt an Kinder als RezipientInnengruppe wenden. Inhalt der meisten an Kinder gerichteten Präventionsprogramme stellt die Vorbeugung sexueller Gewalt dar (Godenzi 1996).
Als älteste Formen, Kinder vor den sexuellen
Übergriffen Erwachsener zu schützen, gelten Warnungen vor dem „fremden“ und „bösen“ „Schwarzen Mann“ (Ulonska & Koch 1997; Lercher et al.
1997; Kroiß 1996). Diese werden z.B. in Form von
Warnungen mit fremden Männern mitzugehen,
Geschenke von diesen anzunehmen oder die Tür zu
öffnen, wenn sie alleine zu Hause sind, seit Generationen an Kinder herangetragen (Kroiß 1996). In
der Fachliteratur werden diese Strategien unter dem
Begriff der „Abschreckungsprävention“ oder „Gefahrenpädagogik“ zusammengefasst (Kroiß 1996).
Die historischen Wurzeln gefahrenpädagogischer Prävention sexueller Gewalt zeigen sich u.a.
bei der Betrachtung von verschiedenen Märchentexten. Als Beispiel sei an dieser Stelle das Märchen
Rotkäppchen angeführt, in dem die Hauptfigur mit
der Warnung zur Großmutter geschickt wird, auf
dem Weg durch den Wald mit niemanden zu reden.
Auf Grund ihres „Fehlverhaltens“ – Rotkäppchen
spricht trotz Warnung der Mutter mit dem Wolf –
wird das Mädchen bestraft, indem es vom Wolf
gefressen wird (Ulonska & Koch 1997).
In den letzten Jahren distanzierte sich die Fachliteratur zunehmend von gefahrenpädagogischen
Konzepten. Gründe für die vermehrte Kritik an der
Abschreckungsprävention sind u.a. (Ulonska &
Koch 1997; Kroiß 1996):
3 Studienergebnisse zu sexueller Gewalt zeigten,
dass TäterInnen häufig nicht fremde Personen
7 213 3
sind, sondern in vielen Fällen in einem Naheverhältnis zum Kind stehen (Baurmann 1985).
Insofern zeichnen gefahrenpädagogische Konzepte in Form von Warnungen vor Fremden ein
Bild der TäterInnen, das sich kaum mit der
Realität sexueller Gewalt deckt (vgl. Kapitel 5
„TäterInnen“).
3 Zudem erkannte man, dass Abschreckungsprävention die Schuld für sexuelle Gewalttaten
häufig auf die Opferseite verlagert, indem den
Kindern suggeriert wird, dass – hätten sie sich
korrekt verhalten – die sexuelle Gewalttat nicht
passiert wäre.
3 Weiters vermitteln die genannten präventiven
Ansätze den Kindern häufig diffuse Gefahren,
die Kinder verunsichern und verängstigen können. Durch unspezifische Warnungen erfahren
die Kinder zwar, dass ihnen Gefahr droht, wie
diese Gefahr allerdings konkret aussieht, erfahren sie durch gefahrenpädagogische Prävention
häufig nicht.
3 Schließlich besagt ein weiterer Kritikpunkt, dass
Gefahrenpädagogik den Kindern kaum Möglichkeiten aufzeigt, sich gegen sexuelle Gewalt
zu wehren.
Die Erkenntnis über die pädagogischen Mängel
abschreckungspräventiver Konzepte sowie die
Nachfrage nach standardisierten Techniken (z.B. in
Schulen), mit denen möglichst viele Kinder flächendeckend vor sexueller Gewalt geschützt werden
können, führte durch die Organisation „Women
Against Rape“ (W.A.R.) 1978 in den USA zur
Entwicklung des ersten Präventionsprogramms für
Kinder. Dieses wurde unter dem Namen „Child
Assault Prevention Project (CAPP)“ bekannt
(Berrick 1995).
CAPP orientierte sich am Konzept des „Empowerments“ (siehe Kapitel 9.2.1.3 „Ansatzpunkte
für Prävention: Kinder“), d.h. der psychologischen
Stärkung potenzieller Opfer. Die Idee des „Empowerments“ von Kindern wurde aus der feministisch orientierten Frauenbewegung abgeleitet. Die
feministische Theorie führte die Ursache von
Gewalt gegen Frauen und Kinder auf eine ungleiche
Verteilung der Machtverhältnisse dieser Gruppen
gegenüber den TäterInnen zurück (Hirsch 1999).
Eine emanzipatorische, die Kinder stärkenden Erziehung, nach dem Motto „Safe, strong and free“,
wurde als wirkungsvoller Ansatzpunkt zur Prävention sexueller Gewalt an Kindern gesehen
(Braecker & Wirtz-Weinreich 1991).
Um dieses Ziel zu erreichen, wurden im Zuge
der „Empowerment“-Bewegung verschiedene Methoden und Techniken für die Arbeit mit Kindern
entwickelt. Diese sollten Kinder einerseits dazu anregen, ihre gewohnten Denkweisen zu hinterfragen
(z.B.: unbedingter Gehorsam gegenüber Erwachsenen) (Hirsch 1999); andererseits sollten bestimmte
Kompetenzen (= „skills“) seitens der Kinder aufgebaut werden (Wegner 1997). Die Kernkompetenzen, die Kindern im Rahmen von CAPP vermittelt
wurden, enthielten folgende drei Grundregeln
(Yawney 1995):
3 „Sag nein!“
3 „Lauf weg!“
3 „Sprich darüber!“
Die Einführung vom CAPP gilt in der Fachliteratur als Geburtsstunde der amerikanischen Präventionsbewegung. Zunächst wurde CAPP von
ehrenamtlichen HelferInnen mithilfe privater
GeldgeberInnen initiiert. Im Verlauf der folgenden
Jahre etablierten sich das Programm und wurden zu
einem Bereich der öffentlich geförderten Pädagogik
(Amann & Wipplinger 1998). Seit 1980 steuern
staatliche Stellen Gelder zur Entwicklung und
Durchführung verschiedener präventiver Programme für den amerikanische Raum bei (Nelson 1993)
In den 80er-Jahren brach eine regelrechte „Präventionseuphorie“ (Ulonska & Koch 1997) in den USA
aus. Im deren Zuge wurde eine Vielzahl präventiver
Programme für die Arbeit mit Kindern ins Leben
gerufen. Dazu zählen z.B. (Berrick 1995):
7 214 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Der Aufbau des „Child Assault Prevention Project (CAPP)“
Nachdem CAPP bis heute das bekannteste und am weitesten verbreitete Präventionsprogramm im
Rahmen der Vor- und Grundschulerziehung in den USA ist, wird es im folgenden Abschnitt in seiner heutigen Form skizziert (Wegner 1997):
Derzeit wird CAPP in Amerika mithilfe von über 200 lokalen Gruppen durchgeführt. Im jeweiligen
Einzugsgebiet der Gruppen wird das Programm flächendeckend eingesetzt, wodurch eine große Zahl von
Kindern erreicht werden kann. Bis dato wurden schätzungsweise zirka 20 Millionen amerikanischer
Kinder durch CAPP erreicht.
Im Rahmen von CAPP kommen ProgrammleiterInnen in die Vor- und Grundschulen und arbeiten mit
Eltern, LehrerInnen und den Kindern in Form von zweistündigen Workshops. Die ProgrammleiterInnen
von CAPP sind überwiegend engagierte AmateurInnen ohne spezifische Schulung, was eine genaue
Spezifikation der Inhalte und der Methoden der CAPP-Workshops notwendig macht. Dadurch soll das
postulierte Ziel von CAPP, Prävention wirkungsvoll zu gestalten, leichter verwirklicht werden.
Zu Beginn des Programms wird je ein zweistündiger Workshop für die PädagogInnen und die Eltern
der am Programm teilnehmenden Kinder durchgeführt, um diese einerseits über die Inhalte der anschließenden Kinderworkshops zu informieren und andererseits allgemeine Informationen zum Thema
„sexuelle Gewalt an Kindern“ zu vermitteln.
Nach den Gesprächen mit Eltern und PädagogInnen finden drei zweistündige Workshops, jeweils im
Abstand von zirka zwei Jahren, mit den Kindern statt. Empfohlen wird, je einen Workshop in der
Vorschule, einen am Beginn und einen am Ende der Grundschule durchzuführen. Dabei wird folgende
Programmstruktur für die Arbeit mit den Kindern vorgeschlagen:
Wissensvermittlung: Zu Beginn des Kinderprojekts sollen Gespräche über die Rechte von Kindern
(z.B.: „Nein–sagen-dürfen“) stattfinden, wodurch die Kinder bestärkt werden,
sich bei Verletzung ihrer Rechte zu wehren und zu schützen.
Rollenspiele:
Mithilfe dreier Rollenspiele werden die Inhalte der Wissensvermittlung vertieft.
Dazu wird jedes Rollenspiel dreimal, nach folgendem Schema durchgeführt:
Zuerst stellen die WorkshopleiterInnen die Rollenspielsituation bedrohlich – mit
einem negativen Ausgang für die Person, die das Kind im Rollenspiel mimt – dar
und besprechen mit den Kindern Gefühle und mögliche Reaktionen im
Zusammenhang mit den dargestellten Szenen.
In einer zweiten Sequenz wird eine alternative Version der Szenen von den
WorkshopleiterInnen vorgespielt. Bei dieser Version kann sich das dargestellte
Kind erfolgreich zur Wehr setzen.
Im dritten und letzten Teil spielen die Kinder selbst, mit Unterstützung der
WorkshopleiterInnen, die Erfolgsstrategien für die drei Szenen nach.
Das Präventionslied: Im Anschluss an die Rollenspiele wird mit den Kindern das Lied „Safe, strong,
free“ eingelernt und gemeinsam gesungen.
Information über
Hilfsangebote:
Zum Abschluss des Workshops werden den Kindern kommunale Hilfsangebote,
Krisentelefone und Beratungsangebote mit dem Schwerpunkt Gewalt an Kindern
vorgestellt.
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Das „Gefühlskontinuum“:44 Mit dessen Hilfe
sollen Kinder lernen, verschiedene Berührungen
hinsichtlich ihrer Qualität gefühlsmäßig zu unterscheiden (z.B.: gute, schlechte, irritierende Berührungen).
Das „Illusion-Theater“:45 In Form von dramaturgischen Szenen und Theaterstücken werden
Kinder zur Thematik der sexuellen Gewalt hingeführt und mögliche Verhaltensweisen, sich gegen
sexuelle Gewalt zu wehren, vorgeführt (z.B.:
„Touch“, „Little Bear“, „Bubblonian Encounter“).
Die „Personal-Safety“-Bewegung:46 Sie entspricht in ihrer Konzeption dem CAPP. Im Rahmen der personal-safety-Bewegung wurden u.a. pädagogische Materialien für die Arbeit mit Kindern
entwickelt.
Seit der Geburtsstunde präventiver Programme
in den 70er-Jahren, hat sich aus der amerikanischen
Präventionsbewegung eine wahre „Industrie“ entwickelt, die eine Vielzahl von Präventionsmaterialien hervorgebracht hat (Berrick 1995). Derzeit gibt
es im amerikanischen Raum schätzungsweise zwischen 400 und 500 Präventionsmaterialien. Einige
davon sind lokale Produkte und werden ausschließlich in den jeweiligen Gemeinden eingesetzt. Andere hingegen werden national und international vermarktet (z.B.: Talking about Touching, CAPP)
(Plummer 1988).
Als Präventionsmöglichkeiten werden heute u.a.
Comics, Bücher, Malbücher, Puppen, Theatervorstellungen, Filme, Rollenspiele, Selbstverteidigungskurse und computerunterstützte Präsentationen für
Kinder sowie Ratgeber, Unterrichtsbehelfe und
–Vorschläge für ErzieherInnen angeboten. Diese
können zu Hause, in der Schule und im Rahmen der
44
45
46
Anderson Cordelia.
The Illusion Theatre, Sexual Abuse Prevention Project,
304 Washington Avenue North, Minneapolis.
Kraizer, S.K.; Cildren need to know personal safety
Program, Health Education Systems, Inc., P.O. Box
1235, New York.
außerschulischen Burschen- und Mädchenarbeit etc.
eingesetzt werden (Wegner 1997).
Die meisten Präventionsmaterialien orientieren
sich nach wie vor an den Zielen und Prinzipien der
„Empowerment-Bewegung“ (Marquardt-Mau 1995).
Eine Inhaltsanalyse von 41 amerikanischen Präventionsprogrammen kommt u.a. zu dem Ergebnis,
dass 61% der Programme auf dem Konzept des
„Empowerment“ aufbauen. 2% beruhen auf der
Entwicklungstheorie und 2% auf der Lerntheorie.
Zwar lassen sich die übrigen Programme nicht auf
ein bestimmtes theoretisches Konzept zurückführen, allerdings enthalten 86% der verbliebenen
Materialien ebenfalls Elemente des „Empowerment-Konzepts“ (Tharinger 1988).
Eine Weiterentwicklung des ursprünglichen
„Empowerment“-Konzepts kann insofern festgestellt werden, als die durch CAPP bekannt gewordene „Nein-lauf-sprich“-Achse seit den 70erJahren u.a. folgende Zusatzergänzungen erfuhr
(Conte 1986; Tutty 1990; Lercher et al. 1997;
Amann & Wipplinger 1998):
3 „Dein Körper gehört dir!“
3 „Es gibt angenehme, unangenehme und komische Berührungen!“
3 „Es gibt gute und blöde Geheimnisse!“
3 „Es gibt angenehme, unangenehme und verwirrende Gefühle!“
3 „Vertraue auf dein Gefühl!“
3 „Was ist ein(e) Fremde(r)?“
3 „Auch Menschen, die du kennst (z.B.: Familienangehörige, FreundInnen, BabysitterInnen) versuchen manchmal, dich auf eine Art
und Weise anzufassen, die du nicht magst.“
3 „Was ist sexuelle Gewalt?“
3 „Wie kann man sexuellen Übergriffen entkommen?“
3 „Wenn sexuelle Gewalt geschieht, bist du nicht
daran schuld!“
3 „Wo kannst du Hilfe finden?“
Folgender Vers aus dem Touch-Safety-Programm bringt den Tenor des „Empowerment-
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Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Konzepts“ deutlich zum Ausdruck (MarquardtMau 1995):
„Mein Körper gehört nur mir,
auch wenn ich noch nicht groß genug bin,
bin ich doch alt genug, es dir zu sagen,
und ich sage: Nein!“
Präventionsprogramme für den Einsatz in
Schulen haben heute in den USA die größte Bedeutung. 25% der öffentlichen Schulen in den USA
setzen – laut einer Studie des Comittee for the Prevention of Child Abuse (Daro 1986) – präventive
Maßnahmen ein. Finkelhor et al. (1995) stellen fest,
dass 67% der Kinder durch Präventionsprogramme
im schulischen Kontext erreicht werden und diese
eine hohe Akzeptanz bei den Eltern, LehrerInnen
und SchülerInnen genießen. Den besonderen Stellenwert der Schule als Ort zur Durchführung präventiver Programme sehen Ulonska & Koch (1997)
insofern, als Schulen:
3 durch eine frühzeitige, langfristige und angemessene Erziehung – sowohl in Hinblick auf
eine mögliche Opfer- als auch TäterInnenrolle –
vorbeugend wirken können und
3 die Gewalthandlungen gegen Kinder frühzeitig
aufdecken können, indem LehrerInnen ihre
Rolle im HelferInnensystem und die Signale
betroffener Kinder erkennen lernen.
In den 80er-Jahren wurden einige amerikanische
Konzepte zur Prävention sexueller Gewalt an
Kindern für den deutschsprachigen Raum übersetzt
und werden seitdem häufig in der Arbeit mit
Kindern eingesetzt (Knappe 1993). So wird z.B. die
deutsche Übersetzung von CAPP von mehreren
Institutionen in Deutschland (z.B.: RotCAPPchen
e.V. in Bielefeld) und Österreich (Verein Selbstlaut
in Wien) angeboten. Weiters wurden, ausgehend
von den „Empowerment“-Konzepten aus den
USA, neue Maßnahmen zur Prävention sexueller
Gewalt im deutschsprachigen Raum erstellt und
eingesetzt (Knappe 1993; Eck 1993; Frei 1993).
Gewalt in der Familie
Auch hier liegen Präventionsmaßnahmen für
die Arbeit mit Kindern in Form von z.B.: Kinderbüchern,47 Comics,48 Theateraufführungen,49 verschiedenen Spielen (u.a. Rollenspiele, Würfelspiele), Selbstverteidigungskurse sowie Handbücher für HelferInnen und PädagogInnen, Ratgeber,
Unterrichtsvorschläge, Unterrichtseinheiten50 und
Dokumentationen von Unterrichtsversuchen vor.
Spezifische Maßnahmen, die sich primär an
Kinder richten und sehr stark auf das Thema sexuelle Gewalt an Kindern fokussieren, wurden durch
allgemeine präventive Maßnahmen ergänzt, die
einen ganzheitlichen Zugang wählen. Sexuelle Gewalt an Kindern ist eines von vielen Themen präventiver Erziehung, das im Rahmen der ganzheitlichen Programme angesprochen werden kann. Zu
diesen umfassenden präventiven Erziehungsmaßnahmen für Kinder zählt im englischsprachigen
Raum z.B. das Primary Mental Health Project
(PMHP) von Cowen et al. (1983) und das Head
Start Programm (Comer 1995).
Ein Ansatz, der einen ganzheitlichen Zugang
zur Prävention wählt sowie Kinder, PädagogInnen
und Eltern als Zielgruppe anspricht, ist das sexualpädagogische Modell LoveTalks©. Dieses präventive Modell wurde in Österreich (siehe Kapitel 9.3
„Österreichspezifische Maßnahmen“) entwickelt
und findet zunehmende Verbreitung im europäischen Raum.
47
48
49
50
7 217 3
U.a. (Enders 1991; Enders 1992; Nelson 1993).
U.a. Verein autonome Frauenhäuser Wien 2000.
U.a. Theater Rote Grütze 1988.
(Braun 1989; Braecker & Wirtz-Weinreich 1991; Lappe
1989; Pich 1991; Timmermann 1993; (Simone 1993;
Mebes 1991a, Mebes 1991b).
LoveTalks© – ein präventives Modell der Sexualpädagogik
Eine Grundannahme des Modells LoveTalks© geht davon aus, dass Sexualpädagogik Eltern, LehrerInnen und SchülerInnen betrifft und diese als gleichwertige PartnerInnen in der Sexualpädagogik anzusehen
sind. Aus diesem Grund ermöglicht LoveTalks© diesen drei Dialoggruppen auf dem sensiblen Gebiet der
Sexualpädagogik miteinander ins Gespräch zu kommen.
Das Modell LoveTalks© läuft an der jeweiligen Schule in drei aufeinander folgenden Fasen ab (Cizek 2000):
1. Eltern, SchülerInnen und LehrerInnen einigen sich in einem ersten Schritt, das Modell an ihrer Schule
durchzuführen.
2. Interessierte Eltern, SchülerInnen und LehrerInnen werden in einem zweiten Schritt an fünf Abenden
für jeweils drei Stunden eingeladen, sich mit dem Thema Sexualpädagogik auseinanderzusetzen:
a) Im Rahmen der ersten drei Arbeitskreistreffen tauschen sich die TeilnehmerInnen über selbstgewählte Themen der Sexualität untereinander aus.
b) In den letzten beiden Arbeitskreistreffen planen und realisieren die TeilnehmerInnen ein gemeinsam erarbeitetes Sexualerziehungsprojekt.
3. Im Anschluss an die Arbeitskreistreffen wird dieses miteinander entwickelte schulische Sexualerziehungsprojekt mit allen SchülerInnen der ausgewählten Projektklassen durchgeführt.
Diese Arbeitskreise zu leiten und zu begleiten ist die Aufgabe von externen, in dem Modell LoveTalks©
ausgebildeten ModeratorInnen (PsychologInnen, MedizinerInnen, SozialpädagogInnen, FamilienberaterInnen, PädagogInnen). Diese sorgen für ein offenes und freies Gesprächsklima und bringen Fach- sowie
Didaktik- und Methodikwissen ein.
Das Österreichische Institut für Familienforschung hat zirka 220 ModeratorInnen in vier europäischen
Ländern (Österreich, Deutschland, Italien, Tschechien) ausgebildet. Im Jahr 2000 wurde LoveTalks© auf
den Kindergarten- und Vorschulbereich sowie für die sexualpädagogische Arbeit mit geistig und mehrfachbehinderten Menschen ausgeweitet (Cizek 2000).
Der präventive Charakter auf allen der von Caplan (1964) definierten Ebenen der Prävention ist dem
Modell ein besonderes Anliegen:
In der praktischen Umsetzung des Modells ist die Bedürfnisorientiertheit von zentraler Bedeutung. In
diesem Sinne variieren die selbstgewählten Themen der ArbeitskreisteilnehmerInnen unter den verschiedenen Schulen. Je nach spezifischer Situation der Schule wünschen sich die TeilnehmerInnen andere
Themen, die einerseits in den Arbeitskreistreffen besprochen, andererseits im Projekt umgesetzt werden.
„Prävention von sexueller Gewalt“, „geschlechtsspezifische Mädchen- und Jungenarbeit“, „Prävention
von sexuell übertragbaren Krankheiten“, „psycho-sexuelle Entwicklung“, „Gesprächsführung mit Kindern“ sind nur einige der Themenwünsche aus den Arbeitskreistreffen.
Die Umsetzung der schulischen Sexualerziehungsprojekte ist ebenso vielfältig. Diese reicht von der
Abhaltung von Workshops mit Themen wie z.B. „Liebe-Partnerschaft–Verhütung“, „Schwangerschaft
und Geburt“, „Verhütung“, „AIDS“, „Grenzen erkennen und setzen“, „Jugendzeitschriften“, über die
Inszenierung von Theaterstücken z.B. zum Thema sexuelle Gewalt, bis hin zur Kontaktaufnahme mit bzw.
Exkursionen in Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche, Kindertelefone, (z.B.: Kinderschutzzentren,
Rat auf Draht) und in Krankenhäuser bzw. Praxen von ÄrztInnen (Gynäkologie und Urologie).
7 218 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
9.1.2.2 Historische Entwicklung
intervenierender Maßnahmen
am Beispiel der TäterInnenarbeit
Die Auseinandersetzung mit TäterInnen sexueller Gewalthandlungen kann bis zum Ende des 19.
Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Damals
beschäftigte sich z.B. Krafft-Ebing (1894) mit sexuellen StraftäterInnen und versuchte erste Erklärungsansätze für deren „perverses Verhalten“ zu
formulieren. Zu diesem Zeitpunkt konzentrierte
man sich primär auf die Deskription täterInnenspezifischer Charakteristika. Behandlungsansätze
für TäterInnen gab es zum damaligen Zeitpunkt
noch nicht (Eich, 15.09.2000).51
Erste therapeutische Maßnahmen zu täterInnenorientierten Interventionshilfen haben ihren
Ursprung in den USA und in Kanada. Dort wurden
Behandlungsstrategien zur Arbeit mit männlichen
Tätern von sexueller Gewalt im außerfamilialen Bereich entwickelt und erprobt. So finden sich in der
Fachliteratur z.B. erste Ansätze zur Behandlung
männlicher Sexualstraftäter (z.B. Vergewaltiger) in
den 40er-Jahren (Mayer 1988; Eitel 1998). Schwerpunkt damaliger Interventionshilfen lag einerseits
auf verhaltensorientierten Strategien, die z.B. das
Ziel verfolgten, durch aversive Methoden (z.B.:
körperliche Bestrafung), die sexuell devianten
Symptome des/der TäterIn zu beseitigen. Andererseits versuchte man durch organotherapeutische
Maßnahmen eine Veränderung der „sexuellen Perversion“ zu erzielen (Comer 1995). So experimentierte man beispielsweise mit chirurgischer Kastration und gehirnchirurgischen Eingriffen (primär im
Hypothalamus) (Eich, 15.09.2000).52
Diese Konzepte zur Arbeit mit TäterInnen
wurden in den 50er und 60er-Jahren auch im europäischen Raum angewandt (Schorsch 1985).
Im Laufe der 70er und 80er-Jahre entwickelten
und etablierten sich in den USA, neben organotherapeutischen und aversiven Methoden zur Behand51
52
ExpertInnengespräch am 15.09.2000.
ExpertInnengespräch am 15.09.2000.
Gewalt in der Familie
lung von SexualstraftäterInnen, neue Interventionshilfen für TäterInnen von sexueller und vermehrt
auch körperlicher Gewalt mit unterschiedlichen
Opfergruppen (u.a. für TäterInnen, die gegen
Kinder im familialen Kontext gewalttätig waren).
Einige der damals entwickelten Interventionshilfen
waren so genannte „treatment-programs“, d.h.
kognitiv-verhaltensorientierte Trainings (z.B. das
„sex offender treatment program“) die großteils auf
aversiontherapeutische Strategien verzichteten und
den TäterInnen alternative Verhaltens- und Denkweisen beibringen wollten (Salzgeber 1997).
Die rasche Verbreitung der „treatment-programs“ zeigt sich bei der Betrachtung der Anzahl
zugänglicher Interventionshilfen für TäterInnen im
Verlauf der 80er-Jahre. Im Jahr 1981 fanden 80
„treatment“-Programme bei körperlicher Gewalt
in der Familie, ein Jahr später 150 und im Jahre
1984 zirka 200 unterschiedliche Programmkonzepte für „batterers“ ihre Verbreitung über den
amerikanischen Kontinent (Mayer 1988).
Interventionshilfen in Form von fokussierten
TäterInnenprogrammen sind bis heute die am häufigsten eingesetzten Interventionshilfen für
TäterInnen in den USA.
Ein Unterschied zur amerikanischen Entwicklung ist bei der historischen Entwicklung von Interventionshilfen für TäterInnen im europäischen
Raum zu verzeichnen. Hier kam es – ähnlich wie in
den USA – in den 70er-Jahren zu einem Umdenken
in Bezug auf aversive Techniken zur Behandlung
von TäterInnen sexueller Gewalt. Anders als in den
USA distanzierte man sich in Europa von einer
ausschließlichen Zentrierung auf das gewalttätige
Verhalten des/der TäterIn. In den Vordergrund des
Interesses trat die Persönlichkeitsproblematik
des/der TäterIn. So arbeitete man mit den TäterInnen zunehmend psychotherapeutisch unter anderem zu Themen wie sexuelle und soziale Ängste,
Beziehungsfähigkeit, soziale Kompetenz, Geschlechtsrollenidentität und Selbstkonzept. Ziel der
vorwiegend psychodynamisch orientierten Psychotherapie war und ist es noch heute, die narzissti-
7 219 3
schen Bedürfnisse der TäterInnen psychotherapeutisch aufzuarbeiten und auf angemessene Objekte
bzw. Verhaltensweisen zu lenken (Duffek 1997).
Psychotherapiekonzepte für SexualstraftäterInnen
entwickelten z.B. Schorsch et al. und publizierten
diese in ihrem Werk „Perversion als Straftat“
(Schorsch 1985).
Im Verlauf der 80-er und 90-er Jahre wurden
Konzepte zur Arbeit mit TäterInnen körperlicher
Gewalt in der Familie für den europäischen Raum
entwickelt. Erste Initiativen, um im deutschsprachigen Raum mit TäterInnen zu arbeiten, waren
vorwiegend Männerprojekte, die z.B. in Form von
Selbsthilfegruppen organisiert waren. Schwerpunkt
der damaligen Interventionshilfen war die Reduktion bzw. Beendigung männlicher Gewalthandlungen an Frauen und in den folgenden Jahren zunehmend auch an Kindern (Eitel 1998).
In den letzten Jahren ist im europäischen Raum
– ähnlich wie in den USA – ein deutlicher Trend in
Richtung Programme, die auf spezifische Gewalthandlungen fokussieren (z.B.: sexuelle Gewalt, körperliche Gewalt an Kindern bzw. an Frauen), zu
verzeichnen (Eitel 1998; Godenzi 1996). Daneben
ist in Europa nach wie vor die Psychotherapie von
Bedeutung für die Arbeit mit GewalttäterInnen.
9.1.3 Ziele von Prävention
und Intervention
Ziele von Prävention und Intervention bezüglich Gewalt in der Familie sind in erster Linie die
Verhinderung von neuen Fällen, die Aufdeckung
einer erfolgten Gewalttat, das Trauma und die
Folgeerscheinungen dieser Handlung zu verringern
und den Opfern, bzw. den in die Gewalthandlung
Involvierten, den Weg in eine adäquate Behandlung
zu erleichtern (Amann & Wipplinger 1998, S. 658).
Prävention will jegliche Gewalt von
Menschen gegenüber Menschen verhindern.
Die Prävention hat als weiteres Ziel die Verminderung der “Inzidenzrate (die Rate neuer Fälle)“
(Godenzi 1994, S. 325). Dies bedeutet, dass im
Rahmen der Prävention auf gesellschaftlicher
Ebene Bedingungen geschaffen werden, die dazu
beitragen, dass das Auftreten eines bestimmten
Phänomens – z.B. körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt – verhindert wird. Zu diesen Bedingungen
zählt in erster Linie die Sensibilisierung der Gesellschaft für die Thematik und die Selbstverantwortung der Gemeinschaft.
Damit eng verbunden sind
3 die gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter und die Veränderung des sexistischen
Charakters von Gesellschaft und Familie;
3 die Sanktionierung von Gewalt und das Eliminieren von Normen, die Gewalt in Gesellschaft
und Familie legitimieren und glorifizieren;
3 die Stärkung von sozialen Netzwerken und die
Reduktion von gewaltprovozierendem Stress
durch die Gesellschaft;
3 die Aufklärung und Information der Bevölkerung über Gewalt in der Familie
3 sowie das Durchbrechen des Gewaltkreislaufes
in Familien (Godenzi 1994, S. 325 f; Straus et al.
1981).
Darüber hinaus bedeutet Prävention vor allem
die Verbesserung der Stellung des Kindes in unserer
Gesellschaft sowie die Vermittlung der Bedeutung
des Schutzes des Kindes.
Sie will weiters – über die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen hinaus gehend – auf personaler Ebene – potenzielle Opfer darüber unterrichten, wie sie sich zur Wehr setzen können bzw. wie
sie sich zu ihrem eigenen Schutz verhalten können
und welche Einrichtungen ihnen zur Verfügung
stehen, falls sie Hilfe brauchen (Finkelhor 1986).
Haller unterstreicht den Ruf nach einer verstärkten Präventionsarbeit, indem er betont, dass
das Ziel einer umfassenden, gesellschaftlichen
Aufklärung sein müsste, „das Bewusstsein aller
Mitglieder der Gesellschaft über die immer wieder
auftretende Wahrscheinlichkeit sowie über die
Formen und Konsequenzen von familiärer Gewalt
zu schärfen. Ziel müsste auch sein, die inhärente
7 220 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Verknüpfung jeder Kultur, so auch der heutigen,
modernen Zivilisation, mit Gewalt klar zu machen.“ (Haller et al. 1998, S. 187).
3
3
3
3
3
Vorrangige Ziele der Intervention sind die
möglichst frühzeitige Erfassung und Behandlung von Störungen;
die Erleichterung des Weges in eine Betreuung;
die Beendigung der Gewalthandlung;
die Betreuung von Opfern, Involvierten und
TäterInnen und
die Verringerung und Beseitigung von Folgeschäden und von Rückfällen.
9.1.4 Stellenwert von Prävention
und Intervention
Um den Stellenwert von Prävention und Intervention einschätzen zu können, sei darauf hingewiesen, dass lediglich auf der präventiven Ebene das
(Fern-)Ziel besteht, Gewalt in der Familie und im
sozialen Nahraum wesentlich zu verringern oder
gänzlich „abzuschaffen“ (Godenzi 1994, S. 335).
Intervention kann andererseits Gewaltsituationen im Frühstadium erkennen und behandeln, seelisches und körperliches Wohlbefinden von Opfern
und anderen Betroffenen schützen und wieder aufbauen sowie TäterInnen vor Wiederholungstaten
bewahren (Lystad 1985).
Prävention stellt ein bevorzugtes theoretisches
Argument in Wissenschaft und Forschung dar, in
der Praxis hingegen dominiert die Intervention
(Godenzi 1994).
Gründe dafür liegen in folgenden Punkten:
3 Prävention stellt PraktikerInnen und ForscherInnen vor hohe Anforderungen: Projekte
müssen über lange Zeitperioden dauern, ihre
Erfolge sind schwer absehbar und messbar. Sie
stellen weiters nicht nur das Gesellschaftssystem in Frage, sondern verändern es auch.
3 Zudem werden Präventionsprogramme hinsichtlich ihrer Effektivität nur selten untersucht,
was sowohl für den Bereich der sexuellen Gewalt als auch für die Kindesmisshandlung gilt
Gewalt in der Familie
(Godenzi 1994). Dies ist einerseits methodisch
erklärbar, da aus ethischen Gründen keine Studien mit Kontroll- und Vergleichsgruppen gemacht werden können. Andererseits ist es „fraglich, inwieweit sich bei Langzeiteffekten der
Effekt der Maßnahme von anderen Einflüssen
isolieren lässt, sodass festgestellt werden kann,
was letztendlich Gewalt verhindert hat“
(Lercher 1998, S. 14). Nicht nur im deutschsprachigen, sondern auch im anglo-amerikanischen Raum sind diese Strategien kaum konkret
und kontrolliert durchgeführt worden.
3 Angesichts dessen werden Projekte, die sich der
Intervention zuwenden, gegenüber Präventiven
bevorzugt. Dies hat sich in den letzten Jahren
nur langsam – aber dennoch verändert.
3 ForscherInnen weisen wiederholt darauf hin,
dass lediglich Präventionsstrategien das Gewaltproblem an der Wurzel erfassen können.
Diesem Argument werden zumeist pessimistische Einschätzungen bezüglich der Umsetzungsmöglichkeiten entgegen gehalten.
3 Weiters weist Godenzi daraufhin, dass „nichts
weniger als die Organisation und der Stil moderner Gesellschaften zur Diskussion“ (Godenzi
1994, S. 327) stehen und führt fünf strukturelle
und kulturelle Präventionsstrategien an. Diese
reichen von der Gleichstellung der Geschlechter, über die Auflösung von Gewaltnormen,
ökonomischen Ausgleich und die Stärkung des
sozialen Netzwerkes bis zu Aufklärung und
Erziehung. Neben der Tatsache, dass mit gesellschaftskritischen Projekten die bestehende Ordnung in Frage gestellt wird, findet sich auch aus
wahl- und parteipolitischer Orientierung ein
Gegenargument zur Prävention. Denn aus politischer Sicht zeigen sich ganz andere als die nach
sozialwissenschaftlichen Kriterien sinnvollen
Ansätze als zielführend. Oftmals wird zu
Gunsten kurzfristiger und medial gut darstellbarer Ansätze – und so zulasten langfristiger, niederschwelliger und auf den ersten Blick „nicht
spektakulärer“ Programme – entschieden.
7 221 3
9.2 Grundlagen von Prävention
und Intervention bei Gewalt
9.2.1 Ansatzpunkte
präventiven Handelns
Prävention von Gewalt bezieht sich auf unterschiedliche Zielgruppen:
3 die Gesellschaft: Veränderung der öffentlichen
Meinung, Stärkung der Mit-glieder einer Gemeinschaft und Veränderung gesellschaftlicher
Bedingungen;
3 die Bezugspersonen: Stärkung der elterlichen
Erziehungskompetenz und Unterstützung von
Familien mit Kindern in der Gesellschaft;
3 die Kinder: Aufklärung und Sensibilisierung
bezüglich Gewalthandlungen und Stärkung des
unterstützenden Netzes von Gleichaltrigen
und/oder
3 die potenziellen TäterInnen: Vermeidung, dass
Jungen und Mädchen zu TäterInnen werden.
Dabei zeigt sich, dass die Bandbreite präventiver Möglichkeiten groß ist. Sie reicht von gesetzlichen Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt bis zu
speziellen Workshops für Kinder bzw. Eltern.
Im Folgenden wird auf verschiedene Ansätze zu
diesen vier Gruppen hinsichtlich ihrer Ziele, Erreichbarkeit sowie Erfahrungen und Probleme eingegangen.
In der Praxis lassen sich präventive Ansätze hinsichtlich ihrer Zielgruppen nicht so genau trennen.
9.2.1.1 Gesellschaft
Dieser Zugang von Prävention setzt sich zum
Ziel, jene sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen zu verändern, die wesentlich zu psycho-emotionalen Störungen beitragen („pathogene Umweltbedingungen“) und jene zu stabilisieren, die der
Gesundheit, dem Wachstum und der Entwicklung
der Menschen förderlich sind.
Besonders angesprochen werden EntscheidungsträgerInnen aus Bildung, Verwaltung und
Politik auf Bundes-, Landes und Gemeindeebene,
mit deren Hilfe Rahmenbedingungen für eine adäquate Präventionsarbeit geschaffen werden sollen.
Weite Bevölkerungsteile eines Landes zu erreichen, erfordert breit gestreute, oftmalige und aktuelle Initiativen. Die Erreichbarkeit hängt dabei
stark vom Anliegen und den Inhalten der Maßnahmen ab. In diesem Sinn erreichen z.B. fachspezifische Ausstellungen sowie Studien ein spezifisches, interessiertes Publikum, während Plakatund Anzeigeaktionen, Fernseh- und Radiospots
bezüglich der zu erreichenden Zielgruppen breiter
streuen.
Wege für Prävention auf Gesellschaftsebene reichen von bundesweit gültigen gesetzlichen Rahmenbedingungen z.B. das Züchtigungsverbot und
Diskussionen über Wege der Öffentlichkeitsarbeit
bis zu Initiativen von Einzelpersonen z.B. „Die
gesunde Ohrfeige macht krank“ (Czermak 1980).
Diskussion:
Derzeit liegen keine Studien darüber vor, wie
Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung bezüglich Gewaltprävention auf der gesellschaftlichen
Ebene wirken. Dies ist einerseits durch die hauptsächlich langfristige Wirkung dieser Maßnahmen
und andererseits durch die schwere Erfassbarkeit
von diesbezüglichen Effekten erklärbar.
Dem Vorhaben der Gewaltprävention auf gesellschaftlicher Ebene stehen allerdings auch große
Hürden im Weg (Stallberg 1983):
3 Sollen Projekte präventiv und gesellschaftsverändernd sein, müssen sie über Jahre bzw.
Jahrzehnte durchgeführt werden.
3 Dies bedürfte eines hohen finanziellen Aufwands und einer wissenschaftlichen Begleitung
und Kontrolle.
3 Der Nachweis der Wirksamkeit wird nur
schwer zu erbringen sein.
3 Finanzierungen für präventive Programme sind
nur schwer zu finden.
7 222 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Trotz der angesprochenen Schwierigkeiten werden präventive Programme auf gesellschaftlicher
Ebene empfohlen und gefordert. Forderungen
wegen aktuell geringer Realisierungschancen zu
unterlassen, würde dem Anliegen nicht gerecht
werden. Bewusstseinsbildung braucht Zeit und ihr
sollte gerade auf gesellschaftlicher Ebene als weit
gestreute Prävention eine Chance gegeben werden.
9.2.1.2 Bezugspersonen:53
PädagogInnen in institutionellen Einrichtungen
können über die Aus-, Fort- und Weiterbildung
erreicht werden. Eltern hingegen können nur über
freiwillige Angebote erreicht werden. Es stellt sich
dabei die Problematik, dass oft nur jene Eltern
angesprochen werden können, die bereits ein
Problembewusstsein für Gewaltprävention entwickelt haben. Das flächendeckende Erreichen aller
Familien mit Kindern kann lediglich über bereits
etablierte und akzeptierte Initiativen erfolgen. Eine
Möglichkeit besteht in der Erweiterung des österreichischen Mutter-Kind-Passes um die psychosoziale Dimension. Damit könnten psychosoziale
Hilfsangebote mit einer hohen Inanspruchnahme
gekoppelt werden.54
Präventive Bestrebungen, die sich primär an
Eltern richten, werden nach zwei Kriterien, den
verschiedenen Zeitpunkten ihrer Durchführung
sowie den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, eingeteilt. (Ziegler 1994):
Unterschiedliche Zeitpunkte
des Programmeinsatzes:
3 Pränatale Programme setzen vor der Geburt
eines Kindes an und gehen davon aus, dass es für
die verantwortungsvolle Aufgabe des Elternwerdens und -seins keine zu erfüllenden pädagogischen Vorbedingungen und Ausbildungen
gibt. Das größte Augenmerk wird dabei auf
Ersteltern, sehr junge oder allein stehende
Eltern gerichtet (Cohn 1982).
3 Perinatale Programme arbeiten mit derselben
Zielsetzung. Die Geburt und die Zeit danach
stellen eine Fase dar, in der die Eltern für
Unterstützung sehr empfänglich sind. Erforderlich ist aber eine enge Kooperation mit
Kliniken und der nachgehenden sozialarbeiterischen Betreuung.55
3 Postnatale Prävention setzt ein, wenn sich eventuelle erste Schwierigkeiten bereits manifestiert
haben bzw. Risikofamilien erfasst werden können.
Den überwiegenden Teil stellen altersunabhängige Programme dar. Dabei geht es vor allem um
aktuelle (Erziehungs-)Probleme und Fragen.
Programminhalte und -schwerpunkte:
Bei Elternbildungsangeboten lassen sich folgende Themenschwerpunkte erkennen, wobei diese
selten einzeln und scharf getrennt vorzufinden sind
(Ziegler 1994).
3 Vorwiegend therapeutisch-individuumorientierte Ansätze bemühen sich um Selbstwertgefühl und Selbstkontrolle. Für Kelly (1983)
stehen dabei Ärgerkontrolle durch Entspannung und kognitives Kontroll-Training im
Vordergrund. Das Programm von Goldstein
(1981a) nennt neun Selbst-Kontrollfähigkeiten,
wie z.B. seine Gefühle kennen und ausdrücken
sowie sich selbst belehren und belohnen.
3 PartnerInnenprobleme haben im Rahmen therapeutischer Settings Aufmerksamkeit erlangt.
Die rein präventive Beschäftigung damit ist bisher stark vernachlässigt worden (Ziegler 1994),
55
53
54
Unter ErzieherInnen werden Mütter und Väter sowie
institutionelle und private ErzieherInnen verstanden.
Siehe dazu Kapitel 9.3 „Österreichspezifische Maßnahmen“.
Gewalt in der Familie
7 223 3
Ein Beispiel bietet das „Perinatal Positive Parenting
Program“ von Gray (1982) oder das Pilotprojekt
„Verbesserung des Mutter-Kind-Passes um die psychosoziale Dimension“ (siehe Kapitel 9.3 „Österreichspezifische Maßnahmen“).
obwohl schon seit längerer Zeit in Untersuchungen die Zusammenhänge zwischen Partnerproblemen und Verhaltensproblemen bei
den Kindern festgestellt wurden (Emery 1982;
Forehand et al. 1984). In den Trainings von
Forehand, Walley und Furey (1984) konnte eine
deutliche Veränderung mütterlichen Erziehungsverhaltens bewirkt werden.
3 Erziehungsrelevante Elterntrainings setzen sich
zum Ziel, die Erziehungskompetenz, das Erziehungs-, Beziehungs- und Interaktionsverhalten zu optimieren.56 Perrez (1984) unterscheidet Programme ohne spezifische Zielangaben, Programme, deren Ziel die Vermittlung
von Erziehungskompetenzen ist und Programme mit genau definierten Zielen.
seits sind bestehende vom wissenschaftlichen
Standpunkt aus zu wenig fundiert (Ziegler 1994).
Diskussion
Elternbildungsangebote versuchen auf einer
sehr allgemeinen Ebene (Stärkung der Elternkompetenz sowie Unterstützung bei Überforderung etc.) psychosoziale Gesundheit zu erhalten
bzw. zu fördern. Ihr primäres Ziel muss nicht auf
die Prävention von Gewalt ausgerichtet sein, womit
diese Programme einen Teil im Rahmen eines komplexen Präventionsangebots darstellen.
Schwierigkeiten ergeben sich in der Realisierung durch die Komplexität und Fülle des
Sachgebiets sowie durch unterschiedliche Schulen
bei den durchführenden ExpertInnen selbst
(Schmalohr 1986).
KritikerInnen bemängeln an diesen Präventionsansätzen, dass sie nicht die ganze betroffene
Gruppe einer Bevölkerung erreichen (beispielsweise alle werdenden Mütter) (Ziegler 1994; Godenzi
1996).
Über die Auswirkungen von Elternbildungsprogrammen ist wenig bekannt. Einerseits fehlen
wissenschaftliche Begleituntersuchungen, anderer-
9.2.1.3 Kinder
Der Vorteil bei der Präventionsarbeit mit
Kindern liegt in der Möglichkeit einer flächendeckenden Erreichbarkeit dieser Zielgruppe. Präventive Maßnahmen können einerseits in institutionellen Einrichtungen wie Kindergärten oder
Schulen, andererseits im Rahmen von Jugendgruppen und Freizeiteinrichtungen (z.B.: Jugendzentren) sowie bei Veranstaltungen (z.B. themenspezifische Ausstellungen für Kinder) angeboten
werden.
In den letzten Jahren wurde eine Fülle von
neuen Programmen zur Prävention von Gewalthandlungen gegen Kinder entwickelt, erprobt und
teilweise auch evaluiert (Ziegler 1994).
Gemeinsame Schwerpunkte dieser Programme
sind die Vermittlung grundlegender Begriffe und
Verhaltenskonzepte. Neben den gemeinsamen
Schwerpunkten werden unterschiedliche Kompetenzen gefördert, die von instrumentellen (sachliches Wissen, wie z.B. medizinisches Grundwissen
oder das Wissen darüber, wie man Probleme lösen
kann) über individuelle und soziale (Wahrnehmung
eigener Gefühle, Bedürfnisse und Interessen, um
kommunizieren und kooperieren können etc.) bis
zu gesellschaftlich-politischen Kompetenzen (gesellschaftliches und politisches Wissen, demokratische Handlungsfähigkeit etc.) reichen.57
Methodisch werden diese Programme oft in
geschlechtsspezifischen Gruppen umgesetzt. Ein
weiteres Modell der Präventionsarbeit, das spezifische Kompetenzen anspricht, sind Selbstverteidigungskurse für Kinder. Die Stärkung des Selbstwertgefühls der Kinder sowie die Förderung ihrer
Durchsetzungsfähigkeit stehen dabei im Vordergrund.
56
57
Umfassende Darstellungen in: Kluge & HemmertHalswick (1998).
7 224 3
Eine umfassenden Programmüberblick bietet Durlak
(1983).
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Diskussion
Durch präventive Maßnahmen können Kinder
(drohende) sexuelle oder körperliche Gewalt frühzeitiger als solche wahrnehmen und sich Unterstützung holen.
Kritik an Präventionsprogrammen für Kinder
findet sich in Bezug auf:
3 Altersbegrenzung:
Präventionsprogramme stoßen in der Umsetzung bei sehr jungen Kindern auf ihre Grenzen.
3 Kindgerechtheit:
Ebenso berücksichtigen viele Präventionskonzepte zu wenig die unterschiedlichen Entwicklungsstufen von Kindern und sind dem
Denken der Erwachsenen und ihren Überzeugungen entsprungen (Amann & Wipplinger
1998).
3 Einseitigkeit:
Ein Defizit betrifft die fehlende Miteinbeziehung der Eltern bzw. wichtiger Bezugspersonen. Problematisiert wird, dass Kinder einerseits alternative Problemlösestrategien erlernen,
andererseits an ihren Bezugspersonen weiterhin
beispielsweise autoritäres Verhalten beobachten. Die ExpertInnen versprechen sich deshalb
großen Nutzen von der Einbeziehung der
Eltern (Finkelhor 1986). Bei der gemeinsamen
Bearbeitung der Gewaltproblematik muss allerdings berücksichtigt werden, dass nahe Bezugspersonen zum TäterInnenkreis zählen können.
In diesen Fällen wäre das Kind einem weiteren
Druck durch eine präventive Maßnahme ausgesetzt.
3 Isoliertheit:
Werden präventive Programme speziell im
Hinblick auf sexuelle Gewalt für Kinder isoliert, das bedeutet nicht eingebettet in ein
umfangreiches sexualpädagogisches Vorgehen
angeboten, dann besteht die Gefahr der Wahrnehmung von Sexualität als Schattenseite. Der
positive Zugang zum Thema Sexualität würde
den Kindern dadurch verwehrt bleiben.
Gewalt in der Familie
3 Begrenztheit:
Maßnahmen, die sich hauptsächlich beim „neinSagen“-Lernen ansetzen, werden als zu kurz
greifend erachtet. „Welche Chancen hat ein betroffenes Kind, den Missbrauch durch ein kräftiges „Nein“ zu beenden, wenn der Misshandler
eine der wichtigsten Bezugspersonen des
Kindes ist, die es überlebenswichtig braucht?“
(Saller 1989).
3 Fehlende Evaluierungen:
Längerfristige Effekte dieser Programme sind
kaum nachgewiesen, da zu wenige Studien mit
adäquaten Designs, kaum Follow-up Untersuchungen und nur begrenzte theoretische Begründungen vorliegen. „Ob und allenfalls welche Arten von Unterrichtsprogrammen Kinder
so zu fördern vermögen, dass sie in Zukunft
kompetenter auftreten können, kann zumindest
zum derzeitigen Stand der Forschung nicht gültig beurteilt werden.“ (Ziegler 1994, S. 150).
9.2.1.4 Potenzielle TäterInnen
Die Ausführungen zu diesem Abschnitt fokussieren auf die Thematik der sexuellen Gewalt, da in
der Literatur hauptsächlich darauf eingegangen
wird.
Diese Präventionskonzepte mit der Zielgruppe
(potenzielle) TäterInnen gehen davon aus, dass es
unethisch und ineffektiv ist, mit Präventionsmaßnahmen lediglich bei den (potenziellen) Opfern
anzusetzen (Finkelohr 1990). VertreterInnen dieser
Ansätze weisen darauf hin, dass TäterInnen bereits
als Kinder und Jugendliche beginnen, anderen
Kindern sexuelle Gewalt anzutun (Conte et al.
1989a; Groth et al. 1982; Weinrott & Saylor 1991).
Diese Programme zielen darauf ab, der Bagatellisierung von sexueller Gewalt entgegenzuwirken,
die vorherrschende Auffassung von Männlichkeit
und Weiblichkeit, Sexualität und Gewalt zu hinterfragen, Einsicht in die Machtverhältnisse zwischen
Männern und Frauen zu vermitteln, mit Machtbedürfnissen und Ohnmachtsgefühlen umgehen zu
lernen, die Grenzen der/des Anderen erkennen und
7 225 3
respektieren sowie Alternativen zu gewalttätigem
Verhalten zu lernen. Als relevantestes Ziel wird zudem die Förderung der Empathie gegenüber dem
Opfer gesehen (Amann & Wipplinger 1998).
Umgesetzt wird dieses Anliegen sowohl durch
Programme, die in geschlechtsspezifischen Gruppen durchgeführt werden, als auch durch Ansätze,
die sich mit Sexualität, Geschlechterrollen, Bewältigungsmechanismen etc. beschäftigen.
Ein effektiver, bereits mehrfach geforderter Ansatzpunkt integriert Präventionsarbeit in die schulische Erziehung (Born 1994; Marquard-Mau 1993).
Prävention, die bei den potenziellen TäterInnen
ansetzt, wird als die wirkungsvollste und gerechteste Form der Prävention beschrieben (Lercher et al.
1997).
Diskussion:
Ein Problem sieht Godenzi (1996) im fehlenden
Engagement von Männern für diesen Bereich.
Diese müssten ihre Geschlechts- und Erzieherrolle
reflektieren, ihre Machtpositionen erkennen und
verändern (wollen). In der Folge müssten von ihnen
adäquate Ansätze entwickelt werden.
Als weiteres Hindernis stehen der Bewertung
dieses Präventionsansatzes, wie in anderen Bereichen, fehlende Evaluierungskriterien und das
methodische Problem des Messens von Langzeiteffekten im Weg.
Kritik an Präventionsprogrammen
Nach einer Fase der geradezu nahtlosen Adaptation amerikanischer Programme zur Prävention
von sexueller Gewalt in den deutschsprachigen
Raum, kommt in den letzten Jahren Kritik bezüglich der Rahmenbedingungen von Gewaltpräventionsprogrammen, an deren Inhalten und Effizienz
auf (Lercher et al. 1997 ; Yawney 1995; Ulonska &
Koch 1997).
Rahmenbedingungen:
3 Eltern und LehrerInnen werden zu wenig in
herkömmliche Präventionsmaßnahmen einge-
bunden. Dadurch wird den Kindern häufig die
alleinige Verantwortung für die Verhinderung und
Beendigung gewalttätiger Übergriffe aufgebürdet.
3 Eine fundiertere Ausbildung von Personen, die
im Bereich der Missbrauchsprävention mit
Kindern und Erwachsenen arbeiten, ist erforderlich. So absolvieren z.B. die SeminarleiterInnen
von CAPP (siehe Kapitel 9.1.2.1 „Historische
Entwicklung präventiver Maßnahmen am Beispiel von Präventionsprogrammen“) lediglich eine Kurzausbildung und benötigen keinen berufsspezifischen Hintergrund für ihre Tätigkeit.
3 Lercher (1997, S. 59) meint, dass „Präventionsprogramme, deren Ziel es ist, das Machtungleichgewicht zwischen TäterInnen und Opfer
aufzuheben, indem sie ausschließlich bei Kindern ansetzen, zu kurz greifen. Damit wird den
Kindern, als dem „schwächsten Glied“ der
Kette, die Verantwortung für die Beendigung
der Gewalt aufgebürdet (Baurmann 1991;
Finkelhor 1990; O’Donhue et al. 1992).
Inhalte:
3 Viele präventive Ansätze stellen bezüglich der
Dynamik sexueller Gewalt komplexe Zusammenhänge wie Geheimhaltungsmechanismen,
Verleugnung, Sprachlosigkeit und Familienloyalität, Schuldgefühle und soziale Isolation
mancher Missbrauchsfamilien verkürzt dar. So
werden z.B. Vorgehensweisen von TäterInnen
wie die Erzeugung emotionaler Abhängigkeit
nicht berücksichtigt (Bullens 1994).58
3 Der schwerpunktmäßige Bezug auf einen TäterInnenkreis außerhalb der Familie steht im
Widerspruch zu den Ergebnissen über die
TäterInnen sexueller Gewalt an Kindern.
3 Weibliche und jugendliche TäterInnenschaft
sowie sexuelle Gewalt unter Geschwistern sind
kaum Thema herkömmlicher Präventionsprogramme.
58
7 226 3
Einen anschaulichen Einblick geben die Studien von
Conte et al. (1989b) und Berliner & Conte ( 1990).
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Das oftmals zugrundeliegende „Empowerment“-Modell ist ein weiterer kritischer Punkt.
Kinder sind Erwachsenen gegenüber die
Schwächeren. Deshalb wird vorgeschlagen von
diesem Modell abzugehen und statt dessen ein
„Protection“-Modell zu verfolgen. In diesem
Rahmen werden in erster Linie Erwachsene für
die Sicherheit der Kinder verantwortlich gemacht.
3 „Präventionsprogramme sollen in ihren Inhalten und in ihrer Durchführung besser auf ihre
Zielpopulation zugeschnitten werden. Neben
der Berücksichtigung des Geschlechts, des ethnischen Hintergrundes ist vor allem der
Wissens- und Entwicklungsstand der TeilnehmerInnen von großer Bedeutung.“ (Amann &
Wipplinger 1998, S. 673).
Effizienz:
3 Bezüglich präventiver Maßnahmen handelt es
sich um äußerst schwer zu evaluierende Bereiche. Es liegen daher nur vereinzelt adäquate
Evaluationsstudien vor (O’Donhue et al.
1992).59
Die Wirksamkeit von Prävention wird in der
Literatur unterschiedlich im Hinblick auf die
bestehenden methodischen Probleme und fehlenden Longitudinalstudien bewertet (Godenzi
1994).
In diesem Sinne haben Amann und Wipplinger
(1998, S. 664) einen Überblick über zentrale
Fragen der Evaluation von Präventionsprogrammen zusammengestellt, die jedenfalls
bei Evaluationsstudien berücksichtigt werden
sollten:
59
Einen Überblick, wie sich das Wissen und die Fähigkeiten der Kinder verändern, wie die Umsetzung im Alltag stattfindet, welche Effekte die Programme bei Eltern
und LehrerInnen haben und welche eventuellen negativen Effekte auftreten können, geben Amann &
Wipplinger (1998, S. 664ff).
Gewalt in der Familie
1. Nimmt das Wissen über sexuelle Gewalt zu?
2. Nehmen die Fähigkeiten (skills) zu, angemessen in (sexuellen) Gewaltsituationen reagieren zu können?
3. Können Kinder dieses Wissen bzw. ihre
Fähigkeiten in realen, alltäglichen Situationen adäquat einsetzen?
4. Nimmt die Rate zu, in der Kinder Erlebnisse
einer sexuellen Gewalttat aufdecken?
3 Finkelhor & Strapko (1992) stellten in ihren
Untersuchungen zur Wirksamkeit von Präventionsprogrammen fest, dass diese zwar einen
Wissenszuwachs bei den Kindern in einem
Zeitraum von einigen Monaten bewirken,
unklar ist allerdings, inwieweit die Kinder die
gelernten Verhaltensweisen in einer realen Gewaltsituation anwenden können, vor allem
dann, wenn es sich bei dem/der TäterIn um eine
nahe Bezugsperson handelt.
3 Die Ergebnisse der von Amann und Wipplinger
(1998, S. 664) verglichenen Studien zeigen ebenfalls, dass durch den Einsatz von Präventionsprogrammen das Wissen und die Fähigkeiten
der Kinder verbessert werden konnten. Nur
wenige Studien untersuchen die Situation, wie
sich Kinder z. B. bei drohender sexueller Gewalt verhalten würden. Ob die Umsetzung in
den Alltag gelingt, bleibt unklar.
3 Darüber hinaus zielen viele Programme, trotz
der allgemeinen Einsicht, dass Gewalt ein mehrschichtiges Problem ist, nach wie vor auf einzelne Ebenen ab (Ziegler 1994).
Die wirksamsten Präventionsprogramme aber
kombinieren mehrere der oben beschriebenen
Ansatzpunkte zu umfassenden und kooperativen Maßnahmen (Comer 1995). Idealerweise
vermitteln sie den Kindern in den unterschiedlichen Lebensbereichen die gleichen Botschaften
hinsichtlich der Vermeidung von Gewalthandlungen, unangenehmen und angenehmen Berührungen, guten und schlechten Geheimnissen, um nur einige zu nennen. Dies zeigt auch
auf, dass präventive Strategien langfristig wirk-
7 227 3
sam sind (Lercher 1998) und demnach langfristig zu konzipieren und durchzuführen sind.
3 Evaluationsstudien zu Präventionsprogrammen
erbrachten widersprüchliche Ergebnisse bezüglich deren Wirkung auf Kinder, die bereits Gewalt erfahren haben. Einerseits stellte Finkelhor (1995) fest, dass missbrauchte Kinder eher
über ihre Gewalterfahrungen sprechen, nachdem ein Präventionsprogramm an der Schule
stattfindet. Andererseits betonen ExpertInnen
die Gefahr von Präventionsprogrammen für betroffene Kinder, die „einmal mehr an sich zu
zweifeln“ beginnen könnten (Dibbern 1989,
S. 18). Da sie sich nicht so kompetent wehren
können, wie jene Kinder aus Präventionsfilmen
und in -büchern, erleben sie die sexuelle Gewalt
möglicherweise als eigenes Versagen (Bange
1995).
So zeigt sich aus den Ergebnissen empirischer
Evaluationsstudien u.a. von Garbarino (1987),
Berrick (1995) und Finkelhor (1995), dass
Kinder durch Präventionsprogramme u.a. verunsichert und ängstlich werden können.
3 In der Literatur wird auf eine weitere Problematik der Präventionsarbeit von Gewalthandlungen gegen Kinder aufmerksam gemacht:
„Nicht zuletzt auf Grund der Komplexität der
Ursachen, die zu Gewalt führen, werden aber
alle diese Maßnahmen nicht verhindern können,
dass körperliche und sexuelle Gewalt an
Familienmitgliedern in der einen oder anderen
Form immer wieder auftauchen und ein ständiges gesellschaftliches Problem darstellen werden. Leitbild kann hier nicht das unerreichbare
Ziel einer ,absoluten Gewaltfreiheit‘ sein, sondern muss dies vielmehr die Einschulung eines
ehrlichen Umgangs mit ihr, ein Bewusstmachen
der Gewaltpotenziale sein, die jeder Mensch in
sich selbst trägt.“ (Haller et al. 1998, S. 185).
9.2.2 Ansatzpunkte von Intervention
Bei den im Folgenden angeführten Ansatzpunkten von Intervention wird vorerst auf Maß-
nahmen für die Opfer und im Anschluss auf jene
für die TäterInnen eingegangen.
In einem ersten Teil werden jeweils mögliche
Schritte aufgezeigt, wie z.B. HelferInnenkonferenzen, Schritte der Jugendwohlfahrt (siehe Kapitel
9.2.2.1 bezügl. Opfer) oder Wegweisung und einstweilige Verfügung (siehe Kapitel 9.2.2.2 bezügl.
TäterInnen) greifen können. Diese Schritte können
kurzfristige (z.B. auf einen bestimmten Zeitraum
begrenzt) bis hin zu länger wirksamen (z.B. für mehrere Monate, Jahre, für immer) Maßnahmen sein.
Im zweiten Teil werden jeweils unterschiedliche
Hilfen, d.h. Formen der Intervention, dargestellt,
wie z.B. Krisenintervention oder Psychotherapie
(siehe Kapitel 9.2.2.1 und 9.2.2.2).
9.2.2.1 Opferorientierte Intervention
9.2.2.1.1 Opferorientierte Interventionsschritte
Vertrauensbasis zum
betroffenen Kind aufbauen
Besteht der Verdacht von Gewalt an einem
Kind, so geht es in einem ersten Schritt darum, eine
Vertrauensbasis zum Kind aufzubauen und diesem
die Möglichkeit zu einem Gespräch zu bieten.
Information und Unterstützung einholen
Erhärtet sich der Verdacht, dass ein Kind Opfer
von Gewalt ist, haben die Vertrauenspersonen des
Kindes oft den Wunsch nach Information und
Unterstützung für die weitere Vorgehensweise.
Dabei wenden sie sich zumeist an KollegInnen,
Verwandte oder ExpertInnen einer psychosozialen
Einrichtung wie Familienberatungsstellen, Kinderschutzzentren, die Kinder- und Jugendanwaltschaft
oder das zuständige Jugendamt.
HelferInnen- und Fallkonferenz
Bei Gewalt an Kindern sind sich die Vertrauenspersonen des Kindes und/oder die HelferInnen
nicht sicher, wie sie weiter vorgehen sollen.
7 228 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
In diesem Fall werden häufig HelferInnen- und
Fallkonferenzen vereinbart, bei denen alle Personen, die mit dem betroffenen Kind auf Grund
ihrer beruflichen Position zu tun haben (u.a. KinderbetreuerInnen, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, MitarbeiterInnen einschlägiger Beratungseinrichtungen, KriminalbeamtInnen) zusammen treffen, um das weitere Vorgehen zu besprechen und in
die Wege zu leiten (Lercher et al. 1997, S. 54).
Öffentliche Jugendwohlfahrt
Zentrale Stelle für konkrete Hilfsmaßnahmen
ist das örtlich zuständige Jugendamt, das mit der
Familie Kontakt aufnimmt, die Situation abklärt
sowie letztlich – möglichst im Einvernehmen mit
der Familie – die Entscheidung über notwendige
weitere Maßnahmen trifft. Die rechtliche Grundlage für das Handeln des Jugendamtes bildet das
Landesjugendwohlfahrtsgesetz.
Ist eine Erziehungshilfe notwendig, so ist diese
schriftlich zwischen Jugendwohlfahrtsträger und
Erziehungsberechtigten zu vereinbaren. Stimmen
die Erziehungsberechtigten einer notwendigen
Hilfe zur Erziehung nicht zu, hat der Jugendwohlfahrtsträger die nötigen Anträge beim Pflegschaftsgericht zu stellen, welches nach den Bestimmungen
des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches über
Entziehung und Übertragung der Obsorge entscheidet. Im Falle der Gefahr im Verzug kann der
Jugendwohlfahrtsträger die notwendige Maßnahme
sofort setzen und muss binnen acht Tagen die erforderlichen Anträge an das Gericht stellen.
Auch im Kontext des so genannten Gewaltschutzgesetzes kann der Jugendwohlfahrtsträger
eine opferorientierte Intervention setzen. Vorgesehen ist nämlich, dass auch der Jugendwohlfahrtsträger eine erforderliche einstweilige Verfügung
(§ 382b EO) zugunsten eines Minderjährigen beantragen kann, wenn der gesetzliche Vertreter dies
nicht tut. (Stourzh, 2000, Täterarbeitsbroschüre).
Gewalt in der Familie
Strafanzeige und Strafverfahren
3 Die Strafanzeige
Strafanzeige gegen TäterInnen kann von jeder
Privatperson oder Institution bei den Sicherheitsbehörden oder der Staatsanwaltschaft erstattet werden. Im Rahmen des Opferschutzes besteht in
Österreich seit 1994 eine Einschränkung der
Anzeigepflicht u.a. für Behörden und Dienststellen
(Lercher 1999b; Lercher 1999a; Lercher 1999d;
Lercher 1999c; Friedrich 1998). Dies ermöglicht,
dass entsprechend Zeit dafür bleibt, das Kind zu
stärken und es auf die möglichen juristischen
Schritte vorzubereiten.
Sobald Anzeige erstattet wurde, kann diese
nicht mehr zurückgezogen werden, da in Österreich Sittlichkeitsdelikte so genannte Offizialdelikte darstellen, d.h. der Staat stellt den Kläger dar
(Friedrich 1998).
3 Die Voruntersuchung
Im Fall einer Strafanzeige ermitteln in einem
ersten Schritt die Sicherheitsbehörden. Sie nehmen
beispielsweise Zeugeneinvernahmen vor (Friedrich
1998). Im Rahmen der Voruntersuchung werden
Burschen zumeist von männlichen und Mädchen
von weiblichen KriminalbeamtInnen befragt. Die
BeamtInnen, die die Befragung von Kindern durchführen sind oft speziell geschult.
Die Aufgabe der Sicherheitsbehörde besteht
weiters darin, fallspezifische Informationen zu erheben. Dazu gehört beispielsweise, ob es sich um
einen Einzel- oder MehrfachtäterInnen handelt, ob
für das Kind oder andere Personen Gefahr im Verzug und ob Verdunkelungs-, Verabredungs- oder
Fluchtgefahr des/der TäterIn besteht. Auf Basis
dieser Informationen werden Entscheidungen für
die weitere Vorgehensweise getroffen. Dazu zählt
beispielsweise, ob der/die Täter/in verhaftet wird
und in Untersuchungshaft kommt.
Die Anzeige wird von der Sicherheitsbehörde
an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, welche
überprüft, ob eine Anklage gegen den/die Beschul-
7 229 3
digten/Beschuldigte erhoben wird. Dabei kommt
dem/der UntersuchungsrichterIn die Aufgabe zu,
den Sachverhalt zu erforschen, Beweise zu sammeln
und psychologischen bzw. medizinischen Gutachten einzuholen (Friedrich 1998).
Das Untersuchungsverfahren kann jederzeit,
beispielsweise auf Grund mangelnder Beweissituation oder der nicht stattgefundenen Aussage des
Kindes beendet werden.
3 Die Gerichtsverhandlung
In Österreich können Kinder im Falle einer Gerichtsverhandlung in allen Verhandlungsfasen eine
Person ihres Vertrauens mitnehmen.
Im Rahmen der Vorverhandlung ist es in Österreich möglich, dass das Kind von einem/einer Sachverständigen kontradiktorisch befragt wird. Für
Kinder unter 14 Jahren ist die kontradiktorische
Einvernahme obligatorisch. Dabei wird das Kind in
einem eigenen Raum, d.h. getrennt von RichterIn,
Staatsanwalt/Staatsanwältin, TäterIn und VerteidigerIn vor laufender Kamera befragt. Die videografische Aufzeichnung wird simultan in den Gerichtssaal übertragen. Durch die simultane Übertragung der kontradiktorischen Einvernahme können
die Staatsanwaltschaft, der/die RichterIn, die Privatbeteiligten,60 die Beschuldigten und deren VerteidigerIn indirekt an der Vernehmung teilhaben
und über die Person des/der Sachverständigen Fragen an das Kind stellen.
Sofern das Verfahren nicht eingestellt wurde,
leitet der/die StrafrichterIn die gerichtliche Hauptverhandlung ein (Friedrich 1998). In den meisten
Fällen sind die Kinder nicht bei der Hauptverhandlung anwesend, da sie bereits kontradiktorisch befragt wurden und die Videoaufzeichnungen als
Zeugenaussagen gelten. Somit können sie bei der
Hauptverhandlung von ihrem Entschlagungsrecht
Gebrauch machen.
60
Durch eine Privatbeteiligung können Akteneinsicht, Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld etc. bewirkt werden.
Resümierend ist festzustellen, dass es aus der
Sicht von professionellen HelferInnen wünschenswert wäre, Interventionsschritte bei Gewalthandlungen an Kindern grundsätzlich jedenfalls zum
Kindeswohl ins Zentrum des Interesses stellen.
Dafür ist es notwendig, sich in die Lage des Kindes
zu versetzen. In diesem Zusammenhang wird
sowohl in der Literatur als auch in der Praxis der
„ideale Zeitpunkt“ für das Einleiten weiterer
Interventionsschritte diskutiert. Diesbezüglich gibt
es gegensätzliche Ansätze: Einerseits wird von
schnellem Handeln zum Wohle des Kindes und von
der sofortigen Beendigung der Gewaltsituation
gesprochen. VertreterInnen dieses Ansatzes argumentieren mit der dringenden Notwendigkeit die
Gewalt baldigst zu stoppen. Andererseits wird
langsames und wohl überlegtes Tun empfohlen.
VertreterInnen dieser Strategie argumentieren
damit, dass bei vorschnellem Handeln eine zusätzliche Traumatisierung des Kindes riskiert wird.
9.2.2.1.2 Opferorientierte Interventionshilfen
Informelle Hilfen
Einige Kinder und Jugendliche, die Opfer von
Gewalt sind, haben Schwellenangst vor der Kontaktaufnahme mit institutionellen Hilfsangeboten.
Viele Kinder und Jugendliche, die in gewalttätigen
Situationen leben, finden vorübergehenden Schutz
bei Verwandten oder Bekannten. Informelle Hilfen
bieten die Möglichkeit, das Kind in einem ihm/ihr
vertrauten Umfeld verbleiben zu lassen.
Krisenintervention
Darunter wird eine kurzfristige Unterstützung
in Form von Einschreiten, Beratung bzw. Unterbringung in akuten Krisensituationen verstanden.
Krisenintervention kann durch die Sicherheitsbehörden – z.B. durch KontaktbeamtInnen –
erfolgen, indem sie in Fällen von Gewalt in der
Familie einschreiten.
Krisenintervention in Form von Beratung bieten unter anderem Institutionen wie Kinderschutz-
7 230 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
zentren an (Wien 2001). Krisenintervention kann in
diesem Setting beispielsweise im persönlichen
Kontakt oder telefonisch erfolgen. Krisenintervention über das Telefon stellt eine anonymisierte
Möglichkeit dar, bei der Kinder über ihre Probleme
sprechen können: „Kinder und Frauen wollen in
vielen Fällen zunächst einfach angehört werden, sie
wollen Verständnis und Glauben spüren, und sie
möchten vorbeugend wissen, welche Notlösungen
ihnen zur Verfügung stehen.“ (Godenzi 1994,
S. 338).
Eine weitere Form der Krisenintervention stellen Krisenzentren dar. Diese sind Zufluchtsstätten
unter aderem für Kinder und Jugendliche, die in
akuten Notsituationen wie in gewalttätigen Situationen leben. Suchen Kinder oder Jugendliche Zuflucht in Krisenzentren, werden sowohl die Erziehungsberechtigten als auch der Jugendwohlfahrtsträger informiert.
In einigen Fällen bieten auch Krankenhäuser
kurzfristige Unterstützung bei Gewalt in der
Familie an. Die kinder- und jugendpsychiatrischen
Abteilungen einiger Krankenhäuser führen beispielsweise Aufnahmen durch und betreuen die
Kinder, bis sich die Situation geklärt hat.
Beratung und Psychotherapie61
Lange Jahre wurde der Schwerpunkt auf den
Einfluss bezüglich des Verhaltens der Eltern und
deren Persönlichkeitsmerkmale gelegt. Dabei wurden die Folgen von Gewalt für die Kinder vernachlässigt. (Ziegler 1994, S. 107). Mittlerweile hat sich
die Auffassung durchgesetzt, dass Kinder mit Gewalterfahrungen neben medizinischer auch psychotherapeutischer Betreuung bedürfen.
61
Diese Ausführungen basieren vorwiegend auf Ziegler
(1994) und Godenzi (1996).
Gewalt in der Familie
3 Grundsätzliche Aspekte von Beratung und
Psychotherapie bei Kindern mit
Gewalterfahrungen
Bevor Beratung oder Psychotherapie von Kindern begonnen werden kann, sollten einige Voraussetzungen erfüllt sein: Die Sicherheit des Kindes
muss gewährleistet sein, umfangreiche Abklärungen
müssen stattgefunden haben und – idealerweise –
wurde das Einverständnis der Eltern eingeholt.
Dadurch wird einen Basis geschaffen, um zu ermöglichen, dass Veränderungen im Verhalten des Kindes,
die durch Beratung und Psychotherapie entstehen
können, von den Eltern akzeptiert werden. Darüber
hinaus erweist es sich oft als hilfreich, wenn die
Eltern, unabhängig davon ob sie die TäterInnen
sind, psychosozial betreut werden (wenn der/die
TäterIn ein Familienmitglied ist – siehe Kapitel
9.2.2.2 „TäterInnenorientierte Intervention“).
Allgemeines Ziel der Beratung und Psychotherapie von Kindern mit Gewalterfahrung ist es
meist, die negativen Auswirkungen der Gewalthandlung zu reduzieren. Dabei muss auf die unterschiedlichen Dynamiken der verschiedenen Gewaltformen eingegangen werden. Grundsätzlich
sollte eine positive, stabile Beziehung aufgebaut
und das Selbstkonzept des Kindes gestärkt werden.
Weiters geht es darum, den Kindern zu vermitteln,
was akzeptable Verhaltensweisen von Erziehungsberechtigten sind (Germain et al. 1985). Dies
schließt Kompetenzaneignung und soziales Lernen
der Opfer ein (Frank et al. 1988).
3 Psychotherapie als spezifische Hilfe für Kinder
mit Gewalterfahrungen
Grundsätzlich werden bei der Psychotherapie
von Kindern mit Gewalterfahrungen kinderpsychotherapeutische Maßnahmen angewendet. Einzelpsychotherapien sehen je nach Ausbildung der PsychotherapeutInnen und des therapeutischen Eklektizismus dieser HelferInnen unterschiedlich aus.62
62
7 231 3
Einführende Überblicke vermitteln: (Schmidtchen 1978)
und (Sanders 1982).
Spezifische psychotherapeutische Ansätze für
die Arbeit mit Kindern hat die Gruppe um Beezley,
Martin und Kempe entwickelt. Bei ihnen hat sich
als bedeutungsvollste Form individueller Psychotherapie die Spieltherapie durchgesetzt (Kempe &
Kempe 1980). Die Spieltherapie hilft Kindern,
Konflikte und Probleme auszudrücken und zu verarbeiten (Schmidtchen 1978). Der Erfolg einer
Spieltherapie ist umso größer, je jünger das Kind zu
Beginn ist und je größer die Akzeptanz von Veränderungen durch die Eltern ist.
Weitere psychotherapeutische Methoden, die in
der Arbeit mit Kindern zum Einsatz kommen können, sind psychodynamische und familientherapeutische Konzepte. Für ältere Kinder wird in der
Literatur auch Gruppenpsychotherapie vorgeschlagen (Godenzi 1994).
Bis dato liegen kaum adäquate Effizienzstudien
zu den unterschiedlichen Methoden vor. Beispielsweise wurden viele Erhebungen direkt im Anschluss an die psychotherapeutische Intervention
durchgeführt, wodurch langfristige Effekte der
Psychotherapie bei Kindern mit Gewalterfahrungen nicht erfasst wurden. Follow-up Studien von
psychotherapeutischen Interventionen bei Kindern
mit Gewalterfahrungen liegen bisher kaum vor.
Generalisierungen der psychotherapeutischen
Effekte auf Alltagssituationen sind außerdem
schwer möglich, da die Erhebungen häufig mittels
Fragebogen im psychotherapeutischen Umfeld
gemacht wurden. Einstellungsänderungen müssen
bekanntlich nicht immer Verhaltensänderungen
nach sich ziehen. Darüber hinaus wurden kaum
Studien mit Forschungs- und Kontrollgruppenvergleich durchgeführt. Psychotherapiefremde Einflüsse und spontane Remission üben ebenfalls Wirkung auf die Ergebnisse von Psychotherapie-Evaluationsstudien aus (Kintzer 1986). Insofern kann
nicht eindeutig gesagt werden, welche Maßnahme
bei welcher Problemlage zu empfehlen ist.
Selbsthilfegruppen
Im Rahmen von Selbsthilfegruppen treffen von
Gewalt betroffene Menschen zusammen, um sich
mit anderen, die ähnliche Erfahrungen gemacht
haben, auszutauschen. Der Vorteil liegt im Aspekt
der Gemeinsamkeit, der in solchen Gruppen erfahren wird.
Für Kinder und Jugendliche gestaltet sich der
Zugang zu Selbsthilfegruppen als schwierig. Er
gelingt meist nur mithilfe einer erwachsenen Vertrauensperson (Verwandte, Bekannte, HelferIn).
9.2.2.2 TäterInnenorientierte Intervention
In der Fachliteratur werden primär täterInnenorientierte Interventionen vorgestellt, die in
Fällen von körperlicher und sexueller Gewalt gegen
Kinder zum Einsatz kommen. Aus diesem Grund
wird auf den folgenden Seiten ausschließlich auf
täterInnenorientierte Interventionen bei diesen beiden Formen von Gewalt gegen Kinder eingegangen, während Interventionen bei psychischen
Gewaltformen ausgeklammert bleiben.
9.2.2.2.1 TäterInnenorientierte
Interventionsschritte
In den Bereich der täterInnenorientierten Interventionsschritte gehören primär Handlungen der
öffentlichen Jugendwohlfahrt, der Sicherheitsbehörde und des Gerichts gegenüber GewalttäterInnen. Das definierte Ziel dieser vom öffentlichen
Sektor initiierten Interventionsschritte gegenüber
TäterInnen ist der Schutz des betroffenen Kindes
vor den gewalttätigen Übergriffen des/der TäterIn
(Stourzh 1999).
Die Bandbreite möglicher Handlungen der
Jugendwohlfahrt, der Sicherheitsbehörde und des
Gerichts unterscheidet sich je nach Gesetzesgebung
in den einzelnen Staaten. Da der vorliegende Bericht zum Ziel hat, die Situation der Gewalt in der
Familie für Österreich darzustellen, werden mögliche Interventionsschritte des öffentlichen Bereichs
gegenüber TäterInnen auf Grundlage der österreichischen Gesetzgebung beschrieben.
7 232 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Öffentlichen Jugendwohlfahrt
Die Interventionen der Jugendwohlfahrt können auch als täterInnenorientierte Interventionsschritte gesehen werden, da TäterInnen im Rahmen
von Maßnahmen, wie z.B. der „Unterstützung der
Erziehung„ oder der „vollen Erziehung“ durchaus
zur Teilnahme an entsprechenden Unterstützungsangeboten motiviert werden können (Stourzh,
2000, TäterInnenarbeitsbroschüre).
Sicherheitsbehörde
Neben der öffentlichen Jugendwohlfahrt können auch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (v.a. Polizei und Gendarmerie) täterInnenorientierte Interventionsschritte setzen. Hierzu
zählen etwa die im Sicherheitspolizeigesetz verankerte Wegweisung und das Betretungsverbot (§ 38a
SPG). (siehe Teil VI: Gewalt gegen Frauen).
Gericht
Straf- und Zivilgerichte als Vertreter des Staates
haben die Möglichkeit, auf mehreren Ebenen
Interventionsschritte bei Gewalt gegen Kinder im
familialen Bereich einzuleiten wie die Regelung
bzw. Untersagung des „persönlichen Verkehrs“, die
einstweilige Verfügung und die förmliche Sanktion
gegen den/die TäterIn.
9.2.2.2.2 TäterInnenorientierte
Interventionshilfen
In der Fachliteratur zum Thema „Interventionshilfen“ für GewalttäterInnen finden sich
primär Behandlungskonzepte für männliche Täter.
Zielgruppe vieler Interventionshilfen sind Männer,
die physische und/oder sexuelle Gewalthandlungen
gegenüber Frauen ausüben. Weiters gibt es einige
Behandlungskonzepte, die sich an männliche Täter
von sexuellen Gewalthandlungen gegen Kinder
richten. Dem gegenüber ist die Anzahl von Hilfsmaßnahmen für TäterInnen körperlicher Gewalthandlungen gegenüber Kindern gering. Insofern
fordern ExpertInnen (Eitel 1998) die Übertragung
und Evaluierung erfolgreicher Interventionshilfen
Gewalt in der Familie
in Fällen von körperlicher und/oder sexueller Gewalt an Frauen und/oder Kindern auf den Bereich
der körperlichen Gewalt speziell auch der Vernachlässigung von Kindern.
Auf den folgenden Seiten werden die Psychotherapie, TäterInnenprogramme, Selbsthilfegruppen, organotherapeutische Maßnahmen und die Bewährungshilfe als Interventionshilfen bei Gewalt an
Kindern beschrieben, da sie zu den häufigsten
täterInnenorientierten Interventionshilfen zählen.
Psychotherapie bei TäterInnen
Die psychotherapeutische Behandlung von
TäterInnen, die körperliche und sexuelle Gewalthandlungen an Kindern verüben, wird sowohl
im Einzel- als auch im Gruppensetting angeboten.
Während der/die PsychotherapeutIn im Einzelsetting alleine mit dem/der TäterIn arbeitet, wendet
sich eine Gruppenpsychotherapie an mehrere Personen (Comer 1995). Gruppenpsychotherapie kann
einerseits die Familie, in der Gewalt auftritt, andererseits mehrere TäterInnen, die gemeinsam behandelt werden, als Klientel haben. Die TäterInnen, die
in einem Gruppensetting gemeinsam betreut werden, können TäterInnen ähnlicher Gewalthandlungen sein (z.B.: sexuelle Gewalt an Kindern) oder
auf Grund unterschiedlicher Formen gewalttätigen
Verhaltens (z.B.: körperliche Gewalt gegen Kinder/
Frauen, sexuelle Gewalt gegen Kinder/Frauen,
Exhibitionismus) zur Gruppenpsychotherapie
kommen (Eitel 1998).
Als mögliche Aspekte einer Psychotherapie für
TäterInnen können unter anderem folgende
Faktoren genannt werden (Rotthaus 1997; Duffek
1997):
3 Einen Zugang zum/zur TäterIn finden;
3 Förderung der Psychotherapiemotivation;
3 Gespräche über die allgemeine Lebensgestaltung des/der TäterIn;
3 Konfrontation mit dem Delikt;
3 Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln fördern;
3 Ursachen für die Gewalthandlung suchen;
7 233 3
3 Kontrolle über das symptomatische Verhalten
bzw. Impulskotrolle erlangen;
3 Analyse und Veränderung von problematischen
Einstellungen des/der TäterIn zu anderen und
zu sich selbst (z.B.: Geschlechtsrollenstereotypien, Selbstbild, Umgang mit Gleichaltrigen,
Beziehungsgestaltung);
3 Auflösung der häufig auftretenden Spaltung
des/der TäterIn seiner/ihrer eigenen Person in
den/die TäterIn und den liebevollen Menschen;
Förderung der Opferempathie;
3 Aufbau alternativer Konfliktbewältigungsstrategien;
3 Rückfallprophylaxe.
Bei sexueller Gewalt an Kindern sind zusätzlich
mögliche Aspekte psychotherapeutischer Arbeit
mit TäterInnen:
3 Aufklärungsarbeit über die psychosexuelle
Entwicklung und die Sexualität von Kindern;
3 Respekt der sexuellen Selbstbestimmung von
Kindern;
3 Bei männlichen Tätern antisexistische Männerarbeit;
3 Förderung „normaler“ Sexualität.
Psychotherapie von TäterInnen kann nach verschiedenen psychotherapeutischen Schulen erfolgen:
Psychotherapeutische Konzepte bei TäterInnen
körperlicher Gewalt gegen Kinder:
3 Der personzentrierte Ansatz mit den psychotherapeutischen Grundhaltungen der Empathie,
unbedingten Akzeptanz und Kongruenz ermöglicht ein Klima, in dem sich der/die TäterIn
in der Psychotherapie so geben kann, wie er/sie
wirklich ist (Rogers 1971). Dadurch fühlt sich
der/die TäterIn als Person angenommen und
fasst Vertrauen in den/die PsychotherapeutIn
(Eitel 1998).
3 Die Verhaltenstherapie bietet verhaltenssteuernde Übungen und Programme an, die gewalt-
tätige Verhaltensweisen abbauen sollen und
dem/der TäterIn alternative Verhaltensweisen
zur Gewalttätigkeit anbietet (Ziegler 1994).
3 Einige PsychotherapeutInnen arbeiten systemisch mit z.B. der Familie, in der die körperliche Gewalthandlung gegen das Kind vorkommt. Diesem Ansatz nach ist die Gewalthandlung Ursache und Problem eines größeren
Systems. Jedes Mitglied des Systems ist gleichzeitig TäterIn und Opfer. Insofern wird – den
systemischen PsychotherapeutInnen nach –
Psychotherapie dann fruchten, wenn alle von
der Gewalthandlung betroffenen Personen in
die Psychotherapie mit einbezogen werden
(Wanke 1992). In letzter Zeit werden eher systemische Psychotherapien mit wechselndem
Setting bevorzugt („Multiple-Systeme-Modelle“). Hier werden z.B. zuerst die Kinder und die
TäterInnen getrennt voneinander behandelt und
ernst nach merkbaren Psychotherapieerfolgen
in einem gemeinsamen Setting behandelt (Eitel
1998; Wanke 1992).
Psychotherapeutische Konzepte bei TäterInnen
sexueller Gewalt gegen Kinder
Wie bei der Psychotherapie von TäterInnen körperlicher Gewalthandlungen gegen Kinder können
bei sexueller Gewalt unterschiedliche psychotherapeutische Konzepte für TäterInnen angewandt werden. Häufig werden hier z.B. die Verhaltenstherapie,
die Systemische Psychotherapie (siehe oben) und die
Psychoanalyse eingesetzt (Duffek 1997).
3 Verhaltenstherapeutische Interventionen können neben den oben erwähnten Übungen und
Programmen bei sexuellen GewalttäterInnen
weitere Behandlungskonzepte sein, die auf
„Normalisierung“ der sexuellen Präferenz ausgerichtet sind (Godenzi 1996; Comer 1995).
3 Durch lerntheoretische Techniken, wie z.B. die
„orgasmische Umorientierung“ (Enright 1989)
oder die „masturbatorische Sättigung“
(LoPiccolo 1992) sowie Aversionsbehandlungen mit Elektroschock, Chemikalien und
7 234 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Schmerzreizen, soll – vor allem bei TäterInnen,
die im Strafvollzug behandelt werden – die sexuelle Erregbarkeit durch Kindern auf adäquate
Sexualobjekte gelenkt werden (Comer 1995).
3 Psychoanalytisch orientierte Psychotherapie
versucht unter anderem Kindheitserfahrungen,
gestörte Ich-Funktionen und unbewusste Konflikte, die als Ursachen für die „Perversion“ des/
der TäterIn gesehen werden, aufzudecken und
eine Veränderung der narzisstischen Bedürfnisse des/der TäterIn zu erzielen (Eitel 1998).
Im Zusammenhang mit Psychotherapie bei
TäterInnen können folgende Diskussions- und
Kritikpunkte zur Psychotherapie bei TäterInnen
im Allgemeinen und zu den einzelnen psychotherapeutischen Schulen im Speziellen zusammengefasst
werden:
3 ExpertInnen sehen die Psychotherapie bei TäterInnen insofern problematisch, als Psychotherapie immer auf dem Konzept der Freiwilligkeit
beruht (Eitel 1998). TäterInnen kommen allerdings selten freiwillig zur Behandlung.
3 Zudem bestehen bei GewalttäterInnen häufig
nicht die für das Gelingen einer Psychotherapie
notwendigen Voraussetzungen, wie z.B. Leidensdruck, Krankheitseinsicht bzw. Schuldeinsicht, Bereitschaft zur Mitarbeit sowie das
Ernstnehmen des Problems (Däubler-Gmelin
1997; Heiliger 1995; Bodenstein 1995).
3 Weiters ist die Schweigepflicht, der PsychotherapeutInnen unterliegen, häufig ein Problem
in der Behandlung von TäterInnen. Nachdem
der/die PsychotherapeutIn keine Aussagen über
Inhalte und Fortschritte der Psychotherapie an
Außenstehende weitergeben darf, ist die Zusammenarbeit mit z.B. Opferschutzeinrichtungen und Behörden nahezu unmöglich (Eitel
1998; Lercher 1999d).
3 Probleme in der Psychotherapie mit StraftäterInnen können sich z.B. für den/die PsychotherapeutIn ergeben, indem diese/dieser angesichts eigener Gefühle der Wut und Abscheu ge-
Gewalt in der Familie
genüber dem/der GewalttäterIn nicht mehr zu
dem für die meisten psychotherapeutischen
Ansätze postulierten empathischen Einfühlen
fähig ist. Einerseits durch negative Gefühle gegenüber dem/der TäterIn, andererseits durch
die Faszination, die GewalttäterInnen beim/bei
der PsychotherapeutIn auslösen können, kann
der/die PsychotherapeutIn seine/ihre Rolle als
HelferIn möglicherweise nicht wahrnehmen
bzw. den Fortschritt der Psychotherapie von
sich aus bremsen (Brem 1998; Eitel 1998).
3 Unabhängig vom psychotherapeutischen Konzept und dem Setting der Psychotherapie, geht
Koers (1982 zit. nach Eitel 1998) davon aus, dass
die Person der/des PsychotherapeutIn wesentlichen Einfluss auf die Wirksamkeit psychotherapeutischer Maßnahmen bei GewalttäterInnen
hat. Wie diese/dieser seitens des/der KlientIn unter anderem hinsichtlich seiner/ihrer Kompetenz, Zuverlässigkeit, seines/ihres Einfühlungsvermögen und der Sympathie wahrgenommen wird, ist wesentliches Kriterium für den
Erfolg des psychotherapeutischen Prozesses.
3 Viele psychotherapeutische Schulen sehen einen
längerfristigen Psychotherapieprozess vor, was
für die Behandlung von TäterInnen von Gewalthandlungen gegen Kinder als nachteilig gesehen wird. Vor allem wenn der/die TäterIn
während der Psychotherapie in der Familie verbleibt, werden die Gewalthandlungen durch die
Interventionshilfe mit großer Wahrscheinlichkeit nicht sofort beendet werden. Ziegler (1994)
meint z.B., dass vor allem die Psychoanalyse in
ihrem Setting zu aufwändig und langwierig für
viele TäterInnen ist.
3 Verhaltenstherapeutische Techniken gelangen
häufig auf Grund ihrer starken Symptomfokussierung ins Kreuzfeuer der Kritik und werden
als oberflächlich gesehen. So meinen einige
PsychoanalytikerInnen, dass der eigentliche
Grund der Gewalthandlung, eine tiefgreifende
Störung, durch die Verhaltenstherapie nicht verändert wird und dadurch auch keine dauerhafte
7 235 3
Heilung des/der TäterIn erreicht werden kann
(Mayer 1988).
3 Die oben beschriebenen aversiven Techniken
zur Arbeit mit SexualstraftäterInnen werden auf
Grund ethischer Zweifel häufig kritisiert. Die
Techniken würden die menschliche Würde der
StraftäterInnen untergraben. Zudem konnte bis
dato die Wirksamkeit der aversiven Techniken
auf die Rückfälligkeit von SexualstraftäterInnen
nach Haftentlassung nicht bewiesen werden
(Saunders 1989).
3 Was systemische Settings betrifft, werden familienpsychotherapeutische Methoden häufig kritisiert. Als Grund wird die Überforderung der
Kinder, gegen die die Gewalthandlungen verübt
wurden, genannt, wenn diese in einem gemeinsamen Setting mit dem/der TäterIn behandelt
werden.
TäterInnenprogramme
Neben der Psychotherapie als mögliche Interventionshilfe für TäterInnen wurden verschiedene
TäterInnenprogramme entwickelt, die sich an
Einzelpersonen richten oder im Gruppensetting
angeboten werden.
Diese Maßnahmen sind meist auf einen bestimmten Zeitraum begrenzte Interventionen, die
nach einem mehr oder weniger standardisierten,
stufenförmigen Curriculum strukturiert sind und
konkrete Programmziele definieren (Eitel 1998).
Zwar setzen die mit TäterInnen arbeitenden
HelferInnen häufig ihre psychotherapeutischen
Kompetenzen – sofern vorhanden – in der Arbeit
mit TäterInnen ein, wesentliches Ziel der TäterInnenprogramme ist jedoch die sozialtherapeutische
Arbeit (z.B.: Absicherungen für den Opferschutz,
Abhalten von HelferInnenkonferenzen, Erstellen
eines Zwangskontextes, Vorbereiten von Konfrontationssitzungen) und die starke Fokussierung auf
die (sexuelle) Gewaltdynamik (Brem 1999a).
Häufig begleiten ein/eine bzw. mehrere HelferInnen (z.B.: BeraterInnen, PsychotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen) die Tä-
terInnen. Die Erfahrung in der praktischen Arbeit
mit TäterInnen hat gezeigt, dass es für das Gelingen
der Programmziele hilfreich ist, zumindest zwei
HelferInnen für die TäterInnen zur Verfügung zu
stellen. Ein/eine HelferIn fungiert als TherapeutIn
und Vertrauensperson der TäterInnen, während
der/die zweite HelferIn („BegleiterIn“) als KontrolleurIn (z.B.: bezüglich der Regelmäßigkeit des
therapeutischen Kontakts, AnsprechpartnerIn für
Behörden und Familienmitglieder des/der TäterIn)
aktiv ist (Brem 1999a).
Einige TäterInnenprogramme richten sich ausschließlich an TäterInnen einer bestimmten Gewaltform gegenüber einer definierten Opfergruppe
(z.B.: Programme für TäterInnen sexueller Gewalt
gegen Kinder; Programme für TäterInnen körperlicher Gewalt gegen Kinder). Andere Programme
mischen TäterInnen unterschiedlicher Gewaltformen innerhalb einer Gruppe bzw. richten sich an
die Familie, in der Gewalt an Kindern auftritt (Eitel
1998; Lercher 1999b; Brem 1999a).
TäterInnenprogramme werden vielfach von auf
die Arbeit mit TäterInnen spezialisierten Beratungsstellen (z.B.: Männerberatungsstellen) ambulant angeboten, wobei TäterInnenprogramme häufig mit strafrechtlichen Interventionen koordiniert
und/oder kombiniert werden (Godenzi 1996).
3 TäterInnenprogramme
bei körperlicher Gewalt an Kindern
Für die Behandlung werden häufig Lern- und
Trainingsprogramme mit verhaltensorientierter und
kognitiver Ausrichtung angewandt (vgl. z.B. „ecobehavioural approach“ (Godenzi 1996). Diese entsprechen in ihren Grundannahmen häufig Programmen für Männer, die gegen ihre Frauen körperliche Gewalt zeigen (z.B.: „Change“ (Schmoll
1999)). Insofern ergeben sich, in Anlehnung an die
profeministisch orientierten TäterInneprogramme
bei körperlicher Gewalt gegen Frauen, folgende
Themenbereiche für die Arbeit mit gegen Kinder
körperlich gewalttätige Menschen (Lercher, 1999,
S. 13; Godenzi 1996):
7 236 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Angebot diverser Unterstützungsleistungen
(z.B.: Freizeitbereich, Erziehungsberatung in
Zusammenhang mit der Pflege und Ernährung
der Kinder, Aufbau sozialer Netze);
3 Übernahmen der Verantwortung für das eigene
Handeln;
3 Klärung der persönlichen Theorien über das
Zustandekommen gewalttätigen Verhaltens;
3 Aufarbeitung der individuellen Lerngeschichte
in Bezug auf körperliche Gewalttätigkeit;
3 Aufarbeitung von Rollenstereotypen;
3 Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstbild;
3 Sensibilisierung für Erregungszustände;
3 Stressbewältigung;
3 Konfliktbewältigung;
3 Familiendynamik.
Mögliche Ziele von TäterInnenprogrammen bei
körperlicher Gewalt gegen Kinder im familialen
Kontext sind (Eitel 1998; Godenzi 1996):
3 TäterInnen sollen über die altersgemäße Entwicklung ihrer Kinder aufgeklärt werden, sodass unrealistische Erwartungen an die Fähigkeiten der Kinder abgebaut werden.
3 Die TäterInnen sollen über nicht-gewalttätige
Erziehungsmethoden informiert werden und
diese in ihrem Alltag einüben.
3 Ablehnende Reaktion der TäterInnen auf das
Verhalten der Kinder sollen reduziert werden.
3 Positive Interaktion zwischen den TäterInnen
und den Kindern sollen verstärkt werden.
3 Mehrdimensionale Arbeit mit der Familie, damit den vielfältigen Ursachen und Bedingungen
von körperlichen Gewalthandlungen Rechnung
getragen werden kann.
Neben der Arbeit mit GewalttäterInnen in
Form von verhaltensändernden Programmen im
Einzel- bzw. im TäterInnengruppensetting gibt es
Interventionshilfen, die sich an die gesamte Familie
wenden, in der körperliche Gewalt gegen Kinder
auftritt.
Gewalt in der Familie
Im Folgenden wird das „Mailänder Modell“ als
Beispiel für die Arbeit mit Familien, in denen körperliche Gewalt gegen Kinder vorkommt skizziert
(Cirillo; Stefano; DiBlasio, 1992; Schmoll 1999):
Beim „Mailänder Modell“ handelt es sich um
ein systemisch-orientiertes Programm, bei dem die
HelferInnen vor Durchführung des Programms
prinzipiell die Herstellung eines Zwangskontextes
durch das Gericht einfordern. Unter der Bedingung, dass die Familie von Gerichts wegen zum
Programm kommen muss, erwarten sich die HelferInnen eine erhöhte Bereitschaft der Familie zur
Kooperation. Die Interventionshilfe des Mailänder
Konzepts erfolgt ambulant an einem Interventionszentrum in zwei Fasen (Eitel 1998):
1. Nach Überweisung der Familie an das jeweilige
Interventionszentrum durch das Gericht und
Unterbringung des Kindes in einem Wohnheim
wird ein Team zur Arbeit mit der Familie und
Kooperation mit dem HelferInnensystem gebildet. Dieses Team führt eine umfassende Diagnostik der Familie in Bezug auf deren Veränderungsbereitschaft durch und erarbeitet erste
Veränderungsschritte gewalttätiger Verhaltensweisen im Familiensystem. Nach Abschluss der
ersten Fase wird dem Gericht ein Gutachten der
Institution über die Situation der Familie vorgelegt.
2. Bei negativen Gutachten kommt es zur Beendigung der Intervention und endgültiger
Fremdunterbringung des Kindes. Bei positiven
Gutachten verbleibt die Familie zur weiteren
therapeutischen Arbeit am jeweiligen Interventionszentrum.
3 TäterInnenprogramme
bei sexueller Gewalt an Kindern
Für die Behandlung von TäterInnen sexueller
Gewalt an Kindern wurden verschiedenen Programme entwickelt und in der praktischen Arbeit mit
TäterInnen eingesetzt. Viele der derzeit verbreiteten Programme arbeiten kognitiv-verhaltensorien-
7 237 3
tiert und sind für ein Einzel- oder Gruppensetting
bestehend aus TäterInnen konzipiert.
Möglichkeiten zur Behandlung sexueller GewalttäterInnen sind z.B. (Bodenstein 1995; Brem
1999b):
3 eventuell die eigene Gewaltgeschichte aufarbeiten
3 gelegentliche Zusammenarbeit mit einzelnen
Familienmitgliedern, die für den Erfolg der
Behandlung wichtig erscheinen;
3 Verhaltensanalyse in gewissen Situationen (V-IS-Analysen);
3 Aufzeigen von Konsequenzen des Verhaltens;
3 Verhaltensmodifikation;
3 kognitive Umstrukturierung;
3 Training sozialer Fertigkeiten;
3 Selbstsicherheitstrainings;
3 Sexualaufklärung;
3 Thematisierung von Machtverhältnissen und
Sexismus;
3 Aufbau adäquater sexueller Bewältigungsstrategien mit erwachsenen SexualpartnerInnen
(z.B.: Orgasmus-Rekonsitionierung).
Ein international verbreitetes Konzept zur
Arbeit mit TäterInnen sexueller Gewalthandlungen, auf welchem zahlreiche Ansätze zur TäterInnenarbeit basieren, wurde z.B. vom Holländer
Ruud Bullens (1994) veröffentlicht. So orientiert
sich z.B. die „fokussierte TäterInnentherapie“ als
Maßnahme der TäterInnenarbeit in Österreich
(siehe: österreichspezifische Maßnahmen) unter
anderem am Konzept von Ruud Bullens.
Die Erfahrungen des Autors in der Arbeit mit
sexuellen GewalttäterInnen führte ihn zu der
Annahme, dass TäterInnen sexueller Gewalthandlungen spezifische Charakteristika in ihrem Verhalten und Denken zeigen (z.B.: fehlendes Einfühlungsvermögen für die Opfer, keine Verantwortungsübernahme für die Gewalthandlung, bewusste
Planung eines Deliktszenarios). Diese allgemeinen
Beschreibungen von „typischen“ TäterInnen sexueller Gewalthandlungen bilden die zentralen
Ansatzpunkte des TäterInnenprogramms nach
Bullens.
Der Autor geht davon aus, dass das Ziel eines
TäterInnenprogramms nicht die Heilung des/der
TäterIn sein kann. Vielmehr geht es ihm darum,
TäterInnen dabei zu unterstützen, für ihr restliches
Leben den Impulsen in Bezug auf eine erneute
sexuelle Gewalttat gegenüber einem Kind Stand
halten zu können (Bullens 1994).
Bullens (1994) nennt folgende fünf Säulen als
Grundelemente für sein Interventionskonzept
(Lercher, 1999, S. 10; Wevers 1999):
3 Rekonstruktion des Deliktszenarios, damit der/
die TäterIn sich mit seinem/ihrem eigenen Anteil an der sexuellen Gewalthandlung auseinandersetzt.
3 Verantwortung für die Tat übernehmen lernen.
3 Empathiefähigkeit für das Opfer entwickeln, indem sich der/die TäterIn mit der Opferperspektive auseinandersetzt.
3 Unterschied in der Sexualität von Erwachsenen
und Kindern vermitteln, indem z.B. über die
psychosexuelle Entwicklung und die Sexualität
von Kindern gesprochen wird.
3 Erlernen sozialer Kompetenzen, wie z.B.
gleichwertiger Umgang mit Erwachsenen, Artikulation von Wünschen und Bedürfnissen in
adäquater Form, selbstbewusstes Auftreten in
Situationen, in denen die TäterInnen das Gefühl
haben zu versagen. Dadurch wird der Handlungsspielraum der TäterInnen erweitert, sodass
sie in schwierigen Situationen über mehrere
Verhaltensalternativen verfügen.
Bullens (1994) geht davon aus, dass die Interventionsziele eines TäterInnenprogramms in einen
verpflichtenden Rahmen gebettet sein müssen (z.B.
gerichtliche Weisung). Seiner Ansicht nach wird dadurch die Motivation der TäterInnen für das Programm erhöht.
Die von Bullens (1994) vorgeschlagene Dauer
des Programms beträgt drei Jahre, wobei zumeist in
Gruppen gearbeitet wird.
7 238 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Ein weiteres Programm, das zur Behandlung
von TäterInnen sexueller Gewalt an Kindern zum
Einsatz kommt, wurde von Cloe Madanes und Jim
Eddy im Family Therapy Institut (FTI) in
Maryland, USA, entwickelt (Mayr 2000). Dieser
Maßnahme der Intervention liegt eine systemische
Betrachtung sexuellen Missbrauchs zu Grunde,
weshalb die gesamte Familie, in der sexuelle Gewalt
gegen Kinder auftritt, behandelt wird. Der Ansatz
von Madanes et al. orientiert sich an einem 15Schritte-Programm, das zusammengefasst folgendermaßen beschrieben werden kann (Mayr 2000 ):
1. Bei Anwesenheit der gesamten Familie werden
vom/von der TherapeutIn möglichst genaue
Informationen über die sexuellen Gewalttaten
eingeholt. Dabei soll kein Druck gegenüber
dem Opfer, hingegen aber gegenüber dem/der
TäterIn und der restlichen Familie ausgeübt
werden. Ziel ist es, alle Geheimnisse der Familie
zu lüften und detaillierte Informationen wie
z.B. wer was wann mit wem und wie oft getan
hat zu erfassen.
2. Jedes Familienmitglied soll angeben, warum es
glaubt, dass die Handlungen des/der TäterIn
falsch waren.
3. Der/die TherapeutIn stimmt allen aufgezählten
Punkten zu und ergänzt die Liste durch eine
weitere Aufzählung, nämlich den spirituellen
Schmerz, der dem Opfer zugefügt wurde.
4. Es wird im Rahmen des Familiengesprächs festgestellt, dass weiters eine spirituelle Verletzung
des/der Täterin durch die sexuellen Gewalthandlungen entsteht.
5. Sexuelle Übergriffe, die der/die TäterIn selbst
oder andere Familienmitglieder außerhalb des
jeweiligen Falls erlebt haben, werden erfasst.
6. Der/die TherapeutIn stellt fest, dass nicht nur
Opfer und TäterInnen, sondern das gesamte
Familiensystem eine spirituelle Verletzung
erfahren haben.
7. Der/die TäterIn wird aufgefordert sich vor dem
Opfer hinzuknien, sich für seine/ihre Taten zu
entschuldigen und der Reue über sein/ihr ver-
Gewalt in der Familie
gangenes Verhalten Ausdruck zu verleihen. Ziel
dieser Intervention ist es, den/die TäterIn zur
Verantwortungsübernahme und Anteilnahme
gegenüber dem Opfer zu bewegen.
8. Anschließend knien alle anderen Familienmitglieder vor dem Opfer nieder und entschuldigen
sich dafür, das betreffende Kind nicht vor den
sexuellen Übergriffen des/der TäterIn beschützt
zu haben.
9. Mit der Familie werden mögliche Konsequenzen diskutiert, die gesetzt werden, sollte der/die
TäterIn in Zukunft sexuell gewalttätig sein.
10. Der/die TherapeutIn sieht das Opfer alleine, um
mit ihm/ihr über die sexuellen Gewalterfahrungen zu sprechen.
11. Es wird ein/eine BeschützerIn (nicht die Eltern)
für das Kind gewählt (z.B.: Großeltern, Tante,
Onkel).
12. Langfristige Wiedergutmachungen des/der TäterIn gegenüber dem Opfer z.B.: Beiträge zur
Ausbildung, zur eigenen Wohnung des Opfers
werden im Setting vereinbart.
13. Der/die Therapeutin bespricht mit dem/der
TäterIn Möglichkeiten, sexuelle Übergriffe in
Zukunft zu vermeiden (z.B.: Selbsthilfegruppen, sportliche Betätigung).
14. Im nächsten Schritt geht es um die Wiederherstellung der Zuneigung innerhalb der Familie
(z.B.: gegenüber dem/der TäterIn bzw. gegenüber dem Opfer).
15. Nachdem die Selbstmordgefahr bei den TäterInnen auf Grund enormer Schuldgefühle
hoch ist, wird dem/der TäterIn schließlich geholfen, sich selbst zu vergeben.
Folgende zusammenfassende Diskussions- und
Kritikpunkte ergeben sich bezüglich der TäterInnenprogramme aus der Fachliteratur:
3 Die strukturierte und kurzzeitige Arbeit mit
TäterInnen in Form von Programmen beinhaltet kaum die psychotherapeutische Aufarbeitung von innerpsychischen Konflikten, mit dem
Ziel der Veränderung der Gesamtpersönlichkeit
7 239 3
des/der TäterIn. Dadurch zweifeln KritikerInnen von TäterInnenprogrammen an langfristigen Erfolgen derselben (Eitel 1998).
3 Die Koordination und Kooperation mit Familienangehörigen, Opferschutzeinrichtungen
und Behörden ist ein wichtiger Grundsatz vieler
TäterInnenprogramme. Dadurch wird dem
Anspruch an ein Maximum des bestmöglichen
Opferschutzes Rechnung getragen.
3 Viele der heute eingesetzten TäterInnenprogramme orientieren sich an kognitiv verhaltensorientierten Modellen. Gemäß dieser Ansätze
befassen sich die meisten TäterInnenprogramme direkt mit dem gewalttätigen Verhalten der
TäterInnen und versuchen dieses durch verschiedene Übungen zu korrigieren. Dazu werden häufig konkrete Standards oder Ziele definiert, deren Erreichung überprüft werden kann.
Durch die zeitliche Begrenzung und die häufige
Arbeit im Gruppensetting können TäterInnenprogramme demnach als effiziente Form der
täterInnenorientierten Intervention gesehen
werden.
3 Über die Effektivität von kognitiv-behaviouralen Programmen für TäterInnen finden sich in
der Literatur kontroverse Ansichten. Azar (zit.
nach Eitel 1998) beurteilt z.B. kognitiv-verhaltensorientierte TäterInnenprogramme auf
Grund empirischer Ergebnisse als wirkungsvoll,
da die Rückfallsquote der untersuchten TäterInnen, die gegen ihre Kinder körperlich gewalttätig waren, binnen einem Jahr nach
Beendigung des untersuchten Gruppentrainings
gering war. Ziegler (1994) bewertet die Erfolgsaussichten von Trainingsprogrammen hingegen
weniger optimistisch. Seiner Ansicht nach ist es
„naiv“ von kurzfristigen Programmen entscheidende Veränderungen zu erwarten.
3 Das Programm von Madanes et al. gilt derzeit
im amerikanischen Raum als eines der erfolgreichsten Modelle zur Behandlung von TäterInnen sexueller Gewalt in der Familie. Im Rahmen
einer Längsschnittuntersuchung, die zwischen
1986 und 1993 an 76 TäterInnen durchgeführt
wurde, wurden lediglich drei TäterInnen nach
der Teilnahme am Programm des FTI rückfällig.
Inwiefern dieser therapeutische Ansatz auf den
europäischen Raum übertragen werden kann ist
umstritten. So erscheinen einige Sequenzen des
15-Stufen-Programms für unseren Kulturkreis
als unpassend, da sie sehr künstlich wirken
(z.B.: vor dem Opfer hinknien, materielle Wiedergutmachung). Zudem wird die Vorgehensweise von Madanes et al. hinsichtlich ethischer
Gesichtspunkte, z.B. aus der Perspektive des
Opfers bzw. des/der TäterIn, kritisiert.
Exkurs: Zugang der Täter zu Täterpsychotherapie und Täterprogrammen
Welche Interventionshilfe bei Tätern zum Einsatz kommt und wie sich diese in der praktischen
Täterarbeit gestaltet, hängt unter anderem davon ab, unter welchen Bedingungen die Täter zur Psychotherapie bzw. zu den Täterprogrammen kommen. Der folgende Exkurs stellt mögliche Zugangswege der
Täter zu Interventionshilfen in Österreich vor und skizziert mögliche Konsequenzen für die Täterarbeit.
Grundsätzlich können diese Konzepte auch auf die Täterinnenarbeit umgelegt werden.
Folgende drei Formen des Zugangs der Täter zu psychotherapeutisch- und programmorientierten
Interventionshilfen existieren in Österreich (Haydari 1999):
7 240 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Täterarbeit mit Freiwilligen
3 Täterarbeit bei eingeschränkter Freiwilligkeit
3 Täterarbeit im Bereich des Strafrechts
Entsprechend dieser drei Zugangsmöglichkeiten von Tätern, also deren Grad von Freiwilligkeit, ergeben sich Unterschiede z.B. in den Behandlungsprinzipien, -zielen und -settings von Psychotherapie und
Programmen für Täter.
Täterarbeit mit Freiwilligen
Einige Psychotherapie- und Programmangebote richten sich ausschließlich an Täter, die sich freiwillig
einer Behandlung unterziehen.
Grundannahme der „Freiwilligenkonzepte“ ist, dass nur Täter, die sich durch einen persönlichen Veränderungswunsch motiviert, an z.B. eine Beratungsstelle oder eine/einen niedergelassenen PsychotherapeutIn wenden und die Verantwortung für ihr gewalttätiges Handeln übernehmen wollen, fähig zur Beendigung der eigenen Gewalttätigkeit sind (Lercher 1999a).
VertreterInnen des Freiwilligenansatzes sind davon überzeugt, dass äußerer Zwang, z.B. durch gerichtliche Auflagen oder therapeutische Angebote im Strafvollzug, keinen Veränderungsprozess seitens der
Täter anregen können (Godenzi 1996).
Die Arbeit mit den Gewalttätern erfolgt häufig nach den Prinzipien der Konfrontation und Empathie,
indem die Gewalttätigkeit im Behandlungssetting abgelehnt wird, der/die HelferInnen allerdings versuchen, sich in die Situation der Täter einzufühlen (Lercher 1999a).
Programme und psychotherapeutische Angebote, die sich an Freiwillige wenden, werden meist ambulant, im Einzel- und/oder im Gruppensetting angeboten.
Die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen (z.B.: Opferschutzeinrichtungen, Gerichte) findet in
der Regel nicht statt.
Täterarbeit bei eingeschränkter Freiwilligkeit
In vielen Fällen kommen Täter unter eingeschränkter Freiwilligkeit z.B. durch eine dringende Empfehlung, eine Auflage bzw. Druck seitens der Jugendwohlfahrtsbehörde, der Sicherheitsorgane oder des
Gerichts (siehe Kapitel 9.2.2.2.1 „Interventionsschritte“) in Psychotherapie bzw. zu Täterprogrammen.
Insofern erachten viele Konzepte, die die Arbeit mit Gewalttätern unter eingeschränkter Freiwilligkeit
vorsehen, die Kooperation mit und die Kontrolle durch anderen Einrichtungen (z.B. Opferschutzeinrichtungen, Jugendämter) während des Behandlungsprozesses für sinnvoll (Brem 1998).
Die therapeutischen Prinzipien und Ziele von Täterprogrammen bei eingeschränkter Freiwilligkeit entsprechen großteils denen bei freiwillig kooperierenden Tätern.
ExpertInnen nennen häufig die geringe oder vorgetäuschte Motivation des Täters als Problem von Behandlungskonzepten, die mit eingeschränkt freiwilligen Tätern arbeiten (Rotthaus 1997). Insofern wurden
Möglichkeiten entwickelt, mit geringer oder vorgetäuschter Motivation umzugehen. So verlangen einige
Institutionen, die mit Tätern unter eingeschränkter Freiwilligkeit arbeiten, als Teil des Therapievertrages
z.B. die schriftliche Selbstanzeige des Täters vor Beginn der Behandlung, die an die Behörden weitergegeben wird, sobald sich der Täter nicht an die Vereinbarungen des Behandlungsvertrages hält (Lercher
Gewalt in der Familie
7 241 3
1999d). Weiters wird z.B. eine klare Trennung zwischen der Behandlung, die prinzipiell auf Freiwilligkeit
basiert, da der Täter sich dazu bereit erklärt das Therapieangebot zu nützen, und der Einschränkung der
Freiwilligkeit, die sich auf den Behandlungsrahmen bezieht (z.B.: Auflagen, dringende Empfehlungen seitens der Behörden) vorgenommen (Rotthaus 1997).
Bei diesen Konzepten werden meistens ambulante Einzel- und/oder Gruppensettings für die Täter angeboten (Lercher 1999d).
Täterarbeit im Bereich des Strafrechts
Kommt es zu einem Strafverfahren gegen einen mutmaßlichen Gewalttäter, so gibt es im Rahmen strafrechtlicher Interventionen Anknüpfungspunkte für die Arbeit mit Gewalttätern (siehe Kapitel 9.2.2.2.1
„Interventionsschritte“). Dabei kann zwischen Täterarbeit im Maßnahmenvollzug bzw. im Strafvollzug,
Behandlung bei Diversion bzw. bedingter Strafnachsicht oder Entlassung aus dem Strafvollzug und der
forensischen Nachbetreuung unterschieden werden.
Wie bei der Behandlung von Tätern bei eingeschränkter Freiwilligkeit ergeben sich häufig Motivationsprobleme in Bezug auf das Behandlungsangebot. Unterschiede zu den oben genannten Formen der Täterarbeit bestehen insofern, als das Setting der Täterarbeit neben der bereits erwähnten ambulanten Behandlung z.B. in einer Beratungsstelle oder bei einem/einer niedergelassenen PsychotherapeutIn weiters
stationär z.B. in einer Anstalt des Maßnahmenvollzugs im Einzel- und/oder Gruppensetting erfolgen kann
(Lercher 1999c).
Behandlung im Maßnahmenvollzug bzw. im Strafvollzug
In einigen Anstalten des allgemeinen Strafvollzugs werden psychotherapeutische Maßnahmen bzw.
Programme für Täter stationär angeboten (Brem 1998). Die Täter, welche auf Grund ihrer Gewalthandlungen an Kindern im allgemeinen Strafvollzug untergebracht sind, verlassen allerdings häufiger zum
Zweck der Behandlung die Anstalt, um eine ambulante Behandlungsmaßnahme zu konsultieren (Lercher
1999c).
Der Maßnahmenvollzug für geistig abnorme Rechtsbrecher sieht indes häufig stationäre Behandlungsmaßnahmen für Täter vor (Berner 1998).
Inhalte und Ziele der stationären Behandlungskonzepte haben sich in den letzten Jahren unter anderem zunehmend auf eine opferzentrierte Rückfallsprävention im Hinblick auf die Zeit nach der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher bzw. in einer psychiatrischen Abteilung konzentriert (Duffek 1997).
Im stationären Rahmen werden häufig Gruppensettings angeboten, die fallweise mit Einzelgesprächen
mit den Tätern kombiniert werden (Rotthaus 1997).
Behandlung bei Diversion, bedingter Strafnachsicht bzw. Entlassung aus dem Strafvollzug
Wie bereits im vorherigen Abschnitt über mögliche Interventionsschritte dargestellt, kann das Gericht
auf die Durchführung des Strafverfahrens verzichten (Diversion). Statt der regulären Geld- oder Haftstrafe
kann der Täter mit seiner Zustimmung bestimmte Pflichten übernehmen, die unter anderem die Teilnahme
an einem Täterprogramm oder einer Psychotherapie beinhalten können. Das Gericht kann aber auch
bedingte Strafnachsicht walten lassen bzw. den Täter bedingt aus dem Strafvollzug entlassen In den
7 242 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
meisten Fällen dieser Zugangsform von Tätern zu Behandlungsangeboten wird der Täter an bestimmte
ambulante Institutionen (z.B.: Beratungsstellen) überwiesen, die Psychotherapie bzw. Programme für Gewalttäter anbieten und mit den zuständigen Behörden kooperieren (Lercher 1999c).
Die Angebote orientieren sich meist nach ähnlichen Prinzipien, wie jene bei Freiwilligkeit bzw. eingeschränkter Freiwilligkeit und werden im Einzel- und/oder Gruppensetting angeboten.
Forensische Nachbetreuung
In der Beratungsstelle für forensischen Nachbetreuung werden Täter, die aus dem Maßnahmenvollzug
entlassen werden, behandelt. Vom Gericht wird die Nachbehandlung als Bedingung für z.B. eine bedingte Haftentlassung festgesetzt.
Die Arbeit in der forensischen Nachbetreuung sieht häufig stützende oder aufdeckende Psychotherapie im Einzelsetting vor; fallweise werden zudem Paar- und Familienpsychotherapien angeboten (Wagner
1998; Lercher 1999c).
Selbsthilfegruppen
Selbsthilfegruppen für TäterInnen von Gewalthandlungen an Kindern sind Vereinigungen von
Menschen, die bereits Gewalt an Kindern verübt
haben bzw. ihr eigenes Gewaltpotenzial als hoch
einschätzen. Sie werden meist ausschließlich von
betroffenen Personen, d.h. ohne therapeutische Anleitung geführt („peer-counseling“) (Godenzi
1996).
Inhaltlich können Selbsthilfegruppen für
TäterInnen von Gewalthandlungen an Kindern
sehr unterschiedlich gestaltet sein. So gibt es z.B.
Vereinigungen, die Lern- und Trainingsprogramme
im Rahmen der Selbsthilfegruppen durchführen,
andere wiederum bieten ein Plenum an, in dem
TäterInnen über Probleme und Schwierigkeiten im
Zusammenhang mit ihrem gewalttätigen Verhalten
sprechen können.
Die Selbsthilfebewegung für TäterInnen von
Gewalthandlungen ist in Amerika weitaus stärker
vertreten als in den meisten Ländern des europäischen Raums. Überregional bekannte Initiativen
in den USA sind z.B. die Männergruppen
„EMERGE“, „AMEND“ (Abusive Men Exploring
New Directions), „MOVE“ (Men Overcoming
Violence) oder Parents Anonymus.
Gewalt in der Familie
Der Vorteil der Selbsthilfegruppen besteht darin, dass TäterInnen einen Rahmen auffinden, der
sie temporär vom Gefühl gesellschaftlicher Stigmatisierung und Isolation befreit. TäterInnen erkennen in Selbsthilfegruppen, dass sie nicht alleine mit
ihrem Problem sind und dass andere Menschen es
geschafft haben, ihr Zusammenleben mit Kindern
gewaltfrei zu gestalten.
Kritisiert wird am Konzept der Selbsthilfegruppen, dass es sich ausschließlich an einsichtige TäterInnen wendet, die allerdings nicht zum Gros der
gegen Kinder Gewalttätigen gehören.
Organotherapeutische Behandlung
In bestimmten Fällen werden körpermedizinische Behandlungen eingesetzt, um gewalttätiges
Verhalten seitens der TäterInnen zu unterbinden.
Im Bereich der sexuellen Gewalt können zwei organotherapeutische Konzepte unterschieden werden
(Sigusch 1996):
3 chirurgische Eingriffe (z.B.: Kastration, Gehirnchirurgie)
3 medikamentöse Behandlung (z.B.: Hormonbehandlung, Psychopharmakabehandlung).
Die Kastration ist eine der ältesten Formen
(Kapitel 9.1.2.2 „Historische Entwicklung interve-
7 243 3
nierender Maßnahmen am Beispiel der Täterarbeit“)
zur Behandlung von sexuell devianten Männern, die
in den letzten Jahren wieder verstärkt als mögliche
Intervention diskutiert wird (Sigusch 1996). Die
Befürworter der Kastration betonen den Erfolg
dieser Methode im Zusammenhang mit der Rückfälligkeit männlicher Sexualstraftäter. Wille (1990)
führt beispielsweise die im Vergleich zu anderen
Interventionsmaßnahmen äußerst geringe, Rückfallsrate von 1-3% nach der Kastration an. Die
GegnerInnen der Kastration hingegen betonen die
negativen Folgen dieses chirurgischen Eingriffs auf
die körperliche, psychische und soziale Gesundheit
der Täter (Sigusch 1996).
Gehirnchirurgische Eingriffe (z.B.: stereotaktische anteriore Hypothalamotomie) wurden in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter anderem
zur Behandlung von Sexualstraftätern eingesetzt
(Sigusch 1996). Auf Grund ihrer irreversiblen negativen Auswirkungen auf den Erlebnis- und
Verhaltensbereich der Täter kommen sie heute nur
mehr äußerst selten als Interventionsmaßnahme zur
Anwendung.
Medikamente zur Behandlung von Gewalttätern werden ebenfalls primär bei sexuell deviantem Verhalten herangezogen. Die Behandlung
sexueller Gewalttätigkeit mit Medikamenten kann
einerseits durch Hormonbehandlungen (z.B.:
Androcur) und andererseits durch psychopharmakologische Medikation erfolgen.
Die Hormonbehandlung von männlichen
Sexualstraftätern zielt darauf ab, die Produktion des
männlichen Sexualhormons Testosteron drastisch
zu senken. Dadurch kann ein Effekt auf die sexuelle Erregbarkeit des Täters erreicht werden, der dem
einer chirurgischen Kastration ähnelt (Berner
1998). Diese Behandlungsmethode wird eher selten,
meist ausschließlich bei sexuell extrem aggressiven
bzw. chronischen Sexualstraftätern eingesetzt.
Vor allem bei TäterInnen im Maßnahmenvollzug an einer psychiatrischen Abteilung oder in
einer Anstalt für geistig abnorme RechtsbrecherInnen, bei denen die Gewalthandlungen auf
eine psychische Krankheit zurückgeführt werden,
können je nach angenommener Erkrankung Psychopharmaka (z.B. Antidepressiva, Neuroleptika,
Litium, Tranquilizer) zur Behandlung eingesetzt
werden.
Der Einsatz von Hormonen als Maßnahme der
Intervention bei sexueller Gewalt gegen Kinder ist
umstritten. Zwar kann dadurch die „Triebhaftigkeit“ des männlichen Täters eingeschränkt werden, GegnerInnen der Hormonbehandlung erachten allerdings die medikamentöse Einschränkung
der sexuellen Ansprechbarkeit des männlichen Täters als unethisch (Sigusch 1996).
Inwieweit Psychopharmaka neben ihrer Wirksamkeit auf die psychische Krankheit der Täter auf
deren Gewaltbereitschaft Einfluss nehmen, ist bis
dato nicht belegt (Berner 1998).
Bewährungshilfe
Die Betreuung von TäterInnen sowohl körperlicher als auch sexueller Gewalthandlungen an Kindern ist durch die ambulante Begleitung im Zuge
der Bewährungshilfe möglich.
Ziel der Bewährungshilfe ist die soziale Reintegration des/der TäterIn in die Gesellschaft.
Bewährungshilfe kann ausschließlich von
TäterInnen in Anspruch genommen werden, die
bereits verurteilt wurden. Insofern kommt dem/der
BewährungshelferIn vor allem die Aufgabe zu,
den/die TäterIn im Bereich der Rückfallsprophylaxe zu unterstützen.
Die Bewährungshilfe ist in ihrer aktuellen Form
eine zeitlich begrenzte Begleitung des/der TäterIn.
Die Möglichkeit der Unterstützung des/der TäterIn z.B. durch Gespräche mit dem/der BewährungshelferIn wäre nach Brem (1998) zu einer
effektiven Rückfallsprävention meistens auch noch
Jahre nach Verbüßen der Strafe notwendig.
Häufig besteht Parteilichkeit des/der BewährungshelferIn gegenüber dem/der TäterIn, wodurch die Zusammenarbeit mit Opferschutzeinrichtungen oder Behörden erschwert wird (Brem
1998).
7 244 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Diskussion von Intervention bei Gewalt
Zusammenfassend wird in der Literatur gefordert, ein integrierendes Interventionsmodell anzustreben, das je nach spezifischer Situation die
adäquate Unterstützung anbietet wie Intervention
bei akuten, punktuell auftretenden Krisen, langfristige (psychotherapeutische, sozialarbeiterische,
psychologische) Begleitung bei chronischen Krisen.
Um dieses zu erarbeiten, bedarf es aktueller und
adäquater Evaluierungsstudien.
Ebenso wie für den Bereich der Prävention wird
jedoch auch für den Bereich der Intervention in der
Forschungsliteratur bemängelt, dass die Konzepte
und Programme kaum evaluiert werden und dass
unklar ist, wie erfolgreich diese sind (Godenzi
1994). Gerade im Zusammenhang mit der Wirkung
von existierenden Interventionshilfen für TäterInnen wird in der Fachliteratur ein Mangel an aktuellen und statistisch fundierten Effektivitäts- und
Effizienzstudien zu verschiedenen Ansätzen der
TäterInnenpsychotherapie und TäterInnenprogramme beklagt. Weiters fehlen aussagekräftige
Forschungsergebnisse zur Auswirkung von Zwang
oder des Settings auf die TäterInnenintervention
(Godenzi 1996).
Die Effektivität von Psychotherapie und Programmen für TäterInnen von Gewalt an Kindern
wird kontrovers diskutiert. Einige AutorInnen
(Bodenstein 1995) gehen z.B. von einer gewissen
„Therapieresistenz“ bei GewalttäterInnen aus, die
negativen Einfluss auf die Wirksamkeit von
Psychotherapie und Programmen hat und sich in
den Rückfallsstatistiken über TäterInnen widerspiegelt. Mehrere Studien (Godenzi 1996) belegen,
dass TäterInnen nach therapeutischer Behandlung
immer wieder rückfällig werden und erneut Gewalt
gegen Kinder anwenden. Finkelhor (Finkelhor &
Araji 1986) kam nach einer Analyse durchgeführter
Studien bezüglich der Rückfälligkeit von TäterInnen sexueller Gewalt zu dem Schluss, dass mit einer
solchen vor allem bei bereits vorbestraften TäterInnen zu rechnen ist (zirka 3-35%).
Gewalt in der Familie
Ob Psychotherapie oder Programme in der
Arbeit mit TäterInnen eingesetzt werden und welche psychotherapeutische Methode bzw. welches
Programm für TäterInnen geeignet ist, wird von
verschiedenen Faktoren abhängen und muss im
Einzelfall entschieden werden. Eine Abstimmung
der Interventionshilfe auf den Einzelfall beurteilt
Schneider (1981) als wichtige Voraussetzung für die
Wirksamkeit der Hilfsmaßnahme. Einfluss auf die
Wahl der geeigneten Interventionshilfe können
unter anderem die vermuteten Gewaltursachen, die
Ausprägung der Gewalthandlungen, das Alter
des/der TäterIn, die psychische Verfassung des/der
TäterIn, seine/ihre Vorgeschichte im Zusammenhang mit Gewalt, Prognosen sowie verfügbare
Behandlungsangebote, Kosten und Finanzierung
der TäterInnenbehandlung haben.
In den letzten Jahren ist ein Trend in Richtung
programmorientierter Interventionshilfen bei
TäterInnen zu verzeichnen, der sich in der Entwicklung und Implementierung von TäterInnenprogrammen in Österreich widerspiegelt. Speziell
für den Bereich der Täterinnen wäre eine diesbezüglich Entwicklung wünschenswert sowie dringend erforderlich.
9.3 Österreichspezifische
Maßnahmen
In den letzten zehn Jahren wurde in Österreich
eine Reihe von Maßnahmen getroffen, die sich
Prävention von und Intervention bei Gewalt am
Kind zum Ziel gesetzt haben.
In der folgenden Darstellung wurde der Fokus
auf jene Maßnahmen gerichtet, die vom BMSG
durchgeführt bzw. gefördert wurden. Frauenspezifische Aktivitäten wurden explizit nicht behandelt, da sich diese im Frauenteil des Gewaltberichts befinden.
7 245 3
9.3.1 Maßnahmen
auf politischer Ebene
3 Ausweitung der „schonenden Einvernahme“:
zwingend für unmündige Sexualopfer und bei
allen anderen Sexualopfern auf Antrag.69
9.3.1.1 Gesetzliche Maßnahmen
Als grundlegende Maßnahme für Prävention
und Intervention bei Gewalt an Kindern sind auf
Regierungsebene gesetzliche Regelungen zu nennen, welche im Kapitel „Gewalt in der Familie –
Ein Überblick über die Gesetzeslage der letzten 10
Jahre“ (Teil I, Kapitel 5) sowie im Kapitel 9.2.2.2
„TäterInnenorientierte Intervention“ ausgeführt
sind. Im Folgenden wird eine exemplarische Darstellung über relevante Neuerungen der letzten
zehn Jahre gegeben.
9.3.1.1.1 Neuerungen für Opfer
1989 erfolgte die Neudefinition des Begriffs
„Vergewaltigung“: die Erweiterung auf männliche
Opfer, die Einbeziehung der „beischlafsähnlichen
Handlungen“ und der Wegfall der Voraussetzung
der Widerstandsunfähigkeit.63 Weiters wurde das
Verbot der Zufügung körperlichen und seelischen
Leides („Züchtigungsverbot“) ausdrücklich eingeführt bzw. verdeutlicht.64
Die Möglichkeit der „schonenden Einvernahme“ von Gewaltopfern wird 1993 eingeführt.65
1998 sind folgende Änderungen vorgesehen:
3 Gleichstellung der so genannten „beischlafsähnlichen Handlungen“ mit dem Beischlaf;66
3 neue Bezeichnungen für die Delikte §§ 206 und
207: „schwerer sexueller Missbrauch“ statt
„Beischlaf mit Unmündigen“, „sexueller Missbrauch“ statt „Unzucht“ mit Unmündigen;67
3 Verjährungsfrist bei bestimmten Sexualdelikten
läuft erst ab Erlangen der Volljährigkeit;68
63
64
65
66
67
68
Strafgesetzbuch (StGB).
Allgemein Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB).
Strafprozessordnung (StPO).
StGB.
StGB.
StGB.
Seit den Neuerungen 1999 können Verbrechensopfer Kostenzuschuss für psychotherapeutische Krankenbehandlung erhalten.70
9.3.1.1.2 Neuerungen für TäterInnen
1989 tritt die Regelung bzw. Untersagung des
persönlichen Verkehrs in Kraft. Dabei kann das
Gericht auf Antrag bei Gewalthandlungen gegen
Kinder über eine Regelung bzw. Untersagung des
persönlichen Verkehrs zwischen Kindern und
Eltern bzw. Elternteil entscheiden.71
Nahe Angehörige (beispielsweise EhegattInnen
oder LebensgefährtInnen) können bei Gericht um
eine Wegsweisung des/der TäterIn („einstweilige
Verfügung“) ansuchen (1996).72
1999 werden die Wegweisung und das Betretungsverbot eingeführt:73 Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind bei Kenntnisnahme
einer Gewalthandlung dazu ermächtigt den/die TäterIn aus der Wohnung und der unmittelbaren Umgebung in welcher der/die Gefährdete lebt, wegzuweisen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass
ein weiterer Angriff auf das Leben, die Gesundheit
und/oder die Freiheit des Opfers bevorsteht. Unter
den Voraussetzungen der Wegweisung können die
Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes ein
Betretungsverbot seitens des/der TäterIn bezüglich
eines zu definierenden Bereiches verhängen. Darüber hinaus werden im Jahr 1999 weitere förmliche
Sanktionen (z.B. Verurteilung zu Geld- oder
Freiheitsstrafen) und die Diversion gegen den/die
TäterIn eingeführt.74
69
70
71
72
73
74
7 246 3
StPO.
Verbrechensopfergesetz (VOG).
ABGB.
Exekutionsordnung (EO).
Sicherheitspolizeigesetz (SPG).
Strafprozessnovelle 1999.
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
9.3.1.2 Ministerratsvorträge
Diese von unterschiedlichen Bundesministerien
in den Ministerrat eingebrachten Vorträge beinhalten den jeweils aktuellen Stand und Reformvorschläge bezüglich beispielsweise der Verbesserung der Situation von Familienmitgliedern, die
von Gewalt betroffen sind. Die Umsetzung der in
den Ministerratsvorträgen beschlossenen Maßnahmen münden in unterschiedlichen Einzelaktivitäten, die in den späteren Abschnitten dargestellt
werden.
9.3.1.2.1 Vortrag an den Ministerrat, Juni 1994
Der erste diesbezügliche Ministerratsvortrag
vom Juni 1994 75 beschäftigt sich vorwiegend mit
der Verbesserung der Situation von Frauen in
Gewaltsituationen. Diese Maßnahmen können sich
auch positiv auf die Kinder auswirken: „Schutz und
Hilfe für Frauen kommt häufig auch deren Kindern
zugute, wenn auch diese Opfer von Gewalt werden
oder miterleben müssen, wie ihre Mutter misshandelt wird.“ (BMUJF 1994, S. 5). Im Abschnitt
„Reform“ werden die Verbesserung der polizeilichen Intervention, der Ausbau der einstweiligen
Verfügung nach der Exekutionsordnung, die Reform des Strafprozessrechts, die Betrauung einer
Stelle mit der Beratung von Frauen sowie die Koordination von Hilfsmaßnahmen und die Durchführung von Modellprojekten vorgeschlagen. Diese
Vorschläge konnten 1997 mit dem Erlass des
„Gewaltschutzgesetzes“76 und mit der Gründung
der Interventionsstellen in allen Bundesländern
umgesetzt werden.
75
76
Er wurde eingebracht von der Bundesministerin für
Frauenangelegenheiten, dem Bundesminister für Inneres, dem Bundesminister für Justiz und der Bundesministerin für Umwelt, Jugend und Familie.
Bundesgesetz über Änderung des ABGB, der Exekutionsordnung und des Sicherheitspolizeigesetzes
(GeSchG), BGBl 759/1996, RV 252 BlgNR 20. GP.
Gewalt in der Familie
9.3.1.2.2 Vortrag an den Ministerrat,
September 1997
Beim zweiten Vortrag an den Ministerrat im
September 199777 wird das Phänomen Gewalt von
unterschiedlichen Ebenen aus betrachtet (Frauen,
Kinder, Gesellschaft, Medien etc.). Im Hinblick auf
die Situation der Kinder wird besonderes Augenmerk auf die Verstärkung des Opferschutzes wie
beispielsweise den Ausbau der Interventionsstellen
sowie anderer psychosozialer Unterstützungseinrichtungen (Kinderschutz-, Krisen- und Beratungseinrichtungen, Notschlafstellen etc.) gelenkt.
Explizit angesprochen wird die Notwendigkeit,
Psychotherapieplätze im erforderlichen Umfang
zur Verfügung zu stellen. Einschlägige Einrichtungen sollen aber nicht nur Opfern, sondern allen
Menschen, die deren Unterstützung in Anspruch
nehmen wollen, in ganz Österreich zur Verfügung
stehen. Eine zentrale Meldestelle für Verletzungen
soll beim Jugendwohlfahrtsträger geschaffen werden. Um Fälle von Gewalt an Kindern besser erkennen zu können, wird ein Symptomkatalog zur
systematischen Darstellung sozialer, psychischer
und körperlicher Anzeichen von Gewalthandlungen vorbereitet und einschlägigen Berufsgruppen zur Verfügung gestellt. Weiters wird ein
Fortbildungscurriculum für ÄrztInnen entwickelt.
Darüber hinaus wird die Prüfung der Situation bezüglich des Spannungsfeldes Opferschutz und Vertrauensschutz sowie bezüglich einer schonenden
Behandlung von Kindern als Opfer von Gewalt im
Strafverfahren gefordert. In diesem Sinn wird ein
Modellprojekt zur Prozessbegleitung angeregt.
Dieses wird im Abschnitt „Projekte“ näher dargestellt.
77
7 247 3
Er wurde eingebracht vom Bundesminister für Umwelt,
Jugend und Familie, von der Bundesministerin für
Frauenangelegenheiten und Verbraucherschutz, der
Bundesministerin für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten, dem Bundesminister für Inneres und dem
Bundesminister für Justiz.
Aber nicht nur der Opferschutz, sondern auch
die TäterInnenarbeit wird angesprochen: Die Entwicklung und Förderung von täterInnenbezogenen
Maßnahmen, der Aufbau von speziellen „Anti-Gewalt-Zentren“ und eine stärkere Vernetzung werden angeregt.
Mit dem Ziel der Stärkung der elterlichen
Erziehungskompetenz und der Prävention von Beziehungsschwierigkeiten, Entwicklungsstörungen
und Gewalt sollen Methoden und Modelle zur
gewaltfreien Erziehung im Bereich der „Elternbildung“ gefördert werden. Weiters sollen Schulungen der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der Staatsanwälte sowie der Straf- und
FamilienrichterInnen durchgeführt werden.
Darüber hinaus wird angesprochen, dass die
Öffentlichkeit für die Gewaltthematik zu sensibilisieren ist.
grundlagen). Dem Prinzip der Zusammenarbeit wird
dabei ein relevanter Stellenwert zugeschrieben.
Ein Schwerpunkt widmet sich dem Schutz von
Opfern vor schweren Formen sexueller Gewalt,
insbesondere durch TäterInnenarbeit. Dabei wird
sowohl ein opferbezogenes Maßnahmenbündel
gegen (sexualbezogene) Gewalttätigkeit (z.B.: Ausweitung des Betreuungsangebots) als auch ein
täterInnenbezogenes Maßnahmenbündel (z.B.:
Ausbau psychosozialer Versorgung und diesbezüglicher Konzepte) angesprochen.
Weiters soll das Datenerfassungssystem zur
systematischen Erkennung von Gewalt- und
SexualstraftäterInnen installiert und effektiver gestaltet werden. Jugendprostitution und der Ausbeutung von Kindern durch Sextourismus soll beispielsweise mit so genannten In-Flight-Videos
begegnet werden. Mit diesen Videos soll ein allgemeines Bewusstsein in der Bevölkerung geschaffen
werden, um sexuelle Gewalt an Kindern unabhängig vom Ort (sowohl in Österreich als auch im Urlaubsland) abzulehnen und als strafrechtlich zu verfolgenden Tatbestand zu erkennen.79
9.3.1.2.3 Vortrag an den Ministerrat,
Dezember 1998
Der dritte Ministerratsvortrag vom Dezember
1998 78 wurde vom ehemaligen BMUJF eingebracht
und behandelt vorwiegend das Phänomen der
sexualbezogenen Gewalt gegen Kinder, insbesondere durch Kinderpornografie im Internet. Diesbezüglich wird ein Aktionsplan aufgestellt, welcher
von der Bundesregierung angenommen wird. Dazu
zählen unter anderem Maßnahmen der Industrie
(freiwillige Selbstkontrolle, Ausarbeitung eines
Verhaltenskodex und Initiierung eines einheitlichen
EU-Verhaltenskodex der Internet-Provider) sowie
sicherheits- und kriminalpolizeiliche Maßnahmen
(Prävention und Sensibilisierung im Rahmen des
kriminalpolizeilichen Beratungsdienstes, Einrichtung von ausreichend ausgestatteten, rund um die
Uhr besetzten zentralen behördlichen Meldestellen,
Ausstattung von Fahndungsstellen und die Klarstellung bzw. Schaffung der erforderlichen Rechts-
9.3.2.1 „Plattform gegen Gewalt
in der Familie“
1992 hat sich die österreichische „Plattform
gegen Gewalt in der Familie“ formiert. Die eingebundenen Einrichtungen sind als Netzwerk über
ganz Österreich verteilt. Die Koordination obliegt
beim BMSG.
Die Schwerpunkte der Plattform liegen in der
Prävention von:
3 physischer, psychischer und sexueller Gewalt
gegen Kinder,
3 Gewalt gegen Frauen,
3 Gewalt an/unter Jugendlichen,
78
79
Er wurde eingebracht vom Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie, dem Bundesminister für Justiz
und dem Bundesminister für Inneres.
9.3.2 Initiativen
7 248 3
Seit Oktober befindet sich das vom BMSG erarbeitete
Video („The abuse of children is not a pecadillo“) im
Einsatz an Bord der Austrian Airlines.
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Gewalt gegen ältere Menschen sowie
3 in geschlechtsspezifischer Burschen- und Männerarbeit.
Das Motto der Plattform „einander kennen –
voneinander lernen – miteinander“ weist bereits auf
ihre Tätigkeiten hin: Die Plattform veröffentlicht
regelmäßig Zeitungen zum Thema (Plattformzeitung, z.B.: Männerbilder und Gewalt 1998, Arbeit mit Gewalttätern 1999) und bietet Informationsmaterialien für HelferInnen (z.B.: Wegweiser
für HelferInnen 1995, Gewaltprävention durch
Mädchen und Bubenarbeit in der außerschulischen
Jugendarbeit 1996, Bubenarbeit in Österreich –
Hintergründe-Bestandsaufnahme-Einstieg in die
Praxis 2000). Weiters setzt die Plattform lokale
Initiativen, bildet interdisziplinäre Arbeitsgruppen
und führt Schulungen und Weiterbildungen durch.
Neben Vernetzung und Austausch, interdisziplinärer Zusammenarbeit sowie Aus- und Fortbildung
zählt die Sensibilisierung der Öffentlichkeit zu den
relevantesten Zielen der Plattform. Die Plattform
engagiert sich aber auch im Rahmen der TäterInnenarbeit (siehe auch Teil VI: Gewalt gegen Frauen
und ihre Kinder).
Die Koordination des Plattformschwerpunktes
„physische, psychische und sexuelle Gewalt gegen
Kinder“ liegt beim Institut für gesellschaftswissenschaftliche Forschung, Bildung und Information
(FBI) in Innsbruck. Im Steiermärkischen Stützpunkt, dem Kinderschutzzentrum Graz, wurde das
so genannte „Planspiel“ entwickelt, welches Modellcharakter hat und von anderen PlattformmitarbeiterInnen übernommen wurde. Dieses Rollenspiel beschäftigt sich mit einer akuten familialen
Krisensituation und bezieht die Systeme Familie,
Volksschule, Jugendamt und Gendarmerie ein. Es
will unterschiedliche Wege der Konfliktbewältigung erarbeiten, mögliche Vernetzungen aufzeigen
und Betroffene und HelferInnen sensibilisieren.
Manche Projekte wurden im Rahmen der Plattform konzipiert und später von externen Institutionen übernommen, so beispielsweise die Fortbil-
Gewalt in der Familie
dung von ExekutivbeamtInnen in Vorarlberg durch
das Institut für Sexualpädagogik und Kinderschutz.
Der Bereich „Arbeit mit Gewalttätern“ ist ebenfalls
ein aktuelles externes Projekt der „Plattform gegen
Gewalt in der Familie“. Ziel dieser Initiative ist eine
verdichtete Kooperation zwischen verschiedenen
sozialen Einrichtungen und Berufsgruppen.
Die Erstellung eines Literaturarchivs zum
Thema Gewalt in der Familie konnte 1996 vom
ehemaligen BMUJF im Rahmen der Plattform realisiert werden. Die CD-ROM ermöglicht eine
detaillierte Literaturrecherche von Buchtiteln,
Inhaltsangaben, Klappentexten, Rezensionen etc.
In das Register wurden Fachbücher, Zeitschriftenartikel, Rechtsdokumente, Konferenzbericht und
„graue Literatur“ aufgenommen. Ein Großteil des
Materials kann in der Informationsstelle gegen
Gewalt eingesehen werden.
9.3.2.2 Elternbildung
Ziel von Elternbildung ist die Informationsvermittlung und Sensibilisierung im Bereich Elternschaft und Leben mit Kindern, die Stärkung der
Elternkompetenz und somit die Prävention aller
Formen von Gewalt in der Familie und im sozialen
Nahraum (Beham 1997).
In Österreich kam es als Folge des Internationalen Jahres der Familie (IJF) 1994 zur Gründung
einer interministeriellen Arbeitsgruppe Elternbildung im ehemaligen BMUJF (Vernetzte Elterbildung). Auf Initiative dieser Arbeitsgruppe wurden
die beschlossenen „Allgemeinen Richtlinien für die
Gewährung von Förderungen aus Bundesmitteln“
für Förderungen von Elternbildungsprojekten entsprechend adaptiert und gelten als Grundlage seitens des BMSG. Im Rahmen dieser einheitlichen
Standards, welche als Qualitätssicherung gesehen
werden, wird Wert auf ein Basisangebot gelegt, welches spezifische Themenbereiche anspricht und
Veranstaltungsreihen anbietet. Diese Elternbildungsangebote müssen von fachlich qualifizierten
ReferentInnen durchgeführt werden.
7 249 3
Aufgabe des Bundes besteht vorwiegend in der
Koordination von Angeboten, aber auch der
Setzung von Impulsen. Damit die vorhandenen Angebote zur Unterstützung von Eltern möglichst
effizient genützt werden können, existieren
Initiativen zur Vernetzung und Kooperation unterschiedlicher Anbieter von Programmen für Elternbildung, -unterstützung und -beratung auf unterschiedlichen Ebenen. Die regionale Vernetzung
trägt zur Niederschwelligkeit und zur Heterogenität der Angebote bei – eine wichtige Voraussetzung für adäquate Prävention.
Gewalt als explizites Thema eines Elternbildungsseminars ist zwar selten, Elternbildung an
sich, verstanden als Stärkung der Erziehungskompetenz und so als Vorbeugung vor und Abbau von
Überforderungen durch Erfahrungsaustausch, Informationsvermittlung und Stärkung des Selbstbewusstseins, bietet Möglichkeiten der Prävention
von Gewalthandlungen in der Familie und im
sozialen Nahraum.
9.3.2.3 Campagne: „(K)ein sicherer Ort“
Das ehemalige Bundesministerium für Umwelt,
Jugend und Familie (BMUJF) führte die Wanderausstellung „(K)ein sicherer Ort – sexuelle Gewalt
an Kindern“ in allen Bundesländern Österreichs
durch und gab ein Handbuch dazu heraus (BMUJF
1998). Seither wurde die Ausstellung an unterschiedliche Institutionen verliehen und an über 30
Standorten gezeigt. Auf diesem Weg konnten viele
Menschen in ganz Österreich erreicht werden. So
wurden z.B. in Wien im damaligen Durchführungszeitraum (vom 12.9. bis 2.10.1996) 6422 Personen
erreicht, wobei sich Schwerpunkte bei weiblichen
Personen bzw. Jugendlichen zeigten.
An jedem Ausstellungsort wurde außerdem ein
Rahmenprogramm organisiert. Ziel war es, das
Thema in einer fachlich adäquaten Form einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um diese
zu informieren und zu sensibilisieren.
Die Ausstellung ist als Wohnung konzipiert, da
sexuelle Gewalt an Kindern häufig durch nahe
Familienangehörige an jenem Ort ausgeübt wird,
der als primärer Schutzraum für Kinder und
Jugendliche gilt.
9.3.2.4 Modellprojekte
9.3.2.4.1 Mutter-Kind Pass
Die ExpertInnengruppe, die sich im Rahmen
des Internationalen Jahres der Familie aus dem Arbeitskreis „Familie und Gewalt“ 1994 formiert hat,
erarbeitete ein ZweiStufen-Modell zur Erweiterung
des Mutter-Kind-Passes um die psychosoziale
Dimension. Dieses sieht schwerpunktmäßig eine
Interaktionsuntersuchung in der 3. bis 12. Lebenswoche sowie eine Entwicklungsuntersuchung im
22. bis 26. Lebensmonat von Kindern sowie ein
Gespräch mit deren primären Bezugspersonen vor.
Dieses vom BMSG finanzierte Projekt wurde im
Rahmen einer Längsschnittstudie durch das Institut
Horizonte erprobt und am Österreichischen
Institut für Familienforschung wissenschaftlich
begleitet (Cizek et al. 1998).
9.3.2.4.2 LoveTalks©
Das präventive, sexualpädagogische Modell
LoveTalks© (siehe Kapitel 9.1.2.1 „Historische Entwicklung präventiver Maßnahmen am Beispiel von
Präventionsprogrammen“) wird seit Beginn vom
Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen sowie vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur gefördert und derzeit österreichweit allen Schultypen kostenlos
angeboten.
1985 wurde das Modell von Cizek (1989) &
Schattovits (1987) entwickelt und wird seit 16
Jahren im Bereich der schulischen Sexualpädagogik
in Österreich eingesetzt. Weiters wurde das Modell
in mehrere europäische Länder exportiert (Deutschland, Italien, Tschechien) sowie auf den Behindertenbereich ausgeweitet. Derzeit arbeitet das ÖIF
an der Übertragung von LoveTalks© auf den Kindergarten- und den Entwicklungshilfebereich (Cizek
2000). Ein Ziel des Modells ist es, durch das
7 250 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Fördern der Kommunikation zwischen Eltern,
SchülerInnen und LehrerInnen im Rahmen der
Primärprävention gegen Gewalt wirksam zu werden sowie eingebettet in ein umfassendes sexualpädagogisches Projekt bedürfnisorientiert Workshops zum Thema Gewalt für SchülerInnen gemeinsam mit allen beteiligten Dialoggruppen zu
planen.
tierten Methoden nach William Marshall (1991).
Den Tätern stehen während der Täterarbeit ein/
eine TherapeutIn und ein/eine BegleiterIn (z.B.: für
die Kooperation mit Behörden und Opferschutzeinrichtungen) zur Verfügung (Brem 1998). (Nähere Ausführungen siehe Kapitel 9.2.2.2 „TäterInnenorientierte Intervention“.)
9.3.3 Hilfseinrichtungen
9.3.2.4.3 Prozessbegleitung
Mit dem Ziel der Verbesserung der Situation
von Kindern und Jugendlichen, die sich nach
erfolgter sexueller Gewalt zur Anzeige des
Täters/der Täterin entschlossen haben, wurde 1998
das Modellprojekt initiiert.80 Dabei erhielten
Betroffene und deren Bezugspersonen psychosoziale und juristische Unterstützung. Diese reichte
von der Anzeige bis zur Zeit nach einer eventuellen
Hauptverhandlung. Der Kinderschutz sollte optimiert und die Gefahr einer sekundären Traumatisierung deutlich reduziert werden.81 Als weiterer
Schritt soll auf Basis der Projekterfahrungen und erkenntnisse das Modell in Wien implementiert und
die Übertragung für Österreich ausgearbeitet werden.
9.3.2.4.4 Fokussierte Täterenarbeit
Diese Maßnahme zur Arbeit mit sexuell gewalttätigen Männern wird seit 1990 von der Männerberatungsstelle Wien angeboten. Die fokussierte
Täternarbeit wird ambulant, im Einzel- und/oder
Gruppensetting gestaltet und ist über weite Stecken
sozialtherapeutisch wie gewaltfokussiert. Das Konzept der TäterInnenarbeit orientiert sich an den
Grundannahmen der TäterInnentherapie von Ruud
Bullens (1994) und den kognitiv-verhaltensorien-
80
81
Finanziert wurde dieses durch das ehemalige Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie sowie der
Bundesministerin für Frauenangelegenheiten.
Die Evaluierung des Modellprojektes wurde 2000 im
Eigenverlag des BMSG veröffentlicht (Lercher et al.
2000).
Gewalt in der Familie
9.3.3.1 Kinder- und Jugendanwaltschaft
Nicht nur im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes spielt Österreich im deutschsprachigen
Raum eine Vorreiterrolle.
Die Einrichtung der Kinder- und Jugendanwaltschaft in den Bundesländern und auf Bundesebene
unterstützt seit 1989 einerseits Hilfe suchende
Kinder und andererseits die Verankerung des
Kinderschutzes im Rahmen der österreichischen
Verfassung und konkreter Maßnahmen. So haben
beispielsweise in Wien von Juli 1998 bis Juni 1999
3265 Kinder und Jugendliche diese Institution in
Anspruch genommen. Dabei ging es um allgemeine
Fragen, Besuchsrecht und Obsorge und (an vierter
Stelle mit 256 Fällen) um sexuelle Gewalt (Kinderund Jugendanwaltschaft Wien 2000).
Darüber hinaus sind die Kinder- und Jugendanwaltschaften um Maßnahmen zum Schutz und
zur Stärkung von Kindern bemüht. Aktuell geht es
dabei um die Verankerung der UN-Kinderrechtskonvention in die Verfassung des Bundes und
der Länder, um den Erlass eines Opferhilfegesetzes
nach Schweizer Vorbild, die Reduzierung der
Gewaltdarstellung in den Medien etc.
Das aktuellste Modell stellt derzeit der Wiener82
SofHi – Soforthilfe Fonds dar. SofHi bietet erste
Information und stellt kostenlos AnwältInnen und
Therapie zur Verfügung. Er richtet sich an Kinder
und Jugendliche sowie an Opfer von Gewalt
und/oder sexuellen Übergriffen und kann als
Vorbild für andere Bundesländer gelten.
7 251 3
9.3.3.2 Familienberatungsstellen
Im Rahmen des Familienberatungsförderungsgesetzes 197483 unterstützt das BMSG derzeit
österreichweit 328 Familienberatungsstellen. Durch
diese Förderung können rund 2500 BeraterInnen
ein breites Spektrum an unterschiedlichen Beratungsleistungen kostenlos und anonym anbieten.
Das Beratungsangebot reicht von der aktuellen
Krisenintervention bis hin zu einer kontinuierlichen Beratung in einer Vielzahl von psycho-sozialen Fragestellungen (z.B. Scheidungsberatung, Erziehungsberatung, Beratung in persönlichen
Krisensituationen, Sexualberatung, Beratung in Gewaltsituationen). Die Beratung erfolgt durch ein
multiprofessionelles BeraterInnenteam, das sich aus
PsychologInnen, Ehe-, Familien- und LebensberaterInnen, SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen, PädagogInnen und JuristInnen zusammensetzt.
Um auf verschiedene gesellschaftliche Phänomene besser reagieren zu können, kristallisierte sich
in den letzten Jahren in den Familienberatungsstellen immer stärker eine Schwerpunktsetzung
heraus. So werden derzeit vom BMSG elf Kinderschutzzentren, fünf Männerberatungsstellen und 40
Familienberatungsstellen mit einer Problemschwerpunktsetzung im Bereich der Gewalt gefördert. Zwei Beratungsstellen in Wien werden als
Schwerpunktberatungsstellen für sexuelle Gewalt
an Kindern gefördert.
Die Tendenz in Österreich geht in diesem
Bereich sehr stark in Richtung Dezentralisierung,
was bedeutet, eine Finanzierung von Schwerpunktberatungsstellen erfolgt nicht mehr nur aus einer
Bundsförderung, sondern verstärkt auch über
Länderförderungen. In diesem Bericht sind primär
die Leistungen des BMSG aufgenommen.84
82
83
84
Die Stadt Wien stellt der Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien dafür ein Grundkapital zur Verfügung.
BG über die Förderung von Familienberatung BGBl
80/1974.
Laut telefonischer Auskunft von Dr. Michael Janda,
BMSG am 06.03.2001.
9.3.3.2.1 Kinderschutzzentren
Das Angebot von Kinderschutzzentren richtet
sich an alle Menschen, die in ihrem privaten, familiären oder beruflichen Alltag mit Gewalt gegen
Kinder oder Jugendliche konfrontiert sind.
Die Tätigkeitsschwerpunkte im Kinderschutzzentrum sind sehr weitläufig. Sie reichen von der
konkreten Arbeit mit Betroffenen in einem Beratungssetting, sei es in einer einmaligen Beratungssituation (meist telefonisch) über Krisenintervention bis hin zu einer längerfristigen Beratung,
bzw. Psychotherapie. Andererseits bieten viele
Kinderschutzzentren auch eine MultiplikatorInnenschulung für ProfessionalistInnen an, bzw. sind
sie stark in der Öffentlichkeitsarbeit tätig, um die
Allgemeinheit für Gewaltsituationen zu sensibilisieren. In einigen Kinderschutzzentren wird auch
explizit die Arbeit mit TäterInnen angeboten.
(Kinderschutzzentrum-Graz 1990). (Näheres siehe
Teil I, Kapitel 2.3 „Kinderschutzbewegung und ihr
Kampf gegen die Gewalt an Kindern“)
9.3.3.2.2 Männerberatung
Die meisten österreichischen Beratungsstellen
für Männer bieten Psychotherapie und/oder Programme für gewalttätige Männer an, die im
Gruppen- und/oder Einzelsetting gestaltet werden
(Brem 1999a; Widenhofer 1999; Oberösterreich
1999; Caritasverband 1999; Scambor 2000). In einigen Institutionen, die sich auf die Arbeit mit Gewalttätern spezialisiert haben werden unterschiedliche Aktivitäten für sexuell gewalttätige Männer,
körperlich gewalttätige Männer sowie jugendliche
Sexualtäter angeboten (Brem 1999a).
9.3.3.2.3 Familienberatungsstellen
mit dem Schwerpunkt Gewalt
Diese Beratungsstellen werden vom BMSG
über ihre allgemeine Tätigkeit hinaus durch eine
Zusatzförderung für den Bereich Gewalt speziell
gefördert. Dies ermöglicht den Beratungsstellen
eine Ausweitung ihres Beratungsangebotes. Viele
Beratungsstellen nutzen ihre Möglichkeiten auch,
7 252 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
um im präventiven Bereich verstärkt Angebote zu
setzten, wie z.B. Workshops in Schulen.
9.3.3.2.4 Kinderschutzgruppen
Vor nahezu zehn Jahren wurden in Österreich
erstmals im Rahmen einiger österreichischer Krankenhäuser, wie etwa am Wiener Preyer’schen Kinderspital oder in der Kinderklinik Graz so genannte „Kinderschutzgruppen“ eingerichtet. Auf Grund
einer gemeinsamen Initiative der Österreichischen
Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, der
Österreichischen Gesellschaft für Kinderchirurgie
und des Bundesministeriums für soziale Sicherheit
und Generationen kam es in den letzten Jahren zu
einer Ausweitung dieser Einrichtungen in nahezu
allen Bundesländern.
Ziel der Kinderschutzgruppen ist die Früherkennung von Gewaltfällen, um Kindern längeres
Leid zu ersparen, die Organisation von familienzentrierter Hilfe, um Kindern ein gesichertes Leben
zu ermöglichen und die Aus- und Fortbildung von
Angehörigen aller Berufsgruppen, die mit Kindern
arbeiten (LehrerInnen, KindergärtnerInnen, Polizei
etc.). Die Kinderschutzgruppen betreuen Kinder
und Jugendliche, die Opfer von Gewalt geworden
sind oder für die ein erhöhtes Risiko besteht. Die
Teams der Gruppen arbeiten interdisziplinär und
umfassen Berufsgruppen wie MedizinerInnen,
PsychologInnen und SozialarbeiterInnen.
9.3.4 Fortbildungen
9.3.4.1 Tagungen
Vom BMSG wurden verschiedene Fachtagungen veranstaltet wie
9.3.4.1.1 Enquete „Erkennen-VerstehenHelfen“ am 11.9.1996 in Wien
Die Veranstaltung bildete den Auftakt zur dreiwöchigen Ausstellung „(K)ein sicherer Ort“ (siehe
9.3.2.3).
Gewalt in der Familie
9.3.4.1.2 Enquete „Angst vor dem
misshandelten Kind“ am 26.11.1997 in Wien
Ziel der Enquete war es, Möglichkeiten im
Umgang mit Gewalt an Kindern wie z.B. Kinderschutzgruppen an Krankenanstalten vorzustellen,
Wissen über Kinderschutzarbeit in der Praxis zu
vermitteln, die gegenseitige Information über unterschiedliche Ansätze und Berufszugänge zu vertiefen
und die rechtliche Situation zu beleuchten.
9.3.4.1.3 „Opferschutz und Tätertherapie“
am 8.10.1998 in Wien
Im Rahmen dieser Tagung standen Aspekte der
Arbeit mit TäterInnen, die sexuelle Gewalt an
Kindern ausgeübt haben, im Zentrum. Rechtliche
und therapeutische Themen sowie Modellprojekte
wurden vorgestellt und diskutiert.
9.3.4.1.4 Enquete „Wehe, wehe, wenn ich an
das Ende sehe“ am 25.11.1999 in Wien
Ziel der Veranstaltung war es, psychische
Gewalt, die nicht nur regelmäßig als Bestandteil/
Begleiterscheinung der körperlichen/sexuellen Gewalt auftritt, sondern in ihren verschiedenen
Ausprägungen auch häufig eigenständig vorkommt,
zu thematisieren.
9.3.4.1.5 Enquete „Es irrt der Mensch
so lang er strebt“ am 6.10.2000 in Wien
Ziel der Enquete war es, das Spannungsfeld
Schutz bzw. Gefahr durch die Familie versus
Schutz bzw. Gefahr durch Institutionen bei psychischer Gewalt am Kind zu beleuchten.
Auf Landesebene wurden weiters eine Vielzahl
von Initiativen und Veranstaltungen angeboten. Die
Stadt Wien (MA 11) veranstaltete beispielsweise
1997 die Campagne „Gewaltfreier Umgang mit
Kindern“, welche unterschiedliche Aktivitäten,
Öffentlichkeitsarbeit und die Eröffnung eines Servicetelefons einschloss. Laufend werden Angebote
zur Unterstützung einer Erziehung ohne Gewalt
durch regionale Krisenzentren als Clearingstellen,
7 253 3
psychologisch-pädagogischen Zentren, Ämter für
Jugend und Familie, Institute für Erziehungshilfe,
Eltern-Kind-Zentren sowie durch Broschüren
gestellt.
9.3.4.2 Schulungen
3 Schulungen tragen zur Professionalisierung von
HelferInnen bei, fördern die Vernetzung sämtlicher
mit der Thematik befassten Berufsgruppen und
verbessern so die Qualität von Prävention und
Intervention.
Sie werden auf unterschiedlichen Ebenen gesetzt und beziehen verschiedene Berufsgruppen wie
ExekutivbeamtInnen, SozialarbeiterInnen, LehrerInnen mit ein.
Im Rahmen des Folgeprojekts von „Gegen
Gewalt an Frauen und Kindern handeln“ wurden
österreichweit VertreterInnen der verschiedensten
Berufsgruppen, die mit der Gewaltthematik in ihrer
Praxis konfrontiert sind, für den Umgang geschult.
Im Rahmen dieser Schulungen wurden auch interdisziplinäre Gruppen mit dem Ziel einer optimalen
Intervention durch die Kooperation aller in einen
Fall involvierten BerufsgruppenvertreterInnen angeboten. Diese Seminare sollten einerseits die regionale Vernetzung der ExpertInnen aus der Praxis
und andererseits den Austausch über die jeweiligen
Aufgabenbereiche und Zuständigkeiten fördern.
3 1997 wurde vom ehemaligen BMUJF die Ausarbeitung eines Curriculums für Gesundheitsberufe
mit dem Titel „Gewalt in der Familie“ durch das
Ludwig Boltzmann Institut für Gesundheitspsychologie der Frau beauftragt. In der Folge wurde
das Forum Kinderschutzgruppen gebildet (siehe
Kapitel 9.3.3.2.4 „Kinderschutzgruppen“). ExpertInnenmeetings, Fortbildungsveranstaltungen,
Unterstützung bei der Gründung einer Kinderschutzgruppe zählen unter anderem seither zu den
Aufgaben des Forums.
9.3.4.3 Arbeitsmappen
Die Materialien „Gegen Gewalt an Frauen und
Kindern handeln“ (1994) beinhalten Informationen
für sämtliche Berufsgruppen, die mit Gewalt an
Kindern und Frauen konfrontiert sind. Die Unterlagen wurden vom Bundeskanzleramt und der ehemaligen Bundesministerin für Frauenangelegenheiten finanziert. Neben der Mappe „Gewalt gegen
Frauen“ beinhaltet das Informationspaket eine
Mappe zum Thema „Physische Gewalt gegen
Kinder“ und „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und
Buben“. Die in den Broschüren behandelten Themen reichen dabei von der Auseinandersetzung mit
Erziehung und Erziehungsmaßnahmen über die
Frage der Möglichkeiten bei Verdacht auf Gewalt,
rechtliche Aspekte, unterschiedliche Unterstützungsangebote, berufsgruppenspezifische Informationen bis zu Informationen für betroffene Mädchen
und Jungen sowie (Stief-)Eltern.
9.3.4.4 Medienpaket
„Erzählt uns nichts vom Storch“
Diese Materialiensammlung stellt ein vielschichtiges Angebot für die Sexualerziehung in
Grundschulen dar und setzt so einen Beitrag zur
Gewaltprävention. Im Medienpaket sind die Aufklärungsbroschüre „Erzählt uns nichts vom
Storch“, ein sexualpädagogisches Spiel, ein Videofilm über das Modell LoveTalks© und Begleitmaterialien für LehrerInnen enthalten. Die Aufklärungsbroschüre und das Spiel wurden mit Grundschulkindern für Grundschulkinder erarbeitet. Die
KinderautorInnen haben sich mit den Themen
Liebe, Körper, Schwangerschaft und Geburt, Gefühle und Berührungen sowie Aids auseinandergesetzt. Diese Broschüre lädt Grundschulkinder zum
Diskutieren, Zeichnen und Aufschreiben ein. Im
sexualpädagogischen Spiel können die Kinder das
Erarbeitete spielerisch überprüfen und miteinander
ins Gespräch kommen. Ein Schwerpunkt wurde im
Bereich der Primärprävention von Gewalt gesetzt.
Neben einem Zahlenwürfel befindet sich beispielsweise ein Gefühlswürfel im Spiel.
7 254 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
Die Begleitmaterialien für LehrerInnen bieten
ausführliche Unterlagen für den Unterricht mittels
eines inhaltlichen und methodischen Überblicks
über grundlegende Bereiche der Sexualität, unter
anderem zur Prävention sexueller Gewalt. Die Broschüre stellt eine konkrete Hilfe für die Unterrichtsvorbereitung dar und ist so aufbereitet, dass begleitend zu den Themen Overheadfolien vorliegen.
Die Finanzierung erfolgte über das ehemalige
Bundesministerium für Unterricht und kulturelle
Angelegenheiten (BMUkA) sowie das ehemalige
Bundesministerium für Umwelt, Jugend und
Familie (BMUJF).
9.3.4.5 Elternbriefe
Analog zu den Seminaren im Rahmen der
Elternbildung hat auch die Schriftenreihe „Elternbriefe für gewaltlose Erziehung“ (bislang vier vom
BMSG herausgegebene Broschüren) unter anderem
Gewaltprävention zum Ziel und soll eine breite
Öffentlichkeit erreichen. Die „Elternbriefe“ werden altersspezifisch angeboten – für Eltern mit
Kindern
3 bis zu 2 Jahre,
3 2 bis 6 Jahre,
3 6 bis 10 Jahre und
3 10 bis 18 Jahre.
Heft 4 zum Thema Pubertät wurde 1999 in Kooperation mit der Familieninitiative des Wirtschaftsunternehmens Procter & Gamble überarbeitet und neu aufgelegt.85
9.3.5 Studien
Die Darstellung der österreichischen Forschungsaktivitäten ist in allen Kapiteln dieses Berichts enthalten. Im Folgenden werden jene Studien
zusammenfassend genannt, die vom BMSG beauftragt wurden.
85
Dies soll für die ersten 3 Hefte zukünftig ebenfalls erfolgen.
Gewalt in der Familie
9.3.5.1 „Sexueller Missbrauch von Kindern
in Österreich“ (BMUJF 1989):
Information, Aufklärung und die Bewahrung
von Kindern vor sexueller Gewalt stand im
Mittelpunkt dieser Studie. Sie bietet Information
für all jene, die mit Opfern von Gewalt zu tun
haben. Die HelferInnen sollen in die Lage versetzt
werden, die Hilferufe der Kinder zu verstehen und
sie zu unterstützen (BMUJF 1989).
9.3.5.2 „Gewalt gegen Kinder“ und
„Gewalt gegen Frauen“ (BMUJF 1991):
Ziel beider Studien war es, eine umfassende
Erhebung der familialen Gewaltsituation in Österreich vorzunehmen. Durch ein breites methodisches Instrumentarium (Umfragen, Tiefeninterviews und Beobachtungen) gelang es, die bei einem
solchen Tabuthema sonst übliche Konzentration
der Forschung auf eingeschränkte Problempopulationen zu durchbrechen und auch die Mittelschicht und den „Normalalltag“ zu erfassen
(BMUJF 1991). Dabei wurden sowohl die Dynamik der Gewalt, das Beratungsangebot und juristische Fragen als auch Modelle für den Umgang mit
Gewalt in der Familie behandelt.
Beide Studien (9.3.5.1 und 9.3.5.2) sind vergriffen und werden nicht mehr aufgelegt.
9.3.5.3 „Gewalt in der Familie. Ausmaß,
Intervention und Prävention. Eine
Befragung von SchulärztInnen“
(BMUJF 1996):
Ziel der Studie war die Erfassung der Thematik
familiärere Gewalt an Kindern und Jugendlichen
aus der Sicht von SchulärztInnen. Neben der
Analyse der theoretischen Grundlagen werden die
Ergebnisse der Fragebogenbefragung der SchulärztInnen dargestellt.
9.3.5.4 „Arbeit mit Gewalttätern“
(BMUJF 1998):
Ziel der Studie war es, eine Grundlage für die
Umsetzung der TäterInnenarbeit in Österreich zu
7 255 3
schaffen. Dafür werden neben einem Literaturteil
internationale Modelle der TäterInnenarbeit sowie
rechtliche Grundlagen unterschiedlicher Staaten
aufgezeigt.
9.3.5.5 „Modellprojekt
Prozessbegeleitung“ (BMSG 2000)
Die Studie befasste sich mit der Umsetzung des
Wiener Modellprojekts Prozessbegleitung (siehe
Kapitel 9.3.2 „Initiativen“). Dieses stellt ein spezifisches Hilfsangebot für Kinder, Jugendliche und
deren Bezugssystem, die sich zu einer Anzeige
wegen sexueller Gewalt entschlossen haben, dar.
Das Modell wurde im Rahmen einer zweijährigen
Laufzeit erprobt und wissenschaftlich begleitet.
Der Bericht dokumentiert die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse und liefert darüber hinaus
Vorschläge für den Ausbau, die organisatorische
Anbindung und die Umsetzung von Prozessbegleitung in Österreich (BMSG, 2000, 2).
9.3.5.6 „Gewalt in der Familie. Eine
Bestandsaufnahme zur Einstellung,
Problemhäufigkeit, Intervention und
Bedarfsplanung von ÄrztInnen in freier
Praxis und Klinik“ (BMJF o. A.)
Ziel der Studie war die Erhebung des Ausmaßes, in welchem ÄrztInnen in ihrer Praxis bzw.
Klinik mit den verschiedenen Formen und Folgeerscheinungen innerfamilärer Gewalt konfrontiert
sind. Weiters wurde der Umgang der ÄrztInnen mit
der Thematik, ihre Handlungsmöglichkeiten und
die möglichen Präventionsmaßnahmen erfasst.
Darüber hinaus wurden die Einstellungen von
ÄrztInnen hinsichtlich der Thematik erhoben.
9.3.6 Broschüren
Vom BMSG wird eine Reihe von Broschüren
mit dem Ziel herausgegeben, die Prävention und
Intervention im Bereich Gewalt in der Familie und
im sozialen Nahraum zu verbessern. Dazu zählen:
3 Luftballons im Bauch, 1994
3 Angebote zur Gewaltprävention im schulischen
Bereich, 1996 (vergriffen)
3 Weil das alles weh tut mit Gewalt. Sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen mit Behinderung, 1996 (vergriffen)
3 Gewalt am Kind – erkennen, verstehen, helfen.
Hinweise für pädagogische Berufe, 1997
3 Gewalt am Kind – erkennen, verstehen, helfen.
Hinweise für medizinische Berufe, 1997
3 Gegen Gewalt handeln, 1997
3 Sexualisierte Gewalt im Behinderten-Alltag.
Jungen und Männer mit Behinderung als Opfer
und Täter, 1997
3 (K)ein sicherer Ort. Sexuelle Gewalt an Kindern, 1998
3 Arbeit mit Gewalttätern. Literaturrecherche
und Analyse über internationale Modelle in der
Täterarbeit, 1998
3 Zeitung der Plattform gegen die Gewalt in der
Familie – Männerbilder und Gewalt, 1998
3 Literaturdokumentation Gewalt in der Familie,
CD-Rom 1999
3 Opferschutz und Tätertherapie. Sexueller Missbrauch von Kindern. Enquetedokumentation,
1999
3 Zeitung der Plattform gegen die Gewalt in der
Familie – Arbeit mit Gewalttätern – Sexuelle
Gewalt an Kindern und Gewalt gegen Frauen,
1/1999 und 2/1999
3 Täterarbeit – ein Beitrag zum Opferschutz.
Modelle, Grundlagen & Standards, 2000
3 Psychologische und juristische Prozessbegleitung bei sexuellem Missbrauch an Mädchen,
Buben und Jugendlichen, 2000
7 256 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
3 Zeitung der Plattform gegen die Gewalt in der
Familie – Heiße Themen in der Plattform
1/2000 und 2/2000
3 Bubenarbeit in Österreich I und II, 2000
9.4 Zusammenfassung
In der Literatur findet sich in Bezug auf Präventions- und Interventionsprogramme durchgängig
ein Mangel an Wissen um deren Wirkung. Einzelne
Evaluierungsstudien liegen zwar vor, diese beziehen sich jedoch meist auf spezifische Projekte und
sind daher nicht zur Verallgemeinerung geeignet.
Neu konzipierte Projekte sollen deshalb als notwendige Bedingung begleitend evaluiert werden.
Eine weitere Schlussfolgerung in der Literatur
bezieht sich darauf, dass verstärkt ein Weg vom klinisch-psychologisch, therapeutischen Modell hin
zur Prävention gefunden werden muss. Vorbeugende, aufklärende Modelle allein würden ebenfalls zur kurz greifen, wenn nicht die gesellschaftlich-politische Ebene verstärkt mit einbezogen
wird. Im Rahmen der Umsetzung müssen zuerst
HelferInnen befähigt werden, „soziale Probleme zu
analysieren, zusammen mit anderen, interdisziplinär, Bedingungs- und Veränderungswissen zu
erarbeiten, und die Umsetzung dieses Wissens auf
verschiedenen Ebenen anzustreben“ (Ziegler 1994,
S. 227).
Wichtig dabei ist die Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit in der Öffentlichkeit und den
Medien. Adäquate Öffentlichkeitsarbeit darf in den
Bemühungen um Gewaltprävention nicht vernachlässigt werden. Denn die öffentliche Meinung bestimmt wesentlich mit, wie Gewalt in der Gesellschaft gesehen wird und wie damit umgegangen
wird. Ziel dieser Öffentlichkeitsarbeit soll neben
der Enttabuisierung der Problematik die Aufklärung und Information zum Thema sein. Bestehende
Mythen gilt es zu hinterfragen und zu verändern
(Amann & Wipplinger 1998).
Gewalt in der Familie
Die Politik wiederum kann die Rechte der
Kinder vor allem in ihrer Durchsetzung stärken
und einen Beitrag zum Abbau des Machtgefälles
zwischen den Geschlechtern und den Generationen
leisten. Bestehende Gesetze müssen laufend überprüft und gegebenenfalls den neuen Erkenntnissen
angepasst werden. Weiters ist eine konsequente
Strafverfolgung einschlägiger Delikte notwendig
und durch geeignete Maßnahmen (z.B. effektive
Psychotherapie, Berufsverbot) muss verhindert
werden, dass die Gewalthandlungen fortgesetzt
werden.
Darüber hinaus sollen Väter mehr in ihre
Erziehungsrolle und -verantwortung eingebunden
werden, das männliche Rollenverständnis soll hinterfragt, die Sexualerziehung der Kinder offener
und direkter und die Sexualisierung der Kinder in
der Werbung, in Filmen und in der Pornografie verändert werden (Finkelohr 1990).
Vermehrt fordern ExpertInnen eine verpflichtende Einführung von Präventionsprogrammen
z.B. an Schulen.86 Schlussfolgernd wird angeregt,
jene Programme, die sich bereits zu einem frühen
Zeitpunkt potenziellen Opfern und TäterInnen
widmen, wie z.B. Schulprojekte, Elternbildung87
für Mütter und Väter mit einem Neugeborenen
bzw. Kleinkind, gezielt (finanziell) zu unterstützen.
Um eine verstärkte und qualitätsvolle Realisierung von Gewaltprävention und -intervention
gewährleisten zu können, werden von Literatur
und Praxis notwendige Voraussetzungen angeführt:
86
87
7 257 3
Die Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien fordert zum
Beispiel seit 1995 die verpflichtende Durchführung von
Präventionsprogrammen für Kinder und Jugendliche in
Institutionen.
Unter Elternbildung soll an dieser Stelle nicht nur der
österreichspezifische Ansatz der „Vernetzten Elternbildung“ verstanden werden, sondern Familien-/Elternbildung im weiteren Sinn, wie sie beispielsweise im Pilotprojekt „Verbesserung des Mutter-Kind-Passes um die
psychosoziale Dimension“ durchgeführt wird.
3 ein adäquates Angebot,
3 die verstärkte Zusammenarbeit von Institutionen und
3 eine Verbesserung der Aus- und Fortbildung
der Personen einschlägiger Berufsgruppen.
Bei Gewalt an Kindern handelt es sich um ein
hoch komplexes Geschehen. Aus diesem Grund ist
auch jede Einzelperson, die mit Gewaltfällen konfrontiert ist, stark gefordert. Als Voraussetzung für
die Bereitstellung eines adäquaten Angebots in obigem Sinn ist so ein koordiniertes, interdisziplinäres
und interinstitutionelles Vorgehen88 wichtig – eine
adäquate Zusammenarbeit der Institutionen. Erst
dieses kann einen entsprechenden und verbesserten
Umgang mit Fällen von Gewalt in der Familie/im
sozialen Nahraum ermöglichen.
Wie im Kapitel 9.3 „Österreichspezifische Maßnahmen“ aufgezeigt wurde, konnte in Österreich in
den letzten zehn Jahren auf unterschiedlichen
Ebenen Beachtliches bezüglich der in der Literatur
genannten Forderungen für Prävention und Intervention von Gewalt umgesetzt werden. Diese
reichten unter anderem von der Schaffung von Gewaltschutzgesetzen bis hin zur Umsetzung von
Initiativen, Projekten und der Bildung von Institutionen, die sich schwerpunktmäßig in verschiedenem Kontext mit dieser Thematik auseinandersetzen und für Betroffene Hilfen anbieten. Diese
Bemühungen gilt es, in Zukunft weiterzuführen,
um in Österreich dem Opferschutz weiterhin gerecht zu werden sowie eine Schwerpunktverlagerung von Maßnahmen der Intervention in Richtung
Prävention zu vollziehen.
88
Bundesinstitut für Sozialpädagogik (1999): Sozialpädagogische Impulse: Gewalt. Heft 4. Baden: MBC.
7 258 3
Gewalt in der Familie
Teil II: Gewalt gegen Kinder
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Gewalt in der Familie
Teil III:
Gewalt gegen Männer
Brigitte Cizek
Olaf Kapella
Johannes Pflegerl
Maria Steck
Gewalt in der Familie
7 271 3
Übersicht
Einleitung
274
1
Historischer Abriss
275
2
2.1
2.2
2.3
Formen von Gewalt
Physische Gewalt
Psychische Gewalt
Sexuelle Gewalt
279
279
279
280
3
3.1
Ergebnisse empirischer Untersuchungen
Empirische Ergebnisse zu Gewalt gegen Männer aus
vergleichenden Direktbefragungen
Gewalt an Männern in Lebensgemeinschaften
Gewalt an Männern bei Paaren, die nicht zusammenleben
Zusammenfassung
Untersuchungen über Strafanzeigen
282
282
282
285
286
287
4
4.1
4.2
Frauen als Täterinnen – Männer als Opfer
Physische Gewalt von Frauen gegen Männer
Tötungsdelikte von Frauen an Männern
289
289
290
5
5.1
Reaktionen von Männern auf Gewalt
Bewältigungsstrategien von Männern
Zusammenfassung
294
294
300
Literatur
302
3.1.1
3.1.2
3.1.3
3.2
7 272 3
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
Tabellen
Tabelle III.1: Häufigkeit von Strafanzeigen nach einem Notruf
nach dem Geschlecht von Täter und Opfer
Gewalt in der Familie
7 273 3
287
Einleitung
Die Problematik Gewalt gegen Männer nimmt
im Rahmen des Forschungsfeldes Gewalt in der
Familie eine Randstellung ein und ist darin gleichzeitig ein sehr umstrittenes Themenfeld. Bisher
existieren allerdings erst sehr wenige Forschungsarbeiten, die sich spezifisch damit auseinandersetzen. Dementsprechend gering ist auch die Zahl der
Veröffentlichungen. Nach Ansicht von Gemünden
(1996) bleiben die meisten bisherigen Arbeiten eher
oberflächlich und spekulativ. So wollen einige
ForscherInnen aufzeigen, dass Gewalt gegen Männer ein vergleichbar großes Problem wie Gewalt
gegen Frauen darstellt. Andere wiederum intendieren den Nachweis zu erbringen, dass es sich um
eine vernachlässigbare Fragestellung handelt.
In empirischen Forschungsarbeiten zur Gesamtproblematik Gewalt in der Familie oder in der
Partnerschaft wurde Gewalt gegen Männer in entsprechenden Vergleichsstudien sehr wohl untersucht. Somit kann trotz des Fehlens spezifischer
Untersuchungen auf eine Fülle von Daten zurückgegriffen werden.
In diesem Kapitel wird zunächst ein kurzer
historischer Abriss zu dieser Thematik vermittelt,
in der Folge darauf eingegangen, welchen Stellenwert sie in diesem Rahmen einnimmt und welche
Kritik dagegen vorgebracht wurde.
Im Anschluss daran wird auf unterschiedliche
Formen von Gewalt gegen Männer eingegangen.
Darauf folgt ein Überblick über Ergebnisse internationaler Untersuchungen, in denen die Problematik Gewalt gegen Männer zum Gegenstand des
Forschungsinteresses wurde. Im Anschluss daran
wird auf TäterInnen und deren Motive sowie auf
die Situation und die Rolle der Opfer eingegangen.
Darüber hinaus werden anhand bisher durchgeführter Untersuchungen unterschiedliche Strategien zur Bewältigung von Gewalt gegen Männer
diskutiert und abschließend ein Resümee gezogen.
7 274 3
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
1 Historischer Abriss
Die Thematik Gewalt gegen Männer erregte
erstmals breitere Aufmerksamkeit durch die Veröffentlichungen der amerikanischen Soziologin
Susanne Steinmetz. In ihrem Aufsatz „The Battered
Husband Syndrome“ (1977/78) zeigt sie auf, dass
nicht nur Frauen sondern auch Männer Opfer von
Gewalt innerhalb von Partnerschaften sind. Dabei
versucht sie zunächst anhand von historischen
Beispielen zu begründen, dass Gewalt gegen Männer existiert und durchaus mit jener an Frauen
vergleichbar ist. Sie bezieht sich in dieser Analyse
konkret auf das, unter anderem in ländlichen
Regionen Frankreichs verbreitete, Brauchtum des
„Charivari“, das in dörflichen Gemeinschaften eine
rituelle Form der Bestrafung von Fehlverhalten
ihrer Bewohner war. Bei diesen Charivaris in
Frankreich war es üblich, auch Männer zu sanktionieren, die von ihrer Frau geschlagen wurden.
Zunächst stülpte man ihnen eine Maske über und
setzte sie anschließend rücklings auf einen Esel, den
man durchs Dorf trieb. Die so bestraften Männer
wurden zur Zielscheibe des Spotts (Steinmetz
1977/78).
Steinmetz intendierte in weiterer Folge, die
Existenz von Gewalt gegen Männer anhand einer
Zusammenschau der von anderen ForscherInnen
durchgeführten Analysen von Cartoons und
Comics festzumachen. Ein in diesen Comics immer
wieder auftauchendes Thema sind Ehemänner, die
vom Idealbild des starken, durchsetzungskräftigen,
intelligenten Mannes abweichen. An seiner Stelle
werden diesen Männern kulturell üblicherweise nur
Frauen zugeschriebene Charaktereigenschaften
zugedacht. Die Frau wiederum erscheint als dominante Persönlichkeit, die ihren „irrenden“ Ehemann dafür bestraft, dass er die ihm zugeschriebenen kulturellen Rollenerwartungen nicht erfüllt
hat.
Anhand einer Analyse von fünf Untersuchungen kommt Steinmetz (1977/78) zu dem Schluss,
dass die Gewaltraten von Männern und Frauen
gegenüber ihrem jeweiligen Partner in beinahe allen
Gewaltformen gleich hoch sind. 1
Gewalt in der Familie
Steinmetz (1977/78) stellt zu ihrer historischen
Reflexion und der zusammenfassenden Analyse
von Comics sowie der Zusammenschau empirischer Befunde resümierend Folgendes fest: Mit
Comics wird zwar sehr oft versucht, die soziale
Realität zu verdrehen. Dennoch sind sowohl die in
frühen Gerichts- und Kommunitätsakten der USA
und Europa zu findenden Hinweise auf körperlich
misshandelte Männer als auch die in unterschiedlichen Untersuchungen empirisch immer wieder
festgestellte Tatsache, dass die Zahl der von Männern und Frauen in Partnerschaften verübten Tötungsfälle gleich hoch sind, ein Beweis dafür, dass es
sich bei Gewalt gegen Männer um kein neues
Phänomen handelt.
Folgende Gründe sind ihrer Meinung nach
dafür verantwortlich, warum Gewalt gegen Männer
zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels
kein Forschungsthema und kein Thema für die
Medien war:
3 Mangel an entsprechenden empirischen Daten;
3 Mangelndes Interesse von ForscherInnen und
Medien;
3 die Tatsache, dass Frauen schwerer verletzt werden, wodurch „Gewalt gegen Frauen“ sichtbarer wird;
3 die Tatsache, dass Männer viel eher leugnen,
Opfer von Gewalt ihrer Partnerin geworden zu
sein als Frauen (Steinmetz 1977/78).
In den Medien erregte dieser Artikel große
Aufmerksamkeit. Ein wesentlicher Grund dafür
war, dass es der Frauenbewegung zu diesem Zeitpunkt gerade erst gelungen war, das Thema der
misshandelten Frau als soziales Problem in der
öffentlichen Diskussion zu verankern. In vielen
amerikanischen Tageszeitungen und Zeitschriften
1
7 275 3
Eine Ausnahme betrifft lediglich das Verprügeln des
Partners. In einer von Steinmetz (1977/78) selbst durchgeführten Studie betrafen nur 0,6 % der Fälle Gewalt
gegen Männer während, die Zahl der von Männern derart verübten Gewaltfälle bei 7 % lag.
erschienen Berichte über das „neu entdeckte“
Phänomen Gewalt gegen Männer und in Talkshows
wurde zum Teil übertrieben darüber diskutiert.
Hinter solchen Diskussionen stand sehr oft die
Absicht, das Thema in einen Gegensatz zur
Problematik Gewalt gegen Frauen zu bringen und
diese zu bagatellisieren (Gemünden 1996; Jones
1986).
In der Folge wurde das Thema auch von politischen EntscheidungsträgerInnen in den USA aufgegriffen, die der Problematik der körperlichen
Misshandlung von Frauen skeptisch gegenüberstanden. Jones verweist darauf, dass viele mit
betroffenen Frauen arbeitende Personen plötzlich
ständig mit dem Artikel von Steinmetz konfrontiert
wurden. Misshandlungen, so wurde ihnen von politischer Seite entgegengehalten, seien kein spezifisches Problem von Frauen. Dies führte nach von
Jones (1986) nicht näher erläuterten Angaben dazu,
dass Hilfsprogramme für geschlagene Frauen
nachließen.
Diese Vorkommnisse erklären nach Ansicht von
Gemünden teilweise, weshalb es sogar zu persönlichen Angriffen gegen Steinmetz kam, die von verbalen Verunglimpfungen und scharfer Polemik
über Vorlesungsstörungen und Blockaden bis zu
nächtlichen Drohanrufen reichten.2 Diese zum Teil
persönlichen als auch polemischen Angriffe und die
politischen Auswirkungen in Hinsicht auf soziale
Hilfen für geschlagene Frauen haben die wissenschaftliche Diskussion über das Thema Gewalt gegen Männer wesentlich mitgeprägt. Viele For2
So spricht etwa Jones (1986) davon, dass sich die
SoziologInnen Steinmetz, Straus und Gelles, die zuvor
seriöse Forschungsarbeit geleistet hatten, sich durch die
Bearbeitung dieser Thematik der Lächerlichkeit preisgaben. Die berechtigten Bedürfnisse der Männer, die
wirklich von ihren Frauen misshandelt wurden, seien
dadurch diskreditiert worden. Die Aufregung über die
geschlagenen Ehemänner, die Männergewalt und
Frauengewalt gleichsetzte, verschleierte und trivialisierte
nach Ansicht von Jones vorwiegend das umfangreiche
Problem der misshandelten Ehefrauen.
scherInnen zögerten in der Folge zu diesem Thema
zu veröffentlichen (Gemünden 1996).
Die heftigste wissenschaftliche Kritik an der
Arbeit von Steinmetz kam von feministisch orientierten ForscherInnen, die grundsätzliche Kritik
daran übten, dass diese Thematik für ein soziales
Problem gehalten würde, das öffentliche Aufmerksamkeit verdient. So stellte Jones dazu fest:
„Die Fahnenträger der Gleichberechtigung aber
behaupten nicht nur, Männer und Frauen seien sich
bei tätlichen Auseinandersetzungen ebenbürtig,
sondern dass Männer dabei unter Umständen auch
noch den Kürzeren ziehen. Der vielleicht absurdeste Aspekt der ideologischen Kehrtwende gegen
geschlagene Frauen war die Entdeckung eines weiteren gesellschaftlichen Problems von atemberaubenden Ausmaß: geschlagene Ehemänner. Es handelte sich dabei von Anfang an um ein Scheinproblem, und obwohl einige kommunale Frauenhäuser beschlossen, ihre Dienste auch Männern
anzubieten, führte die Bewegung der geschlagenen
Ehemänner nicht zu einem einzigen ,Männerhaus‘
oder einem Hilfsprogramm, es fand sich auch kein
einziger freiwilliger Helfer. Aber in den Medien
wurde es zum großen Renner.“ (Jones 1986, S. 350).
Gemünden (1996) verweist darauf, dass die wissenschaftliche Diskussion über diese Thematik im
Unterschied zur zeitweiligen großen allgemeinen
öffentlichen Debatte ebenso undifferenziert blieb.
Seiner Einschätzung nach beschränken sich die
meisten erschienen Arbeiten auf eine Argumentation, anhand derer nachgewiesen werden sollte,
dass „Gewalt gegen Männer“ in keinem vergleichbaren Umfang wie „Gewalt gegen Frauen“ existiert. Demgemäß sind Frauen als einziges Opfer
von Gewalt in der Partnerschaft zu sehen und darzustellen.
Welche Einwände gegen die Thematisierung
von Gewalt gegen Männer generell vorgebracht
wurde, soll an den konkreten Kritikpunkten an der
Arbeit von Steinmetz deutlich gemacht werden:
3 Jene Untersuchungen, die Gewalt mit der von
Straus entwickelten Conflict Tactic Scale (Be-
7 276 3
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
schreibung der Conflict Tactic Scale siehe Teil I,
Kapitel 4 „Problemdarstellung der Forschung“)
messen, würden Gewalt gegen Frauen systematisch falsch erfassen. Konkret wird darauf
hingewiesen, dass Männer dazu neigen, eigene
Gewalthandlungen zu verharmlosen, während
Frauen eher bereit sind, diese zuzugeben. Nach
Ansicht von Pagelow (1985) ist das der Grund,
warum die Häufigkeit von Gewalt bei Männern
und Frauen gleich hoch ist. Daher sollten nicht
einzelne Personen, sondern Paare befragt werden. An der Anwendung der Conflict Tactic
Scale wird generell kritisiert, dass schwere und
triviale Vorkommnisse nicht ausreichend getrennt werden. Zu diesem Zweck wären Untersuchungen über den Kontext von Gewalt,
insbesondere über die subjektive Interpretation
der Handelnden, deren Motive, Ziele und Verletzungen notwendig. Bei der Anwendung der
Conflict Tactic Scale würde die subjektive Sichtweise des Geschehens durch die Beteiligten
selbst nicht erfasst und auch die beinahe ausschließlich von Männer begangenen sexuelle
Übergriffe nicht entsprechend berücksichtigt
(Dobash & Dobash 1992).
3 KritikerInnen verweisen anhand von Untersuchungen über Scheidungswillige bzw. Geschiedene sowie mittels Untersuchungen von sozialen oder medizinischen Hilfsdiensten und
Studien über Polizeinotrufe, Strafanzeigen,
Misshandlungs- und Tötungsdelikte darauf,
dass vergleichsweise weniger Gewalthandlungen an Männern als an Frauen verübt werden
(Dobash & Dobash 1977/78,1992; Pagelow
1985).
3 Weiters wird darauf hingewiesen, dass Frauen
Gewalt vorwiegend zur Selbstverteidigung ausüben, während bei Männern viel eher Besitzdenken und Eifersucht Motive für Gewalthandlungen sind (Jones 1986, S. 374).
3 Unterschiedliche Studien kommen zu dem
Ergebnis, dass Verletzungsfolgen für Frauen
größer als für Männer sind. Darüber hinaus sind
Gewalt in der Familie
die ökonomischen und psychischen Konsequenzen der Gewalt von Männern an Frauen
größer als die Folgen der Gewalt von Frauen an
Männern (Gemünden 1996).
3 Gewalt von Männern gegen Frauen ist durch
soziale Normen gebilligt. Gewalt von Frauen
gegen Männer hingegen wird als Verstoß gegen
die soziale Ordnung betrachtet. Lupri (1990)
verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass
Männer in der Folge keine dem Erleben geschlagener Frauen vergleichbare Hilflosigkeit
durchmachen. Für Männer als Familienoberhaupt existierte das noch bestehende Recht zur
Erziehung und Züchtigung der eigenen Frau bereits lange Zeit, während Frauen dieses Recht
nie zugestanden wurde (Gemünden 1996).
3 Schließlich lehnen es die KritikerInnen ab, von
einem battered husband syndrome im Vergleich
zum battered wife syndrome zu sprechen, wie
Steinmetz dies in ihrem Aufsatz macht. Bisher,
so KritikerInnen, konnte noch kein Nachweis
erbracht werden, dass es zahlreiche schwere und
wiederholte Misshandlungen an Männern in
großer Zahl gibt, weshalb die Rede von einem
battered husband syndrome nicht gerechtfertigt
sei. Die vorliegenden Befunde würden eher
dafür sprechen, dass Frauen und Männer an
leichteren und mittelschweren Gewalttaten
etwa gleich häufig beteiligt sind. Dabei darf
nicht übersehen werden, dass überwiegend
Frauen Opfer von schweren und wiederholten
Misshandlungen werden (Schneider 1990a).
Größer angelegte spezielle Untersuchungen
über Gewalt gegen Männer wurden in der Folge
nicht durchgeführt. Die Thematik blieb jedoch in
der Gewaltforschung präsent, da im Rahmen von
Studien über Gewalt in der Familie alle Formen von
Gewalt und somit auch Gewalt gegen Männer
näher untersucht wurden. Strauss, Gelles und
Steinmetz (1980), Stets und Straus (1990), aber auch
Brush (1990), Meredith (1986b), Nisonoff und
Bitman (1979) Lupri (1990) und Szinvoaczs (1983)
7 277 3
führten dazu Forschungsarbeiten durch. Dazu
kamen Studien über Gewalt in Liebesbeziehungen
(Cate et al. 1983; Lane & Gwardney-Gibbs 1985;
Makepeace 1986).
Im deutschsprachigen Raum wurden dagegen
bisher nur zwei größere Untersuchungen, eine
durch das Deutsche Jugendinstitut (Wahl 1990) und
eine von Habermehl (1994) durchgeführt. Dazu
kommt die Dissertation von Jürgen Gemünden
(1996), der in seiner Forschungsarbeit einen umfassenden Überblick über die bisherigen Forschungsarbeiten lieferte und einen eigenen mikrostrukturellen Ansatz zur Erklärung von Gewalt in der Familie entwickelte.
Die 1984 von Rouse (1984) durchgeführte
Studie ist die bisher einzige Untersuchung, in der
ausschließlich Männer befragt wurden.
7 278 3
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
2 Formen von Gewalt
Viele Opfer im Bereich der Gewaltkriminalität
sind männlich. Amtliche Kriminalstatistiken der
Bundesrepublik Deutschland schätzen den Prozentsatz männlicher Gewaltopfer zwischen 50 bis
75 Prozent (BKA 1991). Dabei muss bedacht werden, dass Gewalt körperlicher Natur ein wesentlicher Bestandteil männlicher Sozialisation ist
(Heilmann-Geideck & Schmidt 1996). Sowohl die
aktive Rolle des Aggressors, als auch der Part des
Angegriffenen bestimmen scheinbar in erheblichem
Maß die männliche Identitätsentwicklung. In Form
von Mannschaftsspielen, Balgereien in der Schule
und mit Geschwistern, später dann in peer groups,
sind Jungen und junge Männer sehr häufig mit Gewalt konfrontiert.
Allerdings ist zu bedenken, dass sich die
meisten kriminalstatistischen Berichte über Gewalterfahrungen von Männern auf den außerhäuslichen, nichtfamiliären Bereich beziehen. In
diesem Zusammenhang unterteilt Gemünden
(1996) auch in „domestic“ – also innerfamiliäre –
und „street violence“ (z.B. in der Schule, in Banden,
am Arbeitsplatz oder im Zuge eines Überfalls).
Nachdem der vorliegende Bericht Gewalt in der
Familie – also „domestic violence“ – zum Thema
hat, wird der Bereich der außerfamiliären Gewalt in
den folgenden Abschnitten ausgeklammert.
3
3
3
3
die meisten Männer um ihre physische Überlegenheit. Körperliche Gewalt von Frauen wird
demnach von Männern als weniger bedrohlich
empfunden (Harten 1995).
Im Alltagsbewusstsein von Männern wird die
Misshandlung durch eine Frau nicht in dem
Maß als Gewalt angesehen, wie die Misshandlung einer Frau durch einen Mann (Honig
1986).
Körperliche Gewalt ist für Männer etwas
Natürliches, mit dem sie umgehen, sich dagegen
wehren können müssen. Wollen sie ein „richtiger Kerl“ sein, so darf sie physische Gewalt seitens einer Partnerin nicht aus der Bahn werfen
(Heilmann-Geideck & Schmidt 1996).
Körperliche Gewalterfahrungen durch eine
Frau scheinen mit dem männlichen Identitätsbild unvereinbar zu sein. Von einer Frau geschlagen zu werden, bedeutet schwach zu sein.
Darüber zu berichten, würde einen Gesichtsverlust mit sich bringen (Heilmann-Geideck &
Schmidt 1996).
Männer haben weniger Zugang zu ihren Gefühlen bzw. können diese schwer verbalisieren. Dadurch können sie häufig nicht aussprechen,
wenn sie sich verletzt, gekränkt oder gedemütigt fühlen (Heilmann-Geideck & Schmidt
1996).
2.1 Physische Gewalt
2.2 Psychische Gewalt
Männer berichten selten über körperliche Gewalterfahrungen innerhalb der Familie (HeilmannGeideck & Schmidt 1996). Was die physische
Gewalt von Frauen gegen Männer in Beziehungen
anbelangt, können diesbezüglich mehrere mögliche
Gründe angeführt werden:
3 Die Schläge, die von einer Frau ausgehen,
haben eher symbolischen bzw. defensiven Charakter. Sie sind in ihrem Ausmaß nicht so
schwer und werden deshalb von den Männern
noch nicht als Gewalt angesehen. Zudem wissen
Gewalt in der Familie
Seelische Gewalt zu erfassen und zu erforschen
ist besonders schwierig, da die Grenzziehung zu
nicht gewalttätigem Verhalten kaum möglich ist
und psychische Gewalt zudem keine objektiv sichtbaren Narben hinterlässt (Rauchfleisch 1992).
Insofern sind Studien zur psychischen Gewalt in
Familien generell, gegenüber Männern im Speziellen, selten.
In Interviews mit Männern, die selbst zu Gewalttätern wurden, erhoben Heilmann-Geideck &
7 279 3
Schmidt (1996) Daten über Formen von und
Empfindungen über psychische Gewalt seitens
Frauen gegenüber ihren Partnern.
Die meisten Männer berichteten über psychische Gewalt in Form von Kränkungen und
Demütigungen verbaler Art seitens ihrer Partnerinnen. Sie bedeuten eine Erschütterung ihres
eigenen Mannseins und wecken die innere Angst
vor einem möglichen Beziehungsabbruch durch die
Partnerin.
„Der Mann, der in einer verbalen Auseinandersetzung nicht die Oberhand behält, der Mann,
der sich ausgeschlossen fühlt von der Gemeinschaft
der Frauen und Kinder, der sich minderwertig
fühlt und der sich auf das für ihn unsichere Terrain
begibt, Gefühle zu zeigen, sich darüber angreifbar
macht und sich tatsächlich angegriffen fühlt, oder
der Mann, dessen sexuelle Leistungskraft angezweifelt wird – sie alle können sich spontan
nichts Gewalttätigeres vorstellen als die Infragestellung ihrer Männlichkeit.“ (Heilmann-Geideck &
Schmidt 1996, S. 86).
2.3 Sexuelle Gewalt
Männer werden meist im außerfamiliären Bereich zu Opfern sexueller Gewaltübergriffe durch
andere Männer. Beispiele dazu finden sich u.a. in
umfassenden Gefängnisstudien (Lockwood 1980;
Russell 1984). Nicht selten klagen Männer über
sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sowohl durch
Frauen als auch durch andere Männer (Malovich &
Stake 1990).
In heterosexuellen Beziehungen wird extrem
selten von sexuellen Gewalthandlungen seitens der
Frauen an Männern berichtet. Vermutlich hat dies
neben der Physiologie des Mannes auch mit dem
geringen Problembewusstsein in dieser Angelegenheit zu tun. Dies dürfte auch der Grund dafür sein,
warum bis dato keine entsprechenden Mess- und
Erhebungsverfahren entwickelt wurden, um sexu-
elle Gewalt durch Frauen an Männern zu erfassen
(Harten 1995).
Nach Ansicht von Sorensen werden Männer
auch im sexuellen Bereich eher psychisch unter
Druck gesetzt, indem sie fürchten, die Tatsache
keine Lust auf Sex zu haben, würde von den Frauen
in Form von verbalen Abwertungen gegen sie verwendet werden (Harten 1995). Die Angst, dann
nicht den internalisierten und gesellschaftlich verbreiteten Normen zur männlichen Potenz und allzeitigen sexuellen Bereitschaft gerecht zu werden,
kann Männer unter großen Druck setzen. So
berichten Männer von sexuellem Verkehr mit
Frauen, den sie im Grunde nicht wünschten aber
aus Angst, andernfalls als „unmännlich“ oder
„Versager“ zu gelten, trotzdem vollzogen (Harten
1995).
Ungewollter Verkehr hat demnach bei Männern
eine andere Bedeutung als bei Frauen. Männer stehen dabei eher unter dem Druck ihrer selbst gesetzten bzw. von der Gesellschaft vermittelten Normen. Männer berichten in einer Studie von Spencer
& Zeiss (1987 zit. nach Harten 1995) etwa doppelt
so oft wie Frauen unter sexuellem Druck durch
„Freunde oder Medien“ zu leiden. So können sie
nicht „nein“ sagen, weil dies ihrem eigenen Männlichkeitsbild widerspricht, nicht weil andere sie
daran hindern (Carroll et al. 1985).
Männer erleben „unwanted sex“ als nicht so
gravierend, da in ungewollten sexuellen Kontakten
mit Frauen niemals ein so starkes Gefühl der
Demütigung, Depersonalisation und Machtlosigkeit aufkommt wie bei Frauen. Dies wird etwa
durch die Ergebnisse der Studie von Stuckman und
Johnson (1988), in denen 78 Prozent der Frauen
und nur 22 Prozent der Männer über negative
Langzeitfolgen nach „unwanted sex“ berichten,
bestätigt.
Dort allerdings, wo sexuelle Aggression gegen
Männer gewalttätig verläuft, also in Form von
Vergewaltigung durch andere Männer, sind die psychosozialen Folgen denen der Frauen vergleichbar.
Männer berichten genauso von Gefühlen der
7 280 3
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
Demütigung, Machtlosigkeit und Depersonalisation, darüber hinaus aber auch von einer
Verwirrung in ihrer Geschlechtsidentität (Groth &
Birnbaum 1979).
Sexuelle Gewalt an Männern durch Männer ist
stark tabuisiert und wird selten aufgedeckt. Dies ist
auch darauf zurückzuführen, dass sich die Opfer
wegen des Übergriffs schämen und insgeheim vielleicht auch ihr eigenes Verhalten als schuldhaft
ansehen (Lenz 1996b). Dabei spielen gesellschaftliche Implikationen eine wesentliche Rolle. So wird
beispielsweise in der islamischen Gesellschaft
gleichgeschlechtlicher Verkehr zwischen Männern
prinzipiell abgelehnt. Geächtet wird aber nicht der
Penetrierer, da er als Mann seine männliche Potenz
unter Beweis stellt und die aktive Rolle einnimmt,
sondern der Penetrierte, der passive, in diesem Fall
vergewaltigte Mann. In vielen arabischen Ländern
ist demnach die Vergewaltigung eines Mannes
durch einen Mann kein strafbares Delikt (Duerr
1993). In unseren Breitengraden wird zwar die
sexuelle Nötigung von Männern strafrechtlich verfolgt, doch auch im europäischen Raum herrscht
das Bild des aktiven dominanten Mannes im
Bereich der Sexualität vor. Die Anzeige von
Vergewaltigung durch einen Mann bedeutet auch
bei uns einen Gesichtsverlust für die männlichen
Opfer und ist vielleicht gerade deshalb auch sehr
selten.
Weitere Formen von Gewalt gegen Männer
werden vor allem in Bezug auf Jungen im Kinderteil dieses Berichts diskutiert. Publikationen zu
Gewalt an Buben und männlichen Jugendlichen
sind besonders in den letzten Jahren veröffentlicht
worden. Anscheinend hat das Problembewusstsein
in diesem Bereich sowohl in Forscherkreisen als
auch in der breiten Bevölkerung zugenommen.
Gewalt in der Familie
7 281 3
3 Ergebnisse empirischer
Untersuchungen
Wie in der Einleitung bereits erwähnt, gibt es
zwar kaum spezielle Untersuchungen über Gewalt
gegen Männer,3 dennoch existiert eine Fülle von
Studien über Gewalt in der Familie oder in der
Partnerschaft, die einen Vergleich zwischen dem
Ausmaß von Gewalt von Frauen und Männern
ermöglicht. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass bisher durchgeführte
Vergleiche männlicher und weiblicher Gewalthandlungen mithilfe unterschiedlicher methodischer Zugänge gewonnen wurden. Dadurch ergibt
sich mitunter auch ein sehr heterogenes Bild.
Gemünden (1996) schlägt in diesem Zusammenhang vor, unterschiedliche methodische Zugänge zur Problematik in einer zusammenschauenden Analyse deutlich voneinander zu trennen, da es
sonst zu einer unreflektierten Gegenüberstellung
kommt.4 So ist zu unterscheiden, ob Ergebnisse aus
Direktbefragungen bei Betroffenen erzielt wurden,
oder ob eine Datenerhebung etwa durch Kontaktaufnahme mit Gewaltvorfälle dokumentierenden institutionellen Stellen wie der Polizei, Frauenhäusern oder Beratungseinrichtungen möglich
wurde.
Im Folgenden wird in Anlehnung an den Strukturierungsvorschlag von Gemünden auf empirische
Untersuchungsergebnisse über Gewalt gegen
Männer näher eingegangen.
3
4
Eine Ausnahme ist etwa die Untersuchung von Rouse
(1984), die sich spezifisch mit dieser Thematik auseinandergesetzt hat.
Konkret weist Gemünden (1996) darauf hin, dass etwa
Ergebnisse aus Untersuchungen über Geschiedene oder
von Polizeinotrufen den Daten aus Direktbefragungen
gegenübergestellt wurden.
3.1 Empirische Ergebnisse
zu Gewalt gegen Männer aus
vergleichenden Direktbefragungen
Direktbefragungen wurden bei einem Großteil
der Untersuchungen angewandt, die sich mit
Gewalt gegen den/die eigene Partner/in auseinandersetzten. Konkret werden dabei meist einzelne
Personen befragt, die mit einem/r Partner/in
zusammenleben oder eine Liebesbeziehung eingegangen sind. Aber auch Getrennt Lebende oder
Singles sowie Paare wurden in unterschiedlichen
Untersuchungen berücksichtigt. Zu bedenken ist
allerdings, dass nur in wenigen Untersuchungen
mit großen Samples gearbeitet wurde und viele dieser Untersuchungen keinen repräsentativen Charakter haben. In Direktbefragungen wird Gewalt
nur als physische Gewalt erhoben. Zur Anwendung
kommt dabei meist die von Straus entwickelte
Conflict Tactic Scale (Gemünden 1996). (Über die
Methode der Conflict Tactic Scale siehe Teil I,
Kapitel 4 „Problemdarstellung der Forschung“.)
3.1.1 Gewalt an Männern in
Lebensgemeinschaften5
Die ersten und auch meisten Untersuchungen
über zusammen lebende Paare wurden in den USA
durchgeführt. Arbeiten zu dieser Thematik in anderen Ländern sind demgegenüber vergleichsweise
rar.
Straus, Gelles und Steinmetz konnten in ihrer
1976 durchgeführten ersten repräsentativen Studie
über alle Formen von Gewalt6 in der Familie feststellen, dass 11,6 Prozent der Frauen innerhalb des
Jahres vor der Befragung Gewalt gegen ihren jewei-
5
6
7 282 3
Dies betrifft Paare, die in einem Haushalt zusammenleben.
Dazu zählten verbale Gewaltformen wie Fluchen, Beleidigen, Kränken, bis hin zur Androhung von Schlägen,
weiters direkte physische Gewalt wie das Werfen mit
Gegenständen, Schläge mit der flachen Hand, Verprügeln, bis hin zur Drohung bzw. Benutzung von Waffen.
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
ligen Partner anwandten. (Im Vergleich dazu übten
nach Ergebnissen dieser Untersuchung 12,1
Prozent der Männer Gewalt gegen ihre Frauen aus.)
(Straus et al. 1980).7
Bereits einige Jahre zuvor hatte Gelles (1972)
eine erste, allerdings nicht repräsentative Untersuchung mit gewaltauffälligen Ehepaaren8 initiiert. In
49 Prozent der Fälle waren beide gewalttätig, in 24
Prozent der Fälle nur die Frau, in 27 Prozent der
Fälle nur der Mann, (Straus & Hotaling 1980).
Unterschiede werden beim Einsatz verschiedener Formen von Gewalt durch Männer und Frauen
deutlich. So zeigt sich, dass Frauen etwa doppelt so
oft mit Gegenständen nach dem Partner werfen.
Darüber hinaus wird deutlich, dass Frauen häufiger
treten oder mit einem Gegenstand schlagen als
Männer, die wiederum zu einem höheren Anteil
ihre Frau verprügeln sowie Schuss- bzw. Stechwaffen benutzen (Straus et al. 1980).
Trotz ähnlicher Gewaltraten bei Männern und
Frauen erachten Straus et al. (1980) die Problematik
Gewalt gegen Frauen für das größere Problem, weil
Männer Frauen schwerere Verletzungen zufügen,
gefährlichere Gewaltmittel einsetzen, zudem häufiger gewalttätig sind und sich ein Großteil der
Angriffe gegen schwangere Frauen richtet. Frauen
wenden demgegenüber vergleichsweise häufiger
Gewalt in Selbstverteidigung an. Gemünden (1996)
merkt allerdings an, dass sich diese Darlegungen
nur unzureichend aus den Ergebnissen der Arbeit
ableiten lassen. Sie wurden zudem seiner Ansicht
nach nicht ausreichend begründet und stehen teilweise auch im Widerspruch zu den Befunden dieser
Arbeit. Er vermutet deshalb, dass Straus et al. dies
7
8
In dieser Untersuchung wurde je eine Person aus 2143
der gesamten USA ausgewählten Familien, darunter
konkret 960 Männer und 1183 Frauen befragt. Interviewt wurden nur jene Personen, die deklarierten, mit
einem Partner zusammenzuleben (Straus & Hotaling
1980).
Zu den gewaltauffälligen Ehepaaren zählte Gelles all
jene, zu denen die Polizei wegen innerfamiliärer Gewalttätigkeiten gerufen wurde.
Gewalt in der Familie
deshalb in ihre Arbeit aufgenommen haben, um die
Kritik zu relativieren.
Feministische ForscherInnen kritisierten diese
Untersuchung. Der Fokus der Kritik richtet sich
vor allem gegen die Anwendung der Conflict Tactic
Scale, die ihrer Ansicht nach systematisch zu Ungunsten von Frauen misst. Methodisch wird dabei
ihrer Meinung nach nicht entsprechend berücksichtigt, dass Frauen in der Regel eher als Männer bereit
sind zuzugeben, physische Gewalt angewendet zu
haben (Gemünden 1996).
Nisonoff und Bitmann (1979) allerdings widersprechen mit den Ergebnissen ihrer Untersuchung
dieser Annahme. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass
die Gewaltrate von Frauen gegen Männer etwas
höher ist als umgekehrt. Gleichzeitig konnten sie
nachweisen, dass Männer sowohl als Täter als auch
als Opfer mehr Gewalt angaben. Die von ihnen
erhobenen Daten sprechen zudem dafür, dass
Frauen ihre Gewalttaten für deutlich schwer wiegender halten als Männer.
Straus et al. (1990) stellten in einer 1985 neuerlich durchgeführten Untersuchung fest, dass das
Verhältnis der Gewaltraten zwischen Männern und
Frauen ziemlich gleich blieb. Auch andere Untersuchungen bestätigten den Nachweis, dass die
Gewaltraten bei Frauen und Männern vergleichsweise ähnlich sind (Brush 1990; Meredith et al.
1986b; Lupri 1990; Brinkerhoff & Lupri 1988).
Szinovaczs kam in ihrer Untersuchung, in der
sie 103 Personen unter Anwendung der Conflict
Tactic Scale befragte, zunächst auch zu vergleichbar
hohen Gewaltraten zwischen Männern und Frauen.
Ihr Ziel war es, den Nachweis zu erbringen, dass
Daten aus Paarbefragungen zuverlässigere Ergebnisse liefern als die Befragung von Einzelpersonen.
Dabei ging sie so vor, dass sie zunächst jede/n
Befragten einen Fragebogen ausfüllen ließ. Die
Ergebnisse wertete sie zunächst ohne Vergleich mit
den Partnerangaben aus. Dabei konnte sie etwa
gleich hohe Zahlen von Gewaltanwendung zwischen den Geschlechtern feststellen. In einem zweiten Schritt verglich sie die Angaben zwischen den
7 283 3
Partnern und bemerkte nur überraschend niedrige
Quoten der Übereinstimmung. In der Folge zählte
sie den Angaben der AngreiferInnen diejenigen
Angaben der Angegriffenen hinzu, die nur diese
gemacht hatten und kam dabei zu einer 20 Prozent
höheren Gewaltrate für Gewalt gegen Männer und
einer 50 Prozent höheren Gewaltrate gegen Frauen.
Die konkreten Differenzen sind darauf zurückzuführen, dass Männer für sie normalerweise untypische Formen von Gewalt nicht berichten. Dazu
kommt, dass verschiedene Ereignisse von Männern
nicht als so schwer wiegend empfunden werden,
um diese bekannt zu geben (Szinovacs 1983). Diese
Befunde sprechen sowohl für ein schnelles
Vergessen leichterer Formen von Gewaltanwendung und relativieren die Aussagekraft der mit der
Conflict Tactic Scale gemessenen Ergebnisse.9
Denn wenn wie in dieser Untersuchung vor allem
Männer leichtere Formen der Gewaltanwendung
vergessen, kann insgesamt nicht von einer gleich
hohen Rate der Gewaltausübung von Männern und
Frauen in Partnerschaften ausgegangen werden.
Steinmetz (1977/78) stellte in ihrer Studie die
Frage, warum geschlagene Männer bei ihren Partnerinnen verbleiben. Diesbezüglich kommt sie zu
dem Schluss, dass die Beweggründe von Frauen
und Männer dieselben sind, nämlich: Erfahrungen
mit Gewalt in der Herkunftsfamilie, nur leichte und
seltene Gewalttätigkeiten sowie mangelnde Alternativen zum Leben mit dem gewalttätigen Partner.
Dazu kommt, dass sich viele Männer die Finanzierung von zwei Haushalten nicht leisten können,
gleichzeitig die Stigmatisierung ihrer Umwelt als
Geschiedene fürchten und durch ihren Verbleib die
Kinder schützen wollen.
9
Gemünden weist in diesem Zusammenhang allerdings
darauf hin, dass die Ergebnisse von Szinovaczs interpretationsbedürftig bleiben. Klarheit könnte seiner Ansicht
nach nur eine Paarbefragung mit einem standardisierten
Fragebogen und daran anschließende narrative Interviews mit Paaren bringen, statt nicht übereinstimmende
Täter- und Opferangaben auf zweifelhafte Art zu addieren (Gemünden 1996, S. 135).
Rouse (1984) veröffentlichte 1984 die bisher
einzige Untersuchung über Gewalt an Männern,
die sich allein auf Aussagen von Männern, die misshandelt wurden, stützt. Dabei gaben 5,5 Prozent
der 55 befragten Männer an, dass ihre Partnerin
bereits mindestens einmal mit einem Gegenstand
nach ihnen gezielt oder etwas nach ihnen geworfen
hat. 27,3 Prozent bekannten von ihrer Partnerin
gestoßen, gepackt oder geschubst worden zu sein.
Knapp 22 Prozent der Befragten erklärten, dass
sie von ihrer Partnerin mit der flachen Hand
geschlagen oder geohrfeigt wurden. 7,3 Prozent
gaben an, von ihrer Partnerin mindestens einmal
getreten, gebissen oder mit der Faust attackiert
worden zu sein. Knapp zwei Prozent der Befragten
erklärten, dass sie ihre Partnerin mit einem
Gegenstand geschlagen hat. Weitere zwei Prozent
erklärten, dass ihre Partnerin sie verprügelt hat und
ebenfalls knapp zwei Prozent gaben an, mit einem
Messer oder einer Schusswaffe bedroht worden zu
sein.
Im deutschsprachigen Raum gibt es dazu nur
zwei größere Untersuchungen. In einer vom
Deutschen Jugendinstitut (DJI) durchgeführten
Forschungsarbeit über Gewalt in der Familie10
konnte festgestellt werden, dass 13 Prozent der Befragten schon einmal Gewalt gegen ihre/n PartnerIn angewandt haben, acht Prozent der Befragten
haben ihre/n PartnerIn schon einmal geschlagen
oder geohrfeigt, davon insgesamt sechs Prozent
aller Frauen und neun Prozent aller Männer (Wahl
1990).
Die Ergebnisse von Habermehl (1994) stehen
dazu deutlich im Widerspruch. Allerdings weist
Gemünden (1996) darauf hin, dass die Repräsentativität ihrer Untersuchung eher zweifelhaft ist.
Habermehl (1994) befragte 1986 insgesamt 553
10
7 284 3
In dieser Untersuchung wurden 2638 Personen zwischen
18 und 59 Jahren sowie 336 Jugendliche befragt. Gewalt
wurde dabei mit einer der Conflict Tactic Scale ähnlichen
Skala operationalisiert (Wahl 1990).
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
Männer und Frauen zwischen 15 und 59 Jahren in
ganz Deutschland unabhängig davon, ob diese
eine/n PartnerIn hatten oder mit diesem/dieser
zusammenlebten sowie 349 Jungen und Mädchen
im Alter von 10-15 Jahren. Zur Operationalisierung
von Gewalt benutzte sie ähnlich wie Straus et al
eine der Conflict Tactic Scale ähnliche Skala. Sie
kam zu dem Ergebnis, dass nur jede/r dritte
Befragte zwischen 15 und 59 Jahren noch nie
Gewalt durch eine/n PartnerIn erlebt hat. Vier von
zehn Männern und Frauen sind bereits von
einem/einer PartnerIn misshandelt worden, der
Großteil von ihnen bereits mehr als einmal.
Darüber hinaus lebt jeder dritte Mann und jede
vierte Frau mit einer/einem PartnerIn zusammen,
die/der ihn/sie bereits einmal misshandelt hat
(Habermehl 1994).
Habermehl (1994) kommt zu dem Schluss, dass
Frauen eher als Männer dazu neigen, Gewalt an
Kindern und eigene Gewalt zu bagatellisieren.
Männer würden demgegenüber mehr Gewalt zugeben als die von ihnen misshandelten Frauen angaben, von Gewalttaten betroffen zu sein. Aus ihren
Daten schließt sie, dass Frauen häufiger als Männer
Gewalt einsetzen. Gemünden (1996) weist in diesem Zusammenhang allerdings darauf hin, dass sie
nicht überzeugend begründet hat, warum Frauen
ihre Gewalt gegen den Partner verharmlosen,
während Männer Gewaltanwendung eher zugeben
sollten.
In einer Detailauswertung stellte Habermehl
(1994) fest, dass sich berufstätige Frauen gewalttätiger verhalten als nicht berufstätige.
3.1.2 Gewalt an Männern bei Paaren,
die nicht zusammenleben11
Mit empirischen Untersuchungen über Gewalt
bei Paaren, die nicht zusammenleben begann man
erst in den 80er-Jahren. Dies hängt mit der bis zu
diesem Zeitpunkt weit verbreiteten Auffassung
zusammen, dass Gewalt bei noch nicht zusammenlebenden und nicht verheirateten Paaren eher selten
vorkommt. Gewalt und noch junge Liebe, so die
Vorstellung, würden sich gegenseitig ausschließen.
In einigen Arbeiten lassen sich deutliche
Hinweise für die Anwendung von Gewalt in solchen Beziehungen und auch Hinweise für Gewalt
an Männern finden. Allerdings wurden in den meisten bisher durchgeführten Untersuchungen vorwiegend StudentInnen befragt. Zudem wurde meist
mit sehr kleinen und nicht repräsentativen Samples
gearbeitet.
Makepeace (1981) etwa kam in seiner Untersuchung12 zu dem Ergebnis, dass Gewalt ein verbreitetes, wenn auch oft ignoriertes Phänomen
„vorehelicher“ Beziehungen ist. Er hat nachgewiesen, dass sich knapp 31 Prozent der befragten Männer als Opfer betrachteten, während dieser Anteil
bei Frauen mit 91 Prozent deutlich höher lag. In
einer späteren breiter angelegten Untersuchung
konnten ähnliche Ergebnisse erzielt werden
(Makepeace 1986). Allerdings weist Gemünden
darauf hin, dass Makepeace mit seiner Frage nach
der „Wahrnehmung als Täter“ bzw. als „Opfer“
den Befragten eine wertende Frage gestellt hat. Die
Befragten beantworteten diese vermutlich gemäß
den bestehenden Geschlechts- und TäterInnenOpfer-Stereotypen: Demnach bezeichnen sich
Frauen eher als Opfer als Männer. Nach Ansicht
von Gemünden (1996) hätte diese Frage so gestellt
werden müssen, dass diese Stereotype den Befragten nicht ins Bewusstsein kommen.
Lane und Gwardney-Gibbs13 (1985) konnten in
ihrer Untersuchung im Geschlechtervergleich ähnlich hohe Gewaltraten nachweisen. 68 Prozent der
Frauen bekannten, Gewalt angewendet zu haben,
wobei dabei auch verbale Aggression enthalten ist,
12
11
Dazu zählen Paare, die nicht in einem gemeinsamen
Haushalt zusammenleben.
Gewalt in der Familie
13
7 285 3
In dieser explorativen Untersuchung wurden 202
College-Studenten einer Universität im mittleren Westen
der USA befragt.
In dieser Studie wurden 371 Personen befragt.
die auf Grund von Mehrfachnennungen nicht von
physischer Gewalt getrennt werden konnte. (Der
vergleichbare Anteil der Männer, der zugab, Gewalt
ausgeübt zu haben, lag bei 64 Prozent.)
Cate et al. konnten in ihrer Untersuchung in der
sie 355 StudentInnen aus Psychologiekursen, darunter 153 Männer und 202 Frauen befragten, den
Nachweis erbringen, dass Gewalt entgegen bestehender Vorstellungen bereits in den frühesten
Stadien beginnt. Konkret gaben 28 Prozent der
Befragten an, dass es zu Gewalt bereits bei gelegentlichen Verabredungen kam, bei 47 Prozent der
Befragten begann die Gewalt bei einer festen
Beziehung und bei vergleichsweise nur 25 Prozent
nach der Verlobung oder dem Zusammenziehen.
Insgesamt gaben 83 Prozent der Befragten an, dass
Gewaltvorfälle vorkamen, nachdem die Beziehung
eng und vertraut wurde. Dabei zeigte sich, dass in
22 Prozent der Fälle nur die Frau gewalttätig war.
(In 68 Prozent der Fälle waren es beide PartnerInnen, in zehn Prozent nur der Mann.)
Diese Ergebnisse sind somit ein Indikator dafür,
dass Gewalt ein Bestandteil beiderseitiger menschlicher Interaktion ist und auch bereits am Beginn
einer Beziehung erstmals entstehen kann (Cate et
al. 1982). Ähnliche Befunde konnten in einer späteren Studie bestätigt werden (Cate et al. 1983).
Gemünden kritisiert, dass in dieser Studie vorwiegend StudentInnen und SchülerInnen befragt
wurden. Daraus lässt sich seiner Ansicht nach noch
nicht schließen, dass andere gewalttätiger sind.
Vielmehr zeigen andere Studien (etwa Habermehl
1994), dass vor allem StudentInnen aber auch
SchülerInnen besonders häufig Gewalt gegen
den/die jeweilige/n PartnerIn einsetzen. Dazu
kommt, dass bei nicht zusammenlebenden studentischen Paaren die PartnerInnen meist ökonomisch
voneinander unabhängig sind und in vielen Fällen
auch noch keine Kinder haben und keinen gemeinsamen Besitz teilen, d.h. konkret mehr autonomen
Spielraum haben (Gemünden 1996).
Insgesamt, so zeigt sich, scheint Gewalt ihren
Höhepunkt zu Beginn des gemeinsamen Zusam-
menlebens zu erreichen, wobei die Gewalt von
Frauen ab diesem Zeitpunkt stärker zurückgeht als
jene der Männer. Dies wird unter anderem darauf
zurückgeführt, dass Frauen in der Phase des Kennenlernens und am Beginn einer Beziehung größere
Macht haben (Gemünden 1996). Die Befunde von
Habermehl scheinen diese Überlegungen zu
bestätigen. Sie konnte nachweisen, dass Gewalt am
häufigsten zwischen jenen PartnerInnen vorkommt, die noch keine fünf Jahre zusammenleben.
Nach Ergebnissen der Studie von Habermehl
(1994) sind zusammenlebende StudentInnen am
gewalttätigsten. Allerdings kann auf Basis ihrer
Arbeit nicht nachgewiesen werden, ob sich das
Verhältnis zwischen den Geschlechtern verändert
und ob Formen schwerer Gewaltanwendung aboder zunehmen.
Im Unterschied dazu gibt es über Gewaltvorfälle in homosexuellen Beziehungen überhaupt
noch keine bekannten Untersuchungen oder
Zahlen. Dies lässt sich nach Ansicht von Finke
(2000) möglicherweise darauf zurückführen, dass
die Thematik „häusliche Gewalt“ in heterosexuellen Beziehungen erst in den letzten 20 Jahren stärker behandelt und erforscht wurde. Auch in den
USA nehmen sich Schwulen- und Lesbenorganisationen der Problematik Gewalttätigkeit in
Schwulen- und Lesbenbeziehungen erst seit Ende
der 80er-Jahre an und tun dies auch nur sehr zögerlich. Viele befürchteten angesichts der bereits bestehenden schwulen- und lesbenfeindlichen Haltung
in der US-amerikanischen Gesellschaft, dass im
Zuge einer stärkeren Thematisierung Homosexuelle noch stärker ausgegrenzt und diskriminiert
werden (Finke 2000).
3.1.3 Zusammenfassung
Resümierend lässt sich zeigen, dass die meisten
empirischen Untersuchungen insgesamt ungefähr
gleich großen Raten der Gewaltanwendung von
Frauen und Männern in Lebensgemeinschaften und
bei nicht zusammenlebenden Paaren nachweisen.
Abweichungen sind nach Einschätzung von
7 286 3
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
Gemünden darauf zurückzuführen, dass man
Gewalt bzw. deren Initiierung mit wertenden
Fragen untersuchte. Zudem sind viele Studien nicht
repräsentativ. Die Grenzen vieler Untersuchungen
liegen zudem darin, dass nur nach Gewalt in gegenwärtigen Beziehungen gefragt wurde. Somit gibt es
kaum Antworten über Getrennt Lebende und
keine Angaben von Personen, für die Gewalttätigkeiten der Grund für eine Trennung war oder
die Gewalt während des Trennungsprozesses erlebt
haben.
Ein wesentliches Manko von Untersuchungen
über Gewalt bei nicht zusammenlebenden unverheirateten Paaren ist, dass in diesen Untersuchungen hauptsächlich StudentInnen befragt wurden.
Eine Übertragung der Ergebnisse auf andere
Gruppen ist kaum möglich. So kann etwa vermutet
werden, dass die Verhältnisse im Milieu der
Unterschicht deutlich anders sind (Gemünden
1996).
In vielen Untersuchungen wird zwischen
schwerer und leichter Gewalt unterschieden.
Gemünden gibt in diesem Zusammenhang zu
bedenken, dass diese Unterscheidung zu schematisch ist und daher wenig Aussagekraft hat.
Insbesondere im Hinblick auf die Gefährlichkeit
einer Handlung ist eine differenzierte Sichtweise
notwendig. So ist es wichtig, nicht nur den abstrakten Grad der Gefährlichkeit der Gewalthandlung
einzuschätzen, sondern auch die konkrete Handlung selbst mit zu berücksichtigen. So ist etwa im
Fall von Treten nicht nur die Tatsache des Tretens
von Bedeutung, sondern auch wohin der Tritt ziel-
te und welche Schuhe der/die AngreiferInnen trugen. Verlässliche Aussagen über die Schwere von
Gewalthandlungen können nur dann getroffen
werden, wenn auch die Verletzungsfolgen mit
berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang
ist zu bedenken, dass Frauen durch ihre geringere
durchschnittliche Körperkraft durch Boxen, Schläge mit der flachen Hand und auch mit Tritten Männern vergleichsweise weniger schwere Verletzungen
zufügen können als umgekehrt (Gemünden 1996).
3.2 Untersuchungen über
Strafanzeigen
In bisher vorliegenden Untersuchungen über
polizeiliche Strafanzeigen, die ebenfalls Aufschluss
über das Ausmaß von Gewalt an Männern geben
können, wurden einerseits Strafanzeigen nach
Polizeinotrufen, andererseits Strafakte über Körperverletzungsdelikte analysiert.
So konnten etwa Steffen und Polz (1991) in
ihrer in Deutschland durchgeführten Untersuchung den Nachweis erbringen, dass nicht das
Geschlecht der Opfer, sondern das Geschlecht der
TäterInnen die Anzeigenhäufigkeit beeinflusst.
Wie aus der Tabelle ersichtlich ist, kam es in 26
Prozent von 527 Notruffällen, die Männer als
Opfer auswiesen, zu einer Strafanzeige. Umgekehrt
kam es nur in 17 Prozent von 301 Polizeinotrufen,
nach denen Frauen als Täterinnen aufschienen, zur
Erstattung einer Strafanzeige.
Tabelle III.1:
Häufigkeit von Strafanzeigen nach einem Notruf nach dem Geschlecht von Täter und Opfer
Täter
Absolute Zahl der Fälle
Anzeige erstattet
in Prozent der Fälle
Gewalt in der Familie
Opfer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
301
1760
1530
527
17%
29%
28%
26%
7 287 3
Strafanträge wurden in der Folge allerdings vergleichsweise selten gestellt. Insgesamt stellten von
135 betroffenen Männern 36 Prozent einen Strafantrag. 15 Prozent zogen diesen wieder zurück.
(Von 433 betroffenen Frauen stellten 41 Prozent
einen Strafantrag, wobei 14 Prozent diesen wieder
zurücknahmen.)
Weitere Untersuchungen beruhen im Wesentlichen auf Aktenauswertungen von Körperverletzungsdelikten, die von der Polizei oder der
Staatsanwaltschaft geführt und aktualisiert werden.
Glaubten Dobash und Dobash mit ihrer
Untersuchung einen Beleg für die ausschließliche
Täterschaft von Männern an Frauen gefunden zu
haben, so weist Gemünden (1996) darauf hin, dass
die von ihnen nachgewiesenen Befunde nur zeigen,
wie schwer es Männern fällt, gegen ihre eigene Frau
Strafanzeigen wegen Körperverletzung zu erstatten. Dies würde sich aus einem Vergleich mit den
Ergebnissen von Direktuntersuchungen ergeben,
bei denen mit Ausnahme von schweren Gewaltdelikten die Raten zwischen den Geschlechtern
gleich hoch sind.
Dobash und Dobash (1983) werteten in ihrer
Untersuchung 33724 Polizeiakten aus dem Bezirk
Glasgow in Schottland aus dem Jahr 1974 aus und
konnten feststellen, dass es 3020 Gewaltdelikte gab.
26 Prozent dieser Delikte waren Gewalttaten,
die von Männern an ihren Frauen begangen wurden. Weiters konnten sie nachweisen, dass nur etwas mehr als ein Prozent der Anzeigen Misshandlungen in der Familie betrafen, in denen die Frauen
ihre Männer attackiert hatten. Im Vergleich dazu
waren in 76 Prozent der Fälle Männer die Angreifer.
Sie schließen daraus, dass das ein Beleg für die
beinahe ausschließliche Täterschaft von Männern
an Frauen ist. Zudem repräsentieren diese Zahlen
nur einen kleinen Teil der Delikte, da ihren
Angaben zufolge insgesamt nur eine verschwindend geringe Zahl von tätlichen Angriffen gegen
Frauen auch tatsächlich zur Anzeige gebracht werden (Dobash & Dobash 1983).
Gemünden (1996) hingegen interpretiert diese
Belege von Dobash und Dobash als Indikator
dafür, wie schwer es Männern fällt, gegen ihre eigene Frau Strafanzeige wegen Körperverletzung zu
erstatten.
Insgesamt zeigt sich, dass Strafanzeigen seltener
erstattet werden als die Polizei zu Hilfe gerufen
wird. Den Ergebnissen der Studie von Makepeace
(1981) zufolge scheinen Strafanzeigen eher eine von
Frauen gewählte Strategie im Umgang mit partnerschaftlicher Gewalt zu sein. Männer erstatten dieser
Studie zufolge meist nur dann Anzeige, wenn sie
während eines Angriffes in Lebensgefahr geraten.
7 288 3
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
4 Frauen als Täterinnen –
Männer als Opfer
4.1 Physische Gewalt
von Frauen gegen Männer
„Das Bild der um sich schlagenden Frau und
Mutter passt nicht recht zur Opferrolle, die der Frau
und zur Täterrolle, die dem Mann zugeschrieben
wird. Die Frau ist selbst dann noch Opfer, wenn sie
selbst gewalttätig ist – als Opfer der Unterdrückung
in der Gesellschaft und in der Familie misshandelt
sie ihre Kinder, die eine noch schwächere Position
einnehmen als sie selbst. [...] Die Tötung des
Ehemannes ist entschuldigt, wenn die Frau glaubhaft machen kann, dass er sie wiederholt misshandelt hat. Ein Mann, der seine Frau tötet, um ihren
Misshandlungen zu entgehen wird weniger
Verständnis finden.“ (Habermehl 1994, S. 53).
In der Diskussion über Gewalt gegen Männer
wird häufig die Ansicht vertreten, dass Frauen
Gewalt viel häufiger als Männer aus Notwehr oder
als Reaktion auf die vorherige Gewaltanwendung
ihrer männlichen Partner anwendeten. Männern
wird also üblicherweise zugeschrieben, mit Gewalthandlungen begonnen zu haben. Dies bedeutet,
dass Männer selbst dafür verantwortlich gemacht
werden, wenn sie Opfer von Gewalthandlungen
ihrer Frauen werden. (Gemünden 1996).
Allerdings wurden auch kritische Stimmen laut.
So kritisiert Habermehl (1994), dass Gewalt in der
Ehe bzw. in der Partnerschaft weitgehend mit
Gewalt gegen Frauen gleichgesetzt wird. Vor allem
in der feministischen Literatur werde ihrer Beobachtung nach Gewalt von Frauen gegen Männer
genauso wie Gewalt von Frauen gegen Kinder ausgeblendet.
In den folgenden Untersuchungen lässt sich feststellen, dass viele sich insbesondere mit der Frage,
wer mit Gewalttätigkeiten begonnen hat, auseinandersetzten. So konnten Stets und Straus (1990)14 den
14
Nachweis erbringen, dass Frauen sowohl nach
Angaben der Männer, als auch nach ihren eigenen
Aussagen sogar häufiger mit Gewalthandlungen
begonnen haben als Männer. So gaben konkret beinahe 53 Prozent der befragten Frauen, in deren
Partnerschaft es zu Gewalthandlungen kam, an,
dass sie mit Gewalthandlungen gegen ihre Männer
begonnen haben. (Demgegenüber berichteten vergleichsweise knapp 44 Prozent der Männer, dass sie
die Gewalthandlungen selbst initiierten.) Auch
umgekehrt berichteten 44 Prozent der befragten
Männer, dass die Gewalt von ihren Partnerinnen
ausging. (Knapp 43 Prozent der befragten Frauen
behaupteten dasselbe von sich.) Bereits in einer
früheren Studie von Straus et al. (1986) wurde der
Nachweis erbracht, dass die Raten schwerer Gewalt
gegen Männer etwa gleich hoch sind wie jene gegen
Frauen. Diese Ergebnisse widerlegen die häufig
geäußerte Annahme, dass Frauen nur als Reaktion
auf Gewalthandlungen von Männern selbst gewalttätig werden.
Auf Grund ihrer Ergebnisse kommen Stets und
Straus (1990) zu dem Schluss, dass eine größere
Zahl von Frauen, die Gewalt aus Notwehr anwendete, unwahrscheinlich ist.15
Als Erklärung für ihre Befunde führen sie an,
dass misshandelte Frauen möglicherweise selbst
über gewalttätige Verhaltensweisen in ihrem Handlungsrepertoire verfügen. Denkbar ist ihrer Ansicht
nach auch, dass viele Frauen von ihren Müttern
15
In dieser Untersuchung wurden 825 Personen befragt,
die Gewalterfahrungen in der gegenwärtigen Beziehung
gemacht haben.
Gewalt in der Familie
7 289 3
Straus et al. halten jedoch konkret zwei Fehler für denkbar, die ihre Ergebnisse in Frage stellen könnten. So ist es
ihrer Ansicht nach vorstellbar, dass einige der Interviewten die Frage „Wer hat die körperliche Auseinandersetzung begonnen, Sie oder Ihr Partner?“ falsch ausgelegt
haben. Statt darauf zu antworten, wer mit Gewalthandlungen begonnen hat, ist es denkbar, dass die Interviewten die Frage als Aufforderung verstanden haben, über
den Beginn der vorangehenden verbalen Auseinandersetzung zu erzählen. Denkbar ist auch, dass Frauen
präventiv Gewalt zur Selbstverteidigung gegen einen zur
Gewalt entschlossenen Mann einsetzten (Straus & Gelles
1986).
dazu erzogen wurden, Männer zu ohrfeigen, wenn
sich diese schlecht benehmen. Diese Ansicht wird
auch von anderen ForscherInnen unterstützt. So
sprechen etwa Shupe et al. von einer Art umgekehrtem Sexismus, der Frauen berechtigt, Männern
in bestimmten Situationen Ohrfeigen zu erteilen,
die diese bedingt durch ihre körperliche Überlegenheit ohne Gegenwehr einstecken müssen. Ihrer
Ansicht nach würden viele Frauen davon Gebrauch
machen. Bei einigen Paaren kommt es in der Folge
erst dann zu schweren Gewalttätigkeiten, wenn
Frauen die Grenzen dieses Rechts überschreiten
(Shupe et al. 1987).
Gemünden (1996) verweist allerdings darauf,
dass mit einer sozialen Norm, die Frauen zum Ohrfeigen von Männern berechtigt, das Initiieren von
Gewalt durch Frauen nicht vollständig erklärt werden kann, da Ohrfeigen nicht die häufigste Gewaltform gegen Männer ist. Noch dazu werden Ohrfeigen etwa in der Erhebung mittels Conflict Tactic
Scale zu den leichten Gewaltformen gezählt.
Saunders (1986) kommt in einer Studie, in der er
52 Frauen befragte, die auf Grund von Gewalttätigkeiten ihrer Männer Hilfsdienste aufsuchten,
zu dem Ergebnis, dass beinahe 83 Prozent der misshandelten Frauen selbst Gewalt gegen ihren Partner
angewandt hatten. Davon gaben 40 Prozent dieser
Frauen an, Gewalt in Selbstverteidigung angewandt
zu haben, 33 Prozent erklärten, dass sie zurückschlugen, nachdem der männliche Partner mit der
Gewalt begonnen hatte und 3 Prozent erklärten,
selbst mit Gewalttätigkeiten begonnen zu haben. Er
sieht in diesen Ergebnissen einen Indikator dafür,
dass das am Anfang der Gewaltdebatte vorherrschende Bild von der misshandelten Frau als Opfer,
das sich ohne Widerstand vom Ehemann verprügeln lässt, zumindest für die USA nicht zutrifft.
Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass
die betroffenen Frauen die Hauptleidtragenden der
verübten Gewalttätigkeiten waren. Habermehl
merkt dazu kritisch an, dass Saunders bei Befragung einer repräsentativen Stichprobe sicher zu
einem anderen als dem von ihm vorgelegten
Ergebnis gelangt wäre. Ihrer Ansicht nach sind
Frauen, die wegen selbst erlittener Misshandlungen
Hilfe suchen, nicht geeignet, den tatsächlichen
Motiven weiblicher Gewalt auf die Spur zu kommen. Die Situation der befragten Personen ist demnach sicherlich nicht typisch für die durchschnittlichen „Gewalttäterinnen“, die Gewalt gegen ihren
Mann einsetzen (Habermehl 1994).
4.2 Tötungsdelikte
von Frauen an Männern
Untersuchungen über Tötungsdelikte haben
sich damit auseinandergesetzt, warum es zu
Tötungsfällen durch Frauen kommt und welche
Frauen diese begangen haben.
Dabei wird in der Diskussion über Gewalt an
Männern die Tötung männlicher Partner durch ihre
Frauen als Antwort auf männliche Gewaltakte
angesehen. Seit den 70er-Jahren entwickelte insbesondere die Frauenbewegung ein großes Interesse
an von Frauen begangenen Tötungsdelikten, widerspricht doch diese Extremform von Gewalt dem
verbreiteten Klischee der friedfertigen Frau.
Gemünden verweist darauf, dass sich viele
Autorinnen dabei auf Notwehrfälle oder als solche
betrachtete Fälle konzentrieren, wodurch der
Eindruck entsteht, dass es sich um ein sehr häufiges
Phänomen handelt. Seiner Ansicht nach ist die
ideologisierende Tendenz bei Notwehrfällen und
das ideologische Interesse an diesen Fällen nicht zu
verkennen (Gemünden 1996). So spricht Jones etwa
davon, dass mindestens vierzig Prozent aller von
Frauen verübten Tötungsdelikte in Notwehr
geschehen.16 Sie verweist darauf, dass die meisten
Frauen, die Totschlag begangen haben, bestraft
16
7 290 3
Sie bezieht sich dabei auf nicht näher genannte
Untersuchungen über die auch keine Angaben bezüglich
Stichprobengröße und Forschungsdesign gemacht wurden.
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
werden. Mildere Strafen erhielten sie vor allem wegen der schwer wiegenden Provokationen, die der
Notwehr vorangingen. Schlagende Ehemänner hingegen, die ihre Frauen töten, können demgegenüber oftmals auf Körperverletzung mit Todesfolge
plädieren und erhalten dafür mildere Strafen (Jones
1986).
Auch andere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Frauen ihren Partner häufiger in Notwehr
töten als Männer ( dazu Gemünden 1996).
Betrachtet man jedoch die Daten polizeilicher
oder gerichtlicher Kriminalstatistiken und kriminologische Untersuchungen, so bilden Notwehrfälle
einen vergleichsweise geringen Teil. Zu Notwehrfällen zählen sowohl nach deutschem als auch nach
österreichischem Recht all jene Maßnahmen, die
notwendig sind, um einen gegenwärtigen oder
unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriff auf
Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit,
Freiheit oder Vermögen von sich oder einem anderen abzuwehren. Dies beinhaltet auch, wenn notwendig, die Tötung des Angreifers.
Mercy und Saltzmann (1989) konnten in ihrer
Studie über tödliche Gewalt in Partnerschaften, in
der sie Kriminalstatistiken der Jahre 1976-1985, insbesondere die Verdächtigungsraten des FBI auswerteten, nachweisen, dass von 17.000 Tötungen
des Lebenspartners in diesem Zeitraum nur 113
Fälle von Notwehr nachgewiesen wurden, das entspricht einem Anteil von 0,6 Prozent. In 107 Fällen
war der Mann, in 6 Fällen die Frau das Opfer
(Mercy & Saltzmann 1989). Auch in Deutschland
durchgeführte Untersuchungen zeigen, dass es nur
wenige Fälle von Notwehr gab. So fand Sessar in
einer 1981 publizierten Studie heraus, dass nur
1,5 Prozent der Fälle durch Notwehr gerechtfertigt
waren (Sessar 1981 zit. nach Gemünden 1996,
S. 227).17
17
Gemünden (1996) verweist allerdings darauf, dass es sich
dabei um Daten von Verurteilten handelte, bei denen
unklar ist, wie viele auf Tötungen des Ehepartners entfielen.
Gewalt in der Familie
Kritisch mit vielen Vorstellungen über Tötungsdelikte, die von Frauen begangen wurden, hat sich
Mann (1988) auseinandergesetzt. In einer Studie, in
der in sechs amerikanischen Großstädten Fälle von
145 Frauen, die ihren Partner getötet haben, untersucht wurden, konnte sie entgegen der weitläufig
vorherrschenden Meinung den Nachweis erbringen, dass viele Taten von Frauen vorgeplant sind,
konkret über 58 Prozent der von ihr untersuchten
Fälle. Ihrer Meinung nach spricht dies gegen eine
weite Verbreitung von Notwehrfällen. Allerdings
gaben beinahe 59 Prozent der Frauen Selbstverteidigung als Motiv für ihre Tat an. Zudem konnte
Mann den Nachweis erbringen, dass mit 30 Prozent
doch ein erheblicher Anteil einschlägig vorbestraft
war. Dies widerspricht ebenfalls einer weit verbreiteten Vorstellung, dass vor allem unbescholtene
Frauen aus Notwehr handeln (Gemünden 1996).
Für den deutschsprachigen Raum kommt
Brökling (1980), die in ihrer Studie Literatur zu
Tötungsdelikten durch Frauen ausgewertet hat,
ebenfalls zu dem Ergebnis, dass diese selten spontan aus einer besonderen Situation heraus begangen
werden, sondern vielmehr geplant und das Ergebnis
von über längere Zeit hindurch erfahrenen Gewalthandlungen sind. Demnach werden die Taten so
begangen, dass das Opfer keine Chance hat.
Trube-Becker (1974) kommt diesbezüglich zu
vergleichbaren Ergebnissen. Sie befragte 84 Frauen,
die wegen eines Tötungsdeliktes in Haft waren.18
32 von ihnen hatten ihren Ehemann getötet. Allerdings gaben nur vier von ihnen an, ihren Ehemann
getötet zu haben, weil dieser sie geschlagen hat.
Zehn erklärten Alkoholmissbrauch des Ehemannes,
neun Entfremdung durch Kriegsdienst, sechs das
Fremdgehen des Ehemannes, fünf das Drängen des
Liebhabers und weitere fünf eine erneute
Schwangerschaft und weitere zwei „abnormen“
Geschlechtsverkehr als Motiv für die Tötung an.
Jeweils zwei bekannten, bei der Tat selbst unter
18
7 291 3
Die Taten wurden von der Nachkriegszeit bis in die
60-er Jahre begangen.
Alkohol oder unter Medikamenteneinfluss gestanden zu haben. Elf von den 32 bekannten sich überhaupt als nicht schuldig. Das heißt, dass insgesamt
nur wenige Fälle auf Notwehr zurückzuführen sind
(Trube-Becker 1974).
Benard und Schlaffer (1978), die in Haft befindliche Frauen und Männer befragten, kamen in Bezug auf die Frauen alllerdings zu dem Schluss, dass
die Täterinnen von ihrem Wesen her sehr passiv
wirkten und dass die männlichen Opfer zutiefst
gewalttätige Menschen waren, die ihre Frauen
schlugen, misshandelten oder mit ihnen durch tiefe
emotionale Beziehungen verbunden waren.
Gemünden führt die unterschiedlichen Befunde
auf folgende Gründe zurück: Das Kriterium der
Vorgeplantheit einer Tat widerspricht zwar der
Tatsache, dass diese in einer echten Notwehrsituation verübt wurde. Von Relevanz ist dies aber
nur insofern, als es zeigt, dass der Großteil der
durch Frauen begangenen Delikte nicht spontan in
einer unmittelbaren Bedrohungssituation verübt
wurde. Er kritisiert, dass die meist als sehr hoch
ausgewiesenen Notwehrraten aus der feministischen Literatur den Fehler haben, Opferprovokation und Notwehr gleichzusetzen. Opferprovokation umfasst alle tätlichen Angriffe des Opfers
unmittelbar vor dem Tötungsdelikt.19 Er bezieht
sich in diesem Zusammenhang auf eine Arbeit von
Wolfgang, in der dieser folgende Thesen für die
höhere Zahl von Opferprovokationen durch die
getöteten Männer aufstellte:
3 Männer provozieren tatsächlich häufiger als
Frauen.
3 Wenn Frauen tatsächlich genauso oft wie Männer provozieren, dann würden sich die Frauen
eher provoziert fühlen als Männer.
3 Männer haben eher Schuldgefühle in ehelichen
Konflikten und stecken daher verbale und physische Angriffe auch eher ohne Rachegedanken
ein.
19
Nach amerikanischen Recht werden diese als strafmildernd berücksichtigt.
3 Männer ziehen sich in ehelichen Konflikten
häufiger zurück
(Wolfgang 1958 zit. nach Gemünden 1996).
Gemünden macht allerdings darauf aufmerksam, dass ein Vergleich mit den Ergebnissen von
Stets und Straus (1990) zur Initiierung von Gewalt
eher für die Unwahrscheinlichkeit spricht, dass
Männer tatsächlich häufiger Gewalttätigkeiten mit
der Partnerin beginnen, die zur eigenen Tötung
führen. Dies widerspricht der ersten These Wolfgangs. Allerdings zeigen die von Stets und Straus
erforschten Ergebnisse auch, dass angegriffene
Frauen häufiger zurückschlagen als angegriffene
Männer, wobei sich Männer eher zurückziehen als
Frauen, wenn der Partner gewalttätig wird. Dies
wiederum kann eher als Bestätigung für die zweite
und vierte Annahme von Wolfgang gewertet werden (Gemünden 1996).
Gemünden (1996) verweist zudem darauf, dass
bei Tötungsdelikten neben Tätlichkeiten auch
andere Formen der Provokation eine wichtige
Rolle spielen. Tötungsdelikte in Partnerschaften
sind zwar häufig die Folge eines spontan gefassten
Tatentschlusses, dennoch basieren sie auf einem
meist schon längere Zeit andauernden Konflikt, der
vor der Tat zum Ausbruch kam und zu dessen
Eskalation auch das Opfer beigetragen hat.
Bei der Bewertung von Ergebnissen sind auch
methodische Probleme zu berücksichtigen und kritisch zu beleuchten. So beruhen die Ergebnisse von
Untersuchungen über Tötungsdelikte von Frauen
nicht selten auf Interviews mit den Täterinnen. In
diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass der
Aussagewert dieser Interviews vor allem dann kritisch zu beleuchten ist, wenn sich die Untersuchung
auf das Motiv der Tat und auf die Tatsituation
beziehen. So kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Betroffenen den an dieser Thematik
interessierten ForscherInnen mehr Auskunft erteilen und ehrlicher antworten als den Gerichten, geht
es doch bei Tötungsdelikten um langfristige Konsequenzen für ihre Zukunft. Insofern kann in Bezug
7 292 3
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
auf die Ergebnisse von Trube-Becker nicht davon
ausgegangen werden, dass sich vor Gericht insbesondere in laufenden Verhandlungen als unschuldig
bekennende Täterinnen in Interviews mit SozialforscherInnen anders äußern werden. Wie Mann
(1988) in ihrer Studie nachweisen konnte, ist auch
die in der Forschung immer wieder vertretene Vorstellung, dass sich die eines Tötungsdeliktes beschuldigten Frauen glaubwürdiger äußern als Männer sicher nicht zutreffend.
Zu bedenken ist auch, dass es für Tötungsdelikte in Partnerschaften meist keine direkten
Zeugen gibt. Die mit den Täterinnen und Opfern
vertrauten Personen wie Nachbarn, Freunde und
Bekannte können meist nur Aussagen über die der
Tat vorangegangenen Ereignisse und Charaktereigenschaften der Betroffenen beschreiben. In diese
fließen sehr oft Rollenklischees sowie im Nachhinein als plausibel erscheinende Erklärungen ein,
wie Browne (1989) zeigen konnte. Von Hentig wies
in diesem Zusammenhang nach, dass gerade ein
Plädoyer auf Notwehr für Frauen im amerikanischen Geschworenensystem häufig eine Erfolg versprechende Verteidigungsstrategie darstellen kann.
Einem Mann wird eher zugetraut, seine Partnerin
infolge eines heftigen Streits zu töten als der Frau,
die meist als körperlich schwächer angesehen wird.
Er hat es somit schwerer, glaubhaft nachzuweisen,
nur aus Notwehr gehandelt zu haben (von Hentig
zit. nach Gemünden 1996).
Allerdings kann anhand von neueren Daten
kein Nachweis dafür erbracht werden, dass die
Verteidigung mit Notwehr für den Großteil der
angeklagten Frauen tatsächlich auch sehr erfolgreich ist. Eine Vielzahl der Urteile, die zu einem
Freispruch für Frauen führten, wurde nicht mit
Notwehr begründet. Denkbar ist allerdings, dass
der Nachweis der Opferprovokation teilweise zu
Erfolg führen kann (Gemünden 1996).
Zusammenfassend betrachtet zeigt sich, dass
nicht von einer wesentlich höheren Zahl von Notwehrhandlungen seitens der Frauen ausgegangen
werden kann. Diese sind generell selten. Genauere
Gewalt in der Familie
Erkenntnisse über misshandelte Frauen, die aus
einer Notsituation handeln, sind bisher kaum vorhanden. Nach Ansicht von Gemünden wird in
jenen Untersuchungen, die eben diese hohe Zahl
von Notwehrfällen behaupten, fälschlicherweise
Notwehr mit Opferprovokation verwechselt. Seiner Ansicht nach gibt es aber nur wenige Indizien
dafür, dass Frauen häufiger aus Notwehr im weiteren Sinn handeln, vice versa spricht aber einiges
dafür, dass Frauen genauso häufig Gewalttaten
beginnen wie ihre männlichen Partner (Gemünden
1996).
7 293 3
5 Reaktionen von
Männern auf Gewalt
Nach dem traditionellem Rollenverständnis
wird von Männern – wie bereits erwähnt – erwartet, dass sie aktiv und überlegen sind, mit ihren
Problemen alleine fertig werden und sich jederzeit
und ohne Hilfe von außen gegen Angriffe wehren
können. Zudem wird erwartet, dass Männer nicht
leiden bzw. ihr Leiden zumindest nach außen hin
nicht sichtbar werden lassen. Ein Mann muss hart
erscheinen und seine Verletztheit heldenhaft wegstecken können. Wenn er diesem Bild nicht entspricht wird er als Weichling betrachtet. (Lenz
1996a). Wie reagieren nun Männer auf Gewalt? Die
Ergebnisse der Forschungsarbeit von Stets und
Straus (1990) weisen darauf hin, dass Männer eher
defensiv reagieren und sich seltener gegen Gewalttätigkeiten ihrer Partnerin mit eigener Gewalt wehren als dies umgekehrt bei Frauen der Fall ist. Dies
kann auf folgende Gründe zurückgeführt werden:
3 Eine nach wie vor gültige soziale Norm der Ritterlichkeit verbietet Gewaltanwendungen gegen
Frauen.
3 Männer haben Angst vor möglichen Verletzungsfolgen für die Frau und stecken daher Gewalttätigkeiten eher bewusst ein. So hat Steinmetz (1977/78) in ihrer Arbeit darauf hingewiesen, dass einige Männer ihrer Angst Ausdruck
verliehen, im Falle eines Kontrollverlustes ihre
Frau möglicherweise zu töten.
3 Dazu kommt bei Männern die Angst, öffentlich
als Frauenmisshandler dargestellt zu werden. Es
hat nicht selten Schuldgefühle zur Folge, wenn
sie gegen die Partnerin gewalttätig werden wie
Langley und Levy (1977) nachgewiesen haben.
5.1 Bewältigungsstrategien
von Männern
Im Folgenden wird zunächst allgemein auf
Bewältigungsstrategien gegen Gewalt eingegangen.
Dann werden diese in Anlehnung an eine von
Gemünden (1996) entwickelte Systematik näher
beschrieben insoferne Erkenntnisse darüber vorliegen.
Opfer physischer Gewaltanwendungen in
Familien wählen verschiedenste Formen, mit diesen
umzugehen. Die Wahl der jeweiligen Strategie
hängt von verschiedenen Faktoren ab (Gemünden
1996).
Auf die Situation von Männern bezogen:
3 vom gelungenen korrektiven Austausch zwischen Opfer und TäterIn, also von der Fähigkeit
über stattgefundene Gewalthandlung zu sprechen, Ursachen und Folgen dieser zu reflektieren und bestehende Probleme zu bekämpfen
bzw. zu bearbeiten;
3 vom Schweregrad der entstandenen Verletzung;
3 der vom Opfer subjektiv vorgestellte bzw. empfundene Erfolg der jeweiligen Bewältigungsstrategie;
3 die Billigung von Gewalthandlungen durch die
Opfer; dabei spielt auch die Legitimation von
körperlicher Gewalt in der Herkunftsfamilie
des/der Angegriffenen eine wesentliche Rolle –
stammt das Opfer aus einem Milieu, in dem
Gewalthandlungen üblich sind, so wird es bei
Gewalt in einer zukünftigen Liebesbeziehung
eher zur Tolerierung selbiger durch das Opfer
kommen;
3 die Existenz verfügbarer sozialer Beziehungen
als Alternative zur derzeitigen gewaltvollen
Beziehung.
Die unten angeführten Bewältigungsstrategien
werden – der Übersichtlichkeit halber – isoliert
voneinander beschrieben. Im Alltag misshandelter
Menschen treten sie häufig parallel oder hintereinander, mehr oder weniger stark ausgeprägt, auf.
Ziehen von Konsequenzen
Von dieser Strategie spricht man, wenn das
Opfer der physischen Gewalt nicht mehr bereit ist,
die Beziehung, wie sie derzeit besteht, zu akzeptieren. Das Opfer fordert eine Veränderung, oder
stellt die Beziehung überhaupt in Frage.
7 294 3
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
„Ziehen von Konsequenzen“ als Bewältigungsstrategie tritt häufig dann auf, wenn die physische
Gewalthandlung als starker Einschnitt im Beziehungsgeschehen erfahren wird, als schwer wiegend,
unentschuldbar, ungerechtfertigt etc. erlebt wird
und ein korrektiver Austausch nicht stattfand, bzw.
keine Veränderung der Situation mit sich brachte.
Diese Strategie ist insofern belastend, da sie als
eine sozial sehr kostenintensive Form der Bewältigung gilt und mehr oder weniger konflikthaft verlaufen kann. Zur Strategie „Ziehen von Konsequenzen“ gehören folgende Subformen von Bewältigungsstrategien:
Rache, Vergeltung und Verweigerung
Dazu zählen Verhaltensweisen, in denen das
Opfer sich für die entstandenen Verletzungen und
Demütigungen in irgendeiner Form revanchiert.
Dabei sind nicht unmittelbare „Kurzschlussreaktionen“ gemeint, wie z.B. impulsives Zurückschlagen, sondern geplante Racheaktionen, die das
Opfer selbst in die Hand nimmt.
Pagelow (1985) nennt in diesem Zusammenhang u.a. das Ausnützen einer günstigen Situation
zu einer gewalttätigen Gegenattacke. Zudem werden in diesem Zusammenhang auch die Verbreitung
herabsetzender und/oder für den/die TäterIn unangenehmer Gerüchte gegenüber Dritten, der Entzug
von Zuneigung, den partnerschaftliche Pflichten
oder bewusstes Bereiten von Unannehmlichkeiten,
bis hin zum Mord genannt (Gemünden 1996).
Das öffentliche Bekanntwerden familialer
Gewalt wird häufig auch von den Opfern gefürchtet, da damit in vielen Fällen eine Denunziation der
gesamten Familie als „asozial“ einher geht und
zudem Dritte die Gewalthandlung eventuell als
„verdient“ bewerten würden.
Trennung, Scheidung, Abbruch und
vorübergehende Auflösung der Beziehung
Räumliche Trennung ist eine weitere Bewältigungsstrategie. Zudem müssen andere, außenstehende Menschen, nicht unbedingt von den wah-
Gewalt in der Familie
ren Trennungsgründen – den Gewalthandlungen –
erfahren, was für das Image des Opfers und des/der
TäterIn häufig positiv ist. Negativ an dieser Form
der Bewältigung gewalttätigen Handelns sind vor
allem die mit einer Trennung einher gehenden
Konsequenzen (z.B. Bezug auf gemeinsame Kinder,
Eigentum, verwobene Verpflichtungen) (Hanak
1989a). Sie zählt somit zu einer der kostenintensivsten Formen der Bewältigung. Mit ihr geht
immerhin auch ein Verlust der Beziehung als
Lebensgrundlage und Lebensperspektive einher
(Gemünden 1996).
Miller & Simpson (1991) untersuchten nun die
Bereitschaft männlicher Opfer physischer Gewalt,
sich von ihren misshandelnden Partnerinnen zu
trennen. Dabei fanden sie heraus, dass misshandelte Männer signifikant seltener die Beziehung abbrechen als Frauen mit denselben Erfahrungen. Dabei
spielt vor allem die Tiefe der Beziehung und die
subjektive Billigung der Gewalt von Seiten der
Männer eine wesentliche Rolle bei der Aufrechterhaltung der Beziehung. Je enger die Partnerschaft
und je legitimer Gewalt für den betroffenen Mann
ist, desto seltener kommt es seinerseits zu einer
Trennung.
Dass Trennungen bei Gewalt sowohl bei Frauen
(Schneider 1990b) als auch bei Männern eher ein
selten eingeschlagener Weg der Bewältigung sind,
hängt eventuell mit den sozialen und ökonomischen Folgen einer Trennung zusammen. Gerade
bei Frauen als Opfer physischer Gewalt wurde dies
häufig empirisch bestätigt (Gemünden 1996). Studien zu Männern liegen allerdings nicht vor. Ein
Grund dafür ist, dass misshandelte Männer weniger
bereit sind, über ihre Gewalterfahrungen zu sprechen (Gemünden 1996).
Steinmetz (1977/1978) geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass auch für Männer soziale
und ökonomische Gründe eine wesentliche Rolle
spielen und sie deshalb häufig trotz bestehender
Gewalt seitens ihrer Partnerin in der Beziehung
verweilen. Der Argumentation (Pagelow 1985;
Flynn, 1990) Männern würde eine Trennung auf
7 295 3
Grund stärkerer finanzieller Unabhängigkeit und
mangelnder Bindung an das zu Hause leichter
fallen, widerspricht die Autorin. Ihrer Auffassung
nach tritt in Folge einer Trennung ein erheblicher
Verlust des Lebensstatus durch finanzielle Unterstützungsleistungen gegenüber der Familie (Mc
Neely 1987) auf, der Verlust der Kinder – die im
Fall einer Scheidung häufig der Partnerin zugesprochen werden – und der Auszug aus der gemeinsamen Wohnung, reduzieren vor allem für Männer
die Wahrscheinlichkeit diesen Weg der Bewältigung
einzuschlagen. Zudem erwähnen GewaltforscherInnen auch noch die Angst der Männer um die
Sicherheit der Kinder, die nun ohne väterlichen
Schutz einer gewalttätigen Mutter ausgesetzt wären
sowie psychische Abhängigkeit von der Täterin als
Gründe für Männer, trotz Gewalt in der Beziehung
zu verweilen (Gemünden 1996; Habermehl 1989).
Mobilisierung von Ressourcen
Neben dem „Ziehen von Konsequenzen“ gibt
es für das Opfer auch die Möglichkeit, Ressourcen
in Anspruch zu nehmen. Dabei muss sich der/die
Betroffene als Opfer definieren und sich an Dritte
wenden, von denen er/sie sich Hilfe erwartet.
Gemünden (1996) unterscheidet zwischen:
3 informellen (z.B. Freunde, Bekannte, Familie)
3 formellen (Polizei, Justizbehörde)
Ressourcenpools.
Diese Strategie wird vom Opfer meist dann eingesetzt, wenn es den/die AngreiferIn abschrecken
will und seltener um ihn/sie zu bestrafen.
Nachteilig ist, dass Gewalt thematisiert werden
muss, was zu einer Beschädigung des sozialen
Ansehens führen kann.
Informelle Ressourcen werden zumeist sehr viel
häufiger mobilisiert als formelle, da sie einer „privaten“ Konfliktlösung am Wenigsten widersprechen (Sack 1985). Den Stellenwert informeller
sozialer Ressourcen betonte Habermehl (1989). Sie
fand heraus, dass ein großer Freundeskreis negativ
mit Gewalt in der Partnerschaft korreliert. Familie
und Freunde werden also nicht nur in Notsituationen zu Hilfe geholt, ihre Existenz reduziert
generell das Auftreten familialer Gewalt. Dieses
Faktum wird auch indirekt von der Tatsache
bestätigt, dass in sozial isolierten Familien sehr viel
häufiger Gewalt auftritt als in sozial eingebetteten
(Gemünden 1996).
In Bezug auf geschlechtsspezifische Unterschiede von Frauen und Männern als Opfer körperlicher
Gewalt und die Mobilisierung von informellen
Ressourcen zeigte sich, dass Männer erheblich seltener bei Freunden und Verwandten Hilfe suchen,
wenn sie Opfer physischer Gewalt werden (Stets
1990). Als Grund dafür nennen Miller & Simpson
(1991) und Habermehl (1989) die Bagatellisierung
weiblicher Gewalt gegen Männer in unserer Gesellschaft, die es einem Mann erschwert, als Opfer
wahr- und ernst genommen zu werden. Zudem
wird Männern generell eine geringere soziale
Kompetenz als Frauen attestiert, was dazu führt,
dass sie weniger Freunde haben, an die sie sich in
Fällen körperlicher Gewalt seitens ihrer Partnerin
wenden können (Gemünden 1996).
Formelle Kontrollinstanzen – vor allem der Polizeinotruf – werden meist in akuten Fällen, also
während oder unmittelbar nach einer Gewalttat
mobilisiert. Studien zeigten, dass sie zu 2/3 von
Frauen und hier vor allem von denen der Unterschicht konsultiert werden (Straus 1990). Nach
Ergebnissen der Studie von Straus riefen nur 0,9
Prozent der misshandelten Männer die Polizei. Als
Gründe für diese extrem niedrige Zahl männlicher
Hilfesuchender nennen Steffen & Polz (1991), dass
Polizisten Schwierigkeiten haben, Frauen als
Täterinnen einzustufen und keine Notwendigkeit
sehen, in eine Gewalthandlung einzugreifen, wenn
Frauen als Täterinnen angegeben werden. Damit
wird den Männern, die sich wegen Misshandlungen
durch eine Frau an die Polizei wenden, wenig
Glauben geschenkt, was wiederum dazu führt, dass
diese sich seltener an die Behörde wenden, wenn sie
im familialen Kontext körperlich misshandelt werden (Langley 1977).
7 296 3
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
Formelle Ressourcenaktivierung scheint also
für männliche Opfer als wenig Erfolg versprechende Strategie zur Bewältigung von Gewalterfahrungen attribuiert zu werden und kommt demnach
auch nur in Extremsituationen zum Einsatz.
Mit Strafanzeigen gegen weibliche Täterinnen
seitens ihrer männlichen Partner verhält es sich
ganz ähnlich. Männer erstatten meist erst dann
Anzeige, wenn sie von ihrer Partnerin mit einer
Waffe bedroht wurden, oder selbige gegen sie eingesetzt wurde (McLeod 1984).
Eine Evaluierungsstudie über die Umsetzung
des österreichischen Gewaltschutzgesetzes20 zeigt,
dass die Exekutive in 80 Fällen gegen weibliche
Personen einschritt. Das sind 7,4 Prozent aller
Fälle. Vier von fünf Einsätzen wurden dabei mit
einer Streitschlichtung beendet, das ist deutlich
häufiger als in der Gesamtgruppe, wobei drei
Viertel aller Interventionen Wegweisung und
Rückkehrverbot21 nach § 38a Sicherheitspolizeigesetz gemeinsam verhängt wurden. Gegenüber
Frauen wurde nur bei jedem sechsten Vorfall Wegweisung und Rückkehrverbot ausgesprochen und
dies ebenfalls ausschließlich von der Bundespolizei
Graz. Konkret betraf dies zehn Frauen gegen die
sowohl eine Wegweisung und ein Rückkehrverbot
verhängt wurden, drei wurden ausschließlich mit
einem Rückkehrverbot belegt. Weiters zeigt die
Studie, dass gegen insgesamt zehn Frauen (12, 5
20
21
Diese Evaluierungsstudie konzentrierte sich auf vier
Bezirke in Wien (17., 18., 20., 22. Bezirk) und
Graz/Steiermark, in denen die ersten Interventionsstellen ihre Tätigkeit aufgenommen haben sowie die niederösterreichische Landeshauptstadt St. Pölten und zwei
Bezirke im Bundesland Salzburg. In den für das Forschungsprojekt ausgewählten Regionen wurden 1074
Vorfälle im Zeitraum zwischen 1. Mai 1997 bis zum 31.
Oktober 1998 erhoben und analysiert. Die untersuchten
Akten umfassen Wegweisungen/Rückkehrverbote,
umfangreiche Streitschlichtungen sowie Strafanzeigen,
die wegen Gewalt in der Familie erstattet wurden
(Institut für Konfliktforschung 1999).
Seit 1.1.2000 „Betretungsverbot“.
Gewalt in der Familie
Prozent) vorwiegend wegen des Deliktes der
Körperverletzung Anzeige erfolgte. Keine von
ihnen wurde festgenommen – jedoch wurden drei
der Gewalt ausübenden Frauen in das Landesnervenkrankenhaus eingeliefert. Strafanzeigen und
Festnahmen waren damit deutlich seltener als in der
Gesamtgruppe, wo es in 21, 2 Prozent der Fälle zu
einer Strafanzeige kam. In 81, 3 Prozent der 80 Fälle
waren Männer die gefährdeten Personen. Die
Hälfte aller Einschreitungen erfolgte im Zusammenhang mit Streitschlichtungen. Unter den
Opfern waren dabei weniger Lebensgefährten und
geschiedene Ehemänner, wogegen ehemalige
Freunde öfter Konfliktgegner waren. In rund vier
Fünftel aller Fälle bestand ein gemeinsamer
Haushalt und bei einem Drittel aller Vorfälle lebten
Kinder im Haushalt, die bei rund einem Drittel der
Vorfälle auch anwesend waren. Die Kinder selbst
wurden dabei nicht bedroht oder angegriffen.
Ein Viertel der Gewalt ausübenden Frauen ist
zwischen 40 und 49 Jahren alt. Der Großteil dieser
Frauen war Pensionistinnen, Arbeiterinnen und
Hausfrauen, die gemeinsam einen Anteil von beinahe drei Viertel ausmachen. 13 Frauen (16 Prozent)
waren arbeitslos und zwei in Karenz (2, 5 Prozent).
Über drei der Frauen lagen Vormerkungen der
Exekutive vor, lediglich eine Frau war wegen
Körperverletzung vorbestraft. Diese Werte liegen
deutlich unter jenem der Gesamtstichprobe. Hier
gab es über jeden zehnten Gefährder Vormerkungen der Exekutive, jeder zwanzigste war vorbestraft.
13 der Gefährderinnen waren alkoholisiert. Das
entspricht einem Anteil von 16, 3 Prozent, wobei
dieser Wert ebenfalls unter jenem der Gesamtstichprobe liegt. Hier war bei knapp 35 Prozent der
Gefährder eine Alkoholisierung im Akt vermerkt.
15 gefährdete Personen gaben an, dass es zwischen
ihnen und der Gefährderin früher bereits ähnliche
Vorfälle gab. Das entspricht einem Anteil von
knapp 19 Prozent. Gegen insgesamt fünf Wiederholungstäterinnen wurde im Untersuchungszeitraum mehrfach eingeschritten.
7 297 3
Zusammenfassend betrachtet zeigt die Studie,
dass bei Einschreitungen gegen Frauen Streitschlichtungen überwogen, Strafanzeigen und Festnahmen waren hingegen seltener als in der Gesamtgruppe. Frauen gefährden bei Gewaltanwendung
vor allem ihre Ehemänner, relativ häufig auch ihre
Töchter und Mütter. Gefährdende Frauen sind
etwas älter als der durchschnittliche Gefährder, wobei zu dieser Gruppe vor allem Pensionistinnen,
Arbeiterinnen und Hausfrauen zählen. Über Gefährderinnen gibt es seltener Vormerkungen, sie
sind seltener vorbestraft und seltener alkoholisiert.
Unter ihnen befinden sich deutlich weniger Wiederholungstäterinnen, wobei keine von ihnen ein
gegen sie verhängtes Rückkehrverbot missachtete
(Institut für Konfliktforschung 1999).
Strategien der Normalisierung
Normalisierung im weiteren Sinn bedeutet ein
„sich Anpassen“ an die bestehenden Gewaltsituation. Gewalt wird also als – wenn auch nicht positiv bewerteter – Bestandteil der partnerschaftlichen
Interaktion definiert und in Folge auch toleriert.
Dadurch kann die bestehende Beziehung ohne
große Änderungen aufrecht erhalten werden, soziale Folgekosten bleiben im Großen und Ganzen
erspart und weitere Konflikte werden eventuell vermieden. Korrektiver Austausch kann zwar stattfinden, verändert die Situation aber – wenn überhaupt
– nur kurzfristig. Problematisch ist diese Bewältigungsstrategie insofern, als sie das Selbstwertgefühl
des Opfers in mehr oder weniger starkem Maß
beeinträchtigt und dessen seelische Gesundheit
durchaus auch gefährden kann (Gemünden 1996).
Dazu zählen Strategien der:
3 Normalisierung im engeren Sinn: Es bedeutet,
dass der Bruch des Normalen als solches gar
nicht erkannt wird, die physische Gewalt als
üblich bzw. nicht vermeidbar gilt (Hanak
1989b).
Diese Strategie dürfte von vielen männlichen
Gewaltopfern sowohl bei häuslichen als auch
bei äußerhäuslichen Gewaltanwendungen praktiziert werden. Nach dem Motto: „Ein Indianer
kennt keinen Schmerz“, muss ein „echter“
Mann in unserer Gesellschaft mit körperlicher
Gewalt umgehen, sie aushalten können. Gewalt
gehört zur männlichen Sozialisation in vielen
Kulturen (Gilmore 1993) und wird vielleicht
auch deshalb innerhalb einer Beziehung von
vielen Männern als etwas Normales angesehen
(Gemünden 1996).
3 Bagatellisierung: Diese Strategie steht im
Naheverhältnis zur der „Normalisierung im engeren Sinn“. Unterschiede gibt es insofern, als
der Normbruch zwar als solcher definiert, also
als etwas nicht Alltägliches gesehen wird, aber
als letztendlich bedeutungslos für den betroffenen Mann gilt.
Auch diese Strategie wird häufig von Männern
eingesetzt, was empirisch dadurch gestützt
wird, dass Männer erst bei stark bedrohlichen
Gewaltanwendungen durch ihre Partnerinnen
Hilfe rufen (siehe weiter oben). Ohrfeigen oder
andere leichtere Attacken werden meist „ohne
Kommentar“ seitens der Männer zugelassen, sie
bezeichnen sie häufig nicht einmal als gewalttätige Handlungen (Gaquin 1977/1978).
3 Rechtfertigung: In diesem Fall wird der
Gewaltakt als Normbruch und auch als schadhaft eingeschätzt, auf Grund situativer Faktoren
aber legitimiert. Gerechtfertigt wird Gewalt
beispielsweise, wenn sie aus Notwehr begangen
wird. Studien zur Rechtfertigung physischer
Gewaltanwendungen innerhalb der Familie gibt
es so gut wie überhaupt nicht. Diese Bewältigungsstrategie dürfte in Paarbeziehungen auch
nur sehr begrenzt von Bedeutung sein und wird
an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber
genannt (Gemünden 1996).
3 Entschuldigung: Ähnlich wie bei der Bewältigungsstrategie der Rechtfertigung wird die
Gewalttat auch hier als Normverstoß und als
schädlich eingestuft, allerdings auf Grund einer
psychischen Ausnahmesituation (z.B. Alkoholi-
7 298 3
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
sierung, Provokation, psychische Probleme)
des/der TäterIn erklärbar und damit auch entschuldbar. Gerade bei wiederholter bzw. besonders starker Gewaltanwendung verliert die
Entschuldigung allerdings an Effizienz und
wird bald nicht mehr vom Opfer akzeptiert.
Vor allem Täterinnen setzen diese Strategie häufig ein. Bates (1980) stellte fest, dass alle gerichtlich bekannt gewordenen Fälle weiblicher Gewaltanwendung, die er untersuchte, mit „Geisteskrankheit“ erklärt wurden. Auch weitere empirische Studien stützen sich in Zusammenhang
mit weiblichen Gewalttaten immer wieder auf
die These der psychisch kranken Täterin
(Daniel 1985; Shupe 1987). Wie häufig sich nun
die weibliche Gewalt gegen den männlichen
Partner richtete, lässt sich allerdings aus den angegebenen Forschungsarbeiten nicht ableiten.
3 Bilanzierung: Bei dieser Bewältigungsstrategie
nimmt das Opfer eine Gesamtabwägung der
derzeitigen Lebenssituation vor. Dabei stellt es
die Kosten, die durch Gewalttaten seitens des/
der TäterIn entstehen und den Nutzen, der
durch die Beziehung erwächst, einander gegenüber. Bleibt die Bilanz positiv, so wird die Beziehung weitergeführt (Hanak 1989b).
Inwiefern männliche Opfer die Bilanzierung als
Coping-Strategie wählen, ist nicht bekannt.
3 Problematisierung: In diesem Fall wird die Gewalttat als nicht gerechtfertigt und entschuldbar
angesehen. Das Opfer möchte die Beziehung
zum/zur TäterIn zwar aufrechterhalten, verlangt allerdings eine Änderung des Status quo
(z.B. der/die TäterIn soll mit dem Trinken aufhören, sich beherrschen, Rücksicht nehmen,
sich einer Beratung bzw. Psychotherapie unterziehen).
Männer dürften sich äußerst selten, meist nur in
Fällen höchster Not bzw. Ausweglosigkeit an
Hilfseinrichtungen wenden (Shupe 1987). So
scheinen sie die Gewalt seitens ihrer Partnerin –
wenn überhaupt – als Problem zu definieren,
mit dem sie allein fertig werden müssen. Ein
Gewalt in der Familie
Indikator dafür ist, dass in den österreichischen
Männerberatungsstellen diese Problematik bisher kaum dokumentiert wurde. Die Berichte
der Männerberatungsstellen zeigen, dass bei
Gewaltberatungen die Thematik männliche
Gewalt gegen Frauen am häufigsten vorkommt.
Lediglich aus dem Bericht der Männerberatungsstelle Oberösterreich geht hervor, dass im
Beratungszeitraum 1999 acht Männer, die selbst
Gewalt erlitten hatten, eine Beratung in Anspruch nahmen. Ob diese Gewalt von ihren
Partnerinnen ausging, lässt sich aus dem Bericht
nicht ablesen (Familientherapie-Zentrum des
Landes 2000). Explizit thematisiert wurde diese
Problematik in keinem der Berichte.
3 Hilflosigkeitsreaktionen: Die Gewalttat wird bei
dieser Bewältigungsstrategie als Normbruch
mit gravierenden und schädlichen Folgen gesehen, der weder gerechtfertigt noch entschuldbar
ist. Das Opfer sieht allerdings keine Möglichkeit, den derzeitigen Stand der Beziehung zu
verändern bzw. in Frage zu stellen. In den meisten Fällen von Hilflosigkeit kommt es – in Anlehnung an Seligman (1975) – zu Resignation,
eventuell auch Depression seitens des Opfers.
Das Selbstwertgefühl des/der Angegriffenen ist
in Folge häufig äußerst gering (Gemünden
1996).
Bei Frauen wurden Hilflosigkeitsreaktionen bei
physischer Gewalt in der Partnerschaft auch als
battered woman syndrome beschreiben. Bei
Männern wurde die Existenz eines – in Analogie dazu bezeichneten – battered husband
syndrome von zahlreichen AutorInnen bestritten (Schneider 1990b). Zwar konnten empirisch
bis dato keine männlichen Fälle mit Merkmalen
eines solchen Syndroms gefunden werden. Dies
muss nicht bedeuten, dass es diese Reaktion bei
Männern als Opfer körperlicher Gewalt nicht
gibt. Vielmehr dürften solche Fälle nicht bekannt werden, da die Gewaltforschung bei
Männern noch in „Kinderschuhen“ steckt und
zudem Hilflosigkeitsreaktionen bei Männern
7 299 3
von Mitarbeitern des psychosozialen Dienstes
nicht als Folge weiblicher Gewaltanwendung
erkannt werden.
Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass
Männer Gewalt seitens ihrer Partnerinnen am ehesten durch Normalisieren im engeren Sinn, Bagatellisieren und Entschuldigen bewältigen. Sie erzählen
kaum jemandem von den Übergriffen und wenn,
dann nur in extrem bedrohlichen Fällen. Erfahren
sie Gewalt durch ihre Partnerin, so neigen sie eher
dazu, die Gewalttaten zu akzeptieren und versuchen seltener den Status quo der Beziehung zu verändern. Über Gewalterfahrungen – verübt durch
eine Frau – zu sprechen, bedeutet für viele Männer,
dem gesellschaftlich verbreiteten Stereotyp von
männlicher Stärke nicht gerecht zu werden.
Insofern scheuen sie sich eher, über Gewalterfahrungen zu berichten. Scheinbar hat das Problembewusstsein in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren zugenommen, was sich in der Existenz
eigens eingerichteter Männerberatungsstellen
widerspiegelt. Mittlerweile gibt es in Österreich
neun Männerberatungsstellen: in Wien, Eisenstadt,
Waidhofen, Linz, Salzburg, Innsbruck, Feldkirch
und Klagenfurt.
3
3
3
Zusammenfassung
Die wichtigsten Ergebnisse der Diskussion über
Gewalt an Männern und bestehender Ergebnisse
der Forschung resumierend zusammengefasst zeigt
sich:
3 Gewalt gegen Männer ist ein umstrittenes
Thema innerhalb der Forschung über Gewalt in
der Familie. Es ist eine nach wie vor versteckte
Form innerfamiliärer Gewalt und ein Tabuthema innerhalb der öffentlichen Diskussion.
3 Ein wesentlicher Grund für die Tabuisierung ist,
dass Gewalt gegen Männer mit den ihnen zugedachten gesellschaftlichen Rollenzuschreibun-
3
7 300 3
gen nicht konform geht, sondern den ihnen zugeschriebenen Charaktereigenschaften wie
Stärke, Überlegenheit und Unabhängigkeit widerspricht. Dies wird etwa daran deutlich, dass
Männer ungern zugeben, von der eigenen Partnerin misshandelt worden zu sein. Eher neigen
viele dazu, die an ihnen ausgeübte Gewalt zu
bagatellisieren. Aus Scham sind sie oftmals nicht
bereit, Hilfe Außenstehender anzunehmen.
Misshandelte Männer finden selten Glauben bei
Polizei und Gericht.
Empirische Untersuchungen zeigen jedoch,
dass Gewalt gegen Männer existiert. In Befragungen wird deutlich, dass die Raten gewalttätiger Frauen und Männer maximal ein Drittel
voneinander abweichen. Einige Untersuchungen konnten dabei eine höhere Rate von Gewalt
gegen Männer, andere wiederum eine höhere
von Gewalt gegen Frauen nachweisen.
Frauen sind nicht friedlicher als Männer. Empirische Untersuchungen widersprechen der oftmals biologistisch geprägten Argumentation,
dass Frauen „von Natur aus“ friedliebender als
Männer sind. So gibt es empirische Belege dafür,
dass auch Frauen Gewalttaten gegen Männer
beginnen.
In der Forschungsdiskussion wird davon ausgegangen, dass Frauen ihre geringere körperliche
Stärke durch den Einsatz von Gewaltmitteln
kompensieren, die aus einer bestimmten Distanz eingesetzt werden können. Empirische
Untersuchungen liefern einige Hinweise zur
Bestätigung dieser Annahme. Allerdings sind
die in diesen Untersuchungen nachgewiesenen
Differenzen nicht groß genug, um diese Vermutung generell bestätigen zu können.
Nichtsdestotrotz stellt die Gewaltanwendung
gegen Frauen gesellschaftlich ein größeres Problem als Gewalt gegen Männer dar, weil Frauen
schwerer verletzt werden und die aus Gewalthandlungen an ihnen resultierenden Konsequenzen gravierender sind. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass es
Gewalt in der Familie
Teil III: Gewalt gegen Männer
nach wie vor vielen Frauen auf Grund mangelnder ökonomischer Ressourcen schwerer fällt,
gewalttätige Beziehungen zu verlassen.
3 Empirische Befunde über die Existenz von Gewalt gegen Männer rechtfertigen im Gegenzug
nicht, die Problematik Gewalt gegen Frauen zu
bagatellisieren und infolgedessen öffentliche
Hilfen für Frauen als überflüssig zu betrachten
(Gemünden 1996).
Auf Grund der nach wie vor gegenwärtigen
Randstellung der Thematik Gewalt gegen Männer
und des Fehlens spezifischer Forschungsarbeiten
blieben wesentliche Aspekte dieser Problematik
nach wie vor unerforscht. Konkret fehlen etwa
Forschungsarbeiten, welche mit Methoden der qualitativen Sozialforschung spezifische Probleme von
misshandelten Männern in ähnlicher Weise näher
untersuchen wie das bereits in Untersuchungen
über misshandelte Frauen erfolgt ist. Genauso ist
bisher wenig über die Folgen für männliche Opfer
und ihre Bewältigungsstrategien bekannt. Es
erscheint daher notwendig, diese Defizite in den
kommenden Jahren zu beseitigen, um ein differenzierteres Bild über diese Problematik zu erlangen.
Gewalt in der Familie
7 301 3
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7 303 3
Teil IV:
Gewalt gegen alte Menschen
Josef Hörl
Reingard Spannring
Gewalt in der Familie
7 305 3
7 306 3
Gewalt in der Familie
Teil IV: Gewalt gegen alte Menschen
Übersicht
1
Gewalt gegen alte Menschen – ein spätes Thema
308
2
Historische und interkulturelle Variationen von
Status und Macht „der Alten“ in der Familie
309
3
Die Bandbreite von Gewalt gegen alte Menschen
313
4
Dunkelfeld und Methodenprobleme
316
5
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
Umfang von Gewalterfahrungen alter Menschen
Kriminalität (ohne vorher bestehende Beziehung zwischen Täter und Opfer)
Gewalt in Pflegeeinrichtungen
Gewalt im sozialen Nahbereich
Gewalt in der Familie gegen pflegebedürftige alte Menschen
Fallbeispiele von Gewalt gegen alte Menschen im sozialen Nahraum
318
318
319
320
322
325
6
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
Ursachen und Bedingungskonstellationen für Gewalt im sozialen Nahraum
(Wechselseitige) Abhängigkeiten zwischen Opfer und Täter
Fehlende Distanzierungsmöglichkeiten
Soziale Isolation bzw. unzureichende soziale Unterstützung
Psychische und körperliche Überforderungssituationen
Biografische Prädispositionen und der intergenerationelle Gewaltkreislauf
327
327
328
328
329
330
Theoretische Erklärungsansätze zur Gewalt gegen alte Menschen
332
8
8.1
8.2
8.3
8.4
8.5
8.6
8.7
8.8
Gespräche mit Expertinnen und Experten
Formen und Orte der Gewalt
Problematik des Dunkelfelds
Überforderungen und wechselseitige Verstrickungen
Negative „Netzwerk“-Effekte
Soziale Problemfamilien
Rolle von Sachwaltern
Rolle des Pflegegeldes
Chancen und Grenzen von Eingriffen und Vorbeugungen
334
334
335
335
336
336
336
337
337
9
9.1
9.2
9.3
9.4
Praxisrelevante Schlussfolgerungen zur Prävention von Gewalt gegen alte Menschen
Die Öffentlichkeit
Die professionellen Kräfte
Die (pflegenden) Angehörigen
Die betroffenen alten Menschen selbst
339
339
339
340
341
Literatur
342
7
Gewalt in der Familie
7 307 3
1 Gewalt gegen alte Menschen –
ein spätes Thema
Gewalt gegen alte Menschen ist ein gesellschaftlich tabuisiertes und wissenschaftlich unzureichend
erforschtes Problemfeld. Gewalt gegen alte Menschen ist erst seit den 80er-Jahren ein Thema, wobei
es ausgehend von den Praxiserfahrungen der Sozialarbeit in England und den Vereinigten Staaten langsam den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat.
Dass dieser soziale Missstand noch immer weitgehend verdrängt wird und ihn ein Schleier des
Halb- und Unwissens umgibt, hat verschiedene Ursachen:
3 Gewalt gegen alte Menschen wird vielfach
„unsichtbar“ in der Privatsphäre und darüber
hinaus häufig im Zusammenhang mit Hilfe- und
Pflegebeziehungen ausgeübt.
3 Die negative Bewertung des Alters führt zu
Verdrängungen, die dominierenden Leitbilder
in unseren Gesellschaften sind nach wie vor
Jugend und Zukunftsorientierung; das Tabu des
Alterns und des Sterbens überträgt sich gleichsam in ein Schweigen zur Gewalt.
3 Lobby-Organisationen wie die „Grauen
Panther“, „Pro Senectute“, GEFAS, EURAG,
die sich der aufklärenden Information über das
Alter sowie der Aufdeckung und Prävention
von Diskriminierung und Gewalt widmen, sind
erst relativ spät entstanden. An den eher sozialpolitisch ausgerichteten Pensionistenverbänden
ist das Thema lange Zeit vorbeigegangen.
Da Außenstehenden der Einblick in die näheren
Umstände von Gewalt und Vernachlässigung zumeist verwehrt ist, besteht die Gefahr des Aufblühens von Vorurteilen und der raschen Generalisierung von krassen Einzelfällen. Ein Beispiel
für ein solches Vorurteil ist die immer wieder geäußerte Behauptung, dass viele Menschen ihre alten
Angehörigen vollkommen vernachlässigen, sich
jedoch zum Pensionsauszahlungstermin blicken
lassen, um finanzielle Ausbeutung zu betreiben.
Zu den Aufgaben der sozialwissenschaftlichen
Forschung zählt es, unbelegten Behauptungen bzw.
leicht widerlegbaren Vermutungen über soziale
Phänomene nachzugehen. Es gilt, soziale Probleme
sichtbar zu machen, ohne plumpe Schuldzuweisungen oder unzulässige Verallgemeinerungen zu
betreiben.
Wie schwierig diese Aufklärungsaufgabe ist,
zeigte sich deutlich beim vor etwa zehn Jahren abgehaltenen Mordprozess gegen Pflegerinnen des
Krankenhauses Lainz. Einerseits spielten die damaligen aufrüttelnden Ereignisse eine gewisse Rolle
für die öffentliche Bewusstseinsbildung, andererseits stand in den Medien der reine Sensationsaspekt im Vordergrund. Nachdem einmal die
Tabuschranken gefallen waren, konnte ein hemmungsloses, öffentliches Ausagieren von bisher
Verdrängtem stattfinden. Der mediale Zwang nach
zugespitzter Darstellung ergibt ein völlig verzerrtes
Bild: Beispielsweise wurden Berichte aus den USA
über das Aussetzen von verwirrten, alten Angehörigen auf den Stufen vor Pflegeheimen oder auf
Autobahnrastplätzen („granny-dumping“) weit
verbreitet; ungesagt blieb stets, dass sich solche
Vorfälle nur ganz vereinzelt ereigneten. Eine ernsthafte Diskussion wird so sehr erschwert.
Ein weiteres großes Hindernis für die Aufarbeitung des Gewaltphänomens besteht darin, dass
die Zahl wissenschaftlicher Studien nach wie vor
gering ist, diese sich oft auf Explorationen willkürlich zusammengestellter Einzelfälle beschränken
und nur selten einwandfreie, quantifizierte Erkenntnisse vorlegen können. Die Thematik ist zudem stark kulturabhängig, Forschungsergebnisse
aus den USA oder auch aus Skandinavien sind auf
Österreich nur bedingt übertragbar.
Das vorliegende Kapitel gibt eine Übersicht
über die zentralen konzeptuellen und methodischen Fragen der Gewalt gegen alte Menschen
sowie über die vorhandene Literatur und die empirischen Ergebnisse und will mithilfe von
ExpertInneninterviews erste Schritte setzen, um
tiefere Einsichten in die Handlungen von „Tätern“
und „Opfern“ im Rahmen von unterschiedlichen
Gewaltsituationen und -beziehungen zu gewinnen.
7 308 3
Gewalt in der Familie
Teil IV: Gewalt gegen alte Menschen
2 Historische und interkulturelle
Variationen von Status und Macht
„der Alten“ in der Familie
Das IV. Gebot „Ehre deinen Vater und deine
Mutter, wie der Herr, dein Gott, dir befohlen hat,
damit du lange lebest und dass es dir wohlergehe in
dem Lande, das der Herr, dein Gott, dir gibt!“ (5.
Buch Moses, Kap. 5, Vers 16) und die Strafandrohungen des Alten Testaments „Wer seinen Vater
oder seine Mutter schlägt, der soll des Todes sterben“ (2. Buch Moses, Kap. 21, Vers 15) und „Wer
seinem Vater oder seiner Mutter flucht, ist des
Todes“ (ebenda, Vers 17) weisen darauf hin, wie
brisant die Frage des angemessenen Verhaltens
gegenüber den Eltern schon immer gesehen worden
ist.
Der zulässige Verhaltensspielraum ist sehr eng –
weitaus enger als gegenüber Kindern und Frauen! –
gezogen; gleichwohl können Gewalt gegen und
Vernachlässigung von Eltern – und den alten
Menschen überhaupt – keineswegs als bloße Ausnahmehandlungen einzelner Missetäter abgetan
werden. Weder das jüdisch-christliche noch das
humanistische Ideal der hohen Achtung vor den
Alten bietet nach den historischen Erfahrungen
Gewähr für eine sichere und gewaltfreie Existenz.
Diese hängt vielmehr zu einem guten Teil vom Ansehen und der sozialen Stellung der alten Menschen
ab; diese haben freilich im Verlauf der menschlichen
Geschichte so zahlreiche Wandlungen erfahren und
sich überdies nach dem Geschlecht und der sozialen
Schicht stets sehr unterschiedlich gestaltet, dass der
Versuch einer generalisierenden Betrachtung
äußerst schwierig ist.
Der Umgang vorindustrieller Gemeinschaften
mit dem Alter war jedenfalls durch zwei Elemente
geprägt: einerseits durch eine starke Abhängigkeit
von der natürlichen Umgebung – was die stets vorhandene Gefahr einer Hungersnot impliziert –
andererseits durch eine stabile soziale Ordnung, die
jedem Mitglied einen festen Platz und Aufgabenbereich zuwies.
Die objektiv vorzufindende Gewalt gegen die
Alten, insbesondere die historische Praxis der
Altentötung, der Senizid, widersprach nicht dieser
sozialen Ordnung, sondern hielt sie vielmehr in
Gewalt in der Familie
bestimmten Situationen aufrecht. Das wichtigste
Ergebnis der klassischen Studien von Koty und
Simmons (Elwert 1992) ist, dass die Tötung immer
nur jene alten Personen traf, die nach dem kulturimmanenten Verständnis als siech bezeichnet wurden und beispielsweise nicht mehr in der Lage
waren, lange Märsche zur Nahrungsbeschaffung
mitzumachen. Die Altentötung, z.B. bei den
Tschukschen in Sibirien durch das überfallsartige
Erwürgen mit einem Seehundknochen (de Beauvoir
1977), ging keineswegs mit einem Mangel an
Respekt einher. Im Gegenteil, die Tötung war stets
von einem feierlichen Ritus umgeben, es fand ein
Fest unter zustimmender Beteiligung des Todesopfers statt.
Somit war die Altentötung Bestandteil und
Ausdruck einer bestimmten moralischen Ordnung
mit religiöser Verankerung. Simmons (1945) berichtet, dass unter 39 unter diesem Gesichtspunkt
untersuchten Stämmen 18 die Altenvernachlässigung zum Verhaltensrepertoire zählten, doch blieb
die Altentötung sicher auf Extremsituationen beschränkt.
Eine ganz andere Form der kollektiven Altentötung stellten die Hexenverfolgungen dar, die ja
sehr häufig in der Ermordung alter Menschen,
namentlich Frauen, mündeten (Soldan/Heppe
1997). Die Hexereivorstellungen unterstellten den
heimlichen individuellen Kauf eines Schadenszaubers und eigneten sich gut, marginalisierte Personen
als Sündenböcke zur Erklärung von Unglück auszusondern und zu verfolgen. Allenfalls vorhandene
Vorstellungen von der magischen Macht der Alten
boten offensichtlich keine Gewähr für einen Schutz
vor Verfolgung.
Aus interkulturell vergleichender Sicht können
vier allgemeine Typen von Altersgliederungen und
-definitionen von nicht-industriellen Gesellschaften unterschieden werden (Elwert 1992) und daraus
ein jeweils spezifisches Status- und Machtpotenzial
der Alten abgeleitet werden:
3 Physisch-funktionale Differenzierungen, die
rein auf die physischen Fähigkeiten abstellen;
7 309 3
wenn etwa in Jäger- und Sammlergesellschaften
die Männer nicht mehr zu weiten Jagdzügen
und die Frauen nicht mehr zur Versorgung von
Kleinkindern im Stande sind, dann sind sie alt.
3 Alters- und Generationsklassensysteme, in
denen jeder Mensch zu einer Gruppe gehört, die
mit ihm im gleichen Verhältnis zur vorhergegangenen Generation steht. Gemeinsam rücken
die Menschen in rituell bestimmten Zyklen in
andere Alterskategorien auf, womit die kollektive Weitergabe des Status an die nächste Generationsklasse verbunden ist. Dieses System hat zur
Folge, dass sich innerhalb einer Klasse Menschen stark unterschiedlichen Lebensalters befinden. Ein Sohn kann erst in die erste Altersklasse eintreten, wenn sein Vater die letzte
Altersklasse verlassen hat, worunter der Sohn
unter Umständen sehr leiden kann.
3 Differenzierungen nach Positionen im Reproduktionszyklus, wenn vor allem bei Frauen
nicht das Alter, sondern der Ehestatus die dominante Ordnungskategorie im Lebenslauf darstellt.
3 Senioritätssysteme, in denen das Alter relativ im
Verhältnis zu den Nachgeborenen definiert
wird. In solchen Gesellschaften ist das Vorrücken im Alter üblicherweise mit Machtzuwachs verknüpft. In den Senioritätssystemen
kommt die Vorstellung von „alt“ der modernen
Vorstellung vom chronologischen Altern am
nächsten.
Die Auswertungen der historischen und ethnologischen Quellen (de Beauvoir 1977; Borscheid
1987; Elwert 1992; Mitterauer 1982; Rosenmayr
1990) führen übereinstimmend zu der Auffassung,
dass im Verlaufe der Menschheitsgeschichte der
Status und die Machtposition der Alten grundsätzlich immer dann relativ hoch waren, wenn bestimmte Bedingungen gegeben waren, darunter insbesondere:
3 Kontrolle des Privateigentums durch die Alten;
3 materielle Unabhängigkeit der Alten in der
Lebensführung;
3 Monopol der Alten über strategisch wichtige
Erfahrungs- und Wissensvorräte;
3 Traditionsorientierung der Gesellschaft;
3 Vorherrschen von Subsistenzwirtschaft bzw.
primitiver Arbeitsteilung;
3 kleinräumig-stabile Organisation der Gesellschaft;
3 große Bedeutung von Verwandtschaft und religiöser Ahnenverehrung;
3 persönlicher Kontakt als Interaktionsgrundlage;
3 feste Zuschreibung bestimmter Rollen für
bestimmte Altersgruppen.
Viele dieser sozialen Konstellationen lagen
offensichtlich in den frühen, schriftlosen Kulturen
eher vor als in modernen Industriegesellschaften.
Insbesondere war in jenen Kulturen die Lösung des
Problems der Wissensüberlieferung ganz besonders
bedeutsam, woraus eine privilegierte Stellung der
wissenden und erfahrenen Alten gleichsam selbstverständlich als Notwendigkeit erfloss. Darüber
hinaus waren alte Menschen immer dann relativ gut
geschützt, wenn Ökonomien auf so niedriger Stufe
organisiert waren, dass die produktive Kapazität
der Alten ihre Kosten überstieg. Weiters führten
vormoderne, traditionelle Verwandtschafts- und
Großfamiliensysteme auf magisch-religiöser
Grundlage gegenüber den Alten eher zu institutionalisierten, normativen Verpflichtungen, die nur
schwer zu umgehen waren.
Es ist allerdings hinzuzufügen, dass im Falle
von Gebrechlichkeit und der damit verbundenen
Unfähigkeit, einen Beitrag zum Überleben der Gemeinschaft leisten zu können, der Schutzmechanismus zu Gunsten der Alten immer schon rasch
seine Wirksamkeit verlieren konnte.
Wie unterschiedlich auch in der Neuzeit die
Behandlung der alten Menschen war und wie sehr
sie von den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen
abhing, zeigt Borscheid (1987, 1992) zunächst auf
7 310 3
Gewalt in der Familie
Teil IV: Gewalt gegen alte Menschen
Basis der Quellen aus dem 16. und 17. Jahrhundert:
Im Dreißigjährigen Krieg mit seinem Zusammenbruch der Zivilisation hatte das „Ansehen der Alten
... einen absoluten Tiefpunkt erreicht.“ (1987, S. 36).
Der Mensch im Alter war mit dem Makel des Zerfalls versehen, ihm wurde nur Abbau und Rückbildung aller früheren Fähigkeiten zugeschrieben.
Auf der anderen Seite war das Biedermeier im
19. Jahrhundert die letzte Epoche, die den Alten ein
hohes Prestige zuwies. Das idyllische Bild, das z.B.
von der damaligen zeitgenössischen Malerei geprägt wurde und das die Alten im Kreise ihrer Familie zeigte, ging zwar an der Wirklichkeit der
Massenarmut in der Frühindustrialisierung weit
vorbei, doch spiegelte sich in der Hochachtung des
Alters doch noch die Verteilung wirtschaftlicher
Verfügungsgewalt in der traditionellen Agrargesellschaft wider.
An der Wende zum 20. Jahrhundert brach sich
jedoch endgültig die sportliche und körperbetonte
Jugendlichkeit als Ideal eine Bahn, es häuften sich
z.B. in der Literatur „die Angriffe auf die Älteren
und steigerten sich bis zur Verhöhnung“ (Borscheid
1992, S. 45). Das drückte sich auch zunehmend in
der politischen Szenerie aus, so verstand sich der
Nationalsozialismus von Anfang an als eine ausgesprochene Jugendbewegung.
Wie immer das Auf und Ab im sozialen Status
der alten Menschen historisch zu bewerten ist, fest
steht, dass die entscheidenden Veränderungen nicht
durch einen bloßen Bewusstseinswandel, sondern
durch die tief greifenden strukturellen Veränderungen im Modernisierungsprozess hervorgerufen
worden sind.
Der wesentlichste Punkt betrifft zweifellos die
Tatsache, dass in der modernen Gesellschaft das
Privateigentum seine überragende Bedeutung als
Konfliktherd zwischen den Generationen eingebüßt hat.
In agrarischen Gesellschaften verhält sich das
anders, weil der Boden der primäre Produktionsfaktor ist.
Gewalt in der Familie
Diese Behauptung kann durch die sozialgeschichtlichen Forschungen gut belegt werden
(Mitterauer u. Sieder 1977; Sieder 1987), die für den
Bauernstand einiges über die Gewaltverhältnisse in
der Vergangenheit mitteilen. Die Problematik der
Generationenverhältnisse im Bauernhaus – primär
herrührend von den Streitigkeiten über die Regelung des Ausgedinges bzw. über den Zeitpunkt der
Hofübergabe – kommt schon in den alten Bauernsprichwörtern zum Ausdruck („Übergeben und
nimmer leben“, „Auf der Kinderbank ist für die
Alten ein harter Sitz“) und ist vielfach in den Altenteilverträgen dokumentiert. Aus den dort festgehaltenen Regelungen kann der Schluss gezogen
werden, dass „in den jeweiligen ländlichen Gesellschaften genügend Wissen um Fälle harter und
‚ungerechter‘ Behandlung von zunehmend wehrlosen Altbauern bekannt sein müssen. ... Auseinandersetzungen bis zum Vatermord sollen aus solchen
Konstellationen entstanden sein.“ (Sieder 1987,
S. 68).
In der Industriegesellschaft verliert die Familie
viele ihrer ökonomischen Funktionen, real und im
Bewusstsein der Menschen verlagert sich die
Bedeutung der Familie ins Private. Durch die
Privatisierung der Familie wird freilich die familiale Position der alten Menschen in bestimmter Weise
prekär. Deren Stellung beruht nämlich jetzt fast
ausschließlich auf traditioneller Pietät, allenfalls gestützt (aber nicht gewährleistet!) durch quasi-ökonomische Leistungen der (Groß)eltern, etwa in
Form von Kinderbeaufsichtigung oder der Hingabe
von finanziellen Gaben an die Nachkommen.
Darüber hinaus entwerten die verstärkten Erfordernisse an formalen Ausbildungen im Berufssystem das Wissen der alten Menschen und führen
zu deren tendenziell immer mehr zunehmenden
Ausgrenzung aus dem Produktionsprozess; zugleich führen Urbanisierung und die beschleunigte
regionale Mobilität zu einer Lockerung der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen den Generationen.
7 311 3
Schließlich wirken die strikten religiösen
Vorschriften infolge des Säkularisierungsprozesses
bestenfalls in Restbeständen des kollektiven Gedächtnisses weiter, sind aber für das praktische
Leben irrelevant, wie auch die Verbindung zu den
Ahnen über die Alten bedeutungslos geworden ist.
Dass diese Entwicklung nicht nur eine abendländisch-christliche Besonderheit ist, zeigt Ikels
(1980), indem sie nachweist, dass in China der
Respekt vor dem Alter zwar die (konfuzianische)
Norm ist, dass aber die Realität vor allem in
Situationen eines Ressourcenmangels schon immer
davon erheblich abweichen konnte. Es scheint, als
sei die Norm der Altenversorgung bereits im alten
China nur bei den Wohlhabenden einigermaßen in
Einklang mit dem tatsächlichen Verhalten gestanden.
Die hier vorgelegte Skizze konnte nur die
Grundlinien zeichnen und musste die zahlreichen
widersprüchlichen Elemente der Entwicklung des
Status- und Machtgefüges der Gesellschaft in Bezug
auf die alten Menschen aussparen. Festzuhalten ist
jedenfalls, dass bis ins 20. Jahrhundert nicht jeder
automatisch als „alt“ galt, der ein bestimmtes chronologisches Alter überschritten hatte, sondern nur
jemand, dessen schwindende körperliche und geistige Kräfte diese Zuschreibung nahe legten. In diesem Moment war auch seine Machtposition
bedroht.
Die Einführung der modernen Pensionsversicherungssysteme mit ihren bürokratisch geregelten Altersgrenzen hatte in Bezug auf die soziale
Position der alten Menschen mehrere gravierende
Folgen: Einerseits wird solcherart ein kalendarisch
definiertes „Schutzalter“ eingeführt, ab dem an die
älteren Menschen keine Forderung nach Mitwirkung im Erwerbsleben mehr gestellt wird, sie
können in (sozialer) Sicherheit in die Zukunft
blicken; andererseits wird mit der Festsetzung eines
gesetzlichen „Ruhestandsalters“ ein deutliches
Signal für den Rückzug aus dem aktiven Erwerbsleben gesendet, dem sich nur wenige entziehen
können und wollen. Auf der Ebene der Familie
hatte diese Intervention des Sozialstaates einerseits
gewiss eine Senkung der Konfliktschwelle zum
Resultat, weil die alten Menschen eine von ihren
Nachkommen finanziell doch weitgehend unabhängige Existenz führen können; andererseits kann
die sozialstaatliche Geldquelle (Pension) selbst zum
Objekt von Ausbeutungsbeziehungen werden, wie
später noch zu zeigen sein wird. Es mag auch sein,
dass neue Konflikte sich daraus ergeben können,
dass das angesparte Privatvermögen der alten
Menschen zukünftig rigoroser zur Finanzierung
der von ihnen in Anspruch genommenen ambulanten oder stationären Pflegeeinrichtungen herangezogen und solcherart die Erbschaftserwartungen
der Hinterbliebenen enttäuscht werden.
7 312 3
Gewalt in der Familie
Teil IV: Gewalt gegen alte Menschen
3 Die Bandbreite von Gewalt
gegen alte Menschen
Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen
Konstellationen und Handlungen, die Gewaltelemente enthalten, denen alte Menschen ausgesetzt
sind. Die Spanne reicht – um nur die Extreme ungefähr zu benennen – vom Mord bis zum bloß grob
unachtsamen oder unhöflichen Verhalten, z.B.
jemandem den Sitzplatz nicht zu überlassen. Das
letztere Beispiel demonstriert auch, dass bei weitem
nicht alles, was von Betroffenen als „gewalthaft“
oder verletzend interpretiert wird, eine juristisch
fassbare Substanz aufweist.
Um Missverständnisse und einen inflationären
Gebrauch des „Gewalt“-Begriffs zu vermeiden,
bedarf es einer sorgfältigen Konzeptspezifikation.
Diese muss sich sowohl auf die Art der Handlungen bzw. Unterlassungen beziehen als auch auf
die sozialen Situationen, in denen diese Handlungen stattfinden. Diese Unterscheidung der verschiedenen sozialen Situationen ist deswegen notwendig, weil Gewalt in nahen Beziehungen zweifellos einer anderen Bewertung unterliegt (Gewalthandlungen im Rahmen einer Pflegebeziehung
werden unter Umständen gar nicht als strafbares
Verhalten wahrgenommen) als z.B. die Straßenkriminalität.1
Es soll zwischen drei sozialen Situationen
unterschieden werden, in denen Gewaltformen auftreten, die entweder inhaltlich oder in ihren
Ursachen und Folgen voneinander differieren:
3 der öffentliche Raum und die „gewöhnliche“
Kriminalität ohne eine vorhergehende TäterOpfer-Beziehung;
1
Es sei nochmals betont, daß zwischen der „objektiven“
Beurteilung von Normübertretungen durch WissenschafterInnen, SozialarbeiterInnen, JuristInnen usw. und
den subjektiven Wahrnehmungen und Gefühlen der
alten Menschen selber in bezug auf Bedrohung und
Degradierung vermutlich große Abweichungen bestehen; mangels entsprechender Forschungen können über
das subjektive Gewaltempfinden alter Menschen jedoch
keine empirisch belegten generellen Aussagen gemacht
werden. Ebensowenig systematisch erforscht ist die
wahrscheinlich differenzierte Sichtweise innerhalb der
einzelnen Disziplinen.
Gewalt in der Familie
3 die Institutionen der Altenhilfe (Heime, Krankenhäuser, ambulante Dienste);
3 der Nahraum von Familie und Partnerschaft mit
einer meist langjährigen Beziehung zwischen
Täter und Opfer.
Der Schwerpunkt des vorliegenden Berichts
liegt auf der Gewalt im Bereich der Familie und
anderer mikrosozialer Beziehungen. Die beiden
anderen Bereiche werden in Abschnitt 5 kurz beleuchtet.
Unter Gewalt sei im Anschluss an die Begriffsbestimmungen von Dieck (1987) und Bergstermann
u. Carell (1998) verstanden eine systematische,
nicht einmalige Handlung oder Unterlassung mit
dem Ergebnis einer ausgeprägt negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit des alten Menschen;
zum Unterschied von der Aggression muss Gewalt
immer nach außen und auf andere gerichtet sein.
Eine einmalige Handlung oder Unterlassung muss
schon sehr schwer wiegende negative Folgen haben,
soll sie unter dem Begriff der Gewalt subsumiert
werden. Die Unterlassungen können bewusst oder
unbewusst auf Grund unzureichender Einsicht
oder unzureichenden Wissens erfolgen.
Diese Definition ist auf das Verhalten in langfristigen Beziehungen (insbesondere Familienbeziehungen) zugeschnitten und daher in mancher
Hinsicht anfechtbar: Auch einmalige Handlungen
können selbstverständlich in bestimmten sozialen
Kontexten gewalthaft sein; um Unterlassungen
oder „gefährliche Pflege“2 auf Grund unzureichen2
7 313 3
Beispielsweise wird von Dodegge (1998) ein Fall berichtet, wo eine Ehefrau ihren dementen zuckerkranken
Ehemann zu Tode fütterte, weil sie nicht imstande war,
die Diätvorschriften zu berücksichtigen. Beim Problemkreis der „gefährlichen Pflege“ ist juristisch die entscheidende Frage, ob sich die „Pflegenden“ Einsicht in ihr
Tun verschaffen hätten können. Von einem sozialwissenschaftlichen Standpunkt ist hingegen eher relevant, wie
es überhaupt zu solchen gefährlichen sozialen
Situationen kommen kann, während die Schuld- und
Einsichtsfrage eher zweitrangig sein wird.
den Wissens, mangelnder Einsicht oder schlichten
Irrtums als gewalthaft bezeichnen zu können,
bedürfte es in jedem einzelnen Fall einer Überprüfung. Dass hiebei das professionelle Urteil mit dem
Laienurteil und dem Alltagsverstand vielfach kollidiert, bestätigen die befragten Expertinnen der
ambulanten Pflegedienste (siehe Abschnitt 8).
Im Einzelnen ist zu unterscheiden:
Gewalt durch aktives Tun:
3 körperliche Misshandlung: z.B. Schlagen; Verbrennen; Immobilisieren, etwa durch Festbinden an Möbelstücke; Verwendung von Gitterbetten; Verabreichung von deutlich überdosierten Medikamenten; sexueller Missbrauch;
3 psychische Misshandlung und „Verletzungen der
Seele“: z.B. Beschimpfungen; Verunglimpfungen; Einschüchterungen; Drohungen; Ausdrücken von Verachtung;
3 finanzielle Ausbeutung: Entwendung von Geld
oder Vermögensbestandteilen; Unterbindung
der Verfügungsmacht; Pressionen zur Eigentumsübertragung;
3 Einschränkung des freien Willens: z.B. Unterbindung der freien Wahl des Wohnorts; Behinderung oder Manipulation in der Abfassung des
Testaments; Zwang zu Verhaltensweisen, z.B.
bestimmte Kleidungsstücke (nicht) anzuziehen.
Vernachlässigung durch
Unterlassung von Handlungen:
3 passive Vernachlässigung: z.B. Mangelernährung; Zulassung von Dehydration oder der
Entwicklung von Druckgeschwüren;
3 aktive Vernachlässigung: z.B. keine Reinigung
des Bettes; Verweigerung hinreichender Pflege,
des Waschens, Verweigerung der Versorgung
mit Essen, mit Medikamenten;
3 psychische Vernachlässigung: z.B. Alleinlassen,
Isolierung; beharrliches Schweigen.
Es ist zwar unabdingbar, eine möglichst trennscharfe Konzeptspezifikation anzustreben; gleich-
wohl wird sich ein unbestrittener Generalkonsens,
in welchem Moment die „Gewaltschwelle“ überschritten wird, selbst unter Fachleuten wohl kaum
finden lassen. Das Problem der fließenden Grenzen
ist gerade im Familienbereich niemals völlig zu vermeiden, weil das Recht auf Autonomie der Familie
in ihrer geschützten Privatsphäre mit einem wie
immer definierten Schutzbedürfnis für den alten
Menschen stets im Widerstreit liegen wird: Wo ist
die Grenze zu ziehen zwischen freiwilligen, großzügigen finanziellen Gaben an die Nachkommenschaftsfamilie und den Fällen eindeutiger finanzieller Ausbeutung? Ist der Versuch von erwachsenen
Kindern unter Androhung des Kommunikationsabbruches den Wunsch des alten Vaters, sich an eine
neue Lebenspartnerin zu binden, umzukehren, nur
Bestandteil einer alltäglichen Familiendiskussion
oder bereits Terror? Ist es eine verständliche Pflegehandlung oder bereits Gewalt, wenn dem mental
eingeschränkten Pflegebedürftigen die Tabletten
trotz Gegenwehr in den Mund geschoben werden?
Bei der Diskussion über Umfang und Ursachen von
familialer Gewalt in den nächsten Abschnitten (5
und 6) wird man dieser Problematik eingedenk sein
müssen.
Neben den einzelnen Personen zuzuschreibenden Gewalthandlungen gibt es in unserer Gesellschaft vielfache strukturelle Gewalt. Eine Hauptform ist die Altenfeindlichkeit. Der englische Begriff „ageism“ (in Anlehnung an „racism“ und
„sexism“) wurde 1969 von Robert N. Butler
(Kramer 1998) geprägt und meint die soziale Diskriminierung, die negative Wahrnehmung des
Alters und die damit zusammenhängende Stigmatisierung der betroffenen Gruppe von Menschen.
Soziale Diskriminierung resultiert aus der kategorialen Behandlung von Personen und Gruppen.
Diese werden über ein primäres Merkmal, eben das
Alter, identifiziert und bewertet. Die „inhaltliche“
Bewertung erfolgt über Vorurteile und Stereotype.
Die hauptsächliche Austragungsform ist der so
genannte sprachliche Terror gegenüber den Älteren.
Besonders bemerkenswert ist dabei, dass die
7 314 3
Gewalt in der Familie
Teil IV: Gewalt gegen alte Menschen
Medien in dieser Frage (im Gegensatz zu frauenfeindlichen oder rassistischen Äußerungen) weitgehend unsensibel geblieben sind. Das drückt sich
aus in der unkritischen Übernahme von Negativbegriffen wie „Überalterung“ oder „Vergreisung
der Gesellschaft“ bzw. in der bewusst sarkastischen
Verwendung von derben umgangssprachlichen
Begriffen wie „Gruftis“ oder „Kukidents“.3
3
Ein geradezu paradoxes Beispiel für eine ageistische Argumentationsfigur war kürzlich in der Londoner Tageszeitung „The Mirror“ zu finden. Dort werden ausländerfeindliche Bemerkungen von Prinz Philip mit folgenden Worten kritisiert (zitiert nach der Übersetzung in
der „Presse“ vom 13.8.1999, S. 2): „Auch in anderen
Familien gibt es beklopfte alte (!) Männer, die sich
immerzu blamieren. Aber der aus der Familie Windsor
ist ein besonders widerwärtiges Exemplar seiner Gattung
(!) ...“.
Gewalt in der Familie
7 315 3
4 Dunkelfeld und
Methodenprobleme
In der Kriminologie werden als Dunkelfeld die
nicht amtlich bekannt gewordenen und registrierten Rechtsbrüche bezeichnet. Nach Angaben von
Lamnek (1997) führen Gewaltdelikte aller Art und
in allen Altersstufen lediglich in 46% der Fälle zur
Anzeige durch die Opfer, wobei Gewalttaten unter
Bekannten, Freunden und innerhalb der Familie
noch seltener angezeigt werden als bei fremden
Tätern. Demnach bleiben 55% der Gewalttaten
unter „Intimpersonen“ (z.B. Körperverletzung
oder Vergewaltigung der Ehefrau) unentdeckt.
Es kann vermutet werden, dass bei der Gewalt
gegen alte Menschen im sozialen Nahbereich ein
noch größeres Dunkelfeld besteht; Anzeigen und
erst recht strafrechtliche Verfolgung sind extrem
selten.
Verantwortlich dafür sind zunächst die in
Abschnitt 3 diskutierte Bandbreite und die fließenden Grenzen in der Gewaltdefinition. Selbst für
kundige Beobachter sind Symptome von Misshandlung nicht immer von Symptomen des Alterns
zu unterscheiden (Pagelow 1989).
So wird Gewalt von den alten Menschen, die
Gewalt erfahren, von Zeugen (z.B. Nachbarn) aber
auch von den Gewaltausübenden selbst häufig gar
nicht als solche erkannt und wahrgenommen. Dazu
kommt die besondere Gefühlsdynamik in der
„Täter“-„Opfer“-Beziehung. Die Bewertung der
sich zumeist über lange Zeiträume erstreckenden
Beziehungen und des Verhaltens erfolgt nicht
primär nach den offiziellen Rechtsnormen, sondern
es herrschen private Standards und Verständnisweisen vor, die sowohl von den sozialen Milieus
als auch von der je spezifischen Familiengeschichte
beeinflusst sind.
Zusammen mit den Vorstellungen der unbedingt zu wahrenden Privatsphäre in der Familie
wird ein kaum zu durchdringendes Dunkelfeld erzeugt. Insgesamt sind die Bestrebungen nach informeller Konfliktregelung („Konfliktintimisierung“ nach Beste 1986) bei engen sozialen Bindungen oder längerfristigen Abhängigen sehr stark.
Freilich kann es bei einem Machtungleichgewicht
durch die Privatisierung zu einer Konfliktverschärfung kommen, weil der Schwächere, d.h.
der alte Mensch, nachgibt, unter dem Einfluss von
Zwang oder Nötigung oder auf Grund der Überlegung, gravierende Nachteile für den Täter, mit dem
man emotional eng verbunden ist, zu vermeiden.
Die daraus entstehende methodische Problematik bezeichnen Wetzels u. Greve (1996) als „doppeltes Dunkelfeld“: Es gibt nur höchst selten irgendeine Form von Registrierung der häuslichen
Gewalt und selbst dann ist der direkte Zugang zu
den gefährdeten Personen praktisch verschlossen –
sowohl Täter als auch Opfer verweigern zumeist
eine Befragung oder tendieren dazu, ihr Tätersein
und ihre Opferwerdung (Viktimisierung) zu leugnen oder zu verschleiern.
In Anbetracht dieser Schwierigkeiten ist es nicht
verwunderlich, dass sich viele bisherige Veröffentlichungen auf Fallstudien bzw. ExpertInnenbefragungen stützen.
Die vor nahezu 20 Jahren durch den englischen
Sozialarbeiter Eastman (1985) zusammengestellte
Sammlung von Fallstudien war lange die einzige
umfangreichere Materialquelle in Europa. Sein
Bericht wirft viele bedeutsame Fragen auf, die
empirische Basis ist allerdings schmal und in der
Auswahl willkürlich.
Im Falle von ExpertInnenbefragungen treten als
Informanten vor allem Sozialarbeiter/innen,
Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, Ärztinnen
und Ärzte, Polizeibeamte, Mitarbeiterinnen von
Sozialdiensten auf; deren Beobachtungen leiden
allerdings unter selektiver Wahrnehmung und unter
Befangenheit auf Grund von Berufsethos und
Schweigepflicht; Aktenanalysen wiederum beruhen
auf den wenigen gemeldeten Vorfällen und haben
den Nachteil, dass die Eintragungen nicht auf
Grund wissenschaftlicher Kriterien verfasst werden. Spärlich sind insbesondere die Angaben zu den
sozialen Charakteristiken von Tätern und Opfern
(Lamnek 1997).
Aber auch die Dunkelfeldstudien, die auf der
Basis von Täter- oder Opferberichten (self-reports;
7 316 3
Gewalt in der Familie
Teil IV: Gewalt gegen alte Menschen
victim surveys) durchgeführt werden, erbringen
selten generalisierbare Ergebnisse im strengen Sinn,
weil sie ihre Probanden nicht durch Zufallsauswahl
gewinnen (können). Dazu kommen gerade bei Erhebungen in emotional aufgeladenen Bereichen die
Fehlerquellen des selektiven Wahrnehmens, Erinnerns und Berichtens durch die Befragten, was in
unkontrollierbaren Über- oder Unterschätzungen
der Häufigkeit und der Art der Delikte resultiert;
verzerrend kann weiters sein, dass manche Menschen (berechtigte oder unberechtigte) Furcht vor
Vergeltungsmaßnahmen haben; überdies besteht
die Problematik der Orientierung von Antworten
an der sozialen Erwünschtheit. Schließlich ist als
grundsätzliche Schwäche der meisten Erhebungen
zu nennen, dass sie mit einer einzigen Erhebungstechnik (z.B. nur Befragung) und einer Befragtengruppe (z.B. nur den alten Menschen) arbeiten.
Gerade in diesem sensiblen Feld wären genaue
Validitätsprüfungen erforderlich. So darf etwa nicht
vergessen werden, dass Gewaltwahrnehmungen
zuweilen nicht der Realität, sondern einer Situationsverkennung, z.B. auf Grund hirnorganischer
Veränderungen, entspringen (Kawelovski 1992).
Gewalt in der Familie
7 317 3
5 Umfang von Gewalterfahrungen
alter Menschen
5.1 Kriminalität (ohne vorher
bestehende Beziehung zwischen
Täter und Opfer)
Entgegen mancher populären Auffassung werden Straftaten gegen alte Menschen seltener verübt
als gegen jüngere. Dabei ist die Dunkelziffer bei
älteren Menschen wegen ihrer höheren Anzeigebereitschaft sogar geringer. Nach einer in Deutschland erstellten Detailanalyse sind ältere Menschen
bei nahezu allen Delikten seltener betroffen als jüngere, mit den Ausnahmen des Handtaschenraubs
und des Trickdiebstahls (unter Tarnung als Handwerker, Stromableser). Bei Wohnungseinbrüchen
ist das Zahlenverhältnis ausgewogen. Bei allen anderen Straftaten liegen alte Menschen, gemessen an
der Opfer-Häufigkeit, hinter jüngeren Personen
(Daten aus der BRD 1991 – z.B. Raub: über 60Jährige 1,1 Promille versus bis 60-Jährige 3,8
Promille). Im Vergleich besonders selten betroffen
sind ältere Menschen von Straftaten wie Körperverletzung (1,5 vs. 13 Promille), Sexualdelikten und
Nötigung (Wetzels u.a. 1995).4
4
In Österreich liegen für das Jahr 1998 die Ergebnisse der
Kriminalstatistik des Innenministeriums vor, gegliedert
nach dem Alter der Opfer. Die Straftaten sind in der
österreichischen Statistik weniger detailliert nach einzelnen Delikten aufgeschlüsselt als in der zitierten deutschen Studie, doch ergibt sich grundsätzlich das gleiche
Bild einer geringeren oder gleichen Betroffenheit der 65und Mehrjährigen durch Straftaten. Die bemerkenswertesten Ausnahmen bilden die Kategorie „Raubmord und
Vermögensdelikte mit Todesfolge“ – 31,8% der Opfer
waren 65 Jahre oder älter (bei einem Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung von 15,4%) – und die
Kategorie „Raub in Wohnungen ohne Tötung eines
Menschen“, wo 31,4% der Opfer 65 Jahre oder älter
waren. Allerdings sind die Absolutzahlen so niedrig
(1998 waren in Österreich insgesamt 22 Raubmorde in
Wohnungen mit Todesfolge und 102 Raube in Wohnungen ohne Tötung zu verzeichnen), daß man bei Interpretationen Vorsicht walten lassen muß.
Freilich haben – wie dies ganz allgemein gilt –
die individuellen und sozialen Lebensumstände
einen großen Einfluss auf die Gefahr, Opfer von
Gewalt und Verbrechen zu werden. So ist ein
Handtaschenraub im Heim unwahrscheinlicher als
auf offener Straße, ein Wohnungseinbruch bei älteren Menschen mit Familienanschluss seltener zu
erwarten als bei Alleinstehenden, die häufig unterwegs sind, usw. Für Personen, die Gewohnheiten
haben, die auch Straftäter haben oder kennen – z.B.
eine bestimmte Art der Freizeitgestaltung – erhöht
sich das Risiko.
Das früher behauptete „ViktimisierungsFurcht-Paradox“, wonach bei alten Menschen trotz
objektiv niedrigerem Risiko besonders hohe Furcht
vor Kriminalität vorherrscht, konnte in neueren
Arbeiten nicht mehr verifiziert werden. Ältere
fürchten sich nicht häufiger oder stärker als Jüngere
(Greve 1999).
Aus zwei Gründen liefern diese Fakten trotzdem keinen Grund zur Entwarnung.
Erstens nimmt mit dem Alter das Vorsichtsverhalten zu. Nach der deutschen Studie von
Wetzels u.a. (1995) bleiben rund 55% der über 60Jährigen bei Dunkelheit eher zu Hause, weil sie
Gefährdungen fürchten, unter den Jüngeren teilen
nur 30% dieses Verhalten. Etwa 75% der Älteren
achten darauf, möglichst wenig Geld bei sich zu
tragen, und immerhin 60% überlegen sich, bestimmte Straßen oder Plätze zu meiden, weil sie
ihnen zu gefährlich erscheinen. Bei den unter 60Jährigen nehmen nur knapp 44% Umwege in Kauf.
Weiters können gehäufte Berichte in den Zeitungen
über an älteren Menschen verübte Trickdiebstähle
zu übertriebenem Misstrauen gegenüber allen
Fremden und zur Selbstisolierung führen. Solche
Restriktionen, seien sie auch selbst auferlegt, und
der Rückzug aus der Öffentlichkeit müssen als Belastung und Einschränkung der Lebensqualität empfunden werden.
Zweitens bleiben bei alten Menschen, wenn sie
tatsächlich Opfer von kriminellen Gewalttaten
werden, eher gravierende Schäden (z.B. nach
7 318 3
Gewalt in der Familie
Teil IV: Gewalt gegen alte Menschen
Knochenbrüchen) zurück, die Heilungsprozesse
verlaufen verzögert. Mehr als jüngere Menschen
leiden ältere nach Übergriffen unter Angst und dem
Gefühl der Missachtung und Erniedrigung. Auch
sind entwendete Gegenstände für sie häufiger mit
einem hohen Erinnerungs- und Gefühlswert verbunden.
Präventiv bietet eine aktive Lebensgestaltung
mit vielen Außenkontakten eher Schutz vor krimineller Gewalt als der Rückzug. Aktivsein hilft, die
potenzielle Rolle des isolierten Opfers zu vermeiden und erhöht das Risiko für mögliche Straftäter.
Wer aber tatsächlich im Einzelfall Opfer einer
Straftat geworden ist, wird wahrscheinlich mit den
Folgen besser fertig werden, wenn er/sie
Verwandte, Freunde, Nachbarn oder Bekannte hat,
denen er/sie sich mitteilen kann.
5.2 Gewalt in Pflegeeinrichtungen
Es sind meines Wissens für kein Land Daten auf
der Basis repräsentativer Untersuchungen verfügbar, die über das Ausmaß an Gewalthandlungen an
alten Menschen in Krankenhäusern oder Altenheimen Auskunft geben. Dieses Defizit dürfte vor
allem darauf zurückzuführen sein, dass die systematische Befragung oder Beobachtung von PatientInnen und BewohnerInnen von Pflegeeinrichtungen methodische Probleme der Zuverlässigkeit
und Validität und überdies ethische Probleme aufwirft; darüber hinaus ist grundsätzlich der Zugang
zum „Innenleben“ von Organisationen schwierig,
jede Organisation schottet sich bis zu einem gewissen Grad ab. Für illegale Phänomene, trifft dies
besonders zu („Mauer des Schweigens“), solange
nicht durch empörte Angehörige oder infolge von
Rivalitäten und Konkurrenzkämpfen innerhalb des
Personals z.B. Gewaltvorfälle mehr oder weniger
gezielt nach außen getragen werden.
Über die Tatsache selbst, dass es nämlich
Gewalt in Pflegeeinrichtungen gibt, besteht Übe-
Gewalt in der Familie
reinstimmung (Funk 1983; Meyer 1998; Petzold
1992). Einhellig werden diese Erscheinungen darauf
zurückgeführt, dass die geriatrische Pflege sowohl
körperlich schwerste Arbeit als auch besonders
hohe psychische Beanspruchung bedeutet. Das
Ideal des Helfens wird durch die Dauerkonfrontation mit Verfall und Vergehen ständig frustriert.
Das gesellschaftliche Klima diesen Problemen
gegenüber ist weitgehend durch Gleichgültigkeit
und Desinteresse gekennzeichnet, bzw. gelegentlich
auch von unrealistischen Erwartungen der Öffentlichkeit oder der Angehörigen über die medizinischen Leistungsmöglichkeiten.
Die reduzierte Ansprechbarkeit der BewohnerInnen, und der Umstand, dass die medizinischen Heilungsanstrengungen auf ein Minimum
heruntergeschraubt werden, begünstigen eine rein
mechanische Haltung der stummen Massenabfertigung. Psycho-geriatrisch zu wenig geschult, müssen PflegerInnen außerdem Aggressionen durch
mental eingeschränkte Personen hinnehmen. Sie
geraten in Gefahr, sich selber die Schuld zu geben
und aus schlechtem Gewissen oft unbewusst gegenaggressiv zu werden. Staut sich solcher Hass, kann
es zu Revanche und bei Fehlen moralischer Barrieren zu extrem sadistischen Handlungen kommen. Andererseits äußern erstaunlich viele alte
Menschen immer wieder den Wunsch zu sterben,
aus der Angst heraus, anderen zur Last zu fallen,
verstärkt durch die Ohnmacht und Hilflosigkeit,
mit der sich der/die Pflegebedürftige der mächtigen, undurchschaubaren Institution und der
scheinbaren Willkür des Personals ausgeliefert
sieht. Es kann so eine unheilvolle Allianz entstehen,
bis hin zur Tötung aus „Mitleid“, ein Motiv, das die
Täterinnen beim Mordprozess zu den Vorfällen im
Lainzer Krankenhaus vor zehn Jahren zu Protokoll
gaben. Wesentlich häufiger als offene Gewalt ist
allerdings ein Meidungsverhalten in Form der
Nichtbeachtung, des Verlassens des Zimmers und
Zusperrens der Tür, des Hochhängens der Patientenklingel. Es entstehen diffuse Vorformen von
Gewalt, die sich aufschaukeln können.
7 319 3
Es ist auf der anderen Seite zu betonen, dass die
modernen Erkenntnisse über bedürfnisgerecht und
situationsadäquat organisierte geriatrische Behandlung, Pflege und Betreuung durchaus rezipiert worden sind und in der Ausbildung des Personals auch
vermittelt werden. Allerdings ist die praktische
Umsetzung oft schwierig, weil die fortdauernden
strukturellen Defizite in Bezug auf die Mitarbeiterschlüssel, die unzureichende Beachtung der
besonderen Bedürfnisse dementer Menschen, die
unzulängliche Architektur bzw. unbefriedigende
Raumverhältnisse (Mehrpersonenzimmer) dies
nicht zulassen. Darüber hinaus ist die gesetzlichen
Position des Personals insofern prekär, weil die
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zwar einen möglichst großen Freiheits- und Bewegungsspielraum
für die PatientInnen und BewohnerInnen gewährleisten sollen, gleichzeitig aber nicht Gefahr laufen
dürfen, wegen mangelnder Aufsicht zur
Verantwortung gezogen zu werden.
5.3 Gewalt im sozialen Nahbereich
Die Inzidenz5 von häuslicher Gewalt gegen alte
Menschen wird nach meiner Kenntnis systematisch
nur in den Vereinigten Staaten ermittelt. Das
National Center on Elder Abuse erfasst alle aufgedeckten Fälle von Gewalt gegen ältere Menschen zu
Hause; als Quelle dienen die Akten der Adult/Elder
Protective Services Agencies in den einzelnen
Staaten und Bezirken. Auch diese Unterlagen leiden unter der Dunkelzifferproblematik – schätzungsweise wird nur einer von 14 Fällen häuslicher
Gewalt gegen ältere Menschen tatsächlich bekannt.
Samt einem Schätzwert für die Dunkelziffer ergaben sich im Jahre 1988 140.000 und 1996 bereits
5
Unter Inzidenz versteht man die Auftretenshäufigkeit
neuer Fälle in einem definierten Zeitraum, üblicherweise
einem Jahr.
293.000 Fälle. Das ist mehr als eine Verdoppelung
(Wolf u. Li 1999). Wegen der methodischen Unsicherheiten in Bezug auf die Dunkelziffer kann
nicht verlässlich gesagt werden, inwieweit die Steigerung auf eine reale Zunahme der Gewaltanwendungen bzw. auf eine erhöhte Meldebereitschaft für
Verdachtsfälle zurückzuführen ist.
Unter den Anzeigern lagen die professionellen
Helfer6 mit 45% aller Fälle an der Spitze, 15% der
Fälle wurden von Angehörigen der Opfer gemeldet, 9% durch Freunde und Nachbarn, 5% durch
andere Personen; in etwas mehr als 6% der Fälle
meldeten sich die betroffenen älteren Menschen
selbst. Am häufigsten war Vernachlässigung, ihr
Anteil an den Gewaltfällen betrug 59%; körperliche Misshandlung kam bei 16% der Fälle vor,
finanzielle Ausbeutung bei 12% und emotionale
Gewalt bei 7%; sexueller Missbrauch wurde in
0,5% der Fälle festgestellt. Der Rest von 6% sind
sonstige oder nicht einzuordnende Formen.
Prävalenzstudien7 wurden ab den späten 80erJahren in einer Reihe von Ländern durchgeführt.
Die erste Repräsentativuntersuchung (Telefoninterviews) zur Gewalt gegen alte Menschen fand
1988 in Boston (USA) mit einer Stichprobe von
2020 Personen über 65 Jahren statt. Pillemer u.
Finkelhor (1988) ermittelten damals eine Betroffenheitsrate von 3,2%. Mit 2% kamen körperliche
Misshandlungen am häufigsten vor, gefolgt von andauernder verbaler Aggression (1%); 4% der
Befragten berichteten von Vernachlässigungen.
Podnieks u.a. (1990) stellten in einer repräsentativen kanadischen Bevölkerungsumfrage (Telefoninterviews) fest, dass insgesamt 4% der befragten
6
7
7 320 3
Die Ärzte und die Mitarbeiter des Gesundheits- und
Sozialwesens (z.B. case manager) unterliegen bei der
Entdeckung von Mißhandlungen an alten Menschen in
fast allen Staaten der USA einer gesetzlichen
Meldepflicht.
Unter Prävalenz versteht man das Vorkommen eines
Ereignisses (also hier Gewaltanwendung) innerhalb einer
definierten Population zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Gewalt in der Familie
Teil IV: Gewalt gegen alte Menschen
älteren Menschen Gewalt von Angehörigen ausgesetzt waren. Am häufigsten war finanzielle Ausbeutung (2,5%), gefolgt von chronisch verbaler
Aggression (1,4%). Nicht näher definierte physische Gewaltanwendungen (0,5%) und Vernachlässigungen (0,4%) waren selten.
In England nutzten Ogg u. Bennett (1992) für
ihre Erhebung den Survey des Office of Population
mit einer Zufallsstichprobe von 2000 Personen,
davon 589 mit Personen im Alter von 65 und mehr
Jahren. 5,6% der schriftlich befragten über 65jährigen Menschen gaben an, kürzlich verbale
Gewalt durch Familienmitglieder erlebt zu haben.
Jeweils 2% berichteten über körperliche Gewalterfahrungen bzw. über finanzielle Ausbeutung im
familiären Kontakt. Umgekehrt gaben 9% der Erwachsenen über 16 Jahre zu, dass sie verbale Gewalt
und 1%, dass sie körperliche Gewalt gegen ältere
Angehörige ausgeübt hätten.
In Deutschland wurde eine kombinierte mündlich/schriftliche Studie vom Kriminologischen
Forschungsinstitut Niedersachsen (Wetzels u.a.
1995) durchgeführt. Es wurden Informationen von
2456 Befragten über 60 Jahren zu Gewalterfahrungen in der Familie ausgewertet. Personen im Alter
von über 75 Jahren bzw. Pflegebedürftige und
Kranke waren in der Stichprobe jedoch nur gering
bzw. gar nicht vertreten. Insgesamt berichteten
6,9% der befragten Personen ab 60 Jahren von körperlichen Gewalterfahrungen durch Familien- oder
Haushaltsmitglieder im Zeitraum 1987-1991; 1,8%
erlitten schwere körperlicher Gewalt. Am häufigsten kam es zu physischen Gewaltanwendungen
(3,4%), gefolgt von Vernachlässigung und Medikamentenmissbrauch (2,7%), wirtschaftlicher Ausnutzung (1,3%) und chronisch verbaler Aggression
(0,8%).
Eine neuere postalische Umfrage in Deutschland (Brendebach u. Hirsch 1999) mit 459 Befragten über 60 Jahren ergab einen Anteil von
10,8% an familialen Gewaltopfern, deren Durchschnittsalter 70 Jahre war. Für rund die Hälfte lag
das schlimmste Erlebnis kürzer als ein halbes Jahr
Gewalt in der Familie
zurück, in der Regel traten die Ereignisse wiederholt auf. Seelische Misshandlung und finanzielle
Schädigung standen an der Spitze. Als Gewaltfolgen wurden solche aus dem psychisch-emotionalen Bereich, wie Ängste, Nicht-vergessen-Können genannt, als Aussprachepartner überwogen
Menschen aus der Verwandtschaft, nicht so selten
wurde auch der Gewaltanwender selbst genannt.
Das Bonner Notruftelefon der Initiative
„Handeln statt Misshandeln“ (HsM 1998) wurde
zwischen April 1997 und September 1998 von 294
Anrufern (mit insgesamt 684 Anrufen) kontaktiert;
hievon fühlte sich über die Hälfte als Opfer und
zwei Fünftel traten als Informanten auf. Täter meldeten sich nur in Ausnahmefällen. Ein Viertel aller
geschilderten Probleme betraf Geldangelegenheiten, ein Fünftel Beschimpfungen und ein
Sechstel körperliche Misshandlungen.
In Amsterdam (Niederlande) wurde von
Comijs u.a. (1998) bei einer Stichprobe von 1797 zu
Hause lebenden älteren Menschen eine Gewaltrate
von 5,6% ermittelt, wobei verbale Aggression
3,2%, körperliche Aggression 1,2%, finanzielle
Ausbeutung 1,4% und Vernachlässigung 0,2% ausmachte. Über 70% der Opfer waren im Stande, der
Gewalt Einhalt zu gebieten, entweder allein oder
mithilfe von anderen. Weiters wurde festgestellt,
dass die finanzielle Ausbeutung meist allein, hingegen verbale und körperliche Aggressionen häufig
zusammen auftraten.
Kivelä u.a. (1992) ermittelten in Finnland in
einer Studie mit 1086 älteren Menschen 5% zu
Hause misshandelte alte Menschen. Am häufigsten
wurde psychische und finanzielle Misshandlung
angegeben.
Bei einer in Schweden (Tornstam 1989) durchgeführten Studie unter 934 Erwachsenen, die
befragt wurden, ob sie von Gewalt gegen Ältere
Kenntnis hätten, bejahten 8% diese Frage für das
vergangene Jahr, wobei es in den meisten Fällen um
finanzielle Ausbeutung ging. Je ungefähr die Hälfte
berichtete, dass ein Familienmitglied bzw. (erstaunlicherweise) ein/e professionelle/r HelferIn der/die
7 321 3
TäterIn war. Beim Vergleich mit Dänemark ergaben
sich fast die gleichen Zahlen, allerdings wurden
dort nur in wenigen Fällen die professionellen
Pfleger als Täter benannt.
Eine Gesamtbeurteilung der vorliegenden
Studien ist schwierig. Zu sehr sind die Unterschiede
in den Ergebnissen durch methodische Artefakte
(unterschiedliche Befragungstechniken) bzw. durch
die unterschiedlichen Operationalisierungen (wird
z.B. finanzielle Ausbeutung berücksichtigt oder
nicht) und die länderspezifischen Gewaltverständnisse beeinflusst. Verzerrungen unüberprüften
Ausmaßes finden weiters durch Selektionseffekte
beim Rücklauf statt: Gewaltopfer sind auf Grund
ihrer Betroffenheit einerseits vielleicht eher bereit,
entsprechende Fragebogen überhaupt zu beantworten. Andererseits sind durch Gewaltakte verängstigte oder psychisch beeinträchtigte Menschen
weniger willens oder in der Lage, an Interviews teilzunehmen.
Mit einiger Sicherheit kann man wohl sagen,
dass höchstens 10% aller alten Menschen Gewalterfahrungen in ihrem sozialen Nahbereich explizit
angeben, wozu freilich noch die Dunkelziffer hinzuzurechnen wäre. Eine klare Rangordnung der
Gewaltformen ist nicht zu erkennen, fest steht
lediglich, dass die offene, körperliche Gewalt nur
eine und wahrscheinlich nicht die häufigste Spielart
von Gewalt darstellt.
5.4 Gewalt in der Familie gegen
pflegebedürftige alte Menschen
Auf Grund der besonderen sozialpolitischen
Brisanz der Pflegebedürftigkeit alter Menschen und
der großen Bedeutung der Pflege durch Familienangehörige haben sich einige Spezialstudien der
Frage gewidmet, ob und welche Rolle Gewalt in
Pflegebeziehungen spielt. Da die Fallzahlen in der
Regel niedrig und die methodischen Vorgangsweisen, insbesondere die Stichprobenziehung, sehr
unterschiedlich sind, schwankt die wissenschaftliche Qualität dieser Studien erheblich.
Einige Untersuchungen zur Gewalt im familialen Pflegekontext wählten wegen des relativ unproblematischen Forschungszugangs den Weg, an die
MitarbeiterInnen von ambulanten und halbstationären Diensten bzw. an deren Klientinnen und
Klienten heranzutreten. Teils wurden die alten
Menschen selbst, teils das Fachpersonal, teils die
Angehörigen befragt. Wegen des ungelösten Problems der selektiven und abweichenden Wahrnehmungen (z.B. zwischen Angehörigen und professionellen Kräften) ist Vorsicht bei einer vergleichenden Interpretation der Ergebnisse geboten. Es
müsste auch überprüft werden, ob nicht die
KlientInnen von diesen Einrichtungen eine Gruppe
bilden, die von vornherein durch Gewalt eher gefährdet ist, weil vielleicht unter SozialdienstklientInnen die schwierigeren Betreuungsfälle bzw.
die problematischeren Familiensituationen zu finden sind.
Norberg u. Saveman (1996) befragten 156
Beschäftigte häuslicher Sozialdienste in Schweden
über deren Erfahrungen mit Misshandlungen älterer Menschen in deren Familien. Erfasst wurden
sowohl bereits eindeutig verifizierte als auch Fälle
mit dringendem Verdacht. Auf diese Weise wurden
97 Fälle (davon 52 mit häufiger, 36 mit seltener
Gewaltanwendung binnen zwei Jahren) aufgedeckt.
Im Durchschnitt dauerte die Misshandlung drei
Jahre an. Bei den bestätigten Fällen wurden als häufigste Form des Missbrauchs genannt: psychische
Gewalt (42%), sowie materielle Ausbeutung
(33%). Vernachlässigung und/oder körperliche
Misshandlungen konnten bei 25% der Fälle nachgewiesen werden.
Einen anderen indirekten Erhebungsweg beschritten McCreadie u.a. (1998) in England, indem
sie niedergelassene Ärzte und Ärztinnen über ihre
Erfahrungen mit Gewalt bei alten PatientInnen
befragten; 84% aller Ärzte und Ärztinnen gaben an,
von solchen Fällen Kenntnis zu haben, wobei
primär psychische Gewalt genannt wurde. Die
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Gewalt in der Familie
Teil IV: Gewalt gegen alte Menschen
Sensibilität für das Erkennen von Gewalt oder Gewaltsituationen durch die Ärzte und Ärztinnen
wurde allerdings als mangelhaft beurteilt.
Pitsious-Darrough u. Spinellis (1995) befragten
in Griechenland 506 ältere Menschen im Alter von
60 und mehr Jahren, die „Offene Pflegezentren“
besuchten. Die Erhebung beruhte auf einer Klumpenstichprobe8 dieser Zentren und bezog sich nicht
ausschließlich auf familiale Gewalt. Von 757 Interviewten gaben 117 an, mindestens eine Form der
Misshandlung innerhalb eines Jahres erlitten zu
haben (15%), wobei materielle Ausbeutung am
häufigsten war.
Kurrle u.a. (1992) analysierten in einem geriatrischen Rehabilitationszentrum in Sydney (Australien) Fälle von familialen Misshandlungen von
Menschen über 65 Jahren. Innerhalb eines Jahres
konnten 54 Fälle aufgedeckt werden, das sind 4,6%
der KlientInnen dieses Zeitraums. Die häufigste
Form bei über der Hälfte der Fälle war verbale Gewalt, gefolgt von körperlicher Misshandlung, Vernachlässigung und finanzieller Ausbeu