Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft

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Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft
74 / 2011–2012
Mitteilungen
der Winckelmann-Gesellschaft
Im Auftrag der Winckelmann-Gesellschaft
herausgegeben
von Eva Hofstetter und Markus Käfer
Zu diesem Heft
Inhaltsverzeichnis
Winckelmanns Person, Leben, Werk und
Tod sind nach wie vor Thema in der Schönen Literatur. Bisher nur wenig oder gar
unbeachtet lassen sich nun die Charakterisierungen Winckelmanns von Georg
Heinrich von Berenhorst in der Neuausgabe
seines Reisetagebuchs der Grand Tour des
Fürsten von Anhalt-Dessau (1766). Die
beispielhafte Lebensgestaltung Winckelmanns, das Thema seiner Forschungen, die
Orte seines Wirkens stehen im Mittelpunkt
des Hörstücks von Jean-Claude Kuner, der
„einen etwas angestaubten Schulstoff [...]
lebendig und neu vermitteln“ wollte und
dafür mit dem Prix Marulić ausgezeichnet
wurde. „Winckelmanns Ermordung“ erschien 1847 in der 60-bändigen Ausgabe des
Neuen Pitaval, 1842–1890 hrsg. von dem
Juristen Julius Eberhard Hitzig und dem
juristisch gebildeten Schriftsteller Willibald
Alexis alias Wilhelm Häring, in der Reihe
spektakulärer Kriminalfälle.
Die Wirkung Winckelmanns reicht bekanntermaßen über Europa hinaus; sein Einfluss
auf den Klassizismus läßt sich auch in Südamerika nachweisen – eines der Ergebnisse
der Madrider Tagung (17.–23.10.2011)
„Das Vermächtnis Johann Joachim Winckelmanns in Spanien“. Gemeinsam mit der
Madrider Akademie für Geschichte ist die
Edition einer Übersetzung von Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Alterthums“ ins Spanische geplant.
Aus der Arbeit der Gesellschaft: Bericht Lykienexkur­
sion. Kolloquium Madrid. Doris Oberleiter: Treffen mit
dem Freundeskreis des Deutschen Archäologischen Instituts Madrid. Jahreshauptversammlung: Berichte des
Kuratoriums, der Geschäftsführung und des Schatzmeisters. Mitgliederbewegungen. Ein Gespräch im Hause
Winckelmann Anno Domini 1727.
Blickpunkt Winckelmann-Museum: Bericht des Vorstands Manfred Urban. Grußwort des dänischen Botschafters zur Eröffnung der Thorvaldsen-Ausstellung.
Betina Kaun über Klassizismus in Deutschland und Italien. Falko Leonhardt über Aktivitäten des Kinder- und
Erlebnismuseums. Gudrun Walinda: Jahresbericht des
Kinder- und Erlebnismuseums.
Literaturberichte und Rezensionen: WinckelmannBibliographie. Balbina Bäbler über Maria Wiggen, Die
Laokoon-Gruppe. Ingo Pfeifer über Erhard Hirsch,
Kleine Schriften zu Dessau-Wörlitz. Autorreferat: Birgit
Sick, Kalkulierte Vieldeutigkeit. Das Androgyne als ästhetisches Paradigma. Ingo Pfeifer über Neuausgabe und
Übersetzung des Reisetagebuchs von Georg Heinrich
von Berenhorst, Reisemarschall auf der Grand Tour des
Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau. Autorreferat: Udo Reinhardt, Der antike Mythos.
– Mythen – Sagen – Märchen. E-Mail-Interview mit
Jean-Claude Kuner zu seinem Hörstück „Schöne Welt,
wo bist Du? Wege zu Johann Joachim Winckelmann“.
Jost Eickmeyer: Poetologische Anmerkungen zu einer
Erzählung und zwei Hörspielen über Johann Joachim
Winckelmann. Joachim Pissarro: Jeff Koons’ Serie Antiquity. Reflexionen über Akzeptanz.
Beilage: Winckelmann’s Ermordung, in: Der neue Pitaval 12, Leipzig 1847.
Aus der Arbeit der Gesellschaft
Erika Eschebach: Exkursion nach Lykien vom 13. bis 17. April 2011
Am Dienstag, 13. 4. 2011, in aller Herrgottsfrühe, ging es von
Deutschland nach Antalya, wo wir
wohlbehalten gegen 10.00 Uhr eintrafen. Gleich die erste Programmänderung: Wir fuhren vom Flughafen direkt nach Perge. Der Sage nach
wurde Perge von griechischen Einwanderern nach dem Trojanischen
Krieg gegründet. Uns führte der
Weg in das Stadion, welches zu den
besterhaltenen in Kleinasien zählt
und 12.000 Zuschauer aufnehmen
konnte. Von dort hatte man Aussicht auf den Tafelberg, wo sich mit
Patara, 2011
der Akropolis die älteste Siedlung befindet. Durch das kaiserzeitliche Stadttor betraten wir die Stadt, welche im 2. Jh. n. Chr. ihre prägenden Bauten, das Theater, die Thermen, die Kolonnadenstraße und die Nymphäen erhalten
hatte. Als große Mäzenin der Stadt ist Plancia Magna in Erscheinung getreten, die Tochter des flavischen Statthalters der Doppelprovinz Pontus et Bithynia.
Das Nymphäum war der Artemis Pergaia sowie der Familie des Kaisers Septimius Severus gewidmet. Die Großen Thermen, in drei Bauphasen entstanden, bestehen aus fünf nebeneinander
liegenden Räumen mit nach Süden ausgerichteten Fenstern, verfügten über eine große Hypokaustenheizung sowie eine prächtige Marmorverkleidung, von der Reste erhalten sind. Über 50 Statuen wurden hier in einem „Vortragssaal“ (Raum mit Sitzbänken) gefunden, die sich heute im
Museum von Antalya befinden. Einige von ihnen waren mit Sockelinschriften versehen und erinnerten an Klaudios Peison, einen Förderer von Kunst und Literatur. Eingerüstet war die hellenistische Toranlage mit zwei Rundtürmen. Der dahinter liegende Hof war von Plancia Magna mit
Marmornischen und Statuen prächtig ausgestattet worden. Eine Kolonnadenstraße mit reliefgeschmückten Säulen (Artemis Pergaia und Tyche) führt zum nördlich gelegenen Akropolisnymphäum vor großer Schilfkulisse. Im Mittelteil des Brunnenhauses lagert(e) die Skulptur des Flussgottes Kestros, unter ihm floss das Wasser in das Becken. An den Seiten standen die Statuen von
Artemis und Kaiser Hadrian. Die Agora bzw. das Macellum mit zentralem Rundbau ist umgeben
von Kolonnaden.
Anschließend nahmen wir in Antalya unser Hotel in Augenschein, in welchem zunächst noch
Bau- und Renovierungsarbeiten ausgeführt wurden, machten uns auf zu einem Rundgang durch
die Altstadt mit Frau Dr. Bruer, der uns zu Hadrianstor, Festungsmauer und in das Hafengebiet
führte, zum Hidirlik Kulesi, ein ehemals römisches Mausoleum mit byzantinischem Rundturm,
vielleicht ursprünglich ein Leuchtturm.
Am nächsten Tag (nach einem Frühstück im Orangenhain) besichtigten wir das archäologische
Museum von Antalya mit den Statuen aus Perge, die in verschiedenfarbig gestalteten Räumen
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ausgestellt sind, römischen Sarkophagen, die zum großen Teil erst kürzlich wieder in die Türkei
zurückgekehrt sind – besonders großartig der Dionysossarkophag. Eindrucksvoll sind die lykischen Zwölfgötterreliefs. Eine Sensation war das Synagogenrelief aus Andriake mit Darstellung
einer Menorah, welches erst kürzlich gefunden wurde und die Existenz einer dritten Synagoge in
Anatolien belegt (s. u.).
Danach ging die Fahrt Richtung Westen ins Gebirge zu einer neuen Grabung: In Kitanaura, einer lykischen Stadt oberhalb von Kemer in 1200 m Höhe, erwartete uns der Ausgräber von der
Universität Antalya, Prof. Isa Kizgut (Mitglied der Winckelmann-Gesellschaft), mit Mitarbeitern,
um uns die bisher entdeckten Funde aus hellenistischer, römischer und byzantinischer Zeit in der
Stadt zu zeigen. Auf einer 1990 in Patara ausgegrabenen Stele war „Kitanaura“ erwähnt worden.
Nach einem steilen Anstieg erreichten wir Stadttor, Stadtmauern, Akropolis, Tempel, Thermen
und Nekropole, anschließend gab es Tee bei einem Ziegenbauern in der Nachbarschaft. Abends
im Hotel in Finike beendete ein Fischessen den erlebnisreichen Tag.
Während uns das Wetter bisher hold war, regnete es am dritten Tag. Wir ließen uns davon
nicht abhalten und fuhren erneut ins Hinterland, diesmal nach Rhodiapolis, wo auch die Winckelmann-Gesellschaft seit 2006 an den Ausgrabungen beteiligt ist. Nach einem Tee im Grabungshaus führte uns Isa Kizgut zu den neuesten Grabungsbefunden, zu den Südthermen und
der Stoa, zum Asklepieion und dem in Freilegung begriffenen Theater mit Grabmonument des
berühmtesten Mannes von Rhodiapolis, Opramoas, einem großzügigen Mäzen, der in ganz Lykien agierte. Die Außenseiten des Grabbaus sind vollständig mit Inschriften bedeckt, die über Geschäfte und Beziehungen des Opramoas Auskunft geben. Er hatte auch einen Grabbau für seine
Eltern in Rhodiapolis gestiftet. Stadttoranlage und Agora waren weitere Stationen. Nach einem
tollen Mittagessen im Grabungshaus besichtigten wir am Nachmittag die Nekropole mit beeindruckenden Grabmonumenten. Dafür, dass die Stadt noch vor 10 Jahren völlig von Pflanzen
überwuchert und viele Gebäude verschüttet waren, ist inzwischen eine Menge erreicht. Aber viel
bleibt zu tun.
Auf dem Rückweg Besuch einer Konditorei in Finike, danach Abendessen im Hotel, begleitet von Wolkenbrüchen. Am nächsten Morgen – bei schönstem Sonnenschein – ging es nach Patara, wo Herr Prof. Kunze und Frau Dr. Bruer u. a. 10 Jahre lang gegraben hatten. Im Grabungshaus inmitten eines schönen Rosen-Skulpturengartens erläuterte Frau Prof. Havva Işık die Rekonstruktionsarbeiten am Bouleuterion. Dort, wo noch vor 10 Jahren wenige Randmauern erhalten
waren, erhebt sich heute ein fast komplettes Gebäude, das durch seine hellen Quadern wie neu erscheint. Es sind aber alle alten Steine verbaut, und Neues wurde nur hinzugefügt, wenn es dafür
Anhaltspunkte gab. Das Bouleuterion war Sitz des Lykischen Bundes. Durch die daran anschließende Ladenstraße gelangten wir ins Hafengebiet zum Leuchtturm, der ebenfalls wieder aufgebaut wird. Eine Weihinschrift aus neronischer Zeit befindet sich an der Spitze. Nachmittags ein
Abstecher zum Theater und ein Ausflug in die mittelalterliche Stadt mit Hafengelände, Kirchen
und einem osmanischen Bad und zu den drei Stadtmauern (spätklassisch, frühbyzantinisch und
mittelalterlich). Nach einem Zwischenstop am Strand ging es ins Hotel und zu einem Abendausflug nach Kalkan mit Fischessen im Hotelgarten.
Der letzte Tag führte uns bei sehr warmem Wetter nach Myra, wo wir die Felsengräber – von
unten – anschauten und das Theater mit seinem mehr als halbkreisförmigen Zuschauerraum sowie den 5 Durchgängen im Bühnenhaus. Wir sahen eindrucksvolle Reliefs mit Masken und die
neu ausgegrabene byzantinische Kirche mit sehr gut erhaltener Wandmalerei. Andriake, der antike Hafen von Myra, lag in einem Blütenmeer. In einer Werkstatt wurden einst Purpurschnecken
verarbeitet, wie Muschelschichten zeigen. Ein Granarium ist mit Reliefbildern von Hadrian und
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Sabina geschmückt. In der neu ausgegrabenen Synagoge wurde in der erhöhten Apsis der Thoraschrein verwahrt: Drei Reliefplatten mit Bildschmuck sowie Schriftplatten wurden in der Mitte
des Raums gefunden. Nach Priene und Sardeis ist Andriake der dritte Ort in Anatolien, wo eine
Synagoge nachgewiesen werden kann. Neu erschlossen sind das Hafengebiet mit Handwerksbetrieben und einem Serapisheiligtum. Damit war der Endpunkt erreicht, es ging mit dem Bus nach
Antalya zum Flughafen.
Die Exkursion mit den Besichtigungen der Grabungen und Museen kann man als sehr gelungen bezeichnen. Vielen Dank an die Organisatoren! Ich denke, es hat allen gut gefallen – denen,
die zum ersten Mal hier waren, aber auch denen, die schon 2001 oder 2005 an den Reisen in diese Region teilgenommen hatten.
Eva Hofstetter: Kolloquium in Madrid vom 17. bis 23. Oktober 2011: „El legado de Johann
Joachim Winckelmann en España“ / „Das Vermächtnis Johann Joachim Winckelmanns in Spanien“
Das Thema der Tagung
erschloss ein neues Kapitel der WinckelmannRezeption, die Aufnahme der Werke Winckelmanns in Spanien, das Wirken der Spanier in Rom, die Aktivitäten der Bourbonen in Italien, die Reflexe der spanischen Literatur in Deutschland
etc. Dirce Marzoli, Leiterin der Abteilung MaEmpfang in der Real Accademia de Bellas Artes de San Fernando
drid des Deutschen Archäologischen Instituts, wies auf die zahlreichen altertumswissenschaftlichen Projekte hin, die in
deutsch-spanischer Zusammenarbeit durchgeführt wurden bzw. werden.
Adolf Borbein informierte über Winckelmanns Leben und Arbeitsweise, die verschiedenen
Winckelmann-Ausgaben und die Kriterien, nach denen die jetzige historisch-kritische Ausgabe der
Winckelmann-Gesellschaft und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz erfolgt, die zu Winckelmanns 300. Geburtstag 2017 fertiggestellt sein soll.
Salvador Mas beschäftigte sich mit der Frage der Wirkung Winckelmanns in Hinblick auf die Rezeption der Klassik in Spanien im 16. und 17. Jahrhundert und zeigte, dass Winckelmann sich
nicht sonderlich für spanische Künstler und Autoren interessierte und dass umgekehrt das spanische politische System, die Macht der Kirche und die relativ ungebildete Aristokratie keinen
fruchtbaren Boden boten, um das Gedankengut des freiheitsliebenden Winckelmann aufzunehmen. Mas referierte die Rezeption der klassischen Antike bei spanischen Autoren in Renaissance
und Barock und untersuchte, wie sich die Spanier mit der Antike beschäftigten. Ángel Gavinet attestierte den Spaniern insgesamt eine stoisch-skeptische Grundhaltung, die er bereits bei Seneca beschrieben fand. Der Humanist Luis Vives erachtete das antike Gedankengut, insbes. die Au-
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toren Seneca, Epiktet, Cicero und Plutarch als wesentlich für die Entwicklung einer praktischen
Moral. Die Dichter der Renaissance, u. a. Garcilaso, Hurtado de Mendoza und Boscán orientierten sich an Horaz und Epikur. Im Barock interessierte die (nicht vorhandene) Vereinbarkeit
von Christentum und Antike und resultierte in Pessimismus und Desillusion.
Eric Moormann ging den Funden aus den Bourbonen-Grabungen in Herkulaneum und Pompeji in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums nach. Obwohl Winckelmann die Grabungsmethoden in den Vesuvstädten kritisierte, ging er selbst in seinen Publikationen wenig auf
die Fundkontexte ein. Die Funde, da sie aus Provinzstädtchen stammen, waren in ästhetischer
Hinsicht zweitrangig, jedoch wichtig für Informationen zum antiken Alltag und antiker Kleidung. Die Wandgemälde ordnete Winckelmann der Stufe des Verfalls der Künste zu. Nur mit den
Funden aus Pompeji und Herkulaneum hätte er keine Stilabfolge der antiken Kunst schreiben
können, jedoch brachte er die Pompeji-Forschung auf den richtigen Weg.
Rosaria Ciardiello berichtete über Winckelmann und die Rezeption der herkulanischen und pompejanischen Entdeckungen in der Europäischen Kunst: Karl III., König beider Sizilien (ab 1759 König von Spanien), Ausgräber von Herkulaneum, behielt die Publikationsrechte ausschließlich seiner Herkulanischen Akademie vor, die die Reihe „Anitchità di Ercolano“ 1757–1792 herausbrachte. Den freien Verkauf des mehrbändigen Stichwerks erlaubte erst sein Sohn Ferdinand IV.
Winckelmanns „Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen“ erzürnte vor allem wegen
der verletzten Publikationsrechte den neapolitanischen Hof. Auf seiner dritten Neapelreise besichtigte Winckelmann die Villa des Cicero, deren Mosaike und Fresken Künstler und Dichter inspirierten (u. a. Parnaßgemälde von Raphael Mengs in der Villa Albani in Rom; Deckengemälde in
Wörlitz; Friedrich Schiller in seinem Gedicht „Pompeji und Herculanum“: „Hoch auf springt die
Bacchantin im Tanz, / dort ruhet sie schlummernd, / Und der lauschende Faun hat sich nicht satt
noch gesehen. / Flüchtig tummelt sie hier den raschen Centauren, auf einem / Knie nur schwebend, und treibt frisch mit dem Thyrsus ihn an.“). Ebenso finden sich an zahlreichen Bauten in
Deutschland (Marmorpalais und Schloss Charlottenhof in Potsdam, japanisches Palais in Dresden, Schloss Ludwigsburg, Pompejanum in Aschaffenburg, Stadtschloss Berlin) und ganz Europa
(England, Frankreich, Spanien, Estland, Schweden) sowie in der Kleinkunst (Porzellan, Möbel)
Zitate dieser Funde, die in den Antichità d’Ercolano veröffentlicht vorlagen.
Maria del Carmen Alonso Rodríguez berichtete über Die Erwerbungen Carlos III. in Italien im
Zeugnis Winckelmanns: Carlos III., 1735 bis 1759 König beider Sizilien, ließ bei Antritt der Königsherrschaft in Spanien 1759 alle Kunstschätze Siziliens einschließlich der Funde aus Herkulaneum und Pompeji zurück, um sie seinem Sohn Ferdinand IV. zu vererben. Von Spanien aus tätigte er durch Agenten verschiedene Ankäufe in Rom, Antiken, Gipsabgüsse sowie die Bibliothek
Archintos, die Winckelmann 1758 katalogisiert hatte. Sie enthielt neben theologischen Schriften
auch Werke klassischer Autoren und der Antiquare Caylus, Ficoroni, Gori, Mazzocchi, Piranesi
u. a. 2000 Bücher von insgesamt über 7000 wurden von der Inquisition auf die Liste der verbotenen Bücher gesetzt. Agent für die römischen Antikenankäufe war Camillo Paderni, Direktor des
Museums in Portici. 1765 wurden 16 Kisten mit antiken Werken und 12 Kisten mit Gipsabgüssen nach Spanien gebracht, die heute in der Akademie der Schönen Künste ausgestellt sind. Carlos III. war auch als spanischer König an den von ihm initiierten Ausgrabungen in den Vesuvstädten interessiert, er kaufte Gipse dort gefundener Werk und ließ sich Zeichnungen vom Fortgang
der Grabungen schicken.
Ralf-Thorsten Speler veranschaulichte die künstlerischen Beziehungen zwischen dem bourbonischen Königreich Neapel und dem aufgeklärten Fürstentum Anhalt-Dessau im 18. Jahrhundert.
Franz von Anhalt-Dessau besuchte Neapel 1766 zusammen mit seinem Bruder Jorge, dem Archi-
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tekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, dem Militärschriftsteller Georg Heinrich von Berenhorst und dem Wissenschaftler Johann Friedrich Reifenstein [s. Rezension der Textausgabe in
diesem Heft]. Der ‚Stein‘ in Wörlitz (= nachgebildeter Vulkan) gilt als Hommage an die Ausgrabungen in den Vesuvstädten.
Jorge García Sánchez berichtete über die Die Spanier und die Antike im Rom Winckelmanns.
Grund zu Romreisen von Spaniern waren u. a. sprachliche und antiquarische Interessen, der Ankauf von antiken Münzen für das Kabinett des Königs. Der Altertumsforscher Don Juan Andrés,
der Italien bereiste und Winckelmann kannte, veröffentlichte Briefe an seinen Bruder Don Carlos Andrés (1791). Der Komödiendichter Leandro Fernández de Moratín äußerte sich zu antiker
Kunst und vertrat dabei eine konträre Position zu Winckelmann. Kunststipendiaten und Architekten nahmen Vermessungen an antiken Bauwerken vor, fertigten Zeichnungen und Berichte ihrer Reisen an. Der Jesuit Pedro José Márquez schrieb über antike Architektur. José Francisco Ortiz de Sanz übersetzte Vitruvs Bücher über Architektur ins Spanische. Esteban de Arteaga verfasste
„Investigaciones sobre la belleza ideal“ (1789). Resumee: Spanier betrieben Altertumsforschung,
wenn auch nicht so zahlreich wie Nordeuropäer.
Miguel Ángel Elvira Barba stellte die Beziehungen von Winckelmann und Mengs zu Azara dar.
Der Diplomat und Jurist José Nicolás de Azara (1730–1804), von 1765 bis 1798 in Rom, verfügte über eine Sammlung von 70 Skulpturen (angebl. Porträts von griechischen Dichtern und
Philosophen), die er dem spanischen König Carlos IV. schenkte. Er war Namensgeber der Alexander-Herme Typus Azara, die er bei Tivoli in der Pisonenvilla ausgegraben hatte und Napoleon schenkte. Bei seiner Ausgrabung der Villa Negroni bat er Mengs um Hilfe, dessen Biografie er
nach dessen Tod veröffentlichte. Eine Begegnung mit Winckelmann ist nicht auszuschließen.
Die Verf. (Die beiden „Raphaele“ –Raphael Sanzio, Raphael Mengs und andere Künstler für Kinder in der Jugendliteratur vom 19. bis ins 21. Jh.) stellte zwei Abhandlungen für Jugendliche aus
dem Band „Das Buch merkwürdiger Kinder“ (1862) von Otto Spamer vor. Im Gegensatz zu
Kunstbüchern für Kinder und Jugendliche im 20. und 21. Jh. stellt der Autor in pädagogischer
Absicht Charakter und den bisweilen harten Lebensweg der Künstler als beispielhaft hin, ohne
auf das Kunstschaffen und die künstlerische Leistung genauer einzugehen, geschweige denn, die
Leser zu eigenem künstlerischen Gestalten anzuregen.
Almudena Negrete Plano berichtete über Die Gipssammlung des Anton Raphael Mengs in der
Real Accademia de Bellas Artes de San Fernando, die dieser, unterstützt u. a. von Thomas Jenkins
und Bartolomeo Cavaceppi, nach Originalen in zahlreichen Museen und Sammlungen in ganz
Europa zusammengetragen hatte. Die ‚Apostel des guten Geschmacks‘ dienten den Akademieschülern als Studienobjekte und sollten ihnen die Ideale des Klassizismus, die Essenz von Schönheit vermitteln.
Anders als in der „Geschichte der Kunst des Alterthums“, in der Winckelmann die gesamte antike Kunst systematisch nach Kunstlandschaften und Stilperioden ordnete, ging es ihm in den
„Monumenti antichi inediti“ um Deutung und Benennung der Kunstwerke. Axel Rügler beschäftigte sich mit der Benennung der Gruppe von San Ildefonso in der antiquarischen Literatur
vor Winckelmann und referierte die Vorgehensweise Winckelmanns in den „Monumenti antiqui inediti“. 1623 in Rom im Gebiet der Villa Ludovisi ausgegraben (seit 1839 im Prado), veranlasste das Jünglingspaar die Antiquare zu Deutungen, die Winckelmann als willkürlich kritisierte. In seinem methodischen Neuansatz, Idealplastik mit den homerischen Mythen in Verbindung
zu bringen, die jedem antiken Bildhauer und Auftraggeber geläufig waren, schuf er eine bis heute wegweisende Grundlage. Seine Deutung der Gruppe als Orest und Pylades beim Totenopfer
am Grab Agamemnons ist bis heute akzeptiert. Voraussetzung seiner Deutungsmethode, bei der
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es auf jedes Detail ankommt, sind genaue Abbildungen,
weswegen Winckelmann stolz auf die Qualität der Stiche
in den „Monumenti antichi inediti“ war.
Brigitte Schmitz vermittelte einen Eindruck der großen Beliebtheit der Ildefonso-Gruppe in der europäischen
Kunst: Nicolas Poussin, der 1628 in Rom war, zeichnete sie, Ludwig XIV. und Katharina die Große bestellten
Marmorkopien. Eine weitere Marmorkopie, angefertigt
von Joseph Nollekens, befindet sich im Victoria and Albert-Museum. Häufig standen Kopien in den Gärten. Es
wurden zahlreiche Gipsabgüsse angefertigt, u. a. für die
Königliche Akademie der Künste in Berlin und die Zeichenakademie in Mannheim, die Goethe
und Schiller besuchten. Die Gruppe wurde zur beliebtesten Antike in Deutschland, zum Symbol
für Schönheit, Freundschaft und Geschwisterliebe: In Meißen wurde sie in Biskuitporzellan hergestellt, in Lauchhammer in Eisenguss, sie steht in Klein Glienicke als Brunnenfigur, diente Schadow als Inspiration für seine Prinzessinnengruppe, Rauch für das Modell eines Goethe-SchillerDenkmals.
Sebastian Neumeister beschäftigte sich in seinem Vortrag Mit den Augen Winckelmanns im Palacio Real mit dem Brief Raphael Mengs’ an Antonio Pons, abgedruckt in „Antonio Pons’ Reisebeschreibung in 6 Bänden“ (Viaxe de Espanna, 1776). Mengs, gefragt nach seinem Urteil über den
Wert der besten Malereien im Königlichen Palast, teilt die Maler und ihre Werke Stilkategorien
(„erhaben, schön, anmuthig, bedeutend, natürlich“) zu: Werke der höchsten Kategorien seien keine mehr vorhanden, da dies die Werke der antiken griechischen Maler und Bildhauer sind. Die
zweithöchste Stufe, den bedeutenden ausdrucksvollen Stil, erreiche allein Raffael Sanzio, in dessen
Werken das Prinzip „edle Einfalt, stille Größe“ verwirklicht sei. Dem natürlichen Stil ordnet er
niederländische Maler wie Rembrandt zu, aber auch Tizian und Velazquez, den er für überlegen
in der Darstellung von Licht und Schatten ansieht. Der Stil lasse sich in der Qualität der Zeichnung, der Verteilung von Licht und Schatten, der Farbgebung, der Erfindung und der Komposition festmachen. Wenn alle berühmten Bilder, die in ganz Europa verstreut sind, im Madrider Palast versammelt wären, wäre es einfacher, dem Leser und Besucher die Entwicklung der Kunst zu
erklären. Die Spinnerinnen und das Porträt Philipps IV. zu Pferde von Velazquez erregen höchstes
Lob, Werke von Tizian, Ribera, Rubens, Leonardo werden nur kurz erwähnt.
Jorge Maier Allende verfolgte die Spuren Winckelmanns in Spanien, wobei er zu konträren Ergebnissen zu Salvador Mas kam. Grundlegend für Winckelmanns systematische Ordnung der antiken Kunstwerke nach Ort und Zeit war die visuelle Beurteilung durch das geschulte Auge, geleitet vom ‚guten Geschmack‘. Die Methode, anhand des guten Geschmacks das Mittelmäßige
zu erkennen, formulierte als erster Luis Antonio Muratori. Der ‚gute Geschmack‘ spielte auch in
Spanien im 18. Jh. eine Rolle, als man, in Abkehr von den ‚dekadenten‘ Altertumsforschern des
Barock, an die Tradition der Archäologie der Renaissance anzuknüpfen suchte. Die numismatischen, epigraphischen und geographischen Werke der Altertumsforscher der Renaissance (Antonio Agustín, Juan Fernández Franco, Ambrosio de Morales und Felipe de Guevara) wurden im
18. Jh. neu aufgelegt. Die Verbreitung der Gedanken Winckelmanns in Spanien erfolgte einerseits
über Raphael Mengs, andererseits wurden die Werke Winckelmanns in Spanien gelesen, z. B. lässt
sich die französische Übersetzung der „Geschichte der Kunst des Alterthums“ (1766) in einigen
Bibliotheken nachweisen. Der Schriftsteller und Politiker Gaspar Melchor de Jovellanos (1744–
1811) zitierte die von Antonio Capmany ins Spanische übersetzte, nie veröffentlichte „Geschichte
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der Kunst des Althertums“ in seinem „Elogio de las Bellas Artes“. Ebenso macht sich die Aufnahme Winckelmann’scher Kriterien (stilistische Einordnung, Bewertung der Künstler) in seiner Geschichte der spanischen Architektur bemerkbar. Ein weiterer Leser Winckelmanns war Jovellanos
Schüler Juan Agustín Ceán Bermúdez, der Winckelmann vor allem in „Diálogo sobre el origen,
formas y progresos de la escultura en las naciones anteriores a los griegos“ zitierte. Antonio Ponz,
der einzige Spanier, der Winckelmann persönlich kennengelernt hatte, trug mit „Viage de España“ zur Verbreitung des guten Geschmacks bei. Weitere spanische Leser und Rezipienten Winckelmanns waren Francisco Milizia, Eugenio Llaguno, Felipe Guevara, Isidoro Bosarte und Diego
Antonio Rejón de Silva. Insgesamt kann man feststellen, dass das Werk Winckelmanns in Spanien
weiter verbreitet war und mehr Spuren hinterlassen hat als bisher angenommen.
Felipe Pereda y Alejandro Martínez berichtete über Das Schicksal der Werke Winckelmanns in
Spanien: die Übersetzung der „Geschichte der Kunst des Altertums“. Diego Rejon de Silva (1754–
1796), Spezialist für Militärwesen, Mitglied der königlichen Akademie, 43 Jahre in königlichen
Dienst, schrieb 1786 „La Pintura poema didactico in tres cantos“ und übersetzte Leonardo da
Vincis „Trattato della Pittura“ ins Spanische. Grundlage seiner Übersetzung der „Geschichte der
Kunst des Alterthums“ ins Spanische war die französische Ausgabe von 1784. 1797 übergab seine
Witwe das nie gedruckte Manuskript der königlichen Akademie. Erst 1955 erschien die erste spanische Übersetzung von Manuel Tamayo Benito. Der Grund, warum Rejóns Übersetzung nicht
gedruckt wurde, lag möglicherweise an dem königlichen Erlass, der „alle revolutionären Bücher
und Schriften verbot, die das Volk gegen die legitime Macht aufhetzen“. Rejón wurde verbannt.
Maria Vancelli (Wozu eigentlich eine neue [italienische] Ausgabe der Briefe Winckelmanns?) gab
Einblick in das gemeinsam mit Joselita Raspiserra in Angriff genommene Vorhaben eines Beitrags
zur Briefkultur des 18. Jhs., das sowohl philologischen Ansprüchen gerecht wird als auch die gesamte bisherige Winckelmann-Forschung berücksichtigt.
„Aber es fehlt ihnen das Natürliche und die Nachahmung der Alten ...“ Deutsche Frühklassizisten
über Literatur und Kunst in Spanien: Markus Bernauer beschäftigte sich mit der kaum vorhandenen Rezeption spanischen Kunstschaffens in Deutschland. Gemälde spanischer Künstler waren wenig verbreitet, spanische Autoren wurden nicht gelesen. Die erste deutsche Übersetzung
von Cervantes’ „Don Quijote“ in 6 Bänden stammt von dem Verleger Friedrich Justin Bertuch (6
Bände, 1775–1777). Der Dichter Christoph Martin Wieland verfasste 1764, davon angeregt, den
Feenroman „Don Silvio von Rosalva oder Der Sieg der Natur über die Schwärmerey.“
Volker Riedel (Huarte – Montiano – Coello. Spanische Einflüsse auf das Werk Gotthold Ephraim
Lessings) erörterte Lessings Affinität zur spanischen Literatur, die besonders in „Emilia Galotti“
spürbar wird. Lessing, der über vorzügliche Kenntnisse des Spanischen verfügte, übersetzte „Examen de ingenios para las sciencias“, 1575 verfaßt von dem Mediziner und Philosophen Juan
Huarte de San Juan (1529–1588), das dieser Philipp II. widmete. „Prüfung der Köpfe zu den
Wissenschaften“ stand auf dem Index der Inquisition und wurde nach dem Tod des Autors in ‚gereinigter‘ Version erneut veröffentlicht. Agustín de Montiano y Luyando (1697–1764), Verfasser
von „Discurso sobre las tragedias españolas“ (1750), schrieb auch, angeregt von antiken Themen,
Trauerspiele, u. a. „Virginia“, die Lessing zu „Emilia Galotti“ anregte. Dem Dramatiker Antonio
Coello y Ochoa (1611–1652) wird „El Conde de Essex“ zugeschrieben, ein Sujet, das ebenso von
Thomas Corneille („Le conte d’Essex“, 1678) und John Banks („The unhappy Favorite“, 1682)
bearbeitet wurde.
Max Kunze stellte zum Abschluss die neuen Forschungsprojekte der Winckelmann-Gesellschaft
vor, u. a. die internationale Winckelmann-Bibliographie, die Winckelmann-Bilddatenbank, die
Gemmen-Datenbank, der die Gemmenslg. Stosch zugrunde liegt (alle im Internet zugänglich).
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Gerahmt wurde das Kolloquium von Besichtigungen (Palacio Real, Prado, Real Academia de
la Historia) und Exkursionen nach San Ildefonso (Sommerresidenz der spanischen Könige, Gobelinmuseum, Statuengalerie), Segovia (Alcázar, jüdisches Viertel mit Synagoge, Aquaedukt) und
Aranjuez (Casa del Labrador), Toledo (Dom, Klosterviertel, jüdisches Viertel).
Doris Oberleiter: Treffen der Winckelmann Gesellschaft mit dem Freundeskreis des Deutschen
Archäologischen Institutes Madrid
Der prachtvolle Skulpturenhof der „Real Academia de Bellas Artes de San Fernando“ bot am 21.
Oktober den außergewöhnlichen Rahmen für ein außergewöhnliches Treffen: In dem Salon, in
dem sich Gipsabdrücke der berühmtesten Skulpturen der Antike, so zum Beispiel Apollo von Belvedere, befinden, fand die erste Begegnung von Mitgliedern der Winckelmann Gesellschaft aus
Stendal mit dem Freundeskreis des Deutschen Archäologischen Instituts Madrid statt. Rund 85
Gäste folgten der Einladung und genossen die schöne Atmosphäre, anregende Gespräche und das
tolle Büffet, das von Frank Abegg, Mitglied und ehemaligem Präsidenten des Freundeskreises und
der Firma Rehau gesponsert wurde.
Das Treffen war die Abschlussveranstaltung des zweitägigen Kongresses „Das Vermächtnis von
Johann Joachim Winckelmann in Spanien“, eine Veranstaltung die von der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando gemeinsam mit der Real Academia de la Historia, der Winckelmanngesellschaft und dem Deutschen archäologischen Institut organisiert wurde. Finanziell unterstützt
wurde die Tagung vom spanischen Bildungsministerium. Unter der Koordination von Professor Dr. Max Kunze, seines Zeichens Präsident der Winckelmanngesellschaft und Dr. Jorge Maier, Präsident des Freundeskreises und Wissenschaftler im Antiquitäten-Kabinett der Real Academia de la Historia, haben die Mitglieder der Winckelmanngesellschaft bei ihrem Besuch in Madrid
historisch bedeutende Stätten besichtigt. So stand
zum Beispiel ein Besuch der antiken Skulpturensammlung des Prado, des königlichen Palast, der
Real Academia de la Historia oder des Palacio de la
Granja de San Ildefonso auf dem Programm. Der
Kongress selbst, an dem deutsche, spanische, italienische und holländische Experten teilnahmen,
fand im Guitarte-Saal der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando statt und zeichnete sich
durch viele interessante und spannende Vorträge
aus, die in gesammelter Form auch veröffentlicht
werden sollen.
Über Johann Joachim Winckelmann
Johann Joachim Winckelmann gilt als der Begründer der wissenschaftlichen Archäologie und
der Kunstgeschichte. Er wurde in 1717 Stendal
als Sohn eines Schusters in ärmlichen Verhältnissen geboren, hatte aber als Assistent des erblindeten Rektors der dortigen Lateinschule die Chance
Vor der Real Academia de la Historia
Theologie, Medizin, Latein und Griechisch zu stu-
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dieren. Bei seinen ersten Tätigkeiten als Bibliothekar lernte er den päpstlichen Nuntius von Sachsen, Alberico Archinto, kennen. Der war von Winckelmann so beeindruckt war, dass er ihm die
Stelle des Bibliothekars in Rom anbot. Winckelmann nahm an und hatte so die Gelegenheit sich
in der bildenden Kunst auszubilden. 1763 wurde Winckelmann zum Oberaufseher für die Altertümer in Rom sowie zum Scrittore an der Vaticana ernannt und hatte somit den höchsten wissenschaftlichen Posten in Rom inne. Nur fünf Jahre später wurde Winckelmann in der Nähe von
Triest bei einem Raubüberfall ermordet.
Jahreshauptversammlung der Winckelmann-Gesellschaft in Stendal vom 3. bis 5. Dezember
2011
Max Kunze: Bericht des Kuratoriums
Als Band 6 der historisch-kritischen Ausgabe Johann Joachim Winckelmann: Schriften und Nachlass
erschienen in diesem Jahr die Monumenti antichi inediti, das zweite Hauptwerk Winckelmanns.
„Als vermeintlich bloß antiquarisch und gelehrt, standen sie lange Zeit im Schatten der berühmteren Geschichte der Kunst des Alterthums. Ihre Publikation und Kommentierung im Rahmen unserer Edition kann dazu beitragen, dieses für die Entwicklung der Hermeneutik von Bildern und
auch für die Begründung der Archäologie als wissenschaftliche Disziplin zentrale Werk neu zu
entdecken.“ (so im Vorwort unserer Ausgabe).
Der vorliegende Textband, der zu den Winckelmann‘schen Stichen heutige Fotos der Denkmäler stellt, wird im nächsten Jahr ergänzt werden durch einen ausführlichen Sachkommentar incl.
einer deutschen Übersetzung des Werkes und durch einen dritten Band, der verschiedene handschriftliche Entwürfe – auch zu einem dritten von Winckelmann geplanten Band der Monumenti inediti – aus dem Nachlass enthalten wird sowie weitere Materialien und die Rezensionen. Als
Band 6 wird bis zum Frühjahr der Textband zur Description des Pierres gravées du feu Baron de
Stosch erscheinen können ebenso wie der 5. Teilband zur Geschichte der Kunst des Alterthums, der
die verschiedenen Fassungen der Beschreibungen der Statuen im Belvederehof in Rom, Entwürfe zur Kunstgeschichte, lateinische Abhandlungen und Rezensionen enthalten wird; auch dieser
Band wird Anfang nächsten Jahres in Druck gehen können. Wir erwarten also für das nächste Jahr
drei Bände der Winckelmann-Ausgabe, ein wissenschaftliches Langzeitunternehmen der Mainzer Akademie, das auch für uns im Focus unserer wissenschaftlichen Bemühungen steht. Drei unserer Kuratoriumsmitglieder, Adolf Borbein, Axel Rügler und der Berichterstatter sind als Herausgeber und
Bearbeiter verantwortlich.
Seit der Gründung hatte sich die Winckelmann-Gesellschaft um eine wissenschaftliche Ausrichtung bemüht, die zu ihrem satzungsgemäßen Auftrag gehört, wenngleich diese zunächst in
den Kriegsjahren nur im beschränkten Maße möglich war. Erinnert sei an die schon zwei Jahre
nach unserer Gründung 1942 erschienene internationale Winckelmann-Bibliographie.
Heute – im digitalen Zeitalter – sind wir in der Wissenschaftswelt gut vernetzt. Unser 1995 begonnenes Datenbank-Projekt Antiken, die Winckelmann kannte, das die Winckelmann bekannten
Denkmäler beschreibt und abbildet, sie mit entsprechenden Textzitaten aus Winckelmanns Werken und weiteren Bild- und Textquellen aus der antiquarischen Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts verbindet – immerhin 9.000 Datensätze mit Winckelmann-Zitaten, 5.000 Einträge von
Dokumenten des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich auf insgesamt 2.700 Monumente beziehen,
die mit 4.500 Bildern dokumentiert sind – diese Datenbank wird zur Zeit in das uns nahestehende digitale Forschungsprojekt integriert, Census of Antique Works of Art and Architecture Known in
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the Renaissance, das heute vom Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität
zu Berlin und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften betrieben wird. Es ist
nun eine Open Access-Lösung, was heißt, dass alle Daten den Nutzern ohne Zugangsbeschränkung im Internet zur Verfügung stehen. Die Census-Datenbank beinhaltet derzeit ca. 14.000 Monumenteinträge und 37.500 Dokumenteinträge sowie 27.000 Bilder.
Ein weiteres gerade abgeschlossenes, von der DFG gefördertes digitales Forschungsprojekt konzentrierte sich auf die Gemmensammlung Stosch. Winckelmann veröffentlichte diese Sammlung
geschnittener Steine 1760 (Description des Pierres gravée du feu Baron de Stosch). Im Rahmen eines
größeren Digitalisierungsprojekts älterer archäologischer Literatur, an dem sich das Deutsche Archäologische Institut Rom, die Universitätsbibliothek Heidelberg und das Archäologische Institut
der Universität Köln (Arachne-Projekt) beteiligen, haben wir versucht, diese großen Mengen digitalisierter Literatur modellhaft mit Inhalten, oder konkret gesprochen, mit archäologischen Objekten zu verbinden: Wir haben einen digitalen Katalog der Stosch‘schen Gemmen mit ihren 3444
geschnittenen Steinen erstellt, der alle wesentlichen Angaben zu den Steinen enthält und sie in der
Datenbank abbildet. Zudem ist eine direkte Objektkontextualisierung vorgenommen: Der Text
Winckelmanns wurde als Foto und Volltext mit den 3444 Gemmen verbunden. Beides, d. h. sowohl die Winckelmanntexte als auch die datenbankmäßig thesaurierten Gemmen, wurden bereits teilweise mit Stichen aus älteren Stichwerken des 17. und frühen 18. Jhs. verknüpft. Das gemeinsame Projekt der genannten Partner schuf dafür die Voraussetzung. Ca. 70 z. T. umfangreiche
Stichwerke zu antiken Gemmen sind inzwischen digital aufbereitet und im Internet unter Arachne
oder der Universitätsbibliothek Heidelberg abrufbar. Ein Teil der darin enthaltenen 6.000 Stichtafeln
mit insgesamt etwa 24.000 abgebildeten Objekten ist bereits durchgearbeitet und da, wo Gemmen
der Sammlung Stosch auftauchen, mit den Stosch‘schen Gemmen und Abbildungen verknüpft.
Im nächsten Jahr hoffen wir unsere 1942, also vor 70 Jahren, begonnene und kontinuierlich
fortgeführte Winckelmann-Bibliographie in das von der Altertumswissenschaft genutzte und bewährte Themenportal Propyläen einzustellen und damit auch für Sie im Internet frei zugänglich
zu machen.
Unsere wissenschaftliche Arbeit ist eng mit der ehrenamtlichen Tätigkeit unserer Kuratoriumsmitglieder verbunden, über die ich hier sicherlich nur unzureichend Rechenschaft ablege: In die
erwähnten Projekte sind besonders Prof. Borbein, Dr. Bruer, Prof. Helm, Prof. Rössler, Dr. Rügler und der Berichterstatter involviert . Viele unserer Kuratoriumsmitglieder haben unsere Gesellschaft zudem in Vorträgen im In- und Ausland repräsentiert.
Ein besonderer wissenschaftlicher Höhepunkt in diesem Jahr wurde das vom 17. bis 23. Oktober 2011 veranstaltete internationale wissenschaftliche Kolloquium in Madrid in Zusammenarbeit mit der Real Academia de la Historia und dem Deutschen Archäologischen Institut, Abteilung Madrid, zum Thema Das Vermächtnis Johann Joachim Winckelmanns in Spanien. An der Tagung beteiligten sich 20 Referenten aus Spanien, Deutschland, Italien und den Niederlanden, darunter fünf unserer Kuratoriumsmitglieder. Angeregt wurde sie durch die von Stendal betriebenen
internationalen Forschungen zur Wirkung Winckelmanns. Gern sind wir daher der Einladung
von Herrn Dr. Jorge Maier Allende von der Königlichen Akademie für Geschichte zu einem gemeinsamen Kolloquium gefolgt. Die hochinteressante Tagung brachte auch überraschende Ergebnisse, so z. B. dass die starke Wirkung Winckelmanns über Anton Raphael Mengs auf die Entwicklung des Klassizismus über Spanien hinaus bis nach Südamerika reichte. Die Tagung gab aber
auch Anstöße zu einer langfristigen Zusammenarbeit. So planen wir u. a. zusammen mit der Madrider Akademie für Geschichte die gemeinsame Edition einer Übersetzung von Winckelmanns
Geschichte der Kunst des Alterthums ins Spanische. Die spanische Übersetzung von 1784, verbun-
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den mit einer Biographie Winckelmanns, blieb bisher ungedruckt. Desweiteren ist eine Ausstellung zum Thema Klassizismus in Spanien ins Auge gefasst (Auf den Spuren von Winckelmann und
Anton Raphael Mengs), die die wissenschaftlichen Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit veranschaulichen soll.
Aus unserem kleinen Kopenhagener Kolloquium im Frühjahr 2010 zu Antike und Klassizismus in Dänemark ist eine fruchtbare Kooperation erwachsen, die das Programm der diesjährigen
Hauptversammlung bestimmt, die den Bildhauer Bertel Thorvaldsen in den Mittelpunkt stellt.
Die freundschaftlichen Beziehungen zu unseren dänischen Kollegen werden wir weiter ausbauen:
2013 wollen wir zusammen mit der Kunstbibliothek der Akademie Kopenhagen mit einem Projekt zu Johannes Wiedewelt und Winckelmann an die Öffentlichkeit treten.
Wie immer erschienen auch im Berichtszeitraum umfängliche wissenschaftliche Kataloge, die
inzwischen so etwas wie unsere wissenschaftlichen Markenzeichen geworden sind. Gleich zwei
neue Kataloge, zu den Zeichnungen Thorvaldsens aus Kopenhagen und zur Polychromie der Artemis
aus Pompeij, liegen pünktlich zu unserer diesjährigen Hauptversammlung vor. Zwei weitere Kataloge, die Ausstellungen des Museums begleiteten, sind im Laufe des Jahres erschienen, Bilder aus
der Wüste und Klassizismus in Deutschland und Italien. Die Sammlung Wolfgang von Wangenheim.
Unter den Publikationen 2011 sei noch auf den 9. Band der Stendaler Winckelmann-Forschungen verwiesen: Die Laokoon-Gruppe. Archäologische Rekonstruktionen und künstlerische Ergänzungen von Maria Wiggen und zwei neue Hefte der Akzidenzen – Flugblätter der Winckelmann-Gesellschaft: Goethes Blick auf die Jahrhundert-Gestalt Winckelmann von Volker Riedel (18.
Heft), Die Affäre Winckelmann, Hörspiel von Rolf Schneider, Text und Audio-CD, mit einer ausführlichen Einleitung versehen und zum Druck gebracht von Markus Käfer. Dem Verleger Franz
Philipp Rutzen und der Franz und Eva Rutzen-Stiftung sei an dieser Stelle herzlich für stetige Unterstützung gedankt. Zur unserem jährlichen Treffen erscheinen wie immer die Mitteilungen der
Winckelmann-Gesellschaft; dafür danken wir Markus Käfer und Eva Hofstetter, auch dafür, dass
sie uns wie immer einen interessanten Querschnitt zu den Forschungen zu Winckelmann geben
und über das Leben unserer Gesellschaft ausführlich berichten. Besonders zu danken ist an dieser
Stelle unserem Kuratoriumsmitglied Volker Riedel, der sich des längst überfälligen Homerbandes
nach der schweren Erkrankung Jürgen Dummers angenommen und zum Druck vorbereitet hat.
Er wird im Gedenken an den Verstorbenen erscheinen.
Eine Exkursion führte uns vom 14. bis 18. April 2011 zu den neuen Ausgrabungen in die
Türkei. Besucht wurden Rhodiapolis, wo wir als Vertreter der Winckelmann-Gesellschaft archäologisch tätig sind, und weitere bekannte und unbekannte Orte des antiken Lykiens; unser Kuratoriumsmitglied Stephanie Bruer hatte diese Reise vorbereitet. Eine weitere archäologische Exkursion organisierten wir vom 1. bis 7. Juni 2011 nach Bulgarien. Auf der einwöchigen Reise sah
eine größere Gruppe unserer Gesellschaft bedeutende archäologische Stätten des antiken Thrakiens und die reichen Museen des Landes. Neben Frau Bruer ist Detlev Rössler für die Vorbereitung und Durchführung zu danken, nicht zuletzt auch unserem Mitglied Dr. Gerda von Bülow
als ausgewiesener Kennerin Bulgariens. Sind es doch diese Reisen und Kolloquien, die uns immer wieder zusammenführen und für ein harmonisches Miteinander in einer lebendigen Gemeinschaft sorgen.
Nach Rom und Pompeji haben wir auch in diesem Jahr eine Stendaler Abiturientin schicken
können: Der jährliche Rompreis der Winckelmann-Gesellschaft ging an Anna Exner, Privatgymnasium Stendal.
Der Sommer 2011 stand im Zeichen der herausragenden Ausstellung Klassizismus in Deutschland und Italien. Die Sammlung Wolfgang von Wangenheim. Wir konnten nicht nur eine herausra-
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gende Sammlung zum Klassizismus zeigen, die unser Kuratoriumsmitglied Wolfgang von Wangenheim in knapp zwei Jahrzehnten zusammengetragen hat, sondern mit dem Katalog auch an
die Geschichte der Studienstätte von Winckelmann und Bünau im Schloss Nöthnitz erinnern,
die ein jähes Ende gefunden hat. Das Erblühen der sächsischen Gedenkstätte im Geiste Winckelmanns in einer Publikation für die Nachwelt festzuhalten, war unsere Absicht. Dank der Generosität Wolfgang von Wangenheims haben wir Teile seiner Sammlung als Schenkung erhalten.
Zudem sind wir dabei, den künstlerischen Nachlass der Berliner Bildhauerin Christa Sammler nach Stendal zu überführen. Wir sind der Künstlerin, langjähriges Mitglied der Gesellschaft,
seit Jahrzehnten verbunden: Ihr Einbeziehen der Antike in ihr plastisches Werk haben wir in Ausstellungen versucht darzustellen, Platten aus dem Trojazyklus schmücken seit Jahren unseren Hof.
Aus ihrem Nachlass wird sich – so bin ich sicher – das eine oder andere Ausstellungsprojekt entwickeln lassen.
Wir danken den zahlreichen Mitgliedern, die uns bei unserer Arbeit geholfen haben, und wir
brauchen auch im nächsten Jahr Ihr Engagement. Wir werden im Sommer ein Ausstellungs-, Begegnungs- und Bildungszentrum für die Generation 60+ auf unserem Gelände eröffnen, für das
wir dringend ihre aktive Mitwirkung oder ihren Rat brauchen.
Intensive Gespräche über den Finanzierungsanteil des Museums des Landes Sachsen-Anhalt
mit Landtagsabgeordneten und der Landesregierung liegen wieder einmal hinter uns; noch haben
wir keinen gesicherten Haushalt für 2012. Unsere Gespräche mit politischen Ausschüssen und
Gremien müssen weitergehen.
Ich habe einen besonderen Akzent auf unsere wissenschaftlichen Forschungen gelegt, nicht
ohne Grund: Forschungen zu Winckelmann und die wissenschaftliche Aufarbeitung des Winckelmannschen Erbes sind Teil der Geschichte unserer Gesellschaft: Diese Ausrichtung ermöglichte
es, 1940 nicht von den nationalsozialistischen Kultur- oder Politverbänden zwangsvereinnahmt zu
werden und sie half uns auch in der DDR-Zeit eine Eigenständigkeit als private Gesellschaft mit
eigenem Profil zu bewahren. Kontinuierlich den Weg solider wissenschaftlicher Arbeit als Partner
internationaler Forschungen zu Winckelmann, zu seiner Zeit und der Rezeption der Antike, weiterzugehen, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, als Institution Achtung und Anerkennung –
und schließlich Förderung – zu erreichen.
Stephanie-Gerrit Bruer: Bericht der Geschäftsführung für das Jahr 2011
Bei der organisatorischen Vorbereitung und Abrechnung der Veranstaltungen konnte ich wie in
den letzten Jahren auf die bewährte Unterstützung von Frau Kokot, die die Rechnungslegung unserer Tagungen und Exkursionen betreut, und von Frau Köpke zählen, die die Anmeldungen koordiniert und die Hotelbuchungen überwacht und aktualisiert. Auch die zahlreichen kleineren
Veranstaltungen in Stendal rund um das Museum forderten ihre Einsatzbereitschaft. Ihnen sei an
dieser Stelle für ihr freiwilliges Engagement herzlich gedankt. Über die Ausstellungen und Veranstaltungen wird Manfred Urban als Vorsitzender des Museumsvorstandes berichten. Trotz des reichen Ausstellungsprogramms und einer insgesamt sehr positiven Resonanz hat das Museum mit
Finanzierungsproblemen zu kämpfen.
Wie bereits 2010 konnten auch 2011 Ausstellungstätigkeit und Teile der Museumsarbeit nur
durch die Finanzierung mit Projektmitteln abgesichert werden, da der Anteil des Landes in Höhe
von 60.000 €, den wir in den vergangenen Jahren für Modellprojekte erhalten hatten, seit 2010
nun endgültig wegfiel. Über eine dauerhafte feste Finanzierung (d. h. die sog. institutionelle För-
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derung) kann nur der Landtag Sachsen-Anhalt entscheiden. Um den Fortbestand des
Museums zu sichern, wurden damals intensive Gespräche mit den wichtigsten Fraktionen geführt. Durch die Wahlen im Frühjahr 2011 ergab sich nun aber wieder eine
neue Situation – geblieben waren nur die
Absichtserklärungen, aber keine konkreten
Beschlüsse. Die neue Landesregierung hat
einen Kulturkonvent gebildet, dessen Aufgabe es ist, bis 2013 bestehende institutionelle Förderungen zu evaluieren. Bis dahin
werden keine neuen institutionellen Förderungen bewilligt. Die dringend nötige Interimslösung erforderte eine Wiederholung und Vertiefung der Gespräche mit den
Fraktionen. Ganz besonderer Dank gilt hier
unserem Präsidenten, der diese Aufgabe
wie bereits im vergangenen Jahr übernahm.
Dank seines unermüdlichen Einsatzes und
seines Ideenreichtums wird es gelingen –
davon bin ich überzeugt –, das Museum in
eine sichere Zukunft zu führen. Dank gilt
auch Ralph-Thorsten Speler, der in Vertretung von Prof. Kunze einen Termin bei
den Grünen wahrnahm. Wir sind optimistisch, dass es noch bis zum Jahresende eine
Lösung geben wird, da sich der Kulturausschuss des Landtages einhellig für eine Förderung des Winckelmann-Museums aussprach.
Aufgrund der knappen Mittel fiel der Bericht über die Erweiterung der Kunstsammlungen unserer Gesellschaft in den letzten Jahren immer recht kurz aus. Umso erfreulicher ist es, dass es in
diesem Jahr großen Zuwachs gibt: An erster Stelle sei die Schenkung von Wolfgang von Wangenheim
genannt, die die Skulpturen und die Bücher der Nöthnitzer Sammlung umfasst. Zu seiner Schenkung gehören u. a. der Gipsabguss des ausruhenden Satyrs, eine Bronzenachbildung des Idolino, eine Wasserschöpfende Nymphe, sowie verkleinerte Bronzenachbildungen des Dornausziehers und des Apoll von Belvedere aus dem 18. Jahrhundert, um nur die wichtigsten zu nennen.
Den Abguss des Reliefs Amor und Anakreon von Bertel Thorvaldsen haben wir gleich in die Thorvaldsen-Ausstellung einbezogen.
Zur Schenkung von Dr. von Wangenheim gehören auch ca. 40 überwiegend mehrbändige Publikationen vor allem des 18. Jahrhunderts: zwei mit Kupferstichen ausgestattete Prachtausgaben
der Metamorphosen Ovids, 1619 und 1749; Franciscus Junius, De pictura veterum libri tres [Drei
Bücher über die Malerei der Alten],1694; John Potter, Archaeologia Graeca, 1702, u. a. Eine schöne Bereicherung stellen auch die Kataloge der Bibliothek des Reichsgrafen Heinrich von Bünau dar, die den reichen Bestand der Bünauschen Bibliothek, einer der bedeutendsten Privatbibliotheken des 18. Jahrhunderts, dokumentieren. Winckelmann nutzte diese Bibliothek in seiner
Nöthnitzer Zeit sehr intensiv.
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Herrn von Wangenheim verdanken
wir auch das Porträt des WinckelmannFreundes Johannes Wiedewelt aus der
Werkstatt von Peder Als, das restauriert und
mit einem historischen Rahmen versehen
in der ständigen Ausstellung einen festen
Platz gefunden hat.
Danken möchte ich an dieser Stelle Familie Dr. Urban, die sich der Restaurierung zweier Radierungen von Giambattista Piranesi annahm. Sie organisierten am
18. März ein Benefizkonzert mit dem Telemann Consort Magdeburg in der Katharinenkirche, dessen Erlös für die Restaurierung der Graphiken bestimmt war.
Angeregt durch das Projekt der
Stosch‘schen Gemmen (s. o. S. 10) haben
wir eine Serie aus der Daktyliothek von
Christian Dehn erworben. Dehn hatte zunächst als Gehilfe von Baron Philipp von
Porträt des Johannes Wiedewelt
Stosch gearbeitet und ab 1738 in seiner eigenen Werkstatt am Corso in Rom Abdrücke vor allem an Romreisende verkauft. Diese Abdrücke
zeichneten sich durch eine besondere Schärfe aus.
Kurz sei hier die Geschichte über die Wiedergewinnung bzw. den Rückerwerb einer WinckelmannBüste für Stendal skizziert, die dank des Oberbürgermeisters möglich wurde: Ein Neustrelitzer Galerist
fragte im Museum nach, ob es sich bei einer ihm angebotenen Bronzebüste um Thälmann oder Winckelmann handeln würde. Nach Zusendung eines digitalen Bildes war die Sache klar: Es war die 1988
auf dem Schulhof der Winckelmann-Schule errichtete Winckelmann-Büste des Magdeburger Bildhauers Dietrich Borchhard, die anlässlich der 650-Jahrfeier eingeweiht wurde. Der Künstler hat
sie zwischenzeitlich begutachtet und uns ein kleines Modell
geschenkt. Das Bronzebildnis war über mysteriöse Wege ursprünglich über den Schrotthandel (zum Materialwert von ca.
900 €) und eine weitere Zwischenstation an den Sammler bei
Heiligengrabe (Mecklenburg) gelangt, der sie als ein Bildnis
von Opel erworben hatte und nun schnellst möglich verkaufen
wollte. Das Winckelmann-Porträt können Sie heute Abend im
Museum sehen.
Unsere Bibliothek erhielt wieder durch für die Winckelmann-Forschung relevanten Artikel Zuwachs. Nähere Informationen dazu finden sie in der Bibliographie und den Literaturberichten in unseren Mitteilungen. Bereicherung erfuhr die Bibliothek zudem wieder durch Tausch und Schenkungen. Dank
gilt Herrn Dr. Rügler und Frau Walinda für ihre Arbeit in der
Bibliothek.
Herzlicher Dank gilt an dieser Stelle besonders Herrn RutWinckelmann-Büste
zen,
der auch in diesem Jahr unsere Bibliothek mit großzüvon Diettrich Borchhardt
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gigen Schenkungen unterstützte. Philologische Literatur, vor allem Übersetzungen und Ausgaben
antiker Autoren erhielten wir aus dem Nachlass eines kleinen Antiquariats. Insgesamt wurden 693
Zugänge (außer Periodika) verzeichnet. Hervorzuheben ist der Erwerb der dreibändigen französischen Ausgabe der Winckelmannschen Geschichte der Kunst des Alterthums, 1802–1803, die äußerst selten ist und in den einschlägigen Bibliographien kaum erwähnt wird.
Zur Mitgliederstatistik: Unsere Gesellschaft hat derzeit 580 Mitglieder, davon 55 Korporativmitglieder. Die Mitgliederzahl ist im vergangenen Geschäftsjahr nahezu konstant geblieben. Eingetreten sind 18 Mitglieder, 14 Mitglieder sind ausgetreten, 6 Mitglieder verstorben, 5 Mitglieder
wurden aufgrund ihrer Beitragssäumigkeit gestrichen. Gedankt sei Frau Wübbenhorst, die seit
Jahren die Einzahlung der Mitgliedsbeiträge überwacht und die notwendigen Zahlungserinnerungen versendet, Einzugsermächtigungen für die Bank aufbereitet und schließlich die Spendenbescheinigungen ausschreibt. Ebenso danken wir Herrn Lucas, der alljährlich in Zusammenarbeit
mit unserem Sekretariat das Mitgliederverzeichnis aktualisiert. Das Mitgliederverzeichnis 2011
können Sie über unser Sekretariat ausgedruckt oder digital beziehen. Für die vorbildliche Rechnungsführung danke ich Frau Kokot.
Neue Mitglieder der Winckelmann-Gesellschaft
Herr Miguel Anabitarte, Zürich
Herr Marco D’­­Errico, Neapel
Herr Dr. Hans-Helmut Dieterich, Ellwangen
Herr Christian Doogs, Hohenberg-Krusemark
Herr Richard Anton Ecknigk, München
Herr Sascha Frenzel, Berlin
Herr Bent Jensen, Hamburg
Herr Dr. Dirk Mach, Rostoc
Herr Dr. Jorge Maier Allende, Madrid
Frau Gerda Müller, Berlin
Herr Hans Peter Potthast, Göttingen
Herr Prof. Dr. Oliver Primavesi, München
Frau Blanca Ramos, Madrid
Frau Barbara Schuboe, Wahlitz
Frau Annette Sprengel, Glindenberg
Herr Richard Anton Ecknigk, München
Frau Renate Watty-Heider, Berlin
Herr Harald Swik, Luckenwalde
Verstorbene Mitglieder
Herr Prof. Dr. Edmund Buchner, München
Herr Prof. Jürgen Dummer, Berlin
Herr Thomas Gelzer, Bern
Herr Dr. Joachim Güssefeldt, Schöneiche
Herr Jochen-Gerhard Löchel, Berlin
Frau Else Müller, Dresden, Ehrenmitglied
Austritte und Streichungen: 17
Christoph Helm: Bericht des Schatzmeisters für das Geschäftsjahr 1.12.2010–30.11.2011
Der Schatzmeister der Gesellschaft ist zufrieden, Ihnen trotz der immer noch bestehenden Auswirkungen der Finanzkrise und der damit zusammenhängenden angespannten Situation aller öffentlichen Haushalte einen insgesamt positiven Finanzbericht vorlegen zu können, der die optimistische Grundstimmung in der Winckelmann-Gesellschaft widerspiegelt.
Lassen Sie mich bitte zusammenfassend am Anfang betonen: Die Gelder der Winckelmann-Gesellschaft wurden im Haushaltsjahr 2010–2011 satzungsgemäß verwendet.
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Im Einzelnen stellt sich das Ergebnis wie folgt dar: Per Stichtag 30. 11. 2011 hatte die Winckelmann-Gesellschaft Einnahmen in Höhe von 190.207,31 € und Ausgaben in Höhe von
179.855,65 €, so dass sich rein rechnerisch ein Überschuss in Höhe von 10.351,66 € ergibt. Der
Stand aller Konten zum 30. 11. 2011 betrug 136.285,55 €. Im Vergleich zum Vorjahr ist dies ein
Zuwachs von 10.351,66 €. Dagegen steht aber der auf 15 Jahre Laufzeit befristete Kredit bei der
Kaschade-Stiftung mit einem Restwert per ultimo von 24.000 €.
Die vorliegenden Zahlen bedürfen jedoch der Interpretation: Die Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen belaufen sich auf 18.683,64 € und liegen knapp über der Summe des Vorjahres. Leider haben einige Mitglieder trotz Zahlungserinnerung noch nicht ihren Beitrag entrichtet. An dieser
Stelle bitte ich herzlich darum, der Gesellschaft eine Einzugsermächtigung zu erteilen, soweit diese noch nicht ausgestellt wurde. Die erwähnten Zahlungserinnerungen haben also auf der einen
Seite durch Nachzahlungen aus den Vorjahren, wie wir gesehen haben, die Einnahmen gesteigert.
Auf der anderen Seite haben die Mahnaktionen aber auch zu Austritten von Mitgliedern geführt,
die schon einige Jahre keinen Beitrag entrichtet und sich nun zur Aufgabe ihrer Mitgliedschaft entschieden haben. Lassen Sie mich bitte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass ich einen
der Schwerpunkte der Arbeit der Winckelmann-Gesellschaft in der weiteren Mitgliederwerbung
sehe, wofür die Jugendarbeit im Museum und die wissenschaftlichen Kontakte unserer Mitglieder
zum wissenschaftlichen Nachwuchs und den Studierenden der uns affinen Fakultäten gute Voraussetzungen bieten. Hierzu bedarf es intensiver Kontakte und Bemühungen von uns allen mit dem
Ziel, die Zukunftsfähigkeit und eine generationsübergreifende Weiterarbeit unserer Gesellschaft sicherzustellen.
Bei den Spenden ist die Einnahmeentwicklung im Jahre 2011 mit 4.708,10 € wie im Vorjahr
auf niedrigem Niveau geblieben. Das ist eine unerfreuliche Entwicklung, die aber der angespannten wirtschaftlichen Situation aller zuzuschreiben ist. Gleichwohl bleibt unsere Gesellschaft auch
in den kommenden Jahren auf Spenden angewiesen, um die großen Aufgaben, die vor uns liegen,
meistern zu können. Mein herzlicher Dank gilt an dieser Stelle allen, die gespendet haben, verbunden mit der Bitte an alle Mitglieder und Freunde, unsere Arbeit durch weitere Großzügigkeit
in der Zukunft zu unterstützen.
Eine weitere wichtige Einnahmequelle der Gesellschaft stellt darüber hinaus der Verkauf von Publikationen dar, der mit insgesamt 43.390,75 € im Jahr 2011 im Vergleich zu den Vorjahren gut ist.
Wie unter anderem der letzten Ausgabe des von Paul Raabe für die Bundesregierung edierten sogenannten Blaubuchs der kulturellen Leuchttürme der neuen Länder der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen ist, zeichnen sich die Ausstellungskataloge und sonstigen Publikationen der
Winckelmann-Gesellschaft durch hohe wissenschaftliche Qualität, Anschaulichkeit sowie bibliophilen Anspruch aus. Damit sind beste Voraussetzungen gegeben, die Publikationstätigkeit unserer
Gesellschaft zu einer soliden Finanzsäule weiter zu entwickeln und auszubauen. Die Publikationen,
gestatten Sie mir bitte diesen Hinweis, eignen sich auch in vorzüglicher Weise als Geschenke, beispielsweise auch für den weihnachtlichen Gabentisch, wovon reichlich Gebrauch gemacht werden
könnte.
Einen mit 3.680,21 € recht hohen Haushaltsanteil stellen wiederum die Porto- und Versandkosten dar. Eine gewisse finanzielle Entlastung könnte es bedeuten, hier jedenfalls teilweise auf e-mailVerkehr umzustellen, soweit e-mail-Adressen der Mitglieder vorliegen. Insgesamt aber, und dies
ist ein erfreulicher Erfolg der Geschäftsführung, konnten die Geschäftsführungskosten um rund
4.900 € im Vergleich zum Jahr 2004 gesenkt werden und liegen jetzt nur noch bei 12.288 €.
Durch vielfältige Bemühungen des Präsidenten und des Kuratoriums ist es gelungen, zusätzliche
Mittel Dritter zu akquirieren und für die Arbeit unserer Gesellschaft verfügbar zu machen. Die Ge-
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samtsumme der eingeworbenen Mittel beläuft sich auf über 149.000 €, ohne die die erfolgreiche
Arbeit unserer Gesellschaft und unseres Museums nicht möglich wäre. Hier ist u. a. der Deutschen
Forschungsgemeinschaft, der Rutzen-Stiftung, der Toto-Lotto-Gesellschaft und dem Land Sachsen-Anhalt herzlich zu danken.
In diesem Zusammenhang nenne ich auch den in diesem Jahr verlängerten Kooperationsvertrag
mit der Fachhochschule Magdeburg-Stendal und die damit zusammenhängenden Aktivitäten zur
Durchführung des gemeinsamen Projektes Kinderuniversität im Jahre 2011, die zur Einwerbung
von 12.000 € geführt haben.
Weitere Aktivitäten zielten in diesem Jahr auf die Einrichtung einer Seniorenuniversität, die zwischenzeitlich gemeinsam mit der Fachhochschule Magdeburg-Stendal mit Projektmitteln in Höhe
von 108.000 € über 2 Jahre vertraglich gesichert ist.
Insgesamt bleibt es die feste Absicht des Kuratoriums, die finanzielle Situation der Gesellschaft,
die durch eine gewisse Fragilität charakterisiert ist, die die Finanzausstattung im Kulturbereich generell kennzeichnet, nachhaltig zu stabilisieren und durch festere Strukturen zu sichern.
Dass wir dies gemeinsam im Kuratorium mit Optimismus vorantreiben, hängt mit dem Erfolgsund Wachstumskurs zusammen, auf den die Gesellschaft und das Museum in den letzten Jahren
zurückblicken können. Lassen Sie uns also mit Zuversicht an die kommenden Aufgaben herangehen!
Verleihung der Winckelmann-Medaille an Dr. Jorge Maier Allende
Laudatio
Mit der Winckelmann-Medaille 2011 ehrt die Stadt Stendal auf Vorschlag des Kuratoriums der
Winckelmann-Gesellschaft Herrn Dr. Jorge Maier Allende aus Madrid für seine vielfältigen wissenschaftlichen Verdienste um die Erschließung des Winckelmann-Erbes in Spanien. Dr. Jorge Maier Allende, Prähistoriker und Archäologe, ist an der Königlichen Akademie für Geschichte in Madrid tätig. Er ist Spezialist auf dem Gebiet der Prähistorie, der Geschichtsschreibung und der Geschichte der Archäologie in Spanien und Europa seit dem 18. Jahrhundert. Eine große Zahl von
Monographien und Aufsätzen, mit denen er sich einen Namen in der Wissenschaftswelt gemacht
hat, stammen aus seiner Feder. Er trat auf vielen Konferenzen auf und ist derzeit in mehreren Forschungsprojekten tätig.
Seit Jahren forscht er über die Geschichte und die vielfältigen kulturellen Verflechtungen auf
der Iberischen Halbinsel, war vor allem in Carmona (Sevilla) und Los Alcor (Sevilla) tätig, sowohl
durch die Veröffentlichung des Materials der Jorge Bonsor-Ausgrabungen des frühen 20. Jahrhunderts als auch durch eigene archäologische Forschungen, etwa zu den Nekropolen von Carmona
und Sevilla.
In der Antikenabteilung der Real Academia in Madrid, der er angehört, trat er mit wichtigen
Veröffentlichungen zur Geschichte der spanischen Archäologie hervor. In zahlreichen Aufsätzen
und Ausstellungskatalogen hat er sich um die Erforschung des historischen und künstlerischen
Erbes in Spanien verdient gemacht, das archäologische Erbe im kulturellen Gedächtnis und die
Rezeption der Antike in Spanien untersucht. Hervorzuheben ist etwa seine Mitwirkung an der bedeutenden Ausstellung Krone und Archäologie im Palacio Real in Madrid 2010.
Derzeit ist Jorge Maier Allende Sekretär der Bibliotheca Archaeologica Hispania (seit 1997)
und der Antiquaria Hispanica (seit 1999), seit diesem Jahr Präsident der Deutschen Freunde des
Archäologischen Instituts Madrid, einer Vereinigung, der er schon seit Jahren angehört. Gerade
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jetzt hat er eine umfangreiche und interessante Studie zu Vorgeschichte und Gründung des Deutschen Archäologischen Instituts in Madrid vorgelegt.
Mit besonderer Aufmerksamkeit hat er sich innerhalb seiner Forschungen zur Rezeption der
Antike mit dem spanischen Klassizismus beschäftigt, der durch Johann Joachim Winckelmann
und Anton Raffael Mengs entscheidend mitgeprägt wurde. Er knüpfte deshalb 2010 erste Kontakte zur Winckelmann-Gesellschaft, der er inzwischen als Mitglied angehört, und bereitete für
den Herbst dieses Jahres eine erste internationale Winckelmann-Konferenz in Madrid vor, an der
neben zahlreichen spanischen Kollegen mehr als 60 Mitglieder der Gesellschaft teilnehmen konnten. Diese Konferenz ist erstmals den Spuren Winckelmanns in Spanien nachgegangen und hat
versucht, die kulturelle und künstlerische Besonderheit des spanischen Klassizismus zu untersuchen. Aus diesen Kontakten erhoffen wir uns eine längerfristige Zusammenarbeit, die bereits für
einige Projekte besprochen ist und die auch unsere Arbeit bereichern wird.
Die Stadt Stendal würdigt mit der Verleihung der Winckelmann-Medaille 2010 seine vielfältigen Verdienste um die Winckelmann-Forschung, die auch auf die Winckelmann-Stadt Stendal
zurückwirken.
Feier zu Winckelmanns Geburtstag am Winckelmann-Platz, Stendal (3. 12. 2011, 10 Uhr)
Ein Gespräch im Hause Winckelmann, Lehmstraße 236, Stendal, Anno Domini 1727,
verfasst von Albrecht Franke nach Motiven des Romans „Tod in Triest“ von Heinrich Alexander Stoll, Berlin 1973 S. 27 ff.; dies und den Goethe-Text vorgelesen haben Kathleen Wiesemann
und Nico Muderack, Schüler der Klasse 11c des Winckelmann-Gymnasiums Stendal
Maria Winckelmann: Das Phantasieren hat er aber nicht von mir, Martin, sondern ganz und gar
von dir. O Gott, deine schlesische Mutter! Wir Altmärker bleiben doch wenigstens mit beiden
Beinen auf der Erde und sind so nüchtern wie eine Suppe ohne Salz und Gewürz.
Martin Winckelmann: Schuster wird er! Wie alle Winckelmanns seit fünf Generationen!
Maria Winckelmann: Und auch so hungern wie wir? Er hat einen guten Kopf und ist der Beste
in der Schule. Pastor wird er!
Martin: Aha, darf ich mir die Frage gestatten, womit
du die Lateinschule bezahlen willst, ganz zu schweigen
vom Studium?
Maria: Gar nicht. Das tut Johann selbst und die Stadt.
Martin: Ja, Maria, wenn wir am Markt wohnten und
Patrizier wären! Aber wir heißen Winckelmann und
Meyer, und wir wohnen in der Lehmstraße.
Maria: Also Schuster. Ist dir bisher eine besondere Geschicklichkeit bei Johann aufgefallen?
Martin: Im Gegenteil, mir scheint, wenns nicht ums
Schreiben oder Zeichnen geht, hat er zwei linke Hände. Ich will auch gar nicht auf dem Handwerk bestehen.
Wir könnten ihn ja zu Kaufmann Vinzelberg in die Lehre geben. Dann sind wir ihn gleich nach der Schule von
der Tasche los.
Maria: Ein Kaufmann muss gewandt sein. Ist Johann
gewandt?
18
Aus der Arbeit der Gesellschaft 2011–2012
Martin: Steif wie ein Stock.
Maria: Er muss stets höflich sein. Ist Johann höflich?
Martin: Zu Leuten, die er gern hat, einigermaßen. Er ist eben scheu.
Maria: Ein Kaufmann muss das Blaue vom Himmel herunterreden können. Kann Johann das?
Martin: Er ist das schweigsamste Kind unserer Verwandtschaft, und das hat er nicht von mir.
Von dir allerdings auch nicht. Willst du mir eigentlich unseren Jungen madig machen?
Maria: Nein, Martin; er ist klug, ungewöhnlich begabt, von eisernem Fleiß, zielstrebig und willenskräftig, ausdauernd, bescheiden, musikalisch. Im Advent wird er zehn, da ist es höchste Zeit,
dass er auf die Lateinschule kommt. Der Magister Tappert will ihn sogar jetzt mitten im Schuljahr
in die Kantorklasse aufnehmen.
Martin: Wer bezahlt?
Maria: Johann selbst, und die Stadt. Vom Schulgeld ist er frei, wenn er im Chor von Sankt Marien singt, und deshalb ist es ja gut, dass er nicht brummelt wie die meisten Altmärker. Und darum soll er auch bei der Kurrende mitsingen.
Martin: Betteln gehen also soll mein Junge! Nie! Frau, das sage ich dir, nie!
Maria: Ich ungebildetes Weib kann ja kein Latein, aber ich weiß noch, dass der Herr Pastor bei
unserer Hochzeit etwas von rauen Wegen zu den Sternen geredet hat.
Martin: Das habe ich auch nicht vergessen. Aber ich glaube, Johann horcht …
Johann Wolfgang Goethe: Winckelmann
Eintritt
Wenn die Natur gewöhnlichen Menschen die köstliche Mitgift nicht versagt, ich meine jenen lebhaften Trieb, von Kindheit an die äußere Welt mit Lust zu ergreifen, sie kennenzulernen, sich mit
ihr in Verhältnis zu setzen, mit ihr verbunden ein Ganzes zu bilden, so haben vorzügliche Geister öfters die Eigenheit, eine Art von Scheu vor dem wirklichen Leben zu empfinden, sich in sich
selbst zurückzuziehen, in sich selbst eine eigene Welt zu erschaffen und auf diese Weise das Vortrefflichste nach innen bezüglich zu leisten.
Findet sich hingegen in besonders begabten Menschen jenes gemeinsame Bedürfnis, eifrig zu
allem, was die Natur in sie gelegt hat, auch in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder zu
suchen und dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen zu steigern, so kann man versichert sein, dass auch so ein für Welt und Nachwelt höchst erfreuliches Dasein sich ausbilden werde.
Unser Winckelmann war von dieser Art. In ihn hatte die Natur gelegt, was den Mann macht und
ziert. Dagegen verwendete er sein ganzes Leben, ein ihm Gemäßes, Treffliches und Würdiges im
Menschen und in der Kunst, die sich vorzüglich mit dem Menschen beschäftigt, aufzusuchen.
Eine niedrige Kindheit, unzulänglicher Unterricht in der Jugend, zerrissene, zerstreute Studien im
Jünglingsalter, der Druck eines Schulamtes, und was in einer solchen Laufbahn Ängstliches und
Beschwerliches erfahren wird, hatte er mit vielen andern geduldet. Er war dreißig Jahr alt geworden, ohne irgendeine Gunst des Schicksals genossen zu haben; aber in ihm selbst lagen die Keime
eines wünschenswerten und möglichen Glücks.
(Aus: Johann Wolfgang Goethe: Winckelmann, in: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, Studienbibliothek, hrsg.
von Mathias Bertram, Directmedia Berlin 2000 S. 53.717 – 53.718
(= Goethe-BA Bd. 19, S. 480–481): http://www-fr.redi-bw.de/session/DBDtLiteratur-627a1b9f.html )
Aus der Arbeit der Gesellschaft 2011–2012
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Blickpunkt Winckelmann-Museum
Ausstellungen und Öffentlichkeitsarbeit
Manfred Urban: Bericht des Vorstands des Winckelmann-Museums für das Jahr 2011
Zu den Ausstellungen: Die zur letzten Jahreshauptversammlung eröffnete Ausstellung Die Griechen und das Meer war noch bis April 2011 zu sehen und ging anschließend nach Liechtenstein,
wo sie noch bis zum Frühjahr gezeigt wird.
Im Anschluss zeigte das Winckelmann-Museum vom
30. April bis Ende Juni die Ausstellung zweier israelischer
Künstler unter dem Titel Bilder der Wüste – Gemälde von
Sabine Kahane, Fotografien von Arie Bar Lev. Diese Ausstellung ging anschließend weiter nach Hamburg und
wird ab Januar 2012 noch in Berlin zu sehen sein. Begleitet wurde die Ausstellung von einer Lesereise des israelischen Schriftstellers Chaim Noll. Passend zur Ausstellung beteiligte sich das Museum an der diesjährigen Stendaler Kulturnacht am 28. 5. 2011 mit einem israelischen
Abend mit Klezmer-Musik, dargeboten von der Gruppe
„Aufwind“.
Am 16. Juli eröffneten wir die Ausstellung Klassizismus
in Deutschland und Italien, die zugleich die über 10-jährige Geschichte der Studienstätte Schloss Nöthnitz dokumentiert, die einem kulturell völlig uninteressierten Investor weichen musste. Auch diese Ausstellung wird weitergehen und von Januar bis März in der Kustodie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gezeigt werden. Unsere Ausstellungen sind auch an anderen Orten gefragt! Sehr erfolgreich liefen unsere beiden weitergegebenen Ausstellungen von
2010: Erinnerung Ägypten hatte im Luxemburger Nationalmuseum ca. 15.000 Besucher und unsere Idol-Ausstellung in Hamburg 43.000.
Im Herbst zeigten wir in den Galerieräumen die Ausstellung Antike Stätten und Landschaften
mit Aquarellen, Gouachen und Ölbildern (1976–2009) des Hamburger Künstlers Gerhard Ausborn.
Ab dem ersten Advent, dem 27. 11. 2011, lud nun schon zum sechsten Mal eine Weihnachtsausstellung des Kindermuseums ein. Mit dem Titel Es weihnachtet sehr stehen diesmal historische
Kinderbücher und Spielzeug unterm Weihnachtsbaum im Mittelpunkt.
Im Rahmen unserer diesjährigen Jahreshauptversammlung erwarten uns gleich zwei besondere
Ausstellungshöhepunkte, Bertel Thorvaldsen. Der Bildhauer als Zeichner, konzipiert von Margrethe
Floryan, Kuratorin des Thorvaldsen-Museums, und Die Artemis von Pompeji, die auch Thema des
Festvortrages von Oliver Primavesi anlässlich der Jahreshauptversammlung 2010 war.
An dem reichen Programm zu den Sonderausstellungen beteiligten sich u. a. unsere Mitglieder
Wolfgang von Wangenheim – gleich mit mehreren Veranstaltungen, Herr Wittkowski, Max Kunze, Axel Rügler, Frau Göbel und Herr Jensen sowie ex officio Stephanie Bruer und Frau Walinda.
Erfreulich ist, dass bei der Kahane-Ausstellung auch das Kinderprogramm gut angenommen wur-
Blickpunkt Museum 2011–2012
21
de, seit der Eröffnung des Kindermuseums wurde dieses gegenüber den Programmen zu den jeweiligen Ausstellungen meist von Schulklassen bevorzugt.
Über die vielfältigen Aktivitäten des Kinder- und Erlebnismuseums und das Mobile Museum
wird Frau Walinda im Anschluss noch kurz berichten. Dank gilt aber an dieser Stelle dem Team
des Kindermuseums, insbesondere unseren Mitgliedern Frau Gudrun Walinda und Herrn Falko
Leonhardt für ihre unermüdliche und nicht immer leichte Arbeit. Großer Beliebtheit erfreut sich
nach wie vor die gemeinsam mit der Fachhochschule Magdeburg-Stendal veranstaltete Kinderuniversität. Dank gilt hier unseren Mitgliedern Prof. Kunze, Dr. Rügler und Herrn Leonhardt, der
die Unternehmung organisatorisch in den Händen hat.
Unterstützung erhielt das Museum darüber hinaus durch vom Arbeitsamt vermittelte 1-Euro
Kräfte sowie durch die Kommunal-Kombi-Projekte. Leider laufen diese zwei Projekte zum Ende
des Jahres bzw. zum Frühjahr aus. Wie immer mussten nahezu alle Mittel für die Sonderausstellungen über Drittmittel eingeworben oder aus dem Verkauf der Ausstellungskataloge erbracht
werden, so dass ich Sie gern ermuntere Kataloge zu erwerben.
Insgesamt kann das Museum im letzten Geschäftsjahr eine positive Bilanz ziehen. Wir hatten
11.000 Besucher. Der leichte Rückgang der Besucherzahlen resultiert vor allem aus den drastisch
gesunkenen Schülerzahlen. Knapp 400 Veranstaltungen und Führungen fanden in diesem Jahr
statt, davon allein 342 im Kindermuseum.
Noch kurz möchte ich auf die Bauarbeiten eingehen: Die Arbeiten am Dach konnten durch
den langanhaltenden Winter erst im Frühjahr abgeschlossen werden. Bereits im vergangenen Jahr
wurde die Elektroanlage erneuert, deren Automatik allerdings noch manche Mängel aufweist.
Vieles bleibt noch zu tun. So bedürfen z. B. die Fenster einer grundlegenden Erneuerung und dem
Museum fehlt noch immer ein behindertengerechter Zugang.
Schließen möchte ich jedoch meinen Bericht nicht, ohne den vielen freiwilligen Helfern zu
danken, die das Museum bei zahlreichen Veranstaltungen unterstützt haben: Herrn Ottfried
Schlangstedt und Frau Jutta Kunze für die Unterstützung bei Veranstaltungen und der Vorbereitung von Ausstellungen sowie für den Aufsichtsdienst in den Sonderausstellungen und im Kindermuseum Frau Hennig, Frau Henning, Frau Klawitter, Frau Rautenberg, Frau Tieftrunk und Frau
Kuschel, die schwer erkrankt ist und der wir an dieser Stelle beste Genesung wünschen. Gern werden wir auch künftig auf die Unterstützung unserer freiwilligen Helfer zählen.
Last but not least möchte ich natürlich dem Team des Winckelmann-Museums um Frau Stephanie Bruer für die engagierte Arbeit und die gute Zusammenarbeit sehr herzlich danken und
natürlich auch meinen Kollegen im Museumsvorstand für ihre ehrenamtliche Arbeit und die vielen Anregungen.
Grußwort des dänischen Botschafters in Deutschland, Herrn Per Poulsen-Hansen, anlässlich
der Eröffnung der Ausstellung Wer Lebenslust fühlet – Bertel Thorvaldsen – Der Bildhauer als
Maler
„Wer Lebenslust fühlet, der bleibt nicht allein,
allein sein ist öde, wer kann sich da freu‘n.“
So lauten die ersten beiden Zeilen des Gedichts „Die Geselligkeit“ von Johann Karl Unger (1771–
1836), das als Inspiration für den Titel der heute hier zu eröffnenden Ausstellung gewählt wurde. Meiner Meinung nach ist das ein gut gewählter Titel, denn wenn es einen dänischen Künstler
gab, der gesellig und lebenslustig war, so ganz bestimmt Bertel Thorvaldsen. Den Kopenhagener
Thorvaldsen kennen wir vor allem als Bildhauer, dessen ausdruckstarke Werke auf vielen Plätzen,
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Blickpunkt Museum 2011–2012
in Museen und Kirchen in ganz Europa zu sehen sind. Es
freut mich sehr, heute hier in Stendal andere Seiten seiner
Arbeit sehen zu können und zwar Originalzeichnungen, die
er in Rom anfertigte und von denen einige zum ersten Mal
der Öffentlichkeit gezeigt werden.
Dass diese Zeichnungen hier in diesem Rahmen gezeigt
werden können, ist zum einen der angesehenen Winckelmann-Gesellschaft zu verdanken, andererseits natürlich dem
Thorvaldsen-Museum in Kopenhagen und dort ganz besonders der Kuratorin Frau Dr. Margrethe Floryan. Ich danke Ihnen allen für Ihr Engagement und gratuliere Ihnen zu
dieser besonderen Ausstellung. Es freut mich sehr, dass zwischen der Winckelmann-Gesellschaft und dem Kopenhagener Thorvaldsen-Museum eine enge Kooperation besteht,
die sich nicht nur in diesem Ausstellungsprojekt widerspiegelt, sondern auch in wissenschaftlichem Austausch, wie es
ihn ganz konkret im Mai vergangenen Jahres bei einem Kolloquium in Kopenhagen bereits gegeben hat.
Deutsch-Dänische Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur und Wissenschaft ist von ganz
besonderer Bedeutung. Als direkte Nachbarländer und EU-Mitglieder pflegen wir bereits enge
wirtschaftliche und politische Beziehungen, aber gerade durch Kultur und Wissenschaft können
wir einander auf ganz andere Weise kennenlernen und inspirieren und dabei sowohl voneinander
als auch miteinander lernen. Die aktuelle Ausstellung hier in Stendal ist ein überzeugender Beweis
dafür! Das Interesse für dänische Kunst ist in Deutschland groß, sowohl für die ganz neue Kunst
als auch die ältere. In Berlin treffen wir fast täglich auf die ganz neue dänische Kunst in einem dynamischen Milieu mit Olafur Eliasson als einem der bekanntesten Repräsentanten. (Übrigens war
Thorvalden ebenso wie Eliasson dänisch-isländischer Herkunft.)
Vor kurzem wurde eine Ausstellung mit moderner Kunst von Carl Henning Pedersen in Frankfurt eröffnet. Und im März des nächsten Jahres wird im Museum Würth in Baden-Württemberg
eine Ausstellung mit über einhundert Objekten von Robert
Jacobsen gezeigt. Außerdem wird im Juni eine Ausstellung
über Vilhelm Hammershvii in München eröffnet.
Doch freue ich mich nun erst einmal sehr, hier bei Ihnen
in der Winckelmann-Gesellschaft in Stendal sein zu dürfen
und mich von Thorvaldsens Werken und seiner Lebenslust
anstecken zu lassen.
Betina Kaun über Klassizismus in Deutschland und Italien
– Sammlung Wolfgang von Wangenheim
Eine Ausstellung im Winckelmann- Museum vom 16. Juli
bis 11. September 2011
Die Sammlung Wolfgang von Wangenheims entstand in einer mehr als 20-jährigen passionierten Sammlertätigkeit, die
er dem Gedächtnis der Winckelmannzeit und der Rezepti-
Blickpunkt Museum 2011–2012
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on der Antike im Klassizismus widmete. Ursprünglich in der Studienstätte Schloss Nöthnitz e. V.
zum Gedenken an Johann Joachim Winckelmann präsentiert, dem Ort, an dem Winckelmanns
Laufbahn als Bibliothekar des Grafen von Bünau begann, sucht diese bedeutende Sammlung nun
ein neues Domizil, nachdem die Studienstätte aufgelöst wurde.
Die Sammlung von Ölgemälden, Aquarellen, Graphiken und Plastiken, die gleichzeitig eine
Kulturgeschichte des Klassizismus widerspiegeln, wurde im Entree mit Rom-Veduten eröffnet,
die auch die Hauptwirkungsstätte Winckelmanns, als Sekretär Kardinal Albanis und Aufseher
über die Altertümer in und um Rom, beschreiben. Unter den topographisch bedeutenden Radierungen von Vasi, Rossi, Panini und Piranesi bilden Giuseppe Vasis großformatige Veduten des
Forums und von Santa Maria Maggiore mit dem Arbeitszimmer Winckelmanns im Palazzo Albani sowie die rückwärtige Ansicht des Petersdomes mit seiner opulenten Prozessions-Staffage Höhepunkte (1763, 1771 und 1778). Aber auch Giovanni di Rossis Vedute des Palazzo Quirinale
(17. Jahrhundert) und Giovanni Battista Piranesis Ansicht der Villa des Kardinals Albani (1769–
1771), an dessen Antiken-Ausstattung Winckelmann mitwirkte, bestechen durch faszinierende
Blickwinkel auf die Stadtbaukunst und die Sehenswürdigkeiten Roms, das caput mundi, auch das
Ziel der Pilger und jeder Grand Tour.
Einen weiteren Höhepunkt der Ausstellung bildeten die Renaissancemalereien in Grafiken des
18. Jahrhunderts, deren Inkunabeln die Wandmalereien von Raffaels Loggien im Vatikan und
die Deckenmalereien in der „Loggia di Psiche“ der Villa Farnesina darstellen und deren Protagonist Raffael von Winckelmann als der antikischste Künstler der Zeit bezeichnet wurde. Besonders
schön in der Farbigkeit und filigran im Groteskenornament sind hier die großformatigen kolorierten Kupferstiche (117 / 122 x 46,5 / 53,5cm) von Savorelli, Ottaviani und Camporesi (1774)
nach Raffaels Fresken in der Zweiten Loggia des Vatikans. Die Deckenmalereien in der „Loggia di Psiche“ der Villa Farnesina widmen sich dem „Amor und Psyche“-Zyklus nach der Apuleischen Erzählung und werden in den kolorierten Kupferstichen von Nicolas Dorigny (1698) in ihrer heiteren renaissancistischen Farbigkeit par excellence wiedergegeben, dabei gleichzeitig die Figuren Raffaels in ihrer antik-skulpturalen Plastizität erfassend, umrahmt von detaillierter Wiedergabe der wunderbaren Blumen- und Fruchtgebinde Giovanni da Udines. Das Groteskenornament
und die Girlanden Giovanni da Udines gehen auf Vorbilder der Domus Aurea von Kaiser Nero
zurück, dessen Palastreste man in der Renaissance ausgrub, fälschlich als Grotten bezeichnete und
erst in der Winckelmannzeit archäologisch korrekt zuordnete.
Ein Sammlungsschwerpunkt ist auch der Vasensammlung Sir Hamiltons in Neapel gewidmet
und den kolorierten Stichen der Domus Aurea in Rom. Bei Letzterem begeistert besonders die
kolorierte Radierung nach einem Deckengemälde aus der Domus Aurea von Marco Carloni nach
Franciscek Smugliewicz (1776). Diese zeigt feinste Gemmenornamentik in pompejanisch roter
Rahmung in einem Netz von Kandelabern vor schwarzem Hintergrund (Prinzip des IV. Stils),
motivisch die Anregung für die Groteskenornamentik der Renaissance. Erlesen ist auch die Auswahl kolorierter Kupferstiche von Pierre François d’Hancarville für das Vasenwerk Hamiltons
(1719–1805), welches neue Maßstäbe für die Publikation der schwarz- und rotfigurigen Vasenmalerei setzte und für dessen 2. Band die (Mit-)Autorenschaft Winckelmanns jüngst nachgewiesen werden konnte.
Im Kontext der Antiken-Rezeption der Winckelmannzeit und des Klassizismus darf natürlich der Statuenhof im Vatikan mit dem Apoll von Belvedere und der Laokoon-Gruppe im Cortile Ottagono nicht fehlen, der hier nach der Umgestaltung von Michelangelo Simonetti (noch
heutige Gestalt) in einer kolorierten Radierung von Vincenzo Feoli (nach 1793) gezeigt wird. Ein
großes Thema bildeten auch die ab 1770 freigelegten zwölf Fresken eines römischen Hauses im
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Blickpunkt Museum 2011–2012
hadrianischen Duktus (Prinzip des II. Stils römisch-pompejanischer Wandmalerei) im Garten der
Villa Negroni des spanischen Botschafters, welche die beiden Porträtisten Winckelmanns, Anton Raphael Mengs und Anton von Maron, zeichneten. Besonders schöne Blätter stellen hier die
acht kolorierten Radierungen mit erläuterndem Text und einer Widmung an den Botschafter de
Azara dar, die von Angelo Campanello nach den kolorierten Zeichnungen beider Künstler gestochen wurden (1778–1783). Faszinierend ist die dreidimensionale Bildauffassung mit Architektur- und Figurenmalerei, die sich den berühmtesten Helden- und Liebesgeschichten der antiken
Götter widmet, so den unsterblichen Paaren Venus und Adonis, Bacchus und Ariadne, aber auch
dem trunkenen Herkules und der Minerva. Das Aquarell, der „Hl. Lukas malt die Madonna“, ein
Selbstporträt von Adam Friedrich Oeser, dem Freund und Lehrer Goethes und Winckelmanns,
scheint dann bereits den Raffael-Kultus der Romantik vorwegzunehmen.
Der Antikerezeption in Rom zur Zeit Winckelmanns ist der größte Sammlungsbestand gewidmet. Dieser umfasst Ruinen-Capriccios, welche die Größe Roms in bedeutenden Denkmalen, oft mit interessanten Staffagen, thematisieren, Radierungen zu antiken Vasen von Piranesi sowie Zeichnungen zu antiken und klassizistischen Skulpturen und Kleinbronzen. Hier werden bereits mit einem Ruinen-Capriccio als aquarellierte Federzeichnung von Charles-Louis
Clérisseau (1770–1773) Maßstäbe gesetzt, die eine ideale Architekturlandschaft mit dem Herakles Farnese, dem Titusbogen, der Trajan-Säule und dem Kolosseum zeigt. Der französische Maler war übrigens ein Freund Winckelmanns. Monumental-malerisch und ganz klassizistisch hinsichtlich der Staffage ist dann das Ruinen-Capriccio von Abel Schlicht nach Francesco Panini (um
1740/50), welches den Titusbogen und die Cestius-Pyramide in den Fokus nimmt sowie vom
gleichnamigen Künstler die kolorierte Radierung „Ruinen-Capriccio mit Eremit als Diogenes“
(um 1740/50), die ikonographisch sehr anspruchsvoll die vergangene Größe Roms thematisiert.
Unter den Zeichnungen nach Skulpturen ist im Vermächtnis Winckelmanns zuvörderst eine Radierung von Hendrik Goltzius (1617) zu nennen, die den Apoll von Belvedere mit dem Zeichner zeigt. Die Laokoongruppe wurde von einem unbekannten Künstler des 17. Jhs. in einer Rötelzeichnung überliefert. Einen ganz feinen Strich zeigt eine halbfigürliche Darstellung des Antinous Albani von Giuseppe Bottani (1735), damit das Thema der Griechischen Liebe anreißend.
In ihrer Plastizität interessant sind fünf Zeichnungen von Adolf Felix Broët (19. Jh.) nach antiken Statuen, von denen insbesondere der Ares Borghese und der Apollon Sauroktonos in ihrer reliefartigen Modellierung hervorzuheben sind. Faszinierend ist auch eine Kreidezeichnung des Dionysos Richelieu mit lasziven Gesichtszügen des Lyoner Künstlers Jean-Baptiste Frenet (19. Jh.),
von dem drei Werke gezeigt wurden. Eine Rarität stellt das Gemälde Anton Graffs mit dem Porträt Giovanni Battista Casanovas dar (um 1765/70), dem zeitweiligen Mitarbeiter Winckelmanns
und Dresdner Akademiedirektor. Die gezeigten Kleinbronzen sind Nachbildungen (Reduktionen)
berühmter Werke der Antike und dienten neben den Stichen als beliebtes Rom-Souvenir, wobei
neben dem Dornauszieher der Apoll von Belvedere (18. Jh.) natürlich den Spitzenplatz innehatte.
Daneben wurden die Statue des Idolino, die Statue eines Athleten (sog. Betender Knabe) und die
Venus oder Nymphe mit der Muschel im Typus der Knöchelspielerin gezeigt (17. Jh.).
Der letzte Schwerpunkt der Ausstellung zeigte mythologische Szenen der Antike in der Kunst
des Klassizismus. Eine bedeutende Radierung lag von Marcantonio Raimondi (1506) mit der
Darstellung von Apollon, Amor und Hyakinthos vor. Als interessante zeichnerische Umsetzung
des Themas „Diana umfängt Endymion ohne ihn zu berühren“ ist das Rötelaquarell von Joseph
Heintz (um 1590) zu nennen. Ein viel rezipiertes Motiv stellt „Ganymed mit dem Adler“ dar, in
der Sammlung als Radierung eines unbekannten Künstlers nach Annibale Caracci als Ausschnitt
aus dem Deckengemälde im Palazzo Farnese (Ende 17. Jh). Die Radierung „Bacchus bei den Bau-
Blickpunkt Museum 2011–2012
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ern“ von Jan Sanredam nach Hendrik Goltzius (1596) besticht durch eine schwungvolle Komposition, detaillierte Zeichnung und eine humoresk-belehrende Komponente, die in der Verführung
durch den schönen Bacchus mit Faunbegleitung gipfelt. Mehrere Radierungen liegen nach Werken des französischen Klassizisten Jaques-Louis David vor. Unter diesen ist die Radierung von Antoine Alexandre Morel „Der Feldherr Belisarius als Bettler“ (1781) hervorzuheben, die in Landschaft, Architektur und figurativer Auffassung einen ausgewogenen klassizistischen Duktus zeigt.
Durch flüssigen Strich, künstlerische Eleganz und an Rembrandt geschultes Hell-Dunkel fasziniert die lavierte Zeichnung „Zeus auf dem Thron“ von Louis V. L. Pallière. Das Relief „Anakreon mit Amor“ von Bertel Thorvaldsen (1823), ein Harzgipsabguss nach Marmororiginal, zeigt die
Meisterschaft eines der größten Bildhauer des Klassizismus in Form und Ikonographie. Das Motiv „Amor und Psyche“ wird im Ausklang der Ausstellung noch einmal in den gedruckten Bildtapeten der alten Manufaktur Zuber im elsässischen Mühlhausen (1825) nach einer französischen
Erzählfassung von Jean de la Fontaine thematisiert. In der Dekoration werden Hamiltons Vasenbilder wieder aufgenommen, der Druck erfolgte in acht Farbtönen und auf sechzehn Bahnen.
Am Schluss sei Dr. Wolfgang von Wangenheim aufs Herzlichste gedankt, nicht nur für die repräsentativen Exponate, sondern auch für eine großzügige Schenkung an das Winckelmann-Museum, ganz in antiker Tradition des Maecenas.
Die „Schnitte“ – Kinder im Kinder- und Erlebnismuseum
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Blickpunkt Museum 2011–2012
Falko Leonhardt über Aktivitäten des Kinder- und Erlebnismuseums
Im Oktober 2011 führte das Team des Kinder- und Erlebnismuseums zusammen mit dem Mobilteam von NASA (Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt GmbH) und DB Regio (Deutsche Bahn)
zwei eher ungewöhnliche Aktionen durch.
In Begleitung der NASA-Mitarbeiterinnen Tina Mzyk und Saskia Kirchhoff besuchten am 18.
Oktober 28 „Schnitte“-Kinder aus Halle (Saale) im Alter von 6 bis 13 Jahren das Kinder- und Erlebnismuseum. Die Kinderhäuser „Schnitte“ sind Einrichtungen der CVJM Halle (Christlicher
Verein Junger Menschen Halle e. V.), die sich in Halle-Neustadt um benachteiligte Kinder kümmern. „Ziel dieser Einrichtungen ist es, Kinder von der Straße zu holen, ihnen einen Zufluchtsort
zu bieten, sinnvoll die Freizeit mit ihnen zu gestalten und gegen soziale Defizite zu agieren und zu
reagieren sowie Kinder wieder ins Zentrum der Gesellschaft zu stellen.“1
Für die meisten dieser Kinder war ein Museum und für einige von ihnen selbst eine Reise mit der Bahn etwas, was sie vorher nicht kannten oder nur selten erlebten. Viele von ihnen
zeigten sich von der Reise und dem Museumsbesuch begeistert. In einem Brief von der CVJM
hieß es: „Mit großer Freude und einer schöpferischen Unruhe und Neugier im Körper konnten
28 „Schnitte“-Kinder […] das Winckelmann-Museum besuchen. Dafür nochmals unser herzlichstes Dankeschön! Unsere Kinder waren
begeistert, aber sehr müde vom Hin- und
Rückweg und der langen Zugfahrt. Die Zeit
war knapp bemessen, doch wie Kinder so
sind, haben sie mit Begeisterung alles wahrgenommen und auch am nächsten Tag von
den Erlebnissen berichtet. Renner (O-Ton
der Kinder) waren die unterschiedlichsten
Gewänder, Rüstungen, die Lebensräume der
früheren Menschen, das trojanische Pferd
und der Labyrinthgarten. […] Wir bedanken uns bei allen Mitarbeitern der Teams,
welche uns diesen erlebnisreichen Tag ermöglicht haben und wünschen Ihnen für
die Zukunft immer viele neugierige große
und kleine Gäste und viel Gesundheit und
Kraft, um das Museum mit all seinen Facetten am Leben zu erhalten.“
Nach dem Besuch der „Schnitte“-Kinder
ging es für das Team des Kinder-und Erlebnismuseums am 19. und 20. Oktober
schließlich selbst auf Reisen. Das ‚Reisegefährt‘ war der auf der Strecke Uelzen–Stendal–Magdeburg–Halle verkehrende Doppelstockzug der DB Regio, der im März 2011
auf den Namen Johann Joachim Winckelmann getauft wurde.
Ein griechischer Hoplit fährt Bahn – eine WerbeakZiel der Aktion war es, Fahrgäste dazu
tion des Kinder- und Erlebnismuseums
anzuregen, mit dem Zug nach Stendal zu
Blickpunkt Museum 2011–2012
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fahren und dort das Winckelmann-Museum zu besuchen. Gudrun Walinda und Bärbel Müller machten sich dazu am 19. Oktober auf den Weg nach Uelzen, Falko Leonhardt am 20. Oktober über Magdeburg auf den Weg nach Halle. Mit unterwegs waren wieder die NASA-Mitarbeiterinnen Tina Mzyk und Saskia Kirchhoff.
Um sich von normalen Vertretern zu unterscheiden, warf sich das Team des Kindermuseums in
Schale: Gudrun Walinda und Bärbel Müller trugen Tuniken und traten als römische Frauen auf.
Falko Leonhardt machte sich als griechischer Hoplit auf dem Weg und trug eine Lederrüstung
und einen Helm, was sonst den Besuchern des Trojanischen Pferdes auf dem Museumshof gezeigt
wird.
Neben Flyern, Broschüren und anderen Werbematerialien hatten alle drei einen Koffer des Mobilen Museums dabei und präsentierten interessierten Reisenden antikes Schreibgerät, römische
Spielsachen, kleine ägyptische Statuen oder die Replik eines römischen Bronzespiegels. Ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene jeden Alters – die meisten der Reisenden zeigten sich von der
Aufmachung, dem Koffer und den angebotenen Werbematerialien der außergewöhnlichen ‚Zugbegleiter‘ interessiert und hörten ihren Ausführungen zum Namensgeber des Zuges, dem Museum und den dortigen Angeboten und Möglichkeiten gespannt zu. Ein breiteres Publikum erreichte die Aktion und natürlich das Museum selbst schließlich auch durch einige Artikel in der
regionalen und lokalen Presse und durch einen Bericht im Fernsehen des MDR.
1
http://www.cmjm-halle.de/5.html (aufgerufen am 29. Mai 2012)
Gudrun Walinda: Kinder- und Erlebnis-Museum Stendal, Jahresbericht 2011
Im Bereich Kindermuseum, Pädagogik und Mobilem Museum konnten von Dezember 2010 bis
November 2011 insgesamt 342 Aktionen, d. h. Führungen und Veranstaltungen, mit 6830 Teilnehmern abgerechnet werden. Erfreulich dabei sind die Kinderuniversität, die 7x stattfand, die
11 Familiensonntage, die Weihnachtsausstellung mit 2 Vorträgen und die 56 Kindergeburtstage.
Dazu kommen noch 266 Aktionen der Museumspädagogik.
Zusätzlich zu dieser Gruppenarbeit (s. Anlage 1) zählen die Besucher, die ohne Betreuung oder
Führung das Museum besuchten. Das waren 646 Einzelbesucher nur im Kindermuseum und 730
Besucher, die eine Familienkarte lösten; somit besuchten über 8206 Kinder, Jugendliche und Erwachsene 2011 das Kinder- und Erlebnismuseum.
Bereits in den letzen Jahren habe ich mich gefragt, wie lange wir noch unsere Ergebnisse steigern können – trotz der von Jahr zu Jahr sinkenden Schülerzahlen. 1998 waren es im Landkreis
Stendal noch 22653 Schüler an Grund- und Sekundarschulen, Gymnasien und Sonderschulen. In
diesem Schuljahr sind es nur noch 10334. Ein Rückgang von rund 12300 Schülern nur im Landkreis Stendal! In vielen Museen gingen in den letzten Jahren die Besucherzahlen zurück und bei
uns war immer eine Steigerung zu verzeichnen – bis zu diesem Jahr:
Im1. Quartal übertraf die Besucherzahl die des Jahres 2010, doch dann gab es bei Führungen
einen leichten Rückgang: Im Mai kamen 105 Schüler weniger als im Vorjahr zu Führungen, 228
weniger zu Veranstaltungen und 93 weniger zum Mobilen Museum. Im Juni, der immer unser
stärkster Monat ist, ‚fehlten‘412 Schüler, insgesamt zählten wir 2011 731 Schüler weniger als im
Vorjahr.
2010 besuchten 626 Kinder die Sonderausstellungen, 267 Idole, Götter und Götzen, 53 waren
in der Etrusker-Ausstellung und 306 in der Weihnachtsausstellung. 2011 leider nur 154 in der Fisch-
28
Blickpunkt Museum 2011–2012
tellerausstellung, 67 in der Ausstellung Bilder der Wüste und 125 Kinder in der Weihnachtsausstellung. Zu der sehr schönen Wangenheim-Ausstellung hat sich leider keine Klasse angemeldet.
Mir ist klar, dass nicht jede ‚Große Sonderausstellung‘ auch kindgerecht aufgebaut und gestaltet
werden kann und nicht jedes Thema interessant für Kinder ist. Trotzdem erarbeiteten wir, wie jedes Mal, ein Kinderprogramm mit kreativen Aktivitäten in der Werkstatt und bereiteten mit viel
Mühe jedes Mal Familientage zur Ausstellung passend vor. Als im Juni dann 477 Kinder weniger kamen als 2010, haben wir noch einmal eine Werbesendung mit neu erarbeiteten Flyern und
neuen Angeboten an alle Schulen, Horte und Kindergärten geschickt und dabei die neuen Angebote besonders hervorgehoben.
Zum wiederholten Mal versuchten wir es auch, trotz schlechter Erfahrungen, mit Einladungen
zu Lehrerweiterbildungen und verschickten an 240 Schulen eine Einladung zur kostenlosen Führung in den Sonderausstellungen, im ganzen Haus und zur Vorstellung neuer Angebote. Die Resonanz lag bei 10 bis 5 Teilnehmern und zuletzt meldete sich niemand an. Woran lag es? An den
Ausstellungen, an den neuen Lehrplänen, der Überforderung der Schüler und Lehrkräfte? Jeder
Lehrer, der bis jetzt mit seinen Kindern in unserem Haus war, hat sich immer lobend geäußert
und war mit Pädagogik und der Durchführung sehr zufrieden.
2010 hatte Herr Leonhardt, der das Mobile Museum betreut, einen völlig neuen Flyer mit vielen verschiedenen und auch völlig neuen Angeboten an alle Einrichtungen verschickt. In der Folgezeit hatte er einen tollen Erfolg zu verzeichnen und war 43 Mal mit dem Mobilen Museum
in Schulen und Kindergärten unterwegs und erreichte damit insgesamt 1068 Teilnehmer. Auch
er versuchte es mit erneuter Werbung in diesem Jahr. Doch im gleichen Zeitraum wurden nur 9
Veranstaltungen gebucht mit 211 Kindern, also 857 weniger als 2010.
Grund mag sein, dass die Kinder bereits im Kindergarten, dann vielleicht noch einmal in der
Grundschule und noch einmal im Gymnasium bei uns waren und nun nicht mehr viel Neues
finden. Das Kindermuseum kennen sie, auf dem Trojanischen Pferd waren sie sowieso seit 2003
mehrere Male, seit 2008 haben sie bestimmt schon im Archäologen-Camp gegraben und sind im
Labyrinth gewesen; so haben z. B. 2010 33x 2. Klassen, 40x 3. Klassen, 65x 5. Klassen, 40x 6.
Klassen und 23x Kindergarten-Gruppen unsere Programme mitgemacht. Diese Klassen kommen
wahrscheinlich in der nächsten Klassenstufe nicht gleich wieder.
Oder muss das Kindermuseum neu gestaltet werden und wir waren verwöhnt, weil in der vergangenen Zeit fast jedes Jahr Klassen aus Worbis in Thüringen, Brandenburg, Wolfsburg usw. anreisten und sie nun 2011 nicht mehr so viel Geld hatten und erst 2012 wieder kommen.(Worbis
ist bereits für März 2012 angemeldet).
Ich habe bei einigen Lehrern nachgefragt, warum sie in diesem Jahr nicht kamen. Ich bekam folgende Antworten: „Ich habe als Klassenlehrer die Klasse mindestens 2–3 Jahre und war ja
schon 2x bei Ihnen.“ – „Es gefällt uns ganz prima bei Ihnen, aber so eine große lange Tour können wir nur alle paar Jahre machen.“ – „Die Organisation ist komplizierter geworden und ich
muss das lange zuvor beim Direktor einreichen und lange vorausplanen.“ – „Wir haben Probleme
mit dem Geld.“ – „Allein darf ich nicht fahren, ich brauche immer einen Partner.“
In diesem Dezember ist es sehr gut angelaufen und der Kalender ist voll. Wie wir das nächste Jahr personell bewältigen, wissen wir noch nicht, da wir nach drei Jahren eine Kollegin für die
Pädagogik und einen Kollegen in der Bibliothek verlieren, da zwei ABM-Stellen auslaufen. Das
Team des Kindermuseums und der Pädagogik kann trotzdem, glaube ich, auf ein Gesamtergebnis
von 342 Aktionen mit insgesamt 6830 Teilnehmern stolz sein. Und ich möchte mich an dieser
Stelle ganz herzlich bei meinen Mitarbeitern bedanken, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben
Blickpunkt Museum 2011–2012
29
und dies mit viel Einsatzbereitschaft, Einfühlungsvermögen, stetem Einsatz an den Wochenenden
und viel Engagement für die Kinder möglich gemacht haben.
Bedanken möchte ich mich für die Spenden, die für das Kinder-Museum eingegangen sind.
Davon konnte im Trojanischen Pferd eine kleine Ausstellung finanziert werden: Herr Bent Jensen
bemalte nach antiken Vorbildern trojanische und griechische Zinnfiguren und installierte in Vitrinen ein Diorama, das Troja incl. Schlachtfeld zeigt. Außerdem konnten Repliken, ein Schwert
und ein Dolch, angekauft werden, die ebenfalls im Trojanischen Pferd zu sehen sind. Ganz besonders möchte ich mich bei Familie Heese aus Berlin bedanken: Das Kindermuseum erhielt als Geschenk eine Sammlung von 50 Zinnfiguren aus der Zeit um 1900, die einen Kaufmannszug aus
dem Jahr 1500 darstellt. Sie ist schon lange in Besitz der Familie und Herr Heese hat sie immer
wieder gut verwahrt, nachdem Kinder und Enkel damit gespielt hatten. Dieser Kaufmannszug ist
in unserer diesjährigen Weihnachtsausstellung zu bewundern, ebenso 81 Kinderbücher und zahlreiches Spielzeug aus dem 19. und der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.
I. Aktionen 2011 im Kindermuseum
Teilnehmer
Kinder
Jugendliche
Erwachsene
56 Kindergeburtstage
476
375
—
101
11 Familientage und 1 Weihnachtsausstellung
421
187
—
234
7 Vorlesungen Kinderuniversität
738
578
—
160
2 weitere Veranstaltungen
32
1
—
31
= 76 Veranstaltungen 1667
1141
—
526
137 Führungen mit Schulklassen
80 Veranstaltungen mit Schulklassen
49x Mobiles Museum mit Schulklassen
= 266 Aktionen Museumspädagogik = 342 Aktionen Kindermuseum / Pädagogik
2516
1509
1138
5163
6830
2015
1229
981
4225
5366
106
62
20
188
188
395
218
137
750
1276
II. Zielpublikum
Veranstaltungsgruppen 2011 Führungsgruppen 2011
82x gemischte Gruppen (= 56 x
Kindergeburtstag, 11 Familientage, 7x Kinderuni)
21x 5. Klassen
16x Hortgruppen 1–4. Klassen
17x Kindergarten
14x 5. Klassen
15x 6. Klassen
8x 6. Klassen
14x 1–4. Klassen, Hort
7x 7. Klassen
13x 3. Klassen
6x Kindergarten
12x 4. Klassen
4x 4. Klassen 10x Sonderschule / Lernbehinderte
4x Sonderschul-Klassen
9x 7. Klassen
4x 1. Klassen 8x 1. Klassen
4x Erwachsenengruppen / Lehrer
7x 2. Klassen
3x 2. Klassen 6x Erwachsenen-Gruppen
3x 3. Klassen 2x 8. Klassen
1x 8. Klasse 2x Feriengruppen
1x 12. Klasse
= 156 Klassen / Gruppen
= 137 Klassen / Gruppen
30
Blickpunkt Museum 2011–2012
III. Themen
Veranstaltungsthemen 2011 Führungsthemen 2011
43x Archäologencamp
68x Kindermuseum mit Führung / Winckelmann
33x Antike Spiele mit Siegerehrung
46x zu Winckelmann / Homer /Trojanischem Pferd
15x Kindermuseum mit Gastmahl
6x Führung durchs Haus
10x Familiensonntage 5x Weihnachtsausstellung
1x Weihnachtsausstellung, Kinderbücher 5x Fischteller (Sonderausstellung)
2x Vorträge zur Weihnachtsausstellung
5x Bilder der Wüste (Sonderausstellung)
7x Kinderuniversität
7x Wenn die Erde Feuer fängt
2x zu Leben und Werk J. J. Winckelmanns
5x Projekt Ägypten / Totenkult
6x Ein Tag ein kleiner Römer sein
6x Winckelmann, Homer, Trojanisches Pferd, Keramikarbeiten 4x Sonderausstellung (3x Fischteller, 1x Kahane)
4x Geschichte des Papiers, Papierschöpfen
2x Antike Terrakotten
2x War Odysseus ein Pirat?
2x Felix auf Reisen
2x Griechische Kleiderwerkstatt
2x Griechische Vasenmalerei 2x Lehrerweiterbildung
1x Antike Schreibwerkstatt
= 156 Veranstaltungen insgesamt
= 137 Führungen
Mobiles Museum
Veranstaltungsthemen 2011Gruppen 2011
9x Antike Schriften schreiben
11x 6. Klassen
9x Antike Modewerkstatt
7x Hort-Klassen
8x Ein Tag ein kleiner Römer sein 7x 5. Klasse
6x Antike Spiele
4x 8. Klassen
4x Mit Felix auf Reisen 3x 4. Klassen
3x Totenkult im alten Ägypten 3x Gemischte Klassen
3x Forscherlabor unterwegs
3x Erwachsene/Senioren
2x Antike Tierwelt
2x 9. Klassen
2x Papierherstellung, -schöpfen
2x 1. Klassen
1x Götterwelt der Griechen und Römer
2x 3. Klassen
1x Römische Legionäre
2x Jugendgruppen
1x Mobiles Museum vorstellen 2x Kindergarten-Gruppen
1x 7. Klasse
= 49 Veranstaltungen = 49 Gruppen
Blickpunkt Museum 2011–2012
31
Senior-Campus im Winckelmann-Museum
Lion Grote in: Volksstimme vom 11. 7. 2012
Senior-Campus – weil auch Ältere nie auslernen
Hochschule und Winckelmann-Gesellschaft gründen gemeinsame Senioren-Universität in Stendal
Zwei Jahre wurde geplant, nun geht es endlich los. Ab Herbst starten die Hochschule und die
Winckelmann-Gesellschaft gemeinsam den Senioren-Campus Stendal.
Der neue Begegnungsraum
im Winckelmann-Museum
sieht aus wie die gute Stube um 1900: Historische
Graphiken, ein Perserteppich und ein Sofa, das damals vermutlich noch Diwan genannt wurde. Einzig der moderne Computer scheint das Bild zu stören. Doch tatsächlich ist es
gerade die Mischung zwischen Alter und Moderne, worum es auch in diesem Raum gehen soll. Der
Wohnraum ist Teil des SeRom-Zimmer im Begegnungszentrum
nior-Campus Stendal, den
die Hochschule und die Winckelmann-Gesellschaft gestern gründeten. Gemeint ist damit eine
Art Senioren-Uni als Ergänzung zur erfolgreichen Kinder-Uni. „Wir wollen die älteren Menschen
einladen, ihr Wissen zu aktivieren und einzubringen“, erklärt Max Kunze, Präsident der Winckelmann-Gesellschaft. An der Hochschule werden ab Herbst Vorlesungen zu unterschiedlichen Themen wie Geschichte, Politik oder Wirtschaft angeboten. Im Winckelmann-Museum wird es weitere Veranstaltungen geben. Zudem ist dort schon ab sofort das Begegnungszentrum geöffnet.
Dort kann gelesen, gesprochen oder mit modernsten Geräten selbständig gelernt werden. „Wir
sind selber gespannt, wie die Angebote angenommen werden. Für uns ist das auch ein Test“, sagt
Projektmitarbeiter Nico Scholz. Für einen Beitrag von 50 Euro können alle Lehrveranstaltungen
und Angebote genutzt werden. Ist das Interesse groß genug, wird das Programm in den kommenden Semestern noch ausgeweitet. Entstanden ist der Senior-Campus aus einer zweijährigen Planung, die vom Ministerium für Wissenschaft Sachsen-Anhalt mit 200 000 Euro gefördert.
Auch die Mitglieder des Stadtseniorenrats freuen sich, dass die Idee endlich in die Tat
umgesetzt wird. „Wir haben ja vor einigen Jahren schon davon gesprochen“, berichtet Rosel
Merbach, stellvertretende Vorsitzende. Sie ist sicher, dass das neue Bildungsangebot Zuspruch
finden wird. Auch der Name Senior-Campus stört sie nicht. „Wir sollten uns doch freuen,
Senioren zu sein und ein langes, aktives Leben zu haben“, sagt sie. Dazu gehöre eben auch
lebenslanges Lernen. Seniorenrats-Vorsitzender Wolfgang Kruse ist bei aller Euphorie noch
immer etwas skeptisch. „Wir hoffen, dass bei dieser Elefantenhochzeit zwischen Hochschule und
Gesellschaft auch ein Elefantenbaby herauskommt.“
32
Blickpunkt Museum 2011–2012
Ulrich Hammer in: Volksstimme, Dienstag 17. Juli 2012:
Die imaginäre Reise des Norbert Bittner.
Am Sonntag öffnete das Winckelmann-Museum für
eine weitere international anerkannte Sonderausstellung
„Ägypten, Nubien und die Cyrenaika – Die imaginäre Reise
des Norbert Bittner (1786–1851)“. Gezeigt werden 57
großformatige Aquarellzeichnungen des Wiener Künstlers
zu ägyptischen Monumenten. Sie entstanden nach Stichen
eines französischen Forscherteams, das Napoleon in der
Folge seines Ägypten-Feldzuges zur Erforschung seiner
Kunstschätze entsandte und diese in Objektzeichnungen
festhielt. Sie wurden in einem Monumentalwerk
„Description de l’Egypte“ in Paris veröffentlicht. Dank
einer Berliner Leihgabe ist ein Prachtband der Vorlagen
für Bittners Malereien in der Ausstellung zu besichtigen.
Weitere Vorbilder für Bittners Bilder waren die Grafiken
von Christian Gau mit nubischen Ansichten und Arbeiten
von Franz Caucig.
In Einführungsvorträgen zur Ausstellung verwiesen die Wiener Wissenschaftler Dr. Ernst
Cerny und die Kunsthistorikerin Lisa Schwarzmeier auf die künstlerischen Werte von Bittners
Darstellungen. Der Wiener, der Ägypten nie betreten hat, ließ bei der Erschaffung auch seine freie
Fantasie walten. Da tummeln sich französische Soldaten in Gebieten, die sie nie betraten, und
wuchernde Pflanzen verwandeln karge Wüstenlandschaft in heitere Bühnenprospekte.
Die Sonderausstellung im Winckelmann-Museum war bis zum 14. Oktober geöffnet.
Zur Bittner-Ausstellung:
Ägypten, Nubien und die Cyrenaika
Die imaginäre Reise des Norbert Bittner (1786–1851) – zu sehen in der Akademie der bildenden Künste
Wien bis 26. 02. 2012, danach in der Residenzgalerie Salzburg, im Winckelmann-Museum Stendal (D)
und im Kölnischen Stadtmuseum; vgl. Österreich Journal Nr. 104, 3. 2. 2012, S. 92–94; http://www.oejournal.at/Aktuelles/Magazin/2012/104_030212/104_030212_300dpi_A4.pdf –Ausstellung: Ägypten,
Nubien und die Cyrenaika, Norbert Bittners Ägyptenreise auf dem Papier
Von Brigitte Borchhardt-Birbaumer; vgl. Wiener Zeitung, 1. 2. 2012; http://www.wienerzeitung.at/
nachrichten/kultur/museum/432233_Norbert-Bittners-Aegyptenreise-auf-dem-Papier.html
Blickpunkt Museum 2011–2012
33
LITERATURBERICHTE
Zur Winckelmann-Bibliographie:
Antoine, Jean-Philippe, Sculpted by Dead Marbles: Winckelmann’s Outer Selves and the Body without Organs, in:
Space and Self in Early Modern European Cultures, hrsg. von David Warren Sabean, Malina Stefanovska, Toronto:
Univ. of Toronto Press, 2011 S. 475–502.
Bartman, Elizabeth, Egypt, Rome and the Concept of Universal History, in: Roma Britannica: Art Patronage and
Cultural Exchange in Eighteenth-Century Rome, hrsg. von David Marshall, Susan Russel, Karin Wolfe, London: The
British School at Rome 2011 S. 171–181.
Bergengruen, Werner, Die letzte Reise. Eine Novelle, Coesfeld 2012 [Erstauflage 1950].
Berges, Dietrich, Höchste Schönheit und einfache Grazie: Klassizistische Gemmen und Kameen der Sammlung
Maxwell Sommerville im Universty of Pennnsylvania Museum of Archaeology and Anthropology, Philadelphia PA,
dtsch./engl., Rahden 2011 (Rezension: http://www.kunstbuchanzeiger.de/de/themen/epochen/rezensionen/1262/).
Brinkmann, Vinzenz u. a., Die Artemis von Pompeji und die Entdeckung der Farbigkeit griechischer Plastik,
[Katalog einer Ausstellung im Winckelmann-Museum vom 2. Dezember 2011 bis 18. März 2012], hrsg. von Max
Kunze, Ruhpolding 2011.
Claridge, Amanda, Looking for Colour on Greek and Roman Sculpture, Rez. zu: Circumlitio. The Polychromy of
ancient and medieval Sculpture, hrsg. von Vinzenz Brinkmann, Oliver Primavesi, Max Hollein, Frankfurt 2010
[proceedings of the Johann David Passavant Colloquium Circumlitio. The Polychromy of Antique and Mediaeval
Sculpture, 10 - 12 December 2008. Liebighaus Sklupturensammlung] in: Journal of Art Historiography 5, 2011: s.
online: http://arthistoriography.files.wordpress.com/2011/12/claridge.pdf.
Décultot, Élisabeth, Erlebte oder erträumte Antike? Zu Winckelmanns geplanten Griechenlandreisen, in: Ruinen der
Moderne, Archäologie und die Künste, hrsg. von Eva Kocziszky, Berlin 2011 S. 125–140.
Dönike, Martin, Anonymität als Medium inszenierter Öffentlichkeit: Das Beispiel Winckelmann, in: Anonymität
und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, hrsg. von Stephan Pabst, Berlin 2011 S.
151–175.
Dönike, Martin, Goethes Winckelmann. Zur Bedeutung der altertumswissenschaftlichen Studien Johann
Heinrich Meyers für das Antikebild des Weimarer Klassizismus, in: „Ein Unendliches in Bewegung.“ Künste und
Wissenschaften im medialen Wechselspiel bei Goethe, hrsg. von Barbara Naumann, Margit Wyder, Bielefeld 2012 S.
69–85.
Fancelli, Maria, Lettere preromane di Johann Joachim Winckelmann, in: Studi germanici N. S. 48, 2010 S. 77–91.
Fend, Mechthild, Les limites de la masculinité. L’androgyne dans l’art et la théorie de l’art en France (1750–1850),
mit einem Vorwort von Élisabeth Lebovici und einem Nachwort von M. F., aus dem Dt. übersetzt von Jean
Torrent, Paris 2011 (= Fend, Mechthild, Grenzen der Männlichkeit. Der Androgyn in der französischen Kunst und
Kunstheorie 1750–1830, Berlin 2003).
Ferrari, Stefano, Da Vienna a Milano: genesi e reazioni alla prima traduzione della Storia delle Arti del Disegno di
Winckelmann, in: Vie Lombarde e Venete. Circolazione e trasformazione dei saperi letterari nel Sette-Ottocento fra
l’Italia settentrionale e l’Europa transalpina, hrsg. von Helmut Meter, Furio Brugnolo, Berlin 2011 S. 259-272 (=
Reihe der Villa Vigoni 24).
Freschi, Marino, Die deutsche Italien-Sehnsucht von Winckelmann bis Heine, in: Deutschsprachige Literatur und
Kultur im 19. Jahrhundert, hrsg. von Maria Wojtczak, Pozna’n 2011 S. 5–19 (= Studia Germanica Posnaniensia 32).
Geymonat, Analía Amalia, Aportes a la escritura de la Historia del Arte. Hegel – Winckelmann – Schnaase. Un análisis confrontativo, in: Plurentes, Artes y Letras, 1. Jg., 2 (2012) (online-resource).
Giometti, Cristiano, „Per accompagnare l’antico“: the Restoration of ancient sculpture in early eighteenth-century
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Literaturberichte 2011–2012
35
Giordanetti, Piero Emilio, J. J. Winckelmann. Radici classiche, in: Itinerari stetici del brutto, hrsg. von P. Giordanetti
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Hase, Friedrich-Wilhelm von, Die Wiederentdeckung von Herculaneum-Pompeji und Johann Joachim
Winckelmann, in: Pompeji – Nola – Herculaneum, [Ausstellung „Pompeji – Nola – Herculaneum. Katastrophen
am Vesuv“, 9. Dezember 2011 bis 8. Juni 2012] Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt,
Landesmuseum für Vorgeschichte, hrsg. von Harald Meller, Jens-Arne Dickmann, München 2011 S. 328–335.
Haupt, Klaus-Werner, Die zwei Federn des Johann Winckelmann oder: Wer sein Glück erkennt und nutzt, der ist es
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Hein, Hilde, Rez. zu: Whitney Davis: Queer beauty, sexuality and aesthetics from Winckelmann to Freud and be­
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Higginson, Ronald, A History of the Study of South Italian black- and red-figure Pottery, Oxford 2011.
Hofmann, Kim, Goethe und Winckelmann. Ausgewählte Aspekte von Goethes Winckelmann-Rezeption, München
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Holzer, Angela, „aber wider die Unempfindlichkeit ist kein Mittel“. Stoizismus und Sensualismus in Winckelmanns
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Holzer, Angela Cornelia, Rehabilitation Roms: Die römische Antike in der deutschen Kultur zwischen
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Hüfler, Almut, Rezension zu: Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens, Johannes Irmscher und Max Kunze (Hrsg.),
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Wien 1776, in: Bonner Jahrbücher 209, 2009 S. 480–484.
Juffinger, Roswitha, Rom zwischen Klassizismus und Antikenbegeisterung. Anton Raphael Mengs – Johann
Joachim Winckelmann – Kardinal Alessandro Albani – Johann Friedrich Reiffenstein, in: Zentrum der Macht Bd.
2: Die Kunstsammlungen der Salzburger Fürsterzbischöfe. Gemälde / Grafik / Kunstgewerbe, hrsg. von Christoph
Brandhuber 2011 S. 607–611.
König, Diana, Das Subjekt der Kunst: Schrei, Klage und Darstellung. Eine Studie über Erkenntnis jenseits der
Vernunft im Anschluss an Lessing und Hegel, Bielefeld 2011 [darin: Zarter Held. Winckelmanns Laokoon, S. 41–
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Küster, Kerstin, Von Durchgangsorten und Sehnsuchtsträumen. Johann Joachim Winckelmanns Verortung von Kultur,
in: Orte – Ordnungen – Oszillationen. Raumerschaffung durch Wissen und räumliche Struktur von Wissen, hrsg. von
Natalia Filatkina, Martin Przybilski, Wiesbaden 2011 S. 87–112.
Miner, Paul, Blake and Winckelmann’s „Paltry Critick“, in: Notes and Queries 58, 2011 S. 535–537.
Müller, Manuela C., Antikensehnsucht: Johann Joachim Winckelmann und die Folge, Studienarbeit, GRIN Verlag
2011. (Google eBook download, 24 S.)
Müller, Adelheid, Sehnsucht nach Wissen. Friederike Brun, Elisa von Recke und die Altertumskunde um 1800,
Berlin 2012.
North, John Harry, Winckelmann’s „Philosophy of Art“. A Prelude to German Classicism, Newcastle 2012.
Orlante, Emiliano, Rez. zu: Daniel Greineder, From the Past to the Future. The Role of Mythology from
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Orrells, Daniel, Burying and excavating Winckelmann’s History of Art, in: Classical Receptions Journal 3, Nr. 2,
2011 S. 166–188.
Paulin, Roger, Trauer, Eros und Tod in Gerhart Hauptmanns „Winckelmann“-Fragmenten, in: Die Halbschlafbilder
36
Literaturberichte 2011–2012
in der Literatur, den Künsten und den Wissenschaften, hrsg. von Paulin Roger, Helmut Pfotenhauer, Würzburg 2011
S. 311–318.
Prettejohn, Elizabeth, The Modernity of Ancient Sculpture. Greek Sculpture and Modern Art from Winckelmann to
Picasso, London 2011.
Reinhardt, Udo, Der antike Mythos. Ein systematisches Handbuch, Freiburg i. Br. 2011.
Reinhardt, Udo, Mythen – Sagen – Märchen. Eine Einführung mit exemplarischen Motivreihen, Freiburg i. Br.
2012.
Riedel, Volker, Goethes Blick auf die ,Jahrhundert-Gestalt’ Winckelmann (Akzidenzen 18) Stendal 2011.
Rom. Die gelobte Stadt. Eine literarische Reise, hrsg. von Johannes Mahr, Stuttgart 2012 [darin u. a.: Briefe
Winckelmanns, Auszug aus „Geschichte der Kunst des Althertums“].
Royo, Manuel, Du voyage savant aux territoires de l’archéologie. Voyageurs, amateurs et savants à l’origine de l’archéologie moderne, Paris 2011.
Saliceto, Elodie: Les Promenades dans Rome, Winckelmann à la main, in: Enquêtes sur les promenades dans Rome.
„Façon de voir“, hrsg. von Xavier Bourdenet, François Vanoosthuyse, Grenoble 2011 S. 117–139.
Schneider, Rolf, Winckelmanns Tod (Erzählung), Die Affäre Winckelmann (Hörspiel/CD), mit einem Nachwort von
Jost Eickmeyer, Stendal 2011 (= Akzidenzen 19).
Stendhal. Historien de l‘art, hrsg. und eingel. von Daniela Gallo, Rennes 2012.
Thimann, Michael, Vergangene Wirklichkeit oder Sprache der Phantasie? Transformation der Götterbilder bis um 1800:
Montfaucon, Winckelmann, Moritz, in: Götterbilder und Götzendiener in der frühen Neuzeit. Europas Blick auf fremde Religionen
[Katalog zur Ausstellung vom 15. Februar bis 25. November 2012, Universitätsbibliothek Heidelberg], Heidelberg 2012 S. 23–35.
Thorel-Cailleteau, Sylvie: Le nadir de la grâce. Essai sur la figure et la défiguration, Paris 2012.
Wiggen, Maria, Die Laokoon-Gruppe. Archäologische Rekonstruktionen und künstlerische Ergänzungen, Ruhpolding 2011 (=
Stendaler Winckelmann-Forschungen 9).
Wilson, W. Daniel, Goethe, Männer, Knaben. Ansichten zur Homosexualität, Berlin 2012.
Winckelmann, Johann Joachim, Briefe an seine Freunde in der Schweiz, Reprint der Züricher Ausgabe von 1778, Olms: Hildesheim,
Zürich [u. a.] 2012.
Winckelmann, Johann Joachim, Letter and Report on the Discoveries at Herculaneum. Introduction, Translation, and Commentary
by Carol C. Mattusch, Los Angeles 2011 [Originaltitel: Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen (1762) u. Nachrichten
von den Herculanischen Entdeckungen (1764)].
Hierzu die Rez. online von Balbina Bäbler (engl) in: Bryn Mawr Classical Review 03,21,2012: http://bmcr.brynmawr.
edu/2012/2012-03-21.html.
Balbina Bäbler über Maria Wiggen, Die Laokoon-Gruppe. Archäologische Rekonstruktionen
und künstlerische Ergänzungen (Winckelmann-Gesellschaft, Stendal / Verlag Franz Philipp
Rutzen, Ruhpolding 2011) 270 S., 154 Abb., 3 Beilagen.
Die Statuengruppe des Laokoon und seiner Söhne galt schon in der Antike als Meisterwerk: laut
Plinius 36,37 war sie „allen Werken der Malerei und der Bildhauerkunst vorzuziehen“. Als das
Werk 1506 in einem Raum der Trajansthermen gefunden wurde, löste es Euphorie aus: Der (angeblich) anwesende Michelangelo soll es „ein Wunder der Kunst“ genannt haben, Jacopo Sadoleto verfasste ein umfangreiches Gedicht De Laocoontis statua, das am Beginn von über 50 weiteren
Ekphraseis (bis ins 20. Jh.) stand. Im 18. Jahrhundert wurde die Gruppe zu einem Schlüsselwerk
Literaturberichte 2011–2012
37
und Zentrum der ästhetischen Diskussion, nachdem
Winckelmann ihr in seiner programmatischen Erstlingsschrift von 1755, „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und
Bildhauerkunst“, eine enthusiastische Beschreibung
gewidmet hatte; an der Auseinandersetzung beteiligten sich auch Lessing und Goethe. Im 20. Jahrhundert wurde die Diskussion von der Frage nach der
kunstgeschichtlichen Einordnung der Gruppe beherrscht, wozu vor allem zwei sensationelle Funde
beitrugen: 1903 glaubte man den rechten Arm des Laokoon gefunden zu haben (s. u.); der Fund der stilistisch vergleichbaren Marmorgruppen von Sperlonga, die nach einer
Signatur von denselben Bildhauern (Hagesandros, Polydoros, Athenodoros) wie die Laokoon-Gruppe gearbeitet wurden, führten zu der bis heute diskutierten Frage, ob es sich
bei der Laokoon-Gruppe um ein römisches Original oder
die Kopie eines hellenistischen Bronzewerkes handle.1
Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass nach
dieser jahrzehntelangen und teilweise sehr heftig geführten Debatte noch etwas Neues zur Laokoon-Gruppe zu sagen ist. Doch M. Wiggen geht es nicht um die kunstgeschichtliche Position der
Gruppe, sondern um deren werkimmanente Analyse, eine genaue Aufnahme des Bestandes. Tatsächlich ist man sich wohl kaum noch allgemein bewusst, in welchem Ausmaß die Gruppe heute (nach 500 Jahren der „Bearbeitung“) eine Zusammensetzung aus „antikem Bestand, neuzeitlich
künstlerischen Ergänzungen, archäologischen Rekonstruktionen und Mischformen von beiden“
(13) ist.
W. arbeitet mit enormer Sorgfalt und Akribie alle an der Gruppe vorgenommenen Arbeiten auf,
wobei sie zwischen „künstlerischen Ergänzungen“, d. h. frühen neuzeitlichen Restaurierungsversuchen bis Antonio Canova (1816), und „archäologischen Rekonstruktionen“, mit denen versucht
wird, die ursprüngliche antike Konzeption zu ergänzen, unterscheidet; sie legt dabei die gesamte
Geschichte der Restaurierungen und Ergänzungen dar, sämtliche Vorschläge und die Kritik daran,
wobei alles mit Abbildungen dokumentiert ist. Jedes Kapitel ist dabei methodisch stringent in eine
„Analyse“ aller bisherigen Arbeiten, danach den „Kommentar“ der Autorin dazu unterteilt.
Zu wie erstaunlichen Ergebnissen dieses Vorgehen führt, zeigt bereits das 1. Kapitel (21–60)
über den (bereits 1903!) von Ludwig Pollak entdeckten und nach ihm benannten gebogenen
rechten Arm des Laokoon, den Filippo Magi in seiner Rekonstruktion der Gruppe (1957–1959)
anstelle des neuzeitlich restaurierten, nach oben ausgestreckten, anfügte, was heute allgemein akzeptiert ist. Ein zentrales Motiv für diese Akzeptanz war allerdings immer das Stilkriterium der
„Kompaktheit und Geschlossenheit“ der Gruppe, was sich aber vor allem aus der Lokalisierung
des Schlangenkopfs an der linken Hüfte des Laokoon ergab, die diesen ins Zentrum der Komposition rückte; gerade dieser Schlangenkopf ist aber neuzeitlich ergänzt. W. vermag zu belegen,
dass der Pollaksche Arm aus verschiedenen Gründen – handwerklich-technischer Befund der Ansatzflächen, nicht erklärbare Ansatzstelle auf der Rückseite des Unterarms, proportional zu kleine Windung des am Oberarm erhaltenen Schlangenstücks, sowie (von W. zum ersten Mal entdeckt!) die zu geringe Länge des Unterarms – nicht zum Laokoon gehören kann, sondern für eine
Anstückung an der Schulter einer unbekannten männlichen Figur gearbeitet worden sein muss.
38
Literaturberichte 2011–2012
Kap. II (61–84) ist dem sog. „bossierten Marmorarm“ gewidmet, der – offenbar als Ersatz für
den verlorenen rechten Arm des Laokoon bestimmt – lange in der Nähe der Figur lag und von
Magi 1959 auf der Rückseite des neuzeitlichen Postaments befestigt wurde; das Fragment wurde
lange (ohne wirkliche Beweise) Michelangelo zugeschrieben, was das Interesse in der Forschung
erklärt. Für den Ansatz dieses Armes wurde an der Schulter des Laokoon ein scheibenförmiges
Stück abgearbeitet (was, wie der Vergleich mit dem 1540 entstandenen Bronzeabguss des Primaticcio zeigt, nach diesem Abguss gemacht sein muss), was zu einem unlösbaren statischen Problem
führte, da das Gewicht des Armes dadurch zu stark nach außen verlagert wurde. Die traditionelle
neuzeitliche Lösung des emporgestreckten rechten Armes des Laokoon stellte einen Ausweg aus
diesem schwierigen statischen Problem dar. Es handelt sich daher bei dem bossierten Arm um einen künstlerischen Ergänzungsversuch und eine heute überholte Restaurierungspraxis.
Kap. III (85–112) zum Rekonstruktionsproblem des rechten Arms des älteren Sohnes, bei dem
die Hand und ein Stück des von der Schlange umschlossenen Unterarms fehlen, bietet geradezu
ein „Lehrstück“ dazu, wie stark ästhetische Kriterien die Rekonstruktion beeinflusst haben. Vier
verschiedene Haltungen der Hand wurden vorgeschlagen: In Richtung des Vaters Laokoon emporgehalten, mit mehr oder weniger stark zurückgebogenem Handgelenk, was je nachdem als Gebärde der Furcht oder flehentliche Bitte um Hilfe interpretiert wurde; mit gesenkter Handfläche
in Richtung des Jungen zurückweisend als Versuch, die Hand aus der Umschlingung zu ziehen,
oder eine kraftlos nach vorne fallende Hand. Diskutiert wurde auch, ob die Handhaltung mit der
Blickrichtung des Jungen übereinstimmen muss und wieviel Gewicht den Bild- und Schriftquellen des frühen 16. Jahrhunderts beizulegen ist. W. weist durch eingehende Analyse aller Kontaktstellen (s. Beilage 1) zwischen Schlange und Arm nach, dass alle bisherigen Rekonstruktionen methodische Mängel aufweisen und (unbewusst) von der Interpretation des bedeutungsvoll auf Laokoon hinweisenden Gestus ausgehen.
Noch schwieriger ist die in Kap. IV (113–133) behandelte Frage, bei der es um die Rekonstruktion des rechten Armes des jüngeren Sohnes geht, der fast vollständig verloren ist und bis
1957 emporgestreckt (sog. „Pathos-Motiv“) rekonstruiert wurde. Erfolgversprechend ist W.s genaue Analyse der fragmentarisch erhaltenen Schlangenwindungen am Oberarm (Beilage 2, Abb.
1); da das Gestaltungsprinzip die Korrelation zwischen Bewegungen der Schlange und Körperhaltung des Jungen war, muss der rechte Arm ebenso wie die Hand eine Bewegung gehabt haben, die
dem Agieren der Schlange entgegengerichtet war, eine Abwehrreaktion gegen Zugbewegung nach
außen.
Diese Frage führt W. in Kap. V (135–170) zu der eingehenden Untersuchung der mit dem Verlauf der sog. Oberen Schlange der Laokoon-Gruppe verbundenen Probleme, wozu sie einen neuen, sehr überzeugenden (und erstmals die Gewänder des Sohnes als Darstellungsmittel einbeziehenden) Rekonstruktionsvorschlag für das Schwanzende der oberen Schlange (Kap. VI, 171–174)
macht, nämlich rechts neben dem Kopf des älteren Sohnes.
Kap. VII (175–185) ist Grundsatzfragen zu archäologischen Rekonstruktionen und künstlerischen Ergänzungen gewidmet und daher so grundlegend, dass es vielleicht an einem prägnanteren Ort (als Fazit?) stehen sollte, obwohl es von den Problemen des Verlaufs der Schlangen
ausgeht.
Die folgenden Kapitel widmen sich umfassenderen Aspekten der ganzen Komposition, nämlich
den Fragen des skulpturalen Kontextes links (Kap. VIII, 187–210) bzw. rechts (Kap. X, 219–220)
des Laokoon, mit einem Einschub (Kap. IX, 211–218) zum Zeugniswert des Bronzeabgusses der
Gruppe von Primaticcio, bei dem es sich um den ältesten neuzeitlichen Abdruck handelt, der den
Zustand von 1540 wiedergibt und der daher, insbesondere zusammen mit der Hinzuziehung zeit-
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39
genössischer Zeichnungen, eine genauere Kenntnis des antiken Bestandes ermöglicht, was umso
bedeutender ist, da die Vielzahl neuzeitlicher Abarbeitungen und Restaurierungen (gerade z. B.
am Oberarm des jüngeren Sohnes) zu einer immer größeren Entfernung der Gestalt der Gruppe
von ihrer ursprünglichen antiken führte. Ein bislang ungelöstes Problem ist auch die Aufstellung
des älteren Sohnes im Gruppenverband, die in der bisherigen Rekonstruktion zweifelhaft bleibt,
da diese – mit dem Rücken zum Altarblock und in einer Ebene mit den beiden anderen Figuren
– zu Freiraum zwischen den Kontaktstellen führt. Dies hängt direkt mit den Verständnisschwierigkeiten für die Umschlingung am rechten Arm des älteren Sohnes zusammen (193–204), die in
der Forschung sehr oft als „verwirrtes Knäuel“ abgewertet wird; aber die Güte der antiken Komposition der Gruppe spricht gegen ein solches Urteil. W. kann erstmals den Schlangenkörper der
Umschlingung am rechten Arm des älteren Sohnes nachweisen. Ungeklärt bleiben die Fehlstellen
am Kopf des älteren Sohnes und an der Kopf-Nacken-Partie des jüngeren.
Kap. XI zeigt gewissermaßen als Bilanz in beeindruckender Weise, dass es bislang keine Untersuchungen zum Verhältnis der Forschung des 20. Jahrhunderts zur vorausgehenden künstlerischen Tradition der Auseinandersetzung gibt; auch archäologische Rekonstruktionen werden oft
ohne ausreichende methodische Grundlage durch (inhaltliche oder stilistische) Interpretationen
beeinflusst, die von bestimmten Prämissen ausgehen. Bemerkenswert (und bislang nicht hinterfragt) ist auch das Faktum, dass die Gruppe fast immer aus dem Blickwinkel von schräg rechts abgebildet wird (was unbewusst die Diskussion beeinflusst hat), obwohl die Frontalansicht die gültige Hauptansicht wäre.
W. führt aufschlussreich vor Augen, wie oft auf den ersten Blick plausibel wirkende und seit
langem in der Forschung akzeptierte Rekonstruktionen nicht fundiert sind bzw. sich auf neuzeitliche Ergänzungen stützen, mehr von inhaltlichen Interpretationen und künstlerischen Konzeptionen als vom antiken Bestand geleitet sind oder Fehl- und Ansatzstellen, die sich nicht unmittelbar erklären lassen, einfach übergehen.
Wenn die kunstgeschichtliche Einordnung und Datierung der Laokoon-Gruppe auch nicht
das erklärte Ziel des Arbeit ist, so hat die sorgfältige Analyse doch bisweilen auch für diesen Aspekt weitreichende Folgen: Da der sog. Pollaksche Arm nicht zur Gruppe gehören kann und somit die Rekonstruktion des rechten Arms des Laokoon in gebeugter Haltung wieder eine offene
Frage darstellt, andererseits der Mantel des älteren Sohnes fester Bestandteil der ursprünglichen
Gruppe sein muss, entfallen die von Bernard Andreae angeführten Parallelen in der pergamenischen Kunst, was das von ihm erschlossene hellenistische Bronzeoriginal unwahrscheinlich macht
(255 f.).
„Unbewusste Einflussfaktoren mit weitreichenden Konsequenzen“ nennt W. die Gewichtung
einzelner Rekonstruktionsprobleme: die neuzeitliche Interpretation der rechten Hand des rechten Sohnes als bedeutungsvoller, auf den Vater hinweisender Gestus, was Folgen für die materielle Eingliederung der Umschlingung hat, und die Wahrnehmung der Gruppe aus dem Blickwinkel
von schräg rechts vorn.
Einige klare Desiderate für die Forschung wären: Die erneute Untersuchung der Rekonstruktionsprobleme der rechten Arme der beiden Söhne und die Erforschung der Ursache der beliebten
neuzeitlichen Anschauungsform (258); vor allem müssten künftige Rekonstruktionen eine solide
wissenschaftlich-methodische Begründung haben, die sich am antiken Bestand orientiert.
W. gibt dafür ein grundlegendes methodisches Instrumentarium und die notwendigen Kriterien (vgl. Kap. VII); sie hat die künftige Laokoon-Forschung auf eine neue Grundlage gestellt.
Die Arbeit enthält eine solche Fülle von Informationen (denen auf diesem geringen Raum nicht
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Literaturberichte 2011–2012
gerecht werden konnte), dass man sie als „Handbuch“
bei jeder Beschäftigung mit der Gruppe stets griffbereit
halten sollte.
1 S. z. B. Richard Neudecker, Laokoongruppe, DNP 6, 1999 Sp. 1135–
1137; Berthold Hinz, Laokoongruppe, DNP 15/1, 2001 Sp. 10–19; Susanne Muth, Laokoon, in: Luca Giuliani (Hrsg.), Meisterwerke der antiken Kunst, München 2005 S. 72–93; Dorothee Gall, Anja Wolkenhauer
(Hrsg.), Laokoon in Literatur und Kunst, Berlin 2009.
Ingo Pfeifer über Erhard Hirsch, Kleine Schriften zu
Dessau-Wörlitz, Verlag Janos Stekovics, Halle 2011
712 Seiten, 605 Abb. s/w und 102 Abb. farbig.
Als 1985 nahezu zeitgleich in Ost und West, wenn auch
mit verschiedenen Untertiteln Erhard Hirschs Buch
„Dessau-Wörlitz. Aufklärung und Frühklassik (Leipzig) /
„Zierde und Inbegriff des 18. Jahrhunderts“ (München)
erschien, wurde der Autor, den man mit Fug und Recht
als Nestor der Dessau-Wörlitz-Forschung bezeichnen kann, erstmals durch die überregionale Forschung wahrgenommen. Bis dahin hatte er bereits eine Fülle von kleineren Aufsätzen zum Thema in verschiedenen Publikationen in Dessau und Halle untergebracht und damit auf ein Kulturphänomen aufmerksam gemacht, welches letztlich im Jahr 2000 durch die Aufnahme auf die
U­NESCO-Welterbeliste geadelt wurde.
Seine Liebe zu einem Gegenstand, der in der DDR jahrzehntelang allenfalls als Naherholungsgebiet und Heimatgeschichte akzeptiert wurde, machte es Erhard Hirsch nicht einfach, die Ergebnisse seiner emsigen Forschungen zu publizieren. So waren es nicht die großen historischen Jahrbücher oder Zeitschriften, in denen sich seine Artikel fanden, sondern Universitätsskripte, Tagungsbände oder Museumspublikationen. Auch seine 1969 in Halle vorgelegte Dissertation „Progressive Leistungen und reaktionäre Tendenzen des Dessau-Wörlitzer Kulturkreises in der Rezeption aufgeklärter Zeitgenossen“ erschien erst 2003 unter dem Titel „Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung. Personen – Strukturen – Wirkungen“. Wer also auf
die vielen Detailergebnisse Hirsch’scher Forschungen zugreifen wollte, musste enorme bibliographische Arbeit leisten. Dies wird nun erleichtert.
Bereits 1999 legte Günter Ziegler eine Festschrift für Erhard Hirsch auf, in der sich auch eine
Komplettbibliographie seiner bisherigen Schriften findet. Günter Ziegler hat es auch unternommen, 2011 im Hallischen Stekovics-Verlag einen Sammelband mit 50 Aufsätzen von Erhard
Hirsch herauszugeben, der Beiträge von 1969 bis 2009 enthält.
Diese sind hier nicht chronologisch zusammengestellt, sondern in elf große Blöcke gefasst. Für
den vor allem archäologisch interessierten Leser dürften besonders die sechs Aufsätze des Kapitels „Dessau-Wörlitz und die Antike“ von Interesse sein, die zwischen 1982 und 1997 entstanden,
und von denen zwei erstmals in den Schriften der Winckelmann-Gesellschaft veröffentlicht wurden. Dies sind „Pompeji und Herculaneum in der Dessauer Nachschöpfung“ (Stendal 1982) und
„Winckelmann und seine Dessauer Schüler“ (Stendal 1983).
Der Altphilologe Hirsch verfügt über eine enorme Denkmal- und Quellenkenntnis, eine der
Stärken des Autors, die ihn viele Vorbilder und Anregungen finden lässt, die Friedrich Wilhelm
Literaturberichte 2011–2012
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von Erdmannsdorff in seinem architektonischen Werk verarbeitete. Dies ist besonders in dem
Beitrag „Winckelmann-Nachfolge im Dessau-Wörlitzer Kulturkreis II“ erkennbar. Da der Beitrag
mit dem Nachdruck der Fotos aus der Erstveröffentlichung (1986) illustriert ist, ist deren Qualität zum Teil eingeschränkt, ein Manko, welches leider auch für andere Aufsätze in diesem Sammelband gelten muss. Hier wären einige Neuaufnahmen angebracht gewesen. Schließlich hat sich
auch E. Hirsch der Mühe unterzogen, den Anmerkungsapparat zu überarbeiten und einige neuere
Publikationen unauffällig einzufügen.
Alle retrospektiven Veröffentlichungen müssen natürlich mit dem Umstand leben, dass Hypothesen oder Ansichten inzwischen durch neuere Forschungen überholt sein können. Dies ist zum
Beispiel beim Wörlitzer „Pantheon“ der Fall. In „Pompeji und Herculaneum“ wird auf die Vorbildwirkung des Umganges des Theaters von Pompeji verwiesen, während in „Italienreise 1992“
der Tor d’Schiavi als Vorbild eingeführt wird. Hier kann man die Entwicklung der Auseinandersetzung des Autors mit einem Thema beobachten. Inzwischen hat die neueste Forschung aber den
Rekonstruktionsversuch von Aloys Hirt aus dem Jahre 1791 als Grundlage für den Bau entdeckt,
wobei die Annahme der Deckengestaltung nach dem Tor d’Schiavi nicht in Frage gestellt wird.
Alle von Erhard Hirsch verfassten Beiträge sind keine trockenen, nur Fakten auflistende Artikel. Vielmehr ist er jemand, der mit seiner profunden Quellenkenntnis den Leser in den Bann
zieht. Gerade in den kulturgeschichtlichen Aufsätzen gelingt ihm ein essayistischer Schreibstil.
Die Themen reichen vom Philanthropismus über die Judenemanzipation bis hin zur literarischen
Öffentlichkeit in Anhalt-Dessau im 18. Jahrhundert. Das umfangreiche Abbildungsmaterial, mit
dem die Beiträge auch bei ihrem Erstdruck ausgestattet waren, überrascht immer wieder mit seltenen Motiven. Leider ist damals wie heute nur in Ausnahmefällen der Standort von Porträts oder
historischen Ansichten angegeben. Dies ist bedauerlich, da sich die Möglichkeit geboten hätte,
die­se in den Bildunterschriften einzufügen.
Der am Ende des wirklich dicken Bandes (der Titel „Kleine Schriften“ scheint sich hier zu karikieren) angefügte Tafelteil mit schönen Fotos von Janos Stekovics folgt den Texten von Hirsch etwas unorganisch. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, hier habe der Verleger nur nach
einer Möglichkeit gesucht, seine eigenen Aufnahmen aus dem Gartenreich Dessau-Wörlitz zu publizieren. Des ungeachtet, wer die vielen Aufsätze von Erhard Hirsch nicht gesammelt hat und
sein Buch von 1985 nicht antiquarisch erwerben konnte, wird mit diesen Band vollkommen entschädigt.
Autorreferat: Birgit Sick, Kalkulierte Vieldeutigkeit. Das Androgyne als ästhetisches Paradigma bei
Winckelmann, Heinse und Goethe, Würzburg, Königshausen & Neumann [vorauss. Dez.] 2012.
Was den Ordnungsvorstellungen der Aufklärung widersprach – die Vorstellung von Personen,
„die sowohl Männer als Weiber abgeben können“ – wird bei Winckelmann zum Paradigma des
Idealschönen. Die vorliegende Studie stellt Winckelmanns Konzept des Androgynen in den Kontext
einer Diskussion, in der das im Aufklärungsdiskurs Tabuisierte zum ästhetisch Privilegierten wird.
Der Begriff Androgynie ist schwer zu definieren. Dies zeigen sowohl die historischen als auch die
aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussionen. Darin bildet sich die Charakteristik des Phänomens selbst ab: Gerade das Unfassbare und das Unbestimmbare sind seine zentralen Eigenschaften. Es
geht um einen rätselhaften Zustand, der auf merkwürdige Weise sowohl männliche als auch weibliche
Merkmale in sich vereint. Dabei ist das Androgyne mehr als die bloße Doppelung von Mann und Frau,
was als ursprüngliche Bedeutung des auf das Altgriechische zurückgehenden Wortes galt; vielmehr insi-
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Literaturberichte 2011–2012
nuiert es ein über die beiden Geschlechter hinausreichendes
Drittes mit eigenen Qualitäten.
Die Arbeit untersucht die spezifisch literarische Dimension des Androgynen in der deutschen Literatur und
Kunstliteratur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts,
wobei nicht die Auffächerung der Aspekte des Androgynen in ihrer Vielfalt im Vordergrund steht – dies ist
mit Blick auf die von der Antike herrührende, reichhaltige Tradition des Themas bereits in der Forschung dargelegt worden –, sondern die bisher fehlende Zuspitzung
auf die ästhetische Qualität literarisierter androgyner Phänomene in einer für das Thema entscheidenden Zeit. Zum
einen stellt der Untersuchungszeitraum jenen historischen
Rahmen dar, in dem sich die normativen Vorstellungen dichotomer Geschlechtsrollen und -charaktere ausprägen und
das Bemühen um klar voneinander geschiedene Bereiche
des Männlichen und des Weiblichen unweigerlich zu einer verschärften Diskussion jener Grenzphänomene führt,
die sich der Geschlechterordnung entziehen. Zum anderen liegt hier auch die ästhetikgeschichtlich bedeutsame Schwelle des Übergangs von der klassischen
Mimesis- zur beginnenden Autonomieästhetik der Moderne; die traditionell gewünschte Eindeutigkeit des Verhältnisses von Zeichen und Sache löst sich angesichts semiotischer Vieldeutigkeit und
zunehmender Selbstbezüglichkeit der Zeichen auf. Gegenstand der Untersuchung ist deshalb auch der
im Phänomen des Androgynen manifeste Zusammenhang zwischen Geschlechterdiskurs und Kunsttheorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Als historische Voraussetzungen werden im ersten Kapitel die zentralen antiken Quellen, Platons Symposion und Ovids Metamorphosen, vorgestellt. Platons Androgynie-Mythos imaginiert einen verlorenen
Urzustand, in dem die Menschen nicht als Einzelne, sondern als Doppelwesen existierten. Seine Geschichte von den Doppelmännern, Doppelfrauen und Mannfrauen enthält die Vision einer
Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren. Gerade das Mythologem der Mannfrauen, das im Geschlechterdiskurs des 18. Jahrhunderts in der negativ konnotierten Bezeichnung „Mannweib“ wiederkehrt, macht
in der christlichen Überlieferung als Ausdruck einer vollkommenen und gottähnlichen Ganzheit des
Menschen und als Bild von der Ursprungseinheit der beiden Geschlechter Karriere. Als Grundutopien des Androgynen prägen diese Vorstellungen die Diskussionen des Phänomens bis ins 18. Jahrhundert
und darüber hinaus. Bei Ovid erscheint das Androgyne als „forma duplex“, deren ambigue Gestalt das
Ergebnis einer „dichte[n] Umschließung“ zweier mythologischer Figuren (Hermaphroditus und Salmacis) ist. Die Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren führt in Ovids Hermaphroditus-Mythos zu einem
Bezeichnungsproblem und eröffnet damit das hermeneutische und sprachtheoretische Problemfeld,
welches das Androgyne umgibt.
Das zweite Kapitel rekonstruiert den historischen Ordnungsrahmen, auf den sich, seine Normen
entweder bestätigend oder überschreitend, die Diskussionen des Androgynen im 18. Jahrhundert beziehen. Es ist dies das sogenannte „Zwei-Geschlechter-Modell“, das Männlichkeit und Weiblichkeit
als dichotome Pole definiert. Das Modell wird von einer Geschlechtersemiotik organisiert, welche
die Geschlechtscharaktere als quasi natürliche Zeichen ausweisen soll. Androgyne Grenzphänomene,
die allerdings gerade durch die strikten Kategorisierungsbestrebungen erzeugt werden, erscheinen vor
diesem Hintergrund als Provokation. Der Zwitter als Naturgegenstand ist „der Vernunft allezeit [...]
Literaturberichte 2011–2012
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zuwider“; er unterläuft die von der Aufklärung als allgemeingültig postulierte Logik der (Geschlechter-)Differenz, wonach es – dem Satz vom Widerspruch entsprechend – „ohnmöglich“ ist, „daß etwas zugleich sey
und nicht sey“.
In der Kunstliteratur hingegen wird das, was im außerästhetischen Diskurs den Bruch der Ordnung bedeutet, nicht nur zu einem beliebten Gegenstand, dessen Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen gerade seinen Reiz ausmachen, sondern es erscheint geradezu als ein Paradigma des Schönen. Diesem Phänomen ist das dritte Kapitel gewidmet. Die Thematisierung des Androgynen erfolgt in
der zeitgenössischen Kunsttheorie anhand der Kunst der Alten. Während der noch stark an Aufklärungsparametern orientierte Comte de Caylus in seinem Werk Recueil d’Antiquités (Band 3, 1759) die
schönen Hermaphroditen-Darstellungen der Antike noch von der „abscheuliche[n] Mißgeburt“, vom
hässlichen Zwitter der Biologie, trennen muss, ist für den Vordenker des deutschen Klassizismus, Johann Joachim Winckelmann, ausschließlich die ästhetische Dimension des Androgynen von Bedeutung. In der Uneindeutigkeit der mit den vermeintlich dichotomen Polen spielenden androgynen Figuration erkennt Winckelmann jene „Unbezeichnung“, welche das Idealschöne konstituiert. Wie
schon bei Caylus ist auch in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) – und das ist
das Bemerkenswerte – das Androgyne gerade der Paradefall des klassizistischen Ideals von der hergestellten, zusammengesetzten Schönheit: „[Z]weydeutige[] Schönheiten“, die er vor allem an Darstellungen der „aus beyden Geschlechtern gleichsam vermischte[n] Natur Männlicher Jugend“ entdeckt, sind für ihn nicht trotz, sondern wegen ihrer Zweideutigkeit schön. Es zeigt sich, dass das
Androgyne in der Kunsttheorie zum Ausdruck höchster Kunst avanciert, weil es, mehr als jede andere
schöne Menschengestalt, die alte Idee von Naturnachahmung als perfektionierender Auswahl der
schönsten Teile verkörpert. Zugleich verweist das Androgyne als zusammengesetzte Schönheit auf die
hohe Künstlichkeit, welche jenes klassizistische Ideal erst begründet. – Auch Wilhelm Heinse feiert die
Attraktion des Zweideutigen. Bei ihm ist sie nicht entkörpertes Ideal, sondern Ausdruck handfester
Sinnlichkeit. Seine Hermaphroditen-Beschreibungen (ca. 1780–1783) spielen jedoch genauso mit der
Aufhebung der Geschlechtergrenzen, mit der Vieldeutigkeit der Perspektiven, mit dem ständigen Umkippen einer Option in die andere. Dabei wird besonders offenkundig, wie die Kunst mit dem außerästhetisch Verfemten, mit dem Verbotenen experimentiert und den Tabubruch probt, um die eigenen
und eigengesetzlichen ästhetischen Konzepte auszuloten.
Das vierte Kapitel gilt dem prominentesten Beispiel des Androgynen in der deutschen Literatur:
Die Mignon-Gestalt in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) bedarf des antiken Vorbildes,
der Rückversicherung durch den normativen Kanon der Alten nicht mehr, um das ebenso verstörende wie faszinierende Phänomen der geschlechtlichen Ambivalenz zu thematisieren. Goethe literarisiert das Androgyne im epischen Medium anhand einer eigenen Romanfigur als kalkulierte Vieldeutigkeit, die mit der Erzählstruktur des Textes selbst verflochten ist. Hier ist das Androgyne vollends ästhetisches Phänomen, charakterisiert durch die Qualität der nur ihm eigenen „sonderbare[n] Natur“. Mignon vereinigt nicht nur das geschlechtlich Differente, sondern setzt auch, mit „Natur“ und
„Unnatur“, klassisches Mimesisgebot und dessen Konterkarierung in eins. Die kalkulierte Vieldeutigkeit des androgynen Geschöpfes hintertreibt alle Bemühungen um Eindeutigkeit. Darum kann
die Mignon-Figur schwerlich als Symbol oder Stellvertretung, als Repräsentation eines anderen als sie
selbst aufgefaßt werden; sie erscheint vielmehr als eine auf sich selbst verweisende ästhetische Konfiguration. Dabei zeigt sich, dass zwischen Mignon und der zeitgenössischen Debatte über die „Zierrathen“
eine Reihe bemerkenswerter Parallelen bestehen. Vor allem in Mignons grotesken Bewegungen, die
Wilhelm umspielen, in Mignons eigenwilliger Art, sich Wilhelm, der Hauptfigur, beizuordnen,
sowie in den Bändigungs- und Vereinnahmungsversuchen der aufgeklärten Gesellschaft, die Mignon
ihrer Ordnung einverleiben möchte, treffen – ähnlich wie in der Ornamentdebatte – Idiosynkrasien
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gegen arabeske und vemeintlich nutzlose „Gestalten, die nirgends in der Natur ihr Daseyn haben“,
auf autonomieästhetische Entwürfe des „sich selbst bezeichne[nden]“, „in sich vollendete[n]“ Zeichens.
So erscheint Mignon als das in Schrift überführte Ornament. Die doppeldeutige Tradition des Androgynen wiederaufnehmend, die von der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren handelt – von Mann und Frau,
Einheit und Doppelheit, Utopie und Monster – ist Goethes Mignon Groteske und Ideal zugleich. Sie
spielt mit den grotesken Anteilen des Idealen ebenso wie mit dem ästhetischen Potential des Grotesken. Wo die Kunsttheorie, allen voran Winckelmann, das Androgyne als Paradigma des Schönen behandelt, geht es dem literarischen Text um das Eigengesetzliche des Ästhetischen, das im Androgynen
thematisiert werden kann.
Ingo Pfeifer über Die Grand Tour des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau und des Prinzen Johann Georg durch Europa. Aufgezeichnet im Reisejournal des Georg Heinrich von Berenhorst
1765 bis 1768, hrsg. und kommentiert von Antje und Christophe Losfeld unter Mitarbeit von
Uwe Quilitzsch, Mitteldeutscher Verlag Halle 2012, 2 Bände. Band I: Einleitung, deutsche
Übersetzung, Anmerkungen, 354 S.; Band II: Französisches Original, Bibliographie, Personenund Ortsregister, 304 S.
Mit der Etablierung der Bildungsreise nach Italien als wichtigem Element nicht nur der Künstlerausbildung, sondern auch der bürgerlichen Kultur stieg die Zahl der Reisetagebücher und Briefberichte aus dem sonnigen Süden enorm an. Doch betraf dies vor allem den Zeitraum des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts und der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit sind allein
in Deutschland über 200 derartige Berichte publiziert worden. Weitaus geringer ist die Zahl der
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überlieferten Tagebücher und Briefe aus den Jahren, in denen Johann Joachim Winckelmann in
Rom lebte. Und noch kleiner ist die Zahl derjenigen Aufzeichnungen, in denen Winckelmann direkt Erwähnung findet.
Dieser kleinen Zahl kann nun glücklicherweise ein weiteres Dokument hinzugefügt werden:
die im Auftrag der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz veröffentlichte Übersetzung des Reisetagebuches, welches Georg Heinrich von Berenhorst (1733–1814) als Reisemarschall auf der Grand
Tour des Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau 1765 bis 1768 führte. Dieses
Tagebuch ist gewissermaßen das Paralleltagebuch zu Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorffs
kunsthistorischem Tagebuch, welches bereits 2001 in der Bearbeitung von Ralf-Torsten Speler
veröffentlich wurde. Damit ist nun eine weitere wichtige Quelle zur Entstehungsgeschichte des
Gartenreiches Dessau-Wörlitz, aber auch zur Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts vollständig
der Öffentlichkeit zugänglich.
Bereits 1847 publizierte Eduard von Bülow, Neffe des Verfassers, eine Übersetzung von Auszügen aus dem in französischer Sprache verfassten Originalmanuskript. Da Bülow jedoch noch in
einer Zeit lebte, in der immer wieder Italienberichte publiziert wurden, sah er keine Notwendigkeit darin, das Gesamtwerk zu veröffentlichen. Zuletzt wurde meist ein 1978 besorgter Reprint
aus der Reihe Bibliotheca Rerum Militarium zur Hand genommen, da Bülows Originalausgabe
ebenfalls selten greifbar war.
Georg Heinrich von Berenhorsts 1775 zusammengestelltes Manuskript, in das er auch Briefe
einschob, war 1934 in die Anhaltische Landesbücherei in Dessau gelangt, wo im selben Jahr
eine 339 Seiten starke maschinenschriftliche Abschrift hergestellt worden war. Diese überdauerte
glücklicherweise den Weltkrieg, in dem die originale Handschrift verloren ging. Die Hallenser
Romanisten Antje und Christophe Losfeld übernahmen die schwierige Aufgabe der Übersetzung
und Kommentierung. Gerade im Vergleich zu den bereits von Bülow übersetzten Passagen zeigen
sich die Vorzüge der neuen Übersetzung. Zwar mag Bülows Übertragung in der Wortwahl dem
Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts teilweise näher stehen, jedoch lieferte er, wie sich jetzt zeigt,
keine wörtliche Übertragung, sondern in vielen Passagen eine etwas zusammenfassende, literarisch
gefärbte Version. Die nun publizierte, vollständige Übersetzung, die sehr eng am französischen
Original bleibt, sollte daher in Zukunft die Bülow’sche Fassung als zitierfähige Quelle ersetzen.
Auf die Kritik, Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorffs ebenfalls in französisch verfasstes Tagebuch nicht auch in der Originalversion publiziert zu haben, hat man reagiert.1 So enthält Band I
die Einführung in die Quelle und die deutsche Übersetzung. Die 1151 Anmerkungen zur deutschen Übertragung erleichtern wesentlich das Verständnis des Textes. Band II umfasst den originalen französischen Text. So kann nun jeder, dem die eine oder andere Passage in der Übersetzung
zu modern anmutet oder wer aus anderen Gründen auf den Originaltext zurückgreifen möchte,
dies tun. Eine Bibliographie sowie ein Personen- und Ortsregister am Ende des 2. Bandes vervollständigen den Apparat.
Während Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff akribisch die besichtigten Sammlungen und
gesehenen Kunstwerke und Denkmale auflistet, erwähnt Berenhorst diese nur am Rande. „An
einem der Hauptziele unserer Reise angelangt, überlasse ich die Feder meinem Freund Erdmannsdorff. Er kennt sich sehr gut aus, ist selbst Maler und Architekt. Daher wird es ihm besser als mir
gelingen, alle bemerkenswerten Gegenstände zu behandeln, die im Auge der Kunstliebhaber aus
Rom die erste Stadt des Universums machen.“ Dafür erfährt man bei Berenhorst aber etwas über
die Gesellschaftsbesuche, die ein genauso wichtiger Bestandteil einer Grand Tour waren wie das
Kunsterlebnis. Erdmannsdorffs Tagebuch bricht auf der Rückreise von Rom im Juni 1766 am
Lago Maggiore ab.2 Berenhorst lässt uns aber den weiteren Reiseverlauf über Nîmes, Lyon und
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Literaturberichte 2011–2012
Paris nach London nachvollziehen. Und so erfährt der staunende Leser, was der Dessauer Fürst an
England besonders schätzte: „Freundschaft, reizvolle Mädchen, exzellentes Roastbeef und Sauberkeit!“ (I, 215)
Da Berenhorst mit dem Prinzen Hans Jürge in Paris zurückblieb, kann man aus den von Berenhorst zitierten Briefen die weiteren Stationen des Fürsten in England nur pauschal nachvollziehen: Newcastle, Schottland, die Landsitze westlich Londons, Bath, Bristol, Oxford. Im Februar 1767 trennte sich die Reisegruppe wieder, Fürst Franz reiste gemeinsam mit Erdmannsdorff
über Frankreich und Flandern nach Dessau zurück. Berenhorst blieb mit dem Prinzen Hans Jürge zurück, um später nach einem halbjährigen Paris-Aufenthalt im März 1768 wieder in Dessau
zu sein.
Neben all diesen Aspekten liefert uns Berenhorst eine ungemein interessante und lebhafte Charakterisierung Johann Joachim Winckelmanns. In einem eingeschobenen Brief vom 12. April
1766, der vermutlich an seinen daheim gebliebenen Bruder Karl gerichtet war, notierte er: „Sie
bitten mich darum, mein lieber Freund, einige Charakterzüge des Abbé Winckelmann zu beschreiben: Er ist ein sehr feuriger Mensch, der nie ein längeres Gespräch führen kann, ohne lebhaft zu werden. Verfügte er nicht über so viele Fähigkeiten, so würde man behaupten, er sei kategorisch, aber ein Gelehrter seines Schlags hat das legitime Privileg zu entscheiden. Dennoch hat er
Vorurteile, die allen auffallen, sogar denjenigen, die im Vergleich zu ihm wie blind sind. Dessen
ungeachtet empfehle ich, ihm nicht zu widersprechen, vor allem wenn er zu Tische sitzt, wo der
Orvieto-Wein, den er als ein guter Deutscher besonders mag, ihm oft in den Kopf steigt. Es kam
vor, dass er in einer solchen Situation vom König von Neapel sprach und behauptete, er sei ein
Dummkopf. ‚Bedenken Sie, Herr Abbé‘, erwiderte der Prinz von Mecklenburg, der sich in diesem
Augenblick erinnerte, dass der König sein Schwager war, ‚dass Sie von einem gekrönten Haupt
sprechen, das in wenigen Tagen für volljährig erklärt wird.‘ ‚Bei Gott‘ rief dann Winckelmann
aus, ‚dann wird er ein Hauptdummkopf sein!‘. Offenbar mag ihn das einfache Volk nicht. Dies
liegt zum Teil an seinen schroffen Manieren und zweitens daran, dass die Römer für skandalös
halten, dass ein Vandale, wie sie sagen, zu ihnen kommt und ihnen ihre antiken Schätze mit einer
Gelehrsamkeit erklärt, die ihre gesamten Kenntnisse übersteigt und sie verwundert. Er ist mittelmäßig groß, ziemlich hager und sein Rücken ist ein wenig krumm, seine Augen grau und lebhaft,
die Knochen seines Gesichts sind vorspringend und seine Nase bogenförmig. Er hat Pockennarben und läuft schnell und hastig.“ (I, 102)
Da Bülow diese Passage nicht publiziert hatte, dürfte sie für die Winckelmann-Forschung von
nicht geringem Interesse sein. Ebenso interessant ist der Hinweis auf einen von Rehm/Diepolder
nicht erfassten Brief Winckelmanns an den Prinzen Johann Georg von Anhalt-Dessau vom Dezember 1767. Berenhorst fügt in sein Tagebuch einen Brief des Prinzen an seinen Bruder, den regierenden Fürsten, vom 4. Januar 1768 aus Paris ein. Darin heißt es: „Vor kurzem habe ich indes einen Brief von Winckelmann erhalten. Er merkte an, dass er in Neapel gewesen ist in der Absicht, nach Sizilien zu fahren, aber er sei gegen alle Erwartungen in dieser Stadt so gut empfangen
worden, dass er dort bis zu der Zeit, in der der Kaiser in Rom erwartet wurde, geblieben sei, was
ihn gezwungen hatte, wieder dorthin zurückzukehren und seine Reise nach Sizilien auf das nächste Frühjahr zu verschieben.“ (I, 281 f.) Dieser Aufenthalt in Neapel ist durch andere Briefe Winckelmanns gut dokumentiert, jedoch kann nun noch ein weiterer Adressat hinzugefügt werden.
1 Christoph Frank, Rezension zu: Ralf-Torsten Speler (Hrsg.): Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff in: Sehepunkte 3 (2003) Nr.
11¸ http://www.sehepunkte.de/2003/11/4265.html (16.7.2012)
2Aus einigen Bemerkungen Berenhorsts in Nîmes kann man schlussfolgern, dass Erdmannsdorffs Tagebuch ursprünglich wohl
auch noch diesen Ort mit umfasst haben muss.
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Autorreferat: Angela Holzer, Rehabilitationen Roms. Die römische Antike in der deutschen
Kultur zwischen Winckelmann und Niebuhr, Dissertation Princeton University 2011, 559 S.
(Die Dissertation wird nächstes Frühjahr im Winter-Verlag Heidelberg erscheinen).
Das Nachleben der römischen Antike durchzieht um 1800 alle Bereiche der Kultur. Diese wissenschafts- und ideengeschichtliche Studie untersucht die Vorstellungen vom Römischen, welche in
den zeitgenössischen kulturellen Leitdisziplinen – der Kunstgeschichte, der Historiographie und
der Literaturgeschichte – kursierten.
Der erste Teil der Studie ist Winckelmanns Kunstgeschichtsschreibung gewidmet. Winckelmanns Werk lieferte einen grundlegenden Beitrag zur deutschen Gräkomanie. Die deutsche Gräkomanie basierte auf der Annahme, dass es möglich sei, griechische von römischer Kunst zu unterscheiden. Sie identifizierte das Griechische mit Idealität und Ursprünglichkeit und wurde als
Abwendung von den frühneuzeitlichen, antiquarischen und lateinischen Traditionen der Kunstbetrachtung gesehen. Auch die Wissenschaftsgeschichte richtete lange die Aufmerksamkeit auf
Winckelmann vor allem in seiner Rolle als Begründer der Kunstgeschichte und der Gräkomanie.
Die vorliegende Studie untersucht im Gegensatz dazu besonders die Aspekte in Winckelmanns
Werk, die ihn als Erben und Teilhaber an einem römischen Diskurs und als Betrachter römischer
Kunst zeigen. Winckelmann zielte auf den Nachweis der stilistischen Grundlagen zur Unterscheidung von griechischer und römischer Kunst ab. Er leugnete in der ersten Auflage der „Geschichte der Kunst des Alterthums“ die Existenz eines römischen Stils. Sowohl der Nachvollzug der Entwicklung seiner Unterscheidungskriterien als auch die Beobachtung, dass Winckelmann in seinen späteren Überarbeitungen zunehmend römische Materien und Kunstwerke einbezog, führen
allerdings zu der Schlussfolgerung, dass das Römische in Winckelmanns Kunstgeschichte durchaus einen eigenen Platz einnimmt. Winckelmann hatte darüber hinaus auch uneinheitliche Auffassungen von den Hochphasen der Schönheitsbildung. Es kann durchaus auch von einem Begriff
der Schönheit in ästhetischen Spätzeiten bei Winckelmann ausgegangen werden. Sein Modell der
Kunstentwicklung ist darüber hinaus nicht synchron und linear, sondern berücksichtigt Phänomene der Asynchronität, des Anachronismus und Eklektizismus.
Mit Blick auf die Befunde und Bewertungen in Winckelmanns Werk untersucht das Kapitel im
Anschluss die Vorstellungen von römischer Kunst und Kultur, die auf Winckelmann folgten, und
differenziert dabei zwischen neohumanistischen und frühromantischen Positionen.
Das zweite Kapitel widmet sich detaillierten Studien des römischen Diskurses in der Historiographie des späten 18. Jahrhunderts vor Niebuhr. Das dritte Kapitel untersucht die Genese der
römischen Literaturgeschichtsschreibung im Hinblick auf Epochenkonstruktionen und ästhetische Konzeptionen. Durch eine ästhetisch-philosophische Investigation der spätzeitlichen, d.h.
römischen Formbildungen wird die römische Antike von der Frühromantik als modern und anschlussfähig eingestuft; damit wird auch eine Argumentationslinie inauguriert, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rehabilitation der Spätantike ermöglicht und sich bis hin zu
Friedrich Nietzsches Auseinandersetzung mit der römischen Kultur als einer Kultur der Transformation verfolgen lässt.
48
Literaturberichte 2011–2012
Autorreferat: Udo Reinhardt, - Der antike Mythos. Ein
systematisches Handbuch, 528 S. – Mythen – Sagen –
Märchen. Eine Einführung mit exemplarischen Motivreihen, 592 S. – Wissenschaftsverlag Rombach, Freiburg/
Br., 2011, 1212.
1. Zum Konzept von ‚Der antike Mythos. Ein systematisches Handbuch‘: Für die Altertumswissenschaften und
weitere mit dem Mythos befasste Einzelfächer (insbesondere Kunstgeschichte; Soziologie, Philosophie, Psychologie; Theologie, Kultur- und Religionswissenschaft, Ethnologie) bietet das Mythoshandbuch als Arbeitsmittel auf
dem neuesten Stand der Forschung Informationen zu allen Teilaspekten des antiken Mythos. Da die Disposition nicht mehr mythenchronologisch, sondern systematisch ist, helfen dem Benutzer bei der veränderten Stoffverteilung ein detailliertes Inhaltsverzeichnis, die Hervorhebung von Textpassagen (Dickdruck) und differenzierte Register am Schluss. Die Literaturangaben in den Fußnoten
sind durchweg standardisiert: (1) Größere Lexika. (2) Standardwerke (Mythologie – Rezeption).
(3) Spezialliteratur. Für das Gesamtkonzept ergeben sich im Vergleich mit früheren Handbüchern
zum antiken Mythos (z. B. Herbert J. Rose, Griechische Mythologie. 1. Aufl. 1928, 5. Aufl. 1953;
dt. Erstauflage München 1955, mit Nachdr.) einige grundlegend neue Tendenzen: – 1) Systematisierung des antiken Mythos als zentrales Anliegen: Einführung in die Grundbegriffe (Kapitel 1); konstitutive Grundkategorien des frühgriechischen Mythos: reale räumliche, fiktive zeitliche und fiktive personale Fixierung; Beteiligung göttlicher Wesen; weitgehende Integration des Geschehens in
einen göttlichen Schicksalsplan (Kapitel 3); wichtige Zusatzkriterien bei der weiteren Realisierung
(Kapitel 4). – 2) Präzise Abgrenzungen gegenüber Nachbarbereichen: Mythos und ‚Mythen der Moderne‘ (Kapitel 1a); Religion/Ritus/Ritual (Exkurs I); Literatur/Bildende Kunst (Exkurs II); Realhistorie (Exkurs IV); Philosophie, Aufklärung, Mythenkritik (Kapitel 5b); Alltagsnovellen bei Ovid
(Exkurs V); Sagen und Märchen (Exkurs VI). – 3) Sachgemäße Terminologie: Problematik von ‚Mythe‘ statt ‚Mythos‘, ‚Mythem‘ statt ‚Mythologem‘ (Kapitel 1a); ‚Mythennovellen‘ als hellenistischrömische Neubildungen mit isolierten Erzählkernen (Kapitel 1a/5bd); ‚Sage‘ überwiegend mit realoder pseudohistorischem Hintergrund (Exkurs VI). – 4) Rezeptionsgeschichtliche Dimension: Alt­
orientalische Voraussetzungen des frühgriechischen Mythos (Kapitel 2); Modell von Entwicklungsphasen eines Einzelmythos (Kapitel 4e); kulturelle Gesamtentwicklung des antiken Mythos (Kapitel 5). – 5) Betonung der mythengenetischen Unterschiede: Frühgriechische Mythen und weitere antike Mythen (Kapitel 1cde); ‚alte‘ und ‚neue‘ Mythen in der hellenistisch-römischen Phase und bei
Ovid (Kapitel 5cd). – 6) Gleichrangigkeit literarischer und bildlicher Zeugnisse: Altorientalische/alt­
ägyptische Kunst (Kapitel 2); Ikonographie wichtiger Heroen (Kapitel 3c) und Gottheiten (Kapitel
3d); Grundsätzliches zu literarischer Anregung und bildlicher Umsetzung (Exkurs III/Kapitel 5a);
Mythen in mittelalterlicher und neuzeitlicher Kunst (Kapitel 5ef ); Verweise auf Bildmaterial (Anhang 1); literarische und bildliche Mythenquellen in Antike und Mittelalter (Anhang 2bc). – 7)
Geistesgeschichtliche Aspekte des frühgriechischen Mythos: Markanter Neuansatz gegenüber früheren
Traditionen dank Verschiebung des Schwergewichts von Göttermythen auf Heroenmythen mit
konsequenter Vernetzung des Gesamtgeschehens (Kapitel 2); zentrales Identifikationsmodell für
Literaturberichte 2011–2012
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das frühe Griechentum (Kapitel 3a–c); mythisches Schicksalsdenken mit Themis als oberster Instanz und Verkörperung des ‚kollektiven Gewissens‘ (Kapitel 3e); mythisches Weltbild mit klaren
Vorgaben für angemessenes Verhalten, eher skeptischer Weltsicht und kritisch-rationaler Abkehr
von der Dominanz des Numinosen als erster Schritt in Richtung Aufklärung (Kapitel 3f ); Dialektik von Konstanz und Innovation als Grundkomponente für die weitere Wirkungsgeschichte (z.
B. Mythos/Aufklärung: Kapitel 5).
2. Zum Konzept von ‚Mythen – Sagen – Märchen‘
Die zweite Publikation, die der fiktionalen Erzähltradition (folktale) insgesamt gilt, ist als systematische Einführung auf dem neuesten Stand der Forschung wiederum für die Praxis von Universität und Fachwissenschaften konzipiert (insbesondere Klassische Philologie, Archäologie, Kunstgeschichte; Komparatistik, Neuere Philologien; Soziologie, Psychologie; Theologie, Kultur- und Religionswissenschaft). Zugleich bietet sie mit einer Fülle reizvoller Geschichten eine Art Lesebuch
für ein breiteres Publikum. Wissenschaftlich dominiert die Intention, im Anschluss an die Ergebnisse des Mythoshandbuchs einige Teilaspekte in der Gesamtentwicklung der europäischen Erzähltradition noch präziser zu erfassen, als dies speziell in der bisherigen Sagen- und Märchenforschung geschah.
Teil A. Mythen, Sagen, Märchen und verwandte Bereiche: Nach einem Überblick zu ‚Märchenelementen‘ im antiken Mythos (Kapitel 1c–f ) wird die zwischen Mythos und Märchen stehende Geschichte von Amor und Psyche (nach Apuleius) eingehend behandelt, auch im Blick auf
die breite literarische Rezeption bis zur Neuzeit (Kapitel 2a–e; Exkurs I zur Ikonographie). Nach
einem knappen Forschungsüberblick folgen genaue Bestimmungen zu Grundcharakter und Einzelkriterien der Sagen (Kapitel 3a; Alter Orient, Altes Testament, Griechen/Römer, Mittelalter)
sowie zu neuzeitlichen Kunst- und Volksmärchen (Kapitel 3b; z. B. Giambattista Basile; Madame
d’Aulnoy; Brüder Grimm) mit zusammenfassendem Vergleichsschema von frühgriechischen Mythen, mittelalterlichen Sagen und Grimms Märchen. Auch die Ausführungen zu Fabel, Legende,
Novelle und ergänzend zum Roman (Kapitel 3c) zielen auf Abgrenzung zum antiken Mythos.
Teil B: Exemplarische Motivreihen zu Mythos und anderen Bereichen: Der eher theoretische Ansatz von Teil A wird zur praktischen Bestätigung der erarbeiteten Definitionskriterien erweitert
durch Motivreihen, die jeweils das reiche Nachleben des antiken Mythos an einem bestimmten
Kernmotiv speziell in Sagen und Märchen dokumentieren.
Die Zusammenstellung versteht sich auch als Ergänzung zu
Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur (Stuttgart 6. Aufl.
2008) und vergleichbaren Handbüchern:
1. Geburt, Aussetzung und Überleben des ‚Königskindes‘
2. Das eingeschlossene Mädchen im Turm und der Goldregen
3. Der Prinz, die Prinzessin und das bedrohliche Ungeheuer
4. Die überwiegend lebensbedrohende Freierprobe
5. Personale Verwandlung/Verkleidung/Verstellung speziell aus
Liebe(sbegehren)
6. Frauennötigung, Frauenraub und Vergewaltigung
7. Die Verleumdung des jungen Mannes durch eine verschmähte (Ehe-)Frau
8. Die Heimkehr des Gatten (oder Verlobten) im letzten Augenblick
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Literaturberichte 2011–2012
9. Lebensgefahr oder Liebeszauber: Grundtyp ‚Das erste Wesen, das…‘
10. Das klassische Dreierschema speziell der gestellten Aufgaben
Insgesamt ergeben sich für die zweite Untersuchung aus den hier skizzierten Grundzügen die folgenden
fachwissenschaftlich relevanten Gesichtspunkte: - 1) Systematisierung des Gesamtbereiches mit deutlicher
Abgrenzung der Teilkomplexe als zentrales Anliegen: Einführung in die Kernbereiche von folktale mit wesentlichen Unterscheidungskriterien speziell zu frühgriechischen Mythen, mittelalterlichen Sagen und
Grimms Märchen als Teilbereichen (Kapitel 3ab); Einführung in Grundzüge und Unterscheidungskriterien der Kleingattungen Fabel, Legende und Novelle (Kapitel 3c). - 2) Sachgemäße Terminologie: Scheidung von ‚Mythos‘ und ‚Sage‘ (Kapitel 3a); Reduzierung von ‚Legende‘ auf den religiösen Kernbereich
(Kapitel 3c, Abschnitt 2); Mischformen: ‚Mythennovellen‘ und ‚Mythenmärchen‘ (Kapitel 2a–d), ‚Märchenlegenden‘ und ‚Märchennovellen‘ (Kapitel 3bc) sowie ‚Mythenfabeln‘ (Kapitel 3c, Abschnitt 1). 3) Einblicke in wichtige Teilbereiche der Sagen- und Märchenforschung: Problematik der Existenz von Märchen in der Antike (Kapitel 1b); Überblick zur Forschung (Einleitung zu Kapitel 3); Modifizierung von
Max Lüthis ‚Märchenästhetik‘ mit der Trias Eindimensionalität – Nivellierung – Reduzierung (Kapitel 3b). - 4) Ergänzungen zum Zentralthema Mythos: ‚Märchenelemente‘ im antiken Mythos als
Basispotential der späteren Erzähltradition (Kapitel 1c–f ); wesentliche Mythenparallelen zum mythologischen Kunstmärchen von Amor und Psyche (Kapitel 2ab); Mythenthemen in antiker Fabel, christlichen Legenden und modernem Roman (Kapitel 3c/Exkurs II). - 5) Rezeptionsgeschichtliche Dimension: Vorgaben im antiken Mythos für die spätere Sagen- und Märchentradition (Kapitel 1c–f); literarische Wirkungsgeschichte des Märchens von Amor und Psyche (Kapitel 2e); historische Entwicklung des Sagenkomplexes und der Gattungen Märchen, Fabel, Legende und Novelle (Kapitel 3a–c); diachrone Behandlung von Kernmotiven in den Motivreihen (Teil B). - 6) Gleichrangigkeit literarischer und bildlicher Zeugnisse: Ikonographie des Märchens von Amor und Psyche
mit Fazit zum Verhältnis von Literatur und Bildender Kunst in der Gegenwart (Exkurs I); Verweise
auf Bildmaterial (Anhang 1). - 7) Geistesgeschichtliche Aspekte der europäischen Erzähltradition: Kontinuität von ‚Märchenelementen‘ im antiken Mythos und in der späteren Sagen- und Märchentradition (Kapitel 1c–f); die Rezeptionsglieder zum Märchen von Amor und Psyche als Äußerungen des
jeweiligen Zeitgeistes (Kapitel 2e); Fixierung spezifischer Zentralbegriffe in der Mythen-, Sagen- und
Märchentradition (Kapitel 3ab); christliches Substrat in Grimmschen Märchen (Kapitel 3b); unterschiedliche Zusammensetzung und Ponderierung bei den Motivreihen als Ausdruck des jeweiligen
Zeitgeistes (Teil B).
siehe dazu auch: www.mythoshandbuch.wordpress.com; www.mythensagen.wordpress.com
Martin Flashar über Pompejis Untergang in Halle: Preziosen bietet Sachsen-Anhalts Landesausstellung in Fülle.
Die berühmte Himmelscheibe von Nebra verleiht dem Hallenser Landesmuseum seit 2008 Glanz – sie wird im abgedunkelten Schrein im zweiten Obergeschoss des Museumsbaus inszeniert. Jetzt tritt das Haus mit einer groß angelegten
Sonderausstellung über die „klassischen“ italisch-römischen
Städte Pompeji, Nola und Herkulaneum auf den Plan, die
79 nach Christus vom großen Vesuvausbruch heimgesucht
wurden und deren durch den Lavastrom konservierte archäologische Hinterlassenschaft früh schon zum Bildungsreise-
Literaturberichte 2011–2012
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ziel avancierte. […] Das Positive vorweg: Hier ist wohl die umfänglichste Pompeji-Schau seit der
legendären Ausstellung in der Villa Hügel in Essen (1973) zustande gekommen, die jemals außerhalb Italiens gezeigt war.
Es ist das die diesjährige Landesausstellung von Sachsen-Anhalt. Und die regionale Erinnerung
an Pompeji erscheint durchaus sinnfällig. Denn es war Johann Joachim Winckelmann, der Begründer der archäologischen Kunstgeschichte, der mit seinem Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen (1762) an den sächsischen Premier Heinrich Graf von Bühl unmittelbare
Eindrücke seiner Besuche am Vesuv erstmals öffentlich machte und dabei auch die bisherige Ausgrabungspraxis des bourbonisch-neapolitanischen Königshauses kritisierte: „Man ersieht aus dieser Nachricht von den Anstalten zu Entdeckung dieser Orte, daß mit solcher Schläfrigkeit noch
für die Nachkommen im vierten Gliede zu graben und zu finden übrig sein werde.“
Winckelmann wurde in Stendal geboren, in Halle studierte er. Sachsen-Anhalt als „Kernland
der frühen Antikenrezeption“ – die forsche Einschätzung im Katalog-Vorwort mag überraschen,
da gäbe es gewiss noch andere Regionen in Europa, ganz abwegig ist der Gedanke freilich nicht:
Denn es kommt hinzu, dass das Dessau-Wörlitzer Gartenreich, Unesco-Welterbe, angelegt von
Fürst Franz von Anhalt-Dessau nach dessen Italienreise (1765–1767), von Zitaten aus der VesuvRegion strotzt: Höhepunkt die „Insel Stein“ mit „betriebsfähigem“ Vulkan und einem Nachklang
der Neapolitaner Villa des englischen Antikenfreunds Lord Hamilton, ausgestattet mit Kopien
pompejanischer Fresken. Diese thematischen Anknüpfungen an Sachsen-Anhalts Kulturgeschichte findet der Besucher versteckt, im Seitenraum im Obergeschoss. Unklar bleibt zudem, warum
das so aktive Stendaler Winckelmann-Museum nicht in das Projekt einbezogen wurde.[…]
Durch die an sich hochbedeutende Präsentation im Haller Museumsbau entsteht allerdings
der Eindruck, dass dem einzelnen Schaustück, besonders beim hochrangigen Kunstwerk, nicht
die nötige Aufmerksamkeit zufiel. Woran liegt das? Zunächst ist es offenbar die erste Ausstellung
eines Hauses der Vor- und Frühgeschichte, die in den Bereich der Klassischen Archäologie führt,
jener von Winckelmann begründeten Disziplin, die versucht, künstlerische Hervorbringungen
zu beschreiben und als Merkmal kulturhistorischer Prozesse zu erkennen. Darüber hinaus haben
methodische Paradigmenwechsel auch innerhalb dieses Kernbereichs der Archäologie zwar heute
dazu geführt, dass wichtige Fragen des ‚Kontexts‘ wie Urbanisierungsprozesse und Wohnformen
oder Geschlechterfragen, nicht zuletzt die so genannte Umweltarchäologie zu Recht stärker in den
Blick kommen. Aber das geht gelegentlich zu Lasten des Kunstverständnisses. […]
(Aus: Badische Zeitung, 19. 1. 12)
Markus Käfer über De Pompeya al Nuevo Mundo. La Corona Española y la arqueología en el
siglo XVIII (Von Pompeji bis zur Neuen Welt. Die Spanische Krone und die Archäologie im
18. Jahrhundert), hrsg. von Martín Almagro-Gorbea und Jorge Maier Allende, Madrid: Real
Academia de la Historia, Patrimonio Nacional 2012, 421 S.
Im Palacio Real in Madrid gab es 2010 eine in Spanien bis dahin einzigartige Ausstellung zum
Thema „Corona y Arqueología en el Siglo de las Luces“ (Krone und Archäologie im Zeitalter der
Aufklärung). Wie der hier anzuzeigende wissenschaftliche Begleitband, der den Ausstellungsthemen in den Beiträgen folgt, wurde der umfangreiche und wissenschaftlich sehr sorgfältige Ausstellungskatalog (Madrid: Patrimonio Nacional 2010, 480 S.) von denselben Wissenschaftlern
herausgegeben, was beiden Bänden eine besondere Kohärenz verleiht. Dass alle Objekte der Ausstellung aus dem nationalen Fundus stammten, aus Bürgermeisterämtern, Stadtarchiven, Biblio-
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Literaturberichte 2011–2012
theken, privaten Sammlungen, aus den verschiedenen Akademiebeständen und Museen ist eben der Beleg dafür, wie zielgerichtet und effektiv die spanischen Bourbonen seit Beginn ihrer
Herrschaft (um die zeitlichen Fixpunkte zu nennen: von 1700–
1808) eine neue, zentral gelenkte nationale Kulturpolitik in
Nachfolge und verpflichtender Erinnerung an den „Großvater“ (Philipps V.) Ludwig XIV. betrieben. Am Beispiel der Archäologie wird gezeigt, welche Impulse die Bourbonen durch
die Institutionalisierung der Archäologie den Künstlern, Architekten, Antiquaren und Archäologen geben konnten. ‚Die
Krone‘ öffnete den Blick auf die eigene nationale Geschichte,
erweiterte die archäologischen Feldforschungen auf die prähistorische und phönizische Epoche, förderte die christliche,
die hispanojüdische und hispanoarabische Archäologie und
die wissenschaftlichen Untersuchungen der praehispanischen
Kulturen Amerikas. Von der Krone kamen die Initiativen zu den
orientalischen Studien und zum spanischen Arabismus, wie auch
in der Neuen Welt von der Geburt der amerikanischen Archäologie gesprochen werden kann, wobei die Altertumswissenschaft in den amerikanischen Kolonien auch der Legitimation der politischen Herrschaft dienen musste. Dies geschah über die neu gegründeten Akademien, v. a. über
die 1738 gegründete Real Academia de Historia, die die Beschränkung der Altertumswissenschaft
auf Numismatik, Epigraphik und antike Geographie überwand. Es waren also nicht die Universitäten als vielmehr die Königlichen Akademien, die mit den Reisen, Expeditionen, Ausgrabungen,
Veröffentlichungen und den königlichen Antiken-Sammlungen ‚der Krone‘ zum alten Glanz auch
außerhalb Spaniens verhelfen sollten. Der Titel der Ausstellung und die Beiträge im Katalog bringen ‚die Krone‘ in den positiv besetzten Kontext der Aufklärung; es wird gezeigt, wie durch die
Kunst- und Wissenschaftspolitik eine sanfte Aufklärung als kultureller Fortschritt vermittelt werden konnte. Zugleich spiegelt sich in der Titelgebung der Ausstellung die entschiedene Revision
einer Position aus der Franco-Zeit, die auch die Zeit und das
Spanien der Bourbonen im 18. Jahrhundert als Hort des Katholizismus definierte und das Aufklärerische als unspanische
Anleihen aus dem französischen und englischen Ausland diskriminierte. Zum anderen kann dies so entschieden formuliert werden, weil die Ausstellungsobjekte (endlich) in einen
Dialog gebracht wurden, der diese Titelung fordert und anschaulich belegt. Im wissenschaftlichen Begleitband wird
schon im Titel die Programmatik der Ausstellung darauf hingelenkt, in welch geradezu globalen Dimensionen sich die
spanische Archäologie im Verhältnis zu den anderen europäischen Ländern bewegte. Voraussetzung hierfür war, dass für
die spanischen Bourbonen im 18. Jahrhundert die Archäologie vor allem zum Mittel wurde, an der europäischen Aufklärung über die Altertumswissenschaft anzuknüpfen und die
Archäologie zu einer Vorzeigedisziplin zu machen und sie der
Protektion der Krone zu unterstellen, um zugleich kulturelle
Herrschaftsansprüche zu erheben. Im Zentrum der Beiträge Carlos III, el „Rey Arqueólogo“
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steht immer wieder Karl III., der schon als König der beiden Sizilien die Archäologie als Instrument der Diplomatie benützte und sie dann zum zentralen Bestandteil der Kulturpolitik ‚der Krone‘ in Spanien und Amerika machte. Seine Verdienste bei den Ausgrabungen in Herkulaneum,
Pompeji, Stabiae, Paestum usw. machen ihn zum „König der Archäologie“ – eine Würdigung, die
bisher in noch keinem Lehrbuch verzeichnet ist und die Frage, ob Karl III. ein aufgeklärter Herrscher war, wird mit der Inthronisation als „König der Archäologie“ beantwortet. Welche Vermittlerrolle Raphael Mengs als Hofmaler am spanischen Hof und als Vertreter des römischen Klassizismus einnahm und welche Bedeutung Winckelmann in diesem Spanien der Aufklärung bzw.
der Archäologie zukam – diese Fragen wurden noch umfassender im Herbst 2011 in Madrid während des deutsch-spanischen Kolloquiums: „Das Vermächtnis Johann Joachim Winckelmanns in
Spanien“, behandelt; der Tagungsband wird, herausgegeben von Max Kunze, nächstes Jahr erscheinen (s. auch den Kolloquiumsbericht hier S. 3–7).
Schöne Welt, wo bist du?
Wege zu Johann Joachim Winckelmann
Hörstück von Jean-Claude Kuner
Autorenproduktion: Ursendung 13. August
2011, Deutschlandfunk
Mit Fritz Lichtenhahn, Ulrich Matthes, Walter
Giller u. a. 74 Min.
Jean-Claude Kuner wurde für das Hörstück
„Schöne Welt, wo bist Du“ in der ‚Kategorie Radio Drama‘ mit dem Prix Marulić 2012 ausgezeichnet. In der Würdigung heißt es u. a.: „Excellently sculptured and structured radio drama with qualities of a classic. Well built illusion
of an authentic situation brings the story near to
the listener.” (Ein hervorragend gestaltetes und
komponiertes Hörspiel mit den Qualitäten eines
Klassikers. Die eindringliche Illusion einer tatsächlichen Situation bringt die Ereignisse dem
Hörer nahe.) Jean-Claude Kuner wurde mit dem
Winckelmann-Hörstück für den PRIX EUROPA 2012 (eine jährlich europaweit stattfindende
Preisvergabe für Fernseh-, Radio- und OnlineProduktionen) nominiert.
Fritz Lichtenhahn in der Villa Albani
Informationen zum Autor, seinen Features und Hörstücken usw. s. Internet-Portal:
http://jean-claude-kuner.de/
Informationen zum Winckelmann-Hörstück (u. a. Gespräch des Autors mit Michael Langer im Deutschlandfunk
vom 13. 8. 2011) und zur Lektüre bzw. zum Download des Manuskripts, s.
http://jean-claude-kuner.de/index.php/horspiel/schone-welt-wo-bist-du/
und exemplarisch zur „Wechselwirkung zwischen Biographie und Kunst“ im Werk Becketts (Kuner, s. u. Interview):
http://jean-claude-kuner.de/index.php/horspiel/extraordinary-stille-ce-soir
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Literaturberichte 2011–2012
E-Mail-Interview mit Jean-Claude Kuner
Sie haben schon über ein Dutzend Features und mit „SCHÖNE WELT, WO BIST DU? Wege zu Johann Joachim Winckelmann“ ein „Hörstück“ verfasst. Wie haben Sie denn zum Winckelmann-Thema
gefunden und warum haben Sie für die radiophone Gestaltung das Genre „Hörstück“ gewählt?
Die trennenden Definitionen der künstlerischen Radioformen Feature und Hörspiel befinden sich seit langer Zeit in Auflösung. Das Grenzüberschreiten als Motor von Kunstproduktion macht auch hier nicht Halt. Es bringt neuen Wind in die Formate und befreit den Kopf von
Mauern, die als nicht mehr zeitgemäss erscheinen. Im Hörspiel geht es längst nicht mehr nur um
konventionelles Hörtheater in Dialogform, oder im Feature um ausschliessliches Abbilden von
Wirklichkeit in sogenannten O-Tönen. Beiden Formaten gemein ist heute, dass sie unter Ausnutzung aller akustischen Mittel versuchen mit künstlerisch-radiophonen Mitteln Geschichten
zu erzählen. Den Begriff „Hörstück“ wählte ich bewusst erstmals 2006 bei einem Stück zu Samuel Becketts 100. Geburtstag, das für die Hörspielabteilung von Deutschlandradio Kultur entstanden ist. Es ging dort im wesentlichen um die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen
Biographie und Kunst im Werk Becketts, was der Autor zu Lebzeiten zu verhindern versuchte. Es
gibt in meinem Hörstück einerseits einen Querschnitt aus seinem Werk zu hören in Form von
Hörspiel-Szenen, zum anderen Erinnerungen an den Autor von Freunden oder ehemaligen Mitarbeitern in Form von Interviews, die in Paris, London und Berlin entstanden sind. Will man
dies einordnen, dann gehört der literarische Teil in die Welt des Hörspiels, der dokumentarische
in die des Features. Um dieser einengenden Kategorisierung zu entgehen, wählte ich damals einen offeneren Begriff: „Hörstück“. Seither habe ich viele meiner Produktionen so benannt, weil
ich heute in der Kombination der verschiedenen akustischen Erzählformen mir die grösste Lebendigkeit in der Darstellung eines Themas verspreche. So auch bei dem Stück über Johann Joachim Winckelmann.
Wie Ihre Leser wissen, ist zu Winckelmann über die Jahrhunderte unendlich viel geschrieben worden. Gerade der Teil seines Lebens, der nie ganz aufgeklärte Mord, bietet den verführerischsten Stoff für Geschichtenerzähler – ist die Spannung hier bereits eingeschrieben. Hartmut
Lange, Gerhart Hauptmann, Hans-Joachim Schädlich, Rolf Schneider ... Nur – wer ausserhalb
des interessierten Kreises von Winckelmann-Kennern weiss von ihm heute eigentlich noch mehr
als bloss das unheilvolle Ende und das Zitatkürzel „Edle Einfalt, stille Grösse“? Dass Winckelmann mehr als das war – und ich meine jetzt nicht nur sein Werk – dass gerade seine mutige Lebensgestaltung, die Freiheit kompromisslos über alles stellte, auch nach 200 Jahren direkt zu uns
spricht, diesen Winckelmann wollte ich u. a. in meinem Stück wieder zum Leben erwecken. Dass
dafür Hunderte von Briefen zur Verfügung standen, aus denen Winckelmann in seiner eigenen
Sprache direkt zu uns spricht, war ein zusätzliches Geschenk!
Das ist der dokumentarische Anteil in Ihrem Hörstück, in dem sich Historie und aktualisierende
Kraft der Gedanken Winckelmanns ergänzen. Doch warum lassen Sie noch weitere Figuren auftreten,
die verschiedenen Zeitebenen zugehören und in ihrem Zusammenspiel welche Wirkung erzeugen sollen?
Ja, was ist eigentlich der dokumentarische Anteil im Hörstück? Da befinden wir uns schon wieder im Definitionsdschungel der Kategorisierungen. Es gibt grundsätzlich zwei verschiedene Zeitebenen: die Zeit Winckelmanns, also das 18. Jahrhundert (Hörspiel), und die Gegenwart, die Zeit des Vasensammlers (Feature). Im Verlauf des Hörstücks gibt es eine Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Zeitebenen. Es werden auf einer assoziativen Ebene Vergleiche gezogen und Verluste
ausgemacht – die zwischen Heute und der Epoche Winckelmanns, aber auch zwischen Winckelmanns Zeit und der der griechischen Antike. Über all dem schweben Schillers Verse, die den Ver-
Literaturberichte 2011–2012
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lust eines (idealisierten) Griechenlands beklagen und dem
Hörstück seinen Titel gaben:
„Schöne Welt, wo bist Du?“
Dieses komplexe Spiel der
Zeiten löst sich im Verlauf des
Hörstücks immer mehr aus
der starren Konstruktion der
Trennung – wir hören z. B.
Winckelmanns Stimme, während der Vasensammler sich im
Hofe seines Wohnhauses am
Villa Albani
Platz Quattro Fontane umsieht
– und mündet am Ende des Hörstücks in eine imaginierte Begegnung zwischen Vasensammler
und Winckelmann. Es geht um eine Erzählstrategie der verschiedenen, manchmal auch gleichzeitigen Ebenen, mit dem Ziel, dem Hörer freien Raum zu verschaffen. Diese zeitlichen Gegenüberstellungen, bis hin zur Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitebenen, eröffnet dem Hörer ein Feld für
eigene Assoziationen und Gedanken.
Wer Rom bereist hat, wer sich in den vatikanischen Museen umgesehen hat, versteht sofort den
Verlust, den wir in der Moderne erlitten haben. Wo Muße und Kontemplation einst Winckelmanns Betrachtungen leiteten, ist heute ein lärmender Massentourismus getreten, dem Kunst und
Schönheit nur noch zum schnellen digitalen Schnappschuss dienen, als Hintergrund für Urlaubsfotos. Winckelmann aber forderte: Es ist unnütz einen Blick auf Rom zu thun; denn so nenne
ich einen Monat Aufenthalt allhier. Alle anderen Länder werden gesehen und genossen; dieses
aber muss studiret werden.
Auch in Ihrem Hörstück „lebt“ die Imagination von den Stimmen, die eine ganz besondere, oszillierende Resonanz hervorrufen, was auch zum Gelingen des Hörstücks beiträgt. Haben Sie mit dem Regisseur zusammen diese Stimmen gesucht oder hatten Sie von Anfang an schon eine klare Vorstellung
davon, wer die jeweilige Rolle stimmlich charakterisieren soll, oder kurz gefragt: Wie verlief denn der
Arbeitsprozess bei diesem Hörstück?
Dank der digitalen Entwicklung haben sich die Arbeitsprozesse fundamental verändert. Zwar
wird noch immer in den alten Systemen produziert, die eine Arbeitsteilung zwischen Autor, Regisseur und Tontechniker vorsieht. Doch auch hier haben sich die Grenzen inzwischen aufgelöst
und ermöglichen jemandem wie mir, diese verschiedenen Funktionen bis zu einem gewissen Grad
zu vereinen.
Das Hörstück entstand auf eine experimentelle Weise und zunächst ganz unabhängig von
einem Auftrag durch einen Sender. Zu riskant erschien dieses Vorhaben mit ungewissem Ausgang.
Denn die Idee bestand darin, mit Fritz Lichtenhahn eine Hörspielfigur zu erfinden, die sich vollkommen improvisierend in Originalton-Situationen bewegt. So, als wäre es ein Feature!
Das Risiko war also gross. Ich konnte einer Redaktion nicht garantieren, dass diese Idee aufgehen wird, zumal ich vorher auch kein Manuskript vorlegen konnte. Lichtenhahn und ich sind
also losgezogen. Es gab natürlich inhaltliche Vorgaben. Aber auch viele offene Fragen. Wie werden die Gespräche verlaufen? Wie die Aufnahmen im Vatikan? Werden wir Zugang zur Villa Albani bekommen? Die Parallelreise des Vasensammlers zu der Winckelmanns sollte in Rom unbedingt zu Situationen und ‚Texten‘ führen, die später miteinander in Beziehung gesetzt werden
können.
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Literaturberichte 2011–2012
Meine Rolle als Autor war also immer zugleich auch die des Regisseurs. Ich reagierte vor Ort
auf die Ereignisse und Lichtenhahn und ich entwickelten die Geschichte immer weiter. Davor gab
es die Arbeit an den Winckelmann-Texten. Die Idee war, Winckelmanns Werdegang in einer Art
Innenschau darzustellen, d. h. in Monologen und in seinen eigenen Worten mit dem Fokus auf
Passagen, die einen privaten Einblick in Winckelmanns Leben ermöglichen, ohne dabei die Errungenschaften seines Werkes auszublenden. Die Absicht, den ‚Menschen‘ Winckelmann sprechen zu lassen, implizierte also für mich die Frage, wie weit Winckelmanns Schaffen von seinen
persönlichen Erlebnisse und Neigungen geprägt war.
Die Besetzung mit Ulrich Matthes als Winckelmann stand von vornherein fest. Sein virtuoser
Umgang mit literarischen Texten, sein Können, diese Texte auf sehr persönliche Art zur Wirklichkeit zu bringen, waren die wesentlichen Gründe für diese Besetzung.
Dann gab es die Idee, die berühmten Texte Winckelmanns für das Hörspiel zu bearbeiten. In
Anlehnung an einen griechischen Chor übernehmen vier junge Schauspieler diesen Part. Mal sind
sie eine Gruppe ehemaliger Schüler, die sich an Winckelmann erinnern, mal der griechische Chor,
der uns gemeinsam mit den Winckelmann-Texten in dessen imaginiertes Griechenland der Antike entführt.
Wenn Sie nun das Winckelmann-Hörstück in Ihr Gesamtschaffen einordnen, welchen Stellenwert
nimmt es da ein?
Das ist eine wirklich schwierige Frage, denn sie zwingt zu einer subjektiven Stellungnahme, die
für andere wenig Bedeutung haben mag. Es gab in den letzten Jahren – gleichermassen in meinen Hörspiel- wie Featureprojekten – die Suche nach grösstmöglicher Authentizität, bei vollem
Bewusstsein, dass jegliche Kunst, jede Erzählform zugleich auch ein Konstrukt ist. Diesen Widerspruch versuche ich spielerisch in meinen Hörstücken umzusetzen. Das kann durch bewusst gesetzte Brüche oder durch Irritationen geschehen, um nur einige Elemente zu nennen. Auf einfache Art löst dies einen Denkprozess beim Hörer aus. Irritation kann zunächst Unwillen entstehen lassen, der aber schnell von Freiheit abgelöst wird. Die Freiheit mitzudenken, Bezüge zu entdecken, schliesslich die dargestellte Wirklichkeit kritisch zu hinterfragen, um am Ende sich eine
eigene Meinung zu bilden.
Das Winckelmann-Stück nimmt in diesen Versuchen einen besonderen Stellenwert ein. Denn
Fritz Lichtenhahn als Vasensammler ist eine Besetzung, von der man nur träumen kann. Als fundierter Kenner der antiken Kunst Griechenlands und von Winckelmanns Werk, gleichzeitig als erfahrener Schauspieler, der den Mut zum Experiment nicht aufgegeben hat, war er der ideale Partner für dieses Unterfangen. Er hat etwas geschafft, was für mich so vorher noch nie zu hören war:
er spielt und lässt dies den Hörer dabei vollkommen vergessen. Er verkörpert die Figur so authentisch, dass sie schon wieder Irritation auslöst! Für mich das höchste Lob, das man einem Schauspieler ausstellen kann.
Aber es gab noch eine andere Herausforderung, die ich mir gestellt hatte. Wie kann ich eine historische Figur, ja sagen wir es ruhig, auch einen etwas angestaubten Schulstoff, einem heutigen
Hörer lebendig und neu vermitteln? Und zwar so, dass durch eine emotionale Begegnung mit
dem Menschen Winckelmann eine Faszination und Interesse für dessen Werk ausgelöst wird?
Einer so schillernden, grossen Figur wie Winckelmann kann man sicherlich in einer Arbeit nie
ganz gerecht werden. Mein Hörstück erhebt diesen Anspruch auch nicht. Vielmehr war die Absicht, angeregt duch neuere Forschungen wie die von Wolfgang von Wangenheim, Winckelmann
auf eine persönlichere, vielleicht auch ‚vollkommenere‘ Art darzustellen, die zu einer Neubegegnung mit ihm reizt. Die höchste Deutlichkeit kann Dingen, die auf der Empfindung bestehen, nicht
gegeben werden, hat Winckelmann einmal geschrieben. Ein für mein Hörstück genauso wichtiger,
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fast programmatischer Satz, wie dieser: Allein die Kunst ist unerschöpflich, und man muss nicht
alles schreiben wollen.
(Die Fragen stellte Markus Käfer)
Jost Eickmeyer: Poetologische Anmerkungen zu einer Erzählung und zwei Hörspielen
über Johann Joachim Winckelmann.
Wenn Hörspielautoren ihre Rundfunkwerke überarbeiten und in einer andere Gattung ‚übersetzen‘, scheint es zunächst, als würde ein viel begangener Weg rückwärts beschritten. Dass dies keineswegs ein Irrgang sein muss, zeigt Rolf Schneider, der sein viel beachtetes Kriminal-Hörspiel
Die Affäre Winckelmann (MDR/ORF 2009, zahlreiche Ausstrahlungen) über die mysteriösen Todesumstände des großen Gelehrten jüngst in eine Erzählung mit dem Titel Winckelmanns Tod
umgoss. Diese Paarung erlaubt es, die beiden medial unterschiedlichen, inhaltlich äußerst ähnlichen Texte aus poetologischem Blickwinkel zu betrachten. In diese Richtung seien hier zumindest einige Anmerkungen erlaubt, wobei als drittes Werk ein weiteres frisches Winckelmann-Hörspiel, Jean-Claude Kuners Schöne Welt, wo bist du? (DLF 2011), zum Vergleich hinzutritt. – Zunächst zu Schneider, genauer zu den Titeln seiner beiden Versionen über Winckelmanns Ableben.
Die Affäre Winckelmann streicht unverkennbar den Rechtsfall, womöglich seine gesellschaftlichen Implikationen, das Skandalon an diesem Tod in Triest heraus. Dem gegenüber wirkt Winckelmanns Tod lapidarer, durchaus im ursprünglichen Sinne des Wortes: statuarischer, unverrückbar. Die Erzählung bietet dem Leser qua Titel Winckelmanns Tod als solchen dar, wie Kleist
ein Erdbeben in Chili oder eine Marquise von O. darbietet. Das Unerhörte, Skandalöse des Folgenden wird von solchen Titeln gleichsam zurückgehalten. Mag auch der Titel des Hörspiels seiner Aufnahme in eine Reihe von Funkarbeiten Schneiders, welche alle die „Affäre“ im Namen
tragen, geschuldet sein, so entfaltet der veränderte Titel der Erzählung doch eine eigene Bedeutungsnuance: Sie bietet Winckelmanns Tod so, wie er war. Das ist keine geringe Anmutung, entscheidet sich Schneider doch, hinter Arcangelis Bluttat eindeutig eine Staatsaktion Maria Theresias und vor allem ein intrigant-mörderisches Wirken der Gesellschaft Jesu als eigentliche Gründe
für den bis heute von Schleiern eiliger Ermittlung und womöglich mancher ‚affaire‘ umgebenen
Tod Winckelmanns anzuführen.
Ein Gang durch beide Werke muss zunächst ihren medial unterschiedlichen Präsentationsweisen Rechnung tragen: Das Hörspiel, sofern es noch am Radio verfolgt wird, nötigt dem Hörer seine zeitliche Linearität von knapp 57 Minuten auf, in denen er die Ermittlungen des Bargello Zanardi in Sachen Winckelmann verfolgt; dagegen kann der Leser der Erzählung beliebig voroder zurückblättern. Andererseits wird dem Hörer mittels akustischer Inszenierung, etwa der illustrierenden Geräusche, aber auch ‚metatextueller‘ Mittel, etwa der kurzen Musikausschnitte,
welche das Stück in sieben teils an verschiedenen Orten angesiedelten Szenen aufteilen, und nicht
zuletzt der Stimmen der Figuren in höherem Maße das Geschehen präsent, als es das Textgeflecht
der Erzählung je vermöchte. Darum ist dieses auch ganz anders gebaut: Jede Szenenaufteilung,
etwa durch Leerzeilen, fehlt, vielmehr sind Abschnitte und wörtliche Reden jeweils eingerückt.
Dabei hat sich das Textmaterial gegenüber dem Hörspiel kaum, zumeist um Inquit-Formeln, vermehrt. Schneider versucht nicht, die akustische Inszenierung des Radiostücks durch ausführlichere beschreibende Passagen nachzubilden, sondern konzentriert sich ganz auf die Dialoge und
knappen Erzählereinsprengsel. Was so entsteht, ist ein fortlaufender, jedoch sehr kleinteiliger Text,
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dessen hoher Dialoganteil nur auf den ersten Blick dem Hörspiel ähnelt. Während nämlich der
Hörer dort den evozierten Szenen, Stimmlage, Intonation und Lautstärke der Figuren gleichsam
‚großflächig‘ lauscht, um das Mordgeschehen zu rekonstruieren, wird er von der Erzählung aufgefordert, ganz kleine Leseschritte zu machen, fast satzweise zu wägen, erst recht in den Dialogpassagen, die wörtliche Reden ohne An- und Abführungszeichen verschränken. Schneider beherrscht
beide Darstellungsweisen virtuos, und so muss man nach der poetologischen Intention dieser
letztlich so anderen Textbeschaffenheit fragen. Ich erweitere dazu eine ältere These zu Schneiders Hörspiel. Hört man genau hin, so kann man hinter der Kriminalhandlung eine tief greifende Skepsis gegenüber schriftlicher Überlieferung, auch und vielleicht gerade gegenüber der so detaillierten dokumentarischen und üppigen dichterischen Tradition um den Tod Winckelmanns erlauschen. Ihr entgegen stellt Schneider die akustische Präsenz seines Hörspiels. Dieser Aspekt lässt
sich jedoch schwerlich auf die Erzählung übertragen, da sie ja, schriftlich verfasst, gerade an der
Tradition der Winckelmann-Literatur teil hat. Und doch schwingt er mit: Gerade weil Schneiders Prosa die lügnerischen, ausweichenden, politischen, opportunistischen, bestürzten Aussagen
der historisch Beteiligten über Winckelmann geradezu ‚dokumentarisch‘ aneinander reiht, den
Leser auf sie lenkt, weist er ihn auf die Lücke hinter all diesen Worten hin. Die Lücke, die Winckelmanns Tod – wieder der Titel! – gelassen hat, können sie nicht füllen, in der Erzählung nicht,
im Hörspiel nicht. Schneider will Hörer und Leser dazu bekommen, sich zur Geschichte im doppelten Sinn, zur Erzählung wie zur Historie, zu verhalten; am besten vielleicht, indem sie wieder
einmal Winckelmann selbst lesen.
Künstlerisch nicht weniger gekonnt als Schneider inszeniert der rundfunkerprobte Theaterund Opernregisseur Jean-Claude Kuner seine Wege zu Johann Joachim Winckelmann, wie der
Untertitel lautet. Das Ergebnis jedoch ist nun ein ganz anderes Hör-Spiel. Der Hörer folgt in
fünfzehn Szenen einem Rentner und Vasensammler auf Winckelmanns Spuren nach Rom, wobei
dessen Etappen (Nöthnitz, Flugzeug etc.) sich mit akustisch inszenierten Originalzitaten aus dem
achtzehnten Jahrhundert abwechseln, von Lessing, Goethe und v. a. von Winckelmann selbst.
„Alle Künste haben einen doppelten Endzweck“, hört man Gedanken über die Nachahmung der
griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, „sie sollen vergnügen und zugleich unterrichten.“ Diese Aussage kann man zunächst reflexiv auf das Hörspiel selbst beziehen, spricht doch
der Vasensammler auf der Reise immer wieder ein nicht näher kenntliches „Du“ an, dessen Stelle
unmittelbar der Leser einnimmt. Aus den montierten Originaltexten sowie den Aussagen des Vasensammlers und manchen kundigen Gesprächspartners lassen sich überdies mehr biographische
Informationen über Winckelmann entnehmen als etwa bei Schneider, der Zanardi nur kurze Passagen aus seinen Werken lesen lässt. Zwei poetologische Kunstgriffe jedoch heben das Stück über
einen ‚Radio-Dialog‘ weit hinaus und bereiten eine unerwartete Schluss-Pointe vor: Zum Einen
durchmischen sich die Zeitebenen durch akustische Überlagerung zunehmend, je näher der Vasensammler dem Domizil Winckelmanns in Rom kommt; zum Anderen gelingt Kuner mit dem
Vasensammler selbst ein besonderer Coup: Ihn spricht Fritz Lichtenhahn, der berühmte Schweizer Schauspieler, der tatsächlich eine bekannte Sammlung antiker Vasen besitzt. Wenn der Hörer ihn erkennt, wird die Inszenierung plötzlich durchlässig, indem Lichtenhahn eben derjenige
ist, den er spricht, und somit einen hohen Grad an ‚Realität‘ des Gehörten suggeriert. Wenn sich
dann in der letzten, „Traum“ überschriebenen Szene die Passagen Winckelmanns und des zunehmend verwirrten Vasensammlers verschränken, ja verschmelzen, dann bringt das Hörspiel nicht
nur Winckelmann in die Gegenwart des Sammlers, sondern, über dessen außerfiktionale Authentizität, auch in die Gegenwart des Hörers. Wohlgemerkt: Der Hörer soll nicht an eine ‚wahre‘ Begegnung des Sammlers mit einem längst Toten glauben, sondern die akustischen „Wege zu Win-
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ckelmann“ nehmen gewissermaßen zwei Abkürzungen, die durch Lichtenhahns Präsenz und seine
kontinuierliche Ansprache an ein „Du“ ermöglicht werden.
Schneider wie Kuner haben mit ähnlichen Mitteln, doch auf ganz verschiedene Weisen mögliche Annäherungen an Winckelmann akustisch und schriftlich gelungen vorgezeichnet. Ihnen zu
folgen, hält einen künstlerisch je eigenen Genuss bereit.
Gerhard Falkner
ASTERIA
Die Hand ist ergänzt. Dem Arm fehlt eine Schulter
Das Knie rast reglos in sich selbst. Alles ist
Impuls. Die Brüche sind geglückt
Wo sich ein Gott in Szene setzt, da fallen
die Giganten. Alles atmet so die Gunst
der Stunde. Die Göttinnen packen die Helden
bei den Haaren und reißen sie wie Bäume
aus dem Boden. Die Unsterblichkeit
wird aufgehoben. Im Marmor herrscht Alarm
Die Mutter der Hekate, Schwester der Leto
reißt am Schopf den nächsten Helden nieder
Alles schwingt, die Hüften und Gewänder
Es existiert vom Schwert nur noch der Stoß
der Rest ist Lücke, Zwischenraum, Fragment
Doch wie viel Gigabyte hat dieser Fries, welch
gigantisches Archiv birgt dieser Stein, dass
selbst die Klinge, die nicht mehr vorhanden
mit einem Schimmer von Unsterblichkeit
die Ewigkeit der Götter widerspiegelt
(gesprochen von Judith Engel: http://www.youtube.com/watch?v=nWn-a2BCdao)
(Aus: Gerhard Falkner: Pergamon Poems. Gedichte. Deutsch-Englisch, ins Englische übertragen von Mark Anderson,
kookbooks: Berlin 2012.)
Joachim Pissarro: Jeff Koons’ Serie Antiquity. Reflexionen über Akzeptanz
[…] Die oberste Ebene aller Antiquity-Werke ist die kindliche, scheinbar mit einem Filzstift per
Hand gezeichnete Skizze eines Segelboots. Und hier kommt Koons’ Magie (oder Alchemie) ins
Spiel: Er verwandelt eine schnelle Kritzelei in eine höchst anspruchsvolle, präzise und sorgfältig
wiedergegebene malerische Geste […].
Im Zentrum der mittleren Bildebene von Antiquity 1 steht die erotische Gruppe von Aphrodite, Pan und Eros. Diese hellenistische Marmorgruppe wurde 1904 von französischen Archäologen auf der griechischen Insel Delos gefunden und befindet sich heute im Archäologischen Nationalmuseum in Athen. In einer ménage-à-trois-ähnlichen Interaktion der Figuren versucht Pan,
Aphrodite zu verführen, die mit einer Doppelbotschaft reagiert: Sie droht mit der Sandale in ih-
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Literaturberichte 2011–2012
rer erhobenen rechten Hand, zeigt aber
gleichzeitig den Anflug eines warmen,
verschmitzten Lächelns. Eros ist Zeuge
des Geschehens.
Die Aphrodite der Gruppe, die mit der
Hand schamhaft ihre Geschlechtsorgane
bedeckt, hat als Vorbild die Aphrodite
von Knidos des Praxiteles. […].
Die Wahrscheinlichkeit, dass die originale Aphrodite zu einem gewissen Teil
bemalt war, steht im Gegensatz zu den
späteren Auslegungen von klassischer
griechischer Schönheit in reinem, „natürlichem“ und unpoliertem Marmor. Maxwell Anderson hat darauf hingewiesen,
dass die Werke des Praxiteles „die Unmittelbarkeit eines Jeff Koons anstelle des
makellosen, blutleeren Klassizismus eines
Canova gehabt hätten“.
Koons ist nicht nur an den technischen Einzelheiten der farbigen Fassung der Aphrodite interessiert, sondern auch an ihrem Körperbau und ihrer
starken erotischen Ausstrahlung. Er sagte:
„Wenn ich an das Wort Schönheit denke, denke ich an die Möglichkeiten der Natur. Das oder die
Skulptur des Praxiteles ist es, was mir in den Sinn kommt.“ [An anderer Stelle beantwortet Koons
die Frage: „Worin besteht für Sie die Schönheit Ihrer Arbeiten?“ ganz undramatisch, fast lapidar:
„Was ist Schönheit? Wissen Sie, wenn ich Schönheit und Kunst definieren sollte, dann würde ich
es ‚Akzeptanz‘ nennen.“] […]
Die antiken Skulpturen, die Koons in seiner Antiquity-Serie zeigt, sind metonymische Hinweise auf den Ursprung der Kunstgeschichte. Johann Joachim Winckelmann, der als Vater der
Kunstgeschichte gilt, war einer der ersten Schriftsteller, der die Perioden der Kunstgeschichte und
Archäologie klassifizierte. Sein Modell der kunstgeschichtlichen Analyse, demzufolge die Kunst
die Phasen Ursprung, Wachstum, Veränderung und Fall durchläuft, wurde zur Grundlage für
die meisten nachfolgenden Studien auf diesem Gebiet. Obwohl Koons dem Winckelmann-Modell folgt, da er an einem kunsthistorischen Dialog mit seinen Vorläufern teilnimmt, zerstört er
zugleich die hierarchischen Systeme der Kunstgeschichte, indem er auf der Gleichwertigkeit der
Kunstformen aller Perioden und Gattungen besteht: Er gestattet es der Kinderzeichnung eines Segelbootes beziehungsweise einer Vagina über der Darstellung einer antiken Skulpturengruppe zu
schweben. Mit diesem Tun öffnet Koons Tür und Tor für eine neue Erzählweise der Geschichte.
Dafür sollte er gepriesen werden, denn er bietet an, die Kunstgeschichte zu retten, die ständig altert, während die Kunst selbst ständig jünger wird.
(Aus: Pissarro, Joachim, Jeff Koons’ Antiquity. Reflexionen über Akzeptanz, in: Jeff Koons. The Painter [anlässlich der
Ausstellung „Jeff Koons, the Painter & the Sculptor“, Schirn Kunsthalle, Liebighaus Skulpturensammlung, 20. 6.–23.
9. 2012, Frankfurt] Katalog, hrsg. von Mattias Ulrich [u. a.], Ostfildern 2012 S. 29–34, S. 30, 31, 33–34.)
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Kuriosa
Aus „Corriere della Sera“, 22. 6. 2012
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Literaturberichte 2011–2012
Soll es so stehen bleiben?
Nikos Dimou, geb. 1935 in Athen, Philosoph und Philologe, in einem Interview mit Gerd Höhler (Handelsblatt vom 4. 5. 2010 = Tagesspiegel vom 9. 5. 2010):
Eines Ihrer Bücher heißt „Das Unglück, ein Grieche zu sein“ [ins Deutsche übers. München
2012]. Sind Sie im Moment ein unglücklicher Grieche?
Ich war immer ein unglücklicher Grieche. Das Buch ist zwar schon 35 Jahre alt, aber seine These
hat viel mit der gegenwärtigen Krise zu tun […]. Sie [die Griechen] sagen, dass sie die Nachkommen der alten Griechen sind, die Kinder des Aristoteles und des Platon. Aber zugleich ist da etwas, das sie bedrückt. Man fühlt sich wie der Sprössling eines Nobelpreisträgers, der in der Schule keine guten Noten hat. Die Deutschen sind daran nicht unschuldig, wenn man bedenkt, wie
Winckelmann & Co. die griechische Antike quasi neu erfunden und zu einem Idealbild der Vollkommenheit verklärt haben. Das ist eine schwere Bürde. Ich glaube, kein Volk könnte einem solchen Anspruch gerecht werden.
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Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft 74/2011–2012: Beilage
1
Der neue Pitaval.
Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten
aller Länder aus älterer und neuerer Zeit.
________________
Herausgegeben
vom
Criminaldirector Dr. J.C. Hitzig
und Dr. W. Häring (W. Alexis)
___________
Zwölfter Theil.
________________
Leipzig:
F. A. Brockhaus.
1847.
Inhalt des zwölften Theiles.
_________
Seite
Die Höllenmaschine.1800–1801 1
Der General Mallet.1812 61
Der Chevalier de Gouault. 1814124
Rob. Roy.1703–1740140
Die Ermordung des Hrn v. Marcellange.
1840–1842
168
Gerhard von Kügelgen’s Ermordung.1820–1821376
Winckelmann’s Ermordung.1768422
2
Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft 74/2011–2012: Beilage
Winckelmann’s Ermordung
1768.
Der an Gerhard von Kügelgen verübte Raubmord
erweckte seiner Zeit lebhaft die Erinnerung an die
nicht minder ruchlose und
in ihren Einzelheiten noch
schreckenvollere Ermordung Winckelmann’s in
Triest. In Dresden, wo jener Raubmord vorgefallen,
war zwei Jahre vorher der
actenmäßige Bericht über
Winckelmann’s Tod, aus
dem Italienischen des Rosetti übersetzt und mit einem
Vorwort Böttiger’s begleitet, erschienen, eine Schrift,
wodurch viele, auch noch
jetzt im Umlauf befindliche,
falsche Gerüchte über die
letzten Lebensmomente des
großen Archäologen widerlegt wurden. Begreiflicherweise gewann die kleine Schrift unter
jenen Umständen eine neue Bedeutung; man stellte Vergleiche an zwischen den Opfern,
den Thätern und den die That begleitenden Umständen. Aehnlichkeiten lassen sich überall suchen, und wenn es in anderer Beziehung auch schwer halten dürfte, zwischen Kügelgen und Winckelmann eine geistige Verwandtschaft zu finden, so bleibt es allerdings
doch ein eigenes Zusammentreffen, daß beide friedliche, nur der Welt ihrer Ideen lebende Männer, Beide hochgeehrt unter ihren Zeitgenossen, bestimmt waren, durch die Hand
gemeiner [423] Bösewichter grausam zu enden, Bösewichter, die nichts von ihren Gütern
lockte, die nichts an ihnen zu schätzen wußten, als die paar Geldstücke, welche sie in ihren Taschen vermutheten.
Der Proceß gegen Kügelgen’s Mörder ist an und für sich ein höchst merkwürdiger
Rechtsfall, der sein Interesse auch dann behielte, wenn Kügelgen eine minder berühmte
Person gewesen. Arcangeli’s Mordthat wird nur dadurch zur cause célèbre, weil sie den
großen Winckelmann traf. Aber sie ist es, hat daher ein Recht zur Aufnahme in unsere Sammlung und findet am besten ihren Platz als Anhang zum vorigen Falle. – Was ihr
an Verwickelung und Spannung fehlt, wird durch einzelne psychologische Züge und ein
Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft 74/2011–2012: Beilage
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furchtbares Bild, das des sterbenden Winckelmann, ersetzt. Wir könnten eine Art Spannung
erzielen, wenn wir Winckelmann’s Ankunft in Triest schilderten und den seltsamen Freundschaftsbund mit Arcangeli, aus dem ein Zwist sich entspinnt, Dolchstiche, Blut, Tod und die
Flucht des Mörders, bis sich ergibt, daß der Freund kein Freund gewesen, sondern ein Vagabund, der auf irgend ein Opfer lauerte, und daß dieser Vagabund, der einen Winckelmann durch sein Gespräch eine Woche lang allein zu fesseln gewußt, ein verschmitzter,
aber ungebildeter, unwissender Mensch gewesen, der, seinen Richtern gegenüber, in nichts
sich von den gemeinsten Verbrechern unterschied. Stoffes genug zu einem novellistischen
Eingange oder einer trübseligen Betrachtung, wie große Geister, die auf dem Wege nach
Wahrheit und Schönheit Andern die Fackel voraus tragen, nicht selten in gewöhnlichen Lebensverhältnissen in die plumpest gelegte Schlinge sich verstricken lassen. Doch ziehen
wir es vor, lieber von vorn herein, aller romantischen Umhüllung [424] baar, die einfachen
Sachverhältnisse einfach und wenn man will plastisch klar darzustellen, wie sie freilich erst
nach Winckelmann’s Tode durch die Geständnisse des Mörders sich allmälig herausstellten. Es handelt sich um einen Winckelmann, der Wahrheit und nicht Ueberraschung will;
von Schönheit ist in diesem Bilde allüberall nichts zu finden.
_______________________
Am 1. Juni 1768 kam der große Winckelmann, Morgens etwas vor 12 Uhr, allein in einer
Postkutsche von Wien in Triest an.
Es haben seltsame Verhängnisse über Winckelmann’s letzte Lebenstage, und despotisch,
gewaltet. Ein unbestimmter, nicht Sehnsucht, aber ein innerer Drang, für den er sich kein
Herzensbedürfniß anzugeben wußte, trieb ihn aus Rom nach Deutschland zurück. Es war,
wie gesagt, keine Sehnsucht nach der Heimath, nach den Freunden, es war nur ein unruhiges Pflichtgefühl, auch Diesen, die einen Anspruch, was für einer es auch sei, auf ihn
hatten, den Zoll der Dankbarkeit oder der Schuldigkeit abzutragen. Den Wunsch, wenn
es Wunsch war, sein Vaterland wieder zu sehen, hatte er lange aufgeschoben, bis er sich auf
der Reise befand, ohne sich recht sagen zu können, warum er auf der Reise war.
Er wollte nach seinem Vaterlande Preußen und dann nach Sachsen. Kaum aber auf
deutschem Boden, verletzten bekanntlich sein Schönheitsgefühl die spitzen Dächer unserer Häuser, selbst schon in den Alpengegenden, wo sie doch noch flächer sich italienischer
Sitte zuneigen. Er verfiel in Schwermuth. In München und Wien mit Ehren empfangen
und überhäuft, überschlich es ihn mit düsterer, unwiderstehlicher Gewalt, daß er zurück
müsse [425] nach seinem geliebten Rom. Freundschaft, Vernunftgründe, die ihn nach
dem Norden lockten, vermochten nichts mehr über die gewaltige Unruhe, die ihn wieder
über die Alpen trieb.
Er eilte, mit Blitzesschnelligkeit sagte man damals, zurück, aber auf einem Wege, welcher für sein Kunstgefühl der unangemessenste, sogar unangenehm und unbehaglich war,
ja es war nicht einmal der möglichst kürzeste. Er eilte von Wien nach Triest, um von hier
aus zur See nach Venedig, von dort wieder zur See nach Ancona und von Ancona nach
Rom zu reisen.
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Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft 74/2011–2012: Beilage
Mit Blitzesschnelligkeit, sagen wir, wollte er reisen, und war auch so in Triest angekommen, als eine unerwartete, unbegreifliche und sich widersprechende Indolenz seiner sich
bemächtigte und so lange fortdauerte, als zu seinem Verderben nöthig war.
An eben dem Tage, an welchem Winckelmann Wien verlassen, um über Triest nach Venedig zu gehen, war aus Venedig sein Mörder in Triest angelangt. Winckelmann hatte gar
keinen nothwendigen Grund, in Triest einen Ruhepunkt zu machen, denn er konnte unmittelbar nach Venedig gehen und von dort aus sich nach Ancona einschiffen. Arcangeli hatte ebenso wenig einen bestimmten Zweck, sich nach Triest zu begeben, als um Gelegenheit nach einem Dienst oder Verdienst zu suchen, und der Zufall führte den großen
Mann vom erhabensten Geiste und den Lump ohne allen Geist als die gewöhnliche Pfiffigkeit in demselben Wirthshause, in demselben Stockwerke, in einem Zimmer neben
dem anderen, zusammen.
Winckelmann war in dem großen, städtischen Gasthofe am Petersplatze abgestiegen
und hatte im zweiten Stockwerke das Zimmer Nr. 10. bezogen, welches aus zwei Fenstern
die Aussicht auf den inneren Hafen, Man-[426] drachio, und aus einem dritten die auf
den Hof des Hauses hat.
In dem kleinen Nebenzimmerchen Nr. 9, dessen Thür von der Winckelmann’s keine
7 Fuß entfernt war, wohnte seit 2 Tagen ein unbedeutender Fremder, der ohne Geld und
Gepäck, muthmaßlich zu Fuß aus Venedig angekommen war; aber er hatte den nothdürftigsten äußeren Anstrich eines Gentleman.
Es war Francisco Arcangeli, ein Mann von mittlerer Größe, von dickem, rundem, braunen pockennarbigen Angesicht, mit schwarzen Haaren und Augenbrauen, grauen Augen,
kleiner Nase, niedriger Stirn und geschwinder Sprache. Er war 38 Jahre alt. Seine nachmaligen Richter haben nichts Außerordentliches an ihm zu entdecken vermocht, bis auf jene
Frechheit und Geläufigkeit, welche Abenteurern der untern Classe eigen zu sein pflegt.
Ebendesgleichen hatten seine früheren Richter nichts in ihm gefunden, als einen gemeinen Schelm und Verbrecher, der in seiner Jugend Koch, dann Bedienter, von einem vornehmen Herrn zum andern übergegangen, mehre derselben ansehnlich bestohlen hatte, in
Italien, Deutschland, Ungarn, vier Jahre in Eisen gesessen, dann begnadigt worden (leider
zu früh), darauf wieder gestohlen, quasi geheirathet hatte und sich nun in den Küstenstädten umhertrieb, um irgend eine Gelegenheit aufzuspüren, wo es etwas zu verdienen gäbe.
Auf Mord ging Arcangeli nicht aus, er war kein Bandit, vielmehr einer jener durch Faulheit und Umhertreiben erschlafften Gesellen, die selbst das Verbrechen nicht mehr zu einer rechten Thatkraft aufschnellte; er nahm, wo er etwas fand, und schmeichelte sich ein,
wo er etwas zu gewinnen hoffte. Weit voraus zu denken, scheint seine Sache nicht gewesen
zu sein. [427]
Immer aber, mit Zopf und wenn auch abgeschabtem Rocke, konnte Arcangeli hier als
ein Herr passiren; es war ihm gelungen, in dem vornehmsten Wirthshause Aufnahme zu
finden, und an der Mittagstafel saß er aus Zufall an der Seite des neuangekommenen Gastes,
Winckelmann’s. Ihre erste Bekanntschaft machte sich, als Winckelmann den Wirth fragte:
ob kein nach Venedig segelfertiges Schiff zu finden wäre? – Der Wirth wußte keins, Arcangeli aber nannte sogleich einen Schiffer Stephan Regusini, der nach Venedig gela-
Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft 74/2011–2012: Beilage
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den. Auf Winckelmann’s Bitte zeigte er ihm nach aufgehobener Tafel aus dem Fenster das
Schiff im Hafen.
Winckelmann soll nun zuerst die Bekanntschaft weiter betrieben haben, indem er Arcangeli ersucht hätte, ihn nach dem Hafen zu begleiten, um den Schiffspatron selbst aufzusuchen. Es geschah; Regusini war indeß noch nicht segelfertig; aber ein anderer Schiffer
wollte noch in derselben Woche nach Ancona und Winckelmann wollte nun mit diesem
contrahiren. Da er nicht zur Stelle war, ging er mit dem gefälligen Arcangeli, nachdem
Beide im Wirthshause ihre Siesta gehalten und eine Weile mit einander im Fenster gelegen, wieder nach dem Hafen, fanden jetzt den Schiffer, der nächsten Sonnabend, spätestens
Sonntag, segelfertig zu sein versprach, und Winckelmann schloß mit ihm ab, indem er ihm
noch ein Extrageschenk von 2 Ducaten versprach, wenn er sein Wort halte.
Es war Winckelmann weder und die Seefahrt, noch wahrscheinlich um Ancona zu
thun, es war ihm nur daran gelegen, fort und schnell nach Rom zu kommen; und doch
wählte er nicht den Landweg, sondern wartete mehrere Tage, und gab noch mehrere Tage
zu, die er müßig in Triest verbrachte, um nur die Gelegenheit zu benutzen, [428] auf welche er zuerst seinen Sinn gesetzt. – Beim heutigen Zustand eines Reisenden und den Gelegenheiten, die sich ihm bieten, wird dies ängstliche Beharren bei dem einmal gefaßten
Plane noch auffälliger.
Winckelmann war erfreut, diese Gelegenheit gefunden zu haben. Arcangeli war ihm
dazu wenigstens mittelbar behülflich gewesen, es schien ein guter, ruhiger, sehr verträglicher Mensch, er wußte überall Bescheid, er wohnte Thür an Thür mit ihm im selben
Wirthshause; was Wunder, kann man sagen, daß der arglose Winckelmann, der in Triest
keine Bekanntschaften suchte, noch weniger wünschte, daß sein berühmter Name bekannt würde, sich diesem Menschen anschloß. Geistreiche Männer sind auf Reisen nicht
immer wählerisch im Umgange. Gehört es doch mit zum Reiz des Reiselebens, in den Bekanntschaften zu wechseln und in alle Kreise sich hinabzulassen oder zu erheben. Selbst
ein in der Heimath uns unausstehlicher Mensch kann – oder konnte uns in der alten Zeit
des Reisens – in fremder Luft, in fremder Umgebung für den Augenblick interessant werden. Auch ein Arcangeli, der unwissende Küchenjunge, der spitzbübische Bediente, der
kaum von seinem Eisen losgelassene Dieb und Herumtreiber, dessen höchste Hochstapelei bisher gewesen, daß er sich für einen ungarischen Edelmann ausgegeben, vermochte es,
durch ein schmeichelndes, natürliches Gespräch einen Winckelmann so zu fesseln, daß er
ihm nicht schon nach den ersten Stunden den Rücken drehte, sondern Stunden, Tage lang
mit ihm umherging, mit ihm aß, trank und sich unterhielt! Auch die verständigsten und
geistreichsten Menschen, bemerkt Rosetti, besonders unter uns die, welche sich ihres hohen Kunstsinnes wegen auszeichnen, pflegen bisweilen unbedeutende Schwätzer um sich
zu leiden. [429]
Sie tranken an dem Tage in einem Wirthshause mit einander Kaffee, trennten sich, indem Arcangeli allein durch die Stadt spazieren ging, fanden sich wieder im Wirthshause,
plauderten mit einander im Fenster, bis die Dämmerung eintrat und Licht gebracht werden mußte, und ließen sich endlich das Abendessen nach Arcangeli’s Stube bringen. Winckelmann selbst nahm aber, nach seiner Gewohnheit, nichts zu sich als Brot und Wein.
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Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft 74/2011–2012: Beilage
Durch Arcangeli’s Aussage und später vernommene Zeugen ist jeder Tag und fast jede
Stunde mit ihren Vorfällen bekannt; sie sind weder an sich von Bedeutung noch dadurch,
daß sie zur Ermittelung der That beigetragen hätten, wir gehen deshalb kurz darüber hinweg. Denn Das, was uns interessant wäre, Winckelmann selbst in seinen letzten Betrachtungen über Dinge und Verhältnisse kennen zu lernen, ja auch nur seine Kunst, mit einem Geschöpf wie Arcangeli sich zu verständigen, und diesem etwas zu entlocken, was
ihm in den Augen des großen Mannes einige Bedeutung gegeben hätte, dies kann uns
nicht gewährt werden, wo uns Winckelmann eben nur durch das Medium oder das Organ eines Arcangeli vorgeführt wird, und dieser wiederum nur vermittelt durch die Worte,
welche der triestiner Actuar in seinem Protocolle von ihm aufgezeichnet hat.
Genug, sie gingen täglich mit einander des Morgens spazieren, nahmen im Kaffeehause zusammen ihr Frühstück ein, fanden sich dort auch noch öfters im Laufe des Tages ein,
saßen jeden Mittag an der Wirthstafel zusammen und nach dem Abendspaziergange stellte
sich Winckelmann regelmäßig in Arcangeli’s Zimmer zum Abendessen ein. Jeder bezahlte
für sich, oder wie es in den Kaffeehäusern geschah, einer für den anderen abwechselnd.
Arcangeli war nun schon 3 Tage mit Winckelmann [430] umgegangen – denn der Abgang des Schiffes verzögerte sich – und obwol er dringend selbst des Geldes bedurfte, um
seine Gentlemanrolle fortzuspielen, wozu er von einem entfernt ihm bekannten Geistlichen
nur mit großer Mühe ein kleines Darlehn hatte erhalten können, hatte er doch noch keine
Gelegenheit gefunden, seinem Freunde etwas abzugewinnen, ja er wußte noch nicht einmal,
ob der fremde Mann wirklich ein Subject sei, an dem es sich lohne, seine Kunst zu versuchen, er wußte nicht, was er bei sich führte, nicht seinen Stand, nicht einmal seinen Namen.
Der Schurke mußte, da er kein anderes Mittel fand, seinen Begleiter auszuforschen, zur
directen Frage schreiten: wer er sei? die er mit der Lüge zu entschuldigen suchte, daß er
nur frage, um die Neugier der Wirthsleute zu befriedigen.
Winckelmann nahm arglos Alles für Wahrheit, er erklärte ihm beim Spazierengehen,
„er sei kein Verdächtiger oder schlechter Mensch,“ und Abends beim Nachhausekommen
zeigte er ihm seinen Reisepaß und Empfehlungsschreiben auf ansehnliche Handlungshäuser in Venedig. Damit erfuhr Arcangeli freilich nichts, was ihn unmittelbar interessieren konnte; wohl aber, als Winckelmann ihm weiter erzählte, daß er wegen eines wichtigen Geschäftes nach Wien geschickt worden, dort eine Audienz gehabt bei Maria Theresia
und dem Fürsten Kaunitz und – daß er von ihnen eine goldene und zwei silberne Schaumünzen geschenkt erhalten!
Arcangeli verlangte die Schaumünzen noch nicht zu sehen, er wollte seinen Mann erst
ganz ausstudiren. Er erzählte aber Anderen, als dem Kaffeeschenken Griol, schon wieder,
was sein Herz bewegte: daß der Fremde schöne Gold- und Silber-Schaumünzen besitze, daß
er [431] Geld haben müsse und eine versiegelte Schachtel für den Cardinal Albani mit sich
führe. Er halte den seltsamen Menschen für einen Juden, möchte doch aber gern wissen,
wer er eigentlich sei? Dieselbe Frage richtete er an den Wirth des Hotels, ohne auch hier
Auskunft zu erhalten. Man erfährt also aus der Zeugenaussage beider Männer, wie die Lüsternheit nach dem Besitze der goldenen und silbernen Münzen den Bösewicht gestachelt,
er aber doch seiner Sache noch nicht gewiß war.
Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft 74/2011–2012: Beilage
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Dann soll ihm Winckelmann, nach Arcangeli’s Angabe, einst erzählt haben: er sei nach
Wien geschickt worden, um der Kaiserin eine Kabale zu entdecken; die Kabale selbst hatte er aber nicht genannt. Er sei in Wien sehr gut aufgenommen, zur Kaiserin in demselben
Rocke, den er trug, über die Hintertreppe und durch das Frauenzimmer vorgelassen worden und habe mit ihr ganz allein gesprochen; und sei endlich mit dieser Reise und Entdeckung sehr zufrieden.
Das ist natürlich nur Winckelmann in der mehr als freien Uebersetzung einer italienischen Bedientenseele. Ohne Intriguen konnte sich ein Arcangeli nicht vorstellen, daß ein
solcher Mann vor den Großen der Erde Zulaß erhalten habe, und der Bube hatte noch vor
Gericht die Frechheit zu behaupten: wie er Winckelmann eine zurechtweisende Bemerkung gemacht, daß es von ihm nicht klug sei, solche Geheimisse einem Jeden, auch wem
nichts daran gelegen sei, zu erzählen, worauf Winckelmann erwidert hätte: er vertraue sich
ja auch nur ihm an, weil er ihn für einen ehrlichen Mann halte!
Das wenigstens scheint wahr: Winckelmann hatte dem Menschen mehr vertraut, als
eine billige Vorsicht erlaubte, und Arcangeli hatte die Gelegenheit benutzt, seine Aufrichtigkeit durch Fragen weiter auszubeuten. – Endlich [432] hatte Winckelmann dem unermüdlichen Gesellschafter die Schaumünzen selbst gezeigt; Arcangeli gibt an, daß Winckelmann selbst die Initiative dabei ergriffen und ihn eines Morgens in sein Zimmer genöthigt
habe, um die Münzen zu sehen und sich bei ihm nach deren Werth zu erkundigen. Arcangeli wollte sie auf 10 und auf 17 Ducaten abgeschätzt haben.
Wann in dem Buben der Entschluß reif geworden, läßt sich aus seinen Angaben nicht
ermitteln, da er hinsichts der Zeitbestimmung verwirrte Antworten gibt und man die
chronologische Ordnung aus anderen Umständen zu entziffern genöthigt ist. Aber Sonntag am 5. Juni, wo der Schiffer spätestens fertig sein wollte, hatte er noch nicht fertig geladen und Winckelmann war so ungeduldig auf die Abfahrt gerade mit dem Schiffe, daß er
noch nicht die Geduld verlor, darauf zu warten, und statt andere Gelegenheit zu nehmen,
nur immerwährend den Schiffer überlief und ermahnte, wobei Arcangeli ihm redlich beistand. Die Zeit benutzte er über die Art nachzubrüten, wie er seinen Münzenraub ausführe.
Bald schien es ihm klar, daß ein Mord dabei mit unterlaufen müsse. Gewiß ist, daß er
am 7. Juni im Handlungsgewölbe von Pfneisel und Comp. ein spannenlanges, einschneidiges Messer mir Scheide kaufte. Mit dem Messer in der Tasche fand er sich wieder im
Kaffeehause ein, um mit seinem Freunde Winckelmann Kaffee zu trinken, den dieses
Mal Winckelmann bezahlte. Ihre Unterhaltung war lebhaft; sie galt der Reise nach Venedig, den Schaumünzen, dem Cardinal Albani und dem Fürsten Kaunitz. Nach den Aussagen eines Zeugen, der indes das Gespräch nur theilweise behorcht, war Wincklemann’s
Ungeduld dermaßen gestiegen, daß er schon davon sprach, lieber zu Lande nach Venedig
zu fahren. [433] Möglich, daß erst diese Aeußerung Arcangeli zu einem letzten, schnellen
Entschlusse bewog.
Das Messer war ihm nicht Sicherheit und Bürgschaft genug. Abends gegen 6 Uhr ging
er zur Krämerin Mariane Derin und kaufte sich hier für 3 Soldi 3 Klafter Bindfaden (nach
Aussage eines Zeugen geschah auch jetzt erst, um 7 Uhr, der Ankauf des Messers). Beide
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Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft 74/2011–2012: Beilage
Mordwerkzeuge in der Tasche trank er aufs neue mit Winckelmann Kaffee und zahlte die
Schuld vom Morgen zurück. Vor der Dämmerung nach Hause eilend, drehte er die Bindfäden zu einer Schnur zusammen und fertigte daraus eine Schlinge oder einen Strang, und
verbarg beide Mordwerkzeuge unter seinen Kleidern auf dem Stuhle, doch dergestalt, daß
er sie im Augenblicke vorziehen konnte.
Zur gewöhnlichen Stunde des Abendessens kam Winckelmann wieder in das Zimmer
und aß sein Brot und trank seinen Wein unter harmlosem Gespräch, während Arcangeli
sein Abendessen verzehrte. Es sollte Winckelmann’s letzter Lebensabend gewesen sein, war
die Absicht seines Mörders; aber der Muth verließ ihn noch ein Mal, er schob die That bis
zum nächsten Morgen auf und Winckelmann kehrte in sein Zimmer zurück, um hier eine
letzte Nacht zu schlafen.
Das Natürlichste, sollte man denken, wäre gewesen, daß Arcangeli nun die Nacht zu
seinem dunkeln Werke benutzen würde; aber auch er legte sich ruhig zu Bette, geständlich mit dem festen Vorsatze, nunmehr am anderen Morgen unerschrocken daran zu gehen. Am Morgen des 8. Juni schlich Arcangeli allein aus dem Hause, vielleicht um durch
die frische Luft und die Einsamkeit sich Muth zu machen. Er kam allein zum Kaffeehause
und ging fort, ehe Winckelmann eintraf. Dieser, so an ihn gewöhnt, [434] daß er nur mit
Arcangeli Kaffee trinken konnte, fragte nach ihm und ging, um ihn zu suchen.
Arcangeli war im Hafen umhergelaufen, um sich ein Fahrzeug zu verschaffen, einen Nachen, der ihn, nach der That, nach den Bädern von Monfalcone übersetze. Es war ihm
nicht gelungen, was aber seinen Muth, ja auch anscheinend seine Laune nicht getrübt hatte, denn ins Wirthshaus zurückgekehrt, scherzte er mit der deutschen Stubenmagd, Eva
Tusch, die in seiner Kammer aufbettete, und rief ihr im gebrochenen Deutsch zu: „Jungfer, Jungfer, schenken Sie mir 20 Ducaten.“
Dann erst ging er zu seinem Nachbar. Winckelmann hatte seine Oberkleider, die Halsbinde und die Perücke abgelegt. So saß er am Schreibtische, der zwischen den beiden Fenstern gegen die Meerseite stand, und hatte eben einige Worte geschrieben. Er erhob sich,
als der Italiener eintrat, ging ihm freundlich entgegen und sprach mit ihm von seiner Freude, daß er nun endlich an diesem Abende fortkommen werde; das Gespräch scheint wieder sehr lebhaft gewesen zu sein. Winckelmann’s Herz floß über seine Zunge, wenn er von
Rom sprach; sein Interesse am Gegenstande war so lebhaft, daß er während des Gespräches
Notate machte. Ja, wenn wir Arcangeli glauben dürfen, lud er ihn, in der Fülle seiner Freude, sogar dahin ein, erzählte ihm vom Palaste seines Gönners, des Kardinals Albani, und
versprach ihm, wenn er nach Rom komme, ihm diesen Palast zu zeigen und ihm dort zu
beweisen, wer er eigentlich sei und in welchen allgemeinen Ansehen er stände.
Beide gingen bei diesem Gespräche im Zimmer auf und nieder und die schon erwähnte
Stubenmagd Eva Tusch, welche jetzt in Winckelmann’s Zimmer das Bett zurecht machte,
bemerkte, obwol sie kein Wort von [435] der italienisch geführten Unterhaltung verstand,
aus den Mienen und dem Tone der Sprechenden, daß sie von heitern und freundlichen
Dingen sprechen mußten. Die Eva ging um 9 ½ aus dem Zimmer; eine andere Magd,
Therese Baumeister, fand, als sie um 9 ¾ einen vergessenen Leuchter aus dem Zimmer
holte, noch Beide in dem Gespräche begriffen.
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Dann ist Arcangeli in seine Kammer zurückgekehrt, hat das Messer ohne die Scheide in
die Tasche seines Kamisols gesteckt und ist unter dem Vorgeben, daß er sein Schnupftuch
vergessen, wieder in Winckelmann’s Zimmer getreten. Hier, nach seinem Vorgeben, fragte
er ihn, ob er heut bei der Wirthstafel die Schaumünzen zeigen würde? Winckelmann antwortete: er wolle kein Aufsehen erregen. Da fragte Arcangeli: warum er nicht sagen wolle,
wer er eigentlich sei? – Winckelmann, dem diese Zudringlichkeit jetzt vielleicht misfallen
mochte, sagte kurz, er wolle sich nicht zu erkennen geben, und setzte sich, ohne weiter auf
ihn zu achten, an seinem Schreibtisch nieder.
Dies war der verhängnisvolle Augenblick; Arcangeli warf ihm plötzlich den Strang von
hinten um den Hals und zog ihn mit aller Kraft zusammen. Aber Winckelmann war ebenso plötzlich aufgesprungen und hatte den Mörder mit einem kräftigen Stoße von sich geschoben. Arcangeli griff nun mit dem Messer an. Noch faßte Winckelmann muthig mit
einer Hand das Messer bei der Klinge, mit der andern den Mörder selbst an der Brust.
Vielleicht hätte der stärkere Deutsche trotz seiner Wunden und halben Erdrosselung gesiegt, aber Beide bewegten sich im Ringen bis über die Mitte des Zimmers nach der Eingangsthür zu und hier, als Arcangeli schon zitterte, glitschten Beide auf den Boden aus
und schlugen [436] nieder. Winckelmann fiel unglücklicherweise rücklings und zu unterst, Arcangeli nur auf ein Knie und auf ihn. Dem Schurken blieb das Messer frei in der
Hand und er konnte dem schon ermatteten und halb durch die Erdrosselung erstickten
Winckelmann noch 5 Stiche ungehindert versetzen.
Inzwischen hatte das Stampfen der Ringenden und das Getöse ihres Falles einen Zeugen, den Kammerdiener Harthaber, in dem darunter liegenden Speisezimmer aufmerksam
gemacht. Er sah zum Fenster hinaus, ob Jemand oben schreie. Es war still geworden. Dennoch machte er sich auf den Weg, die Treppe hinauf. Er lauschte an der Thür und hörte
ein Aechzen und Röcheln wie von Jemand, der sprechen will und daran gehindert wird.
Der Mörder hatte keinen Augenblick gewonnen, die Thür zu verschließen. Als Harthaber öffnete und eintrat, sah er Arcangeli auf einem Knie, mit beiden Händen auf
Winckelmann’s Brust. Im Moment des Thüraufmachens war der behende Italiener aber
auch schon aufgesprungen, hatte den Kammerdiener mit Gewalt bei Seite gestoßen und
war ohne Rock und Hut die Treppe hinunter gestürzt, ehe Jemand sonst ihn gesehen und
Harthaber selbst sich bewußt geworden, was er sah.
Die uns aufbewahrten Nachrichten über die nächstfolgenden Minuten gehören zu dem
Entsetzlichsten, was uns je in einem Criminalberichte aufgestoßen ist.
Harthaber ist auf Winckelmann zugestürzt, um ihn aufzuheben, dieser ist aber schon
von selbst aufgestanden. Harthaber fragt ihn: was denn vorgegangen? Winckelmann öffnete das Hemd auf der Brust, aus welcher vieles Blut floß, und spricht mit gepreßter Stimme: „Sieh, was er mir gethan!“ Der Kammerdiener, immer noch [437] im Glauben, es
sei ein blutiger Streit zwischen zwei Freunden, ermahnt ihn ruhig zu bleiben, während er
nach dem Wundarzt gehen wolle. – Winckelmann, in Todesängsten, geht selbst dem Cameriere nach, die Treppe hinunter bis in den ersten Stock, um Leute, um schleunige Hülfe
zu suchen. Mit der erdrosselnden Schlinge um den Hals kann er nicht mehr rufen!
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Unten will gerade die Stubenmagd Therese Baumeister über den Gang in die Küche.
Da hört sie hinter sich eine leise, gebrochene Stimme ächzen: „Jesus! Jesus!“ Erschrocken
dreht sie sich um und sieht wie ein Gespenst hinter sich den guten Herrn Winckelmann
mit blassem, blau angelaufenem Gesichte, mit blutiger Brust und blutenden Händen wankend ihr nachgehen. „Therese! Therese!“ er winkt ihr flehend mit der Hand, daß sie ihm
helfen solle. Aber das 19jährige Mädchen ergreift bei dem Anblicke ein solcher Schrecken, daß sie sich selbst nicht mehr traut, sie stürzt, statt zu helfen, die Treppe hinunter
und schreit zu allen Leuten: Herr Winckelmann bricht Blut! Ohne zu wissen wohin, läuft
sie nach einem Beichtvater, einem Arzt, endlich nach der Küche, wohin ihr Herr und seine Frau gegangen. Das Mädchen war von dem Anblick so erschüttert worden, daß, als
sie nach Hause zurückkam, sie selbst zu Bett gebracht und ihr zur Ader gelassen werden
mußte.
Für Winckelmann noch keine Hülfe. Den erdrosselnden Strick um den Hals, schleppte
er sich bis zur Thür des Wirthszimmers. Sie war verschlossen. Er mußte zurück, um sich
mit der Linken an das Treppengeländer zu halten, während er mit der Rechten die Brustwunde sich zudrückte. So steht er eine Weile unbeweglich, ächzend, zitternd, bis Eva’s
Geschrei und Flucht die übrigen Mägde herbeiruft. Auch diese gaffen ihn, erschrocken,
[438] schüchtern an; sie halten ihn für irre, daß er sich selbst verwundet habe.
Endlich gewahrt ihn ein Mann, Antonio Vanino, aber auch er meint, hier sei nichts zu
thun und nichts noth, als ein Beichtvater; so stürzt er über Hals und Kopf die Treppe hin­
unter. Francesco Pontini kommt zunächst; ihm wird beim Anblick des blutenden Mannes
so übel, daß er fort muß, um nicht selbst in Ohnmacht zu fallen. Ein dritter Mann, sogar
der Jäger eines Edelmanns, Joseph Sutter, war ebenso wenig ein Mann in der Noth. Er hielt
die Schlinge, welche von Winckelmann’s Halse herabhing, für dessen aus dem Unterleibe
herausfallende Gedärme und statt beizuspringen, rannte er die Treppe einige Mal hin­auf
und herab, um seinem gnädigen Herrn von Allem, was er sah, Nachricht zu bringen.
Endlich kam ein umsichtigerer und entschlossener Mann, der Cameriere Movio, der
Winckelmann’s Winken mit der Hand begriff. Er löste ihm die eng zugezogene Schlinge um den Hals und warf sie, blutig wie sie war, auf den Boden. Genau ist nicht ermittelt, wie lange der unglückliche Mann in dieser bewußten Qual des Erstickens zugebracht,
die Zeit kann aber nicht gering gewesen sein, da der Cameriere Harthaber inzwischen den
Weg zum Hause des Wundarztes hin und zurück gemacht hatte – doch ohne ihn zu finden – und Winckelmann erst bei seiner Rückkehr vom Strick erlöst wurde. Seine erste Frage war nach dem Wirthe, dann begann er zu sinken; unterfaßt von zwei Männern, ward er
wieder die Treppe hinauf in sein Zimmer gebracht und auf das Kanapee gesetzt.
Endlich war auch ein Wundarzt da. „Sind sie tödtlich?“ fragte Winckelmann mit schmerzhaftem, aber [439] ruhigem Blicke. Der Arzt verschwieg die Wahrheit nicht: Zwei sind es
vor Allen. Winckelmann schwieg. Man mußte ihn auf eine Matratze am Boden legen, wo
erst ein Riechfläschchen ihn wieder zur Besinnung brachte. Die erste deutliche Antwort,
welche er dem neben ihm knienden Ritter Cajetan Vanuzzi gab, war: „Der da hat mich ermordet, der neben meiner Stube wohnte.“
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Die herbeigeeilten Gerichtspersonen mußten abwechselnd mit den Geistlichen und
Aerz­ten die letzten Aeußerungen des Unglücklichen, der vor Schmerz und Blutverlust oft
in Ohnmacht versank, ihm abstehlen. Die vollständige Erklärung, die man endlich über
den Vorfall von ihm erhielt, lautete, in italienischer Sprache:
„Jener Verräther, der hier in der Kammer nebenan wohnte, machte sich mit mir bekannt und stellte sich, als wäre er mein Freund. Ich ließ ihn einige von meinen silbernen
Schaumünzen sehen und zwei goldene. Darunter war eine große, mit dem Bildnisse des
Fürsten von Lichtenstein, welche die Kaiserin mir in Schönbrunn verehrte. Diesen Morgen ist der Verräther wieder in mein Zimmer gekommen und bat mich, daß ich ihm noch
ein Mal diese Münzen zeigen und ihm sagen sollte, wer ich wäre? Und nachdem ich ihm
erwidert: daß ich kein Aufsehen erregen wolle, noch mich hier nennen, da warf er mir
plötzlich eine Schlinge, oder einen Strick, um den Hals und wollte mich damit erdrosseln.
Da ich mich nun vertheidigen wollte, so gut ich konnte, und um Hülfe rufen, versetzte
er mir mit einem Messer Stiche, ich weiß nicht wie viele, und darauf entfloh er und ließ
mich in dem Zustande zurück, in dem ich mich befinde.“
Auf die Frage: ob er den Menschen kenne? antwortete er, nach einer durch seine Beklemmung verursachten Pause, nur die Worte: „Der Wirth muß es wissen, [440] fragt ihn
darüber.“ – Auf die Frage: wer er selbst sei? verwies er nur auf seinen Paß.
Die Mordwerkzeuge, die Schlinge und das Messer, welches Arcangeli nach der That im
Zimmer niedergeworfen, wurden von den Gerichten an sich genommen. In Arcangeli’s
Zimmer fanden sie noch auf dem Stuhle unter seinen Kleidungsstücken die Scheide des
Messers.
Der Sterbende fand bekanntlich noch so viel Besinnung, um sein Testament zu Protocoll zu geben, in welchem er den Kardinal Albani zu seinem Haupterben ernannte; auch
soll er, nach der Vertheidigungsschrift für Arcangeli, noch in seinen Todesqualen sein Bedauern für den Mörder ausgesprochen und das Gericht um Milderung seiner Strafe gebeten haben. In den Acten ist nichts davon enthalten.
Nachdem das Testament vollendet, was er aber nicht mehr Kraft hatte zu unterzeichnen, nahmen die Todesqualen des Unglücklichen wieder zu und nach kurzen Zügen
hauchte der große Winckelmann Nachmittags um 4 Uhr sein Leben aus.
Wir übergeben den ärztlichen Befundbericht, der nur die schreckliche Gewißheit ausspricht, daß der edle Mann durch die Art, wie der Mörder mit dem Messer in seinem Leibe wühlte, den schmerzensvollsten Tod erlitt, um uns zu diesem Elenden in Kürze zu wenden.
Arcangeli war entflohen. Durch den Cameriere Harthaber entdeckt, durfte er keinen
Augenblick Zeit verlieren und weder sich um die gehofften Beute umthun, noch in seine Kammer zurückkehren, um sich nur anzukleiden. Ohne Rock und Hut, mit Blut beflecktem Hemde und Kamisol stürzte er aus dem Hause. Es war die helle Morgenstunde,
wo der Platz und die Straßen am volkreichsten sind, und in einer Stadt, wo die Polizei äußerst [441] wachsam ist, wo sein offenkundiges Verbrechen sofort ruchbar werden mußte, gelang es ihm unverfolgt zu entkommen! Er schlug sich in die Gebirge, auf Seitenwegen nach Capo d’Istria zu. Auf die Hauptstraße gelangt, erhält er von einem Straßenaufse-
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her den guten Rath, nicht dahin zu gehen, weil man ihm dort schon aufpasse! Der Beamte
rieth ihm, sich in einer Bauernhütte zu verbergen, um sich den folgenden Tag nach Isola
zu begeben. Es ist für uns gleichgültig, wie lange und unter welchen Verkleidungen es dem
Schufte gelang, seinen Verfolgern sich zu entziehen, bis er, auf dem Wege nach Krain ergriffen, vor dem Kreishauptmann in Adelsberg schon beim ersten summarischen Verhöre sein Verbrechen im Allgemeinen gestand und darauf, wie im Triumphe, geschlossen auf
einem Wagen nach Triest zurückgebracht wurde. Charakteristisch ist nur, daß jener Straßenaufseher nicht der einzige Mann war, der in ihm einen Mörder erkannte, einen von
der Gerechtigkeit verfolgten Mörder, und doch statt ihn zu ergreifen, ihn mit Rath und
That unterstützte, damit er ihren rächenden Armen entgehe. Wir befinden uns in Italien,
die Theilnahme galt nicht dem Diebe, sondern dem poverino, dem das Unglück begegnet
war, in Wallung zu gerathen und sein Messer einem Anderen in die Brust zu stoßen!
Diese Rolle suchte Arcangeli auch noch in der Untersuchung, ungeschickt genug, fest
zu halten. Mit empörender Gleichgültigkeit nannte derselbe auch seine Mordthat ein Geschäft, eine Begebenheit (l’affare, il caso, il fatto del coltelletto). In allen Stadien seines
Leichtsinns, seines Trotzes und seiner Reue erscheint er als eine enervirte, lascive Bedientenseele, der jede Spannkraft zu einem moralischen Ernste, selbst zu einem ern-[442] sten
Zorne, abgeht. In jeder Aeußerung, die er thut, entsetzt man sich, daß ein solcher Lump
es gewesen, der, nicht einen Winckelmann ermordet, aber in dessen alleiniger Gesellschaft
ein Winckelmann die letzte Woche seines Lebens verbringen mußte.
In den vier ersten Verhören wandte er seine ganze Verschmitztheit an, das Ereigniß so
einzukleiden, als wäre es ein im Raufhandel begangener Mord gewesen. In Widersprüche
sich verwickelnd, ward er indeß bald widerlegt. Psychologisch merkwürdig ist nur die Veranlassung seines endlichen wahrhaften Geständnisses. Während er hartnäckig behauptet
hatte, daß er den Strick, mit dem er Winckelmann erdrosselt, in dessen Zimmer gefunden, daß also keine Prämeditation dabei statt gefunden, sagten drei unverdächtige Zeugen
aus, daß er diesen Strick am Abend des 7. Juni, 6 Uhr, im Gewölbe des Seilers Bozzini gekauft habe. Dieser Umstand war, trotz dieser Zeugenaussage, falsch; woher die Täuschung
der Zeugen gekommen, die vollkommen aufgeklärt ward, ist für uns gleichgültig und
zu weitläufig, hier zu erzählen. Aber Arcangeli gerieth durch die Vorstellung, auf erlogene Zeugenaussagen für überwiesen erklärt zu werden, in ein solches Gemisch von Aerger,
Wehmuth und ohnmächtiger Rache, daß er weinte und lieber Alles gestand, als er Denen,
welche er für Verleumder hielt, den Triumph gönnen wollte, ihn zu verderben.
Er hatte nun Alles bekannt, aber er mußte doch etwas zu seiner Rechtfertigung, Etwas,
was zur Milderung seiner Strafe dienen könne , anführen. In diesen Vertheidigungsgründen zeigte sich Arcangeli wo möglich noch erbärmlicher als in seiner Handlungsweise: er
habe nie Winckelmann gesucht, sondern dieser habe ihn gesucht; dieser habe 8 Tage seine Dienste benutzt; nie habe er [443] ihn gebeten, ihm seine Schaumünzen zu zeigen. Aus
Dem, was Winckelmann über seine Sendung nach Wien gesprochen, habe er Verdacht gegen seinen Charakter und seine Eigenschaften geschöpft; er habe gemuthmaßt, „daß Winckelmann ein Spion oder sonst ein unbedeutender Mensch wäre“. Darauf war er auch um
deswillen gekommen, weil er ihn für einen Juden oder Lutheraner hielt, und dies vermu-
Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft 74/2011–2012: Beilage
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thete er wieder daher, weil Winckelmann nie mit ihm zur Messe oder in die Kirche gehen
wollte, noch den Hut abzog, wenn sie an einer Kirche vorübergingen, und – weil er oft in
einem großen Buche las, das weder deutsch, noch französisch, noch italienisch, sondern in
einer anderen, ihm ganz unbekannten Sprache gedruckt war.
Endlich war Winckelmann selbst schuld, weil er ihm die unseligen Münzen vorgezeigt;
demnächst der Teufel, der ihn verblendet, sie dem fremden Manne zu rauben, was er übrigens eigentlich nur aus Liebhaberei gethan, und schließlich trug einen guten Theil der
Schuld der Cameriere Harthaber, der die Thür geöffnet, aber dort verdutzt und wie ein
Gimpel stehen geblieben und dem Ringen zugesehen; wenn er zugesprungen, hätte er wol
den Mord verhindern können!
Fand doch der gerichtliche Vertheidiger auch keinen andern Vertheidigungsgrund als den
Einfluß des Teufels!
Am 16. Juli verurtheilte das Stadt- und Landgericht von Triest den Mörder Arcangeli
zum Tode durch das Rad. Er hörte das Urtheil mit Entsetzten an und geberdete sich mit
großer Angst wegen der Todesart; dagegen benahm er sich mit aller Fassung und Ergebung
an dem Tage der Execution selbst, am 20. Juli. – Sie fand am selben Wochentage, zur selben Tagesstunde, wo das Verbrechen verübt worden, und auf demselben Peters-[444]platze, dem Gasthofe gegenüber statt, wo Winckelmann’s Blut vergossen worden.
Man hatte Winckelmann bei seinem
Tode und Begräbnisse keine jener Auszeichnungen und Ehrenbezeigungen gewährt, die
man einem Manne seines Ansehens und seiner Verdienste sonst schuldig zu sein glaubt.
Archäologie und Kunstkritik waren für die
damaligen Bewohner von Triest unbekannte
Dinge. Winckelmann war ihnen ein unbekannter Name. Erst nachdem er in der Erde
ruhte, kam von allen Seiten Kunde, welcher
Mann in ihren Mauern ermordet worden.
Man suchte die frühere Versäumniß gut zu
machen durch den Eifer, mit welchem man
den Proceß des Mörders betrieb. Dennoch
ließ man die Gebeine des großen Archäologen ohne Denkstein, der Vergessenheit zum
Raube. Wo sie ruhen, war schon im ersten
Decennium dieses Jahrhunderts zweifelhaft,
aber man bereitete im zweiten Decennium
wenigstens ein Denkmal vor.
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Der neue Pitaval, 2. Auflage, Band 12, Leipzig, 1859, Vorwort S. 8–9
Das Interesse der beiden Fälle: die Ermordung Gerhard von Kügelgen’s und Winckelmann’s, beruht zwar mehr auf der persönlichen Bedeutung beider: jenes seiner Zeit sehr
beliebten Künstlers, dieses für alle Welt berühmten Schöpfers einer neuen Wissenschaft,
als auf ihren Mördern, ihren Verbrechen und des processualischen Processes, wie sie entdeckt, überführt und bestraft wurden. Die Untersuchung gegen Kügelgen’s Mörder war
aber ihrer Zeit eine cause célèbre, welche in Sachsen das Publicum lange Zeit ernsthaft beschäftigte und an und für sich manche Frage und Zweifel erregte. Winckelmann’s Ermordung ist eine sehr einfache Thatsache und dennoch in mancher Beziehung noch mit einem gewissen Geheimniß umhüllt; tragisch jedenfalls, daß der berühmte Gelehrte und
Kenner des Alterthums als eine völlig unbekannte Größe in einer wildfremden Stadt sterben mußte, und auch tragisch, daß man wenige Decennien nach seinem Tode seine Grabstelle vergessen haben konnte! W. Häring
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Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus
älterer und neuerer Zeit, hrsg. von Julius Eduard Hitzig, Wilhelm Häring (W. Alexis), ab Bd. 31
fortgesetzt von Anton Vollert, 60 Bde., Leipzig: Brockhaus, 1842–1890 ( = 1. 1842–12. 1847; N.
F. 1=13. 1848–12=24. 1856; 3. F. 1=25. 1858–12=36. 1865; N. S. 1. 1866–24. 1890; damit Ersch.
eingest.)
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Auf-gelesen:
Georg Heinrich von Berenhorst: Reise nach Castel Gandolfo und Porto d’Anzo
Am 22. [März 1766]:
In Castello waren wir alle sehr gut gelaunt. Unter anderem spielte sich zwischen dem Prinzen
von Mecklenburg und Winckelmann eine burleske Szene ab. Letzterer hatte sich freiwillig verpflichtet, unser Lieferant zu sein und der Hofmeister des Kardinals hatte ihm zwei Esel mit Proviant geschickt. Am letzten Tag zeigte sich, dass die deutsche Gier die italienische Voraussicht in
Verlegenheit gebracht hatte. Beim Mittagessen aßen wir die letzten Lebensmittel, so dass es nichts
mehr zum Abendessen gab. Winckelmann war darüber sehr betrübt, ja sogar beschämt und ich
weiß nicht, ob es unseretwegen oder seines Kardinals wegen war. Er bemühte sich jedoch, darüber
hinweg zu täuschen. Der Prinz von Mecklenburg bemerkte es aber sehr wohl, und da er sich sehr
gern über ihn lustig macht und sich darüber hinaus ärgerte, nüchtern ins Bett gehen zu müssen,
redete er ohne Unterlass davon und machte wiederholt Winckelmann Vorwürfe. Bald wurde dieser ungeduldig und nach einem Wortgefecht wurden sie handgreiflich. Zwar lachten sie dabei,
aber die Schläge beiderseits waren keineswegs ohne Härte.
(Aus: Die Grand Tour des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau und des Prinzen Johann Georg durch
Europa. Aufgezeichnet im Reisejournal des Georg Heinrich von Berenhorst 1765 bis 1768, hrsg. und
kommentiert von Antje und Christophe Losfeld unter Mitarbeit von Uwe Quilitzsch, Halle
2012, 2 Bände, Band I S. 93)
Winckelmann-Gesellschaft
Winckelmannstr. 36–38
D 39576 Stendal
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Layout: Winckelmann-Gesellschaft
Druck: Offizin Chr. Scheufele Stuttgart