Untitled - Ullstein Buchverlage

Transcription

Untitled - Ullstein Buchverlage
E
B
O
R
P
E
S
E
L
Die Autorin
Stephanie Linnhe wuchs im nördlichen Ruhrgebiet auf. Nach dem
Publizistikstudium ging sie für ein
Jahr nach Australien und arbeitete als
Story Writer sowie als Tourguide mit
Schwerpunkt in Sydney. Zurück in
Europa, führten Projekte sie in die
Schweiz und nach England, bis sie
2008 in die Welt der Computerspiele eintauchte. Seitdem
kümmert sie sich um die Texte eines Karlsruher Onlinespiel-Anbieters, schreibt nebenher für Zeitungen und
Zeitschriften, mischt hin und wieder bei Filmdokumentationen mit und versucht, das alles mit permanenter Reisewut zu vereinen.
Das Buch
Das Leben der australischen Studentin Naya Green gleicht
einem Albtraum: Nachts träumt sie von Schlangen, ein Tier
verirrt sich in das Auto ihrer Cousine und sogar in ihr
Zimmer. Was ihre Eltern für Halluzinationen halten,
bereitet Naya schlaflose Nächte. Als sie von Amelia Steer
kontaktiert wird, die auf ihrer Farm Hilfe für junge Frauen
mit traumatischen Erlebnissen anbietet, scheint das die
ideale Lösung zu sein. In dem kleinen Ort Meelah trifft
Naya nicht nur auf den attraktiven Chase, der seine
eigenen Geheimnisse hütet. Sie findet auch heraus, dass es
mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als sie jemals
geahnt hat. Und dass manche Kriege zu alt sind, um
zwischen den Fronten zu bestehen.
Stephanie Linnhe
Herz aus
Grün und Silber
Roman
Forever by Ullstein
forever.ullstein.de
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die
Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu
eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und
keine Haftung übernimmt.
Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Oktober 2014 (3)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © Finepic®
Autorenfoto: © privat
ISBN 978-3-95818-015-4
Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder
strafrechtlich verfolgt werden.
Prolog
Köln, September 1963
Angst schärft die Sinne, Panik dagegen verfälscht sie. Thea
wusste nicht, wo sie diesen Satz aufgeschnappt hatte, aber
jetzt erkannte sie die Wahrheit darin – und wie grausam
diese sein konnte. Ihr Atem schmerzte in ihrer Kehle, als
würde er aus unzähligen Klingen bestehen. Sie hörte ihre
eigenen Schritte und auch Maryas kaum, während die in
ihrem Rücken wie Gewehrfeuer klangen.
Die Straße vor ihnen war menschenleer, lediglich
gesäumt von Mehrstockhäusern, Laternen und Abfalltonnen – stumme Zeugen ihrer Verzweiflung. Selbst Maryas
Finger, die sich um ihre gekrampft hatten, fühlten sich an,
als stammten sie nicht von dieser Welt.
Trotz allem, das ungewollt in ihrem Leben aufgetaucht
war, hatte Thea stets geglaubt, friedlich im Kreis ihrer
Familie zu sterben. Sie dachte an ihre Tochter, und allein
das gab ihr die Kraft, weiterzulaufen. Die Kleine war sicher.
Egal, was geschah, die Männer würden sie nicht bekommen.
»Nach rechts!« Marya wartete nicht, bis sie reagierte,
sondern zerrte sie in die nächste Seitenstraße. Ein Ruck
lief durch Theas Körper, doch es schmerzte nicht. Im
Gegenteil, es kam ihr ebenso unwirklich vor wie der Regen
auf ihrem Gesicht oder die Füße, in denen es pochte und
riss. Sie hatte einen Schuh verloren, irgendwann auf dieser
Jagd durch die nachtdunkle Stadt. Wo, wusste sie nicht
mehr. Vielleicht wusste Marya es. Letztlich war es egal. Sie
würde vielleicht sterben, sie war zu schwach, um sich zu
wehren. Der einzige Grund, um weiterzuleben, war ihre
Kleine mit den großen Augen und dem widerspenstigen
Haar. Doch sie hatte Angst, die Männer zu ihr zu führen.
Vielleicht war es einfach besser, aufzugeben, sich nicht
mehr verstellen und verstecken zu müssen.
Ihre Grübeleien verdrängten die Panik und ließen Angst
zurück. Ziegelmauern und Plakate, an deren Ecken der
Wind zupfte, zogen vorbei. Eine Katze verschwand fauchend unter einer Plane. Grau und das Gelb der Laternen –
mehr Farben gab es hier nicht. Vor ihnen schälte sich eine
Straße aus der Dunkelheit.
Marya blieb vor ihr stehen. Ihr Atem rasselte. Ihre Brust
hob und senkte sich, und ihre schwarzen Locken klebten an
Hals und Schultern. »Wir trennen uns«, sagte sie und
drückte Theas Hand. Auch sie hatte Angst – das bewies der
schwere Akzent, der immer dann durchsickerte, wenn sie
aufgeregt war. »Hörst du? Ich laufe links weiter, du rechts.
Vielleicht verwirren wir sie dadurch.«
Thea nickte. Es blieb nichts zu sagen in dieser Welt, die
sich gegen sie verschworen hatte. Sie sah zu, wie Marya in
die Dunkelheit eintauchte – Vertraute, Schwester, Leidensgefährtin. Dann drehte sie sich um und lief in die entgegengesetzte Richtung. Jetzt, da sie allein war und niemand
mehr hatte, der sie weiterzerrte, verschwand auch der Rest
der Benommenheit. Thea atmete tiefer, lief schneller, und
doch verlor sich das Echo hinter ihr, das keines war,
niemals.
Ihr Weg endete in einer Sackgasse. Die Steine mauerten
sich vor ihr in die Höhe und schienen sie zu verspotten.
Theas Schultern sackten herab, sie spürte Nässe auf ihren
Wangen. Sie hätte in ihrer Trance bleiben sollen, vielleicht
wäre dann der Tod weniger schlimm gewesen. Jetzt spürte
sie, wie ihre Hände zitterten und ihre Knie drohten
nachzugeben. Sie schluchzte auf und presste erschrocken
beide Hände auf den Mund.
Die Schritte waren ganz nah. Die Männer hatten sich
nicht wie erhofft aufgeteilt, sondern entschieden, zumindest bei einer Beute auf Nummer sicher zu gehen. Und sie
hatten Thea gewählt.
Sie wich bis zu der Mauer zurück, die ihr Schicksal besiegelte, und sah zwei Gestalten in die Gasse treten. Sie waren
ebenso grau wie die Häuserwände und der Boden zu ihren
Füßen, selbst wie der Himmel. Ihre Rufe waren verstummt,
und sie kamen langsam näher. Massige, bedrohliche
Schatten. Ihre Beute befand sich direkt vor ihnen, doch sie
hatten gelernt, trotzdem vorsichtig zu sein. Als sie das Licht
der Straßenlaterne erreichten, schimmerten die Waffen in
ihren Händen schwarz und braun. Dann sah Thea ihre
Gesichter. Das eine war hager und wurde von der Nase und
strähnigen Haaren dominiert, die seitlich in die Stirn
fielen. Der zweite Mann war mehrere Handbreit kleiner
und trug sein dunkles Haar kurz und in der Mitte gescheitelt. Trotz aller Unterschiede ähnelten sie sich durch die
Entschlossenheit und den Hass auf ihren Zügen.
Thea versuchte, sich kleiner zu machen, als sie es
ohnehin war. »Bitte.« Sie stolperte über dieses eine Wort.
Ihre Zunge war so schwer wie ihre Kleidung, die den Regen
aufgesogen hatte. »Ich tue niemandem etwas. Ich will
einfach nur nach Hause.« Sie klang wie ein Kind, nicht wie
eine junge Frau.
Die Männer gingen weiter, als hätten sie nichts gehört.
Thea hob die Hände und hielt sie vor ihr Gesicht, so als
könnte sie alles abwehren, Kugeln und Hass und Misstrauen. Die Männer blieben auf der Stelle stehen, rissen ihre
Waffen in die Höhe und zielten.
»Nimm die Hände runter!«, brüllte einer. Seine Stimme
hätte schön klingen können, wäre da nicht all die Wut
gewesen. Und die Angst. Die Männer hatten Angst vor ihr.
In der Dunkelheit zu Theas Füßen bewegte sich etwas.
Sie sah nicht hin, sah nichts mehr bis auf das süße Lächeln
ihrer Tochter, als sie die Augen schloss. Eine Bewegung an
ihrem nackten Fuß verlieh ihr die nötige Stärke, um sich
nicht mehr zu rühren. Dann war auch diese verschwunden,
und sie war allein. Die Mauer in ihrem Rücken war so kalt,
so kalt. Die Männer schrien etwas, aber sie verstand nicht.
Sie hörte das Klicken der Waffen. Sie hörte sogar die
Schüsse, ehe etwas sie von der Welt trennte und für immer
mit sich nahm.
Sydney, Gegenwart
1
Nichts ist im Verstand,
was nicht zuvor in der Wahrnehmung wäre.
(Thomas von Aquin)
Die Lichter des Krankenwagens tauchten die Umgebung in
einen Pulsschlag aus Blau und Rot und ließen Einzelheiten
für kurze Momente sichtbar werden: Straße, Menschen,
Fahrzeuge, Füße.
Naya drückte ihr Kinn fester auf die Knie und starrte auf
ihre nackten Zehen. Blut hatte sich unter die Nägel gegraben und sie in die einer Toten verwandelt: Halbmonde, die
im Dunkel der Nacht verschwanden, um dann aufzutauchen, wieder und wieder. Immerhin war der Anblick ihrer
Füße vertraut, anders als die raue Decke, die ihr ein
Sanitäter um die Schultern gelegt hatte. Der grobe Stoff
roch muffig, nach Staub und Fabrik. Er verlieh ihr nicht
den erhofften Kokon aus Wärme und Geborgenheit,
sondern isolierte sie auf seltsame Weise von dem Ameisenhaufen an Polizei, Männern der Ambulanz von New South
Wales und Schaulustigen, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite bemühten, so diskret wie möglich
herüberzustarren. Irgendwo lagen ihre Schuhe.
Neben ihr setzte ein Scheppern und Knirschen ein:
Claires Auto wurde abgeschleppt. Naya sah nicht hin,
stellte sich aber die Dellen in der Karosserie vor, aus den
Angeln gerissene Türen und Qualm, der aus der Motorhaube des Holden Camira kroch. Nach dem Unfall hatte ein
Mann in Schutzkleidung sie hinausgezogen und über die
Straße getragen. Sie hatte nicht zurückgeblickt, doch in
ihrer Vorstellung musste jeder Wagen, der sich mehrmals
überschlug, aussehen, als hätte die Faust eines Riesen ihn
zerquetschen wollen.
Seltsamerweise ängstigte auch dieses Bild sie nicht, und
so schob sie es zur Seite. Ihre Gedanken wanderten weiter
zu Claire. Ihre Cousine saß eine Armlänge entfernt neben
ihr und war ebenfalls in eine Decke gehüllt. Sie hatte die
Augen geschlossen, der Kopf lehnte an einer Tür des
Ambulanzwagens.
Naya wusste, dass sie sich bei Claire entschuldigen
sollte, doch selbst dazu konnte sie sich nicht aufraffen. Ein
Schleier hatte sich über die Welt gelegt. Sie wirkte wie eine
Theaterinszenierung, an der Naya nicht teilnehmen wollte.
Womöglich konnte sie es auch gar nicht, da ihr Kopf in den
letzten Minuten – Stunden? – zu schwer geworden war, um
ihn zu heben. Sie hätte es ausprobieren müssen, um die
Antwort darauf zu finden, nur war sie daran nicht interessiert.
Abgesehen davon: Was sollte sie Claire sagen? Dass es
ihr leidtat, einen Unfall verursacht zu haben, der sie beide
das Leben hätte kosten können?
Es war nicht der so vertraute Klang ihres Namens, der
sie aus ihrer Starre riss, sondern vielmehr eine Bewegung
in ihrem Augenwinkel. Sie schickte eine Eisschicht unter
ihre Haut, die seltsamerweise brannte.
Naya keuchte, robbte ein Stück zurück und zog ihre
Zehen unter die Decke. Schweiß bildete sich in ihrem
Nacken, auf den Armen und zwischen ihren Brüsten,
während sie auf den Boden starrte. Doch da war nichts.
Lediglich die sich noch immer drehenden Lichter der
Ambulanz ließen die Schatten tanzen.
»Claire?! Naya!«
Onkel Lewis schob sich durch die Reihen der Männer
und malte Risse in die Schicht aus Angst und Schrecken,
schaffte es jedoch nicht, sie vollends zu zerstören. Seine
Stirn lag vor Sorge in Falten, seine Lippen bildeten eine
weiße Linie. Er rannte auf den Wagen zu, zog Claire in
seine Arme und küsste ihren Scheitel, um sie dann von sich
zu drücken und von oben bis unten mit Blicken abzutasten.
Er trug Lederschuhe zu einer Jogginghose und einem
weißen T-Shirt.
»Bist du verletzt? Hast du dir etwas gebrochen? Oder
Kopfweh?« Er schob Claires Honiglocken beiseite und
berührte ihre Schläfen, als würde er ihre Schmerzen fühlen
können.
Claire schüttelte ihren Kopf. »Alles okay, Dad. Ich will
nur nach Hause.« Sie sah Naya nicht an.
Onkel Lewis nickte und zog die Decke wieder vor Claires
Brust zusammen. Trotz der Wärme, die Sydneys Straßen
selbst in der Nacht abgaben, schien jeder zu denken, dass
Unfallopfer froren.
Wahrscheinlich war das auch so, wenn man unter
Schock stand und der Blutdruck in den Keller gesaust war.
Naya spürte jedoch nichts außer Hitze durch ihren Körper
toben. Ihr Blick flackerte zwischen ihrem Onkel und dem
Boden hin und her.
Dort ist nichts.
Eine Berührung an ihrem Bein brachte die Hitze zum
Überkochen. Naya zuckte zusammen.
»Hey, ganz ruhig. Ich bin es nur.« Onkel Lewis beugte
sich zu ihr herab, bis sein Gesicht auf einer Höhe mit ihrem
war. »Ist mit dir alles in Ordnung? Hast du Schmerzen?«
Seine gewitterblauen Augen ähnelten so sehr denen
ihres Vaters, dass sie schlucken musste. Sie wollte nicht aus
dem Schutz der Decke heraus, wollte den Wagen nicht
verlassen. Vor allem wollte sie keinen Fuß auf diesen Boden
setzen.
Onkel Lewis runzelte die Stirn. »Naya?«
Sie räusperte sich. »Mir geht’s gut.« Ihre Stimme schabte
durch ihren Hals und klang nach Blech und Stein.
Onkel Lewis zog seine Hand zurück und setzte sich
vorsichtig zwischen die beiden Mädchen. Er legte einen
Arm um Claire und atmete erleichtert auf, als sie ihren
Kopf auf seine Schulter fallen ließ. Seine freie Hand legte er
auf Nayas Schulter. »Ich habe deine Eltern angerufen. Sie
sind sofort aufgebrochen und auf dem Weg zu eurem
Haus. Ich bringe dich hin.«
Naya schwieg. Ihre Eltern konnten ihr auch nicht helfen.
Onkel Lewis strich Claire über das Haar, tätschelte
unbeholfen Nayas Schulter und musterte die Männer, die
sich um einen Polizisten drängten. Einer von ihnen
bemerkte ihn, löste sich von der Gruppe und hielt auf sie
zu.
Ihre Eltern – das Geschäftsessen, auf das sie sich so
lange vorbereitet hatten und das sie nun wegen ihr abbrachen. Naya zog die Decke über ihr Kinn. Sie hatte es
geschafft, gleich einer Handvoll Leuten den Abend zu
verderben. Als sie zu Claire schielte, hob ihre Cousine den
Kopf und blickte sie zum ersten Mal seit dem Unfall an.
Einen Atemzug später sah sie wieder weg, doch der
Moment hatte genügt. Claire gab Naya die Schuld an dem,
was geschehen war.
Und sie hatte recht.
»Sie hat Claire ins Lenkrad gegriffen, weil sie dachte, dass
eine Schlange durch das Auto kriecht. Eine verdammte
Schlange, Marion! Das hat nichts mit Schreckhaftigkeit zu
tun.« Die Stimme ihres Vaters erhob sich aus dem Gemurmel ihrer Eltern und wurde sofort vom vorwurfsvollen Ton
ihrer Mutter zurückgerissen. Eine Tür schlug zu und
isolierte die Stimmen mit all ihren Vermutungen, Emotionen und Schlussfolgerungen.
Naya lag im Bett ihres alten Zimmers, aus dem sie vor
über einem halben Jahr ausgezogen war, und starrte an die
Decke. Ihre Eltern stritten sich selten, und nun taten sie es
wegen ihr. Natürlich, sie glaubten ihr nicht. Sie hatte sich
nicht bewegt, seitdem ihre Mutter ihr einen Teller Suppe
hingestellt und sie zugedeckt hatte. Die Schreibtischlampe
neben dem Fenster streute Licht über den Fußboden und
spiegelte sich in der Glasscheibe. Es genügte, um die
Schatten im Raum zu vertreiben – und um nachzusehen,
ob sie auch wirklich allein war. Doch dazu konnte Naya sich
ebenso wenig aufraffen wie dazu, sich auf die Seite zu
drehen oder einen Schluck Wasser zu trinken, obwohl ihre
Kehle vor Trockenheit schmerzte. Es war, als hätte ihr Wille
ebenso Schaden genommen wie Claires Wagen.
Eine verdammte Schlange, Marion!
Naya schloss die Augen, krallte die Finger in das Laken
und biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Unter
ihren Lidern brannte es, doch sie durfte die Beherrschung
nicht verlieren. Der Grat zwischen Überzeugung und
Wahnsinn war erstaunlich schmal, das hatte sie festgestellt, seitdem sie darauf tanzte. Sie wusste, was sie in
Claires Auto gesehen hatte. Sie hätte ihre Cousine lediglich
bitten müssen, sofort anzuhalten und den Wagen zu
verlassen, aber da hatten ihre Instinkte bereits die Kontrolle übernommen. Sie hatte geschrien und getobt, und dann
hatte sie das Lenkrad zur Seite gerissen. Das bedeutete
nicht, dass sie wahnsinnig geworden war oder fantasierte,
auch wenn ihr Vater das vielleicht glaubte. Es gab verdammte Schlangen auf dem gesamten Kontinent, selbst in
den Städten. Nur, weil sie in der letzten Zeit häufiger von
den Biestern träumte, hieß das nicht, dass ihre Fantasie
mit ihr durchging. Schlangen krochen in Autos, weil es dort
warm war. Diese Logik ließ sich nicht durch Wahnvorstellungen ersetzen, auch wenn ihre Eltern den Vorfall so zu
erklären versuchten. Sie klammerten sich an Worte wie
Trauma oder Schock und suchten die Ursachen dafür
überall: in Nayas Skepsis gegenüber Claires Fahrkünsten
(die sehr durchschnittlich waren) oder in jenem Tag vor
über zehn Jahren, als sie sich am Touristenzentrum des
Uluru-Kata-Tjuta-National-parks allein auf den Weg
gemacht und wirklich eine Schlange gesehen hatte. Nur
hier in Sydney mit all seinen Bewohnern vermutete
niemand abstoßende Schuppenkörper mit lidlosen Augen
und Giftzähnen. Beinahe so, als wäre Australien zweigeteilt
und ein Teil streng vom anderen isoliert.
Naya biss die Zähne zusammen. Es war nicht nur
Unsinn, so zu denken, sondern auch gefährlich. Wenn man
die Augen vor Dingen verschloss, die einem nicht gefielen,
gab man ihnen lediglich die Macht, zu wachsen und eines
Tages zu einer wirklich unangenehmen Überraschung zu
werden.
Sie holte tief Luft und wünschte sich zurück in die Zeit,
als ihre Welt noch in Ordnung gewesen war. Die Zeit vor
den Albträumen. Naya wusste nicht mehr, wann genau sie
begonnen hatten, doch sie handelten stets von Schlangen.
Nach jedem Traum wachte sie schweißgebadet auf.
Ein Schaben an der Tür erschreckte sie so sehr, dass sie
sich kerzengerade aufsetzte. Dann begriff sie, dass jemand
die Türklinke herabdrückte. Kurz darauf huschte Phoebe in
das Zimmer, begleitet von einem goldenen Lichtstrahl aus
der Diele. Naya atmete auf und beobachtete, wie ihre kleine
Schwester die Tür mit beiden Händen zudrückte und dabei
ächzte, als würde es ihre letzte Kraft kosten. Phoebes viel
zu große Füße klatschten auf das Laminat, als sie auf das
Bett zustürmte und sich hineinwarf.
Naya blieb nichts anderes übrig, als bis zur Wand zu
rücken, um Platz zu schaffen. Die Starre fiel von ihr ab, als
Phoebe sich an sie kuschelte und die Spargelärmchen um
ihren Hals warf.
»Wie sah die Schlange in Claires Auto aus?«, fragte sie,
bereits wieder im Halbschlaf. Ihr Haar kitzelte Nayas
Wange. Es roch nach Phoebes Kinder-Orangenshampoo
und Sauberkeit.
Ein Lächeln stahl sich auf Nayas Lippen. »Es war zu
dunkel. Ich konnte nur einen Schatten erkennen«, sagte sie
und streichelte Phoebes Stirn.
»War sie groß?«
»Nein«, flüsterte Naya, legte sich ebenfalls wieder hin
und schloss die Augen. Lieber log sie, als ihrer Schwester
Angst zu machen. »Ganz klein.«
Phoebe kicherte und war kurz darauf eingeschlafen. Ihr
gleichmäßiger Atem und die Wärme der Bettdecke hüllten
Naya endlich in die Geborgenheit, die sie gesucht hatte,
und gaben ihr das Gefühl, wieder ein Kind zu sein.
In ihrer Wohnung in Newtown brannte Licht. Naya zog ihren
Schlüssel aus der Tasche und bemerkte, dass die Tür nur angelehnt
war. Mit klopfendem Herzen drückte sie gegen das Holz und
blinzelte in den Flur. »Hallo?«
Niemand antwortete. Naya schloss die Tür hinter sich und ging
in das Wohnzimmer. Auf dem Tisch stapelten sich leere Pizzakartons und Zeitschriften. Etwas raschelte, die Schachteln bewegten
sich, eine fiel zu Boden. Teigreste trafen Nayas Beine. Die
Berührung war zart, beinahe liebevoll. Dann verstärkte sich der
Druck an den Knöcheln.
Naya sah hinab auf braune und weiße Schuppen auf einem
länglichen Körper. Die Schlange wickelte sich träge um ihre
Fußgelenke, dann hob sie ihren Dreieckskopf. Naya starrte in
Kohleaugen, die direkt aus der Hölle stammten. Das Schlangenmaul öffnete sich.
Mit einem Knall zersprang das Glas der Deckenlampe und riss
alle Farben davon.
Keuchend sprang Naya aus dem Bett und bemerkte voller
Panik, dass es dunkel war und keine Neonlichtreklame
durch das Fenster blinkte. Sie war also noch immer im
Haus ihrer Eltern in Neutral Bay, nicht in ihrer Wohnung
in Newtown. Phoebe lag nicht mehr in ihrem Bett, und
jemand hatte die Schreibtischlampe ausgeknipst.
Die Angst ließ Naya stolpern und trieb sie gleichzeitig
an. Die Verbindung von Traumerinnerungen und Dunkelheit zerrte an ihrer Beherrschung. »Wo bist du? Wo bist du,
verdammt nochmal!« Sie tastete nach dem Lichtschalter.
Ein Nagel brach, als sie ihre Hand gegen die Wand schlug.
Der Atem kam in kurzen Stößen, in ihrem Kopf kreischte
ein Stimmchen ihr zu, sich zu beeilen. Sie wollte nur noch
weg von hier. Tränen liefen über ihre Wangen, aber sie
versuchte, sich zusammenzureißen. Lauerte in den Zimmerecken etwas auf sie? Kroch etwas auf ihre Füße zu, im
Wettlauf mit ihrem Versuch, Licht zu machen? Der Gedanke, jede Sekunde eine Berührung zu spüren, schnürte ihr
die Kehle zu.
Endlich fand sie den Lichtschalter und schlug so fest
darauf, dass das Plastik splitterte. Das Zimmer wurde in
warmes Orange getaucht.
So schnell sie konnte, drehte Naya sich um die eigene
Achse und suchte den Boden ab. Ihre Haare fielen in die
Stirn und nahmen ihr einen Teil der Sicht. Dennoch
bemerkte sie den dunklen Schatten, der unter dem Bett
verschwand.
Ihr wurde eiskalt. Sie zitterte und lief rückwärts, bis sie
sich gegen die Wand presste. Von hier konnte sie unter das
Bett blicken, wenn sie sich nur ein wenig herabbeugte. Am
liebsten wäre sie weggelaufen, aber sie musste auf Nummer sicher gehen. Wenn dort wirklich etwas war, durfte es
nicht frei durch das Haus kriechen, nicht mit Phoebe im
Nebenzimmer. Außerdem: Nie wieder in Ruhe einschlafen?
Dieses Zimmer niemals wieder betreten?
Du darfst deinen Ängsten nicht die Macht geben, zu wachsen.
Sie sah zur Tür. Würde sie es schaffen, zu flüchten,
wenn sich wirklich eine Schlange im Zimmer befand? Wie
schnell waren diese Biester eigentlich? Nayas Gedanken
rasten. Sollte sie ihren Vater holen?
Ausgeschlossen.
So kurz nach dem Unfall würde er alles, was sie sah, für
eine Wahnvorstellung halten, erzeugt durch Trauma und
extremen Stress. Nein, hier musste sie allein durch. Naya
atmete tief ein und ballte ihre Hände zu Fäusten. Schweißtropfen liefen über ihre Stirn und an der Nase herab, als sie
langsam in die Hocke ging. Nur keine hektischen Bewegungen. Sie zuckte zusammen, als eine dicke Haarsträhne
von ihrer Schulter rutschte und mit einem dumpfen
Geräusch auf den Boden traf.
Unter dem Bett war nichts.
2
Suche nichts zu verbergen,
denn die Zeit, die alles sieht und hört,
deckt es doch auf.
(Sophokles)
»Die junge Dame in der vorletzten Reihe, rotes Shirt,
braunes Haar. Wie heißen Sie?«
Naya begriff erst, dass sie gemeint war, als sie die Blicke
ihrer Kommilitonen bemerkte und selbst die Leute in der
Reihe vor ihr sich zu ihr umwandten. Jemand kicherte.
Hitze flammte über ihre Wangen.
»Naya Green«, sagte sie und sah nach vorn, wo sich das
Licht der Deckenbeleuchtung auf der Brille ihres Dozenten
spiegelte. Professor Opperman rückte sie zurecht, als hätte
er ihre Gedanken gelesen.
»Miss Green. Was auch immer Sie auf dem Boden zu
finden hoffen, ich versichere Ihnen, dass alles, was hier
vorn stattfindet, Ihnen mehr Vorteile im Studium verschafft.«
Naya grub ihre Zähne in die Unterlippe, dann nickte sie.
Jede Erklärung würde nur nach einer Ausrede klingen.
Zudem war sie wütend auf sich selbst. Sie musste aufhören, andauernd den Boden im Auge zu behalten, so als
würde es in der Universität vor Schlangen nur so wimmeln.
Damit machte sie sich lediglich das Leben schwer. Die
Einführung in die Geschichte der Kulturtheorien war außerdem
nicht so trocken, wie sie befürchtet hatte – im Gegenteil.
Heute sprach Opperman über die tiefe religiöse Bedeutung
der Körperbemalungen der Aborigines, deren Farbe aus
Ocker, verschiedenen Lehmarten und Ölen angerührt
wurde. Die Muster aus gepunkteten Linien, Schraffuren
und anderen Formen verrieten nicht nur die soziale
Position oder das Verhältnis des Bemalten zu seiner
Familiengruppe, seinen Vorfahren, Totemtieren und
Landesteilen, sondern sollten ihm auch die Kraft verleihen,
sich seiner spirituellen Existenz anzunähern. Naya gefiel
die Art, wie der Professor seinen Vortrag mit Beispielen
auflockerte, und mit der Zeit vergaß sie vollkommen, auf
ihre Füße zu sehen.
Nach der Vorlesung besorgte sie sich einen Becher
Kaffee und machte sich auf den Weg nach draußen.
Sonnenschein empfing sie, und sie blieb stehen und
blinzelte, bis ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt
hatten. Die Wärme sorgte dafür, dass sie sich augenblicklich besser fühlte. Sie lief weiter, vorbei am Gebäude und
dem Steinrondell, auf dem sich die Studenten drängelten,
zum Stammtreffpunkt mit ihren Freunden. Der Alltag an
der Universität von Sydney mit seinem Stimmengewirr
und Gelächter ließ die Schrecken der vergangenen Nacht
zu einem Schatten verblassen.
»Hey, Naya! Hier drüben!« Jemand winkte ihr von der
Grünfläche vor den neugotischen Gebäuden aus zu. Sie
änderte die Richtung, stolperte beinahe über ein auf dem
Boden liegendes Pärchen, murmelte eine Entschuldigung
und ließ sich kurz darauf zwischen Lanie Heslin und Eve
Saunders auf den Rasen fallen. Eve hatte dieses Lächeln auf
den Lippen, für das viele sie auf den ersten Blick mochten.
Naya grüßte in die Runde. »Hey. Wie lange sitzt ihr
schon hier?«
»Fast eine Stunde«, sagte Jossi, riss ihr den Pappbecher
aus der Hand und spähte hinein. »Leer.« Er legte seinen
Kopf nach hinten, schüttete den letzten Tropfen auf seine
Zunge und zerdrückte den Becher dann mit eindeutigem
Bedauern. »Che palle!«
Naya schüttelte den Kopf. Jossi – eigentlich Giuseppe – war
wohl der einzige Italiener der Welt, dem es egal war, ob
man ihm ein Instantgebräu oder frischen Espresso vorsetzte. Er war süchtig nach jeder Sorte Kaffee, selbst wenn der
Geschmack an Dinge erinnerte, die längst verfault waren.
Sie angelte einen Cupcake aus der Pappschachtel, die in der
Mitte der kleinen Gruppe auf dem Boden stand. »Wie steht
es mit Plänen für heute Abend?«
»Du siehst fit aus«, sagte Sienna, die Fünfte im Bunde,
statt einer Antwort.
Naya blinzelte. »Was meinst du?«
Gerade aus dem Mund der durchtrainierten Schwarzhaarigen klang die Bemerkung seltsam. Sienna deutete auf
den Bluterguss an Nayas Oberarm, der so groß war wie
ihre Faust. Die feinen Schnitte darauf waren bereits
verschorft. »Dein Unfall. Ich habe nicht damit gerechnet,
dass du heute zur Vorlesung kommst. Meine Eltern hätten
sich wahrscheinlich den Zweitschlüssel zu meiner Wohnung besorgt, um mich einzusperren, damit ich erst einmal
im Bett bleibe.«
Nayas Blick wanderte zu ihrer Schulter. »Ich wollte nicht
den ganzen Tag auf weiße Wände starren und daran
denken, was passiert ist«, sagte sie und rieb über ihre Haut,
als könnte sie die Erinnerung an den Unfall wegwischen.
Es sah wirklich nicht mehr so schlimm aus, aber sie hatte
schon immer eine gute Wundheilung besessen. Die
Prellungen an ihren Schultern wurden durch ihr langes
Haar verdeckt, das sie heute offen trug, um keine Gerüchte
zu schüren oder zu viel Neugier zu wecken. Es genügte,
wenn Claire sie mied und somit daran erinnerte, was
geschehen war.
»Eine weise Entscheidung«, sagte Eve, streckte sich und
zupfte ihre Kastaniensträhnen in Form. Ein leiser Summton ertönte. Sie griff nach ihrem Handy, warf einen Blick
darauf und kicherte leise, woraufhin Sienna sofort näher
rückte und ihr über die Schulter spähte. Jossi verdrehte die
Augen, sprang auf, wedelte vielsagend mit dem Kaffeebecher und verschwand.
Lanie rückte näher und klaute den angebissenen
Cupcake aus Nayas Fingern. »Wir wollten heute Abend in
die neue Bar in den Rocks«, sagte sie leise. »Bist du dabei?«
»Vielleicht. Ich bin nicht sicher, ob es so eine gute Idee
ist, rauszugehen.«
Lanie sah sie nachdenklich an. »Du musst einfach aufhören
zu grübeln. Im Excelsior gibt es keine Schlangen, fertig. In
Claires Auto hat sich dagegen vermutlich eine eingeschlichen. Das ist meinem Ex auch schon mal passiert. Du hast
halt eine Phobie. Da ist es kein Wunder, dass du diese
Viecher überall vermutest, wenn du erst einmal einer
begegnet bist.«
Naya rieb ihre Handflächen gegeneinander. »Ich habe
aber keine Lust, etwas zu vermuten«, murmelte sie. »Es
macht mich wahnsinnig. Ich will entweder wissen, dass
eine Schlange da ist, damit ich rennen kann, oder ich will
mir den Kopf erst gar nicht zerbrechen, ob etwas da sein
könnte. Sonst schaue ich ja den Rest meines Lebens in jede
dunkle Ecke.«
»Klingt einleuchtend.« Lanie kaute auf ihrer Unterlippe
herum. »Es gibt Therapeuten dafür.«
Naya verengte ihre Augen. »Fang du nicht auch noch
an.«
Lanie zupfte einige Grashalme aus dem Boden und warf
sie Naya an den Kopf. »Für Phobien, meinte ich. Als
Michelle hergezogen ist, hat sie bei jeder Kakerlake einen
Anfall bekommen, weißt du noch? Sie konnte keinen Fuß
mehr in dieses Restaurant am Darling Harbour setzen. Ihre
Eltern haben sie dann zu einem Therapeuten geschickt. Ein
alter Knacker, aber seinen Job hatte er drauf. Hinterher hat
sie die hässlichen Viecher sogar anfassen können.«
»Ich sehne mich nicht gerade danach, mir eine Schlange
um die Hand zu wickeln«, seufzte Naya und starrte auf ihre
Fingernägel. »Aber vielleicht hast du recht.«
»Natürlich habe ich das. Übrigens auch damit, dass du
dich mit schönen Dingen ablenken solltest. Immerhin sind
wir im ersten Semester und da erwartet man von uns, viel
zu feiern.« Sie grinste über das ganze Gesicht.
Gegen ihren Willen musste Naya schmunzeln. Lanies
Begeisterung war schon immer ansteckend gewesen. »Der
Abend wird sicher aufregend, wenn ich bei jeder Bewegung
in meiner Nähe zu kreischen beginne«, gab sie zu bedenken.
Lanie kicherte. »Andere müssen Unmengen von Alkohol
in sich hineinschütten, um richtig aus sich herauszugehen.«
Naya überlegte, ihr etwas an den Kopf zu werfen, beließ
es dann aber bei einem Schnauben. »Wir werden sehen.
Falls ich mitkomme, muss ich anschließend mit dem Zug
nach Hause fahren. Momentan bin ich nicht so wild darauf,
in einem Auto zu sitzen.«
Lanie schnalzte mit der Zunge. »Wo es doch jemanden
gibt, der dich so gern bringen würde.« Sie deutete zum
Gebäude hinüber. »Wie auf ein Stichwort … Cooper ist
gerade auf dem Weg zu uns.«
Da sich alle anderen umdrehten, verzichtete Naya
darauf. Stattdessen knabberte sie an einem zweiten
Cupcake und überlegte sich, wie sie reagieren sollte, wenn
Cooper Griffith jeden Moment grüßte. Sie mochte ihn, war
sich aber noch nicht sicher, ob da mehr als nur Freundschaft war. Und sie wollte ihm ganz sicher kein so idio-
tisch-verliebtes Grinsen zuwerfen, wie Eve es soeben tat.
Sie blickte wie beiläufig hoch und blinzelte in die Sonne, als
Coopers lange Beine vor ihr stehen blieben.
»Hallo«, grinste er in die Runde und ließ sich neben
Naya ins Gras fallen. Seine nackten Arme berührten ihre
Haut. »Hey.«
Er war so groß, dass sie immer zu ihm hochsehen
musste, wenn sie sich zwischen den Kursen auf den
Gängen der Uni trafen. Nun betrachtete sie die kaum
sichtbare Narbe an der Oberlippe und das ein wenig zu
stark ausgeprägte Kinn. Genau das machte Coopers
Gesicht so interessant und brachte einen Hauch Gefahr in
das Blinzeln des blonden Surferboys. Aber genau das war er
für sie: interessant, nicht mehr und nicht weniger. Leider
grübelte sie momentan zu sehr über andere Dinge nach,
um sich stärker mit ihren möglicherweise für Cooper
vorhandenen Gefühlen befassen zu können. Sie hob ihr
Kinn, um in das Sturmwetterblau seiner Augen zu schauen.
Es wirkte trüb.
»Hallo, Coop. Müde?«
Zwei dunkle Linien hatten sich zwischen seine Augenbrauen gegraben. Er schüttelte den Kopf. »Eher besorgt.
Was ist dran an der Geschichte, dass du gestern in einem
Auto gesessen haben sollst, das sich mehrmals überschlagen hat?«
Naya schaffte es, zu lächeln. »So schlimm war es nicht.
Wir haben uns gedreht und der Wagen ist gekippt, aber
mir geht es gut. Ich habe ein paar Prellungen, aber die
spüre ich kaum noch.« Wie zum Beweis streckte sie ihre
Arme aus. Die Schatten darauf waren im Sonnenlicht kaum
zu sehen.
Die Sorge in Coopers Gesicht wich einer einzigen
großen Frage.
»Und dann hockst du hier, als sei nichts geschehen? Wie
ist das denn genau passiert?«
Naya zog ihre Arme zurück und verschränkte sie vor
dem Oberkörper. Sie hatte sich so sehr bemüht, den Unfall
und die Schlangen zu verdrängen, dass sie nicht wusste,
was sie antworten sollte.
»Claire hat die Kontrolle über den Wagen verloren«,
murmelte sie.
»Claire?«
»Meine Cousine.«
Lanie zwinkerte. »Bist du mit den Vorlesungen für heute
durch, Coop?«, mischte sie sich ein.
Er hob die Augenbrauen. »Eigentlich schon, aber ich
wollte mich noch bei Professor Lewitt melden, wegen der
Assistenz beim nächsten Projekt.«
»Du hast nur Augen für deine Dozenten«, grinste Lanie.
Ein rascher Blick streifte Naya. »Das stimmt so nicht, aber
ich gebe mir Mühe. So soll es ja an der Uni sein, sagt man:
Verpflichtungen über Verpflichtungen.« Das Lachen tanzte
in seinen Worten. Er sprang auf. »Muss noch jemand von
euch zurück zum Hauptgebäude?«
Naya sah auf ihr Handy. »Ich muss gleich zur nächsten
Vorlesung.«
Cooper strahlte. »Super. Ich hole mir noch etwas zu
trinken. Treffen wir uns am Eingang?«
»Ja, gut.«
Er winkte und machte sich auf den Weg. Eve hielt noch
immer ihr Handy in der Hand, aber starrte ihm hinterher,
bis er hinter einer Menschentraube verschwand. Ihre
Augen glänzten, als sie eine Grimasse in Nayas Richtung
zog. »Eigentlich hat er recht, du solltest nicht hier herumsitzen. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn du noch eine
Weile zu Hause bleibst.«
Lanie lachte und schleuderte einen Klumpen aus Gras
und Erde in Eves Richtung. »Was, genügt nun ein Blick auf
Coops Hinterteil, um dich eifersüchtig zu machen? Du
solltest froh sein, dass es Naya gut geht!«
Eve duckte sich. »Bin ich ja«, sagte sie und giggelte, als
hätte sie einen Scherz gemacht. »Ich wäre nach einem
solchen Unfall wirklich fertig mit der Welt.«
Es klang wie ein Kompliment, doch Naya bemerkte den
Seitenblick, mit dem Eve sie streifte. Plötzlich fühlte sie
sich auf eine gewisse Weise schuldig. Es stimmte, Claire
hatte weitaus mehr abbekommen. Naya dagegen hatte
ihren Eltern am Morgen versichert, dass es ihr gut ging
und sie zur Uni wollte, um sich mit anderen, alltäglichen
Dingen zu beschäftigen. Niemand hatte diesen Wunsch
infrage gestellt oder darauf bestanden, sie zur Untersuchung zu schicken. Solange sie sich erinnern konnte, war
sie selten krank gewesen und wenn, hatte sie sich schnell
erholt. Dass der Arzt sie am Unfallort untersucht hatte,
genügte ihren Eltern daher vollkommen.
Und doch war die eigentliche Wunde wieder aufgerissen. Die Schatten lauerten noch immer und warteten auf
den passenden Augenblick, um wieder an die Oberfläche zu
kriechen. Und Eves Bemerkung hatte die Sonne über dem
Campus ein Stück verdrängt, sodass die Dunkelheit erneut
näherschleichen konnte.
»Ich geh dann auch mal«, sagte sie und sprang etwas zu
hastig auf. Lanie tat es ihr gleich und schnappte sich ihre
Tasche. »Wir sehen uns heut Abend!« Sie hakte sich bei
Naya ein und zerrte sie von den anderen weg. »Du darfst
dir nicht alles so zu Herzen nehmen.«
Naya wollte etwas erwidern, schwieg dann aber. Lanie
hatte recht, aber sie konnte eben nicht aus ihrer Haut. Um
sich abzulenken, betrachtete sie die Mauern und Türme der
Uni. Die Gebäude sahen viel älter aus, als sie waren, so als
hätte der Erbauer sich nicht an einem idealisierten Mittel-
alterbild orientiert, sondern selbst vor Jahrhunderten
gelebt. Er führte den Betrachter auf eine Zeitreise, die von
Geheimnissen wisperte und es mühelos schaffte, die
Schrecken der Gegenwart zu verdrängen.
Naya atmete tief ein, legte ihren Kopf in den Nacken und
blickte in den klaren, blauen Himmel. Sie mochte den
Hauptcampus. Hier warteten unzählige Herausforderungen auf sie, aber sie musste keine allein durchstehen. Je
mehr Leute in ihrer Nähe waren, desto sicherer fühlte sie
sich. Selbst die angriffslustigste Schlange würde dieses
Gelände meiden, wo Studenten lachten, faulenzten oder
auf der Suche nach dem nächsten Kursraum durch die
Gegend hetzten.
»Hey!« Lanie zerrte sie ein Stück zur Seite. »Nicht auf
den Boden zu schauen, ist auch keine Lösung.«
Jemand blieb direkt vor ihr stehen. Naya riss ihre
Aufmerksamkeit vom Himmel los, hob erschrocken ihre
Hände vor den Körper und berührte dabei die Brust des
jungen Mannes, so nah stand sie vor ihm. Verlegen ließ sie
ihre Arme sinken und blickte in zwei graue Augen. Hätte
Lanie sie nicht weggezogen, hätte sie ihn in vollem Lauf
umgerannt.
»Tut mir leid«, sagte sie und trat mit roten Wangen
zurück. »Ich habe dich wirklich nicht gesehen.«
Er warf einen nachdenklichen Blick in den Himmel. »In
der Nacht sieht man da den Zentauren und dort das Kreuz
des Südens.« Er rieb sich über die Bartstoppeln am Kinn,
dann sah er Naya wieder an. »Mehr Sternbilder kenne ich
leider nicht, aber ich kann irgendwie verstehen, dass sie
dich faszinieren.« Grüne Funken schienen in seinen
Pupillen aufzuleuchten.
Unwillkürlich lächelte Naya. Sie hatte ihn noch nie zuvor
gesehen. Seine Haare waren kurz und am Oberkopf ein
wenig länger als an den Seiten. Sie besaßen die Farbe von
dunklem Weizen und waren so verwuschelt, als wäre er
soeben aus dem Bett gefallen. Der Dreitagebart vervollständigte den Eindruck, schaffte es aber nicht, die kleine Narbe
an der Unterlippe zu verdecken. Trotzdem wirkte der
Fremde, der sie um einen halben Kopf überragte, nicht
müde, im Gegenteil. Er trug ein verwaschenes Shirt und
feste Schuhe, die dringend geputzt werden mussten, und
sah aus, als ob er noch etwas zu erledigen hatte.
Erst als er ihr Lächeln erwiderte und seine Augenbrauen
hob, begriff sie, dass sie ihn wie paralysiert anstarrte. »Ich
kenne mich mit Sternen gar nicht aus«, beeilte sie sich zu
sagen. »Ich habe nur ...«
»Geträumt«, fiel Lanie ein, ehe Naya sich vollkommen
lächerlich machen konnte. »Ich habe dich hier noch nie
gesehen. In welchem Semester bist du?«
Sein Lächeln blieb, wurde jedoch distanzierter, geschäftlicher. Auf eine gewisse Weise auch wachsamer. »Ich bin
kein Student, ich habe nur etwas angeliefert«, sagte er.
»Meine letzte Botenfahrt heute. Wurde auch Zeit, ich bin
ziemlich fertig.«
Er sah gar nicht fertig aus, fand Naya. Nur interessant.
Ein kaum sichtbares Grübchen zierte sein Kinn und seine
Nase besaß einen leichten Schwung, so als wäre sie einmal
gebrochen gewesen. Naya schätzte ihn auf Mitte zwanzig,
vielleicht ließ seine Entschlossenheit ihn aber auch ein oder
zwei Jahre älter erscheinen.
Sie strich ihr Haar glatt und hielt ihm eine Hand entgegen. »Dann wünsche ich dir einen schönen Feierabend.
Entschuldige noch einmal, dass ich dich beinahe umgerannt habe.«
Er nahm ihre Hand und drückte sie, nicht so vorsichtig,
wie es manche Männer bei einer Frau taten, doch auch
nicht so fest, dass es schmerzte. Er hatte große Hände, und
seine Haut war warm. Naya fühlte zwei, drei Schwielen.
»Danke, dir auch.«
Er ließ los, drehte sich um und ging weiter, ohne sich
noch einmal umzublicken. Naya bedauerte es ein wenig,
obwohl ihr seine Art gefiel. Er wirkte auf eine gewisse
Weise zielstrebig, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass
er jemals vor einer Entscheidung zögerte.
Jemand boxte ihr leicht in den Rücken, dann hörte sie
Lanie kichern.
»Naya! Seit wann lässt du dich von einem fremden
Typen hypnotisieren? Zudem von einem, der irgendwie
unheimlich ist?«
Sie runzelte die Stirn und ärgerte sich darüber, dass sie
sich wirklich ertappt fühlte. Er hatte nicht unheimlich
gewirkt, im Gegenteil. Doch sie hütete sich, zu diskutieren,
wenn Lanie bereits solche Bemerkungen fallen ließ.
Jossi tauchte auf und rettete sie, indem er Lanie mit
einem selbstgefälligen Grinsen in seine Arme zog. »Ciao,
bella«, schnurrte er.
Naya schmunzelte. »Ich melde mich später!« Sie winkte
den beiden und lief los.
Cooper wartete wie abgesprochen am Eingang. Zusammen tauchten sie in die Kühle des Gebäudes und schlenderten die Gänge hinab. Der Ton ihrer Schritte veränderte
sich, selbst die Nuancen der umliegenden Gespräche
klangen anders. Unwillkürlich starrte Naya wieder auf den
Boden, straffte dann aber ihre Schultern und ermahnte
sich im Stillen, nicht albern zu sein. Wenn draußen auf
dem Gelände schon keine Schlange herumkroch, würde es
hier drinnen erst recht keine geben.
»Wo ist dein Raum? Ich bringe dich noch hin.«
Naya kramte in ihrer Tasche nach dem Vorlesungsplan.
Wie die meisten anderen Erstsemester hatte sie noch
Probleme, sich auf dem riesigen Gelände zurechtzufinden.
»Ich muss zu den Sozialwissenschaften. A14«, las sie vor
und sah sich um.
Cooper legte ihr eine Hand auf die Schulter und dirigierte sie sanft zur Seite. »Dort entlang.« Wie immer kannte er
den Weg genau. Naya hatte noch nie erlebt, dass er nicht
absolut sicher war, wenn es um eine Entscheidung ging.
Daher schien es ihr wie das Natürlichste der Welt, sich
seiner Führung anzuvertrauen.
Knapp zehn Minuten später betraten sie den riesigen
Saal, der zu ihrer Überraschung vollkommen verlassen war.
Stirnrunzelnd studierte sie noch einmal ihren Plan und
verglich die dort eingetragene Nummer mit der neben den
breiten Türen. »Das verstehe ich nicht. Das hier muss er
sein.«
»Zur Vorlesung von Eddings?«
Naya schrak zusammen und fuhr herum. Ein Typ mit
Dreadlocks und einem Skateboard in einer Hand stand in
der Tür und starrte sie mit hochgezogenen Augenbrauen
an. »Ob ihr zur Vorlesung vom Eddings wollt«, wiederholte
er etwas lauter und schaffte es, seine Brauen ein weiteres
Stück in die Höhe zu ziehen.
Naya verglich noch einmal mit ihren Aufzeichnungen
und nickte. »Genau die suche ich.«
»Fällt aus.« Ein kurzer Gruß, dann hörte sie die Rollen
des Boards auf dem blanken Boden, einen lauten Warnruf
und dann einen Fluch. Etwas krachte gegen die Wand.
Cooper warf einen Blick aus der Tür, schüttelte amüsiert
den Kopf und ging zurück zu Naya, die soeben ihren Plan
verstaute.
»Damit habe ich dann wohl frei. Ich sehe mal nach, ob
ich die anderen noch erwische.« Sie hob ihren Kopf und
merkte, dass Cooper direkt zwischen ihr und der Tür
stand – und dass er keine Anstalten machte, beiseitezutreten oder etwas anderes anzusehen als sie. Sie konnte sein
Aftershave riechen und, schwächer, ein Duschgel, das mit
seiner fruchtigen Note nicht so recht dazu passen wollte.
Allmählich wurde sie nervös.
»Was genau ist das eigentlich für ein Projekt, bei dem du
assistieren willst?«, fragte sie schließlich, als die Spannung
in der Luft unerträglich wurde.
Er lächelte, doch seine Blicke verrieten, dass er nicht
über die Uni reden wollte. »Das ist nicht so wichtig«, sagte
er, trat näher und legte eine Hand auf ihre Schulter.
Sein Atem war warm, zum Aftershave gesellte sich der
Geruch nach Kaugummi. Mit einem Mal wünschte Naya
sich, er würde wieder Abstand nehmen. Das alles ging ihr
zu schnell. Sie war sich ja nicht einmal sicher, ob sie ihn
überhaupt auf dieselbe Weise mochte wie er sie. Ja, er war
attraktiv und sie unterhielt sich gern mit ihm, vielleicht
schmeichelte ihr auch sein Interesse, aber zu mehr war sie
nicht bereit. Noch nicht. Nicht derzeit. In den vergangenen
Wochen musste sie ihre Energie aufbringen, um jeden
einzelnen Tag zu überstehen – von den Nächten einmal
abgesehen. Sie konnte sich den Kopf jetzt nicht über
andere Dinge zerbrechen.
Mit einem Mal ärgerte sie sich darüber, für eben diese
Dinge blind gewesen zu sein. Immerhin war sie teilweise
schuld daran, dass sie hier mit Cooper stand und ihre
Freunde der festen Überzeugung waren, dass sie sich
genau das gewünscht hatte. Waren ihre Signale so missverständlich gewesen? Plötzlich wusste sie, dass sie keine
Beziehung mit Cooper wollte, zumindest nicht jetzt. Nicht,
wenn sie sich selbst kaum kannte. Alles, was sie sich von
ihm erhofft hatte, war ein Anker, der sie in der Realität
hielt. In einer Realität ohne Albträume und Schlangen.
Jetzt wollte er seinen Lohn dafür.
»Coop«, begann sie und fragte sich, warum ihr die Worte
schwerfielen. Immerhin hatte sie in unzähligen Filmen und
Büchern und auch schon im echten Leben gelernt, wie man
jemandem einen Korb gab. »Es tut mir wirklich leid, wenn
ich dir ...«
Sie brach ab, als er seine Hand zu ihrem Hals wandern
ließ und vorsichtig ihre Haut streichelte. Er hatte sie nicht
gehört. Wollte sie nicht hören. Seine Finger arbeiteten sich
zu ihrer Wange vor.
Naya drehte ihren Kopf zur Seite, doch er folgte ihrer
Bewegung. »Bitte lass das«, flüsterte sie.
Seine Augen glänzten direkt vor ihren, er musste sich
ein Stück hinab gebeugt haben. »Gefällt es dir etwa nicht?«,
fragte er.
Naya schüttelte ihren Kopf. Das Kribbeln war von ihrer
Haut verschwunden und hatte sich zu einem schweren
Klumpen in ihrem Magen gesammelt. Sie wünschte sich,
dass jemand hereinkommen würde, doch ihr Wunsch
erfüllte sich nicht. Was hatte sie auch erwartet? Das jemand
sie retten und das Durcheinander aufräumen würde, dass
sie selbst angerichtet hatte? Sie presste die Lippen aufeinander. Nein, sie war kein kleines Kind mehr, auch wenn sie
sich gestern Abend in ihrem alten Zimmer so gefühlt hatte.
Sie schob ihre Finger unter seine und drückte sie von sich
weg.
»Hör auf. Ich will das nicht.« Sie legte so viel Entschiedenheit in ihre Stimme, wie es nötig war, versuchte aber,
nicht kalt zu klingen.
Cooper zögerte, dann runzelte er die Stirn. »Soll das ein
Spiel sein?«
Er ließ seine Hand, wo sie war. Wie eine Frage schwebte
sie zwischen ihnen.
Naya schüttelte ihren Kopf. »Nein. Es tut mir leid, wenn
ich den Eindruck erweckt habe, dass ich mehr wollte als
Freundschaft. Vielleicht wollte ich das ja zu irgendeinem
Zeitpunkt auch oder … oder ich war mir nicht sicher. Aber
jetzt möchte ich einfach nur mit dir befreundet sein.
Verstehst du?«, sagte sie und hoffte, dass er nicht sauer
war. Sie würde das Vertrauen vermissen, das sich in den
letzten Wochen zwischen ihnen entwickelt hatte und zu
etwas wirklich Wichtigem werden konnte, wenn sie die
Richtung zuvor klärten.
Coops Lächeln nahm ab, lediglich ein Mundwinkel
zuckte leicht. Er sah ihr so lange in die Augen, dass Naya
unruhig von einem Bein auf das andere trat. Als er endlich
nickte, löste sich das Gewicht in ihrem Inneren in Luft auf.
Sie atmete aus. »Ich bin so froh, Coop. Ich dachte schon,
dass ...«
Weiter kam sie nicht. Cooper packte sie, riss sie an sich
und presste seine Lippen auf ihre. Sie glühten. Eine Hand
lag auf einmal auf ihrem Rücken, die andere grub er in ihr
Haar und hinderte sie daran, ihr Gesicht wegzudrehen. Für
den Bruchteil einer Sekunde war Naya wie erstarrt, dann
wütend. Sie schlug gegen seine Brust und versuchte, ihn
wegzudrücken, doch er war zu stark. Seine Zunge stieß
gegen ihre Lippen, zunächst fordernd, dann so brutal, dass
Naya ihre ungewollt öffnete. Es schmeckte bitter, und
allmählich bekam sie Panik. Er war ihr eindeutig überlegen. Er umschlang sie nun mit beiden Armen und presste
sie so eng an sich, dass sie die Muskeln unter seiner
Kleidung spüren konnte. Naya hatte sich mehr als einmal
gefragt, wie sie sich anfühlten, aber jetzt stieß die Härte sie
einfach nur ab. Ihr wurde übel. Sie schrie, doch der Laut
wurde von Cooper erstickt.
Gelächter brandete draußen auf dem Gang auf und kam
näher. Die Ablenkung genügte: Coopers Griff lockerte sich
um eine Winzigkeit. Naya riss sich los und verpasste ihm
einen heftigen Stoß mit beiden Händen. Er versuchte
nicht, sie festzuhalten, wohl mehr aus Angst vor ungebetenen Zuschauern als durch Unfähigkeit. Naya ergriff die
Chance, rannte an ihm vorbei und stürzte aus dem Saal. In
ihrem Kopf hämmerten Wut und Enttäuschung, sie hatte
sich noch nie so verraten gefühlt.
Sie achtete nicht auf die anderen Studenten, sondern
umklammerte ihre Tasche mit beiden Armen und floh
beinahe den Gang entlang. Der eine oder andere verwunderte Blick folgte ihr, aber niemand hielt sie auf. Ihre
Hände zitterten und ihre Beine fühlten sich weich an. Der
bittere Geschmack in ihrem Mund wollte einfach nicht
verschwinden, und am liebsten hätte sie ausgespuckt. Noch
immer konnte sie nicht glauben, was soeben geschehen
war. Sie spürte, wie sich ihre Augen vor Wut mit Tränen
füllten, und das machte alles nur noch schlimmer. Sie hatte
Cooper vertraut, hatte sogar kurzzeitig überlegt, ihm von
ihren Albträumen zu erzählen, und nun das! Ihr war
jegliche Lust auf Gesellschaft vergangen, sie wollte nur
noch ihre Ruhe, und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie
nirgendwo hinkonnte. Nicht nach Hause, wo dunkle Ecken
und huschende Schatten auf sie warteten, und auch nicht
zu ihren Freunden, da Coop sie dort zuerst suchen würde.
Aber sie wollte nicht mit ihm reden, mit niemandem. Sie
wollte einfach nur allein sein.
Sie hielt sich links, als sie wieder ins Freie trat, und lief
so lange, bis die Geräusche hinter ihr leiser wurden und ihr
die Sicherheit versprachen, die der Abstand mit sich
brachte. Irgendwo über ihr krächzte ein Vogel, und sie
legte den Kopf in den Nacken.
Der Zentaur und das Kreuz des Südens.
Seltsamerweise beruhigte sie der Gedanke an den
fremden Lieferanten mit den grauen Augen. Sie ging bis
zum nächsten Baum, ließ sich in das Gras sinken und
lehnte ihren Rücken an den festen Stamm. Nach einer
Weile schaffte sie es sogar, die Augen zu schließen und die
Welt auszublenden.
Dieses Mal waren es keine Albträume, die sie in die Realität
zurückrissen, obwohl sie es im ersten Moment vermutete.
Schreie schnitten wie Schwerter in ihren Dämmerzustand
und verdrängten ihn mit einer Brutalität, die beinahe
schmerzte.
Naya riss ihre Augen auf. Augenblicklich war sie hellwach, keuchte und starrte auf ihre Füße. Sie saß noch
immer auf der Wiese, ihre Füße kribbelten durch die
ungewohnte Position. Lange konnte sie nicht geschlafen
haben, die Sonne war nur unwesentlich weitergewandert,
und in einiger Entfernung ging das Uni-Leben seinen
normalen Lauf. Hastig rieb sie ihre Beine, bis das Blut
stechend zurückfloss, und sprang auf.
Da war sie wieder, die alte Angst. Naya fuhr sich über die
Stirn und bemühte sich, das Zittern ihrer Hand zu ignorieren. Es war nichts in ihrer Nähe, das nicht hierhergehörte,
das sagte sie sich immer und immer wieder, bis der Kloß in
ihrer Kehle verschwand.
Beim nächsten Schrei rannte sie los.
Je näher sie der Vorderseite des Gebäudes kam, desto
mehr merkte sie, wie sehr sie sich getäuscht hatte: Nichts
ging seinen normalen Lauf, und die Stimmung war so
drückend, dass Naya beinahe zurückgewichen wäre. Die
Studenten standen in kleinen Gruppen zusammen,
tuschelten miteinander oder starrten einfach nur in
Richtung des Haupteingangs. Manche hielten sich in den
Armen, aus mehreren Richtungen war leises Schluchzen zu
hören. Verwundert sah Naya sich um und blickte direkt in
das Gesicht einer hübschen jungen Frau. Es war vom
Weinen gerötet, die Augen geschwollen, doch trotzdem
konnte man die Angst in ihnen flackern sehen. Eine
stattliche Zahl an Dozenten mit Gesichtern aus Stein war
unterwegs, telefonierte oder redete auf die Studenten ein.
Naya versuchte, tief durchzuatmen, hatte aber das Gefühl,
als drückte ein unsichtbares Gewicht auf ihre Brust. Etwas
war geschehen. Was auch immer es war – es setzte etwas
tief in ihrem Inneren in Gang und brüllte ihr zu, dass sie
hier wegmusste. Obwohl sie am liebsten gerannt wäre,
wusste sie, dass sie herausfinden musste, was vor sich ging.
Sonst würde sie niemals wieder Ruhe haben, sobald sie
einen Fuß auf den Campus setzte.
Langsam schlich sie weiter. Eine weitere Gruppe Studenten blockierte den Eingang und Naya drängelte sich
zwischen ihnen hindurch. Bleiche Gesichter wandten sich
zu ihr um, aber niemand sagte etwas. Manche hatten die
Köpfe zwischen die Schultern gezogen, als ob sie sich
gegen eine Gefahr von außen schützten.
Urplötzlich kreischte ein Mädchen auf. Eine männliche
Stimme schnitt durch den gequälten Ton, tief und fest.
»Geht zur Seite. Zur Seite!«
Nach und nach gehorchten die Studenten und bildeten
eine Gasse. An ihrem anderen Ende erkannte Naya mehrere Männer. Sie hielten etwas zwischen sich, eine Art Trage,
auf der ein regloser Körper lag, und liefen zielstrebig auf
den Ausgang zu.
Naya presste sich an die Wand und öffnete die Lippen,
doch weder konnte sie schreien, noch strömte Luft in ihre
Lungen. Stattdessen verhakte sich ihr Blick mit den leeren
Augen des Jungen, der dort lag. Sie kannte diese Augen,
hatte noch vor wenigen Stunden hineingeblickt.
Es war Cooper. Sein Mund war weit aufgerissen. Weiße
Sprenkel benetzten die Lippen. Er bewegte sich nicht.
Der Schock überrollte Naya und rief Erinnerungen an all
die Momente wach, in denen sie wusste, dass etwas in der
Nähe war, was dort nicht hingehörte. Ihr Puls pochte in
ihren Ohren und überlagerte alle anderen Geräusche, hüllte
sie in einen Kokon, der keinen Schutz bot, sondern lediglich Betäubung. Und die war nicht gut, wenn man auf-
merksam sein musste. Wenn man die Umgebung nicht für
einen winzigen Moment aus den Augen lassen durfte.
Naya beobachtete wie durch Glas, wie einer der Männer
zwei Finger an Coopers Hals legte. Lange verharrte er in
dieser Position. Viel zu lange. Naya versuchte zu zählen,
doch sie stolperte über all die Ziffern in ihrem Kopf, die
keinen Sinn ergeben wollten. Insgeheim wusste sie es
bereits. Ihr wurde übel. Der Mann sagte etwas zu den
anderen, aber Naya hörte ihn nicht. Sie musste ihn nicht
hören, seine zitternden Hände und der erschütterte
Gesichtsausdruck sprachen Bände.
Cooper war tot.
Die Luft schien viel kühler als zuvor. Naya zitterte, obwohl
Jossi ihr seine Jacke um die Schultern gelegt hatte, nachdem er wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht war.
Immer wieder sah sie Coopers für immer erstarrte Augen
vor sich. Sie ekelte sich bei der Vorstellung, dass seine
Lippen, die im Tod von schaumigem Speichel bedeckt
waren, sie kurz zuvor geküsst hatten, und schämte sich
dafür. Wie stark sie zitterte, wurde ihr erst bewusst, als
Jossi beide Arme um sie legte und sie an seine Brust zog. Er
war kaum größer als sie, doch jetzt gab er ihr das Gefühl,
ein Riese zu sein. Verzweifelt drängte sie sich an ihn, doch
er wärmte sie nicht.
Vor einer halben Stunde waren Polizei und Rettungsdienst eingetroffen, aber Naya wusste, dass es zu spät war.
Die Männer in ihren Uniformen hatten sich aufgeteilt:
Zwei waren bei Cooper geblieben, während die anderen
sich um die verängstigten Studenten kümmerten. Einige
Mädchen waren hysterisch geworden oder hatten einen
Weinkrampf bekommen, aus dem sie allein nicht mehr
herausfanden. Die meisten Eltern waren verständigt
worden. Manche hatten ihre Kinder bereits abgeholt,
nachdem ihre Personalien aufgenommen und sie so knapp
wie möglich befragt worden waren. Niemand durfte ohne
Aufsicht nach Hause fahren, so lautete die Anweisung der
Rettungsleute, die über den Campus patrouillierten. »Hey!«
Jemand lief auf sie zu und winkte. Kurz darauf schälte sich
Lanies bleiches Gesicht aus dem Dunkel. Sie schlang ihre
Arme um Naya und Jossi und alle drei standen still, bis
Stimmen in ihrer Nähe sie auseinanderrissen. Naya musste
Lanie nur kurz ansehen, um zu ahnen, dass sie mittlerweile
mehr wusste. Lanie zählte zu den neugierigsten Menschen
der Welt, und so hatte sie sich zwischen Eltern und Polizisten herumgedrückt und sich auch nicht davon einschüchtern lassen, dass man sie mehrmals wegscheuchte.
»Also?«, flüsterte Naya. Eine Windböe dämpfte ihre
Stimme.
Lanie zögerte und gab Jossi einen Wink. Er verstand und
legte seinen Arm wieder um Naya, während Lanie selbst
nach ihren Händen griff. Ihre Finger waren eiskalt. »Sie
vermuten, dass er an einem anaphylaktischen Schock
gestorben ist.«
Obwohl Nayas Haut bereits so kalt war, dass sie kaum
noch etwas spürte, schnappte sie nach Luft, als die Kälte zu
stechen begann. Nicht nur auf ihrer Haut, sondern auch
darunter, überall.
Lanie fasste ihre Hand fester. »Vielleicht warten wir
einfach, bis sie ihn ... bis die Untersuchungen abgeschlossen sind.«
»Nein.« Naya wusste nicht, woher sie die Kraft nahm,
aber sie musste es wissen. »Sag es uns.«
Lanie biss auf ihrer Unterlippe herum und nickte dann.
»Sie gehen von einem Schock aus, weil es so schnell ging.«
»Es?«
»Ein Fußknöchel ist geschwollen und verfärbt.« Sie holte
tief Luft. »Sie haben zwei Einstiche gefunden. Cooper ist
von einer Schlange gebissen worden.«
Mehr unter forever.ullstein.de