Familiengerechte Wohnungspolitik im urbanen Raum

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Familiengerechte Wohnungspolitik im urbanen Raum
Familiengerechte Wohnungspolitik im
urbanen Raum
Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
1.Problemstellung und Abgrenzung des
Untersuchungsrahmens
Junge Familienhaushalte gelten in europäischen Stadtregionen als�������
������
Haupt­
träger der Suburbanisierung, und zwar mit allen ihren für die Kernstädte
überwiegend nachteiligen Effekten: etwa erhöhte Kosten für zentralörtliche
Infrastruktur, verringerte Steuereinnahmen, Erhöhung des städtischen Ver­
kehrsaufkommens und soziale Segregation. Aus diesen Gründen wurde in
den letzten Jahren das „Halten von Familienhaushalten“ in zahlreichen Städ­
ten zum politischen Ziel erklärt und eine familienpolitische Profilierung in kom­
munale Strategiepläne aufgenommen.1 Die Familienfreundlichkeit einer Stadt
wird dabei auch als Vorteil im Standortwettbewerb erkannt. So betitelt etwa
der siebte deutsche Familienbericht ein Kapitel mit „Familie als Standortfaktor
– neue Perspektiven für lokale Familienpolitik“ (BM für Familie, Senioren, Frau­
en und Jugend 2006: XXVIII). Auch in der Stadtforschung mehren sich empi­
rische Belege für die Richtigkeit der Theorie, dass in vielen Städten die Phase
der Suburbanisierung anscheinend durch jene der Reurbanisierung breiterer
Bevölkerungs­schichten, insbesondere auch von Familien, abgelöst wird (vgl.
Harlander 2006: 12, 14 – 16).
In der Suburbanisierungsdebatte scheinen Zielkonflikte zwischen Raum­
ordnungs- und Wohnungspolitik unausweichlich: Die eine Seite kritisiert die
zersiedlungsfördernde Wirkung der Wohnbauförderung, die andere eine Po­
litik der Bodenverknappung, die Familien die Erschwinglichkeit des Wohnens
erschwert.2 Ob es dennoch gelingen kann, familienpolitische Ziele mit jenen
der Wohnungspolitik und der nachhaltigen Stadtentwicklung zu verbinden,
wird im Folgenden in drei Schritten untersucht:
1
2
Siehe z. B. die Bundesinitiative „Lokale Bündnisse für Familie“ (2009); München: Leitli­
nie Kinder- und Familienpolitik (LH München Sozialreferat 2007).
Vgl. z. B. Empirica 2005: 14f., 44.
110
Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
ƒƒ Erstens wird der Status Quo der Wohnversorgung von Familienhaushal­
ten nach quantitativen, qualitativen und räumlichen Kriterien dargestellt.
Neben der Identifikation struktureller Defizite wird auch die Frage ge­
stellt, ob noch Suburbanisierungs- oder bereits Reurbanisierungstrends
vorherrschen.
ƒƒ Zweitens wird die Wirkung wohnungspolitischer Instrumente auf die
Wohnkosten von Familienhaushalten geprüft.
ƒƒ Drittens werden Ansätze zu einer Verbesserung der politischen Interven­
tion vorgeschlagen.
1.1. Begriffsdefinitionen
Der Fokus der Analyse liegt auf Familienhaushalten mit minderjährigen�����
Kin­
dern. Unter einer Vielzahl von Definitionen des Begriffs „Familie“ wird hier für
die empirische Analyse auf den engeren Begriff der „Kernfamilie“, wie er in der
Haushaltsstatistik gebräuchlich ist, zurückgegriffen:
„Elternpaare bzw. alleinstehende Elternteile zusammen mit ihren
im gleichen Haushalt lebenden ledigen Kindern gelten im Folgen­
den als ‚Familie’“ (Statistisches Bundesamt Deutschland 1995).3
Alleinerziehende und ‚Patchwork’-Familien sind im Fall dieser Definition ein­
geschlossen, nicht aber etwa ein Paar ohne Kinder. In der qualitativen Diskus­
sion muss der Familienbegriff jedoch weiter gefasst werden, da auch Singles
und Paare viele Entscheidungen im Hinblick auf ihren familiären Kontext tref­
fen.
Unter „familiengerecht“ versteht man „dem Bedarf von Familien entspre­
chend“. Eine familiengerechte Politik ist demnach eine, die den (keineswegs
einheitlichen) „Bedarf“ von Familien erforscht hat und durch geeignete Inst­
rumente hilft, ihn zu erfüllen. Weitgehend gleichbedeutend ist das Konzept
des „family mainstreaming“: Darin wird, in Anlehnung an „gender mainstrea­
ming“, auf die Notwendigkeit einer durchgängigen Berücksichtigung der Aus­
wirkungen politischer Maßnahmen oder gesellschaftlicher Entwicklungen auf
Familien hingewiesen (Europäisches Parlament 2004: 7).
3
Im Unterschied dazu umfasst der Begriff „Familienhaushalte“ im Mikrozensus der Sta­
tistik Austria auch Paare ohne Kinder; dies gilt auch für die Definition der UNECE.
Familiengerechte Wohnungspolitik im urbanen Raum
111
1.2. Räumliche Eingrenzung
Die empirische Analyse bezieht sich auf die Stadtregionen Wien und�����
Mün­
����
chen. Die Stadtregion Wien besteht aus der Bundeshauptstadt und den an­
grenzenden NUTS 3 – Einheiten „Wiener Umland Nord“ und „Wiener Umland
Süd“. Sie hat (2007) 2,27 Mio. Einwohner, wovon knapp 1,7 Mio. innerhalb der
Stadtgrenzen leben. Die Stadtregion München entspricht der Planungsregion
München und besteht aus der Landeshauptstadt und acht Landkreisen. Sie
zählt (2008) rund 2,5 Mio. Einwohner, davon 1,3 Mio. in der Kernstadt (PV Äu­
ßerer Wirtschaftsraum München 2008).
2.Kriterien für familiengerechtes Wohnen in
Planungstheorie und politischen Zielsetzungen
Was unter „familiengerechtem Wohnen“ verstanden wurde, war stets durch
den politischen und geschichtlichen Kontext geprägt:
So standen im 19. Jahrhundert Argumente der Hygiene und der Sittlichkeit
im Mittelpunkt der „Wohnungsfrage“, mit denen die Forderung nach Beseiti­
gung der elenden Wohnsituation der Arbeiter­familien in den überbelegten
Zinshäusern der Großstädte unterstützt wurde (vgl. Häußermann/Läpple/Sie­
bel 2008: 45f.). In den von genereller Stadtkritik geprägten Programmen der
Weimarer Republik hingegen wurde die Kleinhaussiedlung am Stadtrand ge­
fördert, bei der die Bewohner die Möglichkeit zur Selbstversorgung im Sied­
lergarten hatten. Im Nationalsozialismus wurden dem noch bevölkerungsund rassenpolitische Ziele hinzugefügt (vgl. ebd.: 66f.). In Wien erfuhr in der
Zwischenkriegszeit neben dem kommunalen Wohnbau durch das „rote Wien“
auch die „Siedlerbewegung“ einen Aufschwung, die, geprägt durch Selbsthil­
fe, vielen Familien die Schaffung von Wohneigentum erlaubte.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde etwa ab 1960 das „familiengerechte
Wohnen“ stark thematisiert: Zunächst galt die „familiengerechte Wohnung“
als Mustereinheit des industriellen Massenwohnbaus der 1960er und 1970er
Jahre. Es wurde Wert gelegt auf moderne sanitäre Ausstattung, die Arbeits­
erleichterung für die „moderne Hausfrau“ durch elektrische Geräte und eine
bewegungsablauf­optimierte Küche.4 Jedes Kind sollte zudem ein eigenes
Kinderzimmer erhalten.
4
Später wurden diese Küchen, die meist kleiner als 6 m2 und in Randlage angeordnet
waren, zum Inbegriff einer fehlenden Alltagsgerechtigkeit.
112
Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
Parallel dazu kam es in den meisten europäischen Großstädten zu einer
ersten Suburbanisierungswelle: Bauspar- und Eigenheimförderung, gepaart
mit flächiger Verkehrserschließung machten das freistehende Einfamilien­
haus für breite Bevölkerungsschichten zum realisierbaren, auf die „Normfami­
lie“ zugeschnittenen Wohn(t)raum.
Den Familien in der Stadt wurde gut ein Jahrzehnt lang wenig Aufmerksam­
keit geschenkt – der „familiengerechte“ Planungsansatz galt überwiegend als
überholt, da gerade in den Kernstädten eine Pluralisierung der Haushaltsfor­
men zu beobachten war. Erst in den 1990er Jahren setzte mit zunehmender
Suburbanisierungskritik wieder ein Wettbewerb der Städte um Familien ein:
So wurden Modellvorhaben umgesetzt und Kriterienkataloge für „familien­
freundlichen“ Städtebau im urbanen Raum entwickelt (vgl. Tabelle 1).
Tabelle 1. Beispiele für Kriterien eines familiengerechten Wohn- und Städtebaus
Ebene
Kriterien
Wohnungsgrundriss
ƒƒNutzungsneutrale, ähnlich große, abteilbare
Wohnräume
ƒƒoffene Wohnküche
ƒƒAbstellraum mindestens 4 m2
ƒƒQuerdurchlüftung
ƒƒprivater, gut nutzbarer Freiraum im Wohnungsverbund
ƒƒSichtbeziehung/Rufkontakt zum Innenhof
ƒƒflexibler Grundriss
Wohnhaus
Außenanlagen
ƒƒgroße Einlagerungsräume
ƒƒebenerdige Fahrrad- und Kinderwagenabstellräume
ƒƒGemeinschaftsräume (z. B. Kinderspielraum, Hobbyraum) mit Teeküche und WC
ƒƒWaschküche mit Sichtbeziehung zum Innenhof
ƒƒnatürlich belichtete Stiegenhäuser und Garagen
ƒƒPlatz für informelle Treffpunkte
ƒƒüberschaubare Dimensionierung der Anlage, um soziale Kontakte und Verantwortung zu fördern
ƒƒKleinkinderspielplatz in Wohnungsnähe
ƒƒkreativitätsfördernde Freiräume
ƒƒMietergärten, Gemeinschaftsterrasse
ƒƒVermeidung von Angsträumen
Familiengerechte Wohnungspolitik im urbanen Raum
113
Ebene
Kriterien
Wohnumfeld
ƒƒfußläufige und gefahrlose Erreichbarkeit von Schulen,
Kindergärten, Nahversorgung, Ärzten, Parks etc.
ƒƒgute Erreichbarkeit des Stadt(teil)zentrums mit öffentlichen Verkehrsmitteln
ƒƒ„Bespielbarer“ öffentlicher Raum
ƒƒSicherheit und Sauberkeit des öffentlichen Raums
ƒƒkeine starken Beeinträchtigungen durch schlechte
Luftqualität oder Lärm
Planung, Partizipation und Organisation
ƒƒplanerische Mitgestaltung vor Wohnungsbezug
ƒƒMöglichkeit der institutionalisierten Kommunikation
zwischen Bewohnern (z. B. „jour fixe“)
ƒƒklare Regeln zur Verwaltung der Gemeinschaftsräume
Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Basis von: Brech et al. (1994); Freie und Hansestadt Hamburg (2005); Stadtbaudirektion Wien (2002); Spielraumkommission der LH München (2000)
3.Die Wohnversorgung von Familienhaushalten in den
Stadtregionen Wien und München
3.1. Konzentration von Familienhaushalten auf Teilräume und Wohnungsmarktsegmente
Der Anteil von Haushalten mit minderjährigen Kindern ist in Großstädten, im
Vergleich zum nationalen Durchschnitt, erwartungsgemäß niedrig. Er liegt in
München bei knapp über 20 %, in Wien bei 21,4 % (jeweils Kernstadt).5 In den
beiden Städten leben daher nur etwa in jeder fünften Wohnung Kinder.
Dennoch lohnt sich ein Blick auf die unterschiedliche Verteilung von Famili­
en innerhalb der Stadtregion. Mangels aktueller kleinräumiger haushaltsbezo­
gener Daten wird dazu der Anteil der unter 15 – Jährigen an der Gesamtbevölke­
rung betrachtet. Insgesamt ist der Anteil der unter 15 Jahre alten Bevölkerung
in der Stadtregion Wien höher als in München (vgl. Tabelle 2) und zwar insbe­
sondere in der Kernstadt (Wien: 14,3 %, München: 12,4 %). In beiden Regionen
ist der Kinderanteil im Umland höher als in der Kernstadt, der Unterschied ist in
München jedoch wesentlich stärker ausgeprägt. München hat aufgrund seines
Arbeitsplatzangebots eine besonders hohe Attraktivität für Personen im jün­
geren Erwerbsalter. Dennoch leben in den dichtbebauten Innenbezirken von
München ca. 47.500, in jenen der Stadt Wien sogar 61.000 Kinder.
5
Statistisches Amt der Stadt München (2007); Statistik Austria (2008b).
114
Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
Abbildung 5.
Charakterisierung der Bezirke der Region München nach dominanter Altersgruppe
der Wohnbevölkerung
Jugendbezirk: Anteil der unter 18-Jährigen > 19 %. Erwerbsalter-dominierter Bezirk: Anteil der 18bis 65-Jährigen > 66,7 %. Seniorenbezirk: Anteil der über 65-Jährigen > 19 %. Innerhalb Münchens
erfolgt eine abweichende Differenzierung nach dem Stadtdurchschnitt.
Quelle: Eigene Darstellung. Datenbasis: Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung, 2007; Statistisches Amt der LH München, 2007.
Familiengerechte Wohnungspolitik im urbanen Raum
115
Abbildung 6.
Charakterisierung der Bezirke der Stadtregion Wien nach dominanter Altersgruppe
der Wohnbevölkerung
Jugendbezirk: Anteil der unter 15-Jährigen > 15,7 %. Erwerbsalter-dominierter Bezirk: Anteil der 15bis 59-Jährigen > 63,9 %. Seniorenbezirk: Anteil der über 60-Jährigen > 23,4 %.
Quelle: Eigene Darstellung. Datenbasis: Statistik Austria (2008b).
Innerhalb der Stadtregion ist der Kinderanteil tendenziell umso höher, je
niedriger das Immobilienpreisniveau und je größer die Entfernung von der
Innenstadt sind. In beiden Städten sind Kinder in den „gutbürgerlichen“, teu­
ren Stadtaußenbezirken deutlich unter­repräsentiert. Bei der Altersstruktur im
Stadtumland überlagert sich in einigen Bezirken die Überalterung der ansäs­
sigen Bevölkerung (inkl. jener der ersten Suburbanisierungs­welle) mit einem
jüngeren Neuzuzug.
Die Analyse der Haushaltsstatistik zeigt, dass Alleinerzieherhaushalte ein
anderes Muster der Wohnstandortwahl aufweisen als Paare mit Kindern: Sie
konzentrieren sich auf preisgünstige, zentrale Altbaugebiete, da Alleinerzie­
hende aufgrund ihrer komplexen Alltags­organisation in besonderem Ausmaß
auf ein engmaschiges Netz an wohn­gebietsbezogener Infrastruktur angewie­
sen sind. In Wien wird dies jedoch überlagert durch eine Erklärungsvariable,
die von Fassmann/Hatz als „Gemeindewohnungsfaktor“ beschrieben wurde:
Alleinerziehende sind aufgrund ihres meist geringen Haushaltsbudgets und
116
Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
der Praxis der kommunalen Wohnungsvergabe besonders stark in Gemeinde­
bauten aus den Zwischen- und Nachkriegsjahren vertreten, die räumlich stark
über das Stadtgebiet verteilt sind (Fassmann/Hatz 2004: 78f.).
Stärker als auf Stadtteile sind Familienhaushalte auf bestimmte Wohnungs­
marktsegmente konzentriert: In Wien leben 52 % aller Haushalte mit Kindern
(mit österreichischem Haushaltsvorstand) in nach 1945 errichteten geförder­
ten Mietwohnungen, obwohl diese nur 32 % des Wohnungsbestands darstel­
len (Synthesis Forschung 2006). Ausländische Familienhaushalte sind hinge­
gen in privaten Altbau-Mietwohnungen stark, aber auch im Eigentum leicht
überrepräsentiert. In München ist ebenfalls eine Konzentration der Familien
im geförderten Neubausegment nachweisbar, daneben auch im Eigentums­
sektor. In beiden Städten ist der Familienanteil am geringsten in freifinanzier­
ten Neubaumietwohnungen. Der Anteil an geförderten Wohnungen an der
jährlichen Neuproduktion ist jedoch in Wien mit ca. 80 % um ein Vielfaches
höher als in München mit lediglich 20 – 23 %.
Junge Familienhaushalte leben also vorwiegend in Wohnungssegmenten,
die einerseits für neu auf den Markt Eintretende zugänglich sind und die an­
dererseits vergleichsweise preiswert sind.
3.2. Stadt-Umland-Wanderung
Die Unterschiede in der Altersstruktur zwischen Stadt und Umland sind in����
ho­
hem Maß auf die Stadt-Umland-Wanderung zurückzuführen (Tabelle 2):
Familiengerechte Wohnungspolitik im urbanen Raum
Tabelle 2.
117
Ausgewählte demographische Kennzahlen im Vergleich der Stadtregionen Wien und München
Wien
Kernstadt
München
Anteil aller Haushalte mit Kindern <18 J. (a)
21,4 %
Stadtregion
gesamt
n.v.
Kernstadt
20,1 %
Stadtregion
gesamt
n.v.
Anteil Bev. <15 J. (b)
14,3 %
14,7 %
12,4 %
14,1 %
Prognose Ø Bevölkerungswachstum p.a. (c)
0,76 %
0,77 %
0,38 %
0,43 %
Wanderungssaldo mit Umland, absolut
p.a. (d)
Wanderungssaldo mit Umland p.a., pro
1.000 EW (d)
Geburtenbilanz pro 1.000 EW (e)
-5.318
-
-4.830
-
-3,20
-
-3,64
-
0,6
-0,7
2,6
2,0
(a) Wien: Mikrozensus 2007. München: Statistisches Amt der Stadt München (2007), Haushaltsstatistik
2006
(b) Wien: Jahr 2007; Statistik Austria, Bevölkerungsregister. München: Jahr 2007; Bayer. LA für Statistik u.
Datenverarbeitung
(c) Wien: Jahre 2006-2021, Statistik Austria 2006. München: Jahre 2006-2025. Bayerisches LA für Statistik
und Datenverarbeitung. Regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnung
(d) Wien: Ø der Jahre 2002-2007. Statistik Austria, Wanderungsstatistik. München: Ø der Jahre 2001-2006.
Statistisches Amt der Stadt München. Jeweils Einwohner mit Hauptwohnsitz
(e) Wien: Jahr 2006; Statistik Austria. München: Jahr 2007; PV Äußerer Wirtschaftsraum München,
12/2008
Quelle: Eigene Zusammenstellung.
Beide Städte haben einen deutlich negativen Wanderungssaldo mit dem
Stadtumland; relativ zur Einwohnerzahl ist er in München noch stärker als in
Wien. Bei den unter 15 – Jährigen ist der jährliche negative Saldo mit dem Um­
land in Wien mit -7,3 pro 1.000 EW (< 15 J.) mehr als doppelt so hoch wie bei
der Gesamtbevölkerung (-3,2 je 1.000 EW). Dennoch führen in Wien der Zuzug
aus dem Ausland sowie die positive Geburtenbilanz zu einer Verjüngung und
einem Wachstum der kernstädtischen Bevölkerung.
München verliert durch Abwanderung (insgesamt, nicht nur ins Stadt­
umland) pro Jahr per Saldo ca. 2.400 Kinder (< 15 J.) deutscher Staatsbür­
gerschaft, gewinnt aber durch Zuwanderung ca. 570 Kinder nichtdeutscher
Staatsbürgerschaft hinzu. Die Zuwanderung schwächt die demographische
Alterung in München ab, kann sie aber nicht wie in Wien aufhalten.
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Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
Ein Zuzug von Familienhaushalten im Sinn einer Reurbanisierung ist in den
beiden Stadtregionen quantitativ noch von sehr untergeordneter Bedeutung;
die Stadt-Umland-Wanderung überwiegt deutlich. Dennoch ist in beiden
Stadtregionen ein qualitativer Wandel in der Suburbanisierung feststellbar:
ƒƒ Aufgrund von Sättigungserscheinungen und gestiegenen Baulandprei­
sen im näheren Stadtumland verlagern sich die Ziele der Suburbanisie­
rung auf immer größere Distanzen von der Kernstadt und auf Gemeinden
zwischen den hochrangigen Verkehrsachsen.
ƒƒ Immer dichtere Bebauung auch im Stadtumland, wo im Neubau der ver­
dichtete Flachbau und das kleinere Mehrfamilienhaus bereits das freiste­
hende Einfamilienhaus verdrängt (vgl. LH München 2002; Bauer-Wolf et
al. 2003: 56).
ƒƒ Nach vielen Jahren des Anstiegs scheint sich etwa seit 2004/2005 die
Stadt-Umland-Wanderung leicht abzuschwächen, wobei dieser Trend
aufgrund des kurzen Beobachtungszeitraums und starker Schwankun­
gen noch nicht gesichert ist.
Dafür ist z.T. die demographische Entwicklung verantwortlich:
„Inzwischen�����������������������������������������������������
kommen die Jahrgänge des „Pillenknicks“ (…) ins Sub­
urbanisierungsalter. Damit ist die Anzahl der potentiellen Subur­
baniten (…) kleiner als in den Jahren zuvor.“ (Häußermann/Läpple/
Siebel 2008: 368)
Obwohl dies hier nicht empirisch untersucht wurde, ist anzunehmen, dass
darüber hinaus auch geänderte Wohn­standort­präferenzen und neue Anfor­
derungen an die Vernetzung von Wohnen und Arbeit die Suburbanisierung
in Zukunft bremsen oder umkehren könnten (vgl. Harlander 2006: 12ff.; Häu­
ßermann/Läpple/Siebel 2008: 366ff.). Laut Brühl sind die
„treibenden Kräfte des gestiegenen Interesses am Innenstadtwoh­
nen (…) nicht die Urban-Enter­tainment-Bedürfnisse einer kleinen
Schicht mit yuppisierter Lebens­führung, sondern die (…) Bedin­
gungen des Informationszeitalters“ (Brühl 2006: 115).
Familiengerechte Wohnungspolitik im urbanen Raum
119
3.3. Wohnflächenversorgung und Wohnkostenbelastung
„Benachteiligungen in der Wohnsituation sind für Familien mit Kin­
dern vor allem durch Überbelag gegeben: 7 % der österreichischen
Bevölkerung insgesamt, aber 13 % der Kinder und Jugendlichen,
leben in überbelegten Wohnungen. (…) Knapp ein Drittel der Kin­
der aus armutsgefährdeten Haushalten lebt in beengten Verhält­
nissen.“ (Statistik Austria 2008a [EU SILC 2006]: 48)
In der Großstadt Wien ist das Problem der beengten Wohnverhältnisse für
größere Haushalte noch stärker ausgeprägt als im Landesdurchschnitt: In
Wien verfügen Familien mit Kindern mit durchschnittlich 23,3 m2 über die
geringste Pro-Kopf-Wohnfläche aller Haushaltstypen; etwa ein Drittel aller
Paare mit einem oder mehreren Kindern lebt in Wien in einer Wohnung, die
kleiner als 70 m2 ist. Ein starker Überbelag (mindestens 2 Personen mehr als
Wohnräume) ist in Wien bei 39 % der Fünfpersonen- und 73 % der Sechs- und
Mehrpersonenhaushalte gegeben (Statistik Austria 2008b). Gerade bei den
sehr großen Haushalten dürfte es sich in hohem Ausmaß um Migrantenfamili­
en handeln, die zumeist in schlecht ausgestatteten, privaten Altbau-Mietwoh­
nungen wohnen. Der Anteil überbelegter Wohnungen ist in München ähnlich
hoch wie in Wien, eine direkte Gegenüberstellung ist aufgrund mangelnder
Datenkompatibilität allerdings nicht möglich.
Die Defizite in der quantitativen Wohnflächenversorgung lassen sich vor­
wiegend aus dem Wohnkostenniveau im nicht geförderten Wohnungsmarkt
erklären (Tabelle 3).
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Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
Tabelle 3. Ausgewählte demographische Kennzahlen im Vergleich der Stadtregionen Wien und München
Ø Miete [€] pro m2 Bestandswohnung (Neuer Mietvertrag) (a)
Ø Miete/Monat [€] pro m2 Neubauwohnung (a)
Ø. Kaufpreis [€] pro m2 Bestandswohnung (b)
Ø Kaufpreis [€] pro m2 Neubauwohnung (b)
(c)
Median-Monatseinkommen Paarhaushalt mit Kind(-ern) [€]
Ø Wohnkostenbelastung (Mietwohnung) pro m 2 Wohnfläche
eines Familienhaushalts (d)
Ø Wohnkostenbelastung (Mietwohnung 100 m2) /
Medianeinkommen (e)
reine Mietbelastung Bestandswohnung (Wiedervermietung,
exkl. BK) / Einkommensmedian (f)
reine Mietbelastung Neubauwohnung (freifin., exkl. BK) /
Einkommensmedian (f)
Leistbarkeit Eigentum (Kaufpreis/
Jahresmedianeinkommen) für 100 m 2 Bestandswohnung (g)
Leistbarkeit Eigentum (Kaufpreis / Jahreseinkommen) für
100 m2 Neubauwohnung (g)
Wien
8-10,5
München
10,5-12,5
9-12
11-14
1.600-2.400
2.500-3.400
2.400-3.400
3.300-3.800
3.223
3.776
6,95
k.A.
22 %
k.A.
29 %
29 %
33 %
33 %
4,9
5,7
6,7
8,1
(a) Miete exkl. Betriebskosten. Durchschnittliche bis gute Wohnlage. Jahr 2007, verschiedene Datenquellen
(b) Durchschnittliche bis gute Wohnlage (ohne Toplagen), Jahr 2007. Verschiedene Datenquellen
(c) Wien: EU SILC 2006, hochgerechnet auf 2007, Berücksichtigung eines Regionalfaktors für Wien. München: Einkommens- und Vermögensstichprobe (EVS) 2003 (exkl. imputiertem Eigentümermietwert und
privaten Transfers, bereinigt um Regionalfaktor München, hochgerechnet auf 2007)
(d) Statistik Austria, Wohnen 2007. Durchschnitt aller Mietverträge inkl. Betriebskosten. Anpassung an
„von Familienhaushalten bewohnte[n] Wohnungen“.
(e) Jeweils 100 m2 Nutzfläche. Wien: Richtwertmiete (Altbau) 9,5 €/m2. München: Wiedervermietungsmiete
11 €/m2
(f) Wien: 10,5 €/m2 (freie Miete, Neubau). München: 12,5 €/m2 (freifinanziert, Neubau). Durchschnitt gemäß Wohnungsmarktbarometer 2007
(g) Wien: Kaufpreis 1.900 €/m2 (Bestand) bzw. 2.600 €/m2 (Neubau). München: Kaufpreis 2.600 €/m2 (Bestand) bzw. 3.650 €/m2 (Neubau)
Quelle: Eigene Zusammenstellung.
Neue Mietverträge verursachen in beiden Stadtregionen etwa gleich hohe
durchschnittliche Mietbelastungen: 29 % (Altbau / Bestand) bzw. 33 % (Neu­
bau) eines Medianhaushalts­einkommens müssen für die reine Miete einer
100 m2 -Wohnung aufgewendet werden. Die höheren Mietpreise in Mün­
chen werden durch das höhere Durchschnittseinkommen aufgewogen. Die­
Familiengerechte Wohnungspolitik im urbanen Raum
121
se Werte mögen für Wien überraschen, geben doch einschlägige Studien6
meist niedrigere Belastungs­quoten an. Allerdings beziehen diese sich übli­
cherweise auf die durchschnittliche Miete (aller Rechtsformen und Mietver­
tragsalter) und werden durch den hohen Anteil an günstigen Altverträgen,
die neu gegründeten Haushalten i.d.R. nicht zur Verfügung stehen, verzerrt.
Neue Mietverträge verursachen bereits durch die reine Miete wesentlich hö­
here Belastungsquoten, als im Durchschnitt aller Mietverhältnisse die gesam­
te Wohnkostenbelastung ausmacht. Beim Indikator der Erschwinglichkeit von
Eigentumswohnungen schneidet Wien jedoch besser ab als München, der
Unterschied des Preisniveaus ist höher als jener des Einkommens.
Die Wohnkostenanalyse legt nahe, dass der ökonomische Druck für vie­
le Familien ein wichtiger Grund dafür ist, entweder das geförderte Segment
nachzufragen oder in eine Stadtumland­gemeinde mit niedrigerem Preis­
niveau zu übersiedeln. Dabei spiegeln sich auch die wohnungspolitischen
Schwerpunktsetzungen wider: In Wien, wo der (Bestands-)Mieterschutz ei­
nerseits und die Förderung von Mietwohnbau andererseits im Vordergrund
stehen, konzentrieren sich Familien im geförderten Mietwohnsegment. Dem­
gegenüber sind in München, das eine starke Marktorientierung und eine eher
eigentumsorientierte Förderpolitik aufweist, Randwanderung und Eigen­
tumsbildung stärker ausgeprägt.
4.Anreizwirkung wohnungspolitischer Instrumente
Zur Beantwortung der Frage, welche Effekte wohnungspolitische�������
Förde­
rungsinstrumente auf die Wohnkosten haben, wurden Modellrechnungen
durchgeführt. Es wird jeweils der Kauf oder die Miete einer neu errichteten
Geschoßwohnung im dicht bebauten Stadtgebiet einerseits und eines Einfa­
milienhauses im Stadtumland (in 25 km Entfernung) andererseits betrachtet
und der Vergleich zwischen einer freifinanzierten und einer geförderten Er­
richtung gezogen. Dazu wird der Barwert der Wohnkosten über einen Zeit­
raum von 40 Jahren berechnet.
Für die Stadtregion Wien werden die Fördermodelle nach § 12 WWFSG7
(Förderdarlehen für die Errichtung von Miet- oder Eigentumswohnungen), die
niederösterreichische Eigenheimförderung sowie die Grundstücksbevorra­
tung durch den Wohnfonds Wien berücksichtigt. In der Stadtregion München
gehen die Fördermodelle „München Modell Miete“ bzw. „München Modell
6
7
z. B. Statistik Austria (2008b); Synthesis Forschung (2009).
Wiener Wohnbauförderungs- und Stadterneuerungsgesetz 1989.
122
Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
Eigentum“ (Grundstücks­preissubvention und Preisbindung)8 sowie die bay­
erischen Förderdarlehen zur Finanzierung von Wohneigentum in die Berech­
nung ein.
Abbildung 7. Effekt von Fördermodellen auf die Wohnkosten: Vergleich zwischen Wohnungstypen,
Rechtsform und Finanzierungsmodellen in den Stadtregionen Wien und München
Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.
Jeweils Barwert (40 Jahre, Diskontierungszinssatz 4 %) € pro m2 Wohnfläche. Haushalt mit Median­
einkommen, 2 Erwachsene, 2 Kinder. Ohne Berücksichtigung eines Verkaufswerts bei Eigentumsmodellen. Bei der Miete von Einfamilienhäusern kommt keine Objektförderung zur Anwendung.
Wohnung im dichtbebauten Stadtgebiet, Einfamilienhaus in Umlandgemeinde.
Abbildung 7 veranschaulicht die wichtigsten Ergebnisse. Die dunkelgrauen
Balken stehen jeweils für den Wohnkostenbarwert des Haushalts im freifinan­
zierten Markt. Die hellgrauen Balken zeigen, welche Kosten bei Anwendung
des jeweiligen Fördermodells für die öffentliche Hand und den Privathaushalt
in der Summe entstehen. Die weißen Balken schließlich geben den Wohnkos­
8
Landeshauptstadt München 2008.
Familiengerechte Wohnungspolitik im urbanen Raum
123
tenbarwert für den Haushalt im Förderungsfall an. Die Differenzen lassen sich
wie folgt interpretieren:
ƒƒ zwischen dunkel- und hellgrauem Balken: kostensenkende Effekte der
Förderung durch niedrigere Erlöse bei Dritten (Banken, Bauträger, Ver­
mieter).
ƒƒ Zwischen hellgrau und weiß: Kostenbarwert der Förderung für die öf­
fentliche Hand.
ƒƒ Zwischen dunkelgrau und weiß: Fördereffekt für den Haushalt: Verringe­
rung der Wohnkosten im Vergleich zum freifinanzierten Modell.
4.1. In welchem Ausmaß wird die Erschwinglichkeit für den Haushalt im
Vergleich zum freifinanzierten Modell erhöht?
Der Familienhaushalt mit Medianeinkommen zählt in beiden Regionen zur
Gruppe derjenigen, für die das freifinanzierte Wohnen zwar grundsätzlich in
Frage kommt (d.h. der Mindestlebensunterhalt kann nach Wohnkostenabzug
gedeckt werden), dem aber dennoch (und insbesondere beim Eigentumser­
werb) sehr hohe Wohnkostenbelastungen von über 35 % des Einkommens
verbleiben. Der Haushaltstyp wird daher in beiden Regionen zu den förder­
fähigen Haushalten gezählt; die Förderschwerpunkte unterscheiden sich je­
doch: In Wien steht die Förderung des Wohnens zur Miete im Vordergrund, in
München dagegen die Eigentumsförderung. Während in Wien die Wohnkos­
ten durch die jeweilige Förderung im Vergleich zum freifinanzierten Modell
bei der Miete um 26 %, beim Eigentum aber nur um 16 % verringert werden
(jeweils § 12 WWFSG), beträgt die Reduktion in München bei beiden Rechts­
formen 21 % („München Modell Miete“ bzw. „Eigentum“); der absolute Betrag
ist beim Eigentum höher. Die Kosten der Förderung sind für die öffentliche
Hand pro Förderfall in München höher als in Wien, da in München die Grund­
stückssubvention den Großteil des Fördereffekts ausmacht, in Wien hingegen
verminderte Erträge bei Dritten.
4.2. Welcher Gebäude- und Lagetyp profitiert stärker von der Förderung?
Grundsätzlich wird in beiden Regionen die Geschoßwohnung stärker�������
geför­
2
dert als das Einfamilienhaus. Die Wohnkosten pro m , die im freifinanzierten
Bereich bei der Wohnung durchwegs höher sind als beim Einfamilienhaus,
werden durch die Förderungen unter das Niveau des jeweils vergleichbaren
124
Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
Einfamilienhaus-Modells im Stadtumland gesenkt. Eine strukturelle Zersiede­
lungsförderung kann den Wohnbauförderungssystemen der beiden Regio­
nen daher nicht vorgeworfen werden; möglicherweise tragen sie sogar zur
Verlangsamung der Suburbanisierung bei. Es scheint jedoch, dass der ge­
gebene finanzielle Anreiz für einen urbanen Wohnstandort allein nicht aus­
reicht, um die Suburbanisierung aufzuhalten, insbesondere in München, wo
das Angebot an geförderten Wohnungen relativ gering ist.
5.Herausforderungen für die Stadtentwicklungspolitik
Um einerseits die beobachteten Defizite der Wohnungsversorgung von������
Fami­
lienhaushalten zu verringern und andererseits eine zukunftsorientierte, nach­
haltige Stadtpolitik zu verfolgen, erscheint es essentiell, die Familien- und
Kinder­freundlichkeit der Großstädte zu unterstützen. Dies gilt sowohl im Fall
einer fortgesetzten Suburbanisierung, um diese abzuschwächen, als auch im
Fall einer zunehmenden Reurbanisierung, um diese zu steuern.
5.1. „Family mainstreaming“ und Verknüpfung verschiedener Politikfelder
Eine Politik zur Erhöhung der Familienfreundlichkeit in Großstädten muss
auf dem Zusammenspiel verschiedener Politikfelder beruhen. Allen voran
wird daher empfohlen, die Berücksichtigung von Familienbelangen als stra­
tegisches Querschnittsthema der Kommunalpolitik aufzunehmen. Die Stadt
München hat mit der Leitlinie „Kinder- und Familienpolitik“ ein klares strate­
gisches Bekenntnis abgegeben, dem ein entsprechendes Pendant auf öster­
reichischer Seite fehlt. Die berechtigte Forderung nach einer Erleichterung
der zeitlichen und räumlichen Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben
bedeutet für die Stadtentwicklungspolitik, u. a. die Flächennutzung, die Inf­
rastruktur- und Mobilitätsangebote sowie Bürgerservices nach den Gesichts­
punkten von Alltagstauglichkeit und Kinderfreundlichkeit auszurichten und
Kooperationen mit Unternehmen und Arbeitgebern einzugehen.
Auch die Integrationspolitik ist von zentraler Bedeutung, da Großstädte
wie Wien und München ihre demographische Stabilität vorwiegend durch
Zuwanderung aus dem Ausland sichern. Aufgrund der gleichzeitigen Stadt­
umlandwanderung durch (vorwiegend inländische, besser verdienende)
Jungfamilien kommt es bei Kindern und Jugendlichen zu einem besonders
starken Austausch zwischen in- und ausländischer Bevölkerung, was häufig
eine kleinräumige Segregation nach ethnischen und sozialen Gruppen zur
Folge hat. Im Beitrag von Baur (Baur 2010, in diesem Band) wird gezeigt, dass
Familiengerechte Wohnungspolitik im urbanen Raum
125
in Schulen die Konzentration von Kindern mit Migrationshintergrund sogar
deutlich stärker ausgeprägt ist als im jeweiligen Wohngebiet. Dies wiederum
zieht massive Bildungsbenachteiligungen nach sich. Integrationspolitik muss
daher vorrangig an den Aufenthaltsorten von jungen Menschen (Schulen,
Kindergärten, öffentlicher Raum) ansetzen, um die Funktionsfähigkeit ge­
meinsamer „sozialer Räume“ (vgl. Häußermann/Läpple/Siebel 2008: 330) si­
cherzustellen, die Bildungschancen für alle Kinder zu wahren (vgl. Baur 2010)
und eine verstärkte Segregation zu vermeiden.
5.2. Ansätze zu einer familiengerechten Wohnungspolitik
Abschließend werden einige wohnungspolitische Reformansätze vorgestellt,
die einen Beitrag zu einer familiengerechteren Großstadt leisten können.
5.2.1. Verbesserung des Angebots an familiengerechtem Wohn- und Lebensraum in der Stadt
Dazu zählt zunächst die Erhöhung des Angebots an familiengerechten
Großwohnungen. Größere Familienhaushalte haben wenige Möglichkei­
ten, ausreichend große und bezahlbare Wohnungen in der Stadt zu finden,
und leben oft in beengten Verhältnissen. In München ist dafür vor allem das
Preisniveau, in Wien das mangelnde Angebot an Großwohnungen im geför­
derten Segment verantwortlich. Eine Ausweitung des Angebots an famili­
engerechten, geförderten Großwohnungen (auch z. B. durch Belegungsbin­
dungen im Altbau) ist daher die erste Forderung. Aufgrund der geringeren
Wohnungsmarkt­fluktuation von Großwohnungen ist dieses Segment im Neu­
bau über­proportional anzubieten.
Zweitens wird eine verstärkte Qualitätssicherung im Wohnbau eingefor­
dert, die den gesamten Lebenszyklus der Gebäude einbezieht. Die bestehen­
den Qualitätsprüfungen im geförderten Wohnbau (z. B. das „Vier-Säulen-Mo­
dell“ des Wiener Grundstücksbeirats) beziehen sich nur auf den Zeitpunkt der
Förderungszusage. Ob Gemeinschaftseinrichtungen, Kinderspielplätze u. a.
auch nach zehn Jahren noch in der gleichen Qualität zur Verfügung stehen,
ist nicht gesichert. Eine regelmäßige Qualitätssicherungsprüfung (z. B. durch
Bewohnerbefragung), die für den Bauträger die Pflicht zur Nachbesserung
von Mängeln umfasst, daneben aber auch die Information und Übernahme
von Verantwortung unter den Bewohnern erleichtern soll, ist zu empfehlen.
Die Grundsätze für familiengerechten Städtebau (Tabelle 1) eignen sich dabei
als Bewertungsinstrument. Mit entsprechenden Anpassungen sind sie auch in
Altbaugebieten anwendbar.
126
Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
Drittens ist auf eine vielseitige Anbieterstruktur am Wohnungsmarkt
hinzuwirken, die auch zivilgesellschaftlich geprägte Organi­
sations­
formen
(Baugruppen, neue Genossenschaften u. a.) umfasst. Trotz erheblicher Unter­
schiede zwischen diesen „neuen Bauherren“ ist vielen von ihnen gemeinsam
eine intensive Partizipation der (zukünftigen) Bewohner, eine familienorien­
tierte Planung sowie Baukosten­vorteile. Die Kommunalpolitik wäre ange­
halten, dieses zivilgesellschaftliche Engagement zu unterstützenstärken (z. B.
durch Beratung, bevorzugte Vergabe bei kommunalen Grundstücken). In Ös­
terreich, wo die Wohnungs­gemein­nützigkeit in Form traditioneller Genossen­
schaften eine wichtige Rolle spielt, gibt es bei den „neuen Bauherren“ gegen­
über Deutschland noch einen Nachholbedarf.9
5.2.2. Erleichterung der Erschwinglichkeit von urbanem Wohnen durch flexible
Finanzierungs- und Verfügungsmodelle
Mit flexiblen Lösungen können temporäre Liquiditätsschranken der���������
Haushal­
te beseitigt und/oder das absolute Wohnkostenniveau gesenkt werden:
ƒƒ Kombination von Miete und Eigentum: chronologisch hintereinander (z. B.
Miete mit späterer Kaufoption), räumlich nebeneinander (z. B. kleinere
Eigentums­wohnung mit zumietbarem Studio) oder verfügungsrechtlich
differenziert (z. B. Baurecht auf Pachtgrund).
ƒƒ Gefördertes Wohneigentum mit Ertragsbeschränkung: Immobilien­preise
werden am Markt anhand der zu erwartenden Ertragschancen gebil­
det, weshalb sie in zentralen Lagen sehr hoch sind. Viele Haushalte, die
Wohnungseigentum anstreben, sind jedoch nicht primär an der Immo­
bilienverwertung, sondern an der Eigennutzung und der langfristigen
Vermögenssicherung interessiert und wären bereit, zugunsten niedrige­
rer Kaufpreise Gewinnbeschränkungen hinzunehmen. Fördermodelle für
den Eigentumserwerb könnten daher nach­haltiger ausgestaltet werden,
wenn, analog zu gemeinnützigen Bauträgern, auch der geförderte Haus­
halt einer lang­fristigen (nicht nur zehn Jahre wie bei „München Modell
Eigentum“) Ertrags­beschränkung unterliegt.
ƒƒ Klarere Förderbotschaften durch innovationsorientierte Objektförderung
und haushaltsbezogene Subjektförderung: In der Wiener Wohnbauförde­
rung überwiegt die angebotsorientierte Objektförderung mit den Zielen
der Wohnkostensenkung und der Innovationsförderung. Aus anreizthe­
oretischer Sicht erscheint es sinnvoller, diese beiden Ziele zu trennen:
9
Dokumentation deutscher Projekte, vgl. etwa Wohnprojektatlas Bayern (2009); zur öster­
reichischen Debatte siehe z. B. Initiative für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen (2010).
Familiengerechte Wohnungspolitik im urbanen Raum
127
Objektseitige Förderdarlehen sollten demnach nur mehr für Innovatio­
nen und überdurchschnittliche Qualitätsstandards (bautechnisch, ökolo­
gisch, architek­tonisch) vergeben werden. Anstelle der bisherigen Basis­
förderung tritt eine Finanzierungshilfe (Miet- oder Annuitätenzuschuss)
an den Haushalt in Abhängigkeit von der Haushaltsgröße. Für den Haus­
halt sinken dadurch die Kosten bei steigender Familiengröße, für den
Vermieter bzw. Darlehensgeber bleiben die Einnahmen gleich. Bei zu
geringem Einkommen müssen soziale Härtefälle wie bisher durch die
einkommensabhängige Wohnbeihilfe abgefedert werden. Die Vorteile
lägen in Anreizen zur Baukostensenkung, einer Stärkung des Qualitäts­
wettbewerbs, einer bedarfsgerechteren Mittelvergabe und einer Erhö­
hung der Wohnungsmobilität, da Großwohnungen für kleine Haushalte
weniger attraktiv werden.
5.2.3. Optimierung der räumlichen Steuerung der Wohnbautätigkeit
Eine Voraussetzung dafür ist die Abstimmung der Boden- und������������
Wohnungspo­
litik mit der Stadtplanung: sei es mit Hilfe eines städtischen Immobilienfonds
wie dem Wohnfonds Wien oder durch ein Instrument wie die „Sozialgerechte
Bodennutzung“ in München, wo die Begünstigten einer Baurechtsauswei­
tung an den projektinduzierten Infrastrukturkosten beteiligt werden.
Darüber hinaus ist zu empfehlen, bei der Wohnbauförderung verstärkte
Anreize zur Bautätigkeit in Siedlungsschwerpunkten (z. B. in Kernzonen) vor­
zusehen.
5.3. Offene Fragen und weiterer Forschungsbedarf
Zur Abschätzung des künftigen Suburbanisierungs- oder������������������
Reurbanisierungs­
trends besteht weiterer Forschungsbedarf zum einen in einer vertieften Mo­
tivforschung, die nicht nur nach den Gründen für einen Wohnstandortwech­
sel, sondern auch nach jenen für einen Verbleib im städtischen Umfeld fragt.
Zum anderen scheint auch die Frage der Folgen steigender Einkommens­
risken für die Wahl der Wohnform (Lage und Rechtsform) sowie umgekehrt
die Adaptationsfähigkeit von Fördermodellen an diese Unsicherheiten noch
nicht ausreichend beleuchtet. Für die Stadtentwicklungspolitik wird weiterhin
der Aufbau funktionsfähiger Stadt-Umland-Kooperationen ein vorrangiges
Thema sein, wobei zu erwarten ist, dass in der Zukunft die größten Herausfor­
derungen in der Weiterentwicklung der Zielgebiete der „ersten Suburbanisie­
rungswelle“ liegen werden.
128
Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald
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