Dr. med. Mabuse-Schreibwettbewerb 2010 „Was wir wollten – was

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Dr. med. Mabuse-Schreibwettbewerb 2010 „Was wir wollten – was
Dr. med. Mabuse-Schreibwettbewerb 2010
„Was wir wollten – was wir wurden“
Die Texte sind gelesen, die Sieger unseres Schreibwettbewerbs 2010 stehen fest: Die Kinderärztin Petra Kaiser gewinnt den ersten, die Hebamme und Journalistin Martina Erich den
zweiten und die Altenpflegerin Christine Ebert den dritten Preis.
Unser Dank gilt aber allen TeilnehmerInnen, die uns Einblicke in ihr Leben und ihre Arbeitserfahrungen gewährt haben! Trotz Arbeitsverdichtung und wirtschaftlichem Druck finden die
meisten immer wieder die Kraft, neue Freiräume zu suchen, und sagen: „Mein Beruf ist ein
schöner Beruf.“
Wir wünschen allen LeserInnen eine ermutigende Lektüre!
P.S. Die Texte von Martina Eirich und Christine Ebert werden in den kommenden Dr. med.
Mabuse-Ausgaben veröffentlicht. Hier können Sie sie bereits online lesen!
1. Preis
Die Freude hochhalten
Petra Kaiser, Kinderärztin
Am Anfang war das Nicht-Wollen: Nachdem der Berufswunsch Torfrau im Fußballnationalteam ad acta gelegt war, fragte meine Großmutter – ehemalige MTA – immer mal hoffnungsfroh, ob ich nicht Medizin studieren wolle? Jahrelang war meine Antwort die gleiche: „Auf
keinen Fall, viel zu naturwissenschaftlich, bloß nicht, Physik und Chemie und so, nicht mein
Ding.“
Ein Beruf mit persönlichem Feedback: die Entscheidung
Bis zum Abi war eigentlich klar: Sprachen und irgendwelche Gesellschaftswissenschaften
studieren, reisen, Journalistin werden, und nach vielen Mühen und würdelosen Artikeln über
Jahresversammlungen der lokalen Hühnerzüchtervereine würde ich eines Tages meinen ersten
Artikel zentral platziert kriegen, auf der dritten Seite einer großen Zeitung. Einen Artikel über
ein Unrecht, irgendwas, irgendwo, derart zu Herzen gehend, zu Tränen rührend und den Kopf
erbost schütteln lassend, dass Tausende LeserInnen aktiv werden, analog zum amnesty international Gründungsbeispiel.
Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe
Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen.
www.mabuse-verlag.de
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Dann kam das Aha-Erlebnis. Mein Vater las Zeitung beim Sonntagsfrühstück und sein Eigelb
kleckerte auf die Zeitung. Das war es. Auch auf meinen Herzblutartikel würden Leute achtlos
ihr Frühstücksei kleckern, die Seite umdrehen ..., fertig. Damit wurde mir schlagartig klar: ein
Beruf ohne persönliches Feedback, das ist nichts für mich. In den Wald schreien, nicht wissen, wer was hört und ob überhaupt jemand hört ..., nein. Bloß nicht!
Gesundheit ist politisch: der Weg durchs Medizinstudium
In dieser Phase stellte wieder jemand – diesmal eine Mitarbeiterin aus dem Altenheim, in dem
ich jobbte – die Frage: „Warum studierst du nicht Medizin?“ Die Antwort wurde zögerlich:
„Warum nicht?“ Warum, wusste ich allerdings auch nicht ... Okay, MedizinerInnentest absolviert, erst mal „nur so“, und einige Zeit später habe ich quasi testweise angefangen.
Zum Glück kamen schnell die „richtigen Kreise“: über Fachschaft und Unipolitik merkte ich,
wie radikal politisch „Gesundheit“ sein kann, gedacht werden kann; wie eine Forderung wie
„Gesundheit für alle“ beispielsweise das Allermeiste von dem beinhaltet, was ich politisch
richtig finde; wie attraktiv ein Beruf ist, der überall auf der Welt gebraucht wird und ausgeübt
werden kann. Kurzum – ich blieb dabei. (Wobei das Studium auch quälend war. Die Professoren überheblich. Der Uniklinikbetrieb ein Graus. Studierende in erster Linie lästig. Ob ich das
sehenden Auges zumindest in Deutschland so noch mal machen würde, bezweifle ich.)
Nun wollte ich also Ärztin werden. Und – ähnlich wie am Anfang – bis zum zweiten
Staatsexamen war noch klar: Allgemeinmedizin, Familienmedizin und eine fundierte psychosomatische Zusatzqualifikation, das mache ich; somatisch fit, evidenzbasiert und gut strukturiert, menschlich für alles offen und therapeutisch geschult, die perfekte Hausärztin für alle.
Tja, dann kam das Praktische Jahr (PJ), für das ich im Wahlfach Kinderheilkunde gewählt
habe – darin hatte ich nie famuliert, das lag mir im Studium gut, und als Hausärztin für die
ganze Familie wäre etwas fundierte Pädiatriekenntnis ja auch von Nutzen. Damit war es um
mich geschehen und ich wurde, was ich bis jetzt zehn Jahre später noch bin: Kinderärztin.
Vielfältig und anspruchsvoll: die Kinderheilkunde
Mit Kindern arbeiten geht nicht nach Schema F. Ja, Eltern können das Nervigste sein an meinem Beruf, aber, hey, ich wollte ja mal „family doctor“ werden. Wo sonst hat man immer
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automatisch mit dem ganzen Dreiecks- (oder Zwei-, Vier-, Fünfeck-) Gespann der Familie zu
tun? Das erste Lebensjahr ist ein einziges Interaktionsensemble. Kinder können Symptomträger kranker Eltern sein, ein krankes Kind stellt die gesamte Familie auf die Probe und so weiter. Alles ist stets ausgesprochen ganzheitlich zu betrachten – das wollte ich schon immer.
Sowohl beim Auf-die-Welt-Kommen als auch beim Aus-der-Welt-Scheiden immer wieder
mal dabei sein zu müssen und auch zu dürfen, das bewegt mich sehr und daraus ziehe ich persönlich viel.
Kinderheilkunde ist ein „somatisch“ extrem anspruchsvolles Fach, nirgendwo anders sind die
zehn häufigsten Diagnosen derartig diversifiziert. Wir sind Breitband-InternistInnen, HNOÄrztInnen, DermatologInnen, GynäkologInnen, NeurologInnen, PsychologInnen, SozialpädagogInnen, UrologInnen ..., ganz zu schweigen von Stoffwechselerkrankungen, syndromalen
Erkrankungen und dem großen Raritätenkabinett angeborener seltener Probleme. Die Bandbreite der Gewichtsklassen meiner PatientInnen geht von 400 Gramm bis 160 Kilo.
Das macht die Kinderheilkunde zu so einem vielfältigen Berufsfeld. Ohnehin finde ich es im
Gesundheitswesen so charmant, dass Menschen aller Herkunftsländer und aller sozialen Klassen zu mir kommen, bei mir als Kinderärztin auch noch die aller Alterstufen: von Routineuntersuchungen beim gesunden Neugeborenen über Dramen auf der Neo-Intensivstation, dem
hundertsten nächtlichen Beratungsgespräch, weil das Baby wieder schreit, bis zum Notfallmanagement bei Meningitis und Sepsis; von Diagnosenübermittlung und Langzeitbetreuung
von vielen verschiedenen schweren und zum Glück oft auch leichteren akuten oder chronischen Krankheiten bis zu Interventionen bei Suizidversuchen oder Lifestyle-Beratung Jugendlicher – langweilig wird es nie.
Was sich verändert hat, was sich ändern müsste: die Kehrseite
Seit ich meine Arbeitszeit auf 75 Prozent reduziert habe, finde ich meine Work-Life-Balance
weitgehend gelungen. Die Kehrseite ist die für das Krankenhaus übliche Seite: unbezahlte
Überstunden, unzureichend ausgeglichene Wochenend-, Feiertags- und Nachtarbeit, zu wenig
Anerkennung und Wertschätzung durch Vorgesetzte und KollegInnen, immer geringere Gestaltungsspielräume, Personalnot, Entsolidarisierung, sobald alle nur noch ums eigene Überleben im System kämpfen.
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Was sich ändern müsste? Eine neue Generation AusbilderInnen, ProfessorInnen und Chefs
muss ran. Als ich in London zum Beispiel mit auf Visite in einer Neo-Intensivstation war und
die Oberärztin sich für die Fragen der Studierenden bedankte, sie mit Namen anredete und in
eine Diskussion verwickelte, war ich sprachlos. Standesdünkel, patriachale Strukturen, die
Verwechslung von Engagement im Beruf mit der Bereitschaft, sein Sozialleben aufzugeben,
Multiple-Choice-Verblödung und bilaterales Frontendenken (Somatik versus Psycho, Evidenz
versus Erfahrung) sind nur einige Schlagwörter. Insbesondere aus dem angelsächsischen Ausbildungssystem ließe sich eine Menge lernen. Von Gesundheitspolitik fange ich an dieser
Stelle nicht an. Würde ich den Arbeitsplatz Krankenhaus nicht so sehr mögen, hätte ich mich
schon in eine Praxis oder Ähnliches abgeseilt.
Der schönste Beruf der Welt: ein Privileg
Ich wollte – natürlich – die Welt besser machen, ursprünglich mit Worten. Jetzt habe ich für
manch ein Kind und seine Familie Gutes bewirken können, manchmal Unsicherheit gestiftet,
anderenorts beruhigen können. Ich habe manche Kollegen zur Arbeitszeitreduktion ermuntern
können und manchen Studierenden die Pädiatrie schmackhaft gemacht; und ich schaffe es
immer wieder (längst nicht immer!), die Freude am Job hochzuhalten.
Und: ich fühle mich sehr privilegiert, sagen zu können, dass ich den schönsten Beruf der Welt
habe.
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2. Preis
Vom wahren Leben berührt
Martina Eirich, Hebamme und Journalistin
Vom Berufsberater getestet und für die Finanzwelt als sehr geeignet in die Welt geschickt,
besah ich mir diese. Meist attraktive Menschen bevölkerten sachliche Gebäude in Tempelgröße. Ihre Berufsbezeichnungen fanden viel Anklang in meinem Verwandten- und Bekanntenkreis. Die Finanzleute lasen Bilanzen und erstellten selbst welche. Im Grunde bestand ihre
ganze Tätigkeit aus der Jongelage von Zahlen. Irgendwie fiktiv und irgendwo auch wie im
Zirkus.
Mein Kopf fühlte sich angesprochen, doch in mir rumorte es – eine Welt, in der Menschen
wie Gebäude mich glatt wie Teflon streiften. Ich fühlte mich ein in meine Zukunft und sah ein
volles Bankkonto, ein chices Auto, ein tolles Outfit, Karriere, aber auch gähnende Leere, was
tiefe, ja selbst tiefere Gefühle betraf. Deutlich sprach mein Bauch: Lass Dich vom wahren
Leben berühren!
Der innere Glanz: Ich werde Krankenschwester
Ich sah mich im wahren Leben um, erlebte Heime voller schwer erziehbarer Kinder. Andere,
in denen es nur behinderte oder kranke oder alte Menschen gab. Es erschlug mich nahezu,
überforderte mich, soeben der Pubertät entwachsen. Doch gerade deshalb zog es mich in diese
fremde Welt, die mir nicht äußeren, sondern inneren Glanz versprach, nicht eine noble Berufsbezeichnung, mit der ich auf Partys punkten konnte, sondern eher ein Naserümpfen hervorrief und kein volles Bankkonto herausspringen ließ.
Ich wurde also Krankenschwester, und die meisten Menschen meines Umfelds schlugen die
Hände über dem Kopf zusammen. Ich bereute es nie, wenngleich es harte Lehrjahre waren.
Die Ordensschwestern regierten ihre Stationen wie Zerberusse und die Halbgötter in Weiß
beugten sich der Macht in steifen Roben. Der Wind drehte jedoch abrupt, wenn die Nonnen
zur Vesper im Refektorium verschwanden, und wehte für kurze Zeit ärztlich-säkular. Dies
erforderte Flexibilität, förderte Einfühlungsvermögen und ließ mich Selbstdisziplin üben. Die
Kranken wurden nach Notwendigkeit und nicht nach Stoppuhr gepflegt. Ihre Angehörigen
überschütteten uns mit Komplimenten, Torten und füllten unsere Kaffeekasse. MannsfaustDr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe
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große Dekubiti schwanden vor unseren unermüdlichen Händen und Augen. Die Arbeit machte Sinn und selbst die Begleitung Sterbender Freude.
Als Mädchen an der Schwelle zur Frau musste ich mich nicht über Akten beugen, Finanzanalysen erstellen und mithilfe dieser den erlauchten Kreis Betuchter weiter verfestigen, sondern
durfte den allerletzten Sätzen reifer Frauen lauschen, die mir als Mitgift die Essenz ihres Lebens schenkten. Und jedes Mal wieder eine Ode an das Leben aus dem Munde der Sterbenden. Mein Herz hüpfte zwischen Trauer und Glück. Ich kostete ausgiebig, schenkte den Sterbenden meine Ohren und erfuhr vor allem von den Frauen viel über wenig oder nicht gelebtes
Leben.
Wie sie um ihre verstorbenen, verhinderten und abgetriebenen Kinder trauerten. Wie wenig
ihnen ihre berufliche Karriere an der Pforte zum Tod wog, wenn sie dafür Opfer in Form von
Kindern hatten bringen müssen. Immer wieder kreisten ihre letzten Gedankenströme darum.
Immer wieder beschworen sie mich, niemals ein Kind in meinem Bauch einem Mann zu opfern, niemals ein Kind zu verhindern, das mich deutlich als Mutter erwählt hat und niemals
die Erziehung meiner Kinder beruflichem Ehrgeiz unterzuordnen. Welch ein Sack an Empfehlungen. Und in den Zeitungen und im Fernsehen drohte Alice Schwarzer, dass sich Frauen
meiner Generation nicht wieder dem alten Frauenjoch beugen sollten. Wie kreierte ich nun
meine Zukunft als Frau, als Krankenschwester, vielleicht auch als Mutter?
Verlangen nach mehr: das Psychologie-Studium
Ich hatte tief blicken dürfen, und es trieb mich weiter in ein Studium der Psychologie. Statistiken und Versuchsabläufe pflasterten die Semester und ließen mich mein Tun beständig zwischen dem Gefühl von sinnhaft und dem von sinnlos einordnen. Am Ende des Grundstudiums
zog es mich aus der Universität hinaus und weiter in eine Zeitungsredaktion, um Jahre später
schließlich Frauen zu lauschen, die den Beruf der Hebamme ausübten, um darüber zu schreiben.
An diesem Tag bekam ich Respekt vor der Tätigkeit, die ich ausübte: dem Journalismus. Der
Blick von außen kann gnadenlos sein. Und er soll gnadenlos sein. Ich erkannte die unglaubliche Spanne des Hebammenberufs, ebenso wie seine gesellschaftliche Dimension. Doch ich
sah auch die Zerrissenheit vieler Hebammen. Bei der einen lag dieser eine tiefe Depression
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zugrunde, weil sie sich total verausgabt hatte inklusive zerbrochener Ehe und verschwundener
Kinder. Andere waren in einem Helfer-Syndrom gefangen oder übten den Beruf machtvoll
gegenüber den Frauen aus. Fast alle liebten ihren Beruf. Doch weshalb war kaum eine als
Frau glücklich? Was zerrte und zehrte so an ihnen?
Ich bin eine von ihnen: Hebamme
Wo hatte ich die letzten Jahre verbracht? Weitestgehend am Schreibtisch! Ich wollte nicht
zurück. Es zog mich nicht magisch zu den Hebammen. Ich musste nicht zu ihnen und konnte
mich mit keiner von ihnen als Frau identifizieren. Dennoch spürte ich deutlich: Ich war anders, aber eine von ihnen, denn was war Hebamme für ein Beruf! Alles fügte sich an diesem
Nachmittag. Nach einem Anruf an einer Hebammenschule und einem Vorstellungsgespräch
hatte ich wenig später einen Ausbildungsplatz.
Vom ersten Tag im Kreißsaal machte sich dann ein unerhörter Gedanke in mir breit. Ein Gedanke, der wider jeglichen Zeitgeist einfach nicht Ruhe gab, sondern mich intensiv beschäftigte: Ich fragte mich, wer solch ein System hatte einreißen lassen, meist gesunde Frauen zur
Geburt in eine Klinik gehen zu lassen. Die seinerzeit noch moderaten Eingriffszahlen hatten
auch damals schon längst die noch heute von der WHO empfohlenen übertroffen. Was hatten
gesunde Menschen in einer Klinik verloren? Besonderheiten gehörten dagegen öfter, Notfälle
unbedingt dahin.
So verbrachte ich die vergangenen 15 Jahre damit, mich als Hebamme zu schleifen, schwangere Frauen lesen zu lernen, Notfälle von Besonderheiten zu unterscheiden, Geburtshilfe unter
einfachen Bedingungen zu studieren und praktisch umzusetzen. Denn bestätigt wurde mein
erstes Gefühl im Kreißsaal inzwischen vielfach wissenschaftlich: Weniger ist meist mehr
oder: Man muss viel wissen, um wenig zu tun. Jede Intervention birgt Risiken.
Doch ganz selbstverständlich werden Eingriffe in Zeiten, in denen das Geld eben mit diesen
selbst und nicht mit dem Verhindern von ihnen verdient wird, auf die Schwangeren und Gebärenden abgewälzt, anstatt human und weise zu fragen, ob der Eingriff als solcher nicht vermeidbar gewesen wäre. Da Gutachter meist ebenfalls eingriffsreich sozialisiert sind, dreht
sich das Rad weiter in Richtung: Viel ist besser, weniger schlechter. Heute arbeite ich als
Hausgeburtshebamme und erfahre, dass gerade Frauen, die nicht selten als typisches Kind der
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programmierten Geburtsmedizin oder selbst per Kaiserschnitt geboren wurden, den Wunsch
nach einer natürlichen Geburt bei ihren eigenen Kindern haben.
Es fehlt ihnen nicht an Bildung, Sport und Geld. Gefühlsleben und weibliches Körperbewusstsein wurden in der Erziehung dieser jungen Frauen jedoch oft sträflich zugunsten von
perfekter Optik, Leistungsbereitschaft in Schule und Ausbildung und dem Eifern nach ökonomischen Werten vernachlässigt. Selbstverletzungen sind nicht selten, die von starkem Gefühlsstau erzählen, wie auch Bequemlichkeit und Schmerzempfindlichkeit, weil ihre Erziehung sehr an den Werten unserer Medien- und Werbewelt orientiert per se also auf die Abgabe von Eigenverantwortung zielte.
Geschenk und Gnade
Deshalb höre ich gut zu. Ich muss ehrlich sein. Mich weder in ein Ideal verrennen, wie Frauen
heute gebären sollten, noch mich komfortabel hinter dem Argument verschanzen, dass sie es
alle bequem wollen und bequemes Arbeiten damit rechtfertigen. Ja, ich sehe mich bei denjenigen, die natürlich gebären wollen und dafür offen sind auch als Nach-Erzieherin. Als
Begleiterin im Lebensumbruch, den eine Schwangerschaft und ein Kind oft mit sich bringen,
die ihnen ehrlich sagt, was ihre Eltern versäumten. Dies zu äußern ist wider den Zeitgeist, dies
zu tun nicht bequem, dafür ist das Ergebnis unübertrefflich: Eine Frau zu erleben, die nach
mühsamen Stunden ihr Kind aus eigener Kraft geboren hat, ist Geschenk und Gnade.
Eine andere Seite meines Berufes ist die Diskrepanz aus Vergütung und Verantwortung. Kann
es sein, dass ein solch altes Kulturgut, wie das Gebären in den eigenen vier Wänden von einer
hohen Haftpflichtprämie zerstört werden kann? Warum werden AKW-Unfälle oder KfzSchäden nach oben hin begrenzt, die Höhe des Schmerzensgeldes bei Geburtsschäden bislang
aber noch nicht? Deshalb werde ich auch zukünftig mein Maß an Engagement dem der werdenden Eltern anpassen. Fragen sie wie gehabt fleißig nach Hausgeburtshilfe und setzen sich
politisch dafür ein, bin ich weiterhin Tag und Nacht für sie da. Festhalten am Beruf um jeden
Preis werde ich dagegen nicht. Vielen meiner Kolleginnen macht die Zukunft Angst. Mir
nicht. Gerade weil ich vier Kinder habe. Wenn unsere Gesellschaft die Industrialisierung der
Geburt wünscht, wäre das der Lauf des Lebens. Beweglich zu bleiben macht meine Trauer
leichter.
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3. Preis
Auf der Suche nach Freiheiten
Christine Ebert, Altenpflegerin
Eine meiner Motivationen, Altenpflegerin zu werden, war die, einen dauerhaft gefragten,
schönen Beruf zu haben, mit dem sich das nötige Geld verdienen lässt. Außerdem übt die Beschäftigung mit alten Menschen eine große Anziehungskraft auf mich aus.
Wenn ich gefragt werde, warum eine Akademikerin nicht etwas „Besseres“ mache, werde ich
meist zornig, denn ich kann nicht verstehen, warum alte Menschen nicht auch einmal eine
Akademikerin als Pflegekraft verdient haben sollen. Dieser Zorn erwächst aus der Erkenntnis,
dass Altenpflege mehr ist als betten, lagern, waschen, windeln, füttern (dass es geeignetere
Begriffe für diese Tätigkeiten gibt, ist mir völlig bewusst, aber ich verwende diese Begriffe an
dieser Stelle ebenfalls sehr bewusst).
Biografieorientiert pflegen
Meine altenpflegerische Karriere begann ich sehr bodenständig im Alter von 19 Jahren als
ungelernte Hilfskraft auf der Pflegestation eines Altenheimes. Völlig unvorbereitet und ohne
große Ideale legte ich los und empfand die Atmosphäre als sehr bedrückend. Also versuchte
ich, so oft wie möglich mit den BewohnerInnen zu lachen, das half und hilft auch heute immer wieder!
Den Entschluss, mich als Altenpflegerin ausbilden zu lassen, fasste ich erst drei Jahre später.
Den Lehrstoff sog ich auf wie ein Schwamm und als „frisch Examinierte“ stand für mich fest:
Ich wollte biografieorientiert und individuell alte Menschen begleiten. Ich habe dann lange
Jahre in der ambulanten Pflege gearbeitet und den Eindruck gewonnen, dass die auf Altenpflege spezialisierte Fachkraft dort nicht gefragt ist, sondern eher eine flexible AllroundPflegerin. Ich bin trotzdem in der ambulanten Pflege geblieben, da eine individuelle Betreuung in der eigenen Häuslichkeit meines Erachtens besser zu leisten ist als in einem Altenheim.
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Keine Pflegemaschine
Nach zwei Jahren Berufstätigkeit hatte ich die erste Krise: Ich fühlte mich wie eine Pflegemaschine, die Leistungen der Pflegeversicherung ausführt. Das Thema Zeit in Kombination mit
Wirtschaftlichkeit war stets allgegenwärtig, ich sollte zügig und effizient arbeiten und nur das
ausführen, was mit den Kostenträgern vertraglich vereinbart war. Dazu gehörten biografische
Gespräche nicht. Ich habe dann gelernt, mich auch über kleine Erfolge zu freuen, wenn ich
zum Beispiel schön mit den Pflegebedürftigen gesungen oder beim Waschen mit ihnen über
„Früher“ geplaudert habe.
Heute, nach 14 Jahren, habe ich mich mit den Zeitvorgaben irgendwie arrangiert (einhalten
kann ich sie oft nicht); ich finde es inzwischen faszinierend, herauszufinden, wie in fünf Minuten eine qualitativ hochwertiges Kurzgespräch mit einem Pflegebedürftigen geführt werden
kann, auch wenn es offiziell nicht vereinbart wurde. Ich bin ständig auf der Suche nach den
Freiheiten, die uns Pflegenden im Raster der Vorgaben noch bleiben, und experimentiere mit
dem Thema „effiziente Selbstpflege“ oder „Kultur der Pause“.
Lautstarker Protest wäre nötig
Letztendlich sind Empfindungen wie „Funktionieren-Müssen“, „Fremdbestimmtheit“ oder
„Sparsamkeitszwang“ Erfahrungen, die auch in anderen Berufen an der Tagesordnung sind.
Im Falle der Pflege wirken sie sich aber unter Umständen verheerend aus: Nicht selten ist
selbst die notwendige Grundversorgung im geforderten Zeitrahmen nicht mehr würdig zu
leisten.
Die Pflegebedürftigen – gerne auch „Kunden“ genannt – sind oft nicht in der Lage, ähnlich
einem gesunden Kunden, Konsequenzen aus möglicher Unzufriedenheit zu ziehen. Alte Menschen können sich dem Zeitdruck, der aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsteht und in ambulanten sowie stationären Zusammenhängen gleichermaßen besteht, nicht anpassen. Naturgemäß werden sie immer langsamer und ihre Bedürfnisse individueller. Phänomene wie „Gewalt in der Pflege“ sind ein erschütterndes Symptom der Situation.
Als Altenpflegerin sehe ich mich ständig in der Pflicht, eigentlich lautstark protestieren zu
müssen. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich persönlich habe meinen Arbeitgeber
so gewählt, dass ich in meinem Arbeitsumfeld keine Gewalt dulden muss. Da ich aber auch
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bezogen auf die Gesellschaft solidarisch handeln möchte, habe ich permanent das Gefühl,
insgesamt zu wenig zu tun – für mich, die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und die KollegInnen anderer Arbeitgeber. Dies auszuhalten gehört zu meinem Berufsalltag wie die Übergabe.
Trotz allem
Wie sieht es denn nun aus mit meiner Ursprungs-Motivation? Mein Beruf ist gefragt, mehr
denn je, in der Pflege droht mal wieder Fachkräfte-Mangel. Das nötige Geld zu verdienen ist
selbst als Single dennoch nicht einfach; aus Studiengründen und zur Burn-out-Prophylaxe
arbeite ich häufig in Teilzeit, mittlerweile bieten viele Arbeitgeber Vollzeitstellen auch nicht
mehr an. Ob ich so bis 67 weitermachen kann, weiß ich nicht – denn auch ich werde einmal
älter und langsamer, und dass Rücken, Knie und Psyche dauerhaft mitspielen, kann keiner
garantieren.
Trotz allem: Altenpflegerin ist ein schöner Beruf! Immer wieder war es – zumindest mir persönlich – möglich, dies zu erfahren, und beklagen möchte ich mich nicht.
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