Polemik im Dialog des Renaissance

Transcription

Polemik im Dialog des Renaissance
Super alta perennis
Studien zur Wirkung der Klassischen Antike
Band 19
Herausgegeben von
Uwe Baumann, Marc Laureys und Winfried Schmitz
Uwe Baumann / Arnold Becker /
Marc Laureys (Hg.)
Polemik im Dialog des
Renaissance-Humanismus
Formen, Entwicklungen und Funktionen
Mit 3 Abbildungen
V& R unipress
Bonn University Press
®
MIX
Papier aus verantwortungsvollen Quellen
www.fsc.org
FSC® C083411
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISSN 2198-6134
ISBN 978-3-8471-0486-5
ISBN 978-3-8470-0486-8 (E-Book)
ISBN 978-3-7370-0486-2 (V& R eLibrary)
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de
Veröffentlichungen der Bonn University Press
erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH.
Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen
schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Printed in Germany.
Titelbild: Bayerische Staatsbibliothek München, 4 Inc.c.a. 1667 a#Beibd.3, Titelblatt
Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Uwe Baumann / Arnold Becker / Marc Laureys (Bonn)
Einleitung: Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus. Formen,
Entwicklungen und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Wolfgang G. Müller (Jena)
Prinzipien einer Poetik des Dialogs, dargestellt am Beispiel des
Prosadialogs der englischen Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Carmen Cardelle de Hartmann (Zürich)
Kirchenstreit und humanistischer Dialog: Piccolominis Libellus
dialogorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Marc Laureys (Bonn)
Competence matters: Grammar and Invective in Girolamo Balbi’s Rhetor
gloriosus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Arnold Becker (Bonn)
Strategien polemischer Positionierung in Huttens Dialogen . . . . . . . .
87
Uwe Baumann (Bonn)
Die humanistischen und kontroverstheologischen ,Streitschriften‘ des
Thomas Morus als ,Polemische Dialoge‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Gislind Rohwer-Happe (Bonn)
Unzuverlässiges Erzählen im englischen polemischen Dialog: Thomas
Elyots The Defence Of Good Women (1540) . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Uwe Baumann (Bonn)
Humanistischer Dialog als inszenierte Humanistische Historiographie:
William Thomas’ The Pilgrim (1547) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
6
Inhalt
Bernd Häsner (Berlin)
Questo quasi arringo del ragionare – Dialektik, Disputation und Dialog
bei Torquato Tasso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Edeltraud Werner (Halle)
Das Dialogmuster im italienischen Geschlechterdiskurs bis 1600. Am
Beispiel von Baldassare Castigliones Il Cortegiano und Moderata Fontes
Il merito delle donne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Imke Lichterfeld (Bonn)
Do not banish reason – Dialog und Dialogisierung in Shakespeares
Measure for Measure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Beiträgerinnen und Beiträger
Index
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Uwe Baumann / Arnold Becker / Marc Laureys (Bonn)
Einleitung: Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus.
Formen, Entwicklungen und Funktionen
Im November 2011 wurde vom Centre for the Classical Tradition (CCT) mit
Unterstützung der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn eine Arbeitstagung zur Erforschung der Formen, Charakteristika und Grenzen der
Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus (1450–1650) organisiert.
Diese Arbeitstagung reihte sich ein in ein größeres Forschungsvorhaben einer
informellen Forschergruppe, die zunächst noch vornehmlich an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn seit 2004 unter der Bezeichnung
,Traditionen okzidentaler Streitkultur‘ Formen, Sphären und Funktionen des
öffentlichen Streitens aus interdisziplinären Perspektiven kulturvergleichend
untersucht und in der Folgezeit weitere Verbundforschung, darunter nicht zuletzt das Leverhulme International Network: ,Renaissance Conflict and Rivalries: Cultural Polemics in Europe, c. 1300–c. 1650‘, angeregt hat. Der Begriff
,Streitkultur‘ ist zwar ein signifikant jüngerer Terminus, für den es weder im
Englischen noch im Französischen oder Italienischen eine wirkliche Entsprechung gibt, in der Sache jedoch bezeichnet er ein Phänomen,1
das für das griechisch-römische Altertum und das Mittelalter ebenso wie für die
Neuzeit konstitutive Bedeutung hat und in exemplarischer Weise veranschaulicht, wie
stark und nachhaltig die pagane ebenso wie die christliche Antike in Form der Classical
Tradition bis zur Gegenwart gewirkt und insbesondere die gesamte westliche Welt
geprägt haben.
Der im eigentliche Sinne wertneutrale Begriff ,Streitkultur‘ wird in unserem
Forschungsverbund für die öffentlich verbale und dezidiert nicht bellistische
Auseinandersetzung verwendet; so konzeptualisiert ist ,Streitkultur‘ ein kulturelles Phänomen, das sich als historische Konstante westlicher Gesellschaften bis
in die Antike zurückverfolgen lässt:2
1 Baumann/Becker/Steiner-Weber (2008b), I.
2 Baumann/Becker/Steiner-Weber (2008b), I.
8
Uwe Baumann / Arnold Becker / Marc Laureys
Mit der Ilias nimmt das älteste überlieferte Werk der europäischen Literatur im Streit
zwischen Achilles und Agamemnon seinen Ausgang, und der Vorsokratiker Heraklit
betrachtete den Streit sogar als ,Vater aller Dinge‘ und damit als das Kardinalprinzip
eines gesamten Weltverständnisses. Innerhalb der antiken Rhetorik, insbesondere seit
dem Zeitalter der Sophistik, erhielt das Streiten in der öffentlichen Sphäre sukzessive
eine legitimatorische Basis und wurde zu einer erlernbaren Technik in der verbalen
Auseinandersetzung. Die griechischen Rhetoren entdeckten die Macht des Wortes und
beschrieben die Mechanismen der Überzeugungskraft; gleichzeitig erprobten sie die
gesellschaftlichen Grenzen der Austragung von Streit und Konfrontation.
Wiewohl Streitkultur sich im Rückblick als eine Konstante okzidentaler Kulturen seit der klassischen Antike darstellt, können dabei Sphären, Formen, Stellenwert und Grenzen des Streitens im öffentlichen Raum je nach gesellschaftlichen Bedingungen stark variieren. Mehrere interdisziplinäre Tagungen3
eruierten in den Jahren 2006 bis 2010 diese historisch unterschiedlichen Ausprägungen, Inszenierungen, Formen und Funktionen des öffentlichen Streitens;
sie akzentuierten dabei in einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen die Wirkmächtigkeit der Classical Tradition für die individuellen Erscheinungsformen
und Konturierungen des öffentlichen Streits. Als Korollar einer ganzen Reihe
von Einzelergebnissen dieser Tagungen rückten neben der prinzipiell zentralen
historischen Perspektive zunehmend auch die möglichen Konventionen und
rhetorischen Traditionen innerhalb einzelner literarischer Gattungen in den
Mittelpunkt des Interesses, mit der Konsequenz, dass detaillierte, wenngleich
exemplarische Untersuchungen einzelner ausgewählter literarischer Gattungen
zum unverzichtbaren Bestandteil des gesamten Forschungsvorhabens wurden.
Eine erste solche, die Gattung ,Dialog‘ fokussierende Arbeitstagung, mit den
dort gehaltenen Vorträgen4 und anschließenden Diskussionen zeitigte eine
ganze Reihe von Ergebnissen, die in diesem Band vorgelegt werden und die in
vielen Details das bisherige Bild von okzidentaler Streitkultur speziell in der
literarisch-rhetorischen Inszenierung für die Epoche der Renaissance weiter
auskonturieren.5
Polemisch geprägte Dialoge in lateinischer Sprache, dann zunehmend auch in
den Volkssprachen gehören zweifellos zu den bevorzugten literarischen Ausdrucksformen, die das breite Spektrum zeitgenössischer Diskurse im Renais3 Vgl. Baumann/Becker/Steiner-Weber (2008a); Laureys/Simons (2010); Laureys/Simons
(2013); vgl. zuletzt auch Lines/Laureys/Kraye (2015a).
4 Für die Drucklegung wurden die bei der Arbeitstagung gehaltenen acht Einzelvorträge um
zwei weitere, ursprünglich bei anderen, thematisch sehr verwandten Symposien vorgetragenen Studien ergänzt; vgl. die Beiträge von Marc Laureys (63–85) und Uwe Baumann
(111–153) in diesem Band.
5 Weitere genrebezogene Arbeitstagungen zu ,Invektiven‘ und ,Pasquillen‘ sind gegenwärtig in
Planung.
Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus
9
sance-Humanismus geprägt haben, so die schon rein bibliographisch-quantitativ leicht verifizierbare Ausgangssituation.
Für die Romania sind die Relevanz und das enorme performativ fundierte
Wirkungspotential dialogischer Literatur im Kontext theoretischer Diskurse der
Renaissance in zwei von Klaus W. Hempfer geleiteten Projekten innerhalb des
Berliner Sonderforschungsbereichs ,Kulturen des Performativen‘ untersucht
worden,6 jüngst mit speziellem Fokus auf der Dialogliteratur der Renaissance.7
Bernd Häsner schließt in seinem Beitrag (225–251) an den in Berlin erreichten Forschungsstand an, indem er die Dialog-Poetik Torquato Tassos
(Discorso dell’arte del dialogo [1585]) mit einem Dialog Tassos (Il Cataneo overo
de le conclusioni amorose [1590/91]) en d¦tail vergleicht. Dabei stellt er schon
gleich anfangs heraus, dass der ausgewählte Dialog zwei Aspekte in besonderer
Weise akzentuiert, die in der Dialog-Poetik marginalisiert, bestenfalls in dem
definitorischen, wenngleich nicht näher erläuterten Lexem imitazione inkludiert sind: Das komplexe „Verhältnis von Fiktion und lebensweltlicher Realität“
und „das Verhältnis von schriftlicher und mündlicher Rede“. Insbesondere die
Untersuchung des zweiten Aspekts zeitigt im Ergebnis ein Tableau von sechs
pointierten, komplementären Schlussfolgerungen, die weit über Torquato Tasso
hinaus im Transfer ihr Anregungspotential entfalten.
Edeltraud Werner (253–289) vermag in ihrem Vergleich von Baldassare
Castigliones Il Cortegiano (1528) und Moderata Fontes Il merito delle donne
(1592) zu zeigen, dass polemische Rhetorik offensichtlich ein zentrales und
gleichsam ,ideales‘ Strukturelement des Geschlechterdiskurses ist, wobei in den
exemplarischen Analysen deutlich wird, wie die inszenierten Streitgespräche
nicht nur ihren generisch vorgegebenen spielerisch-agonalen Charakter explizieren, sondern implizit und explizit polemische Argumentations- und Widerspruchsstrategien ausloten, die in Argumenten der Tradition, der klassischen
Autoritäten des Geschlechterdiskurses, zugleich aber auch in den mentalitätsgeschichtlichen, soziologischen, innerweltlichen Rahmenbedingungen und
Kontexten gründen.
Von Seiten der Mittellateinischen Philologie8 sind ebenfalls wichtige
Grundlagen geschaffen worden, von denen aus die Kontinuitäten zwischen
mittelalterlichen und humanistischen lateinischen Dialogen in den Blick ge6 Einschlägig sind in diesem Kontext insbes. folgende Publikationen: Hempfer (2002, 2004,
2006); Hempfer/Pfeiffer (2002); Friedlein (2004, 2005); Hempfer/Traninger (2005, 2007,
2008); Lozar/Felfe (2006).
7 „Performativität und episteme: die Dialogisierung des theoretischen Diskurses in der Renaissance-Literatur (Italien, Frankreich, Spanien)“ und „Differenzen und Interferenzen: der
Dialog in seinem Verhältnis zu anderen Gattungen des theoretischen Diskurses in der Renaissance“. Die Projektarbeiten wurden Ende 2010 abgeschlossen.
8 Siehe insbesondere die Publikationen von Peter von Moos (2006).
10
Uwe Baumann / Arnold Becker / Marc Laureys
nommen werden können. Insbesondere hat Carmen Cardelle de Hartmann die
zwischen 1200 und 1400 verfassten lateinischen Dialoge erstmals in systematischer Weise erschlossen und literaturhistorisch untersucht.9 Ihr Beitrag in diesem Band (37–61) widmet sich diesem Spannungsfeld (mittelalterlich-scholastisch vs. humanistisch) anhand der Analyse von Enea Silvio Piccolominis
Libellus dialogorum de generalis concilii auctoritate et gestis Basiliensium
(1440). Struktur- und Detailanalysen konzentrieren sich auf zwei, unmittelbar
mit einander verknüpfte Fragekomplexe, erstens „welche für Piccolomini die
unverzichtbaren Aspekte eines humanistischen Dialogs waren, die sogar unter
diesen besonderen Umständen bewahrt werden mussten“, und zweitens, seine
rhetorische Strategie, sein Werk für ein primär scholastisch geprägtes Publikum
annehmbar zu machen. In der rhetorischen Textur seines Dialogs verzichtet er
dabei weitgehend auf juristisches Fachvokabular, bildet in seiner nicht durchgängig antikisierenden elocutio auch volkssprachliche Wendungen nach und
führt Neologismen ein. Dennoch verbleibt ein explizit ,humanistischer‘ Kern,
der dem äußerlichen Streitgespräch über ein höchst brisantes politisches Thema
als wenigstens genauso bedeutend korrespondiert: Das inszenierte Ringen und
die Diskussion um die Angemessenheit der Sprache (Wortwahl, Argumentation,
Schriftlichkeit, Mündlichkeit, etc.), oder auch „wie Sprache zu Literatur und die
Rede zum Dialog wird“.
Auf einen in der bisherigen Forschung weitgehend vernachlässigten Aspekt
der Formierungsphase des Pariser Renaissance-Humanismus in den letzten
Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts konzentriert Marc Laureys seinen Artikel
(63–85), indem er auf der Basis einer Struktur- und Detailanalyse von Girolamo
Balbis Dialogus de glorioso rhetore (1487) den mit immer wieder harschen
Worten, in polemischen Attacken und Gegenschlägen ausgetragenen Konflikt
zwischen Guillaume Tardif und Girolamo Balbi (re-)konstruiert. Der ungeachtet
einer beeindruckenden Variationsbreite in der Kunst der ad-hominem-Attacken
aufscheinende Kern des Disputs ist die stilistische, generische und ästhetischfunktionale Angemessenheit der Sprache, des Lateins der Humanisten, wobei
sich die Kontrahenten beide explizit in die Classical Tradition einordneten und
diese durchgängig als res- wie stilfokussierte Modelle reklamierten.
Der Beitrag Arnold Beckers (87–110) analysiert, ausgehend von Ulrich von
Huttens Beteiligung an den Epistolae obscurorum virorum, der er seine Expertise
in der mimetischen Satire verdankt, die Strategien polemischer Positionierung
in den zwölf lateinischen Dialogen Huttens, und fokussiert in der Gesamtschau
gleichermaßen typologisch-formale, literatur- und kommunikationstheoretische wie auch sozial- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte.
Das Verhältnis zwischen lateinischen und volkssprachlichen Dialogen und
9 Vgl. Cardelle de Hartmann (2007).
Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus
11
damit die unterschiedlichen und nicht in jedem Fall immer distinkten Segmente
von adressierten Öffentlichkeiten werden neben den romanistischen Beiträgen
insbesondere auch für den englischen Bereich in den Fokus gerückt. Wolfgang G.
Müller10 stellt in seinem zunächst definitorisch-strukturell ausgerichteten Beitrag (17–35) Prinzipien einer allgemeinen Poetik des Dialogs vor, grenzt die
Gattung Dialog von Konversation und Traktat ab, untersucht die Relation von
Fiktionalität und Realität und entwickelt insgesamt acht Kriterien, die zumindest mehrheitlich im Einzelfall für eine ,Etikettierung‘ eines Werks als ,Dialog‘
erfüllt sein sollten. An zwei weniger bekannten Dialogen von Sir Thomas Smith
(A Discourse of the Commonweal of this Realm of England [1549], A Communication or Discourse of the Queen’s Highness’s Marriage [1561]) werden die
theoretischen Vorgaben und Distinktionen in der interpretatorisch-praktischen
Anwendung illustriert.
Als besonders fruchtbar hat sich im Verlauf der Tagung erwiesen, dass die
unterschiedlichen Betrachtungsweisen der beteiligten latinistischen, anglistischen und romanistischen Literaturwissenschaftler/innen, die sich polemischen
Renaissance-Dialogen jeweils aus der Perspektive ihres eigenen Faches genähert
haben, zusammengeführt werden konnten. Erst eine möglichst interdisziplinäre, multiperspektivische und auf einem breiten Methodenspektrum beruhende Vorgehensweise scheint für die Analyse eines so vielschichtigen und facettenreichen Phänomens, wie es die Polemik im Renaissancedialog darstellt,
angemessen zu sein.
Als ein weiteres Ergebnis der Tagung lässt sich festhalten, dass der Komplexität des Gegenstandes und der Variationsbreite der realen literarisch-künstlerischen Repräsentationen am ehesten durch die Verbindung von Perspektiven
gerecht werden lässt, die den Gegenstand ,Dialog‘ sowohl vom Zentrum als auch
von den Rändern her in den Blick nehmen. Da sich eine allzu enge Definition des
Gegenstandes ,Dialog‘ von vornherein verbietet, ist hier einem breiteren Verständnis von Dialog Raum gegeben worden, in dessen Zentrum der Dialog als
literarisches Genre steht, das jedoch auch dialogische Formen in anderen literarischen Genera einbezieht und so erst Analysen der Grenzverläufe zwischen
den jeweiligen Genera ermöglicht.
Ein erstes Beispiel für die analytisch-interpretatorische Fruchtbarkeit einer
solchen begrifflichen Offenheit ist der Beitrag von Uwe Baumann (111–153).
Ungeachtet ihrer zum Teil gravierenden Unterschiede in Sprache, Stil, Gattung
und Argumentationsstrategie, können ausnahmslos alle sechzehn polemischen
Pamphlete, Invektiven oder Streitschriften des Sir Thomas More ihrer rhetorischen Anlage, ihrem Gehalt und ihren Zielsetzungen nach als polemische Dia-
10 Siehe insbes. schon Müller (2004).
12
Uwe Baumann / Arnold Becker / Marc Laureys
loge konzeptualisiert werden, obwohl nur die wenigsten in einem streng generischen Sinne ,Dialoge‘ sind.
Bei weiteren Untersuchungen sind auch für die Frage, inwieweit der polemische Dialog etwa im Lichte von Ergebnissen der Prototypentheorie (Rosch,
Lakoff; vgl. Wittgensteins Familienähnlichkeit) als sinnvolle (Unter-)kategorie11
innerhalb der literaturwissenschaftlichen Taxonomie und Typologie dienen
kann, relevante Ergebnisse erzielt worden. Das Verhältnis von literarischem
Dialog und Dialogizität als grundlegender Form menschlicher Kommunikation
ist dabei ebenso von Interesse wie das weitere Spannungsfeld zwischen Oralität
und Literalität12 und die Frage, inwieweit die Renaissance als dialogisches
Zeitalter gelten kann.13 Ausgehend vom Dialogischen als literarischer Oberflächenform stellt die spezifische Ausgestaltung diskursiver und narrativer Elemente innerhalb literarischer Dialoge ein weiteres ergiebiges Untersuchungsfeld
dar. Der Beitrag von Uwe Baumann expliziert (171–223) wie ein ,Dialog‘ (William Thomas’ The Pilgrim [1547]) sich als theoriebewusster Beitrag zur humanistischen Historiographie inszeniert – eine These, die durch figurale Einzelinszenierungen in weiteren englischen Renaissance-Dialogen plausibilisiert
und gestützt wird. Ob dieses ein singuläres, auf England beschränktes Phänomen ist, werden weitere Untersuchungen zeigen müssen, zumal speziell der
Renaissance-Dialog in England von der Forschung bisher bei weitem nicht so
gut erschlossen ist wie etwa der Renaissance-Dialog der Romania.
Gislind Rohwer-Happe nutzt in ihrem Beitrag (155–169) die moderne Narratologie und ihre Theoriebildung, insbesondere das Konzept der unreliable
narration zu einer detaillierten Gesamtanalyse von Sir Thomas Elyots The
Defence of Good Women (1540), wobei speziell die überraschenden Detailergebnisse zur theoretisch-didaktischen Reflexion des eigenen Standpunkts, der
inszenierten Positionierung und vielleicht auch zu einer neuen Konzeptualisierung der rhetorisch-erzählerischen Strategien innerhalb eines ,Dialogs‘ zurückführen.
In Ergänzung bisheriger Studien zu ,Dialog‘ und ,Dialogizität‘ im Drama
11 Vgl. dazu den Beitrag von Müller in diesem Band (17–35).
12 Es war ein in seiner theoretischen Bedeutung nicht zu unterschätzendes Ergebnis der Diskussionen, in welch hohem Maße die untersuchten Texte selbst (und damit selbstreferentiell
oder metaliterarisch), Sprachen wie Länder übergreifend, dieses Spannungsfeld immer
wieder diskursiv ausgeleuchtet und adressiert haben.
13 Dass die europäische Renaissance insbesondere auch in höchst unterschiedlichsten Facetten
von ,Streitkultur‘ ihren spezifischen Epochencharakter ausprägte, darf dabei als unstrittig
gelten. Vgl. zuletzt Lines/Laureys/Kraye (2015b), 7: „We believe that this culture of opposition, contention, confrontation, and competition […] was in many ways central to the
period’s cultural achievements. It was prominent in both the socio-political realm and in the
literary, artistic, legal, religious, and philosophical production of the Renaissance, and
functioned as a catalyst for a wide range of cultural developments“.
Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus
13
Shakespeares und seiner Zeitgenossen14 konzentriert Imke Lichterfeld (291–
315) ihre Untersuchung zu William Shakespeares Problemkomödie Measure for
Measure (1603/04) vornehmlich auf die Frage, ob die Berücksichtigung der
gattungskonstituierenden Strukturmerkmale der Gattung ,Dialog‘ für die Deutung des Dialogs, der Dialoge speziell im fünften Akt des Dramas neue, ergänzende, vertiefende Perspektiven eröffnen. Im Ergebnis bleibt zumindest – und
damit schließt sich der thematische Bogen der Beiträge – das in seinen Funktionen kaum zu überschätzende enorme performative Potential der Dialoggestaltung festzuhalten.
Unter Polemik, der zweiten Untersuchungsperspektive dieses Bandes und der
zugrunde liegenden Tagung, wird eine aggressive Rede- und Schreibweise verstanden, die nicht ausschließlich an sachlicher Auseinandersetzung orientiert
ist, sondern auch auf weitere Wirkungen insbesondere im Kontext von soziopolitischen Formierungsprozessen abzielt. Infolge dieser Funktion sind Polemiken außer durch ihre argumentative Struktur durch den spezifischen Bezug
auf das adressierte Publikum gekennzeichnet. „Ziel der Polemik ist nicht ein
Sinneswandel des Gegners, sondern die Erregung von Aversionen gegen ihn
beim Publikum“15. Polemische Literatur ist daher wesentlich von vielfältigen
Formen der Inszenierung gekennzeichnet, denen wiederum im ,Dialog‘ besonders wirkungsvoll Ausdruck verliehen werden kann.
Wie Barbara Bauer16 anhand der Entwicklung reformatorischer Diskurse
zwischen 1521 und 1541 beispielhaft gezeigt hat, ist das Vordringen von Polemik
wesentlich verbunden mit der Wahrnehmung von Störungen der Kommunikationssituation. Diese beruht auf der Einschätzung, dass von der gegnerischen
Seite Prinzipien und Möglichkeitsbedingungen gelungener Kommunikation
missachtet und verletzt werden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die
Aufrichtigkeit als Voraussetzung für gegenseitiges Vertrauen in Frage gestellt
und davon ausgegangen wird, dass die Kommunikation nur zum Schein geführt
und die Durchsetzung von Interessen der Verständigung übergeordnet wird.17
Diese Einschätzung, dass das Kooperationsprinzip18 innerhalb der Kommunikationssituation aufgegeben wird, mag diese nun gerechtfertigt sein oder auch
nicht, generiert die Erkenntnis und zukünftige Erwartung, dass rationale
Überzeugungsversuche nur geringe oder keine Erfolgsaussichten (mehr) haben.
In einer solchen Situation erscheinen der Übergang zu polemischen Formen
und die Neuausrichtung der Kommunikation hin auf die Stabilisierung der ei14
15
16
17
18
Vgl. exemplarisch Müller (1998) und Albers (2007).
Scheichl (2003), 118.
Vgl. Bauer (1996), 37–71.
Vgl. insbes. Bauer (1996), 53.
Vgl. allgemein zum Begriff, zur Theorie und zu den pragmatischen Konsequenzen Sarangi/
Slembrouck (1992).
14
Uwe Baumann / Arnold Becker / Marc Laureys
genen Gruppe als insgesamt ebenso plausible Handlungsoption zur Stärkung
der eigenen Position. Und so wird die polemische Textur einzelner Dialoge,
ungeachtet der jeweils individuellen künstlerisch-rhetorischen Anlage, zugleich
auch immer wieder zum funktionalen Medium, das Inklusion und/oder Exklusion generiert, jeweils bezogen auf die adressierten Leser- und Zuhörergruppen.
Die schöne und einprägsame Junktur ,polemischer Dialog‘, die der Arbeitstagung ihren Titel gab, kann im Einzelfall einen Dialog durchaus zutreffend
charakterisieren, als Untergattungs- oder gattungsähnlicher Begriff birgt sie
jedoch den Nachteil, dass ein weiteres Gattungsverständnis, das den Dialog
sowohl vom Zentrum als auch von den Rändern her konzeptualisiert, erschwert
würde. Auf einer ganz pragmatischen Ebene zeitigt dieses konsensuale Nebenergebnis der Arbeitstagung praktische Konsequenzen für den Titel dieser Dokumentation und für den Titel des Vorworts. Ebenso pragmatisch sind im
Folgenden die einzelnen Beiträge angeordnet: Dem wesentlich definitorischstrukturell ausgerichteten Beitrag von Wolfgang G. Müller folgen die übrigen
neun Beiträge in der chronologischen Reihenfolge der behandelten Texte, wiewohl selbstverständlich auch andere Anordnungen möglich gewesen wären. So
jedoch, mit dem Wechsel zwischen der Analyse lateinischer und volkssprachlicher, primär italienischer und englischer Dialoge, der exemplarischen Konzentration auf einzelne Dialoge oder der Würdigung eines Gesamtwerkes, wird
die Dokumentation zu einem Spiegelbild der Sprachen, Länder und Fächer
übergreifenden, interdisziplinären Forschungs-, Diskussions- und Streitkultur
der Arbeitstagung.
Die Herausgeber danken der Philosophischen Fakultät der Rheinischen
Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn für die großzügige Unterstützung der
Tagung und der Drucklegung dieses Bandes, woran auch der Verlag Bonn
University Press (insbesondere Susanne Franzkeit) einen über die Betreuung des
Druckes hinausgehenden namhaften Anteil hat. Ein herzliches Dankeschön gilt
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die uns beim Korrekturlesen in den
einzelnen Stadien der Entstehung des Bandes kompetent unterstützt haben,
namentlich Christina Stricker, Sarah Cordes, Sarah Fißmer und Jannik Reiners.
Letzterem verdanken wir ebenfalls maßgebliche Unterstützung bei der Erstellung des Index Nominum.
Großer Dank gebührt den Beiträgerinnen und Beiträgern der Tagung und des
Bandes für die äußerst konstruktive und angenehme Zusammenarbeit, die sich
als veritabler Gegenpol zur oft ritualisierten wissenschaftlichen Streitkultur im
Vorfeld solcher Publikationsprojekte erwiesen hat. Die hier vorgelegten
Ergebnisse sind ihrerseits Produkte der notwendigen ,Streitkultur‘ der Arbeitstagung, zugleich aber auch Teil der institutionalisierten, ritualisierten
,Streitkultur‘ im Rahmen der Wissenschaftsdiskurse unterschiedlicher Fach-
Polemik im Dialog des Renaissance-Humanismus
15
richtungen, auch, oder vielleicht sogar gerade weil sich alle Beiträgerinnen und
Beiträger über das Dictum des Horaz hinweg gesetzt und die dort vorgeschlagenen neun Jahre mit der Drucklegung nicht gewartet haben.19 Die hier versammelten Beiträge könnten dem interdisziplinären wissenschaftlichen Dialog
über den Dialog der Renaissance im Detail die eine oder andere innovative
Perspektive vermitteln und diesen vielstimmigen Dialog um einige ansonsten
kaum vernehmbare Stimmen bereichern.
Bibliographie
Albers, Bettina: Normabweichungen im Gesprächsverhalten in Shakespeares Komödien
(Jenaer Studien zur Anglistik und Amerikanistik, Bd. 11), Trier : WVT 2007.
Bauer, Barbara: „Die Rhetorik des Streitens. Ein Vergleich der Beiträge Philipp Melanchthons mit Ansätzen der modernen Kommunikationstheorie“, in: Rhetorica 14
(1996), 37–71.
Baumann, Uwe; Arnold Becker; Astrid Steiner-Weber (Hgg.): Streitkultur. Okzidentale Traditionen des Streitens in Literatur, Geschichte und Kunst (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike, Bd. 2), Göttingen: Bonn University Press 2008a.
Baumann, Uwe; Arnold Becker; Astrid Steiner-Weber : „Vorwort“, in: Baumann/
Becker/Steiner-Weber (2008a), I–V (2008b).
Cardelle De Hartmann, Carmen: Lateinische Dialoge 1200–1400. Literaturhistorische
Studie und Repertorium (Mittellateinische Studien und Texte, Bd. 37), Leiden, Boston:
Brill 2007.
Friedlein, Roger : Der Dialog bei Ramon Llull. Literarische Gestaltung als apologetische
Strategie, Tübingen: Niemeyer 2004.
Friedlein, Roger (Hg.): El di‚logo renacentista en la Pen†nsula Ib¦rica. Der Renaissancedialog auf der Iberischen Halbinsel, Stuttgart: Steiner 2005.
Hempfer, Klaus W. (Hg.): Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, Stuttgart: Steiner
2002.
Hempfer, Klaus W. (Hg.): Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales
Selbstverständnis, Stuttgart: Steiner 2004.
Hempfer, Klaus W. (Hg.): Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedialogs, Stuttgart: Steiner 2006.
Hempfer, Klaus W.; Helmut Pfeiffer (Hgg.): Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance, Stuttgart: Steiner 2002.
Hempfer, Klaus W.; Anita Traninger (Hgg.): Macht – Wissen – Wahrheit, Freiburg i.
Br.: Rombach 2005.
Hempfer, Klaus W.; Anita Traninger (Hgg.): Dynamiken des Wissens, Freiburg i. Br.:
Rombach 2007.
19 Wir nutzen dankbar einige Formulierungen von Baumann/Becker/Steiner-Weber (2008a), V.
16
Uwe Baumann / Arnold Becker / Marc Laureys
Hempfer, Klaus W.; Anita Traninger (Hgg.): Der Dialog im Diskursfeld seiner Zeit –
von der Antike bis zur Aufklärung, Stuttgart: Steiner 2008.
Laureys, Marc; Roswitha Simons (Hgg.): Die Kunst des Streitens. Inszenierung, Formen und Funktionen öffentlichen Streits in historischer Perspektive (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike, Bd. 10), Göttingen: Bonn University Press 2010.
Laureys, Marc; Roswitha Simons (Hgg.): The Art of Arguing in the World of Renaissance Humanism (Supplementa Humanistica Lovaniensia, Bd. 34), Leuven: Leuven
University Press 2013.
Lines, David A.; Marc Laureys; Jill Kraye (Hgg.): Forms of Conflict and Rivalries in
Renaissance Europe (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike,
Bd. 17), Göttingen: Bonn University Press 2015a.
Lines, David A.; Marc Laureys; Jill Kraye: „Foreword“, in: Lines/Laureys/Kraye
(2015a), 2015b.
Lozar, Angelika; Robert Felfe (Hgg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, Berlin: Lukas 2006.
Moos, Peter von: Rhetorik, Kommunikation und Medialität. Gesammelte Studien zum
Mittelalter, Bd. 2, hg. v. Gert Melville (Geschichte: Forschung und Wissenschaft,
Bd. 15), Münster : Lit 2006.
Müller, Wolfgang G.: „Dialogue and Dialogicity in Renaissance Drama“, in: FritzWilhelm Neumann; Sabine Schülting (Hgg.), Proceedings/Anglistentag 1998 Erfurt,
Trier : WVT 1999, 211–224.
Müller, Wolfgang G.: „Dialog und Dialogizität in der Renaissance“, in: Wolfgang G.
Müller ; Bodo Guthmüller (Hgg.), Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance
(Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, Bd. 22), Wiesbaden:
Harrassowitz 2004, 16–30.
Sarangi, S. K.; S. Slembrouck: „Non-Cooperation in Communication: A Reassessment
of Gricean Pragmatics“, in: Journal of Pragmatics 17 (1992), 117–154.
Scheichl, Sigurd Paul: Art. „Polemik“, in: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der
deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, P-Z. [3. neubearb. Aufl.]. Berlin, New York: de Gruyter,
Sp. 117–120.
Wolfgang G. Müller (Jena)
Prinzipien einer Poetik des Dialogs, dargestellt am Beispiel
des Prosadialogs der englischen Renaissance
Das Problem
Der englische Prosadialog hat, anders als der italienische und französische
Dialog der Renaissance, relativ wenig Beachtung erfahren. Das zeigt sich z. B. in
dem 2009 erschienenen Handbook of Tudor Literature, in dem ein eigener
umfassender Artikel über den Dialog fehlt. Das Handbuch enthält zwar einen
wichtigen Beitrag von Phil Withington, der sich aber nur mit zwei Dialogautoren
um die Mitte des 16. Jahrhunderts befasst. Auch die Arbeit von Oliver Schoell
(2004) behandelt einen begrenzten Zeitraum, 1528–1545, und unterzieht nur
vier Dialoge einer genaueren Untersuchung. Eine eigene Bestimmung des Gattungsprofils des Dialogs wird nicht versucht. Die neueste Veröffentlichung über
den englischsprachigen Dialog, ein von Till Kinzel und Jarmina Mildorf herausgegebener Sammelband (2011), lässt den Dialog der englischen Renaissance
weitgehend unberücksichtigt. Horst Seidls knapper Beitrag zu diesem Band
zieht Mores Utopia und Bacons New Atlantis heran, um das Verhältnis von
fiktionalen und philosophischen Dialogen zu klären, und Jürgen Meyers Artikel
zur Epoche der Renaissance versteht den Dialog in Bachtins Sinn als Kommunikation zwischen Autor und Rezipienten. Auf „the fixed genre of the dialogue
proper“ geht er nicht ein.1 Was ist der Grund für die Vernachlässigung des
englischen Dialogs der Renaissance? Zum einen ist diese Literaturform in
England lange Zeit zu Unrecht unterschätzt worden, z. B. von Peter Mack,
demzufolge die englischen gegenüber den kontinentalen Dialogen von minderer
Qualität seien. Zum anderen verlangt die Untersuchung des Dialogs eine komparatistische Kompetenz, die viele Anglisten nicht besitzen. Wer sich mit dem
Dialog beschäftigt, muss Kenntnisse der Antike besitzen, ohne die das Wiederaufleben des Dialogs in England nicht verständlich ist, was auf keinen Fall
heißen soll, dass die englischen Dialoge nur Nachahmungen antiker Formen
seien. Außerdem muss der englische Dialog im Kontext der europäischen, be1 Meyer (2011), 44.
18
Wolfgang G. Müller
sonders der italienischen Dialogliteratur gesehen werden. Wer z. B. in der englischen Renaissance nach einer Poetik des Dialogs sucht, wird, abgesehen von
einigen Bemerkungen in Sir Philip Sidneys Defense of Poesie (1579–80), nicht
fündig werden. Man muss auf italienische und französische Poetiken zurückgreifen, insbesondere auf Speronis Abhandlung über den Dialog, was später
noch getan werden soll. Was Baldassare Castigliones Dialog Il Cortegiano (1528)
betrifft, so gehört dieses Werk in der Übersetzung von Sir Thomas Hoby (1561)
zur englischen Literatur. Die englische Kultur der Renaissance wäre ohne diesen
Text nicht denkbar. Dabei handelt sich allerdings um ein Werk, das kaum Einfluss auf den englischen Prosadialog der Epoche ausgeübt hat. Anders als der
italienische Dialog gehören die englischen Vertreter der Gattung weniger in den
Kontext der höfischen Kultur. Das mag ein Grund dafür sein, dass Frauen als
Gesprächspartner in den englischen Dialogen mit einer Ausnahme, Sir Thomas
Elyots The Defence of Good Women (1540), nicht vorkommen.2 Die englische
Dialogkultur ist weitgehend Männersache, sie wird in der Hauptsache von gelehrten Männern gepflegt. Insofern tut sich hier eine Kluft auf zwischen den
Vertretern der Gattung des Prosadialogs und den Dialogen etwa in Shakespeares
Komödien, in denen weibliche Figuren dominieren und an Witz und Argumentationskunst ihre männlichen Gesprächspartner in den Schatten stellen. Im
Folgenden sollen die historischen und kulturellen Kontexte der Gattung des
Prosadialogs in der Renaissance erläutert werden, und es soll, vorwiegend mit
Blick auf die englischen Vertreter der Gattung, versucht werden, die Gattungseigentümlichkeiten des Dialogs herauszuarbeiten. Der Versuch, mit Bezug auf
englische Texte Grundsätze einer Poetik des Dialogs zu formulieren, soll einen
Betrag zur Rehabilitierung des zu Unrecht vernachlässigten und unterschätzten
englischen Dialogs leisten.
Die Renaissance als dialogisches Zeitalter
In der Renaissance-Forschung gibt es eine in den letzten Jahrzehnten immer
stärker gewordene Tradition, für die in der Kultur der Epoche Phänomene wie
Dialog, Debatte und Konversation von zentraler Bedeutung sind und die für das
Zeitalter eine stärkere Gewichtung des dialogischen Skeptizismus gegenüber
2 In ihrem Beitrag im vorliegenden Band stellt Gislind Rohwer-Happe aufgrund einer Untersuchung der unzuverlässigen Momente in der Darstellung, die auf das narratologische
Konzept der unreliable narration zurückgreift, fest, dass es sich in dem Text nicht um die
angekündigte Defence of Good Women handelt, sondern um das Gegenteil. Der Text bietet also
nicht, was sein Titel verspricht.
Prinzipien einer Poetik des Dialogs
19
dem monologischen Dogmatismus postulieren.3 Dabei lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Aufschwung der Rhetorik in der Epoche und der zunehmenden Bedeutung dialogischer Ausdrucksformen feststellen. Bedeutende
Forscher, allen voran Heinrich F. Plett mit seinem Werk Rhetoric and Renaissance Culture (2004), haben die Renaissance als eine rhetorische Kulturepoche
bezeichnet. Wenn man aber die Renaissance als eine rhetorische Kulturepoche
bestimmt – was durchaus angemessen ist –, muss man ergänzend hinzufügen,
dass die Renaissance in besonderem Maße auch ein dialogisches Zeitalter ist.4
Diese beiden Bestimmungen der Kulturepoche der Renaissance stehen in
engstem Zusammenhang. Der Aufschwung der Rhetorik führte geradezu
zwangsläufig zu einem Aufschwung des Dialogs. Peter Burke sagt mit gutem
Grund: „The rise of rhetoric during the Renaissance was another stimulus to the
dialogue, which offered a dramatic presentation of arguments pro and contra
[…].“5 Das Prinzip des Dialogischen ist in die Kultur der Epoche eingeschrieben. Das Dialogische manifestiert sich markant in der Erziehung der Renaissance, wo großer Wert auf die von Burke genannte Fähigkeit gelegt wurde,
gegensätzliche Standpunkte zu ein und demselben Sachverhalt vertreten zu
können (argumentum in utramque partem disserere), und in der Literatur, die
wie etwa Thomas Morus’ Utopia, Erasmus’ Ciceronianus und Castigliones Il
cortegiano vielfach den Charakter eines unabgeschlossenen Dialogs oder einer
offenen Debatte annimmt. Die Freude am kontradiktorischen Argument zeigt
sich, um ein Einzelbeispiel anzuführen, bei dem englischen Autor Thomas
Lodge in A Defence of Poetry in der Weise, dass er seinem Gegner in der Debatte,
Stephen Gosson, sagt, er wolle ihm helfen und sein schwaches Argument stärker
machen, nur um es, nachdem er es aufgebaut habe, wieder zu zerstören.6
Epistemologisch kann das Bewusstsein kontradiktorischer Sichtweisen auf ein
und denselben Sachverhalt zu einem Relativismus und Skeptizismus führen, wie
bei Montaigne, der in seinem 47. Essay im Zusammenhang mit der Koinzidenz
von pro und contra von einer Unsicherheit des Urteils spricht. Der Zweifel kann
aber auch als Weg zu Wahrheit aufgefasst werden wie bei Thomas Starkey, bei
dem es in dem 1529 entstandenen Werk A Dialogue between Reginald Pole and
3 Vertreter dieser Tradition sind z. B. Struever (1970), Altman (1978), Kahn (1984), Sloane
(1985), Kinney (1989), Müller (1999).
4 Siehe Stierle (1984). Für L. Batkin (1981), 269, ist der Dialog „eine der umfassendsten logischhistorischen Definitionen der Epoche“. Die Charakterisierung der Renaissance als dialogisches Zeitalter ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben. Aus mediävistischer Sicht wird
sie kritisiert von Peter von Moos (1989), 268. Ein Renaissanceforscher, der behauptet, dass die
Renaissance vom Standpunkt der Rhetorik gesehen eine monologische Epoche sei, ist Rebhorn (1995). Hierzu Müller (2004).
5 Burke (1989), 7–8.
6 Zitiert in Smith (1904), I, 73.
20
Wolfgang G. Müller
Thomas Lupset heißt: […] doubting, you know, bringeth the truth to light.7 Die
Renaissance hat sich auch theoretisch mit dem Dialog auseinandergesetzt und
ihn, an Aristoteles anknüpfend, als Mischgattung zwischen Prosa und Drama8
und zwischen Philosophie und Dichtung9 bestimmt. Der Dialog wird insofern
vom Drama abgegrenzt, als er nicht Handlung, sondern Gedanken- und Argumentationsprozesse nachahme.
Der Dialog als humanistische Gattung
Einer der Gründe für die große Präsenz des Dialogs in der Renaissance liegt in
dem für die Epoche kennzeichnenden Rückgang zur Antike, was sich besonders
deutlich im philosophischen Dialog zeigt, wo das dialogische Prinzip in Anlehnung an den platonischen Dialog zum Mittel der Wahrheitssuche und des
Erkenntnisgewinns wird. Das antike Vorbild zeigt sich markant bei Autoren wie
dem italienischen Platoniker Ficino, der Sokrates als Dialogpartner auftreten
lässt, und bei dem englischen Humanisten Sir Thomas Elyot, bei dem Platon als
Gesprächspartner figuriert. Mit welcher Selbstverständlichkeit die Humanisten
die Antike rezipierten, zeigt sich darin, dass der zuletzt genannte Autor in seinem Dialog Of The Knowledge Which Maketh a Wise Man den Griechen Platon
Englisch sprechen lässt. Neben philosophischen gibt es auch poetologische,
politische und religiöse Dialoge. Auch Sachtexte, Schriften, die der Kenntnisvermittlung dienen, etwa medizinische oder juristische Texte, benutzen vielfach
die dialogische Präsentationsform. Und auch in derartigen Texten ist der Bezug
auf die Antike vielfach gegeben. Ein aufschlussreicher Fall ist in diesem Zusammenhang ein Text über die in England beliebte Sportart des Bogenschießens
von Roger Ascham aus dem Jahre 1545 – Toxophilus –, der sich als Dialog
zwischen einem Freund des Bogenschießens, Toxophilus, und einem Freund des
Bücherwissens, Philologus, darstellt. Ausgerechnet der Befürworter der körperlichen Ertüchtigung durch den Sport, Toxophilus, erscheint am Beginn des
Dialogs als Leser des Phaidros, eines der berühmtesten Dialoge Platons. Am
Ende des Dialogs, in dem Toxophilus seinen Gesprächspartner in zunehmend
traktathafter Form über die Kunst des Bogenschießens unterrichtet hat, nimmt
man sich vor, den Dialog demnächst fortzusetzen. Toxophilus erklärt, er wolle
dann mit Philologus über antike Philosophie, Platon, Aristoteles und die Stoiker
sprechen. Als Humanist gibt sich Toxophilus auch während seiner Ausführungen über den Sport zu erkennen, wenn er Beispiele (exempla) aus der antiken
7 Starkey (1948), 41.
8 Sperone Speroni: Apologia dei dialogi (1575).
9 Sir Philip Sidney : The Defense of Poesie (1779–80).
Prinzipien einer Poetik des Dialogs
21
Literatur über das Bogenschießen anführt. Von einem Traktat unterscheidet sich
Toxophilus durch seine dialogische Form, der unterschiedliche Sichtweisen der
beiden Gesprächspartner entsprechen.
Dialog als allgemeines sprachliches Phänomen und als Gattung
Für ein Verständnis der Gattung des Dialogs ist es von großer Bedeutung, zwischen dem normalsprachlichen Dialog und dem Dialog, wie er in den Dialogen
der Renaissance erscheint, zu unterscheiden. Das Wort Dialog kommt aus
griech. di‚-logos ,Unterredung‘, ,Gespräch‘ von zwei oder mehr Personen. Ein
Dialog, an dem nur zwei Personen beteiligt sind, wäre ein „Zwiegespräch“ oder
„Duolog“. Die Vorsilbe „di‚“, also nicht zu verwechseln mit „di“ gleich ,zwei‘,
bedeutet „hindurch“, „hinüber“. Entscheidend für den Dialog ist somit das
Zum-Anderen-Sprechen, und die zweite unabdingbare Eigenschaft ist der
Sprecherwechsel in nicht zu langen Abständen. Grundsätzlich unterscheiden
sich der normalsprachliche und der Dialog als Gattung dadurch, dass in letzterer
der Sprecherwechsel weniger häufig ist. Man mag eine solche statistische Beobachtung als unerheblich bezeichnen, aber es ist von wesentlicher Bedeutung,
dass die Sprecher in einem Dialog die Zeit haben, ihre Argumentationsposition
zum Ausdruck zu bringen. Nur wenn das der Fall ist, kann sich die für die
Gattung zentrale Diskursivität ausbilden, obwohl auch Momente vorkommen, in
denen sich die Sprecherwechsel wie in einer Stichomythie von Wort zu Wort
oder von Satz zu Satz vollziehen, etwa in Thomas Elyots Of the Knowledge Which
Maketh a Wise Man, wo Platon in rascher Folge Fragen stellt, die sein Gesprächspartner Aristipp knapp bejahend beantwortet:
PLA. […] But yet me semeth we have spoken somwhat lasse of god than we shuld do.
ARI. What meanest thou therby?
PLA. For sens we bothe have agreed, that he is the fyrste begynnynge and cause: we
shuld have also concluded, that all goodness proceded of hym, and the he was the
fountayne and principall goodness.
ARI. I admit al to be true that thou sayest.
PLA. Than thou grauntest, that evyll is contrarie to god.
ARI. Ye verily.
PLA. And all thynge that is yl, is contrarie to that thing, whiche is good?
ARI. Ye, surely.
PLA. Those thinges that be contrarie one to an other, be they lyke in that, wherin they be
contrarie?
ARI. No truely.
22
Wolfgang G. Müller
PLA. Than it semeth, that they be unlyke?
ARI. So it appereth.10
Ebenso nimmt der Protagonist Thomas Morus an einzelnen Stellen den Boten
geradezu ins Kreuzverhör :
Is there quod I any mo very chyrches of cryst than one?
No mo quod he.
Is not yt it quod I yt is true?
Yes quod he.
Be not quod I then all yt sects of heresyes false?
Yes quod he.
Who is lykely quod I to fayne & lye/ yt company that is the true parte or some of them yt
be false/ than yt company yt is the true parte.
Than false & and fayned miracles quod I/ be they lyes or not?
What else quod he.
Then quod I by your arguzment it semeth yt they were moche more lykely to be among
euery secte of heretykes in yt chyrch.
Se semeth it quod he.11
In beiden Fällen wird ein syllogistisches Argumentieren dialogisch entfaltet,
wobei der Fragende eine Position der absoluten Dominanz einnimmt. Derartige
Formen des Zwiegesprächs, die trotz ihres Räsonierens dem Katechismus nahekommen und in denen die Antwort gleichsam suggeriert oder gar erzwungen
wird, sind in den Renaissance-Dialogen allerdings eher die Ausnahme. Ein
weiteres statistisch belegbares Phänomen ist die Frage, ob jemand in den Dialogen öfter das Wort nimmt oder länger spricht, und ob jemand eher der Fragende oder der Antwortende ist. Extreme Beispiele der Dominanz des Fragenden liegen in den beiden soeben zitierten Dialogpassagen vor. In solchen
Asymmetrien können sich der höhere soziale Stand oder die größere Eloquenz
und das stärkere Argumentationsvermögen bekunden. Wenn die Redebeiträge
in einem Dialog zu lang werden und die Sprecher geradezu monologisieren,
rückt der Dialog in die Nähe des Traktats. Der Sprecherwechsel, der einhergeht
mit der Formulierung unterschiedlicher oder gegensätzlicher Urteils- und Argumentationspositionen, ist eine essentielle Eigenschaft des Dialogs, wobei ein
gewisser Umfang der Redebeiträge für die Etablierung der für die Gattung so
wichtigen Diskursivität erforderlich ist. Gerade wenn ein Sprecher die gewünschten Antworten in der Form des Katechismus erzwingt, sind wahre Dialogizität und Diskursivität nicht gegeben.12
10 Elyot (1946), 43.
11 More (1981), 241–242.
12 Gegenüber „genuin dramatischen Texten“ weisen Dialoge u. a. „eine niedrigere Sprecherwechselfrequenz“ und „größere Replikenlänge“ und „eine Dominanz argumentbezogener
Prinzipien einer Poetik des Dialogs
23
Ein Vergleich zwischen dem allgemeinsprachlichen Dialog und dem Dialog
als Gattung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die an und für sich selbstverständliche Tatsache, dass der literarische Dialog einen Autor hat, was beim
normalen Gespräch nicht der Fall ist. Zur Rolle des Autors gibt es im Wesentlichen zwei Theorien.13 Die eine Auffassung ist die, dass der Autor jeweils einen
Dialogcharakter privilegiere und als sein Sprachrohr benutze. Diese Annahme
ist so offenkundig falsch, dass sich eine Auseinandersetzung mit ihr erübrigt.
Wenn sich die Aussage des Dialogtexts aus den Gesprächsbeiträgen einer Figur
herausfiltern lassen würde, dann brauchte man den Dialog als Form der Debatte
nicht, dann würde es sich um eine bloße Scheindebatte handeln. Die andere
Auffassung ist die, dass der Dialogtext als ganzer als Sprachrohr des Autors zu
verstehen sei. Diese Auffassung hat insofern eine gewisse Plausibilität, als der
Autor ja als Aussagesubjekt des Gesamttexts gelten muss. Häsner sagt in diesem
Zusammenhang, „daß der Dialogtext, wie jeder fiktionale Text, als ,Makroproposition‘ eines Autors zu behandeln wäre, die semantisch komplexer ist als jede
der in ihr enthaltenen Teilpropositionen“.14 Dennoch ist es problematisch, von
einer Gesamtaussage oder gar -proposition des Dialogtexts zu sprechen. Liegt
nicht ein Widerspruch darin, eine Gesamtaussage eines Texts anzunehmen, in
dem es unversöhnliche Argumentationspositionen gibt und der einen offenen
Schluss hat? Hier tut sich eine Kluft auf zwischen einer theoretisch durchaus
plausiblen Auffassung und der Realität des Texts, die diese Auffassung nicht
zulässt. Wenn der Dialogtext Dialogizität im strengen Sinne verkörpert, eine
wahre Pluralität unterschiedlicher und strittiger Positionen in sich trägt und zu
keinem Ziel gelangt, was sollte dann die ,Makroproposition‘ des Autors sein? –
eine banale Aussage wie die, dass das Problem komplex ist und unterschiedliche
Meinungen herausfordert, oder die, dass man sich darauf einigt, uneinig zu sein?
Vielleicht ist hier auch nur die Verwendung des Begriffs ,Proposition‘ unglücklich. An anderer Stelle spricht Häsner davon, „die ,Absenz‘ oder ,Annihilierung‘ des Autors“ sei „gerade eine strukturelle Voraussetzung makropropositionaler Komplexität und eines surplus an Bedeutung“.15 Derartige Probleme
gibt es im normalsprachlichen, autorlosen Dialog nicht.
gegenüber personen- oder kontextbezogenen Repliken“ auf (Häsner (2004), 29). Siehe auch
Pfister (1998).
13 Hierzu Häsner (2004), 16–17.
14 Häsner (2004), 21.
15 Häsner (2006), 171.
24
Wolfgang G. Müller
Dialog und Konversation
Es ist ein Unterschied zu machen zwischen Dialog und Konversation. Diesen hat
Vittorio Hösle in seinen eingehenden Darlegungen allgemein so gefasst, dass die
Konversation real und der Dialog fiktiv sei. Im Unterschied zur Konversation
fungiere die gattungseigentümliche „Intersubjektivität“ im Dialog auf zwei
Ebenen, intratextuell auf der der interagierenden Dialogpartner und extratextuell auf der des Autors und der fiktiven Gesprächspartner – es ist der Autor, der
„andere Person[en] reden lässt“.16 Eine derartige doppelte Intersubjektivität gibt
es in der Konversation nicht. Konversation im allgemeinen Sinne ist ein Gespräch, in dem der „Kommunikationsakt als solcher im Vordergrund steht“17
und in dem es auf Umgangsformen ankommt. Die Konversation ist dem formelhaften, aus Klischees zusammengesetzten Smalltalk entgegengesetzt, um es
mit Helene von Altenwyl aus Hugo von Hofmannsthals Der Schwierige zu sagen,
den Worten, „die alles Wirkliche verflachen und im Geschwätz beruhigen“
(Hugo von Hofmannstal, Der Schwierige, Akt II, Szene 1, 376). Wie ihr Vater
Altenwyl sagt, ist Konversation das „nicht selbst perorieren, wie ein Wasserfall,
sondern dem andern das Stichwort bringen“. Die thematische Ungebundenheit,
das freie Schweben von einem Gesprächsgegenstand zu einem anderen, bei dem
es auf das vollkommene Eingehen auf den anderen ankommt, steht in scharfem
Gegensatz zum Dialog, der ein Thema oder einen Themenbereich aus unterschiedlichen Sichtweisen diskursiv behandelt. Höflichkeit als eine Eigenschaft
der Konversation ist in den humanistischen und den höfischen Dialogen unterschiedlich ausgeprägt. In einem italienischen Dialog wie Il cortegiano sind
Höflichkeit, Scherz und das Spiel mit der Kommunikation, wenn es auch um ein
durchgängiges Thema geht, hier um den vollkommenen Höfling, stärker akzentuiert, als in den englischen Dialogen, die ernsthafter und intensiver auf ein
kontroverses Thema orientiert sind. Sprezzatura sucht man in den englischen
Dialogen vergebens.
Dialog und Traktat
Eine Abgrenzung des Dialogs vom Traktat kann von hohem heuristischem Wert
bei der Bestimmung der Gattung des Dialogs sein.18 Das zeigt sich nachdrücklich
in der Poetik der Gattung von Sperone Speroni, Apologia dei dialogi (1575), dem
komplexesten Versuch einer Theoretisierung der Gattung Dialog im Cinque16 Hösle (2006), 54.
17 Häsner (2009), 121.
18 Einen aufschlussreichen Vergleich zwischen Dialog und Essay führt Häsner (2006) durch.
Prinzipien einer Poetik des Dialogs
25
cento. Speroni schrieb selbst Dialoge und erlangte Berühmtheit, weil er seine
Figuren Meinungen äußern ließ, die im Gegensatz zu allgemeingültigen, gängigen Vorstellungen standen. Für ihn schafft, um Bodo Guthmüller19 zu folgen,
die Ergebnis-Offenheit des Genus Dialog einen Freiraum des Denkens und Argumentierens, der dem „discours magistral“, dem Lehrer-Schüler-Verhältnis,
widerspricht. Im Dialog gehe es nicht um die wissenschaftliche Darlegung von
Wahrheiten wie im Traktat, der durch die Methode der logischen Beweisführung
gekennzeichnet sei. Entscheidend ist für ihn, dass im Dialog von den Gesprächspartnern divergierende Aussagen über einen bestimmten Sachverhalt
geäußert werden. Erkenntnis ist nach ihm kein Besitz abgeschlossenen Wissens,
sondern gemeinsam im Gespräch vollzogene offene Suche. Der Dialog ist in
besonderer Weise geeignet, die Pluralität und den Widerstreit der Meinungen,
aber auch die Freiheit der Meinungsbildung vor Augen zu führen. Um es in
unseren Worten auszudrücken: Im Traktat und Dialog stehen sich Monologizität
und Dialogizität gegenüber, monologisch-expositorische und dialogisch-multivoke Darstellungsform. Im Dialog, speziell im offenen Dialog, der Speroni
vorschwebt, werden Urteils- und Argumentationspositionen immer durch unterschiedliche und gegensätzliche Redebeiträge relativiert. Während der geschlossene Dialog zu einem gültigen Ergebnis und zu einem Konsens der
Beteiligten führt, legt der offene Dialog die Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit der Betrachtungsweisen bloß. Vom Traktat mit seiner systematischen,
linearen Argumentationsfolge unterscheidet sich der Dialog, wie Bernd Häsner
darlegt, „durch die mehrstimmige Konstitution eines argumentativen topic als
ein mehr oder weniger diskontinuierliches Geschehen in Raum und Zeit und
damit als potentiell offener und Irritationen ausgesetzter Prozeß“.20 Vom Traktat
unterscheidet sich der Dialog auch darin, dass er seine „medialen Voraussetzungen“ reflektiert, dass die „medialen Bedingungen von Kommunikation selbst
präsent gehalten“ werden.21
Rezeption
Der Dialog als fiktives Gespräch über ein Thema oder einen Themenbereich, in
dem unterschiedliche und gegensätzliche Standpunkte zur Geltung kommen,
verlangt vom Leser, dass er die vorliegenden Argumentationspositionen und den
gesamten Gesprächsverlauf in einem kognitiven Prozess zu erfassen versucht
und damit ein Bewusstsein der Pluralität möglicher Betrachtungs- und Argu19 Guthmüller (2004).
20 Häsner (2004), 34.
21 Häsner (2004), 27.