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Der erfundene Künstler Lose yourself The fictional Artist Rrose Sélavy, Vern Blosum, John Dogg: Warum erschaffen sich Künstler Alter Egos oder verbergen sich als Kollektiv hinter erdachten Charakteren? Martin Herbert folgt der Figur des fiktiven Künstlers durch die letzten hundert Jahre und entdeckt in ihm einen Spiegel der Veränderungen in der Kunstwelt. Manchmal ist eben eine Identität nicht genug. 133 Rrose Sélavy, Vern Blosum, John Dogg: Why do artists create alter egos or hide as collectives behind made-up characters? Martin Herbert traces the figure of the fictional artist over the last hundred years and discovers a reflection of the art world’s changing face. Sometimes one identity just isn’t enough. Th e f ic t iona l A rt ist D e r e r f u n de n e Kü nst l e r E 2013 zeigte die New Yorker Essex Street Gallery acht Malereien aus den Jahren 1961–64, deklariert als Leihgaben des Künstlers Vern Blosum. Sachliche, aufgeräumte Bilder, meist nüchterne Kopien aus einem Naturführer für Wildblumen, dazu ein gemaltes Stoppschild und Arbeiten, auf denen eine Katze oder eine Taube mit zusammenhangslosen Texten wie Planned Obsolescence (geplante Veralterung) kombiniert waren. Wie treffend: Katzen neben Tauben setzen war so ziemlich genau das, worauf Blosums Werke in den frühen 60er Jahren abzielten. Sammler schätzten seine Arbeiten, darunter auch vereinfachte Darstellungen von Parkuhren, Hydranten, Briefkästen und Feuermeldern. Zu den Käufern zählte auch – vermittelt durch den für seinen unbestechlichen Blick bekannten Kunsthändler Leo Castelli – das Museum of Modern Art. Artforum schrieb über Blosum, und Lucy Lippard erwähnte ihn 1966 in ihrer Anthologie „Pop Art“. Es gab nur ein Problem: Den Künstler gab es gar nicht. Vern Blosum, abgeleitet von dem botanischen Ausdruck „Vernal Blossum“ (Frühjahrsblüte), war das Pseudonym eines abstrakten Expressionisten und früheren Studenten Adolph Gottliebs, der bis heute anonym geblieben ist. Weil er in der Pop Art einen Affront gegen malerisches Können sah, produzierte er ein bisschen schlecht gelaunten Fake-Pop, und nachdem er bewiesen hatte, was zu beweisen war, verschwand er wieder von der Bildfläche. Sein Werk aber tickte weiter wie eine Zeitbombe, bis es schließlich hinter seinem Rücken in die Luft ging. Nach dem Ankauf von Blosums Parkuhr „Time Expired“ (1962) versuchte das MoMA von Castelli verlässliche biografische Angaben über den Künstler zu bekommen. Vom Ergebnis unbefriedigt (in seinem Lebenslauf liest man unter anderem: In 2013, New York’s Essex Street gallery exhibited eight paintings, dating from 1961–64 and loaned by their credited maker, Vern Blosum. These squeaky-clean graphic works, mostly affectless copies from a spotter’s guide to wildflowers were joined by a painted Stop sign and image-text paintings pairing cats and pigeons with disjunctive phrases like Planned Obsolescence. Aptly, since placing cats among pigeons was precisely what, in the early 1960s, Blosum’s artworks aimed to do. Collectors bought his work, which also included deskilled depictions of parking meters, fire hydrants, post boxes, and alarm boxes; so, via the usually gimlet-eyed dealer Leo Castelli, did the Museum of Modern Art in New York. Blosum was featured in Artforum and Lucy Lippard’s 1966 anthology Pop Art. There was only one problem: he didn’t exist. Echoing the botanical phrase, “Vernal Blossom”, Vern Blosum was the alias of an abstract expressionist, former student of Adolph Gottlieb, „Ich besaß ein Flugzeug, das ich aufgeben musste, als ich mich entschloss, mich ganz der Malerei zu widmen und die Raten nicht mehr zahlen konnte“), kam man zur Auffassung, hinters Licht geführt worden zu sein, und das Werk verschwand im Depot. Führt man sich vor Augen, wie überzeugend und seiner Zeit voraus Blosums Fake heute wirkt, sollte diese Entscheidung wohl noch einmal überdacht werden. „Time Expired“ hat einen scharfen Zug ins Strukturell-Konzeptuelle, der, wie überhaupt Blosums Beschäftigung mit Mitteln von Ordnung, Klassifikation und Kontrolle, einen ironischen Sprung auf die Metaebene vollzieht. Seine schrägen Sprachspiele sind Vorwegnahmen von John Baldessari oder Joseph Kosuth. Hinzu kommt, dass Blosums Praxis nicht nur vorführt, wie sich die Bedeutung von Kunst abhängig vom Kontext verändert; sie steht auch für eine im Lauf der letzten hundert Jahre immer wiederkehrende Neigung von Künstlern, falsche Identitäten anzunehmen, nicht zuletzt als Reaktion auf die Zwänge des Kunstmarkts: Man spaltet sich in zwei Teile. Es dürfte kaum überraschen, wenn der große Umstürzler Duchamp auch hier als Pionier gilt. Die Bedeutung der Signatur „R. Mutt“ auf Duchamps „Fountain“ (1915) wurde in der Duchamp-Forschung vielfach aufgegriffen. Der Künstler selbst legte verschiedene Fährten, etwa indem er behauptete, „Mutt“ sei vom Comicstrip „Jeff and Mutt“ abgeleitet und von den JL Mott Iron Works in New Jersey, aus denen das Urinal angeblich stammt. Dabei scheint es weniger um Verschlüsselung zu gehen als vielmehr um die Sprengung und Verunklärung von Autorschaft. Ganz klar zeigt sich das in Duchamps hermaphroditischem Alter Ego Rose/Rrose Sélavy: Ihr Name (im Französischen ein Wortspiel zu „Eros, c’est la vie“ – Eros who to this day remains anonymous. Believing Pop Art to be an affront to painterly skill, he made some cantankerous faux-Pop, proved his point, then vanished. Meanwhile, his work, like a time-bomb, blew up in his wake. After buying Blosum’s parking meter painting Time Expired (1962), MoMA tried to attain credible biographical information about its maker from Castelli. Not satisfied (part of his bio reads, “I had a plane but lost it when I decided to devote my full time to painting and couldn’t make the payments”), they decided they’d been hoodwinked and, in 1973, placed the work into permanent storage. Probably they should revisit it, given how persuasive and prescient Blosum’s fakery now appears. Time Expired has a sharp structural-conceptual bent that reads – like Blosum’s attention to instruments of order, classification, and control – as meta. His discordant linguistic games anticipate John Baldessari or Joseph Kosuth. Additionally, Blosum’s prac- tice speaks not only to the mutability of art’s meaning in shifting contexts, but also to a periodic tendency throughout the last century for artists to assume false identities in relation, particularly, to market dictates: breaking themselves in two. Unsurprisingly, Duchamp, the great dethroner, is a pioneer here. The meaning of the signature “R. Mutt” on Duchamp’s Fountain (1915) has frequently been picked over by Duchampian scholars. The artist himself left various trails, stating that “Mutt” derived from the cartoon “Jeff and Mutt” and the urinal’s alleged source, the JL Mott Iron Works in New Jersey. The point, though, seems to be less about an encoding than an ungraspable exploding of authorship. This can be seen in Duchamp’s hermaphroditic alter ego Rose/Rrose Sélavy, whose name (a French pun on “Eros is Life”) appears on Fresh Widow (1920), who “signed” works including Anémic Cinema (1926) and Duchamp’s correspondence, and 134 VERN BLOSUM Installationsansicht / Installation view Kunsthalle Bern 2014 Photo: Gunnar Meier. Courtesy of the artist and Essex Street, New York D Planned Anticipation, 1963 Öl auf Leinwand / Oil on canvas 171 x 135 cm 135 Violation, 1962 Öl auf Leinwand / Oil on canvas 97 x 72 cm Stop, 1964 Öl auf Leinwand / Oil on canvas 170 x 121 cm Th e f ic t iona l A rt ist Rrose Sélavy, 1921. Photo: Man Ray D e r e r f u n de n e Kü nst l e r 136 RROSE SÉLAVY Stills aus / from Anémic Cinema, 1926 35mm, 7 min 137 ist das Leben) taucht in der Arbeit „Fresh Widow“ (1920) auf. Sie „signierte“ Werke wie „Anémic Cinema“ (1926) wie auch Duchamps Korrespondenz. Und wurde in Man Rays legendärer Serie von Fotografien verewigt. Hier wird das Alter Ego zum Fluchtweg und liefert einen zynischen Kommentar auf die Kunstwelt mit ihrer unseligen Kategorisierungswut. Es ist ein Stellvertreter-Ich, voller Fallstricke und Schwierigkeiten. Hier liegt auch der feine Unterschied zwischen Elaine Sturtevant und der sich in Selbstauflösung befindlichen „Sturtevant“ (die, wie Bruce Hainley schreibt, „in einigen ihrer Arbeiten ihre eigene Erscheinung als Differenz“ inszeniert habe – „gleichsam wie Rrose Sélavy“). Dieses Andere ist weder die Künstlerin noch ein irgendwie fassbares Negativ von ihr. Es ist eine Schwelle, es entzieht sich dem Zugriff; es ist ein bewegliches Ziel. So auch bei Lutz Bacher, dessen Pseudonym Teil einer gründlichen Verkomplizierung eindeutiger Identitäten ist; oder Bruce Conner, der zwei Mal seinen eigenen Tod bekannt gab, bevor er 1999 seinen Ausstieg aus der Kunst verkündete und der sowohl vor wie nach diesem „Ruhestand“ unter wechselnden Pseudonymen arbeitete, darunter Anonymus, Emily Feather, BOMBHEAD, Diogenes Lucero oder The Dennis Hopper One Man Show. So hinterließ er dankenswerterweise eine reichhaltige archäologische Fundstätte, die Kunsthistoriker und Kuratoren bis heute durchforsten. (Es gibt natürlich auch Formen der Anonymität, die rein pragmatischen Gründen dienen, wie bei den Guerrilla Girls mit ihren drei Jahrzehnten Agitation. „Die Freiheit der anonymen Rede ist in der Verfassung garantiert“, erklärten sie neulich. „Sie würden sich wundern, was einem über die Lippen kommt, wenn man hinter einer Maske steckt.“) E who was famously photographed by Man Ray. Here, the alter ego becomes an escape route, casting a jaundiced eye on the art world’s baleful categorising. It is a deputy-self predicated on slipperiness and difficulty. This is also the fine distinction between Elaine Sturtevant and the self-dissolving “Sturtevant” (who performed, as Bruce Hainley has written, “her own appearance as difference – somewhat Rrose Sélavy-like – in certain of her works”). Neither the artist nor her comprehensible negative, this other is liminal and eluding; it is a moving target. Like Lutz Bacher, whose pseudonym is part of a thorough deranging of specific identity, or Bruce Conner, who, announcing his own death twice and officially quitting art in 1999, worked before and after his “retirement” under several aliases, including Anonymous, Emily Feather, BOMBHEAD, Diogenes Lucero, and The Dennis Hopper One Man Show. What remains, gratifyingly, is a fossil Zu den geistigen Nachfahren R. Mutts zählt etwa John Dogg, ein fiktiver Künstler im Stil der Beatniks, den sich Richard Prince und der inzwischen verstorbene New Yorker Kunsthändler Colin de Land ausdachten. Seine Handvoll Ausstellungen in den 80er Jahren zeigten neominimalistische Auto- und Lastwagenreifen und Radkappen. In einem PrinceKatalog des Guggenheim Museums von 2008 werden sie einer Figur zugeschrieben, die früher kreuz und quer durch Amerika gefahren sein soll, um Autos an ihre Käufer zu überführen. 1992 wiederholte De Land diese Störenfried-Geste mit der Gründung von Art Club 2000: sieben Kunststudenten von der Cooper Union, deren Gruppenfotos den Einfluss des Marktes auf kulturelle Identität und die Gentrifizierung Manhattans thematisierten. Diese verdeckten Operationen bereiteten das Feld für Künstlergruppen, die umgekehrt unter dem Pseudonym einer Einzelperson auftraten. Zu ihnen gehört Bruce High Quality, auch ein Zusammenschluss von Cooper-Union-Absolventen. Sie geben sich als anonyme Vertreter für die Stiftung eines fiktiven „Produzenten sozialer Plastiken“, der bei den Anschlägen vom 11. September umgekommen sein soll. Oder Claire Fontaine, ein in Paris lebendes britisch-italienisches Paar, das sich als „Assistenten“ eines Ready-Made-Künstlers ausgibt, der gleichsam das leere Zentrum ihres Werks bildet. Und Reena Spaulings, die fiktive Autorin, Künstlerin und Galeristin, die von einer wieder anderen Maske ersonnen wurde, der Bernadette Corporation (die sich seit der Gründung 1994 in wechselnder Zusammensetzung um Bernadette Van-Huy, John Kelsey und Antek Walczak gruppiert). Es ist nur natürlich, dass solche falschen Identitäten immer während dramatischer Exzesse im Kunstmarkt aufkommen: field that art historians and curators still trawl. (There is, of course, also anonymity for purely pragmatic reasons, for example Guerrilla Girls’ three decades’ worth of agitation. “Anonymous free speech is protected by the constitution. You’d be surprised what comes out of your mouth when you wear a mask”, they noted recently.) R. Mutt would beget John Dogg, the fictional, Beat-flavoured artist invented by Richard Prince and the late New York dealer Colin de Land. His handful of shows in the 80s essay a blank neo-geo of car- and truck tyres and tyre covers, ostensibly made by a figure who, as a text in Prince’s 2008 Guggenheim catalogue suggests, formerly drove across America, bringing cars to their buyers. De Land would reprise this gadfly approach in 1992 with Art Club 2000: seven Cooper Union art students, their group photographs exploring market-driven cultural identity and the gentrification of Manhattan. That sniping false front, in turn, anticipates latter-day artist groups operating under single-name pseudonyms. This includes Bruce High Quality, again Cooper Union graduates, anonymously running the Foundation of a late, fictional “social sculptor” who ostensibly died on 9/11; Claire Fontaine, the Paris-based British/Italian pair who style themselves as “assistants” of a readymade artist, their work’s empty centre; and Reena Spaulings, the faux writer, artist, and gallerist dreamed up by another front, Bernadette Corporation. It’s natural that false selves rise up alongside dismaying market tumescence: 80s New York for Dogg, the early 2000s for the last-mentioned. Reena Spaulings (2004), a novel credited to Bernadette Corporation – whose evolving line-up since 1994 has centred on Bernadette Van-Huy, John Kelsey and Antek Walczak, was written, à la the open-use name Luther Blissett set up by Italian activists in 1994, collectively and anonymously by 150 people. 138 Ein vervielfachtes ich ist nicht nur in der unheilvollen Ökonomie der Kunstwelt von Vorteil D Th e f ic t iona l A rt ist © 2015 Conner Family Trust, San Francisco and Magnolia Editions, Oakland / Bildrecht, Wien 2015, Courtesy Paula Cooper Gallery, New York. © 2015 Conner Family Trust, San Francisco / Bildrecht, Wien 2015, Courtesy Paula Cooper Gallery, New York D e r e r f u n de n e Kü nst l e r BOMBHEAD Baker Day, 2003 Pigmentierter Tintenstrahldruck auf Papier / Pigmented Ink Jet Print on paper 66 x 59 cm, Ed. 10 ANONYMOUSE Untitled August 5, 2001, 2001 Tinte auf Papier / Ink on paper 17 x 20 cm 139 D e r e r f u n de n e Kü nst l e r Th e f ic t iona l A rt ist HENRY CODAX Installationsansicht / Installation view Shoot The Lobster, Gavin Brown’s Enterprise, New York 2013 140 141 D e r e r f u n de n e Kü nst l e r E im Falle Doggs im New York der 80er, im Falle der Letztgenannten in den frühen 2000ern. In „Reena Spaulings“ (2004), einem der Bernadette Corporation zugeschriebenen Roman, der aber – nach Art des 1994 von italienischen Aktivisten für jeden frei gegebenen Pseudonyms Luther Blissett – kollektiv und anonym von 150 Leuten verfasst wurde, geistert die Hauptfigur als frei flottierender Bedeutungsträger durch ein pikareskes New York. Im Vorwort heißt es, Anlass sei „der Wunsch, zwei Dinge auf einmal zu tun: etwas zurückzunehmen und sich selbst abzuschaffen“. „ Der Name Spaulings lässt an „sprawling“ (ausufernd) denken, was gut passt. 2004 wurde Spaulings auch zur Eigentümerin einer Galerie in der Lower East Side: Reena Spaulings Fine Arts, gegründet von Kelsey und seiner damaligen Partnerin Emily Sundblad. 2005 wurde sie dann auch zur Künstlerin, deren Werke im Kollektiv entstehen. In einer Ausstellung bei Chantal Crousel in Paris zeigte sie 2012 neben Radierungen von Drohnen Malereien auf Pizza-Schachteln, wie sie von der Occupy-Bewegung bei der Besetzung des Zuccotti-Parks genutzt wurden. „Diese Setzung einer autorlosen Funktion ist auf jeden Fall eine politische Entscheidung“, erklärte Sundblad 2014 der New York Times, und die Probleme, denen diese phantasmagorische Existenz entgegen tritt, wie der Starkult und die Vereinnahmung durch den Markt, bleiben weiter bestehen. Im Roman „Reena Spaulings“ gibt es die Figur eines Henry Codax, der teure monochrome Bilder malt, und seit 2011 gab es verschiedene Ausstellungen mit Werken eines öffentlichkeitsscheuen minimalistischen Künstlers des selben Namens. (In einem Online-„Interview“ mit seinem Galeristen bekam er von diesem erklärt, es gebe ihn gar nicht.) Zwar gibt es GerüchIts title figure is a floating signifier in a picaresque New York. The preface notes that “its primary content is the desire to do two things at once: to take something back and to get rid of ourselves”. Spaulings’ name suggests “sprawling”, which fits. In 2004 she also became the proprietor of a Lower East Side gallery, Reena Spaulings Fine Art, set up by Kelsey and his then-partner Emily Sundblad – and, in 2005, an artist, whose work is collaboratively made. For a 2012 exhibition at Chantal Crousel in Paris, she exhibited, alongside etchings of drones, paintings on pizza boxes of the type seen at Occupy’s occupation of Zuccotti Park. “It’s a political position, definitely, to assume this authorless function”, Sundblad told The New York Times in 2014, and the problems her phantasmagoric presence confronts – celebritization, a consuming market – have lasted. Reena Spaulings features one Henry Codax, a maker of expensive monochromes, and exhibi- te, dass hinter Codax Olivier Mosset und Jacob Kassay stecken, doch die Maske bleibt intakt; als gesichert gilt nur, dass sein Werk irgendjemandem als Tarnung dient, der sein eigenes Spiel mit Marktwerten treibt. Bei allen guten Gründen, die für die kollektiv verwaltete Einzelfigur sprechen, wirkt die Idee heute doch etwas gewollt; wenn nicht sogar manieriert, etwa wenn die Romanfigur einer Künstlerin auch im wirklichen Leben zu malen beginnt. Sie lässt an die aufregende Phase vor etwa zehn Jahren denken, als die Kunst eine Liaison mit der Literatur, vor allem experimenteller Literatur, einging. 2006 erreichte das Phänomen des Pseudonyms dann einen Höhepunkt. Die New Yorker Galerie Triple Candie zeigte Werke des verstorbenen schwarzen PostMinimalisten Lester Hayes aus den Jahren 1962–75, die sich mit dem Scheitern und Rassenfragen in der Kunstwelt beschäftigten. Und die Whitney Biennale präsentierte mit Toni Burlap einen fiktiven Kurator, erdacht von den tatsächlichen Kuratoren Chrissie Iles und Philippe Vergne. Irgendwann laufen solche Tricks leer, und genau das ist passiert. 2014 zeigte die Whitney Biennale Donelle Woolford, das weibliche schwarze Alter Ego des Künstlers Joe Scanlan. Wie die Kuratorin Michelle Grabner erzählt hat, sagte Woolford ihre Beteiligung zu, während Scanlan selbst ablehnte. Er hatte Woolford mehr als zehn Jahre zuvor erfunden, weil er fand, seine Collagen seien interessanter, wenn sie von jemand anderem stammten. Im Whitney-Museum führte die von einer Schauspielerin gespielte Woolford die Identitätsthematik noch mehr aufs Glatteis, als sie ein Stück von Richard Pryor aufführte, in dem der berühmte Comedian seinerseits jemand anderen gespielt hatte – nämlich seine langjährige Figur Mudbone. Die- tions by a reclusive minimalist artist of that name have appeared since 2011. (He’s also been “interviewed” online by his gallerist, who told his interviewee that he didn’t quite exist.) Despite rumours that Codax is Oliver Mosset and Jacob Kassay, the mask remains in place; it’s just widely assumed that the work is a fictive front for someone gaming with value. Yet despite the rationality behind the process, the idea of the collectively authored single figure feels recherché today – mannerist, even, when a novelistic artist starts painting IRL. It recalls the heady moment a decade or so ago, when art bedded down with literature, particularly experimental literature. In 2006, this lead to a peak moment for the pseudonym. The New York gallery Triple Candie exhibited the 1962–75 works of the late black post-minimalist Lester Hayes, investigating failure and race within the artworld, and the Whitney Biennial featured a fictional curator, Toni Burlap, invented by curators Chrissie Iles and Philippe Vergne. These tricks go dead, and they have. In 2014, Joe Scanlan’s black female alter ego, Donelle Woolford, also appeared in the Whitney Biennial. Curator Michelle Grabner has recalled that Woolford accepted entry; Scanlan turned it down. He’d invented Woolford more than a decade earlier, deciding that the collages he was making at the time would be more interesting if created by someone else. At the Whitney, Woolford, played by a female actor, made identity even more slippery by performing a Richard Pryor routine in which the legendary comedian played someone else – his long-standing character Mudbone. The inclusion of this work led to the withdrawal of the YAMS collective from the Biennial on the grounds of racial insensitivity. If the fictional artist feels like more of a problem than a solution in 2015, this is related to the obvious fact that self-creation is now the norm. Thanks to ubiquitous social media, we’re all ar- 14 2 JOHN DOGG Installationsansicht / Installation view „How to cook a Wolf / John Dogg“, Kunsthalle Zürich, 2008 ART CLUB 2000 Untitled (Times Square/Gap Grunge 1), 1992-1993 C-Print, 20 x 25 cm Photo: © Stefan Altenburger Photography Zurich D Th e f ic t iona l A rt ist if the fictional artist feels like more of a problem than a solution, this is related to the fact that self-creation is now the norm 143 E se Aufführung brachte das Kollektiv YAMS dazu, ihre Beteiligung zurückzuziehen, aus Protest gegen die Biennaleleitung und deren mangelndes Feingefühl in ethnischen Fragen. Wenn der fiktive Künstler uns heute eher als Problem denn als Lösung erscheint, dann weil die Erfindung des eigenen Selbst inzwischen zur Norm geworden ist. Durch die Allgegenwart der Social Media sind wir alle zu Architekten von Identitätsmasken geworden. Ein Paradebeispiel für den Einsatz des Avatars als Medium bietet der Maler Jayson Musson, dessen populärer, goldkettenbehangener Charakter Hennessy Youngman in den YouTube-Tutorials der Serie „Art Thoughtz“ in komischem Rahmen ernsthafte Themen wie Rassen- und Genderfragen oder Prekarität behandelt. Die Kehrseite des Internet mit seinen endlosen Möglichkeiten ist offensichtlich ein gewaltiger Überwachungsapparat, in dem ein „wirkliches“ Ich, das sich entlang seiner Aktivitäten vermessen lässt, zur Pflicht wird. Ein vervielfachtes Ich ist damit nicht nur in der unheilvollen Ökonomie der Kunstwelt von Vorteil, sondern in der ganzen Kontrollgesellschaft. Und so könnte man heute in Curtis Wallens „Aaron Brown“-Projekt einen paradigmatischen Fall von Fiktionalisierung sehen. Wallen begann Anfang 2013 damit, online eine Person zu erschaffen – mit einem aus fünf realen Gesichtern montierten Profilfoto, mit dem er einen Führerschein, einen Provider-Account, eine Versicherungskarte und einen Segelschein fälschte um zu prüfen, welche Spuren er damit im Netz hinterlassen würde. Dann versuchte er seinen falschen Freund verschwinden zu lassen. Während er selbst in die Bitcoin-Wirtschaft und den überwachungssicheren Browser Tor abtauchte, stellte er fest, dass Brown sichtbar und unlöschbar blieb. „Brown“ hat einen Twitter-Account, über den chitects of frontages now. Avatar-as-medium is exemplified by Jayson Musson, the trained painter whose popular, gold-chain-sporting Hennessy Youngman character addresses serious issues like race, gender, and precarity behind a comedic façade in his Art Thoughtz YouTube tutorials. The flipside of the Internet as enabler, obviously, is that it is a giant surveillance device, in which a “real” self – measurable via activities – is a liability. Thus a supernumerary self becomes not just advantageous within the art world’s pernicious economy but within a larger society of control. This is why the paradigmatic use of artistic fictionalising today might be Curtis Wallen’s “Aaron Brown” project. In early 2013, Wallen began building a person online – creating a composite photographic face from five people, getting a fake driver’s license, Comcast account, insurance card, sailing license – to see what kind of trail he left. He then attempted to make his fake friend disappear, sub- jeder posten kann. Über einen eigenen Proxy-Server kann jeder unter Browns Namen im Netz surfen und so dessen Suchchronik fortschreiben. Verwirrenderweise fällt Brown im selben Zug auseinander, in dem er sich zusammenfügt. Die strukturelle Vertracktheit der fiktiven Figur besteht darin, dass sie eine Unternehmung mit beschränkter Halbwertszeit ist, die laufend Erneuerung, Anstoß und Weiterentwicklung von außen verlangt. So dass dieses Phänomen über die letzten hundert Jahre zwangsläufig aufschimmern, verblassen und seine Gestalt verändern musste, selbst wenn die Umstände, die es notwendig machten, sich immer weiter verschärfen: normative Zwänge, der Kunstmarkt, der Überwachungsstaat, die unscharf werdenden Grenzen des Mensch-Seins. Reena Spaulings’ letzte Unternehmung in einer Ausstellung in der Berliner Galerie Neu war eine Pastiche auf Art Zombie-Abstraktion, für die sie den Putzroboter iRobot Scooba 450 schwungvolle Bilder malen ließen. Ein One-Liner? Beschwer dich bei Reena: einer fiktiven Galeristin in einer echten Galerie, die künstlerisches Handeln an eine Maschine delegiert, die ohne Sinn und Verstand Expressivität nachahmt. Was für ein verstricktes Netz – aus Marionettenfäden – wir doch weben. • Martin Herbert lebt als Autor und Kritiker in Berlin. Seine Essaysammlung „The Uncertainty Principle“ erschien 2014 bei Sternberg Press. merging himself in Bitcoin and the anti-surveillance Tor browser while noting how Brown retained ineradicable visibility. “Brown” has a Twitter account, but anyone can post using it; there’s a proxy server through which anyone can browse the web “as” Aaron Brown, creating a search history for him. He falls apart, vexingly, as he falls together. The structural complication of the fictional figure, then, is that he/she is a short-term deal, constantly requiring renovation and evolution-from-without, such that this phenomenon has necessarily glimmered, faded, and shape-shifted over the last century, even as domineering conditions that necessitate it (constrictions of the normative, the art market, and the surveillance state) only entrench. Reena Spaulings’ latest move, in their recent show at Berlin’s Galerie Neu, was to pastiche zombie abstraction by using the floor-cleaning iRobot Scooba 450 to make swirly paintings. If it’s a one-liner, blame Reena: a fictional gallerist in a real gallery, handing agency to a machine that mindlessly mimics the expressive. What a tangled web – with puppet strings – we weave. • Martin Herbert is a writer and critic based in Berlin. His collection of essays “The Uncertainty Principle” was published in 2014 by Sternberg Press. DONELLE WOOLFORD Installationsansicht / Installation view „Return“, Wallspace, New York 2009 Courtesy of the artist and Wallspace, New York D Th e f ic t iona l A rt ist Aus dem Englischen von Michael Müller D e r e r f u n de n e Kü nst l e r 14 4 Neither the artist nor her comprehensible negative, this other is liminal and eluding; it is a moving target 145