PDF 2

Transcription

PDF 2
Geselllschaft
12
az | Donnerstag, 6. Januar 2011
Die Raupenn-Mädchen
Sie tragen Kinderkleider aus dem 19. Jahrhundert. Sie rauchen nicht
Sex reden. Sie sind Lolitas.
und würden niemals über S
VON KATJA LANDOLT-SCHLEGEL*
Angela sitzt wie ein Vogel in einem
Nest. Ein kleiner, verrückter Vogel in
einem Nest aus Baumwolle und Tüll.
Sorgfältig hat sie den Stoff um sich gebettet, streicht ihn zärtlich glatt, ordnet die Falten. Die Beine hat sie übereinandergeschlagen, der eine Fuss
wippt leicht, wenn der Zug über die
Weichen wankt. Dann schaut sie aus
dem Fenster, die Hände im Schoss gefaltet, den Rücken gestrafft, die
Schnürung ihrer Jacke zwingt sie dazu. Die Landschaft fliegt vorbei, verschleiert vom Schnee.
An speziellen Tagen trägt Angela
nie Hosen. Sie trägt Röcke, die die Taille tief einschnüren, Petticoats, Blusen
mit Puffärmeln, Jacken mit Schnürung, Kniestrümpfe und Schuhe mit
dicken Sohlen und abgerundeter Kappe, die Haare kullern in grossen Zapfenlocken über ihre Schulter. An Tagen wie diesem kleidet Angela sich
wie ein Mädchen aus längst vergangener Zeit. Niedlich und zart wie eine
Puppe. Aufwendig und prunkvoll wie
eine Prinzessin. Angela ist eine Lolita.
Stil der Widersprüche
Die kindliche Verführerin, das
Naivchen, das Männer um den Verstand bringt, verbotene Fantasien
weckt. Das ist Lolita. In Nabokovs Roman, in der Vorstellung der meisten.
Lolita ist aber auch das pure Gegenteil: ein japanischer Modestil, geprägt
von viktorianischer Kindermode, opulenten Rokoko- und Barock-Kostümen.
Verspielt, aber zugeknöpft bis obenhin, ohne jeglichen Anspruch auf sexuelle Attraktivität. Erfunden von einem Mann, getragen von Frauen. Ein
Stil, der Kleidung, Farbgebung und
Körperhaltung bis ins letzte Detail
vorschreibt. Ein Stil für Mädchen, die
Angst vor dem Erwachsenwerden haben. Raupen, die sich vor der Metamorphose sträuben, nicht zum
Schmetterling werden wollen.
Angela fährt nach Zürich. Sie trifft
sich mit Lolitas aus der ganzen
Schweiz, alle um die 20 Jahre alt. Sie
kennen sich nur dank dem Internet.
In Foren schaffen sie eigene Welten,
ohne Internet keine Lolitas. Das Netz
ist der einzige Ort, um Gleichgesinnte
zu treffen, zu loben und zu frotzeln,
Tipps auszutauschen. Oder seltene Lolita-Treffen wie heute. Hier können sie
sein, wie sie sind. «Die Leute an solchen Treffen verstehen dich, wissen,
warum du so gekleidet bist. Du musst
dich nicht erklären, kannst über Dinge sprechen, über die du sonst mit niemandem reden kannst», sagt Angela
«Die Leute an den
Lolita-Treffen verstehen
dich, du musst dich
nicht erklären.»
Angela alias Pinky (26),
Lolita aus Aarau
und sortiert zum dritten Mal den Inhalt ihres Handtäschchens. Angela ist
aufgeregt, sie hat das Treffen organisiert. Erst wollen die Lolitas Schlittschuh laufen beim Dolder, danach
gibt es Kaffee und Kuchen und Geschenke. Es ist bald Weihnachten.
Treffpunkt Zürich Hauptbahnhof:
Auch wenn sie alle Lolitas sind, sind
die Mädchen, die hier eintrudeln,
doch ganz unterschiedlich: die Mädchen aus der Romandie, in Rosa und
Weiss gehüllt, zuckersüss. Die Haare
nachlässig hochgerafft und mit Samt-
kommen aus guten Familien, sind
glücklich, haben ein schönes Leben.
Diese Mädchen haben einen Cinderella-Komplex, sie sind Papas Prinzessin.
Ihr Leben ist wunderschön; warum
sollten sie zur Frau werden wollen?»
Lolitas reden über Kleider, über Kuchenrezepte, über Make-up. Nicht
über den ersten Kuss, nicht über
bändern zu Schwänzchen gebunden.
Dann die Erdigen, in geblümten Stoff
gehüllt, unaufgeregt und schlicht. Daneben die hochgeschossene Elegante
in betörendem Schwarz, mit gazellenhaften Beinen. Wie eine schweigsame
Wächterin lässt sie den Blick über die
Köpfe schweifen, nur die Wimpern
flattern. Die Lolitas sind keine optische Einheit, es gibt keine Musikrichtung, die sie eint, keine politische Einstellung – und doch sind sie eins: Eine
kleine Schmetterlings-Armee in Uniformen aus Baumwolle und Tüll, puppenhafte Kriegerinnen im Kampf gegen das Erwachsenwerden.
«Ihr Leben als Mädchen
ist wunderschön;
warum sollten sie zur
Frau werden wollen?»
Thomas Spielmann,
Fachpsychologe
für Psychotherapie
Die Zeit einfrieren
Der Stil erlaubt kein halbherziges
Getue. Eine Lolita zu sein, bedeutet,
Regeln einzuhalten. Im Internet findet
man seitenlange Abhandlungen über
Kleiderregeln und die Handhabung
von Accessoires, kiloweise Accessoires; Schirme, Taschen, Körbchen,
Ketten, Broschen, Maschen, Hütchen,
Hauben, Kronen. Schlicht ist nicht.
Das Bild muss stimmen, eine Lolita
ist ein Gesamtkunstwerk, nichts, was
man einfach überstreifen könnte. Ein
Brustvergrösserungen, nicht über Sex.
Lolitas sind keine Rebellen und keine
Feministinnen, sagt Psychologe Spielmann. Sie entziehen sich vielmehr
dem heutigen Körperfetisch, indem
sie sich ihre eigene Welt mit ihren eigenen Regeln schaffen. Eine Lolita
schreit nach Aufmerksamkeit. Keine
sexuelle, sondern die Aufmerksamkeit einer Elfjährigen, die Prinzessin
sein will.
«Ich esse Schokolade,
weil ich es mag.
Ich trage Lolita,
weil es mir gefällt.»
Laquaza (20), Lolita aus Bern
Lolita-Outfit ist durchdacht, komponiert. «You can take away a couple of
ingredients, but if you take away the
butter, the sugar and the milk, it just
stops being cake», steht zu einem Bericht zur «Anatomy of a Lolita Outfit».
Dann gibt es Regeln für Fotos; für den
Inhalt, den Hintergrund, die Bearbeitung, die Pose, sogar die Fussstellung.
Es gibt Listen für Einsteiger mit der
Lolita-Basisgarderobe,
dazu
eine
mehrseitige Farbenlehre für das stimmige Outfit. Regeln geben Halt und
Struktur, Regeln geben Sicherheit.
Das Kind braucht eine Hand, an der es
sich festhalten kann. Angela sagt, ihr
seien diese Regeln zu blöd. Heute, für
das Treffen aber, ist sie die perfekte
Lolita. Jede will so aussehen, wie sie.
Angela ist die heimliche Königin unter den Prinzessinnen.
Langsam schwankt die Entourage
durch die Bahnhofhalle, unbeeindruckt von den grossäugigen Gegenübern, die ehrfürchtig zurückweichen, unempfindlich gegen die Horde
wutschnaubender Drängler, die hinter
ihr herkriechen. Gemeinsam sind sie
stark, die gehässigen Sprüche scheinen abzuperlen, stoisch lassen sie sich
von wildfremden Wunderfitzen fotografieren. Wäre Angela alleine unterwegs, würde sie darauf bestehen, dass
man sie erst um Erlaubnis fragt.
Lolitas sind schön anzuschauen,
wollen aber keinesfalls erotisch oder
sexuell anziehend wirken. Sie wollen
nur die Zeit einfrieren. Lolitas leben in
der Zeit vor der Pubertät, wie die Raupe vor dem Verpuppen, sagt die Psychologie. Eine heile Welt ohne
Schmerz, ohne Sexualität, ohne Liebesbeziehungen, ohne Suizidversuche, weil der Freund eine andere hat.
Erwachsen werden – warum sollten
sie auch? Für den Psychologen Thomas Spielmann ist das keine ungewöhnliche Angst: «Wir leben in einer
Kultur, in der man an Oberflächlichkeiten gemessen wird, an Kleidung,
Make-up, an sexuellen Attributen.
Und dann sind da die Mädchen: Sie
Gruppenbild auf der Eisbahn beim Dolder Zürich. Die Schweizer Lolita-Szene trifft sich alle paar Monate in der rea
alen Welt. Ansonsten tauschen sie sich nur über das Internet aus.
Laquaza (20): «Ich trage Lolita, weil es mir gefällt.»
■
ZVG
ZVG
«LOLITA»: DIE GESCHIC
CHTE
«Lolita» ist ein Modetrend
aus Japan. Die Mode orientiert sich an viktorianischer Kinder- und Trauermode (während der Regentschaft der englischen
Königin Viktoria zwischen
1837 und 1901), Rokokomode (in der Zeit zwischen 1730 und 1775) und
Barockkostümen (1575
bis 1770) sowie Kleidern
aus den Fünfzigerjahren.
Erstmals tauchte der Stil
in den Siebzigerjahren
Hime (19): «Die Lolita-Kleider widerspiegeln meine Gefühle.»
KATJA LANDOLT
auf. Als geistiger Vater
ber gilt der
des Trends ab
japanische M
Musiker und
Modedesigner Mana. Er
gründete in den Neunzigerjahren dass «Lolita»-Label «Moi-mêm
me-moitié».
Mana ist auch
h Namensgeber des Trend
ds; «Lolita»
ist in Japan eiin Synonym
für Niedlichess und Puppenhaftes und
d neutral besetzt. Lolitas legen explizit
keinen Wert auf sexuelle
mkeit.
Aufmerksam
«Lolita» versteht sich als
Oberbegriff. In den letzten
Jahren haben sich mehrere «Lolita»-Stile entwickelt. Die populärsten
Stile sind Gothic Lolita
(schwarze Kleidung mit
weissen Akzenten),
Sweet Lolita (helle, pastellige Farben, verspielt)
und Classic Lolita (gedeckte Farben, schlicht
und elegant). Daneben
gibt es noch rund ein Dutzend weitere Stile. (KSC)
Angela alias Pinky (26): «Wir leben in einer Traumwelt.»
KATJA LANDOLT
Schöne, heile Welt
Eine Lolita trinkt kein Bier und
raucht nicht, eine Lolita trinkt Tee
und isst Kuchen. Eine Lolita sitzt gerade. Eine Lolita lächelt, wenn sie auf
der Strasse schief angemacht wird. Eine Lolita hat viel vom bürgerlichen
Idealbild einer Frau im viktorianischen Zeitalter: ein hochmoralisches
und geistig reines Wesen, unterwürfig. Doch diesen Vergleich lassen sie
nicht gelten. Die Lolitas sehen sich als
selbstbewusste, mutige Frauen. Wer
in solchen Kleidern öffentlich auftrete, könne nicht unterwürfig sein, ganz
einfach. Simple Antworten; wie auch
die auf die Frage nach dem Warum.
«Hobby», mehr nicht. Laquaza, eine
Lolita aus Bern, sagt: «Ich esse Schokolade, weil ich es mag. Ich studiere Physik, weil es mich interessiert. Ich
zeichne, weil ich das gerne tue. Und
ich trage Lolita, weil es mir gefällt.» Irgendwie zu simpel. Auch bei Angela
tönt es nicht anders: «Für mich ist Lolita ein Modetrend. Ein Stil halt.» Es
sind die Kleider, die ihr gefallen, die
Silhouette mit der eingeschnürten
Taille. Mehr nicht? Keine tieferliegenden Gründe, keine Ängste, die sie verdrängen will? «Es ist eine Traumwelt,
in der wir leben. Das gefällt mir auch.
Reicht das?» Angela saugt an ihrem
Lippenpiercing und wendet sich ab.
Angela nennt sich in der Szene Pinky. Ein Spitzname von früher-früher,
als die Haare noch farbig waren. Heute
sind sie weiss-blond, ihr Pony läuft zur
Nasenwurzel hin spitz zusammen.
Heute würde sie sich anders nennen.
Vor sieben Jahren hat Angela den Stil
in der Schweiz bekannt gemacht. Lolita
ist ihre Möglichkeit, kreativ zu sein,
sich selber zum Kunstwerk zu machen.
Und ihr tägliches Brot: Angela lebt von
Lolita, näht Kleider für ihr eigenes Label, führt gemeinsam mit ihrem
Freund einen kleinen Laden in der Aarauer Altstadt. Sie näht, er verkauft. Es
reicht gut zum Leben; die Lolitas geben
viel Geld für ihre Mode aus.
Der Kinderwelt nah
Der Wind beim «Dolder» oben ist
garstig. Unbarmherzig fährt er um die
dünn bestrumpften Beine, unter die
aufgebauschten Röcke. Die Schneeflocken zergehen auf der rosigen Haut,
Eiskristalle krallen sich in den Haaren
fest. Aber es scheint die Lolitas nicht
zu stören. In ihrer Welt ist es nicht
kalt, in ihrer Welt tut nichts weh.
Runde für Runde rutschen sie über
das aufgeraute Eis, halten sich an den
Händen, verhaken sich in den Ellbogen. Runde für Runde ziehen sie um
den Weihnachtsbaum in der Feldmitte, kleine zeitfremde Wesen zwischen
neonfarbenem Jetzt.
Die Gazellenbeinige sitzt abseits
auf einer Bank. Sie nennt sich Hime,
«Prinzessin» auf Japanisch. Hime ist
ein Mann. Seit er zehn Jahre alt ist,
schlüpft er in Frauenkleidung, seit
zwölf ist er eine Lolita. Hime fühlt
sich weder als Mann noch als Frau,
deshalb. «Mit Lolita kann ich mich
identifizieren», sagt er. Für ihn ist Lolita nicht entweder oder, auch nicht der
Ausdruck. «Eine Lolita ist herzig und
doch düster und geheimnisvoll. Das
widerspiegelt meine Gefühle.» Und Lolita stellt keine weiblichen Attribute
in den Vordergrund. Wenn er sich so
kleidet, fühlt er sich der Kinderwelt
näher. Hime möchte ein Kind bleiben.
Er fürchte sich vor dem Älterwerden.
Warum? «Ich habe Angst davor meine
androgynen Gesichtszüge, die kindliche Fantasie zu verlieren.» Es ist die
Angst davor, zum Mann zu werden.
Tage später. Angela arbeitet in ihrem Atelier; ein Luftschutzkeller in ei-
«Ich habe Angst davor,
meine androgynen
Gesichtszüge, meine
Fantasie zu verlieren.»
Hime (19), Lolita aus Basel
nem Aarauer Geschäftsgebäude. Es ist
ein Königreich für Entdecker; Konfitüregläser voller Knöpfe, Stangen voller
Bänder aus Samt und Seide, Regale
voller Stoffe, Wände voller Skizzen,
Poster und Fotografien. Der Teppich
ist grasgrün, wenigstens ein Hauch
Natur in dem fensterlosen Raum. Im
Hintergrund knattert die Lüftungsanlage. Hier sitzt Angela zehn bis zwölf
Stunden am Tag. Sie ist ein Workaholic, kann nicht nichts tun. So schneidert sie bis zu zwei Kleider pro Tag.
Ein Kleid kostet rund 600 Franken, ihre Auftragsliste ist bis Februar gefüllt.
Keiner hat ihr gezeigt, wie man näht.
Sie tut es einfach.
Energisch fährt Angela mit der
Schere durch den Stoff, würgt Nieten
in die Löcher. Sie füsselt auf ihrem
Rollhocker zwischen Tisch und Nähmaschine hin und her. Jetzt ist sie
nicht mehr Prinzessin, jetzt ist Alltag.
Geparden-Strumpfhosen statt Kniesocken, derbe Nieten-Stiefel statt pelzbesetzter Schühlein, Shirt und Mini statt
Rüschenbluse und Petticoat. Prinzessin Angela ist wieder Angi, die Lolita
hängt im Kleiderschrank. Auch die
Kunsthaar-Lockenmähne ist ab, der
Pony fällt ihr schief über die Augen.
Angela ist auch als Angi schön, aber
ihren Glanz hat sie mit den Lolita-Kleidern abgelegt. Sie ist stolz, selbstbewusst, aber den Rücken hält sie nicht
mehr gerade. Auch die Wangen sind
nicht mehr gepudert; das Gesicht hat
das Puppenhafte verloren.
* Die az-Redaktorin absolviert die Diplomausbildung Journalismus am MedienAusbildungs-Zentrum (MAZ) in Luzern.
Dieser Artikel ist ihre Diplomarbeit.
Eine Lolita-Bildergalerie samt Video gibt es
online.