aber welche »Fluchtwährung«?

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aber welche »Fluchtwährung«?
8–201
3
25 JAHR
1
98
BUCH
HR
CO
E € JA
2013
Dieses Buch widmen Ihnen
Erste Bank und Sparkassen
25. Ausgabe, Jahrgang 2013
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Wien, im Jänner 2013
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Impressum
Herausgeber:
Österreichischer Rundfunk,
Würzburggasse 30, 1136 Wien
Erste Bank der Oesterreichischen Sparkassen AG,
Graben 21, 1010 Wien
auch für die Inhalte der Erste Bank
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Eigentümer und Verleger:
Dr. Peter Müller Buch- und Kunstverlag Ges. m. b. H.,
Kärntnerstraße 13–15, 1010 Wien
Dr. Harald Hohenberg
Redaktion und für den Inhalt verantwortlich:
Redaktion des ORF-TV-Wirtschaftsmagazins € CO
Günther Kogler
p.a. ORF, Würzburggasse 30, 1136 Wien
Gestaltung & Layout: Sebastian Traxl, Wien
Lektorat: Werner Egger, Graz
Druck: Druckerei Seitz Ges. m. b. H., 2201 Gerasdorf
Verlagsort: Wien
Herstellungsort: Wien
www.erstebank.at
www.orf.at
Inhalt
Turbulente Jahre für den Euro: Von Lügnern, Betrügern und Fantasten
Günther Kogler 15
Steuern, Gebühren & Co.: Das ist neu im Jahr 2013
Christina Kronaus 21
Auf (Kon-)Kurs: Warum wir Pleite-Banken retten
Bettina Fink 27
Allheilmittel ESM? So wird Europas Geldmaschine angeworfen
Beate Haselmayer 31
»Eherne Reserve«: Dem Gold der Österreicher auf der Spur
Bettina Fink 37
Nix wie raus aus dem Euro – aber welche »Fluchtwährung«?
Katinka Nowotny 41
Ratingagenturen: Die Spur der Verwüstung quer durch Europa
Ilja Morozov 47
Der Sündenfall der EZB – wenn nur noch die Druckmaschine hilft
Katinka Nowotny 53
Das Imperium Goldman Sachs – oder: Die Mönche des Geldes
Günther Kogler 59
Wenn Spaniens Blüten blühen, wird das teuer für Europa …
Hans Hrabal 73
»Dolce vita« ist vorbei: Italien wird von der Krise eingeholt
Sabina Riedl 81
Unsere teuren Parteien und der ungenierte Griff in den Steuertopf
Ilja Morozov 85
Das Werben um Betriebe: Noch ist Österreich »liebenswert«
Katinka Nowotny 91
Unser Gehalt, unser Geheimnis: So viel »Verdienst« ist normal
Bettina Fink 95
Ein totaler Bildausfall – der Absturz des Weltkonzerns Kodak
Sabina Riedl 99
Reha statt Rente: Die »Invaliditätspension neu«
Ilja Morozov 105
Österreichische Privatstiftungen: Unsere letzten Steuerparadiese?
Beate Haselmayer 111
Red Bull: Der Sprung in die Werbe-Stratosphäre
Hans Wu 117
6
Panzer, Kanonen und Pistolen – Österreichs »geheime Industrie«
Ilja Morozov In Linz beginnt’s: »Die Dummen gegen die Unmoralischen …«
Hans Hrabal Franzl, Schützi und Konsorten: Eine »eingtragene Partnerschaft«
Günther Kogler Unser teures Bier: Wenn Hopfen und Malz zu barem Geld werden
Philipp Jauernik Die neue Frauenpower: »Schatzi, was machen wir mit dem Geld?«
Angelika Ahrens »Die Voest« – vom Stahlkocher zum hippen High-Tech-Konzern
Sabina Riedl Der edle Stoff, das wunderbare Tuch – eine »Jungfrau« verwöhnt
Angelika Ahrens Erfolg auf zwei Rädern – KTM auf Weltmeister-Kurs
Sabina Riedl Goldenes Handwerk: Maßschuhe aus Frauenhand für »Jedermann«
Angelika Ahrens Wirtschaftsfaktor Jagd – nur leider »ist der Ruf im Arsch«
Philipp Jauernik Google, Apple & facebook: Sind wir machtlose Nutzer?
Hans Wu 25 Jahre €CO-Jahrbuch: So hat sich die Welt verändert
Franz Hlavac Bankgeschäft vor 25 Jahren – wo waren eigentlich Sie damals?
Andreas Treichl im Gespräch 25 Jahre Wiener Börse – Rückblick, Status und Ausblick
Franz Gschiegl Der Euro – scheitert Europa an seiner eigenen Währung?
Rainer Münz und Bernadett Povazsai-Römhild Osteuropa: Überholspur – oder doch nur Abstellgleis?
Zoltan Bakay Geldanlage? Klar – aber wohin mit dem Ersparten?
Thomas Schaufler 123
129
135
143
149
151
157
159
165
169
175
183
206
212
223
234
247
7
Liebe Leserinnen und Leser!
»Österreich hält sich im europäischen Vergleich recht gut«, das war
im Jahr 2012 fast durchgängig und allerorts zu hören. Einerseits
gilt das für die vergleichsweise erfreulich geringe Arbeitslosigkeit
ebenso wie die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie oder etwa
die Tourismuswirtschaft. Aber seit Herbst 2012 war klar: Wir können
uns von den Wachstumsproblemen der europäischen Industriestaaten
nicht gänzlich abkoppeln. Für das laufende Jahr wird es schon als Erfolg
gelten, wenn das reale Wirtschaftswachstum nahe an die Ein-ProzentMarke heranreicht. Die europaweite Staatsschuldenkrise wirkt weiterhin
als Wachstumsbremse. Doch eine Fortsetzung der Konsolidierung der
Staatshaushalte ist unausweichlich. Das wird wohl auch eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre bleiben.
Da die Zentralbanken die Leitzinsen nach wie vor sehr tief halten,
herrscht auch in der Eurozone ein historisch niedriges Zinsniveau.
Gut für die Investoren, gleichzeitig jedoch eine schmerzhafte »Dürre­
periode« für Sparer und Anleger, die derzeit bestenfalls darum kämpfen durch eine längerfristig konzipierte Veranlagungsstrategie den
Realzinsverlusten zu entgehen. Aber auch die Kreditwirtschaft steht ob
diverser Regulierungen vor bisher nicht gekannten Herausforderungen.
Auch wenn in den vergangenen Monaten Banken und Finanzdienstleister
in der öffentlichen Meinung nicht gerade mit den höchsten Beliebt­
heitswerten zu kämpfen hatten: Langsam gewinnt wieder die Einsicht
Oberhand, dass nur leistungsfähige Banken, intakte Kapitalmärkte
und wiederaufkommendes Vertrauen in das Finanzwesen die aktuellen
Probleme überwinden helfen.
In der Sparkassengruppe bleiben jedenfalls Sicherheit und ein erhöhter
Qualitätsanspruch die Leitmotive. Aber immer wenn die Märkte zu stag­
nieren drohen ist Innovation das beste Mittel, um sich vom Mitbewerb
positiv abzuheben. Deshalb setzten wir gerade in wirtschaftsschwachen Zeiten, in der viele Menschen noch immer verunsichert sind, auf
innovative Produkte. Der Kundennutzen steht absolut im Mittelpunkt
aller Überlegungen. Mit mobilen Services über Smartphones und Tablets
aber auch im persönlichen Gespräch, wenn es um beratungsintensive
8
Produkte oder Finanzierungen geht. Bei einem anhaltend niedrigen
Zinsniveau ist es beispielsweise sehr wichtig, Sparern neue, mittel- und
langfristige Veranlagungsalternativen zu eröffnen, um sie vor einem
Substanzverlust zu bewahren. Dabei rücken etwa Investmentfonds
oder gemanagte Vermögensverwaltungen wieder in den Fokus des
Anlegerinteresses.
Eines steht jedenfalls außer Streit: Bei den aktuellen Rahmen­be­d ing­
ungen braucht es eine intensive Auseinandersetzung mit den Themen
Veranlagung und Finanzierung. Das professionelle Eingehen auf individuelle Bedürfnisse ist jetzt gefragt. In diesem Sinne soll auch das diesjährige €CO-Jahrbuch – übrigens die 25. Ausgabe in Folge – Anregung
und Leitfaden zugleich sein. Denn eines ist gerade in Zeiten schwachen
Wirtschaftswachstums und turbulenter Finanzmärkte sehr wichtig:
Reservenbildung trotz gedrückter Realverzinsung, Sicherheit in der Wahl
eines vertrauenswürdigen Finanzpartners und längerfristiges Denken in
Sachen der eigenen Finanzen. Um es klarer zu formulieren: Jetzt gilt es
alles zu unternehmen, um sich für die Zukunft gut aufzustellen. Denn
eines ist – allen aktuellen Unsicherheiten zum Trotz – gewiss: Der
nächste Aufschwung kommt bestimmt!
Wir wünschen Ihnen im Namen der Erste Bank und aller österreichischen Sparkassen mit diesem Buch eine leichtere Suche nach den für
Sie b­ esten Entscheidungen.
Ihr Christian Aichinger
Präsident des Österreichischen Sparkassenverbandes
Ihr Thomas Uher
Vorstandssprecher der Erste Bank Oesterreich
Thomas Uher, Christian Aichinger
9
Von links nach rechts:
Vordere Reihe:
Angelika Ahrens, Katinka Nowotny, Sonja Titz
Hintere Reihe:
Mag. Hans Tesch, Günther Kogler, Mag. Ilja Morozov
10
Von links nach rechts:
Vordere Reihe:
Sabina Riedl, Hans Wu, Mag. Bettina Fink
Hintere Reihe:
Dr. Christina Kronaus, Hans Hrabal, Mag. Beate Haselmayer
11
Von Schutzschirmen, Hebeln
und von stotternden Motoren
von Mag. Hans Tesch
Die Krise verlangt nach plausiblen Erklärungen. Diese werden
immer öfter in Form von Metaphern geliefert. Bilder ersetzen Worte.
Diese Gleichnisse wirken besser als langwierige Begründungen. Ein
»Schutzschirm« gegen unberechenbare Finanzmärkte wird positiv gewertet. Gegen einen »Hebel«, mit dem sich das eingesetzte Rettungskapital
der Euro-Staaten vervielfachen lässt, kann man doch nicht sein.
Allerdings: Mit Metaphern werden Inhalte abgewandelt, oft verfälscht.
Wir vom ORF-Wirtschaftsmagazin €CO bemühen uns, diese Bilder ins
rechte Licht zu rücken, richtig zu deuten. Würde anstelle des »Hebels«
das Symbol eines »Ballons« stehen, der stärker aufgeblasen wird, ist die
Bewertung eine andere. Ein Hebel gilt als stabiles Hilfsinstrument; ein
Ballon kann platzen.
Dieses Beispiel zeigt, dass man mit den passenden Metaphern die
Gefährlichkeit verniedlichen und ausblenden kann, die in bestimmten
Kriseninstrumenten steckt. Das gilt auch für den »stotternden Motor«,
den man als Vergleich heranzieht, wenn die Konjunktur im Euro-Raum
nicht richtig läuft. Sofort fällt einem ein, dass zu wenig Treibstoff im
Tank sein könnte, also zu wenig Geld zur Verfügung steht. Dass ein
stotternder Motor aber auch auf einen gravierenden Schaden hinweisen
kann, daran denkt vorweg kaum jemand.
In all diesen Fällen ist es unsere Aufgabe als Wirtschaftsjournalisten,
auf die mögliche andere Deutung der Bilder hinzuweisen. Auch wenn
die handelnden Akteure es nicht immer gerne sehen.
Metaphern können im Einzelfall auch ganz entlarvend sein. So hat
der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble zum Einsatz von
Rettungsgeldern für Griechenland Ende November gemeint: »Wir fahren
auf Sicht.« Das heißt doch, dass die Rettungsgasse nicht frei sein muss;
dass wir möglicherweise bremsen müssen, bevor es kracht.
12
In unseren Sendungen machen wir Inhalte transparent und versuchen,
die Fakten hinter den Metaphern bloßzulegen. Wir möchten den €COZusehern den Durchblick erleichtern. Um selbst eine Metapher zu strapazieren: Wir versuchen die glatten Oberflächen zu entspiegeln, so dass
die Wahrheiten dahinter sichtbar werden. Sei es bei der Euro-Rettung,
bei den Hintergründen für die Staatsschulden oder bei den Angeboten
für die private Geldanlage.
Dieses €CO-Jahrbuch ist mit ein Teil unseres Bemühens, objektiv zu
informieren, plausibel aufzuklären und allen Interessierten zu helfen,
die jeweils richtige und passende Entscheidung für ein wirtschaftliches
Fortkommen zu treffen.
In diesem Sinne viel Nutzen wünscht
Ihr
Hans Tesch
Sendungsverantwortlicher
ORF-Wirtschaftsmagazin €CO
PS: Das €CO-Jahrbuch erscheint heuer in einer Jubiläumsedition, in
größerem Format und mit noch mehr Informationen. Mein Dank an alle
Mitwirkenden.
13
Große Worte –
meist sogar richtige
gesammelt von Günther Kogler
»Griechenland wird als Erstes verlangen, von
Deutschland gerettet zu werden.«
Margaret Thatcher erfährt, dass es die Europäische Union mit der
Einführung einer gemeinsamen Währung ernst meint.
Das war im Jahr 1993.
»Der Euro wird ein brennendes Haus ohne Ausgänge sein.«
William Hague, Parteichef der britischen Tories, im Jahr 2001.
»Wir hätten da noch ein paar Fragen«
Die deutsche Wochenzeitung »Die Zeit« zweifelt den Spruch des
Verfassungsgerichtshofes in Karlsruhe an, der den Fiskalpakt
und den »Europäischen Stabilitätsmechanismus« (ESM) als
»mit dem Deutschen Grundgesetz weitgehend vereinbar«
beurteilte.
»Solange ich lebe, wird es in der europäischen
Schuldenkrise keine Eurobonds geben.«
Möglicherweise lebensverkürzende Ansage der deutschen
Bundeskanzlerin Angela Merkel.
»Wer möchte sich schon in einem brennenden Hotel einmieten?«
Thora Anorsdottir, isländische Präsidentschaftskandidatin,
warnt ihre Landesleute vor einem Beitritt zur Euro-Zone.
»Auch wir bescheißen gelegentlich.«
Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble
nimmt Griechenlands Politiker in Schutz.
»Er hat erzählt, dass er Nierensteine hat, direkt
aus dem Krankenhaus kommt, enorme Schmerzen hat.«
Finanzministerin Maria Fekter löst bei Euro-Gruppen-Chef
Jean-Claude Juncker den nächsten Fieberschub aus.
14
Turbulente Jahre für den Euro: Von
Lügnern, Betrügern und Fantasten
von Günther Kogler
Ist der Euro aus dem Gröbsten heraus? Nein. Steht er Anfang 2013
besser da als Anfang 2012? Nein. Sind wenigstens die Risiken
kleiner geworden, die die europäische Gemeinschaftswährung
bedrohen? Ein letztes Mal: nein. Das Positive am letzten Jahr
war, dass die Union Instrumentarien gefunden hätte, die das
Überleben des Euro ermöglichen könnten. Das Negative an 2012
war: Es gibt sie noch immer, die Lügner, Betrüger und Fantasten
in den so genannten europäischen Eliten.
Wir wollen das alte Jahr nicht als verloren abschreiben – anders, als
das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« im September 2011 prophezeite, hat der Euro auch das Jahr 2012 überlebt. Das war schon eine
beachtliche Leistung. Die Zone der Gemeinschaftswährung umfasst
auch immer noch siebzehn Mitgliedsländer – diese Leistung war noch
beachtlicher. Und: Unter viel Streit, endlosen Debatten und unzähligen, nervtötenden Gipfeltreffen hätten die Staatenlenker auch Instrumentarien gefunden, die das weitere Überleben des Euro auch gewährleisten könnten. Über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)
wird dazu unglaublich viel Geld in die Hand genommen, über die
Europäische Zentralbank (EZB) wird auf die Finanzmärkte eingewirkt,
wie das in diesem Ausmaß in der alten Welt noch nie der Fall war.
Also: Alles paletti? Leider nein. Die Bedrohungsbilder sind dieselben
geblieben, schlimmer noch, es sind neue dazu gekommen. Als EUWährungskommissar Olli Rehn Anfang November 2012 in Brüssel vor
die Presse trat, um einen wirtschaftlichen Ausblick auf die kommenden Euro-Jahre zu geben, musste er ein Bild zeichnen, in dem Europa
das Wasser bis zum Hals steht. Nur, wenn alles gut geht, schafft es die
Union bis zum Jahresende aus der Rezession. Nur, wenn wirklich alles
gut geht, rettet sich Europa bis zum Jahr 2014 wieder in eine Phase
eines Mini-Wirtschaftswachstums. Und nur, wenn wirklich, also wirklich alles gut geht, wird die Zahl der Euro-Mitgliedsländer dann immer
noch dieselbe sein wie heute.
15
Abseits der Schönredner rundum die Fakten. Die Budget- und Schuldenlage vieler Staaten in der Union und vor allem auch in der E­ uroZone ist dramatisch. Spanien wird sein Budgetdefizit von heuer acht
bis zum Jahr 2014 nur auf 6,4 Prozent des Brutto-Inlandsproduktes
drücken können. Zur selben Zeit steigt die Verschuldung des großen
Landes von derzeit 86 Prozent der Wirtschaftsleistung auf fast einhundert Prozent.
Italien bereitet nicht weniger Sorgen. Wenigstens stabil bleibt unser
südlicher Nachbar, mit dem Österreich so viele Wirtschaftsbeziehungen unterhält – aber auf welchem Niveau: Schon heute ist Italien mit
126 Prozent der eigenen jährlichen Wirtschaftsleistung verschuldet.
Das wird sich, wenn alles gut geht, bis zum nächsten Jahr um genau
null verändern. Aber all das, was die »Expertenregierung« Mario Monti
an harten Sparprogrammen politisch auf die Reihe gebracht hat, all
das fließt direkt in die Abdeckung der Ansprüche der internationalen
Gläubiger.
Und Griechenland? Griechenland ist in allen Modellrechnungen der
Wirtschaftsforscher aus der Abteilung Akutproblem längst in die Abteilung Dauerproblem verlegt worden. Als 2009 die ersten Hilfszahlungen argumentiert werden mussten, lautete die Begründung noch:
» ... damit Griechenland im Jahr 2013 wieder auf den Kapitalmarkt zurückkehren kann.« Die optimistischsten Prognosen heute rechnen mit
einer Rückkehr von Hellas auf besagte Kapitalmärkte frühestens im
Jahr 2020; das sind, wie gesagt, die Projektionen, in denen wirklich,
wirklich, aber auch wirklich alles gut geht.
An Problemfällen also mangelt es in der Euro-Zone nicht. Portugal
könnte noch angeführt werden, das auch durch ein böses wirtschaftliches Tal geht; selbst Frankreich wird mittlerweile als Wackelkandidat
angesehen und niemand in Berlin will sich ausmalen, was passiert,
wenn Paris seine Probleme – und die bestehen nicht nur in der Automobil-Industrie – nicht in den Griff bekommt.
Die größte Hürde für die so genannten politischen Eliten besteht in
der Akzeptanz der Bevölkerungen. Daran sind sie selbst schuld. Wer
beobachtet hat, welche Massen von Menschen im November des alten
16
Wirtschaftswachstum (in Prozent, zum Vorjahr gerechnet)
2012
2013
2014
Deutschland
0,8
0,8
2,0
Österreich
0,8
0,5
1,7
Europ. Gemeinschaft (EU 27)
-0,3
0,4
1,6
Großbritannien
-0,3
0,9
2,0
Euro-Länder (Euro 17)
-0,4
0,1
1,4
Spanien
-1,4
-1,4
0,8
Italien
-2,3
-0,5
0,8
Portugal
-3,0
-1,0
0,8
Griechenland
-6,0
-4,2
0,6
Quelle: Kommission der Europäischen Gemeinschaft, OeNB
Jahres auf die Straßen gingen, von Madrid bis Athen, von Lissabon bis
Rom, um gegen die Politik ihrer jeweiligen Regierungen zu demonst­
rieren, dem musste klar werden: Hier ist nicht nur der Feldversuch
Euro in Gefahr, hier wackelt das Großprojekt Europäische Union.
Wunder ist es keines. Jeder Zehnte (!) findet im Raum der Union keine
Arbeit. In absoluten Zahlen: 26 Millionen EU-Bürger sind ohne Job.
Bis zum Jahr 2014 werden, so die Ökonomen, weitere 2,6 Millionen
dazu kommen. In Ländern wie in Griechenland und Spanien wird die
Arbeitslosenrate bei 24 bzw. 26 Prozent verharren; ganz zu schweigen
von den Jugendlichen. In den genannten Krisenländern beträgt die
Jugendarbeitslosigkeit brutale 50 Prozent. So gut ausgebildete junge
Leute wie nie kommen nicht und nicht auf dem Arbeitsmarkt unter.
Lange wird sie nicht mehr ticken, diese Zeitbombe.
Es schließt sich der Kreis zum kleinen Österreich. Wer sich unsere Ziffern vor Augen führt, dem muss – zwangsläufig beinahe – das Bild
der kleinen Nussschale in rauer See erscheinen. Ein Wirtschaftswachstum wie jenes des großen Euro-Motors Deutschland; zwischen »good
old germany« und der Alpenrepublik liegen in den Fakten und den
Projektionen maximal 0,1 Prozent. Eine Verschuldung, in Prozent der
Wirtschaftsleistung gerechnet, die besser liegt als jene Deutschlands
17
Arbeitslosenrate (in Prozent)
2012
2013
2014
Österreich
4,5
4,7
4,2
Deutschland
5,5
5,6
5,5
Großbritannien
7,9
8,0
7,8
Europ. Gemeinschaft (EU 27)
10,5
10,9
10,7
Italien
10,6
11,5
11,8
Euro-Länder (Euro 17)
11,3
11,8
11,7
Portugal
15,5
16,4
15,9
Griechenland
23,6
24,0
22,2
Spanien
25,1
26,6
26,1
Quelle: Kommission der Europäischen Gemeinschaft, OeNB
(ein gröberes Sparpaket wird noch vonnöten sein, sonst bleibt der Abstand nicht groß genug …). Das Highlight schlechthin: die Rate der
Arbeitslosen. Von einer Quote von 4,5 (und in der Projektion: 4,7) Prozent können andere Euro-Länder nur träumen.
Und doch, auch hierzulande wachsende Unzufriedenheit, wachsender Frust. Heuer ist ein großes Wahljahr und der Regierung sei ins
Stammbuch geschrieben, was Wolfgang Bachmayer und sein Meinungsforschungsinstitut OGM zum Jahresende 2012 für €CO erhoben haben:
Mehrheitlich fühlt sich die Bevölkerung bereits unterfordert. Sie
glaubt den Lügnern, Betrügern und Fantasten auch im eigenen Land
nicht mehr.
Wer verfolgt hat, wie die Österreicher und Österreicherinnen in den
vergangenen Jahren mit ihrem Geld und mit ihren Vermögen umgegangen sind, wusste zu deuten, wie groß das Vertrauen in die g­ emeinsame
Währung noch ist. Wer viel Holz hatte, rettete sich in I­ mmobilien; wer
weniger auf der Kante hatte, steckte es in den Konsum.
Nicht mit den Füßen wurde abgestimmt über den Euro, aber über das
Konto. Gold? Hhmm, ein bisschen. Das Sparbuch? O.k., aber rechnen in Achtel-Prozenten ist mühsam. Der Bausparer? Auch nicht das
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Gelbe vom Ei, aber vielleicht, wenn wir uns wieder trauen, brauchen
wir einen »Anspruch« auf einen Kredit. Die Börse? Real gar keine so
schlechte Performance, aber wer war drin? Die Profis, die »Institutionellen« – für die einfache Kundschaft war die Börse bloß ein Trauerspiel. Private Vermögensverwaltung? Machen wir selber. Neue Finanzprodukte? Igitt, so viele Betrugsfälle in den letzten Jahren, von denen
ein Gutteil juristisch noch nicht einmal angegangen wurde.
Am Ende die letzten Fakten. Österreich hilft, wie alle anderen ­EuroLänder, Griechenland nicht nur mit Barem, sondern auch mit Man-Power. Direkt der EU-Kommission unterstellt befinden sich permanent
Beamte des Wiener Finanzministeriums in Athen, um Griechenland
beim Aufbau einer funktionierenden Finanzadministration zu ­helfen.
Diese »Task-Force«, die hauptsächlich aus Deutschen, Franzosen und
Italienern besteht, weiß Abenteuerliches zu berichten. Wer den
­Erzählungen der internationalen »Task-Force«-Mitglieder genau zuhört,
kann gar nicht anders als Griechenland als »failed state« ­einzustufen.
Unternehmensbesteuerung? Mittels Karteikarten. Umsatzsteuer­
erhebung? Keine Software. Korruption? Na klar, nicht zu wenig.
Dabei hätte eine Meldung, sie ging im Wust der vielen Griechenland-­
Depeschen des alten Jahres unter, viele hellhörig werden lassen m
­ üssen.
Christine Lagarde, die Chefin des Internationales Währungsfonds IWF,
brachte als Begrüßungsgeschenk für die neue griechische Regierung im
Frühherbst des Jahres 2012 eine kleine Liste nach Athen mit: Darauf
standen Namen, Daten und Kontonummern von griechischen Staatsbürgern, die ihr Scherflein zu Hause nicht leisten wollten, weil sie ihr Vermögen längst in das »sichere Ausland« transferiert hatten; Schweizer
Banken, Liechtenstein’sche Stiftungen, »Trusts Ltd’s« auf den Kanal­
inseln Jersey und Guernsey zwischen England und Frankreich.
Allein schon die Tatsache, dass die IWF-Chefin höchstpersönlich ein so
­hochbrisantes Papier überbringt (und offenbar darüber verfügt), sollte
nachdenklich stimmen. Viel nach­denklicher jedoch stimmte einen
Journalisten die Meldungen der »Task-Force« dazu: »Ja, jetzt weiß die
griechische Finanzadministration Bescheid. Das Problem ist: Sie verfügt über keinen alten Datenbestand. Sie beginnt quasi bei null. Bis
das aufgearbeitet ist, vergehen Jahrzehnte.«
19
Zum Politischen: Europa ist sich herzhaft uneins. Diametraler könnten
die Lösungsansätze für die Krise gar nicht sein, als sie sich Ende des
Jahres 2012 darstellten. Die einen, die noch halbwegs Wohlhabenden,
pochen weiter aufs Sparen und Haushalten bei den Defizitländern, die
anderen, die zunehmend Klammen, fordern immer heftiger die »Vergemeinschaftung der Schulden«. Und beide Pol-Enden haben Sorge an
der Macht zu bleiben. In den »Geber«-Ländern sind neue Belastungen
für die Steuerzahler »nicht mehr zumutbar«, in den »Nehmer«-Ländern
gilt dasselbe für neue Sparprogramme.
Dazwischen blüht das Biotop Europäische Zentralbank. Die in Frankfurt ansässige ursprüngliche »Inflationswächterin« und »Hüterin des
Euro« ist als einzige handlungsfähige Institution des Euro-Raumes
übrig geblieben. Der Preis dafür ist hoch: ein Land, eine Stimme. Und
so wird im Vierzehn-Tage-Rhythmus abgestimmt, worüber sich die 17
Finanzminister und 17 Regierungschefs der Euro-Zone nie einig würden: über Anleihenankäufe aus den Schuldnerländern, über Milliardenhilfen an Krisenbanken, über die Geldmenge und den Refinanzierungssatz für Kreditinstitute insgesamt.
Das wirklich besondere an der EZB ist freilich nicht der Umstand, dass
sie handelt. Es ist die Tatsache, dass niemand in Europa mehr weiß,
wer wie mit dem Geld der Steuerzahler umgeht. Was in Frankfurt beschlossen wird, bleibt geheim.
Alles in allem: eine vertrackte Situation. Es ist zu vermuten, dass ein
Aufbrechen der Euro-Länder teuer würde. Fällt ein Land, springt der
Funke der Destruktion auf das nächste über; gefährdet waren und
sind immer die allzu Sorglosen. Es ist aber auch Fakt, dass kein Bürger in jenen Ländern Europas, die bewusst nicht dem Euro beigetreten
sind, aus genau diesem Grund tot umgefallen wäre.
Also: Der »Feldversuch Euro« hält an. Es gab und gibt unendlich viele
gute Gründe dafür ihn zu unternehmen. Er kann gut ausgehen. Aber:
Er muss nicht zwangsläufig gut gehen. Vor allem: Er muss nicht gut
gehen für alle, die von Anfang an mitmachen wollten.
20
Steuern, Gebühren & Co.:
Das ist neu im Jahr 2013
von Dr. Christina Kronaus
Das heurige Wahljahr 2013 verspricht Spannung. Der Staat
braucht dringend Geld; die etablierten Parteien kämpfen um
ihre Wähler. Wie dieser Balanceakt zwischen Steuerjagd und
Wahlzuckerln aussieht, zeigen wir Ihnen im folgenden Beitrag.
Es gibt viele Neuerungen – sowohl in steuerlicher Hinsicht als
auch, was Sozial- und Pensionsabgaben betrifft. Also: aufpassen – und nachrechnen.
Gleich eine Milliarde Euro erwartet sich Finanzministerin Maria Fekter aus den Nachzahlungen österreichischer Steuerflüchtlinge aus
der Schweiz: Viele Experten erachten dies als zu optimistisch. Aber
die Fakten: Vom neuen Steuerabkommen betroffen sind alle Personen,
die in Österreich ansässig sind und am 31. Dezember 2010 und am
1. ­Jänner 2013 ein Konto oder Depot bei einer Schweizer Bank besaßen.
Diese Personen haben im Zeitraum vom 1. Jänner 2013 bis zum 31. Mai
2013 folgende zwei Wahlmöglichkeiten: Sie bezahlen per »Anonymer
Abgeltung« (pauschale Einmalzahlung). Die Schweizer Bank bucht vom
österreichischen Kunden den von ihr berechneten pauschalen Steuerbetrag in der Höhe von 15 bis 30 Prozent zu Lasten seines Vermögens
ab und leitet diesen an die österreichische Steuerbehörde weiter. Oder:
Die Betroffenen entscheiden sich, der österreichischen Finanzverwaltung ihre Vermögenswerte offen zu legen; dann handelt es sich um
eine »freiwillige Meldung«. Dies gilt als strafbefreiende Selbstanzeige.
Um auch die künftige ordnungsgemäße Besteuerung der Kapital­
erträge in Österreich sicherzustellen, enthält das Abkommen auch
eine Verpflichtung der Schweizer Banken zur Einbehaltung einer der
österreichischen Kapitalertragssteuer (KESt) nachempfundenen Abgeltungssteuer auf die laufenden Kapitalerträge in Höhe von 25 Prozent.
Der Anleger kann dabei wiederum wählen zwischen der (anonymen)
Abzugssteuer und einer Offenlegung der Erträge gegenüber dem österreichischen Fiskus.
21
Bei Beendigung eines (echten oder freien)
Dienstverhältnisses durch Dienstgeberkündigung oder einvernehmliche Lösung muss ab 2013 der Dienstgeber eine
Auflösungsabgabe von 113 Euro bezahlen. Diese neue Abgabe soll dem
Staat 47 Millionen Euro einbringen.
Auflösungsabgabe
Die neue Autobahnvignette kostet für das
gesamte Jahr 2013 für Pkw 80,60 Euro (statt
77,80 Euro im letzten Jahr). Wer ohne gültige Vignette erwischt wird,
zahlt für Pkw – unverändert zum Vorjahr – 120 Euro Ersatzmaut.
Damit erwirbt man freilich nur die Berechtigung, mit diesem Fahrzeug
die Autobahnen und Schnellstraßen an diesem Tag und dem darauf
folgenden Kalendertag zu benützen. Eine gültige Vignette muss dann
trotzdem her. Übrigens: Kann man nicht an Ort und Stelle bezahlen,
droht eine Geldstrafe von 300 bis 3000 Euro.
Autobahnvignette
Die Berechnung der 1,1-prozentigen Eintragungsgebühr in das Grundbuch vom dreifachen Einheitswert soll auch ab 2013 für
Schenkungen innerhalb der Familie beibehalten werden. Begünstigt sind alle (entgeltlichen und unentgeltlichen) Übertragungen an den Ehegatten, eingetragenen Partner oder
Lebensgefährten, wenn die Lebensgefährten einen gemeinsamen
Hauptwohnsitz haben. Weiters sind alle Übertragungen an Großeltern, Eltern, Kinder und Enkel sowie deren Ehegatten, an Stief-, Wahloder Pflegekinder oder deren Kinder bzw. Ehe­gatten, aber auch an
­Geschwister, Nichten und Neffen begünstigt. Dabei soll es keine Rolle
spielen, ob es sich um privat genutzte bzw. vermietete Liegenschaften
handelt oder um Liegenschaften im Rahmen von Betriebsübertragungen innerhalb dieses Personenkreises.
Eintragungsgebühr in
das Grundbuch
Ab 2013 berechtigen auch elektronische
Rechnungen, die z. B. per E-Mail, als E-MailElektronische
Anhang oder Web-Download übermittelt werRechnung
den, zum Vorsteuerabzug, ohne dass sie nach
dem Signaturgesetz signiert sein müssen. Voraussetzung ist, dass
der Empfänger dieser Art der Rechnungsausstellung zugestimmt hat
und die Echtheit der Herkunft, die Unversehrtheit ihres Inhaltes und
22
ihre Lesbarkeit bis zum Ende der siebenjährigen Aufbewahrungsfrist
­ ewährleistet. Eine sehr positive neue Regelung, meinen etwa die
g
Steuerexperten der Kanzlei »BDO Austria«.
Steuerpflichtige, die über einen Internetanschluss verfügen und die wegen Überschrei- Elektronische
tens der Umsatzgrenze von 30.000 Euro zur Bescheidzustellung
Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen
verpflichtet sind, müssen die Jahressteuererklärungen verpflichtend
über »Finanzonline« elektronisch einreichen. Ab 2013 werden in diesen Fällen auch die Bescheide nur noch elektronisch zugestellt.
Seit 1. April 2012 werden Veräußerungsgewinne aus Liegenschaften unabhängig von
Steuer auf den
der Besitzzeit generell mit 25 Prozent Ein- Immobilienertrag
kommensteuer belegt. Für pr ivate Ver­
äußerungsgewinne aus Liegenschaften bedeutet dies in den meisten
Fällen eine zusätzliche Steuerbelastung, da ja davor Liegenschaften
ab dem elften Besitzjahr steuerfrei veräußert werden konnten (für die
Veräußerung innerhalb der ersten Jahre mussten für den Gewinn aber
50 Prozent Einkommensteuer bezahlt werden). Für so genannte Altvermögen, das sind insbesondere Liegenschaften, die bereits vor dem
1. April 2002 angeschafft wurden, gibt es insofern eine Vereinfachung,
als der Veräußerungsgewinn pauschal mit 14 Prozent des Veräußerungserlöses angenommen werden kann, was bei einem Steuersatz
von 25 Prozent eine effektive Steuerbelastung von 3,5 Prozent ergibt.
Steuerfrei bleibt weiterhin die Veräußerung von Eigenheimen oder
Eigentumswohnungen, die dem Verkäufer seit der Anschaffung für
mindestens zwei Jahre oder innerhalb der letzten zehn Jahre vor der
Veräußerung für mindestens fünf Jahre durchgehend als Hauptwohnsitz gedient haben (das ist die so genannte Hauptwohnsitzbefreiung).
Auch die Veräußerung von selbst hergestellten Gebäuden ist steuerfrei,
soweit diese nicht vermietet wurden.
Die Anhebung des begünstigten Steuersatzes für »sonstige Bezüge« tritt in Kraft. Für
die Jahre 2013 bis 2016 (sagt die Regierung
heute) wird die begünstigte Besteuerung von
Solidarabgabe für
höhere Einkommen
23
»sonstigen Bezügen« mit sechs Prozent bei Einkünften von mehr als
rund 185.000 Euro brutto pro Jahr (inklusive Sonderzahlungen) nicht
mehr zustehen. Zu diesem Zweck wurde zusätzlich zum begünstigten
Steuersatz von sechs Prozent für sonstige, insbesondere einmalige Bezüge (z. B. 13. und 14. Gehalt, Einmalprämien) innerhalb des Jahressechstels folgende Progressionsstaffel eingeführt:
Steuersätze für steuerpflichtige sonstige, insbesondere
einmalige ­Bezüge:
für die ersten 620 Euro 0,00 Prozent
für die nächsten 24.380 Euro 6,00 Prozent
für die nächsten 25.000 Euro
27,00 Prozent
für die nächsten 33.333 Euro
35,75 Prozent
über 83.333 Euro
50,00 Prozent
Dies bedeutet: Bis zu einem Bruttomonatsgehalt von rund 13.200 Euro
ändert sich bei der Besteuerung der »sonstigen Bezüge« nichts. Bei
darüber hinaus gehenden Bezügen wird der 13. und 14. Bezug bis
zu einem Bruttomonatsgehalt von rund 25.720 Euro mit 27 Prozent
und bis zu einem Bruttomonatsgehalt von rund 42.400 mit 35,75 Prozent besteuert. Wer darüber liegt, zahlt einen Spitzensteuersatz von
50 Prozent.
Kürzung des Gewinnfreibetrages
Parallel dazu wird für einkommensteuerpflichtige Unternehmer der
13-prozentige Gewinnfreibetrag für Gewinne ab 175.000 Euro wie folgt
reduziert:
für Gewinne zwischen 175.000 und 350.000 auf 7 Prozent
für Gewinne zwischen 350.000 und 580.000 auf 4,5 Prozent
Die Höchstbemessung für Sozialversicherungsbeiträge erhöht sich ab 2013 nicht nur
Sozialversicherung:
Die neuen Werte 2013 um die Aufwertungszahl, sondern auch um
zusätzliche 90 Euro pro Monat. Das heißt, die
Höchstbemessungsgrundlage p. a. erhöht sich von 59.220 Euro auf
62.160 Euro. Das bedeutet mehr Geld in die Sozialversicherungskassen,
jedoch auch eventuell einen etwas höheren Pensionsanspruch.
24
Spenden, die als Betriebsausgaben oder SonSpenden
derausgaben geltend gemacht werden können,
waren bis jetzt mit zehn Prozent des Vorjahresgewinnes bzw. Gesamtbetrags der Einkünfte des Vorjahres gedeckelt. Ab 2013 gelten als
Obergrenze zehn Prozent der Einkünfte des laufenden Jahres. Spendenvereine werden verpflichtet, auf Verlangen des Spenders eine Spendenbestätigung auszustellen.
Der Bonus von maximal 500 Euro für Hybrid­
NOVA
autos und andere umweltfreundliche Antriebsmotoren wird bis zum 31. Dezember 2014 v­ erlängert. Im Gegenzug wird
die Freigrenze mit ersten Jänner von 160 auf 150 Gramm CO2 gesenkt.
Die im R a hmen der Budgetsa n ier ung
e i nge f ü h r t e ne u e B e s t e u e r u ng v on
Steuer auf den
Wer tzu­
w ächsen bei Akt ien und sonst­ Vermögenszuwachs
igen Kapital­
a nlagen ist ja bereits mit
1. April 2012 in Kraft getreten. Für alle Verkäufe seit dem 1. April
2012 fällt für das so genannte Neuvermögen die neue Wertpapiersteuer mit 25 Prozent an. Zum »Neuvermögen« zählen alle seit dem
1. Jänner 2011 erworbenen Aktien und Investmentfonds sowie alle
anderen ab dem 1. April 2012 entgeltlich erworbenen ­K apitalanlagen
(insbesondere Anleihen und Derivate). Neu ist, dass Verluste aus
der Veräußerung dieser dem »Neuvermögen« zuzurechnenden Kapitalanlagen nicht nur mit Ver­äußerungsgewinnen, sondern auch mit
Dividenden und Zinsen aus Anleihen (nicht jedoch mit Sparbuchzinsen) eines Jahres ausgeglichen werden können. Für das Jahr
2012 werden die Banken diesen Verlustausgleich bis spätestens
30. April 2013 durchführen. Ab dem Jahr 2013 erfolgt der Verlustausgleich bereits laufend und zwar depotübergreifend für alle Depots beim
jeweiligen ­Bankinstitut.
Im Wahljahr entdeckt die Regierung die PendPendlerpauschale
ler. Wegen der hohen Spritpreise wird das
Pendlerpauschale angehoben. Zu Redaktionsschluss dieses Buches war
folgendes Modell »in Parlamentsarbeit«: plus 60 Euro für Tagespendler,
die mehr als 60 Kilometer zurücklegen; Erhöhung der Pauschale auch
für Wochenpendler.
25
Seit 1. Jänner sind die Pensionen um 1,8 Prozent erhöht. Das Sparpaket hat für dieses
Jahr den üblichen »Anpassungsfaktor« außer Kraft gesetzt. Nicht
betroffen sind die Ausgleichszulagen-Richtsätze. Ach ja: Auch für Politiker gibt’s erstmals nach vier Jahren wieder eine Gehaltserhöhung.
Erraten: Sie beträgt 1,8 Prozent.
Pensionen
Für Gewerbetreibende und Beamte gelten seit
Jahresbeginn höhere Pensionsbeiträge. Der
Eigenanteil der Pflichtbeiträge zur Pen­s ionsversicherung nach dem
GSVG wird auf 18,5 Prozent der Beitragsgrundlage angehoben, jener
der Pflichtbeiträge nach dem BSVG wird per 1. Juli auf 16 Prozent erhöht.
GSVG und BSVG
Die »lange Versicherungsdauer« wird stufenweise erhöht. Für die Inanspruchnahme der
Das Ende der
»Hacklerregelung« (von der hauptsächlich
»Hackler«
Beamte, Bank- und Versicherungsangestellte
profitiert hatten) sind statt bisher 38,5 nunmehr 40 Versicherungsjahre erforderlich.
UnternehmerInnen, die regelmäßig weniger
als 25 Dienstnehmer beschäftigen, haben ab
dem 43. Tag der Arbeitsunfähigkeit erstmals
Anspruch auf ein Krankengeld. Es orientiert
sich an den Regelungen des ASVG.
Krankengeld auch
für die Chefs
Mit Jahreswechsel ist die Gaststättenpauschalierungs-Verordnung vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben worden. Bis zur Stunde
wird im Finanzministerium um eine Nachfolgeregelung gestritten. Der Protest der Gastwirte ist beträchtlich. Viele
hatten die günstige Steuerpauschalierung bereits fix in ihre Ein- und
Ausgabenrechnung eingerechnet.
Das Problem
pauschalierte Wirte
26
Auf (Kon-)Kurs: Warum
wir Pleite-Banken retten
von Mag. Bettina Fink
Seit 2008 geht ein Schreckgespenst um: Es heißt »Bankenpleite«.
Abermilliarden an Staatshilfen wurden auch in Österreich locker
gemacht, um marode Kreditinstitute vor dem Untergang zu
bewahren. Doch: Warum muss eigentlich der Steuerzahler für
Banken aufkommen, die sich komplett verspekuliert haben? Und
wie viel Geld soll noch fließen?
Was bei der Pleite einer globalen Großbank passiert, zeigte das Beispiel
»Lehman«. Die Investmentbank wurde 2008 von der US-Regierung in
die Insolvenz geschickt. Betroffen waren 640.000 Geschäftspartner der
Bank, 110.000 Gläubiger; die Klagsflut rollt bis heute. Zahlreiche Kleinanleger, die in Lehman-Zertifikate investiert waren, mussten ihr Geld
abschreiben. Die Furcht vor unkontrollierbaren Auswirkungen solcher
Pleiten versetzte vor allem Europas Politik in einen Banken-Rettungstaumel. In Österreich notverstaatlicht wurden die Österreichische
Volksbanken AG, die Kommunalkredit und die Hypo Alpe Adria. Ein
Ende der Zahlungsströme durch die öffentliche Hand ist nicht absehbar. Die Bankenrettung entpuppt sich als Fass ohne Boden.
Die Pleite einer großen Bank käme teurer als deren Rettung, wird
landläufig behauptet. Kurt Pribil, der Vorstand der österreichischen
Finanzmarktaufsicht, schätzt, dass eine Pleite der Banken das Fünfbis Sechsfache einer Verstaatlichung kosten würde. Dadurch werde der
Staat »de facto erpressbar«. Auf europäischer Ebene wurde 2012 der
permanente Rettungsschirm ESM nicht nur für Pleitestaaten, sondern
automatisch auch für die Rettung von angeblich »systemrelevanten«
Banken aufgespannt. Doch ist die Rettung für die öffentliche Hand
tatsächlich günstiger als eine Pleite?
Schwer abzuschätzen, selbst für einen Experten wie Finanzprofessor
Teodoro D. Cocca von der Universität Linz. Auf jeden Fall ist für ihn
die quasi-automatische Verstaatlichung von Pleitebanken ein fatales
Signal: »Normalerweise müsste ein Bankmanager immer auch Angst
27
haben, dass er untergehen kann. Und weil er diese Angst spürt, wird
er Risiken reduzieren, sorgfältig arbeiten. Diese disziplinierende Kraft
eines drohenden Untergangs wird durch die permanenten Bankenrettungen freilich eliminiert.«
Doch was hindert Europa denn, Banken »kontrolliert« pleitegehen zu lassen. Was steht
tatsächlich auf dem Spiel – für Sparer, Investoren oder die Staaten? Das erste Problem: Es gibt in Europa kein taugliches Insolvenzrecht für Banken. Was
für normale Unternehmen gilt, war für Banken offenbar undenkbar:
»Scheitern« war einfach nicht eingeplant. In Europa und in Österreich
wird seit einer gefühlten Ewigkeit an einem Fahrplan für die sinnvolle
Abwicklung von Banken-Insolvenzen gearbeitet. Ergebnis: noch offen.
Was steht tatsächlich
auf dem Spiel?
Und Banken unkontrolliert in die Pleite zu schicken, erscheint der Politik offenbar zu riskant. Da fürchtet man den viel zitierten »Domino­
effekt«: Stolpert eine Bank, könnten andere Banken, Institutionen und
Investoren mitgerissen werden. Aber: Nicht alle Banken, die in den
letzten Jahren gerettet wurden, wären tatsächlich »systemrelevant«
gewesen. Was im »normalen« Wirtschaftsleben an der Tagesordnung
steht, nämlich Insolvenzen, wird bei Banken gerne außer Kraft gesetzt.
Was genau passierte denn, ginge eine Bank pleite? Ein Blick in eine
Bankbilanz: Banken haben, wie jedes Unternehmen, Vermögen und Verbindlichkeiten. Besonderheit daran: Zu den »Verbindlichkeiten« zählt
das Geld der Sparer, die diese bei der Bank einlegen, mit dem die Bank
»arbeitet« – das die Sparer aber jederzeit zurückfordern können.
»Schulden« hat eine Bank außerdem bei anderen Banken, die ihr
Geld geliehen haben. Und bei allen, die Anleihen der Bank gekauft
haben – ihr also eine Art Kredit gewähren. Und dann wäre da auch
noch das Eigen­kapital, das Geld der Bankeigentümer: Das wären, je nach
Konstruk­t ion des Geldhauses, die Genossenschafter oder Aktionäre, die
sich Anteile der Bank gekauft haben. Auf der Habenseite, also dem »Vermögen« einer Bank, stehen vor allem Kredite, die an Firmen, Staaten,
Private oder andere Banken vergeben wurden. Und – quasi unter der
Bilanz – laufen Vertragsgeschäfte, darunter Garantien, Derivate oder
28
Swaps. Im Falle der Pleite sind all diese Akteure in irgendeiner Weise
betroffen.
Die gute Nachricht: Spareinlagen sind im Fall des Falles bis zu 100.000
Euro pro Bank und Person abgesichert. Was die Pleite-Bank nicht
selbst aufbringen kann, wird über die »Einlagensicherung« erst einmal von den anderen Banksektoren erstattet. Den »Rest« der Sicherung übernimmt am Ende der Staat. Die Pleite einer Großbank würde
das derzeitige Sicherungssystem allerdings komplett überfordern. Und
es gibt auch Kunden mit viel mehr als 100.000 Euro Einlagen: »Staaten, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungen, Universitäten – sie
alle haben Geld bei Banken liegen. All diese Akteure wären auch von
einer Bankenpleite betroffen – und da geht es um riesige Summen«,
so Univ.-Prof. Dr. Stefan Pichler von der Wirtschaftsuniversität Wien.
Dann wären da auch noch die institutionellen Anleger. Wie würde eine
Pleite andere Banken oder jene, die Anleihen der Bank besitzen, treffen? Für Stefan Pichler keine guten Nachrichten: »Für Gläubiger, die
keine gesicherten Spareinlagen haben, bedeutet eine Pleite einen herben Verlust. Es wird nur die Konkursquote ausbezahlt, die kann zum
Beispiel 50 Prozent betragen – und es dauert Jahre, bis der Konkurs
abgewickelt ist.«
Durch das Auffangen von Banken besonders geschont werden aktuell
immer die Eigentümer. Also Aktionäre oder Genossenschafter. Bei einer
klassischen Pleite würden sie alles verlieren und teils sogar haften
müssen. Doch das fällt ja eigentlich unter das Risiko, das Aktionäre
und Eigentümer nun einmal eingehen. Deshalb sieht Teodoro D. Cooca
den Bankensektor als »viel zu geschützte« Branche. »Der Staat scheint
bereit zu sein, jegliche Verluste abzudecken. Dadurch leidet die Wettbewerbsfähigkeit der ganzen Branche. Gute Banken können sich von
schlechten kaum abheben, weil schlechte Banken am Ende auch noch
für ihr Fehlverhalten belohnt werden, indem man sie rettet.«
Und was ändert sich für Kreditnehmer bei einer Bankenpleite? Vorerst
wenig. Ihre Raten zahlen sie weiter – an den Masseverwalter oder eine
Bank, die die Kredite aus der Pleitemasse aufgekauft hat. Trotzdem kann es
Probleme geben. Univ.-Prof. Dr. Stefan Pichler: »Ganz spannend wird
29
die Frage bei Firmen, die ständig neuen Refinanzierungsbedarf haben.
Muss man sich eine neue Bank suchen, wird die Bonität der Firma erst
einmal geprüft. Das kann dauern. Und für manches ­Unternehmen wird
dann die Zeit knapp.«
Es gab in der Vergangenheit schon etliche
Bankenpleiten in Österreich, darunter die
Bank für Handel und Industrie, BHI, die 1995
insolvent wurde. Tausende Sparer kamen
plötzlich nicht mehr an ihr Geld heran. Fatal vor allem für jene, die
ihr ganzes Geld bei der Pleitebank hatten, aber auch für Firmen, die
Löhne ausbezahlen oder Rechnungen ­begleichen mussten.
BHI: Die erste Pleite,
die Sparer bedrohte
Der heutige Pensionist Helmut Friedrich war einer der betroffenen
Sparer. Er erinnert sich, dass es etliche Tage dauerte, bis eine erste
Tranche der Einlagensicherung ausbezahlt wurde. »Wir waren deprimiert, weil wir uns in der Öffentlichkeit in einer langen Menschenschlange vor der Bank anstellen mussten und jeder wusste: Das waren
die, die zu viel Geld hatten, die es bei der BHI eingelegt haben.«
Friedrich nahm sich einen Anwalt. Und klagte mit zahlreichen anderen
Betroffenen die Republik. 2003 musste der Staat tatsächlich für das
gesamte Ersparte haften. Doch es dauerte zehn Jahre, bis alles Geld
ausbezahlt war. Anwalt Harald Christandl weiß, was eine Bankenpleite
bewirkt – und ist trotzdem nicht dagegen. Wenn auch in abgewandelter
Form: »Jener Bereich einer Bank, der in der Spekulation beheimatet ist,
sollte pleitegehen können. Dort, wo das Bank-Kerngeschäft abläuft, wo
Vertrauen die Basis ist, wo Mittelständler oder kleine Sparer ihr Geld
einlegen, dort sollten die Einlagen aber fast zur Gänze abgesichert sein.«
Doch so ein Vorgehen würde ein neues Banken-Insolvenzrecht und
eine Änderung der »Einlagensicherung« voraussetzen. Ideen gibt es
viele – die politische Einigung, wer denn nun im Falle einer Bankenpleite finanziell gerade stehen muss, steht noch aus.
Aber selbst dann bliebe die Frage: Wagt es die Politik im Fall des Falles
tatsächlich eine Bank in die Pleite zu schicken – und einen »kalkulierten« Dominoeffekt zuzulassen?
30
Allheilmittel ESM? So wird
Europas Geldmaschine angeworfen
von Mag. Beate Haselmayer
Milliarden an Rettungsgeldern fließen aus den Geldbörsen
der SteuerzahlerInnen in die maroden Volkswirtschaften der
­Euro-Zone. Das soll verhindern, dass die europäische Währung
kollabiert. Doch sind ESM & Co. wirklich die großen Retter in
der Not – oder navigieren sie Europa geradewegs ins Verderben?
Drei Buchstaben sollen über die Zukunft Europas entscheiden. Doch
was steht hinter diesen drei Buchstaben? ESM ist die Abkürzung für
»Europäischer Stabilitätsmechanismus«. Oft wird der ESM auch als »EuroRettungsschirm« bezeichnet, was eigentlich nicht ganz korrekt ist.
Viel eher ist der ESM Teil eines »umfassenden Euro-Rettungsschirms«.
Gemeint sind alle Maßnahmen, die die Europäische Union setzt, um den
Euro und die Euro-Wirtschaftszone zu retten.
• Direktkredite an Griechenland
• Maßnahmen der EZB (Europäische Zentralbank), z. B. Kauf von
Anleihen
• Maßnahmen des IWF (Internationaler Währungsfonds), z. B. Vergabe
von Hilfskrediten
• Maßnahmen des EFSF (die deutsche Übersetzung bringt das
Wortungetüm »Europäische Finanzstabilisierungsfazilität« hervor),
eine befristete Rettungsinstitution und Vorgängerin des ESM
• Maßnahmen des ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) oder
unbefristete Rettungsinstitution
»Unbefristete Rettungsinstitution« – das klingt sehr abstrakt für
eine Autorität, die so mächtig ist, dass sie Europa retten oder in den
­Abgrund stürzen könnte. Genau genommen ist der ESM so etwas wie
ein Hilfsfonds. Vereinfacht ausgedrückt kann man sich den ESM so
vorstellen:
In Luxemburg steht ein unscheinbares Gebäude, in dem der ESM untergebracht ist. Dort treffen sich in regelmäßigen Abständen so genannte
31
Finanzministerin Maria Fekter (Foto: Parlamentsdirektion/Zolles KG/Ranz)
»ESM-Gouverneure«; es sind die FinanzministerInnen der E­ uro-Länder.
Für Österreich reist Finanzministerin Maria Fekter zu den ESM-Treffen.
Sie und die anderen Gouverneure entscheiden, was mit den ESM-Hilfsgeldern passieren soll.
Ganze 700 Milliarden Euro Stammkapital hat der ESM zur Verfügung.
Diese Riesenmenge stellen alle Euro-Länder gemeinsam auf. Wie viel
Geld ein Land einzahlt, hängt davon ab, mit wie viel Prozent das Land
an der EZB beteiligt ist. Österreich ist mit 2,78 Prozent an der EZB
beteiligt und muss deshalb zwei Milliarden Euro in bar einzahlen. Darüber hinaus geht jedes Land Haftungen ein. Österreich haftet inzwischen für 17,5 Milliarden Euro. Sollten alle Haftungen fällig werden,
müsste Österreich also insgesamt 19,5 Milliarden Euro für den ESM
locker machen. Das ist eine schöne Stange Geld – und es wird für die
Politiker von Jahr zu Jahr schwieriger, sie vor den Bürgern zu rechtfertigen.
Geld aus dem ESM soll immer dann fließen, wenn »die finanzielle
S­ tabilität eines Mitgliedsstaates oder des gesamten Euro-Raums in Gefahr« ist. Griechenland und Portugal haben schon Gelder aus dem vorläufigen Hilfsfonds EFSF erhalten. Spanien und Zypern suchen Hilfe; allein
für Spaniens Banken werden über 40 Milliarden Euro locker g­ emacht.
32
Die Gouverneure des ESM haben dazu ein ganzes Repertoire an Maßnahmen zur Verfügung, mit denen sie gefährdeten Volkswirtschaften
unter die Arme greifen wollen.
• Finanzhilfen an Krisenstaaten: Der ESM kann der Regierung eines
Krisenstaates mit zinsgünstigen Darlehen weiterhelfen. Im Gegenzug muss das Land bestimmte Reformauflagen erfüllen.
• Ankauf von Staatsanleihen: Die Voraussetzung für den Ankauf von
Staatsanleihen auf dem Anleihenmarkt ist, dass die EZB »außergewöhnliche Umstände« bescheinigt.
• Direkte Finanzspritzen an Banken: Sollte es zu einer wirklichen
Einigung in Sachen Bankenunion kommen, darf der ESM Darlehen
gewähren, um auch Banken in Problemländern zu retten. Hier sind
die Euro-Mitgliedsländer in den Verhandlungen sehr weit gekommen.
• Neue Hilfen: Darüber hinaus ist der ESM in der Lage, neue Rettungsmaßnahmen zu erfinden und dadurch seinen Handlungsspielraum zu erweitern.
Klar ist: Der ESM steht seit seinem Urbeginn an unter starkem Beschuss.
Dabei besteht nicht nur Zweifel daran, dass er den Euro retten kann.
Die Institution an und für sich, seine Macht und seine Befugnisse werden heftig kritisiert. Die Tatsache etwa, dass es für Länder, die Teil des
ESM sind, keine Möglichkeit gibt, aus diesem wieder auszutreten. Die
Mitgliedschaft am ESM ist dauerhaft in der jeweiligen nationalen Verfassung verankert. Oder der Machtverlust in Sachen »nationale Haushaltspolitik«, den die Mitgliedsstaaten durch die neue Finanzinstitution erleben. Heftige Kritik gab es auch an der unbegrenzten Haftung
der Mitgliedsstaaten: Das ESM-Stammkapital von 700 Milliarden Euro
kann unbegrenzt erhöht werden können, wenn das notwendig ist.
In Deutschland wurde vor dem Bundesverfassungsgericht Klage gegen
den ESM eingereicht. Am 12. September 2012 genehmigte das Gericht
in Karlsruhe den Beitritt Deutschlands zum ESM nur unter der Voraussetzung, dass die Haftung Deutschlands beschränkt bliebe ...
Der ESM ist also mächtig und er hat sehr viel Geld zur Verfügung.
Doch all die Macht und all das Geld – können sie Europa aus der Krise
­führen? Und was bedeutet es für Österreich, dass hier Milliarden an
33
Steuergeldern dazu verwendet werden, die finanzschwachen Volkswirtschaften der Euro-Zone aufzupäppeln?
Es liegt in der Natur der Sache, dass PolitikerInnen, die die Gesetze
machen und unterzeichnen, diese als »unbedingt notwendig« und
»effektiv« erachten. Finanzministerin Maria Fekter etwa betonte in
€CO-Interviews beständig »die Wichtigkeit der neuen europäischen
Finanzinstitution«, auch wenn Österreich nicht zu denen gehört, die
davon profitieren: »Das ist im höchsten Interesse Österreichs. Weil
die Euro-Zone als Staatengefüge muss stabil bleiben. Darauf ist unser
Wohlstand aufgebaut. Wir haben ein großes Interesse daran, dass
­unsere Handelspartner, unsere Exportmärkte, jene Länder, mit denen
wir Beziehungen haben, dass die zu einer Stabilität zurückkehren.«
Natürlich werde »Österreich streng« sein und »genau kontrollieren«,
ob die Empfängerstaaten auch ihre »Hausaufgaben machen«, sich also
an die Reformvorgaben halten, die mit dem Erhalt von Krediten einhergehen, ­äußerte sich die Finanzministerin: »All jene, die sich nicht
an die Spielregeln halten, die nicht die Hausaufgaben machen, die
werden dann von Europa ein Korsett bekommen und bevormundet werden. Und ich glaube, dass alle in der Politik höchstes Interesse haben
nicht bevormundet zu werden.«
Es liegt auch in der Natur der Sache, dass eine Institution, die so umgreifend wirkt wie der ESM, scharfe Kritiker hat. Einer der heftigsten
ist der bekannte Volkswirt Hans Werner Sinn vom deutschen »Ifo«Institut. €CO traf ihn für ein Interview in München. Für ihn sind die
»Euro-Rettungsmaßnahmen« ein Fass ohne Boden: »Es ist im Grunde
das Thema eines Drogensüchtigen, der sich gewöhnt hat an die Droge.
Wenn wir die absetzen, gibt es eine Krise; um das zu verhindern, müssen wir halt die Droge weitergeben.«
Hans Werner Sinn kann beispielsweise nicht verstehen, dass die
­Steuerzahler für die Rettung des Euro zur Kasse gebeten werden. Viel
eher sollten die Gläubiger der Krisenländer, darunter eben internationale Banken und Versicherungen, die Schulden abschreiben: »Es gibt
nur eine Gruppe, die die Abschreibungslasten tragen kann, und das
sind die Vermögensbesitzer, die dort investiert haben. Die wollen sich
34
Hans Werner Sinn: Warnt vor der Griechenland-Hilfe (Foto: Ifo/A. Schellnegger)
aber aus dem Staub machen, ohne die Lasten zu tragen; sie suchen
jetzt einen Dummen, der an ihrer Stelle die Lasten übernimmt und
das sind Sie und ich.« Diejenigen, die in den Krisenländern investiert
hatten, mussten ein Risiko einkalkulieren, für das sie hohe Dividenden bekommen haben. Jetzt, da das Risiko schlagend geworden ist,
müssten sie »eben die Konsequenzen tragen«, meint der renommierte
Ökonom. Doch stattdessen würde der Verlust von der Europäischen
Union, also letztendlich von den SteuerzahlerInnen der ­Euro-Länder,
getragen.
Durch die wiederholten Hilfszahlungen an die Krisenländer bestehe
überdies die Gefahr, dass sich Europa in eine »Transferunion« verwandle, also in eine Gemeinschaft, in der ein starkes Mitglied dem
finanziell Schwächeren auf Dauer Geld zur Verfügung stellen muss, so
wie es zwischen Ost- und Westdeutschland der Fall war. Der Stabilität
und dem sozialen und politischen Frieden diene das laut Sinn jedenfalls nicht.
Auch mit den Reformvorgaben, dem »Korsett«, wie es Finanzministerin Maria Fekter so schön nennt, hat Hans Werner Sinn so seine
Probleme: Auch hier sieht er den europäischen Frieden gefährdet: »Zu
sagen, ihr kriegt das Geld und müsst das und das dafür tun, das ist
35
erniedrigend und das führt zu einem Maximum an Spannung politischer Art in Europa. Das führt auch letztlich zu gar keiner Reform in
Europa. Warum sollen sie sich denn reformieren, wenn das Geld weiter
fließt?«
Und dann ist da noch die große Frage, ob
die europäischen Rettungsmaßnahmen rein
volkswirtschaftlich betrachtet sinnvoll sind.
Hans Werner Sinn hat große Zweifel daran,
dass sie den Euro über Wasser halten: »Man muss natürlich den Euro
retten, das ist doch keine Frage«, meint er im €CO-Interview. »Die
Frage ist nur, wie man ihn rettet. Ich glaube, indem man grenzenlos
zahlt, wird der Zusammenbruch des Euro in einem großen Knall vorbereitet. Wir können ihn nur retten, wenn man die Länder, die nicht
mehr wettbewerbsfähig sind, temporär raus lässt aus der Euro-Zone
und den Rest stabilisiert.« Dann könnten die Länder ihre neuen Währungen gegenüber dem Euro abwerten und langsam ihre Volkswirtschaften neu aufbauen – so die Theorie des Münchner Ökonomen.
Den Euro retten?
Ja, sicher. Nur, wie?
In den Augen vieler PolitikerInnen wäre das aber genau die Lösung, die
uns alle noch viel teurer zu stehen kommen würde. Maria Fekter: »Alle,
die sagen, Griechenland pleitegehen zu lassen, die schaufeln erst recht
die Last zu den Steuerzahlern. Daher bin ich nicht dafür, dass Griechenland pleitegeht; das würde die österreichischen Steuerzahler tatsächlich
reale Milliarden kosten.«
Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Politiker und ihre Kritiker
­äußerst konträre Ansichten haben. Auch innerhalb der Volkswirtschaftslehre gibt es unterschiedliche Strömungen und Denkrichtungen. Je nach Lager werden die Maßnahmen, die die europäische Politik setzt, um der Euro-Krise Herr zu werden, unterschiedlich bewertet.
Die einen halten den ESM für eine »notwendige Institution«, die anderen reiben sich an dem »vermeintlichen Stabilitätsmechanismus«.
Den Weg aus der Krise geben die machthabenden PolitikerInnen vor.
In deren Haut möchte man angesichts der Uneinigkeit unter den Fachleuten und Ökonomen nicht stecken. In der Haut der Steuerzahler­
Innen allerdings auch nicht.
36
»Eherne Reserve«: Dem Gold
der Österreicher auf der Spur
von Mag. Bettina Fink
Es kracht gewaltig im Gebälk der Europäischen Währungsunion.
Das beunruhigt die Bürger. Viele sehnen sich nach Handfestem,
Angreifbarem: Gold zum Beispiel. Kein Wunder also, dass die
Goldnachfrage in den letzten Jahren durch die Decke ging. Und:
dass die Goldreserven der Republik Österreich plötzlich wieder
interessieren. Nur: Wo ist »unser« Gold eigentlich? Wie viel b­ esitzt
der Staat? Und was sind die Barren wert?
Im Shop der »Münze Österreich« dreht sich alles ums Edelmetall. Vor
allem der Glanz des Goldes hat es den Privatanlegern angetan. Auf dem
Höhepunkt der Finanzmarkt- und Euro-Krise wurden fünfmal so viele
Münzen und Barren an Privatanleger verkauft wie zuvor. Gold gilt als
sicherer Hafen. Die Menschen greifen auf das zurück, was sich schon
einmal »in Krisenzeiten bewährt hat«. Und das, was die Bürger im Kleinen tun, macht auch der Staat: Er besitzt Gold als »eherne Reserve«.
Österreich hat – so wie fast alle Nationen – Gold zur Absicherung der
Währung im Portfolio. Hüterin des Staatsgoldes ist die Österreichische
Nationalbank. 280 Tonnen Gold soll Österreich derzeit besitzen.
Nur wo liegt es denn eigentlich? Lange gab es darauf keine klare
Antwort. »Weil es internationale Praxis der Notenbanken ist, nicht
alles im Detail zu veröffentlichen. Vor allem aus Sicherheitsgründen«,
argumentierte Dr. Peter Zöllner von der Österreichischen Nationalbank
bis vor kurzem. Doch der Druck der Öffentlichkeit stieg. Vor allem in
Deutschland, wo wilde Debatten über den Verbleib des »nationalen
Goldvorrats« geführt wurden. Ob der Geheimniskrämerei der Nationalbanken wurde auch der Raum für Verschwörungstheorien immer
größer: So wurde der Verdacht geäußert, das deutsche Gold existiere
gar nicht. Oder aber es hieß: Das Gold sei verliehen, gar nicht mehr als
Barren vorhanden.
Inzwischen hat sich Deutschland – unter dem Druck der Öffentlichkeit – für eine umfassende Inventur ihres Goldbestandes entschieden.
37
Und auch in Österreich gab sich die Nationalbank Ende 2012 gegenüber
dem Parlament plötzlich auskunftsfreudiger: »Ein Teil des österreichischen Goldes – nämlich 17 Prozent – liegt in Österreich, der größte
Teil an Goldhandelsplätzen wie London (80 Prozent) und Schweiz
(3 Prozent).« In den USA, wo es lange Zeit vermutet worden war (Fort
Knox), soll derzeit kein österreichisches Gold liegen. Allerdings: »Es
ist für die Zukunft nicht auszuschließen – auch die USA haben ein
Rechtssystem, das zuverlässig ist; nicht umsonst kaufen so viele in
Krisenzeiten US-Dollar.«
Die Österreichische Nationalbank lagert unser
Gold also vor allem dort, wo tief liegende sichere Tresorräume existieren und wo im Notfall das Gold auch gehandelt und sofort in
Devisen umgewandelt werden kann. Doch wie sieht es mit dem Thema
»Goldverleih« aus? Sind die österreichischen Goldbarren tatsächlich
physisch vorhanden oder gibt es diese etwa nur noch auf dem Papier,
weil sie »verleast« sind? Fakt ist: Das österreichische Staatsgold wird
seit den 1990er-Jahren immer wieder verliehen. Mit den Zinsen können die Kosten der Goldlagerung beglichen werden und die Bilanz der
Nationalbank wird aufgefettet.
Das Gold lagert in
Tresorräumen
Das auch zur Freude der jeweiligen Bundesregierung, deren Budget von
den Dividenden der Nationalbank profitiert. Und auch hier wurde die
Nationalbank kurz vor Jahresende 2012 etwas auskunftsfreudiger: »In
den letzten zehn Jahren haben wir mit Goldleihgeschäften rund 300
Millionen Euro verdient – und bei solchen Geschäften keine Ausfälle
verzeichnet«, so OeNB-Vizegouverneur Wolfgang Duchatczek. Anfang
der 2000er-Jahre sollen noch bis zu 80 Prozent des Goldes verliehen
gewesen sein – heute seien es nur noch rund 16 Prozent. »Tendenz
weiter fallend.« Was vor allem mit den geringen Zinsen zu tun hat, die
Gold derzeit bringt. Doch macht es aus heutiger Sicht überhaupt Sinn,
mit der goldenen Notreserve Verleihgeschäfte zu betreiben? Was, wenn
man das Gold plötzlich dringend bräuchte? Klare Antwort darauf: nein.
Gold stellt nur einen Teil der österreichischen Währungsreserven dar.
Diese machen derzeit rund 20 Milliarden Euro aus. Die Goldreserven
waren – dank hohem Goldkurs – Ende 2012 rund elf Milliarden Euro
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wert. Rund sechs Milliarden der Währungsreserven sind in Devisen,
also Fremdwährungen von Dollar bis Franken, angelegt. Und Österreich hat auch die Option auf Kredite des IWF, des Internationalen
Währungsfonds, in Höhe von rund drei Milliarden Euro – für den Fall
eines Liquiditätsengpasses. Zusätzlich hat Österreich rund um den
Beitritt zur Europäischen Währungsunion rund 22 Tonnen Gold in die
Europäische Nationalbank eingebracht – zum damaligen Wert von
knapp 200 Millionen Euro übrigens. Heute wäre dieses Gold ein Viel­
faches wert.
Bezogen auf die umlaufenden Geldmengen macht der Anteil des österreichischen Staatsgoldes heute gerade einmal fünf bis neun Prozent
aus. Österreich hat in den letzten Jahrzehnten auch massiv Goldreserven abgebaut. Unter anderem, weil dessen Bedeutung sank. Auch im
Zusammenhang mit der Gemeinschaftswährung, dem Euro. 1992 hatte
die Republik rund 650 Tonnen Gold als Währungsreserve. 1999, im
Jahr der faktischen Währungsunion, waren es noch über 400 Tonnen.
Bis 2007 wurde weiter abgebaut. Erst in den letzten Jahren blieben die
Mengen stabil – bei 280 Tonnen.
Es gab auch immer wieder politische Begehrlichkeiten, die österreichischen Goldvorräte zu verkaufen, um damit Staatsausgaben zu finanzieren. Auch das Null-Defizit-Budget 2001 des damaligen Finanzministers Karl-Heinz Grasser ist mit Hilfe von Goldverkäufen »vereinfacht«
worden. Gegen einen Generalverdacht allerdings verwehrt sich der
ehemalige Gouverneur der Österreichischen Nationalbank Dr. Klaus
Liebscher vehement: »Die Goldverkäufe waren für jene, die das Budget
sanieren wollten, eine willkommene Gelegenheit; aber es war nicht so,
dass wir für die Budgetsanierung verkauft hätten. Für mich war der
Kursgewinn, den wir einfahren wollten, das entscheidende Kriterium.«
Doch was wäre Österreichs Gold denn heute theoretisch wert – im
Ernstfall? Bei einem Währungscrash? Ein paar Zahlen zum Vergleich:
Österreichs Bruttoinlandsprodukt liegt bei rund 300 Milliarden Euro
im Jahr; mit den elf Milliarden in Gold käme man wohl nicht sehr weit.
Sie entsprechen in etwa dem Wert der österreichischen Importe eines
einzigen Monats. Dr. Johann Kernbauer rechnet vor: »Wenn man den
Goldbestand der Nationalbank auf die Österreicher umlegt, ergibt sich
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ein Goldbesitz pro Kopf von rund 1300 Euro – allein die Bauspareinlagen sind doppelt so hoch. Und das Finanzvermögen der Österreicher
wird im Schnitt auf 60.000 Euro pro Kopf geschätzt – also ein Vielfaches dessen, was die Aufteilung des Goldbesitzes auf den einzelnen
Österreicher ausmachen würde.«
Zudem könnte Österreich innerhalb der Europäi­
schen Währungsunion nicht so einfach nach
Belieben über die eigenen Goldreserven verfügen. Es existiert ein Abkommen, das den Goldverkauf pro Jahr limitiert. Und: Man müsste sich bei einem Zugriff auf
das nationale Gold mit der Europäischen Zentralbank abstimmen. »Und
das ist gut so«, sagt Dr. Klaus Liebscher: »Wenn 17 Notenbanken plus die
EZB zusammen sind, kann Österreich nicht souverän tun, was es will.«
Freistil-Verkauf
ist nicht möglich
Gold hat vor allem psychologisch und symbolisch eine starke Wertigkeit; die reale Bedeutung in der internationalen Geldwirtschaft wird
immer geringer. Für Gold als eiserne Reserve sprechen vor allem emo­
tio­­nale Argumente, wie Dr. Eduard Brandstätter, Wirtschaftspsychologe
an der Universität Linz, ausführt: »Gold steht für Luxus, für Reichtum,
eventuell auch etwas Dekadenz. Gold symbolisiert Beständigkeit.«
Und das übrigens seit Jahrtausenden. Angefangen vom Gold der Pharaonen über den legendären Schatz des antiken König Priamos bis
heute – Gold hat eine wichtige Funktion. Es steht für Macht, für
Sicher­heit und Ewigkeit. Sicherheit, die es so natürlich nicht gibt:
Auch Goldkurse schwanken. Bei Gold geht es aber auch um Sehnsüchte. Denn faktisch gibt es weltweit gar nicht so viel Gold, dass
alles Papiergeld damit abgesichert werden könnte. Die Weltwirtschaft
ist in ihren Dimensionen längst über die existierenden Goldmengen
hinausgewachsen.
Eine tragende Säule des Staates ist Gold derzeit nicht mehr. Doch der
Mythos lebt. Heute, da Milliarden an Hilfsgeldern nach Griechenland
oder hin zu Pleitebanken verschoben werden, mehr denn je. Denn
die dabei bewegten Summen erscheinen den Bürgern immer irrealer,
immer ungreifbarer. Da hat so ein kleiner, funkelnder Barren direkt
etwas Handliches.
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Nix wie raus aus dem Euro –
aber welche »Fluchtwährung«?
von Katinka Nowotny
Schuldenkrise und Euro-Schwäche – wen wundert es, dass immer
mehr Menschen ihre Ersparnisse schützen wollen, in dem sie in
andere Währungen investieren. Doch gerade für Kleinanleger lauern hier große Risiken. Oft ist der Spatz in der Hand tatsächlich
besser als die Taube auf dem Dach – auch wenn die Versuchungen
manchmal sehr gross scheinen.
Zehn Jahre lang galt der Euro als starke und stabile Währung, als würdiger
Nachfolger der harten D-Mark, die in ganz Europa als mächtiger Anker in
einer turbulenten Wirtschaftswelt betrachtet wurde. Doch diese Zeiten
sind vorüber. Zwar hat die Gemeinschaftswährung gegenüber anderen
globalen Währungen – dem Dollar, dem Yen, dem britischen Pfund – nicht
gerade dramatisch an Wert verloren. Die an­haltende Schuldenkrise am
Südrand der Euro-Zone und die Bereitschaft der Europäischen Zentralbank,
mit dem Ankauf von Staatsanleihen die Schulden mancher Staaten zu
finanzieren, haben jedoch ihre Spuren in den Wechselkursen hinterlassen.
Deshalb fragen sich immer öfter Anleger in der Euro-Zone, ob sie ihre
Ersparnisse nicht doch anderswo investieren sollten – in Ländern, die
auf das Experiment einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsame
Regierung verzichtet haben; in Währungen, die nicht dauernd im
­Gerede sind.
Tatsächlich hat etwa der Schweizer Franken in den vergangenen drei
Jahren rund ein Viertel gegenüber dem Euro zugelegt; die norwegische
Krone hat knapp 20 Prozent gewonnen. Auch das britische Pfund ist
heute um fünf Prozent fester als 2009 und selbst der polnische Zloty
hat gegenüber dem Euro um vier Prozent an Boden gut gemacht. Sogar
der US-Dollar ist heute rund zehn Prozent stärker als am Tiefpunkt
der Weltfinanzkrise – trotz der anhaltenden Schwäche der amerikanischen Wirtschaft. Und der chinesische Yuan steht auch um 20 Prozent
besser da als noch vor ein paar Jahren.
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Unser Euro: Viele flüchten aus der gemeinsamen Währung (Foto: OeBS)
Das alles sind Werte, die zum Redaktionsschluss dieses Buches g­ alten.
Sie mögen nun, da Sie das neue €CO-Jahrbuch in Händen halten, nicht
mehr hundertprozentig präzise sein – was aber sicher Gültigkeit
haben wird, ist die Tendenz. Selbst die Prognosen für viele Währungen
außerhalb des Euro-Raumes liegen besser als die Erwartungen für die
mit so vielen Problemen behaftete europäische Einheitswährung. Also:
Nichts wie raus aus dem Euro?
Experten raten zur Vorsicht. Denn was eine Investition in eine a­ ndere
Währung bringt, hängt nicht nur von der Entwicklung des Wech­
selkurses ab, sondern auch von den Zinsen, die man dort verdienen
kann. Und die sind in manchen dieser klassischen Fluchtwährungen,
nun ja, nicht besonders berauschend.
Das gilt vor allem für den Schweizer Franken, für den Anleger fast gar
keine Zinsen mehr erhalten – gerade 0,6 Prozent im Jahr auf zehnjährige Staatsanleihen. Nur so kann die Schweizer Nationalbank einen
weiteren Wechselkurs-Anstieg der eigenen Währung vermeiden, der
der Wirtschaft des Landes schweren Schaden zufügen würde. »Die
­wenigsten Anleger verwenden logischerweise den Schweizer Franken
als Anlagewährung«, sagte uns auch Susanne Höllinger, als sie im Vorjahr noch Leiterin des Private-Banking-Bereiches der »Erste Bank« war.
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»Das hat zwei Gründe: Er bietet praktisch keine Verzinsung. Und er ist
bereits so hart und teuer geworden, dass die Erwartung, später noch
einmal Währungsgewinne zu machen, eigentlich gleich null sind.«
Auch in den USA, Großbritannien, Norwegen und Japan sind die Zinsen niedriger als in Österreich, wo einfache Sparer bereits unter den
geringen Renditen stöhnen. Nur polnische Staatsanleihen scheinen
mit 5,2 Prozent gut aufgestellt. Doch dort gibt es, trotz der starken
pol­n ischen Wirtschaft, auch ein höheres Risiko als im Westen.
Die Flucht in fremde Währungen birgt grundsätzlich Gefahren, betonen Experten. Denn damit handelt man sich ein Währungsrisiko ein,
das zu Hause so nicht existiert. Wenn der Euro fällt, dann spürt man
das im Alltag kaum, weil die meisten Preise ja gleich bleiben. Weder
Mieten noch Bier werden teurer. Bloß Tanken kostet noch etwas mehr,
weil das Öl importiert wird; und natürlich verteuern sich auch Reisen
ins (Nicht-Euro-)Ausland.
Bei einer Veranlagung in Fremdwährungen aber spiegelt sich jede
Wechsel­k ursschwankung sofort in Gewinnen oder Verlusten wider.
Es ist wie eine Investition in spekulativen Aktien. »Wir sind immer
der Meinung, dass es gefährlich ist, aus der Währung zu flüchten, in
der man lebt und arbeitet; genauso wie es gefährlich war, Kredite in
Yen oder Schweizer Franken aufzunehmen«, sagt Harald Holzer, ein
­Vorstand der »Kathrein«-Bank.
Währungen können massiv und schnell schwanken. Tagtäglich werden
mehrere Billionen an Euro, Dollar, Yen oder Pfund auf dem interna­
tionalen Devisenmarkt hin und her verschoben. Händler in den großen
Banken bewegen per Mausklick riesige Summen; Angebot und Nachfrage bestimmen in jedem Augenblick den Preis. Und nicht selten sind
es hochkomplexe Computerprogramme, die darüber entscheiden, ob
ein Währungskurs fällt oder steigt.
Während es bei Aktien noch möglich ist, die Solidität und finanzielle
Stärke des Unternehmens zu beurteilen und daraus Prognosen abzuleiten, sind Wechselkursprognosen ein reines Ratespiel. Niemand weiß,
wo eine Währung in einem Jahr stehen wird – nicht einmal für den
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Euro-Druck in Österreich: Währungsspekulation als unsicheres Terrain (Foto: OeBS)
nächsten Tag ist eine präzise Prognose möglich. Das macht Währungsspekulationen zu einem unsicheren Terrain, auf dem man sich als
Kleinanleger rasch die Finger verbrennen kann.
Dennoch kann es sinnvoll sein, zumindest einen Teil seiner Erspar­
nisse in anderen Währungen anzulegen. Wenn der Euro fällt, dann
bleibt zumindest dieser Teil des Portefeuille stabil. Diversifizierung
hilft immer das Gesamtrisiko bei der Geldanlage zu senken. Je nach
der eigenen Risikobereitschaft und dem Ausmaß der Ersparnisse sollten dies etwa zehn bis zwanzig Prozent der eigenen Ersparnisse sein,
raten Experten. Bei größeren Vermögen auch mehr.
Aber wohin »flüchten«? Die klassische Alternative zur Heimwährung ist immer noch der US-Dollar. Die USA bieten den größten Kapitalmarkt der Welt. Vor allem amerikanische Aktien gehören in jedes
professionell gemanagte Portefeuille. Wer vor zehn Jahren Anteile von
Apple, Google oder Amazon gekauft hat, hat auf jeden Fall gewonnen –
egal, wie sich der Dollar nun von Tag zu Tag entwickelt.
»Der Vorteil des US-Dollar ist, dass hier eine einheitliche Regierung da ist, die frei agieren kann, ohne Rücksicht auf 17 andere Nationen«, sagt Holzer unter Hinweis auf die Entscheidungsträgheit
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der E­ uro-Zone. »Ein weiterer Vorteil: eine Wirtschaft, die wächst. Der
Nachteil: die volkswirtschaftlichen Rahmendaten – die Verschuldung,
das Budgetdefizit. Hier gibt es Kennzahlen, die genauso schlecht,
wenn nicht sogar noch schlechter als die in der Euro-Zone sind.«
Dazu kommt, dass die Amerikaner Jahr für Jahr immer noch zu wenig
sparen – und ebenso jedes Jahr viel mehr importieren, als sie selbst
für den Export produzieren. Die Lücke in der Leistungsbilanz wird vor
allen durch Kapital aus China geschlossen. Schon allein deshalb wird
dem Dollar seit Jahren ein deutlicher Wertverlust vorausgesagt. Bloß
weil dieser noch nicht oder erst gering eingetroffen ist, heißt das
nicht, dass er niemals kommt.
Wenn aber nicht Dollar, was dann? Japan ist
noch viel höher ver­schuldet als die USA und
Wenn aber nicht
die Wirtschaft des Landes wächst seit Jah- Dollar, was dann?
ren kaum. Das spricht gegen den Yen. Auch
in Großbritannien türmen sich die wirtschaftlichen Probleme; das
Land mit seinem riesigen Finanzsektor wurde von der Krise besonders
hart getroffen. Allerdings böte die Londoner Börse eine ansehnliche
Auswahl an großen international agierenden Konzernen mit zum Teil
guten Gewinnaussichten.
Beim Schweizer Franken wiederum passen alle fundamentalen
wirtschaft­lichen Daten. Wenn die Schweizer Nationalbank nicht durch
ihre Interventionen einen Deckel bei ihrem Kurs zum Euro eingezogen
hätte, dann läge der Franken bereits viel höher in der Bewertung. Aber:
Wer in Franken sein Geld anlegt, muss für diese Sicherheit bezahlen –
durch den Verzicht auf Zinsen; zum Teil sogar durch negative Zinsen.
Interessant scheinen die skandinavischen Staaten, die sich alle vom
Euro fern gehalten haben. Hier ist vor allem die norwegische Krone der
Liebling für Währungshasardeure. Dank des Ölreichtums des Landes
ist die Krone de facto eine »Petrowährung«. »Die norwegische Krone
wurde in den vergangenen Quartalen stark nachgefragt«, erklärt
­Valentin Hofstätter, Währungsexperte bei der Raiffeisen Zentralbank.
»Ihr großer Vorteil sind die Erdöleinnahmen und Norwegen ist ein
Nettogläubiger. Aber die Währung ist schon sehr teuer.« Wie sich die
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Krone weiter entwickelt, hängt also vor allem vom Ölpreis ab. Auch
der muss, vor allem kurzfristig gesehen, nicht immer steigen, sondern
könnte zwischendurch auch wieder einmal stärker nachgeben.
Der polnische Zloty und andere osteuropäische Währungen hängen
in ihrer Kursentwicklung wiederum stark vom Euro ab und stellen
daher keine wirkliche Fluchtwährung dar. Für wirklich Wagemutige
aber lockt der chinesische Yuan, die Währung der vielleicht bald größten Wirtschaftsmacht der Welt.
Tatsächlich ist der Yuan, auch Renimbi genannt, in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Freilich entscheidet hier nicht das
freie Spiel der Marktkräfte, sondern der Wille
der Kommunistischen Partei. Denn anders als die anderen großen
Währungen der Welt ist der Yuan nicht frei handelbar; er wird von
der Staatsmacht gelenkt. Jahrelang hat diese ihn künstlich ­n iedrig
gehalten, um die Exporte anzukurbeln; erst unter dem starken Druck
der USA hat die chinesische Führung eine allmähliche ­Aufwertung
zugelassen. »Es ist eine politische Entscheidung, wie sich der Wechselkurs des Yuan entwickeln wird«, sagt Harald Holzer von der
»Kathrein«-Bank. »Alle gehen davon aus, dass er aufwerten wird; aber
das wird sich erst zeigen.« Mitglied des Pekinger Zentralkomitees
müsste man sein ...
Für Wagemutige
lockt Chinas Yuan
Einer der Hebel, über die die chinesische Regierung den Wechselkurs
steuert, ist: Sie begrenzt den Eintritt von ausländischem Kapital.
Auch das macht es schwer, am künftigen Anstieg des Yuan zu partizi­
pieren. Am ehesten geht das noch über Veranlagungen in Hongkong,
sagen Asien-Experten.
Also, wohin man immer will: Nur ein kleiner Teil des Vermögens sollte
»anderswo« Zuflucht suchen. Denn was immer passiert – die Dinge,
die jemand fürs tägliche Leben braucht, wird man stets mit der eigenen Währung bezahlen. Wie bereits zu Beginn geschildert: Der Spatz
in der Hand – nun, Sie wissen schon ...
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Ratingagenturen: Die Spur der
Verwüstung quer durch Europa
von Mag. Ilja Morozov
Lange Zeit galten »Standard & Poors«, »Moody’s« und »Fitch« als
unantastbar. Damit ist jetzt Schluss. Mehrere wissenschaftliche
Studien geben den berühmt-berüchtigten Ratingriesen Mitschuld
an der Euro-Krise. Und Investoren haben gegen »die großen
Drei« erstmals erfolgreich »wegen massiven Betruges« geklagt.
Schließlich will auch die Europäische Union die Ratingagenturen
an die Kandare nehmen – freilich erst ab dem Jahr 2014.
Der Aufschrei in Europa war groß, als vor einem Jahr reihenweise die
Buchstaben purzelten. Denn mit ihnen purzelten auch Ansehen und
Kreditwürdigkeit. Im Jänner 2012 verlor neben Frankreich auch Österreich sein heiß geliebtes Triple-A-Rating. Insgesamt neun Staaten wurden auf einen Schlag ihrer bisherigen Note beraubt. Und das mitten in
der Euro-Krise, während der viele Länder mit enormen Zinsaufschlägen
zu kämpfen hatten. Für viele EU-Politiker war schnell klar, dass hier
»nicht mit objektiven Maßstäben gerechnet« wurde. Sogar von einer
Verschwörung gegen Europa war die Rede. Denn während Angela Merkel
und Co. von einem Rettungsgipfel zum nächsten pilgerten, schienen die
amerikanischen Ratingagenturen nahezu jede Lösung der Euro-Krise zu
torpedieren.
Auch in Österreich ging die Angst um, dass nach dem Verlust der AAABonität die Zinszahlungen in die Höhe schnellen würden – mit fatalen
Auswirkungen aufs Budget. Eine ganze Nation war empört. €CO besuchte im Frühjahr 2012 daher jenen Analysten, der Österreichs Herabstufung zu vertreten hatte – und staunte nicht schlecht: Alois Strasser ist gebürtiger Oberösterreicher und Chefanalyst bei »Standard &
Poor’s« (S&P) in Frankfurt.
Erstmals ließ sich der bis dahin medienscheue Natternbacher von
einem Fernsehteam in die Mangel nehmen. Natürlich fragten wir
ihn, ob er es bereue, seiner Heimat das Triple-A genommen zu haben?
»Nein, weil mein Auftrag ist es, ein richtiges Rating draußen zu
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haben. Ob ich jetzt Österreicher bin oder aus einem anderen Land
komme, ich habe eine gute Arbeit abzuliefern. Und dass Österreich
heruntergestuft worden ist, ist zwar schade, aber es war aufgrund der
Gesamtsituation nicht anders möglich«, antwortete Alois ­Strasser –
eher unpatriotisch, aber pflichtbewusst. Der wahre Grund für die
Herabstufung auf »das auch noch schöne Rating AA+«, so der Ober­
österreicher, seien eben die Unsicherheiten in der EU und weniger
­Österreichs marode Staatsbanken.
Immerhin: Das befürchtete Donnerwetter auf
den Finanzmärkten blieb für die Alpenrepublik aus. Ende 2012 musste Finanzministerin Maria Fekter für neue Staatsanleihen so
niedrige Zinsen zahlen wie nie zuvor – beinahe bereits lächerliche
zwei Prozent. Ganz im Gegensatz zu ihren Kollegen aus Portugal oder
Griechenland. Dort hatten massive Herabstufungen durch die drei Ratingriesen pure Verzweiflung ausgelöst. Im €CO-Interview zeigte sich
der österreichische S&P-Analyst Alois Strasser dennoch von der »makellosen Leistung« seiner Agentur überzeugt: »Es ist so, dass wir jahrzehntelang Meinungen zu Staatsratings veröffentlicht haben. Und die
waren eigentlich immer sehr gut und korrekt.«
Das Donnerwetter
ist ausgeblieben
Freilich: Das sehen viele Experten anders. Eine Studie der anerkannten Wirtschaftsuniversität »HSG« in St. Gallen bestätigte im alten Jahr
erstmals schwarz auf weiß, was viele EU-Politiker von Anfang an vermuteten – und was sie im neuen Jahr zu neuen Beschränkungen für
die Bonitätswächter greifen lässt: Die Agenturen tragen massiv (Mit-)
Schuld an Europas Misere. »Nicht nachvollziehbare ­Herabstufungen
europäischer Länder sind eine zentrale Ursache und Triebfeder der
­e uropäischen Schuldenkrise«, fassten die Autoren zusammen. So
haben die Schweizer Wissenschaftler unter anderem errechnet,
dass »S&P«, »Moody’s« und »Fitch« schon seit 2008 nach krummen
­Maßstäben bewertet haben. Anhand »objektiver Wirtschaftsfaktoren«
hätte beispielsweise Irland statt um sieben Klassen nur um eineinhalb Klassen herabgestuft werden dürfen; Portugal statt um acht nur
um eine halbe Klasse und – man glaubt es kaum – selbst Griechenland hätte zu Beginn der Krise gar nicht herabgestuft werden müssen.
­Freilich, hier liegt die Betonung auf dem Begriff »nicht müssen«.
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All das habe die Länder »allerdings an den Rand der Insolvenz« gedrängt, folgern die Experten nüchtern. Die Studienergebnisse sind
harter Tobak, der den Kritisierten nicht gut bekommen ist. »Standard
& Poor’s« reagierte verschnupft auf die Vorwürfe und antwortete mit
einer zweieinhalbseitigen Gegendarstellung. Die Rechenmodelle der
Schweizer Studienautoren freilich konnten nicht zweifelsfrei widerlegt werden. Und auch andere Institutionen gingen mit den Ratingagenturen hart ins Gericht. Laut den Wissenschaftlern der Plattform
»Intereconomics« haben die Analysten vor der Euro-Krise »viel zu
gutmütig Bestnoten« verteilt, »viel zu spät auf hohe Schuldenberge
reagiert« und dann »übereifrig Staaten herabgestuft«. Das habe die Situation auf den Finanzmärkten »verschärft«.
Die Problematik ist nicht neu. Auch während der Asienkrise vor fast
15 Jahren sind die Agenturen für ihre wenig ruhmreiche Rolle kritisiert worden. Viele Staaten fühlen sich in »Geiselhaft der Bonitätsprüfer«, die hauptsächlich den US-Finanzmärkten nahe stehen. Wer
Anleihen platzieren und somit neue Schulden machen will, kommt
de facto nämlich an den »großen Drei« nicht vorbei. Investoren vertrauen noch immer auf das Urteil von »Standard & Poor’s«, »Moody’s«
und »Fitch«. Dabei hätten Staaten und internationale Organisationen
genügend Beweise in der Hand, um weniger aufgeregt auf die Beurteilungen der Ratingagenturen reagieren zu können. Doch was ist bisher
geschehen? Richtig, so gut wie nichts. Denn egal, was Ratingagenturen auch machen, sie sind niemandem Rechenschaft schuldig. Haftungen für falsche Benotungen sind ausgeschlossen, da es sich ja schließlich nur um »Meinungen« handelt, die von der Redefreiheit geschützt
werden.
In den USA, dem größten Finanzplatz der Welt, waren die Bonitätswächter bis zum Jahr 2006 gar völlig ohne Aufsicht. Und das trotz vorheriger
echter Rating-Katastrophen wie »Parmalat«, »Worldcom« oder »Enron«;
dem US-Energieriesen »Enron« war gar vier Tage vor dem Konkurs noch
eine »gute Bonität« bescheinigt worden. Erst als die blamierte amerikanische Börsenaufsicht SEC Nachforschungen anstellte, gab es die ersten
Kratzer an der Fassade der Ratingagenturen: In einem 700 Seiten starken Bericht kam eine offizielle Untersuchungskommission der US-Regierung zum Schluss, dass »Ra­t ingagenturen die Hauptverursacher der
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Finanzkrise« sind. Detailreich werden darin toxische Finanzprodukte
beschrieben, die bereitwillig mit »AAA« bewertet wurden. Hundertfach
war von den Prüfern schnelles Geld gemacht worden, ohne dass die Produkte tatsächlich durchleuchtet worden wären ...
Um das wahre Ausmaß der Abzocke im Detail
verstehen zu können, lohnt ein Blick zurück
zum Ausgangspunkt der Finanzkrise. Rating­
agenturen wie »S&P« oder »Moody’s« verdienten bis dahin ihr Geld, indem sie Unternehmen und Länder auf ihre
Bonität bewerteten. Nur: Staatsanleihen sind zwar prestigeträchtig,
bringen jedoch kaum Umsatz. »Standard & Poor’s« etwa bewertet jährlich über eine Million Finanzprodukte, von denen aber nur ein Bruchteil Staaten zuzuordnen ist. Die USA oder Deutschland werden überhaupt gratis bewertet, weil die Agenturen sonst keinen Zugang zu den
dortigen Kunden erhalten.
Die Bonitätswächter
sind ohne Aufsicht
Richtig viel Geld lässt sich hingegen mit »komplexen Produkten« machen. Diese tauchten auf dem Markt auf, als ab dem Jahr 2002 immer
mehr Menschen in den USA auch mit schlechter Bonität einen Kredit
bekamen – urplötzlich nämlich machte sich unter den Investmentbanken eine Art Goldgräberstimmung breit. Gewiefte Finanz­mathematiker
verpackten Kredite schlechter Bonität, so genannte »subprime mort­
gages«, zu handelbaren Geldanlagen und verkauften diese toxischen
Gebilde an andere Investoren. Damit das Ganze einen seriösen Charakter hatte, verpassten Ratingagenturen den Produkten ihr Gütesiegel
– in den meisten Fällen übrigens ein »Triple-A«.
Die Gewinne von »Moody’s« und Co. schnellten bei einer Marge von
über 40 Prozent regelrecht in die Höhe. Insgesamt bewerteten die drei
Ratingriesen »Finanzprodukte« im Wert von mehreren Billionen Dollar, allesamt angeblich höchst objektiv. In Wirklichkeit blieben ihnen
im Schnitt oft nicht einmal zwei Stunden Zeit, um Millionendeals zu
überprüfen – und abzusegnen. Was danach passiert ist, ist Geschichte.
Zahllose »Triple-A«-Produkte verloren nach der Lehman-Pleite 2008 vollständig an Wert. Massenhaft gingen bestgeratete Finanzprodukte den
Bach hinunter, unglaubliche Summen wurden vernichtet, weil die Investoren nahezu blind dem Urteil der Bonitätsprüfer vertraut hatten ...
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Und: Viele Investoren, die die Ratingagen­turen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen wollten, blitzten mit ihren Klagen auch vor den
­G erichten ab – fast durchwegs argumentierten die Anwaltskanzleien
der Agenturen dabei eben mit dem Verweis auf die ­Meinungsfreiheit.
Erst im Vorjahr ist es »down under«, also in Aus­tralien, zu einem Aufsehen erregenden Urteil gekommen, das die Opfer der Bonitätsprüfer
erstmals hoffen lässt.
Der Akt geht als »Fall Rembrandt« vermutlich in die Justizgeschichte
ein. Tatsächlich liest sich das 1490 Seiten umfassende Gerichtsurteil
wie ein Wirtschaftskrimi, der alle Vorurteile gegenüber Ratingagenturen zu bestätigen scheint. 13 kleine australische Gemeinden hatten
auf Schadenersatz geklagt, weil sie durch Investments in »Rembrandt
2006« rund 16 Millionen Dollar verloren hatten. »Standard & Poor’s«
hatte dem neuartigen Finanzprodukt im Oktober 2006 ein »Triple-A«
verpasst, damit dessen Vertreiber – die holländische Investmentbank
»ABN Amro« – Anteilsscheine an den Mann bringen konnte.
Es kam, wie so oft in diesen Jahren: Nur zwölf Monate später war
»Rembrandt 2006« wertlos. Den Schaden trugen die kleinen australischen Gemeinden – und deren Rechtsvertreter und Detektive deckten Schriftverkehr und Zustände auf, die jedem Interessierten den
Atem verschlagen. Weil »S&P« selbst nämlich kaum Erfahrung mit
dem brandneuen CPDO (dem hoch riskanten Kreditderivat »Rembrandt
2006« ) hatte, entwickelte ausgerechnet Vertreiber »ABN Amro« ein
Ratingmodell, der es den Analysten dann auch netterweise zur Verfügung stellte. »Ist es normal, dass eine Ratingagentur einer Bank
erlaubt, eigene Modelle zu erstellen, mit denen sie dann selbst geratet
wird?«, fragte ein verblüffter Mitarbeiter in einem internen Mailverkehr der holländischen Bank. »Nein! Es ist nicht normal und absolut
verrückt«, antwortete ein Bankmanager, »aber es ist eine tolle Chance
für uns.«
Nicht nur, dass die australischen »S&P«-Analysten keine Erfahrung
mit dem Konstrukt »Rembrandt 2006« hatten; sie verließen sich auch
auf ungeprüfte Daten der Bank und vergaben ein »AAA«, weil die
»ABN Amro« Dampf machte: »Wir stehen unter enormem Druck, das
Produkt noch nächste Woche zu starten. Ihr müsst so schnell wie
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möglich die nötigen Berechnungen starten.« Erst nach und nach dämmerte es den Analysten, dass Fehler begangen worden sind. »Dieser
Deal ist eine absolute Katastrophe«, schrieb ein hochrangiger S&PAnalyst an seine Kollegen. Und dennoch: Auch bei einer zweiten Auflage von »Rembrandt« gab es wieder ein »Triple-A«.
Schließlich rechneten die Prüfer von »S&P« selbst nach – und entdeckten, dass das Finanzprodukt bei weitem nicht die Bonität hatte,
wie bereits zugestanden. »Als wir das erste Mal diesen ABN AmroDeal vor uns hatten, wussten wir, dass hier etwas nicht stimmt. Aber
wir hatten unsere eigene Modellierung auf später verschoben. Nun
sind wir aber in diesem Deal gefangen und können nicht mehr raus«,
hieß es darauf hin »S&P«-intern. Der Fluch der bösen Tat folgte auf
dem Fuß: Um »die Vertrauenswürdigkeit des Unternehmens« auf dem
­australischen Finanzmarkt zu wahren, musste auch eine letzte, dritte
Tranche von »Rembrandt 2006« mit »AAA« bewertet werden.
Verzweifelte Mails eines Junganalysten kurz vor Platzen der Seifenblase decken die absurd-kriminelle Welt der Ratingagenturen auf: »Ich
bin fertig mit dem ganzen C­ PDO-Deal; ich wünschte, ich wäre nie in
diese Schweinerei geraten.« Darauf sein Kollege: »Was bist du nicht für
ein Waschlappen.« »Nein, du bist der Waschlappen, weil du dich vor
den Bankern gebückt hast. Du bewertest etwas mit AAA, wenn es in
Wirklichkeit ein A– ist? Bist du stolz darauf?«
So viel zum Thema Ratingagenturen und Unabhängigkeit. Der Richter in Australien verdonnerte »Standard & Poor’s« und die Bank »ABN
Amro« übrigens zu insgesamt 30 Millionen Dollar Schadenersatz. Und
natürlich ist »Rembrandt 2006« noch immer gerichtsanhängig – ein
derart richtungweisendes Urteil wollten die Rechtsvertreter der Rating­
agenturen selbstverständlich nicht durchgehen lassen.
Aber: Das Stück gibt Hoffnung.
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Der Sündenfall der EZB – wenn
nur noch die Druckmaschine hilft
von Katinka Nowotny
Der Schritt der Europäischen Zentralbank, im großen Umfang
Staatspapiere der Schuldnerstaaten in der Euro-Zone aufzukaufen,
hat eine heftige Debatte unter Ökonomen ausgelöst: Wird damit
die Euro-Krise beigelegt – oder wird nur die Inflation angeheizt?
Sie sollte ein »Bollwerk monetärer Stabilität« sein, ein »fester
Anker für die neue Währung«: Als die Europäische Zentralbank 1998
als Notenbank für zunächst elf Teilnehmerstaaten gegründet wurde,
waren alle ihre Statuten darauf ausgerichtet, sicherzustellen, dass
die EZB niemals die Schulden ihrer Mitglieder finanzieren und so das
Tor zu einer inflationären Geldpolitik aufmachen würde. Denn wenn
einmal eine Notenbank Geld druckt und dieses den Regierenden borgt,
dann werden die Ersparnisse der Bürger weniger wert ...
Vor allem Deutschland hatte damals darauf gedrängt, dass dieses
­Szenario nie Wirklichkeit würde. Deshalb erhielt die EZB eine so genannte »Nichtbeistandsklausel« für Staatsschulden. Ja, selbst die Staaten untereinander sollten nicht für die Schulden anderer haften. Wenn
jeder auf sich allein gestellt ist, so die Logik, dann würden die Regierungen bei ihrer Haushaltspolitik Vernunft und Sorgfalt walten lassen.
Doch bekanntlich ist alles ganz anders. Vor allem die Regierungen der
südlichen Euro-Länder häuften riesige Schulden an oder müssen ihren
Banken zu Hilfe kommen, was riesige Löcher in die öffentlichen Haushalte reißt. Die Zinsen dieser Staaten schnellen in die Höhe, was die
Budgets noch mehr belastet. Und in dieser Lage tut die EZB genau das,
was Deutschland und andere befürchtet hatten: Sie kauft Staatsanleihen und entlastet damit den Schuldendienst ihrer Mitgliedsstaaten.
Zuerst erwarb sie 2010 griechische Staatsanleihen, dann irische und
portu­g iesische und schließlich auch Schuldpapiere der großen Volkswirtschaften Spanien und Italien. Sie tat dies anfangs in »begrenztem
Umfang«, immer vom Argument begleitet, dass »die Beruhigung der
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Anleihemärkte notwendig« sei, damit die Geldpolitik überhaupt funktionieren kann.
Freilich: Die EZB tastete sich dabei an die Grenzen des Erlaubten heran –
und überschritt diese nach Meinung von Kritikern. Weil eine Änderung
der Regeln die Zustimmung aller Staaten benötigt hätte, interpretierte
die EZB-Spitze nämlich einfach die Regeln um. Wenn die Bank Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt, also von anderen Investoren, erwirbt,
»dann ist das keine Schuldenfinanzierung«, behauptete das Direktorium. Nur der direkte Kauf von den Euro-Staaten selbst sei in den EUVerträgen verboten.
»Was die EZB tut, ist noch legal, aber bereits
im Grenzbereich«, sagt auch der Wifo-Ökonom
Fritz Breuss. »Und ich glaube, die EZB wäre
froh, wenn sie in Zukunft zusätzliche rechtliche Kompetenzen hätte.« Als nämlich die Renditen der Krisenländer
trotz aller Rettungsmaßnahmen weiter stiegen und immer heftiger die
Existenz des Euro bedrohten, legte EZB-Präsident Mario Draghi, selbst
Italiener, noch einen Gang zu: Im Sommer 2012 versprach er öffentlich,
er werde »alles Notwendige tun, um den Euro zu erhalten«.
Was die EZB tut,
liegt im Grenzbereich
Die Finanzmärkte lasen dies klarerweise als eine Ankündigung
­unbegrenzter Anleihekäufe. Im September wurde vom EZB-Rat mit nur
einer Gegenstimme – sie kam vom deutschen Bundesbank-Präsidenten
Jens Weidmann – tatsächlich ein entsprechender Beschluss gefasst:
unbegrenzter Ankauf von Staatsanleihen für Staaten, die sich den
Auflagen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) unterwerfen.
Seither tobt in der Euro-Zone eine wütende Debatte darüber, ob dies
tatsächlich der einzige Ausweg aus der Krise ist oder ob der Pfad in
Richtung Inflation eingeschlagen wurde, die das Ende der stabilen
Währung Euro einläutet. Noch immer schärfster Kritiker ist Jens Weidmann, der den Anleihekauf vehement ablehnt und viele seiner Landsleute auf seiner Seite weiß. »Der Geldsegen der Zentralbanken weckt
anhaltende Begehrlichkeiten«, warnte er im Spiegel-Interview. »Wir
sollten die Gefahr nicht unterschätzen, dass Notenbank-Finanzierung
richtig süchtig machen kann wie eine Droge.«
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Mario Draghi: Was die EZB tut, liegt im Grenzbereich (Foto: EZB)
Auf der anderen Seite stehen aber eben Mario Draghi und die restliche
Führung der EZB – die anderen 16 Notenbank-Chefs der Euro-Zone, die
meisten Regierungen und auch ein Gutteil der Ökonomen. Sie halten die
Warnungen vor einer bevorstehenden Inflation für maßlos übertrieben.
Solange die Wirtschaft kaum wächst und die Arbeitslosigkeit so hoch
ist, könnten Unternehmen ihre Preise nicht erhöhen und Arbeiter nicht
maßlos höhere Löhne verlangen. Daher komme es trotz »stimulierender
EZB-Politik« zu keinem Anstieg der Verbraucherpreise.
»Wenn eine Zentralbank immer alles aufkauft, was ein Staat an Anleihen emittiert, dann haben wir irgendwann einmal Inflation«, sagt
Stefan Bruckbauer, der Chefökonom der »UniCredit Bank Austria«. Die
Euro-Zone befinde sich aber »meilenweit weg« von so einer Situation.
»So wie es die EZB machen würde und auch gemacht hat, sehe ich überhaupt keine Gefahr für die Inflation.«
Das zweite Argument der Kritiker betrifft die Anreize für die Schuldnerstaaten: Wenn die EZB deren Staatsanleihen unbegrenzt erwirbt,
dann verlören sie jeden Anreiz, das Schuldenmachen einzuschränken
und für eine Budgetkonsolidierung zu sorgen. Doch dann würde sich
die Schuldenkrise langfristig nur weiter verschärfen. »Moral Hazard«
heißt in Fachkreisen dieses Problem, das überall dort auftritt, wo
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Die EZB-Zentrale in Frankfurt: Die Hüter der Druckmaschinen (Foto: ORF)
jemandem auf Kosten anderer geholfen wird oder wo gewisse Kosten
­gemeinsam getragen werden müssen.
So sieht es auch der Ökonom Taghizadegan Rahim vom Institut für
Wertewirtschaft (IfW): »Es wird immer wieder der Vorschlag gemacht, etwas zu tun, was die Rettung bringen soll; dabei wird nur Zeit
­erkauft. Doch diese wird nicht sinnvoll genutzt, um nachzudenken
und Dinge in eine richtige Richtung zu bringen. Alles geschieht nur,
um eine Lösung der Probleme hinauszuschieben.«
Tatsächlich machte die Euro-Zone genau diese Erfahrung. Als die
EZB im Sommer 2011 erstmals italienische Staatsanleihen kaufte und
damit die stark gestiegenen Renditen wieder drückte, vollführte der
damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi einen bedenklichen
Schwenk. Er entschärfte zuvor beschlossene Spar- und Reformmaß­
nahmen wieder. Für viele in Brüssel und Berlin ein klassisches Beispiel
für »Moral Hazard«.
Immerhin war das noch nicht das Ende der Geschichte. Die anderen
Euro-Staaten wandten sich damals gegen Berlusconi und machten
klar, dass unter seiner Regentschaft Italien keine weitere Hilfe erwarten könne. Tatsächlich verlor »Il Cavaliere« in Rom die Macht. Und
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Nachfolger Mario Monti hat mit seiner Expertenregierung die Wirtschaftsreformen wieder beschleunigt.
Schließlich will auch die EZB beim Aufkauf von Staatsanleihen vorsichtig vorgehen. Die Verknüpfung mit dem ESM bedeutet, dass nur
jene Staaten davon profitieren sollen, die massiv sparen und sich von
den Aufsehern der EZB, der EU-Kommission und des Internationalen
Währungsfonds – der so genannten Troika – kontrollieren lassen.
Den Beweis für das angeblich harte Durchgreifen musste der frühere
­G oldman-Sachs-Banker Mario Draghi für seine »Europäische Zentralbank« bisher noch nicht antreten; Italien erklärte umgehend, es benötige »keine weitere EZB-Hilfe«, und die spanische Regierung von Premier Mariano Rajoy zögerte die Anrufung der EZB monatelang hinaus.
Dennoch verbesserte sich die Stimmung auf den Finanzmärkten; die
­Renditen fielen.
Das ist auch eines der Hauptargumente der Befürworter der umstrittenen Vorgangsweise: Wenn die EZB nur deutlich genug erkläre, sie sei
»zum unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen« bereit, dann müsse
sie dies vielleicht gar nicht tun. Denn dann sinke das Ausfallsrisiko
für private Anleger und dann seien diese wieder bereit, die Schulden
der Euro-Staaten zu vernünftigen Konditionen zu finanzieren. Alles
eine Sache der Psychologie ...
Begrenzt die EZB hingegen ihr Ankaufsvolumen, wird die Sache für
sie teurer: denn dann bleibt das Risiko in den Augen vieler Investoren
bestehen und die Notenbank muss tatsächlich marode Staatsanleihen
aufkaufen, die dann bei der nächsten schlechten Nachricht abermals
an Wert verlieren.
Genau dies ist übrigens in den Jahren zwischen 2010 und 2012 geschehen und hat mit dazu beigetragen, dass die Bilanzsumme der EZB dramatisch angewachsen ist. Die Notenbank hat mehr Geld verborgt als je
zuvor – vor allem den europäischen Geschäftsbanken, aber auch den
Staaten. Damit hat sie auch mehr Geld »geschöpft« als je zuvor. Nach
der Theorie des Monetarismus ist diese Aufblähung der Geldmenge
aber genau die Hauptursache für Inflation. Gerne zitieren Leute wie
Bundesbank-Chef Jens Weidmann die Szene aus Goethes »Faust II«,
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in der Mephisto dem Kaiser zum Gelddrucken rät, um seine Finanz­­­­prob­leme zu lösen – um dann gemeinsam mit Faust wieder zu verschwinden, als das Reich von einer Inflationswelle überrollt wird.
Die Verteidiger des Aufkaufprogramms behaupten: Dazu muss es nicht kommen. Geld werde
nicht nur von der Notenbank geschöpft, sondern normalerweise auch von den Geschäftsbanken, und zwar durch deren Kreditvergabe. Aber genau die sei seit
Ausbruch der Krise deutlich zurückgegangen. Die EZB ersetze also nur
das, was in der Kredit­w irtschaft verloren gehe.
Beruhigungspillen
für die Kritiker
Außerdem sind die Verleihungen der Notenbank »nur kurzfristig«; sie
könnte, sobald sich die ersten Anzeichen einer beschleunigten Inflation einstellen, wieder auf die Bremse steigen, die Zinsen erhöhen und
die Kredite an die Banken wieder zurückfahren.
Aber – würde sie das wirklich tun? Die Warner vor der Inflation argumentieren, dass die EZB ihre politische Unabhängigkeit, die eigentlich
in den Maastricht-Verträgen festgeschrieben wurde, schon lange verloren habe. Weil sie sich jetzt so willfährig gegenüber der Politik zeigt,
werde sie das auch später wieder tun. Und die (meisten) Regierungen
der Euro-Zone würden es gar nicht gerne sehen, wenn bei den ersten
Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung die Zinsen gleich wieder
hinaufschnellten. Wer einmal die Droge Schuldenfinanzierung probiert
hat, komme von ihr nicht mehr los.
Tatsächlich: Was derzeit in der Euro-Zone geschieht, ist ein gigantischer Feldversuch.
Geht der schief, sind ganze Bevölkerungen zu entwöhnen.
»De facto stellen wir einen gigantischen Blankoscheck an hoch
verschuldete Staaten aus.«
Eva Pichler, a.o. Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien,
über den »Europäischen Stabilitätsmechanismus« ESM.
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Das Imperium Goldman Sachs –
oder: Die Mönche des Geldes
von Günther Kogler
Sie ist das Feindbild der »Occupy«-Bewegung und selbst an der
Wall Street mehr gefürchtet als geachtet – die US-Investmentbank
»Goldman Sachs« verkörpert wie keine andere in der Öffentlichkeit
das, was die Finanzwelt in Verruf gebracht hat: Hemmungslose
Spekulation, rücksichtsloses Gewinnstreben, scheinbar gewissenloses Vorgehen auch gegen die eigene Kundschaft. Und: Ihre
Macht stützt sich auf ein unglaubliches Netzwerk in Politik, in
Aufsichtsbehörden und in Zentralbanken – auch in der EZB.
»Wenn sie irgendwo auf der Welt eine Bank suchen, die die öffentliche
Meinung beeinflusst – sie landen unweigerlich bei Goldman Sachs.«
Als sich vergangenes Jahr drei Kollegen der BBC und zwei französische
Wirtschaftsjournalisten aufmachten und redaktionelle Unterstützung
für eine Dokumentation über das vermutlich mächtigste Geldhaus der
Welt suchten, konnte €CO nicht anders – das Wirtschaftsmagazin des
ORF machte mit. Und stieß, so wie die anderen, in den gemeinsamen
Recherchen auf eine wirkliche Geldmaschine.
Goldman Sachs ist keine Bank im herkömmlichen Sinn. Es ist eher ein
Imperium. Mit 700 Milliarden Euro Spielgeld in der Tasche wettet es
auf alles und jedes, strebt nach unerschöpflichem, nie endendem Profit. Die Bank beschäftigt 30.000 Angestellte, die rund um die Uhr rund
um den Erdball nur eines tun – Geld bewegen. Und von Frankfurt bis
Rom, von London bis Washington haben die Manager von Goldman
Sachs dafür ein Netzwerk errichtet, das einzigartig ist. Krisen kümmern Banker nur wenig. Ort, Zeit und Anlass spielen keine Rolle –
Goldman Sachs macht immer weiter.
Kritik an den Praktiken des Investmenthauses kommt nur aus der
Zivil­gesellschaft. Formuliert wird sie ausschließlich von unabhängigen
Finanzexperten, Buchautoren und Journalisten. Die Politik macht um
das mächtige Geldhaus lieber einen großen Bogen. »Goldman ist keine
Bank wie jede andere; sie ist die mächtigste Bank der Welt. Sie ist von
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Goldman Sachs-Zentrale in New York: Keine Adresse, aber ein Netzwerk (Foto: ORF)
einer unglaublichen Aura umgeben, fast nicht zu durchschauen. In
meinen 35 Jahren als Wirtschaftsjournalist hat sich Goldman Sachs
verändert – von einer ganz normalen, transparenten Bank zu einem
Konzern, zu einem Supermarkt der Spekulation und des Risikos«, erzählt etwa Marc Roche, der über die »Goldmänner« in Frankreich auch
ein wenig schmeichelhaftes Buch veröffentlicht hat.
Um zu verstehen, wie die US-Investmentbank tickt, empfiehlt sich ein
Ausflug in die Vergangenheit, zurück auf das Jahr 2007. Es ist das Jahr,
in dem die Katastrophe ihren Lauf nimmt. Im Jänner richtet US-Präsident George W. Bush in seiner traditionellen »Botschaft an die Nation«
den Amerikanern aus, dass eigentlich alles paletti ist. Die USA wähnen sich unbezwingbar: »Unsere Zukunft liegt in einer wachsenden
Wirtschaft. Und das ist genau das, was wir besitzen.«
Tatsächlich aber nimmt das mächtige Land gerade direkten Kurs auf
den Abgrund. Seine Kapitäne hatten einen Eisberg übersehen. Bis
heute fragen sich die Geschichtsschreiber, wie das möglich war. Der
Eisberg war nämlich derart riesig, dass er eigentlich auf jedem Radarschirm jedes durchschnittlichen Wirtschaftsforschers hätte auftauchen müssen. Hunderttausende von Amerikanern können nämlich
im selben Jänner 2007 ihre Kredite für ihre Eigenheime nicht mehr
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zurückzahlen. Sieben Millionen Familien sind von einer Zwangsräumung bedroht. Die »Subprime-Krise« bahnte sich ihren Weg – der
Traum, mit null Eigenkapital, aber augenscheinlich extrem niedrigen
Zinsen an ein Eigenheim zu kommen, platzte. Am Ende sollten Suppenküchen, Notunterkünfte und Zeltstädte stehen.
Nur: An der Wall Street in New York, der ersten Börseadresse des Erdballs, da herrschte Euphorie. »Solange die Musik spielt, solange musst
du tanzen«, sollte sich später einer der Chefs der großen Banken recht­
fertigen. Tatsächlich tanzte die Wall Street. Im Juli 2007 erreichte der
Aktienindex ein Allzeit-Hoch, das seither nie mehr erreicht wurde.
Dabei hatte der Eisberg den Luxusliner schon gerammt, die billigen
­Kabinen in den unteren Decks bereits zerstört.
Und: Abseits des Rampenlichts hatte Goldman Sachs den Tanzsaal
längst verlassen. Die Bank spekulierte bereits auf den Untergang –
auf die Pleite der US-Haushalte, auf den Zusammenbruch des Immobilienmarktes. Nun könnten unbeteiligte Beobachter zu der Erkenntnis kommen: Gut, die Jungs von Goldman Sachs waren eben kühle
Rechner. Sie haben sich eben nicht blenden lassen vom Glamour des
Tanzsaales, sondern hinter die Fassade des sagenhaften EigenheimWunders geblickt. Tatsächlich könnte man das sagen – wenn die Banker von Goldman Sachs mit ihrem Handeln nicht die Grenzen der Moral
überschritten hätten.
Goldman Sachs ist ein Konzern ohne Zweigstellen, ohne Straßenschilder, ohne sichtbare Identität. Die Bank arbeitet nicht für individuelle
Kunden; sie arbeitet für eine ausgesuchte Klientel: für Ford, für BP,
für den Stahlriesen Arcelor Mittal oder das IT-Netzwerk Facebook etwa.
Und sie arbeitet für Regierungen – für die USA, für China, für Russland. Ihr Hauptquartier liegt in einem unscheinbaren Bürogebäude,
nur einen Steinwurf entfernt vom neuen World Trade Center. Hinter
diesen Fenstern arbeitet eine ganze Armee von Finanzfachleuten.
Die beraten ihre Kunden; aber sie handeln auch selbst, arbeiten für den
eigenen Vorteil. Sie fühlen sich als die Herren der Finanzwelt. »17 Jahre
lang habe ich an der Wall Street gearbeitet; aber egal wo, bei Merrill
Lynch oder bei JP Morgan, alle wollten wir so werden wie die Leute
61
von Goldman Sachs. Die definierten den Standard der ­Finanzindustrie.
Immer schien es, als hätten sie die besten und cleversten Beschäftigten; die waren unterwegs, um zu gewinnen. Und sie pflegten zu sagen:
Es reicht nicht, dass du gewinnst; ein anderer muss verlieren«, erzählte
uns William Cohan, ein ehemaliger Bank­manager aus New York.
Viele ehemalige Mitarbeiter des Investmenthauses bestätigten uns: Wer Goldman Sachs
beitrat, trat einer Glaubensgemeinschaft bei.
Die Kultur des Unternehmens bedeutete: Unterordnung. Die besteht aus der Mischung aus Gier und Geheimhaltung
– und einem Hunger nach Risiko. Steve Bannon, ein Ex-Goldman-Banker aus Washington, etwa meinte im Interview: »Goldman Sachs stand
für Erfahrung und für Leistung. Es spielte keine Rolle, woher du kamst,
welche Schule du besucht hattest, was deine Religion oder deine Hautfarbe war. Das Einzige, was zählte, war: wie hart du gearbeitet, wie
clever du gedealt und wie gut du deine Kunden betreut hattest. Es war,
als wäre man einem Jesuitenorden beigetreten. Und über allem stand:
Alles und jedes berechenbar, alles und jedes zu Geld zu machen. Und
das geschah alles schon früher, noch bevor diese Quants, diese Finanzmathematiker, überall an der Wall Street auftauchten.«
Beitritt zu einer
Glaubensgemeinschaft
Tatsächlich heuerte Goldman Sachs über Jahrzehnte nur die besten
Uni-Abgänger an. Es war das Markenzeichen des Konzerns. Die Finanzmathematiker hatten nur eine Aufgabe: die Welt in Gleichungen einzuteilen, für alles und jedes, das uns umgibt, einen Preis festzulegen:
für Unternehmen, für Staaten, für deren Bevölkerungen. Um dann
Geld darauf zu wetten – auf Zuwächse, auf Verluste. Immer auf der
Suche nach dem maximalen Profit. Nicht umsonst wurden und werden die Goldman-Mitarbeiter an der Wall Street die »banker monks«
­genannt – die Mönche des Geldes.
Im Gegenzug garantierte »die Firma« ihren Fußtruppen Wohlstand und
ein bisserl Reichtum. Nomi Prins, ehemalige Goldman-Bankerin in New
York, räumte ein: »Dein Einkommen sagte etwas über dich aus innerhalb
des Konzerns. Also, wenn jemand 100.000 Dollar im Jahr verdiente und
du konntest 150.000 einstreifen, dann bedeutete das: Du bist besser als
der mit den 100.000. Das hat dir Aufmerksamkeit eingebracht.«
62
Nomi Prins arbeitet heute übrigens als Schriftstellerin in New York. Sie
hätte eine einträgliche Karriere im US-Investmenthaus vor sich gehabt,
aber dann passierte der traumatische 11. September des Jahres 2001
auch für sie. »Vom vierten Stock der Zentrale aus hatte ich den Anschlag auf das World Trade Center miterlebt. In meiner Etage wurde mit
Öl und mit Gas gehandelt, lauter Dinge, die irgendwie mit Flugzeugen
zu tun haben. Und dann bekommen wir mit, dass ein Flugzeug das Gebäude nebenan getroffen hat, später sogar noch das zweite, und unser
damaliger Vorgesetzter fordert uns auf, weiter zu arbeiten. Sein Bauchgefühl sage ihm: Jetzt sei ein guter Zeitpunkt, um Geld zu verdienen.«
Vier Monate später kündigte Nomi Prins.
Den fundamentalen Vertrauensbruch begeht Goldman Sachs schließlich
im Jahr 2007: Das Investmenthaus wettet gegen die eigene Kundschaft.
Es wettet gegen den Immobilienmarkt und leistet sich den »Abacus«Skandal. Der ist in den USA in der Zwischenzeit ein viel zitierter
Begriff und rasch erklärt. Die Finanzmathematiker des Geldhauses
suchten sich die Immobilienkredite mit den höchsten Risiken aus. Sie
bündelten sie, bringen ein neues Papier auf den Markt und taufen es
»Abacus«. Das Ding wird mit »Triple-A« gerated; also mit der vermeintlich größtmöglichen Sicherheit für Investoren.
Goldman Sachs verkauft die Papiere anschließend an die eigene Kundschaft. Die ist gutgläubig, wird im Ungewissen über die tatsächlichen
Risiken gelassen. Und zur selben Zeit beginnt eine andere Hauptabteilung von Goldman Sachs gegen das eigene Papier zu spekulieren. Der
Rest ist Geschichte. Sechs Monate später bricht der Immobilienmarkt
in den USA tatsächlich zusammen. Auch die »Abacus«-Papiere brechen
ein. Die Kunden von Goldman Sachs verlieren all ihr Geld. 750 Millionen
Euro hatten sie in das »Triple-A«-Investment gesteckt.
Nur Goldman Sachs streift zweimal Geld ein. Zuerst als Zwischenhändler beim Verkauf der »Abacus«-Papiere; schließlich als Spieler am
­Pokertisch, als die Wette gegen den Erfolg von »Abacus« aufgeht.
Drei Jahre müssen die Hintergangenen des »Abacus«-Skandals warten,
um zu erfahren, wer ihnen so übel mitgespielt hatte. Ein Franzose wird
vorgeführt. Fabrice Tourre. Selbst nennt er sich »the fabulous Fab«
63
– »der märchenhafte Fabrice«. Fabrice Tourre ist Finanzmathematiker.
Er hatte in der angesehenen »Ecole Centrale« in Paris sein Studium
abgeschlossen und war von Goldman Sachs im Alter von nur 22 Jahren angeheuert worden. Ehrgeizig, reich und arrogant – Tourre ist das
Sinnbild eines Goldman-Sachs-Händlers.
Er muss er sich als Einziger einer Befragung vor dem US-Senat stellen.
Die amerikanische Börsenaufsicht SEC hatte ihn angeklagt. Es ging um
seine Verwicklung in den Skandal um die »Abacus«-Papiere. Die Anhörung wird live von mehreren amerikanischen TV-Anstalten übertragen;
und rund um die Welt wurde den Zusehern vor Augen geführt, wie
Goldman Sachs arbeitete – und: wie zynisch das System funktionierte.
Tourre wird von einem Tag auf den anderen von seinem eigenen
­ rbeitgeber geopfert. Goldman Sachs bezahlte seine Anwälte, sorgte
A
aber gleichzeitig dafür, dass höchst peinliche E-Mails Tourres an die
Öffentlichkeit gespielt wurden. Kundenfreundlich für die internationale Presse gleich in mehrere Sprachen übersetzt. Ein kleiner Auszug:
23. Jänner 2007:
»Das ganze Konstrukt steht vor dem Zusammenbruch ...
Es wird nur einen Überlebenden geben: den märchenhaften Fabrice …«
7. März 2007:
»Das Geschäft ist tot. Die kleinen, dummen Kreditnehmer und
Hauseigentümer halten nicht mehr lange durch.«
13. Juni 2007:
»Gerade habe ich ein paar ›Abacus‹-Papiere an ein paar Zurückgebliebene verkauft, die mir auf dem Flughafen über den Weg gelaufen sind.
Es hat den Anschein, die reißen sich um unseren Ramsch.«
Selbst verteidigt sich Fabrice Tourre, auf Anraten seiner Anwälte,
folgendermaßen: »Ich bedaure diese E-Mails. Sie werfen ein schlechtes Licht auf mich und mein Unternehmen. Ich wünschte, ich hätte
sie nicht geschrieben.« Bis heute sollte Fabrice Tourre der einzige A
­ ngestellte von Goldman Sachs bleiben, der angeklagt wurde.
Goldman Sachs selbst wird nie unter Anklage gestellt. Nach dem
64
Tourre-Verfahren zahlte die Bank 400 Millionen Euro quasi als »Abschlagszahlung«. 400 Millionen Euro – zu dieser Zeit verdiente Goldman Sachs diese Summe binnen zweier Wochen.
Tatsächlich schreibt Goldman Sachs im Jahr
2007 einen Gewinn von 13 Milliarden Euro. Die
Wette gegen die
Bank hatte erfolgreich gewettet: Gegen die
eigene Kundschaft
Kreditnehmer in den kleinen amerikanischen
Haushalten – und gegen die eigene Kundschaft. Der Vorstandsvorsitzende von Goldman Sachs gewährt sich ein Gehalt von über 50 Millionen Euro. Intern wird der Verkauf der »Abacus«-Papiere als »Operation
Gegenspekulation« bezeichnet. Es ist der Raubzug des Jahrhunderts.
Dieser »Abacus«-Skandal freilich sollte nur ein Vorbote jenes Crash auf
den Finanzmärkten sein, der die Welt erschütterte. Die Schockwellen,
die vom Platzen der amerikanischen Immobilienblase ausgehen, erreichten auch alle Spieler außerhalb der Wall Street. Die Zukunft eines
ganzen Systems wurde aufs Spiel gesetzt – innerhalb eines Jahrzehntes hatte sich global eine so genannte Finanzindustrie entwickelt. Geld
mit Geld zu verdienen, war die Devise gewesen – bis der Traum platzte.
Im September 2008 schlittert die Investmentbank Lehman Brothers in
den Konkurs. Lehman ist einer der größten Konkurrenten von Goldman Sachs. Ein Hilferuf an die US-Regierung wird ausgeschickt. Deren
Finanzminister Hank Paulson lehnt ab. Lehman Brothers wird ausgelöscht. Mit einer Pressekonferenz.
Allerdings: Die Sache hatte einen schalen Beigeschmack. Bevor Hank
Paulson Finanzminister der USA wurde, war er Vorstandsvorsitzender
von Goldman Sachs gewesen. Dort hatte er das Aktienvermögen des
Institutes verwaltet. Als Paulson in das Kabinett Bush berufen wird,
verkaufte er seine Goldman-Sachs-Aktien. Daran verdiente er 200 Millionen Dollar.
Hank Paulson verhinderte aber nicht nur die Rettung des größten
­G egenspielers von Goldman Sachs, er musste auch über die Zukunft
von Amerikas größtem Versicherer, der American Insurance Group,
entscheiden. Auch die AIG befindet sich auf dem Weg in den Bankrott.
65
Ginge freilich AIG pleite, würde auch Goldman Sachs zehn Milliarden
Euro verlieren. Paulson beruft kurzerhand ein Treffen in New York ein;
er verhandelt höchstpersönlich mit seinem früheren Mitstreiter Lloyd
Blankfein. Der ist inzwischen zum neuen Vorstandsvorsitzenden von
Goldman Sachs aufgestiegen. Hinter verschlossenen Türen wird AIG
gerettet – auf einmal doch mit Hilfe von Steuergeld. Unter Freunden
wird aber noch ein Deal vereinbart. Die »American Insurance Group«
zahlt zuerst Goldman Sachs aus – und lässt sich erst dann von der
US-Regierung notverstaatlichen.
William Black, damals Mitarbeiter der US-Finanzmarkt-Aufsichtsbehörde SEC, ist heute noch sprachlos. »Die Sachlage war: Hank Paulson,
der frühere Vorstandsvorsitzende von Goldman Sachs, fragt Goldman
Sachs, wie mit den Schulden zu verfahren sei, die der gestrauchelte
Versicherungskonzern AIG bei Goldman Sachs hat. Das müssen Sie sich
vorstellen, das ist einfach unglaublich. Es wird Sie wenig überraschen:
Goldman empfiehlt, alle Außenstände abgegolten zu erhalten. Was AIG
auch macht. Das ist klagswürdig, geradezu obszön. Das kostete die
amerikanische Regierung Milliarden.«
Weitere Sündenfälle des US-Investmenthauses gefällig? Das Jahr 2009
beginnt mit Feiern – und mit einem Machtkampf. Barack Obama tritt
sein Amt als neuer Präsident der größten Militär-, aber auch der größten Wirtschaftsmacht der Welt an. Damit handelt er sich quasi von
Amts wegen mächtige Gegenspieler ein. Einer der ersten Termine, den
der frisch gebackene US-Präsident Barack Obama im Weißen Haus einberuft, ist deshalb auch ein Treffen mit den führenden Bankmanagern
des Landes. Unter ihnen befindet sich auch die Nummer eins von Goldman Sachs – Lloyd Blankfein.
Obama erinnert die Banker an den Zorn der Straße. Die Leute wollten
Köpfe rollen sehen. Tatsächlich ist die Lage ernst. Die USA waren in
eine Rezession geschlittert. Viele Banken überlebten nur, weil hunderte Milliarden an Steuergeldern in das System gepumpt werden.
Obama verspricht die Geldspritzen aufrecht zu erhalten, verlangt von
den Bankmanagern aber deren Unterstützung bei einer Reform des
­Finanzsystems ein. Der Deal wird einvernehmlich abgenickt. Auch von
Lloyd Blankfein.
66
Es ist, nach nur wenigen Tagen Amtszeit, ein erster fataler Fehler
des US-Präsidenten. Er nutzte die Gunst der Stunde nicht, um sofort
Änderungen und Reformen im US-Bankensystem durchzusetzen. Nur
sechs Monate später, als Obama im Sommer 2009 New York besucht,
ist das Mondfenster wieder geschlossen, haben sich die Machtverhältnisse zurück verschoben. Die Geldhäuser schreiben wieder Profite; das
Casino hatte wieder geöffnet; die atemberaubenden Bonuszahlungen
werden wieder aufgenommen. Niemand mehr will sich an die Milliardenspritzen erinnern.
Die Bankenlobby hatte den US-­P räsidenten
einfach links liegen gelassen, ihn durch Nicht­ Präsident Obama
beachtung »overruled«. Der ist so verärgert, wird »overruled«
dass er sich bei einer Veranstaltung zu einer
Schelte hinreißen lässt, wie sie die Welt noch nicht gehört hatte. »In
der Welt der Finanz gibt es welche, die diesen Moment missdeuten. Ich
ersuche alle, mir zuzuhören: Wir werden nicht, ich wiederhole: Wir werden nicht wieder zur Maßlosigkeit zurückkehren, die der Auslöser für
diese Krise war. Tatsache ist: Viele Konzerne, die nun wieder Gewinne
schreiben, schulden der amerikanischen Bevölkerung noch etwas.«
Aber die Sache war längst entschieden. Im Machtkampf mit dem Weißen Haus behalten die Banker die Oberhand. Auch dieser US-Präsident
hatte einen wichtigen Punkt übersehen – vor allem Goldman Sachs ist
in der Gesetzesmaschinerie Washingtons bestens vernetzt. Zwar muss
der Konzern im Nachhall an den Finanzcrash seinen Status als privilegiertes Investmenthaus aufgeben, auf seinen Einfluss im Zentrum der
Macht verzichtet er aber nicht. Und diese »Regierung Goldman Sachs«
im Umfeld des Weißen Hauses ist mächtig.
Direkt im Weißen Haus arbeitet der frühere Vorstandsvorsitzende
­Robert Rubin. Der war Finanzminister schon unter Bill Clinton, hat
heute direkten Zugang zu jedem US-Präsidenten; Mark Patterson ist
Stabschef im gegenwärtigen Finanzministerium, Robert Hormats
schließlich ist Unterstaatssekretär im Wirtschaftsministerium.
Der zweite Kreis der »Goldman-Freunde« beackert Zentralbank und Aufsichtsbehörden. William Dudley ist Vorstandsvorsitzender der Federal
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Reserve von New York; Gary Gensler ist Chef der Handelskommission
der Warenterminbörse; und in der amerikanischen Börseaufsicht werkt
Adam Storch. Allesamt sind sie frühere Mitarbeiter von Goldman Sachs.
Der letzte Zirkel wiederum nimmt Einfluss auf internationale ­Behörden.
Robert Zoelick war bis vor kurzem Präsident der Weltbank. Und Mark
Carney, Gouverneur der Bank of Canada, hat gerade den Vorsitz im
so genannten Financial Stability Board übernommen – just in jenem
­Gremium, das das weltweite Finanzsystem reformieren soll.
Keine einzige dieser Personen wollte uns für unsere Dokumentation
ein Interview geben; Fragen sind in diesem System offenbar nicht erwünscht. Wir wissen nur: Der Klub der früheren Goldman-Sachs-Gentlemen funktioniert. Und wie aus einer Drehtür kommen immer wieder
neue Freunde heraus.
An der Wall Street wird Goldman-SachsChef Lloyd Blankfein übrigens »das Messer« genannt. Seine Schlagfertigkeit ist
gefürchtet. Blankfein entstammt einer
Arbeiterfamilie aus Brooklyn, einer rauen Umgebung. Vom einfachen Verkäufer schaffte er den Aufstieg in die Chefetage von Goldman Sachs, den Olymp der Finanzwelt. Heute ist Blankfein 59 Jahre
alt, verkörpert das Gesicht der Firma; selten nur tritt er an die Öffentlichkeit. Wenn, dann ist das Kalkül. Dann gibt es Erklärungsnotstand. Sein Auftritt in der »Charlie Rose Show« vom April 2010
ist nahezu legendär. »Wie oft haben Sie mich im Fernsehen gesehen, in Talkshows? Niemals«, schnauzte er dabei den Moderator an.
Um dann mit sanfter Stimme hinzuzufügen: »Möglicherweise war
das ein Fehler. Nun haben wir eine Menge Arbeit vor uns, den Leuten zu erklären, was wir eigentlich tun; eigentlich beginnen wir
dabei bei null.«
Lloyd Blankfein
ist »das Messer«
Als ihn der Moderator dann aber doch höflich und bestimmt auf die
Tatsache hinweist, dass es ja auch Zeiten gegeben habe, da Goldman
Sachs gegen die eigene Kundschaft spekulierte, folgen bei Lloyd
Blankfein Sekunden des Nachdenkens, die sich im TV wie Stunden
anfühlten. »Das ist schwierig zu erklären ... Als Marktführer kaufen
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und verkaufen wir in jeder Minute des Tages tausende Positionen. Sie
mögen das als Casino bezeichnen – aber wenn es das ist, dann ist es
ein wichtiges Casino der Gesellschaft.«
Und Goldman Sachs heute? Heute geht ein Deal auf, der vor zwölf Jahren eingefädelt wurde. Am 1. Jänner 2001 wird Griechenland in die
Euro-Zone aufgenommen. Das kommt damals etwas überraschend. Es
ist eine Verbeugung vor dem südlichen Beitrittskandidaten, dessen
Wirtschaft deutlich hinter der anderer Euro-Länder hinterher hinkt.
Aber trotz massiver Bedenken wird Griechenland in die europäische
Oberliga aufgenommen.
Was folgte, ist sattsam bekannt. Das griechische Defizit erreicht binnen kurzem 100 Prozent des Brutto-Inlandsproduktes. Bis zum Vorjahr
steigt es auf 160 Prozent.
Aber wie konnte das Land seinen wahren Zustand, seine tatsächliche
Finanzkraft derart verschleiern?
Tatsächlich ist es möglich, Schuldpapiere zu manipulieren. Kreditanleihen werden in fremde Währungen umgetauscht; an der Wall Street werden solche Transaktion als »Währungsswap« bezeichnet. Sie täuschen –
sie verfälschen die Bilanzen. Sie ahnen es: Goldman Sachs hilft Athen
beim Frisieren der Bücher. Das US-Investmenthaus stellt nur eine
Bedingung: Der Deal unterliegt höchster Geheimhaltung.
Der Londoner Finanzjournalist Nick Dunbar analysierte für €CO, was
seinerzeit passierte, als die Jongleure von Goldman Sachs mit den
Vertretern der griechischen Regierung verhandelten: »Da wurde mit
vielen Fachbegriffen argumentiert; die Rede war von Derivaten und
von Swaps. In Wirklichkeit handelte es sich nur um eine große Wechselstube. Stellen Sie sich vor, der Schalterbeamte schlägt Ihnen folgenden Deal vor. Er wechselt Ihnen nicht einen Euro in einen Dollar um,
nein, er gibt Ihnen für jeden Euro zwei Dollar. Sie denken sich: Will
der sein Geld verschenken? Nein, antwortet der Schalterbeamte, natürlich nicht. Aber wir machen einen Geheimvertrag. Sie zahlen mir später alles zurück und am offiziellen Wechselbeleg steht, dass ich Ihnen
für jeden Euro zwei Dollar gegeben habe. So arbeitete Goldman Sachs
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New Yorks Börse: Hier wettete Goldman Sachs gegen die eigene Kundschaft (Foto: ORF)
in Griechenland. Das verringerte die offiziellen Staatsschulden gleich
um drei Milliarden Euro.«
Nur für Goldman Sachs wird die böse Angelegenheit zum einträglichen
Geschäft. Allein im ersten Jahr verdient die Bank daran 600 Millionen Euro. Risiko? Null. Am selben Tag, als der Deal mit Griechenland
­u nterzeichnet wird, versichert sich Goldman Sachs gegen eine Pleite
des Euro-Landes.
Das bittere Ende haben am Ende ausschließlich die Griechen auszu­
baden. Als alles auffliegt, schießt ihr Zinssatz für weitere Ausleihungen in die Höhe; die Rückzahlungsraten müssen gestreckt werden,
die Rechnung verdoppelte sich schlicht. Bis Ende 2037 noch muss
Griechen­land Jahr für Jahr 400 Millionen Euro für diesen einen Deal
bezahlen. Und der Athener Wirtschaftsjournalist Pavlos Tsinas weiß
sogar von einem zweiten Manipulationsversuch der Goldman-SachsLeute zu berichten. »Wir wissen, dass Goldman im Jahr 2008 einen
weiteren Deal anbieten wollte. Es ging um eine neuerliche, diesmal private Spekulation auf die Schulden des Landes.«
Nur: Diesmal passierte nichts. Nichts ging weiter. Ein Glück für den
Rest der Euro-Zone, meint Tsinas: »Weil es alle kapiert hatten: Stürzt
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Griechenland, erschüttert das die ganze Euro-Zone. Wenn Griechenland fällt, fallen auch Portugal, Belgien und Irland. Diesen Haien ging
es um den ersten Biss: Gelingt der, dann ist Blut im Wasser – und alle
anderen Haie kommen nach.«
Aber Goldman Sachs bereitet im Juni 2011 den letzten Coup vor. Just
einer der früheren Vizechefs, der Italiener Mario Draghi, steht vor
der Wahl zum Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Ganze drei
Jahre lang hatte der Italiener für Goldman Sachs gearbeitet, als Europadirektor, kurz bevor die Bilanztricks mit Athen aufgedeckt worden
waren. Also: Was wusste Mario Draghi?
Hier seine Rechtfertigung vor den Abgeordneten des Europaparlamentes
in der Original-Übersetzung: »Die Vereinbarungen zwischen Goldman
Sachs und der griechischen Regierung wurden getroffen vor meinem
Job bei Goldman Sachs. Ich hatte damit weder vor noch nach meinem
Job zu tun. Ich habe für Privatkunden von Goldman gearbeitet; tatsächlich wollte man, dass ich auch für den öffentlichen Sektor arbeite, aber
ich habe höflich abgelehnt. Also: Über diese Dinge weiß ich nichts, ich
habe mich damit auch nicht beschäftigt, Da können sie fragen, wen sie
wollen.« Keine Verurteilung der Praktiken von Goldman Sachs?
Schon im Oktober des Jahres 2011 feiert die europäische Elite den
neuen Chef der Europäischen Zentralbank. Er heißt Mario Draghi. Wieder gewinnt Goldman Sachs. Nun spannt die Bank ihr wundersames
Netzwerk nicht mehr nur über die USA, sondern auch über Europa.
Wieder hatte sich die Drehtür gedreht, wieder war aus ihr ein Manager
der US-Investmentbank getreten.
Draghi bleibt nämlich nicht allein. Auch Mario Monti, inzwischen Italiens Premierminister, früher EU-Wettbewerbskommissar, war lange
Zeit Berater von Goldman Sachs gewesen. Übrigens genauso wie sein
Vorvorgänger Romano Prodi, der sogar Präsident der EU-Kommission
gewesen war.
Othmar Issing, einst Chefökonom der Europäischen Zentralbank,
schwärmt in Deutschland in den höchsten Tönen über die Vorzüge von
Goldman Sachs. In Großbritannien steigt Peter Sutherland, einst Chef
71
der Internationalen Abteilung von Goldman, zum EU-Kommissar auf;
er nützt das Netzwerk, das schon Lord Griffiths aufgebaut hatte, ein
früherer enger Berater von Margaret Thatcher
Aus Portugal hilft Antonio Borges, er wird Europadirektor des Internationalen Währungsfonds; aus Frankreich stößt Charles de Croisset dazu,
einst Vorstandsvorsitzender der Credit Comercial de France, zwischendurch war er Vizepräsident von Goldman Sachs Europa gewesen.
Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um von einer dunklen
Ahnung befallen zu werden. Macht sich der Oligarch des Finanzwesens aus der Neuen Welt auch in der Alten Welt breit? Selbst Richard
Sylla von der New Yorker »Stern Business School« kann das System
dahinter nicht in Abrede stellen, relativiert aber: »Goldman Sachs
ist eine Kaderschmiede. Du kriegst den Goldman-Sachs-Abschluss an
der Goldman-Sachs-Universität und du wirst dich immer an die Goldman-Sachs-Kultur erinnern. Heute ist Mario Draghi Chef der Europäischen Zentralbank; wenn Lloyd Blankfein von Goldman Sachs ihn
morgen sprechen will, na gut, er braucht nur zum Hörer zu greifen. Es
gibt alte Verbindungen. Das ist einfach die Strategie dieser Banker: Sie
zementieren ihre Position.«
Eine Frage freilich bleibt unbeantwortet: Sind Finanzfachleute, Banker
und Manager wirklich die Geeignetsten, den Bevölkerungen Europas
die neuen, unglaublichen Sparprogramme zu verordnen? Und: Steht
hinter den Aufstiegen eines Mario Draghi, eines Mario Monti und eines
Lucas Papademos, der Gouverneur der griechischen Zentralbank gewesen war, nicht noch etwas anderes? Wird Europa gerade Zeuge, wie
Banker politische Macht übernehmen? Ist es Hilflosigkeit oder Unachtsamkeit: Die politischen Eliten Europas lassen Finanzprofis als »Retter
in der Not« agieren.
Aber waren es nicht gerade diese »Retter in der Not«, die nur ein paar
Jahre zuvor den Markt mit giftigen Papieren überflutet hatten?
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Wenn Spaniens Blüten blühen,
wird das teuer für Europa …
von Hans Hrabal
Wie verantwortungslose Eliten, die Gier des Mittelstandes und der
Egoismus der Regionen Europas viertgrößte Volkswirtschaft in
die Pleite manövrierten – so könnte der Untertitel eines ­Buches
lauten, das die spanische Tragödie beschreibt. Tatsächlich ist es
beschämend zu beobachten, wie ein ehemaliges Vorzeige­land der
Europäischen Union ruiniert wurde – und welche Kraftanstrengungen jetzt nötig sind, das Land wieder aufzurichten.
Den Spaniern geht die Geduld aus. Die Abstände zwischen den
­Generalstreiks, die jeweils das ganze Land lähmen, werden immer kürzer. Der Aufruhr überrascht nicht. 25 Prozent der Bevölkerung sind
mittler­weile arbeitslos. Bei den Unter-30-Jährigen ist gar die Hälfte
ohne Job. Doch nicht nur die Arbeitslosen gehen auf die Straße. So
gut wie alle sind von Einsparungen, drohendem Jobverlust, strauchelnden Betrieben, Privatkonkursen, Delogierungen betroffen und
artikulieren ihren Frust immer lauter.
Arbeiter, Geschäftsleute, Angestellte, Beamte, auch Polizisten, Ärzte,
Krankenschwestern demonstrieren zu Zehntausenden gegen die von
der Regierung verordneten Sparprogramme. Die Fahnen der Protestierer
wehen aufmüpfig. Auch die Sprüche, die die Demonstranten in Madrid,
in Barcelona, in Valencia vor sich her schreien, werden radikaler. »Es
tut uns leid, dass wir die wirklich Schuldigen nicht einsperren dürfen«,
lautet einer der einprägsamsten Slogans etwa der Polizeigewerkschafter. Die Antwort, wer dies denn sei, liefern die aufgebrachten Hüter
von Recht und Ordnung auch gleich mit: »Banker und Politiker!«
Weit von der von der Wahrheit ist der Kampfruf nicht entfernt. Wie in
Griechenland zeigt sich auch in Spanien, dass Politiker, Justiz, Banken und Medien versagt haben. Vor allem die angeblichen Eliten tragen Schuld an der Misere. Eine Clique, bestehend aus höchsten Repräsentanten des Staates, hat das Land jahrelang heruntergewirtschaftet,
hat selbst Kasse gemacht, hat sinnlos ausgegeben, spendiert, ließ sich
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Ciudad Val de Luz: Leere Gassen, leere Kassen (Foto: flickr/rinzewind)
feiern – und hat den Kopf in den Sand gesteckt vor den wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Konsequenzen.
Ciudad Val de Luz, die »Stadt des Lichts« – einprägsamer kann ein
Symbol für die spanische Misere nicht sein. Ersonnen von Marketingexperten, Immobilienentwicklern und Baulöwen, liegt etwa 150 Kilometer von Madrid entfernt eine riesige Ansammlung von fertigen und
halbfertigen Wohnblöcken und brach liegenden, fertig aufgeschlossenen Bauparzellen – mitten in der spanischen Pampa. Wohnraum für
etwa 50.000 Menschen sollte hier entstehen. Das Zielpublikum: junge
Familien aus dem Mittelstand, Aufsteiger mit guter Ausbildung und
einer viel versprechenden Zukunft.
Heute ist Ciudad Val de Luz eine Geisterstadt; Licht erzeugen nur wenige einsame Straßenlaternen. Die sind freilich vom Feinsten. Designerschick und modernste Neontechnik scheinen auf fertig asphaltierten Zufahrtsstraßen, fein säuberlich angelegte Blumenbeete, bunte
Kinderschaukeln und Klettergerüste. Die meisten der Häuser und Anlagen stehen leer. Der Wind weht einsam durch die Straßen.
Das Geisterprojekt wurde noch vor der Wirtschaftskrise begonnen.
Kurz nach Baubeginn, im Jahr 2008, entwickelte es sich über Nacht
74
zum Rohrkrepierer. Statt 20.000 Wohnungen wurden nur knapp 2000
gebaut (nicht einmal 500 davon sind verkauft). Statt 50.000 Menschen
zählt die halbfertige Satellitensiedlung heute kaum 2000 Einwohner.
Die meisten von ihnen haben sich für ihre schmucken Appartements
und Bilderbuch-Reihenhäuser auch noch schwer verschuldet. Ciudad
Val de Luz wird wegen genau dieser »Besonderheiten« von ausländischen Kamerateams gestürmt ...
Eine 80-Quadratmeter-Wohnung mit zwei Zimmern kostet wegen Immo­
bilienflaute und Konjunktureinbruch im Herbst 2012 offiziell noch
85.000 Euro. Vor wenigen Jahren, als die spanische Wirtschaft noch als
kerngesund galt, kostete dieselbe Wohnung das Doppelte – mindestens.
Und das Losschlagen der Appartements war lange Zeit trotzdem kein
Problem. Hunderttausende solcher Neubauwohnungen fanden in der
Zeit vor 2008 begeisterte Nachfrage. Hunderte ähnliche Retorten­städte
wie Ciudad Val de Luz zeugen in ganz Spanien davon.
Die Finanzierungen zum Kauf von Wohnungen wurden den Spaniern jahrelang von den
Günstige Kredite
Banken und Sparkassen geradezu nachgewor- zum Diskontpreis
fen. Fremdfinanzierungen über 100 Prozent
des Kaufwerts waren Standard; sehr häufig umwarben die Kreditgeber
ihre Kunden sogar mit Finanzierungspaketen von bis zu 130 Prozent
des Kaufpreises. So konnten sich die Kunden nicht nur ihre Wohnung,
sondern zusätzlich auch gleich noch die gesamte Einrichtung, ein kleines Auto und einen F­ amilienurlaub leisten. Die Gier erfasste das ganze
Land – wer sollte solchen Verlockungen auch widerstehen können?
An die Rückzahlung der Schulden dachte in ganz Spanien jahrelang
niemand. Wieso auch? Von 1999 bis 2008 hatten sich die Immobilienpreise in Spanien durchschnittlich verdreifacht. Wer eine Immobilie
(egal, ob ein Industrieobjekt oder eine Wohnung) erstand, ging davon
aus, dass das Investment ohnehin verlässlich an Wert gewinnen würde.
Der Boom riss alle mit. Wer da wegen zu berappender Zinsen oder
Rückzahlungsraten nicht investieren wollte, stand schnell als klein­
licher Idiot und Verlierer da. Wer hingegen riskierte und Schulden aufnahm, lukrierte Wertsteigerungen, schöpfte Gewinne ab, konnte quasi
auf Kredit reich werden.
75
Millionen Normalverdiener sprangen auf den verheißungsvollen
»Wachstumszug« auf. Die Gier nach schnellem Geld wurde zur Volksseuche. Manch cleverer Mittelständler wurde tatsächlich reich oder
schaffte es wenigstens zu ein bisschen Wohlstand. Im Hintergrund
schöpften aber vor allem die Bauwirtschaft, die Banken und die Immobilienentwickler den Rahm ab. Die Gewinnspirale, die hier gedreht
wurde, glich letztendlich einem großen, riskanten Pyramidenspiel, bei
dem klar war, dass irgendwann ziemlich viele alles verlieren werden –
aber alle mitzockten, weil sie hofften, doch noch zu den Gewinnern zu
gehören.
Und niemand stoppte die unkontrollierte Spekulationblase. Aber was war mit den politischen Kontrollmechanismen, mit der Justiz,
mit der Bankenaufsicht und auch mit den
Medien los? Alfredo Pastor war 1993 bis 1995 spanischer Staatssekretär
für Finanzen. Heute ist er ein anerkannter Professor für Wirtschaftswissenschaften in Barcelona. Pastor sieht die Ereignisse, die zur aktuellen Situation geführt haben, natürlich kritisch. Das Versagen sämtlicher Frühwarn- und Kontrollmechanismen erklärt er so: »Keiner kann
heute mehr verstehen, was damals los war. Es herrschte der allgemeine
Wahnsinn, die Gier hatte die Vernunft außer Kraft gesetzt. Wie die
Lemminge haben sich die Spanier in die Spekulation gestürzt. Und
alle haben begeistert mitgemacht. Es war wie bei einer lustigen, verrückten Party. Auch wenn man weiß, dass man morgen Kopfweh haben
wird, gibt es niemanden, der gerade dann die Musik abdreht, wenn die
Party auf dem Höhepunkt ist.«
Niemand stoppte die
Spekulationsblase
Die Party begann mit der Zusammenarbeit von Baufirmen, Banken und
Immobilienbranche, kurz nachdem Spanien Generalissimo Franco
los- und endlich eine Demokratie geworden war. Damals galt Spanien
als ein hoffnungslos zurückgebliebener europäischer Schwellenstaat,
der ab seinem EU-Beitritt 1986 mit milliardenschweren InfrastrukturInvestitionen aus Brüssel aufgepäppelt werden musste.
Und wie es bei Infrastrukturprojekten nun mal so ist: Nutznießer
ist primär die Bauwirtschaft. Die boomte und mit ihr zogen Handel und Gewerbe nach. Ab den 1990er-Jahren galt Spanien als
76
Spanien: Immobilienblase wie in den USA (Foto: flickr/rinzewind)
Wirtschaftswunderland, als konjunktureller Phönix aus der Asche. In
Spanien grünte es grün. Das Land hatte sich nach außen hin innerhalb
nur eines Jahrzehnts ins 21. Jahrhundert katapultiert, den Moder und
Staub von fünfzig Jahren Diktatur hinter sich gelassen.
Gestylte Verwaltungsgebäude, moderne Straßennetze, Flughäfen,
Hoch­geschwindigkeitsbahnen wurden errichtet. Berühmte Architekten mit Aufsehen erregenden und teuren Konstruktionen beauftragt.
Spanien war wieder wer. Und die Bauwirtschaft mit den Banken im
Rücken war der Motor dieser Entwicklung. Der konservativen Regierung Aznar, die das Land in den 1990ern dominierte, konnte das nur
recht sein. Spanien litt traditionellerweise unter einer relativ hohen
Sockelarbeitslosigkeit von etwa 20 bis 25 Prozent, doch dank des Baubooms stieg die Beschäftigung rasant an. Diesen Erfolg heftete sich
die Regierung gerne auf ihre Fahnen. Und tat ab nun alles nur Menschenmögliche, um die Bauwirtschaft immer weiter zu beschäftigen.
Die Olympischen Spiele 1992 etwa boten dafür einen prächtigen Anlass.
Und das war nur der Anfang. Bis zur Wirtschaftskrise 2008 herrschte
in Spanien für die Bauwirtschaft Goldgräberstimmung.
Nicht nur die Zentralregierung, auch die 17 weitgehend ­autonomen
Regionen schöpften aus dem Vollen. Auch wenn vor allem die
77
wirtschaftlich erfolgreichen nördlichen Regionen wie Katalonien, das
Baskenland und Navarra heute so tun, als ob ausschließlich die Maß­
losigkeit der Politiker in Madrid schuld am spanischen Debakel wäre:
Die Regionen haben stets ihr Scherflein beigetragen, wenn es um Geldverschwendung ging.
Gnadenlos egoistisch betrieb jeder Provinzkaiser wirtschaftlich meist sinnlose Prestigeprojekte. Jahrzehntelang. Jenseits einer
vernünftigen Koordination der infrastrukturellen Bedürfnisse des Gesamtstaates wurden Flughäfen gebaut, deren
Kapazitäten bis heute niemand braucht, wurden vierspurige Autobahnen verlegt, die in der Ödnis enden, gigantomanische Bahnhöfe, riesige Universitäten, ausufernde Fußballstadien errichtet, die nie ausgelastet wurden.
Die Prestigeprojekte
der Provinzkaiser
Bis 2007 verursachten die Regionen allein bereits 38 Prozent der
Staatsschulden. Für die Defizite der Regionen musste letztendlich ohnehin der Zentralstaat, die Regierung in Madrid geradestehen. Obwohl
diese bei den Ausgaben der Regionalregierungen keinerlei Mitspracheoder gar Vetorechte hatte.
Die Regionen waren es auch, die letztlich das spanische Bankensystem
zum Kippen brachten. Denn die viel zitierte spanische Bankenkrise,
wegen der die EU Madrid erst vor wenigen Monaten mit einem 45-Milliarden-Hilfspaket beistehen musste, ist keine Krise der Banken, sondern eine Krise der Sparkassen. Der regionalen Sparkassen, um genau
zu sein. Nicht genug, dass die Regionen das Geld ihrer Steuerzahler
jahrelang für sinnlose Imageprojekte ausgaben, hatten sie auch noch
die unter ihrem Einfluss stehenden Regional-Sparkassen zur Finanzierung weiterer Unternehmungen genötigt.
Das gilt vor allem für gigantische Wohnbauprojekte im Stil der Ciudad Val de Luz, die in Spanien zur Jahrtausendwende zunehmend
die I­n­frastrukturprojekte der 1990er-Jahre ergänzten. Regionen und
­G emeinden versprachen sich davon Wohlstand, Reichtum und Ansehen. Die Banken, die Sparkassen und die Bauwirtschaft sowieso. Das
System funktionierte so: Die Gemeinden brachten billiges Bauland
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ein und schlossen es auf Kosten des Steuerzahlers auf. Die Regionen
gründeten mit Gemeinden, Sparkassen, Baufirmen gemeinsame Entwicklungsgesellschaften und Bauträger, die das Ganze umsetzten und
vermarkteten; die Kreditinstitute sorgten für die Vorfinanzierungen
und halfen, Kunden mit unverschämt günstigen Krediten anzulocken;
die Baufirmen bauten, die Gemeinden hofften auf neue Mitbürger und
Steuerzahler und die Regionalpolitiker saßen in den Aufsichtsräten,
kassierten saftige Zusatzeinkommen oder ließen auch mal ihren Parteien fette Spenden zukommen.
Es war wie bei der »Subprime-Krise« in den USA. Solange dann auch
noch die Immobi­lienpreise kontinuierlich anstiegen, glich das System
dem Stein der Weisen. Nur: Ab 2008 war auch hier die wunderbare Geldvermehrung vorüber. Die Immobilienpreise fielen, die Menschen konnten ihre Kredite nicht mehr bedienen. Der Baufortschritt stockte. Die
Finanz­ierungen wackelten, die Kassen gerieten in Schieflage. Milliarden
von Krediten hätten abgeschrieben werden müssen. Und zahlreiche Banken hätten ehrlicherweise wohl in Konkurs gehen müssen.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt erhält die spanische Misere ein neue,
abstoßende Fratze: Regierungskriminalität. Denn trotz hoffnungs­loser
Überschuldung wurde keine der maroden Kassen in die Insolvenz geschickt. Bankenaufsicht, Finanzministerium, Zentralbank, Justiz – alle
verharrten im Nichtstun. Nicht nur, dass der Staat nicht eingriff, die
Regierung verschlimmerte die Situation noch. Sieben Regional-Sparkassen, jede für sich allein genommen ein Sanierungsfall, wurden zu einer
Riesenbank, der heutigen Bankia-Gruppe, ­verschmolzen.
Es war eine gigantische Bad-Bank, die nach außen hin freilich blütenweiß präsentiert wurde. Die kriminelle Konstruktion wurde schließlich auch noch an die Börse gebracht. Die Aktien wurden zu überhöhten Preisen überwiegend den Kunden der früheren sieben Sparkassen,
nunmehr eben den Kunden der Bankia, aufs Auge bzw. ins Depot gedrückt. Rund 350.000 Kunden, Sparer und Anleger, wurden so unter
Mitwirkung der Regierung in die Miesen manövriert.
Nur wenige Monate nach Ausgabe der Aktien waren diese bereits um
75 Prozent ihres Ausgabepreises gefallen. Ein Betrug, dessen Ausmaß
79
sogar die großen bisherigen Anlegerskandale in Europa und den USA
in den Schatten stellt – und der vor allem in die Verantwortung der
sozialistischen Regierung unter Ministerpräsident Jose Luis Rodriguez
Zapatero fällt.
Und die Moral von der Geschichte? Die Gründung der Bankia-Gruppe
konnte den Verfall des spanischen Finanzsystems nur geringfügig verzögern; die Bad-Bank schreibt 24 Milliarden Miese, ist als systemrelevante Bank heute aber too big to fail und muss mit EU-Geld gerettet
werden. Und Zapatero verlor zwar die letzten spanischen Wahlen, politisch oder juristisch vorgegangen wird gegen ihn nicht. Ebenso nicht
wie gegen andere Politiker (sowohl der Sozialisten als auch der Konservativen), gegen eingeweihte Bankmanager und nicht gegen die in
den Betrug involvierten Beamten. Nicht einmal Ermittlungen wurden
bisher eingeleitet.
Freilich: Nicht alle in Spanien finden das gerecht. Auch das ist ein
Grund für die Demonstrationen. Der bekannte TV-Journalist Hermann
Tertsch bringt, als €CO dem Niedergang des Landes hinterher recherchierte, den Frust der Menschen auf den Punkt: »Zapatero hatte alles
gewusst, als man noch etwas dagegen hätte machen können. Anstatt
zu reagieren hat er alles vertuscht, hat behauptet, dass Spaniens Bankensystem das sicherste der Welt sei. Er und die gesamte Clique, die
das zu verantworten hat, sind Verbrecher und sollten ins Gefängnis.«
Ob das je passieren wird, ist freilich fraglich. Und letztlich hätte ja
auch die EU zeitgerecht eingreifen können. Warum sie es nicht getan
hat, bleibt ebenfalls eine der vielen unbeantworteten Fragen, die sich
aus dem spanischen Dilemma ergeben.
»Mit dem Euro ist es wie mit einem Auto, das den Berg
­hinunterfährt und immer schneller wird. Die Euro-Retter sagen
sich: Wenn wir bremsen, bricht das Auto vielleicht aus; und
­deshalb bremsen wir lieber gar nicht.«
Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener
Wirtschaftsforschungsinstitutes „ifo“
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»Dolce vita« ist vorbei: Italien
wird von der Krise eingeholt
von Sabina Riedl
Leere Strände im Sommer; Italiens Vorzeigeindustrien auf dem
Boden. Lange Gesichter statt »dolce vita« – was ist nur los mit
»bella Italia«? Nach Spanien, Portugal und Griechenland hat
das Krisenvirus den nächsten Mittelmeerstaat erfasst und hält
unseren unmittelbaren südlichen Nachbarn im Würgegriff. Es
war nahezu mitleiderregend, wie €CO einen Lokalaugenschein
an der oberen Adria erleben musste ...
Das jedenfalls sind die ernüchternden Eckdaten der italienischen
Wirtschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt: Ein Ende der Rezession ist
nicht in Sicht. Im letzten Quartal des Vorjahres schrumpfte die Wirtschaft um weitere 0,2 Prozent und die EU-Kommission rechnet sogar
mit einem Konjunktureinbruch insgesamt um 2,3 Prozent. Auch heuer
stehen die Zeichen auf »Schrumpfen«. Erst 2014 erwartet die EU für
Italien wieder ein zartes Wachstum.
Die Industrie in der drittgrößten Volkswirtschaft Europas ist schwer
angeschlagen und scheint sich nicht zu erholen. Sowohl im Inland als
auch im Ausland ging die Nachfrage nach italienischen Produkten zurück. In den letzten vier Jahren mussten allein 100.000 Textilhersteller
zusperren. Damit aber trifft die Wirtschaftskrise auch die Identität
und das Selbstverständnis unserer südlichen Nachbarn ins Mark.
Ein Drittel der italienischen Jugend ist arbeitslos, man spricht auch
hier schon von einer verlorenen Generation. »Dove vai?«, fragt man
sich besorgt, denn außer dass Italien der drittgrößte Player in der
­Europäischen Gemeinschaft ist, sind viele Österreicher, die im letzten
Jahr in Italien Urlaub machten, von dem spürbaren Stimmungstief im
Land des »dolce vita« bestürzt.
Ein Sommer in Italien war für Generationen von uns der Inbegriff
der Unbeschwertheit, des prallen Lebens und des Genusses gewesen.
Doch gerade in der italienischsten aller Jahreszeiten, der Urlaubszeit,
81
offenbarte sich im vierten Krisenjahr hintereinander der triste Zustand unseres Lieblings-Nachbarlandes. Unser Lokalaugenschein an
der oberen Adria, der Badewanne der Österreicher, übertraf die düstersten Erwartungen noch. Gab es früher in der Hochsaison zwischen
Juli und August keine freie Liege mehr auf dem Lido di Jesolo, war das
Gästeaufkommen diesmal mehr als verhalten. Kein Zweifel, die Krise
war in Italien angekommen.
Wie immer standen die Schirme dicht gedrängt nebeneinander in Reih und Glied, aber
Gähnende Leere
darunter herrschte außer Schatten nur gähunter den Schirmen
nende Leere. So wenig Touristen wie 2012
gab’s an Italiens beliebtester Strandmeile noch nie. Vor allem die
Italiener selbst, die oft übers Wochenende zum Blaumachen an den
Strand fahren, ließen aus. 44 Prozent verzichteten auf einen Sommerkurzurlaub – andare al mare, der obligate Ausflug an den Strand, war
schlicht und einfach zu teuer geworden.
Auch die Urlauber aus dem restlichen Europa sparten spürbar. Die
Stimmung in den Ferienparadiesen am Mittelmeer, wo die Österreicher
seit Generationen ihre Lebensgeister auftankten, war im Keller. Und
selbst in der Serenissima, die um diese Jahreszeit sonst hoffnungslos
überlaufen ist, war es ungewöhnlich still. In den Restaurants, Cafés
und Geschäften klagten die Betreiber, dass die wenigen Gäste, die
kommen, nichts ausgeben würden.
Ein paar Eindrücke, noch einmal in Erinnerung gerufen: Der Lido di
Jesolo, die längste Strand- und Partymeile an der oberen Adria, ist
üblicherweise zum Bersten voll. Letztes Jahr erreichte die Auslastung
ein Rekordtief. Von einem Rückgang um die 30 Prozent war die Rede –
hinter vorgehaltener Hand, denn nur wenige der Hoteliers oder Geschäftsleute, die wir fragten, waren besonders auskunftsfreudig.
So fragten wir zwei, die es wissen müssten: Daniele Bragato und Giuglio Rovere, beide ­Bademeister wie aus dem Bilderbuch, am beliebten
Mazzini-Strand von Jesolo. Wir trafen sie, sonnengebräunt und vom
Workout gestählt, auf einem der salvataggio, der Hochstände, wo sie
seit mehr als zwanzig Jahren für die Sicherheit der ­Badegäste sorgen.
82
Und obwohl ihre äußere Erscheinung immer noch die heile italienische
Urlaubswelt verkörperte, saßen ihnen zwei schlechte Saisonen in den
Knochen. »Eine so miese Saison wie diese«, klagten sie, hätten sie
noch nie erlebt. »Leute«, sinnierte Daniele Bragato, »waren voriges
Jahr viel mehr hier. Man spürt den Unterschied zu 2011 – und Schuld
daran trägt die Krise.«
Sein Kollege Giuglio Rovere sekundierte: »Die Leute bleiben aus, weil
sie kein Geld haben, keine Arbeit, leider, das ist wirklich hart. Überhaupt finde ich, es war ein Fehler, in Italien den Euro einzuführen.
Denn darauf hin hat sich alles verteuert. Eine Pizza Margherita beispielsweise hat früher 5000 Lire gekostet, jetzt kostet sie fünf Euro,
also doppelt so viel. So wie alles andere auch – nur die Einkommen,
die sind gleich geblieben.«
Kein Wunder, dass es unter diesen Umständen die Italiener waren, die
hauptsächlich ausblieben. Viele sorgten sich um ihre Zukunft und wollten vorsichtshalber sparen; andere wieder waren bereits Opfer der Krise.
»Ausländer sind etwa gleich viele da wie voriges Jahr«, erzählte uns der
Student Nicola Vido, der mit seinem rollenden Eis-und-Getränke-Kiosk
den Strand auf und ab fuhr. »Nur Italiener sind deutlich weniger da.«
Der rigide Sparkurs Mario Montis hatte den Italienern bereits tief in
die Tasche gegriffen. Statt ein, zwei Wochen Badeurlaub am Meer, wie
es früher Tradition war, fuhr man im vergangenen Jahr maximal ein
bis zwei Tage ans Meer. Das war das höchste der Gefühle.
Der Rückgang der touristischen Einnahmen traf Italien im Vorjahr
hart – denn immerhin machten die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr 22 Prozent der gesamten Wertschöpfung des Mittelmeerstaates
aus. Die Krise traf also den Lebensnerv unseres liebsten Urlaublandes.
Und: Wie nimmt Österreich die Krise bei unserem südlichen Nachbarn wahr? Wir bitten unseren Interviewpartner, den Finanzberater
Andreas Schuster von Hypo Capital Management, in eine der tradi­
tionsreichsten Pizzerien in Wien: das Rossini in der Innenstadt. Der
erklärte Italienfan berät Kunden der Kathrein-Bank und der Raiffeisen
NÖ. Im Auftrag besorgter Anleger und Investoren hatte er eine Studie
83
zur Wirtschaftslage in Italien verfasst – die verheißt allerdings nichts
Gutes. Die Gründe für das Schwächeln der italienischen Wirtschaft
sind vielfältig; gerade die traditionellen Säulen der italienischen Exportwirtschaft hätten nachgegeben.
Andreas Schuster erklärt das so: »Der Wegfall der Konkurrenzfähigkeit der italienischen Exportindustrie ist bedingt durch die Tatsache,
dass Italien auf Märkten produziert, wo die asiatische Konkurrenz
relativ gute, günstige Produkte herstellt.« Gerade die »klassischen italienischen Sektoren« wie die Bekleidungsindustrie, Schuhe, Textilien,
Fahrzeuge hätten Federn gelassen – also all jene Handelssparten, in
denen Italien bereits viel Terrain verloren hat.
Und worauf müssen sich die Österreicher einrichten, die Italienische
Investitionen oder Anleihen haben? »Ich glaube«, so Andreas Schuster,
»den Worst Case haben wir schon gesehen im Fall von Griechenland.
Man muss eben auf einen Gutteil seiner Forderungen oder Investitionen verzichten oder wird dazu gezwungen. So ein Szenario ist für Italien aktuell nicht am Horizont, aber sicher eines der Risikoszenarien,
die man langfristig sehen könnte.«
Eine der größten italienisch-österreichischen Finanzverflechtungen
findet sich natürlich im Bankensektor. Die Bank Austria ist eine
100-Prozent-Tochter der Mailänder Großbank UniCredit, deren Aktien seit der Krise im Sinkflug sind. Ist eine Ansteckung der größten
heimischen Bank durch die italienische Mutter zu befürchten, wollen wir vom Chef-Ökonomen der UniCredit Bank Austria AG, Stefan
Bruckbauer, wissen? Und der findet deutliche Worte: »Ein Land in der
Rezession ist immer eine Herausforderung für eine Bank. Am italienischen Staat leidet die UniCredit nicht. Der italienische Staat geht
nicht pleite. Und sollte er pleitegehen, ist es aus meiner Sicht ziemlich egal, wo eine Bank in Europa angesiedelt ist; dann wird es alle
ordentlich durchbeuteln, egal, ob es eine deutsche, österreichische,
spanische oder italienische Bank ist. Also dieser Illusion brauchen wir
uns nicht hinzugeben. Wenn eines der reichsten und größten Länder
Europas eine Staatspleite macht, bleibt kein Stein auf dem anderen.«
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Unsere teuren Parteien und der
ungenierte Griff in den Steuertopf
von Mag. Ilja Morozov
So teuer waren uns die Parteien noch nie: SPÖ, ÖVP und Co. dürfen sich ab 2013 über viel Geld freuen; über sehr viel Geld. Denn
während etwa bei den Pensionisten oder den Beamten gespart
wird, wird die Parteienförderung saftig erhöht. Und zwar gleich
um das Zweifache. Und selbstverständlich ist klar: Bezahlen muss
das wie üblich der Steuerzahler.
Seit vielen Jahren schon ist Österreich Weltspitze, was die Parteienförderung betrifft. Kaum woanders auf dem Globus wird – pro Kopf
gerechnet – so viel Geld an das politische System ausgeschüttet wie
hierzulande. Hierfür hat die Republik in der Vergangenheit schon
reichlich Kritik geerntet.
Aber: Im Frühjahr 2012 roch es nach Veränderung. Angesichts der
­Euro-Krise und klammer Staatsfinanzen brachte die Regierung gerade
ein milliardenschweres Sparpaket zur Welt. »Gespart muss überall werden, aber nicht bei jenen, die arm sind«, erklärte Bundeskanzler Werner Faymann seinen Mitbürgern auf »Youtube«. Auch von einer möglichen Kürzung der Parteienförderung war die Rede.
Aber: Weit gefehlt. Nur wenige Monate später und zur großen Überraschung von Experten und wohl auch der Parteikassiere selbst haben
sich die »armen« Parlamentsparteien stattdessen per Gesetz eine
Verdoppelung der Staatszuschüsse ab Juli 2012 gegönnt. Von nun an
werden jedes Jahr stolze 29 Millionen Euro (statt bisher 15 Millionen)
auf die Parteikonten überwiesen. Eine Steigerung um rund 90 Prozent.
Heuer werden gar 36 Millionen Euro ausgeschüttet, da der Staat bereitwillig auch noch für das zweite Halbjahr 2012 nachzahlt.
Beinahe wäre die Rechnung für den Steuerzahler sogar noch höher
ausgefallen. Eifrige Beamte im Bundeskanzleramt hatten das Gesetz
nämlich so ausgelegt, dass die Parteienförderung rückwirkend für das
gesamte Jahr 2012 ausbezahlt werden muss. Also 43 statt 36 Millionen
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Euro im heurigen Jahr. Erst aufmerksame Journalisten schlugen gerade
noch rechtzeitig Alarm. Und nach einem öffentlichen Aufschrei der
Entrüstung wurde das peinliche Missgeschick als schlichter »Irrtum«
abgetan und korrigiert.
So oder so, für viele Bürger ist dieser plötzliche Geldregen eine Frechheit, da doch im Zuge des Sparpaketes »jeder seinen Beitrag leisten«
sollte. Pensionen wurden eingefroren, Beamtenposten nicht nachbesetzt und Bausparprämien gekürzt. Selbst die Super-Reichen sollten
höhere Steuern zahlen. Warum nur blieben die Parteien verschont? Hat
die Opposition etwa geschlafen, als sich ÖVP und SPÖ darauf geeinigt
hatten? Nein, das nicht. Zumindest nach außen zeigte man sich auf
einer Linie mit dem Volk. Eva Glawischnig von den Grünen tönte etwa
im Parlament: »Ich halte die Erhöhung der Parteienförderung für nicht
akzeptabel, absolut inakzeptabel!« Und Josef Bucher vom BZÖ tobte:
»Das ist eine entwürdigende Maßnahme für die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler!«
Die Oppositionsparteien waren zwar empört und verweigerten ihre Zustimmung zum Gesetz, das Geld nahmen sie dann aber trotzdem gerne.
So liegt es seitdem an Faymann, Fekter und Co. die immense Geldflut
mit immer denselben Argumenten zu verteidigen. Diese Rückzugslinie
lautet kurz zusammengefasst: Weil künftig weniger Geld fließt, muss
ab sofort mehr Geld fließen. Alles klar? Wir klären gerne auf. Nur eines
gleich vorweg: Rein rechnerisch fällt diese Argumentation durch sämtliche Logiktests.
Tatsächlich ist es zunächst so, dass mit dem neuen Gesetz nicht nur
höhere Förderungen, sondern auch strengere Regeln bei der Parteienfinanzierung eingeführt worden sind. Da wären einmal die bis dato
kaum kontrollierten Spenden. Im Lichte der Telekom-Affäre, zahlreicher Korruptionsvorwürfe und anderer illegaler Zahlungen müssen
von nun an von allen Parteien Spendenzuwendungen über 3500 Euro
offen gelegt werden – samt Namen und Anschrift des Wohltäters. Gelder aus dem Ausland dürfen bei Beträgen über 2500 Euro gar nicht
mehr angenommen werden. Und Einzelspenden ab 50.000 Euro gehören
umgehend dem Rechnungshof gemeldet, der den Namen des Spenders
kundtun muss.
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Unser Parlament: Teure Parteien (Foto: Parlamentsdirektion/Hikade)
Der erste öffentlich »gebrandmarkte« Großspender ist übrigens Partei­
gründer Frank Stronach, weil er sich selbst – sprich seiner »Team
Stronach«-Partei – eine Million Euro gespendet hat. Auch Spenden auf
Landes- und Bezirksebene sowie Geldflüsse an parteinahe Organisationen gehören nach den neuen Regelungen eingerechnet. Zusätzlich
müssen auch Inserate (ab 3500 Euro) und Sponsoring-Gelder (ab 12.000
Euro) veröffentlicht werden. Damit sollen die bisher mickrigen Rechenschaftsberichte der Parteien aussagekräftiger werden, zumal sie derzeit kaum ein Fünftel eines A4-Blattes umfassen. Zum Vergleich: Ein
Jahresabschluss eines Unternehmens geht meist über mehrere Seiten.
Und: Erstmals drohen bei Vergehen auch harte Strafen, die künftig
ein »unabhängiger Parteien-Transparenz-Senat« ahnden soll. Somit
soll »endgültig Schluss« sein mit anonymen und dubiosen Zahlungen.
Diese plötzliche Transparenz hatte anfangs selbst hart gesottene Kritiker überzeugt. Parteifinanzierungs-Experte DDr. Hubert Sickinger
etwa sprach in einer ersten Reaktion von einem »großen Wurf«.
Alles schön und gut, aber warum greift man im Gegenzug wiederum
den Bürgern so unverschämt in die Tasche? Vermutlich aus einem
einfachen Grund: Die Parteizentralen haben Sorge, dass die strengeren Transparenzregeln künftig viele Spender abschrecken. Und um
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Der Beschluss: Der Steuerzahler zahlt eh’ (Foto: Parlamentsdirektion/Zolles KG/Hagen)
finanziellen Katastrophen vorzubeugen, wurde die Parteienförderung
daher sicherheitshalber gleich verdoppelt. Schließlich hat ja nicht
jeder einen Stronach bei der Hand.
Freilich: Welche »Unsummen« bei einem totalen Spendenboykott tatsächlich in den Parteikassen fehlen würden, verrät ein Blick in die
aktuell verfügbaren Rechenschaftsberichte aus dem Jahr 2011. Die
SPÖ müsste demnach auf 2260 Euro verzichten. Die FPÖ hätte 320 Euro
in den Wind zu schreiben, das BZÖ 300 Euro. Und die Grünen würden
nicht einmal etwas merken – weil an sie angeblich überhaupt niemand gespendet hat. Einzig für die ÖVP dürfte einiges auf dem Spiel
stehen. Hier verzeichnete man 2011 immerhin 1,3 Millionen Euro auf
dem Spendenkonto. Dem gegenüber steht freilich das satte Förderplus
von 14 Millionen Euro im Jahr, das ganz klar in krasser Relation zu
den möglichen Spendenausfällen steht ...
Aber: Schließlich droht ja noch an einer anderen Front finanzielles
Ungemach. Ab sofort gibt es nämlich keine Rückerstattung von Wahlkampfkosten mehr, argumentieren die Parteien. Allein der Urnengang
im Jahr 2006 dürfte nach den Berechnungen von Prof. Sickinger ungefähr 60 Millionen Euro gekostet haben, also deutlich mehr als zehn
Millionen Euro je Partei. Nun war es bisher so, dass zumindest ein Teil
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der Kosten bei Nationalratswahlen vom Staat übernommen worden war.
Rund 14 Millionen an Steuermitteln sind hierfür geflossen. Allerdings
nur in jenen Jahren, in denen eine Wahl stattgefunden hat – also alle
fünf Jahre, manchmal auch etwas öfter.
Einen drohenden Geldmangel kann man SPÖ, ÖVP und Co. hier tatsächlich nicht abstreiten. Doch mit der doppelten Parteienförderung – in
genau derselben Höhe wie die bisherige Kostenrückerstattung – wird
jetzt so getan, als ob jedes Jahr Wahlkampf wäre. Das ist unverständlich. Ein automatischer Inflationsausgleich sorgt noch dazu für stetig
steigende Förderungen. Auch wenn die Spenden gänzlich ausfallen
sollten, können sich die Parteien noch immer getrost nach hinten
­lehnen. Zumal auch die Wahlkampfkosten mit dem neuen Parteienfinanzierungs-Gesetz auf maximal sieben Millionen Euro pro Partei
begrenzt worden sind. Die heuer stattfindenden Nationalratswahlen
dürften folglich keine allzu große finanzielle Belastung darstellen.
Und worauf auch gerne vergessen wird: EU-Wahlkampfkosten werden
auch weiterhin rückerstattet. Auch hier hätte einiges Sparpotenzial
bestanden. Immerhin schießt der Staat rund 13 Millionen Euro zu, wie
zuletzt bei der EU-Wahl im Jahr 2009. Aber das war den Parteien dann
wohl doch zu riskant. Künftig werden »bis zu zwei Euro je Wahlberechtigten« extra abgegolten. Macht übrigens genau 13 Millionen Euro.
Also auch hier ist keine Gefahr auszumachen, die eine Verdoppelung
rechtfertigen würde.
Überhaupt stehen die Parteien derzeit finanziell so gut da wie schon
lange nicht. Bis auf FPÖ und SPÖ haben keine der anderen Parteien
nennenswerte Schulden in der Bilanz stehen. Nüchtern betrachtet
kann die enorme Anhebung der Parteienförderung daher nur als
»großzügiges Geschenk«, keinesfalls aber als »bittere Notwendigkeit«
qualifiziert werden.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Natürlich kostet Demokratie Geld und es sei hart arbeitenden Parteien auch vergönnt. Jedoch nur, wenn es tatsächlich notwendig ist. Denn am Ende
bleibt fraglich, ob die teuer erkaufte Transparenz bei den Parteienfinanzen auch wie erwartet eintrifft. Bekanntlich gibt es ja immer
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Die Säulenhalle: Absprache unter den Parteien (Foto: Parlamentsdirektion/Ranz)
irgendwelche Schlupflöcher. So haben bereits parteinahe Vorfeldorganisationen damit begonnen, Parallelstrukturen aufzubauen, um der
Spendentransparenz zu entgehen.
Die Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter gründet etwa
den Verein »Gewerkschafter in der SPÖ« und der ebenfalls rote Pensionistenverband den Verein »65 Plus«. Solch Entwicklungen lassen am durchschlagenden Erfolg des neuen Gesetzes zweifeln. Und
noch ein Punkt bereitet Kopfzerbrechen: die Parteienförderung auf
Bundesländer­ebene. Mit 125 Millionen Euro im Jahr ist diese um ein
Vielfaches teurer als jene für die Bundesparteien.
Statt auch hier den Sparstift anzusetzen, ist im neuen Parteienför­
derungs-Gesetz ein Korridor zwischen 6,20 und maximal 22 Euro je
Wahlberechtigten vorgesehen, den die einzelnen Länder auch noch
unter sich aushandeln dürfen. Noch hat kein Bundesland ähnlich
drastische Erhöhungen angekündigt wie die Parlamentsparteien. In
Zukunft ist das jedoch nicht auszuschließen, bewegt sich doch beispielsweise Niederösterreich mit 11,16 Euro pro Kopf am unteren Limit
des Möglichen. Doch um auch hier härter durchzugreifen, dafür hat es
den Bundesparteien wohl an Argumenten gefehlt ...
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Das Werben um Betriebe:
Noch ist Österreich »liebenswert«
von Katinka Nowotny
Jedes Jahr siedeln sich hunderte ausländische Unternehmen in
Österreich und hier vor allem in Wien an. Angezogen werden sie
von hoher Lebensqualität und gut ausgebildeten Mitarbeitern.
Aber der Wettkampf um neue Firmen wird immer härter.
Der US-Amerikaner Chris Carlston hätte mit seinem kleinen Unterneh­
men auch nach Paris, nach London oder nach Madrid gehen können.
Aber er hat sich vor rund einem Jahr für Wien entschieden – und
wurde so einer von hunderten neuen Betriebsgründern in Österreich.
Carlstons kleines Büro in der Wiener Innenstadt wertet für internationale Ölkonzerne Satellitenbilder aus, damit diese wissen, wo
es sich zu bohren lohnt. Diese Arbeit kann überall auf der Welt gemacht werden. Carlston entschied sich für Österreichs Bundeshauptstadt – wegen der hohen Lebensqualität, die er und seine Familie hier
genießen können
»Wien ist gut für Familien«, sagt er. »Die Stadt ist sicher, sauber
und der öffentliche Verkehr funktioniert bestens. Wir können unseren
Kindern hier mehr Freiheiten geben. Paris und London wären für uns
zu groß gewesen. Wien war eine gute Wahl.«
Tatsächlich ist die hohe Lebensqualität einer der großen Pluspunkte,
mit denen Wien und auch andere österreichische Städte in aller Welt
um Ansiedelungen werben können. Jahr für Jahr wird die Bundeshaupt­
stadt vom Beratungsunternehmen »Mercer« als »lebenswerteste Stadt
für internationale Manager« ausgezeichnet. Aber mit Kultur, mit Parks
und mit Freundlichkeit allein kann man Weltkonzerne nicht mehr dazu
bringen, große Summen hier zu investieren. Der Kampf um Betriebsansiedelungen ist härter geworden und nicht mehr in allen Bereichen
kann Österreich punkten. Hohe Steuern, eine schwerfällige Bürokratie
und komplizierte Arbeitsbewilligungen sind die häufigsten Themen,
über die internationale Manager regelmäßig klagen.
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»Staaten wie Tschechien oder Ungarn gehen immer stärker in unser
Standortprofil hinein«, warnt Rene Siegl, der Chef der Austrian
­Business Agency (ABA), die für Betriebsansiedelungen wirbt. 2011 hat
seine Firma 180 Unternehmen mit 1800 neuen Jobs begleitet. »Es ist
kein Wunder – die müssen sich ihrerseits gegen die Ukraine, gegen
Rumänien oder gegen Bulgarien abgrenzen und das machen sie, indem
sie höher qualifizierte Leistungen anbieten. Daher ist Wien sicherlich
auch der Konkurrenz durch Prag und durch Budapest ausgesetzt. Das
ist ein neues Umfeld, das in den letzten fünf bis zehn Jahren ent­
standen ist.«
Lange Zeit war Wien der unumstrittene Champion, wenn es um Ost­europa-Zentralen internationaler Konzerne ging. Schon vor dem Fall
des Eisernen Vorhanges wurde von Wien aus
der Markt in den kommunistischen Ländern beobachtet; und ab 1989
erfolgte die Expansion in die Nachbarstaaten und weiter nach Osten
von Wien aus – rasant. Für Österreichs Bundeshauptstadt sprachen
unter anderem die zen­trale Lage in Europa, gute Verkehrsverbindungen, vor allem das dichte Flugnetz der AUA, die hohe Rechtssicherheit
und die Verfügbarkeit hochwertiger Dienstleistungen. Immer noch ist
Wien für viele deutlich attraktiver als Prag oder Budapest, aber der
Abstand ist geschrumpft.
»Go east« startete
immer von Wien aus
»Es ist ein globaler Wettlauf um die besten Unternehmen dieser Erde
und sobald man sich da ein bisschen zurücklehnt, fällt man klarerweise auch zurück«, sagt Gerhard Hirczi, der die Wirtschaftsagentur
Wien in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) leitet. 126 Unternehmen kamen mit seiner Hilfe im Vorjahr nach Wien – ein Rekordwert.
Darunter war auch die amerikanische Modekette »Forever 21«. Auf
ihrem ersten Sprung nach Europa entschied sie sich für Wien – als attraktiven, aber auch herausfordernden Testmarkt. Entscheidend waren
neben dem kaufkräftigen Publikum die Verfügbarkeit qualifizierter
Mitarbeiter – und natürlich Immobilien in Top-Lage und (damals) dennoch erschwinglichen Mieten.
Aber: So attraktiv Headquarters und Dienstleistungsbetriebe für einen
Wirtschaftsstandort auch sind, die meisten Arbeitsplätze entste­hen
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nach wie vor in der Industrieproduktion. Und da muss Österreich noch
härter kämpfen, denn die heimischen Löhne zählen zu den höchsten
der Welt. Statt Ansiedelungen kommt es deswegen auch immer wieder
zu Abwanderungen oder Betriebsschließungen, die meist in strukturschwachen Regionen Arbeitsplätze kosten.
Bei hohen Kosten müssen andere Dinge passen – vor allem die Qualifikation der Mitarbeiter und die Möglichkeiten für Partnerschaften bei
Forschung und Entwicklung. Das zählt etwa für die Firma »Castolin«,
einem Spezialisten für Schweißtechnik und Tochter der deutschen
»Messer Gruppe«. Vor kurzem hat das Unternehmen in Niederösterreich
eine neue Produktionshalle eingerichtet und zusätzliches Personal
eingestellt. Kieswerke, Papierproduzenten und die Stahlindustrie lassen hier ihre Maschinen und Anlagen mit Spezial-Schweißverfahren
vor zu raschem Verschleiß schützen.
Dem Einsatz dieser Technik gingen lange Jahre der Entwicklung voraus – in enger Zusammenarbeit mit lokalen Forschungseinrichtungen. Solches Know-how ist nicht einfach zu verlagern, deshalb bleibe
»Castolin« auch in Österreich, sagt Manager Robert Kirchmayer. »Es
gibt eine gute Kundenstruktur hier in Österreich und in den umliegenden Ländern, die wir schon seit Jahrzehnten beackern. Mit ihr
können wir uns weiter entwickeln; zusammen mit der Technologie
und der Forschung ist das ein Mix, der uns am Standort in Österreich
sicherlich gegenüber anderen überlegen macht.«
Der gute Ruf des Landes wird auch noch weiter im Osten geschätzt –
in China. Der steirische Elektromotoren-Hersteller ATB stand nach der
Pleite des Großinvestors Mirko Kovats und dessen »A-Tec«-Holding zum
Verkauf. Den Zuschlag erhielt das chinesische Familienunternehmen
Wolong, das von einem neuen Headquarter in Wien mit ATB-Produkten
in alle Welt expandieren will. »Jene Motoren, die ich hier herstellen
kann, kann ich nicht in China produzieren«, sagt ATB-Aufsichtsrat
Christian Schmidt. »Das spricht für den Standort Österreich und eine
Headquarterfunktion in Wien.«
Doch Experten warnen: Wenn Österreich die Rahmenbedingungen
nicht laufend verbessert, dann wird das Land von anderen überholt.
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»In den letzten zwei, drei Jahren verliert Österreich in den internatio­
nalen Rankings jedes Mal ein, zwei, teilweise sogar drei Plätze. Wenn
man selbst nicht stark reformiert, dann wird man nach hinten durchgereicht«, sagt ABA-Chef Siegl.
Die Körperschaftssteuer ist in Österreich mit 25 Prozent im guten
euro­päischen Durchschnitt und stellt kein Hindernis dar. Die unter
der schwarz-blauen Regierung eingeführte Gruppenbesteuerung galt
lange Zeit sogar als echtes Plus: Verluste bei Auslandstöchtern
konn­ten im Inland von der Steuer abgesetzt werden. Das war vor
allem bei der Ansiedelung von Unternehmenszentralen ein starkes
Argument. Wie bekannt, ist es hier zu wirklichen Verschlechterungen für Unternehmen gekommen.
Zusätzlich gibt es eine Fülle von kleineren Steuern und Gebühren wie
Werbeabgaben oder Gesellschaftssteuern, die dem Budget relativ wenig
bringen, aber dem Unternehmen großen Verwaltungsaufwand verursachen, kritisiert Barbara Polster-Grüll von der internationalen Wirtschaftstreuhand-Gesellschaft KPMG. Und die hohen Einkommensteuern
und Lohnnebenkosten sind vor allem für hoch bezahlte Manager ein
echtes Problem. 60 Kilometer weiter in Bratislava ist das Leben zwar
weder billiger noch schöner, aber die Steuerbelastung deutlich geringer.
»Die Höhe der Steuern ist in der Regel nicht das entscheidende
­ rgument für eine Ansiedelung«, schränkt Hirczi ein. »Es muss ein
A
­Package geben, dann läuft die Steuer sozusagen nebenbei mit.«
Zu diesem »Paket« gehört im Übrigen auch die berühmte »Ausländerpolitik« – und die könnte hierzulande deutlich liberaler werden. Der
Amerikaner Chris Carlston etwa konnte seiner Frau keine Arbeitsbewilligung beschaffen. Und andere Unternehmen klagen auch darüber, wie
schwer es ist, die notwendigen Papiere für qualifizierte Arbeitskräfte
aus dem Nicht-EU-Raum zu erhalten – Rot-Weiß-Rot-Card hin oder her.
Und noch wirchtiger als das, ist das Wissen, dass die Kinder in Wien
sicherer aufwachsen als etwa in einer amerikanischen Großstadt. »Wir
sehen unsere Kinder in die Straßenbahn einsteigen und haben dabei
ein sicheres Gefühl.«
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Unser Gehalt, unser Geheimnis:
So viel »Verdienst« ist normal
von Mag. Bettina Fink
Studieren Sie manchmal aus Interesse Stellenanzeigen? Mal sehen,
was sich auf dem Arbeitsmarkt so tut? Seit geraumer Zeit finden
sich im Kleingedruckten auch konkrete Angaben zur Entlohnung:
Also Informationen über das Monats- oder Jahresbruttogehalt
sowie den Kollektivvertrag. Das liest sich spannend. Doch sind
die genannten Summen auch realistisch?
Seit mehr als einem Jahr sind Arbeitgeber per Gesetz verpflichtet,
Löhne in Jobausschreibungen offen zu legen. Die neue Lohntransparenz: Sie wurde von der Frauenministerin und der Gewerkschaft als
»Waffe im Kampf gegen die konstatierten Lohnunterschiede zwischen
Männern und Frauen« durchgesetzt. Die These: Wer weiß, was die
­eigene Arbeitskraft wert ist, welche Löhne üblicherweise in der eigenen Branche bezahlt werden, kann auch besser verhandeln.
Das Gute daran: Der größte Teil aller Unternehmen hält sich mittlerweile auch an die gesetzlichen Vorgaben. Doch meist wird in Inseraten
nur der kollektivvertragliche Mindestlohn angegeben – und Bereitschaft zur Überzahlung signalisiert. Das ist zwar gesetzeskonform –
für Bewerber aber oft wenig hilfreich. Beispiele gefällig?
Conrad Pramböck ist Gehaltsexperte bei der internationalen Personalberatung »Pedersen & Partners«. Als solcher hat er permanent Einblick in die Einkommensdaten verschiedenster Branchen und Firmen,
sowohl national als auch international. Mit ihm machen wir einen
Gehalts-Check: Im Karriereteil großer österreichischer Tageszeitungen
nimmt er spontan Inserate unter die Lupe.
Beispiel eins: Gesucht wird eine Assistentin der G
­ eschäftsführung
mit Berufserfahrung. Der angegebene Mindestlohn: 1586 Euro
brutto monatlich. Die Einschätzung von Dr. Conrad Pramböck: »1500
Euro entsprechen dem Mindestgehalt von Einsteigerinnen, die die
HAK-Matura absolviert haben. Wenn ich Vorstandsassistentin bin und
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Berufserfahrung habe, bewegen sich die Gehälter jedenfalls zwischen
2500 und 3500 Euro brutto pro Monat, die Gehaltsangabe ist also völlig
unrealistisch.«
Beispiel zwei: Gesucht wird ein/e VertriebsmitarbeiterIn in der Phar­
mabranche. Die Person soll ein abgeschlossenes naturwissenschaft­
liches Studium und Berufserfahrung vorweisen. Die Pharmabranche
hat den Nimbus gut zu bezahlen. Doch das Jobinserat offeriert g­ erade
einmal 1441 Euro brutto pro Monat. Dr. Conrad Pramböck: »Das ist
nicht einmal das Einstiegsgehalt von MaturantInnen. Tatsächlich
müsste so jemand zwischen 2500 und 3000 Euro brutto verdienen, also
die Angaben im Inserat weichen um 50 Prozent von der Realität ab.«
Beispiel drei: Ausgeschrieben ist die Stelle einer Buchhalterin mit
abgeschlossener kaufmännischer Ausbildung und dem Schwerpunkt
Rechnungswesen. Sie soll einige Jahre Erfahrung haben. Für eine Vollzeitbeschäftigung werden im Inserat 1700 bis 2500 Euro als Gehalt genannt. Pramböck: »Das ist eine Stellenausschreibung, die realistische
Angaben macht. Damit kann man etwas anfangen.«
So einfach scheint es mit der Lohntransparenz in Inseraten also nicht
zu sein. Darum liefern wir zur Orientierung einen realistischen Überblick über übliche Einstiegsgehälter in Österreich. Abweichungen je
nach Branche sind natürlich möglich.
Einstiegsgehälter im Überblick
• Die Einstiegsgehälter für Facharbeiter liegen meist zwischen 1300
und 1700 Euro. Nach zehn Jahren sind es 2100 bis 2800 Euro.
• Die meisten Maturanten starten mit 1400 bis 1800 Euro und kommen
nach zehn Jahren auf 2300 bis 3200 Euro.
• Akademiker steigen mit 1800 bis 2500 Euro ein. Nach fünf Jahren
liegen sie bei 2900 bis 3600 Euro. Deutliche Ausreißer nach unten
oder oben sind möglich – je nach Studienwahl.
Besonders schwierig wird es mit den realistischen Gehaltsangaben in
den höheren Etagen. Markus Brenner ist Personalberater in Wien und
vermittelt Führungskräfte. »Gehälter sind hierzulande immer noch ein
großes Tabuthema. Vor allem aber hängen sie stark von der Person des
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Bewerbers, der Bewerberin ab, der Erfahrung und dem Wissen, die sie
oder er mitbringt. Die Spielräume sind darum – speziell bei Führungspositionen – gewaltig.« Gehaltsbandbreiten zwischen 50.000 bis zu
120.000 Euro jährlich für einen ausgeschriebenen Job im mittleren Management – alles ist möglich. Und dann wären da auch noch viele andere Variablen zu beachten: »Wie viel ist fix, wie viel Gehalt va­­riabel,
sind Überstunden inkludiert, gibt es einen Dienstwagen, eventuell
auch Pensionszusagen?«, so Markus Brenner.
Das reine Jahresgehalt sagt oft wenig aus. Und wenn man es allein
darauf anlegt, fürchtet der Personalberater eine Annäherung an »britische Verhältnisse, wo es nur noch darum geht, wie viel ist der Job
wert, was bekomme ich bezahlt. Das gefällt mir persönlich gar nicht,
es geht ja auch darum, dass ein Job zu mir passt, dass er Spaß macht.«
Auch wenn bei Führungsjobs scheinbar vieles relativ ist: hier ein Gehaltsüberblick zur Orientierung. Viel hängt auch von der Größe des
Unternehmens und von der Branche ab, fügt Conrad Pramböck hinzu.
Gehälter für Führungsjobs
• Wer nach fünf bis zehn Jahren zum Teamleiter aufsteigt, verdient
meist 3400 bis 5000 Euro brutto monatlich.
• Abteilungsleiter in einem mittelständischen Betrieb mit 200 bis 500
Mitarbeitern können nach zehn bis 20 Jahren mit 4800 bis 7000 Euro
rechnen.
• Bereichsleiter bei einem Großunternehmen mit mehr als 1000
Mitarbeitern wird man meist nach 15 bis 25 Berufsjahren. Die
Gehaltsbandbreite: 6800 bis 11.000 Euro. Abweichungen nicht
­ausgeschlossen.
Eine völlig andere Welt: die Produktion des
Automobil-Zulieferers R
­ upert Fertinger in
Angelernter oder
Wolkersdorf. 150 der 200 Mitarbeiter arbei- echter Facharbeiter?
ten in der Produktion. Meist angelernte Arbeiter und echte Facharbeiter. Hier gilt der Metaller-Kollektivvertrag. Rund 1600 Euro brutto monatlich – das ist der Einstiegslohn
– bei entsprechender Erfahrung und Qualifikation sind Überzahlungen von zehn bis 20 Prozent möglich. Und auch der Schichtdienst
bringt Zulagen.
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Doch in lichte Höhen eines richtig guten Akademikergehalts steigen
die wenigsten hier auf. Die Firma Rupert Fertinger sucht vor allem für
die automatisierten Anlagen immer wieder Fertigungstechniker und
Mechatroniker – Fachkräfte, die sehr rar sind. Der kollektivvertragliche Mindestlohn ist für besonders gefragte Techniker zwar ein Anhaltspunkt, aber nicht der alles entscheidende. Für das Unternehmen
ist die Offenlegung der Löhne in Stelleninseraten also eine Gratwanderung. Man will keine unattraktiven Mindestgehälter angeben und
gute Bewerber abschrecken – aber auch nicht überzogene Erwartungen wecken. Doch gerade bei sehr gefragtem Personal stehen die Firmen in einem harten Wettbewerb um die besten Leute. Personalchefin
Brigitta John: »In der freien Wirtschaft kann man das Gehalt nicht
so schematisieren, wie man sich das vielleicht in Ministerien oder
­Ä mtern vorstellt, wo es fixe, klare Einstufungen gibt. Bei uns herrscht
das Gesetz von Angebot und Nachfrage, das ist ein Markt.«
Hilfreich ist die Gehälteroffenlegung derzeit vor allem für Berufsgruppen, die nahe am Kollektivvertrag bezahlt werden. Laut Gewerkschaft
wussten viele ArbeitnehmerInnen bislang nicht einmal, welches
Gehalt ihnen mindestens zusteht. Und ob sie im richtigen oder in
einem für sie schlechteren Kollektivvertrag angestellt werden, so
Brigitte Ruprecht, Bundesfrauenvorsitzende im ÖGB. »Wir haben in
Österreich mehr als 800 verschiedene Kollektivverträge. Und da kann
es schon einen Unterschied machen, ob ich in einem Industrie- oder
einem Gewerbekollektivvertrag eingestuft werde.«
Zumindest diese Einstufungen werden durch die Gehaltsoffenlegung
transparenter. Es bleibt aber trotzdem niemandem erspart, sich gut
über den Marktwert der eigenen Arbeitskraft zu informieren, wenn
man einen neuen Job anstrebt. Je höher oder je gefragter die Qualifikation, desto mehr Spielraum ist gegeben.
Aber so lange Firmen in vielen Inseraten keine realistischen Angaben
machen, sondern nur Minimalanforderungen veröffentlichen, erfüllt
sich eine politische Idee hinter der Gehälteroffenlegung nur bedingt:
nämlich, dass allfällige Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern verschwinden sollen.
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Ein totaler Bildausfall – der
Absturz des Weltkonzerns Kodak
von Sabina Riedl
Es war die spektakulärste Pleite des abgelaufenen Jahres – dass
ein Weltkonzern und mit ihm eine der wertvollsten, gediegensten und bekanntesten Marken der Welt baden gehen, erlebt man
nicht alle Tage. Der Kamerapionier und Filmhersteller Kodak
schlitterte in die Insolvenz. Für viele markiert der Crash auch
das Ende einer Ära.
Kodak hat die digitale Revolution verschlafen, darin sind sich die
Brancheninsider einig – viele von ihnen freilich mit einer Träne im
Knopfloch. Immerhin war Kodak die neuntwichtigste Marke der Welt.
Gründer- und Firmenvater George Eastman war ein visionäres Genie.
Er hatte 1888 die erste Amateurkamera auf den Markt gebracht und
damit Fotogeschichte geschrieben.
Die europäischen Niederlassungen sind vorläufig nicht betroffen. Wenngleich der Schock auch dort tief sitzt. Die Kodak-Aktie ist in nur fünf
Jahren ins Bodenlose gestürzt – von 25,8 Euro auf zum Jahreswechsel
0,17 Euro – und lange schien es fraglich, ob und wie es mit dem einstigen Vorzeigebetrieb nach dem Insolvenzverfahren weitergehen würde.
Doch nun zeichnet sich eine wenigstens vorläufige Rettung ab.
Mitte November gab Kodak nämlich bekannt, dass der Konzern 800
Millionen Dollar für einen Neubeginn in der Kriegskasse habe. Genau
gesagt sind es 793 Millionen, die vorwiegend von zwei US-Großbanken,
UBS und JP-Morgan, kommen sollen. Damit Kodak als Druckerher­
steller durchstarten kann, muss das Unternehmen erst seine etwa
1000 Digitalfoto-Patente zu Geld machen. Die Geschäftsführung erhofft sich daraus einen Erlös von rund 500 Millionen Dollar – das
klingt schon sehr viel bescheidener als noch Anfang des Jahres 2012,
als von »bis zu drei Milliarden Dollar an Patentwerten« die Rede war.
Nach seinem Niedergang muss sich der Konzern womöglich mit noch
viel weniger als einer halben Milliarde begnügen.
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Eine Marke verschläft das digitale Zeitalter (Foto: Kodak)
Das ist doppelt bitter und auch ein wenig ironisch, weil aus der
­K odak-Entwicklungsabteilung die allerersten, damals noch revolu­
tionären Digitalkameras schlüpften. Doch während die Konkurrenten
schleunigst auf den digitalen Zug aufsprangen, verschlief Marktführer
Kodak, der die Speerspitzen der Entwicklung unter seinem eigenen
Dach beschäftigte, trotz seines gewaltigen Vorsprungs an Know-how
und Forschung die digitale Revolution.
Wie sind die Mächtigen gefallen, denkt man unwillkürlich, wenn man
an das goldene K denkt. Vom weltumspannenden Imperium und einer
Marke, die jedes Kind noch heute mit Familienalben, wertvollen Erinnerungen und Fotografie verbindet, zu einem beispiellosen Niedergang
war es nur ein kurzer Weg. Zu spät haben die Chefs die Weichen gestellt, viel zu spät erkannt, dass der Film, ihre Haupteinnahmequelle,
zum Nischenprodukt verkommen würde.
Und wer hätte gedacht, dass der Oldie von Paul Simon aus dem Jahr
1973 »Don’t Take My Kodakchrome Away« die Firma Kodak überleben würde? Das gigantische Kamera-und-Film-Imperium mit Sitz in
­Rochester, New York, beschäftigte zu seinen Glanzzeiten in den 1980erund 1990er-Jahren 145.000 Mitarbeiter weltweit; heute sind es gerade
mal 19.000.
100
Ein Teil des Kodak-Dramas hat sich, abgeschottet von der Öffentlichkeit, sogar vor den Toren Wiens abgespielt. Im Sommer 2003, kurz vor
der Schließung des Kodak-Labors in Wien-Auhof, waren wir mit einer
€CO-Kamera vor Ort. Was wir dort, im damals größten Foto-Entwicklungslabor Europas, zu sehen bekamen, lässt sich am ehesten mit dem
sprichwörtlichen »Zeichen an der Wand« beschreiben.
Es war die erste Urlaubssaison im Zeichen der Digitalfotografie. Im
Entwicklungslabor am westlichen Stadtrand Wiens herrschte im Herzstück des Betriebs, an den kilometerlangen Produktionsstraßen zur
Filmentwicklung, bereits gespenstische Stille – während sich im Obergeschoss, in einem behelfsmäßig eingerichteten Digitallabor, Wäschekörbe mit unerledigten Aufträgen für die Ausarbeitung von digitalen
Urlaubsfotos türmten.
Der damalige Geschäftsführer von Kodak-Österreich versuchte noch,
den sich abzeichnenden Dammbruch auf dem Fotosektor zu verhindern: Mit einer 300.000 Euro teuren »Gratis-Ausarbeitungsaktion« für
digitale Urlaubsfotos versuchte er zumindest den Printbetrieb zu retten. Vergebens. Das Geld war futsch und es hagelte wütende Kundenproteste, weil die Ausarbeitung wochenlang dauerte und nicht, wie in
der Werbung versprochen, »ein paar Tage«.
Im €CO-Interview vor neun Jahren, am 7. August 2003, gab er sich
noch zuversichtlich, dass die schlimmsten Einschnitte nicht unter
seinem Dach passieren würden. Das digitale Schlamassel, dem er nicht
Herr wurde, kommentierte er damals, als wären alle Chancen intakt,
doch noch die Kurve zu kriegen: »Das bedeutet nur«, sagte er, »dass
wir uns fit machen müssen. Wir werden da und dort natürlich auch
Restrukturierungen vornehmen müssen, bei der Produktion und den
Maschinen, aber leider auch, und das sollte man immer zuletzt machen, bei der Belegschaft.« Nachsatz: Aber betroffen wären sowieso in
erster Linie die USA und nicht Europa.
Nun, er sollte sich täuschen, denn schon kurz nach seinem Interview
war das größte Kodak-Entwicklungslabor Europas geschlossen, alle Mitarbeiter entlassen, nur Christian Wimmer und 18 weitere Kodak-Angestellte verblieben in ganz Österreich ...
101
Im Vorjahr besuchten wir den Ex-Kodak-­G eschäftsführer an ­s einem
neuen Arbeitsplatz. Heute ist Christian Wimmer ­G eschäfts­führer
des Einrichters »Service & More«. Die ­Kodak-Ära ist auch für ihn zu
Ende gegangen. Die dramatischen Ereignisse, die zum Finale geführt
hatten, wird er sein Leben lang nicht vergessen. »Es war ein sehr
schmerzhafter Prozess«, erinnert sich Christian Wimmer, »auch für
mich persönlich. Weil man den Plan im Kopf hat, es sind 450 Mitarbeiter
und am Ende des Tages werden nur 50 bis 100 überbleiben. Man weiß,
dass das nur unter Schmerzen vonstatten gehen kann.«
Hochmut, die Gier der Aktionäre, die von hohen Renditen verwöhnt
waren, gewaltige Fixkosten und ein zu langsamer Richtungswechsel
sind dem Weltmarktführer letztlich zum Verhängnis geworden.
»Man hätte die Restrukturierung nicht auf zehn, zwölf oder 15 Jahre
planen dürfen, sondern auf zwei oder drei Jahre – man hätte den Aktionären sagen müssen, es gibt jetzt kein Geld, das brauchen wir, um
uns neu aufzustellen. Das hat man verabsäumt. Diesen Mut hat man
leider in Rochester nicht gehabt«, lautet Wimmers wehmütige Bilanz.
Dabei stand am Beginn der Firmengründung vor 131 Jahren eine
technische und ökonomische Revolution – die Fotografie wurde massentauglich. US-Fotopionier und Visionär George Eastman entwickelte
die erste Amateurkamera, genannt »The Original«.
Im »Fotomuseum Westlicht« in Wien zeigt uns Inhaber und Sammler
Peter Coeln die erste Kodak, die den Firmenruhm begründete. »Der
Slogan«, erzählt er, »lautete: You push the button, we do the rest. Man
hat die ganze Kamera eingeschickt und bekam 100 entwickelte Fotos zurück, mit einem neu eingelegten Film. Die Kamera hat 25 Dollar gekostet, das Tauschen des Films und die Entwicklung der Bilder zehn Dollar.«
Es folgte der »Kodak Brownie 1894«, der für nur zwei Dollar auf den
Markt kam – ein massentaugliches Amateurprodukt, dem noch viele
epochale Entwicklungen folgen sollten.
Goldene Rahmen, Bilder auf Silberplatten, die Exponate im »Westlicht Fotomuseum« zeugen vom Wert der Fotografie anno dazumal. Sie
102
führen dem Betrachter vor Augen, wie kostspielig fotografieren einst
war – und wie spottbillig heute; auch und nicht zuletzt das Verdienst
von Kodak.
Branchenkenner und Profifotograf Peter Coeln über die Zukunft der
Firma: »Wichtig wäre, dass sich Kodak wieder selbst reinigt. Ich hoffe,
dass die Firma bestehen bleibt. Kodak ist einer der großen Brands der
Welt und ist in keiner Sprache negativ besetzt, was für eine Marke
sehr wichtig ist.« Alte Kodak-Werbespots aus den 1960er-Jahren l­assen
einen wehmütig werden. Ist die Marke doch mit öster­reichischen
Wohnzimmern und Familiennostalgien auf Generationen hin untrennbar verwachsen.
Das bestätigt auch die österreichische Fotodynastie schlechthin, die in den goldenen Ein Markt stellt
Kodak-Zeiten ihre eigene Firmen-Erfolgsge- sich auf den Kopf
schichte schrieb: die Hartlauers. Nach dem
plötzlichen Tod des »Fotolöwen« Franz Josef im Jahr 2000 übernahm
Sohn Robert den Betrieb – für den Junior ein Sprung ins kalte Wasser
– an der Schwelle zur digitalen Revolution. »Bei den Kameras«, erinnert
sich Robert Hartlauer an die rasante Entwicklung, »war im Jahr 2000
ein Anteil von fünf Prozent digital. Heute sind es 100 Prozent. Heute
gibt es kaum noch analoge Kameras, die verkauft werden. Bei der Ausarbeitung lag der analoge Anteil früher bei 99 Prozent, heute macht die
digitale Ausarbeitung 60, 70 Prozent aus. Das hat sich ganz klar in den
letzten zehn Jahren zu 100 Prozent gedreht – verständlicherweise.«
Die frühen Familienalben der Hartlauers sind noch analog, die späteren
digital – wie schnell ein Fixstern wie Kodak zu einer Fußnote werden
kann, überrascht sogar den Profi. »Ich werde oft nachdenklich, wenn
ich mir die Marktentwicklung so anschaue, auch im Tele­kom-Bereich.«
Totgesagte leben länger, heißt es im Allgemeinen. Wenn Kodak im
Sanierungsverfahren seine Patente zu Geld machen kann, wäre der
Weg für ein Comeback auf einen strahlenden Siegerplatz im Fotodruck
­geebnet. Wenn nicht, verschwindet die einstmals achtgrößte Marke
der Welt vom Markt – einfach so. Einfach, wie eine Fotografie im
Laufe der Jahre verblassen und schließlich ganz verschwinden kann.
103
Große Worte –
meist sogar richtige
gesammelt von Günther Kogler
»Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass ein
Regierungsmitglied hinzugehen hat, wenn
es eingeladen wird.«
Wollte Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) tatsächlich
in die »Gästeliste« aufgenommen werden, um vor dem
parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Sachen
Inseratenaffäre auszusagen?
»Ich weiß nicht, was Sie mit Schmiergeld meinen.”
Ex-Innenminister und Ex-EU-Abgeordneter Ernst Strasser
(auch Ex-ÖVP) hat keine Ahnung, was der parlamentarische
Korruptions-Unterausschuss von ihm will.
»Die Leistungsfrage wird hier immer wieder ins
Lächerliche gezogen. Ich beantworte sie daher nicht mehr.«
Walter Meischberger, Ex-FPÖ-Generalsekretär und Ex-Lobbyist,
will bei der Suche nach seiner Leistung nicht mehr helfen.
»Ich hab’ im Jahr 35 bis 40 Jagden. Wenn nicht
gerade der Kaiser von China kommt, merk’ ich
mir keine Namen.«
Lobbyist Alfons Mensdorff-Pouilly merkt sich auf
seinen Pirschzügen nur die Tiere.
»Nach der Abwicklung des Hypo-Verkaufes haben
Haider und ich die Idee entwickelt, dass etwas an
die Parteien gehen soll.«
Aus der Erinnerung des zurückgetretenen und in erster Instanz
verurteilten Kärntner ÖVP-Chefs Josef Martinz.
»Am Hochstand verhandeln, das bringt sicher nichts.«
Ex-Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad will Geschäfte
niemals mit der Flinte im Anschlag abgeschlossen haben.
104
Reha statt Rente: Die
»Invaliditätspension neu«
von Mag. Ilja Morozov
Es war ein logischer Reformansatz im »Frühpensionsland
­Österreich«: Wer krank ist, kann künftig nicht mehr so einfach
in Frühpension gehen. Stattdessen stehen Arztbesuche und Umschulungen auf dem Programm. Die Idee ist gut, die Umsetzung
jedoch weniger. Große Ungerechtigkeiten bleiben bestehen.
Großbaustelle Wiener Innenstadt. Vergangenen Sommer besucht €CO
schwer schuftende Bauarbeiter beim Umbau der U-Bahnstation Karlsplatz. Hitze, Feuer, Staub – unter harten Bedingungen werden hier im
Akkord Gleise aneinandergeschweißt. Wie lange hält man denn so eine
Arbeit körperlich aus, wollen wir wissen. »Bis zur Pension sicherlich
nicht«, tönt es unisono aus den verschwitzten Gesichtern. Für mehr
bleibt im Interview keine Zeit, jede Minute ist hier beinhart kalkuliert. Arbeitsunfälle, Bandscheiben-Vorfälle, Stress. Bauarbeiter sind
Paradekandidaten für die invaliditätsbedingte Frühpension, sollte
man denken. Leider sind sie bei Weitem nicht die einzigen.
Österreichweit scheiden jedes Jahr über 20.000 Menschen krankheitsbedingt aus dem aktiven Erwerbsleben aus, quer durch alle Berufsgruppen. Egal, ob Angestellter oder Arbeiter, keiner ist davor gefeit.
Aktuell gehen hierzulande sogar mehr Menschen in Invaliditätspension als in die reguläre Alterspension. Besonders alarmierend ist die
Zahl der Unter-50-Jährigen. Diese machen bereits ein Drittel aller Betroffenen aus, Tendenz steigend. Das kommt den Staat ziemlich teuer.
Drei bis fünf Milliarden Euro müssen jedes Jahr für diese Invaliditätspensionen berappt werden. »Ohne Ergreifung gesetzlicher Maßnahmen ist die mittel- und langfristige Finanzierung der gesetzlichen
Pensionsversicherung gefährdet«, warnt daher das Sozialministerium.
Verhindern soll das die »Invaliditätspension NEU«, ein unter Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) ausgearbeitetes Gesetz. Im Kern sieht
die neue Regelung vor, dass die befristete Invaliditätspension ab 2014
schrittweise abgeschafft wird.
105
Da jedes Jahr ein neuer Jahrgang dazu kommt, läuft die bisherige
­Regelung bis 2029 automatisch aus. Damit soll massenhaften Frühpensionierungen endlich ein Riegel vorgeschoben werden. »Das Wichtigste
ist einmal, dass wir nicht sagen: Da hast’ eine Rente, baba und fall net.
Sondern dass wir einmal hinschauen und mit den Menschen arbeiten«,
erklärt Rudolf Hundstorfer. Gleich zwei Fliegen mit einer Klappe will
der Minister schlagen. Einerseits sollen erkrankte Menschen wieder ins
Berufsleben integriert und das durchschnittliche Pensionsantrittsalter dadurch angehoben werden. Das ist im europäi­schen Vergleich ja
wahrlich nicht berühmt. Und andererseits sollen die Pensionskosten
innerhalb von fünf Jahren um 700 Millionen Euro reduziert werden.
Abgesehen davon, dass das Einsparungspotenzial von so manchem Experten als »heroische Annahme« stark angezweifelt wird, bleiben viele
Problemfelder freilich ungelöst.
Zunächst aber zu den Details. Das neue Gesetz
gilt für all jene, die am 1. Jänner 2014 jünger
als fünfzig Jahre sind. Sie können dann nicht
mehr in die befristete Invaliditätspension
abgeschoben werden, sondern müssen sich stattdessen medizinischen
Behandlungen oder einer Umschulung beim Arbeitsmarktservice unterziehen. Oder beidem. Nur wer tatsächlich dauerhaft krank oder invalide ist, darf auch in Z­ ukunft in den vorzeitigen Ruhestand.
Behandlung
statt Pension
Bisher wurde etwa ein an Krebs erkrankter Angestellter nach einer ge­
wissen Zeit nahezu automatisch in Frühpension geschickt. Ab 2014
­erhält er aber so lange eine ärztliche Behandlung und Reha-Geld bezahlt, bis er – hoffentlich auskuriert – seinen alten Beruf wieder auf­
nehmen kann. Sollte jemand den alten Job nicht mehr verrichten können, so sind verpflichtende Umschulungsmaßnahmen durch das AMS
vorgesehen. Parallel wird ein Umschulungsgeld ausbezahlt, das sich am
Arbeitslosengeld orientiert, zumindest jedoch sind es 950 Euro im Monat.
Nach den Vorstellungen des Sozialministers könnte ein Tischler mit
Bandscheiben-Vorfall zum Fachmarktverkäufer ausgebildet werden und
später eine neue Karriere als Holzberater im Baumarkt starten. Oder
eine Friseurin, die an Neurodermitis und Depressionen erkrankt ist,
eine Umschulung zu ihrem »Traumberuf« EDV-Technikerin erhalten. So
106
Die Gretchenfrage: Gelernter oder ungelernter Arbeiter? (Foto: Gewerkschaft Bau-Holz)
wenigstens der Wunsch des Ministers. Eine ganze Reihe von Problemen
trübt jedoch diese Hoffnung.
Ein großes Manko ist der oft kritisierte »Berufsschutz«, der in abgeschwächter Form weiterhin erhalten bleibt. Die Problematik: Derzeit
kann »Fachpersonal« bei Invalidität nur auf Tätigkeiten im »angestammten Berufsfeld« verwiesen werden. Ein invalider Dachdecker
darf also auf keinen Fall als Bürokaufmann arbeiten. Weil er aber
nichts anderes gelernt hat, ist der Weg in die Frühpension praktisch
vorgezeichnet.
Nun hat man stattdessen den Begriff »Qualifikationsschutz« eingeführt. Das AMS kann künftig auf andere Berufsfelder verweisen und
umschulen. Die Umschulung muss aber dem Ausbildungsniveau und
der »Neigung« des Betroffenen entsprechen. Ein gelernter Elektriker
müsste demnach eine gleichwertige Lehrausbildung erhalten, aber
nichts darunter. Er dürfte also nicht als einfacher Verkäufer arbeiten.
Kritiker monieren daher, dass trotz neuer Regelung noch immer
keine ausreichende Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt gegeben ist.
Befürchtet wird, dass sich Schlupflöcher in die Frühpension auftun
könnten. Vor allem der ÖVP sind sämtliche Schutzbestimmungen für
107
Rudolf Hundstorfer–Baugewerkschafter Josef Muchitsch: Alles eitel Wonne? (Foto: GBH)
Arbeitnehmer ein Dorn im Auge (sofern diese nicht gerade die Beamtenschaft schützen ...). In einem Schreiben an das rote Sozialministerium forderte Finanzministerin Maria Fekter, dass »eine Qualifikation
nach ›unten‹ nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden sollte« und
eine Aufhebung des Qualifikationsschutzes »anzustreben wäre«.
Es blieb dennoch dabei: Weitergehende Änderungen sind am Veto der
Gewerkschaften und der Arbeiterkammern gescheitert. Die Folgen: Im
AMS fürchtet man nun eine Kostenlawine, die beispielsweise berufsunfähige Akademiker lostreten könnten. Denn diese müssten dem
­G esetz entsprechend eine »ebenbürtige Ausbildung« erhalten. »Das
läuft im Wesentlichen darauf hinaus, wenn einer von der Gesellschaft
schon ein Studium finanziert bekommen hat, dass er unter den gegebenen Umständen einen Rechtsanspruch hat, ein zweites Studium finanziert zu bekommen«, warnte AMS-Chef Herbert Buchinger.
Ein weiteres Problem für viele ist, dass eine große Berufsgruppe von
jeglichen Strapazen verschont bleibt – die Beamten. Bei ihnen greift
das neue Gesetz nicht. Sie profitieren weiterhin von einem Versetzungsschutz und müssen nicht zum AMS pilgern. Dabei: Frühpensionierungen gebe es aber auch hier zuhauf. So erfolgt etwa in der
Stadt Wien mit ihren weit über 80.000 Bediensteten die Hälfte aller
108
Pensionierungen »frühzeitig«. Freilich: Den Vorwurf, dass manch
­Beamtem großzügig »Dienstunfähigkeit« attestiert wird, will man hier
nicht gelten lassen. Schließlich würde es sich ja meist um verbeamtete
Feuerwehrleute oder Krankenpfleger handeln, die körperlich am Ende
seien ...
Während diese Beamten also auch in Zukunft
getrost in Frührente gehen können, muss
Wie gut es ist, ein
eine andere Gruppe bis zum Schluss »leiden«: Beamter zu sein
die Berufsgruppe der »ungelernten Hilfskräfte«. Allein am Bau machen sie 40 Prozent aller Arbeiter aus. Schon
bisher hatten sie absolut keinen Berufsschutz, konnten folglich überall hin »auf dem gesamten Arbeitsmarkt« weiter verwiesen werden.
»Ein Hilfsarbeiter hat keine Chance auf eine Frühpension, auf eine
Invaliditätspension. Der pendelt zwischen Arbeitsamt, Krankenkasse
und Pensionsversicherung hin und her, jahrelang. Bis er letztendlich
irgendwann einmal eine Pensionszuerkennung erhält«, ärgert sich
Bau-Gewerkschafter Josef Muchitsch über diese Ungerechtigkeit. An
dieser misslichen Lage hat sich nichts geändert.
Scharfe Kritik gibt es aber nicht nur an dem, was im Gesetz drinnen
steht. So vermisst etwa die Arbeiterkammer, dass verpflichtende Präventivmaßnahmen für Unternehmen nicht festgeschrieben worden
sind. Dabei geht es nicht nur um körperliche Gefahren, sondern auch
um das geistige Wohlbefinden der Mitarbeiter. Denn immer öfter sind
psychische Erkrankungen der Hauptgrund für vorzeitige Pensionierungen. Von knapp 24.000 Invaliditätspensionen im Jahr 2011 waren 8500
auf Depressionen oder Burn-out zurückzuführen. Das bedeutet einen
dramatischen Anstieg um 80 Prozent innerhalb von nur zehn Jahren.
Die weitläufige Meinung, es treffe hauptsächlich Schreibtisch-Angestellte, stimmt dabei mit der Realität nicht überein. In absoluten Zahlen
leiden deutlich mehr Arbeiter an psychischen Erkrankungen als Angestellte. »Wir sind heute Belastungsfaktoren ausgesetzt, die sich in der Arbeitswelt genauso wie auch in der Freizeitwelt spiegeln. Man ist de facto
24 Stunden erreichbar und die Unsicherheit hat auch zugenommen«,
erklärt Dr. Klaus Rudolf Pirich, der stellvertretende Chefarzt der Pensionsversicherungsanstalt. Seine Institution ist es, die ­schlussendlich
109
darüber entscheidet, ob jemand in Invaliditätspension gehen kann,
eine Umschulung bekommt oder medizinisch rehabilitiert wird.
Hier lassen jahrzehntelange Erfahrungen Zweifel am vollen Erfolg der
Invaliditätspension NEU aufkommen. Egal, ob bei körperlichen oder
psychischen Gebrechen, eine Reintegration in die Arbeitswelt gestaltet
sich oft langwierig und kompliziert. »Die Erfahrung hat gezeigt: Berufliche Rehabilitationen bei Personen bis 45 sind erfolgversprechend.
Danach wird’s kritisch«, glaubt Dr. Pirich. Oft fehlt etwa die Motivation, nach jahrzehntelanger Arbeit nochmals die Schulbank zu drücken. Es gebe aber auch viele, die »trotz ihrer psychischen Erkrankung
im Erwerbsleben sein wollen, aber es geht nur ganz einfach nicht«,
erklärt der Arzt und urteilt zum Gesetz: »Ein wesentliches Wunder erwarte ich mir dadurch nicht.«
Angesichts dessen erscheinen die Pläne des Sozialministers über­
ambitioniert, um nicht zu sagen unrealistisch. Eine depressive
­Friseurin als EDV-Technikerin? Ein invalider Tischler als Holzberater?
In wenigen Jahren wissen wir, welche Umschulungsmaßnahmen E­ rfolg
haben und welche nicht. Unter dem Strich sind sich die Experten
einig: Die neue Regelung ist ein wichtiger Schritt nach vorne. Ein großer Wurf ist sie nicht.
»Ich habe mir da einmal alle Finger verbrannt und die
Zunge. Ich möchte die derzeit friedliche Stimmung mir
gegenüber nicht anheizen.«
Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) regt doch keine Anhebung
des Frauenpensionsalters an.
»Ich habe nie zu jenen Reporter-Schönlingen gehört,
die mit ihren gelifteten Hodensäcken eher
Unterhosenmodels gleichen.«
ORF-Kriegsreporter Fritz Orter geht in Pension.
110
Österreichische Privatstiftungen:
Unsere letzten Steuerparadiese?
von Mag. Beate Haselmayer
Privatstiftungen haben letztes Jahr wieder einmal für Schlagzeilen gesorgt. Hat Martin Graf, Dritter Nationalratspräsident, die
Wiener Pensionistin Getrude Meschar tatsächlich hinters Licht
geführt? Oder hat die betagte Frau nur die Vor-, nicht aber die
Nachteile solcher Konstruktionen gesehen? Und: Was ist mit den
vielen anderen Privatstiftungen in Österreich? Kann man dort
wirklich ganz legal Steuern sparen?
Melinda Esterhazy, Hannes Androsch, Hans Peter Haselsteiner – sie
alle haben zwei Dinge gemeinsam: Sie gehören zu den reicheren Menschen des Landes und sie haben ihr Vermögen in eine Privatstiftung
gesteckt. 3400 solcher Privatstiftungen gibt es in Österreich. Experten schätzen, dass bis zu 100 Milliarden Euro darin geparkt sind. Ganz
schön viel Geld. Wenn man Menschen auf der Straße fragt, warum
die Reichen Stiftungen gründen, bekommt man Antworten, die nicht
ganz frei von Vorurteilen sind: »Geldwäsche, Steuerhinterziehung,
linke Tricksereien!« Doch was ist dran an diesen Vermutungen?
Nun, eines ist ganz klar: Österreichische Privatstiftungen wurden ins
Leben gerufen, um vermögenden Menschen Steuervorteile zu bieten.
Mit dem Erlass des Privatstiftungsgesetzes im Jahr 1993 reagierte die
Politik darauf, dass Großanleger wie »Billa«-Gründer Karl Wlaschek mit
ihrem Vermögen in die Schweiz oder nach Liechtenstein abwanderten.
Dorthin, wo die Steuerabgaben niedriger waren. Keine Erbschaftssteuer, keine Steuern für Zinserträge und Dividenden – das waren die
­A nreize, mit denen man Wlaschek & Co. nach Österreich lockte. Mit
Erfolg, erzählt Dr. Christoph Kraus vom Verband österreichischer Privatstiftungen: »Karl Wlaschek ist nur der Paradefall. Es gibt eine Reihe
von anderen Vermögenden, die auch zurückgekommen sind mit dem
Stiftungsgesetz von 1993.«
Die Steueroase blühte, doch nicht für lange Zeit. Heftige Kritik von
vielen Seiten sorgte dafür, dass sukzessive Steuervorteile abgebaut
111
wurden. Ein vehementer Kritiker war Steuerexperte Otto Farny von
der Arbeiterkammer: »Wir haben nie eingesehen, warum man für nicht
gemeinnützige Stiftungen derartige Steuerbegünstigungen braucht.«
Schritt für Schritt wurden also Begünstigungen abgebaut. Doch wie
sieht es heute aus? Zahlt es sich aus steuerlicher Sicht aus, eine Privatstiftung zu gründen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden,
muss man sich schon ziemlich genau mit dem Thema »Privatstif­
tungen« auseinandersetzten.
Zunächst einmal aber das »Einmaleins« des
Stiftungswesens: Eine Privatstiftung ist eine
durchaus komplizierte rechtliche Konstruktion. Wer eine Stiftung gründet, muss bereit
sein, sich von seinem gesamten Vermögen zu trennen. Wertpapiere,
Geld, Unternehmen, Häuser – alles kann auf eine Stiftung übertragen werden. Der Stifter legt in einer Stiftungsurkunde den Zweck
der Stiftung fest. Der kann eigennützig (häufig findet man auch die
Bezeichnung privatnützig) oder gemeinnützig sein. Im Fall einer
­e igennützigen Privatstiftung werden Begünstigte festgelegt. Meist
sind das der Stifter selbst und seine Kinder. Sie bekommen regelmäßig
Geld aus der Stiftung. Melinda Esterhazy, Hannes Androsch, zu Lebzeiten auch Hans Dichand – sie alle haben eigennützige Privatstiftungen
­gegründet.
Das »Einmaleins«
des Stiftungswesens
Bei einer gemeinnützigen Stiftung kommen die Stiftungserträge
einem gemeinnützigen Projekt zugute. Ein Beispiel für eine gemeinnützige Stiftung ist die »Caritas Socialis«. Sie wurde 2002 von der
Schwesterngemeinschaft »Caritas Socialis« gegründet und unterstützt
etwa ein Hospizzentrum und ein Wohnheim für Mütter und Kinder.
Mag. Hanna Schneider von der Wirtschaftsuniversität Wien untersucht derartige gemeinnützige Stiftungen in Österreich. Doch allzu
viele gibt es davon gar nicht: 200 sind es an der Zahl, wenig im
­europäischen Vergleich. Das überrascht nicht, denn wie wir bereits
wissen, wurde das Privatstiftungsgesetz geschaffen, um das Kapital
der Reichen ins Land zu bringen und nicht um Gemeinnützigkeit zu
fördern. »In Deutschland gibt es eine große Zahl an Stiftungen, es
112
Stiftungen in Österreich: Verzicht auf Rechte (Foto: Parlamentsdirektion/Ranz)
sind ungefähr 16.000. Von diesen Stiftungen sind etwa 95 Prozent gemeinnützig. Und nur ein verschwindender kleiner Teil privatnützig.
Das liegt genau daran, dass dort nur jene Stiftungen steuerlich begünstigt werden, die gemeinnützige Zwecke verfolgen; die rein privatnützigen bekommen diese steuerlichen Anreize nicht«, erläutert Mag.
Hanna Schneider im €CO-Interview.
Doch bevor es um die aktuellen Steuerbegünstigungen geht, zurück zu
den Basics rund um Privatstiftungen: Eine wichtige Rolle innerhalb
des Stiftungskonstrukts spielen die Stiftungsvorstände. Der Stifter
legt mindestens drei Vorstände fest. Im medial offen diskutierten
Fall der Pensionistin Gertrude Meschar war Martin Graf einer dieser
­Stiftungsvorstände – ein Politiker der FPÖ, gleichzeitig auch Dritter
Nationalratspräsident.
Für ihre Arbeit bekommen die Stiftungsvorstände ­regelmäßig Geld.
Auch sonst fallen in einer Stiftung Kosten an. Aus diesem Grund sollte
eine Privatstiftung eine bestimmte Größe haben. Experten sprechen
von mindestens fünf bis zehn Millionen Euro Stiftungs­k apital. Und
der wichtigste Aspekt: Die Stiftungsvorstände lenken die Stiftung
– und das Vermögen, das sich darin befindet. Der Stifter hat also keinen direkten Einfluss mehr auf sein Vermögen. Ein ziemlich großer
113
Steueroase per Parlamentsbeschluss? (Foto: Parlamentsdirektion/Zolles KG/Hagen)
Machtverlust. Warum aber sollte jemand mit viel Geld diesen in Kauf
nehmen? Welche Vorteile erschließen sich daraus?
Hans Peter Haselsteiner, Lenker des international aufgestellten Baukonzernes STRABAG, war einer der ersten Österreicher, die eine Pri­
vatstiftung gründeten. Damals blühte sie noch, die Steueroase. Die
Steuervorteile waren für ihn aber nicht ausschlaggebend – »Man nimmt
sie natürlich, wenn sie einem angeboten werden«, beteuert er im Gespräch mit €CO und: »Seinerzeit war die Überlegung, dass die Firma
durch den Erbweg nicht geteilt werden sollte und meine Nachkommen,
also meine Kinder, an einem gemeinsamen Strang ziehen sollten.«
Ein Vorteil, der vor allem Unternehmer überzeugt: Wenn es ums Erben
geht, gehen viele Unternehmen verloren. Sie werden auf die Nachkommen aufgeteilt – und nicht selten kommt es deshalb zum Verkauf
einzelner Unternehmensteile. Wird das Unternehmen aber in eine Privatstiftung eingebracht, dann bleibt das Unternehmen ein Ganzes. Die
Erben werden als Begünstigte eingesetzt und bekommen regelmäßig
Anteile aus den Stiftungserträgen ausbezahlt.
Freilich: Könnte ein ausgeklügelt formuliertes Testament nicht genau
denselben Zweck erfüllen? Christoph Kraus: »Eine Stiftung ist ein
114
lebendiger Grabstein, wenn Sie so wollen. Das Testament ist ein
­ esentlich eingeschränkteres Instrument als eine Stiftung; sie kann
w
über hundert Jahre existieren, sie kann sämtliche unternehmenspolitischen Prinzipien ausformulieren. Das ist ein Instrument, das
­wesentlich weiter geht als das Testament.« Ein Vorteil, der – abgesehen von der Sicherung von Arbeitsplätzen – wohl oft auch aus fami­
liären Gründen gesucht wird.
Doch wo sind sie, die großen Steuervorteile, die eine Privatstiftung
heute noch bringt? Um diese Frage zu beantworten, ist ein kleiner
­E xkurs ins Steuerrecht nötig. Dort steht schwarz auf weiß, welche
Steuern derzeit in Stiftungen anfallen:
• bis zu 3,5 Prozent Stiftungseingangssteuer für jenes Vermögen,
das in die Stiftung eingebracht wird.
• 25 Prozent Körperschaftssteuer, die etwa bei betrieblichen
Einkünften anfällt.
• 25 Prozent Zwischensteuer, die zum Beispiel bei Zinsen aus
Bankguthaben und Anleihen zu entrichten ist.
• 25 Prozent Kapitalertragssteuer bei der Ausschüttung an
Begünstigte (wenn nicht schon Zwischensteuer entrichtet wurde).
Ganz schön viele Steuern – vorausgesetzt, man hält sich an die Gesetze. Und doch wieder weniger, als befände sich das Vermögen außerhalb der Stiftung. Doch wie ist das eigentlich mit den Gesetzen? Kann
man die in österreichischen Privatstiftungen umgehen und tatsächlich
tricksen oder sogar Geld waschen? Viele von €CO befragten Steuerexperten meinten: eher nicht. »In Österreich herrschen im Rahmen dieser ganzen Geldwäsche-Bestimmungen, die ja in den letzten Jahren
sukzessive verschärft wurden, derart strenge Bestimmungen, dass es
kaum möglich ist, eine österreichische Stiftung zum Geldwaschen zu
verwenden. Mag sein, dass das in der Anfangszeit in den 1990er-Jahren
noch möglich war, aber aus heutiger Sicht ist das nicht mehr möglich.«
Auch Christoph Kraus vom Verband österreichischer Privatstiftungen
verweist darauf, dass die Kriminalfälle der Vergangenheit alle mit
liechtensteinischen Stiftungen zu tun haben. »Es ist eindeutig so,
dass die missbräuchliche Verwendung der österreichischen Privatstiftung nicht möglich ist.«
115
Dann gehen wir also davon aus, dass man sich hierzulande an die
­Steuergesetze hält. Kann man dann österreichische Privatstiftungen
fairerweise überhaupt noch als »legale Steueroasen« bezeichnen? Nun,
es gibt noch einen Steuervorteil, der sehr ungewöhnlich im europäischen Vergleich ist. Er besteht dann, wenn Beteiligungen an Kapitalgesellschaften verkauft werden. Normalerweise würden auf den Gewinn, der dabei gemacht wird, 25 Prozent Steuer anfallen. Doch wenn
das Geld wieder investiert wird, wird die Steuer gestundet. Und eine
Steuer, die etwa erst in fünfzig Jahren bezahlt werden muss, ist fast
null.
Für Unternehmer macht es einen großen Unterschied, ob nach Abzug
der Steuer ein Investment von 75 Millionen Euro möglich ist oder ob
100 Millionen investiert werden können, weil keine Steuer bezahlt
wurde. »Selbstverständlich werden Stiftungen wegen dieses verbliebenen Steuervorteils gegründet. Ich würde sogar behaupten, dass ein
Großteil der in den letzten ein bis zwei Jahren, in denen ja die anderen Steuervorteile abgeschafft wurden, und auch ein Großteil der in
Zukunft noch zu gründenden Stiftungen auf genau diesen Umstand
zurückzuführen ist.«
Abseits von Tricksereien, Steuerhinterziehung und Geldwäsche gibt es
sie also doch noch, die österreichische Steueroase. Auch wenn sie kleiner geworden ist – der Steuervorteil, den österreichische Privatstiftungen bieten, ist nicht zu unterschätzen.
»Lieber spät als gar nicht erwischt.«
Finanzministerin Maria Fekter freut sich früh über frische
Steuermillionen aus der Schweiz.
»Sparen ist freiwillige Enteignung.«
Peter Bosek, der Privat- und Firmenkundenvorstand der „Erste
Bank“, in einer Formulierung, die sich die Autoren dieses
Jahrbuches nie getraut hätten.
116
Red Bull: Der Aufstieg in
die Werbe-Stratosphäre
von Hans Wu
Der Begriff »Gassenfeger« ist ein Relikt aus einer mittlerweile
fernen Vergangenheit. Gemeint sind damit Fernsehereignisse, die
zum Zeitpunkt der Ausstrahlung den Großteil des Fernsehpublikums von der Straße holen. Der Stratosphärensprung von Felix
Baumgartner war so ein »Gassenfeger«.
Es waren Bilder, die sich bei Millionen von Fernsehzusehern in der
ganzen Welt in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Es waren
Bilder, die auch weit nach Sendeschluss, im Internet, von weiteren Millionen gesehen wurden. Es sind Bilder von der höchsten Werbereklame
der Welt. Dabei passierte eigentlich nicht viel: Ein Mann in einem
Raumanzug steigt aus einer Art Tonne, salutierte in die Kamera – und
stürzte sich in die Tiefe. Und 3,2 Millionen Österreicher sahen zu.
Auch jenseits der Grenzen der Alpenrepublik wurde der sechsminütige Sprung aus knapp 40.000 Metern über Null live übertragen. Beim
Berlusconi-Sender »Italia 2« sahen 1,8 Millionen Italiener den Höhepunkt der Stratosphären-Performance. Der deutsche Nachrichtensender
»n-tv« freute sich über einen Spitzenwert von sieben Millionen Zusehern. Einen Rekord konnte auch das Internet-Videoportal »Youtube«
verzeichnen: Mit acht Millionen gleichzeitigen Sehern wurde sogar die
erste Amtseinführung von Präsident Barack Obama, dem bisherigen
Rekordhalter bei Liveübertragungen, geschlagen.
Und die Alpenrepublik hat wieder Grund stolz zu sein: Wir sind Weltraum! Ein extraterrestrisch gesteigertes Selbstwertgefühl, das von
einem Getränkeproduzenten aus dem Salzburger Fuschl spendiert
wurde. Freilich: Über die Kosten des Fernsehstunts schweigt Red Bull.
Eine »Summe von 50 Millionen Euro« wird kolportiert – mehr ist nicht
zu erfahren.
€CO fragte an kompetenter Stelle nach. In Graz befindet sich das Österreichische Weltraum-Forschungsinstitut. Ja, das gibt es tatsächlich.
117
Der Sprung in die Werbe-Stratosphäre (Foto: Red Bull Content Pool/Jay Nemeth)
Hier wurde einst die Mission des letzten Österreichers im All, Franz
Viehböck, vorbereitet. Neben der Vermittlung von Forschung und Lehre
werden hier auch Messgeräte für internationale Weltraummis­s ionen
hergestellt. Institutsleiter Wolfgang Baumjohann hatte in seiner Studienzeit noch bei unbemannten Ballonmissionen in die Stratosphäre
mitgearbeitet. Aber das ist schon lange her.
Den »Forschungswert« der »Red Bull«-Mission, den bezweifelt er. Für
die Weltraumwissenschaft gibt es schon lange keinen Grund mehr, wie
Felix Baumgartner in erdnahe Höhen von 40 Kilometern aufzusteigen.
Alles, was man über die Stratosphäre wissen will, weiß man schon. Die
High-Tech-Messgeräte der Grazer fliegen dagegen mit der europäischen
Weltraumagentur ESA und mit der NASA bereits zum Saturn und darüber hinaus.
Bis zu fünf Millionen Euro lässt sich das Österreichische Weltraum­
institut für einen der Forschungsapparate von den Auftraggebern bezahlen. Missionen ins All haben schon immer astronomische Kosten
verursacht. Und die 50 Millionen, die gerüchteweise die »Mission Stratos« gekostet haben soll, die sind für den Weltraumprofessor durchaus
realistisch: »Ich denke, die hauptsächlichen Gelder sind in den Ballon
selbst geflossen, in den Bau der Kapsel und in den Aufbau des kleinen
118
Bodenzentrums. All das kostet jeweils ein paar Zigmillionen Euro. Ich
denke auch, wenn ich ein ganzes Team über fünf Jahre bezahlen muss,
auch da kommen etliche Lohnkosten zusammen. So ganz billig sind
Spezialisten auch nicht.«
Es sind also 50 Millionen, die eigentlich für die Bewerbung einer Dose
mit einem Verkaufspreis rund um einen Euro ausgegeben wurden.
­Allerdings richtet sich die Werbebotschaft vom Rande des Weltalls auch
an einen weltweiten Markt. In 164 Ländern der Welt wird das süßliche
rosa Getränk in der blauen Dose mittlerweile verkauft.
In den 1980er-Jahren entdeckte der Marketingmitarbeiter Dietrich
Mateschitz bei einem Thailand-Aufenthalt das koffein- und taurinhaltige Getränk »Krating Daeng«. Mit den Produzenten Chaleo Yoovidhya
einigte er sich über die Lizenzrechte, gemeinsam wurde dann die Red
Bull GmbH gegründet. 49 Prozent der Gesellschaft gingen an Dietrich
Mateschitz, 49 Prozent an seinen thailändischen Geschäftspartner –
und zwei Prozent an dessen Sohn. Nach dem Tod von Chaleo Yoovidhya
dürfte die Mehrheit der Firma nun bei der thailändischen Familie ­l iegen.
Nur: Das Geschäft wird weiter aus Österreich bestimmt. 1987 erschien
die Dose auf dem heimischen Markt. Der Rest ist Marketinggeschichte.
Auch wenn sich heute weit günstigere Dosen im Regal tummeln, der
Ur-Energydrink kommt noch immer aus Fuschl. Eine bekannte, nahezu
unbezahlbare Marke: Neben der Dose fällt jedem auf die Frage nach
Red Bull zumindest auch noch der Spruch mit »den Flügeln« ein.
Es ist eine riesige Bilderwelt, die »Red Bull«-Chef Dietrich Mateschitz
rund um die Marke aufgebaut hat. Überall, wo der Schriftzug mit den
roten Stieren platziert wird, gehen Emotionen hoch, überschreiten
Menschen scheinbar Grenzen, wird es in jeder Hinsicht extrem. Klippenspringer, Snowboarder, Kunstflieger, Fallschirmspringer – und
selbst Lindsey Vonn trägt gegen gute Entlohnung das Logo der EnergyBrause zur Schau. In der Formel 1 unterhält der Salzburger Getränkeproduzent im Namen der Dose sogar gleich zwei Rennställe.
Unfassbare 4,6 Milliarden Dosen werden im Jahr produziert; damit erzielt Red Bull einen Umsatz von aktuell 4,3 Milliarden Euro. Ebenso
119
unfassbare 1,4 Milliarden Euro, also ein Drittel davon, werden für die
Marketingaktivitäten ausgegeben. So stehen, nur als Beispiel, gleich
600 Sportler als Werbeträger im Sold von Dietrich Mateschitz. Die 50
Millionen Euro, die da fünf Jahre hindurch für das »Projekt Stratos«
ausgegeben wurden, sind da noch relativ günstig. Vor allem im Vergleich zu den Ausgaben in der Formel 1: Geschätzte 150 Millionen Euro
kosten hier pro Jahr die Boliden, die Teams und die Entwicklung.
Doch im Vergleich zum »Projekt Stratos« handelt es sich bei den üblichen »Red Bull«-Aktivitäten nur um einfaches Sponsoring. Sogar bei
den hoch dotierten Formel-1-Teams stehen im Endeffekt im Bewusstsein der Zuseher an erster Stelle die Fahrer und die Fahrzeuge – und
danach erst die Werbebotschaften an der Karosserie. Beim Sprung vom
Rande des Alls aber ist ein Ereignis direkt an eine Marke gescriptet
worden. Höher, schneller, gefährlicher – hier wurde das selbst konstruierte Image von Red Bull in Reinform abgefeiert.
Ist mit dem Aufstieg und dem Fall von Felix Baumgartner nun auch der
Zenit des Werbehimmels erreicht worden? Wie nachhaltig profitiert die
Marke Red Bull von dieser Aktion? Kann der Wert der Bilder, die dabei
entstanden sind, überhaupt monetär bewertet werden?
Wolfgang Mayerhofer von der Wirtschaftsuniversität Wien ist Fachmann für Werbewirkungsforschung. Der Wissenschaftler zeigt sich von
dem Ereignis beeindruckt; auf die Nachfrage nach einer genauen ­Bewertung bleibt er aber kryptisch: »Als Marktforscher kenne ich zwar
den Wert der Marktforschung für Markenführung und auch für Entscheidungen, die das Unternehmen trifft. Ich würde aber sagen, und
das passt ja für dieses Beispiel, es gibt Phänomene zwischen Himmel
und Erde, die sich ganz einfach der Messung der Marktforschung entziehen. Und ich glaube, diese Frage ist eine, durch die die Marktforschung an ihre Grenzen stößt.«
Wir gingen mit unseren Fragen weiter zu den Praktikern des täglichen
Werbegeschäfts. Die »Mediacom« ist die größte Medienagentur des
Landes Österreich. Ihre Aufgabe ist die Verteilung von Werbung auf
verschiedenste Massenmedien. 420 Millionen Euro »für Schaltungen«
vergibt Geschäftsführer Andreas Vretscha jedes Jahr.
120
Felix Baumgartner: Jubeln für Geld (Foto: Red Bull Content Pool/Jörg Mitter)
Mit der genauen Berechnung, zumindest der Werbewerte, müsste er
also über Expertisen verfügen. Doch auch vom Werbeplaner hören wir
nur eine grobe Einschätzung: »Da kommt mehr zurück als nur die 50
Millionen, die vermutlich ausgegeben wurden. Wenn man alle medialen
Coverages zusammenrechnet weltweit, wird man sehr leicht über diese
50 Millionen kommen. Und das Ganze hat natürlich auch einen mittelund langfristigen Effekt. Da ist ein Pay-off da, das weit über diesen 50
Millionen liegen wird.«
Das Consulting-Unternehmen »Eurobrand« dagegen will es ganz genau
wissen. Kein Wunder, lebt die Beraterfirma doch von dem Anspruch,
Marken »exakt bewerten« zu können. Geschäftsführer Gerhard Hrebicek hatte wenige Tage nach dem Ereignis zu rechnen begonnen: »Wir
haben das analysiert; wir schätzen die Werbewerte, und nur die Werbewerte, auf vier bis sechs Milliarden Euro.« Auf diese wirklich atemberaubende Summe kommt der Markenfachmann einfach durch die Multiplikation der Sendezeiten mit den gängigen Werbetarifen. Freilich:
Eine Methode der Bewertung, die von anderen Marketingexperten eher
kritisch beäugt wird.
Um Werbung geht es hier doch ohnehin nicht allein. Hier ist eine
­G eschichte geschrieben worden, in der es um Mut, Tatendrang und
121
Fortschritt geht. Das Publikum erlebt eine schwierige Vorbereitung,
einen langwierigen Aufstieg, einen tiefen Fall und natürlich ein
Happy-End. Und das alles vor einer Kulisse, die sich zwischen Himmel
und Erde spannt. Es ist ein inszeniertes Epos, bei dem am Ende nur
eine einfache Botschaft überbleibt: »Red Bull«. »Projekt Stratos« hat
auch die Marke und das Image der Dosenhersteller in stratosphärische
Höhen gebracht.
Und: Ist so ein Ereignis überhaupt noch »zu toppen«? Weltraumprofessor Wolfgang Baumjohann hätte sogar »eine Idee«. Mit einer kleinen Rakete könnte Felix Baumgartner noch um einiges weiter in den
Himmel aufsteigen; vom Scheitelpunkt des Geschosses könnte er dann
bereits aus etwa 60 Kilometer Höhe in die Tiefe stürzen. Für den Wissenschaftler ist das technisch machbar. Die Kosten für diese Aktion
schätzt er auf »etwa 200 Millionen Euro«. Und auch das wäre für »Red
Bull« durchaus machbar.
»Mit einer Goldmedaille um den Hals kannst
du 500 Mädels haben.«
Wie viele Goldmedaillen hat Schwimmstar Markus Rogan im alten
Jahr errungen?
»Du hast eine gewisse Verantwortung
deinem Sponsor gegenüber.«
Schallmauer-Hüpfer Felix Baumgartner nimmt sich fest vor, seinen
Stratosphärensprung zu überleben.
»Für mich sind das Leute, die vom Wasser maximal wissen,
dass es nass ist.«
Schwimmstar Dinko Jukic ärgert sich über die Funktionäre des
Österreichischen Schwimmverbandes.
122
Panzer, Kanonen und Pistolen –
Österreichs »geheime Industrie«
von Mag. Ilja Morozov
Keine Werbung, keine Interviews, keine Publicity. Diskretion
hat bei heimischen Rüstungsbetrieben oberste Priorität. Oder
wussten Sie etwa, dass der »Kristallkonzern« Swarovski auch
auf Waffen­messen vertreten ist? 25 Jahre nach dem »NoricumSkandal« blickt €CO hinter die Kulissen von Glock, Steyr und Co.
Man schweigt und genießt. Unbemerkt von der Öffentlichkeit arbeitet
eine ganze Branche still und heimlich vor sich hin und das noch dazu
überaus erfolgreich. Drei Milliarden Euro Umsatz, mehr als 90 Prozent
Exportanteil und rund 8000 Arbeitsplätze. Österreichs Rüstungs- und
Sicherheitsindustrie liefert so ziemlich alles in alle Welt, was man sich
als ziviler Bürger gar nicht alles vorstellen will. Drohnen, Handgra­naten,
Panzermunition – bis hin zur High-Tech-Verschlüsselungstechnik.
Kaum jemand weiß davon, weil sich die heimischen Branchenvertreter
lieber nicht der Öffentlichkeit stellen. »Wir sind gebrannte Kinder«,
rechtfertigt ein Manager am Telefon die Geheimnistuerei. Gemeint
ist das überaus schlechte Image der Waffenproduktion hierzulande.
Kein Wunder, hat doch so ziemlich jeder Hersteller schon den einen
oder anderen Skandal hinter sich. Nur selten sind diese »gebrannten
­K inder« in der Vergangenheit zu Unrecht beschuldigt, viel öfter jedoch
zu Recht wegen unmoralischer oder gar illegaler Deals angeprangert
worden. Daher wird jede Interviewanfrage kritisch beäugt – und oft
abgelehnt. Warum auch Rechenschaft ablegen – das Geschäft rennt
ja ohnehin prächtig. Nur nicht auffallen in der eigenen Heimat, lautet die Devise. Längst befinden sich die großen Kunden außerhalb
­Österreichs, vor allem im Nahen Osten, in Asien oder in Lateinamerika.
Um an lukrative Aufträge zu gelangen, hält man sich an »interna­
tionale Gepflogen­heiten« – an die Diskretion der Branche. So auch im
vergang­enen Jahr im Juni. €CO war dabei.
Kaum zwei Flugstunden von Wien entfernt, im Pariser Vorort Ville­pinte,
findet alle zwei Jahre ein höchst klandestiner Event statt. In der Stadt
123
der Mode und Haubenlokale geht die so genannte »Euro­satory« über
die Bühne, die größte Waffenschau auf Erden. Die schweigsamste Branche trifft sich ausgerechnet auf einer Messe. Hier bieten rund 1400
Rüstungskonzerne aus aller Welt ihr neuestes Kriegsgerät feil. Und
tausende Offiziere, Sicherheitsexperten und Waffenhändler halten sich
über die neuesten Vernichtungsdinge auf dem Laufenden. Bomben
und Raketen aus den USA, Kampfpanzer aus Deutschland, Maschinengewehre aus Russland. Alles, was Rang und Namen hat – von der
deutschen Firma Kraus Maffei-Wegmann bis zum US-Konzern Lockheed
Martin –, ist vertreten. Auch China, Indien oder Israel haben ihre
Zelte aufgeschlagen. Auf einem abgeriegelten Außengelände werden
Terroristenangriffe nachgespielt, Drohnen gestartet und Gelände­wagen
durch den Schlamm gejagt. In den Hallen präsentieren Manager im
Anzug ihr Warensortiment. Prospekte werden verteilt, Verhandlungen
geführt, verkauft.
Und mitten drin, da ist auch Österreich auf
stolzen 800 Quadratmetern vertreten. Es geht
gemütlich zu. Bei Mozartkugeln, Manner­
schnitten und Sekt wird am Stand der Wirt­schaftskammer auf den Erfolg angestoßen. Auch die ehemalige
­A ußen­m inisterin und jetzige Botschafterin in Frankreich Ursula
­Plassnik ist gekommen. Hier, und nur hier, kann man ungeniert stolz
sein auf die heimischen Rüstungsbetriebe, die sich in aller Welt durchsetzen können.
Kugeln von Mozart –
und solche von Glock
Wenig überraschend ist die Firma Glock mit ihren populären Pistolen
auf der Rüstungsmesse vertreten. Auch der etwas kleinere Konkurrent
Steyr-Mannlicher führt seine Maschinengewehre samt Granatenwerfer
vor. Ebenfalls dabei ist der niederösterreichische Betrieb Hirtenberger,
der tatsächlich noch immer Mörser, Granatwerfer und Panzermunition
herstellt – aber absolut nichts dazu sagen möchte.
Neben den Traditionsfirmen weist die österreichische Teilnehmerliste auch weniger bekannte Unternehmen auf. Etwa den Wiener Betrieb »Blaschke Wehrtechnik«, der weltweit führend ist, wenn es um
Schutz­a nzüge für schwer kontaminierte Gebiete geht. Oder die Tiroler
Firma Plansee, die Legierungen für panzerbrechende Munition fertigt.
124
Gänzlich unerwartet trifft man jedoch auf den gut versteckten Stand
von Swarovski. Hier werden ausnahmsweise keine mit Glitzerstein verzierten Produkte ausgestellt. Wir erfahren: Der Konzern ist Weltmarktführer im Hochqualitätsbereich der Beobachtungsoptik. Zu Deutsch:
Ferngläser für »professionelle Beobachter«. »Unsere Geräte sieht man
beim Militär, bei Sondereinheiten etwa in Afghanistan, im Einsatz«,
erzählt der einzige Swarovski-Vertreter vor Ort, um sofort klarzustellen: »Ferngläser, das machen wir. Zielfernrohe für Waffen machen wir
nicht. Das machen dann andere Firmen.« Stimmt, denn gleich daneben ist der Stand der Firma »Kahles« aufgebaut, des ältesten Zielfernrohr-Herstellers der Welt. Ebenfalls ein Unternehmen aus Österreich.
Und, siehe da, es ist ausgerechnet eine Tochterfirma von Swarovski.
Aber das wollte man so offen nicht zugeben. Schließlich passt das so
gar nicht zum Glamour-Image, mit dem man sich in der Heimat gerne
schmückt.
Eines ist bei der Waffenmesse offensichtlich: Österreichs Hersteller
haben ein Problem mit sich selbst. Man will zwar am Rüstungsgeschäft gut verdienen, aber auf keinen Fall damit in die Öffentlichkeit
gehen. Offenbar schämt man sich für das, was man macht. Dabei fertigen die heutigen österreichischen Produzenten längst kein richtig
schweres Kriegsgerät mehr. Kampfpanzer oder Haubitzen heimischer
Produktion sind auf der »Eurosatory« im Gegensatz zur ebenfalls »neu­
tralen« Schweiz nicht zu finden. Dieser Industriezweig ist hierzulande
ausgestorben. Doch nicht etwa aus moralischen Gründen oder einer
strengen Neutralitätsauslegung wegen hat man darauf verzichtet. Und
schon gar nicht auf freiwilliger Basis. »Der berühmte Noricum-Skandal hat stattgefunden. Ausschlaggebend war aber neben dem Skandal, dass auch die Märkte für diese Produkte aus österreichischer
Sicht nicht mehr vorhanden sind«, erklärt Dr. Rudolf Lohberger. Der
ehemalige Chef des Minen- und Sprengstoffherstellers Dynamit Nobel
schneidet mit dem Skandal die dunkelste Geschichte der heimischen
Rüstungsindustrie an. Firmen gingen in Konkurs, mysteriöse Todesfälle machten Schlagzeilen, Untersuchungskommissionen wurden eingeleitet und Gerichtsurteile gesprochen. Nur ein einziger Mann erlebte
in dieser Zeit einen ungeahnten Höhenflug: Gaston Glock, der in Wahrheit von der Ideenlosigkeit Steyr-Mannlichers profitierte. Ein Blick zurück zeigt, wie es zu all dem gekommen ist.
125
Vor etwas mehr als 25 Jahren ist die Welt noch in Ordnung. Damals
dominieren zwei Betriebe die schwere Waffenproduktion in Österreich. Auf der einen Seite steht der Staatskonzern Steyr-Daimler-Puch,
der den berühmten Jagdpanzer Kürassier, den Truppentransporter
Pinzgauer und das STG77 fertigt. Und auf der anderen Seite steht
der Staatsbetrieb Voest, zu dem die Tochterunternehmen Noricum
und Hirtenberger gehören. Hirtenberger versorgt das Bundesheer mit
­Munition und produziert auch sonst alles Mögliche, das abge­feuert
werden kann. Noricum hingegen ist ein Quereinsteiger. Ende der
1970er-Jahre, als die Auftragslage des reinen Stahlverarbeiters schwächelt, droht der Bankrott.
Das Management setzt als vermeintlich letzte Chance auf ein kanadisches Lizenzprodukt der Firma »Gerald Bull« und lässt die gefürchtete
GHN-45 – die »Gun Howitzer Noricum« – produzieren. Eine Kanone,
die mit spezieller Munition über 40 Kilometer weit feuern konnte.
Fürs österreichische Bundesheer ist das nichts, da der Staatsvertrag
solch weitreichende Artilleriegeschütze verbietet. Es bleibt also nur
der Export, der schon damals gesetzlich stark eingeschränkt ist. Und
dennoch liefert Noricum ab 1981 insgesamt 340 Haubitzen an den Irak
und den Iran. Möglich machen das fingierte Endabnehmerzertifikate
und Zwischenstopps in Libyen, Jordanien oder Brasilien.
Das Problem: Beide Länder befinden sich gerade im Krieg. Trotz Hinweisen eines österreichischen Botschafters im Jahr 1985, der kurz
danach auf mysteriöse Weise stirbt, passiert nichts. Als das illegale
Geschäft dann 1987 doch auffliegt, ist der größte Skandal der Zweiten
Republik perfekt. Zahlreiche Manager werden wegen Neutralitätsgefährdung verurteilt, Karl Blecha – heutiger Präsident des Pensionistenverbandes – tritt als Innenminister zurück. Ebenfalls bestraft wird
die Firma Hirtenberger; sie hatte die dazugehörige Munition an die
Kriegsnationen im Golf geschickt.
Mit dem »Noricum-Skandal« kommt die gesamte Rüstungsindustrie
in Verruf und verliert immer mehr an Bedeutung. Unternehmen wie
der Minenhersteller Assmann gehen in Konkurs, Dynamit Nobel stellt
seine militärische Produktion ein und Steyr-Daimler-Puch wird nach
finanziellen Problemen filetiert und verkauft. Doch während sich in
126
der gesamten Branche Katerstimmung breit macht, erobert ein Kärntner Ingenieur in Windeseile die weite Welt: der Messer- und Feldflaschenproduzent Gaston Glock.
Oft wird er als genialer Erfinder seiner Pistole bezeichnet. Tatsächlich spielten Glück Ein Anfang mit
und Zufall die größten Rollen. Anfang der 20.000 Pistolen
1980er-Jahre schreibt das österreichische
Bundesheer eine große Pistolenlieferung aus, um Altbestände aus der
Wehrmachtszeit zu ersetzen. Steyr-Mannlicher nimmt als einziger heimischer Produzent an der internationalen Ausschreibung teil – und
verliert. Gewonnen hatte die italienische Beretta. Auf politischen
Druck hin wird nochmals eine Auswahlrunde gestartet. Weil sich die
Firma Steyr vehement weigert, Mängel an ihrer Pistole auszumerzen,
wird Glock gefragt, ob er nicht eine Pistole fertigen könnte. Dieser
riecht seine Chance und engagiert zwei Ferlacher Büchsenmacher, die
die Anweisungen vom Bundesheer technisch umsetzen. »Er konnte
eine Pistole nicht von einem Revolver unterscheiden«, berichtet ein
damaliger Offizier. Aber Glock hat den nötigen Riecher, er riskiert all
sein Geld und gewinnt den Auftrag für mehr als 20.000 Pistolen. Zwar
hatte er nicht die beste Waffe angeboten, aber das Preis-Leistung-Verhältnis hatte gepasst.
Was danach passiert, ist Geschichte: Die Glock-Pistole feiert rund um
den Globus Erfolge. Mit gerissenen Marketingstrategien – beispielsweise Gratis-Lieferungen an Hollywoods Filmausstatter – fasst der Waffenproduzent schnell Fuß in den USA. Heute verwenden 65 Prozent aller
US-Polizisten eine Waffe »made in Austria«. Unglaub­l iche 500.000 Pistolen exportiert die Glock GmbH jährlich in die Verein­igten Staaten. Der
Umsatz bewegt sich schätzungsweise bei weit über 150 Millionen Euro.
Offizielle Zahlen werden vom Unternehmen freilich nicht veröffentlicht.
Und wie erging es dem unfreiwilligen Wegbereiter Steyr-Mannlicher?
Weniger gut. Nach einem Beinahe-Konkurs im Jahr 2007 rappelt sich
der oberösterreichische Produzent erst langsam wieder auf. »Wir standen sehr schlecht da. Wir hatten damals einen Umsatz von acht Millio­
nen Euro. 2011 haben wir ihn auf 22 Millionen Euro steigern können,
2012 sind es bereits 30«, erzählt Geschäftsführer Dr. Michael Engesser.
127
Zwei österreichische Investoren haben den Betrieb letztendlich gerettet. Mit seinen Scharfschützen-Gewehren ist Steyr bei Spezialeinheiten in aller Welt bereits gut aufgestellt. Jetzt wird mit einer eigens
entwickelten Pistole auch Glock der Kampf angesagt.
Einziges Hindernis aus Unternehmenssicht: die seit dem ­NoricumSkandal noch strengeren Exportkontrollen der Republik. »Es ist wohl
die am besten kontrollierte Industrie Österreichs«, beteuern Branchenvertreter immer wieder. Für jede Lieferung muss angefragt werden, bei Kriegsgerät wird noch strenger geprüft. Genau unter die Lupe
genommen wird neben Steyr, Glock und Hirtenberger auch die ehemalige ARGES Armaturen, die heute zum deutschen Rheinmetall-Konzern gehört und im oberösterreichischen Kaufing Handgranaten und
40-mm-Munition fertigt. Sowie die ehemalige Steyr Spezialfahrzeuge
in Wien-Simmering – aufgekauft vom US-Riesen General Dynamics –,
wo erst im vergangenen Juni ein neuer Prototyp für einen Aufklärungspanzer vom Stapel lief.
Diese fünf Unternehmen zählen auch zu den letzten klassischen
Rüstungsproduzenten Ö
­ sterreichs. Ansonsten tummeln sich heutzutage Dutzende Firmen sowohl im zivilen als auch im militärischen
Sicherheits­b ereich herum. Die Wiener Firma Frequentis etwa stellt
Kommunika­t ionssysteme für die Flugsicherung her, liefert aber
auch an das US-Militär. Schiebel aus Wiener Neustadt verkauft seine
Drohnen ­s owohl an private Unternehmen als auch an GrenzschutzBehörden.
Solange ein Land als »okay« genehmigt ist, liefert die Branche überall
hin. Schließlich ist der internationale Wettbewerb groß. Dabei wird
vergessen, wie schnell sich das Blatt drehen kann. Pakistan galt beispielsweise in den 1960er-Jahren als Tor zur westlichen Welt, war unbedenklich. Österreich vergab eine Produktionslizenz für Handgranaten. Jahrzehnte später finden sich genau diese Granaten in Konflikten
und bei Terroranschlägen wieder.
So etwas könne man im Vorhinein eben nie wissen, sagt ein Manager
nüchtern. Tatsächlich: So läuft nun einmal das Geschäft. Für Moralfragen bleibt da wenig Zeit.
128
In Linz beginnt’s: »Die Dummen
gegen die Unmoralischen ...«
von Hans Hrabal
Seit Jahren tobt zwischen der Stadt Linz und der BAWAG ein
­bizarrer Millionenstreit um ein verunglücktes Zins-Swap-­Geschäft.
Dabei geht es auch um Politik, mehr aber um Eitelkeit, um Größenwahn, um Gier und um Dummheit; möglicherweise auch um
kriminelle Machenschaften. Wenn Gemeinden zocken gehen – ein
Sittenbild, ausnahmsweise nicht aus Salzburg.
Österreich im Jahr 2005. Unsere Geschichte beginnt in einem längst
vergangenen Zeitalter, als Anleger noch daran glauben durften, schnell
reich zu werden, Investoren davon ausgingen, locker bessere Gewinne
zu machen als der Börsenindex dies ahnen ließ und Banken allen
Grund hatten, ihren Kunden zu versichern, dass dies – wenn schon
nicht garantiert – dann doch »zumindest wahrscheinlich« ist.
Die erste tragende Rolle in unserem Plot hat die ehemalige Gewerkschaftsbank, die BAWAG. Damals war die Bank gerade »angeschlagen« – der BAWAG-Skandal war Tagesthema, Unsummen von Geldern
waren futsch, das vorherige Management vor Gericht, die Kunden irritiert, das Image auf im Keller. Und trotzdem: Gerade erst schien es,
als sei die Bank aus dem ärgsten Schlamassel der Skandale um Elsner,
Zwettler und Flöttl so einigermaßen entkommen. Die tat alles, um sich
zu regenerieren, wieder ihren normalen Geschäften nachzugehen, der
Öffentlichkeit, den Kunden und auch sich selbst zu beweisen, dass
man doch nichts anderes sei als eine normale, tüchtige Bank – bemüht, sich an die Gesetze zu halten und gute Geschäfte zu machen.
Das Management war ausgetauscht worden. Ein anerkannter Finanzfachmann wurde gefunden. Er war zuvor Direktor bei der Bank für
internationalen Zahlungsausgleich gewesen und half den seriösen Neustart der Bank perfekt zu personifizieren. Ewald Nowotny, ein versierter
Volkswirtschaftsprofessor, früher auch langjähriger SPÖ-Abgeordneter,
sollte die Bank wieder ins rechte Licht rücken. Sie fit für einen Verkauf
oder eine Beteiligung neuer Eigentümer machen. Projekt Neustart.
129
In Linz beginnt’s: »Die Dummen gegen die Unmoralischen…« (Foto: Stadt Linz)
Dieser Neustart führte die neue BAWAG auch nach Linz, jene Kommune, die die zweite tragende Rolle in unserer Geschichte spielt.
Oberste Gemeindevertreter sind Bürgermeister Franz Dobusch und dessen »Kronprinz« und engster Vertrauter, Finanzstadtrat Johann Mayr,
Akademiker, Managertyp und zuständig für sämtliche finanziellen
Belange von Österreichs drittgrößter Kommune. Mayer zur Seite stand
auch ein beamteter Finanzdirektor, auch er spielt in der Geschichte
eine Rolle. Zusammen regierten die drei über rund 600 Millionen Euro
Jahresbudget. Und mehrere Dutzend auf Geldgeschäfte aller Art spe­
zialisierte Magistratsbedienstete helfen ihnen dabei.
Mayer und die Kommune waren selbstbewusste Kunden, die genau wussten, was sie wollten. Keine kleinen Sparer oder Häuslbauer ­jedenfalls.
Man hatte die BAWAG, aber auch andere Banken geladen, um »eine
Anleihe zu begeben und Fremdmittel in der Höhe von 195 Millionen
Euro« aufzutreiben. Das ist übrigens rund ein Drittel des jährlichen
Gesamtbudgets der Kommune, das da als Kreide aufgenommen werden
sollte. Und, wichtiger Punkt für unsere Geschichte: Eine »Anleihe in
einer fremden Währung, nämlich in Schweizer Franken«, sollte es sein.
Solch eine Anleihenemission ist für eine Gemeinde, die ja mit dem
Geld der Steuerzahler operiert, auf den ersten Blick vielleicht ein
130
wenig unüblich; doch die BAWAG übernahm die Emission prompt
und gern. Auch sonst schienen die Partner wie füreinander geschaffen. Der frisch gebackene BAWAG-General Nowotny war für die Linzer Stadtroten quasi einer der Ihren. Er hatte in Linz Wirtschaft
studiert, saß jahrelang in allen möglichen oberösterreichischen Leitungsgremien der SPÖ, hatte sozusagen Stallgeruch. Der Deal wurde
­a bgeschlossen und er hätte auch niemanden mehr interessiert oder
gar Staub aufgewirbelt, wenn ... ja wenn es sich um eine Euro-Anleihe
und eben nicht um eine Franken-Anleihe gehandelt hätte.
Ähnlich wie das auch jene Österreicher, die Franken-Kredite für den
Kauf von Wohnungen oder Häusern aufnahmen, bemerken mussten,
erging es nämlich auch den Linzer Gemeindevätern. Der Kurs des
Franken hatte sich zunehmend gegenüber dem Euro verbessert und
die Rückzahlungen der Franken wurden für jene, die ihr Geld in Euro
scheffelten, empfindlich teurer. Nachdem die Säckelwarte von Linz
mit der Franken-Anleihe ab 2005 durchaus einige schöne Kursgewinne
machen konnten und sich ihre Rückzahlungen anfangs dadurch verbilligten, schmierte ab 2007 der Euro ab. So richtig. Richtig teuer. Die
Finanz- und Wirtschaftskrise im Euro-Raum ließ grüßen.
Ab jetzt wurde das Verhältnis der Geschäftspartner komplizierter.
Denn die Anleihe wurde nicht, um eine weitere Eskalation des Währungsrisikos zu verhindern, in Euro über- (was natürlich gekostet
hätte), sondern weitergeführt. Zusätzlich wurde ein zweites Geschäft
gestrickt, das angeblich der Absicherung »etwaiger weiterer Währungsschwankungen der Anleihe« dienen hätte sollen. Ein so genanntes Derivatengeschäft. Und noch dazu ein ziemlich kompliziertes: ein
so genannter Zins-Swap, bei dem der Gegenzeichner, in diesem Fall die
BAWAG, dem Zeichner, der Stadt Linz, einerseits einen fixen Zinssatz
der Anleihe garantiert, aber sich etwaige Zinssteigerungen, die durch
die Währungsschwankungen entstehen, abgelten lässt.
Es ist ein Geschäft, das nichts für Partner mit schwachen Nerven ist.
Ein Geschäft nur für die Vollprofis des Finanzmarktes. Ein Geschäft,
das nur eingehen sollte, der zuvor genau verstanden hat, worauf er
sich einlässt, dem bewusst ist, welche Chancen und welche Risiken
er eingeht. Und ein Geschäft, das zumindest in diesem Fall komplett
131
in die Hosen ging. Denn es kam, wie es kommen musste – entgegen
den ursprünglichen Hoffnungen der Kommune stiegen nämlich sowohl
der Wert des Franken zum Euro weiter an als auch der Zinssatz selbst.
Damit wurden sämtliche Risiken aus beiden Geschäften schlagend –
und das hieß für die Linzer: Zahlen bitte. Und das nicht zu knapp. Bis
Ende 2012 hatten sich die Kosten aus dem gefloppten Geschäft für die
Linzer auf aberwitzige 418 Millionen Euro aufgetürmt. 418 Millionen
Euro als Folge einer 195-Millionen-Anleihe, die ja eigentlich Geld hätte
bringen sollte. Gute Geschäfte lesen sich zweifellos anders.
Gezahlt haben die Linzer Finanzmanager bisher nicht. Der Grund
dafür ist so skurril, dass er sogar wahr sein könnte. Die Linzer Stadtväter, sonst Manns genug, um die Verantwortung für die drittgrößte
österreichische Stadt und ihr jährliches 600 Millionen schweres Jahresbudget zu übernehmen, wollen nämlich, jetzt da es ans Zahlen ging,
erkannt haben, dass sie »eigentlich nie wirklich verstanden haben«,
worauf sie sich bei dem Zins-Swap eigentlich einließen; sie spielten
der BAWAG nun den alleinigen schwarzen Peter für die Verluste zu.
Quintessenz: Man wurde »nicht richtig und nicht rechtzeitig informiert« – und letztendlich »über den Tisch gezogen«. Die Stadt hat
diesbezüglich auch Klage eingebracht und einen Prozess angestrengt.
Die einst so schöne Geschäftsfreundschaft zwischen den Partnern, sie
ist dahin; der Stallgeruch verweht.
Martin Janssen ist ein anerkannter Professor. Der Schweizer Finanzwissenschaftler hat in Zürich auch eine kleine, feine Investment-Boutique, die für Auftraggeber aus der Bankenbranche hoch komplizierte
Derivativprodukte entwickelt. Er gilt als einer der führenden Gut­
achter in Finanzdingen im deutschen Sprachraum.
Die Linzer Stadtväter haben sich Janssen als Gutachter gegen die
BAWAG ins Spiel geholt. Der Mann hat den umfangreichen Geschäftsakt und die Prozessunterlagen studiert. Er bestätigt seinen Auftraggebern, dass sie – na ja – zu naiv waren. »Die Linzer Politiker und
Beamte waren fachlich nie in der Lage, das hoch komplizierte Wechselspiel der beiden Geschäfte, Anleihe und Zins-Swap, zu verstehen.
Die BAWAG hätte solche Geschäfte mit einem solchen Kunden nicht
eingehen dürfen. Man muss doch merken, wenn das Gegenüber etwas
132
Die Ars electronica: Da war die Welt noch in Ordnung, in Linz (Foto: Stadt Linz)
nicht versteht und nicht verstehen kann. Das ist unethisch.« Die Stadt
Linz gegen die BAWAG, das ist für Janssen ein Match der »Dummen
gegen die Unmoralischen« – genau so schreibt er es auch in seinem
Gutachten. Sicher nicht gerade schmeichelhaft für den Finanzdirektor
und den Finanzstadtrat, nicht für den Bürgermeister und nicht für die
Gemeinderatsmehrheit; anderseits die offenbar einzige nachvollziehbare Argumentation, die helfen könnte, alle politischen Verantwortungsträger aus eben dieser Verantwortung zu manövrieren und der
Stadt – vielleicht – einen Teil der offenen 418 Millionen zu ersparen.
Aber: Auch die Gegenseite schläft nicht. Auch die BAWAG hat ihren
Gutachter ins Feld gerückt: Mark Wahrenburg, wieder ein Professor,
diesmal aus Frankfurt. Auch Wahrenburg bestätigt: Dass die Bank
alles richtig gemacht hat, dass die Stadt jederzeit aus dem Deal hätte
aussteigen können, dies aber nicht wollte. Dass die Bank sogar dazu
geraten hätte, der Kunde sich aber als beratungsresistent erwiesen
hätte. Ja, was soll man da machen?
Dummheit? Mangelnde Moral? Eitelkeit? Gier? Oder doch ein abgekartetes Spiel von Beteiligten, die sich an dem Flop der Stadt noch
bereichert haben? Man muss das nunmehr involvierte Landesgericht
Linz nicht beneiden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt erst mal. Wegen
133
Betrug und Untreue. Verdächtige gibt es auf beiden Seiten. Bei den
Stadtverantwortlichen laufen Ermittlungen gegen den ehemaligen
Finanzdirektor und den immer noch im Amt befindlichen Finanzstadtrat. Auch gegen die BAWAG wird ermittelt. Selbst wenn man nicht so
ganz genau sagen kann, gegen wen konkret. Das damals verantwortliche Management hat die Bank samt und sonders verlassen. Das gilt
übrigens auch für alle seinerzeit in das Geschäft verwickelten subalternen Mitarbeiter.
Die Linzer Steuerzahler auch – ja, auch sie haben eine tragende Rolle
in unserer Geschichte. Es ist jener Part, der am Schluss immer alles
bezahlt. Trost gibt es für sie nur einen und der ist schwach genug. Sie
sind nicht allein. Nicht nur in Linz könnte es im fernen Zeitalter vor
der Finanzkrise »dumme« Politiker oder »unethische« Banker gegeben
haben, die mit Steuergeldern zockten. Laut dem Land Oberösterreich
hatten im letzten Jahr noch 24 Gemeinden 92 Franken-Kredite in einer
Gesamthöhe von 256 Millionen Euro am Laufen. Zehn davon hatten
auch Swaps und ähnlich komplizierte Derivat-Absicherungsgeschäfte
abgeschlossen.
Und: Das sind nur die Zahlen aus dem Land Oberösterreich. In der
ganzen Republik sind »etliche hundert Kommunen« von ähnlichen
Finanz­u nfällen betroffen. Die meisten Fälle sind zumindest dem
­G emeindevertreterverband bekannt. Oder dem Städtebund. Wen das
ärgern sollte – 2013 finden drei Landtagswahlen und eine Nationalratswahl statt.
»Man hätte ebenso gut auf Schweinebäuche
spekulieren können.«
Prüfer Martin Janssen über die (Steuer-)Geldanlagen
der Stadt Linz.
134
Franzl, Schützi und Konsorten:
Eine »eingetragene Partnerschaft«
von Günther Kogler
Es ist eine seltsame Diskrepanz: Im Land selbst begleitet die
­politische Funktionärskaste das Treiben ihrer politischen Führung
mit Skepsis, Ohnmacht und manchmal auch Wut. In Restösterreich schwankt die Gefühlslage zwischen stillem Respekt und
abwartendem Kalkül – »na, schaun mer mal, wie lang die das
durchhalten«. Dabei passiert nichts Außergewöhnliches in der
Steiermark. Außer, dass es zwei Parteiobleute gibt, die es ernst
meinen mit dem Wählerauftrag.
Die Rede ist von Franz Voves und von Hermann Schützenhöfer, dem
Landeshauptmann und dem Landeshauptmann-Stellvertreter der
­Grünen Mark. Der »Franzl« hatte, als größte Heldentat, vor acht Jahren der SPÖ im einstmals schwarzen Kernland den Fürstenstuhl erobert; der »Schützi« hatte, als größte Heldentat, ebenfalls vor acht
Jahren, verhindert, dass sich eine kopf- und machtlos gewordene ÖVPFührungsriege in nur einer Nacht gegenseitig ausrottete.
Soweit die Heldensagen. Aber: Was kümmern die den einfachen Bürger; den, wir nehmen es an, ehrlichen Steuerzahler? Nun, es gesellt
sich noch eine Legende dazu. Einmal noch durften der »Franzl« und
der »Schützi« in altgewohnter Manier bei Landtagswahlen ihre ­K lingen
kreuzen und die Entscheidung ist denkbar knapp für den Amtsinhaber
und gegen den Herausforderer ausgefallen.
Aber dann, in den Wochen nach diesem erneuten politischen und
abermaligen finanziellen Blutbad, traf wieder Licht die Steiermark.
Der angebliche Quereinsteiger (Voves) und der angebliche Polit-­
Dauerfunktionär (Schützenhöfer) kamen einander bei tatsächlichem
steirischem Wein (angeblich Sauvignon blanc) näher. Die Führer von
SPÖ und ÖVP, per Landesverfassung ohnehin zur Zusammenarbeit
verdonnert, begründeten aus heiterem Himmel eine »Reformpartnerschaft«. Sie vereinbarten, nicht gegeneinander, sondern miteinander
arbeiten zu wollen. Sogar ein Schwur wurde abgelegt, berichteten die
135
In Graz wird ein normaler Polit-Job erledigt (Foto: Graz Tourismus/Schiffer)
Minnesänger: Fortan und fürderhin sollte mit dem Geld der Steirerinnen und Steirer sorgfältiger umgegangen werden.
Und plötzlich berührte diese Selbstverständlichkeit den einfachen
Bürger sehr wohl. Über Jahre und Jahrzehnte hindurch war die steirische Landespolitik nahezu liederlich mit den Finanzen umgegangen.
Im österreichweiten Vergleich waren nur Kärnten und das AusnahmeBundesland Wien noch sorgloser im Ausgeben der Steuergelder gewesen. Ein erstes (sie nannten es im Jahr 2011 keck: Spar-)Budget der
»Reformpartner« drückte die Neuverschuldung der Grünen Mark auf
425 Millionen Euro. Ein wahrhaft mutiger Begriff bei einem Gesamtbudget von knapp 5,4 Milliarden und einem Gesamtschuldenstand (inklusive der ausgelagerten Anleihen für die Krankenanstalten-Gesellschaft und inklusive anderer Budgettricks) von vier Milliarden Euro.
Aber Franz Voves und Hermann Schützenhöfer stöberten weitere
Vorräte des Sauvignon blanc auf und plötzlich kamen die anderen
Fürsten außerhalb der steirischen Landesgrenzen aus dem Staunen
nicht mehr heraus. Die meinten es tatsächlich ernst in der Grazer
Burg. Auf breiter Front wurde in die Defizitmaschine der Landespolitik eingegriffen. An den Schleusen des Füllhorns Sozialpolitik wurde
gedreht; den Spitälern wurde gezielt der Geldhahn zugedreht; in der
136
Wirtschaftsförderung, im Wohnbau und in der Subventionierung der
Landwirte wurde »durchforstet«; Schulen wurden und werden geschlossen; Bezirkshauptmannschaften wurden und werden zusammengelegt; die Landesverwaltung wurde und wird ungekrempelt – vorbehaltlich hofrätlicher Empörungen bei den Höchstgerichten wird die
Zahl der Verantwortung tragenden Spitzenbeamten von 250 auf 140
eingedampft. Bei der nächsten Landtagswahl wird der Landtag verkleinert, ebenso die Zahl der Mitglieder der Landesregierung.
Alles funktioniert, weil die »erste eingetragene Partnerschaft der
Steiermark« (Copyright: Nicht-Partner FPÖ) tatsächlich funktioniert.
Bestürmen die durchwegs roten Sozialverbände den roten Soziallandesrat und den roten Landeshauptmann, widersteht die ÖVP dem Versuch,
daraus Kapital zu schlagen. Protestieren schwarze Agrarier, schwarze
Unternehmer und schwarze Personalvertreter bei ihren schwarzen Landesräten und dem schwarzen Landeshauptmann-Stellvertreter gegen
die Kürzungen, hält »Reformpartner« SPÖ still. Ein bisserl ist die Demokratie ausgeschaltet in der Steiermark. Aber wer will schon etwas dagegen haben, gegen einen vernünftigeren Umgang mit öffentlichem Geld?
Damit ist auch schon das entscheidende Stichwort gefallen. Wer will
schon etwas gegen einen vernünftigeren Umgang mit öffentlichem
Geld haben? Niemand weiß, wie lange es noch funktioniert, aber das
Modell der Reformpartner löst rundherum unterschiedlichste Befindlichkeiten aus. An einem geschlossenen Regierungsblock zerschellt
einmal als allererstes die Opposition; weder die Grünen noch die in der
Landesregierung vertretene FPÖ haben dem bestimmenden Auftritt
der Regierenden nennenswerte Argumente entgegenzusetzen. Allein
die KPÖ – jawohl, liebe Österreicherinnen und Österreicher, die gibt
es in der Steiermark noch in nennenswerter Größe – könnte von der
­Unzufriedenheit (vor allem im Bereich der Sozialpolitik) profitieren.
Ratlos trifft die Reformpartnerschaft vor allem die üblichen Verdächtigen der eigenen Parteifunktionäre. Wie Stimmen maximieren bei einer
Personal­vertretungswahl, wenn der eigene Personallandesrat bei den
eigenen Leuten hineinschneidet? Wie »soziale Wärme« erzeugen bei
Benachteiligten, wenn der eigene Sozialreferent durch eine Kürzung
der Zuschüsse die Außentemperatur absenkt? Spürbar sind rundherum
137
die Irritationen gewachsen. Wenn niemand mehr aus dem eigenen Nest
die eigenen Befindlichkeiten befriedigt – wie lange dauert es, bis die
Nestflüchter eine kritische Masse erreichen?
Ratlos auch die Medienlandschaft. Die beherrschenden Nachrichtenund Meinungsbildner in der Grünen Mark sind die »Kleine Zeitung«,
die größte Bundesländer-Zeitung der Republik, weiters der SteiermarkAbleger der »Kronen-Zeitung«, die mit Abstand meistgelesene Kaufzeitung Österreichs, und natürlich der ORF, die noch immer größte
­»Medienorgel des Landes« (Copyright: Gerd Bacher). Alle verspüren,
dass es zu Brüchen und Umbrüchen kommt, auch in der Kundschaft
der regierenden Parteien; aber alle haben sich dazu durchgerungen,
den Kurs der Reformpartner eher wohlwollend zu begleiten.
Das schafft Unmut bei Lesern, Hörern und Sehern. Viele finden sich in
der Berichterstattung nicht wieder. Als ruchbar wurde, dass die großen Tageszeitungen aus dem Topf der Landesregierung jeweils auch
noch einige hunderttausend Euro für die »Begleitung der Reformvorhaben« erhalten, drohte eine veritable Vertrauenskrise. Tatsächlich ist
es eine Gratwanderung für die Meinungsbildner in den Medien. Aber
das Projekt ist zu schaffen. Wer Notwendigkeiten erkennt und Befindlichkeiten enttarnt, ist immer auf der richtigen Seite.
Und tatsächlich scheinen die Aussichten verheißungsvoll; halten
»Franzl« und »Schützi« ihren Kurs, sinkt das Budgetdefizit der Steiermark heuer auf 377 Millionen, im Jahr 2014 gar auf 190 Millionen Euro.
Na ja, und im Jahr 2015, dem Jahr der nächsten Landtagswahl, würde
bei Fortsetzung des Kraftaktes gar ein ausgeglichener Landeshaushalt
locken. Erstmals, noch einmal: erstmals seit fünf Jahrzehnten, würde
in der Grazer Burg nicht mehr Geld ausgegeben, als die Grazer Burg an
Steuergeldern einnimmt.
Und völlig konsterniert schließlich der Rest Österreichs. Mit Ausnahme Vorarlbergs schreiben alle Bundesländer Miese, die einen mehr,
die anderen weniger. Aber: Ein solches Programm umgesetzt auch im
wirklich reichen Niederösterreich? Oder gar in einer der besten Hauptstädte der Welt, der in der Zwischenzeit unparkbar gewordenen »Wohlfühloase« Wien? Undenkbar. Jedenfalls für die jeweils Regierenden. Die
138
veranlagen lieber Wohnbaugelder und verkaufen Straßenbahnen und
Abwasserkanäle. Wohl ist zu hören, dass auch Erwin P. und Michael H.
dem Sauvignon nicht abgeneigt wären, aber jenseits von Wechsel und
Semmering wird der Begriff »Reformpartnerschaft« noch immer anders
interpretiert. Die mächtigsten Politiker der Republik reformieren lieber
ihre jeweils aktuellen Bundesregierungen als Zu- und Eingriffe in ihren
eigenen Machtbereichen zuzulassen.
Um die Kirche im Dorf zu lassen. Noch ist die
Steiermark kein Vorzeige-Bundesland, was
Der Weg ist
den Umgang mit Steuergeld angeht. Noch
lang und steinig
immer ist das Budgetdefizit erdrückend hoch.
Noch immer ist der Weg lang und steinig und noch immer nicht ist klar,
ob beide Landesparteiobleute den eingeschlagenen Kurs politisch überleben. Aber es gäbe einen Plan, eine Vision, wie sich die handelnden
Personen aus dem Würgegriff der begrenzten Finanzen befreien wollen.
Natürlich: Nicht immer fährt der Sparstift geräuschlos durch den Bürgerwald. Die »Privatisierung« des landschaftlichen Landeskrankenhauses West in Graz (es soll den knapper kalkulierenden »Barmherzigen Brüdern« übertragen werden) ist zwar notwendig und nimmt mit
einem Schlag 300 teure Spitalsbetten aus der Kostenstruktur des Landes; aber war besagtes »Landeskrankenhaus West« nicht mit viel Pomp
und Trara der Landespolitik erst vor zwölf Jahren neu gegründet und
gebaut worden – mit einem Schock neuer Ärztestellen und einer Hundertschaft neuer Pflegebediensteter?
Aber: Der Kern des Vorhabens ist richtig. Vernünftiger mit dem Geld
der Steuerzahler umgehen. Sparen. Nicht mehr ausgeben, als das
Land hat. Die Mittel dorthin lenken, wo sie gebraucht werden, und
dort abziehen, wo es nur um das Bedienen privilegierter Seilschaften
geht. Das Besondere an der »Reformpartnerschaft« ist nicht, dass es
so etwas gibt. Franz Voves und Hermann Schützenhöfer erledigen bloß
ihren Job.
Das Besondere in einer der reichsten Republiken der Welt ist, dass
eine ganz normale Managertätigkeit zweier Landespolitiker als Aus­
nahmeerscheinung empfunden wird.
139
Gemeindefinanzen: Sparen, ohne
dass das Land einen Cent sieht
Wenn Sie diese Zeilen lesen, ist die Steiermark »kleiner« geworden.
Sie verfügt nur noch über 539 Gemeinden; im alten Jahr waren es
noch 542 gewesen. Im Bezirk Leoben fusionierten Trofaiach, Gai
und Hafning, im Bezirk Hartberg machen seit Jahresbeginn 2013
Buch-Geiselsdorf und St. Magdalena am Lemberg gemeinsame Sache.
Warum eine solche Meldung Eingang in ein Jahrbuch über Wirtschaft und Finanzen findet? Weil selbst anhand des Mikrokosmos
der kleinsten Verwaltungsebenen, eben der Gemeinden, veranschaulicht werden kann, wie es sich mit dem Steuergeld der Bürger
­vernünftiger umgehen lässt. Und das Schöne daran ist: Das Ersparte
bleibt direkt in den Kommunen. Das Land sieht keinen Cent.
Als zentrales Programm ihrer »Reformpartnerschaft« hat die steirische Landesregierung ihren Gemeinden auch ein großes Fusionsprogramm verordnet. 39 Prozent aller Kleinstgemeinden Österreichs
nämlich liegen in der Grünen Mark. Das kostet Geld und Personal.
Jede Gemeinde unterhält eine Verwaltung – selbst Freiland, mit 128
Einwohnern die kleinste Gemeinde der Steiermark, benötigt einen
Bürgermeister (Entschädigung), einen Gemeinderat (Sitzungsgeld)
und einen Gemeindesekretär (Monatsgehalt). Weitere 76 Kommunen
in der Grünen Mark haben weniger als 500 Einwohner, nochmal 120
liegen unter der 1000er-Marke.
Am Ende der Gemeindezusammenlegungen sollen nur noch »weit
unter 300« Kommunen übrig bleiben – das wäre der Wunsch des
Landeshauptmannes und seines Stellvertreters. Die Vorzüge des Vorhabens liegen im Detail, sie sind aber handfest. Dass die Fusionierung von Bruck an der Mur und Kapfenberg mit weit mehr als 35.000
Einwohnern dabei auch eine neue zweitgrößte Stadt des Landes
entstehen lassen würde, schriebe freilich auch die Geschichte einer
ganzen Region um.
Nicht alle Bürger und schon gar nicht alle Bürgermeister können den
eingeforderten Zusammenlegungen etwas abgewinnen. Aber denen,
140
die nachrechnen, tun sich kleine Schatzkisten auf. So wie einer Region im oberen Feistritztal im Bezirk Weiz, wo sich die Ortschefs von
Gschaid (rund 1000 Einwohner), Haslau (450), Koglhof (1100) und
Waisenegg (1100) mit der »Zentrale« Birkfeld (1600) auf ein gemeinsames »Packel« hauen wollen. Bislang schrieben alle fünf Gemeinden
zusammen ein Defizit von 268.000 Euro im Jahr; nach der Fusion
blieben auf einmal 443.000 Euro im Jahr als Überschuss übrig. Wenn
das nichts ist ...
Im Einzelnen: Die Verwaltung der neuen »Großgemeinde« Birkfeld
käme um 142.000 Euro billiger. Von fünf Gemeindeämtern blieben
nur zwei übrig. Personal würde eingespart; bei den Standesbeamten, im Bauamt, bei den Gemeindearbeitern. Entlassen würde niemand, aber frei werdende Stellen würden nicht nachbesetzt. Vier
Kindergärten würden zu nur noch dreien zusammengelegt. Damit
könnte auch eine Ferienbetreuung während der für Eltern kritischen Sommermonate o­ rganisiert werden.
Die Wasserversorgung, die Müllentsorgung und die Gebühren würden
billiger. Fünf gemeinsam organisierte Gemeinden organisieren sich
leichter und verhandeln besser mit den Anbietern. Ersparnis: 137.000
Euro im Jahr, davon allein 84.000 Euro durch den Entfall von Krediten, die nicht mehr aufgenommen werden müssen. Dasselbe gilt für
den Straßenbau: Dort sind gleich 168.000 Euro zu holen, der Großteil
wieder durch den Entfall unbedeckter Kredite. Wird solcherart gespart
ist sogar an den Neubau von Gemeindestraßen wieder zu denken ...
Schließlich die »politischen Kosten«: Fünf Gemeinden benötigen
15 Gemeindevorstände, die eine Aufwandsentschädigung erhalten (Bürgermeister, der Stellvertreter, der Kassier). Eine Gemeinde
müsste nur noch drei Vorstände entlohnen. Das läppert sich. Im
oberen Feistritz­tal macht die Einsparung »in der Politik« allein
100.000 Euro im Jahr aus. Allerdings: Am Ortsbild soll sich nichts
ändern. Zwar wird die neue Gemeinde den Namen Birkfeld tragen,
die Ortstafeln Gschaid, Haslau, Koglhof und Waisenegg bleiben aber
erhalten – nur mit dem Zusatz: »Gemeinde Birkfeld«. Verwaltung
und lokale Identität sollen zwei Paar Schuhe bleiben.
141
Alle Einsparungen greifen schon im ersten Jahr nach der Zusammenlegung. Jedes weitere Jahr kommt frisch Angespartes hinzu. Der
Fuhrpark der bisher getrennten Wirtschaftshöfe wird im Laufe der
Zeit optimiert; nach 15 Jahren ist der Personalumbau abgeschlossen,
mit nur noch einem Bauamtsleiter, einem Standesbeamten, einem
Gemeindesekretär. Im Idealfall stimmen sogar die Freiwilligen Feuer­
wehren ihre Löschfahrzeuge aufeinander ab. Pfarr- und Kulturvereine arbeiten enger zusammen, Fremdenverkehrs- und Wirtschaftsverbände werden optimiert.
Das alles wird viel Stress und Unruhe auslösen; aber es ist schaffbar. Wer nachrechnet, wird sich der Fusion nicht verschließen können. Es bleibt Geld in der gemeinsamen Gemeindekasse übrig. Es ist
das Geld der Bewohner der fünf Gemeinden. Sind einmal die Schulden aus der Vergangenheit beglichen, könnten sogar die Wasser-,
Abwasser- und Müllgebühren gesenkt werden.
Übrigens: Die letzte große »Flurbereinigung« in der Steiermark
datiert aus dem vorigen Jahrhundert. Unter Landeshauptmann
Josef Krainer sen. wurden aus 884 (!) Gemeinden 561 gemacht.
Das geschah vor fast 50 Jahren. Zur Erinnerung: Das vorliegende
€CO-Jahrbuch gibt es seit 25 Jahren. Vielleicht machen wir uns einmal die Mühe nachzurechnen, wie viel Geld in dieser Zeit verloren
gegangen ist. Ja: Steuergeld.
»Der Rechnungshof kommt in letzter Zeit von einer
Disqualifikation in die andere. Manche Herren im Glaspalast am
Donaukanal sind offensichtlich zu wenig qualifiziert.«
Wenn Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) glaubt,
dass das Land Niederösterreich seine Wohnbaugelder lukrativ
veranlagt hat, dann ist das auch so.
142
Unser teures Bier: Wenn Hopfen
und Malz zu barem Geld werden
von Philipp Jauernik
Sie haben es sicher schon bemerkt – die Bierpreise sind gestiegen. Zumindest beim österreichischen Branchenprimus, der Brau
Union, die rund die Hälfte der Marktanteile für sich reklamieren
kann. Mit Dezember 2012 erhöhte sie die Preise für ihre bekannten Marken (Zipfer, Gösser, Puntigamer, Kaiser, Schwechater) um
durchschnittlich drei Prozent. Begründet wurde das mit »gestiegenen Rohstoffpreisen«. Tatsächlich: Am mangelnden Absatz
konnte es nicht gelegen sein. Der Durchschnittsösterreicher trinkt
inzwischen mehr Bier als der Durchschnittsdeutsche.
Ein altes Sprichwort sagt: »Auch Wasser wird zum edlen Tropfen,
mischt man es mit Malz und Hopfen.« Tatsächlich wäre die Wasserqualität entscheidend. Der Brauvorgang beginnt aber erst mit der Fermentation – dazu verwendet der Brauer Hefe. So sähe Bier aus, braute man
es allein nach dem »Reinheitsgebot« – einer Verordnung, die so nie
existierte. Dabei wurde bloß auf einzelne Textpassagen unterschiedlicher alter gesetzlicher Regelungen Bezug genommen – insbesondere
auf die »bayerische Landesordnung« aus dem Jahr 1516.
Heute steckt im kühlen Hellen schon ein bisserl mehr moderne Technik.
Das ursprünglich recht einfache Produkt wird umso komplexer, je höher
die Qualitätsstandards werden. Dazu braucht es »das entsprechende
Equipment und auch ein Hygienegrundverständnis«, erklärt der Wiener
Albert Welledits. Der Technikingenieur stammt aus einer Familie von
Brauern – seit 1924 stellen die Welledits’ zudem Brauanlagen her.
Mittlerweile werden diese in die ganze Welt exportiert. Albert Welledits
lieferte schon nach Afrika, nach Lateinamerika und nach Russland. Zu
seinen bekannteren Kunden zählt etwa der russische Oligarch Roman
Abramowitsch. In Welledits’ eigener Wirtshausbrauerei, dem »Salmbräu«
am Wiener Rennweg, hängen unter anderem Bilder, die den Hausherrn
mit dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales zeigen – gleich neben
dem berühmt-berüchtigten venezolanischen Staatschef Hugo Chavez.
143
In Russland ist Bier zwar nicht so tief verwurzelt wie in Mitteleuropa,
aber das Reich Wladimir Putins schlägt sich in der Produktion nicht
schlecht. Von wegen »Wodka-Land«: Fast 103 Millionen Hektoliter Bier
werden jährlich in Russland gebraut – Tendenz steigend. Das bevölkerungsmäßig wesentlich kleinere Deutschland liegt mit über 95 Millionen Hektolitern auf Platz zwei. Österreichs Brauer können mengenmäßig nicht mithalten und schafften zuletzt »nur« 8,67 Millionen
Hektoliter. Rechnet man aber pro Kopf und Kehle, so ist das rot-weißrote Ergebnis ein internationaler Spitzenwert: Wir trinken mehr Bier
als die Deutschen. Nur Nachbar Tschechien weist weltweit (!) einen
höheren Bierkonsum aus als Österreich.
Das weiß man auch in den 170 heimischen Braustätten. 97 davon sind
Gasthaus- und Hausbrauereien; zusammen stellen sie mehr als 1000
verschiedene Biere her. Damit wird ein Umsatz von weit über einer Milliarde Euro erzielt. Allein die Steuern auf Bier spülten dem Fiskus im
vergangenen Jahr rund 700 Millionen Euro in die Kassen. Das liegt auch
am heimischen Steuerrekord. Die österreichische »Biersteuer« wurde im
Jahr 2000, als Ersatz für die abgeschaffte Getränkesteuer, umgehend
drastisch erhöht. Kein schlechtes Geschäft also für die Republik, wenn
sie solcherart Hopfen und Malz zu barem Geld macht ...
Nach Angaben des Verbandes der Brauereien beträgt die gesamtsteuer­
liche Belastung des Hopfengetränkes fast 50 Prozent. Die Steuerlast
ist damit in Österreich zweieinhalb Mal so hoch wie im benachbarten
Deutschland, das noch dazu eine geringere Umsatzsteuer einhebt. Daraus ergibt sich, so der Verband, ein »im Schnitt um 20 Prozent höherer
Flaschenbierpreis in Österreich«; und folglich einen Preisunterschied,
der für die heimischen Brauer einen Wettbewerbsnachteil bedeutet.
Die Produzenten wissen das und versuchen mit Spezialsorten zu punkten. So hat etwa die »Trumer Brauerei« im »Jahr des Waldes« 2011 in
Kooperation mit den Österreichischen Bundesforsten ein Waldbier aus
frischen Tannentrieben gebraut. »Gösser« braut in diesen Wochen zur
Schiweltmeisterschaft in Schladming das »Gösser WM-Gold« und vermarktet es mit drei WM-»Bier-Botschaftern«: Harti Weirather, Hans
Knauß und Michael Walchhofer. Letzterer fungiert auch als Ehrenbraumeister des »goldenen Bieres«.
144
Braucommune Freistadt: Jeder Hausbesitzer hält Anteile (Foto: freistaedter-bier.at)
Vor allem aber sind es süße Mischgetränke, die den Absatz steigern
sollen. Besonders Frauen soll das Produkt Bier, das von vielen eher als
bitteres Männergetränk wahrgenommen wird, schmackhaft gemacht
werden. Karl Schwarz, Geschäftsführer und Eigentümer der »Privatbrauerei Zwettl«, begründet diesen Trend zum Radler: Radler sei zwar
keine große Braukunst, es werde nur Limonade mit Bier gemischt. Aber
es böte den Brauereien eine ideale Gelegenheit, die Zielgruppe zu erweitern: »Vor allem junge Leute sind daran gewöhnt, süße Getränke zu
trinken. Sie kommen über den süßlichen Geschmack letztlich zum Bier.«
Wie viele kleinere Brauereien kämpfen auch die Zwettler gegen die
Marktdominanz der »Brau Union«, die zur internationalen ­HeinekenGruppe gehört. Die Branche zeigt sich allerdings lernfähig: Seit Bier als
Genussmittel vermarktet wird, geht’s mit Image und Absatz bergauf.
Man hat sich einfach ein Beispiel an der Weinbranche genommen, die
seit dem Glykolskandal im Jahr 1985 unglaubliche Fortschritte gemacht
hat. Hiermit ist auch Bier, das vorher als »Maurergetränk« verschrien
war, »salonfähig« geworden. Karl Schwarz: »Bier passt zu jeder Gelegenheit. Das äußert sich eben auch in dem sehr hohen Pro-Kopf-Verbrauch.«
In der Tat: Beim Biertrinken ist Österreich, wie gesagt, Weltspitze.
108 Liter werden pro Kopf und Jahr getrunken. Mehr verdrücken nur
145
Braucommune: Wird ohne Bier aus Freistadt gestreikt? (Foto: freistaedter-bier.at)
die Tschechen: Mit 132 Litern sind sie klar die Nummer eins. Nachbar
Deutschland (102 Liter) gerät bereits immer mehr ins Hintertreffen;
Seit Österreich im Jahr 2010 an Deutschland vorbeigezogen ist, erhöht
sich der Abstand von Jahr zu Jahr. Das traditionsreiche Brauerland
Belgien kommt gar »nur« auf 78 Liter. Und zum »Leben wie Gott in
Frankreich« gehört anscheinend eher Wein als Bier: Nur 30 Liter Gerstensaft werden dort pro Kopf jährlich getrunken.
Für Ewald Pöschko ist das wenig verwunderlich: »Jedes Volk hat
­irgend­wo sein Rauschmittel kultiviert«, erklärt der Geschäftsführer
der »Braucommune Freistadt« verschmitzt. Bayern, Südböhmen und
Österreich sind in seinen Augen »die Biertrinkernationen der Welt«.Er
weiß, wovon er spricht: Die Freistädter »Braucommune« ist ein weltweites Unikat – ihre Besitzanteile sind nämlich grundbücherlich an
die Häuser der Freistädter Altstadt geknüpft und können nicht ver­
äußert werden. Wer also ein Haus in der Freistädter Altstadt kauft, ist
automatisch Miteigentümer der »Braucommune«.
Die Brauerei, die in dieser Form seit dem 17. Jahrhundert besteht,
ist ein nicht wegzudenkender Teil der Geschichte und Kultur der
Bezirkshauptstadt im Mühlviertel. Ihre Bedeutung ist unter anderem daran ersichtlich, dass sie Gastgeberin der oberösterreichischen
146
Landesausstellung 2013 ist. Auf Regionalität wird in der Brauerei viel
Wert gelegt. Alle Rohstoffe kommen aus der unmittelbaren Umgebung.
Die Bevölkerung honoriert das. »Bei uns ist es nicht egal, ob etwa ein
Bauherr einem Maurer irgendein No-Name-Produkt hinstellt. Der will
schon ›sein‹ Produkt haben: Mit Freistädter Bier wird seine Arbeit gewertet. Gibt man ihm allerdings irgendein Massenbier, könnte es sein,
dass er womöglich gar nicht mehr weiterarbeitet«, schildert Pöschko
nicht ohne Stolz den Stellenwert »seines« Bieres in der Region.
Allerdings ist bei aller Regionalität auffällig, dass bestimmte Biersorten
nur in bestimmten Gegenden zu erwerben sind. Im oberösterreichischen Mühlviertel dominiert Freistädter Bier in den Supermarktregalen.
Sobald man die Landesgrenze zum niederösterreichischen Waldviertel
überschreitet, ist es so gut wie verschwunden; die Getränkeabteilungen
sind plötzlich mit Zwettler Bier gefüllt. In Vorarlberg findet man kaum
Produkte der Wiener Ottakringer Brauerei, dafür ist etwa »Mohrenbräu«
stark vertreten. Der Gedanke an mögliche Kartellabsprachen drängt sich
nahezu auf ...
Und: So abwegig scheint diese Vermutung nicht. Erst im Juni 2011
führte die Bundeswettbewerbsbehörde Hausdurchsuchungen bei »Stiegl«
und »Ottakringer« durch, die »Brau Union« trat als »Kronzeugin« auf.
Der Vorwurf: Preis- und Belieferungsabsprachen der Brauereien gegenüber Großverbrauchermärkten. 2007 erst verhängte die EU-Kommission
eine Strafe von knapp 274 Millionen Euro gegen ein weiteres Bierkartell
in den Niederlanden. Die belgische Beck’s-Mutter »InBev« hatte im Verbund mit den niederländischen Braufirmen »Heineken«, »Bavaria« und
»Grolsch« die Bierpreise künstlich hoch gehalten. Auch die Erinnerungen an das »Bierkartell«, das bis zum Jahr 2000 in Österreich den Markt
unter sich aufteilte, sind noch lebendig.
Die Lieferabsprachen in Österreich hätten allerdings »ausschließlich
Qualitätshintergründe« gehabt, behauptet »Ottakringer«-Vorstandschef Sigi Menz. Der Vorarlberger, der auch Präsident des Brauereiverbandes ist, hält Absprachen hierzulande für gar nicht mehr notwendig: »Das ist wahrscheinlich eine regionale Zufallsthematik, weil der
eine den einen Wirten und der andere den anderen Wirten besser
kennt.« In einer derart stark regionalisierten Bierwirtschaft sei das
147
anders kaum möglich. »Ottakringer« habe, so Menz, zwar versucht, in
Vorarlberg Fuß zu fassen, das sei aber nicht geglückt. Die Konsumenten seien eben ihren regionalen Stammmarken treu. »Daraus ergibt
sich, dass keiner ein Kartell braucht.«
Auch Alfred Welledits aus dem »Salmbräu« glaubt daran, dass Konsu­
menten verstärkt zu ihrem angestammten Bier greifen. Er spricht
sogar von »einer Schere zwischen den Bieren der großen Konzerne,
die immer mehr in Richtung Einheitsgeschmack tendieren, und andererseits kleinen, regionalen Brauern«, die spezielle Biere brauen und
ihre Stammkundschaft hätten. Für ihn gibt es auch noch ökologische
Aspekte, die für regionale Wirtshausbiere sprechen, denn globale Konzerne transportieren ihr Gebräu oft tausende Kilometer weit. »Der
ökologische Fußabdruck ist enorm, wenn man bedenkt, dass Bier zu
weit mehr als 90 Prozent aus Wasser besteht.«
Auch qualitativ ist der gelernte Brauer von den »Massenbieren nicht
überzeugt«. Wenn man auf den Boden einer Bierdose blicke und dort
ein Haltbarkeitsdatum entdeckt, das noch drei Jahre entfernt liege,
»dann kann man sich nicht viel erwarten. Das Bier ist zu Tode pasteurisiert und zu Tode filtriert. Da bleibt nichts mehr übrig vom Bier.«
Was viele Konsumenten überhaupt übersehen: Der Qualitätsabfall vom
Flaschen- zum Dosenbier ist nochmals enorm: »Es geht noch weiter hinunter, tatsächlich.«
Die Österreicher trinken übrigens am liebsten Märzen- und Lagerbier.
Während Sport-Großereignissen wie der Fußball-Europameisterschaft
steigen übrigens die Umsätze der Brauereien um bis zu zehn Prozent.
Spielen Mannschaften wie Deutschland oder Tschechien – klassische
Biertrinkernationen, die auch sportlich reizvoll sind –, konstatiert
Sigi Menz besonders volle Bierlieferwagen.
Echte Anhänger des Hopfengetränks finden aber ohnehin immer einen
Grund zum Anstoßen. Und frisch gezapft lässt sich’s noch immer am
genussvollsten zuprosten.
148
Die neue Frauenpower: »Schatzi,
was machen wir mit dem Geld?«
von Angelika Ahrens
Immer mehr Frauen in Österreich sind berufstätig – sprich: sie
verdienen ihr eigenes Geld. Aber wie sieht es beim Anlegen von
Geld aus? Haben da die Männer oder die Frauen die bessere
Nase? Fest steht der »kleine Unterschied«: Für Männer ist Geld
oft ein Statussymbol, für Frauen ist es nur Mittel zum Zweck,
meinen Experten.
Frauen sind in der Anlage von Geld weniger kompetent als Männer –
das ist das weit verbreitete Vorurteil. Kaum ein anderer Aspekt in
Sachen Finanzanlage ist mit so viel Klischees und Vorurteilen besetzt
wie das Thema Frauen und Geldanlage. Dabei interessieren sich Frauen
immer intensiver mit der Frage: »Was tun mit dem Verdienten?« Und
Studienergebnisse haben in den letzten Jahren immer wieder gezeigt,
dass sich Frauen mit ihrer Herangehensweise an das heikle Problem
keineswegs verstecken müssen.
Oft fallen die Ergebnisse im langjährigen Vergleich unter dem Strich
sogar besser aus als bei Männern. Beide Geschlechter denken zunächst
einmal vollkommen unterschiedlich über Geld: »Männer identifizieren
Geld mit Macht und Kontrolle. Für Frauen bedeutet Geld Sicherheit und
Autonomie«, erklärt die US-Psychologin Kathleen Gurney. Und: Frauen
gehen Finanzfragen einfach anders an. »Frauen holen sich Rat vom
Profi, fragen ihre Bank oder bestimmte Mitglieder in der Familie«, wissen die Finanzexperten der Branche. »Nur ganz wenige Frauen nutzen
das Internet oder die Medien.«
Jede Frau entscheidet letztendlich am liebsten selbst, wie sie ihr
Geld anlegt. Es muss in erster Linie sicher sein: So haben 65 Prozent
der Frauen ein Sparbuch, 60 Prozent besitzen einen Bausparvertrag,
46 Prozent eine Lebensversicherung. Risikoreiche Anlagen wie Aktien,
Anleihen oder Investmentfonds besitzen gerade einmal 16 Prozent der
weiblichen Bevölkerung. »Frauen haben ein größeres Risikobewusstsein als Männer. Wenn sie einmal Geld verdient haben, dann wollen sie
149
»Schatzi, was machen wir mit dem Geld?« (Foto: Peter Atkins/Fotolia.com)
es auch nicht mehr hergeben. Sie streben danach, es zu behalten. Und
setzen deswegen weniger auf eher riskante Anlagemöglichkeiten«, berichten die Anlageexperten quer durch den Markt.
»Für Männer ist Geld oft ein Statussymbol. Für Frauen ist es ein Mittel
zum Zweck«, meint Renate Kewenig. Mitbegründerin von »FrauInvest«,
einer Anlageberatung von Frauen für Frauen. Aber sind Frauen deswegen die besseren Anleger? »Frauen halten ihre Anlagestrategien länger durch. Und das ist sicher ein klarer Vorteil. Meist kommt am Ende
ein positives Gesamtergebnis dabei heraus.« So hat die University of
California erhoben und errechnet, dass die Rendite der von Frauen
gemanagten Aktiendepots im Schnitt um 1,4 Prozent höher liegt als
die der Männer. Die Gründe lagen zum Beispiel in der geringeren Zahl
an Umschichtungen (also Käufen und Verkäufen) und an der größeren
Sicher­heitsorientierung.
Zum Schluss noch ein paar Fakten: Im Schnitt legen Frauen 250 Euro
pro Monat zur Seite. Das sind nur um 13 Euro weniger, als Männer monatlich ansparen. Immerhin: Frauen verdienen ja im Schnitt auch noch
immer deutlich weniger als Männer. Und viele Frauen arbeiten gar nur
Teilzeit. Und wer letztendlich die bessere Strategie und damit die bessere »Nase« haben wird – nun, frau ist sich da schon ziemlich sicher.
150
»Die Voest« – vom Stahlkocher
zum hippen High-Tech-Konzern
von Sabina Riedl
Österreichs Schwerindustrie ist trotz des schwierigen konjunkturellen Umfelds auf Erfolgs- und Expansionskurs. Mit Schienen
für prestigeträchtige Hochgeschwindigkeitsstrecken und Spezialstählen für die Raumfahrt- und Flugzeugindustrie füllt etwa die
Voestalpine AG auch in Krisenzeiten ihre Auftragsbücher – und
mausert sich vom Stahlkocher zum High-Tech-Konzern.
Dabei sind insgesamt die Aussichten für die europäische Stahlindustrie nicht gerade rosig. Hohe Überkapazitäten stehen einem stetig sinkenden Verbrauch gegenüber. Von den derzeit produzierten 210 Millionen Tonnen Rohstahl werden gerade einmal 145 Millionen verbraucht.
Dadurch sind bis zu ein Viertel der Jobs der europäischen Stahlerzeuger bedroht – das wären immerhin 100.000 Arbeitsplätze. Um Angebot
und Nachfrage wieder anzugleichen, müsste einiges an Überkapazität
vom Markt genommen werden. Denn derzeit liegt die Auslastung der
Stahlproduzenten bei nur 70 bis 75 Prozent.
Und: Klar hat auch die Voestalpine AG diese Entwicklung zu spüren
bekommen. Obwohl das Team um CEO Wolfgang Eder die richtigen
Schwerpunkte gesetzt hat und wichtige Nischen auf dem Stahlmarkt
erobern konnte. Dennoch gab es im ersten Halbjahr 2012 einen Rückgang des operativen Ergebnisses um zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr zu vermelden. Immerhin blieb der Umsatz weitgehend stabil.
Dennoch ist das Management nicht von seinen Expansionsvorhaben
abgewichen. So wurde noch im November des alten Jahres mit dem
Bau des neuen US-Werks der »Metal Forming Division« in Cartersville
im Bundesstaat Georgia begonnen. Eine Investition von immerhin
50 Millionen Euro. Im jüngsten US-Ableger der Voestalpine sollen
künftig Automobil-Komponenten hergestellt werden.
Stahl ist seit 3000 Jahren der Inbegriff von Macht, Kraft und Fortschritt – heiß begehrt bei Potentaten für Waffen und Rüstung, aber
151
Das Weltmeister-Produkt: Langschienen aus Donawitz (Foto: Voestalpine)
auch als Werkzeug für Gewerbe und Industrie. Stahl gilt auch als die
Initialzündung für die Mobilität. Österreich hat eine lange Tradition
in Metallgewinnung und -verarbeitung. Diesen Vorsprung haben wir
bis heute gehalten. Die Voestalpine AG ist dabei mit 20.000 Beschäftigten nicht nur größter heimischer Arbeitgeber und Leitbetrieb, sondern auch Kulturträger, Lehrwerkstatt, Großfamilie und Innovationsmotor – und das schon seit Generationen.
Ein chinesisches Sprichwort sagt: Stahl kann man brechen, aber nicht
biegen. Zumindest auf die Langschienen der Voestalpine trifft das
nicht zu – wie Spaghetti winden sich die 120 Meter langen Ungetüme
beim Transport, ehe sie im Sommer auf dem neuen Hauptbahnhof
Wien verlegt wurden. Diese Schienen sind tatsächlich ein verfahrenstechnisches Meisterwerk: Sie halten mehr aus als andere – und nützen
sich nicht so schnell ab. Das liegt am Verfahren, das nur die Voest beherrscht.
Kopfgehärtet nennt man es – und nur am Standort Donawitz in der
Obersteiermark können Schienen dieser Dimensionen gleichmäßig
abgekühlt werden, was sie so widerstandfähig macht. Gebraucht werden sie überall, wo hohe Geschwindigkeiten gefahren werden und die
Schienen großen Belastungen ausgesetzt sind – also in Bahnhöfen
152
und anderen stark frequentieren Strecken. Mit diesem Produkt sind
die Österreicher konkurrenzlos auf dem Weltmarkt.
Das hat ihnen prestigeträchtige Aufträge wie die Hochgeschwindigkeits-Strecke Shanghai–­Peking eingetragen und jüngst auch Moskau–
St. Petersburg. Und wer solche Lieferungen quer über den Globus hinkriegt, scheut keine noch so große technische Herausforderung. Kein
Auftrag in dieser Größenordnung ist alltäglich – obwohl es auch in
dieser Liga absolute Top-Herausforderungen zu meistern gilt.
Auf eine bauliche Meisterleistung dabei ist
Voestalpine-Chef Wolfgang Eder besonders
Temperaturunterschied
stolz. »Beim Projekt Flughafen Hongkong bei­ von über einem Meter
spielsweise waren wir die Einzigen, die sich
getraut haben, die Hochgeschwindigkeits-Verbindung vom Flughafen
in die Stadt zu bauen – über viele Brücken, in sehr schwierigem Gelände mit hohen Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht.
Sie müssen sich vorstellen, die Schienen auf einer Brücke verändern
ihre Länge zwischen Tag und Nacht um rund einen Meter aufgrund
des Temperaturunterschiedes. Das müssen Sie technisch in den Griff
kriegen.«
Auch die ÖBB, ein lang gedienter Partner der Voest, sind ein zufriedener Kunde. Für den neuen HBf Wien, der vor kurzem in Teilbetrieb
ging, wurden 100 Kilometer Langschienen und 330 Spezialweichen im
Wert von 60 Millionen Euro bestellt und verlegt. Was der Voestalpine
den Auftrag gebracht hat, erklärt der technische Direktor der ÖBB,
Bernhard Knoll: »Die Voestalpine kann Dinge, die andere nicht können.
Zum Beispiel verschiedene Schienenprofilformen mit unterschiedlichsten Stahlgüten zu walzen ist eine große Herausforderung. Aber auch
Weichen komplett vormontiert auf Weichentransportwagen just in
time auf die Baustelle zu liefern, ist eine logistische Herausforderung,
die nicht jeder meistert.«
Spezialstähle sind übrigens die Zukunft. Sie müssen immer höheren
Anforderungen entsprechen, auch immer leichter ist die Devise, denn
je weniger Gewicht ein Werkstoff hat, desto geringer wird der Spritverbrauch von Autos und Flugzeugen, für deren Bau er verwendet wird.
153
Auch eine Reduktion der Emissionen kann dadurch erreicht werden.
Trotzdem muss ein Leichtstahl stabil, rostfrei, unverformbar und robust sein – also ein Alleskönner.
Das war für die Voestalpine auch die Eintrittskarte ins »big business«
der Raumfahrt- und Flugzeugindustrie. 25 Prozent der Triebwerke des
neuen Airbus A-380 bestehen aus Voeststahl – und der ist so leicht,
dass er offenbar Flügel verleiht. Aber auch in der Automobilindustrie
punkten die Linzer mit ihren hochwertigen Stahlblechen. Das hat
­übrigens selbst die Arbeit im Werk verändert – die schmutzigen Jobs
sind deutlich weniger geworden.
Bei unserem Besuch im Walzwerk treffen wir übrigens Helmut
Schypani, der seit 33 Jahren »im Betrieb« arbeitet, und seine Tochter
Nina, die hier Maschinenbau lernt. Herr Schypani führt uns durch die
riesige Halle, in der die Stahlbleche gewalzt und für den Transport auf
Rollen gedreht werden. Heute, erzählt er uns, laufe »alles automatisch,
die Arbeit hier war früher wesentlich lauter, dreckiger und gefährlicher«.
Die beiden, Vater und Tochter, sind »Voestler«, wie sie im Buche
stehen – stolz auf ihren Betrieb und dessen Familientradition. Die
­Schypanis stehen exemplarisch für alles, wofür die Voestalpine sonst
noch steht – nicht nur dass sie ein weltweit agierender Stahlkonzern
ist, ist sie auch Heimat, Identität und Großfamilie. Immerhin halten
die Voestler 13 Prozent an ihrem Betrieb und sind damit zweitgrößter
Kernaktionär – das schafft Loyalität und Verbundenheit über viele
Generationen.
Nina Schypani erzählt, dass sie schon als Kind mitbekommen habe,
dass ihr Vater »schichtelt« (so heißt die Schichtarbeit im Arbeiter­
jargon). Am Beispiel des Vaters lernte sie früh, dass die Arbeit laut
und schmutzig ist, aber das schreckte sie nicht ab. »Da mach’ ich lieber eine Arbeit, bei der ich dreckig werde, als dass ich im Büro sitz’,
wo’s mir überhaupt nicht gefällt«, sagt die hübsche Blondine, die sich
entgegen der ursprünglich geplanten Karriere als Friseurin für die
­Voest-Hack’n entschied und heute eines der wenigen Mädchen unter
den Voest-Lehrlingen ist.
154
Helmut Schypani hatte auch schon als Junger im Betrieb gelernt, auch
sein Vater war Voestler gewesen. Seine 18-jährige Tochter verkörpert
also die dritte Generation, die die Familientradition aufrecht hält.
Das erfüllt ihn mit Stolz. »Man macht sich zwar als Vater Sorgen, wie
wird’s weitergehen nach ihrer Ausbildung. Ich kenn‘ das Metier, wenn
sie nachher im Betrieb draußen ist, gibt’s gefährliche Situationen, gerade bei der Maschinenbautechnik, wo du nicht nur im Büro sitzt oder
in der Werkstätte. Auf der einen Seite ist das gut, man kommt zu Störungen und lernt das Werksgelände kennen. Aber man macht sich Sorgen als Vater, ist andererseits aber auch stolz auf die Tochter.«
Während die Voestalpine in Linz ihr lokales
Kolorit behalten hat, ist sie außerhalb Öster- Stiller Aufstieg zum
reichs still und leise zum Weltkonzern aufge- Weltkonzern
stiegen. Mehr als 46.000 Mitarbeiter weltweit,
360 Niederlassungen in 60 Ländern auf fünf Kontinenten – sie ist der
drittgrößte börsenotierte Stahlproduzent Europas, wo sie 72 Prozent
ihres Umsatzes von heuer elf Milliarden Euro macht.
Die Nachteile der Globalisierung hat die Voestalpine wie alle Stahlkonzerne während der Wirtschaftskrise zu spüren bekommen. Auftragsrückgänge zwangen zu Mitarbeiterabbau und Kurzarbeit – eine bittere
Erfahrung für Belegschaft und Management. Wolfgang Eder erinnert
sich: »Wir hatten gerade von Herbst 2008 bis Herbst 2009 eine schwierige Phase, aber – wenn ich mich richtig erinnere – es gab überhaupt
nur ein Quartal, in dem wir Verlust gemacht haben, selbst in dieser
sehr schwierigen Situation. Wir haben die ganze übrige Zeit Gewinn
gemacht, wir konnten, Gott sei Dank, den Abbau an Mitarbeitern in
Grenzen halten und erfreulicherweise haben wir heute wieder den Mitarbeiterstand, den wir vor der Krise hatten.«
Viel schlimmer, erinnert sich Eder, der seit 30 Jahren bei der Voest­
alpine ist, war die Krise der 1980er-Jahre. Damals ging es für »die alte
Verstaatlichte« ums Überleben – Zerschlagen oder Neubeginn, das war
die Frage. Dieselbe Frage war auch schon nach dem Zweiten Weltkrieg
gestellt worden, als die Voest in Schutt und Asche lag. Die Alliierten
hatten die von den Nazis begründeten Hermann-Göring-Werke dem Erdboden gleich gemacht und die kriegswichtige Stahlindustrie pulverisiert.
155
Zweimal in ihrer bewegten jüngeren Geschichte ist die Voestalpine
wieder auferstanden – wie der Phönix aus der Asche. Und der Standort an der Donau ist heute kaum wieder zu erkennen: sauberes, grünes,
parkartiges Gelände, getrimmter Rasen, kein schwarzer Qualm steigt
mehr aus den Schloten der Hochöfen – der wahrscheinlich sauberste
Stahlkocher der Welt. 194 Millionen Euro hat die Voestalpine allein
voriges Jahr für die Einhaltung der strengen Umweltschutzauflagen in
der EU bezahlt.
Das macht eine Absiedelung der Hochöfen an eine EU-Außengrenze
zwar immer wahrscheinlicher, doch das kann noch dauern – wie jede
Weichenstellung in der Stahlbranche. »Das ist der große Unterschied
zu anderen Industrien«, sinniert Wolfgang Eder, »wo die Halbwertszeiten bei ein, zwei Jahren liegen, das heißt, wo man mit vier- bis
fünfjährigen Planungszeiträumen auskommt. Wir planen auf fünfzehn,
zwanzig, dreißig Jahre, zumindest in einem erheblichen Teil unseres
Portfolios. Das heißt, die Planung allein ist bei uns schon eine sehr
große Herausforderung.«
132 Millionen Euro übrigens hat die Voestalpine im vergangenen Jahr
in die Forschung investiert, elf Prozent mehr als 2011 – ein Etat, von
dem manche Universität nur träumen kann, aber notwendig, um sich
auch künftig als Marktführer zu behaupten. Schließlich wurde auch
der Grundstein für den Welterfolg mit den Schienen und Weichen
schon vor 30 Jahren gelegt. Maschinen werden ausgeladen und für die
Testfahrt vorbereitet.
»Wir haben 50 freigestellte Betriebsräte mit mindestens
weiteren 50 Mitarbeitern, die nichts anderes zu tun haben als
ihre Daseinsberechtigung zu rechtfertigen.«
»Post«-Chef Georg Pölzl scheint sein Unternehmen
wirklich gut zu kennen.
156
Der edle Stoff, das wunderbare
Tuch – eine »Jungfrau« verwöhnt
von Angelika Ahrens
Der Prinz von Quatar, der König von Malaysia und Luciano
­Pavarotti – sie alle besuchten schon die »Schwäbische Jungfrau«
am Graben im Ersten Bezirk in Wien. Auch Kaiser Franz I. und
Kaiserin Sisy hatten ihre Servietten und Spitzenbettwäsche dort
fertigen lassen. Das Traditionsunternehmen mit angeschlossener
Näherei in der Bundeshauptstadt gibt es seit fast 300 Jahren
»Bei uns gibt es fast alles – für ein Flugzeug, ein Schiff, ein kleines
Haus oder auch für ein schlichtes Apartment: ländliche Motive auf
handgewebtem Leinen. Oder, wenn Sie wollen, auch etwas für einen
Palast. Wir helfen Ihnen gerne.« Die quirlige Frau Hanni breitet in
Windeseile gestickte Tischdecken, Läufer und Geschirrtücher auf dem
Verkaufstisch aus. Darunter auch eine Tischdecke mit Fasanen oder
mit Gockelhahn und Hennen. »Wenn jemand ein Häuschen auf dem
Semmering hat oder eine Fasanjagd besitzt – oder für sein Landhaus
in Kitzbühel in Tirol beispielsweise«, meint die 74-Jährige augenzwinkernd. Die Mitarbeiterinnen der »Schwäbischen Jungfrau« fertigen in
der angeschlossenen Näherei alles nach Maß, wenn es sein muss.
Auch persönliche Taschentücher sind wieder in Mode – mit gesticktem
Monogramm selbstverständlich. Darauf ist Frau Hanni besonders stolz.
»Das ist zum Beispiel ein belgischer Stoff. Fühlen sie mal! Das ist sehr
kostbar. Diese Taschentücher sind einfach ihr Geld wert. Vor allem
Gäste aus Japan kaufen derzeit so etwas gerne ein. Man hat eben wieder a bisserl Kultur. Das ist doch sehr schön «, meint Frau Hanni.
Und so ein »persönliches Taschentuch« kann auch schon einmal an
die 42 Euro kosten. Das ist viel Geld. Immerhin: Es gibt auch noch
edle Stofftaschentücher für etwas weniger. Das Unternehmen versucht
allen Kunden und jedem Börsel etwas zu bieten.
Frau Hanni Vanicek kennt ihre Kundschaft bestens. Seit 52 Jahren
führt sie den Wäscheausstatter »Zur schwäbischen Jungfrau«. Viele
157
tatsächliche und auch manche nur vermeintliche Prominente »sind
schon da gewesen«, am Graben im Ersten Wiener Gemeindebezirk. Von
den Rockefellers aus den USA über Karl Merkatz und Luciano Pavarotti
bis hin zu Udo Jürgens. Auch viele Königshäuser hat der Betrieb ausgestattet. Alles ist mit Fotos und Autogrammen in zahlreichen Fotoalben
festgehalten.
»Wir haben kürzlich einen ganzen Palast in Malaysia ausgestattet. Da
haben wir Tisch- und Bettwäsche für 900 Personen gefertigt. Der König
war dann selbst einmal in Wien, er war sogar bei uns im ­G eschäft«,
­erzählt Frau Hanni stolz.
Klar: Wirtschaftskrise und Co sind auch in der »Schwäbischen Jungfrau« zu spüren. Doch Frau Hanni macht noch immer ein gutes Geschäft: »Ich glaube, in den letzten Jahres ist vieles anders geworden.
Wir sind aber Gott sei Dank zu bekannt. In unserer Branche gibt es
nur wenige, die ein ähnliches Sortiment anbieten. So können wir in
die ganze Welt liefern. Ich wundere mich oft, dass die Kunden sogar
aus Mexiko zu uns kommen. Viele entdecken uns auch im Internet. Das
Bürgertum hat immer Qualität gekauft. Es gibt nur wenige Firmen, die
maßfertigen, sticken und ganze Häuser einrichten.
Freilich: Harte Zeiten hat auch Frau Hanni erlebt. 1968 ist ihr Geschäft
ausgebrannt; mitten in der Nacht ist die »Schwäbische Jungfrau« in
Flammen aufgegangen. Einzig die wertvollen großen Jungfrauen-­
Gemälde von Leopold Kuppelwieser und Johann Nepomuk Maier konnten damals gerettet werden. Sie hängen auch heute noch im Geschäft.
Ein Jungfrauen-Bild verziert auch außen das Geschäft. Und die gemalte Jungfrau aus längst vergangener Zeit ist es auch, die die Kunden
ins Geschäft lockt. Oft nur, um ein Leintuch für die Kinder zu kaufen,
das 40 Euro kostet. Wie eine serbische Touristin, die während unseres
Besuches in das Geschäft schneit. Sie weiß zwar nicht genau, was, aber
»irgendetwas« habe sie »hineingezogen in den kleinen Laden«. Dann
erkundete sie die Qualität – und musste einfach etwas kaufen. Frau
Hanni lächelt und begleitet die Kundin noch zur Tür. Mit dem Stil und
dem Charme der alten Schule: »Serbien, so ein schönes Land – beehren
Sie uns bald wieder.«
158
Erfolg auf zwei Rädern –
KTM auf Weltmeister-Kurs
von Sabina Riedl
KTM – der Erfolg trägt Orange. Nach einer krisenbedingten
­Katharsis geht es für einen heimischen Traditionsbetrieb wieder
steil bergauf. Erstmals konnten die Mattighofener im vergangenen Jahr in nur sechs Monaten mehr als 50.000 Motorräder
absetzen. Damit befand sich ein österreichisches Unternehmen
auf weltmeisterlichem Kurs.
Allein im ersten Halbjahr 2012 erzielte KTM mit weltweit 50.233 verkauften Motorrädern einen Rekordabsatz – und steigerte sich gegenüber dem Vorjahr um 36 Prozent. Die angepeilten 100.000 Stück, das
ist die Marke, die es wieder zu erreichen gilt, waren in greifbare Nähe
gerückt und würden an die Stückzahlen, die vor der Krise verkauft
wurden, anschließen. Eine psychologisch wichtige Marke.
Mit diesem erhöhten Drehmoment bei den Absatzzahlen hat KTM auch
bei den Marktanteilen enorm aufgeholt und liegt jetzt trotz eines
weiter rückläufigen Motorradmarktes in Europa (minus zwölf Prozent
waren es im vergangenen Jahr) bei einem Plus von sieben Prozent.
Das war angesichts des wirtschaftlich steinigen Umfelds sensationell.
Auf dem US-Markt, der noch mehr gelitten hatte als der europäische,
konnten die Mattighofener immerhin 0,5 Prozent aufholen – sie liegen dort bei einem Marktanteil von 4,5 Prozent.
Diese starke Entwicklung verdankte KTM vor allem zwei neuen
Modellen: der schweren Straßenmaschine »Duke 690« und dem »Offroad Bike Freeride 350«.
Von den Fahreigenschaften der Letzteren durften wir uns auf der KTMTeststrecke in Stegenwald bei Salzburg selbst ein Bild machen. Das
Gelände liegt unweit von Werfenweng, umgeben von einem atemberaubenden Bergpanorama. Im Morgengrauen kommen zwei Kleinbusse mit
zwei Technikern und fünf Fahrern. Zehn funkelnagelneue Maschinen
werden ausgeladen und für die Testfahrt vorbereitet.
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Weltmeister KTM: Ingenieure aus Österreich, Kapital aus Indien (Foto: KTM)
Was dann passiert, treibt selbst einem Zuseher das Adrenalin bis in
die Haarwurzeln. Mit Vollgas geht’s bergauf und bergab, in halsbrecherische Kurven, über Stock und Stein. Die Fahrt auf der Teststrecke ist
symbolisch für den wilden Ritt, den der Innviertler Motorradhersteller
in den letzten Jahren hingelegt hat: Getöse, Steinschlag, Schleudern,
Aufholen, Gas geben, Abheben inklusive.
Was die Testfahrer dort aus den Maschinen rausholen, erinnert eher
an Filmstunts denn an ein Fahren mit einem Motorrad. Sprünge über
Schanzen bis zu fünf, sechs Meter hoch machen sie nicht aus purem
Übermut, sondern von Berufs wegen. Die neuen Modelle müssen auf
Herz und Nieren geprüft werden und werden deshalb bis auf ihre
­m aximale Belastbarkeit hin ausgereizt. Nur so lassen sich die Fahr­
eigenschaften über die Entwicklungsabteilung nochmals verbessern.
Der jüngste Coup aus der KTM-Entwicklungsabteilung ist der elektrische Offroader »Freeride E«. Mit einem Drehmoment von 70 Newton­
meter ist er genauso leistungsstark wie ein 125-ccm-Verbrennungsmotor – nur eben emissionsfrei und lautlos, sozusagen die »grüne
Zukunft« im Gelände. Verwirrend anzusehen, weil die Maschine neben
den Zuschauern einen Kavalierstart hinlegt – umherfliegende Steine,
aber kein blauer Dunst, kein ohrenbetäubendes Geknatter.
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Die Produktion ist nach wie vor am ursprünglichen Standort im oberösterreichischen Mattighofen beheimatet; und wäre dort gar nicht
mehr wegzudenken. Mattighofen ist praktisch KTM – jeder zweite Einwohner ist beim Zweiradhersteller beschäftigt. Neu ist nur der strategische Partner: Bajaj, der zweitgrößte indische Motorradhersteller, den
KTM-Chef Stefan Pierer an Bord geholt hat.
Pierer selbst leitet die Geschicke von KTM seit 20 Jahren und hat das
Handwerk, das hier so groß geschrieben wird, von der Pieke auf gelernt. »Ich bin gelernter Maschinenbauer«, erzählt der Chef, während
wir die Produktionsstraße, in der die Motorräder händisch zusammengebaut werden, abschreiten. »Ich habe zumindest die Fähigkeit, das
zusammenzuschrauben, was wir hier sehen.«
Der indische Motorradriese, übrigens der viertgrößte der Welt, hat zwar 47 Prozent von KTM
Indien ante portas:
übernommen, das Sagen haben aber nach wie
180 frische Millionen
vor die Mattighofener. Stefan Pierer hat damit
nicht nur 180 Millionen Euro Kapital ins Unternehmen geholt, sondern
vermutlich auch die Eintrittskarte für das ganz große Geschäft auf dem
Zweiradsektor ­gelöst.
»Indien ist der weltgrößte Motorradmarkt – nur damit Sie eine Vorstellung haben: Zwölf Millionen Stück Motorräder im Jahr werden dort
verkauft, also eine Million pro Monat«, erklärt Stefan Pierer. »Natürlich sind die Motorräder nicht vergleichbar mit diesen hier; das sind
einfache, luftgekühlte Zweiräder mit kleinen Hubräumen, aber der
Wohlstand in Indien wächst. Ich sag’ einmal: In zehn, fünfzehn Jahren kann sich eine Mittelschicht auch unsere Motorräder leisten.«
Derzeit werden die in Indien produzierten »Duke 200« noch zu Hause
in Oberösterreich kontrolliert – auf dem Subkontinent wird zwar zum
halben Preis gefertigt, doch das bedarf umso strengerer Qualitätskon­
trollen. Übrigens: Welche Maschinen aus Indien kommen, erkennt
sogar der Laie – am Geruch. Das feine Curryaroma in der Werkshalle
kommt nicht etwa aus der werkseigenen Kantine, sondern haftet an
der Verpackung der indischen »Duke 200« – ein Hauch Exotik in
Mattighofen.
161
Das hat zweifellos Charme, bedeutet aber auch eine Gratwanderung
zwischen den günstigen Fertigungsbedingungen des neuen Partners
und der peniblen Einhaltung der gewohnt gediegenen technischen
Standards bei KTM. Wie man diesen gerecht wird, wollen wir wissen:
»Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist wesentlich besser«, sagt Stefan
Pierer. »Wir haben in Indien Mitarbeiter, die die Fertigung auch vor
Ort kontrollieren.«
Die gewaltige Absatzsteigerung um mehr als 36 Prozent geht jedenfalls mehrheitlich auf das Konto des neuen indischen Partners. Und
auch die Hoffnung auf zusätzliches Wachstum gründet sich auf den
­Zweirad-Giganten Bajaj.
Den Grundstein für den allerersten Höhenflug von KTM legten zwei
Pioniere in den Vierzigerjahren des vorigen Jahrunderts: Die Gründerväter Ernst Kronreif und Hans Trunkenpolz. Das Kürzel KTM steht für
»Kronreif, Trunkenpolz, Mattighofen« und ist seither untrennbar mit
der kleinen Gemeinde im Innviertel verbunden. Hier gingen 1954 die
ersten Kult­roller, die Motorräder von der Siegerstraße – die Chrom gewordenen Bubenträume, in Serie gefertigt.
Auch Stefan Pierer gerät ins Schwärmen,
wenn er an seine erste KTM denkt: »Eine KTM
war mein allererstes Moped. Das war Anfang
der Siebzigerjahre. Wenn man auf dem Land
aufwächst, dann ist ein Moped oder ein motorisiertes Zweirad die Teilnahmekarte am sozialen Leben. Jedenfalls: Meine erste KTM habe ich
mir mit eigener Ferienarbeit, genauer gesagt mit Schwammerlsuchen,
verdient.«
Das Moped als
Eintrittskarte
Nach den goldenen 1970er-Jahren folgten schwere Schicksalsjahre in
Mattighofen. Das Management setzte mit der Fahrradproduktion aufs
falsche Pferd. Der Absatz brach ein und führte, trotz oder wegen des
Sanierers Josef Taus, in eine historische Pleite – ein Los, das auch die
steirische Traditionsmarke »Puch« ereilte.
»Wie bei allen Dingen«, sinniert Pierer, »kann eine große Krise auch
immer eine riesige Chance zur Veränderung sein. KTM hatte 1991 die
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KTM »Offroad«: In diesem Segment nahezu unschlagbar (Foto: KTM/R. Schedl)
größte Pleite abgeliefert in Österreich und wir hatten damals die Möglichkeit und die Chance, die Marke und alles, was mit den Motorrädern
zusammenhing, also Maschinenteile und Mitarbeiter, zu übernehmen.
Wir haben am 7. Jänner 1992 begonnen, damals mit 160 Mitarbeitern,
klein und sehr motiviert; und wir haben daraus in den letzten zwanzig Jahren die Nummer zwei in Europa und, beim Geländemotorrad,
die Nummer eins auf der Welt gemacht. Wir sind jetzt mittlerweile
knapp 1800 Mitarbeiter. Das ist insgesamt eine sehr schöne, sehr motivierende Geschichte.«
Immer »vorne mitzufahren« ist auch Teil der Firmenphilosophie und
des wirtschaftlichen Erfolgs. Der KTM-Pilot Ken Roczen etwa findet sich beim Supercross regelmäßig auf den ersten Plätzen; und der
­Sizilianer Tonio Cairoli, der früher Yamaha fuhr, hat mit seiner KTM
zuletzt bereits zum zweiten Mal hintereinander den Motocross-Weltmeistertitel geholt.
Der Slogan »Ready to Race«, die Farbe Orange, das Design, die Renntage, die KTM-Mitarbeiter und die treue Fangemeinde, die sich regelmäßig zu den Wettbewerben trifft – all das hat eine starke Marke entstehen lassen. Motorsportbegeisterte identifizieren sich damit wie mit
ihrem Lieblingsclub. Die Fanartikel, die Kappen, Jacken, Stiefel, alle
163
im KTM-Design, sind mittlerweile »der« Renner – und eine tragende
Säule bei den Einnahmen. »Wir machen ungefähr 20 Prozent unseres
Umsatzes in diesem Produktbereich«, erklärt Stefan Pierer. »Das ist
ein Ausdruck unserer Markenstärke.«
Die Wirtschaftskrise 2008 hatte allerdings auch vor den Mattighofenern nicht halt gemacht. Der Welt-Motorradmarkt halbierte sich innerhalb kürzester Zeit – die gesamte Branche geriet ins Schleudern.
Stefan Pierer ­erlebte die schwärzeste Zeit in seinen zwanzig Jahren
bei KTM. »Dass etwas heraufzieht, haben wir gespürt«, sagt er und
wird auf einmal sehr nachdenklich. »Aber das Ausmaß des Absturzes
war völlig unerwartet. Im Nachhinein muss ich sagen, alles, was einen
nicht umbringt, macht einen wesentlich stärker. Aber insgesamt war
das eine ganz schwierige und harte Erfahrung. Ich habe viel gelernt,
ich muss auch sagen, ich habe viel gelitten darunter, weil Sie letztlich
Mitarbeiter abbauen müssen. Das war eine schwere Zeit. Aber auch
diese Erfahrung hat schlussendlich zu dem Erfolg geführt, den wir
jetzt haben.«
»Damals« mussten über 400 Mitarbeiter abgebaut werden – immerhin fast 20 Prozent
»Fahren auf Sicht«
der Belegschaft. Ein schwerer Gang für den
war unmöglich
leidenschaftlichen KTMler Stefan Pierer: »Das
tut weh«, erinnert er sich an die dramatischen Ereignisse. »Wissen Sie,
wenn Sie 15 Jahre Mitarbeiter aufbauen und dann müssen Sie hintreten und sagen, wir müssen kehrt machen ... Und keiner weiß, wie tief
der Abgrund hinuntergeht. Das war eine Zeit, in der Fahren auf Sicht
nicht möglich war. Alle bewegten sich nur im Nebel.«
Seit vorigem Jahr geht es, wie gesagt, wieder steil bergauf. Der Mitarbeiterstand ist beinahe dort, wo er vor der Krise lag, ebenso die Absatzzahlen. Nicht schlecht für einen kleinen Player aus einem noch
kleineren europäischen Land, der es mit asiatischen Giganten wie
Honda und Yamaha aufnehmen muss. Die sind zwar auf der Straße
unschlagbar – aber im Gelände, da haben die Innviertler noch jeden
Konkurrenten abgehängt.
164
Goldenes Handwerk: Maßschuhe
aus Frauenhand für »Jedermann«
von Angelika Ahrens
Wer lernt heute noch ein altes Handwerk? Wer lässt sich nach
der Matura zum Meister ausbilden? Das machen in der Tat nur
wenige. Doris Pfaffenlehner ist so eine Ausnahme. Im letzten
Festspielsommer war sie erstmals die Chefin der SchuhmacherWerkstatt der Salzburger Festspiele. Wir haben sie besucht.
»Bei den Knopfstiefeletten mit den Barockabsätzen geht es um den
Fersenschwung«, erklärt uns Doris Pfaffenlehner. »Der soll während
der Vorführung schön ausgeprägt sein.« Burschikos ist sie, die Leiterin
der Schuhmacher-Werkstatt der Festspiele. Sie hat ihren Arbeitsplatz
nur einen Steinwurf von der berühmten Pferdeschwemme entfernt.
Ein blaues Haarband hält ihre kurzen dunklen Haare aus dem Gesicht.
Jetzt wird Maß genommen. Sie stellt gerade einen Holzleisten her, also
eine Art Rohling. Der soll das Maß für den späteren Barock­stiefel ergeben. Um sie herum wird gehämmert. Sohlen werden mühsam mit
Glasscherben aufgeraut. Manchmal legt die Leiterin der Schuh­macherWerkstatt ihre blaue lange Schürze zur Seite und eilt zu den Stars, um
persönlich Maß zu nehmen.
Bei Anna Netrebko zum Beispiel. Für »die Netrebko« hat sie rote Lackschuhe gemacht, die die Diva als Violetta bei »La Traviatta« auf der
Bühne getragen hat. Für Peter Simonischek waren es »Jedermann«Schuhe. Bei den Barockstiefeln jetzt misst sie den Leisten mit einem
Maßband ab. Zeichnet Entwürfe für den Schuh, wie eine Schneiderin
es für ein Kleid machen würde. Als Vorlage dienen alte Zeichnungen,
Muster aus dem Archiv, die schon so vergilbt und mitgenommen sind,
dass sie fast schon auseinander fallen. Vorsichtig fährt sie noch einmal
mit den Fingern über den Leisten.
Sie fühlt den Schwung des Holzabsatzes, kontrolliert, ob der Papier­
entwurf passt. Dann schneidet sie den Stoff zu und setzt sich zur Nähmaschine. »Jeder Schuhmacher hat seine eigene Art zu zeichnen, man
165
Salzburg, Dom: Maßschuhe für »Jedermann« (Foto: Stadtgemeinde Salzburg)
kann das auch mit Formeln machen. Ich habe eine freiere Art. Hab’
mir von überall was abgeschaut und mache das jetzt auf meine eigene
Art und Weise.« Das Rattern der Nähmaschine lässt sie verstummen.
Pro Festspielsaison fertigt eine Handvoll Schuhmacher aus Deutschland und Österreich bis zu 25 Paar Schuhe für die Festspielstars. Alles
per Hand. Das ist nicht wenig. Denn für ein Paar Herrenschuhe braucht
man locker bis zu 40 Arbeitsstunden. Dazu kommen Eilaufträge. Und
das alles wenige Wochen vor Festspielbeginn. Hier ist alles last minute.
Auch die Kostümbildner kommen erst kurz zuvor zur Besprechung.
Die heute 29-jährige Niederösterreicherin ist seit Jahren dabei. Doch
2012 hat die junge Schuhmacher-Meisterin erstmals auch die Leitung
der Festspielwerkstatt übernommen. »Wir fertigen nur Schuhe, die
man sonst nicht kaufen kann. Wie die blauen Knopfstiefeletten mit
Barockabsätzen für das Stück ›Die Soldaten‹«, erklärt uns Doris Pfaffenlehner. Superman-Stiefel für »La Boheme«. Oder weiße und bunte
Schuhe für »Ariadne auf Naxos«. Alles ist aus dem feinsten Material.
Aus feinster Seide. Oder edlem Leder.
Die junge Schuhmacher-Meisterin lässt vorsichtig die Nadel der Nähmaschine über den Stoff gleiten. Stich für Stich. »Man muss aufpassen,
166
dass man sich nicht in die Finger näht. Wichtig ist auch, dass die Naht
g’rad’ ist. Jeder Stich hinterlässt ein Loch im Leder. Wenn man daneben näht, muss man meist neu anfangen.«
Die Barockstiefel haben viele kleine Knöpfe. Zu viele: »Ich nehme an, die
haben damals Ankleiderinnen gehabt, die ihnen auch die Schuhe, die
Stiefel zugemacht haben. Weil das Zumachen von den ganzen Knöpfen
ist echt viel Arbeit. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum es solche
Stiefel heute nicht mehr zu kaufen gibt«, sinniert Doris Pfaffenlehner.
Plötzlich geht die Werkstatttür auf – eine Dame schiebt sich mit großen Säcken, die auf dem Boden schleifen, herein. »Ein Eilauftrag«,
stößt sie schnaufend hervor und zeigt den Schuhmachern eine handgeschriebene Liste. »Die Größen hier sind dringend. Die sind für die
›Prinzen von Homburg‹. Alle Stiefel brauchen eine Gummisohle auf der
Bühne. Denn da spritzt Wasser bei der Aufführung. Es sind 13 bis 14
Paar. Die sollten bis morgen früh fertig sein.« Die Schuhmacher schlucken, lächeln. Wird sich schon irgendwie ausgehen. Bis morgen.
Andere Schuhe brauchen dringend eine Flüstersohle, damit sich die
Schauspieler auf der Bühne so leise wie möglich bewegen können. Hier
in Salzburg wird beinahe alles ermöglicht. Fast eine kleine Zauber­
werkstatt.
Das übrige Jahr über ist Schuhmacher-Meisterin Doris Pfaffenlehner
ebenso gefragt. In ihrer Werkstatt in einem historischen Gebäude, in
einem alten Bahnhof. In der Nähe von Mariazell. Genauer gesagt in
Kernhof; auch da fertigt sie Maßschuhe statt Masse. Das Unternehmen
liegt ein bisserl außerhalb der Welt. Mitten in einem Wandergebiet.
Beim Wandern hatte sie auch den leerstehenden alten Bahnhof mit
dem schönen Wartesaal entdeckt; dann mit ihrem Freund gemeinsam
gekauft und in mühevoller Kleinarbeit saniert. Sie hat sich dort kurzerhand selbstständig gemacht – mitten in der Wirtschaftskrise ein
Geschäft aufgesperrt. Für sie hat es funktioniert.
Dabei war es ganz nützlich, dass viele Industrielle und Kaufleute aus
Wien rund ums Mariazellerland einen Zweitwohnsitz, oft auch eine
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Jagd haben. Dieser kaufkräftige und qualitätsbewusste Kundenkreis
hat sie untereinander weiterempfohlen.
Doris Pfaffenlehner ist eines von vier Kindern einer Bauernfamilie
aus dem Melktal. Die Arbeit mit den Händen hat ihr immer schon viel
Freude bereitet. Nach der Mittelschule hatte sie zunächst die Höhere
Lehranstalt für künstlerische Gestaltung besucht und damit mit Holz,
Keramik oder Metall gearbeitet. Bis sie entdeckte, was sie wirklich
will – die Schuhmacherei. »Ich hab’ zwar immer gern Schuhe gekauft.
Aber ich hatte, bevor ich zufällig beim k. u. k. Hofschuhmacher Scheer
im Ersten Wiener Gemeindebezirk vorbeigegangen bin, nie darüber
nachgedacht, dass ich sie auch selbst herstellen könnte.«
Die junge Frau hat sich darauf hin bei Wiens erster Adresse für Maßschuhe beworben. Und wird – abgelehnt. Kein Platz für sie. Ein halbes
Jahr später probiert sie es noch einmal beim Scheer. Diesmal nimmt er
sie. Sie stellt sich derart geschickt an, dass sie nach kaum mehr als
eineinhalb Jahren auf Rat ihres Lehrmeisters zur Abschlussprüfung
antritt. Die schafft sie mit Bravour.
Und dann – Venedig. Dort lernt sie weiter.
Kein Klacks: Ein Schuh Die junge Frau ist nicht nur ehrgeizig, sondern auch beharrlich. Mittlerweile ist sie beum 1100 Euro
reits bekannt. Und: ein halbes Jahr im Voraus
ausgebucht. Die Preise für ihre Schuhe sind kein Klacks: Herrenschuhe
kosten 1100 Euro und mehr. Damenschuhe gibt es auch erst ab 700
Euro. Alles Einzelstücke. Alles aus Leder. Kein Wunder, arbeitet die
junge Mutter doch eine ganze Woche an einem einzigen Paar Schuhe.
»Es ist ein seltener Beruf geworden«, meint Doris Pfaffenlehner nachdenklich. »Und es ist nicht die bestbezahlte Arbeit der Welt. Aber ich
finde, es ist wichtig, dass es eine schöne Arbeit ist.«
Das Wichtigste ist übrigens bei einem Lederschuh, dass er innen und
außen aus Leder ist. Nur so ist er atmungsaktiv, erklärt sie abschließend noch. Zweigstellen à la Wien–Mailand wird es wohl nicht geben,
meint sie. Aber: Einen Lehrling will sie haben, die Schuhmacher-Meisterin. Dem sie ein Handwerk beizeiten weitergeben kann.
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Wirtschaftsfaktor Jagd – nur
leider »ist der Ruf im Arsch«
von Philipp Jauernik
Der Wald. Morgengrauen. Ein paar Vögel zwitschern. Mitten
in dieses Idyll hinein bricht ein Schuss aus der Büchse eines
­Jägers ... Viel gescholten sind sie, die in Grüntöne gekleidet
auf Hochständen sitzen, geduckt durch den Wald pirschen und,
so will es das aktuelle Image, durch gegenseitige Einladungen
»­einander gewogen machen« wollen: Das letzte Jahr war für Jäger
ein ­echtes Seuchenjahr. Rund um »Graf Ali« (Mensdorff-Pouilly)
gingen alle etwaigen vorhandenen Sympathiepunkte verloren.
Selbst erklärte der burgenländische Landwirt in einem Interview:
»Der Ruf ist eh im Arsch.«
Tatsächlich war es nicht gerade förderlich, dass in den vergangenen
Monaten Jagdeinladungen in Verbindung mit vermuteten Korrup­
tionsgeschäften ans Tageslicht kamen. Telekom, Eurofighter und viele
andere Affären sollen unter dubiosen Umständen ausgerechnet auf
Österreichs Hochständen buchstäblich in Schuss gekommen sein. Die
Beliebtheitswerte der heimischen Weidmänner sanken bodenlos in
den Keller. Nicht nur »Bambimörder«, nein, auch noch »korrupte Ver­
brecher« seien sie, sprach der Volksmund.
Das will Peter Lebersorger nicht auf sich sitzen lassen. Der Jurist ist
Generalsekretär der österreichischen Landesjagdverbände und damit
oberster Vertreter der heimischen Jägerschaft. Natürlich, meint er,
gebe es auch in der Jägerschaft »schwarze Schafe«, die »das Weidwerk
für ihre Zwecke missbrauchen«. Dadurch sei aber doch nicht die Jagd
an sich etwas Schlechtes – oder würden etwa »Jachten an sich verteufelt, nur weil ein Finanzminister sich einst einen Urlaub auf einer solchen von einem befreundeten Banker schenken ließ«?
Aufgabe des Jägers, erläutert Lebersorger, seien Hege und Pflege von
Wald und Wild. Die Jägerschaft sei damit verantwortlich für eine
­intakte und auch für das Auge erfreuliche und blühende Landschaft
voller gesunder Wildtiere. Davon profitieren Wirtschaftszweige wie der
169
Tourismus, das Gastgewerbe oder die Hotellerie. »Manche bezeichnen
das als Umwegrentabilität.«
Ins selbe Horn stößt auch Fritz Wolf, Waldpädagoge und Forstwart in
Niederösterreich. »Für jeden Schaden, den das Wild an Wald und Natur
hinterlässt, ist der Jäger verantwortlich.« Das betrifft auch finanzielle
Fragen: Von Rehen geschälte Baumstämme sterben, von Wildschweinen
zerwühlte Felder werfen keine Ernten ab. Die Schadensummen klettern
dann schnell in schwindelnde Höhen, vom ökologischen Schaden ganz
zu schweigen.
»Es ist also keineswegs so, dass wir Jäger,
wie man uns mitunter beschuldigt, im Wald
schießwütig werden und wild drauflos ballern«,
weist Wolf die Vorwürfe der Jagdgegner zurück.
Vielmehr muss sehr genau beachtet werden, wann worauf geschossen
wird. Und selbst unter den zum Abschuss freigegebenen Tieren gibt es
Einschränkungen. Das Erlegen eines kapitalen Tieres erfordert genaue
Kenntnisse der sozialen Struktur im Rudel: »Wir Jäger müssen sehr
genau auf die Balance im Wald achten. So darf aus einer Rotte Wildschweine niemals die Leitbache geschossen werden, da geht es auch um
den sozialen Frieden unter den Tieren.«
Jäger achten auf
die Balance
Keine Freude hat Wolf mit dem Klischee, Jäger würden nur alte und
kranke Tiere schießen, denn »das ist Schwachsinn«. »Wir sind nur
dann gute Jäger, wenn wir einen gesunden Wildbestand haben.« Das
Wildbret muss schließlich verkauft werden. Kein Wirt möchte seinen –
zahlenden – Gästen krankes Wildbret vorsetzen.
Die Forderung vieler Jagdgegner, doch die Natur sich selbst zu überlassen, damit die Tiere eines natürlichen Todes sterben und sich der Bestand selbst regelt, kostet Wolf nur ein müdes Lächeln. Dazu bedürfe
es, erklärt er, einer von Menschen unberührten Wildnis. Die sei aber
in Österreich nicht mehr gegeben. Ganz im Gegenteil: Betrachtet man
Österreich und ganz Mitteleuropa einmal aus der Vogelper­s pektive,
sieht man Häuser, Wiesen, Felder, dazwischen auch Bäume. Eine Kulturlandschaft, die mit unberührter Wildnis und unendlicher Bewaldung »nicht mehr viel zu tun hat«.
170
Tatsächlich: Rund 98 Prozent der Bundesfläche werden »jagdlich bewirtschaftet«, also bejagt. Und das ist ein richtiger Wirtschaftszweig: Der gesamte jährliche Wirtschaftswert des Jagdwesens in Österreich einschließlich angeschlossener Wirtschaftszweige wird auf rund
475 Millionen Euro Gesamtumsatz geschätzt. Völlig unabhängig davon,
ob man nun positiv oder negativ zum früher so viel besungenen »edlen
Weidwerk« steht – es ist ein Geschäft!
Ein Geschäft, dessen größter Anteil Löhne und Gehälter der zahllosen
Beschäftigten im Jagdwesen sowie der Berufsjäger und der Jagdaufsichtsorgane sind. Sie allein machen schon 199 Millionen Euro aus.
Ebenfalls eine sehr beachtliche Summe stellen die jährlichen Jagdpachtbeträge und die Abschussgebühren dar. Zusammen sind dies
­allein 53 Millionen. Diese Beträge sind insofern von besonderer Bedeutung, da sie zu einem hohen Anteil den Landwirten und Grundeigentümern verbleiben und für sie in schwierigen Zeiten ein wichtiges –
weil vorhersehbares – Einkommen darstellen.
Österreichs Jäger liefern jährlich Wildbret im Wert von ungefähr
24 Millionen Euro. Und die Nachfrage nach dem Qualitätsprodukt Wildbret ist ungebrochen. Gerade in Zeiten des Misstrauens in Fleisch und
Fleischprodukte explodierte europaweit der Bedarf an Wildfleisch.
Offen­sichtlich ist Wildfleisch ein Produkt, von dessen naturnaher Herkunft und auch ethisch-einwandfreier Beschaffung die Konsumenten
überzeugt sind.
Genau bekannt ist auch die Summe aller Abgaben, Gebühren und
Versicherungsprämien, die jährlich im Zuge der Jagd entstehen bzw.
­a bgeführt werden: 26 Millionen Euro. In diesen Topf fallen auch die
Forschungsförderung durch die Jägerschaft sowie wichtige Projekte,
die Jagdgesellschaften verwirklichen.
Über die tatsächlichen Kosten für Jagdbetrieb, Weiterbildung, Jagdwaffen und Munition, Optik, Bekleidung und Brauchtum gibt es keine
detaillierten Aufzeichnungen. Sie hängen auch sehr stark von den
Möglichkeiten des einzelnen Jägers und den Notwendigkeiten des jeweiligen Reviers ab. Für diesen Bereich werden rund 173 Millionen
Euro geschätzt.
171
Die Kosten des Jagdbetriebes – dazu zählen in erster Linie die Wildfütterung, aber auch die Auspflanzung von Wildäckern samt dem dazugehörigen Maschineneinsatz sowie die Erhaltungskosten – machen
in der Regel etwa 100 Prozent des so genannten »Pachtschillings«
einer Jagd aus. Österreichweit beläuft sich diese Summe demnach auf
etwa 53 Millionen Euro.
Die Kosten für die jeweilige Aus- und Weiterbildung wiederum lassen sich sehr genau
Billig ist sie
abschätzen: Kurse und Seminare werden zu
nicht, die Jagd
einem wesentlichen Prozentsatz von den Landesjagdverbänden selbst veran­staltet, auch Fachliteratur, Videos und
Lehrmittel werden teilweise über die Verbände vertrieben. Dazu kommen noch Standgebühren und für individuelles Schießtraining auf den
Schießplätzen. Pro Jahr und Jäger kommen auf diese Weise an die 140
Euro zustande, zusammen etwa 16 Millionen.
Kaum ein Jäger kauft jährlich ein neues Gewehr. Doch geht man auch
nur davon aus, dass jeder Jäger pro Jahr 350 Euro an Munition und
anteiligen Kosten für seine Jagdwaffen aufbringt, so beträgt dies bei
österreic­hweit rund 120.000 Jägern bereits 40 Millionen Euro.
Ein Jäger benötigt verschiedene optische Hilfen: mindestens ein
Fernglas und ein Zielfernrohr, oft jedoch deren mehrere mit verschiedenen Vergrößerungen und dazu häufig auch noch ein Spektiv
– ein optisches Teleskop, das der Beobachtung größerer Revierflächen dient. Die extremen Anforderungen der Jägerschaft vor allem
im Schwachlicht­bereich oder in der Nacht – vor allem bei der Wildschweinjagd – lassen einen jährlichen Anteilswert von 140 Euro pro
Jäger als nicht zu hoch gegriffen erscheinen. Summe: 16 Millionen
Euro.
Jagdbekleidung muss den Jäger nicht nur vor Kälte, Nässe und Schmutz
schützen, sondern sollte auch noch möglichst reißfest und selbstverständlich aus geräuscharmen Materialien hergestellt sein. Dennoch
nutzt sie sich verhältnismäßig stark ab. Jeder Jäger investiert nach
Schätzung der Zentralstelle pro Jahr etwa 350 Euro in seine jagdliche
Bekleidung, was insgesamt etwa 40 Millionen Euro ergibt.
172
Ebenfalls auf der Gewinnerseite sind die Versicherungsgesellschaften.
Alle »Jagdsport ausübenden Personen« müssen 75 Euro an den jeweiligen Landesjagdverband abführen, der die Jäger kollektiv versichert.
Damit ist Vorsorge getroffen, sollte im Trubel ein Jagdhund einen
anderen beißen oder ein Weidmann irrtümlich einen Dachziegel vom
Forsthaus schießen. Jagdunfälle mit Personenschaden, die ebenfalls
versichert sind, sollen auch schon vorgekommen sein ...
Die Ausgaben unter der Rubrik Brauchtum entfallen zu einem wesentlichen Prozentsatz auf die Trophäenbehandlung. Präparierte Geweihe
und Gehörne, Keilerwaffen, Felle, Bälge und Decken oder auch Ganzpräparate schlagen sich in der Börse jedes Jägers zu Buche. Dazu kommen noch Ausgaben für – oftmals historische – Kunst und Kultur aus
dem jagdlichen Bereich. Pro Jäger werden etwa 70 Euro im Jahr angenommen, insgesamt dann acht Millionen Euro.
Apropos Jagdpacht! In Österreich wird nach dem so genannten Reviersystem gejagt. Jagdrecht ist in Österreich untrennbar mit dem Eigentum an Grund und Boden verbunden. Von diesem Grundsatz gibt es
keine Ausnahmen. Allerdings muss ein Gebiet groß genug sein, um als
Eigenjagd gelten zu dürfen. In den meisten Bundesländern liegt diese
Grenze bei 115 Hektar, die zusammenhängend liegen müssen. Ist das
nicht der Fall, fällt das Grundstück jagdrechtlich zur Genossenschaftsjagd der jeweiligen Gemeinde. Solche Genossenschafts-Jagdgebiete
müssen zwingend verpachtet werden; in all diesen Fällen sind dann
die Pächter die Jagdausübungsberechtigten.
Dieses System sichert den Artenreichtum im Lande, erklärt Exper­te Lebersorger. Einerseits haben die Landesjagdverbände und Bezirkshauptmannschaften so einen klaren Überblick, wie viel Stück welchen Wildes
sich auf ihrem Gebiet aufhält. Überzählige müssen nach den behördlich
vorgegebenen Abschussplänen von den Pächtern der jeweiligen Gebiete
geschossen und der Behörde nachgewiesen werden.
Damit ist gewährleistet, dass niemand aus Jux und Tollerei eine Tierart ausrottet. Gleichzeitig wird der Bestand in einem Maße gehalten,
das für die Natur auch erträglich ist, für das genug Lebensraum, Rückzug und Nahrung vorhanden ist.
173
Die Jagd: Schlechtes Image, gutes Geschäft (Foto: Bergringfoto/Fotolia.com)
Entgegen einem Irrglauben wird übrigens auch in Nationalparks gejagt.
Schmankerl am Rande: Der Nationalpark Hohe Tauern hat im Sommer
2012 verlautbaren lassen, nur noch bleifreie Munition einsetzen zu
wollen. Begründet wird die Umstellung von den Verantwortlichen des
Parks mit der »besseren Verträglichkeit für Mensch und Tier«. Greifvögel, die sich an im Wald verbleibenden Organen erlegter Tiere laben,
würden durch verbleite Geschosse Vergiftungen erleiden und daran zugrunde gehen. In der Vergangenheit seien davon mehrfach streng geschützte Steinadler betroffen gewesen. Außerdem wolle man den Kunden Wildbret ohne Bleieintrag im Muskelgewebe anbieten können ...
Auch wenn durch die Jagd immer wieder Hektik entsteht, sei es bei
den Anhörungen im Korruptions-Untersuchungsausschuss oder im Umfeld von Politik und Telekom: Mit Weidmannsheil und Weidmannsdank
wird pro Jahr eine halbe Milliarde Euro umgesetzt. So ist das Sitzen
auf dem Hochstand für die einen ein Beruf, für andere stellt es eine
besondere Leidenschaft dar. Für tausende Österreicher ist die Jagd ein
sicherer Arbeitsplatz. Für Revierbesitzer und das Land ist sie ein Millionengeschäft. Alles in allem heißt das für die Beteiligten: Wenn »der
Ruf im Arsch ist«, fleißig daran arbeiten, dass das nicht so bleibt ...
174
Google, Apple & facebook:
Sind wir machtlose Nutzer?
von Hans Wu
Durch den Boom bei Smartphones und Tablets ist uns das Internet
auf den Leib gerückt. Und damit auch drei Technologiekonzerne
aus dem Silicon Valley. Ist die Welt jetzt kleiner geworden? Sind
wir zu einem globalen Dorf zusammengerückt? Und wie ­profitieren
Google, Apple und facebook davon?
Die aktuelle Zahl der Mitarbeiter, die weiß der Schweizer Pressebetreuer
von Google-Europa nicht, »aber tausend werden es jetzt am Standort
Zürich schon sein«. Waren es im August 2012 nicht noch 800 Mitarbeiter?,
so unsere überraschte Frage. »Generell kommen jeden Monat immer
rund 50 neue Mitarbeiter dazu.« Wachstumssorgen sind hier anscheinend nicht bekannt. Und, es wird also eng im »Paradies«. Google eilt
seit Gründungstagen der Ruf voraus, seine Angestellten über alle Maße
zu verwöhnen. Ein Ruf, den € CO nach einem Lokalaugenschein im
Headquarter Zürich im letzten Sommer nur bestätigen kann.
Im Erdgeschoss, gleich hinter der Rezeption, betreten wir den Speisesaal. Für die Google-Mitarbeiter gilt all you can eat – zum Nulltarif.
Für die kulinarische Grundversorgung außerhalb der Hauptmahlzeiten
sorgen auch die so genannten »Microkitchen« in jedem Stockwerk.
Die Microkitchen »Library« wiederum ist eine Mischung aus Kaffeehaus und Bibliothek. Am beliebtesten ist der »Jungle«, der mit einem
üppigen Arrangement aus exotischen Zimmerpflanzen tatsächlich an
einen In-door-Urwald erinnert. Dafür, dass das Grün nicht welk wird,
sorgen eigene Zimmerpflanzengärtner. Und dafür, dass in den Microkitchen immer genug Kekse, Schokolade, Eiscreme und Softdrinks vorhanden sind, sorgt täglich eine eigene Cateringtruppe.
Kein Wunder, dass die Alteingesessenen hier von der »Google-Kugel«
sprechen, also vom kleinen Bäuchlein, das sich neue Mitarbeiter nach
spätestens zwei Monaten zugelegt haben. Dabei gebe es genug Gelegenheit, überflüssige Pfunde loszuwerden: Der große Fitnessbereich
175
Microkitchen bei Google: Wohlfühloase für Mitarbeiter (Foto: Google)
gehört zum Wohlfühl-Arbeitsplatz genauso wie das Massageangebot,
die Rückzugskojen, die Räume für Sport und Spiel und der Ruheraum.
Beleuchtete Aquarien sind da in einem abgedunkelten Zimmer die einzige Lichtquelle, unzählige Liegen stehen für das »Powernapping« der
Mitarbeiter bereit.
Das Mitarbeiter-Wellness-Programm hat durchaus wirtschaftliche
Gründe: Ein Angestellter, der so am Arbeitsplatz umsorgt wird, bleibt
länger im Büro. Arbeits- und Freizeit verschwimmen. Hier wird die
Ausweitung der Produktionszone betrieben. Weltweit hat Google
55.000 Mitarbeiter, die alle in ähnlichen Arbeitsumgebungen ihrem
Werk nachgehen.
Fast könnte man von einem neukalifornischen way of life sprechen.
Im facebook-Hauptquartier in Silicon Valley findet man nämlich ähnliche Arbeitsverhältnisse vor. Und bei der Ur-Technologiefirma im Tal,
Apple, gilt der legere Umgang seit den Gründungstagen in den 1970ern.
Diese drei Firmen gelten zur Zeit als die »heißesten« Brands im Technologiebereich. Drei erfolgreiche Konzerne, die seit Jahren einen beinharten Konkurrenzkampf untereinander führen. Alle drei profitieren vom
Zugriff in unsere Privatsphäre. Wir haben sie selber herein g­ elassen.
176
Google, Apple, facebook: Der Suchmaschinenbetreiber, der Hardware-Hersteller und das soziale Netzwerk. Es sind Firmen, die, wenn
es um Kunden, Nutzung und Verkauf geht, Minute für Minute Rekordzahlen schreiben: Während sie die nächsten zehn Zeilen lesen, werden
47.000 Apps, also Spiele und Programme für Apples iPhone und iPad
heruntergeladen, werden auf facebook 700.000 Meldungen geschrieben
und auf Google zwei Millionen Suchabfragen getätigt.
Es ist die schöne neue Welt der totalen Vernetzung. Und wie sich die Gattung Homo sa- Drei Firmen, drei
piens in dieser verhält, dafür gibt es sogar Gründer-Mythen
eine neue Wissenschaft. Wolfgang Zeglovits
ist Medienanthropologe. Für ihn rührt der Erfolg der drei Großprofiteure daher, dass Nutzer und Kunden sich gegenseitig als gute
Freunde betrachten: »Bei Apple, facebook und Google sind vor allem
die Entstehungsmythen interessant. Es sind alle drei recht junge Firmen. Apple gibt es eigentlich seit den 1970er-Jahren, Google ist in
den 1990er-Jahren entstanden und facebook zur Jahrtausendwende.
Die drei Geschichten sind einander ein bisschen ähnlich: Es gibt da
jemanden mit einer genialen Idee und der macht mit viel Einsatz eine
erfolgreiche Firma auf.«
Der im Jahr 2011 verstorbene Steve Jobs wird von seinen Fans als
»­ Visionär« verehrt. Dabei hat er, im Gegenteil, nie darauf gehört, was
seine Anhänger eigentlich wollten. Dem Apple-Gründer ist es immer
nur um die Produkte der Zukunft gegangen. Die Kundenbedürfnisse
der Gegenwart sind für ihn nie von Interesse gewesen. Diese Ignoranz
gegenüber den Nutzern ist zu einem wichtigen Teil der Heiligenvita
geworden.
Die Legende der Google-Gründer Larry Page und Sergej Brin klingt
da wenigstens um Nuancen anders: Als Mathematikgenies, wie sie im
Buche stehen, sind sie die Gralsritter auf der Suche nach der Weltformel für Wissen gewesen. Und »nur nebenbei« soll dabei der Milliardenkonzern entstanden sein.
Nahezu banal wirkt da der Gründermythos eines anderen jungen
­ enies. Als junger Harvard-Student soll Mark Zuckerberg einen Weg
G
177
gesucht haben, Mädchen näher zu kommen. Das Ergebnis seiner hormonell bedingten Sturm-und-Drang-Zeit war dann die Schöpfung des
sozialen Netzwerkes. So erzählt es zumindest die Legende über den
­facebook-Gründer. Da sieht man den »Like-Button« dann auch gleich
mit ganz anderen Augen.
Schöne Geschichten regen gewöhnlich die Fantasie an – vor allem die
der Anleger und Investoren. Nur: Die Börsenfantasien bei den drei
Technologiekonzernen haben sich unterschiedlich entwickelt. Die
Aktie von facebook hat sich nach dem Start im Mai 2012 zumeist auf
Talfahrt befunden. Ein Wertpapier hat bei der Ausgabe noch 38 Dollar
gekostet; zwischenzeitlich ist der Kurs auf 17,55 Dollar eingebrochen.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, liegt er möglicherweise schon wieder wo
anders.
Die anfängliche schlechte Börsenperformance
ist auf die Unsicherheiten bei dem Geschäftsmodell für Handynutzer zurückzuführen. Als
weiterer Grund gilt der Umstand, dass die
wichtigen Anleger schon vor dem Börsengang investiert waren. So war
die Aktie bereits überbewertet gestartet. Erst Ende des vergangenen
Jahres hatten die Anleger wieder etwas Vertrauen gefunden.
Aktien nur mit
viel »Fantasie«
Zufriedener sind die Investoren mit der Google-Aktie. Hier setzt man
auf die technologische Kompetenz und das solide Geschäftsmodell
mit der Internetwerbung. Und gar zu einem Riesen an der Börse hat
sich Apple entwickelt. Der Aktienanalyst Stephan Lingnau lässt die
Performance der vergangenen Jahre Revue passieren: »Apple dotiert
seit 1982 auf der Börse und konnte seither eine durchschnittliche
Jahresperformance von 18 Prozent aufweisen. Wenn man sich nur die
letzten zwei Jahre ansieht, so konnte die Apple-Aktie um 80 Prozent
zulegen.«
2012 ist der Börsenwert von Apple zeitweise über 620 Milliarden Dollar gelegen – und ist somit wertvoller als jener der großen Öl-Multis
gewesen. Für eine Digi- und Internetbude gar nicht schlecht. Manche
Experten prophezeien gar eine Marktkapitalisierung von einer Billion
Dollar im Jahr 2015.
178
iPhone 5: »Wischhandy« mit Kultcharakter (Foto: Apple Inc.)
Für Apple ist die Rolle als Nummer eins in der Welt der Bits und Bytes
eine neue. Seit der Gründung in den 1970ern hat man sich eher als
kleinerer Herausforderer der Großen, wie IBM und Microsoft, geübt.
Eine innovative Firma, deren Produkte vorwiegend von einer Minderheit von Spezialisten, wie Grafikern, Musikern oder Architekten, gekauft worden ist.
Doch das hatte sich vor sechs Jahren radikal geändert. 2007 bringen
die Ingenieure und Designer von Apple ihren Stein der Weisen auf den
Markt. Das Wundermittel für hohe Gewinne und anscheinend endlos
steigende Aktienkurse, ein Produkt, das für eine völlig neue Zielgruppe
geschaffen worden ist: für die breite Masse. Mit einem ersten iPhone
hat Apple auf einem milliardenschweren Markt der mobilen Traumwelt
keinen Stein auf dem anderen gelassen. High-Tech-Handys, mit denen
man im Internet surfen, fotografieren, Videos ansehen oder Spiele spielen konnte, hatte es schon vorher gegeben. Mit dem kleinen flachen
Quader mit Touchscreen aber war eine neue Liga eröffnet worden.
Über 300 Millionen iPhones sind seit 2007 weltweit verkauft worden. Das aktuelle Gerät, das iPhone 5, ist ab 680 Euro in Österreich
erhältlich. Das ist nicht wenig, wenn man bedenkt, dass die Produktions- und Vertriebskosten auf maximal 100 Euro geschätzt werden.
179
Der große Rest bleibt vorwiegend dem Konzern, denn immer häufiger
vertreibt Apple seine Hardware über eigene Shops oder gleich direkt
online.
Doch auch nach dem Kauf des Smartphone gibt es für den Besitzer
viele Möglichkeiten, Apple neues Geld zu überweisen. Das Zauberwort
heißt »Ecosystem«. Jedes iPhone hat direkte Verbindung zu einem
Online-Angebot an Musik, Filmen und Apps, wie die Software und
die Spiele für das Smartphone genannt werden. Und bei jedem Verkauf schneidet Apple mit. Das abgeschlossene virtuelle Einkaufszentrum am Handy hatten schon viele vorher einrichten wollen: die alten
Handyproduzenten etwa wie Nokia, aber auch zahllose andere Mobilfunk-Anbieter in aller Welt. Aber erst dem Branchenneuling Apple ist
es gelungen, daraus ein funktionierendes Geschäft zu machen.
Das große Geschäft mit den smarten Handtelefonen zog bald auch andere Marktteilnehmer an. Heute liefern viele ostasiatische
Gerätehersteller wie Samsung, LG oder HTC
Umsatzkaiser Apple einen harten Konkurrenzkampf. Dabei können sie
auf mächtige Rückendeckung bauen. Mit dem Android-Betriebssystem haben sie einen starken Motor auf ihren Smartphones, noch dazu
einen, der von Google entwickelt worden ist und gratis zur Verfügung
gestellt wird.
Nokia hatte begonnnen,
was Apple zu Ende führt
Ende 2012 waren bereits 72 Prozent aller Smartphones solche, die
mit Android ausgestattet worden sind. Im Kampf um Marktanteile
wird auf allen Seiten technologisch hochgerüstet. In immer kürzeren Abständen erscheinen neue Modelle. Die Rivalität wird aber nicht
nur auf dem Markt ausgefochten, sondern immer öfter auch vor dem
­Patentrichter. Vor allem Apple zerrt die Konkurrenz immer wieder vor
Gericht. Diese spart nicht mit Gegenklagen. Kein Detail ist dabei zu
klein, um es nicht zum Streitgegenstand zu machen. Es geht um abgerundete Ecken oder um wenige Zeilen Programmiercode.
Mittlerweile ist die ganze Technologieszene in Patentkriege verwickelt.
Neben Apple, Google, facebook und Handyherstellern wie Samsung,
Nokia oder HTC stehen auch Firmen wie IBM, Oracle, Yahoo oder Kodak
180
im juristischen Streit miteinander. »In der Welt der S­ martphones
­ erden Patente benutzt, um Innovation zu behindern. Darauf sind wir
w
­eigentlich gar nicht erpicht. Natürlich verteidigen auch wir unser geistiges Eigentum gegen Angriffe der anderen, aber eigentlich w
­ ollen wir
weiter entwickeln. Es ist wirklich beunruhigend, dass so viel A
­ ufwand
in die gegenseitige Behinderung gesteckt wird statt in die Innovation
zum Vorteil für Kunden und Gesellschaft«, so Matt Brittin, der Europachef von Google, im €CO-Interview.
Neben den Kleinkrieg der Anwälte gibt es natürlich die klaren Hauptkampflinien unter Der Kleinkrieg der
den drei Konzernen. Facebook will mit sei- Konzernanwälte
nem so­zialen Netzwerk (eine Milliarde Nutzer!)
Marktanteile vom Internet-Werbekuchen von Google. Und Google macht
mit Android Apple das Leben auf dem Smartphone-Markt schwer.
Und es geht bei allen Dreien um die Vorherrschaft in der Datenwolke.
Die so genannten »Clouds« sind, einfach gesagt, Computerzentren,
in denen der Nutzer Daten wie Fotos, Musik, Kontakte und Filme
hoch- und wieder herunterladen kann. Ein nützlicher Service, bei
dem verschiedene Geräte wie Computer, Tablet oder Smartphone, die
viele User schon besitzen, zum Einsatz kommen. Nur: Die Internetspeicher der drei Konzerne gelangen so auch zu sensiblen, persönlichen Daten ihrer Nutzer. Und das ruft die Datenschützer auf den Plan.
Der Wiener Jusstudent Max Schrems hatte sich etwa für die Daten
­interessiert, die facebook über ihn gespeichert hat. Beim europäischen
Hauptquartier in Irland hat er deren Herausgabe gefordert. Nach genauer Durchsicht des Datenmaterials hat er dann den Konzern mit
22 Datenschutzklagen eingedeckt. Es ist der sprichwörtliche Kampf
»David gegen Goliath«, bei dem der angehende Jurist den Konzern
gut kennen gelernt hat: »Facebook ist ein Studentenprojekt. Das ist
irgendwann mal in den USA explodiert, dort gibt es kein Datenschutzrecht. Es ist größer und größer geworden und trotzdem steht das
Ganze auf tönernen Füßen. Das Problem ist, es heißt oft: ›Ja, wissen
wir, aber der Zuckerberg will das nicht.‹ Und damit endet dann die
Diskussion. Das ist das Hauptproblem, dass dort oben einer sitzt, der
sagt: ›Europäisches Recht interessiert mich nicht.‹ «
181
Mark Zuckerberg: Anfangs beurteilte facebook nur die Studentinnen (Foto: facebook)
Auch für Google und Apple ist Datenschutz eine »fremde europäische
Sitte«, so Medien­a nthropologe Wolfgang Zeglovits: »Letztendlich ist
es so, dass alle drei Firmen klarerweise den Kunden im Fokus haben.
Das, was wir diesen Firmen geben, ist nicht nur Aufmerksamkeit,
indem wir deren Services nutzen, sondern auch jede Menge Daten, die
über unser Verhalten Auskunft geben.«
Sind wir machtlose Nutzer in einem Nachbarschaftsstreit, der im fernen kalifornischen Silicon Valley ausgetragen wird? Tatsache ist, dass
wir sie schätzen, die schönen Smartphones, die komfortablen Services
und die vielen neuen Freunde im sozialen Netzwerk. Tatsache ist aber
auch, dass uns dabei der mögliche Missbrauch von Machtverhältnissen
durch Monopole noch immer zu wenig bewusst ist.
Die Welt ist nicht kleiner geworden. Wir sind nicht zu einem globalen
Dorf zusammengerückt. Auch nicht durch Google, Apple und facebook.
Aber wir, die Nutzer, sind für die drei Riesen durchsichtiger geworden.
182
25 Jahre €CO-Jahrbuch:
So hat sich die Welt verändert
von Franz Hlavac
»Die derzeitige Stimmungskrise der EU ist weder die erste noch
die schwerstwiegende. Sie wird auch nicht die letzte sein.«
Erinnern Sie sich noch an Corrado Pirzio-Biroli? Nun, er war
­Botschafter der EU in Österreich, als Österreich der Union beitrat.
Das E­ ingangszitat hören wir, als wir ihn im August des letzten
Jahres auf seinem Schloss in Brazzà in der Nähe von Udine im
Friaul besuchen.
Bei diesem Gespräch geht es nicht nur um Griechenland und die Schuldenkrise in Europa, sondern auch um gemeinsame Erinnerungen an
die Vorbereitungen für die EU-Volksabstimmung am 12. Juni 1994.
Corrado ist überzeugter Europäer, nicht nur aus Tradition. Bei einer
Führung durch das Familienmuseum in Brazzà zeigt er Fotos der
­Familie. Ein Teil davon ist europäische Geschichte, auch aus der Zeit,
als die europäischen Großmächte Afrika entdeckten. Großonkel Pietro
Savorgnan di Brazzà etwa erforschte den Kongo; die Hauptstadt Brazzaville ist nach ihm benannt.
Im Ersten Weltkrieg ist das Schloss Brazzà Sitz des Oberkommandos
der österreichisch-ungarischen Armee – und brennt 1918 ab. Danach
erfährt die Familie viel Leid im Faschismus. Großvater Ulrich von Hassel wird als Gegner Hitlers hingerichtet; Corrados Mutter kommt ins
KZ. Corrado und Bruder Roberto werden verschleppt und im Kinderheim Wiesenhof in Absam in Tirol zwangsuntergebracht. Dort werden
sie von der Großmutter erst im Jahr 1945 wieder gefunden. Nach dem
Studium in Italien arbeitet Pirzio-Biroli ab 1971 bei der EG, wird Spezialist vor allem für Agrarfragen. 1993 wird er Botschafter der EU in
Österreich.
Pirzio-Biroli hat viel zur positiven Haltung Österreichs gegenüber der
Europäischen Union beigetragen. Bei seinen Auftritten im ORF, unter
anderem im damaligen Wirtschaftsmagazin »Schilling«, hat er mit
183
Corrado Pirzio-Biroli: »Nicht die erste und nicht die letzte Krise der EU« (Foto: Hlavac)
zum Teil unkonventionellen Methoden ein Bild der EU vermittelt, das
sich deutlich von der Vorstellung einer anonymen EU-Bürokratie unterscheidet.
Ich war damals neben meiner Funktion als Chef der Wirtschafts­
redaktion (ab 1. Jänner 1992) zuständig für die Koordination aller
ORF-Aktivitäten im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt. Die folgenden
fünf Themen standen im Mittelpunkt unserer Beiträge und der Diskussionen unseres Europa-Forums:
• Arbeitsplatz Europa. Wohlstand und Lebensqualität
• Markt ohne Grenzen. Transit und Umwelt
• Landwirtschaft, Lebensmittel und Konsumentenschutz
• Demokratie und Mitbestimmung, Sicherheit und Frieden
• Die Herausforderungen der EU und ihre Zukunft. Als hätte sich
irgendetwas geändert ...
Bundeskanzler (und SPÖ-Chef) war damals Franz Vranitzky, im
­ ußenamt amtierte Alois Mock, ÖVP-Chef war Erhard Busek und als
A
Landwirtschaftsminister fungierte Franz Fischler. Fischler wird 1995
Österreichs erster EU-Kommissar, zuständig für Agrarfragen. Sein
­Kabinettschef heißt – Corrado Pirzio-Biroli ...
184
In Brüssel arbeitet damals Günter Schmidt als ORF-Korrespondent. Der
hatte davor bis Ende 1991 die Fernseh-Wirtschaftsredaktion geleitet.
Am 24. Oktober 1979 war erstmals ein Wirtschaftsmagazin im Fernsehen ausgestrahlt worden. Die Idee, die Sendung »Schilling« zu taufen,
kommt aus der Redaktion. Leiter war damals Klaus Emmerich; mit im
Team damals schon unter anderen Hans Tesch.
Wirtschaftsnachrichten gelten in dieser Zeit als »etwas Trockenes«,
schwer Verständliches. Wer damals versucht, Wirtschaftsinformationen konsumierbar zu machen, muss sich von »Experten« den Vorwurf
der Trivialisierung anhören.
1980 übernimmt Günter Schmidt die Leitung des Magazins, das ­anfangs
14-täglich ausgestrahlt wird. Von März 1984 an gibt es »Schilling«
­wöchentlich. Dauer: 25 Minuten.
Zur Jahreswende 1988/89 erscheint auch das
erste Jahrbuch. Die Europadebatte beherrscht Schon 1989 ein Thema:
schon dieses erste Buch. In welcher Form soll Die Sonnenenergie
sich das neutrale Österreich auf dem künftigen Binnenmarkt beteiligen, fragt Ernst A. Swietly; Elmar Oberhauser
berichtet aus der Schweiz über die Transitproblematik; Walter Sonnleitner beleuchtet die Steuerreform der seinerzeitigen Bundesregierung. Kurt Rammers­torfer untersucht die Sanierung der verstaatlichten Industrie, Erich Hirtl die Änderungen bei der Wohnbauförderung
und Eva Pfisterer die Stadtsanierung. »Schilling« präsentiert außerdem ein Auto, das General Motors mit einem Antrieb aus Sonnenenergie gebaut und in ­Australien erprobt hat.
Damals, 1988, gibt es noch die Zentralsparkasse unter Generaldirektor
Karl Vak, weiters den Müller-Verlag in der Grinzinger Straße und den
Informationsintendanten Johannes Kunz.
1989 bringt die Wende im Osten eine Revolution und den Zusammenbruch eines Systems. Die Epoche des Kalten Krieges ist ausgestanden.
Es begann mit Gorbatschows »neuem Denken«. Das bringt den verfolgten Schriftsteller Vaclav Havel auf den Präsidentenstuhl und in
Berlin fällt die Mauer. Die Deutschen werden wieder vereint. Politiker
185
geben den Staaten zwischen Atlantik und Ural plötzlich die Chance, in
»einem gemeinsamen Haus« unterzukommen.
Was 1989 die Menschen in Leipzig, Prag und Budapest bewegt, dokumentiert der ORF in zahlreichen Livesendungen, Kommentaren – und
auch im hauseigenen Wirtschaftsmagazin. Und natürlich nicht zu vergessen: Außenminister Alois Mock übergibt dem französischen Ratsvorsitzenden Roland Dumas am 17. Juli 1989 in Brüssel den Antrag
­Österreichs auf Mitgliedschaft bei der Europäischen Gemeinschaft.
Von himmelhoch jauchzend bis einigermaßen betrübt reicht im Jahr
1990 die Gemütsverfassung der Wirtschaftsexperten. Die westliche
Wirtschaft befindet sich in einer noch nie dagewesenen Aufschwungphase: Die Marktwirtschaft hat auf allen Linien gesiegt, die Sanierung der maroden Ostwirtschaften verspricht neue Wachstumsimpulse,
ebenso die neue wirtschaftliche Supermacht Deutschland mit seinen
nun 80 Millionen Einwohnern.
Doch zur Jahresmitte zeigt sich, dass einige Hoffnungen etwas zu
­euphorisch sind. Die irakische Invasion Kuwaits macht deutlich, dass
die Weltwirtschaft auch nach dem Ende des Kalten Krieges für Störungen anfällig ist. Die Ölpreiskrise trifft vor allem die ehemaligen
»Satelliten« Moskaus, deren Reformprogramme ohnedies nur sehr zäh
vorankommen.
1991 wird die Weltbühne geprägt vom Ende des Sowjetkommunismus
als einer der führenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren. Es gibt jetzt auch formal keinen Warschauer Pakt und
keinen Comecon (oder »Rat für wirtschaftliche Zusammenarbeit«, wie
er offiziell hieß) mehr. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die
schon lange das »W« aus dem Kürzel »EWG« gestrichen hat, um zu
dokumentieren, dass sie mehr als ein Wirtschaftsklub sein will, diese
»EG« ringt um eine neue politische und wirtschaftliche Verfassung.
Wie sehr sie nach ihren unbestreitbar großen wirtschaftlichen Erfolgen
auch eine stärkere politische Identität und Kraft benötigt, zeigt sich an
ihrem über lange Strecken wenig erfolgreichen Agieren in der jugoslawischen Tragödie. Auf der positiven Seite der Bilanz steht der erfolgreiche
186
Die Deutschen werden wieder vereint (Foto: anweber/shutterstock)
Abschluss der EWR-Verhandlungen, mit dem die sieben EFTA-Staaten in
vielen Bereichen den zwölf EG-Ländern gleichgestellt werden. Dieser
Vertrag ist eine Vorstufe zum angepeilten EG-Beitritt Österreichs.
In diesem Jahr 1991 erfolgt auch die Fusion von Zentralsparkasse und
Länderbank zur Bank Austria AG. Es entsteht die größte Bank
­Österreichs. Ende 1991 verlässt Günter Schmidt die Leitung der Wirtschaftsredaktion und tritt in Brüssel die Nachfolge des EG-Korrespondenten Klaus Emmerich an. In Wien ernennt mich Generalintendant
Gerd Bacher zum Leiter der Wirtschaftsredaktion und zum Koordinator
aller EG-und Europafragen in der Informationsintendanz von Johannes
Kunz. Die nächsten 18 Jahre leite ich das Wirtschaftsmagazin.
1992 wird die Wirtschaftsberichterstattung im Fernsehen weiter ausgebaut. Im April startet das tägliche Finanzmarkt-Service. Nun gibt es
in jeder »Zeit im Bild«-Ausgabe aktuelle Wirtschaftsnews aus Österreich und aus aller Welt mit Beiträgen über Unternehmen und Branchen, über Arbeitsplätze, Manager sowie Entwicklungen und Veränderungen bei den Zinsen und auf den Finanzmärkten.
Ende 1992 hat das »Schilling«-Team Grund zum Feiern: Die 500. Ausgabe des Wirtschaftsmagazins wird ausgestrahlt.
187
ORF-Magazin »Schilling«: Moderator Franz Hlavac, damals noch jung (Foto: ORF/Friess)
1993 jammern alle über die Rezession. In diesem Jahr geht der längste
Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit zu Ende. Nach Jahren des
ununterbrochenen Wachstums reißt die Konjunktur ab. Das belebt auch
in Österreich den Willen zur Veränderung. Das Wirtschaftsmagazin
zeigt positive Alternativen und Nischen für neue Produkte auf. Erfolgreiche Unternehmen, die den Trend der Zukunft darstellen, werden
porträtiert.
Eine sechsteilige Dokumentation »Industrie am Wendepunkt« beleuchtet die Zukunftschancen der österreichischen Industrie.
Im Februar 1993 beginnen Österreichs Beitrittsverhandlungen mit der
EG und am 1. November 1993 tritt der Vertrag von Maastricht in Kraft.
Aus der EG, der Europäischen Gemeinschaft, wird die EU, die Europäische Union.
Am 1. Jänner 1994 wird der EWR, der Europäische Wirtschaftsraum,
aus EU- und EFTA-Staaten (mit Ausnahme der Schweiz und Liechtensteins) Realität. Am 1. März 1994 werden Österreichs Beitrittsverhandlungen abgeschlossen. Am 12. Juni 1994 stimmen 66,58 Prozent der
Österreicher beim Referendum mit ja. Und schon am 24. Juni werden
auf der griechischen Insel Korfu die Beitrittsverträge Österreichs,
188
Schwedens, Finnlands und Norwegens beim EU-Gipfeltreffen feierlich
unterzeichnet. Der Nationalrat beschließt am 11. November 1994 den
EU-Beitrittsvertrag mit großer Mehrheit (141 Ja-Stimmen).
In »Schilling« wird 1994 eine unendliche Fülle von Informationen zu
allen Fragen rund um Österreichs EU-Beitritt aufgearbeitet, ­durchwegs
kritisch und offen Pro und Kontra beleuchtend. Der Kontakt mit Fragen und Wünschen der Bevölkerung wird durch die Diskussionsver­
anstaltungen des »Europa Forums«, an denen unsere Redaktion (Wal­
traud Langer) maßgeblich mitarbeitet, besonders eng gehalten.
1995 erhält »Schilling« einen neuen Sendeplatz. Am Donnerstag, um
22.30 Uhr im »zweiten Hauptabend«, beginnt seither das Wirtschaftsmagazin. Das neue spartanische Design der Sendung spiegelt sich auch
im damaligen Jahrbuch wider.
Das Vertrauen in die Währung Schilling bleibt erhalten, auch nach
dem Scheitern der Budgetverhandlungen im Herbst 1995 und der Auflösung der Koalitionsregierung von SPÖ und ÖVP. Der neue Finanzminister Viktor Klima macht sofort klar, dass Österreich alle notwendigen
Schritte setzen wird, um die strengen Bedingungen für eine Aufnahme
des Schilling in die Europäische Währungsunion zu schaffen. Am Sparziel für Maastricht, also den Richtzahlen für die Staatsverschuldung
und das Budgetdefizit, führt kein Weg vorbei.
1996 – der Countdown für den Euro läuft. Die Vorbereitung auf die
künftige gemeinsame europäische Währung lenkt die Aufmerksamkeit
der Österreicher wieder intensiver auf die Wirtschaftsthemen. Die Vielschichtigkeit dieser Materie veranlasst den ORF einen neuen Schwerpunkt auf eine umfassende Information über diesen Euro zu legen.
Am 13. Dezember 1996 ist es so weit. Das Aussehen der Euro-Geldscheine wird präsentiert. Gleichzeitig um 15 Uhr wird in allen
EU-Staaten der Siegervorschlag präsentiert. Die Sache ist bis zuletzt so
geheim, dass es die Österreicher fast als Letzte erfahren: Ihr Entwurf
hat gewonnen. Bundeskanzler Franz Vranitzky und Vizekanzler Wolfgang Schüssel wird beim EU-Gipfel in Dublin bereits zum österreichischen Erfolg gratuliert, als sie noch nichts davon wissen.
189
Denn die Österreichische Nationalbank hält sich an die Schweigepflicht. Sie präsentiert nur in einem kleinen Kreis den Mann, der mit
einem Schlag europaweit bekannt wird: Der Grafiker Robert Kalina
hatte in nur einem halben Jahr »dem Euro sein Gesicht« gegeben. Mit
allen Sicherheitsbestimmungen und unter Vermeidung aller Symbole,
die ein Land als negativ empfinden könnte.
Die Reaktionen auf die für viele ungewohnt bunten Noten fallen sehr
unterschiedlich aus. Vom empörten »Der Mist kommt aus der hiesigen
Nationalbank« im »profil« bis zu »Das ist positiv für Österreichs kulturelles Selbstbewusstsein« vom damaligen Bundeskanzler Vranitzky. Im
Jänner tritt Vranitzky nach der Schlappe der SPÖ bei den Europawahlen
zurück. Sein Nachfolger wird Viktor Klima, auch als Parteivorsitzender.
1997 ist bei den Österreichern der Groschen gefallen. Ihnen wird klar,
dass der Euro kommt. ORF-Informationsintendant Rudolf Nagiller
beauftragt die Redaktion, einen Informationsschwerpunkt in allen
ORF-Programmen über die Vor- und Nachteile der neuen Währung zu
koordinieren und zu gestalten. Spezialausgaben von »Schilling«, »Report« und »Pressestunde« berichten über »Das Geld von morgen«.
In diesem Jahr bewältigt die »Erste Bank« die Fusion zwischen der Ersten Österreichischen Spar-Casse und der GiroCredit in Rekordzeit und
beweist mit ihrem Börsengang, dass es möglich ist, die Österreicher
durch fundierte Informationen für Aktieninvestments zu gewinnen.
Ebenfalls 1997 beschließt die »Erste Bank«, sich an der 10. »Schilling«-Jahrbuchausgabe zu beteiligen. Dieses Jahrbuch erscheint ab
nun immer als Vorschau und nicht wie bisher als Nachlese.
Es folgt also auf die neunte Ausgabe 1996 die zehnte Ausgabe 1998. An
dieser Stelle sei festgehalten, dass sich die »Erste« seither nie in den
redaktionellen Teil des ORF eingemischt hat. Im Gegensatz zu anderen
Financiers, die das einmal erfolglos probierten. Wir sind deshalb gewechselt.
1998 steht ganz im Zeichen der Vorbereitungen auf die künftige gemeinsame europäische Währung. Im ersten Halbjahr wird die erste
190
Das Parlament: Grosse Mehrheit für den EU-Beitritt (Foto: Parlamentsdirektion/Olah)
Teilnehmerrunde am Euro festgestellt. Voraussetzung ist die Erfüllung
der Maastrichter Kriterien (Haushaltsdefizit, Stand der öffentlichen
Schulden, Inflationsrate, Wechselkurse, langfristige Zinssätze).
Die bilateralen Umrechnungskurse der nationalen Währungen zu­­
einander werden verhandelt und publiziert.
Im zweiten Halbjahr 1998 dominiert die erste EU-Präsidentschaft
­Österreichs die Berichterstattung und die Entwicklung an den Börsen.
1998 ist das Finanzwetter ziemlich stürmisch. Die Krisen in Asien, Russland und Lateinamerika haben wieder einmal gezeigt, dass der sicher
fährt, der sich auf dem Boden der wirtschaftlichen Tatsachen bewegt.
Am 1. Jänner 1999 werden die Umrechnungskurse der am Euro teilnehmenden nationalen Währungen unwiderruflich festgelegt. Ab diesem
Zeitpunkt gibt es bis zum 31. Dezember 2001 den Euro als Buchgeld.
Das heißt, er kann für alle »unbaren« Zahlungen, etwa bei Überweisungen, verwendet werden.
1999 erscheint auch das Wirtschaftsmagazin des ORF unter dem Namen
»Euro Austria«. Der Sendungstitel zeigt die Philosophie. Die neue
191
So ändern sich die Zeiten:
Das Jahrbuch des ORFWirtschaftsmagazines vor
20 Jahren (rechts) und
vor zwei Jahren (links)
(Fotos: ORF/Hans Leitner)
Währung gibt es schon als Verrechnungseinheit und das Magazin
streicht das typisch Österreichische hervor.
Erinnern Sie sich noch, wie zum Jahreswechsel 1999/2000 die Furcht
vor dem Milleniums-Bug herrschte, also vor den Computerproblemen,
die durch die Behandlung von Jahreszahlen als zweistellige Angabe
drohten? Was würde es mit sich bringen, wenn Computer statt des
1. Jänner 2000 den 1. Jänner 1900 ausweisen? Nichts Wesentliches
ist Gott sei Dank geschehen. Der Aufbruch ins neue Jahrtausend hat
­a ndere spannende Perspektiven.
Die österreichische Wende ist auch eine politische; im Februar 2000
wird die erste schwarz-blaue Regierung Schüssel gebildet. Eine starke
Polarisierung durchzieht das Land. Die EU belegt das Land mit politischen Sanktionen. Das Jahr 2000 bringt Österreich ein »Wendejahr«
auch für die Wirtschaft. Budgetsanierung heißt das Schlagwort. Und
das bedeutet: neue Belastungen für alle Österreicher. Von Gebühren­
erhöhungen bis zu Selbstbehalten im Gesundheitsbereich und zum
Wegfall so manchen Steuerzuckerls.
Von »sozialer Treffsicherheit« ist schon damals viel die Rede.
In d
­ iesem Jahr wird in der Zeit im Bild um 13 Uhr die Börseleiste
192
eingeführt. Moderatorin wird Waltraud Langer aus unserem Team. Sie
wird 2001 mit der Leitung der Wirtschaftsredaktion für die Zeit im
Bild 1 beauftragt. Mir wird gleichzeitig die Funktion des ORF-Wirtschaftssprechers übertragen.
2001 steht die Information ganz im Zeichen der bevorstehenden
­Euro-Bargeldeinführung. Der ORF startet in Kooperation mit der Wirtschaftskammer Österreich und der Österreichischen Nationalbank eine
Hotline, die sich mit Fragen der Euro-Einführung beschäftigt. Im Wirtschaftsmagazin gibt es die »Doppelte Preisauszeichnung«: Ab 1. Juli
2001 werden auf allen Inserts der TV-Beiträge die Preise in Schilling
und in Euro aufgelistet.
Ende August 2001 zeigt Nationalbank-Präsident Klaus Liebscher erstmals im Wirtschaftsmagazin die neuen Euro-Banknoten. Bereits am
1. September beginnt die Vorverteilung der Euro-Banknoten und -Cent
Münzen an Banken und Unternehmen. Am 15. Dezember gibt es dann
die Euro-Startpakete »für alle«.
Ein weiterer Aspekt des Geldlebens 2001, der uns in Erinnerung bleibt,
sind die turbulente Entwicklung der internationalen Börsen und
schließlich die Kursstürze, die die Terroranschläge vom 11. September
verursachen. Die USA verfallen 2001 in eine Rezession.
Der EU-Kommissar für die »Erweiterung«, der deutsche Günter Ver­
heugen, meint im ORF-Wirtschaftsmagazin: »Die Bewahrung der inneren und äußeren Sicherheit steht heute an oberster Stelle der europäischen Agenda. Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation wird
wieder deutlich, worum es bei der Erweiterung der EU eigentlich geht:
um ein geopolitisch-strategisches Großprojekt, das Europa tief­greifend
verändern wird.« Und er sagt dann: »Nur auf der Grundlage des inneren und äußeren Friedens in Europa lassen sich nachhaltiges Wachstum und Wohlstand erzielen.« Nach dem Motto: Mehr Integration erfordert mehr Sicherheit.
Am 1. Jänner 2002 lösen Euro und Cent Schilling und Groschen als
Zahlungsmittel ab. Beide Währungen sind noch bis Ende Juni in Verwendung. Dann wird der Schilling endgültig vom Euro ersetzt.
193
Im ORF wird Gerhard Weis als Generalintendant von Monika Lindner
abgelöst und im Zuge ihrer Programmreform erhält im Oktober 2002
die Wirtschaftssendung des ORF den neuen Namen » €CO«.
Ein weiteres Thema, das noch bis ins Jahr 2002 die Österreicher bewegt, ist die Abschaffung der Sparbuch-Anonymität. Doch die weitere
Entwicklung beweist, dass sich auch die besondere österreichische Lösung des Bankgeheimnisses bewährt.
Im September 2002 zerbricht nach einem Sonderparteitag in Knittelfeld die ÖVP/FPÖ-Koalition. Die Novemberwahlen gewinnt die ÖVP –
und sie macht mit der geschwächten FPÖ weiter.
Finanzminister Grasser, damals beliebt und geachtet, verkündet ein
saniertes Budget. Erst Jahre später wird enttarnt, was damals alles
­gelaufen ist.
Im Prozess der EU-Erweiterung wird 2003 ein
ereignisreiches Jahr. In Deutschland finden
Parlamentswahlen statt. Gerhard Schröders
Amtszeit als Chef einer rot-grünen Koalition
wird verlängert, J­ acques Chiracs Position bei den Präsidentenwahlen
in Frankreich gestärkt. Weil es keine Veränderung gibt, erleichtert
dies die Einigung der EU mit den »neuen Beitrittsländern« im Osten,
vor allem in der Agrarfrage. Im April 2003 werden die Beitrittsverträge
mit zehn Ländern feierlich unterzeichnet. Neben den beiden Mittelmeerinseln Malta und Zypern, den drei baltischen Ländern Estland,
Lettland und Litauen kommen ab Mai 2004 auch die fünf Länder zur
EU, die für Österreich von größter Bedeutung sind: die mittelbaren
und unmittelbaren Nachbarn Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn
und Polen.
Die EU wächst in
Richtung Osten
Durch die EU-Erweiterung rückt Österreich geopolitisch wieder ins
Zentrum Europas und gewinnt ohne Zweifel an Bedeutung.
Österreichs Wir tschaf t kommt im Osten eine tragende Rolle
zu. Viele Betriebe haben sich schon in den Jahren vor 2004 in den
­z entraleuropäischen Nachbarländern angesiedelt. Damit wird eine
194
langfristig strategisch richtige Standortwahl getroffen. In naher
Z­ ukunft befinden auch sie sich mit ihren osteuropäischen Tochter­
unternehmen in der EU, womit die Vorteile des freien Personen-,
Waren- und Dienstleistungsverkehr voll genützt werden.
2005 ist für die Republik Österreich ein Jubiläums- und Gedenkjahr.
In dessen Mittelpunkt stehen die Jubiläen »60 Jahre Zweite Republik«,
»50 Jahre Staatsvertrag« und »10 Jahre EU-Mitgliedschaft«. Dieses
Gedenkjahr bietet dem ORF-Wirtschaftsmagazin Gelegenheit, Vergangenheit und Zukunftsperspektiven zusammenzuführen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft
und Technologie. € CO geht damals der Frage nach, ob die Österreicher – wenn die Medizin weiter so große Fortschritte macht – nicht
bis zum Alter von 70 Jahren im Arbeitsprozess stehen könnten ...
2005 wird die – laut Regierung – »größte Steuerreform der Zweiten
Republik« in einer zweiten Etappe umgesetzt. Aber nicht jeder Steuerzahler wird entlastet; Kleinstverdiener bekommen nichts und Spitzenverdiener de facto auch nichts. Ein neues Jahr – auch eine neue
Pensionsreform. 2005 tritt mit der so genannten »Harmonisierung«
die dritte Reform innerhalb weniger Jahre in Kraft. Mit dem Pen­
sionskonto wird ein neues, einheitliches Pensionssystem für alle Unter-50-Jährigen geschaffen. Die Reform bringt Änderungen bei den
Versicherungszeiten, bei der Erlangung eines Anspruchs und bei der
Pensionsberechnung. Das Expertenurteil: Die Harmonisierung ist für
Ältere günstiger, für Jüngere schlechter – und für alle komplizierter.
Österreichs Bankenlandschaft verändert sich 2005 dramatisch. Der
größte Bankkonzern, die Bank Austria-Creditanstalt, erfährt einen
einschneidenden Eigentümerwechsel. Statt der bayerischen Hypo-Vereinsbank ist sie in den Besitz der italienischen UniCredit übergegangen und wird entscheidend umstrukturiert.
Die viertgrößte Bankengruppe, der BAWAG-PSK-Konzern, muss im
Spätherbst 2005 eine bittere Erfahrung machen. Eine ihrer langjährigen Partnergesellschaften in den USA, die Maklerfirma Refco bzw.
deren Haupteigentümer Bennett, lockt dem Management an einem
Oktober-Wochenende unter Vorspiegelung falscher Tatsachen einen
195
350-Millionen-Euro-Kredit heraus. Die Sicherheiten werden nicht ausreichend geprüft. Als der Fehler bemerkt wird und die Bank das Geld
zurückholen will, ist es zu spät. Die Refco wird insolvent. Das verantwortliche Management tritt in Wien zurück und macht dem Nationalökonomen Ewald Nowotny Platz.
Im Frühjahr 2006 informiert Nowotny die Finanzmarktaufsicht über
spekulative Karibik-Geschäfte. Bawag-Aufsichtsratschef Günter
­Weninger enthüllt hohe Verluste aus dem Jahr 2000 und die damalige
Garantie des ÖGB für die BAWAG. Weninger tritt zurück. ÖGB-Chef Verzetnitsch verteidigt die Entscheidung, die Haftung für die BAWAG zu
übernehmen. Auch Verzetnitsch tritt zurück. Vier BAWAG-Vorstände
müssen gehen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Der ÖGB-Bundesvorstand fasst in einer Nachtsitzung den Grundsatzbeschluss zum vollständigen Verkauf der BAWAG. Ende Dezember wird die BAWAG tatsächlich an den US-Investor Cerberus verkauft.
Im folgenden Frühjahr wird Ex-Generaldirektor Elsner in Frankreich
verhaftet. Es folgen gegen ihn und andere Vorstände erste Prozesse; bis
heute gelingt die vollständige Aufklärung des Bawag-Skandals nicht.
Dr. Franz Hlavac, Jahrgang 1948, maturierte 1966 am
Schottengymnasium in Wien. Anschließend absolvierte er den
ordentlichen Präsenzdienst. 1967 begann er das Studium der
Zeitgeschichte und Germanistik an der Philosophischen Fakultät
der Universität Wien. 1973 promovierte er zum Doktor der
Philosophie.
Erste journalistische Erfahrungen sammelte Franz Hlavac
ab 1971 als freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen
und beim Hörfunk des ORF. Im April 1974 wurde er im Aktuellen Dienst des
Fernsehens angestellt. 1989 wurde Dr. Hlavac Programmkoordinator in der FernsehInformationsintendanz und Leiter des Europa-Magazins »Compass«.
Von 1. Jänner 1992 bis 31. Dezember 2009 leitete Franz Hlavac die
Wirtschaftsredaktion des Fernsehens und damit auch das Wirtschaftsmagazin.
Zunächst das Magazin »Schilling«, danach »Euro Austria« und zuletzt »€CO«. In
dieser Zeit koordinierte er die Berichterstattung über den EU-Beitritt Österreichs
(1992 bis 1995). Außerdem koordinierte Dr. Hlavac auch die ORF-Berichterstattung
über die Währungsumstellung auf den Euro.
Im August 2005 wurde ihm der Professortitel verliehen.
Seit 2010 arbeitet Franz Hlavac als freier Journalist und Buchautor. Im »Styria«Verlag erschien 2011 der Bestseller »Unser Friaul« (Autoren: Dr. Gisela Hopfmüller
und Dr. Franz Hlavac).
196
Im Jahr 2006 steht Österreich auch im Mittelpunkt der europäi­schen
Politik. Im ersten Halbjahr übernimmt unser Land die EU-Präsidentschaft. Europa neuen Schwung verleihen – unter diesem Motto startet
Österreich ins Mozartjahr. Am 26. Jänner, an Mozarts 250. Geburtstag,
lädt EU-Ratspräsident Schüssel 24 Staats- und Regierungschefs nach
Salzburg ein. Es steht die Schlussphase der Gespräche mit Bulgarien
und Rumänien an sowie die Anfangsphase der Beitrittsverhandlungen
mit Kroatien und der Türkei.
Die schwierigen Rahmenbedingungen 2006: 20 Millionen Arbeitslose in Europa. Pessimismus und Reformkrise trotz leichter Konjunkturverbesserung. Ausgesprochen positive Zeichen kommen nur aus
Japan. China erwartet acht Prozent Wirtschaftswachstum. Die EU zwei
­P rozent.
2007 – ein Jahr der Veränderungen. In Österreich tritt die Regierung
Gusenbauer/Molterer an. Alexander Wrabetz ist neuer Generaldirektor
des ORF. Die Anleger an den internationalen Börsen brauchen Nerven wie Drahtseile. Kreditkrise, Bankenkrise, Finanzkrise sind die
Schlagwörter des Jahres im Herbst. Tatsache ist, dass von vielen Anlegern die US-Hypothekenkrise nicht ernst genug eingeschätzt worden
ist. Viele Banker, Ökonomen, Wirtschaftsforscher und Politiker glauben, dass sich die Gewitterwolken bald verziehen werden. Alle haben
­Unrecht.
Der 15. September 2008, der Tag, an dem die US-Investment-Bank
Lehman Brothers kollabiert, ist ein historischer Tag. Die Finanzkrise
ist über Nacht global zu spüren und sie zwingt in der Folge Banken,
Märkte und ganze Staaten in die Knie. Noch nie zuvor ist so viel Kapital in ganz kurzer Zeit vernichtet worden und noch nie zuvor sind
so viele hoch bezahlte Experten als Blender und Betrüger enttarnt
worden.
Warum es so weit kommen konnte, ist einfach zu beantworten.
Eine Kombination von Gier, Unvorsichtigkeit und Unwissen und der
Glaube, dass Risiko keinen Preis hat, diese Mixtur ist letztendlich
der Ausgangspunkt der Krise. Dazu kommt, dass wir in Österreich und
197
Günther Schmidt, Franz Hlavac: Ein Jahrbuch wird geboren (Foto: ORF)
auch in Zentral- und Osteuropa lange in der falschen Überzeugung
lebten, wir hätten nicht in die Subprime-Papiere investiert. Ein Irrglaube, also werden wir von den Folgen dieser Produkte nicht bewahrt.
Das war der Hauptfehler. Wir haben geglaubt, dass die Finanzkrise in
den USA keine Auswirkungen auf die Realwirtschaft in Österreich und
Zentral- und Osteuropa haben wird.
Dass die Welt im September wirtschaftlich am Abgrund steht, zeigt die
Dokumentation der BBC, die €CO im Sommer 2010 ausstrahlt.
In diesem Sommer wird Hans Tesch zu meinem Nachfolger als Leiter
des Wirtschaftsmagazins €CO bestellt. Sein Team hat in den letzten
Jahren gezeigt, dass €CO seine besten Momente hat, wenn es gelingt,
plastisch Zusammenhänge aufzuzeigen und Fragen zu aktuellen Entwicklungen zu geben. Die Zuseherzahlen geben dem €CO-Team Recht.
Ich bin 2010 aus dem ORF altersbedingt ausgeschieden. Meine Frau
und ich leben jetzt als freie Journalisten teilweise im Friaul und in
Wien. Im März 2013 wird unser zweites Buch über Friaul erscheinen.
Titel: »Friaul erleben«, eine h
­ istorische und kulinarische Reise durch
unsere Teilzeit-Heimat.
198
Große Worte –
meist sogar richtige
gesammelt von Günther Kogler
»Träumt groß. Arbeitet hart. Denkt selbstständig.«
Lehrer David McCullough jr. verabschiedet die Absolventen
der Highschool von Wellesley, einem Vorort von Boston.
Seine bewegende Rede wurde auf »Youtube« gestellt und von
US-Nutzern mehrere Millionen Mal angeklickt.
»Erklimmt die Berge nicht, um dort eine Flagge zu hissen,
sondern wegen der Herausforderung. Erklimmt die Berge, damit
ihr die Welt sehen könnt, nicht damit die Welt euch sieht.«
Derselbe.
»Adelstitel sollen in Österreich auf zehn Jahre vergeben
werden. So wie Wunschkennzeichen.«
Auf diese Idee ist das demokratische Österreich tatsächlich
noch nicht gekommen. Zitat von Ulrich »von« Habsburg, einem
Urururur-Urenkel von Kaiserin Maria Theresia.
»Ich bin nicht mediengeil; die Medien sind geil auf mich.«
Balettstar Karina Sarkissova ahnt, wie sie auf die Öffentlichkeit wirkt.
»Politik ist wie Schlammcatchen mit einem Schwein:
Du wirst dreckig und dem Schwein macht es Spaß.«
Alexander Morlang, Berliner »Pirat«, über die Zustände
(nicht nur) in der deutschen Innenpolitik.
»Wir nennen das bulls without balls.«
Was Frank Stronach über Wirtschaftsforscher denkt,
übersetzen wir lieber nicht.
»Das Wort Ungehorsam kann so nicht stehen bleiben.«
Kardinal Christoph Schönborn weist behutsam auf die klitzekleine
Differenz hin, die er mit der »Pfarrerinitiative« hat.
199
Die AutorInnen des ORF-Teiles
Angelika Christine Ahrens
Geboren: 24. 3. 1972 in Salzburg,
aufgewachsen in Freilassing/Deutschland
Schulbildung: Abitur am Rottmayr-Gymnasium
Laufen (Abschluss 1991)
Bis 1994 Sparkasse Berchtesgadener Land, parallel dazu eine TV/
Radioausbildung; 1994 Brokerbüro Hornblower Fischer New York;
1994–96 Studium an der Europäischen Journalismus Akademie,
Donauuniversität Krems (Master of Advanced Studies,
Journalism in Print, Radio and Television).
Ab 1995 für den ORF (Österreicher Rundfunk) unterwegs
zunächst als Volontärin im Aktuellen Dienst Niederösterreich.
Ab 2001 Moderation und Gestaltung der Börsenleiste in der »ZiB
13 Uhr«, TV-Beiträge in der »ZiB 1«, »ZiB 2« und €CO sowie seit
2002 Moderation des Wirtschaftsmagazins €CO
Mag. Bettina Fink
Geboren in Bregenz, Vorarlberg
seit 2000: Redakteurin beim Wirtschaftsmagazin €CO,
zuvor bei der Zeit im Bild
1994–2000: ORF-Landesstudio Vorarlberg, Chefin vom Dienst für
die Sendung »Vorarlberg heute«.
1993–94: Freie Journalistin in Berlin. Ständige freie
Mitarbeiterin der Tageszeitung »taz«, Kulturberichte für »Die
Welt«, Hörfunk-Beiträge für den »Sender Freies Berlin«
1990–93: »Energieinstitut Vorarlberg«, Projektleiterin für
Öffentlichkeitsarbeit in der Non-Profit-Organisation.
1989–90: »Vorarlberger Nachrichten«, Bregenz, Redakteurin in
den Bereichen Lokales, Kultur und Wirtschaft
Studium der Germanistik, Publizistik und Kommunikations­
wissenschaften an den Universitäten Salzburg bzw. Innsbruck
Hans Hrabal
geb. 19. 9. 1964
Seit Sommer 2010 Redakteur beim Wirtschaftsmagazin €CO, ORF
2004–10 Leiter Business Development Neue Medien, ORF
2000–04 Projektleiter Fernsehdigitalisierung,
1998–2000 Redakteur für Konsumentenschutz- und
Bürgerservice-Themen beim Vorabendmagazin
Willkommen Österreich, ORF
1992–98 Redakteur Wir Bürgerservice, ORF
1988–92 Freier Journalist für TREND, PROFIL, WIENER, Ö3
Studium der Politikwissenschaft und Handelswissenschaft in
Wien. Post Graduate Studien in Washington D.C., Bologna und
Berlin
200
Günther Kogler
geb 1956 in Übelbach in der Steiermark; Matura in Graz;
Computerausbildung Systemprogrammierer;
seit 1982 verheiratet, zwei Kinder
1976 Freier Mitarbeiter »Kleine Zeitung«,
1979 Redakteur für Innenpolitik
1988 Leiter der Lokalredaktion »Kleine Zeitung«, Graz
1989 ORF-Landesstudio Steiermark
1994 ORF Wien, Politikmagazin »Der Report«
seit 1998 Vortrags- und Prüfungstätigkeit im Rahmen des
»­Medienkundlichen Lehrganges« an der Universität Graz
2001 Sendungsverantwortlicher »TV- Diskussionen«
seit 2010 stv. Sendungsverantwortlicher €CO
Hobbys: Neugier, Architektur, steirischer Weißwein,
Flugmaschinen aller Art
Dr. Christina Kronaus
Studium der Romanistik und Publizistik
an der Universität Wien.
Lehrgang für Werbung und Verkauf an der
Wirtschaftsuniversität Wien.
Journalistische Lehrjahre in der »Presse«,
seit 1984 Reporterin/Filmemacherin für den ORF/3Sat.
Produktionen für internationale Fernsehprojekte
zum Thema Frauen/Umwelt/Nachhaltigkeit.
Lehrtätigkeit für die europäische
Konsumentenschutzorganisation
BEUC in Brüssel.
Mag. Ilja Morozov
Geboren 1986 in Moskau, aufgewachsen in St. Pölten,
gesegnet mit steirischen Wurzeln. Wirtschaftlich geprägt
durch seine HAK-Ausbildung und dem Wirtschaftsstudium
ab 2006 (Diplom), mit Spezialisierung auf Außenhandel
und Unternehmensführung. Suchte frühen Kontakt mit der
Praxis: in der Schulzeit Verkäufer im Möbelhaus Leiner, div.
Praktika im Controlling, Ausbildung zum Vermögensberater,
Marketingpraktikum bei 3M, Backstage-Guide im ORF usw.
Einstieg in den Journalismus 2006 als freier Redakteur bei den
Bezirksblättern, 2009 ORF-Redaktionspraktikant in der »Zeit im
Bild«. Zunächst im Aktuellen Dienst des ORF, seit November 2010
bei €CO
201
Sabina Riedl
Geboren am 14. 5. 1965 in Wien
Aufgewachsen in den USA, in Chapel Hill, North Carolina.
1976–83 Gymnasium in Wien 19, ­Gymnasiumstraße
Ab 1984 Studium am Institut für Übersetzer- und
Dolmetscherausbildung / Englisch und Italienisch
Seit 1987 Redakteurin im ORF
1998 Staatspreis für Wissenschaftspublizistik für die
Dokumentation »Der kleine Unterschied«, ein Feature über
Geschlechtsunterschiede in der Sendereihe Modern Times Spezial
Seit 1999 ist sie als Redakteurin für das
Wirtschaftsmagazin €CO im Dauereinsatz
Sie ist Mutter einer 12-jährigen Tochter und frönt privat
dem Boxsport, Reisen, Kinofilmen, Rockmusik und dem
Gitarrespielen.
Mag. Hans Tesch
Jahrgang 1955. Studierter Betriebswirtschafter,
Wirtschaftsuni Wien.
Journalist mit Leib und Seele. Begonnen 1979 als Freier
Mitarbeiter der Zeit-im-Bild-Redaktion, dann Redakteur und
Chefredakteur im ORF-Landesstudio Burgenland. Seit Anfang
2011 Leiter von €CO. Sachbuchautor von »Sicher selbständig«
und »Bauen, kaufen, finanzieren«, Wirtschaftsverlag
Ueberreuter. Projektentwickler und Studienverfasser
Als ehrenamtlicher Obmann des Franz-Liszt-Vereines im Wohnort
Raiding die Basis für den Bau des Konzerthauses und somit für
den heute hochkarätigen Konzertbetrieb geschaffen.
»Liest« gerne Hörbucher, »studiert« gerne Wein-Jahrgänge.
Tätigkeit als Hobby-Winzer im Geburtsort Horitschon.
Hans Wu
Geboren in Wien, am 28. 11. 1969
Sohn von Liu Lee-Chun, Landwirtin, und
DI Dr. Wu Zun-Ho, Landwirt
1980–88 BRGXXI Ödenburgerstraße in 1210 Wien
1988–95 Studium der Geschichte an der Uni Wien
1991–2000 Redakteur/Gestalter beim ORF.
2002 Application Research Manager und Trendscout beim
­Mobilfunkbetreiber ONE GmbH
2003 Produktentwickler beim Mobilfunk-Serviceentwickler
­Connovation GmbH
2003–07 Produktmanager bei ORF Online
2007–09 Redakteur bei der ORF-Sendung »Wie bitte?«
2009 Wechsel zur ORF-Wirtschaftssendung €CO
202
Die AutorInnen des ORF-Teiles
Philipp Jauernik
Geboren 1987 in Wien, Studium der Geschichte mit Fokus auf
Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Journalistenausbildungen
an diversen Schulen, Praktika im Zuge eines selbst gebastelten
Medientrainee-Programms bei APA, Furche, Die Presse und €CO.
Außerdem mehrere längere Aufenthalte in Brüssel. Seit Sommer
als freier Journalist in Wien tätig.
Mag. Beate Haselmayer
geb. 1981 in Tulln in NÖ.
Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaften,
Slawistik und Deutsch als Fremdsprache in Wien.
Studienaufenthalte in Russland und der Ukraine.
Stipendium an der Donau-Universität Krems (Lehrgang für
Fernsehjournalismus). 2006: Recherche für Dokumentarfilme.
2007–2012: Freie Reporterin für die ORF-Reportagesendung »Am
Schauplatz«. 2011–2012: Freie Mitarbeiterin in der »Zeit im Bild«.
Seit März 2012: Redakteurin im ORF-Wirtschaftsmagazin €CO.
Katinka Nowotny
Jahrgang 1964; Studium Volkswirtschaft und Soziologie an der
Universität Wien, Master (M.A.) in Television Journalism an der
New York University mit einem Fulbright-Stipendium.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten Fernsehjournalistin aus
Leidenschaft. Aufgewachsen in Kairo, New York und Wien hat sie
immer wieder für das Weltjournal aus Krisengebieten berichtet:
aus Nordkorea, aus Sarajevo, aus New York nach 9/11. Nebenbei
15 Jahre lang Österreich-Korrespondentin von CNN World View.
Zahlreiche Journalistenpreise. 2011 »Chefin vom Dienst« im
Weltjournal. Ab 2012 im Stammteam von €CO. Ganz nach dem
Motto: »Wirtschaft in diesen Zeiten ist spannend wie selten
zuvor.« Verheiratet; zwei Kinder. Eine begeisterte Ruderin und
jeden Sommer besteigt sie einen Dreitausender in Österreich.
203
Von links nach rechts:
Franz Gschiegl, Bernadett Povazsai-Römhild, Thomas Schaufler
204
Zoltan Bakay, Rainer Münz
205
Bankgeschäft vor 25 Jahren –
wo waren eigentlich Sie damals?
Andreas Treichl im Gespräch
War die Zeit als Banker vor 25 Jahren eine »schönere«? Ich weiß,
auf was Sie hinauswollen. Die Reputation von Bankern in der heutigen Zeit und so ... Aber, ehrlich gesagt, ich habe mir diese Frage
noch nie so gestellt. Denn als Banker muss ich die Verantwortung für
die Spareinlagen meiner Kunden tragen und vor diesem Hintergrund
entscheiden, wie ich kreditfinanzierte Projekte einschätze. Daran
hat sich nichts geändert. Man darf aber nicht vergessen, dass die
Bankenbranche vor einem totalen Umbruch steht. Das ist auf der einen
Seite spannend, aber es ist auch eine Herausforderung. Immerhin kann
man so auch beweisen, ob man sein Unternehmen kennt und wie gut
man es vor Untiefen schützen kann. Insofern ist es heute wahrscheinlich sogar aufregender als vor 25 Jahren.
War die Bankenlandschaft damals stabiler als heute? In Österreich
war sie bis in die späten 1990er-Jahre von verstaatlichten Banken oder
von Banken, deren Eigentümer nicht an entsprechenden Erträgen interessiert waren, geprägt. Das hat sich im Vergleich zu heute ­wesentlich
verbessert. Was in ganz Europa im Vergleich zu den USA aber nicht
passiert ist, ist ein Abbau der Überkapazitäten im Bankensektor.
Während in den USA seit 2008 allein 1800 Banken geschlossen worden
sind und das Geschäft auf die verbleibenden Banken übergegangen ist,
gab es so etwas in Europa nicht einmal annähernd. Und das halte ich
für ungesund.
Die Erste war zu dieser Zeit eine kleine Sparkasse. Sie waren maß­
geblich daran beteiligt, dass die Erste heute eine der größten
Bankengruppen in Zentraleuropa ist. Rückblickend eine kluge
Entscheidung? Ja, es war eine kluge Entscheidung, weil wir uns neue,
wichtige Wachstumsmärkte erschlossen und dadurch Arbeitsplätze in
Österreich gesichert und aufgebaut haben. Ohne die damals begonnene
Expansion nach Tschechien, in die Slowakei und bis nach Rumänien
gäbe es keine eigenständigen österreichischen Banken mehr – und
auch viele andere heimische Firmen, die sich in der Region etabliert
206
Andreas Treichl (Foto: Godany)
haben nicht. Und wir werden als Land auch weiterhin von dieser
Region profitieren, weil sie die einzige Wachstumsregion in Europa
ist. Was uns als Region in Zentraleuropa allerdings noch fehlt, ist
die Überzeugung, dass wir gemeinsam mehr erreichen könnten. Ich
habe da die skandinavischen Staaten vor Augen, die uns zeigen, wie
man sich als Region interna­t ional sehr gut positioniert und damit für
Investoren interessant wird.
Der Wirtschaftsmotor will seit über vier Jahren nicht mehr richtig anspringen. Was sind Ihrer Meinung nach jetzt die ­größten
Herausforderungen für Banken? Im Moment sicherlich die Unsicher­
heit über die künftigen Regelwerke. Derzeit haben wir drei unterschiedlich hohe Anforderungen an das Eigenkapital, die allesamt
anders berechnet werden und von verschiedenen Regulatoren überwacht werden. Das ist ineffizient und lähmend. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit kann so etwas die Situation noch verschärfen. Ein
Beispiel: Der Straßenverkehr wird dann am sichersten, wenn sich niemand mehr bewegt. Aber dann kommt keiner mehr vorwärts. Und das
darf im Bankgeschäft nicht passieren, denn unser Geschäft ist es, der
Wirtschaft das Risiko abzusichern. Das können wir sofort ausschalten, wenn wir den Banken 100 Prozent Eigenkapital vorschreiben. Nur,
dann be­wegt sich auch in der Wirtschaft nichts mehr.
207
Wird es jemals wieder so werden wie »früher«? (Anm.: Wachstum wie bis Mitte/Ende
der 2000er-Jahre) Ja, jede Krise hat irgendwann ein Ende. Es ist zugegebenermaßen eine
schwere Krise, die wir erleben, aber auch nicht
die erste. Was wir brauchen, sind Vertrauen
und Sicherheit. Beides ist im Moment noch
ziemlich unterentwickelt. Wir sollten aber alles daran setzen, den
Menschen Zuversicht in die wirtschaftliche Entwicklung zu geben. Ganz
besonders wichtig ist dies für die Länder im Süden Europas. Denn aus
einer Jugendarbeitslosigkeit von knapp 50 Prozent können politische
Strömungen entstehen, die wir alle in Europa nicht mehr haben wollen.
»Jede Krise hat
irgendwann ein Ende
… Nur der Blick nach
vorne bringt einen
voran.«
Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wie früher wird es nicht mehr.
Das ist aber auch gut so. Wachstum um des Wachstums willen ist nicht
nachhaltig.
Was macht ein Banker wie Sie eigentlich an einem »normalen«
Arbeitstag? Mir den Kopf darüber zerbrechen, wie wir die Kunden in
unserer Region noch besser erreichen können. Und das nicht nur mit
unserem Service, sondern wir müssen das Bankgeschäft insgesamt verständlicher machen. Dazu trägt auch hoffentlich das €CO-Jahrbuch bei:
Wirtschaftsthemen und Zusammenhänge kurz und kompakt zu erklären.
Das Image von Bankern hat in den letzten Jahren schwer gelit­
ten. Welches Ego bzw. welches Selbstverständnis braucht ein
Banker heute, um zu überleben? Das stimmt und ist gleichzeitig aber auch falsch. Ja, wir werden für die Krise verantwortlich
gemacht, aber gleichzeitig wird auch der eigene Berater oder die
­e igene Bank als vertrauenswürdig eingeschätzt. Da hilft uns sicherlich, dass wir als heimische Banken immer nur das klassische EinlagenKredit-Geschäft gemacht haben. Wir finanzieren unseren Wohnbau,
wir ölen den Wirtschaftsmotor und sind regionaler Partner unserer
Klein- und Mittelbetriebe. Anonymisiert werden wir als Branche aber
für Missstände verantwortlich gemacht, die wir nicht verursacht haben. Damit meine ich die Problematik der öffentlichen Verschuldung.
Außerdem liegt viel an noch immer gültigen Regelungen: Z. B. wenn ich
als Bank einer Firma, die ich seit hundert Jahren kenne und die immer
208
profitabel war, einen Kredit geben will, muss ich aktuell zehn Mal so
viel Eigenkapital vorhalten, als wenn ich eine Anleihe von Griechenland
kaufe, von der ich jetzt schon weiß, dass sie, wenn überhaupt, nur über
den Steuerzahler zurückgezahlt werden kann. Das ist doch verrückt.
Was bedeutet Risiko heute? Grundsätzlich
»Was sich aber
nichts anderes als früher. Risiko berechnet
geändert hat, ist die
grob gesagt die Eintrittswahrscheinlichkeit
eines Negativereignisses. Was sich aber ge- Wahrnehmung von
ändert hat, ist die Wahrnehmung von Risiko.
Risiko.«
Heute werden Risiken doch etwas differenzierter gesehen. Wer hat sich z. B. vor 2008 vorstellen können, dass
eine US-Bank wie Lehman einfach pleitegehen kann und die ganze
Finanzwirtschaft mit in den Abgrund reißt? Ein erhebliches Risiko das
offenbar anders bewertet wurde. Das Bewusstsein hat sich jedenfalls
geschärft. Als Banker muss ich auch sagen, Risiko ist teurer geworden.
Durch das Misstrauen auf dem Kapitalmarkt und die regulatorischen
Bestimmungen müssen Banken für die Übernahme von Kreditrisiken
mehr Geld aufwenden. Insgesamt sind aber alle Akteure der Wirtschaft
risikoaverser geworden, nicht nur die Banken.
Wenn Sie heute ein Kind fragt, wozu man überhaupt Banken
braucht, wie erklären Sie das? Das Kerngeschäft einer Sparkasse, so
wie wir es sind, ist im Prinzip ein Simples: Auf der einen Seite zahlt
die Bank denen, die Geld sparen, Zinsen. Wenngleich das bei der
­momentanen Vorgabe auf dem Geldmarkt nicht viel ist. Auf der anderen
Seite bezahlt jemand, der Geld braucht, der Bank Zinsen für das Geld,
das er sich ausborgt. Auch diese Zinsen sind aktuell so niedrig wie nie.
Bei dem Ganzen übernimmt die Bank ein Risiko. Nämlich jenes, dass
sie Geld verborgt und darauf vertraut, dass derjenige es zurückbezahlt.
Mit der Differenz aus Spar- und Kreditzinsen verdienen wir unser Geld.
Und man darf dabei nicht vergessen, Wachstum und somit Wohlstand
sind nur möglich, wenn ich jemanden habe, der das damit verbundene
finanzielle Risiko übernimmt. Und das sind eben nun mal die Banken.
Zukunftsprognosen haben mittlerweile eine kurze Halbwertszeit.
Trotzdem – wo sehen Sie Banken und deren Aufgaben in 25 Jahren?
Hätten Sie mich das vor 25 Jahren gefragt, hätte ich wahrscheinlich
209
nicht gedacht, dass heute jeder mit einem Smartphone herumläuft
und seine Überweisungen auf dem Heimweg in der Straßenbahn machen kann. Es sind einerseits technologische Entwicklungen, die unser
Geschäft noch stark verändern werden. Aber auch gesellschaftliche. Es
heißt ja nicht, nur weil eine Technologie mal gut funktioniert, dass
sie deswegen auch jeder gleich verwenden wird. Da gibt es auch viele
kulturelle Unterschiede, allein wenn ich mir die USA anschaue und
einzelne Länder in Europa. Ich glaube aber, in Summe wird es eine
Kombination aus beidem sein – Bankgeschäft als Beziehungsgeschäft
mit Menschen, wenn es um Wissen und Beratung geht. Auf der anderen Seite die »einfachen« Dinge, die jeder flexibel und unabhängig von
e­iner Filiale selbst erledigen will.
Gibt es noch Wachstumsmöglichkeiten für Banken, quantitativ und
qualitativ? Natürlich! In der Region Zentral- und Osteuropa ist die
Durchdringung mit Bank- oder Versicherungsprodukten ­immer noch
weit unter dem EU-Durchschnitt. Es gibt aber auch Nischen wie das
Mikrokreditgeschäft oder der gesamte Bereich der Alternativ­energieFinanzierung. Da werden wir auch in Zukunft unseren Fokus weiter
darauf legen.
Muss man als Unternehmen wirklich immer weiter wachsen oder ist
es auch irgendwann mal gut? Wachstum um jeden Preis führt in die
falsche Richtung. Es geht darum, nachhaltige Entwicklungen zu fördern – auch in der Finanzwirtschaft. Die Zweite Sparkasse oder unsere
Mikrofinanztochter Good.bee sind hier nur zwei Beispiele.
Was motiviert Sie persönlich den Job noch
zu machen – immerhin sind Sie schon
über 30 Jahre Banker? Ich mache das aus
Leidenschaft. Und weil ich auch nach über 30
Jahren immer noch etwas bewirken und verändern möchte. Einen so großen Bankkonzern
zu führen war gerade in den letzten Jahren
eine echte Herausforderung. Und es tut sich
so viel Neues – nicht i­mmer nur Erfreuliches, aber dafür auch viel
Notwendiges und das finde ich einfach spannend. Und es beschäftigen
mich ja nicht immer nur die graue Theorie und Zahlen, sondern das
»Einen so großen
Bankkonzern zu
führen war gerade
in den letzten
Jahren eine echte
Herausforderung.«
210
Andreas Treichl (Foto: Godany)
ständige Weiterentwickeln ­u nserer Bank. Wie kann ich unser Service
verbessern? Was bedeutet die Technologisierung in den Hosentaschen
(Anm. Smartphones) für unser Geschäft? Was erwarten die Menschen
von einer modernen Bank und wie können wir das bieten? Das sind doch
spannende Fragen, die mich laufend motivieren.
Welche Perspektive geben Sie einem jungen Menschen, den Sie
heute für eine Karriere in der Ersten anwerben wollen? Es gibt
Entwicklungsmöglichkeiten in alle Richtungen. In einem so großen
Unternehmen gibt’s fast alle Arten von Jobs: Lehrlinge, Kundenbetreuer,
Risikomanager, Juristen, Marketingleute usw. – und es ist keine
Seltenheit, dass ein Lehrling es bis zum Filialdirektor hier geschafft
hat. In einer Bank zu arbeiten ist nach wie vor ein toller Job. Auch
wenn seit der Finanzkrise manche das Gegenteil behaupten.
Andreas Treichl absolvierte nach dem Studium der Volkswirtschaft mehrere
Traineeprogramme in New York, wo er 1977 bei der Chase Manhatten Bank seine
Banklaufbahn begann. Diese führte ihn über einen Zeitraum von 15 Jahren nach
Brüssel, Athen und Wien. Im Jahr 1994 wurde Treichl Mitglied des Vorstandes der
Erste Österreichische Sparkasse und am 1. Juli 1997 dessen Vorstandsvorsitzender.
211
25 Jahre Wiener Börse –
Rückblick, Status und Ausblick
von Franz Gschiegl
25 Jahre Wiener Börse: eine bewegte Geschichte. 25 Jahre sind
in der raschlebigen und hektischen Finanzwelt eine fast endlos
erscheinende Zeitspanne. Trotzdem blicken wir kurz zurück und
stellen dann die Wiener Börse hinter den Röntgenschirm für eine
aktuelle anatomische Analyse.
Auch wenn die Wiener Börse auf der Bühne der globalen Aktienmärkte
nur eine ganz kleine Rolle spielt, so konnte sie sich doch des Öf­
t­e ren gehörig in Szene setzen ... allerdings in beiden Richtungen.
Kursvervielfachungen in relativ kurzen Zeitphasen wurden von extremen Abstürzen abgelöst – und umgekehrt. Mal standen die Austroaktien
im Banne der internationalen Ereignisse, mal koppelten sie sich davon
total ab, mal gab es eine hausgemachte Hausse1 – und auch Baisse2, mal
eine Siebenschläferphase. Immer wieder war der heimische Aktienmarkt
auch für Überraschungen gut – ebenfalls in beiden Richtungen.
Kneippkuren gab es jedenfalls im letzten Vierteljahrhundert ausreichend, damit aber oft auch enorme Kurschancen für mutige und antizyklisch agierende Investoren. Kleine Börsen, und mit einem Anteil von
unter einem halben Prozent gemessen an der Weltbörsenkapitalisierung
zählt Wien eben dazu, zeichnen sich durch hohe Volatilitäten und damit Kursbocksprüngen genauso aus wie durch international betrachtet
geringe Umsätze, die eben diese Fluktuationen nach oben und unten
mitverantworten.
Wir beginnen unsere Zeitrechnung etwas früher, da in der globalen
Börsegeschichte im Spätsommer 1982 eine der kräftigsten Haussephasen
des letzten Jahrhunderts startete, nachdem eine schwere Rezession
ihr Ende fand. Der weltweit am meisten beachtete Börsenindex, der 30
Industrieaktien umfassende Dow Jones Industrial Index, lag im August
1982 noch unter 800 Punkten, zum Jahresende waren es dann schon
1070,55 Punkte und heute liegen die Werte bei etwa 13.000.
1 Phase steigender Kurse von Wertpapieren, Devisen etc.
2 Baisse steht für anhaltend sinkende Kurse an den Börsen.
212
Die Börse Wien (Foto: Paul Weber/fotolia.de)
An der Wiener Börse ging diese globale Trendwende ­allerdings fürs
Erste einmal vorbei, der damals repräsentative Wiener Börse­k ammer­
index fiel noch im Oktober auf 96,44 – den tiefsten Stand seiner Ge­
schichte. 14 Jahre davor, also 1968, lag der Startwert bei 100 (den ATX
gibt es erst ab 1991, er wurde aber bis 1986 rückgerechnet).
Das Jahr 1982 endete dann in Wien mit einem Minus von 6,65
Prozent, während nahezu alle Weltbörsen mit einem kräftigen Plus
abschlossen. Der heimische Aktienmarkt wurde vorerst von der internationalen Trendwende nicht angesteckt, erst gegen Jahresende
zeigten sich leichte Kursanstiege. Schlechte Unternehmensergebnisse,
Dividendenausfälle, weiter abnehmender Streubesitz und allgemeines
Desinteresse der Anleger waren die entscheidenden Bremsklötze. So
lag der gesamte Jahresumsatz der sowohl börslich als auch außerbörslich gehandelten Austroaktien bei knapp über einer Milliarde Schilling,
also etwa 70 Millionen Euro.
Überhaupt, so ändern sich die Zeiten: Das Interesse der Investoren
­fokussierte sich auf den heimischen Anlei­­henmarkt, gab es doch
für beste Bonitäten noch Renditen von 10,6 Prozent, nachdem 1981
­sogar kurzfristig elf Prozent angeboten wurden – damals noch ohne
Besteuerung der Zinsen.
213
Etwas verspätet gab es dann doch im zweiten Halbjahr 1983 auch in
Österreich kräftig steigende Aktienkurse, 1984 war wiederum von einer
Verschnaufpause geprägt. 1985 sorgte dann Wien erstmals (zumindest
nach dem Börsencrash vom 8. Mai 1873) für internationale Schlagzeilen,
wurde doch vom Großinvestor Jim Rogers die Wiener Börse als unterbewerteter Geheimtipp in der US-Wochenzeitschrift »Barron’s« ganz groß
in die Auslage gestellt. Noch heute träumen viele heimische Börsianer
vom berühmten Prinzen, der das Dornröschen wach küsste. Die Aktien
des Magnesitproduzenten Veitscher (übrigens auch mit einem riesigen ­eigenen Wertpapier-Portefeuille) war 1985 mit + 344 Prozent der
Highflyer, über den gesamten Börsezyklus war die Kahane-Holding
»Montana« der Star mit einem Plus von fast 1000 Prozent (!).
Zur damaligen Zeit überwogen in Wien noch
die Einheitsnotierungen, das heißt, bei den
meisten Aktien gab es nur einen Kurs pro
Börsetag. Des Öfteren gab es sogar aufgrund
eines Nachfrage- oder Angebotsüberhanges
gar keine Umsätze, sondern nur eine Notiz mit
dem Zusatz G (für Geld), was eine zu hohe Nachfrage bedeutete, oder rG
(für repartiert Geld), wobei mindestens 25 Prozent des Kaufwunsches
­bedient wurden. In die Gegenrichtung ging es dann mit W (für Ware)
und rW (für repartiert Ware). Die Tageskursveränderung war mit zehn
Prozent begrenzt. Dies führte nicht selten dazu, dass ein »Favorit« umsatzlos einige Tage mit einer »G-Notiz« jeweils um zehn Prozent stieg
und der Trend dann allerdings oft auf eine rW- und W-Notiz umschlug.
Naja, immerhin ein interessantes Austriacum.
»Bei den meisten
Aktien gab es 1985
nur einen Kurs pro
Börsetag.«
Nach dem Weltbörsencrash vom Oktober 1987 (wobei der Einbruch zwar
heftig, aber nur kurzfristig war und die meisten Börsen das Kalenderjahr
sogar noch mit einem Plus abschlossen) setzte sich die 1982 begonnene
Megahausse fort und brachte auch der heimischen Börse im Zeitraum von
Februar 1988 bis Februar 1990 eine Indexvervierfachung im schon zurückgerechneten ATX von 434 Punkten auf etwa 1800 Zähler. Der Fall der
Berliner Mauer und die nachfolgende Öffnung Osteuropas ­waren dabei
die Trendbeschleuniger. Mit der Kuwaitkrise stürzten die Austroaktien
dann um etwa zwei Drittel in den nachfolgenden zwei Jahren ab. Danach
folgte ein lang anhaltender Seitwärtstrend und erst 14 Jahre später,
214
also im Jahre 2004, konnte der ATX seine historischen Höchststände
überbieten.
Dazwischen platzte noch die »TMT«-Blase,
»Mit dem Beginn des
eine internationale Megahausse, die von
Internetzeitalters
Technologie-, Medien- und Telekomaktien
getragen wurde. Mit dem Beginn des Inter­ wurden vor allem
netzeitalters wurden vor allem Technoaktien
Technokatien extrem
extrem nach oben gepusht, wobei die Mehr­
nach oben gepusht.«
heit der Titel kaum über einen fundamentalen Hintergrund oder gar schwarze Bilanzzahlen verfügten. In Wien
waren (Gott sei Dank!) diese drei Branchen kaum vertreten, die wenigen Highflyer wie Cybertron oder Y-Line gingen schlussendlich auch
pleite. Auch für gestandene Börsianer war das Geschehen auf dem
»Neuen Markt« in Deutschland eine neue Erfahrung, gab es doch in
diesem speziellen »TMT«-Segment nach Indexvervielfachungen einen
Indexrückgang um über 90 Prozent (!), was die Auflösung des gesamten
Neuen Marktes zur Folge hatte.
Einige Tapfere der »Überlebenden« fanden sich dann im neu gegründeten »Tec-DAX« wieder. Kleine Anekdote: Am Top dieser Hausse wollte
sogar Dieter Bohlen mit »Modern Talking« an die Börse gehen und hatte
sich schon eine Bewertung eingeholt.
Ziemlich exakt drei Jahre gingen dann die Weltbörsen auf Tauchstation,
genau vom März 2000 bis März 2003. Nachdem Wien dieses Thema so gut
wie nicht spielte, waren auch die Kursverluste »überschaubar«. Wien war
dann neben New York auch die einzige Börse, die schon im Oktober 2002
drehte, die anderen eben erst im darauffolgenden März.
In knapp fünf Jahren zeigte dann der ATX seine bisher beste Per­
formance, stieg er doch um das Fünffache an. Konkret lag der Aus­
gangswert am 11. Oktober 2002 bei 1014,02 und der Intraday-Höchstkurs
am 9. Juli 2007 bei tollen 5010,93 Punkten. Daneben gab es noch
eine austrospezifische Hausse bei den alsbald heillos überbewerteten
Immobilienaktien, die sich vorerst vervielfachten, dann aber mit einem
Minus von etwa 90 Prozent im IATX (dem Immobilien-ATX) dem ehemaligen »Neuen Markt« Konkurrenz machten.
215
Im Zuge der bekannten Finanzkrisen (US-Subprime, dann Lehman-Pleite
und die nachfolgenden »Lawinen«) ging auch die Wiener Börse zu ­einem
Sturzflug über und verlor in 20 Monaten 72,5 Prozent. Am 9. März 2009
drehten dann mit den Weltmärkten auch die Wiener Titel und legten in
der ersten kräftigen technischen Gegenbewegung in sieben Monaten
wieder 100 Prozent zu. 2011 kam es dann im Zuge der Zuspitzung
der Staatsschuldenkrisen zu einem gehörigen Einbruch vor allem der
Finanztitel, wobei Österreich auch im internationalen Vergleich zu den
größten Verlierern zählte. Am 23. November 2011 kam der ATX-Absturz
bei einem Niveau von 1653 Punkten dann zum Stillstand und konnte
sich dann im letzten Jahr (2012) sukzessive wieder auf 2200 Zähler
zurückkämpfen.
Eine Erfolgsstory auf dem heimischen Kapitalmarkt soll nicht verschwiegen werden: Gab es 1982 lediglich zwei österreichische Fonds­
gesellschaften, die in zwölf Fonds gerade einmal eine halbe Milliarde
verwalteten, so sind es zur Zeit 22 Kapitalanlagegesellschaften, die
in 2159 Fonds 134,6 Milliarden betreuen. Sie sind somit auch wichtige
Teilnehmer am heimischen Börsegeschehen.
Auch wenn die heimischen Aktien 2012 deutlich hinter der Perfor­
mance vieler Weltbörsen nachhinkten, zählen sie weiterhin zu den
vernachlässigten Favoriten. Es liegt nach wie vor eine attraktive
Bewertung gemessen an den klassischen Börsekennzahlen (wie KursGewinn-Verhältnis, Kurs-/Buchwert, Dividendenrendite, Cashflow
etc.) vor, Österreich weist im EU-Raum eine überdurchschnittlich
gute Konjunktursituation auf, die Zinsen werden niedrig bleiben, was
Aktien interessanter macht, die meisten Investoren haben die Hausse
verpasst und weisen zu geringe oder gar keine Aktienpositionen auf,
sukzessive nimmt die Risikobereitschaft der Anleger wieder zu.
Als Bremsen sind die stark reduzierte Osteuropa-Fantasie, die Angst
vor weiteren Krisen, neue steuerliche Belastungen, die ungelöste
Staatsschulden-Problematik und das internationale Desinteresse an
Österreich zu nennen.
Das Börsejahr 2012 war von einer selten zu beobachtenden, aber erfreulichen Besonderheit geprägt: Nahezu alle Wertpapierkategorien und
216
Handelsüberwachungsraum (Foto: Wiener Börse)
Weltbörsen wiesen ein Plus auf, wenn man von ein paar Exoten absieht.
Es gibt in der Börsegeschichte nur wenige Zeitfenster, in denen unisono
Aktien und Anleihen über sehr weite Strecken Kursanstiege aufwiesen, wobei im Segment der Anleihen sich auch die Plusstände über alle
Bereiche erstreckten, egal, ob man mündelsichere Papiere oder hochverzinste Risikoanleihen hielt, egal, ob sie im Euro-Land-Bereich oder
in den Schwellenländern angesiedelt waren.
Die meisten Dividendenwerte zeigten nach einem enttäuschenden
Aktienjahr 2011 im Jahr 2012 in zwei Aufwärtsphasen teils ­k räftige
Kursgewinne, der erste Schwung zog sich vom Jahresbeginn bis in
den April hinein, nach einer Verschnaufpause mit entsprechender
Gegenbewegung ging es dann nochmals vom Juni bis Anfang Oktober
nach oben. Im vierten Quartal gab es dann wieder eine Verschnaufpause.
Die zahlreichen Krisen führten 2011/2012 bei vielen Anlegern zu neuer­
lichen Resignationen, zu Wertpapierdepot-Auflösungen und damit entweder zu Dotierungen der Sparbücher, zu Käufen von Staatsanleihen
höchster Bonität hin bis zur Nullverzinsung, zur Flucht in Immobilien
und, dieses Mal etwas abgeschwächter, zum Kauf von Edelmetallen. Die
Einlagensicherung mit bis zu 100.000 Euro pro Person und Institut war
und ist ein beliebtes Argument, um Geld zu »bunkern« oder zumindest
217
vorübergehend Munition trocken zu halten. Dies führte beispielsweise
in Österreich und in Deutschland zu täglich fälligen rekordhohen
Sparbucheinlagen.
Die nahe dem Gefrierpunkt liegende Verzinsung spielte dabei keine
Rolle, auch die Inflation mit zuletzt 2,8 Prozent 3 war nicht beängstigend im Sinne eines längerfristigen Kaufkraftverlustes. Ja, die meisten Investoren würden sogar eine höhere Inflation bei unveränderten
Zinsniveaus akzeptieren, da sie dies quasi als »Versicherungsprämie« für
ihr heiliges Sparbuch werten. »Cash is king« oder auf gut Wienerisch:
»Cash is fesch« war die klare Devise – zum Teil auch von alten Börsehasen.
Das »Bunkern« ist eine durchaus verständliche Reaktion, liegt es doch in der Natur jeden
Anlegers, dass er in erster Linie einmal kein
Geld verlieren will – und wenn aktuell keine
interessanten Ertragschancen in Sicht sind,
so muss man wohl geduldig zuwarten, bis die
Gewitterwolken abziehen. Dabei ist psychologisch leicht nachvollziehbar,
dass die jüngsten (leider überwiegend negativen) Ereignisse stärker das
Handeln beeinflussen als die langfristige Statistik und Erfahrung. Gleich
hat man das Thema des »Paradigmenwechsels« bei der Hand – eine probate Entschuldigung für orientierungslose Anleger.
»Das »Bunkern«
ist eine durchaus
verständliche
Reaktion.«
Jedenfalls sei die allerwichtigste Erkenntnis aus den letzten Jahr­
zehnten im Börsegeschehen leicht zusammengefasst: Die Aufteilung
des Vermögens auf mehrere »Assetklassen« wie Aktien, Anleihen,
Gold, Devisen, Rohstoffe, Immobilien etc. bringt eben eine vernünftige und langfristig ertragreiche Risikostreuung, eben die viel zitierte
Diversifikation, mit sich. Konkret und besonders exemplarisch: Auch
wenn man in den letzten Jahrzehnten unglücklicherweise gerade knapp
vor dem Eintritt eines unglücklichen Ereignisses investiert hat, ergab
sich schon drei und fünf Jahre später ein zweistelliger Gesamtertrag –
sofern man seine Gelder auf mehrere Anlageklassen aufgeteilt hatte.
Einmal stieg der Ölpreis extrem an, dann waren es wieder die Aktien
oder – wie zuletzt – die »simplen« Staatsanleihen bester Bonität.
Investmentfonds sind dabei per Definition das ideale Vehikel, um an
den Wertpapiermärkten eine entsprechende Streuung zu erzielen, wobei
3 Stand November 2012
218
gerade in Krisenzeiten das »Miteigentum« in Form des Sondervermögens
zusätzlich einen wichtigen Aspekt darstellt.
Wie eingangs erwähnt starteten die Aktienbörsen im ersten Quartal
(für viele Anleger ziemlich unerwartet) kräftig durch und zeigten
nach den ersten drei Monaten schon Erträge, die an langfristige
Jahresperformance-Zahlen erinnerten. Mitte März riss jedoch der Faden
und die Dividendenwerte traten wiederum den Rückmarsch an. Das
»griechische Drama« und die »spanische Grippe«, also die Zuspitzung der
Schuldenkrisen in Griechenland und Spanien, waren neben dem schwächeren Tempo der Weltkonjunktur-Lokomotive China und den vielerorts
auch politischen Veränderungen die Hauptgründe für den Rückzug der
Aktionäre.
Im Zuge des Angstszenarios fielen die Renditen der sichersten Staats­
anleihen auf historische Tiefstniveaus, etwa in Deutschland bei zehnjährigen Papieren auf 1,2 Prozent, für zweijährige Anleihen gab es
phasenweise überhaupt keine Zinsen, womit man bei der jahrelang
zitierten »Nullzinspolitik Japans« angelangt war. Die tiefschürfende
Angst der Anleger hatte allein den Substanzerhalt in den Vordergrund
gespült, das Ertragsdenken, also das ökonomisch sinnvolle Streben nach
entsprechender Vermögensvermehrung, hatte keine Gültigkeit mehr.
Wer kauft mit welcher Strategie nun Papiere mit keiner oder nur einer
geringen Verzinsung?
Die Aktienbörsen als sensibelste Barometer lieben Unsicherheiten schon
einmal gar nicht, umso weniger, wenn sie – wie beim Griechendrama –
nun schon über zwei Jahre anhalten.
Ist lehrbuchmäßig eine Vielzahl von Rahmenbedingungen für einen
Aktienkurs verantwortlich, so kann doch über gewisse Zeitstrecken
ein einziger Belastungsfaktor (seltener: ein einziges positives Argu­
ment) kursbestimmend sein. Dann spielen attraktive fundamentale
Bewertungen, positive Zukunftsperspektiven, ansprechende langfristige Statistiken und extrem niedrige Kurse eben keine Rolle, die »Baisse
nährt die Baisse«, die Angst, es könnte noch schlimmer kommen, beschleunigt noch die Abwärtsspirale. Massiver Abgabedruck trifft auf
bescheidenes Kaufinteresse, wodurch die Kurse neuerlich purzeln.
219
Das Ende der Baisse ist dann durch eine
Verkaufspanik der letzten verbliebenen und
bis zu diesem Zeitpunkt geduldigen Anleger
geprägt, womit allerdings der Nährboden
für die nächste Hausse gegeben ist. Nun haben alle verkauft, die »raus« wollten, egal um welchen Preis. Der
Abgabedruck ist weg und schon eine geringe Nachfrage einiger mutiger
und frühzeitiger Investoren führten dann bei wenig Handelsvolumen
zu rasch steigenden Kursen, da bei den niedrigen Preisen ja nun kaum
noch jemand verkaufen will.
Nahezu alle
bedeutenden Börsen
endeten 2012 im Plus
Bei aller Schwarzmalerei sah es aber tatsächlich für die Aktionäre 2012
dann eigentlich recht gut aus, nahezu alle bedeutenden Börsen e­ ndeten
im Plus.
Wir wollen Ihnen die wichtigsten Rahmenbedingungen für die
Wert­p apiermärkte für die nächsten sechs bis zwölf Monate nun
gegenüberstellen.
Nachdem unverändert die Schwarzmaler in der Mehrheit sind, sollen die
Pessimisten zuerst zu Wort kommen.
Die Baissiers führen folgende Fakten an, die fallende Kurse erwarten
lassen:
• Die Schuldenberge wachsen überdimensional und können nur
­langfristig mit einschneidenden Maßnahmen abgebaut werden.
• Ausgehend von einer Wirtschaftsabschwächung in den USA wird
auch die gesamte Weltwirtschaft leiden.
• Die hoch gelobten »BRIC«-Staaten müssen mit vielen Problemen
­fertig werden, dies wird auch die westliche Welt belasten.
• Dabei fällt insbesondere China als Weltkonjunktur-Lokomotive aus.
• Politische Veränderungen verunsichern die Börsianer.
• Die Krisen in Nordafrika und dem Nahen Osten weiten sich ­
neuerlich aus.
• Die Immobilienblase in China platzt und reißt die gesamte
Wirtschaft mit.
• Flops bei Neuemissionen wie facebook verärgern die Aktionäre.
220
• Generell ist das Übel der Finanzkrise nicht beseitigt, sondern die
Entscheidungen sind nur vertagt.
• Das Image der »Finanzwelt« ist deutlich angeschlagen.
• Die Anleger werden immer risikoscheuer und bunkern sich ein.
• Die sieben mageren Jahre dauern einfach noch an.
Diese Argumente sprechen hingegen für einen kräftigen Aufschwung
und einen heiteren Börsehimmel:
• Die Zinsen werden niedrig bleiben; sobald die Angst weicht und das
Ertragsdenken wieder zunimmt, werden Sparbuchgelder zum Teil in
Wertpapiere umgeschichtet werden.
• Die Bewertung der Aktien ist mehr als fair, zum Teil sogar niedrig
im historischen Vergleich.
• Wer verkaufen wollte, der hatte bereits ausreichend Zeit und
Gelegenheit dazu, die Aktien sind daher immer mehr in »starken
Händen«.
• Gestählt aus der Krise: Negative Nachrichten haben sich in den letzten Monaten überschlagen, trotzdem hat sich die Börse gut gehalten.
• »Geld regiert die Welt«: Noch nie gab es so viel Cash, was früher
oder später ertragreiche Anlagemöglichkeiten suchen wird. Der
Anlage- und Performancedruck mancher Kapitalsammelstellen
wie Pensionskassen, Versicherungen und SWFs (Sovereign Wealth
Funds) steigt enorm, der ertragsarme Geld- und Rentenmarkt
muss sukzessive verlassen werden. So hat beispielsweise China
Währungsreserven von 3200 Milliarden Dollar, die alle 1,5 Minuten
um eine Million zunehmen.
• Alternative Veranlagungen zu Aktien sind mit geringen Zinsen
versehen oder extrem spekulativ, auch Hedgefonds haben 2012 in
Summe enttäuscht.
• Die Wirtschaft tritt zwar leiser, bleibt aber auf Wachstumskurs.
• Die USA könnten wiederum zu ihrer alten Rolle als WeltkonjunkturLokomotive zurückkehren.
• Der private Konsum wird insbesondere in den Schwellenländern
kräftig wachsen, auch wenn aktuell da und dort eine kleine Pause
eingelegt wird.
• Viele Medien bringen bereits »Notfallpläne für Ihr Geld« – immer ein
gutes Anzeichen für eine baldige Trendwende.
221
Der Börsehimmel wird auch 2013 gelegentlich durch Gewitterwolken eingetrübt sein. Zu viele Belastungsfaktoren bremsen den Elan der Börsen.
Die Geduld der Anleger wurde schon in den letzten Jahren sehr strapaziert und könnte durch neue negative Nachrichten platzen.
Nac hdem m a n be i m Au f z iehen von
Gewitterwolken eher das sichere Gelände
nicht verlassen sollte, empfehlen wir auch den
Anlegern etwas Munition trocken zu halten.
Größere Rückschläge sind allerdings an den
Aktienmärkten eher nicht zu befürchten, weshalb mutigere Investoren
schwache Börsetage zu Käufen in Etappen gemäß der Eichhörnchentaktik
nützen sollten. Wie erwähnt sind die Dividendenwerte auf tieferen
Niveaus durch ihre Bewertung gut abgesichert und 2013 sollte wiederum
entsprechende Kursgewinne ermöglichen.
Größere Rückschläge
sind 2013
nicht zu befürchten
Emerging Markets haben schon einen Teil der Talfahrt hinter sich und
sollten wieder die Outperformer in einem freundlicheren Umfeld sein.
Dabei sind Hongkong (als Chinaplay) und die Türkei (im November
2012 auf Rekordhoch!) die Favoriten, besonders spekulativ eingestellte
Investoren sollten auch die Reboundchancen von Moskau einbeziehen.
Franz Gschiegl ist Volkswirt und J­ urist und seit etwa 30 Jahren
Börse- und Finanz­m arktexperte. Seit 1991 ist er Mitglied des
Vorstands der ERSTE-SPAR­I NVEST sowie der ERSTE IMMOBILIEN
KAG. Er hat zahlreiche einschlägige Bücher zu Themen wie
Veranlagung, Bank und Börse geschrieben und ist Referent bei
diversen Fachveranstaltungen. Außerdem ist Gschiegl ständiger
Autor des Monatsmagazins GEWINN.
222
Der Euro – scheitert Europa
an seiner eigenen Währung?
von Rainer Münz und Bernadett Povazsai-Römhild
Der Euro ist die gemeinsame Währung der Europäischen Union.
Er hat eine längere Vorgeschichte. Erst seit einem Jahrzehnt im
Umlauf, muss er sich Herausforderungen stellen.
Erste Ideen zu einer gemeinsamen europäischen Währung entstanden bereits 1957 mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
(EWG), dem Vorläufer der EU. Die EWG hatte den Aufbau eines gemeinsamen Marktes, also die Erleichterung von Handel, Arbeitsmigration
und Geldverkehr, zwischen ihren Mitgliedsstaaten – das waren Belgien,
Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande – zum
Ziel. Die Staaten des Westens hatten damals noch feste Wechselkurse
untereinander sowie zum US-Dollar; als Leitwährung hatte der US-Dollar
zugleich eine fixe Bindung an den Goldpreis.
Mit dem Ende des Systems fester Wechselkurse stellte sich ab Anfang
der 1970er-Jahre die Frage, wie sich die Wechselkursschwankungen
zwischen den europäischen Währungen des gemeinsamen Marktes
reduzieren ließen. Eine Expertengruppe unter Vorsitz des damaligen luxemburgischen Ministerpräsidenten Pierre Werner schlug
eine europäische Währungsunion vor. Danach einigten sich die
EWG-Staaten auf ein Europäisches Währungssystem (EWS), in dem
Währungsschwankungen innerhalb einer Bandbreite von ± 2,25 Pro­
zent zugelassen waren. Bei größeren Schwankungen mussten die
Zentralbanken intervenieren, bis der fixierte Kurs wieder erreicht war.
Drittwährungen, insbesondere dem US-Dollar gegenüber, konnten sich
die Währungen des EWS frei bewegen.
Das EWS trat 1979 in Kraft. Großbritannien wurde nach längerem Zögern
erst 1991 Mitglied – und dies aus Prestigegründen mit einem zu hohen
Kurs des Pfund gegenüber den anderen europäischen Währungen. Der
Bank of England wurden die deshalb nötigen Interventionen auf dem
Devisenmarkt bald zu teuer, worauf hin Großbritannien das System der
festen Wechselkurse schon ein Jahr später wieder verließ. Das Britische
223
Verwendung des Euro in Europa
Eurozone
Länder mit festem Wechselkurs gegenüber dem Euro
EU-Mitglieder ohne festen Wechselkurs zum Euro
Nicht-EU-Mitglieder mit Euro
Quelle: Wikipedia
Pfund wertete ab und George Soros, der im großen Stil auf eine solche
Abwertung gewettet hatte, verdiente daran ein Vermögen.
Die übrigen EU-Staaten beschlossen 1992 im Rahmen des MaastrichtVertrages, der die EWG zur Europäischen Union (EU) machte, u. a. die
Einführung einer gemeinsamen Währung. Um die Währung stabil zu
halten, legte der Maastricht-Vertrag Obergrenzen bei den Staatsschulden
von Euro-Ländern fest: Gemessen an der wirtschaftlichen Leistungs­
fähigkeit eines Landes sollten die Schulden in Summe nicht mehr als
60 Prozent des Brutto-Inlandsproduktes ausmachen. Zudem sollte die
jährliche Neuverschuldung durch ein Defizit im Staatshaushalt nicht
mehr als drei Prozent des Brutto-Inlandsproduktes betragen. Das
sind die beiden so genannten Maastricht-Kriterien. Ursprünglich sollten die Maastricht-Kriterien mittels Sanktionen durchgesetzt werden. Die gegen Defizitsünder vertraglich vorgesehenen Strafen durch
die EU-Kommission wurden allerdings in der Praxis nie verhängt.
Im Maastricht-Vertrag wurde auch vereinbart, dass die E­ uro-Staaten
selbst in einer Währungsunion nicht wechselseitig für ihre Schulden
haften, sondern jeweils für ihre nationalen Haushalte s­ elber verantwor tl ich bleiben. Dies ist die v iel zit ier te »No Ba ilout«Klausel des Maastricht-Vertrages. Durch die seit 2010 ergriffenen
224
Verwendung des Euro außerhalb Europas
Afrikanische Gebiete mit Euro
Afrikanische Gebiete mit an den
Euro gebundenen Währungen
Quelle: Wikipedia
Rettungsmaßnahmen in der Euro-Krise wurde diese »No Bailout«Klausel faktisch außer Kraft gesetzt.
1998 erfolgte die Gründung der Europäischen Zentralbank (EZB).
Zugleich wurden die endgültigen Wechselkurse der nationalen
Währungen zum zukünftigen Euro festgelegt. Der Euro wurde 1999 als
Buchgeld und 2002 als Bargeld eingeführt. Er löste damit die nationalen
Währungen als Zahlungsmittel in fast allen damaligen EU-Staaten ab.
Die meisten Europäerinnen und Europäer zahlen seither mit Euro und
Cent. Nur Schweden und Dänemark behielten ihre jeweiligen Kronen
und Großbritannien das Pfund. 2007 stieß Slowenien zur Euro-Zone,
2008 folgten Zypern und Malta, 2009 die Slowakei und 2011 Estland.
Heute sind 17 EU-Mitgliedsstaaten in der Euro-Zone. Darüber hinaus
verwenden die Zwergstaaten Monaco, San Marino und Vatikanstadt den
Euro als Landeswährung und prägen eigene Euro-Münzen. Mit Andorra,
Kosovo und Montenegro haben drei weitere Nicht-EU-Staaten den Euro
als Landeswährung, allerdings ohne eigene Euro-Münzen.
Einige andere Länder haben einen festen Wechselkurs zwischen
­ihren Landeswährungen und dem Euro. Innerhalb der EU gilt dies für
Bulgarien, Dänemark, Lettland und Litauen. Aber auch der Nicht-EUStaat Schweiz hat einen festen Kurs für den Umtausch von Franken
225
Zinssatzentwicklung ausgewählter Euro-Länder
für 10-jährige Staatsanleihen, 1995–2012 (in % p.a.)
Griechenland
Deutschland
Portugal
Irland
30.0
Österreich
Spanien
22.5
15.0
7.5
’95 ’96 ’97 ’98 ’99 ’00 ’01 ’02 ’03 ’04 ’05 ’06 ’07 ’08 ’09 ’10 ’11 ’12
0.0
Quelle: Thomson Reuters, Erste Group Research
und Euro fixiert. Ähnliches gilt für Bosnien und für die Staaten der
westafrikanischen Gemeinschaftswährung CFA. Außerhalb Europas
wird der Euro in den zu Frankreich gehörenden Übersee-Departements
Guadeloupe, Martinique, Französisch Guyana, Mayotte und Réunion
sowie in den Übersee-Territorien Miquelon und St. Pierre und
St. Martin verwendet.
Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre nahm ihren Anfang außerhalb Europas. Sie wurde einerseits durch das Platzen
der US-amerikanischen Immobilienblase, vor allem durch die Vergabe
von Krediten an wenig zahlungskräftige Hauskäufer (»Subprime«) und
­a ndererseits durch die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers ausgelöst. 2009 erreichte die Krise Europa: Auch bei uns mussten Banken
und Autoproduzenten mit Staatsgeld gerettet werden. Die Wirtschaft
fast aller EU-Staaten erlebte einen Abschwung, die Steuereinnahmen
verringerten sich, die Staatsausgaben nahmen zu.
Vor allem gegenüber wirtschaf tlich schwächeren Ländern wie
Griechenland, Italien, Irland, Portugal, Spanien und Zypern bestehen
seither erhebliche Zweifel, ob sie ihre Schulden je wieder voll zurückzahlen können. Das zeigt sich in den seit dem Ausbruch der Krise deutlich
gestiegenen Risikoaufschlägen auf Staatsanleihen dieser Länder.
226
Entwicklung des Wechselkurses US-Dollar vs. Euro, 2002–2012
(US-Dollar für 1€)
1.6
1.4
1.2
1.0
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
0.8
Quelle: OeNB
Zuvor wurden alle 17 Länder der Euro-Zone vom internationalen
Kapitalmarkt weitgehend gleich behandelt – trotz unterschiedlicher
Wirtschafts- und Fiskalpolitik, trotz unterschiedlichen Wachstums,
trotz unterschiedlichen Niveaus der Staatsschulden. Schon im Vorfeld
der Euro-Einführung begannen sich die Zinsen für Staatspapiere der
Euro-Länder stark anzunähern und erreichten Ende 2000 ein gemeinsames niedriges Niveau. Länder mit schwächerer Wirtschaft und weniger
soliden Staatsfinanzen profitierten davon, weil sie sich relativ günstig
finanzieren konnten. Dies förderte weder die nationale Budgetdisziplin
noch die Einhaltung der Maastricht-Kriterien. Nicht vergessen sollten
wir dabei: Schon bei der Einführung des Euro im Jahr 2002 lagen mehrere Länder über den festgelegten Schulden-Obergrenzen. In den Jahren
danach verstießen die meisten Euro-Länder, darunter auch Deutschland
und Österreich, mehrmals gegen eines der beiden Maastricht-Kriterien
oder gegen beide gleichzeitig.
Dabei war die neue Währung anfangs ein großer Erfolg: Wechselspesen
fielen weg, Firmen mussten innerhalb Europas kein Wechselkursrisiko
mehr befürchten, der Handel zwischen EU-Ländern nahm zu. Die
Währung gewann gegenüber dem US-Dollar deutlich an Wert: Bei seiner
Einführung bekam man für einen Euro nur 90 US-Cent, 2008 war ein
Euro hingegen e­ inen US-Dollar und 60 Cent wert. Diese Wertsteigerung
227
Interventionskapazität von EFSF und ESM (in Mrd. Euro)
Kredite von EU-Staaten
On-top Garantierahmen durch
die Euro-Länder (für den Fall
eines Zahlungsausfalls)
Tatsächlicher Kreditrahmen
garantiert durch die
Euro-Länder
Direkt einbezahltes
Grundkapital, das ebenfalls
an Euro-Länder verliehen
werden kann
900
60
675
340
200
450
420
225
440
80
EFSF
ESM
0
Quelle: EU
entstand nicht zuletzt, weil Russland, China und die Golfstaaten
­einen Teil ihrer Devisenreserven in Euro anzulegen begannen. Heute
ist der Euro nach dem US-Dollar die wichtigste Reservewährung
der Welt.
Erst die Wirtschafts- und Finanzkrise machte die Schwächen der
Währungsunion deutlich: Nun müssen 17 Euro-Länder unterschiedlicher wirtschafts- und fiskalpolitischer Charakteristika mit ­e inem
gemeinsamen Leitzinssatz und einer gemeinsamen Geldpolitik
auskommen.
All dies hat mit der unvollständigen Architektur Europas zu tun. Zwar verfügen die Staaten der Euro-Zone über eine gemeinsame Zentralbank (EZB)
und ihre Finanzminister halten regelmäßig gemeinsame Treffen ab (EuroGroup), doch es gibt keine gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik.
Durch die gemeinsame Währung sind zwei Wege versperrt, die viele
Länder in der Vergangenheit beschritten haben, um ihre Finanzprobleme
in den Griff zu bekommen: erstens das Drucken von Geld, um den
Staatshaushalt zu finanzieren, was eine höhere Inflation bewirkte,
die einen Teil der Staatsschulden weginflationierte; und zweitens die
Abwertung der eigenen Währung, um die Exporte billiger zu machen und
dadurch die internationale Wettbewerbsfähigkeit wieder zu steigern.
228
Die Krise zwingt die Euro-Länder Reformen anzugehen, die zwar
schon längst auf der Agenda standen, aber in wirtschaftlich besseren
Zeiten auf die lange Bank geschoben wurden. Zur Euro-Rettung wurde
seit Beginn der Euro-Krise einiges unternommen. Die Maßnahmen
umfassen Rettungsschirme, Intervention der EZB und eine größere
Budgetdisziplin. Die Herausforderung wird sein, diese Maßnahmen effizient einzusetzen und dabei die gesunde Balance zwischen Sparen und
Wachstum zu finden.
Wichtigstes kurzfristiges Instrument der Krisenbekämpfung sind die
so genannten Rettungsschirme: Der vorläufige Schirm EFSF (=European
Financial Stability Facility), der seit August 2010 besteht, und der permanente Schirm ESM (=European Stability Mechanism), der seit Oktober
2012 handlungsfähig ist.
Mit den Hilfspaketen der Rettungsschirme sollen zahlungsun­
fähige Mitgliedsstaaten der Eurozone – unter wirtschaftspolitischen
Auflagen – mit Krediten unterstützt werden. Zugleich darf der ESM
in Schieflage geratene Banken direkt mit frischem Kapital ausstatten.
Voraussetzung für eine solche direkte Rekapitalisierung von Banken ist
allerdings entweder eine gemeinsame Euro-zonenweite Bankenaufsicht,
die noch ins Leben gerufen werden muss, oder eine nationale Haftung
für diese Mittel durch jenes Land, in dem die rekapitalisierten Banken
ihren Sitz haben (Banken-Hilfsprogramm für Spanien).
Seit 2010 bekamen Griechenland 276 Mrd. Euro, Irland 86 Mrd. Euro
und Portugal 78 Mrd. Euro an Hilfen vom EFSF sowie Kredite des
Internationalen Währungsfonds (IWF). Darüber hinaus wurde für
Griechenland im März 2012 ein Schuldenschnitt privater Investoren
in Höhe von ca. 100 Mrd. Euro vereinbart – ein weiterer Verzicht auf
Forderungen ist nicht ausgeschlossen. Spanien beantragte 2012 einen
Rahmen von bis zu 100 Mrd. Euro an frischem Kapital für seine Banken
(tatsächliche Auszahlung 2012/13: ca. 40 Mrd. Euro). Zypern bat um bis
zu 10 Mrd. Euro.
Bei beiden Rettungsschirmen handelt es sich um Währungsfonds, die
von allen Ländern der Euro-Zone gemeinsam finanziert werden bzw.
mit einer Ausfallsgarantie ebendieser versehen sind. Finanzhilfe
229
durch EFSF und ESM bedeutet, dass die betroffenen Länder keine
­e igenen Staatsanleihen auflegen und sich dadurch nicht mehr über
den Kapitalmarkt finanzieren müssen, was erheblich teurer wäre.
Stattdessen leihen sich die Rettungsschirme zu günstigen Konditionen
Geld auf den Kapitalmärkten und reichen dieses Geld in Form moderat verzinster Kredite an jene Länder weiter, die damit ihre laufenden Haushaltsdefizite, alte Staatsschulden oder ihre in Not geratenen
Banken finanzieren. Diese Hilfen sind an klare Auflagen geknüpft: Die
betroffenen Länder müssen mehr Steuern einheben, Staatsausgaben
begrenzen, ihrer Arbeitsmärkte flexibler gestalten, Staatsbetriebe
privatisieren und nach Möglichkeit international wettbewerbsfähiger werden. Überwacht wird dies durch eine Troika aus Vertretern der
EU-Kommission, des IWF und der EZB. Hoch verschuldeten Ländern
verschafft diese Vorgehensweise zwar fiskalischen Spielraum, erspart
ihnen aber nicht, strukturelle Reformen anzupacken.
Neben den Rettungsschirmen spielt die EZB
eine tragende Rolle bei der Krisenbekämpfung.
Sie hat seit Beginn der Krise den Leitzinssatz
reduziert, akzeptiert nun auch geringwertigere Staatsanleihen aus Krisenstaaten als Sicherheit und kauft von
Zeit zu Zeit selbst Anleihen jener Länder, die sich nur noch zu hohen
Zinssätzen verschulden können. Im Herbst 2012 gab die EZB bekannt,
dass sie nun auch Anleihen mit kurzer Laufzeit von Problemstaaten
in nicht limitierter Höhe zu kaufen gedenkt (so genannte »Outright
Monetary Transactions«), sofern sich die betroffenen Länder zu bestimmten wirtschaftlichen und fiskalischen Reformen verpflichten.
»Anleihen in nicht
limitierter Höhe«
Darüber hinaus stellt die EZB den Banken kurz- und mittelfristig
Liquidität zur Verfügung. Denn viele Banken sind aufgrund des wechselseitigen Misstrauens vom weltweiten Handel der Banken unter­
einander (Geld, Wertpapiere, Devisen) abgeschnitten. 2011 und 2012 gab
die EZB Europas Geschäftsbanken eine zusätzliche Liquidität in Höhe
von rund 1000 Mrd. Euro zu günstigen Konditionen für einen Zeitraum
von drei Jahren. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass die Banken
dadurch ihre eigene wirtschaftliche Situation verbessern, vermehrt
Staatsanleihen kaufen und Kredite an die Realwirtschaft vergeben können, um so das Wirtschaftswachstum mit anzukurbeln.
230
Neu ist, dass die EZB in Kooperation mit nationalen Regulatoren ab
2013–14 die Aufsicht über systemrelevante Banken der Euro-Zone ausüben soll.
Auf politischer Ebene reagierten die EU-Staaten auf die Krise mit fiskalischen Reformen. Dazu gehören:
• erstens die Begutachtung der Budgetentwürfe durch die EUKommission, bevor die nationalen Parlamente darüber abstimmen
(Europäisches Semester);
• zweitens die Verankerung von Schulden-Obergrenzen in der
Verfassung als nationales Recht (Schuldenbremse), wozu sich bis
jetzt alle EU-Mitgliedsländer – mit Ausnahme von Großbritannien
und Tschechien – verpflichtet haben;
• und drittens quasi-automatische Sanktionen in Form von empfindlichen Strafzahlungen bei der Verletzung von Budgetzielen.
Im Zentrum der Krisenbekämpfung steht seit 2010 die Verringerung
der laufenden Budgetdefizite. Einsparungen bei den Staatsausgaben
und höhere Steuereinnahmen bedeuten allerdings auch weniger öffentlichen und privaten Konsum. Die verschärfte Haushaltsdisziplin
bremst das Wirtschaftswachstum bzw. sie führt in den Krisenstaaten
zu schrumpfenden Volkswirtschaften. Zugleich zeigt sich, dass die
bisherigen Bemühungen in Summe keineswegs erfolglos sind. So
sind einige Krisenstaaten wettbewerbsfähiger geworden, was sich
an gesunkenen Lohnstückkosten, höheren Exporten und geringeren
Leistungsbilanzdefiziten zeigt.
Die Zukunft der Eurozone hängt daher nicht bloß von Rettungs­
maßnahmen ab, sondern von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit.
Was bringt der Austritt eines Landes aus der Euro-Zone?
Vertraglich sind weder der Austritt eines Landes aus der Euro-Zone
noch ein geordneter Staatsbankrott eines EU-Mitgliedsstaates geregelt.
Dennoch werden solche Szenarien und deren mögliche finanziellen
231
Folgen immer wieder erörtert. Im Zentrum der Diskussion steht dabei
ein mögliches Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone (»Grexit«).
Wie würde das konkret aussehen? Als erstes
würden viele Griechen noch mehr Geld als bisher im Ausland in Sicherheit bringen. Dieser
Kapitalabf luss wäre mit einem massiven
Abzug von Guthaben bei Geschäftsbanken
verbunden. Dies könnte zu gravierenden Liquiditätsengpässen führen
und das 2012–13 frisch rekapitalisierte griechische Finanzsystem erneut in Schieflage bringen. Griechenland müsste relativ rasch eine neue
Währung einführen und den Wechselkurs dieser zum Euro festlegen.
Einmal in Umlauf gebracht, würde die neue Währung zum Euro binnen
kürzester Zeit drastisch abwerten. Das hätte folgende Auswirkungen:
Der »Fall des Falles«:
Kapitalabfluss und
Liquiditätsengpass
• Die in Euro notierten öffentlichen Schulden blieben bestehen und
wären schlicht nicht mehr finanzierbar. Ein weiterer Zahlungsausfall
Griechenlands wäre die Folge.
• Griechenland könnte infolge der Währungsabwertung durch günstigere Exporte an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen. Vor allem der
zentrale Wirtschaftszweig Tourismus könnte davon profitieren.
Gleichzeitig würden sich Importe verteuern, was einerseits die
Nachfrage nach inländischen Produkten steigern, aber andererseits
bei notwendigen Importprodukten wie Öl und Gas zu deutlichen
Preissteigerungen führen.
• Die Realwirtschaft würde noch eine Zeitlang weiter schrumpfen.
Dieses Szenario klingt sowohl aus Sicht Griechenlands als auch aus Sicht
der übrigen Euro-Länder wenig wünschenswert. Für Europa und die
Weltwirtschaft wäre ein Staatsbankrott Griechenlands ökonomisch zwar
durchaus verkraftbar. Aber es ist zu befürchten, dass die Kapitalmärkte
bei einem Euro-Austritt Griechenlands auch die Zahlungsfähigkeit
Irlands und Portugals, vielleicht sogar jene von Spanien und Italien
in Frage stellen könnten. Käme es in der Folge tatsächlich zu hohen
Zinsaufschlägen und zu Zahlungsschwierigkeiten größerer Euro-Länder,
könnte dies nicht nur in diesen Ländern selbst, sondern auch global
232
zu einer Rezession führen. Daher ist aus heutiger Sicht davon auszugehen, dass Griechenland den Euro behält, es aber zu einem zweiten
Schuldenschnitt kommt. Die Steuerzahler der übrigen Euro-Staaten kostet dies auf jeden Fall etwas, weil das verliehene Geld kaum noch ver­
zinst und wahrscheinlich nicht voll zurückgezahlt werden dürfte.
Studien und Berechnungen zu einem möglichen Euro-Exit Griechenlands
kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. In einem Punkt sind
sich die Untersuchungen aber einig: Wahrscheinlich würde ein Austritt
mehr als die beschlossenen Rettungsmaßnahmen kosten. Aus diesem
Grund ist die EU sehr bemüht, die gemeinsame Währung zu behalten und alles Notwendige zu deren Rettung zu unternehmen. Ob diese
Strategie Erfolg hat und wie viel die Steuerzahler der reicheren Länder
am Ende dafür zahlen müssen, wird sich erst in einigen Jahren abschätzen lassen.
Rainer Münz leitet das Research & Knowledge Center der
Erste Group und ist Vorsitzender im Erste School Board.
Von 2008 bis 2010 war er Mitglied der »Reflexionsgruppe
Horizont 2020–2030« der Europäischen Union (so
genannter »EU-Weisenrat«).
Bernadett Povazsai-Römhild war bis 2007
Unternehmensberaterin bei Capgemini mit Fokus
Bankensektor. Sie ist im Research & Knowledge Center
der Erste Group tätig und spezialisiert auf die demo­
graphischen und volkswirtschaftlichen Entwicklungen
in Zentral- und Osteuropa.
233
Osteuropa: Überholspur –
oder doch nur Abstellgleis?
von Zoltan Bakay
»Emerging Markets«, so werden jene aufstrebenden Volkswirtschaften bezeichnet, die wir als Wachstumstreiber der Welt
­betrachten. Im Verlauf der aktuellen Wirtschaftskrise hat sich
diese Rolle mehr denn je bestätigt. Schwellenländer wie China,
Indien und Brasilien konnten Wachstumsraten jenseits der
Fünfprozentmarke zu einer Zeit erreichen, als die entwickelten
Volkswirtschaften in der westlichen Welt den schwersten Einbruch
ihrer jüngeren Wirtschaftsgeschichte hinnehmen mussten.
Emerging Markets gibt es aber nicht nur in fernen und exotischen
­Re­gionen in Fernost oder in Südamerika, sondern auch in unmittelbarer Nähe. Der Standort Mittel- und Osteuropa war über Jahre das Symbol
des wirtschaftlichen Aufbruchs in Europa. Mit dem Beitritt vieler dieser
Staaten zur Europäischen Union wurde die Region stärker denn je mit
Westeuropa verbunden.
Zwischen Ländern wie Österreich, Deutschland, Frankreich und den
Niederlanden auf der einen Seite und Ländern wie Polen, der Tsche­
ch­ischen Republik, der Slowakei und Ungarn auf der anderen Seite
besteht ein enges Geflecht von Wirtschaftsbeziehungen, angefangen von ausgelagerten Produktionsstätten der Großkonzerne bis hin
zur lokalen Kooperation von Kleinstbetrieben wie Konditoreien und
Zahntechnikern.
Die Grundlage der Zusammenarbeit ist in den gegenseitigen Vorteilen zu
sehen. Westlichen Unternehmen ermöglichte die Ausrichtung auf Zentralund Osteuropa eine deutliche Reduktion ihrer Produktionskosten sowie
die Erschließung neuer Märkte. Die Volkswirtschaften Zentral- und Ost­
europas profitierten von neuen Arbeitsplätzen sowie vom Zugang zu
westlichem Kapital und Know-how. In den Jahren nach der Einführung
des Euro sowie im unmittelbaren Vorfeld der Osterweiterung der EU
wurde dieses Bild vollends bestätigt. Die Region durchlebte einen Boom,
234
Ungewichteter Mittelwert des realen BIP-Wachstums (in %)
EU 15 (alte Mitgliedsstaaten)
EU 10 (neue Mitgliedsstaaten)
7.00
5.25
3.50
1.75
0.00
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Quelle: EIU
wie sie ihn bis dato nicht gekannt hatte. Bis zum Jahr 2008 hatten die
Volkswirtschaften zwischen Ostsee und Schwarzem Meer – ausgelöst
durch einen Investitions- und Nachfrageboom – hohe, bisweilen zweistellige Wachstumsraten.
Getragen wurde das Wachstum von einer beträchtlichen Investitions­
bereitschaft und Risikofreude in Westeuropa. Motiviert wurde der
Geldfluss dabei vor allem durch die bevorstehende und 2004 bzw. 2007
erfolgte Osterweiterung der EU.
Für die zentral- und osteuropäische Region eröffnete dies neue Mög­
lichkeiten, die aber gleichzeitig die Herausforderungen der heutigen
Zeit darstellen. Diese ergeben sich einerseits aus der Marktöffnung
der Region und andererseits aus der divergierenden Entwicklung der
­einzelnen Staaten.
Der freie Kapitalverkehr bildete nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
die Grundlage für den lang anhaltenden Strom von Investitionen in die
zentral- und osteuropäische Region. Bereits die Perspektive einer
Annäherung an Westeuropa reichte Anfang der 1990er-Jahre aus, um den
Investitionsstrom Richtung Osteuropa auszulösen. In dieser häufig als
Transformationsphase bezeichneten Periode wurde neben dem Umbau
235
Ausländische Direktinvestitionen (in % des BIP)
2002
2004
2006
2008
2010
2012
15
10
5
Serbien
Kroatien
Rumänien
Slowakei
Ungarn
Polen
Tschechien
Ukraine
0
Quelle: Erste Group Research
der ehemals sozialistischen Volkswirtschaften vor allem eines voran­
getrieben: eine konsequente Marktöffnung.
Die Marktöffnung stellte die Beziehung zwischen Ost und West auf eine
neue Grundlage. Diese war primär durch die Rolle des Westens als
Kapitalgeber und die von Mittel- und Osteuropa als Kapitalnehmer geprägt. Die Entwicklung beschleunigte sich im Zuge der Osterweiterung
der EU. Obwohl manchmal von einer neuen Art der Abhängigkeit der
Region gesprochen wurde, war diese Art der Beziehung für die meisten
Länder Zentral- und Osteuropas (CEE) eher ein Vor- als ein Nachteil.
Als Zulieferer der exportorientieren Technologiekonzerne Westeuropas
profitierten die meisten CEE-Staaten in den Vorkrisenjahren vom
kontinu­ierlichen Zufluss westlicher Investitionen und den guten Absatz­
möglichkeiten innerhalb und außerhalb der EU. Dieser Ent­w ick­lung tat
auch die Krise nach 2008 keinen Abbruch. So konnte die Region von
den außereuropäischen Geschäften der westlichen Mutterunternehmen
in den Wachstumsmärkten Asiens und Lateinamerikas mitprofitieren.
In vielen Ländern Zentral- und Osteuropas war der Export in den vergangenen Jahren die einzige stabile Wachstumskomponente, da die krisenbedingte Verunsicherung den heimischen Konsum und die lokalen
Investitionen zum Teil massiv einbrechen ließ.
236
Potenzielles BIP-Wachstum (in %)
2001–2008
2012–2013F
5.0
2.5
Ungarn
Tschechien
Rumänien
Slowakei
Polen
0.0
Quelle: Europäische Kommission, Ameco
So betrachtet profitiert die zentral- und osteuropäische Region von
­ihrer außergewöhnlich hohen Abhängigkeit von Westeuropa. Allerdings
haben die Wachstumstreiber der Vergangenheit im Zuge der Krise merklich an Bedeutung verloren: Bedingt durch die deutlich vorsichtigere
Kreditvergabe haben sowohl Konsum als auch Investitionstätigkeit deut­
lich nachgelassen. Letzteres hat den unerfreulichen Nebeneffekt, auch
langfristig wachstumshemmend zu wirken, da sich die potenziellen
Wachstumsmöglichkeiten auf Jahre reduzieren.
Abschließend lässt sich zur Herausforderung »Marktöffnung« festhalten, dass die enge Verbindung zur westeuropäischen Exportwirtschaft
in der Vergangenheit zumeist mehr Vor- als Nachteile gebracht hat. Für
die kommenden Jahre sollte aber über die Gefahren der Konzentration
dieser Beziehungen auf bestimmte Länder und Branchen nachgedacht
werden. Ferner hat sich im Zuge der Krise gezeigt, dass die Verfügbarkeit
von ausländischem Kapital immer dann von Vorteil ist, wenn es für längerfristige Investitionen eingesetzt wird. Makroökonomisch bedenklich
sind hingegen reine Portfolio-Investments, da dieses Geld häufig auch
sehr schnell wieder abgezogen wird.
Gemeinhin wird die Region Zentral- und Osteuropa im Sinne einer wirtschaftlich-geographischen Einheit behandelt. Diese Sicht erklärt sich
237
Beschäftigungsraten 2010 (Altersgruppe 20–64)
≤ 60%
60–65%
65–70%
70–75%
> 75%
Quelle: Eurostat
vor allem aus historischer Perspektive, insbesondere ihrer vormaligen
Zugehörigkeit zum »Ostblock«. Das sozialistische Wirtschaftsmodell
und sein Untergang haben zwar nicht gleiche, wohl aber vergleichbare
Ausgangsbedingungen für die Länder der Region geschaffen.
Sämtliche Staaten mussten Anfang der 1990er-Jahre ihre grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Modelle neu gestalten. Eine Konsequenz der
Neuorientierung war, dass weite Teile der Bevölkerung ihren Arbeitsplatz
verloren. Viele dieser Arbeitsplätze wurden in den Folgejahren nicht
mehr ersetzt, so dass bis heute die Beschäftigungsraten in der Region
sehr niedrig sind.
Wie die Übersicht zeigt, unterscheiden sich die Beschäf­t igungsraten
in der Region allerdings sehr deutlich. Diese Unterschiede sind auf unterschiedliche Standortfaktoren (z. B. regionale Nähe zu westlichen
Produktionsstätten, günstige Verkehrsanbindung), Unterschiede bei
den Humanressourcen (z. B. verfügbare Anzahl an Fachkräften) und
politisch-wirtschaftliche Rahmenbedingungen (z. B. stabile, investi­
tionsfreundliche Umgebung) zurückzuführen.
Die genannten Unterschiede haben sich im Laufe der vergangenen
20 Jahre zwischen den Ländern immer weiter verfestigt. Im Ergebnis
238
BIP pro Kopf 2012 (in Euro)
14.405
13.129
9.943
10.032
Polen
Ungarn
10.398
6.369
3.921
2.831
Ukraine
Serbien
Rumänien
Kroatien
Slowakei
Tschechien
Quelle: Erste Group Research
unterscheiden sich die Länder Zentral- und Osteuropas in puncto wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mittlerweile recht deutlich. Dies zeigt
sich be­son­ders, wenn man das pro Kopf erwirtschaftete BIP in der
Region vergleicht.
Die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der einzelnen Länder traten
vor allem in der Zeit des wirtschaftlichen Abschwungs zutage. Wett­
bewerbsfähigere Volkswirtschaften bauten ihren Vorsprung gegenüber
weniger wettbewerbsfähigen immer weiter aus. Manche Staaten schafften es, über Jahre ein ausgeglichenes, stabiles Umfeld zu schaffen,
wodurch sich das Zinsniveau auf niedrigerem Niveau stabilisierte, andernorts gelang dies nicht. In einigen Staaten war es nicht möglich, vormaligen gesellschaftlichen Eliten ihre Machtbasis zu nehmen, in ­anderen
Staaten gewannen Reformer die Oberhand. In Verbindung mit der aktuel­
len Krise hat sich gezeigt, dass besser aufgestellte Staaten wesentlich
leichter durch die Krise kamen als andere, die ihre »Hausaufgaben« in
den wirtschaftlich guten Zeiten nicht erledigt hatten.
Unter den entwickelteren Volkswirtschaften der Region sind diesbezüg­
lich vor allem Polen und die Slowakei sowie mit Abstrichen die Tschechi­
sche Republik zu nennen. Alle drei Staaten zeichneten sich in der
Vorkrisenzeit durch ein ausgeglichenes Wachstum aus. Es wurden keine
239
BIP-Wachstum in den Krisenjahren (in %)
2008
2009
2010
2011
2012
7.5
0
-7.5
Kroatien
Tschechien
Ungarn
Polen
Rumänien
Serbien
Slowakei
Ukraine
-15.0
Quelle: Erste Group Research
unnötigen Risiken eingegangen, weder die Staatsverschuldung noch die
Verschuldung von Haushalten und Unternehmen erreichten kritische
Höhen. Es gab keine Immobilienblasen, Investoren wurden durch stabile
Rahmenbedingungen angelockt.
Länder wie Estland, Lettland, Litauen und in Ansätzen auch Rumänien
durchliefen dagegen klassische Boom-Bust-Zyklen. Damit ist g
­ emeint,
dass sich die Konjunktur in den Vorkrisenjahren deutlich ­überhitzte.
Löhne stiegen rasant in die Höhe. Haushalte und Staaten konsumierten über ihren Verhältnissen, Unternehmen investierten aufgrund überschätzter Wachstumsfantasien. Die plötzlich einsetzende
Gegenbewegung ließ das nachfragebasierte Wachstumsmodell unvermittelt und heftig einbrechen. Aggressive Maßnahmen zur Wieder­
herstellung der Wettbewerbsfähigkeit – insbesondere die so genannte
interne Abwertung, wobei Löhne gekürzt werden – konnten jedoch die
negative Entwicklung stoppen. Allerdings zu einem hohen Preis, nämlich
Lohnkürzungen und Kaufkraftverluste in weiten Teilen der Bevölkerung.
Daneben gab es die Staaten, die mit strukturellen Problemen indivi­
dueller Natur zu kämpfen haben. Ungarn war und ist zu hoch im Ausland
verschuldet und es verschreckt ausländische Investoren durch wenig stabile wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen. Kroatien und Serbien
240
BIP-Prognose der EU für 2013 und 2014 (in %)
2014
2013
4
3,5 3,5
3,0
2,0
1,4
1,3
1,6
1,4
2,0
2,2
1,8
3
2,7
2,6
2,0
2
1,5
1
0,8
0,4
0,3
0,0
Ungarn
Kroatien
0,1
Euro
EU
Tschechien Serbien
Polen
Rumänien Slowakei
Ukraine
0
Quelle: Erste Group Research
kämpfen mit ihrer wenig wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur und
den Spätfolgen der Jugoslawienkriege. Die Ukraine ist zum Spielball der
Interessenkonflikte zwischen Russland und der westlichen Welt geworden.
Abschließend bleibt hinsichtlich der Herausforderung »divergente Ent-­
wicklung« festzuhalten, dass in den kommenden Jahren s­ ämtliche
Länder der Region die richtigen Lehren aus ihrer individuellen Ver­
gangenheit ziehen sollten. Insbesondere hat sich gezeigt, dass das
zukünftige Wachstum vor allem ausgeglichen sein sollte. Hohe
Wachstumsraten per se sind noch kein Garant für deren Nachhaltigkeit.
Die Positionierung der Region Zentral- und Osteuropa im europäischen
Wirtschaftsgefüge ist geprägt von einem Höchstmaß an Offenheit und
einer einseitigen Ausrichtung auf Westeuropa. Insofern überrascht es
wenig, dass der kurzfristige Ausblick für die Region Zentral- und Ost­
europa maßgeblich von der Entwicklung in der Euro-Zone beeinflusst wird.
Vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen im Euroraum wurden
daher auch die Prognosen für die zentral- und osteuropäische Region
zum Teil deutlich reduziert. Zusammenfassend zeichnet sich ab, dass
2013 noch ein schwaches Jahr sein dürfte und das Wachstum erst in den
Jahren 2014–2015 wieder einsetzt.
241
Nachholbedarf bei Investitionen (Foto: flickr/70475110@N00)
Wesentlich für Zentral- und Osteuropa ist, ob es sich weiterhin um eine
Wachstumsregion von »Emerging Markets« handelt. Dies entscheidet
darüber, ob die Region auch zukünftig schneller wachsen kann als der
entwickeltere Teil Europas. Im Prinzip ist dies möglich. Die Region hat
weiterhin enormes Nachholpotenzial auf beinahe allen Gebieten.
Das Wohlstandsgefälle entlang der ehemaligen Ost-West-Grenzen ist
nach wie vor eklatant. Die Infrastruktur erweckt beim westlichen
­Be­sucher häufig noch immer Erinnerungen an die Zeit vor dem Fall des
Eisernen Vorhangs. Voraussetzung einer derartigen Entwicklung ist
aller­d ings, dass kontinuierlich Anstrengungen unternommen werden,
um die Wettbewerbsfähigkeit der Region zu erhöhen. Dazu gehören insbesondere die weitere Verbesserung des institutionellen Rahmens und
der Infrastruktur, die stärkere Entwicklung der Unternehmenskultur
inländischer Marktteilnehmer, der Ausbau der Ressource Wissen, die
Entwicklung einer eigenen Kapitalbasis und generell die Erhöhung der
Produktivität.
Auch stellt sich die Frage, ob das Konvergenzmodell der Region – die
konzentrierte Ausrichtung der Wirtschaft auf Westeuropa verbunden
mit einem Höchstmaß an Offenheit – nachhaltig den gewünschten
Erfolg bringt. Die meisten Volkswirtschaften der Region zeichnen sich
242
Anteile der Importe und Exporte am BIP (in %)
Import 2000
Import 2012
Export 2000
Export 2012
90
45
Kroatien
Polen
Rumänien
Serbien
Ukraine
Tschechien
Ungarn
Slowakei
0
Quelle: Erste Group Research
durch eine duale Struktur aus. Auf der einen Seite stehen kapitalstarke
und exportfähige westliche Tochterunternehmen, auf der anderen Seite
kapi­talschwache, meist auf heimische Dienstleistungen spezialisierte
Kleinunternehmen.
Wettbewerbsnachteile beim Zugang zum Kapitalmarkt verhindern, dass
sich aus diesen Kleinunternehmen so etwas wie ein großer, interna­
tional wettbewerbsfähiger lokaler Mittelstand wie etwa in Deutschland
oder Österreich entwickelt. Die mittelständischen Betriebe Zentral- und
Osteuropas sind derzeit meist nicht in der Lage qualifizierte lokale Ex­
perten zu gewinnen, um qualitativ hochwertigere und dadurch exportfähigere Produkte und Dienstleistungen herzustellen. Der Mehrwert
der hergestellten Produkte und Dienstleistungen ist daher meist relativ
niedrig, was sich negativ auf die Ertragskraft dieser Unternehmen auswirkt. Wie die Entwicklung im westlichen Ausland zeigt, ist aber gerade
der Aufbau eines leistungsfähigen lokalen Mittelstands entscheidend für
die wirtschaftliche Weiterentwicklung.
Wie kann bzw. wie sollte es weitergehen? Als limitierende Rahmen­
bedingung lässt sich zunächst festhalten, dass wenig nachhaltige,
unausgeglichene Wachstumsmodelle wie beispielsweise im Baltikum
wohl in Zukunft ausgedient haben. Ein ausgeglicheneres Wachstum
243
Beiträge zum BIP-Wachstum 2015 (in %)
Exporte
Bruttoinvestitionen
Staatlicher Konsum
Privater Konsum
Lagerbestände
6.0
4.5
3.0
1.5
0.0
Kroatien Tschechien
Ungarn
Rumänien
Serbien
Slowakei
Quelle: Europäische Kommission bzw. für die Ukraine IWF, Herbst 2012
Quelle: EIU
Ukraine
-1.5
bedeutet nach unserem heutigen Kenntnisstand weniger kreditgetriebenes Wachstum, eine solidere Finanzierung der Staatsausgaben
und mehr Nachhaltigkeit bei der Verwendung von Fördermitteln. Auch
muss sich die Region darauf einstellen, dass Investitionsquoten wie
in der Vorkrisenzeit wohl in dieser Höhe nicht mehr erreicht werden. Für Zentral- und Osteuropa bedeutet dies, dass die wesentlichen
Wachstumstreiber der Vergangenheit wohl auf längere Zeit eingeschränkt wirksam sein werden.
Was spricht dennoch für ein relativ höheres Wachstum in der Region?
Klar ist, dass sich an den fundamentalen Eigenschaften der Volks­
wirtschaften im Vergleich zur Vorkrisenwelt wenig geändert hat. Zwi­
schen Westeuropa auf der einen und Zentral- und Osteuropa auf der
anderen Seite besteht nach wie vor ein signifikantes Wohlstandsgefälle,
die Produktivität der osteuropäischen Volkswirtschaften liegt weit unter
dem westeuropäischen Standard, Institutionen und Infrastruktur sind
weiter verbesserungsfähig.
Die Frage ist, wo das Wachstum herkommen soll? Zum einen ist es sehr
fraglich, ob die aktuellen, besonders niedrigen Investitionsquoten,
Konsumquoten und Kreditflüsse selbst in einer strenger regulierten
Nachkrisenwelt auf derart niedrigem Niveau verweilen werden. Gegen
244
Entwicklung der Lohnstückkosten (Index 2005=100)
250
Lettland
200
Estland
Rumänien
Litauen
150
Serbien
Slowakei
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
100
Quelle: EIU
eine derartige Entwicklung sprechen bekannte Rahmenbedingungen, die
gemeinhin einer höheren Investitionsquote förderlich sind.
Dazu gehören das noch immer deutlich niedrigere Lohnniveau bei gleichzeitig gutem Bildungsstand der arbeitenden Bevölkerung, die über die
Jahre kontinuierlich verbesserte Infrastruktur, die regionale Nähe zu den
westlichen Industriezentren und eine gewachsene Rechtssicherheit bedingt durch die EU-Mitgliedschaft bzw. angestrebte EU-Mitgliedschaft.
Neben diesen durch die Krise wenig veränderten Rahmenbedingungen
haben sich die meisten Zentral- und Osteuropäer über die vergangenen Krisenjahre als besonders konsequente Reformer hervorgetan. Im
Gegensatz zu den Krisenregionen in Südeuropa ist die Korrektur der
in manchen Ländern zu schnell gestiegenen Lohnstückkosten weit
reibungsloser verlaufen als beispielsweise in Südeuropa. Die meisten
Staaten sind ferner bemüht, Steuern auf Unternehmen niedrig zu ­halten,
was häufig durch die Verlagerung der Steuerlast auf den Konsum erreicht wurde.
Was ist für die Region Zentral- und Osteuropa zu erwarten? Die Variante
»Abstellgleis« erscheint vor dem Hintergrund der geschilderten Poten­
ziale unwahrscheinlich. Vielmehr zeichnet sich ab, dass sich an den
245
Mehrwertsteuersätze 2011 (in %)
Seit 2008:
Erhöhung der Mehrwertsteuer
Keine Änderung
23%
20%
21%
22%
25%
19%
20%
21%
23%
19%
21%
15%
23%
19.6%
20% 27%
20%
20%
20%
24%
20%
18%
23%
15%
Quelle: Euroäische Kommission
grundsätzlichen Wachstumsfaktoren durch die Krise nur wenig geändert
hat. Das Wachstum wird kein Vorkrisenniveau mehr erreichen, aber es
spricht nichts dagegen, dass das, was die Region auszeichnet, wahrgenommen und belohnt wird.
Zudem hat sich Zentral- und Osteuropa in den vergangenen Jahren
als zuverlässige Wachstumsregion mit hohem Reformeifer und hoher Wettbewerbsorientierung bewiesen. Es gibt kein Argument, wes­­halb diese Grundhaltung in einer Nachkrisenwelt nicht die erwarteten
Frü­chte tragen sollte.
Zoltan Bakay war bis 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter an
der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2007 ist
er im Research & Knowledge Center der Erste Group tätig und
spezialisiert auf die volkswirtschaftliche Entwicklung der
Wachstumsregionen in Zentral- und Osteuropa.
246
Geldanlage? Klar – aber
wohin mit dem Ersparten?
von Thomas Schaufler
Geld so anzulegen, dass nach Abzug der Inflation noch etwas
übrig bleibt, das ist die Herausforderung der nächsten Jahre.
Die niedrigen Sparzinsen werden uns nämlich noch eine Weile
begleiten. Es ist im Moment nicht möglich, mit rein konservativen Anlageformen wie z. B. einem Sparbuch sein Vermögen zu
vermehren. Was sich in all den Jahrzehnten der unterschiedlichen
Krisen bewährt hat, ist die Tatsache, dass man sein Geld vor
niedrigen Zinsen und andauernden Wirtschaftsflauten am besten
dadurch schützt, indem man es auf verschiedene Anlageklassen
aufteilt. Warum sind die Zinsen aber so niedrig, was bezweckt
die Europäische Zentralbank (EZB) damit?
Die EZB versucht mit ihrer Geldpolitik die Zinsen deutlich unter den
Inflationsraten zu halten. Entsprechend der komplexen wirtschaftlichen Lage in der Euro-Zone wird auch die Geldpolitik der EZB immer
komplexer. Die Zentralbank muss einerseits für die gesamte EuroZone die Preisstabilität gewährleisten und andererseits dafür sorgen,
dass die niedrigen Zinsen in allen Mitgliedsländern ankommen und
Extremrisiken für die Euro-Stabilität vermieden werden können. Dies
ist für die Mission der Zentralbank eines »starken und stabilen« Euro
grundlegend wichtig.
Generell sollte in Europa die wirtschaftliche Entwicklung schwach
und die Inflationserwartungen weiter moderat bleiben. Das belegen auch die zuletzt veröffentlichten Indikatoren wie zum Beispiel
die Konsumentenstimmung oder das Geschäftsklima, welche weiter
gefallen sind. Der Start in den Herbst ist schlecht ausgefallen und
somit kann noch nicht mit Sicherheit abgeschätzt werden, ob der
wirtschaftliche Tiefpunkt im vierten Quartal 2012 tatsächlich durchschritten worden ist. Die Risiken sind derzeit nach unten g
­ erichtet,
aber es bleibt zu hoffen, dass eine stärkere Rezession vermieden
werden kann. Wenngleich die Inflation in der Euro-Zone zuletzt im
Gleichklang mit dem Ölpreis über den Erwartungen lag. Somit ist nach
247
EZB Leitzins vs. Inflation (Eurozone) 2007–2012 (in %)
Eurozone Inflation
EZB Leitzins
2% Inflationszielwert EZB
5
4
3
2
1
0
2007
2008
2009
2010
2011
2012
-1
Quelle: Erste Group Research
wie vor mit sinkenden Inflationsraten zu rechnen. Im Moment werden offizielle Inflationsraten von ca. zwei bis drei Prozent ausgewiesen, jedoch hat die Inflationsrate nicht mehr oberste Priorität der
Geldpolitik der EZB. Zu unterschiedlich ist im Moment die wirtschaftliche Entwicklung in Europa. Während in Mitteleuropa nach wie vor
­positive Bruttoinlandsprodukt-Raten verzeichnet werden, zeigt ein
Blick nach Südeuropa ein weniger positives Bild.
Daher ist mittelfristig zu erwarten, dass die EZB die Wirtschaft weiter­
hin sowohl zinsseitig als auch mit außergewöhnlichen geldpolitischen Maßnahmen unterstützen wird. Auch wenn unmittelbar kein
Handlungsbedarf besteht, so ist angesichts der Inflationsperspektiven
2013 mit einer weiteren Senkung des Leitzinssatzes auf 0,5 Prozent und
niedrigen Zinsen bis 2015 zu rechnen.
Zusätzlich hat die EZB ein Anleihen-Ankauf-Programm, welches OMT
(Outright Monetary Transaction) genannt wird, für die Euro-Staaten
angekündigt. Dieses Ankaufsprogramm steht nur jenen Ländern zur
Verfügung, die im Rahmen der viel zitierten Euro-Rettungsschirme EFSF
und ESM um Unterstützung ansuchen. Der Grund für dieses Hilfsprogramm
ist jener, dass die Zinssenkungen der EZB nur Euro-Staaten mit guter Bonität erreichen. Problemländer, wie zum Beispiel Griechenland,
248
profitieren nicht von diesen Zinssenkungen. Im Rahmen dessen kann die
EZB Staatsanleihen mit kurzen Restlaufzeiten (von ein bis drei Jahren)
von betroffenen Euro-Ländern auf dem Sekundärmarkt4 in unlimitierter
Menge kaufen. Die Liquidität sollte aber später wieder abgezogen werden.
Die Idee dieser Maßnahme: Kauft die EZB in großem Umfang z. B. spanische Staatsanleihen, muss dies zu steigenden Anleihekursen führen,
was wiederum niedrigere Aufwendungen für Spanien bedeutet. Dadurch
sollten destruktive Szenarien abgefedert und starke Renditeanstiege in
Spanien kurzfristig vermieden werden. Tiefere Renditen wiederum sollen es dann Spanien leichter machen, neue Anleihen zu tieferen Zinsen
auszugeben, was wiederum der Finanzsituation Spaniens helfen würde.
Eine langfristige Lösung kann dadurch jedoch nicht garantiert werden.
Die Renditen für Benchmark-Anleihen (Deutsche Bundesanleihen) sollten angesichts des niedrigen Zinsausblicks auf Sicht von einem Jahr gedämpft bleiben. Schon jetzt ergeben deutsche Bundesanleihen mit einer
Laufzeit bis 2016 negative Renditen.
Dass die EZB jedenfalls sämtliche Schleusen geöffnet hat, dokumentiert
auch die Bilanzsumme. Diese hat sich seit 2001 immerhin fast vervierfacht, von 814 Milliarden Euro auf aktuell 3,046 Billionen Euro5. Damit
liegt die EZB sogar vor der Federal Reserve (FED)6, welche ihrerseits die
Geldmenge auf aktuell 2,810 Billionen Dollar ebenfalls deutlich ausgeweitet hat.
Der Kurs der EZB bedeutet jedenfalls für konservative Anleger, dass eine
positive Nominalverzinsung und somit der schon oft zitierte Werterhalt
ohne Risiko im Moment nicht möglich ist. Der Drei-Monate-Euribor7 liegt
momentan bei 0,20 Prozent. An diesem Referenzzins orientieren sich z.
B. viele Sparprodukte. Die zehnjährigen risikolosen Zinsen stehen im
Moment um 1,60, die Inflation hingegen bei etwa 2,3 Prozent.
Anleger sind mehr denn je gefordert, Investitionen mit kalkulierbaren
Risiken einzugehen, wenn am Ende keine Minusrendite das Ergebnis
sein soll. Um aber nicht vielleicht auf das vermeintlich falsche
Pferd zu setzen, ist eine breite Streuung über mehrere Anlageklassen
wichtiger denn je. Auch ein Blick in die Vergangenheit belegt, dass
eine breite Streuung fast immer positive Renditen über einen längeren
Zeitraum liefert.
4 Finanzmarkt zum Handel von schon emittierten Wertpapieren wie Aktien und Anleihen.
5 Stand Oktober 2012
6 US-Notenbank
7 Euro Interbank Offered Rate
249
Es gab immer wieder Krisen, welche sich über einen kürzeren oder längeren Zeitraum gezogen haben. Die Übersicht rechts zeigt einen Blick
auf die Entwicklung von unterschiedlichen Anlageklassen im Zuge einer
Krise. Um das Bild möglichst realistisch zu zeichnen, wurde folgende
Basis verwendet:
• Aktien: MSCI World Index
• Anleihen: JP Morgan Bondindex
• Immobilien: EPRA Immobilienindex
• US-Dollar-Index: Entwicklung Dollar gegenüber Euro, Yen, Franken,
Pfund, Kanadischer Dollar und Schwedische Krone
• Schweizer Franken gegenüber Euro
• Gold in USD
• Öl (Light Sweet Oil) in USD
Weitere Annahme: Genau einen Tag vor Ausbruch der jeweiligen Krise
wurde in die aufgezählten Anlageklassen gleichgewichtet investiert
(EPRA Immobilienindex vor 1990 nicht verfügbar).
Nach genau fünf Jahren zeigt sich in der Wertentwicklung der verschiedenen Anlageklassen ein sehr unterschiedliches Bild. Mit Ausnahme von
Öl hat keine (!) Anlageklasse immer funktioniert und positive Renditen
gebracht. Auch das im Moment so beliebte Gold konnte gerade in den
1980er- und 1990er-Jahren nicht überzeugen. Anleihen zeigen sich zwar
sehr robust, konnten aber auch nicht immer positive Renditen bringen.
Gerade bei tiefen Zinsen bergen Anleihen auch ein höheres Verlustrisiko.
Jedoch wurde bei einer gleich gewichteten Aufteilung über mehrere Anlageklassen fast immer ein positives Endergebnis nach fünf
Jahren erzielt. Eine breite Diversifikation zahlt sich also aus, wie die
unterschied­lichen Krisenereignisse belegen. Ein Vorteil ist das reduzierte Schwankungsverhalten eines breit gestreuten Portfolios. Es gibt
einfach keine Anlageklasse, die immer nur nach oben geht. Daher ist
man auf unvorhergesehene Ereignisse am besten vorbereitet, wenn man
das Vermögen in ein stabiles, breit aufgestelltes Portfolio aufteilt. Wie
schon in der modernen Portfoliotheorie festgestellt wurde, erhöht sich
durch eine Streuung die Renditeerwartung und das Risiko wird gleichzeitig reduziert. Ein doppelt positiver Effekt.
250
Perfomance der jeweiligen Anlageklasse bei einem Investment einen Tag vor der
Krise mit einer Behaltefrist von 5 Jahren und Ertrag des gesamten Portfolios
Ölkrise 1973
Öl
+344,95%
Gold
+125,40%
Anleihen
+22,06%
US Dollar
+4,23%
Aktien
+1,06%
Ertrag
77,74%
Aktien
+48,30%
US Dollar
+32,26%
CHF
+6,81%
Anleihen
-12,54%
Ertrag
35,83%
Aktien
+6,35%
CHF
-7,78%
US Dollar
-11,22%
Gold
-26,80%
Ertrag
6,34%
Aktien
+7,64%
Gold
-6,14%
US Dollar
-6,45%
Öl
-25,33%
Immobilien Ertrag
-45,35%
-1,89%
Immobilien CHF
+24,99%
+11,00%
US Dollar
+10,02%
Aktien
-5,02%
Gold
-6,83%
Ertrag
15,21%
Gold
+9,07%
CHF
+8,34%
US Dollar
+0,06%
Immobilien Aktien
-9,74%
-26,10%
Ertrag
14,34%
Anleihen
+52,00%
Gold
+49,70%
CHF
+3,94%
Aktien
-13,42%
US Dollar
-15,71%
Ertrag
31,87%
Immobilien Anleihen
+114,94% +42,92%
Aktien
+38,73%
CHF
-4,23%
US Dollar
-21,24%
Ertrag
63,10%
CHF
+24,84%
US Dollar
+1,16%
Immobilien Öl
-11,15%
-11,95%
CHF
+46,49%
Energiekrise 1979/80
Öl
+111,30%
Gold
+64,68%
Aktiencrash 1987
Anleihen
+73,65%
Öl
+10,19%
Japankrise 1990
Anleihen
+53,87%
CHF
+8,51%
Asienkrise 1997
Anleihen
+39,09%
Öl
+33,25%
Russlandkrise 1998
Öl
+87,92%
Anleihen
+30,86%
Internetblase 2000
Immobilien Öl
+83,71%
+62,89%
September 11, 2001
Öl
+143,65%
Gold
+126,96%
Lehman 2008*
Gold
+124,16%
Anleihen
+41,95%
Aktien
+2,43%
Ertrag
24,49%
*bis 03.12.2012
251
Die Bedeutung einer strategischen Portfolio-Ausrichtung hat nichts an
ihrer Wichtigkeit verloren, jedoch ist das richtige Timing bei ­volatilen
Börsen entscheidend, da die langfristigen, mehrjährigen Trends der
Vergangenheit angehören. Schon seit geraumer Zeit sind an den Kapital­
märkten große Schwankungsbreiten ohne klare Trends nach oben oder
unten zu beobachten. Das bedeutet, die Kurse schwanken mehr oder
weniger um ihren Mittelwert und dabei kann es ohne aktive Asset
Allocation passieren, dass der Depotstand am Jahresende jener ist, mit
dem man das Jahr begonnen hat. Nicht jeder hat das Wissen oder die
Zeit, sich mit den sich ständig ändernden Trends auf den Kapitalmärkten
auseinanderzusetzen und demnach sein Vermögen laufend umzuschichten. Genau deshalb erfahren Vermögensverwaltungs-Lösungen für
Privatkunden eine Renaissance. Allein in der Erste Bank hat sich die
Zahl jener, die ein professionelles Vermögensmanagement in Anspruch
nehmen, seit 2008 um mehr als fünfzig Prozent gesteigert.
Als finanzielle Basis für eine weitere Geldanlage sollte jeder über ein
Sparbuch verfügen. Darauf parkt man idealerweise rund drei NettoMonatsgehälter, um für die Notfälle des Alltags gerüstet zu sein. So ist
man jederzeit liquid, wenn z. B. die Waschmaschine kaputt wird oder
sonstige ungeplante Ausgaben zu tätigen sind. Für die mittelfristige
Veranlagung eignet sich ein Bausparvertrag gut, um auf eine überschaubare Zeit Geld anzusparen, wenngleich auch seit 2012 mit e­ iner
geschmälerten staatlichen Prämie. Was Versicherungen betrifft, so
ist die Entscheidung sehr individuell zu treffen und auch je nach
Lebenssituation abzuwiegen, was man zwischen Pensionsvorsorge und
Lebensversicherung etc. benötigt.
Wenn man also darüber hinaus verfügbares Geld hat, für das man Ver­
anlagungsmöglichkeiten sucht, so gibt es unterschiedliche Möglich­
keiten. Je nach Risikolust, Lebenssituation, gewünschter Anlagedauer
usw. sollte man sich am besten mit einem Profi beraten und gemeinsam
die beste Strategie für sein Geld erarbeiten.
Wer z. B. ein Direktinvestment in Aktien scheut, könnte sich BonusZertifikate als Alternative näher ansehen. Während bei einem
Aktieninvestment nur bei steigenden Kursen Erträge erzielt werden,
profitieren Bonus-Zertifikate bereits von stagnierenden oder sogar
252
leicht schwächeren Kursnotierungen. Das Ertragspotenzial ist somit
oft höher als bei einem Direktinvestment. Der wichtigste Bestandteil
für ein Bonus-Zertifikat ist die Dividende. Denn diese wird zur
Finanzierung der Bonuszahlung eingesetzt. Der Investor profitiert bei
Bonus-Zertifikaten von steigenden Kursen eines zugrunde liegenden
Basiswerts, e­ rhält eine hohe Bonuszahlung und ist vor fallenden Kursen
bis zur Sicherheitsschwelle geschützt. Sollte es jedoch zu einem unerwarteten Kursrutsch kommen, entfällt die Bonuszahlung und der Kurs
des Basiswerts wird am Laufzeitende gutgeschrieben. Auch in diesem
Fall ist man bei der Kursentwicklung nicht schlechter gestellt als der
Aktionär.
Es gibt auch noch eine Vielzahl weiterer »Teilschutz«-Produkte, welche
Schutz vor moderaten Kursrückgängen bieten und gleichzeitig Renditen
deutlich über dem Sparbuch ermöglichen. Ein genauer Blick darauf
lohnt sich, besonders im aktuellen Zinsumfeld. Unabhängig von der
Wahl des Anlageproduktes gilt es auch auf die angesprochene PortfolioDiversifikation zu achten und verschiedene Anlageklassen auszuwählen.
Aktien sind nur ein Parameter in einer klar strukturierten PortfolioAuf­teilung. Ein weiterer wichtiger Bestandteil sind Anleihen. Aber
auch die vermeintlich sichere Anleihe birgt einige Risiken, ­w elche
es zu beachten gibt. Das Bonitätsrisiko, also das Risiko, dass sich
die Kreditsituation des Unternehmens, welches die Anleihe begibt, bis hin zur Zahlungsunfähigkeit verschlechtert, steht hier im
Vordergrund. Da aber mit vermeintlich sicheren Anleihen wie etwa
Deutschen Bundesanleihen kaum Ertrag erzielt werden kann – einjährige Veranlagungen kosten hier sogar Geld –, muss für mehr Ertrag auch
bei Anleihen der Schritt zu mehr Risiko gegangen werden. Dies geschieht
zum Beispiel beim Kauf von Unternehmensanleihen, welche je nach
Bonität und Laufzeit deutlich höhere Renditen versprechen. Um allerdings hier nicht auf das falsche Pferd zu setzen, empfiehlt sich neben
der Unternehmensanalyse vor allem auch die Auswahl mehrerer Branchen
und verschiedener Unternehmen. Denn auch hier ist die Streuung
zur Risikominimierung besonders wichtig. Bei der Einschätzung der
Unternehmenskennzahlen wiederum kann der Bankberater unterstützen.
Neben der Zahlungsfähigkeit des Unternehmens ist auch die Laufzeit ein
wichtiger Bestandteil des persönlichen Portfolios. Hier gilt es zwischen
253
rascher Verfügbarkeit und höherem Ertrag abzuwägen. Denn je länger
die Bindung, umso besser die Konditionen. Aber es erhöht sich auch das
Kursrisiko während der Laufzeit.
Im Bereich Immobilien gibt es ebenfalls zahlreiche Investitions­
möglichkeiten. Neben einem direkten Immobilienerwerb oder Beteili­
gungen bietet sich auch ein Immobilienfonds an, welcher breit gestreut
in Immobilien investiert. Der Erste Immobilienfonds erzielt seit Jahren
konstante Erträge. Er erfreut sich auch wegen der konservativen
Anlagestrategie und dem Fokus auf Wohnimmobilien konstanter Zuflüsse.
Gold steht im Moment bei vielen Anlegern hoch im Kurs und gilt als
wichtiger Portfolio-Baustein. Von vielen verunsicherten Anlegern wird
das Edelmetall in den Portfolios seit ein paar Jahren auch übergewichtet.
Andere wiederum meiden Gold zur Gänze. Insgesamt wird das Edelmetall
sehr kontrovers gesehen. Fest steht allerdings, dass es in einem diversifizierten Portfolio nicht fehlen sollte. Gerade weil Gold bereits elf Jahre
hindurch positive Renditen geliefert hat, gilt es auch auf die Risiken
zu achten. Gold notiert zum einen in US-Dollar. Daraus ergibt sich für
den Anleger ein Währungsrisiko. Auch Kurskorrekturen von mehr als
100 USD sind immer wieder zu beobachten.
Wie bei allen Portfolio-Bausteinen gilt: Die Dosis macht es und eine
breite Streuung der Anlageklassen hilft das Risiko zu minimieren und
gleichzeitig die Ertragschancen zu optimieren. Alles auf eine Karte zu
setzen bei der Geldanlage ist nie der richtige Weg. Wenn sich Märkte
und Zinsen ändern, profitieren im Normalfall einige Assetklassen,
­a ndere v­ erlieren. Daher ist es gerade in einer Zeit, in der sich die meisten Experten einig sind, dass die Zinsen noch ein paar Jahre sehr niedrig sein werden, so wichtig, sich um eine passende Aufteilung seines
Vermögens zu kümmern.
Thomas Schaufler leitet in der Erste Group den
Wertpapierverkauf für Privatkunden und Sparkassen.
Daneben ist die Abteilung auch für die Zusammenstellung
neuer Wertpapierprodukte (Anleihen, Fonds, Strukturierte
Produkte) zuständig. Gleichzeitig vertritt Thomas
Schaufler die Erste Group im ZFA (Zertifikate Forum
Austria). Das Forum setzt sich für den kundenorientierten
Einsatz von Zertifikaten ein.
254