aber welche »Fluchtwährung«?
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aber welche »Fluchtwährung«?
8–201 3 25 JAHR 1 98 BUCH HR CO E € JA 2013 Dieses Buch widmen Ihnen Erste Bank und Sparkassen 25. Ausgabe, Jahrgang 2013 Haftungserklärung Trotz sorgfältigster Recherche der Fakten und genauer Kontrolle ist es nicht auszuschließen, dass sich auch Fehler bei der Wiedergabe der Texte eingeschlichen haben. Der Verlag, das Redaktionsteam und die einzelnen Autoren erklären daher ausdrücklich, dass sie für die Richtigkeit der Zahlen und Texte keine wie immer geartete Haftung übernehmen. Wien, im Jänner 2013 Fotohinweis ORF-Teil: ORF (21), Parlamentsdirektion (7), Ifo (1), OeBS (2), EZB (1), flickr/rinzewind (2), Kodak (1), Gewerkschaft BauHolz (2), Red Bull Content Pool (2), Stadt Linz (2), Graz Tourismus (1), f reistaedter-bier.at (2), Fotolia.com (2), Voestalpine (1), KTM (2), Stadtgemeinde Salzburg (1), Google (1), Apple (1), facebook (1), Franz Hlavac (2), shutterstock (1) Impressum Herausgeber: Österreichischer Rundfunk, Würzburggasse 30, 1136 Wien Erste Bank der Oesterreichischen Sparkassen AG, Graben 21, 1010 Wien auch für die Inhalte der Erste Bank verantwortlich Eigentümer und Verleger: Dr. Peter Müller Buch- und Kunstverlag Ges. m. b. H., Kärntnerstraße 13–15, 1010 Wien Dr. Harald Hohenberg Redaktion und für den Inhalt verantwortlich: Redaktion des ORF-TV-Wirtschaftsmagazins € CO Günther Kogler p.a. ORF, Würzburggasse 30, 1136 Wien Gestaltung & Layout: Sebastian Traxl, Wien Lektorat: Werner Egger, Graz Druck: Druckerei Seitz Ges. m. b. H., 2201 Gerasdorf Verlagsort: Wien Herstellungsort: Wien www.erstebank.at www.orf.at Inhalt Turbulente Jahre für den Euro: Von Lügnern, Betrügern und Fantasten Günther Kogler 15 Steuern, Gebühren & Co.: Das ist neu im Jahr 2013 Christina Kronaus 21 Auf (Kon-)Kurs: Warum wir Pleite-Banken retten Bettina Fink 27 Allheilmittel ESM? So wird Europas Geldmaschine angeworfen Beate Haselmayer 31 »Eherne Reserve«: Dem Gold der Österreicher auf der Spur Bettina Fink 37 Nix wie raus aus dem Euro – aber welche »Fluchtwährung«? Katinka Nowotny 41 Ratingagenturen: Die Spur der Verwüstung quer durch Europa Ilja Morozov 47 Der Sündenfall der EZB – wenn nur noch die Druckmaschine hilft Katinka Nowotny 53 Das Imperium Goldman Sachs – oder: Die Mönche des Geldes Günther Kogler 59 Wenn Spaniens Blüten blühen, wird das teuer für Europa … Hans Hrabal 73 »Dolce vita« ist vorbei: Italien wird von der Krise eingeholt Sabina Riedl 81 Unsere teuren Parteien und der ungenierte Griff in den Steuertopf Ilja Morozov 85 Das Werben um Betriebe: Noch ist Österreich »liebenswert« Katinka Nowotny 91 Unser Gehalt, unser Geheimnis: So viel »Verdienst« ist normal Bettina Fink 95 Ein totaler Bildausfall – der Absturz des Weltkonzerns Kodak Sabina Riedl 99 Reha statt Rente: Die »Invaliditätspension neu« Ilja Morozov 105 Österreichische Privatstiftungen: Unsere letzten Steuerparadiese? Beate Haselmayer 111 Red Bull: Der Sprung in die Werbe-Stratosphäre Hans Wu 117 6 Panzer, Kanonen und Pistolen – Österreichs »geheime Industrie« Ilja Morozov In Linz beginnt’s: »Die Dummen gegen die Unmoralischen …« Hans Hrabal Franzl, Schützi und Konsorten: Eine »eingtragene Partnerschaft« Günther Kogler Unser teures Bier: Wenn Hopfen und Malz zu barem Geld werden Philipp Jauernik Die neue Frauenpower: »Schatzi, was machen wir mit dem Geld?« Angelika Ahrens »Die Voest« – vom Stahlkocher zum hippen High-Tech-Konzern Sabina Riedl Der edle Stoff, das wunderbare Tuch – eine »Jungfrau« verwöhnt Angelika Ahrens Erfolg auf zwei Rädern – KTM auf Weltmeister-Kurs Sabina Riedl Goldenes Handwerk: Maßschuhe aus Frauenhand für »Jedermann« Angelika Ahrens Wirtschaftsfaktor Jagd – nur leider »ist der Ruf im Arsch« Philipp Jauernik Google, Apple & facebook: Sind wir machtlose Nutzer? Hans Wu 25 Jahre €CO-Jahrbuch: So hat sich die Welt verändert Franz Hlavac Bankgeschäft vor 25 Jahren – wo waren eigentlich Sie damals? Andreas Treichl im Gespräch 25 Jahre Wiener Börse – Rückblick, Status und Ausblick Franz Gschiegl Der Euro – scheitert Europa an seiner eigenen Währung? Rainer Münz und Bernadett Povazsai-Römhild Osteuropa: Überholspur – oder doch nur Abstellgleis? Zoltan Bakay Geldanlage? Klar – aber wohin mit dem Ersparten? Thomas Schaufler 123 129 135 143 149 151 157 159 165 169 175 183 206 212 223 234 247 7 Liebe Leserinnen und Leser! »Österreich hält sich im europäischen Vergleich recht gut«, das war im Jahr 2012 fast durchgängig und allerorts zu hören. Einerseits gilt das für die vergleichsweise erfreulich geringe Arbeitslosigkeit ebenso wie die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie oder etwa die Tourismuswirtschaft. Aber seit Herbst 2012 war klar: Wir können uns von den Wachstumsproblemen der europäischen Industriestaaten nicht gänzlich abkoppeln. Für das laufende Jahr wird es schon als Erfolg gelten, wenn das reale Wirtschaftswachstum nahe an die Ein-ProzentMarke heranreicht. Die europaweite Staatsschuldenkrise wirkt weiterhin als Wachstumsbremse. Doch eine Fortsetzung der Konsolidierung der Staatshaushalte ist unausweichlich. Das wird wohl auch eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre bleiben. Da die Zentralbanken die Leitzinsen nach wie vor sehr tief halten, herrscht auch in der Eurozone ein historisch niedriges Zinsniveau. Gut für die Investoren, gleichzeitig jedoch eine schmerzhafte »Dürre periode« für Sparer und Anleger, die derzeit bestenfalls darum kämpfen durch eine längerfristig konzipierte Veranlagungsstrategie den Realzinsverlusten zu entgehen. Aber auch die Kreditwirtschaft steht ob diverser Regulierungen vor bisher nicht gekannten Herausforderungen. Auch wenn in den vergangenen Monaten Banken und Finanzdienstleister in der öffentlichen Meinung nicht gerade mit den höchsten Beliebt heitswerten zu kämpfen hatten: Langsam gewinnt wieder die Einsicht Oberhand, dass nur leistungsfähige Banken, intakte Kapitalmärkte und wiederaufkommendes Vertrauen in das Finanzwesen die aktuellen Probleme überwinden helfen. In der Sparkassengruppe bleiben jedenfalls Sicherheit und ein erhöhter Qualitätsanspruch die Leitmotive. Aber immer wenn die Märkte zu stag nieren drohen ist Innovation das beste Mittel, um sich vom Mitbewerb positiv abzuheben. Deshalb setzten wir gerade in wirtschaftsschwachen Zeiten, in der viele Menschen noch immer verunsichert sind, auf innovative Produkte. Der Kundennutzen steht absolut im Mittelpunkt aller Überlegungen. Mit mobilen Services über Smartphones und Tablets aber auch im persönlichen Gespräch, wenn es um beratungsintensive 8 Produkte oder Finanzierungen geht. Bei einem anhaltend niedrigen Zinsniveau ist es beispielsweise sehr wichtig, Sparern neue, mittel- und langfristige Veranlagungsalternativen zu eröffnen, um sie vor einem Substanzverlust zu bewahren. Dabei rücken etwa Investmentfonds oder gemanagte Vermögensverwaltungen wieder in den Fokus des Anlegerinteresses. Eines steht jedenfalls außer Streit: Bei den aktuellen Rahmenbed ing ungen braucht es eine intensive Auseinandersetzung mit den Themen Veranlagung und Finanzierung. Das professionelle Eingehen auf individuelle Bedürfnisse ist jetzt gefragt. In diesem Sinne soll auch das diesjährige €CO-Jahrbuch – übrigens die 25. Ausgabe in Folge – Anregung und Leitfaden zugleich sein. Denn eines ist gerade in Zeiten schwachen Wirtschaftswachstums und turbulenter Finanzmärkte sehr wichtig: Reservenbildung trotz gedrückter Realverzinsung, Sicherheit in der Wahl eines vertrauenswürdigen Finanzpartners und längerfristiges Denken in Sachen der eigenen Finanzen. Um es klarer zu formulieren: Jetzt gilt es alles zu unternehmen, um sich für die Zukunft gut aufzustellen. Denn eines ist – allen aktuellen Unsicherheiten zum Trotz – gewiss: Der nächste Aufschwung kommt bestimmt! Wir wünschen Ihnen im Namen der Erste Bank und aller österreichischen Sparkassen mit diesem Buch eine leichtere Suche nach den für Sie b esten Entscheidungen. Ihr Christian Aichinger Präsident des Österreichischen Sparkassenverbandes Ihr Thomas Uher Vorstandssprecher der Erste Bank Oesterreich Thomas Uher, Christian Aichinger 9 Von links nach rechts: Vordere Reihe: Angelika Ahrens, Katinka Nowotny, Sonja Titz Hintere Reihe: Mag. Hans Tesch, Günther Kogler, Mag. Ilja Morozov 10 Von links nach rechts: Vordere Reihe: Sabina Riedl, Hans Wu, Mag. Bettina Fink Hintere Reihe: Dr. Christina Kronaus, Hans Hrabal, Mag. Beate Haselmayer 11 Von Schutzschirmen, Hebeln und von stotternden Motoren von Mag. Hans Tesch Die Krise verlangt nach plausiblen Erklärungen. Diese werden immer öfter in Form von Metaphern geliefert. Bilder ersetzen Worte. Diese Gleichnisse wirken besser als langwierige Begründungen. Ein »Schutzschirm« gegen unberechenbare Finanzmärkte wird positiv gewertet. Gegen einen »Hebel«, mit dem sich das eingesetzte Rettungskapital der Euro-Staaten vervielfachen lässt, kann man doch nicht sein. Allerdings: Mit Metaphern werden Inhalte abgewandelt, oft verfälscht. Wir vom ORF-Wirtschaftsmagazin €CO bemühen uns, diese Bilder ins rechte Licht zu rücken, richtig zu deuten. Würde anstelle des »Hebels« das Symbol eines »Ballons« stehen, der stärker aufgeblasen wird, ist die Bewertung eine andere. Ein Hebel gilt als stabiles Hilfsinstrument; ein Ballon kann platzen. Dieses Beispiel zeigt, dass man mit den passenden Metaphern die Gefährlichkeit verniedlichen und ausblenden kann, die in bestimmten Kriseninstrumenten steckt. Das gilt auch für den »stotternden Motor«, den man als Vergleich heranzieht, wenn die Konjunktur im Euro-Raum nicht richtig läuft. Sofort fällt einem ein, dass zu wenig Treibstoff im Tank sein könnte, also zu wenig Geld zur Verfügung steht. Dass ein stotternder Motor aber auch auf einen gravierenden Schaden hinweisen kann, daran denkt vorweg kaum jemand. In all diesen Fällen ist es unsere Aufgabe als Wirtschaftsjournalisten, auf die mögliche andere Deutung der Bilder hinzuweisen. Auch wenn die handelnden Akteure es nicht immer gerne sehen. Metaphern können im Einzelfall auch ganz entlarvend sein. So hat der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble zum Einsatz von Rettungsgeldern für Griechenland Ende November gemeint: »Wir fahren auf Sicht.« Das heißt doch, dass die Rettungsgasse nicht frei sein muss; dass wir möglicherweise bremsen müssen, bevor es kracht. 12 In unseren Sendungen machen wir Inhalte transparent und versuchen, die Fakten hinter den Metaphern bloßzulegen. Wir möchten den €COZusehern den Durchblick erleichtern. Um selbst eine Metapher zu strapazieren: Wir versuchen die glatten Oberflächen zu entspiegeln, so dass die Wahrheiten dahinter sichtbar werden. Sei es bei der Euro-Rettung, bei den Hintergründen für die Staatsschulden oder bei den Angeboten für die private Geldanlage. Dieses €CO-Jahrbuch ist mit ein Teil unseres Bemühens, objektiv zu informieren, plausibel aufzuklären und allen Interessierten zu helfen, die jeweils richtige und passende Entscheidung für ein wirtschaftliches Fortkommen zu treffen. In diesem Sinne viel Nutzen wünscht Ihr Hans Tesch Sendungsverantwortlicher ORF-Wirtschaftsmagazin €CO PS: Das €CO-Jahrbuch erscheint heuer in einer Jubiläumsedition, in größerem Format und mit noch mehr Informationen. Mein Dank an alle Mitwirkenden. 13 Große Worte – meist sogar richtige gesammelt von Günther Kogler »Griechenland wird als Erstes verlangen, von Deutschland gerettet zu werden.« Margaret Thatcher erfährt, dass es die Europäische Union mit der Einführung einer gemeinsamen Währung ernst meint. Das war im Jahr 1993. »Der Euro wird ein brennendes Haus ohne Ausgänge sein.« William Hague, Parteichef der britischen Tories, im Jahr 2001. »Wir hätten da noch ein paar Fragen« Die deutsche Wochenzeitung »Die Zeit« zweifelt den Spruch des Verfassungsgerichtshofes in Karlsruhe an, der den Fiskalpakt und den »Europäischen Stabilitätsmechanismus« (ESM) als »mit dem Deutschen Grundgesetz weitgehend vereinbar« beurteilte. »Solange ich lebe, wird es in der europäischen Schuldenkrise keine Eurobonds geben.« Möglicherweise lebensverkürzende Ansage der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. »Wer möchte sich schon in einem brennenden Hotel einmieten?« Thora Anorsdottir, isländische Präsidentschaftskandidatin, warnt ihre Landesleute vor einem Beitritt zur Euro-Zone. »Auch wir bescheißen gelegentlich.« Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble nimmt Griechenlands Politiker in Schutz. »Er hat erzählt, dass er Nierensteine hat, direkt aus dem Krankenhaus kommt, enorme Schmerzen hat.« Finanzministerin Maria Fekter löst bei Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker den nächsten Fieberschub aus. 14 Turbulente Jahre für den Euro: Von Lügnern, Betrügern und Fantasten von Günther Kogler Ist der Euro aus dem Gröbsten heraus? Nein. Steht er Anfang 2013 besser da als Anfang 2012? Nein. Sind wenigstens die Risiken kleiner geworden, die die europäische Gemeinschaftswährung bedrohen? Ein letztes Mal: nein. Das Positive am letzten Jahr war, dass die Union Instrumentarien gefunden hätte, die das Überleben des Euro ermöglichen könnten. Das Negative an 2012 war: Es gibt sie noch immer, die Lügner, Betrüger und Fantasten in den so genannten europäischen Eliten. Wir wollen das alte Jahr nicht als verloren abschreiben – anders, als das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« im September 2011 prophezeite, hat der Euro auch das Jahr 2012 überlebt. Das war schon eine beachtliche Leistung. Die Zone der Gemeinschaftswährung umfasst auch immer noch siebzehn Mitgliedsländer – diese Leistung war noch beachtlicher. Und: Unter viel Streit, endlosen Debatten und unzähligen, nervtötenden Gipfeltreffen hätten die Staatenlenker auch Instrumentarien gefunden, die das weitere Überleben des Euro auch gewährleisten könnten. Über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wird dazu unglaublich viel Geld in die Hand genommen, über die Europäische Zentralbank (EZB) wird auf die Finanzmärkte eingewirkt, wie das in diesem Ausmaß in der alten Welt noch nie der Fall war. Also: Alles paletti? Leider nein. Die Bedrohungsbilder sind dieselben geblieben, schlimmer noch, es sind neue dazu gekommen. Als EUWährungskommissar Olli Rehn Anfang November 2012 in Brüssel vor die Presse trat, um einen wirtschaftlichen Ausblick auf die kommenden Euro-Jahre zu geben, musste er ein Bild zeichnen, in dem Europa das Wasser bis zum Hals steht. Nur, wenn alles gut geht, schafft es die Union bis zum Jahresende aus der Rezession. Nur, wenn wirklich alles gut geht, rettet sich Europa bis zum Jahr 2014 wieder in eine Phase eines Mini-Wirtschaftswachstums. Und nur, wenn wirklich, also wirklich alles gut geht, wird die Zahl der Euro-Mitgliedsländer dann immer noch dieselbe sein wie heute. 15 Abseits der Schönredner rundum die Fakten. Die Budget- und Schuldenlage vieler Staaten in der Union und vor allem auch in der E uroZone ist dramatisch. Spanien wird sein Budgetdefizit von heuer acht bis zum Jahr 2014 nur auf 6,4 Prozent des Brutto-Inlandsproduktes drücken können. Zur selben Zeit steigt die Verschuldung des großen Landes von derzeit 86 Prozent der Wirtschaftsleistung auf fast einhundert Prozent. Italien bereitet nicht weniger Sorgen. Wenigstens stabil bleibt unser südlicher Nachbar, mit dem Österreich so viele Wirtschaftsbeziehungen unterhält – aber auf welchem Niveau: Schon heute ist Italien mit 126 Prozent der eigenen jährlichen Wirtschaftsleistung verschuldet. Das wird sich, wenn alles gut geht, bis zum nächsten Jahr um genau null verändern. Aber all das, was die »Expertenregierung« Mario Monti an harten Sparprogrammen politisch auf die Reihe gebracht hat, all das fließt direkt in die Abdeckung der Ansprüche der internationalen Gläubiger. Und Griechenland? Griechenland ist in allen Modellrechnungen der Wirtschaftsforscher aus der Abteilung Akutproblem längst in die Abteilung Dauerproblem verlegt worden. Als 2009 die ersten Hilfszahlungen argumentiert werden mussten, lautete die Begründung noch: » ... damit Griechenland im Jahr 2013 wieder auf den Kapitalmarkt zurückkehren kann.« Die optimistischsten Prognosen heute rechnen mit einer Rückkehr von Hellas auf besagte Kapitalmärkte frühestens im Jahr 2020; das sind, wie gesagt, die Projektionen, in denen wirklich, wirklich, aber auch wirklich alles gut geht. An Problemfällen also mangelt es in der Euro-Zone nicht. Portugal könnte noch angeführt werden, das auch durch ein böses wirtschaftliches Tal geht; selbst Frankreich wird mittlerweile als Wackelkandidat angesehen und niemand in Berlin will sich ausmalen, was passiert, wenn Paris seine Probleme – und die bestehen nicht nur in der Automobil-Industrie – nicht in den Griff bekommt. Die größte Hürde für die so genannten politischen Eliten besteht in der Akzeptanz der Bevölkerungen. Daran sind sie selbst schuld. Wer beobachtet hat, welche Massen von Menschen im November des alten 16 Wirtschaftswachstum (in Prozent, zum Vorjahr gerechnet) 2012 2013 2014 Deutschland 0,8 0,8 2,0 Österreich 0,8 0,5 1,7 Europ. Gemeinschaft (EU 27) -0,3 0,4 1,6 Großbritannien -0,3 0,9 2,0 Euro-Länder (Euro 17) -0,4 0,1 1,4 Spanien -1,4 -1,4 0,8 Italien -2,3 -0,5 0,8 Portugal -3,0 -1,0 0,8 Griechenland -6,0 -4,2 0,6 Quelle: Kommission der Europäischen Gemeinschaft, OeNB Jahres auf die Straßen gingen, von Madrid bis Athen, von Lissabon bis Rom, um gegen die Politik ihrer jeweiligen Regierungen zu demonst rieren, dem musste klar werden: Hier ist nicht nur der Feldversuch Euro in Gefahr, hier wackelt das Großprojekt Europäische Union. Wunder ist es keines. Jeder Zehnte (!) findet im Raum der Union keine Arbeit. In absoluten Zahlen: 26 Millionen EU-Bürger sind ohne Job. Bis zum Jahr 2014 werden, so die Ökonomen, weitere 2,6 Millionen dazu kommen. In Ländern wie in Griechenland und Spanien wird die Arbeitslosenrate bei 24 bzw. 26 Prozent verharren; ganz zu schweigen von den Jugendlichen. In den genannten Krisenländern beträgt die Jugendarbeitslosigkeit brutale 50 Prozent. So gut ausgebildete junge Leute wie nie kommen nicht und nicht auf dem Arbeitsmarkt unter. Lange wird sie nicht mehr ticken, diese Zeitbombe. Es schließt sich der Kreis zum kleinen Österreich. Wer sich unsere Ziffern vor Augen führt, dem muss – zwangsläufig beinahe – das Bild der kleinen Nussschale in rauer See erscheinen. Ein Wirtschaftswachstum wie jenes des großen Euro-Motors Deutschland; zwischen »good old germany« und der Alpenrepublik liegen in den Fakten und den Projektionen maximal 0,1 Prozent. Eine Verschuldung, in Prozent der Wirtschaftsleistung gerechnet, die besser liegt als jene Deutschlands 17 Arbeitslosenrate (in Prozent) 2012 2013 2014 Österreich 4,5 4,7 4,2 Deutschland 5,5 5,6 5,5 Großbritannien 7,9 8,0 7,8 Europ. Gemeinschaft (EU 27) 10,5 10,9 10,7 Italien 10,6 11,5 11,8 Euro-Länder (Euro 17) 11,3 11,8 11,7 Portugal 15,5 16,4 15,9 Griechenland 23,6 24,0 22,2 Spanien 25,1 26,6 26,1 Quelle: Kommission der Europäischen Gemeinschaft, OeNB (ein gröberes Sparpaket wird noch vonnöten sein, sonst bleibt der Abstand nicht groß genug …). Das Highlight schlechthin: die Rate der Arbeitslosen. Von einer Quote von 4,5 (und in der Projektion: 4,7) Prozent können andere Euro-Länder nur träumen. Und doch, auch hierzulande wachsende Unzufriedenheit, wachsender Frust. Heuer ist ein großes Wahljahr und der Regierung sei ins Stammbuch geschrieben, was Wolfgang Bachmayer und sein Meinungsforschungsinstitut OGM zum Jahresende 2012 für €CO erhoben haben: Mehrheitlich fühlt sich die Bevölkerung bereits unterfordert. Sie glaubt den Lügnern, Betrügern und Fantasten auch im eigenen Land nicht mehr. Wer verfolgt hat, wie die Österreicher und Österreicherinnen in den vergangenen Jahren mit ihrem Geld und mit ihren Vermögen umgegangen sind, wusste zu deuten, wie groß das Vertrauen in die g emeinsame Währung noch ist. Wer viel Holz hatte, rettete sich in I mmobilien; wer weniger auf der Kante hatte, steckte es in den Konsum. Nicht mit den Füßen wurde abgestimmt über den Euro, aber über das Konto. Gold? Hhmm, ein bisschen. Das Sparbuch? O.k., aber rechnen in Achtel-Prozenten ist mühsam. Der Bausparer? Auch nicht das 18 Gelbe vom Ei, aber vielleicht, wenn wir uns wieder trauen, brauchen wir einen »Anspruch« auf einen Kredit. Die Börse? Real gar keine so schlechte Performance, aber wer war drin? Die Profis, die »Institutionellen« – für die einfache Kundschaft war die Börse bloß ein Trauerspiel. Private Vermögensverwaltung? Machen wir selber. Neue Finanzprodukte? Igitt, so viele Betrugsfälle in den letzten Jahren, von denen ein Gutteil juristisch noch nicht einmal angegangen wurde. Am Ende die letzten Fakten. Österreich hilft, wie alle anderen EuroLänder, Griechenland nicht nur mit Barem, sondern auch mit Man-Power. Direkt der EU-Kommission unterstellt befinden sich permanent Beamte des Wiener Finanzministeriums in Athen, um Griechenland beim Aufbau einer funktionierenden Finanzadministration zu helfen. Diese »Task-Force«, die hauptsächlich aus Deutschen, Franzosen und Italienern besteht, weiß Abenteuerliches zu berichten. Wer den Erzählungen der internationalen »Task-Force«-Mitglieder genau zuhört, kann gar nicht anders als Griechenland als »failed state« einzustufen. Unternehmensbesteuerung? Mittels Karteikarten. Umsatzsteuer erhebung? Keine Software. Korruption? Na klar, nicht zu wenig. Dabei hätte eine Meldung, sie ging im Wust der vielen Griechenland- Depeschen des alten Jahres unter, viele hellhörig werden lassen m üssen. Christine Lagarde, die Chefin des Internationales Währungsfonds IWF, brachte als Begrüßungsgeschenk für die neue griechische Regierung im Frühherbst des Jahres 2012 eine kleine Liste nach Athen mit: Darauf standen Namen, Daten und Kontonummern von griechischen Staatsbürgern, die ihr Scherflein zu Hause nicht leisten wollten, weil sie ihr Vermögen längst in das »sichere Ausland« transferiert hatten; Schweizer Banken, Liechtenstein’sche Stiftungen, »Trusts Ltd’s« auf den Kanal inseln Jersey und Guernsey zwischen England und Frankreich. Allein schon die Tatsache, dass die IWF-Chefin höchstpersönlich ein so hochbrisantes Papier überbringt (und offenbar darüber verfügt), sollte nachdenklich stimmen. Viel nachdenklicher jedoch stimmte einen Journalisten die Meldungen der »Task-Force« dazu: »Ja, jetzt weiß die griechische Finanzadministration Bescheid. Das Problem ist: Sie verfügt über keinen alten Datenbestand. Sie beginnt quasi bei null. Bis das aufgearbeitet ist, vergehen Jahrzehnte.« 19 Zum Politischen: Europa ist sich herzhaft uneins. Diametraler könnten die Lösungsansätze für die Krise gar nicht sein, als sie sich Ende des Jahres 2012 darstellten. Die einen, die noch halbwegs Wohlhabenden, pochen weiter aufs Sparen und Haushalten bei den Defizitländern, die anderen, die zunehmend Klammen, fordern immer heftiger die »Vergemeinschaftung der Schulden«. Und beide Pol-Enden haben Sorge an der Macht zu bleiben. In den »Geber«-Ländern sind neue Belastungen für die Steuerzahler »nicht mehr zumutbar«, in den »Nehmer«-Ländern gilt dasselbe für neue Sparprogramme. Dazwischen blüht das Biotop Europäische Zentralbank. Die in Frankfurt ansässige ursprüngliche »Inflationswächterin« und »Hüterin des Euro« ist als einzige handlungsfähige Institution des Euro-Raumes übrig geblieben. Der Preis dafür ist hoch: ein Land, eine Stimme. Und so wird im Vierzehn-Tage-Rhythmus abgestimmt, worüber sich die 17 Finanzminister und 17 Regierungschefs der Euro-Zone nie einig würden: über Anleihenankäufe aus den Schuldnerländern, über Milliardenhilfen an Krisenbanken, über die Geldmenge und den Refinanzierungssatz für Kreditinstitute insgesamt. Das wirklich besondere an der EZB ist freilich nicht der Umstand, dass sie handelt. Es ist die Tatsache, dass niemand in Europa mehr weiß, wer wie mit dem Geld der Steuerzahler umgeht. Was in Frankfurt beschlossen wird, bleibt geheim. Alles in allem: eine vertrackte Situation. Es ist zu vermuten, dass ein Aufbrechen der Euro-Länder teuer würde. Fällt ein Land, springt der Funke der Destruktion auf das nächste über; gefährdet waren und sind immer die allzu Sorglosen. Es ist aber auch Fakt, dass kein Bürger in jenen Ländern Europas, die bewusst nicht dem Euro beigetreten sind, aus genau diesem Grund tot umgefallen wäre. Also: Der »Feldversuch Euro« hält an. Es gab und gibt unendlich viele gute Gründe dafür ihn zu unternehmen. Er kann gut ausgehen. Aber: Er muss nicht zwangsläufig gut gehen. Vor allem: Er muss nicht gut gehen für alle, die von Anfang an mitmachen wollten. 20 Steuern, Gebühren & Co.: Das ist neu im Jahr 2013 von Dr. Christina Kronaus Das heurige Wahljahr 2013 verspricht Spannung. Der Staat braucht dringend Geld; die etablierten Parteien kämpfen um ihre Wähler. Wie dieser Balanceakt zwischen Steuerjagd und Wahlzuckerln aussieht, zeigen wir Ihnen im folgenden Beitrag. Es gibt viele Neuerungen – sowohl in steuerlicher Hinsicht als auch, was Sozial- und Pensionsabgaben betrifft. Also: aufpassen – und nachrechnen. Gleich eine Milliarde Euro erwartet sich Finanzministerin Maria Fekter aus den Nachzahlungen österreichischer Steuerflüchtlinge aus der Schweiz: Viele Experten erachten dies als zu optimistisch. Aber die Fakten: Vom neuen Steuerabkommen betroffen sind alle Personen, die in Österreich ansässig sind und am 31. Dezember 2010 und am 1. Jänner 2013 ein Konto oder Depot bei einer Schweizer Bank besaßen. Diese Personen haben im Zeitraum vom 1. Jänner 2013 bis zum 31. Mai 2013 folgende zwei Wahlmöglichkeiten: Sie bezahlen per »Anonymer Abgeltung« (pauschale Einmalzahlung). Die Schweizer Bank bucht vom österreichischen Kunden den von ihr berechneten pauschalen Steuerbetrag in der Höhe von 15 bis 30 Prozent zu Lasten seines Vermögens ab und leitet diesen an die österreichische Steuerbehörde weiter. Oder: Die Betroffenen entscheiden sich, der österreichischen Finanzverwaltung ihre Vermögenswerte offen zu legen; dann handelt es sich um eine »freiwillige Meldung«. Dies gilt als strafbefreiende Selbstanzeige. Um auch die künftige ordnungsgemäße Besteuerung der Kapital erträge in Österreich sicherzustellen, enthält das Abkommen auch eine Verpflichtung der Schweizer Banken zur Einbehaltung einer der österreichischen Kapitalertragssteuer (KESt) nachempfundenen Abgeltungssteuer auf die laufenden Kapitalerträge in Höhe von 25 Prozent. Der Anleger kann dabei wiederum wählen zwischen der (anonymen) Abzugssteuer und einer Offenlegung der Erträge gegenüber dem österreichischen Fiskus. 21 Bei Beendigung eines (echten oder freien) Dienstverhältnisses durch Dienstgeberkündigung oder einvernehmliche Lösung muss ab 2013 der Dienstgeber eine Auflösungsabgabe von 113 Euro bezahlen. Diese neue Abgabe soll dem Staat 47 Millionen Euro einbringen. Auflösungsabgabe Die neue Autobahnvignette kostet für das gesamte Jahr 2013 für Pkw 80,60 Euro (statt 77,80 Euro im letzten Jahr). Wer ohne gültige Vignette erwischt wird, zahlt für Pkw – unverändert zum Vorjahr – 120 Euro Ersatzmaut. Damit erwirbt man freilich nur die Berechtigung, mit diesem Fahrzeug die Autobahnen und Schnellstraßen an diesem Tag und dem darauf folgenden Kalendertag zu benützen. Eine gültige Vignette muss dann trotzdem her. Übrigens: Kann man nicht an Ort und Stelle bezahlen, droht eine Geldstrafe von 300 bis 3000 Euro. Autobahnvignette Die Berechnung der 1,1-prozentigen Eintragungsgebühr in das Grundbuch vom dreifachen Einheitswert soll auch ab 2013 für Schenkungen innerhalb der Familie beibehalten werden. Begünstigt sind alle (entgeltlichen und unentgeltlichen) Übertragungen an den Ehegatten, eingetragenen Partner oder Lebensgefährten, wenn die Lebensgefährten einen gemeinsamen Hauptwohnsitz haben. Weiters sind alle Übertragungen an Großeltern, Eltern, Kinder und Enkel sowie deren Ehegatten, an Stief-, Wahloder Pflegekinder oder deren Kinder bzw. Ehegatten, aber auch an Geschwister, Nichten und Neffen begünstigt. Dabei soll es keine Rolle spielen, ob es sich um privat genutzte bzw. vermietete Liegenschaften handelt oder um Liegenschaften im Rahmen von Betriebsübertragungen innerhalb dieses Personenkreises. Eintragungsgebühr in das Grundbuch Ab 2013 berechtigen auch elektronische Rechnungen, die z. B. per E-Mail, als E-MailElektronische Anhang oder Web-Download übermittelt werRechnung den, zum Vorsteuerabzug, ohne dass sie nach dem Signaturgesetz signiert sein müssen. Voraussetzung ist, dass der Empfänger dieser Art der Rechnungsausstellung zugestimmt hat und die Echtheit der Herkunft, die Unversehrtheit ihres Inhaltes und 22 ihre Lesbarkeit bis zum Ende der siebenjährigen Aufbewahrungsfrist ewährleistet. Eine sehr positive neue Regelung, meinen etwa die g Steuerexperten der Kanzlei »BDO Austria«. Steuerpflichtige, die über einen Internetanschluss verfügen und die wegen Überschrei- Elektronische tens der Umsatzgrenze von 30.000 Euro zur Bescheidzustellung Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen verpflichtet sind, müssen die Jahressteuererklärungen verpflichtend über »Finanzonline« elektronisch einreichen. Ab 2013 werden in diesen Fällen auch die Bescheide nur noch elektronisch zugestellt. Seit 1. April 2012 werden Veräußerungsgewinne aus Liegenschaften unabhängig von Steuer auf den der Besitzzeit generell mit 25 Prozent Ein- Immobilienertrag kommensteuer belegt. Für pr ivate Ver äußerungsgewinne aus Liegenschaften bedeutet dies in den meisten Fällen eine zusätzliche Steuerbelastung, da ja davor Liegenschaften ab dem elften Besitzjahr steuerfrei veräußert werden konnten (für die Veräußerung innerhalb der ersten Jahre mussten für den Gewinn aber 50 Prozent Einkommensteuer bezahlt werden). Für so genannte Altvermögen, das sind insbesondere Liegenschaften, die bereits vor dem 1. April 2002 angeschafft wurden, gibt es insofern eine Vereinfachung, als der Veräußerungsgewinn pauschal mit 14 Prozent des Veräußerungserlöses angenommen werden kann, was bei einem Steuersatz von 25 Prozent eine effektive Steuerbelastung von 3,5 Prozent ergibt. Steuerfrei bleibt weiterhin die Veräußerung von Eigenheimen oder Eigentumswohnungen, die dem Verkäufer seit der Anschaffung für mindestens zwei Jahre oder innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Veräußerung für mindestens fünf Jahre durchgehend als Hauptwohnsitz gedient haben (das ist die so genannte Hauptwohnsitzbefreiung). Auch die Veräußerung von selbst hergestellten Gebäuden ist steuerfrei, soweit diese nicht vermietet wurden. Die Anhebung des begünstigten Steuersatzes für »sonstige Bezüge« tritt in Kraft. Für die Jahre 2013 bis 2016 (sagt die Regierung heute) wird die begünstigte Besteuerung von Solidarabgabe für höhere Einkommen 23 »sonstigen Bezügen« mit sechs Prozent bei Einkünften von mehr als rund 185.000 Euro brutto pro Jahr (inklusive Sonderzahlungen) nicht mehr zustehen. Zu diesem Zweck wurde zusätzlich zum begünstigten Steuersatz von sechs Prozent für sonstige, insbesondere einmalige Bezüge (z. B. 13. und 14. Gehalt, Einmalprämien) innerhalb des Jahressechstels folgende Progressionsstaffel eingeführt: Steuersätze für steuerpflichtige sonstige, insbesondere einmalige Bezüge: für die ersten 620 Euro 0,00 Prozent für die nächsten 24.380 Euro 6,00 Prozent für die nächsten 25.000 Euro 27,00 Prozent für die nächsten 33.333 Euro 35,75 Prozent über 83.333 Euro 50,00 Prozent Dies bedeutet: Bis zu einem Bruttomonatsgehalt von rund 13.200 Euro ändert sich bei der Besteuerung der »sonstigen Bezüge« nichts. Bei darüber hinaus gehenden Bezügen wird der 13. und 14. Bezug bis zu einem Bruttomonatsgehalt von rund 25.720 Euro mit 27 Prozent und bis zu einem Bruttomonatsgehalt von rund 42.400 mit 35,75 Prozent besteuert. Wer darüber liegt, zahlt einen Spitzensteuersatz von 50 Prozent. Kürzung des Gewinnfreibetrages Parallel dazu wird für einkommensteuerpflichtige Unternehmer der 13-prozentige Gewinnfreibetrag für Gewinne ab 175.000 Euro wie folgt reduziert: für Gewinne zwischen 175.000 und 350.000 auf 7 Prozent für Gewinne zwischen 350.000 und 580.000 auf 4,5 Prozent Die Höchstbemessung für Sozialversicherungsbeiträge erhöht sich ab 2013 nicht nur Sozialversicherung: Die neuen Werte 2013 um die Aufwertungszahl, sondern auch um zusätzliche 90 Euro pro Monat. Das heißt, die Höchstbemessungsgrundlage p. a. erhöht sich von 59.220 Euro auf 62.160 Euro. Das bedeutet mehr Geld in die Sozialversicherungskassen, jedoch auch eventuell einen etwas höheren Pensionsanspruch. 24 Spenden, die als Betriebsausgaben oder SonSpenden derausgaben geltend gemacht werden können, waren bis jetzt mit zehn Prozent des Vorjahresgewinnes bzw. Gesamtbetrags der Einkünfte des Vorjahres gedeckelt. Ab 2013 gelten als Obergrenze zehn Prozent der Einkünfte des laufenden Jahres. Spendenvereine werden verpflichtet, auf Verlangen des Spenders eine Spendenbestätigung auszustellen. Der Bonus von maximal 500 Euro für Hybrid NOVA autos und andere umweltfreundliche Antriebsmotoren wird bis zum 31. Dezember 2014 v erlängert. Im Gegenzug wird die Freigrenze mit ersten Jänner von 160 auf 150 Gramm CO2 gesenkt. Die im R a hmen der Budgetsa n ier ung e i nge f ü h r t e ne u e B e s t e u e r u ng v on Steuer auf den Wer tzu w ächsen bei Akt ien und sonst Vermögenszuwachs igen Kapital a nlagen ist ja bereits mit 1. April 2012 in Kraft getreten. Für alle Verkäufe seit dem 1. April 2012 fällt für das so genannte Neuvermögen die neue Wertpapiersteuer mit 25 Prozent an. Zum »Neuvermögen« zählen alle seit dem 1. Jänner 2011 erworbenen Aktien und Investmentfonds sowie alle anderen ab dem 1. April 2012 entgeltlich erworbenen K apitalanlagen (insbesondere Anleihen und Derivate). Neu ist, dass Verluste aus der Veräußerung dieser dem »Neuvermögen« zuzurechnenden Kapitalanlagen nicht nur mit Veräußerungsgewinnen, sondern auch mit Dividenden und Zinsen aus Anleihen (nicht jedoch mit Sparbuchzinsen) eines Jahres ausgeglichen werden können. Für das Jahr 2012 werden die Banken diesen Verlustausgleich bis spätestens 30. April 2013 durchführen. Ab dem Jahr 2013 erfolgt der Verlustausgleich bereits laufend und zwar depotübergreifend für alle Depots beim jeweiligen Bankinstitut. Im Wahljahr entdeckt die Regierung die PendPendlerpauschale ler. Wegen der hohen Spritpreise wird das Pendlerpauschale angehoben. Zu Redaktionsschluss dieses Buches war folgendes Modell »in Parlamentsarbeit«: plus 60 Euro für Tagespendler, die mehr als 60 Kilometer zurücklegen; Erhöhung der Pauschale auch für Wochenpendler. 25 Seit 1. Jänner sind die Pensionen um 1,8 Prozent erhöht. Das Sparpaket hat für dieses Jahr den üblichen »Anpassungsfaktor« außer Kraft gesetzt. Nicht betroffen sind die Ausgleichszulagen-Richtsätze. Ach ja: Auch für Politiker gibt’s erstmals nach vier Jahren wieder eine Gehaltserhöhung. Erraten: Sie beträgt 1,8 Prozent. Pensionen Für Gewerbetreibende und Beamte gelten seit Jahresbeginn höhere Pensionsbeiträge. Der Eigenanteil der Pflichtbeiträge zur Pens ionsversicherung nach dem GSVG wird auf 18,5 Prozent der Beitragsgrundlage angehoben, jener der Pflichtbeiträge nach dem BSVG wird per 1. Juli auf 16 Prozent erhöht. GSVG und BSVG Die »lange Versicherungsdauer« wird stufenweise erhöht. Für die Inanspruchnahme der Das Ende der »Hacklerregelung« (von der hauptsächlich »Hackler« Beamte, Bank- und Versicherungsangestellte profitiert hatten) sind statt bisher 38,5 nunmehr 40 Versicherungsjahre erforderlich. UnternehmerInnen, die regelmäßig weniger als 25 Dienstnehmer beschäftigen, haben ab dem 43. Tag der Arbeitsunfähigkeit erstmals Anspruch auf ein Krankengeld. Es orientiert sich an den Regelungen des ASVG. Krankengeld auch für die Chefs Mit Jahreswechsel ist die Gaststättenpauschalierungs-Verordnung vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben worden. Bis zur Stunde wird im Finanzministerium um eine Nachfolgeregelung gestritten. Der Protest der Gastwirte ist beträchtlich. Viele hatten die günstige Steuerpauschalierung bereits fix in ihre Ein- und Ausgabenrechnung eingerechnet. Das Problem pauschalierte Wirte 26 Auf (Kon-)Kurs: Warum wir Pleite-Banken retten von Mag. Bettina Fink Seit 2008 geht ein Schreckgespenst um: Es heißt »Bankenpleite«. Abermilliarden an Staatshilfen wurden auch in Österreich locker gemacht, um marode Kreditinstitute vor dem Untergang zu bewahren. Doch: Warum muss eigentlich der Steuerzahler für Banken aufkommen, die sich komplett verspekuliert haben? Und wie viel Geld soll noch fließen? Was bei der Pleite einer globalen Großbank passiert, zeigte das Beispiel »Lehman«. Die Investmentbank wurde 2008 von der US-Regierung in die Insolvenz geschickt. Betroffen waren 640.000 Geschäftspartner der Bank, 110.000 Gläubiger; die Klagsflut rollt bis heute. Zahlreiche Kleinanleger, die in Lehman-Zertifikate investiert waren, mussten ihr Geld abschreiben. Die Furcht vor unkontrollierbaren Auswirkungen solcher Pleiten versetzte vor allem Europas Politik in einen Banken-Rettungstaumel. In Österreich notverstaatlicht wurden die Österreichische Volksbanken AG, die Kommunalkredit und die Hypo Alpe Adria. Ein Ende der Zahlungsströme durch die öffentliche Hand ist nicht absehbar. Die Bankenrettung entpuppt sich als Fass ohne Boden. Die Pleite einer großen Bank käme teurer als deren Rettung, wird landläufig behauptet. Kurt Pribil, der Vorstand der österreichischen Finanzmarktaufsicht, schätzt, dass eine Pleite der Banken das Fünfbis Sechsfache einer Verstaatlichung kosten würde. Dadurch werde der Staat »de facto erpressbar«. Auf europäischer Ebene wurde 2012 der permanente Rettungsschirm ESM nicht nur für Pleitestaaten, sondern automatisch auch für die Rettung von angeblich »systemrelevanten« Banken aufgespannt. Doch ist die Rettung für die öffentliche Hand tatsächlich günstiger als eine Pleite? Schwer abzuschätzen, selbst für einen Experten wie Finanzprofessor Teodoro D. Cocca von der Universität Linz. Auf jeden Fall ist für ihn die quasi-automatische Verstaatlichung von Pleitebanken ein fatales Signal: »Normalerweise müsste ein Bankmanager immer auch Angst 27 haben, dass er untergehen kann. Und weil er diese Angst spürt, wird er Risiken reduzieren, sorgfältig arbeiten. Diese disziplinierende Kraft eines drohenden Untergangs wird durch die permanenten Bankenrettungen freilich eliminiert.« Doch was hindert Europa denn, Banken »kontrolliert« pleitegehen zu lassen. Was steht tatsächlich auf dem Spiel – für Sparer, Investoren oder die Staaten? Das erste Problem: Es gibt in Europa kein taugliches Insolvenzrecht für Banken. Was für normale Unternehmen gilt, war für Banken offenbar undenkbar: »Scheitern« war einfach nicht eingeplant. In Europa und in Österreich wird seit einer gefühlten Ewigkeit an einem Fahrplan für die sinnvolle Abwicklung von Banken-Insolvenzen gearbeitet. Ergebnis: noch offen. Was steht tatsächlich auf dem Spiel? Und Banken unkontrolliert in die Pleite zu schicken, erscheint der Politik offenbar zu riskant. Da fürchtet man den viel zitierten »Domino effekt«: Stolpert eine Bank, könnten andere Banken, Institutionen und Investoren mitgerissen werden. Aber: Nicht alle Banken, die in den letzten Jahren gerettet wurden, wären tatsächlich »systemrelevant« gewesen. Was im »normalen« Wirtschaftsleben an der Tagesordnung steht, nämlich Insolvenzen, wird bei Banken gerne außer Kraft gesetzt. Was genau passierte denn, ginge eine Bank pleite? Ein Blick in eine Bankbilanz: Banken haben, wie jedes Unternehmen, Vermögen und Verbindlichkeiten. Besonderheit daran: Zu den »Verbindlichkeiten« zählt das Geld der Sparer, die diese bei der Bank einlegen, mit dem die Bank »arbeitet« – das die Sparer aber jederzeit zurückfordern können. »Schulden« hat eine Bank außerdem bei anderen Banken, die ihr Geld geliehen haben. Und bei allen, die Anleihen der Bank gekauft haben – ihr also eine Art Kredit gewähren. Und dann wäre da auch noch das Eigenkapital, das Geld der Bankeigentümer: Das wären, je nach Konstrukt ion des Geldhauses, die Genossenschafter oder Aktionäre, die sich Anteile der Bank gekauft haben. Auf der Habenseite, also dem »Vermögen« einer Bank, stehen vor allem Kredite, die an Firmen, Staaten, Private oder andere Banken vergeben wurden. Und – quasi unter der Bilanz – laufen Vertragsgeschäfte, darunter Garantien, Derivate oder 28 Swaps. Im Falle der Pleite sind all diese Akteure in irgendeiner Weise betroffen. Die gute Nachricht: Spareinlagen sind im Fall des Falles bis zu 100.000 Euro pro Bank und Person abgesichert. Was die Pleite-Bank nicht selbst aufbringen kann, wird über die »Einlagensicherung« erst einmal von den anderen Banksektoren erstattet. Den »Rest« der Sicherung übernimmt am Ende der Staat. Die Pleite einer Großbank würde das derzeitige Sicherungssystem allerdings komplett überfordern. Und es gibt auch Kunden mit viel mehr als 100.000 Euro Einlagen: »Staaten, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungen, Universitäten – sie alle haben Geld bei Banken liegen. All diese Akteure wären auch von einer Bankenpleite betroffen – und da geht es um riesige Summen«, so Univ.-Prof. Dr. Stefan Pichler von der Wirtschaftsuniversität Wien. Dann wären da auch noch die institutionellen Anleger. Wie würde eine Pleite andere Banken oder jene, die Anleihen der Bank besitzen, treffen? Für Stefan Pichler keine guten Nachrichten: »Für Gläubiger, die keine gesicherten Spareinlagen haben, bedeutet eine Pleite einen herben Verlust. Es wird nur die Konkursquote ausbezahlt, die kann zum Beispiel 50 Prozent betragen – und es dauert Jahre, bis der Konkurs abgewickelt ist.« Durch das Auffangen von Banken besonders geschont werden aktuell immer die Eigentümer. Also Aktionäre oder Genossenschafter. Bei einer klassischen Pleite würden sie alles verlieren und teils sogar haften müssen. Doch das fällt ja eigentlich unter das Risiko, das Aktionäre und Eigentümer nun einmal eingehen. Deshalb sieht Teodoro D. Cooca den Bankensektor als »viel zu geschützte« Branche. »Der Staat scheint bereit zu sein, jegliche Verluste abzudecken. Dadurch leidet die Wettbewerbsfähigkeit der ganzen Branche. Gute Banken können sich von schlechten kaum abheben, weil schlechte Banken am Ende auch noch für ihr Fehlverhalten belohnt werden, indem man sie rettet.« Und was ändert sich für Kreditnehmer bei einer Bankenpleite? Vorerst wenig. Ihre Raten zahlen sie weiter – an den Masseverwalter oder eine Bank, die die Kredite aus der Pleitemasse aufgekauft hat. Trotzdem kann es Probleme geben. Univ.-Prof. Dr. Stefan Pichler: »Ganz spannend wird 29 die Frage bei Firmen, die ständig neuen Refinanzierungsbedarf haben. Muss man sich eine neue Bank suchen, wird die Bonität der Firma erst einmal geprüft. Das kann dauern. Und für manches Unternehmen wird dann die Zeit knapp.« Es gab in der Vergangenheit schon etliche Bankenpleiten in Österreich, darunter die Bank für Handel und Industrie, BHI, die 1995 insolvent wurde. Tausende Sparer kamen plötzlich nicht mehr an ihr Geld heran. Fatal vor allem für jene, die ihr ganzes Geld bei der Pleitebank hatten, aber auch für Firmen, die Löhne ausbezahlen oder Rechnungen begleichen mussten. BHI: Die erste Pleite, die Sparer bedrohte Der heutige Pensionist Helmut Friedrich war einer der betroffenen Sparer. Er erinnert sich, dass es etliche Tage dauerte, bis eine erste Tranche der Einlagensicherung ausbezahlt wurde. »Wir waren deprimiert, weil wir uns in der Öffentlichkeit in einer langen Menschenschlange vor der Bank anstellen mussten und jeder wusste: Das waren die, die zu viel Geld hatten, die es bei der BHI eingelegt haben.« Friedrich nahm sich einen Anwalt. Und klagte mit zahlreichen anderen Betroffenen die Republik. 2003 musste der Staat tatsächlich für das gesamte Ersparte haften. Doch es dauerte zehn Jahre, bis alles Geld ausbezahlt war. Anwalt Harald Christandl weiß, was eine Bankenpleite bewirkt – und ist trotzdem nicht dagegen. Wenn auch in abgewandelter Form: »Jener Bereich einer Bank, der in der Spekulation beheimatet ist, sollte pleitegehen können. Dort, wo das Bank-Kerngeschäft abläuft, wo Vertrauen die Basis ist, wo Mittelständler oder kleine Sparer ihr Geld einlegen, dort sollten die Einlagen aber fast zur Gänze abgesichert sein.« Doch so ein Vorgehen würde ein neues Banken-Insolvenzrecht und eine Änderung der »Einlagensicherung« voraussetzen. Ideen gibt es viele – die politische Einigung, wer denn nun im Falle einer Bankenpleite finanziell gerade stehen muss, steht noch aus. Aber selbst dann bliebe die Frage: Wagt es die Politik im Fall des Falles tatsächlich eine Bank in die Pleite zu schicken – und einen »kalkulierten« Dominoeffekt zuzulassen? 30 Allheilmittel ESM? So wird Europas Geldmaschine angeworfen von Mag. Beate Haselmayer Milliarden an Rettungsgeldern fließen aus den Geldbörsen der SteuerzahlerInnen in die maroden Volkswirtschaften der Euro-Zone. Das soll verhindern, dass die europäische Währung kollabiert. Doch sind ESM & Co. wirklich die großen Retter in der Not – oder navigieren sie Europa geradewegs ins Verderben? Drei Buchstaben sollen über die Zukunft Europas entscheiden. Doch was steht hinter diesen drei Buchstaben? ESM ist die Abkürzung für »Europäischer Stabilitätsmechanismus«. Oft wird der ESM auch als »EuroRettungsschirm« bezeichnet, was eigentlich nicht ganz korrekt ist. Viel eher ist der ESM Teil eines »umfassenden Euro-Rettungsschirms«. Gemeint sind alle Maßnahmen, die die Europäische Union setzt, um den Euro und die Euro-Wirtschaftszone zu retten. • Direktkredite an Griechenland • Maßnahmen der EZB (Europäische Zentralbank), z. B. Kauf von Anleihen • Maßnahmen des IWF (Internationaler Währungsfonds), z. B. Vergabe von Hilfskrediten • Maßnahmen des EFSF (die deutsche Übersetzung bringt das Wortungetüm »Europäische Finanzstabilisierungsfazilität« hervor), eine befristete Rettungsinstitution und Vorgängerin des ESM • Maßnahmen des ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) oder unbefristete Rettungsinstitution »Unbefristete Rettungsinstitution« – das klingt sehr abstrakt für eine Autorität, die so mächtig ist, dass sie Europa retten oder in den Abgrund stürzen könnte. Genau genommen ist der ESM so etwas wie ein Hilfsfonds. Vereinfacht ausgedrückt kann man sich den ESM so vorstellen: In Luxemburg steht ein unscheinbares Gebäude, in dem der ESM untergebracht ist. Dort treffen sich in regelmäßigen Abständen so genannte 31 Finanzministerin Maria Fekter (Foto: Parlamentsdirektion/Zolles KG/Ranz) »ESM-Gouverneure«; es sind die FinanzministerInnen der E uro-Länder. Für Österreich reist Finanzministerin Maria Fekter zu den ESM-Treffen. Sie und die anderen Gouverneure entscheiden, was mit den ESM-Hilfsgeldern passieren soll. Ganze 700 Milliarden Euro Stammkapital hat der ESM zur Verfügung. Diese Riesenmenge stellen alle Euro-Länder gemeinsam auf. Wie viel Geld ein Land einzahlt, hängt davon ab, mit wie viel Prozent das Land an der EZB beteiligt ist. Österreich ist mit 2,78 Prozent an der EZB beteiligt und muss deshalb zwei Milliarden Euro in bar einzahlen. Darüber hinaus geht jedes Land Haftungen ein. Österreich haftet inzwischen für 17,5 Milliarden Euro. Sollten alle Haftungen fällig werden, müsste Österreich also insgesamt 19,5 Milliarden Euro für den ESM locker machen. Das ist eine schöne Stange Geld – und es wird für die Politiker von Jahr zu Jahr schwieriger, sie vor den Bürgern zu rechtfertigen. Geld aus dem ESM soll immer dann fließen, wenn »die finanzielle S tabilität eines Mitgliedsstaates oder des gesamten Euro-Raums in Gefahr« ist. Griechenland und Portugal haben schon Gelder aus dem vorläufigen Hilfsfonds EFSF erhalten. Spanien und Zypern suchen Hilfe; allein für Spaniens Banken werden über 40 Milliarden Euro locker g emacht. 32 Die Gouverneure des ESM haben dazu ein ganzes Repertoire an Maßnahmen zur Verfügung, mit denen sie gefährdeten Volkswirtschaften unter die Arme greifen wollen. • Finanzhilfen an Krisenstaaten: Der ESM kann der Regierung eines Krisenstaates mit zinsgünstigen Darlehen weiterhelfen. Im Gegenzug muss das Land bestimmte Reformauflagen erfüllen. • Ankauf von Staatsanleihen: Die Voraussetzung für den Ankauf von Staatsanleihen auf dem Anleihenmarkt ist, dass die EZB »außergewöhnliche Umstände« bescheinigt. • Direkte Finanzspritzen an Banken: Sollte es zu einer wirklichen Einigung in Sachen Bankenunion kommen, darf der ESM Darlehen gewähren, um auch Banken in Problemländern zu retten. Hier sind die Euro-Mitgliedsländer in den Verhandlungen sehr weit gekommen. • Neue Hilfen: Darüber hinaus ist der ESM in der Lage, neue Rettungsmaßnahmen zu erfinden und dadurch seinen Handlungsspielraum zu erweitern. Klar ist: Der ESM steht seit seinem Urbeginn an unter starkem Beschuss. Dabei besteht nicht nur Zweifel daran, dass er den Euro retten kann. Die Institution an und für sich, seine Macht und seine Befugnisse werden heftig kritisiert. Die Tatsache etwa, dass es für Länder, die Teil des ESM sind, keine Möglichkeit gibt, aus diesem wieder auszutreten. Die Mitgliedschaft am ESM ist dauerhaft in der jeweiligen nationalen Verfassung verankert. Oder der Machtverlust in Sachen »nationale Haushaltspolitik«, den die Mitgliedsstaaten durch die neue Finanzinstitution erleben. Heftige Kritik gab es auch an der unbegrenzten Haftung der Mitgliedsstaaten: Das ESM-Stammkapital von 700 Milliarden Euro kann unbegrenzt erhöht werden können, wenn das notwendig ist. In Deutschland wurde vor dem Bundesverfassungsgericht Klage gegen den ESM eingereicht. Am 12. September 2012 genehmigte das Gericht in Karlsruhe den Beitritt Deutschlands zum ESM nur unter der Voraussetzung, dass die Haftung Deutschlands beschränkt bliebe ... Der ESM ist also mächtig und er hat sehr viel Geld zur Verfügung. Doch all die Macht und all das Geld – können sie Europa aus der Krise führen? Und was bedeutet es für Österreich, dass hier Milliarden an 33 Steuergeldern dazu verwendet werden, die finanzschwachen Volkswirtschaften der Euro-Zone aufzupäppeln? Es liegt in der Natur der Sache, dass PolitikerInnen, die die Gesetze machen und unterzeichnen, diese als »unbedingt notwendig« und »effektiv« erachten. Finanzministerin Maria Fekter etwa betonte in €CO-Interviews beständig »die Wichtigkeit der neuen europäischen Finanzinstitution«, auch wenn Österreich nicht zu denen gehört, die davon profitieren: »Das ist im höchsten Interesse Österreichs. Weil die Euro-Zone als Staatengefüge muss stabil bleiben. Darauf ist unser Wohlstand aufgebaut. Wir haben ein großes Interesse daran, dass unsere Handelspartner, unsere Exportmärkte, jene Länder, mit denen wir Beziehungen haben, dass die zu einer Stabilität zurückkehren.« Natürlich werde »Österreich streng« sein und »genau kontrollieren«, ob die Empfängerstaaten auch ihre »Hausaufgaben machen«, sich also an die Reformvorgaben halten, die mit dem Erhalt von Krediten einhergehen, äußerte sich die Finanzministerin: »All jene, die sich nicht an die Spielregeln halten, die nicht die Hausaufgaben machen, die werden dann von Europa ein Korsett bekommen und bevormundet werden. Und ich glaube, dass alle in der Politik höchstes Interesse haben nicht bevormundet zu werden.« Es liegt auch in der Natur der Sache, dass eine Institution, die so umgreifend wirkt wie der ESM, scharfe Kritiker hat. Einer der heftigsten ist der bekannte Volkswirt Hans Werner Sinn vom deutschen »Ifo«Institut. €CO traf ihn für ein Interview in München. Für ihn sind die »Euro-Rettungsmaßnahmen« ein Fass ohne Boden: »Es ist im Grunde das Thema eines Drogensüchtigen, der sich gewöhnt hat an die Droge. Wenn wir die absetzen, gibt es eine Krise; um das zu verhindern, müssen wir halt die Droge weitergeben.« Hans Werner Sinn kann beispielsweise nicht verstehen, dass die Steuerzahler für die Rettung des Euro zur Kasse gebeten werden. Viel eher sollten die Gläubiger der Krisenländer, darunter eben internationale Banken und Versicherungen, die Schulden abschreiben: »Es gibt nur eine Gruppe, die die Abschreibungslasten tragen kann, und das sind die Vermögensbesitzer, die dort investiert haben. Die wollen sich 34 Hans Werner Sinn: Warnt vor der Griechenland-Hilfe (Foto: Ifo/A. Schellnegger) aber aus dem Staub machen, ohne die Lasten zu tragen; sie suchen jetzt einen Dummen, der an ihrer Stelle die Lasten übernimmt und das sind Sie und ich.« Diejenigen, die in den Krisenländern investiert hatten, mussten ein Risiko einkalkulieren, für das sie hohe Dividenden bekommen haben. Jetzt, da das Risiko schlagend geworden ist, müssten sie »eben die Konsequenzen tragen«, meint der renommierte Ökonom. Doch stattdessen würde der Verlust von der Europäischen Union, also letztendlich von den SteuerzahlerInnen der Euro-Länder, getragen. Durch die wiederholten Hilfszahlungen an die Krisenländer bestehe überdies die Gefahr, dass sich Europa in eine »Transferunion« verwandle, also in eine Gemeinschaft, in der ein starkes Mitglied dem finanziell Schwächeren auf Dauer Geld zur Verfügung stellen muss, so wie es zwischen Ost- und Westdeutschland der Fall war. Der Stabilität und dem sozialen und politischen Frieden diene das laut Sinn jedenfalls nicht. Auch mit den Reformvorgaben, dem »Korsett«, wie es Finanzministerin Maria Fekter so schön nennt, hat Hans Werner Sinn so seine Probleme: Auch hier sieht er den europäischen Frieden gefährdet: »Zu sagen, ihr kriegt das Geld und müsst das und das dafür tun, das ist 35 erniedrigend und das führt zu einem Maximum an Spannung politischer Art in Europa. Das führt auch letztlich zu gar keiner Reform in Europa. Warum sollen sie sich denn reformieren, wenn das Geld weiter fließt?« Und dann ist da noch die große Frage, ob die europäischen Rettungsmaßnahmen rein volkswirtschaftlich betrachtet sinnvoll sind. Hans Werner Sinn hat große Zweifel daran, dass sie den Euro über Wasser halten: »Man muss natürlich den Euro retten, das ist doch keine Frage«, meint er im €CO-Interview. »Die Frage ist nur, wie man ihn rettet. Ich glaube, indem man grenzenlos zahlt, wird der Zusammenbruch des Euro in einem großen Knall vorbereitet. Wir können ihn nur retten, wenn man die Länder, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind, temporär raus lässt aus der Euro-Zone und den Rest stabilisiert.« Dann könnten die Länder ihre neuen Währungen gegenüber dem Euro abwerten und langsam ihre Volkswirtschaften neu aufbauen – so die Theorie des Münchner Ökonomen. Den Euro retten? Ja, sicher. Nur, wie? In den Augen vieler PolitikerInnen wäre das aber genau die Lösung, die uns alle noch viel teurer zu stehen kommen würde. Maria Fekter: »Alle, die sagen, Griechenland pleitegehen zu lassen, die schaufeln erst recht die Last zu den Steuerzahlern. Daher bin ich nicht dafür, dass Griechenland pleitegeht; das würde die österreichischen Steuerzahler tatsächlich reale Milliarden kosten.« Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Politiker und ihre Kritiker äußerst konträre Ansichten haben. Auch innerhalb der Volkswirtschaftslehre gibt es unterschiedliche Strömungen und Denkrichtungen. Je nach Lager werden die Maßnahmen, die die europäische Politik setzt, um der Euro-Krise Herr zu werden, unterschiedlich bewertet. Die einen halten den ESM für eine »notwendige Institution«, die anderen reiben sich an dem »vermeintlichen Stabilitätsmechanismus«. Den Weg aus der Krise geben die machthabenden PolitikerInnen vor. In deren Haut möchte man angesichts der Uneinigkeit unter den Fachleuten und Ökonomen nicht stecken. In der Haut der Steuerzahler Innen allerdings auch nicht. 36 »Eherne Reserve«: Dem Gold der Österreicher auf der Spur von Mag. Bettina Fink Es kracht gewaltig im Gebälk der Europäischen Währungsunion. Das beunruhigt die Bürger. Viele sehnen sich nach Handfestem, Angreifbarem: Gold zum Beispiel. Kein Wunder also, dass die Goldnachfrage in den letzten Jahren durch die Decke ging. Und: dass die Goldreserven der Republik Österreich plötzlich wieder interessieren. Nur: Wo ist »unser« Gold eigentlich? Wie viel b esitzt der Staat? Und was sind die Barren wert? Im Shop der »Münze Österreich« dreht sich alles ums Edelmetall. Vor allem der Glanz des Goldes hat es den Privatanlegern angetan. Auf dem Höhepunkt der Finanzmarkt- und Euro-Krise wurden fünfmal so viele Münzen und Barren an Privatanleger verkauft wie zuvor. Gold gilt als sicherer Hafen. Die Menschen greifen auf das zurück, was sich schon einmal »in Krisenzeiten bewährt hat«. Und das, was die Bürger im Kleinen tun, macht auch der Staat: Er besitzt Gold als »eherne Reserve«. Österreich hat – so wie fast alle Nationen – Gold zur Absicherung der Währung im Portfolio. Hüterin des Staatsgoldes ist die Österreichische Nationalbank. 280 Tonnen Gold soll Österreich derzeit besitzen. Nur wo liegt es denn eigentlich? Lange gab es darauf keine klare Antwort. »Weil es internationale Praxis der Notenbanken ist, nicht alles im Detail zu veröffentlichen. Vor allem aus Sicherheitsgründen«, argumentierte Dr. Peter Zöllner von der Österreichischen Nationalbank bis vor kurzem. Doch der Druck der Öffentlichkeit stieg. Vor allem in Deutschland, wo wilde Debatten über den Verbleib des »nationalen Goldvorrats« geführt wurden. Ob der Geheimniskrämerei der Nationalbanken wurde auch der Raum für Verschwörungstheorien immer größer: So wurde der Verdacht geäußert, das deutsche Gold existiere gar nicht. Oder aber es hieß: Das Gold sei verliehen, gar nicht mehr als Barren vorhanden. Inzwischen hat sich Deutschland – unter dem Druck der Öffentlichkeit – für eine umfassende Inventur ihres Goldbestandes entschieden. 37 Und auch in Österreich gab sich die Nationalbank Ende 2012 gegenüber dem Parlament plötzlich auskunftsfreudiger: »Ein Teil des österreichischen Goldes – nämlich 17 Prozent – liegt in Österreich, der größte Teil an Goldhandelsplätzen wie London (80 Prozent) und Schweiz (3 Prozent).« In den USA, wo es lange Zeit vermutet worden war (Fort Knox), soll derzeit kein österreichisches Gold liegen. Allerdings: »Es ist für die Zukunft nicht auszuschließen – auch die USA haben ein Rechtssystem, das zuverlässig ist; nicht umsonst kaufen so viele in Krisenzeiten US-Dollar.« Die Österreichische Nationalbank lagert unser Gold also vor allem dort, wo tief liegende sichere Tresorräume existieren und wo im Notfall das Gold auch gehandelt und sofort in Devisen umgewandelt werden kann. Doch wie sieht es mit dem Thema »Goldverleih« aus? Sind die österreichischen Goldbarren tatsächlich physisch vorhanden oder gibt es diese etwa nur noch auf dem Papier, weil sie »verleast« sind? Fakt ist: Das österreichische Staatsgold wird seit den 1990er-Jahren immer wieder verliehen. Mit den Zinsen können die Kosten der Goldlagerung beglichen werden und die Bilanz der Nationalbank wird aufgefettet. Das Gold lagert in Tresorräumen Das auch zur Freude der jeweiligen Bundesregierung, deren Budget von den Dividenden der Nationalbank profitiert. Und auch hier wurde die Nationalbank kurz vor Jahresende 2012 etwas auskunftsfreudiger: »In den letzten zehn Jahren haben wir mit Goldleihgeschäften rund 300 Millionen Euro verdient – und bei solchen Geschäften keine Ausfälle verzeichnet«, so OeNB-Vizegouverneur Wolfgang Duchatczek. Anfang der 2000er-Jahre sollen noch bis zu 80 Prozent des Goldes verliehen gewesen sein – heute seien es nur noch rund 16 Prozent. »Tendenz weiter fallend.« Was vor allem mit den geringen Zinsen zu tun hat, die Gold derzeit bringt. Doch macht es aus heutiger Sicht überhaupt Sinn, mit der goldenen Notreserve Verleihgeschäfte zu betreiben? Was, wenn man das Gold plötzlich dringend bräuchte? Klare Antwort darauf: nein. Gold stellt nur einen Teil der österreichischen Währungsreserven dar. Diese machen derzeit rund 20 Milliarden Euro aus. Die Goldreserven waren – dank hohem Goldkurs – Ende 2012 rund elf Milliarden Euro 38 wert. Rund sechs Milliarden der Währungsreserven sind in Devisen, also Fremdwährungen von Dollar bis Franken, angelegt. Und Österreich hat auch die Option auf Kredite des IWF, des Internationalen Währungsfonds, in Höhe von rund drei Milliarden Euro – für den Fall eines Liquiditätsengpasses. Zusätzlich hat Österreich rund um den Beitritt zur Europäischen Währungsunion rund 22 Tonnen Gold in die Europäische Nationalbank eingebracht – zum damaligen Wert von knapp 200 Millionen Euro übrigens. Heute wäre dieses Gold ein Viel faches wert. Bezogen auf die umlaufenden Geldmengen macht der Anteil des österreichischen Staatsgoldes heute gerade einmal fünf bis neun Prozent aus. Österreich hat in den letzten Jahrzehnten auch massiv Goldreserven abgebaut. Unter anderem, weil dessen Bedeutung sank. Auch im Zusammenhang mit der Gemeinschaftswährung, dem Euro. 1992 hatte die Republik rund 650 Tonnen Gold als Währungsreserve. 1999, im Jahr der faktischen Währungsunion, waren es noch über 400 Tonnen. Bis 2007 wurde weiter abgebaut. Erst in den letzten Jahren blieben die Mengen stabil – bei 280 Tonnen. Es gab auch immer wieder politische Begehrlichkeiten, die österreichischen Goldvorräte zu verkaufen, um damit Staatsausgaben zu finanzieren. Auch das Null-Defizit-Budget 2001 des damaligen Finanzministers Karl-Heinz Grasser ist mit Hilfe von Goldverkäufen »vereinfacht« worden. Gegen einen Generalverdacht allerdings verwehrt sich der ehemalige Gouverneur der Österreichischen Nationalbank Dr. Klaus Liebscher vehement: »Die Goldverkäufe waren für jene, die das Budget sanieren wollten, eine willkommene Gelegenheit; aber es war nicht so, dass wir für die Budgetsanierung verkauft hätten. Für mich war der Kursgewinn, den wir einfahren wollten, das entscheidende Kriterium.« Doch was wäre Österreichs Gold denn heute theoretisch wert – im Ernstfall? Bei einem Währungscrash? Ein paar Zahlen zum Vergleich: Österreichs Bruttoinlandsprodukt liegt bei rund 300 Milliarden Euro im Jahr; mit den elf Milliarden in Gold käme man wohl nicht sehr weit. Sie entsprechen in etwa dem Wert der österreichischen Importe eines einzigen Monats. Dr. Johann Kernbauer rechnet vor: »Wenn man den Goldbestand der Nationalbank auf die Österreicher umlegt, ergibt sich 39 ein Goldbesitz pro Kopf von rund 1300 Euro – allein die Bauspareinlagen sind doppelt so hoch. Und das Finanzvermögen der Österreicher wird im Schnitt auf 60.000 Euro pro Kopf geschätzt – also ein Vielfaches dessen, was die Aufteilung des Goldbesitzes auf den einzelnen Österreicher ausmachen würde.« Zudem könnte Österreich innerhalb der Europäi schen Währungsunion nicht so einfach nach Belieben über die eigenen Goldreserven verfügen. Es existiert ein Abkommen, das den Goldverkauf pro Jahr limitiert. Und: Man müsste sich bei einem Zugriff auf das nationale Gold mit der Europäischen Zentralbank abstimmen. »Und das ist gut so«, sagt Dr. Klaus Liebscher: »Wenn 17 Notenbanken plus die EZB zusammen sind, kann Österreich nicht souverän tun, was es will.« Freistil-Verkauf ist nicht möglich Gold hat vor allem psychologisch und symbolisch eine starke Wertigkeit; die reale Bedeutung in der internationalen Geldwirtschaft wird immer geringer. Für Gold als eiserne Reserve sprechen vor allem emo tionale Argumente, wie Dr. Eduard Brandstätter, Wirtschaftspsychologe an der Universität Linz, ausführt: »Gold steht für Luxus, für Reichtum, eventuell auch etwas Dekadenz. Gold symbolisiert Beständigkeit.« Und das übrigens seit Jahrtausenden. Angefangen vom Gold der Pharaonen über den legendären Schatz des antiken König Priamos bis heute – Gold hat eine wichtige Funktion. Es steht für Macht, für Sicherheit und Ewigkeit. Sicherheit, die es so natürlich nicht gibt: Auch Goldkurse schwanken. Bei Gold geht es aber auch um Sehnsüchte. Denn faktisch gibt es weltweit gar nicht so viel Gold, dass alles Papiergeld damit abgesichert werden könnte. Die Weltwirtschaft ist in ihren Dimensionen längst über die existierenden Goldmengen hinausgewachsen. Eine tragende Säule des Staates ist Gold derzeit nicht mehr. Doch der Mythos lebt. Heute, da Milliarden an Hilfsgeldern nach Griechenland oder hin zu Pleitebanken verschoben werden, mehr denn je. Denn die dabei bewegten Summen erscheinen den Bürgern immer irrealer, immer ungreifbarer. Da hat so ein kleiner, funkelnder Barren direkt etwas Handliches. 40 Nix wie raus aus dem Euro – aber welche »Fluchtwährung«? von Katinka Nowotny Schuldenkrise und Euro-Schwäche – wen wundert es, dass immer mehr Menschen ihre Ersparnisse schützen wollen, in dem sie in andere Währungen investieren. Doch gerade für Kleinanleger lauern hier große Risiken. Oft ist der Spatz in der Hand tatsächlich besser als die Taube auf dem Dach – auch wenn die Versuchungen manchmal sehr gross scheinen. Zehn Jahre lang galt der Euro als starke und stabile Währung, als würdiger Nachfolger der harten D-Mark, die in ganz Europa als mächtiger Anker in einer turbulenten Wirtschaftswelt betrachtet wurde. Doch diese Zeiten sind vorüber. Zwar hat die Gemeinschaftswährung gegenüber anderen globalen Währungen – dem Dollar, dem Yen, dem britischen Pfund – nicht gerade dramatisch an Wert verloren. Die anhaltende Schuldenkrise am Südrand der Euro-Zone und die Bereitschaft der Europäischen Zentralbank, mit dem Ankauf von Staatsanleihen die Schulden mancher Staaten zu finanzieren, haben jedoch ihre Spuren in den Wechselkursen hinterlassen. Deshalb fragen sich immer öfter Anleger in der Euro-Zone, ob sie ihre Ersparnisse nicht doch anderswo investieren sollten – in Ländern, die auf das Experiment einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsame Regierung verzichtet haben; in Währungen, die nicht dauernd im Gerede sind. Tatsächlich hat etwa der Schweizer Franken in den vergangenen drei Jahren rund ein Viertel gegenüber dem Euro zugelegt; die norwegische Krone hat knapp 20 Prozent gewonnen. Auch das britische Pfund ist heute um fünf Prozent fester als 2009 und selbst der polnische Zloty hat gegenüber dem Euro um vier Prozent an Boden gut gemacht. Sogar der US-Dollar ist heute rund zehn Prozent stärker als am Tiefpunkt der Weltfinanzkrise – trotz der anhaltenden Schwäche der amerikanischen Wirtschaft. Und der chinesische Yuan steht auch um 20 Prozent besser da als noch vor ein paar Jahren. 41 Unser Euro: Viele flüchten aus der gemeinsamen Währung (Foto: OeBS) Das alles sind Werte, die zum Redaktionsschluss dieses Buches g alten. Sie mögen nun, da Sie das neue €CO-Jahrbuch in Händen halten, nicht mehr hundertprozentig präzise sein – was aber sicher Gültigkeit haben wird, ist die Tendenz. Selbst die Prognosen für viele Währungen außerhalb des Euro-Raumes liegen besser als die Erwartungen für die mit so vielen Problemen behaftete europäische Einheitswährung. Also: Nichts wie raus aus dem Euro? Experten raten zur Vorsicht. Denn was eine Investition in eine a ndere Währung bringt, hängt nicht nur von der Entwicklung des Wech selkurses ab, sondern auch von den Zinsen, die man dort verdienen kann. Und die sind in manchen dieser klassischen Fluchtwährungen, nun ja, nicht besonders berauschend. Das gilt vor allem für den Schweizer Franken, für den Anleger fast gar keine Zinsen mehr erhalten – gerade 0,6 Prozent im Jahr auf zehnjährige Staatsanleihen. Nur so kann die Schweizer Nationalbank einen weiteren Wechselkurs-Anstieg der eigenen Währung vermeiden, der der Wirtschaft des Landes schweren Schaden zufügen würde. »Die wenigsten Anleger verwenden logischerweise den Schweizer Franken als Anlagewährung«, sagte uns auch Susanne Höllinger, als sie im Vorjahr noch Leiterin des Private-Banking-Bereiches der »Erste Bank« war. 42 »Das hat zwei Gründe: Er bietet praktisch keine Verzinsung. Und er ist bereits so hart und teuer geworden, dass die Erwartung, später noch einmal Währungsgewinne zu machen, eigentlich gleich null sind.« Auch in den USA, Großbritannien, Norwegen und Japan sind die Zinsen niedriger als in Österreich, wo einfache Sparer bereits unter den geringen Renditen stöhnen. Nur polnische Staatsanleihen scheinen mit 5,2 Prozent gut aufgestellt. Doch dort gibt es, trotz der starken poln ischen Wirtschaft, auch ein höheres Risiko als im Westen. Die Flucht in fremde Währungen birgt grundsätzlich Gefahren, betonen Experten. Denn damit handelt man sich ein Währungsrisiko ein, das zu Hause so nicht existiert. Wenn der Euro fällt, dann spürt man das im Alltag kaum, weil die meisten Preise ja gleich bleiben. Weder Mieten noch Bier werden teurer. Bloß Tanken kostet noch etwas mehr, weil das Öl importiert wird; und natürlich verteuern sich auch Reisen ins (Nicht-Euro-)Ausland. Bei einer Veranlagung in Fremdwährungen aber spiegelt sich jede Wechselk ursschwankung sofort in Gewinnen oder Verlusten wider. Es ist wie eine Investition in spekulativen Aktien. »Wir sind immer der Meinung, dass es gefährlich ist, aus der Währung zu flüchten, in der man lebt und arbeitet; genauso wie es gefährlich war, Kredite in Yen oder Schweizer Franken aufzunehmen«, sagt Harald Holzer, ein Vorstand der »Kathrein«-Bank. Währungen können massiv und schnell schwanken. Tagtäglich werden mehrere Billionen an Euro, Dollar, Yen oder Pfund auf dem interna tionalen Devisenmarkt hin und her verschoben. Händler in den großen Banken bewegen per Mausklick riesige Summen; Angebot und Nachfrage bestimmen in jedem Augenblick den Preis. Und nicht selten sind es hochkomplexe Computerprogramme, die darüber entscheiden, ob ein Währungskurs fällt oder steigt. Während es bei Aktien noch möglich ist, die Solidität und finanzielle Stärke des Unternehmens zu beurteilen und daraus Prognosen abzuleiten, sind Wechselkursprognosen ein reines Ratespiel. Niemand weiß, wo eine Währung in einem Jahr stehen wird – nicht einmal für den 43 Euro-Druck in Österreich: Währungsspekulation als unsicheres Terrain (Foto: OeBS) nächsten Tag ist eine präzise Prognose möglich. Das macht Währungsspekulationen zu einem unsicheren Terrain, auf dem man sich als Kleinanleger rasch die Finger verbrennen kann. Dennoch kann es sinnvoll sein, zumindest einen Teil seiner Erspar nisse in anderen Währungen anzulegen. Wenn der Euro fällt, dann bleibt zumindest dieser Teil des Portefeuille stabil. Diversifizierung hilft immer das Gesamtrisiko bei der Geldanlage zu senken. Je nach der eigenen Risikobereitschaft und dem Ausmaß der Ersparnisse sollten dies etwa zehn bis zwanzig Prozent der eigenen Ersparnisse sein, raten Experten. Bei größeren Vermögen auch mehr. Aber wohin »flüchten«? Die klassische Alternative zur Heimwährung ist immer noch der US-Dollar. Die USA bieten den größten Kapitalmarkt der Welt. Vor allem amerikanische Aktien gehören in jedes professionell gemanagte Portefeuille. Wer vor zehn Jahren Anteile von Apple, Google oder Amazon gekauft hat, hat auf jeden Fall gewonnen – egal, wie sich der Dollar nun von Tag zu Tag entwickelt. »Der Vorteil des US-Dollar ist, dass hier eine einheitliche Regierung da ist, die frei agieren kann, ohne Rücksicht auf 17 andere Nationen«, sagt Holzer unter Hinweis auf die Entscheidungsträgheit 44 der E uro-Zone. »Ein weiterer Vorteil: eine Wirtschaft, die wächst. Der Nachteil: die volkswirtschaftlichen Rahmendaten – die Verschuldung, das Budgetdefizit. Hier gibt es Kennzahlen, die genauso schlecht, wenn nicht sogar noch schlechter als die in der Euro-Zone sind.« Dazu kommt, dass die Amerikaner Jahr für Jahr immer noch zu wenig sparen – und ebenso jedes Jahr viel mehr importieren, als sie selbst für den Export produzieren. Die Lücke in der Leistungsbilanz wird vor allen durch Kapital aus China geschlossen. Schon allein deshalb wird dem Dollar seit Jahren ein deutlicher Wertverlust vorausgesagt. Bloß weil dieser noch nicht oder erst gering eingetroffen ist, heißt das nicht, dass er niemals kommt. Wenn aber nicht Dollar, was dann? Japan ist noch viel höher verschuldet als die USA und Wenn aber nicht die Wirtschaft des Landes wächst seit Jah- Dollar, was dann? ren kaum. Das spricht gegen den Yen. Auch in Großbritannien türmen sich die wirtschaftlichen Probleme; das Land mit seinem riesigen Finanzsektor wurde von der Krise besonders hart getroffen. Allerdings böte die Londoner Börse eine ansehnliche Auswahl an großen international agierenden Konzernen mit zum Teil guten Gewinnaussichten. Beim Schweizer Franken wiederum passen alle fundamentalen wirtschaftlichen Daten. Wenn die Schweizer Nationalbank nicht durch ihre Interventionen einen Deckel bei ihrem Kurs zum Euro eingezogen hätte, dann läge der Franken bereits viel höher in der Bewertung. Aber: Wer in Franken sein Geld anlegt, muss für diese Sicherheit bezahlen – durch den Verzicht auf Zinsen; zum Teil sogar durch negative Zinsen. Interessant scheinen die skandinavischen Staaten, die sich alle vom Euro fern gehalten haben. Hier ist vor allem die norwegische Krone der Liebling für Währungshasardeure. Dank des Ölreichtums des Landes ist die Krone de facto eine »Petrowährung«. »Die norwegische Krone wurde in den vergangenen Quartalen stark nachgefragt«, erklärt Valentin Hofstätter, Währungsexperte bei der Raiffeisen Zentralbank. »Ihr großer Vorteil sind die Erdöleinnahmen und Norwegen ist ein Nettogläubiger. Aber die Währung ist schon sehr teuer.« Wie sich die 45 Krone weiter entwickelt, hängt also vor allem vom Ölpreis ab. Auch der muss, vor allem kurzfristig gesehen, nicht immer steigen, sondern könnte zwischendurch auch wieder einmal stärker nachgeben. Der polnische Zloty und andere osteuropäische Währungen hängen in ihrer Kursentwicklung wiederum stark vom Euro ab und stellen daher keine wirkliche Fluchtwährung dar. Für wirklich Wagemutige aber lockt der chinesische Yuan, die Währung der vielleicht bald größten Wirtschaftsmacht der Welt. Tatsächlich ist der Yuan, auch Renimbi genannt, in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Freilich entscheidet hier nicht das freie Spiel der Marktkräfte, sondern der Wille der Kommunistischen Partei. Denn anders als die anderen großen Währungen der Welt ist der Yuan nicht frei handelbar; er wird von der Staatsmacht gelenkt. Jahrelang hat diese ihn künstlich n iedrig gehalten, um die Exporte anzukurbeln; erst unter dem starken Druck der USA hat die chinesische Führung eine allmähliche Aufwertung zugelassen. »Es ist eine politische Entscheidung, wie sich der Wechselkurs des Yuan entwickeln wird«, sagt Harald Holzer von der »Kathrein«-Bank. »Alle gehen davon aus, dass er aufwerten wird; aber das wird sich erst zeigen.« Mitglied des Pekinger Zentralkomitees müsste man sein ... Für Wagemutige lockt Chinas Yuan Einer der Hebel, über die die chinesische Regierung den Wechselkurs steuert, ist: Sie begrenzt den Eintritt von ausländischem Kapital. Auch das macht es schwer, am künftigen Anstieg des Yuan zu partizi pieren. Am ehesten geht das noch über Veranlagungen in Hongkong, sagen Asien-Experten. Also, wohin man immer will: Nur ein kleiner Teil des Vermögens sollte »anderswo« Zuflucht suchen. Denn was immer passiert – die Dinge, die jemand fürs tägliche Leben braucht, wird man stets mit der eigenen Währung bezahlen. Wie bereits zu Beginn geschildert: Der Spatz in der Hand – nun, Sie wissen schon ... 46 Ratingagenturen: Die Spur der Verwüstung quer durch Europa von Mag. Ilja Morozov Lange Zeit galten »Standard & Poors«, »Moody’s« und »Fitch« als unantastbar. Damit ist jetzt Schluss. Mehrere wissenschaftliche Studien geben den berühmt-berüchtigten Ratingriesen Mitschuld an der Euro-Krise. Und Investoren haben gegen »die großen Drei« erstmals erfolgreich »wegen massiven Betruges« geklagt. Schließlich will auch die Europäische Union die Ratingagenturen an die Kandare nehmen – freilich erst ab dem Jahr 2014. Der Aufschrei in Europa war groß, als vor einem Jahr reihenweise die Buchstaben purzelten. Denn mit ihnen purzelten auch Ansehen und Kreditwürdigkeit. Im Jänner 2012 verlor neben Frankreich auch Österreich sein heiß geliebtes Triple-A-Rating. Insgesamt neun Staaten wurden auf einen Schlag ihrer bisherigen Note beraubt. Und das mitten in der Euro-Krise, während der viele Länder mit enormen Zinsaufschlägen zu kämpfen hatten. Für viele EU-Politiker war schnell klar, dass hier »nicht mit objektiven Maßstäben gerechnet« wurde. Sogar von einer Verschwörung gegen Europa war die Rede. Denn während Angela Merkel und Co. von einem Rettungsgipfel zum nächsten pilgerten, schienen die amerikanischen Ratingagenturen nahezu jede Lösung der Euro-Krise zu torpedieren. Auch in Österreich ging die Angst um, dass nach dem Verlust der AAABonität die Zinszahlungen in die Höhe schnellen würden – mit fatalen Auswirkungen aufs Budget. Eine ganze Nation war empört. €CO besuchte im Frühjahr 2012 daher jenen Analysten, der Österreichs Herabstufung zu vertreten hatte – und staunte nicht schlecht: Alois Strasser ist gebürtiger Oberösterreicher und Chefanalyst bei »Standard & Poor’s« (S&P) in Frankfurt. Erstmals ließ sich der bis dahin medienscheue Natternbacher von einem Fernsehteam in die Mangel nehmen. Natürlich fragten wir ihn, ob er es bereue, seiner Heimat das Triple-A genommen zu haben? »Nein, weil mein Auftrag ist es, ein richtiges Rating draußen zu 47 haben. Ob ich jetzt Österreicher bin oder aus einem anderen Land komme, ich habe eine gute Arbeit abzuliefern. Und dass Österreich heruntergestuft worden ist, ist zwar schade, aber es war aufgrund der Gesamtsituation nicht anders möglich«, antwortete Alois Strasser – eher unpatriotisch, aber pflichtbewusst. Der wahre Grund für die Herabstufung auf »das auch noch schöne Rating AA+«, so der Ober österreicher, seien eben die Unsicherheiten in der EU und weniger Österreichs marode Staatsbanken. Immerhin: Das befürchtete Donnerwetter auf den Finanzmärkten blieb für die Alpenrepublik aus. Ende 2012 musste Finanzministerin Maria Fekter für neue Staatsanleihen so niedrige Zinsen zahlen wie nie zuvor – beinahe bereits lächerliche zwei Prozent. Ganz im Gegensatz zu ihren Kollegen aus Portugal oder Griechenland. Dort hatten massive Herabstufungen durch die drei Ratingriesen pure Verzweiflung ausgelöst. Im €CO-Interview zeigte sich der österreichische S&P-Analyst Alois Strasser dennoch von der »makellosen Leistung« seiner Agentur überzeugt: »Es ist so, dass wir jahrzehntelang Meinungen zu Staatsratings veröffentlicht haben. Und die waren eigentlich immer sehr gut und korrekt.« Das Donnerwetter ist ausgeblieben Freilich: Das sehen viele Experten anders. Eine Studie der anerkannten Wirtschaftsuniversität »HSG« in St. Gallen bestätigte im alten Jahr erstmals schwarz auf weiß, was viele EU-Politiker von Anfang an vermuteten – und was sie im neuen Jahr zu neuen Beschränkungen für die Bonitätswächter greifen lässt: Die Agenturen tragen massiv (Mit-) Schuld an Europas Misere. »Nicht nachvollziehbare Herabstufungen europäischer Länder sind eine zentrale Ursache und Triebfeder der e uropäischen Schuldenkrise«, fassten die Autoren zusammen. So haben die Schweizer Wissenschaftler unter anderem errechnet, dass »S&P«, »Moody’s« und »Fitch« schon seit 2008 nach krummen Maßstäben bewertet haben. Anhand »objektiver Wirtschaftsfaktoren« hätte beispielsweise Irland statt um sieben Klassen nur um eineinhalb Klassen herabgestuft werden dürfen; Portugal statt um acht nur um eine halbe Klasse und – man glaubt es kaum – selbst Griechenland hätte zu Beginn der Krise gar nicht herabgestuft werden müssen. Freilich, hier liegt die Betonung auf dem Begriff »nicht müssen«. 48 All das habe die Länder »allerdings an den Rand der Insolvenz« gedrängt, folgern die Experten nüchtern. Die Studienergebnisse sind harter Tobak, der den Kritisierten nicht gut bekommen ist. »Standard & Poor’s« reagierte verschnupft auf die Vorwürfe und antwortete mit einer zweieinhalbseitigen Gegendarstellung. Die Rechenmodelle der Schweizer Studienautoren freilich konnten nicht zweifelsfrei widerlegt werden. Und auch andere Institutionen gingen mit den Ratingagenturen hart ins Gericht. Laut den Wissenschaftlern der Plattform »Intereconomics« haben die Analysten vor der Euro-Krise »viel zu gutmütig Bestnoten« verteilt, »viel zu spät auf hohe Schuldenberge reagiert« und dann »übereifrig Staaten herabgestuft«. Das habe die Situation auf den Finanzmärkten »verschärft«. Die Problematik ist nicht neu. Auch während der Asienkrise vor fast 15 Jahren sind die Agenturen für ihre wenig ruhmreiche Rolle kritisiert worden. Viele Staaten fühlen sich in »Geiselhaft der Bonitätsprüfer«, die hauptsächlich den US-Finanzmärkten nahe stehen. Wer Anleihen platzieren und somit neue Schulden machen will, kommt de facto nämlich an den »großen Drei« nicht vorbei. Investoren vertrauen noch immer auf das Urteil von »Standard & Poor’s«, »Moody’s« und »Fitch«. Dabei hätten Staaten und internationale Organisationen genügend Beweise in der Hand, um weniger aufgeregt auf die Beurteilungen der Ratingagenturen reagieren zu können. Doch was ist bisher geschehen? Richtig, so gut wie nichts. Denn egal, was Ratingagenturen auch machen, sie sind niemandem Rechenschaft schuldig. Haftungen für falsche Benotungen sind ausgeschlossen, da es sich ja schließlich nur um »Meinungen« handelt, die von der Redefreiheit geschützt werden. In den USA, dem größten Finanzplatz der Welt, waren die Bonitätswächter bis zum Jahr 2006 gar völlig ohne Aufsicht. Und das trotz vorheriger echter Rating-Katastrophen wie »Parmalat«, »Worldcom« oder »Enron«; dem US-Energieriesen »Enron« war gar vier Tage vor dem Konkurs noch eine »gute Bonität« bescheinigt worden. Erst als die blamierte amerikanische Börsenaufsicht SEC Nachforschungen anstellte, gab es die ersten Kratzer an der Fassade der Ratingagenturen: In einem 700 Seiten starken Bericht kam eine offizielle Untersuchungskommission der US-Regierung zum Schluss, dass »Rat ingagenturen die Hauptverursacher der 49 Finanzkrise« sind. Detailreich werden darin toxische Finanzprodukte beschrieben, die bereitwillig mit »AAA« bewertet wurden. Hundertfach war von den Prüfern schnelles Geld gemacht worden, ohne dass die Produkte tatsächlich durchleuchtet worden wären ... Um das wahre Ausmaß der Abzocke im Detail verstehen zu können, lohnt ein Blick zurück zum Ausgangspunkt der Finanzkrise. Rating agenturen wie »S&P« oder »Moody’s« verdienten bis dahin ihr Geld, indem sie Unternehmen und Länder auf ihre Bonität bewerteten. Nur: Staatsanleihen sind zwar prestigeträchtig, bringen jedoch kaum Umsatz. »Standard & Poor’s« etwa bewertet jährlich über eine Million Finanzprodukte, von denen aber nur ein Bruchteil Staaten zuzuordnen ist. Die USA oder Deutschland werden überhaupt gratis bewertet, weil die Agenturen sonst keinen Zugang zu den dortigen Kunden erhalten. Die Bonitätswächter sind ohne Aufsicht Richtig viel Geld lässt sich hingegen mit »komplexen Produkten« machen. Diese tauchten auf dem Markt auf, als ab dem Jahr 2002 immer mehr Menschen in den USA auch mit schlechter Bonität einen Kredit bekamen – urplötzlich nämlich machte sich unter den Investmentbanken eine Art Goldgräberstimmung breit. Gewiefte Finanzmathematiker verpackten Kredite schlechter Bonität, so genannte »subprime mort gages«, zu handelbaren Geldanlagen und verkauften diese toxischen Gebilde an andere Investoren. Damit das Ganze einen seriösen Charakter hatte, verpassten Ratingagenturen den Produkten ihr Gütesiegel – in den meisten Fällen übrigens ein »Triple-A«. Die Gewinne von »Moody’s« und Co. schnellten bei einer Marge von über 40 Prozent regelrecht in die Höhe. Insgesamt bewerteten die drei Ratingriesen »Finanzprodukte« im Wert von mehreren Billionen Dollar, allesamt angeblich höchst objektiv. In Wirklichkeit blieben ihnen im Schnitt oft nicht einmal zwei Stunden Zeit, um Millionendeals zu überprüfen – und abzusegnen. Was danach passiert ist, ist Geschichte. Zahllose »Triple-A«-Produkte verloren nach der Lehman-Pleite 2008 vollständig an Wert. Massenhaft gingen bestgeratete Finanzprodukte den Bach hinunter, unglaubliche Summen wurden vernichtet, weil die Investoren nahezu blind dem Urteil der Bonitätsprüfer vertraut hatten ... 50 Und: Viele Investoren, die die Ratingagenturen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen wollten, blitzten mit ihren Klagen auch vor den G erichten ab – fast durchwegs argumentierten die Anwaltskanzleien der Agenturen dabei eben mit dem Verweis auf die Meinungsfreiheit. Erst im Vorjahr ist es »down under«, also in Australien, zu einem Aufsehen erregenden Urteil gekommen, das die Opfer der Bonitätsprüfer erstmals hoffen lässt. Der Akt geht als »Fall Rembrandt« vermutlich in die Justizgeschichte ein. Tatsächlich liest sich das 1490 Seiten umfassende Gerichtsurteil wie ein Wirtschaftskrimi, der alle Vorurteile gegenüber Ratingagenturen zu bestätigen scheint. 13 kleine australische Gemeinden hatten auf Schadenersatz geklagt, weil sie durch Investments in »Rembrandt 2006« rund 16 Millionen Dollar verloren hatten. »Standard & Poor’s« hatte dem neuartigen Finanzprodukt im Oktober 2006 ein »Triple-A« verpasst, damit dessen Vertreiber – die holländische Investmentbank »ABN Amro« – Anteilsscheine an den Mann bringen konnte. Es kam, wie so oft in diesen Jahren: Nur zwölf Monate später war »Rembrandt 2006« wertlos. Den Schaden trugen die kleinen australischen Gemeinden – und deren Rechtsvertreter und Detektive deckten Schriftverkehr und Zustände auf, die jedem Interessierten den Atem verschlagen. Weil »S&P« selbst nämlich kaum Erfahrung mit dem brandneuen CPDO (dem hoch riskanten Kreditderivat »Rembrandt 2006« ) hatte, entwickelte ausgerechnet Vertreiber »ABN Amro« ein Ratingmodell, der es den Analysten dann auch netterweise zur Verfügung stellte. »Ist es normal, dass eine Ratingagentur einer Bank erlaubt, eigene Modelle zu erstellen, mit denen sie dann selbst geratet wird?«, fragte ein verblüffter Mitarbeiter in einem internen Mailverkehr der holländischen Bank. »Nein! Es ist nicht normal und absolut verrückt«, antwortete ein Bankmanager, »aber es ist eine tolle Chance für uns.« Nicht nur, dass die australischen »S&P«-Analysten keine Erfahrung mit dem Konstrukt »Rembrandt 2006« hatten; sie verließen sich auch auf ungeprüfte Daten der Bank und vergaben ein »AAA«, weil die »ABN Amro« Dampf machte: »Wir stehen unter enormem Druck, das Produkt noch nächste Woche zu starten. Ihr müsst so schnell wie 51 möglich die nötigen Berechnungen starten.« Erst nach und nach dämmerte es den Analysten, dass Fehler begangen worden sind. »Dieser Deal ist eine absolute Katastrophe«, schrieb ein hochrangiger S&PAnalyst an seine Kollegen. Und dennoch: Auch bei einer zweiten Auflage von »Rembrandt« gab es wieder ein »Triple-A«. Schließlich rechneten die Prüfer von »S&P« selbst nach – und entdeckten, dass das Finanzprodukt bei weitem nicht die Bonität hatte, wie bereits zugestanden. »Als wir das erste Mal diesen ABN AmroDeal vor uns hatten, wussten wir, dass hier etwas nicht stimmt. Aber wir hatten unsere eigene Modellierung auf später verschoben. Nun sind wir aber in diesem Deal gefangen und können nicht mehr raus«, hieß es darauf hin »S&P«-intern. Der Fluch der bösen Tat folgte auf dem Fuß: Um »die Vertrauenswürdigkeit des Unternehmens« auf dem australischen Finanzmarkt zu wahren, musste auch eine letzte, dritte Tranche von »Rembrandt 2006« mit »AAA« bewertet werden. Verzweifelte Mails eines Junganalysten kurz vor Platzen der Seifenblase decken die absurd-kriminelle Welt der Ratingagenturen auf: »Ich bin fertig mit dem ganzen C PDO-Deal; ich wünschte, ich wäre nie in diese Schweinerei geraten.« Darauf sein Kollege: »Was bist du nicht für ein Waschlappen.« »Nein, du bist der Waschlappen, weil du dich vor den Bankern gebückt hast. Du bewertest etwas mit AAA, wenn es in Wirklichkeit ein A– ist? Bist du stolz darauf?« So viel zum Thema Ratingagenturen und Unabhängigkeit. Der Richter in Australien verdonnerte »Standard & Poor’s« und die Bank »ABN Amro« übrigens zu insgesamt 30 Millionen Dollar Schadenersatz. Und natürlich ist »Rembrandt 2006« noch immer gerichtsanhängig – ein derart richtungweisendes Urteil wollten die Rechtsvertreter der Rating agenturen selbstverständlich nicht durchgehen lassen. Aber: Das Stück gibt Hoffnung. 52 Der Sündenfall der EZB – wenn nur noch die Druckmaschine hilft von Katinka Nowotny Der Schritt der Europäischen Zentralbank, im großen Umfang Staatspapiere der Schuldnerstaaten in der Euro-Zone aufzukaufen, hat eine heftige Debatte unter Ökonomen ausgelöst: Wird damit die Euro-Krise beigelegt – oder wird nur die Inflation angeheizt? Sie sollte ein »Bollwerk monetärer Stabilität« sein, ein »fester Anker für die neue Währung«: Als die Europäische Zentralbank 1998 als Notenbank für zunächst elf Teilnehmerstaaten gegründet wurde, waren alle ihre Statuten darauf ausgerichtet, sicherzustellen, dass die EZB niemals die Schulden ihrer Mitglieder finanzieren und so das Tor zu einer inflationären Geldpolitik aufmachen würde. Denn wenn einmal eine Notenbank Geld druckt und dieses den Regierenden borgt, dann werden die Ersparnisse der Bürger weniger wert ... Vor allem Deutschland hatte damals darauf gedrängt, dass dieses Szenario nie Wirklichkeit würde. Deshalb erhielt die EZB eine so genannte »Nichtbeistandsklausel« für Staatsschulden. Ja, selbst die Staaten untereinander sollten nicht für die Schulden anderer haften. Wenn jeder auf sich allein gestellt ist, so die Logik, dann würden die Regierungen bei ihrer Haushaltspolitik Vernunft und Sorgfalt walten lassen. Doch bekanntlich ist alles ganz anders. Vor allem die Regierungen der südlichen Euro-Länder häuften riesige Schulden an oder müssen ihren Banken zu Hilfe kommen, was riesige Löcher in die öffentlichen Haushalte reißt. Die Zinsen dieser Staaten schnellen in die Höhe, was die Budgets noch mehr belastet. Und in dieser Lage tut die EZB genau das, was Deutschland und andere befürchtet hatten: Sie kauft Staatsanleihen und entlastet damit den Schuldendienst ihrer Mitgliedsstaaten. Zuerst erwarb sie 2010 griechische Staatsanleihen, dann irische und portug iesische und schließlich auch Schuldpapiere der großen Volkswirtschaften Spanien und Italien. Sie tat dies anfangs in »begrenztem Umfang«, immer vom Argument begleitet, dass »die Beruhigung der 53 Anleihemärkte notwendig« sei, damit die Geldpolitik überhaupt funktionieren kann. Freilich: Die EZB tastete sich dabei an die Grenzen des Erlaubten heran – und überschritt diese nach Meinung von Kritikern. Weil eine Änderung der Regeln die Zustimmung aller Staaten benötigt hätte, interpretierte die EZB-Spitze nämlich einfach die Regeln um. Wenn die Bank Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt, also von anderen Investoren, erwirbt, »dann ist das keine Schuldenfinanzierung«, behauptete das Direktorium. Nur der direkte Kauf von den Euro-Staaten selbst sei in den EUVerträgen verboten. »Was die EZB tut, ist noch legal, aber bereits im Grenzbereich«, sagt auch der Wifo-Ökonom Fritz Breuss. »Und ich glaube, die EZB wäre froh, wenn sie in Zukunft zusätzliche rechtliche Kompetenzen hätte.« Als nämlich die Renditen der Krisenländer trotz aller Rettungsmaßnahmen weiter stiegen und immer heftiger die Existenz des Euro bedrohten, legte EZB-Präsident Mario Draghi, selbst Italiener, noch einen Gang zu: Im Sommer 2012 versprach er öffentlich, er werde »alles Notwendige tun, um den Euro zu erhalten«. Was die EZB tut, liegt im Grenzbereich Die Finanzmärkte lasen dies klarerweise als eine Ankündigung unbegrenzter Anleihekäufe. Im September wurde vom EZB-Rat mit nur einer Gegenstimme – sie kam vom deutschen Bundesbank-Präsidenten Jens Weidmann – tatsächlich ein entsprechender Beschluss gefasst: unbegrenzter Ankauf von Staatsanleihen für Staaten, die sich den Auflagen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) unterwerfen. Seither tobt in der Euro-Zone eine wütende Debatte darüber, ob dies tatsächlich der einzige Ausweg aus der Krise ist oder ob der Pfad in Richtung Inflation eingeschlagen wurde, die das Ende der stabilen Währung Euro einläutet. Noch immer schärfster Kritiker ist Jens Weidmann, der den Anleihekauf vehement ablehnt und viele seiner Landsleute auf seiner Seite weiß. »Der Geldsegen der Zentralbanken weckt anhaltende Begehrlichkeiten«, warnte er im Spiegel-Interview. »Wir sollten die Gefahr nicht unterschätzen, dass Notenbank-Finanzierung richtig süchtig machen kann wie eine Droge.« 54 Mario Draghi: Was die EZB tut, liegt im Grenzbereich (Foto: EZB) Auf der anderen Seite stehen aber eben Mario Draghi und die restliche Führung der EZB – die anderen 16 Notenbank-Chefs der Euro-Zone, die meisten Regierungen und auch ein Gutteil der Ökonomen. Sie halten die Warnungen vor einer bevorstehenden Inflation für maßlos übertrieben. Solange die Wirtschaft kaum wächst und die Arbeitslosigkeit so hoch ist, könnten Unternehmen ihre Preise nicht erhöhen und Arbeiter nicht maßlos höhere Löhne verlangen. Daher komme es trotz »stimulierender EZB-Politik« zu keinem Anstieg der Verbraucherpreise. »Wenn eine Zentralbank immer alles aufkauft, was ein Staat an Anleihen emittiert, dann haben wir irgendwann einmal Inflation«, sagt Stefan Bruckbauer, der Chefökonom der »UniCredit Bank Austria«. Die Euro-Zone befinde sich aber »meilenweit weg« von so einer Situation. »So wie es die EZB machen würde und auch gemacht hat, sehe ich überhaupt keine Gefahr für die Inflation.« Das zweite Argument der Kritiker betrifft die Anreize für die Schuldnerstaaten: Wenn die EZB deren Staatsanleihen unbegrenzt erwirbt, dann verlören sie jeden Anreiz, das Schuldenmachen einzuschränken und für eine Budgetkonsolidierung zu sorgen. Doch dann würde sich die Schuldenkrise langfristig nur weiter verschärfen. »Moral Hazard« heißt in Fachkreisen dieses Problem, das überall dort auftritt, wo 55 Die EZB-Zentrale in Frankfurt: Die Hüter der Druckmaschinen (Foto: ORF) jemandem auf Kosten anderer geholfen wird oder wo gewisse Kosten gemeinsam getragen werden müssen. So sieht es auch der Ökonom Taghizadegan Rahim vom Institut für Wertewirtschaft (IfW): »Es wird immer wieder der Vorschlag gemacht, etwas zu tun, was die Rettung bringen soll; dabei wird nur Zeit erkauft. Doch diese wird nicht sinnvoll genutzt, um nachzudenken und Dinge in eine richtige Richtung zu bringen. Alles geschieht nur, um eine Lösung der Probleme hinauszuschieben.« Tatsächlich machte die Euro-Zone genau diese Erfahrung. Als die EZB im Sommer 2011 erstmals italienische Staatsanleihen kaufte und damit die stark gestiegenen Renditen wieder drückte, vollführte der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi einen bedenklichen Schwenk. Er entschärfte zuvor beschlossene Spar- und Reformmaß nahmen wieder. Für viele in Brüssel und Berlin ein klassisches Beispiel für »Moral Hazard«. Immerhin war das noch nicht das Ende der Geschichte. Die anderen Euro-Staaten wandten sich damals gegen Berlusconi und machten klar, dass unter seiner Regentschaft Italien keine weitere Hilfe erwarten könne. Tatsächlich verlor »Il Cavaliere« in Rom die Macht. Und 56 Nachfolger Mario Monti hat mit seiner Expertenregierung die Wirtschaftsreformen wieder beschleunigt. Schließlich will auch die EZB beim Aufkauf von Staatsanleihen vorsichtig vorgehen. Die Verknüpfung mit dem ESM bedeutet, dass nur jene Staaten davon profitieren sollen, die massiv sparen und sich von den Aufsehern der EZB, der EU-Kommission und des Internationalen Währungsfonds – der so genannten Troika – kontrollieren lassen. Den Beweis für das angeblich harte Durchgreifen musste der frühere G oldman-Sachs-Banker Mario Draghi für seine »Europäische Zentralbank« bisher noch nicht antreten; Italien erklärte umgehend, es benötige »keine weitere EZB-Hilfe«, und die spanische Regierung von Premier Mariano Rajoy zögerte die Anrufung der EZB monatelang hinaus. Dennoch verbesserte sich die Stimmung auf den Finanzmärkten; die Renditen fielen. Das ist auch eines der Hauptargumente der Befürworter der umstrittenen Vorgangsweise: Wenn die EZB nur deutlich genug erkläre, sie sei »zum unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen« bereit, dann müsse sie dies vielleicht gar nicht tun. Denn dann sinke das Ausfallsrisiko für private Anleger und dann seien diese wieder bereit, die Schulden der Euro-Staaten zu vernünftigen Konditionen zu finanzieren. Alles eine Sache der Psychologie ... Begrenzt die EZB hingegen ihr Ankaufsvolumen, wird die Sache für sie teurer: denn dann bleibt das Risiko in den Augen vieler Investoren bestehen und die Notenbank muss tatsächlich marode Staatsanleihen aufkaufen, die dann bei der nächsten schlechten Nachricht abermals an Wert verlieren. Genau dies ist übrigens in den Jahren zwischen 2010 und 2012 geschehen und hat mit dazu beigetragen, dass die Bilanzsumme der EZB dramatisch angewachsen ist. Die Notenbank hat mehr Geld verborgt als je zuvor – vor allem den europäischen Geschäftsbanken, aber auch den Staaten. Damit hat sie auch mehr Geld »geschöpft« als je zuvor. Nach der Theorie des Monetarismus ist diese Aufblähung der Geldmenge aber genau die Hauptursache für Inflation. Gerne zitieren Leute wie Bundesbank-Chef Jens Weidmann die Szene aus Goethes »Faust II«, 57 in der Mephisto dem Kaiser zum Gelddrucken rät, um seine Finanzprobleme zu lösen – um dann gemeinsam mit Faust wieder zu verschwinden, als das Reich von einer Inflationswelle überrollt wird. Die Verteidiger des Aufkaufprogramms behaupten: Dazu muss es nicht kommen. Geld werde nicht nur von der Notenbank geschöpft, sondern normalerweise auch von den Geschäftsbanken, und zwar durch deren Kreditvergabe. Aber genau die sei seit Ausbruch der Krise deutlich zurückgegangen. Die EZB ersetze also nur das, was in der Kreditw irtschaft verloren gehe. Beruhigungspillen für die Kritiker Außerdem sind die Verleihungen der Notenbank »nur kurzfristig«; sie könnte, sobald sich die ersten Anzeichen einer beschleunigten Inflation einstellen, wieder auf die Bremse steigen, die Zinsen erhöhen und die Kredite an die Banken wieder zurückfahren. Aber – würde sie das wirklich tun? Die Warner vor der Inflation argumentieren, dass die EZB ihre politische Unabhängigkeit, die eigentlich in den Maastricht-Verträgen festgeschrieben wurde, schon lange verloren habe. Weil sie sich jetzt so willfährig gegenüber der Politik zeigt, werde sie das auch später wieder tun. Und die (meisten) Regierungen der Euro-Zone würden es gar nicht gerne sehen, wenn bei den ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung die Zinsen gleich wieder hinaufschnellten. Wer einmal die Droge Schuldenfinanzierung probiert hat, komme von ihr nicht mehr los. Tatsächlich: Was derzeit in der Euro-Zone geschieht, ist ein gigantischer Feldversuch. Geht der schief, sind ganze Bevölkerungen zu entwöhnen. »De facto stellen wir einen gigantischen Blankoscheck an hoch verschuldete Staaten aus.« Eva Pichler, a.o. Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien, über den »Europäischen Stabilitätsmechanismus« ESM. 58 Das Imperium Goldman Sachs – oder: Die Mönche des Geldes von Günther Kogler Sie ist das Feindbild der »Occupy«-Bewegung und selbst an der Wall Street mehr gefürchtet als geachtet – die US-Investmentbank »Goldman Sachs« verkörpert wie keine andere in der Öffentlichkeit das, was die Finanzwelt in Verruf gebracht hat: Hemmungslose Spekulation, rücksichtsloses Gewinnstreben, scheinbar gewissenloses Vorgehen auch gegen die eigene Kundschaft. Und: Ihre Macht stützt sich auf ein unglaubliches Netzwerk in Politik, in Aufsichtsbehörden und in Zentralbanken – auch in der EZB. »Wenn sie irgendwo auf der Welt eine Bank suchen, die die öffentliche Meinung beeinflusst – sie landen unweigerlich bei Goldman Sachs.« Als sich vergangenes Jahr drei Kollegen der BBC und zwei französische Wirtschaftsjournalisten aufmachten und redaktionelle Unterstützung für eine Dokumentation über das vermutlich mächtigste Geldhaus der Welt suchten, konnte €CO nicht anders – das Wirtschaftsmagazin des ORF machte mit. Und stieß, so wie die anderen, in den gemeinsamen Recherchen auf eine wirkliche Geldmaschine. Goldman Sachs ist keine Bank im herkömmlichen Sinn. Es ist eher ein Imperium. Mit 700 Milliarden Euro Spielgeld in der Tasche wettet es auf alles und jedes, strebt nach unerschöpflichem, nie endendem Profit. Die Bank beschäftigt 30.000 Angestellte, die rund um die Uhr rund um den Erdball nur eines tun – Geld bewegen. Und von Frankfurt bis Rom, von London bis Washington haben die Manager von Goldman Sachs dafür ein Netzwerk errichtet, das einzigartig ist. Krisen kümmern Banker nur wenig. Ort, Zeit und Anlass spielen keine Rolle – Goldman Sachs macht immer weiter. Kritik an den Praktiken des Investmenthauses kommt nur aus der Zivilgesellschaft. Formuliert wird sie ausschließlich von unabhängigen Finanzexperten, Buchautoren und Journalisten. Die Politik macht um das mächtige Geldhaus lieber einen großen Bogen. »Goldman ist keine Bank wie jede andere; sie ist die mächtigste Bank der Welt. Sie ist von 59 Goldman Sachs-Zentrale in New York: Keine Adresse, aber ein Netzwerk (Foto: ORF) einer unglaublichen Aura umgeben, fast nicht zu durchschauen. In meinen 35 Jahren als Wirtschaftsjournalist hat sich Goldman Sachs verändert – von einer ganz normalen, transparenten Bank zu einem Konzern, zu einem Supermarkt der Spekulation und des Risikos«, erzählt etwa Marc Roche, der über die »Goldmänner« in Frankreich auch ein wenig schmeichelhaftes Buch veröffentlicht hat. Um zu verstehen, wie die US-Investmentbank tickt, empfiehlt sich ein Ausflug in die Vergangenheit, zurück auf das Jahr 2007. Es ist das Jahr, in dem die Katastrophe ihren Lauf nimmt. Im Jänner richtet US-Präsident George W. Bush in seiner traditionellen »Botschaft an die Nation« den Amerikanern aus, dass eigentlich alles paletti ist. Die USA wähnen sich unbezwingbar: »Unsere Zukunft liegt in einer wachsenden Wirtschaft. Und das ist genau das, was wir besitzen.« Tatsächlich aber nimmt das mächtige Land gerade direkten Kurs auf den Abgrund. Seine Kapitäne hatten einen Eisberg übersehen. Bis heute fragen sich die Geschichtsschreiber, wie das möglich war. Der Eisberg war nämlich derart riesig, dass er eigentlich auf jedem Radarschirm jedes durchschnittlichen Wirtschaftsforschers hätte auftauchen müssen. Hunderttausende von Amerikanern können nämlich im selben Jänner 2007 ihre Kredite für ihre Eigenheime nicht mehr 60 zurückzahlen. Sieben Millionen Familien sind von einer Zwangsräumung bedroht. Die »Subprime-Krise« bahnte sich ihren Weg – der Traum, mit null Eigenkapital, aber augenscheinlich extrem niedrigen Zinsen an ein Eigenheim zu kommen, platzte. Am Ende sollten Suppenküchen, Notunterkünfte und Zeltstädte stehen. Nur: An der Wall Street in New York, der ersten Börseadresse des Erdballs, da herrschte Euphorie. »Solange die Musik spielt, solange musst du tanzen«, sollte sich später einer der Chefs der großen Banken recht fertigen. Tatsächlich tanzte die Wall Street. Im Juli 2007 erreichte der Aktienindex ein Allzeit-Hoch, das seither nie mehr erreicht wurde. Dabei hatte der Eisberg den Luxusliner schon gerammt, die billigen Kabinen in den unteren Decks bereits zerstört. Und: Abseits des Rampenlichts hatte Goldman Sachs den Tanzsaal längst verlassen. Die Bank spekulierte bereits auf den Untergang – auf die Pleite der US-Haushalte, auf den Zusammenbruch des Immobilienmarktes. Nun könnten unbeteiligte Beobachter zu der Erkenntnis kommen: Gut, die Jungs von Goldman Sachs waren eben kühle Rechner. Sie haben sich eben nicht blenden lassen vom Glamour des Tanzsaales, sondern hinter die Fassade des sagenhaften EigenheimWunders geblickt. Tatsächlich könnte man das sagen – wenn die Banker von Goldman Sachs mit ihrem Handeln nicht die Grenzen der Moral überschritten hätten. Goldman Sachs ist ein Konzern ohne Zweigstellen, ohne Straßenschilder, ohne sichtbare Identität. Die Bank arbeitet nicht für individuelle Kunden; sie arbeitet für eine ausgesuchte Klientel: für Ford, für BP, für den Stahlriesen Arcelor Mittal oder das IT-Netzwerk Facebook etwa. Und sie arbeitet für Regierungen – für die USA, für China, für Russland. Ihr Hauptquartier liegt in einem unscheinbaren Bürogebäude, nur einen Steinwurf entfernt vom neuen World Trade Center. Hinter diesen Fenstern arbeitet eine ganze Armee von Finanzfachleuten. Die beraten ihre Kunden; aber sie handeln auch selbst, arbeiten für den eigenen Vorteil. Sie fühlen sich als die Herren der Finanzwelt. »17 Jahre lang habe ich an der Wall Street gearbeitet; aber egal wo, bei Merrill Lynch oder bei JP Morgan, alle wollten wir so werden wie die Leute 61 von Goldman Sachs. Die definierten den Standard der Finanzindustrie. Immer schien es, als hätten sie die besten und cleversten Beschäftigten; die waren unterwegs, um zu gewinnen. Und sie pflegten zu sagen: Es reicht nicht, dass du gewinnst; ein anderer muss verlieren«, erzählte uns William Cohan, ein ehemaliger Bankmanager aus New York. Viele ehemalige Mitarbeiter des Investmenthauses bestätigten uns: Wer Goldman Sachs beitrat, trat einer Glaubensgemeinschaft bei. Die Kultur des Unternehmens bedeutete: Unterordnung. Die besteht aus der Mischung aus Gier und Geheimhaltung – und einem Hunger nach Risiko. Steve Bannon, ein Ex-Goldman-Banker aus Washington, etwa meinte im Interview: »Goldman Sachs stand für Erfahrung und für Leistung. Es spielte keine Rolle, woher du kamst, welche Schule du besucht hattest, was deine Religion oder deine Hautfarbe war. Das Einzige, was zählte, war: wie hart du gearbeitet, wie clever du gedealt und wie gut du deine Kunden betreut hattest. Es war, als wäre man einem Jesuitenorden beigetreten. Und über allem stand: Alles und jedes berechenbar, alles und jedes zu Geld zu machen. Und das geschah alles schon früher, noch bevor diese Quants, diese Finanzmathematiker, überall an der Wall Street auftauchten.« Beitritt zu einer Glaubensgemeinschaft Tatsächlich heuerte Goldman Sachs über Jahrzehnte nur die besten Uni-Abgänger an. Es war das Markenzeichen des Konzerns. Die Finanzmathematiker hatten nur eine Aufgabe: die Welt in Gleichungen einzuteilen, für alles und jedes, das uns umgibt, einen Preis festzulegen: für Unternehmen, für Staaten, für deren Bevölkerungen. Um dann Geld darauf zu wetten – auf Zuwächse, auf Verluste. Immer auf der Suche nach dem maximalen Profit. Nicht umsonst wurden und werden die Goldman-Mitarbeiter an der Wall Street die »banker monks« genannt – die Mönche des Geldes. Im Gegenzug garantierte »die Firma« ihren Fußtruppen Wohlstand und ein bisserl Reichtum. Nomi Prins, ehemalige Goldman-Bankerin in New York, räumte ein: »Dein Einkommen sagte etwas über dich aus innerhalb des Konzerns. Also, wenn jemand 100.000 Dollar im Jahr verdiente und du konntest 150.000 einstreifen, dann bedeutete das: Du bist besser als der mit den 100.000. Das hat dir Aufmerksamkeit eingebracht.« 62 Nomi Prins arbeitet heute übrigens als Schriftstellerin in New York. Sie hätte eine einträgliche Karriere im US-Investmenthaus vor sich gehabt, aber dann passierte der traumatische 11. September des Jahres 2001 auch für sie. »Vom vierten Stock der Zentrale aus hatte ich den Anschlag auf das World Trade Center miterlebt. In meiner Etage wurde mit Öl und mit Gas gehandelt, lauter Dinge, die irgendwie mit Flugzeugen zu tun haben. Und dann bekommen wir mit, dass ein Flugzeug das Gebäude nebenan getroffen hat, später sogar noch das zweite, und unser damaliger Vorgesetzter fordert uns auf, weiter zu arbeiten. Sein Bauchgefühl sage ihm: Jetzt sei ein guter Zeitpunkt, um Geld zu verdienen.« Vier Monate später kündigte Nomi Prins. Den fundamentalen Vertrauensbruch begeht Goldman Sachs schließlich im Jahr 2007: Das Investmenthaus wettet gegen die eigene Kundschaft. Es wettet gegen den Immobilienmarkt und leistet sich den »Abacus«Skandal. Der ist in den USA in der Zwischenzeit ein viel zitierter Begriff und rasch erklärt. Die Finanzmathematiker des Geldhauses suchten sich die Immobilienkredite mit den höchsten Risiken aus. Sie bündelten sie, bringen ein neues Papier auf den Markt und taufen es »Abacus«. Das Ding wird mit »Triple-A« gerated; also mit der vermeintlich größtmöglichen Sicherheit für Investoren. Goldman Sachs verkauft die Papiere anschließend an die eigene Kundschaft. Die ist gutgläubig, wird im Ungewissen über die tatsächlichen Risiken gelassen. Und zur selben Zeit beginnt eine andere Hauptabteilung von Goldman Sachs gegen das eigene Papier zu spekulieren. Der Rest ist Geschichte. Sechs Monate später bricht der Immobilienmarkt in den USA tatsächlich zusammen. Auch die »Abacus«-Papiere brechen ein. Die Kunden von Goldman Sachs verlieren all ihr Geld. 750 Millionen Euro hatten sie in das »Triple-A«-Investment gesteckt. Nur Goldman Sachs streift zweimal Geld ein. Zuerst als Zwischenhändler beim Verkauf der »Abacus«-Papiere; schließlich als Spieler am Pokertisch, als die Wette gegen den Erfolg von »Abacus« aufgeht. Drei Jahre müssen die Hintergangenen des »Abacus«-Skandals warten, um zu erfahren, wer ihnen so übel mitgespielt hatte. Ein Franzose wird vorgeführt. Fabrice Tourre. Selbst nennt er sich »the fabulous Fab« 63 – »der märchenhafte Fabrice«. Fabrice Tourre ist Finanzmathematiker. Er hatte in der angesehenen »Ecole Centrale« in Paris sein Studium abgeschlossen und war von Goldman Sachs im Alter von nur 22 Jahren angeheuert worden. Ehrgeizig, reich und arrogant – Tourre ist das Sinnbild eines Goldman-Sachs-Händlers. Er muss er sich als Einziger einer Befragung vor dem US-Senat stellen. Die amerikanische Börsenaufsicht SEC hatte ihn angeklagt. Es ging um seine Verwicklung in den Skandal um die »Abacus«-Papiere. Die Anhörung wird live von mehreren amerikanischen TV-Anstalten übertragen; und rund um die Welt wurde den Zusehern vor Augen geführt, wie Goldman Sachs arbeitete – und: wie zynisch das System funktionierte. Tourre wird von einem Tag auf den anderen von seinem eigenen rbeitgeber geopfert. Goldman Sachs bezahlte seine Anwälte, sorgte A aber gleichzeitig dafür, dass höchst peinliche E-Mails Tourres an die Öffentlichkeit gespielt wurden. Kundenfreundlich für die internationale Presse gleich in mehrere Sprachen übersetzt. Ein kleiner Auszug: 23. Jänner 2007: »Das ganze Konstrukt steht vor dem Zusammenbruch ... Es wird nur einen Überlebenden geben: den märchenhaften Fabrice …« 7. März 2007: »Das Geschäft ist tot. Die kleinen, dummen Kreditnehmer und Hauseigentümer halten nicht mehr lange durch.« 13. Juni 2007: »Gerade habe ich ein paar ›Abacus‹-Papiere an ein paar Zurückgebliebene verkauft, die mir auf dem Flughafen über den Weg gelaufen sind. Es hat den Anschein, die reißen sich um unseren Ramsch.« Selbst verteidigt sich Fabrice Tourre, auf Anraten seiner Anwälte, folgendermaßen: »Ich bedaure diese E-Mails. Sie werfen ein schlechtes Licht auf mich und mein Unternehmen. Ich wünschte, ich hätte sie nicht geschrieben.« Bis heute sollte Fabrice Tourre der einzige A ngestellte von Goldman Sachs bleiben, der angeklagt wurde. Goldman Sachs selbst wird nie unter Anklage gestellt. Nach dem 64 Tourre-Verfahren zahlte die Bank 400 Millionen Euro quasi als »Abschlagszahlung«. 400 Millionen Euro – zu dieser Zeit verdiente Goldman Sachs diese Summe binnen zweier Wochen. Tatsächlich schreibt Goldman Sachs im Jahr 2007 einen Gewinn von 13 Milliarden Euro. Die Wette gegen die Bank hatte erfolgreich gewettet: Gegen die eigene Kundschaft Kreditnehmer in den kleinen amerikanischen Haushalten – und gegen die eigene Kundschaft. Der Vorstandsvorsitzende von Goldman Sachs gewährt sich ein Gehalt von über 50 Millionen Euro. Intern wird der Verkauf der »Abacus«-Papiere als »Operation Gegenspekulation« bezeichnet. Es ist der Raubzug des Jahrhunderts. Dieser »Abacus«-Skandal freilich sollte nur ein Vorbote jenes Crash auf den Finanzmärkten sein, der die Welt erschütterte. Die Schockwellen, die vom Platzen der amerikanischen Immobilienblase ausgehen, erreichten auch alle Spieler außerhalb der Wall Street. Die Zukunft eines ganzen Systems wurde aufs Spiel gesetzt – innerhalb eines Jahrzehntes hatte sich global eine so genannte Finanzindustrie entwickelt. Geld mit Geld zu verdienen, war die Devise gewesen – bis der Traum platzte. Im September 2008 schlittert die Investmentbank Lehman Brothers in den Konkurs. Lehman ist einer der größten Konkurrenten von Goldman Sachs. Ein Hilferuf an die US-Regierung wird ausgeschickt. Deren Finanzminister Hank Paulson lehnt ab. Lehman Brothers wird ausgelöscht. Mit einer Pressekonferenz. Allerdings: Die Sache hatte einen schalen Beigeschmack. Bevor Hank Paulson Finanzminister der USA wurde, war er Vorstandsvorsitzender von Goldman Sachs gewesen. Dort hatte er das Aktienvermögen des Institutes verwaltet. Als Paulson in das Kabinett Bush berufen wird, verkaufte er seine Goldman-Sachs-Aktien. Daran verdiente er 200 Millionen Dollar. Hank Paulson verhinderte aber nicht nur die Rettung des größten G egenspielers von Goldman Sachs, er musste auch über die Zukunft von Amerikas größtem Versicherer, der American Insurance Group, entscheiden. Auch die AIG befindet sich auf dem Weg in den Bankrott. 65 Ginge freilich AIG pleite, würde auch Goldman Sachs zehn Milliarden Euro verlieren. Paulson beruft kurzerhand ein Treffen in New York ein; er verhandelt höchstpersönlich mit seinem früheren Mitstreiter Lloyd Blankfein. Der ist inzwischen zum neuen Vorstandsvorsitzenden von Goldman Sachs aufgestiegen. Hinter verschlossenen Türen wird AIG gerettet – auf einmal doch mit Hilfe von Steuergeld. Unter Freunden wird aber noch ein Deal vereinbart. Die »American Insurance Group« zahlt zuerst Goldman Sachs aus – und lässt sich erst dann von der US-Regierung notverstaatlichen. William Black, damals Mitarbeiter der US-Finanzmarkt-Aufsichtsbehörde SEC, ist heute noch sprachlos. »Die Sachlage war: Hank Paulson, der frühere Vorstandsvorsitzende von Goldman Sachs, fragt Goldman Sachs, wie mit den Schulden zu verfahren sei, die der gestrauchelte Versicherungskonzern AIG bei Goldman Sachs hat. Das müssen Sie sich vorstellen, das ist einfach unglaublich. Es wird Sie wenig überraschen: Goldman empfiehlt, alle Außenstände abgegolten zu erhalten. Was AIG auch macht. Das ist klagswürdig, geradezu obszön. Das kostete die amerikanische Regierung Milliarden.« Weitere Sündenfälle des US-Investmenthauses gefällig? Das Jahr 2009 beginnt mit Feiern – und mit einem Machtkampf. Barack Obama tritt sein Amt als neuer Präsident der größten Militär-, aber auch der größten Wirtschaftsmacht der Welt an. Damit handelt er sich quasi von Amts wegen mächtige Gegenspieler ein. Einer der ersten Termine, den der frisch gebackene US-Präsident Barack Obama im Weißen Haus einberuft, ist deshalb auch ein Treffen mit den führenden Bankmanagern des Landes. Unter ihnen befindet sich auch die Nummer eins von Goldman Sachs – Lloyd Blankfein. Obama erinnert die Banker an den Zorn der Straße. Die Leute wollten Köpfe rollen sehen. Tatsächlich ist die Lage ernst. Die USA waren in eine Rezession geschlittert. Viele Banken überlebten nur, weil hunderte Milliarden an Steuergeldern in das System gepumpt werden. Obama verspricht die Geldspritzen aufrecht zu erhalten, verlangt von den Bankmanagern aber deren Unterstützung bei einer Reform des Finanzsystems ein. Der Deal wird einvernehmlich abgenickt. Auch von Lloyd Blankfein. 66 Es ist, nach nur wenigen Tagen Amtszeit, ein erster fataler Fehler des US-Präsidenten. Er nutzte die Gunst der Stunde nicht, um sofort Änderungen und Reformen im US-Bankensystem durchzusetzen. Nur sechs Monate später, als Obama im Sommer 2009 New York besucht, ist das Mondfenster wieder geschlossen, haben sich die Machtverhältnisse zurück verschoben. Die Geldhäuser schreiben wieder Profite; das Casino hatte wieder geöffnet; die atemberaubenden Bonuszahlungen werden wieder aufgenommen. Niemand mehr will sich an die Milliardenspritzen erinnern. Die Bankenlobby hatte den US-P räsidenten einfach links liegen gelassen, ihn durch Nicht Präsident Obama beachtung »overruled«. Der ist so verärgert, wird »overruled« dass er sich bei einer Veranstaltung zu einer Schelte hinreißen lässt, wie sie die Welt noch nicht gehört hatte. »In der Welt der Finanz gibt es welche, die diesen Moment missdeuten. Ich ersuche alle, mir zuzuhören: Wir werden nicht, ich wiederhole: Wir werden nicht wieder zur Maßlosigkeit zurückkehren, die der Auslöser für diese Krise war. Tatsache ist: Viele Konzerne, die nun wieder Gewinne schreiben, schulden der amerikanischen Bevölkerung noch etwas.« Aber die Sache war längst entschieden. Im Machtkampf mit dem Weißen Haus behalten die Banker die Oberhand. Auch dieser US-Präsident hatte einen wichtigen Punkt übersehen – vor allem Goldman Sachs ist in der Gesetzesmaschinerie Washingtons bestens vernetzt. Zwar muss der Konzern im Nachhall an den Finanzcrash seinen Status als privilegiertes Investmenthaus aufgeben, auf seinen Einfluss im Zentrum der Macht verzichtet er aber nicht. Und diese »Regierung Goldman Sachs« im Umfeld des Weißen Hauses ist mächtig. Direkt im Weißen Haus arbeitet der frühere Vorstandsvorsitzende Robert Rubin. Der war Finanzminister schon unter Bill Clinton, hat heute direkten Zugang zu jedem US-Präsidenten; Mark Patterson ist Stabschef im gegenwärtigen Finanzministerium, Robert Hormats schließlich ist Unterstaatssekretär im Wirtschaftsministerium. Der zweite Kreis der »Goldman-Freunde« beackert Zentralbank und Aufsichtsbehörden. William Dudley ist Vorstandsvorsitzender der Federal 67 Reserve von New York; Gary Gensler ist Chef der Handelskommission der Warenterminbörse; und in der amerikanischen Börseaufsicht werkt Adam Storch. Allesamt sind sie frühere Mitarbeiter von Goldman Sachs. Der letzte Zirkel wiederum nimmt Einfluss auf internationale Behörden. Robert Zoelick war bis vor kurzem Präsident der Weltbank. Und Mark Carney, Gouverneur der Bank of Canada, hat gerade den Vorsitz im so genannten Financial Stability Board übernommen – just in jenem Gremium, das das weltweite Finanzsystem reformieren soll. Keine einzige dieser Personen wollte uns für unsere Dokumentation ein Interview geben; Fragen sind in diesem System offenbar nicht erwünscht. Wir wissen nur: Der Klub der früheren Goldman-Sachs-Gentlemen funktioniert. Und wie aus einer Drehtür kommen immer wieder neue Freunde heraus. An der Wall Street wird Goldman-SachsChef Lloyd Blankfein übrigens »das Messer« genannt. Seine Schlagfertigkeit ist gefürchtet. Blankfein entstammt einer Arbeiterfamilie aus Brooklyn, einer rauen Umgebung. Vom einfachen Verkäufer schaffte er den Aufstieg in die Chefetage von Goldman Sachs, den Olymp der Finanzwelt. Heute ist Blankfein 59 Jahre alt, verkörpert das Gesicht der Firma; selten nur tritt er an die Öffentlichkeit. Wenn, dann ist das Kalkül. Dann gibt es Erklärungsnotstand. Sein Auftritt in der »Charlie Rose Show« vom April 2010 ist nahezu legendär. »Wie oft haben Sie mich im Fernsehen gesehen, in Talkshows? Niemals«, schnauzte er dabei den Moderator an. Um dann mit sanfter Stimme hinzuzufügen: »Möglicherweise war das ein Fehler. Nun haben wir eine Menge Arbeit vor uns, den Leuten zu erklären, was wir eigentlich tun; eigentlich beginnen wir dabei bei null.« Lloyd Blankfein ist »das Messer« Als ihn der Moderator dann aber doch höflich und bestimmt auf die Tatsache hinweist, dass es ja auch Zeiten gegeben habe, da Goldman Sachs gegen die eigene Kundschaft spekulierte, folgen bei Lloyd Blankfein Sekunden des Nachdenkens, die sich im TV wie Stunden anfühlten. »Das ist schwierig zu erklären ... Als Marktführer kaufen 68 und verkaufen wir in jeder Minute des Tages tausende Positionen. Sie mögen das als Casino bezeichnen – aber wenn es das ist, dann ist es ein wichtiges Casino der Gesellschaft.« Und Goldman Sachs heute? Heute geht ein Deal auf, der vor zwölf Jahren eingefädelt wurde. Am 1. Jänner 2001 wird Griechenland in die Euro-Zone aufgenommen. Das kommt damals etwas überraschend. Es ist eine Verbeugung vor dem südlichen Beitrittskandidaten, dessen Wirtschaft deutlich hinter der anderer Euro-Länder hinterher hinkt. Aber trotz massiver Bedenken wird Griechenland in die europäische Oberliga aufgenommen. Was folgte, ist sattsam bekannt. Das griechische Defizit erreicht binnen kurzem 100 Prozent des Brutto-Inlandsproduktes. Bis zum Vorjahr steigt es auf 160 Prozent. Aber wie konnte das Land seinen wahren Zustand, seine tatsächliche Finanzkraft derart verschleiern? Tatsächlich ist es möglich, Schuldpapiere zu manipulieren. Kreditanleihen werden in fremde Währungen umgetauscht; an der Wall Street werden solche Transaktion als »Währungsswap« bezeichnet. Sie täuschen – sie verfälschen die Bilanzen. Sie ahnen es: Goldman Sachs hilft Athen beim Frisieren der Bücher. Das US-Investmenthaus stellt nur eine Bedingung: Der Deal unterliegt höchster Geheimhaltung. Der Londoner Finanzjournalist Nick Dunbar analysierte für €CO, was seinerzeit passierte, als die Jongleure von Goldman Sachs mit den Vertretern der griechischen Regierung verhandelten: »Da wurde mit vielen Fachbegriffen argumentiert; die Rede war von Derivaten und von Swaps. In Wirklichkeit handelte es sich nur um eine große Wechselstube. Stellen Sie sich vor, der Schalterbeamte schlägt Ihnen folgenden Deal vor. Er wechselt Ihnen nicht einen Euro in einen Dollar um, nein, er gibt Ihnen für jeden Euro zwei Dollar. Sie denken sich: Will der sein Geld verschenken? Nein, antwortet der Schalterbeamte, natürlich nicht. Aber wir machen einen Geheimvertrag. Sie zahlen mir später alles zurück und am offiziellen Wechselbeleg steht, dass ich Ihnen für jeden Euro zwei Dollar gegeben habe. So arbeitete Goldman Sachs 69 New Yorks Börse: Hier wettete Goldman Sachs gegen die eigene Kundschaft (Foto: ORF) in Griechenland. Das verringerte die offiziellen Staatsschulden gleich um drei Milliarden Euro.« Nur für Goldman Sachs wird die böse Angelegenheit zum einträglichen Geschäft. Allein im ersten Jahr verdient die Bank daran 600 Millionen Euro. Risiko? Null. Am selben Tag, als der Deal mit Griechenland u nterzeichnet wird, versichert sich Goldman Sachs gegen eine Pleite des Euro-Landes. Das bittere Ende haben am Ende ausschließlich die Griechen auszu baden. Als alles auffliegt, schießt ihr Zinssatz für weitere Ausleihungen in die Höhe; die Rückzahlungsraten müssen gestreckt werden, die Rechnung verdoppelte sich schlicht. Bis Ende 2037 noch muss Griechenland Jahr für Jahr 400 Millionen Euro für diesen einen Deal bezahlen. Und der Athener Wirtschaftsjournalist Pavlos Tsinas weiß sogar von einem zweiten Manipulationsversuch der Goldman-SachsLeute zu berichten. »Wir wissen, dass Goldman im Jahr 2008 einen weiteren Deal anbieten wollte. Es ging um eine neuerliche, diesmal private Spekulation auf die Schulden des Landes.« Nur: Diesmal passierte nichts. Nichts ging weiter. Ein Glück für den Rest der Euro-Zone, meint Tsinas: »Weil es alle kapiert hatten: Stürzt 70 Griechenland, erschüttert das die ganze Euro-Zone. Wenn Griechenland fällt, fallen auch Portugal, Belgien und Irland. Diesen Haien ging es um den ersten Biss: Gelingt der, dann ist Blut im Wasser – und alle anderen Haie kommen nach.« Aber Goldman Sachs bereitet im Juni 2011 den letzten Coup vor. Just einer der früheren Vizechefs, der Italiener Mario Draghi, steht vor der Wahl zum Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Ganze drei Jahre lang hatte der Italiener für Goldman Sachs gearbeitet, als Europadirektor, kurz bevor die Bilanztricks mit Athen aufgedeckt worden waren. Also: Was wusste Mario Draghi? Hier seine Rechtfertigung vor den Abgeordneten des Europaparlamentes in der Original-Übersetzung: »Die Vereinbarungen zwischen Goldman Sachs und der griechischen Regierung wurden getroffen vor meinem Job bei Goldman Sachs. Ich hatte damit weder vor noch nach meinem Job zu tun. Ich habe für Privatkunden von Goldman gearbeitet; tatsächlich wollte man, dass ich auch für den öffentlichen Sektor arbeite, aber ich habe höflich abgelehnt. Also: Über diese Dinge weiß ich nichts, ich habe mich damit auch nicht beschäftigt, Da können sie fragen, wen sie wollen.« Keine Verurteilung der Praktiken von Goldman Sachs? Schon im Oktober des Jahres 2011 feiert die europäische Elite den neuen Chef der Europäischen Zentralbank. Er heißt Mario Draghi. Wieder gewinnt Goldman Sachs. Nun spannt die Bank ihr wundersames Netzwerk nicht mehr nur über die USA, sondern auch über Europa. Wieder hatte sich die Drehtür gedreht, wieder war aus ihr ein Manager der US-Investmentbank getreten. Draghi bleibt nämlich nicht allein. Auch Mario Monti, inzwischen Italiens Premierminister, früher EU-Wettbewerbskommissar, war lange Zeit Berater von Goldman Sachs gewesen. Übrigens genauso wie sein Vorvorgänger Romano Prodi, der sogar Präsident der EU-Kommission gewesen war. Othmar Issing, einst Chefökonom der Europäischen Zentralbank, schwärmt in Deutschland in den höchsten Tönen über die Vorzüge von Goldman Sachs. In Großbritannien steigt Peter Sutherland, einst Chef 71 der Internationalen Abteilung von Goldman, zum EU-Kommissar auf; er nützt das Netzwerk, das schon Lord Griffiths aufgebaut hatte, ein früherer enger Berater von Margaret Thatcher Aus Portugal hilft Antonio Borges, er wird Europadirektor des Internationalen Währungsfonds; aus Frankreich stößt Charles de Croisset dazu, einst Vorstandsvorsitzender der Credit Comercial de France, zwischendurch war er Vizepräsident von Goldman Sachs Europa gewesen. Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um von einer dunklen Ahnung befallen zu werden. Macht sich der Oligarch des Finanzwesens aus der Neuen Welt auch in der Alten Welt breit? Selbst Richard Sylla von der New Yorker »Stern Business School« kann das System dahinter nicht in Abrede stellen, relativiert aber: »Goldman Sachs ist eine Kaderschmiede. Du kriegst den Goldman-Sachs-Abschluss an der Goldman-Sachs-Universität und du wirst dich immer an die Goldman-Sachs-Kultur erinnern. Heute ist Mario Draghi Chef der Europäischen Zentralbank; wenn Lloyd Blankfein von Goldman Sachs ihn morgen sprechen will, na gut, er braucht nur zum Hörer zu greifen. Es gibt alte Verbindungen. Das ist einfach die Strategie dieser Banker: Sie zementieren ihre Position.« Eine Frage freilich bleibt unbeantwortet: Sind Finanzfachleute, Banker und Manager wirklich die Geeignetsten, den Bevölkerungen Europas die neuen, unglaublichen Sparprogramme zu verordnen? Und: Steht hinter den Aufstiegen eines Mario Draghi, eines Mario Monti und eines Lucas Papademos, der Gouverneur der griechischen Zentralbank gewesen war, nicht noch etwas anderes? Wird Europa gerade Zeuge, wie Banker politische Macht übernehmen? Ist es Hilflosigkeit oder Unachtsamkeit: Die politischen Eliten Europas lassen Finanzprofis als »Retter in der Not« agieren. Aber waren es nicht gerade diese »Retter in der Not«, die nur ein paar Jahre zuvor den Markt mit giftigen Papieren überflutet hatten? 72 Wenn Spaniens Blüten blühen, wird das teuer für Europa … von Hans Hrabal Wie verantwortungslose Eliten, die Gier des Mittelstandes und der Egoismus der Regionen Europas viertgrößte Volkswirtschaft in die Pleite manövrierten – so könnte der Untertitel eines Buches lauten, das die spanische Tragödie beschreibt. Tatsächlich ist es beschämend zu beobachten, wie ein ehemaliges Vorzeigeland der Europäischen Union ruiniert wurde – und welche Kraftanstrengungen jetzt nötig sind, das Land wieder aufzurichten. Den Spaniern geht die Geduld aus. Die Abstände zwischen den Generalstreiks, die jeweils das ganze Land lähmen, werden immer kürzer. Der Aufruhr überrascht nicht. 25 Prozent der Bevölkerung sind mittlerweile arbeitslos. Bei den Unter-30-Jährigen ist gar die Hälfte ohne Job. Doch nicht nur die Arbeitslosen gehen auf die Straße. So gut wie alle sind von Einsparungen, drohendem Jobverlust, strauchelnden Betrieben, Privatkonkursen, Delogierungen betroffen und artikulieren ihren Frust immer lauter. Arbeiter, Geschäftsleute, Angestellte, Beamte, auch Polizisten, Ärzte, Krankenschwestern demonstrieren zu Zehntausenden gegen die von der Regierung verordneten Sparprogramme. Die Fahnen der Protestierer wehen aufmüpfig. Auch die Sprüche, die die Demonstranten in Madrid, in Barcelona, in Valencia vor sich her schreien, werden radikaler. »Es tut uns leid, dass wir die wirklich Schuldigen nicht einsperren dürfen«, lautet einer der einprägsamsten Slogans etwa der Polizeigewerkschafter. Die Antwort, wer dies denn sei, liefern die aufgebrachten Hüter von Recht und Ordnung auch gleich mit: »Banker und Politiker!« Weit von der von der Wahrheit ist der Kampfruf nicht entfernt. Wie in Griechenland zeigt sich auch in Spanien, dass Politiker, Justiz, Banken und Medien versagt haben. Vor allem die angeblichen Eliten tragen Schuld an der Misere. Eine Clique, bestehend aus höchsten Repräsentanten des Staates, hat das Land jahrelang heruntergewirtschaftet, hat selbst Kasse gemacht, hat sinnlos ausgegeben, spendiert, ließ sich 73 Ciudad Val de Luz: Leere Gassen, leere Kassen (Foto: flickr/rinzewind) feiern – und hat den Kopf in den Sand gesteckt vor den wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Konsequenzen. Ciudad Val de Luz, die »Stadt des Lichts« – einprägsamer kann ein Symbol für die spanische Misere nicht sein. Ersonnen von Marketingexperten, Immobilienentwicklern und Baulöwen, liegt etwa 150 Kilometer von Madrid entfernt eine riesige Ansammlung von fertigen und halbfertigen Wohnblöcken und brach liegenden, fertig aufgeschlossenen Bauparzellen – mitten in der spanischen Pampa. Wohnraum für etwa 50.000 Menschen sollte hier entstehen. Das Zielpublikum: junge Familien aus dem Mittelstand, Aufsteiger mit guter Ausbildung und einer viel versprechenden Zukunft. Heute ist Ciudad Val de Luz eine Geisterstadt; Licht erzeugen nur wenige einsame Straßenlaternen. Die sind freilich vom Feinsten. Designerschick und modernste Neontechnik scheinen auf fertig asphaltierten Zufahrtsstraßen, fein säuberlich angelegte Blumenbeete, bunte Kinderschaukeln und Klettergerüste. Die meisten der Häuser und Anlagen stehen leer. Der Wind weht einsam durch die Straßen. Das Geisterprojekt wurde noch vor der Wirtschaftskrise begonnen. Kurz nach Baubeginn, im Jahr 2008, entwickelte es sich über Nacht 74 zum Rohrkrepierer. Statt 20.000 Wohnungen wurden nur knapp 2000 gebaut (nicht einmal 500 davon sind verkauft). Statt 50.000 Menschen zählt die halbfertige Satellitensiedlung heute kaum 2000 Einwohner. Die meisten von ihnen haben sich für ihre schmucken Appartements und Bilderbuch-Reihenhäuser auch noch schwer verschuldet. Ciudad Val de Luz wird wegen genau dieser »Besonderheiten« von ausländischen Kamerateams gestürmt ... Eine 80-Quadratmeter-Wohnung mit zwei Zimmern kostet wegen Immo bilienflaute und Konjunktureinbruch im Herbst 2012 offiziell noch 85.000 Euro. Vor wenigen Jahren, als die spanische Wirtschaft noch als kerngesund galt, kostete dieselbe Wohnung das Doppelte – mindestens. Und das Losschlagen der Appartements war lange Zeit trotzdem kein Problem. Hunderttausende solcher Neubauwohnungen fanden in der Zeit vor 2008 begeisterte Nachfrage. Hunderte ähnliche Retortenstädte wie Ciudad Val de Luz zeugen in ganz Spanien davon. Die Finanzierungen zum Kauf von Wohnungen wurden den Spaniern jahrelang von den Günstige Kredite Banken und Sparkassen geradezu nachgewor- zum Diskontpreis fen. Fremdfinanzierungen über 100 Prozent des Kaufwerts waren Standard; sehr häufig umwarben die Kreditgeber ihre Kunden sogar mit Finanzierungspaketen von bis zu 130 Prozent des Kaufpreises. So konnten sich die Kunden nicht nur ihre Wohnung, sondern zusätzlich auch gleich noch die gesamte Einrichtung, ein kleines Auto und einen F amilienurlaub leisten. Die Gier erfasste das ganze Land – wer sollte solchen Verlockungen auch widerstehen können? An die Rückzahlung der Schulden dachte in ganz Spanien jahrelang niemand. Wieso auch? Von 1999 bis 2008 hatten sich die Immobilienpreise in Spanien durchschnittlich verdreifacht. Wer eine Immobilie (egal, ob ein Industrieobjekt oder eine Wohnung) erstand, ging davon aus, dass das Investment ohnehin verlässlich an Wert gewinnen würde. Der Boom riss alle mit. Wer da wegen zu berappender Zinsen oder Rückzahlungsraten nicht investieren wollte, stand schnell als klein licher Idiot und Verlierer da. Wer hingegen riskierte und Schulden aufnahm, lukrierte Wertsteigerungen, schöpfte Gewinne ab, konnte quasi auf Kredit reich werden. 75 Millionen Normalverdiener sprangen auf den verheißungsvollen »Wachstumszug« auf. Die Gier nach schnellem Geld wurde zur Volksseuche. Manch cleverer Mittelständler wurde tatsächlich reich oder schaffte es wenigstens zu ein bisschen Wohlstand. Im Hintergrund schöpften aber vor allem die Bauwirtschaft, die Banken und die Immobilienentwickler den Rahm ab. Die Gewinnspirale, die hier gedreht wurde, glich letztendlich einem großen, riskanten Pyramidenspiel, bei dem klar war, dass irgendwann ziemlich viele alles verlieren werden – aber alle mitzockten, weil sie hofften, doch noch zu den Gewinnern zu gehören. Und niemand stoppte die unkontrollierte Spekulationblase. Aber was war mit den politischen Kontrollmechanismen, mit der Justiz, mit der Bankenaufsicht und auch mit den Medien los? Alfredo Pastor war 1993 bis 1995 spanischer Staatssekretär für Finanzen. Heute ist er ein anerkannter Professor für Wirtschaftswissenschaften in Barcelona. Pastor sieht die Ereignisse, die zur aktuellen Situation geführt haben, natürlich kritisch. Das Versagen sämtlicher Frühwarn- und Kontrollmechanismen erklärt er so: »Keiner kann heute mehr verstehen, was damals los war. Es herrschte der allgemeine Wahnsinn, die Gier hatte die Vernunft außer Kraft gesetzt. Wie die Lemminge haben sich die Spanier in die Spekulation gestürzt. Und alle haben begeistert mitgemacht. Es war wie bei einer lustigen, verrückten Party. Auch wenn man weiß, dass man morgen Kopfweh haben wird, gibt es niemanden, der gerade dann die Musik abdreht, wenn die Party auf dem Höhepunkt ist.« Niemand stoppte die Spekulationsblase Die Party begann mit der Zusammenarbeit von Baufirmen, Banken und Immobilienbranche, kurz nachdem Spanien Generalissimo Franco los- und endlich eine Demokratie geworden war. Damals galt Spanien als ein hoffnungslos zurückgebliebener europäischer Schwellenstaat, der ab seinem EU-Beitritt 1986 mit milliardenschweren InfrastrukturInvestitionen aus Brüssel aufgepäppelt werden musste. Und wie es bei Infrastrukturprojekten nun mal so ist: Nutznießer ist primär die Bauwirtschaft. Die boomte und mit ihr zogen Handel und Gewerbe nach. Ab den 1990er-Jahren galt Spanien als 76 Spanien: Immobilienblase wie in den USA (Foto: flickr/rinzewind) Wirtschaftswunderland, als konjunktureller Phönix aus der Asche. In Spanien grünte es grün. Das Land hatte sich nach außen hin innerhalb nur eines Jahrzehnts ins 21. Jahrhundert katapultiert, den Moder und Staub von fünfzig Jahren Diktatur hinter sich gelassen. Gestylte Verwaltungsgebäude, moderne Straßennetze, Flughäfen, Hochgeschwindigkeitsbahnen wurden errichtet. Berühmte Architekten mit Aufsehen erregenden und teuren Konstruktionen beauftragt. Spanien war wieder wer. Und die Bauwirtschaft mit den Banken im Rücken war der Motor dieser Entwicklung. Der konservativen Regierung Aznar, die das Land in den 1990ern dominierte, konnte das nur recht sein. Spanien litt traditionellerweise unter einer relativ hohen Sockelarbeitslosigkeit von etwa 20 bis 25 Prozent, doch dank des Baubooms stieg die Beschäftigung rasant an. Diesen Erfolg heftete sich die Regierung gerne auf ihre Fahnen. Und tat ab nun alles nur Menschenmögliche, um die Bauwirtschaft immer weiter zu beschäftigen. Die Olympischen Spiele 1992 etwa boten dafür einen prächtigen Anlass. Und das war nur der Anfang. Bis zur Wirtschaftskrise 2008 herrschte in Spanien für die Bauwirtschaft Goldgräberstimmung. Nicht nur die Zentralregierung, auch die 17 weitgehend autonomen Regionen schöpften aus dem Vollen. Auch wenn vor allem die 77 wirtschaftlich erfolgreichen nördlichen Regionen wie Katalonien, das Baskenland und Navarra heute so tun, als ob ausschließlich die Maß losigkeit der Politiker in Madrid schuld am spanischen Debakel wäre: Die Regionen haben stets ihr Scherflein beigetragen, wenn es um Geldverschwendung ging. Gnadenlos egoistisch betrieb jeder Provinzkaiser wirtschaftlich meist sinnlose Prestigeprojekte. Jahrzehntelang. Jenseits einer vernünftigen Koordination der infrastrukturellen Bedürfnisse des Gesamtstaates wurden Flughäfen gebaut, deren Kapazitäten bis heute niemand braucht, wurden vierspurige Autobahnen verlegt, die in der Ödnis enden, gigantomanische Bahnhöfe, riesige Universitäten, ausufernde Fußballstadien errichtet, die nie ausgelastet wurden. Die Prestigeprojekte der Provinzkaiser Bis 2007 verursachten die Regionen allein bereits 38 Prozent der Staatsschulden. Für die Defizite der Regionen musste letztendlich ohnehin der Zentralstaat, die Regierung in Madrid geradestehen. Obwohl diese bei den Ausgaben der Regionalregierungen keinerlei Mitspracheoder gar Vetorechte hatte. Die Regionen waren es auch, die letztlich das spanische Bankensystem zum Kippen brachten. Denn die viel zitierte spanische Bankenkrise, wegen der die EU Madrid erst vor wenigen Monaten mit einem 45-Milliarden-Hilfspaket beistehen musste, ist keine Krise der Banken, sondern eine Krise der Sparkassen. Der regionalen Sparkassen, um genau zu sein. Nicht genug, dass die Regionen das Geld ihrer Steuerzahler jahrelang für sinnlose Imageprojekte ausgaben, hatten sie auch noch die unter ihrem Einfluss stehenden Regional-Sparkassen zur Finanzierung weiterer Unternehmungen genötigt. Das gilt vor allem für gigantische Wohnbauprojekte im Stil der Ciudad Val de Luz, die in Spanien zur Jahrtausendwende zunehmend die Infrastrukturprojekte der 1990er-Jahre ergänzten. Regionen und G emeinden versprachen sich davon Wohlstand, Reichtum und Ansehen. Die Banken, die Sparkassen und die Bauwirtschaft sowieso. Das System funktionierte so: Die Gemeinden brachten billiges Bauland 78 ein und schlossen es auf Kosten des Steuerzahlers auf. Die Regionen gründeten mit Gemeinden, Sparkassen, Baufirmen gemeinsame Entwicklungsgesellschaften und Bauträger, die das Ganze umsetzten und vermarkteten; die Kreditinstitute sorgten für die Vorfinanzierungen und halfen, Kunden mit unverschämt günstigen Krediten anzulocken; die Baufirmen bauten, die Gemeinden hofften auf neue Mitbürger und Steuerzahler und die Regionalpolitiker saßen in den Aufsichtsräten, kassierten saftige Zusatzeinkommen oder ließen auch mal ihren Parteien fette Spenden zukommen. Es war wie bei der »Subprime-Krise« in den USA. Solange dann auch noch die Immobilienpreise kontinuierlich anstiegen, glich das System dem Stein der Weisen. Nur: Ab 2008 war auch hier die wunderbare Geldvermehrung vorüber. Die Immobilienpreise fielen, die Menschen konnten ihre Kredite nicht mehr bedienen. Der Baufortschritt stockte. Die Finanzierungen wackelten, die Kassen gerieten in Schieflage. Milliarden von Krediten hätten abgeschrieben werden müssen. Und zahlreiche Banken hätten ehrlicherweise wohl in Konkurs gehen müssen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erhält die spanische Misere ein neue, abstoßende Fratze: Regierungskriminalität. Denn trotz hoffnungsloser Überschuldung wurde keine der maroden Kassen in die Insolvenz geschickt. Bankenaufsicht, Finanzministerium, Zentralbank, Justiz – alle verharrten im Nichtstun. Nicht nur, dass der Staat nicht eingriff, die Regierung verschlimmerte die Situation noch. Sieben Regional-Sparkassen, jede für sich allein genommen ein Sanierungsfall, wurden zu einer Riesenbank, der heutigen Bankia-Gruppe, verschmolzen. Es war eine gigantische Bad-Bank, die nach außen hin freilich blütenweiß präsentiert wurde. Die kriminelle Konstruktion wurde schließlich auch noch an die Börse gebracht. Die Aktien wurden zu überhöhten Preisen überwiegend den Kunden der früheren sieben Sparkassen, nunmehr eben den Kunden der Bankia, aufs Auge bzw. ins Depot gedrückt. Rund 350.000 Kunden, Sparer und Anleger, wurden so unter Mitwirkung der Regierung in die Miesen manövriert. Nur wenige Monate nach Ausgabe der Aktien waren diese bereits um 75 Prozent ihres Ausgabepreises gefallen. Ein Betrug, dessen Ausmaß 79 sogar die großen bisherigen Anlegerskandale in Europa und den USA in den Schatten stellt – und der vor allem in die Verantwortung der sozialistischen Regierung unter Ministerpräsident Jose Luis Rodriguez Zapatero fällt. Und die Moral von der Geschichte? Die Gründung der Bankia-Gruppe konnte den Verfall des spanischen Finanzsystems nur geringfügig verzögern; die Bad-Bank schreibt 24 Milliarden Miese, ist als systemrelevante Bank heute aber too big to fail und muss mit EU-Geld gerettet werden. Und Zapatero verlor zwar die letzten spanischen Wahlen, politisch oder juristisch vorgegangen wird gegen ihn nicht. Ebenso nicht wie gegen andere Politiker (sowohl der Sozialisten als auch der Konservativen), gegen eingeweihte Bankmanager und nicht gegen die in den Betrug involvierten Beamten. Nicht einmal Ermittlungen wurden bisher eingeleitet. Freilich: Nicht alle in Spanien finden das gerecht. Auch das ist ein Grund für die Demonstrationen. Der bekannte TV-Journalist Hermann Tertsch bringt, als €CO dem Niedergang des Landes hinterher recherchierte, den Frust der Menschen auf den Punkt: »Zapatero hatte alles gewusst, als man noch etwas dagegen hätte machen können. Anstatt zu reagieren hat er alles vertuscht, hat behauptet, dass Spaniens Bankensystem das sicherste der Welt sei. Er und die gesamte Clique, die das zu verantworten hat, sind Verbrecher und sollten ins Gefängnis.« Ob das je passieren wird, ist freilich fraglich. Und letztlich hätte ja auch die EU zeitgerecht eingreifen können. Warum sie es nicht getan hat, bleibt ebenfalls eine der vielen unbeantworteten Fragen, die sich aus dem spanischen Dilemma ergeben. »Mit dem Euro ist es wie mit einem Auto, das den Berg hinunterfährt und immer schneller wird. Die Euro-Retter sagen sich: Wenn wir bremsen, bricht das Auto vielleicht aus; und deshalb bremsen wir lieber gar nicht.« Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener Wirtschaftsforschungsinstitutes „ifo“ 80 »Dolce vita« ist vorbei: Italien wird von der Krise eingeholt von Sabina Riedl Leere Strände im Sommer; Italiens Vorzeigeindustrien auf dem Boden. Lange Gesichter statt »dolce vita« – was ist nur los mit »bella Italia«? Nach Spanien, Portugal und Griechenland hat das Krisenvirus den nächsten Mittelmeerstaat erfasst und hält unseren unmittelbaren südlichen Nachbarn im Würgegriff. Es war nahezu mitleiderregend, wie €CO einen Lokalaugenschein an der oberen Adria erleben musste ... Das jedenfalls sind die ernüchternden Eckdaten der italienischen Wirtschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt: Ein Ende der Rezession ist nicht in Sicht. Im letzten Quartal des Vorjahres schrumpfte die Wirtschaft um weitere 0,2 Prozent und die EU-Kommission rechnet sogar mit einem Konjunktureinbruch insgesamt um 2,3 Prozent. Auch heuer stehen die Zeichen auf »Schrumpfen«. Erst 2014 erwartet die EU für Italien wieder ein zartes Wachstum. Die Industrie in der drittgrößten Volkswirtschaft Europas ist schwer angeschlagen und scheint sich nicht zu erholen. Sowohl im Inland als auch im Ausland ging die Nachfrage nach italienischen Produkten zurück. In den letzten vier Jahren mussten allein 100.000 Textilhersteller zusperren. Damit aber trifft die Wirtschaftskrise auch die Identität und das Selbstverständnis unserer südlichen Nachbarn ins Mark. Ein Drittel der italienischen Jugend ist arbeitslos, man spricht auch hier schon von einer verlorenen Generation. »Dove vai?«, fragt man sich besorgt, denn außer dass Italien der drittgrößte Player in der Europäischen Gemeinschaft ist, sind viele Österreicher, die im letzten Jahr in Italien Urlaub machten, von dem spürbaren Stimmungstief im Land des »dolce vita« bestürzt. Ein Sommer in Italien war für Generationen von uns der Inbegriff der Unbeschwertheit, des prallen Lebens und des Genusses gewesen. Doch gerade in der italienischsten aller Jahreszeiten, der Urlaubszeit, 81 offenbarte sich im vierten Krisenjahr hintereinander der triste Zustand unseres Lieblings-Nachbarlandes. Unser Lokalaugenschein an der oberen Adria, der Badewanne der Österreicher, übertraf die düstersten Erwartungen noch. Gab es früher in der Hochsaison zwischen Juli und August keine freie Liege mehr auf dem Lido di Jesolo, war das Gästeaufkommen diesmal mehr als verhalten. Kein Zweifel, die Krise war in Italien angekommen. Wie immer standen die Schirme dicht gedrängt nebeneinander in Reih und Glied, aber Gähnende Leere darunter herrschte außer Schatten nur gähunter den Schirmen nende Leere. So wenig Touristen wie 2012 gab’s an Italiens beliebtester Strandmeile noch nie. Vor allem die Italiener selbst, die oft übers Wochenende zum Blaumachen an den Strand fahren, ließen aus. 44 Prozent verzichteten auf einen Sommerkurzurlaub – andare al mare, der obligate Ausflug an den Strand, war schlicht und einfach zu teuer geworden. Auch die Urlauber aus dem restlichen Europa sparten spürbar. Die Stimmung in den Ferienparadiesen am Mittelmeer, wo die Österreicher seit Generationen ihre Lebensgeister auftankten, war im Keller. Und selbst in der Serenissima, die um diese Jahreszeit sonst hoffnungslos überlaufen ist, war es ungewöhnlich still. In den Restaurants, Cafés und Geschäften klagten die Betreiber, dass die wenigen Gäste, die kommen, nichts ausgeben würden. Ein paar Eindrücke, noch einmal in Erinnerung gerufen: Der Lido di Jesolo, die längste Strand- und Partymeile an der oberen Adria, ist üblicherweise zum Bersten voll. Letztes Jahr erreichte die Auslastung ein Rekordtief. Von einem Rückgang um die 30 Prozent war die Rede – hinter vorgehaltener Hand, denn nur wenige der Hoteliers oder Geschäftsleute, die wir fragten, waren besonders auskunftsfreudig. So fragten wir zwei, die es wissen müssten: Daniele Bragato und Giuglio Rovere, beide Bademeister wie aus dem Bilderbuch, am beliebten Mazzini-Strand von Jesolo. Wir trafen sie, sonnengebräunt und vom Workout gestählt, auf einem der salvataggio, der Hochstände, wo sie seit mehr als zwanzig Jahren für die Sicherheit der Badegäste sorgen. 82 Und obwohl ihre äußere Erscheinung immer noch die heile italienische Urlaubswelt verkörperte, saßen ihnen zwei schlechte Saisonen in den Knochen. »Eine so miese Saison wie diese«, klagten sie, hätten sie noch nie erlebt. »Leute«, sinnierte Daniele Bragato, »waren voriges Jahr viel mehr hier. Man spürt den Unterschied zu 2011 – und Schuld daran trägt die Krise.« Sein Kollege Giuglio Rovere sekundierte: »Die Leute bleiben aus, weil sie kein Geld haben, keine Arbeit, leider, das ist wirklich hart. Überhaupt finde ich, es war ein Fehler, in Italien den Euro einzuführen. Denn darauf hin hat sich alles verteuert. Eine Pizza Margherita beispielsweise hat früher 5000 Lire gekostet, jetzt kostet sie fünf Euro, also doppelt so viel. So wie alles andere auch – nur die Einkommen, die sind gleich geblieben.« Kein Wunder, dass es unter diesen Umständen die Italiener waren, die hauptsächlich ausblieben. Viele sorgten sich um ihre Zukunft und wollten vorsichtshalber sparen; andere wieder waren bereits Opfer der Krise. »Ausländer sind etwa gleich viele da wie voriges Jahr«, erzählte uns der Student Nicola Vido, der mit seinem rollenden Eis-und-Getränke-Kiosk den Strand auf und ab fuhr. »Nur Italiener sind deutlich weniger da.« Der rigide Sparkurs Mario Montis hatte den Italienern bereits tief in die Tasche gegriffen. Statt ein, zwei Wochen Badeurlaub am Meer, wie es früher Tradition war, fuhr man im vergangenen Jahr maximal ein bis zwei Tage ans Meer. Das war das höchste der Gefühle. Der Rückgang der touristischen Einnahmen traf Italien im Vorjahr hart – denn immerhin machten die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr 22 Prozent der gesamten Wertschöpfung des Mittelmeerstaates aus. Die Krise traf also den Lebensnerv unseres liebsten Urlaublandes. Und: Wie nimmt Österreich die Krise bei unserem südlichen Nachbarn wahr? Wir bitten unseren Interviewpartner, den Finanzberater Andreas Schuster von Hypo Capital Management, in eine der tradi tionsreichsten Pizzerien in Wien: das Rossini in der Innenstadt. Der erklärte Italienfan berät Kunden der Kathrein-Bank und der Raiffeisen NÖ. Im Auftrag besorgter Anleger und Investoren hatte er eine Studie 83 zur Wirtschaftslage in Italien verfasst – die verheißt allerdings nichts Gutes. Die Gründe für das Schwächeln der italienischen Wirtschaft sind vielfältig; gerade die traditionellen Säulen der italienischen Exportwirtschaft hätten nachgegeben. Andreas Schuster erklärt das so: »Der Wegfall der Konkurrenzfähigkeit der italienischen Exportindustrie ist bedingt durch die Tatsache, dass Italien auf Märkten produziert, wo die asiatische Konkurrenz relativ gute, günstige Produkte herstellt.« Gerade die »klassischen italienischen Sektoren« wie die Bekleidungsindustrie, Schuhe, Textilien, Fahrzeuge hätten Federn gelassen – also all jene Handelssparten, in denen Italien bereits viel Terrain verloren hat. Und worauf müssen sich die Österreicher einrichten, die Italienische Investitionen oder Anleihen haben? »Ich glaube«, so Andreas Schuster, »den Worst Case haben wir schon gesehen im Fall von Griechenland. Man muss eben auf einen Gutteil seiner Forderungen oder Investitionen verzichten oder wird dazu gezwungen. So ein Szenario ist für Italien aktuell nicht am Horizont, aber sicher eines der Risikoszenarien, die man langfristig sehen könnte.« Eine der größten italienisch-österreichischen Finanzverflechtungen findet sich natürlich im Bankensektor. Die Bank Austria ist eine 100-Prozent-Tochter der Mailänder Großbank UniCredit, deren Aktien seit der Krise im Sinkflug sind. Ist eine Ansteckung der größten heimischen Bank durch die italienische Mutter zu befürchten, wollen wir vom Chef-Ökonomen der UniCredit Bank Austria AG, Stefan Bruckbauer, wissen? Und der findet deutliche Worte: »Ein Land in der Rezession ist immer eine Herausforderung für eine Bank. Am italienischen Staat leidet die UniCredit nicht. Der italienische Staat geht nicht pleite. Und sollte er pleitegehen, ist es aus meiner Sicht ziemlich egal, wo eine Bank in Europa angesiedelt ist; dann wird es alle ordentlich durchbeuteln, egal, ob es eine deutsche, österreichische, spanische oder italienische Bank ist. Also dieser Illusion brauchen wir uns nicht hinzugeben. Wenn eines der reichsten und größten Länder Europas eine Staatspleite macht, bleibt kein Stein auf dem anderen.« 84 Unsere teuren Parteien und der ungenierte Griff in den Steuertopf von Mag. Ilja Morozov So teuer waren uns die Parteien noch nie: SPÖ, ÖVP und Co. dürfen sich ab 2013 über viel Geld freuen; über sehr viel Geld. Denn während etwa bei den Pensionisten oder den Beamten gespart wird, wird die Parteienförderung saftig erhöht. Und zwar gleich um das Zweifache. Und selbstverständlich ist klar: Bezahlen muss das wie üblich der Steuerzahler. Seit vielen Jahren schon ist Österreich Weltspitze, was die Parteienförderung betrifft. Kaum woanders auf dem Globus wird – pro Kopf gerechnet – so viel Geld an das politische System ausgeschüttet wie hierzulande. Hierfür hat die Republik in der Vergangenheit schon reichlich Kritik geerntet. Aber: Im Frühjahr 2012 roch es nach Veränderung. Angesichts der Euro-Krise und klammer Staatsfinanzen brachte die Regierung gerade ein milliardenschweres Sparpaket zur Welt. »Gespart muss überall werden, aber nicht bei jenen, die arm sind«, erklärte Bundeskanzler Werner Faymann seinen Mitbürgern auf »Youtube«. Auch von einer möglichen Kürzung der Parteienförderung war die Rede. Aber: Weit gefehlt. Nur wenige Monate später und zur großen Überraschung von Experten und wohl auch der Parteikassiere selbst haben sich die »armen« Parlamentsparteien stattdessen per Gesetz eine Verdoppelung der Staatszuschüsse ab Juli 2012 gegönnt. Von nun an werden jedes Jahr stolze 29 Millionen Euro (statt bisher 15 Millionen) auf die Parteikonten überwiesen. Eine Steigerung um rund 90 Prozent. Heuer werden gar 36 Millionen Euro ausgeschüttet, da der Staat bereitwillig auch noch für das zweite Halbjahr 2012 nachzahlt. Beinahe wäre die Rechnung für den Steuerzahler sogar noch höher ausgefallen. Eifrige Beamte im Bundeskanzleramt hatten das Gesetz nämlich so ausgelegt, dass die Parteienförderung rückwirkend für das gesamte Jahr 2012 ausbezahlt werden muss. Also 43 statt 36 Millionen 85 Euro im heurigen Jahr. Erst aufmerksame Journalisten schlugen gerade noch rechtzeitig Alarm. Und nach einem öffentlichen Aufschrei der Entrüstung wurde das peinliche Missgeschick als schlichter »Irrtum« abgetan und korrigiert. So oder so, für viele Bürger ist dieser plötzliche Geldregen eine Frechheit, da doch im Zuge des Sparpaketes »jeder seinen Beitrag leisten« sollte. Pensionen wurden eingefroren, Beamtenposten nicht nachbesetzt und Bausparprämien gekürzt. Selbst die Super-Reichen sollten höhere Steuern zahlen. Warum nur blieben die Parteien verschont? Hat die Opposition etwa geschlafen, als sich ÖVP und SPÖ darauf geeinigt hatten? Nein, das nicht. Zumindest nach außen zeigte man sich auf einer Linie mit dem Volk. Eva Glawischnig von den Grünen tönte etwa im Parlament: »Ich halte die Erhöhung der Parteienförderung für nicht akzeptabel, absolut inakzeptabel!« Und Josef Bucher vom BZÖ tobte: »Das ist eine entwürdigende Maßnahme für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler!« Die Oppositionsparteien waren zwar empört und verweigerten ihre Zustimmung zum Gesetz, das Geld nahmen sie dann aber trotzdem gerne. So liegt es seitdem an Faymann, Fekter und Co. die immense Geldflut mit immer denselben Argumenten zu verteidigen. Diese Rückzugslinie lautet kurz zusammengefasst: Weil künftig weniger Geld fließt, muss ab sofort mehr Geld fließen. Alles klar? Wir klären gerne auf. Nur eines gleich vorweg: Rein rechnerisch fällt diese Argumentation durch sämtliche Logiktests. Tatsächlich ist es zunächst so, dass mit dem neuen Gesetz nicht nur höhere Förderungen, sondern auch strengere Regeln bei der Parteienfinanzierung eingeführt worden sind. Da wären einmal die bis dato kaum kontrollierten Spenden. Im Lichte der Telekom-Affäre, zahlreicher Korruptionsvorwürfe und anderer illegaler Zahlungen müssen von nun an von allen Parteien Spendenzuwendungen über 3500 Euro offen gelegt werden – samt Namen und Anschrift des Wohltäters. Gelder aus dem Ausland dürfen bei Beträgen über 2500 Euro gar nicht mehr angenommen werden. Und Einzelspenden ab 50.000 Euro gehören umgehend dem Rechnungshof gemeldet, der den Namen des Spenders kundtun muss. 86 Unser Parlament: Teure Parteien (Foto: Parlamentsdirektion/Hikade) Der erste öffentlich »gebrandmarkte« Großspender ist übrigens Partei gründer Frank Stronach, weil er sich selbst – sprich seiner »Team Stronach«-Partei – eine Million Euro gespendet hat. Auch Spenden auf Landes- und Bezirksebene sowie Geldflüsse an parteinahe Organisationen gehören nach den neuen Regelungen eingerechnet. Zusätzlich müssen auch Inserate (ab 3500 Euro) und Sponsoring-Gelder (ab 12.000 Euro) veröffentlicht werden. Damit sollen die bisher mickrigen Rechenschaftsberichte der Parteien aussagekräftiger werden, zumal sie derzeit kaum ein Fünftel eines A4-Blattes umfassen. Zum Vergleich: Ein Jahresabschluss eines Unternehmens geht meist über mehrere Seiten. Und: Erstmals drohen bei Vergehen auch harte Strafen, die künftig ein »unabhängiger Parteien-Transparenz-Senat« ahnden soll. Somit soll »endgültig Schluss« sein mit anonymen und dubiosen Zahlungen. Diese plötzliche Transparenz hatte anfangs selbst hart gesottene Kritiker überzeugt. Parteifinanzierungs-Experte DDr. Hubert Sickinger etwa sprach in einer ersten Reaktion von einem »großen Wurf«. Alles schön und gut, aber warum greift man im Gegenzug wiederum den Bürgern so unverschämt in die Tasche? Vermutlich aus einem einfachen Grund: Die Parteizentralen haben Sorge, dass die strengeren Transparenzregeln künftig viele Spender abschrecken. Und um 87 Der Beschluss: Der Steuerzahler zahlt eh’ (Foto: Parlamentsdirektion/Zolles KG/Hagen) finanziellen Katastrophen vorzubeugen, wurde die Parteienförderung daher sicherheitshalber gleich verdoppelt. Schließlich hat ja nicht jeder einen Stronach bei der Hand. Freilich: Welche »Unsummen« bei einem totalen Spendenboykott tatsächlich in den Parteikassen fehlen würden, verrät ein Blick in die aktuell verfügbaren Rechenschaftsberichte aus dem Jahr 2011. Die SPÖ müsste demnach auf 2260 Euro verzichten. Die FPÖ hätte 320 Euro in den Wind zu schreiben, das BZÖ 300 Euro. Und die Grünen würden nicht einmal etwas merken – weil an sie angeblich überhaupt niemand gespendet hat. Einzig für die ÖVP dürfte einiges auf dem Spiel stehen. Hier verzeichnete man 2011 immerhin 1,3 Millionen Euro auf dem Spendenkonto. Dem gegenüber steht freilich das satte Förderplus von 14 Millionen Euro im Jahr, das ganz klar in krasser Relation zu den möglichen Spendenausfällen steht ... Aber: Schließlich droht ja noch an einer anderen Front finanzielles Ungemach. Ab sofort gibt es nämlich keine Rückerstattung von Wahlkampfkosten mehr, argumentieren die Parteien. Allein der Urnengang im Jahr 2006 dürfte nach den Berechnungen von Prof. Sickinger ungefähr 60 Millionen Euro gekostet haben, also deutlich mehr als zehn Millionen Euro je Partei. Nun war es bisher so, dass zumindest ein Teil 88 der Kosten bei Nationalratswahlen vom Staat übernommen worden war. Rund 14 Millionen an Steuermitteln sind hierfür geflossen. Allerdings nur in jenen Jahren, in denen eine Wahl stattgefunden hat – also alle fünf Jahre, manchmal auch etwas öfter. Einen drohenden Geldmangel kann man SPÖ, ÖVP und Co. hier tatsächlich nicht abstreiten. Doch mit der doppelten Parteienförderung – in genau derselben Höhe wie die bisherige Kostenrückerstattung – wird jetzt so getan, als ob jedes Jahr Wahlkampf wäre. Das ist unverständlich. Ein automatischer Inflationsausgleich sorgt noch dazu für stetig steigende Förderungen. Auch wenn die Spenden gänzlich ausfallen sollten, können sich die Parteien noch immer getrost nach hinten lehnen. Zumal auch die Wahlkampfkosten mit dem neuen Parteienfinanzierungs-Gesetz auf maximal sieben Millionen Euro pro Partei begrenzt worden sind. Die heuer stattfindenden Nationalratswahlen dürften folglich keine allzu große finanzielle Belastung darstellen. Und worauf auch gerne vergessen wird: EU-Wahlkampfkosten werden auch weiterhin rückerstattet. Auch hier hätte einiges Sparpotenzial bestanden. Immerhin schießt der Staat rund 13 Millionen Euro zu, wie zuletzt bei der EU-Wahl im Jahr 2009. Aber das war den Parteien dann wohl doch zu riskant. Künftig werden »bis zu zwei Euro je Wahlberechtigten« extra abgegolten. Macht übrigens genau 13 Millionen Euro. Also auch hier ist keine Gefahr auszumachen, die eine Verdoppelung rechtfertigen würde. Überhaupt stehen die Parteien derzeit finanziell so gut da wie schon lange nicht. Bis auf FPÖ und SPÖ haben keine der anderen Parteien nennenswerte Schulden in der Bilanz stehen. Nüchtern betrachtet kann die enorme Anhebung der Parteienförderung daher nur als »großzügiges Geschenk«, keinesfalls aber als »bittere Notwendigkeit« qualifiziert werden. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Natürlich kostet Demokratie Geld und es sei hart arbeitenden Parteien auch vergönnt. Jedoch nur, wenn es tatsächlich notwendig ist. Denn am Ende bleibt fraglich, ob die teuer erkaufte Transparenz bei den Parteienfinanzen auch wie erwartet eintrifft. Bekanntlich gibt es ja immer 89 Die Säulenhalle: Absprache unter den Parteien (Foto: Parlamentsdirektion/Ranz) irgendwelche Schlupflöcher. So haben bereits parteinahe Vorfeldorganisationen damit begonnen, Parallelstrukturen aufzubauen, um der Spendentransparenz zu entgehen. Die Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter gründet etwa den Verein »Gewerkschafter in der SPÖ« und der ebenfalls rote Pensionistenverband den Verein »65 Plus«. Solch Entwicklungen lassen am durchschlagenden Erfolg des neuen Gesetzes zweifeln. Und noch ein Punkt bereitet Kopfzerbrechen: die Parteienförderung auf Bundesländerebene. Mit 125 Millionen Euro im Jahr ist diese um ein Vielfaches teurer als jene für die Bundesparteien. Statt auch hier den Sparstift anzusetzen, ist im neuen Parteienför derungs-Gesetz ein Korridor zwischen 6,20 und maximal 22 Euro je Wahlberechtigten vorgesehen, den die einzelnen Länder auch noch unter sich aushandeln dürfen. Noch hat kein Bundesland ähnlich drastische Erhöhungen angekündigt wie die Parlamentsparteien. In Zukunft ist das jedoch nicht auszuschließen, bewegt sich doch beispielsweise Niederösterreich mit 11,16 Euro pro Kopf am unteren Limit des Möglichen. Doch um auch hier härter durchzugreifen, dafür hat es den Bundesparteien wohl an Argumenten gefehlt ... 90 Das Werben um Betriebe: Noch ist Österreich »liebenswert« von Katinka Nowotny Jedes Jahr siedeln sich hunderte ausländische Unternehmen in Österreich und hier vor allem in Wien an. Angezogen werden sie von hoher Lebensqualität und gut ausgebildeten Mitarbeitern. Aber der Wettkampf um neue Firmen wird immer härter. Der US-Amerikaner Chris Carlston hätte mit seinem kleinen Unterneh men auch nach Paris, nach London oder nach Madrid gehen können. Aber er hat sich vor rund einem Jahr für Wien entschieden – und wurde so einer von hunderten neuen Betriebsgründern in Österreich. Carlstons kleines Büro in der Wiener Innenstadt wertet für internationale Ölkonzerne Satellitenbilder aus, damit diese wissen, wo es sich zu bohren lohnt. Diese Arbeit kann überall auf der Welt gemacht werden. Carlston entschied sich für Österreichs Bundeshauptstadt – wegen der hohen Lebensqualität, die er und seine Familie hier genießen können »Wien ist gut für Familien«, sagt er. »Die Stadt ist sicher, sauber und der öffentliche Verkehr funktioniert bestens. Wir können unseren Kindern hier mehr Freiheiten geben. Paris und London wären für uns zu groß gewesen. Wien war eine gute Wahl.« Tatsächlich ist die hohe Lebensqualität einer der großen Pluspunkte, mit denen Wien und auch andere österreichische Städte in aller Welt um Ansiedelungen werben können. Jahr für Jahr wird die Bundeshaupt stadt vom Beratungsunternehmen »Mercer« als »lebenswerteste Stadt für internationale Manager« ausgezeichnet. Aber mit Kultur, mit Parks und mit Freundlichkeit allein kann man Weltkonzerne nicht mehr dazu bringen, große Summen hier zu investieren. Der Kampf um Betriebsansiedelungen ist härter geworden und nicht mehr in allen Bereichen kann Österreich punkten. Hohe Steuern, eine schwerfällige Bürokratie und komplizierte Arbeitsbewilligungen sind die häufigsten Themen, über die internationale Manager regelmäßig klagen. 91 »Staaten wie Tschechien oder Ungarn gehen immer stärker in unser Standortprofil hinein«, warnt Rene Siegl, der Chef der Austrian Business Agency (ABA), die für Betriebsansiedelungen wirbt. 2011 hat seine Firma 180 Unternehmen mit 1800 neuen Jobs begleitet. »Es ist kein Wunder – die müssen sich ihrerseits gegen die Ukraine, gegen Rumänien oder gegen Bulgarien abgrenzen und das machen sie, indem sie höher qualifizierte Leistungen anbieten. Daher ist Wien sicherlich auch der Konkurrenz durch Prag und durch Budapest ausgesetzt. Das ist ein neues Umfeld, das in den letzten fünf bis zehn Jahren ent standen ist.« Lange Zeit war Wien der unumstrittene Champion, wenn es um Osteuropa-Zentralen internationaler Konzerne ging. Schon vor dem Fall des Eisernen Vorhanges wurde von Wien aus der Markt in den kommunistischen Ländern beobachtet; und ab 1989 erfolgte die Expansion in die Nachbarstaaten und weiter nach Osten von Wien aus – rasant. Für Österreichs Bundeshauptstadt sprachen unter anderem die zentrale Lage in Europa, gute Verkehrsverbindungen, vor allem das dichte Flugnetz der AUA, die hohe Rechtssicherheit und die Verfügbarkeit hochwertiger Dienstleistungen. Immer noch ist Wien für viele deutlich attraktiver als Prag oder Budapest, aber der Abstand ist geschrumpft. »Go east« startete immer von Wien aus »Es ist ein globaler Wettlauf um die besten Unternehmen dieser Erde und sobald man sich da ein bisschen zurücklehnt, fällt man klarerweise auch zurück«, sagt Gerhard Hirczi, der die Wirtschaftsagentur Wien in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) leitet. 126 Unternehmen kamen mit seiner Hilfe im Vorjahr nach Wien – ein Rekordwert. Darunter war auch die amerikanische Modekette »Forever 21«. Auf ihrem ersten Sprung nach Europa entschied sie sich für Wien – als attraktiven, aber auch herausfordernden Testmarkt. Entscheidend waren neben dem kaufkräftigen Publikum die Verfügbarkeit qualifizierter Mitarbeiter – und natürlich Immobilien in Top-Lage und (damals) dennoch erschwinglichen Mieten. Aber: So attraktiv Headquarters und Dienstleistungsbetriebe für einen Wirtschaftsstandort auch sind, die meisten Arbeitsplätze entstehen 92 nach wie vor in der Industrieproduktion. Und da muss Österreich noch härter kämpfen, denn die heimischen Löhne zählen zu den höchsten der Welt. Statt Ansiedelungen kommt es deswegen auch immer wieder zu Abwanderungen oder Betriebsschließungen, die meist in strukturschwachen Regionen Arbeitsplätze kosten. Bei hohen Kosten müssen andere Dinge passen – vor allem die Qualifikation der Mitarbeiter und die Möglichkeiten für Partnerschaften bei Forschung und Entwicklung. Das zählt etwa für die Firma »Castolin«, einem Spezialisten für Schweißtechnik und Tochter der deutschen »Messer Gruppe«. Vor kurzem hat das Unternehmen in Niederösterreich eine neue Produktionshalle eingerichtet und zusätzliches Personal eingestellt. Kieswerke, Papierproduzenten und die Stahlindustrie lassen hier ihre Maschinen und Anlagen mit Spezial-Schweißverfahren vor zu raschem Verschleiß schützen. Dem Einsatz dieser Technik gingen lange Jahre der Entwicklung voraus – in enger Zusammenarbeit mit lokalen Forschungseinrichtungen. Solches Know-how ist nicht einfach zu verlagern, deshalb bleibe »Castolin« auch in Österreich, sagt Manager Robert Kirchmayer. »Es gibt eine gute Kundenstruktur hier in Österreich und in den umliegenden Ländern, die wir schon seit Jahrzehnten beackern. Mit ihr können wir uns weiter entwickeln; zusammen mit der Technologie und der Forschung ist das ein Mix, der uns am Standort in Österreich sicherlich gegenüber anderen überlegen macht.« Der gute Ruf des Landes wird auch noch weiter im Osten geschätzt – in China. Der steirische Elektromotoren-Hersteller ATB stand nach der Pleite des Großinvestors Mirko Kovats und dessen »A-Tec«-Holding zum Verkauf. Den Zuschlag erhielt das chinesische Familienunternehmen Wolong, das von einem neuen Headquarter in Wien mit ATB-Produkten in alle Welt expandieren will. »Jene Motoren, die ich hier herstellen kann, kann ich nicht in China produzieren«, sagt ATB-Aufsichtsrat Christian Schmidt. »Das spricht für den Standort Österreich und eine Headquarterfunktion in Wien.« Doch Experten warnen: Wenn Österreich die Rahmenbedingungen nicht laufend verbessert, dann wird das Land von anderen überholt. 93 »In den letzten zwei, drei Jahren verliert Österreich in den internatio nalen Rankings jedes Mal ein, zwei, teilweise sogar drei Plätze. Wenn man selbst nicht stark reformiert, dann wird man nach hinten durchgereicht«, sagt ABA-Chef Siegl. Die Körperschaftssteuer ist in Österreich mit 25 Prozent im guten europäischen Durchschnitt und stellt kein Hindernis dar. Die unter der schwarz-blauen Regierung eingeführte Gruppenbesteuerung galt lange Zeit sogar als echtes Plus: Verluste bei Auslandstöchtern konnten im Inland von der Steuer abgesetzt werden. Das war vor allem bei der Ansiedelung von Unternehmenszentralen ein starkes Argument. Wie bekannt, ist es hier zu wirklichen Verschlechterungen für Unternehmen gekommen. Zusätzlich gibt es eine Fülle von kleineren Steuern und Gebühren wie Werbeabgaben oder Gesellschaftssteuern, die dem Budget relativ wenig bringen, aber dem Unternehmen großen Verwaltungsaufwand verursachen, kritisiert Barbara Polster-Grüll von der internationalen Wirtschaftstreuhand-Gesellschaft KPMG. Und die hohen Einkommensteuern und Lohnnebenkosten sind vor allem für hoch bezahlte Manager ein echtes Problem. 60 Kilometer weiter in Bratislava ist das Leben zwar weder billiger noch schöner, aber die Steuerbelastung deutlich geringer. »Die Höhe der Steuern ist in der Regel nicht das entscheidende rgument für eine Ansiedelung«, schränkt Hirczi ein. »Es muss ein A Package geben, dann läuft die Steuer sozusagen nebenbei mit.« Zu diesem »Paket« gehört im Übrigen auch die berühmte »Ausländerpolitik« – und die könnte hierzulande deutlich liberaler werden. Der Amerikaner Chris Carlston etwa konnte seiner Frau keine Arbeitsbewilligung beschaffen. Und andere Unternehmen klagen auch darüber, wie schwer es ist, die notwendigen Papiere für qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Nicht-EU-Raum zu erhalten – Rot-Weiß-Rot-Card hin oder her. Und noch wirchtiger als das, ist das Wissen, dass die Kinder in Wien sicherer aufwachsen als etwa in einer amerikanischen Großstadt. »Wir sehen unsere Kinder in die Straßenbahn einsteigen und haben dabei ein sicheres Gefühl.« 94 Unser Gehalt, unser Geheimnis: So viel »Verdienst« ist normal von Mag. Bettina Fink Studieren Sie manchmal aus Interesse Stellenanzeigen? Mal sehen, was sich auf dem Arbeitsmarkt so tut? Seit geraumer Zeit finden sich im Kleingedruckten auch konkrete Angaben zur Entlohnung: Also Informationen über das Monats- oder Jahresbruttogehalt sowie den Kollektivvertrag. Das liest sich spannend. Doch sind die genannten Summen auch realistisch? Seit mehr als einem Jahr sind Arbeitgeber per Gesetz verpflichtet, Löhne in Jobausschreibungen offen zu legen. Die neue Lohntransparenz: Sie wurde von der Frauenministerin und der Gewerkschaft als »Waffe im Kampf gegen die konstatierten Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen« durchgesetzt. Die These: Wer weiß, was die eigene Arbeitskraft wert ist, welche Löhne üblicherweise in der eigenen Branche bezahlt werden, kann auch besser verhandeln. Das Gute daran: Der größte Teil aller Unternehmen hält sich mittlerweile auch an die gesetzlichen Vorgaben. Doch meist wird in Inseraten nur der kollektivvertragliche Mindestlohn angegeben – und Bereitschaft zur Überzahlung signalisiert. Das ist zwar gesetzeskonform – für Bewerber aber oft wenig hilfreich. Beispiele gefällig? Conrad Pramböck ist Gehaltsexperte bei der internationalen Personalberatung »Pedersen & Partners«. Als solcher hat er permanent Einblick in die Einkommensdaten verschiedenster Branchen und Firmen, sowohl national als auch international. Mit ihm machen wir einen Gehalts-Check: Im Karriereteil großer österreichischer Tageszeitungen nimmt er spontan Inserate unter die Lupe. Beispiel eins: Gesucht wird eine Assistentin der G eschäftsführung mit Berufserfahrung. Der angegebene Mindestlohn: 1586 Euro brutto monatlich. Die Einschätzung von Dr. Conrad Pramböck: »1500 Euro entsprechen dem Mindestgehalt von Einsteigerinnen, die die HAK-Matura absolviert haben. Wenn ich Vorstandsassistentin bin und 95 Berufserfahrung habe, bewegen sich die Gehälter jedenfalls zwischen 2500 und 3500 Euro brutto pro Monat, die Gehaltsangabe ist also völlig unrealistisch.« Beispiel zwei: Gesucht wird ein/e VertriebsmitarbeiterIn in der Phar mabranche. Die Person soll ein abgeschlossenes naturwissenschaft liches Studium und Berufserfahrung vorweisen. Die Pharmabranche hat den Nimbus gut zu bezahlen. Doch das Jobinserat offeriert g erade einmal 1441 Euro brutto pro Monat. Dr. Conrad Pramböck: »Das ist nicht einmal das Einstiegsgehalt von MaturantInnen. Tatsächlich müsste so jemand zwischen 2500 und 3000 Euro brutto verdienen, also die Angaben im Inserat weichen um 50 Prozent von der Realität ab.« Beispiel drei: Ausgeschrieben ist die Stelle einer Buchhalterin mit abgeschlossener kaufmännischer Ausbildung und dem Schwerpunkt Rechnungswesen. Sie soll einige Jahre Erfahrung haben. Für eine Vollzeitbeschäftigung werden im Inserat 1700 bis 2500 Euro als Gehalt genannt. Pramböck: »Das ist eine Stellenausschreibung, die realistische Angaben macht. Damit kann man etwas anfangen.« So einfach scheint es mit der Lohntransparenz in Inseraten also nicht zu sein. Darum liefern wir zur Orientierung einen realistischen Überblick über übliche Einstiegsgehälter in Österreich. Abweichungen je nach Branche sind natürlich möglich. Einstiegsgehälter im Überblick • Die Einstiegsgehälter für Facharbeiter liegen meist zwischen 1300 und 1700 Euro. Nach zehn Jahren sind es 2100 bis 2800 Euro. • Die meisten Maturanten starten mit 1400 bis 1800 Euro und kommen nach zehn Jahren auf 2300 bis 3200 Euro. • Akademiker steigen mit 1800 bis 2500 Euro ein. Nach fünf Jahren liegen sie bei 2900 bis 3600 Euro. Deutliche Ausreißer nach unten oder oben sind möglich – je nach Studienwahl. Besonders schwierig wird es mit den realistischen Gehaltsangaben in den höheren Etagen. Markus Brenner ist Personalberater in Wien und vermittelt Führungskräfte. »Gehälter sind hierzulande immer noch ein großes Tabuthema. Vor allem aber hängen sie stark von der Person des 96 Bewerbers, der Bewerberin ab, der Erfahrung und dem Wissen, die sie oder er mitbringt. Die Spielräume sind darum – speziell bei Führungspositionen – gewaltig.« Gehaltsbandbreiten zwischen 50.000 bis zu 120.000 Euro jährlich für einen ausgeschriebenen Job im mittleren Management – alles ist möglich. Und dann wären da auch noch viele andere Variablen zu beachten: »Wie viel ist fix, wie viel Gehalt variabel, sind Überstunden inkludiert, gibt es einen Dienstwagen, eventuell auch Pensionszusagen?«, so Markus Brenner. Das reine Jahresgehalt sagt oft wenig aus. Und wenn man es allein darauf anlegt, fürchtet der Personalberater eine Annäherung an »britische Verhältnisse, wo es nur noch darum geht, wie viel ist der Job wert, was bekomme ich bezahlt. Das gefällt mir persönlich gar nicht, es geht ja auch darum, dass ein Job zu mir passt, dass er Spaß macht.« Auch wenn bei Führungsjobs scheinbar vieles relativ ist: hier ein Gehaltsüberblick zur Orientierung. Viel hängt auch von der Größe des Unternehmens und von der Branche ab, fügt Conrad Pramböck hinzu. Gehälter für Führungsjobs • Wer nach fünf bis zehn Jahren zum Teamleiter aufsteigt, verdient meist 3400 bis 5000 Euro brutto monatlich. • Abteilungsleiter in einem mittelständischen Betrieb mit 200 bis 500 Mitarbeitern können nach zehn bis 20 Jahren mit 4800 bis 7000 Euro rechnen. • Bereichsleiter bei einem Großunternehmen mit mehr als 1000 Mitarbeitern wird man meist nach 15 bis 25 Berufsjahren. Die Gehaltsbandbreite: 6800 bis 11.000 Euro. Abweichungen nicht ausgeschlossen. Eine völlig andere Welt: die Produktion des Automobil-Zulieferers R upert Fertinger in Angelernter oder Wolkersdorf. 150 der 200 Mitarbeiter arbei- echter Facharbeiter? ten in der Produktion. Meist angelernte Arbeiter und echte Facharbeiter. Hier gilt der Metaller-Kollektivvertrag. Rund 1600 Euro brutto monatlich – das ist der Einstiegslohn – bei entsprechender Erfahrung und Qualifikation sind Überzahlungen von zehn bis 20 Prozent möglich. Und auch der Schichtdienst bringt Zulagen. 97 Doch in lichte Höhen eines richtig guten Akademikergehalts steigen die wenigsten hier auf. Die Firma Rupert Fertinger sucht vor allem für die automatisierten Anlagen immer wieder Fertigungstechniker und Mechatroniker – Fachkräfte, die sehr rar sind. Der kollektivvertragliche Mindestlohn ist für besonders gefragte Techniker zwar ein Anhaltspunkt, aber nicht der alles entscheidende. Für das Unternehmen ist die Offenlegung der Löhne in Stelleninseraten also eine Gratwanderung. Man will keine unattraktiven Mindestgehälter angeben und gute Bewerber abschrecken – aber auch nicht überzogene Erwartungen wecken. Doch gerade bei sehr gefragtem Personal stehen die Firmen in einem harten Wettbewerb um die besten Leute. Personalchefin Brigitta John: »In der freien Wirtschaft kann man das Gehalt nicht so schematisieren, wie man sich das vielleicht in Ministerien oder Ä mtern vorstellt, wo es fixe, klare Einstufungen gibt. Bei uns herrscht das Gesetz von Angebot und Nachfrage, das ist ein Markt.« Hilfreich ist die Gehälteroffenlegung derzeit vor allem für Berufsgruppen, die nahe am Kollektivvertrag bezahlt werden. Laut Gewerkschaft wussten viele ArbeitnehmerInnen bislang nicht einmal, welches Gehalt ihnen mindestens zusteht. Und ob sie im richtigen oder in einem für sie schlechteren Kollektivvertrag angestellt werden, so Brigitte Ruprecht, Bundesfrauenvorsitzende im ÖGB. »Wir haben in Österreich mehr als 800 verschiedene Kollektivverträge. Und da kann es schon einen Unterschied machen, ob ich in einem Industrie- oder einem Gewerbekollektivvertrag eingestuft werde.« Zumindest diese Einstufungen werden durch die Gehaltsoffenlegung transparenter. Es bleibt aber trotzdem niemandem erspart, sich gut über den Marktwert der eigenen Arbeitskraft zu informieren, wenn man einen neuen Job anstrebt. Je höher oder je gefragter die Qualifikation, desto mehr Spielraum ist gegeben. Aber so lange Firmen in vielen Inseraten keine realistischen Angaben machen, sondern nur Minimalanforderungen veröffentlichen, erfüllt sich eine politische Idee hinter der Gehälteroffenlegung nur bedingt: nämlich, dass allfällige Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern verschwinden sollen. 98 Ein totaler Bildausfall – der Absturz des Weltkonzerns Kodak von Sabina Riedl Es war die spektakulärste Pleite des abgelaufenen Jahres – dass ein Weltkonzern und mit ihm eine der wertvollsten, gediegensten und bekanntesten Marken der Welt baden gehen, erlebt man nicht alle Tage. Der Kamerapionier und Filmhersteller Kodak schlitterte in die Insolvenz. Für viele markiert der Crash auch das Ende einer Ära. Kodak hat die digitale Revolution verschlafen, darin sind sich die Brancheninsider einig – viele von ihnen freilich mit einer Träne im Knopfloch. Immerhin war Kodak die neuntwichtigste Marke der Welt. Gründer- und Firmenvater George Eastman war ein visionäres Genie. Er hatte 1888 die erste Amateurkamera auf den Markt gebracht und damit Fotogeschichte geschrieben. Die europäischen Niederlassungen sind vorläufig nicht betroffen. Wenngleich der Schock auch dort tief sitzt. Die Kodak-Aktie ist in nur fünf Jahren ins Bodenlose gestürzt – von 25,8 Euro auf zum Jahreswechsel 0,17 Euro – und lange schien es fraglich, ob und wie es mit dem einstigen Vorzeigebetrieb nach dem Insolvenzverfahren weitergehen würde. Doch nun zeichnet sich eine wenigstens vorläufige Rettung ab. Mitte November gab Kodak nämlich bekannt, dass der Konzern 800 Millionen Dollar für einen Neubeginn in der Kriegskasse habe. Genau gesagt sind es 793 Millionen, die vorwiegend von zwei US-Großbanken, UBS und JP-Morgan, kommen sollen. Damit Kodak als Druckerher steller durchstarten kann, muss das Unternehmen erst seine etwa 1000 Digitalfoto-Patente zu Geld machen. Die Geschäftsführung erhofft sich daraus einen Erlös von rund 500 Millionen Dollar – das klingt schon sehr viel bescheidener als noch Anfang des Jahres 2012, als von »bis zu drei Milliarden Dollar an Patentwerten« die Rede war. Nach seinem Niedergang muss sich der Konzern womöglich mit noch viel weniger als einer halben Milliarde begnügen. 99 Eine Marke verschläft das digitale Zeitalter (Foto: Kodak) Das ist doppelt bitter und auch ein wenig ironisch, weil aus der K odak-Entwicklungsabteilung die allerersten, damals noch revolu tionären Digitalkameras schlüpften. Doch während die Konkurrenten schleunigst auf den digitalen Zug aufsprangen, verschlief Marktführer Kodak, der die Speerspitzen der Entwicklung unter seinem eigenen Dach beschäftigte, trotz seines gewaltigen Vorsprungs an Know-how und Forschung die digitale Revolution. Wie sind die Mächtigen gefallen, denkt man unwillkürlich, wenn man an das goldene K denkt. Vom weltumspannenden Imperium und einer Marke, die jedes Kind noch heute mit Familienalben, wertvollen Erinnerungen und Fotografie verbindet, zu einem beispiellosen Niedergang war es nur ein kurzer Weg. Zu spät haben die Chefs die Weichen gestellt, viel zu spät erkannt, dass der Film, ihre Haupteinnahmequelle, zum Nischenprodukt verkommen würde. Und wer hätte gedacht, dass der Oldie von Paul Simon aus dem Jahr 1973 »Don’t Take My Kodakchrome Away« die Firma Kodak überleben würde? Das gigantische Kamera-und-Film-Imperium mit Sitz in Rochester, New York, beschäftigte zu seinen Glanzzeiten in den 1980erund 1990er-Jahren 145.000 Mitarbeiter weltweit; heute sind es gerade mal 19.000. 100 Ein Teil des Kodak-Dramas hat sich, abgeschottet von der Öffentlichkeit, sogar vor den Toren Wiens abgespielt. Im Sommer 2003, kurz vor der Schließung des Kodak-Labors in Wien-Auhof, waren wir mit einer €CO-Kamera vor Ort. Was wir dort, im damals größten Foto-Entwicklungslabor Europas, zu sehen bekamen, lässt sich am ehesten mit dem sprichwörtlichen »Zeichen an der Wand« beschreiben. Es war die erste Urlaubssaison im Zeichen der Digitalfotografie. Im Entwicklungslabor am westlichen Stadtrand Wiens herrschte im Herzstück des Betriebs, an den kilometerlangen Produktionsstraßen zur Filmentwicklung, bereits gespenstische Stille – während sich im Obergeschoss, in einem behelfsmäßig eingerichteten Digitallabor, Wäschekörbe mit unerledigten Aufträgen für die Ausarbeitung von digitalen Urlaubsfotos türmten. Der damalige Geschäftsführer von Kodak-Österreich versuchte noch, den sich abzeichnenden Dammbruch auf dem Fotosektor zu verhindern: Mit einer 300.000 Euro teuren »Gratis-Ausarbeitungsaktion« für digitale Urlaubsfotos versuchte er zumindest den Printbetrieb zu retten. Vergebens. Das Geld war futsch und es hagelte wütende Kundenproteste, weil die Ausarbeitung wochenlang dauerte und nicht, wie in der Werbung versprochen, »ein paar Tage«. Im €CO-Interview vor neun Jahren, am 7. August 2003, gab er sich noch zuversichtlich, dass die schlimmsten Einschnitte nicht unter seinem Dach passieren würden. Das digitale Schlamassel, dem er nicht Herr wurde, kommentierte er damals, als wären alle Chancen intakt, doch noch die Kurve zu kriegen: »Das bedeutet nur«, sagte er, »dass wir uns fit machen müssen. Wir werden da und dort natürlich auch Restrukturierungen vornehmen müssen, bei der Produktion und den Maschinen, aber leider auch, und das sollte man immer zuletzt machen, bei der Belegschaft.« Nachsatz: Aber betroffen wären sowieso in erster Linie die USA und nicht Europa. Nun, er sollte sich täuschen, denn schon kurz nach seinem Interview war das größte Kodak-Entwicklungslabor Europas geschlossen, alle Mitarbeiter entlassen, nur Christian Wimmer und 18 weitere Kodak-Angestellte verblieben in ganz Österreich ... 101 Im Vorjahr besuchten wir den Ex-Kodak-G eschäftsführer an s einem neuen Arbeitsplatz. Heute ist Christian Wimmer G eschäftsführer des Einrichters »Service & More«. Die Kodak-Ära ist auch für ihn zu Ende gegangen. Die dramatischen Ereignisse, die zum Finale geführt hatten, wird er sein Leben lang nicht vergessen. »Es war ein sehr schmerzhafter Prozess«, erinnert sich Christian Wimmer, »auch für mich persönlich. Weil man den Plan im Kopf hat, es sind 450 Mitarbeiter und am Ende des Tages werden nur 50 bis 100 überbleiben. Man weiß, dass das nur unter Schmerzen vonstatten gehen kann.« Hochmut, die Gier der Aktionäre, die von hohen Renditen verwöhnt waren, gewaltige Fixkosten und ein zu langsamer Richtungswechsel sind dem Weltmarktführer letztlich zum Verhängnis geworden. »Man hätte die Restrukturierung nicht auf zehn, zwölf oder 15 Jahre planen dürfen, sondern auf zwei oder drei Jahre – man hätte den Aktionären sagen müssen, es gibt jetzt kein Geld, das brauchen wir, um uns neu aufzustellen. Das hat man verabsäumt. Diesen Mut hat man leider in Rochester nicht gehabt«, lautet Wimmers wehmütige Bilanz. Dabei stand am Beginn der Firmengründung vor 131 Jahren eine technische und ökonomische Revolution – die Fotografie wurde massentauglich. US-Fotopionier und Visionär George Eastman entwickelte die erste Amateurkamera, genannt »The Original«. Im »Fotomuseum Westlicht« in Wien zeigt uns Inhaber und Sammler Peter Coeln die erste Kodak, die den Firmenruhm begründete. »Der Slogan«, erzählt er, »lautete: You push the button, we do the rest. Man hat die ganze Kamera eingeschickt und bekam 100 entwickelte Fotos zurück, mit einem neu eingelegten Film. Die Kamera hat 25 Dollar gekostet, das Tauschen des Films und die Entwicklung der Bilder zehn Dollar.« Es folgte der »Kodak Brownie 1894«, der für nur zwei Dollar auf den Markt kam – ein massentaugliches Amateurprodukt, dem noch viele epochale Entwicklungen folgen sollten. Goldene Rahmen, Bilder auf Silberplatten, die Exponate im »Westlicht Fotomuseum« zeugen vom Wert der Fotografie anno dazumal. Sie 102 führen dem Betrachter vor Augen, wie kostspielig fotografieren einst war – und wie spottbillig heute; auch und nicht zuletzt das Verdienst von Kodak. Branchenkenner und Profifotograf Peter Coeln über die Zukunft der Firma: »Wichtig wäre, dass sich Kodak wieder selbst reinigt. Ich hoffe, dass die Firma bestehen bleibt. Kodak ist einer der großen Brands der Welt und ist in keiner Sprache negativ besetzt, was für eine Marke sehr wichtig ist.« Alte Kodak-Werbespots aus den 1960er-Jahren lassen einen wehmütig werden. Ist die Marke doch mit österreichischen Wohnzimmern und Familiennostalgien auf Generationen hin untrennbar verwachsen. Das bestätigt auch die österreichische Fotodynastie schlechthin, die in den goldenen Ein Markt stellt Kodak-Zeiten ihre eigene Firmen-Erfolgsge- sich auf den Kopf schichte schrieb: die Hartlauers. Nach dem plötzlichen Tod des »Fotolöwen« Franz Josef im Jahr 2000 übernahm Sohn Robert den Betrieb – für den Junior ein Sprung ins kalte Wasser – an der Schwelle zur digitalen Revolution. »Bei den Kameras«, erinnert sich Robert Hartlauer an die rasante Entwicklung, »war im Jahr 2000 ein Anteil von fünf Prozent digital. Heute sind es 100 Prozent. Heute gibt es kaum noch analoge Kameras, die verkauft werden. Bei der Ausarbeitung lag der analoge Anteil früher bei 99 Prozent, heute macht die digitale Ausarbeitung 60, 70 Prozent aus. Das hat sich ganz klar in den letzten zehn Jahren zu 100 Prozent gedreht – verständlicherweise.« Die frühen Familienalben der Hartlauers sind noch analog, die späteren digital – wie schnell ein Fixstern wie Kodak zu einer Fußnote werden kann, überrascht sogar den Profi. »Ich werde oft nachdenklich, wenn ich mir die Marktentwicklung so anschaue, auch im Telekom-Bereich.« Totgesagte leben länger, heißt es im Allgemeinen. Wenn Kodak im Sanierungsverfahren seine Patente zu Geld machen kann, wäre der Weg für ein Comeback auf einen strahlenden Siegerplatz im Fotodruck geebnet. Wenn nicht, verschwindet die einstmals achtgrößte Marke der Welt vom Markt – einfach so. Einfach, wie eine Fotografie im Laufe der Jahre verblassen und schließlich ganz verschwinden kann. 103 Große Worte – meist sogar richtige gesammelt von Günther Kogler »Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass ein Regierungsmitglied hinzugehen hat, wenn es eingeladen wird.« Wollte Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) tatsächlich in die »Gästeliste« aufgenommen werden, um vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Sachen Inseratenaffäre auszusagen? »Ich weiß nicht, was Sie mit Schmiergeld meinen.” Ex-Innenminister und Ex-EU-Abgeordneter Ernst Strasser (auch Ex-ÖVP) hat keine Ahnung, was der parlamentarische Korruptions-Unterausschuss von ihm will. »Die Leistungsfrage wird hier immer wieder ins Lächerliche gezogen. Ich beantworte sie daher nicht mehr.« Walter Meischberger, Ex-FPÖ-Generalsekretär und Ex-Lobbyist, will bei der Suche nach seiner Leistung nicht mehr helfen. »Ich hab’ im Jahr 35 bis 40 Jagden. Wenn nicht gerade der Kaiser von China kommt, merk’ ich mir keine Namen.« Lobbyist Alfons Mensdorff-Pouilly merkt sich auf seinen Pirschzügen nur die Tiere. »Nach der Abwicklung des Hypo-Verkaufes haben Haider und ich die Idee entwickelt, dass etwas an die Parteien gehen soll.« Aus der Erinnerung des zurückgetretenen und in erster Instanz verurteilten Kärntner ÖVP-Chefs Josef Martinz. »Am Hochstand verhandeln, das bringt sicher nichts.« Ex-Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad will Geschäfte niemals mit der Flinte im Anschlag abgeschlossen haben. 104 Reha statt Rente: Die »Invaliditätspension neu« von Mag. Ilja Morozov Es war ein logischer Reformansatz im »Frühpensionsland Österreich«: Wer krank ist, kann künftig nicht mehr so einfach in Frühpension gehen. Stattdessen stehen Arztbesuche und Umschulungen auf dem Programm. Die Idee ist gut, die Umsetzung jedoch weniger. Große Ungerechtigkeiten bleiben bestehen. Großbaustelle Wiener Innenstadt. Vergangenen Sommer besucht €CO schwer schuftende Bauarbeiter beim Umbau der U-Bahnstation Karlsplatz. Hitze, Feuer, Staub – unter harten Bedingungen werden hier im Akkord Gleise aneinandergeschweißt. Wie lange hält man denn so eine Arbeit körperlich aus, wollen wir wissen. »Bis zur Pension sicherlich nicht«, tönt es unisono aus den verschwitzten Gesichtern. Für mehr bleibt im Interview keine Zeit, jede Minute ist hier beinhart kalkuliert. Arbeitsunfälle, Bandscheiben-Vorfälle, Stress. Bauarbeiter sind Paradekandidaten für die invaliditätsbedingte Frühpension, sollte man denken. Leider sind sie bei Weitem nicht die einzigen. Österreichweit scheiden jedes Jahr über 20.000 Menschen krankheitsbedingt aus dem aktiven Erwerbsleben aus, quer durch alle Berufsgruppen. Egal, ob Angestellter oder Arbeiter, keiner ist davor gefeit. Aktuell gehen hierzulande sogar mehr Menschen in Invaliditätspension als in die reguläre Alterspension. Besonders alarmierend ist die Zahl der Unter-50-Jährigen. Diese machen bereits ein Drittel aller Betroffenen aus, Tendenz steigend. Das kommt den Staat ziemlich teuer. Drei bis fünf Milliarden Euro müssen jedes Jahr für diese Invaliditätspensionen berappt werden. »Ohne Ergreifung gesetzlicher Maßnahmen ist die mittel- und langfristige Finanzierung der gesetzlichen Pensionsversicherung gefährdet«, warnt daher das Sozialministerium. Verhindern soll das die »Invaliditätspension NEU«, ein unter Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) ausgearbeitetes Gesetz. Im Kern sieht die neue Regelung vor, dass die befristete Invaliditätspension ab 2014 schrittweise abgeschafft wird. 105 Da jedes Jahr ein neuer Jahrgang dazu kommt, läuft die bisherige Regelung bis 2029 automatisch aus. Damit soll massenhaften Frühpensionierungen endlich ein Riegel vorgeschoben werden. »Das Wichtigste ist einmal, dass wir nicht sagen: Da hast’ eine Rente, baba und fall net. Sondern dass wir einmal hinschauen und mit den Menschen arbeiten«, erklärt Rudolf Hundstorfer. Gleich zwei Fliegen mit einer Klappe will der Minister schlagen. Einerseits sollen erkrankte Menschen wieder ins Berufsleben integriert und das durchschnittliche Pensionsantrittsalter dadurch angehoben werden. Das ist im europäischen Vergleich ja wahrlich nicht berühmt. Und andererseits sollen die Pensionskosten innerhalb von fünf Jahren um 700 Millionen Euro reduziert werden. Abgesehen davon, dass das Einsparungspotenzial von so manchem Experten als »heroische Annahme« stark angezweifelt wird, bleiben viele Problemfelder freilich ungelöst. Zunächst aber zu den Details. Das neue Gesetz gilt für all jene, die am 1. Jänner 2014 jünger als fünfzig Jahre sind. Sie können dann nicht mehr in die befristete Invaliditätspension abgeschoben werden, sondern müssen sich stattdessen medizinischen Behandlungen oder einer Umschulung beim Arbeitsmarktservice unterziehen. Oder beidem. Nur wer tatsächlich dauerhaft krank oder invalide ist, darf auch in Z ukunft in den vorzeitigen Ruhestand. Behandlung statt Pension Bisher wurde etwa ein an Krebs erkrankter Angestellter nach einer ge wissen Zeit nahezu automatisch in Frühpension geschickt. Ab 2014 erhält er aber so lange eine ärztliche Behandlung und Reha-Geld bezahlt, bis er – hoffentlich auskuriert – seinen alten Beruf wieder auf nehmen kann. Sollte jemand den alten Job nicht mehr verrichten können, so sind verpflichtende Umschulungsmaßnahmen durch das AMS vorgesehen. Parallel wird ein Umschulungsgeld ausbezahlt, das sich am Arbeitslosengeld orientiert, zumindest jedoch sind es 950 Euro im Monat. Nach den Vorstellungen des Sozialministers könnte ein Tischler mit Bandscheiben-Vorfall zum Fachmarktverkäufer ausgebildet werden und später eine neue Karriere als Holzberater im Baumarkt starten. Oder eine Friseurin, die an Neurodermitis und Depressionen erkrankt ist, eine Umschulung zu ihrem »Traumberuf« EDV-Technikerin erhalten. So 106 Die Gretchenfrage: Gelernter oder ungelernter Arbeiter? (Foto: Gewerkschaft Bau-Holz) wenigstens der Wunsch des Ministers. Eine ganze Reihe von Problemen trübt jedoch diese Hoffnung. Ein großes Manko ist der oft kritisierte »Berufsschutz«, der in abgeschwächter Form weiterhin erhalten bleibt. Die Problematik: Derzeit kann »Fachpersonal« bei Invalidität nur auf Tätigkeiten im »angestammten Berufsfeld« verwiesen werden. Ein invalider Dachdecker darf also auf keinen Fall als Bürokaufmann arbeiten. Weil er aber nichts anderes gelernt hat, ist der Weg in die Frühpension praktisch vorgezeichnet. Nun hat man stattdessen den Begriff »Qualifikationsschutz« eingeführt. Das AMS kann künftig auf andere Berufsfelder verweisen und umschulen. Die Umschulung muss aber dem Ausbildungsniveau und der »Neigung« des Betroffenen entsprechen. Ein gelernter Elektriker müsste demnach eine gleichwertige Lehrausbildung erhalten, aber nichts darunter. Er dürfte also nicht als einfacher Verkäufer arbeiten. Kritiker monieren daher, dass trotz neuer Regelung noch immer keine ausreichende Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt gegeben ist. Befürchtet wird, dass sich Schlupflöcher in die Frühpension auftun könnten. Vor allem der ÖVP sind sämtliche Schutzbestimmungen für 107 Rudolf Hundstorfer–Baugewerkschafter Josef Muchitsch: Alles eitel Wonne? (Foto: GBH) Arbeitnehmer ein Dorn im Auge (sofern diese nicht gerade die Beamtenschaft schützen ...). In einem Schreiben an das rote Sozialministerium forderte Finanzministerin Maria Fekter, dass »eine Qualifikation nach ›unten‹ nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden sollte« und eine Aufhebung des Qualifikationsschutzes »anzustreben wäre«. Es blieb dennoch dabei: Weitergehende Änderungen sind am Veto der Gewerkschaften und der Arbeiterkammern gescheitert. Die Folgen: Im AMS fürchtet man nun eine Kostenlawine, die beispielsweise berufsunfähige Akademiker lostreten könnten. Denn diese müssten dem G esetz entsprechend eine »ebenbürtige Ausbildung« erhalten. »Das läuft im Wesentlichen darauf hinaus, wenn einer von der Gesellschaft schon ein Studium finanziert bekommen hat, dass er unter den gegebenen Umständen einen Rechtsanspruch hat, ein zweites Studium finanziert zu bekommen«, warnte AMS-Chef Herbert Buchinger. Ein weiteres Problem für viele ist, dass eine große Berufsgruppe von jeglichen Strapazen verschont bleibt – die Beamten. Bei ihnen greift das neue Gesetz nicht. Sie profitieren weiterhin von einem Versetzungsschutz und müssen nicht zum AMS pilgern. Dabei: Frühpensionierungen gebe es aber auch hier zuhauf. So erfolgt etwa in der Stadt Wien mit ihren weit über 80.000 Bediensteten die Hälfte aller 108 Pensionierungen »frühzeitig«. Freilich: Den Vorwurf, dass manch Beamtem großzügig »Dienstunfähigkeit« attestiert wird, will man hier nicht gelten lassen. Schließlich würde es sich ja meist um verbeamtete Feuerwehrleute oder Krankenpfleger handeln, die körperlich am Ende seien ... Während diese Beamten also auch in Zukunft getrost in Frührente gehen können, muss Wie gut es ist, ein eine andere Gruppe bis zum Schluss »leiden«: Beamter zu sein die Berufsgruppe der »ungelernten Hilfskräfte«. Allein am Bau machen sie 40 Prozent aller Arbeiter aus. Schon bisher hatten sie absolut keinen Berufsschutz, konnten folglich überall hin »auf dem gesamten Arbeitsmarkt« weiter verwiesen werden. »Ein Hilfsarbeiter hat keine Chance auf eine Frühpension, auf eine Invaliditätspension. Der pendelt zwischen Arbeitsamt, Krankenkasse und Pensionsversicherung hin und her, jahrelang. Bis er letztendlich irgendwann einmal eine Pensionszuerkennung erhält«, ärgert sich Bau-Gewerkschafter Josef Muchitsch über diese Ungerechtigkeit. An dieser misslichen Lage hat sich nichts geändert. Scharfe Kritik gibt es aber nicht nur an dem, was im Gesetz drinnen steht. So vermisst etwa die Arbeiterkammer, dass verpflichtende Präventivmaßnahmen für Unternehmen nicht festgeschrieben worden sind. Dabei geht es nicht nur um körperliche Gefahren, sondern auch um das geistige Wohlbefinden der Mitarbeiter. Denn immer öfter sind psychische Erkrankungen der Hauptgrund für vorzeitige Pensionierungen. Von knapp 24.000 Invaliditätspensionen im Jahr 2011 waren 8500 auf Depressionen oder Burn-out zurückzuführen. Das bedeutet einen dramatischen Anstieg um 80 Prozent innerhalb von nur zehn Jahren. Die weitläufige Meinung, es treffe hauptsächlich Schreibtisch-Angestellte, stimmt dabei mit der Realität nicht überein. In absoluten Zahlen leiden deutlich mehr Arbeiter an psychischen Erkrankungen als Angestellte. »Wir sind heute Belastungsfaktoren ausgesetzt, die sich in der Arbeitswelt genauso wie auch in der Freizeitwelt spiegeln. Man ist de facto 24 Stunden erreichbar und die Unsicherheit hat auch zugenommen«, erklärt Dr. Klaus Rudolf Pirich, der stellvertretende Chefarzt der Pensionsversicherungsanstalt. Seine Institution ist es, die schlussendlich 109 darüber entscheidet, ob jemand in Invaliditätspension gehen kann, eine Umschulung bekommt oder medizinisch rehabilitiert wird. Hier lassen jahrzehntelange Erfahrungen Zweifel am vollen Erfolg der Invaliditätspension NEU aufkommen. Egal, ob bei körperlichen oder psychischen Gebrechen, eine Reintegration in die Arbeitswelt gestaltet sich oft langwierig und kompliziert. »Die Erfahrung hat gezeigt: Berufliche Rehabilitationen bei Personen bis 45 sind erfolgversprechend. Danach wird’s kritisch«, glaubt Dr. Pirich. Oft fehlt etwa die Motivation, nach jahrzehntelanger Arbeit nochmals die Schulbank zu drücken. Es gebe aber auch viele, die »trotz ihrer psychischen Erkrankung im Erwerbsleben sein wollen, aber es geht nur ganz einfach nicht«, erklärt der Arzt und urteilt zum Gesetz: »Ein wesentliches Wunder erwarte ich mir dadurch nicht.« Angesichts dessen erscheinen die Pläne des Sozialministers über ambitioniert, um nicht zu sagen unrealistisch. Eine depressive Friseurin als EDV-Technikerin? Ein invalider Tischler als Holzberater? In wenigen Jahren wissen wir, welche Umschulungsmaßnahmen E rfolg haben und welche nicht. Unter dem Strich sind sich die Experten einig: Die neue Regelung ist ein wichtiger Schritt nach vorne. Ein großer Wurf ist sie nicht. »Ich habe mir da einmal alle Finger verbrannt und die Zunge. Ich möchte die derzeit friedliche Stimmung mir gegenüber nicht anheizen.« Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) regt doch keine Anhebung des Frauenpensionsalters an. »Ich habe nie zu jenen Reporter-Schönlingen gehört, die mit ihren gelifteten Hodensäcken eher Unterhosenmodels gleichen.« ORF-Kriegsreporter Fritz Orter geht in Pension. 110 Österreichische Privatstiftungen: Unsere letzten Steuerparadiese? von Mag. Beate Haselmayer Privatstiftungen haben letztes Jahr wieder einmal für Schlagzeilen gesorgt. Hat Martin Graf, Dritter Nationalratspräsident, die Wiener Pensionistin Getrude Meschar tatsächlich hinters Licht geführt? Oder hat die betagte Frau nur die Vor-, nicht aber die Nachteile solcher Konstruktionen gesehen? Und: Was ist mit den vielen anderen Privatstiftungen in Österreich? Kann man dort wirklich ganz legal Steuern sparen? Melinda Esterhazy, Hannes Androsch, Hans Peter Haselsteiner – sie alle haben zwei Dinge gemeinsam: Sie gehören zu den reicheren Menschen des Landes und sie haben ihr Vermögen in eine Privatstiftung gesteckt. 3400 solcher Privatstiftungen gibt es in Österreich. Experten schätzen, dass bis zu 100 Milliarden Euro darin geparkt sind. Ganz schön viel Geld. Wenn man Menschen auf der Straße fragt, warum die Reichen Stiftungen gründen, bekommt man Antworten, die nicht ganz frei von Vorurteilen sind: »Geldwäsche, Steuerhinterziehung, linke Tricksereien!« Doch was ist dran an diesen Vermutungen? Nun, eines ist ganz klar: Österreichische Privatstiftungen wurden ins Leben gerufen, um vermögenden Menschen Steuervorteile zu bieten. Mit dem Erlass des Privatstiftungsgesetzes im Jahr 1993 reagierte die Politik darauf, dass Großanleger wie »Billa«-Gründer Karl Wlaschek mit ihrem Vermögen in die Schweiz oder nach Liechtenstein abwanderten. Dorthin, wo die Steuerabgaben niedriger waren. Keine Erbschaftssteuer, keine Steuern für Zinserträge und Dividenden – das waren die A nreize, mit denen man Wlaschek & Co. nach Österreich lockte. Mit Erfolg, erzählt Dr. Christoph Kraus vom Verband österreichischer Privatstiftungen: »Karl Wlaschek ist nur der Paradefall. Es gibt eine Reihe von anderen Vermögenden, die auch zurückgekommen sind mit dem Stiftungsgesetz von 1993.« Die Steueroase blühte, doch nicht für lange Zeit. Heftige Kritik von vielen Seiten sorgte dafür, dass sukzessive Steuervorteile abgebaut 111 wurden. Ein vehementer Kritiker war Steuerexperte Otto Farny von der Arbeiterkammer: »Wir haben nie eingesehen, warum man für nicht gemeinnützige Stiftungen derartige Steuerbegünstigungen braucht.« Schritt für Schritt wurden also Begünstigungen abgebaut. Doch wie sieht es heute aus? Zahlt es sich aus steuerlicher Sicht aus, eine Privatstiftung zu gründen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss man sich schon ziemlich genau mit dem Thema »Privatstif tungen« auseinandersetzten. Zunächst einmal aber das »Einmaleins« des Stiftungswesens: Eine Privatstiftung ist eine durchaus komplizierte rechtliche Konstruktion. Wer eine Stiftung gründet, muss bereit sein, sich von seinem gesamten Vermögen zu trennen. Wertpapiere, Geld, Unternehmen, Häuser – alles kann auf eine Stiftung übertragen werden. Der Stifter legt in einer Stiftungsurkunde den Zweck der Stiftung fest. Der kann eigennützig (häufig findet man auch die Bezeichnung privatnützig) oder gemeinnützig sein. Im Fall einer e igennützigen Privatstiftung werden Begünstigte festgelegt. Meist sind das der Stifter selbst und seine Kinder. Sie bekommen regelmäßig Geld aus der Stiftung. Melinda Esterhazy, Hannes Androsch, zu Lebzeiten auch Hans Dichand – sie alle haben eigennützige Privatstiftungen gegründet. Das »Einmaleins« des Stiftungswesens Bei einer gemeinnützigen Stiftung kommen die Stiftungserträge einem gemeinnützigen Projekt zugute. Ein Beispiel für eine gemeinnützige Stiftung ist die »Caritas Socialis«. Sie wurde 2002 von der Schwesterngemeinschaft »Caritas Socialis« gegründet und unterstützt etwa ein Hospizzentrum und ein Wohnheim für Mütter und Kinder. Mag. Hanna Schneider von der Wirtschaftsuniversität Wien untersucht derartige gemeinnützige Stiftungen in Österreich. Doch allzu viele gibt es davon gar nicht: 200 sind es an der Zahl, wenig im europäischen Vergleich. Das überrascht nicht, denn wie wir bereits wissen, wurde das Privatstiftungsgesetz geschaffen, um das Kapital der Reichen ins Land zu bringen und nicht um Gemeinnützigkeit zu fördern. »In Deutschland gibt es eine große Zahl an Stiftungen, es 112 Stiftungen in Österreich: Verzicht auf Rechte (Foto: Parlamentsdirektion/Ranz) sind ungefähr 16.000. Von diesen Stiftungen sind etwa 95 Prozent gemeinnützig. Und nur ein verschwindender kleiner Teil privatnützig. Das liegt genau daran, dass dort nur jene Stiftungen steuerlich begünstigt werden, die gemeinnützige Zwecke verfolgen; die rein privatnützigen bekommen diese steuerlichen Anreize nicht«, erläutert Mag. Hanna Schneider im €CO-Interview. Doch bevor es um die aktuellen Steuerbegünstigungen geht, zurück zu den Basics rund um Privatstiftungen: Eine wichtige Rolle innerhalb des Stiftungskonstrukts spielen die Stiftungsvorstände. Der Stifter legt mindestens drei Vorstände fest. Im medial offen diskutierten Fall der Pensionistin Gertrude Meschar war Martin Graf einer dieser Stiftungsvorstände – ein Politiker der FPÖ, gleichzeitig auch Dritter Nationalratspräsident. Für ihre Arbeit bekommen die Stiftungsvorstände regelmäßig Geld. Auch sonst fallen in einer Stiftung Kosten an. Aus diesem Grund sollte eine Privatstiftung eine bestimmte Größe haben. Experten sprechen von mindestens fünf bis zehn Millionen Euro Stiftungsk apital. Und der wichtigste Aspekt: Die Stiftungsvorstände lenken die Stiftung – und das Vermögen, das sich darin befindet. Der Stifter hat also keinen direkten Einfluss mehr auf sein Vermögen. Ein ziemlich großer 113 Steueroase per Parlamentsbeschluss? (Foto: Parlamentsdirektion/Zolles KG/Hagen) Machtverlust. Warum aber sollte jemand mit viel Geld diesen in Kauf nehmen? Welche Vorteile erschließen sich daraus? Hans Peter Haselsteiner, Lenker des international aufgestellten Baukonzernes STRABAG, war einer der ersten Österreicher, die eine Pri vatstiftung gründeten. Damals blühte sie noch, die Steueroase. Die Steuervorteile waren für ihn aber nicht ausschlaggebend – »Man nimmt sie natürlich, wenn sie einem angeboten werden«, beteuert er im Gespräch mit €CO und: »Seinerzeit war die Überlegung, dass die Firma durch den Erbweg nicht geteilt werden sollte und meine Nachkommen, also meine Kinder, an einem gemeinsamen Strang ziehen sollten.« Ein Vorteil, der vor allem Unternehmer überzeugt: Wenn es ums Erben geht, gehen viele Unternehmen verloren. Sie werden auf die Nachkommen aufgeteilt – und nicht selten kommt es deshalb zum Verkauf einzelner Unternehmensteile. Wird das Unternehmen aber in eine Privatstiftung eingebracht, dann bleibt das Unternehmen ein Ganzes. Die Erben werden als Begünstigte eingesetzt und bekommen regelmäßig Anteile aus den Stiftungserträgen ausbezahlt. Freilich: Könnte ein ausgeklügelt formuliertes Testament nicht genau denselben Zweck erfüllen? Christoph Kraus: »Eine Stiftung ist ein 114 lebendiger Grabstein, wenn Sie so wollen. Das Testament ist ein esentlich eingeschränkteres Instrument als eine Stiftung; sie kann w über hundert Jahre existieren, sie kann sämtliche unternehmenspolitischen Prinzipien ausformulieren. Das ist ein Instrument, das wesentlich weiter geht als das Testament.« Ein Vorteil, der – abgesehen von der Sicherung von Arbeitsplätzen – wohl oft auch aus fami liären Gründen gesucht wird. Doch wo sind sie, die großen Steuervorteile, die eine Privatstiftung heute noch bringt? Um diese Frage zu beantworten, ist ein kleiner E xkurs ins Steuerrecht nötig. Dort steht schwarz auf weiß, welche Steuern derzeit in Stiftungen anfallen: • bis zu 3,5 Prozent Stiftungseingangssteuer für jenes Vermögen, das in die Stiftung eingebracht wird. • 25 Prozent Körperschaftssteuer, die etwa bei betrieblichen Einkünften anfällt. • 25 Prozent Zwischensteuer, die zum Beispiel bei Zinsen aus Bankguthaben und Anleihen zu entrichten ist. • 25 Prozent Kapitalertragssteuer bei der Ausschüttung an Begünstigte (wenn nicht schon Zwischensteuer entrichtet wurde). Ganz schön viele Steuern – vorausgesetzt, man hält sich an die Gesetze. Und doch wieder weniger, als befände sich das Vermögen außerhalb der Stiftung. Doch wie ist das eigentlich mit den Gesetzen? Kann man die in österreichischen Privatstiftungen umgehen und tatsächlich tricksen oder sogar Geld waschen? Viele von €CO befragten Steuerexperten meinten: eher nicht. »In Österreich herrschen im Rahmen dieser ganzen Geldwäsche-Bestimmungen, die ja in den letzten Jahren sukzessive verschärft wurden, derart strenge Bestimmungen, dass es kaum möglich ist, eine österreichische Stiftung zum Geldwaschen zu verwenden. Mag sein, dass das in der Anfangszeit in den 1990er-Jahren noch möglich war, aber aus heutiger Sicht ist das nicht mehr möglich.« Auch Christoph Kraus vom Verband österreichischer Privatstiftungen verweist darauf, dass die Kriminalfälle der Vergangenheit alle mit liechtensteinischen Stiftungen zu tun haben. »Es ist eindeutig so, dass die missbräuchliche Verwendung der österreichischen Privatstiftung nicht möglich ist.« 115 Dann gehen wir also davon aus, dass man sich hierzulande an die Steuergesetze hält. Kann man dann österreichische Privatstiftungen fairerweise überhaupt noch als »legale Steueroasen« bezeichnen? Nun, es gibt noch einen Steuervorteil, der sehr ungewöhnlich im europäischen Vergleich ist. Er besteht dann, wenn Beteiligungen an Kapitalgesellschaften verkauft werden. Normalerweise würden auf den Gewinn, der dabei gemacht wird, 25 Prozent Steuer anfallen. Doch wenn das Geld wieder investiert wird, wird die Steuer gestundet. Und eine Steuer, die etwa erst in fünfzig Jahren bezahlt werden muss, ist fast null. Für Unternehmer macht es einen großen Unterschied, ob nach Abzug der Steuer ein Investment von 75 Millionen Euro möglich ist oder ob 100 Millionen investiert werden können, weil keine Steuer bezahlt wurde. »Selbstverständlich werden Stiftungen wegen dieses verbliebenen Steuervorteils gegründet. Ich würde sogar behaupten, dass ein Großteil der in den letzten ein bis zwei Jahren, in denen ja die anderen Steuervorteile abgeschafft wurden, und auch ein Großteil der in Zukunft noch zu gründenden Stiftungen auf genau diesen Umstand zurückzuführen ist.« Abseits von Tricksereien, Steuerhinterziehung und Geldwäsche gibt es sie also doch noch, die österreichische Steueroase. Auch wenn sie kleiner geworden ist – der Steuervorteil, den österreichische Privatstiftungen bieten, ist nicht zu unterschätzen. »Lieber spät als gar nicht erwischt.« Finanzministerin Maria Fekter freut sich früh über frische Steuermillionen aus der Schweiz. »Sparen ist freiwillige Enteignung.« Peter Bosek, der Privat- und Firmenkundenvorstand der „Erste Bank“, in einer Formulierung, die sich die Autoren dieses Jahrbuches nie getraut hätten. 116 Red Bull: Der Aufstieg in die Werbe-Stratosphäre von Hans Wu Der Begriff »Gassenfeger« ist ein Relikt aus einer mittlerweile fernen Vergangenheit. Gemeint sind damit Fernsehereignisse, die zum Zeitpunkt der Ausstrahlung den Großteil des Fernsehpublikums von der Straße holen. Der Stratosphärensprung von Felix Baumgartner war so ein »Gassenfeger«. Es waren Bilder, die sich bei Millionen von Fernsehzusehern in der ganzen Welt in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Es waren Bilder, die auch weit nach Sendeschluss, im Internet, von weiteren Millionen gesehen wurden. Es sind Bilder von der höchsten Werbereklame der Welt. Dabei passierte eigentlich nicht viel: Ein Mann in einem Raumanzug steigt aus einer Art Tonne, salutierte in die Kamera – und stürzte sich in die Tiefe. Und 3,2 Millionen Österreicher sahen zu. Auch jenseits der Grenzen der Alpenrepublik wurde der sechsminütige Sprung aus knapp 40.000 Metern über Null live übertragen. Beim Berlusconi-Sender »Italia 2« sahen 1,8 Millionen Italiener den Höhepunkt der Stratosphären-Performance. Der deutsche Nachrichtensender »n-tv« freute sich über einen Spitzenwert von sieben Millionen Zusehern. Einen Rekord konnte auch das Internet-Videoportal »Youtube« verzeichnen: Mit acht Millionen gleichzeitigen Sehern wurde sogar die erste Amtseinführung von Präsident Barack Obama, dem bisherigen Rekordhalter bei Liveübertragungen, geschlagen. Und die Alpenrepublik hat wieder Grund stolz zu sein: Wir sind Weltraum! Ein extraterrestrisch gesteigertes Selbstwertgefühl, das von einem Getränkeproduzenten aus dem Salzburger Fuschl spendiert wurde. Freilich: Über die Kosten des Fernsehstunts schweigt Red Bull. Eine »Summe von 50 Millionen Euro« wird kolportiert – mehr ist nicht zu erfahren. €CO fragte an kompetenter Stelle nach. In Graz befindet sich das Österreichische Weltraum-Forschungsinstitut. Ja, das gibt es tatsächlich. 117 Der Sprung in die Werbe-Stratosphäre (Foto: Red Bull Content Pool/Jay Nemeth) Hier wurde einst die Mission des letzten Österreichers im All, Franz Viehböck, vorbereitet. Neben der Vermittlung von Forschung und Lehre werden hier auch Messgeräte für internationale Weltraummiss ionen hergestellt. Institutsleiter Wolfgang Baumjohann hatte in seiner Studienzeit noch bei unbemannten Ballonmissionen in die Stratosphäre mitgearbeitet. Aber das ist schon lange her. Den »Forschungswert« der »Red Bull«-Mission, den bezweifelt er. Für die Weltraumwissenschaft gibt es schon lange keinen Grund mehr, wie Felix Baumgartner in erdnahe Höhen von 40 Kilometern aufzusteigen. Alles, was man über die Stratosphäre wissen will, weiß man schon. Die High-Tech-Messgeräte der Grazer fliegen dagegen mit der europäischen Weltraumagentur ESA und mit der NASA bereits zum Saturn und darüber hinaus. Bis zu fünf Millionen Euro lässt sich das Österreichische Weltraum institut für einen der Forschungsapparate von den Auftraggebern bezahlen. Missionen ins All haben schon immer astronomische Kosten verursacht. Und die 50 Millionen, die gerüchteweise die »Mission Stratos« gekostet haben soll, die sind für den Weltraumprofessor durchaus realistisch: »Ich denke, die hauptsächlichen Gelder sind in den Ballon selbst geflossen, in den Bau der Kapsel und in den Aufbau des kleinen 118 Bodenzentrums. All das kostet jeweils ein paar Zigmillionen Euro. Ich denke auch, wenn ich ein ganzes Team über fünf Jahre bezahlen muss, auch da kommen etliche Lohnkosten zusammen. So ganz billig sind Spezialisten auch nicht.« Es sind also 50 Millionen, die eigentlich für die Bewerbung einer Dose mit einem Verkaufspreis rund um einen Euro ausgegeben wurden. Allerdings richtet sich die Werbebotschaft vom Rande des Weltalls auch an einen weltweiten Markt. In 164 Ländern der Welt wird das süßliche rosa Getränk in der blauen Dose mittlerweile verkauft. In den 1980er-Jahren entdeckte der Marketingmitarbeiter Dietrich Mateschitz bei einem Thailand-Aufenthalt das koffein- und taurinhaltige Getränk »Krating Daeng«. Mit den Produzenten Chaleo Yoovidhya einigte er sich über die Lizenzrechte, gemeinsam wurde dann die Red Bull GmbH gegründet. 49 Prozent der Gesellschaft gingen an Dietrich Mateschitz, 49 Prozent an seinen thailändischen Geschäftspartner – und zwei Prozent an dessen Sohn. Nach dem Tod von Chaleo Yoovidhya dürfte die Mehrheit der Firma nun bei der thailändischen Familie l iegen. Nur: Das Geschäft wird weiter aus Österreich bestimmt. 1987 erschien die Dose auf dem heimischen Markt. Der Rest ist Marketinggeschichte. Auch wenn sich heute weit günstigere Dosen im Regal tummeln, der Ur-Energydrink kommt noch immer aus Fuschl. Eine bekannte, nahezu unbezahlbare Marke: Neben der Dose fällt jedem auf die Frage nach Red Bull zumindest auch noch der Spruch mit »den Flügeln« ein. Es ist eine riesige Bilderwelt, die »Red Bull«-Chef Dietrich Mateschitz rund um die Marke aufgebaut hat. Überall, wo der Schriftzug mit den roten Stieren platziert wird, gehen Emotionen hoch, überschreiten Menschen scheinbar Grenzen, wird es in jeder Hinsicht extrem. Klippenspringer, Snowboarder, Kunstflieger, Fallschirmspringer – und selbst Lindsey Vonn trägt gegen gute Entlohnung das Logo der EnergyBrause zur Schau. In der Formel 1 unterhält der Salzburger Getränkeproduzent im Namen der Dose sogar gleich zwei Rennställe. Unfassbare 4,6 Milliarden Dosen werden im Jahr produziert; damit erzielt Red Bull einen Umsatz von aktuell 4,3 Milliarden Euro. Ebenso 119 unfassbare 1,4 Milliarden Euro, also ein Drittel davon, werden für die Marketingaktivitäten ausgegeben. So stehen, nur als Beispiel, gleich 600 Sportler als Werbeträger im Sold von Dietrich Mateschitz. Die 50 Millionen Euro, die da fünf Jahre hindurch für das »Projekt Stratos« ausgegeben wurden, sind da noch relativ günstig. Vor allem im Vergleich zu den Ausgaben in der Formel 1: Geschätzte 150 Millionen Euro kosten hier pro Jahr die Boliden, die Teams und die Entwicklung. Doch im Vergleich zum »Projekt Stratos« handelt es sich bei den üblichen »Red Bull«-Aktivitäten nur um einfaches Sponsoring. Sogar bei den hoch dotierten Formel-1-Teams stehen im Endeffekt im Bewusstsein der Zuseher an erster Stelle die Fahrer und die Fahrzeuge – und danach erst die Werbebotschaften an der Karosserie. Beim Sprung vom Rande des Alls aber ist ein Ereignis direkt an eine Marke gescriptet worden. Höher, schneller, gefährlicher – hier wurde das selbst konstruierte Image von Red Bull in Reinform abgefeiert. Ist mit dem Aufstieg und dem Fall von Felix Baumgartner nun auch der Zenit des Werbehimmels erreicht worden? Wie nachhaltig profitiert die Marke Red Bull von dieser Aktion? Kann der Wert der Bilder, die dabei entstanden sind, überhaupt monetär bewertet werden? Wolfgang Mayerhofer von der Wirtschaftsuniversität Wien ist Fachmann für Werbewirkungsforschung. Der Wissenschaftler zeigt sich von dem Ereignis beeindruckt; auf die Nachfrage nach einer genauen Bewertung bleibt er aber kryptisch: »Als Marktforscher kenne ich zwar den Wert der Marktforschung für Markenführung und auch für Entscheidungen, die das Unternehmen trifft. Ich würde aber sagen, und das passt ja für dieses Beispiel, es gibt Phänomene zwischen Himmel und Erde, die sich ganz einfach der Messung der Marktforschung entziehen. Und ich glaube, diese Frage ist eine, durch die die Marktforschung an ihre Grenzen stößt.« Wir gingen mit unseren Fragen weiter zu den Praktikern des täglichen Werbegeschäfts. Die »Mediacom« ist die größte Medienagentur des Landes Österreich. Ihre Aufgabe ist die Verteilung von Werbung auf verschiedenste Massenmedien. 420 Millionen Euro »für Schaltungen« vergibt Geschäftsführer Andreas Vretscha jedes Jahr. 120 Felix Baumgartner: Jubeln für Geld (Foto: Red Bull Content Pool/Jörg Mitter) Mit der genauen Berechnung, zumindest der Werbewerte, müsste er also über Expertisen verfügen. Doch auch vom Werbeplaner hören wir nur eine grobe Einschätzung: »Da kommt mehr zurück als nur die 50 Millionen, die vermutlich ausgegeben wurden. Wenn man alle medialen Coverages zusammenrechnet weltweit, wird man sehr leicht über diese 50 Millionen kommen. Und das Ganze hat natürlich auch einen mittelund langfristigen Effekt. Da ist ein Pay-off da, das weit über diesen 50 Millionen liegen wird.« Das Consulting-Unternehmen »Eurobrand« dagegen will es ganz genau wissen. Kein Wunder, lebt die Beraterfirma doch von dem Anspruch, Marken »exakt bewerten« zu können. Geschäftsführer Gerhard Hrebicek hatte wenige Tage nach dem Ereignis zu rechnen begonnen: »Wir haben das analysiert; wir schätzen die Werbewerte, und nur die Werbewerte, auf vier bis sechs Milliarden Euro.« Auf diese wirklich atemberaubende Summe kommt der Markenfachmann einfach durch die Multiplikation der Sendezeiten mit den gängigen Werbetarifen. Freilich: Eine Methode der Bewertung, die von anderen Marketingexperten eher kritisch beäugt wird. Um Werbung geht es hier doch ohnehin nicht allein. Hier ist eine G eschichte geschrieben worden, in der es um Mut, Tatendrang und 121 Fortschritt geht. Das Publikum erlebt eine schwierige Vorbereitung, einen langwierigen Aufstieg, einen tiefen Fall und natürlich ein Happy-End. Und das alles vor einer Kulisse, die sich zwischen Himmel und Erde spannt. Es ist ein inszeniertes Epos, bei dem am Ende nur eine einfache Botschaft überbleibt: »Red Bull«. »Projekt Stratos« hat auch die Marke und das Image der Dosenhersteller in stratosphärische Höhen gebracht. Und: Ist so ein Ereignis überhaupt noch »zu toppen«? Weltraumprofessor Wolfgang Baumjohann hätte sogar »eine Idee«. Mit einer kleinen Rakete könnte Felix Baumgartner noch um einiges weiter in den Himmel aufsteigen; vom Scheitelpunkt des Geschosses könnte er dann bereits aus etwa 60 Kilometer Höhe in die Tiefe stürzen. Für den Wissenschaftler ist das technisch machbar. Die Kosten für diese Aktion schätzt er auf »etwa 200 Millionen Euro«. Und auch das wäre für »Red Bull« durchaus machbar. »Mit einer Goldmedaille um den Hals kannst du 500 Mädels haben.« Wie viele Goldmedaillen hat Schwimmstar Markus Rogan im alten Jahr errungen? »Du hast eine gewisse Verantwortung deinem Sponsor gegenüber.« Schallmauer-Hüpfer Felix Baumgartner nimmt sich fest vor, seinen Stratosphärensprung zu überleben. »Für mich sind das Leute, die vom Wasser maximal wissen, dass es nass ist.« Schwimmstar Dinko Jukic ärgert sich über die Funktionäre des Österreichischen Schwimmverbandes. 122 Panzer, Kanonen und Pistolen – Österreichs »geheime Industrie« von Mag. Ilja Morozov Keine Werbung, keine Interviews, keine Publicity. Diskretion hat bei heimischen Rüstungsbetrieben oberste Priorität. Oder wussten Sie etwa, dass der »Kristallkonzern« Swarovski auch auf Waffenmessen vertreten ist? 25 Jahre nach dem »NoricumSkandal« blickt €CO hinter die Kulissen von Glock, Steyr und Co. Man schweigt und genießt. Unbemerkt von der Öffentlichkeit arbeitet eine ganze Branche still und heimlich vor sich hin und das noch dazu überaus erfolgreich. Drei Milliarden Euro Umsatz, mehr als 90 Prozent Exportanteil und rund 8000 Arbeitsplätze. Österreichs Rüstungs- und Sicherheitsindustrie liefert so ziemlich alles in alle Welt, was man sich als ziviler Bürger gar nicht alles vorstellen will. Drohnen, Handgranaten, Panzermunition – bis hin zur High-Tech-Verschlüsselungstechnik. Kaum jemand weiß davon, weil sich die heimischen Branchenvertreter lieber nicht der Öffentlichkeit stellen. »Wir sind gebrannte Kinder«, rechtfertigt ein Manager am Telefon die Geheimnistuerei. Gemeint ist das überaus schlechte Image der Waffenproduktion hierzulande. Kein Wunder, hat doch so ziemlich jeder Hersteller schon den einen oder anderen Skandal hinter sich. Nur selten sind diese »gebrannten K inder« in der Vergangenheit zu Unrecht beschuldigt, viel öfter jedoch zu Recht wegen unmoralischer oder gar illegaler Deals angeprangert worden. Daher wird jede Interviewanfrage kritisch beäugt – und oft abgelehnt. Warum auch Rechenschaft ablegen – das Geschäft rennt ja ohnehin prächtig. Nur nicht auffallen in der eigenen Heimat, lautet die Devise. Längst befinden sich die großen Kunden außerhalb Österreichs, vor allem im Nahen Osten, in Asien oder in Lateinamerika. Um an lukrative Aufträge zu gelangen, hält man sich an »interna tionale Gepflogenheiten« – an die Diskretion der Branche. So auch im vergangenen Jahr im Juni. €CO war dabei. Kaum zwei Flugstunden von Wien entfernt, im Pariser Vorort Villepinte, findet alle zwei Jahre ein höchst klandestiner Event statt. In der Stadt 123 der Mode und Haubenlokale geht die so genannte »Eurosatory« über die Bühne, die größte Waffenschau auf Erden. Die schweigsamste Branche trifft sich ausgerechnet auf einer Messe. Hier bieten rund 1400 Rüstungskonzerne aus aller Welt ihr neuestes Kriegsgerät feil. Und tausende Offiziere, Sicherheitsexperten und Waffenhändler halten sich über die neuesten Vernichtungsdinge auf dem Laufenden. Bomben und Raketen aus den USA, Kampfpanzer aus Deutschland, Maschinengewehre aus Russland. Alles, was Rang und Namen hat – von der deutschen Firma Kraus Maffei-Wegmann bis zum US-Konzern Lockheed Martin –, ist vertreten. Auch China, Indien oder Israel haben ihre Zelte aufgeschlagen. Auf einem abgeriegelten Außengelände werden Terroristenangriffe nachgespielt, Drohnen gestartet und Geländewagen durch den Schlamm gejagt. In den Hallen präsentieren Manager im Anzug ihr Warensortiment. Prospekte werden verteilt, Verhandlungen geführt, verkauft. Und mitten drin, da ist auch Österreich auf stolzen 800 Quadratmetern vertreten. Es geht gemütlich zu. Bei Mozartkugeln, Manner schnitten und Sekt wird am Stand der Wirtschaftskammer auf den Erfolg angestoßen. Auch die ehemalige A ußenm inisterin und jetzige Botschafterin in Frankreich Ursula Plassnik ist gekommen. Hier, und nur hier, kann man ungeniert stolz sein auf die heimischen Rüstungsbetriebe, die sich in aller Welt durchsetzen können. Kugeln von Mozart – und solche von Glock Wenig überraschend ist die Firma Glock mit ihren populären Pistolen auf der Rüstungsmesse vertreten. Auch der etwas kleinere Konkurrent Steyr-Mannlicher führt seine Maschinengewehre samt Granatenwerfer vor. Ebenfalls dabei ist der niederösterreichische Betrieb Hirtenberger, der tatsächlich noch immer Mörser, Granatwerfer und Panzermunition herstellt – aber absolut nichts dazu sagen möchte. Neben den Traditionsfirmen weist die österreichische Teilnehmerliste auch weniger bekannte Unternehmen auf. Etwa den Wiener Betrieb »Blaschke Wehrtechnik«, der weltweit führend ist, wenn es um Schutza nzüge für schwer kontaminierte Gebiete geht. Oder die Tiroler Firma Plansee, die Legierungen für panzerbrechende Munition fertigt. 124 Gänzlich unerwartet trifft man jedoch auf den gut versteckten Stand von Swarovski. Hier werden ausnahmsweise keine mit Glitzerstein verzierten Produkte ausgestellt. Wir erfahren: Der Konzern ist Weltmarktführer im Hochqualitätsbereich der Beobachtungsoptik. Zu Deutsch: Ferngläser für »professionelle Beobachter«. »Unsere Geräte sieht man beim Militär, bei Sondereinheiten etwa in Afghanistan, im Einsatz«, erzählt der einzige Swarovski-Vertreter vor Ort, um sofort klarzustellen: »Ferngläser, das machen wir. Zielfernrohe für Waffen machen wir nicht. Das machen dann andere Firmen.« Stimmt, denn gleich daneben ist der Stand der Firma »Kahles« aufgebaut, des ältesten Zielfernrohr-Herstellers der Welt. Ebenfalls ein Unternehmen aus Österreich. Und, siehe da, es ist ausgerechnet eine Tochterfirma von Swarovski. Aber das wollte man so offen nicht zugeben. Schließlich passt das so gar nicht zum Glamour-Image, mit dem man sich in der Heimat gerne schmückt. Eines ist bei der Waffenmesse offensichtlich: Österreichs Hersteller haben ein Problem mit sich selbst. Man will zwar am Rüstungsgeschäft gut verdienen, aber auf keinen Fall damit in die Öffentlichkeit gehen. Offenbar schämt man sich für das, was man macht. Dabei fertigen die heutigen österreichischen Produzenten längst kein richtig schweres Kriegsgerät mehr. Kampfpanzer oder Haubitzen heimischer Produktion sind auf der »Eurosatory« im Gegensatz zur ebenfalls »neu tralen« Schweiz nicht zu finden. Dieser Industriezweig ist hierzulande ausgestorben. Doch nicht etwa aus moralischen Gründen oder einer strengen Neutralitätsauslegung wegen hat man darauf verzichtet. Und schon gar nicht auf freiwilliger Basis. »Der berühmte Noricum-Skandal hat stattgefunden. Ausschlaggebend war aber neben dem Skandal, dass auch die Märkte für diese Produkte aus österreichischer Sicht nicht mehr vorhanden sind«, erklärt Dr. Rudolf Lohberger. Der ehemalige Chef des Minen- und Sprengstoffherstellers Dynamit Nobel schneidet mit dem Skandal die dunkelste Geschichte der heimischen Rüstungsindustrie an. Firmen gingen in Konkurs, mysteriöse Todesfälle machten Schlagzeilen, Untersuchungskommissionen wurden eingeleitet und Gerichtsurteile gesprochen. Nur ein einziger Mann erlebte in dieser Zeit einen ungeahnten Höhenflug: Gaston Glock, der in Wahrheit von der Ideenlosigkeit Steyr-Mannlichers profitierte. Ein Blick zurück zeigt, wie es zu all dem gekommen ist. 125 Vor etwas mehr als 25 Jahren ist die Welt noch in Ordnung. Damals dominieren zwei Betriebe die schwere Waffenproduktion in Österreich. Auf der einen Seite steht der Staatskonzern Steyr-Daimler-Puch, der den berühmten Jagdpanzer Kürassier, den Truppentransporter Pinzgauer und das STG77 fertigt. Und auf der anderen Seite steht der Staatsbetrieb Voest, zu dem die Tochterunternehmen Noricum und Hirtenberger gehören. Hirtenberger versorgt das Bundesheer mit Munition und produziert auch sonst alles Mögliche, das abgefeuert werden kann. Noricum hingegen ist ein Quereinsteiger. Ende der 1970er-Jahre, als die Auftragslage des reinen Stahlverarbeiters schwächelt, droht der Bankrott. Das Management setzt als vermeintlich letzte Chance auf ein kanadisches Lizenzprodukt der Firma »Gerald Bull« und lässt die gefürchtete GHN-45 – die »Gun Howitzer Noricum« – produzieren. Eine Kanone, die mit spezieller Munition über 40 Kilometer weit feuern konnte. Fürs österreichische Bundesheer ist das nichts, da der Staatsvertrag solch weitreichende Artilleriegeschütze verbietet. Es bleibt also nur der Export, der schon damals gesetzlich stark eingeschränkt ist. Und dennoch liefert Noricum ab 1981 insgesamt 340 Haubitzen an den Irak und den Iran. Möglich machen das fingierte Endabnehmerzertifikate und Zwischenstopps in Libyen, Jordanien oder Brasilien. Das Problem: Beide Länder befinden sich gerade im Krieg. Trotz Hinweisen eines österreichischen Botschafters im Jahr 1985, der kurz danach auf mysteriöse Weise stirbt, passiert nichts. Als das illegale Geschäft dann 1987 doch auffliegt, ist der größte Skandal der Zweiten Republik perfekt. Zahlreiche Manager werden wegen Neutralitätsgefährdung verurteilt, Karl Blecha – heutiger Präsident des Pensionistenverbandes – tritt als Innenminister zurück. Ebenfalls bestraft wird die Firma Hirtenberger; sie hatte die dazugehörige Munition an die Kriegsnationen im Golf geschickt. Mit dem »Noricum-Skandal« kommt die gesamte Rüstungsindustrie in Verruf und verliert immer mehr an Bedeutung. Unternehmen wie der Minenhersteller Assmann gehen in Konkurs, Dynamit Nobel stellt seine militärische Produktion ein und Steyr-Daimler-Puch wird nach finanziellen Problemen filetiert und verkauft. Doch während sich in 126 der gesamten Branche Katerstimmung breit macht, erobert ein Kärntner Ingenieur in Windeseile die weite Welt: der Messer- und Feldflaschenproduzent Gaston Glock. Oft wird er als genialer Erfinder seiner Pistole bezeichnet. Tatsächlich spielten Glück Ein Anfang mit und Zufall die größten Rollen. Anfang der 20.000 Pistolen 1980er-Jahre schreibt das österreichische Bundesheer eine große Pistolenlieferung aus, um Altbestände aus der Wehrmachtszeit zu ersetzen. Steyr-Mannlicher nimmt als einziger heimischer Produzent an der internationalen Ausschreibung teil – und verliert. Gewonnen hatte die italienische Beretta. Auf politischen Druck hin wird nochmals eine Auswahlrunde gestartet. Weil sich die Firma Steyr vehement weigert, Mängel an ihrer Pistole auszumerzen, wird Glock gefragt, ob er nicht eine Pistole fertigen könnte. Dieser riecht seine Chance und engagiert zwei Ferlacher Büchsenmacher, die die Anweisungen vom Bundesheer technisch umsetzen. »Er konnte eine Pistole nicht von einem Revolver unterscheiden«, berichtet ein damaliger Offizier. Aber Glock hat den nötigen Riecher, er riskiert all sein Geld und gewinnt den Auftrag für mehr als 20.000 Pistolen. Zwar hatte er nicht die beste Waffe angeboten, aber das Preis-Leistung-Verhältnis hatte gepasst. Was danach passiert, ist Geschichte: Die Glock-Pistole feiert rund um den Globus Erfolge. Mit gerissenen Marketingstrategien – beispielsweise Gratis-Lieferungen an Hollywoods Filmausstatter – fasst der Waffenproduzent schnell Fuß in den USA. Heute verwenden 65 Prozent aller US-Polizisten eine Waffe »made in Austria«. Unglaubl iche 500.000 Pistolen exportiert die Glock GmbH jährlich in die Vereinigten Staaten. Der Umsatz bewegt sich schätzungsweise bei weit über 150 Millionen Euro. Offizielle Zahlen werden vom Unternehmen freilich nicht veröffentlicht. Und wie erging es dem unfreiwilligen Wegbereiter Steyr-Mannlicher? Weniger gut. Nach einem Beinahe-Konkurs im Jahr 2007 rappelt sich der oberösterreichische Produzent erst langsam wieder auf. »Wir standen sehr schlecht da. Wir hatten damals einen Umsatz von acht Millio nen Euro. 2011 haben wir ihn auf 22 Millionen Euro steigern können, 2012 sind es bereits 30«, erzählt Geschäftsführer Dr. Michael Engesser. 127 Zwei österreichische Investoren haben den Betrieb letztendlich gerettet. Mit seinen Scharfschützen-Gewehren ist Steyr bei Spezialeinheiten in aller Welt bereits gut aufgestellt. Jetzt wird mit einer eigens entwickelten Pistole auch Glock der Kampf angesagt. Einziges Hindernis aus Unternehmenssicht: die seit dem NoricumSkandal noch strengeren Exportkontrollen der Republik. »Es ist wohl die am besten kontrollierte Industrie Österreichs«, beteuern Branchenvertreter immer wieder. Für jede Lieferung muss angefragt werden, bei Kriegsgerät wird noch strenger geprüft. Genau unter die Lupe genommen wird neben Steyr, Glock und Hirtenberger auch die ehemalige ARGES Armaturen, die heute zum deutschen Rheinmetall-Konzern gehört und im oberösterreichischen Kaufing Handgranaten und 40-mm-Munition fertigt. Sowie die ehemalige Steyr Spezialfahrzeuge in Wien-Simmering – aufgekauft vom US-Riesen General Dynamics –, wo erst im vergangenen Juni ein neuer Prototyp für einen Aufklärungspanzer vom Stapel lief. Diese fünf Unternehmen zählen auch zu den letzten klassischen Rüstungsproduzenten Ö sterreichs. Ansonsten tummeln sich heutzutage Dutzende Firmen sowohl im zivilen als auch im militärischen Sicherheitsb ereich herum. Die Wiener Firma Frequentis etwa stellt Kommunikat ionssysteme für die Flugsicherung her, liefert aber auch an das US-Militär. Schiebel aus Wiener Neustadt verkauft seine Drohnen s owohl an private Unternehmen als auch an GrenzschutzBehörden. Solange ein Land als »okay« genehmigt ist, liefert die Branche überall hin. Schließlich ist der internationale Wettbewerb groß. Dabei wird vergessen, wie schnell sich das Blatt drehen kann. Pakistan galt beispielsweise in den 1960er-Jahren als Tor zur westlichen Welt, war unbedenklich. Österreich vergab eine Produktionslizenz für Handgranaten. Jahrzehnte später finden sich genau diese Granaten in Konflikten und bei Terroranschlägen wieder. So etwas könne man im Vorhinein eben nie wissen, sagt ein Manager nüchtern. Tatsächlich: So läuft nun einmal das Geschäft. Für Moralfragen bleibt da wenig Zeit. 128 In Linz beginnt’s: »Die Dummen gegen die Unmoralischen ...« von Hans Hrabal Seit Jahren tobt zwischen der Stadt Linz und der BAWAG ein bizarrer Millionenstreit um ein verunglücktes Zins-Swap-Geschäft. Dabei geht es auch um Politik, mehr aber um Eitelkeit, um Größenwahn, um Gier und um Dummheit; möglicherweise auch um kriminelle Machenschaften. Wenn Gemeinden zocken gehen – ein Sittenbild, ausnahmsweise nicht aus Salzburg. Österreich im Jahr 2005. Unsere Geschichte beginnt in einem längst vergangenen Zeitalter, als Anleger noch daran glauben durften, schnell reich zu werden, Investoren davon ausgingen, locker bessere Gewinne zu machen als der Börsenindex dies ahnen ließ und Banken allen Grund hatten, ihren Kunden zu versichern, dass dies – wenn schon nicht garantiert – dann doch »zumindest wahrscheinlich« ist. Die erste tragende Rolle in unserem Plot hat die ehemalige Gewerkschaftsbank, die BAWAG. Damals war die Bank gerade »angeschlagen« – der BAWAG-Skandal war Tagesthema, Unsummen von Geldern waren futsch, das vorherige Management vor Gericht, die Kunden irritiert, das Image auf im Keller. Und trotzdem: Gerade erst schien es, als sei die Bank aus dem ärgsten Schlamassel der Skandale um Elsner, Zwettler und Flöttl so einigermaßen entkommen. Die tat alles, um sich zu regenerieren, wieder ihren normalen Geschäften nachzugehen, der Öffentlichkeit, den Kunden und auch sich selbst zu beweisen, dass man doch nichts anderes sei als eine normale, tüchtige Bank – bemüht, sich an die Gesetze zu halten und gute Geschäfte zu machen. Das Management war ausgetauscht worden. Ein anerkannter Finanzfachmann wurde gefunden. Er war zuvor Direktor bei der Bank für internationalen Zahlungsausgleich gewesen und half den seriösen Neustart der Bank perfekt zu personifizieren. Ewald Nowotny, ein versierter Volkswirtschaftsprofessor, früher auch langjähriger SPÖ-Abgeordneter, sollte die Bank wieder ins rechte Licht rücken. Sie fit für einen Verkauf oder eine Beteiligung neuer Eigentümer machen. Projekt Neustart. 129 In Linz beginnt’s: »Die Dummen gegen die Unmoralischen…« (Foto: Stadt Linz) Dieser Neustart führte die neue BAWAG auch nach Linz, jene Kommune, die die zweite tragende Rolle in unserer Geschichte spielt. Oberste Gemeindevertreter sind Bürgermeister Franz Dobusch und dessen »Kronprinz« und engster Vertrauter, Finanzstadtrat Johann Mayr, Akademiker, Managertyp und zuständig für sämtliche finanziellen Belange von Österreichs drittgrößter Kommune. Mayer zur Seite stand auch ein beamteter Finanzdirektor, auch er spielt in der Geschichte eine Rolle. Zusammen regierten die drei über rund 600 Millionen Euro Jahresbudget. Und mehrere Dutzend auf Geldgeschäfte aller Art spe zialisierte Magistratsbedienstete helfen ihnen dabei. Mayer und die Kommune waren selbstbewusste Kunden, die genau wussten, was sie wollten. Keine kleinen Sparer oder Häuslbauer jedenfalls. Man hatte die BAWAG, aber auch andere Banken geladen, um »eine Anleihe zu begeben und Fremdmittel in der Höhe von 195 Millionen Euro« aufzutreiben. Das ist übrigens rund ein Drittel des jährlichen Gesamtbudgets der Kommune, das da als Kreide aufgenommen werden sollte. Und, wichtiger Punkt für unsere Geschichte: Eine »Anleihe in einer fremden Währung, nämlich in Schweizer Franken«, sollte es sein. Solch eine Anleihenemission ist für eine Gemeinde, die ja mit dem Geld der Steuerzahler operiert, auf den ersten Blick vielleicht ein 130 wenig unüblich; doch die BAWAG übernahm die Emission prompt und gern. Auch sonst schienen die Partner wie füreinander geschaffen. Der frisch gebackene BAWAG-General Nowotny war für die Linzer Stadtroten quasi einer der Ihren. Er hatte in Linz Wirtschaft studiert, saß jahrelang in allen möglichen oberösterreichischen Leitungsgremien der SPÖ, hatte sozusagen Stallgeruch. Der Deal wurde a bgeschlossen und er hätte auch niemanden mehr interessiert oder gar Staub aufgewirbelt, wenn ... ja wenn es sich um eine Euro-Anleihe und eben nicht um eine Franken-Anleihe gehandelt hätte. Ähnlich wie das auch jene Österreicher, die Franken-Kredite für den Kauf von Wohnungen oder Häusern aufnahmen, bemerken mussten, erging es nämlich auch den Linzer Gemeindevätern. Der Kurs des Franken hatte sich zunehmend gegenüber dem Euro verbessert und die Rückzahlungen der Franken wurden für jene, die ihr Geld in Euro scheffelten, empfindlich teurer. Nachdem die Säckelwarte von Linz mit der Franken-Anleihe ab 2005 durchaus einige schöne Kursgewinne machen konnten und sich ihre Rückzahlungen anfangs dadurch verbilligten, schmierte ab 2007 der Euro ab. So richtig. Richtig teuer. Die Finanz- und Wirtschaftskrise im Euro-Raum ließ grüßen. Ab jetzt wurde das Verhältnis der Geschäftspartner komplizierter. Denn die Anleihe wurde nicht, um eine weitere Eskalation des Währungsrisikos zu verhindern, in Euro über- (was natürlich gekostet hätte), sondern weitergeführt. Zusätzlich wurde ein zweites Geschäft gestrickt, das angeblich der Absicherung »etwaiger weiterer Währungsschwankungen der Anleihe« dienen hätte sollen. Ein so genanntes Derivatengeschäft. Und noch dazu ein ziemlich kompliziertes: ein so genannter Zins-Swap, bei dem der Gegenzeichner, in diesem Fall die BAWAG, dem Zeichner, der Stadt Linz, einerseits einen fixen Zinssatz der Anleihe garantiert, aber sich etwaige Zinssteigerungen, die durch die Währungsschwankungen entstehen, abgelten lässt. Es ist ein Geschäft, das nichts für Partner mit schwachen Nerven ist. Ein Geschäft nur für die Vollprofis des Finanzmarktes. Ein Geschäft, das nur eingehen sollte, der zuvor genau verstanden hat, worauf er sich einlässt, dem bewusst ist, welche Chancen und welche Risiken er eingeht. Und ein Geschäft, das zumindest in diesem Fall komplett 131 in die Hosen ging. Denn es kam, wie es kommen musste – entgegen den ursprünglichen Hoffnungen der Kommune stiegen nämlich sowohl der Wert des Franken zum Euro weiter an als auch der Zinssatz selbst. Damit wurden sämtliche Risiken aus beiden Geschäften schlagend – und das hieß für die Linzer: Zahlen bitte. Und das nicht zu knapp. Bis Ende 2012 hatten sich die Kosten aus dem gefloppten Geschäft für die Linzer auf aberwitzige 418 Millionen Euro aufgetürmt. 418 Millionen Euro als Folge einer 195-Millionen-Anleihe, die ja eigentlich Geld hätte bringen sollte. Gute Geschäfte lesen sich zweifellos anders. Gezahlt haben die Linzer Finanzmanager bisher nicht. Der Grund dafür ist so skurril, dass er sogar wahr sein könnte. Die Linzer Stadtväter, sonst Manns genug, um die Verantwortung für die drittgrößte österreichische Stadt und ihr jährliches 600 Millionen schweres Jahresbudget zu übernehmen, wollen nämlich, jetzt da es ans Zahlen ging, erkannt haben, dass sie »eigentlich nie wirklich verstanden haben«, worauf sie sich bei dem Zins-Swap eigentlich einließen; sie spielten der BAWAG nun den alleinigen schwarzen Peter für die Verluste zu. Quintessenz: Man wurde »nicht richtig und nicht rechtzeitig informiert« – und letztendlich »über den Tisch gezogen«. Die Stadt hat diesbezüglich auch Klage eingebracht und einen Prozess angestrengt. Die einst so schöne Geschäftsfreundschaft zwischen den Partnern, sie ist dahin; der Stallgeruch verweht. Martin Janssen ist ein anerkannter Professor. Der Schweizer Finanzwissenschaftler hat in Zürich auch eine kleine, feine Investment-Boutique, die für Auftraggeber aus der Bankenbranche hoch komplizierte Derivativprodukte entwickelt. Er gilt als einer der führenden Gut achter in Finanzdingen im deutschen Sprachraum. Die Linzer Stadtväter haben sich Janssen als Gutachter gegen die BAWAG ins Spiel geholt. Der Mann hat den umfangreichen Geschäftsakt und die Prozessunterlagen studiert. Er bestätigt seinen Auftraggebern, dass sie – na ja – zu naiv waren. »Die Linzer Politiker und Beamte waren fachlich nie in der Lage, das hoch komplizierte Wechselspiel der beiden Geschäfte, Anleihe und Zins-Swap, zu verstehen. Die BAWAG hätte solche Geschäfte mit einem solchen Kunden nicht eingehen dürfen. Man muss doch merken, wenn das Gegenüber etwas 132 Die Ars electronica: Da war die Welt noch in Ordnung, in Linz (Foto: Stadt Linz) nicht versteht und nicht verstehen kann. Das ist unethisch.« Die Stadt Linz gegen die BAWAG, das ist für Janssen ein Match der »Dummen gegen die Unmoralischen« – genau so schreibt er es auch in seinem Gutachten. Sicher nicht gerade schmeichelhaft für den Finanzdirektor und den Finanzstadtrat, nicht für den Bürgermeister und nicht für die Gemeinderatsmehrheit; anderseits die offenbar einzige nachvollziehbare Argumentation, die helfen könnte, alle politischen Verantwortungsträger aus eben dieser Verantwortung zu manövrieren und der Stadt – vielleicht – einen Teil der offenen 418 Millionen zu ersparen. Aber: Auch die Gegenseite schläft nicht. Auch die BAWAG hat ihren Gutachter ins Feld gerückt: Mark Wahrenburg, wieder ein Professor, diesmal aus Frankfurt. Auch Wahrenburg bestätigt: Dass die Bank alles richtig gemacht hat, dass die Stadt jederzeit aus dem Deal hätte aussteigen können, dies aber nicht wollte. Dass die Bank sogar dazu geraten hätte, der Kunde sich aber als beratungsresistent erwiesen hätte. Ja, was soll man da machen? Dummheit? Mangelnde Moral? Eitelkeit? Gier? Oder doch ein abgekartetes Spiel von Beteiligten, die sich an dem Flop der Stadt noch bereichert haben? Man muss das nunmehr involvierte Landesgericht Linz nicht beneiden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt erst mal. Wegen 133 Betrug und Untreue. Verdächtige gibt es auf beiden Seiten. Bei den Stadtverantwortlichen laufen Ermittlungen gegen den ehemaligen Finanzdirektor und den immer noch im Amt befindlichen Finanzstadtrat. Auch gegen die BAWAG wird ermittelt. Selbst wenn man nicht so ganz genau sagen kann, gegen wen konkret. Das damals verantwortliche Management hat die Bank samt und sonders verlassen. Das gilt übrigens auch für alle seinerzeit in das Geschäft verwickelten subalternen Mitarbeiter. Die Linzer Steuerzahler auch – ja, auch sie haben eine tragende Rolle in unserer Geschichte. Es ist jener Part, der am Schluss immer alles bezahlt. Trost gibt es für sie nur einen und der ist schwach genug. Sie sind nicht allein. Nicht nur in Linz könnte es im fernen Zeitalter vor der Finanzkrise »dumme« Politiker oder »unethische« Banker gegeben haben, die mit Steuergeldern zockten. Laut dem Land Oberösterreich hatten im letzten Jahr noch 24 Gemeinden 92 Franken-Kredite in einer Gesamthöhe von 256 Millionen Euro am Laufen. Zehn davon hatten auch Swaps und ähnlich komplizierte Derivat-Absicherungsgeschäfte abgeschlossen. Und: Das sind nur die Zahlen aus dem Land Oberösterreich. In der ganzen Republik sind »etliche hundert Kommunen« von ähnlichen Finanzu nfällen betroffen. Die meisten Fälle sind zumindest dem G emeindevertreterverband bekannt. Oder dem Städtebund. Wen das ärgern sollte – 2013 finden drei Landtagswahlen und eine Nationalratswahl statt. »Man hätte ebenso gut auf Schweinebäuche spekulieren können.« Prüfer Martin Janssen über die (Steuer-)Geldanlagen der Stadt Linz. 134 Franzl, Schützi und Konsorten: Eine »eingetragene Partnerschaft« von Günther Kogler Es ist eine seltsame Diskrepanz: Im Land selbst begleitet die politische Funktionärskaste das Treiben ihrer politischen Führung mit Skepsis, Ohnmacht und manchmal auch Wut. In Restösterreich schwankt die Gefühlslage zwischen stillem Respekt und abwartendem Kalkül – »na, schaun mer mal, wie lang die das durchhalten«. Dabei passiert nichts Außergewöhnliches in der Steiermark. Außer, dass es zwei Parteiobleute gibt, die es ernst meinen mit dem Wählerauftrag. Die Rede ist von Franz Voves und von Hermann Schützenhöfer, dem Landeshauptmann und dem Landeshauptmann-Stellvertreter der Grünen Mark. Der »Franzl« hatte, als größte Heldentat, vor acht Jahren der SPÖ im einstmals schwarzen Kernland den Fürstenstuhl erobert; der »Schützi« hatte, als größte Heldentat, ebenfalls vor acht Jahren, verhindert, dass sich eine kopf- und machtlos gewordene ÖVPFührungsriege in nur einer Nacht gegenseitig ausrottete. Soweit die Heldensagen. Aber: Was kümmern die den einfachen Bürger; den, wir nehmen es an, ehrlichen Steuerzahler? Nun, es gesellt sich noch eine Legende dazu. Einmal noch durften der »Franzl« und der »Schützi« in altgewohnter Manier bei Landtagswahlen ihre K lingen kreuzen und die Entscheidung ist denkbar knapp für den Amtsinhaber und gegen den Herausforderer ausgefallen. Aber dann, in den Wochen nach diesem erneuten politischen und abermaligen finanziellen Blutbad, traf wieder Licht die Steiermark. Der angebliche Quereinsteiger (Voves) und der angebliche Polit- Dauerfunktionär (Schützenhöfer) kamen einander bei tatsächlichem steirischem Wein (angeblich Sauvignon blanc) näher. Die Führer von SPÖ und ÖVP, per Landesverfassung ohnehin zur Zusammenarbeit verdonnert, begründeten aus heiterem Himmel eine »Reformpartnerschaft«. Sie vereinbarten, nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten zu wollen. Sogar ein Schwur wurde abgelegt, berichteten die 135 In Graz wird ein normaler Polit-Job erledigt (Foto: Graz Tourismus/Schiffer) Minnesänger: Fortan und fürderhin sollte mit dem Geld der Steirerinnen und Steirer sorgfältiger umgegangen werden. Und plötzlich berührte diese Selbstverständlichkeit den einfachen Bürger sehr wohl. Über Jahre und Jahrzehnte hindurch war die steirische Landespolitik nahezu liederlich mit den Finanzen umgegangen. Im österreichweiten Vergleich waren nur Kärnten und das AusnahmeBundesland Wien noch sorgloser im Ausgeben der Steuergelder gewesen. Ein erstes (sie nannten es im Jahr 2011 keck: Spar-)Budget der »Reformpartner« drückte die Neuverschuldung der Grünen Mark auf 425 Millionen Euro. Ein wahrhaft mutiger Begriff bei einem Gesamtbudget von knapp 5,4 Milliarden und einem Gesamtschuldenstand (inklusive der ausgelagerten Anleihen für die Krankenanstalten-Gesellschaft und inklusive anderer Budgettricks) von vier Milliarden Euro. Aber Franz Voves und Hermann Schützenhöfer stöberten weitere Vorräte des Sauvignon blanc auf und plötzlich kamen die anderen Fürsten außerhalb der steirischen Landesgrenzen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die meinten es tatsächlich ernst in der Grazer Burg. Auf breiter Front wurde in die Defizitmaschine der Landespolitik eingegriffen. An den Schleusen des Füllhorns Sozialpolitik wurde gedreht; den Spitälern wurde gezielt der Geldhahn zugedreht; in der 136 Wirtschaftsförderung, im Wohnbau und in der Subventionierung der Landwirte wurde »durchforstet«; Schulen wurden und werden geschlossen; Bezirkshauptmannschaften wurden und werden zusammengelegt; die Landesverwaltung wurde und wird ungekrempelt – vorbehaltlich hofrätlicher Empörungen bei den Höchstgerichten wird die Zahl der Verantwortung tragenden Spitzenbeamten von 250 auf 140 eingedampft. Bei der nächsten Landtagswahl wird der Landtag verkleinert, ebenso die Zahl der Mitglieder der Landesregierung. Alles funktioniert, weil die »erste eingetragene Partnerschaft der Steiermark« (Copyright: Nicht-Partner FPÖ) tatsächlich funktioniert. Bestürmen die durchwegs roten Sozialverbände den roten Soziallandesrat und den roten Landeshauptmann, widersteht die ÖVP dem Versuch, daraus Kapital zu schlagen. Protestieren schwarze Agrarier, schwarze Unternehmer und schwarze Personalvertreter bei ihren schwarzen Landesräten und dem schwarzen Landeshauptmann-Stellvertreter gegen die Kürzungen, hält »Reformpartner« SPÖ still. Ein bisserl ist die Demokratie ausgeschaltet in der Steiermark. Aber wer will schon etwas dagegen haben, gegen einen vernünftigeren Umgang mit öffentlichem Geld? Damit ist auch schon das entscheidende Stichwort gefallen. Wer will schon etwas gegen einen vernünftigeren Umgang mit öffentlichem Geld haben? Niemand weiß, wie lange es noch funktioniert, aber das Modell der Reformpartner löst rundherum unterschiedlichste Befindlichkeiten aus. An einem geschlossenen Regierungsblock zerschellt einmal als allererstes die Opposition; weder die Grünen noch die in der Landesregierung vertretene FPÖ haben dem bestimmenden Auftritt der Regierenden nennenswerte Argumente entgegenzusetzen. Allein die KPÖ – jawohl, liebe Österreicherinnen und Österreicher, die gibt es in der Steiermark noch in nennenswerter Größe – könnte von der Unzufriedenheit (vor allem im Bereich der Sozialpolitik) profitieren. Ratlos trifft die Reformpartnerschaft vor allem die üblichen Verdächtigen der eigenen Parteifunktionäre. Wie Stimmen maximieren bei einer Personalvertretungswahl, wenn der eigene Personallandesrat bei den eigenen Leuten hineinschneidet? Wie »soziale Wärme« erzeugen bei Benachteiligten, wenn der eigene Sozialreferent durch eine Kürzung der Zuschüsse die Außentemperatur absenkt? Spürbar sind rundherum 137 die Irritationen gewachsen. Wenn niemand mehr aus dem eigenen Nest die eigenen Befindlichkeiten befriedigt – wie lange dauert es, bis die Nestflüchter eine kritische Masse erreichen? Ratlos auch die Medienlandschaft. Die beherrschenden Nachrichtenund Meinungsbildner in der Grünen Mark sind die »Kleine Zeitung«, die größte Bundesländer-Zeitung der Republik, weiters der SteiermarkAbleger der »Kronen-Zeitung«, die mit Abstand meistgelesene Kaufzeitung Österreichs, und natürlich der ORF, die noch immer größte »Medienorgel des Landes« (Copyright: Gerd Bacher). Alle verspüren, dass es zu Brüchen und Umbrüchen kommt, auch in der Kundschaft der regierenden Parteien; aber alle haben sich dazu durchgerungen, den Kurs der Reformpartner eher wohlwollend zu begleiten. Das schafft Unmut bei Lesern, Hörern und Sehern. Viele finden sich in der Berichterstattung nicht wieder. Als ruchbar wurde, dass die großen Tageszeitungen aus dem Topf der Landesregierung jeweils auch noch einige hunderttausend Euro für die »Begleitung der Reformvorhaben« erhalten, drohte eine veritable Vertrauenskrise. Tatsächlich ist es eine Gratwanderung für die Meinungsbildner in den Medien. Aber das Projekt ist zu schaffen. Wer Notwendigkeiten erkennt und Befindlichkeiten enttarnt, ist immer auf der richtigen Seite. Und tatsächlich scheinen die Aussichten verheißungsvoll; halten »Franzl« und »Schützi« ihren Kurs, sinkt das Budgetdefizit der Steiermark heuer auf 377 Millionen, im Jahr 2014 gar auf 190 Millionen Euro. Na ja, und im Jahr 2015, dem Jahr der nächsten Landtagswahl, würde bei Fortsetzung des Kraftaktes gar ein ausgeglichener Landeshaushalt locken. Erstmals, noch einmal: erstmals seit fünf Jahrzehnten, würde in der Grazer Burg nicht mehr Geld ausgegeben, als die Grazer Burg an Steuergeldern einnimmt. Und völlig konsterniert schließlich der Rest Österreichs. Mit Ausnahme Vorarlbergs schreiben alle Bundesländer Miese, die einen mehr, die anderen weniger. Aber: Ein solches Programm umgesetzt auch im wirklich reichen Niederösterreich? Oder gar in einer der besten Hauptstädte der Welt, der in der Zwischenzeit unparkbar gewordenen »Wohlfühloase« Wien? Undenkbar. Jedenfalls für die jeweils Regierenden. Die 138 veranlagen lieber Wohnbaugelder und verkaufen Straßenbahnen und Abwasserkanäle. Wohl ist zu hören, dass auch Erwin P. und Michael H. dem Sauvignon nicht abgeneigt wären, aber jenseits von Wechsel und Semmering wird der Begriff »Reformpartnerschaft« noch immer anders interpretiert. Die mächtigsten Politiker der Republik reformieren lieber ihre jeweils aktuellen Bundesregierungen als Zu- und Eingriffe in ihren eigenen Machtbereichen zuzulassen. Um die Kirche im Dorf zu lassen. Noch ist die Steiermark kein Vorzeige-Bundesland, was Der Weg ist den Umgang mit Steuergeld angeht. Noch lang und steinig immer ist das Budgetdefizit erdrückend hoch. Noch immer ist der Weg lang und steinig und noch immer nicht ist klar, ob beide Landesparteiobleute den eingeschlagenen Kurs politisch überleben. Aber es gäbe einen Plan, eine Vision, wie sich die handelnden Personen aus dem Würgegriff der begrenzten Finanzen befreien wollen. Natürlich: Nicht immer fährt der Sparstift geräuschlos durch den Bürgerwald. Die »Privatisierung« des landschaftlichen Landeskrankenhauses West in Graz (es soll den knapper kalkulierenden »Barmherzigen Brüdern« übertragen werden) ist zwar notwendig und nimmt mit einem Schlag 300 teure Spitalsbetten aus der Kostenstruktur des Landes; aber war besagtes »Landeskrankenhaus West« nicht mit viel Pomp und Trara der Landespolitik erst vor zwölf Jahren neu gegründet und gebaut worden – mit einem Schock neuer Ärztestellen und einer Hundertschaft neuer Pflegebediensteter? Aber: Der Kern des Vorhabens ist richtig. Vernünftiger mit dem Geld der Steuerzahler umgehen. Sparen. Nicht mehr ausgeben, als das Land hat. Die Mittel dorthin lenken, wo sie gebraucht werden, und dort abziehen, wo es nur um das Bedienen privilegierter Seilschaften geht. Das Besondere an der »Reformpartnerschaft« ist nicht, dass es so etwas gibt. Franz Voves und Hermann Schützenhöfer erledigen bloß ihren Job. Das Besondere in einer der reichsten Republiken der Welt ist, dass eine ganz normale Managertätigkeit zweier Landespolitiker als Aus nahmeerscheinung empfunden wird. 139 Gemeindefinanzen: Sparen, ohne dass das Land einen Cent sieht Wenn Sie diese Zeilen lesen, ist die Steiermark »kleiner« geworden. Sie verfügt nur noch über 539 Gemeinden; im alten Jahr waren es noch 542 gewesen. Im Bezirk Leoben fusionierten Trofaiach, Gai und Hafning, im Bezirk Hartberg machen seit Jahresbeginn 2013 Buch-Geiselsdorf und St. Magdalena am Lemberg gemeinsame Sache. Warum eine solche Meldung Eingang in ein Jahrbuch über Wirtschaft und Finanzen findet? Weil selbst anhand des Mikrokosmos der kleinsten Verwaltungsebenen, eben der Gemeinden, veranschaulicht werden kann, wie es sich mit dem Steuergeld der Bürger vernünftiger umgehen lässt. Und das Schöne daran ist: Das Ersparte bleibt direkt in den Kommunen. Das Land sieht keinen Cent. Als zentrales Programm ihrer »Reformpartnerschaft« hat die steirische Landesregierung ihren Gemeinden auch ein großes Fusionsprogramm verordnet. 39 Prozent aller Kleinstgemeinden Österreichs nämlich liegen in der Grünen Mark. Das kostet Geld und Personal. Jede Gemeinde unterhält eine Verwaltung – selbst Freiland, mit 128 Einwohnern die kleinste Gemeinde der Steiermark, benötigt einen Bürgermeister (Entschädigung), einen Gemeinderat (Sitzungsgeld) und einen Gemeindesekretär (Monatsgehalt). Weitere 76 Kommunen in der Grünen Mark haben weniger als 500 Einwohner, nochmal 120 liegen unter der 1000er-Marke. Am Ende der Gemeindezusammenlegungen sollen nur noch »weit unter 300« Kommunen übrig bleiben – das wäre der Wunsch des Landeshauptmannes und seines Stellvertreters. Die Vorzüge des Vorhabens liegen im Detail, sie sind aber handfest. Dass die Fusionierung von Bruck an der Mur und Kapfenberg mit weit mehr als 35.000 Einwohnern dabei auch eine neue zweitgrößte Stadt des Landes entstehen lassen würde, schriebe freilich auch die Geschichte einer ganzen Region um. Nicht alle Bürger und schon gar nicht alle Bürgermeister können den eingeforderten Zusammenlegungen etwas abgewinnen. Aber denen, 140 die nachrechnen, tun sich kleine Schatzkisten auf. So wie einer Region im oberen Feistritztal im Bezirk Weiz, wo sich die Ortschefs von Gschaid (rund 1000 Einwohner), Haslau (450), Koglhof (1100) und Waisenegg (1100) mit der »Zentrale« Birkfeld (1600) auf ein gemeinsames »Packel« hauen wollen. Bislang schrieben alle fünf Gemeinden zusammen ein Defizit von 268.000 Euro im Jahr; nach der Fusion blieben auf einmal 443.000 Euro im Jahr als Überschuss übrig. Wenn das nichts ist ... Im Einzelnen: Die Verwaltung der neuen »Großgemeinde« Birkfeld käme um 142.000 Euro billiger. Von fünf Gemeindeämtern blieben nur zwei übrig. Personal würde eingespart; bei den Standesbeamten, im Bauamt, bei den Gemeindearbeitern. Entlassen würde niemand, aber frei werdende Stellen würden nicht nachbesetzt. Vier Kindergärten würden zu nur noch dreien zusammengelegt. Damit könnte auch eine Ferienbetreuung während der für Eltern kritischen Sommermonate o rganisiert werden. Die Wasserversorgung, die Müllentsorgung und die Gebühren würden billiger. Fünf gemeinsam organisierte Gemeinden organisieren sich leichter und verhandeln besser mit den Anbietern. Ersparnis: 137.000 Euro im Jahr, davon allein 84.000 Euro durch den Entfall von Krediten, die nicht mehr aufgenommen werden müssen. Dasselbe gilt für den Straßenbau: Dort sind gleich 168.000 Euro zu holen, der Großteil wieder durch den Entfall unbedeckter Kredite. Wird solcherart gespart ist sogar an den Neubau von Gemeindestraßen wieder zu denken ... Schließlich die »politischen Kosten«: Fünf Gemeinden benötigen 15 Gemeindevorstände, die eine Aufwandsentschädigung erhalten (Bürgermeister, der Stellvertreter, der Kassier). Eine Gemeinde müsste nur noch drei Vorstände entlohnen. Das läppert sich. Im oberen Feistritztal macht die Einsparung »in der Politik« allein 100.000 Euro im Jahr aus. Allerdings: Am Ortsbild soll sich nichts ändern. Zwar wird die neue Gemeinde den Namen Birkfeld tragen, die Ortstafeln Gschaid, Haslau, Koglhof und Waisenegg bleiben aber erhalten – nur mit dem Zusatz: »Gemeinde Birkfeld«. Verwaltung und lokale Identität sollen zwei Paar Schuhe bleiben. 141 Alle Einsparungen greifen schon im ersten Jahr nach der Zusammenlegung. Jedes weitere Jahr kommt frisch Angespartes hinzu. Der Fuhrpark der bisher getrennten Wirtschaftshöfe wird im Laufe der Zeit optimiert; nach 15 Jahren ist der Personalumbau abgeschlossen, mit nur noch einem Bauamtsleiter, einem Standesbeamten, einem Gemeindesekretär. Im Idealfall stimmen sogar die Freiwilligen Feuer wehren ihre Löschfahrzeuge aufeinander ab. Pfarr- und Kulturvereine arbeiten enger zusammen, Fremdenverkehrs- und Wirtschaftsverbände werden optimiert. Das alles wird viel Stress und Unruhe auslösen; aber es ist schaffbar. Wer nachrechnet, wird sich der Fusion nicht verschließen können. Es bleibt Geld in der gemeinsamen Gemeindekasse übrig. Es ist das Geld der Bewohner der fünf Gemeinden. Sind einmal die Schulden aus der Vergangenheit beglichen, könnten sogar die Wasser-, Abwasser- und Müllgebühren gesenkt werden. Übrigens: Die letzte große »Flurbereinigung« in der Steiermark datiert aus dem vorigen Jahrhundert. Unter Landeshauptmann Josef Krainer sen. wurden aus 884 (!) Gemeinden 561 gemacht. Das geschah vor fast 50 Jahren. Zur Erinnerung: Das vorliegende €CO-Jahrbuch gibt es seit 25 Jahren. Vielleicht machen wir uns einmal die Mühe nachzurechnen, wie viel Geld in dieser Zeit verloren gegangen ist. Ja: Steuergeld. »Der Rechnungshof kommt in letzter Zeit von einer Disqualifikation in die andere. Manche Herren im Glaspalast am Donaukanal sind offensichtlich zu wenig qualifiziert.« Wenn Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) glaubt, dass das Land Niederösterreich seine Wohnbaugelder lukrativ veranlagt hat, dann ist das auch so. 142 Unser teures Bier: Wenn Hopfen und Malz zu barem Geld werden von Philipp Jauernik Sie haben es sicher schon bemerkt – die Bierpreise sind gestiegen. Zumindest beim österreichischen Branchenprimus, der Brau Union, die rund die Hälfte der Marktanteile für sich reklamieren kann. Mit Dezember 2012 erhöhte sie die Preise für ihre bekannten Marken (Zipfer, Gösser, Puntigamer, Kaiser, Schwechater) um durchschnittlich drei Prozent. Begründet wurde das mit »gestiegenen Rohstoffpreisen«. Tatsächlich: Am mangelnden Absatz konnte es nicht gelegen sein. Der Durchschnittsösterreicher trinkt inzwischen mehr Bier als der Durchschnittsdeutsche. Ein altes Sprichwort sagt: »Auch Wasser wird zum edlen Tropfen, mischt man es mit Malz und Hopfen.« Tatsächlich wäre die Wasserqualität entscheidend. Der Brauvorgang beginnt aber erst mit der Fermentation – dazu verwendet der Brauer Hefe. So sähe Bier aus, braute man es allein nach dem »Reinheitsgebot« – einer Verordnung, die so nie existierte. Dabei wurde bloß auf einzelne Textpassagen unterschiedlicher alter gesetzlicher Regelungen Bezug genommen – insbesondere auf die »bayerische Landesordnung« aus dem Jahr 1516. Heute steckt im kühlen Hellen schon ein bisserl mehr moderne Technik. Das ursprünglich recht einfache Produkt wird umso komplexer, je höher die Qualitätsstandards werden. Dazu braucht es »das entsprechende Equipment und auch ein Hygienegrundverständnis«, erklärt der Wiener Albert Welledits. Der Technikingenieur stammt aus einer Familie von Brauern – seit 1924 stellen die Welledits’ zudem Brauanlagen her. Mittlerweile werden diese in die ganze Welt exportiert. Albert Welledits lieferte schon nach Afrika, nach Lateinamerika und nach Russland. Zu seinen bekannteren Kunden zählt etwa der russische Oligarch Roman Abramowitsch. In Welledits’ eigener Wirtshausbrauerei, dem »Salmbräu« am Wiener Rennweg, hängen unter anderem Bilder, die den Hausherrn mit dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales zeigen – gleich neben dem berühmt-berüchtigten venezolanischen Staatschef Hugo Chavez. 143 In Russland ist Bier zwar nicht so tief verwurzelt wie in Mitteleuropa, aber das Reich Wladimir Putins schlägt sich in der Produktion nicht schlecht. Von wegen »Wodka-Land«: Fast 103 Millionen Hektoliter Bier werden jährlich in Russland gebraut – Tendenz steigend. Das bevölkerungsmäßig wesentlich kleinere Deutschland liegt mit über 95 Millionen Hektolitern auf Platz zwei. Österreichs Brauer können mengenmäßig nicht mithalten und schafften zuletzt »nur« 8,67 Millionen Hektoliter. Rechnet man aber pro Kopf und Kehle, so ist das rot-weißrote Ergebnis ein internationaler Spitzenwert: Wir trinken mehr Bier als die Deutschen. Nur Nachbar Tschechien weist weltweit (!) einen höheren Bierkonsum aus als Österreich. Das weiß man auch in den 170 heimischen Braustätten. 97 davon sind Gasthaus- und Hausbrauereien; zusammen stellen sie mehr als 1000 verschiedene Biere her. Damit wird ein Umsatz von weit über einer Milliarde Euro erzielt. Allein die Steuern auf Bier spülten dem Fiskus im vergangenen Jahr rund 700 Millionen Euro in die Kassen. Das liegt auch am heimischen Steuerrekord. Die österreichische »Biersteuer« wurde im Jahr 2000, als Ersatz für die abgeschaffte Getränkesteuer, umgehend drastisch erhöht. Kein schlechtes Geschäft also für die Republik, wenn sie solcherart Hopfen und Malz zu barem Geld macht ... Nach Angaben des Verbandes der Brauereien beträgt die gesamtsteuer liche Belastung des Hopfengetränkes fast 50 Prozent. Die Steuerlast ist damit in Österreich zweieinhalb Mal so hoch wie im benachbarten Deutschland, das noch dazu eine geringere Umsatzsteuer einhebt. Daraus ergibt sich, so der Verband, ein »im Schnitt um 20 Prozent höherer Flaschenbierpreis in Österreich«; und folglich einen Preisunterschied, der für die heimischen Brauer einen Wettbewerbsnachteil bedeutet. Die Produzenten wissen das und versuchen mit Spezialsorten zu punkten. So hat etwa die »Trumer Brauerei« im »Jahr des Waldes« 2011 in Kooperation mit den Österreichischen Bundesforsten ein Waldbier aus frischen Tannentrieben gebraut. »Gösser« braut in diesen Wochen zur Schiweltmeisterschaft in Schladming das »Gösser WM-Gold« und vermarktet es mit drei WM-»Bier-Botschaftern«: Harti Weirather, Hans Knauß und Michael Walchhofer. Letzterer fungiert auch als Ehrenbraumeister des »goldenen Bieres«. 144 Braucommune Freistadt: Jeder Hausbesitzer hält Anteile (Foto: freistaedter-bier.at) Vor allem aber sind es süße Mischgetränke, die den Absatz steigern sollen. Besonders Frauen soll das Produkt Bier, das von vielen eher als bitteres Männergetränk wahrgenommen wird, schmackhaft gemacht werden. Karl Schwarz, Geschäftsführer und Eigentümer der »Privatbrauerei Zwettl«, begründet diesen Trend zum Radler: Radler sei zwar keine große Braukunst, es werde nur Limonade mit Bier gemischt. Aber es böte den Brauereien eine ideale Gelegenheit, die Zielgruppe zu erweitern: »Vor allem junge Leute sind daran gewöhnt, süße Getränke zu trinken. Sie kommen über den süßlichen Geschmack letztlich zum Bier.« Wie viele kleinere Brauereien kämpfen auch die Zwettler gegen die Marktdominanz der »Brau Union«, die zur internationalen HeinekenGruppe gehört. Die Branche zeigt sich allerdings lernfähig: Seit Bier als Genussmittel vermarktet wird, geht’s mit Image und Absatz bergauf. Man hat sich einfach ein Beispiel an der Weinbranche genommen, die seit dem Glykolskandal im Jahr 1985 unglaubliche Fortschritte gemacht hat. Hiermit ist auch Bier, das vorher als »Maurergetränk« verschrien war, »salonfähig« geworden. Karl Schwarz: »Bier passt zu jeder Gelegenheit. Das äußert sich eben auch in dem sehr hohen Pro-Kopf-Verbrauch.« In der Tat: Beim Biertrinken ist Österreich, wie gesagt, Weltspitze. 108 Liter werden pro Kopf und Jahr getrunken. Mehr verdrücken nur 145 Braucommune: Wird ohne Bier aus Freistadt gestreikt? (Foto: freistaedter-bier.at) die Tschechen: Mit 132 Litern sind sie klar die Nummer eins. Nachbar Deutschland (102 Liter) gerät bereits immer mehr ins Hintertreffen; Seit Österreich im Jahr 2010 an Deutschland vorbeigezogen ist, erhöht sich der Abstand von Jahr zu Jahr. Das traditionsreiche Brauerland Belgien kommt gar »nur« auf 78 Liter. Und zum »Leben wie Gott in Frankreich« gehört anscheinend eher Wein als Bier: Nur 30 Liter Gerstensaft werden dort pro Kopf jährlich getrunken. Für Ewald Pöschko ist das wenig verwunderlich: »Jedes Volk hat irgendwo sein Rauschmittel kultiviert«, erklärt der Geschäftsführer der »Braucommune Freistadt« verschmitzt. Bayern, Südböhmen und Österreich sind in seinen Augen »die Biertrinkernationen der Welt«.Er weiß, wovon er spricht: Die Freistädter »Braucommune« ist ein weltweites Unikat – ihre Besitzanteile sind nämlich grundbücherlich an die Häuser der Freistädter Altstadt geknüpft und können nicht ver äußert werden. Wer also ein Haus in der Freistädter Altstadt kauft, ist automatisch Miteigentümer der »Braucommune«. Die Brauerei, die in dieser Form seit dem 17. Jahrhundert besteht, ist ein nicht wegzudenkender Teil der Geschichte und Kultur der Bezirkshauptstadt im Mühlviertel. Ihre Bedeutung ist unter anderem daran ersichtlich, dass sie Gastgeberin der oberösterreichischen 146 Landesausstellung 2013 ist. Auf Regionalität wird in der Brauerei viel Wert gelegt. Alle Rohstoffe kommen aus der unmittelbaren Umgebung. Die Bevölkerung honoriert das. »Bei uns ist es nicht egal, ob etwa ein Bauherr einem Maurer irgendein No-Name-Produkt hinstellt. Der will schon ›sein‹ Produkt haben: Mit Freistädter Bier wird seine Arbeit gewertet. Gibt man ihm allerdings irgendein Massenbier, könnte es sein, dass er womöglich gar nicht mehr weiterarbeitet«, schildert Pöschko nicht ohne Stolz den Stellenwert »seines« Bieres in der Region. Allerdings ist bei aller Regionalität auffällig, dass bestimmte Biersorten nur in bestimmten Gegenden zu erwerben sind. Im oberösterreichischen Mühlviertel dominiert Freistädter Bier in den Supermarktregalen. Sobald man die Landesgrenze zum niederösterreichischen Waldviertel überschreitet, ist es so gut wie verschwunden; die Getränkeabteilungen sind plötzlich mit Zwettler Bier gefüllt. In Vorarlberg findet man kaum Produkte der Wiener Ottakringer Brauerei, dafür ist etwa »Mohrenbräu« stark vertreten. Der Gedanke an mögliche Kartellabsprachen drängt sich nahezu auf ... Und: So abwegig scheint diese Vermutung nicht. Erst im Juni 2011 führte die Bundeswettbewerbsbehörde Hausdurchsuchungen bei »Stiegl« und »Ottakringer« durch, die »Brau Union« trat als »Kronzeugin« auf. Der Vorwurf: Preis- und Belieferungsabsprachen der Brauereien gegenüber Großverbrauchermärkten. 2007 erst verhängte die EU-Kommission eine Strafe von knapp 274 Millionen Euro gegen ein weiteres Bierkartell in den Niederlanden. Die belgische Beck’s-Mutter »InBev« hatte im Verbund mit den niederländischen Braufirmen »Heineken«, »Bavaria« und »Grolsch« die Bierpreise künstlich hoch gehalten. Auch die Erinnerungen an das »Bierkartell«, das bis zum Jahr 2000 in Österreich den Markt unter sich aufteilte, sind noch lebendig. Die Lieferabsprachen in Österreich hätten allerdings »ausschließlich Qualitätshintergründe« gehabt, behauptet »Ottakringer«-Vorstandschef Sigi Menz. Der Vorarlberger, der auch Präsident des Brauereiverbandes ist, hält Absprachen hierzulande für gar nicht mehr notwendig: »Das ist wahrscheinlich eine regionale Zufallsthematik, weil der eine den einen Wirten und der andere den anderen Wirten besser kennt.« In einer derart stark regionalisierten Bierwirtschaft sei das 147 anders kaum möglich. »Ottakringer« habe, so Menz, zwar versucht, in Vorarlberg Fuß zu fassen, das sei aber nicht geglückt. Die Konsumenten seien eben ihren regionalen Stammmarken treu. »Daraus ergibt sich, dass keiner ein Kartell braucht.« Auch Alfred Welledits aus dem »Salmbräu« glaubt daran, dass Konsu menten verstärkt zu ihrem angestammten Bier greifen. Er spricht sogar von »einer Schere zwischen den Bieren der großen Konzerne, die immer mehr in Richtung Einheitsgeschmack tendieren, und andererseits kleinen, regionalen Brauern«, die spezielle Biere brauen und ihre Stammkundschaft hätten. Für ihn gibt es auch noch ökologische Aspekte, die für regionale Wirtshausbiere sprechen, denn globale Konzerne transportieren ihr Gebräu oft tausende Kilometer weit. »Der ökologische Fußabdruck ist enorm, wenn man bedenkt, dass Bier zu weit mehr als 90 Prozent aus Wasser besteht.« Auch qualitativ ist der gelernte Brauer von den »Massenbieren nicht überzeugt«. Wenn man auf den Boden einer Bierdose blicke und dort ein Haltbarkeitsdatum entdeckt, das noch drei Jahre entfernt liege, »dann kann man sich nicht viel erwarten. Das Bier ist zu Tode pasteurisiert und zu Tode filtriert. Da bleibt nichts mehr übrig vom Bier.« Was viele Konsumenten überhaupt übersehen: Der Qualitätsabfall vom Flaschen- zum Dosenbier ist nochmals enorm: »Es geht noch weiter hinunter, tatsächlich.« Die Österreicher trinken übrigens am liebsten Märzen- und Lagerbier. Während Sport-Großereignissen wie der Fußball-Europameisterschaft steigen übrigens die Umsätze der Brauereien um bis zu zehn Prozent. Spielen Mannschaften wie Deutschland oder Tschechien – klassische Biertrinkernationen, die auch sportlich reizvoll sind –, konstatiert Sigi Menz besonders volle Bierlieferwagen. Echte Anhänger des Hopfengetränks finden aber ohnehin immer einen Grund zum Anstoßen. Und frisch gezapft lässt sich’s noch immer am genussvollsten zuprosten. 148 Die neue Frauenpower: »Schatzi, was machen wir mit dem Geld?« von Angelika Ahrens Immer mehr Frauen in Österreich sind berufstätig – sprich: sie verdienen ihr eigenes Geld. Aber wie sieht es beim Anlegen von Geld aus? Haben da die Männer oder die Frauen die bessere Nase? Fest steht der »kleine Unterschied«: Für Männer ist Geld oft ein Statussymbol, für Frauen ist es nur Mittel zum Zweck, meinen Experten. Frauen sind in der Anlage von Geld weniger kompetent als Männer – das ist das weit verbreitete Vorurteil. Kaum ein anderer Aspekt in Sachen Finanzanlage ist mit so viel Klischees und Vorurteilen besetzt wie das Thema Frauen und Geldanlage. Dabei interessieren sich Frauen immer intensiver mit der Frage: »Was tun mit dem Verdienten?« Und Studienergebnisse haben in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass sich Frauen mit ihrer Herangehensweise an das heikle Problem keineswegs verstecken müssen. Oft fallen die Ergebnisse im langjährigen Vergleich unter dem Strich sogar besser aus als bei Männern. Beide Geschlechter denken zunächst einmal vollkommen unterschiedlich über Geld: »Männer identifizieren Geld mit Macht und Kontrolle. Für Frauen bedeutet Geld Sicherheit und Autonomie«, erklärt die US-Psychologin Kathleen Gurney. Und: Frauen gehen Finanzfragen einfach anders an. »Frauen holen sich Rat vom Profi, fragen ihre Bank oder bestimmte Mitglieder in der Familie«, wissen die Finanzexperten der Branche. »Nur ganz wenige Frauen nutzen das Internet oder die Medien.« Jede Frau entscheidet letztendlich am liebsten selbst, wie sie ihr Geld anlegt. Es muss in erster Linie sicher sein: So haben 65 Prozent der Frauen ein Sparbuch, 60 Prozent besitzen einen Bausparvertrag, 46 Prozent eine Lebensversicherung. Risikoreiche Anlagen wie Aktien, Anleihen oder Investmentfonds besitzen gerade einmal 16 Prozent der weiblichen Bevölkerung. »Frauen haben ein größeres Risikobewusstsein als Männer. Wenn sie einmal Geld verdient haben, dann wollen sie 149 »Schatzi, was machen wir mit dem Geld?« (Foto: Peter Atkins/Fotolia.com) es auch nicht mehr hergeben. Sie streben danach, es zu behalten. Und setzen deswegen weniger auf eher riskante Anlagemöglichkeiten«, berichten die Anlageexperten quer durch den Markt. »Für Männer ist Geld oft ein Statussymbol. Für Frauen ist es ein Mittel zum Zweck«, meint Renate Kewenig. Mitbegründerin von »FrauInvest«, einer Anlageberatung von Frauen für Frauen. Aber sind Frauen deswegen die besseren Anleger? »Frauen halten ihre Anlagestrategien länger durch. Und das ist sicher ein klarer Vorteil. Meist kommt am Ende ein positives Gesamtergebnis dabei heraus.« So hat die University of California erhoben und errechnet, dass die Rendite der von Frauen gemanagten Aktiendepots im Schnitt um 1,4 Prozent höher liegt als die der Männer. Die Gründe lagen zum Beispiel in der geringeren Zahl an Umschichtungen (also Käufen und Verkäufen) und an der größeren Sicherheitsorientierung. Zum Schluss noch ein paar Fakten: Im Schnitt legen Frauen 250 Euro pro Monat zur Seite. Das sind nur um 13 Euro weniger, als Männer monatlich ansparen. Immerhin: Frauen verdienen ja im Schnitt auch noch immer deutlich weniger als Männer. Und viele Frauen arbeiten gar nur Teilzeit. Und wer letztendlich die bessere Strategie und damit die bessere »Nase« haben wird – nun, frau ist sich da schon ziemlich sicher. 150 »Die Voest« – vom Stahlkocher zum hippen High-Tech-Konzern von Sabina Riedl Österreichs Schwerindustrie ist trotz des schwierigen konjunkturellen Umfelds auf Erfolgs- und Expansionskurs. Mit Schienen für prestigeträchtige Hochgeschwindigkeitsstrecken und Spezialstählen für die Raumfahrt- und Flugzeugindustrie füllt etwa die Voestalpine AG auch in Krisenzeiten ihre Auftragsbücher – und mausert sich vom Stahlkocher zum High-Tech-Konzern. Dabei sind insgesamt die Aussichten für die europäische Stahlindustrie nicht gerade rosig. Hohe Überkapazitäten stehen einem stetig sinkenden Verbrauch gegenüber. Von den derzeit produzierten 210 Millionen Tonnen Rohstahl werden gerade einmal 145 Millionen verbraucht. Dadurch sind bis zu ein Viertel der Jobs der europäischen Stahlerzeuger bedroht – das wären immerhin 100.000 Arbeitsplätze. Um Angebot und Nachfrage wieder anzugleichen, müsste einiges an Überkapazität vom Markt genommen werden. Denn derzeit liegt die Auslastung der Stahlproduzenten bei nur 70 bis 75 Prozent. Und: Klar hat auch die Voestalpine AG diese Entwicklung zu spüren bekommen. Obwohl das Team um CEO Wolfgang Eder die richtigen Schwerpunkte gesetzt hat und wichtige Nischen auf dem Stahlmarkt erobern konnte. Dennoch gab es im ersten Halbjahr 2012 einen Rückgang des operativen Ergebnisses um zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr zu vermelden. Immerhin blieb der Umsatz weitgehend stabil. Dennoch ist das Management nicht von seinen Expansionsvorhaben abgewichen. So wurde noch im November des alten Jahres mit dem Bau des neuen US-Werks der »Metal Forming Division« in Cartersville im Bundesstaat Georgia begonnen. Eine Investition von immerhin 50 Millionen Euro. Im jüngsten US-Ableger der Voestalpine sollen künftig Automobil-Komponenten hergestellt werden. Stahl ist seit 3000 Jahren der Inbegriff von Macht, Kraft und Fortschritt – heiß begehrt bei Potentaten für Waffen und Rüstung, aber 151 Das Weltmeister-Produkt: Langschienen aus Donawitz (Foto: Voestalpine) auch als Werkzeug für Gewerbe und Industrie. Stahl gilt auch als die Initialzündung für die Mobilität. Österreich hat eine lange Tradition in Metallgewinnung und -verarbeitung. Diesen Vorsprung haben wir bis heute gehalten. Die Voestalpine AG ist dabei mit 20.000 Beschäftigten nicht nur größter heimischer Arbeitgeber und Leitbetrieb, sondern auch Kulturträger, Lehrwerkstatt, Großfamilie und Innovationsmotor – und das schon seit Generationen. Ein chinesisches Sprichwort sagt: Stahl kann man brechen, aber nicht biegen. Zumindest auf die Langschienen der Voestalpine trifft das nicht zu – wie Spaghetti winden sich die 120 Meter langen Ungetüme beim Transport, ehe sie im Sommer auf dem neuen Hauptbahnhof Wien verlegt wurden. Diese Schienen sind tatsächlich ein verfahrenstechnisches Meisterwerk: Sie halten mehr aus als andere – und nützen sich nicht so schnell ab. Das liegt am Verfahren, das nur die Voest beherrscht. Kopfgehärtet nennt man es – und nur am Standort Donawitz in der Obersteiermark können Schienen dieser Dimensionen gleichmäßig abgekühlt werden, was sie so widerstandfähig macht. Gebraucht werden sie überall, wo hohe Geschwindigkeiten gefahren werden und die Schienen großen Belastungen ausgesetzt sind – also in Bahnhöfen 152 und anderen stark frequentieren Strecken. Mit diesem Produkt sind die Österreicher konkurrenzlos auf dem Weltmarkt. Das hat ihnen prestigeträchtige Aufträge wie die Hochgeschwindigkeits-Strecke Shanghai–Peking eingetragen und jüngst auch Moskau– St. Petersburg. Und wer solche Lieferungen quer über den Globus hinkriegt, scheut keine noch so große technische Herausforderung. Kein Auftrag in dieser Größenordnung ist alltäglich – obwohl es auch in dieser Liga absolute Top-Herausforderungen zu meistern gilt. Auf eine bauliche Meisterleistung dabei ist Voestalpine-Chef Wolfgang Eder besonders Temperaturunterschied stolz. »Beim Projekt Flughafen Hongkong bei von über einem Meter spielsweise waren wir die Einzigen, die sich getraut haben, die Hochgeschwindigkeits-Verbindung vom Flughafen in die Stadt zu bauen – über viele Brücken, in sehr schwierigem Gelände mit hohen Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht. Sie müssen sich vorstellen, die Schienen auf einer Brücke verändern ihre Länge zwischen Tag und Nacht um rund einen Meter aufgrund des Temperaturunterschiedes. Das müssen Sie technisch in den Griff kriegen.« Auch die ÖBB, ein lang gedienter Partner der Voest, sind ein zufriedener Kunde. Für den neuen HBf Wien, der vor kurzem in Teilbetrieb ging, wurden 100 Kilometer Langschienen und 330 Spezialweichen im Wert von 60 Millionen Euro bestellt und verlegt. Was der Voestalpine den Auftrag gebracht hat, erklärt der technische Direktor der ÖBB, Bernhard Knoll: »Die Voestalpine kann Dinge, die andere nicht können. Zum Beispiel verschiedene Schienenprofilformen mit unterschiedlichsten Stahlgüten zu walzen ist eine große Herausforderung. Aber auch Weichen komplett vormontiert auf Weichentransportwagen just in time auf die Baustelle zu liefern, ist eine logistische Herausforderung, die nicht jeder meistert.« Spezialstähle sind übrigens die Zukunft. Sie müssen immer höheren Anforderungen entsprechen, auch immer leichter ist die Devise, denn je weniger Gewicht ein Werkstoff hat, desto geringer wird der Spritverbrauch von Autos und Flugzeugen, für deren Bau er verwendet wird. 153 Auch eine Reduktion der Emissionen kann dadurch erreicht werden. Trotzdem muss ein Leichtstahl stabil, rostfrei, unverformbar und robust sein – also ein Alleskönner. Das war für die Voestalpine auch die Eintrittskarte ins »big business« der Raumfahrt- und Flugzeugindustrie. 25 Prozent der Triebwerke des neuen Airbus A-380 bestehen aus Voeststahl – und der ist so leicht, dass er offenbar Flügel verleiht. Aber auch in der Automobilindustrie punkten die Linzer mit ihren hochwertigen Stahlblechen. Das hat übrigens selbst die Arbeit im Werk verändert – die schmutzigen Jobs sind deutlich weniger geworden. Bei unserem Besuch im Walzwerk treffen wir übrigens Helmut Schypani, der seit 33 Jahren »im Betrieb« arbeitet, und seine Tochter Nina, die hier Maschinenbau lernt. Herr Schypani führt uns durch die riesige Halle, in der die Stahlbleche gewalzt und für den Transport auf Rollen gedreht werden. Heute, erzählt er uns, laufe »alles automatisch, die Arbeit hier war früher wesentlich lauter, dreckiger und gefährlicher«. Die beiden, Vater und Tochter, sind »Voestler«, wie sie im Buche stehen – stolz auf ihren Betrieb und dessen Familientradition. Die Schypanis stehen exemplarisch für alles, wofür die Voestalpine sonst noch steht – nicht nur dass sie ein weltweit agierender Stahlkonzern ist, ist sie auch Heimat, Identität und Großfamilie. Immerhin halten die Voestler 13 Prozent an ihrem Betrieb und sind damit zweitgrößter Kernaktionär – das schafft Loyalität und Verbundenheit über viele Generationen. Nina Schypani erzählt, dass sie schon als Kind mitbekommen habe, dass ihr Vater »schichtelt« (so heißt die Schichtarbeit im Arbeiter jargon). Am Beispiel des Vaters lernte sie früh, dass die Arbeit laut und schmutzig ist, aber das schreckte sie nicht ab. »Da mach’ ich lieber eine Arbeit, bei der ich dreckig werde, als dass ich im Büro sitz’, wo’s mir überhaupt nicht gefällt«, sagt die hübsche Blondine, die sich entgegen der ursprünglich geplanten Karriere als Friseurin für die Voest-Hack’n entschied und heute eines der wenigen Mädchen unter den Voest-Lehrlingen ist. 154 Helmut Schypani hatte auch schon als Junger im Betrieb gelernt, auch sein Vater war Voestler gewesen. Seine 18-jährige Tochter verkörpert also die dritte Generation, die die Familientradition aufrecht hält. Das erfüllt ihn mit Stolz. »Man macht sich zwar als Vater Sorgen, wie wird’s weitergehen nach ihrer Ausbildung. Ich kenn‘ das Metier, wenn sie nachher im Betrieb draußen ist, gibt’s gefährliche Situationen, gerade bei der Maschinenbautechnik, wo du nicht nur im Büro sitzt oder in der Werkstätte. Auf der einen Seite ist das gut, man kommt zu Störungen und lernt das Werksgelände kennen. Aber man macht sich Sorgen als Vater, ist andererseits aber auch stolz auf die Tochter.« Während die Voestalpine in Linz ihr lokales Kolorit behalten hat, ist sie außerhalb Öster- Stiller Aufstieg zum reichs still und leise zum Weltkonzern aufge- Weltkonzern stiegen. Mehr als 46.000 Mitarbeiter weltweit, 360 Niederlassungen in 60 Ländern auf fünf Kontinenten – sie ist der drittgrößte börsenotierte Stahlproduzent Europas, wo sie 72 Prozent ihres Umsatzes von heuer elf Milliarden Euro macht. Die Nachteile der Globalisierung hat die Voestalpine wie alle Stahlkonzerne während der Wirtschaftskrise zu spüren bekommen. Auftragsrückgänge zwangen zu Mitarbeiterabbau und Kurzarbeit – eine bittere Erfahrung für Belegschaft und Management. Wolfgang Eder erinnert sich: »Wir hatten gerade von Herbst 2008 bis Herbst 2009 eine schwierige Phase, aber – wenn ich mich richtig erinnere – es gab überhaupt nur ein Quartal, in dem wir Verlust gemacht haben, selbst in dieser sehr schwierigen Situation. Wir haben die ganze übrige Zeit Gewinn gemacht, wir konnten, Gott sei Dank, den Abbau an Mitarbeitern in Grenzen halten und erfreulicherweise haben wir heute wieder den Mitarbeiterstand, den wir vor der Krise hatten.« Viel schlimmer, erinnert sich Eder, der seit 30 Jahren bei der Voest alpine ist, war die Krise der 1980er-Jahre. Damals ging es für »die alte Verstaatlichte« ums Überleben – Zerschlagen oder Neubeginn, das war die Frage. Dieselbe Frage war auch schon nach dem Zweiten Weltkrieg gestellt worden, als die Voest in Schutt und Asche lag. Die Alliierten hatten die von den Nazis begründeten Hermann-Göring-Werke dem Erdboden gleich gemacht und die kriegswichtige Stahlindustrie pulverisiert. 155 Zweimal in ihrer bewegten jüngeren Geschichte ist die Voestalpine wieder auferstanden – wie der Phönix aus der Asche. Und der Standort an der Donau ist heute kaum wieder zu erkennen: sauberes, grünes, parkartiges Gelände, getrimmter Rasen, kein schwarzer Qualm steigt mehr aus den Schloten der Hochöfen – der wahrscheinlich sauberste Stahlkocher der Welt. 194 Millionen Euro hat die Voestalpine allein voriges Jahr für die Einhaltung der strengen Umweltschutzauflagen in der EU bezahlt. Das macht eine Absiedelung der Hochöfen an eine EU-Außengrenze zwar immer wahrscheinlicher, doch das kann noch dauern – wie jede Weichenstellung in der Stahlbranche. »Das ist der große Unterschied zu anderen Industrien«, sinniert Wolfgang Eder, »wo die Halbwertszeiten bei ein, zwei Jahren liegen, das heißt, wo man mit vier- bis fünfjährigen Planungszeiträumen auskommt. Wir planen auf fünfzehn, zwanzig, dreißig Jahre, zumindest in einem erheblichen Teil unseres Portfolios. Das heißt, die Planung allein ist bei uns schon eine sehr große Herausforderung.« 132 Millionen Euro übrigens hat die Voestalpine im vergangenen Jahr in die Forschung investiert, elf Prozent mehr als 2011 – ein Etat, von dem manche Universität nur träumen kann, aber notwendig, um sich auch künftig als Marktführer zu behaupten. Schließlich wurde auch der Grundstein für den Welterfolg mit den Schienen und Weichen schon vor 30 Jahren gelegt. Maschinen werden ausgeladen und für die Testfahrt vorbereitet. »Wir haben 50 freigestellte Betriebsräte mit mindestens weiteren 50 Mitarbeitern, die nichts anderes zu tun haben als ihre Daseinsberechtigung zu rechtfertigen.« »Post«-Chef Georg Pölzl scheint sein Unternehmen wirklich gut zu kennen. 156 Der edle Stoff, das wunderbare Tuch – eine »Jungfrau« verwöhnt von Angelika Ahrens Der Prinz von Quatar, der König von Malaysia und Luciano Pavarotti – sie alle besuchten schon die »Schwäbische Jungfrau« am Graben im Ersten Bezirk in Wien. Auch Kaiser Franz I. und Kaiserin Sisy hatten ihre Servietten und Spitzenbettwäsche dort fertigen lassen. Das Traditionsunternehmen mit angeschlossener Näherei in der Bundeshauptstadt gibt es seit fast 300 Jahren »Bei uns gibt es fast alles – für ein Flugzeug, ein Schiff, ein kleines Haus oder auch für ein schlichtes Apartment: ländliche Motive auf handgewebtem Leinen. Oder, wenn Sie wollen, auch etwas für einen Palast. Wir helfen Ihnen gerne.« Die quirlige Frau Hanni breitet in Windeseile gestickte Tischdecken, Läufer und Geschirrtücher auf dem Verkaufstisch aus. Darunter auch eine Tischdecke mit Fasanen oder mit Gockelhahn und Hennen. »Wenn jemand ein Häuschen auf dem Semmering hat oder eine Fasanjagd besitzt – oder für sein Landhaus in Kitzbühel in Tirol beispielsweise«, meint die 74-Jährige augenzwinkernd. Die Mitarbeiterinnen der »Schwäbischen Jungfrau« fertigen in der angeschlossenen Näherei alles nach Maß, wenn es sein muss. Auch persönliche Taschentücher sind wieder in Mode – mit gesticktem Monogramm selbstverständlich. Darauf ist Frau Hanni besonders stolz. »Das ist zum Beispiel ein belgischer Stoff. Fühlen sie mal! Das ist sehr kostbar. Diese Taschentücher sind einfach ihr Geld wert. Vor allem Gäste aus Japan kaufen derzeit so etwas gerne ein. Man hat eben wieder a bisserl Kultur. Das ist doch sehr schön «, meint Frau Hanni. Und so ein »persönliches Taschentuch« kann auch schon einmal an die 42 Euro kosten. Das ist viel Geld. Immerhin: Es gibt auch noch edle Stofftaschentücher für etwas weniger. Das Unternehmen versucht allen Kunden und jedem Börsel etwas zu bieten. Frau Hanni Vanicek kennt ihre Kundschaft bestens. Seit 52 Jahren führt sie den Wäscheausstatter »Zur schwäbischen Jungfrau«. Viele 157 tatsächliche und auch manche nur vermeintliche Prominente »sind schon da gewesen«, am Graben im Ersten Wiener Gemeindebezirk. Von den Rockefellers aus den USA über Karl Merkatz und Luciano Pavarotti bis hin zu Udo Jürgens. Auch viele Königshäuser hat der Betrieb ausgestattet. Alles ist mit Fotos und Autogrammen in zahlreichen Fotoalben festgehalten. »Wir haben kürzlich einen ganzen Palast in Malaysia ausgestattet. Da haben wir Tisch- und Bettwäsche für 900 Personen gefertigt. Der König war dann selbst einmal in Wien, er war sogar bei uns im G eschäft«, erzählt Frau Hanni stolz. Klar: Wirtschaftskrise und Co sind auch in der »Schwäbischen Jungfrau« zu spüren. Doch Frau Hanni macht noch immer ein gutes Geschäft: »Ich glaube, in den letzten Jahres ist vieles anders geworden. Wir sind aber Gott sei Dank zu bekannt. In unserer Branche gibt es nur wenige, die ein ähnliches Sortiment anbieten. So können wir in die ganze Welt liefern. Ich wundere mich oft, dass die Kunden sogar aus Mexiko zu uns kommen. Viele entdecken uns auch im Internet. Das Bürgertum hat immer Qualität gekauft. Es gibt nur wenige Firmen, die maßfertigen, sticken und ganze Häuser einrichten. Freilich: Harte Zeiten hat auch Frau Hanni erlebt. 1968 ist ihr Geschäft ausgebrannt; mitten in der Nacht ist die »Schwäbische Jungfrau« in Flammen aufgegangen. Einzig die wertvollen großen Jungfrauen- Gemälde von Leopold Kuppelwieser und Johann Nepomuk Maier konnten damals gerettet werden. Sie hängen auch heute noch im Geschäft. Ein Jungfrauen-Bild verziert auch außen das Geschäft. Und die gemalte Jungfrau aus längst vergangener Zeit ist es auch, die die Kunden ins Geschäft lockt. Oft nur, um ein Leintuch für die Kinder zu kaufen, das 40 Euro kostet. Wie eine serbische Touristin, die während unseres Besuches in das Geschäft schneit. Sie weiß zwar nicht genau, was, aber »irgendetwas« habe sie »hineingezogen in den kleinen Laden«. Dann erkundete sie die Qualität – und musste einfach etwas kaufen. Frau Hanni lächelt und begleitet die Kundin noch zur Tür. Mit dem Stil und dem Charme der alten Schule: »Serbien, so ein schönes Land – beehren Sie uns bald wieder.« 158 Erfolg auf zwei Rädern – KTM auf Weltmeister-Kurs von Sabina Riedl KTM – der Erfolg trägt Orange. Nach einer krisenbedingten Katharsis geht es für einen heimischen Traditionsbetrieb wieder steil bergauf. Erstmals konnten die Mattighofener im vergangenen Jahr in nur sechs Monaten mehr als 50.000 Motorräder absetzen. Damit befand sich ein österreichisches Unternehmen auf weltmeisterlichem Kurs. Allein im ersten Halbjahr 2012 erzielte KTM mit weltweit 50.233 verkauften Motorrädern einen Rekordabsatz – und steigerte sich gegenüber dem Vorjahr um 36 Prozent. Die angepeilten 100.000 Stück, das ist die Marke, die es wieder zu erreichen gilt, waren in greifbare Nähe gerückt und würden an die Stückzahlen, die vor der Krise verkauft wurden, anschließen. Eine psychologisch wichtige Marke. Mit diesem erhöhten Drehmoment bei den Absatzzahlen hat KTM auch bei den Marktanteilen enorm aufgeholt und liegt jetzt trotz eines weiter rückläufigen Motorradmarktes in Europa (minus zwölf Prozent waren es im vergangenen Jahr) bei einem Plus von sieben Prozent. Das war angesichts des wirtschaftlich steinigen Umfelds sensationell. Auf dem US-Markt, der noch mehr gelitten hatte als der europäische, konnten die Mattighofener immerhin 0,5 Prozent aufholen – sie liegen dort bei einem Marktanteil von 4,5 Prozent. Diese starke Entwicklung verdankte KTM vor allem zwei neuen Modellen: der schweren Straßenmaschine »Duke 690« und dem »Offroad Bike Freeride 350«. Von den Fahreigenschaften der Letzteren durften wir uns auf der KTMTeststrecke in Stegenwald bei Salzburg selbst ein Bild machen. Das Gelände liegt unweit von Werfenweng, umgeben von einem atemberaubenden Bergpanorama. Im Morgengrauen kommen zwei Kleinbusse mit zwei Technikern und fünf Fahrern. Zehn funkelnagelneue Maschinen werden ausgeladen und für die Testfahrt vorbereitet. 159 Weltmeister KTM: Ingenieure aus Österreich, Kapital aus Indien (Foto: KTM) Was dann passiert, treibt selbst einem Zuseher das Adrenalin bis in die Haarwurzeln. Mit Vollgas geht’s bergauf und bergab, in halsbrecherische Kurven, über Stock und Stein. Die Fahrt auf der Teststrecke ist symbolisch für den wilden Ritt, den der Innviertler Motorradhersteller in den letzten Jahren hingelegt hat: Getöse, Steinschlag, Schleudern, Aufholen, Gas geben, Abheben inklusive. Was die Testfahrer dort aus den Maschinen rausholen, erinnert eher an Filmstunts denn an ein Fahren mit einem Motorrad. Sprünge über Schanzen bis zu fünf, sechs Meter hoch machen sie nicht aus purem Übermut, sondern von Berufs wegen. Die neuen Modelle müssen auf Herz und Nieren geprüft werden und werden deshalb bis auf ihre m aximale Belastbarkeit hin ausgereizt. Nur so lassen sich die Fahr eigenschaften über die Entwicklungsabteilung nochmals verbessern. Der jüngste Coup aus der KTM-Entwicklungsabteilung ist der elektrische Offroader »Freeride E«. Mit einem Drehmoment von 70 Newton meter ist er genauso leistungsstark wie ein 125-ccm-Verbrennungsmotor – nur eben emissionsfrei und lautlos, sozusagen die »grüne Zukunft« im Gelände. Verwirrend anzusehen, weil die Maschine neben den Zuschauern einen Kavalierstart hinlegt – umherfliegende Steine, aber kein blauer Dunst, kein ohrenbetäubendes Geknatter. 160 Die Produktion ist nach wie vor am ursprünglichen Standort im oberösterreichischen Mattighofen beheimatet; und wäre dort gar nicht mehr wegzudenken. Mattighofen ist praktisch KTM – jeder zweite Einwohner ist beim Zweiradhersteller beschäftigt. Neu ist nur der strategische Partner: Bajaj, der zweitgrößte indische Motorradhersteller, den KTM-Chef Stefan Pierer an Bord geholt hat. Pierer selbst leitet die Geschicke von KTM seit 20 Jahren und hat das Handwerk, das hier so groß geschrieben wird, von der Pieke auf gelernt. »Ich bin gelernter Maschinenbauer«, erzählt der Chef, während wir die Produktionsstraße, in der die Motorräder händisch zusammengebaut werden, abschreiten. »Ich habe zumindest die Fähigkeit, das zusammenzuschrauben, was wir hier sehen.« Der indische Motorradriese, übrigens der viertgrößte der Welt, hat zwar 47 Prozent von KTM Indien ante portas: übernommen, das Sagen haben aber nach wie 180 frische Millionen vor die Mattighofener. Stefan Pierer hat damit nicht nur 180 Millionen Euro Kapital ins Unternehmen geholt, sondern vermutlich auch die Eintrittskarte für das ganz große Geschäft auf dem Zweiradsektor gelöst. »Indien ist der weltgrößte Motorradmarkt – nur damit Sie eine Vorstellung haben: Zwölf Millionen Stück Motorräder im Jahr werden dort verkauft, also eine Million pro Monat«, erklärt Stefan Pierer. »Natürlich sind die Motorräder nicht vergleichbar mit diesen hier; das sind einfache, luftgekühlte Zweiräder mit kleinen Hubräumen, aber der Wohlstand in Indien wächst. Ich sag’ einmal: In zehn, fünfzehn Jahren kann sich eine Mittelschicht auch unsere Motorräder leisten.« Derzeit werden die in Indien produzierten »Duke 200« noch zu Hause in Oberösterreich kontrolliert – auf dem Subkontinent wird zwar zum halben Preis gefertigt, doch das bedarf umso strengerer Qualitätskon trollen. Übrigens: Welche Maschinen aus Indien kommen, erkennt sogar der Laie – am Geruch. Das feine Curryaroma in der Werkshalle kommt nicht etwa aus der werkseigenen Kantine, sondern haftet an der Verpackung der indischen »Duke 200« – ein Hauch Exotik in Mattighofen. 161 Das hat zweifellos Charme, bedeutet aber auch eine Gratwanderung zwischen den günstigen Fertigungsbedingungen des neuen Partners und der peniblen Einhaltung der gewohnt gediegenen technischen Standards bei KTM. Wie man diesen gerecht wird, wollen wir wissen: »Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist wesentlich besser«, sagt Stefan Pierer. »Wir haben in Indien Mitarbeiter, die die Fertigung auch vor Ort kontrollieren.« Die gewaltige Absatzsteigerung um mehr als 36 Prozent geht jedenfalls mehrheitlich auf das Konto des neuen indischen Partners. Und auch die Hoffnung auf zusätzliches Wachstum gründet sich auf den Zweirad-Giganten Bajaj. Den Grundstein für den allerersten Höhenflug von KTM legten zwei Pioniere in den Vierzigerjahren des vorigen Jahrunderts: Die Gründerväter Ernst Kronreif und Hans Trunkenpolz. Das Kürzel KTM steht für »Kronreif, Trunkenpolz, Mattighofen« und ist seither untrennbar mit der kleinen Gemeinde im Innviertel verbunden. Hier gingen 1954 die ersten Kultroller, die Motorräder von der Siegerstraße – die Chrom gewordenen Bubenträume, in Serie gefertigt. Auch Stefan Pierer gerät ins Schwärmen, wenn er an seine erste KTM denkt: »Eine KTM war mein allererstes Moped. Das war Anfang der Siebzigerjahre. Wenn man auf dem Land aufwächst, dann ist ein Moped oder ein motorisiertes Zweirad die Teilnahmekarte am sozialen Leben. Jedenfalls: Meine erste KTM habe ich mir mit eigener Ferienarbeit, genauer gesagt mit Schwammerlsuchen, verdient.« Das Moped als Eintrittskarte Nach den goldenen 1970er-Jahren folgten schwere Schicksalsjahre in Mattighofen. Das Management setzte mit der Fahrradproduktion aufs falsche Pferd. Der Absatz brach ein und führte, trotz oder wegen des Sanierers Josef Taus, in eine historische Pleite – ein Los, das auch die steirische Traditionsmarke »Puch« ereilte. »Wie bei allen Dingen«, sinniert Pierer, »kann eine große Krise auch immer eine riesige Chance zur Veränderung sein. KTM hatte 1991 die 162 KTM »Offroad«: In diesem Segment nahezu unschlagbar (Foto: KTM/R. Schedl) größte Pleite abgeliefert in Österreich und wir hatten damals die Möglichkeit und die Chance, die Marke und alles, was mit den Motorrädern zusammenhing, also Maschinenteile und Mitarbeiter, zu übernehmen. Wir haben am 7. Jänner 1992 begonnen, damals mit 160 Mitarbeitern, klein und sehr motiviert; und wir haben daraus in den letzten zwanzig Jahren die Nummer zwei in Europa und, beim Geländemotorrad, die Nummer eins auf der Welt gemacht. Wir sind jetzt mittlerweile knapp 1800 Mitarbeiter. Das ist insgesamt eine sehr schöne, sehr motivierende Geschichte.« Immer »vorne mitzufahren« ist auch Teil der Firmenphilosophie und des wirtschaftlichen Erfolgs. Der KTM-Pilot Ken Roczen etwa findet sich beim Supercross regelmäßig auf den ersten Plätzen; und der Sizilianer Tonio Cairoli, der früher Yamaha fuhr, hat mit seiner KTM zuletzt bereits zum zweiten Mal hintereinander den Motocross-Weltmeistertitel geholt. Der Slogan »Ready to Race«, die Farbe Orange, das Design, die Renntage, die KTM-Mitarbeiter und die treue Fangemeinde, die sich regelmäßig zu den Wettbewerben trifft – all das hat eine starke Marke entstehen lassen. Motorsportbegeisterte identifizieren sich damit wie mit ihrem Lieblingsclub. Die Fanartikel, die Kappen, Jacken, Stiefel, alle 163 im KTM-Design, sind mittlerweile »der« Renner – und eine tragende Säule bei den Einnahmen. »Wir machen ungefähr 20 Prozent unseres Umsatzes in diesem Produktbereich«, erklärt Stefan Pierer. »Das ist ein Ausdruck unserer Markenstärke.« Die Wirtschaftskrise 2008 hatte allerdings auch vor den Mattighofenern nicht halt gemacht. Der Welt-Motorradmarkt halbierte sich innerhalb kürzester Zeit – die gesamte Branche geriet ins Schleudern. Stefan Pierer erlebte die schwärzeste Zeit in seinen zwanzig Jahren bei KTM. »Dass etwas heraufzieht, haben wir gespürt«, sagt er und wird auf einmal sehr nachdenklich. »Aber das Ausmaß des Absturzes war völlig unerwartet. Im Nachhinein muss ich sagen, alles, was einen nicht umbringt, macht einen wesentlich stärker. Aber insgesamt war das eine ganz schwierige und harte Erfahrung. Ich habe viel gelernt, ich muss auch sagen, ich habe viel gelitten darunter, weil Sie letztlich Mitarbeiter abbauen müssen. Das war eine schwere Zeit. Aber auch diese Erfahrung hat schlussendlich zu dem Erfolg geführt, den wir jetzt haben.« »Damals« mussten über 400 Mitarbeiter abgebaut werden – immerhin fast 20 Prozent »Fahren auf Sicht« der Belegschaft. Ein schwerer Gang für den war unmöglich leidenschaftlichen KTMler Stefan Pierer: »Das tut weh«, erinnert er sich an die dramatischen Ereignisse. »Wissen Sie, wenn Sie 15 Jahre Mitarbeiter aufbauen und dann müssen Sie hintreten und sagen, wir müssen kehrt machen ... Und keiner weiß, wie tief der Abgrund hinuntergeht. Das war eine Zeit, in der Fahren auf Sicht nicht möglich war. Alle bewegten sich nur im Nebel.« Seit vorigem Jahr geht es, wie gesagt, wieder steil bergauf. Der Mitarbeiterstand ist beinahe dort, wo er vor der Krise lag, ebenso die Absatzzahlen. Nicht schlecht für einen kleinen Player aus einem noch kleineren europäischen Land, der es mit asiatischen Giganten wie Honda und Yamaha aufnehmen muss. Die sind zwar auf der Straße unschlagbar – aber im Gelände, da haben die Innviertler noch jeden Konkurrenten abgehängt. 164 Goldenes Handwerk: Maßschuhe aus Frauenhand für »Jedermann« von Angelika Ahrens Wer lernt heute noch ein altes Handwerk? Wer lässt sich nach der Matura zum Meister ausbilden? Das machen in der Tat nur wenige. Doris Pfaffenlehner ist so eine Ausnahme. Im letzten Festspielsommer war sie erstmals die Chefin der SchuhmacherWerkstatt der Salzburger Festspiele. Wir haben sie besucht. »Bei den Knopfstiefeletten mit den Barockabsätzen geht es um den Fersenschwung«, erklärt uns Doris Pfaffenlehner. »Der soll während der Vorführung schön ausgeprägt sein.« Burschikos ist sie, die Leiterin der Schuhmacher-Werkstatt der Festspiele. Sie hat ihren Arbeitsplatz nur einen Steinwurf von der berühmten Pferdeschwemme entfernt. Ein blaues Haarband hält ihre kurzen dunklen Haare aus dem Gesicht. Jetzt wird Maß genommen. Sie stellt gerade einen Holzleisten her, also eine Art Rohling. Der soll das Maß für den späteren Barockstiefel ergeben. Um sie herum wird gehämmert. Sohlen werden mühsam mit Glasscherben aufgeraut. Manchmal legt die Leiterin der SchuhmacherWerkstatt ihre blaue lange Schürze zur Seite und eilt zu den Stars, um persönlich Maß zu nehmen. Bei Anna Netrebko zum Beispiel. Für »die Netrebko« hat sie rote Lackschuhe gemacht, die die Diva als Violetta bei »La Traviatta« auf der Bühne getragen hat. Für Peter Simonischek waren es »Jedermann«Schuhe. Bei den Barockstiefeln jetzt misst sie den Leisten mit einem Maßband ab. Zeichnet Entwürfe für den Schuh, wie eine Schneiderin es für ein Kleid machen würde. Als Vorlage dienen alte Zeichnungen, Muster aus dem Archiv, die schon so vergilbt und mitgenommen sind, dass sie fast schon auseinander fallen. Vorsichtig fährt sie noch einmal mit den Fingern über den Leisten. Sie fühlt den Schwung des Holzabsatzes, kontrolliert, ob der Papier entwurf passt. Dann schneidet sie den Stoff zu und setzt sich zur Nähmaschine. »Jeder Schuhmacher hat seine eigene Art zu zeichnen, man 165 Salzburg, Dom: Maßschuhe für »Jedermann« (Foto: Stadtgemeinde Salzburg) kann das auch mit Formeln machen. Ich habe eine freiere Art. Hab’ mir von überall was abgeschaut und mache das jetzt auf meine eigene Art und Weise.« Das Rattern der Nähmaschine lässt sie verstummen. Pro Festspielsaison fertigt eine Handvoll Schuhmacher aus Deutschland und Österreich bis zu 25 Paar Schuhe für die Festspielstars. Alles per Hand. Das ist nicht wenig. Denn für ein Paar Herrenschuhe braucht man locker bis zu 40 Arbeitsstunden. Dazu kommen Eilaufträge. Und das alles wenige Wochen vor Festspielbeginn. Hier ist alles last minute. Auch die Kostümbildner kommen erst kurz zuvor zur Besprechung. Die heute 29-jährige Niederösterreicherin ist seit Jahren dabei. Doch 2012 hat die junge Schuhmacher-Meisterin erstmals auch die Leitung der Festspielwerkstatt übernommen. »Wir fertigen nur Schuhe, die man sonst nicht kaufen kann. Wie die blauen Knopfstiefeletten mit Barockabsätzen für das Stück ›Die Soldaten‹«, erklärt uns Doris Pfaffenlehner. Superman-Stiefel für »La Boheme«. Oder weiße und bunte Schuhe für »Ariadne auf Naxos«. Alles ist aus dem feinsten Material. Aus feinster Seide. Oder edlem Leder. Die junge Schuhmacher-Meisterin lässt vorsichtig die Nadel der Nähmaschine über den Stoff gleiten. Stich für Stich. »Man muss aufpassen, 166 dass man sich nicht in die Finger näht. Wichtig ist auch, dass die Naht g’rad’ ist. Jeder Stich hinterlässt ein Loch im Leder. Wenn man daneben näht, muss man meist neu anfangen.« Die Barockstiefel haben viele kleine Knöpfe. Zu viele: »Ich nehme an, die haben damals Ankleiderinnen gehabt, die ihnen auch die Schuhe, die Stiefel zugemacht haben. Weil das Zumachen von den ganzen Knöpfen ist echt viel Arbeit. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum es solche Stiefel heute nicht mehr zu kaufen gibt«, sinniert Doris Pfaffenlehner. Plötzlich geht die Werkstatttür auf – eine Dame schiebt sich mit großen Säcken, die auf dem Boden schleifen, herein. »Ein Eilauftrag«, stößt sie schnaufend hervor und zeigt den Schuhmachern eine handgeschriebene Liste. »Die Größen hier sind dringend. Die sind für die ›Prinzen von Homburg‹. Alle Stiefel brauchen eine Gummisohle auf der Bühne. Denn da spritzt Wasser bei der Aufführung. Es sind 13 bis 14 Paar. Die sollten bis morgen früh fertig sein.« Die Schuhmacher schlucken, lächeln. Wird sich schon irgendwie ausgehen. Bis morgen. Andere Schuhe brauchen dringend eine Flüstersohle, damit sich die Schauspieler auf der Bühne so leise wie möglich bewegen können. Hier in Salzburg wird beinahe alles ermöglicht. Fast eine kleine Zauber werkstatt. Das übrige Jahr über ist Schuhmacher-Meisterin Doris Pfaffenlehner ebenso gefragt. In ihrer Werkstatt in einem historischen Gebäude, in einem alten Bahnhof. In der Nähe von Mariazell. Genauer gesagt in Kernhof; auch da fertigt sie Maßschuhe statt Masse. Das Unternehmen liegt ein bisserl außerhalb der Welt. Mitten in einem Wandergebiet. Beim Wandern hatte sie auch den leerstehenden alten Bahnhof mit dem schönen Wartesaal entdeckt; dann mit ihrem Freund gemeinsam gekauft und in mühevoller Kleinarbeit saniert. Sie hat sich dort kurzerhand selbstständig gemacht – mitten in der Wirtschaftskrise ein Geschäft aufgesperrt. Für sie hat es funktioniert. Dabei war es ganz nützlich, dass viele Industrielle und Kaufleute aus Wien rund ums Mariazellerland einen Zweitwohnsitz, oft auch eine 167 Jagd haben. Dieser kaufkräftige und qualitätsbewusste Kundenkreis hat sie untereinander weiterempfohlen. Doris Pfaffenlehner ist eines von vier Kindern einer Bauernfamilie aus dem Melktal. Die Arbeit mit den Händen hat ihr immer schon viel Freude bereitet. Nach der Mittelschule hatte sie zunächst die Höhere Lehranstalt für künstlerische Gestaltung besucht und damit mit Holz, Keramik oder Metall gearbeitet. Bis sie entdeckte, was sie wirklich will – die Schuhmacherei. »Ich hab’ zwar immer gern Schuhe gekauft. Aber ich hatte, bevor ich zufällig beim k. u. k. Hofschuhmacher Scheer im Ersten Wiener Gemeindebezirk vorbeigegangen bin, nie darüber nachgedacht, dass ich sie auch selbst herstellen könnte.« Die junge Frau hat sich darauf hin bei Wiens erster Adresse für Maßschuhe beworben. Und wird – abgelehnt. Kein Platz für sie. Ein halbes Jahr später probiert sie es noch einmal beim Scheer. Diesmal nimmt er sie. Sie stellt sich derart geschickt an, dass sie nach kaum mehr als eineinhalb Jahren auf Rat ihres Lehrmeisters zur Abschlussprüfung antritt. Die schafft sie mit Bravour. Und dann – Venedig. Dort lernt sie weiter. Kein Klacks: Ein Schuh Die junge Frau ist nicht nur ehrgeizig, sondern auch beharrlich. Mittlerweile ist sie beum 1100 Euro reits bekannt. Und: ein halbes Jahr im Voraus ausgebucht. Die Preise für ihre Schuhe sind kein Klacks: Herrenschuhe kosten 1100 Euro und mehr. Damenschuhe gibt es auch erst ab 700 Euro. Alles Einzelstücke. Alles aus Leder. Kein Wunder, arbeitet die junge Mutter doch eine ganze Woche an einem einzigen Paar Schuhe. »Es ist ein seltener Beruf geworden«, meint Doris Pfaffenlehner nachdenklich. »Und es ist nicht die bestbezahlte Arbeit der Welt. Aber ich finde, es ist wichtig, dass es eine schöne Arbeit ist.« Das Wichtigste ist übrigens bei einem Lederschuh, dass er innen und außen aus Leder ist. Nur so ist er atmungsaktiv, erklärt sie abschließend noch. Zweigstellen à la Wien–Mailand wird es wohl nicht geben, meint sie. Aber: Einen Lehrling will sie haben, die Schuhmacher-Meisterin. Dem sie ein Handwerk beizeiten weitergeben kann. 168 Wirtschaftsfaktor Jagd – nur leider »ist der Ruf im Arsch« von Philipp Jauernik Der Wald. Morgengrauen. Ein paar Vögel zwitschern. Mitten in dieses Idyll hinein bricht ein Schuss aus der Büchse eines Jägers ... Viel gescholten sind sie, die in Grüntöne gekleidet auf Hochständen sitzen, geduckt durch den Wald pirschen und, so will es das aktuelle Image, durch gegenseitige Einladungen »einander gewogen machen« wollen: Das letzte Jahr war für Jäger ein echtes Seuchenjahr. Rund um »Graf Ali« (Mensdorff-Pouilly) gingen alle etwaigen vorhandenen Sympathiepunkte verloren. Selbst erklärte der burgenländische Landwirt in einem Interview: »Der Ruf ist eh im Arsch.« Tatsächlich war es nicht gerade förderlich, dass in den vergangenen Monaten Jagdeinladungen in Verbindung mit vermuteten Korrup tionsgeschäften ans Tageslicht kamen. Telekom, Eurofighter und viele andere Affären sollen unter dubiosen Umständen ausgerechnet auf Österreichs Hochständen buchstäblich in Schuss gekommen sein. Die Beliebtheitswerte der heimischen Weidmänner sanken bodenlos in den Keller. Nicht nur »Bambimörder«, nein, auch noch »korrupte Ver brecher« seien sie, sprach der Volksmund. Das will Peter Lebersorger nicht auf sich sitzen lassen. Der Jurist ist Generalsekretär der österreichischen Landesjagdverbände und damit oberster Vertreter der heimischen Jägerschaft. Natürlich, meint er, gebe es auch in der Jägerschaft »schwarze Schafe«, die »das Weidwerk für ihre Zwecke missbrauchen«. Dadurch sei aber doch nicht die Jagd an sich etwas Schlechtes – oder würden etwa »Jachten an sich verteufelt, nur weil ein Finanzminister sich einst einen Urlaub auf einer solchen von einem befreundeten Banker schenken ließ«? Aufgabe des Jägers, erläutert Lebersorger, seien Hege und Pflege von Wald und Wild. Die Jägerschaft sei damit verantwortlich für eine intakte und auch für das Auge erfreuliche und blühende Landschaft voller gesunder Wildtiere. Davon profitieren Wirtschaftszweige wie der 169 Tourismus, das Gastgewerbe oder die Hotellerie. »Manche bezeichnen das als Umwegrentabilität.« Ins selbe Horn stößt auch Fritz Wolf, Waldpädagoge und Forstwart in Niederösterreich. »Für jeden Schaden, den das Wild an Wald und Natur hinterlässt, ist der Jäger verantwortlich.« Das betrifft auch finanzielle Fragen: Von Rehen geschälte Baumstämme sterben, von Wildschweinen zerwühlte Felder werfen keine Ernten ab. Die Schadensummen klettern dann schnell in schwindelnde Höhen, vom ökologischen Schaden ganz zu schweigen. »Es ist also keineswegs so, dass wir Jäger, wie man uns mitunter beschuldigt, im Wald schießwütig werden und wild drauflos ballern«, weist Wolf die Vorwürfe der Jagdgegner zurück. Vielmehr muss sehr genau beachtet werden, wann worauf geschossen wird. Und selbst unter den zum Abschuss freigegebenen Tieren gibt es Einschränkungen. Das Erlegen eines kapitalen Tieres erfordert genaue Kenntnisse der sozialen Struktur im Rudel: »Wir Jäger müssen sehr genau auf die Balance im Wald achten. So darf aus einer Rotte Wildschweine niemals die Leitbache geschossen werden, da geht es auch um den sozialen Frieden unter den Tieren.« Jäger achten auf die Balance Keine Freude hat Wolf mit dem Klischee, Jäger würden nur alte und kranke Tiere schießen, denn »das ist Schwachsinn«. »Wir sind nur dann gute Jäger, wenn wir einen gesunden Wildbestand haben.« Das Wildbret muss schließlich verkauft werden. Kein Wirt möchte seinen – zahlenden – Gästen krankes Wildbret vorsetzen. Die Forderung vieler Jagdgegner, doch die Natur sich selbst zu überlassen, damit die Tiere eines natürlichen Todes sterben und sich der Bestand selbst regelt, kostet Wolf nur ein müdes Lächeln. Dazu bedürfe es, erklärt er, einer von Menschen unberührten Wildnis. Die sei aber in Österreich nicht mehr gegeben. Ganz im Gegenteil: Betrachtet man Österreich und ganz Mitteleuropa einmal aus der Vogelpers pektive, sieht man Häuser, Wiesen, Felder, dazwischen auch Bäume. Eine Kulturlandschaft, die mit unberührter Wildnis und unendlicher Bewaldung »nicht mehr viel zu tun hat«. 170 Tatsächlich: Rund 98 Prozent der Bundesfläche werden »jagdlich bewirtschaftet«, also bejagt. Und das ist ein richtiger Wirtschaftszweig: Der gesamte jährliche Wirtschaftswert des Jagdwesens in Österreich einschließlich angeschlossener Wirtschaftszweige wird auf rund 475 Millionen Euro Gesamtumsatz geschätzt. Völlig unabhängig davon, ob man nun positiv oder negativ zum früher so viel besungenen »edlen Weidwerk« steht – es ist ein Geschäft! Ein Geschäft, dessen größter Anteil Löhne und Gehälter der zahllosen Beschäftigten im Jagdwesen sowie der Berufsjäger und der Jagdaufsichtsorgane sind. Sie allein machen schon 199 Millionen Euro aus. Ebenfalls eine sehr beachtliche Summe stellen die jährlichen Jagdpachtbeträge und die Abschussgebühren dar. Zusammen sind dies allein 53 Millionen. Diese Beträge sind insofern von besonderer Bedeutung, da sie zu einem hohen Anteil den Landwirten und Grundeigentümern verbleiben und für sie in schwierigen Zeiten ein wichtiges – weil vorhersehbares – Einkommen darstellen. Österreichs Jäger liefern jährlich Wildbret im Wert von ungefähr 24 Millionen Euro. Und die Nachfrage nach dem Qualitätsprodukt Wildbret ist ungebrochen. Gerade in Zeiten des Misstrauens in Fleisch und Fleischprodukte explodierte europaweit der Bedarf an Wildfleisch. Offensichtlich ist Wildfleisch ein Produkt, von dessen naturnaher Herkunft und auch ethisch-einwandfreier Beschaffung die Konsumenten überzeugt sind. Genau bekannt ist auch die Summe aller Abgaben, Gebühren und Versicherungsprämien, die jährlich im Zuge der Jagd entstehen bzw. a bgeführt werden: 26 Millionen Euro. In diesen Topf fallen auch die Forschungsförderung durch die Jägerschaft sowie wichtige Projekte, die Jagdgesellschaften verwirklichen. Über die tatsächlichen Kosten für Jagdbetrieb, Weiterbildung, Jagdwaffen und Munition, Optik, Bekleidung und Brauchtum gibt es keine detaillierten Aufzeichnungen. Sie hängen auch sehr stark von den Möglichkeiten des einzelnen Jägers und den Notwendigkeiten des jeweiligen Reviers ab. Für diesen Bereich werden rund 173 Millionen Euro geschätzt. 171 Die Kosten des Jagdbetriebes – dazu zählen in erster Linie die Wildfütterung, aber auch die Auspflanzung von Wildäckern samt dem dazugehörigen Maschineneinsatz sowie die Erhaltungskosten – machen in der Regel etwa 100 Prozent des so genannten »Pachtschillings« einer Jagd aus. Österreichweit beläuft sich diese Summe demnach auf etwa 53 Millionen Euro. Die Kosten für die jeweilige Aus- und Weiterbildung wiederum lassen sich sehr genau Billig ist sie abschätzen: Kurse und Seminare werden zu nicht, die Jagd einem wesentlichen Prozentsatz von den Landesjagdverbänden selbst veranstaltet, auch Fachliteratur, Videos und Lehrmittel werden teilweise über die Verbände vertrieben. Dazu kommen noch Standgebühren und für individuelles Schießtraining auf den Schießplätzen. Pro Jahr und Jäger kommen auf diese Weise an die 140 Euro zustande, zusammen etwa 16 Millionen. Kaum ein Jäger kauft jährlich ein neues Gewehr. Doch geht man auch nur davon aus, dass jeder Jäger pro Jahr 350 Euro an Munition und anteiligen Kosten für seine Jagdwaffen aufbringt, so beträgt dies bei österreichweit rund 120.000 Jägern bereits 40 Millionen Euro. Ein Jäger benötigt verschiedene optische Hilfen: mindestens ein Fernglas und ein Zielfernrohr, oft jedoch deren mehrere mit verschiedenen Vergrößerungen und dazu häufig auch noch ein Spektiv – ein optisches Teleskop, das der Beobachtung größerer Revierflächen dient. Die extremen Anforderungen der Jägerschaft vor allem im Schwachlichtbereich oder in der Nacht – vor allem bei der Wildschweinjagd – lassen einen jährlichen Anteilswert von 140 Euro pro Jäger als nicht zu hoch gegriffen erscheinen. Summe: 16 Millionen Euro. Jagdbekleidung muss den Jäger nicht nur vor Kälte, Nässe und Schmutz schützen, sondern sollte auch noch möglichst reißfest und selbstverständlich aus geräuscharmen Materialien hergestellt sein. Dennoch nutzt sie sich verhältnismäßig stark ab. Jeder Jäger investiert nach Schätzung der Zentralstelle pro Jahr etwa 350 Euro in seine jagdliche Bekleidung, was insgesamt etwa 40 Millionen Euro ergibt. 172 Ebenfalls auf der Gewinnerseite sind die Versicherungsgesellschaften. Alle »Jagdsport ausübenden Personen« müssen 75 Euro an den jeweiligen Landesjagdverband abführen, der die Jäger kollektiv versichert. Damit ist Vorsorge getroffen, sollte im Trubel ein Jagdhund einen anderen beißen oder ein Weidmann irrtümlich einen Dachziegel vom Forsthaus schießen. Jagdunfälle mit Personenschaden, die ebenfalls versichert sind, sollen auch schon vorgekommen sein ... Die Ausgaben unter der Rubrik Brauchtum entfallen zu einem wesentlichen Prozentsatz auf die Trophäenbehandlung. Präparierte Geweihe und Gehörne, Keilerwaffen, Felle, Bälge und Decken oder auch Ganzpräparate schlagen sich in der Börse jedes Jägers zu Buche. Dazu kommen noch Ausgaben für – oftmals historische – Kunst und Kultur aus dem jagdlichen Bereich. Pro Jäger werden etwa 70 Euro im Jahr angenommen, insgesamt dann acht Millionen Euro. Apropos Jagdpacht! In Österreich wird nach dem so genannten Reviersystem gejagt. Jagdrecht ist in Österreich untrennbar mit dem Eigentum an Grund und Boden verbunden. Von diesem Grundsatz gibt es keine Ausnahmen. Allerdings muss ein Gebiet groß genug sein, um als Eigenjagd gelten zu dürfen. In den meisten Bundesländern liegt diese Grenze bei 115 Hektar, die zusammenhängend liegen müssen. Ist das nicht der Fall, fällt das Grundstück jagdrechtlich zur Genossenschaftsjagd der jeweiligen Gemeinde. Solche Genossenschafts-Jagdgebiete müssen zwingend verpachtet werden; in all diesen Fällen sind dann die Pächter die Jagdausübungsberechtigten. Dieses System sichert den Artenreichtum im Lande, erklärt Experte Lebersorger. Einerseits haben die Landesjagdverbände und Bezirkshauptmannschaften so einen klaren Überblick, wie viel Stück welchen Wildes sich auf ihrem Gebiet aufhält. Überzählige müssen nach den behördlich vorgegebenen Abschussplänen von den Pächtern der jeweiligen Gebiete geschossen und der Behörde nachgewiesen werden. Damit ist gewährleistet, dass niemand aus Jux und Tollerei eine Tierart ausrottet. Gleichzeitig wird der Bestand in einem Maße gehalten, das für die Natur auch erträglich ist, für das genug Lebensraum, Rückzug und Nahrung vorhanden ist. 173 Die Jagd: Schlechtes Image, gutes Geschäft (Foto: Bergringfoto/Fotolia.com) Entgegen einem Irrglauben wird übrigens auch in Nationalparks gejagt. Schmankerl am Rande: Der Nationalpark Hohe Tauern hat im Sommer 2012 verlautbaren lassen, nur noch bleifreie Munition einsetzen zu wollen. Begründet wird die Umstellung von den Verantwortlichen des Parks mit der »besseren Verträglichkeit für Mensch und Tier«. Greifvögel, die sich an im Wald verbleibenden Organen erlegter Tiere laben, würden durch verbleite Geschosse Vergiftungen erleiden und daran zugrunde gehen. In der Vergangenheit seien davon mehrfach streng geschützte Steinadler betroffen gewesen. Außerdem wolle man den Kunden Wildbret ohne Bleieintrag im Muskelgewebe anbieten können ... Auch wenn durch die Jagd immer wieder Hektik entsteht, sei es bei den Anhörungen im Korruptions-Untersuchungsausschuss oder im Umfeld von Politik und Telekom: Mit Weidmannsheil und Weidmannsdank wird pro Jahr eine halbe Milliarde Euro umgesetzt. So ist das Sitzen auf dem Hochstand für die einen ein Beruf, für andere stellt es eine besondere Leidenschaft dar. Für tausende Österreicher ist die Jagd ein sicherer Arbeitsplatz. Für Revierbesitzer und das Land ist sie ein Millionengeschäft. Alles in allem heißt das für die Beteiligten: Wenn »der Ruf im Arsch ist«, fleißig daran arbeiten, dass das nicht so bleibt ... 174 Google, Apple & facebook: Sind wir machtlose Nutzer? von Hans Wu Durch den Boom bei Smartphones und Tablets ist uns das Internet auf den Leib gerückt. Und damit auch drei Technologiekonzerne aus dem Silicon Valley. Ist die Welt jetzt kleiner geworden? Sind wir zu einem globalen Dorf zusammengerückt? Und wie profitieren Google, Apple und facebook davon? Die aktuelle Zahl der Mitarbeiter, die weiß der Schweizer Pressebetreuer von Google-Europa nicht, »aber tausend werden es jetzt am Standort Zürich schon sein«. Waren es im August 2012 nicht noch 800 Mitarbeiter?, so unsere überraschte Frage. »Generell kommen jeden Monat immer rund 50 neue Mitarbeiter dazu.« Wachstumssorgen sind hier anscheinend nicht bekannt. Und, es wird also eng im »Paradies«. Google eilt seit Gründungstagen der Ruf voraus, seine Angestellten über alle Maße zu verwöhnen. Ein Ruf, den € CO nach einem Lokalaugenschein im Headquarter Zürich im letzten Sommer nur bestätigen kann. Im Erdgeschoss, gleich hinter der Rezeption, betreten wir den Speisesaal. Für die Google-Mitarbeiter gilt all you can eat – zum Nulltarif. Für die kulinarische Grundversorgung außerhalb der Hauptmahlzeiten sorgen auch die so genannten »Microkitchen« in jedem Stockwerk. Die Microkitchen »Library« wiederum ist eine Mischung aus Kaffeehaus und Bibliothek. Am beliebtesten ist der »Jungle«, der mit einem üppigen Arrangement aus exotischen Zimmerpflanzen tatsächlich an einen In-door-Urwald erinnert. Dafür, dass das Grün nicht welk wird, sorgen eigene Zimmerpflanzengärtner. Und dafür, dass in den Microkitchen immer genug Kekse, Schokolade, Eiscreme und Softdrinks vorhanden sind, sorgt täglich eine eigene Cateringtruppe. Kein Wunder, dass die Alteingesessenen hier von der »Google-Kugel« sprechen, also vom kleinen Bäuchlein, das sich neue Mitarbeiter nach spätestens zwei Monaten zugelegt haben. Dabei gebe es genug Gelegenheit, überflüssige Pfunde loszuwerden: Der große Fitnessbereich 175 Microkitchen bei Google: Wohlfühloase für Mitarbeiter (Foto: Google) gehört zum Wohlfühl-Arbeitsplatz genauso wie das Massageangebot, die Rückzugskojen, die Räume für Sport und Spiel und der Ruheraum. Beleuchtete Aquarien sind da in einem abgedunkelten Zimmer die einzige Lichtquelle, unzählige Liegen stehen für das »Powernapping« der Mitarbeiter bereit. Das Mitarbeiter-Wellness-Programm hat durchaus wirtschaftliche Gründe: Ein Angestellter, der so am Arbeitsplatz umsorgt wird, bleibt länger im Büro. Arbeits- und Freizeit verschwimmen. Hier wird die Ausweitung der Produktionszone betrieben. Weltweit hat Google 55.000 Mitarbeiter, die alle in ähnlichen Arbeitsumgebungen ihrem Werk nachgehen. Fast könnte man von einem neukalifornischen way of life sprechen. Im facebook-Hauptquartier in Silicon Valley findet man nämlich ähnliche Arbeitsverhältnisse vor. Und bei der Ur-Technologiefirma im Tal, Apple, gilt der legere Umgang seit den Gründungstagen in den 1970ern. Diese drei Firmen gelten zur Zeit als die »heißesten« Brands im Technologiebereich. Drei erfolgreiche Konzerne, die seit Jahren einen beinharten Konkurrenzkampf untereinander führen. Alle drei profitieren vom Zugriff in unsere Privatsphäre. Wir haben sie selber herein g elassen. 176 Google, Apple, facebook: Der Suchmaschinenbetreiber, der Hardware-Hersteller und das soziale Netzwerk. Es sind Firmen, die, wenn es um Kunden, Nutzung und Verkauf geht, Minute für Minute Rekordzahlen schreiben: Während sie die nächsten zehn Zeilen lesen, werden 47.000 Apps, also Spiele und Programme für Apples iPhone und iPad heruntergeladen, werden auf facebook 700.000 Meldungen geschrieben und auf Google zwei Millionen Suchabfragen getätigt. Es ist die schöne neue Welt der totalen Vernetzung. Und wie sich die Gattung Homo sa- Drei Firmen, drei piens in dieser verhält, dafür gibt es sogar Gründer-Mythen eine neue Wissenschaft. Wolfgang Zeglovits ist Medienanthropologe. Für ihn rührt der Erfolg der drei Großprofiteure daher, dass Nutzer und Kunden sich gegenseitig als gute Freunde betrachten: »Bei Apple, facebook und Google sind vor allem die Entstehungsmythen interessant. Es sind alle drei recht junge Firmen. Apple gibt es eigentlich seit den 1970er-Jahren, Google ist in den 1990er-Jahren entstanden und facebook zur Jahrtausendwende. Die drei Geschichten sind einander ein bisschen ähnlich: Es gibt da jemanden mit einer genialen Idee und der macht mit viel Einsatz eine erfolgreiche Firma auf.« Der im Jahr 2011 verstorbene Steve Jobs wird von seinen Fans als » Visionär« verehrt. Dabei hat er, im Gegenteil, nie darauf gehört, was seine Anhänger eigentlich wollten. Dem Apple-Gründer ist es immer nur um die Produkte der Zukunft gegangen. Die Kundenbedürfnisse der Gegenwart sind für ihn nie von Interesse gewesen. Diese Ignoranz gegenüber den Nutzern ist zu einem wichtigen Teil der Heiligenvita geworden. Die Legende der Google-Gründer Larry Page und Sergej Brin klingt da wenigstens um Nuancen anders: Als Mathematikgenies, wie sie im Buche stehen, sind sie die Gralsritter auf der Suche nach der Weltformel für Wissen gewesen. Und »nur nebenbei« soll dabei der Milliardenkonzern entstanden sein. Nahezu banal wirkt da der Gründermythos eines anderen jungen enies. Als junger Harvard-Student soll Mark Zuckerberg einen Weg G 177 gesucht haben, Mädchen näher zu kommen. Das Ergebnis seiner hormonell bedingten Sturm-und-Drang-Zeit war dann die Schöpfung des sozialen Netzwerkes. So erzählt es zumindest die Legende über den facebook-Gründer. Da sieht man den »Like-Button« dann auch gleich mit ganz anderen Augen. Schöne Geschichten regen gewöhnlich die Fantasie an – vor allem die der Anleger und Investoren. Nur: Die Börsenfantasien bei den drei Technologiekonzernen haben sich unterschiedlich entwickelt. Die Aktie von facebook hat sich nach dem Start im Mai 2012 zumeist auf Talfahrt befunden. Ein Wertpapier hat bei der Ausgabe noch 38 Dollar gekostet; zwischenzeitlich ist der Kurs auf 17,55 Dollar eingebrochen. Wenn Sie diese Zeilen lesen, liegt er möglicherweise schon wieder wo anders. Die anfängliche schlechte Börsenperformance ist auf die Unsicherheiten bei dem Geschäftsmodell für Handynutzer zurückzuführen. Als weiterer Grund gilt der Umstand, dass die wichtigen Anleger schon vor dem Börsengang investiert waren. So war die Aktie bereits überbewertet gestartet. Erst Ende des vergangenen Jahres hatten die Anleger wieder etwas Vertrauen gefunden. Aktien nur mit viel »Fantasie« Zufriedener sind die Investoren mit der Google-Aktie. Hier setzt man auf die technologische Kompetenz und das solide Geschäftsmodell mit der Internetwerbung. Und gar zu einem Riesen an der Börse hat sich Apple entwickelt. Der Aktienanalyst Stephan Lingnau lässt die Performance der vergangenen Jahre Revue passieren: »Apple dotiert seit 1982 auf der Börse und konnte seither eine durchschnittliche Jahresperformance von 18 Prozent aufweisen. Wenn man sich nur die letzten zwei Jahre ansieht, so konnte die Apple-Aktie um 80 Prozent zulegen.« 2012 ist der Börsenwert von Apple zeitweise über 620 Milliarden Dollar gelegen – und ist somit wertvoller als jener der großen Öl-Multis gewesen. Für eine Digi- und Internetbude gar nicht schlecht. Manche Experten prophezeien gar eine Marktkapitalisierung von einer Billion Dollar im Jahr 2015. 178 iPhone 5: »Wischhandy« mit Kultcharakter (Foto: Apple Inc.) Für Apple ist die Rolle als Nummer eins in der Welt der Bits und Bytes eine neue. Seit der Gründung in den 1970ern hat man sich eher als kleinerer Herausforderer der Großen, wie IBM und Microsoft, geübt. Eine innovative Firma, deren Produkte vorwiegend von einer Minderheit von Spezialisten, wie Grafikern, Musikern oder Architekten, gekauft worden ist. Doch das hatte sich vor sechs Jahren radikal geändert. 2007 bringen die Ingenieure und Designer von Apple ihren Stein der Weisen auf den Markt. Das Wundermittel für hohe Gewinne und anscheinend endlos steigende Aktienkurse, ein Produkt, das für eine völlig neue Zielgruppe geschaffen worden ist: für die breite Masse. Mit einem ersten iPhone hat Apple auf einem milliardenschweren Markt der mobilen Traumwelt keinen Stein auf dem anderen gelassen. High-Tech-Handys, mit denen man im Internet surfen, fotografieren, Videos ansehen oder Spiele spielen konnte, hatte es schon vorher gegeben. Mit dem kleinen flachen Quader mit Touchscreen aber war eine neue Liga eröffnet worden. Über 300 Millionen iPhones sind seit 2007 weltweit verkauft worden. Das aktuelle Gerät, das iPhone 5, ist ab 680 Euro in Österreich erhältlich. Das ist nicht wenig, wenn man bedenkt, dass die Produktions- und Vertriebskosten auf maximal 100 Euro geschätzt werden. 179 Der große Rest bleibt vorwiegend dem Konzern, denn immer häufiger vertreibt Apple seine Hardware über eigene Shops oder gleich direkt online. Doch auch nach dem Kauf des Smartphone gibt es für den Besitzer viele Möglichkeiten, Apple neues Geld zu überweisen. Das Zauberwort heißt »Ecosystem«. Jedes iPhone hat direkte Verbindung zu einem Online-Angebot an Musik, Filmen und Apps, wie die Software und die Spiele für das Smartphone genannt werden. Und bei jedem Verkauf schneidet Apple mit. Das abgeschlossene virtuelle Einkaufszentrum am Handy hatten schon viele vorher einrichten wollen: die alten Handyproduzenten etwa wie Nokia, aber auch zahllose andere Mobilfunk-Anbieter in aller Welt. Aber erst dem Branchenneuling Apple ist es gelungen, daraus ein funktionierendes Geschäft zu machen. Das große Geschäft mit den smarten Handtelefonen zog bald auch andere Marktteilnehmer an. Heute liefern viele ostasiatische Gerätehersteller wie Samsung, LG oder HTC Umsatzkaiser Apple einen harten Konkurrenzkampf. Dabei können sie auf mächtige Rückendeckung bauen. Mit dem Android-Betriebssystem haben sie einen starken Motor auf ihren Smartphones, noch dazu einen, der von Google entwickelt worden ist und gratis zur Verfügung gestellt wird. Nokia hatte begonnnen, was Apple zu Ende führt Ende 2012 waren bereits 72 Prozent aller Smartphones solche, die mit Android ausgestattet worden sind. Im Kampf um Marktanteile wird auf allen Seiten technologisch hochgerüstet. In immer kürzeren Abständen erscheinen neue Modelle. Die Rivalität wird aber nicht nur auf dem Markt ausgefochten, sondern immer öfter auch vor dem Patentrichter. Vor allem Apple zerrt die Konkurrenz immer wieder vor Gericht. Diese spart nicht mit Gegenklagen. Kein Detail ist dabei zu klein, um es nicht zum Streitgegenstand zu machen. Es geht um abgerundete Ecken oder um wenige Zeilen Programmiercode. Mittlerweile ist die ganze Technologieszene in Patentkriege verwickelt. Neben Apple, Google, facebook und Handyherstellern wie Samsung, Nokia oder HTC stehen auch Firmen wie IBM, Oracle, Yahoo oder Kodak 180 im juristischen Streit miteinander. »In der Welt der S martphones erden Patente benutzt, um Innovation zu behindern. Darauf sind wir w eigentlich gar nicht erpicht. Natürlich verteidigen auch wir unser geistiges Eigentum gegen Angriffe der anderen, aber eigentlich w ollen wir weiter entwickeln. Es ist wirklich beunruhigend, dass so viel A ufwand in die gegenseitige Behinderung gesteckt wird statt in die Innovation zum Vorteil für Kunden und Gesellschaft«, so Matt Brittin, der Europachef von Google, im €CO-Interview. Neben den Kleinkrieg der Anwälte gibt es natürlich die klaren Hauptkampflinien unter Der Kleinkrieg der den drei Konzernen. Facebook will mit sei- Konzernanwälte nem sozialen Netzwerk (eine Milliarde Nutzer!) Marktanteile vom Internet-Werbekuchen von Google. Und Google macht mit Android Apple das Leben auf dem Smartphone-Markt schwer. Und es geht bei allen Dreien um die Vorherrschaft in der Datenwolke. Die so genannten »Clouds« sind, einfach gesagt, Computerzentren, in denen der Nutzer Daten wie Fotos, Musik, Kontakte und Filme hoch- und wieder herunterladen kann. Ein nützlicher Service, bei dem verschiedene Geräte wie Computer, Tablet oder Smartphone, die viele User schon besitzen, zum Einsatz kommen. Nur: Die Internetspeicher der drei Konzerne gelangen so auch zu sensiblen, persönlichen Daten ihrer Nutzer. Und das ruft die Datenschützer auf den Plan. Der Wiener Jusstudent Max Schrems hatte sich etwa für die Daten interessiert, die facebook über ihn gespeichert hat. Beim europäischen Hauptquartier in Irland hat er deren Herausgabe gefordert. Nach genauer Durchsicht des Datenmaterials hat er dann den Konzern mit 22 Datenschutzklagen eingedeckt. Es ist der sprichwörtliche Kampf »David gegen Goliath«, bei dem der angehende Jurist den Konzern gut kennen gelernt hat: »Facebook ist ein Studentenprojekt. Das ist irgendwann mal in den USA explodiert, dort gibt es kein Datenschutzrecht. Es ist größer und größer geworden und trotzdem steht das Ganze auf tönernen Füßen. Das Problem ist, es heißt oft: ›Ja, wissen wir, aber der Zuckerberg will das nicht.‹ Und damit endet dann die Diskussion. Das ist das Hauptproblem, dass dort oben einer sitzt, der sagt: ›Europäisches Recht interessiert mich nicht.‹ « 181 Mark Zuckerberg: Anfangs beurteilte facebook nur die Studentinnen (Foto: facebook) Auch für Google und Apple ist Datenschutz eine »fremde europäische Sitte«, so Mediena nthropologe Wolfgang Zeglovits: »Letztendlich ist es so, dass alle drei Firmen klarerweise den Kunden im Fokus haben. Das, was wir diesen Firmen geben, ist nicht nur Aufmerksamkeit, indem wir deren Services nutzen, sondern auch jede Menge Daten, die über unser Verhalten Auskunft geben.« Sind wir machtlose Nutzer in einem Nachbarschaftsstreit, der im fernen kalifornischen Silicon Valley ausgetragen wird? Tatsache ist, dass wir sie schätzen, die schönen Smartphones, die komfortablen Services und die vielen neuen Freunde im sozialen Netzwerk. Tatsache ist aber auch, dass uns dabei der mögliche Missbrauch von Machtverhältnissen durch Monopole noch immer zu wenig bewusst ist. Die Welt ist nicht kleiner geworden. Wir sind nicht zu einem globalen Dorf zusammengerückt. Auch nicht durch Google, Apple und facebook. Aber wir, die Nutzer, sind für die drei Riesen durchsichtiger geworden. 182 25 Jahre €CO-Jahrbuch: So hat sich die Welt verändert von Franz Hlavac »Die derzeitige Stimmungskrise der EU ist weder die erste noch die schwerstwiegende. Sie wird auch nicht die letzte sein.« Erinnern Sie sich noch an Corrado Pirzio-Biroli? Nun, er war Botschafter der EU in Österreich, als Österreich der Union beitrat. Das E ingangszitat hören wir, als wir ihn im August des letzten Jahres auf seinem Schloss in Brazzà in der Nähe von Udine im Friaul besuchen. Bei diesem Gespräch geht es nicht nur um Griechenland und die Schuldenkrise in Europa, sondern auch um gemeinsame Erinnerungen an die Vorbereitungen für die EU-Volksabstimmung am 12. Juni 1994. Corrado ist überzeugter Europäer, nicht nur aus Tradition. Bei einer Führung durch das Familienmuseum in Brazzà zeigt er Fotos der Familie. Ein Teil davon ist europäische Geschichte, auch aus der Zeit, als die europäischen Großmächte Afrika entdeckten. Großonkel Pietro Savorgnan di Brazzà etwa erforschte den Kongo; die Hauptstadt Brazzaville ist nach ihm benannt. Im Ersten Weltkrieg ist das Schloss Brazzà Sitz des Oberkommandos der österreichisch-ungarischen Armee – und brennt 1918 ab. Danach erfährt die Familie viel Leid im Faschismus. Großvater Ulrich von Hassel wird als Gegner Hitlers hingerichtet; Corrados Mutter kommt ins KZ. Corrado und Bruder Roberto werden verschleppt und im Kinderheim Wiesenhof in Absam in Tirol zwangsuntergebracht. Dort werden sie von der Großmutter erst im Jahr 1945 wieder gefunden. Nach dem Studium in Italien arbeitet Pirzio-Biroli ab 1971 bei der EG, wird Spezialist vor allem für Agrarfragen. 1993 wird er Botschafter der EU in Österreich. Pirzio-Biroli hat viel zur positiven Haltung Österreichs gegenüber der Europäischen Union beigetragen. Bei seinen Auftritten im ORF, unter anderem im damaligen Wirtschaftsmagazin »Schilling«, hat er mit 183 Corrado Pirzio-Biroli: »Nicht die erste und nicht die letzte Krise der EU« (Foto: Hlavac) zum Teil unkonventionellen Methoden ein Bild der EU vermittelt, das sich deutlich von der Vorstellung einer anonymen EU-Bürokratie unterscheidet. Ich war damals neben meiner Funktion als Chef der Wirtschafts redaktion (ab 1. Jänner 1992) zuständig für die Koordination aller ORF-Aktivitäten im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt. Die folgenden fünf Themen standen im Mittelpunkt unserer Beiträge und der Diskussionen unseres Europa-Forums: • Arbeitsplatz Europa. Wohlstand und Lebensqualität • Markt ohne Grenzen. Transit und Umwelt • Landwirtschaft, Lebensmittel und Konsumentenschutz • Demokratie und Mitbestimmung, Sicherheit und Frieden • Die Herausforderungen der EU und ihre Zukunft. Als hätte sich irgendetwas geändert ... Bundeskanzler (und SPÖ-Chef) war damals Franz Vranitzky, im ußenamt amtierte Alois Mock, ÖVP-Chef war Erhard Busek und als A Landwirtschaftsminister fungierte Franz Fischler. Fischler wird 1995 Österreichs erster EU-Kommissar, zuständig für Agrarfragen. Sein Kabinettschef heißt – Corrado Pirzio-Biroli ... 184 In Brüssel arbeitet damals Günter Schmidt als ORF-Korrespondent. Der hatte davor bis Ende 1991 die Fernseh-Wirtschaftsredaktion geleitet. Am 24. Oktober 1979 war erstmals ein Wirtschaftsmagazin im Fernsehen ausgestrahlt worden. Die Idee, die Sendung »Schilling« zu taufen, kommt aus der Redaktion. Leiter war damals Klaus Emmerich; mit im Team damals schon unter anderen Hans Tesch. Wirtschaftsnachrichten gelten in dieser Zeit als »etwas Trockenes«, schwer Verständliches. Wer damals versucht, Wirtschaftsinformationen konsumierbar zu machen, muss sich von »Experten« den Vorwurf der Trivialisierung anhören. 1980 übernimmt Günter Schmidt die Leitung des Magazins, das anfangs 14-täglich ausgestrahlt wird. Von März 1984 an gibt es »Schilling« wöchentlich. Dauer: 25 Minuten. Zur Jahreswende 1988/89 erscheint auch das erste Jahrbuch. Die Europadebatte beherrscht Schon 1989 ein Thema: schon dieses erste Buch. In welcher Form soll Die Sonnenenergie sich das neutrale Österreich auf dem künftigen Binnenmarkt beteiligen, fragt Ernst A. Swietly; Elmar Oberhauser berichtet aus der Schweiz über die Transitproblematik; Walter Sonnleitner beleuchtet die Steuerreform der seinerzeitigen Bundesregierung. Kurt Rammerstorfer untersucht die Sanierung der verstaatlichten Industrie, Erich Hirtl die Änderungen bei der Wohnbauförderung und Eva Pfisterer die Stadtsanierung. »Schilling« präsentiert außerdem ein Auto, das General Motors mit einem Antrieb aus Sonnenenergie gebaut und in Australien erprobt hat. Damals, 1988, gibt es noch die Zentralsparkasse unter Generaldirektor Karl Vak, weiters den Müller-Verlag in der Grinzinger Straße und den Informationsintendanten Johannes Kunz. 1989 bringt die Wende im Osten eine Revolution und den Zusammenbruch eines Systems. Die Epoche des Kalten Krieges ist ausgestanden. Es begann mit Gorbatschows »neuem Denken«. Das bringt den verfolgten Schriftsteller Vaclav Havel auf den Präsidentenstuhl und in Berlin fällt die Mauer. Die Deutschen werden wieder vereint. Politiker 185 geben den Staaten zwischen Atlantik und Ural plötzlich die Chance, in »einem gemeinsamen Haus« unterzukommen. Was 1989 die Menschen in Leipzig, Prag und Budapest bewegt, dokumentiert der ORF in zahlreichen Livesendungen, Kommentaren – und auch im hauseigenen Wirtschaftsmagazin. Und natürlich nicht zu vergessen: Außenminister Alois Mock übergibt dem französischen Ratsvorsitzenden Roland Dumas am 17. Juli 1989 in Brüssel den Antrag Österreichs auf Mitgliedschaft bei der Europäischen Gemeinschaft. Von himmelhoch jauchzend bis einigermaßen betrübt reicht im Jahr 1990 die Gemütsverfassung der Wirtschaftsexperten. Die westliche Wirtschaft befindet sich in einer noch nie dagewesenen Aufschwungphase: Die Marktwirtschaft hat auf allen Linien gesiegt, die Sanierung der maroden Ostwirtschaften verspricht neue Wachstumsimpulse, ebenso die neue wirtschaftliche Supermacht Deutschland mit seinen nun 80 Millionen Einwohnern. Doch zur Jahresmitte zeigt sich, dass einige Hoffnungen etwas zu euphorisch sind. Die irakische Invasion Kuwaits macht deutlich, dass die Weltwirtschaft auch nach dem Ende des Kalten Krieges für Störungen anfällig ist. Die Ölpreiskrise trifft vor allem die ehemaligen »Satelliten« Moskaus, deren Reformprogramme ohnedies nur sehr zäh vorankommen. 1991 wird die Weltbühne geprägt vom Ende des Sowjetkommunismus als einer der führenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren. Es gibt jetzt auch formal keinen Warschauer Pakt und keinen Comecon (oder »Rat für wirtschaftliche Zusammenarbeit«, wie er offiziell hieß) mehr. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die schon lange das »W« aus dem Kürzel »EWG« gestrichen hat, um zu dokumentieren, dass sie mehr als ein Wirtschaftsklub sein will, diese »EG« ringt um eine neue politische und wirtschaftliche Verfassung. Wie sehr sie nach ihren unbestreitbar großen wirtschaftlichen Erfolgen auch eine stärkere politische Identität und Kraft benötigt, zeigt sich an ihrem über lange Strecken wenig erfolgreichen Agieren in der jugoslawischen Tragödie. Auf der positiven Seite der Bilanz steht der erfolgreiche 186 Die Deutschen werden wieder vereint (Foto: anweber/shutterstock) Abschluss der EWR-Verhandlungen, mit dem die sieben EFTA-Staaten in vielen Bereichen den zwölf EG-Ländern gleichgestellt werden. Dieser Vertrag ist eine Vorstufe zum angepeilten EG-Beitritt Österreichs. In diesem Jahr 1991 erfolgt auch die Fusion von Zentralsparkasse und Länderbank zur Bank Austria AG. Es entsteht die größte Bank Österreichs. Ende 1991 verlässt Günter Schmidt die Leitung der Wirtschaftsredaktion und tritt in Brüssel die Nachfolge des EG-Korrespondenten Klaus Emmerich an. In Wien ernennt mich Generalintendant Gerd Bacher zum Leiter der Wirtschaftsredaktion und zum Koordinator aller EG-und Europafragen in der Informationsintendanz von Johannes Kunz. Die nächsten 18 Jahre leite ich das Wirtschaftsmagazin. 1992 wird die Wirtschaftsberichterstattung im Fernsehen weiter ausgebaut. Im April startet das tägliche Finanzmarkt-Service. Nun gibt es in jeder »Zeit im Bild«-Ausgabe aktuelle Wirtschaftsnews aus Österreich und aus aller Welt mit Beiträgen über Unternehmen und Branchen, über Arbeitsplätze, Manager sowie Entwicklungen und Veränderungen bei den Zinsen und auf den Finanzmärkten. Ende 1992 hat das »Schilling«-Team Grund zum Feiern: Die 500. Ausgabe des Wirtschaftsmagazins wird ausgestrahlt. 187 ORF-Magazin »Schilling«: Moderator Franz Hlavac, damals noch jung (Foto: ORF/Friess) 1993 jammern alle über die Rezession. In diesem Jahr geht der längste Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit zu Ende. Nach Jahren des ununterbrochenen Wachstums reißt die Konjunktur ab. Das belebt auch in Österreich den Willen zur Veränderung. Das Wirtschaftsmagazin zeigt positive Alternativen und Nischen für neue Produkte auf. Erfolgreiche Unternehmen, die den Trend der Zukunft darstellen, werden porträtiert. Eine sechsteilige Dokumentation »Industrie am Wendepunkt« beleuchtet die Zukunftschancen der österreichischen Industrie. Im Februar 1993 beginnen Österreichs Beitrittsverhandlungen mit der EG und am 1. November 1993 tritt der Vertrag von Maastricht in Kraft. Aus der EG, der Europäischen Gemeinschaft, wird die EU, die Europäische Union. Am 1. Jänner 1994 wird der EWR, der Europäische Wirtschaftsraum, aus EU- und EFTA-Staaten (mit Ausnahme der Schweiz und Liechtensteins) Realität. Am 1. März 1994 werden Österreichs Beitrittsverhandlungen abgeschlossen. Am 12. Juni 1994 stimmen 66,58 Prozent der Österreicher beim Referendum mit ja. Und schon am 24. Juni werden auf der griechischen Insel Korfu die Beitrittsverträge Österreichs, 188 Schwedens, Finnlands und Norwegens beim EU-Gipfeltreffen feierlich unterzeichnet. Der Nationalrat beschließt am 11. November 1994 den EU-Beitrittsvertrag mit großer Mehrheit (141 Ja-Stimmen). In »Schilling« wird 1994 eine unendliche Fülle von Informationen zu allen Fragen rund um Österreichs EU-Beitritt aufgearbeitet, durchwegs kritisch und offen Pro und Kontra beleuchtend. Der Kontakt mit Fragen und Wünschen der Bevölkerung wird durch die Diskussionsver anstaltungen des »Europa Forums«, an denen unsere Redaktion (Wal traud Langer) maßgeblich mitarbeitet, besonders eng gehalten. 1995 erhält »Schilling« einen neuen Sendeplatz. Am Donnerstag, um 22.30 Uhr im »zweiten Hauptabend«, beginnt seither das Wirtschaftsmagazin. Das neue spartanische Design der Sendung spiegelt sich auch im damaligen Jahrbuch wider. Das Vertrauen in die Währung Schilling bleibt erhalten, auch nach dem Scheitern der Budgetverhandlungen im Herbst 1995 und der Auflösung der Koalitionsregierung von SPÖ und ÖVP. Der neue Finanzminister Viktor Klima macht sofort klar, dass Österreich alle notwendigen Schritte setzen wird, um die strengen Bedingungen für eine Aufnahme des Schilling in die Europäische Währungsunion zu schaffen. Am Sparziel für Maastricht, also den Richtzahlen für die Staatsverschuldung und das Budgetdefizit, führt kein Weg vorbei. 1996 – der Countdown für den Euro läuft. Die Vorbereitung auf die künftige gemeinsame europäische Währung lenkt die Aufmerksamkeit der Österreicher wieder intensiver auf die Wirtschaftsthemen. Die Vielschichtigkeit dieser Materie veranlasst den ORF einen neuen Schwerpunkt auf eine umfassende Information über diesen Euro zu legen. Am 13. Dezember 1996 ist es so weit. Das Aussehen der Euro-Geldscheine wird präsentiert. Gleichzeitig um 15 Uhr wird in allen EU-Staaten der Siegervorschlag präsentiert. Die Sache ist bis zuletzt so geheim, dass es die Österreicher fast als Letzte erfahren: Ihr Entwurf hat gewonnen. Bundeskanzler Franz Vranitzky und Vizekanzler Wolfgang Schüssel wird beim EU-Gipfel in Dublin bereits zum österreichischen Erfolg gratuliert, als sie noch nichts davon wissen. 189 Denn die Österreichische Nationalbank hält sich an die Schweigepflicht. Sie präsentiert nur in einem kleinen Kreis den Mann, der mit einem Schlag europaweit bekannt wird: Der Grafiker Robert Kalina hatte in nur einem halben Jahr »dem Euro sein Gesicht« gegeben. Mit allen Sicherheitsbestimmungen und unter Vermeidung aller Symbole, die ein Land als negativ empfinden könnte. Die Reaktionen auf die für viele ungewohnt bunten Noten fallen sehr unterschiedlich aus. Vom empörten »Der Mist kommt aus der hiesigen Nationalbank« im »profil« bis zu »Das ist positiv für Österreichs kulturelles Selbstbewusstsein« vom damaligen Bundeskanzler Vranitzky. Im Jänner tritt Vranitzky nach der Schlappe der SPÖ bei den Europawahlen zurück. Sein Nachfolger wird Viktor Klima, auch als Parteivorsitzender. 1997 ist bei den Österreichern der Groschen gefallen. Ihnen wird klar, dass der Euro kommt. ORF-Informationsintendant Rudolf Nagiller beauftragt die Redaktion, einen Informationsschwerpunkt in allen ORF-Programmen über die Vor- und Nachteile der neuen Währung zu koordinieren und zu gestalten. Spezialausgaben von »Schilling«, »Report« und »Pressestunde« berichten über »Das Geld von morgen«. In diesem Jahr bewältigt die »Erste Bank« die Fusion zwischen der Ersten Österreichischen Spar-Casse und der GiroCredit in Rekordzeit und beweist mit ihrem Börsengang, dass es möglich ist, die Österreicher durch fundierte Informationen für Aktieninvestments zu gewinnen. Ebenfalls 1997 beschließt die »Erste Bank«, sich an der 10. »Schilling«-Jahrbuchausgabe zu beteiligen. Dieses Jahrbuch erscheint ab nun immer als Vorschau und nicht wie bisher als Nachlese. Es folgt also auf die neunte Ausgabe 1996 die zehnte Ausgabe 1998. An dieser Stelle sei festgehalten, dass sich die »Erste« seither nie in den redaktionellen Teil des ORF eingemischt hat. Im Gegensatz zu anderen Financiers, die das einmal erfolglos probierten. Wir sind deshalb gewechselt. 1998 steht ganz im Zeichen der Vorbereitungen auf die künftige gemeinsame europäische Währung. Im ersten Halbjahr wird die erste 190 Das Parlament: Grosse Mehrheit für den EU-Beitritt (Foto: Parlamentsdirektion/Olah) Teilnehmerrunde am Euro festgestellt. Voraussetzung ist die Erfüllung der Maastrichter Kriterien (Haushaltsdefizit, Stand der öffentlichen Schulden, Inflationsrate, Wechselkurse, langfristige Zinssätze). Die bilateralen Umrechnungskurse der nationalen Währungen zu einander werden verhandelt und publiziert. Im zweiten Halbjahr 1998 dominiert die erste EU-Präsidentschaft Österreichs die Berichterstattung und die Entwicklung an den Börsen. 1998 ist das Finanzwetter ziemlich stürmisch. Die Krisen in Asien, Russland und Lateinamerika haben wieder einmal gezeigt, dass der sicher fährt, der sich auf dem Boden der wirtschaftlichen Tatsachen bewegt. Am 1. Jänner 1999 werden die Umrechnungskurse der am Euro teilnehmenden nationalen Währungen unwiderruflich festgelegt. Ab diesem Zeitpunkt gibt es bis zum 31. Dezember 2001 den Euro als Buchgeld. Das heißt, er kann für alle »unbaren« Zahlungen, etwa bei Überweisungen, verwendet werden. 1999 erscheint auch das Wirtschaftsmagazin des ORF unter dem Namen »Euro Austria«. Der Sendungstitel zeigt die Philosophie. Die neue 191 So ändern sich die Zeiten: Das Jahrbuch des ORFWirtschaftsmagazines vor 20 Jahren (rechts) und vor zwei Jahren (links) (Fotos: ORF/Hans Leitner) Währung gibt es schon als Verrechnungseinheit und das Magazin streicht das typisch Österreichische hervor. Erinnern Sie sich noch, wie zum Jahreswechsel 1999/2000 die Furcht vor dem Milleniums-Bug herrschte, also vor den Computerproblemen, die durch die Behandlung von Jahreszahlen als zweistellige Angabe drohten? Was würde es mit sich bringen, wenn Computer statt des 1. Jänner 2000 den 1. Jänner 1900 ausweisen? Nichts Wesentliches ist Gott sei Dank geschehen. Der Aufbruch ins neue Jahrtausend hat a ndere spannende Perspektiven. Die österreichische Wende ist auch eine politische; im Februar 2000 wird die erste schwarz-blaue Regierung Schüssel gebildet. Eine starke Polarisierung durchzieht das Land. Die EU belegt das Land mit politischen Sanktionen. Das Jahr 2000 bringt Österreich ein »Wendejahr« auch für die Wirtschaft. Budgetsanierung heißt das Schlagwort. Und das bedeutet: neue Belastungen für alle Österreicher. Von Gebühren erhöhungen bis zu Selbstbehalten im Gesundheitsbereich und zum Wegfall so manchen Steuerzuckerls. Von »sozialer Treffsicherheit« ist schon damals viel die Rede. In d iesem Jahr wird in der Zeit im Bild um 13 Uhr die Börseleiste 192 eingeführt. Moderatorin wird Waltraud Langer aus unserem Team. Sie wird 2001 mit der Leitung der Wirtschaftsredaktion für die Zeit im Bild 1 beauftragt. Mir wird gleichzeitig die Funktion des ORF-Wirtschaftssprechers übertragen. 2001 steht die Information ganz im Zeichen der bevorstehenden Euro-Bargeldeinführung. Der ORF startet in Kooperation mit der Wirtschaftskammer Österreich und der Österreichischen Nationalbank eine Hotline, die sich mit Fragen der Euro-Einführung beschäftigt. Im Wirtschaftsmagazin gibt es die »Doppelte Preisauszeichnung«: Ab 1. Juli 2001 werden auf allen Inserts der TV-Beiträge die Preise in Schilling und in Euro aufgelistet. Ende August 2001 zeigt Nationalbank-Präsident Klaus Liebscher erstmals im Wirtschaftsmagazin die neuen Euro-Banknoten. Bereits am 1. September beginnt die Vorverteilung der Euro-Banknoten und -Cent Münzen an Banken und Unternehmen. Am 15. Dezember gibt es dann die Euro-Startpakete »für alle«. Ein weiterer Aspekt des Geldlebens 2001, der uns in Erinnerung bleibt, sind die turbulente Entwicklung der internationalen Börsen und schließlich die Kursstürze, die die Terroranschläge vom 11. September verursachen. Die USA verfallen 2001 in eine Rezession. Der EU-Kommissar für die »Erweiterung«, der deutsche Günter Ver heugen, meint im ORF-Wirtschaftsmagazin: »Die Bewahrung der inneren und äußeren Sicherheit steht heute an oberster Stelle der europäischen Agenda. Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation wird wieder deutlich, worum es bei der Erweiterung der EU eigentlich geht: um ein geopolitisch-strategisches Großprojekt, das Europa tiefgreifend verändern wird.« Und er sagt dann: »Nur auf der Grundlage des inneren und äußeren Friedens in Europa lassen sich nachhaltiges Wachstum und Wohlstand erzielen.« Nach dem Motto: Mehr Integration erfordert mehr Sicherheit. Am 1. Jänner 2002 lösen Euro und Cent Schilling und Groschen als Zahlungsmittel ab. Beide Währungen sind noch bis Ende Juni in Verwendung. Dann wird der Schilling endgültig vom Euro ersetzt. 193 Im ORF wird Gerhard Weis als Generalintendant von Monika Lindner abgelöst und im Zuge ihrer Programmreform erhält im Oktober 2002 die Wirtschaftssendung des ORF den neuen Namen » €CO«. Ein weiteres Thema, das noch bis ins Jahr 2002 die Österreicher bewegt, ist die Abschaffung der Sparbuch-Anonymität. Doch die weitere Entwicklung beweist, dass sich auch die besondere österreichische Lösung des Bankgeheimnisses bewährt. Im September 2002 zerbricht nach einem Sonderparteitag in Knittelfeld die ÖVP/FPÖ-Koalition. Die Novemberwahlen gewinnt die ÖVP – und sie macht mit der geschwächten FPÖ weiter. Finanzminister Grasser, damals beliebt und geachtet, verkündet ein saniertes Budget. Erst Jahre später wird enttarnt, was damals alles gelaufen ist. Im Prozess der EU-Erweiterung wird 2003 ein ereignisreiches Jahr. In Deutschland finden Parlamentswahlen statt. Gerhard Schröders Amtszeit als Chef einer rot-grünen Koalition wird verlängert, J acques Chiracs Position bei den Präsidentenwahlen in Frankreich gestärkt. Weil es keine Veränderung gibt, erleichtert dies die Einigung der EU mit den »neuen Beitrittsländern« im Osten, vor allem in der Agrarfrage. Im April 2003 werden die Beitrittsverträge mit zehn Ländern feierlich unterzeichnet. Neben den beiden Mittelmeerinseln Malta und Zypern, den drei baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen kommen ab Mai 2004 auch die fünf Länder zur EU, die für Österreich von größter Bedeutung sind: die mittelbaren und unmittelbaren Nachbarn Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Polen. Die EU wächst in Richtung Osten Durch die EU-Erweiterung rückt Österreich geopolitisch wieder ins Zentrum Europas und gewinnt ohne Zweifel an Bedeutung. Österreichs Wir tschaf t kommt im Osten eine tragende Rolle zu. Viele Betriebe haben sich schon in den Jahren vor 2004 in den z entraleuropäischen Nachbarländern angesiedelt. Damit wird eine 194 langfristig strategisch richtige Standortwahl getroffen. In naher Z ukunft befinden auch sie sich mit ihren osteuropäischen Tochter unternehmen in der EU, womit die Vorteile des freien Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr voll genützt werden. 2005 ist für die Republik Österreich ein Jubiläums- und Gedenkjahr. In dessen Mittelpunkt stehen die Jubiläen »60 Jahre Zweite Republik«, »50 Jahre Staatsvertrag« und »10 Jahre EU-Mitgliedschaft«. Dieses Gedenkjahr bietet dem ORF-Wirtschaftsmagazin Gelegenheit, Vergangenheit und Zukunftsperspektiven zusammenzuführen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. € CO geht damals der Frage nach, ob die Österreicher – wenn die Medizin weiter so große Fortschritte macht – nicht bis zum Alter von 70 Jahren im Arbeitsprozess stehen könnten ... 2005 wird die – laut Regierung – »größte Steuerreform der Zweiten Republik« in einer zweiten Etappe umgesetzt. Aber nicht jeder Steuerzahler wird entlastet; Kleinstverdiener bekommen nichts und Spitzenverdiener de facto auch nichts. Ein neues Jahr – auch eine neue Pensionsreform. 2005 tritt mit der so genannten »Harmonisierung« die dritte Reform innerhalb weniger Jahre in Kraft. Mit dem Pen sionskonto wird ein neues, einheitliches Pensionssystem für alle Unter-50-Jährigen geschaffen. Die Reform bringt Änderungen bei den Versicherungszeiten, bei der Erlangung eines Anspruchs und bei der Pensionsberechnung. Das Expertenurteil: Die Harmonisierung ist für Ältere günstiger, für Jüngere schlechter – und für alle komplizierter. Österreichs Bankenlandschaft verändert sich 2005 dramatisch. Der größte Bankkonzern, die Bank Austria-Creditanstalt, erfährt einen einschneidenden Eigentümerwechsel. Statt der bayerischen Hypo-Vereinsbank ist sie in den Besitz der italienischen UniCredit übergegangen und wird entscheidend umstrukturiert. Die viertgrößte Bankengruppe, der BAWAG-PSK-Konzern, muss im Spätherbst 2005 eine bittere Erfahrung machen. Eine ihrer langjährigen Partnergesellschaften in den USA, die Maklerfirma Refco bzw. deren Haupteigentümer Bennett, lockt dem Management an einem Oktober-Wochenende unter Vorspiegelung falscher Tatsachen einen 195 350-Millionen-Euro-Kredit heraus. Die Sicherheiten werden nicht ausreichend geprüft. Als der Fehler bemerkt wird und die Bank das Geld zurückholen will, ist es zu spät. Die Refco wird insolvent. Das verantwortliche Management tritt in Wien zurück und macht dem Nationalökonomen Ewald Nowotny Platz. Im Frühjahr 2006 informiert Nowotny die Finanzmarktaufsicht über spekulative Karibik-Geschäfte. Bawag-Aufsichtsratschef Günter Weninger enthüllt hohe Verluste aus dem Jahr 2000 und die damalige Garantie des ÖGB für die BAWAG. Weninger tritt zurück. ÖGB-Chef Verzetnitsch verteidigt die Entscheidung, die Haftung für die BAWAG zu übernehmen. Auch Verzetnitsch tritt zurück. Vier BAWAG-Vorstände müssen gehen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Der ÖGB-Bundesvorstand fasst in einer Nachtsitzung den Grundsatzbeschluss zum vollständigen Verkauf der BAWAG. Ende Dezember wird die BAWAG tatsächlich an den US-Investor Cerberus verkauft. Im folgenden Frühjahr wird Ex-Generaldirektor Elsner in Frankreich verhaftet. Es folgen gegen ihn und andere Vorstände erste Prozesse; bis heute gelingt die vollständige Aufklärung des Bawag-Skandals nicht. Dr. Franz Hlavac, Jahrgang 1948, maturierte 1966 am Schottengymnasium in Wien. Anschließend absolvierte er den ordentlichen Präsenzdienst. 1967 begann er das Studium der Zeitgeschichte und Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. 1973 promovierte er zum Doktor der Philosophie. Erste journalistische Erfahrungen sammelte Franz Hlavac ab 1971 als freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen und beim Hörfunk des ORF. Im April 1974 wurde er im Aktuellen Dienst des Fernsehens angestellt. 1989 wurde Dr. Hlavac Programmkoordinator in der FernsehInformationsintendanz und Leiter des Europa-Magazins »Compass«. Von 1. Jänner 1992 bis 31. Dezember 2009 leitete Franz Hlavac die Wirtschaftsredaktion des Fernsehens und damit auch das Wirtschaftsmagazin. Zunächst das Magazin »Schilling«, danach »Euro Austria« und zuletzt »€CO«. In dieser Zeit koordinierte er die Berichterstattung über den EU-Beitritt Österreichs (1992 bis 1995). Außerdem koordinierte Dr. Hlavac auch die ORF-Berichterstattung über die Währungsumstellung auf den Euro. Im August 2005 wurde ihm der Professortitel verliehen. Seit 2010 arbeitet Franz Hlavac als freier Journalist und Buchautor. Im »Styria«Verlag erschien 2011 der Bestseller »Unser Friaul« (Autoren: Dr. Gisela Hopfmüller und Dr. Franz Hlavac). 196 Im Jahr 2006 steht Österreich auch im Mittelpunkt der europäischen Politik. Im ersten Halbjahr übernimmt unser Land die EU-Präsidentschaft. Europa neuen Schwung verleihen – unter diesem Motto startet Österreich ins Mozartjahr. Am 26. Jänner, an Mozarts 250. Geburtstag, lädt EU-Ratspräsident Schüssel 24 Staats- und Regierungschefs nach Salzburg ein. Es steht die Schlussphase der Gespräche mit Bulgarien und Rumänien an sowie die Anfangsphase der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und der Türkei. Die schwierigen Rahmenbedingungen 2006: 20 Millionen Arbeitslose in Europa. Pessimismus und Reformkrise trotz leichter Konjunkturverbesserung. Ausgesprochen positive Zeichen kommen nur aus Japan. China erwartet acht Prozent Wirtschaftswachstum. Die EU zwei P rozent. 2007 – ein Jahr der Veränderungen. In Österreich tritt die Regierung Gusenbauer/Molterer an. Alexander Wrabetz ist neuer Generaldirektor des ORF. Die Anleger an den internationalen Börsen brauchen Nerven wie Drahtseile. Kreditkrise, Bankenkrise, Finanzkrise sind die Schlagwörter des Jahres im Herbst. Tatsache ist, dass von vielen Anlegern die US-Hypothekenkrise nicht ernst genug eingeschätzt worden ist. Viele Banker, Ökonomen, Wirtschaftsforscher und Politiker glauben, dass sich die Gewitterwolken bald verziehen werden. Alle haben Unrecht. Der 15. September 2008, der Tag, an dem die US-Investment-Bank Lehman Brothers kollabiert, ist ein historischer Tag. Die Finanzkrise ist über Nacht global zu spüren und sie zwingt in der Folge Banken, Märkte und ganze Staaten in die Knie. Noch nie zuvor ist so viel Kapital in ganz kurzer Zeit vernichtet worden und noch nie zuvor sind so viele hoch bezahlte Experten als Blender und Betrüger enttarnt worden. Warum es so weit kommen konnte, ist einfach zu beantworten. Eine Kombination von Gier, Unvorsichtigkeit und Unwissen und der Glaube, dass Risiko keinen Preis hat, diese Mixtur ist letztendlich der Ausgangspunkt der Krise. Dazu kommt, dass wir in Österreich und 197 Günther Schmidt, Franz Hlavac: Ein Jahrbuch wird geboren (Foto: ORF) auch in Zentral- und Osteuropa lange in der falschen Überzeugung lebten, wir hätten nicht in die Subprime-Papiere investiert. Ein Irrglaube, also werden wir von den Folgen dieser Produkte nicht bewahrt. Das war der Hauptfehler. Wir haben geglaubt, dass die Finanzkrise in den USA keine Auswirkungen auf die Realwirtschaft in Österreich und Zentral- und Osteuropa haben wird. Dass die Welt im September wirtschaftlich am Abgrund steht, zeigt die Dokumentation der BBC, die €CO im Sommer 2010 ausstrahlt. In diesem Sommer wird Hans Tesch zu meinem Nachfolger als Leiter des Wirtschaftsmagazins €CO bestellt. Sein Team hat in den letzten Jahren gezeigt, dass €CO seine besten Momente hat, wenn es gelingt, plastisch Zusammenhänge aufzuzeigen und Fragen zu aktuellen Entwicklungen zu geben. Die Zuseherzahlen geben dem €CO-Team Recht. Ich bin 2010 aus dem ORF altersbedingt ausgeschieden. Meine Frau und ich leben jetzt als freie Journalisten teilweise im Friaul und in Wien. Im März 2013 wird unser zweites Buch über Friaul erscheinen. Titel: »Friaul erleben«, eine h istorische und kulinarische Reise durch unsere Teilzeit-Heimat. 198 Große Worte – meist sogar richtige gesammelt von Günther Kogler »Träumt groß. Arbeitet hart. Denkt selbstständig.« Lehrer David McCullough jr. verabschiedet die Absolventen der Highschool von Wellesley, einem Vorort von Boston. Seine bewegende Rede wurde auf »Youtube« gestellt und von US-Nutzern mehrere Millionen Mal angeklickt. »Erklimmt die Berge nicht, um dort eine Flagge zu hissen, sondern wegen der Herausforderung. Erklimmt die Berge, damit ihr die Welt sehen könnt, nicht damit die Welt euch sieht.« Derselbe. »Adelstitel sollen in Österreich auf zehn Jahre vergeben werden. So wie Wunschkennzeichen.« Auf diese Idee ist das demokratische Österreich tatsächlich noch nicht gekommen. Zitat von Ulrich »von« Habsburg, einem Urururur-Urenkel von Kaiserin Maria Theresia. »Ich bin nicht mediengeil; die Medien sind geil auf mich.« Balettstar Karina Sarkissova ahnt, wie sie auf die Öffentlichkeit wirkt. »Politik ist wie Schlammcatchen mit einem Schwein: Du wirst dreckig und dem Schwein macht es Spaß.« Alexander Morlang, Berliner »Pirat«, über die Zustände (nicht nur) in der deutschen Innenpolitik. »Wir nennen das bulls without balls.« Was Frank Stronach über Wirtschaftsforscher denkt, übersetzen wir lieber nicht. »Das Wort Ungehorsam kann so nicht stehen bleiben.« Kardinal Christoph Schönborn weist behutsam auf die klitzekleine Differenz hin, die er mit der »Pfarrerinitiative« hat. 199 Die AutorInnen des ORF-Teiles Angelika Christine Ahrens Geboren: 24. 3. 1972 in Salzburg, aufgewachsen in Freilassing/Deutschland Schulbildung: Abitur am Rottmayr-Gymnasium Laufen (Abschluss 1991) Bis 1994 Sparkasse Berchtesgadener Land, parallel dazu eine TV/ Radioausbildung; 1994 Brokerbüro Hornblower Fischer New York; 1994–96 Studium an der Europäischen Journalismus Akademie, Donauuniversität Krems (Master of Advanced Studies, Journalism in Print, Radio and Television). Ab 1995 für den ORF (Österreicher Rundfunk) unterwegs zunächst als Volontärin im Aktuellen Dienst Niederösterreich. Ab 2001 Moderation und Gestaltung der Börsenleiste in der »ZiB 13 Uhr«, TV-Beiträge in der »ZiB 1«, »ZiB 2« und €CO sowie seit 2002 Moderation des Wirtschaftsmagazins €CO Mag. Bettina Fink Geboren in Bregenz, Vorarlberg seit 2000: Redakteurin beim Wirtschaftsmagazin €CO, zuvor bei der Zeit im Bild 1994–2000: ORF-Landesstudio Vorarlberg, Chefin vom Dienst für die Sendung »Vorarlberg heute«. 1993–94: Freie Journalistin in Berlin. Ständige freie Mitarbeiterin der Tageszeitung »taz«, Kulturberichte für »Die Welt«, Hörfunk-Beiträge für den »Sender Freies Berlin« 1990–93: »Energieinstitut Vorarlberg«, Projektleiterin für Öffentlichkeitsarbeit in der Non-Profit-Organisation. 1989–90: »Vorarlberger Nachrichten«, Bregenz, Redakteurin in den Bereichen Lokales, Kultur und Wirtschaft Studium der Germanistik, Publizistik und Kommunikations wissenschaften an den Universitäten Salzburg bzw. Innsbruck Hans Hrabal geb. 19. 9. 1964 Seit Sommer 2010 Redakteur beim Wirtschaftsmagazin €CO, ORF 2004–10 Leiter Business Development Neue Medien, ORF 2000–04 Projektleiter Fernsehdigitalisierung, 1998–2000 Redakteur für Konsumentenschutz- und Bürgerservice-Themen beim Vorabendmagazin Willkommen Österreich, ORF 1992–98 Redakteur Wir Bürgerservice, ORF 1988–92 Freier Journalist für TREND, PROFIL, WIENER, Ö3 Studium der Politikwissenschaft und Handelswissenschaft in Wien. Post Graduate Studien in Washington D.C., Bologna und Berlin 200 Günther Kogler geb 1956 in Übelbach in der Steiermark; Matura in Graz; Computerausbildung Systemprogrammierer; seit 1982 verheiratet, zwei Kinder 1976 Freier Mitarbeiter »Kleine Zeitung«, 1979 Redakteur für Innenpolitik 1988 Leiter der Lokalredaktion »Kleine Zeitung«, Graz 1989 ORF-Landesstudio Steiermark 1994 ORF Wien, Politikmagazin »Der Report« seit 1998 Vortrags- und Prüfungstätigkeit im Rahmen des »Medienkundlichen Lehrganges« an der Universität Graz 2001 Sendungsverantwortlicher »TV- Diskussionen« seit 2010 stv. Sendungsverantwortlicher €CO Hobbys: Neugier, Architektur, steirischer Weißwein, Flugmaschinen aller Art Dr. Christina Kronaus Studium der Romanistik und Publizistik an der Universität Wien. Lehrgang für Werbung und Verkauf an der Wirtschaftsuniversität Wien. Journalistische Lehrjahre in der »Presse«, seit 1984 Reporterin/Filmemacherin für den ORF/3Sat. Produktionen für internationale Fernsehprojekte zum Thema Frauen/Umwelt/Nachhaltigkeit. Lehrtätigkeit für die europäische Konsumentenschutzorganisation BEUC in Brüssel. Mag. Ilja Morozov Geboren 1986 in Moskau, aufgewachsen in St. Pölten, gesegnet mit steirischen Wurzeln. Wirtschaftlich geprägt durch seine HAK-Ausbildung und dem Wirtschaftsstudium ab 2006 (Diplom), mit Spezialisierung auf Außenhandel und Unternehmensführung. Suchte frühen Kontakt mit der Praxis: in der Schulzeit Verkäufer im Möbelhaus Leiner, div. Praktika im Controlling, Ausbildung zum Vermögensberater, Marketingpraktikum bei 3M, Backstage-Guide im ORF usw. Einstieg in den Journalismus 2006 als freier Redakteur bei den Bezirksblättern, 2009 ORF-Redaktionspraktikant in der »Zeit im Bild«. Zunächst im Aktuellen Dienst des ORF, seit November 2010 bei €CO 201 Sabina Riedl Geboren am 14. 5. 1965 in Wien Aufgewachsen in den USA, in Chapel Hill, North Carolina. 1976–83 Gymnasium in Wien 19, Gymnasiumstraße Ab 1984 Studium am Institut für Übersetzer- und Dolmetscherausbildung / Englisch und Italienisch Seit 1987 Redakteurin im ORF 1998 Staatspreis für Wissenschaftspublizistik für die Dokumentation »Der kleine Unterschied«, ein Feature über Geschlechtsunterschiede in der Sendereihe Modern Times Spezial Seit 1999 ist sie als Redakteurin für das Wirtschaftsmagazin €CO im Dauereinsatz Sie ist Mutter einer 12-jährigen Tochter und frönt privat dem Boxsport, Reisen, Kinofilmen, Rockmusik und dem Gitarrespielen. Mag. Hans Tesch Jahrgang 1955. Studierter Betriebswirtschafter, Wirtschaftsuni Wien. Journalist mit Leib und Seele. Begonnen 1979 als Freier Mitarbeiter der Zeit-im-Bild-Redaktion, dann Redakteur und Chefredakteur im ORF-Landesstudio Burgenland. Seit Anfang 2011 Leiter von €CO. Sachbuchautor von »Sicher selbständig« und »Bauen, kaufen, finanzieren«, Wirtschaftsverlag Ueberreuter. Projektentwickler und Studienverfasser Als ehrenamtlicher Obmann des Franz-Liszt-Vereines im Wohnort Raiding die Basis für den Bau des Konzerthauses und somit für den heute hochkarätigen Konzertbetrieb geschaffen. »Liest« gerne Hörbucher, »studiert« gerne Wein-Jahrgänge. Tätigkeit als Hobby-Winzer im Geburtsort Horitschon. Hans Wu Geboren in Wien, am 28. 11. 1969 Sohn von Liu Lee-Chun, Landwirtin, und DI Dr. Wu Zun-Ho, Landwirt 1980–88 BRGXXI Ödenburgerstraße in 1210 Wien 1988–95 Studium der Geschichte an der Uni Wien 1991–2000 Redakteur/Gestalter beim ORF. 2002 Application Research Manager und Trendscout beim Mobilfunkbetreiber ONE GmbH 2003 Produktentwickler beim Mobilfunk-Serviceentwickler Connovation GmbH 2003–07 Produktmanager bei ORF Online 2007–09 Redakteur bei der ORF-Sendung »Wie bitte?« 2009 Wechsel zur ORF-Wirtschaftssendung €CO 202 Die AutorInnen des ORF-Teiles Philipp Jauernik Geboren 1987 in Wien, Studium der Geschichte mit Fokus auf Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Journalistenausbildungen an diversen Schulen, Praktika im Zuge eines selbst gebastelten Medientrainee-Programms bei APA, Furche, Die Presse und €CO. Außerdem mehrere längere Aufenthalte in Brüssel. Seit Sommer als freier Journalist in Wien tätig. Mag. Beate Haselmayer geb. 1981 in Tulln in NÖ. Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaften, Slawistik und Deutsch als Fremdsprache in Wien. Studienaufenthalte in Russland und der Ukraine. Stipendium an der Donau-Universität Krems (Lehrgang für Fernsehjournalismus). 2006: Recherche für Dokumentarfilme. 2007–2012: Freie Reporterin für die ORF-Reportagesendung »Am Schauplatz«. 2011–2012: Freie Mitarbeiterin in der »Zeit im Bild«. Seit März 2012: Redakteurin im ORF-Wirtschaftsmagazin €CO. Katinka Nowotny Jahrgang 1964; Studium Volkswirtschaft und Soziologie an der Universität Wien, Master (M.A.) in Television Journalism an der New York University mit einem Fulbright-Stipendium. Seit mehr als zwei Jahrzehnten Fernsehjournalistin aus Leidenschaft. Aufgewachsen in Kairo, New York und Wien hat sie immer wieder für das Weltjournal aus Krisengebieten berichtet: aus Nordkorea, aus Sarajevo, aus New York nach 9/11. Nebenbei 15 Jahre lang Österreich-Korrespondentin von CNN World View. Zahlreiche Journalistenpreise. 2011 »Chefin vom Dienst« im Weltjournal. Ab 2012 im Stammteam von €CO. Ganz nach dem Motto: »Wirtschaft in diesen Zeiten ist spannend wie selten zuvor.« Verheiratet; zwei Kinder. Eine begeisterte Ruderin und jeden Sommer besteigt sie einen Dreitausender in Österreich. 203 Von links nach rechts: Franz Gschiegl, Bernadett Povazsai-Römhild, Thomas Schaufler 204 Zoltan Bakay, Rainer Münz 205 Bankgeschäft vor 25 Jahren – wo waren eigentlich Sie damals? Andreas Treichl im Gespräch War die Zeit als Banker vor 25 Jahren eine »schönere«? Ich weiß, auf was Sie hinauswollen. Die Reputation von Bankern in der heutigen Zeit und so ... Aber, ehrlich gesagt, ich habe mir diese Frage noch nie so gestellt. Denn als Banker muss ich die Verantwortung für die Spareinlagen meiner Kunden tragen und vor diesem Hintergrund entscheiden, wie ich kreditfinanzierte Projekte einschätze. Daran hat sich nichts geändert. Man darf aber nicht vergessen, dass die Bankenbranche vor einem totalen Umbruch steht. Das ist auf der einen Seite spannend, aber es ist auch eine Herausforderung. Immerhin kann man so auch beweisen, ob man sein Unternehmen kennt und wie gut man es vor Untiefen schützen kann. Insofern ist es heute wahrscheinlich sogar aufregender als vor 25 Jahren. War die Bankenlandschaft damals stabiler als heute? In Österreich war sie bis in die späten 1990er-Jahre von verstaatlichten Banken oder von Banken, deren Eigentümer nicht an entsprechenden Erträgen interessiert waren, geprägt. Das hat sich im Vergleich zu heute wesentlich verbessert. Was in ganz Europa im Vergleich zu den USA aber nicht passiert ist, ist ein Abbau der Überkapazitäten im Bankensektor. Während in den USA seit 2008 allein 1800 Banken geschlossen worden sind und das Geschäft auf die verbleibenden Banken übergegangen ist, gab es so etwas in Europa nicht einmal annähernd. Und das halte ich für ungesund. Die Erste war zu dieser Zeit eine kleine Sparkasse. Sie waren maß geblich daran beteiligt, dass die Erste heute eine der größten Bankengruppen in Zentraleuropa ist. Rückblickend eine kluge Entscheidung? Ja, es war eine kluge Entscheidung, weil wir uns neue, wichtige Wachstumsmärkte erschlossen und dadurch Arbeitsplätze in Österreich gesichert und aufgebaut haben. Ohne die damals begonnene Expansion nach Tschechien, in die Slowakei und bis nach Rumänien gäbe es keine eigenständigen österreichischen Banken mehr – und auch viele andere heimische Firmen, die sich in der Region etabliert 206 Andreas Treichl (Foto: Godany) haben nicht. Und wir werden als Land auch weiterhin von dieser Region profitieren, weil sie die einzige Wachstumsregion in Europa ist. Was uns als Region in Zentraleuropa allerdings noch fehlt, ist die Überzeugung, dass wir gemeinsam mehr erreichen könnten. Ich habe da die skandinavischen Staaten vor Augen, die uns zeigen, wie man sich als Region internat ional sehr gut positioniert und damit für Investoren interessant wird. Der Wirtschaftsmotor will seit über vier Jahren nicht mehr richtig anspringen. Was sind Ihrer Meinung nach jetzt die größten Herausforderungen für Banken? Im Moment sicherlich die Unsicher heit über die künftigen Regelwerke. Derzeit haben wir drei unterschiedlich hohe Anforderungen an das Eigenkapital, die allesamt anders berechnet werden und von verschiedenen Regulatoren überwacht werden. Das ist ineffizient und lähmend. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit kann so etwas die Situation noch verschärfen. Ein Beispiel: Der Straßenverkehr wird dann am sichersten, wenn sich niemand mehr bewegt. Aber dann kommt keiner mehr vorwärts. Und das darf im Bankgeschäft nicht passieren, denn unser Geschäft ist es, der Wirtschaft das Risiko abzusichern. Das können wir sofort ausschalten, wenn wir den Banken 100 Prozent Eigenkapital vorschreiben. Nur, dann bewegt sich auch in der Wirtschaft nichts mehr. 207 Wird es jemals wieder so werden wie »früher«? (Anm.: Wachstum wie bis Mitte/Ende der 2000er-Jahre) Ja, jede Krise hat irgendwann ein Ende. Es ist zugegebenermaßen eine schwere Krise, die wir erleben, aber auch nicht die erste. Was wir brauchen, sind Vertrauen und Sicherheit. Beides ist im Moment noch ziemlich unterentwickelt. Wir sollten aber alles daran setzen, den Menschen Zuversicht in die wirtschaftliche Entwicklung zu geben. Ganz besonders wichtig ist dies für die Länder im Süden Europas. Denn aus einer Jugendarbeitslosigkeit von knapp 50 Prozent können politische Strömungen entstehen, die wir alle in Europa nicht mehr haben wollen. »Jede Krise hat irgendwann ein Ende … Nur der Blick nach vorne bringt einen voran.« Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wie früher wird es nicht mehr. Das ist aber auch gut so. Wachstum um des Wachstums willen ist nicht nachhaltig. Was macht ein Banker wie Sie eigentlich an einem »normalen« Arbeitstag? Mir den Kopf darüber zerbrechen, wie wir die Kunden in unserer Region noch besser erreichen können. Und das nicht nur mit unserem Service, sondern wir müssen das Bankgeschäft insgesamt verständlicher machen. Dazu trägt auch hoffentlich das €CO-Jahrbuch bei: Wirtschaftsthemen und Zusammenhänge kurz und kompakt zu erklären. Das Image von Bankern hat in den letzten Jahren schwer gelit ten. Welches Ego bzw. welches Selbstverständnis braucht ein Banker heute, um zu überleben? Das stimmt und ist gleichzeitig aber auch falsch. Ja, wir werden für die Krise verantwortlich gemacht, aber gleichzeitig wird auch der eigene Berater oder die e igene Bank als vertrauenswürdig eingeschätzt. Da hilft uns sicherlich, dass wir als heimische Banken immer nur das klassische EinlagenKredit-Geschäft gemacht haben. Wir finanzieren unseren Wohnbau, wir ölen den Wirtschaftsmotor und sind regionaler Partner unserer Klein- und Mittelbetriebe. Anonymisiert werden wir als Branche aber für Missstände verantwortlich gemacht, die wir nicht verursacht haben. Damit meine ich die Problematik der öffentlichen Verschuldung. Außerdem liegt viel an noch immer gültigen Regelungen: Z. B. wenn ich als Bank einer Firma, die ich seit hundert Jahren kenne und die immer 208 profitabel war, einen Kredit geben will, muss ich aktuell zehn Mal so viel Eigenkapital vorhalten, als wenn ich eine Anleihe von Griechenland kaufe, von der ich jetzt schon weiß, dass sie, wenn überhaupt, nur über den Steuerzahler zurückgezahlt werden kann. Das ist doch verrückt. Was bedeutet Risiko heute? Grundsätzlich »Was sich aber nichts anderes als früher. Risiko berechnet geändert hat, ist die grob gesagt die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Negativereignisses. Was sich aber ge- Wahrnehmung von ändert hat, ist die Wahrnehmung von Risiko. Risiko.« Heute werden Risiken doch etwas differenzierter gesehen. Wer hat sich z. B. vor 2008 vorstellen können, dass eine US-Bank wie Lehman einfach pleitegehen kann und die ganze Finanzwirtschaft mit in den Abgrund reißt? Ein erhebliches Risiko das offenbar anders bewertet wurde. Das Bewusstsein hat sich jedenfalls geschärft. Als Banker muss ich auch sagen, Risiko ist teurer geworden. Durch das Misstrauen auf dem Kapitalmarkt und die regulatorischen Bestimmungen müssen Banken für die Übernahme von Kreditrisiken mehr Geld aufwenden. Insgesamt sind aber alle Akteure der Wirtschaft risikoaverser geworden, nicht nur die Banken. Wenn Sie heute ein Kind fragt, wozu man überhaupt Banken braucht, wie erklären Sie das? Das Kerngeschäft einer Sparkasse, so wie wir es sind, ist im Prinzip ein Simples: Auf der einen Seite zahlt die Bank denen, die Geld sparen, Zinsen. Wenngleich das bei der momentanen Vorgabe auf dem Geldmarkt nicht viel ist. Auf der anderen Seite bezahlt jemand, der Geld braucht, der Bank Zinsen für das Geld, das er sich ausborgt. Auch diese Zinsen sind aktuell so niedrig wie nie. Bei dem Ganzen übernimmt die Bank ein Risiko. Nämlich jenes, dass sie Geld verborgt und darauf vertraut, dass derjenige es zurückbezahlt. Mit der Differenz aus Spar- und Kreditzinsen verdienen wir unser Geld. Und man darf dabei nicht vergessen, Wachstum und somit Wohlstand sind nur möglich, wenn ich jemanden habe, der das damit verbundene finanzielle Risiko übernimmt. Und das sind eben nun mal die Banken. Zukunftsprognosen haben mittlerweile eine kurze Halbwertszeit. Trotzdem – wo sehen Sie Banken und deren Aufgaben in 25 Jahren? Hätten Sie mich das vor 25 Jahren gefragt, hätte ich wahrscheinlich 209 nicht gedacht, dass heute jeder mit einem Smartphone herumläuft und seine Überweisungen auf dem Heimweg in der Straßenbahn machen kann. Es sind einerseits technologische Entwicklungen, die unser Geschäft noch stark verändern werden. Aber auch gesellschaftliche. Es heißt ja nicht, nur weil eine Technologie mal gut funktioniert, dass sie deswegen auch jeder gleich verwenden wird. Da gibt es auch viele kulturelle Unterschiede, allein wenn ich mir die USA anschaue und einzelne Länder in Europa. Ich glaube aber, in Summe wird es eine Kombination aus beidem sein – Bankgeschäft als Beziehungsgeschäft mit Menschen, wenn es um Wissen und Beratung geht. Auf der anderen Seite die »einfachen« Dinge, die jeder flexibel und unabhängig von einer Filiale selbst erledigen will. Gibt es noch Wachstumsmöglichkeiten für Banken, quantitativ und qualitativ? Natürlich! In der Region Zentral- und Osteuropa ist die Durchdringung mit Bank- oder Versicherungsprodukten immer noch weit unter dem EU-Durchschnitt. Es gibt aber auch Nischen wie das Mikrokreditgeschäft oder der gesamte Bereich der AlternativenergieFinanzierung. Da werden wir auch in Zukunft unseren Fokus weiter darauf legen. Muss man als Unternehmen wirklich immer weiter wachsen oder ist es auch irgendwann mal gut? Wachstum um jeden Preis führt in die falsche Richtung. Es geht darum, nachhaltige Entwicklungen zu fördern – auch in der Finanzwirtschaft. Die Zweite Sparkasse oder unsere Mikrofinanztochter Good.bee sind hier nur zwei Beispiele. Was motiviert Sie persönlich den Job noch zu machen – immerhin sind Sie schon über 30 Jahre Banker? Ich mache das aus Leidenschaft. Und weil ich auch nach über 30 Jahren immer noch etwas bewirken und verändern möchte. Einen so großen Bankkonzern zu führen war gerade in den letzten Jahren eine echte Herausforderung. Und es tut sich so viel Neues – nicht immer nur Erfreuliches, aber dafür auch viel Notwendiges und das finde ich einfach spannend. Und es beschäftigen mich ja nicht immer nur die graue Theorie und Zahlen, sondern das »Einen so großen Bankkonzern zu führen war gerade in den letzten Jahren eine echte Herausforderung.« 210 Andreas Treichl (Foto: Godany) ständige Weiterentwickeln u nserer Bank. Wie kann ich unser Service verbessern? Was bedeutet die Technologisierung in den Hosentaschen (Anm. Smartphones) für unser Geschäft? Was erwarten die Menschen von einer modernen Bank und wie können wir das bieten? Das sind doch spannende Fragen, die mich laufend motivieren. Welche Perspektive geben Sie einem jungen Menschen, den Sie heute für eine Karriere in der Ersten anwerben wollen? Es gibt Entwicklungsmöglichkeiten in alle Richtungen. In einem so großen Unternehmen gibt’s fast alle Arten von Jobs: Lehrlinge, Kundenbetreuer, Risikomanager, Juristen, Marketingleute usw. – und es ist keine Seltenheit, dass ein Lehrling es bis zum Filialdirektor hier geschafft hat. In einer Bank zu arbeiten ist nach wie vor ein toller Job. Auch wenn seit der Finanzkrise manche das Gegenteil behaupten. Andreas Treichl absolvierte nach dem Studium der Volkswirtschaft mehrere Traineeprogramme in New York, wo er 1977 bei der Chase Manhatten Bank seine Banklaufbahn begann. Diese führte ihn über einen Zeitraum von 15 Jahren nach Brüssel, Athen und Wien. Im Jahr 1994 wurde Treichl Mitglied des Vorstandes der Erste Österreichische Sparkasse und am 1. Juli 1997 dessen Vorstandsvorsitzender. 211 25 Jahre Wiener Börse – Rückblick, Status und Ausblick von Franz Gschiegl 25 Jahre Wiener Börse: eine bewegte Geschichte. 25 Jahre sind in der raschlebigen und hektischen Finanzwelt eine fast endlos erscheinende Zeitspanne. Trotzdem blicken wir kurz zurück und stellen dann die Wiener Börse hinter den Röntgenschirm für eine aktuelle anatomische Analyse. Auch wenn die Wiener Börse auf der Bühne der globalen Aktienmärkte nur eine ganz kleine Rolle spielt, so konnte sie sich doch des Öf te ren gehörig in Szene setzen ... allerdings in beiden Richtungen. Kursvervielfachungen in relativ kurzen Zeitphasen wurden von extremen Abstürzen abgelöst – und umgekehrt. Mal standen die Austroaktien im Banne der internationalen Ereignisse, mal koppelten sie sich davon total ab, mal gab es eine hausgemachte Hausse1 – und auch Baisse2, mal eine Siebenschläferphase. Immer wieder war der heimische Aktienmarkt auch für Überraschungen gut – ebenfalls in beiden Richtungen. Kneippkuren gab es jedenfalls im letzten Vierteljahrhundert ausreichend, damit aber oft auch enorme Kurschancen für mutige und antizyklisch agierende Investoren. Kleine Börsen, und mit einem Anteil von unter einem halben Prozent gemessen an der Weltbörsenkapitalisierung zählt Wien eben dazu, zeichnen sich durch hohe Volatilitäten und damit Kursbocksprüngen genauso aus wie durch international betrachtet geringe Umsätze, die eben diese Fluktuationen nach oben und unten mitverantworten. Wir beginnen unsere Zeitrechnung etwas früher, da in der globalen Börsegeschichte im Spätsommer 1982 eine der kräftigsten Haussephasen des letzten Jahrhunderts startete, nachdem eine schwere Rezession ihr Ende fand. Der weltweit am meisten beachtete Börsenindex, der 30 Industrieaktien umfassende Dow Jones Industrial Index, lag im August 1982 noch unter 800 Punkten, zum Jahresende waren es dann schon 1070,55 Punkte und heute liegen die Werte bei etwa 13.000. 1 Phase steigender Kurse von Wertpapieren, Devisen etc. 2 Baisse steht für anhaltend sinkende Kurse an den Börsen. 212 Die Börse Wien (Foto: Paul Weber/fotolia.de) An der Wiener Börse ging diese globale Trendwende allerdings fürs Erste einmal vorbei, der damals repräsentative Wiener Börsek ammer index fiel noch im Oktober auf 96,44 – den tiefsten Stand seiner Ge schichte. 14 Jahre davor, also 1968, lag der Startwert bei 100 (den ATX gibt es erst ab 1991, er wurde aber bis 1986 rückgerechnet). Das Jahr 1982 endete dann in Wien mit einem Minus von 6,65 Prozent, während nahezu alle Weltbörsen mit einem kräftigen Plus abschlossen. Der heimische Aktienmarkt wurde vorerst von der internationalen Trendwende nicht angesteckt, erst gegen Jahresende zeigten sich leichte Kursanstiege. Schlechte Unternehmensergebnisse, Dividendenausfälle, weiter abnehmender Streubesitz und allgemeines Desinteresse der Anleger waren die entscheidenden Bremsklötze. So lag der gesamte Jahresumsatz der sowohl börslich als auch außerbörslich gehandelten Austroaktien bei knapp über einer Milliarde Schilling, also etwa 70 Millionen Euro. Überhaupt, so ändern sich die Zeiten: Das Interesse der Investoren fokussierte sich auf den heimischen Anleihenmarkt, gab es doch für beste Bonitäten noch Renditen von 10,6 Prozent, nachdem 1981 sogar kurzfristig elf Prozent angeboten wurden – damals noch ohne Besteuerung der Zinsen. 213 Etwas verspätet gab es dann doch im zweiten Halbjahr 1983 auch in Österreich kräftig steigende Aktienkurse, 1984 war wiederum von einer Verschnaufpause geprägt. 1985 sorgte dann Wien erstmals (zumindest nach dem Börsencrash vom 8. Mai 1873) für internationale Schlagzeilen, wurde doch vom Großinvestor Jim Rogers die Wiener Börse als unterbewerteter Geheimtipp in der US-Wochenzeitschrift »Barron’s« ganz groß in die Auslage gestellt. Noch heute träumen viele heimische Börsianer vom berühmten Prinzen, der das Dornröschen wach küsste. Die Aktien des Magnesitproduzenten Veitscher (übrigens auch mit einem riesigen eigenen Wertpapier-Portefeuille) war 1985 mit + 344 Prozent der Highflyer, über den gesamten Börsezyklus war die Kahane-Holding »Montana« der Star mit einem Plus von fast 1000 Prozent (!). Zur damaligen Zeit überwogen in Wien noch die Einheitsnotierungen, das heißt, bei den meisten Aktien gab es nur einen Kurs pro Börsetag. Des Öfteren gab es sogar aufgrund eines Nachfrage- oder Angebotsüberhanges gar keine Umsätze, sondern nur eine Notiz mit dem Zusatz G (für Geld), was eine zu hohe Nachfrage bedeutete, oder rG (für repartiert Geld), wobei mindestens 25 Prozent des Kaufwunsches bedient wurden. In die Gegenrichtung ging es dann mit W (für Ware) und rW (für repartiert Ware). Die Tageskursveränderung war mit zehn Prozent begrenzt. Dies führte nicht selten dazu, dass ein »Favorit« umsatzlos einige Tage mit einer »G-Notiz« jeweils um zehn Prozent stieg und der Trend dann allerdings oft auf eine rW- und W-Notiz umschlug. Naja, immerhin ein interessantes Austriacum. »Bei den meisten Aktien gab es 1985 nur einen Kurs pro Börsetag.« Nach dem Weltbörsencrash vom Oktober 1987 (wobei der Einbruch zwar heftig, aber nur kurzfristig war und die meisten Börsen das Kalenderjahr sogar noch mit einem Plus abschlossen) setzte sich die 1982 begonnene Megahausse fort und brachte auch der heimischen Börse im Zeitraum von Februar 1988 bis Februar 1990 eine Indexvervierfachung im schon zurückgerechneten ATX von 434 Punkten auf etwa 1800 Zähler. Der Fall der Berliner Mauer und die nachfolgende Öffnung Osteuropas waren dabei die Trendbeschleuniger. Mit der Kuwaitkrise stürzten die Austroaktien dann um etwa zwei Drittel in den nachfolgenden zwei Jahren ab. Danach folgte ein lang anhaltender Seitwärtstrend und erst 14 Jahre später, 214 also im Jahre 2004, konnte der ATX seine historischen Höchststände überbieten. Dazwischen platzte noch die »TMT«-Blase, »Mit dem Beginn des eine internationale Megahausse, die von Internetzeitalters Technologie-, Medien- und Telekomaktien getragen wurde. Mit dem Beginn des Inter wurden vor allem netzeitalters wurden vor allem Technoaktien Technokatien extrem extrem nach oben gepusht, wobei die Mehr nach oben gepusht.« heit der Titel kaum über einen fundamentalen Hintergrund oder gar schwarze Bilanzzahlen verfügten. In Wien waren (Gott sei Dank!) diese drei Branchen kaum vertreten, die wenigen Highflyer wie Cybertron oder Y-Line gingen schlussendlich auch pleite. Auch für gestandene Börsianer war das Geschehen auf dem »Neuen Markt« in Deutschland eine neue Erfahrung, gab es doch in diesem speziellen »TMT«-Segment nach Indexvervielfachungen einen Indexrückgang um über 90 Prozent (!), was die Auflösung des gesamten Neuen Marktes zur Folge hatte. Einige Tapfere der »Überlebenden« fanden sich dann im neu gegründeten »Tec-DAX« wieder. Kleine Anekdote: Am Top dieser Hausse wollte sogar Dieter Bohlen mit »Modern Talking« an die Börse gehen und hatte sich schon eine Bewertung eingeholt. Ziemlich exakt drei Jahre gingen dann die Weltbörsen auf Tauchstation, genau vom März 2000 bis März 2003. Nachdem Wien dieses Thema so gut wie nicht spielte, waren auch die Kursverluste »überschaubar«. Wien war dann neben New York auch die einzige Börse, die schon im Oktober 2002 drehte, die anderen eben erst im darauffolgenden März. In knapp fünf Jahren zeigte dann der ATX seine bisher beste Per formance, stieg er doch um das Fünffache an. Konkret lag der Aus gangswert am 11. Oktober 2002 bei 1014,02 und der Intraday-Höchstkurs am 9. Juli 2007 bei tollen 5010,93 Punkten. Daneben gab es noch eine austrospezifische Hausse bei den alsbald heillos überbewerteten Immobilienaktien, die sich vorerst vervielfachten, dann aber mit einem Minus von etwa 90 Prozent im IATX (dem Immobilien-ATX) dem ehemaligen »Neuen Markt« Konkurrenz machten. 215 Im Zuge der bekannten Finanzkrisen (US-Subprime, dann Lehman-Pleite und die nachfolgenden »Lawinen«) ging auch die Wiener Börse zu einem Sturzflug über und verlor in 20 Monaten 72,5 Prozent. Am 9. März 2009 drehten dann mit den Weltmärkten auch die Wiener Titel und legten in der ersten kräftigen technischen Gegenbewegung in sieben Monaten wieder 100 Prozent zu. 2011 kam es dann im Zuge der Zuspitzung der Staatsschuldenkrisen zu einem gehörigen Einbruch vor allem der Finanztitel, wobei Österreich auch im internationalen Vergleich zu den größten Verlierern zählte. Am 23. November 2011 kam der ATX-Absturz bei einem Niveau von 1653 Punkten dann zum Stillstand und konnte sich dann im letzten Jahr (2012) sukzessive wieder auf 2200 Zähler zurückkämpfen. Eine Erfolgsstory auf dem heimischen Kapitalmarkt soll nicht verschwiegen werden: Gab es 1982 lediglich zwei österreichische Fonds gesellschaften, die in zwölf Fonds gerade einmal eine halbe Milliarde verwalteten, so sind es zur Zeit 22 Kapitalanlagegesellschaften, die in 2159 Fonds 134,6 Milliarden betreuen. Sie sind somit auch wichtige Teilnehmer am heimischen Börsegeschehen. Auch wenn die heimischen Aktien 2012 deutlich hinter der Perfor mance vieler Weltbörsen nachhinkten, zählen sie weiterhin zu den vernachlässigten Favoriten. Es liegt nach wie vor eine attraktive Bewertung gemessen an den klassischen Börsekennzahlen (wie KursGewinn-Verhältnis, Kurs-/Buchwert, Dividendenrendite, Cashflow etc.) vor, Österreich weist im EU-Raum eine überdurchschnittlich gute Konjunktursituation auf, die Zinsen werden niedrig bleiben, was Aktien interessanter macht, die meisten Investoren haben die Hausse verpasst und weisen zu geringe oder gar keine Aktienpositionen auf, sukzessive nimmt die Risikobereitschaft der Anleger wieder zu. Als Bremsen sind die stark reduzierte Osteuropa-Fantasie, die Angst vor weiteren Krisen, neue steuerliche Belastungen, die ungelöste Staatsschulden-Problematik und das internationale Desinteresse an Österreich zu nennen. Das Börsejahr 2012 war von einer selten zu beobachtenden, aber erfreulichen Besonderheit geprägt: Nahezu alle Wertpapierkategorien und 216 Handelsüberwachungsraum (Foto: Wiener Börse) Weltbörsen wiesen ein Plus auf, wenn man von ein paar Exoten absieht. Es gibt in der Börsegeschichte nur wenige Zeitfenster, in denen unisono Aktien und Anleihen über sehr weite Strecken Kursanstiege aufwiesen, wobei im Segment der Anleihen sich auch die Plusstände über alle Bereiche erstreckten, egal, ob man mündelsichere Papiere oder hochverzinste Risikoanleihen hielt, egal, ob sie im Euro-Land-Bereich oder in den Schwellenländern angesiedelt waren. Die meisten Dividendenwerte zeigten nach einem enttäuschenden Aktienjahr 2011 im Jahr 2012 in zwei Aufwärtsphasen teils k räftige Kursgewinne, der erste Schwung zog sich vom Jahresbeginn bis in den April hinein, nach einer Verschnaufpause mit entsprechender Gegenbewegung ging es dann nochmals vom Juni bis Anfang Oktober nach oben. Im vierten Quartal gab es dann wieder eine Verschnaufpause. Die zahlreichen Krisen führten 2011/2012 bei vielen Anlegern zu neuer lichen Resignationen, zu Wertpapierdepot-Auflösungen und damit entweder zu Dotierungen der Sparbücher, zu Käufen von Staatsanleihen höchster Bonität hin bis zur Nullverzinsung, zur Flucht in Immobilien und, dieses Mal etwas abgeschwächter, zum Kauf von Edelmetallen. Die Einlagensicherung mit bis zu 100.000 Euro pro Person und Institut war und ist ein beliebtes Argument, um Geld zu »bunkern« oder zumindest 217 vorübergehend Munition trocken zu halten. Dies führte beispielsweise in Österreich und in Deutschland zu täglich fälligen rekordhohen Sparbucheinlagen. Die nahe dem Gefrierpunkt liegende Verzinsung spielte dabei keine Rolle, auch die Inflation mit zuletzt 2,8 Prozent 3 war nicht beängstigend im Sinne eines längerfristigen Kaufkraftverlustes. Ja, die meisten Investoren würden sogar eine höhere Inflation bei unveränderten Zinsniveaus akzeptieren, da sie dies quasi als »Versicherungsprämie« für ihr heiliges Sparbuch werten. »Cash is king« oder auf gut Wienerisch: »Cash is fesch« war die klare Devise – zum Teil auch von alten Börsehasen. Das »Bunkern« ist eine durchaus verständliche Reaktion, liegt es doch in der Natur jeden Anlegers, dass er in erster Linie einmal kein Geld verlieren will – und wenn aktuell keine interessanten Ertragschancen in Sicht sind, so muss man wohl geduldig zuwarten, bis die Gewitterwolken abziehen. Dabei ist psychologisch leicht nachvollziehbar, dass die jüngsten (leider überwiegend negativen) Ereignisse stärker das Handeln beeinflussen als die langfristige Statistik und Erfahrung. Gleich hat man das Thema des »Paradigmenwechsels« bei der Hand – eine probate Entschuldigung für orientierungslose Anleger. »Das »Bunkern« ist eine durchaus verständliche Reaktion.« Jedenfalls sei die allerwichtigste Erkenntnis aus den letzten Jahr zehnten im Börsegeschehen leicht zusammengefasst: Die Aufteilung des Vermögens auf mehrere »Assetklassen« wie Aktien, Anleihen, Gold, Devisen, Rohstoffe, Immobilien etc. bringt eben eine vernünftige und langfristig ertragreiche Risikostreuung, eben die viel zitierte Diversifikation, mit sich. Konkret und besonders exemplarisch: Auch wenn man in den letzten Jahrzehnten unglücklicherweise gerade knapp vor dem Eintritt eines unglücklichen Ereignisses investiert hat, ergab sich schon drei und fünf Jahre später ein zweistelliger Gesamtertrag – sofern man seine Gelder auf mehrere Anlageklassen aufgeteilt hatte. Einmal stieg der Ölpreis extrem an, dann waren es wieder die Aktien oder – wie zuletzt – die »simplen« Staatsanleihen bester Bonität. Investmentfonds sind dabei per Definition das ideale Vehikel, um an den Wertpapiermärkten eine entsprechende Streuung zu erzielen, wobei 3 Stand November 2012 218 gerade in Krisenzeiten das »Miteigentum« in Form des Sondervermögens zusätzlich einen wichtigen Aspekt darstellt. Wie eingangs erwähnt starteten die Aktienbörsen im ersten Quartal (für viele Anleger ziemlich unerwartet) kräftig durch und zeigten nach den ersten drei Monaten schon Erträge, die an langfristige Jahresperformance-Zahlen erinnerten. Mitte März riss jedoch der Faden und die Dividendenwerte traten wiederum den Rückmarsch an. Das »griechische Drama« und die »spanische Grippe«, also die Zuspitzung der Schuldenkrisen in Griechenland und Spanien, waren neben dem schwächeren Tempo der Weltkonjunktur-Lokomotive China und den vielerorts auch politischen Veränderungen die Hauptgründe für den Rückzug der Aktionäre. Im Zuge des Angstszenarios fielen die Renditen der sichersten Staats anleihen auf historische Tiefstniveaus, etwa in Deutschland bei zehnjährigen Papieren auf 1,2 Prozent, für zweijährige Anleihen gab es phasenweise überhaupt keine Zinsen, womit man bei der jahrelang zitierten »Nullzinspolitik Japans« angelangt war. Die tiefschürfende Angst der Anleger hatte allein den Substanzerhalt in den Vordergrund gespült, das Ertragsdenken, also das ökonomisch sinnvolle Streben nach entsprechender Vermögensvermehrung, hatte keine Gültigkeit mehr. Wer kauft mit welcher Strategie nun Papiere mit keiner oder nur einer geringen Verzinsung? Die Aktienbörsen als sensibelste Barometer lieben Unsicherheiten schon einmal gar nicht, umso weniger, wenn sie – wie beim Griechendrama – nun schon über zwei Jahre anhalten. Ist lehrbuchmäßig eine Vielzahl von Rahmenbedingungen für einen Aktienkurs verantwortlich, so kann doch über gewisse Zeitstrecken ein einziger Belastungsfaktor (seltener: ein einziges positives Argu ment) kursbestimmend sein. Dann spielen attraktive fundamentale Bewertungen, positive Zukunftsperspektiven, ansprechende langfristige Statistiken und extrem niedrige Kurse eben keine Rolle, die »Baisse nährt die Baisse«, die Angst, es könnte noch schlimmer kommen, beschleunigt noch die Abwärtsspirale. Massiver Abgabedruck trifft auf bescheidenes Kaufinteresse, wodurch die Kurse neuerlich purzeln. 219 Das Ende der Baisse ist dann durch eine Verkaufspanik der letzten verbliebenen und bis zu diesem Zeitpunkt geduldigen Anleger geprägt, womit allerdings der Nährboden für die nächste Hausse gegeben ist. Nun haben alle verkauft, die »raus« wollten, egal um welchen Preis. Der Abgabedruck ist weg und schon eine geringe Nachfrage einiger mutiger und frühzeitiger Investoren führten dann bei wenig Handelsvolumen zu rasch steigenden Kursen, da bei den niedrigen Preisen ja nun kaum noch jemand verkaufen will. Nahezu alle bedeutenden Börsen endeten 2012 im Plus Bei aller Schwarzmalerei sah es aber tatsächlich für die Aktionäre 2012 dann eigentlich recht gut aus, nahezu alle bedeutenden Börsen e ndeten im Plus. Wir wollen Ihnen die wichtigsten Rahmenbedingungen für die Wertp apiermärkte für die nächsten sechs bis zwölf Monate nun gegenüberstellen. Nachdem unverändert die Schwarzmaler in der Mehrheit sind, sollen die Pessimisten zuerst zu Wort kommen. Die Baissiers führen folgende Fakten an, die fallende Kurse erwarten lassen: • Die Schuldenberge wachsen überdimensional und können nur langfristig mit einschneidenden Maßnahmen abgebaut werden. • Ausgehend von einer Wirtschaftsabschwächung in den USA wird auch die gesamte Weltwirtschaft leiden. • Die hoch gelobten »BRIC«-Staaten müssen mit vielen Problemen fertig werden, dies wird auch die westliche Welt belasten. • Dabei fällt insbesondere China als Weltkonjunktur-Lokomotive aus. • Politische Veränderungen verunsichern die Börsianer. • Die Krisen in Nordafrika und dem Nahen Osten weiten sich neuerlich aus. • Die Immobilienblase in China platzt und reißt die gesamte Wirtschaft mit. • Flops bei Neuemissionen wie facebook verärgern die Aktionäre. 220 • Generell ist das Übel der Finanzkrise nicht beseitigt, sondern die Entscheidungen sind nur vertagt. • Das Image der »Finanzwelt« ist deutlich angeschlagen. • Die Anleger werden immer risikoscheuer und bunkern sich ein. • Die sieben mageren Jahre dauern einfach noch an. Diese Argumente sprechen hingegen für einen kräftigen Aufschwung und einen heiteren Börsehimmel: • Die Zinsen werden niedrig bleiben; sobald die Angst weicht und das Ertragsdenken wieder zunimmt, werden Sparbuchgelder zum Teil in Wertpapiere umgeschichtet werden. • Die Bewertung der Aktien ist mehr als fair, zum Teil sogar niedrig im historischen Vergleich. • Wer verkaufen wollte, der hatte bereits ausreichend Zeit und Gelegenheit dazu, die Aktien sind daher immer mehr in »starken Händen«. • Gestählt aus der Krise: Negative Nachrichten haben sich in den letzten Monaten überschlagen, trotzdem hat sich die Börse gut gehalten. • »Geld regiert die Welt«: Noch nie gab es so viel Cash, was früher oder später ertragreiche Anlagemöglichkeiten suchen wird. Der Anlage- und Performancedruck mancher Kapitalsammelstellen wie Pensionskassen, Versicherungen und SWFs (Sovereign Wealth Funds) steigt enorm, der ertragsarme Geld- und Rentenmarkt muss sukzessive verlassen werden. So hat beispielsweise China Währungsreserven von 3200 Milliarden Dollar, die alle 1,5 Minuten um eine Million zunehmen. • Alternative Veranlagungen zu Aktien sind mit geringen Zinsen versehen oder extrem spekulativ, auch Hedgefonds haben 2012 in Summe enttäuscht. • Die Wirtschaft tritt zwar leiser, bleibt aber auf Wachstumskurs. • Die USA könnten wiederum zu ihrer alten Rolle als WeltkonjunkturLokomotive zurückkehren. • Der private Konsum wird insbesondere in den Schwellenländern kräftig wachsen, auch wenn aktuell da und dort eine kleine Pause eingelegt wird. • Viele Medien bringen bereits »Notfallpläne für Ihr Geld« – immer ein gutes Anzeichen für eine baldige Trendwende. 221 Der Börsehimmel wird auch 2013 gelegentlich durch Gewitterwolken eingetrübt sein. Zu viele Belastungsfaktoren bremsen den Elan der Börsen. Die Geduld der Anleger wurde schon in den letzten Jahren sehr strapaziert und könnte durch neue negative Nachrichten platzen. Nac hdem m a n be i m Au f z iehen von Gewitterwolken eher das sichere Gelände nicht verlassen sollte, empfehlen wir auch den Anlegern etwas Munition trocken zu halten. Größere Rückschläge sind allerdings an den Aktienmärkten eher nicht zu befürchten, weshalb mutigere Investoren schwache Börsetage zu Käufen in Etappen gemäß der Eichhörnchentaktik nützen sollten. Wie erwähnt sind die Dividendenwerte auf tieferen Niveaus durch ihre Bewertung gut abgesichert und 2013 sollte wiederum entsprechende Kursgewinne ermöglichen. Größere Rückschläge sind 2013 nicht zu befürchten Emerging Markets haben schon einen Teil der Talfahrt hinter sich und sollten wieder die Outperformer in einem freundlicheren Umfeld sein. Dabei sind Hongkong (als Chinaplay) und die Türkei (im November 2012 auf Rekordhoch!) die Favoriten, besonders spekulativ eingestellte Investoren sollten auch die Reboundchancen von Moskau einbeziehen. Franz Gschiegl ist Volkswirt und J urist und seit etwa 30 Jahren Börse- und Finanzm arktexperte. Seit 1991 ist er Mitglied des Vorstands der ERSTE-SPARI NVEST sowie der ERSTE IMMOBILIEN KAG. Er hat zahlreiche einschlägige Bücher zu Themen wie Veranlagung, Bank und Börse geschrieben und ist Referent bei diversen Fachveranstaltungen. Außerdem ist Gschiegl ständiger Autor des Monatsmagazins GEWINN. 222 Der Euro – scheitert Europa an seiner eigenen Währung? von Rainer Münz und Bernadett Povazsai-Römhild Der Euro ist die gemeinsame Währung der Europäischen Union. Er hat eine längere Vorgeschichte. Erst seit einem Jahrzehnt im Umlauf, muss er sich Herausforderungen stellen. Erste Ideen zu einer gemeinsamen europäischen Währung entstanden bereits 1957 mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), dem Vorläufer der EU. Die EWG hatte den Aufbau eines gemeinsamen Marktes, also die Erleichterung von Handel, Arbeitsmigration und Geldverkehr, zwischen ihren Mitgliedsstaaten – das waren Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande – zum Ziel. Die Staaten des Westens hatten damals noch feste Wechselkurse untereinander sowie zum US-Dollar; als Leitwährung hatte der US-Dollar zugleich eine fixe Bindung an den Goldpreis. Mit dem Ende des Systems fester Wechselkurse stellte sich ab Anfang der 1970er-Jahre die Frage, wie sich die Wechselkursschwankungen zwischen den europäischen Währungen des gemeinsamen Marktes reduzieren ließen. Eine Expertengruppe unter Vorsitz des damaligen luxemburgischen Ministerpräsidenten Pierre Werner schlug eine europäische Währungsunion vor. Danach einigten sich die EWG-Staaten auf ein Europäisches Währungssystem (EWS), in dem Währungsschwankungen innerhalb einer Bandbreite von ± 2,25 Pro zent zugelassen waren. Bei größeren Schwankungen mussten die Zentralbanken intervenieren, bis der fixierte Kurs wieder erreicht war. Drittwährungen, insbesondere dem US-Dollar gegenüber, konnten sich die Währungen des EWS frei bewegen. Das EWS trat 1979 in Kraft. Großbritannien wurde nach längerem Zögern erst 1991 Mitglied – und dies aus Prestigegründen mit einem zu hohen Kurs des Pfund gegenüber den anderen europäischen Währungen. Der Bank of England wurden die deshalb nötigen Interventionen auf dem Devisenmarkt bald zu teuer, worauf hin Großbritannien das System der festen Wechselkurse schon ein Jahr später wieder verließ. Das Britische 223 Verwendung des Euro in Europa Eurozone Länder mit festem Wechselkurs gegenüber dem Euro EU-Mitglieder ohne festen Wechselkurs zum Euro Nicht-EU-Mitglieder mit Euro Quelle: Wikipedia Pfund wertete ab und George Soros, der im großen Stil auf eine solche Abwertung gewettet hatte, verdiente daran ein Vermögen. Die übrigen EU-Staaten beschlossen 1992 im Rahmen des MaastrichtVertrages, der die EWG zur Europäischen Union (EU) machte, u. a. die Einführung einer gemeinsamen Währung. Um die Währung stabil zu halten, legte der Maastricht-Vertrag Obergrenzen bei den Staatsschulden von Euro-Ländern fest: Gemessen an der wirtschaftlichen Leistungs fähigkeit eines Landes sollten die Schulden in Summe nicht mehr als 60 Prozent des Brutto-Inlandsproduktes ausmachen. Zudem sollte die jährliche Neuverschuldung durch ein Defizit im Staatshaushalt nicht mehr als drei Prozent des Brutto-Inlandsproduktes betragen. Das sind die beiden so genannten Maastricht-Kriterien. Ursprünglich sollten die Maastricht-Kriterien mittels Sanktionen durchgesetzt werden. Die gegen Defizitsünder vertraglich vorgesehenen Strafen durch die EU-Kommission wurden allerdings in der Praxis nie verhängt. Im Maastricht-Vertrag wurde auch vereinbart, dass die E uro-Staaten selbst in einer Währungsunion nicht wechselseitig für ihre Schulden haften, sondern jeweils für ihre nationalen Haushalte s elber verantwor tl ich bleiben. Dies ist die v iel zit ier te »No Ba ilout«Klausel des Maastricht-Vertrages. Durch die seit 2010 ergriffenen 224 Verwendung des Euro außerhalb Europas Afrikanische Gebiete mit Euro Afrikanische Gebiete mit an den Euro gebundenen Währungen Quelle: Wikipedia Rettungsmaßnahmen in der Euro-Krise wurde diese »No Bailout«Klausel faktisch außer Kraft gesetzt. 1998 erfolgte die Gründung der Europäischen Zentralbank (EZB). Zugleich wurden die endgültigen Wechselkurse der nationalen Währungen zum zukünftigen Euro festgelegt. Der Euro wurde 1999 als Buchgeld und 2002 als Bargeld eingeführt. Er löste damit die nationalen Währungen als Zahlungsmittel in fast allen damaligen EU-Staaten ab. Die meisten Europäerinnen und Europäer zahlen seither mit Euro und Cent. Nur Schweden und Dänemark behielten ihre jeweiligen Kronen und Großbritannien das Pfund. 2007 stieß Slowenien zur Euro-Zone, 2008 folgten Zypern und Malta, 2009 die Slowakei und 2011 Estland. Heute sind 17 EU-Mitgliedsstaaten in der Euro-Zone. Darüber hinaus verwenden die Zwergstaaten Monaco, San Marino und Vatikanstadt den Euro als Landeswährung und prägen eigene Euro-Münzen. Mit Andorra, Kosovo und Montenegro haben drei weitere Nicht-EU-Staaten den Euro als Landeswährung, allerdings ohne eigene Euro-Münzen. Einige andere Länder haben einen festen Wechselkurs zwischen ihren Landeswährungen und dem Euro. Innerhalb der EU gilt dies für Bulgarien, Dänemark, Lettland und Litauen. Aber auch der Nicht-EUStaat Schweiz hat einen festen Kurs für den Umtausch von Franken 225 Zinssatzentwicklung ausgewählter Euro-Länder für 10-jährige Staatsanleihen, 1995–2012 (in % p.a.) Griechenland Deutschland Portugal Irland 30.0 Österreich Spanien 22.5 15.0 7.5 ’95 ’96 ’97 ’98 ’99 ’00 ’01 ’02 ’03 ’04 ’05 ’06 ’07 ’08 ’09 ’10 ’11 ’12 0.0 Quelle: Thomson Reuters, Erste Group Research und Euro fixiert. Ähnliches gilt für Bosnien und für die Staaten der westafrikanischen Gemeinschaftswährung CFA. Außerhalb Europas wird der Euro in den zu Frankreich gehörenden Übersee-Departements Guadeloupe, Martinique, Französisch Guyana, Mayotte und Réunion sowie in den Übersee-Territorien Miquelon und St. Pierre und St. Martin verwendet. Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre nahm ihren Anfang außerhalb Europas. Sie wurde einerseits durch das Platzen der US-amerikanischen Immobilienblase, vor allem durch die Vergabe von Krediten an wenig zahlungskräftige Hauskäufer (»Subprime«) und a ndererseits durch die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers ausgelöst. 2009 erreichte die Krise Europa: Auch bei uns mussten Banken und Autoproduzenten mit Staatsgeld gerettet werden. Die Wirtschaft fast aller EU-Staaten erlebte einen Abschwung, die Steuereinnahmen verringerten sich, die Staatsausgaben nahmen zu. Vor allem gegenüber wirtschaf tlich schwächeren Ländern wie Griechenland, Italien, Irland, Portugal, Spanien und Zypern bestehen seither erhebliche Zweifel, ob sie ihre Schulden je wieder voll zurückzahlen können. Das zeigt sich in den seit dem Ausbruch der Krise deutlich gestiegenen Risikoaufschlägen auf Staatsanleihen dieser Länder. 226 Entwicklung des Wechselkurses US-Dollar vs. Euro, 2002–2012 (US-Dollar für 1€) 1.6 1.4 1.2 1.0 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 0.8 Quelle: OeNB Zuvor wurden alle 17 Länder der Euro-Zone vom internationalen Kapitalmarkt weitgehend gleich behandelt – trotz unterschiedlicher Wirtschafts- und Fiskalpolitik, trotz unterschiedlichen Wachstums, trotz unterschiedlichen Niveaus der Staatsschulden. Schon im Vorfeld der Euro-Einführung begannen sich die Zinsen für Staatspapiere der Euro-Länder stark anzunähern und erreichten Ende 2000 ein gemeinsames niedriges Niveau. Länder mit schwächerer Wirtschaft und weniger soliden Staatsfinanzen profitierten davon, weil sie sich relativ günstig finanzieren konnten. Dies förderte weder die nationale Budgetdisziplin noch die Einhaltung der Maastricht-Kriterien. Nicht vergessen sollten wir dabei: Schon bei der Einführung des Euro im Jahr 2002 lagen mehrere Länder über den festgelegten Schulden-Obergrenzen. In den Jahren danach verstießen die meisten Euro-Länder, darunter auch Deutschland und Österreich, mehrmals gegen eines der beiden Maastricht-Kriterien oder gegen beide gleichzeitig. Dabei war die neue Währung anfangs ein großer Erfolg: Wechselspesen fielen weg, Firmen mussten innerhalb Europas kein Wechselkursrisiko mehr befürchten, der Handel zwischen EU-Ländern nahm zu. Die Währung gewann gegenüber dem US-Dollar deutlich an Wert: Bei seiner Einführung bekam man für einen Euro nur 90 US-Cent, 2008 war ein Euro hingegen e inen US-Dollar und 60 Cent wert. Diese Wertsteigerung 227 Interventionskapazität von EFSF und ESM (in Mrd. Euro) Kredite von EU-Staaten On-top Garantierahmen durch die Euro-Länder (für den Fall eines Zahlungsausfalls) Tatsächlicher Kreditrahmen garantiert durch die Euro-Länder Direkt einbezahltes Grundkapital, das ebenfalls an Euro-Länder verliehen werden kann 900 60 675 340 200 450 420 225 440 80 EFSF ESM 0 Quelle: EU entstand nicht zuletzt, weil Russland, China und die Golfstaaten einen Teil ihrer Devisenreserven in Euro anzulegen begannen. Heute ist der Euro nach dem US-Dollar die wichtigste Reservewährung der Welt. Erst die Wirtschafts- und Finanzkrise machte die Schwächen der Währungsunion deutlich: Nun müssen 17 Euro-Länder unterschiedlicher wirtschafts- und fiskalpolitischer Charakteristika mit e inem gemeinsamen Leitzinssatz und einer gemeinsamen Geldpolitik auskommen. All dies hat mit der unvollständigen Architektur Europas zu tun. Zwar verfügen die Staaten der Euro-Zone über eine gemeinsame Zentralbank (EZB) und ihre Finanzminister halten regelmäßig gemeinsame Treffen ab (EuroGroup), doch es gibt keine gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Durch die gemeinsame Währung sind zwei Wege versperrt, die viele Länder in der Vergangenheit beschritten haben, um ihre Finanzprobleme in den Griff zu bekommen: erstens das Drucken von Geld, um den Staatshaushalt zu finanzieren, was eine höhere Inflation bewirkte, die einen Teil der Staatsschulden weginflationierte; und zweitens die Abwertung der eigenen Währung, um die Exporte billiger zu machen und dadurch die internationale Wettbewerbsfähigkeit wieder zu steigern. 228 Die Krise zwingt die Euro-Länder Reformen anzugehen, die zwar schon längst auf der Agenda standen, aber in wirtschaftlich besseren Zeiten auf die lange Bank geschoben wurden. Zur Euro-Rettung wurde seit Beginn der Euro-Krise einiges unternommen. Die Maßnahmen umfassen Rettungsschirme, Intervention der EZB und eine größere Budgetdisziplin. Die Herausforderung wird sein, diese Maßnahmen effizient einzusetzen und dabei die gesunde Balance zwischen Sparen und Wachstum zu finden. Wichtigstes kurzfristiges Instrument der Krisenbekämpfung sind die so genannten Rettungsschirme: Der vorläufige Schirm EFSF (=European Financial Stability Facility), der seit August 2010 besteht, und der permanente Schirm ESM (=European Stability Mechanism), der seit Oktober 2012 handlungsfähig ist. Mit den Hilfspaketen der Rettungsschirme sollen zahlungsun fähige Mitgliedsstaaten der Eurozone – unter wirtschaftspolitischen Auflagen – mit Krediten unterstützt werden. Zugleich darf der ESM in Schieflage geratene Banken direkt mit frischem Kapital ausstatten. Voraussetzung für eine solche direkte Rekapitalisierung von Banken ist allerdings entweder eine gemeinsame Euro-zonenweite Bankenaufsicht, die noch ins Leben gerufen werden muss, oder eine nationale Haftung für diese Mittel durch jenes Land, in dem die rekapitalisierten Banken ihren Sitz haben (Banken-Hilfsprogramm für Spanien). Seit 2010 bekamen Griechenland 276 Mrd. Euro, Irland 86 Mrd. Euro und Portugal 78 Mrd. Euro an Hilfen vom EFSF sowie Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF). Darüber hinaus wurde für Griechenland im März 2012 ein Schuldenschnitt privater Investoren in Höhe von ca. 100 Mrd. Euro vereinbart – ein weiterer Verzicht auf Forderungen ist nicht ausgeschlossen. Spanien beantragte 2012 einen Rahmen von bis zu 100 Mrd. Euro an frischem Kapital für seine Banken (tatsächliche Auszahlung 2012/13: ca. 40 Mrd. Euro). Zypern bat um bis zu 10 Mrd. Euro. Bei beiden Rettungsschirmen handelt es sich um Währungsfonds, die von allen Ländern der Euro-Zone gemeinsam finanziert werden bzw. mit einer Ausfallsgarantie ebendieser versehen sind. Finanzhilfe 229 durch EFSF und ESM bedeutet, dass die betroffenen Länder keine e igenen Staatsanleihen auflegen und sich dadurch nicht mehr über den Kapitalmarkt finanzieren müssen, was erheblich teurer wäre. Stattdessen leihen sich die Rettungsschirme zu günstigen Konditionen Geld auf den Kapitalmärkten und reichen dieses Geld in Form moderat verzinster Kredite an jene Länder weiter, die damit ihre laufenden Haushaltsdefizite, alte Staatsschulden oder ihre in Not geratenen Banken finanzieren. Diese Hilfen sind an klare Auflagen geknüpft: Die betroffenen Länder müssen mehr Steuern einheben, Staatsausgaben begrenzen, ihrer Arbeitsmärkte flexibler gestalten, Staatsbetriebe privatisieren und nach Möglichkeit international wettbewerbsfähiger werden. Überwacht wird dies durch eine Troika aus Vertretern der EU-Kommission, des IWF und der EZB. Hoch verschuldeten Ländern verschafft diese Vorgehensweise zwar fiskalischen Spielraum, erspart ihnen aber nicht, strukturelle Reformen anzupacken. Neben den Rettungsschirmen spielt die EZB eine tragende Rolle bei der Krisenbekämpfung. Sie hat seit Beginn der Krise den Leitzinssatz reduziert, akzeptiert nun auch geringwertigere Staatsanleihen aus Krisenstaaten als Sicherheit und kauft von Zeit zu Zeit selbst Anleihen jener Länder, die sich nur noch zu hohen Zinssätzen verschulden können. Im Herbst 2012 gab die EZB bekannt, dass sie nun auch Anleihen mit kurzer Laufzeit von Problemstaaten in nicht limitierter Höhe zu kaufen gedenkt (so genannte »Outright Monetary Transactions«), sofern sich die betroffenen Länder zu bestimmten wirtschaftlichen und fiskalischen Reformen verpflichten. »Anleihen in nicht limitierter Höhe« Darüber hinaus stellt die EZB den Banken kurz- und mittelfristig Liquidität zur Verfügung. Denn viele Banken sind aufgrund des wechselseitigen Misstrauens vom weltweiten Handel der Banken unter einander (Geld, Wertpapiere, Devisen) abgeschnitten. 2011 und 2012 gab die EZB Europas Geschäftsbanken eine zusätzliche Liquidität in Höhe von rund 1000 Mrd. Euro zu günstigen Konditionen für einen Zeitraum von drei Jahren. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass die Banken dadurch ihre eigene wirtschaftliche Situation verbessern, vermehrt Staatsanleihen kaufen und Kredite an die Realwirtschaft vergeben können, um so das Wirtschaftswachstum mit anzukurbeln. 230 Neu ist, dass die EZB in Kooperation mit nationalen Regulatoren ab 2013–14 die Aufsicht über systemrelevante Banken der Euro-Zone ausüben soll. Auf politischer Ebene reagierten die EU-Staaten auf die Krise mit fiskalischen Reformen. Dazu gehören: • erstens die Begutachtung der Budgetentwürfe durch die EUKommission, bevor die nationalen Parlamente darüber abstimmen (Europäisches Semester); • zweitens die Verankerung von Schulden-Obergrenzen in der Verfassung als nationales Recht (Schuldenbremse), wozu sich bis jetzt alle EU-Mitgliedsländer – mit Ausnahme von Großbritannien und Tschechien – verpflichtet haben; • und drittens quasi-automatische Sanktionen in Form von empfindlichen Strafzahlungen bei der Verletzung von Budgetzielen. Im Zentrum der Krisenbekämpfung steht seit 2010 die Verringerung der laufenden Budgetdefizite. Einsparungen bei den Staatsausgaben und höhere Steuereinnahmen bedeuten allerdings auch weniger öffentlichen und privaten Konsum. Die verschärfte Haushaltsdisziplin bremst das Wirtschaftswachstum bzw. sie führt in den Krisenstaaten zu schrumpfenden Volkswirtschaften. Zugleich zeigt sich, dass die bisherigen Bemühungen in Summe keineswegs erfolglos sind. So sind einige Krisenstaaten wettbewerbsfähiger geworden, was sich an gesunkenen Lohnstückkosten, höheren Exporten und geringeren Leistungsbilanzdefiziten zeigt. Die Zukunft der Eurozone hängt daher nicht bloß von Rettungs maßnahmen ab, sondern von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Was bringt der Austritt eines Landes aus der Euro-Zone? Vertraglich sind weder der Austritt eines Landes aus der Euro-Zone noch ein geordneter Staatsbankrott eines EU-Mitgliedsstaates geregelt. Dennoch werden solche Szenarien und deren mögliche finanziellen 231 Folgen immer wieder erörtert. Im Zentrum der Diskussion steht dabei ein mögliches Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone (»Grexit«). Wie würde das konkret aussehen? Als erstes würden viele Griechen noch mehr Geld als bisher im Ausland in Sicherheit bringen. Dieser Kapitalabf luss wäre mit einem massiven Abzug von Guthaben bei Geschäftsbanken verbunden. Dies könnte zu gravierenden Liquiditätsengpässen führen und das 2012–13 frisch rekapitalisierte griechische Finanzsystem erneut in Schieflage bringen. Griechenland müsste relativ rasch eine neue Währung einführen und den Wechselkurs dieser zum Euro festlegen. Einmal in Umlauf gebracht, würde die neue Währung zum Euro binnen kürzester Zeit drastisch abwerten. Das hätte folgende Auswirkungen: Der »Fall des Falles«: Kapitalabfluss und Liquiditätsengpass • Die in Euro notierten öffentlichen Schulden blieben bestehen und wären schlicht nicht mehr finanzierbar. Ein weiterer Zahlungsausfall Griechenlands wäre die Folge. • Griechenland könnte infolge der Währungsabwertung durch günstigere Exporte an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen. Vor allem der zentrale Wirtschaftszweig Tourismus könnte davon profitieren. Gleichzeitig würden sich Importe verteuern, was einerseits die Nachfrage nach inländischen Produkten steigern, aber andererseits bei notwendigen Importprodukten wie Öl und Gas zu deutlichen Preissteigerungen führen. • Die Realwirtschaft würde noch eine Zeitlang weiter schrumpfen. Dieses Szenario klingt sowohl aus Sicht Griechenlands als auch aus Sicht der übrigen Euro-Länder wenig wünschenswert. Für Europa und die Weltwirtschaft wäre ein Staatsbankrott Griechenlands ökonomisch zwar durchaus verkraftbar. Aber es ist zu befürchten, dass die Kapitalmärkte bei einem Euro-Austritt Griechenlands auch die Zahlungsfähigkeit Irlands und Portugals, vielleicht sogar jene von Spanien und Italien in Frage stellen könnten. Käme es in der Folge tatsächlich zu hohen Zinsaufschlägen und zu Zahlungsschwierigkeiten größerer Euro-Länder, könnte dies nicht nur in diesen Ländern selbst, sondern auch global 232 zu einer Rezession führen. Daher ist aus heutiger Sicht davon auszugehen, dass Griechenland den Euro behält, es aber zu einem zweiten Schuldenschnitt kommt. Die Steuerzahler der übrigen Euro-Staaten kostet dies auf jeden Fall etwas, weil das verliehene Geld kaum noch ver zinst und wahrscheinlich nicht voll zurückgezahlt werden dürfte. Studien und Berechnungen zu einem möglichen Euro-Exit Griechenlands kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. In einem Punkt sind sich die Untersuchungen aber einig: Wahrscheinlich würde ein Austritt mehr als die beschlossenen Rettungsmaßnahmen kosten. Aus diesem Grund ist die EU sehr bemüht, die gemeinsame Währung zu behalten und alles Notwendige zu deren Rettung zu unternehmen. Ob diese Strategie Erfolg hat und wie viel die Steuerzahler der reicheren Länder am Ende dafür zahlen müssen, wird sich erst in einigen Jahren abschätzen lassen. Rainer Münz leitet das Research & Knowledge Center der Erste Group und ist Vorsitzender im Erste School Board. Von 2008 bis 2010 war er Mitglied der »Reflexionsgruppe Horizont 2020–2030« der Europäischen Union (so genannter »EU-Weisenrat«). Bernadett Povazsai-Römhild war bis 2007 Unternehmensberaterin bei Capgemini mit Fokus Bankensektor. Sie ist im Research & Knowledge Center der Erste Group tätig und spezialisiert auf die demo graphischen und volkswirtschaftlichen Entwicklungen in Zentral- und Osteuropa. 233 Osteuropa: Überholspur – oder doch nur Abstellgleis? von Zoltan Bakay »Emerging Markets«, so werden jene aufstrebenden Volkswirtschaften bezeichnet, die wir als Wachstumstreiber der Welt betrachten. Im Verlauf der aktuellen Wirtschaftskrise hat sich diese Rolle mehr denn je bestätigt. Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien konnten Wachstumsraten jenseits der Fünfprozentmarke zu einer Zeit erreichen, als die entwickelten Volkswirtschaften in der westlichen Welt den schwersten Einbruch ihrer jüngeren Wirtschaftsgeschichte hinnehmen mussten. Emerging Markets gibt es aber nicht nur in fernen und exotischen Regionen in Fernost oder in Südamerika, sondern auch in unmittelbarer Nähe. Der Standort Mittel- und Osteuropa war über Jahre das Symbol des wirtschaftlichen Aufbruchs in Europa. Mit dem Beitritt vieler dieser Staaten zur Europäischen Union wurde die Region stärker denn je mit Westeuropa verbunden. Zwischen Ländern wie Österreich, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden auf der einen Seite und Ländern wie Polen, der Tsche chischen Republik, der Slowakei und Ungarn auf der anderen Seite besteht ein enges Geflecht von Wirtschaftsbeziehungen, angefangen von ausgelagerten Produktionsstätten der Großkonzerne bis hin zur lokalen Kooperation von Kleinstbetrieben wie Konditoreien und Zahntechnikern. Die Grundlage der Zusammenarbeit ist in den gegenseitigen Vorteilen zu sehen. Westlichen Unternehmen ermöglichte die Ausrichtung auf Zentralund Osteuropa eine deutliche Reduktion ihrer Produktionskosten sowie die Erschließung neuer Märkte. Die Volkswirtschaften Zentral- und Ost europas profitierten von neuen Arbeitsplätzen sowie vom Zugang zu westlichem Kapital und Know-how. In den Jahren nach der Einführung des Euro sowie im unmittelbaren Vorfeld der Osterweiterung der EU wurde dieses Bild vollends bestätigt. Die Region durchlebte einen Boom, 234 Ungewichteter Mittelwert des realen BIP-Wachstums (in %) EU 15 (alte Mitgliedsstaaten) EU 10 (neue Mitgliedsstaaten) 7.00 5.25 3.50 1.75 0.00 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 Quelle: EIU wie sie ihn bis dato nicht gekannt hatte. Bis zum Jahr 2008 hatten die Volkswirtschaften zwischen Ostsee und Schwarzem Meer – ausgelöst durch einen Investitions- und Nachfrageboom – hohe, bisweilen zweistellige Wachstumsraten. Getragen wurde das Wachstum von einer beträchtlichen Investitions bereitschaft und Risikofreude in Westeuropa. Motiviert wurde der Geldfluss dabei vor allem durch die bevorstehende und 2004 bzw. 2007 erfolgte Osterweiterung der EU. Für die zentral- und osteuropäische Region eröffnete dies neue Mög lichkeiten, die aber gleichzeitig die Herausforderungen der heutigen Zeit darstellen. Diese ergeben sich einerseits aus der Marktöffnung der Region und andererseits aus der divergierenden Entwicklung der einzelnen Staaten. Der freie Kapitalverkehr bildete nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Grundlage für den lang anhaltenden Strom von Investitionen in die zentral- und osteuropäische Region. Bereits die Perspektive einer Annäherung an Westeuropa reichte Anfang der 1990er-Jahre aus, um den Investitionsstrom Richtung Osteuropa auszulösen. In dieser häufig als Transformationsphase bezeichneten Periode wurde neben dem Umbau 235 Ausländische Direktinvestitionen (in % des BIP) 2002 2004 2006 2008 2010 2012 15 10 5 Serbien Kroatien Rumänien Slowakei Ungarn Polen Tschechien Ukraine 0 Quelle: Erste Group Research der ehemals sozialistischen Volkswirtschaften vor allem eines voran getrieben: eine konsequente Marktöffnung. Die Marktöffnung stellte die Beziehung zwischen Ost und West auf eine neue Grundlage. Diese war primär durch die Rolle des Westens als Kapitalgeber und die von Mittel- und Osteuropa als Kapitalnehmer geprägt. Die Entwicklung beschleunigte sich im Zuge der Osterweiterung der EU. Obwohl manchmal von einer neuen Art der Abhängigkeit der Region gesprochen wurde, war diese Art der Beziehung für die meisten Länder Zentral- und Osteuropas (CEE) eher ein Vor- als ein Nachteil. Als Zulieferer der exportorientieren Technologiekonzerne Westeuropas profitierten die meisten CEE-Staaten in den Vorkrisenjahren vom kontinuierlichen Zufluss westlicher Investitionen und den guten Absatz möglichkeiten innerhalb und außerhalb der EU. Dieser Entw icklung tat auch die Krise nach 2008 keinen Abbruch. So konnte die Region von den außereuropäischen Geschäften der westlichen Mutterunternehmen in den Wachstumsmärkten Asiens und Lateinamerikas mitprofitieren. In vielen Ländern Zentral- und Osteuropas war der Export in den vergangenen Jahren die einzige stabile Wachstumskomponente, da die krisenbedingte Verunsicherung den heimischen Konsum und die lokalen Investitionen zum Teil massiv einbrechen ließ. 236 Potenzielles BIP-Wachstum (in %) 2001–2008 2012–2013F 5.0 2.5 Ungarn Tschechien Rumänien Slowakei Polen 0.0 Quelle: Europäische Kommission, Ameco So betrachtet profitiert die zentral- und osteuropäische Region von ihrer außergewöhnlich hohen Abhängigkeit von Westeuropa. Allerdings haben die Wachstumstreiber der Vergangenheit im Zuge der Krise merklich an Bedeutung verloren: Bedingt durch die deutlich vorsichtigere Kreditvergabe haben sowohl Konsum als auch Investitionstätigkeit deut lich nachgelassen. Letzteres hat den unerfreulichen Nebeneffekt, auch langfristig wachstumshemmend zu wirken, da sich die potenziellen Wachstumsmöglichkeiten auf Jahre reduzieren. Abschließend lässt sich zur Herausforderung »Marktöffnung« festhalten, dass die enge Verbindung zur westeuropäischen Exportwirtschaft in der Vergangenheit zumeist mehr Vor- als Nachteile gebracht hat. Für die kommenden Jahre sollte aber über die Gefahren der Konzentration dieser Beziehungen auf bestimmte Länder und Branchen nachgedacht werden. Ferner hat sich im Zuge der Krise gezeigt, dass die Verfügbarkeit von ausländischem Kapital immer dann von Vorteil ist, wenn es für längerfristige Investitionen eingesetzt wird. Makroökonomisch bedenklich sind hingegen reine Portfolio-Investments, da dieses Geld häufig auch sehr schnell wieder abgezogen wird. Gemeinhin wird die Region Zentral- und Osteuropa im Sinne einer wirtschaftlich-geographischen Einheit behandelt. Diese Sicht erklärt sich 237 Beschäftigungsraten 2010 (Altersgruppe 20–64) ≤ 60% 60–65% 65–70% 70–75% > 75% Quelle: Eurostat vor allem aus historischer Perspektive, insbesondere ihrer vormaligen Zugehörigkeit zum »Ostblock«. Das sozialistische Wirtschaftsmodell und sein Untergang haben zwar nicht gleiche, wohl aber vergleichbare Ausgangsbedingungen für die Länder der Region geschaffen. Sämtliche Staaten mussten Anfang der 1990er-Jahre ihre grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Modelle neu gestalten. Eine Konsequenz der Neuorientierung war, dass weite Teile der Bevölkerung ihren Arbeitsplatz verloren. Viele dieser Arbeitsplätze wurden in den Folgejahren nicht mehr ersetzt, so dass bis heute die Beschäftigungsraten in der Region sehr niedrig sind. Wie die Übersicht zeigt, unterscheiden sich die Beschäft igungsraten in der Region allerdings sehr deutlich. Diese Unterschiede sind auf unterschiedliche Standortfaktoren (z. B. regionale Nähe zu westlichen Produktionsstätten, günstige Verkehrsanbindung), Unterschiede bei den Humanressourcen (z. B. verfügbare Anzahl an Fachkräften) und politisch-wirtschaftliche Rahmenbedingungen (z. B. stabile, investi tionsfreundliche Umgebung) zurückzuführen. Die genannten Unterschiede haben sich im Laufe der vergangenen 20 Jahre zwischen den Ländern immer weiter verfestigt. Im Ergebnis 238 BIP pro Kopf 2012 (in Euro) 14.405 13.129 9.943 10.032 Polen Ungarn 10.398 6.369 3.921 2.831 Ukraine Serbien Rumänien Kroatien Slowakei Tschechien Quelle: Erste Group Research unterscheiden sich die Länder Zentral- und Osteuropas in puncto wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mittlerweile recht deutlich. Dies zeigt sich besonders, wenn man das pro Kopf erwirtschaftete BIP in der Region vergleicht. Die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der einzelnen Länder traten vor allem in der Zeit des wirtschaftlichen Abschwungs zutage. Wett bewerbsfähigere Volkswirtschaften bauten ihren Vorsprung gegenüber weniger wettbewerbsfähigen immer weiter aus. Manche Staaten schafften es, über Jahre ein ausgeglichenes, stabiles Umfeld zu schaffen, wodurch sich das Zinsniveau auf niedrigerem Niveau stabilisierte, andernorts gelang dies nicht. In einigen Staaten war es nicht möglich, vormaligen gesellschaftlichen Eliten ihre Machtbasis zu nehmen, in anderen Staaten gewannen Reformer die Oberhand. In Verbindung mit der aktuel len Krise hat sich gezeigt, dass besser aufgestellte Staaten wesentlich leichter durch die Krise kamen als andere, die ihre »Hausaufgaben« in den wirtschaftlich guten Zeiten nicht erledigt hatten. Unter den entwickelteren Volkswirtschaften der Region sind diesbezüg lich vor allem Polen und die Slowakei sowie mit Abstrichen die Tschechi sche Republik zu nennen. Alle drei Staaten zeichneten sich in der Vorkrisenzeit durch ein ausgeglichenes Wachstum aus. Es wurden keine 239 BIP-Wachstum in den Krisenjahren (in %) 2008 2009 2010 2011 2012 7.5 0 -7.5 Kroatien Tschechien Ungarn Polen Rumänien Serbien Slowakei Ukraine -15.0 Quelle: Erste Group Research unnötigen Risiken eingegangen, weder die Staatsverschuldung noch die Verschuldung von Haushalten und Unternehmen erreichten kritische Höhen. Es gab keine Immobilienblasen, Investoren wurden durch stabile Rahmenbedingungen angelockt. Länder wie Estland, Lettland, Litauen und in Ansätzen auch Rumänien durchliefen dagegen klassische Boom-Bust-Zyklen. Damit ist g emeint, dass sich die Konjunktur in den Vorkrisenjahren deutlich überhitzte. Löhne stiegen rasant in die Höhe. Haushalte und Staaten konsumierten über ihren Verhältnissen, Unternehmen investierten aufgrund überschätzter Wachstumsfantasien. Die plötzlich einsetzende Gegenbewegung ließ das nachfragebasierte Wachstumsmodell unvermittelt und heftig einbrechen. Aggressive Maßnahmen zur Wieder herstellung der Wettbewerbsfähigkeit – insbesondere die so genannte interne Abwertung, wobei Löhne gekürzt werden – konnten jedoch die negative Entwicklung stoppen. Allerdings zu einem hohen Preis, nämlich Lohnkürzungen und Kaufkraftverluste in weiten Teilen der Bevölkerung. Daneben gab es die Staaten, die mit strukturellen Problemen indivi dueller Natur zu kämpfen haben. Ungarn war und ist zu hoch im Ausland verschuldet und es verschreckt ausländische Investoren durch wenig stabile wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen. Kroatien und Serbien 240 BIP-Prognose der EU für 2013 und 2014 (in %) 2014 2013 4 3,5 3,5 3,0 2,0 1,4 1,3 1,6 1,4 2,0 2,2 1,8 3 2,7 2,6 2,0 2 1,5 1 0,8 0,4 0,3 0,0 Ungarn Kroatien 0,1 Euro EU Tschechien Serbien Polen Rumänien Slowakei Ukraine 0 Quelle: Erste Group Research kämpfen mit ihrer wenig wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur und den Spätfolgen der Jugoslawienkriege. Die Ukraine ist zum Spielball der Interessenkonflikte zwischen Russland und der westlichen Welt geworden. Abschließend bleibt hinsichtlich der Herausforderung »divergente Ent- wicklung« festzuhalten, dass in den kommenden Jahren s ämtliche Länder der Region die richtigen Lehren aus ihrer individuellen Ver gangenheit ziehen sollten. Insbesondere hat sich gezeigt, dass das zukünftige Wachstum vor allem ausgeglichen sein sollte. Hohe Wachstumsraten per se sind noch kein Garant für deren Nachhaltigkeit. Die Positionierung der Region Zentral- und Osteuropa im europäischen Wirtschaftsgefüge ist geprägt von einem Höchstmaß an Offenheit und einer einseitigen Ausrichtung auf Westeuropa. Insofern überrascht es wenig, dass der kurzfristige Ausblick für die Region Zentral- und Ost europa maßgeblich von der Entwicklung in der Euro-Zone beeinflusst wird. Vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen im Euroraum wurden daher auch die Prognosen für die zentral- und osteuropäische Region zum Teil deutlich reduziert. Zusammenfassend zeichnet sich ab, dass 2013 noch ein schwaches Jahr sein dürfte und das Wachstum erst in den Jahren 2014–2015 wieder einsetzt. 241 Nachholbedarf bei Investitionen (Foto: flickr/70475110@N00) Wesentlich für Zentral- und Osteuropa ist, ob es sich weiterhin um eine Wachstumsregion von »Emerging Markets« handelt. Dies entscheidet darüber, ob die Region auch zukünftig schneller wachsen kann als der entwickeltere Teil Europas. Im Prinzip ist dies möglich. Die Region hat weiterhin enormes Nachholpotenzial auf beinahe allen Gebieten. Das Wohlstandsgefälle entlang der ehemaligen Ost-West-Grenzen ist nach wie vor eklatant. Die Infrastruktur erweckt beim westlichen Besucher häufig noch immer Erinnerungen an die Zeit vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Voraussetzung einer derartigen Entwicklung ist allerd ings, dass kontinuierlich Anstrengungen unternommen werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der Region zu erhöhen. Dazu gehören insbesondere die weitere Verbesserung des institutionellen Rahmens und der Infrastruktur, die stärkere Entwicklung der Unternehmenskultur inländischer Marktteilnehmer, der Ausbau der Ressource Wissen, die Entwicklung einer eigenen Kapitalbasis und generell die Erhöhung der Produktivität. Auch stellt sich die Frage, ob das Konvergenzmodell der Region – die konzentrierte Ausrichtung der Wirtschaft auf Westeuropa verbunden mit einem Höchstmaß an Offenheit – nachhaltig den gewünschten Erfolg bringt. Die meisten Volkswirtschaften der Region zeichnen sich 242 Anteile der Importe und Exporte am BIP (in %) Import 2000 Import 2012 Export 2000 Export 2012 90 45 Kroatien Polen Rumänien Serbien Ukraine Tschechien Ungarn Slowakei 0 Quelle: Erste Group Research durch eine duale Struktur aus. Auf der einen Seite stehen kapitalstarke und exportfähige westliche Tochterunternehmen, auf der anderen Seite kapitalschwache, meist auf heimische Dienstleistungen spezialisierte Kleinunternehmen. Wettbewerbsnachteile beim Zugang zum Kapitalmarkt verhindern, dass sich aus diesen Kleinunternehmen so etwas wie ein großer, interna tional wettbewerbsfähiger lokaler Mittelstand wie etwa in Deutschland oder Österreich entwickelt. Die mittelständischen Betriebe Zentral- und Osteuropas sind derzeit meist nicht in der Lage qualifizierte lokale Ex perten zu gewinnen, um qualitativ hochwertigere und dadurch exportfähigere Produkte und Dienstleistungen herzustellen. Der Mehrwert der hergestellten Produkte und Dienstleistungen ist daher meist relativ niedrig, was sich negativ auf die Ertragskraft dieser Unternehmen auswirkt. Wie die Entwicklung im westlichen Ausland zeigt, ist aber gerade der Aufbau eines leistungsfähigen lokalen Mittelstands entscheidend für die wirtschaftliche Weiterentwicklung. Wie kann bzw. wie sollte es weitergehen? Als limitierende Rahmen bedingung lässt sich zunächst festhalten, dass wenig nachhaltige, unausgeglichene Wachstumsmodelle wie beispielsweise im Baltikum wohl in Zukunft ausgedient haben. Ein ausgeglicheneres Wachstum 243 Beiträge zum BIP-Wachstum 2015 (in %) Exporte Bruttoinvestitionen Staatlicher Konsum Privater Konsum Lagerbestände 6.0 4.5 3.0 1.5 0.0 Kroatien Tschechien Ungarn Rumänien Serbien Slowakei Quelle: Europäische Kommission bzw. für die Ukraine IWF, Herbst 2012 Quelle: EIU Ukraine -1.5 bedeutet nach unserem heutigen Kenntnisstand weniger kreditgetriebenes Wachstum, eine solidere Finanzierung der Staatsausgaben und mehr Nachhaltigkeit bei der Verwendung von Fördermitteln. Auch muss sich die Region darauf einstellen, dass Investitionsquoten wie in der Vorkrisenzeit wohl in dieser Höhe nicht mehr erreicht werden. Für Zentral- und Osteuropa bedeutet dies, dass die wesentlichen Wachstumstreiber der Vergangenheit wohl auf längere Zeit eingeschränkt wirksam sein werden. Was spricht dennoch für ein relativ höheres Wachstum in der Region? Klar ist, dass sich an den fundamentalen Eigenschaften der Volks wirtschaften im Vergleich zur Vorkrisenwelt wenig geändert hat. Zwi schen Westeuropa auf der einen und Zentral- und Osteuropa auf der anderen Seite besteht nach wie vor ein signifikantes Wohlstandsgefälle, die Produktivität der osteuropäischen Volkswirtschaften liegt weit unter dem westeuropäischen Standard, Institutionen und Infrastruktur sind weiter verbesserungsfähig. Die Frage ist, wo das Wachstum herkommen soll? Zum einen ist es sehr fraglich, ob die aktuellen, besonders niedrigen Investitionsquoten, Konsumquoten und Kreditflüsse selbst in einer strenger regulierten Nachkrisenwelt auf derart niedrigem Niveau verweilen werden. Gegen 244 Entwicklung der Lohnstückkosten (Index 2005=100) 250 Lettland 200 Estland Rumänien Litauen 150 Serbien Slowakei 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 100 Quelle: EIU eine derartige Entwicklung sprechen bekannte Rahmenbedingungen, die gemeinhin einer höheren Investitionsquote förderlich sind. Dazu gehören das noch immer deutlich niedrigere Lohnniveau bei gleichzeitig gutem Bildungsstand der arbeitenden Bevölkerung, die über die Jahre kontinuierlich verbesserte Infrastruktur, die regionale Nähe zu den westlichen Industriezentren und eine gewachsene Rechtssicherheit bedingt durch die EU-Mitgliedschaft bzw. angestrebte EU-Mitgliedschaft. Neben diesen durch die Krise wenig veränderten Rahmenbedingungen haben sich die meisten Zentral- und Osteuropäer über die vergangenen Krisenjahre als besonders konsequente Reformer hervorgetan. Im Gegensatz zu den Krisenregionen in Südeuropa ist die Korrektur der in manchen Ländern zu schnell gestiegenen Lohnstückkosten weit reibungsloser verlaufen als beispielsweise in Südeuropa. Die meisten Staaten sind ferner bemüht, Steuern auf Unternehmen niedrig zu halten, was häufig durch die Verlagerung der Steuerlast auf den Konsum erreicht wurde. Was ist für die Region Zentral- und Osteuropa zu erwarten? Die Variante »Abstellgleis« erscheint vor dem Hintergrund der geschilderten Poten ziale unwahrscheinlich. Vielmehr zeichnet sich ab, dass sich an den 245 Mehrwertsteuersätze 2011 (in %) Seit 2008: Erhöhung der Mehrwertsteuer Keine Änderung 23% 20% 21% 22% 25% 19% 20% 21% 23% 19% 21% 15% 23% 19.6% 20% 27% 20% 20% 20% 24% 20% 18% 23% 15% Quelle: Euroäische Kommission grundsätzlichen Wachstumsfaktoren durch die Krise nur wenig geändert hat. Das Wachstum wird kein Vorkrisenniveau mehr erreichen, aber es spricht nichts dagegen, dass das, was die Region auszeichnet, wahrgenommen und belohnt wird. Zudem hat sich Zentral- und Osteuropa in den vergangenen Jahren als zuverlässige Wachstumsregion mit hohem Reformeifer und hoher Wettbewerbsorientierung bewiesen. Es gibt kein Argument, weshalb diese Grundhaltung in einer Nachkrisenwelt nicht die erwarteten Früchte tragen sollte. Zoltan Bakay war bis 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2007 ist er im Research & Knowledge Center der Erste Group tätig und spezialisiert auf die volkswirtschaftliche Entwicklung der Wachstumsregionen in Zentral- und Osteuropa. 246 Geldanlage? Klar – aber wohin mit dem Ersparten? von Thomas Schaufler Geld so anzulegen, dass nach Abzug der Inflation noch etwas übrig bleibt, das ist die Herausforderung der nächsten Jahre. Die niedrigen Sparzinsen werden uns nämlich noch eine Weile begleiten. Es ist im Moment nicht möglich, mit rein konservativen Anlageformen wie z. B. einem Sparbuch sein Vermögen zu vermehren. Was sich in all den Jahrzehnten der unterschiedlichen Krisen bewährt hat, ist die Tatsache, dass man sein Geld vor niedrigen Zinsen und andauernden Wirtschaftsflauten am besten dadurch schützt, indem man es auf verschiedene Anlageklassen aufteilt. Warum sind die Zinsen aber so niedrig, was bezweckt die Europäische Zentralbank (EZB) damit? Die EZB versucht mit ihrer Geldpolitik die Zinsen deutlich unter den Inflationsraten zu halten. Entsprechend der komplexen wirtschaftlichen Lage in der Euro-Zone wird auch die Geldpolitik der EZB immer komplexer. Die Zentralbank muss einerseits für die gesamte EuroZone die Preisstabilität gewährleisten und andererseits dafür sorgen, dass die niedrigen Zinsen in allen Mitgliedsländern ankommen und Extremrisiken für die Euro-Stabilität vermieden werden können. Dies ist für die Mission der Zentralbank eines »starken und stabilen« Euro grundlegend wichtig. Generell sollte in Europa die wirtschaftliche Entwicklung schwach und die Inflationserwartungen weiter moderat bleiben. Das belegen auch die zuletzt veröffentlichten Indikatoren wie zum Beispiel die Konsumentenstimmung oder das Geschäftsklima, welche weiter gefallen sind. Der Start in den Herbst ist schlecht ausgefallen und somit kann noch nicht mit Sicherheit abgeschätzt werden, ob der wirtschaftliche Tiefpunkt im vierten Quartal 2012 tatsächlich durchschritten worden ist. Die Risiken sind derzeit nach unten g erichtet, aber es bleibt zu hoffen, dass eine stärkere Rezession vermieden werden kann. Wenngleich die Inflation in der Euro-Zone zuletzt im Gleichklang mit dem Ölpreis über den Erwartungen lag. Somit ist nach 247 EZB Leitzins vs. Inflation (Eurozone) 2007–2012 (in %) Eurozone Inflation EZB Leitzins 2% Inflationszielwert EZB 5 4 3 2 1 0 2007 2008 2009 2010 2011 2012 -1 Quelle: Erste Group Research wie vor mit sinkenden Inflationsraten zu rechnen. Im Moment werden offizielle Inflationsraten von ca. zwei bis drei Prozent ausgewiesen, jedoch hat die Inflationsrate nicht mehr oberste Priorität der Geldpolitik der EZB. Zu unterschiedlich ist im Moment die wirtschaftliche Entwicklung in Europa. Während in Mitteleuropa nach wie vor positive Bruttoinlandsprodukt-Raten verzeichnet werden, zeigt ein Blick nach Südeuropa ein weniger positives Bild. Daher ist mittelfristig zu erwarten, dass die EZB die Wirtschaft weiter hin sowohl zinsseitig als auch mit außergewöhnlichen geldpolitischen Maßnahmen unterstützen wird. Auch wenn unmittelbar kein Handlungsbedarf besteht, so ist angesichts der Inflationsperspektiven 2013 mit einer weiteren Senkung des Leitzinssatzes auf 0,5 Prozent und niedrigen Zinsen bis 2015 zu rechnen. Zusätzlich hat die EZB ein Anleihen-Ankauf-Programm, welches OMT (Outright Monetary Transaction) genannt wird, für die Euro-Staaten angekündigt. Dieses Ankaufsprogramm steht nur jenen Ländern zur Verfügung, die im Rahmen der viel zitierten Euro-Rettungsschirme EFSF und ESM um Unterstützung ansuchen. Der Grund für dieses Hilfsprogramm ist jener, dass die Zinssenkungen der EZB nur Euro-Staaten mit guter Bonität erreichen. Problemländer, wie zum Beispiel Griechenland, 248 profitieren nicht von diesen Zinssenkungen. Im Rahmen dessen kann die EZB Staatsanleihen mit kurzen Restlaufzeiten (von ein bis drei Jahren) von betroffenen Euro-Ländern auf dem Sekundärmarkt4 in unlimitierter Menge kaufen. Die Liquidität sollte aber später wieder abgezogen werden. Die Idee dieser Maßnahme: Kauft die EZB in großem Umfang z. B. spanische Staatsanleihen, muss dies zu steigenden Anleihekursen führen, was wiederum niedrigere Aufwendungen für Spanien bedeutet. Dadurch sollten destruktive Szenarien abgefedert und starke Renditeanstiege in Spanien kurzfristig vermieden werden. Tiefere Renditen wiederum sollen es dann Spanien leichter machen, neue Anleihen zu tieferen Zinsen auszugeben, was wiederum der Finanzsituation Spaniens helfen würde. Eine langfristige Lösung kann dadurch jedoch nicht garantiert werden. Die Renditen für Benchmark-Anleihen (Deutsche Bundesanleihen) sollten angesichts des niedrigen Zinsausblicks auf Sicht von einem Jahr gedämpft bleiben. Schon jetzt ergeben deutsche Bundesanleihen mit einer Laufzeit bis 2016 negative Renditen. Dass die EZB jedenfalls sämtliche Schleusen geöffnet hat, dokumentiert auch die Bilanzsumme. Diese hat sich seit 2001 immerhin fast vervierfacht, von 814 Milliarden Euro auf aktuell 3,046 Billionen Euro5. Damit liegt die EZB sogar vor der Federal Reserve (FED)6, welche ihrerseits die Geldmenge auf aktuell 2,810 Billionen Dollar ebenfalls deutlich ausgeweitet hat. Der Kurs der EZB bedeutet jedenfalls für konservative Anleger, dass eine positive Nominalverzinsung und somit der schon oft zitierte Werterhalt ohne Risiko im Moment nicht möglich ist. Der Drei-Monate-Euribor7 liegt momentan bei 0,20 Prozent. An diesem Referenzzins orientieren sich z. B. viele Sparprodukte. Die zehnjährigen risikolosen Zinsen stehen im Moment um 1,60, die Inflation hingegen bei etwa 2,3 Prozent. Anleger sind mehr denn je gefordert, Investitionen mit kalkulierbaren Risiken einzugehen, wenn am Ende keine Minusrendite das Ergebnis sein soll. Um aber nicht vielleicht auf das vermeintlich falsche Pferd zu setzen, ist eine breite Streuung über mehrere Anlageklassen wichtiger denn je. Auch ein Blick in die Vergangenheit belegt, dass eine breite Streuung fast immer positive Renditen über einen längeren Zeitraum liefert. 4 Finanzmarkt zum Handel von schon emittierten Wertpapieren wie Aktien und Anleihen. 5 Stand Oktober 2012 6 US-Notenbank 7 Euro Interbank Offered Rate 249 Es gab immer wieder Krisen, welche sich über einen kürzeren oder längeren Zeitraum gezogen haben. Die Übersicht rechts zeigt einen Blick auf die Entwicklung von unterschiedlichen Anlageklassen im Zuge einer Krise. Um das Bild möglichst realistisch zu zeichnen, wurde folgende Basis verwendet: • Aktien: MSCI World Index • Anleihen: JP Morgan Bondindex • Immobilien: EPRA Immobilienindex • US-Dollar-Index: Entwicklung Dollar gegenüber Euro, Yen, Franken, Pfund, Kanadischer Dollar und Schwedische Krone • Schweizer Franken gegenüber Euro • Gold in USD • Öl (Light Sweet Oil) in USD Weitere Annahme: Genau einen Tag vor Ausbruch der jeweiligen Krise wurde in die aufgezählten Anlageklassen gleichgewichtet investiert (EPRA Immobilienindex vor 1990 nicht verfügbar). Nach genau fünf Jahren zeigt sich in der Wertentwicklung der verschiedenen Anlageklassen ein sehr unterschiedliches Bild. Mit Ausnahme von Öl hat keine (!) Anlageklasse immer funktioniert und positive Renditen gebracht. Auch das im Moment so beliebte Gold konnte gerade in den 1980er- und 1990er-Jahren nicht überzeugen. Anleihen zeigen sich zwar sehr robust, konnten aber auch nicht immer positive Renditen bringen. Gerade bei tiefen Zinsen bergen Anleihen auch ein höheres Verlustrisiko. Jedoch wurde bei einer gleich gewichteten Aufteilung über mehrere Anlageklassen fast immer ein positives Endergebnis nach fünf Jahren erzielt. Eine breite Diversifikation zahlt sich also aus, wie die unterschiedlichen Krisenereignisse belegen. Ein Vorteil ist das reduzierte Schwankungsverhalten eines breit gestreuten Portfolios. Es gibt einfach keine Anlageklasse, die immer nur nach oben geht. Daher ist man auf unvorhergesehene Ereignisse am besten vorbereitet, wenn man das Vermögen in ein stabiles, breit aufgestelltes Portfolio aufteilt. Wie schon in der modernen Portfoliotheorie festgestellt wurde, erhöht sich durch eine Streuung die Renditeerwartung und das Risiko wird gleichzeitig reduziert. Ein doppelt positiver Effekt. 250 Perfomance der jeweiligen Anlageklasse bei einem Investment einen Tag vor der Krise mit einer Behaltefrist von 5 Jahren und Ertrag des gesamten Portfolios Ölkrise 1973 Öl +344,95% Gold +125,40% Anleihen +22,06% US Dollar +4,23% Aktien +1,06% Ertrag 77,74% Aktien +48,30% US Dollar +32,26% CHF +6,81% Anleihen -12,54% Ertrag 35,83% Aktien +6,35% CHF -7,78% US Dollar -11,22% Gold -26,80% Ertrag 6,34% Aktien +7,64% Gold -6,14% US Dollar -6,45% Öl -25,33% Immobilien Ertrag -45,35% -1,89% Immobilien CHF +24,99% +11,00% US Dollar +10,02% Aktien -5,02% Gold -6,83% Ertrag 15,21% Gold +9,07% CHF +8,34% US Dollar +0,06% Immobilien Aktien -9,74% -26,10% Ertrag 14,34% Anleihen +52,00% Gold +49,70% CHF +3,94% Aktien -13,42% US Dollar -15,71% Ertrag 31,87% Immobilien Anleihen +114,94% +42,92% Aktien +38,73% CHF -4,23% US Dollar -21,24% Ertrag 63,10% CHF +24,84% US Dollar +1,16% Immobilien Öl -11,15% -11,95% CHF +46,49% Energiekrise 1979/80 Öl +111,30% Gold +64,68% Aktiencrash 1987 Anleihen +73,65% Öl +10,19% Japankrise 1990 Anleihen +53,87% CHF +8,51% Asienkrise 1997 Anleihen +39,09% Öl +33,25% Russlandkrise 1998 Öl +87,92% Anleihen +30,86% Internetblase 2000 Immobilien Öl +83,71% +62,89% September 11, 2001 Öl +143,65% Gold +126,96% Lehman 2008* Gold +124,16% Anleihen +41,95% Aktien +2,43% Ertrag 24,49% *bis 03.12.2012 251 Die Bedeutung einer strategischen Portfolio-Ausrichtung hat nichts an ihrer Wichtigkeit verloren, jedoch ist das richtige Timing bei volatilen Börsen entscheidend, da die langfristigen, mehrjährigen Trends der Vergangenheit angehören. Schon seit geraumer Zeit sind an den Kapital märkten große Schwankungsbreiten ohne klare Trends nach oben oder unten zu beobachten. Das bedeutet, die Kurse schwanken mehr oder weniger um ihren Mittelwert und dabei kann es ohne aktive Asset Allocation passieren, dass der Depotstand am Jahresende jener ist, mit dem man das Jahr begonnen hat. Nicht jeder hat das Wissen oder die Zeit, sich mit den sich ständig ändernden Trends auf den Kapitalmärkten auseinanderzusetzen und demnach sein Vermögen laufend umzuschichten. Genau deshalb erfahren Vermögensverwaltungs-Lösungen für Privatkunden eine Renaissance. Allein in der Erste Bank hat sich die Zahl jener, die ein professionelles Vermögensmanagement in Anspruch nehmen, seit 2008 um mehr als fünfzig Prozent gesteigert. Als finanzielle Basis für eine weitere Geldanlage sollte jeder über ein Sparbuch verfügen. Darauf parkt man idealerweise rund drei NettoMonatsgehälter, um für die Notfälle des Alltags gerüstet zu sein. So ist man jederzeit liquid, wenn z. B. die Waschmaschine kaputt wird oder sonstige ungeplante Ausgaben zu tätigen sind. Für die mittelfristige Veranlagung eignet sich ein Bausparvertrag gut, um auf eine überschaubare Zeit Geld anzusparen, wenngleich auch seit 2012 mit e iner geschmälerten staatlichen Prämie. Was Versicherungen betrifft, so ist die Entscheidung sehr individuell zu treffen und auch je nach Lebenssituation abzuwiegen, was man zwischen Pensionsvorsorge und Lebensversicherung etc. benötigt. Wenn man also darüber hinaus verfügbares Geld hat, für das man Ver anlagungsmöglichkeiten sucht, so gibt es unterschiedliche Möglich keiten. Je nach Risikolust, Lebenssituation, gewünschter Anlagedauer usw. sollte man sich am besten mit einem Profi beraten und gemeinsam die beste Strategie für sein Geld erarbeiten. Wer z. B. ein Direktinvestment in Aktien scheut, könnte sich BonusZertifikate als Alternative näher ansehen. Während bei einem Aktieninvestment nur bei steigenden Kursen Erträge erzielt werden, profitieren Bonus-Zertifikate bereits von stagnierenden oder sogar 252 leicht schwächeren Kursnotierungen. Das Ertragspotenzial ist somit oft höher als bei einem Direktinvestment. Der wichtigste Bestandteil für ein Bonus-Zertifikat ist die Dividende. Denn diese wird zur Finanzierung der Bonuszahlung eingesetzt. Der Investor profitiert bei Bonus-Zertifikaten von steigenden Kursen eines zugrunde liegenden Basiswerts, e rhält eine hohe Bonuszahlung und ist vor fallenden Kursen bis zur Sicherheitsschwelle geschützt. Sollte es jedoch zu einem unerwarteten Kursrutsch kommen, entfällt die Bonuszahlung und der Kurs des Basiswerts wird am Laufzeitende gutgeschrieben. Auch in diesem Fall ist man bei der Kursentwicklung nicht schlechter gestellt als der Aktionär. Es gibt auch noch eine Vielzahl weiterer »Teilschutz«-Produkte, welche Schutz vor moderaten Kursrückgängen bieten und gleichzeitig Renditen deutlich über dem Sparbuch ermöglichen. Ein genauer Blick darauf lohnt sich, besonders im aktuellen Zinsumfeld. Unabhängig von der Wahl des Anlageproduktes gilt es auch auf die angesprochene PortfolioDiversifikation zu achten und verschiedene Anlageklassen auszuwählen. Aktien sind nur ein Parameter in einer klar strukturierten PortfolioAufteilung. Ein weiterer wichtiger Bestandteil sind Anleihen. Aber auch die vermeintlich sichere Anleihe birgt einige Risiken, w elche es zu beachten gibt. Das Bonitätsrisiko, also das Risiko, dass sich die Kreditsituation des Unternehmens, welches die Anleihe begibt, bis hin zur Zahlungsunfähigkeit verschlechtert, steht hier im Vordergrund. Da aber mit vermeintlich sicheren Anleihen wie etwa Deutschen Bundesanleihen kaum Ertrag erzielt werden kann – einjährige Veranlagungen kosten hier sogar Geld –, muss für mehr Ertrag auch bei Anleihen der Schritt zu mehr Risiko gegangen werden. Dies geschieht zum Beispiel beim Kauf von Unternehmensanleihen, welche je nach Bonität und Laufzeit deutlich höhere Renditen versprechen. Um allerdings hier nicht auf das falsche Pferd zu setzen, empfiehlt sich neben der Unternehmensanalyse vor allem auch die Auswahl mehrerer Branchen und verschiedener Unternehmen. Denn auch hier ist die Streuung zur Risikominimierung besonders wichtig. Bei der Einschätzung der Unternehmenskennzahlen wiederum kann der Bankberater unterstützen. Neben der Zahlungsfähigkeit des Unternehmens ist auch die Laufzeit ein wichtiger Bestandteil des persönlichen Portfolios. Hier gilt es zwischen 253 rascher Verfügbarkeit und höherem Ertrag abzuwägen. Denn je länger die Bindung, umso besser die Konditionen. Aber es erhöht sich auch das Kursrisiko während der Laufzeit. Im Bereich Immobilien gibt es ebenfalls zahlreiche Investitions möglichkeiten. Neben einem direkten Immobilienerwerb oder Beteili gungen bietet sich auch ein Immobilienfonds an, welcher breit gestreut in Immobilien investiert. Der Erste Immobilienfonds erzielt seit Jahren konstante Erträge. Er erfreut sich auch wegen der konservativen Anlagestrategie und dem Fokus auf Wohnimmobilien konstanter Zuflüsse. Gold steht im Moment bei vielen Anlegern hoch im Kurs und gilt als wichtiger Portfolio-Baustein. Von vielen verunsicherten Anlegern wird das Edelmetall in den Portfolios seit ein paar Jahren auch übergewichtet. Andere wiederum meiden Gold zur Gänze. Insgesamt wird das Edelmetall sehr kontrovers gesehen. Fest steht allerdings, dass es in einem diversifizierten Portfolio nicht fehlen sollte. Gerade weil Gold bereits elf Jahre hindurch positive Renditen geliefert hat, gilt es auch auf die Risiken zu achten. Gold notiert zum einen in US-Dollar. Daraus ergibt sich für den Anleger ein Währungsrisiko. Auch Kurskorrekturen von mehr als 100 USD sind immer wieder zu beobachten. Wie bei allen Portfolio-Bausteinen gilt: Die Dosis macht es und eine breite Streuung der Anlageklassen hilft das Risiko zu minimieren und gleichzeitig die Ertragschancen zu optimieren. Alles auf eine Karte zu setzen bei der Geldanlage ist nie der richtige Weg. Wenn sich Märkte und Zinsen ändern, profitieren im Normalfall einige Assetklassen, a ndere v erlieren. Daher ist es gerade in einer Zeit, in der sich die meisten Experten einig sind, dass die Zinsen noch ein paar Jahre sehr niedrig sein werden, so wichtig, sich um eine passende Aufteilung seines Vermögens zu kümmern. Thomas Schaufler leitet in der Erste Group den Wertpapierverkauf für Privatkunden und Sparkassen. Daneben ist die Abteilung auch für die Zusammenstellung neuer Wertpapierprodukte (Anleihen, Fonds, Strukturierte Produkte) zuständig. Gleichzeitig vertritt Thomas Schaufler die Erste Group im ZFA (Zertifikate Forum Austria). Das Forum setzt sich für den kundenorientierten Einsatz von Zertifikaten ein. 254