Dr. Mauri Fries Die Entwicklungsdynamik früher Interaktionen

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Dr. Mauri Fries Die Entwicklungsdynamik früher Interaktionen
Dr. Mauri Fries
( Klinik für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie/Psychotherapie, Rostock)
Die Entwicklungsdynamik früher Interaktionen –
Voraussetzungen und Chancen für den Aufbau einer Bindung
Überarbeitete Fassung des Vortrags auf der Fachtagung der Psychologischen Beratungsstelle und des Psychosozialen
Dienstes: Baby, Bindung und Beratung
29. und 30. März 2001, Karlsruhe
1.
Einführung
Eine der Hauptaussagen dieser Tagung wird sein, dass die Existenz einer sicheren Bindung zwischen einem Kind und seinen Bezugspersonen ein wichtiger Schutzfaktor gegenüber möglichen
Risiken und Gefährdungen in seiner weiteren Entwicklung bis ins Erwachsenenalter hinein ist.
Das Fehlen einer nahen unterstützenden Beziehung mit einem Erwachsenen gilt als ein bedeutendes
Entwicklungsrisiko für das Kind mit Auswirkungen in allen wichtigen Entwicklungsdimensionen,
nämlich Auswirkungen auf die soziale, die emotionale und auch die kognitive Entwicklung. Frühe
Störungen der Eltern-Kind-Beziehung stehen in einem deutlichen Zusammenhang mit späteren
Verhaltensauffälligkeiten. Insbesondere eine frühe hochunsichere Bindung korreliert mit späteren
Verhaltensproblemen wie aggressive Verhaltensauffälligkeiten, depressive Symptomatik, aber auch
Verzögerungen in der kognitiven Entwicklung. Unsichere Bindung scheint sich besonders dann
nachteilig auf die Entwicklung des Kindes auswirken, wenn sie in Kumulation und Wechselwirkung
mit anderen Risikofaktoren auftreten. Zu diesen Risikofaktoren zählen Armut, Arbeitslosigkeit,
fehlende soziale Unterstützung, aber auch kindliche Temperamentsmerkmale und negative Kindheitserfahrungen der Eltern.
Eine wichtige Voraussetzung für das Entstehen einer sicheren Bindung sind die Sensitivität und
Responsivität von Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen, ebenso ihre Verfügbarkeit, Kooperation und Akzeptanz in den ersten Lebensmonaten des Kindes.
2.
Ergebnisse der Bindungsforschung
In der Bindungsforschung wurde zunächst die Rolle der Eltern und insbesondere die der Mutter
betont. Ihr Verhalten wird als ausschlaggebend für die Entwicklung verlässlicher Bindungsbeziehungen angesehen.
Die Entwicklung der Bindung ist jedoch kein eindimensionaler Vorgang von der Mutter zum Kind,
sondern das Ergebnis hochkomplexer Wechselwirkungsprozesse zwischen den beteiligten Partnern.
In diese Wechselwirkungsprozesse bringen beide Partner Fähigkeiten ein, die in den ersten Tagen,
Wochen und Monaten des Kindes eine individuelle Anpassung und Ausdifferenzierung erfahren.
Diese Wechselwirkungsprozesse entfalten sich in den täglichen Interaktionen beim Füttern, Windeln, Spielen, Beruhigen, Schlafen legen.
Das Auftreten einer sicheren bzw. einer unsicheren oder hochunsicheren Bindung beruht auf Interaktionserfahrungen zwischen Mutter und Kind oder Vater und Kind oder anderen Bezugspersonen
und Kind in seinen ersten Lebensmonaten. Dabei bringen jeweils beide Partner individuelle Fähigkeiten und Schwierigkeiten mit ein, die sich ausgleichen oder aufschaukeln können.
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Bereits im frühen Säuglings- und Kleinkindalter sind Warnzeichen für spätere Probleme erkennbar.
Diese frühen Warnzeichen äußern sich in Missverständnissen und Störungen der Eltern-Kind- Interaktion, und zwar dann, wenn sie noch dezent und unauffällig sind.
Interaktionscharakteristika auf Seiten des Kindes sind Einschränkungen in seiner Anpassung an Belastungen und in der Verhaltensregulation zu finden. Das betrifft die Fähigkeiten zur Selbstberuhigung oder zum Wechsel der Verhaltenszustände. Diese Einschränkungen reichen von diskreten
Dysregulationen bis hin zu den sog. Regulationsstörungen, die sich in Schrei-, Schlaf- oder
Fütterstörungen auswirken können.
Interaktionscharakteristika auf Seiten der Bezugsperson sind verzögerte oder fehlende
Wahrnehmung kindlicher Signale oder inadäquate Interpretationen und Reaktionen auf diese
Signale. Sie können dann zu überstimulierendem, unterstimulierenden oder wechselhaftem
Verhalten führen, welches für das Kind wenig vorhersagbar ist. Sind solche Fehlwahrnehmungen
und –interpretationen häufig und mehr als nur eine vorübergehende Irritationen in der neuen
Beziehung zwischen Bezugsperson und Säugling, dann können in dieser frühen Zeit bereits negative
Interaktionsstrukturen vorgebahnt werden. Anfängliche kleine Missverständnisse in den alltäglichen
Interaktionen verfestigen sich im weiteren Beziehungsverlauf zu chronischen Interaktionsproblemen
bis hin zu Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen beim Kind, die dann nur schwer zu
verändern bzw. zu therapieren sind.
Aufgrund ihrer Fähigkeiten, Zusammenhänge zwischen ihrem Verhalten und dem Verhalten anderer
zu erkennen und sich auf diese immer wiederkehrenden Zusammenhänge einzustellen, passen sich
Babys relativ schnell an die Verhaltensweisen ihrer Eltern an. Je nach dem, wie feinfühlig und
konsistent das Verhalten der Bezugspersonen ist, lernen Babys ihre Gefühle und Bedürfnisse
auszudrücken oder auch zu unterdrücken. Durch ihre Antworten auf die affektiven Signale ihrer
Kinder zeigen die Eltern ihren Kinder, wie mit Gefühlen und Erkundungen umgegangen werden
kann. Kinder im ersten Lebensjahr, die vorhersagbare und feinfühlige Reaktionen auf ihre
Gefühlsäußerungen und Erkundungsbedürfnisse erfahren, lernen, dass sie getröstet werden, wenn
sie sich bedroht, verlassen oder sonst wie unwohl fühlen und das sie angeregt werden, wenn sie ihre
nahe Umgebung erkunden wollen. Sie können ihren Gefühlen, ihrer Neugier und ihren
Bezugspersonen trauen. Sie entwickeln Sicherheit in ihre affektiven und kognitiven Bedürfnisse und
die Reaktionen ihrer Eltern.
Kinder in diesem Alter, die die Zuwendung ihrer Eltern nur über das Spielen steuern können, haben
gelernt, dass ihre Bezugspersonen auf Äußerungen nach emotionaler Unterstützung nicht oder
abweisend reagieren. Das bedeutet, dass sie ihren eigenen Gefühlen nicht trauen können. Kinder mit
diesen Erfahrungen neigen dazu, Gefühle aus der Organisation ihres Verhaltens auszuschließen.
Kinder, deren Eltern inkonsistent mal auf emotionale Bedürfnisse reagieren, machen die Erfahrung,
dass die Zuwendung weder über Bindungsbedürfnisse noch über Erkundungsbedürfnisse zu steuern
ist. Sie neigen dazu, sehr verunsichert zu reagieren.
Eltern, die einfühlsam bezüglich der sich ändernden Fähigkeiten ihrer Kinder sind, passen ihre
Reaktionen den Möglichkeiten des Kindes an, Informationen zu verarbeiten. Wenn Säuglinge
vorhersagbare Reaktionen auf ihre affektiven Signale erfahren, lernen sie, diese affektiven Signale
weniger intensiv und präziser zu gebrauchen. Ohne Sprache können sie effektiv mit ihren Eltern
kommunizieren. Zum Beispiel weinen sie nur kurz und warten auf die Reaktion, anstatt weiter zu
weinen.
Wenn Eltern, zwar vorhersagbar, aber ärgerlich auf Verunsicherungssignale reagieren, dann
empfinden ihre Kinder Angst und lernen, das Zeigen von Gefühlen von Unsicherheit abzublocken.
Säuglinge sind bereits im Alter von sechs Monaten in der Lage, Verhalten selektiv zu unterdrücken.
Wenn sie dies gewohnheitsmäßig tun, kann das bei ihnen zur Unfähigkeit führen, Gefühle und
Wünsche effektiv zu kommunizieren.
Wenn sich Eltern inkonsistent verhalten, eskaliert die Unsicherheit des Kindes.
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Entsprechend dieser unterschiedlichen Interaktionserfahrungen bilden sich unterschiedliche
Bindungsmuster aus; Sichere Bindung; unsicher-vermeidende Bindung, unsicher-ambivalente Bindung.
Alle drei Muster sind protektive Anpassungen an die Gegenwart (Crittenden 1999). Für die Formen
der unsicheren Bindung bedeutet es aber auch, insbesondere wenn andere Belastungsfaktoren
hinzutreten, das ihre Anpassungsfähigkeiten an veränderte Verhältnisse eingeschränkt sind. Wenig
feinfühlige Eltern können nur unzureichend die Verhaltensregulation ihres Babys unterstützen. Das
wirkt sich besonders ungünstig bei den Kinder aus, die selbst mit Einschränkungen der
Verhaltensregulation geboren werden. Kinder von wenig feinfühligen Eltern sind häufig quengliger,
haben mehr Schlaf- und Fütterprobleme. Schreien als Regulationsstörung tritt nach dem dritten
Monat nicht so deutlich auf, weil Babys schnell lernen, dass das Schreien nicht viel Zweck hat,
wenn Eltern nicht darauf reagieren. Zu späteren Zeitpunkten wie zum Beispiel der Regulation des
Schlafverhaltens oder der Bindungs- und Autonomieentwicklung kann das Kind die Einschränkung
möglicherweise nicht mehr kompensieren.
In extremeren Fällen bei gewalttätigen Eltern, die völlig unvorhersehbar reagieren, können schon
Neugeborene ihr Verhalten unterdrücken. Sie wirken dann wie eingefroren. Etwa Mitte des ersten
Lebensjahres zeigen Säuglinge in ihrem Verhalten erkennbare Reaktionen auf eine
vernachlässigende oder aggressive Umgebung. Säuglinge, die von ihren Eltern vernachlässigt
werden, neigen dazu passiv zu werden und Säuglinge, deren Eltern strafend/ zurück-weisend sind,
neigen zu gehemmtem Verhalten, um aggressives Verhalten ihrer Eltern soweit wie möglich zu
verhindern.
Solange die Situation für Außenstehende nicht eskaliert, spielen sich diese Beziehungs- und
Verhaltensentwicklung im Verborgenen ab. Obwohl das Risiko von psychopathologischen
Auffälligkeiten wächst, werden diese stillen Dramen nicht wahrgenommen.
3.
Bedingungen einer sicheren Bindung
Interaktions- und Bindungsforschung gehen von psychobiologischen Prädispositionen der
Verhaltensausstattung des Kindes, der Fähigkeiten der Eltern und der Entwicklung der
Bindungsbeziehungen aus.
Auch wenn die faszinierende vorsprachliche Kommunikation und die intuitiven
Verhaltensbereitschaften der Eltern sowie die Entstehung von Bindungs-, Explorations- und
Fürsorgeverhalten biologisch verankert sind und zu unserer Grundausstattung gehören, so sind sie
doch nicht vor Störungen geschützt ist. Aus der Perspektive der Eltern stellt sich dann die Frage:
Unter welchen Bedingungen kann es Eltern gelingen, feinfühlig, akzeptierend, kooperierend und
erreichbar zu sein?
Wenn wir die Frage so stellen, dann unterstellen wir, dass es prinzipiell für Eltern möglich ist,
sensitiv und responsiv zu sein. Und wir erkennen an, dass es Bedingungen gibt, die diese
Fähigkeiten unterstützen und dass es aber auch Bedingungen gibt, die diese Fähigkeiten blockieren.
Wenn wir statt zu fragen, wie müssen Eltern sein, fragen unter welchen Bedingen können Eltern
feinfühlig und responsiv sein, dann erweitern wir durch die möglichen Antworten den manchmal
doch recht engen Kreis der unmittelbaren Betrachtung der Mutter- Kind- Dyade oder der isolierten
Familie.
Bedingungen der Förderungen bzw. der Behinderungen finden wir dann auf verschiedenen
Systemebenen wieder: beim Kind, bei seinen Eltern, im Umfeld der Eltern, in den strukturellen
Bedingungen der Gesellschaft.
Das erlaubt bezogen auf Interventionen im Frühbereich eine Erweiterung der Perspektiven bei der
Suche nach Kompensationsmöglichkeiten und Ressourcen bei eingeschränkten oder blockierenden
Bedingungen auf der Ebene der unmittelbar interagierenden Personen.
Die so gestellte Frage hat auch Konsequenzen für unsere Haltung gegenüber den Eltern. Wir
erkennen sie als prinzipiell kompetent an. Wenn die Dinge nicht so laufen, wie es für die
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Entwicklung des Kindes und seiner Familie gut wäre, dann fragen wir nach den blockierenden
Bedingungen und suchen mit den Eltern nach angemessenen Lösungen. Wir versuchen ihnen durch
unsere Arbeit einen Zugang zu ihren Kompetenzen zu ermöglichen .
Ein zentrales Element von Beratung von Eltern mit Babys und Kleinkindern als Prävention und
Intervention im Frühbereich besteht in der Suche nach den Kompetenzen und Ressourcen der
Eltern. Sie werden durch Gespräche über den Alltag, Erwartungen, Befürchtungen und Phantasien
der Eltern, Verhaltensbeobachtungen und Videofeedback der Eltern-Kind-Interaktionen den Eltern
zugänglich gemacht, um ihnen einen entspannteren und feinfühligeren Umgang und den Aufbau
einer verlässlichen Bindung zu ermöglichen (vgl. z.B. v. Klitzing 1998; Fries 1999; Barth 2000).
4.
Voraussetzungen für Interaktionen
Das Kind bringt angeborene Fähigkeiten der Wahrnehmung, der Nachahmung, der Selbstregulation
und das Bedürfnis zu Lernen mit. Diese erstaunlichen Fähigkeiten sind ihrerseits bereits das
Ergebnis pränataler Wechselwirkungsprozesse zwischen den genetischen Anlagen und der
pränatalen Umwelt.
Eltern begegnen ihrem Kind vor dem Hintergrund ihrer individuellen Lebensgeschichte, ihrer
aktuellen Situation, ihren Hoffnungen, Phantasien und Sorgen.
4.1. Beim Kind
Welche Chancen enthält die Interaktion mit den Eltern für das Baby?
Ganz allgemein gesagt: Im kommunikativen Austausch mit den Eltern lernt das Baby, seine
Erfahrungen mit sich selbst und mit seiner Umwelt zu integrieren.
Diese frühe Erfahrungsintegration wird motiviert durch seine Bedürfnisse nach Vertraut werden mit
Unbekanntem, nach dem Erkennen von Regeln, nach Voraussagbarkeit und Kontrolle über
kontingente Umweltereignisse, seine Neugier, seine Erkundungs- und
Selbstwirksamkeitsbedürfnisse.
Diese frühe Erfahrungsintegration kann nur gelingen im kommunikativen Austausch mit den Eltern.
Das Baby will sich mitteilen und sich in den Antworten seiner Eltern wiederfinden und neue
Anregungen erhalten. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse sind intrinsisch motiviert, dass heißt, der
kommunikative Austausch mit den Eltern oder anderen Bezugspersonen macht dem Kind Spaß und
vermittelt ihm intensive Gefühle. All diese Fähigkeiten und Bedürfnisse sind die Grundlagen für die
Entfaltung seiner genuin menschlichen Eigenschaften.
Welche Fähigkeiten bringt das Baby selbst mit, um zur Befriedigung der o.g. Bedürfnisse
beizutragen und mit höchst unterschiedlichen Eltern unter verschiedensten Bedingungen zurecht zu
kommen?
Ich will im wesentlichen auf zwei Bereiche hinweisen, auf die Wahrnehmung und auf die
Verhaltensregulation.
4.1.1. Die Wahrnehmung
Fähigkeiten der Wahrnehmung sind von Geburt an vorhanden. In den ersten Tagen und Wochen
erfahren sie eine weitere Entfaltung und Zunahme ihrer Leistungsfähigkeit. Die Gesamtheit der
kindlichen Wahrnehmungsfähigkeiten ist auf ein Gegenüber orientiert und passt erstaunlich gut mit
den intuitiven Kompetenzen seiner Eltern zusammen
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken - Folie
Die kreuzmodale Wahrnehmung ist die Fähigkeit, Sinneseindrücke aus verschiedenen
Sinneskanälen aufeinander zu beziehen, z. B. von einem gesehenen Gegenstand die Vorstellung zu
entwickeln, wie er sich anfühlt. Auf diese Weise nehmen wir einheitliche Objekte wahr, und leben
nicht in einer Welt separierter Eindrücke. Der Tisch, den ich sehe, hinterlässt in mir einen Eindruck
davon, wie er sich anfühlt, bevor ich ihn berühre.
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Säuglinge, die einen Gegenstand sehen, gehen davon aus, dass er auch zu fühlen ist. Experimente
konnten zeigen, dass Säuglinge bereits im Alter von 20 Tagen eine Vorstellung davon entwickeln,
wie ein Gegenstand aussehen muss, den sie zuvor in ihrem Mund gespürt hatten.
Als Neugeborene suchen Kinder mit dem Kopf die Geräuschquelle, zunächst wahrscheinlich als
reflektorische Handlung, im Alter von 4-5 Monate als Bedürfnis der Exploration des Gehörten. 30
Tage alte Säuglinge sind irritiert, wenn die Stimme, die sie hören, nicht aus dem Gesicht kommt,
das sie gerade sehen. Sie haben also eine Erwartungen ausgebildet, dass Stimme und Gesicht eines
anderen in einer ganz bestimmten Weise zusammengehören. Wenn diese Erwartung gestört wird,
regieren sie mit Irritationen.
Diese Beobachtungen und experimentell gesicherten Befunde zeigen die sehr früh eintretende
Erwartung von Zusammenhängen in der Umgebung, auf die sich Babys auch einstellen.
Irritationen für Babys sind demnach zu erwarten, wenn Eltern von ihren gewöhnlichen Reaktionen
völlig abweichen (fremder Geruch, erstarrtes Gesicht, Bart ab...), aber auch, wie wichtig Angebote
für das Kind sind, bei denen sie Zusammenhänge entdecken können. Durch diese Befunde sind die
Einschränkungen in der Interaktion bei abwesenden Eltern oder sehr wechselhaft agierenden Eltern
verständlich.
4.1.2. Die Regulation der Verhaltenszustände
Die Ausreifung der Verhaltensorganisation und die Entwicklung der Verhaltensregulation als eine
erste Entwicklungsaufgabe des Säuglings führt zu einer Differenzierung von Verhaltenszuständen.
Verhaltenszustände des Säuglings regulieren das Ausmaß seines Kontaktes zu seiner Umwelt.
Die Unterscheidung der Verhaltenszustände bezieht sich auf den Grad der Ansprechbarkeit und der
Wachheit des Kindes. Die Zustände reichen vom tiefem und leichtem Schlaf über ein zunächst
halbbewusstes, später aufmerksames und sehr gut ansprechbares Verhalten bis hin zu Unruhe und
Schreien (vgl. Brazelton 1994)
Wenn Neugeborene ihre Verhaltenszustände kontrollieren können, dann können sie auch regulieren,
ob und wann sie Informationen aus der Umwelt aufnehmen und auf diese reagieren. In einer
geräuschvollen, überstimulierenden Umgebung hat das Baby über die Regulation der
Verhaltenszustände Möglichkeiten des Rückzugs. Es kann mit Blickabwendung zeigen, dass ihm
etwas zuviel wird. Deutlichere Zeichen setzt es, indem es in einer überfordernden Umgebung
entweder in den Tiefschlaf fällt oder so sehr schreit, dass es nicht mehr ansprechbar ist. Die sechs
Verhaltenszustände sind der Tiefschlaf, der Traumphasenschlaf, der Halbschlaf, der wache
Aufmerksamkeitszustand, der aufmerksame, aber quenglige Zustand und das Schreien.
Die Fähigkeit zur Regulation der Verhaltenszustände muss von den Babys in den ersten
Lebenswochen erworben werden. Frühgeborene haben damit mehr Probleme und sie brauchen für
die Entfaltung der Selbstregulation mehr Zeit. Erst wenn die Säuglinge in der Lage sind, ihre
motorischen Aktivitäten, ihre Verhaltenszustände und die vegetativen Vorgänge zu steuern, können
sie auf die Interaktionsangebote der Erwachsenen eingehen.
4.2. Intuitive Kompetenzen der Eltern
Ebenso wie das Baby, verfügen Eltern über Verhaltensmöglichkeiten, die die Anpassung an ihr
Baby und zugleich seine Anpassung an das nachgeburtliche Leben unterstützen und erleichtern (vgl.
Papuosek., M. u. H. 1990) Wir sprechen von den intuitiven Verhaltensbereitschaften, die sowohl
Eltern wie Nichteltern, aber auch Kinder etwa ab dem 4. Lebensjahr im Umgang mit einem Baby
zeigen können. Wir finden diese intuitiven Verhaltensbereitschaften bei allen Kulturen. Intuitiv,
ohne bewusst darüber nachzudenken, stellen wir uns mit der Mimik, der Gestik, dem Tonfall der
Stimme, aber auch mit der Intensität und dem Rhythmus unserer Bewegungen und unserer Stimme
auf das Baby ein.
Beim Kontakt mit einem Baby würde man intuitiv, ohne darüber lange nachzudenken, die Stimme
heben, das Sprechtempo verlangsamen, kurze Sätze formulieren und diese häufig wiederholen.
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Dieses veränderte Sprechverhalten beschreiben wir auch mit dem Begriff der Babysprache.
Weiterhin würde man durch die Mimik zum Beispiel durch den Augenbrauengruß, versuchen zu
erreichen, dass das Baby Kontakt aufnimmt. Pausen würden dem Baby die Möglichkeit geben, von
sich aus Signale für einen gemeinsamen Dialog zu senden, die der „Gesprächspartner“ wiederum
aufgreifen würde. Auch die Signale würde man wahrnehmen können, mit denen das Baby sagt, ich
habe genug, ich brauche eine Pause und für eine Reduzierung der Anregungen sorgen.
Das Repertoire an Verhaltensweisen umfasst im wesentlichen: vier Komplexe
1. Erleichterung der affektiv-integrativen Verhaltensregulation
Beruhigungspraktiken
•
Schreivermeidung durch vorbeugende Strategien
•
Aktivierung oder Dämpfung von Erregungszuständen
•
•
Wecken und Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit des Säuglings
2. Elterliche Responsivität
Lesen und Beantworten von spontanen Äußerungen und Rückkopplungssignalen des Kindes
•
•
Anpassung der Eltern an die individuellen Vorlieben, Aufnahmebereitschaft, Intentionen,
und den Entwicklungsstand des Kindes
Interessen, Fähigkeiten
3. angemessene Strukturierung der frühen Erfahrungen
Übereinstimmung zwischen dem kindlichen Verhalten und den Antworten der Eltern
•
(Grußreaktion)
Wiederholungen mit Variationen
•
vorsprachliche Botschaften in der verwendeten Sprechmelodik (kuckucksartige Melodie,
•
wenn sie um Blickkontakt bemüht sind, ansteigende Melodien in hoher Tonlage zur
Erregung von Aufmerksamkeit; abfallende Melodien mit tieferer Stimme zur Beruhigung
4. Unterstützung sich entwickelnder Fähigkeiten
•
•
Förderung des prozeduralen Lernens durch Blickverhalten; Stimmgebung und Artikulation,
Nachahmung des kindlichen Verhaltens; gemeinsames Agieren und Kooperieren;
Ausrichtung der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf Gegenstände und Tätigkeiten
Eltern verfügen über diese intuitiven Fähigkeiten, die sich mit zunehmender Vertrautheit mit dem
Kind entfalten und sich den Entwicklungsschritten des Kindes anpassen.
4.3 Schutz- und Risikofaktoren in der frühen Interaktion
Das Kind will lernen und mit der Umgebung in Kontakt treten und Eltern wollen ihre eigenen
Erfahrungen an das Kind weitergeben. Beide Partner verstärken sich gegenseitig in ihren
Motivationen.
Das Kind motiviert seine Eltern durch sein Aussehen, seine Aufmerksamkeit und seine Reaktionen
auf die elterlichen Reize. Die Eltern motivieren ihr Kind durch spielerische Beschäftigung zum
Entwickeln neuer Fähigkeiten. Diese Schutzfaktoren oder Selbstheilungskräfte helfen kleinere,
normale Krisen zu bewältigen
Risikofaktoren beim Kind entstehen durch:
•
Behinderungen des Kindes;
Frühgeburt,
•
"schwieriges Baby“ / „Schreibaby"
•
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o
o
o
o
o
schwer differenzierbares Verhalten
weniger Schlüsselreize für die Eltern
erhöhte Irritabilität , vermehrtes Schreien
verminderte Aufmerksamkeit
Wahrnehmungs- und Integrationsprozesse verlangsamt
Risikofaktoren auf Seiten der Eltern:
psychische Erkrankung
•
Partnerschaftsprobleme
•
negative Kindheitserfahrungen
•
•
Intensivbehandlung des Kindes
•
frühe Trennung infolge von Frühgeburt
primäre Ablehnung des Kindes
•
"Kopflastigkeit" der Eltern
•
allgemeine Verunsicherung im Umgang mit einem Säugling
•
15. Entwicklung der Interaktion im ersten Lebensjahr
Nachdem wir die Voraussetzungen auf Seiten der Eltern und des Kindes für die Interaktion, die
zugleich auch in der Interaktion weiterentwickelt werden, beschrieben haben, kommen wir jetzt zu
den Entwicklungsabschnitten der Interaktion nach Brazelton.
5.1. homöopathische Kontrolle
Die homöopathische Kontrolle beinhaltet die Fähigkeit des Babys, ein Gleichgewichtes zwischen
dem, was von ihnen selbst kommt oder von außen, herzustellen. Hat mein Papa meinen Arm bewegt
oder war ich das selbst. Verändert sich der Ausschnitt, den ich sehen kann, weil ich meinen eigenen
Kopf bewegt habe oder weil meine Mama etwas bewegt hat.
Säuglinge lernen, ihre eigenen Verhaltenszustände und ihre physiologischen Funktionen zu steuern.
Sie werden herausfinden, wann und wie sie mit ihrer Umwelt kommunizieren können und sie
lernen, wann und wie sie in einer reizüberflutenden Umwelt abschalten können. Säuglinge können
sich erst dann den Erwachsenen zuwenden und von ihren Anregungen profitieren, wenn sie sich
nicht vor ihren eigenen Bewegungen erschrecken, wenn sie in der Lage sind, ihre motorische
Aktivität, ihre Verhaltenszustände und ihre vegetativen Funktionen zu steuern.
Gesunde Säuglinge erlernen die homöostatische Kontrolle in den ersten 10 Lebenstagen.
Die Eltern unterstützen den Prozess, in dem sie lernen, ihre Verhaltensweisen an die individuelle
Reizschwelle des Babys anzupassen, und den individuellen Ausdruck der einzelnen
Verhaltenszustände und die Regulation der Übergänge zu unterscheiden. Sie sorgen für die
Reduzierung von Reizen aus der Umgebung und für Ruhe und Geborgenheit.
5.2. Verlängerung der Aufmerksamkeitsdauer
Die Fähigkeiten des Babys entwickeln sich rasant weiter und sie werden jetzt gebraucht, um in den
Austausch mit Mutter, Vater oder anderen zugewandten Personen einzutreten. Babys lernen sehr
schnell, wie sie durch Steuerung des Blickverhaltens, durch eigene mimische Reaktionen, durch
Vokalisation und Bewegungsäußerungen die Aufmerksamkeit erhalten können, aber auch, wie sie
ein Zuviel an Anregungen von Mutter oder Vater regulieren können.
Eltern wiederum lernen, auf die Signale ihres Kindes zu antworten und sich auf seinen Rhythmus
einzustellen. Und sie lernen auch, dass Baby über die Nachahmung ihres eigenen Verhaltens zu
einer Erweiterung seiner eigenen Fähigkeiten anzuspornen.
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Dabei berücksichtigen sie intuitiv das Tempo ihres Kindes, indem sie ihre Reaktionen mit Pausen
wiederholen und sie langsam und übertrieben wirkend anbieten. Beide Partner fühlen sich dabei
wohl. Dieses Wohlgefühl verführt das Baby dazu, die Kapazitäten seiner Fähigkeiten
auszuschöpfen. Das Wohlgefühl der Eltern stärkt ihr Vertrauen in die eigene Kompetenz und ihr
Selbstwertgefühl. Sie erleben es als Belohnung für anstrengendere Zeiten und Krisen: "Wenn er
mich anlächelt, habe ich die Nacht wieder vergessen."
Abschluss und Höhepunkt nach Brazelton ist das erste soziale Lächeln, also ein Lächeln als
Reaktion auf die Anwesenheit eines anderen.
Das Erleben dieser positiven Gegenseitigkeit fördert die weitere Entwicklung und stellt einen
wichtigen Schutzfaktor und eine Ressource dar.
5.3. Erprobung der Grenzen
Im dritten und vierten Monat wird die Zeit des gemeinsamen Austausches länger. Das Kind ist
beschäftigt mit intensivem Schauen und Hören und Stimme und Gesicht von Mama oder Papa sind
sowieso das Interessanteste, was ihm in diesen Wochen geboten werden kann. Sie sind deshalb so
interessant, weil immer dann, wenn das Baby eine Äußerung macht oder lächelt, sofort eine
Reaktion von den Eltern kommt. Mama oder Papa berücksichtigen in ihren Reaktionen auch die
noch langsame Verarbeitungskapazität des Kindes, indem sie ihre Anregungen verständlich halten,
und sie häufig langsam und mit Pausen wiederholen. Das schafft kein Spielzeug. Diese intuitiv
angepassten Reaktionen hat das Baby bei allen Alltagshandlungen wahrnehmen können, so dass es
sie jetzt auch erwartet. Es ist irritiert und enttäuscht, wenn diese erwarteten und so häufig erlebten
Reaktionen auf seine Signale hin ausbleiben.
In dieser Zeit beginnen Eltern und Kind, bestimmte Spielchen zu erfinden und in Variationen immer
und immer wieder zu spielen. Jetzt orientiert sich auch das Baby am Takt und am Rhythmus seines
Gegenüber.
Wir können interaktive Spielchen beobachten, die durch einen vorhersehbaren Ablauf und klare
Strukturen gegliedert sind. In ihrem Ablauf gibt es erregende Momente und Momente der
Entspannung. (Kuck-Kuck-Versteckspiele).
Das Baby überschreitet die bisherigen Grenzen seiner Fähigkeiten und wiederum steht die
wechselseitig erlebte Befriedigung im Mittelpunkt.
5.4. Entwicklung der Selbständigkeit
Bisher war der Säugling in viel stärkerem Maße darauf angewiesen, dass die Anregungen von
seinen Eltern angeboten wurden und er sie in Abhängigkeit von seinen Fähigkeiten nachahmte. Jetzt
kennt er sich aus. Er hat Zusammenhänge erkannt zwischen seinem Tun und dem seiner
Spielpartner und erwartet auch, dass diese Zusammenhänge immer wieder auftreten mit kleineren
Variationen.
Das Wissen um diese Zusammenhänge verschafft dem Säugling ein Gefühl von Sicherheit und
Befriedigung. Aus dieser Sicherheit heraus beginnt er selbständiger zu werden. Er wird jetzt
häufiger Spielhandlungen initiieren und durch erste Zeigegesten oder die gewählte Blickrichtung
die Aufmerksamkeit seiner Eltern steuern. Seine Selbständigkeit drückt sich jetzt auch in einem
größeren Interesse an Gegenständen aus, die stärker ins Spiel kommen. Greifentwicklung. Die
Interaktion erweitert sich durch die Einbeziehung von etwas drittem, einem Gegenstand oder einer
anderen Person.
6. Exploration und Bindung
Die Selbständigkeit nimmt weiter zu, jetzt stimuliert durch die Entwicklung der Motorik. Sowie das
Kind robben und krabbeln kann, dehnt es seine Erkundungen aus. Es ist nicht mehr darauf
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angewiesen, dass ihm die Erwachsenen attraktive Gegenstände anbieten, die man mit den Fingern
und dem Mund ausgiebig untersuchen kann. Das Baby kann sich selbst dort hin bewegen. Diese
dazu gewonnene Selbständigkeit birgt natürlich Gefahren in sich. Das Baby könnte in Situationen
geraten, die nicht mehr seiner Kontrolle unterliegen. Es könnte Personen treffen, die sich ihm nicht
fürsorglich zuwenden oder die einfach zu unvertraut sind.
Trennungsangst und Fremdeln stellen einen Schutzmechanismus dar, um das Kind trotz
gewonnener Autonomie in seiner Entwicklung nicht zu gefährden. Trennungsangst ist die
unsichtbare Leine, die das Kind an seine Bezugsperson bindet (Largo), damit diese es im Falle von
Unsicherheit, Bedrohung oder Verlassensein schützt. Sie treten auf, wenn sie gebraucht werden und
zeigen, dass das Kind eine Bindung zu seinen vertrauten Personen entwickelt hat, denn es wendet
sich mit seiner Fremden- und Trennungsangst in der Regel an diese.
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