Materialsammlung

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zu »Der Kaufmann von Venedig«
von William Shakespeare (1564-1616)
in einer Fassung von Annelie Mattheis
und Ursula Maria Berzborn
Zusammengestellt von Annelie Mattheis und Ursula Maria Berzborn
Mai 2012
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Inhaltsverzeichnis
1.
Das elisabethanische Zeitalter
1.1
Das Publikum im elisabethanischen Theater
S. 3
1.2
Drakonische Strafen im elisabethanischen Zeitalter
S. 5
1.3
Die Vorlage zu »Der Kaufmann von Venedig« von Ser Giovanni Fiorentino (1378) S. 6
2.
Shakespeares Komödien
2.1
Heinrich Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen (1838) (Auszug)
S. 19
2.2
Ekkehart Krippendorff: Die Komödie als das Reich der Freiheit (Auszug)
S. 20
3.
Der Marburger Marktplatz
3.1
Historische Abbildungen des Marburger Marktplatzes
S. 30
3.2
Marburg in der Zukunft, Abbildung von 1906
S. 33
3.3
Sauter, Heike (1997): Der Marktplatz als Richtstätte und Ort des
öffentlichen Strafvollzugs
S. 34
4.
Das Theater Grotest Marus und der Marburger »Kaufmann von Venedig«
4.1
Theater im öffentlichen Raum, Bilder-, Körper- und Objekttheater
S. 36
4.2
Figurinen zu »Der Kaufmann von Venedig«
S. 37
4.3
Bühnen- und Objektspiel im »Kaufmann von Venedig«
S. 39
5.
Theater im öffentlichen Raum
5.1
Koch, Gabriele (2008): Straßentheater in Deutschland. Vortrag, Bröllin.
5.2
Wie man sich einen Ort aneignet. Auszüge aus: Staudinger,
Andreas (2010): Der Ort ist der Text. materialien für ein topisches theater.
S. 41
S. 42
2
1.
Das elisabethanische Zeitalter
1.1
Das Publikum im elisabethanischen Theater
Auszug aus: Ina Schabert (1992): Shakespeare – Handbuch; Stuttgart: Körner Verlag.
Trotz des Mangels an Geld und Freizeit war der Besuch der öffentlichen Theater eines der wenigen
Vergnügen, das sich nahezu alle Londoner mit einiger Regelmäßigkeit leisten konnten. Sie zahlten
einen Penny (den Preis für einen kleinen Laib Brot) im Stehparterre, einen zweiten für Sitzplätze auf
den Galerien und einen dritten für bequeme Stühle. Der Preis für die Logen (Lord's rooms) bewegte
sich zwischen einem halben und einem ganzen Schilling. Finanziell waren die Schauspieler weitaus
stärker auf die Stadtbevölkerung angewiesen als auf den Hof, dessen Anteil an ihren Einkünften erst
unter Jakob I. von durchschnittlich 5% auf 15% anstieg. Als lukrativer erwiesen sich die privaten
Theater, deren Eintrittspreise bereits bei einem halben Schilling anfingen. Bei vergleichbaren
Einzelaufführungen brachte das Blackfriars Shakespeares Truppe durchweg doppelt so viel ein wie
das Globe. Der Niedergang der öffentlichen Theater hatte somit auch seinen konkret materiellen
Anlaß. In der großen Zeit des Globe (1599 - ca. 1610) schätzt man zwei bis drei Aufführungen
täglich in den verschiedenen Theatern die Gesamtbesucherzahl auf 3-4000. Die Kapazität der
Häuser war auf ein Premierenpublikum zugeschnitten. Harbage errechnet für das Fortune 800
Plätze im Parterre und 1500 auf den Galerien. Thomas Platters bewundernder Hinweis auf die Größe
der Theater mit ihren 3000 Plätzen erscheint somit als kaum übertrieben. Laut Henslowe dürften
im Jahr 1595 durchschnittlich 1000 Besucher einer Aufführung beigewohnt haben.
Ehe die privaten Theater das vornehmere Publikum ganz für sich in Anspruch nahmen, war die
Mischung der Stände, etwa im Globe, nahezu vollkommen gewesen. Sogar Angehörige des Hochadels
waren gelegentlich mit ihrem Gefolge zu sehen. Überdies verwunderte es ausländische Besucher, daß
Frauen stets in großer Zahl unter den Zuschauern waren, ohne daß man dies als anstößig
empfunden hätte. Oft gingen ganze Familien im Feiertagsstaat ins Theater. Eine wichtige
Besuchergruppe waren die Jugendlichen, die Studenten der Juristenschulen und die Lehrlinge,
letztere nach den strengen Aufnahmeregeln des Zunftsystems aus den gehobenen und gebildeten
Ständen.
Häufig ist das elisabethanische Publikum in der Kritik entweder ob seiner exzessiven Emotionalität
allzu sehr romantisiert oder ob seiner Naivität allzu herablassend behandelt worden. Auch die
Annahme, Shakespeares hohe Poesie und verfeinerte Psychologie sei für das bessere Publikum, Blut
und Sensation für die »groundlings« im Parterre gedacht gewesen, hat sich als eine unzulässige
Scheidung erwiesen. Man vermutet heute eher, daß die Anwesenden trotz unterschiedlicher
Voraussetzungen an einem echten Gemeinschaftserlebnis teilhatten und daß lediglich bei bewußt
esoterischen und von Gelehrsamkeit überladenen Stücken, sofern diese überhaupt in die öffentlichen
Theater gelangten, das Publikum in seinem Urteil gespalten war.
Lärm und Rowdytum hat es zuweilen ähnlich wie in den privaten Theatern gegeben. Die meisten
Zeugnisse sprechen jedoch von der großen Disziplin, Aufmerksamkeit und Stille, die im Theater
herrschte und in der nur das Nüsseknacken als störendes Geräusch empfunden wurde. Wer sich
austoben wollte, ging eher zur Bärenhatz oder ins Wirtshaus. Die Klagen der Dichter und
Schauspieler richten sich weniger gegen die »groundlings« als gegen die kleinen Gruppen der
unintelligenten, aber lauten Plebejer und Spießer sowie gegen die blasierten und kritikwütigen Galane.
Natürlich reagierten die Zuschauer in diesem Theater, das noch wesentlich als Gemeinschaftsleistung
empfunden wurde, weniger distanziert als in der Folgezeit. Tränen, dröhnendes Gelächter, Zischen und
enthusiastischer Beifall gehörten zu den üblichen Reaktionsweisen. In einer Zeit der geringen
Lesetätigkeit und -fähigkeit war der Sinn für die Gewalt der gesprochenen Sprache weit besser
ausgebildet als heute. So war es Brauch zumal unter den Studenten und Lehrlingen, sich aus dem
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Gehörten ein geeignetes Repertoire von Reden und Zitaten zusammenzustellen. Das Geschmacksurteil
der elisabethanischen Zuschauer, wie es sich in der Zahl der Aufführungen und dem Kassenerfolg
eines Stücks noch am ehesten kundtut, weicht in den meisten Fällen nicht sonderlich von der
überwiegenden Meinung moderner Theaterbesucher und Leser ab.
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1.2
Drakonische Strafen im elisabethanischen Zeitalter
Gefängnisstrafen waren kostspielig (Gefangene hatten selbst ihre Verpflegung zu stellen; wer kein
Geld hatte, musste im Knast von Spenden und Almosen leben oder verhungern).
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für Schwerverbrechen wie Mord, Totschlag, Raub, Piraterie: Aufhängen bis zum Tode
für Verbrechen gegen Staat und Krone: Aufhängen bis knapp vorm Erstickungstod, dann
den Täter noch lebend losschneiden, aufschlitzen, Gedärme herausreißen und
Geschlechtsteile abschneiden, diese vor seinen Augen verbrennen und ihn anschließend
vierteilen
wenn eine Frau ihren Mann umbringt: lebendig verbrennen
wenn ein Diener seinen Herren tötet: Aufhängen
wenn man einen anderen vergiftet: in Wasser oder Blei kochen bis zum Tode
für Meineid: Pranger und Einbrennen eines Zeichens in die Stirn
für Schafdiebstahl: Händeabhacken
für Hexerei: Aufhängen
für aufrührerische Reden: abschneiden eines der beiden Ohren
für gemeingefährlichen Klatsch (oder Unzucht und Hurerei): das »ducking«, d.h., auf einen
Stuhl geschnallt, mittels einer Hebevorrichtung unter Wasser getaucht werden (konnte
tödlich enden)
für Landstreicherei: Auspeitschen
Köpfen als die ehrenvollere Hinrichtungsart war verurteilten Adeligen vorbehalten. Hinrichtungen
wurden meist an Markttagen abgehalten.
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1.3
Die Vorlage zu »Der Kaufmann von Venedig« von Ser Giovanni Fiorentino (1378)
Im Hause der Scali in Florenz befand sich ein Kaufmann namens Bindo, welcher oftmals in Tana
und in Alexandrien gewesen war und alle jene großen Reisen gemacht hatte, die man des Handels
wegen zu machen pflegt. Dieser Bindo war ziemlich reich und hatte drei erwachsene Söhne. Als er
zu sterben kam, rief er den ältesten und den mittlern zu sich, machte in ihrer Gegenwart sein
Testament und setzte sie beide zu Erben seiner ganzen irdischen Habe ein, während er dem
jüngsten nichts hinterließ. Sobald das Testament fertig war, kam der jüngste Sohn, Giannetto mit
Namen, welcher davon gehört hatte, zu ihm an das Bett und sagte zu ihm: »Mein Vater, ich wundere
mich sehr über das, was Ihr getan habt, indem Ihr meiner in Eurem Testamente gar nicht
gedachtet.«
Der Vater antwortete: »Mein Giannetto, ich liebe niemand auf Erden mehr als dich; und darum
wünsche ich nicht, daß du nach meinem Tode hier bleibest; vielmehr sollst du, sobald ich
gestorben bin, nach Venedig gehen zu einem deiner Taufpaten, dem Herrn Ansaldo, welcher keinen
Sohn hat und mir schon mehrmals geschrieben hat, ich solle dich ihm schicken. Ich kann dir sagen,
daß er der reichste Kaufmann ist, welcher heutzutage in der ganzen Christenheit lebt. Darum ist es
mein Wille, daß du, sobald ich gestorben bin, zu ihm gehst und ihm diesen Brief bringst; und wenn
du es recht anzugreifen weißt, wirst du ein reicher Mann werden.«
Da sprach der Sohn: »Mein Vater, ich bin bereit, zu tun, was Ihr mir befehlet.«
Darauf gab ihm der Vater seinen Segen, und wenige Tage darauf verschied er. Alle seine Söhne
erhoben hierüber den heftigsten Jammer und erwiesen dem Leichnam die gebührende Ehre.
Wenige Tage später riefen die zwei ältern Brüder den Giannetto zu sich und sagten zu ihm: »Du bist
unser Bruder; unser Vater hat zwar ein Testament gemacht und uns zwei zu seinen Erben
eingesetzt, ohne deiner irgend zu erwähnen. Nichtsdestoweniger bist du gleichfalls unser Bruder,
und darum sollst du jetzt, so gut als wir, an dem Vorhandenen teilhaben.« Giannetto antwortete:
»Liebe Brüder, ich danke euch für euer Anerbieten. Aber was mich betrifft, so steht mein Sinn
dahin, mein Glück draußen in der Welt zu suchen. Dazu bin ich fest entschlossen, und darum sollt
ihr das euch zugeschriebene und gesegnete Erbe behalten.«
Seine Entschlossenheit erkennend, gaben sie ihm ein Pferd und Geld für seine Reisebedürfnisse.
Giannetto nahm von ihnen Abschied und ging weg nach Venedig. Er kam in das Warenlager des
Herrn Ansaldo und übergab ihm den Brief, den ihm sein Vater vor seinem Tode eingehändigt hatte.
Als Herr Ansaldo diesen Brief las, erkannte er, daß er der Sohn seines geliebten Bindo war, und
sobald er mit dem Lesen fertig war, umarmte er ihn und rief: »Sei mir willkommen, mein teures
Kind, wonach ich so sehr verlangt habe!«
Sodann war seine erste Frage nach Bindo, worauf ihm Giannetto antwortete, er sei gestorben.
Darüber umarmte und küßte er ihn unter vielen Tränen und sprach: »Wohl tut mir der Tod Bindos
sehr wehe, da er mir einen großen Teil dessen, was ich habe, gewinnen half. Aber so groß ist die
Freude, die ich nun an dir habe, daß sie jenen Schmerz mildert.«
Er ließ ihn nach Hause führen und befahl seinen Geschäftsleuten, seinen Ladendienern und seinen
sämtlichen Untergebenen und Knechten, Giannetto mehr noch zu gehorchen und zu dienen als ihm
selbst. Vor allem überwies er ihm die Schlüssel zu seiner ganzen Barschaft und sagte: »Mein Sohn,
alles, was hier ist, kannst du verwenden. Du magst dich kleiden und beschuhen nach deinem
Geschmack und die Leute der Stadt zum Essen laden, damit du dich bekannt machst. Wie du es
angreifen willst, magst du selbst überlegen; ich werde dich aber um so lieber haben, je mehr du
weißt, dich beliebt zu machen.«
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Giannetto fing nun an, mit den venezianischen Edelleuten umzugehen, ein Haus zu machen, Tafel
zu halten, Geschenke zu geben, seine Dienerschaft reich zu kleiden, gute Pferde zu kaufen und
Wettkämpfe und Ritterspiele zu üben und in allen Stücken sich erfahren und geübt, hochherzig und
feingesittet zu erweisen. Auch verstand er wohl, wo es am Platze war, Ehre und Höflichkeit zu
erweisen, und erzeigte dem Herrn Ansaldo stets mehr Ehre, als wenn er hundertmal sein Vater
gewesen wäre. Er wußte sich so klug gegen jede Art von Leuten zu stellen, daß fast jedermann in
Venedig ihm zugetan war, da man seine große Klugheit und Anmut und seine unbegrenzte
Höflichkeit sah. Männer wie Frauen schienen in ihn verliebt, und Herr Ansaldo sah sonst nichts als
ihn, so sehr gefiel ihm sein Betragen und seine Aufführung. Darum wurde denn fast kein Fest in
Venedig veranstaltet, wozu Giannetto nicht eingeladen worden wäre; so sehr war er bei allen beliebt.
Da begab es sich, daß zwei seiner liebsten Gefährten nach Alexandria gehen wollten mit ihren
Waren auf zwei Schiffen, wie sie alljährlich zu tun pflegten. Sie sagten es Giannetto und fügten
hinzu: »Du solltest dich mit uns des Meeres erfreuen, um die Welt zu sehen und zumal jenes
Damaskus und das Land umher.«
Giannetto antwortete: »Wahrhaftig, das würde ich sehr gern tun, wenn mein Vater Herr Ansaldo mir
dazu Erlaubnis gäbe.«
Jene sagten: »Das wollen wir schon machen, daß er sie dir gibt, und er soll damit zufrieden sein.«
Sogleich gingen sie zu Herrn Ansaldo und sprachen: »Wir wollen Euch bitten, daß Ihr dem
Giannetto gefälligst erlauben möget, mit uns auf das Frühjahr nach Alexandrien zu gehen, und daß
Ihr ihm ein Schiff ausrüstet, damit er ein wenig die Welt sehe.«
Herr Ansaldo sagte: »Ich bin es zufrieden, wenn es ihm Vergnügen macht.«
Jene antworteten: »Herr, es ist sein Wunsch.«
Darum ließ ihm Herr Ansaldo sogleich ein sehr schönes Schiff ausrüsten und es mit vielen Waren
beladen und mit Flaggen und Waffen hinlänglich versehen. Und nachdem es fertig war, befahl Herr
Ansaldo dem Schiffspatron und der Mannschaft, alles zu tun, was Giannetto ihnen befehle und was
ihnen aufgetragen werde. »Denn«, sagte er, »ich sende ihn nicht aus, um Gewinn durch ihn zu
machen, sondern zu seinem Vergnügen, damit er die Welt sehe.«
Und als Giannetto zu Schiffe stieg, lief ganz Venedig hinter ihm her, um ihn zu sehen, da seit langer
Zeit kein so schönes und so wohlausgerüstetes Schiff von Venedig weggefahren war. Jedermann
bedauerte sein Scheiden. So nahmen er und alle seine Gefährten Abschied von Herrn Ansaldo; sie
stiegen zu Schiff und zogen die Segel auf und nahmen ihren Weg nach Alexandria in Gottes Namen
und ihrem guten Glück vertrauend.
Die drei Gefährten fuhren so in ihren drei Schiffen mehrere Tage hin. Da geschah es eines Morgens
vor Tag, daß der besagte Giannetto einen Meerbusen mit einem sehr schönen Hafen wahrnahm und
den Schiffspatron fragte, wie dieser Hafen heiße. Er antwortete ihm: »Herr, dieser Ort gehört einer
Witwe an, die schon viele edle Männer zugrunde gerichtet hat.«
Giannetto fragte: »Wie das?«
»Herr«, antwortete jener, »es ist ein schönes, reizendes Weib, die das Gesetz befolgt, daß jeder, der
dorthin kommt, bei ihr schlafen muß, und wenn er mit ihr zu schaffen bekommt, so muß er sie zur
Frau nehmen und wird Besitzer des Hafens und des ganzen Landes; bringt er sie aber nicht unter
sich, so verliert er alles, was er hat.«
Giannetto dachte ein wenig still bei sich nach und sagte sodann: »Sieh zu, wie du es machst, daß
du mich in den Hafen führst!«
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Der Patron antwortete: »Herr, bedenkt, was Ihr sagt! Viele sind schon hineingegangen und dadurch
auf immer elend geworden.«
Giannetto aber sagte: »Mische dich nicht in fremde Dinge, sondern tue, was ich dir sage!«
So geschah es denn, daß sie plötzlich das Schiff wendeten und in den Hafen einfuhren, ohne daß
ihre Gefährten auf den andern Schiffen etwas davon merkten. Am Morgen verbreitete sich nun die
Nachricht, wie dieses schöne Schiff in den Hafen gekommen sei, so daß alles Volk herbeilief, es zu
sehen, und der Frau sogleich darüber Meldung geschah. Sie schickte daher zu Giannetto, der
unverzüglich zu ihr ging und sie ehrerbietig begrüßte. Sie nahm ihn bei der Hand, fragte ihn, wer er
sei, woher er komme und ob er die Sitte des Landes wisse. Giannetto bejahte es und sagte, er sei
gerade aus diesem Grunde gekommen.
»So seid mir denn hundertmal willkommen«, sagte sie, und erwies ihm den ganzen Tag die größte
Ehre und ließ viele Barone, Grafen und Ritter einladen, welche sie unter sich hatte, damit sie ihm
Gesellschaft leisteten. Allen Baronen gefiel das Betragen Giannettos sehr sowie auch sein
gesittetes, einnehmendes und gesprächiges Wesen, so daß fast jeder sich in ihn verliebte. Den
ganzen Tag wurde am Hofe getanzt und gesungen und geschmaust dem Giannetto zu Ehren, und
jedem wäre es recht gewesen, ihn zum Gebieter zu bekommen.
Als nun der Abend kam, nahm ihn die Frau bei der Hand, führte ihn in ihr Schlafgemach und sagte:
»Ich glaube, es ist nun Zeit, zu Bett zu gehen.«
Giannetto antwortete:» Edle Frau, ich bin zu Euren Diensten.«
Alsbald kamen zwei Jungfrauen, die eine mit Wein, die andere mit Zuckerbackwerk.
»Ich weiß«, sagte die Frau, »Ihr werdet Durst bekommen haben. Darum trinkt!«
Giannetto nahm von den Süßigkeiten und trank von dem Wein, der, ohne daß jener es wußte, so
bereitet war, daß er schlafen machte; er trank davon eine halbe Schale denn er schmeckte ihm;
darauf zog er sich sogleich aus und legte sich nieder. Kaum aber hatte er das Bett erreicht, so war
er schon eingeschlafen. Die Frau legte sich ihm zur Seite nieder; er merkte es aber nicht bis zum
Morgen, als schon die Terzie vorüber war. Darum stand die Frau auf, als es Tag wurde, und ließ
anfangen, das Schiff auszuladen, welches sie voll von verschiedenen kostbaren und trefflichen
Waren fand. Als nun die Terzie vorüber war, gingen die Kammerfrauen der Dame an das Bett
Giannettos, hießen ihn aufstehen und gaben ihm die Weisung, seiner Wege zu gehen, denn er habe
das Schiff und alles, was darauf sei, verloren. Darüber schämte er sich, denn er meinte, seine
Sachen schlecht gemacht zu haben. Die Frau ließ ihm ein Pferd geben und Geld zur Reise, und so
zog er traurig und betrübt von hinnen und wandte sich nach Venedig; daselbst angelangt mochte er
aber aus Scham nicht nach Hause gehen, sondern begab sich in der Nacht zu einem seiner
Kameraden, der sich sehr verwunderte und sprach:
»Wehe, Giannetto! Was ist das?«
Dieser erwiderte: »Mein Schiff scheiterte eines Nachts an einer Klippe, so daß alles zerborst und
zerschellte und nach allen Seiten hin getrieben wurde. Ich hielt mich an ein Stück Holz, das mich
an das Ufer trieb. So bin ich gerettet worden und hierher gekommen.«
Giannetto blieb einige Tage in dem Hause dieses seines Freundes, der sodann einmal dem Herrn
Ansaldo einen Besuch machte, ihn aber sehr niedergeschlagen antraf. Herr Ansaldo sagte: »Ich
fürchte so sehr für das Leben meines lieben Sohnes, oder daß ihm zur See ein Unglück zugestoßen
sei, und ich kann weder Rast noch Ruhe finden, so groß ist die Liebe, die ich zu ihm trage.«
Jener Jüngling erwiderte: »Ich kann Euch von ihm Kunde bringen: er ist auf dem Meere gestrandet
und hat all sein Hab und Gut verloren, er selbst aber ist wohlbehalten davongekommen.«
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Da sprach Herr Ansaldo: »Gott sei gelobt! Wenn nur er gerettet ist, so bin ich zufrieden. Der Verlust,
den er erlitten hat, soll mich nicht grämen. Aber wo ist er?«
Der Jüngling antwortete: »Er befindet sich in meinem Hause.«
Und alsbald brach Herr Ansaldo auf, um ihn zu sehen. Sobald er ihn erblickte, stürzte er sich in
seine Arme und sprach: »Mein lieber Sohn, du brauchst dich nicht vor mir zu schämen, denn das
kommt ja häufig vor, daß Schiffe im Meere bersten. Darum gräme dich nicht, mein Sohn, denn ich
bin zufrieden, daß dir kein Leid widerfahren ist.«
Und hiermit führte er ihn nach Hause, indem er nicht müde werden konnte, ihn zu trösten. Die
Neuigkeit verbreitete sich bald durch ganz Venedig, und jeder nahm Anteil an dem Verluste, den
Giannetto erlitten hatte.
Nun geschah es, daß kurze Zeit darauf seine Gefährten aus Alexandrien zurückkehrten, alle mit
reichem Gewinne. Sowie sie angekommen waren, fragten sie nach Giannetto und erfuhren alles.
Deshalb liefen sie sogleich hin, ihn zu umarmen, und sagten: »Wie bist du von uns gekommen, und
wohin bist du gegangen? Wir konnten gar nichts mehr von dir erfahren; wir sind jenen ganzen Tag
rückwärts gesegelt, konnten aber deiner nicht ansichtig werden noch in Erfahrung bringen, wo du
hingekommen seiest. Wir haben uns darüber so sehr betrübt, daß wir den ganzen Weg nicht wieder
froh werden mochten, denn wir glaubten, du seiest gestorben.«
Giannetto antwortete: »Einem Meerbusen gegenüber erhob sich ein heftiger widriger Wind, der
mein Schiff in gerader Linie auf eine Klippe trieb, die nahe am Lande war, so daß ich mit knapper
Not selbst mein Leben rettete, denn alles ging drunter und drüber.«
Dies war der Vorwand, den Giannetto gebrauchte, um seinen Fehltritt zu verbergen. Und nun
veranstalteten sie zusammen eine große Festlichkeit, dankten Gott, daß wenigstens er
davongekommen sei, und sprachen: »Mit dem nächsten Frühjahr, wenn es Gottes Wille ist, werden
wir wiedergewinnen, was du diesmal verloren hast. Darum laß uns jetzt darauf denken, uns eine
gute Stunde zu machen und den Trübsinn zu verscheuchen!«
Und das ließen sie sich dann auch angelegen sein und waren fröhlich und guter Dinge nach ihrer
frühern Gewohnheit. Giannetto aber dachte an nichts, als wie er zu jener Frau zurückkehren könne,
sann hin und her und sprach bei sich selbst: »Wahrhaftig, ich muß sie zur Frau erhalten, oder ich
will dabei sterben.«
So konnte er denn fast gar nicht heiter werden. Darum sagte Herr Ansaldo mehrmals zu ihm:
»Scheuche den Trübsinn von dir, denn wir sind ja noch so reich an Hab und Gut, daß wir recht wohl
bestehen können.«
»Lieber Herr«, antwortete Giannetto, »ich kann mich nicht beruhigen, wenn ich nicht diesen Weg
noch einmal mache.«
Als nun Ansaldo seinen Willen erkannte und die Zeit gekommen war, befrachtete er ein anderes
Schiff mit noch mehr Waren als das erste und von noch höherem Werte, so daß er den größten Teil
von dem, was er auf der Welt besaß, ihm anvertraute. Als seine Gefährten ihre Schiffe auch mit
dem Nötigen ausgestattet hatten, gingen sie mit Giannetto zusammen in See, ließen die Segel
blähen und steuerten ihres Weges. Und während mehrerer Tage, da sie zu Schiff fuhren, paßte
Giannetto beständig auf, ob er nicht den Hafen jener Frau wiedersehe, der der Hafen der Frau von
Belmonte hieß. Als man nun in einer Nacht an die Mündung jenes Hafens gelangt war, der in einer
tiefen Bucht lag, erkannte ihn Giannetto augenblicklich, ließ Segel und Ruder wenden und schlüpfte
schnell hinein, ehe noch seine Gefährten auf den andern Schiffen etwas davon bemerkt hatten.
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Da nun die Herrin des Landes am Morgen aufgestanden war und nach dem Hafen schaute,
bemerkte sie die Flagge dieses Schiffes, erkannte sie alsbald, rief eine ihrer Zofen und sprach:
»Kennst du diese Flagge?«
Die Kammerfrau erwiderte: »Edle Frau, es scheint das Schiff jenes jungen Mannes zu sein, der vor
einem Jahr hier ankam und mit seinen Waren uns einen so großen Reichtum hinterließ.«
Die Dame sprach: »Gewiß, du sagst die Wahrheit. In der Tat, der muß nicht wenig in mich verliebt
sein, denn ich habe noch nie einen zum zweitenmal hierherkommen sehen.«
Die Kammerfrau versetzte: »Und ich habe noch keinen höflichern und liebenswürdigern Mann
gesehen als ihn.«
Die Frau schickte viele Junker und Knappen nach ihm aus, die ihn mit großer Feierlichkeit
empfingen, und er selbst begegnete ihnen freundlich und heiter. Und so kam er hinauf in die Burg
und vor das Angesicht der Frau. Als sie ihn erblickte, umarmte sie ihn mit großer Lust und Freude,
und er umarmte sie wieder mit vieler Ehrerbietigkeit. So verbrachten sie den ganzen Tag in Lust und
Wonne, denn die Frau ließ Barone und Frauen in Menge einladen, die an den Hof kamen, um dem
Giannetto zuliebe eine Festlichkeit zu veranstalten. Fast allen Baronen tat es leid um ihn, und sie
hätten ihn gern zu ihrem Herrn gehabt wegen seines einnehmenden höflichen Wesens, und fast
alle Frauen waren in ihn verliebt, als sie sahen, wie zierlich er sich beim Tanze bewegte und sein
Gesicht immer heiter glänzte, so daß jeder meinte, er müsse der Sohn irgendeines großen Herrn
sein.
Als aber die Dame sah, daß es Zeit war schlafen zu gehen, nahm sie Giannetto bei der Hand und
sagte: »Gehen wir zur Ruhe!«
Darauf gingen sie in die Kammer, setzten sich nieder, und siehe, da kamen zwei Jungfrauen mit
Wein und süßem Backwerk; sie tranken und aßen und gingen darauf zu Bette. Sobald er aber im
Bette war, schlief er auch ein. Die Frau zog sich aus, legte sich neben ihm nieder, und kurz, er kam
nicht wieder zu sich die ganze Nacht. Als der Morgen kam, stand die Frau auf und befahl sogleich,
das Schiff abfrachten zu lassen. Sobald nun die Terzie vorüber war, kam Giannetto wieder zu sich
und suchte nach der Frau und fand sie nicht. Er fuhr mit dem Kopf in die Höhe und sah, daß es
heller Tag war. Deshalb stand er sogleich auf und fing an, sich sehr zu schämen. Dann gab man ihm
wieder ein Pferd und Geld auf die Reise und sagte zu ihm: »Geh deiner Wege!«
Voll Beschämung zog er von dannen, traurig und niedergeschlagen, ruhte aber nicht eher, bis er
nach vielen Tagereisen in Venedig ankam, wo er bei Nacht in das Haus jenes seines Freundes
eintrat, der bei seinem Anblick sich auf das äußerste verwunderte und sprach: »Weh mir, was ist
das?«
Giannetto antwortete: »Das bin ich Unglücklicher! Verwünscht sei mein Schicksal, das mich jemals
in dieses Land kommen ließ!«
Darauf erwiderte jener Freund: »Du hast wohl Ursache, es zu verwünschen, denn du hast den Herrn
Ansaldo zugrunde gerichtet, der der größte und reichste Kaufmann in der Christenheit war, und die
Schande ist noch schlimmer als der Schaden.«
Giannetto blieb mehrere Tage in dem Hause dieses seines Freundes verborgen und wußte nicht,
was er tun noch was er sagen sollte; ja, er war fast willens, nach Florenz zurückzukehren, ohne
Herrn Ansaldo ein Wort davon zu sagen. Am Ende aber entschloß er sich doch, zu ihm zu gehen,
und so tat er auch.
Als Herr Ansaldo ihn erblickte, sprang er auf, stürzte ihm entgegen, umarmte ihn und rief: »Sei mir
willkommen, mein Sohn!«
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Und Giannetto umarmte ihn unter Tränen. Als er alles vernommen hatte, sagte Herr Ansaldo:
»Weißt du was, Giannetto? Mache dir darüber nur gar keinen Kummer! Da ich nur dich wieder habe,
bin ich zufrieden. Es bleibt uns ja noch so viel übrig, daß wir gemächlich leben können. Es ist nun
so des Meeres Brauch, dem einen zu geben, dem andern zu nehmen.«
Die Nachricht von diesem Ereignis verbreitete sich durch ganz Venedig; jedermann sprach vom
Herrn Ansaldo und beklagte ihn sehr wegen des Verlustes, den er erlitten; und Herr Ansaldo sah
sich genötigt, viele Besitzungen zu verkaufen, um die Gläubiger zu bezahlen, die ihm die verlorenen
Waren geliefert hatten. Inzwischen kamen Giannettos Reisegefährten mit großen Reichtümern von
Alexandria zurück, und kaum in Venedig angelangt, erfuhren sie, daß auch Giannetto
zurückgekommen sei, Schiffbruch gelitten und alles verloren habe. Darüber verwunderten sie sich
und sprachen: »Das ist der außerordentlichste Fall, der je erhört wurde.«
Darauf gingen sie zu Herrn Ansaldo und zu Giannetto, begrüßten sie herzlich und sagten: »Seid
unbekümmert, edler Herr! Das nächste Jahr wollen wir ausziehen und zu Eurem Besten arbeiten,
denn wir sind fast schuld an diesem Eurem Verluste, da ja wir es waren, die den Giannetto das
erstemal verleitet haben, mit uns zu kommen. Darum bedenkt Euch nicht, und solange wir noch
irgend etwas unser nennen, betrachtet es wie Euer Eigentum!«
Herr Ansaldo dankte ihnen und sagte, er habe bis jetzt wohl noch so viel, um nicht darben zu
müssen. Da nun aber Giannetto vom Morgen bis zum Abend jenen Gedanken nachhing und nie
heiter werden wollte, so fragte ihn einst Herr Ansaldo, was er habe, und erhielt zur Antwort: »Ich
werde nicht eher wieder zufrieden sein, bis ich das wieder erworben, was ich verloren habe.«
Da sprach Herr Ansaldo: »Mein Sohn, du darfst mir die Reise nicht noch einmal wagen; denn es ist
klüger, wir halten mit dem wenigen, was wir haben, sparsam Haus, als daß du es weiter aufs Spiel
setzest.«
Giannetto versetzte: »Ich bin entschlossen, alles zu tun, was ich vermag; denn ich würde es mir zur
größten Schande rechnen, wenn ich die Sache so bewenden lassen sollte.«
Als nun Herr Ansaldo seinen Willen erkannte, entschloß er sich, alles zu verkaufen, was er noch auf
der Welt besaß, um ihm ein neues Schiff auszurüsten. So tat er und behielt für sich nichts übrig,
stattete aber ein sehr schönes Handelsschiff aus. Und weil ihm noch zehntausend Dukaten fehlten,
ging er zu einem Juden nach Mestri und borgte sie von ihm unter der vertragsmäßigen Bedingung,
daß, wenn er sie nicht zwischen heute und dem nächstkommenden St. Johannistag im Juni
zurückgegeben habe, der Jude ihm ein Pfund Fleisch von seinem Leibe nehmen dürfe, von welcher
Stelle ihm beliebe. Herr Ansaldo war damit zufrieden, und der Jude ließ eine gerichtliche Urkunde
darüber ausstellen mit Zeugen und mit allen nötigen Förmlichkeiten und Vorsichtsmaßregeln
versehen, und dann zahlte er ihm zehntausend Golddukaten aus, mit welchem Gelde sofort
Ansaldo das besorgte, was dem Schiffe noch fehlte; und wenn die ersten beiden Fahrzeuge schön
waren, so war das dritte noch weit reicher und besser ausgestattet. Die Gefährten rüsteten
ebenfalls ihre zwei Schiffe, mit dem Vorsatze, daß das, was sie gewinnen würden, ihrem Giannetto
gehören solle. Und da die Zeit zur Abreise gekommen war und die Schiffe segelfertig standen,
sagte Herr Ansaldo zu Giannetto: »Mein Sohn, du gehst nun und weißt, unter welcher Verpflichtung
ich zurückbleibe. Eines aber bitte ich mir von dir aus, daß, wenn es dir ja übel gehen sollte, es dir
doch gefallen möge, zu mir zu kommen, auf daß ich dich vor meinem Tode noch einmal schauen
und zufrieden aus der Welt gehen kann.«
Giannetto erwiderte ihm: »Herr Ansaldo, ich will alles tun, womit ich glaube, Euch gefällig zu
werden.«
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Herr Ansaldo gab ihm seinen Segen, und somit nahmen sie Abschied und machten sich auf ihre
Reise. Die beiden Gefährten hatten sorgsam acht auf Giannettos Schiff, Giannetto aber ging mit all
seinem Dichten und Trachten darauf aus, in der Bucht von Belmonte zu landen. Er beredete daher
einen seiner Steuermänner, das Schiff zur Nachtzeit in den Hafen jener Edelfrau zu führen. Danach,
als es wieder Tag geworden war und die Gefährten in den andern beiden Schiffen sich umsahen und
Giannettos Fahrzeug nirgend gewahren konnten, sprachen sie untereinander: »Gewiß, das ist
wieder sein Unglück.« Sie dachten daher, es bleibe ihnen nichts übrig, als ihren Weg fortzusetzen,
und waren darüber sehr verwundert.
Als nun das Schiff in den Hafen eingelaufen war, lief alles aus der Burg herbei, um zu schauen, und
als sie merkten, daß Giannetto zurückgekehrt war, wunderten sie sich sehr darüber und sprachen:
»Das muß der Sohn irgendeines großen Herrn sein, in Anbetracht daß er jedes Jahr mit so vielen
Waren und so schönem Schiffzeug hier ankommt. Wollte Gott, daß er noch unser Herr würde!«
So wurde er besucht von allen Großen, von den Baronen und Rittern des Landes, und der Frau ward
gemeldet, daß Giannetto wieder in den Hafen gekommen sei. Da trat sie an die Fenster des
Palastes und sah das prächtige Schiff und erkannte die Flaggen, machte darob das Zeichen des
heiligen Kreuzes und sprach: »Wahrlich, es ist ein Wunder: das ist jener Mann wieder, welcher den
Reichtum ins Land gebracht hat.« Und damit schickte sie nach ihm. Giannetto ging zu ihr; sie
begrüßten sich mit vielen Umarmungen und erwiesen sich Ehre, und den ganzen Tag war man
darauf bedacht, Fröhlichkeit und Feste zu üben; man veranstaltete Giannetto zuliebe ein schönes
Turnier, woran viele Barone und Ritter desselbigen Tages teilnahmen. Giannetto wollte auch
tjostieren; er tat Wunder der Tapferkeit und nahm sich so gut aus in Waffen und zu Pferde, und sein
ganzes Wesen gefiel so sehr allen Baronen, daß jeder ihn zum Herrn zu erhalten wünschte.
Als es nun am Abend Zeit war, sich zu Bette zu legen, nahm die Frau den Giannetto bei der Hand
und sagte: »Laß uns schlafen gehen!«
Er stand schon am Eingang der Schlafkammer, als eine Zofe, der es um Giannetto leid tat, sich zu
seinem Ohr neigte und ihm zuflüsterte: »Gib dir den Anschein zu trinken, trink aber nicht diesen
Abend!«
Giannetto verstand diese Worte, trat in die Schlafkammer, und die Frau sagte zu ihm: »Ich weiß,
daß Ihr durstig sein werdet, und wünsche daher, daß Ihr trinket, ehe Ihr zu Bette geht.«
Alsbald kamen zwei Mädchen, schön wie zwei Engel, mit Wein und Zuckerbackwerk nach
gewohnter Weise und schenkten ein. Giannetto sagte: »Wer könnte sich enthalten zu trinken, wenn
er zwei so schöne Jungfräulein sieht?«
Darüber lachte die Frau. Giannetto nahm die Schale und tat, als ob er trinke, schüttete den Inhalt
aber in den Busen. Die Frau meinte, er habe getrunken, und sagte bei sich selbst: »Du magst
immerhin noch ein anderes Schiff herbeiführen; denn dieses hast du verloren.«
Dann ging Giannetto zu Bett, fühlte sich ganz hell und munter und konnte den Augenblick kaum
erwarten, bis die Frau ins Bett käme.
»Diesmal habe ich sie gefangen,« sprach er bei sich selbst. »Heute hat sie die Zeche ohne den Wirt
gemacht.«
Und damit die Frau um so schneller ins Bett käme, tat er, als ob er anfinge zu schnarchen und zu
schlafen. Darum sagte die Frau: »Nun ist es recht.«
Sie zog sich aus und kam an Giannettos Seite. Dieser wartete nicht lange; sondern sobald die Frau
unter die Decke geschlüpft war, wandte er sich nach ihr um, umarmte sie und sprach: »Jetzt habe
ich, wonach ich mich so lange gesehnt habe.«
12
Damit gab er ihr den Friedenskuß der heiligen Ehe, und sie kam die ganze Nacht nicht mehr aus
seinen Armen. Darüber war die Frau mehr als vergnügt, stand am Morgen vor Tag auf, ließ
aussenden nach allen Baronen und Rittern und vielen andern in der Stadt und sprach zu ihnen:
»Giannetto ist euer Gebieter. Darum denkt daran, Festlichkeiten zu veranstalten!«
Plötzlich verbreitete sich das Gerücht durch das Land, und man rief: »Es lebe der Herr! Es lebe der
Herr!«
Die Glocken wurden geläutet und Instrumente geblasen, um das Fest zu verkünden. Man sandte
aus nach vielen Baronen und Grafen, die außerhalb der Burg wohnten, und ließ ihnen sagen:
»Kommt, euren Herrn zu sehen!«
Und als Giannetto die Schlafkammer verließ, wurde er zum Ritter geschlagen und auf einen Thron
gesetzt, bekam ein Szepter in die Hand und wurde mit großem Triumph und Gepränge zum
Herrscher ausgerufen. Und nachdem alle Barone und Frauen an den Hof gekommen waren,
heiratete er die Edelfrau mit unbeschreiblicher und unerdenklicher Freude und Lustbarkeit. Alle
Barone und Herren des Landes kamen zu dem Feste, um sich zu ergötzen, zu turnieren, zu
tjostieren, zu tanzen, zu singen und zu spielen und alle Kurzweil zu treiben, welche zu solchen
Festen gehört. Herr Giannetto teilte in seiner Großmut seidene Tücher und andere kostbare
Gegenstände, die er mitgebracht hatte, aus und wurde bald so mannhaft, daß man ihn fürchtete
und Recht und Gerechtigkeit von jedermänniglich geübt wurde.
In diesem Glück und Wohlleben vergaß und vernachlässigte er aber ganz und gar jenen armen
Herrn Ansaldo, der sich dem Juden für zehntausend Dukaten verpfändet hatte. Als jedoch Herr
Giannetto eines Tages mit seiner Frau an einem Fenster des Palastes stand, sah er eine Schar
Männer über den Platz ziehen mit brennenden Kerzen in der Hand, die sie zum Opfer bringen
wollten. Herr Giannetto fragte: »Was hat das zu bedeuten?«
Die Frau versetzte: »Es ist ein Haufen Handwerker, die nach der Kirche des heiligen Johannes zu
opfern gehen, weil heute sein Festtag ist.«
Da gedachte Herr Giannetto des Herrn Ansaldo, hob sich vom Fenster, seufzte schwer auf und ging
mehrmals im Saale auf und ab, in Nachdenken über diese Sache vertieft. Seine Gemahlin fragte
ihn, was er habe.
»Weiter nichts«, versetzte Giannetto. Die Frau begann daher in ihn zu dringen und sagte: »Gewiß,
Ihr habt etwas und wollt es nicht sagen.«
Sie ließ auch nicht nach, bis Herr Giannetto ihr erzählte, wie Herr Ansaldo als Pfand für
zehntausend Dukaten zurückgeblieben sei. »Und heute«, fuhr er fort, »läuft die Frist ab, und es
schmerzt mich sehr, daß mein Vater um meinetwillen sterben soll; denn wenn er ihm heute das
Geld nicht erstattet, so muß er ein Pfund Fleisch von seinem Leibe verlieren.«
Die Frau sagte: »Lieber Herr, besteigt schleunigst ein Pferd und reiset gerades Wegs zu Lande, so
werdet Ihr schneller hinkommen als zur See! Nehmt zur Begleitung mit, wen Ihr wollt, packt
hunderttausend Dukaten ein und rastet nicht, bis Ihr in Venedig seid! Und wenn er noch am Leben
ist, so führt ihn mit Euch hierher!«
Sofort ließ er plötzlich in die Trompete blasen, stieg zu Pferd mit zwanzig Begleitern, nahm
hinlänglich Geld mit und schlug den Weg nach Venedig ein.
Unterdessen hatte der Jude, da die Frist verlaufen war, den Herrn Ansaldo festnehmen lassen und
wollte ihm ein Pfund Fleisch vom Leibe schneiden. Da bat ihn Herr Ansaldo um die Vergünstigung,
daß er seinen Tod noch um einige Tage verschiebe, damit, wenn sein Giannetto komme, er ihn
wenigstens noch sehen könne.
13
Der Jude sagte: »Ich bin es zufrieden, Euch Euren Wunsch in betreff des Aufschubs zu gewähren.
Aber wenn er hundertmal käme, so ist es meine Absicht, Euch ein Pfund Fleisch aus dem Leibe zu
nehmen, wie die Papiere besagen.«
Herr Ansaldo versetzte, er sei es zufrieden. Da sprach ganz Venedig von dem Falle; aber ein jeder
hatte Mitleid, und viele Kaufleute vereinigten sich, um die Schuld zu bezahlen; aber der Jude wollte
davon nichts wissen, sondern wollte den Mord begehen, um sagen zu können, daß er den größten
Kaufmann der Christenheit ums Leben gebracht habe.
Indem nun Herr Giannetto eilends heranreiste, zog ihm seine Gemahlin gleich nach, und zwar als
Richter verkleidet mit zwei Dienern. In Venedig angelangt, begab sich Herr Giannetto in das Haus
des Juden, umarmte Herrn Ansaldo mit vieler Freude und sagte darauf dem Juden, er wolle ihm
sein Geld geben, ja noch mehr, soviel er verlange. Der Jude aber antwortete, er wolle gar kein Geld,
da er es nicht zur rechten Zeit erhalten habe, vielmehr wolle er ihm ein Pfund Fleisch vom Leibe
nehmen. Hier erhob sich nun ein großer Streit, und jedermann gab dem Juden unrecht. Da man
aber bedachte, daß es in Venedig allenthalben rechtlich zugehe, und daß der Jude seine
Ansprüche in vollgültiger gesetzlicher Form begründet hatte, so wagte ihm niemand anders als mit
Bitten zu widersprechen. Darum begaben sich alle Kaufleute Venedigs dahin, um den Juden zu
bitten; er aber bestand nur immer hartnäckiger auf seiner Forderung. Nun erbot sich Herr
Giannetto, ihm zwanzigtausend Dukaten zu geben, aber er wollte nicht; dann kam er auf
dreißigtausend, und dann auf vierzigtausend und auf fünfzigtausend, und so stieg er auf bis auf
hunderttausend Dukaten. Endlich sprach der Jude: »Weißt du was? Wenn du mir mehr Dukaten
anbötest, als diese Stadt wert ist, so würde ich mich doch damit nicht abfinden lassen; vielmehr
verlange ich einzig das, was meine Papiere besagen.«
Und so standen die Verhandlungen, siehe, da kam in Venedig diese Dame an, als Richter gekleidet,
und stieg in einem Gasthause ab. Der Wirt fragte einen Diener: »Wer ist dieser edle Herr?«
Der Diener war bereits von der Frau unterrichtet, was er sagen solle, wenn er nach ihr gefragt würde,
und antwortete: »Es ist ein rechtsgelehrter Edelmann, der von Bologna kommt, wo er studiert hat,
und nun in seine Heimat geht.«
Als der Wirt dies vernahm, tat er ihm viele Ehre an, und während der Richter bei Tisch saß, sagte er
zu dem Wirte: »Wie ist denn das Regiment hier in eurer Stadt?«
Der Wirt antwortete: »Nur allzu gerecht, edler Herr.«
»Wieso?« fiel der Richter ein.
»Das will ich Euch sagen, edler Herr«, entgegnete der Wirt. »Es kam einmal von Florenz ein
Jüngling hierher, welcher Giannetto hieß, und ging hier zu einem seiner Taufpaten, namens Herr
Ansaldo, und er betrug sich so artig und gesittet, daß in der ganzen Stadt Männer und Frauen ihm
zugetan waren; ja, es ist nie ein Fremder bei uns so allgemein beliebt gewesen wie er. Dieser sein
Taufpate nun rüstete ihm dreimal ein Schiff aus, und diese drei Schiffe waren vom größten Werte;
aber jedesmal war er damit unglücklich, so daß es ihm zuletzt an Geld zur Ausrüstung des Schiffes
fehlte. Daher borgte jener Herr Ansaldo zehntausend Dukaten von einem Juden unter der
Bedingung, daß, wenn er sie ihm nicht bis zum Sankt-Johannis-Tag im nächstkünftigen Monat Juni
zurückgegeben habe, der besagte Jude ihm ein Pfund Fleisch vom Leibe schneiden dürfe, wo es
ihm beliebe. Nun ist zwar glücklicherweise der Jüngling zurückgekehrt und hat sich erboten, statt
der zehntausend Dukaten hunderttausend zu zahlen, aber der arglistige Jude will nicht. Es sind alle
rechtschaffenen Leute der Stadt zu ihm gegangen, um ihn mit Bitten zu erweichen, aber es hilft
nichts.«
14
Darauf antwortete der Richter: »Dieser Handel ist leicht zu schlichten.«
Der Wirt versetzte: »Wenn Ihr Euch der Mühe unterziehen wollt, die Sache zu Ende zu führen, so
daß der brave Mann nicht sein Leben einbüßt, so würdet Ihr Euch die Gunst und die Liebe des
wackersten Jünglings erwerben, der je geboren wurde, und zugleich die aller Leute dieser Stadt.«
Hiernächst ließ der Richter eine Aufforderung bekanntmachen, wer irgendeine Rechtsfrage zu
schlichten habe, der solle zu ihm kommen; und so wurde auch Herrn Giannetto gesagt, es sei ein
Richter von Bologna angekommen, der sich jeden Handel zu schlichten erbiete. Darum sagte Herr
Giannetto zu dem Juden: »Wir wollen zu diesem Richter gehen!«
»Meinetwegen«, sagte der Jude; »es mag kommen, wer will, ich habe in jedem Falle das Recht, zu
tun, was mein Schein besagt.«
Als sie vor den Richter traten und ihm die schuldige Ehrerbietung bezeugten, erkannte der Richter
den Herrn Giannetto sogleich, nicht ebenso aber Herr Giannetto den Richter, denn der letztere hatte
vermittels gewisser Kräuter seine Gesichtszüge unkenntlich gemacht. Herr Giannetto und der Jude
trugen jeder seine Sache und die Gründe dem Richter vor; dieser nahm den Schein, las ihn und
sagte darauf zu dem Juden: »Ich wünschte, du nähmest diese hunderttausend Dukaten und gäbest
diesen guten Mann los, der dir überdies immer dafür verpflichtet sein wird.«
»Daraus wird nichts«, antwortete der Jude.
»Aber«, sagte der Richter, »es wäre dein Bestes.«
Der Jude dagegen beharrte darauf, er wolle sich auf nichts von alledem einlassen. Darauf begaben
sie sich insgesamt zu dem Gerichte, das über dergleichen Fälle gesetzt ist, und der Richter
verlangte nach Herrn Ansaldo und sagte: »Nun laßt ihn vortreten!«
Als er erschienen war, sagte der Richter: »Wohlan, nimm ihm ein Pfund Fleisch, wo du willst, und
bringe deine Sache zu Ende!«
Da hieß ihn der Jude sich nackt ausziehen und nahm ein Rasiermesser in die Hand, das er zu
diesem Zwecke hatte machen lassen. Herr Giannetto aber wandte sich zu dem Richter und sagte:
»Herr, darum habe ich Euch nicht gebeten.«
Der Richter antwortete: »Sei getrost, er hat das Pfund Fleisch noch nicht herausgeschnitzelt.«
Gleichwohl trat der Jude auf ihn zu. Da sprach der Richter: »Hab wohl acht, daß du es recht machst!
Denn wenn du mehr oder weniger als ein Pfund nimmst, so lasse ich dir den Kopf abschlagen.
Ferner sage ich dir auch, daß, wenn er dabei nur ein Tröpfchen Blut verliert, du gleichfalls des Todes
bist, denn deine Papiere besagen nichts von Blutverlust; auch sprechen sie, daß du ihm ein Pfund
Fleisch nehmen darfst, und sonst heißt es von nichts mehr und nichts minder. Darum, wenn du
klug bist, ergreifst du die Maßregeln, von welchen du glaubst, daß sie zu deinem Besten
gereichen.«
Und sogleich schickte er nach dem Scharfrichter und ließ ihn Pflock und Beil mitbringen und
sprach: »Sowie ich nur ein Tröpfchen Blut herausfließen sehe, lasse ich dir den Kopf abschlagen.«
Da bekam der Jude Furcht, Herr Giannetto aber fing an, sich wieder zu erheitern. Endlich nach
vielem Hinundherreden begann der Jude: »Herr Richter, Ihr seid klüger als ich. So laßt mir denn
jene hunderttausend Dukaten zahlen, und ich bin zufrieden.«
Der Richter aber sagte: »Ich will, daß du dir ein Pfund Fleisch nimmst, wie dein Schein besagt, denn
Geld sollst du nicht einen Pfennig erhalten. Du hättest es nehmen sollen, als ich es dir anbot.«
15
Der Jude stieg herab zu neunzigtausend, dann zu achtzigtausend Dukaten, aber der Richter blieb
nur immer fester auf seinem Ausspruch. Da sprach Herr Giannetto zu dem Richter: »Geben wir ihm,
was er verlangt, wenn er nur Herrn Ansaldo freiläßt!«
Der Richter aber versetzte: »Ich sage dir, laß mich gewähren!«
Darauf begann der Jude: »So gebt mir fünfzigtausend Dukaten!«
Der Richter dagegen antwortete: »Ich gebe dir nicht den schlechtesten Stüber, den du je gesehen.«
»So gebt mir«, fuhr der Jude fort, »wenigstens meine zehntausend Dukaten! Verflucht sei Luft und
Erde!«
Der Richter aber erwiderte: »Verstehst du mich nicht? Nichts will ich dir geben. Willst du ihm ein
Pfund Fleisch nehmen, so nimm es! Wo nicht, so lass' ich deine Papiere aufheben und vernichten.«
Darob waren alle Anwesenden über die Maßen vergnügt. Jeder verspottete den Juden und sprach:
»Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.«
Als nun der Jude sah, daß er das nicht erreichen konnte, was er wollte, nahm er seine Papiere und
zerriß sie voll Ärger, und so ward Herr Ansaldo frei, und Herr Giannetto geleitete ihn mit großem
Jubel nach Hause. Darauf nahm er schnell die hunderttausend Dukaten, eilte zu dem Richter und
fand diesen in seiner Kammer beschäftigt, sich auf die Reise zu rüsten. Da sagte Herr Giannetto zu
ihm: »Edler Herr, Ihr habt mir den größten Dienst erwiesen, der mir je erzeigt worden ist; darum
bitte ich Euch, dieses Geld mit Euch zu nehmen, das Ihr wohl verdient habt.«
Der Richter antwortete: »Mein lieber Herr Giannetto, ich sage Euch großen Dank; aber ich bedarf
dessen nicht. Nehmt es mit Euch, daß Eure Frau Euch nicht beschuldige, schlecht gewirtschaftet
zu haben!«
Herr Giannetto sagte: »Die ist meiner Treu so großherzig, feingesittet und rechtschaffen, daß, wenn
ich viermal soviel Euch gäbe, sie doch zufrieden wäre; denn sie verlangte, ich solle viel mehr als
dies mitnehmen.«
Da fuhr der Richter fort: »Wie seid Ihr denn sonst mit ihr zufrieden?«
Herr Giannetto antwortete: »Es gibt kein Geschöpf auf der Welt, zu dem ich mehr Wohlwollen trüge
als zu ihr; denn sie ist so weise und so schön, wie sie die Natur nur zu schaffen vermochte. Und
wenn Ihr mir eine Gunst erzeigen wollt und mit mir kommen, um sie zu sehen, so sollt Ihr Euch
wundern über die Ehre, die sie Euch antun wird, und mögt Euch überzeugen, ob sie nicht das ist,
was ich sage, oder noch mehr.«
Der Richter antwortete: »Daß ich mit Euch komme, das geht nicht an, denn ich habe andere
Geschäfte; aber weil Ihr mir sagt, daß es eine so vortreffliche Frau ist, so grüßt sie von mir, wenn Ihr
sie seht!«
»Das soll geschehen«, sprach Herr Giannetto; »aber ich wünschte doch, daß Ihr von diesem Gelde
nehmet.«
Während er so sprach, sah der Richter einen Ring an seinem Finger, weshalb er zu ihm sagte: »Gebt
mir diesen Ring! Außerdem will ich keinen Heller.«
Herr Giannetto antwortete: »Ich bin's zufrieden, so ungern ich es auch tue, denn meine Frau hat ihn
mir geschenkt und mir gesagt, ich solle ihn immer tragen um ihrer Liebe willen; und wenn sie ihn
nicht mehr an mir sieht, so wird sie glauben, ich habe ihn einem Weibe gegeben, und so wird sie
sich über mich erzürnen und meinen, ich habe eine Liebschaft, während ich ihr doch mehr zugetan
bin als mir selbst.«
16
Der Richter sagte: »Es scheint mir sicher, daß sie Euch zärtlich genug liebt, um Euch hierin zu
glauben; sagt ihr nur, Ihr habt den Ring mir geschenkt! Aber vielleicht wolltet Ihr ihn einer alten
Buhlschaft hier schenken.«
Herr Giannetto aber versetzte: »Die Liebe und Treue, die ich zu ihr trage, ist so groß, daß es in der
Welt keine Frau gibt, mit der ich sie vertauschen möchte, so voll Schönheit ist sie in allen Dingen.«
Und damit zog er den Ring vom Finger und gab ihn dem Richter. Sodann umarmten sie sich und
verbeugten sich gegeneinander.
»Tut mir einen Gefallen«, sagte der Richter.
»Verlangt«, versetzte Herr Giannetto.
»Haltet Euch hier nicht auf«, fuhr der Richter fort. »Geht sogleich heim zu dieser Eurer Frau!«
»Es scheint mir eine wahre Ewigkeit«, sagte Herr Giannetto, »bis ich sie wiedersehe.«
So nahmen sie Abschied. Der Richter stieg in eine Barke und ging seines Weges, Herr Giannetto
aber gab jenen Gefährten Abendessen und Frühstücke, schenkte ihnen Pferde und Geld und hielt
so Feste und machte einen Hof mehrere Tage. Dann aber nahm er Abschied von allen Venezianern,
nahm den Herrn Ansaldo mit sich, und viele seiner alten Kameraden begleiteten ihn. Fast
jedermann, Männer und Frauen, weinten aus Rührung über seinen Abgang, so freundlich hatte er
sich während seines Aufenthaltes in Venedig gegen alle betragen. So schied er und kehrte nach
Belmonte zurück.
Nun begab es sich, daß seine Frau mehrere Tage vor ihm ankam und tat, als wäre sie im Bade
gewesen. Sie nahm wieder ihre weibliche Kleidung an, ließ große Zubereitungen veranstalten, alle
Straßen mit Zendal bedecken und viele Scharen Bewaffneter neu kleiden.
Als nun Herr Giannetto und Herr Ansaldo ankamen, gingen ihnen alle Barone und der ganze Hof
entgegen und riefen: »Es lebe unser Herr! Es lebe unser Herr!«
Sowie sie ans Land stiegen, eilte die Frau, den Herrn Ansaldo zu umarmen, und stellte sich etwas
empfindlich gegen Herrn Giannetto, obwohl sie ihn mehr liebte als ihr Leben. Es wurde ein großes
Fest veranstaltet mit Turnieren, Waffenspiel, Tanz und Gesang, woran alle Barone, Frauen und
Fräulein, so daselbst waren, teilnahmen. Als jedoch Herr Giannetto sah, daß ihm seine Gemahlin
kein so freundliches Gesicht machte wie sonst, trat er in sein Gemach, rief sie zu sich und sprach:
»Was hast du?«
Dabei wollte er sie umarmen. Die Frau aber sagte: »Du brauchst mir keine solche Liebkosungen zu
machen; ich weiß wohl, daß du in Venedig deine alten Buhlschaften wieder aufgesucht hast.«
Herr Giannetto begann sich zu entschuldigen; die Frau aber fuhr fort: »Wo ist der Ring, den ich dir
gab?«
Herr Giannetto antwortete: »Da haben wir's nun, wie ich mir vorstellte. Ich sagte doch gleich, du
werdest Böses dabei denken. Aber ich schwöre dir bei meinem heiligen Glauben und bei meiner
Treue zu dir, daß ich den Ring jenem Richter gegeben habe, der mich den Prozeß gewinnen
machte.«
Die Frau aber sagte: »Und ich schwöre dir bei meinem heiligen Glauben und bei meiner Treue zu dir,
daß du ihn einem Weibe gegeben hast; ich weiß es gewiß, und doch scheust du dich nicht, so zu
schwören.«
17
Herr Giannetto fügte hinzu: »Ich flehe zu Gott, mich augenblicklich von dieser Welt zu vernichten,
wenn ich dir nicht die Wahrheit sage, ja, daß ich es schon dem Richter gesagt habe, als er mich
darum gebeten.«
Die Frau sagte: »Du hättest ja noch dort bleiben und Herrn Ansaldo allein hierher schicken können,
derweil du dich mit deinen Liebschaften ergötztest; denn ich höre, sie haben alle geweint, als du
weggingst.«
Da hub Herr Giannetto an zu weinen, war in schwerer Not und sprach: »Du tust einen Eid auf etwas,
was nicht wahr ist und nicht wahr sein kann.«
Als aber die Frau ihn weinen sah, war es ihr, als bekäme sie einen Messerstich in das Herz, stürzte
plötzlich in seine Arme und fing an, laut aufzulachen. Sie zeigte ihm den Ring und sagte ihm alles,
wie er mit dem Richter gesprochen habe, und daß sie der Richter gewesen sei, und auf welche
Weise er ihr den Ring gegeben habe. Darüber war Herr Giannetto aufs äußerste verwundert, und da
er dennoch die Wahrheit ihrer Rede erkannte, fing er an, über die Maßen fröhlich zu werden. Er trat
aus dem Gemach und erzählte es einigen seiner Barone und Gefährten. Und die Liebe zwischen
ihnen beiden wuchs und mehrte sich auch dadurch. Hernach rief Herr Giannetto die Kammerfrau zu
sich, die ihm an jenem Abend die Weisung gegeben hatte, nicht zu trinken, und gab sie dem Herrn
Ansaldo zur Frau. So blieben sie lange Zeit in Glück und Fröhlichkeit bis an ihr Ende.
Quelle: gutenbrg.spiegel.de/buch/4525/3
18
2.
Shakespeares Komödien
2.1
Auszug aus: Heinrich Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen (1838)
Ich habe vorige Nacht lange darüber nachgegrübelt, ob ich nicht dennoch von dieser unendlichen
und unbegrenzten Gattung, von der Komödie des Shakespeare, eine positive Erklärung geben
könnte. Nach langem Hin- und Hersinnen schlief ich endlich ein, und mir träumte, es sei sternhelle
Nacht und ich schwämme in einem kleinen Kahn auf einem weiten, weiten See, wo allerlei Barken,
angefüllt mit Masken, Musikanten und Fackeln, tönend und glänzend, manchmal nah, manchmal
ferne, an mir vorbeifuhren. Das waren Kostüme aus allen Zeiten und Landen, altgriechische
Tuniken, mittelalterliche Rittermäntel, orientalische Turbane, Schäferhüte mit flatternden Bändern,
wilde und zahme Tierlarven ... Zuweilen nickte mir eine wohlbekannte Gestalt ... Zuweilen grüßen
vertraute Weisen ... Aber das zog immer schnell vorüber, und lauschte ich eben den Tönen der
freudigen Melodie, die mir aus einer dahingleitenden Barke entgegenjubelten, so verhallten sie
bald, und anstatt der lustigen Fiedeln erseufzten neben mir die melancholischen Waldhörner einer
anderen Barke ... Manchmal trug der Nachtwind beides zu gleicher Zeit an mein Ohr, und da
bildeten diese gemischten Töne eine selige Harmonie ... Die Wasser erklangen von unerhörtem
Wohllaut, und brannten im magischen Widerschein der Fackeln, und die buntbewimpelten
Lustschiffe mit ihrer abenteuerlichen Maskenwelt schwammen in Licht und Musik ... Eine anmutige
Frauengestalt, die am Steuer einer jener Barken stand, rief mir im Vorbeifahren: Nicht wahr, mein
Freund, du hättest gern eine Definition von der Shakespeare'sehen Komödie? Ich weiß nicht, ob ich
bejahte, aber das schöne Weib hatte zu gleicher Zeit ihre Hand ins Wasser getaucht und mir die
klingenden Funken ins Gesicht gespritzt, so daß ein allgemeines Gelächter erscholl, und ich davon
erwachte.
Quelle: gutenberg.spiegel.de/buch/388/1
19
2.2
Auszug aus: Ekkehart Krippendorff: Die Komödie als das Reich der Freiheit
Einleitung zu: Shakespeares Komödien - Spiele aus dem Reich der Freiheit.
Kulturverlag Kadmos Berlin, 2006
Illyrien, der Wald von Arden und der von Athen, das gottvergessene Pyrenäen-Königtum Navarra,
ein jeglicher Gegenwart scheinbar entrücktes irdischen Paradies im Hinterland von Venedig
namens Belmont, eine verzauberte mediterrane Insel, das biblische Ephesus, bis hin zu einem
rätselhaften „Böhmen am Meer“ – das sind die magischmythischen Orte, irgendwo in der Schwebe
gehalten zwischen topographischer Wirklichkeit und phantasieentsprungener Möglichkeit, in denen
Shakespeares Komödien angesiedelt sind. Ganz anders die Historien, Römerdramen und Tragödien,
die unsere realpolitische Welt, wie sie ist und geworden ist, auf der Bühne erstehen lassen und
deren Schauplätze deutlich benannt werden: Venedig und Zypern, Schottland, Rom, Alexandria,
Straßen und Adelspaläste in Verona, das dänische Schloß Elsinore. Die Komödien hingegen
handeln von einer anderen, einer von den Lasten und Alpträumen der Vergangenheit befreiten,
einer möglichen Welt.
Es ist mehrmals darüber gestritten worden, welche von beiden, die Tragödie oder die Komödie, vor
der andern den Rang verdiene. Wird damit bloß gefragt: welche von beiden das wichtigere Objekt
behandle, so ist kein Zweifel, daß die erstere den Vorzug behauptet; will man aber wissen, welche
von beiden das wichtigere Subjekt erfordre, so möchte der Ausspruch eher für die letztere
ausfallen.- In der Tragödie geschieht schon durch den Gegenstand sehr viel, in der Komödie
geschieht durch den Gegenstand nichts und alles durch den Dichter... Den tragischen Dichter trägt
sein Objekt, der komische hingegen muß durch sein Subjekt das seinige in der ästhetischen Höhe
erhalten. Jener darf einen Schwung nehmen, wozu so viel eben nicht gehöret; der andere muß sich
gleich bleiben, er muß also dort sein und dort zu Hause sein, wohin der andre nicht ohne Anlauf
gelangt...
Die Freiheit des Gemüts in uns hervorzubringen und zu nähren, ist die schöne Aufgabe der
Komödie, so wie die Tragödie bestimmt ist, die Gemütsfreiheit, wenn sie durch einen Affekt
gewaltsam aufgehoben worden, aus ästhetischem Weg wiederherstellen zu helfen. In der Tragödie
muß daher die Gemütsfreiheit künstlicherweise und als Experiment aufgehoben werden, weil sie in
Herstellung derselben ihre poetische Kraft beweist; in der Komödie hingegen muß verhütet werden,
daß es niemals zu jener Aufhebung der Gemütsfreiheit komme. Daher behandelt der
Tragödiendichter seinen Gegenstand immer praktisch, der Komödiendichter den seinigen immer
theoretisch... Nicht das Gebiet, aus welchem der Gegenstand genommen, sondern das Forum, vor
welches der Dichter ihn bringt, macht denselben tragisch oder komisch. Der Tragiker muß sich vor
dem ruhigen Räsonnement in acht nehmen und immer das Herz interessieren; der Komiker muß
sich vor dem Pathos hüten und immer den Verstand unterhalten. Jener zeigt also durch beständige
Erregung, dieser durch beständige Abwehrung der Leidenschaft seine Kunst... Wenn also die
Tragödie von einem wichtigern Punkt ausgeht, so muß man auf der andern Seite gestehen, daß die
Komödie einem wichtigern Ziel entgegengeht, und sie würde, wenn sie es erreichte, alle Tragödie
überflüssig und unmöglich machen. Ihr Ziel ist einerlei dem Höchsten, wornach der Mensch zu
ringen hat, frei von Leidenschaft zu sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen,
überall mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu lachen als über
Bosheit zu zürnen oder zu weinen.
Friedrich Schiller
20
Schiller hat, wie Moses das Gelobte Land, dieses Reich der Freiheit (des „Zufalls“) nur gesehen, er
hat es selbst nicht betreten, d.h. keine Komödie geschrieben. Nur einer unter den großen Dichtern
ist mit Sicherheit tatsächlich dort gewesen: William Shakespeare. Neben fünf langen
Sinngedichten und 154 Sonetten hat er 37 Stücke hinterlassen, von denen ein Drittel, genau gesagt:
vierzehn, in der ersten Gesamtausgabe von 1623, dem sogenannten „Ersten Folio“, von den
Herausgebern als KOMÖDIEN neben den HISTORIEN und TRAGÖDIEN bezeichnet wurden. Von elf
von diesen – nach Entstehungszeit geordnet (aber das will bei Shakespeare nicht viel sagen) ist hier
die Rede: von einer Gattung, die erstmals von Aristoteles, dem enzyklopädischen Ordner alles
Wissenswerten, so definiert worden war.
[...]
Der Verlust der aristotelischen Komödientheorie hat es zwar für viele Jahrhunderte verhindert,
dieser Gattung spielerischer Selbstverständigung literarischen Rang (und bis ins Mittelalter hinein
traditionsstiftende Schriftlichkeit) zu konzedieren, aber er hat das komödiantische Treiben auf
Marktplätzen und zu Volksfesten, in Wirtshäusern und vielerlei Versammlungsorten nicht verhindert
– eher im Gegenteil: Bis an die Schwelle der Gegenwart war die Berufsbezeichnung des
Schauspielers die eines „Komödianten.“ Wie wäre das auch anders möglich gewesen, drückt sich
doch in der spielerisch nachahmenden Spiegelung menschlicher Beziehungen, der Mimesis, ein
Urbedürfnis nach der Transzendierung der immer unvollkommenen Gegenwart aus, im Rollenspiel
die Sehnsucht nach Befreiung von den harten Zwängen der Wirklichkeit in ein Reich der Freiheit
und sei es auch nur als antizipierte Möglichkeit in der Einbildungskraft. „Kein Tier außer dem
Menschen lacht“, hatte Aristoteles an anderer Stelle („Über Tiere“) deklariert. Und wer lacht, macht
sich frei.
Das Reich der Freiheit: Dessen größter systematischer Philosoph der Neuzeit, Hegel, endet seine
enzyklopädische Rekonstruktion des Ganges des menschlichen Geistes durch alle Erscheinungsformen der Ästhetik bis zum Bewußtsein seiner selbst in Freiheit mit --- der Komödie Aber nun
nicht nur mit der Gattung als solcher, der er damit ja die denkbar größte Würde unter den
Hervorbringungen des menschlichen Geistes verleiht und somit den aristotelischen Verlust mehr
als wiedergutmacht, sondern es ist die Komödie Shakespeares als „glänzendes Beispiel dieser
Sphäre“.8Hegel beschließt das dieser Gattung gewidmete Schlußkapitel und damit seine allumfassende „Ästhetik“ überhaupt mit den Worten: „Denn in der Kunst haben wir es mit keinem
bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern mit der Befreiung des Geistes vom Gehalt
und den Formen der Endlichkeit, mit der Präsenz und Versöhnung des Absoluten im Sinnlichen und
Erscheinenden, mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun, die sich nicht als Naturgeschichte
erschöpft, sondern in der Weltgeschichte offenbart, - von der sie selbst die schönste Seite und den
besten Lohn für die harte Arbeit im Wirklichen und die sauren Mühen der Erkenntnis ausmacht..“
Die Komödie – die Komödie Shakespeares – als Erfüllung der Weltgeschichte, als Lohn für die
anstrengende Arbeit der Selbstbefreiung des Geistes: Kann es eine schönere, eine größere Vision
geben?
[…]
In Tragödie und Komödie stehen sich zwei Welthaltungen gegenüber, zwei Möglichkeiten des Inder-Welt-Seins, zwei konträre Kosmologien: (gottverhängtes) Schicksal vs. (menschlich-autonome)
Freiheit, letztlich auch zwei Zeitmodi: eine abgeschlossene, unglückliche, weil in ihrem
Selbstverständnis und ihren Versprechungen unerfüllte, aber nicht mehr korrigierbare
Vergangenheit – und eine noch gestaltungsoffene, glücklichere Zukunft, deren Möglichkeit die
21
Bühnengegenwart ideell antizipiert. „Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich
selbst. Alle Darstellung der Vergangenheit ist ein Trauerspiel im eigentlichen Sinne, alle
Darstellungen des Kommenden, des zukünftigen ein Lustspiel.“ (Goethe zu Riemer) Die Tragödie
zeigt den Menschen als Einzelnen, als „Einzelkämpfer“ gegen die Widrigkeiten und Gefahren dieser
Welt – Whether ‘tis nobler in the mind to suffer/The slings and arrows of outrageous fortune,/Or to
take arms against a sea of troubles,/And by opposing end them (Hamlet) – , und als unbehauster,
von der Natur anthropologisch gesehen Ausgeschlossener muß er, wenn er sich dieser
existenziellen Wahrheit trotzig widersetzt, scheitern: Einer gegen alle, das kann nicht gutgehen, der
Tod des tragischen Helden ist unvermeidlich. Der mutige Wille, und sei er noch so groß und
ehrenhaft, muß am übermächtigen Schicksal zerbrechen. Die Selbsterkenntnis der eigenen
Schwäche – und die Anerkennung der eigenen Fehler – kommen zu spät: Die Hybris der
Unfehlbarkeit, die Einbildung eigener Größe machen blind, der starke Wille wird zwangsläufig zum
Irrwillen, dem Helden gelingt es nicht, das eigene Schicksal zu meistern und zu lenken, vielmehr
wird er von stärkeren, ihm halb verborgenen Kräften gelenkt und eben das führt ihn in die
Selbstzerstörung, letztlich eben den gewaltsamen Tod. Es sind durchweg Männer, die tragische
Schicksale erleiden, die mit der Blindheit geschlagen sind: Die tragische gründet zugleich in einer
männlichen, einer patriarchalischen Kosmologie. Ihre Wirklichkeit ist die extremer Unfreiheit
inmitten des Scheines von Willensfreiheit.
[…]
Die Stoffe der neuzeitlichen Tragödie sind darum nicht zufällig zumeist historischer Natur, so wie
die ihrer großen, klassischen Vorbilder dem Fundus der als Mythen überlieferten Vorgeschichte
entnommen worden waren: Da wissen wir, was geschah und daß die Unerbittlichkeit der Geschichte
ihre großen Gestalten zwar in den Nachruhm, aber in ihrer jeweiligen Gegenwart in den Untergang
geführt hat. Darum ist die Tragödie auch die bevorzugte dramatische Form zur Vermittlung
monarchischer, herrschaftlicher, machtpolitischer und in jedem Falle ‚nicht-demokratischer‘
Inhalte. […] Am Ende der Tragödie herrscht, wie Hamlet sagt, „Schweigen“ – am lautstarkfestlichen
Ende der Komödie hingegen werden Ehen gestiftet und eine neue Generation betritt die Bühne des
Lebens. In der Tragödie regiert die unerbittliche Logik objektiver Bedingungen und Gesetze – die
Komödie überrascht durch die verwirklichte Möglichkeit des Unwahrscheinlichen. Ein gewaltsames
Ende in der Tragödie ist die Bedingung dafür, daß das Leben wieder von vorn beginnen kann – die
Komödie führt die Lern- und Besserungsfähigkeit des Menschen vor. „Das Schicksal verwandelt
sich in der Komödie zur Freiheit.“ Der Stoff der Tragödie ist die reiche Empirie der Geschichte – der
Dichter der Komödie (nicht des davon deutlich zu unterscheidenden Lustspiels!) muß seine Stoffe
aus der freien Phantasie entwickeln, er findet sie nirgends in der Wirklichkeit vor, sie sind „Ausdruck
einer letzten geistigen Freiheit“, ja Produkte der Freiheit selbst. In der Komödie ist darum, um noch
einmal Schiller zu zitieren, „unser Zustand ruhig, klar, frei, heiter. Das ist der Zustand der Götter, die
sich um nichts menschliches bekümmern, die über allem frei schweben, die kein Schicksal berührt,
die kein Gesetz zwingt.“
[...]
Steht am Ende der Tragödie der Tod, so am Ende der Komödie das Leben, mehr noch: das Neue
Leben, bei Shakespeare in Form eines happy end der Hochzeiten. Kommt in der Tragödie die
Einsicht des von der Hybris verblendeten Helden in seine Fehler zu spät, ist es in der Komödie nie
zu spät, Neues wahrzunehmen, die Perspektive zu ändern, einen Irrtum zu korrigieren. Ist der Held
der Tragödie ein heroischer Einzelgänger, so bewegen sich die Protagonisten der Komödie immer
unter Freunden, im Fluidum von Gesellschaft. Der tragische Held mag Verwandte haben, die
22
Protagonisten der Komödie haben Freunde und Nachbarn. Ersterer ist regelmäßig männlichen
Geschlechts, in den Komödien ergreifen meist die Frauen die Initiative, steuern das Geschehen,
beweisen größere Sensibilität, gesunden Menschenverstand und emotionale Reife. In der Tragödie
hat der Mensch, entgegen seinen Illusionen, keine Kontrolle über den Gang der Welt und das
Geschehen, in das er eingebunden ist: seine Pläne scheitern oder laufen aus dem Ruder. In der
Komödie triumphiert die menschliche Phantasie und die Einbildungskraft, die Kreativität im
Erfinden neuer Strategien und Systeme, die Freiheit des praktischen Gedankens: Sie feiert nicht
den großen Menschen und Helden, sondern die immer gefährdete und darum immer wieder zu
erfindende Gemeinschaft von Frauen und Männern. Der große Einzelne, jeder konsequente
Individualismus scheitern tragisch – die Komödie zeigt die Notwendigkeit, aber auch die
Möglichkeit, daß und wie Menschen trotz ihrer Macken und Eigenheiten, ihrer Schrullen,
Idiosynkrasien, aber auch ihrer Leidenschaften und Konflikte, miteinander leben müssen und
können. Sie variiert mit Witz, Phantasie und Weisheit „Lehren der Gemeinschaftskunst“.
[...]
Das aber ist eines der zentralen Themen der Shakespeare-Komödien: Die Suche nach dem
richtigen Liebes- und Lebenspartner vor allem der Frauen. Die Männer verlieben sich, oft mit einem
starken Schuß Narzismus, die Frauen aber lieben – und sind sich dabei, im Unterschied zu den
Männern, der Komplexität, des existenziellen Wagnisses und der Risiken der Liebe bewußt. Sie sind
die reiferen, umsichtigeren, intelligenteren Akteure, sie schmieden die Komplotte und handeln klug,
auch wenn aus gesellschaftlich schwächerer Position heraus. An Viola (Was ihr wollt), Rosalind
(Wie es euch gefällt) oder Beatrice (Viel Lärm um nichts) wird man sich nach einer Vorstellung noch
lange erinnern, viel weniger aber an Graf Orsino, an Orlando oder Benedick, die da vergleichsweise
blaß erscheinen. Fast immer sind die Frauen auf der Bühne interessanter, komplizierter, aber auch
liebenswerter als die Männer, witziger, phantasievoller und poetischer. Das hat bei Shakespeare
System und Methode, denn ein Vergleich mit den literarischen Vorlagen zu einiger seiner Komödien
– zur Komödie der Irrungen, zu Der Widerspenstigen Zähmung, zu Ende gut, alles gut – zeigt, daß er
in der Regel die weiblichen Rollen kräftig erweitert und psychologisch vertieft hat; auch wird man
vergeblich bei seinen zeitgenössischen Stückeschreiber-Kollegen Frauenfiguren von
Shakespeareschem Gewicht und Format finden, denn die sind, wie alle seine Figuren, Menschen,
aus Fleisch und Blut‘, keine konstruierten Kunstfiguren, sondern sich selbst reflektierende
Kunstwerke des Menschlichen auf höchster Bewußtseinsstufe. In seiner unvergleichlichen Sprache
hat Hegel das so zu fassen versucht: „Je mehr Shakespeare in der unendlichen Breite seiner
Weltbühne auch zu den Extremen des Bösen und der Albernheit fortgeht, um so mehr gerade
versenkt er selbst auf diesen äußersten Grenzen seine Figuren nicht etwa ohne den Reichtum
poetischer Ausstattung in ihre Beschränktheit, - sondern er gibt ihnen Geist und Phantasie, er
macht sie durch das Bild, in welchem sie sich in theoretischer Anschauung objektiv wie ein
Kunstwerk betrachten, selber zu freien Künstlern ihrer selbst und weiß uns dadurch, bei der vollen
Markigkeit und Treue seiner Charakteristik, für Verbrecher ganz ebenso wie für die gemeinsten,
plattesten Rüpel und Narren zu interessieren.“
[...]
Den unerfreulichen Charakteren, den Schurken und Intriganten der Komödien – Don John in Viel
Lärm um nichts, Oliver in Wie es euch gefällt, Parolles in Ende gut, alles gut – gibt er fast keine
Tiefendimension: nicht nur, weil er sie primär als dramaturgische Mittel zur produktiven Verwirrung
der Handlung einsetzt, sondern wohl vor allem deswegen, weil die Böswilligen, die mit sich und dem
Leben Zerfallenen selbst uninteressant sind, weil es zur Bosheit, zur Negativität keiner geistig23
spirituellen Anstrengung, keiner seelischen Größe bedarf; in ihnen kommen lediglich die niedrigen
Instinkte der Menschen ans Tageslicht – und es ist gewiß nicht zufällig, daß sich in den Komödien
keine Frauen für diese Rolle finden. Sie verkörpern vielmehr und leben in unterschiedlicher
Intensität und Ausstrahlungskraft aufbauende, optimistische, zukunftsorientierte Haltungen: Ohne
ihre direkten oder indirekten Einflüsse auf die Handlung gäbe es kein glückliches Ende.
Shakespearesches happy end ist keine Hollywood-Plattitüde, vielmehr ein im emphatischen Sinne
des Wortes politischer Augenblick, der eine – wie gesagt: immer mit leisen Fragezeichen versehene
- Perspektive auf Neues, auf eine Transformation eröffnet: „Mit ihrer Liebe und Hartnäckigkeit
verkörpern die Heldinnen die positiven Werte ihrer Stücke und tragen dazu bei, eine Gesellschaft in
eine Gemeinschaft zu verwandeln.“
Gemeinschaft und Gesellschaft: Diese fruchtbare Unterscheidung des großen deutschen
Soziologen Ferdinand Tönnies von Ende des 19.Jahrhunderts bietet auch einen Schlüssel, um ein
Stück weit in das politische Geheimnis der Shakespeareschen Komödie einzudringen: Ihre großen
Frauen geraten typischerweise in einen Konflikt zwischen dem Gesetz (Gesellschaft) und der
Gerechtigkeit (Gemeinschaft), etwa zwischen einem tyrannischen oder zumindest altmodischautoritären Vater und dem Liebesverlangen einer ihren Gefühlen folgenden Tochter (im
Sommernachtstraum, in Der Widerspenstigen Zähmung oder auch in Viel Lärm um nichts), oder
aber es herrscht ein rigider, irrationaler Gesetzesstaat (Komödie der Irrungen), der beispielsweise
die Sexualität zu kontrollieren versucht (Maß für Maß) oder die Männer erotisch völlig unhaltbaren
Bedingungen unterwirft (Verlorene Liebensmüh‘). ‚Gesellschaft‘ steht dann auch für „das Alte“, für
Unfreiheit, Konvention, Repression der Gefühlswelt, für herrschaftliche Ordnung, für „den Staat“;
Gemeinschaft‘ hingegen dafür, was sein kann: das Neue, ein Leben in Freiheit, eine
selbstbestimmte, nicht ökonomisch, machtpolitisch oder familienstrategisch konditionierte
Ordnung, in der sich die gemeinschaftsbildenden Kräfte männlich-weiblicher Partnerschaft kreativ
entfalten können und strukturell gefördert werden. Bedenkenswert in diesem Zusammenhang die
Beobachtung, „daß Shakespeare häufig Ausdrücke für Geld in Verbindung mit Liebe gebraucht. Es
wäre unhistorisch gedacht, darin eine ‚Entlarvung‘ der Liebe im Sinne einer ‚Verdinglichung‘ von
Gefühlen zu sehen; vielmehr ist Liebe als dem Geld äquivalent und analog konzipiert, indem in ihre
eine ähnlich befreiende Möglichkeit entdeckt wurde: es ist die Ablösung der familial oder
standesmäßig bedingten Geschlechterregulierung durch die ‚romantische‘ Liebe. Auch sie kann,
ähnlich wie das Geld, festgefügte Ordnungen unterlaufen.“- Am Ende der Komödie steht nicht, wie
bei der Tragödie, der Zusammenbruch einer alten Gesellschaft, einer alten Ordnung, deren
Niederlage und Katastrophe, sondern deren Transformation “nach oben“, die Versöhnung des Alten
mit dem Neuen, die von Northrop Frye so definierte „Anatrophe“ – und dieses Neue, die
Gemeinschaft, bedarf der Frau als Katalysator und Geburtshelfer.
[...]
Shakespeare erforscht das Rätsel der Liebe zwischen Mann und Frau mit der Frage nach der
Feminitität – und das hat nicht zuletzt seinen Grund in der Theaterpraxis seiner Zeit, wo ja
bekanntlich Frauenrollen von jungen Männern, von Knaben gespielt wurden. Gerade weil das
Publikum das wußte, mußte die Weiblichkeit, mußten die weiblichen Eigenschaften und das, was
die Frau vom Manne unterscheidet – erotisch, psychisch, geistig, mental, nicht zuletzt natürlich
auch körpersprachlich – besonders deutlich und zugleich subtil gezeigt, und das heißt zunächst
auch: zur Sprache gebracht werden. Auch darum sind die Frauen Shakespeares interessanter,
facettenreicher als seine Männer. Fällt ihre Charakterisierung zu grob und stereotyp aus, verlieren
sie auf der Bühne an Glaubwürdigkeit; fällt sie zu undeutlich aus, bleibt also der Jüngling jederzeit
als Jüngling in der Rolle sichtbar, verlieren die Beziehungen der Figuren an Spannung, Reiz und
Erotik. Shakespeares Frauen wird von der bloßen Natur nichts geschenkt, sie müssen alles, was sie
24
sind, aus dem großen Begriff, aus ihrem vertieften Verständnis von Liebe entwickeln. Insofern
haben es heutige Shakespeare-Aufführungen sozusagen zu leicht, fehlt ihnen eine Dimension
erotischer Verfremdung. Das Rollenspiel ist den Komödien dergestalt in mehr als nur dramaturgisch
motivierten Dimensionen eingeschrieben (Männer, die Frauen spielen, die vor Männern Männer
spielen, aber doch in ihrer Rolle Frauen sind...). Für Schauspielerinnen kann die Erfahrung der
Verkleidung ins Männliche eine einmalige Chance bedeuten, nicht nur über andere, sondern auch
über sich selbst Neues zu erfahren. Janet Suzman von der „Royal Shakespeare Company“
beschreibt das so: „Die jungen Frauen, die sich als junge Männer verkleiden, gewinnen eine Art
Freiheitsrausch, der es ihnen ermöglicht, die geheimsten Winkel ihres Innern zu entdecken.
Gleichzeitig können sie das Verhalten anderer beobachten, ohne sich so benehmen zu müssen, wie
es die Männer von ihnen erwarten. Shakespeare verstand die Fesseln und Frustrationen gescheiter
Frauen und gestattete ihnen die Trunkenheit der Befreiung. Das mag paradoxerweise antifeministisch klingen, weil sie nur als Männer verkleidet die Freiheit schmecken können. Ich würde
dem entgegenhalten, daß sie nur noch überzeugter wieder zu Frauen werden, nachdem sie ihre
eigene Natur für eine kurze aber höchst lehrreiche Zeitspanne aufgegeben haben.“ Bewußtes
Rollenspiel und dramaturgisch eingesetzter Rollentausch gibt den Komödien eine im weitesten und
tieferen Verständnis politische Dimension. Die Fähigkeit zum Positionswechsel ist nicht zuletzt
eine der Voraussetzungen für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft (oder hier
richtiger: Gemeinschaft), denn sie zeigt, daß man bereit und willens ist, Standpunkt, Meinung,
Motivation und Urteil eines Anderen – des Mitbürgers auf der Agorà der Entscheidungsfindung
nachzuvollziehen, ernst zu nehmen, zu verstehen, ohne sie deshalb teilen zu müssen: Die
grundsätzliche Bereitschaft zum Positionswechsel enthält die Bedingung der Möglichkeit des
politischen Gesprächs und damit auch der Wahrheitsfindung als Ergebnis sympathetisch
zuhörenden Argumentierens. Für die Transformation von (antagonistischer) Gesellschaft in
(kooperative) Gemeinschaft sind Rollenspiel und Rollentausch geradezu essentielle
Sozialtechniken. Und die können an und in der Komödie Shakespeares erfahren werden – er führt
sie als erstrebenswerte Haltungen vor; nicht in der Form didaktischer Botschaften, versteht sich,
aber als mögliche und wünschenswerte Verhaltensweisen: wünschenswert, weil sie in jeder auf der
Bühne miterlebten Komödie sichtbar zu Versöhnung und Gemeinschaftsbildung geführt haben.
Die Liebe, der Eros, das Sich-Verfehlen und schließliche Sich–Finden der Paare ist das große
Thema der Komödie, und das in mehr als einem Sinne. Sprengt die Liebesleidenschaft nicht
bisweilen alle Grenzen und Konventionen? „Loving wisely“, klug zu lieben, ist eine große Kunst – war
es immer und wird es auch unter den Bedingungen allgemeiner Promiskuität bleiben, ja, gerade
weil es leichter geworden zu sein scheint, ist es möglicherweise schwerer geworden als unter
rigideren gesellschaftlichen Bedingungen, die u.a. der Gesellschaft (den Eltern z.B.) eine oft
bestimmende Rolle bei der Partnerwahl einräumte. Die ‚Kästchen-Wahl‘ im Kaufmann von Venedig,
bei der selbst noch der tote Vater der Tochter die Entscheidung für einen Ehemann aus der Hand
nimmt, thematisiert dieses Problem in einer – von Freud tiefenpsychologisch interpretierten Weise. Bottoms Beoachtung (Ein Sommernachtstraum, III,1,138 f.) ist ungebrochen aktuell und
Shakespeare hat dieses Problem in den Komödien mit scheinbar leichter Hand vielfach
durchkonjugiert: And yet, to say the truth, reason and love keep little company together now-adays; dabei ist „Vernunft“, nicht materiell kalkuliertes Interesse, sondern eine spirituelle Kategorie
kosmologischer Harmonie (wie sie in diesem Fall zwischen Bottom und der verwirrten Göttin Titania
eben nicht bestehen kann). Nicht nur in Othello und Romeo und Julia zeigt die Liebe ihre enorme
Zerstörungskraft – auch die Komödie ist sich ihres Zerstörungspotentials bewußt.
[...]
25
Wenn die Komödie schließlich die Paare zur Hochzeit zusammenführt und feiert, so ist das
selbstverständlich mehr und anderes als ein dramaturgischer Kunstgriff, um die Handlung
abzuschließen. Ein ‚Ende gut, alles gut‘ ist zwar immer vorprogrammiert, auch in den kritischsten
Momenten, wenn alles sozusagen auf der Kippe zu stehen scheint, wissen wir das – insofern gibt es
da eine Art Verwandtschaft zum Kriminalroman, wo es auch von Anbeginn feststeht, daß der Fall
am Ende aufgeklärt und der Schurke gefunden werden wird. Aber darum geht es nicht:
Shakespeares Komödien feiern ihr Glückliches Ende als eine religiös unterlegte Wieder- und
Neugeburt des Lebens, als Erlösung aus Schuld, Verstrickung und Verblendung, als Triumph über
den Tod, als Katharsis wie die antike Tragödie.
[…]
In einem hohen Grade ist die Bühnenwirklichkeit der Shakespeare’schen Komödie eine
„Zuschauerkunst“: Sie erwartet die aktive Beteiligung des Publikums, das Lachen, die hörbaren
Ausdrücke des Vergnügens, das Sich-Einlassen auf die Einbildungskraft, die die Komödianten zu
unseren Zeit-, zu unseren„Gesellschaftsgenossen“ macht, ohne, wie gesagt, die Distanz emotional
durch Identifizierung aufzuheben. Witz und Wortspiele müssen spürbar „ankommen“, damit die
Komödie sich erfülle. Für sie gilt noch mehr als für das Theater generell der Zuschauer neben dem
Autor, dem Schauspieler und dem Regisseur der Zuschauer als „vierter Schöpfer“. Seine
Anteilnahme ist für das Shakespeare-Theater genauso unverzichtbar notwendig, wie sie es für das
griechische Theater gewesen war (von dem berichtet wird, daß Frauen so erschüttert werden
konnten, daß sie vorzeitig niederkamen). Die Komödie bedarf ganz besonders einer
„Teilnahmegesellschaft“ und muß sich eine solche schaffen, um sich zu verwirklichen – Teilnahme
aber ist ein anderes Wort für „Demokratie“. Sie ist, wie ihre Erfinder, die Megarer im klassischen
Griechenland behauptet hatten, die genuin demokratische Bühnengattung, und Shakespeare ganz
offensichtlich ihr vollkommenster Dichter.
[…]
Shakespeares Komödien, so turmhoch sie sich auch über die der Zeitgenossen und der
Nachfolger erheben, sind doch ebenso wie diese den aufklärerisch-didaktischen Axiomen des
Theaters ihrer Zeit verbunden. „Das elisabethanische Theater war eine Unterhaltungsindustrie,
vergleichbar den Londoner Bühnen des West End oder auch denen des Broadway, und dem Film
und dem Fernsehen von heute. Gleichwohl glaubten oder hofften offensichtlich so gut wie alle
bedeutenden Dramatiker, daß Menschen ihres Publikums aus den Vorstellungen klüger und weiser
kommen würden, als sie hineingegangen waren. Das elisabethanische Drama, obwohl völlig
säkular, war schließlich entstanden aus den religiösen und moralischen Dramen früherer Zeiten.“
[…]
Der Name „Globe“, den Shakespeares Truppe ihrem 1598 errichteten neuen Theater gab, stand
unter dem Motto: Totus mundus agit histrionem, „die ganze Welt schauspielert“ oder „die ganze
Welt agiert wie ein Schaupieler“, wohinter sich der Anspruch verbirgt, daß nicht nur die Welt ein
Theater, sondern daß dieses ihr Theater eine Welt für sich sei – das Theater selbst als Metapher.
1570 war ein Weltatlas erschienen mit dem Titel Theatrum Orbis Terrarum, der es in Shakespeares
Lebzeiten zu mehr als vierzig Auflagen brachte; wenn der Globus/Orbis terrarum hier zum
„Theater“ erklärt wird, dann darf sich umgekehrt das Schauspielhaus als menschengemachtes
Modell des Erdballs sehen. Die von Atlas oder Herkules getragene Weltkugel wird am Ende des 16
und zu Beginn des 17. Jahrhundert im Kontext der erstaunlichen und erregenden englisch26
europäischen Entdeckungen und Eroberungen der Neuen Welt zum vielfach reproduzierten Symbol
der Kartographie: Man wird die Welt als Ganzes in absehbarer Zukunft in den Griff bekommen, sie
heute erforschen, um sie morgen zu verstehen und dann endgültig besitzen. Der Globus als
Artefakt, damals erstmalig in großen Mengen kommerziell hergestellt, signalisierte die
menschliche Fähigkeit, die Welt als mikrokosmisches Abbild des Makrokosmos gewissermaßen
von außen in den Blick bekommen zu können. Zwar gibt es keinen festen Beweis dafür, aber sehr
wahrscheinlich hat das Globe-Theater im Londoner Southwark, dem populären und z.T. auch
kleinkriminellen Vergnügungsviertel, einen Globustragenden Atlas oder Herkules zum Logo gehabt.
Die Truppe und ihr Autor verstanden sich als Träger nicht des Abbildes, sondern des Äquivalents der
‚wirklichen‘ Welt. Entsprechend wird man die Architektur des Shakespeare’schen „Spielhauses“ als
Emblem des Kosmos lesen dürfen. Mit dem kreisrunden Grundriß des Zuschauerraums und der
quadratischen Bühne kommen die beiden reinsten geometrischen Formen zusammen: Quadrat
und Kreis (Goethes „Würfel und Kugel“ sind deren plastische Version), und erlauben jene
Mehrdimensionalität, die das Shakespeare-Theater mit seinen Höhen und Tiefen und wechselnden
Schauplätzen erfordert. 1585 war in Vincenza das von Palladio entworfene beühmte „Teatro
Olimpico“ mit einer modernisierten Version von Sophokles‘ „Ödipus“ eröffnet worden: Dort wurde
das Publikum in die Zentralperspektive gezwungen und sozusagen ‚eindimensional‘ auf die
Bühnenmitte ausgerichtet, wo es die statisch-chorische Handlung in einer Illusionskulisse von
scheinbarer Tiefe aus großer Distanz buchstäblich als passiver Zuschauer und sonst nichts
verfolgen durfte. Ganz anders dagegen das 1576 von dem gelernten Tischler James Burbage,
Schauspieler und Vater des Shakespeare- Kompagnons Richard Burbage gebaute erste Spielhaus,
der „Schwan“ – ohne architektonische Ambitionen die runde Tierhatz-Arena mit der TudorHallenbühne kombinierend, indem eine weit ins Publikum hineinragenden Spielfläche den
Zuschauern eine aktive Anteilnahme am Bühnengeschehen ermöglichte. Dieser „Swan“ wurde das
Vorbild des großen „Globe“ zwanzig Jahre später. Dort tragen zwei massive Säulen – man darf in
ihnen die Säulen des mythologischen Herkules sehen – den mit Sternbildern, Sonne und Mond
dekorierten Theater-Himmel, während sich die Menschen unter dem echten Himmel an drei Seiten
um die Bühne drängen und die Schauspieler von allen Seiten beobachten können. Nichts bleibt
ihnen da verborgen, es wird ohne Illusionstricks gearbeitet. Oben der Himmel, unter dem erhöhten
Bühnenquadrat die Hölle (aus der der Geist von Hamlets Vater sein „schwört! schwört! mahnend
rufen wird), und zwischen beiden, dem christlichen Weltbild entsprechend, die Erde, d.h. die
bespielte Bühne. Überhaupt gehört die christliche Kosmologie und das prinzipiell egalitäre
christliche Menschenbild ganz wesentlich zur Shakespeare’schen und markiert deren deutlichen
Unterschied zu der klassischen, insbesondere der römischen Komödie und ihrer neuzeitlichen
Nachfolge: Diese führt Schurken und Schufte, Gauner und Lügner - fast immer kleine Leute - vor,
entlarvt und bestraft sie am Ende unter dem Beifall des Publikums; jene geht davon aus, daß alle
Menschen, ob hoch oder niedrig, Sünder sind, ja, die Hochgestellten verdienen es in der Regel sogar
noch mehr als die kleinen Leute, mit kritischer Lupe dekouvriert und dem öffentlichen Spott
preisgegeben zu werden – am Ende aber steht nicht, wie beim Typus der klassischen Komödie, die
Bestrafung, sondern Shakespeare vergibt: Vergebung statt Strafe und Rache ist christliches Ideal.
Zwar spielen die Schauspieler in enger Körpernähe zum Publikum, sind aber doch deutlich genug
von ihm getrennt, so daß das Theater in seiner ganzen Ambivalenz erfahrbar werden kann: Was die
Menschen sehen, ist von dieser Welt, und doch auch wieder nicht, es geschieht wirklich und in
Echtzeit, und ist doch gleichzeitig Spiel und Verwandlung. Sie machen eine metaphorische
Erfahrung: Die Vorstellung in actu wird zur Metapher einer Wirklichkeit, die in unserer
Einbildungskraft ver-wirklicht, von ihr ver-geistigt wird. Das Theater ahmt die Wirklichkeit, ahmt
wirkliche (oder mögliche) Menschen nicht nach, sondern es ist in diesen Augenblicken selbst die
Welt, die sich als Bühne darstellt; der Schauspieler personifiziert einen Menschen, der sich eines
Schauspielers bedient, um sich selbst darzustellen. Wie kaum anderswo wird die Theatralität des
27
Lebens im Shakespeare-Theater Wirklichkeit – und zusätzlich in ihren Texten selbst
ausgesprochen: All the world’s a stage,/And all the men and women merely players (As you like it;
II,7,139 f.). Life’s but a walking shadow; a poor player,/That struts and frets his hour upon the
stage,/And then is heard no more (Macbeth; V,5,24-26). Die großen Monologe – wie der Macbeths
zum Beispiel – sind keine Publikumsansprachen, sondern da spricht der Protagonist durch das
Publikum mit sich selbst: Er hält ein inneres Zwiegespräch, was ihm das Theater als ideale
Repräsentanz der Welt ermöglicht – und wir fühlen, daß wir eigentlich alle einer solchen Welt real
bedürfen...
Das Globe-Theater unterscheidet sich auch darin von der Guckkasten-Illusionsbühne, daß es so gut
wie ohne Mobiliar auskommt, von einem Vorhang oder panoramischen Bühnen- Bild als
Hintergrund ganz zu schweigen; ob intendiert oder nicht: die darin enthaltene ‚Botschaft‘ wird
ankommen, auch wenn wir nicht darüber nachdenken: Die nahezu leere Fläche ist eine
Herausforderung der Einbildungskraft, der geistigen Eigenleistung, die wir zu erbringen
aufgefordert werden – zum Beispiels in diesem schönsten aller Theater-Prologe (zu „Heinrich V.“):
O gäbe es doch eine Muse des Feuers, die den hellsten Himmel der Phantasie emporsteige, ein
Königreich als Bühne, Fürsten, die spielen und Monarchen, die die präachtige Szene betrachten...
Auf diesem unwürdigen Gerüst einen so großen Gegenstand vorzutragen: Kann diese Hahnengrube
die riesigen Felder Frankreichs fassen? Oder dürfen wir in dieses hölzerne O eben die Helme
hineinzwängen, die die Luft bei Agincourt erschreckten?... und laßt uns, Ziffern in der großen
Rechnung, auf eure Einbildungskraft wirken... denkt, wenn wir von Pferden sprechen, daß ihr seht,
wie sie ihre stolzen Hufe in die empfangende Erde prägen; denn es sind eure Gedanken, die nun
unsere Könige schmücken müssen...
Zu diesem kahlen und kargen Ambiente aber stehen die aufwändigen Kostüme in einem
dramatischen Kontrast, sie werden von diesem gewissermaßen überhöht, erst recht sichtbar
gemacht und zeigen, daß die Menschen nicht nur wirklicher, sondern auch wichtiger sind als ihre
materielle Umgebung, daß die physische Welt der Dinge weniger wichtig ist als die seelische, daß
das, was sich in der menschlichen, der geistigen Welt abspielt, nicht von der dinglich-materiellen
abhängig ist – daß „das Bewußtsein das Sein bestimmt“. Solche in der Empirie einer Aufführung
blitzschnell und unreflektiert gemachten Einsichten, die psychologisch zu zergliedern und genau
zu analysieren hier unverhältnismäßig aufwändig wäre, können bei der Komödie in besonderer
Weise gelingen und gehören zu deren wichtigsten Charakteristika: Einmal, weil sie
phantasiegeleitete Zukunftsentwürfe vorstellt, Probleme in einem real (noch) nicht existierenden
Reich der Freiheit durchspielt und auflöst, und zum anderen weil wir eingeladen werden, uns in
magisch-mythische Schauplätze zu versetzen: von Belmont bis zur Traumwelt der athenischen
Wälder, von Prosperos Geisterreich bis zum idyllischen Wald von Arden. Das kann nicht heißen, daß
dieses Reich der Freiheit nur in Träumen als Traum Wirklichkeit werden kann, sondern es heißt, daß
Shakespeare uns darüber nachdenken läßt, den Traum selbst in unsere Lebenswirklichkeit als
Wirklichkeit aufzunehmen und ihn nicht als „Schaum“ psychologisch denunzieren. Shakespeares
Komödien sind Träume, Traumprodukte der Kreativität – und als solche Produkte ganz und gar
wirklich: Man kann sie lesen, rezitiert hören, auf der Bühne sehen. We are such stuff/As dreams are
made on (The Tempest, IV,1,156) spricht von und zu allen Menschen, die mehr von ihrem ach so
kurzen Leben wollen, als nur sich in tagtäglicher Routine dumpf zu reproduzieren. Shakespeares
Komödien ermutigen dazu, sich Träumen anzuvertrauen, wachzuträumen als einer Möglichkeit,
eine schlechte Wirklichkeit zuerst im antizipierenden Gedanken zu transzendieren, dann in der Tat
zu verändern. Den Traum ins bewußte Leben zurückzuholen kann und soll auch heißen: sich zu
empören, zornig zu sein, zu kämpfen, die real existierende an einer real möglichen Welt zu messen
und jene nicht „realistisch“ als die bestmögliche hinzunehmen. Auch Alpträume setzen
28
revolutionäre Energien frei. Die Traumfähigkeit einer komödischen ist das beste Mittel gegen die
Lähmungen einer tragischen Kosmologie.
29
Abb. 25 Obermarkt 1961-1963
Abb. 26 Obermarkt um 1900
Abbildung aus: Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 59 (1997)
Der Marburger Markt, 800 Jahre Geschichte über und unter dem Pflaster
Festschrift zur Fertigstellung der Neugestaltung des Marbuger Marktplatzes
32
3.3
Heike Sauter: Der Marktplatz als Richtstätte und Ort des öffentlichen Strafvollzugs
Im Mittelalter und in der beginnenden frühen Neuzeit war die gesamte Rechtspflege öffentlich. Von
der Verfolgung des Übeltäters über die Gerichtsverhandlung bis hin zur Vollstreckung der Strafe war
die Anteilnahme der Öffentlichkeit erwünscht. Während der Strafvollzug heute hinter
geschlossenen Türen stattfindet, war es früher gerade der nicht funktionierende Gedanke der
Abschreckung, welcher es erforderte, die Strafe auf einem öffentlichen Platz zu vollstrecken. Dieser
Platz war in der Regel, so auch in Marburg, der Marktplatz. Vor allem die sog. Ehrenstrafen setzten
die Beteiligung der Öffentlichkeit voraus, da sie sonst ihre entehrende Wirkung nicht erfüllen
konnten. Auch die Körperstrafen wurden hier vollzogen, während die Todesstrafe in Marburg bis
1591 auf dem Ortenberg und bis 1864 »auf dem Kaff« auch Rabenstein1 genannt, ausgeführt
wurde.2 Auch wurde ehedem auf dem Markte vor einer grün gedeckten Tafel dem zum Tode
Verurteilten das Todesurteil vorgelesen und von dem Richter der Stab gebrochen.3 Anschließend
wurde der Verurteilte zum Rabenstein geführt, wo vom Scharfrichter das Urteil vollstreckt wurde.
Geld- oder Gefängnisstrafen spielten bis ins 16. Jahrhundert eine untergeordnete Rolle. Um
dennoch Übeltäter festhalten zu können, wurde, wie der Stadtbaurechnung von 1470 zu entnehmen
ist, unter der damaligen Brotschirn, also etwa unter dem derzeitigen Haupteingang des Rathauses,
das heute noch erhaltene Lochgefängnis eingerichtet. Als 1511 das Haus des Henchen Michel
abgerissen wurde, erweiterte man das Gefängnis um dessen Keller.4 Im Ersten Obergeschoß des
Rathauses soll sich bis 1667 zeitweise eine Folterkammer befunden haben.5 Ein böser Leumund
reichte häufig schon aus, um der peinlichen Frage, der Folter ausgesetzt zu werden. »Die
mittelalterlichen Folterkammern in so manchem deutschen Rathaus sind noch heute als stumme
Zeugen dieser verbreiteten Praxis vorhanden.«6
Im 17. und im frühen 18. Jh. befanden sich auf dem Marktplatz in Marburg jnehrere Strafjustizmittel:
Ein Pranger, ein Schnappgalgen, ein Trillerhäuschen, ein hölzernes Pferd und ein mit Blech
beschlagener Esel7. Diese Instrumente dienten zur Ausübung der bereits erwähnten Ehrenstrafen.
Oft war jedoch der Übergang von bloßen Ehrenstrafen zu Körper- oder Verstümmelungsstrafen
fließend. Die Ehrenstrafen hatten für die Menschen des Mittelalters eine weitaus größere
Bedeutung, als wir ihnen in unserem modernen Rechtsverständnis zumessen. Die Ehre war
maßgebend für die gesamte öffentliche und gesellschaftliche Position. Eine Ehrenstrafe konnte im
ungünstigsten Fall den Verlust der bürgerlichen Existenz bedeuten. Ehre betraf weniger den inneren
Persönlichkeitswert, als vielmehr die äußere Stellung und die Wertschätzung der Mitmenschen. Ein
Ehrloser war jemand, dem die bürgerlichen Rechte aberkannt worden waren. Er durfte weder
Richter, Eideshelfer noch Zeuge sein, konnte keinen Reinigungseid leisten und selbst das Betreiben
eines Gewerbes wurde ihm untersagt. Die Ehrenstrafen wurden genau genommen von der
Bevölkerung und nicht vom Scharfrichter vollzogen: Die eigentliche Strafe lag nämlich in der
Verspottung durch das Volk. Die Ehrenstrafen waren sozusagen »soziale Sanktionen«. Oft wirkten
sie gemelnschaftsfördernd auf die Bewohnerschaft der Stadt und hatten auf jeden Fall einen
beachtlichen Unterhaltungswert.8 Die bekannteste dieser Strafen dürfte wohl das Ausstellen eines
Missetäters am Pranger sein. Häufig wurden die Betroffenen noch mit buntverzierten
Gegenständen ausgestattet, die auf das begangene Vergehen anspielten. So hatte ein Säufer große
hölzerne Flaschen zu tragen, »gefallenen Mädchen« wurde, zur Verhöhnung des Jungfernkranzes,
ein Strohkranz aufgesetzt, einer Ehebrecherin wurde ein Dirnenkleid angezogen oder einem
Falschspieler eine Kette mit überdimensionalen Würfeln umgehängt.
Das Trillerhäuschen ist ein drehbarer Käfig, der vor allem für Marktdiebe und Trunkenbolde
vorgesehen war. Letztere wurden außerdem in sog. Trunkenboldlisten geführt und durften kein
Wirtshaus mehr betreten, es sei denn in Ausübung ihres Gewerbes.9 In diesem Häuschen wurden sie
so lange vom begeisterten Pöbel gedreht, bis sie sich, zur Freude aller, erbrachen.
Es trug wohl auch sehr zur Belustigung bei, wenn jemand auf dem hölzernen Pferd oder Esel sitzen
34
mußte. Der Bestrafte konnte sich mit seinen Mitmenschen unterhalten und oft wurde ihm sogar
Essen und Trinken gebracht, welches er in dieser lächerlichen Haltung zu sich nehmen mußte.
Weitaus weniger lustig, vor allem für die Betroffenen, war der Schnappgalgen. In Marburg wurden
an ihm die liederlichen Frauenzimmer mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Armen
hochgezogen und plötzlich herabgelassen, was man schnappen nannte.10 Es bedarf wenig
Phantasie, sich auszumalen, daß es sich hierbei wohl kaum um eine Ehrenstrafe handelte. Bereits
beim Hochziehen kugelten die Arme aus und beim ungeschützten Aufprall auf das Pflaster waren
Knochen- und Rippenbrüche sowie Gesichtsverletzungen zu erwarten. Der Scharfrichter war zwar
verpflichtet, sich um die Verletzten zu kümmern, aber dennoch mußte bei dieser Strafe mit
bleibenden Schäden gerechnet werden.11 Am Schnappgalgen sollen bis zum Siebenjährigen Krieg
Blechschilder mit den Namen der Deserteure der ansässigen Garnison befestigt worden sein.12 Als
1774 der Marktplatz neu gepflastert wurde, wurde der morsch gewordene Schnappgalgen aus
Sicherheitsgründen abgebaut. Am 9. Juli 1774 berichtete der Rat den Sachverhalt Landgraf
Friedrich II. von Hessen, mit der Bitte, die Stadt von der Wiederaufrichtung eines solchen Galgens
zu dispendieren, da der Marktplatz nicht so angelegt, daß er an anderem Ort passend anzubringen
wäre, und da, wo er gestanden, nicht wieder hinkommen könnte, weil er wegen veränderter
Pflästerlage zu weit in die Straße käme, überhaupt würde es zur Verschönerung der Stadt
gereichen, wenn der Galgen wegbleiben dürfte.13 Dem Antrag der Stadt wurde stattgegeben und der
Schnappgalgen nicht wieder errichtet. Ein Wandel des Rechtsbewußtseins hatte, zum Glück für die
Trunkenbolde, gefallenen Mädchen und die anderen, den öffentlichen Ehren- und Körperstrafen
ausgesetzten, Missetäter zu diesem Zeitpunkt bereits eingesetzt.
1
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10
11
12
13
Der Ausdruck »Rabenstein« geht auf die Raben zurück, die vom Verwesungsgeruch der
Leichen angelockt wurden.
Der Rabenstein war ein gemauertes Schaffet, das den Publikum bessere Sicht ermöglichte.
Es konnte von innen erklommen werden und bot dem Scharfrichter im Bedarfsfall Schutz
vor der erregten Menge, Schild, Gerichtsbarkeit, S. 44.
Bücking, Wegweiser, S. 26.
Marburger Schriften zur Bauforschung 2,1984, S. 17.
Rumpf, Marktplatz.
Kroeschell, Rechtsgeschichte 2, S. 208.
Bücking, Wegweiser S. 26.
Schild, Gerichtsbarkeit, S. 50.
In Biedenkopf wurden diese Listen noch bis in das 20. Jahrhundert geführt.
Rumpf, Marktplatz, S. 44.
Schild, Gerichtsbarkeit, S. 162.
Bücking, Bilder, S. 108. In anderen Städten erfolgten diese Anschläge am Pranger oder am
Holzesel.
Zitiert nach Bücking, Bilder, S. 108.
Auszug aus: Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 59 (1997)
Der Marburger Markt, 800 Jahre Geschichte über und unter dem Pflaster Festschrift zur
Fertigstellung der Neugestaltung des Marbuger Marktplatzes
35
4.
Das Theater Grotest Marus und der Marburger »Kaufmann
von Venedig«
4.1
Grotest Maru
unter der oberfläche
von alltäglichen bewegungen
und handlungen
nähern wir uns den abgründen
menschlicher existenz
suchen nach
jetztzeitbildern
und der poesie
in den zwischenräumen
Grotest Maru
under the surface
of daily movements and actions
we approach the abyss of
human existence
searching for
images of now
and the poetry
in between
GROTEST MARU kreiert Theater im Öffentlichen GROTEST MARU creates theatre in public spaces
Raum und bezieht sich dabei auf Bilder-, Objekt- and is inspired by visual, physical, and object
theatre, as well as installation and land art.
und Körpertheater, ebenso wie auf
Installationskunst und Land Art.
GROTEST MARU wurde 1996 im KUNSTHAUS
KULE in Berlin Mitte gegründet, wo es bis heute
seine Basis hat. Seit 1999 ist die Gruppe mit
ihren Produktionen international auf Tournee.
GROTEST MARU was founded in 1996 at
KUNSTHAUS KULE in the centre of Berlin, where
it is still based today. The company has been
touring internationally with its productions since
1996.
GROTEST MARU ist darauf spezialisiert, ortsspezifische Projekte für besondere Situationen,
architektonische Räume oder Landschaften zu
entwickeln.
Mit Workshops werden auch lokale Künstler und
Laiengruppen in Inszenierungen eingebunden.
GROTEST MARU specialises in developing site
specific projects for different situations,
architectural spaces or landscapes. Through
workshop programmes local artists and
community groups can be integrated into bigger
productions.
GROTEST MARU sucht nach Formen der
Kommunikation, die kulturelle Grenzen überschreiten. Das Netzwerk der mitwirkenden
internationalen Künstler speist sich aus
kultureller und künstlerischer Vielfalt und schafft
eine Theatersprache aus Bildern, oft ohne Worte,
weltweit verständlich.
GROTEST MARU explores forms of
communication that cross cultural borders. As a
network of international artists with diverse
cultural and artistic backgrounds, the company
creates an universal image-based theatrical
language, mostly without words, that can be
understood worldwide
36
4.2
Figurinen zu »Der Kaufmann von Venedig«
37
4.3
Bühnen- und Objektspiel im »Kaufmann von Venedig«
38
4.3
Bühnen und Objektspiel im »Kaufmann von Venedig«
39
40
5.
Theater im öffentlichen Raum
5.1
Gabriele Koch: Straßentheater in Deutschland; Bröllin September 2008
Was aber bietet Straßentheater in der Deutschen Kulturlandschaft:
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Bilder, die indoor nicht möglich wären (kein Mensch fragt bei bei der bildenden Kunst im
öffentlichen Raum, ob man die Skulptur etc. nicht auch bei der nächstbesten Ausstellung
indoor präsentieren könnte)
Eine universelle Bildersprache (da ThiöR in der Regel kein Sprechtheater ist und per se
international angelegt)
Die Einbeziehung des öffentlichen Raums in die performative Kunstform
Den Blickwinkelwechsel (Der öffentliche Raum als Bühne)
Die direkte Interaktion mit dem Publikum
Die Kulturlieferung zu den Menschen (und nicht anders herum die das Kulturangebot für den
geneigten Konsumenten)
Die Intervention im Alltagsleben (unsichtbares Theater)
Schwellenfreien Kulturkonsum
Theatervorstellungen für viele Menschen (große Produktionen können bis zu 5.000 gar 10.000
Menschen bespielen)
Kulturgenuss nach Geschmack/eigenen Zeitmanagement (man kann jederzeit gehen)
Das gemeinsame Erleben mit anderen, da es im Regelfall im Freien und unter Tageslicht
stattfindet (im Gegensatz zum dunklen Theaterraum)
Natur und Kultur können eins werden, was im klassischen Kulturverständnis selten der Fall ist
(etwa in Stadtparks, Landschaftsbespielungen etc.)
OpenAirTheater als leichte Unterhaltung (man kann während der Veranstaltung ein Getränk
holen gehen und weiter genießen)
Abhängigkeit von den Witterungsbedingungen (man erlebt also etwas besonders, etwas dass
jeden Abend anders sein kann)
41
5.2
Auszüge aus: DER ORT IST DER TEXT. Materialien für ein topisches Theater
von Andreas Staudinger (2010); Frankfurt am Main: Vortrag, mousonturm.
Vor(w)ort ein Wegweiser
[…]
lange zeit hatte der geschlossene charakter eines werkes, seine abgrenzung gegenüber einem
anderen, geradezu als signum der kunst gegolten. der rahmen markierte die abgrenzung des bildes
vom alltäglichen raum, so wie der sockel das für die skulptur tat. schließlich sind auch die räume,
die explizit für die kunst geschaffen wurden - museen, konzertsäle, opernhäuser - sinnbilder dieses
abschottens vom alltagbereich. sie sind exklusive orte für die versammlung von aufmerksamkeit;
schonräume, in denen die wahrnehmung sich ganz auf eine sache (nämlich das kunstwerk)
einlassen kann, in denen die sinne befreit sind von anderen aufgaben. offensichtlich meinte man
lange zeit, dass die konzentrierte zuwendung zu einer sache diese geschützte zone nötig habe.
vor der folie des geschlossenen, kompakten kunstwerks in einem geschlossenen, hermetisch
abgeriegelten wahrnehmungs/kunstraum werden allerdings zwei bestimmende kräfte des
künstlerischen schaffens im 20. jahrhundert sichtbar, die sich durch verschiedene kunstformen
hindurch bahn brachen und zentrale elemente für eine völlig andere, „ortsgebundene“ from von
kunst wurden:
- die sprengung oder zumindest die thematisierung der grenze (das verlassen der
rahmeninternen welt der kunsträume und damit des selbstreferentiellen systems)
- und die verankerung des künstlerischen werkes in raum und/oder zeit.
auf den punkt gebracht wurde das vom künstler und kunstkritker brian o`doherty in seinem
richtungsweisenden essay „inside the white cube“ 1967, programmatisch wurde es erstmals bei
den minimal artists und den land art-künstlern (richard serra, robert morris, michael heizer, ian
hamilton, sue finlay, walter de maria, richard long, robert smithson, james turell und vielen
anderen). einmal aus den schonräumen der kunst entlassen, zeigte sich die vielschichtigkeit der
„sites“, der konkreten „orte“, die die künstler auswählten, um auf die sie zu reagieren: der eine
beachtete vor allem geologische strukturen (heizer), der andere lichtphänomene (turell) und ein
dritter (de andrea) meteorologische elemente. in all diesen werkgruppen spiegelte sich ortsspezifisches eingehen auf landschaften. viele dieser arbeiten beschränkten sich nicht nur auf
landschaften: sie standen auch an ganz unerwarteten stellen im urbanen raum und begriffen sich
als interventionen im gesellschaftspolitischen leben der städtebewohner. sie wollten vor ort
provozieren, anregen, an-ecken, aufmerksam machen und den betrachter in einen prozess der neuwahrnehmung und reflexion involvieren (siehe „skulpturenpark münster“).
diese „site-specificity“ (ortsgebundenheit) ist seit den 80iger jahren eine populäre kategorie des
kunstdiskurses, eine art zauberformel neuer öffentlicher kunst für das paradox einer kunst, die frei,
aber auf ihre umgebung bezogen, selbstbestimmt, aber funktional sein sollte (büttner: art goes public),
ein ettikett freilich, das inzwischen in den unterschiedlichsten farben schillert (siehe landart,
gardenart, plantart, erweiterter kunstbegriff, soziale kunst, site specific performance, etc.).
[…]
richtet man seinen blick also speziell auf das theater (wer sich für site specificity und „site
specific performances“ im allgemeinen interessiert, sei auf das buch „site sepcific art“ von
nick kaye verwiesen (kaye, nick. site specific art: performance, place, and documentation), so lassen sich auf
42
den ersten blick mehrere parameter beschreiben, die für arbeiten, die man unter dem begriff des
site specific theatre (des ortsgebundenen, topischen theaters) subsumieren kann, jeweils gelten.
projekte dieser art
- finden nicht in einem herkömmlichen theaterraum statt.
- setzen keinen vorgegebenen, fertigen „text“ in einer freiluftkulisse um (grenzen sich dadurch von
überall grassierenden „freilufttheater“-spektakeln oder historisierenden
„stationentheatern“ auf burgen, ruinen oder in pittoresken altstädten ab, die europa inzwischen
flächendeckend überziehen und scheinbar unverzichtbarer bestandteil einer eventisierung der
gesellschaft geworden sind).
- erweitern die grenzen der möglichkeiten des theaters, ja sie spielen/experimentieren
geradezu damit.
- machen vielmehr auf qualitäten aufmerksam, die in den (spiel)orten verborgen sind.
erkennbar/lesbar werden diese qualitäten aber erst, wenn man sich auf die unterschiedlichen
atmosphären/die situationen einlässt, die jedem ort innewohnen. ortsgebundenes/spezifisches
theater tritt in ein gespräch mit dem jeweiligen ort ein, schottet ihn nicht ab, sondern geht auf ihn
ein, lässt so eine art „multi-fokales feld (cliff mclucas)“ entstehen, das keine klaren grenzen mehr
hat, die erkennen lassen, wo die kunst/das werk anfängt und wo sie/es aufhört: der ort wird so zu
einem zentralen mit- oder besser hauptakteur. oder wie mike pearson, einer der pioniere dieser
kunstform, es ausdrückt: „site-specific-projekte feiern, erörtern, mischen, kritisieren die
eigentümlichkeiten eines ortes und bringen sie ans tageslicht; der ort wird dicht
(saturated space), er wird zu einem tatort, einem kriminalistischen feld, in dem, um mit den
richtern zu sprechen, alles potentiell wichtig ist (mike pearson).“
- lassen ort, akteure, ortsbewohner, zuschauer (die automatisch „mitspieler“ sind, weil sie sich
inmitten des geschehens, vorort befinden) temporär eine einzigartige verbindung eingehen.
- eignen sich nicht zuletzt dazu, in einer zeit kultureller deplatzierungen und globaler
ortlosigkeit, in einer zeit verdichteter computernetze und zunehmender integration der
kulturen mit ebenso rigorosen ethnischen isolationsbeziehungen, einer zeit wo nicht nur
menschen, sondern auch die heimaten, orte und landschaften selbst in die migration, einen neuen
nomadismus hineingezogen werden, unsere beziehungen zu den orten, die wir bewohnen, zu
hinterfragen und herauszufinden, wie unsere besetzungen eine wirkliche
wahrnehmung beeinflussen und wie bedeutungen und soziopolitische handlungsmuster
entstehen. dazu kommt, dass durch die einbeziehung der vielfältigen methoden der
sozialwissenschaften in den arbeitsprozess (was einen ganz neuen typ von theatermacher
erfordert), mit mit den mitteln des theaters und den hybriden künstlerischen genres, die die
elektronische kommunikation gerade zu entwickeln beginnt, erforscht werden können.
[…]
orte als symbolische „lektüreräume“ zu sehen, erweitert das feld unserer wahrnehmungen
beträchtlich und stellt darüber hinaus einen historischen speicher par excellence dar. die
„benannte“ landschaft oder die „beschriftete“ stadt beispielsweise, in der wir uns tag für tag
bewegen, in der namen von straßen, plätzen und gassen zu merkzeichen aktueller orientierung
werden, sind ein reservoir der geschichtsschreibung und bedeutungszuordnung. zugleich ist die
öffentliche ausstellung der namen auf landkarten und den schildern der straßen und gassen der
stadt paradoxerweise oft eine anonymisierung. wir nehmen ihren klang für gegeben, wir nennen
ihre namen als treffpunkte, wir gehen an ihnen entlang, aber sind uns dessen selten bewusst. und
trotzdem sagt niemand: ich gehe jetzt in die landschaft, den öffentlichen raum. die landschaft, der
öffentliche raum entstehen zuallererst im kopf, stimuliert durch sprache und die dadurch
43
entstehenden bilder. verändert sich die wahrnehmung und die denkende
vorstellung des öffentlichen raums, verändern sich die handlungen, die dort ihren ort finden
können, die wiederum auf die wahrnehmung des ortes einwirken können.
[...]
Einen Ort lesen
[…]
LESESCHRITTE
um es vorweg zu sagen: das lesen von orten (also das ganzkörperliche wahrnehmen von
atmosphären) ist ein prozess, der zeit und den ganzen körper fordert und kein spontaner
erkenntnisakt. ich misstraue vorschnellen leseergebnissen/erkenntnissen, weil sie allzu oft nur ein
oberflächliches aufkleben von bedeutungen auf orte sind, ein resultat von reflexion und nicht von
intensivem lesen. das heißt nicht, dass die reflexion über einen ort keinen platz im topischen
theater hätte, ganz im gegenteil, aber der prozess der erarbeitung beginnt vor dem konkreten ort
und niemals mit dem nachdenken über einen ort und schon gar nichts hat er zu tun, mit dem
überstülpen einer idee über die wirklicheit eines ortes. all die spielarten des grassierenden „freilufttheaters“ gehören nicht in diesen kontext. sie sind die instantversionen einer zeit, die den
schnellen kitzel, die eventisierung von inhalten ins zentrum stellt und nicht den ort selbst. immer
auf der suche nach dem nächsten „kick“ benützt man hier orte, deren oberflächenstruktur man
sich meist nur in komerzieller hinsicht bedient. aus der erfahrung vieler projekte habe ich für mich
inzwischen eine „lesemethode“ entwickelt, in der ich mich wie ein „feldforscher“ einem ort
annähere und die bestimmte, wesentliche „leseschritte“ beinhaltet:
ÜBERBLICK
alles beginnt mit dem begehen. bevor ich mir erlaube, ideen zu haben, muss ich mich an einem ort
erst orientieren, muss mich zurechtfinden, muss versuchen, mir einen groben überblick über das zu
verschaffen, was da ist. es ist das erste flanieren, bei dem ich es noch vermeide, genauer zu sehen:
das ganze (das was ich vorher versucht habe, als „atmosphäre“ zu charakterisieren), wirkt dabei viel
stärker als das einzelne detail. dieses sich hineinziehen lassen in eine bestimmte anwesenheit ist
der ausgangspunkt für alles andere. ein buch kann geschlossen oder beendet werden, orte
hingegen sind stets offen, ausgebreitet, frei, entfaltet, aufgedeckt, niemals verbirgt eine seite die
andere. sie sind organisiert wie zugleich offene und geschlossene knoten, wie sterne oder noch
lebende körper. alle sinne sind da gefragt, nicht die vorherrschaft des allumfassenden verstandes,
der sofort be-schreiben will, definieren, erklären, erkunden … erst wenn alle exakte wissenschaft
schweigt, ausgeschaltet ist, kann ein ort beginnen, sich zu entfalten wie wein, der die richtige
temperatur hat. diskurs und abstraktion bleiben ja allemal hinter der wirklichkeit des gehenden und
wahrnehmenden körpers zurück: gebärden, farben, gerüche, riten, mischungen, kreuzungen,
identitäten als summe oder kombination aus andersartigem – all das wächst einem nur so
entgegen … erste kontakte mit den bewohnern oder den menschen (institutionen), die mich
eingeladen haben, mich mit dem ort zu beschäftigen, folgen. sie sind es ja, die den ortstext
unbewusst „schreiben“, die ihre abdrücke hinterlassen, agieren, interagieren, intrigieren,
vegetieren, die einen ort wie ein könig beherrschen oder an ihm leiden, sich ihm unterordnen oder
von ihm diszipliniert werden. es ist die zeit des zuhörens und nicht die des fragenstellens, es ist die
zeit des aufnehmens, des einsaugens von sprach- und sprechnuancen, von benanntem und
unbenanntem. und je nachdem ob es sich um einen urbanen kontext oder einen landschaftlichen
44
handelt, werden die ortebewohner auch andere erzählweisen anwenden: eine begegnung in einem
dorfgasthaus zeichnet ein anderes bild als eine gemeinsame fahrt mit einem bus oder einem
privatauto durch eine stadt, eine gemeinsame tour durch unwegsames, alpines gelände wird sich
anders anfühlen als ein irren durch einen stadtdschungel …
NAHBLICK
erst dann (vielleicht beim zweiten oder dritten besuch des ortes) schaue ich genauer, richte meinen
blick auf details, auffälligkeiten, besonderheiten des orts: dafür muss ich allein gehen. Die
einsamkeit an so einem ort, das nicht-abgelenkt-sein, das frei-sein von einflüsterungen der
unterschiedlichsten art, das sich versenken, ermöglicht erst einen „neuzugang“ zu einem ort. all
das, was sich durch die ersten besuche angesammelt, angereichert hat, darf jetzt vor ort
hinterfragt werden. jetzt erst kann man eventuell erste regeln, grammatische strukturen des ortes
erkennen: wie organisiert er sich? wer organisiert ihn? wer wird von ihm organisiert? was ist das
„besondere“ an diesem ort, das „auffällige“, (was fällt allen auf, was keinem, was fällt mir zu?). sind
es die gebäude, die den ort bestimmen, ist es die natur oder sind es die menschen, die dem ort ihre
vorstellungen aufzwingen?
ich lege nun zeichnungen an, mache photos, videos, fertige erste individuelle pläne des ortes an
und notiere mir auffälligkeiten.
HISTORISCH/WISSENSCHAFTLICHER BLICK (regeln, langue)
parallel dazu untersuche ich, was es an geschriebenem zu diesem ort gibt. Existiert
wissenschaftliche literatur über den ort, haben sich künstler mit ihm beschäftigt, hat er
schriftsteller inspiriert, etwas zu schreiben, gibt es spezielle land- oder wanderkarten, ist es ein ort,
der schon auf postkarten verewigt ist oder ist er gänzlich unberührt, unbeschrieben,
unkartographiert? gibt es in der sekundärliteratur eventuell gebiete, die einem weiterhelfen können
(wenn es sich beispielsweise um industriearchitektur handelt – ist es unbedingt notwendig, den
technischen hintergrund des produzierten zu verstehen; wenn es sich um ein krankenhaus handelt,
kann man die welt der medizin und der lebensrettenden maschinen mit all ihren implikationen
natürlich nicht ausblenden; etc.).
all das nehme ich mit, wenn ich den ort das nächste mal besuche. jetzt wird es interessant zu
beobachten, was ich vom geschriebenen (vom verschriftlichten, gezeichneten ort) am ort selbst
wiederfinden kann. wie sind die sozialen, politischen strukturen dieses ortes, was sind
grundlegende problemkreise? spielen sie in meine arbeit hinein, wieweit konstituieren sie einen
ort? welche sprachlichen topoi haben sich an diesem ort herausentwickelt, wie ist die
sprachwerdung dieses ortes vor sich gegangen (manche orte werden nach den tätigkeiten benannt,
die die menschen dort verrichten, manche orte werden nach namen von menschen benannt, die
ihm ihren stempel aufgeprägt haben und manche orte haben überhaupt „sprechende namen“)?
welche mythen (sprachgewordener ort) hat dieser ort hervorgebracht (mayerling beispielsweise ist
eher eine historisch/mythische projektion als ein wirklicher ort, venedig ist längst mehr eine
metapher über die ideale stadt als eine konkrete stadt, babylon nur mehr eine vorstellung, die
nichts mehr mit den konkreten ruinen zu tun hat und was erzählt ein name wie „öd“ von einem ort)?
was erzählen mir die menschen dieses ortes darüber? die methode der befragung, die ich
allerdings niemals im streng wissenschaftlichen sinn durchführe, sondern „zufallsgelenkt,
zufallsgesättigt“, gehört zu den notwendigen hilfsmitteln, die die eigene wahrnehmung erweitern,
bereichern. die interviews, die ich niemals als interviews deklariere, sondern als „gespräche“ (denn
interviewsituationen sind immer künstliche, konstruierte), können dann später sogar selbst (oder
zumindest ihre essenz) in die performance mit einfließen.
45
HÖREN, RIECHEN - ERWEITERUNG DER SINNESWAHRNEHMUNG
wenn man endlich die augen gesättigt - und die visuelle und historische dimension eines ortes in
sich aufgenommen hat, wird es zeit, sich auch den anderen sinnen bewusst zu öffnen. Wie der
körper, die haut, ist ein ort ja ein lebendiger organismus, dessen mannigfaltigkeit nur den
kartographen, ortsplanern, bürgermeistern und joggern entgeht, er ist leicht oder schwer, schmal
oder breit, hell oder dunkel, sinnlich oder kalt, trocken oder feucht … wie riecht dieser ort, was höre
ich? wie fühlt er sich an? wie lässt sich dieser ort noch „wahr-nehmen“ (wird die nacht einer stadt
beispielsweise parfumiert/geschwängert durch bier- und pommesfritesgerüche oder ist es der duft
der dönerkebabs, rieche ich weihrauch oder autoabgase? höre ich wasser rauschen oder den
verkehr? ist die stille eine hervorbringung oder entsteht sie nur aus mangel an aktivität?)
erst wenn ich so weit gekommen bin, wenn ich den ort aufgesogen habe mit allen poren,
untersuche ich meine emotionale und physische verbundenheit mit einem ort genauer: wo
fühle ich mich besonders angezogen, was beunruhigt mich an diesem ort, warum läßt dieser teil
diese spezifische stimmung aufkommen? wo fühle ich mich wohl, wo entsteht beunruhigung?
welche „raumgefühle“ entwickeln sich? was fordert mich heraus, was lässt mich kalt, was
schüchtert mich ein? welche adjektive aus dem sortiment der atmosphären könnten nun
gebraucht werden … ist es ein heiterer ort oder bedrückt er mich, ist er einladend oder sperrig,
spröde, verweigert er sich, ist es ein ort der einen aufnimmt, sich anbietet oder verkauft er sich
sofort an jeden, ist er farblos septisch, angstgebietend, einladend, abstoßend, bedrohlich und
warum ist der das? ist er das nur für mich in einer konkreten situation oder empfinden seine
bewohner genauso?
landschaft als spiegel für seelenzustände kennnen wir aus unzähligen büchern und filmen, in
denen dunkle wolken mit depressionen korrespondieren, wüsten für vertrocknete beziehungen
herhalten müssen, das meer für weite und entgrenztheit steht und so fort, von den
sonnenuntergangstapeten zahlloser teenagerzimmer der achtziger jahren ganz zu schweigen.
kehrt man diesen prozess jetzt um und fragt sich, welche gefühle und stimmungen entstehen an
einem ganz konkreten ort, wird dieser begriff schon bedeutend produktiver. der umgang mit
seelischen projektionen und klischees von landschaft kann so durchaus interessant sein: das, was
man in die landschaft hineinliest und was meist dann zu einem literarischen topos geronnen ist,
lässt sich möglicherweise auch als erhellender kontrasttext zur real existierenden landschaft
nutzen.
HEIMATGEFÜHL
nachdem ich so über einen längeren zeitraum einen ort gelesen habe, stelle ich immer wieder fest,
dass plötzlich eine art heimatgefühl entstanden ist: man hat sich den ort zu eigen gemacht, man
fühlt sich dem ort und vor allem auch den menschen, die diesen ort bewohnen, verbunden; man hat
die bezeichnungen der „einheimischen“ übernommen, geht mit ihnen ganz natürlich um: kurz –
aus einem besonderen, ausgewählten, exponierten ort ist ein alltäglicher geworden.
interessanterweise kann es da dann allerdings passieren, dass man mit einem mal nichts mehr
sieht. oder genauer: das, was man sieht, ist unsichtbar. die materielle und physische dimension des
ortes löst sich auf. die sichtbare, reale ordnung wird dekonstruiert. man weicht von der normalen
konvention ab, man „missversteht“ den ort, man entstellt das realitätsprinzip. der ort wird zum
umschlagplatz von besetzungen und bedeutungen persönlicher (auch wechselnder) art. losgelöst
von ihrer ursrünglich intendierten bedeutung erhalten die orte nun einen ganz privaten/neuen sinn.
der aktuelle ort ruft erinnerungen wach und gibt anlass zum träumen, er öffnet einen (zeit-)raum
der wünsche, sehnsüchte, projektionen, konstruktionen und möglichkeiten: er ist zu meinem ort
geworden. das ist der humus, der urgrund aus dem sich die späteren inszenierungsideen
herausentwickeln/ kristallisieren, das ist die basis, der fundus für die neubesetzung, umdeutung
des ortes über die vielfältigsten performativen spielformen
46
das ist normalerweise ein guter zeitpunkt für mich, ein team zusammenzustellen. dabei gehe ich
immer langsam und behutsam vor. da man schwer erklären kann, was man vor ort zu tun gedenkt
(topisches theater ist ja nach wie vor kein begriff, den die meisten ortsbewohner in ihrem
erfahrungsschatz haben), ist überzeugungsarbeit für diese art der künstlerischen „nahversorgung“,
die die elitäre kunstproduktion überschreiten will und auch zu zivilgesellschaftlicher
„ermächtigung“ (empowerment) führen soll, notwendig. gespräche mit bewohnern und damit
potenziellen mitakteuren sind zu führen, einzelne gruppen können jetzt involviert werden (bürgeroder kunstinitiativen, vereine, randgruppen wie migranten, arbeitslose oder alte menschen). wobei,
meiner erfahrung nach, diese akteure (denen man über zielgruppenspezifische theaterarbeit,
rollenspiele, improtheater, etc. näher kommen kann, aber nicht muss) – wenn man sie erst einmal
gewonnen hat – selber wieder aktiv werden und andere bewohner in das projekt hineinziehen.
parallel dazu suche ich jetzt auch nach den passenden professionellen akteuren (schauspielern,
tänzern, musikern, filmemachern, etc.) deren „fremden blick“ ich später in eine fruchtbare
beziehung zu den bereits existierenden sichtweisen auf den ort setzen kann.
und erst jetzt denke ich an die „inszenierung“ dieses ortes. alles andere wäre ein fixes überstülpen
von ideen über die wirklichkeit eines ortes. das „stück/projekt“ selber entwickelt sich dann
schließlich aus drei unterschiedlichen regelsystemen: den inneren regeln (der grammatik) des ortes
und seiner bewohner, der theatralischen methode und der rezeptionsform (das heißt: der art und
weise wie man die mitgeher involviert), die man
anwendet.
IN SZENE SETZEN (LESBAR MACHEN) EINES ORTES
erst wenn ich einen ort auf diese weise schritt für schritt gelesen habe (und das kann je nach ort
sehr lange dauern: normalerweise benötige ich mindestens ein halbes jahr, um mich auf ihn
einzulassen; besser ist es, wenn man ein ganzes jahr zur verfügung hat, denn nur so kann man
einen ort auch im verlauf der jahreszeiten, in seinen unterschiedlichen nutzungen, beleuchtungen,
verformungen kennen lernen), versuche ich, ihn in „szene“ oder ins „rechte licht“ zu setzen.
letztenendes ist dieser akt aber nichts anderes, als die qualität des buchpapiers zu untersuchen,
die form der schrifttypen und das nötige licht für die lektüre zu schaffen. wie bei einem buch
existiert ja unabhängig von uns der text: die frage ist immer nur, wie ich ihn lese, auf welche
muster er in mir trifft, welche bereitschaften meiner bewußtseinswelt er aktiviert, etc.
der ortstext, der von den ortsbewohnern und besuchern ja unbewusst geschrieben wird wie eine
alltagsgeschichte, ein aufsatz, ein kochbuch, eine betriebsanleitung, eine notiz-, ein tagebuch und
den ich als regisseur mit ihnen zusammen neu buchstabiere, wird nun durch die inszenierung zu
einem poetischen, belletristischen text aufgeladen, der die regeln, konventionen dieser
alltagsgeschichten metamorphosiert, umkehrt, umdeutet, dekonstruiert, transzendiert …
dabei geht es mir darum, den code eines ortes (die buchstaben, die grammtikalischen regeln, seine
sprachliche realisierung) nun in ein dialektisches verhältnis, eine produktive spannung zum code
der neuen bedeutungszuschreibungen durch die inszenierung zu setzen. die daraus entstehende
differenz könnte man als eine unbestimmtheits-, eine leerstelle als ein „immaginatives
dazwischen“ bezeichnen. erst diese produktive lücke eröffnet einen inneren spiel-raum, in der der
ortsbenutzer (und später der besucher, der begeher der aufführung) das neue, ungewohnte,
temporär entstandene in seinen orts-erfahrungsfundus einbringen kann.
47
die probenarbeit, die dem idividuellen- und später kollektiven leseakt folgt, dauert bei
meinen projekten dann im normalfall nur zwei bis drei wochen. jetzt sind die erfahrungen,
ideen, gefühle und besetzungen aller mitwirkenden gefragt: in den täglichen
vorbereitungsgesprächen mit den trägern des projekts und in regelmäßigen meetings mit
potentiellen mitakteuren (pino di buduo nennt sie beispielsweise „riuniones“, fiona wilkie
nennt sie „sessions“), bei denen man in den gasthäusern, vereinslokalen oder temporär dafür
organisierten probenräumen des ortes zusammen sitzt, ißt, trinkt, redet, entwickelt,
improvisiert oder spielt, entstehen die wörter und neuen sätze der späteren inszenierung, werden
die scheinbar bekannten „ortstexte“ und ihre „leerstellen“ mit individuellen
bedeutungszuschreibungen aufgefüllt. bei diesen begegnungen lernen sich zudem die akteure
näher kennen, ihr normalerweise brach liegendes kreatives und menschliches potenzial ist nun
gefragt, ihre unterschiedlichen sichtweisen auf einen ort. darüber hinaus kann ich die
zusammenarbeit unterschiedlicher disziplinen stimulieren (profis – nichtprofis, handwerker,
politiker, beamte – künstler, etc.), kann verborgene fähigkeiten herauskitzeln und zu ungewohnten
handlungen ermutigen. schritt für schritt bildet sich so ein verschworenes „team“, das nicht nur
aufgrund seiner zusammenarbeit funktioniert, sondern sich auch auf emotionale art und weise
versteht und möglicherweise später, nach beendigung des projekts, gemeinsame aktionen
unternehmen kann (im sinne einer nachhaltigkeit der arbeit vor ort, ist dieser prozess mindestens
so wichtig wie das künstlerische ergebnis). wie und wo solche „brainstorming sessions“ abgehalten
werden, ist je nach ort (und land) unterschiedlich (ob gasthaus, pub, clubraum oder leerstehendes
lokal spielt dabei keine rolle, wichtig ist nur, dass ein solcher raum, ein treffpunkt, ein knotenpunkt,
als herz eines projekts vorhanden ist, wo alle fäden zusammenlaufen, wo man sich treffen,
austauschen oder ausruhen kann)
andreas staudinger
www.andreas-staudinger.at
1956 in scharnstein/oö geboren; studium der germanistik, geschichte und publizistik in
salzburg; lebt seit 198o in maria rain bei klagenfurt
zahlreiche ortsspezifische theaterprojekte im in- und ausland
uraufgeführte stücke, ua.:
FREMD KÖRPER (schauspielhaus wien); SCHATTEN ROSEN SCHATTEN (stadttheater
klagenfurt); NACHT WIND (volkstheater, wien); SLOW FLASH (festival for experimental
theatre, kairo); CAMERA ECHO (beckett-center, dublin); SENSO (teatro vascello, rom);
SCHLACHTFEST, (bregenzer frühling); DREAMLAND, libretto (kommunale oper villach);
URT, (spielboden, dornbirn; dietheater wien; köln); JAM-FACTORY, libretto (kommunales
musical villach); PARADIESEITS, libretto (bregenzer festspielhaus); DARK SIDE OF THE
MOON (stadttheater klagenfurt)
preise, ua:
KÄRNTNER KINDERBUCHPREIS; nominierung für den DEUTSCHEN
KINDERTHEATERPREIS; DRAMATIKERSTIPENDIUM des bundes;
DRAMATIKERPRÄMIE land oberösterreich
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