Materialistische Vorsehung Mark Fisher

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Materialistische Vorsehung Mark Fisher
culture, the dissolution of the ego. A lighthearted
get-together and no social standards or professional interests spoiled the performance. We all
just wanted to be pure art. Afterwards we were
breathless and the applause never ended.
Endlessly liberated, we looked at each other.
That was just crazy, AMAZING! Am woken by the
urge to urinate. While on the toilet the dream tried
to pull me back. I am a gift, whispered the dream.
I closed my eyes and saw kaleidoscopes, which
wanted to assure me: You are not mistaken, it was
beautiful. I swooned with joy.
We spend our days wrestling with reality.
We repress our fantasy, our imagination, keeping
it strictly separate from our real lives. We have
the feeling it might contain anti-Enlightenment
dangers, a power that could shed doubt on, derail
everything.
To make up for it we’ve created an imagination
industry that keeps us satisfied. We leave it to
the professionals, pick and choose what we like.
We might not be able to determine the quality but
at least we can select the size of the portions and
flavor. We are bachelor students, don’t have time
for daydreaming. Yet the imagination industry
offers something insanely close to reality, confoundingly similar, from which — it claims — we can
learn something useful in real life. Its products are
so dangerous precisely because they aren’t
boundless, unlike the imagination. They generate
desires that fall in the realm of the possible, tell of
conceivable worlds, describe feelings that cannot
be experienced.
My dream was a gift of my repressed imagination, which tried really hard to show me what
it can do, what I am capable of: the destruction of
this reality.
He got completely carried away, the overused
metaphor of the hamster wheel has to be carted
out. We had to stand there and watch how he
pedaled away like mad and didn’t move a single
millimeter. We watched his body go slack.
Going slack is a reflex that serves to protect
oneself from boundless energy. The kind of
boundless energy that flows out of the body and
into the spirit in order to be tortured until it finally
goes slack. It is more important to learn to sit still
than to learn how to change or move something.
We are sold the ideal of motionlessness. The
dream of winning the lottery is the dream of the
joy of eternally sitting still. He had this energy and
didn’t know what to do with it. They had given
him the tools to manufacture his own slackness
and sent him out into the world. A producer’s
mentality that has been told to find satisfaction in
consumption. Shopping lists instead of to-do lists.
Reviving the function of good old art might
be one way to combat slackness and its accompanying malaise. Providing stimuli that don’t just
modify our perceptions but change the whole
system. A way of producing art that frees itself
from the market and the societal elite and is
finally able to mobilize human beings. We have
to be dripping with idealism, with defiance and a
hunger for power. We have to stop defining
ourselves as freelancers, self-employed. We must
cobble together visions from our discontent,
visions with which to lure in humans. It’s worse
than ever and we who recognize this low point
must finally say it: From here on out it’s going to
be different.
Carsten Tabel
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Our sports loving society wants you to stay on
the ball, wants you to get that master’s degree as
soon as you’ve earned your bachelor’s. A couple
more years university, a couple more years
waiting tables. And don’t start feeling too much at
home in that bar, don’t get too used to the city’s
best cappuccino or that shot of liquor after a hard
day’s work. Make sure you don’t start ordering
large beers at two o’clock in the afternoon on your
days off. Don’t waste your life. Once you’ve got
your master’s degree you’ll slide right into a job
(like a hot dog sliding down your throat). You’ll
slip right into your own apartment, your own car.
You’ll have a wonderful three-week vacation every
year. That’s what mommy and daddy say and
they’re the masters of life. They are joy, unaffected by hormone levels, unreachable, joy incarnate.
And you’ll always be their child. Their happy,
joyful child.
Carsten Tabel
Materialistische Vorsehung
*1978 in Friedberg
lebt in Leipzig
*1978 in Friedberg
lives in Leipzig
studierte Fotografie an der Hochschule für
Grafik und Buchkunst Leipzig. 2008 machte er
dort seinen Meisterschülerabschluss bei
Prof. Timm Rautert. Im selben Jahr erhielt er ein
sechsmonatiges Projektstipendium des DAAD
für Australien. Seit 2006 ist er, neben seiner
künstlerischen Arbeit, auch als freier Autor tätig
und veröffentlicht literarische Texte in
Künstlermonografien und Katalogen. 2010
erschien die Textsammlung I‘m not on fire im
Lubok Verlag, Leipzig. 2012 war er mit einem
Atelierstipendium der Hessischen Kulturstiftung
für zwölf Monate in London. Zum Abschluss
dieses Stipendiums erschien 2013 die Publikation
Beautiful Eyes Terrible View.
studied photography at the Academy of Visual
Arts Leipzig. In 2008 he completed the Meisterschule program under Prof. Timm Rautert.
In the same year he was awarded a six-month
project grant in Australia from the German
Academic Exchange Service. Since 2006 he has
also worked as a freelance author, publishing
literary texts in art books and catalogues.
In 2010 Lubok Verlag (Leipzig) released the book
I‘m not on fire. In 2012 he resided in London for
12 months on a studio grant from the Hessische
Kulturstiftung. At the conclusion of the grant in
2013 appeared the publication Beautiful Eyes
Terrible View.
Mark Fisher
Könnte es sein, dass wir die erste Generation sind,
die um einen Glauben an Vorsehung beraubt ist?
Und könnte es sein, dass das Verschwinden dieses
Glaubens eine der Ursachen für jene eigenartige
Melancholie ist, die still, aber beharrlich dem gegenwärtigen Moment seinen Anstrich verleiht? Mit „wir“
meine ich jene Generation, die nicht mehr an den
dialektischen Zusammenhang zwischen der (kommunistischen) Partei und der Geschichte glauben kann,
demzufolge die Partei das Mittel darstellt, durch
welches die Geschichte ihrem notwendigen Weg
zum Kommunismus folgt. Vorsehung bedeutet dabei
nicht göttliche Fürsorge und Voraussicht, sondern
deren Ersetzen durch menschliche Formgebung.
Wer braucht ein gottgegebenes Gefühl von Sinn,
Bestimmung und Führung, wenn es die Partei gibt?
Jodi Dean, die kürzlich über Kommunismus in
den Vereinigten Staaten schrieb, hat bewegend
geschildert, wie die Partei „einigen Amerikanern das
Gefühl gab, dass die Welt eins sei, dass ihre Arbeit
so bedeutungsvoll sei wie die Arbeit einer Klasse,
dass ihre Mühen bedeutsam seien als Teil des globalen Kampfes für die Befreiung kollektiver Arbeit aus
den Fängen derer, die sie für ihren privaten Profit
vereinnahmen. Für notleidende und kaum des Lesens
und Schreibens mächtige Einwanderer ist der
Kommunismus eine Quelle des Wissens und der Kraft
– das Wissen darüber, wie die Welt funktioniert, und
die Kraft, sie zu verändern. Bergarbeiter, Landarbeiter
und jene, die nur mit Mühe genug für die tägliche
Mahlzeit verdienen, tauschen ihre isolierende Unwissenheit gegen eine zivilisierende Verbundenheit.“1
Dieses Zugehörigkeitsgefühl lässt sich nicht auf jene
chauvinistischen Freuden reduzieren, die davon
herrühren, in irgendeine Gruppe eingeweiht zu sein.
Es ist ein spezielles Gefühl der Einbeziehung, das
verspricht, sämtliche Aspekte des Alltagslebens auf
eine Weise umzugestalten, wie es zuvor nur Religion
vermochte, so dass sogar die tristesten Arbeiten mit
großer Bedeutsamkeit erfüllt werden können.
„Selbst jene, die so langweilige, repetitive Arbeiten
ausführen wie das Verteilen von Flugblättern oder
das Rekrutieren neuer Mitglieder nach einem Wechsel
der offiziellen Linie oder das Aufbegehren gegen die
Selbstgefälligkeit der hohen Tiere, erfahren ihr Leben
in der Partei als äußerst bedeutsam.“
Der globale Kampf war zudem ein Kampf um
die Zeit, um die Bedeutung von Geschichte – oder
genauer gesagt: Es war ein Kampf um die Frage,
ob Geschichte überhaupt etwas „bedeutet“ oder ob
sie letztlich nichts anderes ist als eine Abfolge von
zufälligen Fehltritten. Es ist genau diese Wahrnehmung von globalem Schicksal, die Francis Spufford
in seinem außergewöhnlichen Buch Red Plenty
evoziert. Eine von Spuffords sowjetischen Figuren
reflektiert über das „Glück, in dem einzigen Land
der Welt zu leben, in dem die Menschen die Macht
erobert hatten, das Geschehen auf Basis von Vernunft zu gestalten, anstatt die Dinge geschehen zu
lassen, wie sie eben geschahen. Nur hier waren
die Menschen diesem völligen Unsinn entflohen und
zu bewussten Gestaltern der Realität geworden,
anstatt ihre Spielzeuge zu sein.“2
Wenn solche Überzeugungen heute ähnlich bizarr
klingen wie der mittelalterliche Katechismus, dann
ist das ein Symptom für das, was ich kapitalistischen
Realismus genannt habe. Der Sieg des Kapitalismus
über den Sowjetkommunismus versprach, uns von
Illusionen zu erlösen. Befreit von den gefährlichen
ideologischen Sehnsüchten, die der Kommunismus
heraufbeschworen hatte, würden wir uns fortan
darauf einstellen, wie die Dinge wirklich sind. Es
würde keine großen Umgestaltungsprojekte mehr
geben – bestenfalls, so versicherte man uns, waren
solche Projekte gescheitert; schlimmstenfalls waren
sie humanitäre Katastrophen gewaltigen Ausmaßes
gewesen. Anstelle solcher großartiger Veränderungsvisionen würde man uns schlicht unbegrenzte technologische Weiterentwicklungen bieten. Dennoch
waren neue Konsumgüter und -freuden nicht imstande, den Verlust des Zugehörigkeitsgefühls, das der
Kommunismus geboten hatte, auszugleichen. Das
soll nicht bedeuten, dass nur der Kapitalismus neue
reizvolle Konsumprodukte zu offerieren hätte. In Red
Plenty erinnert uns Spufford an den Moment, als
die Sowjets dachten, sie könnten den Kapitalismus in
jeder Hinsicht übertreffen. „Wenn der Kommunismus
den Menschen nicht ein besseres Leben böte als der
Mark Fisher
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Beni Bischof
Sausage Power!, 2011, Lambda-Print lambda print, 93 × 70 cm
Halle 12
Beni Bischof
24
Meta Finger, 2013, Lambda-Print lambda print, 120 × 90 cm
25
Thilo Scheffler/Christin Krause
25
David Horvitz
Sad, Depressed, People, 2012, 8 von 29 Risografien 8 of 29 riso prints, 24 × 17 cm
Halle 12
David Horvitz
26
Halle 12
David Horvitz
27
Stephanie Kiwitt
o. T. (Choco Choco), 2014, Inkjet-Print und Cliché-Print inkjet print and cliché print, Diptychon
diptych, je each 23,8 × 18,9 cm
Halle 12
Stephanie Kiwitt
38
Halle 12
Stephanie Kiwitt
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f/stop Solo:
Erik Kessels
Ort Location: Spinnerei archiv massiv
„ Constructive Shooting“: Soziale und künstlerische
Perspektiven auf das Fotografische im Internetzeitalter
Stefanie Loh, Madoka Yuki
1. My Feet
Im November 2013 wurde das Wort „selfie“ fast
einstimmig vom Oxford English Dictionary zum Word
of the Year 2013 erklärt.1 Nach der Online-Version
des Wörterbuchs wird „selfie“ wie folgt definiert:
„A photograph that one has taken of oneself, typically
one taken with a smartphone or webcam and
uploaded to a social media website.“2 Wir erleben
nicht weniger als einen Paradigmenwechsel: Innerhalb weniger Jahre hat sich in den Industriestaaten
der Besitz und Gebrauch von Mobiltelefonen mit
eingebauter Kamera und Internetzugang im Wortsinn
popularisiert. Die Verbreitung in der Bevölkerung ist
immens. Im Zuge dessen haben sich in einer für
gesellschaftliche Prozesse enormen Geschwindigkeit
Verhaltensweisen herauskristallisiert, die sich auf
bildgestützte Kommunikation beziehen. Man kann mit
den Geräten und Technologien überall etwas um
sich herum „knipsen“ und die Bilder unmittelbar
nach der Aufnahme ins Netz stellen, insbesondere auf
eine eigene Seite von SNS (Social Network Service)Anbietern wie Facebook, Twitter oder Flickr.3 Die
Entwicklung der mobilen digitalen Fototechnik und
der Online-Plattformen machen den Akt des Fotografierens und Foto-Sharings zu einem wesentlichen
Teil des alltäglichen Lebens, für diejenigen, die
teilhaben. Zweifellos ist „Handyfotografie“ oder
„Netzfotografie“ eine neue Kommunikationsform
geworden, die als ein gesellschaftliches Phänomen
sowohl im soziologischen Diskurs als auch in der
Fotogeschichte sowie in der Kultur- und Kunstwissenschaft zunehmend betrachtet wird.
Der niederländische Künstler Erik Kessels
beschäftigt sich mit diesem neuen fotografischen
Akt und montiert in seiner Arbeit My Feet zum
f / stop 6. Festival für Fotografie Leipzig eine Flut
anonym bereitgestellter Aufnahmen von Füßen aus
dem Internet. Die Wandinstallation aus hunderten
von Fußaufnahmen wirkt allein aufgrund der Masse
erschlagend, einzelne Bilder sind jedoch naheliegender bzw. näher am täglichen Leben, als es zunächst
erscheint. Wahrscheinlich haben viele Betrachter
sogar selbst ähnliche Erfahrungen gemacht: im
Urlaub seine eigenen Füße am Strand festzuhalten
oder quasi als Gruppenporträt die Füße von Freunden
zu fotografieren. Kessels zeigt offen seine Befremdung und Bewunderung für die Masse an Bildern,
die unter Verschlagwortungen zum Thema „Füße“
zu finden sind. Im Gegenteil zu Aktivisten wie
Thierry Geoffroy / Colonel verweigert er sich dabei
jedoch eines künstlerischen Kommentars und überlässt den Betrachtern seiner Auswahl die Frage
danach, was solche banalen Bilder der unmittelbaren
eigenen Umgebung darstellen.
Spinnerei archiv massiv
Erik Kessels
53
f/stop Print:
Personal Issues –
Magazinfotografie als
Statement
Ort Location: Halle 14, 2. OG /2
kuratiert von curated by Mario Lombardo
Wie die Leidenschaft mein Leben beherrscht
Mario Lombardo im Gespräch mit
Marie-Sophie Müller
Harte Arbeit, eiserne Disziplin, Mut und das kleine
Fünkchen Glück – was führt uns zur Perfektion?
Das Leben ist ein unaufhörliches Streben nach
dem persönlichen Glückszustand, der Weg dorthin
oftmals Tyrannei.
Kurator Mario Lombardo bringt sie erstmals
zusammen, eine einmalige Fotografenkonstellation
aus den vier Talenten Daniel Josefsohn, Hanna Putz,
Daniel Sannwald und Jonas Unger. Ein Ensemble,
das von Kontrasten und dem Zusammenspiel lebt.
Mit seiner Vertrauten und langjährigen Kollegin,
Redakteurin Marie-Sophie Müller, unterhält sich der
renommierte Gestalter über seine Liebe zu Magazinen
und die gezielte Auswahl der vier Fotografen …
Halle 14, 2. OG / 2
Mario Lombardo
69
„Bei keinem Fotografen wirst du als Chefredakteur so sehr belohnt für lange Leinen
und großes Vertrauen.“ ”No photographer
rewards an editor-in-chief like he does
for their complete trust and confidence.“
„Seine Arbeit wurde im Laufe der Jahre immer konsequenter – vom Punk-Rock zur
durchdachten Erzählweise. Unvergleichbar
und einzigartig. Daniel Josefsohn ist einer
der wenigen, der die inszenierte PorträtTimm Klotzek, Chefredakteur Editor-in-chief Süddeutsche Zeitung Magazin
fotografie beherrscht.“ ”Over the years
his work became more and more con„Mach einfach, was du magst, lieber Daniel.“ sistent — from punk rock to carefully
”Daniel, my friend, just do whatever you planned narration. Unrivaled, one-of-a-kind.
want.“
Timm Klotzek, Chefredakteur Editor-in-chief Süddeutsche Zeitung Magazin
Daniel Josefsohn, Lieber Helmut, lieber Daniel, ich wollte auch mal mit der
Eisenbahn spielen, Der Kunstverein Hamburg, 2010
Daniel Josefsohn, Hello Kitty, ZEITmagazin, 2014
„Das schöne alte Wort ,Herzblut’, es wurde
für Josefsohn erfunden und er erfüllt es
stets aufs Neue mit wunderbarem Leben.“ Daniel Josefsohn is one of very few to have
“The beautiful old word ’passion‘ – it was mastered the art of staged photography.“
coined for Josefsohn and he is ever embody- Mirko Borsche, Creative Director DIE ZEIT und and ZEITmagazin
ing it in new ways with wonderful life.“
Daniel Josefsohn, Guns and Moses, Jerusalem, DUMMY, 2005
Timm Klotzek, Chefredakteur Editor-in-chief Süddeutsche Zeitung Magazin
Halle 14, 2. OG / 2
Daniel Josefsohn
78
Halle 14, 2. OG / 2
Daniel Josefsohn
79
f/stop Insert: HGB 250
Roe Ethridge
Ort Location: Halle 14, 2. OG /1
Sacrifice Your Body
Regine Ehleiter
Roe Ethridge (*1969), der in einem Vorort von Miami
im sonnigen US-Bundesstaat Florida aufgewachsen
ist, war noch ein Teenager, als Street Heat gerade
ihren neuen Electronica-Song Sacrifice Your Body
(1988) auf LP veröffentlichten. Auf dem Cover der
12-Inch-Platte sind zwei Frauen in verführerischer
Pose einander zugewandt. Über ihren Köpfen prangt
rot der einprägsame Songtitel. Leicht variiert hat
dieser Schriftzug nun seinen Weg auf das Cover von
Roe Ethridges gleichnamigem neuen Künstlerbuch
gefunden.1 Auf einem Einband in weißer Lederhaptik
leuchten die drei Wörter in einem schillernden
Neongrün. Ethridge fühlt sich durch den retrofuturistischen Look an Surfposter der 1980 er-Jahre erinnert,
die damals in seinem Zimmer hingen.2 Der Spruch ist
ihm als Zuruf der Mütter im Gedächtnis geblieben,
die während seiner Zeit in der High School vom
Spielfeldrand immer wieder „Sacrifice Your Body!“
riefen.3
Die Rückkehr zu den Orten seiner Kindheit und
Jugend bildet den Ausgangspunkt für einen Großteil
der im Buch veröffentlichten Fotografien. Dafür
ist Ethridge im Sommer 2011 von New York nach
Belle Glade gereist, einer Kleinstadt in Palm Beach,
nordwestlich von Miami. Es ist die Stadt, in der seine
Mutter aufgewachsen ist. Hier haben sich seine Eltern
kennengelernt, als sie 12 und 13 Jahre alt waren.4
In der ersten Hälfte des Buches, die seine Reise nach
Belle Glade dokumentiert, taucht auf den Bildern
immer wieder ein blendend weißer Durango SUV
auf, der sich entlang grüner Zuckerrohrplantagen auf
einer unbefestigten Straße seinen Weg in die Kleinstadt bahnt und sich dort auf einem von Palmen
umsäumten Parkplatz in den dunklen Fassadenfenstern der Bank of Belle Glade spiegelt. Im Inneren des
Gebäudes wartet niemand an den labyrinthisch
aufgebauten Schranken auf den nächsten frei werdenden Schalter. Die Bank ist leer. Er fotografiert eine
junge hispanische Mitarbeiterin, die auf ihrem
Schreibtisch ein kleines Schild aufgestellt hat. Darauf
steht: „I Took A Pain Pill – Why Are You Still Here?“
(Ich habe eine Schmerztablette geschluckt − Warum
bist du noch hier?) Im weiteren Verlauf des Buches
setzt Ethridge seine Erkundung von Belle Glade in der
Dämmerung am Pier fort. Ein im Kamerablitz grell
aufscheinendes Warnschild sabotiert die Idylle der
Sonnenuntergangsszenerie. Angesprochen auf die
kleinen Störelemente, die in seinen Arbeiten immer
wieder auftauchen, betont Ethridge die Bedeutung,
die er Fehlern und Zufällen bei der Entstehung seiner
Fotografien beimisst: „Ich liebe die Fehler. So was
reißt dich zurück in die Wirklichkeit – es hat irgendwie
mit dem Kampf zwischen Künstlichkeit und Authentizität zu tun.“ 5
Halle 14, 2. OG /1
Roe Ethridge
95
Flounder (Big), 2013, C-Print, 115, 9 × 87, 9 cm
Halle 14, 2. OG /1
Roe Ethridge
106
Flounder, 2013, C-Print, 115,9 × 87,9 cm
Halle 14, 2. OG /1
Roe Ethridge
107
f/stop Plattform
Ort Location: Halle 14, 3. OG
kuratiert von curated by Prof. Beate Gütschow und and Wiebke Elzel,
Kunsthochschule für Medien Köln Academy of Media Arts Cologne,
Prof. Christopher Williams, Kunstakademie Düsseldorf Academy of Arts
Düsseldorf, Prof. Peter Piller und and Susanne Huth, Hochschule für Grafik und
Buchkunst Leipzig Academy of Visual Arts Leipzig sowie ihren Studierenden
und Meisterschülern as well as their students and Meisterschule students
Kunsthochschule für Medien Köln
Kunst und Leistung
Beate Gütschow
Als die Ausstellung based in Berlin 2011 stattfand,
gab es in der Berliner Kunstszene lang anhaltende
Proteste: Die von den Veranstaltern selbst als
Leistungsschau bezeichnete Ausstellung stellte einige
wenige „emerging artists“ – so die Wortwahl der
offiziellen Webseite zur Ausstellung – Berlins vor.
Dabei verschlang die Schau einen gewaltigen Etat,
während die kontinuierlich arbeitenden Ausstellungsinstitutionen der Stadt seit Jahren prekär ausgestattet
sind. In einem offenen Brief schreiben die Initiatoren
des Protestes „Haben und Brauchen“: „Mit dem Wort
‚Leistungsschau’ wird die neoliberale Rhetorik von
Effizienz und Leistungsfähigkeit auch auf die Kunst
angewendet und suggeriert eine Objektivier- und
Messbarkeit der Qualität künstlerischer Produktion.“1
Auch die Ausstellung Made in Germany, die
wie based in Berlin ohne thematische Klammer junge
künstlerische Positionen unter dem Gesichtspunkt
des Produktionsstandortes versammelte, rief schon in
ihrer ersten Ausgabe 2007 kritische Reaktionen
hervor. Die Bezeichnung „Made in Germany“ und das
dazugehörige Barcode-Emblem schien direkt einer
normierten Warenwelt entnommen.
Beschäftigt man sich näher mit den oben genannten
Ausstellungen, ändert sich die Perspektive: Für
die Ausstellung based in Berlin gab es ein offenes,
durchaus ungewöhnliches Auswahlverfahren: alle
KünstlerInnen der Stadt waren eingeladen, Mappen
einzureichen. So sollte das sonst so wirkungsvolle
Netzwerk einiger weniger GaleristInnen und
VermittlerInnen umgangen werden. Im Katalog zur
ersten Made in Germany-Ausstellung ist in einem
reflektiertem Vorwort zu lesen: „Auch wissen wir
um die Gefahr, die Rankings strukturell innewohnt.
Es kann deshalb nicht oft genug betont werden,
dass die Auswahl, die wir für Made in Germany
getroffen haben, selbstverständlich keinen Anspruch
auf Vollständigkeit oder gar Endgültigkeit erhebt.“2
Weshalb entstehen solch heftige Reaktionen,
bisweilen Rechtfertigungen, sobald Kunst und Leistung in Zusammenhang gebracht werden? Vielleicht
lohnt es sich, auf die Arbeit an den Kunsthochschulen
zu schauen. In der Abschlussprüfung, dem Diplom,
wird die „künstlerische Leistung“ benotet und dies in
einer Ausdifferenzierung, die bis hinter das Komma
reicht. Dieser sonderbare Vorgang steht in deutlichem
Gegensatz zum Kunststudium selbst, in dem nur
einige wenige Leistungsnachweise erbracht werden
müssen. Künstlerische Ausbildung ist ein nicht
fass- oder definierbarer Vorgang. Sie besteht nicht
in der Vermittlung von Wissen oder Können, sondern
eher in einer in dieser Zeit produzierten Intensität,
einer künstlerischen Reflexionsfähigkeit, der sich
ästhetisches Handeln anschließt.
Halle 14, 3. OG
Kunsthochschule für Medien, Köln
111
Philipp Rühr
No Water, No Snacks, No Naps
*1986 in Brühl
lebt in Düsseldorf
*1986 in Brühl
lives in Düsseldorf
Seit 2007 Studium an der Kunstakademie
Düsseldorf, Klasse Prof. Christopher Williams
Since 2007: Student at the Academy of Arts
Düsseldorf in the class of Prof. Christopher Williams
Morgaine Schäfer
Auszug aus dem E-Mail-Verteiler der Klasse von Prof. Christopher Williams (S.127–131) excerpts from an email exchange between students of the class of
Prof. Christopher Williams (p. 127–131)
*1989 in Wolfsburg
lebt in Düsseldorf
*1989 in Wolfsburg
lives in Düsseldorf
Seit 2010 Studium an der Kunstakademie
Düsseldorf, Klasse Prof. Christopher Williams
Since 2010: Student at the Academy of Arts
Düsseldorf in the class of Prof. Christopher Williams
Georgi Stanchev
*1987 in Shumen, BG
lebt in Köln
*1987 in Shumen, BG
lives in Cologne
Seit 2006 Studium an der Kunstakademie
Düsseldorf, Klasse Prof. Christopher Williams
Since 2006: Student at Academy of Arts
Düsseldorf in the class of Prof. Christopher Williams
Stanton Taylor
*1990 in Port of Spain, TT
lebt in Köln
*1990 in Port of Spain, TT
lives in Cologne
Seit 2010 Studium an der Kunstakademie
Düsseldorf, Klasse Prof. Christopher Williams
Since 2010: Student at Academy of Arts Düsseldorf
in the class of Prof. Christopher Williams
Isaiah Yehros
Digitale Fotocollage digital photo collage, Beitrag von submitted by Tobias Hohn
*1991 in Los Angeles, US
lebt in Düsseldorf
*1991 in Los Angeles, US
lives in Düsseldorf
Von 2009–2014 Studium an der Sam Fox
School of the Arts der Washington University in
St. Louis, US
Seit 2014 Studium an der Kunstakademie
Düsseldorf, Klasse Prof. Christopher Williams Klasse
Prof. Christopher Williams
2009–2014: Student at Sam Fox School of the Arts
at Washington University in St. Louis, US
Since 2014: Student at Academy of Arts
Düsseldorf in the class of Prof. Christopher Williams
Halle 14, 3. OG
Kunstakademie Düsseldorf
126
Halle 14, 3. OG
Kunstakademie Düsseldorf
127
Latenz
Charlotte Urbanek, Flause ORG, 2014, Laserdrucke, Acrylfarbe, Linoldruck, Tintenstrahldrucke, Filzstift, Tinte und Klebebänder
auf Polyester-Jute-Unterlage laser prints, acrylic paint, linoleum print, inkjet prints, marker, ink and adhesive tapes on polyester
and jute fabric background, 198 × 89 cm
Halle 14, 3. OG
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
138
Edgar Leciejewski, Matthias, 2013, Farbfotografie mit Sandpapier gekratzt, Alu-Dibond, Baumwolle, Polyester, Ölfarbe, Holz,
Museumsglas colour photography scratched with sanding paper, alu dibond, polyester, oil paint, wood, museum glas,
139 × 109 × 5 cm
Halle 14, 3. OG
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
139
Hayahisa Tomiyasu, aus der Serie from the series Genitalien, 2011, Piezzo-Print, 16 × 12 cm
Halle 14, 3. OG
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
140
Halle 14, 3. OG
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
141