Komplette Arbeit (Theorie, Methodologie, Analyse, Bibliographie)

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Komplette Arbeit (Theorie, Methodologie, Analyse, Bibliographie)
Bachelorarbeit: Das „Quartier Barbès“ – Produktion und Verhandlung von Raum
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
S. 3
1. Raumkonzepte
S. 5
1.1. Raumdenken in scales
S. 5
1.2. Der geformte Raum
S. 7
1.3. Der praktizierte Raum
S. 12
1.4. Mediale Raumeinflüsse und imaginäre Räume
S. 16
1.5. Der soziale und symbolische Raum
S. 20
1.6. Städtische Eigenlogik
S. 23
2. Bestimmung und Beschreibung des Analyseraumes
S. 27
2.1. Namen und Grenzen
S. 27
2.2. Geografische Lage und bauliche Struktur
S. 30
2.3. Soziale Struktur und Immigration
S. 34
2.4. Ökonomie des Raumes und Raumfunktionen
S. 37
3. Analyse des Quartiers Barbès anhand von Fallbeispielen
S. 42
3.1. Intention und Methode
S. 42
3.2. Raumstruktur
S. 46
3.2.1. Akteure der baulichen Raumgestaltung
S. 46
3.2.2. Grenzelemente
S. 47
3.2.3. Gestaltung der Boulevards und Funktion des Mittelstreifens
S. 48
3.2.4. Lage und Umgebung der Metrostationen
S. 49
3.2.5. Geschäfte und Sehenswürdigkeiten als Landmarken
S. 50
3.2.6. Trennung der Verkehrswege und Schutzmaßnahmen
S. 50
3.2.7. Der Hügel Montmartre als Strukturierungselement
S. 51
3.2.8. Architektur und Fassaden als Kontrastelemente
S. 51
3.2.9. Gestaltung der Eingänge der Metrostationen
S. 53
3.2.10. Heterotopien
S. 54
3.3. Raumaneignung durch Raumteilnehmer
3.3.1. Raumumwertung
S. 57
S. 57
1
3.3.2. Spontane interpersonelle Raumkonstruktion
S. 59
3.3.3. Umgang mit Machtstrukturen im Raum
S. 62
3.3.4. Raumrhythmen
S. 63
3.3.5. Körperverhalten der Raumteilnehmer
S. 64
3.4. Bedeutungsräume
S. 66
3.4.1. Disneyland
S. 67
3.4.2. Der hyperreale Raum
S. 70
3.4.3. Raum als Medium und Medien im Raum
S. 71
3.4.4. Revolutions- und Gefahrenraum
S. 72
3.4.5. Der Raum als Medium politischen Diskurses
S. 74
3.4.6. Das US-amerikanische Ghetto
S. 75
3.4.7. Der ethnisch-interkulturelle Raum
S. 76
3.4.8. Der Raum der Fremdheit und Differenz
S. 82
3.4.9. Raum- und Bedeutungsverschiebungen
S. 84
4. Fazit: zwischen Bedeutungsüberschuss und Kohärenzmikrokosmen
S. 88
Bibliographie
S. 94
Anhang:
S. 97
1. Daten-CD mit Foto- und Videomaterial aus dem Analyseraum
S. 97
2. Ergänzungen zum Videomaterial
S. 98
3. Karte des Quartiers Barbès
S. 100
4. Karte der Arrondissements von Paris
S. 101
5. Karte der Quartiers des 18. Arrondissements
S. 102
6. Metroplan von Paris
S. 103
2
Einleitung:
„Jede Gesellschaft [...] produziert ihren eigenen Raum. Die antike Polis lässt sich
nicht als eine Ansammlung von Menschen und Dingen im Raum verstehen, sie lässt
sich ebenso wenig von einer bestimmten Anzahl von Texten und Reden über den
Raum her begreifen, wenn auch manche dieser Texte [...] dazu unersetzliche
Kenntnisse beisteuern. Die Polis hatte ihre Raumpraxis, sie hat ihren eigenen Raum
geschaffen, d.h. ihn angeeignet. Daher rührt die neue Aufgabe, diesen Raum so zu
untersuchen, dass er als solcher erscheint, in seiner Genese und seiner Form, mit
seiner spezifischen Zeit bzw. seinen Zeiten (die Rhythmen des Alltagslebens), mit
seinen Zentren und seinem Nebeneinander vieler Zentren (die Agora, der Tempel,
das Stadion usw.).“ 1
In seinem Werk „Die Produktion des Raums“ spricht sich Henri Lefebvre für eine
transdisziplinäre Untersuchung von Raum aus. Entscheidend dabei ist seine Feststellung,
dass Raum nicht einfach existiert, sondern aus der Praxis, der Bewegung, entsteht.
„It is not an existing, God-given space, the Cartesian space of numerical division,
but an unfolding space, defined, as time is, by the arc of movement and thus a space
open to becoming, by which I mean becoming other than itself, other than what it
has been.“ 2
Die Praxis der Produktion von Raum ist dabei über verschiedenste Arten von Medien,
insbesondere jedoch durch Körper und Bilder, vermittelt.
Genau diese Interrelation zwischen Raum, Medium und Bewegung soll Thema dieser
Arbeit sein. Die Frage, inwiefern Raum über das Symbolische sowie das Performative
konstruiert und verhandelt wird, soll anhand eines Beispielraumes, dem Quartier Barbès in
Paris, erörtert werden.
Die Arbeit stellt sich bewusst nicht in die Tradition einer spezifischen Disziplin, sondern
versucht, kultur- und medienwissenschaftliche Ansätze mit sozialwissenschaftlichen,
ethnologischen und anthropologischen Ansätzen zu kombinieren. Die verschiedenen
Ansätze vereint jedoch eine kultursemiotische Perspektive.
Ziel ist es nicht, das Quartier Barbès in seiner Ganzheit zu verstehen oder eine Art
„Wesensbeschreibung“ des Raumes zu formulieren, denn gerade eine solche Beschreibung
würde die ständige Dynamik der Produktion und Reproduktion von Raum („a space open
to becoming“ 3 ) ignorieren.
Es soll vielmehr zunächst theoretisch dargestellt werden, wie über Medien (Medien im
weiteren Sinne) Räumlichkeiten produziert und mit einer spezifischen Eigenlogik versehen
1
Lefebvre, Henri: Die Produktion des Raums, in: Dünne, Jörg (2007): Raumtheorie. Grundlagentexte aus
Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 331
2
Grosz, Elisabeth: Architecture from the outside: essays on virtual and real space, Massachusetts Institute of
Technology, 2001, S. 118
3
Vgl. ebd.
3
werden können, um dann die verschiedenen Konzepte der Produktion und Verhandlung
von Raum an einem spezifischen, in seiner räumlichen Beschaffenheit sehr vielseitigen
Raum zu überprüfen.
Es wird an dieser Stelle bewusst von „Räumlichkeiten“ gesprochen, um zu verdeutlichen,
dass von einem bestimmten physischen Raum ausgehend Räume in verschiedenen
Dimensionen bzw. verschiedene „Raumarten“ produziert werden können.
Im Laufe der Arbeit wird jedoch vereinfachender Weise von „Räumen“ gesprochen.
Hingegen wird durchgängig der Begriff „Raumteilnehmer“ verwendet, um einerseits zu
vermeiden von Anwohnern zu sprechen, denn gerade der Analyseraum wird zu 80 % von
Menschen frequentiert, die diesen Raum aus anderen Gründen besuchen, nutzen und
aneignen.
Außerdem soll durch das Wort „Teilnehmer“ darauf aufmerksam gemacht werden, dass
Raum und Mensch in einer wechselseitigen Beziehung stehen und sich gegenseitig
beeinflussen.
Ideal wäre es, wenn durch die Analyse des Quartiers Barbès bestehende Raumtheorien
nicht nur überprüft, sondern auch veranschaulicht werden könnten.
Zu diesem Zweck wurde auch Bild- und Videomaterial zu diesem Raum erstellt, welches
sich im Anhang befindet.
Darüber hinaus wäre es wünschenswert, wenn im Rahmen dieser Arbeit einige neue oder
die bestehenden Konzepte erweiternde raumtheoretische Thesen entstehen könnten.
4
1. Raumkonzepte:
Um sich dem Thema Raum anzunähern, sollen im Folgenden einige Raumkonzepte
zusammenfassend vorgestellt werden. Zum einen werden räumliche Termini wie Raum,
Ort, Position oder Stelle durch diese Konzepte erörtert, zum anderen werden Vorstellungen
zum Stadtraum im Speziellen präsentiert.
Durch die folgende Konzeptualisierung wird eine theoretische Trennung verschiedener
„Räumlichkeiten“ vorgenommen. Es sollte jedoch im Auge behalten werden, dass diese
„Räumlichkeiten“ im Realen einen einzigen Raum bilden und sich überlagern bzw.
zusammenwirken.
Insbesondere die generelle Verflochtenheit von Raum mit Medien und Bildern bzw. dem
Symbolischen, mit „dem Sozialen“ sowie mit menschlicher Bewegung und Interaktion
(Performativität) soll durch diese Konzepte herausgestellt werden.
1.1. Raumdenken in scales:
In ihrem Werk „Soziologie der Städte“ 4 schlägt Martina Löw eine neue, flexiblere
Dimensionierung von Räumen vor. Anstatt Räume insbesondere in die Größenordnungen
„global“, „national“ und „lokal“ zu denken, spricht sie sich für das Modell der so
genannten scales aus.
Obwohl später gezeigt werden soll, dass Michel de Certeau mit seinem Konzept von
Räumen (espaces) und Orten (lieux) bereits ein ähnliches Konzept nahe legte, soll zunächst
angenommen werden, dass es sich bei scales um „neue räumliche Formate“ 5 handelt. Ein
Denken in scales zeichnet sich dadurch aus, dass Raum weder nach dem euklidischen
Modell als ein den Menschen umgebender physischer „Container“ konzipiert, noch als
„Produkt politisch-ökonomischer Prozesse“ 6 verstanden wird. Vielmehr wird Raum als
„Medium und Vorraussetzung von Interaktion“ begriffen. 7
Als Medium trägt und vermittelt der Raum also menschliche Interaktion. Anders als ein
Container ist er dieser Interaktion gegenüber allerdings nicht neutral, sondern entsprechend
Marshall McLuhans Ausspruch „The medium is the message“ hat er zudem eine starke
Wirkung auf die Interaktion sowie die interagierenden Personen. 8
4
Löw, Martina (2008): Soziologie der Städte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Vgl. ebd., S. 130 f.
6
Ebd., S. 136
7
Vgl. ebd., S. 132
8
Vgl. McLuhan, Marshall; Gordon, W. Terrence; MacLuhan, Eric (2005): The medium is the message. Corte
Madera, Calif.: Gingko Press.
5
5
Ebenfalls zeichnet sich ein Denken in scales dadurch aus, dass Räume keine
„vorgegebenen territorialen Einheiten“ 9 mehr darstellen, sondern „Territorialisierung als
Herstellungsprozess
(Globalisierung,
Nationalisierung,
Regionalisierung,
Urbanisierung)“ 10 begriffen wird. Räumlichen Dimensionen das Suffix „ierung“
anzuhängen, weist darauf hin, dass Räume nicht als naturgegeben betrachtet werden
sollten, sondern von Menschen in ihrer jeweiligen (lokalen, urbanen, supranationalen...)
Spezifizität konstruiert und mit Bedeutung belegt werden.
Eine derart aktionsbestimmte, flexible Vorstellung von Raum ermöglicht es, vielfältige
Dimensionen von Raum zu behaupten. Raum kann vom Globalen oder Supranationalen
zum Körperlichen herunter gebrochen werden, denn auch auf dieser Mikroebene agiert der
Raum als Medium.
Der Forschungsgegenstand Raum kann demnach beliebig „skaliert“ werden.
Dabei ist es ebenso wichtig zu bemerken, dass jeder scale nur Sinn macht, da er in
Differenz zu anderen scales steht (lokal zu national zu global etc.). Das System der scales
ist also relational.
Dieses Prinzip einer relationalen Skalierung soll später auch auf den Analyseraum, das
„Quartier Barbès“, angewendet werden. Auch die folgenden Konzepte von Raum sind
nicht miteinander vereinbar,ohne die Annahme zu Grunde zu legen, dass Raum
mehrdimensional ist und sich in mehreren Größenordnungen (scales) konstituiert.
Jedoch soll dieses Konzept nicht dazu verleiten einzelne skalierte Räume als ausschließlich
eine Raumdimension herstellend bzw. vermittelnd anzusehen. Wenn beispielsweise die
Stadt als ein scale behandelt wird, so ist klar, dass dieser Raum wiederum viele andere
scales enthält und auf andere scales referiert. So kann jeder Ort in einer Stadt (also
grundsätzlich lokaler scale) als eine „Art des Zusammentreffens von Lokalem und
Globalem“ 11 begriffen werden. Ebenso enthalten Orte Referenzen auf andere Räume bzw.
scales. Sie eröffnen diese sogar. Auf diese Zusammenhänge soll jedoch im Folgenden, bei
der Behandlung von medialen und imaginären Räumen noch näher eingegangen werden.
In diesem Abschnitt sollte prinzipiell nur verdeutlicht werden, dass Raum von der Makrozur Mikroebene hin beliebig skaliert werden kann und dass sich die dabei resultierenden
einzelnen scales gegenseitig sowohl bedingen als auch überlagern können.
9
Löw, Martina (2008): Soziologie der Städte. Frankfurt am Main: Suhrkamp., S. 131
Ebd., S. 132, Hervorhebungen durch den Autor
11
Ebd., S. 135
10
6
1.2. Der geformte Raum:
Der US-amerikanische Stadtplaner Kevin Lynch stellt in seinem Werk „The image of the
city“ einige Grundannahmen zum Verhältnis zwischen Mensch und gebautem Stadtraum
an. Er konzentriert sich dabei ausschließlich auf den Stadtraum, der von Stadtplanern und
Architekten konzipiert wird. Dabei interessiert ihn vor allem die visuell erfahrbare Form
des öffentlichen Stadtraumes.
Er geht von einem anthropologischen Grundverhältnis zwischen Mensch und seiner
Umwelt aus. Insbesondere ethnographische Forschung habe seiner Auffassung nach
herausgestellt, dass Völker ein intensives Verhältnis zum Raum haben. Sie strukturieren
ihren Lebensraum sinnhaft und produzieren so Bedeutung anhand der sie umgebenden
Raumeigenschaften und –Elemente.
„At other times, distinguishing and patterning the environment may be a basis for
the ordering of knowledge. Rattray speaks with great admiration of the Ashanti
medicine men who strove to know every plant, animal, and insect in their forests by
name, and to understand the spiritual properties of each. They were able to “read”
their forests as a complex and ever-unfolding document.” 12
Die Strukturierung der eigenen Umwelt gibt Orientierung und ein Gefühl der Sicherheit
durch geographische Verortung.
Aus diesem Grunde haben Menschen eine Reihe von geographischen Referenzsystemen
wie Himmelsrichtungen oder Astronomie erfunden.
Ebenso organisiert die Raumstruktur menschliche Tätigkeit auf mehrerlei Ebenen.
„The environmental image may go further, and act as an organizer of activity.“ 13
Lynch betont mehrmals die Bedeutung von geographischer Orientierung für den
menschlichen Alltag.
Die Stadt versteht er als einen vom Menschen gebauten Lebensraum, der seinen
Raumteilnehmern eine möglichst gute Orientierungsstruktur bieten sollte. Eine gute
Orientierung ist immer dann gegeben, wenn der Raumteilnehmer aus dem gebauten und
visuell erfahrbaren Stadtbild ein mentales Bild konstruieren kann. Ein solches mentales
Bild ist dann realisierbar, wenn der Raumteilnehmer zum einen sich gut an den Raum und
seine Struktur erinnern sowie zum anderen individuelle Assoziationen daran knüpfen kann.
Die Fähigkeit eines Raumes seinem Beobachter die Möglichkeit zu bieten, ein mentales
Bild daraus zu konstruieren, nennt Lynch Bildfähigkeit (imageability). 14
12
Lynch, Kevin (1996): The image of the city. 24. print. Cambridge, MA, London: M.I.T. Press., S. 126
Ebd., S. 126
14
Vgl. ebd., S. 9
13
7
Mit der Bildfähigkeit eines Raumes verschränkt und ebenso wichtig ist dessen Lesbarkeit
(legibility). 15 Der Raum sollte sich für seinen Beobachter wie ein Text erschließen, mit
dessen Wörtern und Zeichen er eine bestimmte Bedeutung und Orientierung generieren
kann.
Um in seiner Text- und Bildhaftigkeit für den Raumteilnehmer nutzbar zu sein, muss er
sich der Funktionsweise der menschlichen Wahrnehmung anpassen.
„Structuring and identifying the environment as a vital ability among all mobile
animals. Many kinds of cues are used: the visual sensations of color, shape, motion,
or polarization of light, as well as other senses such as smell, sound, touch,
kinesthesia, sense of gravity, and perhaps of electric or magnetic fields.” 16
Außerdem betont Lynch die Interaktivität und Wechselseitigkeit der Konstruktion eines
Raumbildes.
„The creation of the environmental image is a two-way process between observer
and observed.“ 17
Die Bildfähigkeit und Lesbarkeit eines Raumes hängt zentral von seinen strukturierenden
Elementen ab. Lynch unterscheidet fünf Hauptstrukturelemente des Stadtraumes: Wege
(paths), Grenzen bzw. Kanten (edges), Viertel (districts), Knotenpunkte (nodes) und
Landmarken (landmarks).
Wege (oder Straßen) sind für die meisten Raumteilnehmer das wichtigste Strukturelement
des Stadtraumes. Entlang dieser linearen Strukturen sind andere Elemente gruppiert.
Darüber hinaus setzen sich diese Elemente und Objekte entlang der Wege zueinander in
Beziehung. Wege erhalten eine gewisse Kontinuität durch eine einheitliche oder ähnliche
Bauweise der anliegenden Gebäude, durch eine einheitliche Pflasterung sowie durch
Pflanzen oder Objekte, die entlang der Wege angesiedelt sind. Ebenso seien Wege oft
durch deren Endpunkte charakterisiert, was sich häufig schon in Straßennamen
wiederspiegelt.
Grenzen sind ebenfalls lineare Elemente, die entweder Brüche in der Kontinuität anderer
Elemente (Wege, Viertel) darstellen oder auf andere Weise Grenzsetzungen zwischen
Elementen produzieren. So können beispielsweise höher gelegte Bahnstationen oder
andere Arten von Unterführungen Grenzen und Kanten in ein Stadtbild setzen.
Viertel sind typische stadtorganisierende Elemente. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass
sie sich aus der Vogelperspektive betrachtet zweidimensional über den Stadtraum hin
15
Vgl. ebd., S. 2
Ebd., S. 3
17
Ebd. S
16
8
ausdehnen. Ebenso besteht ihre zentrale Eigenschaft darin, Raumteilnehmer ein- und
ausschließen zu können. Bei Vierteln gibt es immer ein „Innen“ und ein „Außen“. Lynch
erwähnt, da er sich in seinem Werk wie bereits erwähnt auf die Form der Stadt
konzentriert, nur am Rande, dass Vierteln gerne ein allgemeiner, identifizierender
Charakter zugeschrieben wird. Sie sind Bedeutungsräume und enthalten oft eine
thematische Konzentration (Wohnviertel, Geschäftsviertel, Finanzviertel etc.).
Bei den hauptsächlich physischen Eigenschaften, die ein Viertel von einem anderen Viertel
unterscheiden, zählt er verschiedenste Faktoren auf.
„The physical characteristics that determine districts are thematic continuities,
which may consist of an endless variety of components: texture, space, form, detail,
symbol, building type, use, activity, inhabitants, degree of maintenance,
topography.“ 18
Bestimmt können einige dieser distinktiven Eigenschaften auch auf Strukturelemente wie
Wege oder Knotenpunkte bezogen werden.
Knotenpunkte bezeichnet Lynch als „strategic spots“ 19 . An diesen sammeln sich bestimmte
Elemente oder laufen zusammen. Kreuzungen oder Stationen, die ein Umsteigen zwischen
verschiedenen Verkehrsmitteln ermöglichen sind Knotenpunkte. Ebenso können
Übergangspunkte von einer Struktur zu einer anderen genauso wie Konzentrationen
bestimmter Raumnutzungen oder physischer Raumeigenschaften Knotenpunkte darstellen.
Knotenpunkte zeichnen sich des Weiteren dadurch aus, dass sich manchmal eine Art
kleineres Viertel um sie herum konstituiert. Somit sind Knotenpunkte Anziehungspunkte
für Konzentrationen.
Landmarken sind Referenzobjekte in einem Raum, welche sich anders als Knotenpunkte
dadurch auszeichnen, dass der Raumteilnehmer sie nicht betreten kann. Sie bleiben immer
extern. In einigen Fällen sind Landmarken bereits aus der Distanz visierbar (Berge, hohe
Gebäude, Säulen etc.). Auf diese Weise bieten sie bereits aus der Ferne geografische
Orientierung. Ebenfalls haben Landmarken oft eine historische Bedeutung (Denkmäler,
Siegessäulen etc.) und sind mit weiteren Zeichensystemen wie Texten, Symbolen, Bildern
versehen. Allerdings können auch Elemente wie Bäume oder bestimmte Geschäfte als
Landmarken fungieren, wenn sie aus einem bestimmten Grund hervorstechen und als
Orientierungspunkt fungieren.
18
19
Ebd., S. 67
Vgl. ebd., S. 47
9
Landmarken können sich in einem räumlichen System sowohl gegenseitig Beachtung
verschaffen als auch Beachtung nehmen. Das visuelle Zusammenwirken verschiedener
Landmarken kann sich sehr unterschiedlich gestalten.
Die verschiedenen Strukturelemente sind in ihrer Wirkung in hohem Grade
kontextabhängig. So spielt insbesondere die Interdependenz zwischen den einzelnen
Strukturelementen eine entscheidende Rolle:
„All these elements operate together, in a context. It would be interesting to study
the characteristics of various pairings: landmark-region, node-path, etc. Eventually,
one should try to go beyond such pairings to consider total patterns.” 20
Ein Strukturelement ist immer sowohl durch seine eigenen Eigenschaften als auch durch
seine Beziehung zu anderen Elementen charakterisiert.
Die Nähe eines Elements zu einem anderen ist in hohem Maße charakterisierend.
Darüber hinaus ist es wichtig sich vor Augen zu halten, dass sich die einzelnen
Strukturelemente gegenseitig physisch formen. Viertel erhalten ihren Umriss im
wechselseitigen Zusammenspiel mit den umliegenden Vierteln. Eine Straße wird durch die
sich auf ihr oder ihr entlang befindenden Landmarken, Grenzen und Knotenpunkte
geprägt.
Solche Ansammlungen von Strukturelementen können Lynch zufolge im Falle eines
stimmigen Zusammenwirkens Komplexe bilden.
Er stellt die These auf, dass ein gutes Zusammenspiel der einzelnen Strukturelemente die
Bildfähigkeit sowie die Lesbarkeit des Gesamtraumes verbessere. Ebenso sei die visuelle
Qualität bzw. die Formqualität der einzelnen Strukturelemente bedeutsam.
Ein gut lesbares Zusammenspiel zwischen Strukturelementen sei beispielsweise dann
gegeben, wenn sich die einzelnen Elemente oder die Elemente, die zusammen einen
Komplex bilden, deutlich voneinander differenzieren lassen. Visuelle Kontraste zwischen
den Elementen und Komplexen erhöhen somit die Bildfähigkeit des Gesamtraumes.
Lynch zählt zehn Qualitätsmerkmale auf, anhand derer sich die Formqualität der Elemente
und ihres Zusammenwirkens bewerten lasse: Singularität (singularity), Form-Simplizität
(form-simplicity), Kontinuität (continuity), Dominanz (dominance), Anschlussklarheit
(clarity of joint), Direktionale Differenzierung (directional differentiation), Visueller
Wirkungsbereich (visual scope), Bewegungsbewusstsein (motion awareness), Zeitserien
(time series) sowie Namen und Bedeutungen (names and meanings).
20
Ebd. S.84
10
Ein Element weist eine hohe Singularität auf, wenn seine Oberfläche, Form, Größe,
Nutzung, räumliche Position einen besonderen Kontrast zu den umliegenden Elementen
bildet. Form-Simplizität bezeichnet schlicht die Klarheit und Strukturiertheit einer Form.
Kontinuität ergibt sich durch Wiederholung, Ähnlichkeit, Analogie und Harmonie einer
Oberfläche, Form oder Nutzung. Anschlussklarheit ist dann gegeben, wenn visuelle
Klarheit darüber herrscht, welche Elemente miteinander verbunden und welche Elemente
voneinander getrennt sind. Ebenso ist es wichtig, dass die Beziehung zwischen Elementen,
wie beispielsweise die Beziehung einer Metrostation zur darüber liegenden Straße oder
eines Gebäudes zu seinem Umfeld eindeutig ist. Direktionale Differenzierung bezeichnet
die Möglichkeit ein Ende eines Elements oder Komplexes von einem anderen Ende zu
differenzieren. Ebenso sind dabei visuelle Faktoren mit inbegriffen, die darauf hindeuten,
in welche Richtung eines Elements sich der Raumteilnehmer bewegt. Ein gutes Beispiel
für einen solchen Hinweis ist beispielsweise eine Straße, die bergauf bzw. bergab geht. In
diesem Falle verweist die Steigung auf die Richtung der Straße bzw. deren Endpunkte. Der
visuelle Wirkungsbereich eines Elements ist davon abhängig, inwiefern die Qualitäten des
umliegenden Raumes das Element sichtbar machen. Dies ist nicht nur auf die tatsächliche,
sondern auch auf die symbolische Präsenz des Elements bezogen. Bewegungsbewusstsein
ist die Eigenschaft eines Elements oder Komplexes, die dem Raumteilnehmer seine eigene
oder potentiale Bewegung bewusst machen. Da der Raum, wie Lynch betont, in der
Bewegung wahrgenommen wird, 21 ist diese Eigenschaft sehr zentral. Es handelt sich um
im Raum befindliche Hinweise und Symbole, die dem Raumteilnehmer verdeutlichen,
welche Strecke er zurücklegt, welche Bewegungen er vollzogen hat, wie er sich gerade
bewegt und welche Bewegungen er von seiner Position aus ausführen kann. Solche
Hinweise können durch Schilder, auf und absteigende Hausnummern, Berge etc. gegeben
werden. Zeitserien beschreibt Lynch als „series, which are sensed over time“. Eine Allee
ist ein gutes Beispiel für eine solche Strukturierung. Da das Heruntergehen einer Straße
immer auch einer Zeiteinheit entspricht und als zeitliche Erfahrung erlebt wird, lässt sich
die zeitliche Erfahrung anhand der rhythmischen Strukturierung durch Bäume
wahrnehmen. Noch eindeutiger werden solche Strukturen, so betont Lynch, wenn sie ihre
Formintensität bis zu einem Höhe- oder Zielpunkt hin steigern. Namen und Bedeutungen
hingegen fallen nur bedingt unter den Analyseschwerpunkt des Autors.
„Meanings and associations, whether social, historical, functional, economic, or
individual, constitute an entire realm lying beyond the physical qualities we deal
21
Vgl. ebd. S. 107
11
with here. They strongly reinforce such suggestions toward identity or structure as
may be latent in the physical form itself.“ 22
Für die geografische Orientierung des Raumteilnehmers, können jedoch Hinweise auf
Himmelsrichtungen (Lynch nennt hier das Beispiel der „North Station“ 23 ) hilfreich sein.
Ebenso erleichtern bestimmte Systeme, oft numerischer oder alphabetischer Art, die
Strukturierung eines Raumes.
Lynchs Thesen zum gebauten und geformten Stadtraum, sollen später auf den
Analyseraum, das „Quartier Barbès“ angewandt werden. Dabei soll insbesondere die Frage
behandelt werden, inwiefern durch die Form des Raumes innerräumliche Aufteilungen
produziert werden. Im Kapitel 1.6. über städtische Eigenlogik soll jedoch deutlich werden,
dass die geformte Struktur eines Raumes nie allein dessen Entwicklung bestimmt, sondern
gleichzeitig weitere Einflussfaktoren untereinander diese Entwicklung oder „Logik“ des
Raumes verhandeln.
1.3. Der praktizierte Raum:
In seinem Werk „L´invention du quotidien – 1. arts de faire“ legt Michel de Certeau sein
grundsätzliches Verständnis von Orten (lieux) und Räumen (espaces) dar. Anders als
Martina Löw, die das Konzept der scales im Zusammenhang der Dialektik zwischen
Globalisierung und Lokalisierung vorstellt, entwickelt Michel de Certeau seine räumlichen
Konzepte aus seiner Theorie zu Alltagspraktiken. In Bezug auf Raum interessiert ihn dabei
insbesondere, inwiefern menschliches Handeln mit vorgegebenen Strukturen spielt. Er
kreiert eine Fortführung bzw. ein Gegenstück zu Foucaults Analyse von Machtstrukturen,
welche ihre Disziplinierungsmaßnahmen über den Raum und dessen Gestaltung (z.B.
Panoptismus) wirksam machen. 24 Diese Fortführung konzentriert sich entgegengesetzt der
räumlichen Machtstrukturen auf das praktische Spiel mit der Disziplin. 25
„Ich möchte einige dieser – vielgestaltigen, resistenten, listigen und hartnäckigen –
Vorgehensweisen verfolgen, die der Disziplin entkommen, ohne jedoch ihren
Einflussbereich zu verlassen, und die zu einer Theorie der Alltagspraktiken, des
Erfahrungsraumes und der unheimlichen Vertrautheit mit der Stadt führen
müssten.“ 26
22
Ebd., S. 108
Vgl. ebd., S. 108
24
Vgl. Certeau, Michel de: Praktiken im Raum, in: Dünne, Jörg (2007): Raumtheorie. Grundlagentexte aus
Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 144
25
Vgl. ebd., S.344
26
Ebd., S. 344
23
12
Ähnlich Martina Löws Konzept der scales enthält auch Michel de Certeaus Konzept von
Raum ein dynamisches, produktives sowie mediales Moment. Er grenzt Räume
diesbezüglich strikt von Orten ab.
Während Orte eine bestimmte Ordnung („Konstellation von festen Punkten“ 27 ) implizieren
und auf eine mögliche Stabilität hinweisen, ist der Raum ein „Geflecht von beweglichen
Elementen“ 28 .
„Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm
entfalten“ 29 .
Jedoch stehen Ort und Raum miteinander in Beziehung, denn der Raum ist „ein Ort, mit
dem man etwas macht“ 30 .
Um diese Beziehung zu verdeutlichen zieht Michel de Certeau einen linguistischen
Vergleich und bezeichnet den Raum als „ein Wort, das ausgesprochen wird“ 31 .
Der Ort wäre demnach das Wort an sich, also eine festgelegte sprachliche Einheit mit einer
eigenständigen Bedeutung, während der Raum der Sprechakt, also das in Beziehung setzen
verschiedener Worte zueinander, deren Verzeitlichung und deren Kontextualisierung wäre.
„Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort, das ausgesprochen wird, das
heißt, von der Ambiguität einer Realisierung ergriffen und in einen Ausdruck
verwandelt wird, der sich auf viele verschiedene Konventionen bezieht; er wird als
Akt einer Präsenz (oder einer Zeit) gesetzt und durch die Transformationen
verändert, die sich aus den aufeinanderfolgenden Kontexten ergeben. Im Gegensatz
zum Ort gibt es also weder eine Eindeutigkeit noch die Stabilität von etwas
„Eigenem“. 32
Der linguistische Vergleich ist nicht zufällig und wird an späterer Stelle, wenn es um die
Bedeutung von Orten und Räumen geht, ebenfalls passen.
Jedoch stellt sich die Frage, was der Mensch mit einem Ort macht, um aus ihm einen Raum
zu konstruieren. Michel de Certeau geht hier insbesondere auf die alltägliche Praxis des
Gehens ein.
Durch die Praxis des Gehens entsteht ein Parcours. Dieser Parcours verknüpft einzelne
Orte miteinander und setzt sie zueinander in Relation sowie in Beziehung zu dem
gehenden Individuum. Die vom Gehenden besuchten Orte erhalten so eine besondere
Erscheinung oder Aktualisierung.
27
Ebd., S. 345
Ebd., S. 345
29
Ebd., S. 345
30
Ebd., S. 345
31
Ebd., S. 345
32
Ebd., S. 345
28
13
Anders als die visuelle Betrachtung eines Raumes von einem hochgelegenen Ort (Michel
de Certeau wählt hier das Beispiel des Panoramablicks auf New York vom World Trade
Center), werden beim Gehen nicht alle Elemente des Raumes gleichzeitig betrachtet (De
Certeau nennt dieses Panorama auch „simulacre théorique“ 33 ). Es handelt sich um ein
selektives Zusammenfügen von Orten durch Bewegung.
Im Zuge dieser Bewegung entsteht für Michel de Certeau ein Raum. Die Bewegung ist die
Aktualisierung von Möglichkeiten (der Verknüpfung einzelner Orte miteinander) sowie
das Schaffen neuer Möglichkeiten durch die Verknüpfung von Orten, die stadtplanerisch
nicht für eine Verknüpfung bestimmt waren. Ein Beispiel für ein solches Schaffen neuer
Möglichkeiten ist beispielsweise ein Trampelpfad. Hier wird eine institutionalisierte
Struktur aufgebrochen, um, stets im Zuge einer Bewegung, einen neuen Raum zu
eröffnen. 34
Zentral für Michel de Certeaus Konzept von Räumen ist also die praktische Nutzung von
Strukturen bzw. Orten durch Raumakteure. Dabei macht er jedoch darauf aufmerksam,
dass der Akt des Gehens für sich genommen ein Fehlen eines Ortes, (einen „non-lieu“)
bedeutet. „Marcher, c´est manquer de lieu.“ 35
Er führt den linguistischen Vergleich jedoch noch weiter. Sowie Sprechakte oder die
Schrift aus Wörtern Stilfiguren formen, so entstehen auch durch den Prozess des Gehens
Stilfiguren.
„Das Verhalten des Passanten, der sich durch eine Reihe von Drehungen und
Wendungen seinen Weg bahnt, kann mit den „Redewendungen“ oder „Stilfiguren“
verglichen werden. Es gibt eine Rhetorik des Gehens.“ 36
Ähnlich wie im Tanz aus Bewegung im Raum Bedeutung entsteht, so entstehen durch das
Gehen Stilfiguren wie Synekdoche und Asyndeton. Michel de Certeau präzisiert die Figur
der Synekdoche nicht ausführlich. Es könnte jedoch damit gemeint sein, dass der Gehende
manchmal nur einzelne Teile von Orten begeht bzw. wahrnimmt, um dennoch den Ort als
ein Gesamtes zu nutzen bzw. wahrzunehmen. Ein Asyndeton ist für ihn hingegen das
Aussparen konjunktiver Orte 37 . Ein solches Aussparen wird z.B. durch die Nutzung von
33
Certeau, Michel de (1990): L´invention du quotiden.1. Arts de faire. Paris: Gallimard (Collection folio :
Essais), S. 141
34
Vgl. Winderlich, Kirsten (2005): Die Stadt zum Sprechen bringen. Sprachwerke im öffentlichen Raum performative Annäherungen. Oberhausen: ATHENA-Verlag (Artificium), S. 87
35
Certeau, Michel de (1990): L´invention du quotiden.1. Arts de faire. Paris: Gallimard (Collection folio :
Essais), S. 155
36
Certeau, Michel de: Die Kunst des Handelns. Gehen in der Stadt, in: Hörning, Karl H. (hg.)(1999):
Widerspenstige Kulturen. Cultural studies als Herausforderung. Frankfurt am Main: Suhrkamp., S. 275
37
Ebd., S.277
14
Abkürzungen oder Verkehrsmitteln, die Wege zwischen zwei Orten „überspringen“,
erzielt.
Da der Vergleich mit Tanz bereits gezogen wurde, soll hier nur kurz darauf hingewiesen
werden, dass es sich um eine performative Produktion von Raum handelt. Dies bedeutet
allerdings nicht, dass diese cultural performance des Gehens bewusst verläuft. Darüber
hinaus weist der Begriff der Performativität darauf hin, dass sämtliche Raumakteure allein
in ihrer Anwesenheit bereits eine Wirkung auf den Raum entfalten: Position, Haltung,
Gestik, Mimik, Kleidung und weitere Faktoren machen ihre Außenwirkung, die sich
wiederum auf den Raum auswirkt sowie weitere Räume konstruiert, aus.
„Wie die sozialen Güter sind auch die Menschen raumbildend und raumprägend.“ 38
Michel de Certeau und Luce Giard gehen auf diese performative Fähigkeit von
Raumakteuren in ihrem Kapitel „Une mythique de la ville“ 39 ein.
„Les histoires sans paroles de la marche, de l´habillement, de l´habitat ou de la
cuisine travaillent les quartiers avec des absences, elles y tracent des mémoires qui
n´ont plus de lieu – des enfances, des traditiones généalogiques, des événements
sans date.“ 40
Durch ihre Art die Objekte und Orte des Raumes zu nutzen, produzieren die Raumakteure
„Mythen“ der Stadt. Michel de Certeau bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Claude
Lévi-Strauss Verständnis von Mythos und Bricolage. Dessen im Werk „Das Wilde
Denken“ entwickelten Theorie zum Mythos liegt die Vorstellung zu Grunde, dass Mythen
aus einer Reihe von vorhandenen „Mitteln“ zusammengesetzt bzw. –gebastelt werden.
„Die Eigenart des mythischen Denkens besteht nun aber darin, sich mit Hilfe von
Mitteln auszudrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl
vielumfassend, begrenzt bleiben, dennoch muss es sich ihrer bedienen, an welches
Problem es auch immer herangeht, denn es hat nichts anderes zur Hand.“ 41
Nach Michel de Certeau kann auch der Umgang mit Orten und Objekten einen Mythos und
somit einen Raum „zusammenbasteln“.
„Tous ces arts de „faire avec“, usages polysemiques des lieux et des choses [...]“ 42
Daher sind die Gesten seiner Meinung nach die wahren Archive einer Stadt 43 , die ständig
aus der Vergangenheit (ihren Orten, ihren Objekten) auswählen, um die ausgewählten
Elemente in der Gegenwart anzuwenden.
38
Winderlich, Kirsten (2005): Die Stadt zum Sprechen bringen. Sprachwerke im öffentlichen Raum performative Annäherungen. Oberhausen: ATHENA-Verlag (Artificium), S. 84
39
Certeau, Michel de; Giard, Luce; Mayol, Pierre (1996): L´invention du quotidien. 2. Habiter, cuisiner.
Paris: Gallimard (Collection folio : Essais)., S. 201 ff.
40
Ebd., S. 202
41
Lévi-Strauss, Claude (1968): Das wilde Denken. Frankfurt Main: Suhrkamp, S. 29
42
Certeau, Michel de; Giard, Luce; Mayol, Pierre (1996): L´invention du quotidien. 2. Habiter, cuisiner.
Paris: Gallimard (Collection folio : Essais)., S. 202
15
„Manières dont un Maghrébin s´installe dans un HLM, dont un Rodézien tient son
bistrot, dont le natif de Malakoff marche dans le métro, dont la fille du XVIe porte
son jean ou dont le passant marque d´un graffiti sa façon de lire l´affiche“ 44
Diese Beschreibung erinnert ebenso stark an Pierre Bourdieus Begriff des Habitus, der
ebenfalls eine Art und Weise zu handeln und Güter zu benutzen bezeichnet. Bourdieu
beschreibt den Habitus gleichzeitig als Produkt und Erzeugungsprinzip des sozialen und
symbolischen Raumes, der später noch näher beschrieben werden soll.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Michel de Certeau dem Handeln bzw. der Bewegung
von Raumakteuren eine raumproduzierende Leistung zuschreibt.
„Ils ajoutent à la ville visible, une ville invisible. “ 45
Auch der routinierte Umgang mit Orten kann zur Konstruktion von Räumen beitragen. So
werden beispielsweise bestimmte Elemente der Stadt insbesondere durch ihre Nutzung
unterscheidbar. Der Gehweg unterscheidet sich z.B. von der Fahrbahn in Form der
Nutzung des Gehwegs durch Fußgänger entgegengesetzt der Nutzung der Fahrbahn durch
Fahrzeuge (auch wenn noch einige andere symbolische Markierungen, die beiden Orte
voneinander differenzierbar machen.). 46 In ähnlicher Weise ist auch die Unterscheidung
zwischen öffentlichen und privaten Räumen oder Aufenthalts- und Durchgangsräumen
stark nutzungsbedingt. Auch hier handelt es sich demnach um eine praktisch-performative
Produktion von Raum, die insbesondere in ihrer Wiederholung (Routine) an Bedeutung
gewinnt.
Das gesamte Konzept des praktizierten Raumes lässt sich gut mit der Metapher der Spinne
verbildlichen, denn diese schafft sich ebenfalls aus dem Körper bzw. aus der Bewegung
heraus einen Lebensraum. 47
1.4.Mediale Raumeinflüsse und imaginäre Räume:
David Morley stellt in seinem Werk “Home territories. Media, mobility and identity” die
These auf, dass Medien Räume sowohl konstruieren als auch dekonstruieren.
Räume, so Morley, seien im vorherrschenden Verständnis vor allem durch ihre Grenzen
definiert. Sowohl auf der Makro- (Nationalstaat, Gesellschaft, Heimat) als auch auf der
Mikroebene (Heim, Haushalt) grenzten sich Räume von anderen Räumen ab. Daher sei die
43
Vgl. ebd., S. 202
Ebd., S. 202
45
Ebd., S. 202
46
Vgl. Winderlich, Kirsten (2005): Die Stadt zum Sprechen bringen. Sprachwerke im öffentlichen Raum performative Annäherungen. Oberhausen: ATHENA-Verlag (Artificium), S. 85
47
Diese Metapher wurde bereits von Henri Lefèbvre verwendet, vgl. ebd., S. 91 und Lefèbvre, Henri: The
Production of Space 1974
44
16
Produktion eines Raumes davon abhängig, dass andere, fremde Räume existieren, von
denen sich der eigene Raum differenzieren kann. Raumproduktion ist somit ein negativer
Prozess (ein Feststellen, welche Räume der eigene Raum nicht ist).
Ebenso sehr betont Morley, dass Räume mit Identitäten und der Vorstellung einer
innerräumlichen Homogenität verknüpft seien. Diese innere Homogenität bezieht sich
insbesondere auf die Eigenschaften der im Raum anwesenden Personen und deren
Verhalten (Normen, Werte).
Eigene Räume enthielten eigene Güter und Erinnerungen. Solche Erinnerungen seien für
die Konstitution einer gemeinsamen, innerräumlichen Identität wichtig. Sie sind Teil einer
gesamten imaginären bzw. narrativen Dimension, die den physischen oder geografischen
Raum überlagert und seine Grenzen bestärkt. Es handelt sich um Narrationen, welche die
innerräumliche Homogenität erzählen und sie als natürlich im Sinne von ursprünglich oder
genetisch behaupten.
Da eine tatsächliche innerräumliche Homogenität selten vorherrscht, handelt es sich bei
dieser narrativen Dimension um eine Fiktion. Da die Identität im Sinne eines IdentischSeins aller anwesenden Personen im Raum insbesondere auf der Makroebene (z.B. den
nationalen Raum) nie erfahrbar (im Sinne eines Vergleichs aller Nationalbürger) wäre und
daher über Repräsentationen (Narration, Bilder) vermittelt werden muss, handelt es um
eine virtuelle Fiktion. Diese ist der Produktion eines Raumes und seiner Bedeutung in
Abgrenzung von anderen Räumen verschrieben.
Die Rolle der Medien bei den beschriebenen exklusive Räume produzierenden Prozessen
ist die Folgende: Sowohl auf der physischen als auch auf der narrativen oder imaginären
Ebene können Medien räumliche Grenzsetzungen sowohl überschreiten als auch bestärken.
Ebenso können sie neue Räume hervorbringen und bestehende Räume strukturieren sowie
ausweiten.
In Form von Symbolen (Nationalflagge, Wappen) sowie in Form der bereits erwähnten
narrativen Medienformen (Heimatfilme, Mythen) können sie Raumimaginationen
bestätigen. In einem Kapitel über „Broadcasting and the construction of the national
family“ 48 zeigt Morley beispielsweise, wie der durch den Rundfunk produzierte Diskurs
ein Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit stärkt. Die Rhetorik dieses Diskurses (z.B.
„Guten
Morgen
Deutschland“),
deren
Inhalte
und
die
Ausschließung
oder
Nichtrepräsentation bestimmter Menschen, Objekte und Praktiken konstruieren die Fiktion
einer nationalen Zusammengehörigkeit, Homogenität und Identität. Die Tatsache, dass
48
Vgl. Morley, David (2000): Home territories. Media, mobility and identity. London , New York:
Routledge, S. 105 -128
17
diese im Rundfunk konstruiert wird, bestätigt die These der Vermitteltheit und Virtualität
der gegebenen Fiktion.
Ebenso können Medien jedoch eben diese Grenzen des (den physischen Raum
bekräftigenden) imaginären Raumes überschreiten und neue imaginäre Räume
konstruieren.
Ein gutes Beispiel für diese Tendenz ist die Mediennutzung von Diasporagemeinschaften.
Durch die Nutzung entsprechender (oft durch Satellit übertragener) Rundfunksender,
Internetforen sowie durch Symbole und Narrationen (in Form von Filmen, Mythen,
Geschichten etc.) werden die nationalen Raumgrenzen überschritten und neue virtuellnarrative Räume konstruiert.
„These networks, which link personal, individual choices to grander, diasporic
narratives of identitiy, are often sustained through a complex mixture of physical
mobility (pilgrimages, back and forth travelling, family visits) and symbolic
communications through a variety of “small media” 49 such as exchanges of letters,
phone-calls, photographs and videos.” 50
Auch bezogen auf den physischen Raum lassen sich verschiedene Phänomene der
medialen Grenzüberschreitung aufzählen. Beim heimischen Raum überschreiten im
Prinzip alle Kommunikations- und Rundfunkmedien den physischen, durch die heimischen
Wände eingegrenzten Raum. Fernsehen, Radio, Internet und Telefon lassen Elemente dem
ausgegrenzten Raum in den Privatraum dringen und umgekehrt. Außerdem stellen sie
Verbindungen zu fernen Orten sowie Personen her.
Des Weiteren lassen Medien neue, virtuelle Räume entstehen und lösen den jeweiligen
Nutzer von seinem jeweiligen physischen Ort ab. Der virtuelle Raum des Internets, der
Cyberspace, ist hier ein gutes Beispiel, aber auch ein Mobilfunkgespräch konstruiert einen
virtuell-kommunikativen Raum, der die jeweiligen Gesprächsteilnehmer in gewisser
Hinsicht von ihren physischen Raumpositionen löst.
Ebenso schließt Morley Verkehrsmittel als Medien physischer Mobilität in seine Theorie
ein. Diese überschreiten Räume und Grenzen in zum Teil enormen Geschwindigkeiten und
verdichten so den globalen Raum insgesamt. Durch die ständige Überschreitung stellen sie
indirekt die Notwendigkeit der bestehenden (nationalen) Grenzen in Frage.
„As we have seen, in the contemporary world the migration of messages, objects,
persons and culture from their perceived places of origin serves to continuously
destabilise existing borders and boundaries and it is to the confluence of media,
mobility and migrancy that we now turn.“ 51
49
Ebd., S. 126, Zit. nach D. Dayan
Ebd., S. 126
51
Ebd., S. 148
50
18
Die Medien physischer Mobilität machen ebenfalls die Existenz bestimmter neuer Orte
notwendig, welche Morley in Anlehnung an Marc Augé „non-places“ 52 nennt.
Flughäfen oder Bahnhofe gehören zu dieser Art von Orten, welche sich nicht durch eine
eigene Bedeutung auszeichnen und nicht durch eine Raumnarration imaginär in dieser
Bedeutung bestärkt werden. Ihre Bedeutung und gleichsam ihre Funktion besteht darin,
verschiedene Orte (welche sich in Abgrenzung zu Nicht-Orten durch eine eigene
Bedeutung auszeichnen) miteinander zu verbinden.
Morley macht im Zuge seiner Theorie Vorschläge für ein neues, auf „porösen“ Grenzen
beruhendes Raumkonzept und problematisiert Medien auf Grund ihrer begrenzten
Zugänglichkeit. Diese Aspekte sollen in dieser Arbeit jedoch nicht behandelt werden.
Aus seiner Theorie lassen sich folgende wichtigen Grundannahmen für die Interrelation
von Räumen und Medien herausheben: Durch Symbole, Bilder und Narration werden
Räume konstruiert und bestätigt. Medien tragen, vermitteln und beeinflussen diese
„imaginären Räume“. Ebenso werden durch Medien neue virtuelle Räume sowie NichtOrte konstruiert. Diese existieren parallel zu den bereits bestehenden Räumen und Orten
und/oder verbinden diese sowohl in virtueller als auch physischer Hinsicht.
Auch Michel de Certeau erkennt diese imaginäre Ebene von Räumen an. Im Kapitel
„Noms et symboles“ sowie „Une mythique de la ville“ seines Werkes „L´invention du
quotidien“ geht er auf diese Raumdimension ein.
Er widmet sich insbesondere medialen Raumimaginationen, die durch Objekte im
physischen Raum selbst hervorgerufen werden. Namen und Symbole im Raum wie
beispielsweise Straßennamen oder Denkmäler fügen De Certeau zufolge der physischen
Geographie eine zweite, poetische Geographie hinzu. 53 Meist eine historische Bedeutung
tragend hierarchisieren diese Namen und Symbole die Stadtoberfläche und ordnen sie
semantisch. 54 Allerdings schreibt er den Raumakteuren bei der Nutzung dieser Namen und
Symbole eine aktive, die vorgegebenen Strukturen umwertende Rolle zu.
„[...]Ces mots (Borrégo, Botzaris, Bougainville...) perdent peu à peu leur valeur
gravée, telles des pièces de monnaie usées, mais leur capacité de signifier survit à
sa détermination première.“ 55
Der Vergleich von Namen und Symbolen im Raum mit gravierten Geldstücken macht sehr
deutlich, dass die vorgegebenen Strukturen in ihrer alltäglichen Nutzung ihre ursprüngliche
52
Vgl. ebd., S. 173
Certeau, Michel de (1990): L´invention du quotiden.1. Arts de faire. Paris: Gallimard (Collection folio :
Essais), S. 158
54
Vgl. ebd., S. 157
55
Vgl. ebd., S. 157
53
19
symbolische Bedeutung verlieren und neue Werte und Bedeutungen annehmen. So wie das
Geldstück seine gravierte semantische Bedeutung verliert und sich sein Wert im Zuge
komplexer Prozesse des Wechselspiels zwischen Angebot und Nachfrage verändert, so
verändern sich auch die Bedeutungen der Raumelemente im Zuge ihrer Nutzung (jedoch
handelt es sich hier weniger um ökonomisch-monetäre Wertverschiebungen als vielmehr
um semantische).
Im Kapitel über Mythen der Stadt beschreibt De Certeau sowohl Geschichten über die
Stadt als auch Medien und Bilder im Stadtraum.
Neue Räume werden beispielsweise durch Medien wie Werbeplakate eröffnet.
„Ses affiches ouvrent dans les murs des espaces de rêve.“ 56
Die narrativen und bildlichen Raumimaginationen machen seiner Auffassung nach
„Wüsten“ zu bewohnbaren Orten. 57
„Par les histoires de lieux, ils deviennent habitables. Habiter, c´est narrativiser.“ 58
Auch De Certeau erkennt in den verschiedenen Raumdimensionen, die durch Medien
verschoben, strukturiert, ausgeweitet, eröffnet und konstruiert werden, eine Art
Konfliktpotential. So wie David Morley von überschrittenen Raumgrenzen und sich
überlagernden Räumen spricht, so nennt De Certeau die moderne Stadt ein Theater des
Kampfes der Erzählungen, so wie der griechische Stadtstaat ein geschlossenes Feld des
Krieges zwischen den Göttern war. 59
Die Vorstellung, dass verschiedene Medien, insbesondere Texte und Bilder im physischen
Raum, eine imaginäre Raumdimension schaffen und somit bestehende Räume beeinflussen
sowie neue Räume konstruieren, soll auch bei der späteren Analyse des „Quartier Barbès“
eine Rolle spielen.
Besonderer Fokus soll auf die Verhandlungen zwischen verschiedenen Räumen und
Raumdimensionen gelegt werden.
1.5. Der soziale und symbolische Raum:
Im folgenden Kapitel soll der Raum als Ort der Manifestation und Reproduktion sozialer
Differenz behandelt werden.
56
Certeau, Michel de; Giard, Luce; Mayol, Pierre (1996): L´invention du quotidien. 2. Habiter, cuisiner.
Paris: Gallimard (Collection folio : Essais)., S. 203
57
Vgl. Ebd., S. 203
58
Ebd., S. 203
59
Vgl. ebd., S. 203: „Mais la ville est le théatre d´une guerre des récits, comme la cité grecque était le champ
clos de guerres entre les dieux. “
20
Pierre Bourdieu stellt in seinem Werk „Die feinen Unterschiede - Kritik der
gesellschaftlichen Urteilskraft“ 60 ein Konzept des sozialen Raumes, in dessen Zentrum die
Begriffe Kapital, Feld, Klasse und Habitus stehen, vor. Die besondere kultursoziologische
Dimension Bourdieus Theorie besteht in der Feststellung eines symbolischen Raumes, der
aus dem sozialen Raum erwächst und diesen beeinflusst, strukturiert sowie mit Bedeutung
behaftet. Zwar handelt es sich bei Bourdieus Theorie nicht um eine Raumtheorie im
engeren Sinne, da Bourdieu den Raum als Modell nutzt, um seine komplexe Erklärung des
sozialen und symbolischen Systems zu verdeutlichen. Jedoch hat sein Modell wichtige
Erklärungsansätze für das Raumverhalten von Raumakteuren sowie für die Bedeutung von
unterschiedlichen Orten im physischen Raum.
Anhand eines Koordinatensystems entwirft Bourdieu ein Modell, um die Struktur des
sozialen Raumes zu verdeutlichen. Im sozialen Raum bestimmen zwei Kapitalsorten, das
ökonomische und das kulturelle Kapital, die soziale Position eines Individuums. Während
der Begriff ökonomisches Kapital weitgehend selbsterklärend ist, bezeichnet kulturelles
Kapital einerseits die Teilnahme am „kulturellen Leben“ einer Gesellschaft und
andererseits das Bildungskapital.
Im Koordinatensystem kann man auf der vertikalen Achse das Gesamtvolumen des
Kapitals (sowohl ökonomisches, als auch kulturelles) einer bestimmten Position im
sozialen Raum ablesen, während man der horizontalen Ebene die Struktur des Kapitals
einer Position, d.h. das Verhältnis von ökonomischem und kulturellem Kapital, entnehmen
kann. Individuen können demnach bei gleichem Kapitalgesamtvolumen abhängig von ihrer
Kapitalstruktur dennoch sehr ferne Positionen im sozialen Raum einnehmen. In Bourdieus
Modell verfügen beispielsweise Künstler und Industrieunternehmer über ein vergleichbares
Volumen an Gesamtkapital, während sich die Zusammensetzung dieses Kapitals aus
ökonomischem und kulturellem enorm unterscheidet. 61
Neben diesen beiden Hauptkapitalsorten nennt Bourdieu des Weiteren das soziale Kapital,
welches einerseits „Kapital an mondänen Beziehungen“62 und andererseits „Kapital an
60
Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am
Main: Suhrkamp
61
An dieser Stelle soll erwähnt sein, dass es sich bei Bourdieus Modell um eine schemenhafte Darstellung
und eine Art „Momentaufnahme“ der französischen Gesellschaft der 1970er Jahre handelt. Da Bourdieu die
Zusammenfassung von individuellen Positionen zu Klassen wie Berufsklassen problematisiert, sollten auch
die Beispiele des Künstlers oder Industrieunternehmers nicht als unzulässige Verallgemeinerungen
verstanden werden. Vielmehr sind die beiden Berufsgruppenstereotypen Erklärungsbeispiele des Autors.
62
Ebd., S.204
21
Ehrbarkeit und Ansehen, das in der Regel von allergrößtem Nutzen ist“ 63 bezeichnet. Er
integriert diese Kapitalsorte jedoch zunächst nicht in sein Modell.
Klassen sind in diesem Konzept nur fiktionale Gruppierungen, d.h. Zusammenfassungen
naher Positionen im System. Individuen werden Teil einer konstruierten Klasse, wenn sie
über ein ähnliches Kapitalvolumen, welches wiederum ähnlich aus ökonomischem und
kulturellem Kapital zusammengesetzt ist, verfügen.
Die Dimension des symbolischen Raumes, welche den sozialen Raum wie ein
Transparentpapier 64 überlagert, zeigt, wie sich die Distanzen im sozialen Raum auch
symbolisch
äußern,
reproduzieren
und
somit
längerfristig
manifestieren
bzw.
„naturalisieren“.
„Vermittelt über den Raum der Dispositionen (oder Habitus) der Akteure, wird der
Raum der sozialen Positionen in einem Raum der von ihnen bezogenen Positionen
rückübersetzt; oder, mit anderen Worten, dem System der differentiellen Abstände,
über das sich die unterschiedlichen Positionen in den beiden Hauptdimensionen des
sozialen Raums definieren, entspricht ein System von differentiellen Abständen bei
den Merkmalen der Akteure (oder der konstruierten Klassen von Akteuren), das
heißt bei ihren Praktiken und bei den Gütern, die sie besitzen.“ 65
Individuen unterschiedlicher Positionen bzw. „Klassen“ im sozialen Raum differenzieren
sich symbolisch voneinander, indem sie unterschiedliche Güter konsumieren und
unterschiedliche Praktiken (z.B. Sportarten, Begrüßungsrituale etc.) vollziehen. Ebenfalls
unterscheiden sich ihre Handlungen in Bezug auf den Stil bzw. Manier, d.h. die Art und
Weise oder Eigenart, ihrer Ausübung.
Die verschiedenen Verhaltensweisen erhalten so eine soziale Bedeutung, denn sie stehen
für Positionen im sozialen Raum.
Bourdieu weist an dieser Stelle entschieden darauf hin, dass die einzelnen
Verhaltensweisen (wie beispielsweise ein Kleidungsstil oder eine Art zu reden) durch die
Differenz zu anderen Verhaltensweisen ihre Bedeutung erhalten. Differenz erzeugt
Bedeutung.
„Hier möchte ich einen Einschub machen, um ein sehr häufiges und ganz unseliges
Missverständnis über den Titel Die feinen Unterschiede auszuräumen, den manche
so verstanden haben, als ließe sich der ganze Inhalt des Buchs auf die Aussage
reduzieren, der Antrieb allen menschlichen Verhaltens sei die Suche nach dem
Unterschied. [...]
In Wirklichkeit ist der zentrale Gedanke, dass in einem Raum existieren, ein Punkt,
ein Individuum in einem Raum, sein heißt, sich unterscheiden, unterschiedlich sein;
63
Ebd., S.204
Vgl. ebd. S. 211
65
Ebd., S. 20
64
22
oder wie Benveniste von der Sprache gesagt hat: „Sich unterscheiden und etwas
bedeuten ist ein- und dasselbe“;“ 66
Eine weitere Leistung Bourdieus Theorie besteht in der Feststellung, dass die distinktiven
Verhaltensweisen meist nicht in bewusster Überlegung vollzogen werden, sondern einem
eingeübten Geschmack sowie einem eingeübten Verhaltensmuster (Körperverhalten,
Sprechverhalten
etc.)
entspringen.
Diese
Kombination
aus
Geschmack
und
Verhaltensmuster fasst Bourdieu im Begriff des Habitus zusammen. Er ist das
„Erzeugungsprinzip aller Eigenschaften und Werturteile“ 67 eines Individuums, welches
eine bestimmte Position im sozialen Raum einnimmt und sich so symbolisch von anderen
Positionen differenziert.
Auf diese Art reproduziert der Habitus gleichsam Positionierungen im sozialen Raum,
denn er reproduziert die symbolische Differenz. Er lässt die soziale Differenz als gegeben
erscheinen.
Bourdieu warnt jedoch davor, den Habitus als natürlich im Sinne von angeboren zu
verstehen. Vielmehr ist der Habitus ein Produkt des sozialen und symbolischen Raumes,
das sich mit den Veränderungen und Verschiebungen im symbolischen System dynamisch
verändert. Er ist der vom Individuum inkorporierte soziale und symbolische Raum. Da er
jedoch auf die Position eines Individuums im sozialen Raum abgestimmt ist und diese
ebenso symbolisch reproduziert, wirkt er natürlich. Bourdieu spricht in diesem Kontext
von einer „Dialektik von sozialer Lage und Habitus“ 68 .
Da bereits in den Kapiteln über den praktizierten Raum und den imaginären Raum das
Verhalten sowie das Erscheinungsbild der Raumakteure sowie ihre raumproduzierende und
raumprägende Funktion thematisiert wurde, soll hier nur erwähnt werden, dass in der
späteren Analyse des „Quartiers Barbès“ auch der Habitus der anwesenden Raumakteure
ein Analysegegenstand sein soll. Da das symbolische System jedoch, wie Bourdieu betont,
relational funktioniert, ist der Habitus ein schwieriger Analysegegenstand. Eine Position
im sozialen Raum einzunehmen, bedeutet in einem mehrdimensionalen Netz von
Variablen (ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital) einen Knotenpunkt einzunehmen,
der sich immer in Relation zu den anderen Punkten im Netz dynamisch verhält bzw.
verlagert. Dieser Dynamik der Bewegungen im sozialen Raum entspricht eine unendliche
Anhäufung und Bedeutungsverschiebung bestimmter Zeichen bzw. Distinktionsmerkmale
im symbolischen Raum. Zudem sind die feinen Differenzierungen zwischen den einzelnen
66
Ebd., S. 22
Ebd., S. 278
68
Ebd. S. 281
67
23
Distinktionsmerkmalen ohne vollständig in den sozialen Raum integriert zu sein oft nicht
nachvollziehbar. Insbesondere zwischen nahen Positionen oder „Klassen“ im sozialen
Raum kann die Distinktion anhand feiner Indikatoren verlaufen, welche Individuen ferner
sozialer Positionen nicht als Distinktionsmerkmale bewusst sind. Sie sind diesen
distinktiven Elementen gegenüber indifferent.
Allerdings ist nicht nur Bourdieus Begriff des Habitus für den späteren Analyseraum von
Bedeutung. Ebenso kann auf das „Quartier Barbès“ sein Begriff der Ortseffekte
angewendet werden. Ortseffekte sind im Prinzip nur Elemente des anhand multipler
Distinktionselemente funktionierenden symbolischen Raumes. Denn Orte, an denen
Individuen wohnen oder sich aufhalten, können deren Position im sozialen Raum
symbolisieren. Ob eine Person im 16. oder 18. Arrondissement von Paris wohnt, sagt oft
viel über dessen soziale Position aus. Ebenso kann es ein Distinktionsmerkmal sein, ob
eine Person im Parc des Buttes-Chaumont oder im Jardin du Luxembourg spazieren geht,
welche Cafés und Bars sie frequentiert oder welche Märkte sie für Lebensmitteleinkäufe
besucht. Auf diese Weise schreiben sich soziale Bedeutungen in Orte ein. Gleichsam
werden Personen, die diese Orte bewohnen oder frequentieren anhand der vorgeprägten
Bedeutung stigmatisiert. Ein gängiges Beispiel für Orte mit sozialen Markierungen aus
dem französischen Raum sind die städtischen Vororte, die banlieues.
Der alltägliche räumliche Differenzierungsprozess zwischen unterschiedlich sozial
positionierten Personen dient ebenso der Distanzierung oder gar dem Ausschluss von
Individuen sozial ferner Positionen, denn so Bourdieu:
„Nichts ist unerträglicher als die als Promiskuität empfundene physische Nähe
sozial fernstehender Personen.“ 69
Bei der Betrachtung des „Quartiers Barbès“ soll daher analysiert werden, ob und wie der
Raum eine symbolische Markierung trägt, d.h. auf bestimmte soziale Positionen der dort
wohnenden oder der sich dort aufhaltenden Individuen verweist. Ebenso soll untersucht
werden, wie die dort präsenten Raumakteure an der Konstruktion dieser symbolischen
Markierung beteiligt sind.
Auch die Frage, ob der Raum sich eventuell aus unterschiedlichen symbolischen
Markierungen zusammensetzt, die wiederum auf unterschiedliche soziale Positionen
verweisen, soll gestellt werden.
69
Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft,
Konstanz: Universitätsverlag Konstanz GmbH 1997, S. 159-169
24
1.6. Städtische Eigenlogik
Martina Löw betrachtet in ihrem Werk „Soziologie der Städte“ die Stadt nicht nur als
skalierbaren Analysegegenstand, sondern auch als Orte, die eine bestimmte Logik
entfalten. Der Begriff der „Logik“ soll an dieser Stelle keine innerstädtische Homogenität
implizieren, sondern lediglich vorschlagen, dass ein bestimmtes Prinzip der städtischen
Entwicklung und dem Leben in einer Stadt zu Grunde liegt.
Sie betont, dass Städte im Zuge der Globalisierung in einen Konkurrenzkampf um
Attraktivität eingetreten sind. Um als Stadt besonders attraktiv zu sein, würden sie von
verschiedenen Handlungsträgern wie eine Persönlichkeit inszeniert und mit einer
bestimmten Identität behaftet. Jedoch, so betont Löw, sei die spezifische Logik einer Stadt
nicht immer planbar. Nicht nur die auf Identität und Differenz bedachten Prozesse des
City-Brandings sind dafür verantwortlich, dass Städte anders „ticken“. 70
Ihrer Auffassung nach ist es eine zentrale Aufgabe der aktuellen Stadtforschung, die
Eigenlogik von Städten in ihrer Spezifizität nachzuvollziehen und zu begründen. Bei
Forschungsvorhaben müssten eine Reihe von Faktoren wie Architektur, Geschichte,
materielle Substanz, technologische Produkte, kulturelle Praktiken, ökonomische
Verhältnisse, politische Figurationen, Stadtplanung, Institutionen und Bebilderung in
Betracht gezogen werden.
Insbesondere die Rolle des Stadtbildes in seinen „drei Aggregatzuständen“ 71 , dem
gebautem Stadtraum, dem medial zirkulierenden grafischen Bild (gemalt, gezeichnet,
fotografiert etc.) sowie der kognitiven Vorstellung, müsse analysiert werden, denn diese
würden die Stadt sowohl mit Bedeutung behaften als auch deren soziale Entwicklung
prägen.
„[...] dass das, was wir „die Gesellschaft“ nennen, sich je nach Stadt in sehr
unterschiedlichen Praktiken finden lässt“. 72
Ganz besonders präge die Stadt und deren spezifische Strukturlogik den Habitus der
Stadtteilnehmer.
„Wenn Menschen regelmäßig einer sozialen Herausforderung in gleicher Weise
begegnen, also routiniert reagieren, entstehen institutionalisierte und habitualisierte
Praxisformen, deren Relevanz ortsspezifisch sein kann.“ 73
70
Vgl. Löw, Martina (2008): Soziologie der Städte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 15
Vgl. ebd. , S. 141
72
Vgl. ebd., S. 18
73
Ebd., S. 83
71
25
Diese Prägung mündet in einer Wechselseitigkeit zwischen Stadtteilnehmer und Stadt,
denn die Raumteilnehmer reproduzieren durch ihren Habitus bzw. ihr Verhalten wiederum
die Logik der Stadt.
Zentrale Ergebnisse der Auswirkungen von Stadt auf Stadtteilnehmer sind auch bestimmte
Empfindungs, Wahrnehmungs und Deutungsmuster.
“Jede große Stadt, so die These, evoziert die ihr eigene „ natürliche Einstellung“
zur Welt.“ 74
Ebenso hat die städtische Eigenlogik zur Folge, dass einheitliche Phänomene in einer
„lokalspezifischen Formung“ 75 erscheinen. So können globale urbane Tendenzen wie
beispielsweise Verdichtung, Heterogenisierung oder Beschleunigung ortsspezifisch
eigensinnige Erscheinungsformen entwickeln. Selbst der als Symbol für globale
Einheitlichkeit stehende MC Donalds könnte demnach an verschiedenen Orten
unterschiedlich in Gestalt treten, wahrgenommen und genutzt werden.
Um eine spezifische städtische Eigenlogik zu identifizieren, müssten eine Reihe von
Eigenschaften und Objekte dieses Stadtraumes untersucht werden. Zu diesen
Analysegegenständen zählen beispielsweise grafische Bilder sowie Schriftquellen (in der
Stadt oder die Stadt repräsentierend), Bauwerke, Stadtplanung, Stadtfeste, Paraden,
Gegenstände der materiellen Kultur, Gegenstände der Lebenspraxis, Körperverhalten der
Raumteilnehmer, Materialität der Wohnungen, Straßen, Zentren, kulturelle Praxis,
Redeweisen, die emotionale Besetzung der Stadt, politische Praxis, wirtschaftliche Struktur
oder auf die Stadt bezogene bzw. in der Stadt stattfindende Marketingstrategien. 76
Einige dieser Analysegegenstände sollen auch bei der Untersuchung des „Quartiers
Barbès“ betrachtet werden.
Es soll des Weiteren gezeigt werden, dass Martina Löws Thesen zur städtischen Differenz,
Eigenlogik und Habitusformung auch auf den scale des Quartiers heruntergebrochen
werden können. Ob für das Quartier Barbès tatsächlich eine einheitliche eigene Logik
feststellbar sein wird, soll zunächst noch offen stehen.
74
Ebd. S. 75, Zit. nach Berking
Vgl. ebd., S. 79
76
Vgl. ebd., S. 77
75
26
2. Bestimmung und Beschreibung des Analyseraumes:
In diesem Kapitel soll das Quartier Barbès genauer vorgestellt werden. Gewisse
Produktions- und Verhandlungsprozesse des Analyseraumes sollen bei dieser Präsentation
schon anklingen, jedoch im darauf folgenden Kapitel anhand von konkreten Beispielen erst
ausführlich reflektiert werden.
2.1. Namen und Grenzen:
Wie
bereits
David
Morleys
Theorie
nahe
legte,
beruht
das
vorherrschende
Raumverständnis oft auf Grenzen. Physisch abgegrenzte Räume werden darüber hinaus
benannt. Die Benennung selbst stellt dabei bereits einen verhandelnden, Raum
produzierenden und vor allem charakterisierenden (denn auch Individuen werden durch
ihre Namen charakterisiert und zum Subjekt gemacht) Prozess dar. Der Prozess selbst ist
hochreflexiv. Benennung bezieht sich auf weitere Namen, die beispielsweise historische,
geografische, mythische oder religiöse Bedeutungen tragen können. Die physische und
administrative Abgrenzung von Räumen trennt sie voneinander (z.B. ein Viertel von einem
anderen), verbindet sie miteinander (z.B. verschiedene Viertel, die zu einer Stadt gehören)
und verschachtelt sie ineinander (z.B. ein Viertel in einem Arrondissement).
Bezogen auf den Analyseraum, das Quartier Barbès, wird bereits bei der Bestimmung
seiner Namen und Grenzen deutlich, dass es sich um einen komplexen, von
unterschiedlichen Personen und Instanzen unterschiedlich benannten und eingegrenzten
Raum handelt.
Das Quartier Barbès befindet sich im 18. Arrondissement von Paris, welches auch
Montmartre genannt wird. Das 18. Arrondissement bildet den genauen Norden der Stadt. 77
Den Namen Montmartre trägt das 18. Arrondissement, da sich der Hügel Butte Montmartre
darin befindet. Mitten auf diesem Hügel befindet sich seit 1914 78 die von einer großen
Parkanlage umgebene Wallfahrtskirche Basilique du Sacré-Cœur. Ebenso ist Montmartre
der Name des Dorfes, das 1859 zusammen mit den benachbarten Dörfern Clignancourt
sowie La Chapelle im Zuge der Parisumgestaltung des Stadtplaners Georges Eugène
Haussmann in Paris eingemeindet wurde. Die drei Dörfer bildeten daraufhin zusammen
das 18. Arrondissement. Dieses gliedert sich darüber hinaus in acht verschiedene Viertel
auf: „Moskova – Porte de Montmartre“, „Grandes Carrières – Clichy“, „Clignancourt –
Jules Joffrin“, „Montmartre“, „Amiraux – Simplon – Poissonniers“, „Goutte d`Or –
77
78
s. Anhang 4
Datum der Fertigstellung der Basilika
27
Chateau Rouge“, „Charles Hermite – Evagile“ und „La Chapelle – Marx Dormoy“. 79
Diese Viertel bilden Verwaltungseinheiten, die jeweils durch einen eigenen „Conseil de
quartier“ vertreten werden. Die Namen der einzelnen Viertel ergeben sich oft aus sich
darin befindenden und das Viertel charakterisierenden historischen Orten oder Straßen
(z.B. Chateau Rouge oder Poissonniers), beziehen sich auf historische Personen (z.B. Marx
Dormoy, Jules Joffrin) oder auf die ehemaligen Dörfer, aus denen das 18. Arrondissement
entstanden ist (z.B. Montmartre, Clignancourt, La Chapelle). Interessant ist es überdies
festzustellen, dass Montmartre sowohl das Arrondissement selbst, als auch einen darin
gelegenen Hügel, ein darin gelegenes Viertel sowie das historische Dorf Montmartre
bezeichnet. Auch worauf der Name Montmartre ursprünglich referierte ist nicht eindeutig.
Vermutet wird, dass er entweder aus den Wörtern Mons Martis (Marshügel) entstanden ist
und sich daher auf den römischen Gott Mars bezieht oder dass er sich aus den Wörtern
Mons Martyrum (Hügel der Märtyrer) ergab und an die Leiden des auf dem Montmartre im
3. Jahrhundert enthaupteten Bischof Saint Denis (Dionysius von Paris) erinnert.
Eine solche Namensanalyse könnte für sämtliche Namen des Quartiers Barbès vollzogen
werden und wird für die imaginäre bzw. narrative Dimension des analysierten Raumes
weiterhin eine Rolle spielen. Jedoch würde eine Analyse jedes einzelnen Namens diese
Arbeit zunächst zu weit ausdehnen und von anderen wichtigen Prozessen der Produktion
und Verhandlung von Raum ablenken.
Als nächstes ist es wichtig herauszustellen, dass der Name „Quartier Barbès“ bei der
offiziellen Benennung der einzelnen Viertel im 18. Arrondissement nicht auftaucht. Barbès
ist lediglich der Name eines zentral im Arrondissement gelegenen Boulevards. Der
Boulevard Barbès ist wiederum nach dem revolutionären Republikaner Armand Barbès
(1809-1870) benannt. Das Quartier Barbès ist somit ein inoffizielles Viertel, das die
städtisch vorgegebenen Einteilungen und Benennungen unterläuft. Dennoch ist der Name
im alltäglichen Gebrauch vorherrschend. Die Grenzen des Viertels sind dabei nicht genau
bestimmt. In ihrem Werk „Centralité immigrée“ beschäftigen sich Jean-Claude Toubon
und Khelifa Messamah mit dem offiziellen Viertel „Goutte d´Or“. Bei einer Befragung der
Raumteilnehmer (Passanten, Bewohner) dieses Viertels, stellen sie heraus, dass 60% der
befragten Personen das sie umgebende Viertel als „Quartier Barbès“ bezeichnen. Nur 22%
nutzen die offizielle Bezeichnung „Goutte d`Or“. Ebenso stellen sie fest, dass es sich bei
den Personen, die die Bezeichnung „Goutte d`Or“ verwenden, hauptsächlich um Franzosen
79
s. Anhang 5
28
sowie um im Viertel oder seiner direkten Nachbarschaft wohnenden Pariser handelt.
Touristen und Migranten sprechen hauptsächlich von Barbès.
„Internationalement, c´est Barbès dont on parle.“ 80
Inwiefern der Name Barbès bzw. das Quartier Barbès selbst zum „Bedeutungsimperium“
geworden ist und eine Reihe ständig verhandelter kultureller sowie sozialer Konnotationen
trägt, ist im Prinzip die Aufgabe dieser gesamten Arbeit. An dieser Stelle soll nur
festgehalten werden, dass das Quartier Barbès in seiner Benennung bereits ein von
Raumteilnehmern in der alltäglichen Praxis geschaffenes Viertel ist. Ebenso werden seine
Grenzen durch die Raumteilnehmer produziert und verhandelt, was letztendlich zu einer
stark variierenden Einschätzung seiner Grenzen führt. Es ist zwar eindeutig, dass das
Quartier Barbès um den Boulevard Barbès gruppiert ist. Inwieweit es sich in die
verschiedenen Himmelsrichtungen ausdehnt, ist jedoch schwer einheitlich bestimmbar.
Dies stellen auch Jean-Claude Toubon und Khelifa Messamah in ihrer Befragung fest.
Nach den Eckpunkten des Viertels Goutte d`Or, welches von 60% der Befragten „Quartier
Barbès“ genannt wird, fragend, erhielten sie stark voneinander abweichende Antworten.
Die Befragten orientieren sich bei ihren Grenzsetzungen an Straßen, Boulevards,
Metrostationen, Geschäften etc. und konstruieren so die verschwimmende Grenzen des
Quartiers Barbès. Von den weitesten genannten Grenzen ausgehend befände sich dieses
ungefähr zwischen der Avenue de St. Ouen, dem Boulevard Ney, der Rue de la Chapelle
sowie den sich gegenseitig fortführenden Boulevards de la Chapelle, Rochechouart und de
Clichy. Darüber hinaus erweitern bestimmte Punkte wie die bereits im 17. Arrondissement
gelegene Metrostation Porte de Clichy, der im 10. Arrondissement gelegene Gare du Nord
oder die auf der Grenze zwischen 10. und 19. Arrondissement gelegene Metrostation
Stalingrad das imaginäre Quartier Barbès.
81
Dass sich die Grenzsetzungen an
strategischen Punkten wie Metrostationen orientieren, zeigt, dass die Raumteilnehmer
„ihre Quartiers“ aus der alltäglichen Praxis heraus konstruieren und abgrenzen. Räume
bzw. Raumkonzepte sind demnach eng an die Praxis der Raumteilnehmer geknüpft.
Da die individuellen Grenzsetzungen, wie schon erwähnt, stark variierten, sprechen JeanClaude Toubon und Khelifa Messamah von einem „quartier extensible“ 82 .
„La Goutte d`Or est apparue tantôt comme un espace réduit à un pont, à une rue, à
une place, à une boutique…tantôt comme une réalité spatiale, aux frontières
ambiguë aux limites mobiles, fugitives et parfois imaginaires. “ 83
80
Toubon, Jean-Claude; Messamah, Khelifa (1990): Centralité immigrée. Le quartier de la Goutte
d'ordynamiques d'un espace pluri-ethniquesuccession, compétition, cohabitation. Paris: L'Harmattan :;
C.I.E.M.I., S. 397
81
Vgl. ebd., S. 396
82
Ebd., S. 393
29
Die physisch uneindeutige Eingrenzung des Quartiers Barbès durch seine „Konstrukteure“,
d.h. die ihn benennenden und sich vorstellenden Raumteilnehmer, erschwert auch die
Festlegung des Analysegegenstandes dieser Arbeit.
Da die Thematik der mehrdimensionalen Produktion und Verhandlung von Raum
allerdings relativ komplex ist, soll der Analysegegenstand auf zwei lineare Achsen
beschränkt werden: den Boulevard Barbès sowie die sich gegenseitig fortführenden
Boulevards de la Chapelle, de Rochechouart und de Clichy. Ebenso sollen die nächsten
Nebenstraßen dieser linearen Achsen miteinbezogen werden, da sich auf diesen Straßen oft
andere Raumaspekte entfalten. Ein Aufkommen dieser bestimmten Raumaspekte wäre auf
den weiträumigen Boulevards oft nicht möglich. Außerdem ist gerade das Zusammenspiel
von Boulevards und kleinen Nebenstraßen eine interessante Schnittstelle der Verhandlung
von Raum.
2.2. Geografische Lage und bauliche Struktur:
Wie schon im Kapitel 1.1. bemerkt ergibt ein räumlicher scale wie das konstruierte
Quartier Barbès nur relational Sinn. Seine Eigenlogik entfaltet sich aus seiner Relation zu
anderen Räumen bzw. scales. Daher ist es besonders wichtig seine Lage im Gesamtraum
Paris zu erläutern. Auch sein Verhältnis zu Frankreich, Europa und dem Rest der Welt ist
natürlich wichtig. Dieses lässt sich jedoch weniger einfach aus seiner geografischen Lage
ablesen. 84
Die bauliche Struktur des Viertels soll später, wenn es um den gebauten Stadtraum im
Sinne Kevin Lynchs sowie um die Nutzung dieses Raumes (praktizierter Raum) im Sinne
Michel de Certeaus gehen soll, noch näher behandelt werden. In diesem Kapitel sollen nur
grob seine Hauptelemente und –Eigenschaften beschrieben werden.
Das Quartier Barbès (in seiner zuvor bestimmten Eingrenzung dieser Arbeit) durchziehen
fünf Boulevards: Der Boulevard Barbès verbindet Norden und Süden des 18.
Arrondissements und würde in seiner nördlichen Verlängerung, dem Boulevard Ornano
durch die Porte de Clignancourt bis zum Pariser Departement Seine-Saint-Denis reichen.
Im Süden schließt der Boulevard Barbès an den Boulevard Magenta an, der ins östliche
Zentrum der Stadt führt.
83
Ebd., S. 393
Auch das Verhältnis des Quartier Barbès zum Pariser Gesamtraum ist nicht nur geografisch, sondern
vollzieht in verschiedenen Raumdimensionen. Jedoch ist die geografische Verbundenheit mit des Viertels mit
dem Rest von Paris in eindeutigerer Weise analysierbar.
84
30
Die Boulevards de la Chapelle, Rochechouart und de Clichy durchziehen das Viertel von
Osten nach Westen und verbinden so das 19. und 17. Arrondissement miteinander. Dabei
befinden sich der Boulevard Rochechouart sowie der östliche Teil des Boulevards de
Clichy am Fuß des Hügels Montmartre. Die von diesen Boulevards aus nach Norden
führenden Nebenstraßen gehen daher bergauf und führen teilweise direkt zur Parkanlage,
die um die auf der Spitze des Berges gelegenen Sacré-Cœur angelegt ist. Darüber hinaus
grenzt das Viertel im Süden an das 9. sowie das 10. Arrondissement. Es befindet sich im
Süden in der Nähe des Boulevard Périphérique, der die Stadt insgesamt umrandet und von
ihren Vororten abschließt. Daher befindet sich der Analyseraum auch in der Nähe der
städtischen Eintrittspforten Porte de Saint Ouen, Porte de Clignancourt und Porte de la
Chapelle. Mit diesen Pforten ist es gleichsam durch drei Metrolinien verbunden. Insgesamt
bietet das Viertel über die Metrostationen Place de Clichy, Blanche, Pigalle, Anvers,
Barbès Rochechouart, La Chapelle, Chateau Rouge und Macardet-Poissonniers Zutritt zu
vier Metrolinien: den Linien 2, 4, 12 und 13. Dabei verläuft die Linie 2 fast parallel zu den
Boulevards de la Chapelle, Rochechouart und de Clichy, während die Linie 4 fast parallel
zum Boulevard Barbès verläuft. 85 Insbesondere die Linie 4 spielt im Pariser Metronetz
eine Schlüsselrolle. Sie verbindet Norden mit Süden, hat drei Bahnhöfe auf ihrer Strecke
(Gare du Nord, Gare de l´Est und Gare Montparnasse) und durchschneidet Paris mittig (die
zentrale Île de la Cité kreuzend). Das Quartier Barbès befindet sich in der Nähe dreier
Bahnhöfe. Der Gare du Nord ist der nächste Bahnhof, aber auch der Gare de l`Est sowie
der Gare Saint Lazare im Nordwesten von Paris sind nicht weit.
Diese zunächst sehr trockene Bestimmung geografischer Eckdaten des Viertels ist insofern
wichtig, als dass sich auch aus der Position eines Raumes in einem räumlichen Gefüge
soziale, kulturelle und mediale Prozesse entwickeln können bzw. dadurch beeinflusst
werden. Es handelt sich immer um ein Wechselspiel zwischen räumlichen Strukturen und
räumlicher Praxis. Beide Faktoren beeinflussen sich gegenseitig.
Auch die bauliche Struktur eines Raumes ist in dieses Wechselspiel integriert. Die bauliche
Struktur des Quartiers Barbès ist stark an seine Geschichte geknüpft. Diese Baugeschichte
erstreckt sich vom Mittelalter, als das Viertel noch eine ländliches Dorf war, bis heute und
ist von einer Reihe stadtplanerischer Eingriffe sowie sozialer Entwicklungen geprägt. Vom
Mittelalter bis ins späte 18. Jahrhundert führten durch die Dörfer Montmartre,
Clignancourt und La Chapelle wichtige Durchgangsstrecken für Fischhändler, die ihre in
der Nordsee gefangenen Fische ins Zentrum von Paris transportierten. Daher heißt noch
85
s. Anhang 6
31
heute eine parallel zum Boulevard Barbès verlaufende Straße „Rue des Poissonniers“. Von
ungefähr 1750 bis 1830 zeichnet sich die Region durch seine Mühlen und die damit
verbundene Landwirtschaft aus und eine langsame Urbanisierung findet statt. 86
Ab 1830 beschleunigte sich die Urbanisierung der Dörfer und manifestierte sich in ihrer
Angliederung an die Stadt Paris im Jahre 1859. Ein zentraler Grund für die schnelle
Urbanisierung der Region ab 1830 ist die Errichtung eines Eisenbahnnetzes im Norden von
Paris, welches die Stadt zunächst mit Belgien und dann mit dem Rest Nordeuropas
verbinden sollte. Die Konstruktion des Eisenbahnnetzes begann 1842. Im Zuge der
Errichtung des Eisenbahnnetzes wurden auch die drei Bahnhöfe, der Gare Saint-Lazare,
der Gare du Nord und der Gare de l`Est errichtet. Des weiteren verursachten diese
infrastrukturellen Entwicklungen eine stärkere Migration in die Region und machten sie zu
einem Transitort, an dem sich schnell Hotels und Vergnügungsstätten ansiedelten sowie
Treffpunkte und Informationsstellen bildeten. Ebenfalls siedelten sich viele an dem Bau
des Eisenbahnnetzes beteiligte Arbeiter in diesem Gebiet an. So gelangte das Viertel
schnell zum Ruf des „Arbeiterviertels“. Diese Tendenz wurde umso mehr durch die
Eingriffe des Stadtplaners Georges-Eugène Haussmann verstärkt. Haussmann wurde 1853
von Napoleon III eingestellt, um die Hauptstadt an die Bedürfnisse des industriellen
Zeitalters anzugleichen, sie für militärische Operationen praktischer zu strukturieren (z.B.
Militäraufmarsche auf den Grand Boulevards) sowie um die Stadt übersichtlicher zu
organisieren. Seine Umbauaktionen, die Jean-Claude Toubon und Khelifa Messamah als
„opérations chirurgicales dans le tissu urbain“ 87 bezeichnen, wurden und werden bis heute
sowohl positiv als auch negativ bewertet. Zum einen verschafften sie der Hauptstadt eine
sehr einheitliche Ästhetik (Klassizismus) und Struktur (Boulevards als Hauptachsen, die
die Stadt durchziehen; einheitlich hohe Gebäude; etc.). Auf der anderen Seite zerstörten sie
einen Großteil des historischen Stadtbildes. Die auf große, übersichtliche Flächen
angelegte Planung zerstörte kleine Straßen und Gassen und somit viel Wohnraum. Ebenso
ermöglichte die übersichtliche Struktur eine höhere staatliche Kontrolle der Bürger.
Für das Quartier Barbès hatten die Arbeiten Haussmanns folgende konkrete
Auswirkungen: Zum einen wurden die Boulevards errichtet, die das Gebiet stärker an die
Stadt angliederten. Diese Boulevards standen in einem starken Kontrast zu ihren
Nebenstraßen, die bis heute zum Teil einen eher dörflichen Charakter bewahrt haben. Jean-
86
Vgl. Toubon, Jean-Claude; Messamah, Khelifa (1990): Centralité immigrée. Le quartier de la Goutte
d'ordynamiques d'un espace pluri-ethniquesuccession, compétition, cohabitation. Paris: L'Harmattan :;
C.I.E.M.I., S. 49 ff.
87
Vgl. ebd., S. 62
32
Claude Toubon und Khelifa Messamah stellen sogar die These auf, dass die Boulevards die
Region mehr von der Stadt Paris getrennt als mit ihr vereint hätten. Den luxuriösen
Boulevards habe sich ein sehr ausgeprägtes Eigenleben ihrer armen, mittelalterlich
anmutenden Nebenstraßen entgegengesetzt. 88 Außerdem bewirkte die Umgestaltungen
Haussmanns im Zentrum von Paris, dass auf Grund der Wohnraumreduktion sowie der
Aufwertung des Stadtkerns die ärmere Bevölkerung in die Randgebiete der Stadt,
insbesondere in den Norden, ziehen musste. Das Quartier Barbès erlebte daher ein starkes
Bevölkerungswachstum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieses wurde durch
Immigration aus Europa und der französischen Provinz noch verstärkt, was im folgenden
Kapitel über Immigration und soziale Entwicklung jedoch noch erläutert werden soll. Auf
die Baustruktur des Quartier Barbès wirkten sich die historischen Entwicklungen also
zusammengefasst insofern aus, als dass ein sehr kontrastreicher Raum entstand. Das
Viertel wurde von luxuriösen Boulevards durchzogen, jedoch von einer mehrheitlich
armen Bevölkerung bewohnt. Daher waren gerade die Nebenstraßen eher durch einfachere
aber vielseitigere Baumaterialien gekennzeichnet. Denn ,so erklären Jean-Claude Toubon
und Khelifa Messamah auch, die ärmeren Bauweisen erstrecken sich in einer höheren
morphologischen
sowie
plastischen
Diversität
verglichen
mit
den
bourgeoisen
Steinbauten. 89 Auch in Bezug auf die architektonische Struktur der einzelnen
Häuserblöcke (îlots), die das Viertel bilden, stellen sie eine architektonische
Uneinheitlichkeit fest, die sie folgendermaßen umschreiben:
„La morphologie urbaine, l´aspect architectural des immeubles, l´esthétique des
façades, le tracé des rues laissent transparaître une certaine négligence et une
certaine anarchie originelles, les places, le traitement de la voirie n´ont pas été
fortement pris en compte dans le processus d´édification de ce vieux villages.“ 90
Es sollte betont werden, dass nicht nur das Quartier Barbès durch eine relative bauliche
Uneinheitlichkeit im Vergleich zu einem Großteil der restlichen Gebiete von Paris und
durch einige dörfliche Züge, die jedoch ebenso ständig inszeniert werden, gekennzeichnet
ist. Viele Pariser Quartiers tragen dörfliche Züge. Gerade diese Dörflichkeit wird jedem
Viertel gerne zugeschrieben. Auch die historischen Entwicklungen, die das Viertel
durchlebte, treffen auf einen Großteil des Nordens sowie des Ostens von Paris zu und sind
somit nicht einmalig.
Auch sollte hinzugefügt werden, dass sich die Kontraste zwischen Boulevards und
Nebenstraßen im 20. Jahrhundert teilweise entschärft oder zumindest umentwickelt zu
88
Vgl. ebd., S. 63
Vgl. ebd., S. 86
90
Ebd., S. 65
89
33
haben scheinen. Gerade die Boulevards haben trotz Beibehaltung der oft unter
Denkmalschutz stehenden Häuserfassaden starke Veränderungen erfahren. Sie erhielten
beispielsweise
durch
Geschäftsfassaden
und
Werbetafeln
ein
heterogeneres
Erscheinungsbild. Die geografische Lage sowie die bauliche Geschichte des Viertels
wurde ausführlich besprochen, da sich nur auf Grundlage dieses Bewusstseins die dort
aktuell stattfindenden Produktionen und Verhandlungen von Raum erklären lassen.
Die stadtplanerischen Maßnahmen, die sich auf Wohnraum beziehen und hauptsächlich im
20. Jahrhundert stattgefunden haben, wurden in diesem Kapitel ausgespart und sollen auch
weiterhin nicht ausführlich behandelt werden. Diese Arbeit konzentriert sich mehr auf den
öffentlichen Raum, d.h. das Verbindungselement der einzelnen Privaträume.
2.3. Soziale Struktur und Immigration:
Wie schon erwähnt war das Quartier Barbès lange Zeit ein so genanntes Arbeiterviertel.
Während es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem von Arbeitern aus der
französischen Provinz bewohnt wurde, kamen im 20. Jahrhundert verschiedene
Immigrationswellen hinzu. Ungefähr zwischen 1890 und 1920 erlebte die Region eine
starke Immigration aus Europa (hauptsächlich Belgien, Polen, Rumänien und Italien)
sowie aus Algerien. Zwischen 1920 und 1960 folgte eine Einwanderungswelle aus
Maghreb. Zwischen 1962 und 1975 verringerte sich zudem die französische Bevölkerung
in der Region.
Zwischen 1950 und 1970 kamen einige jüdische Einwanderer aus Nordafrika hinzu.
Ab den 1970er Jahren immigrierten viele Afrikaner aus dem Senegal, aus Mali, aus Ghana,
von der Elfenbeinküste, aus Kamerun, aus Nigeria, aus Mauritius sowie aus Guinea.
Ebenso wanderten Menschen aus Tunesien, Marokko, Portugal, Jugoslawien sowie den
französischen bzw. französischsprachigen Antillen ein.
1982 bewegte sich der Anteil französischer Bewohner im Osten des Viertels, also dem
offiziellen Viertel Goutte d`Or, zwischen 40 und 60% 91 .
Im Laufe der Zeit erhielt das Quartier Barbès den Ruf ein Viertel zu sein, in dem sich mehr
Menschen internationaler Herkunft als Franzosen aufhalten. Die meisten dieser Personen
stammen dabei aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs, insbesondere aus Algerien,
Marokko, Tunesien und den oben genannten mittel- sowie westafrikanischen Ländern. 92
Diese allgemeine Tendenz gilt jedoch mehr für das unmittelbare Umfeld des Boulevards
91
92
Vgl. ebd., S. 240
Vgl. ebd., S. 240
34
Barbès und das offizielle Viertel Goutte d`Or als für den westlichen Teil des Quartiers
Barbès.
Die Besonderheit des Analyseraumes und vor allem seines Ostens ist, dass es sich nicht um
eine ethnische Konzentration wie beispielsweise Chinatown in New York handelt. Barbès
ist ein pluri-ethnisches Viertel. Dies gilt sowohl bezogen auf seine Bewohnung als auch
bezogen aus seine Frequentierung, die später noch behandelt werden soll.
In diesem pluri-ethnischen Viertel Barbès und besonders seinem Osten lässt sich eine
Aufteilung
der
jeweiligen
Migrantengruppen
auf
unterschiedliche
Häuserblocks
nachvollziehen. 93 Diese Aufteilung stellt bereits eine Verhandlung des Raumes und seiner
verschiedenen Subgebiete dar. Da die Untersuchungen, auf die sich diese Arbeit stützt, aus
dem Jahr 1990 stammen, bleibt offen, inwiefern sich diese Aufteilung von Wohnraum bis
jetzt verändert haben mag. Für das generelle Thema der Produktion und Verhandlung von
Raum kann aber festgehalten werden, dass sich die Ansiedlung der Migranten im Viertel
nicht rein zufällig bzw. nur ökonomischen Kriterien folgend vollzieht.
Als pluri-ethnisches Viertel ist das Quartier Barbès mittlerweile über die Grenzen von
Paris bekannt. Dieser Ruf sei laut Jean-Claude Toubon und Khelifa Messamah darauf
zurückzuführen, dass insbesondere das offizielle Viertel Goutte d´Or eine Art Drehpunkt
der Immigration in Paris darstellt. Da der französische Staat zentralistisch organisiert ist,
stellt Paris (evtl. neben Marseille) ein Hauptziel der Einwanderung, insbesondere aus den
ehemaligen Kolonien Frankreichs, dar. Jean-Claude Toubon und Khelifa Messamah halten
das Quartier Barbès für einen Aufnahmeort der meisten immigrierten Erstankömmlinge.
Auch die gute infrastrukturelle Anbindung des Viertels, die es ebenfalls über den Gare du
Nord direkt mit dem ebenfalls im Norden liegenden Hauptflughafen Paris-Charles de
Gaulle verbindet, lässt dem Viertel diese Schlüsselposition zukommen. Warum die beiden
Autoren ihr Werk „Centralité immigrée“ genannt haben hat jedoch noch einen weiteren
Grund. In Paris werden wegen Wohnraumknappheit und extrem hohen Mieten weniger
wohlhabende Bevölkerungsschichten, darunter ein Großteil Immigranten und Nachfahren
von Immigranten, in die Randgebiete, die so genannten banlieues, gedrängt. Dieser
physische
Ausschluss
wird
durch
Prozesse
der
sozialen
Stigmatisierung
und
Marginalisierung begleitet. Es handelt sich um eine komplexe Problematik, die von
verschiedenen Seiten beleuchtet werden kann und im nationalen sowie internationalen
Diskurs kontinuierlich behandelt wird. In dieser Arbeit sollen jedoch nur die Aspekte
dieses Themas besprochen werden, die in Zusammenhang mit dem Analyseraum stehen.
93
Vgl. ebd., S.240 ff.
35
Das Quartier Barbès ist in gewisser Hinsicht ein Gegenphänomen zu den französischen
banlieues. Es handelt sich zwar (insbesondere in seinem Osten) um einen hauptsächlich
von Immigranten frequentierten sowie zu einem relativ hohen Anteil von Immigranten
bewohnten Raum. Im Gegensatz zu den banlieues liegt der Raum jedoch in der Stadt. 94
„c´est un pôle central pour l´immigration ce qui dans le respect de la problématique
du droit à la différance questionne concrètement le droit pour les immigrés à
constituer leur propre espace de centralité urbaine ;“ 95
Das Quartier Barbès wird allerdings ähnlich wie die banlieues negativ stigmatisiert. So
wurde beispielsweise das im östlichen Teil des Analyseraums gelegene Viertel Goutte
d´Or von der städtischen Regierung 1983 als „ilôt sensible“ charakterisiert. Jean-Claude
Toubon und Khelifa Messamah zufolge gäbe es zwei Seiten des Diskurses zum Viertel.96
Die eine stelle das Viertel als von Immigranten und sozial schwachen Personen bewohnten
Raum, in dem soziale Missstände und Gewalt vorherrschen, dar. Hier zeigt sich auch die
häufig vorhandene Verbindung von Migration und sozialer Lage, welche Jean Claude
Toubon und Khelifa Messamah als „Ethnoklassen“ 97 umschreiben. Der andere Diskurs
idealisiere das Viertel als Beispiel eines konfliktlosen Zusammenlebens multikultureller
Gruppen.
Das Quartier Barbès unterscheidet sich demnach von den Pariser banlieues durch seine
zentrale Position und einen zweiwertigen Diskurs. Dabei ist Verbindung des Viertels mit
den nördlichen banlieues der Stadt sehr intensiv. Jean-Claude Toubon und Khelifa
Messamah führen beispielsweise eine Statistik an, bei der die Frequentierung des Quartiers
Goutte d`Or im Osten des Analyseraumes untersucht wurde. Diese zeigt, dass der
öffentliche Raum hauptsächlich (zu ca. 80%) von Nicht-Anwohnern bevölkert wird. 38,6%
der Raumteilnehmer kamen aus anderen Teilen von Paris. Ein beachtlicher Teil kam aus
den nördlichen Banlieues der Stadt (6,3% aus Hauts-de-Seine, 12,6% aus Seine-SaintDenis, 4,6% aus Val-de-Marne). Ebenso interessant ist es, dass etwa 6% der
Raumteilnehmer Reisende aus Nordafrika sowie 0,8% Reisende aus anderen afrikanischen
Ländern waren. 98
Es lässt sich also zusammenfassend behaupten, dass es sich bei dem Quartier Barbès um
ein in seiner sozialen und ethnischen Zusammensetzung besonderes Viertel handelt.
94
Wenn in diesem Zusammenhang die Rede von „Immigranten“ ist so seien immer auch die Nachfahren von
Immigranten (in 1., 2. und 3.Generation) gemeint, auch wenn diese oft eine französische Staatsbürgerschaft
haben.
95
Ebd., S. 19
96
Vgl. ebd., S. 21
97
Vgl. ebd., S.27
98
Vgl. ebd., S. 382 f.
36
Obwohl es im offiziellen Stadtzentrum liegt, weist es soziale Eigenschaften der Vororte
auf und ist vielleicht der einzige Raum in Zentralparis, der ungefähr zur Hälfte von
Immigranten bewohnt ist sowie zu einem noch höheren Anteil von solchen frequentiert
wird. Daher ist der Titel „Centralité immigrée“ durchaus zutreffend. Diese Feststellung
bezieht sich jedoch hauptsächlich auf den östlichen Teil des Analyseraumes, d.h. den
Boulevard Barbès und seine Nebenstraßen bzw. das offizielle Viertel Goutte d´Or. Der
westliche Teil des Analyseraumes, d.h. der westliche Teil des Boulevard de Rochechouart
sowie der Boulevard de Clichy weichen in dieser Hinsicht ab. Auf die zentralen
Eigenschaften dieser Teile des untersuchten Raumes soll jedoch noch eingegangen werden.
Ebenso haftet dem Raum, obwohl das Viertel im Stadtzentrum und somit in einem
vergleichsweise teuren Wohnraum gelegen ist, der Ruf einer sozial schwächeren Gegend
an. Diese These soll hier zunächst weder bestätigt noch entkräftigt werden. Interessant für
das Thema dieser Arbeit ist die Tatsache, dass das Quartier Barbès eine Art
Bourdieu´schen Ortseffekt hat, denn es hat eine soziale Bedeutung bzw. verweist auf
bestimmte Positionen im sozialen Raum.
2.4. Ökonomie des Raumes und Raumfunktionen:
Nachdem in den Kapitel 2.1. und 2.2. auf die physische, infrastrukturelle sowie die grobe
soziale Konstitution des Raumes eingegangen wurde, soll es in diesem Kapitel um seine
kommerzielle Nutzung gehen. Wie Emmanuelle Lallement in seinem Werk „Au marché
des différences...: Barbès ou la mise en scène d´un société multiculturelle“ feststellt,
handelt es sich bei dem Quartier Barbès vor allem um einen Marktraum. Die meisten
Beziehungen zwischen den Raumteilnehmern sind in erster Linie ökonomisch.
Der Analyseraum enthält grob eingeteilt zwölf Ökonomiezweige: Lebensmittel, Kleidung,
Discountartikel, Reiseagenturen, Frisördienstleistungen, Kosmetik, Schmuck und Uhren,
Stoffe, Tourismus und Souvenirartikel, Hotels, Gastronomie, Unterhaltung und Erotik.
Diese verschiedenen Arten von Waren und Dienstleistungen verteilen sich nicht zufällig
über den Raum. Wo was angeboten wird richtet sich zum einen nach der physischen und
sozialen Raumstruktur des Analyseraumes bzw. seiner jeweiligen Subräume, zum anderen
nach der Relation zwischen den einzelnen im Raum angebotenen Gütern.
Im östlichen Quartier Barbès, d.h. um den Boulevard Barbès herum, werden generell mehr
„ethnisch markierte“ Produkte angeboten. „Ethnisch markierte“ Waren kommen aus den
jeweiligen Herkunftsländern der Migranten, die das Viertel bewohnen und frequentieren.
Das Waren- und Dienstleistungsangebot ist auf dieses Publikum ausgerichtet, auch wenn
37
es immer häufiger vorkommt, dass es auch von Franzosen und anderen Europäern genutzt
wird. „Markiert“ sind diese Waren, weil es sich gleichzeitig um eine Inszenierung der
jeweiligen Produkte handelt. Im Osten des Quartiers Barbès wird je nach Zielgruppe
entweder eine gewisse Nostalgie bzw. ein Heimatgefühl oder aber Exotik vermarktet. Auf
die jeweiligen Vermarktungstechniken, -texte und -bilder, die gleichzeitig eine Form der
Raumnarration darstellen, soll jedoch später erst näher eingegangen werden.
Allerdings ist selbst der östlicher Teil des Viertels, das Quartier Goutte d´Or nicht
einheitlich von diesen ethnisch markierten Angeboten durchzogen. Während im nördlichen
Teil des Raumes, d.h. um die Metrostation Chateau Rouge herum mehr Lebensmittel,
Stoffe und Kosmetik aus Mittel- und Westafrika sowie den Antillen sowie Frisör-, Reiseund Telekommunikationsdienstleistungen für Menschen dieser Herkunft angeboten
werden, werden im Süden dieses Subraumes, d.h. in der Nähe der Metrostation BarbèsRochechouart mehr Produkte aus Nordafrika angeboten. Im Süden des Raumes befindet
sich z .B. eine Anhäufung der so genannten „Boucheries islamiques“.
Eine Grenze
zwischen beiden Subgebieten des Goutte d´Or bildet ungefähr die Rue Polonceau, auf der
sich auch die Moschee Al Fath befindet.
Es ist ein deutlicher Kontrast zwischen dem Boulevard Barbès und seinen Nebenstraßen
wahrnehmbar. In den Nebenstraßen sammeln sich kleinere Läden, die die zuvor erwähnten
ethnisch markierten Waren und Dienstleistungen anbieten. Auf dem Boulevard Barbès
hingegen häufen sich Telekommunikationsanbieter, Schmuck- und Uhrenhändler sowie
Läden, die Bekleidung, Taschen, Koffer und verschiedene Kleinwaren verkaufen.
Internationale Fastfood-Restaurantketten wie Kentucky Fried Chicken befinden sich auf
dem Boulevard Barbès. Zudem beginnt im Süden des Boulevards eine Anhäufung von
Discout-Kaufhäusern, die sich von da aus weiter über den Boulevard de Rochechouart
erstreckt.
Das bekannteste und wichtigste dieser Discount-Kaufhäuser ist vermutlich Tati. Das sich
vom Boulevard Barbès über den Boulevard de Rochechouart bis knapp über die Rue de
Clignancourt hinweg erstreckende Kaufhaus belegt einen gesamten Häuserblock und bildet
für sich genommen eine Art thematische Konzentration im Viertel. Die hohe
Frequentierung des Viertels geht neben den ethnisch spezialisierten sowie den touristischen
Angeboten vermutlich hauptsächlich auf das Kaufhaus Tati zurück. Dieses wurde zu
Beginn der 1950er Jahren eröffnet. Sein Gründer Jules Ouaki nutzte die zentrale
geografische Position zwischen drei Eintrittspforten (portes) sowie drei Bahnhöfen
zunächst um seine Idee eines Textil-Selbstbedienungsgeschäftes, welche in den 1950ern
38
noch sehr innovativ war, in die Tat umzusetzen. 99 Tati vergrößerte sich schnell. Heute
handelt es sich um ein Discount-Kaufhaus, dass sowohl Bekleidung (Damen, Herren,
Unterwäsche, Schuhe), als auch Haushaltswaren, Elektronikartikel oder Dekorationsartikel
anbietet. Besonders bekannt ist zudem Tati-Mariage, ein Zweig des Kaufhauses, der
Brautmoden verkauft.
Von Tati ausgehend befinden sich auffällig viele Discountwarenanbieter am Rande des
Boulevard de Rochechouart. Diese Ansammlung zieht sich hin bis zur Metrostation
Anvers. In den Nebenstraßen, die von diesem Abschnitt des Boulevard de Rochechouart
zum Hügel Montmartre hinführen, sammeln sich kleinere Stoffläden, die häufig mit „tissus
orientaux“ werben. Am südöstlichen Fuß des Hügels Montmartre befindet sich zudem das
große Stoffkaufhaus Marché Saint-Pierre. In der Rue de Clignancourt mischen sich
verschiedene Aspekte des Quartiers Barbès. Neben MC-Donalds und der französischen
Supermarktkette Leader Price befinden sich hier kleinere Restaurants, Imbisse, kleinere
Lebensmittelläden, die afrikanische und Antillenprodukte verkaufen, sowie die so
genannten Afro-Kosmetikläden (Kosmetik für dunkle Haut, Perücken, spezielle
Haarpflegeprodukte etc.).
Die Metrostation Anvers ist ein klarer Touristikknotenpunkt im Viertel. Hier befindet sich
eine Tourismusinformationsstelle. Zudem reihen sich verschiedene Souvenirläden und
Imbisse aneinander. Der zentrale Touristikknotenpunkt befindet sich an dieser Stelle, da
hier die Rue de Steinkerque den Park um die Basilique du Sacré-Cœur mit dem Boulevard
de Rochechouart verbindet.
Die Rue de Steinkerque scheint die am dichtesten von
Touristen bevölkerte sowie mit Souvenirläden ausgestattete Straße im gesamten Viertel zu
sein. Außerdem befindet sich gegenüber der Metrostation Anvers die traditionsreiche
Konzert- und Veranstaltungshalle Élysée Montmartre, die 1807 zunächst als Ballsaal
eröffnet wurde.
Von der Station Anvers bis zur auf dem Boulevard de Clichy liegenden Metrostation
Pigalle mischen sich Imbisse, Souvenirläden, Cafés, Sportschuhgeschäfte, der Orientladen
„Espace Orient“ und einige wenige kleine Lebensmittelläden in den Nebenstraßen. Die
Imbisse verkaufen dabei eine breite Palette von Produkten: Pizza, Falafel, orientalisches
Gebäck, Pommes Frites etc..
Ebenso befinden sich einige Diskotheken sowie die Konzert- und Veranstaltungshalle La
Cigale, ein ehemaliger Ball-, Operetten- und Kabarettsaal, der 1887 in Fortführung des
Ballsaals Boule Noire errichtet wurde, auf dieser Strecke.
99
Vgl. ebd., S. 219
39
Die Metrostation ist von einer Erotikangeboten umgeben. Neben der Station selbst
befinden sich zudem ein MC Donalds, eine rund um die Uhr geöffnete orientalische
Bäckerei sowie eine bis 1 Uhr nachts geöffnete Apotheke. Die Ökonomie rund um die
Station Pigalle ist auf nächtlichen Betrieb ausgerichtet. Von Pigalle bis zur Metrostation
Blanche reihen sich fast ausschließlich Sex-Shops und -Kinos sowie andere Waren und
Dienstleistungen im Erotikbereich aneinander. Die Metrostation Blanche bildet das Ende
dieser thematischen Konzentration. Hier befindet sich das bekannte,1889 gebaute Variété
Moulin Rouge.
Auf den zum Hügel Montmartre führenden Nebenstraßen des Boulevards de Rochechouart
sowie des Boulevards de Clichy, zwischen den Metrostationen Anvers und Blanche,
befindet sich ein sehr abweichendes ökonomisches Angebot. In dieser Gegend, welche die
Metrostation Abbesses umringt, sind kleine, zumeist eher teure Boutiquen, einige
Secondhand-Läden, Cafés, Restaurants und Bars. Insgesamt wird eine Atmosphäre kreiert,
die mit dem Klischee des Künstlerviertels spielt. Hier scheinen sich hauptsächlich
Touristen sowie die so genannten Bobos (Bourgeois-bohème) aufzuhalten.
Es sollte deutlich geworden sein, dass das Quartier Barbès insbesondere in ökonomischer
Hinsicht eine Vielfalt verschiedener Konzentrationen, die in verschiedenen Subgebieten
des Viertels gruppiert sind, enthält. Diesen ökonomischen Konzentrationen schließen sich
verschiedene Konzentrationen von Raumteilnehmern an bzw. es besteht eine
wechselseitige Interrelation zwischen wirtschaftlichem Angebot und Raumteilnehmern.
Auch die Verkaufs- und Warenausstellungsformen variieren zwischen den verschiedenen
Subgebieten des Quartiers Barbès. Im Osten des Viertels finden zusätzlich zu den
Lebensmittelgeschäften zwei Märkte statt. Der eine Markt in der Rue Dejean findet täglich
statt. Der andere, weitaus größere Markt wird zwei mal wöchentlich (mittwochs und
samstags) unter dem Schutz der oberirdischen Metrostation Barbès-Rochechouart und
ihren auf Pfeilern fortführenden Schienen aufgebaut. Verkauft werden hauptsächlich
Lebensmittel wie Obst, Gemüse, Fisch- und Fleischwaren, Käse, Gewürze und Blumen
sowie Bekleidungsartikel.
Um die Discountwarenhäuser werden die Waren oft auf Wühltischen ausgestellt, was zu
einer Ansammlung von um die Kaufhäuser stehenden Personen führt.
Im Touristik und Vergnügungsgebiet zwischen der Metrostation Anvers sowie der Station
Blanche werben eindrucksvolle Häuserfassaden und Leuchtreklamen um ihre Kunden.
Darüber hinaus unterscheiden sich die wirtschaftlichen Rhythmen der einzelnen
Subgebiete des Analyseraumes voneinander. Während sich der Osten des Viertels bzw. das
40
offizielle Viertel Goutte d´Or durch flexible, oft von der französischen Gesetzgebung
abweichende Öffnungszeiten auszeichnet, die gerne noch in den späten Abend
hineinreichen, hat das mittige Gebiet um die Discountwarenhäuser sehr strikte, der
Gesetzgebung folgende Öffnungszeiten. Das Touristik- Vergnügungsviertel im Westen ist
ebenso zeitlich flexibel, insbesondere zwischen den Metrostationen Pigalle und Blanche
jedoch auf die Nacht konzentriert. Für alle Subgebiete gilt allerdings, dass der Andrang
von Raumteilnehmern am Wochenende deutlich stärker ist als in der Woche, obwohl auch
in der Woche schon von einem stark bevölkerten Viertel gesprochen werden kann.
Cafés und Restaurants befinden sich fast überall im Quartier Barbès, meist in seinen
kleineren Straßen. Im Osten des Viertels sind die Restaurants und Cafés allerdings häufig
ebenso „ethnisch markiert“ wie beispielsweise die Lebensmittel- und Stoffhändler. Auch
gibt es dort Restaurants, die die Küchen verschiedener Nationen miteinander verbinden
(z.B. afrikanisch-französische Restaurants).
Im gesamten Quartier Barbès scheint zudem die offizielle ökonomische Aktivität weitere
informelle Aktivitäten zu verstecken. Diese Feststellung gilt vermutlich für viele hoch
frequentierte Gebiete in urbanen Räumen. Im Quartier Barbès findet diese Aktivität
insbesondere um die Metrostation Barbès-Rochechouart statt. Während bereits in der
Metrostation selbst Zigaretten an Passagiere verkauft werden, sammeln sich vor allem vor
den Türen des Kaufhauses Tati viele Verkäufer von Sonnenbrillen, Uhren und anderen
kleineren Artikeln. An verschiedenen Straßenecken wie beispielsweise der Kreuzung
zwischen Boulevard Barbès und Boulevard de la Chapelle oder zwischen Rue de
Clignancourt und Boulevard de Rochechouart bereiten zudem Verkäufer Kastanien oder
Popkorn in zusammengebauten Vorrichtungen (häufig in Einkaufswagen) zu und
verkaufen diese auf der Straße. Es ist deutlich, dass informelle und formelle Ökonomie an
einem Raum zusammenwirken und miteinander in Wechselwirkung stehen. Dabei
profitiert natürlich insbesondere der informelle Handel von der Kundenanziehungskraft des
formellen Handels. Vielleicht gilt dies jedoch auch umgekehrt.
Das Quartier Barbès hat zusammengefasst mehrere Raumfunktionen. Es ist gleichzeitig ein
Touristik- und Vergnügungsraum, ein Raum, der ein bestimmtes immigriertes Publikum
mit Waren und Dienstleistungen versorgt, ein Raum, der Exotik verkauft, ein Raum der
günstige Produkte an sowohl Touristen, als auch Franzosen, als auch Immigrierte verkauft.
Die verschiedenen thematischen Konzentrationen grenzen sich im physischen Raum
voneinander ab, auch wenn es Punkte des Zusammentreffens und der Mischung gibt (z.B.
41
die Rue de Clignancourt, z.B. der Verkauf von ethnisch-markierten Produkten im
Touristiksubgebiet etc.).
Gleichzeitig bleibt das Viertel ein Wohnraum. Gerade auf den Boulevards entsteht ein
merkwürdiger Kontrast zwischen den Geschäften im Erdgeschoss und den durch
prunkvolle Fassaden geschmückten Wohnräumen auf den höheren Etagen.
Ebenso fungiert das Viertel als Übergangsort. Viele Touristen verirren sich dort nach
ihrem Abstieg vom Hügel Montmartre. Ebenso halten sich dort wahrscheinlich Menschen,
die von den nahe gelegenen Bahnhöfen kommen, auf.
In seiner sozialen Funktion wurde das Viertel bereits im vorherigen Kapitel besprochen. In
diesem Zusammenhang ist neben der Tatsache, dass der Raum ein Treff- und Drehpunkt
für die immigrierte Bevölkerung von Paris und Umland ist, auch zu nennen, dass es sich
generell um einen Freizeitort handelt. Neben Tourismus- und Vergnügungsviertel bieten
viele verschiedene Cafés und Restaurants Treffpunkte, die auch für die französische
Bevölkerung von Paris interessant sind.
Auch wenn viele verschiedene Funktionen und Raumteilnehmer im Analyseraum
zusammentreffen, ist der Begriff der „Vermischung“ nicht zutreffend.
Im Quartier Barbès stehen sich viele Differenzen gegenüber, die durch verschiedene,
mehrdimensionale Prozesse der Produktion und Verhandlung von Raum sowohl Grenzen
als auch Anknüpfungspunkte finden. Diesen Prozessen soll sich im Folgenden anhand von
Fallbeispielen angenähert werden.
3. Analyse des Quartiers Barbès anhand von Fallbeispielen
3.1. Intention und Methode
Nachdem in den ersten beiden Kapiteln zum einen einige theoretische Konzepte zum
Phänomen Raum und seinen verschiedenen Dimensionen, zum anderen die grundlegenden
baulichen,
infrastrukturellen,
sozialen
und
ökonomischen
Eigenschaften
des
Analyseraumes vorgestellt wurden, soll nun mit Hilfe der im ersten Kapitel dargestellten
Raumtheorien das Quartier Barbès analysiert werden.
Die Analyse stützt sich dabei auf Bild und Videomaterial, dass im Raum erstellt wurde und
im Anhang zur Veranschaulichung bereit liegt. Ebenso basiert sie auf Repräsentationen des
Raumes, die beispielsweise im Internet, in Reiseführern oder Touristikbroschüren
gefunden wurden. Eine zentrale Fragestellung dieser Analyse ist, inwiefern die
verschiedenen Bilder des Raumes, d.h. das gebaute Stadtbild, das grafische Stadtbild und
das erzählte Stadtbild zusammen das Quartier Barbès verhandeln und produzieren. Auch
42
der praktische Umgang mit dem Raum durch die Raumteilnehmer ist an dieser
Verhandlung und Produktion beteiligt.
Die Repräsentationen des Raumes in allen bildlichen „Aggregatzuständen“ 100 sowie die
Raumpraktiken der Raumteilnehmer bilden zusammen einen Diskurs. Der Term Diskurs
ist für das Thema dieser Arbeit, die Produktion und Verhandlung von Raum, zentral.
Er soll als ein sowohl durch Sprache als auch durch Praktiken zusammengesetzter,
raumproduzierender Prozess verstanden werden.
„Discourse is about the production of knowledge through language. But… since all
social practices entail meaning, and meanings shape and influence what we do –
our conduct – all practices have a discursive aspect.” 101
Sprache ist in diesem Zusammenhang allerdings in einem weiteren Sinne, d.h. als ein
System von Zeichen (Wörter, Bilder, Körperverhalten, Kleidung, Architektur etc.), zu
verstehen.
Der materielle Raum an sich besteht zwar auch ohne den Diskurs, jedoch ergibt sich die
Bedeutung des Raumes im Diskurs.
„[...] nothing which is meaningful exists outside discourse.”
Ebenso sind Umgang mit sowie Gestaltung des Raumes sowohl Teile des Diskurses (z.B.
Raumaufteilung als Zeichensystem, das Raumbedeutung konstruiert) als auch Effekte des
Diskurses (z.B. Entscheidungen von Stadtplanern, die auf Interpretationen der
Raumbedeutung basieren).
Diskurs sei darüber hinaus als ein von Machtkämpfen geprägter Prozess zu verstehen.
Beispielsweise kann es als eine machtvolle Repräsentation betrachtet werden, ob ein
Viertel wie das Quartier Barbès als gefährlicher oder als sehenswerter, von
„multikulturellen Attraktionen“ durchzogener Raum dargestellt wird. Ebenso fügt die
physische Gestaltung eines Raumes, die verschiedene Ein- und Ausschlussmechanismen
von Raumteilnehmern ermöglicht, oder die mediale Ausstattung des Raumes, welche die
Überwachung von manchen Raumteilnehmern erlaubt, dem Raum eine Machtstruktur
hinzu.
Die Diskursivität jeder Repräsentation stellt auch ein methodisches Problem dieser Arbeit
dar. Sowohl das Foto- und Videomaterial, das für die Analyse erstellt wurde, als auch die
schriftliche Analyse ist nicht neutral. Das Foto- und Videomaterial wurde für diese Arbeit
aufgenommen und ist somit einer bestimmten Intention verschrieben. Bereits die Wahl der
100
Vgl. Löw, Martina (2008): Soziologie der Städte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 141
Hall, Stuart (1997): Representation. Cultural representations and signifying practices. London: Sage Publ.,
S. 44
101
43
fotografischen oder filmischen Perspektive beruht auf einer Entscheidung und ist durch
verschiedene Einstellungen, Erfahrungen und Intentionen des Aufnehmenden beeinflusst.
Die Illusion der fotografischen oder filmischen Wahrheit muss daher auch in Bezug auf
das für diese Arbeit produzierte Bildmaterial kritisch hinterfragt werden.
Ebenso muss die Praxis des Filmens und Fotografierens für diese Arbeit an sich als
machtvoller Prozess angesehen werden. Das Filmen und Fotografieren im Analyseraum
wurde von einigen Raumteilnehmern kritisiert und verhindert.
Diese Reaktion ist jedoch durchaus verständlich, da Bilder und Videos als
Machtgegenstände angesehen werden können. Sie verleihen ihrem Besitzer die Macht, die
aufgezeichneten Räume und Personen zu repräsentieren. Es entsteht demnach eine
„Repräsentationsmacht“, die diskursiv genutzt werden kann.
Auf Grund der häufig negativen Repräsentation des Analyseraumes in den Medien,
reagierten
einige
Raumteilnehmer
vermutlich
zusätzlich
empfindlich
auf
die
entsprechenden Aufnahmen.
Zudem zeichnet sich der östliche Teil des Analyseraumes durch eine hohe Präsenz einer
Bevölkerung mit Migrationhintergrund aus. Das Filmen oder Fotografieren könnte für
manche Raumteilnehmer wie eine Exotisierung ihrer Person sowie des von ihnen
geprägten Raumes gewirkt haben.
Auch die schriftliche Analyse dieser Arbeit ist ein zweiseitiger, ebenso machtvoller
Prozess. Sie versucht, die verschiedenen raumproduzierenden und verhandelnden
Dynamiken zu entschlüsseln. Allerdings ist sie selbst ebenso eine Produktion und
Verhandlung des Raumes, den sie beschreibt. Der Text, der im Rahmen dieser Arbeit
entsteht, ist eine Form der Aneignung des Analyseraumes. Es entsteht eine
„Deutungsmacht“ die James Clifford in seinem Werk „Über ethnograpische Autorität“
problematisiert.
„Wenn
die
Ethnographie
Kulturinterpretationen
aufgrund
intensiver
Forschungserfahrungen hervorbringt, wie wird dann eine unlenksame Erfahrung in
einen autoritativen schriftlichen Bericht verwandelt? Wie genau wird eine
wortreiche, überdeterminierte Begegnung, die kulturelle Grenzen überschreitet und
mit Machtverhältnissen und persönlichen gegenseitigen Mißverständnissen
durchsetzt ist, als die adäquate Version einer mehr oder weniger abgegrenzten
„anderen Welt“ umschrieben, verfasst von einem einzelnen Autor?“ 102
Dieses methodische Problem kann leider nicht gelöst, sondern nur mit der nötigen
Selbstreflexivität beachtet werden.
102
Clifford, James: Über ethnographische Autorität, in: Berg, Eberhard; Fuchs, Martin (1993): Kultur,
soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt am Main: Suhrkamp., S. 114
44
Darüber hinaus soll gerade nicht versucht werden die diskursive Komplexität des
Analyseraumes so zu interpretieren, dass eine kohärente Theorie dazu entsteht. Vielmehr
sollen die verschiedenen Diskurse, die über den Raum geführt werden sowie im Raum und
mittels des Raums selbst (seine Gestaltung, seine Architektur etc.) entstehen, aufgezeigt
werden. Die Herausstellung der prinzipiellen Dynamik von Raumdiskursen ist Ziel dieser
Arbeit, nicht die Feststellung von „Wesensmerkmalen“ eines sich ohnehin ständig
wandelnden Raumes. Bei der Analyse geht es demnach mehr um das „wie?“ als um das
„was?“.
Ein ebenso methodisches Problem ist die Tatsache, dass die Beobachtungen, die zum
Analyseraum entstanden sind und in dieser Arbeit verarbeitet werden, von einer Person
angestellt wurden, die mit dem Raum nur als Besucher vertraut ist. Es besteht demnach das
Risiko, dass manche Raumdiskurse nicht bemerkt oder falsch gedeutet wurden. Auf der
anderen Seite ist das Quartier Barbès gerade dadurch charakterisiert, dass es zu 80% von
Menschen frequentiert wird, die sich dort nur in einem bestimmten zeitlichen Rahmen
aufhalten. Auch diese Beziehung zwischen Raum und Raumteilnehmer macht das Quartier
Barbès aus. Ob Raumteilnehmer einen Raum hauptsächlich als Besucher nutzen oder sich
dort auf Dauer aufhalten, prägt die spezifische Eigenlogik des Raumes. Dieses Verhältnis
wird von Martina Löw als Wechselspiel zwischen Raum und Habitus der Raumteilnehmer
sowie von Michel de Certeau als praktizierter Raum („gesprochener Ort“) thematisiert.
Der Vergleich mit ethnografischer Feldforschung, der bereits anklang, ist für diese Arbeit
durchaus passend. Sämtliche Aussagen und Interpretationen sind im Zuge der Teilnahme
an einem mehr oder minder fremden Raum entstanden. Dabei werden nicht einfach
vorhandene Sinnstrukturen abgelesen und später transkribiert.
„Folgt man Dilthey, so kann die ethnographische „Erfahrung“ als Aufbau einer
gemeinsamen sinnhaften Welt gesehen werden, wobei man sich intuitiver Formen
des Fühlens, Wahrnehmens und Vermutens bedient.“ 103
Die Teilnahme am Analyseraum und das Schreiben dieser Arbeit erstrecken sich demnach
nicht nur im Ablesen oder Deuten eines bereits fertig produzierten Raumes und seiner
Sinnstrukturen. Es handelt sich gleichzeitig immer um das „konstruktive Verhandeln“ 104
dieses Raumes und seiner Bedeutung.
Trotz dieser unvermeidbaren Beteiligung an der Konstruktion von Sinnstrukturen, soll
auch vor weitführenden Interpretationen des Analyseraumes nicht zurückgeschreckt
werden. Selbst die Bedeutungsdimension, die Roland Barthes als modernen Mythos einer
103
104
Ebd., S. 128
Vgl. ebd., S. 135
45
semiotischen
Struktur
versteht,
soll
behandelt
werden.
Barthes behauptet in seiner Theorie zum Mythos, dass semiotische Strukturen auf zwei
Ebenen bedeuten können. Die zweite Bedeutungsebene basiert auf der ersten (der
Denotation von zusammengesetzten Zeichen) und lässt die Repräsentation in einem
weiteren Sinne bedeuten.
„The first, completed meaning functions as the signifier in the second stage of the
representation process, and when linked with a wider theme by the reader, yields a
second, more elaborate and ideologically framed message or meaning.“ 105
Als letzte methodologische Bemerkung sei noch erwähnt, dass die folgende Analyse des
Quartier Barbès, wie es bereits im ersten Kapitel praktiziert wurde, eine künstliche
Spaltung verschiedener Raumdimensionen vornimmt. In Wirklichkeit müssen diese
Dimensionen aber zusammenaddiert werden. Sie wirken zusammen oder gegeneinander
und überlagern sich kontinuierlich.
3.2. Raumstruktur
In diesem Kapitel soll anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden, wie das Quartier
Barbès durch seine bauliche Gestaltung und räumliche Strukturierung produziert bzw.
verhandelt wird.
Insbesondere Elemente, die Räume oder Orte voneinander trennen, sollen betrachtet
werden. Ebenso sollen Elemente, die Räume hierarchisieren oder funktionalisieren,
besprochen werden. Auch Elemente, die im Sinne Kevin Lynchs lediglich der Orientierung
der Raumteilnehmer dienen, werden Thema dieses Abschnittes sein. Da der Analyseraum
trotz der bereits vorgenommen Eingrenzung relativ groß ist, kann nicht auf jedes
raumstrukturierende Element eingegangen werden. Es werden nur ausgewählte Beispiele
vorgestellt, mit Hilfe derer die Dynamiken der Produktion und Verhandlung von Raum
veranschaulicht werden können.
3.2.1. Akteure der baulichen Raumgestaltung:
Die Akteure der baulichen Raumgestaltung des Quartiers Barbès sind vor allem die
Stadtplaner, Architekten sowie deren Auftraggeber (der Staat bzw. die Stadt). Sie besitzen
die meiste Macht, wenn es darum geht, den öffentlichen Raum mit starren Elementen zu
strukturieren sowie zu verzieren.
Darüber hinaus haben die Besitzer der an den
öffentlichen Raum grenzenden Privaträume einen gewissen Spielraum, innerhalb dessen
sie an der baulichen Gestaltung des öffentlichen Raumes teilnehmen können. Dieser
105
Hall, Stuart (1997): Representation. Cultural representations and signifying practices. London: Sage Publ.,
S. 39
46
Spielraum wird jedoch durch rechtliche Maßgaben eingeschränkt. Ein Großteil der
baulichen Struktur des Analyseraumes liegt darüber hinaus, wie bereits in Kapitel 2.1.
besprochen, in der Geschichte des Viertels begründet und wird heute geschützt.
Nennenswert sind dabei vor allem die Gestaltungselemente, die durch Georges-Eugène
Haussmann in den Raum eingefügt wurden.
3.2.2. Grenzelemente:
Zwei wichtige Elemente, welche dem Gesamtanalyseraum eine Struktur verleihen, sind der
Boulevard de Rochechouart und der Boulevard de Clichy in ihrer derzeitigen Gestaltung.
Diese beiden Boulevards bilden die Grenze zwischen dem 18. Arrondissement und dem
10. Arrondissement (im Osten) sowie dem 9. Arrondissement (im Westen). Ihre Breite
sowie ihre intensive Ausgestaltung betont die Grenzfunktion der Boulevards. Ebenso wird
die Grenzsituation durch die höher gelegene, überirdische Metrostation BarbèsRochechouart verstärkt. Diese fungiert nach Kevin Lynchs Definition als Grenze bzw.
Kante (edge) im Stadtraum.
106
Kreuzung Boulevard Barbès, Boulevard de Rochechouart ; Metrostation Barbès-Rochechouart
Es soll nur am Rande erwähnt werden, dass das 10. und 9. Arrondissements sich stark vom
18. Arrondissement unterscheiden. Diese Unterscheidung betrifft deren Ruf, deren
Funktion und deren „Inhalt“. Vor allem das 9. Arrondissement gilt dabei im Kontrast zum
18. als reicher und edler Raum. Dort befinden sich beispielsweise einige der berühmten
„Grand Boulevards“ (Boulevard des Capucines, Boulevard Poissonière), luxuriöse
Kaufhäuser wie die Galeries Lafayette und die Opéra Garnier.
106
Google Maps. Online verfügbar unter http://maps.google.de/, zuletzt geprüft am 20.06.2009.
47
3.2.3. Gestaltung der Boulevards und Funktion des Mittelstreifens
Die beiden Boulevards sind zweispurig. In der Mitte befindet sich eine Insel, die die beiden
entgegengesetzten Fahrbahnen voneinander trennt und für Raumteilnehmer begehbar ist.
Während die eine Fahrspur, die an das 9. und 10. Arrondissement grenzt (und in ihrer
Richtung vom Place de Clichy zur Metrostation Barbès-Rochechouart führt) an ihrer
Bürgersteigsseite nur einige Geschäfte und Cafés hat, ist die entgegengesetzte Fahrbahn
am Fuß des Hügels Montmartre mit Imbissen und Geschäften unterschiedlichster Art
überfüllt. Die Insel in der Mitte der Boulevards bildet die Grenze zwischen zwei
unterschiedlichen (Nutzungs-) Räumen.
Der Mittelstreifen ist ein Teil des Raumes, der fast ausschließlich von der Stadt gestaltet
wurde. Er ist entsprechend bestimmter städtischer Absichten an verschiedenen Stellen
unterschiedlich
ausgestattet.
Auf
diese
Weise
werden
ebenfalls
verschiedene
Raumfunktionen voneinander getrennt. Während der Mittelstreifen der beiden Boulevards
an manchen Stellen begrünt und mit Bänken ausgestattet ist, ist er wiederum an anderen
Stellen nur mit Bänken ausgestattet oder unbebaut. Die begrünte Gestaltung macht den
Mittelstreifen zu einem Aufenthaltsraum, einer Art Oase, um sich von dem umliegenden
Treiben zu distanzieren. Die Begrünung an den äußeren Rändern des Mittelstreifens
fungiert dabei als Sicht- und Lärmschutz. An anderen Stellen ist der Mittelstreifen
unbegrünt und bietet eine Art Aussichtspunkt, von dem aus der umliegende Raum
beobachtet werden kann. Auf strategische Weise wurden diese Freistellen vor den
touristischen Sehenswürdigkeiten des Analyseraumes angelegt. Beispielsweise ist der
Mittelstreifen um die Metrostation Anvers unbegrünt und liefert so eine Aussicht, die
zwischen den Häuserblöcken einen Blick auf die Basilique du Sacré-Cœur erlaubt. Die
Aufenthalts- und Aussichtsfunktion dieses Ortes wird dadurch verstärkt, dass sich auf der
anderen (nicht am Fuß des Hügels Montmartre gelegenen) Straßenseite ein kleiner Park
befindet.
Ebenso ist die Fläche vor dem berühmten Moulin Rouge unbegrünt und erlaubt den
Touristen eine freie Sicht, die insbesondere genutzt wird, um zu fotografieren.
Durch die begrünten Abschnitte des Mittelstreifens wird eine Art Flucht vor dem
thematischen Umfeld (reges kommerzielles Treiben, Erotikgewerbe, Tourismusanhäufung
etc.) ermöglicht. Gleichzeitig sollte jedoch betont werden, dass auch an den begrünten
Abschnitten, dem Raumteilnehmer nicht komplett die Aussicht versperrt wird. Trotz
gefühlter Abschottung, kann er an den Sträuchern und Bäumen vorbei sein Umfeld
beobachten.
48
Ebenso sind alle Metrostationen (Blanche, Pigalle, Anvers, Barbès-Rochechouart), deren
Eingänge sich immer auf dem Mittelstreifen der Boulevards befinden, freigelegt, damit sie
für den Raumteilnehmer gut sichtbar sind.
Der Mittelstreifen wird nur an einer Stelle als Marktraum genutzt. Um die Metrostation
Anvers herum gruppieren sich einige Stände, die Souvenirartikel verkaufen. An dieser
Stelle befindet sich auch die Touristikinformation. Es handelt sich anscheinend um eine
Stelle im Raum, an welcher der Tourismus von der Stadt gefördert wird. Wie schon im
Kapitel 2.3. erwähnt wird die Metrostation Anvers durch die Rue de Steinkerque direkt mit
der Parkanlage um die Basilique du Sacré-Cœur verbunden.
Die Boulevards de Clichy und de Rochechouart bilden außerdem insgesamt eine sehr
wichtige lineare Struktur im Analyseraum. Entlang dieser Straßen gruppieren sich
verschiedene thematische Konzentrationen, wie beispielsweise der touristische Subraum,
das Rotlichtviertel, oder der Marktraum um das Warenhaus Tati.
3.2.4. Lage und Umgebung der Metrostationen
Alle Metrostationen befinden sich an strategischen Punkten im Raum. Sie liegen immer in
der Nähe von großen Kreuzungen, an denen sowohl vom Hügel Montmartre ausgehend als
auch auf der Seite des 9. und 10. Arrondissements Straßen in die Boulevards münden.
Dabei münden an der nicht am Fuße des Montmartre gelegenen Seite die Straßen an drei
Stellen (an der Metrostationen Pigalle und Blanche sowie an der Kreuzung zwischen
Boulevard de Rochechouart und Rue de Clignancourt) zunächst in eine Straße, die einen
Halbkreis bildet. Erst von dieser Sammelstraße aus gelangen die Raumteilnehmer in die
Boulevards.
Die an dieser Halbkreisstraße liegenden Häuser sind ebenfalls in einem Halbkreis gebaut.
Diese Tatsache spricht dafür, dass die Häuser mit einem hohen Maß an stadtplanerischer
Intention angelegt wurden. Auf der anderen Straßenseite sind solche Anordnungen nicht
vorhanden.
Kreiskonstruktionen, auf die Straßen sternförmig hinzulaufen, sind für Zentralparis sehr
typisch. Das beste Beispiel dafür ist natürlich der Place de l´Étoile.
Es spricht einiges dafür, die Plätze, die durch solche Kreiskonstruktionen geschaffen
werden, als Knotenpunkte (node) zu bezeichnen. Hier kreuzen sich vielerlei verschiedene
Straße und zusätzlich die unterirdischen Bahnen des Metronetzes. Es laufen demnach
verschiedene Ströme zusammen. Generell lässt sich behaupten, dass im Analyseraum jede
Metrostation an einem Knotenpunkt angesiedelt ist bzw. selbst den Knotenpunkt bildet.
49
107
Place Pigalle
Darüber hinaus können gerade die Metrostationen auf dem Boulevard de Clichy sowie de
Rochechouart als Landmarken bezeichnet werden. In regelmäßigen Abständen
strukturieren sie den Raum und bedeuten den Raumteilnehmern ihre Position im
Gesamtstadtraum Paris.
3.2.5. Geschäfte und Sehenswürdigkeiten als Landmarken:
Neben den Metrostationen dienen auch bekannte Geschäfte und Sehenswürdigkeiten als
Landmarken. Die Orientierung des Raumteilnehmers verläuft entlang auffälliger Elemente
wie beispielsweise dem Discount-Warenhaus Tati, der Fassade des Veranstaltungssaals
Elysée Montmartre, des Brunnens an der Metrostation Pigalle oder des Moulin Rouge.
3.2.6. Trennung der Verkehrswege und Schutzmaßnahmen:
Eine weitere von Stadtbauern geschaffene Maßnahme, um den Raum zu strukturieren, sind
kleine Verkehrsinseln sowie Pfeiler und Zäune, die verschiedene Fahrbahnen voneinander
trennen und somit den Fluss der verschiedenen Raumteilnehmer versuchen voneinander zu
trennen.
Auf dem Beispielbild weiter unten kann man beispielsweise erkennen, dass durch eine
schmale Verkehrsinsel die Busspur von der PKW-Fahrbahn abgegrenzt wird.
Ebenso grenzen Pfeiler den ohnehin höher gelegenen Bürgersteig von der Fahrbahn ab. Es
handelt sich um eine Konstruktion, die auf die normalerweise dichte Bevölkerung des
Bürgersteigs vor dem Discount-Warenhaus Tati reagiert. Um die Raumteilnehmer davon
abzuhalten, auf die Fahrbahn zu treten, wurden die Pfeiler angebracht.
An der Kreuzung von Boulevard Barbès und Boulevard de Rochechouart befinden sich
sogar Zäune. An dieser Stelle häuft sich das Personen- sowie Verkehrsaufkommen noch
mehr.
107
Ebd.
50
108
Boulevard de Rochechouart 4
Es sollte also festgehalten werden, dass nicht nur Raumteilnehmer auf die Struktur des
Raumes reagieren, sondern auch die Raumstruktur (bzw. das Verhalten der
Raumkonstrukteure) auf das Verhalten der Raumteilnehmer.
3.2.7. Der Hügel Montmartre als Strukturierungselement:
Der Hügel Montmartre bildet durch seine Steigung ebenfalls ein natürliches den Raum
strukturierendes Element, da sich sowohl die Bebauung (Boulevards, die den Bergfuß
umranden) als auch die Bevölkerung des Raumes (mehr Durchgangsverkehr um den Berg
herum, mehr Touristenaufkommen auf dem Hügel) an dieser Erhebung orientieren. Auf
diese Weise grenzt der Raum auch zwei verschiedene Nutzungsräume (Tourismusraum,
Marktraum) voneinander ab. Mit seiner durch die Basilique du Sacré-Cœur gekrönten
Spitze ist er zudem eine Landmarke.
3.2.8. Architektur und Fassaden als Kontrastelemente:
Auch die Architektur bzw. Fassadengestalt hat eine raumstrukturierende Funktion. Sie
trägt beispielsweise zur Differenz zwischen bzw. Hierarchisierung von Boulevards und
Nebenstraßen bei. Dies ist besonders im Osten des Analyseraums, dem offiziellen Viertel
Goutte d´Or, der Fall. Hier unterscheiden sich in vielen Fällen die Nebenstraßen (z.B. Rue
des Poissonniers, Rue Polonceau, Rue Myrha, etc.) von den Boulevards durch die
Architektur der anliegenden Häuser sowie deren Fassaden. Es fällt auf, dass die Fassaden
der an die Boulevards grenzenden Häuser viele Steinelemente und Verzierungen haben.
Darüber hinaus verfügen sie oft über kleine, gusseiserne Balkone und große, hölzerne
Türen und Tore. Die Dächer sind häufig aus Schiefer und schmuckvoll gewölbt. Die
Dachfenster schauen dabei leicht hervor. Die Anordnung der einzelnen Elemente (Fenster,
Balkone, Verzierungen) ist regelmäßig und bildet eine Art Muster. Manchmal befinden
108
Ebd.
51
sich ebenso besondere Verzierungselemente wie kleine Statuen oder mit Stein
aufgearbeitete Initialen auf den Fassaden.
Darüber hinaus befinden sich in regelmäßigen Abständen angelegte Bäume auf den
Boulevards. Insgesamt herrscht eine starke Kontinuität.
Die Häuserstil der Nebenstraßen ähnelt dem de Boulevards. Häufig haben auch diese
Häuser eine regelmäßige, ein Muster bildende Fensterstruktur. Jedoch sind die
Baumaterialien unterschiedlicher. Oft sind die Häuser normal verputzt. Ihre Fensterläden
sind zum Teil aus abgenutztem Holz. Sie haben nicht so häufig Balkone. Die Häuser und
Dächer sind seltener schmuckvoll gewölbt. Darüber hinaus haben die einzelnen Bauten
wesentlich seltener die gleiche Höhe oder einen sehr ähnlichen Stil. Sie unterscheiden sich
wesentlich mehr voneinander als die Bauten auf den Boulevards. Insgesamt bemerkt man,
dass hinter ihrer Konstruktion kein einheitliches stadtplanerisches Konzept stand (wie
beispielsweise das Konzept Haussmanns).
109
Rue des Poissonniers, Mündung in Boulevard Barbès
Dennoch trifft es auch auf die Nebenstraßen zu, dass sich der gesamte Baustil nicht dem
Pariser Gesamtbild bzw. Gesamtstil entzieht. Der Kontrast zwischen Boulevards und
Nebenstraßen bezieht sich vor allem auf Material und Einheitlichkeit. Ebenso ist, wie
schon erwähnt, der Kontrast zwischen Boulevards und Nebenstraßen im Osten des
Analyseraumes wesentlich stärker als im Westen.
3.2.9. Gestaltung der Eingänge der Metrostationen:
109
Ebd.
52
Die Gestaltung der Metrostationen kann als Hinweis auf die Raumbeschaffenheit oder
konstruierte Raumatmosphäre verstanden werden. Die Metrostation Chateau Rouge
befindet sich beispielsweise in dem mit dem Namen „îlot sensible“ betitelten sowie von
mehrheitlich immigrierten Raumteilnehmen bevölkerten östlichen Subgebiet des
Analyseraumes. Diese Metrostation ist durch ein Leuchtschild gekennzeichnet. Eine eher
unauffällige, eingezäunte Treppe führt in das Metrosystem. Der Name der Metrostation
steht auf einem simplen Schild daneben.
Die Metrostationen Anvers oder Blanche hingegen sind sehr auffällig gestaltet. Der
Eingang ist mit einem geschwungenen Zaun sowie mit einem Rundbogen umgeben.
Diesen Rundbogen schmücken zwei Laternen. In der Mitte des Rundbogens befindet sich
in ein Schild, auf dem in geschwungener Schrift „Metropolitain“ steht. In gleicher Weise
ragt der Namen der Metrostation auf einem schmuckvoll eingerahmten Schild über der
Metrostation.
Insgesamt ist die Gestaltung der Stationen Anvers und Blanche wesentlich aufwendiger
und nostalgischer. Diese Gestaltung passt, wie in einem späteren Kapitel noch gezeigt
werden soll, zur Raumnarration bzw. zum Raumbild dieses Subgebiets des Analyseraumes.
Zwar könnte sich der stilistische Unterschied auch dadurch ergeben haben, dass die Station
Chateau Rouge sechs Jahre später gebaut wurde (1908) als die anderen beiden Stationen.
Allerdings unterschied sich damals das Viertel Goutte d´Or bereits vom Boulevard de
Clichy sowie vom westlichen Teil des Boulevard de Rochechouart. Der stilistische
Unterschied ist vermutlich sowohl ein Ergebnis stadtplanersicher Entscheidungen, die
darauf abzielten, Konstruktionen der Funktion ihrer Umgebung anzupassen. Zum anderen
ist der Unterschied durch unterschiedliche Baujahre begründet.
Heute trägt er zur gebauten Differenz zweier verschiedener Subräume im Quartier Barbès
bei.
Darüber hinaus ist es interessant zu beobachten, dass sich die kleineren Zeitungskioske, die
in ganz Paris einheitlich gebaut wurden, oft in der Nähe der Metrostationen befinden. Auch
hier handelt es sich um ein Ergebnis stadtplanerischer Entscheidung, die auf die alltägliche
Praxis des Lesens während der Metrofahrt reagiert bzw. den Fahrgästen diese Praxis nahe
legt.
53
Metrostation Chateau Rouge
Metrostation Anvers
3.2.10. Heterotopien:
Wie jeder kulturelle Raum ist auch das Quartier Barbès von qualitativ unterschiedlichen
Räumen durchzogen. Michel Foucault beschreibt in seinem Aufsatz „Andere Räume“ den
modernen Raum als offenen Raum. Er stellt den mittelalterlichen Raum als einen durch
eine kosmologische Theorie hierarchisierten Raum, einen „Ortungsraum“ 110 , dar. Durch
die kopernikanische Wende brach diese Hierarchie auf und veränderte den Raum so, dass
wir ihn heute als offenen Raum erleben. Dieser offene Raum wird durch
Lagerungsbeziehungen
geformt.
Nachbarschaftsbeziehungen
oder
funktionale
Raumbeziehungen (Halteplätze vs. Fortbewegungsräume, Freizeiträume vs. Arbeitsräume
etc.) zählen zu diesen Lagerungsbeziehungen. Auch die Zeit versteht Foucault in der
„Epoche des Raumes“ 111 als eine bloße Lagerungsbeziehung.
Er zählt jedoch zwei besondere Raumarten auf, die besondere Lagerungsbeziehungen
aufweisen, da sie mit allen anderen Räumen in Verbindung stehen, während sie ihnen
gleichzeitig widersprechen: Utopien und Heterotopien
Während Utopien als Perfektionierungen oder Kehrseiten einer Gesellschaft unwirkliche
Räume sind, gibt es Heterotopien tatsächlich. Bei Heterotopien handelt es sich laut
Foucault um „wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet
sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager“112 .
Foucault zählt anhand verschiedener Beispiele die Grundeigenschaften von Heterotopien
auf. Seiner Auffassung nach etablieren alle Kulturen diese Räume. Heterotopien
funktionieren dabei auf bestimmte Weise innerhalb der jeweiligen Gesellschaften:
Heterotopien können an einem Ort mehrere Orte zusammenlegen. Sie sind häufig an
110
Vgl. Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz (1990): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder
Perspektiven einer anderen Ästhetik ; Essais. Leipzig: Reclam, S. 36
111
Vgl. ebd., S. 34
112
Ebd. S. 39
54
Zeitabschnitte gebunden und brechen mit der herkömmlichen Zeit. Dabei können sie
sowohl die Zeit akkumulieren (Museen, Bibliotheken) als auch an flüchtige Zeitabschnitte
gebunden sein (Feste, Feriendörfer). Heterotopien setzen des weiteren ein System von
Öffnungen und Schließungen voraus (Gefängnis).
Der letzte Grundsatz von Heterotopien besteht darin, dass sie gegenüber dem
herkömmlichen Raum eine Funktion haben. 113
Auch wenn es in diesem Zusammenhang interessant wäre, Foucaults Konzept der
Heterotopien genauer zu besprechen, soll sich nun wieder dem Analyseraum gewidmet
werden. Dieser birgt ebenfalls mehrere Heterotopien in sich (Friedhöfe, ein Hammam, eine
Moschée, eine Synagoge, Bordelle, Theater etc.) . Auf eine Heterotopie, die vom
öffentlichen Raum in regelmäßigen räumlichen Abständen zugänglich ist, soll jedoch kurz
näher eingegangen werden: Das Metrosystem.
Das Metrosystem von Paris hat dem herkömmlichen Raum gegenüber hauptsächlich eine
Transportfunktion. Die Raumteilnehmer können schneller von einem Ort zu einem anderen
gelangen. Nach Foucaults Definition könnte man sagen, sie brechen mit der Zeit. Der
Gesamtraum wird somit verdichtet, denn die räumlichen Abstände werden praktisch,
jedoch nicht geografisch verkürzt. Einmal in das Netz eingetreten befindet sich der
Raumteilnehmer in einem Zwischenraum, der eine Reihe von wichtigen Orten im
Stadtraum miteinander verbindet. Nach Marc Augés Definition könnte man gleichsam
sagen, dass es sich beim Metrosystem um einen Nicht-Ort handelt. Sein Hauptsinn besteht
in der Verknüpfung von Orten miteinander. Ohne diese Funktion wäre der Raum unnötig.
„Si un lieu peut se définir comme identitaire, relationnel et historique, un espace
qui ne peut se définir ni comme identitaire, ni comme relationnel, ni comme
historique définira un non-lieu.“ 114
In purer Form, so gibt Marc Augé zu bedenken, existierten jedoch weder Orte, noch NichtOrte. 115
Die Entscheidung, welche Orte innerhalb dieses Stadtraumes ausreichend wichtig sind, um
eine eigene Metrostation zu erhalten, wurde von den Planern des Metronetzes gefällt.
Durch eine Metrostation wird somit einem Ort im herkömmlichen Raum eine zusätzliche
Prominenz verliehen.
Ähnlich Foucaults Beschreibung von Zügen ist die Metro selbst ein räumliches
„Beziehungsbündel“.
113
Vgl. ebd., S. 40-46
Augé, Marc (1992): Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité. Paris: Ed. du Seuil,
S.100
115
Vgl. ebd., S. 101
114
55
„er [der Zug] ist etwas, was man durchquert, etwas, womit man von einem Punkt
zum anderen gelangen kann, und etwas, was selber passiert“ 116
Der Zutritt zur Heterotopie des Metrosystems wird durch klare Eingangs- und
Ausgangspforten reguliert. Die Nutzer müssen sich mit einem System von Schranken und
Türen, die durch entsprechende Tickets geöffnet werden können, auseinandersetzen. Die
Nutzung des Raumes ist auf die Zeit zwischen ca. 5 Uhr morgens und 1 Uhr nachts
begrenzt.
Innerhalb des Metrosystems kommt es oft zu einer eigentümlichen räumlichen Praxis der
Raumteilnehmer. Warteräume befinden sich direkt neben Durchlaufzonen. Einander
fremde Raumteilnehmer werden insbesondere in den kleinen Abteilen der Metro zu
körperlicher Nähe gezwungen.
Die Anhäufung von Menschen im vergleichsweise engen Raum des Metrosystems wird
wiederum genutzt, um zu verkaufen (kleine Stände, Automaten) sowie zu repräsentieren
(Musikdarbietungen, Plakatwände etc.).
Beim Metrosystem handelt es sich folglich um einen größtenteils unterirdischen
Parallelraum, der abweichend vom überirdischen Raum praktiziert wird.
Das Metrosystem, welches im Quartier Barbés verläuft, bildet ebenso einen Parallelraum.
Dieser bezieht sich auf den herkömmlichen Raum durch Symbole und Repräsentationen.
Bilder und Texte wie z. B. „Anvers-Sacré-Cœur“ oder Werbeplakate, die für Restaurants und
Museen in der Nähe werben, stellen eine imaginäre Verbindung zwischen überirdischem und
unterirdischem Raum her.
Das Metrosystem ist also als Teil des Gesamtanalyseraumes zu verstehen.
Die Heterotopie des Metrosystems wurde am Ende dieses Kapitels vorgestellt, da es sich
um eine Mischform des gebauten und praktizierten Raumes handelt.
Als Heterotopie macht das Metrosystem nur Sinn, weil es einerseits in bestimmter Weise
vorkonstruiert ist (Eingänge, Ausgänge, Netzform) und andererseits auf bestimmte Weise
genutzt wird.
Im folgenden Kapitel soll nun gezeigt werden, dass dies auch für den gebauten Raum gilt.
Durch die bauliche Struktur, so sollte in diesem Kapitel gezeigt werden, legt der Raum den
Raumteilnehmern ein bestimmtes Verhalten (Aufenthalt, Transit, Aussichtsplatz) nahe.
Ebenso behaftet die bauliche Struktur eines Raumes den Raum selbst bzw. seine einzelnen
Subräume mit einer bestimmten Bedeutung oder Atmosphäre (klassizistischer Baustil,
nostalgisch verzierte Metrostationen).
116
Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz (1990): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder
Perspektiven einer anderen Ästhetik ; Essais. Leipzig: Reclam, S. 38
56
Es handelt sich hierbei jedoch nur um Vorgaben. Diese werden im Sinne Michel de
Certeaus jedoch von den Raumteilnehmern angeeignet und umgewertet. Der praktizierte
Raum verhandelt sozusagen mit dem gebauten Raum. Dieser Prozess soll nun betrachtet
werden.
3.3. Raumaneignung durch Raumteilnehmer:
So sehr das Quartier Barbès auch durch bestimmte Gestaltungselemente vorstrukturiert ist,
ohne seine Raumteilnehmer würde das Viertel ein Ort bleiben. Denn, so wie Michel de
Certeau es darstellt, wird ein Ort zum Raum, wenn er praktiziert wird, genauso wie ein
Wort, das gesprochen wird.
Das Quartier Barbès wird täglich in ausgesprochen starker und vielfältiger Weise
praktiziert. Durch diese Praxis entstehen eine Reihe von Subräumen auf verschiedenen
scales.
Viele der in diesem Kapitel beschriebenen Praktiken werden durch ein Video im Anhang
veranschaulicht. Dieses Video ist 104 Minuten lang. Dabei bieten etwa die ersten sechzig
Minuten
Anschauungsmaterial
zur
Raumstruktur
sowie
zu
Raumpraktiken
an
verschiedenen Stellen des Analyseraumes. Die Stellen, an denen die Aufnahmen
angefertigt wurden, sind durch einen roten Punkt auf einer im Video regelmäßig
erscheinenden Straßenkarte markiert. Darüber hinaus liegt dem Video eine Liste bei, die
aufführt, zu welcher Zeit im Video, Aufnahmen von welcher Umgebung im Analyseraum
gezeigt werden.
3.3.1. Raumumwertung:
Die Videoaufnahmen, die an der Kreuzung von Boulevard Barbès und Boulevard de
Rochechouart entstanden sind, zeigen, dass diese Stelle des Analyseraumes meist dicht
bevölkert ist. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass an dieser Stelle zwei große
Verkehrsachsen der Stadt zusammentreffen. Darüber hinaus treffen zwei wichtige
Metrolinien (Metrolinie 2 und 4) an der Station Barbès-Rochechouart zusammen.
Das dicht mit Geschäften gefüllte Viertel Goutte d´Or im Osten des Analyseraumes sowie
das bekannte Discount-Warenhaus Tati, das an dieser Kreuzung beginnt, tragen ebenso
dazu bei, dass die Kreuzung so intensiv frequentiert wird.
Diese Situation fördert ein Raumverhalten, das die vorgegebenen Strukturen des Raumes
unterläuft. Beispielsweise werden die Strukturen des Raumes, welche verschiedene
57
Fahrbahnen markieren, nicht streng, sondern höchstens als Richtlinien beachtet. Je nach
Bedarf wird beispielsweise die Busfahrbahn als erweiterter Bürgersteig verwendet.
Des Weiteren ist es spannend zu beobachten, wie Räume, die als Durchgangsräume
konzipiert sind, wie beispielsweise die Ecke der besagten Kreuzung vor dem Warenhaus
Tati sowie dem Discount-Laden Vanoprix, als Aufenthaltsorte genutzt werden. Die dichte
Bevölkerung der jeweiligen Ecken der Bürgersteige scheint dabei ein Faktor zu sein, der
dieses Verhalten eher begünstigt. Die Raumteilnehmer, welche sich in diese Ecken
befinden, scheinen die Menschenmenge eher zu suchen als ihr aus dem Weg zu gehen. Oft
handelt es sich um junge Männer mit Migrationhintergrund. Sie setzen sich auf die Zäune
oder platzieren sich in kleinen Gruppen direkt daneben. Dies trifft auch auf die Zäune zu,
die sich neben dem Zeitungsladen unter der Metrobrücke befinden. Es scheint sich gerade
auf dieser Straßenseite des Boulevard Barbès um eine Art Treffpunkt zu handeln.
Die Raumpraxis widerspricht hier also mehr oder weniger der Raumkonzeption, denn
Bänke oder Begrünung, d.h. Elemente die Aufenthaltsräume markieren, sind an diesen
Stellen nicht vorhanden.
Hingegen werden die Mittelstreifen des Boulevards de Rochechouart sowie des Boulevards
de Clichy weniger als Aufenthaltsorte genutzt. Diese Feststellung wurde während der
Erkundung des Viertels für diese Arbeit gemacht. Leider wurde dieses Raumverhalten
jedoch kaum filmisch festgehalten.
Die Tendenz, dass für bestimmte Nutzungen vorkonzipierte Räume entweder nicht oder
anders genutzt werden, kann häufig bei stadtplanerischen Maßnahmen, die bestimmte
Freizeitoasen oder Jugendtreffpunkte schaffen wollen, beobachtet werden. Gerade
Baumaßnahmen, die sozialen Missständen entgegenwirken sollen, erzielen nicht immer die
gezielte Wirkung. Die Lenkung von sozialer Praxis in vorgesehene, unter Umständen sogar
kontrollierte Räume, funktioniert oft nicht. Dies ist auch beim Quartier Barbès manchmal
der Fall. Hingegen werden gerade im offiziellen Viertel Goutte d´Or verschiedenste kleine
Straßenkreuzungen, genutzt, um sich in kleineren Gruppen zu versammeln und
miteinander zu kommunizieren. Auch der Fahrradweg auf dem Boulevard Barbès wird
häufiger als Versammlungsort genutzt, was im Video zu beobachten ist. So ergeben sich
kleine soziale Räume spontan aus der Praxis. Wird diese Praxis zur Routine, so erhalten
auch die jeweiligen Stellen (Straßenecken, Flächen vor bestimmten Läden etc.) eine
konstante Bedeutung als Treffpunkt und Raum sozialer Praxis. Praktische Routinen
erzeugen „konstante“ Räume bzw. Raumbedeutungen.
58
Eine ähnliche Umwertung von vorstrukturierten Orten zu praktizierten Räumen vollzieht
sich, wenn Raumteilnehmer Durchgangsorte als Marktplätze und Repräsentationsbühnen
nutzen. Ein gutes Beispiel für diese Tendenz ist die Metrostation Barbès-Rochechouart.
Die Metrostation ist, da sie Zugang zu einer überirdischen und einer unterirdischen
Metrolinie verschafft, besonders geräumig. Da es eine überirdische Linie gibt, bedarf es
der Metrostation einer zusätzlichen Abschirmung nach Außen. Die natürliche
Abschottung, die durch die unterirdische Position der meisten Stationen gegeben ist, ist
hier nicht vorhanden. Die Metrostation hat daher einen hausartigen Komplex um sich
herum. Dieser Komplex wird kontinuierlich von Personen genutzt, um Zigaretten zu
verkaufen. Sobald der Fahrgast durch die Schranke aus der Metrostation heraus möchte
oder über die Rolltreppe die unterirdische Station verlässt werden ihm diese angeboten.
Die gleiche Stelle wird ebenso genutzt, um kleinere Aufführungen, meist mit Musik und
Tanz, aufzuführen. Eine Aufzeichnung einer solchen Aufführung ist ebenfalls im Anhang,
in Form eines separaten Videos, enthalten.
Die Akteure dieses Videos, ebenfalls junge Männer mit Migrationhintergrund, tanzen und
klatschen zu orientalischer Musik. Die zufällig anwesenden anderen Raumteilnehmer
bleiben entweder stehen und schauen zu oder gehen schnell am Geschehen vorbei. Selbst
durch die Zäune schauen sich einige Raumteilnehmer, die die Geräusche gehört haben, das
Spektakel an.
Die Praxis wertet den Nicht-Ort zum praktizierten Raum (Bühne, Tanzveranstaltung) etc.
um.
Ähnlich verhält es sich mit der zwei mal wöchentlich stattfindenden Umwertung des
Raumes unter den höher liegenden Metroschienen auf dem Boulevard de la Chapelle. Die
Präsenz des Marktes verändert diesen Ort grundlegend. An sämtlichen anderen
Wochentagen quasi brach liegend und unbeachtet, wird er zwei mal wöchentlich zum
räumlichen Zentrum. Dies ist nur möglich, da Akteure diesen Raum durch ihre Präsenz
sowie die Präsenz ihrer Waren verändern.
Ebenso werden verschiedene Straßenecken genutzt, um zu verkaufen. Einkaufswagen
werden als Ladentheken und Zubereitungsvorrichtungen von Popkorn, Maiskolben oder
Maronen genutzt. Auf dem Bürgersteig vor Tati verkaufen zudem verschiedene Verkäufer
Sonnenbrillen und ähnliche Artikel. In allen Fällen wird hier ein kleiner, spontaner
Marktraum mitten in einem Transitraum konstruiert.
Natürlich finden nutzungsbedingte räumliche Umwertungen dieser Art in vielen Räumen
und nicht nur im Quartier Barbès statt.
59
Die Tatsache, dass der Raum jedoch sehr stark frequentiert wird und generell als
Marktraum verschiedener, teilweise interkultureller Marktpraktiken bekannt ist, verstärkt
diese Prozesse jedoch. Straßenverkäufer und –Verkäuferinnen profitieren von der
Menschenansammlung.
Die Überschreitung von vorgegebenen Raumtrennstrukturen (wie beispielsweise Pfeilern
oder Verkehrsinseln) wird durch das Menschenaufkommen auf engem Raum begünstigt.
3.3.2. Spontane interpersonelle Raumkonstruktion:
Erving Goffman beschreibt in seinem Werk „Relations in Public“ wie Raumteilnehmer
miteinander Räume verhandeln, um ein Ineinanderlaufen zu vermeiden. Es handelt sich
also um Räume auf sehr kleinem scale, genaugenommen um Räume zwischen zwei
Körpern.
Im Verkehr bewegen sich Raumteilnehmer Goffman zufolge wie Einheiten, die durch
verschieden große Schalen von anderen Einheiten getrennt sowie geschützt werden. Je
kleiner und unaufwendiger die Schale, desto ungeregelter das Verkehrsverhalten. Während
der individuelle Körper mit Kleidung als die kleinste beweglichste Schale betrachtet
werden kann, die sich vermutlich am freisten im Raum bewegt, stellen Fahrzeuge wie
Pkws bereits größere, unbeweglichere Einheiten dar, deren Raumverhalten stärker
reglementiert ist. Auch das Laufen als Paar macht Raumteilnehmer zu größeren,
unbeweglicheren Einheiten, die ihr Raumverhalten ihrer „Form“ anpassen müssen. Ebenso
kann das Tragen von sperrigen Objekten zu solchen Bewegungsreglementierungen führen.
Die
Interaktion
der
verschieden
großen
Elemente
wird
durch
verschiedene
Ordnungssysteme reguliert. Die allgemeinen Verkehrsregeln stellen wahrscheinlich das
bekannte Ordnungssystem dar. Es gibt allerdings weitere Verhaltensregeln, die von den
meisten Raumteilnehmern bei gutem Funktionieren meist unbewusst befolgt werden. Eine
solche Ordnung ergibt sich dadurch, dass die Seiten von Fußgängerzonen, die mit
Geschäften belegt sind, meist für den langsameren Fußgängerverkehr genutzt werden. Hier
vermengen sich Menschen, die das Warenangebot betrachten mit Menschen, die aus den
Läden heraustreten und so den Fluss blockieren. Raumteilnehmer, die schneller
vorbeigehen wollen, wählen unbewusst meist die andere Seite des Fußgängerweges. Auf
Bürgersteigen wie dem vor dem Warenhaus Tati wäre die „Überholspur“ somit die an der
Straße gelegene Seite.
Darüber hinaus beschreibt Goffman eine Art intersubjektives Verhandeln von Raum bei
sich entgegenlaufenden Raumteilnehmern. Jeder Raumteilnehmer beobachte seine direkte
Umgebung, insbesondere den Raum vor sich, kontinuierlich. Goffman nennt dieses
60
Verhalten „scanning“ 117 . Sobald zwei Raumteilnehmer eine „scanning area“ teilen,
beginnen sie eine unbewusste Kommunikation. Durch Körpersprache vergewissern sich
die beiden Raumteilnehmer einer gegenseitigen Wahrnehmung und schlagen sich
Ausweichmanöver vor, um eine Kollision zu vermeiden. Falls die Kommunikation nicht
absolut eindeutig ist, erfolgt manchmal ein kurzer klarstellender Augenkontakt.
Erst wenn die Kommunikation nicht funktioniert und die beiden Raumteilnehmer sich
entweder berühren, oder gleichzeitig gleiche Ausweichrichtungen einschlagen und sich
dabei umso mehr im Weg stehen, wird die Aushandlung des Raumes bewusst.
Ähnliche Kommunikationsverhalten können zwischen Fußgängern und Autofahrern
beobachtet werden. Hier spielen auch Strategien der Aushandlung von Raum eine Rolle. Je
mehr beispielsweise ein Fußgänger beim Überqueren eines Zebrastreifens es vermeidet,
den Autofahrer durch die Frontscheibe anzusehen, um so wahrscheinlicher ist es, dass der
Autofahrer für den Fußgänger anhält. Merkt der Autofahrer hingegen, dass der Fußgänger
ihn wahrgenommen hat, so setzt er auf dessen Vorsicht und erwartet, dass der Fußgänger
stehen bleibt. Umgekehrt kann der Autofahrer Augenkontakt vermeiden, um den
Fußgänger zum Zögern zu bringen.
„As often noted in the literature, these routing signals generate the possibility of
gamesmanship. By not allowing pedestrians to catch his eye, a driver can keep
them in a hesitant condition.” 118
Goffman zählt verschiedene Manöver und Signale der Körpersprache auf, die solche
interpersonellen Raumverhandlungen ausmachen.
Im Analyseraum können diese Verhaltensweisen an verschiedenen Stellen (auch im Video)
beobachtet werden. Die dichte Bevölkerung an manchen Stellen bewirkt aber, dass die
einzelnen Raumteilnehmer sich ständig in gegenseitigen „scanning areas“ befinden. Somit
wird die Raumverhandlung zu einer schwierigen, manchmal zu bewusstem Stress oder
Ärger
führenden
Aufgabe.
Ebenso
kann
im
Video,
ungefähr
vierzigsten
Aufzeichnungsminute eine Kollision zwischen zwei Raumteilnehmern beobachtet
werden. 119 Es wird deutlich, dass in diesem speziellen Moment durch starke Ablenkung
der Raumteilnehmer keine Kommunikation stattgefunden hat.
Insgesamt sollte festgehalten werden, dass im Analyseraum ständig durch Mimik und
Gestik über Räume kommuniziert wird. Diese Kommunikation verläuft zwar in den
meisten Fällen unbewusst, findet sie aber nicht statt, führt dies sofort zu Raumproblemen.
117
Goffman, Erving (1971): Relations in public. Microstudies of public order. New York: Basic Books, S. 11
Ebd., S. 14
119
Vgl. Anhang 1 : Video : 40:35 min.
118
61
Ebenso sollte festgehalten werden, dass ständig und spontan Räume zwischen zwei
Körpern entstehen. Diese Räume bestehen immer nur für kurze Zeitspannen und werden
dann wieder aufgelöst.
3.3.3. Umgang mit Machtstrukturen im Raum:
Wie nahezu jeder Raum ist auch der Analyseraum von Machtstrukturen durchzogen. Diese
erlauben insbesondere verschiedene Praktiken des Ein- oder Ausschlusses sowie der
Überwachung bestimmter Raumteilnehmer.
Die Überwachung des Raumes wird insbesondere durch staatliche bzw. städtische
Instanzen vollzogen. Im Quartier Barbès herrscht auf Grund seines Rufes als sozialer
Brennpunkt
und
auf
Grund
seines
Rotlichtviertels
ein
hohes
Aufgebot
an
Polizeiüberwachung. Auch die touristische Frequentierung des Viertels, die immer einige
Taschendiebe anzieht, erfordert eine höhere Polizeipräsenz im Analyseraum.
Videoüberwachung ist in allen Metrostationen oder vor Bankfilialen wie der französischen
BNP Paribas vorhanden.
Die Polizei- und Kameraüberwachung vermittelt, dass es sich beim Analyseraum um einen
vom französischen Staat regierten Raum handelt. Wie in jedem Raum eines Nationalstaates
wird mit dieser Staatsmacht jedoch gespielt. Jean-Claude Toubon und Khelifa Messamah
beschreiben beispielsweise die Verfolgungsjagd, die sich zwischen Drogendealern und der
Polizei abspielt als „guerilla urbaine“ 120 . Es handelt sich um einen ständigen Platzwechsel
der Drogendealer, der sich zwischen ungefähr acht Straßen abspielt und es der Polizei
erschwert, das Geschäft zu verfolgen bzw. zu unterbinden. Würde die Polizeiüberwachung
innerhalb dieser Straßen zu hoch, so würden die Dealer ein Stück weiter in ein
abweichendes Gebiet ziehen. Erst wenn die Aufmerksamkeit von den acht Hauptstraßen
gelenkt ist, würden sie wieder zu diesen Straßen zurückkehren. 121
Es handelt sich bei dieser Praxis um eine Routine, die indirekt die Raumhoheit des Staates
bzw. der Stadt in Frage stellt.
„Ballet bien réglé, qui révélait un accomodement entre la foule et la police, une
sorte de « modus Vivendi ».“ 122
Die Videoüberwachung hingegen ist an festen Stellen präsent und kann von den
Raumteilnehmern nur durch Vermeiden der jeweiligen Orte umgangen werden. Da es sich
120
Vgl. Toubon, Jean-Claude; Messamah, Khelifa (1990): Centralité immigrée. Le quartier de la Goutte
d'ordynamiques d'un espace pluri-ethniquesuccession, compétition, cohabitation. Paris: L'Harmattan :;
C.I.E.M.I., S. 377
121
Vgl. ebd., S. 377
122
Ebd., S. 377
62
jedoch um strategische Orte handelt, müssen eigentlich alle Raumteilnehmer, die auf diese
Orte angewiesen sind, die Überwachungssituation akzeptieren. Beispielsweise ist es nicht
möglich, das Metrosystem zu nutzen, ohne an einer Überwachungskamera vorbei zu
gehen. Darüber hinaus werden die Monatskarten auf einen Namen angemeldet und
individuelle Verkehrswege sind über die jeweilige Benutzung der Automaten an den
Eingangspforten nachvollziehbar.
Die Überwachungssysteme werden allerdings häufig negativ kommentiert. Auf diesen
politischen Diskurs, der wiederum über den Raum vermittelt wird, soll jedoch später noch
eingegangen werden.
Ein- und Ausschlussverfahren sind im Analyseraum in reiner Form nur in den privaten
sowie halböffentlichen Räumen wie der Metro, Cafés, Restaurants oder Geschäften
vorhanden. Beispielsweise sind die Eingangstüren zu anliegenden Wohnräumen wie in
ganz Paris meist nicht nur durch Schlösser, sondern auch durch Codes gesichert.
Darüber hinaus gibt es besonders im östlichen Teil des Analyseraumes einige Orte, an
denen auf die Präsenz einer fremden Person manchmal negativ reagiert wird und somit
eine Art indirekter Ausschluss beabsichtigt wurde. Zu diesen Orten zählen beispielsweise
die oben beschriebenen Straßenecken, an denen informeller Handel betrieben wird. Ebenso
ist der direkte Fuß des Hügels Montmartre, unterhalb des Parks und abseits des
touristischen Zentrums ein solcher Ort.
An den soeben beschriebenen Orten wurde auch das Filmen und Fotografieren für diese
Arbeit problematisch, was verdeutlicht, inwiefern auch die Abbildung von Räumen und
Raumteilnehmern als machtvolle Aneignung empfunden wird.
3.3.4. Raumrhythmen:
Die Raumteilnehmer des Analyseraumes konstruieren durch ihr Verhalten nicht nur in
verschiedenen Raumabschnitten unterschiedliche Subräume. Sie produzieren ebenso an
den gleichen physischen Stellen unterschiedliche Räume. Diese Räume werden nach
bestimmten zeitlichen Rhythmen konstruiert.
Im angehangenen Videomaterial sind zu Beginn einige Aufzeichnungen des Viertels in den
früheren Morgenstunden vorhanden. Folgendes wird dabei deutlich:
Während beispielsweise die Gegend um das Discount-Warenhaus Tati zu Geschäftszeiten
sehr belebt ist und eine zentrale Bedeutung im Gesamtraum hat, verliert diese Gegend zu
Nicht-Geschäftszeiten ihre Prominenz.
63
Umgekehrt verhält es sich mit dem Subraum Pigalle. Dieser gelangt erst Nachts zu seiner
vollen Entfaltung und Bedeutung. Tagsüber hingegen wirken die verschiedenen Angebote
des Erotikgewerbes unwirklich.
Gerade der östliche Teil des Analyseraumes, das offizielle Viertel Goutte d´Or wird
darüber hinaus durch religiöse Rhytmen bestimmt.
Beispielsweise werden die Rue Polonceau sowie die umliegenden Straßen jeden Freitag
zwischen 12 und 14 Uhr zu einem Raum religiöser Praxis umfunktioniert. Die aus der
Moschee kommenden Gläubigen breiten dort ihre Teppiche aus und beten. Zu dieser Zeit
wird die Straße vom Marktraum zum religiösen Raum.
Ebenso verändert sich der Analyseraum, insbesondere sein östlicher Teil, enorm zur Zeit
des Ramadan. Während diesem Monat verändert sich sowohl der Rhythmus als auch das
Angebot des Marktes. Die Geschäfte sind länger geöffnet, andere Güter wie beispielsweise
außergewöhnliche Backwaren werden angeboten und es finden viele abendliche
Veranstaltungen (Spielabende, gemeinsame Mahlzeiten etc.) statt. 123
Der Monat des Ramadan im Quartier Barbès ist mittlerweile zu einer Art
Touristikattraktion geworden. Mitten in der Hauptstadt Frankreichs wird die religiöse
Praxis des Islams besichtigt. Der urbane Raum wird durch diese Praxis verändert. Jedoch
erhält umgekehrt auch die religiöse Praxis durch das urbane Umfeld einen anderen
Rahmen und wirkt somit in gewissem Maße anders.
Es wäre interessant weiterzuverfolgen, wie Raum und Religion in diesem Zusammenhang
in Wechselwirkung stehen, wie der Islam als kulturelle Praxis inszeniert wird sowie ob und
inwiefern es zu Hybridität kommt. Leider fand zur Zeit der Recherche für diese Arbeit kein
Ramadan statt. Der Fragestellung konnte demnach nicht genau nachgegangen werden.
3.3.5. Körperverhalten der Raumteilnehmer:
Die einzelnen Subräume des Analyseraumes werden zum einen durch bauliche
Vorstrukturierungen und die ökonomische Nutzung des Raumes, zum anderen durch die
Präsenz und das Körperverhalten der dort anwesenden Raumteilnehmer produziert.
Die Raumteilnehmer des touristischen Subraumes um die Rue de Steinkerque sind
beispielsweise hauptsächlich Touristen. Diese zeichnen sich durch ein langsames,
schlenderndes Gehverhalten aus. Die Raumteilnehmer sind hauptsächlich in Gruppen oder
paarweise unterwegs. Sie unterhalten sich und sprechen dabei viele verschiedene, jedoch
hauptsächlich europäische Sprachen. Außerdem bleiben sie häufiger stehen, schauen sich
um, betrachten ihre Umgebung. Manchmal winken Personen, die sich zeitweise aus den
123
Vgl. ebd., S. 373 ff.
64
Augen verloren haben, einander zu. Häufiger bleiben Raumteilnehmer stehen, um auf
Angehörige zu warten. Die Mimik der meisten Raumteilnehmer dieser Straße ist
beobachtend, manchmal leicht desorientiert. Ihr Blick ist zwar auf die Umgebung, jedoch
weniger auf ein konkretes Ziel konzentriert.
Die Raumteilnehmer, die auf dem Bürgersteig am Discount-Warenhaus Tati vorbeilaufen
verhalten sich anders. Auch hier schlendern einige Raumteilnehmer und schauen sich das
Warenangebot an. Viele Raumteilnehmer gehen aber auch schneller. Mit ihren
Einkaufstüten in der Hand laufen Sie an Orten vorbei ohne diesen große Aufmerksamkeit
zu schenken. Ihre Blicke sind zielgerichteter, was ebenso eine Taktik ist, um die
anwesenden
Verkäufer
von
Sonnenbrillen,
Uhren
und
ähnlichen
Kleinwaren
abzuwimmeln. Es gibt zudem mehr Raumteilnehmer, die alleine unterwegs sind. Diese
telefonieren manchmal mit Mobiltelefonen. Ihre stärkere Einbindung in den Alltag wird
auch durch diese Praxis verdeutlicht.
Durch das Verhalten der Raumteilnehmer lassen sich folglich zwei Räume, ein
hauptsächlich touristischer Raum und ein alltäglicher Raum zum Einkaufen differenzieren.
Natürlich
lassen
sich
diese
Differenzierungen
bereits
am
Waren-
und
Dienstleistungsangebot in den jeweiligen Subräumen ablesen. Das Verhalten der
Raumteilnehmer verleiht der Raumdistinktion jedoch eine Verstärkung.
Darüber hinaus können durch performative Akte, die Michel de Certeau Mythen nennt,
verschiedene Räume konstruiert werden. Die soeben beschriebenen Verhaltensweisen
können teilweise zu diesen Mythen zählen. Entscheidend ist, dass Mythen performative
Akte sind, die in ihrer Expressivität Räume konstruieren. Ähnlich wie der Habitus
bezeichnen Mythen einen Handlungsstil, der eine Bedeutung trägt. Während der Habitus
im Modell Bourdieus vor allem soziale Bedeutung trägt und auf eine Position im sozialen
Raum verweist, können Mythen unterschiedliche Dinge bedeuten. Sie öffnen symbolisch
imaginäre Räume. Diese imaginären Räume können beispielsweise ferne Räume, ferne
Kulturen, bestimmte Filme oder historische Räume sein. Durch die Symbolik ihres
Verhaltens sowie durch ihr äußeres Erscheinungsbild verändern die jeweiligen
Raumteilnehmer auch den realen, sie physisch umgebenden Raum und dessen Bedeutung.
Beispielsweise tragen viele Frauen mittel- und westafrikanischen Hintergrunds, die den
östlichen Analyseraum um den Boulevard Barbès frequentieren, bunte Gewänder. Dieses
Verhalten bzw. die Gewänder selbst verändern das Erscheinungsbild sowie die Bedeutung
dieses Subraumes.
65
Es handelt sich um einen Zusammenhang, der einerseits in dieses Kapitel über
Raumpraktiken gehört, gleichzeitig jedoch das Thema des folgenden Kapitels berührt. Die
Mythen gehören zu einer neuen Dimension von Räumlichkeit: der Raumimagination bzw.
der Raumnarration.
Daher soll es fortan mehr als in den vorherigen Kapiteln um imaginäre räumliche
Bedeutung gehen. Diese Bedeutung wird durch symbolische Prozesse konstruiert. Bilder
und Sprache sind entscheidende Medien der Konstruktion von Raumimaginationen und Narrationen. Im Folgenden soll nun erörtert werden, wie verschiedene Vorstellungen und
Geschichten im und über den Analyseraum vermittelt werden.
3.4. Bedeutungsräume
In diesem letzten Analysekapitel soll den bisher besprochenen Räumen eine wichtige
Dimension hinzugefügt werden. Es handelt sich um eine Raumdimension, die sowohl
durch den gebauten Stadtraum und Raumpraktiken als auch durch weitere Zeichensysteme,
die über Medien wie Bild und Text vermittelt werden, konstruiert wird.
Die Dimension der Bedeutungsräume wurde in Kapitel 1.4. über mediale Raumeinflüsse
und imaginäre Räume besprochen.
Es wurde mit David Morleys und Michel de Certeaus Theorien erklärt, wie durch Medien
bestehende physische Räume sowohl bestätigt als auch überschritten bzw. in Frage gestellt
werden können. Ebenso wurde gezeigt, dass Medien virtuelle, sich vom gegebenen
physischen Raum ablösende Räume konstruieren können.
Die imaginären Räume oder Raumnarrationen gehen über die funktionalen, praktischen
und sozialen Aspekte von Raum, die bisher hauptsächlich besprochen wurden, hinaus. Sie
werden sowohl im und über den physischen Raum als auch in anderen Räumen wie
beispielsweise dem virtuellen Cyberspace konstruiert. Zu einem physischen Raum können
prinzipiell unendlich viele imaginäre Räume entstehen.
Emmanuelle Lallement geht sogar so weit zu sagen, dass ein Viertel wie das Quartier
Barbès weniger durch die objektiven Daten zu seiner Bevölkerung (sozialer Status,
ethnische Herkunft, Religion etc.) als vielmehr durch die Bilder, die es hervorruft, definiert
ist. 124
Daher handelt es sich bei dieser Dimension nicht nur um solche Bedeutungsräume, die
Bourdieu Ortseffekte nennt, d.h. die Aufladung eines Raumes mit sozialer Bedeutung, die
wiederum auf die soziale Bedeutung der jeweiligen Raumteilnehmer „abfärbt“.
124
Vgl. Lallement, Emmanuelle (1999): Au marché des différences... : Barbès ou la mise en scène d'une
société multiculturelle. Paris : Doktorarbeit an der EHESS, S. 157
66
Es handelt sich um eine Dimension, welche die modernen Mythen 125 eines urbanen
Raumes enthält.
Im Folgenden sollen einige imaginäre Räume, die mit dem Quartier Barbés verknüpft sind,
vorgestellt werden. Darüber hinaus sollen die semiotischen Dynamiken, die diese
Bedeutungsräume produzieren und verhandeln, reflektiert werden.
3.4.1. Disneyland
In seinem westlichen Teil, d.h. von der Metrostation Blanche bis hin zur Metrostation
Anvers gleicht das Quartier Barbès an manchen Stellen einem Themenpark wie
Disneyland. Während Disneyland sich in verschiedene „Welten“ wie Frontierland,
Discoveryland, Adventureland oder Fantasyland aufgliedert, besteht der imaginäre Raum
des Quartiers Barbès aus Themen wie „Paris des 19. Jahrhunderts“, „Künstlerviertel
Montmartre“ und „Quartier chaud Pigalle“. Diese imaginären Räume werden vor allem für
Touristen konstruiert. Denn, wie Scott Lash, John Urry in ihrem Werk „Economies of
Signs and Space“ betonen, werden Orte vermarktet (place-marketing), indem bestimmte
Ort-Mythen (place-myths) produziert werden. Als Ressourcen für die Konstruktion von
Ort-Mythen stehen Alleinstellungsmerkmale wie bestimmte physische Artefakte (Gebäude,
Naturgegebenheiten), spezielle an einem Ort verfügbare Waren und Dienstleistungen oder
eine besondere Ortsgeschichte zur Verfügung. Die Ressourcen der Ort-Mythen werden
daraufhin inszeniert (beispielsweise durch Bilder oder Erzählungen) und über
verschiedenste Medien publiziert. Die Ort-Mythen des westlichen Teils des Quartiers
Barbès beruhen insbesondere auf der Geschichte des 18. Arrondissements (Montmartre) im
19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit siedelten sich viele Künstler, wie beispielsweise ToulouseLautrec, Van Gogh, Renoir, Steinlen oder Suzanne Valadon in diesem Dorf an. Zu Beginn
des 20. Jahrhunderts wohnten dort ebenfalls Künstler wie Picasso, Modigliani oder Braque.
Die Künstler besuchten besonders im 19. Jahrhundert oft die Kabaretts und Lokale der
Gegend. Zu den berühmtesten dieser Orte zählen Le Moulin de la Galette, Le Divan
Japonais (heute Le Divan du Monde), Rendevous des Voleurs (heute Le Lapin Agile), Le
Chat Noir und Le Moulin Rouge.
Diese Lokale und Kabaretts wurden zum Teil gerade durch die Darstellungen der
jeweiligen Künstler wie beispielsweise das Gemälde „Bal du moulin de la Galette“ von
Renoir, das Plakat „Le Chat Noir“ von Steinlen oder die Lithographie „Moulin Rouge – La
Goulue“ von Toulouse-Lautrec bekannt. Heute kennen wesentlich mehr Menschen die
jeweiligen Bilder als die Referenzorte. Natürlich ist es auch ein Effekt des globalen
125
Der Begriff wird in Anlehnung an Roland Barthes Verständnis von Mythos verwendet. Vgl. Barthes,
Roland (1970): Mythologies. Paris : Éditions du Seuil
67
Informationsflusses, dass Menschen bereits Bilder und atmosphärische Vorstellungen von
Orten haben, ohne dort jemals gewesen zu sein.
Im touristischen Teil des Quartiers Barbès wird die Vergangenheit des Raumes inszeniert,
indem Postkarten mit den jeweiligen Gemälden der Künstler oder Fotografien der
Referenzorte darauf angeboten werden. Gerne werden alte Fotografien benutzt. Dies trägt
zur Heraufbeschwörung einer gewissen Nostalgie bei. Nostalgie sei in diesem
Zusammenhang als eine Darstellung der Vergangenheit definiert, die diese sowohl mit
ästhetischen und narrativen Mitteln verklärt, zum Teil sogar idealisiert.
Auch die jeweiligen historischen Gebäude werden in Szene gesetzt. Fassaden werden
entweder erhalten und restauriert oder nach nostalgischem Vorbild rekonstruiert. Durch
Straßenschilder und Verweise in Touristikbroschüren wird auf die jeweiligen Orte
verwiesen. Für manche historischen Gebäude wie beispielsweise den Veranstaltungssaal
Elysée Montmartre existieren zudem historische Hinweisschilder, die kurz die Geschichte
des Bauwerks zusammenfassen.
Andere Lokalitäten wie beispielsweise das
Moulin
Rouge
übernehmen
diese
Repräsentation selbst und stellen die eigene Geschichte umfangreich durch Texte und
Bilder in einer Vitrine im Eingangsbereich dar. 126
Ein nostalgisches Bild des Viertels wird auch durch Beschreibungen in Reiseführern oder
Tourismusforen im Internet konstruiert. Hier wirken ebenfalls Texte und Bilder bei der
Produktion des imaginären Raumes zusammen.
Darüber hinaus wirken filmische Inszenierungen wie beispielsweise das MusicalFilmdrama Moulin Rouge von 2001 (Regie: Baz Luhrmann) an der Produktion des
imaginären Raumes mit. In diesem Film werden insbesondere das Bild des Vergnügungsund Künstlerviertels gestärkt.
Es sollte betont werden, dass im Falle der imaginären Räume „Paris des 19. Jahrhunderts“,
„Künstlerviertel Montmartre“ eine imaginäre Zeitverschiebung stattfindet.
Eine ähnliche Zeitverschiebung ist bei der Darstellung des Gesamtraumes Paris durch
schwarz-weiß Postkarten zu beobachten. Diese Postkarten zeigen Fotografien, die
entweder aus der so genannten Belle Époque (ungefähr 1885-1914) stammen oder diese
Epoche nachahmen. Oft sind diese Bilder nachbearbeitet. Sie zeichnen ein perfektioniertes
Bild einer räumlichen und sozialen Vergangenheit. Besonders auffallende Elemente dieser
Bilder sind die Kleidungsstücke der dargestellten Personen sowie die Fassaden der
126
Vgl. Anhang 1, Video: 01:04:33 h
68
dargestellten Gebäude, die sich insbesondere durch die Gestaltung der Ladenschilder, der
Schaufenster und des Warenangebots von den heutigen Fassaden unterscheiden.
Solche Parispostkarten werden natürlich auch im Analyseraum angeboten. Denn auch dort
wird neben dem Quartier Barbès und seinem Subgebieten vor allem ein Gesamtbild von
Paris verkauft. Gängige Bilder zur Produktion dieses Bedeutungsraumes sind der
Eiffelturm, das Gemälde Mona Lisa, der Triumphbogen zusammen mit der Avenue des
Champs-Élysées, die Kirche Notre-Dame und die Seine. Es handelt sich um Wahrzeichen,
die für den noch wesentlich komplexeren Raum Paris stehen. Das Quartier Barbès wird
somit immer auch als Teil des hochinszenierten Gesamtpakets Paris repräsentiert. Paris ist
daher ein weiteres Thema des „Themenparks Barbès“.
Das Raumthema „Quartier chaud“ wird unter anderem durch die auffällige bauliche
Gestaltung des Boulevard de Clichy zwischen den Metrostationen Pigalle und Blanche
produziert. Auf diesem Abschnitt reihen sich besonders im Erdgeschoss Leuchtreklamen
und auffällige Schaufenstergestaltungen aneinander. Ebenso gibt es ein „Musée de
l´érotisme“ das den Raum in seiner Eigenschaft als Vergnügungs- bzw. Rotlichtviertel
zusätzlich hervorhebt. Die historischen Häuserfassaden, die auf den höheren Etagen
sichtbar werden, bilden oft einen visuellen Kontrast zur Gestaltung des Erdgeschosses.
Der Raum Pigalle ist mehr als ein einfaches Rotlichtviertel. Ähnlich wie die Reeperbahn in
Hamburg oder das Rotlichtviertel von Amsterdam wird es durch verschiedene Arten der
Repräsentation zu einem Kultraum stilisiert. In verschiedenen Liedern wie beispielsweise
„Elle fréquentait la Rue Pigalle” von Edith Piaf, „Place Pigalle“ von Maurice Chevalier
oder das deutschsprachige „Pigalle (die große Mausefalle)“ von Bill Ramsey wird dieser
Raum erzählt. Ebenso tragen verschiedene Filme wie beispielsweise „94 rue Pigalle“
(1949, Regie: Willy Rozier) oder „Pigalle“ (1995, Regie: Karim Dridi) zur Konstruktion
dieses imaginären Raumes bei.
Vermutlich stellen diese verschiedenen Arten der Repräsentation den Raum nicht exakt
gleich dar und es wäre interessant zu analysieren, durch welche filmischen und
rhetorischen Mittel sie den Raum erzählen. Allerdings würde eine solche Analyse im
Rahmen dieser Arbeit zu weit führen.
Es sollte jedoch herausgestellt werden, dass sich der Name Pigalle zunächst von einem
Personennamen (Jean-Baptiste Pigalle, ein französischer Bildhauer) zu einem Raumnamen
(Place Pigalle) entwickelt hat. Der Raum hat daraufhin eine imaginäre Dimension
entwickelt, die dem Namen wiederum eine Konnotation hinzugefügte und ihn international
69
berühmt machte. Daher könnte man den Namen Pigalle auch in Zusammenhängen wie:
„Dieses Viertel ist das Pigalle der Stadt XY“ verwenden.
Dieses Beispiel soll nur verdeutlichen, dass diese Raumimagination sehr stark kultiviert
wurde und heute zumindest für Touristen einen der vorherrschenden Bedeutungsräume des
Quartiers Barbès ausmacht.
3.4.2. Der hyperreale Raum:
In Anlehnung an das vorherige Kapitel lässt sich behaupten, dass der „Themenpark
Barbès“ im Westen des Analyseraumes wie Disneyland ein gestalteter Freizeitraum ist, der
mehrere durch verschiedene Repräsentationsformen konstruierte imaginäre Räume (Paris
des 19. Jahrhunderts etc.) enthält. Wie in Disneyland fährt durch diesen Raum eine kleine
Besichtungsbahn, die regelmäßig am Place Blanche startet. Allerdings ist der gleiche
Raum auch ein alltäglicher Nutzungs- und Sozialraum, der sich durch Wohnraum und
ökonomischen Raum (Supermärkte, Waschsalons, Schneidereien, Büros etc.) auszeichnet.
Das Quartier Barbès ist ein „realer Raum“ mit imaginären Raumbedeutungen.
Auf Disneyland trifft diese Mehrdimensionalität von „Realem“ und „Imaginärem“ in
umgekehrter Weise zu. Disneyland, so erklärt Jean Baudrillard in seinem Werk „Simulacra
and Simulations“, ist ein Raum, der als imaginärer Raum (Fantasyland) repräsentiert wird.
Diese Darstellung soll vermitteln, dass der Raum außerhalb von Disneyland im Gegenzug
real ist und täuscht somit über die Tatsache hinweg, dass auch diese „Realität“ von
Imaginärem durchzogen ist (was in diesem Kapitel über Bedeutungsräume herausgestellt
werden soll).
„Disneyland is presented as imaginary in order to make us believe that the rest is
real, when in fact all of Los Angeles and the America surrounding it are no longer
real, but of the order of the hyperreal and of simulation. It is no longer a question of
a false representation of reality (ideology), but of concealing the fact that the real is
no longer real, and thus of saving the reality principle.” 127
Letztendlich sind sowohl Disneyland als auch „reale“ Räume wie das Quartier Barbès
immer gleichzeitig „real“ und imaginär. Das so genannte Reale reagiert auf das Imaginäre
und umgekehrt.
„Go and simulate a theft in a large department store: how do you convince the
security guards that it is a simulated theft? There is no “objective” difference: […]
the web of artificial signs will be inextricably mixed up with real elements (a police
officer will really shoot on sight; a bank customer will faint and die of a heart
127
Baudrillard, Jean: Simulacra and Simulation, in: Baudrillard, Jean; Poster, Mark (hg.)(1988): Selected
writings. Cambridge: Polity Pr., S. 172
70
attack; they will really turn the phoney ransom over to you). In brief, you will
unwittingly find yourself immediately in the real […].” 128
In Barbès reagieren reale Raumteilnehmer (Touristen und Nicht-Touristen) auf imaginäre
Bedeutungsräume. Ebenso profitiert die Ökonomie real von den imaginären Räumen. Ein
gutes Beispiel ist das Café des Deux Moulins. Durch den Film „Die fabelhafte Welt der
Amelie“, in dem die Protagonistin in diesem Café arbeitet, wurde das Café berühmt. Der
imaginäre Filmraum verhalf so dem „realen“ Café zu mehr Kundschaft. Umgekehrt
beruhen die imaginären Räume auf der Realität. Der imaginäre Raum „Paris des 19.
Jahrhunderts“ und „Künstlerviertel Montmartre“ der durch Repräsentationen wie
Postkarten und durch die restaurierte Raumgestaltung konstruiert wird, aktualisiert eine
historische Realität. Auch das Rotlichtviertel um Pigalle ist eine räumliche Realität, die
jedoch durch Repräsentationen besonders inszeniert und übertrieben wird.
Genauso ist Disneyland ein Raum, in dem „reale“ Raumteilnehmer wie Familien oder
Freundeskreise ihr „reales“ Sozialleben führen oder ein „realer“ Beschäftigter im Kostüm
einer imaginären Mickeymaus „real“ erwerbstätig ist.
Diese Interrelation von Imaginärem und Realem verleitet Baudrillard zu der These, das
Reale sei nicht mehr länger möglich.
“Illusion is no longer possible, because the real is no longer possible. It is the whole
political problem of the parody, of hypersimulation or offensive simulation, which
is posed here.” 129
Für diese Arbeit sollte hauptsächlich festgehalten werden, dass die Dimension der
imaginären Bedeutungsräume eine ernst zu nehmende Raumdimension ist, die nicht
einfach neben den anderen Raumdimensionen wie dem sozialen Raum, dem ökonomischen
Raum und dem gebauten Raum steht, sondern mit diesen Raumdimensionen in einer
einflussreichen Wechselwirkung steht.
3.4.3 Raum als Medium und Medien im Raum:
In diesem Abschnitt sollen kurz einige Repräsentationsformen beschrieben werden, die
bisher nicht so deutlich herausgestellt wurden. Bisher wurde die These aufgestellt, dass
Raumbedeutung durch Diskurse konstruiert wird. Diskurse beruhen wiederum auf
Repräsentationen, die in bestimmten sozialen (Macht-)Konfigurationen entstehen.
Als mögliche Repräsentationen wurden in Kapitel 3.4. vor allem das gebaute Stadtbild
(Raumgestaltung, Raumstruktur) sowie grafische Bilder und Texte, die außerhalb des
128
129
Ebd., S. 178
Ebd., S. 177
71
Raumes zu existieren scheinen (Repräsentationen des Raumes in Reiseführern, auf
Postkarten, in Filmen, in Liedtexten), genannt.
Grafische Bilder und Texte befinden sich aber genauso im physischen Raum. Damit ist
zum einen gemeint, dass sie im Raum verkauft werden (Postkarten, bedruckte Taschen und
T-shirts, etc.).
Zum anderen wird der Raum selbst als Medium grafischer Bilder genutzt: Durch Plakate,
Flugblätter, Graffitis, Straßenmarkierungen oder Wandanstreichungen wird der physische
Raum zweidimensional bebildert. Auch diese Formen der Repräsentation sind an der
Konstruktion von Raumbedeutung beteiligt.
Wie bereits in den Kapiteln über den praktizierten Raum sowie über Michel de Certeaus
„Mythique de la ville“ angedeutet wurde, sind auch die Raumteilnehmer in gewisser
Hinsicht Medien. Sie tragen und verkörpern verschieden Arten von Texten. Ihre
Körpersprache ist ein Zeichensystem. Ihre Kleidung ist ein Zeichensystem, was Roland
Barthes in seinem Werk „Die Sprache der Mode“ ausführlich darstellt. Zudem sind auf
deren Kleidungsstücken weitere Zeichensysteme vorhanden. Bilder, Texte, Symbole
können auf T-Shirts aufgedruckt sein, auf Etiketten stehen oder in das Material
eingearbeitet sein.
Auch nicht-visuelle Repräsentationen wie Geräuschkulissen und Musik können an der
Konstruktion eines imaginären Raumes beteiligt sein. So sieht man beispielsweise im
Video, dass im touristischen Raum am Fuß des Montmartre (Rue de Steinkerque) Musik
gespielt wird. Dies trägt zur Entstehung einer Raumatmosphäre sowie zur Konstruktion
des nostalgischen imaginären Raumes bei.
Der Raum ist somit mit Medien und Bedeutungen überflutet, wobei jeder Bedeutungsträger
einen neuen Bedeutungsraum eröffnen kann.
Emanuelle Lallement trägt diesen Repräsentationsüberschuss folgendermaßen aus:
„[…]quand une ville est faite pour des spectateurs…car elle n´est faite que d´images.“ 130
3.4.4. Revolutions- und Gefahrenraum:
Es soll nun zu einer Raumbedeutung übergegangen werden, die von verschiedensten
Raumteilnehmern im Gesamtanalyseraum geschaffen wird. Diese Raumbedeutung
erwächst aus dem westlichen Freizeitraum, aus dem östlichen interkulturellen Raum, sowie
verschiedenen sozialen und politischen Dynamiken und wird durch verschiedenste
Repräsentationsformen konstruiert.
130
Lallement, Emmanuelle (1999): Au marché des différences... : Barbès ou la mise en scène d'une société
multiculturelle. Paris : Doktorarbeit an der EHESS, S. 295
72
Bereits in seiner Geschichte schien das heutige Viertel Montmartre und insbesondere der
Teil des Viertels, den der Analyseraum abdeckt, eine Art „dunkle Seite“ der Stadt zu
bilden. 1871 bildete sich in Montmartre die Pariser Kommune und wirkte von dort aus
revolutionär. Verschiedene revolutionäre Künster, Philosophen und Aktivistengruppen
sollen sich insbesondere um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert dort in
den verschiedenen Lokalen und Kabaretts getroffen haben. Ungefähr ab 1881 begann das
Rotlichtviertel um Pigalle sich zu entwickeln und wie bereits in Kapitel 2.3. beschrieben
wurde haftet insbesondere dem Viertel Goutte d`Or schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts
der Ruf eines sozial schwachen Arbeiterviertels an. Im 20. Jahrhundert kamen die
verschiedenen Immigrationswellen hinzu und 1981 wurde das Viertel Goutte d`or zur „îlot
sensible“ erklärt.
Es wird einem heute geraten, das Viertel bei Nacht zu meiden oder dort zumindest
vorsichtig zu sein, wobei nicht sicher herausgestellt werden kann, ob diese Warnungen die
tatsächliche Gefahr nicht übertreiben.
Reiseführer raten auch bei Tag davor in gewissen Gebieten des Viertels Goutte d`Or
vorsichtig zu sein. 131
Repräsentiert wird der vermeintlich imaginäre Revolutions- und Gefahrenraum neben
solchen Narrationsformen vor allem über verschiedene Medien im Raum. Auf dem Schild,
welches die Geschichte des Elysée Montmartre resümiert, wird die Pariser Kommune
erwähnt. Dieser Veranstaltungsort soll „revolutionärer Club“ der Kommune gewesen
sein 132 . Ebenso sollen im Chateau Rouge vor der Februarrevolution 1848 reformistische
Banketts gehalten worden sein.
Bei der Besichtigung des Viertels wurden viele Sticker und Plakate der linken Partei Front
Gauche gefunden.
Auch mehrere Plakate und Aufkleber der Fédération Anarchiste mit Aufschriften wie
„Police partout, liberté nulle part“ oder „Surveillance partout, liberté nulle part“ sind im
Raum vorhanden.
Hinzu kommen verschiedene Aufkleber und Graffitis mit Forderungen wie „A bas toutes
les prisons“ oder „Liberté pour tous les prisionniers“. In beiden Fällen handelt es sich um
Forderungen zur Freilassung drei Inhaftierter, die angeklagt wurden, im Zuge der
Aufstände zu den Regierungswahlen 2007 versucht zu haben, ein Polizeiauto anzuzünden.
131
132
Vgl. Anhang 1: Video: 01:38:37 h
Vgl. Anhang 1: Video: 01:05:18 h
73
Obwohl die beschriebenen politischen Aussagen nicht repräsentativ für das gesamte
Viertel stehen, verleihen sie dem Raum dennoch eine revolutionärpolitische Färbung, die
eine der vielen Bedeutungsdimensionen des Raumes darstellt.
3.4.5. Der Raum als Medium politischen Diskurses:
Bei den soeben beschriebenen Prozessen, welche die Raumimagination des Gefahren- oder
Revolutionsraumes konstruieren, wird der Raum zum Medium politischen Diskurses. Es
fällt auf, dass der Raum durch Bilder, Plakate, Sticker und Graffitis als solches angeeignet
und funktionalisiert wird. Für diese These spricht auch, dass sich die verschiedenen Texte
und Bilder an bestimmten Stellen im Raum anhäufen. Diese Stellen sind beispielsweise
Straßenecken, Parkuhren oder Briefkästen, also viel frequentierte bzw. genutzte Orte und
Gegenstände. Die Anhäufung von Texten an diesen Stellen wirkt wie eine Art Dialog.
Ebenso finden verschiedene bildliche Aneignungen, die zwar nicht politisch im engeren
Sinne sind, jedoch trotzdem eine Art räumlichen Machtkampf ausdrücken, auf diese Weise
statt.
Zum Beispiel wurde an verschiedenen Stellen im Raum eine Hand auf Gebäude gesprüht.
Bevorzugter Weise wurde die Hand auf dekorativ gestalteten Häusern der großen
Boulevards angebracht. Ebenso befindet sich eine Hand in direkter Nähe zu einer Fläche,
auf der ein großer Schriftzug die Beschriftung und Plakatierung der Fläche verbietet. 133
Die Hand wirkt wie einer Spur. Im Vergleich zu vielen anderen Graffitis ist diese klein und
unauffällig. Sie wirkt mehr wie eine subversive Geste als eine provokante Verunstaltung.
Eine ähnliche Geste ist der kleine Schuh, der neben einem Aufkleber, der
Videoüberwachung ankündigt, platziert wurde. 134
Auch die verschiedenen Sozialbauprojekte der Stadt und der Kampf um Wohnraum
schreiben sich in den öffentlichen Raum ein. Ein Schild, welches an einer Baustelle
angebracht ist und die Konstruktion neuer Sozialbauten ankündigt, wurde durch mehrere
Graffitis kommentiert. 135
Ebenso wurden verschiedene Aufkleber im Raum mit Aufschriften wie „Il dort dans la rue
et des logements sont vides“ der fédération anarchiste oder „Un toit c´est un droit“,
gefunden. Diese klagen vermutlich die Gentrifizierung des Pariser Stadtraumes oder die
Sozialwohnungspolitik der Stadt an.
133
Vgl. Anhang 1: Video: 01:27:04 h
Vgl. Anhang 1: Video: 01:33: 24 h
135
Vgl. Anhang 1: Video: 01:27:15 h
134
74
Es zeigt sich, dass vermittelt über den Raum verschiedene Diskurse stattfinden. Manche
betreffen dabei das Thema Raummacht, manche betreffen andere politische Themen,
manche betreffen komplett andere Themenkomplexe.
3.4.6. Das US-amerikanische Ghetto:
Dieser imaginäre Raum des Quartiers Barbès wird hauptsächlich durch an den Körper der
Raumteilnehmer gebundene Zeichensysteme sowie durch Bilder im Raum konstruiert.
Die französischen banlieues sind ähnlich amerikanischen Ghettos Räume der
Konzentration bestimmter sozialer und ethnischer Gruppierungen. Auch wenn die
konkreten Mechanismen und betroffenen Gruppen der sozialräumlichen Marginalisierung
unterschiedlich sind, existieren Parallelen, die auch von den jeweiligen Bewohnern als
solche wahrgenommen werden.
Daher fanden Identifizierungen statt und verschiedene Bewegungen, wie beispielsweise die
in den 1970ern in den USA entstandene Hip-Hop-Bewegung, schwappten in den 1980er
Jahren in die französischen banlieues über. 136 Stereotypen, die z.B. durch Filme,
Videoclips oder Songtexte konstruiert wurden, wurden dabei von den Bewohnern der
banlieues adaptiert. Da das Quartier Barbès, wie bereits in Kapitel 2.3. dargestellt wurde,
eine starke Verbindung zu den nördlichen banlieues hat, finden auch in diesem Raum
solche Adaptionen statt.
In Barbès konnten vermehrt Plakate gefunden werden, auf denen Menschen schwarzer
Hautfarbe mit an die Hip-Hop Bewegung geknüpften Kleidungsstilen, abgebildet sind. In
den meisten Fällen geht es um Musiker. Die Plakate sind also Werbung für Konzerte und
Tonträger. Gezielt werben diese Plakate mit Aufschriften, Künstler- und Tonträgernamen
wie „Ghetto Fabulous Gang – Association de Malfaiteurs“ 137 oder „Ghetto Comple Vol
1“ 138 .
Bei mehreren Raumteilnehmern können ähnliche Kleidungsstile, die durch ein bestimmtes,
eher ausladendes Körperverhalten begleitet werden, beobachtet werden. 139
In diesem Falle steht die Kleidung für einen auf bestimmte Weise sozial und kulturell
beschaffenen Raum („Ghetto“). Kleidung ist Teil des Habitus und eröffnet einen Mythos
im Sinne Michel de Certeaus. Denn, um es kurz zu wiederholen, werden Mythen durch
136
Kimminich, Eva: Citoyen oder Fremder. Ausgrenzung und kulturelle Autonomie in der französischen
Banlieue, in: Trotha, Trutz von (hg.) (1997): Soziologie der Gewalt. Opladen u.a.: Westdt. Verl. (Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie: Sonderhefte, 37), S.517 ff.
137
Vgl. Anhang 1: Video 01:27:31
138
Vgl. Anhang 1: Video 01:30:10
139
Vgl. Anhang 1: Video Raumpraktiken der Raumteilnehmer vor dem Warenhaus Tati, Raumteilnehmer auf
dem Boulevard de Rochechouart
75
„arts de faire avec“ 140 produziert. Selbst „die Art und Weise, wie das Mädchen aus dem
16. Arrondissement ihre Jeans trägt“ 141 erschafft einen Mythos.
Auch die Musik, die aus den Läden Planet Sono und Zenith Music, den
Sportschuhgeschäften Zoum, oder verschiedenen Autos der Raumteilnehmer schallt, trägt
zur Konstruktion dieses imaginären Raumes bei.
Es sollte an dieser Stelle betont werden, dass die Nachahmung von an Hip-Hop und
amerikanische Ghettos geknüpfte Stereotypen nicht nur auf das Quartier Barbès beschränkt
ist, sondern vermutlich überall in der Stadt sowie an zahlreichen anderen Orten dieser Welt
nachvollziehbar
ist.
Wenn
im
Zusammenhang
der
Bedeutungsräume
von
Repräsentationsprozessen die Rede ist, die einen auf das Quartier Barbès bezogenen
imaginären Raum konstruieren, dann konnten bezogen auf das Quartier Barbés vermehrt
solche
Repräsentationen
gefunden
werden.
Was
bei
der
Konstruktion
eines
Bedeutungsraumes zählt ist demnach nicht das vereinzelte, sondern das gehäufte
Vorhandensein einer bestimmten Repräsentation.
Leider können solche Repräsentationsanhäufungen nicht statistisch (im Sinne einer
Zählung sämtlicher zu einer bestimmten Zeit im Raum vorhandenen Repräsentationen
zweier Vergleichsräume) belegt werden. Es handelt sich um schätzende Beobachtungen,
die interpretiert wurden.
Jedoch ist es möglich, dass der an das Quartier Barbès geknüpfte imaginäre Raum „USamerikanisches Ghetto“ einer der Räume ist, die am unspezifischsten für das Quartier
Barbès stehen, da dieser Bedeutungsraum häufig auch in anderen Räumen dieser Stadt und
anderer Städte konstruiert wird. Es handelt sich quasi um ein globales Phänomen, dass sich
nur auch im Analyseraum vollzieht.
3.4.7. Der ethnisch-interkulturelle Raum:
Im Gegensatz zum Bedeutungsraum „US-amerikanisches Ghetto“ kann man den
„ethnisch-interkulturellen Raum“ durchaus als einen der definierendsten, wichtigsten
imaginären Räume des Quartiers Barbès bezeichnen.
Wie bereits beschrieben wurde, ist insbesondere der östliche Teil des Analyseraumes durch
Immigration, hauptsächlich aus Nord- und Mittel- bzw. Westafrika, geprägt.
Es wurde ebenso beschrieben, dass sich verschiedene Sorten von „ethnisch markiertem“
Handel in diesem Viertel entwickelt haben. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass
140
Certeau, Michel de; Giard, Luce; Mayol, Pierre (1996): L´invention du quotidien. 2. Habiter, cuisiner.
Paris: Gallimard (Collection folio : Essais)., S. 202 bzw. S. 11 dieser Arbeit
141
Ebd., S. 202
76
östlich des Boulevard Barbès kaum ein Geschäft ist, das auf eine spezielle Nationalität,
Kultur oder auf einen bestimmten „kulturellen Raum“ bezogene Produkte anbietet.
Insbesondere die Begriffe „Kultur“ und „kultureller Raum“ sollten an dieser Stelle
allerdings kurz problematisiert werden. In einem weit verbreiteten Verständnis werden
Kulturen oder kulturelle Räume als Räume verstanden, die durch ihre Grenzen zu anderen
Räumen sowie durch die Vorstellung einer bestimmten innerräumlichen Homogenität
definiert sind. Es handelt sich um ein exklusives, substantialistisches Verständnis von
Raum und Identität.
„Michael Keith and Steven Pile speak of the troubling dominance, in everyday
discourse of a „reactionary vocabulary of ... the identity politics of place and a
spatialised politics of identity grounded in … the rhetoric of origins, of exclusion,
of boundary-making, of invasion and succession, of purity and contamination …
the glossary of ethnic cleansing” 142 .” 143
Dieses Verständnis von Raum und kultureller Identität ist insofern problematisch, als dass
solche kulturellen Räume, die oft an die Grenzen eines Nationalraumes geknüpft sind,
selten intern homogen sind. Darüber hinaus sind Räume, wie David Morley in seinem
Werk „Home Territories – Family, Household, Nation“ zeigt, durch Medien und Praktiken
der Globalisierung in hohem Maße mit einem räumlichen „Außen“ verbunden. Die
Grenzen zwischen den kulturellen Räumen sind also wenn überhaupt „poröse Grenzen“,
die interne Homogenität ist konstruiert sowie virtuell über Medien (nationale Mythen,
Rhetorik des nationalen Fernsehens etc.) vermittelt und die Differenz zwischen den
kulturellen Räumen ist mal mehr, mal weniger stark vorhanden.
Morley spricht sich daher berechtigter Weise für ein neues, angemesseneres Verständnis
von Raum aus.
„Massey rightly argues for „a sense of place which is extroverted, which includes a
consciousness of ist links to the wider world“ 144 , where what gives a place its
identity is not its internalised history, but rather its uniqueness as a point of
intersection in a wider network of relations.” 145
Dennoch ist auch das substantialistische, exklusive Verständnis von kulturellen Räumen
für die heutige von Globalisierungsprozessen wie Migration oder internationalem
Informationsfluss geprägte Welt weiterhin relevant.
Im Prinzip existieren zwei Raummodelle nebeneinander. Obwohl das Raumkonzept der
offenen, vernetzten Räume der globalisierten Realität eher entspricht, arbeitet sowohl
142
Morley, David (2000): Home territories. Media, mobility and identity. London , New York: Routledge, S.
31, Zit. nach Michael Keitz und Steven Pile
143
Ebd., S. 31
144
Ebd., S. 195, Zit. nach Doreen Massey
145
Ebd., S. 195
77
unsere Sprache als auch andere, z.B. bildliche, Repräsentationssysteme weiterhin mit dem
auf Differenz basierenden Raummodell.
Sprache bildet Wortbedeutungen durch Differenz bzw. Relationen zu anderen Wörtern.
Wörter, welche auf Räume referieren, können dies nur, da andere Wörter auf andere
Räume referieren.
„Thus we can recognise that, in any particular formulation of an identity,
„something will always be excluded...[for that] is simply how language
operates.” 146
Das Wort Orient bedeutet nur, weil es eine differente Bedeutung, d.h. den Nicht-Orient
bzw. Okzident gibt. Auch aus diesem Grund spricht David Morley von Raumkonstitution
als grenzsetzenden, negativen Prozess.
Auch im Quartier Barbès werden Kulturen, insbesondere die „Herkunftskulturen“ der
immigrierten Bevölkerung, essentialisierend und in Abgrenzung zu anderen kulturellen
Räumen repräsentiert.
Von einem Geschäft als „Espace Orient“ zu sprechen 147 produziert automatisch den nicht
zum Geschäft gehörigen, umliegenden Raum als nicht-orientalischen Raum bzw. „Espace
Occident“.
Darüber hinaus bestätigt die Verwendung des Wortes Orient die gängige, durch Sprache
vermittelte Unterscheidung zwischen Orient und Okzident.
In Barbès wird somit das exklusive, auf Grenzen beruhende Kulturraumverständnis
bestärkt.
Gleichzeitig, und dies ist das Paradoxe am imaginären ethnischen Raum des Quartiers
Barbès, wird eben dieses Raumverständnis dekonstruiert.
Die Raumteilnehmer des Quartiers Barbès konstruieren verschiedene spezifische ethnische
bzw. kulturelle Räume in einem offiziell französischen Raum.
Dadurch wird die im substantialistischen Raumverständnis angenommene notwendige
Verknüpfung von Kultur und physischem Raum in Frage gestellt.
Zudem macht die Anhäufung von differenten kulturellen Räumen, den Gesamtraum
Quartier Barbès zu einem interkulturellen Raum. Der interkulturelle Raum widerspricht in
seiner Raumbeschaffenheit bzw. Raumbedeutung jedoch ebenso einem substantialistischen
Raumkonzept.
Da es in dieser Arbeit hauptsächlich um die Praktiken und Dynamiken der
Raumproduktion und Verhandlung gehen soll, soll im Folgenden kurz erörtert werden, wie
146
147
Ebd., S. 252, Zit. nach Honi Fern Haber
Vgl. Anhang 1: Video: 01:11: 52 h
78
die Raumteilnehmer im Quartier Barbès einzelne ethnische oder kulturelle Räume schaffen
(nach einem exklusiven Raumkonzept) und wie sie gleichsam den Gesamtraum Barbès zu
einem interkulturellen Raum (nach einem offenen, vernetzten Raumkonzept) machen.
Ein wichtiger Aspekt der Konstruktion der einzelnen ethnischen Räume ist die
Beschriftung und Gestaltung der Geschäftsfassaden und Reklametafeln.
Durch Beschreibungen wie beispielsweise „tissus orientales“ werden bestimmte
„kulturelle Themenräume“ produziert. Interessant ist darüber hinaus die häufige
Verwendung des Wortes „espace“ (Raum), was auf ein (unterschwelliges) Bewusstsein der
Raumteilnehmer für ihre Tätigkeit der Raumkonstruktion hindeutet.
Weitere Wörter, die häufig auf Geschäftsfassaden auftauchen, sind „bazar“ und „produits
exotiques“. In ihrer räumlichen Referenz etwas unbestimmter verweisen sie dennoch auf
andersartige bzw. fremde Marktpraktiken und Warenangebote.
Natürlich sind auch regions- oder kontinentalspezifische Produktbeschreibungen wie
„produits antillais“ oder „tissus africains“ weit verbreitet.
Seltener hingegen findet man konkret nationsspezifische Angebote. In einigen Fällen
werden auf mehrere Nationen bezogene Produkte angeboten. Beispielsweise bieten
Restaurants afro-indische Küche an. In diesen Fällen werden keine einzelnen ethnischen
Räume konstruiert, sondern die Produkte stehen bereits für ein gewisses Maß an
Interkulturalität.
Ein im Analyseraum sehr präsentes Thema ist der Islam. Viele der dort anwesenden
Immigranten werden durch diese Religion vereint, auch wenn spezifische religiöse
Praktiken und Auslegungen vielleicht verschieden sind.
An vielerlei Stellen gibt es Metzgereien, die nach den Regeln des Islam aufbereitetes
Fleisch verkaufen, die so genannten „boucheries muselmanes“ oder „boucheries
islamiques“. Zudem ist die Moschee Al Fath in der Rue Polonceau ein zentrales Element
des Islams im Quartier Barbès.
Weitere ethnische Räume konstruierende Elemente sind die Plakate, welche für Musiker,
meist mit Abstammung aus Afrika oder den französischsprachigen Antillen werben.
Das Wort „zouk“, was einen von den französischsprachigen karibischen Inseln
kommenden Musik- und Tanzstil bezeichnet, taucht nicht nur auf diesen Plakaten, sondern
auch auf verschiedenen im Raum verteilten Aufklebern, die z. B. für die Gruppe „zouk
machine“ werben mehrfach auf.
Zudem wird arabische Musik in verschiedenen Tonträgergeschäften verkauft.
79
Die arabische Schrift ist im östlichen Analyseraum sehr präsent. Die Reklametafeln der
Geschäfte präsentieren sich in lateinischer und arabischer Schrift, zudem werden Medien
wie Zeitungen oder Flugblätter in dieser Schrift vermehrt im Raum verkauft.
Ein sehr wichtiges Element bei der Konstruktion ethnischer Räume sind die Objekte, die
im Raum genutzt und angeboten werden sowie die Art und Weise der Warenausstellung in
den einzelnen Geschäfte.
Ob bunte, speziell gemusterte afrikanische Stoffe, orientalische Brautmoden, Vasen und
Süßigkeiten, Kosmetikprodukte für dunkle Haut oder in Europa unübliche Obst- und
Gemüsesorten – in allen Fällen symbolisieren die Produkte kulturelle Räume (im
substantialistischen Sinn). Die Objekte stehen demnach in einer metonymischen Beziehung
zu ihrer räumlichen Herkunft bzw. zur räumlichen Herkunft eines Großteils ihrer
Konsumenten.
Die Präsentationsformen der Waren tragen ebenfalls zu einer Veränderung von Raum bei.
Beispielsweise ist die Ausstellung von Perücken auf Puppen, deren Hautfarbe angedeutet
dunkel ist (silber-grau), eine spezielle auf den Raum und seine Raumteilnehmer bezogene
Ausstellungsform, die auffällt. Auch die Eigenart mehrerer afrikanischer Läden, die Ware
in ihren Schaufenstern bis oben hin musterartig zu stapeln (Stoffe oder Lebensmittel) ist
eine Präsentationsform, die ungewöhnlich anmutet und damit den Raum optisch sowie
imaginär verändert.
Bezogen auf die Fähigkeit von Objekten, Räume zu konstruieren, gilt ebenfalls das Prinzip
der Anhäufung. Wenige Geschäfte, die spezielle Produkte anbieten, konstruieren meist
keinen Bedeutungsraum. Eine hohe Anhäufung dieser Objekte in einem gegebenen
physisch-räumlichen Rahmen wie dem Quartier Barbès können jedoch in ihrer
Repräsentationsfähigkeit eine Raumimagination wie das „interkulturelle Viertel Barbès“
produzieren.
Diese Feststellung kann auch auf die Erscheinung der Raumteilnehmer bezogen werden.
Gerade im Osten des Quartiers Barbès konstruieren diese den interkulturellen Raum allein
durch ihre Präsenz mit. Sie unterteilen diesen sogar in verschiedene ethnische Subräume,
denn im Nordosten um die Metrostation Chateau Rouge halten sich mehr Mittel- und
Westafrikaner auf, während sich im Südosten um die Station Barbès-Rochechouart mehr
Immigranten mit nordafrikanischer Abstammung sind.
Durch ihre Präsenz verändern sie den Raum sowohl visuell als auch auditiv. Hautfarbe und
Kleidung der Raumteilnehmer spielt eine große Rolle bei der visuellen Veränderung des
80
Analyseraumes. Ihre Art und Weise zu sprechen (Betonung, Akzent, Lautstärke) verändert
den auditiven Raum.
Ganz besonders auffallend sind die Kleider mehrerer aus Mittel- und Westafrika
stammender Frauen. Schnitte, bunte Farben und Muster sowie die oft auffällig gebundenen
Kopftücher im Muster der Kleidung sind visuell sehr raumprägend. Natürlich trägt auch
die häufige Präsenz von Kopftüchern an Frauen mit Abstammung aus Nordafrika oder dem
Nahen Osten zur Konstruktion eines (inter-)kulturellen Bedeutungsraumes bei.
Die verschiedenen Telekommunikationsanbieter, die Ferngespräche zu günstigen Tarifen
anbieten, versinnbildlichen am besten die Dynamik der Produktion eines ethnischinterkulturellen Bedeutungsraumes Barbès.
Aus einer bestimmten physisch-räumlichen Position heraus stellen sie über Medien
vermittelt weitere virtuelle Räume und Bedeutungsräume her. Sie sind gleichsam mit dem
sich in Frankreich befindenden physischen Raum Barbès als auch mit einem fernen Raum
verbunden. Diese Verbindung ist mit einer bestimmten Vorstellung von dem jeweiligen
fernen Raum, dem sich die telefonierenden Personen zugehörig fühlen, verbunden.
Entscheidend ist, dass die Raumteilnehmer nicht dem physischen fernen Raum angehören,
sondern ihrer speziellen Vorstellung davon, dem imaginären Raum bzw. Bedeutungsraum.
Dieser auf einen physisch fernen Raum bezogene Bedeutungsraum wird mit anderen
physisch fernen oder nahen Raumteilnehmern manchmal geteilt. Diese Personen bilden
dann eine Diasporagemeinschaft.
Die in diesem Kapitel beschriebenen ethnischen Bedeutungsräume sind Teil des
Phänomens, welches Arjun Appadurai Ethnoscapes nennt.
„In dem Maße, in dem ganze Menschengruppen ihre traditionellen Orte verlassen
und sich an anderen neu zusammenfinden, die Geschichte ihrer Gruppe neu
bestimmen und ihre ethnischen „Projekte“ umdefinieren ist das Ethno in der
Ethnographie nicht mehr fest umrissen und nicht mehr eindeutig bestimmbar.“ 148
Da im Quartier Barbès eben vermehrt diese ethnischen Räume konstruiert werden, wird
auch dieser Raum der französischen Hauptstadt mit einer interkulturellen Raumbedeutung
versehen. Die Mobilität von Raumteilnehmern verändert damit nicht nur die Bedeutungen
der verlassenen Räume, sondern auch die Bedeutungen ihrer neuen Aufenthaltsorte.
Natürlich konstruiert auch der Tourismus im Quartier Barbès einen interkulturellen Raum.
Dieser Raum ist aber an die Präsenz der Raumteilnehmer geknüpft, während die
148
Appadurai, Arjun: Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer
transnationalen Anthropologie, in: Beck, Ulrich (1998): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt am
Main: Suhrkamp, S. 11
81
Raumteilnehmer mit Migrationhintergrund den Analyseraum durch die längerfristige
Integration verschiedener ethnisch-kultureller Repräsentationen verändern.
Offen bleibt bei dieser Feststellung, inwiefern die jeweiligen Raumteilnehmer den
Analyseraum bewusst ethnisch inszenieren.
Es wäre zumindest denkbar, dass der Raum auch für ein bestimmtes touristisches
Publikum als interkultureller Raum produziert wird. Dafür spricht beispielsweise, dass die
Stoffgeschäfte, welche sich in direkter Nähe des Hügels Montmartre befinden und mit
„tissus orientales“ werben, mit ihrem tatsächlichen Angebot wahrscheinlich kein
traditionell geprägtes Publikum aus dem Orient ansprechen. Sie verkaufen freizügige, an
Filmkostüme erinnernde Glitzerroben und fügen sich mit diesem Angebot mehr in ein
bestimmtes durch internationale Repräsentationen (Filme, Geschichten etc.) konstruiertes
Bild des Orients.
Für einen Großteil der tatsächlich aus dem Orient stammenden Raumteilnehmer im
Quartier Barbès ist dieses Angebot vermutlich uninteressant.
Auch Reiseführer werben mittlerweile mit der Interkulturalität des Viertels Goutte d´Or 149
und tragen so zusätzlich zur Produktion des interkulturellen Bedeutungsraumes bei.
Ebenso ist es möglich, dass Ethnizität im Quartier Barbès derart intensiv repräsentiert wird,
weil sich Immigranten in Paris eine Sichtbarkeit verschaffen bzw. sich als Immigranten
eine Art eigenen innerstädtischen Raum markieren möchten
„Extremer Unbeständigkeit sind vor allem diejenigen Bevölkerungsgruppen
ausgesetzt, die in Randzonen und Zwischenräumen unserer sich zunehmend
schließenden Gesellschaft gedrängt werden. Sie haben nur bedingt Zugang zu den
für jede Identitätsbildung notwendigen Orientierungswerten bzw. zu den Techniken
und Möglichkeiten, die eine Nation zusammenhaltende Kulturalität zu erwerben
und zu demonstrieren.“ 150
Eine solche These ist jedoch gewagt. Es ist allerdings zumindest denkbar, dass an die
komplexe Integrationsproblematik (Marginalisierung, Banlieueproblematik) von Paris
geknüpfte psychologische Prozesse dieses (eventuell unbewusste) Raumverhalten
hervorrufen.
3.4.8. Der Raum der Fremdheit und Differenz:
Wie im vorherigen Kapitel beschrieben halten sich in Barbès und insbesondere in seinem
Osten besonders viele Raumteilnehmer mit Migrationhintergrund auf. Diese können vor
allem auf Grund ihrer Hautfarbe als Menschen mit Migrationhintergrund erkannt werden.
149
Vgl. Anhang 1: Video: 01:38:33 h
Kimminich, Eva: Citoyen oder Fremder. Ausgrenzung und kulturelle Autonomie in der französischen
Banlieue, in: Trotha, Trutz von (hg.) (1997): Soziologie der Gewalt. Opladen u.a.: Westdt. Verl. (Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie: Sonderhefte, 37), S. 513
150
82
Zudem frequentieren den Raum einige Touristen und natürlich einige Franzosen.
Wie David Morley mit Bezug auf Mary Douglas Theorie zur Reinheit herausstellt, sind
substantialistisch und exklusiv definierte Räume intern homogen bzw. rein konzipiert.
Dieses Homogenitätsgebot betrifft ebenso die sich dort aufhaltenden Menschen.
Menschen mit nicht zum Konzept des jeweiligen Raumes passenden Eigenschaften werden
dementsprechend als Verunreinigung empfunden.
Auch wenn diese Darstellung übertrieben wirkt, so kann dennoch festgehalten werden,
dass Menschen mit Eigenschaften, die nicht in das Homogenitätsraster des jeweiligen
Raumkonzepts passen, auffallen. Eine Differenz erzeugt demnach eine „Markierung“ des
jeweiligen Raumteilnehmers.
Im Allgemeinen lässt sich trotz Globalisierung immer noch behaupten, dass Menschen mit
einer dunklen Hautfarbe oder ähnlichen Hinweisen auf eine ferne Abstammung (Kleidung,
Kopftuch etc.) im Europäischen Raum eher auffallen bzw. „markiert“ sind, als Menschen
einer offensichtlich Europäischen Abstammung. Im Quartier Barbès wird diese Tendenz
aufgehoben bzw. in manchen Subräumen sogar umgekehrt.
Eine weitere Raumbedeutung des Quartiers Barbès ist es somit ein Raum der allgemeinen
Differenz zu sein.
Ohne so weit zu gehen den Raum als einen Raum zu deklarieren, in welchem die
allgemeine Differenz zur Bedeutungslosigkeit führt, denn dies ist eindeutig nicht der Fall,
kann
dennoch
davon
ausgegangen
werden,
dass
beispielsweise
vor
dem
Discountwarenhaus Barbès weder Migranten, noch Touristen, noch Franzosen eine
„Markierung“ tragen.
Im Subraum um den Boulevard Barbès wird das „Spiel der Markierung“ umgedreht. Als
Mensch mit heller Hautfarbe fällt man in diesem Subraum auf.
Trotz einer Situiertheit innerhalb der französischen Hauptstadt, ist hier auch der Franzose
ein Fremder.
Durch
das
„ethnisch
markierte“
Angebot,
die
Präsenz
einer
Mehrzahl
von
Raumteilnehmern mit fernem Migrationhintergrund und weitere Aspekte, die den oben
beschriebenen, ethnisch-interkulturellen Raum konstruieren, fühlt sich der europäische
Raumteilnehmer in diesem Subgebiet eher „markiert“ und fremd.
Emmanuelle Lallement behauptet in diesem Zusammenhang darüber hinaus, dass Europäer
dieses Subgebiet eben besuchen, um eine sogenannte multikulturelle, kosmopolitische
Raumatmosphäre zu konsumieren.
83
Auch in Bezug auf die im Raum vorhandenen Repräsentationen und Diskurse, die in
diesem Kapitel im Vordergrund standen, entsteht eine Fremdheit.
Das Quartier Barbès kann als ein Raum beschrieben werden, in dem eine außergewöhnlich
reichhaltige Vielfalt von verschiedenen Zeichensystemen, Repräsentationen und folglich
Diskursen zusammentreffen. Der durchschnittliche Raumteilnehmer hat jedoch nur zu
einigen von diesen Diskursen einen Zugang.
Natürlich konnten bei der Raumbesichtigung für diese Arbeit, wie bereits in Kapitel 3.1.
problematisiert wurde, nicht alle Diskurse ausfindig gemacht und verstanden werden.
Dennoch konnte festgestellt werden, dass beispielsweise die Diskurse in arabischer Schrift
für einen Großteil der europäischen Raumteilnehmer nicht zugänglich sind.
Die Diskurse, die beispielsweise durch Graffiti entstehen (denn auch Graffiti ist ein
Zeichensystem mit Bedeutungen und Referenzen) ist noch begrenzter. Meist können nur
Raumteilnehmer, die in die jeweilige Szene involviert sind, diesen Diskurs verstehen.
Die oben beschriebenen, über den Raum ausgetragenen politischen Diskurse sind für viele
Touristen unverständlich bzw. bedeutungslos. Vielleicht fallen sie einem Großteil der
Touristen nicht auf, da sie nur selektiv die für sie inszenierten Raumaspekte wahrnehmen
möchten.
In jedem Fall gibt es für die meisten Raumteilnehmer Aspekte (Repräsentationen, andere
Raumteilnehmer) die fremd sind. Es kann also festgehalten werden, dass eine Bedeutung
des Quartiers Barbès seine Aufgeladenheit mit Differenz oder Fremdheit ist.
Diese Beobachtung führt automatisch zu einer ebenfalls für diese Arbeit sehr wichtigen
Feststellung zum Quartier Barbès. Bei all seinen verschiedenen Bedeutungsdimensionen,
hat Barbès keine Identität. Das Wort Identität setzt ein Identitsch-Sein seiner Raumaspekte
in Bezug auf mindestens eine Eigenschaft voraus. Die einzige Eigenschaft, welche die
Raumaspekte miteinander vereint, ist jedoch ihre Differenz (und ihre physisch-räumliche
Nähe). Barbès hat demnach keine Identität, sondern eine Differenzialität.
3.4.9. Raum- und Bedeutungsverschiebungen:
Die verschiedenen Raumdimensionen, d.h. der gebaute Stadtraum, der praktizierte Raum,
der Bedeutungs- bzw. imaginäre Raum sowie der soziale Raum und der Marktraum, stehen
nicht nur nebeneinander oder überlagern sich gegenseitig, sie behindern und
dekonstruieren sich ebenso gegenseitig bzw. verhandeln den Raum untereinander.
Ein gutes Beispiel für diese Raumverhandlung ist die Rue Steinkerque, am Fuß des Parks
um die Basilique du Sacré-Cœur. Von einem mehr oder weniger geschlossenen
Bedeutungsraum um die Wallfahrtskirche (Karussells, Musik, die bauliche Struktur, die
84
Parkanlage, nostalgisch gestaltete Parispostkarten) gelangen die Raumteilnehmer in die
Rue de Steinkerque. Diese Straße hat zum einen viele Souvenirgeschäfte, zum anderen
befinden sich dort bereits die ersten Discount- und Stoffgeschäfte der Discount- und
Stoffmarktkonzentration zwischen dem Warenhaus Tati und der Metrostation Anvers.
Dementsprechend treffen ebenso Raumteilnehmer mit verschiedenen Intentionen
aufeinander.
Es münden an dieser Stelle zwei verschiedene Nutzungs- und Bedeutungsräume physisch
ineinander, was vor allem den nostalgischen Bedeutungsraum (Paris des 19. Jahrhunderts,
Künstlerviertel Montmartre) schwächt. Dieser imaginäre Raum ist nämlich über
Repräsentationen vermittelt und somit „fragiler“ als der praktisch bestimmte Marktraum.
Die Rue de Steinkerque bis zur Metrostation Anvers hinunterzugehen ist mit einer
räumlichen „Desillusionierung“ vergleichbar. Es ist wie das Verlassen von Disneyland.
Um
diese
Desillusionierung,
Raumdimensionen
und
die
durch
-bedeutungen
die
entsteht
physische
zu
Nähe
vermeiden,
verschiedener
versuchen
die
„Konstrukteure“ des Vergnügungsraumes im Quartier Barbès dem entgegenzuwirken.
Die Karte, welche beispielsweise die Tour der Besichtigungsbahn im Viertel beschreibt,
schließt den Boulevard Barbès aus. 151
Zudem befinden sich gerade in der Rue Steinkerque sowie in den umliegenden Straßen
viele Repräsentationen, die Authentizität kreieren sollen. Wörter wie „traditionelle“ oder
„français“ häufen sich in dieser Gegend. Die meisten Touristen werden sich jedoch der
Inszeniertheit dieser Authentizität bewusst sein.
Dies würde zu Scott Lashs und John Urrys Theorie des Post-Touristen passen. In ihrem
Werk „Economies of Signs and Spaces“ beschreiben sie die touristische Erfahrung im
postmodernen Raum als allegorisch. Die Touristen nehmen die für sie in Szene gesetzten
Objekte im Raum wahr, produzieren so ihre authentische Erfahrung durch eine selektivkonstruktive Wahrnehmung. Diese Form der Wahrnehmung ist Teil des allgemeinen
Phänomens, welches sie „aesthetic reflexivity“ nennen.
„It is the tourist as pilgrim seeking the authentic experience. An alternative set
middle-class travellers will ´allegorically´ revel in the obvious constructedness
the whole experience. Their tourist gaze might involve also a reflective grasp
how tour operators and ´the natives´ manipulate their semiotic environment
their own material interests. This is the experience of the ´post-tourist´. 152
of
of
of
in
Der urbane Raum könnte daher auch als eine Art Theater beschrieben werden. Auf
manchmal gleichen, manchmal verschiedenen physischen Bühnen werden verschiedene
151
152
Vgl. Anhang 1: Video: 01:38:56
Lash, Scott; Urry, John (1994): Economies of signs and space. London: Sage Publ., S. 58
85
imaginäre Räume inszeniert. Der Zuschauer wählt dabei aus, welcher Inszenierung er
folgen möchte und vollbringt gleichsam wie jeder Theaterzuschauer eine kreativkonstruktive Abstraktionsleistung.
Ein weiteres, oft vorkommendes Phänomen der Bedeutungsverschiebung vollzieht sich
zwischen den Namensbedeutungen und der sozialen Bedeutung von Orten. Die Namen
wurden verschiedenen Orten im Raum von Stadtverwaltern gegeben. Sie fügen, wie
Michel de Certeau bemerkt, der physischen Geographie eine poetische hinzu. 153
Diese poetische Geographie handelt oft von historischen Ereignissen und Helden der Stadt
bzw. des Viertels.
De Certeau räumt aber auch ein, dass diese durch Namen produzierten Raumbedeutungen
im Laufe der Zeit verblassen bzw. von anderen Bedeutungen überlagert werden und
vergleicht diesen Prozess mit der Gravur eines Geldstückes, das benutzt wird.
Ein Beispiel für eine solche Bedeutungsverschiebung ist der Place du Chateau Rouge. Der
Name referiert auf ein aus roten Steinen konstruiertes Schloss, in welchem 1845 der
„Nouveau Tivoli, Bal du Chateau Rouge“ und später weitere Veranstaltungen
stattgefunden haben. 1875 wurde das Schloss zerstört. Die Geschichte des Schlosses wird
auch durch ein auf dem Place du Chateau Rouge platziertes Schild beschrieben. 154
Wenn jedoch im Internet Artikel zum Namen Chateau Rouge aufgerufen werden 155 oder
auch, wenn man mit Raumbewohnern über diesen Platz spricht, so hat der Name Chateau
Rouge überwiegend eine soziale Bedeutung. Er steht für ein hohe Frequentierung durch
aus Mittel- und Westafrika immigrierte Raumteilnehmer, „ethnisch-markierten“ Handel,
und allgemeine Interkulturalität.
Im Falle des Raumes „Place du Chateau Rouge“ verhandeln also die historische und
soziale Bedeutungsdimension miteinander die Raumbedeutung.
Ein weiteres Spannungsfeld bildet sich zwischen dem globalisierten urbanen Raum und
dem imaginären Bedeutungsraum des Dorfes.
Durch verschiedene Repräsentationen wird das Quartier Barbès als eine Art Dorf in der
Stadt dargestellt. Filme wie „Die fabelhafte Welt der Amelie“ stellen den Montmartre als
urbanen Subraum mit dörflichem Ambiente dar. Die kleineren Obst- und Gemüsehändler
in den engen Nebenstraßen des Viertels sowie gerade der östliche Raum des Quartiers
Barbès, der insbesondere von seinen immigrierten Raumteilnehmer auch als Sozialraum
153
Certeau, Michel de (1990): L´invention du quotiden.1. Arts de faire. Paris: Gallimard (Collection folio :
Essais), S. 158
154
155
Vgl. Anhang 1: Video 01:05:28
Vgl. z.B. http://fr.wikipedia.org/wiki/Ch%C3%A2teau_Rouge
86
zum alltäglichen Gesprächs- und Treffpunkt genutzt wird, erinnern stark an die allgemeine
Vorstellung von einem Dorf. Pierre Mayol definiert „das Quartier“ als räumliche Form im
Kapitel „Qu´est-ce qu´un quartier“ des Werkes „L´invention du quotidien 2“ zudem als
eine Art Übergangsraum zwischen Privatraum und öffentlichem Raum.
„Du fait de son usage habituel, le quartier peut être considéré comme la
privatisation progressive de l´espace public.“ 156
Dem entgegen spricht natürlich, dass das Quartier Barbès offiziell Teil eines
Großstadtraumes ist und es befinden sich zahlreiche Präsentationen im Raum, die darauf
hindeuten, dass es zur „ville de Paris“ gehört sowie vom Rathaus des 18. Arrondissements
(mairie du 18e) verwaltet wird. Beispiele für diese städtischen Repräsentationen sind z.B.
die digitalen Anzeigetafeln, die sich an vielerlei zentralen Stellen wie dem Place Pigalle
befinden und die Raumteilnehmer über die aktuellen Ereignisse in der Gesamtstadt
informieren.
Auch globale Handelsketten wie beispielsweise MC Donalds, die sich vorzugsweise in
urbanen Räumen befinden, lassen das Quartier Barbès als globalisierten, urbanen
Stadtraum erscheinen.
Französische Nationalflaggen und Beschriftungen von städtischen Gebäuden mit den
Worten „Liberté, Égalité, Fraternité“ betonen hingegen die offiziell-nationale Dimension
des Raums.
Man könnte die Verhandlung von Raumbedeutung zwischen Stadtraum und Dorfraum
auch als eine aus dem 19. Jahrhundert fortgeführte Verhandlung der Raumhoheit über
Montmartre interpretieren.
Zwar stehen hinter der Verhandlung von Raumbedeutung nicht unbedingt Akteure, die sich
dieser Verhandlung intentional bewusst sind. Auf den Raumbeobachter wirkt der Raum
jedoch trotzdem manchmal als habe er eine besonders dörfliche Qualität im Vergleich zu
vielen anderen Vierteln in der Stadt. Diese Raumerscheinung ist vermutlich historisch,
durch die bauliche Struktur des Viertels (Berg, enge Gassen, keine komplette
Umstrukturierung durch Haussmann) und durch die oben genannten Repräsentationen
bedingt.
Es sollte am Ende dieses Kapitels noch einmal betont werden, dass es nicht darum ging
darzustellen, wie das Quartier Barbès „real“ ist (z. B. ein Ghetto, ein Vergnügungsviertel
oder ein Revolutionsraum), sondern darum herauszustellen, wie der Raum repräsentiert
156
Certeau, Michel de; Giard, Luce; Mayol, Pierre (1996): L´invention du quotidien. 2. Habiter, cuisiner.
Paris: Gallimard (Collection folio : Essais), S.20f.
87
wird sowie wie der Raum auf Grund verschiedener, durch verschiedene Akteure
geschaffene Diskurse mit einer bestimmten Bedeutung versehen wird.
Allerdings hat der imaginäre Raum durchaus „reale“ Einflüsse auf den „Realraum“. Wie
Baudrillards Beispiel des simulierten Diebstahls zeigt sind Realität und Simulation
miteinander verwoben. Zwar unterscheidet Baudrillard zwischen verschiedenen „Stadien“
der Simulation. Da Simulation jedoch wie jede „herkömmliche“ Repräsentation auch auf
Zeichenprozessen basiert, kann auch in Bezug auf die in diesem Kapitel besprochenen
Repräsentationen und Diskurse die These aufgestellt werden, dass sie mit dem „Realraum“
in unauflöslicher Interrelation stehen.
4. Fazit: zwischen Bedeutungsüberschuss und Kohärenzmikrokosmen
Die vorliegende Arbeit hat sich mit dem Thema der Produktion und Verhandlung von
Raum folgendermaßen beschäftigt: Zunächst wurde entgegen dem euklidischen Modell
theoretisch herausgestellt, dass Raum kein einfach vorhandener Container ist, sondern
durch menschliche (Inter-) Aktion erst konstruiert wird. An diesem Konstruktionsprozess
sind immer auch Medien beteiligt. Es wurden verschiedene Formen medialer Prozesse
vorgestellt, die Räume konstruieren: Bauliche Formen, Praktiken der Raumteilnehmer,
medial vermittelte Imaginationen, soziale Interaktion. Diese Prozesse machen in ihrer
spezifischen Art und Weise des Zusammenwirkens die Eigenlogik eines Raumes aus.
Daraufhin wurde der spezifische Analyseraum, das Quartier Barbès in Paris, zunächst
näher beschrieben und folglich analysiert, um an einem Beispielraum die verschiedenen
Dynamiken der Produktion und Verhandlung von Raum herauszuarbeiten.
Es sollte anhand verschiedener Beispiele gezeigt werden, dass der Analyseraum
verschiedene Dimensionen, den gebauten, den praktizierten sowie den imaginären Raum,
hat und dass diese Dimensionen im Rahmen desselben physischen Rahmens miteinander in
Relation stehen.
Eine wichtige Aufgabe der Arbeit bestand darin aufzuzeigen, dass jede dieser
Raumdimensionen durch Zeichenprozesse geschaffen wird. Sowohl die bauliche Form des
Raumes und das (Körper-)Verhalten der Raumteilnehmer als auch die verschiedenen
(bildlichen, sprachlichen, musikalischen) Repräsentationen, welche imaginäre Räume
schaffen, sind Zeichenprozesse, die den physischen Raum mit sowohl praktischer
(Nutzungsräume) als auch imaginärer Bedeutung füllen.
Ohne menschliche Aktion und Medien, wäre der Raum demnach höchstens in Form einer
„unsichtbaren Wüste“ vorhanden.
88
Zwar
ist
der
Beispielraum,
das
Quartier
Barbès,
eindeutig
mit
einem
Bedeutungsüberschuss versehen. Dennoch lässt sich für jeden Raum verallgemeinern, dass
er mindestens eine Bedeutung haben muss, um als Raum wahrgenommen zu werden.
Kartographie ist dabei vermutlich eines der grundlegendsten Zeichensysteme, um Räume
voneinander zu differenzieren und somit räumliche Bedeutung zu schaffen.
Bedeutung wird dabei durch Differenz bzw. Relationen zu anderen bedeutenden
Elementen erzeugt. Denn, wie ebenso in dieser Arbeit erläutert wurde, erzeugt auch
Sprache so die Bedeutung ihrer Zeichen.
Der Bedeutungsüberschuss des Quartiers Barbès kann folgendermaßen zusammengefasst
werden:
Das Quartier Barbès hat nicht nur mehrere Bedeutungen, sondern auch mehrere
Bedeutungsdimensionen. Es ist beispielsweise gleichzeitig ein Sozialraum, ein
ökonomischer Raum und ein imaginärer Raum. Der Sozialraum konstruiert dabei genauso
Bedeutung (z.B. Ortseffekte) wie der imaginäre Raum (z.B. Paris des 19. Jahrhunderts,
ethnischer Raum). Manchmal verhandeln mehrere Raumdimensionen auch die Bedeutung
eines Raumes miteinander (z.B. Place du Chateau Rouge).
Schlussendlich entsteht die aktuelle Bedeutung des Raumes immer zwischen den
verschiedenen Dimensionen. Aktuell muss die Bedeutung des Raumes genannt werden, da
sie eben nicht statisch ist. Sie wird vielmehr ständig im medialen Zusammenspiel der
Repräsentationen innerhalb sowie zwischen den einzelnen Bedeutungsdimensionen neu
aktualisiert.
Dass das Quartier Barbès mehrere kontinuierlich neu verhandelte und untereinander den
Raum verhandelnde Raumdimensionen hat, bewirkt, dass es keine für den Gesamtraum
geltende innerräumliche Kohärenz gibt. Nicht einmal eine einzelne Bedeutungsdimension
wie der imaginäre Raum oder der gebaute Stadtraum sind in sich kohärent, sondern
gliedern sich meist in mehrere Subräume dieser Bedeutungsdimension auf. So hat der
gebaute Stadtraum beispielsweise Übergangs- und Aufenthaltsräume oder der imaginäre
Raum hat verschiedene Themenbereiche (Vergnügungsraum, interkultureller Raum etc.).
Der imaginäre Raum bzw. Bedeutungsraum des Quartiers Barbès zeichnet sich darüber
hinaus dadurch aus, dass er in hohem Maße durch die anderen Raumdimensionen (den
gebauten Stadtraum, den praktizierten Raum) mitkonstruiert wird. Er ist vermutlich die
Dimension von Raum, welche durch die meisten verschiedenen Zeichenprozesse (baulich,
bildlich, körperlich, sprachlich etc.) produziert wird. Allerdings trifft es auch auf
89
Dimensionen wie den gebauten Raum zu, dass er durch andere Zeichenprozesse wie Bilder
und Texte (z.B. Verkehrsschilder) mitproduziert wird.
Wie schon erwähnt wurde, ist es eigentlich unmöglich die einzelnen Dimensionen
voneinander zu trennen und diese Trennung wurde in dieser Arbeit nur modellhaft
vorgenommen. Denn beispielsweise der interkulturelle Raum, der hier als ein imaginärer
Raum dargestellt wurde, ist auch ein Sozialraum. Auch ein Verkehrsraum, der nach dem in
dieser Arbeit vorgeschlagenen Konzept zum gebauten Stadtraum zählen würde, ist in
gewisser Hinsicht ein Bedeutungsraum bzw. ein imaginärer Raum. Er ist ebenso durch
Zeichenprozesse konstituiert und funktioniert nur, weil die Raumteilnehmer eine
bestimmte Vorstellung bzw. ein Konzept von ihm haben.
An dieser Stelle zeigt sich auch die enge Verknüpfung zwischen Raum und Wahrnehmung
bzw. Imaginationskraft der Raumteilnehmer.
Wie bereits bei der metaphorischen Beschreibung von Raum als Theater deutlich werden
sollte, leistet der Raumteilnehmer bei seiner Raumwahrnehmung immer auch eine
konstruktive Leistung. Aus verschiedenen Allegorien „baut“ er sich die für ihn gerade
wichtige Raumdimension (Verkehrsraum, Marktraum, Raumatmosphäre) zusammen. Ein
Beispiel für den konstruktiven Raumteilnehmer ist der Post-Tourist, der sich seine
Raumimagination aus verschiedenen der für ihn inszenierten oder nicht für ihn inszenierten
Objekten metonymisch bildet.
Dieser Prozess ist eine Aneignung des Raumes durch den Raumteilnehmer. Die Aneignung
kann dabei entweder mit oder entgegengesetzt eines bestimmten „dominanten
Vorschlages“ für den Raum verlaufen.
So kann der Tourist auch entgegen des für ihn in nostalgischer Weise präsentierten
Raumes (Postkarten, Karussell, Musik) eine Raumimagination erzeugen. Er könnte dazu
beispielsweise andere Objekte wie beispielsweise die Discountgeschäfte in der Rue
Steinkerque zum Anlass nehmen. Genauso kann der Raumteilnehmer des gebauten
Stadtraumes, entgegen des Vorschlages, einen Ort als Durchgangsraum zu verwenden, ihn
ebenso als Aufenthaltsraum nutzen.
Demnach findet auch in Bezug auf Räume und Raumbedeutungen immer ein Machtspiel
zwischen Dominanz und Subversion statt.
Ein weiteres Spiel zwischen den Räumen ist es, wenn über einen physisch existenten Raum
wie das Quartier Barbès weitere virtuelle Räume eröffnet werden. Zwar zählen die
Raumimaginationen auch zu den virtuellen Räumen. Diese sind allerdings noch auf den
physischen Raum bezogen, denn dieser Raum hat die jeweilige Bedeutung. Es werden
90
jedoch auch virtuelle Räume aus dem physischen Raum eröffnet, die von diesem losgelöst
sind.
Beispiele
dafür
sind
virtuelle
Kommunikationsräume,
die
durch
Telekommunikationsmedien aus dem physischen Raum heraus eröffnet werden. Auch die
von Michel de Certeau beschriebenen Werbetafeln, die „aus den Mauern des Raumes
heraus imaginäre Räume eröffnen“ 157 zählen zu diesen losgelösten virtuellen Räumen.
Ebenso wird über viele Medien im Raum wie beispielsweise Aufkleber oder Werbetafeln
durch Webadressen (URLs) auf virtuelle Räume des Cyberspaces verwiesen.
In allen Fällen werden im Sinne David Morleys medial die physischen Raumgrenzen
überschritten. Die Medien für diese Überschreitung befinden sich aber im physischen
Raum.
Das „Problem“ der Inkohärenz ist ständig präsent im Quartier Barbès und rechtfertigt die
Bezeichnung des Raumes als „(post-)modernen Raum“.
Wie Françoise Choay im Werk „Le sens de la ville“ darlegt, seien heutige Städte gemischte
Systeme, welche sie von puren Systemen abgrenzt.
Pure Systeme bezeichnen ein Geflecht von Orten, die in ihrer jeweiligen Bedeutung
statisch und bestimmt sind. Jeder Ort hatte in seiner Eigenschaft als Ort eine Funktion und
Bedeutung in einem System. Seine jeweilige Bedeutung ergibt sich dabei nur aus seiner
Differenz bzw. Relation zu anderen Orten im System. Das Gesamtsystem ist darüber
hinaus mit einem Metasystem von Bedeutung, einer kosmologischen Ordnung, verknüpft.
Daher bezeichnet Françoise Choay die Orte auch als Hypersignifikanten.
Sie stellt das von Claude Lévi-Strauss im Werk „Traurige Tropen“ beschriebene BororoDorf als ein gutes Exempel für pure Systeme dar, da sich auch hier die Bedeutungen der
einzelnen Orte bzw. Behausungen aus ihrer Position im System ergibt. 158
In gemischten Systemen werden die Orte durch weitere Zeichensysteme wie grafische
Bilder und Texte ergänzt. Diese befinden sich beispielsweise auf Geschäftsfassaden oder
Werbetafeln. Das System der Orte funktionierte in seiner Relationalität nur, weil es
geschlossen war. Durch das hinzufügen von externen Zeichensystemen, die Françoise
Choay
Hyposignifikanten nennt, verlieren die einzelnen Orte ihre Fähigkeit klar zu
referieren. Françoise Choay nennt diesen Prozess semantische Reduktion. 159
Der Übergang von puren Systemen zu gemischten Systemen, der für Françoise Choay mit
der italienischen Renaissance beginnt, ist gleichsam der Übergang vom Ort zum Raum.
157
Certeau, Michel de; Giard, Luce; Mayol, Pierre (1996): L´invention du quotidien. 2. Habiter, cuisiner.
Paris: Gallimard (Collection folio : Essais), S. 203
158
Vgl. Choay, Françoise: Sémiologie et urbanisme, in : Choay, Françoise ; Baird,George, Martin, Jean-Paul
(hg.) (1972); Le sens de la ville. Paris: Éditions du Seuil, S. 13
159
Vgl. ebd., S. 17
91
Denn der Raum ist (nach Michel de Certeaus Definition) ein Ort, mit dem man etwas
macht.
Die semantische Reduktion der Orte wird durch ein Spiel der Relation zwischen den
verschiedenen Zeichensystemen (Ortbeziehungen, Bilder, Schrift etc.) ersetzt.
Vermutlich zählt auch dieses Relationsspiel zu der Raumordnung, die Michel Foucault als
Lagerungsbeziehungen beschreibt. Foucault beschreibt den Übergang von Mittelalter zur
Moderne ebenfalls als einen Übergang vom Ortungsraum zum unendlich offenen Raum.
Dieser unendlich offene Raum hat eben keine klare, kohärente Struktur mehr, sondern ist
nur durch ein ebenso unendlich wirkendes Maß an Lagerbeziehungen strukturiert sowie
mit verschiedenen Qualitäten aufgeladen. 160
Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen
definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen
sind.“ 161
Zeit stellt dabei nach Foucault nur eine mögliche Lagerbeziehung dar. 162
Eine These dieser Arbeit sollte es sein, dass die verschiedenen Zeichenprozesse
(Körpersprache, gebauter Raum, Bild, Text, Klang/Musik), welche wiederum verschiedene
Raumdimensionen konstruieren, andere Formen der Lagerbeziehungen im unendlich
offenen Raum konstruieren.
Eine letzte wichtige These dieser Arbeit ist, dass trotz der Inkohärenz des Gesamtraumes,
seiner enormen Mehrdimensionalität und seinem Zeichen- und Bedeutungsüberschuss,
viele kleine räumliche „Mikrokosmen“ existieren, die in sich durchaus als kohärent
bezeichnet werden können.
So könnte beispielsweise auf den Analyseraum bezogen ein Subraum einer
Bedeutungsdimension, wie beispielsweise der interkulturelle Raum der Dimension des
imaginären Raumes, als ein solcher Mikrokosmos bezeichnet werden.
(Post-)Moderne Räume wie das Quartier Barbès erfordern daher ein unterschwelliges
Bewusstsein ihrer Raumteilnehmer für die Konstruiertheit von Räumen. Darüber hinaus
erfordern sie die Fähigkeit ihrer Raumkonsumenten aus einem Überschuss von Zeichen
und Bedeutungen, die für sie lesbaren semantischen Einheiten zu einem für sie ausreichend
kohärenten Nutzungs- und Bedeutungsraum zusammenzufügen.
Zu guter Letzt soll noch eine Aussage Ian Chambers in Bezug auf Neapel angeführt
werden, welche ebenso gut für das Quartier Barbés gelten könnte:
160
Vgl. Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz (1990): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder
Perspektiven einer anderen Ästhetik ; Essais. Leipzig: Reclam, S. 36 f.
161
Ebd., S. 38
162
Vgl. ebd. S. 37
92
„Wer sich offen zeigt gegenüber dieser Dimension – der kollektiven Narration von
Identitäten und dem Austausch von Erinnerungen, die unter dem Namen „Napoli“
[Barbès] 163 subsumiert werden können-, verzichtet offenkundig auf die
Möglichkeit, all diese Fäden zu einem einzigen Strang, einer einzigen Narration,
die solche Details zu erklären vermag, zusammenzuführen“ 164
163
Hinzufügung durch den Autor
Chambers, Ian: Städte ohne Stadtplan, in: Hörning, Karl H. (hg.) (1999): Widerspenstige Kulturen.
Cultural studies als Herausforderung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 532
164
93
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http://www.parisbalades.com/Deutsch/Arrond/18/18emontmartre.htm, zuletzt aktualisiert
am 21.07.2004, zuletzt geprüft am 21.06.2009
96
Anhang 1: Daten-CD mit Foto- und Videomaterial aus dem Analyseraum
97
Anlage 2: Ergänzungen zum Videomaterial
Das Video ist 2009 mit Unterstützung der Équipe Sémiotique Cognitive et Nouveaux
Médias (ESCoM) der Fondation Maison des Sciences de l´Homme in Paris entstanden.
Im Laufe des Videos werden folgende Orte und Bilder gezeigt:
Raumeindrücke: Das Viertel morgens
Bd. de la Chapelle, Metrostation Barbès-Rochechouart
Bd. Barbès
Kreuzung Bd.Barbès/Bd. de Rochechouart, Metrostation BarbèsRochechouart
Kreuzung Rue de Clignancourt/Bd. de Rochechouart, Kaufhaus Tati
Schienen der überirdischen Metrostation Barbès-Rochechouart,
Boulevard de Rochechouart
Boulevard de Rochechouart, Tati
Kreuzung Bd. Barbès, Bd.d Rochechouart, Ecke Vanoprix
00:25 min.
00:28 min.
00:54 min.
01:15 min.
Raumeindrücke : Das Viertel mittags und nachmittags
Innenraum der Metrostation Barbès-Rochechouart, Blick auf Bd. de la
Chapelle
Außenraum der Metrostation Barbès-Rochechouart, Blick auf Bd.
Barbès und Bd. de Rochechouart und Bd. de la Chapelle
Kreuzung Bd. de Rochechouart / Bd. Barbès
Kreuzung Bd. de Rochechouart / Bd. Magenta
Der Marché Barbès an einem Samstag (unter den Schienen der
überirdischen Metrostation Barbès-Rochechouart, Blick auf Bd. de la
Chapelle)
Bd. Barbès
Rue Polonceau, Moschee Al Fath
Bd. de Rochechouart, Rue de Clignancourt,Tati
Rue Seveste, Park um die Basilique du Sacré-Cœur
Rue de Steinkerque, Park um die Basilique du Sacré-Cœur
Metrostation Anvers, Elysée Montmartre, Boulevard de Rochechouart
Place Pigalle
Einige Fotos des Place Pigalle bei Nacht
05:52 min.
05:58 min.
Bedeutungsraum: Freizeit“Disneyland“: Nostalgie und
Vergnügungsviertel
Rue de Steinkerque
Metrostation Anvers
Touristikbusse, Boulevard de Rochechouart
Bd. de Rochechouart und Bd. de Clichy zwischen den Metrostationen
Anvers und Pigalle
Einige Fotos zum Tourismusraum/Freizeitraum
Bd. de Clichy, Place Pigalle
Einige Fotos zum Vergnügungsraum/Rotlichtviertel/Freizeitraum
01:35 min.
03:48 min.
04:42 min.
05:40 min.
07:36 min.
08:56 min.
16:08 min.
17:52 min.
21:55 min.
26:29min.
28:32 min.
41:22 min.
41:52 min.
46:35 min.
51:49 min.
52:53 min.
53:30 min.
53:30 min.
55:53 min.
55:58 min.
56:21 min.
57:25 min.
01:00:22 h
01:02:35 h
98
Bedeutungsraum: Der ethnisch-interkulturelle Raum
Bd. de la Chapelle
Rue de Clignancourt
Rue Orsel
Boulevard de Rochechouart
Rue de Clignancourt
Einige Fotos zum ethnisch-interkulturellen Raum
01:05:51 h
01:05:57 h
01:06:34 h
01:07:34 h
01:08:04 h
01:13:05 h
01:17:16 h
Der Raum als Medium und Medien im Raum / räumlich
ausgetragene Diskurse
01:23:55 h
Postkarten
01:35:26 h
Diverse mediale Repräsentationen des Viertels
01:37:50 h
Das gebaute Stadtbild, Fassaden, gebaute Hinweise auf Geschichte
der Gebäude
01:39:36 h
99
Anhang 3: Karte des Quartiers Barbès
165
165
Google Maps. Online verfügbar unter http://maps.google.de/, zuletzt geprüft am 20.06.2009
100
Anhang 4: Karte der Arrondissements von Paris
166
166
Plandeparis. Online verfügbar unter http://www.plandeparis.info/plans-de-paris/arrondissements-paris2.jpg, zuletzt aktualisiert am 12.07.2007, zuletzt geprüft am 21.06.2009.
101
Anhang 5: Karte der Quartiers des 18. Arrondissements
167
Anhang 6: Metroplan von Paris
167
Dixhuitinfo. Online verfügbar unter http://www.dixhuitinfo.com/IMG/jpg/carte_conseilsquartier650_V22.jpg, zuletzt aktualisiert am 16.01.2009, zuletzt geprüft am 21.06.2009.
102
168
168
Parisinfo (2007). Online verfügbar unter http://www.parisinfo.de/images/paris-metro-plan-karte.jpg,
zuletzt aktualisiert am 16.08.2007, zuletzt geprüft am 22.06.2009.
103