Editorial

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Editorial
Newsletter der SGZBB (Schweizerische Gesellschaft für Behinderten- und Betagten-Zahnmedizin)
Edition 13 / Juni 2008
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser
Schwerpunktthemen
• Alterszahnmedizin – Synergien
zwischen Schweiz und
Österreich im Euro Fussballjahr
• Zahnbehandlungsangst und
Zahnbehandlungsphobie
• Zur medizinischen Behandlung
und Betreuung von Menschen
mit geistiger oder mehrfacher
Behinderung
• Gedanken zur Neurobiologie
der Angst
• «Welchen Sinn macht
Depression?», Daniel Hell
Buchbesprechung
• Prägraduale Ausbildung in der
mobilen Zahnklinik
• Lippen-, Kiefer-, GaumenSpalten-Patienten
Vermischtes
• Buchbesprechung
• Die Angst des Theologen vor
dem Bohrer
• B. Streich, Nachgeworfen,
nicht vorgeworfen
• Jahresbericht der SGZBB
• Wir sind offen – sind Sie es
auch?
Glosse
• Edithoral bis
À noter dans votre agenda
• 21. Symposion der SGZBB/
ZGA: Donnerstag, 15. Januar
2009. Thema: Der Angst-/
Schmerzpatient, in der
St. Josef-Stiftung,
Bremgarten/AG
• 18. Jahrestagung der SGZBB:
Freitag, 19. Juni 2009 im
Zentrum für Zahn-, Mundund Kieferheilkunde der
Universität Zürich. Näheres im
PARTicipation 14. Edition
Ein Editorial kann erst dann
aufgetischt werden, wenn alle
Ingredienzien vorhanden, das
Menu bestimmt und die Rezepte
aller Köche endlich eingetroffen sind, d.h., wie leider Usus,
lange nach Redaktionsschluss.
Wenn man es vorher schreibt,
so nennt man es «Opposite Editorial», das allen Kolumnisten
und deren Phantasie offensteht,
die dem Inhalt des Heftes und
dessen Redaktionslinie keinen
Tribut zu zollen haben. Wir aber
glauben, dass wir dem Geiste des
PART­icipation verpflichtet sind,
keiner Leserin und auch keinem
Leser nur Schöngeistiges in die
hoffentlich erwartungsvollen
Augen zu tröpfeln. Sind wir denn
Ophtalmologen, gar nur Ästheten
– oder doch Zahnärzte mit Biss?
Editor, was oder wer war damit
ursprünglich gemeint? Der Editor
war der Spielgeber im alten Rom.
Er war Privatmann, vermögend
und für die Spektakel im Amphitheater zuständig. Also für «panem
et circenses» verantwortlich. Was
den Satiriker Juvenal zu folgender
Aussage veranlasste: Diese Spiele
dienen dem Volke eigentlich nur
als Opium, um es von seinen
Sorgen abzulenken und es dem
Kaiser gefügig zu machen (Rainer
Vollkommer in «Das römische
Weltreich», Konrad Theiss Verlag,
Stuttgart 2008, Seite 70f.). Gladiatorenkämpfe und Tierhetzen
zu organisieren, das waren seine
Aufgaben. Er erntete viel Ruhm,
war meistens sehr beliebt. Hier ist
es eher umgekehrt: Die Hetze gilt
dem Editor, der Ruhm fällt auf
die Autoren zurück. Das ist gut
St. G.
so. Dem Herausgeber, Spielgeber
bleibt die Qual der Auswahl bei
der Durchsicht der fast immer
grossartigen Artikel. Wie heissen
nun all die wilden Tiere, die dem
PART­icipation diesmal in die
Arena folgen und die es dem Editor kaum gelingt, je zu bändigen?
«Bis(s) zum Ende», titelte der
Essay des Publizisten und Philosophen Ludwig Hasler, der an der
diesjährigen ausgezeichneten und
hochklassigen 17. Jahrestagung der
SGZBB den Reigen der Referenten
eröffnete.
Weiter beissen zu in diesem
Heft: N. Enkling, mit Zahnbehandlungsangst und Zahnbehandlungsphobie. Mehr als eine
Buchbesprechung ist die minutiöse
Arbeit von W. Baumgartner über
den tieferen Sinn der Depression.
Felix Brem erklärt uns, wie es zur
Schaffung einer ähnlichen Organisation wie die der SGZBB bei
den Medizinern gekommen ist und
warum. Eine weitere kaum kontrollierbare Bestie schickt uns der
Philosoph G. Grubacevic auf unser
Gewissen: «Gedanken zur Neurobiologie der Angst». Der Theologe
H. Ernst sublimiert seine Angst
vor dem Bohrer, und die KAB
aus Zürich macht unser ruhiges
Gewerbe mobil. Am wörtlichsten
aber hat Ch. Besimo den Kampf
im Rund der unsanften Tiere
erfasst: Alterszahnmedizin – Synergien zwischen Schweiz und Öster-
reich im Euro-Fussballjahr. Wenn
Sie dieses Heft in Händen halten
werden, dann ist dieser Fight schon
längst entschieden. Der Pragmatismus der Schweiz hat nicht nur
den Charme von Austria Infelix
erstickt, die Leuchten Deutschlands, Frankreichs und auch
Italiens eines Besseren belehrt, die
Glaubenskapriolen des Wattekahns
überrollt, sogar ein Remis im hehren Zweikampf der Zwerge gegen
Liechtenstein erzielt, nein, es ist
der CH sogar gelungen sich selber
hoch und hochverdient und auch
noch zu Null zu besiegen. Darum
sind wir nicht nur Europameister,
sondern die Meister eines Universums, das wir uns selber schaffen.
Homo homini lupus? Züchten wir
uns unsere Bestien doch am besten
selber. Bevor sie uns aber zerfleischen, feilen wir an deren Zähnen,
plombieren wir die kariösen, extrahieren wir die widerspenstigen
und implantieren wir solche, deren
Saatgut wir selber geschaffen und
deren Wachstum wir glauben verantworten zu können.
Freuen wir uns auf eine gelungene Edition.
Mit bestem Dank dem
geneigten Leser, der anmutigen
Leserin. Danke den Autoren. Für
sie kein ad bestias.
Der Editor, Spielgeber oder
Spielverderber?
St.G.
Schwerpunktthema
Alterszahnmedizin
Synergien zwischen Schweiz und Österreich im Euro-Fussballjahr
von Prof. Dr. Ch. E. Besimo
Dieses Jahr wird an der Universitätsklinik
für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der
Medizinischen Universität Graz das erste
berufsbegleitende Curriculum Gerostomatologie
Österreichs durchgeführt. Der Lehrgang steht
unter der Schirmherrschaft der Österreichischen
Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde ÖGZMK.
Gemeinsame Wege der Schweiz und
Österreichs lassen sich nicht nur im Fussball
beschreiten. Langjährige fachliche und persönliche Kontakte haben zu der Idee geführt,
das Basler Ausbildungsmodell in Alterszahnmedizin für Studierende als Grundlage für
die Erarbeitung eines bisher in Österreich
fehlenden Curriculums Gerostomatologie zu
verwenden. In einem ersten Schritt konnte
in diesem Jahr mit einem berufsbegleitenden
Zertifikatsprogramm gestartet werden, das
an der Universität Graz unter der Leitung
von Prof. Dr. Gerwin Arnetzl (Graz) und
Prof. Dr. Christian Besimo an vier Wochenenden mit insgesamt acht Ausbildungstagen
und einem zusätzlichen Praktikumstag in
Alters- und Pflegeheimen der Stadt Graz
und Umgebung durchgeführt wird. Der
Ausbildungsgang erfordert einen Gesamtaufwand von rund 300 Stunden und umfasst
neben Aufarbeitung der Ausbildungsinhalte
und Literaturstudium die Dokumentation
von drei klinischen Fällen, die die Fähigkeit
zur praktischen Umsetzung der erlernten
diagnostischen und therapeutischen Instrumentarien belegen sollen.
Praktische Ausbildung im Altersheim
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PART­icipation
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Das Grazer Curriculum legt bewusst
das Schwergewicht auf die interdisziplinär
zwischen Zahnmedizin und Medizin eng
vernetzte Diagnostik, Therapie und Langzeitbetreuung des alternden Menschen.
Dabei liegt der Fokus der Ausbildung nicht
nur auf den institutionalisierten Betagten,
sondern in erster Linie auf den selbständigen
älteren Menschen, um sicherzustellen, dass
altersbedingte und auch für die zahnärztliche Langzeitbetreuung relevante medizinische und psychosoziale Defizite frühzeitig
erkannt und interdisziplinär behandelt
werden können. Dieser Zielsetzung entsprechend arbeiten in diesem Ausbildungsgang
Fachpersonen aus den unterschiedlichsten
Bereichen der Gerontologie eng zusammen.
Auf diese Weise erfahren die teilnehmenden
Kolleginnen und Kollegen die Notwendigkeit der interdisziplinären Vernetzung bei der
Betreuung alternder Menschen und erhalten
die Kompetenz, später in der Praxis Ihr eigenes Netzwerk aufbauen zu können.
Lernziele
Am Ende der theoretischen und praktischen Weiterbildung sollen die KursteilnehmerInnen in der Lage sein,
• die demographischen, psychosozialen,
medizinischen und zahnärztlichen Problemstellungen und Herausforderungen
der Zukunft zu verstehen,
• die zahnmedizinisch relevanten Erkrankungen des Alterns, die für deren Diagnose geeigneten medizinischen Screeninginstrumente sowie die möglichen
Neben- und Wechselwirkungen ihrer
medikamentösen Therapie zu kennen,
• die Inhalte und Abläufe der interdisziplinären Diagnostik, Prävention und Therapie zu beherrschen, sowie
• die rechtlichen, infrastrukturellen und
organisatorischen Erfordernisse an die
praxisinterne und -externe Behandlung
sowie Betreuung älterer Menschen sicherstellen zu können.
Alle theoretischen und praktischen Ausbildungsmodule werden von den DozentInnen durch schriftliche Zusammenfas-
sungen, Merkblätter und Dokumentationen
ergänzt. Zudem erhalten die Kolleginnen
und Kollegen Angaben zu weiterführender
Literatur für das Selbststudium.
Praktische Ausbildung
Ziel der praktischen Ausbildung ist die
routinemässige Integration der erlernten
diagnostischen und therapeutischen Mittel
in die interdisziplinäre Betreuung alternder
Patienten. Durch diesen Kursteil führt Frau
Dr. Christine Gluhak, die die klinikin- und
-externe Betreuung institutionalisierter
Betagter an der Universitätsklinik in Graz
leitet. An zwei Tagen werden unterschiedlich
organisierte Heime in Graz und Umgebung
besucht und die dortige interdisziplinäre
Zusammenarbeit anhand von Patientenabklärungen geübt sowie analysiert. An einem
weiteren, individuell zu vereinbarendem
Kurstag begleiten maximal zwei TeilnehmerInnen Frau Dr. Gluhak in die Heime
und können auf diese Weise ihre praktischen
Fertigkeiten weiter vertiefen. Schliesslich
bleibt noch die Aufgabe zu bewältigen, drei
Patientenfälle aus der eigenen Praxis zu
dokumentieren und die angewendeten diagnostischen und therapeutischen Mittel zur
Diskussion zu stellen und zu verteidigen.
Die bisherigen Erfahrungen mit diesem
Ausbildungsprogramm haben gezeigt, dass
die dargestellte interdisziplinär eng vernetzte
Ausbildung in Diagnostik und Therapie
die notwendige Kompetenz sicherzustellen
und somit den Anreiz zu bieten vermag, in
der täglichen Praxis die Mitverantwortung
für die fachübergreifenden Problemstellungen des Alterns zu übernehmen. Der
direkte Kontakt mit alternden Menschen im
Rahmen der praktischen Ausbildung wirkt
dabei besonders motivierend, indem die
Kolleginnen und Kollegen die Bedeutung
und Wertschätzung ihres Beitrages bei der
Behandlung und Betreuung alternder Menschen am eigenen Beispiel erfahren.
Bereits in der Halbzeit des Curriculums
ist die kleine Teilnehmergruppe zu einer eingeschworenen Gemeinschaft geworden und
wir freuen uns bereits heute auf die Fallvor-
Schwerpunktthema
stellungen an der diesjährigen
Tagung der Österreichischen
Gesellschaft für Zahn-, Mundund Kieferheilkunde ÖGZMK
in Linz.
Die eingeschworene Teilnehmergruppe beim Heimbesuch
PART­icipation
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Schwerpunktthema
Zahnbehandlungsangst und
Zahnbehandlungsphobie
N. Enkling1, F. Zahrli2, F. Caspar2, R. Mericske-Stern1
1
2
Klinik für Zahnärztliche Prothetik, Universität Bern
Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Bern
In der zahnmedizinisch-praktischen
Tätigkeit am Patienten sind täglich Patientenängste zu überwinden, zu mindern oder
zu beseitigen; dies stellt eine Herausforderung an jedes Mitglied des zahnärztlichen
Teams dar. Die Behandlung von Angstpatienten führt auf Seiten der Zahnärzte
häufig zu verstärkten Belastungen und
Stressreaktionen (Heering-Sick und Tönnies,
1989), insbesondere, wenn inadäquate Verhaltensweisen der Patienten kaum beherrscht
werden, weil z.B. bewährte Angstbewältigungsstrategien unbekannt sind. Angst ist
normal, schwierig wird es, wenn der Patient
die Angst selbst nicht mehr beherrscht und/
oder der Zahnarzt falsch reagiert.
Mit den Fachbegriffen «Zahnbehandlungsangst» und «Zahnbehandlungsphobie»
werden einerseits normale, andererseits
schwerwiegende und krankhafte (phobische)
Ängste von Menschen vor und während
der Zahnbehandlung bezeichnet. Jüngere
Menschen haben grössere Zahnbehandlungsängste als ältere (Enkling et al., 2006,
Hagglin et al., 1999, Jöhren und Gängler,
1999, Kunzelmann und Dünninger, 1990,
Weiner et al., 1998) und Frauen geben
häufiger und verstärkt an, Zahnbehandlungsangst zu haben als Männer (Corah und
Pantera, 1968, Corah, 1969, Corah et al.,
1978, Enkling et al., 2006, Hakeberg et al.,
1992, Jöhren und Gängler, 1999, Mellor,
1992, Moore et al., 1993, Ragnarsson et al.,
2003, Schwarz und Birn, 1995). Der Zusammenhang zwischen Zahnbehandlungsangst
und sozialer Schichtzugehörigkeit, Bildung
bzw. zwischen Zahnbehandlungsangst und
Einkommen wird widersprüchlich diskutiert:
zum einen konnte gezeigt werden, dass die
Angst mit vermindertem sozialen Status und
Bildungssituation zunimmt (Moore et al.,
1993), in anderen Studien konnte ein solcher
Zusammenhang nicht festgestellt werden
und alle Schichten waren gleichmässig von
der Zahnbehandlungsangst betroffen (Hakeberg, 1992). Die Angst vor der Zahnbehandlung gilt auch heute noch als eines der
grössten Hindernisse für das Erreichen einer
optimalen Zahngesundheit in der Bevölkerung (Tönnies et al., 2002, Milgrom und
Weinstein, 1993). 5–15 % der Bevölkerung
zeigen eine so starke Angst vor der Zahnbe4
PART­icipation
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handlung, dass sie nur im extremsten Notfall
zum Zahnarzt gehen (Jöhren und Sartory,
2002). Menschen, die unter Zahnbehandlungsängsten leiden, haben mehr erkrankte
und zerstörte Zähne als andere und praktizieren weniger vorbeugende Massnahmen
(Schwichtenhövel, 2008, Portmann et al.,
1998). Der Gebissverfall wiederum verstärkt
die soziale Isolation, Arbeitsplatzverlust,
Partnertrennung; psychische und psychosomatische Beschwerden sind mögliche Folgen
(Hakeberg, 1992). Diese Menschen sind
öfter krank geschrieben und konsumieren
mehr Alkohol und andere Drogen als die
Durchschnittsbevölkerung. Zahnbehandlungsängste greifen in das gesamte subjektive
Erleben ein und beeinträchtigen die orale
Lebensqualität nachhaltig (Enkling et al.,
2008, Mehrstedt et al., 2007).
Definition
Angst (verwandt mit lateinisch angustus
«eng» und angor, «das Würgen») ist zunächst
keine Erkrankung, sondern ein Affekt oder
Gefühlszustand, der durch eine eingetretene
oder erwartete Bedrohung hervorgerufen
wird. Das Gefühl der Angst gehört zu jedem
Menschen und ist ein natürlicher Schutzmechanismus, der wahrscheinlich auf die
Frühzeit unserer Entwicklungsgeschichte
zurückzuführen ist. Angst gehört zu unserem
Leben und ist immer gegenwärtig, auch
wenn wir uns ihrer nicht dauernd bewusst
sind. Wird Angst von innen oder von aussen
durch ein Erlebnis konstelliert, so kann sie
jederzeit in unser Bewusstsein treten. Die
durch eine Bedrohung ausgelöste Angst wird
als unangenehm empfunden und es wird
eine unmittelbare Reaktion ausgelöst, die
darauf gerichtet ist, dieser Bedrohung zu
entgehen oder sie zu überwinden. Angst ist
auch unabhängig von der Kultur und Entwicklungshöhe der Völker und Menschen, es
ändern sich lediglich die Angstobjekte und
die Mittel und Massnahmen zur Bekämpfung der Angst (Riemann, 1994). In der
Angstforschung wird unterschieden zwischen
dem aktuellen emotionalen Angstzustand,
der Zustandsangst (State Anxiety) und dem
habituellen Persönlichkeitsmerkmal eines
Menschen, der Eigenschaftsangst (Trait
Anxiety). Die Trait Anxienty als Persönlichkeitsmerkmal bleibt unverändert, die veränderliche State-Anxienty ist der Ansatz für die
gängigen Therapien der Angsterkrankungen
(Spielberger et al., 1970).
Zur Klassifikation und Diagnostik von
Angsterkrankungen dient in den meisten
europäischen Ländern die International
Classification of Disease, 10. Revision, Version 2006 (ICD-10), der Weltgesundheitsorganisation (WHO-World Health Organisation,
2006).
Angststörungen lassen sich unterteilen in
• die spezifische (isolierte) Phobie,
• die Agoraphobie,
• soziale Phobien,
• die Panikstörung,
• die Zwangsstörung,
• die posttraumatische Belastungsreaktion
und
• die generalisierte Angststörung.
Eine Angsterkrankung (Phobie, Angststörung) ist gemäss ICD-10, Kapitel V, F 40.0
eine Gruppe von Störungen, bei der Angst
ausschliesslich oder überwiegend durch eindeutig definierte, eigentlich ungefährliche
Situationen hervorgerufen wird. In der Folge
werden diese Situationen typischerweise vermieden oder mit Furcht ertragen.
Mit Zahnbehandlungsangst bezeichnet
man alle psychologischen und physiologischen Ausprägungen eines mehr oder
weniger krankhaften Angstgefühls, das sich
gegen die Zahnbehandlung oder den mit ihr
verbundenen Auslösern richtet (Jöhren und
Margraf-Stiksrud, 2002). Von der Zahnbehandlungsangst ist die pathologische Form
der Zahnbehandlungsangst, die Zahnbehandlungsphobie abzugrenzen.
Die Zahnbehandlungsphobie gehört
nach der ICD-10, Kapitel V, F 40.2 zu den
spezifischen Phobien, wobei der Übergang
zwischen normaler Zahnbehandlungsangst
und Zahnbehandlungsphobie wie auch bei
anderen bekannten Angststörungen fliessend
ist (Jöhren und Sartory, 2002).
Kennzeichnend für eine Zahnbehandlungsphobie gemäss ICD-10 und dem ame-
Schwerpunktthema
rikanischen psychiatrischen Diagnoseschema
(American Psychiatric Association (APA),
1994) ist, dass
• eine anhaltende Erwartungsangst vor
dem umschriebenen Stimulus besteht,
• eine Konfrontation mit dem speziellen
Stimulus im Verlauf der Störung fast
unvermeidlich eine sofortige Angstreaktion hervorruft,
• der angstauslösende Stimulus, wann
immer möglich, vermieden wird,
• durch die Angst bzw. das Vermeidungsverhalten der alltägliche Tagesablauf stark
beeinträchtigt wird,
• die erkrankte Person die Angst als übertrieben oder unvernünftig erkennt,
• die psychischen oder vegetativen Symptome primäre Manifestationen der Angst
sind und nicht auf anderen Symptomen,
wie Wahn- oder Zwangsgedanken beruhen,
• die Angst begrenzt ist auf die Anwesenheit eines bestimmten phobischen
Objektes oder einer spezifischen Situation.
Bei der Beurteilung eines Patienten
muss die Zahnbehandlungsangst von der
Zahnbehandlungsphobie oder einer anderen
Angsterkrankung abgegrenzt werden.
Diagnostik
Die beobachtbaren Auswirkungen der
Zahnbehandlungsangst lassen sich in die drei
Reaktionsebenen Verhalten, physiologische
Veränderungen und Denken, Fühlen gliedern.
Der Angstzustand eines Menschen zeigt
sich objektivierbar in seinem Verhalten und
den zugehörigen physiologischen Veränderungen, seine Gedanken und Gefühle stellen
die subjektive Seite der Angst dar. Typische
Verhaltensmuster der Angst sind Vermeidung
des Stimulus, Weglaufen, Übererregbarkeit,
Gereiztheit, Unruhe, Schreckhaftigkeit,
Weinen, Veränderung der Körperhaltung
und des Gesichtsausdrucks. Physiologische
Veränderungen sind Tachykardie, Atemnot,
Schwitzen an der Oberlippe, an Stirn und
Handinnenflächen, Übelkeit, Diarrhöe,
Parästhesien, Zittern und Schlafstörungen,
Mundtrockenheit, Sprachschwierigkeiten,
Schreibschwierigkeiten. Typische Gedanken
und Gefühle sind die Angst, verrückt zu werden, die Angst zu sterben, Unbehagen und
Konzentrationsschwäche (Chadwick, 2002,
Jöhren und Sartory, 2002). Zur Messung
der Angst können alle drei Reaktionsebenen
herangezogen werden, jedoch haben sich zur
praxisrelevanten Erfassung der Angst objektivierbare Verhaltensbeurteilungen und subjektiv-verbale Verfahren als praktikabel erwiesen.
Patientenverhalten
Ein wichtiger Indikator für Zahnbehandlungsangst und insbesonders Zahnbehandlungsphobie ist das Nichteinhalten
und die Absage von Behandlungsterminen.
Darüber hinaus sind der Körperausdruck
und das Sprachverhalten sehr aussagekräftig, allerdings zeigen sich die typischen
Verhaltensmuster der Angst nicht immer
im Behandlungsstuhl. Kleinknecht und
Bernstein filmten das Verhalten von schwach
ängstlichen und stark ängstlichen, erwachsenen Patienten im Empfangsbereich und
im Behandlungszimmer (Kleinknecht und
Bernstein, 1978). Während im Empfangsbereich die Gruppe der stark ängstlichen
Patienten mehr Aktivität und Bewegung als
die schwach ängstlichen Patienten zeigten,
war dieser Unterschied im Behandlungsraum
nicht mehr feststellbar. Daraus lässt sich
die Annahme ableiten, dass das Verhalten
eines Erwachsenen im Behandlungszimmer
unter starker sozialer Kontrolle steht und ein
sozial erwünschtes Verhalten gezeigt wird.
Nimmt der Zahnarzt nur dieses Verhalten
zur Einschätzung der Angst, so wird er möglicherweise häufig einem Irrtum unterliegen
(Ingersoll, 1987). Dies bestätigte sich in
einer aktuellen Studie, bei der die Angsteinschätzung des Patienten mit derjenigen des
darauf fokussierten Zahnbehandlungsteams
korreliert wurde: zu 80 % schätzte das
Behandlungsteam (Zahnarzt und Zahnmedizinische Fachangestellte) die Angst zu
gering ein (Schwichtenhövel, 2008, Enkling
et al., 2007b). Der «gesunde Menschenverstand» reicht also nicht aus, die Zahnbehandlungsangst richtig einzuschätzen und
Klinische Situationen von Zahnbehandlungs­
phobikern:
Abbildungen 1–3: Zahnbehandlungsphobiker
im Alter zwischen 20 und 35 Jahren mit jahre­
langer Vernachlässigung der Mundhygiene und
Vermeidung der Zahnbehandlung
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Schwerpunktthema
daher sind objektivierbare Diagnoseinstrumente notwendig. Da es am einfachsten ist,
einen erwachsenen Patienten zu fragen und
Selbstbeurteilungsverfahren mit einer sehr
hohen Validität und Reliabilität einhergehen,
wurden in den vergangenen Jahrzehnten von
Verhaltenswissenschaftlern zahlreiche Fragebögen entwickelt, die darauf abzielen, die
Zahnbehandlungsangst und Zahnbehandlungsphobie zu erkennen, einzuordnen und
zu bewerten (Ingersoll, 1987). Für Vorschulkinder wurden ebenfalls entsprechend angepasste Fragebögen mit Bildern entwickelt
(Sonnenberg und Venham, 1977, Venham et
al., 1977).
Prävalenz der Angsterkrankung
Angsterkrankungen zählen mit einer
Lebenszeitprävalenz zwischen 9,2 % und
24,9 % zu den häufigsten psychischen Störungen (Perkonigg und Wittchen, 1995).
Je nach Autor und Untersuchung geben
60–80 % der Bevölkerung an, in irgendeiner
Form Angst vor dem Zahnarztbesuch zu
haben. Zahnbehandlungsängste sind in den
Industriestaaten ähnlich verbreitet (Marwinski, 2006). Bis zu 20 % der Bevölkerung
haben eine hohe Zahnbehandlungsangst,
5–10 % sind Zahnbehandlungsphobiker und
vermeiden jeden Zahnarztbesuch (Enkling
et al., 2005, Jöhren und Margraf-Stiksrud,
2002). Die Zahnärzte sind in ihren Praxen
Abb. 4: 80­jährige Zahnbehandlungsphobiker­
in, welche 30 Jahre die Zahnbehandlung ver­
mieden hat
6
PART­icipation
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somit selten mit der pathologischen Zahnbehandlungsangst konfrontiert, da diese Patienten die Behandlung wenn immer möglich
vermeiden oder auf Zahnbehandlungsangst
spezialisierte Zahnarztpraxen oder den Notdienst ausweichen.
Die Therapie der
Zahnbehandlungsphobie und
Therapieaussichten
Prinzipiell werden die therapeutischen
Verfahren zur Behandlung von Patienten
mit Zahnbehandlungsangst in primär anxiolytische, also Angst abbauende Verfahren
und primär schmerzreduzierende Verfahren
eingeteilt. Die primär anxiolytischen Verfahren können zum einen medikamentöse
sein, wie Sedierung, Analgosedierung oder
Prämedikation. Zum anderen stehen nicht
medikamentöse, wie die verschiedenartigen
psychotherapeutischen Interventionen zur
Verfügung. Die primär analgetischen Verfahren können ebenfalls nach medikamentösen und nicht medikamentösen Techniken
unterschieden werden. Medikamentöse sind
die Lokalanästhetika und die Vollnarkose,
nicht medikamentös sind die Audioanalgesie, TENS, Akupunktur und die Hypnose.
Das Ziel jeder anxiolytischen Behandlung
muss es sein, den Patienten zur Aufgabe des
Vermeidungsverhaltens zu bewegen und ihm
einen Einstieg in eine dauerhafte normale
zahnärztliche Betreuung zu ermöglichen.
Die zuvor aufgeführten Techniken, ausgenommen die Psychotherapie, bewirken nur
eine zahnärztliche Behandlungsfähigkeit
der Patienten und reduzieren die Angst der
Patienten, wenn überhaupt nur kurzfristig
(Grawe et al., 2001). Die Therapie der
Wahl von Angststörungen bei Erwachsenen
ist die psychologische Verhaltenstherapie.
In einer Meta-Analyse von 1966 bis 2001
veröffentlichten kontrollierten Studien zur
Therapie von starken Zahnbehandlungsängsten zeigten 36 von 38 Studien deutliche
Fortschritte bei verhaltenstherapeutischen
Behandlungen (Kvale et al., 2004). Mit den
verschiedenen Methoden der Verhaltenstherapie können 70 % der Zahnbehandlungs-
phobiker ihre krankhafte Angst überwinden.
Bei 80 % der Patienten ist dieser Effekt
bleibend (Jöhren und Sartory, 2002, Jöhren
et al., 2007, Schmid-Leuz et al., 2007). Als
effektiv haben sich psychotherapeutische
Kurzinterventionen von 1–3 Sitzungen
erwiesen, welche verschiedene verhaltenstherapeutische Ansätze kombinieren (Berggren
und Linde, 1984, De Jongh et al., 1995b,
Milgrom et al., 1985, Öst, 1987, Öst, 1989,
Thom et al., 2000). Entscheidend für den
Erfolg der Psychotherapie ist es jedoch, wie
gut der Patient mit dem Psychotherapeuten
und dem behandelnden Zahnarzt kooperiert.
Die allgemeine Akzeptanz zu einer psychologischen Therapie ist bei der Bevölkerung
gering: das Thema Psychotherapie ist weiterhin ein Tabu. Es bleibt für die Zahnärzteschaft dahingehend also noch Aufklärungund Überzeugungsarbeit zu leisten.
Die Zahnbehandlungsphobiker wünschen zu Beginn zumeist eine Behandlung
in Vollnarkose (Berggren et al., 2000). Diese
erlaubt zwar eine schmerzfreie Behandlung,
jedoch unterstützt sie das Vermeidungsverhalten und wirkt daher primär nicht Angst
abbauend. Der unkontrollierte Einsatz der
Vollnarkose zur Behandlung von Zahnbehandlungsphobikern kann darüber hinaus
die Angsterkrankung verstärken und somit
zu einem «Circulus vitiosus» führen: der
Patient glaubt nur noch unter Narkose
behandelbar zu sein (Berggren und Linde,
1984). Bei anstehenden Notfalltherapien
oder umfangreichen Eingriffen mit zahlreichen Extraktionen kann der Einsatz der
Vollnarkose bei Zahnbehandlungsphobikern jedoch hilfreich sein. Bei den primär
schmerzreduzierenden Verfahren, wie der
Lokalanästhesie, sollte bei hoch ängstlichen
Patienten, isolierten Spritzenphobikern und
bei Kindern eine oberflächliche Betäubung
der prospektiven Einstichstelle mit einem
Oberflächenanästhetikum erfolgen (Milgrom et al., 1997).
Wenn man es geschafft hat, ein Vertrauensverhältnis zu sehr ängstlichen Patienten
aufzubauen, erweist sich diese aufgebaute
Arzt-Patienten-Beziehung in der Zukunft
meist als sehr belastbar. Pathologische Angst
vor der Zahnbehandlung sollte der Zahnarzt
in Kooperation mit einem Psychothera-
Schwerpunktthema
peuten behandeln. Angstpatienten neigen
nicht vermehrt zu psychogenen Zahnersatzunverträglichkeiten und erwarten, wie
nichtängstliche Patienten auch, eine gute
zahnärztliche Therapie. Bei adäquater
Vorbehandlung ist auch bei hochgradig
ängstlichen Patienten, welche jahrelang die
Zahnbehandlung vermieden haben, eine
Implantattherapie langfristig erfolgreich
(Enkling et al., 2007a). Um einem Rückfall in alte Verhaltensmuster vorzubeugen,
müssen Angstpatienten in ein engmaschiges
Recallsystem eingebunden und zu mindestens halbjährlichen Kontrollterminen
motiviert werden. Ein psychotherapeutischzahnärztlich abgestimmtes Therapieangebot
für die Behandlung hochgradig ängstlicher
Zahnbehandlungspatienten und Zahnbehandlungsphobikern besteht an den Zahnkliniken der Universitäten Bern und Zürich.
Die Literaturliste kann beim Autor
angefordert werden
Dr. Norbert Enkling
Norbert Enkling
Jahrgang 1973
Studium der Zahnmedizin in Bonn, Staatsexamen und Approbation 2000
Universität Melbourne (Australien) 1998
Promotion zum Dr. med. dent. 2001 in
Bonn und Dr. med. dent. in Bern 2004
Weiterbildung in Zahnärztlicher Prothetik
an der Friedrich-Wilhelms Universität Bonn
(2000–2003, Prof. Dr. B. Koeck)
Weiterbildung in Oralchirurgie, Implantologie in Bochum (2003–2006, Prof. Dr. P.
Jöhren) und Tätigkeit im Therapiezentrum
für Zahnbehandlungsangst Bochum (Prof.
Dr. G. Sartory, Prof. Dr. P. Jöhren)
2002 Wissenschaftlicher Gastassistent Klinik für Zahnärztliche Prothetik, Universität
Bern (Prof. Dr. R. Mericske-Stern)
2002 «A-Diplom Akupunktur» (DAAAM)
2005 «Tätigkeitsschwerpunkt Implantologie»
(DGI)
2005 «Spezialist für Prothetik» durch die
Deutsche Gesellschaft für Zahnärztliche
Prothetik und Werkstoffkunde (DGZPW)
2006 «Spezialisten für rekonstruktive Zahnmedizin, Ästhetik und Funktion» durch die
European Dental Association (EDA)
2006 «Fachzahnarzt für Oralchirurgie»
2004–2006 stellvertretender Leiter der Privaten Zahnklinik Bochum und Lehrauftrag
an der Privaten Universität Witten /Herdecke
Seit 2007 Oberarzt der Klinik für Zahnärztliche Prothetik, Universität Bern (Prof. Dr.
R. Mericske-Stern)
Seit 2002 nationale und internationale Vorträge und Veröffentlichungen
Seit 2006 Vorstand AK Psychologie und
Psychosomatik der DGZMK, 2008 im Amt
bestätigt
PART­icipation
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Vermischtes
Geblättert
Warum wohl haben der Philosoph Goran
Grubacevic und unser Vorstandsmitglied,
der keine Mühe scheuende Willy Baumgartner, sich so intensiv mit dem Neurobiologen
und Hirnforscher Gerald Hüther beschäftigt? (Siehe auch die Beiträge von Grubacevic
in der vorliegenden Edition und den von
Baumgartner «Biologie der Angst» in
Ausgabe 10).
Die Macht der inneren Bilder
von Gerald Hüther
und
Wie aus Kindern glückliche
Erwachsene werden von Gerald
Hüther und Cornelia Nitsch
Der zweite Titel tönt so ganz nach Kochbuch: Wie gelingt es mir, aus wilden Fischen
eine glückliche Fischsuppe zu kreieren? (Man
schafft nicht mehr, man macht sich die Kreation seiner Welt selbst zu eigen).
Wenden wir uns zuerst den inneren Bildern zu. Spannend schon der Kommentar
zur Umschlagabbildung.
• Ist das eine DNA-Schleife?
• Ist das der Dampf über einem Samowar?
• Ist das die Römerin mit Füllhorn?
(Fresco, Stabiae, wie Pompeji 79 n. Chr.
verschüttet)
• Ist das der Andromeda-Nebel in kosmischer Nacht?
• Es ist das Photo von einem Möwenschiss
auf Asphalt.
Um sofort nachzuhaken: Junge Frau mit
Kind sogar
8
PART­icipation
06.08
Diese Lockerheit ermutigt, erleichtert
einem den Einstieg. Unter inneren Bildern
versteht Hüther Selbstbilder, die wir uns
angeeignet haben. Er versucht uns anzuregen, über die Herkunft und die Bedeutung
dieser Bilder nachzudenken. Ein Puzzle
bestehe aus vielen Teilbildern. Auch wenn
das Bild nicht fertig gestellt werden kann, sei
ansatzweise dessen Entwurf nachvollziehbar.
Ein inneres Bild, das keinen Sinn stiftet
und das dem Menschen keinen Ort
der Geborgenheit zeigt, ja noch
nicht einmal einen Weg zu einem
solchen Ort weist, eignet sich offenbar
auch nicht als Orientierung stiftende
Matrix für die Zuordnung und Einordnung all der vielen anderen inneren Bilder, die das menschliche Gehirn ständig
aus alten Erinnerungen und neuen Wahrnehmungen hervorbringt. Menschen ohne
Orientierung bietende innere Leitbilder
sind verloren (S. 39). Was aber bewegt einen
Hirnforscher, sich mit Kindererziehung
herumzuschlagen? Andersherum gefragt:
Was hindert exakte Naturwissenschafter und
Geisteswissenschafter wie Philosophen, das
nicht zu tun? Ihr Wissen in der Praxis zu
testen? Braucht es dazu eigene Kinder? Jean
Piaget hat die seinen einbezogen. Hier liegt
auch der vielleicht eigentliche Schwachpunkt
solcher Publikationen: Man meidet teuflisch
gut ähnliches Gedankengut, um ja nicht in
den Verdacht zu kommen, kopiert zu haben.
Zwei Bitten also an Veröffentlicher: Erwähnt
auch eure aktuellen «Feinde», und gebt uns
auch eure Wurzeln bekannt, selbst wenn sie
schon lange – physisch zumindest – gestorben sind.
Zwei Beispiele mögen das treffliche
Buch Hüther/Nitsch illustrieren, die auch
in unserer Praxis von einer gewissen Brisanz
sind.
1. Süssigkeiten: Untersuchungen zum
Thema Selbstregulation. Forscher hatten dreijährigen Kindern Süssigkeiten angeboten. Es
wurde ihnen versprochen, sie bekämen noch
ein weiteres Dolce, wenn sie eine Viertelstunde
warten könnten, bevor sie die erste aufassen.
Manche konnten abwarten, die meisten aber
nicht. Zwanzig Jahre später, als aus den Kindern Erwachsene geworden waren, stellte man
fest: Diejenigen, die als Dreijährige warten
konnten und ihre Süssigkeit nicht gleich aufgegessen hatten, waren nun in jeder Hinsicht
den anderen überlegen: Sie waren intelligenter,
weltoffener, hatten eine bessere Ausbildung
absolviert, erfülltere und stabilere Beziehungen, ein besseres Verhältnis zu ihren Eltern
etc. (S. 134). Fazit: Ein frühzeitiges Management des Verlangens führt zu besseren
Voraussetzungen im Erwachsenenleben (?).
Hier erwarte ich Ihre Rückmeldungen aus
eigenen Erfahrungen.
2. Angst: Ein entspanntes Kind entwickelt
und verinnerlicht neue Wahrnehmungen
(Bilder), neue Verhaltensweisen und speichert
sie im Gehirn. Ein verunsichertes, ängstliches
Kind dagegen handelt unüberlegt, entscheidet
vorschnell. Das heisst: Das Gehirn greift in
der Eile auf schon eingespielte, verankerte,
altbewährte Strategien zur Lösung von Konflikten zurück. Das Kind kann keine über die
schon vorhandenen Fähigkeiten hinausgehende
Handlungskompetenz entwickeln. Damit
vergibt es die Chance, neue Überlegungen
anzustellen, aufgrund neuer Eindrücke alte
Wahrnehmungen zu korrigieren, anders zu
bewerten. Es kann keine neuen Handlungsstrategien entwickeln, die über die schon vorhandenen Kompetenzen hinausgehen.
Zwei sehr empfehlenswerte Bücher. Ich
enthalte mich einer Zusammenfassung.
Meine Aufgabe sehe ich als Appetitanreger.
Der Leser, die Leserin findet endlich Theorie und Praxis in sehr bekömmlicher Art
serviert.
Prof. Gerald Hüther, *15.02.1951, studierte Biologie in Leipzig, Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der
Universität Göttingen
Cornelia Nitsch, Bad Tölz, Journalistin, hat Sozialwissenschaft studiert, viele
Buchpublikationen, u.a.; «Dr. Mama», «Der
Elternführerschein» und zusammen mit
Hüther «Kinder gezielt fördern»
Gerald Hüther: «Die Macht der inneren
Bilder», Vandenhoek & Ruprecht 2004,
4. Auflage 2008
Gerald Hüther/Cornelia Nitsch: «Wie aus
Kindern glückliche Erwachsene werden»,
Gräfe und Unzer, 1. Auflage 2008
St.G.
Schwerpunktthema
Zur medizinischen Behandlung und
Betreuung von Menschen mit geistiger
oder mehrfacher Behinderung
Dr. med. Felix Brem
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Dieser Artikel will die Aufmerksamkeit
auf bisher wenig beachtete Probleme in der
medizinischen Versorgung von deutlich bis schwer
behinderten, insbesondere erwachsenen Menschen, die meist in Wohnheimen leben, lenken.
1. Einleitung:
Der Anteil von Menschen mit geistiger
Behinderung an der Bevölkerung beträgt
gemäss WHO – ohne eine eindeutige Definition – etwa 3 %; gemäss einer strengeren Definition sind es etwa 1 %, wovon ⅓ als schwer
behindert einzustufen ist. Leider gibt es in der
Schweiz keine verlässliche Statistik darüber;
immerhin sind in den Invaliditäts- und Hilflosenstatistiken des BSV etwa 60'000 Menschen
nach verschiedenen Kriterien erfasst. Die Ätiologie der Behinderung dürfte auch heute noch
bei jedem 2. Kind ungeklärt bleiben; zwei
Generationen früher betraf das etwa 80 %.
Zum einen können nun diese Menschen
wie alle anderen auch akut oder chronisch
erkranken, wenn auch in anderer epidemiologischer Häufigkeit (so ist z.B.gastroösophagaler
Reflux viel häufiger). Sie haben jedoch zusätzlich häufig vermehrte Krankheitsrisiken (beispielsweise Aspirationspneumonien oder Folgen von Bewegungsmangel) und leiden dazu
oft an behinderungsbedingten (z.B. orthopädischen, ophthalmologischen, otorhinolaryngologischen oder auch zahnmedizinischen)
Problemen, die einer Versorgung bedürfen,
und bei denen Spätfolgen zu befüchten sind.
Oft sind die Betroffenen mehrfach behindert,
haben häufiger auch neurologische Leiden,
im besonderen auch Epilepsien, und zeigen
psychische Störungen, die das Zusammenleben
manchmal erheblich erschweren.
2. Probleme bei Untersuchung
und Behandlung
Menschen mit geistiger Behinderung gelten
aus zahlreichen Gründen meist als besonders
problematische Patienten. Die Untersuchung
ist durch verschiedene Faktoren erschwert,
Anamnese– und Befunderhebung sind oft
unvollständig; vielfach ist es notwendig, Drittpersonen (Betreuer, Eltern) beizuziehen und
alte Akten aufzuspüren. Häufiger als sonst
wird eine aufwendige apparative Diagnostik,
allenfalls gar unter Narkose, in Betracht gezogen, andererseits aber auch zögerlich verordnet.
Schon eine Blutentnahme ist manchmal nur
mit grossem Aufwand möglich, eine MRIUntersuchung oft nicht durchführbar.
Der Zeitbedarf ist dadurch stark erhöht mit
dennoch oft unklar bleibenden Diagnosen, da
Beschwerdebilder untypisch erscheinen und
die erhaltenen Angaben und Befunde vielfach
unvollständig bleiben.
Entscheidungen und erst recht die Durchführung von Behandlungen müssen dann oft
interdisziplinär und mit Angehörigen und
Betreuungspersonal gemeinsam erarbeitet
werden. Häufiger als sonst stellen sich auch
grundsätzliche juristische Fragen, speziell bei
fehlender Urteilsfähigkeit. Nicht selten muss
deshalb in Krisensituationen vorerst noch eine
Besprechung mit den Personen, die in die
Entscheidung einzubeziehen sind, organisiert
werden. Die Betreuungspersonen bedürfen oft
ausführlicher Anleitungen, auch zur Beobachtung und Dokumentation von Symptomen
und Verhalten. Im Praxis- und erst recht im
Spitalrahmen ist zudem zu beachten, ob das
medizinische Personal auf Verhaltensbesonderheiten vorbereitet oder diesbezüglich völlig
unerfahren ist. Öfter als bei anderen Patientengruppen ist die Arzt-Patientenbeziehung auch
von Unsicherheit, Angst, Verwirrung, beim
Arzt von Hilflosigkeit und Überforderungsgefühl, beim Patienten durch belastende Erfahrungen und Ablehnung geprägt. Im weiteren
muss der behandelnde Arzt auch spüren, ob
bei den Angehörigen versteckte Schuldgefühle
oder auch massive Enttäuschungen vorhanden sind. Allzu oft fühlten sich viele schon
alleine gelassen. Dies und oft unerfüllbare
Erwartungen erfordern ein erhebliches Fingerspitzengefühl. Dass gegenwärtig auch sogleich
Kostenfragen auftauchen, insbesondere wegen
des zeitlichen Aufwandes, sei der Vollständigkeit halber erwähnt.
3. Internationale Erkenntnisse
Aus zahlreichen Erhebungen in verschiedenen Ländern ist in den letzten Jahrzehnten
klar geworden, dass für diese Menschen in
der medizinischen Betreuung typische Versorgungslücken und -Mängel bestehen; dies,
obwohl weitgehend unbestritten ist, dass Menschen mit Behinderung ebenso wie Nichtbehinderte ein Recht auf (Früh)erkennung, Vorbeugung und Behandlung von Erkrankungen
und ebenso Anspruch auf Leistungen zur
medizinischen Rehabilitation haben. Dennoch
führt die Vernachlässigung der oft besonderen
gesundheitlichen Bedürfnisse zu erhöhten
Gesundheitsrisiken. Krankheiten werden
häufig übersehen, Behandlungen sind nicht
adäquat (in Ontario fanden sich z.B. 1998 bei
behinderten Menschen 43 % nicht diagnostizierte Hypertonien im Vergleich zu 8 % in der
Bevölkerung. Bei Verhaltensstörungen werden
allzu oft Neuroleptika verschrieben und in
ihrer Wirkung und Nebenwirkung nicht regelmässig überprüft). Dadurch leidet aber auch
die Lebensqualität erheblich, und die Möglichkeit zur Teilnahme am gesellschaftlichen
Leben wird zusätzlich behindert.
Zudem haben zwar bedeutende Verbesserungen im Lebensstandard der Bevölkerung
insbesondere im 20. Jahrhundert eine gewisse
Angleichung der Lebenserwartung und Todesursachen von Menschen mit geistiger Behinderung an diejenige der Allgemeinbevölkerung
gebracht. Weiterhin bestehen aber deutlich
erhöhte Mortalitätsraten; sie werden jedoch
weitherum nicht als Problem wahrgenommen,
sondern voreilig als zur Behinderung gehörig
erklärt.
4. Ansprüche und Erfordernisse
Eine neu herangewachsene Generation
von Eltern stellt nun auch deutlich erhöhte
Ansprüche an die medizinische Behandlung
ihrer Kinder; sie fordern Massnahmen, um
eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit
wenn nicht abzuwenden oder zu beseitigen,
so zumindest zu reduzieren und deren Folgen
zu mildern. Gut ausgebildetes Betreuungspersonal stellt zunehmend kritische Fragen und
wünscht nicht selten umfassende Abklärungen.
Auch Behinderte selber fordern in vermehrtem Masse Partizipation und Selbstbestimmung. Insbesondere erwarten sie auch eine
differenziertere Information und Kommunikation; sie wollen, dass man mit ihnen und nicht
PART­icipation
06.08
9
Schwerpunktthema
über sie spricht, dass sie als erwachsene Menschen respektiert werden, und dass ihnen Zeit
und Mittel zur Verfügung gestellt werden, um
sich mitzuteilen. Allzu rasch und häufig wird
den behinderten Menschen leider zu Unrecht
diese Fähigkeit abgesprochen.
Ärzte, die mit Menschen mit geistiger
Behinderung arbeiten, fordern zudem eine
Forschung, die sich mehr auch mit Fragen der
Kommunikation, der Strukturen, aber auch
mit Tipps und Tricks für den Alltag (z.B. Wärmekamera-Einsatz in der Diagnostik) befasst,
also mit Erfahrungen und Erkenntnissen, die
Ihnen helfen, diese Patienten gut zu betreuen.
Es besteht der Eindruck, dass vorderhand oft
seltene Syndrome wesentlich mehr Beachtung
finden als die Alltagsnöte, wie z.B. chronische
Obstipation oder Verhaltensstörungen.
Nun begegnet der Arzt eigentlich ausser der
Notwendigkeit von einigen speziellen Kenntnissen auf dem Gebiet genetisch bedingter
Erkrankungen keinen Situationen, die er nicht
schon grundsätzlich aus Erfahrungen mit
Kindern, alten, chronisch erkrankten oder
auch psychiatrischen Patienten kennen könnte.
Dennoch lassen sich die Erfahrungen mit
anderen Patientengruppen nicht unreflektiert
übertragen, sondern sind an die Bedürfnisse
dieser besonderen Klientel zu adaptieren. Es
muss deshalb vorerst bei den Ärzten ein Problembewusstsein dafür geschaffen werden,
das in ein verändertes Verhalten, insbesondere
durch die Beachtung von Unterschieden in der
Epidemiologie und durch mehr Eigeninitiative
des Arztes bezüglich Erhebung von Daten und
Befunden, erst recht bei diffusen Befindlichkeitsstörungen, sowie in aktiverem Aufwand in
der Beratung mündet. Schliesslich benötigen
Ärzte auch Kenntnisse über die jeweiligen
Strukturen und Ressourcen der Wohnheime,
die sehr unterschiedlich sind.
5. Entwicklungen im Ausland
Nachdem vor allem im angelsächsischen
Raum die erhöhten Krankheitsrisiken von
Menschen mit Behinderung erforscht und
erkannt wurden, bestehen nun in verschiedenen Ländern Bemühungen, bedarfsgerechte
gesundheitsbezogene Leistungen für Menschen
mit geistiger Behinderung anzubieten und
10
PART­icipation
06.08
diesbezüglich verbesserte Angebotsstrukturen,
allenfalls spezialisierte Zentren aufzubauen.
Die Niederlande sind in dieser Hinsicht weit
voran: Bereits 1981 wurde eine Ärztevereingung gegründet. Seit dem Jahr 2000 bestehen
dort ein spezieller Facharzttitel sowie ein Lehrstuhl für Medizin für Menschen mit geistiger
Behinderung.
Auch andernorts, unter anderem in
Deutschland, sind bereits Curricula ausgearbeitet worden, wie diesbezügliche spezielle
Kenntnisse und Kompetenzen von Ärzten
erworben werden können. Eine europäische
Vereinigung «European Association of Intellectual Dissability Medicine MAMH» mit
jährlichen Kongressen besteht seit 1991. Hier
wurde das bisherige Abseitsstehen der Schweiz
sehr bedauert.
Bereits seit 1964 gibt es übrigens die «International Association for the Scientific Study of
Intellectual Disabilities IASSID».
6. Situation in der Schweiz
Während behinderte Kinder durch die IVFinanzierung der medizinischen Behandlung
von Geburtsgebrechen und der Sonderschulung zu einem guten Teil erfasst sind und ein
grosses, qualitativ hochstehendes Angebot von
medizinischen und rehabilitativen Leistungen,
oft in Universitätsinstituten, beanspruchen
können, leben erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung zu einem guten Teil in kleinen Institutionen in mehrheitlich ländlichen
Verhältnissen, wo sie nun meist von den ansässigen Hausärzten behandelt werden und den
Kontakt zu den früher zuständigen Ärzten und
Institutionen verlieren. Zahlreiche Haus- und
Fachärzte betreuen zwar engagiert und nach
bestem Wissen und Gewissen Menschen mit
geistiger Behinderung, aber sie sind diesbezüglich nicht vernetzt, haben kaum Austausch
untereinander oder mit Spezialisten und kriegen wohl kaum Informationen oder Weiterbildungsangebote in spezifischen Belangen (dies
im Gegensatz zu den Zahnärzten; an dieser
Stelle sei die SGZBB zum bisher Erreichten
beglückwünscht).
Die erwähnten Bestrebungen und Erkenntnisse anderer Länder wurden bisher kaum zur
Kenntnis genommen. Nur schon deshalb ist
nun eine Vernetzung der Ärzte aller Fachrichtungen und Regionen der Schweiz unerlässlich.
Daneben bedürfen auch die Sparübungen im
IV- und KVG-Bereich sowie neuerdings die
Einführung der DRG in ihren Auswirkungen
eines besonderen Augenmerks.
7. Gründung einer Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft
Auf diesem Hintergrund wurde am 2./3.
November 2007 eine Tagung «Medizinische
Herausforderungen bei geistiger Behinderung»
im Schweizerischen Epilepsiezentrum in
Zürich mit über 100 Teilnehmern organisiert.
Offensichtlich bestand ein grosses Bedürfnis
für einen derartigen Anlass.
Der Nachmittag des 2. November stand
unter dem Thema «Moderne Medizin und
Menschen mit geistiger Behinderung». Das
erste Referat brachte einen Überblick von Thomas Dorn zum Problem der Epilepsietherapie
bei behinderten Menschen. Eindrückliche
Videosequenzen unterstrichen hier etwa das
Problem, eine «banale» Verhaltensstörung von
einem epileptischen Anfall zu unterscheiden.
Der nachfolgende Überblick über die epilepsiespezifische Pharmakotherapie war äusserst
umfassend; er illustrierte die Notwendigkeit,
als betreuender Hausarzt Hilfe und Beratung von spezialisierten FachkollegInnen in
Anspruch zu nehmen.
Im zweiten Referat sprach Christian Schanze, Ärztlicher Leiter des St. Camillus-Krankenhauses in Ursberg (Bayern), über «Psychopharmakologische Behandlung bei Menschen mit
Intelligenzminderung». Er wusste hervorragend
herauszuschälen, wie vor (und oft auch neben
oder gar statt) der medikamentösen Behandlung die aktuellen Situation geduldig zu erfassen und als Reaktion auf irgendein Vorkommnis oder eine Entwicklung zu verstehen sei.
Der dritte Beitrag war dem Thema
«Ambulante Narkose für (geistig) behinderte
Patienten» gewidmet und gab Einblick in die
Tätigkeit von Matthis Lang, Mitglied der
Ärztegemeinschaft für Praxis-Anästhesie. In
eindrücklichen und klaren Worten, unterstützt
durch eine beeindruckende Videosequenz von
der Narkoseeinleitung eines Behinderten beim
Zahnarzt, gelang es ihm, den nicht genug zu
Schwerpunktthema
schätzenden Vorteil einer Narkose in einer
Praxis gegenüber einer solchen in einer Klinik
aufzuzeigen, und er vergass nicht, darauf hinzuweisen, welche Bedingungen dafür erfüllt
sein müssen bzw. welche Kontraindikationen
bestehen.
Der Tag schloss mit den Ausführungen
von Stefan Dierauer, Leitender Arzt der Kinderorthopädie am Kinderspital Zürich, zu den
«Orthopädischen Problemen im Erwachsenenalter bei angeborener oder früh erworbener
neurologischer Grunderkrankung». Er zeigte
auf, welche (unvermeidlichen) Deformierungen
am Bewegungsapparat wie, wann und mit welcher Erfolgsaussicht behandelt werden können.
Nicht verschwiegen wurde aber auch, welche
Massnahmen kaum sinnvoll sind und deshalb
vermieden werden sollen.
Der 3. November stand unter dem Hauptthema «Alltagsprobleme – wie helfen Fachleute?». In vier kürzeren, aber sehr praxisnahen
und berührenden Beiträgen wurden solche
Alltagsprobleme aus der Sicht eines Heimleiters (Toni Iten-Bühlmann, Wohnheim Casa
Macchi, Hergiswil), einer Heimärztin (Sandra
Ohle, Wohnheim des Epilepsie-Zentrums,
Zürich), einer Bereichsleiterin (Kathrin Wanner, Behindertenwerke Oberemmental, Langnau i.E.) und eines Hausarztes, der mehrere
Wohngruppen betreut (Daniel Gelzer, Basel)
zum Ausdruck gebracht. Die prägnanten
Schilderungen aller vier RednerInnen machten
deutlich, wie sehr bei der Betreuung Behinderter alle Beteiligten auf einen konstruktiven
und kreativen gegenseitigen Umgang angewiesen sind, der Anerkennung und Verständnis
für das Gegenüber erfordert.
Frau Professor Heleen Evenhuis, Lehrstuhlinhaberin für Behindertenmedizin an
der Erasmusuniversität in Rotterdam, sprach
äusserst sympathisch und lebendig über den
jahrelangen Weg beim «Aufbau eines spezialisierten Fachgebietes «Arzt für geistig behinderte Menschen» in den Niederlanden». Ihre
unbestechliche, optimistische und humorvolle
Hartnäckigkeit wirkte ansteckend und machte
Mut, an die Vision einer ähnlichen Entwicklung in der Schweiz zu denken.
Christian Kind schliesslich, Chefarzt der
Pädiatrischen Klinik in St. Gallen, berichtete als deren Präsident von der Arbeit der
Subkommission «Medizinische Behandlung
und Betreuung von Menschen mit Behinderung» der Schweizerischen Akademie der
Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Mit
grosser Hochachtung vor der umfassenden
Arbeit durften die Anwesenden im Sinne einer
Vorinformation vom Inhalt der medizinischethischen Richtlinien und Empfehlungen zu
dieser Thematik Kenntnis nehmen, die inzwischen zur Vernehmlassung auf www.samw.ch
veröffentlicht wurden.
Am Rand dieser Tagung gründeten am
3. November 2007 41 TeilnehmerInnen
die «Schweizerische Arbeitsgemeinschaft
von Ärzten für Menschen mit geistiger oder
mehrfacher Behinderung» zugunsten eines
Sondergebietes innerhalb der Medizin, das sich
speziell mit der medizinischen Versorgung von
Menschen mit geistiger Behinderung auseinandersetzt. Sechs Teilnehmer wurden als Arbeitsgruppe zur Gründung des entsprechenden
Vereins gewählt.
Seit 29. Januar 2008 ist mit der Verabschiedung der Statuten der Verein nun formal
gegründet, und die Arbeitsgruppe bildet den
ersten Vereinsvorstand. Bereits ist auch die
Homepage online (www.sagb.ch). Aktuell zählt
der Verein 64 Mitglieder.
Alle Ärztinnen und Ärzte sind eingeladen, Mitglied dieser Arbeitsgemeinschaft
zu werden. Aber auch andere Personen oder
Körperschaften können ausserordentliche oder
korrespondierende Mitglieder werden, wenn
sie Zweck und Ziel des Vereines mittragen
möchten.
8. Schwerpunkte der SAGB
1. Förderung interkollegialer fachlicher Kontakte für Erfahrungsaustausch und Entwicklung von Synergien.
2. Eröffnung von Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten und die Organisation solcher Veranstaltungen. Einflussnahme auf
die Weiterbildungscurricula.
3. Erarbeitung von Qualitätsstandards in der
medizinischen Begleitung von Menschen
mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, speziell auch für Kriseninterventionen.
4. Medizinisches Informationsangebot für
Betroffene, Angehörige, Institutionen und
Begleiter. Kontakte mit deren Organisationen.
5. Aktive Mitarbeit in nationalen und internationalen Fachgremien.
6. Befassung mit Finanzierungsfragen im
Rahmen von KVG, UVG und IV und
kantonalem Heimwesen infolge der NFA)
7. Unterstützung von wissenschaftlicher
Forschung zugunsten von Menschen mit
geistiger und mehrfacher Behinderung.
Auch wenn hier spezifisch nur von Menschen mit geistiger Behinderung die Rede ist,
ist zu betonen, dass nicht eine Abgrenzung,
sondern letztlich eine Verknüpfung angestrebt
wird mit den Bemühungen um andere Behinderungsformen, mit der Geriatrie und natürlich
mit der Rehabilitationsmedizin. Es sollen
Brücken zwischen Heimärzten und Fachärzten,
unter den Fachgesellschaften, zwischen Kinder-,
Jugend- und Erwachsenenmedizin, zur Zahnmedizin und auch ins Ausland gebaut werden.
9. Schlussbemerkung
Der Inhalt dieses Artikels wurde teils in
ähnlicher Form in der Schweizerischen Ärztezeitung veröffentlicht. Er gründet auf verschiedenen gelesenen oder gehörten Publikationen
und Referaten deutscher Sprache sowie auf
eigenen Beobachtungen. Mangels Ressourcen fehlen Quellenforschungen oder neuere
eigene wissenschaftliche Recherchen. Deshalb
erhebt dieser Artikel keinen wissenschaftlichen
Anspruch.
Der Abschnitt über die Tagung stützt sich
auf ein Manuskript von Dr. med. Florian Suter,
4416 Bubendorf
Speziell möchte ich noch hinweisen auf:
«European Manifesto about Health care for people
with intellectual disabilities» (auch in Deutsch,
bei MAMH (http://www.mamh.net/) herunterladbar).
PART­icipation
06.08
11
Schwerpunktthema
Wie mit der unkontrollierbaren Angst, die aus
dem blinden Glauben an die Kontrollierbarkeit
der Angst entsteht, umgehen? Gedanken zur
Neurobiologie der Angst
Die Angst des Philosophen vor dem
zahnärztlichen Stressor Bohrer bewirkte bei
ihm eine unkontrollierbare Stressreaktion,
bei der einige angelegten Verschaltungen
in seinem Kopf destabilisiert wurden. Was
der Sinn dieses biologischen Mechanismus
sein könnte, der die Angst zu etwas sehr
Wertvollem macht (wenn sie ganz neu interpretiert wird), fand der Philosoph bei der
Lektüre des Buches eines Neurobiologen.
Gerald Hüthers Buch Biologie der Angst
eröffnet mehrere Lektüreperspektiven, so
dass die folgenden Zeilen eher die philosophischen Gedanken in Hüthers Buch in den
Mittelpunkt stellen und ganz andere Akzente
setzen als die schon erfolgte Besprechung des
Buches in PART­icipation.
Drei Metaphern dominieren im Text: die
Wegmetaphorik, die Hügel-Ebene Unterscheidung und die Melodie (musikalische
Metaphorik). Von Sackgassen, gebahnten
Wegen, neuen Wegen bis zu intelligenten
Wegen u.a. ist die Rede. Die Wegmetaphorik
illustriert die Funktionsweise des Gehirns
und seine Interaktion mit der Aussenwelt.
Die Hügel-Ebene Unterscheidung verweist
auf die Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels auf das Phänomen Gehirn, der
die Ansätze von Geisteswissenschaften und
Naturwissenschaften in einen neuen Dialog
bringen will. Der Körper-Geist Dualismus, der lange die Szene der Philosophie
beherrscht hat, wird in einen Monismus
umgewandelt (ein Monismus der Melodie)
mit zwei verschiedenen Texten.
Zu den philosophisch aussagekräftigsten
Thesen kommt Hüther in seinem Schlusskapitel (Ausblick und Abschied). Dort wird
12
PART­icipation
06.08
wieder der Hügel als symbolischer Ort
eines erkenntnistheoretischen Perspektivenwechsels ins Spiel gebracht. Es folgt ein
vehementer Angriff auf eine nicht näher
benannte Gruppe, die mit ihrer Haltung
glaubt, dass sich die Angst dadurch besiegen
lässt, dass man immer schneller an immer
grösseren Rädern des Getriebes dreht, d.h.
immer mehr Macht und Wissen in einer
eindimensionalen Weise anhäuft. Gemäss
Hüther war die Angst die Triebfeder für die
Entstehung und interne Weiterentwicklung
der Wissenschaftsdisziplinen; sie hatte als
Ziel die Sicherheit durch die Anhäufung von
Macht und Wissen zu erlangen.
In diesem Zusammenhang ist der
folgende bemerkenswerte Satz zu finden
(Hüther, Biologie der Angst, S. 111):
«Die individuelle oder kollektive Anhäufung von Wissen und Macht, die so lange
geeignet schien, die Angst und die damit
einhergehende Stressreaktion kontrollierbar
zu machen, ist inzwischen selbst zu einer
Bedrohung geworden.»
Wenn das ein Philosoph zu bedenken
gegeben hätte (wie schon mehrmals geschehen z.B. Nietzsche, Anders, Heidegger,
Arendt etc.), hätte man dankend für den
interessanten Beitrag auf die Realitätsferne
desselben verwiesen; stammt diese Bemerkung von einem Neurobiologen, dann bringt
uns seine epistemische Glaubwürdigkeit
dazu, seine Realitätsnähe genauer zu studieren.
Hüthers Modell nochmals in aller Kürze:
er geht von der neuronalen Plastizität des
Gehirns aus, die unser Gehirn bis weit ins
Alter potentiell lernfähig sein lässt. Die Verschaltungen und Bahnungen der Nervenzellen sind durch die Benutzung und die Erfahrungen, die wir in der Aussenwelt machen,
remodellierbar. Die Angst vor einem Stressor
ruft im Körper eine Stressreaktion hervor,
die, vereinfacht gesagt, kontrollierbar oder
unkontrollierbar abläuft.
Je nach Stressor (Angstauslöser), individuellen Erfahrungen und der Interaktion von
verschiedenen Hormonsystemen reagieren
wir mit einer kontrollierbaren Stressreaktion,
bei der das Gehirn durch schon vorhandene
Bahnungen auf die Angst reagieren kann
oder mit einer unkontrollierbaren Stressreaktion, für die ein anhaltendes Gefühl von
Angst und Verzweiflung charakteristisch
ist. Bei der kontrollierbaren Stressreaktion
werden die in unserem Gehirn angelegten
Verschaltungsmuster stabilisiert, bei der
unkontrollierbaren Stressreaktion werden sie
destabilisiert und es werden neue Bahnungen
vorbereitet.
Das Gehirn ist nicht nur Ausgangspunkt
sondern auch ein wichtiger Zielpunkt der
neuroendokrinen Stressreaktion. Es illustriert modellhaft einen biologischen Mechanismus, der die Angst braucht um immer
wieder schon gebahnte Wege auflösen zu
können.
Für Hüther ist die Funktionsweise des
Gehirns ein Modell für die Notwendigkeit
einer grossen Aufmerksamkeit auf Veränderungen in der Erfahrungswelt, denn es
funktioniert nicht wie ein fest ablaufendes
Programm. Diese Zusammenhänge führen
im Schlusskapitel zu einer These, die uns
aufhorchen lässt und die mit dem obigen
Zitat in Verbindung zu bringen wäre.
«Wir können uns nur verändern, indem
wir die Art des Zusammenwirkens derjenigen Zellen verändern, die unser Verhalten
bestimmen.» (Hüther, S. 110)
Als Konsequenz aus dem ersten Zitat,
das die Bedrohung durch die Anhäufung
von Macht und Wissen thematisiert, wäre
die Frage zu stellen: Was ist zu denken, zu
fühlen, zu tun, wenn die gebahnten Verschaltungen im Gehirn, die auf dem Weg
der Entwicklungen der modernen Geistes
– und Naturwissenschaften und ihrer Produkte entstanden sind und die massgeblich
daran beteiligt waren, die Angst kontrollierbar zu machen, ihrerseits zu einem Stressor
geworden sind, der zu einer unkontrollierbaren Stressreaktion führt? Wenn ich
Hüthers Grundthese richtig deute, scheint
für ihn das Gehirn mit dem biologischen
Mechanismus der Stressreaktion ein Modell
zu sein für einen erfolgsversprechenden
Umgang mit der unkontrollierbaren Stress-
Schwerpunktthema
reaktion gegenüber den Wissenschaften
und der von ihnen geschaffenen Welt. Aus
dem zweiten Zitat folgt, dass wir, um uns
wirklich verändern zu können, unser Gehirn
neu und anders benutzen müssen um einen
Remodellierungsprozess in ihm auszulösen,
da das Zusammenwirken der Gehirnzellen
wiederum unser Verhalten bestimmt. In der
Philosophie würde man diese erkenntnistheoretische Variante im paradoxen Terminus
des transzendentalen Empirismus wiederfinden, der vom französischen Philosophen
Gilles Deleuze vertreten wird. Steht hier das
Gehirn für die Bedingung der Möglichkeit
von Erfahrung (=transzendental), so wäre es
wichtig, dass durch die Erfahrung (Empirismus) immer wieder die Bedingungen der
Erfahrung remodelliert werden können. Der
von Hüther geforderte Ausbruch aus den
bisherigen Bahnen unseres Denkens, Fühlens
und Handelns ist eng mit dem Sinn und
der Funktion der neuroendokrinen Stressreaktion verbunden. Sie zeigt auf, dass die
entscheidenden Veränderungen auf der transzendentalen Ebene (hier im Vergleich: auf
der Ebene der Verschaltungen im Gehirn)
geschehen; diese Veränderungen kommen
aber nur durch die Aufmerksamkeit auf die
Erfahrung und das Sich-Affizieren-lassen
durch Veränderungen in der Aussenwelt in
Gang, die Angst erzeugen. Die Bedingungen
der Möglichkeit von Erfahrungen werden
retroaktiv im Laufe der sich einstellenden
Erfahrungen durch eben diese Erfahrungen
remodelliert. Kant nicht und erst recht nicht
Deleuze würden sich meiner Meinung nach
im Grabe umdrehen, wenn sie hörten, was
das Gehirn nach neuesten Forschungen alles
kann. Es arbeitet gemäss ihren erkenntnistheoretischen Visionen.
Goran Grubacevic, Philosoph
PART­icipation
06.08
13
Vermischtes
Die Angst des Theologen
vor dem Bohrer
Nein, ich habe keine Angst vor dem Bohrer. Im Gegenteil, mich fasziniert die Technik – auch wenn ich das pfeifende Geräusch
des Bohrers hasse. Angst habe ich vielmehr
vor dem Zahnarzt: Hat er einen guten Tag?
Zittert seine Hand? Ist er bei der Sache? Ist
er seiner Sache sicher? Wie reagiert er auf
meinen Mundgeruch? Bohrt er gegen die
Konkurrenz? Die Fragen lassen sich beliebig
vermehren. Er wirkt souverän, ruhig. Aber
was sehe ich schon. Seine Augen, den konzentrierten Blick …
Ich schätze die Professionalität meines
Zahnarztes. Sachlich wird mir erklärt, was
mit meinen Zähnen los ist, welche Behandlung sich aufdrängt, was wünschenswert
wäre, was sich auch noch tun liesse. Schön
ist es immer, wenn es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten gibt, wenn denn schon
eine Behandlung sein muss. Hart indes ist
es, wenn es keine andere Möglichkeit mehr
gibt und ein Zahn gezogen werden muss. Es
handelt sich in meinem Alter ja nicht mehr
um einen Milchzahn. In solchen Momenten
wird mir meine Endlichkeit und Sterblichkeit drastisch bewusst: Da wächst nichts
mehr nach. Das ist unwiederbringbar vorbei.
Gewiss, es ist «nur» ein Zahn. Aber dieser
Zahn hat eine Geschichte. Er hat mich bis
jetzt begleitet und mir sehr gute Dienste
geleistet. Nicht nur beim Zerkleinern der
Nahrung – ich habe auf ihn gebissen bei
Schmerzen oder wenn mich etwas geärgert
hat, er hat mir das Sprechen erleichtert usw.
Wie sehr er zu mir gehört, merke ich jetzt,
wo er schmerzt. Vorher war er einfach da
und hat seine Arbeit so gut geleistet, dass ich
ihn nicht wahrgenommen habe. Und jetzt?
Zwar ist der medizinische Befund eindeutig,
die Diagnose klar – und mein Kopf sagt mir,
dass es richtig ist. Aber mein Herz hat wieder einmal Schwierigkeiten mit der Logik.
Es sagt irgendwie noch nicht ja.
Um nicht missverstanden zu werden:
Es geht mir nicht um die Verklärung des
Schmerzes und schon gar nicht von Schmerzen, deren Ursache bekannt und die deshalb behoben werden können. Es geht mir
vielmehr darum, dass der Schmerz auch ein
sozialer ist, und er je nach Kultur einen ganz
anderen Stellenwert hat. Schmerzen lassen
sich leichter aushalten, wenn sie innerhalb
eines bestimmten Deutungssystems Sinn
haben. Wenn schon Zähne eine Geschichte
haben, dann haben auch die Schmerzen teil
an dieser Geschichte. Es gibt daher nicht den
Schmerz an sich, sondern nur den Schmerz
innerhalb einer bestimmten Geschichte.
Eine Schmerzbekämpfung, die sich auf die
physischen Ursachen des Schmerzes konzentriert, kann zwar sehr wirkungsvoll sein,
aber vielleicht wäre sie noch effektiver, wenn
das jeweilige Deutungssystem des Patienten
unterstützend in die Behandlung miteinbezogen würde. Frage ist nur, ob genug Zeit
und genug Interesse dafür da ist.
Und da wäre ich wieder beim Zahnarzt. Soll er sich wirklich in meine private
Geschichte einmischen? Ich glaube, dass er
es tut und tun muss. Ich gehe ja nicht als
Gebiss zum Zahnarzt. Mein Mund, meine
Mundhöhle, mein Gebiss, sie alle tragen eine
private Handschrift und sie gehören zu meiner Persönlichkeit. Ich bin auch alles andere
als ein Zusammensetzspiel oder Ersatzteilhaufen. Ich weiss zwar um den Wert einer
Prothese, aber eben nur insofern, als meine
Persönlichkeit, meine Ganzheit und Integrität, dabei gewahrt wird. Ein Zahn ist ein
Zahn, aber der Zahn ist Bestandteil meiner
Persönlichkeit. Es kommt darauf an, diese
Feinheiten des Ganzen lesen zu lernen. Das
ist der Punkt, wo ich mit meinem Zahnarzt
auf gleicher Ebene und auf gleicher Augenhöhe stehe: Ich vertraue, dass er fachlich
kompetent ist. Da ist er mir weit überlegen.
Und das ist gut so. Aber: Ob ich mit Respekt
behandelt werde oder nicht, ob ich meinem
Zahnarzt mit Respekt begegne oder nicht,
das verrät die Sprache. Wer über und vom
Schmerz spricht, spricht meist in Bildern oder
Metaphern. Weshalb, so frage ich mich, wird
bei Schmerzen meist die Sprache des Krieges
gebraucht, da wimmelt es nur so von Kampfplätzen – und das wirkt sich wiederum auf
die Professionalität aus. Wenn Zahnärzte von
einem Genickschuss sprechen, dann meinen
sie mit Sicherheit nicht dasselbe wie Obristen,
die ihre Rekruten schulen. Aber Redeweisen
legen offen. Sie verraten.
Deshalb: Die Angst vor dem Bohrer ist
beschränkt. Die Angst vor dem Zahnarzt
aber lässt sich so einfach nicht beschränken.
Was aber hat all das mit dem Theologie
zu tun? Um es kurz zu machen: Eine Zahnbehandlung dient dem Wohl des ganzen
Menschen. Biblisch wird dieses Wohl mit
Schalom umschrieben. Es ist ein Wohl, das
die Ganzheit und Integrität, die sozialen
Bezüge usw. einer Person und einer Gemeinschaft umfasst. An diesem Wohl mitzuwirken, scheint mir auch eine der vornehmen
Aufgaben des Zahnarztes zu sein.
Hanspeter Ernst
PART­icipation
06.08
15
Schwerpunktthema
Buchbesprechung:
«Welchen Sinn macht Depression»
Depression»
Daniel Hell
2. Auflage 2007
ISBN 978 3 499 62016 4
250 S., 19 Tabellen
Rowohlt Taschenbuch Verlag Hamburg
Die Publikation des Universitätsprofessors
und Klinikdirektors an der Psychiatrischen
Universitätsklinik Zürich nennt sich «Ein
integrativer Ansatz» und gilt als ein Standardwerk, welches in der vorliegenden 2. Auflage
vom Autor aktualisiert wurde. Es gliedert sich
in 6 Teile, welche ein zusammenhängendes
Bild der Depression und ihrer Behandlung
vermitteln. In seiner allgemein verständlichen
Sprache ist das Buch auch für uns Zahnmediziner eine grosse Hilfe, dem depressiven
Patienten mit der adäquaten ärztlichen Haltung und Zuwendung zu begegnen. Die orale
Gesundheit kann ja letztlich nur durch die
Eigenleistung des Patienten aufrechterhalten
werden. Und gerade diese ist in der Depression gefährdet oder gar ganz aufgehoben.
Schon in Vorwort und Einleitung betont
der Autor, dass er die Depression nicht «ins
Reich des Bösen» verweisen oder als Mangel,
Defizit oder Defekt abtun möchte. Vielmehr
sieht er sie als einen defensiven Anpassungsprozess auf Belastungssituationen und stellt
sie in einen Sinn machenden, integrativen
Zusammenhang mit psychologischen, sozialen, evolutions- und neurobiologischen
Vorgängen. Auch wenn die Depression den
Charakter einer Störung und in schweren Fällen auch Krankheitswert hat, so möchte Hell
ihre Abwehr, Signal- oder Schutzfunktion
und ihre Bedeutung und Prognose im Lichte
des persönlichen und gemeinschaftlichen
Umgangs mit psychischem Schmerz herausarbeiten. Er stellt also nicht nur die Frage nach
dem «Warum», etwa nach veränderten Hirnleistungen oder schädlichen Kindheitsverhältnissen, sondern besonders nach dem «Wozu»
der Depression. Diese «finale» Sichtweise soll
einen Zusammenhang im Wesen dieser oft
im Verborgenen ablaufenden Leidensformen
erschliessen. Der Autor will die Depression
weniger als Fehler sehen, sondern mehr als
eine Möglichkeit, auf eine bedrohliche Problematik zu reagieren und sogar eine Botschaft
zu vermitteln.
Der Suche nach dem Wesen der Depression und nach der Abgrenzung von gesund
und krank ist T­eil 1 gewidmet. Hell geht
zurück bis zu den alten Griechen: Die Not
eines depressiven Menschen, welcher «allei16
PART­icipation
06.08
ne durchs Gelände Aleion schweift» wurde
schon in der «Ilias» geschildert, und in den
«Hippokratischen Schriften» wird als melancholischer Zustand beschrieben, wenn «Angst
und Traurigkeit lange anhalten». Der Begriff
«Melancholie» (Schwarzgalligkeit) hiess dann
im Mittelalter «Akedia» (Trägheit) und wurde
erst in der Neuzeit mit «Depression» (Niedergeschlagenheit) benannt. Dieses Phänomen
scheint nach Hell also zum Menschsein generell zu gehören. Dies zeige sich auch darin,
dass depressives Erleben in verschiedenen
Kulturräumen zwar verschiedene Formen
annimmt, aber überall bei einem guten Drittel
der Bevölkerung zu beobachten ist. Dabei
gibt es einen kontinuierlichen Übergang von
alltäglicher Deprimiertheit zu leichteren und
schliesslich zu schwereren depressiven Verstimmung. Zur wissenschaftlichen Erfassung
des Phänomens der Depression schlägt der
Autor einen «analogen» und einen «digitalen»
Weg vor. Depressives Erleben kann in Analogie zu erfahrbaren Geschehnissen und Bildern
gebracht werden, wie etwa die «Schwere einer
Last, die man auf den Schultern spürt». Die
digitale Methode fragt erkrankte Menschen
gezielt nach bestimmten Eigenschaften, um
etwa Bedrücktheit, Ermüdbarkeit, Interesseverlust, vermindertes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen oder Suizidgedanken aufzulisten.
Solche Leitsymptome finden sich auch in
den «Diagnostischen Leitlinien der depressiven Episode» nach WHO. Die zahlreichen
Klassifizierungsversuche der Vergangenheit
werden vom Autor dargestellt, aber er zeigt
die Depression mehr als ein Kontinuum. Auch
die WHO unterteilt die depressiven Episoden
heute nur noch aufgrund ihres Schweregrades
und ihres einmaligen oder rezidivierenden
Verlaufs. Hell unterscheidet schwermütige,
endogene, melancholische Formen von leichteren «schwernehmerischen» Ausprägungen
der Depression. Da heute gerade diese leichteren Formen zunehmend in Diagnostik und
Behandlung kommen, scheint ein vermehrtes
Auftreten der depressiven Störungen zu
beobachten zu sein. In den Anfangszeiten der
Psychiatrie gelangten eben nur die schwersten,
gehemmt und manisch depressiven Störungen
im geschlossenen Anstaltswesen zur Erfassung.
T­eil 2 befasst sich mit den Psychologischen Phänomenen der Depression. Am
auffälligsten ist das «Paradox von Denkhemmung und Grübelzwang». Es ist dies ein
Zwang, denken zu müssen, ohne denken zu
können. Die Patienten fühlen sich verunsichert, innerlich leer und doch unruhig. Sie
empfinden nicht mehr wie früher, haben
an nichts mehr Freude und das Gedächtnis
lässt sie im Stich, was wiederum Angst und
Spannung verursacht. Ein weiteres Phänomen
ist das veränderte Körper- und Raumerleben,
eine Schwere und Erstarrung, sowie ein sich
eingeschlossen Fühlen. Der eigene Körper
scheint zu blosser unbeseelter Materie zu
werden. Parallel dazu erscheint auch das Zeiterleben gehemmt und verlangsamt. Depressive Menschen befassen sich mit dem weit
Zurückliegenden. Die Vergangenheit scheint
sie subjektiv einzuholen. Der Fluss der Zeit ist
angehalten, eine Zukunft gibt es kaum mehr.
Die sprudelnde Lebensfreude der andern zeigt
dem Depressiven seinen eigenen Selbstwertverlust. Er fühlt sich stets den Blicken anderer
ausgesetzt und sieht sein negatives Urteil über
sich durch die andern bestätigt. Vor diesen
Selbstvorwürfen und vor der Selbstentfremdung sucht er sich durch Isolation und existentielle Leere zu schützen. Nicht identisch
mit der Depression ist nach Hell hingegen die
neurotische Persönlichkeitsstruktur, die ebenfalls die Phänomene der Selbstabwertung und
Verletzlichkeit zeigt und das Auftreten depressiver Episoden ebenfalls fördern kann.
Die zwischenmenschlich kommunikative Seite der Depression wird in T­eil 3
dargestellt. Die Dynamik der Depression
beeinflusst die unmittelbaren Sozialpartner
und die Beziehungspartner von Depressiven
sowie ihre Kommunikationsstruktur. Der
Autor schildert anhand klinischer Bespiele
und Experimente, wie Gesprächspartner von
Depressiven verunsichert werden und selbst
eine Leere und Sinnlosigkeit empfinden, da
sie auf ihre Bemühungen zum Helfen kein
Echo erhalten. Depressive ziehen sich zurück
und blicken ihre Gesprächspartner nicht an,
so dass diese wiederum auf der Suche nach
einem «Du» ins Leere fallen und nur ein
«Es» und dadurch in sich selbst kein «Ich»
finden. Therapeuten und Ärzte zeigen oft
Schwerpunktthema
Depression
Depression
Depression
eine gebückte Körper- und Kopfhaltung beim
Gespräch mit den Patienten und vermeiden
so unbewusst eine «falsche» Bewegung und
den offenen Blickkontakt. Diese nonverbale
Körpersprache geht der bewussten verbalen
Annäherung stets voraus. Pflegepersonen
eignen sich zudem oft eine professionelle
Distanz zu den Patienten an, um nicht selbst
ins Gefühl der Bodenlosigkeit zu tappen.
Beziehungspartner anderseits werden vom
Reiz depressiver Symptome sehr stark berührt.
Die Erstarrung und Versteinerung können als
verzweifelte Hilflosigkeit einen Appellationscharakter haben und Mitgefühl und Anteilnahme provozieren. Gleichzeitig können sie
aber auch feindselig wirken und dadurch beim
Partner Enttäuschung, Ärger, Spannungen,
Stress und Verunsicherungen verursachen. Die
Partner müssen oft noch die familiären Pflichten des/der Erkrankten übernehmen, was zu
einer neuen Rollenverteilung und sozialem
Stress führen kann. Hell zeigt denn auch, dass
gerade Ehepaare mit fest gefügter Rollenver-
teilung der depressiven Eigendynamik stärker
ausgeliefert sind als Paare in offeneren und
flexibleren Partnerschaften. Der Kommunikationsstil depressiver Paare wird stockend,
kontrolliert und selbst bezogen, bleibt mit
Drittpersonen aber oft noch normal. Hell
wertet den depressiven Kommunikationsstil
als heimliche Beziehungsbremse, als einen
Halt des Abstandnehmens und als eine Regulierung im Sinn der Systemerhaltung. In den
meisten Fällen würden dadurch die Paarbindungen schlussendlich gefestigt.
T­eil 4 behandelt die Biologie der Depression. Es wird hervorgehoben, dass die frühere
Hypothese einer einfachen, isolierten biochemischen Ursache, etwa eines Mangels an
Serotonin, nicht mehr haltbar ist. Vielmehr
stehen heute die komplexen Regelkreise, die
Selbstorganisations- und Adaptationsprozesse
im Vordergrund, die sich mit verschiedenen
Neurotransmittern, mit Stresshormonen, erblichen Anlagen, Gehirnentwicklung, Nerven-
bahnen und Hirnarealen abspielen. Hell zeigt,
wie Belastungssituationen über die hormonelle
Stressachse zu einem Aktivitätsmuster derjenigen Hirnareale führen, welche das Verhalten
steuern. Bei lange dauernder psychischer
Überlastung wird der anfängliche Adrenalinschub heruntergefahren und über die
Stressachse wird Kortisol produziert. Dieses
löst eine verstärkte Serotonin Synthese aus,
um den Energiehaushalt und die Belastung
zu kontrollieren. Nach längerer Zeit kommt
es aber zu einer Erschöpfung der Serotonin
Synthese, wodurch Angst und Aggressivität
zunehmen. Normalerweise reguliert sich der
erhöhte Kortisolspiegel selbst. Misslingt dies,
kommt es zu einer Überflutung der StressKaskade mit Kortisol und über die Rückkoppelung über die Hypophyse, Hypothalamus,
Amygdala und Hippocampus zum Bild der
Depression. Dies scheint einerseits infolge vergangener oder gegenwärtiger überfordernder
Lebenssituationen einzutreten, anderseits können die zentralen Steuerungsvorgänge auch
genetisch abgeschwächt sein (kurze Variante
des 5-HTT-Transporterprotein-Gens). Die
gleichzeitige Hemmung der dopaminergen
Systeme führt zu psychomotorischer Antriebsschwächung und Motivationsverlust. Im
depressiven Zustand ist das limbische System
überaktiv. Höhere Zentren, etwa der präfrontale Kortex suchen diese Reaktionsweise zu
kontrollieren und zu kompensieren, was sich
in psychomotorischer Unruhe und Gedankenkreisen äussern kann. Die Regulationsmöglichkeit der Rindenzentren kann aber auch
überfordert werden, woraus ein Aktivitätsverlust resultiert. Die Areale des präfrontalen
Kortex sind auch beim Planen, Auslösen und
Durchführen von Gedanken und Handlungen
von Bedeutung. Schwere Depressionen sind
deshalb mit Apathie und psychomotorischer
Verlangsamung verbunden. Die typischen
Schlafstörungen der Depressionskranken
führt Hell auf eine Störung der tageszeitlichen
Periodizität von Neurotransmittern und
ihren Rezeptoren zurück. Er empfiehlt den zu
Depressionen neigenden Menschen deshalb
einen möglichst geregelten Lebensrhythmus.
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1
Schwerpunktthema
Bedrohungen nicht abfedern. Solche Individuen reagieren schnell hilflos und apathisch und
zeigen Rückzugstendenzen, Bewegungsarmut
und neurotische Persönlichkeitsstrukturen.
urzeitlichen Säugetierstufe liegt darüber das
limbische System als Sitz der vorsprachlichen
Grundgefühle und Affekte wie etwa Angst,
Wut, Trauer oder Freude. Es wird umschlossen von den beiden hemisphärenartigen
Schalen des Grosshirns, dessen Rinde für
höhere affektiv-kognitive Leistungen, Denken und Sprechen sowie die Differenzierung
und Bearbeitung der Emotionen zuständig
ist. Dieses kognitive System erlaubt es, die
Grundgefühle als etwas Eigenes wahrzunehmen, womit Denken und Fühlen sich in einer
sozial-kommunikativen Ebene verbinden.
Diese Selbstwahrnehmung und Selbstbestimmung eröffnet den menschlichen Denk- und
Handlungsspielraum und die biologischen
Triebe erhalten einen kulturellen Überbau in
der Gemeinschaftsbildung. Damit sind im
Misserfolgsfall aber Schuldgefühle und Selbstvorwürfe persönlichkeitsabhängig verbunden
und bilden den Rahmen für die Depression.
Im T­eil 5 führt der Autor diese bis dahin
geschilderten Ebenen in einem integrativen
Modell zu einem organisatorischen Ganzen
zusammen:
Das depressive Geschehen erklärt sich
als sinnvoller Anpassungs- und Reparationsversuch einer Person und ihres Organismus
auf eine längere Belastungssituation. Es geht
um die Selbstorganisation der Gefühlswelt
im Bemühen, in der Umwelt zu bestehen.
Hell bezeichnet Gefühle als «sprachlose Meinungen», als ein Bewertungssystem für die
verschiedenen Reize und als erlebte Zustände
mit dem Zweck, das Verhalten sinnvoll zu
organisieren und zu improvisieren. Die Emotion entsteht lange vor ihrer gedanklichen
oder sprachlichen Erfassung. Der älteste
Hirnteil, das Stamm und Zwischenhirn,
regelt automatische Reflexe und Instinkte wie
Puls, Atmung, Hunger und Durst. Seit der
18
PART­icipation
06.08
Die Grundgefühle des limbischen Systems
beeinflussen also über das Stammhirn die
innere, vegetative Regulation des Organismus und über den Neokortex die Anpassung
an die äussere Umwelt. Im motorischen,
vorsprachlichen Ausdruck wird das Grundgefühl, etwa die Traurigkeit, als Überaktivität des limbischen Systems erkennbar
wiedergegeben. Die Bahnen vom limbischen
System zum Neokortex und zurück sind in
ihrer Funktion von Serotonin abhängig. Bei
erschöpfter Serotonin Produktion können die
Grundgefühle durch die höheren Hirnzentren zwar noch wahrgenommen, aber nicht
mehr rückkoppelnd reguliert werden. Dies
kann genetisch bedingt eintreten, oder wenn
extreme Belastungs- und Schmerzsituationen
sowie zwiespältige menschliche Bindungen in
der Kindheit eine erhöhte Anzahl von Kortisolrezeptoren und geschwächte Rezeptoren für
Corticotropinreleasing Hormone hinterlassen
haben. Die Stressachse kann dann später
Der Verlust von Bindungspersonen oder
Lebenszielen wird vom Menschen als eine
massive Bedrohung empfunden und gehört
zu den stärksten Reizen zur Auslösung von
Trauerprozessen. Diese nehmen als Betäubung,
Verzweiflung und Leere meist etwa ein Jahr
in Anspruch. Erst darnach ist eine Neuorientierung möglich. Die Depression kann diesen
Ablauf blockieren. Im Tierversuch konnten die
hemmenden motorischen Auswirkungen des
limbischen Systems bei Bedrohungen analog
der Reaktion beim Menschen als unterwürfiger Appell an die Gruppentiere nachgewiesen
werden. In der menschlichen Depression
sieht Hell zusätzlich einen Halt, eine Bremse
oder einen Stillstand, um in einer nicht mehr
kontrollierbaren Situation dem aussichtslosen
Kampf, einer voreiligen Kurzschlusshandlung,
einem Amoklauf oder der Selbstzerstörung zu
entgehen. Die totale Erstarrung, welche man
bei schweren Depressionen findet, zeigt sich
ebenfalls im Tierreich beim «Totstellreflex»
in ausweglosen Situationen. Das menschliche
Gehirn verfügt aber mit dem Neokortex über
ein leistungsfähiges System, welches eine
bewusste Modulation der limbischen Grundgefühle ermöglicht. Damit kann die Trauer
entweder abgeschwächt und schliesslich durch
Neuorientierung aufgelöst, oder aber durch
ein kortikales Depressionsgeschehen überlagert
und verstärkt werden. Bei Störungen der kortikalen Hirnleistungen (geistige Behinderungen,
Demenzen) laufen dementsprechend nur die
limbischen Grundgefühle ab.
T­eil 6 widmet sich nun der T­herapie, die
dem integrativen Depressionsmodell gerecht
wird. Obwohl Depressionen in der Regel
Durchgangsstadien darstellen, liegen doch
auch erhebliche Gefahren darin. Der Schutzversuch kann misslingen und zu suizidaler
Verzweiflung und unerträglichem, chronischem Leidensdruck führen. Es besteht also
ein Behandlungsbedarf. Der Therapeut soll
das Rückzugsverhalten und die Entfremdung
als ein biologisch verankertes Reaktionsmuster
verstehen und mit geduldiger Anteilnahme
angehen. Die Behandlung bekämpft nicht die
biosoziale Reaktionsweise als solche, sondern
ihren dysfunktionalen Ablauf. Diesem entsprechend können in verschiedenen Phasen
verschiedene Verfahren, somatisch-medizinische, psychologische und soziologische
eingesetzt werden. Der Autor präsentiert seine
Reihenfolge der therapeutischen Massnahmen
bei schweren Depressionen:
1. Entlastung und Symptomlinderung mit
medizinisch-biologischen Massnahmen
(Antidepressiva) für etwa ein halbes Jahr.
Depression
2. Schrittweise Aktivierung mit Psychotherapie (A ktivierungstherapien, kognitive
Verhaltenstherapie, interpersonelle und
psychoanalytisch orientierte Therapie)
3. Stärkung nicht depressiven Verhaltens
und persönlicher Haltungen
4. Eigenverantwortliche Änderung depressionsförderlicher Lebensumstände
Die anfängliche medikamentöse Therapie setzt an der biologischen Umstellung
an. Die Antidepressiva unterscheiden sich in
ihrer Wirkung auf die drei Neurotransmitter Noradrenalin, Serotonin und Dopamin
(Monoamine). Depressionsformen, die mit
Angststörungen oder Aggressionen verbunden
sind, sprechen besonders gut auf Antidepressiva an, welche über Serotonin wirken. Die
Nebenwirkungen bestehen in Abhängigkeit
des Wirkungsmechanismus in Schwitzen,
Herz-Kreislauf-Symptomen, Potenzstörungen,
Magen-Darm-Beschwerden, Schlafstörungen,
Übelkeit, Gewichtszunahme und Müdigkeit.
Auf die für die Zahnmedizin wichtige Verminderung der Speichelproduktion geht das
Buch leider nicht ein. Die heutigen Antidepressiva wurden in den 50er Jahren zufällig
entdeckt und liegen in zwei grundsätzlichen
Stoffgruppen vor (Imipramin und Iproniazid),
welche zu einer Anreicherung der Monoamine
in den Synapsen führen.
Die anschliessenden Psychotherapien
haben das Ziel, die Einstellung eines Menschen zu sich selbst zu verändern. Es ist ihnen
gemeinsam, dass sie die Selbstabwertung
depressiver Menschen mildern und die kompensatorische Selbstüberforderung beseitigen
wollen. Die kognitive Psychotherapie versucht
die Denkmuster des Patienten zu beeinflussen.
Die interpersonelle Psychotherapie behandelt
seine zwischenmenschliche Einstellung und
die psychoanalytisch orientierte Therapie geht
auf die lebensgeschichtlich entwickelten Haltungen wie Angst, Ärger und Enttäuschungen
ein. Die Aktivierungstherapien beinhalten
etwa Musik- Physio- und Ergotherapien.
Bei Therapieresistenz diskutiert der Autor
weitere biologische Möglichkeiten wie die
medizinische Behandlung von somatischen
oder psychiatrischen Begleiterkrankungen,
Wechsel, Koordination oder höhere Dosierung
des Antidepressivums, Beigabe von Lithium
oder Schilddrüsenhormonen, Schlafentzug
und Lichttherapien oder Elektrokrampfbehandlungen. Weiter kommen Klinikaufenthalte als Milieuveränderung sowie Paar- und
Familientherapien zum Einsatz. Stationäre
Behandlungen mit dem Vorteil der klinischen
Bündelung der verschiedenen Massnahmen
empfiehlt Hell nur bei drohender Suizidgefahr
oder Überlastung der Angehörigen.
Abschliessend möchte ich den Autor
zitieren mit einer Empfehlung, die er für den
Schwerpunktthema
Umgang mit depressiven Menschen abgibt:
«Feindselige Reaktionen wie auch Appelle an
den Willen wirken sich auf schwer depressive
Menschen belastend aus, ebenso wie gut gemeinte, aber unechte Trostworte oder allzu deutliche
Mitleidsbekundungen. Wichtig ist, dass die
depressiv Erkrankten verlässliche Zuwendung
bekommen, auch wenn sie völlig gleichgültig
oder ablehnend darauf reagieren.»
Um die orale Prävention und die dentale
Kooperation depressiver Patienten nicht zu
verlieren, wäre dieser Ratschlag auch von uns
wohl zu befolgen.
W. Baumgartner
Prof. Dr. Daniel Hell
*18. Juli 1944
1971 Med. Staatsexamen in Zürich Promotion zum Dr. med.
Assistenzarzt u.a. bei Prof. A. Uchtenhagen, Prof. Battegay, Prof. Ernst
1991 Ord. Professor für klinische Psychiatrie an der Universität Zürich
Seit 1991 Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK)
Buchautor: neben dem besprochenen Buch
Seelenhunger – der fühlende Mensch und die Wissenschaft vom Leben.
Hans Huber Verlag Bern, 2. Auflage 2003
Aufschwung für die Seele. Wege innerer Befreiung. Verlag Herder Freiburg i. Br.,
6. Auflage 2006
Die Sprache der Seele verstehen – die Wüstenväter als Therapeuten.
Herder-Verlag Freiburg i. Br., 7. Auflage 2006
Leben als Geschenk und Antwort. Weisheiten der Wüstenväter.
Herder-Verlag Freiburg i. Br., 2005
Arbeitsgebiete/Schwerpunkte in Forschung und Lehre
• Sterbehilfe
• Zwangsmassnahmen in der Medizin
• Ethik und Psychiatrie/Psychologie
• Ethische essentials, z.B. Autonomiefrage
Die Erforschung der Depression führte Daniel Hell zu den Wüstenvätern. «In der Art, wie
diese Eremiten mit der spirituellen oder depressiven Blockade umgingen, nahmen sie bereits
Freuds Theorie und die gesamte kognitive Psychotherapie vorweg»
Ab Januar 2009, nach seiner Pensionierung, wird er in der Privatklinik Hohenegg, weiterwirken.
St.G.
PART­icipation
06.08
19
Schwerpunktthema
Prägraduale Ausbildung in der
mobilen Zahnklinik
Oswald J, Sauter M, Nitschke I
Die Ausbildung in der Gerostomatologie
sieht an der Universität Zürich unter anderem
auch vor, dass die Studierenden am Ende ihres
4. Studienjahrs in der mobilen Zahnklinik,
dem mobiDent™, hospitieren. Das mobiDent™
ist ein Projekt des Vereins zur Förderung der
Alters- und Behindertenzahnmedizin, altaDent, und der Klinik für Alters- und Behindertenzahnmedizin der Universität Zürich.
Vor 11 Jahren ist die Idee einer mobilen Zahnklinik entstanden und realisiert worden.
Seit einigen Jahren ist sie mittlerweile zu
einem wichtigen Bestandteil der studentischen
Ausbildung in Zürich geworden und erfreut
sich einer grossen Beliebtheit innerhalb der
Studentenschaft. Auch die Pflegeeinrichtungen
im Kanton Zürich zeigen zunehmend Interesse
an diesem Projekt und nutzen das Angebot des
mobiDent™. Im Jahr 2007 haben zwei Pflegeeinrichtungen die Gelegenheit genutzt und
bei ihrer Inbetriebnahme das mobiDent™ von
Anfang an in den festen Jahresplan eingebaut.
Mittlerweile werden 16 Alters-, Pflege- und
Behindertenheime regelmässig von der mobilen Zahnklinik besucht.
Nach Anmeldung der Patienten seitens
der Institutionen wird der zeitliche Ablauf
geplant. Für einen mobiDent™ Einsatz werden pro Heim zwei aufeinanderfolgende
Tage benötigt. Am ersten Tag trifft sich das
mobiDent™ Team (Abb.1), bestehend aus
zwei bis drei Zahnärzten, einer Dentalassistentin und vier Zahnmedizinstudenten im
letzten Ausbildungsjahr, zur gemeinsamen
Abfahrt. Bei Ankunft im Heim baut das
Team innerhalb einer Stunde die mobile
Zahnklinik auf (Abb. 2), die im Lastwagen
transportiert wird (Abb. 3). Diese besteht aus
drei Behandlungsstühlen mit dazugehöriger
Einheit, einem mobilen Röntgengerät, zwei
Geräten zur Sterilisation vor Ort, einem
Administrationsbereich sowie zahnärztlichem
Instrumentarium und diversen Verbrauchsmaterialien (Abb. 4). Die Studierenden
packen dabei richtig kräftig mit an und sind
oft verwundert wie schnell aus einem Fernseh-Zimmer ein gut ausgestatteter zahnärztlicher Behandlungsraum wird. Jetzt kann der
Studierende seinen ersten Patienten untersuchen und die Therapie mit dem Assistenzarzt
besprechen. Gemeinsam werden dann die
20
PART­icipation
06.08
Patienten ihrer Gebrechlichkeit entsprechend
behandelt (Abb. 5).
Wenn möglich, wird in jedem Fall ein
Befund erhoben und eine Zahn- und/oder Prothesenreinigung durchgeführt. Zum weiteren
Behandlungsspektrum zählen konservierende
Massnahmen, Zahnextraktionen und prothetische Nachsorgen. Sind Unterfütterungen
oder Umbauten von Prothesen notwendig, so
stehen externe Zahntechniker in der jeweiligen
Umgebung des Heimes zur Verfügung. Für die
Studierenden bedeutet ihr Einsatz im mobiDent™, dass sie gefordert sind, ganz praxisnah
Entscheidungen zu treffen, diese mit einem
Assistenzzahnarzt zu besprechen und dann
auch zu sehen, ob die Therapieentscheidung
sich umsetzen lässt. Der Unterschied zwischen
dem objektiven theoretischen und dem objektiven relativierten Behandlungsbedarf, der bis
dahin nur in den Vorlesungen abgehandelt
wurde, erfüllt sich nun mit Leben und wird
dadurch praktisch jedem Studierenden vor
Augen geführt.
Da ein Einsatz meistens zwei Tage in Anspruch nimmt, bleiben die Geräte über Nacht
vor Ort und werden erst nach Beendigung
der Behandlungen am zweiten Tag vom Team
wieder abgebaut. Die logistische Struktur,
die über die Jahre im mobiDent™ entwickelt
wurde, ist für die Studierenden nun transparent, da sie für zwei Einsätze Teil dieser Struktur sein konnten.
Der Studierende lernt, dass das mobiDent™
sowohl Vorteile für die Heimbewohner als
auch für die Institutionen selbst bietet. Die
Behandlung findet in vertrauter Umgebung
und meist in Anwesenheit von Bezugspersonen
statt. Dies trägt dazu bei, dass eventuelle
Ängste reduziert werden. Seitens der Heime
entfallen aufwändige Transport- und Begleitkosten. Ausserdem ist der Informationsaustausch zwischen Zahnarzt und Pflegepersonal
beschleunigt und daher erleichtert. Somit
sammeln die Studierenden während ihrer
Hospitationszeit nicht nur die Erfahrung,
Therapieentscheidungen praktisch umzusetzen, sondern bekommen auch einen Eindruck
wie mobile Zahnmedizin funktionieren kann.
Die Hemmschwelle, in einer Pflegeeinrichtung
zahnärztlich tätig zu werden, wird durch die
Erfahrungen bei der Hospitation im mobiDent™ geringer. Auch können erste Kenntnisse
gesammelt werden, was wirklich notwendig
ist, um sich mobil auszustatten. Die meisten
Studierenden beurteilen die Hospitation mit
der praktischen Tätigkeit positiv und haben
ihre Eindrücke in Tabelle 1 beschrieben.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die
Integration einer Hospitation für die Studierenden in den Tagesablauf der mobilen Zahnklinik erfolgreich stattgefunden hat. Diese
Hospitation mit ihren praktischen Aspekten
rundet neben der theoretischen Ausbildung,
der Hospitation in der Klinik für Alters- und
Behindertenzahnmedizin sowie der im WaidSpital als dritter Hospitationsort die prägraduale Ausbildung im Bereich der Seniorenzahnmedizin an der Universität Zürich ab.
Adresse:
Klinik für Kaufunktionsstörungen,
abnehmbare Rekonstruktionen,
Alters- und Behindertenzahnmedizin
Zentrum für Zahn-, Mund- und
Kieferheilkunde
Plattenstrasse 11, CH-8032 Zürich
Schwerpunktthema
Tabelle 1: Eindrücke der Studierenden des 5. Studienjahres aus der
Hospitation im mobiDent™
Positive Eindrücke
• Zahnmedizinische Tätigkeit ausüben, fernab vom Studentenkurs
• Sieht die Realität der Mundhygiene in solchen Heimen, mangelnde Pflege
• Es war immer ein tolles Erlebnis mit einem aufgestellten KAB-Team!
• Praktisch zahnmedizinisch tätig sein
• Herantasten und unter Aufsicht «behandeln dürfen» bei kranken und dementen Patienten
• Einblick, wie die Pflege von alten Menschen in unserem Land organisiert ist
• Toller Tag zusammen mit aufgestellten Leuten
• Abschätzen, was ist unbedingt nötig, was kann man bleiben lassen, was in der Praxis
unbedingt behandelt werden musste
• Arrangieren eines Arbeitsfeldes in kurzer Zeit
• Kennenlernen einer gut funktionierenden, mobilen Zahnarzt-Einsatzes
• Selbständiges zügiges Arbeiten
• Arbeiten die man sonst nicht zwingenderweise macht
• Mit Ass/OA zusammen behandeln können:
Unterfütterung
Füllungen an 6 Zähnen
Arbeiten mit behinderten/dementen Patienten
Extraktionen von Wurzelresten und Zähnen an einem Patienten
• Möglichkeit der praktischen Tätigkeit unter realen Bedingungen
• Erkennen der Schwierigkeiten in der Behandlungsplanung bei grosser Diskrepanz
zwischen der subjektiven Zufriedenheit der Patienten und dem objektiven
Behandlungsbedarf
Negative Eindrücke
• Apparaturen nicht immer optimal für anfallende Behandlungen
• Equipement: Sauger saugte schwach, Patienten-Stuhl kippt wenn man an Hebel kommt,
mangelhaftes Licht
• Alles sehr aufwändig
• Zustand von oraler Gesundheit von palliativen Patienten war z. T. sehr belastend
• Ein Tag an der Uni verpasst – mühsames Nachholen und Organisieren
Abb. 2: Ausladen des Lastwagens für den
Aufbau, alle Teammitglieder packen mit an.
Abb. 5: Behandlung eines Patienten im
Sozialraum der Pflegeeinrichtung.
Abb.1: Das mobiDent™­Team mit der Leiterin
des mobiDent™ Dr. Marion Sauter (Klinik
für Alters­ und Behindertenzahnmedizin KAB)
(von rechts), vier Studierende, Zahnarzt Jochen
Oswald (KAB), Dentalassistentin Jeannine
Baumann (KAB), Besucherin Zahnärztin
Manuela Laass.
Abb. 3: Im mobiDent™­Lastwagen wird die
gesamte Ausstattung der mobilen Zahnklinik zu
den Einrichtungen transportiert.
Abb. 4: Aufbau beendet, 3 Behandlungsstühle stehen
den Studierenden und den Assistenzzahnärzten zur
Verfügung.
PART­icipation
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21
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Schwerpunktthema
BIS(S) ZUM ENDE
Special Care in der Zahnmedizin.
17. Jahrestagung der SGZBB. 15. Mai 2008
im Inselspital Bern, Auditorium Ettore Rossi
Ludwig Hasler
Diese morgendliche Stunde hat es in
sich. Leibhaftig sind wir da, unsere Sinne
schon wach. Die Vernunft aber reibt sich
erst den Schlaf aus den Augen. Bis sie ihre
volle Kontrollmacht erreicht, dauert es noch
eine Weile. Die Frist will ich nutzen – für
ein paar Überlegungen, die nicht schlackenlos auf Correctness achten. Der Schlaf der
Vernunft gebiert ja nicht – wie bei Böcklin
– lauter Ungeheuer, er macht auch manch
heiterer Einsicht Platz.
Gerade zum Thema «Special Care». Bis(s)
zum Ende. Die Alten und ihre Zähne. Das
Alter, eine Verlustgeschichte. Wobei der
übelste Verlust nicht am Gebiss droht, nicht
am Kniegelenk, an Muskelkraft. Prekärer ist
der Verlust an Zeit. Die Zukunft schliesst.
Richtig Alte haben nichts mehr vor. Deshalb
nehmen sie sich so vieles vor: Walking-Kurs,
schönere Zähne, mit dem Zug kreuz und
quer durchs Land... Alles gut. Doch nichts
wird gut. Das Alter, mit dem Sie sich berufshalber beschäftigen, hat – im Kern – ein
Problem mit der Zeit. «Die Zeit, die ist ein
sonderbar Ding», singt die Marschallin im
«Rosenkavalier». «Wenn man so hinlebt, ist
sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal,
da spürt man nichts als sie. Sie ist um uns
herum, und sie ist in uns drinnen.» Die
Zeit und das Alter. Nie zuvor ist die Zeit so
aufdringlich da – weil bald keine Zeit mehr
da sein wird. Die Zukunft schrumpft. Die
Kräfte schwinden. Der berüchtigte Zahn der
Zeit. Er nagt sogar an sich selbst.
Da sind nun Sie gefragt, verehrte Profis
der Special-Care-Zahnmedizin. Ihre Seniorenpatienten erwarten eine Behandlung,
als hätten sie noch jede Menge vor sich. Als
gäbe es – bis 100 und darüber hinaus – pausenlos zu beissen, zu kauen, zu verdauen.
Ja, was denn? Wozu denn? Müssen meine
Zähne unbedingt meinen Geist überleben?
Billy Wilder, der grosse Regisseur, erzählte,
als er grad 90 wurde, einen glänzend unkorrekten Witz: «Ein Mann geht zum Arzt.
– Der Arzt: Was fehlt Ihnen? – Ich kann
nicht mehr pinkeln. – Arzt: Wie alt sind Sie?
– 90. – Dann haben Sie genug gepinkelt.» So
dürfen nur 90-jährige selber reden. Jedenfalls
nicht ihre Ärzte, nicht ihre Zahnärztinnen.
Dann schon eher mit Artur Rubinstein,
dem genialen Pianisten. Auf die Frage,
wie er es schaffe, noch mit 85 so herausragende Konzerte hinzulegen, nannte er drei
Gründe: 1. spiele er weniger Stücke – die
Kunst, sich zu beschränken. 2. übe er diese
wenigen Stücke umso intensiver – die Kunst
zu optimieren. 3. spiele er langsame Sätze
so langsam, dass dann die schnellen viel
schneller wirkten, als er sie spielen könne
– die Kunst, Schwächen zu kompensieren.
Ein sagenhaftes Altersrezept: Weniger, dafür
intensiver, Ausfälle listig überspielend. Liesse
sich tel quel übertragen auf den Gebrauch
des Gebisses: Weniger Zähne, die aber
gezielt einsetzen; langsamer kauen, dafür den
Geschmack der einzelnen Speise wahrnehmen. Genuss statt Tempo. Aus der Not eine
Tugend machen.
Aber das scheint ein Rezept für Pianisten
zu bleiben. Die meisten Kunden im Seniorenalter suchen eher den Schein der Intaktheit.
Worüber Sie nicht unglücklich sein werden.
Die Dentalmedizin steckt ja ein bisschen in
der Zwickmühle. Einerseits, lese ich, gibt
es «Zahnärzte im Überfluss» (TA, 13. 2.
2008), seit die bilateralen Verträge in Kraft
sind und Zahnärzte aus der EU hier beliebig
praktizieren dürfen. Anderseits haben die
Leute, dank Ihren Bemühungen, entsetzlich
gesunde Zähne; um 90 Prozent soll Karies
seit den 60er Jahren geschwunden sein. Und
ein kariesfreies Gebiss braucht nicht Krone,
nicht Wurzelbehandlung, nicht Implantat...
Leicht brenzlig, die Situation. Anschwellende
Konkurrenz & schrumpfendes Kundenvolumen. Hart am Worst Case. Übler dran sind
nur noch die Kirchen: leere Gotteshäuser &
jede Menge esoterische Konkurrenz. Was ist
in so einem Krisenfall zu tun? Ganz einfach:
Man sucht neue Geschäftsfelder – und findet: 1. Dentalästhetik, 2. Special Care.
Natürlich sind alte Leute mit Zahnproblemen real. Die erfinden Sie nicht. Sie nehmen sich ihrer Probleme an, edel. Probleme
gehören zum Erdenleben. Wann aber ein
Problem «normal» ist, wann es entproblematisiert werden muss, dies ist Definitionssache. Auch in der Sozialpolitik: Was zählt
zum Existenzminimum? Ein Fernseher?
Darüber hätten wir vor 20 Jahren gelacht.
Heute ist das selbstverständlich. Wenn
Fernsehen ein Menschenrecht ist, dann hoffentlich auch ein brauchbares Gebiss. Wer
aber definiert die Brauchbarkeit? Sie. Wer
sonst? Die Branche bestimmt die Standards.
Heute werden Sie über die 80/20-Norm diskutieren. Mit 80 noch mindesten 20 Zähne.
Famos und – wie jede Normierung – ambivalent. Ich stelle mir vor: Ich im Altersheim,
87, heiter vertrottelt, bemüht um eine
82-Jährigen. Die findet mich gar nicht übel,
doch sie will, bevor sie schwach wird, erst
meine Zähne zählen. So funktioniert die
Macht des Normativen.
An dieser Macht wirken Sie mit. Sie definieren, was «normal», was «nötig» ist – fürs
Kauen, fürs Sprechen, fürs Lächeln. Also
kurieren Sie nicht bloss – Sie modellieren mit
am neuen Menschenbild. Auf der Webseite
der «Initiative pro Dente» lese ich: «Mund
und Zähne sind ein wichtiger Teil des Selbstbildes mit hoher sozialer Signalwirkung.
Wichtige Funktionen wie eine deutliche
Aussprache und die Nahrungsaufnahme
hängen wesentlich vom Zustand der Zähne
ab. Zwischenmenschliche Kontakte, Lächeln
und gemeinsame Mahlzeiten können nur
genussvoll und als Lebensgewinn erlebt werden, wenn sich der ältere und alte Mensch
nicht schämen muss, weil der Zustand seiner
Zähne desolat ist, das Essen Schwierigkeiten
bereitet oder er das Gefühl hat, dass er andere durch Mundgeruch belästigt...»
Lauter wahre Sätze. Fragt sich bloss noch:
Beurteilen Sie den Zustand der Zähne weniger nach ihrer Gesundheit, mehr nach ihrer
«soziale Signalwirkung»: dann wecken Sie
völlig neue Bedürfnisse – und wandeln sich
von Zahnärzten zu Dentalsozialingenieuren.
Da, wo ich wohne, an der berüchtigten
Zürcher Goldküste, gilt schon 90/28. Wer
es sich leisten kann, will das Maximum.
PART­icipation
06.08
23
Schwerpunktthema
Und Sie, die Zahnärzte, werden das nicht
abwinken – als törichte Endlichkeitsflucht
oder so. Auch wenn Sie unbegüterte Alte
in der Praxis haben, mit Parodontose und
Totalprothesen: Stilbildend sind die andern,
die es sich leisten können und wollen. So war
es und so bleibt es wohl in der Geschichte:
die sogenannten Eliten setzen die Standards
– und alle andern setzen nach.
Zumal die Dentalstandards nicht abzulösen sind von den allgemeinen Humanstandards im Alter. Und da gilt heute, frei nach
Udo Jürgens: Mit 66 wird das Leben erst
so richtig lustig, mit Weltreisen, über Pässe
pedalen, Golf spielen. Dummerweise sah
der Schöpfer das so nicht voraus, weshalb
wir klapprig werden, lange bevor unsere
Unternehmenslust erlahmt. Ein dummer
Zwiespalt, den nur Medizin kitten kann.
Kitten muss. Der aktuelle Mensch in seinem
Selbstverwirklichungspathos versteht da keinen Spass. Das Schicksal, eine Frechheit. Die
Intaktheit von Haut und Haar und Zahn,
ein Menschenrecht. Lässt sich der Zahn der
Zeit schon nicht ziehen, soll er wenigstens
unsichtbar nagen. So verwandelt sich Medizin von der Kunst zu heilen zur Generalagentur für Glück und Lebenssinn. Dass das
teuer wird, ist dabei nur das eine Problem.
Die Biologie ist keine Freundin des Alters;
sie investiert in die Jugend, schiebt die Alten
ab. Religion wiederum, traditionell zuständig für Kompensation, zieht auch nicht
mehr. Himmelsfreuden als Entschädigung
fürs Rackerleben? Nein, danke. Also muss
Medizin es richten: als Agentur für irdische
Aufenthaltsverlängerung. Schafft sie das?
Den Tod austricksen wollten Menschen, seit
es den Tod gibt. Erfolgsmeldungen sind eher
rar. Ernüchternd schon der Fall des altgriechischen Jünglings Tithonos: Auf Betreiben
seiner Gattin Eos gewährten ihm die Götter
das ewige Leben. Der nunmehr Unsterbliche
schrumpfte aber mit der Zeit dermassen
zusammen, dass er in eine Zikade verwandelt
werden musste, um ein halbwegs würdiges
Seniorendasein zu fristen. Über den Zustand
seiner Zähne schweigt die Überlieferung
taktvoll. Es war, bis noch vor kurzem, sowieso normal, sich mehr oder weniger zahnlos
durchs Leben zu schleppen. Goethe genierte
sich Zeit seines Lebens wegen seiner Zahnlücke vorne rechts. Carl Friedrich Gauss, dem
Mathematikgenie, zog der Bader
aus Versehen erst ein
paar gesunde Zähne,
bevor die entzündeten dran kamen. Die
Braut Johann Gottlob
Fichtes (ein Grossphilosoph zwischen
Kant und Hegel)
24
PART­icipation
06.08
war bereits bei der Hochzeit komplett ohne
Zähne. Thomas Mann, der Grossdichter,
lebte in panischer Angst vor dem Ausfall
seiner Zähne; lesen Sie seinen Roman «Buddenbrocks», da nimmt die illustre Lübecker
Unternehmer-Dynastie ein schlimmes
Ende, weil der letzte Spross, der die Firma
noch im Griff hatte, an untherapierbaren
Zahnproblemen stirbt... War alles übel und
schmerzlich, aber halbwegs normal, und
was als normal gilt, das nimmt der Mensch
hin, mal mehr, mal minder klaglos, lehnt
sich nicht auf gegen Schicksale, die er nicht
wenden kann.
Heute gilt – in unserer Wellness-Gesellschaft – als normal, dass Medizin uns die
Übel der Vergänglichkeit erspart. Ein sagenhafter Fortschritt. Im Prinzip. Konkret werden wir trotzdem nicht viel glücklicher. Das
liegt an der Ambivalenz des Fortschrittes.
Kein Fortschritt ohne Pferdefuss. Zunächst
objektiv: Jede Verbesserung zeitigt irgendwo
unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Banales
Beispiel: Die raffinierten Zahnpasten, die
unsere Kinder vor Karies schützen, neigen
dazu, im Mundwinkel oder unter der Achsel
so lästige hässliche Ekzeme zu produzieren;
es liegt an den feinen Geschmacksstoffen, an
den Detergenzien, die so prachtvoll schäumen lassen. So dass wir, als kariesbefreitestes
aller Völker, gar nicht mehr auf die Strasse
gehen, wegen der Ekzeme. Noch folgenreicher wirkt die zweite Ambivalenz des Fortschritts, die subjektive. Die geht so: Je tüchtiger uns Medizin die Übel entübelt, desto
unerträglicher erscheinen uns die Restübel,
die bleiben. Früher raffte die Schwindsucht
die Leute dahin, heute brechen wir ein unter
dem Bisschen Pollenallergie. Früher faulten
den Leuten die Zähne, heute – mit gesunden
Zähnen – droht die Existenzkrise, wenn ein
Zahn nicht mehr blendend weiss ist.
Ich übertreibe. Hoffe ich zumindest.
Vielleicht wird das alles schon bald obsolet. Im Internet lese ich: «Neue Zähne
zu bekommen, soll in Zukunft nicht nur
Kindern vorbehalten sein. US-Forscher in
Texas entwickeln ein Verfahren, das selbst
im hohen Alter Zähne nachwachsen lässt:
Man stopft die Löcher mit biotechnischem
Material – und der Zahn regeneriert sich von
innen selber.»
Bis das so weit ist, wird hart an der Perfektionierung des Gebisses gearbeitet. Schon
bei den Kindern. Zahnspangen, für Generationen von Teenagern ein Alptraum, sind
heute normal, für rund zwei Drittel aller
Jugendlichen Alltag. Mehr noch, sie avancieren zum begehrten modischen Accessoire.
Klicken Sie mal ein Zahnspangen-Forum im
Internet an: «Hy! Ich hätte gerne eine festsitzende Zahnspange, aber bekomme keine,
weil ich gerade Zähne habe. Wenn ihr eine
Lösung auf dieses Problem habt, mailt mir
bitte.»
Woher die neue Liebe zur einstigen
Genierkette? Es liegt zumindest auch an
den Idolen. Immer mehr Stars zeigen sich
mit Gebissregulatoren: Strahlemann Tom
Cruise, Altersschönheit Faye Dunaway, Topmodel Cindy Crawford gehören zur wachsenden Schar von Prominenten, die sich mit
gut sichtbarem Metall im Mund ablichten
liessen. Für diese Leute kann ein perfektes
Lächeln tatsächlich karriereentscheidend
sein. Und offensichtlich reicht dafür das simple Bleichen mit Wasserstoffperoxid oder das
Aufkleben von hauchdünnen Zahnfassaden
nicht mehr. Was die Stars tun, das wollen
auch die, die sie anhimmeln. Weshalb in den
USA die Entwicklung zur rein kosmetisch
motivierten Kieferchirurgie schon ausgeprägt
sei, der Trend zum «flachen Gesicht», sagen
Fachleute – und sind besorgt. Weil eine
nicht an medizinischen Massgaben orientierte Behandlung oft erst gesundheitliche
Probleme erzeuge.
Davon verstehe ich nichts. Mich irritiert die neue Hierarchie der Werte. Die
akkurate Geometrie im Mund wird Pflicht
– wie es im Kopf sonst aussieht, wird Kürz.
Zahnspangen sind jeden Preis wert, auch
wenn es für ein Buch nicht mehr reicht.
Doof darf man sein, langweilig, fantasielos, spiessig auch – doch ein kaum sichtbar
schräger Zahn, und das Leben ist futsch.
Damit imprägniert man die Jungen auf die
Vorherrschaft der Kosmetik. Und die Götter der Jugend bleiben Götter, auch wenn
inzwischen an anderen Altären geopfert
wird. Immer häufiger trifft man auf feineren
Diners ältere Leute, die dauernd ihre Zähne
blecken; mehr haben sie nicht zu bieten, keinen Geist, keinen Humor, keine spannenden
Geschichten – aber Zähne, perlweiss, super
gereiht!
Schwerpunktthema
Leider passen die – apropos «Signalwirkung» – zu gar nichts. Nicht zu den abgelöschten Augen, nicht zur Haltung. Also
wenn schon Ästhetik statt Medizin, dann
sollte man ein bisschen was von Ästhetik
verstehen. Und sei es nur die alt gediente
These: Schönheit hat etwas zu tun mit
Harmonie von Sein und Schein. Die äussere
Erscheinung als Spiegel des inneren Seins.
Das Innenleben im Alter muss nicht gleich
weise sein, aber es hat halt mehr hinter sich,
in sich, die vielen Jahre Rackerei, die Ausschweifungen, die Enttäuschungen. Darf
man dies nicht sehen? Je älter der Baum,
umso zerfurchter seine Rinde. Je älter der
Mensch, umso zerfalteter seine Haut. In den
Falten nistet Lebenserfahrung. Oder wollen wir noch mit 80 wie Teenies aussehen:
glatte Haut, schwarze Haare, weisse Zähne
– alles künstlich? Wie Gustav Aschenbach in
Thomas Manns «Tod in Venedig», der alte
Geck, der sich schminkt, die Haare färbt.
Das wirkt nicht nur lächerlich, es riecht auch
mehr nach Tod als das zerfurchteste Gesicht,
die vergilbtesten Zähne.
Gleichzeitig ist es Tatsache: Manche
70-jährige Frau denkt, empfindet, handelt
heute jünger als bis vor kurzem 50-Jährige.
Sollte sie dann nicht auch aussehen, wie sie
ist – gemäss traditioneller Ästhetik? Die will,
dass Innen und Aussen zueinander passen.
Kaum gebremste Lebensenergie jedoch –
und ein abgekämpftes Gebiss, das reimt sich
nicht. Die Kluft zwischen lebhaftem Innen
und abgelebtem Äussern zu mindern, dazu,
finde ich, ist ästhetische Medizin okay. Sozusagen als Konsequenz der Fortschritte der
medizinischen Medizin: Da die unser Leben
in die Länge zieht, soll sie uns gefälligst auch
davor bewahren, das halbe Leben wie zerfurchte Greise herumlaufen zu müssen.
Da spielt die «soziale Signalwirkung»
durchaus ihre Rolle. In einer dynamischen
Welt, die sich immer schneller wandelt, müssen auch wir uns immer häufiger wandeln,
also erneuern, verjüngen – beruflich wie
privat. Sonst werden wir geschäftlich abgehängt, gesellschaftlich sitzen gelassen. Es
wird immer heikler, mit nur einer Identität
über die Runden zu kommen. Wir müssen
– z.B. bei Technologie-Schüben – unser Ich
in eine neue Verfassung bringen. Und diese
periodische Ich-Erneuerung fällt leichter,
wenn wir die äussere Erscheinung gleich mit
auffrischen können.
sieht, sondern auch die Chance zum Produktiven. Harald Schmidt, der erträglichste
aller TV-Nervensägen, sagt: «Hätte ich keine
Pickel gehabt, hätte ich nie gelernt, Witze
zu reissen.» So wird ein Nachteil produktiv.
Adrette Typen mit rosiger Haut, Lockenpracht und Idealzähnen haben alles, um die
Frauen anzuziehen. Wir andern, mit Haarausfall und suboptimalem Gebiss, müssen
uns anstrengen, müssen Witz entwickeln,
Humor, Geist, Charme, damit eine Frau uns
nur bemerkt. So entwickeln wir uns selbst,
leben plötzlich erfolgreicher als die angeblich Perfekten. Der Mangel als biografischer
Standortvorteil.
Damit lässt es sich auch besser altern.
Wer nur auf schöne Zähne fixiert ist, beisst
sich fest an der Endlichkeit.
Es ist somit nicht allein der infantile
Jugendwahn, der den Trend zur kosmetisch
motivierten (Zahn-)Medizin beschleunigt.
Auch respektable Beweggründe wirken mit,
individuelle wie gesellschaftliche. Massgeblich für mich ist die Frage: Zielen kosmetisch-medizinische Eingriffe auf Anpassung
des Äussern ans Innere – oder betreiben sie
umgekehrt Übertünchung der Altersschwäche?
Diese Unterscheidung kann souverän
nur treffen, wer in Schwächen, Defekten
nicht nur das Negative, etwas zu Behebendes
Special Care
Ludwig Hasler
*1945. Dr. phil., Studium der Philosophie,
Publizist und Buchautor. Ehemaliger stv.
Chefredaktor der Weltwoche und Dozent für
Philosophie und Medientheorie an den Universitäten Zürich und St. Gallen
Um es vorwegzunehmen: Es war etwas
vom Farbigsten, Perfektesten, was wir an
einer SGZBB-Tagung je erleben durften.
Hasler hat uns auf eindrücklichste und
angenehmste Weise im Überschalltempo
den Schlaf aus den Augen gerieben. Ein Preludio molto vivace. Katsoulis, Kummer und
Mericske sei herzlich gedankt für diesen
phänomenalen Fischzug. Darum habe ich
mich auch glücklich geschätzt, nach dem
Referat ein paar Worte mit Herrn Hasler
wechseln zu dürfen: Herr Hasler, Sie sehen
mich blass vor Neid, Blassheit, die nicht
nur von der angezechten Vortagsnacht her
stammt, mit welcher Maestria Sie in kurzer
Zeit eine solch stringente Analyse des Alters so
brillant an den Zuhörer zu bringen vermochten, was uns Zahnärzten während eines langen
Berufslebens so nie zu gelingen vermag.
Bestechend seine Aphorismen, Bonmots,
ironischen Seitenhiebe, sein Skeptizismus auf
unser – aber auch auf sein eigenes – Selbstverständnis. Was jetzt folgt, soll nicht als
Kritik verstanden werden, sondern die special care aus einer anderen Warte, nämlich
der unseren (?) beleuchten.
«Das Alter sei eine Verlustgeschichte, vor
allem an der Zeit» meinen Sie. Dem möchte
ich ein Wort von Goethe gegenüberstellen,
sinngemäss transkribiert: das Schlimmste
am Alter sei es, nicht mehr von Gleichaltrigen beurteilt werden zu können. Alter ist
keine von der special care zu behandelnde
Erkrankung. Alter ist ein aus der Biographie herausgerissener Lebensabschnitt, der
für sich alleine gesehen keinen Sinn ergibt,
genauso wenig wie die ersten Lebensjahre
eines Individuums nicht aus dem Kontext
eines ganzen Lebens ausgesondert werden
können. (Kann der Säugling von Gleichaltrigen beurteilt werden?). Säuglingsalter und
Greisenalter sind per se kein Problem. Für
PART­icipation
06.08
25
Schwerpunktthema
uns Zahnärzte der SGZBB erst recht nicht.
Die Probleme erscheinen erst, wenn sich zu
jedem Lebensabschnitt eine für uns, scheinbare, zumeist unverschuldete, Abweichung
geistiger (kognitiver) Möglichkeiten, gesellt.
Wir schaffen uns diese Simulacra (Trugbilder, Blendwerk, Schein) selber, um in
unserem jeweiligen Lebensabschnitt bestehen
zu können. Wir erhoffen uns davon einen
eigenen Vorteil. Special care, kann und soll
weder auf der Seite des Betroffenen noch auf
der Seite des Behandlers Bedürfnisse wecken.
Wir leben in einem Zeitalter der Simulation, meint Jean Baudrillard. Wir lassen es
bewusst an Bezügen zum Realen Rationalen
fehlen. Wir wollen durch Produktion von
Simulacra der Schnelligkeit der Erneuerung
ausweichen (Paul Virilio).
Herr Hasler, Sie haben einen wunderbaren Satz geprägt, indem Sie Bezug nehmen
auf eine anatomische Unvollkommenheit
eines Menschen; Er bemühe sich, entwickle
Strategien, um seine Unvollkommenheit durch
andere Fähigkeiten zu ergänzen. Der perfekte
Mensch entwickle sie nicht. Der Mangel sei
die Wurzel dieser Überlebensstrategie. Der
Mangel müsse wieder ernst genommen werden.
Das hat mich überzeugt, und wie ich Ihnen
versichert habe, hat diese Aussage allein auch
unserer special care Sinn gegeben. Darf ich
den vermeintlichen Mangel unserem homme
en progrès unterstellen? Was anatomisch als
Mangel leicht verifizierbar ist, interessiert
26
PART­icipation
06.08
uns an dieser Stelle nicht. Was aber kognitiv
als Mangel bezeichnet werden könnte, können wir nur erahnen und als Antagonismus
zu unserem Wissen höchstens approximativ
taxieren. Grubacevic bezeichnet diesen
«Mangel», den ich eher als unser Unvermögen einer Erfassungsmöglichkeit benennen
möchte, als apraktisches Wissen, welches
dem geistig Behinderten oder eben – wie
wir uns bemühen ihn zu benennen – dem
homme en progrès (siehe auch PART­icipation, A. Jollien, G. Grubacevic und St. Gottet)
innewohnt. Den Menschen mit diesem
apraktischen Wissen an unseren medizinischen Handlungen teilnehmen zu lassen,
das möchte ich als special care bezeichnen.
Dieser scheinbare Mangel fordert uns heraus,
rechtfertigt vielleicht unser Tun. Vielleicht?
Ein banaler Vergleich: Sie, Herr Hasler,
haben in Ihrer Jugendzeit als Ministrant
20 Rappen pro Messe verdient. Wahrscheinlich an einem barocken Altar, weihrauchfassschwingend, wie Sie es auszudrücken belieben. Quasi im Epizentrum der geistlichen
und vielleicht sogar geistigen Simulation. Ich
war damals, etwa im gleichen Alter, bereits
auf grösserer Distanz. Ich versuchte auf der
Empore, um sieben Uhr in der Früh, dem
Orgelspiel bei der Totenmesse einen menschlichen, meist aber quäkenden Ton beizufügen, und das auch für den damals üblichen
Einheitslohn von 20 Rappen. Mein Ziel war
der Kauf eines Zeltes. Als ich endlich die
Summe beieinander hatte, hatte ich den Sinn
meiner Handlung vergessen. Das haben Sie
uns wohl auf Ihre einzigartige Art mitteilen
wollen. Nicht Bedürfnisse zu wecken, die
kein Glück nach sich ziehen können. Hat
uns etwa diese frühkindliche Tätigkeit dazu
verleitet, das Simulakrum tradierter Werte
zu hinterfragen? Ein Trugbild, das uns gerade durch das Dissimulieren (Verschleierung)
der Akteure zu indoktrinieren versucht wor-
den ist? Ich glaube, dass das Dissimulieren
näher bei der Realität steht, leichter anzugreifen, besser zu entschleiern ist. Indem Sie
uns Zahnärzte auf den Zahn gefühlt haben,
ist Ihnen ein ganz grosser Coup gelungen.
Damit lässt es sich auch besser altern. Wer
nur auf schöne Zähne fixiert ist, beisst sich
fest an der Endlichkeit, wie Sie am Schlusse
ihres Referates bemerkten. Einer Endlichkeit, die endlich bleiben muss und nicht nur
dem Alter vorbehalten ist. Jedem Menschen,
jeden Alters. In unserer special care soll auch
für den homme en progrès in dieser realen
Endlichkeit ein Platz sein. St.G.
Vermischtes
Nachgeworfen, nicht Vorgeworfen
17. Mitgliederversammlung
der SGZBB im Auditorium Ettore Rossi des Inselspitals in Bern
Bernhard Streich, Sekretär der SGZBB 1999 – 2008
Worte, die auf Grund des allzu lauten
Knurrens der Mägen kurz vor dem Lunch
der zahlreich im weiten Rund des Auditorium Ettore Rossi / Inselspital in Bern
erschienenen Anwesenden nicht ausgesprochen wurden. Dieser bedrohlichen Situation
entzog sich der so am Sprechen verhinderte
Schreiberling, indem er seine Laudatio und
Gedanken der Intimität des PART­icipation
anvertraute und damit den scheidenden
Sekretär von der unangenehmen Pflicht des
Protokollierens dieser dürftigen Wortfetzen
entband
Nein, das war nicht sein letzter Streich,
sicherlich aber auch nicht sein bester, nämlich
den Vorstand der SGZBB zu verlassen, mag
manch noch weniger inspirierter Zeitgenosse
als der Schreibende wohl gedacht haben, als er
von dessen Demission erfahren musste.
Zum ersten Mal wurde ich mir der Tragweite seines Entschlusses bewusst, als ich vor
zwei Wochen bei schönstem Frühlingswetter
eines sehr wohlgenährten, halb glatzigen
Individuums männlichen Geblütes gewahr
wurde, das auf einem dem Ceresio (Luganersee) zugewandten Balkon auf einem glänzend roten Hometrainer sich abstrampelnd
eine Menukarte las. Menu? War das nicht
eher das Protokoll einer Tätigkeit, die sich in
den letzten neun Jahren abgespielt hatte?
Nein, vom Einsatz für die SGZBB wird
man nicht kahl und korpulent. Solche Privilegien bleiben allein einem ehemaligen
Präsidenten vorbehalten. Wenn Sie jetzt
glauben, meine Apologie an einen Freund
gehe in diesem unpoetischen Rhythmus wei-
ter, liebe Anwesende, so seid euch eures Irrtums versichert. Bernhard liebt Geschichten,
seine ganz und gar nicht alltägliche, aber
äusserst gelungene Irrfahrt können Sie dann
im nächsten PART­icipation nachlesen, aber
erst, wenn das Plazet des Gott sei Dank
noch nicht kanonisierten Sancti Bernardi
eingetroffen sein wird und Sie endlich der
Gesellschaft aller Gesellschaften, nämlich
der SGZBB, beigetreten sind.
Stichworte, für die du dich verbürgst:
geboren am 16. Juli 1945 im Salem Spital in
Bern. Mit anderthalb Jahren nach Luzern
umgezogen. Warum immer nur diese Halbheiten? Denkt denn niemand an den späteren Chronisten. Sein Vater hat es immer
sehr genau genommen. Er war Jurist. Also
nach gut zwei Jahren ist oder besser wurde
Bernhard in die schwarze Zentralschweiz
übersiedelt. Primarschule, Gymnasium
Typhus B, pardon Typus B in Luzern.
Zu dieser Zeit habe ich schon gerne
Gschichtli gelesen, aber auch Kenntnisse in
handwerklichen und technischen Bereichen
durch ausgedehnte Basteltätigkeiten erworben. Der Universalgelehrte des Barock war
mein Vorbild.
Studium: 1. Propädeutikum in Fribourg.
Danach zwei Semester mit den Fächern Geographie, Geologie, Urgeschichte, russische
Literatur und östliches Privatrecht in Zürich
und Bern.
2. Propädeutikum
1971: Zahnmedizinisches Staatsexamen
1975: Doktorat in Bern
1972: Heirat mit Elisabeth Christen aus
Hägglingen im Aargau
1973 bis 1981 gebiert sie ihm 4 Kinder,
die uns sehr viel gelehrt haben (so wörtlich
im Text)
Assistentenstellen: Kieferchirurgische
Abteilung der Zahnmedizinischen Kliniken
der Universität Bern, Privatpraxis in Bremgarten (leider nicht bei mir, von dort hat
er aber seine ihn heute noch immer unterstützende Sekretärin entführt), Klinik für
Kronen und Brückenprothetik, Zahnmedizinische Kliniken der Universität in Bern.
Seit 1975 Privatpraxis in Zug
Seit 1996 Mitglied der SGZBB (der ehemalige Präsident Peter Netzle war gut bera-
ten Bernhard an Bord der SGZBB zu holen)
Seit 1999 deren Sekretär
Das Logo der SGZBB stammt von seinem Sohn Dominik Streich, Designer
Hobbys: Familie, Haus und Garten;
wenn ich ihm telefoniere, bekomme ich
immer zur Antwort: ich will gleich schauen,
wo und mit was er gerade am «Chlöttere» ist.
Alles reparieren, auch so genannt Unwertes
(gilt auch für klinische Tätigkeit), Reisen
und Wandern, Geschichte, Lesen, zwischendurch gut leben.
Lebensphilosophie; Wir sind ein T­eil
dieser Erde (Häuptling Seattle) und nicht
die arrogante Krone der Schöpfung. Benehmen wir uns entsprechend!
Unnötigstes auf dieser Welt: Krieg
Erkenntnis: Waffen machen keinen
Krieg, es sind Menschen
Ja, wer ist denn dieser Seattle, der Häuptling der Suquamish- und Duwamish-Indianer, der 1854 dem Gouverneur der Washington Territories, Isaac J. Stevens, solch denkwürdige Sätze übermittelte?
Wie kann man den Himmel kaufen oder
verkaufen – oder die Wärme der Erde?
Wenn wir die Frische der Luft und das
Glitzern des Wassers nicht besitzen – wie
könnt Ihr sie von uns abkaufen wollen?
Und was hat das alles mit der SGZBB zu
tun?
Bernhard hat von uns allen die Idee von
Giovanni Beretta Piccoli am besten weitergesponnen, den Geist der Freundschaft
nicht nur unter uns zu pflegen, sondern ihn
tunlichst weiter zu geben, es mindestens
Regina Mericske überreicht Bernhard Streich
etwas Flüssiges
PART­icipation
06.08
2
Vermischtes
zu versuchen. Schritt für Schritt. Pas à pas.
Homo progrediens. Dem «homme en progrès» auf den Versen bleibend.
Seattle: Die Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört der Erde.
Eben haben die Erde und das Wasser wieder gemeutert. In Burma und China.
Wir gehören zum «homme en progrès»
und nicht umgekehrt. Hören wir dessen
Natur denn beben?
Die Ansprache des Seattle wurde als
gefälscht bezeichnet, von Ökologen instrumentalisiert.
Geschichten ohne Ziel und Zweck, ausser
der des gemeinsamen Schicksals? Ziel und
Zwecksuche entzweien oft, was zusammengehört, eins sein sollte.
Was uns nie entzweit hat, ist der Nektar
des Château Turcan. Gewachsen nur ein
paar Vogelschwingenschläge östlich der letzten Ruhestätte des Albert Camus. Ironie des
Schicksals: zum Lunch wurde uns heute ein
Bastide de la Verrerie, Jahrgang 2003, kredenzt, der in gleicher Distanz, aber westlich
von Lourmarin unseren Gaumen schmei-
Dr. Norbert Enkling
Der Vorstand des SGZBB (es fehlt Anna Sekulovski) Willi Baumgartner, Bernhard
Streich, Stephan Gottet, Martine Riesen, Arthur Stehrenberger, Regina Mericske
Martine Riesen
28
PART­icipation
Blumen für alle Anwesenden
06.08
Regina Mericske
chelte. Immer auf der Suche nach Gleichgewicht, nach PART­icipation, nach Harmonie
Wir entlassen dich aus dem Vorstand,
mit diesem PART­icipations-Vermittler. Wir
entlassen dich aber nicht aus dem Redaktionsteam des PART­icipation.
Bremgarten und Bern, 15. Mai 2008,
im Namen des Vorstandes und aller Anwesenden: St.G., le culterreux, der sich auch
nicht von dieser Erde trennen mag und dich
gerade deshalb und erstaunlicher-, aber nicht
bedauerlicherweise, nie aus deinem Gleichgewicht hebeln konnte.
Vermischtes
Christina Luzi bei ihrem Referat.
Proth. Rehabilitation einer Patientin
mit einer partiellen Zungenlähmung
Regina Mericske dankt Arthur Stehrenberger
Die zwei Neugewählten, Dr. Martin Schimmel,
Genève, als Mitglied der Wisko und Frau Prof.
Dr. Frauke Müller, Genève als Mitglied des
Vorstandes der SGZBB
PART­icipation
06.08
29
Vermischtes
Jahresbericht
SGZBB
Vor einem Jahr habe ich nach der Generalversammlung 2007 das Präsidium dieser
Gesellschaft übernommen. Gleichzeitig
haben wir beschlossen, dass der scheidende
Präsident offiziell Past-Präsident wird. Am
aktuellen Fall lässt sich illustrieren, wie
wichtig und sinnvoll das ist. Stephan Gottet
hat sich während vieler Jahre für unsere
Gesellschaft sehr stark engagiert, und er hat
es verstanden, wichtige Netzwerke aufzubauen und Verbindungen zu knüpfen. Sein
Wissen und seine persönlichen Kontakte
sind unschätzbar, sie bleiben uns nun mit
dieser Regelung besser erhalten und werden
weitergepflegt.
Im vergangenen Vereinsjahr hat sich der
Vorstand viermal zu einer Sitzung getroffen,
und zwar im Juni 2007 (Orta), im November 2007 (Bern), im Januar 2008 (in Bremgarten anlässlich des Aargauer Symposions)
und im März 2008 in Bern. Zudem hat die
wissenschaftliche Kommission noch separat
getagt.
Die SGZBB kann auf eine sehr interessante und erfolgreiche Jahrestagung in Basel,
– organisiert und durchgeführt durch die
Klinik von Prof. Carlo Marinello – zurückblicken; sie hat sich vor allem dem Thema
Geriatrie gewidmet. Frau Dr. Christina Luzi
war in der Organisation stark engagiert,
und wir möchten hier nochmals unseren
Dank aussprechen. Im Weiteren hat Stephan
Gottet wiederum das schon zur Tradition
gewordene Symposion in Bremgarten mit
zahlreichen Teilnehmern und namhaften
Referenten am 10. Januar 2008 durchgeführt.
Aufgaben und Geschäfte, mit denen sich
der Vorstand befasst hat oder die sich der
Vorstand vorgenommen hat:
• Aktualisieren der Homepage
• Kongress- und Jahresbudgets definieren,
damit der Kassier arbeiten kann und
weiss, woran er ist (würde ich streichen)
• Längerfristige Kongressplanungen
• Verwendungsmöglichkeiten des Vereinsvermögens definieren
• Zusammenarbeit und Kontakte mit anderen Gesellschaften
• Aufgaben der wissenschaftlichen Kommission
Zur Sprache kamen auch Themen, die
nicht abschliessend behandelt werden konnten, solche, die routinemässig diskutiert werden müssen oder neue, mit denen wir uns in
Zukunft beschäftigen müssen.
Immer wieder sehen wir die Schwierigkeit der SGZBB, sich zu positionieren und
ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden, d.h. behinderte und nicht behinderte
alte und junge Menschen zu integrieren,
sich mit Fachgesellschaften, mit denen wir
gemeinsame Berührungspunkte haben, auszutauschen oder zusammenzuarbeiten. Hier
entsteht aber auch Konkurrenz, da ja alle
Fachgesellschaften ihre eigene Jahrestagung
abhalten und die Zahnärzteschaft umwerben. Im Weiteren müssen wir den Kontakt
zu Behörden, Ämtern, Medizinern und
Organen wie der SSO suchen oder erhalten.
Den Organisatoren der Jahrestagung, in
der Regel eine Uniklinik, wird neu eine feste
Entschädigung von Fr. 2000.– ausgerichtet.
Dies ist notwendig, weil die Universität sehr
genau die Geldflüsse und Konti kennen will,
über die die Kongresseinnahmen und Ausgaben laufen, informiert sein möchte, wie
viel Zeit dafür aufgewendet wurde, ob und
wie viel Briefpapier, Versandmaterial oder
Telefonate auf Kosten einer Kongressorganisation gehen.
Darüber hinaus hat der Vorstand
beschlossen, einen Fonds zu schaffen, mit
dem kleine Projekte im In- oder Ausland
mitfinanziert oder unterstützt werden
30
PART­icipation
06.08
können. Der Vorstand ist sehr achtsam im
Umgang mit dem Vereinsvermögen und
arbeitet selber sehr sparsam. Das Vereinsvermögen soll für sinnvolle Zwecke im Geiste
der SGZBB investiert werden.
Von Ärzten, die sich besonders um die
Behandlung von Behinderten bemühen,
wurde ein Verein gegründet, um die Interessen dieser Ärzte und ihre Anliegen besser zu
vertreten. Der erste und aktuelle Präsident
ist Dr. Brem. Mit Stephan Gottet wurden
bereits Kontakte geknüpft, und Dr. Brem
war im Januar dieses Jahres am Symposion
in Aargau dabei. Eine längerfristige Zusammenarbeit in irgendeiner Form wäre sicher
denkbar und anzustreben. Insbesondere war
diese neu gegründete Gesellschaft erstaunt,
dass es bei den Zahnärzten so was bereits
gibt.
Das PART­icipation, unser Informationsund Publikationsorgan, ist ein sehr schön
aufgemachtes und qualitativ hoch stehendes
Magazin, das sich gut von den allzu vielen
Zeitungen, News, Flashs, Dental Reviews
etc. abhebt. Es ist dem grossen Engagement
und der Hartnäckigkeit des Editors Stephan
Gottet zu verdanken. Keine andere Fachgesellschaft kann etwas Vergleichbares aufweisen. Es erschienen bis heute 12 Ausgaben
einerseits mit Fachbeiträgen aus der Geriatrie
und Behindertenzahnmedizin, wobei ein
Hauptbeitrag jeweils ins Zentrum gesetzt
wurde. Daneben informiert uns Stephan
Gottet über Projekte aller Art, verfasst selber
Beiträge, die zum Nachdenken anregen, oder
es gelingt ihm, von namhaften Denkern
(Philosophen) Vortragszusammenfassungen
und ähnliches abzudrucken. Die jungen
Assistenten der Universitätskliniken sind
immer wieder Lieferanten von Beiträgen,
wobei sie auch vor einem Dilemma stehen,
da sie ihre wissenschaftlichen Arbeiten im
Rahmen ihrer universitären Karriere für peer
reviewed Zeitschriften aufarbeiten sollten.
Die wissenschaftliche Kommission organisiert sich quasi selbst, sie hat gemeinsam
mit dem Vorstand und allein getagt, und sie
ist entsprechend ihrer Aufgabe für die Programmgestaltung verantwortlich. In dieser
Vermischtes
Kommission nehmen ausschliesslich junge
Leute aus den Universitäten Einsitz, was sehr
erfreulich ist.
Die SGZBB hat nach wie vor einen Vertreter (Dr. Katsoulis, Bern) im Fachrat (SFZ),
der sich als Vermittler für kleinere Gesellschaften präsentiert und nun seine Aufgabe
in der Zertifizierung respektive Qualifizierung von Fortbildungsveranstaltungen
begreift. Allerdings ist dieses Geschäft sehr
schwierig in der Durchführung und wird von
der SSO nicht eigentlich unterstützt, denn
Qualifikationen von Fortbildungsveranstaltungen dieser Art sind politisch sehr heikel.
Die Statuten unserer Gesellschaft
sind aktuell auf der Homepage
zugänglich, es gibt aber seit längerem
keine Nachdrucke mehr. Sie stammen aus der ersten Hälfte der 1990er
Jahre, und der Vorstand erachtet es
als eine wichtige Aufgabe, diese zu
überarbeiten und an neue Gegebenheiten anzupassen.
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PART­icipation
06.08
31
Vermischtes
«Wir sind offen...sind Sie es?»
Christian Traianou
In der Ausbildung und Umschulung
erhalten Menschen mit einer Behinderung
eine zukunftsorientierte und ihrer Behinderung angepasste berufliche Ausbildung
oder Umschulung. Neben der fachlichen
Qualifikation stehen ein positiver Umgang
mit der Behinderung und die Förderung von
Selbständigkeit im Vordergrund
Das neue Hauptgebäude vom azb
Besuch der Stiftung Arbeitszentrum für
Behinderte (azb) in Strengelbach, AG am
T­ag der offenen T­üre oder «rencontre mit
Patienten an deren Arbeitsplatz».
Das azb wurde 1962 als private Stiftung
gegründet und finanziert sich aus selbst
erwirtschafteten Mitteln, bezahlten Dienstleistungen, Beiträgen des Bundesamtes für
Sozialversicherung (BSV) und des Kantons
sowie aus Spenden. Das azb hat keinerlei
Defizitgarantien. Die Institution entwickelte
sich rasant in allen Bereichen. Wurden
anfänglich 14 Menschen mit einer Behinderung im azb betreut, so sind es heute mehr
als 260.
Grosses Besucherinteresse
32
PART­icipation
Der Arbeitsbereich integriert Menschen
mit einer Behinderung entsprechend ihren
Fähigkeiten in einen Arbeitsprozess und bietet ihnen damit sinnerfüllende Tagesstrukturen in einem schützenden Umfeld und ein
leistungsgerechtes Zusatzeinkommen an.
Weitere Informationen sind auf www.azb.
ch erhältlich.
Einmal pro Jahr findet ein «Tag der
offenen Türe» statt, DAS Highlight für alle
im azb. Die diesjährigen Besucherzahlen
sprengten locker die 1000er Schallgrenze
und gab uns beste Gelegenheit, Berührungsängste (ja, ja, ich muss zugeben, es braucht
jedes Mal etwas Überwindung, eigentlich
völlig grundlos wie es sich im nachhinein
immer herausstellt) abzubauen.
Der Zahnarzt auf Besuch, eine spezielle
Ehre? Den freudigen Reaktionen entnehmend anscheinend doch eine aussergewöhnliche Visite...eine ideale Plattform, Ängste
abzubauen und Vertrauen zu schaffen, die
Menschlichkeit hochleben zu lassen und
ECHTEN Respekt der Menschenwürde zu
zollen. Die strahlenden Gesichter zeugen von
einer ehrlichen Freude und Wertschätzung.
Lukas gewann fünf Medaillen an der Special
Olympics
06.08
Diese paar wenigen Stunden, ja nur
kurzen Momente, haben eine Nachhaltigkeit, welcher ich mir erst in ein paar Jahren
bewusst werden werde...
Die erlebte Herzhaftigkeit hat mich sehr
gerührt und bleibt eindrücklich in meinen
Erinnerungen verankert.
...eigentlich sollte man öfters solche
Besuche machen...
Walther an der Drehbank
Vermischtes
«Wir sind offen...
sind Sie es?»
Werner hat sogar eine Kravatte angezogen!
Strenge Hygienemassnahmen in der Schoggiabteilung
Elisabeth beim Verpacken
Montage von Duschbrauseköpfen
Modernstes Laufband für Kaffeemaschinenteile
PART­icipation
06.08
33
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Edithoral bis
Lapiccola Carie
Eine leichte Röte steigt in meine Ohrenspitzen, die, Gott sei es gelobt, ganz von
meinen noch immer dunklen Haaren bedeckt,
sich den neugierigen Augen meiner Nachbarn
elegant entziehen.
Geschafft. Ich darf auch eines schreiben.
Auf der ersten Seite erscheinen. Ich, die man
immer sorgfältig ins Innere des PART verbannt hatte. Zwischen einem Inserat für Bohrprobleme und einem Anmeldetalon zu einem
Kongress, wo eben solche bergbautechnische
Probleme in extenso erörtert werden und zu
dem doch niemand hingehen möchte. Ja, ich
darf eines schreiben, sie haben sich nicht verhört, erklärt mir ein übers andere Mal der ach
so launenhafte Chefredaktor, der keiner ist,
aber bitte nicht mehr als 3000 Zeichen, inkl.
Leerschläge, die für den Leser die wichtigsten
sind, ermöglichen sie ihm doch der eigenen
Phantasie zu frönen. Und bitte nichts allzu
Persönliches. Ja, Sie können froh sein, Frauen
schreiben immer viel zu emphatisch, empathisch, verzichten, sich in einen anderen zu
versetzen, solche Turbulenzen sind gefährlich.
Bitte gehen Sie zu einem guten Porträtisten,
wir schätzen keine Vogelnesterfrisuren als fotografisches Markenzeichen zur Einleitung des
Editorials. Bitte, machen Sie sich keine Sorgen,
Sankt G. Meine ornithologischen Ergüsse
beschränken sich fast immer nur auf meine
haarsträubenden Satzenden.
Hm, beginne ich zuerst mit tausend Leerschlägen voller metaphorischer Tiefe? Vielleicht merkt das ja niemand, weil ja alle in die
Höhe gucken. Oder gehe ich zuerst zu meinem
Photographen lächeln. Eigentlich verdient der
das nun wirklich nicht, so wie der aussieht.
Lächeln üben. Lächeln, lügen.
Schauen Sie nur genau hin. Senken Sie
Ihren Blick tiefer. Ja, der ist noch stolz auf
seine Matrikelnummer. Direkt einem Verbrecheralbum entstiegen. In welchem Gefängnis,
welcher Eitelkeiten er war und – wie mir
scheint – immer noch gefangen ist? Bei jener
Dame sind die Zahlen ein wenig schwieriger
zu eruieren, begreiflich, bei diesem hügeligen
Gelände. Sind wir Frauen von Natur aus denn
ehrlicher? Ja, ganz gewiss. Wer wohl nur hat
uns die Schlange mitten ins Paradies gebracht?
Wir haben doch viel zu viel Angst vor diesen
Viechern. Und alle Ärzte, dem Asklepios
gleich, schämen sich ja nicht, die Schlange
als stolzes Attribut um ihren Stab kriechen
zu lassen. Wir Frauen sollten uns ein eigenes
Standeszeichen schaffen. (Zwei Schlangen?
Anmerkung der Redaktion). Natürlich nicht.
Die Eule der Weisheit etwa, das Attribut der
Athena? Oder die Personifizierung unserer
millenären Geduld, die heilige Patientia? Es
muss nicht immer nur unser Gegenüber sich in
dieser Sparte üben.
Patient – Impatient
Impatient, was? Den gibt es nicht!
Habe ich nicht gerade fünfundachtzig
dieser Springkräuter in meinem Garten verpflanzt? Genau genommen 84. Blieben mir
doch bei einer, gerade bei der, die mir am
liebsten war, Blüten und Blätter in den Händen stecken. Und nur Wurzeln setzen, gedeihen die dann noch?
Rote und weisse; Impatiens walleriana und
deren Hybriden, Impatiens Neu-Guinea. Da
war ich noch nie. Das mag erklären, dass ich
sie unwissentlich ihrer Blüten beraubt habe.
Sie Närrin! Die meine ich doch nicht. Ich
spreche vom IMPAT­IENT­EN.
Dem ungeduldigen Patienten also.
Unserem Vis-à-vis, der uns Zahnärzte malträtiert und die Unschuld seiner Geduld schon
lange mit dem grossen Fachwissen eines Groschenromans vertauscht hat.
Der Patiens Patient, das sind wir. Wir versuchen unsere Impatiens Impatienten multicolores, aber nicht miraculosi, die früher einmal
Patienten hiessen und waren, mit viel Geduld
und Gleichmut ihrer tatsächlichen und auch
eingebildeten Gebresten zu entheben. Der
Rollentausch ist schleichend eingetreten. Hat
uns zu Lakaien befördert, zu Statisten geadelt.
Darf ich Ihnen dieses Geschehen an einem
Beispiel illustrieren?
Es ist Ihnen sicherlich auch schon der eine
oder andere Künstler, vornehmlich Musiker,
in die Praxis geschneit, und dies vorteilhaft im
Winter. Ich spreche hier von einer Geigerin,
Soloviolonistin und Vertrauten des Antonio
Vivaldi. Mit grossen Abständen und auch
zwischen einigen Schluchzern gestand sie mir,
dass in der Folge atmosphärischer Klimaänderungen eines der vier Konzerte der «Vier Jahreszeiten» vom Programm gestrichen worden
sei, nämlich wegen Nichteintretens derselbigen, die Primavera.
Wer, um Gottes Willen, könne jetzt noch
das Durcheinanderzwitschern verschiedener
Vogelarten, wer die Ritornelle des Murmelns
der Quellen, der sanften Winde und wer
schlussendlich könne noch ihren virtuosen
Solopart im Frühlingssturm erleben? Quattro
stagioni, begann mein Magen zu knurren. Was
PART­icipation
06.08
35
Glosse?
will sie mir von meiner Pizza stehlen? Die Funghi, die Salsicce etwa, die Mozzarella mit Artischockenherzchen oder den ganzen Thunfisch
sogar. He, Herr Doktor. Nicht ihren Pizzaiolo,
der kann mir gestohlen werden, den Frühling
haben sie mir umgebracht. Das ist wie wenn
ich keine Zähne mehr hätte. Was würde dann
aus Ihrem Beruf? Dieses verrückte Huhn,
dachte ich, nicht nur deine Zähne, nein, deine
Zunge mögen dir fehlen, und gedachte des
kürzlich im 81. Lebensjahr verstorbenen Luigi
Malerba (1927 in Parma, geht auch, obwohl
er keine Schinken geschrieben hat, bis 8. Mai
2008). Dieser Malerba erzählte mir einmal:
Ein verlogenes Huhn klagte eines Morgens beim
Aufstehen über starke Zahnschmerzen. Als man
es darauf hinwies, dass Hühner keine Zähne hätten, schämte es sich sehr und versteckte sich hinter
einer Hecke.
Meine erste Geige schämte sich nicht, sie
liess nur ihre hinterhältigen Töne über ihre
falschen Saiten kreischen. Wenn ich nur drei
Jahreszeiten spielen kann, so bekomme ich
auch nur ein Honorar für drei. Verstehen Sie?
Also darf ich auch von Ihnen, und das aus
reiner Solidarität, eine Reduktion Ihrer Rechnung um 25 % erwarten. Und diese zwischen
ihren nicht sehr bemerkenswerten Zähnen
heraus gezischte Tirade, ganz ohne vermittelndes Fragezeichen. Der Geduldige, der bin
ich. Wertes zahnloses Huhn, pardon, gradevole
e bellissima violonista. Einverstanden, ich
werde Ihnen einfach jeden vierten Zahn nicht
flicken, aber ich kann Ihnen versichern, der
nächste Frühling kommt bestimmt, und dann
geht es all Ihren vierten Zähnchen erst recht
an den Kragen, respektiv an den Zahnhals,
denn sie hatte die Gewohnheit, recht häufig
mit Zitronensaft zu spülen, der ihrer Stimme
das nervende Timbre und ihrem Charakter die
gefällige unverkennbare kratzige Widerborstigkeit zu verleihen vermochte.
36
PART­icipation
06.08
Sie wollten doch ein Editorial schreiben,
oder wie Sie belieben sich auszudrücken, ein
Edithoral. Ist das etwa kirgisisch oder Kisuaheli? Wo bleibt da die Edith von der Moral?
Unsere Leser haben sich schon gefreut auf
eine erotisierende Neubearbeitung aller langweiligen Editorials. Was Sie schreiben macht
mich krank. Spekulieren Sie etwa darauf, dass
der Leser das Lesen Ihrer Schreibe bei den
Krankenkassen einfordern kann, sozusagen als
Pflichtleistung? Oder subsummieren sich neuestens Sprachfehler unter Sprachunfällen? Lektüre für einen invaliden Geist, von der Steuer
abziehbar? Dann kann ich Ihnen nur gratulieren, Sie müssen damit sehr reich geworden
sein, das ist Ihnen wirklich recht gelungen.
Einen Essay meinen Sie? Mit Bauch- und
Bruchlandung inmitten hahnebücherner
Ungereimtheiten?
Wissen Sie denn überhaupt was ein Essay
für Ansprüche stellt?
San Pietro in Vincoli zu Rom
Oh heilige Ignorantia! Ihre Löffel sollten
Sie sehen. Feuerrot. Schämen Sie sich?
Warum? Ich war doch gerade erst in Rom.
Im linken Seitenschiff von San Pietro in Vincoli schläft Nikolaus von Kues, auch Nicolaus
Cusanus genannt, schrieb er vor und wirklich
nehmlich auf Latein. Nicht der ganze Philosoph ruht hier, einer seiner Muskeln, sein
Herz, schlägt (?) in Bernkastel-Kues. Meines
aber schlägt hier im Gleichtakt seiner Gedanken. Und wie er stelle ich – und hier bin ich
einmal mit Ihnen einig, aber nur mit dem Synonym «Löffel» und nicht unbedingt rot, dass
ich wie sein löffelschnitzender Idiota (urspr.
Laie) – meine Kunst über die aller anderen
Künstler, und dies, weil ich bei dieser Tätigkeit
nicht die Gestalt von irgendeinem naturgege-
benen, naturähnlichen, Gegenstand nachahme
(in Klammern selbstverständlich auch nicht
kann). Schauen Sie, im gleichen Gotteshaus, ja
wie Sie als Rechtgläubiger vermuten, im rechten Seitenschiff. 40 Skulpturen sollte das Werk
umfassen und ursprünglich im St. Petersdom
installiert werden. Der grosse Michelangelo
hatte von Papst Julius II. den Auftrag erhalten,
für ihn ein Grabmal aus Marmor zu schlagen.
Rachel, Lea und den Mose hat er vollendet.
Den gefesselten und den sterbenden Sklaven
auch. Als justament ihm das Oberhaupt der
Kirche den Gefallen tat, im Jahre 1512, den
Sklaven nachzuahmen, und daran starb.
Gefesselt an einen Glauben, den nicht alle
nachzuvollziehen im Stande sind. Was willst
du damit insinuieren, Lapiccola?
Er nennt mich immer so, ich habe mich
daran gewöhnt, wie wenn ich keinen Vornamen hätte, den verrate ich Ihnen vielleicht
einmal später. Lapiccola, ja, vielleicht mein
Geist, aber sonst bin ich ganz schnell, agil,
habe immer alle männliche Konkurrenz meiner Klasse beim Laufen hinter mir gelassen.
Als Atalante, gefürchtet, unerbittlich – oder
fast. Er duzt mich meistens. Ich immer ganz
servil, gewähre ihm das Sie. Möge er unter das
mächtige Rad einer Dampfwalze geraten. Platt
wie eine Flunder klebe ich ihn alsbald in mein
Schwarzbuch des Vergessens, ins Depot aller
schändlichen Erinnerungen.
Träumst du, oder was, Lapiccola?
Mit meinem süssesten und hinterhältigsten
Lächeln antwortete ich, hinterhältig, weil ich
ihn gerade als alten stinkenden Fisch ins Inferno meiner wahren Gefühle verdammt hatte.
Nein. Blasphemisch, das sind immer nur
die anderen. Ihr habt es so gewollt. Ihr habt
den liberalen Geist Cusanus ins linke Schiff,
den grossen unnachahmlichen und trotzdem
nachahmenden Michelangelo ins rechte Schiff
verbannt. Ihr seid verantwortlich, dass nicht
Glosse?
der leiseste Hauch eines Windes mehr die
beiden Schiffe in die Ferne treibt. Und tatsächlich stört mich nie jemand, wenn ich schön
sittsam inmitten dieser Armada von Schiffen
im Zentrum dieses Tempels meinen Gedanken
nachhänge.
Warum nur habt ihr den Mose nach San
Pietro in Vincoli (Fesseln), den gefesselten
Sklaven aber in den Louvre nach Paris verbannt? Gefesselt ist nun wer? Die Augen der
Touristen, die Schiffe der Basilika, oder gar
der Mose? Warum nur hat der Hörner?
Ja, drucksen Sie nur herum, Sie aufgeblasener Philologe. Wir Frauen wenigstens
können keine Hörner haben und ihr versetzt
dem Mose welche und gleichsam auch dem
so genialen Michelangelo durch eure falsche
Interpretation der Texte, setzt ihr aufs Haupt
ihm diese Fortsätze der Hölle, die ohne diese
ihn jeden Anflugs von Bösartigkeit enthoben
hätten. (Die Mosesstatue zeigt den Mose, als er
mit den Gesetzestafeln vom Sinai herabsteigt und
die Israeliten beim lüpfigen Tanz um das goldene Kalb erwischt (wie wir Zahnärzte um das
güldene Kalb unserer Standesregeln und die
Pfeiler unserer Wissenschaft zu tanzen pflegen,
wegen denen aber noch kein Mose seine Tafeln
aus Zorn zu zerschlagen wagte; vielleicht
macht ja unsere kleine Lapiccola diese Hoffnung einmal wahr). Die Hörner auf dem Kopf
des Gesetzesvermittlers basieren auf einem Übersetzungsfehler. Im hebräischen Urtext, der keine
Vokale kennt, steht das Wort «krn». Als man
später daranging, den Text mit Vokalen auszustatten, setzte man zwei «e» ein. Aus «krn» wird
«keren», und das heisst «gehörnt». Diese Fassung
hält sich durch Jahrhunderte – wie gewisse
unserer Lehrmeinungen – und wird so auch in
der Vulgata übernommen, aus der Michelangelo
sein Wissen bezieht. Durch Vergleich mit anderen
Texten erkennt man später, dass richtig zwei «a»
eingesetzt werden müssten. Das Wort heisst dann
«karan» und bedeutet «glänzend»).
Ja, jetzt glänzt Ihre Stirne im Schweisse
Ihrer Unwissenheit, und niemand möge sie
Ihnen je abwischen. Da lob ich mir die zwei
den Mose flankierenden weiblichen Begleiter,
Lea als Allegorie der Vita activa und Rahel als
Sinnbild der Vita contemplativa. Das Zweite
ist Ihnen wohl sehr fremd? Das erstaunt mich
nicht, genauso wenig wie Ihr krampfhafter
Versuch Ihrem Editorial eine Art Leben einzuhauchen.
Lappipiccola! dröhnt es von der ersten
Seite, und du erfrechst dich mich so zu sermonieren. Dein Edithoral entspricht genau dem
Wissen einer Fliege, hochtrabend, eintägig,
stechend wenn Mücke und nichts eintragend.
Wobei deren Gedanken doch ungemein höher
anzusiedeln sind als deine ganz verkorksten
Höhenflüge. Zuerst machst du den Leser an,
und liefern tust du nachher nichts als Plattitüden. Einen Essay wolltest du mir liefern. Verdammt, das ist nur schlechte Causerie.
Lapiccola, bitte, nicht Lappipiccola, Lappi
toi-même, aber das murmelte ich nur. Da
haben Sie für einmal Recht, Herr allwissender Redaktor. Ein Essay leitet sich ab vom
spätlateinischen «Exagium»: Versuch, Probe,
Abwägen. Darum bewundere ich auch alle
die das können. Stehe gerne vor romanischen
und auch anderen kulturhistorischen analogen
Interpretationen des letzen Gerichtes.
Den Terminus «Causerie» gebrauchen Sie,
um mich zu beschimpfen. Dabei ist gerade das
die Quelle meiner piccola ignorantia, so ruft
man mich auch ganz im Süden der zu vergessenden Kreaturen. Sie kennen sicherlich, nein
natürlich nicht, Sie kennen nur die grossen
Geisteswissenschafter der Mutter Philosophie,
Sie kennen also nicht den Nährgrund meines
bescheidenen Wissens, den eminenten Philosophen Laverdure?
Seine wichtigste und auch einzige Maxime
zugleich lautet nämlich: Tu causes, tu causes,
c’est tout ce que tu sais dire (Raymond Quenau, in «Zazie dans le métro», der Papagei
nennt sich Laverdure). An diese Wahrheit halte
ich mich ganz beharrlich.
Und wie bekannt hat immer noch der
Chefredaktor, der Editor, der Spielverteiler
oder besser Spielverderber das letzte Wort;
hinweg du blödes Federvieh, kannst ja kaum
fliegen und dein Geplapper geht mir an meine
Haare, bah, an meine Nerven.
Darum verdamme ich dich auf die allerletzte Seite des PART­icipation, die hoffentlich der
Drucker gefälligst übersehen möge.
Sie Idiot, und nochmals lass ich Cusanus
aus seinem Werk «Idiota», sprechen, «ich weiss
nicht, ob ich Anhänger des Pythagoras oder eines
anderen bin (natürlich von Laverdure, das habe
ich Ihnen ja schon verraten). Das aber weiss ich,
dass ich mich durch die Autorität keines Menschen, auch wenn sie mich zu beeinflussen sucht,
bestimmen lasse».
Ganz traurig knabbere ich am Ende eines
Stiftes, der mir am Anfang des Berichtes so
Erfreuliches versprach.
Exagium – Versagium. Der Teufel hat die
Waage aus dem Gleichgewicht gebracht.
Ihre Bleistiftenden zerknirschende Lapiccola.
9. Mai 2008 zu Rom, aufgezeichnet im linken «fluctuat nec mergitur» Seitenschiff der Kirche San Pietro in Vincoli, 200 Schritte nördlich
des Colosseo und den noch schlechteren zweiten
Teil in der Hostaria da Vincenzo, via Castelfidardo 6, ausgezeichnete Fischküche, auch circa
200 passi, aber diesmal von den Thermen des
Diocletians entfernt, aufs büttenweisse Tischtuch
gekritzelt.
PART­icipation
06.08
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Schwerpunktthema
Patienten mit Lippen-, Kiefer-,
Gaumenspalten – Einst Behinderte,
jetzt Menschen wie Du und ich!»
Vortrag im Rahmen der SGZBB Jahrestagung 2008 in Bern
von Dr. med. dent. Wanda Gnoinski
Die Diagnose einer Lippen-, Kiefer- Gaumenspalte (LKG) bei einem neugeborenen
Kind stellt für die betroffenen Eltern zumeist
eine grosse psychische Belastung dar. Aus
historischen Bilddarstellungen sind die massiven physiognomischen und funktionellen
Einschränkungen, unter der unbehandelte
oder in früheren Zeiten behandelte Patienten
ein Leben lang zu leiden hatten, allgemein
bekannt. Dies schürt bei den betroffenen
Eltern natürlich die Ängste, dass ihr Kind ein
Leben lang durch die Spalte stigmatisiert sein
könnte. Frühzeitige Aufklärung der Eltern und
sorgfältig geplantes operatives Handeln bei
den Kindern ist daher unbedingt notwendig,
ohne dabei in unnötigen Aktionismus zu verfallen. Mit den heutigen Operationstechniken
und bei einem geschickten kieferchirurgischkieferorthopädisch-zahnärztlich-logopädisch
abgestimmten Behandlungsprocedere können
langfristig aus ästhetischer und funktioneller Sicht optimale Behandlungsergebnisse
erzielt werden. Im jungen Erwachsenenalter
sind LKG-Patienten dann kaum mehr von
Altersgenossen ohne LKG Symptomatik
unterscheidbar: Lippennarben sind diskret, in
Sprachqualität und Gesamtbild des Gesichts
fallen Leute mit operierten Spalten heute kaum
mehr auf. In ihrem Vortrag beschrieb Frau Dr.
Wanda Gnoinski die historische Entwicklung
der Therapie der LKG-Spalten und mahnte
dazu, in der Vergangenheit angesammeltes
Wissen nicht verloren gehen zu lassen: in der
chirurgischen Therapie der LKG-Spalten sind
Modetrends in Bezug auf den Operationszeitpunkt erkennbar, welche sich in Zyklen
Dr. med. dent. Wanda Gnoinski
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PART­icipation
06.08
ablösen. Da die Ergebnisse dieser Therapievarianten erst definitiv nach 20 Jahren, wenn die
Patienten das Erwachsenenalter erreicht haben,
beurteilbar sind, sollten Änderungen im Therapieprocedere sorgfältig überdacht werden.
Lippen- und Gaumenspalten haben zu
allen Zeiten und in allen Weltgegenden Aufmerksamkeit erregt, mit unterschiedlichen
Resultaten für die Betroffenen. Schädelfunde
belegen, dass schon immer einzelne Individuen
trotz schwerer Fehlbildung überlebten; bis
Anfang des 20. Jahrhunderts verstarben aber
auch in der Schweiz viele Neugeborene mit
Gaumenspalten in den ersten Lebenswochen,
entweder mangels Ernährungsmöglichkeit
oder infolge von Aspirationspneumonien.
Abhängig vom Kulturkreis wurden die Spalten
in früherer Zeit als göttliche Stigmata entweder positiv oder negativ bewertet. Während
Lippenspalten seit Jahrhunderten operiert
wurden, gelangen Gaumenoperationen erst
im 19. Jahrhundert, und wurden mit Aufkommen der Narkose ab ca. 1860 allmählich
zur Routine. Die chirurgischen Verfahren
stellten aber nur bedingt die funktionelle
Anatomie wieder her. Dies bedingte bis in die
1960er-Jahre für die meisten Patienten mit
Gaumenspalten eine markante Sprachstörung.
Die schlechte Verständlichkeit ihrer Sprache
wurde gemeinhin – und oft zu Unrecht - als
Ausdruck minderer Intelligenz gewertet.
Die Entwicklung der operativen Behandlungsmethodik bei Spaltpatienten ist eng mit
der Möglichkeit einer effizienten Anästhesie
verknüpft. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts
wurde Lachgas zur Narkose eingesetzt, ab den
50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die
Intubationsnarkose gebräuchlich und damit
einhergehend die chirurgischen Verfahren
verfeinert. Aus den USA kam gleichzeitig das
Prinzip des multidisziplinären «cleft palate
team». Das brachte neue Erkenntnisse und
bessere Behandlungsresultate. Aus der klinisch
beobachteten und tierexperimentell belegten
Tatsache, dass chirurgische Eingriffe in frühen Wachstumsphasen die Kiefer- Gesichtsentwicklung hemmen können und aus dem
Wunsch nach früher Wiederherstellung der
funktionellen Anatomie im Hinblick auf die
Sprachentwicklung, entsteht ein Dilemma,
dass je nach Behandlergruppe unterschiedlich
angegangen wird. Zwischen den Logopäden
und den Kieferorthopäden bestehen entgegen
gesetzte Ansprüche: Die Logopäden wünschen
eine möglichst frühen Verschluss der Spalten,
um die Sprachentwicklung nicht zu behindern.
Der Verschluss des Gaumensegels muss bis
zum 18. Lebensmonat realisiert sein, da um
diesem Zeitpunkt die ersten Wortäusserungen
des Säuglings stattfinden. Für die Kieferorthopäden sollte die chirurgische Intervention
aufgrund negativer Wachstumsbeeinflussung
eher spät erfolgen: die ersten 24 Monate stellen
die wichtigste Wachstumsphase des Kindes
für den Oberkiefer dar. Dazu kommt die
Tatsache, dass sich die wahre Qualität dessen,
was beim Säugling gemacht wurde, entwicklungsbedingt erst nach 10 bis 15 Jahren zeigt.
Anfänglich gut erscheinende Resultate können
sich teils massiv verschlechtern. Daraus erklärt
sich die bis heute andauernde Uneinigkeit
über die optimale Behandlungsmethodik. Nur
Langzeitbeobachtungen lassen eine Wertung
der primären Behandlungsverfahren zu, doch
pflegen weltweit leider nur wenige Kliniken
eine konsequente Langzeitdokumentation.
Die Inzidenz von LKG-Spalten liegt in der
Schweiz bei ca. einem Kind auf 600 bis 800
Neugeborene. Diese Zahlen beziehen sich auf
die angestammt hier lebenden Kaukasier. Die
Inzidenz bei Asiaten ist dagegen erhöht, bei
Afrikanern reduziert. Bei 80 % der Betroffenen liegt eine isolierte Fehlbildung vor. Nur
bei 20 % bestehen zusätzliche Störungen an
Herz, Gefässen oder Extremitäten. Somit werden jedes Jahr in der Schweiz ca. 90–120 Kinder mit einer LKG-Symptomatik geboren.
In der Abteilung für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten der Universität Zürich werden ca.
⅓ der Schweizer Spaltpatienten betreut, wobei
das Behandlungsprotokoll seit ca. 30 Jahren
fast unverändert beibehalten wird:
Direkt nach pränataler Diagnosestellung
«Spalte» durch den Frauenarzt, wird das erste
aufklärende Gespräch zwischen Frau Dr.
Gnoinski und den betroffenen Eltern geführt,
welches unbegründete Ängste nehmen und
den notwendigen postnatalen Behandlungsablauf darstellen soll. Hierzu benutzt Frau Dr.
Gnoinski Bilddarstellungen von behandelten
Patienten, die so gestaltet sind, dass auf der
selben Seite sowohl das Ausgangsbild als auch
Schwerpunktthema
Abteilungsleiterin Lippen-Kiefer-Gaumenspalten
Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin
Zentrum für Zahn-, Mund-, und Kieferheilkunde Universität Zürich
das Endergebnis im Alter von ca. 20 Jahren zu
sehen ist. Bei einer Gaumenspalte wird direkt
nach der Geburt von den Kieferorthopäden
eine Abformung des Oberkiefers vorgenommen, um eine passive Trinkplatte anzufertigen.
Diese Trinkplatte wird in der Folge durch Freischleifen zum Gaumen regelmässig angepasst,
wodurch sich die gespaltenen Gaumenanteile
spontan etwas annähern: somit kann in den
ersten 18 Monaten die Spaltbreite um etwa
45 % reduziert werden. Im Alter von 6 Monaten wird die Lippe chirurgisch verschlossen,
wobei darauf geachtet wird, dass der Muskulus
orbicularis oris sorgfältig rekonstruiert wird
unter Beibehaltung eines suffizienten anterioren Mundvestibulums. Mit ca. 18 Monaten
wird kieferchirurgisch der weiche Gaumen,
das sog. Gaumensegel, geschlossen. Dann setzt
auch die logopädische Beratung ein, welche
über mehrere Jahre fortgeführt wird. Die Operation zum Verschluss des harten Gaumens
findet meist im 4. bis 5. Lebensjahr statt. Im
Alter von 10 Jahren können die Patienten auf
Grund kieferorthopädischer Kriterien in zwei
Gruppen eingeteilt werden: reine kieferorthopädische Therapie oder kombinierte kieferorthopädische-kieferchirurgische Therapie. Bei
reiner kieferorthopädischer Therapieoption
beginnt die kieferorthopädische Behandlung
sofort, bei der Kombinationstherapie erst gegen
Wachstumsabschluss im Alter von 17 Jahren.
Im jungen Erwachsenenalter wird die Behandlung somit erst abgeschlossen und das Endresultat ersichtlich sein.
Die zum Abschluss des Vortrages gezeigten
Patientenbehandlungsfälle demonstrierten die
Effizienz und Perfektion des beschriebenen
Zürcher Behandlungsansatzes. Die Behandlung einer Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte ist
komplex und zeigt in einem interdisziplinären
Therapieansatz mit gezielten kurzzeitigen
Interventionen – verteilt auf eine Zeitspanne
von ca. 18 Jahren – ein vorhersagbar ästhetisches und funktionelles Ergebnis
Dr. Marco Bertschinger und Dr. Wanda Gnoinski
Zürcher Therapieschema zur Behandlung einer
Lippen-Kiefer-Gaumenspalte:
1. Pränatal: aufklärendes Erstgespräch mit den betroffenen Eltern (Kieferorthopädie)
2. Direkt nach der Geburt: Bei Gaumenspalte Abformung des Oberkiefers – Herstellung
passive Trinkplatte (Kieferorthopädie)
3. Nach 6 Monaten: Chirurgischer Lippenverschluss (Kieferchirurgie)
4. Nach 18 Monaten: Chirurgischer Verschluss weicher Gaumen (= Gaumensegel)
(Kieferchirurgie)
5. 4. bis 5. Lebensjahr: Chirurgischer Verschluss harter Gaumen (Kieferchirurgie)
6. Alter 10–12: Beurteilung, ob a) reine kieferorthopädische oder b) kombinierte
kieferorthopädische-kieferchirurgische Therapie (Kieferorthopädie und Kieferchirurgie).
7. Ab Alter 10–12: Beginn a) reine kieferorthopädische Therapie (Kieferorthopädie).
8. Ab Alter 15–17 (entwicklungsabhängig): Beginn b) kombinierte kieferorthopädischekieferchirurgische Therapie (Kieferorthopädie / Kieferchirurgie).
Ziel ist, wo immer möglich, Zahnersatz zu vermeiden, da dieser höhere Unterhaltsansprüche stellt als eigene Zähne.
N. Enkling, Bern
PART­icipation
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Veranstaltungskalender
A noter dans votre agenda
In Ihrer Agenda rot unterstreichen!
21. Symposion der SGZBB/ZGA:
Donnerstag, 15. Januar 2009.
Beginn 16.30 Uhr
Ab 20.15 Uhr: Essen mit Betreuten der St. Josef-Stiftung und
des Pflegezentrums Reusspark.
Thema: Der Angst/Schmerzpatient,
in der St. Josef-Stiftung, Bremgarten/AG
Das Symposion befasst sich mit dem Angst/Schmerz Phänomen.
Die Referate sind aufeinander abgestimmt. Ein abschliessendes
Podium gibt den TeilnehmerInnen Gelegenheit Fragen zu stellen.
Anmeldeschluss: Freitag 2. Januar 2009
Leitung und Auskunft:
Dr. med. dent. Stephan Gottet, Zugerstrasse 9, 5620 Bremgarten
Fax: 056 633 12 97, E-Mail: [email protected]
Dr. med. dent. Arthur Stehrenberger, Bahnhofstrasse 42, 5400 Baden
Fax: 056 222 47 68. E-Mail: [email protected]
18. Jahrestagung der SGZBB:
Freitag, 19. Juni 2009 im Zentrum für Zahn-, Mund- und
Kieferheilkunde der Universität Zürich. Näheres im
PART­icipation 14. Edition
Die SGZBB empfiehlt Ihnen:
SSO-Seminar «Ethik für Zahnärzt/-innen»
Referenten: Urs Brägger, Alberto Bondolfi,
Giovanni Maio, Patrick Sequeira
13. September 2008
Auditorium Ettore Rossi, Inselspital Bern (Kinderklinik)
Anmeldung und Auskünfte: SSO-Sekretariat, Monika Lang,
031 311 74 71, Fax 031 311 74 70
E-Mail: [email protected]
Alle Ausgaben von PART­icipation können Sie unter
www.sgzbb.ch herunterladen.
Ihre Beiträge und Tipps können Sie – vorzugsweise auf
elektronischem Weg – der Redaktion übermitteln.
Redaktionsschluss: 1. September 2008
Mitgliedschaft in der SGZBB
Unterstützen Sie das soziale Engagement der SGZBB mit
Ihrer Mitgliedschaft (100 Franken pro Jahr) …
… und warum nicht Ihrer verdienten Dentalassistentin
eine Mitgliedschaft bei der SGZBB für 25 Franken pro Jahr
schenken? Besten Dank! Anmeldeformulare können angefordert
werden unter: E-Mail [email protected]
Ausblick
• Bericht über das Symposium vom 13. Juni 2008 in Genève: Le
point sur la Gérodontologie (Müller, Schimmel, Deslarzes, Riesen,
Gottet)
• Nachlese zur 17. Jahrestagung der SGZBB vom 15. Mai 2008 in
Bern
• Vorbereitende Texte zum 21. Symposion vom 15. Januar 2009
in Bremgarten und zur 18. Jahrestagung vom 19. Juni 2009 in
Zürich
Vielleicht kontaktieren die Organisatoren nächstes Mal die
SGZBB, glauben wir doch, dass gerade in unseren Reihen gute
Ansprechpartner zu finden sind.
Impressum
Redaktion:
SGZBB-PARTicipation
Med. dent. Anna Sekulovski
Via campagna 2
6942 Savosa
E-Mail [email protected]
Stephan Gottet, Bremgarten:
[email protected]
Martine Riesen, Genève:
[email protected]
Arthur Stehrenberger, Baden:
[email protected]
Christian E. Besimo:
[email protected]
Dr. phil. Franz Wälti:
[email protected]
Dr. phil. Goran Grubacevic:
[email protected]
Joannis Katsoulis, Bern:
[email protected]
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PART­icipation
06.08
Regina Mericske, Bern:
[email protected]
Christina Luzi, Basel:
[email protected]
Frauke Müller, Genève:
[email protected]
Bernhard Streich, Zug:
[email protected]
Ludwig Hasler, Zürich u. St.
Gallen
[email protected]
Norbert Enkling, Bern
[email protected]
Felix Brem, Weinfelden
[email protected]
Dr. theol. Hanspeter Ernst,
[email protected]
Willi Baumgartner,
[email protected]
Christian T­raianou, Zofingen
[email protected]
Klinik für Alters- und
Behindertenzahnmedizin KAB
[email protected]
Fotos:
Vanda Kummer,
[email protected]
Stephan Gottet, Bremgarten
[email protected]
Bilder:
Gesichter an einer Schule in
Roussas, Dpt. La Drôme,
10 Kilometer südöstlich von
Montélimar
Zeichnungen:
Pietro Ott
(14.11.1931–9.1.2005)
Anzeigen:
Dr. A. Stehrenberger
Bahnhofstrasse 42
5400 Baden
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Layout:
LOGO-SYS AG
Täfernstrasse 4
5405 Baden Dättwil
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Druck:
Stämpfli AG
Wölflistrasse 1
Postfach 8326
3001 Bern
Auflage: 4000 Expl.
Redaktionsschluss Edition 14:
1. September 2008