RISIKO: Psychose

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RISIKO: Psychose
titelthema ı PSychische Störungen
Risiko: Psychose
Das neue Diagnosehandbuch DSM-5 soll auch ein schwächer ausgeprägtes,
»präklinisches« Psychosesyndrom enthalten, das auf eine drohende Schizophrenie
hindeutet. Eine Hilfe zur wirksamen Prävention oder unnötige Pathologisierung?
Von Carrie Arnold
S
mehr zum titelthema
> Die Neuordnung
der Seelenleiden
Psychische Störungen auf
dem Prüfstand (S. 36)
> »Wie viel Störung darf es
sein?«
Interview mit dem Psychiater
Hans-Ulrich Wittchen (S. 42)
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chon als Kind war Mike* sonderbar. Der
­Junge fand schlecht Anschluss an Gleichaltrige und war oft übertrieben misstrauisch. Er
machte sich zudem häufig Sorgen, jemand könne seinen Spind in der Schule aufbrechen oder
in seiner Abwesenheit sein Zimmer zu Hause
durchwühlen. Statt dem Unterricht zu folgen,
kritzelte Mike gerne Landschaften in sein Aufgabenheft, und manchmal sprach er mit sich
selbst, während der Lehrer etwas erklärte. Entsprechend schlecht war es um Mikes Schul­
noten bestellt.
All diese Verhaltensweisen können Anzeichen einer Psychose sein – einer seelischen Erkrankung, bei der die Betroffenen den Bezug zur
Realität verlieren. Menschen mit voll entwickel­
ter Psychose sind in ihrem logischen Denkvermögen meist eingeschränkt, viele hören Stimmen oder leiden an anderen Halluzinationen.
In schweren Fällen bewältigen die Betroffenen
ihren Alltag nicht mehr.
In Mikes Fall befand ein Psychiater, den
­seine Eltern zu Rate zogen, die Symptome seien
zu schwach, um eine Psychose diagnostizieren
zu können. Doch andererseits brauchte der Junge offenbar Hilfe. Was tun?
Geht es nach dem Willen zahlreicher Fachleute, so soll in die nächste, fünfte Auflage des
US-amerikanischen Handbuchs der psychischen Störungen – das DSM-5 – auch eine nicht
voll entwickelte, »präklinische« Ausprägung der
psychotischen Störung aufgenommen werden.
Um sie attestiert zu bekommen, müsste der
­Betreffende beispielsweise einmal pro Woche
einer Wahnidee oder Halluzination erliegen (im
Gegensatz zu einem mehr oder weniger dauerhaften Auftreten über mindestens einen Monat
hinweg, wie bei der klassischen Psychose). Zudem müssten die Symptomen des Patienten
entweder für ihn selbst oder für einen nahen An­
gehörigen eine deutliche Belastung darstellen.
* Name von der Redaktion geändert
Die Idee, eine solche Frühdiagnose in die
»Psychiaterbibel« aufzunehmen, ist freilich
um­stritten. Die Befürworter argumentieren,
dass Menschen wie Mike möglichst schnell
­Hilfe benötigen, da sie sonst Gefahr laufen, eine
voll ausgeprägte Störung zu entwickeln. Die
neue Diagnose ermögliche es Ärzten, früher als
bislang einzugreifen. Den betroffenen Patien­
ten wird häufig ein so genanntes atypisches
Anti­psychotikum mit Wirkstoffen wie Rispe­
ridon oder Olanzapin verschrieben. Auch bestimmte Formen der Psychotherapie können
Halluzinationen und Wahnvorstellungen lindern helfen. Je früher die Patienten davon profitieren, so das Argument, desto besser.
Lässt sich Psychosen vorbeugen?
Im Jahr 2005 veröffentlichte der Psychiater
­David L. Penn von der University of North Carolina in Chapel Hill eine Überblicksstudie, für die
er 30 Arbeiten zur Behandlung von Erstpsychosen ausgewertet hatte. Resultat: Frühe Medikamentengabe in Verbindung mit Psychotherapie
zeitigte im Vergleich zu keiner Behandlung
deutlich bessere Erfolge. Nicht nur die Symptome der Betroffenen, sondern auch deren
Einschränkungen im Alltag verringerten sich
drastisch. Eine noch früherer Therapie – etwa
mit Menschen im »Risikostadium« – sei demnach anzuraten. Auch in einer von Wiener
­Me­dizinern um G. Paul Amminger 2010 veröffentlichten Studie verringerte die Einnahme
von Omega-3-Fettsäuren die Wahrscheinlichkeit ­einer Psychose bei jungen Leuten mit subklinischen Krankheitsanzeichen um 23 Prozent
­(siehe G&G 5/2012, S. 24).
Auf Basis solcher Daten glaubt der Psychiater
William T. Carpenter Jr. von der University of
Maryland, der die DSM-5-Arbeitsgruppe zu psychotischen Störungen leitet, eine Behandlung
im präklinischen Stadium könnte bei vielen
G&G 6_2012
EIN SCHMALER GRAT
Deutet womöglich auch der
Glaube an Verschwörungen
und Magie schon auf eine labile
Neuffer-Design
seelische Verfassung hin?
­ efährdeten ernsteren Problemen vorbeugen
G
helfen. Wer die Kriterien des »abgeschwächten
Psychose-Syndroms« erfülle, entwickle um das
10- bis 100-Fache eher eine Schizophrenie als
der Durchschnittsbürger. Dem entgegenzuwirken, wäre ein Segen für die Betroffenen und ihre
Familien wie auch für das Gesundheitssystem.
Kritiker hingegen bezweifeln, dass sich das
Erkrankungsrisiko eines Menschen präzise genug bestimmen lässt. Während die Diagnose
­einer schweren Psychose normalerweise leichtfällt, sind die frühe Warnsignale oft subtiler Natur. Sind Mikes Ängste nun Vorboten einer sich
anbahnenden Störung – oder nur eine stärkere
Form üblicher Teenagerprobleme? Auch die
Folgen von Drogenkonsum oder einer depressiven Verstimmung sind davon nicht gut zu
­unterscheiden. Angesichts solcher Unschärfen
würden viele Menschen zu »Beinahe-Psycho­
tikern« abgestempelt, die vermutlich nie eine
Störung erleiden, meint etwa Allen Francis,
emeritierter Psychiater der Duke University.
Franics leitete Anfang der 1990er Jahre die
Überarbeitung der derzeit aktuellen Auflage
DSM-IV, die im Frühjahr 2013 durch das DSM-5
ersetzt werden soll. Er verweist auf eine Studie
von 2003, in der Forscher um den australischen
Psychiater Patrick McGorry herausfanden, dass
sechs von zehn Menschen mit »hohem Risiko«
keine Psychose entwickelten.
Fehldiagnosen seien vor allem deshalb problematisch, weil jede Behandlung auch Risiken berge. Menschen mit einer psychotischen
Störung bekommen häufig Medikamente mit
starken Nebenwirkungen verschrieben – wie
Gewichtszunahme, erhöhten Blutzucker- und
Cholesterinwerten sowie motorischen Störun­
gen. Bei einer Fehldiagnose leide der Patient
­völlig unnötigerweise darunter.
Um ihre Prognosen zu verbessern, versuchen
Forscher, klarere Hinweise auf eine drohende
www.gehirn-und-geist.de
Psychose zu finden. Doch eine geneti­sche Sig­
natur, an der man das Erkrankungsrisiko ablesen könnte, oder auch typische Erregungs­
muster im Hirnscan fanden sie bislang nicht
(siehe G&G 12/2011, S. 28).
Ob Mike ohne weitere Behandlung also wirklich Gefahr läuft, eine Psychose zu entwickeln,
ist kaum zu beantworten. Die kognitive Verhaltenstherapie jedenfalls, die er auf Anraten des
Arztes absolvierte, hat sein seelisches Gleich­
gewicht gestärkt.
Die DSM-Experten für psychotische Stö­
rungen müssen unterdessen entscheiden, ob
das »abgeschwächte Psychosesyndrom« in
das neue Diagnosesystem aufgenommen wird
oder nicht. Möglicherweise beschreiten sie aber
auch einen Mittelweg und nehmen es nur vorläufig in den Katalog auf – zwecks weiterer Erforschung. Ÿ
Quellen
Penn, D. L. et al.: Psychosocial
Treatment for First-Episode
Psychosis: A Research Update. In: American Journal of
Psychiatry 162, S. 2220 – 2220,
2005
Yung, A. R. et al.: Psychosis
Prediction: 12-Month Follow
up of a High-Risk (»Prodromal«) Group. In: Schizophre­
nia Research 60, S. 21 – 32,
2003
Weitere Literaturhinweise im
Internet: www.gehirn-und-
Carrie Arnold ist freie Wissenschaftsjournalistin in
geist.de/artikel/1148636
Norfolk (US-Bundesstaat Virginia).
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