intimacy - edition mono

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intimacy - edition mono
INTIMACY
PLUG-IN – EXPLOIT – CARE
Günther Friesinger, Jana Herwig,
Judith Schoßböck (Hg.)
INTIMACY
PLUG-IN – EXPLOIT – CARE
Günther Friesinger, Jana Herwig,
Judith Schoßböck (Hg.)
IMPRESSUM
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data is available in the internet at http://
dnb.ddb.de.
ISBN: 978-3-902796-43-1
Herausgeber: GÜNTHER FRIESINGER, JANA HERWIG,
JUDITH SCHOSSBÖCK
Lektorat: EVELYN VAN HULZEN
Layout: KERSTIN HALM
Redaktion: CLARA GALLISTL
Coverbild: GÜNTHER FRIESINGER
© bei den Autor_innen
edition mono/monochrom, 2016
1050 Wien, Zentagasse 31/8, 1050 Wien
fax/fon: +431/952 33 84
[email protected]
Gedruckt mit Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien.
Alle Inhalte sind unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-SA 4.0
veröffentlicht.
INHALT
VORWORT
“THE OPPOSITE OF LONELINESS, IT’S NOT TOGETHERNESS”. DIGITALE INTIMITÄT ZWISCHEN INTENSIVIERUNG
UND VERWERTUNG .............................................................................................................. 9
Günther Friesinger/Jana Herwig/Judith Schoßböck
PLUG-IN: TECHNIKEN DER VERBINDUNG
SEX UND TECHNOLOGIE ................................................................................................. 19
Johannes Grenzfurthner
A QUANTIFIED SELFIE A DAY KEEPS THE INTIMACY AWAY ............................ 23
Larisa Stanescu
DAS DIGITALE NÄHE-DISTANZ-PROBLEM ............................................................... 29
Frank Apunkt Schneider/Günther Friesinger
EXPLOIT: STRATEGIEN DER VERWERTUNG
UND KONTROLLE
DIE DIGITALE VERMESSUNG UND VERWERTUNG UNSERES ALLTAGS
ÜBER DIE GESELLSCHAFTLICHEN RISIKEN KOMMERZIELLER
DIGITALER ÜBERWACHUNG IM ZEITALTER VON „BIG DATA“ UND
DEM „INTERNET DER DINGE“. ........................................................................................ 47
Wolfie Christl
JOS DIEGEL & LISA SCHROETER:
THERE IS NO/A SEXUAL REPORT - ENTITÄT, IDENTITÄT
UND DIE KONSTRUKTION EINES RELATIONALEN SAN FRANCISCO ......... 63
Jos Diegel
PARADOXE STRATEGIEN. INTIMITÄT UND KONTROLLE IM ÖSTERREICHISCHEN SPIELFILM. ............................................. 79
Katharina Stöger/Thomas Ballhausen
CARE: ZUM PFLEGEVERHÄLTNIS VON MENSCH UND GERÄTSCHAFTEN
ÜBER DIE MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN MENSCHLICHER
INTIMITÄT: DIGITALE INTIMITÄT UND DAS PHÄNOMEN DES
HIKIKOMORI (JAP. ひきこもり, 引き籠もり ODER 引き篭り). ............................ 101
Philipp Rössl BERÜHRUNG ALS ÜBERLEBENSWICHTIGE DROGE. ..................................... 119
Ein Interview mit Monika Noisternig, Sexualbegleiterin bei LIBIDA
DIGITALE PORNOTOPIE:
FANTASIEN UND DEKONSTRUKTIONEN
„TAKING A CUE“. ZUR REPRÄSENTATION VON TECHNOLOGIE IN DREI HETEROSEXUELLEN MAINSTREAM PORNOGRAFIE-FILMEN ................................................................. 127
Tina Lorenz
GUROCHAN: PERVERSION IM IMAGEBOARD
UND DIE NEUERFINDUNG DER KÖRPER ............................................................ 137
Christian Heller
AUTOR_INNEN
VORWORT
“THE OPPOSITE OF LONELINESS,
IT’S NOT TOGETHERNESS”.
DIGITALE INTIMITÄT ZWISCHEN
INTENSIVIERUNG UND VERWERTUNG
GÜNTHER FRIESINGER/JANA HERWIG/JUDITH SCHOSSBÖCK
Technologie und Intimsphäre wurden nicht immer in einem Ausmaß wie
heute zusammengedacht: In der Vergangenheit sollte die Technik nur bedingt in unser Innenleben eindringen, bzw. sich möglichst wenig in unsere
privatesten Angelegenheiten einmischen. Zuletzt hat sich der Begriff der
Intimität jedoch stark gewandelt. Soziale Netzwerke, virtuelle Welten oder
auch Einblicke über Google Street View haben auf unsere Vorstellung und
Konzeptualisierung des Privatraums starken Einfluss genommen. Unabhängig von einer Bewertung dieser Verschiebungsprozesse und der darin
exekutierten digitalen Autoerotik lässt sich festhalten: Die Grenze zwischen
innen und außen ist fluider geworden, auch im Hinblick auf die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Das Konzept des Interfaces ist einer
bedeutsamen Neudefinition unterworfen. Digitale Geräte oder Medien werden uns tatsächlich immer vertrauter, näher auf den Leib geschnallt oder
gar unter der Haut angebracht. Unsere Identität ist vermehrt an mediale
Prozesse geknüpft, was auf Konzepte der Nähe, Vertrautheit, Vertraulichkeit oder auch Einsamkeit Einfluss nimmt. Was von uns früher als Eingriff
in unsere Intimsphäre bzw. als ein unpassendes Eindringen der Technik in
die Einzigartigkeit der menschlichen Verbundenheit wahrgenommen wurde, wird nun - beispielsweise als „Wearable“-Technologie oder funktionale
Prothese - nur mehr bedingt aus unseren Innenräumen (oder auch Schlafzimmern) verbannt. Intimität ist interessant und verwertbar geworden, und
lässt sich mitunter als Datenmaterial neu konstruieren. Damit verschiebt
sich notgedrungener Weise das Verständnis der nichtöffentlichen Sphäre aus Sicht des modernen Menschen: jenes Bereiches, in dem wir uns
unabhängig von äußeren Einflüssen bewegen, und der in Demokratien
auch durch Menschenrechte geschützt ist. Während manche mit dieser
Verschiebung diverse düstere Zukunftsentwürfe verbinden, haben andere
sich mit der Ära der Post-Privacy bzw. dem Niedergang des persönlichen
Raumes vordergründig abgefunden.
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Arthur Schopenhauer hat einen Aspekt der Intimität in seiner Fabel von
der Liebe der Stachelschweine (porcupine love) sehr schlüssig veranschaulicht. Auf den ersten Blick hat diese Metapher wenig mit einer Betrachtung
digitaler Räume zu tun, auf den zweiten zeigen sich jedoch Parallelen: die
mit Dornen gespickten Tiere drängen sich zusammen, um sich aneinander aufzuwärmen, verletzen einander dabei aber selbst an ihren Stacheln.
Schließlich finden sie zu einer mäßigen Entfernung, aus der sie miteinander
eine angenehme Verbindung eingehen können und gleichzeitig vor zu viel
Eindringen der anderen in sensible Räume geschützt sind. Dieser Schutz
basiert auf Übereinkünften und Konventionen, die wir als Individuen fürund miteinander festlegen. Ebenso suchen wir nach einer angenehmen
Position im Dickicht digitaler Nähebekundungen: ein zu großes Eindringen
in unseren Intimraum erzeugt auch hier bei den meisten kein angenehmes Gefühl. Bei Schopenhauer geht es unter anderem darum, uns einen
kleinen aber wichtigen kritischen Raum zu bewahren, in dem wir ganz wir
selbst sein können, auch wenn wir dadurch einen Nachteil (für die Stachelschweine: den der Kälte, für das digitale Zeitalter: den des „disconnected“
seins) in Kauf nehmen müssen – oder wollen. Es scheint, dass wir heute
sehr individuell entscheiden, wo dieser doch sehr wichtige Raum für uns
anfängt – und dennoch braucht es abseits davon bestimmte allgemein gültige Konventionen. Der globale und offene Charakter der Informations- und
Kommunikationstechnologien hat auch Auswirkungen auf unsere Offenheit und Verletzlichkeit, und an der jüngeren Generation lässt sich diesbezüglich wohl eine andere Form von Sensibilisierung beobachten.
Ausgehend vom Festival-Thema „Intimacy“ des paraflows .9-Symposions
behandeln wir in diesem Band den Begriff der Intimität zuerst im analytischen Dreischritt, der sich von Techniken der Verbindung („Plug-In”) über
Strategien der Verwertung und Kontrolle („Exploit”) bis zu wechselseitigen
Pflegeverhältnissen von Menschen und Gerätschaften („Care”) erstreckt.
Ergänzt durch zwei Texte, die sowohl äußerst gewöhnliche als auch überaus ungewöhnliche Pornotopien hinsichtlich ihrer Funktion hinterfragen,
liefert der vorliegende Band eine bunte Fülle an Auseinandersetzungen mit
einem der wichtigsten Themen überhaupt: den menschlichen Verbindungen und darüber hinaus.
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PLUG-IN: TECHNIKEN DER VERBINDUNG
Digitalität ermöglicht es in zugleich integrativer und transgressiver Weise,
Schnittstellen zu bilden und Systeme zu vernetzen, die bisher kategorial
und substantiell verschieden waren. Neuartige Möglichkeitsräume werden
so erschlossen und neue Prothesen bereitgestellt, alte verbessert, präziser
und günstiger gemacht. Angesichts moderner Informationsarbeit wird der
Eindruck eines Cyborg-Daseins umso evidenter, je passgenauer wir in sie
verwoben sind.
Dass die Vernetzung der Systeme und die Nutzbarmachung von Schnittstellen eine grundsätzlich sexuell motivierte und Werkzeuge verwendende Spezies zu kreativen Höchstleistungen anspornt, klingt im Beitrag von
Johannes Grenzfurther an: „Sex und Technologie“ ist ein thematisches
Potpourri rund um die Zukunft der Vibratoren, der Fucking-Machines, der
Objektsexualitäten – und der Frage nach unseren Identitäten, die sich
schon 2050 eventuell in unsere Roboter verlieben werden. Wir können
annehmen, dass Technologien und deren Anwendungen auch in Zukunft
die menschliche Sexualität mitgestalten werden; fraglich ist nur, entlang
welcher Trendlinien diese Entwicklung verlaufen wird.
Einem medial zuletzt sehr präsentem Trend, dem der quantitativen Selbstvermessung, widmet sich der Text von Larisa Stanescu. In ihrer breiten Betrachtung namens ”A Quantified Selfie a day keeps the intimacy away “beschreibt sie, wie eine Bewegung wie die der „Quantified Self”-Community
der Gesellschaft und jeder/jedem einzelnen gewissermaßen einen Spiegel
vorhält, obwohl es für den Begriff selbst eigentlich keine klaren Grenzen
gibt. Angehörige dieser Community machen ganz bewusst sensibles Datenmaterial erfass- und verwertbar, um diese Daten mit anderen zu teilen
und zu vergleichen. Kennen wir das nicht bereits aus anderen Kontexten?
Womöglich. Während die Selbstvermessung bei Technik-Enthusiast_innen
jedoch zum bewussten Lifestyle wird, verschreibt sich Otto-Normal-Vermesser_in von nebenan, beispielsweise in sozialen Netzwerken, vielleicht eher
unbewusst einem ähnlichen Ritual. Was bedeutet das alles aber für unsere
Intimsphäre, und was passiert mit ihr, sobald die Daten, die wir liefern,
plötzlich online zu erwerben sind? Diese Form der Vermessung, so postuliert Stanescu, führe uns zum Innersten zurück, biete aber gleichzeitig
Gelegenheit, uns von unseren persönlichen Belangen zu distanzieren, und
die geringe Identifizierung mit dem Datensatz schaffe Platz für Enttabuisierung. Frank Apunkt Schneider und Günther Friesinger widmen sich in ihrem
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Beitrag einem sehr grundsätzlichem Spannungsverhältnis unter digitalen
Vorzeichen: dem von Nähe und Distanz. Das Private ist hier gewissermaßen das Digitale, und zwar in dem Maße, in dem die User_innen immer
mehr Züge ihrer Persönlichkeit in ihre Geräte auslagern. Diese netzbasierte
Kommunikation hat, wenn auch konditionierend, unseren Radius erheblich
erweitert und bringt uns in Kontakt mit Menschen und Weltausschnitten,
denen wir auf Basis der rein analogen Welt vermutlich niemals begegnet
wären. Dennoch, und hier stellt der Text sehr nüchtern und entgegen aller
Netzutopie fest, dürfen wir keineswegs annehmen, dass sich dadurch andere gesellschaftliche Beziehungsverhältnisse einstellen werden als jene,
denen wir in einer digitalen Version der kapitalistischen Ökonomie unterworfen bleiben. Wo Menschen einander auf digitalem Wege begegnen, tun
sie dies immer noch als Herr_innen und Knechte/Mägde, denn digitale
Machtstrukturen sind anpassungsfähig. Damit die Geräte, mit denen wir in
einem Naheverhältnis stehen, uns jedoch nicht selbst beherrschen, müssen wir dieses Miteinander bewusst aushandeln und gestalten.
prägen könnte, beispielsweise, indem Diskriminierungseffekte schwerer
nachvollzogen werden können, damit beschäftigt sich der Text ausführlich.
EXPLOIT: STRATEGIEN DER VERWERTUNG
UND KONTROLLE
Katharina Stöger und Thomas Ballhausen beschäftigen sich in „Paradoxe
Strategien“ mit Aspekten der „Intimität und Kontrolle im österreichischen
Spielfilm“, bei dem nicht selten gesamtgesellschaftliche Entwicklungen anhand privater Dramen abgehandelt werden. Häufig sind die intimen Beziehungen der betrachteten Filme unter Zwang entstanden, beispielswiese in
räumlicher Hinsicht in „Immer nie am Meer“. Eine vorgetäuschte Intimität,
die letztlich für diejenigen, die sie erzwingen wollen, nicht befriedigend ist,
findet sich auch in „Antares“. Nicht nur bei der räumlich bedingten Intimität
spielt die Ausübung von Macht und Kontrolle eine große Rolle. So fungiert
in Hanekes „Klavierspielerin“ die Sexualität als Ausdruck von Macht und
Kontrolle über den eigenen und andere Körper. Und in „High Performance“
ergibt sich durch die Verlagerung des Sexualaktes in den Dialog eine neue
Intimitätsdarstellung im österreichischen Kino. Dies sind nur einige der
Filmbeispiele, die der Text mit Schwerpunk auf Produktionen nach 1999
aufgreift und damit jüngere Tendenzen im österreichischen Spielfilm nachzeichnet.
Dass fast alles, was wir tun, heute in irgendeiner Form aufgezeichnet, überwacht oder gespeichert wird, erzeugt bei vielen ein Gefühl der Machtlosigkeit, das häufig mit einer gewissen digitalen Euphorie koexistiert. Wo
das bürgerliche Private immerhin noch Zufluchtsort vor einer von ökonomischen und ideologischen Interessen beherrschten Öffentlichkeit war – in
dem sich z.B. eine abweichende Sexualität und ein gewisses Maß an Nonkonformität ausleben ließen – erzeugt die Transparenz digitaler Lebensweisen neben vielen neuen Freiheiten auch einen Anpassungsdruck.
Der Beitrag von Wolfie Christl thematisiert die „digitale Vermessung und
Verwertung unseres Alltags“ und wirft einen genaueren Blick auf die gesellschaftlichen Risiken der digitalen Überwachung im Zeitalter von Big Data
und dem Internet der Dinge. Dieser Blick ist ein notwendiger, zumal das
Geschäft mit unseren persönlichen Daten bereits auf Hochtouren läuft.
Bei weitem sind es jedoch nicht nur soziale Netzwerke oder Google, die
als unsere Spione betrachtet werden können. Firmen erstellen Persönlichkeitsprofile und aus unserem Online-Verhalten lassen sich, so wird uns versichert, für die Allgemeinheit nützliche Prognosen (oder aber auch weniger
bequeme Schlussfolgerungen) ableiten. Wie dies zukünftig unseren Alltag
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Von der Überführung des privaten Moments in die öffentliche Sphäre handelt auch der Beitrag von Jos Diegel und Lisa Schröter. In „There is no/a sexual report - Entität, Identität und die Konstruktion eines relationalen San
Francisco“ konstruieren die beiden das intime Szenario einer 6-tägigen
Beziehung mündend in die „Arse Elektronika monochrom's Conference on
Sex and Technology!“. Nach ihrem Kennenlernen im Mai in Zürich, einigen
E-Mails und einem Treffen in Wasserburg am Bodensee im September sollte in San Francisco die Konstruktion einer Situation für Geschlechtsverkehr
und ein mögliches Geschlechterverhältnis entstehen. Diegel und Schröter
präsentieren ein paradoxes Verhältnis- und Beziehungsexperiment, das
private Liebesgesten zwischen Performance und Realität ansiedelt, entlang eines Live-Berichts. Unter anderem mit der Erkenntnis: „dass jede
Beziehung, jedes Geschlechterverhältnis einzigartig ist“ und daher immer
wieder neu konstruiert werden muss.
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CARE: ZUM PFLEGEVERHÄLTNIS VON
MENSCH UND GERÄTSCHAFTEN
DIGITALE PORNOTOPIE: FANTASIEN
UND DEKONSTRUKTIONEN
Worin besteht jene Erotik der Geräte, die wir an ihnen bemerken, ohne
wirklich benennen zu können, was diese ausmacht? Die dauerhafte - und
wechselseitige - Pflege der Verbindungen und der Verbundenen ist im digitalen Zeitalter, so scheint es, unabdingbar: Software muss aktualisiert
werden, Statusmeldungen und Profileinträge sind aktuell zu halten, die
Kommunikation der Beteiligten darf nicht abreißen. Das kann süchtig machen oder zum völligen Rückzug ins Digitale führen. Aber warum sollte die
Intimsphäre ausschließlich in Bezug auf andere Menschen gelten?
Technologie schleicht sich in unsere Fantasien ein und ermöglicht oftmals
eine ungewöhnliche und analog kaum darstellbare Auseinandersetzung mit
unserer Sexualität – nicht nur über Porno-Portale, Homeporn-Videos oder
Partnerbörsen. Relativ jung ist das Subgenre pornografischer Spielfilme,
das Tina Lorenz in ihrem Beitrag „‚Taking a Cue‘. Zur Repräsentation von
Technologie in drei heterosexuellen Mainstream Pornografie-Filmen“ genauer unter die Lupe nimmt. Im gegenwärtigen heterosexuellen Pornofilm
ähneln die Charakteristika denen eines Musicals. Darüber hinaus kommentiert der Einsatz der Technologie in Pornos immer auch den technischen
Fortschritt der Gesellschaft - so behält sich „Porn Wars 2“ beispielsweise
sehr viel Zeit für die Darstellung von High-Tech vor und die Lichtschwerter
der Jodis haben die Form von Dildos. Allgemein wird viel an der Verschränkung von Technologie und Pornografie getüftelt, weshalb – so die These –
dies auch verstärkt Thema zukünftiger pornografischer Filme sein wird.
Das fragt sich Philipp Rössl in seinem Beitrag „Über die Möglichkeiten und
Grenzen menschlicher Intimität“, denen er entlang des japanischen Phänomens des Hikikomori (jap. ひきこもり, 引き籠もり oder 引き篭り,) nachspürt.
Genaugenommen geht es Rössl um die Frage, ob es im streng genommenen Sinne des Begriffs „digitale Intimität“ möglich ist, einer Maschine oder
einem Programm gegenüber intime Gefühle zu entwickeln, und ob beim
Hikikomori (ein/e völlige/r soziale/r Rückzügler_in, meist zwischen 15 und
35 Jahre alt) das Bedürfnis nach Intimität durch ein digitales Medium kompensiert werden kann.
Um auch einen weniger digitalen geprägten Blick auf das Phänomen der
Intimität zu werfen, ist diesem Band ein Interview mit Monika Noisternig,
Sexualbegleiterin bei LIBIDA, beigefügt. Am paraflows-Symposion erzählten zwei österreichische Sexualbegleiterinnen über ihre Erfahrung mit der
Berührung, ihre Grenzen und ihren Zugang zum Thema Intimität. Berührungen werden oft als Gegenteil der digitalen Kommunikation wahrgenommen. Diese unmittelbarste Form der menschlichen Kommunikation ist gerade für Menschen mit Behinderung oft unerreichbar, weil deren Sexualität
leider oft immer noch ein Tabu darstellt. Hier setzt Sexualbegleitung an: bei
Menschen, die aufgrund von körperlichen, geistigen, altersbedingten oder
psychischen Einschränkungen Probleme im Erleben bzw. Ausleben ihrer
Sexualität haben.
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Mit „GUROchan: Perversion im Imageboard und die Neuerfindung der Körper“ schließt dieser Band einen Beitrag von Christian Heller ein, der angesichts schnellebiger Internet-Kultur hier als eine Art Archiv bzw. historisches Dokument verstanden werden kann. GUROchan als Imageboard gibt
es mittlerweile nicht mehr, und doch erscheint uns die Veröffentlichung
dieses Textes im Hinblick auf sein Potential zum Durchque(e)ren von Konventionen der Mainstream- oder Heteronormativität bzw. deren Bewusstmachung sehr sinnvoll und überaus inspirierend. Für all jene, die dachten,
einen guten Überblick über die im Netz auffindbaren Fetische und erotischen oder sexuellen Randneigungen zu haben: Lesen Sie trotzdem mal
rein! Abseits des Kuriositätenfaktors liegt der Analyseschwerpunkt des Textes auf dem Potential der GUROchan-Bilder im Hinblick auf ein Neudenken
des menschlichen Körpers und seiner Rekonstruktion.
Das Gegenteil von Einsamkeit ist, wie bereits angedeutet, nicht das Zusammensein, sondern Intimität. Im 21. Jahrhundert präsentiert sich diese zu
einem großen Teil technophil, maschinell und medial unterstützt und im
semi-öffentlichen Raum - it's complicated.
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PLUG-IN
TECHNIKEN DER VERBINDUNG
SEX UND TECHNOLOGIE
JOHANNES GRENZFURTHNER
Von den tausende Jahre alten Höhlenzeichnungen einer Vulva bis zum neuesten Gonzo-Google-Glass-Porno-Live-Stream – Technologie und Sexualität
waren schon immer eng miteinander verbunden. Niemand kann vorhersagen, was die Zukunft bringen wird, aber der bisherige Lauf der Geschichte
legt nahe, dass Sex auch in Zukunft eine essentielle Rolle in der technologischen Entwicklung spielen wird und dass Technologie und deren Anwendung die menschliche Sexualität beeinflusst und gestaltet. Stammtischgespräche über das Thema sind alltäglich und übertrieben („Das Internet ist
90% Sex!“), und auch irgendwie kulturpessimistisch-lustlos. Die Gespräche
laufen immer nach denselben Mustern hab. Technologie würde uns entfremden - wo blieben denn die wahren Gefühle, die richtige Kommunikation zwischen den beseelten Körpern? Technologie habe in der Sinnlichkeit der zarten und heiligen Zwischenmenschlichkeit nichts verloren. Aber
Obacht! Zäumt euer Gejammer! Die Wirklichkeit ist nicht Neil Postmans
Wichsvorlage! Wir dürfen nämlich die beiden fundamentalen Wahrheiten
der menschlichen Spezies nicht vergessen: Wir sind sexuelle Wesen. Und
wir verwenden Werkzeug. Und das war‘s eigentlich auch schon. Der Rest ist
davon abgeleitet, ist Spekulation oder simple Selbstüberschätzung.
Menschen sind zu kreativen Höchstleistungen fähig, wenn es um Sex geht.
Wir haben unsere Vorlieben und Kinks, und wir tun alles, damit sie wahr
werden können. Dass wir in einem patriarchalen Machtgefüge feststecken,
macht das ganze natürlich einseitig und verzerrt und der männliche Blick
hat sich tief in die Fundamente unserer Zivilisation gegraben. MainstreamPorn zeigt dies sehr deutlich. Aber unser Umgang mit Technologie kann
dabei helfen, dies zu verändern. Sind Menschen bereit für (sexuelle) Freiheit? Marx kategorischer Imperativ ist, alle Verhältnisse umzuwerfen, in
denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein
verächtliches Wesen ist. Und das gilt natürlich auch (und wird leider immer
wieder vergessen) für die privaten und sexuellen Beziehungen, in denen
wir uns befinden. Dies gilt für die heteronormative Durchschnittstristesse,
aber auch für andere Konstellationen. Auch im BDSM muss wirklich darauf geachtet werden, dass die gespielten Verhältnisse nicht in reale Unterdrückungsmomente umkippen. Das Messer des Kink ist spitz, und reale
Machtverhältnisse entstehen schneller als wir es uns eingestehen wollen.
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Technologie ermöglicht uns, uns auch neu zu erfinden. Nicht im Sinne eines konsumistischen Zugriffs zu Luxus-Tools, sondern in der Frage nach
den persönlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen, die unterrepräsentiert sind und gestärkt werden sollten.
Sex-Technologie bieten breite Fronten des (kommunikativen) Widerstands:
Teledildonik und Sex Machines, Bio-Hacking und Screw-It-Yourself, Körper
mit erweiterten sexuellen Möglichkeiten, erotisch-genetische Utopien und
die Vielfalt der Sichtweisen auf Gender und Geschlecht sind schon lange
im Fokus der Literatur, der Science Fiction, der Pornografie. Zeit genug,
sich diesen Träumen und Wünschen sowohl analytisch als auch sinnlich
zu widmen. Gejammert wird klarerweise viel darüber. Einerseits natürlich
von konservativer Seite (eh klar), aber auch von liberaler und linker. Den
„wirklich Unterdrückten“ würde das doch alles nichts bringen. Diese Leute
hätten doch andere Sorgen. Da „würden sich doch ohnehin nur ein paar
Bobos gut vorkommen“, die auf „Luxus-Widerstand“ und „ein bisserl anders sein“ stehen. Wären doch alles nur Privilegien! Andere Kampfzonen
des Widerstands wären jedenfalls dringlicher. Und dennoch liegen diese
distinktionsgewinnlerischen Naserümpfer_innen falsch. Sie spielen auf Abgrenzung zur so genannten „wirklichen Politik“ (was auch immer das sein
möge) und verkennen dadurch die gewitterwolkenfarbige Gegenwart des
globalen Kapitals. Mit dem Postfordismus hat sich die Logik des Produktionsprozesses verändert. Nun ist eine widerständische, subversive Politik
der Zeichen eine handfeste Intervention im Zentrum der Gesellschaft. Sex
und Technologie ist nicht nur eine Debatte um die Zukunft der Vibratoren, Sex-in-Videogames, der Fucking-Machines, des Google-Calendars-fürPolyamoröse, sondern eine Frage zu Identität und wie wir unsere Körper
definieren. Die Entscheidung von Facebook, ein breiteres Spektrum an
Gender-Einstellungen bereitzustellen, war für viele Leute da draußen ein
fundamentaler Tag des Triumphs. Warum ist das wichtig? Facebook ist die
größte Dating-Seite der Welt. Ein Lebensraum. Natürlich gibt es viele Kritikpunkte an Facebook. Auch die Pharmaindustrie muss in erster Linie ihren
Shareholder_innen Rede und Antwort stehen, aber vergessen wir nicht,
dass die Pille und Viagra sexuelle (Bio-)Technologien sind, die unsere Welt
radikal verändert haben. Verkürzte Kapitalismuskritik hat noch nie jemandem etwas gebracht. Es gilt, Chancen zu nützen, die sich bieten.
erklären, damit sich diese Diskussion endlich erledigt hat?“ Meine zweite
Reaktion ist realistisch: „Das passiert doch sowieso jeden Tag.“ Wir lieben Muster, und unsere Mustererkennungssysteme suchen sie überall.
Wir wollen uns in der Welt wiederentdecken. Wir sehen Gesichter in jedem Haufen Laub. Wir sprechen mit Verkehrsampeln als wäre es ein magisches Ritual. Wir glauben, dass unser WinWord uns hasst, wenn es wieder
einmal abschmiert. Es gibt Leute, die sind in ihren Hund verliebter, als in
ihre/n menschliche/n Partner_in. Und es gibt Leute aus dem Bereich der
Objektsexualität, die bereits den Eifelturm geheiratet haben oder die Reste
der Berliner Mauer. Die Bandbreite menschlicher Empfindungen und Sexualitäten (sic!) ist unendlich groß. Deswegen halte ich es mit Foucault. Es ist
nicht wichtig „Was“ wir wissen wollen, sondern „Warum“ wir etwas wissen
wollen.
Zuerst erschienen in De:Bug 181
Der Brite David Levy prognostiziert, dass wir uns bis zum Jahr 2050 in Roboter verlieben und sie sogar heiraten werden. Meine erste Reaktion ist
sarkastisch: „Klasse, können wir dann Homosexuelle kurzum zu Robotern
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A QUANTIFIED SELFIE A DAY KEEPS
THE INTIMACY AWAY
LARISA STANESCU
Die kontinuierliche Optimierung aller Lebensaspekte ist das Credo der Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Die Selbstvermessung ist ihr heiliges Ritual.
Der Wunsch nach einem besseren Leben verlangt das Sammeln von Daten. Ob mit stylischen Gadgets oder selbstgebastelten Instrumenten - diese
Bewegung führt die Menschen Schritt für Schritt in ein Wettrennen um das
eigene Wohlergehen.
Die Befürworter_innen der Quantified Self-Bewegung sehen alltägliche Aktivitäten mit der Experimentier-Brille, wobei sie selbst das Versuchskaninchen sind (n=1).
Sie tracken alle nur vorstellbaren Aspekte des Lebens. Fitnesslevel,
Schlafverhalten, Beziehungsqualität, Finanzen bis hin zur Herzaktivität,
alles wird aufgezeichnet. Am Ende interpretiert man diese Messresultate
und veröffentlicht sie online. Einerseits um andere zu inspirieren, andererseits um Peer Reviews und Feedback zu bekommen.
Wie jeder Trend hat die Quantified Self-Bewegung auch Kritiker_innen. Ein
Nachteil ist das Zugänglichmachen der gesammelten Daten. Durch die
fehlende Privatsphäre verwandeln sich diese sensiblen Daten in wertvolle
Werbeindikatoren. Zusätzlich rückt die Gier nach Daten uns selbst in den
Vordergrund, ohne die Folgen zu hinterfragen. Die Quantified Self-Bewegung hält nicht nur der Gesellschaft einen Spiegel vor Augen, sondern auch
jeder/m einzelnen von uns. Sind wir bereit, diesem Blick standzuhalten?
WHAT DOES QUANTIFIED SELF MEAN?
Gary Wolf und Kevin Kelly sind die Begründer der Quantified Self-Community. Sie haben diesen Begriff geprägt und definieren ihn als „Selbsterkenntnis durch Daten“ (self knowledge through data). Das Hauptaugenmerk
liegt dabei auf der freiwilligen Erhebung von Daten aller Art und Qualität
- man spricht von „patient driven healthcare”. Einzelne Personen entscheiden sich, regelmäßig Daten über das eigene Leben, die Umwelt und ihr
Verhalten zu erheben und diese in Form von Diagrammen, Graphen oder
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Reflexionen auszuwerten. Dazu gehören biologische, psychologische und
physiologische Messwerte, aber auch umwelt- und verhaltensbezogene Informationen.
Quantified Self bleibt jedoch weiterhin ein flexibler Begriff, der durch die
technologische Weiterentwicklung modelliert wird. Es gibt keine klaren
Grenzen, wo die Bewegung anfängt und endet. Die gängigsten Messungen
beziehen sich auf Gewicht, Kalorienzufuhr und -verbrennung, sportliche
Aktivitäten oder Stimmung. Die Zunahme und Verbreitung von günstigen
Sensoren führt zu komplexeren Messungen. Somit wird die Bewegung
mehr und mehr zum Mainstream. Mütter, die ihre Schwangerschaft überwachen, sind keine Ausnahme mehr. DNA-Sequenzierung um die Herkunft
und Krankheitswahrscheinlichkeiten zu identifizieren ist bereits für Studenten leistbar. Leistungsprofile und Effizienzmessungen über die Herzaktivität werden in Unternehmen zur Norm.
BUT FIRST LET ME TAKE A QUANTIFIED SELFIE
Die Zahl der Healthcare Apps und Gadgets nimmt täglich zu. Ein Grund
dafür ist der technologische Fortschritt im Bereich der Datenspeicherung
und -verarbeitung. Auch Mobilität und die Verbesserung biometrischer Sensoren sind Faktoren, die den Health-Sektor beeinflussen. Smartphones
vereinen sowohl Kommunikationstool als auch Rechenleistung in einem
einzigen Gerät, das bequem in jede Hosentasche passt. Die letzten Smartphones und Smartwatch-Modelle sind zusätzlich zu GPS, Internetzugang,
hochqualitativen Kameras und Tonaufnahme mit neuen Funktionen und
verbesserten Sensoren ausgestattet. Heart Rate Sensor, Beschleunigungssensor, Kreiselinstrument (Gyroscope), Drucksensor, Temperatursensor
oder Sensoren zur Messung der elektrodermalen Aktivität gehören zur Basisausstattung der neueren Geräte. Sie mutieren zur Erweiterung unserer
Sinnesorgane und werden zunehmend unverzichtbar.
Im letzten Jahr haben die Tech-Giganten diesen Trend aufgegriffen und eigene Health-Plattformen gestartet. Google Fit, Apple Health oder Microsoft
Health sprechen als Datenspeicher-Hub User_innen an, die ihre Gesundheit in die eigenen Hände nehmen möchten. 2014 gab es bereits über
100.000 Apps für Android und iOS im Mobile Health-Sektor.
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Parallel dazu mehren sich in der Startup-Szene Unternehmen, die an smarten Gegenständen basteln. Sie entwickeln Becher, die das Trinkverhalten
messen inklusive Substanzerkennung und Kalorienzähler, lernfähige Vibratoren, vernetzte Zahnbürsten, eine nörgelnde Roboter-Mutter, die als
Reminder für alltägliche Tasks dient und tweetende BHs. Sie helfen uns,
schlechte Gewohnheiten zu korrigieren oder störende Kleinigkeiten aus
dem Alltag zu entfernen. Der Enthusiasmus gegenüber diesen Gadgets
lässt sich anhand der zunehmend erfolgreichen Crowdfunding-Kampagnen
ablesen: Selbst die Produktion der Prototypen wird von den datengetriebenen Endkonsument_innen finanziert.
Unser Datenportrait gewinnt an Schärfe. Hard- und Software-Unternehmen
werden immer einfallsreicher was Lösungsansätze betrifft. Sie zielen darauf ab, uns gesund und fit zu machen, aber auch beschäftigt zu halten.
Allerdings werden wir von unserer intrinsischen Neugierde getrieben, unser
Quantified Selfie zu perfektionieren. Im Zwiespalt zwischen Lifestyle und
Healthcare geben wir immer mehr Informationen über uns Preis. Im Streben, uns von der besten Seite zu zeigen, werden wir immer transparenter
und offener. Wir quantifizieren unsere Intimitäten, um sie mit anderen zu
teilen und dann zu vergleichen.
SELFTRACKING AS A LIFESTYLE
Die Selbstvermessung als Lifestyle kann man bei Tech-Enthusiast_innen
erkennen.
Early Adopters testen die neuesten Apps und Gadgets einzig aus Liebe
zur Technologie.
Sie versuchen weder, ein vordefiniertes Problem zu lösen, noch Hypothesen über ihren Wohlstand aufzustellen. Das Ziel des Trackings ist die
Datenerfassung per se.
Chris Dancy ist der vernetzteste Mensch der Welt (the most connected man
in the world).
Er hat die Selbstvermessung zum Lifestyle gemacht und lässt sich von
bis zu 700 Sensoren täglich vermessen. Jeder Aspekt seines Lebens wird
aufgezeichnet. Von biologischen Signalen über soziale Beziehungen bis hin
zu Umgebungsinformationen ­– alles wird festgehalten. Die über Jahre hinweg gesammelten Daten haben ihm geholfen, in nur zwölf Monaten über
45 kg Körpergewicht mit Hilfe einer „Datendiät“ abzunehmen. Mithilfe
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seiner Aufzeichnungen konnte er feststellen, an welchen Tagen er das beste Verhältnis zwischen Kalorienaufnahme und -verbrennung erreicht hatte.
Diese Tage wurden genau unter die Lupe genommen und analysiert: in
welchen Lokalen er verkehrte, welche Tätigkeiten er ausübte und die Personen mit denen er sich unterhielt. Schlussendlich musste er diese Tage
nur noch replizieren um seinen Lifestyle zu verbessern.
Sensoren lassen sich nahtlos in unseren Alltag integrieren. Wir brauchen
uns bloß um ihre Akkus zu kümmern und sie widerspiegeln Gewohnheiten, derer wir uns mitunter gar nicht bewusst sind. Sie können Symptome
unseres mentalen Zustands aufdecken, Verhaltensmuster zeigen und vernetzen uns mit der Umgebung. Somit nehmen sie auf subtile Weise Platz
in unserer Intimsphäre ein. Chris Dancy hat dafür den Begriff INNERnet
geprägt. Das INNERnet ermöglicht es ihm, seinen innersten Zustand auf
den Wohnraum zu projizieren. Sobald er sein Haus betritt, synchronisieren
sich die Gadgets an seinem Körper mit jenen in der Wohnung. Sie passen
automatisch Temperatur, Beleuchtung, Musik usw. an seine Laune an. Die
äußere Umgebung wird zur Verlängerung seiner Persönlichkeit. Die Intimsphäre und sein Befinden werden von seinen vier Wänden verstärkt.
Doch er ist nicht der einzige, der von seiner Datensammlung profitiert. Im
Hintergrund der benutzen Apps und Gadgets werden die Daten mehrfach
verarbeitet. Zum einen dient die Verarbeitung den Nutzer_innen, denn sie
bekommen ihre Aktivität in aussagekräftigen Diagrammen aufbereitet.
Zum anderen werden die intimen Daten weiterverkauft. Laut Financial
Times ist ein Datensatz aus einem Bündel von 1.000 Personen ungefähr
0,083$ Wert. Somit werden unsere Selbsterkenntnis und die dazu gehörige Intimsphäre zu einem profitablen Geschäftsmodell für viele Unternehmen. Das Problem liegt also nicht in der Veröffentlichung der Informationen, sondern im indiskreten Umgang der Unternehmen damit.
QUANTIFIED SELF KILLED INTIMACY
In einer Welt, in der man jedem Klick eine Intention, eine Emotion oder
ein Befinden zuordnen kann, bekommt die Frage nach Intimität zunehmend Berechtigung. Laut Wikipedia kann Intimität nur in der Intimsphäre
herrschen. Das ist ein persönlicher Bereich, den nur bestimmte Personen
betreten dürfen, der alle weiteren Außenstehenden nicht betrifft. Doch
was passiert mit unserer Intimsphäre, sobald die Daten, die unser Körper
liefert, plötzlich online zu erwerben sind? Oder unsere Befindlichkeit als
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Grundlage für den Verkauf weiterer Produkte eingesetzt wird? Für unser
Quantified Selfie halten wir uns zwar die Kamera vor die Nase, aber jemand
anderes drückt den Knopf.
Intimität als Zustand tiefster Vertrautheit wird durch die Quantified SelfBewegung abgelöst. Routinierte Messungen und die Selbstanalyse anhand
von Daten können ambivalente Auswirkungen haben. Im besten Fall finden wir zufriedenstellende Resultate über uns. Ein guter gesundheitlicher
Zustand, Fortschritt bei den Übungen oder bei der Ausdauer können uns
für weitere Vermessungen motivieren. Jedoch wird man beim Tracking des
Öfteren auch mit weniger angenehmen Aspekten konfrontiert. Die Genauigkeit der Daten kann man nicht verleugnen. Im Sinne der Quantified SelfKultur hinterfragt man eher die Gegebenheiten, während Intimität auf Empathie beruht.
Die Selbstvermessung führt uns zum Innersten zurück, bietet aber gleichzeitig Gelegenheit, uns von unseren persönlichen Belangen zu distanzieren. Das Ich ist im Zuge der Vermessung sowohl Subjekt als auch Objekt.
Man ist Beobachter und wird gleichzeitig beobachtet. Als Subjekt tritt man
in die aktive Rolle des Experimentators bzw. der Experimentatorin. Die Perspektive des zu beobachtenden Objektes ermöglicht eine gewisse Distanzierung vom Selbst. Das Ergebnis der Vermessung ist bloß ein Datensatz,
der frei von Gefühlen und Erinnerungen ist. Die geringe Identifizierung mit
dem Datensatz schafft Platz für Enttabuisierung. Unser Selbst löst sich von
unseren Umständen los und kann nun optimiert werden.
WEITERFÜHRENDE LITERATUR UND LINKS
–– Ehrenberg, Billy: How much is your personal data worth?, http://www.theguardian.com/news/datablog/2014/apr/22/how-much-is-personal-data-worth
–– mhealth developer economics report, http://mhealtheconomics.com/mhealthdeveloper-economics-report/
–– Nißen, Marcia, Die Bedeutung der Quantified Self-Bewegung im gesundheitsorientierten Kontext. Seminararbeit, http://igrowdigital.com/wp-content/uploads/2012/05/Seminararbeit-Selbstquantifizierung_Marcia-Ni%C3%9Fen.pdf
–– Wainwright, Oliver, Rise of the "inner-net": meet the most connected man on the
planet, http://www.theguardian.com/artanddesign/architecture-design-blog/
2014/mar/19/inner-net-most-connected-man-earth-fitness-trackers-data
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DAS DIGITALE NÄHE-DISTANZ-PROBLEM
FRANK APUNKT SCHNEIDER/GÜNTHER FRIESINGER
VOM TECHNOLOGISCHEN ZUM DIGITALEN MENSCHEN
Seit jeher gehört es zum Wesen des Menschen, sich technologischer Artefakte zu bedienen, um auf diese Weise jene Beschränkungen aufzuheben,
die ihm durch Form, Ausstattung und Reichweite seines Körpers auferlegt
sind.
Die Erweiterung und Aufwertung des Körpers durch Hilfsmittel markiert
in einem gewissen Sinne den Ausgangspunkt der menschlichen Gattungsgeschichte: Im Gebrauch von Werkzeugen löste sich der frühzeitliche Homo
sapiens von der Naturverfallenheit der Tiere. Seine Gerätschaft hat sich
im Laufe der Evolution von bearbeiteten Fundstücken (etwa Tierknochen
oder Steine als Jagdwaffen) in komplexe funktionale Systeme ausdifferenziert, und in der Herstellung und Auseinandersetzung mit Technik bildete
sich ein spezifisch menschliches Denk- und Vorstellungsvermögen heraus,
in dem sich einfache Beobachtungen und Erfahrungen zu abstrakten Begriffen verdichteten und zweckmäßige Überlegungen den Grundstein für
ganze Denkgebäude und kulturelle Ordnungen legten. Die Fähigkeit, Hilfsmittel zu konzipieren, herzustellen und immer weiter zu optimieren, steht
also in einem Wechselwirkungsverhältnis mit jenem Geist, der sich an ihnen bildet. Wie einfach oder komplex Technik letztlich ist – primitiver Knochen oder Rechenzentrum – spielt dabei keine besondere Rolle. Wie die
Eingangssequenz von Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ eindrucksvoll nahe legt, ist im Knochen das Rechenzentrum bereits angelegt.
Menschliche Entwicklung lässt sich als Abfolge technologischer Innovationen begreifen, bei der einfache durch komplexe Werkzeuge ersetzt
werden, die ganzen Epochen ihren Stempel aufdrücken und sogar den
Namen geben, wie im Falle der Dampfmaschine oder des Computers. Die
jeweils verfügbare Technologie ist der Maßstab für die Entwicklungshöhe
des Menschen, weil sie ihn aus seinem Abhängigkeitsverhältnis gegenüber
der Natur befreit, das auf diesem Wege allerdings gegen ein neues eingetauscht wird. Der moderne Mensch ist in derselben Weise abhängig von
Technik, wie es seine Vorfahren einmal von den Launen der Natur waren.
Der Ausfall der technologischen Grundversorgung – z.B. durch die Zerstörung ihrer Infrastruktur in Folge von Natur- oder Zivilisationskatastrophen –
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führt zu einem vorübergehenden oder dauerhaften Zusammenbruch der
Gesellschaft, wie ihn uns dystopische Science-Fiction-Erzählungen oder
der berüchtigte New Yorker Blackout im Jahre 1977 gezeigt haben. Auch
daran lässt sich ermessen, wie stark das menschliche Leben mit Technologie verwachsen ist, und zwar auf eine Weise, die wohl am augenfälligsten
in der medizinischen Prothese (als Ersatz für beschädigte oder fehlende
Körperglieder) zum Ausdruck kommt. Hier wird das Artefakt zum Körperteil. Die Grenze zwischen den beiden lässt sich nicht mehr eindeutig bestimmen. Brillen etwa sind Bestandteil jenes Gesichtes, das sie trägt, um
sein Sichtfeld zu erweitern. Wie Haarfarbe oder Größe werden sie zur Eigenschaft der Person. Von ihr zur Kontaktlinse und zum Netzhautimplantat
ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Beide verfeinern die zugrunde liegende Idee lediglich entlang des jeweils Machbaren.
Das unaufhaltsame Vordringen technologischer Artefakte und Prinzipien
in immer mehr und immer intimere Lebensbereiche kann durchaus Gefühle der Entfremdung auslösen – manchmal bis zum gefühlten Verlust der
„Menschlichkeit“. Das hat auch damit zu tun, dass der technische Fortschritt nicht selten mit Zwang und zum Zwecke ökonomischer, bürokratischer oder militärischer Machtausübung exekutiert wird. Das sind jedoch
keine Wesenszüge des Technischen, sondern diejenigen von Menschen,
die sich ihrer bedienen. Die Entfremdung, die uns in Technik begegnet, ist
also in einem gewissen Sinne bereits das Ergebnis ihrer Vermenschlichung.
Zerstörung, Rationalisierung oder Profitmaximierung sind ihr selbst ebenso
fremd wie Glück und Wohlstand. Dass sie selbst menschliche Züge annimmt, wo sie Menschen bedroht, unterdrückt, ausbeutet und beherrscht,
zeigt, wie eng sie sich mit denen verbunden hat, die über sie verfügen.
Dass der Technik selbst also etwas Abstraktes, Kaltes und Funktionales anhaftet, hat hierin seinen Grund. Ihre Kälte ist jedoch stets nur der Ausdruck
jener menschlichen Kälte, auf der die kapitalistische Ordnung beruht.
Mit jedem technologischen Entwicklungssprung ist uns Technik immer näher gekommen, um sich mit noch mehr Lebensäußerungen zu verbinden,
nicht nur in Form jener Applikationen und Geräte, mit denen wir selbst
täglich umgehen. Auch unsere Nahrung ist das Ergebnis technischer Produktion, zwischenmenschliche Beziehungen werden in prägender Weise
von Kommunikations- und Verkehrsmitteln bestimmt und die scheinbare
Natur, die uns umgibt, ist technisch gestaltet und manchmal bereits krisenhaft verändert, wie der so genannte „Treibhauseffekt“ zeigt.
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Schon für den steinzeitlichen Menschen dürfen wir ein inniges Verhältnis
zu seinen Werkzeugen annehmen. Vermutlich wird er sie stets in Griffweite aufbewahrt haben, weil ihre Nähe ihm ein Gefühl der Sicherheit (vor
Feinden und vor Diebstahl) vermittelte. Sie waren nämlich nicht bloß Mittel
zum Zweck, sondern die Insignien seiner Macht. Wie seine heutigen Nachfolger_innen bezog er sowohl Selbstbewusstsein als auch sein Selbstverständnis aus der Technologie, über die er verfügen konnte. Archäologische
Funde belegen, dass der stein- und bronzezeitliche Mensch seine Werkzeuge manchmal sogar mit in sein Grab nahm, statt sie einfach weiterzugeben. Zum pragmatischen Aspekt tritt also bereits hier eine psychologische Komponente hinzu, wie sie sich nicht zuletzt daran zeigt, dass schon
frühgeschichtliche Werkzeuge Spuren von Design aufweisen. Sie waren
ästhetisch gestaltet, und das in einer Weise, die sich nicht zufrieden stellend aus ihrem Gebrauchszweck erklären lässt. Ihr „Design“ ist Ausdruck
psychischer Nähe, die rituelle, fetischistische, selbstreferentielle, hierarchisierende und kulturstiftende Dimensionen besitzt.
Mit der steigenden technologischen Durchdringung von Gesellschaft und
Subjekt hat sich dieses Verhältnis nicht verändert aber entschieden intensiviert. Technologie durchformt heute so gut wie alle Bereiche unseres
Seins, und Mensch und Technik sind sich dabei so nahe gekommen wie
niemals zuvor. Technik dringt dabei in immer intimere Lebensbereiche
vor – und das nicht bloß in Form von Prothesen und Implantaten oder so
genanntem „Sexspielzeug“ – weil sie immer besser in der Lage ist, sich
den menschlichen Bedürfnissen anzuschmiegen und reibungslos auch
noch den differenziertesten Lebensäußerungen so einzufügen, wie das
künstliche Hüftgelenk und der Herzschrittmacher in den Bauplan des
menschlichen Organismus. Dergestalt lebt der moderne Mensch in einem
„enhanced“-Modus, in dem die Übergänge zwischen ihm und seinen Hilfsmitteln verschwimmen. In einem gewissen Sinne stellt der digitale Mensch
also eine Zweipunktnullversion des technischen dar.
DER DIGITALE MENSCH ALS CYBORG
Das Prinzip der digitalen Technologie ist nicht die Überwindung der analogen, sondern deren Komprimierung in ein und dasselbe handliche Gerät
auf der Basis eines universellen binären Codes. Es bündelt jene Möglichkeiten auf kleinstem Raum, die die technischen Hilfsmittel uns an die Hand
gegeben haben: Tonstudio, DVD-Player, Fotoausrüstung - das alles gehört
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zur Standardausstattung eines Laptops und spart uns dadurch Zeit, Geld,
Platz und organisatorischen Aufwand.
Seine weitreichende lebenspraktische Verschmelzung mit Computer und
Internet macht den digitalen Menschen zu einem Hybridwesen an der
Schnittstelle von Mensch und Technologie: zum Cyborg, der seine technologische Grundausstattung beinahe ununterbrochen am Leib trägt. Noch
sind ihm keineswegs serienmäßig jene Schnittstellen zwischen Körper
und technischen Applikationen implementiert, die uns Cyborg-Utopien
oder -Dystopien vor Augen gestellt haben. Aber die immer weiter reichende
Komprimierung von Rechnerleistung zu kleinen, alltagstauglichen „handhelds“ macht digitale Technologie zum ständigen Begleiter, auch ohne die
menschliche Körperoberfläche zu durchstoßen. Mit dem Smart Phone können wir uns fast überall ins Netz einwählen (sofern Netzzugang vorhanden
ist) und mit sehr spezifischen Informationen versorgen, etwa mit auf unsere persönlichen Bedürfnisse abgestimmten Umgebungskarten. Anderen
teilen sie – nicht immer zu unserem Vorteil – mit, wo genau wir uns gerade
befinden oder zu einem gegebenen Zeitpunkt gewesen sind. Sie binden
uns in eine informationelle Metastruktur ein, zu deren Bestandteil wir in
dem Maße werden, in dem wir uns auf die allerneusten Geräteupdates
einlassen und zugeschaltet bleiben.
Die digitale Intensivierung der Nähe von User_in und Gerät wird dadurch
verstärkt, dass digitale Geräteeinstellungen sich vielfach variieren lassen.
Dadurch entsteht der Eindruck von etwas ganz Persönlichem, ausgesprochen Individuellem. „Unseren“ Klingelton erkennen wir unter vielen anderen, und unsere ganz privaten Inhalte können wir überall abrufen, sodass
wir nicht länger – wie noch zu Zeiten des batteriebetriebenen Kofferradios –
auf fremde Playlists angewiesen sind. Kleinbildschirm und Kopfhörer bieten die Möglichkeit zu privatem Rückzug. Egal wo wir uns gerade befinden,
tragen wir unser digitalisiertes Zuhause mit uns herum. Die traditionellen
Funktionen der Privatsphäre können wir in jedem Zugabteil oder Wartezimmer abrufen.
Das Private ist in einem gewissen Sinne also das Digitale, und zwar in dem
Maße, in dem die User_innen immer mehr Züge ihrer Persönlichkeit in ihre
Geräte auslagern. Die Durchsetzung des Computers als Leitmedium nahm
ihren Ausgang in wuchtigen Standrechnern, die dem Digitalen einen festen
und vor allem exklusiven Ort in unserer Lebenssphäre zuwiesen (etwa den
Schreibtisch). Spätestens mit der Einführung des Laptops wurde er aber
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mobil. Mit dem Smart Phone können wir uns in der Kneipe und sogar auf
kurzen S-Bahn-Fahrten in die digitale Welt einloggen, die sich – gleichsam
unsichtbar – über die analoge gestülpt hat. Je handlicher das Gerät, desto
kürzer die Intervalle, in denen wir es benutzen; und wer es nicht bewusst
ausschaltet (um vorübergehend den Luxus zu genießen, nicht erreichbar
zu sein) beteiligt sich unablässig an einer Kultur, die permanent sendet
und empfängt und auf diese Weise gigantische Datencluster erzeugt.
Unsere reale Cyborgwerdung fällt also weit unspektakulärer aus als es sich
die Science Fiction vorgestellt hat. In ihr waren Cyborgs meist posthumane
Horror- oder Allmachtsvisionen, die den Regeln der Schaulust folgten: mit
Schnittstellen und Techno-Artefakten übersäte Wesen, grausige oder omnipotente Menschmaschinen, in deren Gestalt sich humane Anteile unauflöslich mit artifiziellen verwoben hatten. Der Cyborg der Science Fiction ist
nicht nur physisch in digitale Informationsnetze eingebunden, sondern wird
von denen manipuliert, die ihn steuern. Das macht ihn in einem schlechten
Sinne zum Post-Menschen, der fremdgesteuert agiert und darüber jenes
Eigene verliert, welches unsere Humanität ausmacht. Als Technomensch
ist der Cyborg die Fortsetzung des Roboters mit anderen Mitteln. In beider
Gestalt wird das jeweils zugrunde liegende Produktionsparadigma wesenhaft: menschenähnlich (im Falle des fordistischen Roboters) oder mit dem
Menschen zu einem Hybridwesen (eben dem kontrollgesellschaftlichen Cyborg) verbunden.
DIGITALE SELBSTERFAHRUNG
Der Cyborg ist dennoch kein genuiner Entwicklungssprung des digitalen
Zeitalters, auch wenn digitale Schnittstellentechnologie neue Prothesenformen bereitgestellt und alte verbessert, präziser und günstiger gemacht
hat. Einen fundamentalen Bruch in der Technologiegeschichte markiert sie
aber keineswegs. Was sie von älterer Technik unterscheidet, ist lediglich
ihr Potential, die Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Technologie
zu steigern, in deren Abläufe sie ihn so unmittelbar einbindet, dass angesichts moderner Informationsarbeit der Eindruck eines Cyborgdaseins
umso evidenter wird, je passgenauer wir mit den technologischen Strukturen verwoben sind.
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Die Digitalität ist dem Menschen der Gegenwart viel näher gekommen als
andere bahnbrechende und epochemachende Technologien der Vergangenheit. Das hat nicht bloß mit ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeit und der
Einführung des Personal Computers zu tun, der unseren Alltag unmittelbar
in die digitale Welt einbindet. Digitalität ermöglicht es, Schnittstellen zu
bilden und Systeme zu vernetzen, die bisher kategorial und substantiell
voneinander getrennt waren. Sie ist in einer kulturhistorisch und technologiegeschichtlich neuen Weise ebenso integrativ wie transgressiv.
Anders als es dystopische Zukunftsvisionen entworfen haben, die in den
1970er Jahren vor allem im Umfeld alternativer Milieus im Umlauf waren,
hat die Computerisierung aber keineswegs dazu geführt, das spezifisch
Menschliche – Kommunikation, zwischenmenschliche Nähe, sinnliche Erfahrung und Selbstbestimmung – zu zerstören bzw. mit kalten, programmierten Routinen zu überschreiben. Im Gegenteil: All das findet in digitalen
Netzen neue Möglichkeiten, die sich als Erweiterung begreifen lassen und
wenig mit jener kommunikativen Verarmung und Standardisierung gemein
haben, die ihnen technophobe Ideologien unterstellten. Durch E-Mail oder
soziale Netzwerke können wir Beziehungen über große räumliche Distanzen hinweg pflegen, die in dieser Form vor 30 Jahren noch nicht möglich
gewesen wären. Via Videoskype sind wir Menschen nahe, die sich auf anderen Kontinenten befinden. Und diese Nähe unterscheidet sich qualitativ von kostspieligen Auslandsgesprächen, wie es sie auch schon vor dem
Internetzeitalter gegeben hat, nicht nur weil wir dabei sehen und gesehen
werden können. Das Telefonat verlangte nach einer konzentrierten, zeitlich
begrenzten Interaktion. Per Skype können wir einen Abend miteinander so
verbringen, wie wir es könnten, wenn wir uns in derselben Wohnung befänden. In vielen digitalen Fernbeziehungen (gleich welcher Art) hat sich
ein Modell etabliert, bei dem die Skype-Verbindung bestehen bleibt, auch
wenn die Teilnehmer_innen eigentlich eigenen Beschäftigungen nachgehen. Der/die andere ist da und ansprechbar, und geht uns dabei doch weniger auf die Nerven, als wenn wir im selben Raum aufeinander hocken
würden.
Statt unsere Kommunikations- oder Ausdrucksfähigkeit einzuschränken,
hat die digitale Welt ihre eigene hoch differenzierte Gesprächskultur entwickelt. Zu ihr gehören bestimmte Umgangsformen und eigene Ausdrucksmittel, die dem Medium (und seinen Limitierungen) entsprechen, wie zum
Beispiel „Emoticons“, die der E-Mail- und Forenkommunikation unmittelbare Dimensionen verleihen und dadurch jenen Mangel kompensieren, der
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entsteht, wo uns nicht mehr das gesamte menschliche Ausdrucksrepertoire
(stimmliche Modulationen, Mimik, Gestik usw.) zur Verfügung steht. Das
Prinzip der so genannten „Netiquette“ fordert uns wiederum zur Reflektion
darüber auf, wie wir online kommunizieren und jene Anonymität gestalten
wollen, die die Gesprächskultur in Netzforen kennzeichnet und zu Phänomenen wie den Trollen geführt hat. Wie jede Nähe erfordert die Nähe, die
das Netz ermöglicht, also Moderation und Regeln.
Netzbasierte Kommunikation (die vielfältige Formen kennt, YouTube-Kommentare fallen hierunter ebenso wie Bloggen oder Twittern) hat den Radius, in dem wir uns austauschen können, erheblich erweitert. Sie bringt
uns in Kontakt mit Menschen, denen wir in der analogen Welt vermutlich
niemals begegnet wären. Dabei entstehen neue Intensitäten des Miteinanders, aber ebenso Formen der Distanzierung, die, dialektisch gewendet,
intimen Austausch und ungehemmte Selbstaussprache erst möglich machen, eben weil wir hier nicht zwingend als jene Realperson erscheinen
müssen, die wir angeblich sind. Im Schutze einer Nick-Persona, die unsere
„wahre Identität“ verbirgt, können wir über das sprechen, was wir im analogen (Sicht-)Kontakt lieber verschweigen. Virtuelle „Entsubjektivierung“
erschafft neue Formen der Subjektivität und der Selbsterfahrung. Die digitale Repräsentation von uns selbst ermöglicht es uns, „fremde“ Weltausschnitte wahrzunehmen (und sei es nur, dass wir uns als heterosexueller
Mann in Gay-Culture-Foren umsehen, zu denen wir offline nur schwer Zugang fänden). Sie hat sich längst auf eine gewisse Weise mit jenen Subjekten vermengt, die sie erschaffen. Von der Realität, die sie nicht bloß
wiedergibt oder abbildet, sondern die sie zugleich erzeugt und abwandelt,
ist sie nicht immer einfach zu unterscheiden.
DIGITALE POST-SUBJEKTIVITÄT
Die spezifischen Weisen der Netzkommunikation erlauben es uns, WunschAvatare zu kreieren, mit denen wir uns im Netz bewegen und anderen Avataren begegnen. In ihnen können wir, ohne Konsequenzen fürchten zu
müssen, Geschlecht und Rolle wechseln; Wir können unsere alte Biografie
abstreifen und sein, was wir – wenigstens für den Moment – sein wollen.
So können wir Wünsche und Vorstellungen realisieren, die uns bislang
verbaut waren. Hierin liegen emanzipatorische Potentiale begründet, die
weit über das hinausweisen, was wir üblicherweise in Online-Rollenspielen,
Chatforen oder „Second Life“-Welten tun.
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Wo wir wählen können, als wer und mit wessen Stimme wir sprechen wollen, können wir über die Grenzen unserer angestammten Identität hinaus
mit uns selbst intim werden, nämlich das an und in uns aufschließen, was
in der Form, in der wir in der analogen Welt existieren, und die uns durch
Kultur, Gewohnheit und Rollenerwartung aufgeprägt ist, keinen Platz hat.
Im Netz hingegen können wir uns in der Kommunikation, die wir betreiben,
vor uns selbst verbergen und uns dabei immer wieder neu erfinden – und
das solange und so oft wir es wollen. In einer gewissen Weise ist unsere
Identität dabei selbst zur Information geworden, die sich digital bearbeiten
und vervielfältigen lässt.
Für die digitale Informationsverarbeitung ist es im Prinzip gleichgültig, welche Information verarbeitet wird: Sie prozessiert und archiviert Bilder in
der gleichen Weise wie Klänge oder medizinische Datensätze. Der digitale
Code der Einsen und Nullen stellt in gewisser Weise eine Universalsprache
dar, mit der sich ganz unterschiedliche Weltausschnitte abbilden, verarbeiten und zueinander in Beziehung setzen lassen. Diese Universalität wäre
letztlich als ihr spezifisches Moment zu beschreiben, das sie in die Lage
versetzt, zu entgrenzen und zu verbinden – und dabei neue Formen von
Intimität herzustellen. Universell ist sie jedoch nicht bloß der Form nach,
sondern vor allem in ihrem Gehalt: Das Hierarchisieren und Werten, das
die menschliche Kultur lange Zeit geprägt hat, liegt nicht in ihrem Wesen,
welches kein Oben oder Unten kennt. Im Binären liegt alles gleich nahe beieinander oder gleich weit voneinander entfernt. Etwas von dieser Egalität
geht im Gebrauch digitaler Technologien auch auf jene Subjekte über, die
sich durch sie konstituieren – und sei es nur in der Erkenntnis, dass die
Unterschiede, die die analoge Kultur vornimmt, nicht naturwüchsig sind,
sondern Effekte jener Medien und Hilfsmittel, derer sie sich bedient.
Kein Medium vor dem Personal Computer und seinen zeitgenössischen
Weiterentwicklungen bot im selben Maße die Möglichkeit, eigene Daten
mit fremden derart intensiv zu vermischen. Weil wir heute zahlreiche
Funktionen unseres Alltags in eine digitale Form gebracht haben, um sie
durch Computer und das Netz verarbeiten zu können, haben wir zugleich
die Möglichkeit geschaffen, andere an ihnen partizipieren zu lassen. Wir
können unsere Daten und Archive (von Filmen, Musik oder künstlerischen
Entwürfen) schnell und einfach tauschen, indem wir sie bereits online (in
der Cloud) verwalten, übers Netz versenden oder sie uns gegenseitig per
USB-Stick oder Wechselfestplatte überspielen. Was zuvor als Privatbesitz
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nur uns allein gehörte – und eine feststehende Persönlichkeitsgrenze
markierte – kann unter digitalen Vorzeichen wieder frei fließen. Damit lassen sich neue Formen der Kollektivität ins Werk setzen und eine Gemeinschaft, die nicht vom Besitz aus strukturiert und in Klassenhierarchien
stratifiziert ist. Das Digitale ist aktuell ihr schlüssigster kultureller Ausdruck.
Die digitale Gesellschaft bietet somit eine verführerische Möglichkeit, die
bürgerliche Subjektform zu überschreiten und neue, flüssigere Formen der
Subjektivität in freier Assoziation zu entwickeln.
Die alte bürgerliche Subjektivität war auf Prozesse privater Selbstwerdung verwiesen, die nach einem abgeschlossenen und abschließbaren
Raum verlangten: das eigene Heim und die weitgehend selbstbestimmte
Lebensweise, zu der es befähigte. Als subjektiver Konstitutions- und Reproduktionsort blieb sie scheinbar der ökonomischen Verwertung entgegengesetzt, die den Arbeitsalltag der Subjekte bestimmte. Erst in der so genannten „Privatsphäre“ entstand jene Eigenwelt, von der die anderen entweder
kategorisch ausgeschlossen waren oder in die sie explizit eingeschlossen,
z.B. eingeladen, wurden. Sie nahm in der bürgerlichen Wohnung und ihren heteronormativen Beziehungsformen – Familie und Ehe – ideologische
Gestalt an. Wo wir hingegen das Private zu einer Funktion digitaler Netze
machen, können endlich andere, das heißt weniger abgeschlossene und
nicht-exklusive Lebensformen entstehen, wie sie etwa die „Post-Privacy“Bewegung propagiert. Das Private ist nämlich auch insofern das Politische,
dass wir uns in ihm in jene Subjekte gesellschaftlicher Trennungen und
Zuordnungen verwandeln, die die bürgerliche Gesellschaft verlangt.
DIE DIGITALE NÄHE DER MACHT
Natürlich dürfen wir keineswegs annehmen, dass sich allein auf dem Wege
einer technologisch implementierten Neuordnung der Lebenswelt – gleichsam wie von selbst und als deren Nebenwirkung – andere gesellschaftliche
Beziehungsverhältnisse einstellen als jene, denen wir auch in der digitalen
2.0-Version der kapitalistischen Ökonomie unterworfen bleiben. Die technologische Erneuerung undialektisch mit einer Heilserwartung aufzuladen,
wäre fatal, da Technologie und die Weisen, wie wir sie nutzen, selbst mit
den ökonomischen Verhältnissen verbacken sind; wie alles andere eben
auch. Wo Menschen einander auf digitalem Wege begegnen, tun sie dies
immer noch als Herr_innen und Knechte bzw. Mägde, und zwar solange
sich die analogen Verhältnisse digitaler Mittel bedienen, um sich in ihnen
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zu reproduzieren und durch sie zu erneuern. Skepsis gegenüber vollmundigen Netzweltutopien ist also durchaus angebracht: Die Digitalisierung
mag bestehende Machtstrukturen unterminieren, aber die sind wiederum
lern- und anpassungsfähig. Digitalität ist kein freischwebender und auch
kein herrschaftsfreier Raum. In diesem Raum sind dieselben Machtbeziehungen wirksam wie in jener Welt, die der Digitalität vorgelagert ist. Dies
ist selbstverständlich kein spezifisches Problem der digitalen Emanzipation. Die Digitale Kultur teilt ihre Aporien mit allen anderen Projekten, die
die bestehenden Verhältnissen verändern oder zumindest reformieren und
„menschlicher“ gestalten wollen.
In dieser Hinsicht enthält die digitale Lebensweise sogar ein besonderes
Gefährdungsmoment: Die Datenspuren, die wir im Netz erzeugen, können
von anderen ausgelesen und ausgewertet werden. Mit der zunehmenden
Verlagerung immer weiterer Lebensbereiche in den digitalen Raum wird
das, was wir immerhin nicht mit jedem und schon gar nicht mit Staat und
Markt teilen wollen, erfass- und operationalisierbar. Klandestine Strukturen ließen sich aktuell wohl am ehesten noch unter Verzicht auf digitale
Mediennutzung realisieren.
Zudem ist längst nicht mehr nur der Staat an unseren Daten interessiert. Auch für privatwirtschaftliche Akteur_innen kann es verlockend und
profitabel sein, unser Netzverhalten auszuspionieren. Die digitale Technologie schafft dabei ganz neue Möglichkeiten, die Nachstellungen der Ökonomie bis in unsere intimen Rückzugsräume auszudehnen. Und unsere
Daten verraten mehr über uns, als wir glauben!
Wo das alte Private also immerhin noch Zufluchtsort vor einer von ökonomischen und ideologischen Interessen durchherrschten Öffentlichkeit war
– an dem sich z.B. eine abweichende Sexualität und ein gewisses Maß
an Nonkonformität ausleben ließen – entfaltet die Transparenz digitaler
Lebensweisen einen neuen Anpassungsdruck, und zwar in genau dem
Maße, in dem sie uns dazu verführt, Grenzen zu überschreiten und neue
Erfahrungen zu machen. Wo wir dies tun, hinterlassen wir allerdings stets
einen Abdruck, der sich problemlos auswerten lässt. Mittels unserer IPAdresse kann das, was wir im Netz tun, ganz eindeutig uns (oder zumindest
unserem Verantwortungsbereich) zugeordnet werden. Die digitale Freiheit
hält also eine Reihe von Fallstricken bereit, die sie doch immer wieder einschränken. Die im Netz erzeugten Datenspuren zu tilgen (oder sie gar nicht
erst zu hinterlassen), setzt Expert_innenwissen voraus, welches kein allgemeiner Bestandteil von User_innen-Know-how ist. Ebenso wenig wie alle,
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die einen PKW besitzen, auch dessen Keilriemen auswechseln können,
beherrscht das digitale Subjekt jene Technologie, der es sich anvertraut,
meist nur recht (benutzer_innen)oberflächlich.
DIE BEWUSSTE GESTALTUNG DES UNVERMEIDLICHEN
Die Digitale Kultur hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Beziehung des
postfordistischen Subjekts zu den Geräten bewusst zu gestalten und dabei
andere Aspekte und Ansprüche zu berücksichtigen als bloß die Prozessoptimierung im Sinne von Profitmaximierung und möglichst reibungslosen
Verwertungskreisläufen. Das sich über Gerätbeziehungen konstituierende
(und Beziehungen vor allem über diese Geräte pflegende) postfordistische
Subjekt hegt nämlich zurecht den Verdacht, dass die Technologie, der es in
Arbeit und Freizeit unterworfen ist, es vor allem konditionieren und in den
Modus seiner optimalen Verwertung einüben soll.
Damit ist die digitale Welt zwar nicht jene kalte Unmenschlichkeit einer in perfiden Computernetzwerken verankerten Super-Bürokratie (wie
sie die Dystopien der 1970er und 1980er entworfen haben) aber sie ermöglicht die unausgesetzte kapitalistische Inwertsetzung des Menschen,
die noch mit jeder neuen Technologiegeneration perfektioniert wurde. Dies
stellt kein genuines Problem von Technologie dar, sondern ist das Wesen
und der wertschöpferische Kern jener bürgerlichen Gesellschaft, die noch
immer den gesellschaftlich-ökonomischen Rahmen jeder Gerätbeziehung
bildet.
Cyborgs (in einem Arnold-Schwarzenegger-Sinne) werden wir also vor
allem da werden, wo wir es unwidersprochen hinnehmen, dass über unsere Schnittstellen zum Digitalen die virale Ideologie der Effizienz in unsere
Persönlichkeitsdatenbänke eingespeist wird.
Erfolgreich ist die digitale Konditionierung vor allem weil sich – wie oben
beschrieben – mithilfe digitaler Technologie ganz unterschiedliche Alltagsfunktionen, Bedürfnisse und Lebensausschnitte in dieselbe technologische Struktur übersetzen und in einem einzigen Gerät zusammenfassen
lassen: So verbringen wir unsere Arbeitszeit vor demselben Apparat, den
wir auch zur Gestaltung unserer Freizeit nutzen, was die Integration des
einen in das andere – und der Arbeit in die gesamte tägliche Wachzeit
– befördert. Die für eine fordistische Arbeitswirklichkeit charakteristische
Aufspaltung des Lebens in Phasen der Produktivität und der (diese begründende und erneuernde) Reproduktivität wird durch die Universalität des
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Computers aufgehoben, nicht aber, um das Produktivitätsparadigma an
sich zu überwinden, sondern um ihm auch jene Abschnitte unseres Lebens
einzuverleiben, die bisher der Verwertung entzogen blieben.
Diese Tendenz zeigt sich an der fortschreitenden Integration von unverbundenen Einzelgeräten in einen einzigen Universalapparat, und zwar gerade
im Bereich der Freizeit: Fernseher, Radio, Telefon oder Stereoanlage sind
heute in kompakten Laptops zusammengefasst, die wir mit in den Zug, ins
Flugzeug oder ins Café nehmen können und die sich auf diese Weise unserem Bedürfnis nach räumlicher Ungebundenheit anschmiegen. Dieses
Bedürfnis wiederum entspricht aber nicht ausschließlich jenem Freiheitswunsch, mit dem es sich gleichwohl bis zur Unkenntlichkeit vermischt hat,
sondern paraphrasiert die ökonomische Anrufung der „Flexibilität“. Dass
wir unsere Bücher, Platten, Fotoalben, DVDs etc. längst digital integriert
haben und problemlos umziehen können, versetzt uns in die Lage, den
fluktuierenden Orten unserer Verwertung immer schneller und bereitwilliger hinterher zu reisen.
Weil sich in Laptops und Smart Phones unter den gegenwärtigen Bedingungen vor allem die Notwendigkeit spiegelt, beweglich statt ortsgebunden
zu sein, enthält die fortlaufende Komprimierung unseres Lebens (und des
Raumes, den wir für seine Utensilien benötigen) im Rechner ein Freiheitsund Entgrenzungsmoment, das doch zugleich einen Zwang exekutiert, der
nicht nur der unserer Peer Group ist (die es spleenig fände, sich mit allzu
vielen analogen Artefakten zu umgeben, für die es bereits digitale Surrogate gibt, und dergestalt räumlich zu binden). Es ist der Zwang zu optimaler
Verwertung, der im Gewand dieser Freiheit auftritt. Beide sind dabei weder
schlicht dasselbe noch rückstandslos voneinander abzulösen.
DIE ABHÄNGIGKEIT DER UNABHÄNGIGKEIT
Die Unentschiedenheit der Freiheit im Netz entspricht jener prekären Intimität des Digitalen, in dessen Zeichen das vormals Verschiedene und Getrennte so miteinander verschmilzt wie unser Leben mit dem Gerät. Die
Unabhängigkeit, die es uns verspricht, ist zugleich eine Abhängigkeit – eine
der vielen Paradoxien der kapitalistischen Warenform, in der uns das Gerät
auch da gegenübertritt, wo es (bzw. die Software, die darauf läuft) unter
einer Creative Commons-Lizenz steht.
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Zu dieser Abhängigkeit gehört es, dass wir – in unserem verständlichen
Wunsch nach Unabhängigkeit – viele Aspekte unseres Lebens in ein und
dieselbe Universalform übersetzen, die zugleich die unserer Arbeit ist.
Selbst unsere erotischen Fantasien lassen sich so in unser Arbeitsumfeld
integrieren – zumindest in Form einer stets im Übermaß verfügbaren Onlinepornografie, die uns nahtlos von der Arbeit an einem digitalen Projekt
in unser intimstes Begehren umschalten oder sogar beide simultan nebeneinander laufen lässt.
Die Info-Worker_innen der Digitalen Kultur, die hinsichtlich der postfordistischen Umwälzung der Arbeit eine (zudem noch propagandistisch verwertbare) Vorreiter_innenrolle einnehmen, müssen sich darüber bewusst sein,
dass ihr Lebensstil - so glamourös er auch fallweise aussehen mag - ein
Experimentierfeld für den erweiterten Zugriff des Inwertsetzungsparadigmas auf das gesamte menschliche Leben darstellt.
Dies bedeutet, dass wir uns darüber klar werden müssen, welche Nähe
zum Gerät wir uns wünschen und welche wir als aufdringlich im Sinne
der Forderung nach permanenter Verfügbarkeit, Einsatzbereitschaft und
marktwirtschaftlicher Adressierbarkeit zurückweisen wollen.
Die Nähe, in der wir mit unseren Geräten leben, ist kein Verhängnis, sondern eine Beziehung, die wie alle Beziehungen ausgehandelt und gestaltet
werden muss. Wir müssen uns daher fragen, wie wir in der Intimität, in der
wir mit unseren Geräten leben, leben wollen und wie wir damit „gut“ leben
können, ohne uns von den Geräten (und den durch sie vermittelten fremden Interessen) beherrschen zu lassen.
Anstatt in ihnen bloß die Beschwerlichkeit eines nie versiegenden Stromes an Arbeit und ökonomischen Anrufungen (wie „Vernetzung“, „Flexibilisierung“, „Selbstbestimmung“) zu erblicken, können wir sie nämlich durchaus gegen ihre Intention als Arbeitsmittel nutzen. Wie wird dies möglich
und was brauchen wir dafür – welche Praxis, welche Netzkultur, welche
Technik, welche Begriffe und welches Verhältnis zum Gerät und durch das
Gerät zueinander?
Ebenso wie unser Leben mit dem digitalen Kulturraum verwoben ist, sind
es jene Begriffe, in denen wir unsere Emanzipation von fordistischer Disziplinierung betreiben. Wie können wir das, was daran bloß postfordistische
Usurpation ist, von dem trennen, was wir uns in ihnen wünschen und mit
ihnen durchzusetzen hoffen? Wo lassen sich unsere Geräte gegen die In-
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teressen derjenigen nutzen, die sie als Produktionsmittel mit integrierter
Reproduktionsfunktion propagieren und die die Freiheit des Digitalen bloß
als Freiheit zu noch tieferer Verstrickung in unsere Verwertung verstehen
können?
Welche Freiheitspotentiale liegen in digitaler Arbeit, dem Näheverhältnis und den integrativen Potentialen begründet, die ihre Produktionsmittel
implizieren? Welche Art von Nähe – zu uns selbst, zu anderen und zum Digitalen – enthalten und welche Nähe verunmöglichen sie? Wie viel von unserem Innersten sollen wir ihnen und anderen (in ihrem Gebrauch) preisgeben? Welche Formen, uns zu verbergen, bietet uns das Netz und was
sind seine realen Gefahren (jenseits von jenem traditionellen Alarmismus,
den jede technische Umwälzung auf den Plan ruft)? Und: Wie wollen wir
als Digitale Kultur mit ihnen umgehen, wo sie doch unvermeidlich und als
deren Rückseite zu den neuen Freiheiten dazugehören?
Wie müssten die Geräte beschaffen sein, um die Beziehungen, die wir mit
ihnen und in ihrem Gebrauch eingehen, unseren Wünschen und Bedürfnissen entsprechend zu führen – und nicht entsprechend den Wünschen des
Marktes und der Verwaltung? Wie kann unsere Beziehung zu den Geräten
alte Utopien einlösen, etwa die nicht-privilegierter Zugänge zu Kultur und
Technologie, aber auch die von „Luxus“ und „Eleganz“, die dann freilich
mehr sein müssten als bloß griffige Schlagworte ihrer Vermarktungsstrategien?
Lässt sich die Intimität, in der wir als Digitale Kultur bereits heute mit unseren Geräten leben, als Modell für die gesellschaftlichen Gerätebeziehungen überhaupt begreifen? Oder stellt unsere Kultur nur eine Nische dar, in
der diejenigen (gut) leben können, die über das nötige Hintergrundwissen
verfügen, und damit über Strategien um die impliziten Gefahren der Digitalisierung abzuwehren?
durch die Verführungskraft der Geräte ein Begehren zu entwickeln, das
fremden Interessen entspringt oder solche in uns verankert?
Was verrät uns unsere Nähe zum Gerät über uns selbst, über unser Wünsche, Träume und Ängste, über unser Beziehungsverhalten und die ideologische Bedeutung der Beziehungen in der Kontrollgesellschaft?
Inwieweit und wann dienen unsere Geräte dem, was in der einschlägigen
Literatur „Selbsterfahrung“ heißt – und was bedeutet das dann eigentlich
für uns und für die Technologie?
Welche spezifisch neuen oder in der analogen Welt längst vergessenen
Formen der Emotionalität ermöglichen uns Netz und Rechner? Auf welche
Weise lassen sich analoge Formen, einander kennen zu lernen und nahe
zu sein, digital simulieren, umsetzen, ausweiten und verbessern? Welche
subversiven Formen der Nähe und der Näherung sind im Netz möglich,
und wie müssen wir diese als Digitale Kunst und Kultur reglementieren?
Und: Welche Bedürfnisse und Wünsche sprechen wir aus, wenn wir unsere
Geräte personalisieren, ihnen Namen geben oder ihnen besonders einfühlsame Züge (und HAL-Stimmen) verleihen?
Was können wir von unserer Beziehung zu den Geräten über uns selbst
lernen und was über jene Welt, in der diese Beziehung ihren Ort hat? Anders gefragt: Was wollen wir von den Geräten, und was wollen sie von uns?
Das sind die Fragen, denen sich der Mensch in den nächsten Jahren
intensiviert widmen wird. Ob sie auch von ihm oder doch von Geräten oder
Maschinen beantwortet werden werden, wird sich zeigen.
Worin besteht jene Erotik der Geräte, die wir an ihnen bemerken, ohne
wirklich benennen zu können, was sie ausmacht – jenseits der Floskel von
der „Benutzer_innenfreundlichkeit“, designerischem Schnickschnack oder
Cybersexfantasien? Wie – durch welche sinnliche, ästhetische oder interaktionelle Qualität – bringen sie uns dazu, mit ihnen zu arbeiten und ihnen
immer mehr Macht über unser Leben einzuräumen, ihnen zu vertrauen
und – auch das – an sie zu glauben? Wo verführen sie uns dazu, uns unserem Begehren hinzugeben und wo dazu, bloß das mit ihnen anzustellen,
was andere von uns erwarten? Wie sollen wir dabei der Gefahr begegnen,
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EXPLOIT
STRATEGIEN DER VERWERTUNG
UND KONTROLLE
DIE DIGITALE VERMESSUNG UND
VERWERTUNG UNSERES ALLTAGS
ÜBER DIE GESELLSCHAFTLICHEN RISIKEN
KOMMERZIELLER DIGITALER ÜBERWACHUNG
IM ZEITALTER VON „BIG DATA“ UND
DEM „INTERNET DER DINGE“.
WOLFIE CHRISTL
In den letzten zehn Jahren hat sich eine Entwicklung zugespitzt, die auf eine
vollständige digitale Erfassung unseres Lebens hinausläuft. Schon heute
läuft das Geschäft mit unseren persönlichen Daten auf Hochtouren. Es sind
bei weitem nicht nur Google und Facebook, die uns ausspionieren. Tausende Unternehmen überwachen unseren Alltag und erstellen umfassende Persönlichkeitsprofile. Beinahe die gesamte Bevölkerung wird ständig
durchleuchtet, einsortiert und bewertet. Firmen in Handel, Versicherungs-,
Finanz- und Personalwirtschaft arbeiten intensiv an Einsatzmöglichkeiten.
Schon aus rudimentären Metadaten aus unserem Kommunikations- und
Online-Verhalten lassen sich weitreichende Schlussfolgerungen ziehen. In
welcher Form werden unsere Daten 2015 von Unternehmen digital erfasst
und verwertet? Wie könnte kommerzielle digitale Überwachung zukünftig
unseren Alltag prägen? Und: Was tun?
Durch die rasante Weiterentwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien dringt die Erfassung persönlicher Daten immer mehr in
den Alltag ein. Unsere Vorlieben und Abneigungen werden heute in einem
Ausmaß digital gespeichert, verarbeitet und verwertet, das bis vor wenigen Jahren undenkbar war. Einzelne Personen werden über Geräte und
Plattformen hinweg wiedererkannt, ihr Verhalten und ihre Bewegungen detailliert ausgewertet, Persönlichkeit und Interessen akribisch analysiert. Im
sogenannten „Internet der Dinge“ sind immer mehr Geräte und Objekte mit
Sensoren ausgestattet, mit dem Internet verbunden und ermöglichen so
umfassende Einblicke in das Leben ihrer Nutzer_innen. Gleichzeitig lassen
sich im Zeitalter von „Big Data“ mit automatisierten Methoden schon aus
rudimentären Metadaten über Kommunikations- und Online-Verhalten umfangreiche Persönlichkeitsprofile erstellen.
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Nicht nur Firmen in den Feldern soziale Netzwerke, Online-Werbung, mobile
Apps oder Fitness arbeiten mit Hochdruck an Geschäftsmodellen, die auf
der kommerziellen Verwertung der gesammelten Profile beruhen. In vielen
Wirtschaftssektoren gelten persönliche Daten inzwischen als wertvolles
„Asset“ – als Schatz, den es möglichst schnell und umfassend zu heben
gilt. Internationale Unternehmen agieren dabei oft unter Missachtung regionaler Datenschutzgesetze. Persönliche Daten werden zusammengeführt
und für völlig andere Zwecke eingesetzt als zum Zeitpunkt der Erfassung
kommuniziert. Oft gilt die Devise: Gemacht wird, was technisch möglich
ist. Während die Einzelpersonen immer transparenter werden, agieren die
meisten Unternehmen hochgradig intransparent – ihre Services, Apps,
Plattformen und Algorithmen sind zentralisiert und kaum durchschaubar.
I. VOM SMARTPHONE ZUM INTERNET DER DINGE:
DATENHUNGRIGE GERÄTE UND PLATTFORMEN
Facebook hatte im Juni 2014 global 829 Millionen – zumindest einmal
täglich aktive – Nutzer_innen (vgl. Facebook 2014) und wertet jede Sekunde Millionen von Einzelinformationen über deren Kontakte, Interessen
und Verhaltensweisen aus. Die hunderten Millionen Nutzer_innen der im
letzten Jahr von Facebook gekauften Plattformen Whatsapp und Instagram
sind hier noch gar nicht eingerechnet. Google gibt kaum Zahlen über registrierte Nutzer_innen heraus, dürfte aber auf ähnliche, wenn nicht noch
höhere Mengen täglicher Nutzungsinteraktionen zugreifen. Google ist nicht
nur die global dominante Suchmaschine, sondern bietet unzählige weitere
Dienste an. Allein das meist mit einem Google-Account genutzte Mobiltelefon-Betriebssystem Android brachte es im Jahr 2013 auf einen Marktanteil
von fast 80% – bei einer Milliarde verkaufter Smartphones. Es sind aber
bei weitem nicht nur Google und Facebook, die tagtäglich unser Verhalten,
unsere Bewegungen und unsere Interessen analysieren.
Smartphones und die darauf installierten Apps sind heute eines der
größten Einfallstore für Unternehmen, die persönliche Daten über Nutzer_
innen sammeln. Sie ermöglichen mit ihren unzähligen Sensoren und den
darauf gespeicherten Daten sehr weitgehende Einblicke in Persönlichkeit
und Alltag ihrer Besitzer_innen. Der Markt wird von den zwei Plattformen
Android (Google) und iOS (Apple) dominiert. Laut einer Untersuchung von
Appthority (2014) übertragen 71% der kostenlosen Android-Apps und 32%
der kostenlosen iOS-Apps persönliche Daten an Drittunternehmen, hauptsächlich an sogenannte Werbenetzwerke. Mehr als die Hälfte der Apps
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greifen auf sensible Informationen wie Standortdaten zu. Nach einer Untersuchung von 26 Datenschutzbehörden aus 19 Ländern vom September
2014 greifen 31% von 1200 populären Apps auf Daten zu, ohne dass dies
für die eigentliche Funktion der App notwendig wäre. 59% der Apps werden
als bedenklich eingestuft, da sie die Nutzer_innen nicht ausreichend darüber informieren, welche Daten genutzt und weitergegeben werden (vgl.
Office of the Privacy Commissioner of Canada 2014).
Auch tragbare Geräte zur Auswertung von Schritten, Puls, Schlaf und vielen anderen Körperfunktionen – sogenannte Wearables – sind inzwischen
ein Milliardengeschäft. Für 2018 werden über 90 Millionen ausgelieferte Geräte prognostiziert (vgl. Gartner 2014). Die von Fitness-Armbändern,
Smartwatches und Apps gemessenen Daten über Körper und Gesundheit
haben großes kommerzielles Potenzial. Während die Nutzer_innen mit
Spielmechaniken, Anreizen und Belohnungen dazu motiviert werden, diese
Geräte möglichst oft zu nutzen, arbeiten die Unternehmen an Geschäftsmodellen zur kommerziellen Verwertung der erfassten Daten.
Der Marktführer Fitbit wirbt öffentlich mit Angeboten für Versicherungen
(vgl. Fitbit 2015) und arbeitet international bereits mit vielen großen Unternehmen im Rahmen betrieblicher Gesundheitsprogramme zusammen. Bei
der US-Firma Appirio stellen etwa 1.000 Angestellte freiwillig ihre mit Fitbit
gemessenen Gesundheitsdaten zur Verfügung; Die Firma konnte dadurch
eine jährliche Ermäßigung von 300.000 Dollar mit der betrieblichen Krankenversicherung verhandeln. Angestellte des Ölkonzerns BP werden dazu
angehalten, mit Fitbit eine Million Schritte pro Jahr zu erreichen – ein Mitarbeiter ersparte sich dadurch 1.200 Dollar bei der jährlichen Krankenversicherungsprämie (vgl. Satariano 2014). Dies ist ein durchaus starker Anreiz
und bedeutet umgekehrt: Wer nicht teilgenommen oder das „spielerische“
Ziel nicht erreicht hat, wird bestraft und bezahlt spürbar mehr.
Große US-Versicherer haben bereits Programme gestartet, die Wearables integrieren, und bei denen Konsument_innen bei Erreichen bestimmter
Fitness-Ziele kleine Belohnungen wie Einkaufsgutscheine oder Kinotickets
erhalten können. Für den deutschen Sprachraum hat der Versicherungskonzern Generali ein ähnliches Programm angekündigt (vgl. Gröger 2014).
Es ist wahrscheinlich nur mehr eine Frage der Zeit, bis auch Konsument_innen direkte Rabatte auf Versicherungsprämien erhalten – oder gar Strafen
bei Nicht-Erreichen der Fitness-Ziele.
Im sogenannten „Internet der Dinge“ sind immer mehr Alltagsgegenstände mit kleinen vernetzten Computern und Sensoren ausgerüstet. EBook-Reader zeichnen detaillierte Informationen zum Leseverhalten auf,
vernetzte TV-Geräte versenden Daten über das Fernsehverhalten. Vernetzte
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Autos, Stromzähler, Thermostate und Brandmelder oder Kühlschränke
liefern bald an vielen Stellen umfangreiche Daten über unser Alltagsverhalten.
Dabei überwachen die Nutzer_innen nicht nur sich selbst, sondern
auch andere - etwa ihre Kinder oder ihre Angestellten, die entweder Geräte
mit Sensoren mit sich tragen oder sich an Orten bewegen, die mit Sensoren ausgestattet sind. Der Hersteller Owlet Baby Care bietet eine Art von
elektronischer Fußfessel für Babys an, der Baby Monitor der Firma Mimo ist
im Strampelanzug eingebaut. Das System von Theatro ermöglicht die Ortung von Handelsangestellten und bietet Auswertungsmöglichkeiten über
deren Verhalten, Produktivität, Bewegungsmuster und über die Dynamiken
im Team.
Datenbrillen und Wearables zur digitalen Vermessung von Körper, Gesundheit, Verhalten und Umgebung werden immer unauffälliger – etwa
in Form von Pulssensoren in biometrischen Kopfhörern, Temperatur- und
Feuchtigkeitssensoren in elektronischen Tattoos oder als mit Sensoren
ausgestattete Ringe, Socken, T-Shirts, Büstenhalter, Zahnbürsten oder Gabeln.
Viele Expert_innen erwarten, dass Anreize zur Verhaltensänderung zum
zentralen Treiber für das „Internet der Dinge“ werden - beispielsweise Anreize zum Kauf eines Produkts, zur Anregung von gesünderen oder sichereren Lebensweisen oder von bestimmten Arbeitsweisen (vgl. Anderson et al
2014). Dies könnte zu massiven Auswirkungen auf die Möglichkeit führen,
das eigene Leben zu kontrollieren.
Wie der Journalist Charles Duhigg (2012) recherchiert hat, war Target dabei nicht auf offensichtliche Käufe wie Babykleidung oder Kinderwägen angewiesen, sondern zog Schlüsse aus dem Kauf von bestimmten Mengen
bestimmter Hautlotionen, Seife, Watte, Waschlappen oder Nahrungsergänzungsmitteln, die in bestimmten Zeitabständen gekauft wurden. Target betrachtet eine nahende Geburt laut Duhigg neben Schulabschluss, Umzug,
Heirat oder Scheidung als einen jener lukrativen Momente im Leben der
Kund_innen, in denen deren Einkaufsverhalten flexibel würde. Eine gezielte Ansprache in Form von individueller Werbung, Gutscheinen oder anderen Kaufanreizen zum richtigen Zeitpunkt könne in diesen Umbruchsphasen deren Einkaufsverhalten oft auf Jahre verändern.
Target weist allen Kund_innen eine interne Identifikationsnummer
zu – egal ob sie mit Kreditkarte bezahlen, einen Gutschein verwenden,
eine Umfrage ausfüllen, die Telefon-Hotline anrufen, eine E-Mail von Target öffnen oder deren Website besuchen. Alle Einkäufe und Interaktionen
würden protokolliert und bei Bedarf auch mit zugekauften Informationen
angereichert. Dieses Beispiel zeigt, wie Unternehmen heute persönliche
Daten analysieren und dazu einsetzen, um mit bestimmten Anreizen das
Verhalten ihrer Kund_innen zu verändern.
Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wie gut oder schlecht die Prognosetechnologien der Unternehmen wirklich funktionieren, deren Berechnungs-Algorithmen sind hochgradig intransparent. Mehrere wissenschaftliche Studien haben allerdings belegt, dass sich schon aus rudimentären
Metadaten über Online-Verhalten oder Smartphone-Kommunikation weitreichende Einschätzungen treffen lassen:
II. ANALYSE PERSÖNLICHER DATEN UND
VERHALTENSPROGNOSEN IM KONTEXT VON „BIG DATA“
—— Allein aus Facebook-Likes kann etwa mit hoher Zuverlässigkeit auf persönliche Eigenschaften wie Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung,
ethnische Zugehörigkeit, politische Einstellung, Religion und Nikotin-,
Alkohol- oder Drogenkonsum geschlossen werden. Ein Team der Universität Berkeley hat dazu etwa 60.000 freiwillige Nutzer_innen zuerst
klassisch mit Fragebögen untersucht. Anschließend wurde versucht, die
persönlichen Eigenschaften mit Hilfe statistischer Methoden zu berechnen – nur auf Basis von ihren durchschnittlich 170 Facebook-Likes. Bei
Eigenschaften wie Geschlecht, sexueller Orientierung, politischer oder
religiöser Einstellung lag die Prognosezuverlässigkeit dabei zwischen
80 und 95%, bei Nikotin-, Alkohol- oder Drogenkonsum immer noch bei
65 bis 75% (vgl. Kosinski et al 2013).
—— Aus einer Analyse anonymer Website-Besucher_innen lassen sich deren Geschlecht, Alter, Beruf und Ausbildung abschätzen (vgl. De Bock
Schon heute werden statistische Methoden und andere fortgeschrittene
Analyse-Technologien eingesetzt, um große Mengen digitaler persönlicher
Daten auszuwerten und darin Muster und Zusammenhänge zu finden. Damit lassen sich Erkenntnisse über Einzelne gewinnen, die weit über die
in den gesammelten Rohdaten enthaltenen Informationen hinausgehen –
oder sogar Prognosen über unser zukünftiges Verhalten treffen.
Eines der meistzitierten Beispiele über den Einsatz von statistischen
Prognosen auf Basis persönlicher Daten, die auf den ersten Blick nicht
sehr aussagekräftig zu sein scheinen, ist der Fall der US-Supermarktkette Target und deren Versuch, aus einer Analyse des Einkaufsverhaltens
schwangere Frauen und sogar deren Geburtstermine zu identifizieren.
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et al 2010). Strukturell ähnliche Daten über Internet-Suchanfragen, gekaufte Produkte oder musikalische Vorlieben bieten einen ähnlichen
Informationsgehalt.
Aus Telefonie-Verhalten wie etwa der Häufigkeit von Anrufen lassen
sich mit Wahrscheinlichkeiten zwischen 70% und 76% individuelle Charaktereigenschaften wie emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit,
soziale Verträglichkeit oder Gewissenhaftigkeit berechnen - ohne auf
die Kommunikationsinhalte selbst zuzugreifen (vgl. Chittaranjan et al
2011).
Emotionen wie Zuversicht, Unschlüssigkeit, Nervosität, Entspannung,
Trauer oder Müdigkeit lassen sich relativ zuverlässig aus der Analyse
von Rhythmus und Dynamik des Tippens erkennen – die Prognosezuverlässigkeit liegt dabei zwischen 77% und 88% (vgl. Epp et al 2011).
Aus der Kenntnis vergangener GPS-Standorte lassen sich zukünftige
Aufenthaltsorte prognostizieren. Wenn die Bewegungsprofile von Bekannten einbezogen werden, sind diese Vorhersagen besonders zuverlässig (vgl. Talbot 2012).
Wie eine andere Studie unter Beteiligung von Facebook selbst gezeigt
hat, lässt sich aus einer Analyse der Verbindungen zwischen Nutzer_innen auf sozialen Netzwerken nicht nur abschätzen, wer davon in einer
romantischen Beziehung ist. Es lässt sich sogar die Wahrscheinlichkeit
einer Trennung innerhalb der nächsten zwei Monate vorhersagen (vgl.
Backstrom et al 2014).
III. PRAKTISCHER EINSATZ VON „BIG DATA“
IN MARKETING, HANDEL, VERSICHERUNGS-,
FINANZ- UND PERSONALWIRTSCHAFT
Nicht nur die Wissenschaft befasst sich mit der Prognose von persönlichen
Eigenschaften oder zukünftigem Verhalten aus unseren digitalen Spuren.
Nicht nur Werbetreibende vermessen, segmentieren und klassifizieren ihr
Publikum und steigern damit Konversionsraten und Verkäufe. Persönliche
Daten werden inzwischen in fast allen Wirtschaftsbereichen zur kundenspezifischen Vorhersage von Risiken, Ertragschancen oder Loyalität eingesetzt. In Folge werden daraus Entscheidungen über einzelne Personen
abgeleitet. Einige Beispiele:
—— Viele Tippfehler, kein Kredit? Das von einem ehemaligen Google-Mitarbeiter gegründete US-Startup zest finance kombiniert 70.000 Merkmale aus unterschiedlichsten Quellen, um daraus die Kreditwürdigkeit von
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Einzelpersonen einzuschätzen (vgl. Crosman 2013). Das Hamburger
Unternehmen Kreditech greift dafür unter anderem auf Standort-Informationen und Daten aus sozialen Netzwerken zurück. Sogar das Surfverhalten auf der Website oder die Art, wie der Online-Kreditantrag ausgefüllt wird, fließen ein – und die Häufigkeit der Nutzung der Löschtaste
(vgl. Schulz et al 2013).
Falscher Browser, kein Job? Die Firma Evolv bezeichnet sich als „leader
in big data workforce optimization“ und hilft Personalabteilungen bei
der Bewertung von Bewerber_innen und Angestellten (vgl. Peck 2013).
Dabei fließen laut Javers (2014) die Daten von inzwischen drei Millionen Personen ein – von Beschäftigungshistorie und Arbeitsleistung bis
zur Anzahl der Social-Media-Accounts oder dem benutzten Browser bei
der Online-Bewerbung. Auch das Startup ConnectedCube befasst sich
mit der Vorhersage der zukünftigen Leistung von Angestellten.
Von personalisierten Preisen zur Preisdiskriminierung? Große internationale Online-Shops zeigen Konsument_innen auf Basis ihres OnlineVerhaltens, ihrer Standort-Informationen, der benutzten Geräte oder
Browser unterschiedlich teure Produkte an – oder gar die gleichen Produkte zu verschiedenen Preisen – mit Preisunterschieden von bis zu
166% (vgl. Mikians et al 2012). Beim US-Bürobedarfshändler Staples
wurde eine durchschnittliche Preisdifferenz von 8% festgestellt. Beim
Online-Reisebuchungsportal Orbitz wurde bei Nutzung eines Mac-Computers eine Auswahl von um bis zu 13% teureren Hotels angeboten als
mit einem PC (vgl. Mattioli 2012). Konsument_innen haben bei derartigen Praktiken keine Chance mehr, zu verstehen, wie ihr individueller
Preis oder die Auswahl der ihnen angebotenen Produkte zustande kommen.
Krankheitsprognosen auf Basis von Konsumverhalten? Die große USVersicherung Aviva beschäftigt sich mit der Prognose von Risiken für
Krankheiten wie Diabetes, hohem Blutdruck oder Depression allein aus
Daten über Konsumverhalten, Lebensstil oder Einkommen (vgl. Scism
et al 2010).
Emotionale Manipulation mit gezielter Werbung? Am weitesten fortgeschritten sind derartige Analyse-Technologien aber im reinen OnlineBereich. Das Werbeunternehmen MediaBrix analysiert die Emotionen
von Online-Spieler_innen, spricht diese gezielt und individuell in ganz
bestimmten Momenten zwischen Begeisterung und Frustration an und
konnte damit die Effektivität der Werbung im Web um 15% und bei
mobilen Apps sogar um 30% steigern. Die Technologie wird unter dem
Namen „Emotional Targeting“ vermarket (vgl MediaBrix 2013).
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IV. DATA BROKER UND WERBENETZWERKE:
DAS GESCHÄFT MIT UNSEREN PERSÖNLICHEN DATEN
Internationale Player im Geschäft mit den persönlichen Daten – sogenannte Data Broker – verfügen über umfangreiche Daten über die gesamte
Bevölkerung, die sie laut der US-amerikanischen FTC aus umfassenden
Online- und Offline-Quellen erwerben (vgl. Federal Trade Commission
2014). Sie sammeln diese Daten laut FTC „größtenteils ohne das Wissen
der Konsumenten“ und speichern sie teils unbefristet. Diese Unternehmen
haben Zugriff auf enorme Mengen von Daten – von Zahlungsverhalten
und Zeitschriften-Abos über Aktivitäten in sozialen Medien bis zur religiösen und politischen Zugehörigkeiten. Sie ziehen Schlussfolgerungen über
ethnische Zugehörigkeit, Einkommen oder Gesundheit und verkaufen Informationen an Handel, Politik, Versicherungen oder Personalabteilungen.
Die US-Firma Acxiom verfügt etwa über umfangreiche Dossiers mit bis
zu 3.000 einzelnen Eigenschaften von etwa 700 Millionen Menschen (vgl.
Acxiom 2013) – von Ausbildung, Wohnen, Beschäftigung, Finanzen, Eigentum und Wahlverhalten bis zu „Bedürfnissen“ und „Interessen“ im Bereich
Gesundheit oder etwa der „Neigung zum Glücksspiel“. Das Unternehmen
betreibt 15.000 Kundendatenbanken von globalen Top-Unternehmen, kooperiert laut Dwoskin (2014) mit Google, Facebook und Twitter und hat
seit dem Kauf des Online-Spezialisten Liveramp laut Eigenangabe drei Milliarden Kundendatensätze „ins Web gebracht“ (vgl. Kaye 2014). Acxiom ist
auch in Deutschland tätig und besitzt laut der Wochenzeitung „Die Zeit“
Daten über 44 Millionen Deutsche (vgl. Mclaughlin 2013).
Das inzwischen vom Business-Software-Marktführer Oracle erworbene
Unternehmen Datalogix verfügt nach Eigenangabe über Transaktionsdaten
von Konsument_innen über ein Einkaufsvolumen von mehr als zwei Billionen Dollar (vgl. Datalogix 2015) und vergleicht im Rahmen einer Partnerschaft mit Facebook, wie oft Nutzer_innen online Werbung für bestimmte
Produkte sehen - und die entsprechenden Käufe dann in einem Geschäft
durchführen.
Die Firma Lexis Nexis gibt an, Daten über 500 Millionen Konsument_innen zu besitzen (vgl. Lexis 2015) und bietet „Risikomanagement-Lösungen“ in den Bereichen Versicherung, Handel oder für den Gesundheitssektor an. Angeboten werden unter anderem Daten über die Kreditwürdigkeit,
Hintergrund-Überprüfungen von Arbeitnehmer_innen (vgl. Lexis 2015b)
oder Informationen über Problem-Mieter (vgl. Lexis 2015c). Darüber hinaus werden biometrische Services vom Fingerabdruck (vgl. Lexis 2015d)
bis zur Stimmerkennung (vgl. Lexis 2015e) oder zur Erkennung von
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„Risiken und Bedrohungen“ in sozialen Medien (vgl. Lexis 2015f) beworben.
Das Unternehmen Recorded Future erfasst Daten über Personen von
fast 600.000 Websites in sieben Sprachen, nutzt diese Informationen, um
deren zukünftiges Verhalten vorherzusagen und arbeitet sowohl für Unternehmen als auch für Militär und Geheimdienste. Seit 2009 sind unter anderem Google und In-Q-Tel - und damit indirekt der US-Geheimdienst CIA
- an Recorded Future beteiligt (vgl. Shachtman 2010).
Neben alteingesessenen Data Brokern mit teils jahrzehntelanger Erfahrung in diesem Geschäft sind in den letzten Jahren tausende Firmen
in den Bereichen Online-Tracking, Analyse und Werbung entstanden, die
Nutzer_innen über Websites, Apps und Geräte hinweg identifizieren und
gewaltige Mengen an persönlichen Informationen sammeln. Beim Aufruf
beinahe aller populären Websites wird jeder einzelne Klick an mehrere
Drittunternehmen übertragen, ebenso bei vielen Smartphone-Apps.
Das Wall Street Journal (2010) hat bei einer aufwändigen Untersuchung der 50 populärsten Websites festgestellt, dass bis auf Wikipedia alle
auf derartige Weise die Daten ihrer Nutzer_innen an Dritte übertragen. 37
der 50 populärsten Websites übertrugen bei jedem Klick Informationen an
über 30 Drittparteien, 22 davon sogar an über 60 Drittparteien. Populäre
deutsche Nachrichten-Websites übertrugen 2014 bei jedem Seiten-Aufruf
Nutzungsdaten an bis zu 59 externe Services (vgl. @stefanwehrmeyer et al
2014). Mit dem Angebot segment.io können Betreiber_innen von Websites
sogar einen Dienst in deren Seiten einbauen, der die Daten der Nutzer_innen unkompliziert und automatisiert gleich an über 100 weitere Drittunternehmen weiterleitet – ohne dass dies für Nutzer_innen in irgendeiner
Weise erkennbar oder nachvollziehbar ist.
Die Analyse- und Werbeplattform Flurry ist global auf 1,4 Milliarden
Smartphones und Tablets installiert und zeichnet die Nutzungsaktivitäten
in 540.000 unterschiedlichen Apps auf (vgl. Flurry 2015). Das Unternehmen wirbt damit, ein Drittel aller globalen App-Aktivität zu vermessen und
Zugriff auf durchschnittlich sieben Apps auf über 90% aller Endgeräte weltweit zu besitzen. Flurry ermöglicht Werbetreibenden eine gezielte Ansprache nach Geschlecht, Alter und Interessen – und sortiert Nutzer_innen in
Kategorien wie Hardcore-Spieler_innen, frischgebackene Mütter oder nach
ihrer sexuellen Orientierung (vgl. Flurry 2015b). Durch eine Kooperation
mit der Marktforschungsfirma Research Now stehen seit kurzem weitere
350 „Profil-Attribute“ über Demografie, Interessen und Lifestyle der Nutzer_innen zur Verfügung (vgl. Flurry 2015c).
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V. GESELLSCHAFTLICHE IMPLIKATIONEN VON
KOMMERZIELLER DIGITALER ÜBERWACHUNG
Durch die beschriebenen Entwicklungen und Praktiken wird klar, dass eine
Art von Überwachungsgesellschaft Realität geworden ist, in der die Bevölkerung ständig auf Basis persönlicher Daten bewertet, klassifiziert und sortiert wird. David Lyon (1994) hat dies bereits vor 20 Jahren mit dem Begriff
„Social Sorting“ beschrieben.
Konsument_innen können heute oft nicht mehr nachvollziehen, welche
Daten über sie und ihr Verhalten von Unternehmen digital erfasst und gespeichert werden, wie diese Daten verarbeitet werden, an wen sie weitergegeben oder verkauft werden, welche Schlüsse daraus gezogen werden und
welche Entscheidungen auf Basis dieser Schlüsse über sie gefällt werden.
Viele Unternehmen ermöglichen den Nutzer_innen nicht einmal den Zugriff
auf ihre eigenen Daten und betrachten ihre Algorithmen als Betriebs- und
Geschäftsgeheimnisse.
Persönliche Daten werden zunehmend in völlig anderen Bereichen eingesetzt als zum ursprünglichen Verwendungszweck bei deren Erfassung
(vgl. Dumortier 2009). Außerdem besteht überall, wo große Datenmengen
gespeichert werden, das Risiko von Datenmissbrauch und -verlust. Beinahe tägliche Medienberichterstattung über Sicherheitslücken und den Verlust von Millionen von Datensätzen ist inzwischen Normalität - sogar die
größten Unternehmen sind betroffen (vgl. z.B. DataLossDB 2015). Dadurch
entstehen große Risiken für Einzelne – von Belästigung und Stalking bis
Identitätsdiebstahl und Cyber-Kriminalität.
Wenn Unternehmen Kriterien wie Geschlecht, Alter, ethnische oder
religiöse Zugehörigkeit, Armut oder den Gesundheitszustand in ihre Entscheidungen mit einbeziehen, besteht die Gefahr von Diskriminierung oder
Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen. Die Chancen und Wahlmöglichkeiten von Einzelnen können dadurch eingeschränkt werden – von Preisdiskriminierung und der Frage, welche Angebote jemand bekommt, bis zu
lebensentscheidenden Fragen in den Bereichen Finanzen, Gesundheit,
Versicherung oder Arbeit. Sogar die Federal Trade Commission (2014) befürchtet, dass für Konsument_innen mit „riskanteren“ Verhaltensweisen in
Zukunft höhere Versicherungsprämien anfallen könnten.
Darüber hinaus könnten „mögliche Diskriminierungseffekte“ nicht einmal mehr nachzuvollziehen sein, wenn wir „keine Entscheidungsmacht“
mehr über die „Wege unserer eigenen Daten“ haben - wie das der EU-Parlamentarier Jan Phillip-Albrecht (2014) formuliert. Michael Fertik (2013)
diagnostiziert gar, dass durch individuelle Preise und personalisierte
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Angebote schon jetzt die Reichen „ein anderes Internet sehen“ würden als
die Armen.
Abgesehen von Fehlern bei der Erfassung der gesammelten Daten können Fehler in den Prognosemodellen und damit falsche Schlussfolgerungen massive negative Auswirkungen auf Einzelne haben. „Big Data“ ist weit
von wirklicher Objektivität oder Zuverlässigkeit entfernt (vgl. Boyd 2012).
Die Prognosen sind prinzipiell unscharf, da sie auf Korrelationen und
Wahrscheinlichkeiten beruhen. Wer beispielsweise die falschen Personen
kennt, im falschen Bezirk wohnt oder sich in der Smartphone-App „falsch“
verhält, wird in einer bestimmten Art und Weise klassifiziert und muss die
Konsequenzen tragen, ohne Einfluss darauf zu haben.
Wenn Versicherungsunternehmen die Risikoabschätzung von Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen abhängig machen, wird außerdem
Risiko individualisiert. Auch eine Verweigerung der Teilnahme kann Konsequenzen haben: Wenn keine oder zu wenige Daten über eine Person
vorhanden sind, schätzt ein Unternehmen das Risiko für eine Kundenbeziehung unter Umständen prinzipiell als zu hoch ein.
VI. WAS TUN? EINIGE HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN FÜR
POLITIK UND ÖFFENTLICHKEIT
Allgegenwärtige digitale Überwachung könnte künftig drastische Auswirkungen auf Gesellschaft, Demokratie und die Autonomie des Einzelnen
haben. Gleichzeitig bieten digitale Kommunikationstechnologien große
Chancen und Möglichkeiten in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Solange aber viele dominante Plattformen, Apps und Services derart verantwortungslos und intransparent mit den persönlichen Daten der Nutzer_innen
umgehen, reichen Handlungsempfehlungen auf individueller Ebene nicht
aus. Die Nutzer_innen selbst können sich nur zum Teil eigenständig vor
dieser Art der kommerziellen Überwachung schützen. Sogar über Menschen, die nicht teilnehmen, werden digitale Profile angelegt. Unternehmen aus dem Silicon Valley und anderen Regionen der Welt sind mit hohen
Kapitalsummen ausgestattet, treiben die Entwicklung mit permanenten
Innovationen voran und machen zunehmend die Regeln – während Politik,
Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Bürger_innen einfach nur zusehen. Um
die möglichen negativen Auswirkungen zu minimieren, schlage ich unter
anderem Folgendes vor:
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—— Schaffung von Transparenz über die Praktiken von Unternehmen –
durch Forschung, Öffentlichkeit und Regulierung.
—— Eine neue europäische Technologiepolitik: breite Unterstützung einer
anderen Art von Innovation auf allen Ebenen der Forschungs-, Förderungs- und Vergabepraxis – in Form von dezentraler und offener
Informationstechnologie, die mehr Kontrolle über persönliche Daten
einräumt und in Form von Geschäftsmodellen, die nicht auf der Verwertung unserer Daten beruhen.
—— Stärkung von kritischem Diskurs über Chancen, Risiken, Machtungleichgewichte und Lösungsmöglichkeiten sowie von digitaler Zivilgesellschaft – deren Organisations- und Finanzierungsgrad ist mehr als
mangelhaft.
—— Stärkung von digitaler Kompetenz und des Wissens über den Umgang
mit den eigenen persönlichen Daten.
—— Europäische Datenschutzverordnung: maximale Aufmerksamkeit auf
eine gute und trotzdem zügige Umsetzung der europäischen Datenschutzverordnung.
—— Transparenz der Algorithmen: darüber hinaus ist darüber nachzudenken, Transparenz rechtlich nicht nur in Bezug auf die gesammelten
Daten einzufordern, sondern auch bezüglich der eingesetzten statistischen Verarbeitungsalgorithmen.
Anmerkung: Dieser Artikel basiert auf der Kurzfassung der vom Autor im
November 2014 publizierten Studie „Kommerzielle Digitale Überwachung
im Alltag“.
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LITERATUR
–– Acxiom (2013): Annual Report 8, Bericht vom September 2013. URL: http://
d3u9yejw7h244g.cloudfront.net/wpcontent/uploads/2013/09/2013-AnnualReport.pdf
–– Albrecht, Jan Philipp (2014): Finger weg von unseren Daten! Wie wir entmündigt
und ausgenommen werden. Droemer Knaur.
–– Anderson, Janna; Rainie, Lee (2014): The Internet of Things Will Thrive by 2025.
Pew Research Center, Report vom 14.05.2014. URL: http://www.pewinternet.
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[18.09.2014]
63
JOS DIEGEL & LISA SCHROETER:
THERE IS NO/A SEXUAL REPORT - ENTITÄT, IDENTITÄT UND
DIE KONSTRUKTION EINES RELATIONALEN SAN FRANCISCO
JOS DIEGEL
Vom 1. - 6. Oktober 2013 konstruierten Lisa Schröter und Jos Diegel das
intime Szenario einer sechstägigen Beziehung in San Francisco, mündend
in die „Arse Elektronika monochrom's Conference on sex and technology!“.
Nach ihrem Kennenlernen im Mai in Zürich, einigen E-Mails und einem
Treffen in Wasserburg am Bodensee im September, sollte in San Francisco die Konstruktion einer Situation für Geschlechtsverkehr und ein mögliches Geschlechtsverhältnis entstehen. In einem Live-Bericht präsentierten
Jos Diegel und Lisa Schröter ein paradoxes Verhältnis- und Beziehungsexperiment, das sich hin und her bewegt zwischen medialer Parodie einer
intimen und pornografischen Offenbarung und der Dekonstruktion hoher
Werte sexueller Identität und Liebesgesten als Überführung des privaten
Moments in eine öffentliche Sphäre.
„Der Text des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy mit dem Titel ‚Es
gibt – Geschlechtsverkehr‘, ‚L´ il y a‘ du rapport sexuel‘, meint eigentlich
das ‚Es gibt‘, d.h. Gegebene, das ‚Ex-sistieren‘ in der Beziehung, die Entität.
(Es meint, dass es irgendetwas gibt). Er bezieht sich auf das von Jaques
Lacan häufig verwendete: ‚Il n´y a pas de rapport sexuel‘. So gäbe es immer und überall Sex, aber kein wirklich sag- und beschreibbares Verhältnis
unter den Geschlechtern. Dennoch aber (laut Nancy) einen Raum der Intimität, nicht existent, wenn doch ein Ort für die Kommunikation der Körper.
So müsste es doch einen Ausweg aus dem Dilemma von belegten Bildern
geben, aus Mustern von Liebe und Sex, Begehren und Beziehung, Eros,
Kreativität, Identität und Selbstverwirklichung, Emanzipation, mit welchen
die Geschlechter markiert sind. Ein Verhältnis entwickelt sich dort, wo das
Unbewusste reagiert, keine vorgefasste Botschaft sondern nichts anderes
als ein linguistischer Kristall, topologische Sprechblasen, akustische Bilder entstehen. Das ist ein Verhältnis, ein eigenständiges Wesen, das sich
erst im Rahmen der Beziehung, ja der Performance von Beziehung herausstellt.“
65
Der folgende Text ist eine bearbeitete und modifizierte Abschrift der
Lecture-Performance mit Jos Diegel und Lisa Schröter
J.: Ich bin Jos Diegel und ich habe vor fast ziemlich genau einem Jahr in
San Francisco eine Beziehung für eine Woche geführt mit einer Frau,
die ich vorher so gut wie nicht kannte bin, um herauszufinden ob es
Geschlechtsverkehr gibt.
L.: Ich bin Lisa Schröter und ich bin vor einem Jahr mit diesem Mann nach
San Francisco gefahren um eine Beziehung zu führen. Dass das eine
Art von Beziehung wird, war soweit im Rahmen der Performance recht
klar. Wir haben uns in Zürich kennengelernt, zwischen Tür und Angel.
J.: Wir haben uns über ein Projekt in Zürich kennengelernt. Kennengelernt
ist vielleicht zu viel gesagt, wir hatten ein Gespräch von wenigen Minuten.
L.: Du warst am Theater Gessnerallee und hast dort deinen Film gezeigt
und ich fand den Film gut. Ich kann mich erinnern und du standst draußen vor der Tür und ich bin gerade an dir vorbeigelaufen du hast dich
gerade mit jemandem unterhalten da hast du gesagt, ich würde gerne
mal einen Pornofilm drehen. Ich habe das gehört und fand das gut und
habe dann gesagt, ja, ich mache da gerne mit. Ich hatte aber keine Zeit
und musste weg. Ich habe ihm meine E-Mailadresse gegeben und bin
gegangen.
J.: Ich wollte in Kontakt bleiben. Das Bedürfnis nach Kontakt war eher aufgrund eines sympathischen Gesprächs. Ich interessiere mich für dich.
Für mich ist es oft schwierig, Kommunikation abzubrechen. Ich wollte
da auch dranbleiben.
L.: Wir haben uns E-Mails geschrieben. Ich habe irgendwann mal eine längere Mail geschrieben.
Konzept geschrieben und eingereicht. Also vorher habe ich den gewagten
Versuch gestartet und habe sie gefragt, per E-Mail, ich hatte ihr den
Text, den mit dem Konzept, geschickt und dazu ein paar Worte. Im Grunde die Frage, hast du Lust mit mir nach San Francisco zu fliegen und
herauszufinden, ob es Geschlechtsverkehr gibt? Willst du mit mir nach
San Francisco fliegen, um herauszufinden ob es Geschlechtsverkehr
gibt?
L.: Als er mich gefragt hatte zu dem Projekt habe ich einfach eins gesagt.
Ja.
J.: Mit den Blick auf die Thematik der Arse Elektronika dachte ich, Sexualität als solches war bisher nicht ein konkretes Motiv in meinen Projekten, eher Motive, wie viel Kreativität, Identität, Selbstverwirklichung
und Selbstausbeutung und da gibt es Parallelen. Das steht auch in Bezug, was mich in meinen Rollenverhältnissen, die zu erfüllen sind als
Künstler oder auch im weiteren Sinn als Mann. Ich hielt mich auf an Geschlechterverhältnissen, Beziehungs- und vermeintlichen Männer- und
Frauenbildern und Protagonist_innen.
L.: Ich bin gerne mit ihm nach San Francisco gefahren. Eigentlich bin ich
mitgefahren, weil ich festgestellt habe, dass die Vorstellung, die ich
habe oder was ich gerne in Sexualität sehe, die Möglichkeiten, die sie
für mich bietet, selbstverständlich nicht immer im Einklang steht mit
der der anderen Leute. Und hab mich gefragt, wie ich die Offenheit, die
ich habe, für dieses Experiment nutzen kann. Ich könnte ein Thema,
das ich nicht so ganz verstehe, erfahrbar machen für andere Leute.
J.: Wir dachten, es wäre gut, sich nochmal zu treffen bevor man nach San
Francisco fliegt. Ich war gerade im September einen Monat vor Abflug
beschäftigt mit einem Projekt am Bodensee. Das heißt, wir hatten uns
drei Monate nicht gesehen und nur via E-Mail kommuniziert. Wir hatten
kurz vorher mal telefoniert.
L.: Ich bin also ein Wochenende nach Wasserburg gefahren.
J.: Mir kam der Impuls für das Projekt nachdem ich sie kennengelernt
hatte. Oftmals sind meine Projekte auch beeinflusst bzw. inspiriert
oder motiviert durch Begegnungen und das war dann auch irgendwie hier der Fall. Danach kam darauf die Ausschreibung für die Arse
Elektronika 2013. Dann kam mir die Idee zum Projekt. Ich habe das
66
J.: Es ist eine spannende Situation wenn man weiß, man fliegt in einem
Monat nach San Francisco und führt eine Beziehung bzw. ein Verhältnis.
67
L.: Wir hatten uns nur kurz gesehen und kann man allein daran entscheiden ob wir uns mögen und ob man so ein Projekt machen möchte?
J.: Wir begeben uns schon in eine extreme Situation und da kann man sich
schon mal fragen, finde ich sie gut? Dennoch, die Entscheidung war
schon getroffen. Wir fliegen.
L.: Als wir uns getroffen hatten war schon davon auszugehen, dass nach
San Francisco zu fahren eine gute Idee ist.
J. Ich dachte, eine Projektbesprechung kann man auch am Wasser am
Malerwinkel in Wasserburg machen. Ich dachte, das ist auch ganz nett,
was zu essen. Wenn man in Wasserburg ist, kann man auch an den
Malerwinkel fahren und das war eine absurde romantische Stimmung
und dabei sollte es nettes Projektgespräch sein. Und dann kamen wir
einander näher.
L.: Das hat auch gut geklappt. Wir haben auch andere Sachen gemacht
als Projektbesprechung. Wir haben Picknick gemacht und gebadet und
miteinander geschlafen. Picknick am Wasser, das war dann schon romantisch. Wir sind nach oben in das Haus. Ich supermüde und hab
mich hingelegt. Du standest rechts vom Bett, hast dein T-Shirt hingelegt
und sofort angefangen, zu knutschen. Es war so, wir verstehen uns gut,
sind uns einig und dann können wir auch rummachen. Wir hatten uns
gut verstanden und sind uns nahe gekommen, abgesehen auch über
das Körperliche hinaus.
J.: Das nächste Mal haben wir uns dann am Bahnhof in Frankfurt gesehen. Wir waren dann bei mir abends und ich hatte die ganze Nacht noch
durchgearbeitet. Dann sind wir morgens los.
L.: Angekommen in San Francisco sind wir vom Flughafen weggefahren.
Wir hatten ein Auto gemietet. Beinahe hätten wir einen Autounfall gehabt wegen eines Autoreifens, der auf der Straße lag. Als wir am Haus
angekommen waren, war es sehr schön.
J.: Die ersten zwei Tage haben wir uns akklimatisiert mit Sightseeing. Es
war Zeit, sich auf die Situation einlassen, Beziehung zu führen eigentlich, Nähe zu schaffen. Für mich war das ein guter Einstieg und selbstverständlich, auf einer bestimmten Ebene weiterzumachen.
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L.: Wir haben Sightseeing gemacht und das fand ich auch nett, aber da
war so eine Selbstverständlichkeit, wie die Nähe eingefordert wurde.
Ich konnte das nicht erwidern. Das war mir zu viel.
J.: Ich behaupte, ich kann sehr schnell auf der Ebene weitermachen, wo
wir uns getrennt haben, da wo ich mit dem Menschen gewesen bin. Ich
mochte sie sehr gerne und es war es so selbstverständlich, dass wir
zusammen fliegen und wenn ich sie gern mag kann ich das auch ausdrücken. Sicher war in dieser Selbstverständlichkeit durch Vertrautheit
das Gefühl, dass sie da ist. Was von ihr interpretiert wurde als Übergriffigkeit, war meine Kommunikation des Zusammenseins.
L.: Es war nicht sein Gefühl von Nähe. Ich habe nichts gegen Nähe. Das ist
sehr schön. Ich habe mich schon gefreut, dass wir zusammen losfliegen, aber ich habe mich ein bisschen geärgert, weil du alles so selbstverständlich genommen hast. Wir hatten uns eben in Wasserburg am
Bodensee kennengelernt. Es war sehr intim und wir sind uns ja auch
näher gekommen. Aber wir sind dann einen Monat später losgeflogen
und er hat mich so ins Gepäck gepackt. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass wir vorsichtige Annäherungsversuche oder so etwas hatten.
Es war so als hätte es nie den Abstand gegeben, so als wäre da nie so
eine Brücke gewesen, die hat es nach einen Monat nun einmal gegeben. Das ist ganz schön, könnte man sagen, wir haben es an einem
Wochenende geschafft, so viel Intimität zueinander aufzubauen, dass
wir gar keinen Abstand mehr hatten.
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J.: Wir haben ja in Wasserburg auch schon tatsächlich einiges übersprungen, das Annähern, das Verliebtsein, sich rantasten, was auch da sein
kann. Ein Moment, der sehr absurd ist. Deswegen war die Vorgeschichte am Bodensee nicht unwichtig. Und daraufhin hat der Konflikt am
Flughafen zu einem größeren Konflikt geführt. Durch unser Treffen,
das als Vorbesprechung gedacht war, hat es für mich den unerwarteten aber für die Situation des Projekts sehr gesunden Konflikt gegeben,
weil ich da rein bin mit der Erinnerung an uns. Ich bin mit einer tollen
Frau nach San Francisco gefahren und habe mich im Grunde selbst in
meine Konstruktion fallen lassen.
L.: Weil wir die ganzen Dinge vielleicht zwangsläufig übersprungen haben,
hatte ich das Gefühl, dass du einen Einheitsbrei aus uns machst. Es
gab nur noch uns und in diesem Uns gab es kein Du und Ich. Das hat
sich dann in Kleinigkeiten geäußert. Guck mal, findest du das nicht
auch total schön? Was soll ich darauf sagen? Ja, nein. Oder, klar finde
ich das auch schön. Geht es dann darum, sich so zu bestätigen in dem
was man gemeinsam schön findet? Ich hatte Abgrenzungsprobleme.
Kannst du mal darauf achten, wo ich gerade bin, was ich möchte? Ich
konnte das nicht anders kommunizieren als zu vermitteln, nein, ich will
keine Körperlichkeit, ich will keinen Sex haben. Ich habe mich sexuell
verweigert. Ich konnte mich nicht anders ausdrücken. Wenn wir abends
ins Bett sind, habe ich mich weggedreht. Ich konnte die Situation noch
nicht kommentieren. Ich bin schon jemand, die die sexuelle Intimität
und die emotionale Intimität voneinander trennen kann. Das kann sich
in Beziehungen verbinden, aber muss es nicht. Es gibt durchaus genug
Zeichen von Sexualität, die nichts mit Intimität zu tun haben. Du hast
mich damit erschreckt.
J.: Ich habe nach zwei Tagen das Gefühl gehabt, etwas stimmt nicht und
empfand, es nähert sich gerade nichts so richtig an. Ich habe versucht,
den Kontakt zu suchen. Sie ist mir ausgewichen. Es ist schön, wenn
man sich das Bett teilt und da kann man ja auch zusammenrücken.
Man kuschelt sich zusammen. Ich wusste nicht, was ist gerade gescheitert. Ist die Beziehung gescheitert oder ist das Projekt gescheitert?
Worum geht es gerade? Was denke ich überhaupt über die Situation?
Warum mache ich das hier eigentlich?
L.: Ich habe mich auch über mich selbst gewundert, weil ich mich für eine offene aufgeschlossene Person halte, die Gelegenheiten gerne annimmt.
70
Ich habe mich über mich gewundert, dass ich so unkommunikativ geworden bin und mich zurückgezogen habe von dir. Du hattest keine
Erwartungshaltung an mich. Ich habe keinen Druck gespürt, aber ich
hatte keinen Raum für mich. Es ging gar nicht darum, mit dir zu schlafen oder nicht, sondern die Sexualität zu verweigern war die einzige
Möglichkeit, einen Raum für mich zu einzunehmen. Wo ist meine Identität noch? Immer permanent alles gemeinsam. Du hast eine Position
eingenommen, wie du uns siehst in der Situation in San Francisco. Ich
habe mich von dir so eingeengt gefühlt am Anfang. Ich war so bedroht
in meiner Freiheit. So wie ich dort war, hätte es normalerweise dazu
geführt, dass ich weggelaufen wäre. Ich musste dem ausweichen. Es
gab keine Ausweichmöglichkeit und wir haben uns gegenseitig dazu gedrängt, darüber zu sprechen und das zu kommunizieren, die Intimität
aufzuklappen. Vorher habe ich gedacht, ich bin total offen und kann
alles klären. Konnte ich aber gar nicht - also nicht in dem Maße, wie ich
das gedacht hatte.
J.: Ich finde Momente der Unsicherheit ganz gesund, der Unsicherheit,
aber des Sich-aufeinander-Einlassens. Ich mag mich gerne auf jemanden einlassen, der oder die sich besser zurechtfindet irgendwo. Das
übergebe ich selbstverständlich gerne und besser in andere Hand. Es
war, als wir mit den Fahrrädern unterwegs waren. Lisa ist Fahrradkurierin. Als Fahrradkurierin kennst du dich viel eher in der Stadt aus. Es
gab diesen Moment vor der Eröffnung der Arse Elektronika. Wir wollten
etwas essen. Wir sind mit dem Rad gefahren und prompt bleibt Lisa stehen, bremst, steigt vom Rad ohne mich zu informieren, dass sie drüben
auf der anderen Straßenseite essen will. Ich habe das gerne abgegeben, aber ich möchte informiert werden. Das war, was mir gefehlt hat
und dir zu viel war weil du dich mitteilen musstest.
L.: Ich fahre vorneweg und wir wollen was essen gehen. Muss ich dann erst
sagen, stop, einen Moment, ich habe da drüben etwas gesehen. Warum
stellst du dich so an?
J.: Das hat für mich nicht mal mit Beziehung zu tun in sexueller oder
partnerschaftlicher, sondern in freundschaftlicher Hinsicht. Wenn ich
gemeinsam unterwegs bin, bin ich fürsorglich bedacht mit dem Menschen, mit dem ich unterwegs bin. Auch suche ich das Richten, das Zurichten des Menschen mir gegenüber. Man ist zusammen und reagiert
aufeinander.
71
L.: Ich stand freudestrahlend vor dem Lokal und du warst dann angepisst.
Ich hatte das Gefühl, ich hätte dich ausreichend informiert. Jedenfalls –
ich weiß um diese Fürsorge und das Gemeinsame. Aber so wie du das
über mich drüber geworfen hast, war es ein Gefühl, als hätte ich keine Handlungsmöglichkeiten, als könnte ich mich nicht für meine Position entscheiden. Es ist doch so, dass man sich aufeinander zu oder
voneinander wegbewegt. Das gab es nicht. Dann gab es den nächsten
Morgen, da sind die Spannungen stärker geworden und ich bin joggen
gegangen. Nachdem ich joggen gegangen bin, haben wir am Frühstückstisch gesprochen. Am nächsten Morgen wollte ich Sachen über dich
wissen.
J.: Ich habe mich in die Ecke gedrängt gefühlt. Es war so, dass ich dachte,
mir passt etwas gerade nicht und irgendwas stimmt hier nicht.
L.: Ich habe die projektbezogen Fragen gestellt, eben auch über Beziehung.
J.: Ich habe mich unterlegen gefühlt. Ich fühle mich unwohl und werde
dann noch ausgefragt. Ich habe mich missverstanden gefühlt. Man
kann sich vorstellen, es ist wie auf einer einsamen Insel. Wir sind zusammen in San Francisco, vor Ort losgelöst von unserem eigen persönlichen sozialen Raum. Das ist eine Form wie man zusammen ist, eine
Konstruktion eines persönlichen San Franciscos. Da entsteht dann ein
Wir. Wir sind die einzigen Vertrauten und es ist nicht so, dass es kein Du
und Ich gibt, aber dass wir jetzt hier zusammen sind, kann man auch
so leben. Wieso soll man sich dagegen sträuben? Das ist ähnlich zu einer Beziehungssituation. Sagen wir vielmehr, es fühlte sich so an, also
musste es auch so eine sein.
L.: Ein wichtiger Teil des Konflikts ist geworden, dass er so schnell diese
intime Ebene aufgebaut hat. Wir hatten nur projektbezogen geredet,
welche Gedanken und welche Einstellungen wir dazu haben. In San
Francisco wurde so schnell diese intime Ebene aufgebaut, dass er gar
nicht mehr nach persönlichen Sachen gefragt hat. Was machst du eigentlich dort? Was sind eigentlich deine Hobbies? Ich habe mich dadurch übergangen gefühlt. Ich empfand das als Verlustgefühl, dass wir
diese Banalitäten gar nicht ausgetauscht haben. Der Zustand ist für
uns so schwierig zu begreifen, wenn du einander begegnest, ein Verhältnis hast und oft gar nicht bemerkst, wie du es hast und dass du
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auseinander driftest. Es gibt diesen Raum aber der ist sprachlich extrem schwer zu greifen. Intimität ist ein Raum, der immer neu geschaffen werden muss. Wie ich anders bin mit jedem Menschen, muss ich
auch herausfinden, wie ich Intimität mit diesem oder jenem Menschen
schaffe.
J.: Ich musste verstehen, dass ich eine Intimitätsgrenze vielleicht zu früh
durchbrochen habe und mich fragen, ob das nicht immer wieder vorkommt. Ich musste erkennen, dass ich ein anderes Bewusstsein dafür
entwickelt habe. Auf der anderen Seite habe ich bemerkt, dass sich bei
mir Widerstände entwickeln. Lisa ist eine besonders greifbare auch körperliche Person. Wenn ich das erwidere oder von mir ausgehend agiere,
dann ist es ein Problem. Und wir haben auch darüber geredet. Du warst
ja meiner Erfahrung bzw. Erinnerung nach nicht abgeneigt. Dann wurde
ich aber zurückgewissen.
L.: Es war zu viel, weil du mir keine Entscheidung mehr gelassen hast. Du
hast für dich die Entscheidung getroffen. Ich mag sie und wir können
auch miteinander schlafen. Wir sind einander auch sympathisch gegenüber eingestellt, du und ich. Es gibt keine Grenzen und wir sind gemeinsam da, du hast für dich Position ergriffen. Du hast mir nur noch zwei
Positionen übrig gelassen: zu sagen, ich bin mit dir oder ich bin gegen
dich. Du hast mir nicht die Wahl gelassen, in diesem Zwischending zu
entscheiden, ob ich etwas nicht will. Dieses Zwischending war ungebildet, fragestellend, vage, ungewiss. Und wo sich Schritte machen oder
auch nicht machen lassen, das hast du damit durchgestrichen.
J.: Wir sind sehr schnell in einem Beziehungsprozess drin gewesen. Das
sind eigentlich zunächst Momente, da tastet man sich heran. Und der
Verlust hat ja in dieser intimen Situation schon wieder eine ganz andere
Tragweite. Man ist dann schon mittendrin.
L.: Daher kann man nicht sagen, jemand hätte sich falsch verhalten oder
richtig. Wir haben uns verhalten, wie es in dieser Situation war.
J.: Am Tag danach im Gespräch beim Frühstück hatte ich das Gefühl, ich
muss meine Position wieder herstellen. Dabei gab es auch wieder so
eine Situation mit dem Brot. Wir frühstücken, sie macht sich ihr Müsli
und ich Brot und wie war das.
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L.: Ich konnte auch nicht sagen, wie ich das wollte.
J.: Es kamen Provokationen an dich, ich fragte, findest du es gut, mit mir
hier zu sein? Spielst du gerade die Performance? Du öffnest dich überhaupt nicht. Ist das so wegen dem Projekt oder bist du wirklich so in
einer Beziehung?
L.: Am nächsten Morgen hast du mich am Frühstückstisch gefragt. Bist du
überhaupt gerne mit mir hierher gekommen? Da war ich richtig wütend.
J.: Man kann es auch so sehen, da ist ein Künstler, der macht das Funding
und finanziert eine Reise nach San Francisco und fragt, hast du Lust mit
mir zu fliegen und du denkst, warum nicht. Du musst dann mit dir selbst
diesen Konflikt bearbeiten und fragst dich, hätte es jemanden weniger
kompliziertes oder komplexeres gegeben, die du hättest mitnehmen
können oder jemanden, die dankbar ist und nicht den Eindruck macht,
das Projekt zu torpedieren? Das habe ich ihr mal vorgeworfen. Ob ich
wirklich daran glauben wollte oder das heute gerechtfertigt finde, ist
etwas anderes. Ich habe sie gefragt, performst du gerade Beziehung
oder bist du in einer Beziehung genauso? Das war irrelevant. Das war
albern wenn wir davon ausgehen wollten, dass jede Beziehung sich
selbst eigen ist und das darum wie wir in jeder Beziehung performen.
Tatsächlich hatten wir eine gemeinsame Situation kreiert. Dieser Prozess, in dem wir das Projekt gemacht haben, warum wir da sind, das ist
die Performance von Beziehung als solche.
L.: Ich wollte einfach kein Brot. Warum muss jede Kleinigkeit ausgehandelt
werden? Warum ist es wichtig, über jede Kleinigkeit zu sprechen?
J.: Wir meinten eigentlich das gleiche aber die Kommunikation hat nicht
gestimmt.
L.: Ich habe zugemacht, er hat aufgemacht und das hat nicht gestimmt. Du
bist einfach jemand, der sehr offen ist.
J.: Ich versuche dagegen zu arbeiten, wenn keine Offenheit da ist. Manchmal hätte ich ein kurzes klares Nein auch verstanden. Das hat sie nicht
gemacht.
74
L.: Es ging aber nicht darum, dass eine Frau ihren Verstand und ihren weiblichen Part zur Verfügung stellt. Ich habe mich immer als aktiven Teil
des Projekts gesehen. Das war meiner Meinung auch die Erwartung,
die er tatsächlich hatte innerhalb des Projekts. Natürlich ist das sein
Projekt gewesen und er hat die finanzielle Förderung und Unterstützung
dafür aufgetrieben, aber ich habe mich niemals als eine passive Akteurin darin gesehen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob man Aktivität mit
monetärer Substanz in Bezug setzen kann und passiv ist, weil man sich
zu einer Sache bekennt und beteiligt ist.
J.: Wie gesagt, ich hatte mich missverstanden gefühlt und habe dann versucht, sie zu provozieren. Das hat nur bedingt funktioniert.
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L.: Ich konnte auch nicht wegrennen. Ich war ausgeliefert und als er mich
fragte, bist du gerne mit mir hier, war ich schon verletzlich. Ja ich bin
gerne mit dir hier aber darum muss ich nicht mit dir schlafen, ich war
verletzlich auf Abwehrhaltung, und dann hat er etwas gemacht mit
Ruhe und mit etwas reagiert, dass es ausgebrochen ist.
J.: Ich war mit mir nicht zufrieden. Dort, wo die totale Verzweiflung war. Und
dann habe ich etwas getan, was mir mehr entspricht als zu provozieren.
Ich habe dich massiert und du hast dich umgedreht, bist aufgestanden
und warst emotional. Mit einem Handgriff ist viel aufgegangen.
L.: Durch diese Berührung sind Sachen hochgekommen, da ich auch nicht
mehr gewohnt war, jemanden so an mich ranzulassen. Du warst der
erste Mann seit langer Zeit, der mir so nah war. Wenn es um sexuelle Kontakte ging, hatte ich jemanden nur auf ein bestimmtes Maß an
mich herangelassen. Ich konnte wieder körperliche Nähe zulassen. Wir
haben kuschelt. Aber ich hatte kein Interesse an Sexualität. Wir haben
dann die Aufnahmen gemacht. Ich sehe das an meinem Gesichtsausdruck, dass ich einerseits entspannt bin, andererseits spiele, dass ich
entspannt bin. Ich dachte, ich kann das jetzt nicht, ich verhandle über
Sexualität bestimmte Dinge. Ich bin ganz irritiert gewesen, dass ich jemandem begegnet bin, den ich mag und mich angezogen fühle, aber
ich konnte keinen Sex mehr mit dir haben. Ich glaube, dass man mit
Sexualität viel Intimität verhandeln kann aber nicht das Intimste. Und
um intim zu sein, permanent, muss man sich auch mal fern sein. Das
war auch meine Idee.
J.: Als es dir viel zu viel und zu nah war, in dem Moment, als du das sagen
konntest, waren wir uns näher. Ich habe sie umarmt und in dem Moment sagt sie mir das. Es ging mir nicht um Sex, sondern darum, Nähe
zu schaffen.
L.: Also ich hab mich nach dem Sex nicht näher gefühlt zu dir als durch das
Gespräch. Das Gespräch hat zu mehr Intimität geführt und nicht, dass
wir danach Körperinteraktion hatten, Sex hatten.
J.: Was bedeutet denn Zusammensein? Was bedeutet Kommunikation der
Körper und der Geister? Du hast gesagt, dass ein Missverständnis darin besteht, dass sich der körperliche Akt oft gleich Intimität versteht.
Vielleicht war der Konflikt, den wir hatten, weitaus intimer.
L.: Das war eher so, du bist mir wichtig und ich interessiere mich für dich
und möchte dir nahe sein. Das war ein schöner Moment, das hat sich
schön angefühlt. In dem Moment, wo du so nah warst wie schon lange
kein anderer Mann vor dir, warst du für mich als Sexualobjekt gestorben.
J.: Es war anders als vorher. Für mich war das auch ähnlich - gleiche Situation. Ja es ist gut, aber Sex brauch ich jetzt nicht.
L.: Und dann ist es doch spontan entstanden. Und es sieht vielleicht aus
wie unechter Sex aber das war echt.
J.: Der Sex war nicht meine beste Performance
L.: Meine auch nicht.
J.: Am letzten Abend, wir saßen mit Freunden zusammen und das war
krass dieses Gefühl, gleich bist du weg. Wir haben auch mehr Nähe
gesucht. Nach dem Abflug bin ich nach Hause durchnächtigt gefahren.
Die Verabschiedung war ein wenig klischeehaft am Gate, sie fährt die
Rolltreppe runter und die Sonne geht zu. Ich war dann erstmal alleine.
Es war ein wenig wie das Ende einer Beziehung. Es war schon sehr
stark, das Gefühl des Verlustes. Ich war zwei Tage neben mir.
L.: Ich habe ihn auf jeden Fall sehr vermisst. Ich hatte aber nicht das Gefühl, dass ich ihn permanent sehen müsste. Aber da war eine Nähe
entstanden und das war schön und das habe ich vermisst.
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J.: Wir haben nie Schluss gemacht bisher. Das ist der Status quo soweit.
Unser Abschied war ganz klassisch am Flughafen mit auswinken. Ich
habe sie dahin gebracht. Ich bin noch eine Woche in San Francisco
geblieben. Für mich war da ein starkes Verlustgefühl. Die Konstruktion
unseres persönlichen San Franciscos hat dazu geführt, dass ich Angst
hatte, sie zu verlieren. Da sind wir gerade an einem Punkt, an dem wir in
kurzer Zeit einiges emotional durchgemacht haben und jetzt gehst du.
Ich habe erstmal drei Tage gebraucht und festgestellt sie ist weg und
jetzt muss ich mich allein zurechtfinden.
L.: Und am Ende ist es so, dass die Grenzen zwischen dem, was wir konstruktiv machen und wollten und was wirklich daraus geworden ist ohne
es bewusst zu beeinflussen, unklar werden, auch für uns. Im Raum
stand schon, ob wir uns nicht in ein konstruiertes Chaos begeben hatten.
L.: Was heißt, Schluss gemacht. Wenn du etwas beendest, hat etwas ganz
konkret einen Anfang genommen. Bei uns zu trennen zwischen einer
richtigen Beziehung oder einem performativen Akt war kaum möglich.
Das war ganz schwankend. Das ist ineinander übergelaufen. Schluss zu
machen haben wir dann ausgelassen.
L.: Ich wollte herausfinden, warum ich manchmal dieses körperliche Begehren habe. Ich wollte etwas über mich herausfinden. Und auf einmal
trägst du etwas, was zwei Leute betrifft, was diese zwei Akteure konkret
mitbekommen nach außen in die Öffentlichkeit.
J.: Interessant ist auch die Frage, ob es einen Unterschied macht ob wir in
einer Konstruktion einer Beziehung oder in einer sogenannten echten
Beziehung gewesen sind, in der wir scheinbar für manche nicht waren.
Außerdem steckt für mich noch eine andere Frage nach Performance
darin. Ich finde man darf auch die Realität befragen danach, wieviel
Performance ist eine Beziehung. Wenn zwei Personen sich lieben und
ist das dann gleich viel oder gibt es einen der beiden, der oder die mehr
Liebe performt als der oder die andere. Wieviel performt wer weniger
liebt?
L.: Die Art wie du da warst hatte keinen performativen Charakter, sondern
ist deine Persönlichkeit.
J.: Das ist keine Frage der Performance, wo ich denke, wie soll ich mich
verhalten? Ich habe nicht bewusst versucht, eine Rolle einzunehmen.
Das Projekt ist ja auch eine Frage über was sind Performance und Realität.
L.: Letztendlich ist jedes Verhältnis eine Performance.
J.: Jede Beziehung, jedes Geschlechterverhältnis ist eine Art von Konstruktion, an der beide oder alle Positionen maßgeblich verantwortlich
entscheiden. Es sind jedes Mal Übereinkünfte, die stattfinden für die
sich beide entscheiden.
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J.: Wir waren in einer Konstruktion von einem Verhältnis vom 1. bis zum
7. Okt 2013 in San Francisco. Jetzt kann man alle anderen Konstrukte
eigens verhandeln.
J.: Etwas sehr persönliches in die Öffentlichkeit tragen. Sei es, man bespricht es miteinander oder mit einem Freund oder Freundin, man hat
das Gefühl, dass man Momente nie wieder herstellen kann und hat
Probleme, Verhältnisse zu artikulieren. Es gibt gewisse Tabus, was den
rapport sexuel betrifft. Es gibt deine und meine Sexualität.
L.: In anderen Beziehungen, die wir woanders haben, sind andere Akteure
mit drin.
J.: Wie bin ich als Akteur in einer Beziehung. Und Beziehung ist in dem
Fall trivial. Der rapport sexuel meint letztlich mehr als den Akt selbst
sondern auch eine Kommunikation, ein Verhältnis der Geschlechter,
körperlich und geistig. Gibt es so etwas wie eine Rückführung auf ein
Verhältnis zwischen den Geschlechtern, wodurch wir geneigt sind, uns
in bestimmten Rollen festzulegen? Geschlechtsverkehr ist ein Prozess,
der geistig aber auch körperlich stattfindet. Und da es hier nun mal
um die Konstruktion eines persönlichen San Franciscos geht, geht es
zunächst nicht darum, das Experiment als solches zu universalisieren
auf alle Beziehungen und Geschlechter. Das ist aber schon die universellste Erkenntnis, dass jede Beziehung, jedes Geschlechterverhältnis
einzigartig ist. Eine Konklusion kann sein, dass das, was man miteinander hat, das muss immer wieder neu konstruiert werden.
L.: Dass was daraus werden könnte, hielten wir ganz offen.
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LITERATUR UND WEITERFÜHRENDE LINKS
–– Jean-Luc Nancy: "Es gibt - Geschlechtsverkehr". Aus dem Französischen von
Judith Kasper. Diaphanes, (Berlin, 2012) ISBN 978-3-03734-179-7
PARADOXE STRATEGIEN. INTIMITÄT UND
KONTROLLE IM ÖSTERREICHISCHEN SPIELFILM.
KATHARINA STÖGER/THOMAS BALLHAUSEN
Projektseite
–– www.josdiegel.de
–– www.josdiegel.de/situationen/there-is-noa-sexual-report1/
Videos
–– Video Teaser, Jos Diegel & Lisa Schröter - There is no/a sexual report (San Francisco/Frankfurt, 2013), www.vimeo.com/79251314
–– Video Trailer, Jos Diegel & Lisa Schröter - There is no/a sexual report (San Francisco/Frankfurt, 2013), www.youtube.com/watch?v=ruelABN3zq8
“In pitch dark
I go walking in your landscape
Broken branches
Trip me as I speak
Just 'cause you feel it
Doesn't mean it's there
Just 'cause you feel it
Doesn't mean it's there”
Radiohead: There There
Das Projekt wurde produziert von Jos Diegel (JOS2013) und Elias Film und
gefördert mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung der Sparkasse, Künstlerhilfe Frankfurt e.V., Friedrich Ebert Stiftung, OffKult e.V., Kunst
Raum Mato e.V., Glas Klar-a product of www.atlantisschwaemme.de, sowie
privaten Förderern und Förderinnen.
weitere Präsentationen
–– Center of Contemporary Art, Plovdiv, BG, 9. September - 10.Oktober 2015
–– Hotel Lindenberg, Frankfurt, DE, 9. Oktober 2014
–– Binghamton University, Binghamton, NY, 28 .- 29. März 2014
Bildnachweis: alle Bilder sind Stills aus der Videodokumentation des Projekts.
Presse
–– Artmagazine, Margareta Sandhofer, (Wien, 2014)
www.artmagazine.cc/content80997.html
–– Missionlocal, Chris Schodt, Arse Elektronika: Sex and Technology in the Mission, (San Francisco, 2013)
www.missionlocal.org/2013/10/arse-elektronika-sex-and-technology-in-themission-2/
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VORBEMERKUNG
Für Film als anthropozentrisches Medium ist die Darstellung und Repräsentation des Körpers zentral. Insbesondere der fiktionale Film hat sich immer wieder und mit unterschiedlichem Erfolg an der Inszenierung von Intimität und Kontrolle versucht. Im österreichischen Film, der im Zentrum der
folgenden Ausführungen steht, wird diese Zeigepraxis als (zumeist) unaufgelöstes Spannungsverhältnis von utopischem Sehnen und dystopischem
Setting erfahrbar und beschreibbar. Nicht selten spiegeln sich in den privaten Dramen gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, das Intime und die
Kontrolle sind auf mitunter unglückliche Weise miteinander verquickt. Neben zwei ausgewählten historischen Beispielen wird der Schwerpunkt der
verhandelten Titel auf österreichischen Spielfilmproduktionen nach 1999
liegen und werde Veränderungen jüngster Tendenzen im österreichischen
Spielfilm aufgezeigt.
HISTORISCHE EXEMPEL
Die österreichische Filmgeschichte ist in die Schaumanie verwoben, die
das Medium Film und das Aufführungssystem Kino mit sich bringen. Der
„Vorrang der Sichtbarkeit“ (Berger 2004: 236) auf den das „empfangende Auge“(ebd.) zu reagieren bereit ist, spielt mit der Trägheit des Organs,
das zur freundlichen Täuschung der vermeintlichen Bildbewegung beiträgt.
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Schon die Beginne der österreichischen Filmproduktion, die Filme der Firma Saturn, sind vom Stempel des Erotischen und vom Vorwurf des Pornografischen gekennzeichnet, eine solch zweifach adaptive Bindung sollte
schließlich auch zum Ende des Betriebs ganz wesentlich beitragen. Der Begriff der „Herrenabende“ findet aber schon vor der Saturn ihre Anwendung,
wenn etwa 1903 der Wiener Praterkinobesitzer Josef Stiller medizinische
Filme nur unter der Auflage der Publikumseinschränkung zeigen kann. Der
entsprechende Aufdruck „Nur für Herren“ auf den Werbeplakaten für die
einschlägigen Aufführungen der Filme des französischen Chirurgen Eugène-Louis Doyen gewährleistete eine zweifache Erfolgsgeschichte: die des
Begriffs und die der damit unscharf bezeichneten Titel. Die Verkoppelung
des Erotischen bzw. des Pornografischen mit dem Medizinischen geht hier
erneut den Weg über den weiblichen Körper. Ein Beispiel dafür ist etwa Doyens bereits 1898 erstellter und vor der British Medical Association in Edinburgh präsentierter Filmbeitrag „Maniement de la table d’operation imagineé par Doyen“, in dem der Arzt und ein Assistent wenig überraschend
anhand einer sich tot stellenden, unbekleideten Frau die Positionierungsmöglichkeiten des angepriesenen Tisches demonstrieren.
Auch der Katalog der Saturn-Film und die erhaltenen Filmbestände sprechen eine ähnliche Bildsprache, wenngleich der darin angeschlagene Ton
wesentlich unterhaltsamer ist als in den genannten medizinischen Sujets.
In bester Manier des „adult remakes“ werden neben der Umsetzung genuin eigener Ideen auch französische Vorlagen verschärft nachgeahmt. Die
Saturn-Produktionen sind aber trotzdem eindeutig dem erotischen Film zuzuordnen und nicht der Pornografie. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten,
die Behörden freilich versuchten entsprechende Schritte einzuleiten. Wurde etwa das Militär bloßgestellt, wurde der Film verboten. Ebenso griff die
Zensur bei der gesellschaftlich nicht opportunen Darstellung des Seitensprungs der Ehefrau oder bei der wenig erwünschten, karnevalesken Verkehrung der Rollen zwischen Freier und Prostituierter ein: Mann und Frau,
im Chic der vorletzten Jahrhundertwende gekleidet, betreten ein schön
eingerichtetes Zimmer. Er, ganz wohlsituierter Herr im Frack, versucht ansatzweise seine holprigen Verführungskünste zum Einsatz zu bringen, die
Dame wehrt ab, bietet aber eine spielerischer Wette mit einem Zaubertrick an. Lachend akzeptiert der verhinderte Charmeur, nicht wissend, was
auf ihn zukommt. Denn statt eines sexuellen Abenteuers erfasst ihn die
„Macht der Hypnose“ (ca. 1908-1910), so der Titel des hier beschriebenen
Beispiels aus dem Hause Saturn, mit voller Wucht. Erst als er ihr nicht
mehr gefährlich werden kann, fallen die Hüllen der Wohlbeleibten und in
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der Folge auch die sozialen Barrieren. Der Kunde wird zum Opfer der weiblichen Künste, just trat die Zensur auf den Plan – aber nicht des sichtbaren
Fleisches wegen. Nacktheit war erwünscht, ist nicht zuletzt auch als ein gutes Geschäft verstanden worden, doch die subversive Macht von Erotik und
Pornografie ist nicht genehm. Karneval darf sein, nachhaltige Transgression nicht. Dieses kleine Beispiel aus der Frühzeit des österreichischen
Films steht wohl symptomatisch für die Widersprüchlichkeit öffentlichen
Umgangs mit den erwähnten umstrittenen Begriffen. Offizielle Beschwerden und nachweislich gefälschte, tatsächlich pornografische Aufnahmen,
die mit einem nachgebauten Saturn-Logo, dem unverkennbaren Markenzeichen der Firma im Form eines Sterns, versehen waren, gaben den Behörden schließlich den Vorwand, gegen den unliebsamen Produzenten und
Eigentümer Johann Schwarzer vorzugehen. Trotz seiner umfassenden Absicherungen gegenüber seinen Endkunden befand sich der Stern der Saturn
nun im Sinken. Die „remakes“ hatten zum Erfolg beigetragen, nun führten
sie in anderer Form das Ende einer wichtigen Phase der nationalen Filmproduktion herbei (vgl. Achenbach & Ballhausen 2014).
Mit der Abgewöhnung des Majestätsplurals hat der im Schloss Schwanensee residierende Thronfolger eines Phantasiestaats in Willi Forsts Der
„Prinz von Arkadien“ (1932) so seine Schwierigkeiten, nachdem er die ihm
näch-stens von seiner Regierung vorgelegte Verzichtsurkunde unterschrieben hat. Anders als die vor ihm stehenden, stotternden und verschämt zu
Boden blickenden Minister findet er sich aber auch in den neuen Verhältnissen, im Denken und Sprechen als Individuum, blitzschnell und auch gar
nicht unglücklich ein. Mit einem „Ich kann es den Völkern gar nicht übelnehmen“ kommentiert er die veränderten politischen Umstände. Eben noch
Französisch mit einer Geliebten parlierend, ist er bereits wenige Szenen
später unterwegs ins Exil an der Adria. Aus der Vielzahl seiner Namen und
Titel hat er sich, ein wenig selbstironisch und melancholisch, den „Prinzen
von Arkadien“ gewählt – und nicht zufällig wird Offenbachs entsprechendes Lied aus der Operette „Orpheus in der Unterwelt“ kurz angestimmt.
Doch dieser von Willi Forst dargestellte Prinz, charmant und souverän in
ganz anderer Bedeutungsvielfalt denn der monarchischen, ist kein Schattenwesen, das seine Ermordung beklagt. Gefahr droht dem dandyhaften,
stets formvollendet überlegenen Aristokraten in seiner neuen Heimat ohnehin nicht in Form von „off-stage Anarchisten“ oder „Nihilisten“, so die Einschätzung seines Adjutanten und eines Leibwächters, sondern in Gestalt
schöner Weiblichkeit: Die Schauspielerin Mary Mirana – Liane Haid glänzt
hier als lautstarkes Gegenstück an der Seite des eleganten Forst –, einst
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wegen eines auf den Prinzen gedichteten Spottlieds der Heimat verwiesen,
würde nun auf Rache sinnen. Dass der Prinz auf seinem Weg in den Süden
aber just durch eine Verquickung von Zufällen und Wetterumschwüngen –
die nicht zufällig ihre Künstlichkeit als gemachter Theaterdonner sehr vorsätzlich ausweisen – unbekannterweise bei/mit ihr eine Nacht verbracht
hat, ist nur der Beginn unterhaltsamer romantischer Verwicklungen zwischen den beiden unterschiedlichen Exilant_innen. Salons, Villen und teure Hotels sind die Schauplätze der Handlung, hier tummeln sich die europäischen Aristokrat_innen, gefangen in einem beengten Niemandsland,
rhetorisch zwischen lebensferner Etikette und der Notwendigkeit zur Neudefinition schwankend. Der Prinz beherrscht die Sprachen beider Systeme,
zieht in Duktus und Bewegung alle gewünschten Register, in ihm verdichtet
sich der mitunter etwas belustigte Blick auf den Niedergang einer überkommenen politischen Wirklichkeit. Im spielerischen Wechselschritt aus Sein
und Schein trägt das zutiefst musikverbundene Drehbuch Walter Reischs
die gegensätzlichen Liebenden durch die unvermeidlichen Komplikationen: Die ebenfalls im Exil befindliche Königin-Tante will den galanten Prinzen schnell standesgemäß verheiraten; Als die geheime Wahl der „crowned
community“ zur Lachnummer verkommt, sucht sie einfach die eigene Nichte als passende Kandidatin aus. Für demokratische Systeme scheinen die
hier dargestellten Adeligen eben einfach nicht gemacht zu sein. Wenn beim
Walzertanzen dynastische Pläne geschmiedet werden, ist es demnach
auch nicht der bürgerliche Aufstand, der sich zeigt, sondern eine symptomatische Bewegung, die nicht vom Platz kommt und nicht unwesentliche Zeit über zurückschaut. Doch spätestens mit dem Abschlussmonolog
des Prinzen, in dem nochmals die neuen Konditionen beschworen werden,
setzt sich sein temporeicher Optimismus durch. Die für ihn auserkorene
Braut will ohnehin lieber Schauspielerin werden und die Schauspielerin, in
die er sich verliebt hat, wird Prinzessin. Das leicht von der Zunge gehende
„wir“ bezeichnet nun keinen Einzelnen mehr, sondern ein Märchenpaar im
Land der Illusionen und Politiklosigkeit.
NEW AUSTRIAN CINEMA
Mit dem Aufkommen des New Austrian Cinema Mitte der 1990er Jahre
ist im österreichischen Spielfilm eine Hinwendung zum Privaten erkennbar; Ohne den politischen Aspekt jedoch völlig aus den Augen zu verlieren,
werden auch gesamtgesellschaftliche Bezüge hergestellt (Wheatly 2010:
48-49). Mit „Nordrand“ gilt Barbara Albert als die Vertreterin des Neuen
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Österreichischen Kinos, dessen Beginn mit dem Erscheinungsjahr des
Films 1999 gleich gesetzt wird. Die Geschichte zweier junger Frauen, die
durch ungewollte Schwangerschaften, unglückliche Beziehungen und tragische familiäre Hintergründe eine tiefe Freundschaft finden, gilt als das
Paradebeispiel für das sogenannte „feel-bad cinema“, das Robert von Dassanowsky mit einer Ästhetik des Ekels beschreibt. „Perhaps it is this clinical
distance that makes New Austrian Film seem difficult and a „feel-bad cinema“ to some. Overtaken by the aesthetic of the ugly it searches for and captures human discord that cannot easily or ever be resolved“ (Dassanowsky
& Speck 2011: 15). Die klinische Distanz zum Dargestellten lässt auch
häufig den Vergleich mit einer Versuchsanordnung oder Laborsituation zu
(Kuhlbrodt 2001: 42). Das Neue Österreichische Kino ist vor allem durch
eine neue Generation von Filmemacher_innen geprägt, die von der Wiener
Filmakademie her kommend ein gemeinsames Netzwerk aufgebaut haben, das eine gegenseitige Beeinflussung und Unterstützung zur Folge hatte. Der Begriff des Netzwerkes ist hierbei zentral (Mund 2011: 122-135),
da er den Regisseur_innen trotz aller Gemeinsamkeiten auch eine Eigenständigkeit zugesteht, die in der Rezeptions- und Forschungsgeschichte
gerne außer Acht gelassen wird. Als „Nouvelle Vague Viennoise“ bezeichnet, wird das Neue Österreichische Kino seit 1999 als eine Wellenbewegung verstanden, die sich durch einen gnadenlosen Sozialrealismus und
vor allem durch das verstärkte Aufkommen von weiblichen Filmemacherinnen auszeichnet. Auch wenn die verstärkte Öffentlichkeit für das weibliche
Filmschaffen begrüßenswert ist und die Bezeichnung des österreichischen
Kinos als „feel-bad cinema“ durchaus zutrifft, ist die Darstellung eines sich
aus dem Nichts etablierenden weiblichen, homogen Filmschaffens nicht
korrekt. Zum einen ging den Vertreterinnen des Neuen Österreichischen
Kinos bereits Jahrzehnte zuvor ein sehr reges und genreübergreifendes
weibliches Filmschaffen voraus (Ballhausen/Stöger 2014: 159-175), zum
anderen bleiben dadurch Arbeiten von Regisseur_innen, die sich nicht dem
harten Realismus verschrieben haben, unberücksichtigt. Für seine „tiefe
Tristesse“ und dem Image als „Pathologie der Nation“ (Schifferle 2006:
22-25), dem „Faible für Tod, Selbstzerfleischung und Psychiatrie“ und dem
„Aufeinanderschichten von Elend“ (Hermens 2004: 10-11) wird das österreichische Kino auch international bekannt und größtenteils geschätzt. Die
historische Rezeption scheint um eine homogene, lineare Darstellung des
österreichischen Filmschaffens bemüht und stellt die Vertreter_innen des
New Austrian Cinema in die Tradition von Michael Haneke und Ulrich Seidl
(Hermens 2004: 10-11). Wie die neue Generation an Filmemacher_innen
ihre Eigenständigkeit gerne betont (Hinrichsen 2004: 44), sind auch deren
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vermeintliche Vorgänger_innen wie Ulrich Seidl um eine vielschichtige Darstellung des österreichischen Filmschaffens bemüht:
“We’re all lone warriors. It’s not a movement in any way and I don’t feel
my films have anything in common with either Haneke or Albert. […] We’re
just a group of individuals fighting our own battles. Obviously my films are
deeply Austrian because they’re set there, they have an Austrian atmosphere, mentality and language. But there must be a universal relevance.
[…] Otherwise my films generally deal with what you might describe as ‘everyday fascism’. It’s something that is always there and is always going to
survive in sexism, racism and xenophobia. My films are political, but not a
priori. Rather, they are a mirror of the times.” (Wheatly 2008: 48)
Versteht man den österreichischen Film mit Ulrich Seidl als Spiegel unserer Zeit, wird die Frage nach der Darstellung von Intimität umso spannender. Im Kontext des „feel-bad cinemas“ wird Sexualität im österreichischen
Spielfilm mit Melancholie, Tristesse oder Ekel assoziiert (Schifferle 2005a:
8-9). Die folgenden Filmbeispiele stellen eine bewusste Auswahl dar, um
sowohl die Vielschichtigkeit als auch die Gemeinsamkeiten des New Austrian Cinema generell aufzuzeigen und gleichzeitig die verschiedenen Möglichkeiten von Intimität und Kontrolle darzustellen. Auf eine chronologische
Abfolge der Filmbeispiele wird zugunsten eines thematischen Bezuges verzichtet. Ausgehend von der Annahme, im österreichische Spielfilm nach
1999 sei die Darstellung von Sex stets von Gewalt und Machtausübung
durchdrungen, stellt sich als erstes die Frage, wie Intimität erfahrbar werden kann, wenn sie nicht in der Sexualität oder in zwischenmenschlichen
Beziehungen ihre Erfüllung findet.
BLICKE – BARBARA ALBERTS BÖSE ZELLEN UND
JÖRG KALTS CRASH TEST DUMMIES
Barbara Alberts Spielfilm „Böse Zellen“ (2003) scheint die Tradition des
„feel-bad“ Kinos fortzusetzen, erweitert jedoch den Ereignisraum ins Übersinnliche und wirft dabei die Frage auf, welche Möglichkeiten zur Erzeugung von Intimität auch über das irdische Dasein hinaus angeboten werden. Die Handlungsstränge des Episodenfilms werden durch den Tod einer
jungen Frau – Manu – miteinander verknüpft, die als Geist in der Filmhandlung präsent bleibt. Durch extreme Vogelperspektiven, Kameraverfolgung
und Geräusche auf der Tonspur entsteht auch für die Zuschauer_innen ein
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unheimliches Gefühl, das die Identifizierung mit dem Kamerabild erschwert
und es somit als etwas Äußerliches erkennen lässt. Anstatt mit Imke Meyer diese Kameraansichten mit Kontrolle und Überwachung gleichzusetzen
(Meyer 2011: 95-107), soll in der Verkörperung des Geisterhaften im Folgenden ein Ausdruck von Verbundenheit und ein aufeinander Aufpassen
aufgezeigt werden. Manus Tod ist der Ausgangspunkt für das Elend der
v.a. weiblichen Hinterbliebenen. Alexandra Seibel beschreibt den selbstzerstörerischen Akt, dem sich die Frauen in Alberts Film auf der Suche
nach Zuneigung aussetzen und der so typisch für das New Austrian Cinema
scheint, als „Moment der Destruktion“ (Seibel 2004: 11). Kurze Glücksmomente bietet ausgelassenes Tanzen, das mittlerweile zu Alberts Markenzeichen geworden ist. „Beim Tanzen wird aus Selbstvergessen manchmal
soziales Glück. So könnte Verausgabung immer weitergehen. Zehn Minuten später ist man vielleicht aber auch tot“ (Hermens 2004: 11). In einer
Szene wird diese Diskrepanz von Glück und Elend besonders deutlich. Andrea war Manus beste Freundin und mit ihr in der Nacht des tödlichen
Autounfalls in einem Club unterwegs. Sie geht eine Beziehung mit Manus
Witwer Andreas ein, ist aber von ständiger Zurückweisung und Schuldgefühlen geplagt und rettet sich wieder in den Club. Beim Tanzen scheint
sie alle Hemmungen und Probleme zu verlieren. Die Kamera ist in diesen
Momenten ganz nah dran, fängt mit unkontrollierten Kamerabewegungen
die Ausgelassenheit und kurze Unbeschwertheit ein. Andrea trifft im Club
einen Mann, der sie beim Tanzen beobachtet, kurz darauf findet sie sich in
einem unbefriedigenden, brutalen Sexualakt wieder, der sie nur noch tiefer
ins Unglück stürzt. Die Paare, die in Alberts Film eine sexuelle Beziehung
eingehen, sind keineswegs gleichwertig, Sexualität ist stets Ausdruck von
Gewalt, der besonders die Frauen ausgeliefert sind. Als einzigen Ausweg
präsentiert Albert eine enge Freundschaft zwischen den Frauen, nur in den
weiblichen Beziehungen untereinander ist Glück möglich. In „Böse Zellen“
funktioniert diese Verbindung über den Tod hinaus, Intimität wird über das
Irdische hinweg erzeugt. Alexandra Seibel (2004: 13) verweist auf das „Elsewhere“ in Alberts Film, auf das durch einen direkten Blick in die Kamera
verwiesen wird. Durch dieses „Anschauen“ entsteht eine enge Beziehung
zwischen den Frauen, die über den Tod hinausgeht. Dass der direkte Blick
in die Kamera eine enge Verbindung zu einem Anderswo suggeriert, ist
eigentlich paradox, denn normalerweise stört genau dieser Blick das filmische Sehen.
„Das Verhältnis von Filmfigur und Betrachter ist […] nicht-reziprok, es beruht […] auf dem nicht-erwiderten Blick. Mehr noch, oberste Regel für den
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Schauspieler ist es, nicht in die Kamera zu blicken, die Kamera und damit
den Betrachter tunlich zu ignorieren. Er muss uns gegenüber blind sein,
damit wir eine Beziehung zu ihm aufbauen können.“ (Ripplinger 2008: 50)
Durch die metaleptische Erfahrung der Zuschauer_innen (Morsch 2012:
108-125), die das Erkennen einer Bild- und Geräuschquelle außerhalb des
filmischen Bildes als zur Filmhandlung gehörend ermöglicht, wird in „Böse
Zellen“ dieses Verhältnis jedoch nicht gestört.
Ähnlich wie Stefan Ripplinger die Störung der Beziehung zwischen Filmzuschauer_in und Filmfigur durch den direkten Blick in die Kamera beschreibt, verhält es sich auch im Umgang mit Passant_innen und Überwachungskameras. Gerade diejenigen, die direkt in die Kameras blicken,
machen sich verdächtig und geraten unter strengere Beobachtung. In
seinem Film „Crash Test Dummies“ (2005) nutzt Jörg Kalt den direkten
Blick in eine Überwachungskamera, um eine intime Beziehung zwischen
Beobachter_in und Beobachteter/n entstehen zu lassen. Kalts letzter
Film wird oft im Umfeld des sozialrealistischen Neuen Österreichischen
Kinos angesiedelt und ist deswegen auch am besten rezipiert, meist ist
auch von einem deutlichen Bezug zu Barbara Alberts „Nordrand“ die Rede
(Rebhandl 2005: 64-66). Der von der Prager Filmschule FAMU und ihrem
surrealistischen Umfeld geprägte Kalt hat jedoch einen anderen Zugang,
legt besonderen Wert auf amüsante Dialoge und eröffnet eine neue Seite
des New Austrian Cinema (Stöger 2014: 143-153). Durch die thematische
Konzentration auf den Handlungsstrang des rumänischen Pärchens Ana
und Nicolae, das von Bukarest nach Wien reist, um ein gestohlenes Auto
nach Rumänien zu bringen und schließlich länger als geplant in Österreich
festsitzt, wurde ein anderer wichtiger Aspekt des Films außer Acht gelassen, der sich mit den Möglichkeiten von Überwachungstechniken auseinander setzt und die Frage stellt, ob und wie ein Apparat, der eigentlich
der Überwachung und Kontrolle anderer Personen dient und damit Distanz
schafft, zur Erzeugung von Intimität genutzt werden kann. Der antiautoritär eingestellte Jan übernimmt die Kurvertretung für den Kaufhausdetektiv
Schlaginhauf am Bahnhof Wien Mitte, der ihn mit der wiederholenden Formel „Beobachten Sie mich!“ in seine Aufgaben einweist. Am Monitor macht
eine Frau auf sich aufmerksam, die in die Kamera winkt und regelrecht
den Blick sucht. Es ist Jans Mitbewohnerin Martha, die als Medikamententesterin und lebendes Crash Test Dummy ihren Lebensunterhalt verdient. Die scheinbar ständig unter Drogeneinfluss stehende Martha kennt
sich am besten im Umfeld von Kontroll- und Versuchsanordnungen aus
88
und nutzt die Kamera wie selbstverständlich als Kommunikationsmittel.
Das macht sich Jan wenig später selbst zu nutze. Als die Rumänin Ana
von einer Telefonzelle am Bahnhof aus zu Hause anruft, um ihre Mutter
über ihren ungeplanten, längeren Aufenthalt zu informieren, geht ihr das
Geld aus und der Wunsch mit ihrer kranken Tochter am Telefon sprechen
zu können, droht nicht in Erfüllung zu gehen. Da erscheint Jan neben ihr
und wirft noch rechtzeitig eine Münze ein. Auf Anas verwunderten Blick hin
zeigt Jan auf eine Überwachungskamera, die gegenüber der Telefonzelle
angebracht ist und durch die er Ana beobachtet hat. Damit setzt Jan die
Autorität der Überwachung außer Kraft, denn nach Dietmar Kammerer, der
sich auf Foucaults Panoptikum bezieht, ist vor allem der „Effekt des Überwachtwerdens“ anzustreben. „Die »apparent omnipresence« ist notwendig
an ihre Nicht-Erfüllung gebunden. Sie darf keinesfalls in Richtung der ‚real
presence‘ überschritten werden. Denn sie kollabiert genau dann, wenn
der Aufseher sich an einem der Fenster des Turmes ‚in personam‘ zeigt“
(Kammerer 2008: 120). Anas dankendes Lächeln ist der Beginn einer
kurzen Beziehung der beiden, deren Kommunikation vor allem durch den
Austausch von Blicken stattfindet. Später wird Ana zu der Überwachungskamera zurückkehren und sehr lange hineinsehen. Am anderen Ende, im
Überwachungsraum, hat Jan bereits alle anderen Monitore ausgeschaltet,
um sich nur auf die eine, „ihre“ gemeinsame Kamera konzentrieren zu
können, in der Hoffnung, Ana möge ihn erneut aufsuchen. Die anfängliche
Aufforderung „Beobachten Sie mich!“ zur Einhaltung und Nachahmung der
Kontrollfunktion hat sich in ein flehendes Bitten verwandelt, das den Blick
zu einem vertrauten Menschen einfordert. Als Jan wieder plötzlich neben
Ana steht, ist sie nicht mehr überrascht über sein Auftauchen.
Sowohl Barbara Albert als auch Jörg Kalt suchen auf eigene und unterschiedliche Weise nach Möglichkeiten von Intimität, die im direkten sozialen Kontakt nicht zustande kommen will, und finden diese im Austausch
von Blicken erfüllt. Beide Filme nutzen dabei Mechanismen der Kontrolle
und wandeln sie in Mittel der Kommunikation und des Austauschs. Der
direkte Blick in die Kamera ist der Weg aus dem mehr oder weniger tristen
Alltag des Neuen Österreichischen Kinos in eine tiefe Verbundenheit mit
dem Gegenüber. Während Albert und Kalt einen Ausweg anbieten, Intimität
doch erfahrbar werden zu lassen, zeigen die folgenden Filmbeispiele was
passiert, wenn intime Beziehungen erzwungen werden.
89
ERZWUNGENE INTIMITÄT – IMMER NIE AM MEER,
ANTARES UND TAG UND NACHT
In „Immer nie am Meer“ (2007) lässt Antonin Svoboda Intimität durch
räumliche Enge zu Stande kommen. Das Kabarettistenduo Dirk Stermann
und Christoph Grissemann bildet gemeinsam mit Heinz Strunk die Insassen des ehemaligen Wagens von Kurt Waldheim und deren Sprachduktus
die vorherrschende Komik im Film. Das Auto ist von der Fahrbahn abgekommen, ist zwischen zwei Bäumen im Wald eingeklemmt und es gibt kein
Entkommen, die Panzerglasscheiben lassen sich nicht einschlagen. Die
beiden verhassten Schwager Baisch und Anzengruber sitzen mit dem kurz
zuvor per Autostopp mitgenommenen Alleinunterhalter Schwanenmeister
im Wagen fest und das schafft eine „Atmosphäre konstanter gegenseitiger
Aggression, gepaart mit rabiatem Selbstekel“ (Schätz 2007: 74). Trotzdem
zwingt die beengte Situation sie zum Austausch intimer Geständnisse, die
letztendliche auch zu einem Kuss zwischen Anzengruber und Schwanenmeister führen. Auch der Vergleich mit einer Versuchsanordnung findet
sich bei „Immer nie am Meer“ wieder (Teichmann 2007: 24), nicht zuletzt
deshalb, weil sich die drei Männer tatsächlich als Forschungsobjekte in einem Experiment wieder finden. Ein kleiner Junge, der das Auto im Wald findet und zunächst die Rettung für die Gefangenen zu sein scheint, benutzt
sie stattdessen als Laborratten für seine eigenen Versuche, erschwert die
Bedingungen durch Lichtentzug und Dauerbeschallung und schafft gegenseitiges Misstrauen anstelle von Zusammenhalt. Das Happy End am
Schluss bleibt aus, die drei scheinen für immer im Auto fest zu sitzen. „Ihr
Grundthema ist die Vergeblichkeit aller menschlichen Bemühungen, das
langsam Schlechterwerden aller Verhältnisse, und in Immer nie am Meer
kommt es tatsächlich immer noch ein bisschen dicker“ (Hummel 2007:
42). Antonin Svoboda hat eine komödiantische Bearbeitung des österreichischen „feel-bad“ Kinos vollzogen, die trotzdem in absoluter Ausweglosigkeit endet.
Auf andere Weise scheint sich auch Götz Spielmann von der tristen Darstellung von Intimität und Sexualität zu lösen. „Antares“ (2004) zeigt drei
im selben Wohnbau lebende Paare, deren Beziehungen anhand von drei
additiven Episoden geschildert werden: Die verheiratete Eva, die eine kurze, heimliche Affäre mit Tomasz auslebt, die eifersüchtige Sonja, die eine
Schwangerschaft vortäuscht, um ihren Freund Marco an sich zu binden
und die alleinerziehende Mutter Nicole, die von ihrem Mann Alex getrennt
lebt, der die Trennung allerdings nicht akzeptieren will. Besonders die erste
90
Episode wurde in der Rezeption für ihre explizite Darstellung von Sexualität
gelobt. „Mit Hilfe seiner wagemutigen Schauspielerin gelingt es ihm, die
sonst übliche Sexdarstellung des österreichischen Kinos, die immer mit
Schmutz und Tristesse zu tun hat, abzuändern und ein wenig zu überwinden“ (Schifferle 2005b: 46). Trotzdem wirkt die Beziehung der beiden distanziert, eine Kommunikation oder der Versuch, einander näher kennen zu
lernen, schlägt fehl. Tomasz und Eva versuchen jeweils die Machtposition
in der Beziehung einzunehmen, indem sie sich dem Voyeurismus der Hotelangestellten aussetzen oder Fotos voneinander anfertigen:
„Die technischen Medien nähern die Menschen einander an, indem sie paradoxerweise ihre Distanz zueinander nur vergrößern. Das macht aus kalten Medien heiße. Das Foto, der Film werden Gegenstände der Anbetung,
der Verachtung, der Lüge, des Streits, sie werden zu Fetisch und Trophäe.“
(Ripplinger 2008: 18)
Was Stefan Ripplinger in Bezug auf „Proof“ schreibt, beschreibt auch die
Beziehung von Eva und Tomasz. Schlussendlich geht es allein um das Anhäufen von Trophäen und die Machtausübung über den anderen, wodurch
sie sich immer weiter voneinander entfernen. Eine andere Art der Kontrolle in einer Beziehung zeigt die dritte Episode. Alex will die Trennung von
Sonja nicht akzeptieren. Er sucht sie immer wieder auf, versucht sie mit
einem neuen Auto zu beeindrucken. Seine Wut über seine erfolglosen Versuche lässt er an Prostituierten aus, die er zunächst anspricht und dann
beschimpft, empört über die geforderte Bezahlung, die sie an ihn stellen.
Er ist Wohnungsmakler ohne eigenes Heim und kidnappt schließlich seine
Exfrau in ihrer eigenen Wohnung. Er knebelt und fesselt sie und zwingt
sie dazu, in Reizwäsche alte Familienfotos anzusehen, in Erinnerungen zu
schwelgen und gemeinsam zu Abend zu essen. Götz Spielmann zeigt in
„Antares“ eine Vortäuschung von Intimität, die letztendlich für diejenigen,
die sie erzwingen wollen, nicht befriedigend ist.
Einer vermeintlichen Umkehrung von Machtverhältnissen widmet sich Sabine Derflinger in „Tag und Nacht“ (2010). Lea und Hanna arbeiten neben
dem Studium als Prostituierte. Die Besonderheit ist, dass sie der Tätigkeit
freiwillig nachgehen, im Glauben, die Kontrolle über die Situation zu haben
und jederzeit damit aufhören zu können. Die anfänglich strikte Trennung
zwischen Studentenleben am Tag und dem Prostitutionsgeschäft in der
Nacht beginnt immer mehr zu verwischen. Besonders deutlich wird dies
in der Szene, in der Leas Studienkollege sie als Prostituierte bucht und sie
91
für eine Nacht bezahlt, die ihm im Alltag verwehrt geblieben ist. Lea muss
einsehen, dass nicht sie diejenige ist, die die Entscheidungen trifft. „Glauben die beiden am Anfang noch, die Kontrolle über ihre Kunden und ihr
Leben zu haben, merken sie schnell: Die Macht hat noch immer derjenige,
der bezahlt, und nicht diejenige, die sich prostituiert“ (Cerny 2010: 121).
In unterschiedlichen Bearbeitungen zeigen Antonin Svoboda, Götz Spielmann und Sabine Derflinger intime Beziehungen, die unter Zwang entstanden sind. Während die inhaltlichen Beschäftigungen von der Ausübung
von Kontrolle und Macht, von einer räumlich bedingten Intimität, über eine
Inbesitznahme des Partners und der Frage nach der Machtposition, wenn
Sexualität zum Geschäft wird, reichen, zeigen die zwei folgenden Beispiele,
wie das Geschehen auf der Leinwand auch auf formaler Ebene maßgeblich
kontrolliert werden kann.
FORMALE KONTROLLE – HANEKES DIE KLAVIERSPIELERIN
UND SEIDLS PARADIES-TRILOGIE
Michael Haneke und Ulrich Seidl gelten als die Vorreiter des New Austrian
Cinema. Trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweise und Ästhetik eint
ihre Filme doch die Reaktionen, die sie auslösen. Keine Produktionen des
neuen österreichischen Kinos lassen so sehr über die Inszenierung und
Produktionsbedingungen von Filmbildern nachdenken wie die Arbeiten ihrer vermeintlichen Vorgänger.
2001 feiert Michael Haneke große Erfolge mit der Verfilmung von
Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“. Sexualität zeigt sich hier
inhaltlich als Ausdruck von Macht und Kontrolle über den eigenen und andere Körper. Die Klavierspielerin Erika Kohut flüchtet sich aus den Fängen
ihrer dominanten Mutter in gewaltsame Sexfantasien, die sie in dem Besuch von Pornokabinen, in Selbstverstümmelungen und schließlich im sexuellen Verhältnis zu ihrem Studenten auszuleben sucht. Die anfängliche
Machtausübung über den jungen Mann verkehrt sich bald in das Gegenteil
und rückt sie in die Opferrolle. Robert von Dassanowsky beschreibt die
Beziehung als „abusive power play“, das schließlich in einer Vergewaltigung endet (Dassanowsky 2005: 256). Haneke verzichtet jedoch auf eine
explizite Darstellung von Sexszenen und Nacktheit. Er kontrolliert im Gegenteil den Blick des Zuschauers auf das filmische Geschehen erheblich
und macht dadurch die Begrenzung des Filmbildes deutlich bewusst. Als
„Cinema of restraint“ beschreibt Catherine Wheatley Hanekes Film, als ein
92
Kino der Begrenzung also (Wheatley 2011: 182). „Within this context of
formal restraint, the sexual act occurs „on screen“ but outside of the cinematic frame, thus depicting the act but not the body“ (Wheatley 2011:183).
Durch diese formale Kontrolle, die das eigentliche Geschehen außerhalb
des filmischen Rahmens ansiedelt, macht Haneke dem/der Zuschauer_in
seine/ihre Position als Voyeur_in bewusst. Im Gegensatz zu Barbara Albert,
die durch die Verlagerung auf ein „Außerhalb“ der Leinwand den Ereignisraum erweitert, verwehrt Haneke den Blick auf das Dargestellte. Indem er
nur einen begrenzten Ausschnitt zeigt, obliegt es der Vorstellung der Zuschauer_innen, die Bilder auf der Leinwand zu vervollständigen, wodurch
sie an Intensität gewinnen.
Die Frage nach der sichtbaren Machtausübung des Regisseurs auf seinen
Film und einer dadurch möglichen Ausnutzung der Dargestellten, stellt sich
noch dringlicher in den Arbeiten von Ulrich Seidl. Sowohl die dokumentarischen Arbeiten als auch die Spielfilmproduktionen werden in den Rezeptionen stets auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Authentizität hin überprüft.
Die strenge Bildkomposition und Inszenierung Seidls auch in den Dokumentationen, sowie der Einsatz von Laien und realen Personen in den fiktiven Arbeiten, lässt die angenommene strenge Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion verschwimmen.
Seidls präzise visuelle Ordnungen, in denen auch Individuen zu Kompositionselementen im Raum vor der Kamera werden können, stellen „die
Wirklichkeit“ in Frage: Das Dokumentarische verliert in Seidls präpariertem
Kino eine Unschuld, die, kühl betrachtet, immer schon Konstruktion und
Illusion war (Grissemann 2013: 8).
Auch in Seidls jüngster Spielfilmproduktion zeigt sich die Qualität im Einbruch der Realität in die fiktive Handlung. „‚Mind the gap‘ – erst diese Lücke zwischen realem Leben und Fiktion erlaubt die Abbildung des unerträglich Intimen“ (Knoben/Reinecke 2013: 22). Seine „Paradies“-Trilogie
von 2012/2013 zeigt die „Sehnsuchtsgeschichten“ von drei Frauen auf
der Suche nach Intimität. In „Paradies: Liebe“ reist Teresa nach Kenia, um
im Sextourismus Liebe und Zärtlichkeiten zu erkaufen. Die dargestellten
Beach Boys arbeiten auch in Wirklichkeit als solche und spielen sich selbst.
Anders als Michael Haneke inszeniert Seidl die Körper seiner Darsteller
schonungslos, am deutlichsten wird dies in einer Szene, in der Teresa von
ihren Freundinnen einen Beach Boy zum Geburtstag geschenkt bekommt,
der dann in einer unerträglich langen Sequenz vor den Frauen strippen
93
muss. Durch diese explizite Zur-Schau-Stellung seiner Darsteller gerät
Seidl in der Rezeption stets unter Kritik, die sich ähnlich wie Christina Nord
die Frage stellt, ob er sich durch diese Art der filmischen Darstellung nicht
ähnlich ausbeuterisch verhält, wie seine Freierinnen im Film. „Vermutlich
liegt in der quälenden Unabgeschlossenheit genau die Qualität des Films“
(Nord 2012: 75.). Im zweiten Teil der Trilogie „Paradies: Glaube“ sucht
Teresas Schwester Anna Maria ihre Erfüllung im katholischen Glauben.
Zwischen Missionierungsarbeit und Selbstgeißelung stellt sich auch hier
die Frage nach der Konstruiertheit. „Die Frage, ob das Unvermögen, die
Hilflosigkeit, der religiöse Wahn und die Boshaftigkeit in den Verhältnissen
selber stecken oder ob sie nicht vielmehr Resultat einer gewaltigen Konstruktionsanstrengung sind, treibt einen noch lange nach dem Abspann
um“ (Nord 2012: 76). In „Paradies: Hoffnung“ findet schließlich Teresas
13-jährige Tochter Melanie ihre erste große Liebe. Während des Keniaaufenthalts ihrer Mutter verbringt die übergewichtige Meli die Ferien in einem
Diätcamp und verliebt sich in den Camp-Arzt. Der dritte Teil der Trilogie gilt
als Seidls bisher zärtlichster Film, denn obwohl er auch hier die Körper der
Jugendlichen inszeniert (Volk 2013: 10-15) und eine deutliche Anziehung
zwischen Melanie und dem Arzt spürbar ist, überschreitet Seidl die Grenze
nicht, lässt keine körperliche oder sexuelle Beziehung zwischen den beiden entstehen und spielt somit bis zum Schluss mit der Erwartungshaltung
der Zuschauer. „Those who have seen Seidl’s earlier films are constantly
primed to expect the absolute worst, and he’s clearly toying sadistically
with audience expectations […]“ (Brooke 2013: 66). Dass Seidls Absicht
nicht darin bestand, bewusst einen zärtlicheren, einfühlsameren Film zu
machen, sondern dass dies ein Ergebnis der Produktionsbedingungen gewesen ist - schließlich handelt es sich bei Melanie um eine minderjährige
Laiendarstellerin, die speziell für „Paradies: Hoffnung“ gecastet wurde betont Seidl in einem Interview: „If the premise went any farther […] and if I
wanted to be any more provocative, it would have involved sexual abuse of
the child. When you’re dealing with children or adolescents you have to be
somewhat more protective“ (Porton 2013: 47).
In den Arbeiten von Michael Haneke und Ulrich Seidl zeigt sich deutlich, wie
die äußeren Umstände und Produktionsbedingungen auf die Darstellung
von Intimität in filmischen Handlungen kontrollierend einwirken. Sei es in
der formalen Ästhetik der Begrenzung oder durch den Einbruch der Realität in die Fiktion durch das Zeigen oder Nicht-Zeigen realer Begebenheiten
und der Frage nach einem möglichen Missbrauch.
94
AUSBLICK: ZWEISITZRAKETE, HIGH PERFORMANCE, TALEA
Während einige Filmemacher_innen ihrer Linie treu bleiben, zeigen jüngste
Produktionen einen Wandel und eine Weiterentwicklung des New Austrian
Cinema. Eine verstärkte Hinwendung zum Genre Komödie scheint eine bewusste Abkehr vom „feel-bad“ Image des österreichischen Films zu sein,
aber auch Dramenproduktionen, in denen ein Bezug zum New Austrian
Cinema der 1990er bis 2010er Jahre erkennbar ist, schaffen durch ihren
neuen Erzählduktus eine positivere Grundstimmung und eine neue Darstellungsweise von Intimität.
Das Tanzen in Clubs zu Populärmusik ist mittlerweile zum Markenzeichen
von Barbara Albert geworden. Das Moment des Tanzes greift auch Katharina Mückstein in ihrem Debütfilm „Talea“ (2013) auf. Die vierzehnjährige
Jasmin will Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter Eva aufnehmen, die durch
einen Gefängnisaufenthalt die Obhut und die Verbindung zu ihrer Tochter
verloren hat. Jasmin überredet ihre Mutter, mit ihr einen gemeinsamen
Ausflug zu unternehmen, bei dem sich die beiden schließlich annähern.
Gestört wird diese Verbindung in Jasmins Augen durch den Pensionsbesitzer, der mit Eva anbändelt und beide zu einem Tanzabend in der Dorfdisco einlädt. Jasmin geht widerwillig mit, wird schlussendlich auch zum
Tanzen überredet und gerät im gemeinsamen Tanzen mit ihrer Mutter in
einen Zustand vollkommener Glückseligkeit und Ausgelassenheit. Katharina Mückstein zeigt diesen Moment in Zeitlupe, lässt die Zeit für Jasmin einen Moment langsamer laufen. Diese wird schnell wieder aus ihrem Glück
gerissen, als sie Eva eng umschlungen mit ihrem Verehrer sieht. Anders
als Barbara Albert, die die Tanzszenen mit unruhigen Kamerabewegungen
begleitet, erfährt das Tanzen in Mücksteins Bearbeitung etwas Poetisches.
Es sind diese Szenen, die sich vom harten Sozialrealismus abkehren, in
einer langen, transitorischen und ebenso schönen Sequenz fährt die enttäuschte Jasmin mit dem Fahrrad vom Arbeitsplatz ihrer Mutter weg. Katharina Mückstein zeigt sie dabei minutenlang, für die Dauer eines Liedes,
und schafft dadurch wieder ein Zeitanhalten, ein kurzes Wegdriften aus
der Geschichte, das jedoch zu den schönsten Momenten des Films gehört.
In stillen Bildern und mit einer Situationskomik, die das gegenseitige Annähern von Mutter und Tochter begleitet, zeigt „Talea“ eine neue, liebevolle
Variante des New Austrian Cinema, das sich seiner Vorgänger wie Albert
und Haneke durchaus bewusst ist, sich jedoch zärtlich davon abwendet.
Eine noch deutlichere Abkehr zeigen zwei Komödien, die einen möglichen
neuen Weg des jungen österreichischen Kinos vorgeben.
95
In „High Performance“ (2014) von Johanna Moder geht es um den gesellschaftlichen Leistungsdruck und den (scheinbaren) Gegensatz von Wirtschaft und Kunst, der sich in der Bruderbeziehung von Daniel und Rudi
widerspiegelt. Daniel ist als Künstler bei einer Off-Theatergruppe tätig und
das schwarze Schaf der Familie. Während sein Bruder Rudi als Wirtschaftsmagnat finanziell unabhängig ist, ist Daniel von seinen Eltern abhängig.
Sein Bruder engagiert ihn als Sprachcoach für seine Mitarbeiterin Nora,
unter dem Vorwand, sie zu seinen Zwecken auszuspionieren. Der zunächst
ahnungslose Daniel willigt aus familiärem Zusammenhalt ein, obwohl er
bereits privates Interesse an Nora hegt. „High Performance“ bewegt sich
nicht nur rein inhaltlich auf einem anderen Terrain, auch die auffallende
Wertlegung auf Dialoge und die dadurch entstehende Komik, sowie die
Verlagerung in ein anderes Milieu zeigen eine deutliche Abkehr vom New
Austrian Cinema. Auch die Darstellung von Sexualität hebt sich deutlich davon ab. Um an Informationen zu kommen, installiert Daniel einen Trojaner
auf Noras Computer. Um sie davon abzulenken, aber auch aus ernsthaftem Interesse, verbringen sie gemeinsam die Nacht. Während auf die explizite Darstellung von Sexualität verzichtet wird, zeigt Johanna Moder auch
hier durch Situationskomik und durch die Verlagerung des Sexualaktes in
den Dialog eine neue (bzw. erneuerte) Intimitätsdarstellung im österreichischen Kino.
„Zweisitzrakete“ (2013) von Hans Hofer ist ein modernes Märchen. Der
eher an amerikanischen „romantic comedies“ denn am New Austrian Cinema orientierte Film demonstriert in seiner durchwegs humorvollen Bearbeitung den Wandel des österreichischen Kinos vom dystopischen Elend
hin zu einer utopischen Realität. Manuel verbringt seinen Tag mit Träumereien, die er mit seiner besten Freundin Mia teilt, in die er sich verliebt.
Inzwischen hat diese jedoch Heiratspläne mit einem italienischen Piloten.
Gemeinsam mit den Mitgliedern einer Männertherapiegruppe, die von Manuels Mitbewohner Detlev geleitet wird, wird der Plan geschmiedet, Mia
mit einer aus dem Technischen Museum gestohlenen Rakete zurück zu
erobern, was schlussendlich auch gelingt und das Happy End besiegelt.
Auch hier wird die Abkehr vom New Austrian Cinema nicht nur rein inhaltlich deutlich, sondern auch durch die Wahl des Milieus und durch eine
betonte Farbigkeit begründet. Bei der Diagonale-Vorführung 2013 betont
Hans Hofer die bewusste Abkehr vom „feel-bad cinema“ und zeigt dies
auch anhand zweier sehr schöner Momente in „Zweisitzrakete“. In Detlevs
Männertherapiegruppe sollen verlassene Männer lernen, über ihre Beziehungen und Gefühle zu reden, um die Trennung somit zu überwinden. In
96
einer Sitzung sollen die Männer über ihre sexuellen Vorlieben und Fantasie sprechen, um ihnen die Angst, als pervers abgestempelt zu werden,
zu nehmen und ihr Selbstvertrauen zu stärken. In einer sehr humorvollen
Sequenz beschreiben die Männer anfänglich ihre Klemptnerfantasien und
Zeh-Fetischismus, um danach lachend und positiv gestärkt daraus hervorzugehen. Diese Therapiesitzung scheint sinnbildlich für die Befreiung des
österreichischen Kinos aus seinem Ekel- und Tristesse-Image zu stehen
und zeigt, dass über Intimität und Sexualität auch durchaus humorvoll und
liebevoll gesprochen werden darf. Dies findet sich auch in der Wahl der
Besetzung von Inge Maux als Nachbarin Frau Müller bestätigt. Die freundliche Nachbarin, die Manuels Charme verfallen ist, fungiert als Liebesbotin,
die die ahnungslose Mia zum heimlichen Treffpunkt bringt, an dem sie mit
der Rakete und Manuels Liebesgeständnis überrascht wird. Inge Maux, die
zuvor in Ulrich Seidls „Paradies: Liebe“ als Sugarmama die Beach Boys als
Ware kaufte, rät nun Mia, die sich eigentlich für ein solides Leben entscheiden wollte, wenn auch etwas widerwillig, sich gegen den harten Realismus
und für ein durch Utopie bestimmtes Leben zu entscheiden: „Das hast du
jetzt aber nicht von mir. Nimm den Träumer.“ Ein Rat an das neue österreichische Kino?
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99
CARE
ZUM PFLEGEVERHÄLTNIS VON
MENSCH UND GERÄTSCHAFTEN
ÜBER DIE MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN
MENSCHLICHER INTIMITÄT: DIGITALE INTIMITÄT
UND DAS PHÄNOMEN DES HIKIKOMORI
(JAP. ひきこもり, 引き籠もり ODER 引き篭り).
PHILIPP RÖSSL
VORWORT
Intimität ist ein Zustand tiefster Vertrautheit, welcher üblicherweise als
ein rein zwischenmenschliches Phänomen definiert wird; man spricht von
emotionaler, sexueller und körperlicher Intimität. Intimität wird also vornehmlich als etwas verstanden, das zwischen Menschen innerhalb einer
Intimsphäre stattfindet.
Jetzt ist es aber so, dass die eben genannte Intimsphäre ein individuelles Erleben darstellt: Des Einen Intimsphäre ist größer oder kleiner als jene
eines Anderen. Und wir lassen, nach gängiger und eben genannter Auffassung, nur jene Menschen in unsere Intimsphäre, denen wir ein gewisses
Maß an Vertrauen entgegenbringen.
Aber warum sollte die Intimsphäre ausschließlich in Bezug auf andere
Menschen gelten? Als Wiener könnte man sogar den Eindruck gewinnen,
dass es viele Menschen gibt, die ihrem Hund gegenüber mehr Intimität
empfinden, als sie für ihren aktuellen Lebensgefährten aufbringen. Kann
man also nicht genauso intim mit etwas Nichtmenschlichem sein? Wenn
das Gefühl der Vertrautheit einer Maschine oder einem Programm bzw.
einer Software gegenüber eine ähnliche Dimension aufweist, ist man dann
nicht auch einer Maschine gegenüber intim?
Nun könnte man einwenden, dass Intimität auf Gegenseitigkeit und auf
Privatheit angewiesen ist. Aber ist dem wirklich so? Ist es nicht so, dass das
Gefühl der Intimität auch eine einseitige Angelegenheit sein kann? Intimität scheint oftmals etwas zu sein, was nicht auf Gegenseitigkeit beruhen
muss; zumindest sofern wir die gängige Definition heranziehen: Intimität
als individuelles Gefühl ist in uns; in der Sphäre unseres individuellen Erlebens.
Muss man sich folglich nicht auch die Frage stellen, ob man z.B. einem
Computer gegenüber nicht mindestens ähnliche Vertrautheit empfinden
kann? Dieser scheint oftmals im selben, wenn nicht sogar in einem höherem Ausmaß vertrauenswürdig wie ein anderer Mensch zu sein. Ist dies
103
dann nicht ebenfalls eine Form von Intimität, sofern Vertrauen als dessen
Basis zu begreifen ist?
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich also mit der Frage, ob es möglich
ist, einer Maschine, einem Programm bzw. einer Software gegenüber intime Gefühle zu entwickeln – das ist es auch, was hier als „digitale Intimität“
bezeichnet wird – und wird die Kriterien von Vertrauen und Intimität gegenüber Menschen und Maschinen vergleichen bzw. einander gegenüberstellen. Zugleich wird anhand des Phänomens des Hikikomori dargelegt, inwieweit das Bedürfnis nach Intimität durch ein digitales Medium kompensiert
werden kann.
Dabei wird davon ausgegangen, dass die Ursache dafür vornehmlich in
dem fehlenden Selbstvertrauen besteht, adäquat mit der Gesellschaft zu
interagieren.
DAS PHÄNOMEN DES HIKIKOMORI
Die sich so zurückgezogenen Menschen kommunizieren bevorzugt, falls
überhaupt, über den Computer bzw. über das Internet in Form von E-Mails
und durch Chatforen und verbringen ihr Leben somit Großteils in einer digitalen Welt. Folglich eignet sich der Hikikomori als gutes Beispiel für gelebte
digitale Intimität.
In einem Artikel der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ wurde
das Leben eines Hikikomori folgendermaßen beschrieben:
Das Phänomen des Hikikomori, wobei der vollständige Begriff „Shakaiteki hikikomori“ lautet und soviel wie „Sozialer Rückzügler“ (allerdings sind
auch andere Übersetzungen geläufig) bedeutet, wurde erstmals durch den
japanischen Psychologen Tamaki Saitō definiert, der inzwischen von etwas
mehr als einer halben Million Hikikomori ausgeht (vgl. Saitō 1998). Das
japanische Gesundheitsministerium geht in einer vorsichtigen Schätzung
von 50.000 bestätigten Fällen aus, wobei dieses Phänomen Männer stärker betrifft als Frauen und unter den Männern wiederrum eher die Erstgeborenen (vgl. Waldbrunner 2006).
“The use of the word hikikomori – in Japanese, „shutting oneself inside”
– to describe a widespread social and psychiatric phenomenon originated with Shizuo Machizawa, a Japanese psychiatrist who specializes in
adolescent personality disorders. Experts estimate that there are at least
50,000 hikikomori. Although articles in the Japanese press have attributed
a recent rise in Japan's violent-crime rate in part to hikikomori, psychiatrists say that most hikikomori are not violent, just antisocial. The phenomenon is said to result from such stresses as the pressure to conform and
the shame associated with academic or other failure.” (Soukhanov 2000)
Tamaki Saitō definiert den Hikikomori folgendermaßen:
“A state that has become a problem by the late twenties, that involves cooping oneself up in one’s own home and not participating in society for six
months or longer, but that does not seem to have another psychological
problem as its principal source.” (Saitō 2013: 24)
104
„2001 nahm sich erstmals das japanische Gesundheitsministerium des
Themas an und untersuchte mehr als 6000 junge Menschen zwischen 15
und 35, die auffällige Symptome zeigten. Es stellte sich heraus, dass drei
Viertel der Betroffenen Männer sind, vorwiegend im städtischen Raum leben und manche schon zehn Jahre wie Einsiedler in der Kartause verbracht
hatten. […] Meist ist es ein nichtiger Anlass, der die Menschen zum totalen
Rückzug - und damit subjektiv in Sicherheit - bringt.“ (Waldbrunner 2006)
„Irgendwann schloss Hiroshi die Tür hinter sich. Er wollte für das Leben
da draußen nicht mehr verfügbar sein. Seither betrachtet er die Welt nur
mehr durch den Online-Anschluss seines Computers und gewinnt damit
eine Perspektive auf eine Welt, in der er sich sicher fühlt. Hiroshi ist einer
von Japans rund einer Million jungen Menschen, die die Einsamkeit gewählt haben - um dem Leben und dem Druck draußen zu entfliehen. Das
Zimmer des heute 22-jährigen Hiroshi im Hause seiner Eltern im Tokioter
Stadtteil Jiyugaoka ist keine zehn Quadratmeter groß. Er verlässt es nur,
wenn ihn ein dringendes Bedürfnis plagt.“ (Waldbrunner 2006)
An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Sadatsugu Kudo in „Hey Hikikomori! It's Time, Let's Go Out“ vorschlägt, betreffend des Hikikomori-Phänomens Unterscheidungen vorzunehmen, warum sich diese zurückziehen
und in ihren Räumen verbleiben (vgl. Sadatsugu 2001). Er teilt diese folglich in vier Kategorien ein, die seitens Michael Dziesinski in „Hikikomori:
Investigations into the phenomenon of acute social withdrawal in contemporary Japan“ folgendermaßen zusammengefasst werden:
1. “Pleasure seekers (also known as delinquents).
2. Lazy People (those who don't feel like going to school).
105
3. Komori (those who are worried about other people seeing them, and
want to go outside, but cannot). [akin to taijin kyofusho, and agoraphobics]
4. Special cases (people who stop going to school because of problems
with bullies, friends, teachers, because they don't like things such as
studying or certain subjects, or, they feel bad because their parents are
divorced or separated). [Possibly due to depression.]
[…]” (Dziesinski 2003:40)
Abgesehen von den verschiedenen Gründen für den Rückzug ist für uns
entscheidend, dass die Interaktion mit Anderen nahezu ausschließlich
über den Computer, bzw. über das Internet erfolgt. Dies ist folglich auch der
primäre Weg, der seitens Therapeut_innen und Psycholog_innen gewählt
wird, um mit den Hikikomori in Kontakt zu treten:
„Ärzte und Sozialarbeiter haben meist nur die Möglichkeit, sich in Chatforen einzuklinken und unter einem Pseudonym Kontakt aufzunehmen.
Nach monatelangen, anonymen Mail-Kontakten gilt es dann schon als
Erfolg, wenn ein erstes Telefongespräch zustande kommt. Manche erzählen dann, dass sie sich nicht trauen, jemanden persönlich zu treffen - aus
Angst, nicht zu genügen. Oder aus Angst, gefragt zu werden, wo sie in den
vergangenen fünf Jahren gewesen seien. Dann könnten sie nur erwidern,
‚in meinem verdunkelten Zimmer‘.“ (Waldbrunner 2006)
Deswegen ist das Beispiel des Hikikomori für dieses Thema so passend:
Über das Medium Internet, über Chatforen und noch dazu anonym, schaffen es Menschen mit einem anderen Menschen, hier mit dem Hikikomori,
welcher sich ansonsten nahezu vollständig aus der Gesellschaft zurückgezogen hat, in Kontakt zu treten. Und es ist offensichtlich möglich, über
diese äußerst indirekte beziehungsweise scheinbar unpersönliche Form
der Kommunikation – wobei sich die Interagierenden unter Umständen
nicht einmal sicher sein können, mit wem sie da eigentlich interagieren,
bzw. ob es sich dabei überhaupt um einen Menschen handelt; Immerhin
scheint es inzwischen Programme zu geben, die imstande sind Antworten
automatisch zu generieren und ihren Interaktionspartner vorzugaukeln mit
tatsächlichen Menschen zu kommunizieren, worauf im Abschnitt „Die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Intimität“ genau eingegangen wird
und unter anderem auf den Turing Test verwiesen wird, welcher vor Kurzem
seitens der Universität Reading durchgeführt wurde – Vertrauen und eine
gewisse Intimität zu lukrieren, was dann sogar dazu führt, dass die Kommunikation direkter wird.
106
IST INTIMITÄT EINE ANGELEGENHEIT
ZWISCHEN ZWEI PERSONEN?
Allgemein wird unter Intimität, bzw. unter dem Begriff intim, folgendes verstanden:
„intim [lat.; innerst; vertrautes] 1, innig; vertraut, eng [befreundet]. 2. a)
(verhüllend) sexuell; mit jemanden – sein: mit jemanden geschlechtlich
verkehren; b) den Bereich der Geschlechtsorgane betreffend. 3. ganz persönlich, verborgen, geheim. 4. gemütlich. 5. Genau, bis ins Innerste. Intima
die; -: 1. innerste Haut der Gefäße (Med.). 2. Vertraute; [eng] Befreundete,
Busenfreundin (eines Mädchens). Intimation […zion] die; -, -en: (veraltet]
gerichtliche Ankündigung, Aufforderung, Vorladung. Intimhygiene […i-e…]
die; -: Körperpflege im Bereich der Geschlechtsteile. Intimi: Plural von Intimus.“ (Drosdowski, Köster&Müller 1982: 355)
Wir lassen hier allerdings die meisten Bedeutungen des Begriffes außen
vor und verstehen den Begriff der Intimität in erster Linie als den emotionalen Zustand eines Individuums; als einen Zustand tiefster Vertrautheit.
Zusätzlich muss mit Marion Oechsler angemerkt werden, dass sich
„Intimität […] über einen persönlichen Bereich des Individuums [definiert],
der vom Bereich der Öffentlichkeit abgegrenzt ist. Allerdings ist diese
Grenze keine gegebene, wodurch das Thema ‚Intimität‘ zu einem philosophischen Problem wird. Es ist nicht zuletzt deshalb ein schwerwiegendes
Problem, weil die Missachtung eben dieser Grenze, das gewaltsame Eindringen in den innersten, persönlichsten Bereich von außen, dem Individuum erheblichen (seelischen) Schaden zufügt. Die Bedrohung der Intimität
ist umso größer, als die Grenze eine unsichtbare ist, deren Wahrung im alltäglichen Leben den Regeln der Konvention obliegt. Die Anerkennung des
intimen, persönlichsten Bereichs des Individuums als lebensnotwendig,
bedroht und schutzbedürftig, findet ihren juristischen Ausdruck im ersten
Paragraphen des Grundgesetzes ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘.“ (Oechsler 2008)
Oechsler spricht hier auch das Problem der Intersubjektivität an, denn
das Herstellen von Intimität, im Sinne der Abgrenzung, ist eine menschliche Leistung, genauso wie es nur Menschen möglich ist, die individuelle
menschliche Intimität zu bedrohen (vgl. Oechlser 2008). Allerdings würde
es zu weit gehen, das Thema der Bedrohung der Intimität hier abzuhandeln. Uns geht es vielmehr um das Herstellen von Intimität.
107
Sehen wir uns zunächst genau an, worauf der Begriff Intimität angewendet
werden kann. Elliott und Soifer sehen folgende Möglichkeiten:
“It seems that the term ‘intimate’ can be applied appropriately to many different types of things, including all of the following: actions usually referred
to as intimate acts; facts about a person or intimate details; settings, such
as an intimate restaurant; events, as expressed in common statements
like ‘the wedding was an intimate affair’; and relationships.” (Elliott&Soifer
2010: 490)
Elliott und Soifer gehen im Folgenden darauf ein, dass es den Standpunkt
gibt, dass Intimität nur im Privaten zwischen Personen hergestellt werden
kann, und greifen daraufhin diesen Standpunkt an. Sie explorieren die beiden philosophischen Positionen, welche sich auf phänomenologische und
privacy waiver Argumente stützen, und den eben genannten Standpunkt
vertreten und zeigen daraufhin, dass es sich in diesem Kontext um einen
Fehlgriff handelt:
“People who believe that intimacy cannot exist in the absence of privacy
provide two sorts of arguments for this conclusion, a phenomenological
argument and a privacy waiver argument. The arguments may be examined
in order to determine whether they establish any significant relationship
between privacy and intimacy. When they are, it becomes evident that,
while the phenomenological argument suffers from several serious problems, the privacy waiver view promises to offer more insight into a possible
connection between privacy and intimacy. As we will see, neither argument
establishes any significant connection between privacy and intimacy.”
(Elliott&Soifer 2010: 491)
Es wird argumentiert, dass die phänomenologische Argumentation deswegen scheitert, weil es durchaus Fälle geben kann, in welchen Menschen
an die Anwesenheit weiterer Menschen als Beobachter gewöhnt sind und
diese Gewöhnung dazu führt, dass dennoch das Gefühl der Intimität zu
Stande kommt. Als Beispiel wird hier das Vorhandsein von Webcams angeführt. Zwar sei es möglich, dass durch das Vorhandsein eines Beobachters
eine Änderung des intimen Verhaltens eintritt, allerdings könne sich dieses
genauso gut verstärken, wie z.B. bei Hochzeiten, wo das öffentliche Verkünden der gegenseitigen Liebe das Intimitätserlebnis intensivieren kann.
Ein zusätzliches Problem des Arguments besteht in der Annahme, dass die
Beobachtung bewusst sein muss. Allerdings besteht hier keine Sicherheit;
108
man kann sich der Beobachtung nicht immer ganz sicher sein und gelegentlich weiß man gar nicht, dass man beobachtet wird. Es müsste also der
Glaube an die Möglichkeit beobachtet zu werden ausreichen, um Intimität
zu verhindern. Dies ist der Punkt, an dem die phänomenologische Argumentation, dass Intimität immer Privatheit zwischen Personen voraussetzt,
zu scheitern scheint (vgl. Elliott&Soifer 2010: 492).
Im Falle der zweiten Argumentationslinie, der privacy waiver-Position,
geht es um folgenden Standpunkt:
“On this view, privacy can be seen as providing people with the right to keep
certain information hidden from others but also with the power to waive
that right. Intimacy can then be understood as the relationship that arises
when someone does waive the right.” (Elliott&Soifer 2010: 493)
Es scheint aber, dass ein Verzicht auf das Teilen von privaten Informationen nicht ausreicht um Intimität zu schaffen; wenn ein Philosophieprofessor über seine Sexualität schreibt, hat er dann tatsächlich auf Intimität
verzichtet und zugleich Intimität mit jedem seiner Leser geschaffen? Wenn
ich meine Erlebnisse auf Facebook bekanntgebe, gebe ich damit auch das
Gefühl von Intimität und Privatheit auf und werde zugleich mit meinen
unzähligen „Freunden“ intim? So argumentieren auch Elliott und Soifer:
“If someone has a right to privacy, she has a right to exclude certain information from the gaze of others. The suggestion here has been that intimacy
involves waiving the right. Characteristic of waiving a right, however, is that
the right is waived under particular circumstances, with the understanding
that the right itself is still intact and can be exercised under other circumstances. For example, if a person has a right to exclude others from a piece
of property, if she waives the right and allows someone onto her property,
she does not diminish her ability to exclude other people from the property
at the time or at anytime in the future. Similarly, by allowing some people to
gaze at that which is private while excluding others, a person appears to be
waiving a right with regard to some people while maintaining the right with
regard to others.” (Elliott&Soifer 2010: 494)
Die weitreichenden Konsequenzen aus den Überlegungen von Elliott und
Soifer werden hier nicht behandelt, allerdings darf der für uns entscheidende Punkt nochmals hervorgehoben werden: Intimität ist auch ohne Privatsphäre, bei Elliott und Soifer explizit zwischen zwei Personen, möglich. Es
handelt sich um ein individuelles Erleben, welches schwer durch verallgemeinerbare Faktoren definiert werden kann.
109
INTIMITÄT UND TECHNIK
Abgesehen davon, dass der Mensch schon wegen seiner Natur dazu gezwungen scheint, „technische Krücken“ (vgl. Plessner 1981: 391) zu verwenden, bleibt die Frage, ob ein technisches Medium Intimität fördert, verhindert, oder ob es diesbezüglich keine Relevanz hat.
Als vehementer Kritiker des technischen Fortschritts auf allen Eben
(vgl. Menke 1999: 30), der zur Verselbstständigung, zur Automatisierung
dieses Fortschrittes führt, welcher Mitschuld an dem Verlust der Intimität
des Menschen mit der Natur und zueinander hat, wird hier exemplarisch
der französische Philosoph Georges Bataille und sein Werk „Theorie der
Religion“ (Bataille 1989) angeführt, und zwar deswegen, weil Alessandro
Tomasi in „Technology and Intimacy in the Philosophy of Georges Bataille“
gegen Bataille argumentiert und den Standpunkt vertritt, dass das Erleben von Intimität mit Technik keineswegs inkompatibel ist, sondern sogar
ein essentieller Aspekt derselben ist. Wobei Tomasi in seiner Einführung
Bataille als Technikkritiker bezeichnet, wohingegen Menke anführt, dass
Bataille vielmehr ein Kritiker des sich verselbstständigenden Technikfortschritts (vgl. Menke 1999: 304) war. Tomasi greift dies auch später in seiner Zusammenfassung von Batailles Standpunkt zur Technik auf und gibt
somit Menke Recht, was auch plausibler erscheint, da Bataille in seinem
Medium, der Kunst, ja ebenfalls viel mit Technik zu tun hat (vgl. Menke
1999: 304).
Aber kommen wir zu Batailles Fortschrittskritik zurück. Nach Bataille
werden wir spezifisch menschlich, wenn wir Werkzeuge produzieren, uns
selbst Grenzen setzen, unser sexuelles Verhalten gewissen Regeln unterwerfen und die Bestattung der Toten ritualisieren. Tomasi arbeite folgenden Punkt in Batailles Schrift über „Technik und Religion” heraus, welcher
für uns interessant ist:
“[…] in Theory of Religion (1992), the making of a tool is singled out to
represent the irreversible disruption of the domain of the continuous and
is the origin of the world of things, whose value is to be found in their usefulness as means to further production. With this disruption, humanity loses the sovereignty which it enjoyed as animals serving no purpose other
than to eat, reproduce and die, all of which are forms of squander (Bataille
1991, pp. 33–34). Fallen humanity is definable as a ‘search of a lost intimacy’ (Bataille 1992, p. 57) and technology is its original sin that caused
the loss.” (Tomasi 2007: 413)
110
Batailles argumentiert weiter, dass die Technologie durch den Prozess immer bessere Werkzeuge zu entwickeln dafür verantwortlich ist, dass die
Menschen sich selbst vergegenständlichen. Tomasi stellt daraufhin in Aussicht, dass er zeigen kann, dass Technologie und Intimität nicht nur kompatibel sind, sondern dass Technologie sogar einen Teil von Intimität ausmachen kann. Diesbezüglich wird zunächst eine wichtige Unterscheidung
eingeführt, nämlich jene zwischen dem Wissen, wie man Technik herstellt
und dem Wissen, wie man Technik benutzt. Eines seiner Beispiele ist der
Fernseher; er führt aus, dass es nicht wichtig ist, zu wissen wie man einen
Fernseher produziert um zu wissen, wie man diesen benutzt. Eine weitere
Unterscheidung ist jene zwischen dem theoretischen Wissen, wie man etwas benützt und dem praktischen, durch Erfahrung gewonnenen, Wissen,
wie man etwas benutzt.
“[…] knowing, in practice, how to play a flute (that is, knowing where to put
your fingers and mouth, knowing that you have to blow air into a small hole,
and so on) does not make us able to play the flute. This requires praxical
knowledge, to use Don Idhe’s terminology (Scharff and Dusek 2003, p.
277). The use of flight-simulators, today, combines theoretical, practical
and praxical knowledge of this kind.” (Tomasi 2007: 416)
Tomasi argumentiert dann mit Merleau-Ponty, dass durch diesen Prozess
der Einverleibung das Werkzeug aufhört, ein reines Werkzeug zu sein, sondern vielmehr ein Teil von uns selbst wird (vgl. Merleau-Ponty 1962):
“Praxical knowledge becomes, in Merleau-Ponty, an acquired habit and a
skill. So, the car requires, to be driven expertly, the acquisition of a skill that
results in the merging of the car and the driver into a whole, a car-driver.”
(Tomasi 2007: 416)
Hinzu kommt, dass Tomasi postuliert, dass wir uns auf die meisten technischen Geräte auf die gleiche Art und Weise beziehen; nämlich ohne tatsächlich über sie nachzudenken, was zur Konsequenz hat:
“What unknowing reveals is that aspect of technology that cannot be named without losing it, namely the experience of technology in-use. This is
the knowledge of the body that we notice as much in devoted musicians as
in artisans (in relation to the tools they use to make an object, not in relation to the object they are making) and common users of house appliances.
Certainly, intimacy and instrumentality are opposites, but in technology,
they are inextricably connected.” (Tomasi 2007: 417)
111
Diesbezüglich ist es auch wichtig festzustellen, dass der „Körper“ nicht mit
seiner „natürlichen“ Begrenzung endet. Tomasi bezieht sich hier auf Andy
Clark, der in „Natural-born cyborgs“ darauf verweist, dass der Künstler
Stelios Arcadiou z.B. einen dritten künstlichen Arm zu seinen beiden natürlichen Armen hinzufügte um sich selbst und seine Kunst besser zu präsentieren (vgl. Clark 2003: 115). Tomasi verweist auch auf einen profaneren
Fall, nämlich das Telefon:
gibt, welcher das Erleben von Intimität in der Verwendung von Technologie
erlaubt. Technik und deren Verwendung schließen das Erleben von Intimität nicht aus, sondern können dieses unter Umständen sogar noch verstärken.
“The telephone is not twice removed from its positing source; it gives the
body one more possibility to project itself towards the world. The telephonein-use inhabits the world between the hand, which, in its closeness, cannot
be said to have a use for me, and that which the hand picks up, namely
the objectifiable telephone. If the telephone had the qualities necessary to
become entirely familiar, just as our hand is to us, then the telephone, like
the hand, could not be set apart without the intentional act of a positing
consciousness.” (Tomasi 2007: 420)
Wie bereits festgestellt wurde, stellt Intimität einen Zustand tiefster Vertrautheit dar. Ohne Vertrauen gibt es also keine Intimität. Vertrauen selbst,
als primitive menschliche Reaktion, wird von Lars Hertzberg folgendermaßen bestimmt:
In weiterer Folge wird argumentiert, dass es eine Art technologisches
Selbst geben muss. Bei Bataille hat Technologie ebenfalls Anteil an der
Selbstbildung und Selbstwahrnehmung, aber zugleich auch einen Aspekt
der Selbstnegierung, und zwar durch die Erkenntnis, dass man durch das
Fortschreiten der Technologie an Nützlichkeit verliert. Tomasi hält mit Clark
dagegen, und argumentiert dass:
“Bataille, as I have argued, failed to realize that both formation and negation are aspects of the dynamics of technology. […] We do not simply project
a self for others to see, constructed by all sorts of cranks and levers. There is no real, though smaller, self apart from its non-biological extensions.
“We… just are these shifting coalitions of tools. We are ‘soft-selves,’ continuously open to change and driven to leak through the confines of skin and
skull, annexing more and more non-biological elements as aspects of the
machinery of mind itself” (p. 137). In a very apt way, given the main topic of
this work, Clark concludes that, “to face up to our true nature (soft selves,
distributed decentralized coalition) is to recognize the inextricable intimacy
of self, mind, and world” (p. 139).” (Tomasi 2007: 420-422)
An diesem Punkt hat Tomasi für uns alles Erforderliche getan, weswegen
seine weitere Auseinandersetzung mit Bataille hier für uns ihr Ende findet.
Für das Thema dieser Arbeit ist wichtig, dass Tomasi eine plausible Argumentation vorbringt, welche zeigt, dass es einen Aspekt an Technologie
112
VERTRAUEN ALS BASIS DER INTIMITÄT
“Believing what others say is a refinement of other, more basic forms of
trust. Only in a context constituted by trust, we might say, do truth and the
making of statements have a place. We must begin by trying to understand
the nature of trust as a primitive reaction.” (Hertzberg 1988: 309)
Dieses ursprüngliche Verständnis von Vertrauen steht im Gegensatz zum
weit verbreiteten Verständnis, dass Vertrauen davon beeinflusst ist, was
wir von anderen Menschen denken, bzw. zu wissen glauben. Claudia Welz
bringt auf den Punkt, worauf es bei Hertzbergs Auffassung von Vertrauen
ankommt:
„Interessanterweise wird Vertrauen von Hertzberg nicht dadurch definiert,
dass er dem zu Vertrauen gehörenden mentalen Zustand oder eine Haltung oder Überzeugung des vertrauensvollen Menschen identifiziert, sondern das Erfordernis, dem entsprochen werden muss, wenn ein Verhältnis
als vertrauensvoll gelten soll.“ (Welz 2010: 77)
Dieses Erfordernis findet aber nicht immer eine Entsprechung in der Realität bzw. in der Erfahrung. Uneingeschränktes Vertrauen findet oft dort eine
Grenze, wo von jemandem etwas verlangt wird, was dessen Vorstellungen
von Moral und Recht widerspricht. So argumentiert auch Richard Amesbury:
“A marriage covenant, for example, is not entered into in pursuit of goals
that can be articulated entirely independently. Yet, covenanting does involve consent, and it is predicated on the expectation that the other party
cares about one’s good. This expectation is not easily verifiable, but it can,
under certain circumstances, be falsified – although, unlike in the case
113
of reliance it is not always easy to say precisely what would count decisively against it – and in these cases, I suggest, trust can be unwarranted.”
(Amesbury 2010: 178)
Auch wenn dem so ist, bleibt am Ende dennoch, dass das menschliche
Vertrauen auf sich sowie aufeinander, zumindest bis zu dessen Erschütterung bzw. sofern das Vertrauen nicht bereits grundsätzlich durch bestimmte frühe Erlebnisse gestört ist, gegeben scheint; und sei es auch nur als
eine nicht rechtfertigbare Einstellung. Der Sozialethiker Christoph Ammann
beschreibt Vertrauen sogar als etwas, das sich wie eine Emotion verhält,
allerdings ohne tatsächlich eine Emotion zu sein:
„Meine Einstellung gegenüber dem anderen, meine Weise, ihn zu sehen,
wird bestätigt und gefestigt, und zwar ganz ähnlich, wie meine Furcht vor
etwas – meine Wahrnehmung einer Situation als bedrohlich – sich bestätigt und wächst durch jede Erfahrung, in der sich dieses Muster bewährt.
So verhält sich Vertrauen auch in dieser Hinsicht wie eine Emotion, ohne
selber eine Emotion zu sein.“ (Ammann 2010: 212)
Vielleicht fasst es Knud Ejler Løgstrup in „Die ethische Forderung“ besonders treffend zusammen, indem er postuliert:
„Es gehört zu unserem menschlichen Dasein, dass wir einander normalerweise mit natürlichem Vertrauen begegnen.“ (Løgstrup 1989: 7)
Nun wird der Hikikomori hinlänglich als jemand beschrieben, der kein Vertrauen mehr in sich und seine Fähigkeiten hat. In der Psychologie wird gerne davon gesprochen, dass man nur dann vertrauen kann, wenn man auch
über Selbstvertrauen verfügt; z.B. in dem Sinne, dass man genug Selbstvertrauen besitzt, um davon überzeugt zu sein, dass man auch mit einer
Vertrauensenttäuschung umgehen kann. Wie bereits dargestellt handelt
es sich um Menschen, die sich nicht mehr zutrauen, zwischen Tatemae
und Honne zu unterscheiden – zwischen „öffentlichem Gesicht“: dem, was
seitens der Gesellschaft und im nicht privaten Umfeld von einem erwartet
wird und „wahrem Ich“: dem, was unter das eigene Empfinden in moralischer und ethischer Hinsicht fällt (vgl. Burtschell 2009: 95; vgl. Schlieper
1997: 81). Folglich scheint der Hikikomori zu glauben, nicht in der Lage zu
sein mit den täglichen Paradoxien des Erwachsenenlebens umzugehen.
Selbstverständlich darf dabei auch nicht vergessen werden, dass Japan,
bzw. die japanische Gesellschaft, eine sogenannte Schamkultur etabliert
hat (vgl. Takeda 2010: 14-16; vgl. Benedict 1986: 223; vgl. Griesecke
114
1996: 28-30). Dies könnte ein zusätzlicher Faktor sein, welcher zum Phänomen des Hikikomori führen kann: Man hat vielleicht das Vertrauen verloren, mit der empfundenen Scham adäquat umzugehen.
Dabei sind Vertrauensenttäuschungen nahezu vorprogrammiert; Vertrauen bedeutet ja, dass ich bereit bin, ein Risiko einzugehen, obwohl ich
weiß, dass ich auch enttäuscht werden kann. Vertrauen und Vertrauensmissbrauch stehen in einer engen Beziehung zueinander, wie auch die Philosophin Annette Baier in „Trust and Antitrust“ herausarbeitet:
“The trusting can be betrayed, or at least let down, and not just disappointed. Kant's neighbors who counted on his regular habits as a clock for their
own less automatically regular ones might be disappointed with him if he
slept in one day, but not let down by him, let alone had their trust betrayed.
When I trust another, I depend on her good will toward me. […] Where one
depends on another's good will, one is necessarily vulnerable to the limits
of that good will. One leaves others an opportunity to harm one when one
trusts, and also shows one's confidence that they will not take it. Reasonable trust will require good grounds for such confidence in another's good
will, or at least the absence of good grounds for expecting their ill will or
indifference. Trust then, on this first approximation, is accepted vulnerability to another's possible but not expected ill will (or lack of good will) toward
one.” (Baier 2010: 235)
Es scheint sich so zu verhalten: Wer sich einer Sache ganz sicher ist, der
braucht nicht zu vertrauen (vgl. Hunziker 2010: 187). Deswegen ist zwischenmenschliches Vertrauen auch so wichtig, da man einem anderen
Menschen, rein rational betrachtet, niemals ganz vertrauen kann (vgl.
Hartmann 2010: 162-163). Dabei muss der Andere nicht böswillig sein,
denn oft vertrauen wir ja auch in die vermeintlichen Fähigkeiten anderer
Menschen, wobei unser Vertrauen unterschiedlich ausgeprägt sein kann:
Das jeweilige Vertrauenspotential hängt wesentlich von unseren Erfahrungen ab (vgl. Hartmann 2010: 171). Vertrauen scheint ein idealistisches
Konzept zu sein. Man nehme nur den berühmt-berüchtigten Vertrauensgrundsatz, welcher bei der Führerscheinprüfung in Österreich gerne abgefragt wird. An diesem Beispiel wird auch offensichtlich, welche enorme
Bedeutung das Ideal des Vertrauens für die Gesellschaft hat: Mit dem Auto
zu fahren wäre unmöglich, wenn man nicht ein gewisses Grundvertrauen in
andere Menschen und deren Fähigkeiten hätte. Wenn man allerdings das
Ziel, bzw. den Wunsch hat, mit dem Auto zu fahren, dann ist es sinnvoll,
Vertrauen zu haben.
115
Wenn ich hier, etwas überspitzt, Vertrauen als idealistisches Konzept
definiere, dann komme ich nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass der
Philosoph Martin Hartmann von Vertrauen lieber als einer engagierten Einstellung spricht:
„Das meine ich, wenn ich von engagierten Einstellungen spreche: Unabhängig von allen Unterschieden sind Vertrauen und Misstrauen darin verbunden, dass sie Einstellungen sind, in denen sich ein Interesse am Erreichen von Zielen offenbart, die uns wichtig sind. In dieser Hinsicht stehen
Vertrauen und Misstrauen also nicht im Gegensatz zueinander, ihr gemeinsamer Gegensatz wäre eher so etwas wie eine Einstellung der Gleichgültigkeit oder Apathie.“ (Hartmann 2010: 162)
Hier muss ergänzt werden, dass Hartmann Misstrauen nicht als absoluten
Gegensatz zu Vertrauen sieht; wer nicht vertraut muss nicht zwangsläufig
misstrauen, sondern kann auch schlicht und einfach gleichgültig sein.
Der Begriff des Vertrauens ist ein vielschichtiger und wir sehen, dass
dessen Abhandlungen leicht differenzieren. Was bleibt ist, dass Vertrauen
als Basis des Erlebens von Intimität unabdingbar ist, sofern man dies auch
will. Wenn man also Intimität erleben will, dann ist Vertrauen notwendig.
DIE MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN
MENSCHLICHER INTIMITÄT
Um den Untersuchungsgegenstand in Erinnerung zu rufen: Hier geht es
um das Individuum, beziehungsweise um dessen Empfinden von Intimität,
sowie um Vertrauen als Basis von Intimität, und um die bereits in den vorhergehenden Kapiteln behandelten Fragen, ob Intimität zwangsläufig eine
zwischenmenschliche Angelegenheit ist und dort ihre Grenze findet, oder
ob es auch möglich ist, digitale Intimität zu empfinden; also für einen Computer bzw. für ein Programm intime Gefühle zu hegen.
Der Hikikomori, der sich im Extrem von der Gesellschaft zurückgezogen
hat, kann Intimität nur durch die Interaktion über digitale Medien erleben.
Auch scheint es, dass Menschen betreffend dieser indirekten, also nicht
im Angesicht mit einem anderen Menschen stattfindenden, Kommunikation, darüber hinweggetäuscht werden können, nicht mit einem Menschen,
sondern tatsächlich mit einem Computer bzw. mit einem Programm zu interagieren. Diesbezüglich wurde sogar ein Test etabliert:
116
“The British mathematician Alan Turing proposed the Turing Test (TT) as
a replacement for the question „Can machines think?” in his 1950 Mind
article „Computing Machinery and Intelligence” (Turing, 1950). [Dabei geht
es unter anderem um folgende Frage:] Can machines communicate in natural language in a manner indistinguishable from that of a human being?”
(Akman, Cicekli&Ilyas 2003: 463)
Vor Kurzem wurde das Bestehen des Turing-Tests verkündet, obwohl man
erwähnen muss, dass die Konditionen – die Sprache war Englisch und wurde nicht als Muttersprache angegeben, das Zeitfenster betrug nur fünf Minuten und Eugene verwendete diverse „Tricks“ wie z.B. schnellen Themenwechsel (vgl. Khunkham 2014, vgl. Robbin 2014) – dieses Turing-Tests, der
an der Universität von Reading durchgeführt wurde, von mehreren Seiten
kritisiert werden:
„An historic milestone in artificial intelligence set by Alan Turing - the father
of modern computer science - has been achieved at an event organised by
the University of Reading. The 65 year-old iconic Turing Test was passed for
the very first time by computer programme Eugene Goostman during Turing
Test 2014 held at the renowned Royal Society in London on Saturday. Eugene simulates a 13 year old boy and was developed in Saint Petersburg,
Russia. […] The experiment investigates whether people can detect if they
are talking to machines or humans. The event is particularly poignant as it
took place on the 60th anniversary of Turing's death, nearly six months after he was given a posthumous royal pardon. If a computer is mistaken for
a human more than 30% of the time during a series of five minute keyboard
conversations it passes the test. No computer has ever achieved this, until
now.“ (University of Reading 2014)
Auch wenn diese Version des Turing Tests kritisch gesehen wird, bleibt die
Erkenntnis, dass ein Computerprogramm es schaffte, Menschen glauben
zu machen, mit einem anderen Menschen zu kommunizieren. Warum
sollte es also nicht möglich sein, einem Programm gegenüber Intimität zu
empfinden? Wir stellten ja bereits fest, dass Vertrauen und Intimität individuelle Gefühle sind und weder an der Verwendung von Technik noch an
der Grenze des Privaten scheitern. Dass die Art der Kommunikation nicht
ausschlaggebend ist, konnte in der Praxis anhand des extremen Beispiels
Hikikomori gezeigt werden; eine direkte Kommunikation ist nicht unbedingt
erforderlich, um ein Gefühl des Vertrauens und der Intimität zu lukrieren.
Wir fassen zusammen: Der Mensch ist offensichtlich dazu in der Lage
117
„digitale Intimität“, im Sinne des Empfindens von Vertrauen und Intimität,
zu erfahren. Digitale Intimität - verstanden als individuelles menschliches
Gefühl - ist also eine Möglichkeit. Das individuelle Erleben von Intimität
findet folglich am digitalen Medium keine Grenze. Die Möglichkeiten und
die Grenzen des Erlebens von Intimität sind im Individuum zu finden und
nicht im Medium.
LITERATUR
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119
BERÜHRUNG ALS ÜBERLEBENSWICHTIGE DROGE.
EIN INTERVIEW MIT MONIKA NOISTERNIG,
SEXUALBEGLEITERIN BEI LIBIDA
Interview: Judith Schoßböck
Das Bedürfnis, Sexualität zu erfahren und zu erleben, ist so alt wie die
Menschheit und so individuell wie der Mensch selbst. Auch wenn heute die
Überwindung von Geschlechterdifferenzen und Rollenklischees im Foku
der Debatte steht, und sich eine gewisse Toleranz gegenüber der Vielfalt an
sexuellen Orientierungen etablieren konnte, so wird das Thema Sexualität
und Behinderung nach wie vor tabuisiert. In Sexshops, die davon leben, das
Thema Sexualität öffentlich zu behandeln, sucht man beispielsweise vergebens nach Gerätschaften, die für Menschen mit Behinderung, als Masturbationshilfe geeignet wären. Und obwohl sich unsere Möglichkeitsräume durch
digitale Medien erweitert haben, sprechen wir gerade im Hinblick auf die Digitalisierung unserer Kontakte und Diskurse oft von einer Vereinsamung –
die unmittelbarste Form menschlicher Kommunikation, die „Berührung“,
ist für viele Menschen nicht einfacher, sondern nach wie vor sehr schwierig
zu erreichen.
An dieser Stelle setzt die Arbeit von z.B. LibidaSexualbegleiterinnen®
an. Gerade Menschen mit Behinderungen haben oft kaum Zugang zu dieser „überlebensnotwendigen Droge“, einer achtsamen Berührung. Das
Angebot von Libida® richtet sich an Menschen, die aufgrund von körperlichen, geistigen, altersbedingten oder psychischen Einschränkungen Probleme im Erleben bzw. Ausleben ihrer Sexualität haben. Oft geht es in dieser
Arbeit aber auch vordergründig um Beratung, beispielsweise um eine Neuorientierung der Sexualität nach Schlaganfällen und Unfällen.
Im Gegensatz zur Situation in Holland gibt es in Österreich für Sexualbegleitung noch keine öffentlichen Zuschüsse. Auf Ausbildung und die
Einhaltung bestimmter Qualitätsmerkmale wird bei Organisationen wie der
LIBIDA Sexualbegleitung jedoch Wert gelegt. Paraflows hat sich mit Monika Noisternig, Sexualbegleitung bei LIBIDA (Graz), über Intimität, Grenzen,
und ihren Zugang zur Sexualassistenz bzw. –begleitung unterhalten.
121
J.: Wie würdest du Sexualbegleitung für jemanden, der sich darüber noch
kein Bild machen konnte, beschreiben?
M.: Sexualbegleitung bietet Menschen die Möglichkeit, Sexualität in einem geschützten Rahmen, begleitet durch professionelle Begleiter_innen, erleben zu können. Ich begleite meine Klient_innen ein Stück des
Weges in ihrer sexuellen Entwicklung. Das kann vom einfachen Handhalten als Berührung bis hin zu einer sinnlichen Massage reichen. Oft
geht es auch um eine sexuelle Neuorientierung, zum Beispiel nach
Unfällen oder Schlaganfällen. Immer häufiger begleite ich „Sexuelle
Jungfrauen/-männer“, Menschen die aufgrund ihrer persönlichen Geschichte irgendwie den Anschluss verpasst haben. Hier geht es vor
allem darum, Erfahrungsdefizite auszugleichen; Versäumtes teilweise
nachzuholen um den Einstieg in eine auch sexuelle Beziehung zu erleichtern.
J.: Seit wann gibt es Sexualbegleitung/Sexualassistenz?
M.: Holland nimmt hier eine Vorreiterrolle ein. In den Niederlanden gibt es
seit 1980 Sexualbegleitung. Nina de Vries, die ich gerne als die europäische „Mutter der Sexualbegleitung“ bezeichne, hat mit ihrer eigenen Arbeit maßgeblich dazu beigetragen, der Öffentlichkeit Einblick
in die Arbeit der Sexualbegleitung zu gewähren, und hat damit einen
wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis dieses Berufsbildes
geleistet. In Holland sind Leistungen der Sexualbegleitung sogar mit
den Sozialversicherungsträgern verrechenbar. Nach Holland wurde
in Deutschland, Dänemark und der Schweiz der Beruf Sexualbegleiter_in nicht nur anerkannt, sondern in Deutschland und anschließend
2009 auch in der Schweiz eine Ausbildungsstätte eingerichtet. In Österreich gibt es seit 2010 fachlich gut ausgebildete LIBIDA-Sexualbegleiter_innen.
J.: Wie wird man Sexualbegleiter_in?
M.: Rein rechtlich gesehen ist keine bestimmte Ausbildung erforderlich
um sich Sexualbegleiter_in nennen zu dürfen. Ich persönlich halte
jedoch eine solide Ausbildung als Grundlage für diese Tätigkeit für
unentbehrlich. Um die Marke LIBIDA-SEXUALBEGLEITUNG® führen zu
dürfen und sich somit als LIBIDA-Sexualbegleiter_in bezeichnen zu
dürfen, ist in jedem Fall eine von der Fachstelle hautnah anerkannte
Ausbildung vorzuweisen und darüber hinaus eine Kooperationsvereinbarung mit der Fachstelle einzugehen. Nur wenn alle geforderten
122
Qualitätskriterien eingehalten werden, wird die Kooperationsvereinbarung für jeweils ein weiteres Jahr verlängert.
Unabhängig von diesen formalen Anforderungen ist es aber wohl
nötig, über ein gewisses Maß an Empathie und Menschenliebe zu verfügen, ansonsten übt man diesen Beruf nicht aus.
J.: Was fällt nicht unter Sexualbegleitung?
M.: An dieser Stelle möchte ich gerne Sexualbegleitung von LIBIDA-SEXUALBEGLEITUNG® abgrenzen. Wie zuvor erwähnt, kann man sich ja
auch ohne Ausbildung Sexualbegleiter_in nennen. In diesem Fall sind
dann nur die rein rechtlichen Rahmenbedingungen des jeweiligen
Landes zu respektieren. Ich, als ausgebildete LIBIDA-Sexualbegleiterin mit aufrechter Kooperationsvereinbarung, muss darüber hinaus
die geforderten Qualitätskriterien, wie zum Beispiel Fortbildungs- oder
Supervisionspflicht, erfüllen. Von LIBIDA-SEXUALBEGLEITUNG® ausgeschlossen sind beispielsweise Schleimhautkontakte, Zungenküsse
und Geschlechtsverkehr. Das stellt die absoluten Grenzen dar.
J.: Welche Grenzen gibt es sonst?
M.: Darüber hinaus hat jede/r LIBIDA-Sexualbegleiter_in sein/ihr individuelles Profil, das weitere persönliche Grenzen beinhalten kann. Von
Kunden weiß ich, dass einige Begleiter_innen sich selbst grundsätzlich nicht berühren lassen. Für mich ist eine Berührung, solange der
Intimbereich ausgeschlossen bleibt, grundsätzlich vorstellbar. Ich entscheide das, wie auch im sonstigen Leben, nach Sympathie und Situation. Eine ausreichende Körperpflege ist für mich in jedem Fall eine
wichtige Voraussetzung um jemanden körperlich nahe sein zu wollen.
J.: Ist Sexualbegleitung eine Art von Prostitution?
M.: LIBIDA-SEXUALBEGLEITUNG® ist es nicht! Das ist uns Begleiter_innen
sehr wichtig, uns hier abzugrenzen. Nicht weil wir Sexarbeiter_innen
nicht schätzen oder glauben, bessere Arbeit zu leisten, sondern weil
wir andere Arbeit leisten.
Unsere Klient_innen bezahlen uns nicht für eine bestimmte Leistung, die wir zu erbringen haben, sondern für die mit uns verbrachte
Zeit. Wie diese Begegnungen - so nennen wir diese Zeit - ablaufen,
wird miteinander entschieden. Nur was für alle Beteiligten in diesem
Moment stimmig ist, ist möglich. Das kann von Mal zu Mal anders
sein. Wichtig ist, dass die Grenzen aller respektiert werden und sich
jede/r authentisch fühlen kann.
123
J.: Was ist für dich Intimität?
M.: Die eigene Intimsphäre wird durch Grenzflächen gegen andere abgeschottet. In der Intimität einer Beziehung werden diese Grenzen
durchlässig, der/die andere bekommt Zugang zu mir. Es findet ein
Austausch statt. Das kann seelische, geistige, soziale Zustände betreffen, wie auch körperliche.
J.: Welche geschichtlichen Entwicklungen haben, deiner Meinung nach,
unser Verständnis von Sexualität geprägt?
M.: Die Sexualität der Menschen ist im Wesentlichen ein geistiger Zustand, daher sind es eher religiös-philosophische Gründe und dort
Entwicklungen, als rein geschichtliche.
Die Kultur, in die man geboren wird, bestimmt in erster Linie unser
Verständnis der Sexualität. Das ist deutlich zu erkennen, wenn unterschiedliche Kulturen aufeinander treffen. Religiös bedingt kann das
bis zur strengen Trennung Männer – Frauenwelt führen (orthodoxe Juden und Muslime). Im Westen setzt sich mehr eine Betrachtung durch,
die Sexualität als Bestandteil des Körpers versteht, die Sündhaftigkeit
von sexuellen Handlungen kaum mehr verstehen kann, was auch mit
dem Verlust der Kontrolle durch die Kirche verbunden ist. Viele Staaten, vor allem die europäischen, haben gleichfalls ihre Kontroll- und
Normenfunktion aufgegeben. Das Verständnis der einzelnen hängt wohl von der jeweiligen persönlichen Geschichte ab; in welcher Umgebung jemand aufwächst,
welche Erfahrungen jemand macht und in welcher Art diese verarbeitet werden.
J.: Wie ist der Status in Österreich, was z.B. die Kostenübernahme betrifft?
M.: In Österreich steckt der Beruf der Sexualbegleiter_innen leider immer
noch in den Kinderschuhen. In ganz Österreich gibt es insgesamt 16
ausgebildete LIBIDA-Sexualbegleiter_innen. Während es in den Bundesländern Steiermark, Oberösterreich, ja sogar im konservativen
Vorarlberg eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualbegleitung gibt, existiert in Wien nicht einmal eine Beratungsstelle. Die
rechtliche Situation ist je nach Bundesland unterschiedlich.
Im Gegensatz zu Holland sind wir leider noch weit davon entfernt,
dass es öffentliche Kostenzuschüsse oder gar eine Kostenübernahme
der Sozialversicherungsträger für Sexualbegleitung gibt. Wenngleich
124
das Thema vermehrt in den Medien aufgegriffen wird, so ist hier noch
sehr viel Öffentlichkeitsarbeit erforderlich, um Sexualbegleitung auch
in Österreich als selbstverständliche Dienstleistung zu sehen.
J.: Was ist das Besondere an der Arbeit mit einer Organisation wie der
Fachstelle hautnah als LIBIDA-Sexualbegleiter_in?
M.: Ich schätze die Zusammenarbeit mit der Fachstelle in Kalsdorf insbesondere wegen der tatkräftigen Unterstützung rund um meine Arbeit.
Damit meine ich nicht nur die Organisation von Fortbildungsveranstaltungen und die Fachaustauschtage und vieles mehr, was unsere
Kooperationsvereinbarung vorsieht. Ich denke dabei insbesondere an
die Selbstverständlichkeit, mit der ich mich mit unterschiedlichsten
Fragestellungen an die Fachstelle wenden kann. Alle Begleiter_innen
werden, so individuell wie wir alle sind, auch individuell betreut. Da wir
erst 16 Begleiter_innen in Österreich sind, ist der fachliche Austausch
ein begrenzter. Es ist daher besonders wichtig für uns, eine Anlaufstelle für all unsere beruflichen Anliegen zu haben.
Darüber hinaus bin ich sehr froh über die Fachstelle als Lizenzgeber,
weil die Marke LIBIDA-SEXUALBEGLEITUNG® für eine genau definierte
Qualität der Arbeit steht, mit der ich mich sehr gut identifizieren kann.
J.: Was ist der schönste Aspekt an der Arbeit als Sexualbegleiter_in?
M.: Es fällt mir schwer, mich auf nur einen Aspekt zu beschränken. Mit
zwei habe ich zumindest die zwei schönsten Aspekte meiner Arbeit
abgedeckt. Es macht mich glücklich und stolz, zugleich Menschen in
ihrer sexuellen Entfaltung sichtbar zu unterstützen. Mit sichtbar meine ich, neben der oft beobachteten Entwicklung, vor allem auch das
strahlende Gesicht nach einer Begleitung.
Darüber hinaus bekomme ich von meinen Klient_innen und oft
auch von deren Umfeld sehr viele positive Rückmeldungen. Das ist
nicht nur schön, sondern stellt auch einen wichtigen Input für die kontinuierliche Weiterentwicklung meiner Arbeit dar.
125
DIGITALE PORNOTOPIE
FANTASIEN UND DEKONSTRUKTIONEN
„TAKING A CUE“. ZUR REPRÄSENTATION VON
TECHNOLOGIE IN DREI HETEROSEXUELLEN
MAINSTREAM PORNOGRAFIE-FILMEN
TINA LORENZ
Das Sub-Genre pornografischer Spielfilme (bezogen auf einen Film von
etwa 60-120 Minuten Länge und einer Einheitlichkeit der Darstellung, der
Charaktere, oder zumindest der Figuren, sowie einer Art von Geschichte)
ist relativ jung. Wikipedia identifiziert „Mona, die jungfräuliche Nymphe“
(1970) als den ersten modernen Hetero-Hardcore-Spielfilm1. Pornografische Filme aus dem Beginn der Kinozeit waren oft nur skizzenhafte Vignetten (sogenannte „one-reelers“), zu kurz, um eine komplexe Geschichte zu
entwickeln, und konzentrierten sich mehr auf eine witzige Darstellungsweise, die für die Zuseher_innen eine wichtige Rolle spielte. Als sogenannte
„Stag-Filme“ (stag als „Hirsch“, also als junger Mann, der sich die Hörner
abstoßen muss) wurden sie hauptsächlich von Gruppen wohlhabender
Männer im Kontext des „Gentlemen’s Club“ angesehen. Um sich davon
abzugrenzen, dass sexuell explizites und anregendes Material mit den (heterosexuellen und männlichen) Freunden angesehen wurde, war der Humor ein zentrales Element in der frühen Kino-Pornografie, der Erregung
und potentiell peinliche Situationen im Zaum hielt, in einer Zeit, in der Sexualität nicht offen diskutiert und Homophobie allgegenwärtig war. Wenn
„Stag-Filme“ daher überhaupt eine Geschichte erzählten, dann waren es
lustige kleine, mit Stereotypen besetzte, Episoden: Die Hure und ihr Freier,
exotische Harems oder badende Nackte waren wiederkehrende Themen.
Mit den anderen Betrachtungsgewohnheiten der Siebziger Jahre – das
Heimvideo machte erstmalig die private Vorführung möglich – veränderten sich auch die Struktur und Konzeption von pornografischen Filmen
beträchtlich. Sie begannen besonders fiktiv zu werden, mit ausschweifenden Plots und einer komplizierten Charakterentwicklung, und man hoffte
wahrscheinlich, dass sie eines Tages gemeinsam mit „normalen“ Filmen in
„normalen“ Kinos willkommen geheißen würden2. Als dies jedoch nicht geschah und Pornofilme stattdessen durch das X-Rating an Orte abseits des
1 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Mona_the_Virgin_Nymph (Zugriff 1.1.2016)
2 Gerard Damiano in: Inside Deep Throat. Dir. Fenton Bailey, Randy Barbato. Universal
Pictures, Imagine Entertainment, HBO Documentary Films, 2005.
129
Mainstreams verbannt wurden, war das Geschäft Experimenten gegenüber
weniger aufgeschlossen. Die Geschichten wurden immer pornotopischer,
und alle Teile, die nicht direkt in eine sexuelle Handlung mündeten, wurden
ausgespart. Die Charaktere wurden durch zwei-dimensionale Figuren, mit
denen man sich nicht mehr identifizieren konnte ersetzt, und der allgemeine Fokus lag auf bekannten Geschichten mit einer wiederkehrenden Choreografie von Nummern (im Sinne von Sexnummern bzw. -akten). Während
sie also den Status Quo kultivierten, versuchten die Pornoproduzent_innen
immer neue Bilder zu erfinden, die bereits Bekanntes repräsentierten –
vergleichbar mit Werbefachleuten, die nach immer wieder neuen Arten,
dieselben Produkte zu verkaufen, suchen). Die Technologie ist dabei nur
eine weitere Instanz des „Neuen“, die sich ihren Weg in die für den pornografischen Spielfilm typische „Immergleichheit“ bahnt.
Es gibt einige Dinge, die eine Pornofilm-Produktion auszeichnen. Erstens,
laut dem Historiker Stephen Marcus, spielt ein pornografischer Film in der
sogenannten Pornotopie: „[…] dieser Vision, welche die gesamte menschliche Erfahrung als eine Serie ausschließlich sexueller Ereignisse oder Zufälligkeiten betrachtet“3. Die Geschichtenentwicklung und die Darstellung des
Films haben sich den Gesetzen der Pornotopie zu fügen, d.h. Ideen oder
Situationen, die nicht auf eine sexuelle Erfahrung hinauslaufen, sind vom
Narrativ ausgeschlossen. Wenn Technologie ein aktiver Bestandteil eines
pornografischen Spielfilms sein möchte, so muss auch sie einen pornotopischen Zweck erfüllen, wenn auch einen sehr subtilen.
Zweitens besteht der pornografische Film nicht aus einem kontinuierlichen
Fluss von zusammenhängenden Ereignissen, sondern er lässt sich in zumindest zwei verschiedene Teile auseinanderdividieren: auf der einen Seite
der narrative Teil, der sich mit Zeit und Raum der Pornotopie verschrieben
hat, und auf der anderen Seite die reine sexuelle Nummer. Erzählte Zeit
und Raum des Narrativs mögen sich dabei von der erzählten Zeit und dem
Ort der Nummern unterscheiden. Die Sequenzen der Geschichte können
Flashbacks, Vorausdeutungen oder Parallelmontagen aufweisen, aber die
Zeit während der Nummern ist tendenziell die Realzeit, was bedeutet, dass
die profilmische Zeit in etwa mit der erzählten Zeit übereinstimmt. Auch
der Raum wird in den Nummern tendenziell verschieden behandelt. Sie
finden immer noch im erzählten bzw. diegetischen Raum statt, aber das
3 Victorians 216.
130
„Close-up-Framing“, die schnellen Schnitte und das verschiedene Editing
heben die Nummern vom übrigen Narrativ ab.
In ihrem Klassiker „Hard Core“ vergleicht die Filmwissenschaftlerin Linda
Williams pornografische Filme mit der Comedy des Musicals, bei dem die
Erzählung bzw. das Narrativ entweder einen Anstoß gibt, oder in Inhalt und
Technik komplett von der musikalischen Nummer abgegrenzt ist4. Wenn
so ein Bruch in einem Musical stattfindet, verändert sich die erzählte Welt,
welche üblicherweise eine ist, die den Zuseher_innen bekannt ist, in eine,
in der spontanes und choreografiertes Gruppensingen und –tanzen komplett normal sind. Dasselbe lässt sich für das Narrativ im Vergleich zu den
sexuellen Nummern auch über pornografische Filme aussagen (wenngleich die Pornografie tendenziell eher mit Figuren ausgestattet ist, die die
meisten von uns nicht in ihrem Alltag treffen).
Spannenderweise ist die in den von mir untersuchten pornografischen
Filmen dargestellte Technologie nicht auf eine der beiden Richtungen beschränkt – Narrativ oder Nummer. Sie kann als visuelle Hilfestellung zum
Narrativ verwendet werden, als ein Hinweis, der die Geschichte in eine
Nummer überführt, und sie kann direkt in eine sexuelle Nummer integriert
sein. Im folgenden Abschnitt werden drei Beispiele gegenwärtiger europäischer, heterosexueller Porno-Filme analysiert, in denen Technologie auf
verschiedene Arten dargestellt und angewandt wird.
PORN WARS 2
Als eine beliebte pornografische Parodie der „Star Wars“-Trilogie ist die
Geschichte von „Porn Wars 2“ (privat films, 2006) bekannt, und doch dezidiert pornotopisch: Die Jodi-Ritter, Hüterinnen der Kraft, werden durch
die Bösen abgeschlachtet und ziehen sich zurück; sie trainieren und verführen neue Jodi-Talente an einem geheimen Ort. Der Imperator schleicht
sich bei den Jodis ein und verführt eine von ihnen zum Bösen, und ein
Blowjob besiegelt ihren Übertritt zur dunklen Seite der Macht. Schließlich
verführen die beiden anführenden Jodis den Imperator und die dem Bösen
zugewandte Jodi, um die Republik zu retten.
4 Hard Core 134ff.
131
Porn Wars 2 behält sich viel Bildschirmzeit für die visuelle Darstellung von
High-Tech vor. Es gibt Weltraumkämpfe, Lasergeschütze und mysteriös
pulsierende Energiestrahlen – aber das meiste davon ist nur Hintergrundgeschehen. Das wird am deutlichsten in den Nummern, wie beispielsweise dem Verführungs-Blowjob, den der Anführer der dunklen Seite von der
Jodi-Verräterin vor einem Panoramafenster erhält: Während sie ihre Nummer absolvieren, schwebt im Hintergrund leise ein Raumschiff vorbei.
Davon wird jedoch nichts erwähnt und es erfüllt keinen narrativen oder
pornotopischen Zweck; es ist einfach da. Klarerweise diktiert die Art des
Genres, das hier repräsentiert wird (Science Fiction), ein gewisses ZurSchau-Stellen futuristischer Technologie, doch macht der Film fast nie von
der Menge an Möglichkeiten, die sich durch das Genre und seine Technologie anbieten würden, Gebrauch.
Es gibt jedoch eine überraschende Ausnahme: Die durchsichtigen Schäfte
der Lichtschwerter der Jodis. Diese haben die Form von Dildos und werden
in zumindest einer Nummer als solche verwendet, aber niemals in einer
Szene gleichzeitig als Waffe gebraucht und als Objekt, mit dem man Sex
haben kann. Von diesem Fall als einer Verwendung von Technologie während einer sexuellen Nummer zu sprechen, ist ambivalent, da man zuerst
definieren müsste, wo Technologie in der Pornografie eigentlich beginnt.
Beginnt sie mit dem fremden Objekt, dem Ding, das anstelle von Körperteilen beim Sex verwendet wird? Beginnt sie, wenn das Objekt eine Energiequelle hat, oder als High-Tech angesehen wird? (Für den Zweck dieses
Essays definiere ich High-Tech als alles, was von einer künstlichen Energiequelle abhängig ist, nicht notwendigerweise ein technisch ausgefeiltes,
„cutting-edge“ Stück). Zählt es auch dann noch als Technologie, wenn die
technologische Verwendung in der betreffenden Situation nicht ersichtlich
ist? Die experimentelle deutsche Filmreihe der Sechziger namens „Raumschiff Orion“ verwendete moderne High-Tech Haushaltsgegenstände als
Teil des futuristischen Sets. Zählt das Bügeleisen, das als Schalthebel wiederverwendet wird, noch als technologisches Gerät, obwohl es auf eine
komplett nicht-technologische Weise verwendet wird? Die dramaturgische
Verschränkung von High-Tech (Lichtschwerter, Bügeleisen) mit dem einfachen Objekt (Dildo, Schaltknüppel) ist selten und die Funktionen des Gerätes, wenn sie denn verschränkt sind, folgen, wie das nächste Beispiel
zeigen wird, für gewöhnlich einem homogenen Zweck.
132
DER HACKER
Im deutschen Spielfilm „Der Hacker“ (Videorama, 2006) wimmelt es nur
so von Technologie. Er handelt von einem weiblichen Pornostar, Vivian
Schmitt, die feststellt, dass ihre Webseite von einer Firma „gehackt“ wird,
die irgendwie davon profitiert. Sie und ihr persönlicher Assistent stellen
einen Privatdetektiv an, um mehr über diese Firma und ihren Besitzer zu
erfahren. Bei ihrer Recherche stoßen sie auf ein Porno-Shooting. Schließlich finden sie heraus, wer der Besitzer der Firma ist, und Vivian macht sich
auf, ihn alleine zu treffen. Natürlich mündet ihr Treffen in die finale Nummer des Films, die vom Besitzer mit einer Webcam aufgenommen wird.
Die Szene des Porno-Shootings innerhalb des Porno-Films ist aufgrund ihrer
Einfügung in den Kanon der Postmoderne, der sich durch Selbst-Referentialität und Metafiktion definiert, eine der interessantesten, die „Der Hacker“
zu bieten hat. Es ist eine hervorragende Idee, eine weitere Sexszene gemäß dem Gesetz der Pornotopie einzuführen, und gleichzeitig den Prozess
der Aufnahme einer sexuellen Nummer für einen Film zu reflektieren. Die
betreffende Szene zeigt einen Kameramann, der ein Pärchen filmt: eine
dominante Frau und einen devoten Mann. Ihre Leistung erscheint hektisch,
da sie abrupt von Position zu Position ohne passenden Übergangs- bzw.
„matching-on-action“ Cut geschnitten wurde, was einen unharmonischen
und irritierenden Eindruck bei den Zuseher_innen hinterlässt. Nach einem
dieser Schnitte hat der Mann einen Vibrator hervorgezaubert, komplett mit
Stromkabel und Batteriepackung; er legt die Batteriepackung irgendwo abseits des Bildausschnitts ab, und führt dann das nicht-vibrierende Gerät in
die Vagina der Dominatrix ein. Zu keinem Zeitpunkt wird das Gerät in ihrem
(spärlichen) Dirty Talk erwähnt; es ist ziemlich klar, dass sie den Vibrator
nur als einen Dildo verwenden – wie das Jodi-Lichtschwert in „Porn Wars 2“
bleibt das Gerät nur ein reines Objekt. Dieses Beispiel eines High-Tech Gerätes, welches als Objekt in der sexuellen Nummer selbst verwendet wird,
ist das einzige im ganzen Film. Es setzt sich von den anderen Fällen, in
denen Technologie vorkommt, insofern ab, als es das einzige Mal ist, dass
ein Gerät nicht einen Anstoß gibt, sondern stattdessen eine Art Platzhalter
für den devoten männlichen Protagonisten darstellt.
Wie zuvor erwähnt, vergleicht Williams pornografische Filme mit Musicals.
In ihrem Buch „Hard Core“ identifiziert Williams zwei Haupttypen: die separate und die integrierte Form des Film-Musicals. In der separaten Form, so
Williams, wechselt die narrative Sequenz abrupt zur Nummer über, ohne
133
einen Hinweis, der von einem zum anderen führen würde. Die integrierte
Form führt über Hinweise vom Narrativ zur Nummer und zurück; Williams
nennt dies „smoothing over“ bzw. sanfter Übergang5. In „Der Hacker“ wird
diese Rolle des Katalysators oder Auslösers auffallend von der Technologie
übernommen. Eine Szene soll hierfür als Beispiel dienen:
Vivian und ihr Assistent kommen im Büro des Privatdetektivs an, wo sie
ihr Hacker-Problem erläutern. Der Privatdetektiv erkennt Vivian als einen
Porno-Star, infolgedessen sie dem Detektiv und ihrem Assistenten Blowjobs gibt. Zu diesem Zeitpunkt sind alle Teilnehmer_innen fast vollständig angezogen; die beiden Männer stehen zu beiden Seiten der knienden
Vivian, womit die höchstmögliche Distanz zwischen allen Beteiligten in
einer Sexszene erreicht wird. Nachdem ein Telefon abseits der Bildfläche
läutet und der Detektiv weggeht, um den Anruf entgegenzunehmen, geht
die Nummer weiter. Vivian und ihr Assistent werden dadurch animiert, sich
auszuziehen und kommen sexuell erst richtig zur Sache. Technologie (hier
ein Mobiltelefon) fungiert in diesem Fall als Hinweis, um das Narrativ in
die Nummer überzuführen. Auch werden im Film Webseiten, Monitore und
Kameras zur Hinführung auf sexuelle Nummern genutzt, oft durch einen
Dialog über die Geräte unterstützt.
Die Hinweise in „Der Hacker“ folgen dezidiert pornotopischen Zwecken. Es
ist, als ob die Geräte selbst die sexuellen Fantasien und deren Ausführung
durch die Protagonist_innen hervorbringen würden. In den Augen einer
sexhungrigen Sekretärin wird die erotische Attraktivität eines Arbeiters,
der etwas nach oben schleppt, durch die Tatsache verstärkt, dass es sich
bei diesem Etwas um einen alten Monitor handelt (den er zufälligerweise
„Computer“ nennt). Die Webcam, die Vivians Performance mit dem Firmenbesitzer festhält, wird auf die nackten Körper gerichtet und setzt eine Fülle
von voyeuristischen Fantasien in Gang. Aber sobald die Nummer einmal
losgeht, werden die Geräte in die Ecke gestellt und haben dort nur mehr
die Funktion von Schaulustigen.
„Der Hacker“ demonstriert in gewisser Weise die Arbeitsprinzipien der
Postmoderne par excellence: Von der Metafiktion des Porno-Shootings innerhalb des Porno-Films und der Selbstreferentialität von Vivian, die sich
selbst spielt, zu den wiederkehrenden Themen wie der Notwendigkeit des
Verkaufs von Produkten, der Kopie eines Produktes, das nie einmalig und
5 Hard Core 160.
134
originell war, und den Distributions- und Produktionsmedien der Pornografie als selbstgenügsame Nachricht, an die viele verschiedene Bedeutungsschichten geknüpft sind. Obwohl der Film wahrscheinlich nie als Kommentar zu den zeitgenössischen literarischen und kulturellen Entwicklungen
gedacht war, kann er leicht als solcher gelesen werden. Pornografie und
ihre soziale Kommentierungsfunktion ist ein Thema, das der deutsche
Filmjournalist Georg Seeßlen in seinem Buch „Der Pornografische Film“
aufgreift. Der nächste Film stellt ein gutes Beispiel für diese These von
Seeßlen dar.
DIE METHODEN DES DR. FIST
Es gibt selten Fälle, in denen Technologie nicht nur als Teil des Plots, sondern auch aktiv in der darauf folgenden sexuellen Nummer vorkommt. Der
ansonsten weniger als mittelmäßige Film „Die Methoden des Dr. Fist“ (Videorama, 2005) ist einer davon. In diesem Film wird ein Tag im Leben
von Dr. Fist, der „die Wünsche der Frauen erfüllen kann“, gezeigt. Er hat
Sex mit seiner Freundin zuhause, geht ins Büro, wo er von der Reporterin
eines Frauenmagazins interviewt wird (die später auf etwas groteske Weise
mit der Toilette in Dr. Fists Praxis Bekanntschaft macht), „behandelt“ eine
Patientin und verwandelt schließlich die Reporterin in eine seiner Rezeptionistinnen – die Gründe für ihren Karrierewechsel liegen natürlich in den
magischen Händen von Dr. Fist.
Die relevante Sequenz wird durch einen harten Schnitt angekündigt, der zu
einer Szene mit einem gynäkologischen Stuhl, vor dem ein Vibrator steht,
führt. Dr. Fist erscheint und reinigt den Stuhl mit dem Ärmelaufschlag seines Labormantels. Anschließend bläst er in ein Paar Gummihandschuhe
und zieht diese mit seltsamen und komplizierten Bewegungen an. Er prüft
die Geräte: schaltet den Vibrator ein und aus, hört dem Motor zu, in dem er
das Gerät an sein Ohr hält und testet die phallische Funktion in stoßenden
Bewegungen auf die Kamera zu aus. Wiederholt legt er ihn ab und fingert
an der Fernbedienung herum, um dessen Funktionen zu überprüfen. All
das tut er mit der Miene eines ernsten Schauspielers, der einen Arzt spielt,
was auf die Zuseher_innen einen sehr lustigen und „trashigen“ Eindruck
macht. Nach einem weiteren harten Schnitt hören wir Dr. Fist und seine
Patientin, wie sie sich abseits der Bildfläche begrüßen. Sie erscheinen auf
der Bildfläche, und die Patientin zieht sich für die Untersuchung und Behandlung aus. Nach einer kleinen manuellen Aufwärmrunde erklärt Dr. Fist
ihr den Vibrator – um die Vibrationen zu spüren, führt sie ihn an ihre Zunge
135
und leckt ihn ab. Während er das Gerät in ihre Vagina einführt, macht sie
von der Fernbedienung Gebrauch.
Diese kleine Szene ist in der Tat aufschlussreich. Der Vibrator stellt nicht
nur einen gleichwertigen Protagonisten neben den Schauspieler_innen
dar, sondern die gesamte Szenenabfolge dreht sich um dieses leblose
und doch seltsam lebendige Gerät. Der kleine Drehmotor mit dem Gummigehäuse wird wie ein sehr kompliziertes Maschinenteil behandelt, das
ständig von Dr. Fist kontrolliert werden muss, und die Patientin tut so, als
hätte es in ihrer Welt bis zu diesem Zeitpunkt Dinge wie Vibratoren noch
nicht gegeben. Es wird noch ein wenig länger dauern, bis Technologie im
Porno als genauso normal wie das Ausbrechen in Singen und spontanes
Gruppentanzen im Musical angesehen werden wird.
In Hetero-Porno-Filmen wird die quantitative Verwendung von Spielzeugen
und Technologie (oder die Kombination von beidem) relativ selten mit Subgenres verglichen, in denen die Verwendung von Geräten und allgemein
Dingen üblicher ist (z.B. Bondage, Fetisch, BDSM). Obwohl es einen spärlichen Ausblick darstellt - und wenn Georg Seeßlen mit seiner Annahme
richtig lag - wird die Anzahl der Szenen, die Technologie integrieren, zunehmen. In „Der Pornographische Film“ beschreibt Seeßlen die Pornografie als
einen (verzerrten) Spiegel der Gesellschaft. Für ihn zeigt sich die Darstellung von Statussymbolen, der Umstände, Dialoge und Figurendarstellung
als Kommentar zum vorherrschenden Zeitgeist der Welt außerhalb der
Pornotopie. Wenn daher der Film die Technologie als den zentralen Protagonisten in einer Nummer vorführt, sagt uns dies etwas über die afilmische
Realität, in der wir leben – nur was?
Vielleicht sagt es uns, dass unsere Beziehung zur Technologie immer komplexer wird, fast wie die Beziehungen, die wir mit Menschen haben, und
diese mit ähnlichen Emotionen aufgeladen sind. Die Emanzipation der
Geräte vom (Hinweis-)Tool zum Protagonisten reflektiert unter Umständen
auch die wachsende Rolle der Technologie in unserem täglichen Leben
und wie wir beginnen, von ihr abhängig zu sein. Ein weiterer interessanter
Gedanke bezieht sich auf die Rolle der Technologie als Mittel der weiblichen Befriedigung, als Ersatz für den Penis – was die Pornografie in ein
System von Vorboten verwandeln würde, die andeuten, dass der Mann für
die sexuellen Bedürfnisse der Frau nicht mehr relevant ist.
Wie Linda Williams festhält: „Das Bild der masturbierenden Frau findet sich
in der Pornografie noch immer zu Genüge; aber die masturbierende Frau,
die ein elektrisch-mechanisches Instrument verwendet und keines Mannes bedarf, der sie befriedigt, ist neu“6. Und vielleicht brauchen wir Technologie in unserem Sexleben und darum im Sexleben der Fantasiefiguren,
die die Pornografie bevölkern: die unterschwellige Bedeutung, die von den
meisten elektronischen Konsumgeräten heute vermittelt wird, ist eine des
Lifestyles. Werbung stattet die Geräte mit emotionalem Wert aus, macht
sie sexy und definiert sie als Verbesserungen unseres Lebens. Wir sind
bereit, diese Nachrichten in unsere Schlafzimmer zu überführen. Ebenso
ist es die Pornografie.
Das neue Grenzgebiet der Pornografie liegt in der Technologie, und nicht
nur die Anwendung von neuen Methoden der Produktion und Distribution
sind für deren Fortschritt wesentlich. Ebenso geht es um die Weiterentwicklung pornotopischer Elemente, die in der Repräsentation des Pornos
geläufig sind. Der Anbruch der „Teledildonics“ und die Entwicklung der Internetpornografie zeigen, dass viel an der Verschränkung von Technologie
und Pornografie getüftelt wird. Und in genuin postmoderner Weise wird
diese Verschränkung verstärkt zum Thema von pornografischen Filmen
werden und damit auch die Entwicklung und den technischen Fortschritt
unserer Gesellschaft an sich aufgreifen und kommentieren.
ZITIERTE ARBEITEN
–– Der Hacker. Dir. Ben Franklin. Videorama, 2006.
–– Die Methoden des Dr. Fist. Dir. Harry S. Morgan. Videorama, 2005.
–– Inside Deep Throat. Dir. Fenton Bailey, Randy Barbato. Universal Pictures, Imagine Entertainment, HBO Documentary Films, 2005.
–– Linda Williams. Hard Core: Power, Pleasure and “The Frenzy of the Visible”. 2nd
ed. Berkeley: University of California Press, 1999.
–– Marcus, Stephen. The Other Victorians: A Study of Sexuality and Pornography in
Mid-Nineteenth Century England. New York: Basic Books, 1966.
–– “Mona the Virgin Nymph” („Mona, die jungfräuliche Nymphe“). Wikipedia: The
Free Encyclopedia. Zugriff 1.1.2016. <http://en.wikipedia.org/wiki/Mona_the_
Virgin_Nymph>.
–– Porn Wars 2. Dir. Kovi. Private Gold, 2006.
–– Seeßlen, Georg. Der Pornographische Film: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin: Ullstein, 1990.
6 Hard Core 109.
136
137
GUROCHAN: PERVERSION IM IMAGEBOARD UND
DIE NEUERFINDUNG DER KÖRPER
CHRISTIAN HELLER
PROLOG
Der folgende Text ist eine leicht gekürzte deutsche Übersetzung meines Textes
„GUROchan: imageboard perversion and the reinvention of bodies“, ursprünglich
erschienen in: Johannes Grenzfurthner, Guenther Friesinger, Daniel Fabry (Hrsg.),
Of Intercourse and Intracourse. Sexuality, Biomodification and the Techno-Social
Sphere / monochrom's Arse Elektronika Anthology, 2011, Vienna / edition mono/
monochrom, San Francisco / RE/SEARCH.
Der Text stammt (im englischsprachigen Original) aus dem Jahr 2010 und kann
angesichts der Schnelllebigkeit der Netzkulturen nur noch als historisches Dokument verstanden werden. Inhaltliche Aktualisierungen wurden in der Übersetzung
nicht vorgenommen. Ein aktuellerer Text hätte einen anderen Untersuchungsgegenstand. Das beschriebene GUROchan unter <http://gurochan.net> ging zwischenzeitlich offline. Ein gleichnamiger Nachfolger mit ähnlichem Design, aber
ohne Archiv des Vorgängers, existiert derzeit (März 2016) unter <http://gurochan.
ch>. Inhaltlich sind die Schwerpunkte des neuen GUROchan größtenteils dieselben, auch wenn sich die Auswahl der einzelnen Boards leicht geändert hat. Es gibt
nach wie vor die im Text hauptsächlich besprochenen Boards /g/, /f/, und /s/. Aber
das im Text untersuchte Tabu gegen Furry-Inhalte beispielsweise wird nun durch ein
Board /fur/ widerlegt.
Der Originaltext im oben referenzierten Arse-Elektronika-Reader ist mit zahllosen Links ins alte GUROchan annotiert und mit einigen Bildern aus selbigem illustriert. Diese mit Wegfall der alten GUROchan-Seite nicht mehr trivial (immerhin: teils
übers Webseiten-Archiv des Internet Archive unter <http://archive.org>) zugänglichen Quellen wurden in der folgenden Fassung ausgespart.
Das Internet ist heute das Medium, in dem wir uns selbst neu erfinden,
und durch das wir Zugang zu einer großen Bandbreite an Ideen vielen Vorbildern und Weltanschauungen haben. Aus den darin auffindbaren Identitätsressourcen, auf die wir in früheren Jahrzehnten keinen Zugriff gehabt
hätten, setzen wir uns breit und vielfältig zusammen. Ich rede mir in dem
Zusammenhang gerne ein, dass das Prozesse der Mainstream-Normativität
139
erschüttern sowie zu einer größeren Diversität unserer Kultur und Identitäten führen wird.
Wenn dem so ist, so könnte das auch für unsere Vorstellungen von Sex,
Gender und Erotik gelten. Sicher ist: Eine umfangreichere und breitere
pornografische Online-Bibliothek hat es in der Geschichte der Menschheit
bislang nicht gegeben – noch war es jemals so einfach, Material, Information und Gemeinschaften für jeden noch so abwegigen Fetisch zu finden.
Der Internet-Witz „Regel No. 34“ spielt auf dieses Phänomen an. Er bedeutet: Welche Situation oder welches Objekt auch immer du dir vorstellen
magst, du kannst davon ausgehen, dass irgendwo im Internet dazu ein
Porno existiert. Also: Jede vorstellbare sexuelle Identität, jedes Begehren
oder jede Idee wird irgendwo im Netz auf jemanden zur Zustimmung und
Erforschung treffen.
Die Ressourcen sexueller Identität im Internet sind mannigfaltig und vielfältig: Pornografische Paysites jeden Fetisches für potentiell zahlende Kund_
innen; Sexualerziehungs-Seiten für Jugendliche und Erwachsene; „Adult
only“ 3D Play-Bereiche auf Second Life; Dating-Plattformen wie OKCupid.
com und spezifischere Communities wie FetLife.com oder die deutsche
Seite GayRomeo.com. Sie alle stellen einen Raum für Infrastruktur, Inspiration und die verstärkte Auseinandersetzung mit unserer sexuellen Imagination, deren Praxis und der Konzeptualisierung des menschlichen Körpers
und seinen Fähigkeiten sowie seiner Idealform zur Verfügung. Mit der steigenden technischen Möglichkeit, nicht nur unsere virtuellen sondern auch
unsere physischen Körper durch medizinische Eingriffe wie Geschlechtsumwandlungen oder Brustoperationen zu verändern, lässt sich außerdem
annehmen, dass die durch das Internet verstärkte Kreativität in Bezug auf
Körper und deren Gestalt auch auf die Offline-Welt – und vielleicht sogar
die gesamte Gesellschaft – Einfluss nehmen wird.
Im Rahmen dieses Textes möchte ich hauptsächlich (mit einer wichtigen
Ausnahme) eine bestimmte Ecke des Internets behandeln, welche Ressourcen für die breitere Darstellung sexueller Begierden, Gender, und insbesondere von Körpern bereitstellt: eine Seite namens GUROchan. Diese
ist ziemlich weit abseits von Phänomenen der Mainstream-Sexualität und
Pornografie einzuordnen und behandelt hauptsächlich extreme Fetische,
die von der Allgemeinheit wohl wenig verstanden oder unterstützt werden.
Für viele dürften die Inhalte von GUROchan eine der dunklen Ecken des
Internets darstellen, die man besser im Dunkeln belassen sollte, vielleicht
140
eine dieser Ecken, die man zensurieren wollen würde, wenn eine Zensur
des Internets möglich wäre. Im Gegenzug dazu möchte ich jedoch argumentieren, dass wir diese Seite auch als einen progressiven Ort ansehen
können: einen Ort im Internet, der sich genau dort befindet, wo die Grenze
unserer Selbstdefinition sich erweitert - insbesondere, was Fragen unserer
Sexualität und Körper betrifft.
IMAGEBOARDS ALS PORNOGRAFISCHE UMGEBUNG
GUROchan ist eine Imageboard-Seite im Internet: Eine Art Forum für Beiträge bzw. Postings und für die Diskussion von Bildern. In Bezug auf Form und
Regeln ähnelt diese anderen Webseiten, die ebenfalls ein „chan“ im Namen oder in der URL haben, wie die bekannten japanischen Seiten 2ch.net
(„2channel“) und 2chan.net, deren englischsprachige Varianten 4chan.org
und 7chan.org sowie die deutschsprachige Seite krautchan.net.
Die Inhalte dieser Imageboard-Seiten sind durch verschiedene Sub-Kategorien organisiert: Imageboards, die sich bestimmten Themen oder bestimmten Inhalten verschrieben haben. Surft man durch so ein Imageboard, so
sieht man eine chronologische Liste von Diskussionssträngen, sogenannte
Threads. Ein Thread besteht aus einer linearen Chronologie an Beiträgen
bzw. Postings von Bildern bzw. Text. Wenn der Thread kurz genug ist, wird
er komplett im Inhaltsverzeichnis (Index) der Threads des jeweiligen Imageboards angezeigt; wenn nicht, werden der älteste, erste Beitrag sowie einige der aktuellsten Beiträge angezeigt. Man kann den Thread auf einer
eigenen Seite öffnen und vollständig ansehen.
Das Posten von Inhalten, das Öffnen eines Threads bzw. das Hinzufügen
von Inhalten auf Imageboards ist üblicherweise mit einer sehr geringen
Beteiligungshürde verbunden: Es ist keine Registrierung notwendig. Jede
Browser-Ansicht eines bestimmten Imageboards oder Threads beinhaltet
bereits das Eingabe-Feld, das man zum Erstellen eines Beitrags benötigt.
Eine anonyme Beteiligung ist nicht nur möglich, sondern meist die Norm.
Die Inhalte werden sofort und ohne vorherige inhaltliche Kontrolle veröffentlicht. Sie können jedoch nachfolgend gelöscht werden. Das nachträgliche
Löschen sowie das Sperren bestimmter Computer oder Regionen ist das
einzige Instrument zur Regulierung von Inhalten, das den Moderator_innen
von Imageboards zur Verfügung steht. Diese Voraussetzungen schaffen ein
spannendes Spielfeld für pornografische Inhalte.
141
Die Inhalte eines Imageboards werden von dessen User_innen erzeugt.
Dabei gibt es keinen Abstand zwischen jenen User_innen, die Beiträge erstellen, und jenen, die konsumieren. Es kann sich dabei um eigenkreiertes
bzw. selbst produziertes Material handeln, oder die Inhalte wurden anderweitig erstellt: fotografiert, gescannt oder einfach von einer anderen Webseite kopiert. Die Inhalte werden nicht editiert, ausgewählt oder gefiltert, so
wie es oft üblich ist, um jemanden zu einer bezahlten Mitgliedschaft, wie
beispielsweise einer pornografischen Paysite, zu überreden; sie werden
auch nicht für den Markt optimiert oder sind hinsichtlich der Produktionsmittel, der künstlerischen Expertise oder der ihnen zur Verfügung stehenden Schauspieler_innen und deren Körpern limitiert: Wo es nicht möglich
ist, qualitativ hochwertige Inhalte selbst zu erzeugen, können einfach Amateur- oder Profi-Materialien von anderswo aus dem Internet zur Verfügung
gestellt werden. Es liegt auf der Hand, dass Imageboards unter strengen
Copyright-Gesetzen zusammenbrechen würden.
Folglich wird das pornografische Material von Imageboards sehr direkt ausgewählt und gefiltert, durch die Wünsche und Ideen von deren Zielgruppen, und nicht durch jene Kategorien, von denen die Betreiber_innen diverser Paysites denken, damit Geld verdienen zu können. Die Wünsche und
Ideen jener, die Beiträge erstellen, Bilder anfordern oder diese kommentieren, werden auch nicht durch die Selbstkontrolle der Scham oder die
Angst vor einem Gesichtsverlust beschränkt: Die Teilnehmer_innen sind
anonym - warum sollten sie sich darüber Sorgen machen? Darüber hinaus
gibt es auf vielen Imageboards ein Ablaufdatum für Threads: Sie werden
nach einer Weile gelöscht. Dieser vergängliche Charakter verringert den
Druck von Urheberrechten und anderen Gesetzen: Jedes Bild, das illegal
kopiert wurde, ist bereits wieder verschwunden, bevor die Anwält_innen
der Copyright-Besitzer_innen überhaupt genug Zeit hatten, es zu identifizieren und einen bösen Brief an die Betreiber_innen der Seite zu schicken.
Auf Imageboards gibt es wenig, was der schamlosen und offenen Zurschaustellung der Interessen der User_innen entgegenstehen würde.
Infolgedessen zählen Sexualität und Pornografie zu den am häufigsten
vertretenen Themen. Um die Position von GUROchan in dieser Umgebung
besser einschätzen zu können, macht es Sinn, zuerst einen Blick auf den
pornografischen Mainstream eines viel populäreren, englischsprachigen
Imageboards zu werfen: 4chan. Die englischsprachige Imageboard-Kultur
definiert sich häufig (positiver- oder negativerweise) in Relation zu 4chan,
142
so auch GUROchan. Darüber hinaus lernen wir dadurch auch etwas über
jene Begriffe und Phänomene, die bei der Diskussion von GUROchan eine
große Rolle spielen werden.
EIN KURZER BLICK AUF DIE PORNOGRAFISCHE KULTUR
VON 4CHAN
4chan.org ist eine sehr umfangreiche Imageboard-Seite. Im Juni 2010 waren darin 49 zumeist sehr aktive Imageboards zu finden, die sich einer
Bandbreite an Themen verschrieben haben – von „Videospielen“ über „Papierhandwerk & Origami“ zu einem politischen „Newsroom“. Viele dieser
Boards haben japanische Namen und beziehen sich auf die japanische Populärkultur, aus der heraus Imageboards entstanden sind. Die Affinitäten
zu Japan sind auf Orten wie 4chan immer noch stark zu spüren, wie sich an
den verwendeten Inhalten und technischen Begriffen zeigen wird.
13 der Boards auf 4chan weisen eine Alterswarnung auf und sind mit
„18+“ gekennzeichnet. Sechs dieser „Adult-only“-Boards tragen Namen,
die eindeutig auf sexuelle Genres Bezug nehmen (wie das auf solchen Seiten üblich ist, haben bestimmte Boards eine kryptisch kurze Bezeichnung
mit einem oder ein paar weiteren Buchstaben, welche den URL-Unterordner widerspiegelt und deren Zweck abkürzt): beispielsweise stellt „/s/“
(Sexy Beautiful Women) fotografische Inhalte in Aussicht. Die anderen fünf
Boards beinhalten gezeichnete Bilder im Manga-Stil, die in verschiedene
Genres aufgeteilt sind: „/y/“ („Yaoi“) bildet männliche Homosexualität ab,
und „/u/“ („Yuri“) steht für weibliche Homosexualität. „/e/“ („Ecchi“) steht
für weniger explizite Inhalte und „/h/“ („Hentai“) für expliziteres Material.
Es gibt auch „/d/“ („Hentai/Alternative“), worauf ich in der Folge noch zurückkommen werde.
Die andere Hälfte der „18+“-Boards ist mehr in technische Kriterien aufgeteilt: beispielsweise im Hinblick auf eine bestimmte Dateiart oder -größe
(„/hr/“: „High Resolution“, „/gif/“: „Animiertes GIF“), auf Download- und
Dateisharing-Möglichkeiten außerhalb des Boards („/rs/“: „Rapidshares“,
„/t/“: „Torrents“). Eine weitere Kategorie stellt die Beschreibung von bestimmten Bildern bzw. die Nachfrage nach bestimmten Inhalten dar - in der
Hoffnung, dass ein/e Leser_in etwas Passendes auf der Festplatte hat und
es posten wird. Diese Boards handeln nicht exklusiv von sexuellem Material, obwohl dieses einen Großteil der Inhalte ausmacht. Das beliebteste
143
der 13 „18+“-Boards ist auch das populärste Board auf ganz 4chan: „/b/“
(„Random“). Das ist das Anarchie-Board: Hier ist jeder Inhalt, der nicht als
Spam eingeordnet wird oder nach dem Gesetz der Vereinigten Staaten illegal ist, erlaubt. Natürlich ist hier auch sexuell explizites Material zu finden.
In relativen Zahlen sind dies weniger Inhalte als auf den designierten
Pornografie-Boards, aber in absoluten Zahlen kann dieses Board locker
mit diesen mithalten, da /b/ alleine für ein Drittel des Datenverkehrs auf
4chan verantwortlich ist.
Welches sexuell explizite und pornografische Material wird nun auf /b/ veröffentlicht? Aufgrund der vielen neuen Threads, die jede Minute eröffnet
werden und der extrem kurzen Ablaufzeit der Beiträge (es ist üblich, dass
diese innerhalb von weniger als einer Stunde verschwinden), ist es etwas
schwierig, eine konkrete Menge festzulegen. Um aber einen kurzen Überblich zu geben habe ich mich dazu entschlossen, die erste Index-Seite des
„/b/“-Boards zehn Mal, mit ein paar Minuten Pausen dazwischen, neu zu
laden, und dann das auf diese Weise erhaltene Material zu zählen. Das
Resultat ist die folgende Aufzählung:
—— 2 Screenshot-Serien kommerzieller Hardcore-„male on female“-Sexvideos inklusive URLS der Paysites zum Download.
—— 2 Bilderserien von Teenage-Girls, die sich vor ihren Webcams ausziehen.
—— 1 Webcam-Bild einer Person mit weiblichen Attributen (abgesehen von
ihrem Penis), die eine andere männlich aussehende Person masturbiert.
—— 1 professionell inszeniert anmutendes Foto in hoher Qualität, das einen
Mann zeigt, der eine Frau penetriert, inklusive einer Paysite-URL.
—— 1 Foto eines nackten Kindes in sexualisierender Pose, dessen Vagina
hinter einem Bild von „Pedobear“ versteckt wird, dem pädophilen Manga-Maskottchen von 4chan.
—— 1 Foto eines nach hinten gebogenen Penis, der in den Anus seines Besitzers eingeführt ist, mit den Worten „GO FUCK YOURSELF“.
—— 1 professionell wirkende Fotoserie nackter Männer.
—— 1 unprofessionell wirkende Fotoserie einer Frau, die eine Banane und
eine Getränkedose in ihre Vagina einführt.
—— 1 Fotoserie leicht bekleideter Kinder, die wie professionell inszenierte
Erotika aussieht.
—— 1 amateurhaft wirkendes Foto einer weißen Frau, die mit zwei schwarzen Männern sexuell verkehrt.
144
—— 1 (manipuliertes?) Foto von zwei Frauen, die an etwas lutschen, das
als ein Penis beginnt, aber sich in der Mitte in zwei Penisse aufspaltet.
—— 3 Fotoserien von Penissen, die von ihren Besitzern masturbiert werden.
—— 2 professionell anmutende erotische Nacktbilder von Frauen.
—— 1 Serie gemalter Bilder im Manga-Stil, die kleine Kinder in sexuellen
Posen zeigt, nackt oder spärlich bekleidet.
—— 1 Amateur-Fotoserie von nackten Frauen und Männern.
—— 1 Foto einer alten Frau, die ihre Brüste präsentiert.
—— 1 Foto einer Frau, die spärlich und in den Farben der amerikanischen
Flagge bekleidet ist, Wunderkerzen in der Hand hält und eine Art Feuerwerk präsentiert, das aus ihrer Vagina heraussprüht.
—— 1 professionell wirkende Fotoserie eines jungen, nackt posierenden
Teenagers.
Zugegebenermaßen handelt es sich hierbei um eine sehr kleine Auswahl zur
Beurteilung der pornografischen Landschaft von /b/. Ich werde daher nur
folgenden gedanklichen Schnellschuss wagen: Die Nutzer_innen von /b/
scheinen nicht nur an Pornografie, die den weiblichen Körper im Zentrum
hat, sondern auch am Anblick von Penissen und ausschließlich männlicher
Erotika interessiert. Material von Paysites scheint ebenso häufig veröffentlicht zu werden wie Amateurmaterial, das häufig direkt aus einer Webcam
stammt. Außerdem scheint es Interesse an sexuellen Anatomien und
Aktivitäten zu geben, die sich abseits der Norm befinden, ebenso wie an
Materialien, die Nicht-Erwachsene zeigen, wobei die meisten davon sich an
der Grenze der Illegalität nach den meisten westlichen Gesetzen befinden.
Auf 4chan befindet sich eine Seite, welche die Regeln für die ImageboardSeite und ihre einzelnen Boards festlegt. Hier wird die Ausrichtung der verschiedenen Boards erklärt sowie die Kriterien, nach denen Material gelöscht wird oder User_innen verbannt werden. 4chan wird darin als dem
US-Recht unterlegen deklariert und die Grenzen, innerhalb derer Inhalte erlaubt sind, werden festgelegt: Daher sind Bilder, die in der westlichen Welt
zumeist als „Kinderpornografie“ eingestuft werden würden (zumindest fotografisch), überall auf 4chan verboten, inklusive auf /b/. Moderator_innen
löschen solche, wenn sie sie sehen, aber es ist schwierig, das tobende und
wilde Durcheinander, das /b/ ausmacht, fest und unmittelbar im Griff zu
haben, was dazu führt, dass derartige Bilder auftauchen und gelegentlich
für kurze Zeit aufscheinen, bevor sie vernichtet werden.
Diese pornografische Anarchie endet zumeist an den Grenzen von /b/.
Der dritte Punkt der „globalen“ Regeln lautet: „Poste folgende Dinge nicht
145
außerhalb von /b/: […] anthropomorphische („pelzige“), groteske („guro“)
oder „loli/shota-Pornografie.“ Was bedeutet das alles?
Das Verbot von „loli/shota“ bezieht sich auf „lolicon“ (die Etymologie zu
Lolita ist offensichtlich) und „shotacon“, d.h. auf erotische, im Manga-Stil
gezeichnete Bilder von weiblichen und männlichen Kindern. Da derartige
Bilder nur durch die Regel, die Teile von 4chan exklusive /b/ betrifft, verboten sind, können wir annehmen, dass diese dezidiert pädophile Kunstform auf /b/ irgendwie toleriert wird. Wenn man die generelle Ablehnung
und Intoleranz in Bezug auf jegliche Arten von pädophilen Erotika in der
gegenwärtigen westlichen Gesellschaft bedenkt, so deutet dies auf einen
interessanten Grad an moralischer Toleranz innerhalb der 4chan Seitenbetreiber_innen hin.
Das Verbot von „pelziger“ bzw. „Furry“-Pornografie bedarf einer genaueren
Erklärung. Furries sind fiktionale Kreaturen, die sowohl Merkmale von Menschen als auch von nicht-menschlichen, pelzigen Säugetieren aufweisen.
Sie werden oft in Cartoon-Form dargestellt und erinnern an anthropomorphisierte Tiere mit menschlicher Intelligenz, wie man sie von Märchen oder
Walt Disney’s animierten Kurzfilmen kennt. Es gibt eine ganze Subkultur,
die sich den Furries verschrieben hat: Menschen treffen sich auf FurryTagungen, tragen Furry-Kostüme, und entwickeln manchmal aufwändige
neue „pelzige“ Identitäten für sich selbst. Für manche beinhaltet der FurryLifestyle auch eine Furry-Erotik. Also: diese Form der Pornografie existiert
tatsächlich. Sie klingt aber eher harmlos. Was ist also so schlimm an den
Furries, dass sie von den Imageboards von 4chan ebenso verbannt werden
sollten wie Formen von pädophiler Pornografie? Wir werden auf diese Frage später zurückkommen, wenn wir uns mit GUROchan beschäftigen: Auch
dort sind Furry-Inhalte verboten. Eigentlich scheinen Imageboards ohne
negative Einstellung zu Furry-Inhalten eher die Ausnahme als die Regel
darzustellen, selbst wenn sie andere Materialien erlauben, die der Großteil
der öffentlichen Mehrheit als höchst abartig ansehen würde.
Das dritte Verbot hat direkt mit dem Begriff zu tun, auf den sich GUROchan
bezieht: „Guro“‑Pornografie ist abseits von /b/ ebenfalls verboten. Diese
Regel versucht die verbotene Kategorie als „goteske“ Pornografie zu definieren – was nicht wirklich aufschlussreich ist. Wir werden uns mit der
Definition von Guro-Pornografie später beschäftigen, wenn wir einen genaueren Blick au GUROchan werfen.
146
Lasst uns nun die „Adult-only“-Boards, die für sexuelle Inhalte bestimmt
sind, untersuchen. Wir konzentrieren uns dabei auf die fünf Boards für gezeichnete Materialien, da dies der Bereich ist, den GUROchan ebenfalls
behandelt, und ignorieren /s/ („Sexy Beautiful Women“): Dieser Bereich
enthält fotografisches Material, das von Portraits über Nacktfotos zu Softcore-Porn reicht, oft von Paysites übernommen. Jedoch findet sich darunter
nichts, das unter die Kategorie „hardcore“ oder „grotesk“ fallen würde.
Das unschuldigste dieser Boards, das es kaum verdient, als pornografisch
bezeichnet zu werden, wird mit dem Buchstaben /e/ („Ecchi“) bezeichnet.
Die 4chan-Regeln hierfür halten fest, dass nur „softcore“-Nacktheit erlaubt
ist. Es ist schwer, darin etwas zu finden, das über Zeichnungen von normal
menschlichen Frauen, die süß aussehen und vielleicht ein wenig nackt herumposen, hinausgeht. Ein schneller Blick auf die homosexuellen Boards
/y/ („Yaoi“) und /u/ („Yuri“) zeigt standardisiert niedliche Cartoon-Charaktere (manchmal aus bereits andernorts dargestellten, fiktionalen Universen entlehnt), in standardisiert romantischen und sexuellen Situationen.
Von Zeit zu Zeit zeigt sich ein kleines nicht- oder über-menschliches Merkmal, wie ein beispielsweise ansonsten recht menschlich aussehender Charakter mit Katzenohren oder einem unüblich großen Penis. Diese Boards
scheinen hauptsächlich an einem begrenzten Thema interessiert zu sein.
Das Board /h/ („Hentai“) ist mehr auf allgemeine Themen spezialisiert: Die
Regeln erlauben pornografische Bilder im Manga-Stil, die nicht in die anderen pornografischen Boards passen. Hier finden sich jede Menge Bilder
heterosexueller Sex-Akte, oft mit übertriebenen anatomischen Möglichkeiten; dennoch scheinen diese keine Gefahr im Hinblick auf die Regel, nichts
Groteskes zuzulassen, darzustellen, und die gelegentlich unrealistische
Darstellung geht nicht über das hinaus, was man von sehr beweglichen
Menschen erwarten kann. Hier findet sich jene Anatomie und Potenz, die
Merkmale der Mainstream-Pornografie betont.
Dann findet sich natürlich /d/ (“Hentai/Alternative”). Die Regeln für dieses Board klingen auf jeden Fall interessant: „‘Alternative‘ Bilder inklusive
Futanari, Bondage, Tentakel etc. sind willkommen.“ Der Begriff „Bondage“
benötigt wohl keine weitere Erklärung. „Tentakel“ bezeichnet „Tentakel-Pornografie“, also die Stimulation menschlicher Körper durch Tentakeln (die
realen oder fiktionalen Kreaturen gehören), ein in der japanischen Kultur
147
schon seit den letzten zwei Jahrzehnten auffindbares Thema1. „Futanari“
ist ein Genre, das ansonsten weibliche Körper mit männlichen Genitalien
darstellt. Das ist auch schon alles: es gibt nicht notwendigerweise ein Konzept, das erklären würde, wie diese Genitalien dorthin gekommen sind, ob
bei der Geburt als Hermaphrodit, durch eine Operation, oder auf magische
Weise.
Wenn man sich durch /d/ klickt, ist „Futanari“ der am häufigsten auffindbare Fetisch, aber auch die explizit erlaubten Tentakeln und Bondage-Pornografie tauchen auf. Generell lässt sich festhalten, dass im Vergleich zu
den anderen Boards (abseits von /b/) eine größere Bandbreite bzw. Akzeptanz des Bizarren gegeben zu sein scheint. Sexualisierte, nicht-menschliche Kreaturen wie Meerjungfrauen, Feen oder Reptilienmädchen tauchen
regelmäßig auf (aber klarerweise keine Felle oder Furries!). Weitere Körperabnormalitäten kommen vor, wie beispielsweise extreme Proportionen
oder multiple Geschlechts- oder Körperteile.
Dennoch heißt es in den Regeln für /d/: „Bilder die Zoophilie, „guro“, Scat
bzw. Kaviar darstellen oder generell als „extrem“ angesehen werden können, sind nicht erlaubt.“ Sex mit Tieren ist also nicht erlaubt (was ist aber
mit Meerjungfrauen oder Reptilienmädchen?), ebenso wenig wie das Spiel
mit Fäkalien oder Urin. Das Verbot von „guro“-Materalien, die bereits in
einer der allgemeinen Regeln des Boards mit Ausnahme von /b/ nicht erlaubt sind, ist also eine Wiederholung. Vielleicht ist diese gesonderte Betonung aufgrund der größeren Affinität zum Bizarren, die sich hier vorfindet,
notwendig, und weil man hier stärker Gefahr läuft, vom „Grotesken“ verführt zu werden. Die Gefahr scheint mit der Dosis zusammenzuhängen:
Nichts „Extremes“ ist erlaubt.
Wie könnte eine extremere Dosis aussehen?
1 „The Dream of the Fisherman's Wife“ bzw. „Der Traum der Frau des Fischermanns“ ist ein
berühmtes japanisches Bild von Katsushika Hokusai, das einen Oktopus, der mit einer
Frau Sex hat, zeigt. Es ist mit 1814 datiert. In aktuellerem Kontext wurde „Tentakel-Pornografie“ zu einer Art Klischee für japanische pornografische Perversität in der westlichen
Welt.
148
TRITT EIN IN GUROCHAN!
Offensichtlich gab es einmal ein Board namens /g/ für „guro” auf 4chan.
Es wurde jedoch gelöscht (und das Label „/g/“ für ein anderes Board neu
verwendet. Zur etwa derselben Zeit entstand GUROchan, das ohne Zweifel einen Teil der nun von 4chan verbannten Aktivitäten aufgefangen hat.
Lasst uns also einen Blick auf GUROchan werfen!
Auf welche „grotesken“ Inhalte spezialisiert sich GUROchan? Ein Blick auf
die F.A.Q. der Seite zeigt: „Guro“ ist eine Abkürzung für „ero guro“, was
wiederum eine Abkürzung des Begriffes „ero guro nansensu“ (erotischer
grotesker Unsinn) ist. Ursprünglich bezieht sich der Begriff auf eine künstlerische Bewegung die sich in den frühen 20er Jahren in Japan formierte.
Die moderne Definition von guro hat sich seitdem leicht weiterentwickelt
und der Begriff in mehreren Medien Einzug gehalten, wenngleich er immer
noch mit dem ursprünglichen Konzept übereinstimmt.
Guro bezieht sich nicht ausschließlich auf das englische „gore“ bzw. Grausamkeit, sondern stellt eher einen Überbegriff für eine große Bandbreite
häufig erotischer, künstlerischer Abartigkeiten dar. Häufig finden sich negative Themen wie (aber nicht exklusiv) der Tod. Allgemein lässt sich Guro als
Exploration der Tiefen extremer Fetische und einem abartigen Hedonismus
beschreiben.
Okay, das klingt nun ein wenig wie jene Inhalte, an die die Betreiber_innen
von 4chan gedacht haben könnten, als sie die Extreme definiert haben, die
außerhalb von /b/ nicht vorkommen sollten.
Blickt man genauer auf die Bedeutung von „ero guro nansensu“, so stolpert man über einen englischsprachigen Wikipedia-Artikel zum Begriff „Ero
guro“. Darin liest man von einer literarischen und künstlerischen Bewegung
in Japan in den 1920er und 30er Jahren mit einem Schwerpunkt auf Erotik, sexuelle Verderbtheit und Dekadenz. Weitere Schlagworte, mit denen
herumgeworfen wird, sind Parallelen zur Atmosphäre der Weimarer Republik in Berlin, frühere Einflüsse japanischer Holzschnitzereien, die Gewalt
und Verstümmelungen des 19. Jahrhunderts darstellen, sowie der zeitgenössische „Sada Abe-Vorfall“, bei dem es um einvernehmlichen sexuellen
Mord und Kastration geht (in der westlichen Öffentlichkeit hauptsächlich
durch Nagasi Oshimas Film „In the Realm of the Senses“ bekannt). Weiters
kann man davon ausgehen, dass diese Bewegung die japanische Kultur
149
der Nachkriegszeit, Pornografie und Horrorfilme, Mangas und Anime und
sogar die Popmusik beeinflusst hat.
Es ist interessant, dass GUROchan’s F.A.Q.-Eintrag für den Eintrag „guro“
betonen muss, dass sich dies nicht ausschließlich auf Grausamkeit bzw.
„gore“ bezieht. Dieser Begriff für sehr bildliche Gewalt mit Schwerpunkt
auf spritzendes Blut und Eingeweide scheint sich als eine beliebte Übersetzung von Guro in der englischsprachigen Imageboard-Kultur durchgesetzt zu haben, was aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit nicht weiter
verwundert. Im Gegensatz dazu hat „grotesk“ eine viel breitere Bedeutung.
Auf GUROchan finden wir beide Auslegungen ins Pornografische übersetzt.
Wie auch bei 4chan finden sich bei GUROchan eine Menge an auf unterschiedliche Inhalte spezialisierte Imageboards, die über viele Regeln definiert sind. Im Gegensatz zu zum Beispiel 4chan finden sich hier auch zwei
Foren, die ausschließlich Text beinhalten und für einige Sektionen Archive.
GUROchan ist offensichtlich nicht daran interessiert, regelmäßig alle Materialien zu löschen.
Die Textforen heißen „/dis/“ („Diskussion“) und „/lit/“ („Literatur“). /dis/
ist ein Allzweck-Diskussionsforum für GUROchan-User_innen, während /lit/
speziell für erotische Geschichten reserviert ist.
Es gibt drei thematische Imageboards: „/s/ („Scat“ bzw. Kaviar), „/g/“
(„Gore/Death“) und „/f/“. Ich werde später genauer auf diese eingehen.
Darüber hinaus gibt es noch das „/reg/“-Board für „Requests“ bzw. Anfragen. Dieses funktioniert wie das entsprechende Board auf 4chan:
man kann nach einem bestimmten Bild oder einer bestimmten Bildklasse fragen und hoffen, dass sie jemand veröffentlicht. „/p2p/“ ist für den
Austausch von Links zum Zweck des Datei-Sharings vorgesehen. „/art/“
(„Artwork“ bzw. Kunst) und „/kaki/“ („Oekaki“) sind speziell für Kunst, die
von GUROchan-Benutzer_innen selbst gezeichnet wird, reserviert. Letzeres
bietet auch ein Java-Applet für Zeichnungen.
Die Imageboards von GUROchan sind ausschließlich für gezeichnete Inhalte vorgesehen. In den Regeln von GUROchan ist dazu genauer erklärt:
„NICHT-GEZEICHNETE BILDER (3D-Rendering und Fotografien, mit Photoshop oder anderweitig bearbeitet) SIND AUF KEINEM DIESER BOARDS ERLAUBT.“
150
GURO-SCAT
Das “Scat”-Board ist das spezifizierteste. Laut GUROchan ist hier „Scheiße,
Pisse, Erbrechen und ähnliche Kunst“ erlaubt, wobei am häufigstem Ersteres vorkommt.
Ich habe mir die letzten fünfzig Threads angesehen und gezählt, was im
ersten gezeichneten Bild dargestellt wurde:
—— 25 Bilder handelten ausschließlich von gewöhnlichen Menschen beim
Stuhlgang, alle bis auf einen davon waren weiblich. In einem Fall masturbierte die Frau gleichzeitig, in einem anderen Fall war eine Windel
im Spiel.
—— 6 Bilder handelten von der Erfahrung, als Toilette benutzt zu werden: in
einem Fall von einer weiblichen Riesin, die auf einem winzigen Mann
sitzt, in einem anderen Fall von zwei Frauen in einer 69er-Position.
—— 4 Bilder handelten von Frauen, die auf der Toilette sitzen, ohne das
Resultat zu zeigen.
—— 4 Bilder handelten von urinierenden Menschen, einer davon männlich.
—— 2 weitere Bilder stellten simultan Prozesse des Stuhlgangs und Urinierens dar, zuerst von einer Frau, dann von einem Futanari.
—— 2 Bilder zeigten Frauen, denen ihre eigenen Fäkalien über einen
Schlauch, der vom Anus zum Mund reicht, gefüttert werden.
—— 2 Bilder zeigten Frauen, die sich in Fäkalien baden.
Es fand sich jeweils ein weiterer Fall von männlichem Erbrechen, weiblichem Furzen, einer Frau, die einen Einlauf bekommt, einer simultan urinierenden und Urin trinkenden Frau sowie einer Frau, die ihre Fäkalien in
einem Stoffballen trägt.
Es ist auffallend, dass bis auf fünf Fälle nur menschliche Frauen dargestellt
wurden. Die meisten Bilder zeigen nur eine einzelne Person.
Abgesehen von einem Fetisch für Fäkalien und Urin ist das meiste dieser
Materialien nicht sehr überraschend und kaum grotesk. Klarerweise ist ein
Fetisch für Fäkalien und Urin im Mainstream schwerlich als normal anerkannt. Um eine Diskussion aus dem Diskussionsboard /dis/ mit dem Titel
„Wer fing an den Scat-Trend mit Guro zusammen zu legen?“ aufzugreifen:
Guro ist die Abkürzung der japanischen Version des Grotesken. Alles, was
jemand für abartig befindet, fällt vermutlich unter diesen Titel.“
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Im Vergleich zu den anderen Boards ist /s/ nicht sehr einfallsreich. Im
obigen Überblick kommen peripher ein paar bizarre Elemente vor, die wir
jedoch viel ausgefeilter in den anderen Boards vorfinden. Im Vergleich zu
den Variationen, die sich in den Boards /g/ („Gore/Death“) und /f/ („Freakshow“), welche wir uns gleich ansehen werden, vorfinden, wirkt das ScatBoard /s/ wie ein sehr spezifischer Fetisch, der diskret in die Isolation gepackt wurde.
GURO-GORE
Das /g/-Board “Gore/Death” erlaubt laut den Regeln von GUROchan „gory“
bzw. blutrünstige oder mörderische Bilder. Alle Bilder, die man hier findet,
haben zumindest zu einem der folgenden Themen Bezug: Körpergewalt,
Tötung, Leichen, Verstümmelung und Zerfall von Körpern. Der Kontext ist
oft ein sexualisierender. Im Gegensatz zum Scat-Board /s/ ist die Bandbreite der dargestellten Situationen mannigfaltig. Ein kleiner Blick auf die
Index-Seite zeigt einzelne und manchmal mehrere Threads zu den folgenden Themen:
—— Menschen, die von Tieren zerfleischt werden.
—— Verschiedene Methoden des Erstickens: Erhängen, Bagging, Ertrinken
etc.
—— Die Vergewaltigung von Babys, die durch die Penetration eines Penis
von innen zerrissen werden.
—— Die Einverleibung von Frauenkörpern durch Tiere und Monster, aus der
Innenansicht eines Magens betrachtet.
—— Körperliche Zersetzung durch Schmelzung.
—— Die Folter von Brüsten mit Nadeln und Nägeln und durch das Zufügen
von Schnittwunden.
—— Menschen, die mit Fäusten verprügelt werden.
—— Die Kastration von Männern mit scharfen Objekten.
—— „Halsficken“, d.h. die Penetration eines Halses, nachdem der Kopf abgeschnitten wurde.
—— Männer, die als Essen auf einem Teller angerichtet und serviert, gekocht oder geröstet, aufgeschnitten und gegessen werden.
—— Zombie-Mädchen, welche gelegentlich Menschenteile essen.
—— Berstende Wirbelsäulen.
—— Leere Augenhöhlen.
—— Aus dem Brustkorb gerissene Herzen.
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—— Geburtsvorgänge, die oft blutig oder tödlich enden.
—— Miniatur-Menschen, die zerquetscht, gegessen oder von Penissen aufgespießt werden.
—— Penisse, die in nicht-mündliche, künstliche Kopföffnungen gestoßen
werden und in das Gehirn eindringen.
—— Vollstreckungen mit Gewehren oder Pistolen.
—— Verschiedene Methoden der Enthauptung.
—— Frauen, die ihre Brüste zwischen Hamburgern gequetscht darbieten.
—— Sammlungen verschiedener Methoden der Folter und Verstümmelung
bestimmter Personen (wie beliebte fiktionale Manga- und Anime-Charaktere).
—— Innereien und Anatomie von hauptsächlich medizinischem Interesse.
Die gezeichneten Inhalte reichen von kleineren Verletzungen und Schmerzen bis zu totalen Morden und Zerstörung; von gesäuberten Handlungen,
die den Körper zumindest oberflächlich intakt belassen, zu in Kleinteile
zerborstenen Körpern und einem Becken voller Blut und Gedärme; von realistischen Szenarien, die jeden Tag passieren könnten bis zu Fantasy- und
Science-Fiction-Umgebungen mit komplizierten Maschinen, Monstern und
Magie.
Manchmal wird in diesen Szenarien eine sexualisierte Form von Gewalt
betont, mit schönen und (in Übereinstimmung mit dem Mainstream-Geschmack) attraktiven Opfern, oftmals nackt, die genitaler Interaktion ausgesetzt sind. Aber die Gewalt und die Zersetzung der Körper kann auch so
sehr in den Vordergrund rücken, dass das für einen bestimmten Gewaltfetisch zwar anregend ist, jedoch selten die sexuelle Erfahrung des Opfers
oder der/des Protagonist_in betont, offen sexuelle Aktivität beinhalten
oder die Bewunderung von primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen (in Blut und Gedärmen eingelegt) fördern würde. Das geht soweit,
dass die Identifikation des Geschlechts des Opfers teilweise unmöglich ist.
Explizit nicht-sexuelle Szenarien kommen ebenso häufig wie sexuelle vor,
wie beispielsweise ein Todeskampf zwischen Feind_innen oder politisch
motivierte Hinrichtungen.
Es sind hauptsächlich weiblich Figuren, die verstümmelt werden, genauso
häufig von Männern wie von Frauen. Sehr häufig ist die/der Peiniger_in
überhaupt nicht sichtbar. Die Rollen werden gelegentlich getauscht: Männer scheinen in diesem Fall häufiger als Objekte der Grausamkeit und des
Todesfetisches auf als in den vorherigen Beispielen von /s/ als Objekte des
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Kaviar-Fetisches. Generell scheinen Penis-Folter, Verstümmelung und Kastration zu den beliebteren Themen zu gehören, aber es trifft gewöhnliche
Männer genauso wie die hermaphroditische „Futanari“-Bevölkerung.
GURO-FREAK
Das /f/-Board (Freakshow”) weist den GUROchan Regeln nach den am wenigsten streng definierten Themenrahmen auf: „Ein allgemeines Board für
wirklich schräge Dinge die nicht zu blutig, oder vielleicht überhaupt nicht
blutig, sind“. Die F.A.Q. von GUROchan ist ein wenig ausführlicher:
/f/reakshow soll ein Board für das Extreme sein, für bizarres und anderweitig entsetzliches Material, das keinen Scat oder schlimme Wunden enthält.
Um das in Kontext zu setzen: Man stelle sich /f/ als eine extreme Version
von 4chans /d/ (Hentai/Alternative) vor. Während es zwischen den beiden manche thematische Überschneidungen gibt (zum Beispiel Monstermädchen), sind Wiederholungen nicht vorgesehen. Es gibt keinerlei Bedarf
an zwei Boards, die genau dieselben Dinge beinhalten. Das ist auch der
Grund, warum so etwas wie Bondage nicht hierher gehört.
Mit anderen Worten: /f/ steht für alles Bizarre, das zu extrem für 4chans
/d/ ist (erinnern wir uns daran, dass /d/ ursprünglich für eine größere
Bandbreite an alternativen Themen gedacht war, was aber schnell dadurch
eingeschränkt wird, das nichts „Extremes“ erlaubt ist) und nicht bereits
von den anderen beiden thematischen Boards auf GUROchan vertreten
wird. (Offensichtlich ist Bondage nicht ungewöhnlich genug, zumindest
nicht in der gewöhnlichen Variante). Die fantasievollsten Bestandteile von
GUROchans pornografischer Landschaft finden sich tatsächlich hier.
Lasst uns also in /f/ umherwandern und ein paar Impressionen sammeln.
Ein kleiner Überblick über die Themen der Threads:
—— „Ungeburt“: Dabei handelt es sich um Menschen, die mit ihrem ganzen
Körper in eine Frau, durch ihre Vagina hindurch, hineinkriechen.
—— Bilder von magersüchtigen Personen und halben Skeletten.
—— Unvollständige Körper (denen beispielsweise ein Kopf oder ein Oberkörper fehlt), die lebendig sind und ihren Zustand nicht als unüblich oder
schmerzhaft zu empfinden scheinen.
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—— „Parasiten-Schwänze“: Dabei handelt es sich um Kreaturen, die in die
Vagina von Frauen eindringen (mit einem hervorstehenden Körperteil,
das wie ein Penis aussieht).
—— Flexible längliche Objekte (Tentakel, Ketten), die diverse Körper, ohne
sie dabei zu töten, vom Anus oder der Vagina aus bis zum Mund hinauf
durchbohren.
—— Zoophilie.
—— Das Aufblasen von Körpern, beispielsweise durch Luft oder Flüssigkeit.
—— Amputierte Menschen (nicht beim blutigen Akt der Amputation, sondern im täglichen Leben mit fehlenden Gliedmaßen dargestellt).
—— Siamesische Zwillinge.
—— Röntgenaufnahmen von penetrierten Menschen, welche die Reaktion
der inneren Organe zeigen.
—— Männliche Schwangerschaft.
—— Lebendige, die plötzlich leblos werden.
—— Mädchen, die in Röhren gehalten werden.
—— Menschen mit mehreren Armen oder Beinen als üblich.
—— Frauen mit mehreren Brüsten als üblich.
—— Meerjungfrauen und ihre männlichen Kollegen.
—— Riesen und Miniaturpersonen.
—— Nicht-Menschen: Hybride von Mensch und Tier, Roboter, Monster – und
solche, die miteinander Sex haben.
—— Natürlich Futanari und ihre Gegenstücke: ansonsten männlich aussehende Menschen mit einer Vagina.
—— Albinos.
—— Menschen, die zu Objekten gemacht werden: nicht nur vortäuschend,
sondern im Sinne einer tatsächlichen Verwandlung.
—— Mädchen, denen nicht nur ein Penis wächst, sondern die sich ganzkörperlich in einen verwandeln.
——
Wie zu erwarten ist, ist /f/ viel weniger blutig und viel weniger mit Inhalten
der Sterblichkeit gefüllt als das „Gore/Death“-Board /g/. Weniger häufig
finden sich auch Szenarien, die nicht als einvernehmlich erkennbar sind.
Trotzdem finden sich hier in Bezug auf realistische Szenarien ebenso viele
und extreme Körpertransformationen wie auf /g/, und viel mehr in Bezug
auf Science-Fiction oder magische Szenarien.
Der realistische Teil des Materials handelt von medizinischen Situationen
(wie genetischen Anomalitäten) oder Körpermodifikationen (wie Amputationen), durch welche andere Körper kreiert werden als jene, die gemeinhin
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als gesund oder normal angesehen werden. Der unrealistische Teil hingegen überführt die zuvor genannten Gründe in physisch oder biologisch
fragwürdige Extreme (sicherlich ist es möglich, immer größere und größere
Objekte in eine Vagina zu stoßen, aber im Fall einer Person, die in eine
andere Person vollständig eingeführt wird, ist die dabei auf fragwürdige
Weise überlebende Person nicht die, die eindringt, sondern die, in die eingedrungen wird. Eine Person, in die eine andere erwachsene Person ganzkörperlich eingeführt wird, würde wohl schwerlich auf die Art und Weise
überleben, wie es auf /f/ dargestellt wird.) Oder aber es wird hier eine neue
Variante erfunden, die weniger bei der Natur Anleihen nimmt, sondern ihre
Inspiration aus Kunst und Literatur, symbolischer Imagination, magischem
Realismus und der Anthropomorphisierung von Fetischen, die ursprünglich
nichts mit kompletten Menschen zu tun haben, nimmt.
Das bedeutet aber nicht, dass wir nichts Genaueres über die Demografie dieser Seite herausfinden können. Wir müssen dazu nur den Selbstbeschreibungen trauen, die in den unzähligen Umfrage-Threads auf dem
Diskussions-Board /dis/ angegeben werden. Ich werde hier eine der umfangreichsten mit dem Titel „Guro Survey!“ vom November 2009 zusammenfassen, die es mir einfach macht, indem sie durchgängig nach Attributen wie Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Fetischen fragt.
Hier wurden 71 Antworten gegeben. Die Bedingungen einer derartigen
Imageboard-Umfrage und die kleine Stichprobe sind zugegebenermaßen
wissenschaftlich nur bedingt aussagekräftig, ermöglichen aber eine erste
Annäherung sowie einen ersten Überblick über die darin charakterisierten
Personen. Genauere Zahlen bzw. eine detailliertere Auflistung finden sich
im englischsprachigen Originaltext.
Weibliche Menschen der Form, wie man sie von gewöhnlicher heterosexueller Pornografie gewohnt ist, sind auf /f/ eine Minderheit. Eher macht es
Sinn, von einem Übergewicht weiblicher Charakteristika gegenüber männlichen Charakteristika zu reden, in einer Anhäufung von Geschöpfen meist
fragwürdiger Zugehörigkeit in Spezies und Geschlecht. Die Grenzen verschwimmen hier.
Die erste Frage der Umfrage bezieht sich auf das Alter. Vier der 71 Teilnehmer_innen weigerten sich ein Alter anzugeben. Für den Rest ergibt sich
ein Durchschnittsalter von 20 Jahren. Die klare Mehrheit (40 Personen
von 67) ist 20 Jahre oder jünger, etwa ein Drittel der User_innen fällt in
die Altersgruppe der 21 bis 27-jährigen (23 von 67). Die Altersgruppe 30+
umfasst nur vier Mitglieder. GUROchan scheint also hauptsächlich junge
Menschen anzuziehen, sie sich am Ende ihrer Teenager-Jahre oder in ihren
frühen Zwanzigern befinden.
ZUR DEMOGRAFIE AUF GUROCHAN
Es ist leicht, sich in der depersonalisierten Ansicht eines Imageboards zu
verlieren, in dem die meisten Beiträge von anonymen Verfasser_innen sind.
Seiten wie 4chan haben hieraus die Idee einer kollektiven Über-Persönlichkeit entwickelt, die sich aus der sich konstant verändernden und flüchtigen
Menge ihrer User_innen zusammensetzt und durch das Tragen einer gemeinsamen Maske und das Sprechen in einer gemeinsamen, durch Computer erzeugten und doch individuellen Sprache, neu personalisiert.
Doch auf GUROchan ist es eigentlich nicht so unüblich, anstelle des gebräuchlichen „anonym“ individualisierte Pseudonyme als Autor_innen
aufzufinden. Beispielsweise finden sich in den Boards für selbstgemachte
Kunst, /kaki/ und /art/, individuelle Künstler_innen, die die Beiträge zu
ihrer Arbeit mit ihrem Nicknamen bzw. Pseudonym unterschreiben. Dennoch scheint „anonym“ in Bezug auf die schiere Menge der Beiträge auf
GUROchan in der Überzahl zu sein.
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Wie sieht es um die geschlechtliche Verteilung und die Verteilung von sexuellen Orientierungen aus? Fast alle Teilnehmer_innen machten eine klare
Angabe in Bezug auf ihr biologisches Geschlecht, wobei sich 38 männliche
und 33 weibliche Teilnehmer_innen ergaben. Hinsichtlich der sexuellen
Orientierung behaupteten 30 der Männer sexuell nur an Frauen interessiert zu sein, zwei bezeichneten sich als homosexuell und die verbleibenden sechs antworteten mit entweder „pansexuell“ oder „bisexuell“. Diese
Verteilung sieht bei den weiblichen Teilnehmer_innen etwas anders aus:
Hier gaben nur neun an, nur an Männern allein interessiert zu sein. Sechs
gaben an, exklusiv an Frauen interessiert zu sein, und 16 bezeichneten
sich entweder als „bisexuell“ oder „pansexuell“. Zusätzlich bezeichnete
sich eine als „queer“ und eine als „asexuell.“
Dieser Umfrage nach sieht es so aus, als fände sich für das Publikum von
GUROchan eine relativ ausgewogene Geschlechterverteilung. Der männliche Teil scheint jedoch viel stärker exklusiv heterosexuell orientiert zu
sein als der weibliche Teil. Das stimmt gut mit der Verteilung hinsichtlich
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der Darstellung pornografischer Objekte (viele Frauen vs. wenige Männer)
überein.
Viel schwieriger ist es, die in der Umfrage angegebenen Vorlieben für verschiedene Fetische zu quantifizieren, da die Kategorien sehr individuell sind
und die meisten Antworten aus langen Listen sehr spezifischer Bilder und
Fantasien bestehen, die sich schwer auf die Gesamtmenge an Antworten
umschlagen lassen. Es scheinen sich jedoch ein paar interessante Trends
abzuzeichnen: Wie erwartet, sind Fetische und Situationen, die sich dem
/g/-Board („Gore/Death“) und der /f/reakshow zuordnen lassen würden,
sehr beliebt. Scat- bzw. Kaviar-Material wird relativ selten als antörnend
(„turn on“) angegeben; meist scheint dieses Thema als ein „turn off“ auf.
Wenn man sich einzelne Fetische ansieht, so finden sich auch eine Reihe
von interessanten Aspekten, beispielsweise die Tatsache, dass ein Fünftel
der Umfrage-Teilnehmer_innen angibt, explizit durch pädophile „lolicon“Kunst erregt zu werden, was mengenmäßig viel mehr als die Gruppe, die
angibt, „Futanari“-Bilder zu mögen, ausmacht. Für eine bedeutsamere Evaluation der sexuellen Landschaft auf GUROchan müssen wir jedoch über
eine reine Aufzählung einzelner Fetische hinausgehen.
FETISCH-KRIEGE ODER TOLERANZ?
Die genannte Umfrage unterscheidet zwischen „turn on” und „turn off”Material, und es ist nicht unüblich, dass ein bestimmter Fetisch für eine
Person anregend, zur selben Zeit aber für eine andere das Gegenteil ist.
Wie wir auf 4chan gesehen haben, sehen es die spezialisierten FetischBoards nicht so gerne, wenn anderes Material aus einem anderen Fetischuniversum sich dazu mischt, wobei der Grad dessen, was diesbezüglich
erlaubt ist, von Board zu Board unterschiedlich ist. Wie stellt sich diese
Dynamik auf GUROchan dar, einem Ort, der sich scheinbar auf die Fetische
spezialisiert hat, die in den meisten anderen Boards nicht erlaubt sind?
Wie die zugehörigen Regeln zeigen, ist GUROchan kein Ort, an dem absolut
alles erlaubt ist. Alles muss innerhalb bestimmter ästhetischer, sensibler
Rahmenbedingungen ablaufen. Als Beispiel wurde bereits das Verbot von
nicht-gezeichneten Bildern angeführt.
Es gibt also eine mehr oder weniger strenge inhaltliche Abgrenzung zwischen einzelnen Boards. Blutige Dinge gehören in das „Gore/Death“-Board,
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nicht-blutige, seltsame Dinge in die „Freakshow“ /f/. In der Praxis überschneiden sich diese zwei oft im Hinblick auf die Situationen, die Körperdeformationen und die dargestellten Fetische. Deren gemeinsamer Bezug
zu /s/ ist interessant: Das Scat-Board hat wenige Themen mit /f/ und /g/
gemein, und wie wir in der Umfrage gesehen haben, scheint Scat bzw. Kaviar für einen großen Teil der Personen auf GUROchan ein „turn off“ zu sein.
Daher sind sie damit einverstanden, diesen Bereich in ein eigenes Board
abzusondern. Die allgemeine Meinung, die sich in diversen Diskussionen
auf /dis/ bestätigt, scheint die folgende zu sein: „Wir akzeptieren eure Präsenz, da es schwerlich einen anderen Platz gibt, an dem ihr euch aufhalten
könntet, aber bitte bleibt in eurem eigenen Board!“
Im Vergleich zu dieser Unterscheidung sind die Grenzen zwischen dem turnon und turn-off-Material, wie es sich in der Umfrage zeigt, zu ungleichmäßig, um sich in der Unterscheidung zwischen /f/ und /g/ widerzuspiegeln.
Auf jedem Board, aber insbesondere auf /f/, muss ein/e Besucher_in extreme Beispiele einer breiten Auswahl von erotischen Universen aushalten,
die möglicherweise sehr weit entfernt von dem liegen, weswegen diese/r
Besucher_in eigentlich ursprünglich einen Blick auf das Board geworfen
hat. Die Randständigkeit der Fetische auf GUROchan nötigt gewissermaßen zur Toleranz. Wenn du auf /g/ gerne Frauen sehen möchtest, die blutig geschlagen werden, wirst du gelegentlich auch Material von Männern,
deren Hoden zerquetscht werden, aushalten müssen. Wenn du in /f/ nach
einer Sammlung von extremer Futanari-Pornografie suchst, stelle dich besser auch darauf ein, dass dir etwas aus der Kategorie Zoophilie ins Gesicht
springt.
Ich denke, dass das etwas Gutes sein könnte: So wird gewissermaßen das
Gegenteil der sonst üblichen Normativität im Porno dargestellt, welche nur
einen engen Spielraum für körperliche und sexuelle Ideale zulässt. Dies
erweitert den individuellen Horizont der erotischen Möglichkeiten und der
Diversität menschlicher Anreize. Wenn man mit so viel unterschiedlichem
Material konfrontiert ist, fühlt man sich eventuell auch von Subjekten außerhalb des eigenen sexuellen Selbstbildes angezogen und zu dessen
Neudefinition genötigt.
Von dieser Dynamik ausgehend mutet der allgemeine Ekel auf GUROchan gegenüber „Scat“ bzw. Kaviar mysteriös an. Ein extremeres Beispiel
stammt jedoch aus der folgenden allgemeinen GUROchan-Regel:
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„Furry“-Bilder und übermäßig vereinfachte „Toons“ sind hier nicht willkommen.“
EIN AUF „FURRIES“ GERICHTETER RASSISMUS?
Ich habe die „pelzige“ Furry-Welt in meinen Beobachtungen zu 4chan
bereits erwähnt. 4chan bannt Furry-Material ebenso wie „guro“ oder
„lolicon“-Inhalte (welche natürlich auch auf GUROchan gefunden werden
können, solange sie irgendwie als „guro“ klassifiziert sind). Wenn man bedenkt, dass GUROchan Furry-Material ebenso verbietet, so muss das wohl
der abartigste Fetisch überhaupt sein! Diese Form von spezifischem Ekel in
Bezug auf anthropomorphisierte Furry-Tiere in einer Gruppe, die so viel an
bizarrem Material inklusive nicht-pelzigen, anthropomorphisierten Tieren,
duldet, ist jedoch schwer nachzuvollziehen. Einige Male tauchte pelziges
Material als „turn off“ in der bereits erwähnten GUROchan-Umfrage auf,
ebenso wie Scat, aber nicht häufiger als jeder andere Fetisch, der generell
auf GUROchan toleriert wird, und genauso oft als „turn on“.
Wenn man sich ein wenig genauer auf die Diskussion des Verbots von Furry-Materialien auf GUROchans /dis/ einlässt, so findet sich eine ironische
Betrachtung desselben, wenn man die generelle Offenheit von GUROchan
in Bezug auf Fetische mitbedenkt. Die Diskussion läuft dann für gewöhnlich auf ein Argument zu, das als Grund für ein Verbot ein bisschen plausibler scheint. Hierzu ein Beispiel:
„Furry” bzw. Pelz als Unterkategorie von „anthro“ ist im Grunde genommen
/f/. Es gibt nur eine riesige Fancommunity dahinter und jede guro-Community versucht, möglichst weit davon entfernt zu bleiben, um Drama und
„toony furspam“ zu vermeiden.“
Es geht also nicht so sehr um die erotische Natur der Furry-Pornografie, die
die Gemeinschaft auf GUROchan vermeiden möchte, sondern die sozialen
Implikationen, die eine Integration bedingen würde. Offensichtlich erinnert
man sich an den Kontakt mit der Furry-Community als einen Grund für
störende Streitereien („drama“). Um gegenüber der Furry-Community fair
zu sein: Ebenso gibt es jene, die behaupten, dass dies mehr dem Eifer
der Furry-Hasser als der Furry-Fangemeinde zuzuschreiben sei: „Eigentlich
starten manche Furry-Hasser auch ein Drama, indem sie sich sofort beschweren, wenn sie das Wort „furry“ nur lesen. Ich denke, das ist auch
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ein Grund, der dafür spricht, diese Dinge draußen zu lassen.“ Intoleranz
gegenüber der Furry-Fangemeinde mag also selbstverstärkend wirken.
Ein weiterer Grund scheint zu sein, dass ein Öffnen der Türen für pelziges
Material zu „furspam“ führen würde, der über die Boards hereinbrechen
würde. „Furry-Subkategorien würden ihre eigenen Threads starten und andere, mehr seitenrelevante Inhalte ins Abseits drängen.“ Wenn man die
Größe der Furry-Community im Vergleich zu den meist obskuren Fetischen
auf GUROchan bedenkt, könnte dies eine berechtigte Sorge darstellen. Mit
Fetischen abseits der eigenen Vorlieben konfrontiert zu werden ist also
okay, solange keiner dieser Fetische das überdeckt, wonach ich hier suche.
Also wird das Material, bei dem ein zu übermächtiger Community-Druck
dahintersteht, in einen eigenen Bereich abgespalten (Furries haben ihre
eigene Imageboard-Seite!), bevor es die Minderheiten in einem für Minderheiten sicherem Hafen wie dem „Freakshow“-Board /f/ übermannt.
Dieselbe Begründung mag auch hinter dem Abspalten des Scat-Fetisches
stecken, der in seiner eigenen Welt und in seinem eigenen Board immens
beliebt ist. Unglücklicherweise trennt diese Art der Abspaltung auch das
Publikum der abgespaltenen Fetische von der Diversität, die sich auf Orten
wie /f/ finden. Minderheiten sind so nur für andere Minderheiten sichtbar.
Das Interessanteste am Bann des Furry-Materials sind jedoch die Schwierigkeiten, die sich mit der Trennung von nicht-pelzigem und pelzigem Material ergeben. Irgendwo muss eine Trennlinie gezogen werden, und wenn
man die komplizierte Masse an Biologien in /f/ in Betracht zieht, braucht
es eine präzise Definition der Furries im Gegensatz zu anderen MenschTier-Hybriden, Werwölfen, Mädchen mit Katzenohren etc. Das ist keine einfache Aufgabe, wie Threads in /dis/ namens „Was ist deine Definition von
Furry“ oder „Ja zu Zoophilie, nein zu Furry“ belegen. Aber die Begeisterung
von GUROchan für derartige Diskussionen bringt uns auf ein anderes Thema: Die Ergiebigkeit der Seite in Bezug auf Fragen zu Körperanalyse und
-konstruktion.
DIE DEKONSTRUKTION UND
REKONSTRUKTION DER KÖRPER
Ich habe viel über die thematischen Boards /s/, /g/ und /f/ dargelegt, in
einem Ausmaß, das gegenüber den anderen Boards, die sich exklusiv mit
selbstgemachter Kunst, Anfragen und erotischem Geschichtenschreiben
befassen, etwas unfair erscheint. Diese drei Boards stellen jedoch eine
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Orientierung für die wichtigen thematischen Linien dar, die auch die
anderen Boards durchziehen: Scat bzw. Kaviar, Blut, Tod und bizarre
„Freakshow“-Themen. Ich habe gezeigt, dass das Scat-Board als eine Art
Insel gesehen werden kann, die von der generellen Diversität von /g/ und
/f/ getrennt ist, und ich werde es im Weiteren hauptsächlich ignorieren.
Stattdessen möchte ich mich ein wenig mehr durch das allgemeine Universum von /g/ und /f/ bewegen, welches gelegentlich auch auf andere
Boards überschwappt.
Lasst uns im Gore-Board beginnen: /g/ ist der Zerstörung gewidmet. Lebensprozesse enden, körperliche Kohärenz bricht auseinander. Hier findet
sich nicht nur rein destruktiver, auf Körper gerichteter Wahnsinn, sondern
auch eine anatomische Neugier. Kein Körperteil, egal wie wenig sexuell,
unspektakulär oder klein er ist, wird in diesem Prozess, in dem Körper auf
kontinuierliche und auf alle vorstellbare Arten dekonstruiert werden, ausgespart; Haut von Fleisch und Fleisch von Knochen und Knochen voneinander getrennt. Die vielen Arten, Schmerz zuzufügen, das Nervensystem
zu attackieren oder das Leben zu beenden, welche hier erforscht werden,
bezeugen auch ein analytisches Interesse an der Arbeitsweise des Körpers
und seinen Erfahrungen. Wie viele Organe kann ich (und in welcher Reihenfolge) während einer Vivisektion einem menschlichen Körper entnehmen,
bevor dieser stirbt, und die gesamte Prozedur für die/den Chirurg_in und
ihr/sein Opfer viel weniger amüsant wird? Ist es möglich, einen Menschen
vorsichtig und ohne ihn zu töten aufzuspießen, und wie lange wird dieser
das Erlebnis am Spieß geröstet zu werden überleben, bevor er/sie das Bewusstsein verliert? Das sind die Fragen, die in der „Gore/Death“-Kategorie
der GUROchan-Pornografie oft ziemlich ernsthaft und wissenschaftlich erläutert werden, und eine gewisse Ernsthaftigkeit bringt auch eine Glaubwürdigkeit mit sich, die das erotische Erlebnis stärkt. Es hilft, dass GUROchan Expert_innen der Medizin und Anatomie anzuziehen scheint, wie
ein Umfrage-Thread auf /dis/ betreffend der aktuellen oder gewünschten
Berufe der GUROchanner_innen zeigt.
Im Gegensatz dazu ist /f/ für die Erschaffung von Körpern vorgesehen.
Sogar in jenen Fällen, in denen das Subjekt ein Körper ist, der durch Amputation oder das magische Verschwinden von Körperteilen reduziert ist,
liegt das Interesse nicht auf dem Prozess der Reduktion sondern auf dem
Erkunden eines neuen und unüblichen Körperbildes: Wie ist das, ohne
Gliedmaßen zu leben, und welche erotischen Erfahrungen können für das
betreffende Lebewesen geschaffen werden? Amputierte regen hier oft
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rekonstruktive Versuche an, werden mit Cyborg-Extremitäten ausgestattet
und erweitern ihre Körperfähigkeiten sogar über den ursprünglichen Status vor der Amputation hinaus, womit sie beweisen, dass die zwischenzeitliche Reduktion nur ein Schritt einer größeren transhumanistischen Transformation sein kann. In anderen Fällen werden durch das Aufblasen von
Körpern, dem magisches Wachsen oder dem Aufsaugen von Genitalien in
andere Körper wiederum neue Körper erzeugt. Der Fetisch verschluckt und
lebendig verdaut zu werden („vore“) gehört – ungeachtet des zu erwartenden tödlichen Ausganges – auch zu /f/: Dies wird nicht zerstörerisch, ohne
Blut und schmerzfrei dargestellt; stattdessen zeigt sich eine einzigartige
und erotische Körpererfahrung für die Person, die verschluckt wird, und
die aufgrund der intimen Nähe und durch die Verbindung mit der Erotik
des Raubtiers, das oft ein Reptil oder eine Fantasiekreatur ist, sehr unterhaltsam bzw. genüsslich ist. GUROchans /f/ feiert den Körper abseits
der Norm, die nicht- und trans-humanistische Erotik, einen Tod der Körpernormative.
Das ist jenes Fließband, das /g/ und /f/ verbindet: Dinge analytisch auseinanderzunehmen und kreativ wieder zusammen zu setzen. Man kann es
als eine Art Hacker-Methode der sexuellen Erfahrung und des lebenden
Körpers bezeichnen. Ich denke, dass hierin ein Potential steckt, körperliche Normative wie Heterosexualität, Gesundheit oder Gattung auseinanderzunehmen. Ich möchte das im Folgenden weiter ausführen.
WERFT PENISSE AUF DIE HETERONORMATIVITÄT!
Eine häufige, männliche Erfahrung als Reaktion zu “Futanari“-Material ist,
dass man sich dabei wiederfindet, darüber zu masturbieren und sich dann
über die eigene Heterosexualität Gedanken macht: Ich dachte, ich sei sexuell nur an der weiblichen Form interessiert. Warum hole ich mir also zu
einem Lebewesen mit einem betonten Penis einen runter?
Penisse gibt es in der Mainstream-Pornografie im Überfluss, auch im Material, das sich an heterosexuelle Männer richtet. Es wird irgendwie nicht als
schwul angesehen, wenn man Szenen mit Penissen erotisch findet, solange der Penis ein weibliches Wesen in einer akzeptierten heterosexuellen
Konstellation anpeilt – wie die Penetration einer Vagina. Diese Konstellation gerät an einem Ort wie GUROchans /f/-Board leicht durcheinander, wo
sich Körperteile und insbesondere Genitalien, herausgelöst dank der auf
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/g/ blutig vorbereiteten Befreiung, diskriminierungsfrei überall anfügen,
auch (aber nicht nur) an Menschen des anderen Geschlechts.
Plötzlich bricht die gesamte heteronormative Logik zusammen. Diese bezieht sich auf einen zu 100% anatomisch männlichen Menschen, der einen
zu 100% anatomisch weiblichen Menschen mit einem Penis penetriert.
Aber man stelle sich einen Sexualakt mit einem Penis vor, der aus dem
Nippel einer Brust eines eidechsenartigen Wesens hervorragt, um einen
menschlichen Hermaphroditen anal zu vergewaltigen, während der simultan seinen eigenen Penis masturbiert. Inwieweit kann man hier von Heteronormativität sprechen? Welches ist hier die männlichere Seite? Oder kann
dieses Szenario als homosexuell bezeichnet werden? Je mehr derartige Fetische, die von den konventionellen Konzepten der Sexualität abweichen,
betont werden, desto weniger spielen die Polaritäten, die für diese Konzepte vorausgesetzt werden, für die erzeugte Erotik eine Rolle. Wenn auf
GUROchan ein bestimmter Typ von blutiger Körperverstümmelung nachgefragt wird, so ist es nicht unüblich, dass die Kategorie Geschlecht für die
Bewunderung des Resultats total irrelevant ist. Während spezielle Fetische
wie Furry oder Scat auf GUROchan auf eigene Boards abgeschoben werden, stößt die Idee, Inhalte nach Geschlechterkategorien zu sortieren, auf
starke Ablehnung. Eine Vorliebe für ein bestimmtes Geschlecht wird als
auf demselben Level wie die anderen unzähligen Fetische angesehen, und
„[p]opuläre Fetische brauchen nicht alle ihr eigenes Board“, wie ein Poster
gegen die Idee von gender-getrennten Boards argumentiert. [15]
Auf GUROchan wird das biologische Geschlecht als eine bestimmte Standard-Anordnung von Organen und Merkmalen angesehen, die idealerweise
voneinander getrennt werden und mit anderen Organen und Merkmalen
neu kombiniert werden können, um jede beliebige gewünschte, einzigartige Anordnung zu erzeugen - oftmals außerhalb des Spektrums der Heteronormativität. Wenn du also aus irgendeinem Grund von Penissen und
großen Brüsten fasziniert bist, und von Scat, dann kombiniere diese und
erzeuge damit das Genre der „scheißenden Penisnippel“/„shitting dicknipples“!
Eine Menge der Beiträge auf /dis/ drücken genderübergreifende Wünsche
nach bestimmten biologischen Erfahrungen, die nur für das andere Geschlecht erfahrbar sind, aus: Männer fragen, wie es so ist, eine Geburt
zu haben und träumen von einer Abtreibung, wundern sich, wie großartig
es wohl wäre, mit einer Vagina zu masturbieren und wie es sich anfühlen
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würde, eine Periode zu haben. Zur selben Zeit wird ein gebärender Mann
grafisch auf /f/ abgebildet. Ein viel beliebteres Genre zeigt forcierte Geschlechtsanpassungen in beide Richtungen; und es überrascht nicht, dass
die unzähligen Formen von Zweigeschlechtlichkeit und Transsexualität sowie die medizinischen Methoden, diese zu erreichen, auch ein beliebtes
Thema auf /dis/ sind2.
GESUNDHEIT AMPUTIEREN
Während GUROchans „Gore/Death“-Board /g/ drauf abzuzielen scheint,
die exakte Definition von ungesund darzustellen, kann das „Freakshow“Board für sich beanspruchen, die Polarität von gesund vs. ungesund total
zu ignorieren. Die Potenz eines wohlgenährten, lebhaften Monsters wird
hier ebenso gefeiert wie die Magersucht.
Gesundheit bedeutet die Definition von Normen und die Bezeichnung des
Abnormen als ungesund. Ein normales menschliches Wesen hat zwei Arme
und zwei Beine. Jemand mit weniger Gliedmaßen würde folglich leicht als
nicht komplett, unausgeglichen oder problematisch angesehen. Im Gegenzug dazu steht ein Beitrag, in dem vierfache Amputation als Lifestyle gefeiert wird, und der ein zu erreichendes Ideal und Perfektion statt Unvollkommenheit beschreibt. Amputation – und vierfache Amputation im speziellen
– ist einer der beliebtesten Fetische auf GUROchan (mit Ausnahme von
/s/). GUROchan ist eine der berüchtigten Ecken im Internet, in der Leute einander ihre Vorlieben für Ideale, die vom Großteil der medizinischen
Welt als ungesund angesehen würden, bestätigen - ganz gleich ob es um
Magersucht oder eine Körperintegritätsstörung (die Sehnsucht nach der
Amputation eines der Gliedmaße) geht.
Viele Diskussionsbeiträge tragen Titel wie „Selbstamputation“, „Amputation“, „Wie man ein Glied wirklich amputiert, sowie jemanden chemisch
erblinden lassen kann…“, „Amputation des linken Fußes“ oder „Geköpft“.
Sie handeln nicht hauptsächlich vom Fantasieren darüber, wie großartig es sich anfühlen würde, eines anderen Menschen Glied zu amputieren oder selbst amputiert zu werden (das passiert in anderen Beiträgen
und Boards). Diese Beiträge stellen die eigentliche Frage, wie man sich
2 Vergleiche z.B. einen Thread mit dem Titel „Dickgirls, Tgirls, Trannies, Shemales, Crossdressers and Traps“.
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praktisch eines oder zweier Körperteile entledigen kann, und verweisen oft
unverblümt auf den Wunsch der Beitragsersteller_innen, dass dies in einer
wirklichen Situation passiere.
Es werden Antworten auf diese Fragen gegeben. Selten sind diese ermutigend und oft rügen sie die Originalposter als Idiot_innen, sollten sie das
wirklich umsetzen. Aber sobald einmal lauthals abgestritten wurde, dass
hier jemand zur Selbstamputation überredet werden soll, geht es meist
mit Hinweisen, die ehrlich, vernünftig und medizinisch detailliert klingen,
weiter (oft beinhalten diese nicht eine vollkommene, amateurhafte Amputation, sondern das Hervorrufen einer Situation, bei dem die Fachleute in
einem Krankenhaus keine andere Wahl als die Amputation haben); oder
die/der Originalposter_in wird auf GUROchan-externe Seiten für die Form
der Körpermodifikation, die in den Fragen präzisiert wurde, verwiesen.
Sicherlich mag es eine ziemlich ungesunde Absicht sein, sich ohne medizinische Notwendigkeit Arme oder Beine abnehmen zu lassen. Aber warum
sollten wir von Leuten, die von Körperdekonstruktion, Schmerz und Tod
besessen sind, erwarten, sich um ihre normative Gesundheit zu sorgen?
Verletzungen, Missbildungen und Krankheiten werden hier als nur ein weiteres Modul angesehen, mit dessen Hilfe neue Erfahrungen von Sex und
Körper gebildet werden. Von Menschen, die fragen „[Über] welche tollen
medizinischen Leiden würdest du eher a) von jemandem wissen wollen
oder b) selbst besitzen?“ können wir nur bedingt erwarten, dass sie sich
um eine normative Vorstellung von Gesundheit und Körpererfahrung sorgen.
SICH AUFLÖSENDE GATTUNGEN
Wie bereits erwähnt finden sich im „Freakshow“-Board /f/ insbesondere
halb- oder nicht-menschliche Wesen, die sich sexuell vergnügen: Tiere,
Monster, Elfen, Riesen. Wenn wir uns an das Board /d/ auf 4chan erinnern, scheint das an sich nicht so ungewöhnlich zu sein: Offensichtlich wird
durch den Prozess der Anthropomorphisierung jedes Objekt oder jede Kreatur auch in Szenarien akzeptabel, die im Mainstream des realen Lebens
ansonsten Menschen vorbehalten sind.
Die menschliche Form stellt aber kaum den Standard oder das Ideal
dar, auf das sich alles auf /f/ zubewegen würde. Im Gegenteil: /f/ ist der
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Auflösung jeden Ideals oder Standards des Menschlichen gewidmet. Der
Reiz der Einführung nicht-menschlicher Elemente liegt hier nicht unbedingt
darin, sie in etwas menschlicher Anmutendes zu integrieren, sondern darin, die Idee der menschlichen Besonderheit aufzubrechen, indem man den
menschlichen Körper mit Körpern zusammenbringt, mit denen man nicht
umgehen kann, ohne daran zu zerbrechen oder vergiftet zu werden. Hybride von Mensch und Tier werden unheimlich, wenn sie realistisch und nicht
cartoon-artig aussehen (cartoon-artig, wie es Furries in ihrer anthropomorphisierten Niedlichkeit sind), und wenn sie die Grenze zwischen den zwei
folgenden Extremen aufbrechen: Gottes Abbild, des Universums einziger
wirklicher Intelligenz und einzigem unabhängigen Protagonisten, und dem
schmutzigen Bereich des Hässlichen und der dummen Organismen, die
nicht durch den Heiligen Geist und dessen Bewusstsein, sondern von einer
die großen menschlichen Werte total ignorierenden Natur angetrieben werden, einer Genealogie, die Würmer und Küchenschaben zu unserer Mutter
und tote Materie zu unserer Großmutter ernennt.
Anstatt die Zuseher_innen eine lineare humanistische Teleologie entlang
zu führen, konfrontieren GUROchan und insbesondere /f/ uns mit vielen
alternativen Richtungen, in die die menschliche Spezies sich entwickeln
könnte, und entziehen dem gewöhnlichen Homo Sapiens Sapiens sein Privileg des vorherrschenden Ideals. Diese Regel morphologischer Diversität
und Offenheit wird durch eine Fantasiewelt voller transformativer Gewalt,
Medizin und Magie erreicht. Dies steht in krassem Gegensatz zu jeglicher
morphologischen Standardisierung und Idealisierung, wie sie beispielsweise in der Furry-Kunst erreicht wird. Das mag vielleicht ein wenig weiterhelfen, wenn man über den Widerwillen von GUROchan gegenüber Furries
nachdenkt: Deren Stil, der Gefahr läuft, einen neuen Standard und eine
Teleologie ähnlich dem menschlichen Ideal zu etablieren, mag mit dem total offenen Spielplatz für vielfältig morphologisches Experimentieren unter
Umständen unvereinbar sein.
Dieser Konflikt ist stark mit einem Kampf gegen die Normativität von Gesundheit verknüpft. In den letzten Jahrzehnten war der medizinische Diskurs überwiegend von der Frage bestimmt, was einer Medizin mit steigenden biotechnologischen Fähigkeiten erlaubt sein soll: Soll sie sich darauf
beschränken, von der Norm Abweichendes zurück in einen als gesund
angesehen, normalen Zustand zu reparieren, beispielsweise durch die
Behandlung von Wunden oder erworbenen Krankheiten? Oder soll sie
die Möglichkeiten der Verbesserung von Organen oder Körperfunktionen,
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die über das für den Menschen als normal geltende und durch die natürliche Evolution vorgegebene hinausgehen, erforschen: beispielsweise Prothesen zur Verfügung stellen, die stärker als normale Körperteile sind, die
Ausdauer beim Sport oder bei der Arbeit erhöhen, Genome zur Wahl der
Hautfarbe oder der Verlängerung der Lebenszeit verändern? Konservative
stimmen tendenziell für die Beschränkung der Medizin auf die Sicherung
einer universalen Normativität von Gesundheit und des menschlichen Körpers, Progressive fordern eine Offenheit in Bezug auf die Veränderung des
menschlichen Körpers entlang individueller Wünsche, was über den ursprünglichen Standard der menschlichen Spezies hinaus geht. Diese letztere Position lässt sich unter dem Label des Transhumanismus einordnen.
Indem die Normativität von Geschlecht, Gesundheit und sogar der Spezies
im /f/-Board von GUROchan angegriffen wird, kann das Forum als ein Mitstreiter für dieses transhumanistische Ziel betrachtet werden. Die Idee der
Geschlechtsumwandlung mag vor ein paar hundert Jahren genauso grotesk gewesen sein wie die meisten hier auffindbaren Körpertransformationen. Heutzutage stellt sie aber eine grundsätzlich mögliche medizinische
Prozedur dar, die unter Umständen sogar von der Krankenversicherung
übernommen wird. Um von A nach B zu gelangen war ein langer Weg der
Veränderung sexueller Moral und der Infragestellung von Normativitäten,
aber auch ein Neudenken des menschlichen Körpers und seiner Flexibilitäten, seiner De- und Rekonstruktion notwendig. Meiner Ansicht nach finden
sich in GUROchan eine Fülle (wenn auch für sich selbst genommen sicher
noch nicht zum Erfolg genug) an entsprechenden moralischen, ästhetischen und intellektuellen Arbeiten, die alternative Wege aufzeigen, von A
zu C oder D oder E zu kommen, zur Erreichung einer wachsenden Bandbreite an Körperformen, Flexibilitäten und zukünftigen Erfahrungen - eines
der vielen schönen Projekte, denen die Pornografie sich widmen kann.
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AUTOR_INNEN
THOMAS BALLHAUSEN
Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler. Lehrbeauftragter an der Universität Wien und der Universität Mozarteum Salzburg. Internationale Tätigkeit
als Vortragender, Redakteur und Kurator. Aktuelle Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. Medienkomparatistik, Critical Heritage Studies, Bild-TextRelationen. Zahlreiche wissenschaftliche und literarische Publikationen,
zuletzt u.a. „Signaturen der Erinnerung“ (Wien, 2015) und „Gespenstersprache“ (Wien, 2016).
WOLFIE CHRISTL
Wolfie Christl lebt in Wien und ist Techniker, Netzaktivist, Game Designer,
Researcher und Künstler. Ausgebildeter Nachrichtentechniker, abgebrochene Studien an der Kunstuniversität Linz sowie Soziologie, Informatik
und Theater, Film und Medienwissenschaften an der Universität Wien. Beschäftigt sich mit den soziokulturellen Auswirkungen neuer Informationsund Kommunikationstechnologien als langjähriger Mitarbeiter der Wiener
Netzkulturinitiative Public Netbase. Denkt, schreibt und spricht über freie
Medien, kritische Netzkultur, Überwachung, Copyright und Open Source
und erforscht die Ökonomie der persönlichen Daten im digitalen Zeitalter.
Er ist Leiter von Cracked Labs (http://crackedlabs.org) / Institut für kritische digitale Kultur und Mitinitiator des vielfach ausgezeichneten kritischdidaktischen Online Spiels Data Dealer (http://datadealer.com), das sich
mit viel Witz und Ironie den brisanten Themen Überwachung und Datenschutz widmet. Er und sein Projekt wurden unter anderem zitiert in der New
York Times, Forbes, Guardian, Le Monde, Zeit, NZZ und FAZ.
http://wolfie.crackedlabs.org
JOS DIEGEL
Jos Diegel, geboren 1982, studierte an der HfG Offenbach, ist tätig u.a.
in den Bereichen Film, Installation, Malerei, Performance und Theater;
Ausstellungen, Filmvorführungen und anderes, sowie Vorträge und Workshops bisher u.a. The Lodge Gallery New York, Galerie5020 Salzburg,
Theater Gessnerallee Zürich, Galerie KUB, Leipzig, Xin Dan Wei, Shanghai,
Deutsches Filmmuseum, Frankfurt, DokFest, Kassel, Berliner Kunstsalon,
Court Métrages Clermont Ferrand, Berlinale, Berlin, Perspektive-Filmfestival der Menschenrechte, Nürnberg, Arse Elektronika, San Francisco,
Künstlerhaus Wien, Galerie Greulich, Frankfurt, Kunstraum Pro Arte, Hallein, Binghamton University, Binghamton, Videonale Bonn
www.josdiegel.de
GÜNTHER FRIESINGER
Günther Friesinger lebt in Wien und Graz als Philosoph, Künstler, Kurator und Produzent. Er ist Geschäftsführer von monochrom, Chairman des
Quartier für Digitale Kunst und Kultur im Museumsquartier, Leiter des
paraflows Festival für Digitale Kunst und Kulturen in Wien und des Arse
Elektronika-Festivals in San Francisco, Produzent des Roboexotica Festivals in Wien, des KOMM.ST Festivals in Anger und der Hedonistika in Montreal und Tel Aviv. Friesinger lehrt Kulturmanagement, Produktion, Social
Media und Ausstellungsdramaturgie an verschiedenen Universitäten in
Österreich, Deutschland und der Schweiz. In den letzten Jahren setzt er
sich verstärkt mit Kunst im öffentlichen Raum, Urban Hacking bis hin zum
Thema Leerstände auseinander.
JOHANNES GRENZFURTHNER
Johannes Grenzfurthner ist Künstler, Regisseur, Autor, Kurator und Gründer der Kunst- und Theoriegruppe monochrom. Er lehrt Kunsttheorie und
künstlerische Praxis an der FH Joanneum und hat einen Lehrauftrag für
Kommunikationsguerilla an der Kunstuniversität Linz. Er ist Leiter des Festivals Arse Elektronika (Thema: Sex und Technologie) in San Francisco, Veranstalter der „Hedonistika“ (Thema: Essen und Technologie) in Montréal
und Tel Aviv, sowie CoOrganisator der Roboexotica (CocktailRobotik).
Sein erster Spielfilm war die AgitpropGroteske „Die Gstettensaga: The
Rise of Echsenfriedl“ und er arbeitet derzeit an zwei weiteren Spielfilmen:
„Sierra Zulu“ und „Over Lunch“. Hielt Vorträge auf: SXSWi, O'Reilly ETech,
FooCamp, Maker Faire, HOPE, Chaos Communication Congress, Google
(Tech Talks), ROFLCon, Ars Electronica, Transmediale, Influencers, Biennale Sao Paulo, Mozilla Drumbeat Barcelona, Neoteny Camp Singapore,
Columbia University, Carnegie Mellon University. Über ihn oder seine
Projekte wurde bereits in der New York Times, Liberation, Spiegel, San
Francisco Chronicle, CNN, Playboy, Reuters, Slashdot, Boing Boing, New
Scientist, The Edge, LA Times, NPR, ZDF, Gizmodo, io9, Wired, Süddeutsche Zeitung, CNet oder dem Toronto Star berichtet.
Wiederkehrende Themen in Johannes theoretischer und künstlerischer
Arbeit sind: zeitgenössische Kunst, Aktivismus, Performance, Humor, Philosophie, Postmodernismus, Medientheorie, Cultural Studies, SexTech, Populärkultur, Subversion, Science Fiction, Copyright und geistiges Eigentum.
CHRISTIAN HELLER
Christian Heller arbeitet als Software-Entwickler in Berlin. Von 2004 bis
2007 studierte er an der FU Berlin Filmwissenschaft und Philosophie. Zu
Themen aus dem Spektrum Technologie, Kultur und Politik referierte er
seitdem auf diversen Konferenzen (z.B. Chaos Communication Congress,
Transmediale, Paraflows) und ko-leitete Seminare fürs DGB Bildungswerk.
2011 erschien sein Buch „Post-Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre“
im Verlag C.H. Beck. 2012 war er Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften der Frankfurter Goethe-Universität in Bad Homburg. 2013 erschien sein Buch „Internet-Meme“ (verfasst zusammen mit Nils Dagsson
Moskopp) in der „kurz und geek“-Reihe des O'Reilly-Verlags.
JANA HERWIG
Jana Herwig ist Universitätsassistentin am Lehrstuhl für Intermedialität
(Klemens Gruber) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft
sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin im FWFForschungsprojekt „Texture
Matters. The Optical and Haptical in Media“ an der Universität Wien. Sie
studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Niederländische Philologie und Pädagogik an der Universität Köln und absolvierte Auslandsstudien in Südafrika, Belgien und Schottland. Im akademischen Bereich war
sie u.a. tätig als Teaching Assistant für Deutsch als Fremdsprache an der
Rhodes University in Südafrika und als Hochschullehrerin für Englisch im
Studiengang Mediengestaltung an der FH Vorarlberg. Weitere Tätigkeiten,
vor allem in der Online-Industrie umfassen u.a. Corporate Blogger, Projektmanagerin für Neue Medien und WebDeveloperin (anno Web 1.0).
MONIKA NOISTERNIG
JUDITH SCHOSSBÖCK
Monika Noisternig hat sich bis Ende 2008 als Coach und Betriebswirtin im
Sanierungsmanagement vorzugsweise mit Zahlen beschäftigt. Anschließend hat sie durch eine Zusatzausbildung ihre wahre Berufung entdeckt
und arbeitet seit 2011 als LibidaSexualbegleiterin®.
Judith Schoßböck ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für EGovernance der Donau-Universität Krems, Redakteurin des wissenschaftlichen Open Access Online-Journals JeDEM.org und Mitglied der Interdisziplinären Internetforschungsgruppe an der Universität Wien. Zu ihren
Forschungsschwerpunkten gehören Internet Governance, Online-Aktivismus, E-Partizipation, Medienkompetenz und digitale U(Dys)topien.
TINA LORENZ
LISA SCHRÖTER
Tina Lorenz studierte Theater-, Film- und und Medienwissenschaften an der
Uni Wien und amerikanische Literaturgeschichte an der LMU München, mit
einer Abschlußarbeit über den pornografischen Körper in viktorianischerund früher Stummfilmpornografie. Seit 2012 ist sie Dozentin für Theatertheorie und -geschichte an der Akademie für Darstellende Kunst Bayern in
Regensburg.
Lisa Schröter, geboren 1986, studierte an der Hochschule Reutlingen Textiltechnologie und Textilmanagement; diverse Projekte und Tätigkeiten: Design, Gestaltung, Grafik in den Bereichen Fashion, Kunst und Kultur, arbeitet u.a. in dem paradoxen Kollektiv neue Dringlichkeit (nD).
PHILIPP RÖSSL
LARISA STANESCU
Philipp Rössl ist seit 2007 an der Donau Universität Krems tätig. Seit März
2012 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Ethik in der
Medizin, welches seitens Univ.Prof. Dr. Dr. Peter Kampits geleitet wird. Er
beschäftigt sich in erster Linie mit den diversen Methoden ethischer Urteilsbildung und deren Argumentation sowie mit den damit zusammenhängenden erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Implikationen.
Larisa Stanescu studiert Publizistik und Kommunikationswissenschaft
an der Uni Wien. Ist in der Zwischenzeit auf dem Geschmack von OnlineMarketing gekommen und beschäftigt sich seitdem intensiv damit. Die
Leidenschaft für Wissenschaft und Technologie hat Larisa während der
freiwilligen Tätigkeit als Community Manager bei TEDx Vienna erworben.
Zur Zeit setzt sie ihre Fähigkeiten im akademischen Startup Inkubator INiTS ein. Sie ist frische SelbstTrackerin und Mitgründerin der Quantified Self
Meetups in Wien.
FRANK APUNKT SCHNEIDER
Frank Apunkt Schneider ist unfreier Künstler, Autor und selbsternannter
Poptheoretiker, Mitherausgeber der testcard, Redakteur bei skug und außerdem der deutsche Außenposten der Kulturbewegung monochrom.
KATHARINA STÖGER
Katharina Stöger ist Filmwissenschafterin und Kuratorin und arbeitet und
lebt in Wien. Schwerpunkte ihrer Forschung sind das zeitgenössische österreichische Kino, Auteur-Theorie und Gender Studies.
Wie sieht menschliche Nähe heute aus? Wie beeinflusst eine intensiv technologiegestützte Kommunikation unser Verständnis von Intimität und Beziehungen?
Welche Rolle spielen neue und soziale Medien für die Überwindung von räumlicher oder zeitlicher Distanz und wie verändern sich Konzepte wie Vertrautheit
oder Privatheit? Die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine ist fluider
geworden: das Digitale wird immer mehr ein Teil von uns. Was uns früher als
unpassendes Eindringen der Technik in unsere Intimsphäre erschienen wäre,
ist nun als „Wearable“-Technologie oder funktionale Prothese weitgehend akzeptiert. Intimität ist auch individuell und verwertbar geworden und lässt sich
zunehmend aus Datenmaterial konstruieren. Durch die Selbstverständlichkeit
digitaler Interaktion entsteht für viele eine emotionale Verbindung zu den Geräten. Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Substitution menschlicher
Nähe durch die Liebe zum Objekt oder zu Abbildungen im Netz? Personalisierte Technologien können unsere Intimzone mit der Öffentlichkeit vermischen.
Vielfältige Möglichkeiten des Kontakteknüpfens und des Ausdrucks unserer
Neigungen tun sich auf: von Online-Dating Portalen bis zu Gruppen mit genau
spezifizierten Vorlieben abseits klassischer Porno-Narrative. Im Netz finden sich
schnell Gleichgesinnte, aber auch einander vorher Fremde. Wie kann Technologie emotionale Momente unterstützen, speichern oder sogar erzeugen? Die
Zurschaustellung unserer Verbindungen findet heute vernetzt, quantifiziert und
öffentlich statt: Mit scheinbarer Leichtigkeit werden intime Details mit einer nahezu unüberschaubaren Menge an Menschen geteilt. Haben wir die Kontrolle
über unsere einst als vertraulich angesehenen Inhalte bereits abgegeben? Oder
verändert sich schlicht unsere Auffassung von dem, was dazu zählt? Wie sieht
es mit dem Schutz uns vertrauenswürdig erscheinender digitaler Inhalte aus?
Welche Auswirkungen hat die Erweiterung und Transformation unser Intimitätsräume? Und wie kann Technologie dazu beitragen, bestehende Normen des
Sexualdiskurses aufzubrechen und alternative Fantasien oder Praktiken anzuregen? paraflows .9 INTIMACY verschreibt sich der Frage, wie es um unsere
Intim- und Privatsphäre steht, welche Veränderungen zu erwarten sind und wie
Gesellschaft und Kunst darauf reagieren.
edition mono/monochrom
ISBN: 978-3-902796-43-1