Inhaltsverzeichnis - Verlag Dr. Dieter Winkler

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Inhaltsverzeichnis - Verlag Dr. Dieter Winkler
Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Herausgeber ............................................................................................................
VII
Tabula gratulatoria ........................................................................................................................
IX
I.
Theoretische Grundlagen: Vorstellung, Deutung und Wahrnehmung als
Kategorien der Geschichtswissenschaft
„Vorstellungsgeschichte“: Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der
Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft
als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung (1982) ..............................................
3
Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der
Geschichtswissenschaft (2003) ...................................................................................................
19
II.
Vorstellungswelten einzelner Quellenautoren
Die „Summa gloria“. Ein Beitrag zu den politischen Vorstellungen des Honorius
Augustudunensis (1978) ..............................................................................................................
33
Eschatologische Vorstellungen und Reformziele bei Bernhard von Clairvaux und
Norbert von Xanten (1994) .........................................................................................................
75
Die Rezeption der augustinischen civitas-Lehre in der Geschichtstheologie des 12.
Jahrhunderts (1998) ......................................................................................................................
89
III.
Soziale Gruppen und Beziehungen in der mittelalterlichen Vorstellungswelt
„Unterschichten“ im Gesellschaftsbild karolingischer Geschichtsschreiber und
Hagiographen (1981) ....................................................................................................................
117
Zur Mentalität bäuerlicher Schichten im frühen Mittelalter (1993) .....................................
135
Serfdom and the beginnings of a ‘seigneurial system’ in the Carolingian period. A survey
of the evidence (1993) ..................................................................................................................
155
„Nobilis“. Der Adel im Selbstverständnis der Karolingerzeit (1983) ....................................
173
« Beatus Homo qui invenit amicum ». The Concept of Friendship in Early Medieval
Letters of the Anglo-Saxon Tradition on the Continent (1999) ............................................
207
IV.
Mittelalterliche Vorstellungen vom Staat
„Regnum“. Zum politischen Denken der Karolingerzeit (1987) ............................................
219
Potestas. Staatsgewalt und Legitimität im Spiegel der Terminologie früh- und
hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber (2002) ...................................................................
273
VI
Inhaltsverzeichnis
Concepts of Realm and Frontiers from Late Antiquity to the Early Middle Ages: Some
Preliminary Remarks (2001) .......................................................................................................
V.
287
Herrscher, Herzog, Abt: Mittelalterliche Vorstellungen von geistlichen und
weltlichen Ämtern
Das Bild des Abtes in alamannischen Klosterchroniken des hohen Mittelalters (1989) ....
297
Das Herzogtum im Spiegel der salierzeitlichen Geschichtsschreibung (1991) ...................
311
Selbstdisziplin als mittelalterliche Herrschertugend (1999) ...................................................
329
VI.
Die Wahrnehmung von Völkern
Gentes. Zur zeitgenössischen Terminologie und Wahrnehmung ostfränkischer
Ethnogenese im 9. Jahrhundert (2000) ......................................................................................
355
„Sachsen“ in der Wahrnehmung fränkischer und ottonischer
Geschichtsschreiber (2004) ..........................................................................................................
391
Die germanisch-romanische (Kultur-)Synthese in der Wahrnehmung der
merowingischen Geschichtsschreibung (2004) ........................................................................
409
VII.
Gegenwart und Vergangenheit: Zeitvorstellungen im Mittelalter
Endzeiterwartung und Endzeitvorstellung im Rahmen des Geschichtsbildes des früheren
12. Jahrhunderts (1988) ................................................................................................................
433
Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen
Geschichtsbewußtsein (1992) .....................................................................................................
453
Historiographisches Zeitbewußtsein im frühen Mittelalter: Zum Umgang mit der Zeit in
der karolingischen Geschichtsschreibung (1994) ....................................................................
477
Vergangenheitswahrnehmung, Vergangenheitsgebrauch und Geschichtssymbolismus in
der Geschichtsschreibung der Karolingerzeit (1999) ..............................................................
497
„Konstruktion der Vergangenheit“. Geschichtsbewusstsein und „Fiktionalität“ in der
hochmittelalterlichen Chronistik, dargestellt am Beispiel der Annales Palidenses (2003)
523
VIII. Lügen, Arbeit und Glück
Konzept, Bewertung und Funktion der Lüge in Theologie, Recht und
Geschichtsschreibung des frühen und hohen Mittelalters (2004) .........................................
547
„Wahrnehmung“ der Arbeit als Erkenntnisobjekt der Geschichtswissenschaft (2006) .....
567
Fortuna in der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung (1996) .....................................
581
Vorwort
Vom Anbeginn seiner Forschungsarbeit hat Hans-Werner Goetz sich von der Frage nach den
Vorstellungen der Menschen des Mittelalters faszinieren lassen, hat nach ihrer Weltdeutung
und später auch nach ihren Wahrnehmungen gefragt und die wiederkehrenden Muster solcher
geistigen Aufnahmeprozesse untersucht. Daß die Vorstellungen und Wahrnehmungen von
Menschen ein bedeutender Teil der Geschichte sind, hat er nicht nur in Beiträgen zur Geschichtstheorie dargelegt, sondern seit den 1970er Jahren auch immer wieder in Untersuchungen zu verschiedensten Lebensbereichen in der Praxis vorgeführt: seien es die Vorstellungen
von Zeit, Vergangenheit und Geschichte, seien es die Auffassungen von der politischen und sozialen Ordnung, von weltlichen und geistlichen Ämtern – oder von Lügen, Arbeit und Glück.
Wir, seine Schülerinnen und Schüler, haben in seinen Seminaren diese „Dimension der Vergangenheit“ kennengelernt und uns von ihrer Faszination anstecken lassen.
Wem es gelingt, an einer Universität sein 60. Lebensjahr zu vollenden, der muß Ehrungen befürchten. Wir haben aus diesem Anlaß die markantesten von zahlreichen Beiträgen zur
Vorstellungsgeschichte, die Hans-Werner Goetz im Laufe von drei Jahrzehnten verfaßt hat, in
diesem Band zusammengestellt. Der Wiederabdruck der Texte huldigt einem einfachen Prinzip: Er entspricht genau den Erstveröffentlichungen, deren Seitenzählung auch jeweils mit angegeben wird. Auf diese Weise ist es leicht möglich, einschlägige Stellen wiederzufinden und
die Originalbeiträge auch nach dem Wiederabdruck in diesem Band zu zitieren. Lediglich einige wenige, offensichtliche Fehler sind stillschweigend korrigiert worden. Zu danken haben wir
Herrn Dieter Winkler für die gute Zusammenarbeit mit dem Verlag.
Der Jubilar hat es stets in ganz besonderer Weise verstanden, seine Mitarbeiter zu motivieren: natürlich durch sein mittwöchentliches Schokoladendoping, durch hochkalorige Ostereier, durch Semesteressen bei Homer persönlich – vor allem aber durch sein eigenes unermüdliches Arbeiten. Möge dieser Band nun ihm selbst ein Ansporn sein, seine Forschung zur mittelalterlichen Vorstellungsgeschichte fortzuführen!
Hamburg, Basel, Braunschweig im Juli 2007
Die Herausgeber
Tabula gratulatoria
Norbert Angermann (Buchholz)
Hans Hubert Anton (Konz-Könen)
Franz-Josef Arlinghaus (Kassel)
Klaus Arnold (Hamburg)
Sverre Bagge (Bergen)
Manfred Balzer (Münster)
Josiane Barbier (Paris)
Thomas Bauer (Münster)
Ingrid Baumgärtner (Kassel)
Clemens M.M. Bayer (Bonn)
Matthias Becher (Rheinbach)
Hans-Joachim Behr (Braunschweig)
Jasmin S. Behrouzi-Rühl (Echzell)
Ingrid Bennewitz (Bamberg)
Stefan Benz (Bayreuth)
Guido M. Berndt (Paderborn)
Walter Berschin (Heidelberg)
Otto Beuttenmüller (Bretten)
Peter Blickle (Saarbrücken)
Heidelore Böcker (Berlin)
Michail A. Bojcov (Moskau)
Werner Bomm (Heidelberg)
Michael Borgolte (Berlin)
Ekkehard Borries (Göttingen)
Egon Boshof (Passau)
François Bougard (Paris)
Hajo Brandenburg (Hamburg)
Wolfram Brandes (Friedrichsdorf)
Sebastian Brather (Freiburg)
Hans-Joachim Braun (Ahrensburg)
Johann Wilhelm Braun (Karlsruhe)
Claudia Brinker-von der Heyde (Kassel)
Tania Brüsch (Leer)
Birgit Bublies-Godau (Dortmund)
Werner Buchholz (Greifswald)
Geneviève Bührer-Thierry (Bois-Colombes)
Wolfgang Burgdorf (München)
Dominik Burkhard (Würzburg)
Wilhelm G. Busse (Heiligenhaus)
Jan Ulrich Büttner (Bremen)
Reinhardt Butz (Dresden)
Helmut Castritius (Darmstadt)
Gabriele Clemens (Wedel)
Giles Constable (Princeton)
Albrecht Cordes (Frankfurt)
Roman Czaja (Toruń)
Thomas Czerner (Isernhagen)
Michael Dallapiazza (Urbino)
Friedhelm Debus (Schierensee)
Jürgen Deininger (Hamburg)
Georg Denzler (Breitbrunn)
Philippe Depreux (Limoges)
Stefanie Dick (Paderborn)
Alain Dierkens (Brüssel)
Cora Dietl (Gießen)
Gerhard Dilcher (Königstein)
Peter Dilg (Marburg)
Wolfgang Dinkelacker (Göttingen)
Ulf Dirlmeier (Freudenberg)
Gerhard Dohrn-van Rossum (Chemnitz)
Matthias Dornhege (Castrop-Rauxel)
Heinrich Dormeier (Kiel)
Stephen Dörr (Heidelberg)
Wolfram Drews (Köln)
Boris Dreyer (Göttingen)
Gisela Drossbach (München)
Winfried Eberhard (Leipzig)
Immo Eberl (Ellwangen)
Bernhard Ebneth (München)
Willigis Eckermann (Würzburg)
Bonnie Effros (Binghampton)
Oliver Ehlen (Aachen)
Joachim Ehlers (Berlin)
Caspar Ehlers (Göttingen)
Trude Ehlert (Würzburg)
Otfried Ehrismann (Staufenberg)
Elfie-Marita Eibl (Berlin)
Michael Embach (Trier)
X
Tabula gratulatoria
Johannes Engels (Kreuzau)
Odilo Engels (Köln)
Brigitte Englisch (Paderborn)
Franz-Reiner Erkens (Passau)
Ulrich Ernst (Wuppertal)
Arnold Esch (Rom)
Norbert Fabian (Duisburg)
Bernd Faulenbach (Bochum)
Dieter Feineis (Klingenberg)
Laurent Feller (Champigny sur Marine)
Franz J. Felten (Mainz)
Michele C. Ferrari (Erlangen)
Jörg Fichte (Ammerbuch)
Thorsten Fischer (Essen)
Gerhard Fouquet (Flintbek)
Christoph Johannes Franzen (Frankfurt)
Eckhard Freise (Münster)
Stephan Freund (Jena)
Hartmut Freytag (Reinbek)
Peter Friedemann (Bochum)
Franz Fuchs (Würzburg)
Horst Fuhrmann (Steinebach a. Wörthsee)
Frank Fürbeth (Bochum)
Stefano Gasparri (Padua)
Claude Gauvard (Paris)
Alfred Gawlik (München)
Wilhelm Geerlings (Bochum)
Immanuel Geiss (Bremen)
Sabine Geldsetzer (Frankfurt)
Dieter Geuenich (Essen)
Martina Giese (München)
Wolfgang Giese (München)
Hubert Glaser (Freising)
Knut Görich (München)
Jutta Göller (Kelheim)
Karl Heinz Göller (Kelheim)
Michael Gosmann (Arnsberg)
Agnes Graceffa (Arras)
Klaus Graf (Neuss)
Albrecht Greule (Regensburg)
Heike Grieser (Lampertheim)
Manfred Groten (Köln)
Hans Grotz (München)
Wolf D. Gruner (Hamburg)
Bernhard Haage (Bad Mergentheim)
Ilse Haari-Oberg (Basel)
Stephanie Haarländer (Mainz)
Wolfdieter Haas (Seevetal-Ramelsloh)
Manfred Hahn (Worpswede)
Hans Henning Hahn (Augustfehn)
Helmut Halfmann (Hamburg)
Berndt Hamm (Uttenreuth)
Reinhard Härtel (Graz)
Sieglinde Hartmann (Frankfurt)
Wilfried Hartmann (Gilching)
Wolfgang Hasberg (Köln)
Wolfgang Haubrichs (Saarbrücken)
Barbara Haupt (Hilden)
Alfred Haverkamp (Trier)
Marie-Luise Heckmann (Werder)
Ernst-Dieter Hehl (Mainz)
Ingrid Heidrich (Bad Münstereifel)
Heinz-Dieter Heimann (Potsdam)
Johannes Heinrichs (Köln)
Ernst Hellgardt (München)
Anne-Marie Helvétius (Paris)
Nikolaus Henkel (Hamburg)
Volker Henn (Kordel)
Klaus Herbers (Erlangen)
Bernd-Ulrich Hergemöller (Hamburg)
Rainer Hering (Hamburg)
Arno Herzig (Halstenbek)
Hermann Hiery (Bayreuth)
Jörg Hillmann (Bruxelles)
Jan Hirschbiegel (Kronshagen)
Eduard Hlawitschka (Herrsching)
Rudolf Holbach (Oldenburg)
Karl-Joachim Hölkeskamp (Köln)
Thomas Honegger (Jena)
Josef Hoppe (Fulda)
Gerlinde Huber-Rabenich (Jena)
Ulrich Hussong (Marburg)
Dominique Iogna-Prat (Paris)
Franz Irsigler (Konz)
Tabula gratulatoria
Uwe Israel (Venedig)
Hermann Jakobs (Köln)
Wilhelm Janssen (Düsseldorf)
Jörg Jarnut (Paderborn)
Kurt-Ulrich Jäschke (Saarbrücken)
Detlev Jasper (München)
Nikolas Jaspert (Bochum)
Horst Jesse (München)
Katharina Jesse (München)
Peter Johanek (Münster)
Vera Johanterwage (Münster)
Jochen Johrendt (München)
Sylvie Joye (Paris)
Michael Jucker (Münster)
Florian Konstantin Jurisch (München)
Hans-Dietrich Kahl (Gießen)
Rainer Kahsnitz (Berlin)
Reinhold Kaiser (Zürich)
Hans H. Kaminsky (Gießen)
Gerd Kampers (Bonn)
Sören Kaschke (Bremen)
Brigitte Kasten (Königstein)
Nikolaus Katzer (Bad Oldesloe)
Peter Kehne (Hannover)
Gundolf Keil (Würzburg)
Hagen Keller (Münster)
Karina Kellermann (Berlin)
Peter Kern (St. Augustin)
Max Kerner (Aachen)
Norbert Kersken (Linden)
Walter Kettemann (Trier)
Udo Kindermann (Buckenhof)
Marion Kintzinger (Münster)
Martin Kintzinger (Münster)
Hans Georg Kirchhoff (Dortmund)
Gabriele Knappe (Bamberg)
Markus Knipp (Bonn)
Wendelin Knoch (Bochum)
Manfred Kobuch (Dresden)
Rainer Koch (Weickersgrüben)
Alexander Koller (Rom)
Theo Kölzer (Bonn)
Ulrich Köpf (Tübingen)
Franklin Kopitzsch (Hamburg)
Raymund Kottje (Königswinter)
Adelheid Krah (Wien)
Hans-Georg Krause (Hamburg)
Ulrich Krewitt (Dortmund)
Gerhard Krieger (Trier)
Karl Heinrich Krüger (Havixbeck)
Kersten Krüger (Rostock)
Klaus Krüger (Halle)
Wolfgang Küttler (Berlin)
Stefan Kwiatowski (Toruń)
Pascal Ladner (Fribourg)
Peter Landau (München)
Cristina La Rocca (Padua)
Johannes Laudage (Düsseldorf)
Peter Lautzas (Mainz)
Régine Le Jan (Paris)
Stéphane Lebecq (Lille)
Jan Lenders (Nijmegen)
Volker Leppin (Jena)
Felice Lifshitz (Miami Beach)
Tillmann Lohse (Berlin)
Hans-Dieter Loose (Tostedt)
Fritz Lošek (St. Pölten)
Gerhard Lubich (Bochum)
Heiner Lück (Halle)
Carl August Lückerath (Bonn)
Walther Ludwig (Hamburg)
Bea Lundt (Berlin)
Laurenz Lütteken (Zürich)
Christina Lutter (Wien)
Inge Mager (Hamburg)
Werner Maleczek (Wien)
Christoph Markschies (Berlin)
Jürgen Martschukat (Erfurt)
Michael Matheus (Rom)
Hans E. Mayer (Kiel)
Michael McCormick (Cambridge, MA)
Rosamond McKitterick (Cambridge)
Elisabeth Mégier (Paris)
Claudia Annette Meier (Mainz)
XI
XII
Tabula gratulatoria
Christel Meier-Staubach (Münster)
Jochen Meissner (Neu Wulmstorf)
Gert Melville (Coburg)
Michael Menzel (Berlin)
Charles Mériaux (Hazebrouck)
Dieter Mertens (Freiburg)
Andreas Meyer (Marburg)
Jürgen Miethke (Heidelberg)
Klaus Militzer (Köln)
Adalbert Mischlewski (Grafing)
Hannes Möhring (Braunschweig)
Ralf Molkenthin (Bochum)
Joachim Molthagen (Hamburg)
Lars Boje Mortensen (Kopenhagen)
Dietz-Rüdiger Moser (Freising)
Marco Mostert (Utrecht)
Claudine Moulin (Trier)
Eduard Mühle (Marburg)
Klaus-Jürgen Müller (Hamburg)
Jan-Dirk Müller (München)
Heribert Müller (Frankfurt)
Gabriele Müller-Oberhäuser (Münster)
Franz Neiske (Münster)
Jinty Nelson (London)
Dagmar Neuendorff (Åbo)
Wilhelm Niemeyer (Bremen)
Marlene Nikolay-Panter (Bonn)
Cordula Nolte (Bremen)
Ulrich Nonn (Bonn)
Otto Gerhard Oexle (Göttingen)
Klaus Oschema (Bern)
Arnold Otto (Paderborn)
Edgar Pack (Brühl)
Sabine Panzram (Hamburg)
Jürgen Petersohn (Würzburg)
Renate Pieper (Graz)
Horst Pietschmann (Köln)
Martina Pitz (Lyon)
Alheydis Plassmann (Bonn)
Walter Pohl (Wien)
Wilhelm Pohlkamp (Münster)
Regina Pörtner (Swansea)
Rainer Postel (Hamburg)
Verena Postel (Marburg)
Edward Potkowski (Warschau)
Martin Przybilski (Trier)
Fidel Rädle (Göttingen)
Anne Marie Ramussen (Durham)
Andreas Ranft (Halle)
Sabine Rath (Paderborn)
Christine Ratkowitsch (Wien)
Susanne Rau (Dresden)
Carola Redzich (Freiburg)
Sandra Reimann (Regensburg)
Helmut Reimitz (Wien)
Christine Reinle (Gießen)
Arnd Reitemeier (Kiel)
Etienne Renard (Namur)
Konrad Repgen (Bonn)
Bruno Reudenbach (Hamburg)
Jürgen Reulecke (Gießen)
Frank Rexroth (Göttingen)
Monika Richarz (Berlin)
Ortrun Riha (Leipzig)
Ingrid Heike Ringel (Mainz)
Gisela Ripoll (Barcelona)
Hans G. Risch (Hamburg)
Dorothee Rippmann (Itingen)
Adolf Martin Ritter (Neckargemünd)
Karl J. Rivinius (Sankt Augustin)
Rupprecht Rohr (Mutterstadt)
W. Günther Rohr (Föhren)
Jürgen Römer (Lichtenfels)
Werner Rösener (Gießen)
Barbara H. Rosenwein (Evanston, IL)
Ingo Runde (Duisburg)
Jörn Rüsen (Bochum)
Hartmut Rüß (Münster)
Klaus-Jürgen Sachs (Erlangen)
Jürgen Sarnowsky (Quickborn)
Klaus Saul (Hamburg)
Jan Marco Sawilla (Hamburg)
Christoph Schäfer (Hamburg)
Tabula gratulatoria
Ursula Schäfer (Dresden)
Angelika Schaser (Hamburg)
Rudolf Schieffer (München)
Thomas Schilp (Herdecke)
Eva Schlotheuber (Münster)
Franz-Josef Schmale (Staufen)
Alois Schmid (München)
Felicitas Schmieder (Hagen)
Frauke Schmitz (Hamburg)
Sabine Schmolinsky (Hamburg)
Jens Schneider (Paderborn)
Hermann-Josef Scheidgen (Köln)
Winfried Schich (Berlin)
Axel Schildt (Hamburg)
Roderich Schmidt (Marburg)
Ruth Schmidt (Marburg)
Tilmann Schmidt (Rostock)
Bernd Schneidmüller (Heidelberg)
Eva Schöck-Quinteros (Bremen)
Heinrich Schoppmeyer (Witten)
Klaus Schreiner (München)
Peter Schreiner (Köln)
Wolfgang Schuller (Konstanz)
Thomas Schulte im Walde (Köln)
Knut Schulz (Berlin)
Winfried Schulze (München)
Meinolf Schumacher (Bielefeld)
Rainer C. Schwinges (Zollikofen)
Volker Scior (Osnabrück)
Hubertus Seibert (München)
Peter Segl (Pfaffenhofen)
Kurt-Victor Selge (Berlin)
Josef Semmler (Düsseldorf)
Gabriela Signori (Konstanz)
Jürgen Simon (Hamburg)
Kurt Smolak (Wien)
Andreas Sohn (Paris)
Markus Späth (Gießen)
Wolfgang Spieckermann (Bochum)
Matthias Springer (Magdeburg)
Reinhart Staats (Kronshagen)
Gerald Stefke (Hamburg)
Hannes Steiner (Frauenfeld)
Barbara Stollberg-Rilinger (Münster)
Michael Stolz (Bern)
Wilhelm Störmer (Neubiberg)
Peter Stotz (Bülach)
Jürgen Strothmann (Bochum)
Meret Strothmann (Bochum)
Tilman Struve (Köln)
Birgit Studt (Freiburg)
Gerhard Theuerkauf (Hamburg)
Heinz Thomas (Bonn)
Matthias Thumser (Berlin)
Franz Tinnefeld (München)
Sven Tode (Hamburg)
Bernhard Töpfer (Berlin)
Gia Toussaint (Hamburg)
Werner Troßbach (Fulda)
Ernst Tremp (St. Gallen)
Silke Urbanski (Hamburg)
Elisabeth Vavra (Krems)
Werner Verbeke (Leuven)
Barbara Vogel (Hamburg)
Gudrun Vögler (Fulda)
Thomas Vogtherr (Osnabrück)
Hanna Vollrath (Köln)
Ernst Voltmer (Trier)
Anna-Dorothee von den Brincken (Köln)
Dieter von der Nahmer (Ahrensburg)
Ludwig Vones (Köln)
Sabine von Heusinger (Stuttgart)
Peter von Moos (Béon)
Martin Wallraff (Basel)
Bastian Walter (Münster)
Helmut G. Walther (Jena)
Christoph Friedrich Weber (Münster)
Stefan Weinfurter (Heidelberg)
Horst Weinstock (Aachen)
Manfred Weitlauff (Augsburg)
Karl-Wilhelm Welwei (Witten)
Alfred Wendehorst (Erlangen)
Bernd Jürgen Wendt (Hamburg)
Chris Wickham (Birmingham)
XIII
XIV
Tabula gratulatoria
Eckhard Wirbelauer (Strasbourg)
Harald Witthöft (Wilnsdorf)
Rainer Wohlfeil (Hamburg)
Irmtrud Wojak (Frankfurt)
Friedrich Wolfzettel (Wettenberg)
Joachim Wollasch (Freiburg)
Dietrich Wörn (Tübingen)
Heide Wunder (Bad Nauheim)
Manfred Wundram (Remhalden)
Maria Würfel (Schwäbisch Gmünd)
Wolfgang Wüst (Erlangen)
Julia Zernack (Frankfurt)
Claudia Zey (München)
Manfred Zips (Wien)
Walter Zöllner (Halle)
Thomas Zotz (Freiburg)
Adolar Zumkeller (Würzburg)
Leszek Zyger (Göttingen)
Collectanea Franciscana (Rom)
Deutsches Historisches Institut (Paris)
Dictionnaire étymologique
de l’ancien français (Heidelberg)
Diplomatarium Suecanum National Archives
(Stockholm)
Fakultät für Geschichtswissenschaften der
Universität Bochum
Institut für Historische Landesforschung der
Universität Göttingen
Institut für Frühmittelalterforschung
(Münster)
Instituut voor Middeleeuwese Studies
(Leuven)
Mediävistenverband e.V.
Stiftsbibliothek St. Gallen (St. Gallen)
Verband der Geschichtslehrer Deutschlands
e.V. (Mainz)
253-254
„Vorstellungsgeschichte“:
Menschliche Vorstellungen und Meinungen
als Dimension der Vergangenheit
Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft
als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung
Vorbemerkung:
Seit die Geschichtstheorie sich als eigenständiges Teilgebiet der Geschichtswissenschaft konstituiert hat, sind dem Historiker die Probleme und der Standort seines Fachs in der Wissenschaft in mancherlei Hinsicht bewußter geworden.
Auf der anderen Seite sind über der Frage einer wissenschaftstheoretischen Einordnung manche Probleme, die sich aus
der praktischen Vergangenheitsforschung ergeben und die die methodische Arbeit des heutigen Historikers kritisch reflektieren, vernachlässigt worden, so daß sich auch der Allgemeinhistoriker gelegentlich noch gezwungen sieht, in die
geschichtstheoretische Diskussion einzugreifen, selbst auf die Gefahr hin, daß er den Fachjargon heutiger, sich notwendig mit der Philosophie verbunden wissender Theorie nicht immer beherrscht. Der Verfasser bittet dafür um Verständnis bei dem folgenden Versuch, sich über die Arbeitsweise der modernen Geschichtswissenschaft (wie seines eigenen Tuns) Rechenschaft abzulegen. Das angesprochene Problem betrifft alle Teilbereiche der Geschichtswissenschaft, auch wenn Quellen- und Literaturbeispiele, meinem Arbeitsgebiet gemäß, dem Bereich der Mediävistik entnommen sind.
Die Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft im Sinne einer überprüfbaren Beweiskraft
ihrer Ergebnisse beruht auf der Methode des Historikers, der seine Erkenntnisse über die Vergangenheit stets aus Quellen schöpft1. Seine Arbeit besteht bekanntlich darin, diesen Zeugnissen der Vergangenheit Aussagen über die Vergangenheit abzugewinnen, seine vermittelnde
Tätigkeit ist nötig, weil die historischen Materialien erst in seinen Händen zu „Quellen“ werden, tatsächlich aber mit anderen, durchaus unterschiedlichen Zielsetzungen verfaßt sind, und
erst durch die Interpretation aus (potentiellen) Informationsträgern zu Informanden über die
Vergangenheit werden2. In diesem ambivalenten Charakter des Quellenmaterials liegt ein methodisches Problem der Ge/schichtswissenschaft. Da die Stichhaltigkeit der Ergebnisse von der
sachgerechten, das heißt den jeweiligen, zeitbedingten Verhältnissen angemessenen Auswertung der Quellen abhängt, gehört es zu den wesentlichen Bedingungen unseres Geschäfts, uns
sowohl den Quellencharakter historischer Zeugnisse wie den Zeugnischarakter unserer Quellen
bewußt zu machen. Seit langem berücksichtigt die Historik daher das Verhältnis zwischen der
Fragestellung des modernen Historikers und der Berichtsintention des Quellenverfassers; bereits Bernheims klassische, auf Droysens Modell zurückgehende Einteilung der Quellen in Tradition (Quellen mit historischer Intention, das heißt der Absicht, die Nachwelt über geschichtliche Ereignisse zu unterrichten) und Überresten (Quellen, denen ein solches Anliegen fehlt)3,
trägt diesem Bedürfnis Rechnung, und die seit dem 18. und 19. Jahrhundert angewandte Quellenkritik sucht – neben der Frage der Echtheit – vor allem die „Tendenz“ des Zeugnisses zu erOriginalpublikation in: Archiv für Kulturgeschichte 61, 1979 (erschienen 1982), S. 253-271.
1 Angriffe auf den Wissenschaftscharakter der Geschichtswissenschaft berufen sich zumeist auf den Subjektivitätsgehalt ihrer hermeneutischen Arbeitsweise.
2 Deshalb kann sich die Geschichtswissenschaft niemals nur als bloße Quellenkritik verstehen.
3 E. B e r n h e i m , Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, Berlin 61908 (ND. 1960),
S. 255ff.
4
I. Theoretische Grundlagen
254-255
fassen, um eine wichtige Fehlerquelle, die Verzerrung historischer Inhalte durch die persönlichen Anschauungen und die subjektive Einflußnahme des Quellenverfassers auf seinen Bericht,
nach Möglichkeit auszuschalten. Damit rückt der jeweilige Autor der Quelle in das Blickfeld
des modernen Historikers, und es ist im Grunde nur ein kleiner Schritt bis zu der Erkenntnis,
daß die Ergebnisse einer Quellenkunde mit ihren Aussagen über frühere Schriftsteller bereits in
sich eine historische Information vermitteln und keineswegs bloß Vorarbeit der Interpretation
sind. Man weiß heute, mit anderen Worten, daß die Quelle und ganz besonders die Historiographie, gerade weil sie von ihrer Intention her noch gar nicht „Quelle“ sein will, mehr ist als
lediglich ein Medium zum „Ereignis“, zum historischen Sachverhalt, und hat den Eigenwert
der Quelle, deren Verfasser die Ereignisse seiner Zeit jeweils von seinem subjektiven Standort
aus berichtet, kommentiert und reflektiert und die gewissermaßen selbst ein „historisches Faktum“ darstellt, erkannt4, und moderne Quellenkunden tragen dem in ihren Informationen
Rechnung5.
Nachdem dieser Grundsatz bereits in einer Reihe historischer, vor allem ideengeschichtlicher Forschungen angewandt worden ist, hat ihn H. Beumann auch methodisch ausformuliert: Die erzählende Quelle ist eine „Selbstinterpretation des Zeitalters“; „weit über eine bloße
Rolle eines unvollkommenen / Vehikels für historische Nachrichten hinaus ist sie der zentrale
Ort für die geistige Auseinandersetzung des Zeitgenossen mit der ihn umgebenden Wirklichkeit und der Niederschlag jener immer wieder erneuerten Bemühungen, den eigenen geschichtlichen Standort auf dem Hintergrund der Vergangenheit zu bestimmen, die geschichtliche Tradition an die Gegenwart heranzuführen und diese mit Hilfe jener zu deuten“6. Beumann selbst hat diese Erkenntnis in einer Reihe konkreter Forschungen zur „politischen Ideengeschichte“ des früheren Mittelalters fruchtbar gemacht7; grundsätzlich aber bleibt der Ansatz
nicht auf Fragen beschränkt, die dem „Politischen“ verhaftet sind, sondern er läßt sich, wie
zahlreiche Untersuchungen beweisen, auf andere Bereiche übertragen, die an ,,Ideen“ interessiert sind, seien sie historiographischer oder theologischer8, gesellschaftlicher9 oder gar natur4 Vgl. H. B e u m a n n , Geschichtsschreibung im frühen und hohen Mittelalter, in: Geschichtsschreibung: Epochen,
Methoden, Gestalten, Düsseldorf 1968, S. 84: „Der historische Ort der Historiographie liegt somit im Schnittpunkt
von Aktion und Reflexion und ist damit selbst ein Stück geschichtlicher Wirklichkeit eigener Art. Indem sie
schließlich selbst Tradition stiftet, liefert die Geschichtsschreibung künftigen Generationen gewollt oder ungewollt
Kategorien des Handelns und vermag insofern selbst Geschichte zu wirken.“
5 Vgl. F.-J. S c h m a l e in: Wattenbach-Schmale, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vom Tode Kaiser
Heinrichs V. bis zum Ende des Interregnum, Bd. 1, Darmstadt 1976, S. XIXs.
6 H. B e u m a n n , Die Historiographie des Mittelalters als Quelle für die Ideengeschichte des Königtums, in: HZ
180, 1955, S. 451. Zur Bedeutung des Selbstverständnisses und der geistigen und sozialen Zugehörigkeit der Geschichtsschreiber für die Gestaltung der Quelle vgl. F.-J. S c h m a l e , Mentalität und Berichtshorizont, Absicht
und Situation hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber, in: HZ 226, 1978, S. 1-16.
7 Die wichtigsten seiner Aufsätze sind jetzt zusammengefaßt in: H. B e u m a n n , Wissenschaft vom Mittelalter.
Ausgewählte Aufsätze, Köln–Wien 1972.
8 Vgl. die von J. Spörl initiierten Untersuchungen zur Geschichtstheologie; z. B. J. S p ö r l , Grundformen hochmittelalterlicher Geschichtsanschauung. Studien zum Weltbild der Geschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts, München 1935 (ND. Darmstadt 1968). Mit einem anderen wichtigen Problem der Entstehung von Geschichtsschreibung überhaupt, nämlich dem Verhältnis von Geschichtsmaterie und deren inhaltlicher Verarbeitung, beschäftigt
sich G. M e l v i l l e , System und Diachronie. Untersuchungen zur theoretischen Grundlegung geschichtsschreiberischer Praxis im Mittelalter, in: Historisches Jahrbuch 95, 1975, S. 33-67, 308-41. Danach liegt die Aufgabe und
Leistung des Geschichtsschreibers in der Formung der vom zeitlichen Ablauf bestimmten Vielfalt des Geschehens
(daneben spielen freilich auch andere Faktoren, wie Intentionen oder die Vorstellung von „Geschichte“ selbst, eine
23-24
Wahrnehmungs- und Deutungsmuster
als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft
In jüngster Zeit ist in einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Geschichtswissenschaft viel
von Wahrnehmung die Rede.1 In der Regel will der zumeist unreflektiert gebrauchte Begriff
nur andeuten, dass es nicht um die Faktenebene der Geschichte, sondern um bestimmte Perspektiven, besonders (jedoch nicht ausschließlich) der Quellenautoren, geht. Nicht selten ist lediglich die „Darstellung“, manchmal sind Erfahrungen, Erinnerungen und Beobachtungen
oder deren Verständnis und Deutung gemeint.2 Hingegen wird dieses Phä/nomen in den einOriginalpublikation in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 8, Berlin 2003, S. 23-33.
1 Ich nenne nur wenige mediävistische Beispiele: Juliane Kümmell, Erinnern und Vergessen in der Stadt. Überlegungen zu Formen spätmittelalterlicher Wahrnehmung anhand von Ansätzen volkssprachlicher Stadtgeschichtsschreibung im nördlichen Frankreich. Saeculum 35 (1984), S. 225–245; Folker E. Reichert, Der sizilische Staat Friedrichs
II. in Wahrnehmung und Urteil der Zeitgenossen. Historische Zeitschrift 253 (1991), S. 21–50; ders., Wirklichkeit
und ihre Wahrnehmung im Itinerar Odoricos da Pordenone. In: Thomas Beck u. a. (Hgg.), Überseegeschichte. Beiträge der jüngeren Forschung (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 75). Stuttgart 1999, S. 42–55; ders.,
Fremde Frauen. Die Wahrnehmung von Geschlechterrollen in den spätmittelalterlichen Orientreiseberichten. In:
Odilo Engels u. Peter Schreiner (Hgg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposiums des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000. Todesjahres der Kaiserin Theophanu. Sigmaringen 1993, S. 167–184; Klaus Graf, Feindbild und Vorbild. Bemerkungen zur städtischen Wahrnehmung des Adels.
Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 141 (1993), S. 121–154; Harald Kleinschmidt, Wahrnehmung des
Wandels am Beispiel der Architektur im frühmittelalterlichen England. Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 101 (1993), S. 405–424; Jerzy Strzelczyk, Die Wahrnehmung des Fremden im mittelalterlichen Polen. In: Engels/Schreiner, S. 203–220; Jürgen Miethke u. Klaus Schreiner (Hgg.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen. Sigmaringen 1994; Wolfgang Harms
u. Stephen Jaeger in Verbindung mit Alexandra Stein (Hgg.), Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart 1997; Rainer C. Schwinges, Die Wahrnehmung des Anderen durch Geschichtsschreibung. Muslime und Christen im Spiegel der Werke Wilhelms von Tyrus († 1186) und Rodrigo Ximénez’ de Rada († 1247). In: Alexander
Patschovsky u. Harald Zimmermann (Hgg.), Toleranz im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 45). Sigmaringen
1998, S. 101–127; Guy P. Marchal, Über Feindbilder zu Identitätsbildern. Eidgenossen und Reich in Wahrnehmung
und Propaganda um 1500. In: Peter Niederhäuser (Hg.), Vom „Freiheitskrieg“ zum Geschichtsmythos. 500 Jahre
Schweizer- oder Schwabenkrieg. Zürich 2000, S. 103–122; Ingrid Baumgärtner, Die Wahrnehmung Jerusalems auf
mittelalterlichen Weltkarten. In: Dieter Bauer, Klaus Herbers u. Nikolas Jaspert (Hgg.), Jerusalem im Hoch- und
Spätmittelalter. Konflikte und Konfliktbewältigung – Vorstellungen und Vergegenwärtigungen (Campus Historische Studien 29). Frankfurt a. M. 2001, S. 271–334; Ramona Sickert, Armut im Vergleich. Überlegungen zur zeitgenössischen Wahrnehmung franziskanischer Armut im 13. Jahrhundert. In: Gert Melville (Hg.), In proposito paupertatis. Studien zum Armutsverständnis bei den mittelalterlichen Bettelorden (Vita Regularis 13). Münster 2001,
S. 101–115; Heinz Thomas, Die Wahrnehmung der „Anderen“ im Spiegel schwäbischer und oberitalienischer
Schriftzeugnisse des 10. und 11. Jahrhunderts. In: Helmut Maurer, Hansmartin Schwarzmaier u. Thomas Zotz
(Hgg.), Schwaben und Italien im Hochmittelalter (Vorträge und Forschungen 52). Stuttgart 2001, S. 53–81; Klaus
van Eickels, Vom inszenierten Konsens zum systematisierten Konflikt? Die englisch-französischen Beziehungen
und ihre Wahrnehmung an der Wende vom Hoch- zum Spätmittelalter (Mittelalter-Forschungen 10). Stuttgart
2002.
2 Miethke/Schreiner sprechen in ihrer Einleitung von Innenansichten ([Anm. 1], S. 9). Vielfach geht es im gleichen
Sammelband um das Verhältnis von terminologischen Konzepten und (sozialer) Wirklichkeit (etwa bei Otto Gerhard Oexle), die Erfahrung dieser Wirklichkeit (bei Ulrich Meier), das terminologische Verständnis (bei Rolf
Köhn) oder einfach um die Frage, ob und wieweit man einen Wandel überhaupt bemerkt hat (etwa bei Neithard
Bulst zu demographischen Entwicklungen). Ähnlich ist das Spektrum in den anderen genannten Titeln. Literatur-
20
I. Theoretische Grundlagen
24-25
schlägigen Schriften kaum hinreichend erläutert oder definiert oder gar geschichtstheoretisch
reflektiert.3
Der Ansatz verdankt sich einer „anthropologischen“ Geschichtswissenschaft, die – nach
einer langen Phase der (Über-)Betonung überindividueller Strukturen – wieder nach den oder
dem Menschen in der Geschichte fragt, sowie einem Perspektivenwandel, der auch die mittelalterlichen Autoren als schreibende Menschen (und nicht nur als „Quellen“ für unsere Fragen)
betrachtet und damit aufwertet: Die „Quelle“ wird somit zum „Zeitzeugnis“, ihr Autor zum
„Zeitzeugen“, dessen Sichtweise hier zwangsläufig in das Zentrum rückt.4 Damit eröffnet sich
eine neue Perspektive, eine andere Fragerichtung, die sich von einer (vermeintlichen) historischen „Realität“ auf deren Wahrnehmung, von der Geschichte als Prozess auf die diesen wahrnehmenden, beobachtenden und kommentierenden Menschen darin verlagert. Auf historisches Geschehen (im weitesten Sinn) bezogen, fragt eine geschichtswissenschaftliche Analyse –
gleichsam durch die Quellen hindurch – nicht mehr ausschließlich: „Wie geschah es?“, sondern: „Wie wurde dieses Geschehen (vom Autor und seinen Zeitgenossen) wahrgenommen?“
und weiter, auf die (uns allein erhaltene) Darstellung bezogen: „Wie wurde es dargestellt, d. h.
darstellerisch verarbeitet oder auch: ‚konstruiert‘?“
Selbstverständlich ist eine solche Sichtweise nicht völlig neu. Sie ist in gewisser Weise
seit der Entstehung einer kritischen Geschichtswissenschaft spätestens im 19. Jahrhundert stets
Gegenstand einer Quellenkritik gewesen. Die „Perspektivität“ der Quellen ist also längst bekannt und tatsächlich, nach dem discrimen veri ac falsi in Bezug auf Urkunden, sogar eine wesentliche Ursache für die Entstehung der Quellenkritik. Geschehen (res gesta) und Darstellung
(narratio rerum gestarum) fallen bekanntlich auseinander – das ist im Übrigen ein zentrales
Argument für die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Geschichte, würde es sonst doch genügen, die Quellen einfach zu lesen: Der Autor hielt ja nicht fest, was geschehen war, sondern wie er glaubte, dass es geschehen sei, wie er sich dieses Geschehen vorstellte, ja, wie er es sehen wollte (oder seinen Lesern vermitteln und glaubhaft machen wollte).
Das zu erkunden, wird aus der traditionellen Quellenkritik in die neueren anthropologischen
Betrachtungsweisen übernommen. Dennoch greift der angesprochene Perspektivenwandel weit
tiefer, denn erstens wird die menschliche Wahrnehmung (und Darstellung) hier selbst zum Erkenntnisziel (und ist nicht mehr nur quellenkritisches Medium für eine „Rekonstruktion der
Fakten“). Zweitens kann sich das Augenmerk nicht auf die berüchtigte „Tendenz“ beschränken, die ein wichtiges, aber eben doch nur ein Ele/ment in einer ganzen Kette von Faktoren
ausmacht, welche die Wahrnehmung und Darstellung beeinflussen (und die in der heutigen
wissenschaftliche Arbeiten beziehen „Wahrnehmung“ hingegen überwiegend auf sinnliches Wahrnehmen (Hören
und Sehen).
3 Eine Ausnahme bildet Johannes Fried, Gens und Regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen
Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers. In:
Miethke/Schreiner [Anm. 1], S. 73–104, der – unter dem verzerrenden Etikett einer „doppelten Theoriebildung des
(modernen) Historikers“ – zu Recht deren Berücksichtigung durch die Geschichtswissenschaft fordert. Reflektiert
wird der Ansatz auch bei Sickert [Anm. 1], S. 102f., die Wahrnehmung bereits durch Deutungsmodelle strukturiert
sieht. Vgl. auch Hans-Georg Soeffner, Appräsentation und Repräsentation. Von der Wahrnehmung zur
gesellschaftlichen Darstellung des Wahrzunehmenden. In: Hedda Ragotzky u. Horst Wenzel (Hgg.), Höfische
Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Tübingen 1990, S. 43–63, dem es um die Deutung des
Wahrgenommenen geht.
4 Zur Forschung vgl. Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung.
Darmstadt 1999, S. 166–173.
307-308
Die „Summa Gloria“
Ein Beitrag zu den politischen Vorstellungen des Honorius Augustudunensis*
Der Rangstreit zwischen Kaiser und Papst um den ersten Platz in der Kirche (ecclesia) hat viele
Denker des 11. und beginnenden 12. Jahrhunderts beschäftigt; ein typisches literarisches Produkt dieser Zeit sind die sog. Streitschriften (Libelli de lite). Der Zugang zu der für uns heute
fremdartigen Denkweise mittelalterlicher Autoren wird trotz großer, neuer Überblicke1 nicht
zuletzt durch die traditionelle Unterscheidung einer propäpstlichen und einer prokaiserlichen
Richtung erschwert, die den Blick auf die zugrundeliegenden Denkstrukturen und Vorstellungen eher verstellt.2 Von wenigen Ausnahmen abgesehen,3 fehlt eine der Forschung neue Impulse verleihende Würdigung einzelner Autoren oder Schriften als ein methodisch fruchtbarer
Weg, die Beweggründe und geistigen Triebkräfte dieses wichtigen Zeitalters zu erkennen.
Als einer der letzten Streitschriftenverfasser hat sich auch Honorius,4 der zu vielen Problemen seiner Zeit Stellung genommen hat, geäußert: Seine / „Summa gloria“5 bildet eine der
Originalpublikation in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 89, 1978, S. 307-353.
* Der Aufsatz verdankt seine Entstehung einem Forschungsseminar über Honorius, das Prof. Dr. F.-J. Schmale seit
dem Sommersemester 1973 abgehalten hat, und beruht wesentlich auf der Mitwirkung auch der übrigen Teilnehmer, Dr. D. Scheler, Dr. W.-R. Schleidgen, U. Berzen, E. Dörner-Goetz, K. Malsch und G. Klein-Neuroth. Für wertvolle Hinweise danke ich Prof. Dr. H. Fuhrmann und Dr. W. Hartmann von den „Monumenta Germaniae Historica“.
1 In diesem Zusammenhang ist vor allem W. Kölmel, Regimen Christianum. Wege und Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses und des Gewaltenverständnisses (8. – 14. Jahrhundert), Berlin 1970, zu nennen.
2 Daß eine solche Einteilung problematisch ist, bemerkte schon C. Mirbt, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII.,
Leipzig 1894, S. 92; die Autoren behandeln nicht Papst und Kaiser, sondern „sacerdotalis et regia dignitas“ (ebda.
S. 544). Zur grundsätzlichen Gleichartigkeit der Auffassungen Gregors VII. und Heinrichs IV. bezüglich des Kirchenregiments vgl. F.-J. Schmale, Papsttum und Kurie zwischen Gregor VII. und Innozenz II., HZ 193, 1961, S. 26585.
3 Vgl. W. Hartmann über Manegold von Lautenbach, in DA 26, 1970, S. 47-149, oder J. Krimm-Beumann zum Traktat „De investitura episcoporum“ von 1109, DA 33, 1977, S. 37-83; dies. (J. Beumann), Sigebert von Gembloux und
der Traktat „De investitura episcoporum“ (Vortrr. u. Forsch. Sonderbd. 20), Sigmaringen 1976; J. Ziese, Historische
Beweisführung in Streitschriften des Investiturstreites, München 1972, behandelt neben diesem Traktat auch Anselm von Lucca.
4 Zu Leben und Werk des Honorius vgl. J. A. Endres, Honorius Augustodunensis. Beitrag zur Geschichte des geistigen Lebens im 12. Jahrhundert, Kempten/München 1906; H. Menhardt, Der Nachlaß des Honorius Augustodunensis, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89, 1958/59, S. 23-69; V. I. J. Flint, The Life and
Works of Honorius Augustodunensis. With Special Reference to Chronology and Sources, Diss. Oxford 1969 (zum
großen Teil gedruckt in Revue bénédictine 82, 1972, S. 63-86 und S. 215-42; 84, 1974, S. 196-211; 85, 1975, S. 17898; 87, 1977, S. 97-127); M.-O. Garrigues, L’ œuvre d’Honorius Augustodunensis, RHE 70, 1975, S. 388-425.
5 Die „Summa gloria“ ist in kritischer Ausgabe ediert von J. Dieterich, MG Libelli de lite 3, S. 63-80. Den Titel rechtfertigt Honorius selbst (S. 63, 22f.) damit, daß sich die Schrift, die er Christus widmet, mit den beiden höchsten
Gewalten, regnum und sacerdotium, beschäftigt. – Die Verfasserschaft des Honorius ist nie bestritten worden,
wenngleich sie nur durch eine Überlieferung, den Druck von Pez, bezeugt ist. – Über die Abfassungszeit der
„Summa gloria“ lassen sich nur Vermutungen anstellen. Sie wurde zwischen 1123 (Dieterich S. 34) und 1126
(Menhardt S. 69) oder sogar nach 1126 (Garrigues S. 420) angesetzt, nun aber von Flint in das Jahr 1111 zurückdatiert, da die Schrift im Verzeichnis der Werke des Honorius („De luminaribus ecclesiae“ Kap. 4, 17) der „Imago
mundi“ folgt, die 1110 entstanden sein soll. Im Text selbst finden sich lediglich zwei unbestimmte Hinweise:
34
II. Vorstellungswelten einzelner Quellenautoren
308-309
wenigen Schriften, die das Verhältnis zwischen den beiden Gewalten in den Mittelpunkt ihrer
Untersuchungen stellen und nicht nur am Rande reformtheologischer Ausführungen behandeln. Darüber hinaus scheint sie, im Vergleich mit anderen Streitschriften, einen nicht unbedeutenden Einfluß ausgeübt zu haben.6
Vergegenwärtigen wir uns vorweg den Inhalt der Schrift: Ein „dux pusilli gregis Christi“
beauftragt Honorius, das Rangverhältnis zwischen der königlichen und der priesterlichen Regierungsgewalt zu untersuchen. Honorius gibt seine Antwort bereits zu Beginn der Schrift: Wie
das Geistliche über dem Weltlichen steht, so übertrifft der Klerus das Volk und das sacerdotium das regnum (Kap. 1). Honorius beweist diese These, indem er mit Hilfe einer typologischen Auslegung (Abel/Seth, Sem, Isaak, Jakob als „typi sacerdotii“; Cain, Japhet, Ismael, Esau
als „typi regni“) den biblisch und historisch bezeugten Vorrang der geistlichen Gewalt von den
Anfängen aller Geschichte bis zum römischen Kaisertum (Kap. 16ff.) und noch einmal bis in
die Zeit Karls des Großen und seiner Nachfolger (Kap. 30f.) verfolgt. Dieser historische Überblick (Kap. 2-18) wird ergänzt durch rechtliche Bestimmungen der Wahl und Aufgaben von
Papst, Bischof und Kaiser (Kap. 19-22), Bemerkungen zur Stellung des Königs gegenüber den
zum Gehorsam verpflichteten Untertanen (Kap. 24-27) und die These, daß jenem als Laien
nicht das Recht der Bischofsinvestitur zustehe (Kap. 28-31). Noch einmal / erhärtet Honorius
den Vorrang des Priestertums auch von der Salbung her (Kap. 33) und wendet sich abschließend gegen diejenigen, die alle Würden in der Hand des Königs vereinigt sehen wollen
(Kap. 34).
Die kurze Inhaltsangabe zeigt bereits, wie leicht es scheinbar ist, die Position des Honorius in dem großen Rangstreit des christlichen Abendlandes zu kennzeichnen, und die Einordnung in die Reihe der Streitschriften läßt eigentlich kaum noch einen Zweifel zu, welchem der
beiden sich feindlich gegenüberstehenden Lager der Verfasser zuzurechnen ist: Honorius gilt
als propäpstlicher Schriftsteller, ja man hat ihn sogar als „extremen Gregorianer“ und als einen
der ersten Vertreter der „potestas directa“ des Papstes bezeichnet.7 Demgegenüber verblüffen
nun aber Äußerungen in der „Summa gloria“, die die Rechte des Königtums gewahrt wissen
wollen und folglich eine einschränkende Interpretation verlangen.8 Das ausgewogenste Urteil
haben die Gebrüder Carlyle mit der Feststellung gefällt, daß die extremen Ansichten des Hono-
1. Kap. 32 muß als Warnung für die schlechten Könige, die in Kap. 31 als „rebelles ecclesiae“ vorgestellt worden
sind, aufgefaßt werden. Da gerade Heinrich V. oft als Rebell betrachtet wird, ist die „Summa gloria“ vielleicht in seiner Regierungszeit entstanden. Einige Sätze aus seiner Weltchronik, der „Summa totius“, bestätigen, daß auch Honorius die zitierte Ansicht über den Kaiser teilt; zum Jahr 1106 heißt es: Post haec Pannoniam cum exercitu aggreditur, sed nihil dignum memoriae ibi geritur … ipse papam comprehendit, clerum et populum terrore dispergit, …
in sacerdotes Domini et principes crudeliter grassatur. Über Lothar III. fehlen ähnlich negative Äußerungen (MG
SS 10, S. 131).
2. Die Tatsache, daß Karl dem Großen das Investiturrecht „citra Alpes“ eingeräumt wird (Kap. 30 – S. 78, 11f.), erinnert an das Wormser Konkordat, das deshalb als terminus post quem angesehen werden kann. Die Abfassungszeit läge danach zwischen 1122 und 1125.
6 Es sind neun Handschriften aus dem 12. bis 16. Jahrhundert erhalten (einschließlich des auf eine unabhängige
Überlieferung zurückgehenden Drucks von Pez).
7 Vgl. A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands Bd. 3, S. 135, und J. Schmidlin, Die kirchenpolitischen Ideen des
12. Jahrhunderts, Archiv für katholisches Kirchenrecht 84, 1904, S. 48.
8 J. Funkenstein, Das Alte Testament im Kampf von regnum und sacerdotium zur Zeit des Investiturstreits, Diss.
Basel 1938.
153-154
Eschatologische Vorstellungen und Reformziele
bei Bernhard von Clairvaux und Norbert von Xanten*
1. Die Frage: Bernhard von Clairvaux und Norbert von Xanten stehen gewissermaßen symbolisch für zwei Prinzipien, zwei Richtungen, die, beide aus der großen Reformbewegung des frühen 12. Jahrhunderts stammend, zwei große Orden repräsentieren, die, mit Hunderten von
Konventsgründungen, das ganze Zeitalter zu prägen scheinen: Zisterziensermönch der eine,
zwar nicht Gründer, aber die beherrschende Gestalt seines Ordens, Kleriker, Gründer des Prämonstratenserordens, der andere. Zwischen reformiertem Mönchtum und reguliertem Kanonikertum bestand von den Zielen und der Lebensform her zweifellos eine enge Verwandtschaft,
und auch das Verhältnis zwischen Bernhard und Norbert war durch persönliche Beziehungen
und eine gegenseitige Wertschätzung geprägt; auf der anderen Seite gab es aber auch Unterschiede, die teils individuell bestimmt, teils aus den abweichenden Ansprüchen der Orden erwachsen sein mögen. Hat man früher die Ähnlichkeiten, die gemeinsame Abgrenzung von anderen, betont – wie man überhaupt die verschiedenen Reformrichtungen zu wenig in ihrer Eigenständigkeit gewürdigt hat –, so werden heute, bei näherer Betrachtung, die Unterschiede
hervorgehoben, etwa von Kaspar Elm, der nun umgekehrt geradezu von „Verkörperungen von
Gegensätzen“ spricht.1
In diesem Sinne sei hier die Frage des Verhältnisses der Anschauungen der beiden bedeutenden Persönlichkeiten in bezug auf einen Aspekt überprüft: ihre eschatologischen Vorstellungen. Die Eschatologie bildet einen wesentlichen Bestandteil der mittelalterlichen Theologie und des Geschichtsbildes, bedeutete das Ende der Welt doch die Überwindung des mit
dem Sündenfall in die Welt gekommenen Irdisch-Zeitlichen, des saeculum, und die Erfüllung
der durch die Auferstehung Christi geschaffenen Heilsmöglichkeiten für den Menschen, somit
aber auch die Aufhebung der Geschichte in der Ewigkeit als prophezeitem Ziel der Menschheit.
Waren solche Vorstellungen allgemein und ausnahmslos ver/breitet, so ist es eine ganz andere
Frage, ob die Menschen des Mittelalters das Ende der Welt schon in naher Zukunft erwarteten;
jedenfalls legte der Sachverhalt es immer wieder nahe, den historischen Standort der Gegenwart in diesem heilsorientierten Geschichtsablauf zu bestimmen.2 Zwar hatte bereits Augustin
jede Spekulation über das Ende der Zeiten als müßig verurteilt, weil entsprechende Offenbarungen fehlten3, und im allgemeinen herrschte wohl keine akute Endzeiterwartung vor. Dennoch wurden noch im Mittelalter immer wieder solche Spekulationen und symbolischen Berechnungen angestellt, gab es chiliastische Ängste, die die Forschung gern (aber nicht unbe-
*
1
2
3
Originalpublikation in: Zisterziensische Spiritualität. Theologische Grundlagen, funktionale Voraussetzungen und
bildhafte Ausprägungen im Mittelalter, hg. v. Clemens Kasper und Klaus Schreiner (Studien und Mitteilungen zur
Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige. Ergänzungsband 34) St. Ottilien 1994, S. 153-169.
Erweiterte deutsche Fassung eines im Juni 1990 in Lyon gehaltenen Vortrags, der unter dem Titel „Bernard et Norbert: eschatologie et réforme“ im Einleitungsband der neuen Bernhardausgabe in den „Sources chrétiennes“ erscheinen wird.
Elm K., Norbert von Xanten. Bedeutung – Persönlichkeit – Nachleben. (Norbert von Xanten. Adliger, Ordensstifter, Kirchenfürst, hrsg. v. Elm K., Köln 1984, 267-318, hier 298).
Vgl. Funkenstein A., Heilsplan und natürliche Entwicklung. Formen der Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des hohen Mittelalters. München 1965.
Etwa ep. 199,13,53 (CSEL 57, 290f.); De civitate Dei 18,52 (CCL 48, 652).
76
II. Vorstellungswelten einzelner Quellenautoren
154-155
dingt zu Recht) in den Bereich der Volksreligion abschiebt.4 Die Erkenntnisquellen waren allerdings gering: Die Anspielungen der Bibel waren wenig eindeutig, die Geschichte – ja gleichfalls als göttliche Offenbarung verstanden – half ebensowenig weiter, und die in Fülle bezeugten Visionen zeichneten ein detailliertes Bild von den Zuständen der Ewigkeit, nicht aber
von der Endzeit. Bernhards gelehrte Zeitgenossen, die frühscholastischen Autoren, aber auch
die sog. Symbolisten des früheren 12. Jahrhunderts, näherten sich dem Thema auf wissenschaftlichem, oft enzyklopädischem Wege und entwickelten hier, wie ich an anderer Stelle zu
zeigen suchte, sehr tiefgründige Vorstellungen, bieten aber kaum Anhaltspunkte für eine akute
Endzeiterwartung.5 Bernhard und Norbert aber waren, wie man weiß, weit von den Tendenzen
der neuen „Schulwissenschaft“ entfernt. Wie ihren Zeitgenossen, ging es ihnen zuallererst um
die Reform der Kirche, die – teils aus der Kirche selbst erwachsen, teils von außen gegen sie gerichtet und in Häresien einmündend – überhaupt als das zentrale Anliegen des hohen Mittelalters betrachtet werden kann. Daher sei hier zugleich nach dem Verhältnis zwischen dem eschatologischen Denken und den Reformgedanken gefragt, nach möglichen Zusammenhängen
oder auch danach, ob, wie man vermutet hat, Spannungen zwischen beiden Richtungen bestanden haben, ob die Zeichen der Krise entweder zu Reformmaßnahmen oder zur Erwartung
des Endes geführt haben. Daß zwischen beiden Themen tatsächlich Zusammenhänge bestehen,
ist – in bezug auf Bernhard – ebenfalls schon mehrfach bemerkt worden: Das engelgleiche
mönchische Leben sei der Weg zum himmlischen Jerusalem, so / charakterisiert Bernard
Jacqueline Bernhards zentrales Anliegen6, und ähnlich formuliert Placide Deseille: Im Mönchtum könne die Kirche ihren eschatologischen Charakter zeigen.7
Eine nähere Behandlung des Themas bedarf allerdings einer methodischen Vorbemerkung. Ihr stehen nämlich einige Hindernisse entgegen: Von Norbert sind keine Schriften, sondern nur wenige Briefe und Urkunden erhalten, deren Authentizität zudem immer mehr eingeschränkt wird8; er ist uns also nur über eine Fremdsicht zugänglich. Von Bernhard wiederum
gibt es zwar zahllose Schriften, die aber doch nur einzelne, verstreute Äußerungen zum Thema
enthalten, deren eschatologischer Bezug zudem recht vage bleibt: Bernhards Thema war das
Himmelreich (und ein demgemäßes Leben), aber nicht die Eschatologie an sich. Um dennoch
zu vergleichenden Aussagen zu gelangen, seien zwei komplementäre Zugänge gewählt: ein biographischer, an den Viten orientierter Weg, der Rückschlüsse aus dem Handeln zieht, und ein
mentalitätsgeschichtlicher, an den Schriften orientierter Zugang, der uns zu den Anschauungen
führt.
4 Zu eschatologischen Vorstellungen vgl. McGinn B., Visions of the End. Apocalyptic Traditions in the Middle Ages.
New York 1979; Rauh H.D., Das Bild des Antichrist im Mittelalter. Von Tyconius zum Deutschen Symbolismus
(Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, N.F. 9, Münster 1973); zuletzt Fried J.,
Endzeiterwartung um die Jahrtausendwende (DA 45, 1989, 381-473).
5 Vgl. Goetz H.W., Endzeiterwartung und Endzeitvorstellung im Rahmen des Geschichtsbildes des früheren 12.
Jahrhunderts (The Use and Abuse of Eschatology in the Middle Ages, hrsg. v. Verbeke W., Verhelst D. und Welkenhuysen A. = Mediaevalia Lovaniensia I, 15, Leuven 1988, 306-332).
6 Jacqueline B., Episcopat et papauté chez saint Bernard de Clairvaux. Lille-Paris 1975, 97.
7 Deseille R.P., Théologie de la vie monastique selon saint Bernard (Théologie de la vie monastique. Études sur la
tradition patristique. Paris 1961, 503-525, bes. 519ff.); zum Zusammenhang von Eschatologie und Armutsbewegung vgl. Classen P., Eschatologische Ideen und Armutsbewegungen im 11. und 12. Jahrhundert (Povertà e ricchezza nella spiritualità dei secoli XI e XII. Todi 1969, 127-162).
8 Vgl. Grauwen W.M., Die Quellen zur Geschichte Norberts von Xanten (Norbert von Xanten, wie Anm. 1, 15-28).
131-132
Die Rezeption der augustinischen »civitas«-Lehre
in der Geschichtstheologie des 12. Jahrhunderts
I
Der Kirchenvater Augustin, Bischof im nordafrikanischen Hippo Regius, ist nicht nur einer der
bedeutendsten Denker des Abendlandes, sondern hat darüber hinaus durch seinen Einfluß und
seine Autorität wesentlich das theologische und ethische Denken des Mittelalters bis zur Scholastik und darüber hinaus bestimmt. Es war die Aufgabe und die historische Leistung der Patristik gewesen, der Kirche eine zunächst in Auseinandersetzung mit Heiden und Häresien geschaffene Dogmatik zu liefern, die fortan zur unabänderlichen Norm wurde. Augustin, der in
seinen zahlreichen Schriften, durchaus im Zusammenhang mit seiner komplexen Biographie1,
nahezu alle Fragen der christlichen Glaubenslehre behandelt, hat daran den größten Anteil.
Obwohl man ihn von seiner Gedankenwelt her durchaus noch der Antike zurechnen kann2, ist
sein Einfluß auf die nachfolgenden Jahrhunderte so gewaltig, daß / man geradezu von einem
»Augustinismus« des Mittelalters spricht.3 Die Zahl der erhaltenen Augustinhandschriften ist
unübersehbar4, auch wenn seine vielfach zitierten Sätze oft vielleicht nur den zahlreichen Florilegien entnommen waren. In den Sentenzensammlungen des 12. Jahrhunderts war Augustin
der meistberücksichtigte Autor, die Streitschriftenverfasser des Investiturstreits beriefen sich
vor allem auf ihn5, die Theologen des 12. Jahrhunderts, der Frühscholastik ebenso wie der traditionellen Lehre, entlehnten ihre Argumente in erster Linie seinen Schriften6, und auch in der
1
2
3
4
5
6
Originalpublikation in: Nibelungenlied und Klage. Ursprung – Funktion – Bedeutung. Symposium Kloster Andechs 1995 (mit Nachträgen bis 1998), hg. v. Dietz-Rüdiger Moser und Marianne Sammer (Beihefte der Zeitschrift
„Literatur in Bayern“ 2) München 1998, S. 131-167.
Zu Leben und Werk vgl. Kurt Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980.
Ernst Troeltsch: Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter im Anschluß an die Schrift »De civitate Dei«,
München 1915 (ND Aalen 1963) (Historische Bibliothek, 36), S. 7 sieht in ihm »die letzte und größte Zusammenfassung der absterbenden antiken Kultur«; Henri-Irénée Marrou: Saint Augustin et la fin de la culture antique, Paris
41958, erblickt in ihm ebenso den Gelehrten des Verfalls der Antike (S. 543), wie den Wegweiser der christlichen
Kultur (S. 331 ff.). Den ersten Aspekt hat Marrou in seiner »Retractatio« von 1949 (S. 541 ff., 686 ff.) jedoch weitgehend zurückgenommen.
Vgl. u.a.: Traditio Augustiniana. Studien über Augustinus und seine Rezeption. Festgabe für Willigis Eckermann OSA,
Würzburg 1964 (Cassiciacum, 46); Saint Augustine and His Influence in the Middle Ages, hg. von Edward B. King u.
Jaqueline T. Schaefer, Sewanee/Ts. 1988 (Sewanee Medieval Studies); Via Augustini. Augustine in the Later Middle
Ages, Renaissance and Reformation. Essays in Honor of Damasus Trapp O.S.A., hg. von H. A. Obermann u. F. A.
James, Leiden/New York/Kopenhagen/Köln 1991 (Studies in Medieval and Reformation Thought, 48).
Sie werden gesammelt von der Kommission zur Herausgabe des Corpus der lateinischen Kirchenväter: Die handschriftliche Überlieferung der Werke des heiligen Augustinus. Bd. 1: Manfred Oberleitner: Italien, Wien 1969/70 (SB
Wien 263 u. 267); Bd. 2: Franz Römer: Großbritannien und Irland, Wien 1972 (SB Wien 276 u. 281); Bd. 3: Ders.:
Polen und Skandinavien, Wien 1973 (SB Wien 289); Bd. 4: Johannes Divjak: Spanien und Portugal, Wien 1974 (SB
Wien 292); Bd. 5: Rainer Kurze: BRD und West-Berlin, Wien 1976-1979 (SB Wien 306 u. 350); Bd. 6: Dorothea Weber: Österreich, Wien 1993 (SB Wien 601).
Vgl. dazu bereits Carl Mirbt: Die Stellung Augustins in der Publicistik des Gregorianischen Kirchenstreits, Leipzig
1888.
Vgl. Martin Grabmann: Augustins Lehre von Glauben und Wissen und ihr Einfluß auf das mittelalterliche Denken.
In: Aurelius Augustinus. Festschrift der Görresgesellschaft zum 1500. Todestage, Köln 1930, S. 87-110 (auch in: Ders.:
Mittelalterliches Geistesleben, Bd. 2, München 1936 [ND Hildesheim/New York 1975] S. 35-61); Walter Betzendör-
90
II. Vorstellungswelten einzelner Quellenautoren
132-134
Ikonographie spielte er eine / bedeutende Rolle.7 Große Bedeutung gewannen sein in der
Schrift De doctrina christiana entwickeltes christliches Bildungskonzept8, seine vieldiskutierte
Erbsündenlehre9, und selbst die politischen Anschauungen (um pax und / iustitia) griffen entscheidend auf Augustin zurück10, obwohl der Kirchenvater selbst kaum die Absicht gehabt hat,
eine »Staatslehre« zu entwickeln.11 Die augustinische Staats- und Soziallehre12 und seine Kirchenvorstellung haben das Mittelalter dennoch in einem Maße beeinflußt, daß man seit Arquillière im Hinblick auf das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt von einem »poli-
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fer: Glauben und Wissen bei den großen Denkern des Mittelalters. Ein Beitrag zur Geschichte des Zentralproblems der
Scholastik, Gotha 1931; Alois Grillmeier S.J.: Patristische Vorbilder frühscholastischer Systematik. Zugleich ein Beitrag
zur Geschichte des Augustinismus, Berlin 1962 (Studia patristica, 6 = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der
altchristlichen Literatur, 81), S. 390-408; Ders.: Vom Symbolum zur Summa. Zum theologiegeschichtlichen Verhältnis
von Patristik und Scholastik. In: Kirche und Überlieferung. Festschrift Rupert Geiselmann, Freiburg/Basel/Wien 1960,
S. 119-169; Elisabeth Gössmann: Glaube und Gotteserkenntnis im Mittelalter, Freiburg/Basel/Wien 1971 (Handbuch
der Dogmengeschichte, I,2b); zu Hugo von St. Viktor vgl. Ludwig Ott: Hugo von St. Viktor und die Kirchenväter. In:
Divus Thomas 27 (1949), S. 180-200, 293-332, bes. S. 293 ff. Anselm von Canterburys berühmtes Programm »Credo, ut intellegam« ist Augustins Sermo 43,9 (»Ergo intellege ut credas, crede ut intellegas«) entlehnt (hg. von Cyrillus
Lambert, CCL 41, 1961, S. 512); zur Lehre vom Jüngsten Gericht: Coloman Viola: Jugements de Dieu et jugement
dernier: saint Augustin et la scolastique naissante (fin XIe - milieu XIIIe siècles). In: The Use and Abuse of Eschatology
in the Middle Ages, hg. von Werner Verbeke, Daniel Verhelst u. Andries Welkenhuysen, Leuven 1988 (Mediaevalia
Lovaniensia, I,15), S. 242-298; zur (im 13. Jahrhundert abnehmenden) Augustinrezeption in der Christologie des
hohen Mittelalters: Walter H. Principe: Some Examples of Augustine's Influence on Medieval Christology. In: Augustiniana 41 (1991), S. 955-974; zu Johannes von Salisbury (der Augustin ganz anders las als wir): Kate L. Forhan:
The Not-so-divided Self: Reading Augustine in the Twelfth Century. In: Augustiniana 42 (1992), S. 95-110.
Vgl. Pierre Courcelle: Iconographie de la conversion de s. Augustin, Paris 1963 (auch in: Ders.: Les Confessions de
saint Augustin dans la tradition littéraire. Antécédents et Posterité, Paris 1963, S. 641-688).
Vgl. Martin Grabmann: Der Einfluß des hl. Augustinus auf die Verwertung und Bewertung der Antike im Mittelalter,
in: Ders.: Mittelalterliches Geistesleben, Bd. 2, München 1936 (ND Hildesheim/New York 1975), S. 1-24; L. M. J.
Verheijen: Le »De doctrina christiana« de saint Augustin. Un manuel d'herméneutique et d'expression chrétienne avec,
en II,19 (29)-42 (63), une »charte fondamentale pour une culture chrétienne«. In: Augustiniana 24 (1974), S. 10-20.
Zur Nachwirkung dieser Schrift: Ilona Opelt: Materialien zur Nachwirkung von Augustins Schrift ‘De doctrina christiana’. In: Jahrbuch für Antike und Christentum 17 (1974), S. 64-73.
Vgl. H. Raymond/M. Martin: Le péché original d'après Gilbert de la Porée († 1154) et son école. In: Revue d'histoire
ecclésiastique 13 (1912), S. 674-691; D. O. Lottin: La théorie du libre arbitre depuis St. Anselm jusqu'à St. Thomas,
Louvain 1929; Ders.: Les théories du péché original au XIe siècle. III. La tradition augustinienne. In: Revue Thomiste
17 (1949), S. 36-74; Henri Rondet: Grâce et péché. L'augustinisme de s. Anselme, Spicilegium Beccense. Congrès international du IXe centenaire de l'arrivée d'Anselme au Bec, Bd. 1, Le Bec/Paris 1959, S. 155-169. Die augustinische
Tradition begleitet die theologische Diskussion bis heute; vgl. Hermann Häring: Die Macht des Bösen. Das Erbe Augustins, Zürich 1979 (Ökumenische Theologie, 3).
Das suchten vor allem Ernst Bernheim: Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik und Geschichtsschreibung. I. Die Zeitanschauungen: Die Augustinischen Ideen. Antichrist und Friedensfürst, Regnum und Sacerdotium, Tübingen 1918 (ND Aalen 1964), bes. S. 50 ff., und die zahlreichen von ihm angeregten Dissertationen
herauszuarbeiten. Vgl. auch George J. Lavere: The Influence of Saint Augustine on Early Medieval Political Theory.
In: Augustinian Studies 12 (1981), S. 1-9.
So Johannes Spörl: Augustinus – Schöpfer einer Staatslehre? In: Historisches Jahrbuch 74 (1954), S. 62-78; Edgar Salin: Civitas Dei, Tübingen 1972, S. 184. Ausführlich zu den Staatsvorstellungen Augustins: John Neville Figgis: The
political aspects of S. Augustine’s ‘City of God’, Gloucester/Mass. 1963.
Vgl. dazu bereits E. Troeltsch (wie Anm. 2), der Augustin als den ersten christlichen »Kulturethiker« begreift
(S. 48 ff.).
108
„Unterschichten“ im Gesellschaftsbild
karolingischer Geschichtsschreiber und Hagiographen
Die Erforschung von „Unterschichten“ stellt zwar eine moderne sozialgeschichtliche Aufgabe
der Geschichtswissenschaft dar, die ihr Interesse zunehmend von den politischen Führungsschichten ab- und dem „einfachen“ Menschen, dem Alltag, das heißt aber auch: der Masse der
Bevölkerung1, zuwendet, doch ist dieses Thema im Bereich des Mittelalters und vor allem im
frühen Mittelalter und zumal von der deutschen Mediävistik bisher noch relativ wenig behandelt worden. Man begründet das mit einem gewissen Recht mit der Quellenlage, denn tatsächlich werden „Unterschichten“ in den Schriften des Frühmittelalters und namentlich in der Geschichtsschreibung sträflich vernachlässigt. „Unterschichten“ haben, wie Bosl es überspitzt
formuliert, keine Geschichte, da sie nicht politisch tätig waren2; sie haben zumindest nicht ihre
eigene Geschichte hinterlassen, da sie nicht schreiben konnten. Wo wir von ihnen erfahren, geschieht das aus der Sicht einer anderen Schicht, die sich in zweifacher Hinsicht von ihnen unterscheidet: Die Schreiber gehören fast ausnahmslos dem geistlichen Stand an, und sie entstammen vor allem einer gehobeneren, vornehmlich adligen Schicht3, die sich für „Unterschichten“ nur dort interessiert, wo diese in eine Funktion zu ihr treten. Das geschieht einmal
auf dem Gebiet des Rechts, in Kapitularien und Kanones, in denen anstelle der „Unfreien“ der
früheren Volksrechte nun „pauperes“ im Mittelpunkt stehen4, zum andern im Bereich der
1
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4
Originalpublikation in: Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung, hg. v. Hans
Mommsen und Winfried Schulze (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 24) Stuttgart 1981,
S. 108-130.
Man schätzt, daß mehr als 90 % der Bevölkerung des frühen Mittelalters zu den abhängigen Unterschichten zählen
(K. Bosl: Die Grundlagen der modernen Gesellschaft im Mittelalter. Eine deutsche Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Bd. 1. Stuttgart 1972. S. 69 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 4)).
Ebd. S. 89.
Vgl. H. U. Rudolf: Grundherrschaft und Freiheit im Mittelalter. Düsseldorf 1976. S. 10: Die Kenntnis über Lebensverhältnisse des einfachen Volkes stammt ausschließlich aus Quellen, die im Interesse, Auftrag oder Geiste sowie
durch Angehörige der führenden Schichten verfaßt worden sind.
Die Literatur über das „paupertas“-Problem ist inzwischen stark angewachsen; vor allem die französische Unterschichtenforschung legt darauf ihren Akzent; hier seien nur einige neuere Arbeiten angeführt: J. Devisse: „Pauperes“ et „paupertas“ dans le monde carolingien. Ce qu’en dit Hincmar de Reims. In: Revue du nord 48 (1966) S. 273–
87; R. Le Jan-Hennebicque: „Pauperes“ et „paupertas“ dans l’occident carolingien au IXe et Xe siècles. Ebd. 50 (1968)
S. 169–87; M.-C. Dufermont: Les pauvres, d’après les sources anglosaxonnes, du VIIe au XIe siècles. Ebd. S. 189–201;
Etudes sur l’histoire de la pauvreté. Hg. M. Mollat. Bd. 1. Paris 1974; M. Mollat: Les pauvres au moyen âge. Etude
social. Paris 1978. Die gesellschaftliche Deutung des „pauper“-Begriffs stützt sich dabei auf den bahnbrechenden,
wenngleich inzwischen modifizierten Ansatz von K. Bosl: „Potens“ und „pauper“. Begriffsgeschichtliche Studien
zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum „Pauperismus“ des Hochmittelalters. Zuerst
in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift O. Brunner. Göttingen 1963. S. 60–87. Einen weiteren Ansatz, das Armutsproblem zu erforschen, bildet die Untersuchung der Armenfürsorge; programmatisch U. Lindgren:
Europas Armut. Probleme, Methoden, Ergebnisse einer Untersuchungsserie. In: Saeculum 28 (1977) S. 396–418;
vgl. S. Epperlein: Zur weltlichen und kirchlichen Armenfürsorge im karolingischen Imperium. Ein Beitrag zur
Wirtschaftspolitik im Frankenreich. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1963, 1) S. 41–60; E. Boshof: Untersuchungen zur Armenfürsorge im fränkischen Reich des 9. Jahrhunderts. In: AKG 58 (1976) S. 265–339.
118
III. Soziale Gruppen und Beziehungen
108-110
Grundherrschaft, in / Urbaren und Traditionsnotizen, wo allein der Besitz, die Zahl und Arbeitsleistung der „Hörigen“5, wichtig scheint6.
Diese Quellengattungen, die die Grundlage heutiger Unterschichtenforschung bilden,
bedienen sich jedoch einer nicht näher erklärten spätantik-lateinischen Terminologie, deren
zeitgenössischer Inhalt oft nicht recht deutlich wird7, und sie sind aus einer engen, dem rechtlichen oder wirtschaftlichen Interesse der Oberschicht dienenden Zweckbindung heraus entstanden; sie belichten zudem nur kleine Ausschnitte der Wirklichkeit und lassen daher manche
Fragen offen. Ihre Auswertung bleibt ungenau (und verfrüht), solange man sich nicht ein Bild
über den Blickwinkel, die Tendenzen, die Vorstellungen der Schreibenden verschafft, das „Unterschichtenbild“ unserer Quellen untersucht hat. Ein solcher Ansatz fragt nicht primär nach
Erkenntnissen über die „Unterschichten“ selbst, sondern – unter Berücksichtigung des jeweiligen Erzählkontextes – nach dem Begriff, den sich die Verfasser der Quellen von (den?) „Unterschichten“ machen, / also auch nach der Terminologie, und nach der Haltung, die sie ihnen gegenüber einnehmen. Er bildet die quellenkritische Voraussetzung einer sozialgeschichtlichen
Auswertung der Quellen und würde gleichzeitig einen Teil der Mentalität der Schreibenden erkennen lassen. Eine Antwort wird man aus den genannten Gründen allerdings nur in Zeugnissen finden, die nicht an einen rein wirtschaftlichen Zweck gebunden sind, vor allem in der Geschichtsschreibung und Hagiographie, die aber im Prinzip von den gleichen Verfassern geschrieben worden sind. Wenn man zudem beklagt hat, daß die Wirklichkeit von der scharfen
Begrifflichkeit der Rechtsquellen abweicht8, so kommt die scheinbar unschärfere Terminologie
erzählender Quellen wohl doch dieser sozialen Wirklichkeit näher.
In diesem Sinn will ich im folgenden versuchen, das Unterschichtenbild der karolingischen Historiographie und Hagiographie zu beschreiben9. Dabei interessieren vor allem drei
Aspekte:
1. die Frage nach dem Unterschichtenbegriff: Kennen die Quellen überhaupt „Unterschichten“? Was verstehen sie darunter? Wie werden sie bezeichnet?
2. die Frage nach der Gesellschaftsordnung: Welche Stellung nehmen die „Unterschichten“
innerhalb der Gesellschaft ein? Welche Gruppen werden erfaßt? Was macht sie überhaupt
zu „Unterschichten“?10
5 Der Begriff ist allerdings nicht quellengemäß, sondern im Sinne der von einer Grundherrschaft abhängigen Bauern
erst von der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts geprägt; vgl. E. Kaufmann: In: Handwörterbuch zur deutschen
Rechtsgeschichte Bd. 2. Berlin 1978. Sp. 241.
6 Auch sie sind noch nicht systematisch ausgewertet worden. Als grundlegend sei die Erforschung der Landbevölkerung Bayerns durch Ph. Dollinger: L’évolution des classes rurales en Bavière depuis la fin de l’époque carolingienne
jusqu’au milieu du XIIIe siècle. Paris 1949. genannt. Eine vorläufige Übersicht versucht G. Duby: Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter. Frankfurt 1977. S. 36 ff., 86 ff. (französische Erstausgabe London 1973). Eine wichtige neue Einzelinterpretation liefert M. Heinzelmann: Beobachtungen zur Bevölkerungsstruktur einiger grundherrlicher Siedlungen im karolingischen Bayern. In: Frühmittelalterliche Studien 11 (1977) S. 202–17, 12 (1978) S. 433–37.
7 Zum Problem der Begrifflichkeit vgl. K. Bosl: In: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 1.
Stuttgart 1971. S. 135.
8 Ebd. S. 154.
9 Die Ergebnisse fußen auf einer Durchsicht der erzählenden Quellen des späteren 8. und des 9. Jahrhunderts, soweit
sie in den „Scriptores“-Abteilungen der MGH gedruckt sind.
153-154
Zur Mentalität bäuerlicher Schichten im frühen Mittelalter*
Die Bauernmentalität im frühen Mittelalter beschreiben zu wollen ist eine im Zuge moderner
Geschichtsbetrachtung ebenso reizvolle wie von der Quellenlage her schwierige Aufgabe, denn
über die Bauern im frühen Mittelalter wissen wir denkbar wenig, aus ihrer eigenen Feder
nichts.1 Obwohl die Landwirtschaft die wichtigste Grundlage mittelalterlichen Lebens bildete
und die überwiegende Masse der Bevölkerung, schätzungsweise weit über 90 %, auf dem Lande
lebte, blieb diese Schicht in den zeitgenössischen Schriftzeugnissen schon deshalb meist unbeachtet, weil man es unterließ, die alltägliche Normalität zu beschreiben, wenn kein spezifischer
Grund dafür vorlag. Die Quellenlage setzt unserer Fragestellung daher zwei methodische
Schranken:
(1) Was wir über Bauern wissen, stammt aus Fremdzeugnissen der allein schriftkundigen, mönchisch-klerikalen Herrenschicht, ein Tatbestand, der immer / wieder zum Topos von
der „Geschichtslosigkeit“ der Bauern verleitet hat.2
(2) In diesen Fremdzeugnissen sind die Bauern nirgends um ihrer selbst willen beschrieben, sondern beiläufig in Zusammenhängen erwähnt, die ganz andere Absichten verfolgten und die bei der Auswertung entsprechend zu berücksichtigen sind: Viten und Mirakelberichte etwa schildern Wunder, die an Bauern vollbracht wurden; Kapitularien, Konzilscanones
und Volksrechte überliefern staatlich und kirchlich gewünschte Normen, deren Anlaß immerhin bestimmte Vorfälle und deren Schutzbestimmungen ein Interesse auch der Betroffenen erschließen lassen; Traditionsurkunden und Urbare belegen den hörigen Bauern als Besitzobjekt
und Arbeitskraft des Grundherrn. Damit ist das Spektrum aussagekräftiger Quellengattungen
beinahe erschöpft. Bußbücher bezeugen nirgends eine bäuerliche Tätigkeit, und auch die so
ausgiebig betriebene Bibelexegese, die fast 30 Bibelbelege zu agricola oder rusticus hätte kom-
Originalpublikation in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 80, 1993, S. 153-174.
* Das Thema wurde erstmals am 22.5.1987 im Rahmen einer Ringvorlesung an der Universität Freiburg vorgestellt
und seither an verschiedenen Stellen vorgetragen. Daß die ursprünglich geplante, geschlossene Drucklegung der
gesamten Ringvorlesung sich nicht realisieren ließ, hat den Druck – neben anderen Gründen – verzögert. Auch
sechs Jahre nach Erstellung der Erstfassung scheint das Thema aber nichts von seiner Aktualität verloren zu haben.
Einschlägige neuere Forschungen unmittelbar zur bäuerlichen Mentalität sind in der Zwischenzeit nicht erschienen.
1 Einschlägige Arbeiten zum hier behandelten Thema fehlen. An allgemeinerer, einführender Literatur seien genannt: Werner Rösener, Bauern im Mittelalter, München 1985; Karl Brunner/Gerhard Jaritz, Landherr, Bauer, Akkerknecht. Der Bauer im Mittelalter: Klischee und Wirklichkeit, Wien-Köln-Graz 1985; Philipp Dollinger, Der
bayerische Bauernstand vom 9. bis zum 13. Jahrhundert, München 1982 (franz. 1949); Ludolf Kuchenbuch, Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. Studien zur Sozialstruktur der Familia der Abtei Prüm
(VSWG Beih. 66), Wiesbaden 1978; Georges Duby, Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter, Frankfurt 1977 (franz. 1973); Ders., L'économie rurale et la vie des campagnes dans
l'occident médiéval (France, Angleterre, Empire). IXe-XVe siècles, 2 Bde., Paris 1962; Guy Fourquin, Le paysan
d'Occident au moyen âge, Paris 1972; Günther Franz, Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte 4), Stuttgart 1970; Hans-Werner Goetz, Leben im Mittelalter vom 7. bis zum 13. Jahrhundert, München 1986, S. 115ff. Eine nützliche Quellensammlung bietet Günther
Franz, Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes im Mittelalter (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 31), Darmstadt 21974.
2 Dazu Rösener (wie Anm. 1), S. 14f.
136
III. Soziale Gruppen und Beziehungen
154-155
mentieren können,3 trägt zum zeitspezifischen Verständnis des Bauerntums nur wenig bei.
Wichtige Hinweise zur Lebens- und Arbeitsweise (nicht freilich zur Mentalität) liefern noch
bildliche Darstellungen, und schließlich helfen in einer Reihe von Fragen archäologische Befunde weiter.
Am besten unterrichtet sind wir nach diesen Zeugnissen über die wirtschaftlichen und arbeitsmäßigen Bedingungen höriger Bauern einerseits und über das Bild, das sich andere von
den Bauern machten, andererseits.4 Beides ist hier nicht unmittelbarer Gegenstand. Hinweise
auf Bauernmentalität und Bauernleben verbergen sich demnach noch einmal hinter Aussagen,
die in sich schon anderen Gegenständen als den Bauern galten. Hier kann folglich nur der Versuch unternommen werden, die dürftigen Zeugnisse zu sichten und nach ihrem möglichen
Aussagegehalt für eine bisher wenig beachtete Fragestellung abzuklopfen, über die sie selbst
von ihrer Intention her gar nichts aussagen wollen; das Ergebnis vermittelt zwangsläufig kein
geschlossenes Bild, sondern einen Zugriff auf Teilaspekte bäuerlicher Mentalität. Dabei scheinen Bauernleben und Bauernmentalität als zwei sich wechselseitig beeinflussende Aspekte einer
Lebensform eng verbunden: Man darf davon ausgehen, daß das bäuerliche Leben ebenso von
einer spezifischen Mentalität bestimmt war, wie es umgekehrt eine solche ausprägte. Doch
nicht vom Alltag und von der bäuerlichen Arbeit soll hier die Rede sein,5 sondern von der bäuerlichen Lebensform (im Sinne Arno Borsts) und von den typisch bäuerlichen Denk-, Empfindens- und Verhaltensweisen, eben der Bauernmentalität.6 Der Er/kenntnisweg führt, infolge
der Quellenlage, m.E. aber auch methodisch zwingend, über eine Abgrenzung der Bauern von
den anderen, die über sie berichten und sie charakterisieren. Um zu einer Typologisierung zu
gelangen, ist zunächst also nach Kriterien für eine Andersartigkeit zu fragen, ja noch grundlegender: Bei verbreiteten Tendenzen heutiger Mediävistik ist geradezu apologetisch zu erweisen,
wieweit es schon im frühen Mittelalter eine bäuerliche Mentalität gegeben hat.
Die Schwierigkeiten beginnen nämlich bereits bei dem Gegenstand: dem Begriff des „Bauern“.
Verstehen wir unter dem Bauern (mit Reinhard Wenskus) einen Ackerbau und Viehzucht treibenden Landwirt, der (im Unterschied zum Landarbeiter) einen selbständigen Hof bewirtschaftete, den er (im Unterschied zum Grundherrn) eigenhändig und (im Unterschied zum
Gärtner) mit dem Pflug bestellte,7 so bestand die frühmittelalterliche Gesellschaft zweifellos
zum überwiegenden Teil aus Bauern, aber – so das wichtigste Ergebnis der Göttinger Kolloquien von 1973 zu diesem Thema –, man kannte dafür offenbar keinen festen Begriff: gebur
3 Vor allem Gen. 4,2 (Cain agricola), 9,20 (Noe vir agricola), Mt. 21,33ff./Mc. 12,1ff./Lc. 20,9ff. (Weinberggleichnis)
und Joh. 15,1 (et Pater meus agricola), neben zahlreichen anderen Stellen.
4 Vgl. Siegfried Epperlein, Der Bauer im Bild des Mittelalters, Leipzig-Berlin-Jena 1975; Ders., Bäuerliche Arbeitsdarstellungen auf mittelalterlichen Bildzeugnissen. Zur geschichtlichen Motivation von Miniaturen und Graphiken
vom 9. bis 15. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1976/1, S. 181-208.
5 Vgl. dazu zusammenfassend Goetz, Leben im Mittelalter (wie Anm. l), S. 147ff.
6 Zum Begriff der Mentalität vgl. zuletzt Volker Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, Hist. Zeitschrift 241,
1985, S. 555-598, und vor allem František Graus, 'Mentalität' – Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden
der Untersuchung, in: Mentalitäten im Mittelalter: Methodische und inhaltliche Probleme (Vorträge und Forschungen 35), Sigmaringen 1987, S. 9-48.
7 Reinhard Wenskus, „Bauer“ – Begriff und historische Wirklichkeit, in: Wort und Begriff „Bauer“, hg. v. Reinhard
Wenskus, Herbert Jankuhn und Klaus Grinda (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen.
Philologisch-historische Klasse [später: Abhh. Göttingen, phil.-hist. Kl.] 3. Folge, Bd. 89), Göttingen 1975, S. 11-28.
29-30
Serfdom and the beginnings of a ‘seigneurial system’
in the Carolingian period: a survey of the evidence
Introduction
The question of what became of the ancient slaves in the early Middle Ages is one of the crucial
problems in history. Contemporary historical research is far from finding any definite solution.
In this article, therefore, I shall survey the source material from the early Middle Ages and suggest possible tendencies in the hope of stimulating further research. Let me start with the question: were there any slaves at all in the early Middle Ages? According to Verlinden, slaves not
only existed, but also have to be seen as an important demographic factor.1 Others, such as
Duby2 or Bonnassie3 followed Verlinden. Nehlsen especially emphasized the outstanding importance of slavery in the Germanic and Frank/ish kingdoms.4 Others, however, like Bloch,5
Dollinger,6 Ganshof,7 Günther and Korsunskij8 and Hoffmann9 have argued that, due to ef-
Originalpublikation in: Early Medieval Europe 2, 1993, S. 29-51.
1 Charles Verlinden, L’ esclavage dans l’ Europe médiévale. vol. 1: ‘Peninsule Ibérique – France’ (Brügge, 1955), vol. 2:
‘Italie - Colonies italiennes du Levant - Levant latin - Empire byzantin’ (Gent, 1977); idem, ‘Ist mittelalterliche
Sklaverei ein bedeutsamer demographischer Faktor gewesen?’, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 66 (1979), pp. 153-73.
2 Georges Duby, L’ économie rurale et la vie des campagnes dans l'occident médiéval (France, Angleterre, Empire). IXeXVe siècle, vol. 1 (Paris, 1962), pp. 100-107; idem, Guerriers et paysans, VIIe-XIIe siècle. Premier essor de l'économie
européene (London, 1973), pp. 41-3. In the seventh and eighth centuries, we find slaves in every household.
3 Pierre Bonnassie, ‘Survie et extinction des régime esclavagiste dans l’Occident du haut moyen âge (IVe-XIe siècles)’,
Cahiers de civilisation médiévale. Xe-XIIe siècles 28 (1985), pp. 307-43; an English version of this article and other
papers are now available in idem, From Slavery to Feudalism (Cambridge, 1991). Guy Bois, La mutation de l’an mil:
Lournand, village mâconnais de l’Antiquité au féodalisme (Paris, 1989), believes in a continuity of slavery in Brugundy until about the year 1000. This view has been rightly opposed by Adriaan Verhulst, ‘The Decline of Slavery
anf the Economic Expansion of the Early Middle Ages’, Past and Present 133 (1991) pp. 195-203. Verhulst’s opinion
has been recently summarized by Monique Bourin, ‘Europe carolingienne et Europe méridionale: le point de vue
d’Adrian Verhulst’, Médiévales 21 (1991) pp. 55-61.
4 Hermann Nehlsen, Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter. Germanisches und römisches Recht in den germanischen Rechtsaufzeichnungen, vol. 1: ‘Ostgoten, Westgoten, Franken, Langobarden’, Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte 7 (Göttingen-Frankfurt-Zürich, 1972), esp. p. 260-73; see also Dieter Rothenhöfer, Untersuchungen zur
Sklaverei in den ostgermanischen Nachfolgestaaten des Römischen Reiches (Diss. Tübingen, 1967).
5 Marc Bloch, ‘Les transformations du servage’, Mélanges d'histoire du moyen âge offerts à F. Lot (Paris, 1925),
pp. 55-74.
6 Philippe Dollinger, L’ évolution des classes rurales en Bavière depuis la fin de l’époque carolingienne jusqu’au milieu du
XIIIe siècle, Publications de la faculté des lettres de l’ Université de Strasbourg 112 (Paris, 1949), pp. 208-13,
pp. 261-3.
7 François-Louis Ganshof, ‘Das Fränkische Reich: 1. Die Bevölkerungs- und Sozialstruktur’, Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, ed. Jan A. von Houtte, vol. 2 (Stuttgart, 1980), p. 152-7.
8 Rigobert Günther and Alexander R. Korsunskij, Germanen erobern Rom. Der Untergang des Weströmischen Reiches
und die Entstehung germanischer Königreiche bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR 15 (Berlin, 1986), pp. 168-9.
Korsunskij no longer considered the slaves and coloni, but the barbarians as the prime movers of feudalism, a view
opposed long before by Eckhard Müller-Mertens, ‘Die Genesis der Feudalgesellschaft im Lichte schriftlicher Quellen’, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 12 (1964), pp. 1384-1402.
156
III. Soziale Gruppen und Beziehungen
30-31
forts on the part of the church in particular, the conditions of the slaves from the seventh to the
ninth century improved to such a degree that they were no longer considered as objects, but as
human beings. Now, we have two problems. Verlinden found his slaves where our sources have
servi, a term still applied to the medieval serfs who might, but need not, be of unfree origin. The
first problem therefore is: were the Carolingian servi slaves or serfs? Serfdom, however, coincides with the beginnings of a ‘seigneurial system’10 which I want to deal with here.
The second problem is whether these slaves or serfs had their roots in Late Antiquity.
The continuity of the terms does not prove by itself the existence of ancient conditions in ancient forms.11 Perrin has argued that / medieval unfree people derived from Carolingian servi
casati (in the ‘German’ parts also from servi non casati),12 but he did not trace them back to
their origins. As early as 1889 Fustel de Coulanges,13 and more recently Bosl,14 derived the
Carolingian serfs from the ancient coloni, who were suppressed by the Franks. But how is one
to account for the widely accepted fact that the number of unfree people in Germany far exceeded that in France, a fact that has been emphasized again recently by Verhulst? The question
has acquired a new dimension, moreover, since Finley15 and Whittaker16 refused to believe not
only the widespread theory of a decrease of slavery in Late Antiquity, but also the importance
of the slavery system outside Italy and Greece. (This harmonizes neatly with Van Houtte’ s
statement that, in the Middle Ages, real slavery was to be found only in the Mediterranean
countries.17) Late Antiquity has to be considered as a period of slow changes,18 when two
9 Hartmut Hoffmann, ‘Kirche und Sklaverei im frühen Mittelalter’, D[eutsches] A[rchiv für die Erforschung des Mittelalters] 42 (1986), pp. 1-42.
10 Though the term has adopted a distinct meaning in English referring to later times, it remains the only suitable
translation for the German Grundherrschaft and the French seigneurie (foncière) with which I am dealing in this
paper. ‘Seigneurial’ includes various rights and thus has a wider meaning than ‘manorial’ which seems restricted to
estate management and tied to bipartite estates. For recent research and perspectives, see Ludolf Kuchenbuch, ‘Die
Klostergrundherrschaft im Frühmittelalter. Eine Zwischenbilanz’, Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung
und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen, ed. Friedrich Prinz, Monographien zur Geschichte des Mittelalters 33 (Stuttgart, 1988), pp. 297-343; Yoshiki Morimoto, ‘État et perspectives des recherches
sur les polyptyques carolingiens’, Annales de l’ Est 40 (1988). pp. 99-149; Ludolf Kuchenbuch, Grundherrschaft im
frühen Mittelalter, Historisches Seminar, Neue Folge 1 (Idstein, 1991), pp. 15-60.
11 Cf. John Percival, ‘Ninth-century Polyptyques and the villa system: a Reply’, Latomus 25 (1966), pp. 134-8, with:
Shimon Applebaum, ‘The Late Gallo-Roman Rural Pattern in the Light of the Carolingian Cartularies’, ibid. 23
(1964), pp. 774-87.
12 Charles-Edmond Perrin, ‘Le servage en France et en Allemagne’, in: Relazioni del Xo Congresso internazionale di
scienze storiche, vol. 3 (Firenze, 1958), pp. 213-45.
13 N.M. Fustel de Coulanges, L’alleu et le domaine rural pendant l’ époque mérovingienne (Paris, 1889), p. 643.
14 Karl Bosl, in Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, vol. 1 (Stuttgart, 1971), pp. 154-63. Similarly Chris Wickham, ‘The Other Transition: From the Ancient World to Feudalism’, Past and Present 103 (1984),
pp. 3-36.
15 Moses I. Finley, Ancient Slavery and the Modern Ideology (London, 1980), pp. 123-49.
16 Charles R. Whittaker, ‘Circe’ s Pigs: From Slavery to Serfdom in the Later Roman World’, Classical Slavery, ed.
Moses I. Finley = Slavery and Abolition 8 (1987), pp. 88-122; idem, ‘Labour Supply in the Later Roman Empire’,
Opus 1 (1982), pp. 171-9.
17 Von Houtte, in Handbuch (see n. 7) pp. 106-18.
18 The independence of the Late Roman period is underlined by Wolfgang Seyfarth, ‘Die Spätantike als Übergangszeit
zwischen zwei Gesellschaftssystemen. Eigenständigkeit und Besonderheiten der Jahrhunderte zwischen Sklavenhalterordnung und Feudalsystem’, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 15 (1967), pp. 281-90; a continuing process is
153-154
„Nobilis“
Der Adel im Selbstverständnis der Karolingerzeit
Seit die aristokratische Struktur von Herrschaft und Staat im Mittelalter erkannt ist und der Adel
folglich als die staatstragende, „herrschende“ Schicht neben dem König gilt1, hat die historische
Forschung ihm sowohl vom verfassungs- wie vom sozialgeschichtlichen Aspekt her ihre besondere
Aufmerksamkeit zugewandt.2 Dabei lag der Schwerpunkt vor allem auf den Anfängen in der frühfrän/kisch-merowingischen Zeit.3 Trotz jahrzehntelanger, intensiver Erforschung gerade der
Originalpublikation in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 70, 1983, S. 153-191.
1 Vgl. Karl Bosl, Die Grundlagen der modernen Gesellschaft im Mittelalter. Eine deutsche Gesellschaftsgeschichte
des Mittelalters (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 4), Stuttgart 1972, S. 93 ff. Karl Ferdinand Werner,
Bedeutende Adelsfamilien im Reich Karls des Großen, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben Bd. 1, Düsseldorf 1965, S. 125 f.
2 An grundlegenden Arbeiten seien genannt: Aloys Schulte, Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter, Stuttgart 21922 (ND. Darmstadt 1958); Otto von Dungern, Adelsherrschaft im Mittelalter, München 1927 (ND. Darmstadt 1972); Eberhard F. Otto, Adel und Freiheit im deutschen Staat des frühen Mittelalters. Studien über Nobiles
und Ministerialen, Berlin 1937; Heinrich Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. Grundlagen
der deutschen Verfassungsentwicklung, Hist. Jahrbuch 61, 1941, S. 1-50 (abgedruckt in: Herrschaft und Staat im
Mittelalter, hg. Hellmut Kämpf, Wege der Forschung 2, Darmstadt 1956, S. 66-134); Heinrich Mitteis, Formen der
Adelsherrschaft im Mittelalter, in: Festschrift Fritz Schulz, Weimar 1951, S. 226-58 (abgedruckt in: Ders., Die
Rechtsidee in der Geschichte, Weimar 1957, S. 636-68); Karl Bosl, Die aristokratische Struktur der mittelalterlichen
Gesellschaft, in: Ders., Die Gesellschaft in der Geschichte des Mittelalters, Göttingen 1966, S. 25-43. – Auch in
Frankreich wird Adelsforschung intensiv betrieben; an neueren Arbeiten vgl. Georges Duby, Une enquête à poursuivre: La noblesse dans la France médiévale, Revue historique 226, 1961, S. 1-22 (abgedruckt in: Ders., Hommes et
structures du moyen âge, Paris 1973, S. 145-66); Léopold Genicot, La noblesse au moyen âge dans l'ancienne „Francie“, Annales ESC. 17, 1962, S. 1-22; Ders., La noblesse au moyen âge dans l'ancienne „Francie“: Continuité, rupture
ou évolution? in: Comparative Studies in Society and History 5, 1962/63, S. 52-59; Robert Boutruche, Seigneurie et
féodalité, 2 Bde., Paris 1968/70; Philippe Contamine (Hg.), La noblesse au moyen âge, XIe-XVe siècles, Essais à la
mémoire de Robert Boutruche, Paris 1976; Michel Parisse, La noblesse lorraine. XIe-XIIIe siècles, 2 Bde., Paris 1976;
Léopold Genicot, La noblesse médiévale. Pans de lumière et zones obscures, Tijdschrift voor geschiedenis 93, 1980,
S. 341-56. – Einen Abriß über die Geschichte der Adelsforschung geben Franz Irsigler, Untersuchungen zur Geschichte des frühfränkischen Adels (Rhein. Archiv 70), Bonn 1969, S. 39 ff., Wilhelm Störmer, Früher Adel. Studien
zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jh., 2 Bde. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 6), Stuttgart 1973, S. 2 ff. sowie (kritisch) Piroska Réka Mathé, Studien zum früh- und
hochmittelalterlichen Königtum. Eine problemgeschichtliche Untersuchung über Königtum, Adel und Herrscherethik, o. O., o. J. (nach 1976), S. 7 ff. Eine Besprechung der deutschen Forschung aus französischer Sicht liefert Genicot in: Moyen Age 71, 1965, S. 539-60. – Störmer hat mit dem genannten Werk eine erste umfassende Zusammenstellung, vornehmlich allerdings am bayerischen Material vorgelegt. Nützliche Zusammenfassungen liefern R.
Scheyhing, Artikel „Adel“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. 1, 1971, Sp. 41-51; Reinhard
Wenskus, Artikel „Adel“, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde Bd. 1, 21973, S. 58-75; jetzt vor allem
Karl Ferdinand Werner, Artikel „Adel“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München-Zürich 1980, Sp. 118-28. – Zur
Ausbildung der ständischen Verhältnisse in Oberitalien vgl. jetzt Hagen Keller, Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien. 9.-12. Jahrhundert (Bibliothek des Deutschen Hist. Instituts in Rom 52), Tübingen 1979.
3 Vgl. Rolf Sprandel, Der merovingische Adel und die Gebiete östlich des Rheins (Forschungen zur oberrhein. Landesgeschichte 5), Freiburg/B. 1957; Alexander Bergengruen, Adel und Grundherrschaft im Merowingerreich. Siedlungs- und standesgeschichtliche Studie zu den Anfängen des fränkischen Adels in Nordfrankreich und Belgien
(VSWG Beiheft 41), Wiesbaden 1958; Reinhard Wenskus, Amt und Adel in der frühen Merowingerzeit, Mitt. des
Marburger Universitätsbundes 1959, S. 40-56; Rolf Sprandel, Struktur und Geschichte des Merovingischen Adels,
174
III. Soziale Gruppen und Beziehungen
154-155
fränkischen Verhältnisse ließ sich bisher allerdings keine Einigkeit erzielen, und es gibt eine
Reihe offener Probleme: Seit wann gab es überhaupt einen fränkischen Adel? Handelte es sich
um einen altfränkischen „Uradel“ (E. Otto) – den Chlodwig nach einer Nachricht Gregors von
Tours jedoch beseitigt haben soll – oder um einen neuen, vom König geschaffenen „Dienstadel“4, wie die neuere Forschung meist annimmt, bzw. um einen „Amtsadel“ (Wenskus), der
alten wie neuen Adel – einschließlich des romanischen Senatorenadels – in sich vereinigte?5
Beschränkte sich „Adel“ überhaupt auf diesen Amtsadel als Träger den Fränkischen Reichs,
oder war der Adel als soziale Schicht breiter? Sprandel wollte etwa zwischen einem Reichsadel
und einem grundherrlichen Adel unterscheiden, der sich (vor 900) in einer dauernden Fluktuation befand6, ist damit aber – weniger der Sache als der unangemessenen Begriffe wegen – auf
Ablehnung gestoßen, denn gerade der Reichsadel war Grundbesitzer.7 Wie verhielt es sich /
überhaupt mit der soziologischen Qualität des Adels? Bildete der Adel einen Stand oder eine
Klasse oder gar eine Kaste?8 Schließlich ist es sogar strittig, ob es in frühfränkischer Zeit überhaupt einen „Adel“ (als Rechtsstand)9 oder „nur“ eine Oberschicht gegeben hat (so jetzt wieder
4
5
6
7
8
9
Hist. Zs., 193, 1961, S. 33-71; vor allem Irsigler (Anm. 2); zuletzt Heike Grahn-Hoek, Die fränkische Oberschicht im
6. Jh. Studien zu ihrer rechtlichen und politischen Stellung (Vorträge und Forschungen Sonderband 21), Sigmaringen 1976. – Die adlige Herkunft der merowingischen Bischöfe hat erst kürzlich Martin Heinzelmann, Bischofsherrschaft in Gallien. Zur Kontinuität römischer Führungsschichten vom 4. bis zum 7. Jh. Soziale, prosopographische
und bildungsgeschichtliche Aspekte (Beihefte der Francia 5), Zürich-München 1976, untersucht.
So vor allem Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 1, 21906 (ND. Darmstadt 1961), S. 349. Dagegen besonders Alfons Dopsch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit
von Cäsar bis auf Karl den Großen, Bd. 2, Wien 21924 (ND. Aalen 1961), S. 97 ff.
Werner, Adelsfamilien, konnte noch für die Zeit Karls des Großen zeigen, daß der Adel verschieden alten Schichten
entsprang.
Rolf Sprandel, Grundherrlicher Adel, rechtsständische Freiheit und Königszins. Untersuchungen über die alemannischen Verhältnisse in der Karolingerzeit, Deutsches Archiv 19, 1963, S. 1 ff., der im Grunde aber nichts weiter
nachweist als verschieden vermögende Grundbesitzer.
Vgl. etwa Störmer, Früher Adel S. 23. – Josef Fleckenstein, Die Entstehung des niederen Adels und das Rittertum, in:
Herrschaft und Stand. Untersuchungen zur Sozialgeschichte im 13. Jh. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts
für Geschichte 51), Göttingen 1977, S. 17 ff., vertritt die These, daß es einen niederen Adel – im Sinne einer rechtlichen Abstufung – überhaupt erst mit der Entstehung des Rittertums – im Sinne einer Abstufung lehnsrechtlicher Art –
gegeben habe. Vgl. vorher Ulrich Stutz, Zum Ursprung und Wesen des niederen Adels (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1937, 27), Berlin 1937.
Vgl. die Diskussion in: Problèmes de stratification sociale. Actes du Colloques International (1960), hg. Roland
Mousnier, Paris 1968: Karl Bosl, Castres, ordres et classes en Allemagne, S. 13-29 (erweiterte Fassung unter dem Titel: Kasten, Stände, Klassen im mittelalterlichen Deutschland. Zur Problematik soziologischer Begriffe und ihrer Anwendung auf die mittelalterliche Gesellschaft, Zs. für bayer. Landesgeschichte 32, 1969, S. 477-94), hält diese Termini
überhaupt für unangemessen für die mittelalterlichen Verhältnisse und zieht für eine Übergangszeit allgemeinere Begriffe vor; Léopold Genicot, Naissance, Fonction et Richesse dans l'Ordonnance de la Société médiévale: Le Cas de la
Noblesse du Nord-Ouest du Continent, S. 91 f., stellt fest, der Adel sei weder eine Kaste noch ein Stand noch eine Klasse,
sondern eine weit komplexere Wirklichkeit in seinen religiösen, sozialen und rechtlichen Aspekten; daher könne man
sich schlecht andere Fachbegriffe als die zeitgenössischen vorstellen. Mousnier wandte in der Diskussion ein, daß auf zeitgenössische Begriffe wegen der regionalen Vielfalt kein Verlaß sei.
Schon Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 2,1, Berlin 31882 (ND. Darmstadt 1953), S. 365 f., hat den
Begriff „Adel“ für das frühere Mittelalter abgelehnt (zugunsten einer „Aristokratie“). Gegen einen Adel als Stand
spricht die Tatsache, daß die Adligen rechtlich – zumindest im fränkischen Recht – zunächst wohl den Freien zugezählt wurden, vgl. Fleckenstein, Niederer Adel S. 19 f. (vgl. auch unten Anm. 72). Zu den Schichten in der Lex Salica
vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, Fränkische und frankolateinische Bezeichnungen für soziale Schichten und Gruppen in
der Lex Salica, Nachrichten der Akademie der Wiss. Göttingen 1972, S. 217-58.
124-125
‘Beatus homo qui invenit amicum.’
The Concept of Friendship in Early Medieval Letters
of the Anglo-Saxon Tradition on the Continent (Boniface, Alcuin)
Early medieval letters are not ‘private’ texts in the modern sense of the word. Intended to be
read to a somewhat larger public, they deal mainly with spiritual questions.1 Nevertheless, they
often reveal a close relationship between writer and addressee which allows us to examine their
understanding of friendship.2 As far as the early Middle Ages are concerned, no overall research has been done in this area so far.3 What I present here is just a short survey, focusing
mainly, though not exclusively, on Anglo-Saxon letter-writers on the Continent, and specifically St Boniface in the first half and Alcuin at the end of the eighth century, and regarding what
they meant when they spoke of ‘friendship’. My survey is therefore strictly limited to statements that these authors themselves made in their letters, and I am using as my data base latin
words like amicus/amica, amicitia or amicalis and their contexts; further, I am more interested
in the contemporary use and concepts of ‘friendship’ in those times than in a comparison to
our modern notion of ‘friendship’ which is mostly seen as a necessary social and personal relation between two or more people, embracing varying bonds and functions. An initial observation reveals enormous differences in the frequency with which these words – not common outside the letters of the Anglo-Saxon tradition, with the possible exception of those of Bishop Lupus of Ferrières – are used. Consequently there seems to be a difference between the AngloSaxon and the Continental traditions; and hence the limits of this survey. In order to understand the early medieval concept of friendship I shall ask four questions: (1) concerning the
persons referred to, who is called a ‘friend’? (2) with regard to the contents of amicitia, what is
meant by a ‘friend’ and what is meant by ‘friendship’? (3) considering its structures, in what /
manner are ‘friends’ made? and (4) regarding its efficacy, what consequences do friendhips
have, or what is expected from a friend?
1. The Persons: Who is Called a ‘Friend’?
It is not easy to discern the differences between persons who are and those who are not called
‘friends’, but one at least gets the impression that, by contrast with the High Middle Ages,4 the
Originalpublikation in: Friendship in Medieval Europe, hg. v. Julian Haseldine, Phoenix Mill 1999, S. 124-136.
1 For medieval letters and letter-collections, see Giles Constable, Letters and Letter Collections, Typologie des sources
du moyen âge occidental, 17 (Turnhout 1976); Franz-Josef Schmale et al., ‘Briefe, Briefliteratur, Briefsammlungen’,
in Lexikon des Mittelalters II (1983), col. 648–82.
2 For the problem of authenticity of letters which normally have been preserved as copies, see Rolf Köhn, ‘Zur Quellenkritik kopial überlieferter Korrespondenz im lateinischen Mittelalter, zumal in Briefsammlungen’, Mitteilungen
des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 101 (1993), pp. 284–310. This problem, however, may be disregarded if we are not concerned with the author, but with the contents of letters, as in this study.
3 The forthcoming book by Verena Epp will examine this area somewhat more closely in the period of the very early
Middle Ages.
4 Cf., for example, John McLoughlin, ‘Amicitia in Practice: John of Salisbury (c. 1120-1180) and his Circle’, in England in the Twelfth Century, Proceedings of the 1988 Harlaxton Symposium, ed. Daniel Williams (Woodbridge,
1990), pp. 165–81.
208
III. Soziale Gruppen und Beziehungen
125
term is limited to a small circle of people closely related to the letter-writer (though this impression might be slightly altered if we were to take into account cognate connotations such as
familiaritas or dilectio). What we can conclude on a formal level, however, is that ‘friendship’ is
not significantly limited, either in a hierarchical manner – Boniface or Alcuin are friends with
bishops as well as priests, with abbots as well as monks – or with regard to gender – they are
friends both with men and women. Every person (omnis homo – and not: ‘every male’) needs a
friend, as the Anglo-Saxon abbess Eangyth writes to St Boniface; and she choses him to be
hers.5 Alcuin counts several women among his friends.6 Leobgyda (Leoba), a nun in Wimborne
in Wessex and later an abbess of the Thuringian convent of Tauberbischofsheim, claims to
have more confidence in St Boniface than in all other people of her genus7 (which can mean
gender, but much more probably refers to lineage). ‘Friendship’, which etymologically derives
from discourses of consanguinity and freedom,8 naturally exceeds the sphere of the family.
Further, ‘friendship’ has no social bounds: having friends is also possible for the unfree.9 Limitations however exist when applying the term ‘friend’ to rulers and kings who normally are not
counted among them.10 A lord (dominus) is more than a friend, though he deserves the same
respect: Alcuin asks Charlemagne, rhetorically, ‘And if this demand [i.e. that friendships are
observed] should be carefully observed in one’s friend and one’s equal, that the integrity of his
soul should remain unviolated, how much more [is this due] to a lord and to such a person
who loves to exalt and govern his subjects with all honour?’11 Thus the typical friendship seems
to be among persons who are equal in rank or status. One further thing is worth noting though:
in the period considered here, the term of address ‘friend’ is not necessarily limited to those
with whom one enjoys completely familiar relations. Bishop Odo of Corbie is called the ‘first of
5 Bonifatius, Epistolae, ed. Michael Tangl, Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, MGH Epp. sel. 1, (2nd edn,
1955), ep. 14, p. 24, l. 12ss. (see n. 30). For the correspondence of St Boniface with women, cf. George Greenaway,
‘St Boniface as a Man of Letters’ in The Greatest Englishman: Essays on St Boniface and the Church at Crediton, ed.
Timothy Reuter (Exeter, 1980), pp. 33–46, Christine Fell, ‘Some Implications of the Boniface Correspondence’ in
New Readings on Women in Old English Literature, ed. Helen Damico and Alexandra Hennessey Olsen (Indiana,
1990), pp. 29–43, and Hannah Urban, ‘“Ich umfasse Dich mit höchster Liebe”. Der heilige Bonifatius und seine spirituellen Schwestern’ in Meine in Gott geliebte Freundin. Freundschaftsdokumente aus klösterlichen und humanistischen Schreibstuben, ed. Gabriela Signori, Religion in der Geschichte, Kirche, Kultur und Gesellschaft 4 (Bielefeld,
1995), pp. 40–9. For early medieval women as letter-writers, cf. Hans-Werner Goetz, Frauen im frühen Mittelalter.
Frauenbild und Frauenleben im Frankenreich (Weimar/Cologne/Vienna, 1995), pp. 361–92; Albrecht Classen,
‘Frauenbriefe an Bonifatius. Frühmittelalterliche Literaturdenkmäler aus literarhistorischer Sicht’, Archiv für Kulturgeschichte, 72 (1990), pp. 251–273.
6 Alcuin, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epp. 4 (1895), pp. 1–481, e.g. ep. 62 (Hundrada), epp. 154 and 216
(Abbess Gisla of Chelles): dulcis amica (p. 249 l. 26); ep. 204 (a nun).
7 Bonifatius, ep. 29, p. 53, l. 4ss.: ‘quia in nullo hominum generis mei tante fiducie spes posita est mihi quanta in te.’
8 Cf. Meinrad Scheller, Vedisch priyá- und die Wortsippe frei, freien, Freund. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie
(Göttingen, 1959), esp. pp. 105–8, for Germanic frijonds; Fritz Mezger, ‘Germ. frijōnd-, Verwandte’, Zeitschrift für
vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen, 79 (1965), 32–47.
9 Cf. Bonifatius ep. 99, p. 222, l. 9ss.: the priest Denehard should help his puer Athalhere, ‘sicut ingenuum hominem
et sic pro illo promittas amicis eius, non quasi pro servo.’
10 There is just one exception to this rule: King Earduulf of Northumbria is reminded of his ‘old friendship’ by Alcuin:
ep. 108, p. 155, l. 6. A king, however, may call the pope his friend; cf. Alcuin, ep. 93, p. 136, l. 28 (Charlemagne to
Pope Leo III).
11 Ibid., ep. 149, p. 243, l. 3ss.: ‘Et si hoc in amico et coaequali diligenter observari debet, ut inviolata animi integritas
permaneat illius, quanto magis in domino et in tali persona, qui suos subditos omni honore exaltare et gubernare
amat?’ (All the translations are my own.)
110-111
Regnum: Zum politischen Denken der Karolingerzeit
I.
Die Staatsidee des frühen und hohen Mittelalters ist lange am modernen Staat gemessen worden. Die Folge waren berechtigte Zweifel, ob das politische System des frühen Mittelalters bereits die Charakteristika des modernen Staates aufwies, ja man (B. S o h m und G. v o n B e l o w gegen O. G i e r k e) stritt darüber, ob man in germanisch-fränkischer Zeit überhaupt
schon von einem „Staat“ reden könne; die Anfänge des modernen Staatswesens waren erst in
den Territorialstaaten des hohen und späten Mittelalters zu suchen1. Die Bedenken erhielten in
den späten 30er Jahren neue Nahrung, als man von der Landesgeschichte her und unter der Erkenntnis einer unangemessenen, moderne Implikationen vermittelnden Verwendung neuzeitlicher Begriffe für mittelalterliche Erscheinungen2 – und „Staat“ setzte sich erst im 19. Jh. im
modernen Sprachgebrauch durch –, ja der Inkompatibilität des modernen Verfassungsbegriffs
mit mittelalterlichen Zuständen überhaupt3 auf die Eigenständigkeit und Andersartigkeit der
Gegenstände mittelalterlicher Verfassungsgeschichte hinwies; „Verfassung“ wird seither allgemeiner, als System der politischen Ordnung im Sinne einer Gesamtheit der Einrichtungen, die
das Leben in der / Gemeinschaft ermöglichen4, definiert, „Staat“ selbst aus den zeitbedingten
Gegebenheiten erklärt. In dieser Hinsicht aber fehlte anscheinend ein zeitgenössischer, althochdeutscher Begriff für den „Staat“: res publica glossierte man mit kunigrîche oder mit hêrtuom,
und noch die lateinischen Quellen des Mittelalters nannten den König dominus5. Auf der Suche nach den germanischen Elementen der mittelalterlichen Verfassung ersetzte man den Begriff „Staat“ daher durch „Herrschaft“ als das bestimmende Element des frühen Gemeinwesens:
Der Staat war seinem Wesen nach kein „öffentliches“, sondern ein herrschaftlich organisiertes
Gebilde, nicht Sache des populus, sondern des Herrn (wobei die Herrschaft durch genossenschaftliche Elemente wie Sippe, Kultverband oder Markgenossenschaft kontrolliert wurde)6.
Der mittelalterliehe Staat aber gipfelte in der Königsherrschaft.
1
2
3
4
5
6
Originalpublikation in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Bd. 104,
1987, S. 110-189.
Vgl. O t t o B r u n n e r , Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs
im Mittelalter, Wien–Wiesbaden 41959 (ND. Darmstadt 1984), 165ff. Zum Forschungsgang ebda. 146ff. und
H a n n a V o l l r a t h , in: J o s e p h R . S t r a y e r , Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Staates,
Köln–Wien 1975, IXss.
Vgl. vor allem B r u n n e r 111ff.
D e r s., Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte (MIÖG Erg.-Bd. 14, 1939), in:
Herrschaft und Staat im Mittelalter, hg. H e l l m u t K ä m p f (Wege der Forschung 2) Darmstadt 1956, 1–19.
W a l t e r S c h l e s i n g e r , Verfassungsgeschichte und Landesgeschichte (1953), in: d e r s., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters Bd. 2, Göttingen 1963, 9/11.
Vgl. W a l t e r S c h l e s i n g e r , Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte (1953), in: Herrschaft und Staat im Mittelalter 139f.
Vgl. S c h l e s i n g e r , Herrschaft und Gefolgschaft 135ff.; K a r l B o s l , Herrscher und Beherrschte im Deutschen Reich des 10.-12. Jh.s (1963), in: d e r s., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München–Wien 1964, 135ff. Eine knappe Zusammenfassung gibt P e t e r M o r a w , Art. „Herrschaft" (Mittelalter),
in: Geschichtliche Grundbegriffe 3, 1982, 5ff., der von den lateinischen Begriffen aber nur dominium etwas eingehender behandelt. – Zu publicus jetzt: L é o p o l d G e n i c o t , Sur la survivance de la notion d’État dans
220
IV. Mittelalterliche Vorstellungen vom Staat
111-113
Dieser herrschaftlich organisierte Staat war nach der herrschenden, von Brunner und
Schlesinger entwickelten, allerdings nicht unwidersprochen gebliebenen Lehre7 aus der Hausherrschaft (Munt) entstanden und beruhte auf vorwiegend persönlichen Bindungen, so daß
man ihn geradezu als „Personenverbandsstaat“ charakterisiert hat8, / ohne eine räumliche Bindung ganz leugnen zu wollen9: Die öffentliche Gewalt bezog sich auch deshalb auf die Herrengewalt des Königs10, weil dem damaligen Denken offenbar eine Abstraktion der Staatsgewalt
von ihren personalen Trägern fremd war. Erst in karolingischer Zeit erhielt das Königtum
durch die christliche Legitimation (Gottesgnadentum) in bezug auf den göttlichen Auftrag einen Amtscharakter11. Dadurch wurde ein institutioneller Begriff des Staates überhaupt erst
möglich.
Seit den grundlegenden Forschungen von B r u n n e r , M i t t e i s , M a y e r , S c h l e s i n g e r , B o s l und anderen, die freilich nur das Grundsätzliche klären wollten und durch
Detailstudien zu ergänzen wären und über der Frage nach den germanischen Elementen des
Staates zudem anderes vernachlässigten, hat man sich eher anderen Aspekten zugewandt.
Während die Verfassungswirklichkeit und die Institutionengeschichte der Karolingerzeit12 sowie vor allem die Rolle des Adels im Staat inzwischen gründlich erforscht sind13, wurde die eigentliche Staatstheorie allenfalls am Rande untersucht14, die Lehre B r u n n e r s / und
7
8
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10
11
12
13
14
l’Europe du Nord au haut moyen âge. L’emploi de publicus dans les sources belges antérieures à l’an mil, in: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1984, 147–164.
Vgl. K a r l K r o e s c h e l l , Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht. Ein methodischer Versuch (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien 70) Göttingen 1968, stellte vor allem den Ursprung aller Herrschaft aus der
Hausherrschaft in Frage und sah in der Königsherrschaft, anders als B r u n n e r und S c h l e s i n g e r , eine qualitativ von der Adelsherrschaft zu unterscheidende Staatlichkeit.
T h e o d o r M a y e r , Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter
(1939), in: Herrschaft und Staat im Mittelalter 289ff.; die „herrschaftlichen“ Elemente des „öffentlichen“ Staates
suchte vor allem A d o l f W a a s , Herrschaft und Staat im deutschen Frühmittelalter, Berlin 1938 (ND. Darmstadt 1965), bes. 332ff. herauszustellen, indem er die Königsmunt als Ausdruck staatlicher Ordnung betrachtete.
S c h l e s i n g e r , Herrschaft und Gefolgschaft 178ff.
Ebda. 185f.
Vgl. H a n s H u b e r t A n t o n , Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (Bonner Historische
Forschungen 32) Bonn 1968, bes. 357ff. und 404ff.
Vgl. vor allem die Arbeiten F r a n ç o i s L o u i s G a n s h o f s , z. B. in der Aufsatzsammlung: The Carolingians and the Frankish Monarchy, London 1971. Daß auch hier noch vieles ergänzungsbedürftig ist, beweisen neuerdings die Aufsätze von J ü r g e n H a n n i g über die missi dominici.
An neueren Arbeiten seien stellvertretend genannt: K a r l B r u n n e r , Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 25) Wien–Köln–Graz 1979; J ü r g e n H a n n i g , Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und Adel
am Beispiel des Frankenreiches (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 27) Stuttgart 1982.
P a o l a M a r i a A r c a r i, Idee e Sentimenti politici dell’alto medioevo, Milano 1968, behandelt 948ff. Herrscherideal und Staatsorganisation des karolingischen Königtums, nicht aber die Staatstheorie. P a u l - L u d w i g
W e i n a c h t, Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jh. (Beiträge zur
politischen Wissenschaft 2) Berlin 1968, liefert im Vorspann eine entwicklungsgeschichtliche Studie vor allem des
status-Begriffs, der im Mittelalter aber noch nicht den Staat bezeichnete, und streift die Karolingerzeit nur kurz.
Zum Staatsprinzip einer gottgemäßen Regierung äußerte sich L o u i s H a l p h e n, L’idée d’État sous les Carolingiens, Revue historique 185, 1939, 59–70. W a l t e r U l l m a n n, The Carolingian Renaissance and the Idea of
Kingship (The Birkbeck Lecture 1968–9) London 1969, beschränkt sich von seinem Thema her ebenfalls auf die
Königsvorstellung und betrachtet den Wandel im Königsbild in karolingischer Zeit als christlich-theokratisch umgedeutete „Renaissance“, Salbung und Krönung als „Wiedergeburt“ des Königtums, die auf seine Souveränität zu-
47-48
Potestas
Staatsgewalt und Legitimität im Spiegel der Terminologie früh- und hochmittelalterlicher
Geschichtsschreiber
„Gewalt“ hat im Verlauf der Sprachgeschichte bekanntlich einen Bedeutungs- und Wertewandel durchgemacht und bezeichnet erst seit dem späten Mittelalter (auch) die eher illegitime
Anwendung von Zwang unter Einsatz physischer oder auch psychischer Kraft, wie sie den heutigen Sprachgebrauch beherrscht1. „In der älteren deutschen Rechtssprache bezeichnet das
Wort auch Herrschaft, Regierung, Herrschaftsgebiet, Vollmacht, Auftrag“2. Der früh- und
hochmittelalterliche Begriffsgebrauch verstand unter „Gewalt“, einer Ableitung von „walten“,
d. h. herrschen oder über etwas verfügen, in antiker Tradition daher nahezu gegenteilig zu unserem Sprachgebrauch die legitime Staats- bzw. Amtsgewalt3: „Im Mittelalter fielen die Rechtmäßigkeit der Verfügungsgewalt und ihre Ausübung weitgehend zusammen“4. Das Lateinische
kannte für dieses Wortfeld mehrere Begriffe, wie auctoritas, dignitas, imperium, für „Macht“
ferner potentia, dicio, opes oder vis, der gängige und dem altdeutschen Begriff giwalt am meisten entsprechende Terminus aber war / potestas, während die unrechte Gewalt am ehesten mit
violentia wiedergegeben wurde5. (Die begriffliche Abgrenzung von legitimer Gewalt, in diesem
Fall der Muntgewalt über Frau und Töchter, und illegitimer Gewaltanwendung zeigt sich deutlich etwa im Edictus Rothari6.) Potestas und giwalt entsprechen sich auch in Glossen oder an-
1
2
3
4
5
6
Originalpublikation in: Von Sacerdotium und Regnum. Geistliche und weltliche Gewalt im frühen und hohen Mittelalter. Festschrift Egon Boshof, hg. v. Franz-Reiner Erkens und Hartmut Wolff, Köln-Weimar-Wien 2002, S. 4766.
Vgl. etwa Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 10, 1974, S. 280 f.; KARL GEORG FABER, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, 1982, S. 817; SIDNEY HOOK, in: Encyclopedia of the Social Sciences Bd. 15, 1935, S. 264 („In the social context violence may be defined roughly as the illegal employment of methods of physical coercion for personal
or group ends.“); GERHARD KÖBLER, Etymologisches Rechtswörterbuch, Tübingen 1995, S. 163 f. („Einsatz von
Kraft zur Erreichung eines Zieles sowie die Möglichkeit hierzu, [im Strafrecht] zur Überwindung eines wirklichen
oder vermuteten Widerstandes eingesetzte körperliche Kraft“). Zur Problematik und Ambivalenz des Gewaltbegriffs vgl. PAUL HUGGER, Elemente einer Kulturanthropologie der Gewalt, in: Paul Hugger / Ulrich Stadler (Hgg.),
Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart, Zürich 1995, S. 17-27.
So Meyers Enzyklopädisches Lexikon Bd. 10 (wie Anm. 1) S. 280; vgl. Deutsches Rechtswörterbuch Bd. 4, 19391951, Sp. 675-697.
Vgl. FABER (wie Anm. 1) S. 835-854, hier 835; HEINZ-HORST SCHREY, Art. Gewalt/Gewaltlosigkeit (Ethisch), in:
Theologische Realenzyklopädie Bd. 13, 1984, S. 168-178, hier 168; KURT RÖTTGERS, Art. Gewalt, in: Historisches
Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, Basel-Stuttgart 1974, Sp. 562-570, hier 562. Im großen Rahmen behandelt das
Problem WOLFGANG REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas
von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999.
So FABER (wie Anm. 1) S. 837.
Vgl. CHRISTIAN MEIER, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, 1982, S. 820-835, hier 830 f. Zur unrechten Gewalt
im mittelalterlichen Verständnis vgl. HANS-WERNER GOETZ, Probleme der Gewaltwahrnehmung im früheren Mittelalter (erscheint in: Neithard Bulst / Peter Schuster [Hgg.], Gewalt im Mittelalter).
Edictus Rothari 195, Leges Langobardorum. 643-866, ed. FRANZ BEYERLE (= Germanenrechte. Neue Folge, Westgermanisches Recht), Witzenhausen 21962, S. 52: Si quis mundium de puella libera aut muliere potestatem habens,
excepto pater aut frater, et in animam ipsius puellae aut mulieris insidiatus fuerit aut alii inuitam ad maritum tradere
uoluerit, aut uolentibus ad eius uiolentiam faciendam consensum praebuerit aut consilium dederit, et prouatur, ammittat mundium ipsius, et illa potestatem habeat de duas uias ...
274
IV. Mittelalterliche Vorstellungen vom Staat
48-49
deren „Übersetzungsgleichungen“ am häufigsten7: Von den 73, von Gerhard Köbler zusammengestellten Übersetzungsgleichungen wird potestas 52mal mit giwalt8, 16mal mit maht und
nur gelegentlich, vor allem im Altniederdeutschen, mit anderen Begriffen (craft, cunsti, cuningduom, heriscipie) wiedergegeben9. /
In der christlichen Umdeutung konnte man den Ursprung dieser (legitimen) irdischen Gewalt
sowohl in der göttlichen Weltordnung10 als auch im Sündenfall erblicken, eine – doppelte – Interpretation, die sich durch das ganze Mittelalter hindurch hielt11. Die mittelalterliche Vorstellung von der „Gewalt“ ist mithin durchaus ambivalent, das Problem noch bei weitem nicht
gründlich genug erforscht. Die bisherige Forschung setzte entweder an der „Staatstheorie“ an
(und konzentrierte sich hier weitgehend auf das spätere Mittelalter), in den frühen Jahrhunderten besonders an den Fürstenspiegeln12, oder aber sie betrachtete das Problem von den – ideologisch durchaus belasteten – Vorstellungen der sogenannten neuen deutschen Verfassungsgeschichte der 30er bis 70er Jahre von der „Herrschaft“ als Inbegriff des frühmittelalterlichen
Staates her13. Seit kürzerem wird außerdem zunehmend die konkrete Herrschaftspraxis (im
Gegensatz zur Norm), werden – vornehmlich am Beispiel der Ottonenzeit – Herrschaftsreprä-
7 Dazu sind hier die verschiedenen, von GERHARD KÖBLER zusammengestellten „Übersetzungsgleichungen“ ausgewertet worden. Vgl. die folgende Anm.
8 Quelle:
giwalt:
maht:
andere:
Tatian
19mal
–
–
Notkerglossen
7mal
5mal
–
Heliand/Genesis
6mal
4mal
1mal
Benediktregel
5mal
–
–
Notker
4mal
–
–
Mondseer Fragmente
3mal
–
–
Isidor
2mal
–
1mal
Kleinere althochdeutsche
Sprachdenkmäler
3mal
–
–
Otfrid
2mal
–
–
Murbacher Hymnen
1mal
–
–
Abrogans
–
7mal
–
9 Umgekehrt findet die 210mal verwendete giwalt aber eine Vielzahl von lateinischen Entsprechungen, nämlich –
neben den beiden wichtigsten, potestas und potentia: arbitrium, auctoritas, bracchium, caelum, cornu, culmen, dicio,
dominatio, fama, imperium, ius, lex, libertas, maiestas, manus, numen, nutus, persona, possessio. Vgl. GERHARD KÖBLER, Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes, Paderborn / München / Wien / Zürich 1993, S. 463.
10 Vgl. HANS HUBERT ANTON, Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (= Bonner Historische Forschungen 32), Bonn 1968, S. 357 ff.
11 Vgl. dazu WOLFGANG STÜRNER, Peccatum und Potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen
Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 11), Sigmaringen 1987, und BERNHARD TÖPFER, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und
Staatstheorie (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters 45), Stuttgart 1999. Kurz: LUDWIG VONES, Art. Potestas, in: Lexikon des Mittelalters 7, 1995, Sp. 131 ff.
12 Nach wie vor grundlegend ANTON, Fürstenspiegel (wie Anm. 10).
13 Vgl. vor allem WALTER SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte (1953), in: Hellmut Kämpf (Hg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter (= Wege der Forschung 2), Darmstadt 1956, S. 135-190. Zur Kritik vgl. KARL KROESCHELL, Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht. Ein
methodischer Versuch (= Göttinger rechtswissenschaftliche Studien 70), Göttingen 1968. Zur Ideologiekritik an
der gesamten Richtung vgl. FRANTIŠEK GRAUS, Verfassungsgeschichte des Mittelalters, in: HZ 243, 1986, S. 529-589.
73-74
Concepts of Realm and Frontiers
from Late Antiquity to the Early Middle Ages:
Some Preliminary Remarks
What I am going to propose briefly in the following pages is not the result of a thorough analysis of Late Roman and early medieval frontiers or frontier systems, but simply meant to reveal
some problems in this area of research. I intend to raise the question whether there was a
change in the perception of frontiers after the end of the West Roman Empire (or rather: in
Christian society from Late Antiquity to the Early Middle Ages), as it was seen in the contemporary historiography of those times. This paper will approach this project by examining only a
few examples taken from the Late Antique, Merovingian and Carolingian times. Superficially,
the answer seems to be very simple: At the beginning of our period the limes formed a strict
border line which was disrupted again and again in the course of the Germanic and other invasions, which finally led to a dissolution of borders. (The exact frontiers of any of the Germanic
realms of this period remain unknown.) Beginning in the Frankish period, these emerging
Germanic realms developed into kingdoms and early ‘nations’, separated from each other by
more or less clear borders.
However, it is not as simple as that. First, a great difference exists between the concept of
frontiers and their reality. Second, if we follow the results of the recent, overall view given by
C.R. Whittaker on the Roman frontiers,1 the limes, in spite of its clear appearance in archeological hindsight, apparently was not the clear political and cultural ‘border-line’ scholars have
held it to be. Somewhat simplified, Whittaker suggests the following: The limes was not a frontier in the modern sense. Rather than hinder, it supported trade. Consequently, there was an
exchange along the border-line. The limes, therefore, marked no cultural frontier, contrary to
the barbarian ideology held by the Romans. / In the period of the invasions (“Frontiers under
Pressure”) it is even uncertain if there were frontiers at all. This was “a process of the gradual
assimilation of border folk into a culture that was itself changing by adapting to the pressures”.
As a consequence, “in the end it was unclear who were the barbarians and who were the Romans”.2 This conclusion corresponds with contemporary perceptions. According to Roman
ideology, Rome was “an empire without limits”, a belief illustrated by the fact that no Roman
writer ever admitted the reduction of the frontiers. Historical reality, however, was much more
complicated. In the later Empire, as central Roman control weakened, the frontiers did not collapse under barbarian attacks, but dissolved into enclaves of rulers who were the heirs of Roman culture. If we accept these conclusions, the question of a change in the frontier-system becomes a fairly complex phenomenon, necessitating distinction not only between the single
phases of the Roman frontier system, but also between different levels; political frontiers were
not cultural ones. And, of course, if we explore the perception of frontiers (as I intend to do) we
Originalpublikation in: The Transformation of Frontiers. From Late Antiquity to the Carolingians, hg. v. Walter
Pohl, Ian N. Wood und Helmut Reimitz (The Transformation of the Roman World 10) Leiden-Boston-Köln 2001,
S. 73-82.
1 C.R. Whittaker, Frontiers of the Roman Empire. A Social and Economic Study (Baltimore and London, 1994, French
version 1989).
2 Whittaker, Frontiers of the Roman Empire, pp. 132–33.
288
IV. Mittelalterliche Vorstellungen vom Staat
74-75
grasp only part of the problem, a part perhaps far from reality, but nevertheless revealing human attitudes and ideological convictions.
In Roman ideology Rome was the only Empire. There was, therefore, no place left for
real frontiers. Such thinking did not alter with Christianisation: Orosius, the author of the first
Christian universal history, remained as much Roman as Christian.3 He serves, therefore, well
as a first witness to our problem. In the beginning of the fifth book Orosius expounds his favourite idea that the Christian times were happier than the heathen past.4 In the past, he says,
each province had its own kings and laws and morals; thus the world had “a diversity of powers”. In his own times, however, even the barbarians were integrated into the one and only society, and, after their conversion, not even a distinction in religious belief existed in this allencompassing society5 in which all people lived in the same state, under the same law / and had
the same beliefs.6 The Roman Empire was a political as well as a legal and a religious unity.
There was one God and one state and one law, and Orosius adds to this his famous words:
“Among the Romans, I am a Roman, among the Christians a Christian, among human beings a
human being.”7 Roman state, Christian religion and all mankind had become one. In the last
analysis, the whole world had become one native country. Admittedly, this is wishful thinking
derived from Orosius’s conviction of the felicitious Christian present. Nevertheless, these remarks reveal his Weltanschauung (world view). Such a view left no space at all for frontiers. In
spite of the troubled times Orosius regarded this unity even as a new development achieved by
God and his Christians. A distinction still existed between Romans and barbarians, the state
was able to perceive the value of a Roman commander-in-chief (Constantius) compared to all
these pernicious barbarian generals,8 but nevertheless they all lived together in the same Empire. Again, however, this ideology should not be confused with, and taken for reality. In other
passages Orosius realized quite well that, for example, the Saxons were intruding into Roman
frontiers and were beaten within the territory of the Franks.9
Significant in illustrating Orosius’s ideology is that famous and much-disputed report
about Athaulf, who ostensibly intended to substitute the Roman Empire with a Gothic one, establishing himself as a new Augustus. He gave up this plan after realising that the Goths as bar3 Cf. H.-W. Goetz, Die Geschichtstheologie des Orosius (Darmstadt, 1980), esp. pp. 12–20, 80–88, 123–135.
4 Orosius, Historiae adversum paganos 5, 1, 11: igitur nostra tempora uiderim utrum felicia; certe feliciora illis ducimus, qui quod illi ultime delegerunt nos continue possidemus.
5 Ibid. 5, 1, 14: Olim cum bella toto Orbe feruebant, quaeque prouincia suis regibus suis legibus suisque moribus utebatur, nec erat societas adfectionum, ubi dissidebat diuersitas potestatum; postremo solutas et barbaras gentes quid tandem ad societatem adduceret, quas diuersis sacrorum ritibus institutas etiam religio separabat?
6 Ibid. 5, 2, 1: Mihi autem prima qualiscumque motus perturbatione fugienti, quia de confugiendi statione securo, ubique patria, ubique lex et religio mea est.
7 Ibid. 5, 2, 5–6: unus Deus, qui temporibus, quibus ipse innotescere uoluit, hanc regni statuit unitatem, ab omnibus et
diligitur et timetur; eaedem leges, quae uni Deo subiectae sunt, ubique dominantur; ubicumque ignotus accessero, repentinam uim tamquam destitutus non pertimesco. Inter Romanos, ut dixi, Romanus, inter Christianos Christianus,
inter homines homo legibus inploro rempublicam, religione conscientiam, communione naturam. utor temporarie omni terra quasi patria, quia quae uera est et illa quam amo patria in terra penitus non est.
8 Cf. ibid. 7, 42, 1-2: Anno ab Urbe condita MCLXV Honorius imperator, uidens tot oppositis tyrannis nihil aduersus
barbaros agi posse, ipsos prius tyrannos deleri iubet. Constantio comiti huius belli summa commissa est. sensit tunc
demum respublica et quam utilitatem in Romano tandem duce receperit et quam eatenus perniciem per longa tempora
barbaris comitibus subiecta tolerarit.
9 Cf. ibid. 7, 32, 10: Valentinianus Saxones, gentem in Oceani litoribus et paludibus inuiis sitam, uirtute atque agilitate
terribilem, periculosam Romanis finibus eruptionem magna mole meditantes in ipsis Francorum finibus oppressit.
139-140
Das Bild des Abtes
in alamannischen Klosterchroniken des hohen Mittelalters
Äbte bedeutender Klöster bekleideten im Mittelalter eine herausragende, im Grunde bischofsgleiche Stellung. Ihre Macht im Kloster ergab sich aus den schon in der Benediktregel festgelegten, geistlichen Funktionen als Stellvertreter Christi, geistlicher Vater, pater familias und Lehrer der Mönche mit umfassender Verfügungsgewalt;1 ihre historische Bedeutung aber erwuchs
einerseits aus der kaum überschätzbaren Rolle der Religion im Mittelalter, andererseits aus der
(weltlichen) Funktion des Klosters in der mittelalterlichen Gesellschaft, die gerade den Abt als
Verbindungsglied eines „Mönchtums zwischen Kirche und Welt“ (Wollasch) brauchte. Die
Forschung hat sich daher mit der verfassungsgeschichtlichen Bedeutung des Abtes2 und mit
Zielen und Leistungen einzelner, großer Äbte (vor allem Reformäbte) befaßt,3 sie hat bisher jedoch kaum untersucht, welches Bild sich die Zeitgenossen, und zumal die eigenen Mönche,
von ihrem Abt gemacht, was sie von ihm erwartet haben.4 Der Wert einer solchen „vorstellungsgeschichtlichen“ Fragestellung ist längst erkannt, sie erklärt letztlich erst den Stellenwert
eines historischen Phänomens aus der Selbsteinschätzung der Zeit heraus und beleuchtet, über
die Regel hinaus, das Klosterleben insgesamt in seiner Realität.
Einen guten Ansatzpunkt, das Bild des Abtes im bisher in dieser Hinsicht eher vernachlässigten hohen Mittelalter zu untersuchen, bieten die aus einem / neuen, klösterlichen Geschichtsbewußtsein erwachsenen,5 ihrerseits aber noch viel zu wenig beachteten Klosterchroniken; hier fehlen bisher sowohl vergleichende, typologische Studien6 als auch Untersuchungen
1
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3
4
5
6
Originalpublikation in: Ecclesia et regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche, Recht und Staat im Mittelalter.
Festschrift für Franz-Josef Schmale zum 65. Geburtstag, Bochum 1989, S. 139-153.
Vgl. dazu A. DE VOGÜÉ, La Communauté et l’abbé dans la règle de saint Benoît, Brügge 1961; P. SALMON, L’abbé
dans la tradition monastique. Contribution à l’histoire du caractère perpétuel des supérieurs religieux en Occident
(Histoire et sociologie de l’Église 2) Sirey 1962; B. HEGGLIN, Der benediktinische Abt in rechtsgeschichtlicher
Entwicklung und geltendem Kirchenrecht (Kirchengeschichtl. Quellen u. Studien 5) St. Ottilien 1961. Zum cluniazensischen Abt: G. DE VALOUS, Le monachisme clunisien des origines au XVe siècle, Paris 21970, S. 88ff.
Zur „Herrschaft der Äbte“ vgl. J. WOLLASCH, Mönchtum des Mittelalters zwischen Kirche und Welt (Münstersche
MASchrr. 7) München 1973; zu Laienäbten: F. J. FELTEN, Äbte und Laienäbte im Frankenreich. Studie zum Verhältnis von Staat und Kirche im früheren Mittelalter (Monographien zur Geschichte des MAs 20) Stuttgart 1980.
Vgl. etwa J. HOURLIER, Saint Odilon abbé de Cluny (Bibliothèque de la RHE 40) Louvain 1964; N. BULST, Untersuchungen zu den Klosterreformen Wilhelms von Dijon (962-1031) (Pariser Historische Studien 11) Bonn 1973; F.J. JAKOBI, Wibald von Stablo und Corvey (1098-1158). Benediktinischer Abt in der frühen Stauferzeit (Veröffentlichungen der Hist. Komm. f. Westfalen 10. Abhh. z. Corveyer Geschichtsschreibung 5) Münster 1979.
Untersucht ist allein das Abtbild in Viten; vgl. H. RICHTER, Die Persönlichkeitsdarstellung in cluniazensischen
Abtviten, Diss. Erlangen-Nürnberg 1972; S. GAMMERSBACH, Das Abtbild in Cluny und bei Bernhard von Clairvaux, in: Citeaux in de Nederlanden 7 (1956) S. 85-101, äußert sich zur „monarchischen“ Stellung der Äbte von
Cluny und deren Kritik bei Bernhard. Vornehmlich zu Bischöfen: O. KÖHLER, Das Bild des geistlichen Fürsten in
den Viten des 10., 11. und 12. Jh., Diss. Freiburg 1935; W. HUG, Elemente der Biographie im Hochmittelalter, Diss.
München 1957.
Vgl. H. PATZE, Klostergründung und Klosterchronik, Blätter für deutsche Landesgeschichte 113 (1977) S. 89-121;
H.-W. GOETZ, Zum Geschichtsbewußtsein in der alamannisch-schweizerischen Klosterchronistik des hohen
Mittelalters, DA 45 (1989) (mit weiterer Literatur).
Einen ersten Überblick bietet allein M. SOT, Gesta episcoporum, Gesta abbatum (Typologie des sources du moyen
âge occidental 37) Turnhout 1981.
298
V. Herrscher, Herzog, Abt
140-141
zu einzelnen Abtgesten. In der hier gebotenen Kürze kann nur ein erster, auf den alamannischen Raum beschränkter, summarischer Überblick geboten werden, der sich vornehmlich auf
sieben Chroniken des 11.-13. Jahrhunderts (verschiedener Struktur und Ordenszugehörigkeit)
stützt, nämlich (in der Reihenfolge der Abfassungszeit) die Chroniken von St. Gallen,7 Hirsau,8
Muri,9 Ebersheim,10 Petershausen,11 Ottobeuren12 und Weingarten.13 Das Abtbild ist dabei
sowohl in seinen quantitativen (Tabelle) wie in seinen qualitativen Aspekten zu untersuchen,
die sich von Abt zu Abt und von Chronik zu Chronik unterscheiden, insgesamt aber das Spektrum der in den Blick der Autoren tretenden Elemente des Abtbildes wie auch Verdichtungen
in bestimmten Fragen erkennen lassen.
I. Die Chronisten haben aus Charakter und Amtsführung ihrer Äbte meist eine eindeutige
W e r t u n g abgeleitet. Die Äbte waren in der Regel gut oder schlecht, positive und negative
Eigenschaften selten in einer Person vereint, wie bei Konrad von Petershausen14 oder Marquard von Hirsau15. Der gute Abt war ein venerandus vir (wie Reginbold von Muri)16, reverendus vir (wie Burkhard von Muri)17, venerabilis abbas (wie Rupert von Ebersheim)18.
Heils/geschichtliche Bezüge stützten die Stellungnahme, einmal, indem Gott in die Klostergeschichte eingriff: Udalrich II. von St. Gallen etwa wollte er wegen seiner Mühen ein würdiges
Ende gewähren und beseitigte alle Feinde des Klosters;19 Udalrich IV. gab er wegen seiner Tugenden eine ruhige Regierung;20 Udalrich V. hingegen wurde in ira furoris Domini zum Abt
erhoben.21 Zum andern vermittelten typologische Vergleiche die Bindung an biblischhistorische Vorläufer: Kerhard von St. Gallen wurde mit Nero, sein Nachfolger Purchard II.
hingegen mit Moses verglichen: Qui quasi secundus Moyses nos diu Egiptia servitute oppressos
absolvit et in optatam quietem reduxit.22 Freilich konnte Gottes Gericht auch Zweifel erwecken,
7 Casus s. Galli, ed. G. MEYER VON KNONAU, St. Gallische Geschichtsquellen 4 (= Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte N.F. 7) St. Gallen 1879: fünf Fortsetzungen Ekkehards, verfaßt zwischen 1076 und 1204.
8 Historia Hirsaugiensis monasterii, ed. G. WAITZ, MGH SS 14, S. 254ff; verfaßt um 1105, fortgesetzt nach 1205.
9 Acta Murensia, ed. M. KIEM (Quellen zur Schweizer Geschichte III/3) 1883; verfaßt wohl Mitte 12. Jh.
10 Chronicon Ebersheimense, ed. L. WEILAND, MGH SS 23, S. 427ff.; verfaßt um 1160, fortgesetzt 1235/37.
11 Casus monasterii Petrishusensis, ed. O. FEGER (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 3) 1956; verfaßt 2. Hälfte
12. Jh.
12 Chronicon Ottenburanum, ed. L. WEILAND, MGH SS 23, S. 609ff.; verschiedene Fortsetzungen seit dem Ende des
12. Jh.
13 Catalogus abbatum, ed. O. HOLDER-EGGER, MGH SS 15, S. 1312ff.; verfaßt Mitte 13. Jh. Wenig zu unserem Thema bieten die Chroniken Ortliebs und Bertholds von Zwiefalten; ed. L. WALLACH, E. KÖNIG und K.O. MÜLLER
(Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 2) 1941 (ND. 1978); Paralleleinblicke gewähren hingegen die Chroniken
der Prämonstratenserstifte Marchthal (ed. J.A. GIEFEL, Württembergische Geschichtsquellen 4, 1891, S. 3ff.) und
Weißenau (ed. G. WAITZ, MGH SS 24, S. 653ff.).
14 C. 6, 11f., S. 250; 6, 18, S. 254.
15 C. 13, S. 261: Homo cui vix nostris temporibus aliquis tante largitatis, tante benivolencie, tante fidei similis inveniri
poterit, excepto quod maculis quibusdam tepitudinis et negligencie in claustralibus disciplinis cecutire videbatur.
16 C. 5, S. 23.
17 C. 7, S. 26.
18 C. 21, S. 442.
19 C. 32, S. 83ff.
20 C. 40, S. 110.
21 C. 42, S. 114.
22 C. 17, S. 27; zu Kerhard: C. 5, S. 15.
253-254
Das Herzogtum im Spiegel
der salierzeitlichen Geschichtsschreibung
Wesen und Entwicklung des mittelalterlichen Herzogtums sind trotz der Bedeutung dieses Gegenstandes noch immer nicht einhellig geklärt. Vor allem die Anfänge des „jüngeren“ Herzogtums um die Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert werden kontrovers diskutiert. Gegen die traditionelle Forschungsrichtung, als deren letzter, wichtiger Vertreter Herfried Stingl zu nennen
ist, der einen Amtscharakter des frühen Herzogtums bestreitet und an der Existenz eines
Stammesherzogtums festhält,1 sind entschiedene Einwände geäußert worden. Karl Ferdinand
Werner etwa machte zu Recht auf die parallele Entwicklung in Frankreich aufmerksam, bestritt
die Stammesbindung zugunsten einer Anlehnung an die karolingischen Unterkönigreiche
(Regna) und sah das Herzogtum als bloße Sonderform in die allgemeine Entwicklung des mittelalterlichen Fürstentums eingeordnet.2 In meiner Dissertation hatte ich überhaupt Zweifel an
der Existenz eines „Stammes“-Herzogtums (im Sinne der bisherigen Forschung!) geäußert:3
– Die Quellen bieten keinen unmittelbaren Beleg einer Stammesbindung, Titeluntersuchungen belegen – mit Blick auf den ethnischen Zusatz – weder ein Stammesherzogtum im
Gegensatz zum Amtsherzogtum4 noch ein souveränes, königsgleiches Fürstentum;5 das
dux-Konzept historiographischer Quellen versteht, bei aller Mehrdeutigkeit / des Begriffs,
das Herzogtum im Sinne einer provinzialen Herrschaft vielmehr überraschend einhellig als
Amt;
– der tatsächliche Herrschaftsbereich der Herzöge hingegen war einerseits stammesübergreifend, andererseits auf bestimmte Teile des Stammes beschränkt; die einschlägigen, nicht
zuletzt die urkundlichen Quellen präsentieren die frühen Herzöge eher im Rahmen ihrer
fürstlichen Eigenherrschaft denn als Herrscher über ganze Stammesgebiete. Daher wäre –
zumindest begrifflich – zwischen einem Herzogtum (als vom König vergebenes Amt) und
einem Fürstentum (als souveräne Herrschaft) zu unterscheiden, auch und gerade, wenn bei-
1
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5
Originalpublikation in: Die Salier und das Reich, hg. v. Stefan Weinfurter, Bd. 1: Salier, Adel und Reichsverfassung,
Sigmaringen 1991, S. 253-271.
H. STINGL, Die Entstehung der deutschen Stammesherzogtümer am Anfang des 10. Jahrhunderts (Untersuchungen
zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N.F. 19), Aalen 1974.
K. F. WERNER, Heeresorganisation und Kriegführung im deutschen Königreich des 10. und 11. Jahrhunderts, in:
Ordinamenti Militari in Occidente nell’Alto Medioevo (Settimane di Studio del centro italiano sull’alto medioevo
XV,2), Spoleto 1968, S. 791-843 (wieder abgedr. in: DERS., Structures politiques du monde franc, VIe-XIIe siècle,
London [Variorum Reprints] 1979); DERS., Les duchés ‚nationaux‘ d’Allemagne au IXe et au Xe siècle, in: Les Principautés au Moyen Age. Actes du Congrès de la Société des historiens médiévistes de l’enseignement supérieur public
(Bordeaux 1973), Bordeaux 1979, S. 29-46 (wieder abgedr. in: DERS., Vom Frankenreich zur Entfaltung Deutschlands und Frankreichs, Sigmaringen 1984, S. 311-328); DERS., La genèse des duchés en France et en Allemagne, in:
Nascità dell’Europa ed Europa carolingia: un’equazione da verificare (Settimane di Studio del centro italiano
sull’alto medioevo XXVII), Spoleto 1981, S. 175-207 (wieder abgedr. in: DERS., Vom Frankenreich, S. 278-310).
H.-W. GOETZ, „Dux“ und „Ducatus“. Begriffs- und verfassungsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung des
sog. „jüngeren“ Stammesherzogtums an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert, Bochum 1977.
So W. KIENAST, Der Herzogstitel in Frankreich und Deutschland (9.-12. Jahrhundert), München/Wien 1968.
So K. BRUNNER, Die fränkischen Fürstentitel im 9. und 10. Jahrhundert, in: Intitulatio II. Lateinische Herrscherund Fürstentitel im 9. und 10. Jahrhundert, hg. v. H. WOLFRAM (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Erg.-Bd. 24) Wien/Köln/Graz 1973, S. 179-340.
312
V. Herrscher, Herzog, Abt
254-255
des sich in einer Person vereinigt. Erst im Verlauf des früheren 10. Jahrhunderts läßt sich eine Verbindung beider Elemente in großem Ausmaß beobachten; dann erst scheint sich der
dux-Titel für die Verwalter von Stammesprovinzen zu verfestigen.
Diese früheren, hier nur kurz zusammengefaßten Ergebnisse haben seither eine unterschiedliche Rezeption gefunden; die Diskussion darüber scheint jedenfalls noch nicht abgeschlossen,
ohne daß das Thema noch einmal von Grund auf neu untersucht worden wäre.6
Das Herzogtum der Salier- und Stauferzeit wird demgegenüber weit weniger kontrovers
diskutiert, doch fehlen hier tatsächlich noch einschlägige neuere Untersuchungen, und die
Schlußdiskussion der Mainzer Tagung hat gezeigt, daß auch in dieser Epoche noch manche
Frage offen ist. Vor allem die Stellung der Herzöge bleibt noch weitgehend undeutlich,7 während wir über die Herzogspolitik der Könige besser informiert sind.8
Um hier etwas mehr Klarheit zu gewinnen, sei ein Teilaspekt (und nicht mehr) untersucht, und zwar mittels eines bereits in einem Teil meiner Dissertation erprobten Zugangs:
nämlich die Konzeption des salierzeitlichen Herzogtums in Deutschland in der Vorstellungswelt zeitgenössischer Geschichtsschreiber, die Frage also nach deren Urteilen, Kommentaren
und Auffassungen vom Herzogtum bzw. ihrer Art, darüber zu berichten. Als Untersuchungsgegenstand mögen zunächst nacheinander acht gemeinhin als bedeutend eingestufte Autoren
verschiedener Genera im wesentlichen der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts dienen: Wipos
›Gesta Chuonradi imperatoris‹, die (vorinvestiturstreitzeitliche) Weltchronik Hermanns von
Reichenau, die bremische Bistums- und / Missionschronik Adams, dann – kurz – die beiden
monographischen Berichte über Heinrichs IV. Sachsenkriege: das Carmen und Brunos Buch,
ferner die vorwiegend zeitgeschichtlichen Annalen Lamperts von Hersfeld, die Weltchronik
Frutolfs von Michelsberg sowie deren Fortsetzungen durch Ekkehard von Aura und den anonymen Kaiserchronisten. Es wird sich zeigen, daß die Einschätzung des Herzogtums seitens
dieser Autoren trotz unterschiedlicher historiographischer Intentionen und politischer Tendenzen weithin übereinstimmt. Es ist folglich erlaubt, diese Geschichtsschreiber als typische
Repräsentanten zeitspezifischer Anschauungen zu betrachten.
1. Wipo9
Dem königlichen Kaplan Wipo diente der dux-Begriff zur selbstverständlichen Kennzeichnung
ganz bestimmter Personen, nämlich der Herzöge von Sachsen, Bayern, Istrien (= Kärnten),
Alamannien, Lothringen (= Niederlothringen), Ribuarien (= Oberlothringen), Franken (Wor6 Einen zusammenfassenden Überblick bietet jetzt H.-W. GOETZ, Artikel „Herzog, Herzogtum“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, 1989, Sp. 2189-2193. Grundlegend zur Entwicklung des schwäbischen Herzogtums: H. MAURER,
Der Herzog von Schwaben. Grundlagen, Wirkungen und Wesen seiner Herrschaft in ottonischer, salischer und
staufischer Zeit, Sigmaringen 1978.
7 Den umfassendsten, allerdings zeitlich wenig differenzierenden Überblick bietet immer noch G. LÄWEN, Stammesherzog und Stammesherzogtum. Beiträge zur Frage ihrer rechtlichen Bedeutung im 10.-12. Jahrhundert (Neue
Deutsche Forschungen, Abt. Mittelalterliche Geschichte 1), Berlin 1935.
8 Vgl. etwa G. WARNKE-ZOLLER, König und Herzog. Studien zur Politik der Liudolfingerkönige, Diss. Freiburg/B.
1944; grundlegend jetzt St. WEINFURTER, Die Zentralisierung der Herrschaftsgewalt im Reich unter Kaiser Heinrich II., in: Historisches Jahrbuch 106, 1986, S. 241-297. – Anstelle umfangreicher Literatur zur Salierzeit sei hier
nur auf die neueste Monographie von E. BOSHOF, Die Salier, Stuttgart 1987, verwiesen.
9 Gesta Chuonradi II. imperatoris, ed. H. BRESSLAU, MGH SS rer. Germ., 31915.
27-28
Selbstdisziplin als mittelalterliche Herrschertugend?
Die folgenden Ausführungen bedürfen einer kurzen, dreigeteilten Vorbemerkung, um ihren
Bezug zur Tradition des Kremser Instituts für Realienkunde und zum Tagungsthema zu erläutern und Mißverständnissen vorzubeugen.
(1) Die bisherigen Schwerpunkte des Instituts lagen nahezu ausschließlich im späten
Mittelalter und den nachfolgenden Jahrhunderten. Wenn sich dieser Beitrag meinen Forschungsschwerpunkten gemäß im wesentlichen auf das frühe und hohe Mittelalter beschränkt,
so war eine solche Ausweitung des Programms vom Institut selbst allerdings nie gezielt ausgeschlossen worden.
(2) In bezug auf das Tagungsthema konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf
den ersten Aspekt, die „Disziplin“, und klammern die „Sachkultur“ im Sinne von „Realien“ im
engeren Sinn, aber auch im weiteren Sinn der in Krems in den letzten Jahren besonders betonten alltäglichen „Mensch-Objekt-Beziehungen“ aus. Sie zielen vielmehr auf Herrschaftstheorie,
Herrschaftspraxis und vor allem Herrschaftsmentalität ab: Der Bezug zur „Realienkunde“ beschränkt sich daher bewußt auf den Aspekt einer „Handlungs- oder Verhaltenskultur“.
(3) Einschlägige Studien zu dem hier anvisierten Themenkomplex fehlen bislang. Er
kann im folgenden daher nur ansatzweise umrissen werden.
Ein triftiger Grund für den Beitrag resultiert im übrigen aus der Tatsache, daß er noch auf eine
Einladung Harry Kühnels zurückgeht. Ich verstehe das Folgende deshalb auch als einen persönlichen Gedenkbeitrag für den so tragisch verunglückten Gründer und langjährigen Direktor
des Instituts für Realienkunde.
***
Nach den einschränkenden Vorbemerkungen sei die hier verfolgte Thematik kurz erläutert.
„Disziplin“ als Begriff für eingeübte Regularien und Normen, die das reibungslose Zusammenleben gesellschaftlicher Gruppen gewährleisten sollen, ist zweifellos eine Grundbedingung sozialen Verhaltens. „Disziplinierung“ als die erzwungene oder freiwillige Einübung der und Unterwerfung unter diese Disziplin ist daher stets auch eine / Funktion der Herrschenden, des
Staates und der von diesen dazu beauftragten Amtspersonen. Eine solche Aufgabe setzt, wenn
sie Erfolg haben will, neben Zwangsmaßnahmen eine weitgehende, allgemeine Akzeptanz und
eine Vorbildfunktion voraus, die in diesem Fall naturgemäß in einer Art „Selbstdisziplin“ besteht. Mein Ziel ist es daher zu untersuchen, wieweit sich im Mittelalter so etwas wie königliche
Selbstdisziplin finden läßt und welchen Stellenwert man ihr beimaß, nämlich einmal, welche
Erwartungen man in dieser Hinsicht an den König hatte, zum andern, welche Ansprüche Könige und Fürsten an sich selbst stellten, und schließlich, wieweit und in welchen konkreten Zusammenhängen sich solche theoretischen Forderungen und Normen im herrscherlichen Verhalten niederschlugen. (Das ist auch eine Frage des Verhältnisses von Norm und Realität.)
Originalpublikation in: Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des
Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 17 = SB Wien phil.-hist. Kl. 669) Wien 1999,
S. 27-56.
330
V. Herrscher, Herzog, Abt
28-29
Mit diesen Fragen wird ein mentalitätsgeschichtlicher Ansatz verfolgt. Genauer gesagt,
geht es um mittelalterliche Denk- und Sichtweisen und nicht, oder jedenfalls nicht vorrangig,
um deren Verhältnis zu unseren modernen Vorstellungen von Disziplin. Ich möchte – was das
Thema ja durchaus nahelegte – deshalb darauf verzichten, meinen Ausführungen moderne Gesellschaftstheorien zugrunde zu legen. Ich werde mich daher nicht auf Norbert Elias berufen
und „Disziplin“ als Kategorie der Zivilisation und vor allem der Zivilisierung (als der Entwicklung dorthin) begreifen1. Ebensowenig möchte ich hier zu der Elias-Duerr-Kontroverse Stellung beziehen, die mit dem Schamgefühl und der Affektkontrolle immerhin einen wichtigen
Aspekt der Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung thematisiert. Es widerspricht, wenn nicht
meinem Wissenschafts-, so jedenfalls meinem Geschichtsverständnis, das Mittelalter als geradewegs auf uns zulaufendes Zeitalter und die Geschichte als einen Prozeß des Fortschritts zu
betrachten. Ich frage daher nicht nach einem „Zivilisationsprozeß“2, sondern nach epochenspezifischen Ausprägungen gesellschaftlicher Phänomene wie „Zivilisierung“ oder „Disziplin“.
Ebensowenig werde ich mich vorbehaltlos an Max Weber, der „Disziplinierung“ als eine
Schlüsselkategorie der modernen Gesellschaft ansah, Gerhard Oestreich, der den Begriff „Sozialdisziplinierung“ geprägt und zur Grundlage modernen staatlichen Denkens gemacht hat3,
oder / Michel Foucault anlehnen, der solche Ansätze am Beispiel vor allem der Strafjustiz oder
der Ausgrenzung des Wahnsinns zu einer Theorie der Formierung einer kontrollierten „Sozialdisziplinierung“ und einer „Disziplinargesellschaft“ im Verlauf des 18. Jahrhunderts ausgebaut hat4. Diese Thesen5 sind nicht nur an späteren Zeiten entwickelt und treffen daher nicht
ungefiltert auf das Mittelalter zu, sondern sie gehen geradezu davon aus, daß „Sozialdisziplinierung“ überhaupt erst ein Kennzeichen der modernen Gesellschaft und demnach unmittelalterlich ist6. Es wäre folglich nicht nur verfehlt, sondern würde den Anschauungen der genannten
Autoren vollkommen zuwiderlaufen, einfach die Haltbarkeit solcher Theorien an mittelalterlichen Zuständen überprüfen zu wollen.
1 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. I. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. II. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf
zu einer Theorie der Zivilisation, 2. Aufl. Bern-München 1969.
2 Einen solchen Prozeß von der Kriegergesellschaft zur „Verhöflichung der Krieger“ und zur Beschleunigung im 15.
und 16. Jahrhundert skizziert Elias II, 351 ff.
3 Vgl. Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, bes. 187 f.
und 236. Dazu Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit“. In:
Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987) 265-302.
4 Vgl. vor allem Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (stw 184) Frankfurt 1977
(frz. Surveiller et punir. Naissance de la prison. Paris 1975) bes. 171-292, zur Disziplin. Foucault (ebd. 279 f.) definiert Disziplin als „Techniken, die das Ordnen menschlicher Vielfältigkeiten sicherstellen sollen“.
5 Einen bündigen und kritischen Einblick in diese Theorien vermittelt Stefan Breuer, Sozialdisziplinierung. Probleme
und Problemverlagerungen eines Konzepts bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault. In: Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, hrsg. v. Christoph
Sachße und Florian Tennstedt (edition suhrkamp n. F. 323) Frankfurt 1986, 45-69. Zur Rezeption und Kritik des
Foucaultschen Sozialdisziplinierungskonzepts in der deutschen Geschichtsforschung vgl. Martin Dinges, The Reception of Michel Foucault’s Ideas on Social Discipline, Mental Asylums, Hospitals and the Medical Profession in
German Historiography. In: Reassessing Foucault. Power, medicine and the body, hrsg. v. Colin Jones und Roy Porter (Studies in the Social History of Medicine) London-New York 1994, 181-212.
6 Oestreich sucht die Wurzeln in der frühneuzeitlichen Stadt und erkennt die volle Durchdringung ebenfalls im aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts.
85-86
GENTES
Zur zeitgenössischen Terminologie und Wahrnehmung ostfränkischer Ethnogenese
im 9. Jahrhundert
I
Den „Stammesprovinzen“ im Ostfränkisch-deutschen Reich (Franken, Bayern, Alamannien,
Sachsen und Lothringen) kam nach herkömmlicher Meinung schon aufgrund ihrer gentilen
Tradition, aber auch ihrer (angeblichen) politischen Bindung an (sogenannte) Stammesherzogtümer, ihrer rechtlichen Besonderheiten und ihrer administrativen und militärischen Eigenständigkeit bis weit in das 12. Jahrhundert hinein eine entscheidende Bedeutung in der Verfassungswirklichkeit des Reichs zu. Entsprechende Ansichten sind ausführlich etwa bereits 1914
von Eugen Rosenstock, der sogar die Königswahlen durch die Stämme erfolgen ließ1, 1938 von
Walther Merk, der auf das Eigenleben der Stämme verwies2, 1953 von Karl Siegfried Bader, der
den Einfluß der Stämme in Recht und Verfassung dafür verantwortlich machte, daß eine
„Staatsbildung“ erst in den Territorialstaaten möglich wurde3, oder dezidiert 1955 von Karl
Gottfried Hugelmann geäußert worden, der die Eigenständigkeit der Stämme betonte, die nicht
aus zufälliger Machtbildung, sondern aus ethnischer Gemeinsamkeit hervorgegangen seien4.
Daß den „Stämmen“ oder, wie man heute bevorzugt und angemessener sagt, den Völkern im
Fränkischen Reich und seinen Nachfolgestaaten5 in der Reichsverfassung eine hohe Bedeutung
/ zukam, ist sicher unabweisbar, und so verwundert es nicht, daß sich entsprechende Vorstellungen bis in die jüngsten Handbücher hinein gehalten haben. Johannes Fried spricht in seiner
„Propyläen Geschichte Deutschlands“ seit dem ausgehenden Karolingerreich sogar von einer
„Wiedergeburt“ der „Stämme, die in Wahrheit alte Völker waren“, nämlich als der Erben der
Originalpublikation in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 108, 2000, S. 85-116.
1 Eugen R o s e n s t o c k - H u e s s y , Königshaus und Stämme in Deutschland zwischen 911 und 1250 (Leipzig
1914).
2 Walther M e r k , Die deutschen Stämme in der Rechtsgeschichte, in: ZSRG Germ. Abt. 58 (1938) 1-41.
3 Karl Siegfried B a d e r , Volk, Stamm, Territorium, in: HZ 176 (1953) 449-477 (abgedruckt in: Herrschaft und Staat
im Mittelalter, hg. v. Hellmut Kämpf, Wege der Forschung 2, Darmstadt 1956, 243-283).
4 Karl Gottfried H u g e l m a n n , Stämme, Nation und Nationalstaat im Deutschen Mittelalter (Würzburg 1955).
Hugelmann untersucht Unterschiede in den Ortsnamen, Dialekten, in Siedlung, Haustypen und Kultur.
5 Vor allem Carlrichard B r ü h l , Deutschland – Frankreich. Die Geburt zweier Völker (Köln-Wien 1990) 303ff., betont, daß es sich nicht um „Stämme“, sondern – nach heutigem Verständnis – um Völker unter fränkischer Führung handelt, die in Regna strukturiert waren. Dem ist nach heutigem Sprachgebrauch zuzustimmen, doch bleibt
zu bedenken, daß die Quellen durchaus von gentes sprechen. Vgl. Matthias B e c h e r , Rex, Dux und Gens. Untersuchungen zur Entstehung des sächsischen Herzogtums im 9. und 10. Jahrhundert (Historische Studien 444, Husum 1996) 18.
356
VI. Die Wahrnehmung von Völkern
86-87
frühmittelalterlichen „gentes“6. Gleichwohl sind unsere Vorstellungen von „Volk“ und „Nation“ durch eine traditionsreiche Flut von Mythen geprägt7.
Tatsächlich hat eine solche Einschätzung, die weit eher auf überkommenen Vorstellungen als auf eingehenden Forschungen beruht, in den letzten Jahrzehnten vor allem von drei
Ansatzpunkten her Einschränkungen erfahren:
(1) Galt die unlösliche Einheit von „Stamm“ und „Herzogtum“ lange Zeit als unwiderlegbare Ansicht8 – Walther Kienast wollte sie vom deutschen Beispiel her sogar auf Westfranken-Frankreich übertragen9 –, so hat Karl Ferdinand Werner daran berechtigte Zweifel geäußert und die Herzogtümer (oder besser „Fürstentümer“) im Westen wie im Osten nicht an gentile Stammesprovinzen, sondern an karolingische Teilkönigreiche (regna) binden wollen10, einen allerdings mehrdeutigen Begriff11. Diese Zweifel an einer festen Stammesbindung der Herzöge hatte ich 1977 mit meiner Dissertation bekräftigt, den einerseits auf Teile der Stammesprovinzen beschränkten, andererseits aber stammesübergreifenden Herrschafts- und Wirkungsbereich der werdenden Herzöge des späten 9. und frühen 10. Jahrhunderts, den politischen Charakter und die Amtsfunktion der Dukate12 sowie deren Unabgeschlossenheit und
Veränderbarkeit aufgezeigt13, bin damit zunächst allerdings auf teilweise heftigen Widerspruch
gestoßen14. Um den Sachverhalt / deshalb vorsichtig auszudrücken: Man muß zumindest in
6 Johannes F r i e d , Der Weg in die Geschichte (Propyläen Geschichte Deutschlands 1, Berlin 1994) 703f. Für ein
zeitgenössisches Verständnis (der frühmittelalterlichen Gesellschaft) plädiert Franz S t a a b , Eine ungleiche Gesellschaft. Völker und soziale Schichten im Frankenreich nach schriftlichen Quellen, in: Mannheimer Geschichtsblätter 1996/3, 23-56.
7 Vgl. Bernd S c h n e i d m ü l l e r , Reich – Volk – Nation: Die Entstehung des Deutschen Reiches und der deutschen Nation im Mittelalter, in: Mittelalterliche nationes – neuzeitliche Nationen. Probleme der Nationenbildung in
Europa, hg. v. Almut Bues und Rex Rexheuser (Wiesbaden 1995) 73-101, besonders 73 und 76ff.
8 Gegen die Meinung von Rosenstock-Huessy (wie Anm. 1) 125, nur wo es einen Stamm gebe, könne ein echtes Herzogtum entstehen, wandte sich bereits Bader, Volk (wie Anm. 3) 259: „Nicht jeder Stamm hat sein Herzogtum und
beileibe nicht jeder Herzog seinen Stamm.“
9 Walther K i e n a s t , Der Herzogstitel in Frankreich und Deutschland (9.-12. Jahrhundert). Mit Listen der ältesten
deutschen Herzogsurkunden (München-Wien 1968).
10 Vgl. Karl Ferdinand W e r n e r , La genèse des duchés en France et en Allemagne (1981), in: d e r s . , Vom Frankenreich zur Entfaltung Deutschlands und Frankreichs. Ursprünge – Strukturen – Beziehungen. Ausgewählte Beiträge (Sigmaringen 1984) 278-310; d e r s ., Les duchés „nationaux“ d’Allemagne au IXe et au Xe siècle (1979), ebd.
311-328. Vgl. d e r s ., Artikel „Regnum“, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 7 (1995) Sp. 587-596.
11 Vgl. Hans-Werner G o e t z , Regnum: Zum politischen Denken der Karolingerzeit, in: ZSRG Germ. Abt. 104
(1987) 110-189 [in diesem Band S. 219-272].
12 Dabei spielte es auch eine Rolle, daß schon die älteren (merowingischen) Herzogtümer von den fränkischen Königen geschaffene Einrichtungen, nämlich Ämter, waren (daher gab es in Sachsen kein Herzogtum). Auch die jüngeren Herzogtümer wurden als Ämter verstanden.
13 Hans-Werner G o e t z , „Dux“ und „Ducatus“. Begriffs- und verfassungsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung des sogenannten „jüngeren“ Stammesherzogtums an der Wende vom neunten zum zehnten Jahrhundert
(Bochum 1977). Da die ältere Literatur dort ausführlich (S. 23-92) diskutiert ist, verzichte ich hier auf weitere Belege.
14 Vgl. vor allem Odilo E n g e l s , Das Reich der Salier – Entwicklungslinien, in: Die Salier und das Reich, Bd. 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, hg. v. Stefan Weinfurter (Sigmaringen 1991)
479-541. Dazu Hans-Werner G o e t z , Das Herzogtum der Billunger – ein sächsischer Sonderweg? in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 66 (1994) 167-197. In letzter Zeit werden die Thesen stärker rezipiert. Vgl.
zustimmend bereits Friedrich P r i n z , Grundlagen und Anfänge. Deutschland bis 1056 (München 1985) 243ff.;
jetzt vor allem Becher, Rex (wie Anm. 5). Ein Stammesherzogtum bestreitet – trotz persönlicher Polemiken – dezidiert auch Brühl, Deutschland (wie Anm. 5) 303ff.
73-74
„Sachsen“ in der Wahrnehmung
fränkischer und ottonischer Geschichtsschreiber
1. Sachsen im Licht der Geschichtswissenschaft
Die Sachsen, ein Volk, dessen spätantike Ursprünge bis heute nicht restlos geklärt sind, das
aber wohl, parallel zu Franken und Alemannen, im Verlauf des 3. Jahrhunderts aus einer Vielzahl kleiner Stämme zu einem Stammesverband, noch ohne einheitliche politische Führung,
zusammenwuchs und jedenfalls von „außen“ (Rom) aus als eine solche Einheit betrachtet wurde,1 wurden nach mancherlei Auseinandersetzungen bekanntlich erst unter Karl dem Großen
in zähem Ringen unterworfen, in das Fränkische Reich integriert und in der Folgezeit christianisiert.2 Fortan bildete Sachsen einen festen Bestandteil des Ostfränkisch-Deutschen Reiches3
und stieg seit 919 mit Heinrich I. und den Ottonen für ein Jahrhundert sogar zur Königslandschaft auf. Sachsen ist daher immer wieder Gegenstand der Forschung gewesen, auch wenn die
dargestellte Entwicklung heute längst nicht mehr als kontinuierlicher Prozeß eines Volkes, sondern als Abfolge entscheidender ethnogenetischer Schübe mit grundlegenden Wandlungen
gesehen / wird. Die politische und verfassungsgeschichtliche Stellung Sachsens im ottonischsalischen Reich bis zu den Sachsenkriegen Heinrichs IV. und Heinrichs V. ist dabei vom Jubilar
selbst bereits 1979 in einer bis heute grundlegenden Studie aufgearbeitet worden.4 Diese Pionierarbeit hat seither mehrere Ergänzungen erfahren: Während Karl Leyser zur gleichen Zeit
1
2
3
4
Originalpublikation in: Von Sachsen bis Jerusalem. Menschen und Institutionen im Wandel der Zeit. Festschrift für
Wolfgang Giese, hg. v. Hubertus Seibert und Gertrud Thoma, München 2004, S. 73-94.
Die ältere Forschung ist zusammengefaßt in: Entstehung und Verfassung des Sachsenstammes, hg. v. Walther
Lammers (Wege der Forschung 50), Darmstadt 1967. Zu neueren Deutungen vgl. Herwig Wolfram, Das Reich und
die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter (Das Reich und die Deutschen), Berlin 1990, S. 83ff.; Torsten Capelle,
Die Sachsen des frühen Mittelalters, Darmstadt 1998; Sachsen und Franken in Westfalen: zur Komplexität der ethnischen Deutung und Abgrenzung zweier frühmittelalterlicher Stämme (Studien zur Sachsenforschung Bd. 12), hg.
v. Hans-Jürgen Häßler, Oldenburg 1999; Herbert Schutz, The Germanic Realms in Pre-Carolingian Central Europe,
400-750, New York 2000, S. 371ff.; Walter Pohl, Die Germanen (Enzyklopädie deutscher Geschichte 57), München
2000, S. 39f.; 114f.
Dazu zuletzt Lutz E. von Padberg, Die Christianisierung Europas im Mittelalter, Stuttgart 1998, S. 89ff. Zu den Reliquientranslationen des 9. Jahrhunderts vgl. Hedwig Röckelein, Reliquientranslationen nach Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter (Beihefte der Francia 48), Stuttgart 2002.
Zur konstruktiven Verarbeitung der Unterwerfung im Sinne einer christlichen Identitätsbildung vgl. Helmut Beumann,
Die Hagiographie „bewältigt“ Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen, in: Cristianizzazione ed organizzazione delle campagne nell’alto medioevo: Espansione e resistenze (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 28), Spoleto 1982, S. 129-163 (abgedr. in: Ders., Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren
1966-1986, Sigmaringen 1987, S. 289-323).
Das betont jetzt für das späte 9. Jahrhundert noch einmal Matthias Becher, Zwischen König und „Herzog“ unter
Kaiser Arnolf, in: Kaiser Arnolf. Das Ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, hg. v. Franz Fuchs u. Peter
Schmid (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte Beiheft 19), München 2002, S. 89-121, der eine allmähliche
Verfremdung im Verlauf der Regierungszeit Arnulfs annimmt. Die tiefgreifende Integration Sachsens in das Frankenreich im Verlauf des 9. Jahrhunderts stellt jetzt Karl Heinrich Krüger, Die älteren Sachsen als Franken. Zum Besuch des Kaisers Arnulf 889 im Kloster Corvey, in: Westfälische Zeitschrift 151/152, 2001/2002, S. 225-244, heraus.
Wolfgang Giese, Der Stamm der Sachsen und das Reich in ottonischer und salischer Zeit. Studien zum Einfluß des
Sachsenstammes auf die politische Geschichte des Deutschen Reiches im 10. und 11. Jahrhundert und zu ihrer Stellung im Reichsgefüge mit einem Ausblick auf das 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1979.
392
VI. Die Wahrnehmung von Völkern
74-75
die Konflikte in Königshaus und Adel im Zeitalter der Ottonen unter neuen Perspektiven betrachtete,5 gingen Wolfgang Eggert und Barbara Pätzold wenig später dem – aus sächsischem
Blickwinkel geprägten – Reichsbegriff der Ottonenzeit nach,6 in dem die fränkisch-sächsische
Integration, die in der Wendung Francia et Saxonia zum Ausdruck kam, eine wichtige Rolle
spielte; sogar das ganze Reich konnte nun, wenngleich nur vorübergehend, als regnum Saxonum bezeichnet werden.7 Die Forschungen über das sächsische Herzogtum aufgreifend und
mit der neueren Ethnogeneseforschung verbindend,8 konnte Matthias Becher hier ansetzen
und der Integration Sachsens in das Frankenreich einen noch gewichtigeren Stellenwert beimessen, indem er das (angeblich sächsische) Herzogsgeschlecht der Liudolfinger als fränkischen Reichsadel ansah und in der Integration (als Teil des regnum Francorum et Saxonum) einen entscheidenden Wandel in der Ethnogenese der Sachsen und im ottonischen Königtum
sowie im Herzogtum der Billunger wichtige Schritte in / der Ausbildung einer eigenen (politischen) Identität erblickte.9 Damit wäre auch der Aufstieg des liudolfingischen Geschlechts zum
Königtum weit zwangloser erklärt. Schon vorher hatte der Verfasser den Mythos von einem
„Stammesherzogtum“ zurückweisen und die Liudolfinger als ein fürstliches Adelsgeschlecht
sehen wollen, dessen Herrschaftsgrundlagen einerseits auf Ostsachsen-Nordthüringen beschränkt waren, andererseits über das Gebiet der „Stammesprovinz“ weit hinausgriffen.10 Von
einem anderen Ansatz her hat schließlich Joachim Ehlers in einem das gesamte Mittelalter erfassenden Längsschnitt das (allmähliche) Werden Sachsens als einer historischen Landschaft
betrachtet und die sächsische gens dabei ebenfalls als ein Produkt der fränkischen Großreichsbildung gewertet, die, im Zuge der kirchlich-fränkischen Erschließung, hier erstmals Zentralorte entstehen und Sachsen somit als Einheit begreifen ließ, wobei das ottonisch-sächsische Königtum der Raumerfassung eine neue Intensität verleihen konnte.11 Das schlug sich auch in der
5 Karl Leyser, Rule and Conflict in an Early Medieval Society. Ottonian Saxony, London 1979 (dt. Herrschaft und
Konflikt. König und Adel im ottonischen Sachsen [Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 76], Göttingen
1984).
6 Wolfgang Eggert/Barbara Pätzold, Wir-Gefühl und Regnum Saxonum bei frühmittelalterlichen Geschichtsschreibern (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 21), Wien-Köln-Graz 1984.
7 Barbara Pätzold, Die Auffassung des ostfränkisch-deutschen Reiches als „regnum Saxonum“ in Quellen des 10.
Jahrhunderts (vornehmlich bei sächsischen Geschichtsschreibern), ebd. S. 181-286, zusammenfassend S. 277ff.
8 Ethnogenetisch sind die Sachsen ein schwieriger Fall, eben weil sie lange Zeit keine politische Einheit bildeten. Daß
sie kein Königtum ausbildeten (vgl. Giese, Stamm der Sachsen [wie Anm. 4], S. 4ff.), bildet eher eine Ausnahme in
der Geschichte der sogenannten Germanen. Ein fehlendes „Herzogtum“ überrascht hingegen nicht, wenn man ein
solches, wie ich, als ein vom König eingesetztes Amtsherzogtum begreift.
9 Matthias Becher, Rex, Dux und Gens. Untersuchungen zur Entstehung des sächsischen Herzogtums im 9. und
10. Jahrhundert (Historische Studien 444), Husum 1996.
10 Hans-Werner Goetz, „Dux“ und „Ducatus“. Begriffs- und verfassungsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung des sogenannten „jüngeren“ Stammesherzogtums an der Wende vom neunten zum zehnten Jahrhundert, Bochum 1977; zu den Liudolfingern ebd. S. 302ff.; 325ff.; 343ff.; 372ff.; 380ff.
11 Joachim Ehlers, Das früh- und hochmittelalterliche Sachsen als historische Landschaft, in: Papstgeschichte und
Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag, hg. v. Joachim Dahlhaus u. Armin Kohnle
in Verbindung mit Jürgen Miethke, Folker E. Reichert u. Eike Wolgast, Köln-Weimar-Wien 1995, S. 17-36. Grundlegend zum Aufenthaltsraum der Könige: Eckhard Müller-Mertens, Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen. Mit historiographischen Prolegomena zur Frage Feudalstaat auf deutschem Boden, seit
wann deutscher Feudalstaat? (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 25), Berlin 1980; vgl. zuletzt Hans K.
Schulze, Sachsen als ottonische Königslandschaft, in: Otto der Große, Magdeburg und Europa, hg. v. Matthias Puhle, Bd. 1, Mainz 2001, S. 30-52.
547-548
Die germanisch-romanische (Kultur-)Synthese
in der Wahrnehmung der merowingischen Geschichtsschreibung
I
Die Geschichte der Germanenreiche1 steht im Schnittpunkt der Transformation der Antike
zum Mittelalter und hat daher immer wieder große Aufmerksamkeit der Forschung wie auch
des allgemeinen Geschichtsbewusstseins gefunden. Man braucht hier nur an die Romanhistorien Felix Dahns zu erinnern. Die moderne Sicht auf diese Epoche ist allerdings – durchweg –
von unterschiedlichen Einschätzungen geprägt, und sie ist, vor allem, doch keineswegs ausschließlich in Deutschland, ideologisch belastet. Man kann vielleicht von einem dreifachen Gegensatz sprechen:
– erstens einem Gegensatz zwischen der Althistorie, der die Germanenreiche das Ende der
Antike und folglich einen „Verfall“ bedeuteten,2 und der Mediävistik, die traditionell mit
den Germanen einsetzt und in ihnen den Beginn des neuen Zeitalters erblickt;
– zweitens dem ideologischen Gegensatz einer germanophilen und einer romanophilen Bewertung dieser Jahrhunderte:3 Nach einer mindestens anderthalb Jahrhunderte langen, nationalistisch bestimmten Schätzung und Überschätzung der germanischen Komponente für
die mittelalterliche Geschichte tendiert die heutige Forschung (seit etwa 20 Jahren) nahezu
einhellig in die Gegenrichtung und betont sowohl die Kontinuitäten als auch – mehr noch –
die herausragende Bedeutung des römischen Elements in der Geschichte der Germanenreiche und noch ihrer Nachfolger im Hinblick auf Verfassung und Gesellschaft wie (natürlich)
auf Kirche und Kultur;4 /
– drittens schließlich – und das ist in unserem Zusammenhang der wichtigste Faktor – einer
wenn nicht gegensätzlichen, so doch ambivalenten Einschätzung des Verhältnisses von
„Romanen“ und „Germanen“: einerseits als eines strikten Gegensatzes zweier Volksgruppen
und zweier „Kulturen“ („römisch“ – „barbarisch“), andererseits als eines Zusammenwachsens dieser unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gerade in den (oder in einigen) Germanenreichen; diese „Symbiose“ gilt als herausragendes Merkmal der Entwicklung zum
Mittelalter. Die meines Wissens auf Hermann Aubin zurückgehende, in der Sache aber ältere Kennzeichnung des Mittelalters als einer Synthese von Römertum, Christentum und
Germanentum5 ist bis heute virulent, wenngleich inzwischen merklich differenziert: Römertum und Christentum sind bereits in der Spätantike, vollends seit der Verordnung des
1
2
3
4
5
Originalpublikation in: Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und
frühem Mittelalter, hg. v. Dieter Hägermann, Wolfgang Haubrichs und Jörg Jarnut (RGA Ergänzungsband 41) Berlin-New York 2004, S. 547-570.
Jüngste Darstellungen: Barnwell 1997, 1992; Pohl 2001. Zur neueren Diskussion und vielen Einzelaspekten sei auf
die zahlreichen Bände der Reihe „The Transformation of the Roman World“ verwiesen, vor allem Pohl 1997 und
Pohl/Reimitz 1998.
Vgl. Demandt 1989, S. 491: „Somit läßt sich die Auflösung des Reiches nicht nur als gescheiterte Abwehr, sondern
ebenso als mißglückte Einbürgerung der Germanen auffassen.“
Zur Aufarbeitung der Germanenideologie sei auf die Arbeiten Klaus von Sees verwiesen: von See 1970, 1987. Vgl.
ferner Lund 1995, 1998.
Vgl. zusammenfassend: Demandt/Goetz/Reimitz/Steuer/Beck 2000.
Aubin 1968, Grundmann 1976, S. 381ff.
410
VI. Die Wahrnehmung von Völkern
548-549
katholischen Christentums als „Staatsreligion“ unter Theodosius, zu einer als untrennbar
empfundenen Einheit verwachsen, und auch die „Barbaren“ waren seit langem mit dieser
Kultur in Berührung gekommen. Trotz des Wissens um Kontinuitäten, um einen seit Jahrhunderten beobachtbaren Prozess der Romanisierung der „Barbaren“ und darüber hinaus
um die komplexen Vorgänge frühmittelalterlicher Ethnogenesen geht die Forschung immer
noch von einem ursprünglichen, strikten Gegensatz von „Römern“ und „Germanen“ aus,
der in einigen Reichen, bei den Ostgoten in Italien oder den Vandalen in Afrika, sogar als
ein (gewollter) „Dualismus“ betrachtet wird und sich erst in den länger währenden Germanenreichen, vorab dem Frankenreich, aber auch dem spanischen Westgoten- und dem Langobardenreich, allmählich zugunsten einer Synthese der „Mischbevölkerung“ auflöste. Mit
anderen Worten: Die Germanenreiche werden weithin vornehmlich aus dem Verhältnis von
Römern und Germanen begriffen.
Wenige Zitate mögen genügen, um das zu belegen. So schrieb Heinz Löwe 1970 in der damaligen Ausgabe des „Gebhardt“:
„Der r ö m i s c h - g e r m a n i s c h e D u a l i s m u s ließ das Leben der römischen Welt in
den alten Formen weitergehen, vermochte aber den schon vorher begonnenen allmählichen
Verfall derselben nur vorübergehend aufzuhalten.“6
Und:
„In den Reichen der Ostgermanen auf römischem Boden vollzog sich der erste Versuch einer germanisch-romanischen Synthese.“7
Diese Überwindung des Gegensatzes wird vor allem für das Frankenreich angenommen:
„Während die Franken Nordgalliens romanisiert wurden, nahmen die Romanen, die dort
einer traditionsbewußten römischen Oberschicht entbehrten, das fränkische Volksbewußtsein an. Der germanisch-römische Gegensatz scheint in der aus dem 7. Jahrhundert überlieferten Sage von der trojanischen Abkunft der Franken ebenso überwunden wie in / der
gleichzeitigen fränkischen Völkertafel, die auch die Römer der germanischen Abstammungssage von Ingväonen, Istväonen und Herminonen einordnete.“8
Dennoch blieb die Loire „Kulturscheide“, die Welt nördlich davon war germanisch, südlich davon romanisch.9 Löwes (balancierende) Einschätzung darf geradezu als paradigmatisch gewertet werden. Theodor Schieffer und Eugen Ewig betonen im etwas jüngeren „Handbuch der Europäischen Geschichte“ die Synthese im Frankenreich, die Schieffer an der Verschmelzung von
fränkischem und galloromanischem Adel,10 Ewig vor allem am katholischen Christentum
festmacht.11 Entsprechend spricht Reinhold Kaiser in seinen jüngsten Veröffentlichungen zum
6
7
8
9
10
Löwe 1970, S. 101.
Ebd., S. 92.
Ebd., S. 121.
Ebd., S. 119ff.
Schieffer 1976, S. 153: „Im 7. Jahrhundert waren germanisch-fränkische und romanische Aristokraten auf gallischem Boden zu einer zwar landschaftlich differenzierten, im Prinzip aber einheitlichen Oberschicht verschmolzen.“
11 Ewig 1976, S. 260.: „Durch Chlodwigs Übertritt zum Katholizismus wurde in Nordgallien eine germanischromanische Synthese neuer Art angelegt.“
306-307
Endzeiterwartung und Endzeitvorstellung
im Rahmen des Geschichtsbildes des früheren 12. Jahrhunderts1
Das 12. Jahrhundert gilt mit Recht als ein Zeitalter historischen Denkens2, weil man nach den
Erfahrungen des Kirchenstreits, dem Bewußtwerden des politischen und sozialen Wandels und
dem daraus resultierenden, drohenden Zusammenbruch des alten Weltbildes nach Erklärungen suchte, die mit dem Wandel den Blick zwangsläufig auch auf die Geschichte richten und
zur Geschichtsreflexion führen mußten3. Vor dem Hintergrund der Krise fragte man (wieder)
nach dem eigenen Standort, und man suchte diesen nicht zuletzt auch historisch zu bestimmen4. Im mittelalterlichen Geschichtsdenken, das wegen seines christlich bestimmten Charakters treffend als ‚Geschichtstheologie‘ bezeichnet wird, nahm die Endzeit einen zentralen Platz
ein, weil eine christliche Standortbestimmung stets auf das Ende ausgerichtet ist. ‚Endzeit‘ aber
hat einen ambivalenten Charakter. Sie bezeichnet einerseits das Ende der Zeiten, das sich damit
an den Geschichtsablauf anschließt; am deutlichsten wird das wohl bei Otto von Freising, der
nach dem Vorbild Augustins dem 7. Buch seiner Chronik über die Gegenwart bekanntlich einfach ein achtes über die Eschatologie anfügt. Die Endzeit leitet andererseits über ins ‚Jenseits‘,
in den transzendenten und tatsächlich unhistorischen Zustand der Ewigkeit. Das mittelalterliche Geschichtsdenken mußte diese beiden Wesenszüge in Einklang halten und in Einklang
bringen, und es lohnt sich, einmal dem Problem nachzugehen, auf welche Weise das geschah.
Mir geht es dabei weder um / eine Nachzeichnung der eschatologischen ‚Ereignisse‘ (vom Antichristen bis zum Jüngsten Gericht)5 oder eines künftigen Friedensreichs6 noch um eine, in
der Forschung noch weniger untersuchte Darstellung der Jenseitsvorstellungen selbst7, wenn-
1
2
3
4
5
6
7
Originalpublikation in: The Use and Abuse of Eschatology in the Middle Ages, hg. v. Werner Verbeke, Daniel
Verhelst und Andries Welkenhuysen (Mediaevalia Lovaniensia ser. I, studia 15) Leuven 1988, S. 306-332.
Den Diskussionsteilnehmern, insbesondere Herrn Dr. M.C. Viola und Herrn Dr. H.D. Rauh, verdanke ich wertvolle Hinweise.
Vgl. Otto Brunner, ‚Abendländisches Geschichtsdenken. Zur Vorgeschichte des Historismus im 12. Jh.‘, Wort und
Wahrheit, 9 (1954), 505-514; Clemens Bauer, ‚Die mittelalterlichen Grundlagen des historischen Denkens‘, Hochland, 55 (1962/63), 24-35.
Vgl. den Überblick bei Peter Classen, ‚Die geistesgeschichtliche Lage. Anstöße und Möglichkeiten‘, in Die Renaissance der Wissenschaft im 12. Jh., hg. von Peter Weimar, Zürcher Hochschulforum. Universität Zürich. ETH Zürich
2 (Zürich, 1981), 11-32.
Dazu Amos Funkenstein, Heilsplan und natürliche Entwicklung. Formen der Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des hohen Mittelalters (München, 1965).
Vgl. dazu Horst Dieter Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter: Von Tyconius zum Deutschen Symbolismus, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, n.F. 9 (Münster, 1973); Richard Kenneth Emmerson, Antichrist in the Middle Ages. A Study of Medieval Apocalypticism, Art and Literature (Manchester, 1981);
Martin Haeusler, Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik, Archiv für Kulturgeschichte, Beih.
13 (Köln-Wien, 1980). Einen Forschungsbericht gibt Bernard McGinn, ‚Apocalypticism in the Middle Ages: An
Historiographical Sketch‘, Mediaeval Studies, 37 (1975), 252-286.
Dazu Bernhard Töpfer, Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im
Hochmittelalter, Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, 11 (Berlin, 1964); zu Joachim von Fiore: Prophecy
and Millenarianism. Essays in Honour of Marjorie Reeves, hg. von Ann Williams (Harlow, 1980). Zuletzt Robert E.
Lerner, ‚Antichrists and Antichrist in Joachim of Fiore‘, Speculum, 60 (1985), 553-570.
Vom theologischen Standpunkt aus: Bernhard Wicki, Die Lehre von der himmlischen Seligkeit in der mittelalterlichen Scholastik von Petrus Lombardus bis Thomas von Aquin, Studia Friburgensia, n.F. 9 (Freiburg/Schw., 1954), der
434
VII. Gegenwart und Vergangenheit: Zeitvorstellungen im Mittelalter
307-308
gleich beide Aspekte in die Untersuchung einfließen, sondern um den Stellenwert der Endzeit
im Geschichtsbewußtsein und insbesondere um die Zusammenhänge zwischen Geschichte und
Endzeit (wie auch zwischen historischem und unzeitlichem Charakter der Endzeit) in der Vorstellungswelt des früheren 12. Jahrhunderts. Ich möchte das gestellte Problem anhand einzelner
Fragen strukturieren, deren Beantwortung nicht mehr als einen ersten, noch rudimentären, an
einzelnen Beispielen erläuterten Überblick erstrebt. Dabei muß ich mich aus pragmatischen
Gründen auf einige, ausgewählte Autoren beschränken: Im Mittelpunkt der Untersuchung
werden Honorius Augustodunensis, Hugo von St. Viktor und Otto von Freising, mit einem
Seitenblick auf eine Reihe weiterer Autoren (wie Rupert von Deutz, Anselm von Havelberg,
Gerhoh von Reichersberg, Richard von St. Viktor, Hildegard von Bingen) stehen. Daß diese
Denker einen jeweils spezifischen Ansatz verfolgen, ist selbstverständlich. Dennoch sei es erlaubt, hier die zweifellos vorhandenen, gemeinsamen Grundgedanken herauszustellen.
Zunächst sind die Grundlagen abzuklären. Es scheint sinnvoll, sich vorab über die Erkenntnisquellen zu informieren, aus denen das 12. Jahrhundert sein Wissen über die Endzeit
schöpfte, um auf diesem Wege Auskunft über den Stellenwert der Geschichte als theologische
Aussage zu erhalten. Die erste Frage lautet demnach: /
1. Mit welchen Mitteln suchten die Denker des 12. Jh. etwas über die Endzeit zu erfahren?
Das mittelalterliche Wissen über die Endzeit schöpfte vor allem aus drei Quellen: aus Bibel, Geschichte und menschlichen Visionen als den Formen göttlicher Offenbarung, die vom Glauben
getragen wurden (vgl. Schema 1). Die Bibel beschränkte sich dabei auf mehr oder weniger
dunkle Prophezeiungen; die Geschichte, die als göttliche Offenbarung grundsätzlich ähnlich
aussagekräftig war, ließ unmittelbar nur die Vergangenheit erkennen. In beiden Fällen bedurfte
es folglich einer wissenschaftlich-rationalen Ausdeutung der Offenbarung8, einer – und dessen
wurde man sich gerade im 12. Jh., im Zeitalter der Frühscholastik, bewußt – Anwendung der
‚ratio‘ auf die ‚auctoritas‘ (als Offenbarung selbst wie auch als frühere Ausdeutung der Offenbarung, vor allem durch die Kirchenväter, verstanden), auf der Grundlage des christlichen Glaubens, in Form der anagogischen (d.h. auf das Göttlich-Ewige ausgerichteten) Bibelexegese einerseits und der Geschichtsexegese, nämlich der Geschichtsdeutung, eben der Geschichtstheologie, andererseits9. Diese wissenschaftliche Deutung ist Gegenstand meiner Untersuchung.
Die Vision10 dagegen entsprang nicht einer rationalen Beschäftigung mit dem Gegenstand, sondern einem eher mystisierenden, unmittelbaren Erleben, das man – zumindest in der
die hier behandelte Zeit nur beiläufig streift; der große Überblick von Howard Rollin Patch, The Other World according to Descriptions in Medieval Literature (New York, 21970), beruht vor allem auf literarischen Quellen.
8 Zu den besonders aussagekräftigen Apokalypsekommentaren vgl. Wilhelm Kamlah, Apokalypse und Geschichtstheologie. Die mittelalterliche Auslegung der Apokalypse vor Joachim von Fiore, Historische Studien, 285 (Berlin,
1935; N.D. Vaduz, 1965), der den inhaltlichen Fragen aber weniger Aufmerksamkeit widmet als den Überlieferungsproblemen.
9 Der Zusammenhang zwischen Geschichte und Theologie kann hier nicht im einzelnen begründet werden; vgl. dazu Hans-Werner Goetz, ‚Die „Geschichte“ im Wissenschaftssystem des Mittelalters‘, in Franz-Josef Schmale, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung (Darmstadt, 1985), 165-213.
10 Dazu Peter Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Monographien zur Geschichte des Mittelalters,
23 (Stuttgart, 1981).
61-62
Die Gegenwart der Vergangenheit
im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein*
Geschichtsdenken und Geschichtsbewußtsein sind zu Zentralbegriffen heutiger Geschichtsanschauung geworden. Ihre Untersuchung in früheren Zeiten verspricht Aufschluß über das
Konstante ebenso wie über das Zeitgemäße historischer Betrachtungsweisen, über die zeit- und
autorentypische Eigenart der Vergangenheitsbetrachtung und legt zugleich die erkenntnistheoretische Grundlage früherer Historiographen, unserer in vieler Hinsicht bedeutendsten
Quellen, frei. Wie aufschlußreich ein solcher Ansatz in bezug auf die mittelalterliche Geschichte sein kann, zeigt die vor einigen Jahren vorgenommene Untersuchung des mittelalterlichen
Geschichtsbegriffs1), die zu folgenden Erkenntnissen geführt hat:
1. Wissenschaftsgeschichtlich ist historia weniger eine Wissenschaftsdisziplin – alle Versuche
einer Einordnung gehen daher fehl – als vielmehr eine übergeordnete Betrachtungsweise,
eine Methode, die sich im mittelalterlichen Sinn eng mit dem ersten, die wörtliche Auslegungsweise bezeichnenden Schriftsinn der Bibelexegese verknüpft. „Geschichte“ als von
Gott gelenkte Heilsgeschichte / wird im Mittelalter zu einer theologischen Perspektive. Mittelalterliche Geschichtsschreibung versteht sich immer auch als faktische Eruierung dieses
Heilsplans.
2. Der historia-Begriff selbst aber bezeichnet nicht die „Geschichte“, die historischen Fakten
(res gestae), sondern ist narratio rerum gestarum, Faktenerzählung, also: Geschichtsschreibung. Schon das Mittelalter kannte demnach den (modern anmutenden) Unterschied zwischen vergangenem Geschehen (res gestae) und dem gegenwärtigen Wissen davon (historia).
An diese Erkenntnis anknüpfend, möchte ich hier versuchen, das mittelalterliche Geschichtsbewußtsein dieser Historiographen, das jeder Geschichtsschreibung bereits als Voraussetzung
zugrunde liegt, näher zu charakterisieren. Geschichtsschreibung läßt sich von dem ihr eigenen
Charakter her – also über die wichtige Quellenfunktion als Informant historischer Kenntnisse
hinaus – grundsätzlich unter drei verschiedenen Gesichtspunkten betrachten:
– als wissenschaftlicher Arbeitsprozeß unter besonderen Bedingungen, ein Komplex, in den
Franz-Josef Schmale Licht gebracht hat2),
– als literarisch-wissenschaftliche Darstellungsform, eine Frage, der sich vor allem Gert Melville gewidmet hat3),
Originalpublikation in: Historische Zeitschrift 255, 1992, S. 61-97.
* Ausgearbeitete Hamburger Antrittsvorlesung vom 30. Mai 1990. Gleichzeitig als Abschiedsvortrag am 23. Mai an
der Ruhr-Universität Bochum gehalten. Der Vortrag verstand sich dem Anlaß entsprechend bewußt auch als vorläufiges Fazit eigener, im folgenden daher mehrfach zitierter Arbeiten zum Thema und ist trotz mancher Zusätze
und Änderungen in seiner pointierten Form belassen worden.
1) Hans-Werner Goetz, Die „Geschichte“ im Wissenschaftssystem des Mittelalters, in: Franz-Josef Schmale, Funktion
und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Darmstadt 1985, 165-213.
2) Schmale, Funktion (wie Anm. 1); ders., Mentalität und Berichtshorizont, Absicht und Situation hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber, in: HZ 226, 1978, 1-16.
3) Vgl. Gert Melville, System und Diachronie. Untersuchungen zur theoretischen Grundlegung geschichtsschreiberischer Praxis im Mittelalter, in: HJb 95, 1975, 33-67 u. 308-341; ders., Wozu Geschichte schreiben? Stellung und
Funktion der Historie im Mittelalter, in: Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/Jörn Rüsen (Hrsg.), Formen der Ge-
454
VII. Gegenwart und Vergangenheit: Zeitvorstellungen im Mittelalter
62-64
– oder aber – und das soll hier näher vorgestellt werden – als reflektierter Umgang mit der
Geschichte. Mein Thema zielt auf das Verhältnis früh- und hochmittelalterlicher Chronisten
zur Geschichte, auf Wesen, Merkmale, Ziele und Motive ihres Geschichtsbewußtseins.
Das Geschichtsbewußtsein besteht aus (mindestens) drei Elementen:
– einem (abstrakten) Geschichtlichkeitsbewußtsein, das die Ge/schichte als eine den Menschen
prägende Kraft und die Geschichtsschreibung als Medium historischer Information betrachtet und würdigt,
– einem (konkreten) Geschichtsbild, das aus der Masse historischer Informationen das jeweils
Wichtige ordnend auswählt und in einem wie auch immer gearteten geschichtsphilosophischen und ideologischen Rahmen zusammenhängend deutet;
– schließlich – und das soll hier im Mittelpunkt stehen – einem (praktischen) Geschichtsinteresse, das der Identifikation mit historischen Personen, Gemeinschaften, Gegenständen
und vor allem Institutionen entspringt.
Geschichtsbewußtsein ist (als Geschichtlichkeitsbewußtsein) nun stets ein Verhältnis von Vergangenem und Gegenwärtigem. Geschichtsschreibung ist – in doppeltem Wortsinn – „Präsentation“ von Vergangenem, nämlich sowohl – formal – als vermittelnde Darstellung wie – inhaltlich – als Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens. Die Geschichtsschreibung, so lehrte schon Heinrich von Huntingdon im 12. Jahrhundert, sollte Vergangenes wie Gegenwärtiges
in den Blick zurückbringen (historia igitur praeterita quasi praesentia visui repraesentat).4) Die
historische Betrachtung ist naturgemäß stets auf die Vergangenheit gerichtet, aber sie sieht diese bekanntlich mit den Augen der jeweiligen Gegenwart. Sie erkennt nicht die „eigentlich gewesen(e)“ Geschichte im Rankeschen Sinn, sondern beschreibt, wie sie sich das Vergangene
vorstellt; sie liefert, mit anderen Worten, ein aus der Gegenwart heraus (individuell wie kollektiv) deutendes Geschichtsbild (als dem zweiten Faktor des Geschichtsbewußtseins). „Geschichte“, schreibt Jörn Rüsen, „wird die Vergangenheit erst, wenn sie als solche gedeutet wird“5); sie
ist, nach Edward Carr, „ein unendlicher Dialog zwischen der Gesellschaft der Gegenwart und
der Gesellschaft der Vergangenheit“6) oder, mit Johan Huizinga, „die geistige Form, in der sich
eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt“.7) Das Geschichtsinteresse (der dritte
Aspekt des Geschichtsbewußtseins) richtet sich / daher auf diesen Zusammenhang von Gegenwart und Vergangenheit, es berücksichtigt, mit Rudolf Vierhaus, die „Geschichtlichkeit der
Gegenwart“ ebenso wie – als deren zwangsläufige Folge – die „Gegenwärtigkeit der Geschich-
4)
5)
6)
7)
schichtsschreibung. (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, 4.) München 1982, 86-146; ders., Kompilation,
Fiktion und Diskurs. Aspekte zur heuristischen Methode der mittelalterlichen Geschichtsschreiber, in: Christian
Meier/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historische Methode. (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, 5.) München
1988, 133-153.
Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum, prol., Ed. Thomas Arnold. (Rolls Series, 74.) London 1879, 2.
Jörn Rüsen, Historische Vernunft: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. (Grundzüge einer Historik, 1.)
Göttingen 1983, 59.
Edward Hallett Carr, Was ist Geschichte? Stuttgart 1963, 54.
Johan Huizinga, Über eine Definition des Begriffs Geschichte, in: ders., Geschichte und Kultur. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. v. Kurt Köster. Stuttgart 1954, 3-15, hier 13.
158-159
Historiographisches Zeitbewußtsein im frühen Mittelalter:
Zum Umgang mit der Zeit in der karolingischen Geschichtsschreibung
„Unter der Herrschaft unseres Herrn Jesus Christus, die da währt in Ewigkeit. Im Jahre seiner
Geburt 813, dem 45. der Regierung unseres ruhmreichen und rechtgläubigen Kaisers Karl, der,
wie wir durch Erzählungen der Väter gelernt haben und wie es viele Geschichten bezeugen, aus
dem Geschlecht des heiligen Arnulf, des Bischofs Christi, entsprossen ist.“1 So beginnt Thegan
seine Vita Ludwigs des Frommen mit bezeichnenden Worten, die ein mehrschichtiges Zeitbewußtsein offenbaren, in dem nicht nur menschliche Zeit und göttliche Ewigkeit gegeneinanderstehen, sondern der Wunsch nach zeitlicher Datierung sich auf drei, unterschiedlichen Traditionen folgenden Ebenen bewegt: Inkarnationsjahren, Herrscherjahren und Generationen.
Tradiert aber ist ein solches Zeitbewußtsein in historiae, in der Geschichtsschreibung.
Z e i t ist ein komplexer Begriff. Nach einem gängigen Lexikon umfaßt sie das nicht
wiederholbare Nacheinander, das sich als Aufeinanderfolge von Veränderungen und Ereignissen in Natur und Geschichte manifestiert2. Die physikalische Zeit (die von der historischen
heute nicht mehr so streng unterschieden wird wie noch vor einigen Jahrzehnten) ist eine unbeeinflußbare Größe zur Charakterisierung des Ablaufs aller Ereignisse3. Eine genauere Definition scheint unmöglich. „Was“, so fragte schon der Kirchenvater Augustin, „scheint uns beim
Reden vertrauter und bekannter gegenwärtig zu sein als die Zeit? … Was aber ist denn überhaupt ‚Zeit’? Wenn mich niemand fragt, weiß ich es; soll ich es aber einem Fragenden erklären,
so weiß ich es / nicht.“4 Für Augustin und das Mittelalter war dabei der geschichtstheologische
Charakter der Zeit ausschlaggebend: „Zeit“ ist ein Konstituens menschlicher Entwicklung, der
individuellen Lebenszeit ebenso wie der universalen Entwicklung der Heilsgeschichte von der
Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht. Sie ist gleichzeitig mit der Weltschöpfung erschaffen
worden5 − vor der Schöpfung gab es nach Augustin weder einen unbegrenzten Raum noch eine
unbegrenzte Zeit6 − und bildet somit eine nicht wegzudenkende Bedingung irdischen Lebens,
insofern sie, im Gegensatz zur unbewegten und dauerhaften Ewigkeit7, unmittelbar mit der Geschöpflichkeit verknüpft ist: Es gibt keine Zeit ohne Zeit, sagt Augustin, und keine Zeit ohne
1
2
3
4
5
6
7
Originalpublikation in: Historiographie im frühen Mittelalter, hg. v. Anton Scharer und Georg Scheibelreiter (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32) Wien-München 1994, S. 158-178.
Thegan, Vita Hludowici 1, ed. Georg Heinrich Pertz, MGH SS 2, 590: Regnante domino nostro Iesu Christo in perpetuum. Anno incarnationis eius octingentesimo tredecimo, qui est annus regni gloriosi et orthodoxi imperatoris Karoli
quadragesimus quintus, illius Karoli, qui de prosapia sancti Arnulfi, pontificis Christi, ortus est, sicut paterno relatu
didicimus, et multae testantur historiae.
Meyers Enzyklopädisches Lexikon Bd. 25 (1979) 636.
Vgl. dazu Georges S c h a l t e n b r a n d , Bewußtsein und Zeit, in: Zerstörung und Wiederaneignung der Zeit,
herausg. v. Rainer Zoll (1988) 37−58.
Augustinus, Confessiones 11,14, CSEL 33,1, 292: Quid autem familiarius et notius in loquendo commemoramus
quam tempus? … quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare uelim, nescio.
Augustin, De civitate Dei 11,6, ed. Dombart-Kalb, CSEL 40, 519.
Ebd. 11,5, S. 517 f.; Conf. 11,13, S. 290 f.
Vgl. De civitate Dei 11,6, S. 519: „Zeit“ gibt es nicht ohne bewegliche Veränderlichkeit. Zur späteren Interpretation
vgl. Richard C. D a l e s , Time and Eternity in the Thirteenth Century, in: Journal of the History of Ideas 49 (1988)
27−45.
478
VII. Gegenwart und Vergangenheit: Zeitvorstellungen im Mittelalter
159-160
Kreatur8. Gleichzeitig garantiert die göttliche Schöpfung der saecula saeculorum einen geordneten Verlauf9.
Zeitrhythmen haben zum Teil natürliche Grundlagen (wie Jahr und Tag), zum Teil sind
sie künstlich vom Menschen geschaffen (wie Woche und Stunde oder auch, allerdings nicht im
mittelalterlichen Verständnis, Weltären). Mit der Aufnahme, Ausgestaltung und Ergänzung
natürlicher Zeitrhythmen aber gewinnt die Zeit eine soziale Funktion10, die ihren greifbaren
Niederschlag in Zeitrechnung und Zeitmessung findet11. Der Umgang mit der Zeit ist daher
ein Indiz für die menschliche Mentalität bestimmter Epochen und − darin − bestimmter Menschengruppen. Die Frage nach einem (epochenspezifischen) „Zeitgefühl“ der Menschen ist
schon mehrfach gestellt worden, und man hat bekanntlich gerade unter diesem Aspekt eine
tiefgreifende Umwälzung im Verlaufe des Mittelalters erkannt12. Mit Jacques Le Goff wird das
Frühmittelalter als „Zeit der Kirche“ / (besser noch: als Zeit der Klöster), das Spätmittelalter als
„Zeit der Händler“ gekennzeichnet. Der Wandel des Zeitgefühls resultiert hier aus einem stärker werdenden Bedürfnis nach Genauigkeit und Gleichmäßigkeit des Tagesablaufs, aus einer
entsprechend präziseren Art der Zeitmessung durch die Erfindung der Räderuhren (als einem
Wandel, wie man gemeint hat, von der „theologischen“ zur „technologischen“ Zeit)13, nicht
zuletzt aber auch durch die Institution, die über die Zeitmessung wacht14. Das frühmittelalterliche Zeitverständnis scheint auf den ersten Blick durch zwei sich widersprechende Merkmale
bestimmt, nämlich eine „Datierungssucht“ auf der einen Seite (sie belegt sich etwa in den Urkundendatierungen) und ein verbreitetes Desinteresse an zeitlicher Genauigkeit andererseits15.
So wird man sicher nicht mit der älteren Forschung von einer Gleichgültigkeit gegenüber der
Zeit sprechen dürfen − dagegen spricht schon die Existenz von Traktaten mit Titeln wie De
tempore −16, doch fehlte zweifellos ein Bedürfnis nach minutiöser Exaktheit, fehlten dafür −
meines Erachtens eher als Konsequenz denn als Ursache − natürlich auch noch die technischen
8 De civitate Dei 12,15, S. 590.
9 Ebd. 12,20, S. 600.
10 Norbert E l i a s , Über die Zeit (41992), bes. im Vorwort, I ff.; vgl. auch Rainer Z o l l , Zeiterfahrung und Gesellschaftsform, in: Zerstörung und Wiederaneignung der Zeit (wie Anm. 3) 72−88. S c h a l t e n b r a n d , ebd. 51,
bezeichnet die Zeit als eine Schöpfung menschlicher Interpretation.
11 Zur mittelalterlichen Zeitrechnung vgl. Arno B o r s t , Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas (1990).
12 Vgl. Rudolf W e n d o r f f , Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa (21980); Jacques L e
G o f f , Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter, in: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge
zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, herausg. v. Claudia Honegger (1977) 393−414 (= Ders., Au
Moyen Âge: Temps de l'Église et temps du marchand, in: Pour un autre Moyen Âge. Temps, travail et culture en
Occident: 18 essais, Paris 1977, 46−65); Aaron G u r j e w i t s c h , Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen
(1980) 98−187; Hans-Ulrich G r i m m , „Zeit“ als Beziehungssymbol, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 37 (1986) 199−221; Gerhard D o h r n v a n R o s s u m , Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne
Zeitrechnung (1992); Hans-Werner G o e t z , Zeit/Geschichte (Mittelalter), in: Europäische Mentalitätsgeschichte,
herausg. v. Peter Dinzelbacher (1993) 640−649.
13 So Jean L e c l e r c q , Zeiterfahrung und Zeitbegriff im Spätmittelalter, in: Antiqui und Moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 9, 1974) 1−20, hier 16.
14 Unter diesem letzten Gesichtspunkt möchte Gerhard Dohrn van Rossum (wie Anm. 12) lieber von einer „Zeit der
Städte“ als von einer „Zeit der Händler“ sprechen.
15 Vgl. dazu Jean L e c l e r c q , Experience and Interpretation of Time in the Early Middle Ages, in: Studies in medieval culture 5 (1975) 9−19.
16 Vgl. Jacques L e G o f f , Kultur des europäischen Mittelalters (1970) 293 ff. (gegen Marc Bloch).
177-178
Vergangenheitswahrnehmung, Vergangenheitsgebrauch und Geschichtssymbolismus in der Geschichtsschreibung der Karolingerzeit
I
Das Mittelalter war bekanntlich eine Welt voller Symbole, die alle Lebensbereiche durchzogen:1
das Recht2 ebenso wie die Politik,3 die darstellende Kunst ebenso wie die Literatur, das Alltägliche ebenso wie die Liturgie. Symbolik prägte das mittelalterliche Verhalten (als „Gestik“), Denken und Schreiben: von der Zahlensymbolik (mit umfassendem Forschungsstand) über eine
Symbolik der Körperteile, der Farben, der Edelsteine bis zu einer Symbolik der Himmelsrichtungen oder des Kirchengebäudes.4 Worte (auch Namen und Titel), Gegenstände und Tatsachen waren „Symbole“ für das Eigentliche (das eigentlich damit Bezeichnete), ja der christliche
Neoplatonismus des frühen und hohen Mittelalters verstand die / gesamte Existenz des irdischen Lebens als ein symbolhaftes Abbild des wahren, ewigen, paradiesischen und göttlichen
Seins: Das „Symbol“ war hier gleichsam Inbegriff des unvollkommenen menschlichen Verständnisses der Dinge.5 In solcher Sicht wird auch die Geschichte zum Symbol für die Welt des
Irdischen, das auf die Ewigkeit verweist, und im hohen Mittelalter hat man das, etwa bei Otto
von Freising, explizit so gesehen.6
Solche Überlegungen mögen es sinnvoll erscheinen lassen oder zumindest erklären,
wenn ich unter dem Kongreßthema „Ideologie e pratiche del reimpiego nell’alto medioevo“
hier den Aspekt der historischen Vorstellungswelt behandle und das mir ursprünglich angetragene Rahmenthema über den „Wiedergebrauch von Symbolen“ auf den „Gebrauch der Vergangenheit“ begrenze. Was kann ein solcher Beitrag im Rahmen dieser Tagung leisten? Die
Frage nach dem „Wiedergebrauch“ berührt zwangsläufig sowohl das Verhältnis zur Tradition
wie das Problem des Umgangs mit dieser Tradition, nach einer „Vergegenwärtigung der Vergangenheit“, die auf drei Ebenen erfolgt: auf der (konzeptiven) Ebene der (historischen) Erinnerung, also des Weiterlebens oder des Wiederauflebens der Vergangenheit (dabei ist es
durchaus bezeichnend, woran man sich erinnert oder wieder erinnert, wie auch, woran man
sich nicht mehr erinnert);7 auf der Ebene des Zusammenhangs von Vergangenheit und Ge-
1
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7
Originalpublikation in: Ideologie e pratiche del reimpiego nell’alto medioevo (Settimane di studio del Centro Italiano di studi sull’alto medioevo 46), Spoleto 1999, S. 177-225.
Vgl. Simboli e simbologia nell’alto medioevo, Spoleto, 1976 (SSCI XXIII).
Es mag genügen, hier an den Spoletiner Vortrag von Jacques Le Goff zu erinnern. Vgl. J. LE GOFF, Les gestes symboliques dans la vie sociale. Les gestes de la vassalité, ebd. S. 679-779.
Ich verweise stellvertretend auf die antiken Triumphzüge, den mittelalterlichen Herrscherintroitus oder die Arbeiten von Gerd Althoff zu den „Spielregeln“ des politischen Umgangs: G. ALTHOFF, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt, 1997.
Das haben vor allem die zahlreichen Arbeiten aus der Schule des Germanisten F. OHLY aufgearbeitet.
Für den (philosophischen) „Realismus“ war das Wort das Symbol, das – stufenweise – zu den damit bezeichneten
Dingen führte.
Der „Symbolismus“ oder „Figuralismus“ im hochmittelalterlichen Geschichtsdenken ist hinlänglich bekannt. Vgl.
H.-W. GOETZ, Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte
des 12. Jahrhunderts, Köln-Wien, 1984 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte XIX).
Vgl. P. J. GEARY, Phantoms of Remembrance. Memory and Oblivion at the End of the First Millenium, Princeton, N.J.,
1994.
498
VII. Gegenwart und Vergangenheit: Zeitvorstellungen im Mittelalter
179-180
/genwart, also des Bewußtseins von Kontinuität und Wandel, sowie auf der funktionalen Ebene
der (Wieder-)Erinnerung: der Funktion der Vergangenheit in der Gegenwart und für die Gegenwart.
Solchen Aspekten der Vergangenheitswahrnehmung und des Vergangenheitsgebrauchs
ist hier nachzugehen. Im Rahmen dieser Tagung bilden sie in gewisser Weise sogar erst die
Grundlage für andere, hier zu diskutierende Themen, denn die Einschätzung der Vergangenheit bestimmt letztlich über die Wiederverwendung des Vergangenen: Der Gebrauch der Vergangenheit ist gleichsam Wiedergebrauch par excellence und damit Symbol für das historische
Denken einer Zeit. In diesem Sinne werde ich nicht einfach über den Wiedergebrauch antiker
Symbole (wie beispielsweise der Indiktion als Element der Zeitrechnung), sondern, grundsätzlicher, gewissermaßen über die Symbolik des Wiedergebrauchs im Geschichtsdenken handeln,
nicht über historische Symbole, sondern über die Vergangenheit als Symbol der Gegenwart,
nicht über das historische Wissen an sich (das Geschichtsbild), sondern über dessen Gegenwartsbezug (das Geschichtsbewußtsein). Während es über das mittelalterliche „Geschichtsbild“, die Frage also, wie die Vergangenheit aufgearbeitet und wahrgenommen wurde, mittlerweile eine umfassende Literatur gibt, ist das Geschichtsbewußtsein, die Frage nämlich nach
dem Interesse an der Vergangenheit, ihrem Stellenwert und ihrer Nutzung zur Lösung aktueller Probleme, ein relativ junges, anthropologisches Arbeitsfeld.
Blickt man auf den Forschungsstand, so müßte der hoffnungsvollen theoretischen Einleitung allerdings schnell eine praktische Ernüchterung folgen. Ich bin Fragen des Geschichtsbewußtseins in den letzten Jahren intensiv im hohen Mittelalter, vom späten 11. bis zum frühen 13. Jahrhundert, nachgegangen und könnte mein / Thema hier an vielen Beispielen veranschaulichen.8 In der sogenannten „Renaissance des 12. Jahrhunderts“ schätzte man historische
Rückblicke, schrieb die antiken Geschichtsschreiber erheblich fleißiger ab als vorher,9 las mit
Vorliebe über das Alte10 und griff auf ferne und oft mythische Ursprünge zurück. Der Karolingerzeit scheint eine derart ausgeprägte „Vergangenheitseuphorie“ hingegen eher fremd gewesen zu sein. Die karolingische Geschichtsschreibung erweckt zunächst einen ausgesprochen gegenwartsorientierten Eindruck, wie ein Blick in die (sogenannten) „Hauptwerke“ leicht bestätigt: die Fränkischen Reichsannalen und ihre Ableitungen in West und Ost, die Annales Bertiniani und die Annales Fuldenses, die beiden Viten Ludwigs des Frommen oder Nithards Schilderung der Brüderkriege der Söhne Ludwigs.11 Selbst die vielgepriesene „karolingische Renais-
8 Vgl. demnächst H.-W. GOETZ, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter, Berlin, 1999
(Orbis mediaevalis I).
9 Vgl. L. B. MORTENSEN, The Texts and Contexts of Ancient Roman History in Twelfth-Century Western Scholarship,
in: The Perception of the Past in Twelfth-Century Europe, hg. v. P. Magdalino, London-Rio Grande, 1992, S. 99-116;
B. MUNK OLSEN, L'étude des auteurs classiques latins aux XIe et XIIe siècles, Bd. I-III, Paris, 1982-89; DERS., La diffusion et l'étude des historiens antiques au XIIe siècle, in: Medieval Antiquity, hg. v. Andries Welkenhuysen, H. Braet u.
W. Verbeke, Leuven, 1995 (Mediaevalia Lovaniensia I,24) S. 21-43.
10 Während – mit der Terminologie von Franz-Josef Schmale – „Zeitgeschichten“ über die eigene Zeit oft nur in einer
Handschrift erhalten sind, sind von den (alten wie zeitgenössischen) „Vergangenheitsgeschichten“ oft zahlreiche
Abschriften überliefert. Vgl. F.-J. SCHMALE, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung, Darmstadt, 1985, bes. S. 63f. u. 154f.
11 Das gilt auch für die mittellateinische oder althochdeutsche Geschichtsdichtung wie Abbos Schilderung der normannischen Belagerung von Paris oder das Ludwigslied.
225-226
„Konstruktion der Vergangenheit“
Geschichtsbewusstsein und „Fiktionalität“ in der hochmittelalterlichen Chronistik,
dargestellt am Beispiel der Annales Palidenses
I.
Die „Fiktionalität“ der (oder in der) Geschichtsschreibung, zu der ich mich im Kontext des Tagungsbandes und in Absprache mit dem Herausgeber hier äußern soll, scheint – aus heutiger
Sicht – ein ebenso altes wie modernes Thema zu sein, denn daß jede Geschichtsschreibung in
dem Bemühen, die Vergangenheit zu „rekonstruieren“,1 tatsächlich ein – zeitgemäßes – Geschichtsbild „konstruiert“, ist uns, bei aller unterschiedlichen Akzentuierung und Einstellung
dazu, seit langem bewußt: Geschichtsverlauf und Geschichtserzählung stimmen keineswegs
überein. Es ist daher nur natürlich, auch die mittelalterliche Chronistik als „Geschichtskonstrukt“ zu betrachten und nach deren Hintergründen, Zielen und Vorgehensweisen zu fragen.
Das Thema erhält um die zweite Jahrtausendwende eine besondere Aktualität, weil unser eigenes Tun (als Historiker/innen), wie uns zunehmend bewußt wird, Wandlungen ebenso wie
Angriffen ausgesetzt ist, die vorweg angesprochen werden m ü s s e n, denn die hier aufgegriffene Frage entspringt zunächst ganz unseren (veränderten) Vorstellungen und nicht den mittelalterlichen Maßstäben. Hatte man früher, in „historistischer“ Tradition, vor allem nach der
„Tendenz“ eines Autors gefragt, um auf diese Weise der „Quellenkritik“ – als einer der drei
„Grundoperationen“ historischen Arbeitens2 – zu genügen, und geglaubt, durch die Eliminierung der autorbedingten / „Zutaten“ (oder Weglassungen) aus den Berichten die Verzerrungen
der historischen Realität beseitigen und diese, bei genügend günstiger Quellenlage, einigermaßen wahrheitsgetreu erfassen zu können, so haben wir uns in dem vergangenen, posthistoristischen und zunächst historismuskritischen und dann gar „postmodernen“ Jahrhundert
von solcher Zuversichtlichkeit inzwischen weit entfernt und sind in dieser Hinsicht sehr viel
vorsichtiger geworden: „Historische Wirklichkeit“ ist für uns zu einem Phänomen geworden,
das nicht recht faßbar ist, ja dessen reale Existenz sogar (wohl zu Unrecht) ganz bestritten oder
aber dessen Relevanz für die Geschichtswissenschaft zumindest (wohl zu Recht) in Frage gestellt worden ist.3 Wir erfassen die Wirklichkeit ja immer nur über gefilterte Aussagen (wir
Originalpublikation in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. v. Johannes Laudage, Köln-Weimar-Wien 2003, S. 225-257.
1 So noch Jörn RÜSEN, Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1515, 1986). Vgl. demgegenüber Chris LORENZ, Konstruktion der
Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie (Beiträge zur Geschichtskultur 13, 1997).
2 Vgl. ebda. S. 95 ff. und S. 102 ff. (zu den „prozessuralen Operationen“).
3 Vgl. RÜSEN, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft (Kleine
Vandenhoeck-Reihe 1489, 1983) S. 59: „Geschichte wird die Vergangenheit erst, wenn sie als solche gedeutet wird.“
Rudolf VIERHAUS, Über die Gegenwärtigkeit der Geschichte und die Geschichtlichkeit der Gegenwart (Vortragsreihe der niedersächsischen Landesregierung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Niedersachsen 59,
1987) S. 17: „Geschichte ist nicht einfach das vergangene Geschehen, sondern dessen Zusammenhang im Horizont
gegenwärtigen Wissens und Verstehens.“ Am bekanntesten ist die Definition Johan HUYZINGAs, Wege der Kulturgeschichte (1930, ND. 1961) S. 86: „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit
Rechenschaft gibt.“
524
VII. Gegenwart und Vergangenheit: Zeitvorstellungen im Mittelalter
226-228
nennen das bekanntlich – übrigens noch gar nicht so lange – „Quellen“;4 im Mittelalter sprach
man hingegen von „Zeugen“ oder „Zeugnissen“), und es hat sich längst als Illusion erwiesen zu
glauben, man brauche nur genügend Quellen als Vergleichsmaterial, um der historischen
Wahrheit auf die Spur zu kommen. Mehr noch: Wir w o l l e n gar nicht mehr d i e vergangenen Wirklichkeiten erfassen, wir wollen die Geschichte vielmehr jeweils unter unserer
Perspektive betrachten (sei das nun die „Politik“, die „Gesellschaft“, das „Geschlecht“ oder die
„Kultur“) und aus der Fülle des Geschehenen gegenwartsrelevante Aspekte auswählen, ein anthropologisch begründbares, gleichzeitig aber gefährliches Unterfangen, weil es stets die Gefahr
in sich birgt, / der Vergangenheit selbst (und ihren Zeitgenossen) damit nicht mehr gerecht zu
werden.
Wenn wir aber u n s e r e Vergangenheit für u n s e r e Bedürfnisse „konstruieren“, so geraten auch unsere eigenen wissenschaftlichen Erzeugnisse gefährlich in die Nähe der
„Fiktion“. Extrempositionen, die gern als „postmodern“ apostrophiert werden, zum guten Teil
aus dem sogenannten „linguistic turn“ resultieren und, gegenüber dem „Strukturalismus“ der
60er und 70er Jahre, „dekonstruieren“ (das heißt den Text nicht mehr als ein in sich geschlossenes „System“ betrachten) wollen und die auch die Ergüsse der Historiker, mit Hayden White,
als „verbal fictions“ verstehen („Auch Klio dichtet“) oder, als Konsequenz, der Geschichtswissenschaft gar die Wissenschaftlichkeit absprechen wollen,5 werden (nicht nur) hierzulande
allerdings (zu) wenig ernst genommen. Versuche, sich entweder mit ihnen auseinanderzusetzen6 oder sie umgekehrt für die Geschichtswissenschaft nutzbar zu machen oder sie, wie bei
Gabrielle Spiegel, gar auf die mittelalterliche Geschichtsschreibung anzuwenden,7 sind verhältnismäßig selten. Entsprechende geschichtstheoretische Erkenntnisse werden seitens der Geschichtswissenschaft und besonders seitens der Mediävistik daher nur verhalten aufgegriffen
und / haben noch kaum zur Reflexion der geschichtswissenschaftlichen Methode und nur bedingt zur konsequenten Anwendung auf unsere Quellen geführt. Das liegt zum einen wohl daran, daß eine unmittelbare Anwendung in der Geschichtswissenschaft sehr viel schwieriger ist
4 Zum Quellenbegriff, der im heutigen Sinn erst durch Bernheim in der Geschichtswissenschaft Verbreitung fand,
vgl. Ludolf KUCHENBUCH, Sind mediävistische Quellen mittelalterliche Texte? Zur Verzeitlichung fachlicher Selbstverständlichkeiten, in: Die Aktualität des Mittelalters, hg. v. Hans-Werner GOETZ (Herausforderungen. Historischpolitische Analysen 10, 2000) S. 317-354, hier S. 326ff.
5 Vgl. Hayden WHITE, Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism (61994) (deutsche Fassung unter dem bezeichnenden Titel: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses [Sprache und Geschichte 10, 1986]). Vgl. DERS., Metahistory: The Historical Imagination in NineteenthCentury Europe (1973) (dt. Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa [1991]).
Dazu: Hayden White's Metahistory twenty years after, Storia della storiografia 25 (1994) S. 3-152. Zur Rezeption
und späteren Wandlung der Position Hayden Whites vgl. Richard T. VANN, The Reception of Hayden White, History and Theory 37 (1998) S. 143-161.
6 Vgl. vor allem Richard EVANS, In Defense of History (1997) (dt. Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis [1998]). Zur Diskussion Otto Gerhard OEXLE, Im Archiv der Fiktionen, Rechtshistorisches
Journal 18 (1999) S. 511-525; DERS., Kultur, Kulturwissenschaft, Historische Kulturwissenschaft. Überlegungen zur
kulturwissenschaftlichen Wende, in: Mediävistik als Kulturwissenschaft?, hg. v. Hans-Werner GOETZ (= Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 5, 2000) S. 13-33. Zur „Postmoderne“ in der heutigen Mediävistik:
Michael BORGOLTE, Mittelalterforschung und Postmoderne. Aspekte einer Herausforderung, Zs. f. Geschichtswissenschaft 43 (1995) S. 615-627; zur phantasievollen Ausgestaltung historischer Darstellungen: Johannes FRIED,
Wissenschaft und Phantasie. Das Beispiel der Geschichte, HZ 263 (1996) S. 291-316.
7 Vgl. ihre Aufsatzsammlung: Gabrielle M. SPIEGEL, The Past as Text. The Theory and Practice of Medieval Historiography (Parallax. Re-Visions of Culture and Society, 1997).
54-55
Konzept, Bewertung und Funktion der Lüge in Theologie, Recht
und Geschichtsschreibung des frühen und hohen Mittelalters
Unter einer Lüge verstehen wir heute gemäß einem gängigen Konversationslexikon „eine bewußt falsche, auf Täuschung berechnete Aussage“.1 In dieser allgemeinen Diktion mag die Definition breite Zustimmung finden und auch auf frühere Zeiten wie das Mittelalter anwendbar
sein, doch bei jeder näheren Bestimmung werden die Meinungen – damals wie heute – geteilt
sein. Enthält eine Lüge immer die Unwahrheit?2 Sind Lügen ausnahmslos verwerflich? Ist dabei
die Intention entscheidend? Spielt die Motivation eine Rolle? Erscheinen uns white lies häufig
genug nicht sogar als ein moralisches Erfordernis?3 Werden erfolgreiche Lügner heute nicht
auch bewundert?4 Schließt Lüge zwangsläufig das „Problem der sozialen Beziehung“ ein?5 Wo
liegen die Grenzen zwischen Lüge, Heuchelei, Täuschung, Betrug und List?6 Über solchen Fragen scheiden sich die Geister. Während die Wissenschaft heute vor allem nach psychologischmedizinischen, aber auch nach soziologischen und linguistischen Erklärungen sucht, ging es im
Mittelalter in erster Linie um moralisch-christliche Motive.7 Von den beiden Traditionen, der
aristotelischen und der augustinischen,8 erlangte die erste erst im Zuge der Aristotelesrezeption
des 12./13. Jahrhunderts wieder an Gewicht (etwa bei Thomas von Aquin).
So umfassend die moderne Literatur zur Lüge auch erscheinen mag:9 Der Forschungsstand zur Lüge im Mittelalter ist höchst mager und vornehmlich literaturwissenschaftlich o/rientiert. Geschichtswissenschaftliche Beiträge finden sich kaum darunter,10 und zur mittelalter-
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Originalpublikation in: Homo mendax. Lüge als kulturelles Phänomen im Mittelalter, hg. v. Ulrich Ernst (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 9) Berlin 2004, S. 54-72.
So Brockhaus. Bd. 11 (1970), S. 677.
Kritisch dazu John A. Barnes, A pack of lies. Towards a sociology of lying. Cambridge 1994, S. 12.
Ebd. S. 13.
Ebd. S. 2.
So Franziska Sick u. Helmut Pfeiffer, Marginalien zur Theorie der Lüge. In: Dies. (Hgg.), Lüge und (Selbst-)Betrug.
Kulturgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit in Frankreich. Würzburg 2001, S. 7-13, hier S. 8f.
Für kaum mehrheitsfähig halte ich die Definitionen bei Oliver Hochadel u. Ursula Kocher, Einleitung. In: Dies.
(Hgg.), Lügen und Betrügen. Das Falsche in der Geschichte von der Antike bis zur Moderne. Köln, Weimar, Wien
2000, S. 1-7, hier S. 3: „Eine Person lügt, wenn sie bewußt etwas behauptet, das sie zur gleichen Zeit nicht selbst
glaubt.“ „Eine Person täuscht eine andere, wenn es ihr gelingt, in der anderen einen falschen Glauben zu erzeugen.“
„Eine Person betrügt eine andere, wenn zu der Täuschung eine (materielle) Schädigung der betrogenen Person
hinzukommt.“ Lüge wird hier vom Bewußtsein, Täuschung aber vom Erfolg, Betrug vom Schaden abhängig gemacht. Ist Täuschungsabsicht aber keine Täuschung? Ist mißlungener Betrug kein Betrug? Zu Unrecht wird Lüge
auch auf die Sprache beschränkt, während Täuschung Zeichen und Handlungen einbeziehen kann. Für Barnes
[Anm. 2], S. 11, wiederum beruht die Lüge quasi per definitionem auf Täuschung („a lie, for our purposes, is a
statement intended to deceive a dupe about the state of the world“).
Vgl. kurz gefaßt den Artikel von Gregor Müller im Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 6 (1961), S. 1198-1199,
der, trotz grundsätzlicher Verwerflichkeit der Lüge, dreizehn im Laufe der Geschichte vorgebrachte Rechtfertigungsgründe aufzählt.
Vgl. dazu Günther Bien im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5 (1980), Sp. 533-544. Beide Traditionen
preisen allerdings die Wahrheit als Tugend und verurteilen jegliche Lüge.
Vgl. die diesem Band vorangestellte Auswahlbibliographie von Ulrich Ernst.
Das vielbehandelte Problem mittelalterlicher Fälschungen liegt auf einer anderen Ebene und ist hier weitgehend
ausgeklammert. Vgl. dazu umfassend: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Ger-
548
VIII. Lügen, Arbeit und Glück
55-56
lichen Geschichtsschreibung ist, soweit ich sehe, sogar überhaupt noch nichts Einschlägiges geschrieben worden, während die philosophische und theologische Literatur zumeist wenig zeitspezifisch nach den mittelalterlichen Besonderheiten fragt. Es versteht sich daher von selbst,
dass die hier gebotenen Bemerkungen nicht mehr als einen ersten Versuch darstellen können,
sich dem Thema zu nähern. Die Auswahl der berücksichtigten Chroniken ist eher willkürlich,
die Belegsuche nur bedingt systematisch erfolgt; die Zusammenstellung der Befunde folgt der
Kürze halber zwangsläufig sachlichen Gesichtspunkten, obwohl letztlich eine Untersuchung jedes einzelnen Autors und eine Einordnung seines Konzepts der Lüge in seine gesamte Vorstellungswelt wünschenswert wäre. Da die Chronistik zudem alles andere als ein geschlossenes Bild
liefert, empfiehlt sich vorab eine Darlegung des theologischen Hintergrundes.
1. Der theologisch-patristische Hintergrund: Die „Lüge“ in augustinischer Tradition
Wie in den meisten Bereichen der Theologie, ist der Beitrag der Patristik auch im Hinblick auf
die Lüge grundlegend und traditionsbildend. Den größten Einfluß auf das Mittelalter übte hier
wiederum Augustinus mit seinen Äußerungen, vor allem seinen beiden ganz diesem Thema
gewidmeten Schriften ‚De mendacio‘ (um 395) und ‚Contra mendacium‘ (um 420)11 aus – als
monographische Traktate sind das einzigartige Hinterlassenschaften –, in denen der Kirchenvater seine Meinungen allerdings, wie zumeist in seinem Schrifttum, in apologetischer Auseinandersetzung mit anderen Ansichten (vor allem Origines, Johannes Chrysostomos, aber auch
Hilarius von Poitiers und Hieronymus) entwickelt hat. Das geschah so umfassend, dass im Mittelalter nur noch wenige neue Gesichtspunkte hinzutraten.
1.1 Definition
Für Augustin war eine Lüge eine um der Unwahrheit willen getätigte Aussage in Worten oder
Zeichen, die etwas anderes ausdrückte, als der Urheber selbst wußte oder dachte.12 Eine Lüge
lag demnach vor, wenn erstens eine Aussage mitgeteilt wurde (verschweigen be/deutete noch
nicht lügen13), die zweitens nicht der Wahrheit entsprach, und wenn drittens der Urheber das
maniae Historica München, 16.-19. September 1986. 6 Bde. (Monumenta Germaniae Historica [im Folgenden
MGH] Schriften 33). Hannover 1988-1990.
11 Hrsg. v. Joseph Zycha (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 41). Wien 1900, S. 411-466 (‚De mendacio‘)
und S. 467-528 (‚Contra mendacium‘), sowie Oeuvres de Saint Augustin. 1er série: Opuscules. Vol. 2: Problèmes
moraux. Hrsg. v. Gustave Combès (Bibliothèques Augustinienne). Paris 1948. Ich zitiere im folgenden nach der
CSEL-Ausgabe. Vgl. auch Augustins Briefwechsel mit Hieronymus. Hrsg. v. A. Goldbacher (CSEL 34). Prag, Wien,
Leipzig 1895, besonders ep. 28, 3-5, S. 107-112. Zur Lüge bei Augustin vgl. Thomas D. Feehan, Augustine on lying
and deception. Augustinian Studies 19 (1988), S. 131-140; Ders., The morality of lying in St. Augustine. Ebd. 21
(1990), S. 67-81; Ders., Augustine’s own examples of lying. Ebd. 22 (1991), S. 165-190; Roger O. Ray, Christian
Conscience and Pagan Rhetoric. Augustine’s treatises of lying. Studia Patristica 22 (1987), S. 321-325.
12 Vgl. ‚De mendacio‘ 3, S. 415: quapropter ille mentitur, qui aliud habet in animo et aliud uerbis uel quibuslibet significationibus enuntiat; ebd. 4, S. 416: hic enim studio non fallendi mentitur, si mendacium est enuntiare aliquid aliter
quam scis esse uel putas.
13 ‚Contra mendacium‘ 23, S. 499: Non est ergo mendacium, cum silendo absconditur verum, sed cum loquendo promitur falsum. Vgl. später auch Petrus Lombardus, Commentarium in psalmos, ps. 5,6. (Migne, Patrologia Latina [im
Folgenden PL] 191), Sp. 98C, der rät, lieber zu schweigen als zu lügen.
21-22
„Wahrnehmung“ der Arbeit als Erkenntnisobjekt
der Geschichtswissenschaft1
Den folgenden Beiträgen einer Tagung über „Arbeit in der Wahrnehmung des Mittelalters“ eine kurze Erläuterung des methodischen Zugriffs auf das Thema und des dahinter stehenden
Forschungsansatzes voranzustellen, entspricht den Erfordernissen einer modernen Mediävistik, die dank ihrer ungeheuren Vielfalt an Themen und Herangehensweisen nicht mehr nur
ihre Ergebnisse aus den Quellen belegen, sondern auch ihr eigenes Vorgehen darlegen und begründen muss, wenn sie verstanden werden will. Im Zuge einer verfeinerten Quellenkritik, vor
allem aber einer anthropologisch-kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Geschichtswissenschaft fragt man zunehmend und gerade in den letzten Jahren immer häufiger nach der
„Wahrnehmung“ der Zeitgenossen von dem, worüber sie berichten, dem „Faktum“, worunter
hier jegliches Geschehen und jeglicher Zustand aus der Vergangenheit oder Gegenwart des Berichterstatters verstanden werden soll. Ich selbst bevorzuge demgegenüber den Begriff „Vorstellung“ oder „Vorstellungswelt“ und werde das gleich näher erläutern.2 Der geschichtstheoretische Hintergrund ist schnell skizziert. Er resultiert aus einer veränderten Sichtweise der oder
eines Teils der modernen Geschichtswissenschaft gegenüber ihren Quellen bzw. aus einer Verlagerung oder zumindest einer Erweiterung unserer Erkenntnisinteressen, und zwar in doppelter Hinsicht:
– In bezug auf den Gegenstand der Betrachtung verschiebt sich das Erkenntnisinteresse vom
historischen Geschehen, den res gestae, im weitesten Sinn, zur Spiegelung dieses Geschehens, nicht nur im Sinne einer narratio rerum gestarum, sondern mit Blick eben auf die hinter der erzählenden Darstellung stehenden Wahrnehmungen und Denkvorstellungen,
Sichtweisen und Urteile. Das entspricht einer Verschiebung der (Forschungs-)Perspektive
von der „Geschichte“ als Prozess zu den Menschen in diesem Prozess. /
– Im Hinblick auf die Methode bzw. den Stellenwert der „Quellen“ verlagert sich die Perspektive vom „Zeugnis“ (der Quelle) zum „Zeitzeugen“ (dem Verfasser) aber auch zu den Rezipienten und damit einem größeren Adressatenkreis.3
Originalpublikation in: Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten, hg. v. Verena Postel, Berlin 2006,
S. 21-33.
1 Der diesem Beitrag zugrunde liegende Vortrag, der auch im Namen des Mediävistenverbandes zu halten war und
mit entsprechenden Grußworten eingeleitet wurde, sollte sowohl eine methodische Einführung als auch einen ersten Überblick über die Forschung geben. Der Veranstalterin der Tagung sei im Namen des Verbandes auch an dieser Stelle für dieses wichtige interdisziplinäre und kulturwissenschaftliche Projekt gedankt. Persönlich kommt es
meiner Vorliebe für Vorstellungswelten, Wahrnehmungsweisen und Mentalitäten der mittelalterlichen Menschen
sehr entgegen.
2 Vgl. Hans-Werner Goetz, „Vorstellungsgeschichte“: Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der
Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung, in: Archiv für Kulturgeschichte 61 (1979, erschienen 1982), S. 253–271 [in diesem
Band, S. 3-17].
3 Vgl. Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999,
S. 166ff.
568
VIII. Lügen, Arbeit und Glück
22-23
In einer anthropologisch ausgerichteten Geschichtswissenschaft interessieren mit anderen
Worten nicht nur die Handlungen der Menschen, sondern auch deren Sichtweisen, wird nicht
nur das Geschehen, sondern auch die Wahrnehmung des Geschehens, nicht nur der Bericht in
seinem faktischen Gehalt, sondern in seiner bewussten Stilisierung wichtig genommen, sind
Vorstellungen und Wahrnehmungen, Vorstellungswelten und Wahrnehmungsmuster der
Quellenautoren nicht mehr nur als Teil der Quellenkritik von Bedeutung, sondern zu einem eigenen Erkenntnisobjekt geworden. Wenn Johannes Fried in diesem Zusammenhang – begrifflich
missverständlich, doch in der Sache äußerst wichtig – von einer „doppelten Theoriebindung des
[modernen] Historikers“ gesprochen hat,4 so geht es hier zunächst nur um eine Seite, nämlich um
die „moderne“ (das heißt: geschichtswissenschaftliche) Erfassung der mittelalterlichen „Theoriebindung“.
Dieser Forschungsansatz soll im folgenden theoretisch reflektiert werden, indem ich den
Weg vom „Faktum“ (dem Berichteten) über die „Wahrnehmung“ zur „Darstellung“ dieses
Faktums, dem Quellenbericht, durch den mittelalterlichen Zeitgenossen sowie den rückschreitenden Erkenntnisprozess des modernen Historikers von der Darstellung, der „Quelle“, zu den
Ursprüngen des Dargestellten skizziere. Dabei sind zunächst verschiedene „Schritte“ oder Faktoren zu unterscheiden und auch begrifflich zu differenzieren (vgl. Grafik S. 29). Was ist gemeint, wenn wir von der „Wahrnehmung“ eines „Faktums“ durch den (späteren) Verfasser unserer Quelle sprechen? Genau genommen, ist „Wahrnehmung“ zunächst ein sinnlicher Vorgang, der sich in unserem Fall sowohl auf die optische Wahrnehmung eines Augenzeugen, die
akustische Wahrnehmung eines auf mündlichen Traditionen fußenden Zeitzeugen wie auf die
nochmals optische, aber sekundäre bzw. bereits rezipierende Wahrnehmung eines Lesers beziehen kann, der seine Kenntnisse seinerseits aus Büchern schöpft. Und letzteres ist, nicht nur
im Mittelalter, zweifellos der am häufigsten begegnende Fall. Wie es mit dieser sinnlichen
Wahrnehmung des Menschen bestellt ist, bleibt trotz neurologischer Schwerpunktarbeiten in
diesem Bereich bis heute ein Problem – hier mag vielleicht eine Erinnerung an den Vortrag von
Wolf Singer auf dem Aachener Historikertag des Jahres 2000 genügen5 – und für den Mediävisten, dem entsprechende „Quellen“ in Form von Versuchspersonen fehlen, letztlich kaum erschließbar. Kaum überraschend ist hingegen die Erkenntnis, dass die menschliche Wahrnehmung erheblich abweicht von der tatsächlichen Struktur des Wahrgenommenen, sei das nun
ein Gegenstand, ein Vorgang oder ein historisches „Faktum“: Unsere Quellen berichten das
Geschehen natürlich nicht so, wie es sich ereignet hat, sondern wie sie es wahrgenommen haben oder wahrnehmen und darstellen wollten, eine altbekannte Tatsache, die eine moderne
Quellenkritik überhaupt erst hervorgebracht hat. Das liegt, naturwissenschaftlich erklärt, aber
auch daran, dass das Wahrgenommene bereits / mit dem „Reservoir“ unserer Denk- und Vorstellungsmuster wahrgenommen, begriffen, gedeutet und eingeordnet wird. Nicht minder bekannt ist die Tatsache, dass die Reproduktion unserer Erinnerungen im Verlauf der Zeit be-
4 Johannes Fried, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren
Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Jürgen Miethke/Klaus Schreiner
(Hrsg.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, S. 73–104.
5 Vgl. Wolf Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, in: Max Kerner (Hrsg.), Eine Welt – Eine Geschichte? 43.
Deutscher Historikertag in Aachen 2000. Berichtsband, München 2001, S. 18–27.
75-76
Fortuna in der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung
Fortuna, die römische (wie schon, als Tyche, griechische) Göttin, die im religiösen Denken der
Antike für die Glückszustände der Menschen, aber auch für ihr Schicksal schlechtin verantwortlich gemacht wurde und deren ein solches Wirken kennzeichnende Attribute das Füllhorn,
das Steuerruder sowie später vor allem das Rad waren, wirkte als Schicksalsmacht auch in der
Vorstellungswelt des christlichen Mittelalters weiter. Kirchenväter wie Augustin hatten zwar
gegen solchen Götterglauben protestiert und ironisch festgestellt, daß die Römer mit dem
Schicksal eine Gestalt zur Göttin erhoben hätten, deren Name (fortuna) sich vom Zufall (fors)
ableite, und sie durch die providentia Dei ersetzen wollen.1 Lactanz verunglimpfte Fortuna als
ein lächerliches Truggebilde,2 Isidor bezeichnete sie als blind, so daß sie nur ein dem Zufallsspiel unterworfenes Schicksal bewirken könne, ohne nach Verdiensten zu unterscheiden.3
Dennoch griffen mittelalterliche Dichter und Geschichtsschreiber immer wieder auf die tradierten Vorstellungen zurück.4 Eine intensive Forschung hat solchen Traditionen nachgespürt5
und festgestellt, daß Fortuna als Inbegriff einer unaufhörlich das Glücks- und Schicksalsrad
drehenden Macht trotz der Zurückweisung durch die Kirchenväter, christlich umgedeutet, ein
zentrales philosophisches Thema der Menschheitsgeschichte blieb.6 Nach Hans F. Haefele
wurde das Motiv bereits in der karolingischen Renaissance aufgegriffen, fand, in einer alles andere als mühelosen Über/nahme einer nie ganz brechenden Tradition, jedoch erst im 12. Jahrhundert weitere Verbreitung.7 Vermittler war vor allem Boethius, der das menschliche Schicksal als ein Spiel der Fortuna begriff. „Das ist unsere Kraft, wir spielen dieses unaufhörliche
1
2
3
4
5
6
7
Originalpublikation in: Providentia – Fatum – Fortuna, hg. v. Jörg O. Fichte (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Zeitschrift des Mediävistenverbandes 1), Berlin 1996, S. 75-89.
Vgl. Augustinus, De civitate Dei 4,18. Hrsg. von B. Dombart und A. Kalb. Leipzig 51928/29, S. 167f.
Lactanz, Institutiones 3,29. Hrsg. von Samuel Brandt (Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum 19). Prag,
Wien, Leipzig 1890, S. 269f.
Isidor von Sevilla, Etymologiae sive Origines 8, 11, 94. Hrsg. von W. M. Lindsay. Oxford 1911 (Neudr. 1962).
Recht häufig wird ferner in Briefen auf fortuna Bezug genommen.
Grundlegend in der Thematik, aber noch sehr kursorisch Alfred Doren, Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance (Bibliothek Warburg. Vorträge 1922-1923, I). Leipzig 1924, S. 70-144. Wegweisend Hans F. Haefele, Fortuna
Heinrici IV imperatoris. Untersuchungen zur Lebensbeschreibung des dritten Saliers. Graz, Köln 1954, der die gesamte Tradition bis zur Vita Heinrichs IV. überblickt. Wichtig seither: Herwig Wolfram, Fortuna in mittelalterlichen Stammesgeschichten. Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 72 (1964), S. 1-33;
Jerold C. Frakes, The Ancient Concepts of Casus and its Early Medieval Interpretations. Vivarium 22 (1984), S. 134; Ders., The Fate of Fortune in the Early Middle Ages. The Boethian Tradition (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 23). Leiden, New York, Kopenhagen, Köln 1988 (als Überarbeitung von Ders., Fortuna in
the Consolatio: Boethius, Alfred and Notker. Diss. Univ. Minnesota 1982).
So Haefele [Anm. 5], S. 55. Frederik P. Pickering, Augustinus oder Boethius? Geschichtsschreibung und epische
Dichtung im Mittelalter und in der Neuzeit. I. Einführender Teil (Philologische Studien und Quellen 39). Berlin
1967, möchte (viel zu schematisch) zwei gegensätzliche Traditionen der mittelalterlichen Geschichtsdeutung annehmen: die auf Boethius zurückgehende Fortuna und die auf Augustin fußende Heilsgeschichte. Zum Rad in bildlichen Darstellungen und als Realie: Michael Schilling, Rota Fortunae. Beziehungen zwischen Bild und Text in mittelalterlichen Handschriften. In: Wolfgang Harms u. L. Peter Johnson (Hgg.), Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Berlin 1975, S. 293-313; Alan H. Nelson, Mechanical Wheels of Fortune, 1100-1547. Journal of the Warburg
and Courtauld Institutes 43 (1980), S. 227-233.
Vgl. Haefele [Anm. 5], S. 62-89. Das gilt vor allem für die Radbelege; vgl. ebd. S. 77f.
582
VIII. Lügen, Arbeit und Glück
76-77
Spiel: Wir drehen das Rad in periodischem Kreisen und freuen uns daran, das Niedrigste zum
Höchsten und das Höchste zum Niedrigsten zu wandeln“.8 Vorchristliche Inhalte blieben hier
dominant. Nach Jerold C. Frakes war Fortuna für Boethius eher das dem Göttlichen widersprechende Prinzip der Unordnung im Kosmos, doch erhielt sie auch eine moralische Funktion im
menschlichen Handeln.9 Das Bild der Fortuna (zwischen paganem Dämon und Integration ins
göttliche Ordnungssystem10) blieb daher zwiespältig und mehrdeutig.11
Es ist nicht verwunderlich, daß die Bedeutungsebene des menschlichen Schicksals nicht
nur Dichter, sondern auch mittelalterliche Geschichtsschreiber auf das Motiv der Fortuna zurückgreifen ließ. Die zitierten Arbeiten (vor allem Doren, Haefele, Wolfram) haben dafür zentrale Belegstellen angeführt, aber vornehmlich in philologischem Interesse nach der Tradition
gefragt, die als weithin aufgearbeitet gelten darf, während eine systematische Auswertung in
bezug auf die Bedeutung und konkrete Anwendung des Begriffs bislang noch aussteht bzw. nur
für Teilbereiche vorliegt (wenngleich Haefeles Arbeit hier bereits den Weg gewiesen hat). Die
Frage, in welchen Zusammenhängen mittelalterliche Geschichtsschreiber das Motiv der Fortuna verwendet und was sie darunter verstanden haben, welche Relevanz sie ihr als geschichtswirkender Kraft beigemessen und wie sie dieses im Ursprung heidnische Element in das christliche Geschichtsdenken eingegliedert haben, ist daher durchaus aufschlußreich sowohl für den
christlichen Umgang mit der antiken Tradition wie – und darauf heben die folgenden Bemerkungen ab – das mittelalterliche Geschichtsbild. In einem kurzen Beitrag können nur einige
Hinweise gegeben werden, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber doch auf eine gewisse
Repräsentativität erheben wollen. Die Übersicht beschränkt sich im wesentlichen auf die lateinische Geschichtsschreibung im Deutschen Reich des 10. bis 12. Jahrhunderts (mit Seitenblikken nach Frankreich).12
Daß „Fortuna“ in erster Linie als ein dichterisches Motiv anzusehen ist, zeigt sich bereits
darin, daß sie in der Geschichtsdichtung ungleich häufiger in Anspruch genommen wird als in
erzählenden Quellen.13 „Wollte ich also“, schrieb Balderich, der Verfasser der Gesta des Bischofs Albero von Trier, „die Ruhmestaten jedes einzelnen Mannes auf dieser wie / auf jener
Seite, das wechselnde Kriegsglück in den Schlachten, das schwankende Schicksal (diversae fortunae) von Siegern und Besiegten in kunstvoller D i c h t u n g schildern, oder wollte ich mit
dem Verstand des H i s t o r i k e r s alle Einzelheiten sachkundig erörtern und dem Leser so
vergegenwärtigen, daß er sie gleichsam vor seinen Augen geschehen sieht, so müßte ich entweder – und das wäre der Fall – meiner schwierigen Aufgabe erliegen, oder ich müßte mich einem
8 Boethius, De consolatione philosophiae 2, 2, 9. Hrsg. von L. Bieler (Corpus Christianorum. Series Latina 94).
Turnhout 1957, S. 20: Haec nostra uis est, hunc continuum ludum ludimus: rotam uolubili orbe uersamus, infima
summis, summa infimis mutare gaudemus.
9 Frakes, Fate [Anm. 5], S. 30-63.
10 So bei Notker dem Deutschen; vgl. dazu Frakes, Fate [Anm. 5], S. 123-156, der die Umdeutung gegenüber Boethius
herausstellt.
11 In den Stammesgeschichten begegnet fortuna sowohl im Sinne von geblütscharismatischem Glück wie als launenhafter Dämon: Wolfram [Anm. 5], S. 14f.
12 Für Belege aus EDV-gespeicherten Datenbanken danke ich Richard Schreml, MGH München.
13 Im ‚Carmen de gestis Frederici I imperatoris in Lombardia’. Hrsg. von Irene Schmale-Ott (MGH SSrG [62]). Hannover 1965, kommt der Begriff 21mal vor, im ‚Ligurinus’ des Gunther von Pairis. Hrsg. von Erwin Assmann (MGH
SSrG [63]). Hannover 1987, wird er sogar 33mal verwendet.