Melanchthon-Schule in Steinatal (Gymnasium) 22..

Transcription

Melanchthon-Schule in Steinatal (Gymnasium) 22..
… auf dem Weg
zum Reformationsjubiläum
2017 …
Melanchthon-Schule
Gymnasium der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck
34628 Willingshausen-Steinatal
/2011
rheft
Steinataler Hefte
Melanchthon ehren
9
Sonde
Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628
Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.
melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – schulleitung@
melanchthon-schule.de – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-
Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-
„Evangelisch lernen“
Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schule.de – [email protected] – Melanchthon-Schule Steinatal – 34628 Willingshausen-Steinatal – http://www.melanchthon-schu-
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Das Melanchthon-Jahr 2010
Melanchthon ehren
Das Melanchthon-Jahr 2010 im Steinatal:
ein Beitrag zur Lutherdekade in der EKD
Steinataler Hefte 9 / 2011
Impressum
Im Auftrag der Melanchthon-Schule Steinatal hg. v. Christel Ruth Kaiser
Grafik/Layout: Jens Bödicker
Kontakt: [email protected]
Druck: PLAG Schwalmstadt
Umschlagfoto (HNA): Johanna Georges, Jahrgangsstufe 12, 19.04.2010
5|
Inhalt
Grußwort des Bischofs
6
Zum Geleit
7
„Bildung braucht einen guten Grund …“
Vortrag von Bischof Prof. Dr. Martin Hein
Das Melanchthon-Denkmal Steinatal
8
15
Das Melanchthon-Jahr 2010:
16
16. Februar – Eröffnung an Melanchthons Geburtstag16
Predigt im Schulgottesdienst über Römer 8,31
von Prälatin Marita Natt
16
Am Melanchthon-Denkmal Steinatal
21
19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag22
Predigt im Schulgottesdienst zum Tod Melanchthons
von Dekan Christian Wachter
22
Blick in die Gedenkfeier
26
„Philippus discipulus Philippi? Landgraf Philipp von Hessen und Philipp Melanchthon“
Festvortrag von Prof. em. Dr. Hans Schneider
34
Über Melanchthon als Namenspatron
43
01. November – Ausklang zum Reformationsfest44
Impressionen aus dem Schulgottesdienst
44
Predigt über 1. Korinther 12, 4-6
von Bischof Prof. Dr. Martin Hein
48
„Philipp Melanchthon – Humanist, Pädagoge und Theologe“
Vortrag vor der Jahrgangsstufe 12 von Prof. Dr. em. Martin Greschat
53
Dank61
|6
Das Melanchthon-Jahr 2010
Grußwort des Bischofs
Die Melanchthon-Schule Steinatal hat das Jubiläumsjahr ihres
Namenspatrons Philipp Melanchthon im vergangenen Jahr gebührend gefeiert. Aus den vielfältigen
Veranstaltungen im 450. Todesjahr des Wittenberger Reformators
entstand diese Sondernummer der
„Steinataler Hefte“. Das Heft dokumentiert, wie die MelanchthonSchule das Jubiläum begangen hat:
durch Selbstvergewisserung im
historischen Rückblick und durch
Positionsbestimmung im gegenwärtigen pädagogischen und bildungspolitischen Diskurs. Zwischen diesen beiden Polen hat das
Jubiläumsjahr einen weiten Bogen
gespannt.
Die Beschäftigung mit dem
„Praeceptor Germaniae“ lenkt den
Blick auf die Tradition des europäischen Humanismus und gleichzeitig die Anliegen der Reformation.
Mit der Berufung des jungen Humanisten Philipp Melanchthon
an die aufstrebende Universität
Wittenberg verband sich ein Programm: Ein gebildeter Glaube,
der die Theologie im Dialog mit
den anderen Wissenschaften hält,
gehört zu den Kennzeichen des
Protestantismus. An diese enge
Verbindung von Reformation und
Humanismus zu erinnern, ist nicht
nur für die Weiterentwicklung des
evangelischen Bildungsbegriffs unentbehrlich, sondern muss gegenwärtig auch darum betont werden,
weil es in unserem Land zunehmend Tendenzen gibt, den Begriff
des Humanismus atheistisch zu
usurpieren.
Mein Dank gilt allen, die sich
in verschiedener Art und Weise
darum bemüht haben, das Melanchthon-Jubiläum zu einem wichtigen Impuls für das Leben, Lehren
und Lernen an der MelanchthonSchule Steinatal werden zu lassen.
Stellvertretend für viele danke ich
namentlich der Schulleiterin, Frau
OStD’ i.K. Christel Ruth Kaiser.
Möge das nun vorliegende Heft
einerseits die Erinnerung an das Jubiläumsjahr wachhalten und andererseits dazu helfen, dessen Impulse
weiter wirken zu lassen.
Martin Hein
Bischof der Evangelischen Kirche
von Kurhessen-Waldeck
Zum Geleit
Das im Rahmen der Lutherdekade bis zum Reformationsjubiläum
2017 in den Gliedkirchen der EKD
feierlich begangene „MelanchthonJahr“ 2010 war auch in unserem
Gymnasium ein würdiger Anlass,
um die Bedeutung des Namenspatrons für unser Bildungsverständnis
und die daraus resultierende besondere Prägung unserer Schulkultur
in anschaulicher Weise bewusst zu
machen. In der Tat dürfen wir stolz
darauf sein, als einziges evangelisches Gymnasium in Deutschland
den berühmten Namen zu tragen. Alle weiteren Melan­
chthonGymnasien, auch diejenigen an
den Stätten der Reformation – wie
Nürnberg und Wittenberg, die direkt auf die Gründungsinitiative
Melan­chthons zurückgehen – werden heute in staatlicher bzw. städtischer Trägerschaft geführt.
So bot das Gedenkjahr mehrfache Chancen: den forschenden
Blick auf den eigenen Schulnamen,
das Nachdenken und die Vergewisserung über die Relevanz des Namensgebers für das heutige Schulleben und seine pädagogische wie
theologische Orientierung, außerdem die Einstimmung in die EKDweite Vorbereitung der 500-Jahrfeier des Thesenanschlags Martin
Luthers am 31. Oktober 2017.
Unterrichtlich wie außerunterrichtlich stand 2010 Melanchthons
herausragende Rolle als Christ,
Reformator und „Lehrer Deutschlands“ im Mittelpunkt. Das vorliegende Sonderheft (9/2011) unserer
Schulschrif­tenreihe
„Steinataler
Hefte“ dokumentiert drei zentrale
Schulveranstaltungen, mit denen
im Jahresver­
lauf des 450. Todestages des Reformators und Weggefährten Luthers gedacht wurde:
die Eröffnung des MelanchthonJahres am 16. Februar 2010, dem
Geburtstag Philipp Melanchthons;
der Festakt am 19. April, seinem
Todestag; und der Ausklang des
Gedenkjahres zum Reformationsfest am 1. November (31.10).
Doch nicht allein mit diesen
nun publizierten Aktivitäten erinnerte die Schulgemeinde an ihren
Namensgeber, sondern auch in anderen Zusammenhängen: z.B. mit
dem sog. „Melanchthon-Projekt“,
das seit dem 500. Geburtstag Melanchthons 1997 als profilbildende Einführungsveranstaltung für
die jeweils neu aufgenommenen
Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 5 im Schulprogramm
unseres Gymnasiums verankert ist;
oder im Kontext von Unterrichtsreihen zur Reformationsgeschichte
7|
bzw. im Bereich der alten Sprachen
Latein und Griechisch. Darüber
wurde bereits an anderer Stelle –
in den Steinataler Heften 2/2004
(Melanchthon im Steinatal. Der
Name als Programm) und 8/2010
(Alte Spra­chen pflegen. Vom Lernen der Fremdsprachen in der Melanchthon-Schule II) – berichtet.
Den Kern der nun vorgelegten
Dokumentation des MelanchthonJahres 2010 im Steinatal bilden die
Predigten und Vorträge, die an den
drei oben genannten herausragenden Gedenktagen gehalten wurden. Hinzu treten Einblicke in die
Mitgestaltung der Feierlichkeiten
durch Schülerinnen, Schüler und
Lehrkräfte. Allen Beteiligten sei
sehr herzlich für ihr beeindruckendes Engagement gedankt.
In diesen Dank eingeschlossen
sind Jens Bödicker, der die Grafik
der Broschüre in gekonnter Weise betreute, die Druckerei Plag/
Schwalmstadt und nicht zuletzt
die Schulstiftung der EKKW, die
durch finanzielle Unterstützung
diese Publikation erst möglich
machte.
Als Leiterin der MelanchthonSchule wünsche ich dem neuen
Heft viele interessierte Leserinnen
und Leser in der Schulgemeinde
und darüber hinaus. Möge es auch
zukünftig Anstöße zur Pflege protestantischer
Erinnerungskultur
geben, – das heißt „Melanchthon
ehren“.
Willingshausen-Steinatal, im Juli 2011
OStD’ i.K. Christel Ruth Kaiser
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Das Melanchthon-Jahr 2010
„Bildung braucht einen guten
Grund – Was wir von Philipp
Melanchthon lernen können“
I. Aus „Schwartzerdt“ wird
„Melanchthon“
Am 16. Februar 1497 wurde in
der kurpfälzischen Amtsstadt Bretten Philipp Schwartzerdt geboren.
Er war der Sohn des bekannten
Waffenschmieds Georg Schwartz­
erdt und seiner Frau Barbara Reuter. Die Familie war recht wohlhabend, so dass der junge Philipp von
einem Hauslehrer unterrichtet wurde und später auf die Lateinschule
ins nahegelegene Pforzheim gehen
konnte. Von Kindesbeinen an wurde Philipp Schwartzerdt im Sinne
des Humanismus erzogen – einer
Reformbewegung, die gemeinsam mit der Renaissance als fortschrittliche Geistesbewegung in
jener Epoche auftrat, die wir heute
als das Spätmittelalter bezeichnen.
Kennzeichen des Humanismus
ist die Hochschätzung der Antike, ihrer Sprache, ihrer Literatur,
ihres Denkens. Das Erlernen der
lateinischen und der griechischen
Sprache, den großen Sprachen der
Antike, war eine der Grundlagen
humanistischer Bildung.
Philipp
Schwartzerdt
hatte einen berühmten Verwandten:
Es war der Humanist Johannes
Reuchlin aus Pforzheim, der den
jungen Mann förderte und ihm am
15. März 1509, als er gerade zwölf
Jahre alt war, seinen neuen Namen
gab. „Melanchthon“ ist die griechische Übersetzung des deutschen
Namens „Schwartzerdt“. Eine solche Umbenennung entsprach den
damaligen humanistischen Gepflogenheiten. Der Name Philipp
Melanchthons war also Programm:
Dieser Mann steht für eine humanistische Bildung.
Im Oktober 1509 – immer noch
im Alter von gerade 12 Jahren!
– begann Melanchthon mit dem
Studium in Heidelberg. Ein akademisches Wunderkind also! Knapp
zwei Jahre später erlangte er schon
seinen ersten akademischen Grad,
den des „Baccalaureus artium“.
1512 wechselte er an die Universität Tübingen, wo er Anfang 1514
– kurz vor seinem 17. Geburtstag –
den Magistergrad erwarb. Melanchthon betrieb verschiedene humanistische Studien – unter anderem
lernte er Hebräisch – und veröffentlichte 1518 eine griechische
Grammatik. Das Jahr 1518 wurde
für ihn lebensentscheidend: Auf
Empfehlung Reuchlins wurde er
von Kurfürst Friedrich von Sachsen auf den neu errichteten Griechisch-Lehrstuhl an die Universität
Wittenberg berufen. Melanchthon
war also kein Fakultätskollege des
Theologen Martin Luther, sondern
Mitglied der sogenannten „Artistenfakultät“. Diese Fakultät war –
nach heutigem Verständnis – für
das allgemeine Grundstudium zuständig, das alle Studenten durchlaufen mussten, unabhängig davon,
ob sie später Theologie, Rechtswissenschaften oder Medizin studieren wollten. Zwischen Luther und
Melanchthon entwickelte sich eine
lebenslange, intensive und fruchtbare Freundschaft und Zusammen-
Bildung braucht einen guten Grund – Was wir von Philipp Melanchthon lernen können9|
arbeit. Ohne Melanchthons umfassende Kenntnisse der biblischen
Ursprachen hätte die Lutherbibel
– die ein Gemeinschaftswerk der
Wittenberger Reformatoren war
– vermutlich nie die Qualität erreicht, die sie bis heute auszeichnet.
Als Griechisch-Professor behandelte Melanchthon neben den klassischen Texten der Antike auch das
– ebenfalls in griechischer Sprache
geschriebene – Neue Testament.
Da der Hebräisch-Lehrstuhl in
Wittenberg über längere Zeit nicht
besetzt werden konnte, lehrte Melanchthon bis 1521 zudem hebräische Grammatik, also die Sprache
des Alten Testaments, und legte die
Psalmen aus. Zudem erwarb er im
Jahr 1519 den theologischen Grad
eines „Baccalaureus biblicus“. Von
da an hielt er regelmäßig Vorlesungen über biblische Bücher. Dennoch blieb Melanchthon zeitlebens
Mitglied der „Artistenfakultät“.
Einen von Luther einmal vorgeschlagenen Wechsel zur theologischen Fakultät lehnte er ab.
Weiter ging es fast Schlag auf
Schlag: 1521 legte Melanchthon
das erste Lehrbuch des evangelischen Glaubens vor, man kann
sagen: die erste evangelische Dogmatik. Sie trug den Titel „Loci
communes“, zu Deutsch: „Allgemeinbegriffe“.
Dieses Buch verstand sich als
ein Leitfaden zur Lektüre der Bibel. Der humanistische Leitsatz
„Zurück zu den Quellen“ galt für
Melanchthon nämlich ebenso im
Blick auf Theologie und Kirche:
Sie sollten sich ebenfalls auf die
Quellen, in ihrem Fall: auf die Bibel, besinnen. Weil die Bibel die
Offenbarung Gottes enthält, muss
man sich der Mühe unterziehen, sie
in ihren Ursprachen Hebräisch und
Griechisch zu lesen. Latein war im
16. Jahrhundert akademische Umgangssprache und wurde ohnehin
von allen gesprochen, die an der
Universität tätig waren – wie heute
das Englische. Die Methode, allgemeine Begriffe („loci communes“)
dazu zu verwenden, ein Thema zu
bearbeiten, stammte aus der Antike
und wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Erasmus von Rotterdam, dem unbestrittenen Haupt
der Humanisten, wieder neu emp-
fohlen. Melanchthon wandelte diese bewährte Methode insofern ab,
als er die Allgemeinbegriffe nicht
von außen an die Texte herantrug,
sondern sie aus den darzustellenden
Texten – also biblischen Texten –
heraus entwickelte. Deutlich wird:
Der humanistische Ruf „zurück zu
den Quellen“ konnte das Motto der
Reformation werden, weil er zur
Bibel als der Quelle der Offenbarung und Richtschnur des Glaubens ruft. Bildung in diesem Sinne
hat einen unmittelbaren Bezug zur
Offenbarung.
Neben seiner Lehrtätigkeit war
Melanchthon in vielerlei Weise an
der Reformation in Deutschland
beteiligt: Er wurde die treibende
Kraft bei der Reform der Universität Wittenberg und anderer Universitäten. Bei den Visitationen in Kursachsen – einer Einrichtung, mit
der die Reformation in der Fläche
des Landes durchgesetzt und gesichert werden sollte – war er maßgeblich beteiligt. Visitatoren – auf
deutsch: Besucher – reisten durch
die Lande, um die kirchlichen Zustände vor Ort zu besichtigen und
zu ihrer Reform und Verbesserung
beizutragen. Das war ein ebenso
mühsames wie erfolgreiches Konzept, weil die Reformation auf diesem Wege bis in die letzten Winkel
vordrang. Aus Melanchthons Feder
stammt der berühmte und wegweisend gewordene „Unterricht der
Visitatoren“, die Programmschrift
dieses reformatorischen Konzepts,
das weit über Kursachsen hinaus
angewandt wurde.
|10
Im Auftrag des Kurfürsten
nahm Melanchthon an verschiedenen Reichstagen teil, wobei der
Augsburger Reichstag 1530 der
wichtigste war. Melanchthon verfasste für diesen Reichstag das
„Augsburger Bekenntnis“, die
„Confessio Augustana“, die wichtigste und maßgebliche Entfaltung
des lutherischen Glaubens. Ziel
Melanchthons war nicht die Beschreibung der Grundlagen einer
neuen Kirche. Vielmehr bemühte er
sich, die Übereinstimmungen mit
den Altgläubigen hervorzuheben.
Da aber diese Schrift vom Kaiser
zurückgewiesen wurde, kam es zu
der ursprünglich nicht beabsichtigten Trennung. Spätestens seit dem
Augsburger Religionsfrieden von
1555 gilt dieser Text als das Bekenntnis der lutherischen Konfession und es hat bis heute die Kraft,
als Bekenntnis evangelischer Einheit zu wirken.
Das Melanchthon-Jahr 2010
Das Augsburger Bekenntnis ist
das einzige Bekenntnis der Reformationszeit, das in der Grundordnung der Evangelischen Kirche von
Kurhessen-Waldeck ausdrücklich
genannt wird. An dem Ort, an dem
wir uns befinden (Anm. d. Red.:
Schmalkalden), kann nicht unerwähnt bleiben, dass Melanchthon
auch im Auftrag des Schmalkaldischen Bundes kirchenpolitisch
tätig war, dessen gemeinsames Bekenntnis ebenfalls die Confessio
Augustana war.
Philipp Melanchthon war ein
großer humanistischer Gelehrter
des 16. Jahrhunderts. Aber er war
niemand, der im sprichwörtlichen
„Elfenbeinturm“ lebte und studierte, sondern war ein Gelehrter, der
aktiv an den kirchlichen, politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen seiner Zeit mitwirkte und
viel zur Gestaltung der Neuzeit
beigetragen hat. Aus gutem Grund
legte man ihm den Ehrentitel
„Praeceptor Germaniae“, „Lehrer
Deutschlands“, bei.
Im Oktober 1524 beschloss
der Rat der Stadt Nürnberg, einer
vom Humanismus geprägten freien
Reichsstadt, die Gründung einer
neuen Schule. Dabei hatte offenbar Martin Luthers Schrift „An die
Ratsherren aller Städte deutschen
Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ einen wesentlichen Impuls gegeben.
Nürnberg wurde zu einem besonders illustren Beispiel für die bildungspolitischen Innovationen, die
mit der Einführung der Reformation Hand in Hand gingen. Und an
diesem Beispiel wird deutlich: Es
ist nach evangelischem Verständnis
nicht die Aufgabe der Kirche, sondern die Aufgabe der „weltlichen
Obrigkeit“, Bildungseinrichtungen
zu schaffen und zu unterhalten.
II. „Lobrede auf die neue
Schule“ (Nürnberg 1526)
Innerhalb der Reformationsdekade der Evangelischen Kirche in
Deutschland steht das Jahr 2010,
das 450. Todesjahr Philipp Melanchthons, unter dem Motto „Reformation und Bildung“. Darum
möchte ich anhand eines kurzen
Textes aus Melanchthons Feder
erläutern, wo er bildungspolitische
Akzente setzte, die heute noch beherzigt werden können.
August Groh (1871-1944):
Die Schulgründung in Nürnberg 1526
Der Nürnberger Rat wollte Melanchthon als Rektor der neuen
Schule gewinnen. Dieser lehnte ab,
war aber bei der Schulgründung
und ihrer personellen Besetzung
beratend tätig. Gemeinsam mit
Bildung braucht einen guten Grund – Was wir von Philipp Melanchthon lernen können11|
seiner Frau nahm er die Einladung
an, zur Eröffnung der neuen Schule
nach Nürnberg zu reisen. Vor dem
Rat und gebildeten Bürgern der
Stadt hielt er am 23. Mai 1526 in
St. Egidien seine „Lobrede auf die
neue Schule“ („In laudem novae
scholae“). Durch alle Wandlungen
der Geschichte hindurch besteht
diese Schule in Nürnberg bis heute fort und trägt – wie könnte es
anders sein – den Namen „Melan­
chthon-Gymnasium“.
Nun soll Melanchthon etwas
ausführlicher selber zu Wort kommen. Zunächst beschreibt er die
Unentbehrlichkeit der Bildung für
alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens:
as anders […] verschafft denn
dem gesamten Menschengeschlecht größere Vorteile als die Wissenschaften? Keine Kunst, kein
Handwerk, wahrhaftig auch kein
landwirtschaftliches Produkt, ja sogar
nicht einmal die Sonne, die viele für
die Urheberin des Lebens gehalten haben, ist in dem Grade notwendig wie
die Kenntnis der Wissenschaften. Weil
ohne Recht und Gesetz und ohne Religion weder staatliche Gemeinschaften
aufrechterhalten noch Vereinigungen
von Menschen zusammengeschweißt
und regiert werden können, wird das
Menschengeschlecht nach Art wilder
Tiere umherstreifen, wenn die Wissenschaften untergehen. Denn durch
sie werden gute Gesetze hervorgebracht und gute Sitten sowie Menschlichkeit geboren, durch die die Religion
bis in unsere Zeit hinein fortgepflanzt
worden ist und andauert.
W
Bildung ist also die Weitergabe und Weiterentwicklung von
Wissen, Verhaltensweisen, Einstellungen – und nicht zuletzt von
Glauben! Eine Gesellschaft, die
auf Bildung in diesem umfassenden Sinne keinen Wert legt, ist in
ihren Grundlagen gefährdet. Eine
solche Gefährdung diagnostizierte
Melanchthon für seine Zeit, die ja
in der Tat eine Zeit weitgreifender Umbrüche war. Stichworte wie
„Türken vor Wien“, die Erfindung
des Buchdrucks, der Bauernkrieg
und eben die Reformation deuten
diese Umbrüche an. Melanchthon
antwortet auf diesen radikalen
Wandel – mit der Forderung nach
Bildung! In einer Bildung, die sich
auf die Quellen von Gesellschaftsordnung und Glauben besinnt, finden sich – davon war er überzeugt
– die Kraft und die Ideen, die zur
Bewältigung der Herausforderungen nötig sind. Weil die Lage ernst
war, lobte Melanchthon die Nürnberger, dass sie die Gefahr erkannt
hätten und sich ihr entgegenstellten:
a die Sitten der Völker notwendigerweise dann in Barbarei entarten, wenn sie nicht durch
die Wissenschaften zu Sittlichkeit,
Menschlichkeit und Frömmigkeit angetrieben und angeleitet werden, so
ist von euch eben dadurch vortrefflich
und weise gehandelt worden, dass ihr
in eure Stadt die angesehenen Wissenschaften – die Ernährerinnen aller
Tugenden – gerufen habt und darauf bedacht seid, sie nach Kräften zu
schützen und zu bewahren. Überdies
D
verdient gerade in diesen harten Zeiten euer Entschluss besonderes Lob, da
nun die Gefahr droht, dass die Wissenschaften in den verhängnisvollen
politischen Stürmen Schiffbruch erleiden. Denn durch Unwissenheit des
Volkes veröden die Schulen.
Humanistische Bildung, wie
Melanchthon sie verstand und hier
beschreibt, ist keineswegs auf die
Bewahrung des Vergangenen beschränkt, sondern sie ist nach vorne
hin ausgerichtet, denn sie soll ein
wesentlicher Beitrag zur Zukunftssicherung einer Gesellschaft werden:
enn ihr damit fortfahrt, bei den
Leuten das Interesse für das Lernen zu erwecken, dann werdet ihr euch
hervorragende Verdienste zunächst
um eure Vaterstadt, aber auch um
Auswärtige erwerben. Wenn auf eure
Veranlassung hin eure Jugend gut ausgebildet ist, wird sie eurer Vaterstadt
als Schutz dienen; denn für die Städte sind keine Bollwerke oder Mauern
zuverlässigere Schutzwälle als Bürger,
die sich durch Bildung, Klugheit und
andere gute Eigenschaften auszeichnen. Die Spartaner sagten, die Mauern müssten aus Eisen, nicht aus Stein
sein. Ich aber bin der Meinung, dass
eine Stadt nicht so sehr durch Waffen
wie durch Klugheit, Besonnenheit und
Frömmigkeit verteidigt werden sollte.
In heutiger Sprache formuliert
könnte man sagen: Bildungsinvestitionen sind Zukunftsinvestitionen. Und zwar Investitionen, die
eine gute Rendite versprechen!
Melanchthon war, wie der Blick
in seine Biographie gezeigt hat,
W
|12
Humanist, Philologe, aber ebenso
stets Theologe. Darum überrascht
es nicht, wenn er seine Forderung
nach Bildung theologisch und nicht
rein pragmatisch begründete:
ie Religion und die guten Gesetze können nicht überdauern, wenn ihr sie nicht mit Hilfe der
Wissenschaften bewahrt. Außerdem
fordert Gott, dass ihr eure Kinder
zur Tugendhaftigkeit und Religion
erzieht. Wer keine Mühe darauf verwendet, dass seine Kinder so gut wie
möglich unterrichtet werden, handelt
nicht nur pflichtvergessen gegenüber
Gott, sondern verbirgt hinter einem
menschlichen Aussehen seine tierische
Gesinnung. Folgenden Unterschied
hat die Natur zwischen Mensch und
Tier gemacht: Die Tiere geben die
Sorge für ihren Nachwuchs auf, sobald
dieser herangewachsen ist. Dem Menschen machte sie es aber zur Pflicht,
dass er die von ihm in die Welt gesetzten Kinder nicht nur in frühester
Kindheit ernährt, sondern dass er –
sobald sie herangewachsen sind – ihre
Gesinnung zur Sittlichkeit hin ausbildet. Daher besteht gerade in einer gut
geordneten Bürgerschaft ein Bedarf an
Schulen, in denen die Jugendlichen,
die ja gewissermaßen die Pflanzschule
der Bürgerschaft darstellen, ausgebildet werden können. Denn wenn einer
meint, dass man ohne Unterweisung
zu einer wirklichen Tüchtigkeit gelangen könne, so täuscht er sich gewaltig.
Und keiner ist zur Leitung eines Staates hinreichend befähigt ohne Kenntnisse in denjenigen Wissenschaften,
welche die ganze Methode enthalten,
wie Gemeinwesen zu regieren sind.
D
Das Melanchthon-Jahr 2010
Die theologische Begründung
der Forderung nach Bildung ist
kein schmückendes Beiwerk, sondern für Melanchthon integraler
Bestandteil von Bildung: Bildung
zielt auf den ganzen Menschen ab.
Darum braucht sie Religion – und
zwar im eigentlichen Sinne des lateinischen Wortes „religio“, „Rückbindung“: Der Mensch muss wissen, worin er selbst gegründet ist.
Nur so gewinnt er die Freiheit zur
Weltgestaltung.
Melanchthons Rede zur Eröffnung der neuen Schule in Nürnberg
1526 war eine Lobrede auf den Rat
und die Bürgerschaft der Stadt. Sie
hatten seiner Meinung nach die
Zeichen der Zeit erkannt: Eine umfassende Förderung der Bildung ist
unabdingbar, soll eine Gesellschaft
aus den unruhigen Zeiten gestärkt
hervor gehen. Für den Humanisten
Melanchthon waren Glaube und
Wissenschaft dabei Bündnispartner und keinesfalls Gegner.
III. Was wir von Philipp
Melanchthon lernen können
Fragen wir 450 Jahre nach Philipp Melanchthons Tod danach, was
wir heute von ihm lernen können,
so ist zunächst zweierlei lapidar
festzustellen: Die Bildungsdebatte, die sich heute mit Begriffen wie
„PISA“ und „Bologna“ regelmäßig in die Schlagzeilen bringt, ist
keine neue Debatte. Sie hat dieses
Land schon vor 500 Jahren bewegt.
Wenn Melanchthon Bildung als
zentrales Kriterium für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft
betont, ist dem – bei allen zeitbedingten Details seiner Darstellung
– nichts hinzuzufügen. Über diese
beiden Beobachtungen hinaus will
ich zwei Aspekte besonders hervorheben:
1. Glaube und Bildung
Dass Glaube und Bildung für
Melanchthon keinen Gegensatz
darstellen, wie das besonders in der
Ideologie des Marxismus immer
wieder betont wurde, habe ich bereits gesagt. Die Reformation war
eine ausgesprochen institutionenkritische Bewegung. Indem sie die
Notwendigkeit einer kirchlichen,
priesterlichen Vermittlung des Heils
ablehnte, stellte sie den Menschen
direkt vor Gott. Die Reformatoren
waren davon überzeugt: Der Einzelne darf sich für seinen Glauben
nicht auf andere, auch nicht auf
die Kirche verlassen, sondern muss
sich selbst als Individuum vor Gott
verantworten. Dazu aber muss er
gebildet sein: Er muss wissen und
verstehen, woran er glaubt. Er muss
die Bibel als Offenbarungsurkunde des Glaubens lesen und verstehen können. Er muss in der Lage
sein, Rechenschaft über seinen
Glauben ablegen zu können, sich
mit anderen Menschen über Fragen des Glaubens auszutauschen.
Kurz gesagt: Mündige Christenmenschen brauchen entsprechende
Bildung, um ihre Mündigkeit leben zu können. Umgekehrt braucht
Bildung Religion, zumindest die
Kenntnis über Religion. Ohne die
Geschichte des Christentums lässt
sich die Geschichte Europas nicht
Bildung braucht einen guten Grund – Was wir von Philipp Melanchthon lernen können13|
verstehen. Ohne die Kenntnis eines Grundbestandes an biblischen
Texten lässt sich die Literatur unseres Landes nicht verstehen. Und
– noch einmal etwas anders akzentuiert – ohne Glaubenserfahrungen
und ohne die Erfahrung religiöser
Deutungen des Lebens bleibt Persönlichkeitsbildung unvollständig.
Darum hat in Deutschland – von
unrühmlichen Ausnahmen wie in
Berlin und Brandenburg abgesehen – der Religionsunterricht einen
festen Platz in der Schule. Es geht
beim schulischen Religionsunterricht nicht um „Mission und Mitgliederwerbung“, sondern es geht
darum, Schülerinnen und Schülern
authentische Begegnung mit gelebtem Glauben und mit theologischen Fragen zu ermöglichen, weil
solche Erfahrungen zur Persönlichkeitsbildung dazu gehören. Das
bedeutet zugleich, dass der Religionsunterricht es leisten muss, einen
Bezug zu allen anderen schulischen
Lehrfächern herzustellen, er sich
also – wie man das heute nennt
– in einen interdisziplinären Diskurs begibt. Ein Detail sei besonders hervorgehoben: Melanchthon
insistierte – übrigens in völliger
Übereinstimmung mit Luther –
darauf, dass für Pfarrer eine gründliche wissenschaftliche Ausbildung
einschließlich der biblischen Sprachen Griechisch und Hebräisch
unentbehrlich sei. An diesem Standard halten wir aus guten Gründen bis heute fest. Theologie ist
und bleibt zu einem wesentlichen
Teil Philologie, nämlich Lektü-
re der biblischen Bücher. Und nur
wer diese Texte lesen kann, kann
sie verstehen und angemessen für
die heutige Zeit auslegen. Dass der
Wissenschaftsrat, der sich kürzlich
zur Theologie und anderen religionsbezogenen Wissenschaften an
deutschen Hochschulen gutachterlich geäußert hat, diese Position
teilt, ist ein Beleg dafür, wie sehr
Melan­chthons Position selbst unter
heutigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen überzeugt. Die
Verbindung von reformatorischer
Theologie und humanistischem
Bildungsideal, die wir bei Melanchthon finden, ist nicht daran
gebunden, dass Kirche und Bürgergemeinde im 16. Jahrhundert
weitgehend deckungsgleich waren.
Auch für aktuelle Fragestellungen,
wie sich etwa Verfügungswissen
und Orientierungswissen zueinander verhalten, lassen sich bei ihm
viele Anregungen finden.
2. Bildung und Gemeinwohl
Ein zweiter Aspekt ist in Melanchthons Nürnberger Rede unübersehbar: Bildung ist kein Selbstzweck, sie genügt sich nicht selbst,
sie dient nicht nur dem Eigennutz.
Die Gesellschaft soll sich in hohem Maße für die Bildung der Jugend einsetzen, weil Bildung dem
Gemeinwohl dient. Auch dieser
Aspekt ist bei Melanchthon nicht
von seinen christlichen Wurzeln zu
trennen. Es war eine zentrale reformatorische Erkenntnis Luthers,
dass der Mensch, weil er durch den
Glauben gerechtfertigt ist, um seiner Rechtfertigung willen keiner
guten Werke bedürfe. Gerade dadurch werde er frei, seinen Nächsten, seinen Mitmenschen in Nächstenliebe zu dienen. Es ist unter den
gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Bedingungen gewiss nicht
überflüssig, an diesen Zusammenhang zu erinnern. Ein demokratischer Staat ist angewiesen auf
gestandene Persönlichkeiten, Menschen mit einem gebildeten Charakter. Darum muss es in unserem
Bildungssystem gehen: dass junge
Menschen Raum und Zeit finden,
ihre Persönlichkeit zu entwickeln.
Das ist keine Alternative zu fachlicher Bildung, zum Erwerb von
Verfügungswissen. Beides gehört
zusammen: Fachkompetenz muss
mit sozialer Kompetenz Hand
in Hand gehen. Defizite in diesem Bereich beeinträchtigen junge
Menschen nicht nur bei der Suche
nach einem Ausbildungs- oder
Arbeitsplatz, sondern sie schaden
unserer Gesellschaft insgesamt.
Bildungsgerechtigkeit ist eine Form
der Teilhabegerechtigkeit. Und wir
alle müssen ein vitales Interesse daran haben, dass Menschen in unserem Land an Bildung teilhaben
können. Die Reformation hat einen
entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass Bildung ein Allgemeingut wurde, dass sich so etwas wie
„Volksbildung“ etablieren konnte,
dass es zu einer Demokratisierung
der Bildung kam. Noch einmal sei
es gesagt: Dabei steht die Grundannahme im Hintergrund, dass ein
mündiger Christenmensch die Bibel lesen können soll, um sich eigen-
|14
Das Melanchthon-Jahr 2010
wir hier exemplarisch zeigen können, wie wir als Kirche Bildung
verstehen und unsere Vorstellungen
– selbstverständlich im Rahmen
der allgemein geltenden Konzepte
und Gesetze – umzusetzen gedenken.
Am 19. April jährt sich der Todestag Philipp Schwartzerdts,
genannt Melanchthon, zum 450.
Mal. Das ist der äußere Anlass,
sich in diesem Jahr besonders an
ihn zu erinnern. Darüber hinaus
aber gibt es – das hoffe ich gezeigt
zu haben – viele inhaltliche Grün-
ständig mit der Offenbarungsquelle
des Glaubens zu befassen. Darum
haben Generationen von Schulkindern anhand einfacher biblischer
Geschichten Lesen und Schreiben
gelernt. Für Bildungseinrichtungen
zu sorgen, ist selbstverständlich vor
allem eine Aufgabe des Staates im
Rahmen seiner Verpflichtung zur
Daseinsfürsorge für Bürgerinnen
und Bürger. Allerdings gibt es in
Deutschland die Regelung, dass
der Staat bestimmte Aufgaben vornehmlich freien Trägern überlässt,
sofern diese sich finden. Als evangelische Kirche nehmen wir im
Gefolge von Philipp Melanchthon
diese Aufgabe vor allem im Bereich
von Kindertagesstätten, aber auch
als Trägerin einiger Schulen wahr.
Die Schmalkalder Martin-LutherSchule ist ein Beispiel dafür. Warum tun wir das? Wir tun es, weil
de, sich mit dem „Lehrer Deutschlands“ zu beschäftigen. „Zurück zu
den Quellen!“ – dieses zukunftsweisende Motto des Humanismus
und der Reformation entstand in
einer Zeit der Verunsicherung und
der Umbrüche. Es kann in den heute notwendigen Neuorientierungen
ausgesprochen hilfreich sein.
Martin Hein
Vortrag anlässlich der Eröffnung des
„Melanchthon-Gedenkjahres“
am 14. April 2010 in der Evangelischen
Stadtkirche St. Georg zu Schmalkalden.
Wie Schülerinnen und Schüler der Klasse 7a im Jahr 2010
die Wirkung unserer Melanchthon-Büste beschreiben:
Er hat freundliche Augen und ein ernstes Gesicht.
Er wirkt nachdenklich. Dies verrät viel über sein Leben.
Er ist ein in Gedanken versunkener Mensch.
Er wirkt aufmerksam, streng und klug.
Er ist hier der freundliche Melanchthon; jedoch auf anderen
Bildern hat er einen sehr ernsten Gesichtsausdruck.
Er wirkt, als würde er gerade versuchen, eine kniffelige
Aufgabe zu lösen.
Ich finde, Melanchthons Augen sind freundlich; allerdings
sieht sein Mund ernst aus.
Er wirkt auf mich freundlich, liebenswert und offen für
neues Wissen.
Bildung braucht einen guten Grund – Was wir von Philipp Melanchthon lernen können15|
Das Melanchthon-Denkmal Steinatal
Büste von Almut Heer,
geschaffen zum 500. Geburtstag 1997
|16
Das Melanchthon-Jahr 2010
Melanchthon(-Jahr" 2010#
16. Februar – Eröffnung an
Melanchthons Geburtstag
Mit einer Andacht am Geburtstag Philipp Melanchthons – gehalten von der damaligen Pröpstin des
Sprengels Hersfeld, Marita Natt
(Anm. d. Red.: jetzt Prälatin und
Stellvertreterin des Bischofs der
EKKW) – wurde in der Melanchthon-Schule das Gedenkjahr zum
450. Todestag des Reformators
(1497–1560) eröffnet.
Nach Darbietungen zeitgenössischer Flötenmusik und dem von
Melanchthon überlieferten Choral
„Heut’ singt die liebe Christenheit
…“ – mehrstimmig vorgetragen
vom Oberstufenchor – brachte die
Pröpstin der aufmerksam lauschenden Schulgemeinde die Bedeutung
ihres Namenspatrons für die evangelische Kirche und ihr Bildungswesen näher.
Predigt im Schulgottesdienst
über Römer 8,31
Liebe Schulgemeinde, es ist Faschingsdienstag und möglicherweise war die eine oder der andere
zu Beginn der Andacht noch nicht
so ganz taufrisch. Aber wir haben
ja gesungen: „All Morgen ist ganz
frisch und neu des Herren Gnad
und große Treu“. Und das ist eine
schöne, erquickliche Zusage, oder?
Und sie gilt auch für uns heute
Morgen! So will ich mich frisch
und neugierig dem Menschen zuwenden, der heute seinen 513. Geburtstag gefeiert hätte – wenn es so
etwas gäbe …
Dem Namensgeber eurer / Ihrer Schule, Philipp Melanchthon,
widmet die Evangelische Kirche
16. Februar – Eröffnung an Melanchthons Geburtstag17|
in Deutschland viele Veranstaltungen in diesem Jahr. Und auch hier
werden im Frühjahr weitere Feierlichkeiten stattfinden, die sich um
das Leben und Wirken dieses bedeutenden Mannes ranken. … Die
Mathe-Genies haben es schon ausgerechnet: Sein Geburtsjahr war
1497, sein Geburtsort Bretten, das
heute zu Baden gehört.
Sehr gern bin ich heute Morgen
als Geburtstagsgast aus Bad Hersfeld, dem Sitz der Propstei, hierher
ins Steinatal gefahren, wo auch
mein Mann vor vielen Jahren Schüler gewesen ist. Ich komme natürlich mit vielen Grüßen unseres Bischofs, Prof. Dr. Martin Hein, und
ich freue mich, mit Ihnen und euch
diese besondere Andacht feiern zu
können.
„Kleiner Mann – was nun?“
heißt ein Buch von Hans Fallada. Ich weiß nicht, ob man das
im Deutschkurs liest. Es geht mir
auch gar nicht um den Inhalt, sondern um den Titel! Er hätte wohl
manches Mal die Überschrift über
Melanchthons Leben sein können.
Denn dieser Mann war ausgesprochen klein! „Klein, aber oho!“
Aufgrund seines Äußeren wurde
er zunächst eher übersehen, wie die
Menschen so sind, heute auch noch.
Aber es war schon immer falsch,
nach dem Äußeren zu urteilen …
Da geben mir sicher viele recht.
Philipp ist ein wunderbares Beispiel für das Pauluswort: „Meine
Kraft ist in den Schwachen mächtig“. Das hat man dann auch damals
sehr schnell bemerkt. Und darum
erinnern wir uns heute an ihn! Der
Chor hat uns ein MelanchthonLied gesungen, Pfarrerin HolkGerstung hat mit uns seinen Lieblingspsalm gebetet, und ich verrate
nun, welches sein liebstes Bibelwort
gewesen ist. Es ist ein Pauluswort,
genauer gesagt: ein Vers aus dem
Römerbrief, dem 8. Kapitel. Da
steht: „Ist Gott für uns, wer mag
wider uns sein?“ In einer etwas freieren Übersetzung heißt es: „Gott
ist auf unserer Seite, wer kann uns
dann noch etwas anhaben?“
Philipp Melanchthon haben diese Worte so viel bedeutet, dass sie
später über dem Portal seines Geburtshauses eingemeißelt wurden.
Sie haben ihm in vielen Augenblicken Mut gemacht, sie haben ihm
geholfen in schwierigen Gesprächen und bedrohlichen Situationen.
Und davon gab es genug in seinem
Leben! Für ihn galt ganz und gar,
was Paulus im Weiteren geschrieben hat: „Niemand kann die Menschen anklagen, die Gott erwählt
hat. Denn Gott selbst spricht sie
frei. Niemand kann sie verurteilen,
Jesus Christus ist ja für sie gestorben. Mehr noch: Er ist vom Tode
erweckt worden. Er sitzt an Gottes rechter Seite und tritt für uns
ein. Durch Jesus Christus, unseren
Herrn, hat Gott uns seine Liebe
geschenkt. Darum gibt es in der
ganzen Welt nichts, was uns jemals
von Gottes Liebe trennen kann.“
„Nichts kann uns scheiden von
der Liebe Gottes“, heißt es in der
Lutherübersetzung, an der Philipp
kräftig mitgearbeitet hat. Dass uns
jemand lieb hat und es uns auch
zeigt, das ist etwas Wunderbares,
etwas elementar Wichtiges! Und da
ist es gleichgültig, wie alt oder jung
wir sind. „Wenn jemand sagt: Ich
mag dich, du, ich find dich ehrlich
gut, dann kribbelt es in meinem
Bauch, dann hab ich wieder Mut!“,
heißt es in einem Lied, das ich gern
im Kindergottesdienst oder in der
Grundschule gesungen habe. Zu
wissen, die Eltern, die Freundin,
der Freund stehen 100% hinter einem, ist – wie ich finde – unendlich wichtig, um selbstbewusst und
gelassen durchs Leben zu gehen.
Zu wissen, dass Gott, der Schöpfer allen Lebens, „Ja“ zu mir sagt,
ist allerdings noch ungleich viel
wichtiger, es macht ungemein frei.
Frei von der Meinung anderer, frei
von Gruppenzwängen, falscher
Freundschaft, die man sich z.T.
teuer erkaufen muss.
„Ist Gott für uns, wer kann gegen
uns sein“, ist wie ein triumphierender Freudenschrei! Ähnlich denen,
die wir jetzt bei den olympischen
Winterspielen von den Medalliengewinnern hören können. Was lässt
Paulus oder Melanchthon so triumphieren? Auf dem Siegertreppchen
standen die beiden ja eher nicht! Es
ist das tiefe Begreifen, dass durch
das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu alle menschliche und – ich
erlaube mir das Wort – teuflische
Macht überwunden war. Im Neuen Testament lesen wir, dass Jesus
seinen Geist, den Tröster, geschickt
hat. Und dass dieser Geist bis heute
wirkkräftig ist, das erfahren immer
|18
wieder Menschen: häufig in Augenblicken, wo sie sich ganz schwach
und elend, am Ende mit ihrer
Weisheit fühlen. Schülerinnen und
Schüler kennen das, Lehrer und
Lehrerinnen auch! Sich dann zu erinnern, dass Jesus gesagt hat: „Ich
bin bei euch alle Tage“, „Kommt
her, die ihr mühselig und beladen
seid, ich will euch erquicken“, das
ist wie eine Kraftquelle, das ist wie
das Gefühl, auf dem Siegerpodest
zu stehen! Solche Bedeutung hatte
für Melanchthon das Pauluswort:
„Ist Gott für uns, wer kann gegen
uns sein“!
„Da kann man noch so viel kritisieren, sich über mich lustig machen,
mich angreifen. Niemand kann mir
wirklich etwas anhaben, weil ich
mich von Gott geliebt, akzeptiert
und getragen weiß“, mag Philipp
Schwarzerdt gedacht haben, als er
sich, 12 Jahre alt, an der Universität Heidelberg eingeschrieben hat.
Stellt euch vor, ihr Quartaner, vor
500 Jahren konnte man mit 12 Jahren ein Studium beginnen! Allerdings musste man so wissbegierig,
neugierig und sprachtalentiert sein
wie Philipp. Wahrscheinlich wissen es viele von euch: Er war gerade
mal 16 Jahre jung, da hat er bereits
seine Magisterprüfung abgelegt in
Tübingen. Und als 21-jähriger bekam er einen Ruf der Universität
Wittenberg: Griechisch-Professor
sollte er werden! Da hieß er übrigens schon „Melanchthon“, das ist
die griechische Übersetzung seines
Nachnamens „Schwarz-Erdt“.
Das Melanchthon-Jahr 2010
Habt ihr eure Namen auch schon
einmal ins Griechische zu übersetzen versucht? Sicher kämen interessante Wortschöpfungen dabei
heraus! Ich verrate heute Morgen
ein Geheimnis. Ich habe meinen
Vornamen erst richtig gemocht,
als ich hebräisch gelernt habe! Da
ist mir das Wort „mara“ – „widerspenstig sein“ – begegnet. „Marita“
war die zweite Person Plusquamperfekt und hieß übersetzt: „du
bist widerspenstig gewesen“! Als
Studentin gefiel mir das irgendwie
deutlich besser als die andere Möglichkeit den Namen abzuleiten. Das
war nämlich die Übersetzung des
lateinischen Wortes „maritus“, der
„Gatte“! Weibliche Endung „a“, die
„Gattin“ … Wie auch immer: Früher war es üblich, den Nachnamen
ins Griechische zu übersetzen und
unter dem Namen Melanchthon
wurde Philipp später weltberühmt.
Später, wohlgemerkt; denn als er
damals in Wittenberg als 21-jähriger Professor antrat, lachte man ihn
zunächst erst einmal aus. Es gab
heftige Proteste, man wollte jemanden „Gestandenen“ haben, nicht
so einen unscheinbaren, kleinen
Jüngling. Euer Namensgeber war
nämlich nur 1,50 Meter groß – wie
gesagt: klein, aber oho! Dennoch:
Er hatte noch keine 10 Minuten
gesprochen, da klatschten schon
alle begeistert Beifall und bald kamen die Studenten aus aller Herren
Länder, um ihn zu hören!
„Lehrer Deutschlands“ hat man
ihn später genannt. Er war der Reformator der deutschen Universitä-
ten, ein Schaffer, einer, der Tag und
Nacht lesen konnte, der darüber
sogar das Essen vergessen konnte. Er sieht auf manchen Bildern
auch ganz schön schmal aus … Der
Kopfschmuck, den er getragen hat,
gehörte übrigens zur Kopfbedeckung der damaligen Zeit. Schade,
dass er damit seine Haare verdeckt
hat, sie müssen feuerrot gewesen
sein!
Ein Sprachgenie ist er gewesen.
Er liebte die alten Sprachen, Latein
und Griechisch, über alles. Sie waren für ihn unabdingbare Voraussetzung für das richtige Verständnis
von Recht und Naturwissenschaften, der Theologie. So hat er in
seiner Antrittsvorlesung gesagt:
„Denn das ist allerdingst meine
Meinung, dass niemand sich in der
Gottes- oder Rechtsgelehrtheit, in
der Kirche oder vor Gericht, wird
auszeichnen können, der sich nicht
zuvor eine gründliche allgemeine
Bildung angeeignet hat.“
Und er ermahnt: „Vor allem
lernt die Geschichte kennen. Sie
lehrt euch, was schön ist und was
schimpflich, was Nutzen bringt
und was nicht.“
Leidenschaftlich hat er dafür gekämpft, dass alle Kinder – auch die
Mädchen – lesen lernen konnten,
„gebildet“ wurden. Das war früher
bei weitem nicht so selbstverständlich wie heute! Und so wurde mit
der „Oberen Schule“ in Nürnberg
1526 das erste deutsche Gymnasium gegründet. Natürlich wünschte
man sich Melanchthon als Rektor
– so wie Frau Kaiser eure Rekto-
16. Februar – Eröffnung an Melanchthons Geburtstag19|
rin ist. Das hat er zwar abgelehnt,
aber eine Rede hat er gehalten und
u.a. gesagt: „Weil ohne Recht und
Gesetz und ohne Religion weder
staatliche Gemeinschaft aufrechterhalten noch Vereinigungen von
Menschen zusammen geführt und
regiert werden können, wird das
Menschengeschlecht nach Art wilder Tiere umherstreifen, wenn die
Wissenschaften untergehen …“
Sehr aktuell, finde ich! Eine gute
Bildung trägt entscheidend dazu
bei, Gewalt, Konflikte oder gar
Kriege zu verhindern …
Nicht zuletzt deshalb liegt unserer kurhessischen Landeskirche so
viel an dieser kirchlichen Schule in
der Schwalm und der Bildung, die
hier im christlichen Geist vermittelt wird! „Ene mene muh und raus
bist du“ soll hier nicht gelten! Stattdessen: „Raus bist du noch lange,
lange nicht“! Weil bei Gott jeder
eine Chance hat, weil Jesus das mit
vielen schönen Gleichnissen von
verlorenen Söhnen, Schafen und
Groschen verdeutlicht hat, gibt es
in einer kirchlichen Schule keine
Starken und Schwachen, sondern
von Gott geliebte Menschenkinder! Und wer sich einmal verirrt,
bekommt eine zweite Chance. Jeder soll lesen und schreiben können, die Geschichte kennen lernen,
sich mathematisch und sprachlich
weiterbilden, sich ein Urteil bilden
über Gott und die Welt.
Das wollte auch Melanchthon! Damit viele von seinen Ideen und Gedanken erfuhren, hat
er geschrieben und geschrieben,
u.a. 9000 Briefe! Nicht schlecht,
oder?! Außerdem: Schulordnungen, Grammatiken und theologische Abhandlungen. Die Hauptschrift der evangelischen Kirche,
die ,,confessio augustana“ im Gesangbuch hinten abgedruckt, hat er
verfasst. Wer gerade in der Konfer
ist, kann ja einmal die zuständige
Pfarrerin oder den Pfarrer bitten,
dort nachzuschlagen und den Text
miteinander zu lesen … das ist auch
Bildung! – Man sagt, 6 Jahre hätte
Melanchthon gearbeitet, ohne einen Tag Urlaub zu nehmen. Liebes
Lehrerkollegium, das ist nicht gut!
Und es hat natürlich seiner Gesundheit geschadet. Aber Melanchthon war nicht aufzuhalten. Er
war so erfüllt von seiner Mission,
dass er auf persönliche Bedürfnisse
wenig Rücksicht genommen hat.
„Ist Gott für uns, wer kann gegen uns sein?“
Mit seinem festen Glauben, der
ihn mutig und innerlich frei gemacht hat, hat dieser kleine große Mann sich Freunde, aber auch
Feinde gemacht. So ist das im
Leben, das kennen vielleicht auch
unter euch einige. Für Luther war
er der Beste! „In meinem ganzen
Lehramt achte ich nichts höher als
den Rat Philipps“, hat er gesagt.
Der unterstützte ihn tatkräftig bei
seinen Disputen und – ich sagte es
schon – beriet ihn intensiv bei seiner Bibelübersetzung. Sie waren
zwei etwas ungleiche Freunde. Der
eine liebte die kräftigen Töne, der
andere die zarten. In Gesprächen
mit der katholischen Kirche war
Melanchthon wesentlich besonnener als Luther. Der geriet eher
einmal so richtig in Wut, und dann
konnte er durchaus auch laut und
derb werden. Da war Melanchthon
eindeutig der „Gebildetere“. Mich
beeindruckt seine Gelassenheit.
Und ich denke, Sie und ihr habt
auch schon erlebt, dass „Ausrasten“
eine Situation eher verschlimmert
als beendet. Es ist viel besser, mit
Worten zu „kämpfen“ als mit den
Fäusten. Auch da hat das Pauluswort in vielen Lebenssituationen
seine Bedeutung: „Ist Gott für uns,
wer kann gegen uns sein?“ Im Bewusstsein, von Gott Rückenstärke
zu bekommen, lassen sich viele Probleme und Konflikte anders meistern. Gottvertrauen macht stärker
als das beste Muskeltraining. Es
stärkt nicht nur den Bizeps, sondern das Rückgrat – und den Kopf
und das Herz! Ich wünsche solche
Herzensbildung und Glaubensstärke den Schülerinnen und Schülern
der Melanchthon-Schule. Und ich
gratuliere euch, dass ihr eine kirchliche Schule besucht, in der dieser
Geist herrscht. Und ich bitte alle,
die hier ein- und ausgehen, diesen
Geist hochzuhalten, wertzuachten
und weiterzugeben.
Melanchthon hat ihn vielen,
vielen nahegebracht, auch seinen
eigenen vier Kindern. Und er hat
mithilfe des Pauluswortes manchen
Schicksalsschlag aushalten können:
den Tod des Sohnes und der Tochter, seiner Frau. Die Verleumdungen und Anfeindungen, die ihm
begegnet sind. Kurz vor seinem Tod
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Das Melanchthon-Jahr 2010
Der kleine große Mann
Als einst durch Wittenberges Toren
man sah den Herrn Melanchthon ziehn,
Studenten da und Professoren
die Achsel zuckten über ihn.
Sie flüsterten: „Du meine Güte!
Die kleine schmächtige Gestalt!“
Sie ahnten nicht sein Hochgemüte,
nicht seines Geistes Allgewalt.
hat er auf einen Zettel geschrieben:
„Du kommst zum Licht, du wirst
Gott schauen und seinen Sohn, du
wirst die wunderbaren Geheimnisse erkennen, die du in diesem Leben nicht begreifen konntest.“
Da war wirklich nur Freude –
und ein bisschen Neugier – wie
es sein wird – nach dem Tod. Er
wusste: „Ich brauche mich vor
nichts zu fürchten, weil Gott an
meiner Seite ist.“ Sollten in eurem /
Ihrem Leben Zeiten, Augenblicke
kommen, die zum Fürchten sind,
dann erinnert euch, erinnern Sie
sich an das Wort, das Melanchthon
immer wieder Kraft und Hoffnung
gegeben hat: „Gott ist auf unserer
Seite, wer kann uns dann noch etwas anhaben?“ Ich sage: Niemand!
So sei es! Amen.
Marita Natt, Prälatin
Doch wie er schwang sich aufs Katheder
gleich einem Reiter auf das Pferd
und zuckt des Geistes Schwert, ward jeder
gewahr, was dieser Ritter wert.
Da saßen sie im Saal mit Staunen,
bezwungen von der Rede Macht.
Es ging im Kreis ein leises Raunen:
„Bei Gott! Wer hätte das gedacht?“
Ja, ja, die klugen feinen Geister,
sie sperrten Augen auf und Mund.
Sie schauten nun in ihm den Meister,
der wußt’ der Dinge Kern und Grund.
Und all die Lehrer und Gelehrten
erkannten den Magister an
als den Gelehrtesten und ehrten
den großen Geist im kleinen Mann!
Gedicht aus dem Jahr 1910 (anonym)
anlässlich des 350. Todestages von Ph. Melanchthon
16. Februar – Eröffnung an Melanchthons Geburtstag21|
Am Melanchthon-Denkmal
Steinatal
Im Anschluss an den Gottesdienst zog die gesamte Schulgemeinde zum Melanchthon-Denkmal vor dem Hauptgebäude, wo
Schulleiterin Christel Ruth Kaiser
daran erinnerte, wie das Kunstwerk anlässlich des 500. Geburtstages von Philipp Melanchthon im
Jahr 1997 seinen Weg ins Steinatal
fand: aufgrund einer Elterninitiative gestiftet mit Fördermitteln der
Kulturstiftung der Kreissparkasse
Schwalm-Eder zum 50. Gründungsjubiläum des Gymnasiums.
Ein Schüler aus der Klasse 7a
trug das 1910 zum 350. Todestag
Melanchthons entstandene Gedicht mit dem Titel „Der kleine
große Mann“ auswendig vor, das
den „Lehrer Deutschlands“ trotz
äußerlich kleiner Gestalt als ganz
Großen nach Bildung und Geistesgaben würdigt. Damit traf es den
Kern der Predigt von Pröpstin Marita Natt.
Der Zug der Schulgemeinde
sammelte sich danach an einem
von der Abiturientia 2009 gespendeten Fahnenmast auf dem Rasen
oberhalb des Sportplatzes, wo bei
feierlichen Bläserklängen die neue
Fahne der Melanchthon-Schule –
geziert mit dem Schullogo – gehisst
wurde. Hier dankte die Schulleiterin den ehemaligen Schülerinnen
und Schülern für ihre schöne Idee
und erklärte das Melanchthon-Jahr
2010 im Steinatal als eröffnet.
Zeichnung von Steffen Schmerer,
Klasse 7a im Schulj. 2009/10
|22
Das Melanchthon-Jahr 2010
19. April – Gedenken an
Melanchthons Todestag
Der Gedenktag begann in der
Melanchthon-Schule mit einem
Gottesdienst, in dem der Dekan
des Kirchenkreises Ziegenhain,
Christian Wachter, an das Sterben
Philipp Melanchthons und dessen
gefasste Haltung auf dem Totenbett erinnerte.
Predigt im Schulgottesdienst
zum Tod Melanchthons
Liebe Schulgemeinde, heute vor
450 Jahren ist Philipp Melanchthon gestorben. Und weil unsere
Schule nach diesem protestantischen Lehrer benannt ist, soll dies
entsprechend gewürdigt werden.
Durch Augenzeugenberichte sind
uns Aufzeichnungen der letzten
Tage und Stunden des Reformators
überliefert (Anm. d. Red.: s. dazu
auch S. 24). Lucas Cranach d.J. hat
ein Bild des Toten auf dem Sterbelager gezeichnet. Der Verstorbene
macht in diesem Bild einen ausgesprochenen friedlichen und fast
verschmitzt fröhlichen Eindruck.
Das weiße Totengewand erinnert
an das Taufkleid und daran, dass
wir im Leben und im Sterben Gottes Kinder sind.
Schreiben wir also: Wittenberg,
den 7. April 1560. Philipp Melanchthon, 63 Jahre alt, 150 cm klein,
seit 40 Jahren verheiratet, Vater von
zwei Kindern, seit 42 Jahren Professor an der Theologischen Fakultät in Wittenberg an der Elbe. Den
Gelehrten überfallen an diesem Tag
ein starkes Fieber und ein kräftiger
Husten. Er ist schwer erkrankt. Die
ganze Nacht drückt er kein Auge
zu. – Am nächsten Morgen ist er
furchtbar matt und müde. Dennoch
lässt er es sich nicht nehmen, um 6
Uhr seine Vorlesung zu halten. Wie
immer ist der Saal voll und die Studenten hängen an seinen Lippen.
Martin Luther hatte, als er Philipp Melanchthon zum ersten Mal
gehört hat, begeistert ausgerufen:
„Dieser kleine Griechisch-Professor übertrifft mich in der Theologie!“ Das Thema seiner letzten
Vorlesung ist das Gebet Jesu vor der
Gefangennahme im 17. Kapitel des
Johannesevangeliums.
Klassisch
hat Philipp seine Vorlesung in drei
Abschnitte gefasst. Erstlich: Nach
dem Willen Gottes soll in dieser
Welt eine Kirche die Christenheit
sammeln und erhalten. Zum Anderen: Jesus bittet, dass die Kinder
Gottes friedlich und einträchtig
sein sollen. Melanchthon war ein
auf Konsens bedachter Mensch, der
den Frieden gesucht hat. Ihm lag
daran, Brücken zwischen den zerstrittenen Fronten in der Kirche zu
bauen. In der Confessio Augustana, der hauptsächlich von ihm verfassten Bekenntnisschrift der Protestanten, versucht er deutlich die
unstrittigen Themen zu benennen,
um einen Konsens zu ermöglichen.
Zum Dritten: Ziel und Sinn der
Kirche ist, dass die Kinder Gottes
in ihr durch Wort und Sakrament
Erben des ewigen Lebens werden sollen. Philipp stand in dieser
Stunde selbst kurz davor, nun im
Himmel zu sehen, was er zu Erdenzeiten geglaubt hat. – Am Abend
dieses Tages wurde Melanchthon
zugetragen, dass verschiedene Wittenberger Bürger Wolken gesehen
hätten, die die Formen von Rutenbündeln gehabt hätten. Sie wollten
von ihrem Lehrer wissen, was dies
zu bedeuten hätte. In der Tat hatte
Melanchthon im Gegensatz zu Luther einen gewissen Hang zur Astrologie, und er war überzeugt davon, dass Himmelserscheinungen
zu deuten seien. Gott, so argumentierte er, hat die Planeten und Sterne an den Himmel gesetzt, damit
wir aus ihnen lesen können, so wie
die Weisen aus dem Morgenland
an einem Stern erkannt hätten,
dass der Messias geboren sei. Und
wie aus den Sternen so versuchte
man tatsächlich auch aus Wolkengebilden zu lesen und die Zukunft
vorher zu sagen. An der Universität
19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag23|
in Wittenberg hat Melanchthon in
seiner Wirkungszeit die Astrologie als eine der zentralen Wissenschaften installiert. Die Ruten am
Abendhimmel deutete Philipp als
eine väterliche Strafe. Er vermutete,
es würde sich wohl um eine Teuerung handeln, und er sei sich sicher,
dass diese väterliche Strafe die Wi-
dersacher der Protestanten stärker
treffen werde.
In der kommenden Nacht hat
Melanchthon geruht. Nach eigenem Bekunden hat er davon geträumt, himmlische Lieder gesungen zu haben. Die allerdings, die
über seinen Schlaf gewacht haben,
gaben an, nur lautes Schreien ge-
Lucas Cranach d.J., Melanchthon auf dem Totenbett, 1560
hört zu haben. So gingen die Tage
weiter bis zum 19. April. Philipp
ließ sich in seine Studierstube führen. Dort stand sein Reisebettchen.
Zunächst ging er noch ein wenig auf und ab. Dann legte er sich
in das Bett hinein und bat gegen
18.00 Uhr, dass jemand kommen
möge, der ihm die Haare schneiden solle. – Wenn es an das Sterben geht, dann heißt es Abschied
nehmen von der Welt und sich
vorzubereiten auf das, was kommt.
Philipp Melanchthon war sich gewiss, dass das Leben ein Wandern
zur Ewigkeit sei. Wer weiß, wer
mich an der Himmelstür erwartet?
Meine Mutter, mein Vater – Jesus
Christus sicher. Also ließ er sich
schmücken, als ihm bewusst wurde, dass er „wandern würde“, wie es
im Augenzeugenbericht heißt, und
weiter heißt es dort: „Er fuhr fein
still und gelinde über seinem Gebet
dahin zu seinem lieben Herrn Jesus
Christus.“
So friedlich, wie Melanchthon
gelebt und gewirkt hat, so friedlich
ist er auch gestorben.
Die Zusage und Hoffnung auf
einen himmlischen Frieden mit
Gott möge auch uns dazu ermutigen, schon zu Lebzeiten in allen
Dingen den Frieden mit Gott und
mit dem Nächsten zu suchen. Hierin kann uns Philipp Melanchthon,
der Namenspatron unserer Schule,
ein Vorbild sein.
Amen.
Christian Wachter,
Dekan des Kirchenkreises Ziegenhain
|24
Kurtzer Bericht
Wie der Ehrwirdig, unser lieber
Vater und Praeceptor, Philippus
Melanchthon, sein Leben hie auff
Erden geendet und gantz Christlich
beschlossen hat. Beschrieben von
Augenzeugen, in Aus­zügen zitiert
nach Nikolaus Müller, Leipzig, 1910
Am siebenden Tage Aprilis in der
nacht krigte er ein hitze mit einem
zim­
lich starcken husten, das er die
gantze nacht durchaus nicht schlieff,
davon er sehr matt war.
Also ward für gut angesehen, das
man Joachimum Camerarium fordern
solt, als der nu lenger denn viertzig
jar mit Philip­po gute kundschafft gehabt und in solcher freundschafft mit
ihm ge­lebt hatte, als et­wan leute leben
mochten.
Ungeacht aber derselbigen großen
mattigkeit und schwacheit las er noch
des morgens im Collegio umb sechse
das 17. capitel Johannis von dem Gebet Christi... Er fasset aber das mal das
Ge­bet Christi seinen zuhörern in die
drey Heubtstück... Erstlich, das ja der
him­lische Vater eine Christliche Kirche im Menschlichen geschlecht sameln und er­halten wolt. Zum andern,
das sie friedlich und eintrechtig sein
solt. Zum dritten, das sie auch selig
und Erben des Ewigen lebens werden
solten. Da er nu die drey Heuptstücke also erzelet hatte, sprach er: »Ich
gedenck, das mein lieber vater seliger
drey tage vor seinem tod diese drey
stück auch gebeten hat.«
Diesen abend haben viel glaubwir­
diger Leute zwischen neunen und
zehen am Himel gewülcken gesehen,
Das Melanchthon-Jahr 2010
welche wie gebundene Ruten gestalt
gewesen;... Da nun solches dem Herrn
Philippo ange­zeigtet ward, sprach er:
»Das bedeut Gott lob eine Veterliche
straffe; denn die Veter brauchen Ruten
und keine Schwerter. Ich halt aber, es
werde uns Gott mit Teurung straffen.
Aber unsere Widersacher werden ein
hertere straffe leiden müssen.«
Die folgende nacht hat er wol geruhet und sanffte geschlaffen; und er
saget, es hette im getreumet, wie er
gesungen het­te »Mich verlanget hertzlich, mit euch dis Osterlamb zu essen«
auf die Melodey, wie mans vor zeiten
lateinisch in den Kirchen gesungen
hat, und hette so laut geschrieen, das
er darüber erwacht were.
Bald darnach bekam er Brieff aus
Schweitz, wie der Bapst zu Rom ein
Con­cilium haben wolt; da saget er: »Es
ist mir viel besser, ich sterbe, denn das
ich auffs Concilium ziehen solt«; denn
was da für ein schendlich gebeis sein
würde, auch auff unserm teil, das hette
ein jeder zu er­achten. »Ich habe heint
die nacht von der nerrischen disputation gedacht, das etliche fürgeben wöllen, Christus habe sich vor dem Tode
nicht gefürchtet. Aber er hat besser
verstanden, was sterben sey, darumb
hat er sich one zweivel mehr dafür
gefürchtet, denn wir uns fürchten.«
»Nu ich bin schwach, und mir ist nicht
wol, doch thut mir all mein kranckheit
nicht so weh als der gros jamer um das
elend der heiligen Christlichen Kirchen, welches aus unnötiger trennung,
bosheit und mutwillen dem, die sich
aus un­
menschlichem neid und hass
wider uns one billiche ursach abgesondert haben, entstehet.«
Also sind wir nu komen biss auff
den neuntzehenden tag Aprilis, welches sein letzter tag in diesem leben
gewesen ist. ( ... ) Er lies sich hinunter in sein studir stuben füren, da das
Reise­betlin stund, da ging er ein weil
hin und wider und legte sich darnach
ins Betlein..., schnaube­
te sanfft und
ruhet bis hin umb sechse, und, da er erwachet, bitt er Doctor Casparn, seinen
Eiden, das er im die haar verschnei­den
solt, das geschahe...
Also lies er sich zuvor schmücken,
nach dem er vermercket, das er wandern würde.
Der Herr aber lag eine stunde oder
zwo, hatte die augen halb offen, zog die
schnenckel bis weilen zu sich, streckt
sie wider von sich, hub die decke auff,
lies sie wider fallen, das man tödliche
angst vermercken kundte... Unterdessen regte er die lippen, als betet er,
wie er den tag über offt gethan hatte,
und geht also uber dem Gebet dahin...;
da kundten wir nicht mercken, das es
im einen stoss ge­than hette, oder das
es im etwa den mund gekrümbt hette oder dergleichen etwas, sondern fur
also fein still und gelinde uber seinem
Gebet dahin zu seinem lie­ben Herrn
Jhesu Christo.
Zusammengestellt von Christian Lehnert
in: Melanchthon. Ein Magazin zu seinem
450. Todesjahr, hrg. v. Kirchenamt der
EKD, Frankfurt/M 2010, S. 80
19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag25|
In den letzten Stunden beobachteten Melanchthons Angehörige
und Freunde, wie sich seine Lippen
bewegten, ohne dass man Worte
hören konnte. Betend ist er am 19.
April 1560 heimgegangen.
Die Kraft des Gebets
as weiß ich: So oft ich mit Ernst gebetet habe, bin ich gewiß erhört worden und habe mehr erlangt, als ich erbeten habe.
Unser Herrgott hat wohl bisweilen gewartet, aber letztlich dennoch erhört. Psalm 55, 23: »Wirf dein Anliegen auf den
Herrn; der wird dich versorgen.« Ach, wer das Werfen gut lernen würde, der würde erfahren, daß es gewiß so ist. Wer dieses
Werfen aber nicht lernt, der bleibt ein verworfener, ein unterworfener und umgeworfener Mensch.
D
In einer Vorlesung mitgeteilt (ca. 1555)
Bitte um göttliche Bewahrung
ch bitte den ewigen Gott und Vater unseres Heilands Jesus Christus, er wolle zu seinem Lob und zu seiner rechten Ehre sein heiliges Evangelium erhalten. Er möge auch uns, die wir aus dem heiligen Evangelium lernen ihn anzurufen und um seines einzigen Sohnes Jesus Christus willen Gnade, Hilfe, Schutz und ewiges Leben von
ihm zu erbitten und zu erhoffen, gnädig annehmen, erleuchten, schützen und mit dem Heiligen Geist regieren.
Unser Heiland Christus hat gesprochen, er werde uns nicht als Waisen zurücklassen, sondern werde uns den Geist der Wahrheit geben, den er in seinem Evangelium zugesagt hat (Joh 14, 17 f.).
I
Aus der Widmungsvorrede der deutschen Ausgabe der Loci (1553-1555)
Christus als Fürbitter
h Sohn Gottes, Jesus Christus, für uns gekreuzigt und auferweckt, Wort und Ebenbild des ewigen Vaters! Du hast den
unermeßlichen Zorn Gottes über unsere Sünden auf dich genommen und bist zum Versöhner geworden. Erbarme dich
unser und trete beim ewigen Vater für uns ein, leite und bewahre uns.
O
Aus einem Trostbrief an einen Freund (1545)
Bitte um den Erhalt der Wahrheit
er ewige, allmächtige, barmherzige Gott, der Vater
unseres Heilands und Erlösers Jesus Christus, woldas Licht der Wahrheit bei uns rein erhalten und in vielen
Herzen kräftig machen um seines Namens Ehre willen,
auf daß viele tausend Seelen in Jesus Christus, seinem
Sohne, bekehrt und des Teufels Reich zerstört werde.
Dem wahrhaftigen, ewigen Gott, Vater, Sohn und Heiligem Geist, sei Dank, Lob, Ehre und Preis in Ewigkeit.
D
le
Aus einer Rede über die Rechtfertigung (1555)
Melanchthons Grab
in der Schlosskirche zu Wittenberg
|26
Das Melanchthon-Jahr 2010
Blick in die Gedenkfeier
Der offizielle Festakt der Schule
zum 450. Todestag fand am Abend
des 19. April 2010 in Anwesenheit
des Kollegiums, der Mitarbeiterschaft und zahlreicher geladener
Gäste statt. Im Mittelpunkt der von
Schülerinnen und Schülern musikalisch wie textlich mitgestalteten
Feierstunde stand der Festvortrag
des Reformationshistorikers Prof.
em. Dr. Hans Schneider aus Marburg.
Im Rahmen ihrer Begrüßung
der Festversammlung fasste Schulleiterin Christel Ruth Kaiser die
Bedeutung des großen Namenspatrons für das Bildungsverständnis
und das schulische Leben in der
Melanchthon-Schule zusammen:
senheit der Bundeskanzlerin – an den
Bildungsreformator Philipp Melanchthon erinnert und ihn ehrt, so gedenken auch wir hier im Steinatal seiner
herausragenden Bedeutung als Christ
und „Lehrer Deutschlands“. Und wir
dürfen stolz darauf sein, diesen besonderen Tag als das einzige evangelische
Gymnasium in Deutschland begehen
zu können, das den berühmten Namen
trägt. Alle weiteren MelanchthonGymnasien – meines Wissens fünf an
der Zahl: z.B. an Stätten der Reforma-
Liebe Schulgemeinde, sehr geehrte
Gäste: Wie die gesamte Evangelische
Kirche in Deutschland, die am heutigen Tag in Wittenberg mit einer zentralen Gedenkveranstaltung – in Anwe-
Gedenkfeier
zum 450. Todestag von
am 19. April 2010 um 19.30 Uhr
in der Melanchthon-Schule Steinatal
Bläser-Ensemble:
Etienne du Tertre (ca. 1520-1570), „Pavane“ und „Galliarde“
Festvortrag
von Prof. Dr. Hans Schneider, Philipps-Universität Marburg:
Begrüßung durch die Schulleiterin
Philippus discipulus Philippi?
Bläser-Ensemble:
Jakob Arcadelt (um 1514-1572) / Josquin Desprez (ca. 1440-1521),
„Chanson“ und „Motette“
Landgraf Philipp von Hessen
und Philipp Melanchthon
Lesung I: Vom Leben Philipp Melanchthons
Blockflöten-Quartett:
Pierre Phalese (um 1510-1573), „Putta Nera Ballo Furlano“
Oberstufenchor:
„Heut singt die liebe Christenheit …“
nach Philipp Melanchthon und einer Melodie aus dem 16. Jh.
bearbeitet für 3-5stimmigen Chor von Manfred Muche (2010)
Dank
Schulgemeinde: „Heut singt die liebe Christenheit …“
(Noten und Text umseitig)
Lesung II: „Die Emmaus-Jünger“ (Lk 24, 13-35) griechisch – deutsch
Bläser-Ensemble:
Jacobus Gallus (1550-1591), Doppelchor
„Alleluja. Zu Deiner Auferstehung … Himmel und Erde freuen sich …“
Ausklang mit dem Bläser-Ensemble:
Michael Altenburg (1584-1640), Choralintrade und -satz
„Allein Gott in der Höh sei Ehr“
Zeit für Gespräche
Lesung III: Aus den „Loci communes“ (1521),
Die Rechtfertigung und der Glaube (6. Kapitel) lateinisch – deutsch
Blockflöten-Quartett:
Tilman Susato (gest. um 1561), „Ronde in F“
Mitwirkende aus der Melanchthon-Schule:
Bläser-Ensemble des Schulposaunenchores unter Leitung von Landesposaunenwart Ulrich Rebmann;
Blockflöten-Quartett und Oberstufenchor unter Leitung von Kantor/Musiklehrer Manfred Muche;
Vortragende: Johanna Georges (Lebenslauf Melanchthons);
Ines Diegler, Carola Merle und Oscar Jöckel (altsprachliche und andere Texte)
19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag27|
tion wie Nürnberg und Wittenberg,
die auf Gründungsinitiative Melanchthons selbst zurückgehen – werden
in staatlicher bzw. städtischer Trägerschaft geführt.
Anders als in den Orten seines Wirkens ist Melanchthon nie im Steinatal
gewesen, wenn auch ein kurzer Aufenthalt in Ziegenhain 1524 im Zuge
einer Reise überliefert ist. Dennoch
lautet der Titel eines unserer „Steinataler Hefte“: „Melanchthon im Steinatal“
– Der Name als Programm“ (Anm. d.
Red.: Heft 2/2004) und bringt damit
die Bindung unserer evangelischen
Schule an das protestantische Bildungsverständnis zum Ausdruck, das
wesentlich von unserem körperlich
zwar kleinen, dazu sehr bescheidenen,
nach Geistesgaben und Gelehrsamkeit
jedoch ganz großen Namenspatron geprägt wurde.
Natürlich kann Melanchthons Pädagogik in unserer Zeit nicht unverändert 1:1 Geltung behalten, aber sie
gewann prägende Kraft für unser Bildungswesen insgesamt, wurde über die
Zeit hinweg weiterentwickelt und fortgeschrieben. Das dürfte übrigens ganz
in seinem Sinne sein, dessen Biografie
von lebenslangem Lernen Zeugnis
gibt. So hat heutiges schulisches Bildungsverständnis – und nicht nur das
an einer evangelischen Schule – zahlreiche seiner Impulse aufgenommen
und integriert, ohne dass uns dies allerdings im normalen Schulalltag ständig vor Augen steht.
Um konkret zu werden, nenne ich
zunächst ein paar Beispiele für Melanchthons Spuren, die uns durch
eigenes Erleben in unserer Schule ge-
läufig sind: Abgesehen von unserem
Denkmal des Reformators, das zu
seinem 500. Geburtstag 1997 von der
Hamburger Künstlerin Almut Heer
geschaffen und uns 1998 zum 50jährigen Schuljubiläum auf Initiative der
Elternschaft von der Kulturstiftung
der Kreissparkasse Schwalm-Eder
gestiftet wurde, finden sich auch in
den Gebäuden unserer Schule weitere eindrucksvolle Bildnisse, z.B. seit
heute im Foyer des Schindelhauses ein
Melanchthon-Portrait als Metallrelief im Stil eines Scherenschnittes, das
schon 1997 in unserer Werkabteilung
entstanden ist und am neuen Standort
nun noch besser zur Geltung kommt
als in den Jahren zuvor. Sichtbar und
vielfach genutzt ist unser Schul-Logo, das „Melanchthon-M“, das unser
Schrifttum, aber auch Gebrauchsgegenstände – einschließlich den Schulbus – ziert und sogar regelmäßig in
den Rasen vor dem Kunst-Werk-Haus
gemäht wird. Dies und manches mehr
haben wir täglich vor Augen: als äußere Zeichen der Erinnerung und als
Brücken zur Identifikation mit dem
Schulnamen.
Aber wie steht es um die inhaltlichen Spuren von Melanchthons Pädagogik im Unterrichtsprogramm und
Schulleben unseres Gymnasiums? Das
ist wahrlich ein „weites Feld“, weshalb
ich jetzt nur stichwortartig einige wesentliche Aspekte nennen möchte:
• die Wertschätzung der Bibel, die es
zu kennen und zu verstehen gilt: als
Quelle des christlichen Glaubens,
damit junge Menschen in Fragen des
Lebens- und Orientierungswissens
sprach- und auskunftsfähig werden;
• die Kenntnis und Pflege der Sprachen: der alten genauso wie heutzutage der neuen, die zu philologischer
Genauigkeit und klarem, präzisen
Denken führen, außerdem mit erworbener Sprachkompetenz ein
hohes Maß an Kommunikationsfähigkeit und kultureller Kompetenz
vermitteln;
• das pädagogische Ziel einer ganzheitlich angelegten Persönlichkeitsbildung auf der Grundlage eines
breitgefächerten, fundierten und
vernetzten Wissens, – also nicht
ausschließlich „Faktenhuberei“ oder
„Experten-Monokultur“;
• ein Bildungsbegriff, der – ganz
reformatorisch – beides will: Bildungschancen für alle geben und
herausragende Begabung fördern;
• ein Schulklima, das Dialog- und
Kompromissbereitschaft
fördert,
Konflikt- und Problemlösungskompetenz integriert, kurz: das eine Kultur des Helfens und wechselseitiger
Anerkennung wachsen lässt;
• eine Andachts- und Gottesdienstpraxis, die uns den christlichen
Glauben in ganz selbstverständlich
gelebter oekumenischer Gemeinschaft erfahren lässt.
Wir haben also allen Grund, den
Namensgeber unserer Schule zu achten und ihm die Ehre zu erweisen: Wie
schön, dass sich so viele eingefunden
haben, dies mit uns zu tun.
Ich wünsche uns eine anregende,
inhaltlich reich gefüllte Feier!
|28
Das Melanchthon-Jahr 2010
Lesungen, moderiert von einem
Schüler und vorgetragen von drei
Schülerinnen aus der Jahrgangsstufe 12, ließen exemplarisch Leben
und Werk Philipp Melanchthons
aufleuchten. Die Präsentation wurde bereichert durch zeitgenössische
Bläser- und Chormusik, dargeboten von einem Auswahl-Ensemble
des Schulposaunenchores sowie
vom Oberstufenchor.
Lesung I:
Als Theologe wurde er der intellektuelle Kopf der Reformation. Ohne ihn hätte
es die Bekenntnisschriften des Protestantismus – allen voran das Augsburger Bekenntnis – so nicht gegeben.
Als Pädagoge verband er philologische
Genauigkeit und wissenschaftlichen
Scharfsinn mit einer besonderen Begabung zum Unterrichten. „Lehrer
Deutschlands“ wird man ihn später
nennen. Als Humanist förderte er wie
wenige die Alten Sprachen – und erschloss so die Grundlagen des christlichen Glaubens und der abendländischen Kultur. Philipp Melanchthon
ist eine der prägendsten Gestalten der
Epochenwende im 16. Jahrhundert.
Schauen wir zunächst auf seinen Lebensweg:
Vom Leben Philipp
Melanchthons
Philipp Melanchthon wurde am 16.
Februar 1497 in Bretten im Haus seines
Großvaters geboren. Der Vater, Georg
Schwartzerdt, ein weithin bekannter
Waffenschmied, stand in Diensten
des pfälzischen Kurfürsten Philipp
und nannte seinen Erstgeborenen nach
dem Landesherrn. Im Kreis von vier
Geschwistern wuchs der kleine Philipp auf, bis er 1508 seine Heimatstadt
mit dem Ziel Pforzheim verlassen
musste, da innerhalb eines Monats der
Vater (er hatte bei einem Feldzug aus
einem vergifteten Brunnen getrunken)
und der Großvater gestorben waren.
In Pforzheim kam er in engen Kontakt zu seinem Großonkel, dem bedeutenden humanistischen Gelehrten
Johannes Reuchlin (1455 – 1522), der
voll Begeisterung für die ausgezeichneten Latein- und Griechischkenntnisse des Knaben den Familiennamen
Schwartzerdt ins Griechische übertrug: Melanchthon (schwarze Erde).
Nach dem Besuch der Pforzheimer
Lateinschule wurde der erst 12jährige
Melanchthon an der Universität Heidelberg immatrikuliert. 1512 bis 1518
studierte und lehrte er an der Universität Tübingen. Hier wurde er bald
bekannt und erhielt einen Ruf auf den
Griechischlehrstuhl der noch jungen
Universität Wittenberg.
Kaum an seiner neuen Wirkungsstätte angekommen, begann für Melanchthon eine intensive und freundschaftliche Zusammenarbeit mit
Martin Luther (1483 – 1546), der ihn
zur reformatorischen Theologie führte
und dem er als Sprachgelehrter bei der
Bibelübersetzung ins Deutsche half.
Schon 1521 verfasste Melanchthon mit
den „Loci communes“ die erste systematische Zusammenfassung der evan-
gelischen Lehre. Sein theologisches
Hauptwerk ist die auf dem Augsburger
Reichstag 1530 vorgelegte „Confessio
Augustana“: die wichtigste Bekenntnisschrift der lutherisch geprägten
evangelischen Kirchen.
Melanchthon schrieb eine Fülle
humanistischer Lehrbücher und galt
als einer der berühmtesten Universalgelehrten seiner Zeit. Bereits die
Zeitgenossen gaben ihm den Ehrentitel „Praeceptor Germaniae“ (Lehrer
Deutschlands). Durch seine Lehrpläne, Studienordnungen, Schulgründungen,
Universitätsreformen,
aber auch durch seine Schüler hat
er das Bildungswesen im damaligen
Deutschland entscheidend beeinflusst.
Sein Ruhm als humanistischer Gelehrter, als reformatorischer Theologe,
als Vermittler im Streit der Konfessionen verbreitete sich schon zu Lebzeiten in vielen Ländern Europas. Seine
Werke wurden in zahlreiche Sprachen
übersetzt.
Am 19. April 1560 starb Melanchthon in Wittenberg; er liegt in der
Schlosskirche neben Luther begraben.
Lesung II:
Im Jahr 1549
schreibt Ph. Melan­
chthon im damals geläufigen Latein über
den Bildungswert des
Griechischen:
„Unter allen Sprachen erlangt die
griechische – ob man nun die vielfältigen Lehrinhalte betrachtet, die Gott
durch sie dem Menschengeschlecht
übermittelt hat, oder ihre wohlklingende Schönheit – leicht den ersten
19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag29|
Rang. Denn zunächst hat Gott dieser
Sprache das Neue Testament … anvertraut. … Um also den Inhalt des Neuen
Testaments, welches das Evangelium
Christi enthält, zu begreifen und recht
zu verstehen, ist man auf die Hilfe dieser Sprache angewiesen. … Welche
Freude bringt es, ja welches Glück, mit
dem Sohn Gottes, mit den Evangelisten und Aposteln, mit dem heiligen
Paulus ohne Dolmetscher sprechen
und ihre echten und lebendigen Worte
hören und wiedergeben zu können! …“
Hier begegnet uns Melanchthon
also zugleich als Lehrer der Alten
Sprachen und als frommer Christenmensch, der das Evangelium aus den
Quellen verstehen will, – nicht aus
Übersetzungen, die lt. seiner Erfahrung den ursprünglichen Sinn „verändern und verdunkeln“ können.
So kurz nach Ostern hören wir jetzt
die Erzählung von den „Emmaus-Jüngern“: im schönen Klang der griechischen Sprache des Neuen Testamentes,
– ergänzt durch Martin Luthers deutsche Übersetzung:
Die
Emmaus-Jünger
(Lk 24, 13-35):
griechisch
Die Emmaus-Jünger: deutsch
Und siehe, zwei von
ihnen gin­gen an demselben Tage in einen Ort,
der lag von Jerusalem bei
zwei Stunden Wegs; des
Name heißt Emmaus.
Und sie redeten miteinander von
allen diesen Geschichten. Und es geschah, da sie so redeten und bcsprachen sich miteinander, da nahte sich
Jesus selbst und ging mit ihnen, Aber
ihre Augen wurden gehalten, daß sie
ihn nicht erkannten. Er sprach aber
zu ihnen: Was sind das für Reden, die
ihr zwischen euch handelt unterwegs?
Da blieben sie traurig stehen. Und der
eine, mit Namen Kleopas, antwortete
und sprach zu ihm: Bist du allein unter den Fremdlingen zu Jerusalem, der
nicht wisse, was in diesen Tagen darin
geschehen ist? Und er sprach zu ihnen:
Was denn? Sie aber sprachen zu ihm:
Das von Jesus von Nazareth, welcher
war ein Prophet mächtig von Taten und
Worten vor Gott und allem Volk; wie
ihn unsre Hohenpriester und Obersten
überantwortet haben zur Verdamm­
nis des Todes und gekreuzigt. Wir
aber hofften, er sei es, der Israel erlösen würde. Und über das alles ist heute
der dritte Tag, daß solches geschehen
ist. Auch haben uns er­schreckt etliche
Frauen aus unserer Mitte; die sind frühe bei dem Grabe gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und
sagen, sie haben eine Erscheinung von
Engeln gesehen, welche sagen, er lebe.
Und etliche unter uns gingen hin zum
Gra­be und fanden’s so, wie die Frauen
sagten; aber ihn sahen sie nicht. Und er
sprach zu ihnen: O ihr Toren und trägen Herzens, zu glau­ben alle dem, was
die Propheten ge­redet haben! Mußte
nicht Christus solches leiden und zu
seiner Herrlich­keit eingehen? Und fing
an bei Mose und allen Propheten und
legte ihnen in der ganzen Schrift aus,
was darin von ihm gesagt war.
Und sie kamen nahe zu dem Orte,
da sie hingingen. Und er stellte sich,
als wollte er weiter gehen, Und sie
nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei
uns; denn es will Abend werden, und
der Tag hat sich geneigt. Und er ging
hinein, bei ihnen zu bleiben. Und es
geschah, da er mit ihnen zu Tische
saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s
und gab’s ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn.
Und er verschwand vor ihnen. Und sie
spra­chen untereinander: Brannte nicht
|30
unser Herz in uns, da er mit uns re­dete
auf dem Wege, als er uns die Schrift
öffnete? Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten nach Jerusalem
zurück und fanden die Elf versammelt
und die bei ihnen waren, welche sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Si­mon erschienen. Und
sie erzählten ihnen, was auf dem Wege
geschehen war und wie er von ihnen
erkannt wurde, als er das Brot brach.
Lesung III:
Als junger Dozent für die Alten
Sprachen in Wittenberg öffnete sich
Melanchthon schnell
der reformatorischen
Theologie.
Bereits
1518 – also mit 21
Jahren! – trat er literarisch an die Seite Luthers, der ihn
drängte, auch theologische Vorlesungen zu halten. Zur Auslegung und
Deutung der biblischen Texte suchte
er – angeleitet vom klassischen und
humanistischen
Wissenschaftsverständnis – bei der Lektüre eines Buches nach Grund- bzw. Leitbegriffen:
in damaliger Praxis „loci communes“
genannt. Basierend auf dem zentralen biblischen Dokument der Reformation, dem Römerbrief des Paulus,
bezeichnete Melanchthon als solche
Grundbegriffe die Sünde des Menschen: peccatum, das Gesetz Gottes: lex
und dessen Gnade: gratia.
Unter diesen Gesichtspunkten
entfaltete er in klassischem Humanisten-Latein die lutherische Rechtfertigungslehre. Damit wollte er der
studierenden Jugend zum richtigen
Das Melanchthon-Jahr 2010
Verständnis der Heiligen Schrift verhelfen und sie zum Bibelstudium ermutigen.
Die Bedeutung dieser „Loci communes rerum theologicarum“, die erstmals 1521 erschienen, kann kaum unterschätzt werden, was sich auch darin
zeigt, dass in den folgenden vier Jahren
18 Auflagen erschienen. Zahllosen
Menschen erschlossen sie knapp und
präzise den Inhalt der reformatorischen Botschaft. Luther schrieb 1542:
„Ich habe Magistri Philipps Bücher
lieber denn die meinen. Es gibt nach
der Heiligen Schrift kein besseres
Buch als Melanchthons ‚Loci communes‘.“ Melanchthon arbeitete an diesem
Werk sein Leben lang. Die letzte Fassung erschien 1559, ein Jahr vor seinem
Tod. Da war aus einem anfänglich
schmalen Band eine breite Dogmatik
geworden.
Aus der thesenartigen Zusammenfassung im Kapitel „De justificatione
et fide: Rechtfertigung und Glaube“,
das die Mitte der Schrift und sozusagen das „reformatorische Herzstück“
bildet, hören wir nun eine kleine Auswahl zentraler Sätze in lateinischer
und deutscher Sprache:
Aus den „Loci
communes“
(1521) lateinisch-deutsch
Conferamus autem totam hanc disputationem de lege, evangelio ac fide in
aliquot capita:
Wir wollen dieses ganze Streitgespräch über das Gesetz, das Evangelium und den Glauben nun aber in
einigen Hauptsätzen zusammenfassen:
Lex doctrina est, quae facienda et
omittenda praescribit.
Das Gesetz ist ein Grundsatz, der
vorschreibt, was zu tun und zu lassen
ist.
Evangelium est promissio gratiae
dei.
Das Evangelium ist die Verheißung
der Gnade Gottes.
Lex impossibilia exigit, amorem dei
ac proximi.
Das Gesetz verlangt Unmögliches:
die Liebe zu Gott und zum Nächsten.
Qui legem per vires naturae seu
liberi arbitrii exprimere conantur, externa tantum opera simulant, affectus,
quos exigit lex, non exprimunt.
Die, die versuchen, das Gesetz auf
natürliche Weise oder durch freien
Willen zu erfüllen, täuschen nur äußere Werke vor, ohne wirklichen inneren
Antrieb.
Legi igitur non satisfaciunt, sed
sunt hypocritae, „sepulchra extrinsecus
dealbata“, ut Christus vocat.
Sie tun daher dem Gesetz nicht
Genüge, sondern sind Schauspieler,
„außen weiß übertünchte Gräber“, wie
Christus sagt.
Ergo non est legis opus iustificare.
Daher ist das Rechtfertigen nicht
ein Werk des Gesetzes.
19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag31|
Sed legis proprium opus est ostendere peccatum adeoque confundere
conscientiam.
Sondern das eigentliche Werk des
Gesetzes ist das Aufzeigen der Sünde,
ja, das Beschämen des Gewissens.
Conscientiae agnoscenti peccatum
et confusae per legem evangelium ostendit Christum.
Dem Gewissen, das die Sünde erkennt und durch das Gesetz beschämt
wurde, zeigt das Evangelium Christus.
Fides, qua creditur evangelio ostendenti Christum, … est iustitia nostra.
Unsere Gerechtigkeit ist der Glaube, durch den wir dem Evangelium
glauben, das auf Christus weist, …
Siquidem ea sola fides iustificat,
meritorum nostrorum, operum nostrorum nullus plane respectus est, sed
solorum meritorum Christi.
Weil ja dieser Glaube allein rechtfertigt, werden unsere Verdienste und
unsere Werke auf keinen Fall berücksichtigt, sondern allein die Verdienste
Christi.
Ea fides pacificat cor et exhilarat, ad
Rom. V.: „Iustificati per fidem pacem
habemus.“
Dieser Glaube schenkt Frieden und
Heiterkeit, (so der Brief) an die Römer, Kapitel 5: „Weil wir durch den
Glauben gerechtfertigt sind, haben wir
Frieden“.
Die Loci wurden von Melanchthon mehrfach überarbeitet und ausgeweitet;
letzte Fassung 1559 (hier: 1553)
|32
Das Melanchthon-Jahr 2010
1.Sopran
1.Sopran
Alt
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Heut singt die liebe Christenheit
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Heut singt die
Heut singt die
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in Angst Not und Ge fahr
in Angst Not und Ge fahr
sin gen dir All herr scher du
hal te uns in dei ner Hut
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uns
in Angst Not und Ge fahr
sin gen dir All herr scher du
hal te uns in dei ner Hut
und Dank in
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Gott Lob
und Dank in
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und spie geln sei ner
daß du der Herr der
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Gott Lob
und Dank in
und spie geln sei ner
daß du der Herr der
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gel scha
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fer und Ver
die Wäch ter
trau te.
sen dest.
fer und Ver
die Wäch ter
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sen dest.
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fer und Ver
die Wäch ter
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und spie geln sei ner
daß du der Herr der
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3.Wir dan ken dir Herr Je su Christ
wig keit
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2.Sie stehn vor Got tes An ge sicht
3.Wir dan ken dir Herr Je su Christ
Ho heit Licht
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1.Heut singt die
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be Chris ten heit
2.Sie stehn vor Got tes An ge sicht
3.Wir dan ken dir Herr Je su Christ
Ho heit Licht
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19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag33|
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nach Philipp Melanchthon und einer Melodie aus dem 16. Jh.;
Chorsatz von Manfred Muche, Musiklehrer und Kantor an der Melanchthon-Schule,
eigens für den Oberstufenchor im Melanchthon-Jahr 2010 bearbeitet.
|34
Festredner der Gedenkfeier war
Prof. em. Dr. theol. Hans Schneider aus Marburg, der an der dortigen Philipps-Universität das Fach
‚Neuere Kirchengeschichte‘ lehrte und durch umfangreiche Forschungsarbeiten zur Reformationsgeschichte hervorgetreten ist.
Umrahmt von Musik aus der
Melanchthon-Zeit, die ein Blockflötenquartett spielte, ergriff Professor Schneider das Wort, um über
Entwicklungen im Verhältnis von
Landgraf Philipp von Hessen und
Philipp Melanchthon zu sprechen.
(Anm. d. Red.: Der nachfolgend
abgedruckte Vortragstext liegt hier
in gekürzter Form und ohne Quellen- und Zitatnachweise vor.)
„Philippus discipulus
Philippi? Landgraf Philipp
von Hessen und Philipp
Melanchthon“
Joachim Camerarius, der langjährige Freund Melan­
chthons, schildert
in seiner Melan­
chthon-Biogra­p hie
das erste zufällige
Zusammentreffen
Philipp Melanchthons mit dem
Das Melanchthon-Jahr 2010
hessischen Landgrafen Philipp,
das Ende Mai 1524 in der Nähe
von Frankfurt stattfand und den
Anlass bildete, dass Melan­chthon
nach seiner Heimkehr einige Fragen des Fürsten in einem Büchlein
schriftlich beantwortete und ihm
zuschickte, die Epitome renovatae
ecclesiasticae doctrinae. Camerarius beschließt die Episode mit der
Bemerkung: „Aus diesem Grunde
wurde der Fürst später von manchen scherzhaft ein Schüler Philipps (discipulus Philippi) genannt.“
Es handelt sich also um ein zeitgenössisches Bonmot, das, wenn ich
recht sehe, auf Luther zurückgeht.
In einer seiner Tischgespräche aus
dem Jahre 1540 erzählt Luther mit
seinem ironischen Humor: „Ich
und Philippus [Melanchthon] hatten zwei Schüler; ich den Mainzer
[Erzbischof], er Philipp von Hessen. Mein Schüler hat mich enttäuscht, und ich habe gegen ihn
geschrieben ...“ Und er fügt hinzu –
es ist 1540, das Jahr der Doppelehe
des Landgrafen: „Ich fürchte, dass
auch Philippus noch gegen seinen
Schüler schreiben muss.“ Und Luther schließt mit einem kräftigen
Stoßseufzer: „Es fällt doch immer
aller Dreck auf uns beide!“
Der Auftakt der Beziehungen
zwischen Melanchthon und dem
Landgrafen stand unter keinem
günstigen Vorzeichen. Als sich die
Wege der beiden jungen Männer –
Melanchthon 27 Jahre, der Landgraf erst 19 – Ende Mai 1524 auf der
Landstraße in der Nähe von Frankfurt zum ersten Mal kreuzten, war
das keine geplante, sondern eine
zufällige Begegnung. Der Landgraf war zu Pferd mit stattlichem
Gefolge auf dem Wege zu einem
Fürstentreffen in Heidelberg, Melanchthon, der 1,50m kleine Mann,
der am Schreibtisch und Katheder
eine bessere Figur machte als im
Sattel, war mit einigen Freunden
auf der Rückreise von einem Besuch in seiner pfälzischen Heimat
nach Wittenberg. Es war, wie die
Darstellung des Augenzeugen Camerarius erkennen lässt, für beide
Seiten keine befriedigende Begegnung: Der Landgraf galt damals
in Wittenberg noch als Erzfeind
der Evangelischen, sodass Melanchthon über diese unerwünschte
Begegnung so erschrocken schien,
dass der Landgraf ihm erst einmal
versichern musste, er habe nichts
zu befürchten. Melanchthon entgegnete darauf – allen Mut zusammennehmend –, er fürchte sich ja
gar nicht, aber beteuerte zugleich,
er sei doch eine ganz unwichtige
Person. Worauf der Landgraf ihm
sogleich mit dem grobem Scherz,
er könne ihn verhaften und an den
päpstlichen Legaten Campeggio
ausliefern, erneut einen Schrecken
einjagte. Das war keine „vertrauensbildende Maßnahme“, und was
Wunder, dass Melanchthon auf die
Fragen des Landgrafen nur kurz
antwortete und die Einladung des
Landgrafen zu einem längeren
Gespräch in seinem Nachtquartier
ausschlug und stattdessen eine ausführliche schriftliche Antwort versprach. Er suchte der unheimlichen
19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag35|
Gegenwart dieses unberechenbaren
fürstlichen Teenagers so schnell
wie möglich zu entkommen.
Mittel- und längerfristig handelte es sich jedoch um eine höchst
folgenreiche Begegnung. Negativ
wird man sagen können – ohne
sich allzu sehr auf das Feld psychologischer Spekulation zu begeben –, dass bei Melanchthon der
Eindruck der Unberechenbarkeit,
den der jugendliche Fürst bei ihm,
dem von Natur aus zaghaften Gelehrten, hinterlassen hat (der ihm
ja hilflos ausgeliefert war!), immer
latent vorhanden blieb. Noch nach
einem Vierteljahr, als sich Melanchthon endlich an die versprochene
schriftliche Beantwortung der Fragen setzte, scheinen sich die Gefühle Luft zu machen, die er bei der
Begegnung empfunden hatte, wenn
er gegenüber Freunden sarkastisch
von jenem hessischen „Königlein“
sprach. Die positive Folge der Begegnung bestand vor allem darin,
dass sie den Anlass zur Abfassung
der Epitome (Anm. d. Red.: Zusammenfassungen) gab und diese dem Landgrafen zugeeignete
Schrift den Auftakt für dessen dauerhafte Beziehung zu den Wittenberger Theologen bildete. Melanchthon hat in der Schrift beklagt,
dass die Fürsten Mangel an guten
Ratschlägen hätten, und sich selbst
mit seinem Büchlein dem Landgrafen als Ratgeber angeboten.
Und Philipp hat dieses Angebot
angenommen. Diese solchermaßen
aufgenommene Verbindung erhielt zeitlich parallel ihr politisches
Gegenstück in der wachsenden
Kooperation des Landgrafen mit
Melanchthons Landesherrn, dem
sächsischen Kurfürsten, seit dem
Frühjahr 1525. (Damit wurde unter
dem Vorzeichen der Reformation
eine Umorientierung der hessischen
Außenpolitik vom albertinischen
Herzogtum Sachsen, wo Philipps
streng altgläubiger Schwiegervater
regierte, hin zum ernestinischen
Kurfürstentum eingeleitet.) Somit
wurden die Wittenberger theologischen Berater zugleich ein wichtiges Verbindungsglied zwischen
der kursächsischen und hessischen
Politik.
Melanchthons dem Landgrafen
übersandte schriftliche Antworten
in Buchform bildeten den Auftakt zu einer ausgedehnten Korrespondenz bis zum Tod Melanchthons und auch zu einer Reihe
Titelblatt der Erstausgabe der Epitome 1524
sowie einer deutschen Übersetzung
persönlicher Begegnungen. Schon
ein Blick auf den Briefwechsel gestattet einige aufschlussreiche Beobachtungen. Es handelt sich um
insgesamt 112 erhaltene Korrespondenzstücke beider Briefpartner.
(Zum Vergleich: Der Briefwechsel
des Landgrafen mit Luther umfasst
nur 66 Stücke.) Überblickt man
den gesamten Zeitraum, so zeigen
sich eine unterschiedliche Dichte in
der Frequenz des Briefwechsels und
verschiedene thematische Schwerpunkte.
Die Briefe der ersten Jahre sind
geprägt von den Fragen, die sich
aus der offiziellen Einführung der
Reformation in Hessen durch den
Landgrafen nach dem Speyrer
Reichstag von 1526 ergaben. Da
ging es etwa um die Reform des
Pfarrwesens, die Neugestaltung
des Gottesdienstes und die Frage,
was künftig mit den Klöstern und
ihrem Besitz geschehen sollte.
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Der erste erhaltene Brief des
Landgrafen an Melanchthon und
Luther lässt bereits erkennen, was
zeitlebens seine Haltung zu ihnen
kennzeichnete: Er schätzte ihren
Rat, den er bei vielen wichtigen
Anlässen einholte, aber er übernahm die Wittenberger Ansichten nie unkritisch – selbst wenn
sie für ihn vorteilhaft schienen. Er
gab sich mit unklaren Auskünften
nicht zufrieden, sondern fragte genauer nach; und stets versuchte er,
sich selbst ein Urteil zu bilden. In
theologischen Fragen wurde er ein
gelehriger Schüler. Aber auch hier
war und blieb Philipp ein unbequemer Schüler, der den Wittenberger
Vorgaben nicht unbesehen folgte.
Die doppelte Verbindung des
Landgrafen mit der kursächsischen
Politik und den Wittenberger Theologen wurde 1527 weiter gefestigt.
Philipp hatte den Wittenbergern
den Entwurf der Homberger Kirchenordnung zur Begutachtung geschickt, die einen hessischen Sonderweg bei der Durchführung der
Reformation vorsah, nämlich die
Bildung von evangelischen Freiwilligkeitsgemeinden. Doch nach
Luthers ablehnendem Votum wurde diese Ordnung nicht in Kraft
gesetzt, sondern der Landgraf
schwenkte auf die kursächsische
Linie ein und führte die Reformation mit Hilfe von obrigkeitlichen
Visitationen durch.
Es ist bezeichnend, dass Luther die Anfrage über die Kirchenordnung beantwortete. Auch
weiterhin lässt sich eine gewisse
Das Melanchthon-Jahr 2010
Arbeitsteilung bei den Wittenberger Reformatoren beobachten, die
sich aber auch in der Adressierung
der Anfragen des Landgrafen widerspiegelt: Für die theologischen
Grundsatzfragen war oft Luther
zuständig, während Melanchthon
bevorzugt dann konsultiert wurde,
wenn es um konkrete Einzelfragen
oder Probleme praktischer Gestaltung ging.
Besonders für die Neugestaltung
des Bildungswesens in Hessen ist
die Bedeutung Melanchthons von
der Forschung immer wieder betont worden. Sein Grundsatz, dass
Glaube und Bildung keine Gegensätze sind, sondern zusammengehören, wurde hier in Hessen umzusetzen versucht. Seine Vorschläge
zur Umwandlung der Klöster in
Bildungseinrichtungen, das Vorbild
seiner Wittenberger Studienreform
für die Marburger Universität – sogar sein Einfluss auf die Besetzung
der Professuren – und seiner Schulordnung für die hessischen Schulen
zeigen das.
Als Melanchthon Ende April
1528 in Weimar mit dem Landgrafen zum zweiten Mal persönlich
zusammentraf, stand diese Begegnung in einem anderen Kontext als
die bisherige Beratertätigkeit bei
der kirchlichen Neuordnung des
Landes. Hintergrund und Anlass
des Treffens waren die Nachrichten
über einen angeblich bevorstehenden Angriff katholischer Fürsten
gegen die lutherischen Ketzer. Der
sächsische Kurfürst hatte zu den
Beratungen mit dem Landgrafen
in Weimar Luther und Melanchthon mitgebracht. Das war eine
neue Dimension der Beziehung zu
dem Landgrafen. Die Wittenberger Theologen sahen sich jetzt mit
akuten Problemen der Reichspolitik konfrontiert. Hier brachen zum
ersten Mal die Grundsatzfragen
auf, die die nächsten beiden Jahrzehnte als Dauerthemen begleiten
sollten: Inwiefern sind militärische
Maßnahmen zur Verteidigung der
Religion statthaft? Darf man gegen den Kaiser Widerstand leisten? Mit wem können Koalitionen
geschlossen werden? Ist die theologische Übereinstimmung Voraussetzung für ein Bündnis? Hier
wurden die Wittenberger auch zum
ersten Mal mit dem – für sie geradezu beängstigenden – Aktivismus
des Landgrafen konfrontiert, der
auf die Vorbereitung militärischer
Gegenmaßnahmen und auf einen
Präventivschlag drängte. Doch hier
erwiesen sie sich als unbequeme
Ratgeber. Dem Fürsten, der mit
politischen Zweckmäßigkeiten argumentierte, standen die Theologen gegenüber, die nur die Verteidigung, aber keinen Angriffskrieg,
auch keinen Präventivschlag gelten
lassen wollten. Und es gelang ihnen, wenigstens den sächsischen
Kurfürsten mit ihren Argumenten
zu überzeugen. In den damaligen
Debatten wurden bereits die Weichen gestellt, die später bei der
Gründung des Schmalkaldischen
Bundes der Protestanten dessen
Ziele klar einschränkten. Ein evangelisches Bündnis konnte in Zu-
19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag37|
kunft nur noch defensiven Charakter tragen.
Die angespannte Atmosphäre
einer drohenden Kriegsgefahr, die
sich unter den Reichständen ausgebreitet hatte, beherrschte auch den
Reichstag zu Speyer, der im März
1529 zusammentrat. Hier begegneten sich der Landgraf und Melanchthon, der den sächsischen Kurfürsten begleitete, zum dritten Mal.
Da es um politische Fragen ging,
hatte der theologische Experte wenig zu tun und blieb vom Geschehen weitgehend ausgeschlossen.
Die außenpolitische Konstellation
hatte sich zugunsten des Kaisers
gewandelt: Sieg über den französischen König und Arrangement mit
dem Papst. Die altgläubige Seite
trat härter auf und ließ die evangelischen Reichsstände spüren, dass
diese in der Minderheit waren. Als
Melanchthon von dem Mehrheitsbeschluss des Reichstags erfuhr,
der das Wormser Edikt gegen Luther und seine Anhänger erneuerte,
war er entsetzt.
In Speyer hatte Melanchthon
von weitergehenden Plänen des
Landgrafen erfahren. Ihm reichte
die feierliche Protestation, die von
den 19 evangelischen Reichsständen abgegeben worden war, nicht
aus. Er wollte mehr als nur ein Papier und suchte angesichts der drohenden Gefahr von Seiten des Kaisers und der katholischen Mehrheit
der Fürsten nun auf evangelischer
Seite ein Verteidigungsbündnis
zwischen Kursachsen, Hessen, den
südwestdeutschen Reichsstädten
und möglichst unter Einbeziehung
der evangelischen Schweizer Orte
zustande zu bringen. Dies wirkte
auf Melan­chthon alarmierend und
stieß bei ihm auf harte Ablehnung.
Warum? Im Hintergrund stand
der Streit um das Abendmahl, der
seit einigen Jahren das evangelische
Lager spaltete. Nach Auffassung
Luthers und Melanchthons vertraten Zwingli und seine Schweizer Anhänger und seine Sympathisanten in Südwestdeutschland
eine nicht akzeptable Irrlehre, weil
sie die leibliche Gegenwart Christi im Abendmahl leugneten und
die Einsetzungsworte nur symbolisch deuteten. Diese theologischen Meinungsverschiedenheiten
erschienen ihnen so grundlegend,
dass ein politisches Bündnis, mit
solchen Irrlehrern, in ihren Augen
nicht vertretbar war. Mit Argwohn
beobachteten daher die Wittenberger die Kontakte des Landgrafen
zu Zwingli und den Straßburgern
und setzten alles daran, ihn von
der Gefährlichkeit der Irrtümer jener zu überzeugen. Der Landgraf
aber wollte Zwingli und Luther an
einen Tisch bringen, um die theologischen Probleme zu lösen und
damit das Haupthindernis für ein
Bündnis aus dem Weg zu räumen.
Obwohl Melanchthon wie auch
Luther diese Pläne zu sabotieren
suchten, setzte sich der Landgraf
schließlich mit dem Projekt eines
Religionsgesprächs durch.
Bei dem Marburger Religionsgespräch im Oktober 1529 ist zu
bemerken, wie der Landgraf die
Fähigkeiten und Temperamente
Luthers und Melanchthons scharfsichtig erkannt hatte. In geschickter
Regie ließ er daher die Parteihäupter der verfeindeten Lager, Luther
und Zwingli, nicht sofort aufeinanderprallen, sondern arrangierte
eine erste Vorgesprächsrunde zwischen Zwingli und Melanchthon,
die aufgrund ihrer gemeinsamen
humanistischen Wurzeln verbindlicher miteinander reden konnten,
und zwischen Luther und dem Basler Reformator Oekolampad, die
beide ehemalige Mönche waren.
Im Plenum diskutierten dann nur
Luther, Zwingli und Oekolampad,
während Melanchthon, der sich
selbst und alle anderen als Statisten bezeichnete, sich nur einmal zu
Wort meldete. Aber trotz aller Bemühung des Landgrafen kam keine
Einigung zustande. Sie scheiterte
nicht nur an Luthers Hartnäckigkeit, sondern auch an der Verweigerung Melanchthons, der damals
noch fest an Luthers Seite stand.
Das Wittenberger Misstrauen gegenüber dem landgräflichen
Unionspolitiker schien sich für
Melanchthon auf dem Reichstag
zu Augsburg im folgenden Jahr zu
bestätigen. Im Vorfeld des Reichs­
tages hatte Melanchthon von einem
Marburger Theologen erfahren,
dass die Schweizer und Straßburger
den Landgrafen für ihre Abendmahlslehre zu gewinnen versuchten. Diese Möglichkeit erfüllte
Melanchthon mit großer Besorgnis, die noch verstärkt wurde, als
der Landgraf Vorbehalte gegen die
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Formulierung des Abendmahlsartikels in dem von Melanchthon entworfenen Augsburger Bekenntnis
andeutete (obwohl er es dann doch
unterzeichnete). Zudem befürchtete Melan­
chthon immer mehr –
und nicht ganz zu Unrecht –, dass
der Landgraf im Verbund mit den
Schweizern und Straßburgern eine
kriegerische Auseinandersetzung
planen könnte. Das würde zu einer endgültigen Kirchenspaltung
führen, die Melanchthon auf jeden Fall verhindern wollte. Diese Befürchtung war ein wichtiger
Grund für Melanchthon, mit allen Mitteln den Ausgleich mit der
katholischen Seite zu suchen. Das
ging dem Landgrafen viel zu weit
und machte ihn misstrauisch. Als
Philipp dann heimlich bei Nacht
und Nebel den Reichstag verließ,
sah Melanchthon seinen Verdacht
bestätigt und fühlte sich durch die
vorher beschwichtigenden Äußerungen des Fürsten getäuscht. Der
alte Eindruck der Unberechenbarkeit erhielt neue Nahrung. Der
Landgraf wiederum war über Melanchthons konziliante Verhandlungen mit der katholischen Seite
verärgert und beschwerte sich bei
Luther brieflich heftig über Melanchthons „Kleinmütigkeit“ und
Nachgiebigkeit. Seine Gesandten
auf dem Reichstag wies er an, das
unredliche Spiel, das Melanchthon
treibe, zu unterbinden.
Die tiefe Entfremdung zwischen
Melanchthon und dem Landgrafen
nach dem Augsburger Reichstag
ist unverkennbar. Das wird beson-
Das Melanchthon-Jahr 2010
ders eindrücklich an dem Umstand,
dass die Korrespondenz zwischen
beiden abbrach. Vier Jahre lang,
vom August 1530 bis September
1534 herrschte Schwei­gen.
Die Beziehungen wurden erst
1534 wieder aufgenommen, und
zwar durch den Landgrafen. Die
Voraussetzung war eine gewandelte
politische und theologische Situation. Die Niederlage der evangelischen Eidgenossen im 2. Kappeler
Krieg mit dem Tod Zwinglis hatte
die südwestdeutschen Städte ihres politischen Rückhalts beraubt;
sie mussten jetzt den engeren Anschluss an die lutherischen Reichstände suchen. In Württemberg, das
von Landgraf Philipp für Herzog
Ulrich zurückerobert und von diesem sogleich der Reformation zugeführt worden war, hatte der Straßburger Theologe Martin Bucer eine
Übereinkunft in der Abendmahlslehre ausgehandelt, die Stuttgarter Konkordie, die sogar Luthers
Billigung fand. Die Annäherung
der Südwestdeutschen an die Lutheraner entsprach bei Melanchthon selbst aber einer theologischen
Annäherung an die oberdeutsche
Auffassung des Abendmahls und
ein erstes vorsichtiges Abrücken
von Luther. Auf diesem veränderten Hintergrund ist sein Vorstoß
beim Landgrafen zu sehen, als er
im Herbst 1534 ein Gespräch und
Maßnahmen zu einer Abendmahlskonkordie auf breiter Basis
anregte. Das gewünschte Kolloquium kam dann auf Vermittlung
des Landgrafen nach Weihnachten
1534 in Kassel zwischen Bucer und
Melanchthon zustande und stellte
eine wichtige Vorstufe der Wittenberger Konkordie von 1536 dar, bei
der in der Tat eine Verständigung
erzielt wurde. Diese erfolgreichen
Verhandlungen betrachteten beide
als einen Höhepunkt ihrer gemeinsamen Kirchenpolitik, die sich nun
im Gleichklang befand und an der
beide unbedingt gegen alle Widerstände festzuhalten gedachten.
Das neu etablierte Zusammenspiel zwischen Melanchthon und
dem hessischen Landgrafen kam
bei dem wichtigen Ereignis des
folgenden Jahres, dem Bundestag
des Schmalkaldischen Bundes,
zum Tragen. Vor dem Hintergrund
der Diskussion um die Haltung
der Protestanten zu dem Konzil,
das vom Papst nun endlich angekündigt worden war, wurden die
Fragen der Lehre erneut virulent.
Schon zu Beginn der Tagung hatte
Melanchthon den Landgrafen kritisch darauf hingewiesen, dass Luther den Entwurf für ein Bekenntnisdokument ausgearbeitet habe,
die später sog. Schmalkaldischen
Artikel, die durch ihre wieder unversöhnlich formulierten Aussagen
über das Abendmahl den kurz zuvor mühsam erzielten Kompromiss
unter den Protestanten und damit
das Bündnis zu gefährden drohten.
Die Absprachen zwischen Melanchthon und dem Landgrafen haben
– vor allem nach der Erkrankung
und Abreise Luthers – verhindert,
dass dessen harte Schrift damals
zum offiziellen Bekenntnisdoku-
19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag39|
ment erhoben wurde, und die hessischen Theologen haben sie auch
später nicht unterzeichnet.
Die Jahre 1540–1543 zeigen die
dichteste Frequenz im Briefwechsel
zwischen Melanchthon und dem
Landgrafen. Der Grund ist dessen
Ehe-Affäre. Seine Zweitehe mit
Margarete von der Saale, die er trotz
der Warnungen und Mahnungen
der Wittenberger, aber legitimiert
durch deren Beichtrat einging, sollte zu einer besonders schweren Belastungsprobe für das persönliche
Verhältnis zu Melanchthon werden
und zu den politischen Folgen führen, die dieser befürchtete.
Aus der Zeit, als aber die Wittenberger noch nicht alle Hoffnung
auf eine Sinnesänderung Philipps
aufgegeben hatten, stammt das
ausführlichste öffentliche Zeugnis Melanchthons über den Landgrafen. Es handelt sich um die
Widmung an ihn vom 1. Januar 1540, die Melanchthon seiner
Römerbrief-Ausle­g ung voranstellte. Melan­chthon würdigt ihn hier
als Förderer evangelischer Theologie und Verbreiter des Evangeliums; lobt seine Gewissenhaftigkeit
im Regieren, seine Großherzigkeit
und Tapferkeit – also alle Tugenden, die spätere Geschichtsschreiber in dem Titel „der Großmütige“
zusammengefasst haben. Und der
Grund dafür liege in der Frömmigkeit und dem Bekennermut des
Landgrafen.
Dieses Lob in der Widmung
des Buches war wohl ein letzter
Versuch, den Landgrafen von sei-
nem verhängnisvollen Vorhaben
abzubringen. Gewiss war es aufrichtig gemeint, was Melanchthon
hier über den hessischen Fürsten
sagte, aber es war auch höchst riskant, das in der jetzigen Situation
zu schreiben. Wie sich bald zeigen
sollte, blieb es ein untauglicher und
ganz vergeblicher Versuch, den
Landgrafen umzustimmen, und
Melanchthon setzte sich mit seinen
lobenden Worten dem Gespött der
Altgläubigen aus. Luther kommentierte wenige Monate später: „Ich
werde keinem mehr ein Buch widmen. Es ist dem Philippus [Melanchthon] bei dem Hessen nicht
wohl geraten.“ Und aus jener Zeit
stammt auch die eingangs zitierte Tischrede Luthers, in der er die
Befürchtung ausspricht, dass Melanchthon nun bald gegen seinen
„Schüler“ Philipp von Hessen zur
Feder greifen müsse.
Durch ein Überrumpelungsmanöver hat der Landgraf Melanchthon dann sogar zum Zeugen
seiner Trauung mit Margarete von
der Saale in Rotenburg gemacht
und ihn damit noch stärker in die
Mitverantwortung für das Geschehen eingebunden. Die desaströsen
Folgen der Aktion wurden aber erst
offenbar, als eintrat, was die Wittenberger um jeden Preis hatten
verhindern wollen: Die Zweitehe
wurde publik, und die Beteiligung
der Theologen ließ sich nicht vertuschen. Diese ganze Entwicklung
scheint Melanchthons Urteil über
Philipp völlig verändert zu haben.
Tief verletzt klagte er in Briefen an
vertraute Freunde den Landgrafen
an als den einzig Schuldigen an dem
Unheil, das nun über die Protestanten hereingebrochen sei. Der Landgraf habe seine Freunde böswillig
getäuscht, er sei arglistig und zu
allem fähig, von „Venus-Begierde“
verblendet. Melan­chthon vergleicht
ihn mit Paris, dem griechischen
Sagenheld, der durch die Entführung der Helena den Trojanischen
Krieg auslöste, oder mit dem als
Machtmenschen bekannten griechischen Feldherrn Alkibiádes. Er
sei verstockt gegenüber dem Urteil
der öffentlichen Meinung, ebenso
schlimm wie Heinrich VIII. von
England, und ein Heuchler dazu.
Während der persönlichen Begegnung mit dem Landgrafen bei
den Religionsgesprächen in Worms
und Regensburg (Nov. 1540 bis
Sommer 1541) hat Melanchthon
sein Vertrauen zum Landgrafen
nicht wieder gewonnen. Im Gegenteil: Die politische Annäherung Philipps an den Kaiser, die
Melanchthon beobachten konnte,
war ihm zutiefst suspekt. An einen
Freund schrieb Melanchthon, der
Landgraf bringe ihn jetzt durch
seinen Abfall zum Kaiser noch ins
Grab.
Die schwere psychische Erkrankung, in die der sensible Melan­
chthon infolge all der Aufregungen
fiel und an der er dem Landgrafen
die Schuld gab, ist doch ein starkes
Indiz für seine enge persönliche
Bindung an den Fürsten. Er hat ihn
aber nicht abgeschrieben, sondern
unmittelbar nach seiner Krankheit
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begütigend auf ihn eingewirkt und
der Hoffnung Ausdruck gegeben,
dass gerade sein Leid, das er um des
Landgrafen willen getragen habe,
diesen milder und einsichtiger machen werde. Und auch als diese
Hoffnung sich nicht erfüllte, hat
er nach einer entschuldigenden Erklärung für Philipps Verhalten gesucht. Dessen Libido und die damit
verbundene Skrupellosigkeit führte
Melanchthon auf eine erbliche Belastung zurück – bekanntlich war
ja der Vater des Landgrafen an der
Syphilis gestorben.
Auch der Landgraf zeigte sich
wiederum von der Erkrankung
Melanchthons nicht unbeeindruckt
und von der Schuld, die man ihm
daran anlastete. In einem Brief an
Martin Bucer versuchte er sich zu
entlasten, indem er eine andere
Schuldzuweisung vornahm. Nicht
die Doppelehe an sich habe Melanchthon krank gemacht, sondern
die ständige Kritik des sächsischen
Hofes daran hätten ihm dermaßen
zugesetzt, dass er darüber mutlos
und krank geworden sei. Im Mai
1541 kam der Landgraf nach Wittenberg und besuchte auch Melanchthon. Er berichtete darüber an
Bucer und stellte – sich selbst beruhigend – fest, es gehe Melanchthon
schon wieder „ganz gut“.
Gerade diese schwere Krise hat
die beiden Männer aber eng verbunden, wie auch der intensive
Briefwechsel der nächsten Jahre ausweist. Immer wieder war es
gerade Melanchthon, an den sich
der Landgraf wandte, wenn die
Das Melanchthon-Jahr 2010
öffentliche Diskussion um seine
Ehe wieder einmal Wellen schlug,
wenn neue Flugschriften gegen ihn
erschienen oder als gar zu befürchten stand, dass Luther selbst noch
literarisch in den Streit eingreifen
könnte. Melanchthons hat trotz
seiner Verletzungen die Kraft aufgebracht, auch jetzt noch seelsorgerlich, beruhigend und tröstend
auf den Landgrafen einzugehen
und zugleich mäßigend auf Luther
einzuwirken.
Bald zeigten sich aber die politischen Folgewirkungen der Ehegeschichte. Der durch die Bigamie
straffällig und damit erpressbar
gewordenen Landgraf hatte zur
Erlangung der Verzeihung des
Kaisers, d.h. des Verzichts auf
Strafverfolgung, schwerwiegende
vertragliche Zugeständnis machen
müssen. Der Schmalkaldische
Bund der Protestanten war praktisch lahm gelegt. Im selben Jahr,
als die öffentliche Diskussion um
Philipps Bigamie verebbte, konnte
der Kaiser mit der Eroberung des
Herzogtums Geldern, das nach
dem Erzstift Köln zweitgrößte
Territorium in Nordwestdeutschland, den Nutzen aus dieser Affäre
ziehen. Vergeblich appellierte Melanchthon an den Landgrafen um
politische Vermittlung. Dem waren
durch seinen Vertrag mit dem Kaiser die Hände gebunden.
Der Briefwechsel aus jenen Jahren lässt aber auch erkennen, dass
Philipp nicht resignierte, sondern
nach dem Schaden, den er angerichtet und dem Prestigeverlust,
den er sich als politischer Führer
des Protestantismus eingehandelt
hatte, wieder politisches Terrain zu
gewinnen suchte.
Nach dem Tod Luthers im Februar 1546 schien Melanchthon
sein selbstverständlicher Nachfolger als theologischer Wortführer
des Protestantismus zu werden. Die
Möglichkeiten, die sich für eine
Zusammenarbeit mit dem Landgrafen eröffnet hätten, konnten
aber nicht mehr erprobt werden,
da der Schmalkaldische Krieg und
die Niederlage der Protestanten
die Situation grundlegend änderte
und die Gefangenschaft des Landgrafen diesen als politischen Führer ausschaltete. Als er nach der
demütigenden Kapitulation vom
Kaiser in Haft genommen wurde,
schrieb ihm Melanchthon einen
Trostbrief. Ein Gebet um seine
Befreiung und Wiedereinsetzung
sind die letzten Worte, bevor der
Briefwechsel zunächst für sieben
Jahre unterbrochen wurde. Erst
nachdem der Landgraf im Herbst
1552 nach Hessen hatte zurückkehren können, wurde der Kontakt
wieder aufgenommen. Beide Männer waren freilich andere geworden. Philipp, von der Gefangenschaft gezeichnet, war nicht mehr
der feurige Kopf, sondern ruhiger
und besonnener geworden, nicht
mehr der rastlose Dränger und unentwegte Pläneschmied und politische Vordenker, sondern ein Fürst,
der sich in den Fragen der großen
Politik auffällig zurückhielt. Auf
protestantischer Seite war das Ge-
19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag41|
setz des Handelns an die jüngere
Generation übergegangen. Wie auf
der politischen Bühne machte sich
auch in der deutschen Theologie
ein Generationenwechsel bemerkbar und zugleich eine Zerklüftung
der theologischen Szene. Was die
Autorität Luthers zusammengehalten hatte, war – nicht zuletzt durch
die politischen Ereignisse und ihre
Folgen – in sich befehdende Parteiungen auseinander gebrochen.
Melanchthons Kompromissbereitschaft hatte ihn schon bald zu einer heftig umstrittenen Gestalt innerhalb des Luthertums gemacht.
Er war nicht mehr theologischer
Wortführer des Protestantismus,
sondern zunehmend nur noch Parteihaupt einer Fraktion. So teilten beide, der Landgraf und der
Wittenberger Professor, je auf ihre
Weise ein vergleichbares Geschick.
Sie waren Repräsentanten einer
Generation, die abgelöst wurde, ja,
einer zu Ende gehenden Ära.
Im März 1553 knüpfte Landgraf
Philipp an die alte Verbindung zu
Melanchthon wieder an. Der Kontakt war wieder hergestellt, und in
den Jahren bis zu Melanchthons
Tod 1560 entfaltete sich ein reger Briefwechsel. Die Zahl der in
diesen sieben Jahren gewechselten
Briefe macht mehr als ein Viertel
der gesamten Korrespondenz zwischen dem Landgrafen und Melanchthon aus. Melanchthons Einfluss
in Hessen schien so stark wie noch
nie. Er wurde in kirchenrechtlichen
Angelegenheiten mehrfach um
Rat angesucht. Bei den hessischen
Pfarrei-Visitationen wurde außer
seiner Augsburgischen Konfession
sein dogmatisches Lehrbuch, die
Loci, zugrunde gelegt. In Universitätsangelegenheiten wurde Melanchthon ebenso konsultiert wie beim
Auftreten verdächtiger Sektierer.
Vor allem aber beschäftigen sich
die Briefe der letzten Jahre mit der
kirchenpolitischen Situation in und
außerhalb Deutschlands. Die Lage
der bedrängten Evangelischen in
Italien, Spanien, Frankreich und
den Niederlanden kommt zur Sprache und diplomatische Interventionen, etwa zugunsten der Hugenotten, werden erörtert. Vor allem aber
steht die Lage der evangelischen
Kirchen in Deutschland im Mittelpunkt der Briefe.
Der Unionspolitiker Philipp
und der stets auf versöhnlichen
Ausgleich bedachte Theologe Melanchthon fanden in diesen letzten
Jahren vor dem Hintergrund der
neuen theologischen und kirchenpolitischen Konstellationen noch
einmal zusammen. Manchmal
kommen in Melanchthons Briefen
geradezu nostalgische Reminiszenzen auf, Erinnerungen an vertane
Möglichkeiten wie das Marburger
Religionsgespräch. Ihnen gegenüber erscheint die Gegenwart oft
in düsteren, ja geradezu apokalyptischen Farben.
Am 19. April 1560, heute vor
450 Jahren, starb Melanchthon in
Wittenberg. In einem Kondolenzschreiben an Kurfürst August in
Dresden würdigte der Landgraf die
Bedeutung Melanchthons für die
evangelischen Kirchen. Mehr noch
spricht sich die hohe Wertschätzung darin aus, dass er im folgenden
Jahr anordnete, dass die Sammlung
der Lehrschriften Melanchthons,
das sog. Corpus Philippicum, von
allen hessischen Pfarrern gekauft
werden solle.
Wir stehen am Ende und blicken
zurück auf dreieinhalb Jahrzehnte
einer wechselvollen Beziehung von
jener ersten Begegnung der jungen
Männer im Frühjahr 1524 bis zu
den letzten Briefen des Jahres 1559.
Es zeigen sich in der Rückschau
fünf Phasen.
Die erste ist gekennzeichnet
von der reformatorischen Aufbruchstimmung: der junge begeisterungsfähige Fürst, der sich
auf seinem Weg in die Politik der
Reformation angeschlossen hatte und sich mit großem Lerneifer
die evangelischen Überzeugungen
zu eigen macht. Melanchthon, der
nach anfänglichem Misstrauen sich
dem Fürst als Berater anbietet, ihn
bei der kirchlichen Neuordnung
unterstützt und unversehens in die
große Reichspolitik hineingezogen
wird.
Die 2. Phase führt nach dem erwachten Argwohn über die Bündnispläne des Landgrafen schließlich durch die Erfahrungen auf
dem Augsburger Reichstag zum
faktischen Abbruch der Beziehung.
3. Sie wird erst in einer gewandelten politischen Situation und
nach Melanchthons theologischen
Wandlungen wieder belebt, führt
nun zu einem Gleichklang der Zie-
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le von theologischer Konkordie und
politischem Unionsbündnis.
Die 4. Periode der Beziehung
beginnt mit der schweren Belastung durch die landgräfliche Eheaffäre; aus der Krise geht aber eine
gefestigte Verbindung hervor, die
5. zum Tragen kommt in den
50er Jahren, in denen Landgraf
Philipp und Philipp Melanchthon
als Repräsentanten einer zu Ende
gehenden Ära noch einmal zu einer
engen Kooperation finden.
Gewiss, es waren zwei völlig
unterschiedliche Charaktere und
Temperamente, die hier zusammentrafen. Aber macht allein die
Gleichgestimmtheit der Charaktere und Temperamente die Qualität
und Intensität der Beziehungen aus
und ist nur sie die Voraussetzung für
Kooperation? Das Verhältnis des
Landgrafen zu Melanchthon war
sicher ein anderes als das zu einem
anderen theologischen Berater, zu
Das Melanchthon-Jahr 2010
Martin Bucer. Die kritische Freiheit, die sich der Elsässer im Umgang mit dem Fürsten herausnahm,
hat Melanchthon nie gewagt. Auch
den Enthusiasmus und Aktivismus
des Landgrafen hat er nie geteilt,
und dem Landgrafen waren sein
Zaudern und seine Zurückhaltung
manchmal höchst ärgerlich. Aber
gerade in ihrer Gegensätzlichkeit
haben sie wenigstens zeitweise zu
einer verständnisvollen Kooperation gefunden.
Ein halbes Jahr nach Melan­
chthons Tod, im September 1560,
erinnerte der Marburger Theologe
Andreas Hyperius in einem Brief
noch einmal an die Bedeutung Melanchthons als Ratgeber des Landgrafen und sprach die Hoffnung
aus, dass Philipp einen neuen Berater finden werde, den er künftig
in schwierigen Fragen konsultieren
könne, „so wie er sich zuvor in vielen verschiedenen Angelegenheiten, die anfielen, an Melanchthon
zu wenden pflegte“. Der neue Ratgeber sollte nach dem Wunsch des
Hyperius der Adressat des Briefes
sein – Heinrich Bullinger, Zwinglis Nachfolger in Zürich – und
diese Hoffnung wirft ein Licht auf
die hessische Theologie und Kirche
um 1560 und lässt bereits die Entwicklungen und auch die Konflikte
ahnen, die in den nächsten Jahrzehnten bevorstanden, in der Ära
nach Landgraf Philipp und nach
Melanchthon.
Prof. em. Dr. theol. Hans Schneider,
Marburg
19. April – Gedenken an Melanchthons Todestag43|
Über Melanchthon als Namenspatron: Sichtweisen der Klasse 7a, im Schulj. 2009/10
Ich finde es toll, dass er seinen Mitmenschen zeigen wollte, wie wichtig es ist zu lernen, und
dass er trotz seiner schmächtigen Gestalt für das gekämpft hat, an das er glaubte; auch
dass er Martin Luther so tatkräftig unterstützt hat, z.B. bei der Übersetzung der Bibel.
Ohne ihn hätten viele Menschen erst sehr viel später erfahren, was in der Bibel steht.
Ich finde an ihm interessant, wie er gelebt hat, unter welchen schlimmen Umständen er
aufgewachsen ist und wie begabt er später in vielen Fächern war; auch, dass er Luther
geholfen hat, die Bibel zu übersetzen, und mit ihm die Kirche reformiert hat; dass er
viele Schüler bei sich hat wohnen lassen und alles teilte; außerdem, dass er der „Lehrer
Deutschlands“ war und viele Studenten von weit her zu ihm kamen, um ihn reden zu hören.
Ich finde gut, dass er ein christlicher, freundlicher und ruhiger Mensch war, der es
vermied, sich zu streiten; auch dass er seinen Namen ins Griechische übersetzen ließ.
Ich finde an Melanchthon interessant, dass er schon so früh auf die Universität gegangen
ist und so intensiv die alten Sprachen Latein und Griechisch gelernt hat. Auch gefällt
mir, dass er bereit war, Kinder zu unterrichten und dass er sie diese alten Sprachen
gelehrt hat. Schön finde ich, dass Melanchthon viele Schulen gegründet hat, bzw.
dass viele Schulen seinen Namen auf sich bezogen haben – wie unsere Schule.
In Melanchthon steckten zwei Personen: Die erste Person ist seine äußerliche
Erscheinung, – er war ein sehr kleiner Mensch. Doch die zweite Person, sein
Wissen, war dafür umso größer. Das fasziniert mich an Melanchthon.
Ich finde es erstaunlich, dass er stundenlang an seinen Studien sitzen konnte und sich
kaum Zeit für andere Freiheiten nahm. Er muss sehr ehrgeizig gewesen sein.
Mir gefällt an ihm, dass er klug war und dass er Lehrbücher geschrieben hat;
auch, dass er Latein perfekt beherrschte, weil ich das auch gern mache.
Ich finde es gut, dass er sich gegen die Ablassbriefe sowie alles, was nicht biblisch
begründet war, gewehrt hat. Sein Sprachtalent finde ich auch nicht so schlecht.
Melanchthon wollte seine Schüler über den Glauben aufklären. Und das haben wir ja auch hier
in der Melanchthon-Schule: den Religionsunterricht und jede Woche eine Andacht oder einen
Gottesdienst. Melanchthon hat sich für seine Schüler eingesetzt; das macht unsere Schule auch.
Melanchthon hat immer auf gute Bildung geachtet. Das ist uns auch
heute noch wichtig. Man kann bei uns z.B. die alten Sprachen Latein und
Griechisch lernen, die Melanchthon ja perfekt beherrschte.
Ja, vieles erinnert in unserer Schule an Melanchthon: Man denke an
das Melanchthon-M als Schul-Logo, auch an das Denkmal vor dem
Hauptgebäude und die vielen Bilder von ihm in den Gebäuden.
|44
Das Melanchthon-Jahr 2010
1. November –
Ausklang zum Reformationsfest
Da das Reformationsfest am 31.
Oktober 2010 auf einen Sonntag
fiel, wurde es mit der Steinataler
Schulgemeinde als Ausklang des
Melanchthon-Jahres am Tag darauf (Mo., 01.11.2010) gefeiert. In
einem festlichen Gottesdienst, der
nochmals dem Gedenken Melanchthons gewidmet war, predigte
Bischof Prof. Dr. Martin Hein
über 1. Korinther 12, 4-6. Er hob
die bleibende Bedeutung des Namenspatrons der Schule hervor und
warb dafür, Melanchthon aus dem
Schatten Luthers heraustreten zu
lassen.
Der Gottesdienst war von Schulpfarrerin Britta Holk-Gerstung
vorbereitet worden. Zwei Schülerinnen und ein Schüler übernahmen die Lesung des Evangeliums
– Römer 3, 21-28 – in griechischer,
lateinischer und deutscher Sprache. Zahlreiche andere Jugendliche
beteiligten sich mit Musik- und
Wortbeiträgen an der Gestaltung
der feierlichen Stunde. So erklang
z.B. die Motette „Eins bitte ich
vom Herrn, das hätte ich gern, …“
von Heinrich Schütz (1585-1672),
gesungen vom Oberstufenchor. Der
Posaunenchor spielte Bläsermusik
aus der Melanchthon-Zeit und begleitete die Gemeindechoräle, u.a.
das Reformationslied „Ein feste
Burg ist unser Gott, …“ (EG 362).
Außerdem kamen – als Auszüge
aus einer im Religionsunterricht
gemeinsam verfassten Broschüre –
einzelne Briefe von Schülerinnen
und Schülern der Jahrgangs­
stufe
11 zu Gehör, die sie als kreative
Schreibarbeiten entweder direkt an
Melanchthon gerichtet bzw. in der
Rolle seiner Zeitgenossen geschrieben hatten, um sich der Bedeutung
des Reformators bewusst zu werden.
Im weiteren Verlauf des Vormittags hielt dann Prof. em. Dr.
Martin Greschat aus Münster einen Vortrag über „Philipp Melanchthon – Humanist, Pädagoge und
Theologe“ vor der gesamten Jahrgangsstufe 12. Daran anschließend
traf sich Bischof Hein zu Gesprä-
chen mit Schülerinnen und Schülern eines Religionskurses im Jahrgang 11, um mit ihnen über ‚Gott
und die Welt‘ zu sprechen.
Impressionen aus dem
Schulgottesdienst
„Lieber Herr Melanchthon …“
– Briefe aus der Klasse 10c
Steinatal, im Juli 2010
Lieber Herr Melanchthon,
was ich Ihnen schon immer einmal sagen wollte: Sie sind der
Namenspatron unserer Schule und ich finde, darauf können wir sehr stolz sein, denn Sie haben großartige Dinge vollbracht. Es ist bewundernswert, dass ein einfacher Mann wie
Sie mit seiner Begabung und Überzeugung so weit gekommen
ist und so vieles bewirkt hat. Sie hatten Ihre Meinung, von der
Sie sich nicht abbringen ließen, und haben für Ihre Ansichten
gekämpft. Solch ein Durchhaltevermögen finde ich sehr beachtlich! All dies haben Sie trotz Ihrer schweren Kindheit und
Ihres anstrengenden Lebens erreicht. Sie haben immer wieder
großen Mut bewiesen und dadurch konnten Sie Ihre Überzeugungen durchsetzen und haben die Geschichte verändert.
Hochachtungsvoll
Hannah Müller-Wolff
1. November –
Ausklang zum Reformationsfest45|
Anmerkung der Redaktion:
Alle Schülertexte stammen aus der im
Eigendruck erstellten Broschüre „Briefe
der Klasse 10c zum 450.To­desjahr
Philipp Melanchthons“, hg. v. OStR’
i.K. Lotte Kraushaar (AF-Leiterin und
Religionslehrerin an der MSS), Steinatal
2010. – Die jugendlichen Verfasser
schreiben dazu: „In diesem Heft wird
Philipp Melanchthons Biographie in
Briefform dargestellt. Die Idee da­hinter
ist, dass das Leben Melan­chthons
von Menschen erzählt wird, die ihm
entweder nahe standen oder viel Zeit mit
ihm verbracht haben. So werden seine
Taten und Werke aus verschiedenen
Perspektiven beschrieben.“ – Mitgewirkt
haben: Leonie Brandner, Tobias
Bräutigam, Patrick Ellenberger, Johanna
Gerstung, Moritz M. Gietz, Carla K.
Giesinger, Tobias Gottlieb-Stroh,
Carolin Hermann,Torsten Hopf, Hendrik
Kalbfleisch, Pascal Lindner,Tim Lückert,
Rebecca Müller, Hannah M. MüllerWolff, Michelle Neumann, Christian
Peter, Sophie Riebeling, Anne Schlitt,
Maximilian Schmerer, Jeanette M. H.
Schrewe, Dana E. Schweika, Julia
Textor, Judith Wachter, Alexandra
Werner, Lisa M. Weyers.
Steinatal, im Juli 2010
Lieber Herr Melanchthon,
was ich Ihnen schon immer sagen wollte ist, dass ich es bemerkenswert finde, wie Sie Ihre Kindheit verbracht haben.
Der frühe Tod Ihres Großvaters und Vaters war sicher ein
einschneidendes Erlebnis. Trotz dieser schwierigen Zeit haben Sie schon früh viele Sprachen fließend beherrscht. Ich habe
durch die Arbeit an diesem Heft noch mehr über Sie erfahren als ich ohnehin schon durch Projekte an unserer Schule
wusste. Ich finde dies sehr wichtig, da ich eine Schule besuche, die Ihren Namen trägt. Es ist eigentlich schade, dass wir
erst jetzt begreifen, wofür der Name Melanchthon steht.
Julia Textor
Steinatal, im Juli 2010
Lieber Herr Melanchthon,
was ich Ihnen schon immer einmal sagen wollte ist, dass ich
Ihre Begabung für die Sprachen sehr bewundere. … Außerdem
bewundere ich Sie für Ihre innere und geistige Kraft. Ich glaube, wenn mein Großvater – und kurze Zeit später auch noch
mein Vater – sterben würde, hätte ich nicht so viel Kraft gehabt, mein Leben so wie sie selbst in die Hand zu nehmen.
Johanna Gerstung
Fiktiver Brief Martin Luthers an Johann Heß
(Anm. d. Red.: 1490-1547, Reformator in Breslau)
Wittenberg, im Jahre 1519
Lieber Johann,
an unserer Universität gibt es einen neuen Hoffnungsträger,
Philipp Melanchthon. Ich weiß nicht, ob du schon von ihm gehört hast. Aber er ist ein großartiger Sprachenkenner und ich
möchte meine Beziehung zu ihm weiterhin vertiefen. Er ist mir
bei seinen Vorlesungen über die griechische Sprache aufgefallen.
Ich bin sehr begeistert von Philipp Melanchthon. Vor allen Dingen hat mich seine Antrittsrede fasziniert. Seine Auffassung über
das Erlernen der alten Sprache stimmt mit meiner überein. Er
sagte: „Es gilt, fremde alte Sprache zu erlernen, auf dass wir
nicht wie ‚stumme Masken‘ mit den Theologen verhandeln.“ Und
so sagte er auch, dass „niemand sich in der Gottesgelehrtheit
wird auszeichnen können, der sich vorher nicht eine gründliche, allgemeine Bildung angeeignet hat.“ Dieser humanistische
Gedanke hat mir gezeigt, dass Melanchthon meiner Meinung
ist. Ich habe mich schon mit anderen Kollegen unterhalten,
|46
Das Melanchthon-Jahr 2010
Fiktiver Brief Thomas Müntzers
an Philipp Melanchthon
und diese fanden – genauso wie ich –, dass die Antrittsrede unter uns wirklich Achtung und Sympathie ausgelöst hat.
Trotz anderer Differenzen hat sich eine große Freundschaft
entwickelt. Schon bald fing ich damit an, ihn unter meine Fittiche zu nehmen. Ich habe einen weitreichenden Plan. Meine
frühere Reise nach Rom ließ mich erkennen, dass es nicht angehen kann, dass die katholische Kirche weiterhin Ablassbriefe an die des Lesens unkundigen Bürger verkauft, da diese
wenig über die Bibel wissen und die Kirche dies ausnutzt. Es
wird Zeit für eine Reformation! Die Bibel muss für jeden Menschen verständlich und zugänglich sein. Ich möchte, dass jeder
Mensch dazu in der Lage ist, die Texte, auf die unser Glauben aufbaut, selbst zu interpretieren und sie zu leben. Es soll
nicht länger die Kirche als Übermittlerin der Heiligen Schrift
dienen, und jeder Mensch verdient das Recht auf Bildung.
Es muss mit den Schulen beginnen: Lesen soll nicht mehr als
kostbare Fähigkeit, sondern als selbstverständlich gelten. Mein
erster Schritt in diese Richtung soll sein, dass ich mit Melanchthon die Bibel aus dem Hebräischen und dem Griechischen
ins Deutsche übersetze. Mit seiner grammatischen Raffinesse
und Sprachkenntnis wird es uns gelingen. Ich konnte ihn von
meinen reformatorischen Gedanken überzeugen, – nun steht
er mir bei meiner Aufgabe bei. Melanchthon hat meinen Vorlesungen zugehört und ein ordentliches Theologiestudium bei mir
begonnen. Ich hoffe, dass er unserer Sache treu bleibt: Es wird
ein mühseliger Weg sein, auf den wir uns begeben. Bei vielen
Reformationsgegnern erwarte ich großen Widerstand, und für
notwendige Auseinandersetzungen kann ich einen Argumentationspartner gut gebrauchen. Ja, Melanchthon scheint mir der
perfekte Wegbegleiter mit seinem scharfen Intellekt zu sein.
Ich hoffe, auch du, mein werter Kollege, wirst den Mut haben, deine Meinung über die momentane Kirche frei
zu äußern und dich meiner Sache anschließen. Gott ist
mit dir! Sei gesegnet, mein werter Kollege Johann.
Ich hoffe auf ein baldiges Wiedersehen.
Pascal Lindner, Patrick Ellenberger und Moritz Gietz, Klasse 10c, im Schulj. 2009/10
Allstedt, im Jahre 1522
Melanchthon,
ich habe deinen Brief erhalten und mir deine kritischen
Worte reichlich zu Gemüte
geführt. Es ist richtig, dass
ich mit deinem teuren Freund
Martin Luther schon oft
aneinander geraten bin. Du
sagst, ich solle mich zähmen
und zur Vernunft kommen.
Doch vielleicht solltest du lieber das in Frage stellen, was
dein liebster „wittenbergischer
Papst“ dir über den Glauben klönt. Im Übrigen ist er
auch nicht gezähmter als ich!
Ich will nicht verhehlen, dass
unsere Ansichten und Meinungen über die Reformation
sich in einigen Punkten widersprechen. Und hier verstehe
ich einfach nicht, wer dir diese
Scheuklappen angebracht hat!
Sicher dein Freund Luther,
unser Doktor Lügner. Doch
wie du bereits in deinem Brief
an mich geschrieben hast:
Einige Auffassungen teilen
wir zumindest im Ursprung
miteinander. Auch du hast
dich, wie mir zu Ohren gekommen ist, bereits gegen
die Lügen unserer kirchlichen Obrigkeit gewehrt. Denn
besonders gegen den Papst
und den Ablasshandel müssen
wir angehen. Es kann nicht
mit rechten Dingen zugehen,
dass sich ein jeder einfach von
seiner Schuld frei kaufen kann.
Als ob man sich die Vergebung
der Sünden erkaufen könn-
1. November –
Ausklang zum Reformationsfest47|
te! Das, was unser Papst tut,
kann man als nichts anderes
als Handel bezeichnen. Denn
wofür wird das Geld wirklich
genutzt? Für die Vergoldung
von Gotteshäusern, vor allem
den Bau seines Gotteshauses in Rom. Melanchthon: Ist
das Gerechtigkeit? Nein, es
kann nicht richtig sein, das
arme Volk um seinen letzten
Groschen zu bringen. Menschen verhungern, während
die Diener der Kirche mit
ihren feisten Pausbacken ihr
Leben zubringen in Fressen
und Saufen! So ist es auch in
deinem Interesse, dem Volk
endlich die Augen zu öffnen.
Die Übersetzung der Bibel,
die du mit Luther zusammen
unternimmst, ist deshalb eine
Arbeit von großer Bedeutung.
Das Volk muss verstehen, was
im Gottesdienst geredet wird.
Ein einfacher Bauer hat keine Möglichkeit zu erkennen,
dass das lateinische Gefasel
der Mönche (die Mäuler haben, dass man wohl ein Pfund
Fleisch abschneiden könnte
und doch Mauls genug be-
hielt) reiner Unsinn ist. Ist
es da ein Wunder, dass die
Bauern beginnen, sich gegen
die Obrigkeit aufzulehnen?
Ich verstehe sie und werde sie
motivieren und ihnen helfen.
Denn für mich ist der Glaube nichts, was an einem Buch
hängt. Der Glaube ist in jedermann. Ein kleines Senfkorn,
was ein jeder bloß in sich finden muss. Den Glauben kann
man nicht durch den Buchstaben einfangen: Gottes Geist
muss unmittelbar zum Menschen reden und ihn von innen erleuchten! Du wirst mir
widersprechen, das ist mir
gewiss, doch denke einmal an
die Zeit, als Jesus auf Erden
war. Ich muss dir wohl kaum
in Erinnerung rufen, dass
Jesus selbst die Schriftgelehrten bekämpft hat, die
Gottes Liebe bloß im äußeren Wort gesucht haben. All
die Pfaffen und Affen sind
diesen nur gleichzusetzen!
Ohne Zweifel ist es deshalb
wichtig, den Gottesdienst
auch für das einfache Volk
eingängig zu gestalten. Melan­
chthon, um nichts anderes bin
ich seit Jahren bemüht. Was
wir brauchen, ist eine andere Art des Glaubens: die neue
apostolische Kirche. Gottesdienste müssen lebendiger
werden! Wir sollen singen und
beten und zwar in Worten,
die jeder versteht. Die Sakramente sollten abgeschafft
werden. Denn wozu soll es
gut sein, ein Kind beinahe im Wasser zu ertränken,
wenn es doch der Geist ist,
der einen Menschen erfüllen
muss, damit er glauben kann?!
So müssen wir kämpfen!
Du hast damit Recht, dass
ich mich als von Gott auserwählt erkenne. Ich bin dazu
bestimmt, dass sich das irdische Leben schwinge in
den Himmel. Und ich empfinde keine Scham hierfür.
Melanchthon, ich appelliere
an dich und deine Vernunft!
Willst du eines Tages sein wie
diese Pfaffen? Du bist ein
gläubiger Mann und zusammen können wir es schaffen,
eine neue Glaubensgemeinschaft aufzustellen. Wir haben
die Macht, dem Volke endlich
die Augen zu öffnen. Distanziere dich von bloßen Worten
und finde Gott in dir! Ja,
Melanchthon, du liegst völlig richtig, dass ich mit allen
Waffen, auch mit Gewalt, für
eine himmlische Welt ohne die
Lügen unserer heuchlerischen
Obrigkeit kämpfen werde, –
mit dem Volk an meiner Seite!
Ich werde, wenn es sein muss,
auch mit einer scharfen Sichel
Weizen von Unkraut trennen!
Ich hoffe zutiefst, dich von
meiner neuen Weltordnung
überzeugt zu haben. Mit Freude würde ich dich an meiner
Seite begrüßen.
In segensreicher Erwartung
Thomas Müntzer
Carla Gisinger und Alexandra Werner,
Klasse 10c, im Schuljahr 2009/10
|48
Predigt über
1. Korinther 12, 4-6
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen
Geistes sei mit uns allen.
Im 1. Korintherbrief schreibt der
Apostel Paulus:
„Es sind verschiedene Gaben;
aber es ist ein Geist. Und es sind
verschiedene Ämter, aber es ist ein
Herr. Und es sind verschiedene
Kräfte; aber es ist ein Gott, der da
wirkt alles in allen.“ (1. Korinther
12,4-6)
Vor 450 Jahren, liebe Schulgemeinde, am 19. April 1560, ist Philipp Melanchthon gestorben. Das
ist lange her. Aber die Erinnerung
an diesen Mann ist so wichtig, dass
Eure Schule seit ihrer Gründung
im Jahr 1948 seinen Namen trägt.
Und nicht nur hier im Steinatal erinnern wir uns an Philipp Melanchthon, sondern die Evangelische
Kirche in Deutschland feiert 2010
an vielen, vielen Orten ein „Melanchthon-Jahr“.
Würdet Ihr eine Umfrage in
Ziegenhain, Neukirchen oder
Treysa machen, wer Philipp Melanchthon ist, gäbe es als Reaktion
wahrscheinlich ziemlich viel Kopf-
Das Melanchthon-Jahr 2010
schütteln. Die meisten kennen nur
Martin Luther, an den wir gestern
am Reformationstag gedacht haben. Alles Licht fällt immer auf
Luther. Er scheint es geradezu
anzuziehen. Aber hinter Luthers
breitem Rücken stehen manche im
Schatten, die viele Jahre lang seine
Mitstreiter waren und ohne die er
nicht zu denken ist. Gewiss: Luther
hat die Reformation der Kirche
angestoßen. Aber dass daraus eine
evangelische Kirche geworden ist
– dazu haben die genauso beigetragen, die sich zusammen mit Luther
ans Werk der Erneuerung machten:
mit ihren eigenen Begabungen, Fähigkeiten und Einsichten. Es lohnt
sich also, sie aus dem Schatten heraustreten zu lassen. Und der Wichtigste von ihnen allen ist Philipp
Melanchthon.
Er war so ganz anders als Luther!
Zwei Welten trafen aufeinander,
als Melanchthon, das akademische Wunderkind, mit gerade einundzwanzig Jahren in Wittenberg
Professor für griechische Literatur
wurde. Luther war Mönch gewesen
und geprägt von der Frömmigkeit
und Strenge eines Mönchslebens;
Me­lanchthon verkörperte dagegen
in genialer Weise den Geist und
die Bildung des Humanismus. Was
sollten sich die beiden zu sagen haben – der Mönchspriester und der
kirchliche „Laie“, der zeitlebens nie
zum Pfarrer ordiniert wurde? Aber
aus ihrer Begegnung erwuchs eine
tiefe, über Jahrzehnte andauernde
Freundschaft. Die war zwar manchen Proben ausgesetzt und hielt
trotzdem. Noch in seinem Testament drückte Melanchthon aus,
was er Luther verdankte: „Ich habe
von ihm das Evangelium gelernt“,
schrieb er. Das klingt einfach und
schlicht. Aber für Melanchthons
Lebensgeschichte war das umwälzend. Das Evangelium, die frohmachende Botschaft von Gottes
unbedingter Gnade gelernt zu haben – diese Erfahrung ließ den jungen Professor nicht mehr los. Seine
ganze Gelehrsamkeit suchte er seither in den Dienst an der Lehre des
Evangeliums zu stellen.
Das hat der Reformation nicht
geschadet, im Gegenteil! Sie gewann durch Melanchthon die
Klarheit und Ordnung ihrer Gedanken. Luther hatte es nie darauf
angelegt, seine Erkenntnisse zu
einem geschlossenen System zusammenzufügen. Bei allem eigenen
Scharfsinn blieb er viel eher ein
Prophet. Er sagte das, was er zu sagen hatte, unmittelbar aus der Situation heraus. Melanchthon brachte demgegenüber die Strenge des
Denkens ein, und mit der Strenge
des Denkens die Möglichkeit, sich
auseinanderzusetzen und sich zu
verständigen. Es kam also nicht
von ungefähr, dass er als erster ein
Lehrbuch schrieb, das den evangelischen Glauben entfaltete. Und
genauso wenig verwunderlich ist
es, dass aus seiner Feder die Schrift
stammt, die zum Grundbekenntnis
der lutherischen Kirchen wurde: Es
war das „Augsburger Bekenntnis“,
das im Jahr 1530 vor Kaiser und
Reich die evangelischen Einsichten
1. November –
Ausklang zum Reformationsfest49|
verständlich darlegen und dadurch
die Gegenseite überzeugen wollte.
Klassisch geworden ist zum Beispiel Melanchthons Feststellung,
die Kirche sei überall dort, wo das
Evangelium rein gepredigt und die
Sakramente dem Evangelium entsprechend gereicht werden. Mehr
ist an Gemeinsamkeit nicht nötig.
Alles andere, was damals trennen
mochte und was uns immer noch
von anderen Kirchen trennt, hat
keine entscheidende Bedeutung.
Die Kirchen dürfen in ihrer Gestalt und Ordnung unterschiedlich
sein! Im heftigen Streit der damaligen Zeit war das ein großes Angebot zur Einheit des Glaubens.
Nur wurde das nicht erkannt. Die
Neigung zur Trennung war stärker.
Erst heute, nach vielen Jahrhunderten, sind wir soweit zu entdecken,
dass uns Melanchthon hier den
Schlüssel zu einem offenen, vorurteilsfreien Umgang mit anderen
christlichen Kirchen gegeben hat.
Er verkörperte schon damals eine
wahrhaft ökumenische Gesinnung.
Melanchthon zog die Ordnung
dem Chaos vor, und das rechte
Maß liebte er mehr als Zügellosigkeit. Er war nicht nur Lehrer, sondern auch Gestalter seiner Kirche.
Dabei suchte er eher zu bewahren
als umzustürzen. Ohne seinen Einfluss sähe die evangelische Kirche
womöglich anders aus. Martin Luther konnte sich bisweilen über die
leise, abwägende und vermittelnde
Art seines Freundes belustigen.
Melanchthon trat nie so breitbeinig wie Luther auf, und er bot auch
den höchsten Autoritäten nicht so
wortgewaltig Paroli. Er war eher
ein Leisetreter. Aber Luther wusste
sehr wohl, was er an ihm hatte. Und
Melanchthon, der stets auf Ausgleich bedacht war, hat der evangelischen Reform der Kirche letztlich
ihre bleibende Gestalt gegeben.
Das haben später nicht alle in
gleicher Weise gewürdigt. Melanchthons Name ist über dem von
Martin Luther in den Hintergrund
gerückt. Im 19. Jahrhundert wurde
eine Fülle von „Lutherkirchen“ errichtet, eine davon auch in Kassel.
Aber immerhin gibt es in Deutschland wenn schon keine „Melanchthon-Kirchen“, so doch einige
„Melanchthon-Schulen“. Eure gehört dazu! Und das ist sachgemäß,
weil Melanchthon für das Schulund Bildungswesen in Deutschland
Bahnbre­chendes leistete. Man hat
ihn deshalb den „Praeceptor Germaniae“, den „Lehrer Deutschlands“, genannt.
Unsere evangelische Kirche, liebe Schulgemeinde, hat beide gebraucht: Luther und Melanchthon.
Wir verdanken unsere Kirche nicht nur den ungebundenen
und einsamen Propheten, sondern
ebenso denen, die lehrend vermitteln und gestaltend ordnen. Es gibt
da keine Rangfolge! Deshalb liegt
Melanchthon auch unmittelbar
neben Luther in der Wittenberger
Schlosskirche bestattet.
Damit hängt eine wichtige andere Einsicht zusammen: Nicht alles
ist in der Kirche in einer einzigen
Person vereint! Schon der Apostel Paulus wusste das und wurde
nicht müde, die Verschiedenheit
und die Besonderheit der Aufgaben in der Kirche hervorzuheben.
Es ist seltsam, dass ausgerechnet
wir Evangelischen oft dazu neigen,
den Blick allein auf Martin Luther
zu verengen und jene zu übersehen,
die auf ihre Weise dazu beigetragen haben, das Evangelium wiederzuentdecken und ihm Gehör zu
verschaffen. Wir haben alle unterschiedliche Gaben, und erst durch
ihr Zusammenspiel entsteht, was
die Kirche weiterbringt. Weil das
so ist, soll am Schluss noch einmal Philipp Melanchthon selbst zu
Wort kommen – Lehrer und zugleich Bekenner des Evangeliums:
„Summa
summarum:
Der
Mensch hat alle Dinge und vermag
alle Dinge, der den Herrn Christus
hat. Da sind Gerechtigkeit, Friede, Leben und Seligkeit. In dieser Weise siehst du die göttlichen
Verheißungen aneinander hangen.
Denn alle Verheißungen Gottes
sind nichts anderes als Anzeige
und Zeugnis des guten und gnä-
|50
digen Willens Gottes gegen uns
[...] Denn Gott befleißigt sich, uns
durch die Geschichten der ganzen
heiligen Schrift zu lehren und zu
gewöhnen, dass wir unsere Zuversicht und unser Vertrauen auf seine
Güte setzen.“
Das stimmt, liebe Schulgemeinde. Und wo er Recht hat, da hat
er Recht – unser Philipp Melan­
chthon. Amen.
Und der Friede Gottes, der alles
menschliche Begreifen übersteigt,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus.
Martin Hein, Bischof der Evangelischen
Kirche von Kurhessen-Waldeck
Das Melanchthon-Jahr 2010
Ein feste Burg ist unser Gott EG 362
Text und Melodie: Martin Luther
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3. Und wenn die Welt voll Teufel wär / und wollt uns gar verschlingen, /
so fürchten wir uns nicht so sehr, / es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt, wie saur er sich stellt, tut er uns doch nicht,
das macht, er ist gericht': ein Wörtlein kann ihn fällen.
4. Das Wort sie sollen lassen stahn / und kein' Dank dazu haben;
er ist bei uns wohl auf dem Plan / mit seinem Geist und Gaben.
Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin,
sie habens kein' Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.
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1. November –
Ausklang zum Reformationsfest51|
HNA 02.11.2010
|52
Schon einmal – anlässlich des
Festaktes zum 500. Geburtstag von
Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997 – hatte Professor Greschat im Steinatal einen Vortrag
über den Bildungsreformator gehalten. Zum 450. Todestag sprach
er hier erneut über ihn: diesmal
vor Schülerinnen und Schülern im
Jahrgang 12 sowie deren Fachlehrerinnen und -lehrern für Latein
bzw. Griechisch und weiteren Interessierten. In dieser Veranstaltung
ging es insbesondere um Melanchthons Liebe zu den alten Sprachen – Griechisch, Latein und
Hebräisch –, die auch in der Melanchthon-Schule erlernt werden
können (Hebräisch aktuell wieder
in einer AG). Genauso waren aber
dieje­nigen Zuhörer angesprochen,
die neue Sprachen lernen, weil es
im Vortrag nicht ausschließlich
um die Vermittlung altsprachlicher Kenntnisse ging, sondern viel
weitreichen­der: um Melanchthons
Rolle in der Reformationszeit.
Schulleiterin Christel Ruth Kaiser stellte den Kirchenhistoriker aus
Münster dem Auditorium vor:
Martin Greschat lehrte Evangelische Kirchengeschichte und Kirchliche
Zeitgeschichte an den Universi­
täten
Münster und Gießen. Er ist Verfasser
zahlreicher Bücher bzw. Aufsätze von
der Reformation im 16. Jahrhundert
bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts: Die lange Liste seiner Veröffentlichung spiegelt die beeindruckende
Bandbreite seiner Forschungen zur
Kirchengeschichte. Zeit seines Lebens
Das Melanchthon-Jahr 2010
hat er sich – neben vielfältigen anderen Forschungsgegenständen – immer
wieder mit Melanchthon befasst hat.
Exemplarisch seien nur drei seiner
Schrif­ten dazu genannt:
Der Titel seiner Dissertation, mit
der er 1965 zum Doktor der Theologie
promovierte, lautet „Melanchthon neben Luther“, wobei es um Fragen der
Rechtfertigungslehre ging.
Am 16. Februar 1997 – anlässlich
des 500. Geburtstages von Philipp
Melanchthon – hielt er in der Melanchthon-Schule den Vortrag „Philipp
Melanchthon: Intellektueller – Pädagoge – Christ“, der in der Fachzeitschrift „Patoraltheologie“ 1997/7 veröffentlicht wurde.
Und in diesem Jahr des 450. Todestages Melanchthons hat er wiederum
ein Buch herausgebracht, das den Titel „Philipp Melanchthon: Theologe,
Pädagoge und Humanist“ trägt (Gütersloher Verlagshaus).
Wir sehen schon an diesen Beispielen, die zu ergänzen wären, wie dicht
am Leben und Werk unseres Namenspatrons Professor Greschat über Jahrzehnte hinweg gearbeitet hat.
„Philipp Melanchthon –
Humanist, Pädagoge und
Theologe“
I. Von Chinesen und
den alten Griechen
Vor kurzem ging die folgende
Nachricht durch die Presse1: Ein
chinesischer Gelehrter forder­
te
von den Studenten seines Landes
Kenntnisse im Lateinischen und
Altgriechischen. Liu Xiaofeng,
Professor für Philosophiegeschichte an einer Pekinger Universität, erklärte in sei­nem Papier zur
Hochschulpolitik, dass man den
heutigen Westen nicht verstehe,
wenn man ihn nicht im Zusammenhang und in seinen Beziehungen zu den griechischen und römischen Ursprüngen begreife. Liu
hatte Theologie und Altgriechisch
in Basel studiert. „Als ich den Urtext der Klassiker lesen konnte“,
schrieb er, „spürte ich erst, wo der
Urgrund der westlichen Bildung
war.“ Jeder chinesische Student
solle deshalb fünf klassische chinesische und fünf antike europäische Bücher gelesen haben, wozu
er Homer, Platon und Xenophon
zählte. Der wissenschaftspolitische
Aspekt dieser chinesischen Zielsetzung muss uns hier nicht be­schäf­
tigen. Doch daran ist zu erinnern,
dass zur geistigen und kulturellen
Eigenart Europas in der Tat der
ständige Rückbezug zumindest der
intellektuellen Führungsschicht auf
die Antike gehörte.
Im alten Rom wandte man sich
1 Das Folgende nach FAZ, 20.01.10.
1. November –
Ausklang zum Reformationsfest53|
intensiv der griechischen Kultur zu,
nachdem ihre Städte unterworfen
waren. Seit dem frühen Mittelalter
galt das griechisch-römische Erbe
als Leitbild und Lehrmeister, zusammen mit dem damit aufs engste verschwisterten Christentum.
Dabei ging es keineswegs nur oder
primär um ein Nachsprechen und
Wiederholen, sondern stets auch
um Neues, um Verwandlungen
und Veränderungen. Das Urteil
erscheint mir zutref­fend: „Wann
immer sich Menschen aufmachten,
Abschied von ihrer eigenen Welt
zu nehmen und eine bessere jenseits des eigenen Horizonts zu finden, wandten sie den Blick zurück
in das ferne Land der Antike und
[ ... ] hofften, [...] eine Wahrheit zu
erfahren, über die keine Tradition
Macht haben konnte.“2
Was machte (und macht) das
Charakteristische jener Antike
aus, insbesondere in ihrer altgrie­
chischen Ausprägung, womit sie
Jahrhunderte lang die geistige, aber
auch politische Physiog­nomie Europas beeinflusst hat? In der gebotenen Kürze: Es ging um Freiheit,
um Freiheit so­wohl im politischen
als auch im persönlichen Bereich.
Anders als in den umliegenden
großen, aber auch kleinen Reichen und Stadtstaaten gab es in
Griechenland nicht die dauerhafte
Re­gierungsform der Universalmonarchie. Hier herrschten vielmehr,
2 Dahlheim, zit. bei Christian Meier,
Kultur um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas? 2.
Aufl. Frankfurt a.M. 2009, 15.
in Gestalt des Adels zu­
nächst,
eigenständige
Persönlichkeiten,
d.h. prinzipiell Gleiche. Insofern
existierten hier Ansätze der Demokratie. Wenn jedoch in diesem
Sinn Freiheit herrschte, wenn also
das Zusam­menleben nicht hierarchisch-metaphysisch geregelt war,
sondern in eigener Verantwortung
gestaltet werden musste, ergab sich
schnell eine Fülle von Problemen.
Denn natürlich dräng­ten auch in
Griechenland Menschen danach,
sich gegen andere durchzusetzen,
Machtpositio­
nen zu gewinnen
und auszugestalten, kurz: als Diktatoren zu agieren. So blieb das
Leben in der Polis durchgängig in
Bewegung. Unruhe bildete nicht
die Ausnahme, sondern die Regel,
getragen von dem dauerhaften Mühen um die rechte Ordnung, um
eine Mitte und ein Maß zu finden –
wozu grundlegend die Bereitschaft
zum Kompromiss gehörte.
Es liegt auf der Hand, dass mit
alledem die Entwicklung des Individuums zusammenging, die
viel­
seitige Entfaltung auch der
persönlichen Freiheit. Um anstehende Probleme zu lösen, be­durfte
es der Ausbildung der Vernunft,
des venünftigen Argumentierens.
Zugleich bewegte diese Griechen
die Frage, was der Mensch ist, was
er vermag – und was ihn scheitern
lässt. So konnten „menschliche Erfahrungen sondergleichen gemacht
werden. Sie konnten sich auf den
verschiedensten Feldern, in den
verschiedensten Formen ,klassisch‘
niederschlagen.“ Das ist das Ur-
teil des bekannten Althistorikers
Christian Meier.3 Er fragt: Ist da
nicht schon Europa? Und er fährt
fort: „Als erste Kultur, die nicht auf
Herrschaft beruhte, sondern auf
Freiheit; als Maßstab, als Vorbild,
vor allem als ganz neue Weise des
Weltbezugs, als offene, radikale
Art sowohl des Handelns wie des
Beobachtens, des Entscheidens
und damit des Diskutierens und
Infragestellens.“4
Wir wissen, dass sich im Europa des Mittelalters nie eine Universalmonarchie
durchzusetzen
vermochte. Kennzeichnend war
vielmehr ein dauerhaftes, strukturelles Mit- und Gegeneinan­der:
von Kaiser, Königen und Fürsten;
von Imperium und Sacerdotium;
von Adligen und Bürgern – usf.
Stets rangen unterschiedliche politische und geistige Kräfte miteinander. Inso­fern lässt sich von der
dauerhaften Unfertigkeit Europas
sprechen. Dazu gehörte wesentlich
auch die Kirche. Um noch einmal
Meier zu zitieren: „Das Christen3 Christian Meier, Kultur um der Freiheit
willen. Griechische Anfänge – Anfang
Europas? 2. Aufl. München 2009, 354.
4 Christian Meier, Athen und Rom. Der
Beginn des europäischen Sonderwegs.
In: Ders., Von Athen bis Auschwitz.
München 2002, 64-100; Zitat 87. Vgl.
auch: Ders., Um 1500. Das „Europäische Wunder“. Die Frage nach seinen
Voraussetzungen, ebd., 39-63. Zum
Ganzen: Eric L. Jones, Das Wunder
Europa.Tübingen 1991; Caroline Ale­
xander, Der Krieg des Achill. Die Ilias
und ihre Geschichte. Berlin 2009; Thomas A. Szlezák, Was Europa den Griechen verdankt. Tübingen 2010.
|54
tum sog also Antikes gera­
dezu
in sich hinein, füllte sich damit
in Exegese, Theologie und Kirchenorganisationen bis weit in den
Wortschatz, in die Begriffe hinein;
es führte den Prozess der Hellenisierung und Romanisierung weiter,
indem es neue Völker in ihn einbezog. Nicht zuletzt hat es die Bereitschaft und das Bedürfnis, Fragen
zu stellen, übernommen – um dies
alles dann weiter­zugeben.“5
II. Der deutsche Humanismus des 16. Jahrhunderts und Melanchthon
Ich konzentriere mich nun, unserem Thema entsprechend, auf
den wohl bekanntesten Rück­
griff
auf die antike Tradition mitsamt
ihrer eigenständigen Umgestaltung
in der Renaissance in Italien seit
etwa dem 14. Jahrhundert und der
speziellen Ausprägung durch den
Humanis­
mus nördlich der Alpen
seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert. Zu den bedeutendsten Huma­
nisten in Deutschland zählten Johannes Reuchlin und Erasmus von
Rotterdam. Ersterer wurde von der
neuen Geistigkeit nicht zufällig
während eines Italienaufenthaltes
in Florenz 1482 regelrecht überwältigt. Dass Reuchlin sowohl
religiös-philosophische Schriften
verfasste als auch philologisch-literarische Studien, machte ihn zur
Idealgestalt des humanistischen
wis­senschaftlichen Gelehrten.
Aufgrund seiner Kenntnis der
5 Christian Meier, Athen wie Rom (wie
Anm. 4), 96.
Das Melanchthon-Jahr 2010
drei alten Sprachen – Latein, Grie­
chisch und Hebräisch – galt er als
die Galionsfigur des wahren Humanisten, der fähig war, sich den
religiösen, geistigen und kulturellen Reichtum der Antike so umfassend wie eigenständig anzueignen.
Der Ruhm des Niederländers Erasmus übertraf dann, eine Generation
später, denjenigen des Schwaben.
Es war einerseits der glänzende,
an Cicero geschulte latei­nische Stil
des Erasmus, der faszinierte. Es
war gleichzeitig ein neues Lebensgefühl, das er proklamierte: die
Verschmelzung von christlichem
Glauben mit antiker Bildung und
Kultur – und daraus resultierend
eine schlichte, innerlich-moralische
Form der Frömmigkeit, die auf
Bescheidung, Friedfertigkeit und
Nächstenliebe zielte.
Eine Vielzahl von Anhängern
und direkten oder indirekten Schülern bewunderte Erasmus. Dazu
gehörte auch Philipp Melanchthon.
Doch Reuchlin wurde von ihm
nie vergessen. Das lag daran, dass
Philipp Schwartzerdt aus Bretten
Reuchlins geliebter und geförderter Muster­
schüler war. 1509 verlieh Reuchlin dem Zwölfjährigen
aufgrund von dessen glänzenden
lateinischen und auch schon griechischen Sprachkenntnissen den
humanistischen Ritterschlag, indem er dem Jungen jenen griechischen Namen verlieh, unter dem er
dann bekannt und berühmt geworden ist: Melanchthon (melanos =
schwarz, chtonos = Erde).
Es geht nun also primär um
Philipp Melanchthon. Inwiefern
ist das berechtigt? Es gab fraglos
neben Reuchlin und Erasmus eine
Vielzahl bedeutender Humanisten,
nicht nur in Europa, sondern auch
in Deutschland. Nicht wenige von
ihnen begegnen als große individuelle Bega­bungen, als faszinierende
Literaten oder in die Breite wirkende Publizisten. Warum also die Fokussierung auf Melanchthon? Um
die Antwort vorwegzunehmen:
Weil niemand auch nur annähernd
so viel wie er für die institutionelle Ausbreitung und Durchsetzung
des humanisti­schen Gedankengutes in weiten Teilen Deutschlands
geleistet hat. Reuchlin hatte zahlreiche gebildete Anhänger und Bewunderer. Um Erasmus kreisten in
ganz Europa Persönlichkeiten wie
Planeten um die Sonne. Melanchthon jedoch baute ein weit über
Deutschland hinausrei­chendes modernes Schulsystem auf.
Er kam 1518 als Schützling
Reuchlins als Professor für griechische Sprache und Kultur nach
Wittenberg, gerade 21 Jahre alt. Im
Zuge der dortigen Universitätsreform hatte Kurfürst Fried­rich der
Weise neue Dozentenstellen bewilligt. Die meisten gingen an die Artistenfakultät – dazu sogleich mehr.
Die Abkehr von der Scholastik und
die Hinwendung zu einem biblisch­
-humanistischen Lehrbetrieb in
Wittenberg bildeten den Anlass
für diese Erweiterung. Die dortigen Professoren fingen an, keineswegs allein Luther, anstelle der
mittelalterlichen philoso­phischen
1. November –
Ausklang zum Reformationsfest55|
und theologischen Kommentare
zu den Schriften des Aristoteles
die lateinischen und griechischen
Auslegungen der Kirchenväter der
ersten Jahrhunderte heranzuziehen, biblische Texte sowie andere
griechische Autoren.6 Für diese
Sprachen, angefangen vom verbesserten Latein bis zum Hebräischen
und Griechischen, benötigte die
Universität Dozenten. Sie sollten
nicht nur – wie es heute weitgehend
in den Theologischen Fakultäten
die Regel ist – Unterricht in jenen
Sprachen erteilen, sondern auch in
die geistige und kulturelle Umwelt
der antiken Überlieferung einführen.
Der Kurfürst bewilligte also jene
Stellen. Und weil ihm für seine geliebte Universität das Beste gerade
gut genug war, fragte er bei Reuchlin an, wie jene Stellen erstklassig
zu besetzen waren. So kam Melanchthon also nach Wittenberg.
Und er machte dort sogleich Furore. Seine An­trittsvorlesung hielt
Melanchthon „Über die Studienreform“ (De corrigendis adulescentiae studiis).7 Die Szene ist oft ge­
schildert worden: Wie der schmale,
leicht lispelnde und zunächst
schüchtern wirkende Jüngling mit
seiner feurigen Rede die Zuhörer,
zu denen auch Luther gehörte,
mitriss und regelrecht begeisterte.
Um es vorweg zu nehmen: Diese
6 Vgl. dazu den Überblick bei Martin
Brecht. Martin Luther. Sein Weg zur
Reformation 1483-1521. Stuttgart
1981, 264-268.
7 MStA, III, 29-42.
Zustimmung hielt auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten
an. In Melanchthons Vorlesungen
strömten die Studenten. An Hörern übertraf er dauerhaft Luther.
Man ging nach Wittenberg, hieß
es, um Luther zu erleben. Und
man blieb, um von Melanchthon
zu lernen. Der war ein begnadeter Pädagoge und ein glänzender
Redner. Seine erste Vorlesung fand
allerdings auch deshalb ein so positives Echo, weil Melanchthon sich
dadurch in die Front der Wittenberger Professoren einreihte, die
auf eine umfassende Studienreform
drängten, insbesondere im Blick
auf die Eingangsstufe. In diese so
genannte „Artistenfakultät“, benannt nach den „artes liberales“,
den sieben antiken freien Künsten,
lernten die jungen Menschen zunächst Grammatik, Dialektik und
Rhetorik, danach Geometrie und
Algebra, ein wenig Musik, Astronomie und Ethik – alles nach den
logischen und ethischen Schriften
des Aristoteles. Zum Abschluss
dieses rund vier Jahre dauernden
Studiums war man Magister (artium). Dieser Grad bildete die Voraussetzung für das Studium eines
der drei Hauptfächer: Theologie,
Jura oder Medizin. Sehr viele begnügten sich jedoch mit der Erlangung des Magistergrades – so auch
Melanchthon, der bewusst nicht
dar­über hinausstrebte.
Er blieb eine treibende Kraft des
modernisierten
humanistischen
Studiengangs in Wittenberg, von
1518 an bis zu seinem Tod 1560. Es
ist sicher richtig, dass sich um 1500
in Deutschland allgemein ein gesteigerter Drang nach mehr Wissen
und Bildung bemerkbar machte,
insbeson­
dere im städtischen Bürgertum, aber auch an den fürstlichen und kleineren adeligen Höfen.
Unter solchen Voraussetzungen fielen Melanchthons Aktivitäten auf
fruchtbaren Boden. Neben seiner
Tätigkeit in Wittenberg, die nun
zur größten deutschen Universität
aufstieg, mühte sich Melanchthon
um die Reform oder Neugründungen städtischer Lateinschulen,
die dann meis­
tens auch von seinen Schülern geleitet wurden. Er
wirkte nicht nur an der in Wellen verlaufen­
den Neuordnung der
Universitäten Wittenberg und Tübingen mit: Man rief ihn auch als
Fach­
mann für solche Reformen
nach Frankfurt an der Oder, Leipzig oder Heidelberg. An den Neu­
gründungen der Universitäten in
Königsberg und Jena war Melanchthon federführend beteiligt. Und
blickt man auf die Fülle der Gutachten und Denkschriften, die er zu
diesem Themenkreis verfasste, betrachtet man die Lehrpläne, Schulund Studienordnungen aus seiner
Feder sowie die Grammatiken und
Texteditionen, die Lehrbücher, die
er schrieb, wird die führende Rolle
Melanchthons als humanistischer
Erzieher deutlich. Er galt zunehmend als die herausragende Autorität für das gesamte Bildungswesen.
Und zu dem enormen Einfluss, den
er auf diesem Gebiet ausübte, gehörte nicht zuletzt, dass man über-
|56
all im Land, weit über Sachsen und
sogar das Deutsche Reich hinaus,
seinen Schülern auf den Kanzeln
und Kathedern begegnete. Natür­
lich hing das auch mit der erfolgreichen Ausbreitung der Reformation
zusammen – zu der Melanchthons
Bildungskonzept nicht unwesentlich beigetragen hat
III. Sprache und Kultur
Ich hoffe, es ist mir gelungen,
Ihnen einen Eindruck von der
breiten pädagogischen und huma­
nistisch-kulturellen Wirkung Melanchthons zu vermitteln. Im Blick
darauf bezeichneten ihn die Zeitgenossen als Lehrer Deutschlands,
„Praeceptor Germaniae“. So redeten natürlich nur die Protestanten,
und sie bezogen sich dabei primär
auf die der Reformation zugewandten Territo­rien. Doch unübersehbar
ist, dass die später von den Jesuiten
getragene katholische Reform sich
auf Melanchthons humanistischpädagogisches Erbe stützte. Einzelheiten mögen hier auf sich beruhen. Wichtiger erscheint mir jetzt,
nach der Betrachtung der Außenseite von Melanchthons Wirken,
deren Innenseite etwas genauer zu
betrachten. Was motivierte ihn zu
seiner Tätigkeit? Was faszinierte
Melanchthon und dann auch seine
Studenten bei diesem Tun?
Da ist zunächst der Bereich der
Sprache zu nennen. Melanchthon
hatte nicht nur Freude an sprachlicher Eigenart und Eleganz, sondern besaß auch ein ästhetisches
Empfinden für die klare logische
Das Melanchthon-Jahr 2010
Fügung des Lateinischen, im
Unterschied zum Wohllaut des
Griechischen und der harten Ursprünglichkeit des Hebräischen.
Sein besonderes Interesse und
seine Vorliebe galten natürlich,
schon aufgrund seiner Professur,
dem Griechischen. Man übersieht
leicht, dass Me­
lanchthon, ungeachtet seiner enormen quantitativen und qualitativen Beiträge zur
reformatori­
schen Theologie, bewusst in der Artistenfakultät blieb
und dort Jahr für Jahr Vorlesungen
und Übungen über altgriechische
Autoren anbot. Er las über Homer
und Thukydides, über Pindar und
Aristophanes – um nur einige der
von ihm ausgelegten Klassiker zu
nennen. Bis in seine späten Jahre
warb Melanchthon unermüdlich
für die Beschäftigung mit dem
Griechischen. Seine 1549 gehaltene Rede über den „Bildungswert
des Griechischen“ (Oratio de studiis lingu­ae Graecae)8 eröffnete er
mit dem Satz: „Porro inter linguas
Graeca, sive multiplicem doctrinam spectemus, quam Deus per
hanc linguam humano generi impertivit, seu suavitatem atque ele­
gantiam, facile primum locum
obtinebit.“ (Unter allen Sprachen
erlangt die griechische, ob man
nun die Lehrinhalte betrachtet, die
Gott durch sie dem Menschengeschlecht übermittelt hat, oder ihre
8 MStA III, 139-147. Die deutsche Übersetzung nach G. R. Schmidt, Philipp
Melanchthon, Glaube und Bildung.
Texte zum christlichen Humanismus,
lateinisch und deutsch. Stuttgart 1989,
182-203. Zitate 182f., 187.
wohlklingende Schönheit, leicht
den ersten Rang.) Neben dem ästhetischen Genuss, den das Griechische vermittelte, sprach Melanchthon also davon, dass in und mit
dieser Sprache das Wesentliche und
Besondere dieses Denkens zum
Ausdruck kommt – „die Lehre von
einem sittlichen, bewusst gestalteten und wahrhaft menschlichen
Leben“, wodurch die griechische
Sprache „zur Lehrerin der besten
und höchst lebenswichtigen Künste und Wissenschaften geworden
war, zum Speicher der Vergangenheit und Weltgeschichte“. Das war
der dritte Gesichtspunkt, der Melanchthon beschäftigte: Die Griechen übermittelten in umfassender
Weise, d.h. auf sämtlichen Gebieten, das noch immer grundlegende Wissen der Antike. Ohne diese
Tradition existierte mithin keine
Wissenschaft.
Unmittelbar zu den Überlegungen über die Sprache gehörte für
Melanchthon die Frage des Stils.
Als mustergültig erschienen ihm
wiederum die Motive und Formen der Antike. Zum Vorbild erhob auch er vor allem Cicero. Man
sollte ihn jedoch nicht mechanisch
nachahmen, sondern zunächst einmal von einem Vorgang oder Gegenstand angerührt, ja ergriffen
sein. Erst dadurch, urteilte Melanchthon, ließe sich Wesentliches
erfassen und dann auch sprachlich
angemessen aussagen. Stil war insofern Ausdruck einer gebildeten
Persönlichkeit. Melanchthon hätte
dem französischen Sprichwort voll
1. November –
Ausklang zum Reformationsfest57|
und ganz zugestimmt: „Le style,
c’est l’homme.“ (Der Stil macht den
Menschen aus.)
Somit stehen wir bei Melan­
chthons Hochschätzung der Rhetorik. Sprachen hatten gewiss eine
rationale Funktion: Mit ihrer Hilfe
werden Informationen transportiert, wird Wissen vermittelt. Darauf hob Melanchthon häufig ab,
z.B. bei seiner Forderung, Griechisch zu lernen, weil man nur so
Zugang zu den antiken Kenntnissen und Wissenschaften erlangte.
Aber Sprachen – und zumal die
griechische – weckten zugleich
Empfindungen, Mitgefühl, bereiteten Freude oder Trauer. Und
ebenso wie die rationale Information auf den Leser oder Hörer zielte,
wollte auch die emotionale Erfahrung weitergegeben werden. Beides geschah durch Sprache, durch
Reden, Vortrag, Deklamation,
Vorlesung oder auch Predigt. Sie
sollten stets die Zuhörer bewegen,
ihr Gemüt ansprechen, sie für das
Rechte, Gute und Schöne mobilisieren. Man mag das moralisie­
rend nennen. Aber diese Rhetorik
griff insofern darüber hinaus, als
sie Sensibilität bewirken wollte, die
Bereitschaft und Befähigung für
Kultur und kulturelles Erleben.
Ein Beispiel mag verdeutlichen,
worum es Melanchthon in diesem
Zusammenhang ging. Vermutlich
1520, also nach seiner Heirat und
der Gründung eines eigenen Hausstandes, richtete er eine Privatschule ein, worin er besonders Begabte
unterrichtete, allerdings auch Ju-
gendliche, die ihm hochgestellte
Persönlichkeiten anvertrauten. Für
diese Schule gab Melanchthon mit
exakten inhaltlichen Angaben ein
Bild bei dem berühmten Maler Lucas Cranach dem Älteren in Auftrag, der nur wenige Häuser weiter
in Wittenberg wohnte und dort
eine große Werkstatt unterhielt.
Dieses Bild brachte Melan­chthon
dann neben dem Katheder in seiner
Privatschule an.
Das Gemälde ging verloren. Erhalten geblieben ist lediglich ein vergröbernder Holzschnitt in Melan­
chthons 1523
erschienenem „Handbuch für den
Elementarunterricht“.9 Dargestellt
ist eine nahezu nackte, sitzende Frauengestalt mit wehendem
Haar. Über ihrer Brust liegt ein
durchsich­tiger Schleier.
In der Rechten hält sie ein Buch,
bei dem es sich offenkundig nicht
um die Bibel handelt. Mit der Linken hebt sie einen Strauß Rosen
mit auffällig großen Dornen empor. Die Unterschrift lautet „Sophrosyne“. Beigefügt ist der Vers:
„Auf dornigem Weg steigst Du zur
Tugend hinan.“ Es handelt sich also
um eine allegorische Darstellung
der Mühen des Lernens, wodurch
Erkenntnisse gewonnen werden,
die Freude bereiten.
9
Enchiridion elementorum puerilium. Wittenberg 1523. Zu Cranachs
allegorischen
Darstellungen:
Elke Anna Werner, Die Schleier der Venus. Zu einer Metapher
des Sehens bei Lucas Cranach d.Ä.
In: Cranach der Ältere. Frankfurt a.M.
2008, 99-109.
Doch hinter dem, was sich dem
Betrachter unmittelbar erschließt,
steht mehr. Das lateinische Äquivalent „Temperantia“ umfasst weniger als das griechische „Sophrosyne“. Dieses Wort drückt einerseits
das Begehren von Angenehmem,
Lustvollem aus, andererseits aber
auch dessen Eingrenzung durch
Maßhalten und vernünftiges Planen. So verstanden Platon und
Aris­toteles das Wort.10 Unterstrich
das Motto also das Mühen und die
Anstrengungen des Lernens, legten
Bild und Unterschrift den Akzent
auf die daraus erwachsende Freude
und den Lustge­winn.
Doch warum ist die Dame
nackt? Die geläufigen allegorischen
Darstellungen der Tugenden zeigten stets bekleidete Gestalten. Erst
Lucas Cranach der Ältere durchbrach diese Tradition. Er malte als
er­ster Künstler nördlich der Alpen
weibliche Akte. Dabei handelte es
sich um leben­dige Menschen – was
Cranach z.B. durch die wehenden
Haare ausdrückte. Dass es sich bei
diesen Gemälden trotzdem nicht
ausschließlich um die Abbildung
weiblicher Schönheit handel­te, belegt der auf diesen Aktgemälden
stets begegnende Schleier. Er verhüllte nichts, unterstrich eher noch
die ästhetische Körperlichkeit. Der
Schleier besaß Verweischarakter:
Er drückte aus, dass das Eigentliche, das Wahre hinter der unmittelbar erkennbaren Wahrnehmung
existierte und dort zu suchen sei.
10Vgl. Platon, Politeia, Buch IV; Aristoteles, Nikomachische Ethik, IV, 3.
|58
Das Melanchthon-Jahr 2010
Das war im Sinn der platonischen
Metaphysik gedacht und gestaltet: durch das Sichtbare hindurch
gelangte der nachdenkende, der
intellektuell und sittlich strebende Mensch zum Wesentlichen.
Das Gemälde verwies also auf die
eigentliche Wirklich­
keit, auf die
wahren, ideellen Werte. Das alles
bedeutete: Melanchthon nahm mit
seinem Bild die in konservativen
Kreisen als heidnisch attackierte
moderne Steigerung der Sinnlichkeit in Renaissance und Humanismus bewusst auf. Aber ebenso wie
Cranach blieb er nicht dabei stehen,
sondern unterstrich gleichzeitig die
darüber hinausführende rationale
Anstrengung, zu der Besonnenheit
und Selbstbeherrschung gehörten.
Was somit auf den ersten Blick als
schlich­te moralische Mahnung erscheinen mochte – darum ging es
Melanchthon
selbstverständlich
auch – konnte und wollte den tiefer Blickenden, den auf dem Wege
des Lernens, Strebens und Erkennens Voranschreitenden in eine dialektische Bewegung des Erlebens
und Denkens, des emotionalen
Erlebens und rationalen Verstehens hinein nehmen: „Sinnliche
Lust, antike My­thenrezeption und
christliche Tugendlehre schließen
sich bei Cranach“ – und ich füge
hinzu: ebenso auch bei Melanchthon – „also nicht aus, sondern
ergänzen sich gegenseitig, um die
intellektuelle Reflexion des gebildeten Betrachters zu stimulieren.“11
IV. Humanismus und
Reformation
Solcher Humanismus führte
zur Religion, keineswegs nur bei
Melanchthon. Frömmigkeit und
Bildung, Pietas et Eruditio, gehörten für ihn wesensmäßig zusammen. Melanchthon konnte beides
sehr selbstverständlich aneinander
rücken. In der bereits genannten
Rede über den Bil­
dungswert des
Griechischen erklärte er: Da Gott
den Menschen in dieser Sprache
sämtliche Erkenntnisse und Wissenschaften schenkte, wolle er zugleich, „dass wir in ihr auch nach
der Lehre von seinen ewigen Gütern suchen, die er uns gleichzeitig mit diesen weltlichen mitteilen
will.“12 Das bedeutete natürlich
nicht, dass Wissen, Bildung und
Kultur auf derselben Ebene wie
die Offenbarung Gottes in Jesus
Christus standen. Aber sie bildeten
eben auch keinen Gegensatz dazu –
weil es sich hier wie da um dieselben Menschen handelte.
Das bedeutete zunächst einmal, im Blick auf die Umwelt:
Angesichts der schon erwähnten
gewachsenen intellektuellen Erwartungen führender Schichten
in Deutschland um 1500 genügte
vielen Menschen das traditionelle
religiöse Angebot der Kirche nicht
mehr. Die Kritik an der Kirche und
ein gesteigerter Antiklerikalismus
waren nicht zuletzt Ausdruck großer und dann enttäuschter Erwartungen. Vereinfacht ausgedrückt:
Man wünschte nicht einfach mehr
11Elke Anna Werner [wie Anm. 5], 104.
12Wie oben, Anm. 4, 189.
Messen und nur die Austeilung der
Sakramente, verbunden mit allgemeinen moralischen Weisungen.
Gefragt und gefordert waren vielmehr die persönliche Anrede und
anspruchsvolle Antworten auf die
Fragen des Glaubens und die Probleme des Lebens. Dem kamen die
reformatorische Theologie und Praxis mit der Konzentration auf die
Verkündigung des Wortes Gottes,
die Predigt also, entgegen. Doch
dieses Wort Gottes musste nun
auch im Blick auf den Menschen
bedacht und gestaltet werden.
Anders ausgedrückt: Es galt, die
Prediger so zu unterrichten, dass
sie den Suchenden und Fragenden
gleichsam auf Augenhöhe zu begegnen vermochten. Deshalb sollten die Pfarrer die gleiche Ausbildung erhalten wie die Bürger und
sich im selben Bildungshorizont
wie diese bewegen können. Die
Prediger mussten also studieren
und möglichst den Grad eines Magisters erwerben. Dahinter stand
Melanchthons Vision des humanen
christlichen Menschen, der inmitten der komplexen und komplizierten Umbrüche in der Kirche und
Gesell­
schaft jener Zeit Antwort,
Orientierung zu geben vermochte.
Eine Kirche, die solchen human
und kulturell entfalteten christlichen Werten in der Gesellschaft
Raum gab und dafür überzeu­gend
eintrat, würde auf viele Menschen
anziehend wirken.
Das alles war durchaus elitär
gedacht. Aber es bedeutete nicht,
dass das Evangelium darum auf
1. November –
Ausklang zum Reformationsfest59|
Intellektuelle oder kulturell gebildete Zeitgenossen zugeschnitten
werden müsste. Es sollte allerdings
auch auf dieser Ebene reflektiert
werden, was Menschsein im Licht
der Offenbarung Gottes bedeutete.
Zu solcher Humanität gehörte die
Fähigkeit des Maßhaltens und der
Selbst­
begrenzung. Doch mindestens ebenso sehr zählte dazu die
Freiheit, die Freiheit des einzelnen,
seine Individualität mitsamt dem
Willen, die eigenen geistigen Möglichkeiten zu entfalten und so der
Würde des Menschen Ausdruck zu
verleihen.
Diese Feststellung fügt sich exakt in das Selbstverständnis des
europäischen Humanismus ein.
Deutlich ist, dass der Gedanke
der Freiheit hier eine schlechthin
grundlegende Rolle spielte. Unter
dieser Prämisse konnte z.B. Ulrich
von Hutten im Oktober 1518 seinen Brief an den Nürnberger Patrizier Willibald Pirckheimer mit
dem Ausruf beschließen: „Oh Jahrhundert, oh Wissenschaft! Es ist
eine Lust zu 1eben.“13 Die Freiheit
des Menschen proklamierte Erasmus mit allem Nachdruck in seiner
Schrift „De libero arbitrio“ gegen
Luther und die Reformation. Man
wollte loskommen von den tradierten Einengungen der Gesellschaft,
wollte hinter sich lassen, was behinderte, wohl auch verpflichtete,
um etwas Neues zu wagen. Gefeiert wurde das Individuum, geprie13Zit. bei Karl Kaulfuß-Diesch, Das
Buch der Reformation. Leipzig 1917,
128.
sen der Zusammenschluss gleich
gesinnter Geister über alle Grenzen
und Mauern hinweg. Man bejubelte die Großartigkeit des Menschen,
rühmte seine Stärken, seine unerschöpflichen oder jedenfalls noch
längst nicht ausgeschöpften Fähigkeiten. Gewiss, vieles davon war
Literatur, war verbaler Auf- und
Überschwang. Aber darin äußerte
sich unverkenn­bar ein verändertes
Welt- und Selbstverständnis.
Das alles galt in hohem Maß
auch für Melanchthon. Aber seine
Teilhabe an diesem selbstge­wissen,
optimistischen Geist war durch seine Begegnung mit Luther und der
reformatorischen Theologie reflektierter, spannungsreicher geworden.
Melanchthon sah jetzt nicht nur
reale Begrenztheiten und unübersehbare Schwächen des Menschen,
sondern seine tiefe Fragwürdig­keit,
Bosheit und Eigensucht, also was
die Bibel „Sünde“ nannte. Diesem
Faktum galt es ins Auge zu sehen,
d.h. dem Gericht, der Verurteilung
des Menschen durch Gott. Wer
sich jedoch auf diese Weise Gott
ausgeliefert sah und Gott Recht
geben musste, der vermochte sich
dann auch auf die frohe Botschaft
des göttlichen Erbarmens einzulassen, auf die Zusage des Evange­
liums, d.h. des schenkenden und
befreienden Wortes der Gnade, der
Barmherzigkeit und Liebe Gottes.
Theologisch formuliert: Aus dem
Glauben an das Evangelium erwuchs die Rechtferti­g ung des Sünders und darin die wahre, christliche Freiheit. „Ein Christenmensch
ist ein freier Herr über alle Dinge
und niemandem untertan“, hatte
Luther 1520 im Traktat „Von der
Freiheit eines Christenmenschen“
geschrieben, jedoch zugleich hinzugefügt: „Ein Christenmensch ist
ein dienstbarer Knecht aller Dinge
und jedermann untertan.“14 Luther
schloss seine Ausführungen mit
dem Satz: „Siehe, das ist die rechte,
geistliche, christliche Freiheit, die
das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche jede andere Freiheit übertrifft,
wie der Himmel die Erde.“
V. Orientierung für ein
christliches Leben
Wenn Frömmigkeit und Bildung
jedoch die unerlässliche Grundlage des Lebens und Agierens des
Christen ebenso wie der christlichen Gemeinde bildeten, stellte
sich die Frage, wie von da aus das
Zusammenleben zu organisieren
wäre. Wie sollte die gebotene Ordnung aussehen? 1536 – es war auch
das Jahr, in dem die „Wittenberger
Konkordie“ gelang, die Übereinkunft der Wittenberger Theologen
mit Martin Bucer und den süddeutschen Theologen in der Frage
des Abendmahls; es war das Jahr, in
dem der Kurfürst dem berühmten
Professor Melanchthon das repräsentative Haus neben dem Augustinerkloster schenkte, das noch bestehende Melanch­thonhaus – 1536
also hielt dieser eine Rede „De lau14Luthers Werke in Auswahl, hg. von
Otto Clemen. Bd.2, Berlin 1950, 11,
6ff.; 27, 26ff.
|60
de vitae scholasticae“, frei übersetzt:
„Die Schule als Grundlegung des
gesellschaftlichen Lebens“.15 Aus
pietas und eruditio resultierten hier
die beiden Richtpunkte Wahrheit
und Gerechtigkeit. Melanchthon
bezeichnete sie als zentral für das
bürgerliche und religiöse Leben.
Dazu formulierte er sogleich die
These: „Beides zu erforschen und
zu entfalten ist den Schulen anvertraut.“
Mit „Schule“ war hier die Hochschule, die Universität also, gemeint. Warum sie und nicht die
Kirche, der Fürstenhof oder das
Gericht, also Religion, Politik, Justiz oder Bürokratie? Weil sie alle,
urteilte Melanchthon, abhängig
waren von dem, was an der Universität gedacht, konzipiert und
ausgearbeitet wird. Die genannten
Größen schufen die Voraussetzungen nicht selbst, auf­grund derer sie
agierten.
Worum ging es dabei inhaltlich? Melanchthon sprach von
Informationen, Kenntnissen und
Wissen, die – stets ausgerichtet auf
Wahrheit und Gerechtigkeit – an
der Universität gewonnen werden.
Doch es ging um mehr. Für Melanchthon war die freie Betätigung
des einzelnen, sodann die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden wichtig, schließlich ihrer aller
Bewusstsein der Verantwortung
für das Ganze in Kirche, Staat
und Gesellschaft. Die Vielzahl der
Fächer, aber auch der Lehrenden
15G. R. Schmidt [wie Anm. 4], 204-221.
Zitate 204f.; 211; 209.
Das Melanchthon-Jahr 2010
boten eine Fülle von Anregungen.
Das forderte zu Ver­
gleichen heraus, förderte die Diskussion und
drängte zum Wettstreit untereinander. Jeder, der hieran teilnahm,
ehrte und lobte dadurch zugleich
Gott: „Denn er trägt zur Erhaltung
lebensför­dernden Wissens bei, zur
Bildung der Gesinnung und des
Urteilsvermögens, zur Bewahrung
des Friedens und zur Verringerung
vieler Missstände im öffentlichen
Leben.“ Und nicht zuletzt resultierten daraus Freude und Lust an
allerlei Erkenntnissen. Das würde,
alles in allem, urteilte Melanchthon, „eine fröhliche Schule“ sein.
Prof. em. Dr. theol. Martin Greschat,
Münster
Linolschnitt, Arbeit aus dem Kunstunterricht 1997 (500. Geburtstag Melanchthons)
61|
Dank
Wir danken denjenigen Personen und Gruppen, die zum Gelingen der Feierlichkeiten im Melan­chthon-Jahr
2010 beigetragen haben. Im Einzelnen:
aus der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck
•
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Bischof Prof. Dr. theol. Martin Hein: für seine Predigt am 01.11.2010 und die Abdruck­genehmigung seines Vortrags
über Philipp Melanchthon am 14.04.2010 in der Stadtkirche St. Georg zu Schmalkalden;
Prälatin Marita Natt: für ihre Predigt am 16.02.2010;
Dekan Christian Wachter: für seine Predigt am 19.04.2010;
Schulpfarrerin Britta Holk-Gerstung für die Vorbereitung und Mitgestaltung der Andacht am 16.02.2010 sowie der
Gottesdienste am 19.04. und 01.11.2010;
aus dem Hochschulbereich
•
•
Prof. em. Dr. theol. Martin Greschat, Münster: für seinen Vortrag am 01.11.2010 und dessen Abdruckgenehmigung
für dieses Heft;
Prof. em. Dr. theol. Hans Schneider, Marburg: für seinen Vortrag am 19.04.2010 und dessen Abdruckgenehmigung
(in gekürzter Fassung) für dieses Heft;
aus der Schulgemeinde der Melanchthon-Schule
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dem Schüler Jan-Philipp Hofmann (Klasse 7a, im Schulj. 2009/10): für seinen Gedichtvortrag am 16.02.2010;
der Schülerin Johanna Georges und dem Schüler Oscar Jöckel (beide Jahrgangsstufe 12, im Schulj. 2009/10): für
Lesungen zu Biografie und Werk Melanchthons am 19.04.2010;
den Schülerinnen Carola Merle und Ines Diegler (beide Jahrgangsstufe 12, im Schulj. 2009/10) und ihrem Sprachenlehrer Dr. Robert Nischan: für altsprachlichen Lesungen (griechisch/lateinisch) aus dem NT bzw. den „Loci communes“ samt deutschen Übersetzungen am 19.04. und 01.11.2010;
den Schülerinnen Carla Giesinger, Hanna Müller-Wolff und dem Schüler Pascal Lindner (alle Jahrgangsstufe 11, im
Schulj. 2010/11) sowie deren Religionslehrerin Lotte Kraushaar: für die Präsentation selbst verfasster fiktiver Briefe
aus der Melanchthon-Zeit am 01.11.2010;
den Schülerinnen und Schülern im Bläser-Ensemble des Schulposaunenchores unter Leitung von Landesposaunenwart Ulrich Rebmann: für ihr Vorspiel zeitgenössischer Bläsermusik aus dem 16. Jahrhundert bzw. ihre Begleitung des
Gemeindegesanges an allen Festtagen;
den Schülerinnen und Schülern des Oberstufenchores sowie des Blockflöten-Quartetts unter Leitung von Musiklehrer und Kantor Manfred Muche: für vielfältige Darbietungen musikalischer Werke aus der Melanchthon-Zeit am
19.04. und 01.11.2010;
allen Lehrkräften, die sich in engagierter Weise für die Mitgestaltung des Melanchthon-Jahres eingesetzt haben;
allen Mitarbeitenden, die organisatorisch für einen reibungslosen Ablauf der Festveranstaltungen gesorgt haben;
aus der heimischen und landeskirchlichen Presse
•
•
der HNA für ausführliche Berichterstattung über alle Festveranstaltungen im Melanchthon-Jahr 2010;
dem „Kasseler Sonntagsblatt“ und „blick in die kirche“ für ihre Artikel zum 16.02. und 19.04.2010.
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Alljährlich publiziert die Melanchthon-Schule eine Broschüre der Schulschriftenreihe „Steinataler
Hefte“ als spezifischen Beitrag zum Bildungs- und Erziehungskonzept an einer evangelischen
Schule. Mit dieser Initiative verbindet sich die Zielsetzung, den Lesern eine authentische und facettenreiche ,Innensicht‘ unseres schulischen Lebens zu ermöglichen, d.h. Einblicke in die fachliche Arbeit der verschiedenen Aufgabenfelder, ebenso in das Angebot außerunterrichtlicher Aktivitäten zu geben. In Text und Bild – einem bunten Bilderbogen gleich – soll das pädagogische
Konzept unseres Gymnasiums in der Trägerschaft der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) von Jahr zu Jahr ,greifbare‘ Konturen gewinnen und zeigen, was „evangelisch lernen“ heißt. Wir wünschen uns Hefte, die man gern in die Hand nimmt, weil sie Bildungserlebnisse
in einer evangelischen Schule anschaulich präsentieren, fachlich Reizvolles darbieten, Anregung
und Lust zum Lernen vermitteln, Erinnerungen an die Schulzeit wecken … Wir wenden uns darum zuerst an alle Mitglieder der Schulgemeinde: die Schülerinnen und Schüler, die Eltern und Erziehungsberechtigten, Kollegium und Mitarbeiterschaft sowie den Kreis der ,Ehemaligen‘. Darüber hinaus freuen wir uns über alle Interessierten, die Schule in kirchlicher Trägerschaft als Modell
und Chance für Schulentwicklung verstehen und unsere Arbeit in kritischer Zuwendung begleiten.
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In der Schulschriftenreihe „Steinataler Hefte“ sind bereits acht Themenhefte erschienen.
Die Hefte können über die Wirtschaftsleitung der Melanchthon-Schule bezogen werden:
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