- Blausand

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Vorläufiges Buchmanuskript
„Der Himmel stand still“ - Geschichten über das Ertrinken
Das Buch des Bremers Rolf Lüke (Herausgeber) beschreibt
Entstehungsgeschichten, Ursachen, auch sehr persönliche
Erfahrungen und Folgen aus tödlichen und nicht tödlichen
Ertrinkungsunfällen. Es sind Protokolle der Hilflosigkeit und der
Verzweiflung, aber auch der Menschlichkeit und der Hoffnung. Etwa
dann, wenn sich Betroffene engagieren, wenn sie die Verantwortlichen
in die Pflicht nehmen, auch um den Tragödien einen Sinn zu geben.
Ergänzt werden die Geschichten durch Tipps von A bis Z für einen
sicheren Badeurlaub in Europa. Im Teil 2 (nicht enthalten) weist der
Autor nach, dass mit realisierbaren Maßnahmen eine Reduzierung der
Ertrinkungszahlen in Europa um mindestens 30 Prozent machbar ist.
Statistisch gesehen ertrinken in Europa jeden Tag 100 Menschen. Allein in Deutschland gibt es
jährlich zwischen 400 und 600 tödliche Ertrinkungsunfälle. Bei Kindern ist Ertrinken nach
Verkehrsunfällen die zweithäufigste unfallbedingte Todesursache. Bei Erwachsenen über 50
Jahre steigt die Zahl der Opfer seit einigen Jahren kontinuierlich an. Nach Angaben der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt es weltweit pro Jahr ungefähr 400.000 Menschen, die
im Wasser ums Leben kommen. Achtzig Prozent aller Badeunfälle im Meer, in Seen, Flüssen,
Schwimmbecken und Teichen könnten durch bessere präventive Maßnahmen verhindert werden.
Rolf Lüke ist Strandsicherheitsexperte, Gründer der Organisation Blausand.de und des
Webportals www.blausand.de für Reisen, Freizeit und Badesicherheit in Europa. Seine Schwester
ertrank 1999 in Spanien. Der Autor hat 600 Strandabschnitte in Europa untersucht und
bewertet, hält Vorträge zur Sicherheit im Badeurlaub und führt Risikobewertungen sowie
Unfallanalysen durch. Er verfügt über eine 40jährige Berufserfahrung, unter anderem als
Marketing- und Touristikexperte, Geschäftsführer des
Bundesverbandes Verwaiste Eltern in Deutschland und
als Unternehmensberater für Non ProfitOrganisationen. Blausand.de gibt den monatlichen
„Newsletter gegen das Ertrinken“ heraus. Der Autor
hat in Zeitungs-, Fernseh- und Radioberichten (Stern,
Focus, taz, Die Zeit, Planetopia, Talkshow im NDR,
Markus Lanz im ZDF) als Autor und Gesprächspartner
für Badesicherheit mitgewirkt und im Mai 2008 die
Foto-Installation 100EACHDAY mit einhundert blau eingefärbten Urlaubern als Metapher für
einhundert Ertrinkungsopfer pro Tag in Europa durchgeführt. 2009 wurde Rolf Lüke für den
Bremer Bürgerpreis nominiert. Ab 2010 verleiht Blausand.de jährlich die Awards für die
„Strände des Jahres“ in Deutschland.
Weil Rip-Strömungen (Rip Currents) für die meisten Badeunfälle im Meer ursächlich sind, sollen
die Erkenntnisse des International Rip Current Symposiums, das Mitte Februar 2010 in Miami
(USA) stattfinden wird, für dieses Buch im Teil 2 Berücksichtigung finden. Geplant ist die
endgültige redaktionelle Fertigstellung im März 2010.
Vorläufiges Manuskript zum Buch „Der Himmel stand still – Menschen berichten über das Ertrinken“
Autor: Rolf Lüke | Werderstr. 39/41 | 28199 Bremen | Mobil 0172/4003073
Mail: [email protected] | Web: www.blausand.de, www.beachsafety.eu
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TRAUER
Rolf Lüke: Der Himmel stand still Seite 4
Diane Unkert: Unser kleiner Stephan, für immer schlafend Seite 14
Susanne Frerix: Nach einer halben Stunde konnte er nicht mehr Seite 17
Ulla Suck: Erinnerung und ein Stück Menschlichkeit Seite 18
Brigitte Flanagan: Strandtag Seite 20
Evelyn Wagner: Eiseskälte Seite 24
Özkan Arslan: Narbe in der Seele Seite 28
Elisabeth Seitz: Chiamo il soccorso 113 Seite 34
Andrea Goebel: Ungleicher Kampf Seite 36
Hans-Jürgen Christ: Er hatte noch so viel vor Seite 41
Wolfgang und Ingrid Scheffelmeier: Nein, das ist ein Irrtum. Nicht Sammy Seite 49
Ronald Schmid: Vom traurigen Umgang mit der Trauer Seite 55
Kathrin Böhler: Otto, der Schneeleopard Seite 59
Tipps von „Ärzte“ bis „Baywatch“ Seite 68
ÄNGSTE
Johannes Schultz: Aus, dachte ich, gleich ist es aus Seite 75
Antje Wiederhold: Im Meer mag ich nicht mehr schwimmen Seite 78
Klaus Schäfer: Playa Muerte Seite 79
Tipps von „Begrüßungstreffs“ bis „Erste Hilfe-Kurse“ Seite 81
GEFAHREN
Eva Schabedoth: Never trust the sea Seite 89
Heinz Kirchner: Schutzengel Seite 90
Thomas Birker: Ein müdes Danke. Das war´s Seite 91
Wilfried Wittstruck: All inclusive!? Seite 92
Jo-Ann Hüls: Zweiter Geburtstag Seite 93
Tipps von „Ersthelfer“ bis „Griechenland“ Seite 95
AUGENZEUGEN
Ines Heckmann: Toller Hecht Seite 99
Guido: Alles falsch gemacht Seite 101
Karlheinz Schmitt: Kaum einer rettet dich Seite 102
Stefan Bauer: Sinnlose Tragödie Seite 104
Claudia Stellmacher: Wir haben unser ganzes Leben miteinander verbracht Seite 105
Tipps von „Grüne Flagge“ bis „No risk, no fun“ Seite 109
GESCHENKTE LEBEN
Karl-Heinz Fucker: nie erfahren, wer sie waren Seite 115
Norbert Mertens: Nessi Seite 116
Jürgen Kosian: Wasserwand Seite 118
Tipps von „Notruf“ bis „Schwimmflügel“ Seite 122
HOFFNUNG
Jochen Börner: Alles, was bleibt… Seite 128
Claudia Neumann: Lebenslänglich Seite 133
Hans Heinrich Tietje: Der schönste Sommer meines Lebens Seite 135
Tipps von „Senioren“ bis „Zehn Irrtümer“ Seite 137
Pressestimmen zu Rolf Lüke Seite 146
Autoren Seite 147
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Bildnachweise:
Coverdesign: Ulli Muhl. Foto mit Genehmigung der Associacao para a Promocao de Securanca Infantil,
Portugal Seite 1
Aktion „100EACHDAY“ der Organisation Blausand.de mit einhundert blau eingefärbten Menschen, die 2008
am Platja Migjorn (Formentera, Spanien) gegen 100 Ertrinkungsopfer pro Tag in Europa demonstrieren.
Foto: Martin Herrmann Seite 1
„Blue Beach Session“, Bodypainting gegen das Ertrinken, Platja Illetas, Formentera, Spanien, 2005.
Bodypainterin: Michaela Zeng, Foto: Ulli Muhl Seite 6
„Sonne für Beate“, Platja Migjorn, Formentera. Spanien. Objekt: Max Bernhardt, Jan Jagersma. Foto:
Raphael Böckenholt Seite 12
„Liebe Lisa“ von Verena, 8 Jahre alt Seite 65
Familie Kosian. Foto: Hamburger Abendblatt Seite 118
„Serie Schwimmer“ von Andreas Krohm, der in Brühl (Rheinland) lebte und im Oktober 2008 bei einem
Badeunfall in der Türkei ertrank. Kunst und Kultur an Rhein und Erft, Brühl, www.einfachblau.de Seite 146
Die Rechte der weiteren Bilder liegen beim Herausgeber und bei den Autoren.
Webseiten der Autoren:
www.blausand.de
www.hilfe-bei-reiseunfaellen.de
www.lariada.de
www.widesky.de
www.lichtblickverein.de
www.ronald-schmid.de
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Rolf Lüke
Der Himmel stand still
Dieses verdammte Meer. Es lockt und verschlingt. Aber es kann
nicht anders. Sein Wasser will permanent wieder zurück. 150 Meter
Richtung Meer wird es am Wegfließen gehindert. Sandbänke, Buhnen
und Felsen verkleinern den Aktionsraum für das bewegende Chaos.
Über Wasser sorgen Wellen für Spaßfaktoren. Unten für
unkalkulierbares Risiko.
Wenn es dann zerstört, weint der Himmel.
Das Meer, das meine Schwester Beate aus Hamburg und Corinna aus
Hannover ertrinken ließ und das Leben ihrer Familien und Freunde
schlagartig und für alle Zeiten veränderte, liegt zwei bis drei
Flugstunden, eine Schiffsstunde und dreißig Fahrradminuten von zu
Hause entfernt. Bis Algerien, steht auf einem hölzernen Wegweiser, sind es 139 nautische
Meilen übers Meer.
Die Schiffsstunde über das Meer zwischen Ibiza und Formentera kann auch doppelt so lange
dauern, wenn das Wasser wütetet und die Seelenverkäufer mit den Namen Joven Dolores und
Illa Formentera die schmale Schiffsroute zwischen den engen Felsformationen im Freo, das ist
die kurze und kritische Teilstrecke zwischen den beiden Inseln, unbedingt meiden sollten und
sich erst später an die Insel heranpirschen können.
Danach sind die meisten von ihnen, besonders die Urlauber, grün und weiß im Gesicht.
Aber erst mal ist alles wieder in Ordnung. Richtig passiert ist hier zwischen beiden Inseln noch
nie was. Insulaner und Urlauber haben ein Schiff um sich herum und einen mit allen
Meereswassern gewaschenen Schiffsführer an Bord.
Das Meer rund um die Insel Formentera ist der wichtigste Teil eines Urlaubstraums. Insulaner
und Besucher haben Superlative wie Karibik im Mittelmeer und El Último Paraiso erfunden, um
das kleine Eiland zu würdigen.
Und erstmal die Strände. Die Insel hat sie nach den wohlklingenden Inselwinden benannt.
Migjorn, Tramuntana, Levante.
Der Strand. an dem das Unglück am 18. September um kurz vor vier am Nachmittag passiert,
heißt Platja Migjorn.
Das Meer ist der Platz für Schönheit, Faszination, Erholung, Bewegung, Spaß.
Und Verzweiflung. Wenn das Meer mit uns gnadenlos und zerstörerisch umgeht, wenn aus einem
Urlaubstraum ein blanker Alptraum wird. Wenn es sich Urlauber schnappt, die dem Meer nie was
getan haben. Sie trotzdem mit aller Kraft vereinnahmt, erst in Angst und dann in Panik versetzt,
ihnen ihre Kräfte raubt, sie hinauszieht und zum Schluss auch noch am Atmen und Schreien
hindert.
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Der schöne Name des Windes
Das alles geschieht manchmal zur selben Zeit am selben Strand.
Als Beate und Corinna ertrunken waren und ihre geborgenen Körper noch lange am Wasser liegen
mussten, solange, bis der Friedensrichter sie für den Transport in die Friedhofskapelle
freigegeben hatte, bevor sie mit dem Schiff nach Ibiza gebracht wurden, schwimmen andere
Urlauber im Wasser mit dem schönen Namen des Windes.
Für 190 spanische Peseten verkauft Lothar, wenn die deutschen Urlauber auf der Insel sind,
seine Formentera-Zeitung. Alles steht drin, was zu einer guten Ferien- und Inselzeitung gehört.
Deshalb hat Lothar mit Dr. Luis Martin Soledad, den Inselarzt, der Insulaner und Feriengäste
seit den siebziger Jahren medizinisch versorgt, die wöchentliche Inselkolumne Gesund im Urlaub
vereinbart. Insektenstiche. Quallen. Durchfall. Seekrankheit. Sonnenbrand. Ertrinken.
Mit Ertrunkenen hat Dr. Luis oft zu tun. In diesem Jahr sind es schon fünf Urlauber. Fast alle
ertranken sie an derselben Stelle.
Am 11. September ist die Saison eigentlich schon fast zu Ende, als der Arzt in der FormenteraZeitung über das Thema Beatmung schreibt: "Wenn Ihre Bemühungen erfolgreich sind",
schreibt Dr. Luis, "wird der Halbertrunkene bald wieder zu Bewusstsein kommen. Später kann ihn
ein Arzt mit Sauerstoff und Medikamenten versorgen". Über dem Artikel in Lothars
Inselzeitung steht die Überschrift: "Sie können gut schwimmen, aber weiß das Meer das auch?"
Mit Meer meint Dr. Luis eigentlich den Strand am Es Arenals an der Platja Migjorn. Diese Stelle
ist die Inselbucht mit den meisten Opfern.
Genau genommen ist es der gefährlichste Strand der Balearen.
Nicht nur wegen seiner unsichtbaren morphologischen Bedingungen unter Wasser. Auch wegen
einiger Inselfreaks, die "ihr" Paradies nur ungern durch socorristas bewacht sehen möchten.
Auch wegen der vielen Angehörigen, die still leiden. Deren Trauer und Verzweiflung die
Inselverwaltung nur selten erreichen. Weil keiner Druck macht, gibt es hier keine Bewachung.
Nicht einmal Rettungsringe, keine Notruftelefone.
Warnung vor den Piraten
Bei auflandigem Südwind hängt manchmal eine kleine rote Warnflagge unterhalb der
Piratenflagge am Piratabus. Viele Urlauber sind der festen Überzeugung, die Flagge sei
gewissermaßen eine Warnung vor den Piraten, nicht vor den Strömungen.
Beate hat Mitte September nur kurze Zeit frei. Sie arbeitet am Hamburger Flughafen, hat
gerade ihr 25-jähriges Lufthansa-Dienstjubiläum gefeiert. Ein Freiflug auf dem weltweiten
Streckennetz als Dank für ein Vierteljahrhundert Firmentreue ist ihr nicht sonderlich wichtig.
Ihre Rennstrecke Hamburg - Ibiza - Formentera umso mehr. Flieger, Taxi, Schiff, Taxi, Flieger.
Selten für eine Woche. Oft nur für 3 Tage.
Es ist auch schon vorgekommen, dass Beate bis zum Mittag Dienst hat und am nächsten Tag um
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14 Uhr wieder zur Arbeit erscheint. Zwischenzeitlich war sie in Spanien, auf den Balearen. Auf
Formentera.
Am 17. September will sie wieder hin, am 19. zurückfliegen und ein Seminar in Seeheim Nähe
Frankfurt besuchen. Der Flughafen Ibiza hat keine Schließfächer und keine
Gepäckaufbewahrung. Ihre Reisetasche, die sie für das Seminar benötigt, lässt sie am Condor Schalter.
Am frühen Nachmittag kommt Beate auf der Insel an, fährt sie weiter zum Hostal Es Arenals,
wo sie die wenigen Stunden bleiben will.
Den frühen Abend verbringt sie in einem kleinen versteckten Kiosk, im El Pelayo im westlichen
Teil der Platja Migjorn am Es Mal Pas, fährt später in die Fonda Pepe, wo ich sie treffe, als ich
mit Uwe, Ulli, Schoppi und anderen Freunden am großen Tisch im Restaurant links hinter dem
Tresen sitze.
Wir verabreden uns für den nächsten Tag. So, wie man
sich im Urlaub nachts eben verabredet. An der Platja
Migjorn. Am Es Arenals. Irgendwann am Nachmittag.
Wahrscheinlich am Piratabus.
Bei Kilometer 11 kommen Inselbesucher über steinige
unbefestigte Sandwege zum kleinen Parkplatz direkt
am Strand, hinter dem der Piratabus steht. In den
siebziger Jahren, als Hippies und Pink Floyd, Dylan,
King Crimson und Chris Rea die Insel besuchen,
gründet Pascual seine Bar in einem alten Bus. Im
November 1983 schaltet sich die Inselverwaltung ein, der Bus muss verschwinden und wird durch
eine Holzbude ersetzt. Ende der achtziger Jahre kommt Pascual mit Edith aus Deutschland
zusammen, die mit in die Strandbar einsteigt.
Seitdem ertrinken in jeder Saison Urlauber auch vor den Augen von Edith und Pascual. Auch
Gäste vom Piratabus.
Einer von uns würde hier nie schwimmen
Antonio kümmert sich an diesem Septembertag um Strandliegen und Sonnenschirme am Es
Arenals. Der Insulaner hat viele Ertrinkungsunfälle hautnah miterleben müssen. Besonders dann,
wenn der Wind auflandig in Richtung Strand bläst, versucht er, die bekloppten Touristen, so
nennt er die Unverbesserlichen hinter vorgehaltener Hand, vor den Strömungen zu warnen. Dann
wirbelt mit seinen Armen durch die Luft. "Die Leute sind verrückt und leichtsinnig", sagt
Antonio, "wenn mehr als einer ins Wasser geht, kommen zehn andere hinterher. Einer von uns
würde hier nie schwimmen."
Der 18. September ist einer dieser Tage mit auflandigem Wind. Als Edith und Pascual gegen
Mittag zum Parkplatz kommen, sehen sie das gefährliche Wasser. So wie die Wellen ans Ufer
rollen, laden sie geradezu dazu ein, im Meer zu schwimmen.
Edith und Pascual wissen es besser. Sie hissen unterhalb ihrer Piratenflagge ihre kleine rote
Warnflagge. In der Hoffnung, dass die Bedeutung ihren Gästen klar ist. Dies ist aber nur selten
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so, weiß Edith. Immer wieder wird sie gefragt, was die rote Flagge an dieser Stelle bedeuten soll.
Kurz nach zwei sitzen Nicole und Bettina am Piratabus. Edith sagt ihnen, wie gefährlich das
Baden heute ist.
9.9.99. Das magische Datum
Corinna und Björn wohnen in Garbsen bei Hannover. Der 9.9.99 ist für sie mehr als ein magisches
Datum. Es wird der schönste Tag ihres Lebens. Sie heiraten, tragen sich in das Goldene Buch der
Stadt ein. Ihre Hochzeitsreise geht vier Tage später nach Ibiza. "Ein kleiner Ausflug", sagt der
Reiseleiter zum Hochzeitspaar, "würde euren Urlaub abrunden. Am besten fahrt Ihr an den
schönsten Strand der Balearen. Zum Es Arenals."
Am 18. September fährt das junge Paar von Ibiza nach Formentera. Kurz nach drei am
Nachmittag springen sie ins Wasser. Nur wenige Meter vom Ufer entfernt werden sie von den
hohen Wellen umgeworfen, Corinna und Björn sind seit neun Tagen verheiratet. Sie genießen das
Leben in den sich laut brechenden Wellen. Corinna ist eine gute Sportlerin,
Rettungsschwimmerin.
Weil September auf Formentera als Monat der Individualisten gilt, ist die Platja Mitjorn
unterhalb vom Restaurant Flipper und vom Hostal Es Arenals gut besucht. Das Wasser ist 23
Grad warm. Das einzig Herbstliche ist, dass die Sonne früher untergeht.
In drei Monaten ist Weihnachten, denke ich.
In der Bucht baden jetzt fünfzig Kinder und Erwachsene. Die meisten davon vorn im flachen
Wasser.
Es Arenals an der Südküste Formenteras ist ein paradiesischer Strandabschnitt mit Buhnen,
einer vorgelagerten Sandbank, schönen Felsen und mit häufigen auflandigen Winden. Der Wind
bringt die Wassermassen auf den Strand, die beim Zurückfließen ins Meer von den "Schikanen",
von Felsen und Buhnen abgelenkt werden und sich auf kleinstem Raum ihre Wege suchen. Ihre
unsichtbare Energie entwickeln. Bis 150 Meter vor dem Strand, hier fließen die Massen dann
wieder zurück und entwickeln ihr eigenes Chaos. Unerkannt von den arglosen Urlaubern.
Manchmal als todbringende Naturgewalt.
Dass der Wind schon in den Tagen davor auf Süd gedreht hat und dadurch starke
Rückströmungen entstehen, wissen die Urlauber nicht. Manche wollen sie es auch gar nicht
wissen.
Fast zeitgleich werden Corinna und Björn die Beine weggezogen. Beide verschwinden unter den
hohen Wellen und werden fünfzig Meter weit hinaus gerissen. Manchmal kommen sie nach oben.
Jetzt mischen sich in die Geräusche der sich brechenden Wellen die Schreie von Corinna.
Manuela sitzt mit ihrem Mann Vicente auf der Terrasse der Flipper-Bar. Es ist Samstag.
Wochenende. Sie sind zum Paellaessen eingeladen.
Auch Manuela, seit 1992 arbeitet sie als Reiseleiterin auf Formentera, wird immer wieder mit
dem Thema Ertrinken konfrontiert, obwohl sie in den Willkommensgesprächen regelmäßig auf
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Strömungen und Bedeutung von Flaggen hinweist. Schon in Manuelas erster Saison geht ein
Urlauber, armamputiert, schwimmen und gerät in eine der gefürchteten Strömungen. Seine Frau
versucht, ihn zu retten. Beide ertrinken. Nie wird Manuela den Tag vergessen, an dem sie die
Sachen des ertrunkenen Ehepaares, das später die letzte Reise ohne Begleitung antreten muss,
zusammengepackt hat. Ausweise, Kleidungsstücke, Bücher, Zahnbürsten. Schmerzhaft fühlend,
dass alles dies nie wieder gebraucht werden würde.
Zwei Jahre später muss sie zusammen mit ihrer italienischen Kollegin die herzzerreißenden
Tränen eines 10-jährigen Jungen miterleben, dessen Vater beim Versuch, ihn, seinen Sohn, zu
retten, ertrinkt. Im selben Jahr stirbt ein Kleinkind in einem Hotelpool der Insel, im gleichen
Alter wie Manuelas Tochter. Die Eltern sitzen auf der Terrasse der Poolbar und entdecken ihr
Kind erst, nachdem es still direkt neben ihnen untergegangen ist.
Geckos und Amsterdam
Das Alarm- und Rettungssystem auf Ibizas kleiner Schwester Formentera ist nicht gerade
unkompliziert. Die Alarmrufe unter 112 werden für alle Baleareninseln zentral nach Palma auf
Mallorca weitergeschaltet. Und die nicht immer reibungslos funktionierende Mehrsprachigkeit
ist nicht selten mit Zeitverzögerungen verbunden. Die Disponenten von "UnoUnoDos" fragen nach
dem Standort, der bei Hunderten von Balearenstränden nicht immer eindeutig ist, informieren
die Rettungsstelle auf einer der vier Baleareninseln. Und im Bedarfsfall auf Formentera oder
Ibiza einen Helikopter, dessen Standort Ibiza ist und der zwischen 6 und 10 Minuten zum
Arenals-Strand auf Formentera braucht. Für Irritationen und deshalb nicht selten auch für
Verzögerungen sorgen gleich zwei Telefonnummern für Notfälle. 112 und 061.
Beate genießt die wenigen Stunden, die ihr am Strand bleiben. Sie liegt auf ihrem mit Geckos
verzierten blauen Strandtuch. Vor ein paar Tagen ist Amsterdam, der neue Roman von Ian
McEwan, auf Deutsch erschienen. Eine Freundin, Buchhändlerin, hatte Beate das Buch mit auf die
Insel gegeben.
Trotz der lauten Wellen hört sie die panischen Schreie aus dem Meer.
Langsam legt Beate ihr Lesezeichen, ein abgerissenes Stück aus einer Packung After Eight, in ihr
Taschenbuch. Ohne ein einziges Wort zu sagen, geht sie in Richtung Wasser, läuft in die Wellen
hinein. Keiner hindert Beate daran.
Sie wird hinausgetragen, kommt nicht gegen die Strömung an, kann nicht mehr zurückkommen.
Beate kann auch nicht kontrolliert zu Corinna schwimmen. Sie wird Spielball derselben
Wasserbewegungen, mit denen Corinna, die jetzt vielleicht noch fünf oder zehn Meter von ihr
entfernt ist, gleichzeitig kämpft.
Ein einziges Mal, sagt später eine Augenzeugin, sind Beates blonde Haare noch zu sehen.
Dr. Luis hat an diesem Sonnabend Wochenenddienst und wird um kurz nach 15 Uhr alarmiert. Der
Inselarzt befindet sich im Centre Salud, einer kleinen Krankenstation zwischen den Inselorten
San Francisco und La Sabina. Bis zur Unfallstelle am Strand fahren der Arzt und sein Assistent
mit heulender Sirene. Sie brauchen genau 7 Minuten.
Corinna liegt am Strand, direkt zwischen dem Restaurante Es Arenals und dem Meer. Dr. Luis
kommt schnell zu der Erkenntnis, dass seine Hilfe zu spät kommt. Corinna ist tot.
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In diesem Augenblick erreicht ihn die Nachricht, dass fünfzig Meter entfernt in Richtung
Piratabus eine zweite Frau liegt.
Ich gehe vom Piratabus in Richtung Restaurant Es Arenals. Nach zweihundert Metern hinter
einem kleinen Felsen an der Flipper-Bar erkenne ich die Bucht vor dem Restaurante Es Arenals
und vielleicht hundert Menschen. Hier aus der Entfernung sieht es so aus, als wenn alle
regungslos am Strand stehen.
Ich zögere. Bin für einen Augenblick unfähig, weiterzugehen und mein Herz schnürt sich ein. In
diesem Moment läuft Tilman auf mich zu und zeigt schräg hinter sich auf das Meer: "Beate ist da
draußen". Da draußen? Beate??? Intuitiv renne ich zum Piratabus zurück, sehe Nicole und
Bettina. „Da draussen…“, sage ich beunruhigt und schon leicht verzweifelt. Nicole Bettina und ich
laufen am Restaurant Flipper vorbei und erreichen eine Person am Strand, die zwischen
schreienden Menschen liegt.
Ein Fünkchen Hoffnung
Warum ich ahne, dass da gerade eine Katastrophe passiert, mit der ich zu tun haben werde, weiß
ich bis heute nicht. Als ich mich dieser Person nähere, wird mir mit jedem Meter klarer, dass
dies mich sogar direkt betrifft, dass das alles mit Urlaub nichts mehr zu tun haben würde, das
da etwas Schlimmes passiert ist oder passieren wird. Noch Jahre später fragt ich mich immer
wieder: Wieso hast du das nicht nur geahnt, wieso hast du das gewusst? Gewusst! Es hätte
hunderte Andere betreffen können, wieso deine Schwester, wieso dich?
Aber Beate liegt nicht regungslos da, sie bewegt sich! Ihr Brustkorb bewegt sich. Eine Frau sitzt
am Kopfende von Beate und versucht, sie mit Mund-zu-Mund-Beatmung zu reanimieren. Ich
nähere mich mit lähmendem Entsetzen. Und dem Gefühl: MACH WAS. IRGENDWAS.
In dem Moment kommt der Arzt, zusammen mit einem Helfer, der Sauerstoff und Adrenalin aus
dem Koffer reißt, während Dr. Luis mit der Herzdruckmassage beginnt.
Jetzt, so kommt es mir für eine Sekunde in den Sinn, ist alles getan. Wiederbelebung,
Medikamente. Das nährt ein Fünkchen Hoffnung. Beate bewegt sich. Ihr Brustkorb hebt und
senkt sich. Ich knie am einzigen freien Platz rund um den Körper meiner Schwester, an Beates
Füssen und halte sie fest. Jetzt habe ich wieder eine lebendige Verbindung zu ihr.
Einmal, nach zwei oder fünf Minuten, keiner weiß es, schließe ich, während ich leise und stille
Gebete zum Himmel schicke, die Augen und stoße meinen Kopf auf den Sand neben Beate. Um den
völlig hilflosen Versuch zu machen, endlich wieder mit der Erde in Verbindung zu kommen.
Warum Beate, was hat sie getan, warum ich, warum so urplötzlich, warum jetzt, warum diese
Zumutung, lieber Gott im Himmel. Und ich sitze hier im Paradies, das bis jetzt eines war. Kann
nichts tun, kann nur beten.
Den Kopf in den Sand stecken? Die Assoziation, die durch mein Gehirn rast, ist kaum zu
ertragen.
Den Arzt fragen, wage ich nicht. Nicht jetzt. Ich will Dr. Luis nicht ablenken. Den Helfer fragen,
das will ich auch nicht. Vielleicht weiß der gar nicht, wie es um Beate steht.
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Und wenn Beate schon tot oder nicht mehr zu retten ist: Will ich es jetzt wissen? Nein. Weil
spätestens dann der böse Traum zur grausamen Realität werden kann. Und wenn das Leben durch
den Tod wirklich so radikal belastet werden muss, dann, bitte lieber Gott, lass uns wenigstens
etwas Zeit.
Irgendwann sind die chaotischen Gedanken und Gefühle zwischen Hoffnung, Panik und von Minute
zu Minute stärker aufkeimender realer Verzweiflung nicht mehr auszuhalten, so dass ich den
Helfer, der ja direkt neben mir kniet, jetzt doch leise frage, was los ist. Kurz nachdem ich das
Gesicht meiner Schwester gesehen habe. Beate sieht nicht lebendig aus. Beim kurzen
Blickkontakt mit dem Helfer packt mich erneut die nackte Angst.
Erfahrung, um diese unwirklichen Geschehnisse einzuordnen, habe ich nicht. Außer meinem Vater,
fast zwanzig Jahre ist das her, und meinem Bruder, der fast auf den Tag genau vor fünf Jahren
starb, habe ich nie einen sterbenden oder toten Menschen gesehen. Auch nicht nach einem
Verkehrsunfall. Auch nicht einen Ertrunkenen.
Carolin und Torsten sitzen mit ihren Söhnen Moritz und Niklas, 5 und 3 Jahre alt, im Restaurant
Flipper. Moritz und Niklas sind Nichtschwimmer, die nur mit Schwimmflügeln ins Wasser
kommen. Heute aber besser nicht, denkt Carolin, die andere Schwimmer direkt vor sich sieht.
Wie kann ein Mensch, denkt sie sich, bei diesem Wetter überhaupt baden gehen. Als sie nach
links sieht, registriert sie eine Traube von Menschen am Strand. I n den darauf folgenden
Minuten überschlagen sich die Informationen. Da drüben ist eine Frau ertrunken, sagen
vorbeigehende Urlauber. Zwei Frauen sind tot, heißt es. Andere sind sich sicher, dass gerade
vier Menschen im Meer gestorben sind.
Die ganze Wahrheit
Wie lange der Kampf um Beates Leben jetzt schon dauert, dafür habe ich kein Gefühl.
Im Zeitraffer entstehen lebendige Bilder aus dem Leben meiner Schwester. Beate in ihrem und
meinem geliebten Hamburg an der Elbe, in Verona, Aida, in der Arena, in Australien, Beate mit
Max, ihrem Sohn, Beate am Gleitschirm, beim Segelfliegen, Beate auf Formentera, in der Fonda
Pepe, bei Felix, bei Yvonne, in der Casa de suenós. Zu dieser geballten Lebendigkeit im
Zeitraffer passt alles außer Sterben.
Nach vielleicht einer halben Stunde steht der Arzt auf.
Weil ich immer noch am Boden sitze, habe ich die horizontale Handbewegung des Arztes, von der
Bettina später berichten wird, nicht wahrgenommen.
Der Helfer stellt an einer der beiden Seiten von Beate eine Strandliege als Sichtschutz auf und
deckt sie mit einem Tuch ab. Dann bittet Dr. Luis mich zu einer anderen Strandliege direkt
neben Beate und misst meinen, ausgerechnet meinen Blutdruck, von dem ich nicht erfahren
werde, ob dieser bedrohlich war.
Wahrscheinlich hat der Inselarzt nur gemessen, weil er überhaupt etwas tun wollte. Obwohl ich
eine stark eingeschränkte Wahrnehmung der Geschehnisse um mich herum habe, erreichen mich
von irgendwo her die Fragen von Dr. Luis.
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Ob Beate verheiratet war, ob sie Kinder hatte, ob die Eltern noch leben. Ja, antworte ich
mechanisch in der Gegenwartsform. Sie ist verheiratet. Hat einen Sohn. Max. Mutter lebt.
Allein. Ist 77 Jahre alt.
Manuela und Vicente sehen die Menschentraube links unter ihrem Tisch in der Flipper-Bar und
erfahren, dass zwei Personen im Wasser um ihr Leben kämpfen. Jetzt fordert eine Stimme
endlich die Schwimmer auf, das Wasser sofort zu verlassen. Manuela kann sich später nicht mehr
erinnern, ob der Rettungshubschrauber schon da war, als die Ertrinkenden noch um ihr Leben
kämpften oder ob er später eintraf. Sie erinnert sich nur daran, dass jemand die Schwimmer aus
dem Hubschrauber aufgefordert hat, das Wasser zu verlassen.
Als Vicente den Arzt und später auch den Friedensrichter unten am Strand sieht, wissen er und
Manuela, dass das etwas Fürchterliches zu bedeuten hat
Vielleicht, sagt Dr. Luis zu mir, sei es besser, unserer Mutter nicht gleich die ganze Wahrheit zu
sagen. Vielleicht sollte ich ihr sagen, dass Beate schwer verletzt sei. Erstmal. Dieser Rat, den ich
als geradezu abstrus empfinde, löst eine Art vorübergehender Ernüchterung bei mir aus.
Weil ich jetzt einen Zugang, eine kleine Vorahnung habe, was auf mich zukommen wird. Weil ich
mich vielleicht etwas entlasten kann, wenn ich etwas von dem machen kann, was ich machen muss.
Weil ich aus der schrecklichen Situation ein bisschen in die Zukunft flüchten kann.
Gleichzeitig wird mir klar, was jetzt zu tun ist. Ohne schon zu wissen, wie es zu tun ist. Ich
beginne, zu funktionieren. Max ist mit seinem Vater irgendwo in Holland. Mutter wohnt allein.
Inzwischen hat sich Björn so gerade noch retten können. Aber ein junger Holländer, der sich in
die Wellen gestürzt hatte, um Beate zu helfen, wäre beinahe selbst ertrunken. Er kämpft sich
mit allerletzter Kraft aus der Strömung heraus und wird auf eine Liege gelegt. Bettina sieht sein
Gesicht und wird später sagen, dass sie diesen Anblick in ihrem ganzen Leben nie vergessen wird.
Der Arzt versorgt den Geretteten mit Sauerstoff, und der Holländer beginnt, wieder
selbständig zu atmen. Er wird mit dem Hubschrauber in das Krankenhaus Cán Misses auf Ibiza
geflogen.
Von der Flipperbar aus bemerken Torsten und Carolin hundert Meter entfernt im Wasser einen
Mann, der mit den Armen rudert, der auf sich aufmerksam machen will. Der eindeutig in Not sein
muss. Torsten rennt zum Piratabus und fragt nach einem Seil, mit dem er sich beim Retten
sichern kann. Er bekommt es, sucht sich einen weiteren Helfer, der das Seil festhält, bindet es
sich um den Körper und schwimmt zu dem Mann, der sich dem Strand inzwischen auf 60 Meter
genähert hat.
Der Schwimmer, ein deutscher Urlauber, wird später zu Torsten sagen, er sei gar nicht in Not
gewesen. Habe gar nicht um Hilfe gebeten.
Carolin, hochschwanger, sie erwartet ihr drittes Kind, verfolgt die Rettungsaktion ihres Mannes
vom Strand aus. Ob sie in diesem Moment in Sorge um Torsten war, daran kann sie sich später
nicht erinnern. Sie hat das in diesem Moment wohl ausgeblendet. Sie hat ihm einfach vertraut
Die Meldung, eine weitere Person sei gesichtet worden, die hundert Meter vom Strand entfernt
im Meer zu ertrinken drohe, erreicht den Hubschrauber noch in der Luft. Der Pilot fliegt zurück
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zum Strand. Er fliegt niedrig, kann aber niemanden entdecken. Der Schwimmer sei von einem
mutigen anderen Urlauber gerettet worden, heißt es später.
Andere Urlauber erzählen sich abends in der Kneipe Fonda Pepe, dass es am Nachmittag in der
Bucht von Es Arenals fünf Menschen gegeben habe, die gerettet wurden, weil andere ihr Leben
für sie riskierten.
Als Dr. Luis mit den Angehörigen noch bei den Opfern ist, die Rettungsbemühungen für andere
Menschen noch andauern, nachdem der Krankenwagen heranrollt, danach zweimal der
Leichenwagen, der Rettungshubschrauber gerade weg ist, Panik und Geschrei noch in der Luft
hängen und die Guardia Civil Badegäste anweist, nicht ins Wasser zu gehen, stürzen sich andere
Urlauber wieder in die Wellen und schwimmen raus.
Bettina fährt mich mit meinem Wagen in mein Inselhaus am Salzsee.
Es ist an der Zeit, zu telefonieren. Beim Wählen habe ich
für einen kurzen Augenblick das Gefühl, ich müsse jetzt die
Last, die nicht mehr auszuhalten ist, auf mehrere Schultern
verteilen. Mein Handy findet Max und seinen Vater auf dem
Ijsselmeer beim Segeln in Holland.
Im Auto ist mir klar geworden, dass ich meine Mutter nicht
anrufen darf. Mein Bruder Uwe in Bremen fährt zusammen
mit Freunden nach Osnabrück und überbringt die Nachricht.
Später kommt die Guardia Civil in mein Haus. Man will meine Unfallschilderung in der
Polizeistation von San Francisco protokollieren.
Psychisch überleben
Wieder gibt es für mich etwas zu tun. Auch am nächsten Tag. Stundenlang bis zur Erschöpfung
telefonieren. Mit Inselfreunden reden. Ziellos über die Insel fahren. Psychisch überleben. Der
immer wiederkehrende Versuch, auch nur ansatzweise irgendetwas für das reale Leben zu
begreifen, misslingt.
Zeitung lesen. Nachdem mich Freunde vorsichtig auf den Artikel hingewiesen haben, sehe ich auf
der Titelseite der Sonntagsausgabe vom "Diario de Ibiza" am nächsten Tag das Bild von Beate im
Zinksarg am Strand. Unter dem Bild steht aber der Name von Corinna.
"Präzise", diesen Gedanken kann ich einfach nicht wegschieben, "war die Tageszeitung der
Pityusen selten".
Zwei Tage später ist das Wetter noch immer stürmisch. "Der Himmel weint", sagen meine
Inselfreunde.
Das erste frühe Schiff von Formentera nach Ibiza fällt aus. Ich fahre um 10 Uhr, um mit dem
Beerdingungsinstitut zu sprechen. Der Konsularbeamte auf Ibiza lässt sich den Personalausweis
von Beate aushändigen. Das Institut weist darauf hin, dass bis zur Überführung nach
Deutschland noch Wochen vergehen können, weil Beate nicht auf Ibiza, nur auf Mallorca
eingeäschert werden kann.
12
Wenn das Meer eine Seele hätte
Die Rückfahrt nach Formentera am Nachmittag, es ist noch genauso stürmisch wie am Morgen,
dauert endlos lang, weil sich das Schiff mal wieder auf der weniger riskanten und längeren
Strecke der Insel nähert.
Als das Schiff den Hafen endlich erreicht, fahre ich mit Spellmann, meinem Entlebucher
Sennenhund, zur Bucht von Es Arenals. Spellmann hat vor den kleinen Wellen mehr Angst als
Menschen. Ein paar Meter vor ihm war die Schwester seines Herrchens gestorben. Das wusste er
nicht. Aber er spürte, dass da was Schlimmes passiert war.
Erst jetzt klingt der Sturm langsam ab. Das Meer, in dem Beate und Corinna Stunden vorher
gestorben sind, tut so, als wenn es niemals und Niemandem etwas Böses antun könnte.
Wenn das Meer eine Seele hätte, denke ich, würde es jetzt nicht so unbeteiligt tun.
Zwei Wochen später findet Beate Ihre letzte Ruhe auf dem Voxtruper Friedhof in Osnabrück.
Auf ihrem Grab liegt Sand vom Formenterastrand, darauf Formenteramuscheln.
Auf den ersten Blick erscheint dieses Stückchen Erde wie eine kleine Urlaubsidylle.
13
Diane Unkert
Unser kleiner Stephan, für immer schlafend.
Mein Mann und ich lernten uns 1984 kennen. Es war Liebe auf
dem ersten Blick. Wir haben uns heute noch sehr lieb und ich bin
froh, dass ich ihn habe, denn eine Flut von Schicksalsschlägen
holte uns ein.
1985 schlug das Schicksal das erste Mal zu. Unser Sohn
Christian kam schwerstbehindert zur Welt. Die Ärzte schlugen
uns vor Christian in einem Pflegeheim unterzubringen. Nein, das
wollten wir absolut nicht, unseren kleinen unschuldigen Jungen
weggeben, kam nicht in Frage. Heute ist Christian 24 Jahre alt
und lebt in einem Behindertenheim mit gleichaltrigen Mädchen
und Jungen zusammen. Dort bekommt er seine Pflege, die wir ihm
zu Hause rund um die Uhr nicht mehr hundertprozentig geben
können. Wir besuchen ihn regelmäßig und haben ihn sehr lieb.
Im Mai 1988 wurde ich wieder schwanger. Diesmal wurde ich während der Schwangerschaft
gründlicher untersucht. Unser Kind wird gesund zur Welt kommen, versicherte uns der
behandelnde Arzt. Im Februar 1989 wurde Matthias geboren. Das war eine große Freude, doch
nur für kurze Zeit. 9 Wochen nach der Entbindung war ich bei der der Mütterberatung. Alles
war solange bestens, bis die Ärztin Matthias auf den Rücken drehte. Matthias lief blau an.
In diesem Moment bekam ich Angst, furchtbare Angst. Unser kleiner Schatz musste sofort ins
Krankenhaus. Dort stellte man mehrere Löcher in seinem kleinen Herzen fest. Die Herzvorwand
fehlte ganz. Matthias bekam in der Charité eine Behelfsoperation, die aber nur zwei Jahre
wirksam ist. Am 29. Januar 1992 um 17.30 Uhr schien für uns die Zeit still zu stehen. Matthias
überlebte die Korrekturoperation nicht. Er starb im Alter von 3 Jahren.
Es gibt nichts Schlimmeres auf dieser Welt, als ein Kind zu verlieren. Die Trauer tut weh und
hält ein Leben an.
Irgendwann reifte in uns der Wunsch, ein Kind zu adoptieren. Ein langer bürokratischer Weg.
Wir gingen diesen Weg. Im Jahre 1993, zwei Wochen vor Weihnachten, holten wir unseren
kleinen eine Woche alten Stephan nach Hause.
Nun wird alles gut. Auch wir haben etwas Glück in diesem Leben verdient.
Unser Glück wurde im Sommer 2000 wieder von einer Minute zur anderen zerstört. Wir hatten
unseren Urlaub auf Djerba gebucht. Unser sechsjähriger Sohn Stephan sollte im September
eingeschult werden. Wir schenkten ihm eine Vorschulreise. Große Augen machte unser Sohn, als
wir mit ihm im Reisekatalog blätterten. „Oh, ein super Spielplatz“, sagte unser Schatz. Außerdem
eine Kinderbetreuung. Alles schien perfekt.
Der Slogan „ Mit ITS auf Nummer sicher“ lies uns nicht zögern, diese Reise zu buchen. Es sollte
eine ganz besondere Reise werden. Stephan wollte das große, weite Meer sehen und auf Kamelen
reiten. Djerba, das wird ein toller Urlaub.
14
Es wurde die letzte Reise für Stephan.
Stephan schwärmte: “O, Mama und Papa, hier ist es schön und alles für mich“! Der vorletzte Tag
brach an. Tagesausflug mit Kinderbetreuung. Um
10 Uhr brachte ich Stephan zum Sammelpunkt.
Eine halbe Stunde später sah ich unseren kleinen
Jungen das letzte Mal lebend.
Zwischen 12 und 12.30 Uhr muss Stephan
ertrunken sein. Keiner weiß, wie er vom
Nichtschwimmer ins Schwimmerbecken gelangte.
Die Betreuerinnen gaben Stephan keine
Schwimmflügel. Angeblich gab es nicht genug, so
dass nicht alle Kinder entsprechend gesichert
waren. Die Betreuerinnen gaben uns keine Auskunft und der Reiseveranstalter schirmte die
beiden Betreuerinnen vor uns ab. Versprach uns unbürokratische Hilfe, doch die bekamen wir
nicht. Man ließ uns auch nicht zu unserem Kind. Man setzte uns am nächsten Tag in den Flieger.
Ohne unser Kind flogen wir zurück nach Deutschland. Alle Urlauber um uns herum waren
glücklich. Mein Mann und ich ertranken im Schmerz.
Immer wieder fragen wir uns: Was müssen wir noch ertragen?
Nein, das ist nicht alles, noch viel mehr muss man ertragen. Zu Hause angekommen, riefen wir in
der Klinik an. Wir brauchen dringend Hilfe. Am anderen Ende der Telefonleitung nahm man uns
nicht ernst, man glaubte, ich mache einen schlechten Scherz. Ich fing bitterlich an zu weinen und
man schickte uns dann einen Notarzt.
Eine Woche später kam unser Stephan in einem Zinksarg nach Deutschland. Zwei Stunden stand
unser Junge auf der Rollbahn. Wie vergessenes Gepäck. Unser Seelsorger war so wütend darüber
und wollte Stephan selber am Flughafen abholen.
Vor der Trauerhalle brach ich zusammen. Ich weiß nicht wie ich hinein kam. Da lag, für immer
schlafend, unser kleiner Stephan.
Wie unser Sohn in den Schwimmbereich gelangt ist, konnte im staatsanwaltschaftlichen
Ermittlungsverfahren nicht aufgeklärt werden. Ein Ermittlungsverfahren gegen die zwei
Betreuerinnen wegen Verdachts der fahrlässigen Tötung wurde eingestellt. ITS zahlte keine
Bestattungskosten und von unbürokratischer Hilfe spürten wir nichts. So reichten wir mit Hilfe
eines Anwalts im Jahr 2000 eine Zivilklage gegen den Reiseveranstalter ein. Im Jahr 2003 dann
das Urteil. Die Richter sprachen uns sämtliche Schadenersatzansprüche und ein angemessenes
Schmerzensgeld zu. ITS ging in Berufung, die sie 2004 zurücknahm. Das Urteil vom Landgericht
Köln wurde somit rechtskräftig. Ein Berufungsverfahren beim Oberlandesgericht Köln blieb uns
erspart.
Manchmal denke ich, ich habe keine Tränen mehr, in mir ist es so trocken wie in einer Wüste. Es
fällt mir sehr schwer, diese Zeilen zu schreiben, es zerreist mir das Herz vor Schmerzen, doch
es ist für mich sehr wichtig, dass andere Menschen wissen, was einem in der eigentlich schönsten
Zeit des Jahres Furchtbares passieren kann. Damit man sich vor solchen Schlampereien
schützen kann.
15
P.S.: Familie Unkert hat im August 2002 ein kleines Mädchen, damals 3 Monate alt, zu sich
genommen. Im Mai 2006 wurde Melanie von Familie Unkert adoptiert. 2008 trat Melanie in einen
Schwimmverein ein, lernte dort schwimmen und machte 2008 ihr Schwimmdiplom im
Kindergarten. 2009 hat sie sich im Schwimmkurs für das Schwimmabzeichen Pingo-Bronze
qualifiziert. Im nächsten Jahr will sie das Seepferdchen Bronze schaffen. Melanie weiß, dass ihr
Adoptivbruder Stephan ertrunken ist. Und wie wichtig es ist, schwimmen zu lernen.
16
Susanne Frerix
Nach einer halben Stunde konnte er nicht mehr
Mein Vater ist am 27. September 2004 durch eine Unterströmung in Andalusien an der Costa de
la luz vor dem Hotel Barrosa Garden ertrunken. Es war weit und breit kein Rettungsring , kein
Boot, keine Strandaufsicht oder sonst irgend etwas vorhanden. Laut Angaben meiner Mutter war
auch keine rote Flagge gehisst. Die "Rettungshelfer" haben fast 60 Minuten gebraucht, um
überhaupt zu erscheinen...solange hat mein Vater nicht durchgehalten.
Eine ausgebildete Rettungsschwimmerin war in seiner Nähe, konnte aber nicht helfen, weil kein
Rettungsring zu finden war und sie sonst mit ertrunken wäre. Sie hat noch versucht, mit ihm
seitlich aus der Strömung heraus zu schwimmen, aber nach einer halben Stunde konnte er nicht
mehr.
Zwei weitere Urlauber wurden am gleichen Tag in letzter Minute gerettet und kamen ins
Krankenhaus.
Am nächsten Tag ist dann wieder eine junge Frau ertrunken.
Meine Mutter hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, dass wenigstens die anderen Urlauber und die
neu ankommenden Gäste gewarnt wurden. Es wäre doch eigentlich die Pflicht der
Reiseveranstalter gewesen, vor diesen Strömungen zu warnen. Mein Vater war auch nur etwa 80
Meter im Meer und ein guter Schwimmer.
17
Ulla Suck
Erinnerung und ein Stück Menschlichkeit
„Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, nur fern, tot ist
nur, wer vergessen wird.“ Dieser Spruch von Immanuel Kant klebt auf
der ersten Seite meines Abschiedstagebuchs von meinem Vater Erich
Suck. Er ertrank in einer Unterströmung am 10. Oktober 2003 auf
Mallorca. Am Platja de Muro.
Mehrmals schon waren er, seine Frau und drei andere Ehepaare in Can
Picafort. Sie freuten sich auf erholsame Tage im Herbst und waren alle am selben Tag
angekommen, Erich wollte mit seinem Freund gegen vier Uhr nachmittags Uhr nur kurz „das
Wasser testen“. Er kannte den Strand, wusste aber nichts von Unterströmungen, die zu
bestimmten Zeiten bei bestimmten Windverhältnissen auftreten können.
Gegen 21.30 Uhr klingelt bei mir zu Hause das Telefon. Ich dachte mir, das ist Erich. Er ruft
immer am ersten Abend an, sagt, dass sie gut angekommen sind. Aber nein, es ist eine Dame, eine
Reiseleiterin, die muss mir eine traurige Mitteilung machen … ich bin wie in Trance, das kennt
man doch nur vom Film! Ich frage, was passiert sei.
„Ihr Vater ist ertrunken“. Wie ein Paukenschlag sitzen diese Worte, er war doch fit, ein
umsichtiger Mensch, selber Reiseleiter von Postseniorengruppen. Alles rattert im Kopf, was ist
mit meiner Mutter, sie wurde im Krankenhaus behandelt, hat einen Schock, ich kann sie sprechen,
sie bekommt kaum Worte heraus. Ich sage, dass ich so schnell wie möglich komme.
Am nächsten Tag fliege ich von Frankfurt aus nach Palma de Mallorca, werde von dort abgeholt
und zum Hotel gebracht, treffe meine Mutter. Sie ist eingefallen im Gesicht, hat ein großes
blaues Auge. Als sie merkte, dass meinem Vater etwas passiert war, ist sie in der Aufregung vor
eine Absperrung gelaufen. Sie kann sowieso ganz schlecht sehen.
Hilflosigkeit, Erstarren. Ich muss ihr helfen, muss stark sein.
Es ist Samstag, bis zum Montag wird wahrscheinlich nichts passieren, Sepp, der Freund meines
Vaters, der vor dem Ertrinken gerettet werden konnte, liegt noch im Krankenhaus. Wenn die
Behörden wieder aufhaben, muss ich mit meiner Mutter nach Inca, in die Bezirkshauptstadt, ich
muss zur Polizei und wir können meinen Vater dann vielleicht noch sehen nach der Obduktion.
Im Hotelzimmer sehe ich die Sachen meines Vaters, den Bademantel, das Waschzeug, die Jacke,
die an der Garderobe hängt, ich schaffe das alles nur mit Beruhigungsmitteln – sage mir, du
musst stark sein…
Sonntag lasse ich mir die Stelle zeigen, wo mein Vater ertrunken ist – ich fasse es nicht, ein
harmloser Strand – ohne Wellen – ganz ruhig, ganz nah am Hotel. Was war da los – es sind
Absperrungen da für Tretboote, haben die auch eine Bedeutung für Schwimmer, wo ist der
Wachturm der Badeaufsicht? Ich finde nur einen umgefallenen weißen Hochsitz in den Dünen –
aber kein Mensch ist dabei.
Mein Spanisch reicht aus, um den Taxifahrer zu befragen, der meine Mutter und mich am
Montag nach Inca bringt, „Si, aqui es un playa pelligrosso“, sagt er mir. Warum wissen das die
Einheimischen, aber nicht die Touristen… ich kann es nicht glauben.
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Was nun kommt, darauf bin ich überhaupt nicht vorbereitet. In der Gerichtsmedizin gibt es
einen Raum, wo ich mit meiner Mutter warte, ich lenke sie ab, rede mit ihr, frage sie, wo genau
sie sich zum ersten Mal trafen, mein Vater und sie… Er lud sie ein ins Riesenrad….
Wir können kommen. In einer Blechwanne auf
Rädern- oder einem Zinksarg wird er
reingefahren, ein Tuch bis zum Hals – sonst sieht
er aus, als schliefe er… zwei alte Männer stehen
an den Rädern. „War es das Wasser?“, frage ich,
„Si“, meine Mutter weint. Ich kann nur kurz
stammeln „Danke, danke für alles, was du für mich
getan hast.“
Ich bin nicht vorbereitet auf Abschied, ich kann
es nicht begreifen, bin gelähmt.
Warum Erich, warum er – ein liebevoller, sozial engagierter, lebensfroher Mensch…. Aber wir
müssen noch zur Polizei, eine Aussage machen, ob mein Vater krank war, ob er Medikamente
nahm.
Meine Mutter verneint, nur Cholesterintabletten, und die hat er an dem Tag bestimmt vergessen.
Wir bekommen den Ehering, den man ihm abgezogen hat. An der Innenseite noch voller Sand, der
kommt vom dem Runterziehen durch die Wellen da rein, denke ich mir. Will nicht weiterdenken,
will es mir nicht vorstellen, doch kommen die Gedanken, was hat er gedacht? Musste er lange
kämpfen…
Meine Mutter und ich fliegen am nächsten Tag nach Deutschland, man sagt uns, dass es noch
etwa 10 Tage dauert, bis der Leichnam nach Deutschland überführt werden wird. Wir werden zu
Hause noch viel regeln müssen.
Ein Bus holt uns ab – wir sind die einzigen an diesem Hotel – der Fahrer weiß Bescheid, ein
Mallorquiner, er umarmt meine Mutter, mir schenkt er ein Bonbon „Solano–lemon“. Das trage ich
auf jeder Reise bei mir. Es ist ein Stück Erinnerung und ein Stück Menschlichkeit.
19
Brigitte Flanagan
Strandtag
Mein irischer Mann Liam und ich lebten 30 Jahre in der
Nähe von Köln, seine Eltern und Geschwister in Dublin.
Liam pflegte die familiären Bande, da ihm seine Familie
und auch sein Heimatland sehr wichtig waren.
In Irland wurde seit einigen Jahren massiv für
türkische Ferienimmobilien in den Medien geworben, die
großen Appartementblocks in Alanya wurden von der
irischen Firma IPI gebaut und vermarktet. So kauften
sich auch seine ältere Schwester und ihr Mann im Jahre
2006 eine Ferienwohnung an der „türkischen Riviera“ und luden uns zum gemeinsamen Urlaub
dorthin ein.
Nach anfänglichem Zögern stimmten wir zu. Mein Mann und ich wollten eine Woche bleiben – für
Sonntag 10. Juni war der Rückflug gebucht. Meine Schwägerin und ihr Mann kamen bereits am 1.
Juni 2007 aus Dublin zu uns und wir verbrachten noch zwei Tage in unserem Heimatort in der
Nähe von Köln. Unsere Tochter fuhr uns dann am Abend des 3. Juni 2007 zum Bahnhof, von wo
aus die Regionalbahn zum Flughafen nach Köln-Bonn fährt. Als wir auf den Zug warteten,
fotografierte sie uns.
Es sollte das letzte Mal sein, dass sie ihren Vater lebend sah.
Wir flogen einige Stunden später dann mit German Wings nach Antalya und kamen um etwa 3 Uhr
morgens dort an. Wir wurden mit einem Minibus ins zwei Stunden entfernte Alanya zu der in den
„Sultan Appartments“ gelegenen Wohnung im Stadtteil Oba gefahren.
Wir verbrachten wunderschöne Urlaubstage mit Wochenmarktbesuch in Oba (riesiges Angebot
an frischem Obst und Nüssen) Schwimmen im wunderschönen warmen Mittelmeer, Besichtigung
der Stadt Alanya mit ihren freundlichen Bewohnern und den vielen Bazaren. Wir ließen uns zu
einer Schiffstour rund um den in Meer stehenden Felsen mit der Burg von Alanya überreden,
machten einen Tagesausflug mit Besichtigung einer großen Höhle und fuhren zum Fluss
„Dimschai“. Als Attraktion liegen auf diesem Fluss Pontons, die zu flachen Speisetischen und
Ruhebänken umfunktioniert werden. Das Essen auf diesem Flussrestaurant dauert Stunden und
ist köstlich. Im Anschluss daran wären wir noch gerne an „unserem“ Strand schwimmen
gegangen, aber das Meer war an diesem Tag zu rau zum Baden. Dies erfuhr ich durch einen
älteren Mann, indem wir uns durch Gesten verständigten.
So wurde dann der nächste Tag, ein Donnerstag, als „Strandtag“ eingeplant. Am Vormittag
mieteten wir uns Strandliegen und Sonnenschirme und machten es uns bequem. Das Meer schien
immer noch etwas unruhig zu sein – es war jedoch zu dem Zeitpunkt niemand in Reichweite, den
man hätte fragen können. Mein Schwager und ich gingen also ins Wasser. Mein Mann hatte seine
Digitalkamera mitgebracht und wollte erst einmal seinem Hobby nachgehen und Fotos schießen.
Kurz nachdem ich ins Meer gegangen war, spürte ich den Sog des Wassers ins offene Meer, der
mich erschreckte, und ich beschloss, an Land zu gehen. Mein Schwager schwamm eine ganze
Weile, ehe er das Wasser verließ. Für den nächsten Tag, Freitag, hatten wir ein „Türkisches Bad
– Hamam“ im nahe gelegenen Hotel gebucht. Wir genossen die ausgiebigen Prozeduren und
fühlten uns wie neugeboren. Inzwischen war es schon 16 Uhr und wir schlenderten zur Wohnung
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zurück und holten unsere Badesachen. Wir wollten die wenigen verbliebenen Urlaubstage noch
intensiv mit Schwimmen nutzen. Wir gingen also auf der Uferpromenade entlang und sahen aufs
Meer hinunter. Es waren nur leichte Wellen zu sehen, die auf Laien absolut harmlos wirkten. Mein
Mann und mein Schwager gingen gemeinsam ins Wasser, meine Schwägerin machte es am Strand
bequem und ich ging ebenfalls schwimmen.
Plötzlich spürte ich wieder, ähnlich wie am Vortag, wie eine Unterströmung mich ins Meer
hinausziehen wollte. Ich hatte keine Lust, diesen unheimlichen Nervenkitzel noch einmal zu
fühlen und verließ das Wasser. Inzwischen war es 18 Uhr und es befanden sich nur noch einige
wenige Menschen im Wasser.
Ich drehte mich suchend nach meinem Mann um und sah ihn in 20 Metern Entfernung im Meer
schwimmen, mein Schwager schwamm zu dem Zeitpunkt noch einige Meter weiter draußen.
Plötzlich hörte ich meinen Mann laut um Hilfe rufen – in Bruchteilen von Sekunden schoss mir
durch den Kopf, dass das nicht die Realität sein konnte, dass er nicht ernsthaft in
Schwierigkeiten war. Ich drehe mich zum Strand um und rief ein, zwei Mal um Hilfe. Dann
sprang ich sofort wieder ins Wasser und schwamm auf meinen Mann zu. Ich erreichte ihn bereits
nach einigen Minuten (hatte mich die Strömung raus getrieben?) und schrie ihn an, er solle sich
zusammenreißen und wir würden jetzt gemeinsam zurück ans Ufer schwimmen - aber ihn hatte
wohl schon die Kraft verlassen. Zu stark war der Kampf gegen der Sog ins offene Meer, der nun
auch mir schwer zu schaffen machte. Endlich erreichten uns einheimische Helfer, die meinen
Mann unter die Arme packten. Sie hatten ebenfalls schwer, mit der Unterströmung zu kämpfen.
Als wir endlich den Strand erreichten, war mein Mann bewusstlos. Keiner der Anwesenden kannte
sich in Erster Hilfe aus, laienhafte Wiederbelebungsversuche scheiterten. Wenn jetzt
professionelle Hilfe und Rettungsmittel am Strand gewesen wären, hätte er sicher noch eine
Überlebenschance gehabt. Es verstrichen nochmals kostbare Minuten, ehe die Männer meinen
Mann den Strand hinauf zur Straße trugen. Endlich kam der Krankenwagen und fuhr mit ihm
davon. Meine Schwägerin, Schwager und ich saßen plötzlich in einem Taxi und fuhren quer durch
die Stadt hinterher. Als wir endlich am Krankenhaus ankamen, wurde mein Mann, mit einem
weißen Leinentuch abgedeckt, auf einer Trage an uns vorbei geschoben. Man bedeutete uns, dass
er nicht mehr zu retten gewesen sei. Ich konnte das nicht begreifen! Kein Mensch, der solch eine
schreckliche Situation nicht selber erlebt hat, kann nachvollziehen, in welch schockartigen
Zustand ich mich befand. Es war die Hölle!
Im Polizeiwagen mussten wir zur Wohnung fahren und unsere Pässe holen. Anschließend wurden
wir zu einem großen Friedhof gefahren, wo sich eine Kühlhalle befand. Dorthin hatte man die
Leiche meines Mannes gebracht.
Plötzlich erschienen Journalisten von der örtlichen Zeitung und Mitarbeiter eines türkischen
Fernsehsenders und baten um ein Interview. Sie sagten, dass es sehr wichtig sei, dass die
Öffentlichkeit über die fehlenden Sicherheitsvorkehrungen an den Stränden informiert werde.
Mein Mann sei nicht das erste Ertrinkungsopfer. In den vergangenen Wochen seien schon drei
Schwimmer vor der Küste von Alanya ums Leben gekommen und die Politiker müssten endlich
handeln. Nach anfänglichem Zögern erklärte sich mein Schwager bereit, ein Interview vor
laufender Kamera zu geben.
Zwei Tage später war in den örtlichen Zeitungen zu lesen, dass mein Mann nicht das einzige
Ertrinkungsopfer in der türkischen Ferienmetropole Alanya war. Sie berichteten, dass allein im
Juni 2007 nur in dieser Region drei Personen im Meer ertrunken waren. Zwei von ihnen
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Touristen, der dritte Ertrunkene ein türkischer Jugendlicher. Andere Zeitungen schrieben von
durchschnittlich drei Ertrinkungstoten pro Woche allein im Bereich Alanya. „Nun wird endlich
diskutiert: Wo sind die Rettungsschwimmer?“ fragen die Zeitungen. “Die Badegäste an den
Stränden warten“, so die örtlichen Medien, “gespannt darauf, wann sich das endlich einmal
ändert”. Einheimische Leser meldeten sich zu Wort. Zitat: „Es werden keine
Sicherheitsvorkehrungen gegen derartige Gefahren getroffen. Wenn das hier so weiter geht,
werden wir noch viele Menschen verlieren. Es sind dringend Maßnahmen notwendig“.
Ich wurde noch in derselben Nacht von einem Staatsanwalt verhört. Anwesend waren eine
Dolmetscherin und die Ärztin, die meinen Mann untersucht hatte und als Todesursache
„Ertrinken“ in den Papieren vermerkt hatte. Die Dolmetscherin riet mir, keinerlei Zweifel am
Unfallhergang aufkommen zu lassen, um den Verdacht eines eventuellen Fremdverschuldens nicht
aufkommen zu lassen, da sonst die Leiche meines Mannes obduziert werden würde. Das hätte
bedeutet, dass sie erst Wochen später zur Überführung nach Deutschland freigegeben worden
wäre. Eine Schreibkraft führte Protokoll.
Später wurden meine Schwägerin, mein Schwager und ich auf einer Polizeiwache ein weiteres
Mal verhört.
Die Dolmetscherin leitete alle nötigen Formalitäten zur Überführung meines Mannes in die Wege
und beschwor uns, nach Deutschland zurückzufliegen, um die Beerdigung vorzubereiten. So trat
ich am Sonntagmorgen den Rückflug nach Deutschland an – ohne meinen Mann stattdessen flogen
nun seine Schwester und Schwager mit mir. Mit Hilfe meiner beiden trauernden Kinder
bereiteten wir alles für seine Beerdigung vor. Mein Mann wurde schon am darauf folgenden
Dienstag nach Deutschland überführt. Ich begleitete den Mitarbeiter vom Beerdigungsinstitut,
als er den Sarg am Köln-Bonner Flughafen abholte. Die Beerdigung fand genau eine Woche nach
seinem Ertrinkungstod statt. Es war eine große Beerdigung, da mein Mann bei Freunden und
Kollegen sehr beliebt und geschätzt war. Auch seine Geschwister mit Ehepartnern und Kindern
kamen aus Irland angereist. Ich war überwältigt von der großen Anteilnahme, die meine Kinder
und ich erfuhren.
Als der Alltag wieder einkehrte, konnte ich den
Leidensdruck, unter dem ich stand, kaum
ertragen. Es gab für mich nur zwei Alternativen:
entweder meinem Leben ein Ende setzen oder
kämpfen. Ich wählte das zweite und suchte Hilfe
bei Freunden und durch das Internet. Mir wurde
immer mehr bewusst, dass mein Mann noch leben
würde, wenn es am Strand Warnungen vor den
Strömungen und Sicherheitsvorkehrungen gegeben
hätte. Die Dolmetscherin, zu der ich nach wie vor
Kontakt hatte, riet mir, an den Landrat von Alanya
zu schreiben und ihn um die Einführung von
Sicherheitsmaßnahmen am Strand zu bitten. So kam ich auf die Idee, alle Menschen, die uns
kondoliert hatten, um solch ein Schreiben, adressiert an den Landrat, zu bitten. Ich erhielt im
Laufe der folgenden Wochen über 130 Briefe und zwei große Unterschriftenlisten. Einen großen
Teil der Briefe ließ ich ins Türkische übersetzen. Außerdem informierte ich die Öffentlichkeit.
Die Fernsehsender RTL, der WDR und der MDR zeigten Berichte und Interviews, die deutsche
Presseagentur DPA schrieb einen Namensbericht und auch die Hürriyet schrieb einen Artikel auf
ihrer Titelseite über den schrecklichen Ertrinkungstod meines Mannes und meine BittbriefKampagne an den Landrat. Dieser Artikel erschien auch in der Ausgabe für die Türkei selbst.
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Einige Tage danach rief mich die Dolmetscherin an und erzählte aufgeregt von dem Aufruhr in
Alanya, den ich durch die Berichte in den Medien verursacht hätte. Plötzlich wurde jegliche
Schuld am Tod meines Mannes auf das Heftigste verneint.
Kurze Zeit nach diesem Aufruhr in Alanya wurden jedoch plötzlich Warnschilder in türkischer,
deutscher, russischer und englischer Sprache mit folgendem Text am Strand aufgestellt: „Seien
Sie bitte bei zu starken Strömungen extrem vorsichtig“, „Nach dem Genuss von Alkohol ist das
Schwimmen gefährlich“, „Bei hohen Wellen und starkem Wind bitte nicht schwimmen“, Bitte
begleiten Sie Ihre Kinder beim Schwimmen im Meer“. Die örtliche Presse lobte die Aktion und
sprach von einem ermutigenden Anfang, um weitere Ertrinkungsopfer zu verhindern und deutete
an, dass im nächsten Jahr noch mehr Schilder aufgestellt würden. Eine Zeitung schrieb “Nach
dem Aufstellen der Warnschilder wurden im Bereich Alanya keine Todesfälle durch Ertrinken
registriert."
Das kann meiner Ansicht nach jedoch nur ein kleiner Anfang sein. Der Tourismus in Alanya hat in
den letzten Jahren rasant zugenommen und ist zu einem wichtigen Wirtschaftszweig geworden.
Es müssen daher dringend Maßnahmen für die Sicherheit der Badetouristen ergriffen werden,
wie in vielen Ländern üblich: Ausgebildete Rettungsschwimmer, die an zum Baden ausgewiesenen
Strandabschnitten täglich ihren Dienst tun, Warnflaggen, Notfallausrüstung wie
Auftriebskörper, Seile, Rettungsboot.
Über das Internet habe ich mehrere betroffene Familien kennen gelernt, die im Urlaub ebenfalls
einen Familienangehörigen durch Nachlässigkeit und Sorglosigkeit der Verantwortlichen am
Urlaubsort verloren haben. Sie haben mir sehr durch Zuhören und Anteilnahme in langen
Telefongesprächen in dieser schweren Zeit geholfen. Einige von ihnen hatten vor Jahren den
Verein gegründet „Hilfe bei Reiseunfällen e.V.“ Sie rieten mir, Kontakt zu einem Rechtsanwalt in
der Türkei aufzunehmen, der schon in mehreren ähnlich gelagerten Fällen tätig war. Nach
reiflicher Überlegung habe ich vor einigen Monaten diesen Anwalt beauftragt und Klage wegen
Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Gemeinde bzw. den türkischen Staat vor
dem Gericht in Antalya eingereicht. Ich bin nämlich inzwischen davon überzeugt, dass sich nur
durch den Druck einer gerichtlichen Auseinandersetzung etwas zum Positiven ändern wird.
Bei uns in Deutschland habe ich mich der Organisation für Badesicherheit in Europa, Blausand.de,
angeschlossen. Hier geht es in erster Linie um Prävention. Auch an deren Aktion 100EACHDAY
auf Formentera im Mai 2008 nahmen meinen beiden erwachsenen Kinder und ich teil, malten uns
blau an und ließen uns mit 97 Gleichgesinnten am Strand fotografieren.
Vor einigen Monaten absolvierte ich einen „Ersthelferkurs“ beim Roten Kreuz, wo und unter
anderem gelehrt wird, wie man eine bewusstlose Person wiederbeleben kann. Als nächstes
trainiere ich nun für das „Deutsche Rettungsschwimmerabzeichen“. Hier lernte ich in Theorie
und Praxis, wie ein hilfloser Mensch im Wasser richtig abschleppt und an Land gebracht wird.
Den Bronze-Schein habe ich vor kurzem schon erworben In meinem Alter keine leichte
Angelegenheit.
Der unnötige Ertrinkungstod meines Mannes wird mich für den Rest meines Lebens beschäftigen.
Ich kann und werde deshalb nicht aufhören, mich für Präventionsmaßnahmen, wann und wo immer
es mir möglich ist, einzusetzen.
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Evelyn Wagner
Eiseskälte
Wir waren bis zum Sommer 2001 eine glückliche und zufriedene
Familie.
Mein Mann und ich hatten schon einige Schicksalsschläge zu
bewältigen, doch die Geburt unseres ersten Sohnes 1989 und die
Geburt unserer Zwillinge 1990 brachte wieder Sonne in unsere
Herzen. 1993 zogen wir mit unseren drei Jungs in unser halbfertiges
Eigenheim. Nach und nach wurde ein Zimmer nach dem anderen
renoviert und unsere Kinder konnten ihre Zimmer beziehen.
Heute ist ein Zimmer menschenleer. Alles steht so, wie es Philipp vor
unserem Griechenlandurlaub verlassen hat. Auf dem Schreibtisch
liegen Bücher, die er noch lesen wollte; Bilder, die nicht mehr
ausgemalt werden; Kreuzworträtsel, die er nicht mehr lösen wird.
Unter dem Schreibtisch stehen sein Bücherranzen und seine
Fußballschuhe.
Unsere Kinder wollten fliegen und auch am Anfang des neuen Schuljahres von einem tollen Urlaub
in der Schule erzählen. Auch wir wollten unseren Jungs nach 11 Jahren endlich einen Urlaub
bieten. Und so buchten wir im Januar 2001 über den Reiseveranstalter I T S unsere erste 14tägige Reise ins griechische Ouranoupolis auf der Kloster - Halbinsel Athos ins Hotel Aristoteles.
In der Nacht vom 26. zum 27. Juli kamen wir an. Vor unserer Ferienwohnung die Hotelattraktion:
eine riesige Wasserrutsche. Unsere Jungs waren begeistert. Heute höre ich sie noch sagen: “Oh,
da dürfen wir doch auch mal rutschen!“
Wir erfuhren von der Reiseleiterin der ITS, dass man sich die Armbändchen in der
Hotelrezeption oder direkt an der Rutsche kaufen könnte. Wir erfuhren aber nicht, dass die
Rutsche ohne Baugenehmigung und ohne Abnahme errichtet wurde. Außerdem erfuhren wir
nichts von den bereits geschehenen Unfällen durch die Rutsche.
Am 1. August planten wir den versprochenen Rutschtag. Das Tagesticket kostete umgerechnet 9
DM pro Person. 14.30 Uhr. Philipp und seine Brüder liefen nach einer zweistündigen Rutschpause
wieder zur Rutsche, um noch einmal richtig Spaß zu haben.
Heute noch sehe ich die letzten bewegenden Bilder von unserem Philipp, wie er zufrieden und
glücklich in Richtung Rutsche marschierte.
Nach zehn Minuten verspüre ich eine innere Unruhe. Ich nehme meine Kamera, sage zu mir: Was
ist los mit dir? Wir sind doch im Urlaub und alles ist bestens. Wir sind alle gesund und haben es
doch gut.
Trotz innerer Unruhe schieße ich noch zwei Fotos von der Hotelanlage und laufe dann meinen
Jungs nach.
Philipps Zwillingsbruder kommt schreiend auf mich zu. „Der Philipp, der Philipp!“ Erschöpft bricht
er vor mir zusammen. In mir bricht ein Vulkan aus. Ich bekomme kaum Luft.
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Meine Zwillinge in Not: Wo laufe ich zuerst hin? Eine aufmerksame Urlauberin kümmert sich
sofort um meinen erschöpften Eric und ich renne ohne Schuhe den Schotterweg zum
Auslaufbecken der Wasserrutsche. Philipp liegt bewusstlos am Beckenrand.
Bevor ich zu ihm kann, reiße ich mich von einer Urlauberin los, die mich an beiden Armen so fest
hält, dass ich sie anschreien muss: “Lassen sie mich sofort los, ich will zu meinen Kind!“
Die Rettungsschwimmerin hockt in Wadenhöhe von Philipp und hält sich beide Hände vor ihr
Gesicht. Ich knie mich zu meinem Kind nieder und vertraute Worte gehen mir durch den Kopf,
die mir mein Mann vor Jahren ans Herz legte. „Du kannst niemals in der Not unseren Kindern
helfen, wenn du die Nerven verlierst.“ Also reiße ich mich zusammen und zwinge mich, richtig zu
reagieren.
Philipp atmet nicht, kein Puls. Sein rechter Arm von der Schulter bis zur Hand ist dunkelblau. Ein
runder Abdruck zieht sich über die Schulter. Wie eine Abschnürung. Eine Erklärung für diese
schwere Verletzung habe ich in diesem Moment nicht.
Ich beatme ihn. In dem Moment kniet sich mein Mann zu uns nieder. Mit Hilfe eines deutschen
Urlaubers versucht er vierzig Minuten lang unser Kind zurück ins Leben zu holen.
Endlich, endlich ein Arzt, jetzt wird alles wieder gut. Weitere 15 Minuten vergehen, endlich ein
Krankenwagen. Jetzt wirst du wieder gesund.
Mit Martinshorn rasen wir in das „Gesundheitszentrum“. Eine Stunde. Im Krankenwagen nichts.
Keine medizinischen Geräte, einfach nichts, wie ausgebrannt.
Mein kleiner Sohn ist tot. Ich habe es schon an der Rutsche gefühlt, dass wir ihn verloren haben.
Doch ich will nicht, dass er geht. Bleib doch bei uns, mein kleiner Engel. Wir wollen doch noch
Urlaub machen.
Später am Abend, als ich aus dem Gesundheitszentrum zurückkomme, erfahre ich die
schreckliche Wahrheit. Von unseren beiden Söhnen, die versucht hatten, ihren Bruder aus dem
Ansaugrohr zu befreien.
Die Kraft unserer beiden Jungen reichte nicht aus, Philipp aus dem Sog zu befreien. Philipps
großer Bruder wurde beim Rettungsversuch selber von einem ungesicherten Nebenrohr verletzt.
Von Urlaubern herbeigerufenes Personal riss Philipp mit aller Kraft zu Dritt vergeblich aus der
tödlichen Falle. Ohne vorher die Pumpen abzustellen
Philipp wird zur Gerichtsmedizin nach Thessaloniki gefahren. Der Gerichtsmediziner schreibt
später in seinen Obduktionsbericht: keine äußere Verletzungen, Tod durch Ertrinken.
Der 1. August endet für meine Familie und mich bei der Polizei in Ouranoupolis mit einem
vierstündigen Verhör. Weg hier, ich ersticke. Die griechische Luft kann ich nicht mehr einatmen.
Aber ich muss atmen, ich muss meine Kinder zurück nach Deutschland bringen. Am nächsten
Morgen sitzen wir in einem Taxi, was uns zum Flughafen nach Thessaloniki fährt. Griechische
Musik. „Nein, mach sie endlich aus“ hätte ich am liebsten zu dem Taxifahrer gesagt. Doch ich
bleibe stumm.
Auf dem Weg zum Flieger versagen mir immer wieder meine Beine. Mein ganzer Körper
schmerzt. Nein, ich bin nicht tot. Wenn man tot ist, spürt man keinen Schmerz. Ich bin eine
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lebende Tote. Jemand muss uns mit einer Fernsteuerung bewegt haben, denn wir kommen am
Abend des 2. August 2001 zu Hause an. Nein, nicht ausruhen. Wir müssen Anzeige erstatten
wegen fahrlässiger Tötung.
Philipp kommt nach Hause. Er wird am 4. August in einem Zinksarg von Thessaloniki nach
Deutschland überführt. Im deutschen Obduktionsbericht stehen detailliert seine schweren
Verletzungen am rechten Arm. Die deutsche Staatsanwaltschaft leitet Ermittlungen gegen
unbekannt ein.
Wir fordern Gerechtigkeit, wir haben es unserem Philipp an seinem Totenbett versprochen und
dieses Versprechen werden wir halten.
Mit Gegendruck arbeite ich gegen meinen seelischen und körperlichen Schmerz. Ich ziehe mir
einen dicken Schutzmantel an und beginne zu kämpfen.
Bisher waren wir schon drei Mal in Griechenland. Ich bin mir sicher: Wenn wir nicht zusammen
mit unseren Anwälten gekämpft hätten, wäre Philipps Akte in Griechenland schon in den Archiven
verschwunden. Doch die griechische Staatsanwaltschaft erhebt Anklage. Hotelbetreiber,
Rutschenbetreiber und die Rettungsschwimmerin werden vor Gericht stehen. Wir mobilisieren
Zeugen und fliegen im September 2003 mit weiteren zehn Personen und auf eigene Kosten zum
Strafprozess nach Griechenland. Von 43 angesetzten Gerichtsverhandlungen an diesem
Donnerstag, haben wir die Nummer 40.
Es kommt zu keiner Verhandlung. Die Richterin vertagt auf den folgenden Montag.
Beim Aufeinandertreffen mit den Angeklagten schaue ich ihnen immer wieder in die Augen.
Suche auch in ihnen einen Funken Trauer oder zu mindestens etwas Anteilnahme. Doch nichts von
alledem, eine Eiseskälte strahlen sie aus. Teilweise machen sie sich sogar über uns lustig, auf
üble Art und Weise. Was wollt ihr hier? Vor Gericht habt ihr keine Chance. Wir werden euch vor
Gericht zertreten wie harmlose Insekten.
Ihr selbstsicheres Auftreten macht mir Angst. Doch wir werden wiederkommen. Die Vertagung
bedeutet für uns, unsere Heimflüge umzubuchen. Innerhalb von fünf Minuten wird an diesem
Montag das Verfahren auf Juni 2004 vertagt.
Die Staatsanwaltschaft in Deutschland hat die Ermittlungen gegen den Geschäftsführer des
Reiseveranstalters im Januar 2003 eingestellt.
Heute wissen wir, dass unser Sohn nicht das erste Opfer an dieser Rutsche war. Aus diesem
Grund ist es für uns nicht nachvollziehbar, warum die Staatsanwaltschaft nicht tiefgehender
ermittelt hat.
Aus der Ermittlungsakte geht hervor, dass sich auch Erwachsene beim Eintauchen in das zu
niedrige Auffangbecken der Rutsche schwer verletzt haben. Außerdem ist während des
Rutschens ein Kind aus der Rutschbahn geworfen worden.
Ein zehnjähriger Junge wurde vier Tage vor Philipps Unfall mit seinem Knie angesaugt. Er konnte
seinen Oberkörper über Wasser halten und somit nach Hilfe rufen. Die Eltern alarmierten die
Betreiber, doch man schloss die Rutsche nicht und nahm die Verletzungen und sogar den Tod
weiterer Urlauber in Kauf.
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Die Rutsche ist wieder in Betrieb, so als wäre nie etwas passiert. Schutzgitter hat man nach dem
Tod unseres Sohnes angebracht.
Die Angeklagten in Griechenland versuchen, die eigentliche Todesursache zu vertuschen, und der
Reiseveranstalter ist der Meinung, dass nur uns die Schuld trifft. Wir, die Eltern, haben die
Aufsichtspflicht verletzt. Wir zerstören die schöne Welt der Reisewerbung, wenn wir in der
Öffentlichkeit Missstände ansprechen.
Man hat unserer Familie die Lebensfreude genommen. Wir müssen den Verlust und die plötzliche
Trennung von unserem kleinen Sohn täglich aufs Neue ertragen. Meine beiden Söhne, die den Tod
ihres Bruders hautnah miterlebten, haben ihre Kindheit verloren und keine Zukunftspläne.
Wir leben seit dem 1. August 2001 in einer dunklen Trauerhöhle. Wir wissen, dass kein Gericht
unseren Sohn wieder nach Hause kommen lässt. Aber wir wissen auch: Ohne gerechtes Urteil
werden wir den Tod unseres Kindes niemals verarbeiten können.
Jede Stunde trauert irgendwo auf unserer Erde eine Mutter um ihr Kind. Oft sind wir gegen
Krankheit ohnmächtig. Auch Umweltkatastrophen können wir kaum entgegentreten.
Doch der Fahrlässigkeit der Reiseveranstalter können wir den Kampf ansagen. Und genau das
werden wir tun. Wir werden weiter kämpfen und funktionieren, damit dieses unerträgliche Leid
anderen Familien erspart bleibt.
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Özkan Arslan
Narbe in der Seele
Liebe Kirsten, vielen Dank für Deine Antwort. Ich hoffe, dass es Deinem
Handgelenk bald besser geht und die Entzündung bald verheilt ist. Lass
Dir ruhig Zeit mit dem Brief, Deine Gesundheit soll nicht darunter
leiden. Die Frage, wie es passiert ist, löst bei mir keine guten Gefühle
aus, ich musste erstmal den richtigen Moment abpassen, um die Sache
noch mal zu erzählen. Aber mir hilft es wirklich am meisten, mit Leuten
darüber zu reden, die auch betroffen sind. Die Schwester eines
türkischen Freundes hier in Trier hatte Selbstmord begangen... Der
Erfahrungsaustausch mit ihm war sehr wichtig. Meine andere Schwester
tauscht sich in einer Trauergruppe mit Betroffenen aus...
Weißt Du, der Bruder von Herbert Grönemeyer ist ja Arzt, auch ein
beliebter Arzt, ökologisch und links denkend, soweit ich weiß, und der hat
in einem Interview mal etwas gesagt (das Interview habe ich auch hier
irgendwo in dem Wust in meinem Zimmer, in dem ich gerade schreibe,
gelagert), in dem Interview antwortet er auf die Frage, wie er denn
gerne sterben möchte: „Umfallen und tot“.
So war es bei meiner Schwester leider nicht. In dem Moment, in dem ich
das las, dachte ich: So wäre es eigentlich am besten, man bekommt gar
nicht mit, dass man stirbt, du fällst einfach um und es ist aus.
Wie Du schon in Deiner Mail sagtest: Es ist täglich präsent. Und ich
glaube auch nicht, dass es irgendwann einmal aufhören wird. Vergleiche
gehen etwa in die Richtung: „Wie eine Narbe auf der Haut, ist dies eine
Narbe in der Seele. Sie ist immer da.“ Und vielleicht kennst Du das von
Narben auf der Haut: Wenn man gestresst ist oder es einem gerade nicht gut geht, dann
schmerzen oder jucken sie...
Ich selbst vergleiche die Lage aber eher mit einer Amputation, wiederum eine Amputation in der
Seele. Es fehlt einfach irgendetwas, meine Schwester, mit der ich groß geworden bin und sie
wird von nun an immer fehlen. Ganz schlimm ist es, wenn ich Frauen oder Mädchen sehe, die ihr
ähnlich sind. Einmal habe ich nur im Vorbeigehen ein vielleicht neunjähriges Mädchen an einem
Fenster gesehen und sie sah meiner Schwester, so wie sie als Kind war, total ähnlich und in
solchen Momenten möchte und kann ich die Tränen auch nicht zurückhalten. Noch schlimmer geht
es natürlich meiner Mutter, die eine ihrer Zwillingstöchter verloren hat (kein Kind der Welt
sollte vor seinen Eltern sterben) und natürlich dem anderen Zwilling, Perihan, die mit vor Ort
war, als ihre Schwester Neslihan starb:
Das ganze geschah im letzten Sommer (Mitte Juli). Als ich in Paris war, erzählte mir Nesli noch,
dass sie ein Auslandssemester in Spanien plant (sie hatte vorher schon in Spanien gearbeitet).
Berauscht von dem Aufenthalt in Paris, erzählte ich ihr natürlich, wie wichtig es wäre, ein oder
zwei Auslandssemester zu machen... Sie fuhr los... Ich hörte einige Zeit nichts mehr von ihr. Das
letzte Mal sprachen wir über die Abgabe einer Seminar-Arbeit für die Europa-Uni
Frankfurt/Oder (wo sie studierte), deren Rest sie noch in Spanien fertig stellte.
Nach ein paar Tagen schickte ich ihr eine SMS, auf die ich nur sehr spät eine Antwort erhielt.
Ich hatte damals – ich weiß noch genau, wie ich in meiner leeren Dreizimmerwohnung hockte – ein
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ungutes Gefühl. Normalerweise antwortete sie sehr zügig. Später sollte ich erfahren,
dass eine Party dafür verantwortlich war...
Das Erasmus-Semester war vorüber, und bevor es zurück nach Deutschland gehen sollte, wurde
noch ein Strand-Aufenthalt eingeplant, dazu reiste Peri aus Deutschland an. Ich hatte das alles
noch von Perihan mitbekommen. Ich dachte, Peri fährt mit anderen Leuten zu Nesli, doch sie
fuhr allein. Hätte ich gewusst, dass Peri sie allein besucht, hätte ich vielleicht mehr Warnungen
rausgeschossen, denn erfahrungsgemäß kommt es immer zu Zankereien und Reibereien zwischen
uns Geschwistern, so auch zwischen Peri und Nesli.
Als sie ankam, haben sie überlegt, ob sie Neslis in Spanien lebenden Freund besuchen oder zu
zweit an einen anderen Strand fahren. Sie entschieden sich für das Letztere und fuhren an einen
Strand in der Nähe von Barbate (nahe Cádiz). Den Tipp dazu hatte Nesli von Studis aus Córdoba
(Sitz der Partner-Uni) bekommen. In Barbate (genauer: am Strand von Canos de Mecca) zelteten
sie und entschieden sich an einem Strand zu baden, der angeblich nicht so sehr von Touris
belagert wird. Sie fanden einen, an dem kein übermäßiger, massenhafter Menschenandrang
herrschte.
Peri erzählte mir, dass dann folgendes geschah: Bei der Suche nach dem Strand kam es wohl zu
einer kleinen Meinungsverschiedenheit. Peri wollte wohl – nachdem sie schon länger in der Hitze
liefen – dass man sich nun einfach an irgendeinem Strand niederlasse und Nesli unbedingt den
abgelegeneren finden von dem ihr berichtet wurde..., welchen sie dann ja auch fanden... Sie
setzten sich an den Strand.
Zuerst ging Peri schwimmen. Es war wohl windig, wenn nicht sehr windig an diesem Tag. Peri kam
wieder zurück. Nesli fragte sie, wie das Wasser wäre, sie antwortete: „Es geht“ oder „Ist gut“.
Nesli ging ins Wasser. Sie kam nie wieder zurück. Als Nesli ins Wasser ging, hatten sich die
Gemüter schon wieder abgeregt. Es lag wohl kein Streit mehr in der Luft. Meine Schwestern sind
beide, wie ich, kurzsichtig: Nachdem Nesli in Richtung Wasser gegangen war, las Peri ein Buch –
ohne dabei ihre Brille aufgesetzt zu haben. Sie hatten sich ganz tief im Strand positioniert, also
weiter weg vom Wasser, dort saß jetzt auch Peri.
Was ich jetzt schreibe, weiß ich nur aus spanischen Zeitungsberichten: Während sie im Wasser
schwamm, erfasste sie eine Strömung (laut Aussage des Honorarkonsuls sterben dort jährlich
rund sechs Menschen aufgrund der dort herrschenden Strömungen). Meine Schwester kämpfte
laut Augenzeugenberichten um ihr Leben – 15 Minuten lang. Leute versammelten sich auf einem
Felsen, von dem aus sie Neslihan beobachten konnten.
Jemand rief den spanischen Notdienst an („110“). Ein Anderer wollte hineinspringen, um ihr zu
helfen, wurde jedoch von einer weiteren Person daran gehindert, damit er sein eigenes Leben
nicht gefährden würde. Es vergingen mehr als 30 Minuten, bis Personal von Rettungsdiensten
überhaupt eintraf. Insgesamt 45 Minuten vergingen, bis ein Hubschrauber kam. Neslihan war zu
dem Zeitpunkt schon untergegangen. Die Siesta beginnt in Spanien ja um 14 Uhr, das war
ungefähr der Zeitpunkt, an dem das Unglück geschah.
Perihan bemerkte dann den Pulk von Menschen. Als sie sich der Szenerie näherte, umringten sie
die Strand-Menschen. Sie wurde von der Polizei befragt, man fragte sie nach Daten und den
ganzen Formalia, die Polizisten ja stets gepflegt aufnehmen, sie fragte die Polizei, warum sie
nichts machten (die Bullen hatten meiner Ansicht nach Neslihan schon zu diesem Zeitpunkt
aufgegeben). Sie flippte total aus, wurde mit Spritzen ruhig gestellt. Augenzeugen sagen in
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Zeitungsberichten aus (ich zitiere sinngemäß): „Dies war ein Tod, der einfach verhindert werden
konnte.“ Oder: „Dies war ein Tod, der umsonst geschah“/“Dies war ein Gratis-Tod“.
Wortwörtlich: „Fue una muerta gratuida.“
Als ich die Umstände, wie es zu ihrem Tod gekommen war, erfuhr, hing ich an einem Telefon in
Barbate. Es war, als ob sie nochmals starb. Ich war nicht da gewesen, um sie da raus zu holen
oder zu sagen: Geh lieber nicht bei diesem Wind schwimmen.
Einen Tag nachdem es geschah, rief mich Perihans Ex-Freund an. Ich fuhr gerade im Zug von
Luxemburg nach Trier. Er machte irgendwelche Andeutungen. Ich schrie ihn an, er solle endlich
auf den Punkt kommen. Ich legte auf und machte das, was ich auch jetzt gerade mache, ich
weinte. Irgendjemand im Zug kam zu mir und fragte, was los sei. Ich sagte, meine Schwester ist
ertrunken, obwohl die Telefonstimme mir gesagt hatte, sie werde nur vermisst. Ich war auf die
Knie gefallen, presste den Kopf in den Sitz und heulte.
Der Typ legte seine Hand auf meinen Rücken. Es tat so gut, in diesem Augenblick, die Wärme
eines anderen Menschen zu spüren, ich beruhigte mich wieder. Das Gesicht des jungen Typen
habe ich weder zu diesem Zeitpunkt noch danach je gesehen. Als wir aus dem Zug stiegen, fragte
er noch, ob ich klar käme und ich bejahte ohne ihn anzusehen - in diesem Augenblick konnte ich
einfach nichts sehen, denn tausende anderer Bilder schossen mir durch den Kopf, die sich alle um
nur eine Frage drehten: Ist das, was mir da eben am Telefon umständlich mitgeteilt wurde,
tatsächlich passiert? In Trier angekommen ging ich auf dem Bahnsteig auf und ab, hin und her
und redete mir zu, dass es nicht wahr ist, dass es nicht geschehen ist, dass alles nur ein
Missverständnis war oder dass sie gerettet werden würde... Irgendwelche
Bundesgrenzschutzbullen meinten dann noch, meine Personalien überprüfen zu müssen...
In derselben Nacht flog ich noch nach Spanien zu Perihan ins Hotel, wo man sie einquartiert
hatte. Auf dem Weg dorthin hatte ich Hoffnung, vielleicht passiert ja doch noch ein kleines
Wunder und sie lebt noch. Ich konnte die Tränen nicht unterdrücken, egal ob im Taxi oder im
Flugzeug... Als ich im Hotel ankam, war Peri ziemlich niedergeschlagen. Neslis Freund war
eingetroffen und sie saßen zusammen im Hotelzimmer. Sie waren schon ziemlich resigniert, ich
hatte die Hoffnung aber noch nicht aufgegeben, irgendwelche Gerüchte darüber, dass Menschen
drei Tage im Wasser überleben könnten, kursierten.
In dem kleinen Hotel Galia war normaler Betrieb, niemand, der sich hinsichtlich der Geschehnisse
um irgendetwas zu kümmern schien. Ich fuhr mit Peri und dem Freund in seinem alten, rostigen
Pick Up mit bellenden Hunden im Nacken zum Ort des Geschehens. Dort angekommen, traute ich
meinen Augen nicht: Hier war gestern meine Schwester ertrunken, ein Mensch hatte sein Leben
gelassen – und es herrschte ganz normaler Strand-Betrieb. Von Polizei oder Security nichts zu
sehen. Wir trafen auf zwei britische Surfer, die uns von Hubschraubern erzählten, die am
Vortag über dem Strand-Abschnitt kreisten.
Im Nachhinein erfuhr ich, – erst nach massivstem Nachfragen – dass ein Hubschrauber aus der
Luft den Körper meiner Schwester sichtete, die Rettungskräfte aber angeblich nichts
unternehmen konnten, weil die Stelle, an der ihr Körper gesichtet wurde, unzugänglich gewesen
sei.
Ich suchte den Strand ab. Ich blickte auf das offene, weite Meer hinaus. Nach einiger Zeit,
„bauten“ der Freund und meine Schwester (die immer noch sehr angeschlagen war und das
nochmalige Aufsuchen des Unglücksorts tat sein Übriges dazu) erst mal „Einen“. Ich wollte
jedoch nicht aufgeben. Wir fuhren zurück und ich war voller Empörung, weil hier absolut nichts
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geschah, um meine Schwester zu retten (oder auch nur den Hauch einer Anstrengung in diese
Richtung zu unternehmen). Ich sorgte für ein wenig Trubel und Alarm, als wir wieder im Hotel
ankamen. Kurze Zeit später kreuzten der Psychologe Juan (der eigentlich Kinderpsychologe ist),
ein Mensch von den Behörden und zwei Frauen aus dem Frauenhaus (sie hatten meine Schwester
Perihan betreut) auf. Sie redeten irgendetwas davon, dass „alles Menschenmögliche getan
werden würde“, dass „Schiffe, Polizei, Armee, Militär“, dass „freiwillige Helfer, Surfer“, dass all
diese Menschen nach meiner Schwester suchen würden.
Ich traute niemandem über den Weg: Der Typ von den Behörden, ein junger Kerl, kurz
gewachsen, mit kurzem, buschigem Haar, faselte uns irgendetwas davon, dass er beim 11.
September in New York dabei gewesen wäre, dass er wisse, wie wir fühlten, gab sich als
Katastrophen-Profi... Ich sagte nur: „Führt mich dahin, wo die Suchaktionen stattfinden. Ich will
es mit eigenen Augen sehen.“ Der Behörden-Fuzzi stimmte mir zu und sagte, er arrangiere dies
mit der Polizei. Irgendwann fuhr ich dann mit zwei jungen Polizisten und dem Behörden-Freak in
einem Jeep, angeblich zu dem Ort, an dem Suchaktionen stattfänden. Auf dem Weg merkte ich,
dass wir lediglich zu dem Unglücks-Ort fuhren, den ich ja bereits zuvor besucht hatte. Wir
kommunizierten die ganze Zeit auf Englisch. Sie wussten nicht, dass ich auch Spanisch konnte. In
Ordnung, ich gebe zu, nach unseren drei Jahren Schulspanisch bei Frau Wahl und Herrn Dudda,
ist mein aktives Spanisch nicht mehr so gut. Das passive Verstehen ging aber noch, zudem wollte
ich unbedingt verstehen, was sie sagten. Während ich aus dem Fenster guckte und es so aussah,
als ob ich geistesabwesend in Gedanken versunken war, konzentrierte ich mich angestrengt.
Auf der Fahrt bekam ich mit, wie der Behörden-Fuzzi einen der Polizisten fragte, ob er nicht
noch Kollegen hinzu rufen könne (damit es – wie als aktueller Beweis für Suchaktionen – nach
mehr Polizei-Wirbel aussehen würde). Er tat dies per Funk. Nur kurze Zeit später kamen sie
hinzu, überholten uns, und der Behörden-Typ sagte mir (auf den vorbeifahrenden Polizeiwagen
zeigend): „Siehst du, die da vorne, die suchen auch schon den ganzen Tag nach deiner
Schwester“. Ich kam mir verarscht vor. Wir kamen da an, wo ich kurz zuvor schon mit Peri und
dem Freund gewesen war. Ich sagte: „Hier ist nichts, hier sucht niemand nach meiner
Schwester.“ Er sagte: „Doch, doch!“, gestikulierte und versuchte, zu beschwichtigen. Wir waren
bereits aus dem Jeep gestiegen.
Einer der Polizisten zog – nach einem Zusprechen durch den Behörden-Menschen – ein Fernglas
hervor. Im Auto sitzend, durch die dreckige Windschutzscheibe hindurch, glotzte der
fettleibige Bulle auf das Meer hinaus. „Siehst du“, sagte der Behörden-Mensch, „die suchen mit
modernster Technik nach deiner Schwester.“ Ich kochte. Ich musste mich arg zusammenreißen,
damit ich nicht explodierte. Ich fragte: „Wo sind die Menschen und Schiffe, die angeblich nach
meiner Schwester suchen? Bringt mich dahin wo die Suchaktionen stattfinden!“ Wir fuhren
wieder mit dem Jeep los, die anderen Kollegen verabschiedeten sich. Ich war wütend und sie
spürten es. Ich sagte nichts mehr und guckte nur noch aus dem Fenster des fahrenden Jeeps.
Man ließ mich wissen, dass wir zu den Rettungsschwimmern fuhren.
Wir gelangten zu einem kleinen Häuschen, es war heiß - die Sonne brannte. Ich erblickte ein paar
dickliche Gestalten, ein paar ältere und zerbrechlich wirkende Figuren. Es waren die
Rettungsschwimmer. Ich dachte mir nur: Das kann nicht wahr sein! Die hätten meine Schwester
im Notfall an diesem Strand retten sollen? Da schwimme ich ja selbst schneller... Ich ließ meiner
Wut jetzt freien Lauf und teilte dem Behörden-Arsch mit, dass ich ihm kein Wort glaube und
dass ich nur das glaube, was ich mit meinen eigenen Augen sehe. Bisher hatte ich von einer
Suchaktion nichts gesehen – und so sollte es auch bleiben. Der Behörden-Mann sagte mir, die
Schiffe seien weit draußen und man könne sie nicht sehen, außerdem suche man aufgrund der
Strömung auch eher an anderen Orten. Er gab mir ein Fernglas und ich schaute auch noch durch,
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gleichzeitig denkend: Was mache ich gerade bloß! Mir blieb nur übrig, zu hoffen, dass er nicht
log. Ich bin mir heute aber sicher, dass damals nichts oder nicht viel passierte.
Ich habe nie irgendetwas von irgendwelchen Suchaktionen gesehen. Wir fuhren wieder zurück.
Lange Zeit sagte niemand irgendetwas. Dann brach der Behördenmann das Schweigen. Die beiden
Polizisten unterhielten sich nun angeregt mit dem Vertreter der örtlichen Behörden über meine
Schwester, mich und mein Verhalten: Sie waren sich alle einig, dass meine Schwester tot sei und
einen eventuelle Suche sinnlos.
Danach brach die Diskussion ab und sie schwiegen wieder – so lange, bis wir wieder am Hotel
ankamen. Die beiden Frauen aus dem Frauenhaus waren furchtbar nett. Eine Mutter und ihre
Tochter. In die Tochter hätte ich mich sogar verlieben können, hätte ich sie unter anderen
Umständen kennen gelernt. Die Mutter sprach Deutsch. Sie erzählten uns abermals dieselbe
Soße, wie wir sie schon den ganzen Tag über gehört hatten: Jeder tue alles, alles was nur
menschenmöglich sei. Mit dem Honorarkonsul hatte ich bereits direkt nach meiner Ankunft
einmal telefoniert: Er sagte mir glasklar, dass mit dem Tod meiner Schwester zu rechnen sei. An
jenem Strand sterben ja seinen Angaben zufolge sechs Menschen im Jahr.
Die Leute verließen wieder das Hotel. Es wurde Nacht, nichts war klar. Ich wollte es immer noch
nicht glauben. Ich schlief vielleicht eine oder zwei Stunden – doch ich schlief mit der Gewissheit
ein, dass ich hier niemandem glaube. Irgendwann, nach sieben Uhr, fing ich an, mich ans Telefon
zu hängen. Ich rief jeden an, der mir als Hilfsperson für diese Situation in den Sinn kam. Ich
wusste, dass Bilal (ein Freund aus der Zeit des Jura-Studiums) sehr gut Spanisch spricht.
Ich erreichte ihn nicht in Berlin und rief deshalb seine Eltern im Schwabenland an. Irgendwann
hatte ich ihn an der Strippe. Er sollte allen noch mal deutlich mitteilen, dass ich nicht überzeugt
davon war, dass hier Suchaktionen ordentlich durchgeführt werden würden. Er redete mit den
Frauen aus dem Frauenhaus, ich telefonierte parallel mit zwei Telefonen, rief unentwegt alle
erdenklichen Leute an und überlegte, wie ich erzwingen könnte, die Suchaktionen zu sehen oder
gar an ihnen teilzunehmen... Irgendwann rief mich Bilal an und erzählte mir etwas von einem
Zeitungsbericht einer spanischen Zeitung. Es ging um die genauen Umstände ihres Todes.
Ich hörte zu. Ich fing an, am Telefon zu heulen und zu schluchzen, wie gesagt, es war, als ob sie
noch mal gestorben ist, denn ich erfuhr, dass man sie leicht hätte retten können, wenn ein
deutliches Warnschild, das vor den Strömungen warnt, also ein Hinweis auf Todesgefahr,
gegeben wäre oder die Rettungskräfte rechtzeitig eingetroffen wären oder die Suchaktionen
(soweit es sie gegeben hat) nicht so schlampig verlaufen wären.
Ich war wutentbrannt. Und wenn der Behörden-Arsch noch einmal aufgetaucht wäre, dann hätte
er was erleben können. Ich war bereit, ihn in der Luft zu zerreißen. Doch er ließ sich nicht mehr
blicken. Freunde in Trier schalteten das Auswärtige Amt, Botschafter und irgendwelche
Hilfsorganisationen ein, weil wir keine „offizielle“ Unterstützung vom Honorarkonsul erfuhren. Er
sagte mir, ich könne nicht an Suchaktionen teilnehmen. Ich rief Leute von der Presse an, die ich
kannte. Ich war soweit, mir einen privaten Hubschrauber mit Piloten zu mieten, weil die
Wahrscheinlichkeit, dass sie lebte, immer geringer wurde. Er sollte aber rund 8000 Euro kosten,
die ich nicht hatte.
Mein Onkel und mein Cousin machten Druck über die Behörden in der Türkei... Ein anderer
Verwandter schaltete einen Diplomaten in Frankreich ein...Irgendwann bekam ich dann einen
Anruf vom Botschafter, der mir, nachdem ich ihn mit einer Reihe von Argumenten in die Enge
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getrieben hatte, etwas davon erzählte, dass es von meiner Schwester fahrlässig gewesen sei, bei
der am damaligen Tage herrschenden Windstärke schwimmen zu gehen... Es war klar: Die
Offiziellen wollten den Ball so flach wie möglich halten. Die Einzigen, die uns während der ganzen
Zeit mit Herz und Seele unterstützten, waren Antonio (der Hotelbesitzer), Juan und die beiden
Frauen aus dem Frauenhaus. Antonio rief für uns immer bei der Polizei an und fragte nach
Neuigkeiten. Die Frauen aus dem Frauenhaus zitierten einen Polizeibeamten zu uns, der uns
persönlich über die Suche Auskunft geben sollte (von ihm kam z.B. das Detail, dass ein
Hubschrauberpilot den sich nicht mehr bewegenden Körper meiner Schwester gesichtet hatte,
die Rettungskräfte aber angeblich nicht eingreifen konnten).
Am dritten Tag klopfte es irgendwann an unserer Hotelzimmertür. Der Freund war nach dem
ersten Tag schon abgereist, Peri hatte wiederholt Zusammenbrüche erlebt. Antonio reichte mir
das drahtlose Telefon in die Hand, eine Frauenstimme fragte mich nach den Farben des
Badeanzugs Neslihans, ich fragte Perihan nach den Farben.
Ein Fischerboot hatte sie rund 80 Kilometer entfernt in dem Ort Cádiz gefunden – so sagte man
es uns. Ich legte auf. Antonio lächelte und bedeutete, dass wir uns jetzt doch befreit fühlen
müssten. Ich schaute ihn an und schloss die Zimmertür. Meine Schwester Perihan guckte mich
an, setzte sich wieder auf die Bettkante, schaute auf den Boden. Ich fuhr nach Cádiz (auch das
war mit Komplikationen verbunden), identifizierte sie (eine seltsam unvergessliche Zeitspanne,
der Körper sah noch „fit“ aus, es war nicht zu fassen!) und wir bestatten sie in der Türkei. Ich
habe an dieser Stelle mal die Geschichte abgekürzt. Ich erzähle demnächst mal mehr zu der
Frage, wie es passiert ist und wie es weiter ging, denn das Ganze dauert selbstverständlich bis
heute an.
Wenn Du magst – ich wäre echt sehr froh –, wenn Du über Carolin erzähltest..., obwohl es schon
10 Jahre her ist...Aber Du musst natürlich nicht, wenn Du nicht willst oder kannst. Werde erst
mal wieder gesund und viel Erfolg noch bei der Dissertation (Thema?)...
Bis bald, Özkan
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Elisabeth Seitz
Chiamo il soccorso 113
Mein Mann und ich hatten vor, vom 13. bis 31. Oktober 2003 einen gemeinsamen Urlaub auf
Sizilien zu verbringen. Am 13. Oktober flogen wir nach Palermo (Italien) und bezogen Quartier
auf dem Campingplatz "Camping degli Ulivi", der in Sferracavallo nahe bei Palermo liegt. Am
Donnerstag, den 16. Oktober planten wir, auf den Monte Pellegrino zu fahren. Während der
Fahrt Richtung Monte Pellegrino suchten wir eine Bar für das Frühstück.
Dabei sahen wir, dass am Strand von Mondello zwei Männer in den Wellen badeten. Wir
beschlossen, nach einem kleinen Frühstück das Gleiche zu tun und erst danach zum Monte
Pellegrino aufzubrechen. In einer Bar in Mondello tranken wir Cappucino und aßen ein Cornetto.
Dann packten wir die Badesachen, die im Auto mit dabei waren, und gingen zum Strand. Wir
hatten Ausweise und Geldbeutel dabei, deswegen wollten wir abwechselnd schwimmen.
Mein Mann, der im Urlaub immer Tagebuch führte, beschrieb den Morgen am Campingplatz, das
Frühstück in Mondello und maß bereits am Strand um 9.30 Uhr den Luftdruck. Er war
Vermessungsingenieur und interessierte sich stets für das Wetter.
Kurz danach ging mein Mann als Erster ins Wasser. Er lief durch das seichte Wasser,
durchschritt die ersten kleinen Wellen und fing an zu schwimmen. Ich blieb mit unseren beiden
Taschen und seinen Kleidern am Strand zurück, krempelte meine Hosenbeine hoch und lief durch
das seichte Wasser. Mein Mann bewegte sich vom Strand weg.
Plötzlich kam eine Welle, schwappte über meine Beine und durchnässte meine Hose oberhalb der
Knie. Ich war überrascht von der Heftigkeit, ging rückwärts aus dem Wasser heraus, nahm
schnell beide Taschen und die Kleidung meines Mannes, um sie vor dem Wasser in Sicherheit zu
bringen. Sofort schaute ich nach meinem Mann. Ich sah, dass er relativ weit draußen war und mit
den Armen heftig schwamm. Ich bekam ein ungutes Gefühl, winkte mit den Armen und rief: "Hey,
Roland, … schwimm nicht so weit raus!"
Mein Mann hörte mich nicht und reagierte auch nicht. Ich sah, dass sich ihm eine brechende
Welle näherte. Sein Kopf wurde vom Wasser überspült, dann sah ich ihn wieder. Eine zweite
Welle näherte sich. Ich bekam Angst, fing an zu rufen und zu schreien.
Direkt hinter mir befand sich eine Bar, an der sich drei Männer aufhielten. Einer kam auf mich
zu und fragte was los ist. Ich erklärte ihm, dass da draußen mein Mann schwimmt und ich Angst
um ihn hätte.
Nachdem die zweite Welle über meinen Mann geschwappt war, sah ich ihn nicht mehr. Ich hatte
inzwischen riesige Angst. Nach wenigen Augenblicken, in denen mein Mann nicht wieder
auftauchte, sagte der Mann von der Bar: "Chiamo il soccorso 113!" ("Ich rufe den Notruf!"). Ich
nickte und sagte: "O.k! D'accordo!" ("Ich bin einverstanden!").
Einige Minuten darauf waren mehrere Polizisten am Strand. Einer nahm mir das Fernglas ab, das
mein Mann in seiner Tasche mitführte und mit dem ich inzwischen nach ihm suchte. Der Polizist
drängte mich zurück und schaute selbst mit dem Fernglas.
Mehrere der Polizisten telefonierten mit den Handys. Ich fragte, was jetzt geschieht, ob zum
Beispiel ein Rettungsschiff kommt. Am unteren Ende des Strandes waren zwischenzeitlich
mehrere Wellenreiter ins Wasser gegangen. Ich hatte den Eindruck, dass der Polizist in ihre
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Richtung sah. Dann sagte er: Ein Helikopter wird kommen. Erneut sagte ich "o.k".
Ich machte mir Hoffnungen. Ich dachte, mein Mann ist ein Bergsteiger, er ist hart und
geschickt, er treibt irgendwo im Wasser und kommt wieder zurück an Land. Bojen im Wasser
hielt ich für seinen Kopf.
Es war nun ungefähr eine halbe Stunde vergangen. Trotz der Hoffnungen war mir bewusst, was
dies bedeutete.
Plötzlich gingen die Polizisten in Richtung Wellenreiter. Mich drängten sie erneut zurück. Ein
Mann, der am Strand war, blieb an meiner Seite. Die Wellenreiter bückten sich und ich sah, dass
einer eine Person, die im Wasser trieb, unter den Achsel zu fassen suchte. Der Wellenreiter
stürzte vom Brett, die Person entglitt ihm wieder. Der Wellenreiter stieg erneut auf sein Brett,
wieder bückten sich zwei Wellenreiter ins Wasser. Polizisten waren ebenfalls zu der Stelle geeilt
und liefen durch das seichte Wasser. Gemeinsam borgen sie meinen reglosen Mann. Es war
inzwischen gut nach 10:40 Uhr.
Ich fing an, auf meinen Mann zuzulaufen. Ich hatte erst einen kleinen Teil des Weges
zurückgelegt, als die Ambulanz mit quietschenden Reifen vorfuhr, mehrere Personen aus dem
Wagen sprangen, zu meinem Mann liefen, sich um ihn kümmerten und wenige Minuten darauf eine
Decke über ihn breiteten. Ich war im Schockzustand.
Danach begann das Warten auf den Amtsarzt und das Verhör durch die Polizisten. Eine Deutsch
sprechende Dame, die früher am Goetheinstitut gearbeitet hatte, und ein Mann, der am Empfang
des Palace-Hotels in Mondello arbeitet und mit einer Deutschen verheiratet war, kümmerten sich
um mich.
Die Amtsärztin kam nach etwa zweieinhalb Stunden. Der leitende Polizist erklärte mir, mein
Mann sei ertrunken. Danach nahmen mich die Polizisten mit zum Commissariato Mondello, um den
Bericht aufzunehmen.
Die Nacht musste ich nicht auf Campingplatz verbringen, sondern konnte bei der Deutsch
sprechenden Dame in der Wohnung bleiben. Mein Mann wurde am späten Abend zum Friedhof
Cimitero dei Rotoli (Palermo) gebracht. Polizisten bauten das Zelt auf dem Campingplatz ab und
brachten es mir.
Die Mutter und ein Bruder meines Mannes sowie meine beiden Brüder kamen nach Palermo. Vom
Bürgermeister von Palermo und seinem Büro erhielten wir alle große seelische, organisatorische
und finanzielle Unterstützung. Wir konnten bereits am Samstag, den 18. Oktober gemeinsam
nach München zurückkehren.
Die Leiche meines Mannes wurde nach Frankfurt geflogen und anschließend mit dem Auto nach
München gefahren.
35
Andrea Göbel
Ungleicher Kampf
Ich frage mich oft, warum ich nichts gespürt habe, als meine Schwester verzweifelt um ihr
Leben gekämpft hat.
An dem Tag an dem es passierte, ging ich zur Arbeit wie
jeden Tag, beschäftigte mich mit Problemen, die keine
waren und sprach mit Menschen, die ich nicht kannte.
Als ich noch glaubte, es wäre ein Tag wie jeder andere,
ertranken meine Schwester Nicole und ihr Freund Frank
in den Fluten des Atlantiks an der Westküste
Fuerteventuras.
In den letzten Wochen vor ihrem Urlaub stand meine
Schwester beruflich unter Dauerstress. Sie war bei
Siemens Mobile als Teamassistentin tätig. Siemens hatte gerade seine Handysparte an den
taiwanesischen BenQ-Konzern verkauft. Alle arbeiteten mit Hochdruck an einer reibungslosen
Übergabe, ohne zu ahnen, dass sie in weniger als einem Jahr ohne Jobs auf der Straße stehen
würden. Wie sich später herausstellte, hatte Siemens seine verlustreiche Handysparte ohne
Sicherheiten und tragfähige Konzepte an BenQ verramscht und die berufliche Existenz seiner
Mitarbeiter skrupellos aufs Spiel gesetzt. Die fragwürdigen Geschäftspraktiken von Siemens im
Zusammenhang mit der Abstoßung der Handysparte und der schonungslose Umgang mit den
eigenen Mitarbeitern, die zuvor noch weit reichende finanzielle Zugeständnisse zur Rettung
ihrer Arbeitsplätze gemacht hatten, beschäftigten monatelang die Presse. Am Ende stand die
Vernichtung von rund 3300 Arbeitsplätzen in Deutschland.
Von alldem ahnte meine Schwester nichts, als sie sich entschloss, dem stressigen Berufsalltag
für ein paar Tage den Rücken zu kehren. Kurz entschlossen buchte sie für sich und ihren Freund
eine 10-tägige Urlaubsreise nach Fuerteventura in den Ferienort Costa Calma an der Ostküste
der Insel. Der Job ließ ihr kaum Zeit für Besorgungen. Irgendwo fanden sich noch Reste von
Sonnenmilch aus dem vergangenen Urlaub, Bikinis wurden quasi im Vorbeigehen gekauft, in der
Hoffnung, sie mögen schon irgendwie passen. Dann war es endlich soweit. Ich sehe sie noch heute
gelöst und voller Vorfreude in der Küche unserer Eltern stehen, als Frank sie abholte. Meine
Mutter ging noch mit nach draußen und winkte ihnen nach, als sie mit dem Wagen davonbrausten.
Einen Tag vor dem Unglück erhielt ich eine E-Mail von ihr, die sie vom Internet-Terminal des
Hotels aus abschickte. Sie war begeistert von dem Urlaub, schwärmte vom tollem Wetter und
endlos langen Stränden. Sie erzählte davon, was sie schon alles unternommen hätten. Mit dem
Katamaran seien sie um die Küste geschippert, hätten faul auf dem Sonnendeck gelegen und
zwischendurch im Meer gebadet. Auch Jet-Ski seien sie gefahren. Einmal habe sie sogar einen
fliegenden Fisch gesehen. Dass sie ihren Urlaub in vollen Zügen genossen hat und in ihren letzten
Tagen glücklich war, gibt uns ein wenig Trost.
Als das Telefon klingelte und mein Vater am Apparat war, ahnte ich, dass etwas passiert sein
musste. Mein Vater ruft sonst nie an. Wegen seiner Schwerhörigkeit macht er ums Telefon seit
langem einen großen Bogen. Er bat mich nach Hause zu kommen, wollte aber nicht sagen, warum.
Als ich bei meinen Eltern ankam, empfingen mich mein Vater und zwei Polizeibeamte. Meine
Mutter war einkaufen. Ich hörte sie später draußen mit einer Nachbarin sprechen, nichts
ahnend, was sich drinnen in der Wohnung abspielte. Es war so, wie man es aus einschlägigen
36
Kriminalfilmen kennt, nur dass es kein Film war, sondern Realität. Die Beamten sagten, dass sie
uns eine traurige Mitteilung machen müssten. Nicole und Frank seien gestern auf Fuerteventura
bei einer Wanderung von Wellen ins Meer gerissen worden und ertrunken. Ihre Dienststelle sei
vom Bundeskriminalamt und dieses wiederum von der Deutschen Botschaft über die Todesfälle
informiert worden, verbunden mit der Bitte, die Angehörigen
zu benachrichtigen und diese zu ersuchen, sich um die
Einzelheiten der Rückführung zu kümmern. Weitere Details
seien ihnen nicht bekannt. Dann gingen sie und ließen uns
fassungslos in einem Alptraum zurück, der bis heute andauert.
In uns keimte die Hoffnung auf, dass hier eine Verwechselung
vorliegen musste. Irgendjemand hatte sich geirrt und die
falschen Personalien durchgegeben. Während bei uns die
Verzweiflung umging, lagen Nicole und Frank bestimmt irgendwo am Strand und ahnten nichts von
dem, was hier vorging. Eines Tages würden wir gemeinsam über diesen Irrsinn lachen und uns
wundern, was heutzutage in der Welt so alles möglich ist.
Doch insgeheim wussten wir, dass wir uns etwas vormachten.
Es war jetzt an der Zeit, zu handeln. Bereits am nächsten Tag flog ich mit meinem
Lebensgefährten nach Fuerteventura, um zu erfahren, was genau passiert war. Am Flughafen
empfing uns eine Mitarbeiterin des deutschen Reiseveranstalters, bei dem meine Schwester die
Reise gebucht hatte. Uns wurde ein Zimmer im selben Hotel zur Verfügung gestellt, in dem
Nicole und Frank untergebracht waren. Der Weg zu unserem Zimmer führte vorbei an der großen
Poollandschaft des Hotels.
Überall begegneten uns fröhliche, braun gebrannte Menschen und ich glaubte, jeden Moment
Nicoles Gesicht irgendwo in der Menge zu entdecken.
Auf unseren Wunsch hin vermittelte man uns ein Gespräch mit zwei Zeugen, die den Vorfall
beobachtet hatten und bereit waren, mit uns zu sprechen. Man organisierte darüber hinaus ebenfalls auf unseren Wunsch - eine Fahrt zur Unglücksstelle und vereinbarte einen Termin mit
dem pathologischen Institut zur Identifizierung der Leichen.
Wir fuhren zunächst zur Unfallstelle. Der Weg dorthin führte wenige Meter hinter Costa Calma
durch eine wüstenähnliche Landschaft zur Westküste. Kurz vor der Ankunft blieb der Jeep mit
durchdrehenden Reifen im Sand stecken. Dem Fahrer gelang es nicht, das eingegrabene
Fahrzeug frei zu fahren. Wir ließen es stehen und folgten dem angedeuteten Trampelpfad durch
den Sand hinunter zur Westküste. Es war Ebbe. Das Meer war zwar wild und schlug schäumend
gegen die Küste, reichte aber längst nicht an den Platz hinauf, an den wir standen.
Man zeigte uns die Stelle, an der es passiert sein sollte. Hier soll es gewesen sein? An diesem
harmlos anmutenden Platz?
Das Meer lag tief unter uns. Zu weit weg, als dass es uns gefährlich werden könnte. Wie konnte
es sein, dass meine Schwester an diesem Ort von einer Welle überrascht und ins Meer gerissen
wurde. Wir baten unsere Begleiter, uns allein zu lassen und starrten lange Zeit aufs Meer hinaus.
Wir warfen ein paar Blumen hinab in die schäumenden Wellen.
Später gingen wir zum Fahrzeug zurück und versuchten ein letztes Mal, den Jeep aus den
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Sandmassen zu befreien. Ohne Erfolg. Unsere Begleiter versuchten über Handy, Hilfe
herbeizurufen. Aber es gestaltete sich sehr schwierig, in dieser abgelegenen Gegend eine
Netzverbindung herzustellen. Endlich gelang der Kontakt und man vereinbarte einen Treffpunkt
kurz vor Costa Calma, mehrere Kilometer von unserem Standort entfernt. Wir wanderten
schweigend durch die Wüste. Ich hätte die Sahara und die Wüste Gobi gleichzeitig durchqueren
können, ohne dass es mir etwas ausgemacht hätte. Irgendwann sahen wir aus der Ferne ein
Fahrzeug, das auf uns wartete und uns nach Costa Calma zurückbrachte.
Die beiden Augenzeugen erwarteten uns bereits und blickten uns verunsichert entgegen. Sie
hätten nicht mit uns sprechen müssen. Ich rechne es ihnen hoch an, dass sie es getan und sich
unseren Fragen gestellt haben.
Aus ihren Erzählungen und den Dingen, die wir später noch erfuhren, ergab sich folgendes Bild:
Der Ausflug zur Westküste war vom deutschen Reiseveranstalter über einen Aushang im Hotel
angeboten worden. Interessenten konnten sich bei der Reiseleitung anmelden. Rund 50
Teilnehmer fanden sich am Morgen des besagten Tages am vereinbarten Treffpunkt an der
Rezeption des Hotels ein, um zur gemeinsamen Wanderung aufzubrechen. Die Führung der
Gruppe übernahm ein Mitarbeiter des Reiseunternehmens, der in der Hotelanlage als
Sportanimateur tätig war. Die 12-kilometerlange Wanderung sollte etwa 2 1/2 Stunden dauern
und vom Hotel zur gegenüberliegenden Seite der Insel führen. Rechtzeitig zum Mittagessen
wollte man wieder zurück sein. Die Gruppe ging vermutlich den gleichen Weg, den wir zuvor mit
dem Jeep zurückgelegt hatten. Sie durchquerten die wüstenähnliche Landenge, die man - wie ich
später las - den Istmo de la Pared nennt und erreichten die Westküste gegen 11 Uhr Ortszeit.
Anders als bei unserem Aufenthalt herrschte zu diesem Zeitpunkt Flut; das Meer war deutlich
wilder und reichte viel höher an die Küste heran. Der Tourleiter gab ihnen 15 Minuten Zeit für
eine Rast. Danach wollte man den Rückweg nach Costa Calma antreten. Die Leute zerstreuten
sich daraufhin an der Küste, um das spektakuläre Panorama mit ihren Kameras festzuhalten.
Meine Schwester sah die Welle nicht kommen. Sie stand mit dem Rücken zum Meer, um sich von
ihrem Freund fotografieren zu lassen. Die Welle riss sie von den Beinen und drohte sie über den
Küstenrand ins Meer zu ziehen. Frank warf die Kamera beiseite, stürzte zu ihr und ergriff sie.
Bevor sie sich in Sicherheit bringen konnten, wurden sie von einer weiteren Welle überrollt und
ins Meer gerissen.
Von den Wellen umher geworfen; hielten sie sich noch eine Zeit lang an den Händen, wurden aber
bald von der gewaltigen Brandung auseinander gerissen und gegen die Klippen geschleudert.
Meiner Schwester wäre es fast gelungen, sich aus den Wassermassen zu befreien. Mit letzter
Kraft schaffte sie es, sich an den rutschigen Klippen festzuklammern und daran hochzuklettern.
Doch der Atlantik war nicht bereit, sie frei zu geben. Die Wellen brandeten unaufhörlich gegen
die Küste und rissen sie zurück ins Meer. Als die Kraft sie verließ, zog die Strömung sie hinab in
die Tiefe und trug sie hinaus aufs offene Meer.
Von den vielen Menschen, die ihren Überlebenskampf vom Küstenrand aus beobachtet haben, hat
kein einziger den Mut und die Kraft gefunden, ihr zur Hilfe zu kommen.
Bis es endlich jemandem gelang, mit seinem Handy eine Netzverbindung zur Außenwelt
herzustellen, war es für eine Rettung längst zu spät. Es dauerte fast zwei Stunden, bis erste
Rettungskräfte vor Ort waren. Während Frank noch an der Unfallstelle geborgen werden konnte,
war meine Schwester durch die Strömung abgetrieben worden. Hubschrauber suchten nach ihr
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und fanden sie schließlich sechs Stunden später eineinhalb Seemeilen vom Unglücksort entfernt.
Der von den Zeugen geschilderte Ablauf der Wanderung und die chaotischen Verhältnisse am
Unfallort warfen eine Vielzahl von Fragen in uns auf. Was hatte eine Gruppe Pauschalurlauber an
diesem abgelegenen, augenscheinlich gefährlichen Ort überhaupt zu suchen? Wussten die Leute
um die Gefährlichkeit dieses Ortes? Waren sie vorher über die Gefahren aufgeklärt und
gewarnt worden? Warum hatte der Tourleiter keinerlei Notfallausrüstung dabei? Dass sich diese
Fragen auch das spanische Amtsgericht auf Fuerteventura stellte und inzwischen eine
Untersuchung gegen den Wanderführer eingeleitet hatte, erfuhren wir erst, als wir bereits nach
Deutschland zurückgekehrt waren.
Im Obduktionssaal des Inselkrankenhauses erhielten wir schließlich die traurige Gewissheit, dass
es sich bei den Verunglückten um meine Schwester und ihren Freund handelte. Bis zuletzt hatten
wir uns an der Hoffnung festgeklammert, dass sich doch noch alles als riesengroßer Irrtum
herausstellen würde. Aber die Realität holte uns ein und zerstörte den letzten Funken Hoffnung.
Wir erledigten die notwendigen Formalitäten, um Nicole und Frank nach Hause zu holen und
flogen zurück nach Deutschland.
Unsere Suche nach Antworten führte uns in den darauf folgenden Jahren auf eine zermürbende
Odyssee durch die Instanzen spanischer und deutscher Gerichte. Es dauerte allein ein Jahr, bis
es uns mit Hilfe spanischer Anwälte gelang, Einsicht in die Gerichtsakten zu nehmen und
Einzelheiten des gegen den Wanderführer eingeleiteten Strafverfahrens in Erfahrung zu
bringen.
Es stellte sich heraus, dass die Wanderung in ein Küstengebiet führte, das in der Region als
hochgefährlich bekannt ist. Wegen seiner unkalkulierbaren Risiken wird dieser Küstenabschnitt,
dem man den klangvollen Namen "Agua Liques" gegeben hatte, selbst von Einheimischen
gemieden. Viele Menschen hatten dort im Laufe der Jahre ihr Leben verloren.
Das Gericht warf dem Wanderführer vor, seine Sorgfaltspflichten verletzt zu haben, in dem er
die ahnungslosen Urlauber in diese gefährliche Gegend brachte, ohne sie über die Risiken
aufzuklären. Er hatte nicht verhindert, dass sich die Reisegäste der Küste näherten, um dort zu
fotografieren und trug darüber hinaus auch keinerlei Ausrüstung bei sich, um im Notfall selbst
Rettungsmaßnahmen einzuleiten zu können.
Dies alles war für uns unbegreiflich. Die Wanderung war doch schließlich nicht von irgendwem,
sondern von einem renommierten deutschen Reiseveranstalter angeboten worden, der in seinen
Katalogen eine professionelle Reisedurchführung und die Sicherheit seiner Reisegäste
garantiert. Darf man sich dann nicht darauf verlassen, dass die angebotenen Ausflüge
ungefährlich sind, von qualifiziertem Personal durchgeführt und für Notfälle entsprechende
Vorkehrungen getroffen werden? Nicole und Frank hatten jedenfalls darauf vertraut und
mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen.
Wir erstatteten Strafanzeige und reichten gleichzeitig Zivilklage gegen den Reiseveranstalter
ein, um ihn für den Tod meiner Schwester und ihres Freundes zur Verantwortung zu ziehen.
Seit dem tragischen Unglück sind inzwischen vier Jahre vergangen. Das Strafverfahren gegen
den Animateur wurde in zweiter Instanz eingestellt. Ebenso das auf unsere Strafanzeige
eingeleitete staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren gegen die Geschäftsführer des
Reisekonzerns. Wir brauchten drei Anwälte, zwei Übersetzer und eine gute
Rechtsschutzversicherung, um in zweiter Instanz wenigstens einen Vergleich mit dem
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Reiseveranstalter zu erzielen. Am Ende ist die Gerechtigkeit dabei auf der Strecke geblieben.
Diese Erzählung ist meiner Schwester Nicole und ihrem Freund Frank gewidmet, der unter
Einsatz seines Lebens versuchte, sie zu retten.
40
Hans-Jürgen Christ
Er hatte noch so viel vor
Robert, positiv, lebensfroh und sportlich, liebte die
körperliche Bewegung. So spielte er seit seinem 6.
Lebensjahr Fußball und genoss diesen sportlichen
Wettkampf genauso wie die Kameradschaft im Team –
und dies all die Jahre hindurch bis zu jenem schlimmen
16. September im Jahr 2008. Daneben fand er
genügend Zeit für Schwimmen, Ski fahren, Squash,
Fitness und – in der jüngsten Zeit – die Teilnahme an
mehreren Marathon-Läufen. Sport bedeutete für ihn
Spaß und Entspannung.
Ein wesentlicher Teil in seinem Leben waren für ihn seine Familie und seine Freunde. Mit seinen
Freunden wurde, so oft es ging, gemeinsam etwas unternommen, und wenn es sich bei den
Marathon-Läufen einrichten ließ, dann lief er sie im Team wie 2007 beim Quelle ChallengeTriathlon in Roth, wo er bei der Staffel den Part des Läufers übernahm. Genauso wichtig war für
Robert seine Familie. Trotz Beruf und immer knapper werdender Zeit kam er gern nach Hause.
Robert war ein Mensch voller Lebensfreude und Zuversicht. Das meiste war ihm leicht gefallen
im Leben, alles lief gut und alles war schön, zu schön…
Nach seinem Examen als Diplom-Kaufmann arbeitete er bei KPMG als Wirtschaftsprüfer und im
Juli 2008 hatte er beschlossen, sich zur Steuerfachprüfung anzumelden und im Anschluss daran
die Prüfungen zum Wirtschaftsprüfer abzulegen. Das – so war ihm klar - bedeutete, dass er neben seiner Tätigkeit für KPMG - im kommenden Jahr die restliche Zeit für
Prüfungsvorbereitungen benötigen würde. Deshalb beschloss er kurzfristig, schnell noch einmal
in den Urlaub zu fahren - um “Kraft zu tanken“, wie er sagte. Im nächsten Jahr würde er dafür
keine Zeit haben.
So kurzfristig jemanden aus dem Freundeskreis zu finden, der mitfahren konnte, war schwierig.
Er hatte auch seine Schwester gefragt und es gelang ihr, sich für diese Reise frei zu nehmen.
Urlaubsreise in die Dominikanische Republik
Am 7. September 2008 war es soweit. Mit dem Reiseveranstalter ITS Billa Reisen, Wien - einem
Tochterunternehmen der Rewe Touristik GmbH Deutschland - flogen unser Sohn und unsere
Tochter in die Dominikanische Republik nach Puerto Plata. In Cabarete im Hotel „Viva Wyndham
Tangerine“ wollten Sie sich 14 Tage entspannen. Schnell fand sich eine Gruppe von jungen Leuten
und man genoss die Zeit miteinander.
In der zweiten Woche buchten unser Sohn und unsere Tochter den Tagesausflug zur Insel
Saona. Der Veranstalter dieses Tagesausflugs war die „GO Caribic S.A.“. Wie auch ITS Billa
Reisen, ist GO Caribic S.A. ebenfalls ein Tochterunternehmen der Rewe Touristik GmbH
Deutschland und als solches der Vor Ort - Dienstleister für die zur Rewe Touristik Gruppe
gehörenden Reiseveranstalter. In den Reiseunterlagen unserer Kinder ist GO Caribic S.A.
ausdrücklich als „Zielgebietsbetreuung“ genannt. Unsere Kinder hatten ein gutes Gefühl.
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„Trauminsel“ Saona
Der Ausflug fand am 16. September 2008 statt und
etwa 14 Personen nahmen teil. Zuerst flog die Gruppe in
den Süden der Dominikanischen Republik, besuchte ein
verlassenes Künstlerdorf und setzte danach mit einem
so genannten Speedboot mit zwei schweren
Außenbordmotoren zu einem Strand an der „Trauminsel“
Saona über. Dort am Strand gab es zur Mittagszeit ein
Picknick und anschließend freie Zeit zum Schwimmen,
Schnorcheln und Sonnenbaden.
Um 14.45 Uhr wollte man sich wieder am Strand treffen, um mit einem großen Katamaran zurück
zum Festland zu fahren.
Das Wetter war herrlich und die Stimmung gut. Im Wasser direkt am Strand ankerten
Motorboote. Neben und zwischen ihnen schwammen und schnorchelten Ausflügler der
verschiedensten Nationalitäten. Etwas weiter draußen ankerten die Katamarane, die nicht so
dicht an das Ufer fahren konnten.
Da unser Sohn beabsichtigte, Schnorcheln zu gehen, begleitete Antonio, der Reiseleiter, ihn zu
einem Verkaufsstand, wo er sich eine Schnorchel-Ausrüstung ausleihen konnte. Kurze Zeit
danach kam unser Sohn noch einmal kurz zu seiner Schwester zurück, um ihr etwas Wechselgeld
zu geben, das er nicht mitnehmen wollte. Ein österreichisches Ehepaar und ein deutscher
Ausflugsteilnehmer trafen ihn dann noch einmal, als er langsam ins Wasser watete.
Wie vereinbart, traf man sich um 14.45 Uhr am Strand. Schließlich wartete man nur noch auf
unseren Sohn. Aber er kam nicht.
Während die übrigen Ausflugsteilnehmer zu dem wartenden Katamaran gebracht wurden,
suchten unsere Tochter (nachdem sie mit einem Anruf bei der Vorgesetzten des Ausflugsleiters
dafür gesorgt hatte, dass die Suche nicht abgebrochen wurde) zusammen mit dem Ausflugsleiter
und dessen Freundin sowie mit 2 oder 3 weitere Personen nach unserem Sohn, indem sie mit dem
Speedboot langsam die Küste links und rechts des Strandes abfuhren.
Ungefähr um 17.30 Uhr fanden sie unseren Sohn. Er lag am Grunde des klaren türkisfarbenen
Wassers in ungefähr 1,5 bis 2 Metern Tiefe. Die Küstenwache brachte den Leichnam unseres
Sohnes in die Provinzstadt Higuey, und unsere Tochter sowie der Ausflugsleiter mit seiner
Freundin übernachteten dort in einem Hotel.
Dieser Ausflug beendete das viel versprechende Leben eines jungen Mannes und zerstörte ein
glückliches Familienleben.
Ergreifend auch der Bericht eines der Ausflugsteilnehmer, der – zusammen mit anderen
Teilnehmern - auf unsere Tochter traf, nachdem sie alle vom Ausflug zurück an Land gekommen
waren: Unsere Tochter weigerte sich, mit den anderen Ausflugsteilnehmern zurück zum
Flughafen zu fahren. Sie wollte in dem Ort bleiben, wo ihr Bruder von der Küstenwache zur
Aufbewahrung hingebracht werden sollte. Sie hatte einen Schock. Sie schrie. Der betreffende
Ausflugsteilnehmer forderte den Ausflugsleiter auf, für ärztliche Betreuung zu sorgen. Andere
Ausflugsteilnehmer schlossen sich dem an. Der Ausflugsleiter versprach es. Fakt ist, dass nichts
dergleichen geschah, auch später nicht.
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Die Nacht im Hotel und auf der Polizeiwache
Dem schlimmsten Nachmittag ihres Lebens folgte für unsere Tochter die schlimmste Nacht
ihres Lebens: Sie musste uns über dem Tod ihres Bruders, unseres Sohnes, informieren. Nach
einer furchtbaren durchwachten Nacht allein in ihrem Hotelzimmer in Higuey verbrachte unsere
Tochter den nächsten Tag zusammen mit dem Ausflugsleiter und dessen Freundin fünf oder
sechs Stunden auf der örtlichen Polizeistation, wo ein Protokoll über den Tod unseres Sohnes
erstellt werden sollte.
Die Polizei sprach nur Spanisch, das Protokoll wurde in Spanisch verfasst und so war der
einheimische Ausflugsleiter der direkte Gesprächspartner der Polizei. Als unsere Tochter
während der Erstellung des Berichtes informiert wurde, dass sie das Protokoll unterschreiben
solle, bat sie darum, dass man es ihr ermögliche, Freunde in Deutschland anzurufen, die fließend
Deutsch und Spanisch sprechen (Mittels einer Email- oder Fax hätte man den Betreffenden den
Bericht zumailen oder zufaxen können. Evtl. hätte auch ein Anruf und Vorlesen am Telefon
genügt).
Der Ausflugsleiter lehnte diese Bitte ab. Deshalb hat unsere Tochter das Protokoll nicht
unterschrieben.
Wieder in ihrer Hotelanlage angekommen, unterstützten zwei junge Frauen, die sie dort kennen
gelernt hatte, unsere Tochter. Unter anderem besorgten sie ihr Schlaftabletten. Am 20.
September kehrte unsere Tochter aus der Dominikanischen Republik zurück.
Wie reagierte der Reiseveranstalter?
Kurz gesagt: Er reagierte gar nicht. Nach dem schrecklichen Tod unseres Sohnes haben wir von
den zur Zeit des tödlichen Unfalls verantwortlichen Touristik-Organisationen nichts gehört. Kein
Anruf, keine Kondolenz, nichts. Nachdem weitere Wochen vergangen waren, ohne dass sich der
verantwortliche Reiseveranstalter auch nur einmal gemeldet hat, fingen wir an zu begreifen, dass
der Reiseveranstalter schlicht ‚abgetaucht‘ war und hoffte, sich auf diese Weise mit diesem
unangenehmen Thema nicht weiter befassen zu müssen.
Unser erster Brief – Der Geschäftsführer von ITS BILLA REISEN wusste von nichts
Zweieinhalb Monate nach dem furchtbaren Unglück schrieben wir einen Brief an die
Geschäftsleitung der REWE Touristik GmbH in Köln und an deren lokales in der Dominikanischen
Republik tätige Tochterunternehmen GO Caribic S.A., das den so tragisch verlaufenen
Tagesausflug durchgeführt hatte.
Einige Tage später, am 3.12.2008, erhielten wir einen Anruf von dem Geschäftsführer des
Reiseveranstalters ITS Billa Reisen, Wien. Also von demjenigen Reiseveranstalter innerhalb der
REWE Touristik Gruppe, über den unser Sohn und unsere Tochter die Reise gebucht hatten. Zu
unserer Fassungslosigkeit zeigte sich der Geschäftsführer erstaunt über diesen schrecklichen
Unglücksfall. Er nahm an, sagte er, unser Sohn sei ertrunken. Ihm sei „aus der Karibik“ nichts
anderes gemeldet worden. Abgesehen davon, dass wir hierdurch gelernt haben, dass ein
ertrunkener Tourist seinem Reiseveranstalter nicht einmal eine Beileidskarte wert ist, ist diese
Aussage nicht glaubhaft.
43
Schon bei der Bergung der Leiche unseres Sohnes war klar, dass ein Motorboot unseren Sohn
überfahren haben muss. Ein Großteil des linken Armes fehlte ihm. Einige der Ausflugsgäste
erfuhren dies schon von der Besatzung des Katamarans (die wohl über Funk mit der Küstenwache
in Verbindung stand) als dieser mit den Ausflüglern von Saona zum Festland zurückkam. Ebenso
haben dies die Piloten, die die Ausflügler zurück nach Cabarete gebracht haben, in klarer Weise
signalisiert. Die Ausflugsgäste können beides jederzeit bezeugen (die in der Dominikanischen
Republik und in Deutschland durchgeführten gerichtsmedizinischen Untersuchungen haben diese
Unfallursache dann bestätigt).
Sehr nachdenklich stimmt in diesem Zusammenhang, was einer dieser Ausflugsteilnehmer weiter
berichtete. Zu der Aussage, dass es einen tödlichen Unfall eines Schnorchlers mit einem
Motorboot gegeben habe, erklärte seine Reiseleiterin (Dieser Ausflugsteilnehmer war in einem
anderen Hotel untergebracht, er hatte seine Reise in die Dominikanische Republik ebenfalls bei
einem Reiseveranstalter der REWE Touristik Gruppe gebucht und seine Reiseleiterin gehörte
deshalb auch diesem Unternehmen an): „Alles Quatsch, der junge Mann ist zu weit raus
geschwommen und ertrunken.“
Eine offene Kommunikation findet nicht statt
Im Telefongespräch vom Anfang Dezember versprach der Geschäftsführer von IST Billa Reisen,
ab jetzt „engen Kontakt“ zu halten. Allerdings – außer, dass wir eine kurze Mail erhielten mit
Hinweis auf fehlende behördliche Dokumente - geschah fast 2 Monate nichts.
Ende Januar 2009 schrieben wir einen Brief an ITS Billa Reisen. Mit eindringlichen konkreten
Fragen. In einer kurzen formalen Antwort ging die Geschäftsführung in keiner Weise auf diese
Fragen ein. Wir schrieben noch einmal und wieder erhielten wir ein Schreiben, das inhaltlich
abermals in keiner Weise auf unsere Fragen einging. Wir stellten fest, wie naiv wir gewesen
waren. Seitens des Reiseveranstalters gibt es – die Empfehlung seiner Juristen ist
offensichtlich - nur eine Priorität: Nichts tun bzw. alles unterlassen, was in irgendeiner Form
dazu beitragen könnte, Verantwortung für das Geschehene übernehmen zu müssen. Das hat eine
so hohe Priorität, dass jegliche sinnvolle Kommunikation unterbleibt. Ehrlichkeit, Anstand und
Fairness bleiben auf der Strecke.
Auf dieses Schreiben antworteten wir nicht mehr. Es kamen danach einige weitere kurze
Schreiben von der Geschäftsleitung von ITS Billa Reisen, die inhaltlich nichts aussagten und
lediglich auf die noch ausstehenden behördlichen Dokumente verwiesen.
Als dann der Obduktionsbericht aus der Dominikanischen Republik und – nach Schließung der
Akten - der Bericht der Deutschen Staatsanwaltschaft vorlag, kam am 4.6.2009 ein Schreiben
von der „Rechtsvertretung“ von REWE Touristik Austria. Von diesem Rechtsvertreter wurde uns
kurz und lapidar mitgeteilt, dass das Schließen der Akte unseres Sohnes bei der
Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth bedeute, „dass die Strafbehörde weder gegen eine
bestimmte Person noch gegen Unbekannt einen konkreten Verdacht auf Begehung einer
strafbaren Handlung besitzt“, dass die Bemühungen seiner Mandantschaft, die Ereignisse
aufzuklären, leider keinen Erfolg hatten und dass er uns im Namen seiner Mandantschaft
nochmals aufrichtiges Beileid und tief empfundenes Mitgefühl versichern solle.
Das offensichtliche Warten auf die behördlichen Dokumente – deren Inhalt vorhersehbar war –
und die Argumentation in dem Anwaltsschreiben legen nahe, dass die Art und Weise, wie man uns
gegenüber reagieren wollte, ebenso von vorn herein feststand wie der Inhalt dieses Schreibens.
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Unser Familienleben
Unser Familienleben ist nur noch ein Schatten dessen, was es einmal war. Zu groß sind die Trauer
und die Verzweiflung. Robert nicht mehr bei uns zu haben, hinterlässt ein so riesiges Loch in
unserer Mitte, dass wir Schwierigkeiten haben, ins Leben zurückzufinden. Sein Zimmer bei uns
im Haus ist noch in dem Zustand, in dem es vor dem schrecklichen Geschehen war. Ebenso seine
Dateien und Fotos, die er auf unserem Rechner gesichert hatte und die Emails, die er uns
geschickt oder von uns erhalten hat. Und wenn wir beim Suchen in den Emails nur etwas
zurückblättern, stoßen wir auf Mails wie „Hallo Mama“ und „Hi Papa“....
Ich bin inzwischen der katholischen Kirche beigetreten. Während ich bisher keiner Kirche
angehörte, waren meine Frau und die Kinder katholisch. Zu der Entscheidung gibt sicher nicht
viel zu erklären.
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat die Akten nicht deshalb geschlossen, weil es keinen
Verdacht gibt, sondern nur deshalb, weil – wie sich zeigte - die Behörden der Bundesrepublik
Deutschland keinen Zugriff auf die polizeilichen Ermittlungen in der Dominikanischen Republik
haben. Der Verdacht der fahrlässigen Tötung ist nach wie vor gegeben, ebenso der Verdacht auf
grobe Fahrlässigkeit durch Unterlassen.
Und diese Fahrlässigkeit ist es, die uns nicht zur Ruhe kommen lässt. Damit meinen wir nicht –
bzw. nicht nur - den Führer des Bootes, das den tödlichen Unfall verursacht hat, sondern wir
meinen vor allen Dingen die Verhältnisse, die an jenem Strand von Saona herrschten, als dort der
tödliche Unfall geschah. Verhältnisse, die einen solch schrecklichen Unfall erst möglich machten.
Unsere Tochter und andere Teilnehmer des schlimmen Ausfluges haben an jenem Nachmittag an
diesem Strand eine Reihe von Fotos gemacht. Und diese Fotos zeigen ein chaotisches Durch- und
Nebeneinander von Schwimmern, Schnorchlern und Motorbooten.
Bei derartigen Verhältnissen an einem Badestrand kann es nur eine Frage der Zeit sein, bis etwas
passiert. Es war eines unserer Hauptanliegen von Anfang an, dass hinsichtlich der Sicherheit an
jenem Strand von Saona - und natürlich an Stränden mit einer ähnlichen Problematik –
substantielle Verbesserungen stattfinden. Damit solch furchtbare Unglücke künftig möglichst
nicht mehr passieren.
Nach einem Telefongespräch zwischen den Anwälten reagierte die der Reiseveranstalter, indem
er über seinen Anwalt erstmals eine Stellungnahme auch inhaltlicher Art abgab.
In dieser Stellungnahme legt er dar, dass der betreffende Strandabschnitt behördlich zum
Badebetrieb freigegeben ist. Außerdem sind seinem Schreiben Fotos des Strandabschnittes
beigefügt, die zeigen sollten (wörtlich): „..dass der strandnahe Wasserbereich weitläufig mit
einer Schwimmleine gegen das freie, dem Bootsverkehr dienende Wasser abgesperrt ist. Das
Überfahren derselben durch Motorboote ist aus technischen Überlegungen ebenso
auszuschließen …. wie die unwillkürliche Überquerung der Grenze durch die Schwimmer.“
Die Fotos sind zumeist aus der Luft aufgenommen und wahrscheinlich um 06:30 am Morgen. Sie
zeigen einen menschenleeren Strand.
Die Argumentation erweckt den Eindruck einer heilen Welt: Hier die Motorboote, dort die
Schwimmer. Nur: Das stimmt so nicht. Die Bilder von dem menschenleeren Strand haben mit der
Wirklichkeit nichts gemein. Es ist unglaublich, entweder hat sich bei REWE Austria Touristik
niemand die Mühe gemacht, das Schreiben des Anwaltes zu prüfen, bevor es rausging, oder man
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weiß wirklich nichts von den Verhältnissen vor Ort.
Selbstverständlich gibt es an diesem Strand Motorboote auf beiden Seiten der „Schwimmleine“.
Es gibt Lücken in der Bojenkette, extra damit die Motorboote – natürlich sollten sie das
langsamer tun - bis ans Land fahren können, um die Touristen dort (fast) trockenen Fußes
absetzen zu können, sie von dort zurück zu einem Katamaran zu bringen oder um - im Falle der
Einheimischen - ihre Waren zu seinem Verkaufsstand zu bringen.
Um es ganz klar zu sagen: Es herrschte ein reger Motorboot-Verkehr innerhalb des durch die
weißen Bojenkette markierten Bereiches. In einem Bereich, in dem geschwommen und
geschnorchelt werden soll. Mit anderen Worten: Es herrscht dort ein chaotisches Durch- und
Nebeneinander von Motorbooten, Schwimmern und Schnorchlern. Nicht nur unsere Tochter
sondern auch die anderen Teilnehmer des Ausfluges können das bestätigen.
Wie man den Strand sicherer machen kann
Die Fotos, die unsere Tochter und andere Ausflugsteilnehmer an jenem schlimmen Nachmittag
am Strand von Saona machten, belegen chaotischen Zustände.
Der strandnahe Badebereich muss weitläufig mit einer Bojenkette gegen das freie, dem
Bootsverkehr dienende Wasser abgesperrt sein.
Aber diesmal konsequent! Ohne Lücken für die Boote: Der Strand, an dem bisher die Ausflüge
stattfanden, befindet sich eine in das Meer hinausführenden Folge von Steinen, die vielleicht die
Reste einer Mole darstellen, Er ist jetzt nur für die Badegäste reserviert und mit einer
durchgehenden lückenlosen Bojenkette abgesichert. Auf der anderen Seite der zerfallenen Mole
- im Vordergrund - sieht man den Bereich, an dem die Motorboote anlegen. Das Prinzip einer
solch klaren Trennung der Bereiche für Schwimmer/Schnorchler einerseits und Motorboote
andererseits lässt sich in abgewandelter Form auch auf andere Strände übertragen.
Wie könnte das furchtbare Unglück geschehen sein?
Angesichts der chaotischen Situation an jenem Dienstag am Strand von Saona und angesichts
dessen, was an jenem Tag Furchtbares passiert ist, sind es immer wieder verzweifelte Fragen
wie die folgenden, die einem durch den Kopf gehen:
•
•
•
•
•
Wer kontrolliert, ob die Motorboote innerhalb des durch die Bojen abgegrenzten
Bereiches die dort vorgeschriebene Schrittgeschwindigkeit einhalten?
Was passiert, wenn ein Speedboot mit zwei schweren Außenbordmotoren ‚nur‘
Schrittgeschwindigkeit fährt und jemand gerät in die Schrauben?
Macht sich jemand Gedanken darüber, dass der Bootsführer bei vielen Motorbooten
hinten sitzt. und dass er das, was vor ihm geschieht. nur unvollständig überblickt?
Einzelne Schwimmer oder Schnorchler nimmt er eventuell gar nicht wahr.
Wer garantiert, dass die Motorboote – wenn sie aus dem durch die Bojen markierten
Bereich hinausfahren – nicht schon 4 oder 5 Meter vorher „Gas geben“‘? Wer kontrolliert
das?
Was geschieht, wenn der Bootsführer des Motorbootes, das auf der Bojenkette
„ankert“, den Motor anwirft, um dort wegzukommen, falls sich inzwischen ein
Schnorchler genähert hat?
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•
•
•
Warum lässt man es überhaupt zu, dass Motorboote mit teilweise sehr schweren
Außenbordmotoren durch extra offen gelassen Lücken in den für Schwimmer und
Schnorchler freigegebenen Bereich einfahren dürfen?
Macht sich niemand Gedanken darüber, dass Schwimmer - aber insbesondere
Schnorchler, deren Wahrnehmung im Wesentlich nach unten gerichtet ist - es eventuell
gar nicht merken, wenn sie den für sie freigegebenen Bereich verlassen. Nämlich wenn sie
sich innerhalb einer der Lücken befinden, die die Bojenkette hat.
Über die Deutsche Botschaft in Santo Domingo erfuhren wir, dass es für diesen Strand
keinen so genannten ‚Strandverantwortlichen‘ gibt. Warum nicht?
Folgt man diesen Gedankengängen und Fragen, so wird deutlich, wie unfallträchtig die Situation
an diesem Strand an jenem Nachmittag war (und falls nichts verändert wurde, heute noch ist).
Wenn ein Reiseveranstalter seine Ausflugsteilnehmer an einen solchen Strand bringt und Ihnen
dort Schwimmen und Schnorcheln gestattet, dann ist „fahrlässig“ aus unserer Sicht eine viel zu
milde Bezeichnung für ein solches Verhalten. Es ist ein Verbrechen.
Der Fundort von Roberts Leiche
In der Stellungnahme des Anwaltes von REWE Austria Touristik heißt es „….ist abzuleiten, dass
sich dieser (Robert Christ) zum Unfallzeitpunkt weit außerhalb des abgesperrten Bereiches
befunden haben muss, weil allenfalls mit einer küstenparallelen Strömung, nicht aber mit einer
ablandigen, zu rechnen ist. Die Markierung des Fundortes liegt zwar außerhalb des von den Bojen
eingegrenzten Bereiches, aber wiederum nicht so weit, als dass der Unfall nicht innerhalb des
freigegebenen Bereiches hätte stattfinden können.
Wir glauben nicht, dass er sich zum Unfallzeitpunkt außerhalb des durch die Bojen abgegrenzten
Bereiches aufhielt. Unsere Tochter war dabei, als unser Sohn gefunden wurde. Hier ihre
Aussagen: „Ja, der Fundort lag außerhalb des durch die Bojen abgegrenzten Bereiches. Aber nur
etwa 30 bis 50 Meter vom Ufer entfernt und ca. 100 Meter links von der Mitte des
Sandstrandes an dem wir gepicknickt hatten.“ Das ist nicht weit entfernt von dem eingegrenzten
Bereich. Und bis hierher hätte ihn leicht die Strömung mitnehmen können. Auch wenn sie im
Wesentlichen küstenparallel verläuft. Eine minimale ablandige Komponente hätte genügt.
Außerdem könnte er allein schon durch den Sog eines fahrenden Bootes oder durch seine
verzweifelten Schwimmbewegungen im Todeskampf seinen Standort bewegt haben.
Und es kommt noch etwas anderes hinzu: Wir kennen unseren Sohn und können eines mit
Gewissheit sagen: wenn - wie von den übrigen Ausflugsgästen bestätigt - der Ausflugsleiter
davor gewarnt hat, den durch Bojen abgegrenzten Bereich zu verlassen, dann wird unser Sohn es
auch nicht getan haben. Schließlich hat er sich mit dem Ausflugsleiter nicht nur länger
unterhalten, sondern jener hat ihn noch zu dem Geschäftsstand geführt, wo er sich die
Schnorchelausrüstung ausleihen konnte. Unser Sohn war nie leichtfertig und ging nie unnötige
Risiken ein. Nur um zwei Beispiele zu geben: wenn er mit Freunden abends wegging, war es üblich,
dass sich einer von ihnen bereit erklärte, nicht zu trinken und als er mit Freunden einen Urlaub
in Spanien verbrachte, hielt er sich zurück und stieg nicht - wie Freunde von ihm –hinunter in die
Gassen von Pamplona, um sich von den Stieren jagen zu lassen. Er war immer vorsichtig.
Beides, die Aussagen unserer Tochter und die Tatsache, dass wir unseren Sohn gut genug
kennen, um sagen zu können, dass er gefährliche Risiken nicht einging, beides gibt uns die
Gewissheit, dass wir sagen können: unser Sohn hat den abgegrenzten Bereich mit Sicherheit
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nicht verlassen. Jedenfalls nicht bewusst (falls er durch eine der Lücken in der Bojenkette
etwas nach außerhalb gelangt ist).
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Wolfgang und Ingrid Scheffelmeier
Nein, das ist ein Irrtum. Nicht Sammy
Als für Sammy die Zeit gekommen war, entweder den
Wehrdienst oder den Zivildienst anzutreten, entschied er
sich, etwas Sinnvolles und nicht Langweiliges zu machen. Wo
er auch der Allgemeinheit, dem Staat dienen konnte.
Durch einen ortsansässigen Freund, dessen Vater bei der
Marine war und ihm begeistert erzählte, was man alles bei der
Marine erleben kann und wo man überall in der Welt
herumkommt, war er nicht mehr davon abzubringen, seinen Wehrdienst bei der Marine
abzuleisten.
Nach der Grundausbildung in Eckernförde ging es dann nach Wilhelmshaven auf die Fregatte
Mecklenburg-Vorpommern. So lernte er die nördlichen Länder kennen, aber auch den Süden und
es ging sogar auch nach Ägypten. Er war begeistert dabei, wurde Hauptgefreiter als Funk- und
Fernmeldetechniker.
Zum Schluss seines Wehrdienstes war noch eine Fahrt nach Australien geplant. Dies wurde aber
durch den Anschlag auf das World Trade Center in den USA geändert. Es gab zwei
Möglichkeiten, die restlichen zwei Monate an Land zu verbringen: Herumzusitzen oder noch ein
Manöver auf der Ostssee mitmachen, was aber die Verlängerung des Wehrdienstes bedeutete.
Der Wunsch seiner Freundin und auch unser Drängen, den Wehrdienst zu beenden, trugen keine
Früchte. Sammy wollte an dem Manöver Strong Resolve (starke Entschlossenheit) teilnehmen. So
etwas wollte er sich nicht entgehen lassen, 40 000 Soldaten, 144 Kriegsschiffe aus Europa und
den USA.
Am 6. März 2002 befand sich die „Mecklenburg-Vorpommern“ in der Ostsee im Verbund mit den
Fregatten „Cumberland“ und „Edinburgh“. An diesem Tag hatte die „Cumberland“ drei
Besatzungsmitglieder der „Mecklenburg-Vorpommern“ zu einem Besuch eingeladen. Den drei
Besten von 240 Mann wurde diese Ehre zuteil. Am frühen Morgen wurden Kai Nieschwitz, Stefan
Paul und Sammy per Boot auf die „Cumberland“ gebracht. Der Rücktransfer war für 16.30 Uhr
geplant.
Da sich die Wetterbedingungen aber verschlechterten, entschied man sich, den Transfer auf
14.45 Uhr vorzuverlegen. Zu diesem Zeitpunkt herrschte eine Windstärke von 7, die
Lufttemperatur betrug 4,5 Grad, die Wassertemperatur 3° und die Wellenhöhe lag bei zwei
Metern. Als die Zeit gekommen war, legte das Schnellboot, nachdem es Ladung zur „Edinburgh“
gebracht hatte, an der „Cumberland“ an. Dabei drückte der Steuermann das Schnellboot an die
Bordwand der Fregatte.
Die drei Matrosen hatten in der Zwischenzeit ihre Schlechtwetterkleidung, Schwimmweste mit
integriertem Multifaseranzug angelegt. An Bord des Schnellbootes befanden sich der
Steuermann und die Bugfrau. Beide waren mit einem Neoprenanzug ausgerüstet, welche einen
exzellenten Schutz bieten. Vorschriften der englischen Marine schreiben vor, dass bei plus 15
Grad Neoprenanzüge zu tragen seien. Diese Vorschriften gibt es bei der deutschen Marine
nicht. Während das Schnellboot an der Bordwand mit der Gummiwulst „klebte“, fuhr die
„Cumberland“ mit nur einer Bordwelle, um Sprit zu sparen. Am Achterdeck der Fregatte, das
ziemlich tief liegt, ist es möglich, ebenerdig in das Schnellboot zu steigen.
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Weil aber die “Cumberland“ mit nur einer Bordwelle fuhr, hatte dies zur Folge, dass sie sich hob
und wieder senkte, wodurch das an der Bordwand liegende Schnellboot mit nach unten gezogen
wurde. Da es jedoch über keinen Kenterbügel verfügte, kippte es um. Alle fünf Insassen fielen
ins kalte Wasser.
Der Steuermann geriet unter das Schnellboot, konnte sich aber durch das Luftablassen der
Schwimmweste unter dem Boot befreien und auf das Boot retten. Die restlichen Verunglückten
waren noch dicht beieinander und hielten sich gegenseitig fest.
Dabei bemerkten sie, dass Stefan Paul sich nicht mehr bewegte. Er war durch den Sturz ins
kalte Wasser mit dem Kopf zwischen die Schwimmweste geraten, die durch eine Salztablette im
Wasser automatisch aufgeblasen wird. Stefan Paul gelang es nicht, sich aus dieser Situation
weder nach unten noch nach oben zu befreien und er ertrank beim Sturz ins kalte Wasser.
Schauer überkam die anderen drei Verunglückten, als sie merkten, dass Stefan Paul sich nicht
mehr regte und ertrunken sein musste. Kurze Zeit später wurde er von dem Rettungsboot der
Edinburgh geborgen und anschließend für tot erklärt.
In dem Bericht des Ermittlungsausschusses der englischen und der deutschen Marine vom 14.
März 2002 gaben die Engländer rückhaltlos alle Fehler zu. So hatte der 1. Offizier, der die
„Cumberland“ zum Zeitpunkt des Unfalls steuerte, keine Brückenerlaubnis und der Kommandeur
der „Cumberland“ hatte keine Befehle erlassen, wer welches Kommando hatte.
So herrschte auf der „Cumberland“ Chaos. Das Aufzeichnungsband wurde verkehrt eingelegt, die
Ausgucke waren nicht ausreichend besetzt. Zwischenzeitlich hatte die „Cumberland“ die Mannüber-Bord-Rolle ausgelöst, Warnsignale und Leuchtfeuer abgegeben, was auch von der
„Mecklenburg-Vorpommern“ wahrgenommen wurde. Da die „Cumberland“ Befehlshoheit hatte,
kam die Anweisung, dass alle Fregatten drehen und zur Unglückstelle zurückkehren sollten.
Die Kehrtwendung der „Cumberland“ verlief aber schwierig und dauerte auch viel zu lange, was
von der Mecklenburg-Vorpommern besorgniserregend registriert wurde. Die drei
Zurückgelassenen entschieden sich, zum umgekippten Schnellboot zu schwimmen, was jedoch
wegen der Strömung nicht gelang.
Bei den Verunglückten geht man davon aus, dass die Überlebenszeit der Höhe der
Wassertemperatur entspricht. also bei 3 Grad Wassertemperatur drei Minuten Überlebenszeit.
Ebenfalls chaotisch ging es auf der „Mecklenburg-Vorpommern“ zu. Die Mann-über-Bord-Rolle
wurde nicht ausgelöst. Man informierte sich gegenseitig. Nachdem Minuten vergangen waren und
die Mannschaft im Motorrettungsboot saß, stellte man fest, dass der Rettungssanitäter noch
nicht da war. Diesen konnte man mit dem Mikrofon nicht erreichen, da es unter den Decks keine
Lautsprecher gab, was die Suche verschlechterte.
Kapitän und Offiziere lernen während ihrer Ausbildung, was bei Verunglückten im kalten Wasser
passiert. Und dass jede Sekunde zählt. Nachdem jemand ins kalte Wasser fällt, erlebt er erst
einmal einen Kälteschock. Dies löst eine Stressreaktion aus, was Auswirkungen auf Kreislauf,
Atmung und Handlungsfähigkeit hat. Am gefährlichsten ist die Auswirkung auf die Atmung.
Einatmen kann, wenn sich die Atemöffnungen unter Wasser befinden, den Ertrinkungstod
einleiten. Die Handlungsfähigkeit ist extrem eingeschränkt.
Kaltes Wasser senkt die Körperkerntemperatur, was letztlich auch zur Unterkühlung und zum
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Tod führt. In der Phase des Kälteschocks nimmt die motorische Fähigkeit schnell ab, die
Greifmuskulatur verhärtet sich und die Kälte treibt die Schmerzempfindlichkeit ins
Unermessliche.
Und auch die Gischt ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Atmet man den wasserhaltigen
Nebel ein, dringen diese Wassertropfen in die Lunge, kann man nicht mehr richtig durchatmen
und man ertrinkt sozusagen über Wasser. Kapitän und Offiziere lernen dies in der
Grundausbildung im Marinezentrum.
Während Stefan Paul und Kai Nieschwitz das Überlebenstraining absolviert hatten, wurde dies
Sammy nicht zuteil. Dieses Überlebenstraining ist nicht zwingend vorgeschrieben.
Durch jahrelanges Training war den Vorgesetzten bekannt, dass man den integrierten
Schwimmanzug im Wasser nicht anziehen und das Spraycap nicht überziehen kann, schon gar
nicht auf hoher See. Wie die Marine selbst zugibt, ist dieser Schwimmanzug auch nicht dafür
entwickelt worden, sondern nur für einen so genannten „geordneten Untergang“. Man muss ihn
vorher anziehen.
Auf der Brücke der „Mecklenburg-Vorpommern“ war man sich der Todesgefahr, in der die
Verunglückten schwebten, sehr wohl bewusst, denn nach dem Unfall wurden die Minuten, die seit
dem Unfall vergangen waren, laut gezählt.
In der Zwischenzeit war die Mannschaft im Motorrettungsboot einsatzbereit. Die
„Mecklenburg-Vorpommern“ hatten diesen Kutter der „Cumberland“ angeboten. Auch machten
sich Rettungsschwimmer bereit. Warum diese allerdings nicht zum Einsatz kamen, ist unklar. Ein
Hubschrauber der Lancaster, der sich im Einsatz befand, bot seine Hilfe an, war aber immer
noch 20 Minuten vom Unfallort entfernt. In der Zwischenzeit waren die „Cumberland“ und die
anderen Fregatten am Unfallort eingetroffen und „stellten“ sich als Wind- und Wellenschutz vor
die Verunglückten. Jetzt schwammen die Ertrinkenden auf die „Cumberland“ zu. Seile wurden
heruntergelassen, von denen sich Kai Nieschwitz und Sharp je eins greifen konnten. Weiter heißt
es: „Bedauerlicherweise war für Scheffelmeier kein Seil mehr vorhanden“. Kai Nieschwitz wurde
mit starker Unterkühlung geborgen, Sharp blieb unverletzt.
In der Zwischenzeit war eine erhebliche Zahl von Personen auf den Oberdecks erschienen, um
sich das Szenario anzusehen. Der Schiffsarzt der „Mecklenburg-Vorpommern“ hatte eine
Kamera bei sich und filmte das Geschehen.
Als der Oberbootsmann der „Mecklenburg-Vorpommern“ der Brücke signalisierte, das „gut Lee“
sei und er auf den Befehl zum Herunterlassen des Bootes benötigte, kam keine Antwort. Dies
wiederholte sich zweimal. Auch der 1. Offizier stand mit geballter Faust hinter dem Kapitän:
„Herr Kommandant, ich empfehle Ihnen, das Boot runter zu lassen.“ Der Kapitän reagierte nicht.
Stattdessen brach er eine bereits begonnene Rettungsaktion ab. Das Schnellboot der
„Mecklenburg-Vorpommern“, dessen Bordladekran defekt war; vorher nicht repariert werden
konnte, aber mit einer Ausnahmegenehmigung versehen war, wurde auch nicht zum Einsatz
gebracht, was jedoch im Seenotfall erlaubt war.
Der Kapitän der „Mecklenburg-Vorpommern“ tat nichts, um seinen Leuten zu helfen. Stattdessen
wartete er auf den Hubschrauber. Und obwohl die Mannschaften der „MecklenburgVorpommern“ und der “Cumberland“ die Anweisung bekamen, Sammy zu beobachten, verloren sie
ihn aus den Augen.
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Keiner bemerkte, dass die „Cumberland“ abdriftete, wegsegelte. Dadurch geriet Sammy um den
Bug der “Cumberland“ auf das offene Meer. Nach 36 Minuten hatte man ihn dann gefunden und
der Windenmann der Hubschrauberbesatzung versuchte, im Wasser den Hubschrauberstropp
über Sammys Schwimmweste zu stülpen, was aber nicht gelang.
Auch das Aufschneiden der Schwimmweste misslang, weil dem Windenmann durch die Kälte das
Messer aus der Hand fiel. Er musste nochmals in den Hubschrauber, um ein anderes Messer
holen. Dann zog man Sammy senkrecht nach oben, was auch zum Bergungstod führen kann.
Auch die medizinische Behandlung auf der „Cumberland“ verlief nicht ohne Probleme. Da kein
Erwärmungsgerät für Infusionen zu Verfügung stand, musste eine andere Lösung gefunden
werden. 2 Stunden verbrachte man mit Wiederbelebungsversuchen, bis man auch Sammy für tot
erklärte.
Am 21. Mai 2002 gab die Marine bekannt, dass ein SAR-Hubschrauber der Marine, der 15
Minuten über See entfernt war, nicht angefordert worden war und der Kommandant der
Mecklenburg-Vorpommern es unterlassen hatte, sein einsatzbereites Motorrettungsboot als
zusätzliches Rettungsmittel zu Wasser zu bringen, was nach den Umständen möglich, zumutbar
und geboten gewesen wäre. Drei Fregatten brachten es nicht fertig, in einem Manöver mit dem
Namen „Starke Entschlossenheit“ fünf Verunfallte lebend zu bergen.
Ingrid Scheffelmeier:
„Mama, mach dir keine Sorgen, ich sitze im Funkerraum, da kann mir nichts passieren“. Diese
Worte höre ich noch immer, es war eines der letzten Telefongespräche, die wir führten, kurz
vor Samuels Tod. An diesem Abend des 6. März 2002, als uns die Nachricht überbracht wurde,
„Es tut mir leid, ihr Sohn ist tödlich verunglückt“, war der erste Gedanke: Nein, das ist ein
Irrtum. Nicht Sammy.
Als die ersten Tage und Wochen unter Schock vergangen waren und ich so langsam wieder zu
denken anfing, kreisten die Gedanken nur um eins, „Da stimmt etwas nicht“. Sammy hätte seine
Rettungsweste „lax“ angezogen. Über die Medien wurde dies so von Staatsanwaltschaft und
Marine verbreitet. Durch dieses „lasche“ Anziehen sei er ertrunken und er sei selber Schuld.
Die Marine hatte auch noch andere Varianten parat. So soll er an Stimmritzenkrampf, dann an
Unterkühlung gestorben sein. Es dauerte Monate, Monate von Wut und Verzweiflung, bis durch
die Recherchen meines Mannes die Wahrheit ans Licht kam.
Es war sehr grausam, die internen Berichte zu lesen, was sich bei dem misslungenen
Rettungsmanöver alles abgespielt hatte. Alles lief schief. Es tat mir bis in die Seele weh, zu
wissen, Sammys Neoprenanzug, den er zum Surfen immer an hatte, hing in seinem Zimmer. Als er
über Bord ging, hatte er keinen Kälteschutz, nur diese popelige, billige, nichts taugende
Schwimmweste mit „integriertem Kälteschutz“, so bezeichnet dies die Marine.
Wie muss er gelitten haben in diesem eiskalten Wasser. Er hat gewunken und geschrien.
Kameraden standen an der Reling, er wurde gefilmt. Bei diesem Gedanken wird man wahnsinnig
und krank. Sammy hat gekämpft bis zum Schluss. Sie verloren ihn aus den Augen, obwohl der
Befehl erging, ihn zu beobachten. Er ist abgetrieben, hilflos, allein. Das muss man sich mal
vorstellen. Ich kann den erstaunten, ungläubigen Blick in seinen Augen sehen, „Warum hilft mir
denn keiner?“, als er im Leebereich der „Mecklenburg-Vorpommern“ war, „warum holt ihr mich
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verdammt da oben nicht raus?“
Sekunden und Minuten vergingen, die zur Ewigkeit wurden, bis seine Sinne schwanden, er keine
Kraft mehr hatte und ein Organ nach dem anderen versagte. Über 20 Minuten die Hölle.
Mein Sammy, der sehr sportlich war, der bei Sturm surfte, der Vollblutbiker, der beim
Basketball um jeden Sieg kämpfte, auch wenn das Spiel verloren schien. Er, der alles plante in
seinem Leben, nichts dem Zufall überließ, hat verloren gegen die Kälte, gegen das Wasser, gegen
unfähige Vorgesetzte der „Mecklenburg-Vorpommern“. Aber keiner seiner Vorgesetzten hat ja
Schuld, „Es war ja alles nur eine Verkettung von unglücklichen Umständen“, so die
Staatsanwaltschaft, die nicht willens war, gegen die Vorgesetzten der Marine zu ermitteln.
Schuld allein soll der sein, der tot ist und sich nicht mehr wehren kann: Sammy.
Wolfgang Scheffelmeier:
Am Abend des Unfalls auf der Ostsee saß ich mit meiner Frau vor dem Fernseher, da ich mich
für die Politik, das Tagesgeschehen und für die Bundeswehr interessierte. Dann kam die Meldung
aus Afghanistan, dass drei deutsche Soldaten durch eine Bombe getötet worden seien. Ich sagte
dann noch zu meiner Frau: „Diese Schweine werden die Schuld wieder auf die Jungs schieben“.
Keine drei Stunden später klingelte es an der Haustür. Zwei Polizisten und ein Pfarrer standen
vor der Tür. Da wusste ich sofort, dass etwas Tödliches passiert war. Ich fragte: „Was ist mit
meiner Tochter?“ Mehrmals. Schweigen. Dann kam die Antwort: „Nicht Ihre Tochter, sondern
ihr Sohn ist bei einem Bootstransfer ertrunken.“ Mehr wolle der Kommandeur uns am nächsten
Tag berichten.
Dieser kam dann auch mit dem Pfarrer, der die vorbildliche Fürsorge und Garantenpflicht der
Bundeswehr gegen seine Untergegebenen in den Vordergrund stellte. Der Kommandeur versprach
uns eine lückenlose Aufklärung durch die Marine, was jedoch nicht geschah.
Ich konnte nicht glauben, dass Sammy tot sein sollte. Erst wenn ich ihn vor mir habe und sehen
würde. Beim Abschied sagte ich den Herren:“ Sollte es ein Unglück sein, ist das schlimm genug,
und wir müssen es als höhere Gewalt und Gottesfügung hinnehmen. Sollte ich aber feststellen,
dass Ihr Scheiße gebaut habt, dann könnt Ihr was erleben.“
Es dauerte Tage, bis Sammy bei uns ankam und wir ihn beerdigen konnten. Beileidsschreiben,
Anrufe und jedem die gleiche Story erzählen. Wir wollten mit der Beerdigung alles abschließen,
für uns alleine sein. Fragen quälten einen, die Nacht wurde zum Tag und der Tag verging, bis man
dann mal erschöpft schlief.
Die folgenden Wochen waren auch eine Hölle für unsere Ehe. Ich dachte, jetzt ist alles kaputt.
Kaum ein Wort fiel. Man schlich aneinander vorbei. Meine Frau bekam starke
Beruhigungstabletten und war wochenlang krank. Tod, Beerdigung, die ganze Abwicklung waren
Neuland. Trauer, Tränen und Hilflosigkeit. Gedrückte Stimmung bei den Kindern und Sammys
Freundin.
Keinem konnte ich was Gutes sagen, „wird schon wieder“, „Kopf hoch“, denn ich konnte mir meine
Frage ja auch nicht beantworten, die Frage „Warum, wozu, warum Sammy?“
14 Tage später habe ich dann einen Anwalt mit der Sache betraut, um Informationen zu
bekommen. Tage später wurde von der Staatsanwaltschaft und der Marine in Oldenburg eine
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Pressekonferenz abgehalten (wozu wir nicht eingeladen wurden) und in einer spektakulären Show
wurde den Journalisten irgendetwas vorgeführt und erklärt. Die Aussage von Staatsanwaltschaft
und Marine war, die Jungs hätten Ihre Schwimmwesten nicht richtig angezogen, seien ertrunken
und selber Schuld. So belog man uns und die Öffentlichkeit.
Zorn kam in mir auf. Immer die gleiche Masche. Keiner der Vorgesetzten der Marine war Schuld.
Die Soldaten sind selber Schuld an ihrem Tod. Idioten, die ihre Schwimmwesten nicht richtig
angezogen hätten. Diese Gemeinheit stachelte mich an, vor allem aber, dass Sammy über 20
Minuten im eiskalten Wasser um sein Leben gekämpft hatte. So war ich es ihm auch schuldig, die
Schuldigen zu suchen und vor Gericht zu bringen.
In einem Klageerzwingungsverfahren wurde die Staatsanwaltschaft, die nicht willens war,
gezwungen, Anklage gegen den Kapitän zu erheben, wegen unterlassener Hilfeleistung und
fahrlässiger Tötung. Dies wurde dann durch das Landgericht Oldenburg durch einen politischen
Deal eingestellt. Durch die Schuldzuweisung hatte uns auch die Bundeswehr auf den restlichen
Beerdigungskosten sitzen lassen.
Da es uns nie ums Geld ging, forderten wir jetzt diese Zahlung und Schadensersatz. Doch kein
Gericht war bis heute bereit, einen fairen Prozess mit Zeugen und Gutachtern zu führen.
Der Staat kann es nicht zulassen, dass die Mängel der Fregatten der Bundesmarine zu Tage
treten. Trotz allem habe ich bis heute eines erreicht, dass Bootstransfers mit Neoprenanzügen
stattfinden, dass sie neue Schwimmwesten bekommen haben, ob tauglich, weiß ich nicht.
Die Bordladekräne wurden kostspielig ausgetauscht. Ein Marinebefehl wurde erlassen, wie
Verunfallte und Schwerstverletzte aus dem kalten Wasser geborgen werden müssen und wie
danach die medizinische Versorgung zu erfolgen hat.
Und es wird ein Stresstraining für Kapitäne und Offiziere absolviert, wie bei Unfällen zu
reagieren ist.
Ein Dorn im Auge aber bleiben immer noch die Motorrettungsboote, mit denen man weiterhin
unterwegs ist. Diese wurden in den 90er Jahren von der Marine vor Helgoland getestet und zum
Boardingeinsatz für untauglich erklärt
Und es muss aufhören mit der Soldatenverdummung in der Marineschule in Neustadt-Holstein,
den Soldaten vorzugaukeln, die Schwimmweste mit Kälteschutzanzug könne man im Wasser
anziehen. Dafür kämpfe ich, dass nicht nur die Marine, sondern auch die gesamte Bundeswehr
ihrer Fürsorge und Garantenpflicht gegenüber ihren Untergebenen nachkommt. Und dass
Verletzte, Geschädigte und auch Hinterbliebene mehr als ausreichend versorgt und entschädigt
werden.
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Ronald Schmid
Vom traurigen Umgang mit der Trauer
Die deutschen Reiseveranstalter bieten weit überwiegend gute
Produkte an. Tritt dennoch einmal ein Reisemangel auf, wird er –
zumindest von den seriösen Veranstaltern – soweit wie möglich noch
vor Ort beseitigt. Ist das nicht möglich, wird dem sich
berechtigterweise (!) beschwerenden Reisenden nach der Rückkehr
von der Reise meist ein kulantes Angebot zur Minderung des
Reisepreises unterbreitet. Diese Art von modernem
Beschwerdemanagement ist weitgehend Standard und das ist gut so.
Denn dadurch werden nicht nur unnötige, oft langwierige und
gelegentlich auch teure Rechtstreitigkeiten vermieden; ein solches
Beschwerdemanagement dokumentiert zugleich eine vorbildliche
Kundenorientierung und damit Kundenbindungswillen. Die Praxis
beweist täglich, dass es funktioniert: Wer von seinem Vertragspartner fair und gut behandelt
wird, ist gerne bereit, sich auch künftig wieder auf eine vertragliche Beziehung einzulassen.
Diese positive Einstellung scheint sich aber bei einzelnen Reiseunternehmen oft schlagartig zu
ändern, wenn die Reise nicht nur geringfügig beeinträchtigt wird, sondern ein gravierendes
Ereignis zu einer schweren Körperverletzung oder gar zum Tod eines Reisenden geführt hat.
Warum das so ist, ist – zumindest für Außenstehende – unerklärlich.
Beispiele, die gerade traurige (Reise-)Rechtsgeschichte geschrieben haben bzw. schreiben
werden, sollen erhellen, was ich meine: Im Jahr 2000 und 2001 sind nach meiner Kenntnis
(mindestens) vier Kinder während eines Pauschalreise-Urlaubes tödlich verunglückt. Sie sind
unter Aufsicht von Betreuern des Reiseveranstalters beim Baden oder bei der Nutzung einer
Wasserrutsche in Swimmingpools ertrunken bzw. dort oder auf einem Segelschiff durch einen
Stromschlag getötet worden. Ein Fall wird gerade vor dem LG Düsseldorf verhandelt; in einem
anderen hat das LG Köln den Eltern ein (m. E. bescheidenes) Schmerzensgeld in Höhe von je
20.000 EUR zugebilligt. Eine dritte Klage vor dem LG Köln ist gerade in Vorbereitung.
Im Oktober 2002 zogen sich drei Kinder im Alter von vier, sechs und neun Jahren auf Teneriffa
beim Baden in einem Hotel-Swimmingpool schwere Hautverletzungen zu, weil die fünffache der
an sich empfohlenen Menge Chlor dem Wasser zugeführt worden war. Die Kinder mussten eine
Hauttransplantation über sich ergehen lassen. Die Mutter der Kinder hat eine Klage gegen den
englischen Reiseveranstalter und den Hotelbetreiber eingeleitet.
Schlimm ist schon, dass die Betroffenen in solchen Fällen überhaupt gezwungen sind,
gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. In welchem guten Licht hätte der Reiseveranstalter
des vor dem LG Köln verhandelten Rechstreites gestanden, hätte er den Betrag, den zu zahlen er
nach Monaten heftiger Auseinandersetzung mit seinem früheren Kunden verurteilt wurde,
freiwillig und gleich – verbunden mit dem Ausdruck des Bedauerns – unbürokratisch zur
Verfügung gestellt. So steht er als Verlierer auf breiter Front da: Für die Prozessbeobachter
und die Medien, weil er den Rechtstreit verloren hat; für die Reisenden und die Öffentlichkeit
(und das ist das Potenzial der künftigen Reisekunden!), weil er das ihm entgegengebrachte
Vertrauen nicht erfüllt hat.
Schlimmer aber noch ist, wie gelegentlich manche Beklagte menschlich sensible Schadensfälle
bearbeiten oder von ihren Anwälten bearbeiten lassen. Zugegeben: Das Bestreiten aller
Behauptungen eines Klägers gehört grundsätzlich zur handwerklich ordentlichen Arbeit eines
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Anwaltes. Doch sollte in besonderen Fällen auch die Bearbeitung eine besonderere, d. h. sensible,
sein. Einfühlsamkeit, Anstand und eine gewisse Rücksichtnahme sollten eigentlich immer, bei Tod
oder schwerer Körperverletzung aber unbedingt mehr als sonst beachtet werden! Daher
verbietet es sich m. E., beim Tod eines Menschen durch einen eigentlich nicht zu bestreitenden
Stromschlag ein bloßes Herzversagen als mögliche alternative Ursache zu diskutieren, wenn es
dafür keinen ernsthaften Hinweis gibt. Das ist nicht nur, aber gerade auch bei einem 14-jährigen
Kind ebenso taktlos wie etwa das Bestreiten, dass für das Opfer eine Grabstätte eingerichtet
wurde, weil die eingereichte Rechnung für einen Grabstein kein Datum trägt!
Warum aber verhalten sich einige Reiseveranstalter so bzw. warum lassen sie eine entsprechende
Fall-Bearbeitung überhaupt zu? Ist der Verdrängungsmechanismus Ursache? Ist das allein mit
„instinktivem Abwehrmechanismus“ bei großen Schäden zu erklären, aus Angst, generöse
Hilfsmaßnahmen würde als Anerkennung der Haftung angesehen? Oder fehlt einfach das Wissen
um die Vorteile eines guten Krisenmanagements?
Wie immer das auch erklärt werden mag – Fakt ist, dass sich bei derartigen Reaktionen oft aus
einer menschlichen Katastrophe in der Folge auch eine juristische entwickelt. Als Anwalt, der
vielen Hinterbliebenen nach Unfällen während Reisen beigestanden hat, kann ich nur feststellen:
Geschädigte Reisende oder deren Hinterbliebene, die sich entschließen anwaltliche Hilfe in
Anspruch nehmen und den Rechtsweg zu beschreiten (u. U. mit Hilfe von fragwürdig handelnden
US-Anwälten) sind nicht etwa von sich aus „wütende Kläger“; sie werden meist erst dazu gemacht
– durch den gelegentlich wenig sensiblen Umgang Dritter mit ihren Problemen.
Zunächst denken die Opfer bzw. die Hinterbliebenen gar nicht daran, einen Anwalt zu
beauftragen und zu klagen. Sie wollen nicht mehr als vernünftig betreut und mit ihrem Schicksal
nicht alleine gelassen werden. Aber was erleben sie? Die zunächst sicher aufrichtige
Anteilnahme degeneriert nicht selten nach einiger Zeit erkennbar zur Pflichtübung. Spätestens
nach einigen Tagen (wenn die Presse nicht mehr berichtet) finden die Opfer und Hinterbliebenen
immer weniger Verständnis und Unterstützung; sie werden dann zunehmend mit ihrem Schmerz
und ihrer Hilflosigkeit sich selbst überlassen. Kurze Zeit darauf wird ihnen dann noch per
Formbrief in gutem Behördendeutsch mitgeteilt, ihre „Schadensmeldung“ werde „vom
zuständigen Versicherungsunternehmen unter der Schadensnummer XY bearbeitet“. Als
„Höhepunkt“ dann oft ein mehrseitiger Fragebogen verschickt, der nicht selten auch Fragen
enthält, die ein Mindestmaß an Taktgefühl vermissen lassen.
Spätestens jetzt beschleicht die Opfer und Hinterbliebenen das Gefühl, dass ihr berechtigtes
Anliegen nur noch formaljuristisch und versicherungstechnisch als Schadensakte verwaltet wird.
Die oben genannten aktuellen Fälle reihen sich da nahtlos ein in die Erfahrungen, die andere
Reisende machen mussten bei Unfällen in Kaprun oder im Jamtal, bei Terroranschlägen auf
Djerba und Bali oder in Ägypten, bei Flugzeugabstürzen (Birgenair, Concorde, Luxair), um nur
einige Beispiele zu nennen. Das kann und vor allem muss unbedingt vermieden werden.
Schmerzensgeldforderungen von Hinterbliebenen sind meist nichts anderes als das verständliche
Verlangen eines Geschädigten nach Genugtuung für den Verlust eines geliebten Menschen. Und
da die Staatsanwaltschaften und die Strafgerichte meist nicht handeln können oder wollen,
sucht sich dieses Verlangen ein Ventil: So werden Hinterbliebene zugänglich für den Ruf nach
zivilrechtlichen Sanktionen mit Strafcharakter. Sehr hohe Schmerzensgeldforderungen sind
also nicht etwa Ausdruck von Raffgier, sondern des durch Wut und Ohnmacht verstärkten
Verlangens, ein (tatsächlich oder vermeintlich) Verantwortlicher, der anderen Schmerz zugefügt
hat und strafrechtlich nicht belangt werden kann, möge wenigstens selbst Schmerz empfinden,
und sei es nur monetär. Ob solche Forderungen letztendlich Aussicht auf Erfolg haben oder
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nicht, spielt für die Opfer oder die Hinterbliebenen dabei zunächst nicht die Rolle: Sie sind
Ausdruck ohnmächtiger Wut. Und die veranlasst Opfer und Hinterbliebene dann, nach jedem
juristischem Strohhalm zu greifen und zu versuchen, ihr Recht anderweitig geltend zu machen.
Und weil das deutsche Schadensersatzrecht nach klassischer deutscher Doktrin und auch nach
der jüngsten Reform, das zwar einem Verletzten, nicht aber den Hinterbliebenen eines
Getöteten einen eigenen vertraglichen Schmerzensgeldanspruch gewährt, ebenfalls versagt, darf
nicht wundern, dass viele Hinterbliebene den Lockrufen bestimmter „Star-Anwälte“ seien es nun
deutsche oder solche aus den USA – erliegen, selbst wenn diese Ansprüche in Aussicht stellen,
die nicht oder nur schwer zu realisieren sind.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich will mit diesem Beitrag keineswegs die
Luftfahrtunternehmen und Reiseveranstalter oder die von ihnen beauftragten Anwälte pauschal
verdammen, sondern durch das Bewusstmachen eines gerne verdrängten Problems meinen Beitrag
zu einer Lösung leisten. Dem sollen die folgenden Überlegungen dienen.
1. Wer die oben aufgezeigten Zusammenhänge kennt, muss mit mir eine neue „Kultur“ im Umgang
mit den Geschädigten und Hinterbliebenen fordern bzw. wenigstens ein offenes Ohr dafür
haben. Die ja weit überwiegend schon gut praktizierte Kundenorientierung muss gerade bei
Personenschäden im Rahmen einer Pauschalreise in einem besonders ausgeprägten Maß zum
Ausdruck kommen! Nicht die undifferenzierte Abwehr von Ansprüchen ist die richtige Haltung,
sondern die aktive Mitarbeit und Hilfe bei der Aufklärung von Unfällen! Dies könnte z. B.
geschehen, indem freiwillig, sofort und unbürokratisch ein namhafter Betrag an die
schadensersatzberechtigte Person zur Befriedigung ihrer unmittelbaren wirtschaftlichen
Bedürfnisse gezahlt wird. Weitere Hilfe kann gewährt werden, indem ein Strafverfahren im
Urlaubsland, das ein Opfer oder ein Hinterbliebener anstrengt, aktiv unterstützt, vielleicht
sogar mitfinanziert wird und kostenlose Flüge und Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden,
um den Hinterbliebenen die Teilnahme an den Gerichtsverhandlungen zu ermöglichen, und
ähnliche Unterstützungsmaßnahmen. Wenn das schon nicht menschlichem Mitgefühl entspringt,
sollten wenigstens nüchterne kaufmännische Überlegungen greifen: Solche Hilfestellungen
kosten den Reiseveranstalter in der Regel nichts, verfügt er in der Regel doch über freie
Kapazitäten auf den von ihm gecharterten Flugzeugen und in den von ihm angemieteten Hotels.
Und auch eine mehr psychologische Schwelle sollte von demjenigen nicht übersehen werden, den
nur wirtschaftliche Überlegungen überzeugen: Wer klagt schon gegen denjenigen, der einem in
schwerer Zeit aktiv Hilfe und Unterstützung gewährt hat? Die Schadensregulierung darf nicht,
jedenfalls nicht allein, der Rechtsabteilung eines Versicherungsunternehmens oder deren
Prozessbevollmächtigten überlassen werden. Zwar regeln auch diese „kundenorientiert“ – nur: aus
deren Verständnis ist „Kunde“ nicht der geschädigte Reisende, sondern der Luftfrachtführer
oder der Reiseveranstalter. Und dessen „Interesse“ wird von einem Versicherungsunternehmen
nach meinen Erfahrungen häufig rein wirtschaftlich interpretiert, und weniger unter dem
Gesichtpunkt von Kundenbindung und Public Relations des versicherten Unternehmens. Daher
werden in erster Linie auch nur versicherungstechnisch optimale Lösungen gesucht. Dass die
Abwendung eines wirtschaftlichen Schadens dem Unternehmen aber möglicherweise einen
Imageschaden zufügt, bleibt dabei oft eher außer Betracht. Eine Einschränkung will ich gerne
machen: Die Übertragung der Regulierung eines Personenschadens auf die Rechtsabteilung eines
Schadensversicherers kann dann erfolgen, wenn im Reiseunternehmen ein Krisenkonzept erstellt
wurde und anwendet wird und das beauftragte Versicherungsunternehmen dieses zu
berücksichtigen sich verpflichtet hat.
Ich appelliere daher dringlich an alle, die mit Personenschäden im Rahmen einer Pauschalreise
befasst werden, den Umgang mit den Hinterbliebenen zu überdenken und die bei einfachen
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Reisemängeln ja schon überwiegend gut gelebte „Philosophie“ der Kundenorientierung auch bei
schweren Körperverletzungen und Todesfällen konsequent fortzuführen. Im eigenen Interesse,
aber auch in dem der gesamten Reiseindustrie! Denn: „Verbitterte Opfer und Hinterbliebene
verursachen oft lang anhaltende Imageschäden“.
2. Und ich rege an, darüber nachzudenken, ob die Tourismusindustrie für den Fall von
Personenschäden nicht im Einzelfall oder besser ständig einen Ombudsmann berufen sollte, an
den sich Opfer und Hinterbliebene vertrauensvoll wenden können. In einigen europäischen
Ländern, wie z. B. der Schweiz, hat sich die Einrichtung eines ständigen Ombudsmanns auch für
die Reiseindustrie längst bewährt. Der Ombudsmann kann, weit über die reine
„Schadensbewältigung“ hinaus, Geschädigte betreuen, ihnen helfen, sie versorgen und so zum
guten Image der ganzen Reisebranche beitragen.
Die Möglichkeit der Einschaltung eines Ombudsmannes hat den weiteren, und zudem
unschätzbaren Vorteil, dass die Opfer bzw. deren Hinterbliebene und die für einen Schaden
möglicherweise verantwortlichen Unternehmen nicht auf Konfrontation gehen (müssen), sondern
weiter miteinander sprechen können – ein Bedürfnis, das ich auf beiden Seiten unterstelle. Und
es dürfte den Reiseveranstaltern auch die Sorge auch genommen werden, Hilfen und
Unterstützungen, die aus humanitären Aspekten gewährt werden, würden in der
außergerichtlichen Streitschlichtung oder gar vor Gericht als Schuldanerkenntnis bewertet
werden.
3. Sicher ist es auch wert, darüber nachzudenken, ob nicht ein „ständiger Opferfonds“
eingerichtet werden sollte, der berechtigte Forderungen von Opfern, die bei einer Flug- oder
Pauschalreise einem terroristischen Anschlag verletzt oder getötet werden, und deren
Hinterbliebenen erfüllen könnte und Opfern bzw. deren Hinterbliebenen nicht das Gefühl geben
würde, Bittsteller zu sein. Ein solcher Fonds ließe sich schnell ausreichend speisen, wenn
wenigstens jeder Urlaubs- und Flugreisende, eventuell aber auch Reiseveranstalter und
Fluggesellschaften, einen kleinen Obolus (z. B. 1 Euro oder auch nur 50 Cent pro Reise oder Flug)
zahlen würden. Bei Millionen von Urlaubs- und Flugreisen, die jährlich verkauft und durchgeführt
werden, käme da schnell ein beträchtlicher Betrag zusammen, der völlig ausreichen würde, im
Schadensfall Opfern bzw. deren Hinterbliebenen, die nicht anderweitig Kompensation erlangen
können, zu helfen. Damit wären zwar zugegeben die Individualreisenden nicht erfasst, und schon
gar nicht die Opfer anderer Gewalttaten, die grundsätzlich genauso schutzwürdig sind. Doch
wäre mit einem Opferfonds für Flug- und Pauschalreisende ein Anfang gemacht, ein Problem zu
lösen. Und es könnte ein weiteres Argument zugunsten der Reiseveranstaltung sein.
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Kathrin Böhler
Otto, der Schneeleopard
Karfreitag, 10. April 2009, drei lange Arbeitstage stehen mir
bevor. Lisa, 12 Jahre, ist bereits seit einigen Tagen mit meiner
Freundin Irmgard, ihrer Tochter Salka und ihrem Paddelverein an
der Ardèche in Südfrankreich. Klara, 11, und Nico, 9, sind heute
Mittag, nachdem Klara ihr bronzenes Töltabzeichen auf dem
Islandpferdehof erfolgreich bestanden hat, mit dem Papa nach
Hanau zu Oma gefahren. Ich hatte den Tag bei meiner Freundin
Nicole und meinem Patenkind Sarah verbracht und für mich stand
für den Abend essen, Sachen packen, Duschen und gemütlich
Lesen auf dem Programm.
Gerade hatte ich noch mit meinem Freund telefoniert, der sich
300 Kilometer entfernt auf einem Trainingslager befand, und ihm
noch gesagt, wie sehr ich mich darauf freue, mit ihm demnächst
einmal in Urlaub zu fahren.
Wir beendeten unser Gespräch, weil es an meiner Haustür klingelte.
Eine befreundete Nachbarin, Elisabeth, stand vor der Tür, ich bat sie mit rein, im Esszimmer
sagte sie mir, ich solle mich setzen, Irmgard hätte sie angerufen. Sofort wusste ich, dass etwas
mit Lisa war. Ich fragte, ob sie verletzt sei und Elisabeth sagte mir, nein, sie ist tot. Einen
Moment war ich wie gelähmt und konnte außer nein, nein, nein nichts sagen. Dann rief ich meinen
Freund an und sagte, du musst kommen, Lisa ist tot. Anschließend sagte Elisabeth, dass ich nach
Frankreich fahren müsste, wenn ich sie noch mal sehen wollte, da der Sarg am nächsten Morgen
10 Uhr, versiegelt werden sollte. Sofort rief ich René wieder an und sagte, er müsse nicht nur
herkommen, sondern wir müssten auch nach Frankreich fahren.
Er sagte, er würde gleich losfahren. Elisabeth fragte, wen ich noch informieren wollte und mir
war klar, dass ich es Boris, Lisas Vater nicht am Telefon sagen konnte. Also rief ich kurzerhand
meine Eltern an, schockte sie mit der Todesnachricht und sagte, sie müssen sofort nach Hanau
fahren, um Boris und den Kindern die Nachricht zu überbringen. Danach galt es, die Dinge für die
Reise zu organisieren. Wie auch immer habe ich irgendwie funktioniert. Duschen war wichtig und
Elisabeth sagte, ich solle dies tun und dann packen, für ein paar Tage, solle in Lisas Zimmer gehen
und noch etwas von ihr mit nehmen, was ich ihr in den Sarg legen könnte. Ich suchte Otto, ihren
Schneeleoparden, fand ihn nicht und dachte, sie hat ihn bestimmt mit nach Frankreich
genommen. Zwischendurch sms an Nachbarin Kiki, die noch einen Schlüssel hatte und das letzte
Wochenende unsere Katze versorgt hatte: muß nach frankreich, bitte katze füttern, lisa ist tot.
Kurz darauf stand Kiki bei mir im Flur, fassungslos. Kikis Mutter kam und sagte, sie koche
erstmal ne große Kanne Kaffee, die wir sicherlich bräuchten. Elisabeth sagte, dass wohl noch
jemand von der Botschaft kommen wolle. Um mir die Todesnachricht auf offiziellem Wege zu
überbringen. Jetzt erledigte ich noch einige Telefonate, erst die Johanniter, für die ich
zeitweise tätig bin, da sie einen Auslandsrückholdienst haben. Kurz darauf Rückruf von Joe, dass
sie keine Toten transportieren. Aber der ADAC würde so etwas übernehmen.
Der Anruf dort war ein erschreckendes Beispiel für Callcenter-Servicefloskeln runterspulen
statt zuhören. Bei der Telefonnummer für Notfälle im Ausland kam das bekannte “für soundso
drücken sie bitte die Taste xy“. Nach nochmaligem Weiterdrücken hatte ich tatsächlich eine
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Dame am Telefon, das war ja schon mal was. Ich teilte ihr mit, dass meine Tochter ertrunken sei
und ich gerne wüsste, wie sie hierher gebracht werden könnte. Die Dame hatte irgendein
Verständnisproblem, so dass ich ihr mehrfach erklären musste, dass meine Tochter in keinem
Krankenhaus liegt, ich nicht weiß, was für Verletzungen sie hat, dass das auch jetzt egal sei, da
sie ja tot sei.
Nach fünfmaligem „Meine Tochter ist tot“ hat die Dame es dann begriffen, gesagt, sie werde
alles in die Wege leiten und man würde mich in Kürze anrufen. Anschließend hat sie sich noch für
meinen Anruf bedankt. Meine inzwischen anwesende Tante, Cousine und Irmgards Mann konnten
sich darüber mehr aufregen, als ich es zu dem Zeitpunkt konnte. Ich habe mich diesbezüglich
noch mal beim ADAC gemeldet, denen der Vorfall äußerst unangenehm war. Ansonsten wurde der
Rücktransport einwandfrei abgewickelt.
Dann kamen zwei Herren von der Polizei, die mir die Telefonnummer der Botschaft in Frankreich
gaben, und als sie merkten, dass ich ganz gut versorgt war, sind sie auch wieder gegangen.
Endlich kam René und nach kurzer Pause starteten wir in Richtung Südfrankreich. Tausend
Kilometer lagen vor uns. Weder Boris noch die Kinder wollten mit nach Frankreich.
Die Botschaft rief an und sagte, dass Lisa Dienstag obduziert werden würde und der Leichnam
bis dahin beschlagnahmt sei. Und um sie sehen zu können, bräuchte ich eine Sondererlaubnis von
der Staatsanwaltschaft. Und dort wäre erst morgen früh wieder jemand zu erreichen. Ich
dachte, sollte da irgendjemand jetzt ein Problem draus machen, werde ich unfreundlich, aber
richtig.
Die ganze Fahrt über konnte ich nicht fassen, was passiert war. Ich habe immer gesagt: Sag,
dass das nicht wahr ist, sag, dass wir irgendwo hin fahren, wo es schön ist. Die ganze Fahrt über
konnte ich nicht glauben und fassen, was passiert war. Es war die schlimmste Reise meines
Lebens.
Oberhalb des Canyons machten wir kurz Halt. Morgendämmerung- und eine wunderschöne
Landschaft lag vor unseren Augen. Nächster Halt: Pont dÀrc. René wollte sehen, wie hoch das
Wasser steht, er konnte sich das alles nicht erklären, er kennt den Fluss seit 28 Jahren und
wusste, wie gut Lisa paddelt. Auch hier konnte man nur staunen, wie wunderschön die Natur dort
ist. René schleppte einen riesigen Stein zum Auto, ich wollte gerne einen von dort haben.
Dann fuhren wir zum Campingplatz. Vor dem Gelände lief Dominik aus dem Verein herum. Und als
ich ihn sah und in die Arme nahm, wusste ich, dass Lisa wirklich tot ist. Hier konnte auch René
das erste Mal weinen.
Es begann zu regnen, und alle Menschen auf dem Campingplatz, egal ob es welche waren, die ich
kannte oder andere, wussten, was passiert war. Und man sah es ihnen auch an. Es war
schrecklich, sie alle zu sehen, noch schlimmer war es mit den Leuten, die ich persönlich kannte.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich müsste sie alle trösten.
Man bot uns Essen und Trinken an, aber ich habe keinen Bissen herunter bekommen. René sprach
mit den anderen, Dominik und ich packten Lisas Sachen zusammen und brachten sie zum Auto.
Auch hier war Otto, der Schneeleopard, nicht zu finden.
60
Um acht Uhr konnten wir endlich zur Polizei, um die Sondererlaubnis der Staatsanwaltschaft zu
beantragen. Etwas später kam Madeleine aus Luxemburg zum Dolmetschen dazu, wir mussten
noch einige Angaben machen. Die Polizisten waren sehr freundlich und fragten zuerst, ob ich
einen Arzt bräuchte oder Medikamente, aber ich wollte dies so und nicht halb betäubt
durchstehen.
Dann äußerte ich den Wunsch, zu der Stelle gehen zu dürfen, an der sie ertrunken war und man
wollte sich darum kümmern, dass einige Polizisten mit uns hingehen würden. Nach unserer
Aussage erfuhren wir, dass wir Lisa um 11 Uhr sehen durften. Zurück zum Campingplatz, man
hatte uns einen Wohnwagen bereitgestellt, damit wir uns zurückziehen konnten. Susanne, die als
Betreuerin mit in Frankreich war, lies mich keine Minute aus den Augen und war die ganze Zeit an
meiner Seite und mir eine große Hilfe.
Um 11 Uhr konnten wir dann in Begleitung der Polizei zum Bestatter. Ich gab ihm Lisas neuen
Bikini, ihr in Frankreich gekauftes Kleid und die zwei Teddys, die ich mitgebracht hatte. Ich bat
René, er möge mich bitte festhalten, wenn wir jetzt zu ihr gehen würden.
In dem kleinen Raum in gedämpftem Licht lag sie da, als schliefe sie. Zu diesem Zeitpunkt war sie
noch keine 24 Stunden tot.
Auf der linken Wange hatte sie eine Schürfwunde, aber das sah so aus, als hätte sie einen
kleinen Unfall beim Toben gehabt. Wir hielten uns minutenlang in den Armen und schauten sie an.
Dann machte ich noch zwei Fotos und wir gingen hinaus.
Am Campingplatz angekommen, haben wir kurz geschlafen. Gegen 14 Uhr wollten die Beamten
kommen, um mit uns in die Schlucht abzusteigen. Nach 20 Minuten Fahrt hielt der Bus und wir
begannen mit dem Abstieg, der fast 40 Minuten dauerte. Unten angekommen, war dort eine
große steinige Sandbank, vor dieser floss die Ardèche ganz ruhig dahin. Nur am anderen Ufer
kräuselte sich das Wasser an einigen Stellen und dort sei sie ertrunken, sagte man uns. Sie sei
dort gekentert, wie gelernt aus ihrem Boot und muss dann von der Strömung mitgerissen worden
sein und hat sich dann mit der Schwimmweste in einem Steinloch (Syphon) festgeklemmt.
Wir sind eine Weile dort geblieben. Die Polizisten haben sich im Hintergrund gehalten und uns
die Zeit gelassen, die wir brauchten.
Dann kam der Aufstieg, und ich weiß bis heute nicht, wie ich da wieder hoch gekommen bin, nach
einer Nacht ohne Schlaf, ohne Essen und in gruseliger Verfassung. René, Dominik und Normen,
auch aus dem Verein, haben einige Steine mit nach oben geschleppt.
Danach sind wir noch eine Weile am Campingplatz geblieben und gegen Abend haben wir uns
zusammen mit Dominik auf den Rückweg gemacht.
Inzwischen war es Ostersonntag und jetzt gab es viele Dinge zu regeln. Zum Bestatter, die
Pfarrerin informieren, Anzeigen aufgeben, die Lehrer informieren. Gegen Nachmittag kamen die
Kinder. Meine Eltern waren schon seit Samstagabend hier. Und Otto, der Schneeleopard, war
auch hier. Meine Mutter hatte ihn in Lisas Zimmer gefunden.
Leute kamen und gingen, dass Telefon stand nicht mehr still. Freundinnen von Lisa waren hier.
Blumen, Karten, kleine Geschenke, liebe Gesten, tröstende Worte, Umarmungen, Hilfsangebote
aller Art. Es ist unglaublich, wie viel Gutes uns in dieser Zeit widerfahren ist.
61
Am Dienstag nach Ostern, am Tag der Obduktion, kam eine Karte von Lisa an, worin sie schreibt,
wie schön es dort ist, wie viel Spaß sie haben und wie wunderschön der Pont dÁrc sei. Mit einer
anderen Farbe hat sie die Adresse geschrieben und noch „Ich vermisse dich“ dazu geschrieben.
Das war für mich sehr merkwürdig. Sie war öfter unterwegs und hatte so etwas bisher noch
nicht geschrieben. Ihre Schulfreundin Judith kam auch zu Besuch, sie spielt wunderschön Geige,
ich fragte sie, ob sie für Lisa bei der Trauerfeier etwas spielen möchte. Nach einigem Überlegen
wollte sie dies gerne tun und wusste auch schon, was: Lisas Lieblingslied von Avril Lavigne,
Slipped away. Dieses Lied hat die Sängerin für ihren verstorbenen Großvater geschrieben.
Dass gerade ein Lied, das vom Tod handelt, Lisas Lieblingslied war, war erstaunlich für mich.
Wusste sie, dass sie gehen musste? Später erzählt Irmgard, dass die beiden Mädchen auf der
Fahrt nach Frankreich das Lied ins Deutsche übersetzt haben.
Freitag, eine Woche nach ihrem Tod, wurde sie überführt. SWR3 hat ein Lied für sie gespielt,
aber nur mit dem Hinweis, dass Mama die Lisa grüßt, die auf dem Rückweg von Frankreich ist. Die
Dame am Telefon war auch zutiefst betroffen.
Samstagvormittag konnten wir dann zu ihr. Der Vater der Kinder wollte erst nicht, dass Klara
und Nico noch mal zu ihr gehen. Nico hat direkt nach ihrem Tod gesagt, er möchte sie auf jeden
Fall sehen und Klara war Anfangs noch unschlüssig, ist aber dann doch am Sonntag zu ihr
gegangen.
Zuerst bin ich allein mit meinen Eltern hineingegangen. Als ich sie dort liegen sah, sah sie nicht
mehr aus, als schliefe sie. Irgendwie sah sie fertig, vollendet aus, so reif und irgendwie tot.
Als ich nach einer Weile hinausging, um Nico zu holen, er hat mit Freunden draußen gewartet, war
es nicht die Mutter, die ihren Sohn hineinführte, nein es war Nico, der fest meine Hand nahm
und zielstrebig an ihren Sarg ging.
Meine Mutter hat ihm dann gesagt, er dürfe sie auch berühren, was er dann auch getan hat und
auch darauf bestand, dass ich ein Foto von ihm und Lisa machte. Es waren ganz besondere
Momente dort am Sarg und Nico konnte auch schwer gehen. Irgendwie machte es den Eindruck,
er wolle sich am liebsten dazulegen und mit ihr eine CD hören oder so. Auch ich konnte mich in
den Tagen schwer trennen und der veralterte Brauch der Totenwache bekam an diesen Tagen
eine neue Bedeutung für mich. Auch ein Freund der Familie empfand dies so und sagte, er möchte
am liebsten einen Stuhl nehmen und sich neben sie setzen.
Sonntags ist dann auch Klara mit zu Lisa gegangen. Am Montag vor der Beerdigung kamen noch
viele Freunde aus der Schule und Bekannte und Verwandte, um Abschied von ihr zu nehmen.
Dienstags waren wir dann das letzte Mal bei ihr und es war dann auch Zeit, Abschied zu nehmen.
Zuletzt haben René und ich uns von ihr verabschiedet.
Meine Eltern waren jeden Tag dort und haben die Menschen, die Lisa sehen wollten, begleitet
und meine Mutter hat allen eine ganz besondere Begegnung mit einem toten Menschen
ermöglicht. Unser Bestatter hat sich auch mehrfach bei mir bedankt, dass ich so vielen
Menschen diese Begegnung ermöglicht habe. Er kennt aus seiner langjährigen Tätigkeit viele
Situationen, wo Eltern ihren Kindern nicht erlaubt haben, ein verstorbenes Familienmitglied zu
sehen und Jahre später diese Eltern ihm mitteilen, wie sehr sie dies bereuen, da die Kinder ihnen
Vorwürfe deswegen machen. Auch Lisas Vater äußerte ja, dass er dies nicht möchte, da die
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Kinder durch so eine Begegnung traumatisiert werden könnten. Ich sagte ihm darauf, dass es
wohl kaum ein größeres Trauma gäbe, als die große Schwester zu verlieren und dass ich keine
Kind zwingen werde, aber es ihnen ermögliche, wenn sie dies wollen.
Den Beerdigungstermin setzten wir auf den 22. April fest. Das war der dritte Schultag, nach den
Osterferien. Alle drei Klassenlehrer kamen noch in den Osterferien zu uns und wir überlegten
gemeinsam, wie Klara und Nico am besten in der Schule mit dieser Situation umgehen könnten.
Am ersten Schultag trafen sich Mittel- und Oberstufenschüler in der Aula, wo sie über Lisas
Tod informiert wurden. Die unteren Klassen haben es von ihren Klassenlehrern erfahren und
Lisas Klasse wurde bereits in den Ferien informiert. Meine Kinder besuchen die Waldorfschule,
und was auch von Seiten der Schule und der Elternschaft an Anteilnahme kam, war
überwältigend. Für Klara und Nico stand fest, dass sie auch am Montag zur Schule gehen wollten
und ich glaube, es war auch so das Beste für sie. Ich habe sie hingefahren und bot an, eine Weile
zu bleiben, aber im Kreise ihrer Freunde sagten beide irgendwann, dass ich ruhig fahren könnte.
Die Trauerfeier war, wenn man das vom Anlass her überhaupt behaupten darf, wunderschön.
Jeder, der in die Trauerhalle kam, konnte sich ein Teelicht nehmen und es vorne auf ein großes
Brett in Herzform stellen, so dass nachher ein leuchtendes Herz vor dem Sarg und dem
Blumenmeer stand.
Die Trauerfeier begann mit einem Lied, welches Yannis (Lisas Geigenlehrer) auf Lisas Geige für
sie spielte, er war extra früher aus Griechenland gekommen, damit er für Lisa spielen konnte.
Auch Judith hat das Lied Slipped Away gespielt, von ihrem Vater an der Orgel begleitet. Unsere
Pfarrerin, die Lisa seit dem Kindergarten kannte, war selber so betroffen, dass ihr teilweise die
Stimme versagte. Währendessen lief vor der Glasfront der Kapelle ein Eichhörnchen über die
Äste der Fichte und schaute interessiert zu. Dies haben viele der Kinder gesehen und später
gesagt, dass wäre, als hätte Lisa vorbeigeschaut. Dann folgte der schwere Weg zum Grab. Für
die Kinder gab es rote Herzluftballons und in dem Moment, wo der Sarg in die Erde gelassen
wurde, ließen die Kinder die Luftballons steigen. Ich weiß nicht, wie viele Menschen dort waren,
unser Bestatter sprach von mehr als 300. Der Zug der Menschen, die kamen, hörte nicht auf. Es
war schwer, ich war am Ende meiner Kräfte, aber es war auch schön zu spüren, wie viele
Menschen Anteil nehmen und welche Kreise Lisa in ihrem kurzen Leben gezogen hatte.
Zwei Tage später gab es in der Schule noch eine Abschiedsfeier für Lisa. Ihr Klassenlehrer
erzählte von ihr, eine Mutter berichtete von der Zeit in Frankreich, ihre Klasse hat für sie
gesungen, das Lehrerkollegium auch. Judith hat noch mal für sie das Lied gespielt. Ein Baum
stand dort, der für sie anschließend gepflanzt worden ist. Achim, der Hausmeister, baute eine
Bank, die am Baum stehen wird. Dafür haben wir einen Baumstamm aus dem Brühler Schlosspark
bekommen. Dort gibt es zum einen wunderschöne Bäume und Lisa ist oft dort gewesen.
Klara und Nico haben sich ganz bald wieder an ihren Alltag gehalten und sich nach wie vor mit
Freunden getroffen, auch hier gab es von den Familien immer viel Unterstützung. Oft halten sie
sich in ihrem Zimmer auf, spielen mit ihren Sachen, Klara zieht gerne etwas von ihr an und Nico
nimmt mal ihren Schmusebär mit in sein Bett.
Barry, unser Hund, hat auch gleich gemerkt, dass was nicht stimmt, hat mich keine Minute aus
den Augen gelassen und ist, obwohl normalerweise verboten, in die obere Etage, um jede Nacht
vor meinem Bett zu schlafen. Tagelang hat er Lisas Tigertatzenpantoffel im Maul getragen und
mit dem Kopf darauf geschlafen. Lisa hat, seit der Hund bei uns ist, jeden Abend für ihn einen
Segen gesprochen, so wie es die Großeltern immer mit ihr gemacht haben.
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Inzwischen sind sieben Monate vergangen. Meine Arbeit im Kletterwald schaffe ich gut, auch
dank meiner unglaublich tollen Chefs, die viel Anteilnahme und Verständnis für mich haben.
Nebenberuflich gebe ich Erste Hilfe Kurse, diese sind für mich oftmals sehr schwer, denn wenn
es um das Thema Reanimation oder Ertrinken geht, kommen immer wieder Bilder hoch, wo ich
mir Lisa vorstelle. Hoffe, dass es mit der Zeit irgendwann besser gehen wird.
Um Lisas Tod herum gibt es eine Menge Dinge, die sehr seltsam sind. Lisa hat im März noch den
Film Twilight gesehen, im Vorfeld gab es mit Papa noch große Diskussionen. Nachdem ich mich mit
Kritiken und dem Inhalt beschäftigt hatte, habe ich ihr erlaubt, den Film zu sehen. Als ich vor
der Beerdigung in ihrem Zimmer auf der Suche nach etwas war, was ich ihr noch in den Sarg
legen könnte, fand ich einen aus einem DIN A4 Blatt gebastelten Briefumschlag: Vorne stand
AN: dann drei Zeilen Gekritzel, auf der Rückseite: ABS: und wieder drei Zeilen Gekritzel….dann
war ein rundes Siegel darauf gemalt.
In dem Umschlag befand sich ein DIN A4 Blatt, welches viele Male zerknüllt und viele Male glatt
gestrichen worden war. Auf dem Blatt stand in großer Schrift, diagonal über das Papier der
Satz: Die Ewigkeit beginnt jetzt, ganz klein stand irgendwo Twilight. Als wir uns Samstag auf
dem Rückweg von Frankreich nach Deutschland befanden, überlegte ich auf der Fahrt Texte für
die Todesanzeige. Mein erster Gedanke war: Nichts ist mehr wie es war. Nachdem ich den Zettel
fand, schaute ich mir am PC den Trailer des Filmes an. Einer der ersten Schriftzüge dort war:
nichts ist mehr wie es war und der letzte war, die Ewigkeit beginnt jetzt.
Mitte März diesen Jahres hatte Lisa auf der Fulda einen Unfall beim Paddeln, von den
Wasserverhältnissen her war es zum Teil schwieriger als die Ardèche. Hier war sie etwa 10
Minuten bis zum Hals im eiskalten Wasser und sehr unterkühlt, so sehr, dass ihre Beine in der
Anfangszeit taub waren, so dass man den Rettungsdienst alarmiert hatte. Nachdem sie sich
etwas erholt hatte, brauchte sie nicht in Krankenhaus und kam abends munter und fröhlich mit
René zu mir nach Hause. In den folgenden Tagen habe ich mich öfter mit ihr über den Unfall
unterhalten und darüber, ob sie Angst hätte und ob sie nach Frankreich will. Frankreich musste
sein, unbedingt. Da gab es nichts für sie. Mittwochs am Bootshaus habe ich mich auch noch mit
ihrem Trainer unterhalten, der mir auch noch mal sagte, dass die Situation dort schon ernst
gewesen sei und er hoffe, dass ich jetzt nicht ängstlich bin und ihr die Fahrt nach Frankreich
verbiete. Ich war nicht ängstlich und hatte auch ein gutes Gefühl, sie fahren zu lassen.
In ihrem Zimmer fand ich auch einen Brief an ihre Freundin Judith, den sie kurz vor ihrer Fahrt
nach Frankreich geschrieben haben muss. Im Brief erzählt sie Judith in allen Einzelheiten von
dem letzten Trainingstag in Brühl. Daraus hervor ging dann, dass sie in Michael (18) verliebt ist.
Der ahnte nichts davon und ich habe ihm ein paar Tage nach der Beerdigung von dem Brief
erzählt. Seitdem ist er oft bei uns und es hat sich eine wunderbare Freundschaft entwickelt.
Sowohl mit den Kindern als auch mit mir.
In den Tagen nach ihrem Tod und auch lange nach der Beerdigung, ja und auch jetzt noch
sind immer wieder Menschen da und man spricht über Lisa. Erinnert sich, lacht über
irgendwelche Begebenheiten mit ihr oder weint, wenn uns danach ist.
Was viele Leute immer wieder erwähnen, ist Lisas Leichtigkeit. Einige sagen, sie sei immer wie
ein Engel gewesen. Einer meiner Chefs hat auch immer gedacht, Klara sei die Älteste gewesen
und nicht Lisa. Klaras Klassenlehrer, der auch Lisa unterrichtet hat, erzählte, dass er immer den
Eindruck gehabt hat, dass Klara der Lisa die ganze „Erdenschwere“ abgenommen hätte. Meine
Freundin Irmgard erzählte schon all die Jahre, die unsere Kinder sich kannten, dass Lisa wie eine
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kleine Elfe war, so leicht und gänzlich unbeschwert.
Theresa, ihre große Paddelschwester, erzählt mir immer wieder, wie glücklich Lisa an der
Ardèche war und dass sie nur gelacht hätte. Yannis, ihr Geigenlehrer, hat, nachdem Lisa
angefangen hatte Geige zu spielen, ein paar Wochen später zu mir gesagt, er wüsste nicht was es
sei, aber Lisa sei anders als die anderen Kinder. In ihrer Klasse war sie auch recht beliebt, ihr
Lehrer sagte, sie sei immer fröhlich gewesen, sogar bei Mathe. Auch die Eltern ihrer
Freundinnen erzählten, dass, wenn die Mädchen zusammen waren, es oft Streit gab, wer neben
Lisa beim Essen sitzen durfte und vor allem, wer neben ihr schlafen durfte. Eine Mutter
erzählte, es sei so gewesen, dass die Kinder vielleicht unbewusst ahnten, dass sie nicht so viel
Zeit mit Lisa hätten.
Ich erinnere mich noch an den Morgen, an dem Lisa nach Frankreich gestartet ist. Klara und Nico
wollten sie in den Arm nehmen und ihr einen Kuss auf die Wange geben. So haben sie sich
normalerweise nicht verabschiedet. Lisa hat sich wie immer geziert und aus den Umarmungen
gewunden. Warum haben sich die beiden gerade da so von ihr verabschiedet?
Als Lisa ertrank, waren all die anderen Kinder und
Jugendlichen und Erwachsenen am anderen Flussufer an
auf einer Sandbank und haben die ganzen vergeblichen
Rettungs- und Reanimationsversuche mit angesehen. Das
jüngste Kind war Verena, 8 Jahre alt. Theresa hatte an
dem Tag Geburtstag. Verenas Papa hat Lisa unter Wasser
aus der Schwimmweste geschnitten. Unsere Familien
kennen sich seit sieben Jahren. Zu den meisten, die mit
waren, habe ich noch Kontakt, und es gibt da immer noch
viel zu verarbeiten. Lisas Freunde vom Paddeln haben Klara
und Nico liebevoll in den Kreis mit aufgenommen und auch
Schulfreundinnen von Lisa verabreden sich jetzt mit Klara.
Lisa wäre am 26. Juli 2009 dreizehn Jahre alt geworden.
An diesem Tag kamen auch viele Menschen her und haben
dafür gesorgt, dass es irgendwie ein schöner Tag wird.
Meine Familie, Freundinnen aus der Schule, ihre Freunde
vom Paddeln und Freunde von mir sind gekommen. Theresa
hat mir auch von den Stunden auf der Sandbank erzählt. Einige saßen dort, haben nur geweint.
Andere haben nur auf den Ort des Geschehens geschaut und wieder andere haben gebetet. Der
Himmel war bedeckt und irgendwann, so erzählt Theresa, kam die Sonne durch die Wolken und
sie sagt, es wäre in dem Moment so gewesen, als hätte sich für Lisa das Himmelstor geöffnet.
Vor wenigen Wochen hat Lisas Religionslehrerin meiner Mutter erzählt, dass sie in der letzten
Stunde vor den Osterferien das Abendmahl durchgenommen hätten und sie es mit den Schülern
auch anschließend zelebriert hätte. Sie erinnert sich noch genau, dass Lisa in dieser Stunde
auffällig aufmerksam am Unterricht teilgenommen hätte. Später, als sie von Lisas Tod erfuhr,
bekam diese Aufmerksamkeit eine andere Bedeutung.
Anfang November bin ich mit René für ein Wochenende an die Ardèche gefahren. Er fuhr dort
mit seinem Zweierpartner den Kanu-Marathon. Ich bin zu dieser Reise mit sehr gemischten
Gefühlen gestartet und war mir überhaupt nicht sicher, wie mir diese Tage dort unten bekommen
würden.
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Im Nachhinein kann ich nur sagen, dass ich sehr froh bin, dort gewesen zu sein, dort, wo Lisa so
glücklich war. Auch ich liebe Südfrankreich seit meiner Kindheit und hatte zeitweilig sogar
vorgehabt dort für immer zu leben. Gewohnt haben wir außerhalb von Vallon, aber
wir waren an dem Campingplatz, wo sie war, waren auf einem benachbarten Campingplatz, wo der
Bonner Verein ein Olivenbäumchen für Lisa gepflanzt hatte. Es trug bereits die ersten kleinen
Früchte.
Samstag war dann der Marathon und ich durchfuhr mit dem Auto die herrliche Landschaft um
die Schlucht herum. René und Normen haben Samstagabend Pläne geschmiedet, wie sie mich zu
der schlecht zugänglichen Stelle bringen könnten. Sonntags sind wir dann mit einiger Kletterei
und Paddelei zu der Sandbank gekommen, also ans gegenüberliegende Ufer, der Stelle, wo sie
ertrank. Da der Fluss zu der Zeit sehr wenig Wasser hatte, ragten mehr Felsen aus dem Wasser
als am Osterwochenende und wir konnten erahnen, unter welchem Felsen sie geklemmt hatte. Es
waren schwere Minuten, aber ich habe mich ihr dort noch mal ganz anders nah gefühlt. Es tat
irgendwie gut, dort zu sein und ich weiß, ich bin nicht zum letzten Mal dort gewesen.
Das nächste Mal möchte ich auch an das andere Ufer, dorthin wo sie reanimiert wurde. Auch
Lisas Geschwister möchten gerne mal nach Vallon. Nicht alle Menschen um mich herum können
verstehen, dass ich dorthin gefahren bin. Irgendjemand sagte vor der Reise, ob ich das denn
wirklich machen wolle, da würde mich doch alles wieder an sie erinnern. Daraufhin habe ich
gesagt, hier erinnert mich doch sowieso jeden Tag alles Mögliche an sie.
René hat kurz nach ihrem Tod Lisa-Aufkleber drucken lassen und alle aus ihrem Verein haben
sich einen auf ihre Boote geklebt. Auch Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus anderen
Vereinen, die Lisa kannten, wollten welche haben. In diesem Jahr ist die gesamte JuniorenNationalmannschaft der Wildwasserkanuten mit Lisa-Aufklebern auf dem Boot gestartet.
Theresa ist bei den Junioren-Weltmeisterschaften gestartet und stand im Teamwettkampf ganz
oben auf dem Treppchen. Zur Siegerehrung wollte sie ein Foto von Lisa mitnehmen, was man ihr
leider nicht erlaubte. Denn jedes Rennen, welches sie fährt, so Theresa, fährt sie für Lisa. Ihre
Schulfreundin Swaantje hat beim Forstpraktikum einen Baum für Lisa gepflanzt. Und auch
daheim bei ihr im Garten gibt es ein Lisabäumchen.
Recht bald nach Lisas Tod habe ich auch René wieder zu seinen Rennen begleitet. Vom Start bis
zum Ziel ist meistens recht viel Rummel. Anfangs habe ich oft lange Spaziergänge mit Barry
gemacht, flussabwärts, wo es ruhig war. Es war merkwürdig: wenn ich eine Pause gemacht habe,
um mich ans Ufer zu setzen, konnte ich nicht an Stellen sitzen, wo das Wasser ruhig floss,
sondern an Stellen, wo sich das Wasser gekräuselt hat. Ähnlich wie an der Ardèche.
Die Elternschaft aus Klaras Klasse hat sich überlegt, dass uns jedes Elternhaus reihum etwas
Kleines schenkt, so kommt dann ab und an ein kleiner Gruß ins Haus. Mal eine Kerze, Honig,
Blumen, ein paar liebe Zeilen, ein Seidentuch, Blumenzwiebeln und vieles mehr.
Es sind so viele Menschen, die auch jetzt noch so teilhaben an unserem Schmerz, unserem Leben.
Ohne all diese Menschen und vor allem ohne René, unsere Freunde und meine Familie hätte ich
oft nicht gewusst, wie es weitergeht. Irgendwie sind wir von all dem durch die Zeit getragen
worden. Es wird immer die Frage nach dem Warum bleiben. Aber es gab so viele
Merkwürdigkeiten um ihren Tod, dass man sich fast fragen muss: Sollte das so sein?
Was für mich auf jeden Fall ein Trost ist, dass ich weiß, dass Lisa nur glücklich war. Und das,
wenn Theresa und die anderen von der Ardèche erzählen, bis zu letzten Minute. Zudem habe ich
mein Kind gesehen, konnte mich noch einmal von Lisa verabschieden und weiß, dass sie nicht
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leiden musste. Die Obduktion hat ergeben, dass sie durch einen Kälteschock bewusstlos
geworden ist und keinen Todeskampf zwischen den Steinen durchlitten hat.
Ich konnte mein Kind bis zum Grab begleiten. Ich frage mich manchmal, was machen denn die
Eltern, deren Kinder einfach verschwinden? Oder Eltern, deren Kinder einem Gewaltverbrechen
zum Opfer gefallen sind? Ich denke, mit Lisas Tod kann man irgendwann, irgendwie klarkommen,
aber diese Eltern? Meine Nachbarin Elisabeth hat vor sieben Jahren ihre älteste Tochter
verloren, sie starb an einem bösartigen Gehirntumor. Das Kind über Monate hinweg leiden zu
sehen, war schrecklich. Da fragt man sich doch auch, warum muss das kleine Mädchen so leiden?
Es ist so viel passiert im letzten halben Jahr und ich bin gespannt, was noch durch Lisas Tod
bewirkt wird. Dieses kleine Mädchen hat in ihrem kurzen Leben solche Kreise gezogen, es ist
unglaublich. Auch ihre Freundinnen kommen noch zu uns und ich finde das gut so. Oder sie fragen
nach Fotos und die sollen sie gerne haben. Es ist schön, zu wissen, dass Lisa nicht vergessen ist.
In ein paar Tagen beginnt die Adventszeit, Nicos Geburtstag steht vor der Tür, dann
Weihnachten. Feste, die ab jetzt anders sein werden. Und wohl eher schwer als schön.
Ich denke, es wird immer schwer bleiben. Der Schmerz wird uns ein Leben lang begleiten.
Vergessen werden wir Lisa nie, sie wird uns weiterhin begleiten und in Gedanken bei uns sein.
Immer wieder wird man denken, was sie jetzt täte, der erste Freund, Abitur, Führerschein. Ich
denke, es wird immer wieder Kummer und Tränen geben, aber ich glaube, dass ist auch gut so und
man sollte es zulassen.
Sowieso finde ich, sollte jeder, der trauert, das auf seine Art tun dürfen, ohne sich von Anderen
oder der Gesellschaft etwas vorschreiben zu lassen. Es kamen Leute zu mir, die sagten: Ich
finde das so klasse, wie du das machst. Ich kann nur sagen, ich weiß nicht, ob das gut ist, ich
versuche nur, es für uns so zu machen, wie ich glaube und hoffe, dass es gut für uns ist.
Auch Klara und Nico sind mir eine große Hilfe und ein guter Grund, nicht völlig zu verzweifeln.
Allein deshalb muss man weitergehen und das ist auch gut so. Mein größter Wunsch ist es, mit
René und den Kindern einen Weg zu finden, dass wir trotz des großen Verlustes weitergehen,
zusammen. Zu versuchen, nach vorne zu schauen und auch die schönen Seiten des Lebens wieder
wahrnehmen und erleben können.
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Tipps von „Ärzte“ bis „Baywatch“
Ärzte
Bis vor wenigen Jahren mussten Sie sich vor dem Urlaub von Ihrer Krankenkasse eine
Bescheinigung für den Versicherungsschutz ausstellen lassen. Heute ist Ihre Versicherungskarte
zu einer Europäischen Krankenversicherungskarte geworden. Denn in der Europäischen Union gilt
seit Anfang 2006 die so genannte European Health Insurance Card (EHIC), die von der
gesetzlichen Krankenkasse an die Versicherten vergeben wird. Neben den EU-Staaten gilt sie
auch in Norwegen, Island, Liechtenstein und der Schweiz.
Vor Beginn der Behandlung im Ausland wird wie in Deutschland die Karte beim Arzt abgegeben.
Allerdings kann es vorkommen, dass die Karte nicht von allen Ärzten akzeptiert wird. Dann
müssen Sie zahlen und sich die Kosten zu Hause von ihrer Krankenkasse erstatten lassen. Das
wird auch meist kein Problem sein. Probleme können dabei auftreten, wenn der Arzt im Ausland
Privatsätze abrechnet, denn bei gesetzlich Versicherten erstattet Ihre Kasse in der Regel nur
den einfachen Satz.
Die Lösung: Schließen Sie eine Auslandsreisekrankenversicherung ab, denn sie übernimmt die
Kosten, die über die EHIC nicht abgedeckt sind, also auch die Kosten, die entstehen, wenn im
Ausland ein Arzt nur privat abrechnet. Bei der Wahl der Versicherung sollten Sie darauf achten,
dass in den Leistungen auch ein Rücktransport nach Deutschland eingeschlossen ist, der aber
medizinisch notwendig sein muss. Rücktransporte zählen nicht zum Leistungskatalog der
gesetzlichen Krankenkassen. Die Kosten für die Versicherung sind bezahlbar. Sie liegen bei etwa
20 Euro. Wenn Sie das Glück haben, mehrmals im Jahr verreisen zu können, schließen Sie die
Versicherung am besten für ein Jahr ab. Vergleichen Sie die Angebote von Krankenkassen,
Reiseclubs und Versicherungsgesellschaften.
Aids
In Urlaubsländern außerhalb Europas ist die Gefahr, sich mit HIV anzustecken, wesentlich größer
als bei uns. Sex ohne Kondom, verunreinigte Injektionsnadeln oder medizinische Instrumente und
teilweise auch noch verunreinigte Blutprodukte sind typische Übertragungswege. Gefahr besteht
besonders in Ländern mit schlechten hygienischen Bedingungen. Auf Zahnbehandlungen,
Tätowierungen und Piercings sollte dort verzichtet werden. Auch Rasiermesser und Zahnbürsten
sollten nicht mit anderen geteilt werden. An ihnen können kleinste Blutreste haften. Ist eine
medizinische Behandlung im Urlaub unbedingt notwendig, muss darauf geachtet werden, sterile
Nadeln und getestete Blutprodukte zu verwenden.
Airlines
Das gefährlichste am Fliegen ist die Autofahrt nach Hause, sagen die Piloten. Fliegen ist eine der
sichersten Möglichkeiten der Fortbewegung. Sie können in Europa in jedes Flugzeug steigen,
entspannen und sich auf Ihren Urlaub freuen. Zwischen Linien- und Charterfluggesellschaften
gibt es in punkto Sicherheit, wenn überhaupt, nur marginale Unterschiede. Machen können Sie
sowieso nichts.
Alkohol
Von Genuss beim Sundowner bis zur Flat Rate Party, bis der Arzt kommt – die Bandbreite des
Alkoholkonsums ist vielfältig. Alkohol gehört für die meisten Menschen zum gelungenen Urlaub
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wie gutes Essen, neue Eindrücke, vorübergehender Abschied vom Alltagsstress und wie das
Baden und Schwimmen.
Leider passen aber Schwimmen und Alkohol überhaupt nicht zusammen. Und was sich etwa in Es
Arenals auf Mallorca oder in Lloret de Mar an der spanischen Costa Brava („Lloret geht nie ins
Bett“) an Saufpartys abspielt, ist manchmal erstaunlich. Diese Locations seien aber nur
stellvertretend für viele andere Trinkplätze im Urlaub genannt, wo volle Dröhnung und
Komasaufen ebenfalls alltäglich sind.
Es ist wohl so, dass Jugendliche überfordert sind und mit den Anforderungen in Schule, Beruf, in
der Familie und unter ihresgleichen nicht mehr zurecht kommen, im Urlaub einfach nur noch
vergessen und grenzenlos leben und erleben wollen. Der Bielefelder Jugendsoziologe Klaus
Hurrelmann betreibt Ursachenforschung: „Aus ihrem Ohnmachtsgefühl heraus suchen die
Jugendlichen nach dem Kick, der ihnen sonst im Leben fehlt.“
Die Kontrollen in den Ferienzentren sind auch – den Promillegrenzen zum Trotz - mal so und mal
so. Wer Urlaub auf der kleinen Baleareninsel Formentera macht, hat so gut wie nie etwas zu
befürchten, solange er nicht mindestens eine Stunde lang Schlangenlinien fährt oder in einen
Unfall verwickelt wird. Und wer nachts auf der spanischen Insel in den Leihwagen oder auf den
Roller steigt, muss nach unseren Erfahrungen ernsthaft damit rechnen, dass kaum einer
nüchtern ist oder weniger als 0,5 Promille in sich hat.
An europäischen Stränden kann sowieso jeder so viel in sich reinschütten wir er und sie wollen.
Vollrausch kann man nicht verbieten. Natürlich soll auch im nächsten Sommer alles anders
werden. Mehr Polizei, mehr Strandbewachung, mehr Präsenz, mehr Prävention. Allzu oft sind es
aber nur Lippenbekenntnisse. PR-Ankündigungen kosten wenig, Sicherheit kostet viel.
Ansauganlagen
Ansauganlagen in Schwimmbädern sind verantwortlich für mehrere Badeunfälle, mehrere davon
mit tödlichem Ausgang. Auszug aus den Horrormeldungen: In letzter Sekunde war ein Mädchen
im niederrheinischen Issum dem Tod durch Ertrinken entronnen. Die Zwölfjährige war mit ihren
Haaren unter Wasser gezogen worden. Badegäste bemerkten die verzweifelte Situation des
Kindes und schnitten ihm die Haare ab. In Gummersbach war ein Mädchen bei einem ähnlichen
Unfall ertrunken. Auch dort hatten sich die Haare des Kindes in der Sauganlage des
Schwimmbades verfangen.
Aufblasbares
Viele meinen: Je größer die Luftkammern der Delphine, Krokodile und Dinosaurier sind, desto
sicherer sind Kids und Jugendliche im Wasser. Das ist ein gefährlicher Irrtum. Der einzige
Vorteil: Sie oder Ihre Kinder werden eher gesehen. Ansonsten ist nicht nur der Spaß, auch das
Risiko groß. Auch dann, wenn der Gegenstand mehrere aufblasbare Kammern hat.
Ende Juli 2007 wurden am Strand von Thiessow an der Südküste der Insel Rügen fünf Menschen
vor dem Ertrinken gerettet, unter ihnen vier Kinder und Jugendliche. Die Kinder waren bei stark
ablandigem Wind mit zwei nicht seefesten Schlauchbooten auf das Meer hinausgetrieben
worden. Etwa zur gleichen Zeit war ein zweites Schlauchboot in größerer Entfernung von der
Küste gekentert. Die Besatzung des auf der Greifswalder Oie stationierten Seenotkreuzers
„Bremen“ konnte die 14 und 15 Jahre alten Jugendlichen in letzter Minute aus dem Wasser
bergen. Sie wurden mit starker Unterkühlung in ein Krankenhaus geflogen.
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Susanne Woelk von der Aktion „Das sichere Haus“, im Nebenberuf Schwimmlehrerin, gibt Tipps:
“Luftmatratzen und Schwimmtiere sind dann gefährlich, wenn die Kinder selbst noch nicht
schwimmen können. Luftmatratzen und Schwimmtiere verführen dazu, sich in tiefem Wasser
sicher zu fühlen. Wenn Kinder dann aber beim Toben von der Luftmatratze herunterfallen,
können sie ganz schnell ertrinken. Und darin besteht die Gefahr. Bei den Schwimmtieren kommt
noch hinzu, dass sie insgesamt instabil und auch oft so geformt sind, dass Kinder leicht
herunterrutschen können. Dadurch ist die Gefahr noch ein wenig größer als bei einer
Luftmatratze Sicheres Badespielzeug in dem Sinne gibt es nicht. Da muss man eindeutig vor
warnen. Gerade wenn die Kinder, wie schon erwähnt, noch nicht schwimmen können. Es sollten
daher immer Erwachsene dabei sein, wenn die Kinder sich in freien Gewässern mit Badespielzeug
befinden.
Zusätzlich sollten die Kinder noch Schwimmflügel tragen, damit sie, wenn sie von dem Spielzeug
herunterfallen, nicht sofort untergehen. Zu warnen ist vor sehr dünnem Plastik, da dieses auch
sehr leicht kaputt gehen kann. Ganz im Gegensatz zu einer festen Luftmatratze, die oft noch
einmal zusätzlich beschichtet ist. Kinder können erst dann richtig schwimmen, wenn sie ihr
Freischwimmer-Abzeichen abgelegt haben. Die erste Schwimmprüfung, das Seepferdchen, zeigt
nur, dass ein Kind in einem stillen Gewässer eine 25 Meter-Bahn bewältigen kann. Von sicherem
Schwimmen kann man erst beim Freischwimmer sprechen. Und auch dann sollten die Kinder nie
alleine mit dem Schwimmspielzeug ins Wasser gelassen werden.”
Aufsichtspflicht
„Eltern haften für ihre Kinder“, steht am unbewachten Badesee. Fachleute können darüber nur
mit dem Kopf schütteln, denn diese "Drohung" ist rechtlich unwirksam. Eltern haften für ihre
Kinder nur dann, wenn sie ihre Aufsichtspflicht verletzt haben. Sie müssen auf ihre
minderjährigen Kinder aufpassen. Ertrinken ist für Kinder die zweithäufigste unfallbedingte
Todesursache nach Verkehrsunfällen. Das Alter des Kindes ist ebenso entscheidend wie der
individuelle Entwicklungsstand. Kleine Kinder brauchen mehr Aufsicht als größere und normal
entwickelte Kinder kann man eher alleine lassen als Kinder, die verhaltensauffällig oder in ihrer
Entwicklung noch nicht so fortgeschritten sind.
Kinder müssen aus zwei Gründen beaufsichtigt werden: Um sie vor Schäden zu bewahren und um
andere Personen vor Schäden zu bewahren. Generell ist die Aufsichtspflicht erfüllt, wenn, so
interpretieren Juristen, mit “vernünftiger Voraussicht” versucht wird, Schäden zu vermeiden.
Dabei spielt die Umgebung eine entscheidende Rolle: Welche Gefahren drohen? Im Haus ist es
so, dass Kinder nicht auf Schritt und Tritt überwacht werden müssen. Ein vierjähriges Kind darf
alleine in seinem Zimmer spielen, ohne dass die Eltern es ständig überwachen müssen. Am
Badesee, am Hotelpool und am Meer müssen Kinder permanent beaufsichtigt werden und haben
immer alle Augen verdient.
Auswärtiges Amt
Reisewarnungen vom Auswärtigen Amt sind oft keine wirkliche Orientierung für Reisende. Basis
sind, sagt der Tourismusexperte Karl Born von der Fachhochschule Harz,
"Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Ländern zu pflegen und nicht, Urlauber vor einem
Gefahrengebiet zu warnen.“ Wenn überhaupt, erlasse das Auswärtige Amt Reisewarnungen
"immer erst dann, wenn schon etwas passiert ist." Nicht nur Born fordert neutrale
Reisewarnungen eines unabhängigen Gremiums, um die "Abhängigkeit des Auswärtigen Amtes von
der Tourismusindustrie zu überwinden".
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Badeseen
Seen und Flüsse sind mit 4 von 5 Ertrunkenen die gefährlichsten Badestellen in Deutschland. Und
gerade diese riskanten Gewässer sind fast immer unbewacht. Die Anwesenheit von
Rettungsschwimmern ist hierzulande immer die Ausnahme, nicht die Regel. Badeseen sind auch
nur kinderfreundlich, wenn sie bewacht sind. Das ist zu oft nicht so. Badeverbotsschilder, die
von den Kommunen statt wirksamer Absicherung oder Präsenz von Rettungsdiensten aufgestellt
werden, sind keine Lösung.
Die Überfüllung der Badestellen stellt ein zusätzliches Risiko mit der Konsequenz steigender
Unfall- und Ertrinkungszahlen dar. Grund für Unfälle bei Kindern ist meist die
Verantwortungslosigkeit der Eltern. Deshalb unbedingt und immer auf Kinder achten und sich
über die Bewachungssituation und die Bewachungszeiten (oft nur am Wochenende und während
der Schulferien) informieren!
Badetipps
Eigentlich ist es keine gute Idee, so viel Tipps zu geben. Einfacher wäre ein Satz: "Baden und
Schwimmen sind gefährlich." Die Gefahren im Wasser sind aber leider etwas komplexer und wir
meinen, dass sie benannt werden müssen. Deshalb: Wenn Sie die Tipps für mehr Badesicherheit
beachten, sind Sie gut auf einen unbeschwerten Badeurlaub vorbereitet.
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Respektieren Sie das Meer, die Kraft und die Unberechenbarkeit des Wassers. Sie
können vielleicht gut schwimmen. Aber weiß das Meer das auch?
Don´t swim alone! Gehen Sie nie allein schwimmen! Einsamkeit im Wasser ist riskant.
Es gibt eine Häufung von Ertrinkungsunfällen zu Beginn des Urlaubs. Also ist am ersten
Urlaubstag besondere Vorsicht geboten.
Ruhen Sie sich nach beschwerlicher Autofahrt oder nach einem Flug erst aus, bevor Sie
den Badespass genießen.
Schwimmen Sie möglichst nur an bewachten Badestellen und prüfen Sie vorher, wo Sie im
Notfall Hilfe erhalten.
Bevor Sie schwimmen, machen Sie sich mit Ihrem Strand oder dem Badesee vertraut.
Fragen Sie Einheimische, Hotelpersonal, Reiseleiter oder Rettungsschwimmer nach den
Bedingungen und nach möglichen Gefahren.
Beachten Sie die Warnflaggensysteme und informieren Sie sich über deren Bedeutung.
Bei "Roter Flagge" ist das Baden - auch bei ruhigem Wasser und strahlender Sonne lebensgefährlich, weil Sie die Gefahren (etwa die Rip-Strömungen) nicht erkennen
können. Auch wenn andere Menschen schon im Wasser sind: Verzichten Sie auf das
riskante Vergnügen.
Ausgelassene Ferienstimmung und Alkohol machen gute Laune. Führen aber auch zur
Einschränkung Ihrer Konditionierung und zur Überschätzung der eigenen Kräfte.
Bitte nicht mit vollem Magen ins Wasser gehen. Der Mensch wird nach dem Essen träge
und es fehlt dann in kritischen Situationen die nötige Kraft.
Sie sollten nur ins Wasser gehen, wenn Sie sich fit fühlen. Das gilt besonders für
Seniorinnen und Senioren und für Menschen mit chronischen Beschwerden, insbesondere
bei Herz- und Kreislaufproblemen und für Diabetiker.
Schwimmen Sie nicht zu weit raus und nur in abgeteilten Schwimmbereichen. Schon ein
Krampf kann gefährlich sein, wenn Sie sich nirgendwo festhalten können oder keinen
Grund unter den Füssen haben.
Wasser übt auf fast alle Kinder eine magische Anziehungskraft aus. Lassen Sie Ihre
Kinder nie, erst recht nicht mit Luftmatratzen und Gummitieren allein und ohne Aufsicht
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(auch nicht in Strandnähe) baden. Kinder verlieren im Wasser schnell die Orientierung
und können auch in knietiefem und scheinbar ungefährlichem Wasser in
lebensbedrohliche Situationen kommen.
Wenn Sie einen Schwimmer in Not sehen, sollte Sie nie ins Wasser gehen, bevor Sie eine
Rettungskette (Notruf, Aufgabenverteilung) organisiert haben und nur dann, wenn Sie
sich die Rettung körperlich zutrauen. Bringen Sie sich nicht in Gefahr und denken Sie
unbedingt daran, einen Auftriebskörper (schwimmender Gegenstand) mitzunehmen.
Diesen sollen Sie dem Schwimmer aus sicherer Entfernung zureichen und so eine
Umklammerung vermeiden. Schwimmen Sie den Ertrinkenden von hinten an und retten Sie
- wenn mehrere Personen in Not sind - von "außen nach innen".
Die wichtigsten Tipps sollten Sie ich auf jeden Fall merken: Nur an bewachten Stränden ins
Wasser gehen, nicht allein schwimmen und immer auf Ihre Kinder achten.
Badezeiten
Sie kennen Badezeiten vielleicht von den ostfriesischen Inseln, die durch Ebbe und Flut
bestimmt werden. Sie ahnen es sicher schon: Unsere unmissverständliche Empfehlung ist die
strikte Einhaltung der angezeigten Termine für Ihren sicheren Badespass innerhalb der
Badezonen.
Ansonsten gilt, dass es in Europa fast nie festgelegte Bewachungszeiten gibt. Sie sollten sich wenn der Badeabschnitt überhaupt bewacht wird - bei den Rettungsschwimmern darüber
informieren, wann die Stationen besetzt sind, in welchen Monaten, zu welchen Tageszeiten.
Die Warnflaggen sind kein Garant für vorhandene Strandbewachung, auch dann nicht, wenn die
grüne Flaggenfarbe gehisst ist.
An deutschen Badestellen, die von Wasserrettungsdiensten bewacht werden, können Sie nur an
den Wochenenden und während der Schulferien mit Bewachung rechnen, die durch eine
Vereinsflagge auf dem Wachturm signalisiert wird. DLRG, Wasserwacht & Co. begründen die
unterschiedlichen Bewachungszeiten mit den vom Wetter und der Frequentierung der Badestelle
abhängigen Anforderungen. Auch die Frage der Haftung spielt eine Rolle für die nicht
veröffentlichten Bewachungszeiten.
Badezonen
„Papa, was bedeuten denn die rot-gelben Flaggen“,
fragt in einem Beitrag auf der Webseite der DLRG
Björn seinen Vater. "So wie Björn", schreibt die
größte Wasserrettungsorganisation der Welt weiter,
"geht es vielen Kindern und Erwachsenen, wenn sie die
Flaggen in den unterschiedlichen Farben am Meer
sehen."
Wie wahr. Die Frage des Jungen nach der Bedeutung
der Flaggenfarben ist mehr als berechtigt, denn die
so genannte "Badezonenkennzeichnung" in Rot-Gelb
soll ganz unterschiedliche Informationen vermitteln und sorgt schon allein deshalb zunehmend
für Irritationen unter Wasserrettern, Urlauben und Freizeitsuchenden. Vor allen in europäischen
Urlaubsländern, die die neuen Regelungen nicht selten kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen
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und deshalb in einigen Fällen vorerst auch lieber bei der "alten" Regelung (Grün, Gelb und Rot)
bleiben wollen.
Solange einzelne "Farben" gehisst werden, ist die Sache eindeutig: eine gelbe Flagge signalisiert
Gefahr, Rot bedeutet Badeverbot. So weit, so gut. Schwieriger wird es bei einer rot/gelben
Flagge. Einerseits dient diese als Begrenzung für den Schwimmbereich und als Zeichen dafür,
dass hier Wassersportgeräte verboten sind, andererseits soll Rot/gelb signalisieren, dass der
Strand bewacht ist.
Alles klar? Wer die Kennzeichnung in sorgloser Urlaubslaune auf Anhieb vollständig versteht, hat
einen Preis verdient.
Nichts gegen die Reduzierung von Schildern und Flaggen, aber: wieso man nun exakt dieselben
Farben für Gefahr und Verbot auch als Hinweiszeichen für Begrenzung und Bewachung
verwendet, bleibt rätselhaft und trägt eher zur allgemeinen Verunsicherung bei. Signale und
Flaggenfarben müssten in ihrer Bedeutung klar zuzuordnen und vor allem unmissverständlich
sein. Wir hoffen auf eine kritische Überprüfung der Kennzeichnungen, bevor diese europaweit
und endgültig zum Einsatz kommen.
Balearen, Spanien
Nicht mal die Hälfte aller Balearenstrände ist bewacht. Welche es sind, weiß der Urlauber oft
erst, wenn er da ist. Vor Jahren haben Mitarbeiter der Balearenregierung versucht, gefährliche
Balearenstrände zu identifizieren und dabei drei Fragen zu stellen: Wo liegen und baden sehr
viele Menschen? Wo gibt es bekannte Gefahren wie Rip-Strömungen? Und Wo sind Menschen
ertrunken?
Besonders an Ost- und Südküste der Insel Mallorca und am Es Arenals / Platja Migjorn der Insel
Formentera bestehen Gefahren durch Strömungen bei auflandigen Winden. Irritierend ist, dass
es zwei Notrufnummern (112 und 061) gibt und die unzureichende Koordination mehrfach
Zeitverzögerungen mit lebensbedrohlichen Folgen verursacht hat. Verstärkt werden inzwischen
auch private Rettungsorganisationen eingesetzt, die häufig mit argentinischem Personal arbeiten.
Die Notrufzentrale 112 befindet sich in Palma de Mallorca. Von hier werden die Rettungseinsätze
für Mallorca, Menorca, Ibiza und Formentera koordiniert. Im Notfall kann von jedem Handy über
die Notrufnummer 112 (ohne Vorwahl) mehrsprachig Hilfe angefordert werden. Unser Test im
Mai 2008 war allerdings negativ: Fünf Versuche mit der dringenden Bitte nach einem Englisch
sprechenden Partner endeten in der Endlos-Warteschleife. Auf den Balearen ertrinken pro Jahr
bis zu 30 Menschen.
Balkone
Mit einer konsequenten Maßnahme sorgen Sie in Ihrem Urlaubsdomizil dafür, dass Ihre Kinder –
besonders wichtig ist das in Bettenburgen ohne Sicherung von Fenstern und Türen - sicher sind:
Nie allein lassen. Auch nicht für kurze Zeit. Schwierig kann es auch werden, wenn Sie auf der
Brüstung Ihres Balkons in der 12. Etage abfeiern. Dann können Sie nur noch hoffen, dass direkt
unter den Balkon ein riesiger und nicht zu flacher Swimmingpool gebaut wurde. Das aber ist nur
selten der Fall.
Baywatch
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Baywatch wurde zur erfolgreichsten US-Fernsehserie des 20. Jahrhunderts, die in 144 Ländern
ausgestrahlt wurde. Der Erfolg der Water-Soap beruht größtenteils auf dem Ideal einer vor
Gesundheit und Tatendrang strotzenden Jugendlichkeit und auf der Mitwirkung seinerzeit
wirksamer Sexsymbole wie David Haselhoff, Pamela Anderson oder Carmen Electra, die für
amerikanisch eingefärbte Erotik in den Serien sorgten.
Schön wäre es schon, wenn die gelegentlich als Badehosenfraktion verspotteten ehrenamtlichen
deutschen Wasserretter, die oft so gar nichts "baywatchmässiges" haben, wenigstens etwas von
diesem Leitbild hätten. Dann würden sie vielleicht nicht nur dann beachtet werden, wenn sie
gebraucht werden. Und das Interesse, sich ausbilden und einsetzen zu lassen, wäre wohl auch
größer.
74
Johannes Schulz
Aus, dachte ich, gleich ist es aus
Meine Eltern kamen 1955 nach Düsseldorf, mich als
12-jährigen im Gepäck. An einem dieser schönen
Samstagnachmittage im Herbst machten wir Picknick
am Rheinufer.
Zum ersten Mal sah ich den großen mächtigen Fluss,
dessen Strömung unterbrochen wurde durch so
genannte Buhnen, die quer zum Fluss ungefähr 15
Meter ins Wasser hineingebaut wurden. Innerhalb
dieser Buhnen sah man keine Strömung, das
Flusswasser stand hier ruhig im Gegensatz zur
Fahrwasserstraße, die eine kräftige und sichtbare Strömung zeigte.
So einen riesigen Fluss hatte ich nie zuvor gesehen. Es war überhaupt alles neu für mich: die
große Stadt, die völlig unbekannten Straßenbahnen, Rolltreppen in den Kaufhäusern. Ich kam aus
dem kleinen Städtchen Hof an der Saale zum ersten Mal ins Rheinland. Hof lag damals im
„Zonengrenzbereich“, die DDR direkt vor der Tür. Da lernte man als Vierjähriger Skifahren,
Frösche fangen in der Saale und Kühe melken auf den benachbarten Bauernhöfen oder schnell
mal die Demarkationslinie zur DDR überschreiten und sich dabei sehr mutig vorkommen.
Erfahrung mit Wasser? Keine. Es gab nur die Saale, ein friedlicher, ruhiger Fluss.
Meine Welt war der Stadtrand von Hof: Wiesen, Wälder, Truthähne, Fuchs und Hasen direkt vor
der Haustür. Es war fast ein Landleben, das bis dahin die Kindheit geprägt hatte. Und nun diese
riesige Stadt. Nein, ich hatte keine Angst. Es war alles viel zu aufregend: diese großen Alleen,
diese langen Straßenbahnfahrten zur Schule, während ich zuvor jeden Tag durch grüne Auen, an
einem Bach entlang zu Fuß zur Schule ging, zwischendurch Beeren pflückte, Blutegel fing und sie
dem Schulnachbarn aufs Heft klebte oder den Ameisen zusah und mich fragte, wie sie in dem
Gewusel überlebten und überlegte, ob man tote Vögel beerdigen müsse und wenn ja, mit
Holzkreuz oder nicht.
Nun stand ich vor diesem großen Fluss, dessen anderes Ufer unendlich weit erschien, nicht
erreichbar, denn ich hätte ja die Wasserstraße durchqueren müssen, die voller Schiffe war:
Kohle wurde da transportiert, Stahlträger, Container, Grubenholz. Eigentlich passierten die
schweren Schiffe ganz gemächlich. Ich sah ein paar geübte Schwimmer, die in die Strömung
gingen, so dass sie an die Rheinkähne in greifbare Nähe herankamen. Und tatsächlich, mit
schnellem Griff klammerten sie sich an der niedrigen Schiffswand fest, die kaum 30 cm aus dem
Wasser ragte, wenn das Schiff schwer beladen war, und zogen sich an Bord. Kein Kapitän hatte
das gern und bevor der fluchend und schreiend sie zur Rede stellen konnte, waren sie mit großem
Sprung wieder im Rhein verschwunden auf dem Weg zum nächsten Kahn. Das sah ich mit
Bewunderung und Begeisterung.
Tja, schwimmen müsste man können.
Ich konnte Skifahren. Das nützte im Augenblick wenig. Also betrachtete ich mir diese
sportlichen Klimmzüge der Schwimmer, die auf ihre Weise an Bord gingen, voller Neid, aber mit
großem Vergnügen. Dabei ging ich langsam weiter ins Wasser innerhalb zweier solcher Buhnen.
Das war ja nicht gefährlich. Hier stand das Wasser ruhig.
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Allmählich ging mir das Wasser bis zum Bauch und dann passierte etwas, womit ich nicht
gerechnet hatte: Ich rutschte auf einem Stein weg, verlor das Gleichgewicht, fiel bis zum Hals
ins Wasser und ruderte mit den Armen, um mich wieder aufrichten zu können. Als ich Grund
unter den Füßen spürte, schaute nur noch mein Kopf aus dem Wasser. Ich strampelte mit Armen
und Beinen. Das Ufer kam deswegen nicht näher, sondern ich spürte die kreisende Strömung
innerhalb der Buhnen, die mich unweigerlich hinauszog in den Rhein. Was tun? Ich war völlig
hilflos und auf einmal wie gelähmt: das Wasser hatte mich in seiner Gewalt.
Es gab kein Entkommen. Ich tauchte unter, ein Mal, zwei Mal. Beim zweiten Auftauchen sah ich
die Baumallee am Rheinufer. Zum Hilfe schreien hatte ich längst keine Luft mehr. Dafür schoss
mir ein einziger und merkwürdigerweise völlig ruhiger Gedanke durch den Kopf:
Das ist also der letzte Anblick, den du von der Welt hast: die schöne Rhein-Allee. Gleich ist alles
vorbei, gleich bin ich tot.
Ich tauchte ein drittes Mal auf, hatte keine Luft mehr, ging unter: AUS, dachte ich, gleich ist es
aus.
In dem Moment packt mich etwas, zieht mich nach oben. Ich schnappe krampfhaft nach Luft.
Der erste neue Gedanke: Du wirst gerettet. Irgendwo hatte ich mal gehört, dass Ertrinkende
sich voller Angst an den Retter klammern und den damit in große Gefahr bringen. Also: Auf
keinen Fall Anklammern, einfach geschehen lassen, was passiert. Und wirklich, es passierte
etwas, das Ufer kam näher, ein Mann hatte mich gepackt und schwamm mit mir fest im Griff ans
Ufer.
Als das Wasser nur noch bauchtief war, ließ er mich behutsam los, damit ich Grund bekam. Jetzt
erst stellte ich fest, mein Retter hatte nur ein Bein und hüpfte an Land, während ich völlig
benommen ihm folgte, danke sagte und ziemlich bleich und erschöpft zu meinen Eltern
zurückging. Natürlich keinen Ton von diesem Ereignis sagte, das mich nur knapp dem Tod
entkommen gelassen hatte. Dass das alles stillschweigend vorübergehen sollte, war nur ein
frommer Wunsch. Der einbeinige Retter war mir auf Krücken gefolgt und erzählte meinen Eltern,
was sich ereignet hatte und mahnte sie, doch besser auf mich aufzupassen, zumal ich nicht
schwimmen könne.
Meine Eltern waren völlig entsetzt, meine Mutter schloss mich in die Arme. Mich, dieses Kind,
das sie mühsam durch die Kriegswirren gerettet hatte, mit vielen Entbehrungen durchgefüttert
hatte, während andere Kinder vor Hunger starben. Und auf einmal war mein Tod ganz nah – kaum
12 Jahre danach. Mein Vater dagegen gab mir eine vehemente Ohrfeige, schimpfte und sagte:
Das ist wieder mal deine typische Schlampigkeit, in den Tag zu träumen; statt Bilder malen,
solltest du lieber was Gescheites lernen.
Na ja, ich lernte darauf als erstes im Hallenbad Schwimmen. Die Angst vor dem Wasser ist aber
bis heute geblieben. Wenn mir mal zufällig das Wasser beim Schwimmen im Meer über den Kopf
schlägt, bekomme ich Panik. Und wenn ich mal mehr als 10 Meter weit ins Meer will und dabei den
Meeresgrund verliere, dann nehme ich mir eine Holzpalette mit, die ja an Mittelmeerufern immer
wieder angeschwemmt werden, um mich dran festhalten zu können, falls ich plötzlich im Wasser
Angst bekomme. Diese Angst sitzt so tief drin; die hat kein Schwimmkurs beseitigen können.
Tauchen ist für mich nach wie vor Horror, obwohl doch damals der letzte Anblick der Welt, die
Bäume der Rheinallee ein ganz ruhiger war: das Bild vom einfachen Tod. Meine junge Seele hat
die Angst einfach vertrieben – aber nur für den Moment!
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Der Schock fürs Leben kam später. Heute hänge ich trotzdem an der See, liebe die
Unendlichkeit des Meeres, aus dem alles kommt, aus dem alles Leben entstand, begrüße das
Wasser wie eine Freundin, solange es ruhig plätschert und solange ich meine Holz-Palette in der
Nähe weiß. Aber tief drinnen in der Seele habe ich Respekt davor.
Erst recht, wenn es sich ungestüm zeigt, voll unsäglicher Kraft, zerstörerisch sogar, unhaltbar
ist und alles zerbricht, was ihm in die Quere kommt. Dieses Meer, aus dem alles Leben kommt,
nimmt auch alles Leben wieder in sich zurück.
Diese Angst lässt mich behutsam mit Wasser umgehen. Auch wenn Bert Brecht mal geschrieben
hat: „…dass das weiche Wasser in Bewegung stets den harten Stein besiegt! Du verstehst, das
Harte unterliegt.“
Statt Bilder zeichnen, was mir mein Vater damals als lebensfern vorwarf, habe ich am Ufer des
Meeres, an der Nordspitze von Formentera, dem Wasser ein Denkmal aus Steinen
entgegengesetzt, das bis heute, seit 1992, dem Wasser trutzt, sogar dem Sturm standhält.
Manchmal erschlägt der Blitz einen großen Steinturm dort. Dieses Denkmal habe ich La Riada
(Sturmflut, Überschwemmung) genannt.
Das Wasser tut meinen Steinskulpturen aber nichts an. Seitdem ist das Meer mein Freund,
solange es mich nicht anbrüllt, anspritzt, antost und im Sturm auf mich einschlagen will. Dann
weht die rote Fahne an den Stränden. Dann bewundere ich die Kraft der Wasser-Macht. Ihr
anvertrauen wollte ich mich nie.
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Antje Wiederhold
Im Meer mag ich nicht mehr schwimmen
Ich bin in Litauen am Kurischen Haff fast ertrunken. Hätte mein Mann mich nicht rausgezogen
und wären nicht zufällig zwei deutsche Ärzte am Strand gewesen, die dort Urlaub gemacht
haben, wäre jede Hilfe zu spät gekommen.
Sie haben mich zu dritt wiederbelebt und ich bin dort in ein Krankenhaus gekommen. Ein Freund
von uns, mit dem wir dort im Urlaub waren, ist auch Arzt und Russe, er hat mich im dortigen
Krankenhaus betreut und versorgt. Ich bin 12 Stunden später mit dem ADAC-Jet nach Hause
geflogen worden, weil sie im Krankenhaus nicht in der Lage waren, mich künstlich zu beatmen und
die Gefahr zu groß war, dass meine Atmung wieder aussetzt.
Heute geht es mir wieder gut. Im Meer mag ich aber nicht mehr schwimmen. Ich kann mich an
den ganzen Hergang nach wie vor nicht erinnern. Ich weiß nur, dass an diesem Tag endlich schöne
Wellen waren und ich mich gefreut habe, zu baden. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie froh
ich bin, dass das mir passiert ist und nicht meiner 12-jährigen Tochter oder meinem 10-jährigen
Sohn.
Die Unterströmung war an diesem Tag wohl sehr stark. Und ich muss es wohl nicht mehr
geschafft haben, wieder ans Land zu kommen. Mein Mann wollte mir helfen, sah mich rufen,
bekam mich aber erst aus dem Wasser, als ich bewusstlos war.
Es war ein bewachter Strand. Es gab Rettungsschwimmer, es gab Wachtürme. Aber leider sehr
weit auseinander und irgendwie haben sie das ganze dann doch nicht mitbekommen, erst dann, als
die drei mich wiederbelebt haben.
Wir sind eigentlich auch keine schlechten Schwimmer, machen viel Urlaub an der Nordsee, aber
ich glaube, ich habe diese Unterströmung sehr unterschätzt und niemand hat uns gewarnt. Leider
fahren wir dieses Jahr wohl nicht groß weg. Und schon gar nicht nach Litauen, auch wenn es dort
wirklich wunderschön ist. Und das Meer lädt dort einfach zum Baden ein.
78
Klaus Schäfer
Playa Muerte
Es wird mir ewig in Erinnerung bleiben, Urlaub auf Fuerteventura, November 1995, in
Deutschland ist es nass und kalt, auf Fuerteventura herrscht ständig ein angenehmer
Frühsommer, dessen Temperaturen durch den unablässigen Wind von der See erträglich gehalten
werden.
An der Ostküste gab es weite Sandstrände, die von Klippen umgeben waren und am Sotavento
surften wir bei ständig ablandigen, zum Teil sehr kräftigen Winden den ganzen Tag.
Mit einem Mietwagen machte ich an einem Tag über endlose Schotterpisten einen Ausflug bis zur
südwestlichen Spitze der Insel. Dort fanden sich sehr breite und unberührte Sandstrände, die
vom offenen Atlantik her mit großen bis zu drei Meter hohen Wellen beaufschlagt wurden. Der
Strand fiel deutlich schräg wie eine Rampe ab und führte offensichtlich nach 10 bis 15 Metern in
tieferes Wasser.
Aufgrund der langen und beschwerlichen Anfahrt waren kaum andere Personen zu sehen,
vereinzelt saßen Personen am Strand und sonnten sich. Niemand war im Wasser.
Nach halbstündigem Sitzen in der Sonne war mir trotz Wind warm geworden und es reifte der
Entschluss: Jetzt ab in das Wasser. Sicher war die Brandung beeindruckend, schien aber am
Auslauf der mächtigen Gischt zumindest für ein Sitzbad oder ein Umspülen der Waden geeignet.
Angesichts der wenigen anderen nur am Strand sitzenden Personen traf ich die Entscheidung,
dass es sich im Gegensatz zu mir um vermutlich schlechte Schwimmer und Hasenfüße handeln
musste. Schließlich besaß ich das Rettungsschwimmabzeichen in Gold und hatte umfangreiche
Erfahrungen mit Wasser als Schwimmer, Schnorchler, Taucher, Surfer, Segler und Bootfahrer.
Langsam und vorsichtig betrat ich die abfallende Rampe des Strandes. Die erste Welle umspülte
mit einer mächtigen Gischt meine Beine. Und während ich noch von der Kraft dieser Gischt
überrascht und beeindruckt war, überrannte mich eine zweite Welle bis zur Bauchnabelhöhe, riss
mich um, schleuderte mich Richtung Strand, um mich dann im Bodenbereich wie ein
Riesenstaubsauger unter der Gischt in das tiefere Wasser zu ziehen.
Gegen diese Kräfte war jeder Widerstand zwecklos, so dass ich mich Luft anhaltend mitziehen
ließ.
Beim Auftauchen konnte ich vor der nächsten gewaltigen Gischt nur kurz Luft holen und tauchte
in die nächste bereits anrollende Gischtfront, die sich mehr als einen Meter hoch über die
Wasserfläche erhob. Dabei bemerkte ich eine extrem starke Strömung unter der Oberfläche,
die mich rasant weiter in die Brandungszone zog.
Mir war klar, dass ich mich in einer lebensgefährlichen Situation befand. Nur keine Panik jetzt.
Gut, dass reichlich Erfahrung im Umgang mit Wasser vorlag, ansonsten wäre die Panik
unweigerlich ausgebrochen. Die aufkeimende Angst, und die gebe ich zu, wurde durch rationales
Überlegen klein gehalten.
Erst einmal mit der Strömung raus aus der Brandung, dann parallel zum Strand weg von der
Strömung, um dann an einem günstigen Zeitpunkt mit der Brandung an einer geeigneten Stelle
wieder den Strand zu erreichen. Soweit der Plan.
79
Die Umsetzung gestaltete sich schwierig, da ich noch zwei weitere Brecher untertauchen
musste, um dann relativ leicht seitlich aus der immer noch merkbaren Strömung heraus zu
schwimmen.
Der Abstand zum Strand betrug etwa 75 Meter. Das Wasser war saukalt und nicht so angenehm
wie an den Badestränden der Ostküste Fuerteventuras. Lange würde ich es bei den
Temperaturen nicht aushalten können. Mit diesem Zusatzproblem hatte ich nicht gerechnet.
So hielt ich mich parallel zur Küste und trieb langsam in nördliche Richtung, immer die
Wellenkämme als Ausguck für eine günstige Fluchtposition nutzend. Nach etwa 10 Minuten ergab
sich eine verminderte Brandung und ich konnte die Wellen bezüglich Abstand und
Geschwindigkeit abschätzen. Vor einer Welle nahm ich kraulend Tempo auf, und es gelang mir,
mit der dann brechenden Welle in der Gischt bis an das Ufer zu gelangen. Dabei hielt ich mich an
der Oberfläche der Gischt, hatte aber Mühe, nicht herumgewirbelt zu werden.
Am Ufer angelangt, krallte ich mich dann mit Händen und Füßen in den schrägen Sand; und fast
hätte das Wasser mich erneut zurückgezogen. Erschöpft kroch ich auf den sicheren Strand und
legte mich auf den Rücken. Das gerade Erlebte zog in Gedanken an mir vorbei.
Das war also eine „Unterströmung“ und vom Strand aus sah das Meer durchaus nicht
ungefährlich aus, im Wasser aber war es geradezu die Hölle gewesen.
Einige der Anwesenden kamen zu mir und wollten offenbar den „Irren“ sehen, der da durch die
Brandung geschwommen war. Zwei Einheimische sprachen vom „playa muerte“, dem Todesstrand,
und sagten, dass in jenem Jahr dort angeblich schon mehrere Personen ertrunken seien.
Warnschilder, Notrufmöglichkeiten oder gar eine Wasserrettung, niente, rein gar nichts.
Dafür aber die Erkenntnis, dass ich mich gehörig verschätzt hatte und dass ich vermutlich nur
mit großem Glück dem Ertrinkungstod entkommen war.
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Tipps von „Begrüßungstreffs“ bis „Erste Hilfe-Kurse“
Begrüßungstreffs
Sie haben eine Pauschalreise gebucht, aber wollen mit den „Rahmenbedingungen“ so wenig wie
möglich zu tun haben. Begrüßungstreffs? Das Gläschen Sekt können Sie ja wohl gerade noch
selber zahlen und die Ausflugstouren sind ja eher was für „Pauschies“. Dazu gehören Sie
natürlich nicht.
Sie sollten den inzwischen oft gut ausgebildeten, kompetenten und landeskundigen
ReiseleiterInnen eine Chance geben. Und vielleicht hat Ihr Veranstalter ja auch etwas im
Programm, was auch auf Ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. Oder Sie erfahren etwas über einen
ganz neuen Trödelmarkt, von dem Sie trotz intensiver Vorbereitung noch nichts gehört hatten.
Vergessen Sie aber bitte nicht, zu fragen, welche Strände vor der Hoteltür bewacht sind,
welche speziellen Gefahren und welche Flaggenfarben es gibt. Wenn Sie keine oder nur
ausweichende Antworten bekommen, verstehen wir, wenn Sie die Beteiligung an diesen
Veranstaltungen in Zukunft anderen Urlaubern überlassen.
Bewachungszeiten
Immer wieder fällt auf, dass die Stationen der Wasserretter nicht eindeutig als besetzt oder
geschlossen erkennbar sind – zumal die Türme und Häuser gelegentlich eher Festungen gleichen
(wohl aus Angst vor Vandalismus).
Oft haben wir deshalb vorgeschlagen, statt eines kleinen Fähnchens als Zeichen für Anwesenheit
der Rettungsschwimmer die Bewachungszeiten an die Station zu schreiben und in den regionalen
Tageszeitungen zu veröffentlichen. Das passiert aber so gut wie nie, und wir vermuten dahinter
die Absicht der Rettungsorganisationen, sich bei nicht besetzten Stationen im Fall von Unfällen
schadlos halten zu wollen. Zu Lasten der Strandbesucher, wie wir meinen.
Dass Bewachungszeiten und deren klare Ansagen eine segensreiche Angelegenheit sein können dafür sind die ostfriesischen Inseln der beste Beweis. Auf Wangerooge und Co. dürfen die Leute
eben nur unter Aufsicht baden und werden nach Ende der Badezeit aus dem Wasser gepfiffen.
Resultat: Die Zahl der Badetoten an Nord- und Ostsee sind vergleichsweise gering.
Blaue Flagge
Es gibt inzwischen 3500 ausgezeichnete Strände und Häfen. Die ausgezeichneten Strände
werben auch damit, dass diese nicht nur sauber, sondern auch sicher sein sollen. Zugegeben:
Viele der mit der "Blauen Flagge" ausgezeichneten Strände sind auch bewacht, aber eben nicht
alle. Denn auch dann, wenn keine adäquate Zahl von Rettungsschwimmern vorhanden ist oder der
Strand unbewacht ist, reicht das Vorhandensein von Rettungsmitteln und Erste-Hilfe-Material
aus, um in den Genuss der werbewirksamen Verleihung zu kommen. Also ist die Blaue Flagge eine
Mogelpackung, weil nur bewachte Strände als sicher bezeichnet werden können. Frühestens 2012
will die Dachorganisation in Kopenhagen die Kommunen verpflichten, zwingend
Wasserrettungsdienste als Kriterium für die Verleihung festzulegen.
Blutspenden
15.000 Blutspenden werden jeden Tag allein in Deutschland benötigt, bei Unfällen, Krankheiten
und Operationen. Vielleicht sind auch Sie auf den besonderen Saft irgendwann mal dringend
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angewiesen. Dafür könnten Sie eigentlich in guten Zeiten etwas von ihrem Blut verschenken.
Es kostet einen kleinen Pieks und etwas Zeit: Wenn Sie als Erstspender 18 bis 59 alt sind, gelten
Sie als Idealspender. Frauen können bis 4 Mal, Männer bis 6 Mal im Jahr spenden. Sie werden
nebenbei auf Infektionskrankheiten getestet und erhalten einen Unfallhilfe- und
Blutspenderpass.
Buddy-Prinzip
Den Begriff kennen Sie vielleicht. Es ist eine der wichtigsten Grundregeln beim Tauchen und sagt
aus, die Unterwasserwelt nie allein zu besuchen, weil man dann immer einen direkten Begleiter
hat, zu dem man unter Wasser Kontakt halten kann und der es seinerseits ebenso hält.
Warum nicht auch beim Schwimmen über Wasser? Sie könnten sich bei Krämpfen gegenseitige
Hilfestellung leisten, den Partner bei Verletzung oder Bewusstlosigkeit sicher an Land zurück
bringen oder ärztliche Hilfe herbeirufen, beim Hängen bleiben in Hindernissen den Partner
anleiten, wie er sich selbst befreien kann und vor allem in Angstsituationen beruhigend wirken.
Taucher machen es mit ihrem "Buddy-Prinzip" vor und sind durch gemeinsames Tauchen
fortschrittlicher als Schwimmer, weil sie damit auf viele Wassergefahren besser vorbereitet
sind. Nie allein zu schwimmen, ist ein Tipp für Ihren Badeurlaub, der wichtig sein kann, wenn Sie
plötzlich Schwierigkeiten bekommen. Sie erfahren, wie schön das Schwimmen mit Ihrem Partner,
Ihrer Familie oder Ihren Freunden sein kann. Und wie sicher Sie sich dabei zu Recht fühlen
können. Im Wasser einsam zu sein ist riskant.
Bußgelder
Die Obergrenze für allgemeine Verkehrsverstöße ist vor einigen Jahren von 1000 auf 2000 Euro
angehoben werden. Wer vorsätzlich rast oder drängelt, könnte künftig bis zu 2000 Euro zahlen.
Wer mit Alkohol oder Drogen am Steuer erwischt wird, muss sich auf eine Strafe von bis zu
3000 Euro einstellen. "Nur wenn es im Portemonnaie wirklich wehtut, werden Verkehrsrowdys ihr
Verhalten ändern", begründete der ehemalige Verkehrsminister Tiefensee die Maßnahmen.
Warum. so fragen wir uns, haben sich die Wasserrettungsorganisationen in Europa bisher nur
selten für Maßnahmen vergleichbarer Art stark gemacht? Nur in Frankreich und Portugal werden
bisher Strafen bei Verstößen gegen Baderegeln verhängt. Menschen, die Badeverbote
missachten oder unter Alkohol oder Einfluss anderer Drogen schwimmen gehen, gefährden
andere Menschen gleichermaßen, wenn diese retten wollen und - nach Expertenmeinungen in
mindestens zehn Prozent aller Fälle - selber ums Leben kommen.
Bundesländer
In Bayern, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Baden-Württemberg ertrinken die meisten
Menschen, ermittelte die DLRG. Die Gesellschaft listet auch die Ertrinkungszahlen pro 100.000
Einwohner in den deutschen Bundesländern auf, was aussagekräftiger ist. Demnach baden
Menschen in Mecklenburg-Vorpommern am gefährlichsten.
Checkliste für Eltern und Familien
Lassen Sie Kinder nur an offiziellen und bewachten Badestellen schwimmen und erkundigen Sie
sich bei den Wasserrettungsorganisationen nach den Bewachungszeiten. Faustregel: Außerhalb
der Sommerferien können sie nur an Wochenenden mit Bewachung rechnen. In Deutschland sind
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die so genannten "wilden Badestellen" viel riskanter als die Strände an Nord- und Ostsee. Ihre
beiden Augen gehören am und im Wasser immer Ihren Kindern, die Sie nie aus den Augen lassen
dürfen. Ertrinken passiert schnell und leise.
Baden und Schwimmen in Flüssen ist riskant, weil es hier neben unbefestigten Ufern auch
Strömungsgefahren, unerwartete Tiefen, plötzliche Veränderungen der Wassertemperatur und
vorbeifahrende Schiffe geben kann, die riskante Sogwirkungen verursachen. Sprechen Sie mit
Kindern und Jugendlichen darüber und sensibilisieren Sie Ihre Familie.
Sorgen Sie als verantwortungsbewusste Eltern dafür, dass Ihre Kinder ab einem Alter von vier
Jahren Schwimmen lernen. Neben den Schwimmfähigkeiten bekommen Kinder ein natürliches
Verhältnis zum Wasser.
Checkliste für Schwimmer
Baden und schwimmen Sie nur an bewachten Badestellen. Diese sind um ein Vielfaches sicherer
Schwimmen Sie nicht allein. Machen Sie das "Buddy-Prinzip" der Taucher zum Ihrem
Sicherheitsprinzip beim Schwimmen.
Schwimmen Sie nicht zu weit raus und nur in abgeteilten Schwimmbereichen. Schon ein Krampf
kann gefährlich sein, wenn Sie sich nirgendwo festhalten können oder keinen Grund unter den
Füssen haben.
Flüsse, die fast immer unbewachten und gefährlichsten Badestellen in Deutschland, sind
tückisch, weil Sie gegen die Fließgeschwindigkeit auch als guter Schwimmer selten anschwimmen
können und Schiffe ein zusätzliches Risiko darstellen.
Inzwischen ist jeder zweite Ertrunkene in Deutschland älter als 50 Jahre. Passen Sie besonders
auf sich auf, wenn Sie älter oder nicht ganz gesund sind, sich nicht fit fühlen und auch dann,
wenn Sie Alkohol getrunken oder viel gegessen haben.
Springen Sie nie von Brücken, auch wenn es nicht ausdrücklich untersagt ist.
Checkliste für Ersthelfer
Wenn Sie jemanden im Wasser vermissen oder ein Mensch zu ertrinken droht, müssen Sie sofort
die Rettungskette in Gang setzen und dafür sorgen, dass 112 und Wasserrettungsdienst (falls
vor Ort) alarmiert werden. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Ertrinkungsprozesse sind
zeitkritisch. Handeln Sie ruhig, aber verlieren Sie keine Sekunde Zeit. Delegieren Sie die
sofortige Alarmierung an einen anderen Strandbesucher, damit Sie mit anderen Besuchern das
Wasser absuchen können.
Die "fünf Ws" für den Notruf unter 112 lauten: Wo geschah es? Was ist passiert? Wie viele
Verletzte? Welche Art von Verletzungen? Warten auf Rückfragen!
Suchen Sie den Vermissten möglichst nur zusammen mit anderen Besuchern und mit
Auftriebskörpern und Seilen. Denken Sie als Ersthelfer an Ihre Eigensicherung.
Nähern Sie sich dem Verunglückten vorsichtig von hinten. Denken Sie an die Risiken
entstehender Panik bei einem Ertrinkenden, der Sie mit nach unten ziehen kann. Sprechen Sie
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mit ruhigen Worten auf ihn ein.
Verlieren Sie keine Zeit damit, Wasser aus dem Körper des Verunglückten zu entfernen.
Beginnen Sie oder jemand der anderen Strandbesucher sofort mit Wiederbelebung, wenn der
Verunglückte ohne Bewusstsein und ohne Atmung ist: 30 Mal Druckmassage, 2 Mal Beatmung, im
Wechsel. Sie müssen so lange ohne Unterbrechung wiederbeleben, auch durch gegenseitiges
Abwechseln, bis der Rettungsdienst eintrifft oder der Verunglückte das Bewusstsein
wiedererlangt hat.
Costa Blanca
Die Costa Blanca Rundschau (für die spanische Küste zwischen Valencia und Alicante) berichtete
in ihrer Internet-Ausgabe ("Mörderisches Meer") im Juni 2006 – der Hochsommer hatte noch
gar nicht begonnen - über eine große Zahl an Badetoten an Spaniens westlicher Küste. Am Strand
Arenales del Sol bei Elche war gerade ein 71-jähriger Deutscher ertrunken. Die rote Flagge
hatte er ignoriert. Vier Tage zuvor war an gleicher Stelle ein 40-jähriger Ekuatorianer
ertrunken. Zuvor wurde in El Campello ein 20-jähriger Guineaner aufs Meer hinausgezogen. Er
konnte erst mehrere Tage später tot geborgen werden. Tödliche Badeunfälle gab es 2006
außerdem in Torrevieja, Elche, El Campello und Benidorm. In Dénia fand ein Surfer am
vergangenen Wochenende die Leiche eines 34-jährigen Mannes; und auch im nahe gelegenen Oliva
wurde ein 65-Jähriger tot aus dem Wasser geborgen.
Am häufigsten traf es die Gemeinden El Campello, Alicante, Elche, Santa Pola, Guardamar,
Torrevieja und Orihuela - sprich: den gesamten südlichen Teil der Costa Blanca. „Die
neuralgischen Punkte in Elche sind die Strände von La Marina und El Rebollo", warnt RettungsKoordinator Rubén García.
Dänemark
Im August 2005 wurde wie in jedem Jahr über tragische Badeunfälle in Dänemark berichtet, bei
denen Kinder, aber auch Erwachsene ums Leben gekommen sind. Nach Angaben der Behörden
waren 2005 in Dänemark bis zum August bereits 14 Menschen ertrunken - so viele wie im
gesamten Jahr 2004.
Nach jedem der traurigen Todesfälle melden sich Kritiker zu Wort und weisen darauf hin, dass
es an dänischen Stränden unzureichenden Einsatz von Rettungsschwimmern gibt – meist folgten
Reaktionen von Bürgermeistern oder anderen Repräsentanten der Kommunen und Orte, wo
Menschen ertrunken sind, dass auch Rettungsstationen – wahrscheinlich – die Unfälle nicht
hätten verhindern können.
Ganz unrecht hatten die Vertreter der Kommunen sicher nicht, die gerne Badeunfälle vermeiden
möchten, die leider an den lang gestreckten, oft relativ wenig frequentierten jütischen
Westküstenstränden ebenso passieren wie an stark bevölkerten Stränden in der Nähe der
Städte. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Es gibt in Deutschland in fast allen Badeorten an
der Nord- und Ostsee deutlich gekennzeichnete bewachte Badestrände, an denen ausgebildete
Rettungsschwimmer die Badegäste im Auge behalten.
Die bewachten Strandabschnitte erhöhen den Sicherheitsstandard. Doch das kostet Geld. Und
da liegt in Dänemark der Haken – man ist hierzulande stolz und froh darüber, dass der Besuch
der Strände kostenlos ist. In Deutschland müssen die Besucher der Strände Kurtaxe zahlen,
wenn sie den Strand besuchen wollen. Mit den Einnahmen aus der Kurtaxe wird übrigens auch der
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Rettungsdienst finanziert.
Es sieht nicht so aus, als wenn man sich in Dänemark zur Erhebung von Kurtaxe entschließen will.
Doch trotzdem sind Forderungen an die Fremdenverkehrsorte berechtigt, wenigstens die
Information der in- und ausländischen Strandgäste über die Gefahren zu verbessern. Im
Oktober 2005 berichtet der Norddeutsche Rundfunk, dass es weiterhin keine Lebensretter an
der Westküste Dänemarks geben werde. Hier machen jährlich hunderttausende Deutsche
Urlaub. Rettungskräfte waren von verschiedenen Stellen gefordert. Begründung des
Bürgermeisters von Blavandshuk: Lebensretter würden den Urlaubern "nur Sicherheit
vorgaukeln". Im Bericht des Radiosenders wurde weiterhin darauf hingewiesen, dass es
Lebensretter in Dänemark weiterhin nur auf Seeland geben werde. Dort machen vorwiegend
Dänen Urlaub.
In Sandbänken entstehen gelegentlich Löcher oder Rinnen, durch die das Wasser mit einer RipStrömung zurück zum Meer fließt. Dänen nennen diese Stellen „Hestehuller“ (Pferdelöcher).
Diese befinden sich oft auch dort, wo das Wasser ganz ruhig und verlockend wirkt und sind in
unserem nördlichen Nachbarland das größte Risiko beim Badeurlaub. Die Webseite vom
Dänischen Badesicherheitsrat macht diese Gefahr - auch in deutscher Sprache - zum Thema und
gibt wichtige Tipps zur Sicherheit im Sommer und zum Thema Eisgefahren im Winter.
Defibrillator
Ein Defibrillator kann durch gezielte Stromstöße Kammerflimmern bei Herzstillstand beenden.
Defibrillatoren gibt es auf Intensivstationen, in Notarztwagen und Arztpraxen, seit einigen
Jahren auch in vielen öffentlich zugänglichen Gebäuden und Orten für eine Anwendung durch
medizinische Laien.
Das Zeitfenster für die Rettung ist bei einem Kammerflimmern äußerst eng. Ein Wettlauf gegen
die Zeit beginnt. Jede untätige Minute ohne Defibrillation vermindert die Überlebenschancen um
10%. Nach 5 Minuten treten bereits die ersten irreparablen Hirnschäden ein.
In Deutschland dürfte es inzwischen 25.000 “Defis” an öffentlichen Plätzen geben. An
Badestellen gibt es auf jeden Fall zu wenig Geräte, auch an den Stränden der europäischen
Urlaubsländer gibt es eine eindeutige Unterversorgung der auch von Laien zu bedienenden
Lebensretter. Ein Grund ist der Widerstand der ärztlichen Standesorganisationen.
Aus gegebenem Anlass weisen wir aber darauf hin, dass Defis nicht nur angeschafft, auch
gewartet werden müssen. Der Defibrillator, der sein Dasein jahrelang in einem MallorcaRestaurant in Strandnähe fristet und dessen Batteriecheck noch nie durchgeführt wurde, bringt
im Notfall gar nichts.
Weit mehr als 75% der Betroffenen, sagen US-Studien, könnten mit Hilfe eines Defis
schadensfrei gerettet werden. Wäre es deshalb nicht sehr sinnvoll, die Verbreitung dieses
technischen Lebensretters zu forcieren? Die Björn-Steiger-Stiftung, bekannt geworden durch
die Schaffung einer einheitlichen Notrufnummer und Notrufsäulen an Autobahnen, engagiert
sich für dieses Ziel.
Dunkelziffer
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Fast unmöglich ist es, die Zahl der Ertrinkungsopfer in europäischen Ländern zu ermitteln. Die
Weltgesundheitsorganisation sprechen von jährlich zwischen 35.000 und 40.000 Opfern in
Europa, das sind statistisch gesehen 100 Menschen, die jeden Tag im Wasser ums Leben kommen.
Völlig ausgeschlossen ist es, festzustellen, wieviel Fast-Unfälle passieren. Etwas besser
einzuschätzen ist der Anteil der Menschen, die meist durch unprofessionelles Verhalten bei
einem Rettungsversuch im Wasser ertrinken. Vermutlich jeder zehnte Laienretter kommt dabei
ums Leben.
England
In England ist eine insgesamt gute Bewachungsqualität durch die "Royal Life Saving Society"
gewährleistet, die die Präsenz von Rettungsdiensten und die Ausstattung mit modernem
Rettungsmaterial mit großem Engagement betreibt.
Erste Hilfe
Jeden Tag benötigen in Deutschland weit mehr als eintausend Verkehrsunfallopfer dringend
medizinische Hilfe. Der Notarzt aber ist in Ballungsräumen bestenfalls in sieben, acht Minuten,
bei Unfällen in ländlichen Gebieten meist erst nach einer knappen Viertelstunde vor Ort. Bis
dahin sind die Menschen am Unfallort auf sich selbst angewiesen: auf die Hilfe von unverletzten
Mitreisenden oder zufällig vorbeikommenden Passanten. Und die sind in der Regel hoffnungslos
überfordert mit der Situation. "Wir sehen es einfach zu selten, dass die Menschen vor Ort mehr
machen als Händchenhalten. Das ist zwar besser als nichts, aber wir würden uns doch deutlich
mehr wünschen", sagt Jörg Benecker, Notarzt am Unfallkrankenhaus Berlin. "Wenn wir
eintreffen, ist bis dahin wenig passiert. Die Leute stehen hauptsächlich aufgeregt herum."
Jörg Benecker hat eine Checkliste für Ersthelfer am Unfallort erarbeitet - keinesfalls als
Ersatz für den Erste-Hilfe-Kurs gedacht, den jeder in gewissem Abstand wiederholen sollte. Und
auch nicht mit dem Anspruch der Vollständigkeit für jede mögliche Facette eines
Unfallgeschehens. Wer aber wenige, entscheidende Dinge beherzigt und den gesunden
Menschenverstand anwendet, kann viel bewirken:
1. Eigensicherung
Wird oft nicht beachtet und führt schnell zu Folgeunfällen, gerade in der dunklen Jahreszeit mit
schlechten Sicht- und Straßenverhältnissen. Das eigene Auto mit ausreichend Abstand vor der
Unfallstelle abstellen, Warnblinkanlage einschalten und das Warndreieck aufstellen - auf
Autobahnen mindestens 100 Meter entfernt.
2. Überblick verschaffen
Wie viele Menschen sind verletzt? Sind weitere Helfer in der Nähe? Droht ein Auto zum Beispiel
an einer Böschung abzustürzen? Rettungsdienst alarmieren.
3. Wärme spenden
Unfallopfer kühlen schnell aus, Körpertemperatur und Überlebenschance aber hängen eng
zusammen. Wer auskühlt, blutet mehr, erleidet im weiteren Verlauf schneller Lungen- und
Nierenversagen, lässt sich wegen der größeren Gerinnungsstörung des Blutes schlechter
operieren. Also: Verletzte nicht ausziehen, sondern mit zusätzlicher Jacke oder einer Wolldecke
warm halten.
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4. Psychische Betreuung
Händchenhalten und beruhigendes Reden sind wichtig. Unfallopfer müssen das Gefühl haben,
nicht allein zu sein. Sonst können sich zum Beispiel eventuelle Schockzustände verschlimmern.
5. Stabile Seitenlage
Ist jemand bewusstlos, aber Atmung und Kreislauf sind eindeutig vorhanden (das heißt: jemand
redet zwar nicht, stöhnt aber vielleicht und atmet vernünftig), dann sollte man diesen Menschen
in die stabile Seitenlage bringen.
6. Wiederbelebung
Sind Atmung und Kreislauf nicht vorhanden, müssen Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet
werden. Das ist praktisch nur im Erste Hilfe-Kurs zu erlernen.
7. Rettung aus dem Auto
Zunächst: Das Auto brennt nicht, es läuft kein Benzin aus, das Auto steht sicher (hängt also
nicht über die Leitplanke) und die Insassen sind eingeklemmt, aber bei Bewusstsein. Alles so
belassen, Wärme spenden, Wunden versorgen. Läuft Benzin aus, brennt das Auto oder muss ein
Insasse wiederbelebt werden: Menschen aus dem Fahrzeug transportieren. Vorsicht vor nicht
ausgelösten Airbags: Hängt der Airbag auf einer Seite aus dem Lenkrad oder Armaturenbrett
und auf der anderen Seite nicht, kann dieser bei leichten Berührungen nachträglich auslösen.
Daher möglichst von der Seite an den verletzten Insassen heran, auf der der Airbag bereits
ausgelöst hat. Zur Not Scheibe einschlagen - aber nicht direkt neben dem Gesicht der Insassen.
Und: Zündschlüssel herumdrehen und Motor abstellen. Ganz wichtig: Keine Angst vor
Explosionen. Autos explodieren im Allgemeinen nicht, die Tanks sind heute gut gedämmt und
haben Überdruckventile.
8. Wunden versorgen
Kopfplatzwunden und Schnittwunden sind mit die häufigsten Verletzungen bei Autounfällen.
Verbandskasten öffnen, Aidshandschuhe überziehen, Verbandspäckchen aufreißen, komplett auf
die Wunde drücken und warten, bis die Profis in wenigen Minuten vor Ort sind. Es macht keinen
Sinn, sich mühsam an kunstvolle Kornährenverbände aus dem Erste-Hilfe-Kurs erinnern zu wollen.
9. Motorradhelm abnehmen
Ist ein verunglückter Motorradfahrer wach und klar, wird er sich den Helm selber abnehmen. Ist
er bewusstlos und es ist nicht klar festzustellen, ob er noch atmet, dann muss der Helm runter:
Mit Helm kann niemand beatmet werden. Und sollte sich das benommene Unfallopfer erbrechen,
droht die Gefahr der Erstickung.
10. Schock
Wenn jemand anfängt wegzutreten: Füße hoch. Egal, ob der Kreislauf nur wegen des erlittenen
Schrecks oder auf Grund von Blutverlust absackt. So wird eine ausreichende Versorgung der
lebenswichtigen Organe - Herz, Hirn - mit Blut sichergestellt. Typische Kennzeichen sind: Angst,
Haut blass, kalt und schweißnass, Zittern, später Teilnahmslosigkeit.
Erste Hilfe- Kurse
Jeder Sekunde zählt, wenn es um den Ernstfall geht. Auf der Landstrasse, im Haushalt, am
Strand. 80 Prozent aller Deutschen haben mal einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert, im Schnitt ist
das aber 15 Jahre her. Fazit: Nur jeder Zehnte kennt sich in Deutschland mit Erster Hilfe aus.
Um diese Zahl nach unten zu bekommen, ist ein Abschied von der "10 Doppelstunden“ - Strategie
eine wichtige Voraussetzung. Begünstigt wird dieser Trend durch das erklärte Ziel,
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Rettungsmaßnahmen so einfach wie möglich zu gestalten und dadurch wertvolle Zeit zu sparen.
Wir möchten Ihnen deshalb die von deutschen Hilfsorganisationen, zum Beispiel von ASB,
Deutsches Rotes Kreuz, Malteser, DLRG und Johanniter angebotenen Auffrischungskurse "Fit in
Erster Hilfe", Zeitbedarf 1 bis 2 Stunden.
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Eva Schabedoth
Never trust the sea
Meine Freunde und ich machen sehr häufig in der Bretagne Urlaub, und was wir dort jedes Jahr
an Idiotie erleben, ist einfach unfassbar.
Da schwimmen Leute in felsigen Buchten mit extrem heftiger Brandung und bei starkem
auflandigen Wind außerhalb der engen, markierten und bewachten Zone und müssen von den
bedauernswerten Bewachern buchstäblich einzeln aus dem Wasser gefischt werden - nicht
einmal, sondern fortwährend.
Auch gern gesehen: bei schnell abfließendem Wasser kilometerweit vom Ufer entfernt lustig in
Prielen rum plantschen und sich dann wundern, dass man nicht mehr herauskommt.
Überhaupt scheinen wir regelmäßig die einzigen zu sein, die sich vor dem Baden einen
Tidenkalender besorgen und örtliche Ausgänge zur Strömungssituation an den Stränden zur
Kenntnis nehmen - und wir sind allesamt das, was man gute bis sehr gute Schwimmer nennt...
Allerdings muss ich zugeben, dass zumindest in meinem Falle ein entsprechendes Erlebnis in
meiner Studentenzeit ausschlaggebend für ein verantwortlicheres Verhalten gewesen ist: eine
sonnige, sehr friedlich aussehende, kleine Bucht unweit von Cap Fréhel, nur sanfte Wellen, kein
nennenswerter Wind.
Ich schwamm drauflos, bevor ich merkte, dass eine sehr kräftige Strömung mich ernsthaft an
der Rückkehr zum Ufer hinderte. Zum Glück hatte ich irgendwann mal einen entsprechenden
DLRG-Lehrgang mitgemacht. Ich geriet nicht in Panik, sondern habe es in mühsamer, fast eine
ganze Stunde dauernder "Kleinarbeit" geschafft, wieder zurückzukommen. Das war mir fortan
eine Lehre: never trust the sea - auch wenn sie vollkommen harmlos aussieht.
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Heinz Kirchner
Schutzengel
Ende Juli 2008 war ich (57 und sportlich) mit meiner Frau auf Usedom, gerade als die Tage so
heiß waren. Wir sind jeden Tag in Bansin am FKK-Strand gewesen. Kann sein, dass es dort war, wo
der Junge ertrunken ist, aber der Strand ist ja lang, vielleicht war das auch woanders.
Jedenfalls ist der dortige FKK-Strandabschnitt nicht bewacht. Obwohl dort Hunderte Menschen
– viele Familien - baden. Bewacht wird nur Textil, ist mir auch schon andernorts aufgefallen. In
diesem Strandabschnitt steht allerdings eine Notrufsäule.
An allen Tagen dieser 30. Kalenderwoche stand der Wind auflandig, schöne Wellen, warmes
Wasser. Phantastisch. Eine etwa 30 Meter vorgelagerte Sandbank mit hüfttiefem Wasser gibt
dort Sicherheit. Auch dahinter geht’s nicht gleich steil in tieferes Wasser. Alles easy also. Nix
da. Wohl eine Viertelstunde im Wasser. Plötzlich Waschmaschine, direkt hinter der Sandbank.
Ich werde in die Wellen gezogen, der Grund ist weg, bekomme ein ganz seltsames Gefühl, obwohl
ich wirklich gut schwimme und tauche. Ich merke, dass ich mit Schwimmbewegungen gar nicht
mehr gegen an komme und bekomme Schiss, keine Panik, noch nicht. Meine Frau ist noch auf der
Sandbank. Ich rufe ihr zu, sie solle zurückgehen, hier werde es kritisch. Sie hörts nicht, die
Wellen sind zu laut. Im nächsten Moment wird sie schon von der Sandbank gespült, in meine
Richtung, ist aber nicht irritiert, hat immer noch Spaß. Mir gelingt es, zu ihr hin zu kommen, sie
zu packen und Richtung Sandbank zu schieben. Das ist so unglaublich schwer, weil man ja keinen
Widerstand hat. Nach mehrmaligen Versuchen hat sie wieder Boden unter den Füßen, geht etwas
zurück und beobachtet mich. Ich selbst nutze jede Wellenaufwärtsbewegung zum Paddeln und
Absurfen. Das geht unheimlich in die Arme. Dann bin ich auch wieder auf der Sandbank. Habe
wohl Glück gehabt, dass ich aus dieser Stelle getrieben wurde.
Ganz eigenartig dabei: Man sieht den Strand, die Leute, alle toben und juchzen. Alles total
normal. Keiner bemerkt Dich und Du bist am Kämpfen und denkst, das kann es jetzt gewesen sein.
Wir verließen dann das Wasser und ich sagte einem Mann, der direkt am Strand vor mir stand, er
solle seine Kinder, die vielleicht 20 Meter von mir entfernt im Wasser tobten, weiter
zurückholen, wir hätten grad große Probleme gehabt. Er schaute mich ungläubig an und ging dann
zu ihnen, holte sie aber nicht zurück.
Die DLRG-Fahne (wohl 500 Meter entfernt) war übrigens Gelb-Rot.
Ich glaube, es war dort nur eine Stelle, die nur einen Moment kritisch wurde. Aber das kann ja
reichen. Ich habe mich hinterher gefragt, ob ich mir das nur eingebildet habe, ob ich nur eine zu
große Fantasie gehabt habe. Zumal meine Frau es nicht so dramatisch empfunden hat wie ich.
Wie auch immer, vergessen werde ich das so schnell nicht. Den nächsten Tag haben wir an einer
anderen Stelle gebadet und sind nur vor der Sandbank geblieben, obwohl die Wellen längst nicht
mehr so wuchtig waren.
Ach ja: Meine Frau hatte vor vielen Jahren mal bei Hvide Sande in Dänemark eine ähnliche
Situation: der Kies unter ihren Füßen im flachen Wasser – eigentlich sogar ganz am Rand - wurde
weggesogen, sie landete dann von der nächsten Welle auf dem Hintern und wurde ins Wasser
gezogen, der Badeanzug füllte sich mit Kies und zog sie – ganz schwer jetzt – runter. Ich konnte
sie grad noch packen und sie sich vom Kies befreien.
Es passiert eben nicht nur anderen was. Ganz ohne Schutzengel geht’s wohl generell nicht.
90
Thomas Birker
Ein müdes Danke. Das war´s
Vor einigen Jahren habe ich am „Piratabus“ auf Formentera einer Mutter von zwei Kindern das
Leben gerettet und wäre fast noch mit abgesoffen. Sie trieb etwa 300 Meter entfernt vom
Strand und schrie um Hilfe.
Kein Schwein, und das sage ich auch in Bezug auf die Strandaufsicht, auch nicht die anderen
Gäste, haben darauf reagiert. Ich war in Ihrer Nähe, aber außerhalb der Strömung und bin
direkt los.
Gott sei Dank ist keiner von uns in Panik geraten. Wir haben aber gemerkt, wie die Strömung uns
an den Füssen nach hinten zog und dass wir gar nichts mehr machen können. Ich habe nur noch
gedacht: "Scheiße, was passiert denn jetzt, war´s das?".
So etwa 300 Meter sind wir parallel den Strand entlang getrieben, bis meine Zehenspitzen auf
einen Sandbank hängen geblieben sind. So konnte ich Kraft tanken, das hat uns das Leben
gerettet.
Ihr Mann stand dann am Strand, hat auf uns gewartet und, anstatt uns entgegen zu kommen und
seiner entkräfteten Frau zu helfen, hat er sie erst mal kräftig zusammengeschissen. Ein müdes
Danke. Das war´s.
Ich saß da erst mal 2 Stunden alleine mit meinen Gedanken, bis meine Freunde auftauchten.
Stinksauer war ich dann und habe die Frau gefragt, ob alles in Ordnung wäre, ihren Mann, ob er
uns nicht gesehen und warum er uns nicht geholfen hätte? "Ja“, aber blablabla.... Sie saßen
später noch am Piratabus, aber, noch mal darauf angesprochen, geschweige denn mal ein Bier
ausgegeben, is´ nicht.
Die Geschichte kennen nur meine besten Freunde, noch nicht mal meine Eltern.
Später erfuhr ich noch, dass die Frau gar nicht mehr wusste, wie sie aus dem Wasser gekommen
ist.
Ich weiß aber noch alles.
91
Wilfried Wittstruck
„All inclusive!?“
„And let yourself be pampered“ – mit dieser Verlockung treten nicht
wenige Reiseveranstalter und Hoteliers an ihre Kunden heran. Und
gerade dieses Umsorgtwerden von der Ankunft am Urlaubsort ab an bis
zur Abreise ist es, was viele Reisende schätzen und nach ihrer Rückkehr
begeistert erwähnen. Wer wollte solchen Verwöhnangeboten denn auch
widerstehen und warum sollte das, was einschränkungslos als perfekt
erlebt, überhaupt kritisch gesehen werden?
Unter bestimmten Voraussetzungen könnten allerdings die Urlauber,
ohne dass sie selbst es beabsichtigten und auch der Reiseveranstalter
nicht, den Urlaub zu einem „riskanten“ Unternehmen gemacht haben.
Und zwar dann, wenn sie es zuließen, dass ein „All inclusive“-Urlaub bei
ihnen die Erwartung beförderte, rundum, gleichsam in Gänze ver- und
umsorgt, beobachtet, geradezu „bewacht“ zu werden.
Eine These: Wenn hohe Produktqualität und -sicherheit gewährleistet und entsprechend
beworben werden, kann sich entsprechend die Kundenaufmerksamkeit, d.h. die
Selbstaufmerksamkeit reduzieren.
Es wird, weil Menschen Menschen sind, nicht auszuschließen sein, dass sich eine Steigerung des
Vertrauens zu dem Abstraktum „All inclusive“ dermaßen einstellt, dass Gefahren sogar in
Bereichen außerhalb der vertraglich abgesicherten deshalb ausgeblendet werden, weil sie
stillschweigend als durch Dritte beherrscht unterstellt werden. Denn wenn – wie im Prospekt
versprochen – Bett und Büffet einwandfrei, sogar herausragend sind, liegt der Gedanke nicht
fern, es müsste gleich der ganze Urlaubsort einschließlich angrenzender Berge, Meere und Seen,
Wälder und Wüsten ein recht üppiges, im Reisepreis inkludiertes Wohlfühlarrangement sein –
was allenfalls ein bisschen Magendrücken bei übermäßigem Genuss verursachen könnte.
Welcher Urlauber möchte, umschmeichelt und eingehüllt von „Wellness“ und „Fitness“ in
tatsächlichem und übertragenem Sinn, noch von Gefahr für Leib und Leben reden und hören?
Schnell wird dann wirksam, was mit Subjektivität der Weltbetrachtung gemeint ist: Der Mensch
hört und sieht, was er sehen und hören will. Und ohne es zu wollen oder so zu wollen, hat er die
Bedeutung des Begriffs „All inclusive“ überdehnt.
Das Ganze ist natürlich in erster Linie ein psychologischer Effekt: Ich gebe, indem ich
„überschüssiges“ Vertrauen erzeuge, mehr Verantwortung an einen Anderen ab, als diesem recht
ist und recht sein kann. Nicht auszuschließen ist, dass so die ganz natürliche Umsicht, die im
Alltag präsent ist und dort als Wahrnehmung der eigenen Obliegenheiten verstanden wird, im
Urlaub mindestens partiell und zeitweise verloren geht. Ob hier vom Verlust von SelbstAchtsamkeit gesprochen werden kann? Das moderne Individuum ist eigentlich eines, das sein
Glück auch auf Machens-, mitunter auf Selbstmächtigkeitserfahrungen gründet. Warum sich also
im Urlaub freiwillig und umfänglich in einen anderen Zustand begeben und zu viel Sorge um
eigenes Wohlergehen abgeben? Und: Wenn Bertolt Brecht gar das Achtgeben auf einzelne
Regentropfen empfiehlt, um wieviel mehr müsste ein Ozean dazu veranlassen?
92
Jo-Ann Hüls
Mein zweiter Geburtstag
17. Juli 1981. Diesen Tag werde ich nie mehr in meinem Leben
vergessen. Unser allererster Familienurlaub auf Formentera im
Sommer dieses Jahres wäre beinahe mein allerletzter Urlaub
geworden.
Wir freuten uns so sehr darauf, mein Mann, unsere kleine
Tochter, damals noch ein Kindergartenkind, meine
Schwiegermutter und ich.
Mit einem Mietauto fuhren wir an die Cala Mitjorn, um dort zu
baden. Das Wetter war herrlich warm. Es wehte ein leichter angenehmer Wind, blauer
wolkenloser Himmel. Ein Traumtag.
Der Strand war unbewacht. Es weht keine Flagge und es deutete nichts darauf hin, dass es hier
gefährlich sein könnte. Wir dachten darüber auch gar nicht nach.
Zunächst gingen mein Mann, unsere Tochter, meine Schwiegermutter und ich ins knieseichte
Wasser und machten Wellenhüpfen - das war herrlich. Ich konnte gar nicht genug davon
bekommen. Während meine Familie zu unserem Rastplatz am Strand zurückging, hüpfte ich mit
großem Vergnügen weiter zwischen den Wellen hin und her.
Plötzlich hatte ich keinen Boden mehr unter meinen Füssen und wurde ins Meer hinausgetrieben.
Ich versuchte, an den Strand zurück zu schwimmen. Es gelang mir nicht.
Jede Welle trug mich einen Meter in Richtung Strand und gleich wieder drei Meter in Richtung
Meer hinaus. Ich konnte nicht tauchen. Ich hatte Angst. Einige Männer, die in der Nähe
Wasserball spielten, entdeckten mich in meiner ausweglosen Situation. Einer schwamm auf mich
zu. Er tauchte durch die Wellen. Ich umklammerte ihn voller Panik. Wir gingen beide unter und er
bekam Angst und warf mich in hohem Bogen in Richtung Strand.
Dabei löste sich mein Bikinioberteil - das sah mein Mann, der mich vom Strand aus beobachtete.
Er dachte, der Mann hätte mich belästigt, rannte ins Wasser und schwamm so schnell er konnte,
auf mich zu - er tauchte auch. Mein Mann war als Rettungsschwimmer ausgebildet - er konnte
sehr gut schwimmen und tauchen.
Ich kämpfte gegen die Wellen, versuchte, in Richtung Strand zu schwimmen, wusste nicht mehr,
atme ich Luft oder schlucke ich Wasser, sah den Himmel und sah die Wellen.
Ich wurde durcheinander gewirbelt von jeder Welle.
Wenn ich oben auf dem Wasser war, sah ich meine Tochter und meine Schwiegermutter am
Strand liegen. Mein Leben lief ab wie ein Kurzfilm. „Ich ertrinke und niemand merkt es.“ dachte
ich.
Inzwischen war mein Mann bei mir angelangt. Er erzählte mir später, ich hätte aschgrau
ausgesehen mit weit aufgerissenen Augen. Todesangst.
93
Mein Mann versuchte, mit mir in Richtung Land zu schwimmen.
Wir schafften es nicht.
Am Strand entdeckte ein aufmerksamer Beobachter unsere aussichtslose Situation und er ließ
16 (!!) Personen eine Kette bilden: Alle hielten sich an den Händen fest. Und so wurden wir an
Land geschleust.
Ich habe diesen Moment nicht bewusst erlebt. Ich war bewusstlos: Aber ich lebte. Mein Mann
machte sofort Wiederbelebungsversuche. Es kam sehr viel Wasser aus meinem Mund.
Ich lebte, konnte es kaum fassen, war gerettet, weinte vor Glück, Erschöpfung,
Fassungslosigkeit, Dankbarkeit. Mein Mann weinte auch.
Abends dann ins Es Pujols, dort wohnten wir in der kleinen einheimischen Bar „Tres Ermanos“,
sprachen wir darüber. Die Inhaber dieser kleinen Bar, die „drei Brüder“ waren Fischer und
kannten die Situation. Wussten auch, dass jedes Jahr viele an diesem Strand den Tod des
Ertrinkens sterben.
An die Öffentlichkeit gelangte von all dem nichts.
Meine nächtlichen Albträume dauerten viele, viele Wochen. Ich träumte oft von über mir
zusammenschlagenden Wellen, ertrank fast jede Nacht beinahe im Traum und wachte
schweißgebadet, nach Luft ringend und zitternd auf.
Der 17. Juli wird jedes Jahr gefeiert - als zweiter Geburtstag. Ich bin meinem Mann und den 16
Menschen, die die lebensrettende Kette bildeten und deren Namen ich leider nicht kenne,
unendlich dankbar.
Mittlerweile sind Jahrzehnte vergangen. Ich bin seit dieser Zeit nie mehr im Meer
geschwommen, lediglich am Strand entlang gelaufen.
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Tipps von „Ersthelfer“ bis „Griechenland“
Ersthelfer
Sie geraten zufällig in eine Notfallsituation – und schon sind Sie Ersthelfer oder „First
Responder“. Wenn Sie jetzt panisch reagieren, sind lebensgefährdende Fehler vorprogrammiert.
Wenn Sie stattdessen besonnen, zügig und planvoll handeln, ist die erste Voraussetzung für
professionelle Hilfe schon gegeben.
Wenn Sie also etwa als Ersthelfer in einen Verkehrsunfall verwickelt werden, sollten Sie für die
Absicherung der Unfallstelle sorgen und andere Personen mit einsetzen, ohne ihr eigenes Leben
zu gefährden. Wenn jemand zu ertrinken droht, sollten Sie mit anderen Menschen eine so
genannte Rettungskette bilden, einen Notdienst alarmieren und erst dann helfen, wenn Sie sich
dies zutrauen und mit den nötigen Rettungsmitteln ausgerüstet sind.
Der Hauptgrund für die sofort notwendige Alarmierung ist ein drohender Herzstillstand: Man
geht davon aus, dass mit jeder Minute, in der ein Herzstillstand nicht behandelt wird, die
Chancen für eine erfolgreiche Reanimation um 10% sinken, nach ca. 10 Minuten besteht daher
kaum noch Hoffnung, den Patienten erfolgreich zu reanimieren. Bei einer Verzögerung von
Eintreten des Ereignisses bis zum Notruf von mindestens 2 Minuten, der Dauer für die
Einsatzdisposition und den Alarm plus die Anfahrtszeit kommt man da leicht in Bereich von nicht
weniger als 7 Minuten (vor allem im ländlichen Raum kommt man sogar häufig auf eine
Anfahrtszeit von über 10 Minuten). Das bedeutet eine Überlebenschance des Patienten von nur
30% (vorausgesetzt, es werden keinerlei Erstmaßnahmen vorgenommen), obwohl die gesetzliche
Hilfsfrist eingehalten wurde. Eine Reanimation kann daher oft schon nach 5 Minuten eingeleitet
werden. Im Endeffekt also eine größere Überlebenschance von 20% - wenn nicht sogar noch
höher.
Europäische Union
Informationen über Wassergefahren, Warnflaggensysteme an Europas Badestränden spielt
bisher bei der Europäischen Union (EU) eine untergeordnete Rolle. Die Bremer
Europaabgeordnete Karin Jöns setzt sich auf Anregung von Blausand.de seit Jahren für mehr
Strandsicherheit in Europa ein und hat 2005 eine Anfrage bei der Europäischen Kommission
gestellt.
Marcos Kyprianou (zypriotischer EU-Kommissar) antwortete im Namen der Kommission, dass der
Kommission die Bedeutung angemessener Maßnahmen zur Verhütung des Ertrinkens in
Badegewässern bewusst sei, diese Angelegenheit jedoch in erster Linie in der Zuständigkeit der
Mitgliedstaaten auf der betreffenden Ebene liege und schrieb: “Gegenwärtig erhebt die
Europäische Kommission keine systematischen EU-weiten Informationen über das Risiko zu
ertrinken, entsprechende Risikobewertung und Präventivmaßahmen. Allerdings werden der
Öffentlichkeit einige Informationen von verschiedenen Arten von Organisationen, vor allem von
Nichtregierungsorganisationen wie Blausand.de und einigen einzelstaatlichen
Lebensrettungsorganisationen zur Verfügung gestellt. Die Kommission plant zurzeit, Initiativen
zu ergreifen, um die Wissensgrundlage in Bezug auf Produkt- und Dienstleistungssicherheit zu
verbessern. Solche Initiativen können auch dazu beitragen, die statistischen Informationen der
EU über das Ertrinken zu verbessern.”
Fähren
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Mein Gefühl auf Überfahrten vom Festland auf Inseln war oft: besser nicht so genau hinschauen.
Es ist zum Glück immer gut gegangen. Die Zahl der Seelenverkäufer im Mittelmeer scheint sich
inzwischen allerdings eher etwas zu reduzieren. Vielleicht zeigt die Kritik der ADAC-Tester in
den letzten Jahren Wirkung. Das Reisen mit einer Fähre in Europa wird sicherer. Das ist die
erfreuliche Botschaft, die das Ergebnis des Tests 2006 ergeben hat. Von den 30 getesteten RoRo-Passagierfähren fiel nur eine mit der Note mangelhaft durch. Eine Tendenz, die sich bereits
in den Vorjahren angedeutet hat.
Flüsse
Ob Rhein, Mosel, Weser oder Elbe: die Gefahren sind weitestgehend die gleichen. Und die
Unfälle häufen sich: Von mindestens 606 Ertrinkungsopfern im Jahr 2006 ertranken nach Zahlen
der DLRG allein 227 Menschen in Flüssen. Damit sind die fließenden Gewässer in Deutschland
nach Seen und Teichen die zweitgefährlichsten Unfallorte für den Badespass.
Geschwindigkeit und Kraft der Strömung im Fluss hängen wesentlich vom Wasserstand, aber
auch vom Flusslauf ab. Hohe Pegelstände bedeuten eine hohe Fließgeschwindigkeit. Im Rhein
beispielsweise stemmt sich auch ein kräftiger Erwachsener nicht mehr gegen die starke
Strömung, wenn er in brusttiefem Wasser steht. Und das gilt schon für normalen Wasserstand!
In Kurven drängt die Strömung nach außen. Schwimmer dürfen die Strömung nie unterschätzen!
Wer von ihr abgetrieben wird, sollte auf direktem Weg das ihm nahe Ufer anschwimmen.
Gegen den Strom zurück zu schwimmen gelingt vor allem in den großen Flüssen auch trainierten
Schwimmern nicht. Der Kraft raubende Versuch wird bei Erschöpfung schnell lebensbedrohlich.
Unzählige Berufs- und Frachtschiffe befahren die großen Binnenwasserstraßen. Die Fahrrinne
wird durch grüne und rote Bojen markiert, und muss nicht immer unbedingt durch die Flussmitte
verlaufen. Diese Fahrrinne ist aufgrund sehr hoher Gefahr für Schwimmer absolut tabu!
"Dickschiffe" erzeugen einen starken Sog, der Menschen unerbittlich unter das Schiff, oder in
die Schiffschraube zieht. Frachtschiffe können nicht, wie ein PKW, auf wenigen Metern eine
Vollbremsung machen. Bis zum Stillstand legt das Schiff bis zu einem Kilometer zurück. Dann
sind im Sommer zahlreiche Sportboote und Yachten unterwegs, die von mal mehr, mal weniger
erfahrenen Freizeitkapitänen gesteuert werden.
Manchmal ist es mit deren Fähigkeiten und Vernunft schlecht bestellt. Statt in Fahrtrichtung zu
blicken, wird am Bordradio hantiert oder der Bootsfahrer ist sonst irgendwie abgelenkt. Schon
wird ein Schwimmer übersehen. Wo reger Sportbootverkehr herrscht, ist also besondere
Vorsicht wichtig. Schwimmer sollten immer mit Fehlverhalten von Sportbootfahrern rechnen.
Frankreich
In Frankreich gibt es vor allem Gefahren durch starke Atlantikwellen und besonders durch
Strömungen. Besonders riskant sind die Strömungsgefahren in den Prielen. Hier kommen die
meisten Menschen ums Leben. Der rauhe Atlantik vermittelt vielen Urlaubern mehr Respekt vor
den Gefahren als das Mittelmeer. In Frankreich besteht ein gutes Ausbildungsniveau der
staatlichen Rettungsschwimmer. Es werden professionelle Rettungsmittel eingesetzt. Die
Rettung aus der Luft ist an der Atlantikküste gut ausgebaut. Die Warnhinweise an der
Atlantikküste sind ebenfalls als gut zu bezeichnen. Frankreich hat sich auf die Wassergefahren
durch Wind und Wellen eingestellt.
Allgemeine Risiken: In der Vergangenheit gab es Aktivitäten organisierter Banden, teilweise mit
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Betäubungsgas. Gewarnt wird vor Übernachtungen auf Rastplätzen an französischen Autobahnen
- insbesondere in der Nord-Süd Richtung Südfrankreich-Spanien. Auf Korsika ist nach
Aufhebung der Waffenruhe der korsischen Separatisten die Zahl der Sprengstoffanschläge
gestiegen. Im Notfall: Deutsche Botschaft, Paris, Tel. (01) 53834500, europaweite
Notrufnummer: 112 (Handy und Festnetz), oder national: Polizei 17, Unfallrettung 15.
Fuerteventura, Spanien
An der Nordküste bei Corralejo werden Schwimmer oft von Surfern aus bedrohlichen
Situationen gerettet. Agualique ist riskant, eine Küste, vor der selbst die Einwohner von
Fuerteventura großen Respekt haben. Hier prallen die Wellen mit großer Kraft auf die felsige
Küste. Jedes Jahr sterben hier selbst erfahrene Personen wie beispielsweise Fischer.
Gartenteiche
Nahezu jeder Gartenteich ist gefährlich für Babys und Kleinkinder. Sie können schon in einer
Wasserhöhe von nur zwanzig oder dreißig Zentimetern ertrinken, auch wenn sie in dieser
Wasserhöhe längst stehen könnten. Nicht nur Kinder im Krabbelalter sind davon betroffen, auch
Vierjährige sind schon im flachen Gartenteich ertrunken. Das plötzliche Eintauchen selbst in
flaches Wasser löst bei den Kindern meistens eine Schockreaktion aus. Die Stimmritze im
Rachenraum schließt sich, die Atmung wird dadurch unmöglich, das Kind erstickt im Wasser.
Mediziner sprechen vom so genannten "trockenen Ertrinken".
Deshalb gilt: Gartenteich, Regentonne und Planschbecken stellen für Kinder eine enorme
Gefahrenquelle dar. Ertrinken ist die zweithäufigste Unfallart bei Kindern. Viele Eltern und
Gartenteichbesitzer sind sich dieser Problematik nicht bewusst, weil sie davon ausgehen, dass
ein dreijähriges Kind in einem Wasser, das ihm nur bis zu den Knien geht, nicht ertrinken könne.
Das aber ist leider doch der Fall und kommt immer wieder vor! Die Folgen eines solchen Unfalles
können binnen weniger Minuten dramatische Formen annehmen.
"Einmal untergetaucht, sind Kleinkinder infolge ihres schweren Kopfes und der noch ungeübten
Muskulatur auch bei geringer Wassertiefe nicht mehr in der Lage, ihren Kopf eigenständig aus
dem Wasser zu ziehen. Sie gehen hilflos unter. Meist passieren derart tragische Unfälle bei
Stürzen in Biotope oder beim Baden, wenn die Kleinen auch nur wenige Minuten unbeaufsichtigt
sind", weiß Rupert Kisser, Leiter des Institutes "Sicher Leben". Eine der wichtigsten Maßnahmen,
um vor allem Kleinkinder vor den Gefahren offenen Wassers zu schützen, ist die richtige
Absicherung. Auch scheinbar harmlose Biotope bergen Gefahren.
Ein Kleinkind kann schon bei einer Wassertiefe von nur 10 cm ertrinken.
"Damit die Kleinen gar nicht erst auf die Idee kommen können, ins glitzernde Nass zu tapsen,
gehören Schwimmbäder und Biotope hinter einen ausreichend hohen Zaun. Beim Biotop besteht
durch die vielen Pflanzen und Tiere eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass Kinder beim Schauen
das Gleichgewicht verlieren und hineinfallen", warnt ein Experte und klärt über die Sicherung von
Pool, Badeteich und Biotop auf, die in einer stabilen Abdeckung oder einem Unterwassergitter
(engmaschiges Eisengitter 10 cm unter der Wasseroberfläche) besteht. Kleinkinder dürfen in
der Nähe von Gewässern nie unbeaufsichtigt gelassen werden.
Kinder strampeln nicht, sondern fallen in eine Panikstarre, sobald der Kopf unter Wasser ist.
Ertrinken ist leise und geht schnell. Bei einem Badeunfall entscheiden wenige Minuten über
Leben, Wachkoma und Tod.
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Gewitter
Es gibt bei drohendem Gewitter und bei Blitzen noch weitere Möglichkeiten, sein Leben zu
schützen als sich von Bäumen (egal ob Buche oder Eiche) fernzuhalten: Nie aufrecht stehen,
besser mit geschlossenen Beinen in hockender Stellung verweilen. Gehen Sie weg von Gewässern
und hohen Standorten wie Bergen, meiden Sie Metall (Sportgeräte, Regenschirme, Handys),
suchen Sie eine Hütte, ein Haus oder ein Auto auf (Faradayscher Käfig, der elektrische Felder
und Wellen ablenkt), halten Sie zu Metallzäunen und Wäldern 3 Meter Abstand ein, setzen Sie
sich nicht mit anderen Personen zusammen und zählen Sie die Sekunden zwischen Blitz und
Donner und teilen Sie diese durch 3 (20 Sekunden sind 6,7 km). Lebensgefahr besteht bei 10
Sekunden und weniger. Baden und Schwimmen und Duschen am Strand sind natürlich auch ein
Tabu.
Gran Canaria
Die Urlauberinsel Gran Canaria ist geprägt von Traumstränden unterschiedlicher Art: von keinen
Badebuchten, die man nur mit dem Schiff oder anstrengende Fußwege erreichen kann (Playa de
Güigüi im Westen) bis hin zum endlos langen Strand an der größten Sandfläche der Insel (Dunas
de Maspalomas und die Strände von Maspalomas sowie die Playa del Inglés).
Die größten Badegefahren haben mit dem Alter der deutschen, englischen und skandinavischen
Urlauber zu tun. Gran Canaria hat eine Urlauberstruktur, die meist aus 40 bis 70-jährigen
besteht. Diesen Risikogruppen wird viel zu wenig Beachtung geschenkt. Der größte
Strandabschnitt Gran Canarias wird in der Hochsaison im Sommer von bis zu 100.000 Urlaubern
besucht. Genau dann sind die Unzulänglichkeiten besonders deutlich: Um bei dieser
massenhaften Urlauberflut schnelle Rettung zu gewährleisten, müsste sich professionelle Hilfe
und Ausrüstung, also auch ein Defibrillator, direkt am Strand befinden. Das ist nicht der Fall.
Griechenland
Besondere Strömungsgefahren gibt es in der Ägäis durch starke auflandige Winde (Meltemi).
Die kleineren Strände der zahlreichen Inseln sind nicht bewacht, und man kann froh sein, wenn
im Notfall überhaupt medizinische Hilfe zur Verfügung steht. Warnhinweise außerhalb der
Hotelanlagen sind selten, die Rettungsanfahrten dauern oft zu lange. Auf Kreta gilt die
Nordküste als gefährlich.
Politische Risiken: In Athen ist es in letzter Zeit zu vereinzelten, politisch motivierten
Anschlägen gegen staatliche Einrichtungen und Einzelpersonen gekommen, die sich jedoch nicht
gegen Touristen oder touristische Einrichtungen gerichtet haben. Im Notfall: Deutsche
Botschaft, Athen, Tel. 2107285111, Polizei, Unfallrettung / Notarzt (auch mobil): 112
98
Ines Heckmann
Toller Hecht
Vor einigen Jahren reiste ich per Motorrad durch Spanien und Portugal. An der Algarve gönnte
ich mir eine Auszeit und ergatterte das letzte Zimmer eines großen Hotels mit eigenem
Strandabschnitt. Der Strand war sauber und obwohl das Wasser wegen der frühen Jahreszeit
noch relativ kühl war, tummelten sich Kinder und Unerschrockene am Ufer.
Der heftige Wind wirbelte die Sandkörnchen auf und das Meer war entsprechend aufgewühlt.
Schaumgekrönte Wellen türmten und überschlugen sich tosend.
Auf hölzernen Türmen am Strand hielten Rettungsschwimmer Ausschau nach Unvorsichtigen. Ich
war davon überzeugt, dass die Rettungsschwimmer einen ruhigen Tag haben würden, denn
freiwillig würde wohl keiner im aufgepeitschten Meer schwimmen.
Ich hatte kaum zwei, drei Seiten meines Buches gelesen, als aufgeregtes Rufen zu vernehmen
war.
Die beiden Rettungsschwimmer sausten von ihrem Hochsitz, rannten durch den Sand und rissen
sich dabei die Hemden vom Leib. In einiger Entfernung im Meer lugte ein heller Kopf hervor,
immer wieder von den Wellen überschlagen. Ab und zu tauchte zaghaft ein bleicher Arm auf,
dann war nichts mehr zu sehen.
Die Schwimmer waren sehr schnell, erreichten die Dame und schleppten sie aus dem Meer. Eine
sofortige Reanimation rettete ihr das Leben.
Natürlich lockt eine solche Aktion jede Menge Schaulustiger an. Ein Mann fiel mir auf. Er trug
eine auffällige Badehose.
Nach einiger Zeit war die fast Ertrunkene mit einem Riesenschreck, doch wohlbehalten, wieder
auf ihrer Liege und die Schaulustigen verzogen sich.
Nicht einmal eine halbe Stunde später stürzten sich die Lebensretter erneut ins tosende Meer.
Dieses Mal zogen sie den Mann mit der auffälligen Badehose heraus, der nur kurz zuvor als
Schaulustiger die fast Ertrunkene gesehen hatte.
Zwar musste der Mann nicht reanimiert werden, hatte aber jede Menge Wasser geschluckt und
hustete quälend. Wer weiß, was ihn dazu gebracht hatte, sich oder der Dame zu beweisen, was er
für ein toller Hecht ist.
Ich war jedenfalls über soviel Dummheit und Leichtsinn entsetzt. An diesem Nachmittag saß ich
vier Stunden am Strand. Während dieser Zeit bargen die Rettungsschwimmer sechs Personen
aus dem Meer.
Keine der Personen war unter Dreißig. Das Verhalten der Schwimmer war also weder mit
jugendlichem Übermut, dem kindlichen Unterschätzen der Gefahr oder dem Überschätzen der
eigenen Kräfte zu erklären. Erschreckenderweise handelte es sich um Erwachsene, die - selbst
nachdem sie die Gefahren an beinahe verunglückten Personen gesehen hatten – töricht das
99
Schicksal herausforderten.
Ich frage mich nur: Hätten die Betroffenen bei gleichem heftigen Wellengang, aber ohne
Rettungsschwimmer ihr Leben ebenso unbedacht riskiert? Oder lag es daran, dass Publikum am
Strand zuschaute?
Meine Bewunderung gilt jedenfalls keiner der ignoranten Personen, die sich unnötig in
Lebensgefahr gebracht haben, sondern uneingeschränkt den Rettungsschwimmern, ohne die es an
diesem Nachmittag möglicherweise sechs Tote gegeben hätte.
100
Guido
Alles falsch gemacht
Es war 2001. Meine Freundin und ich lagen mit noch einem weiteren Pärchen an der Son Moll
Bucht auf Mallorca. Grüne Fahne, das Meer sehr ruhig.
Auf einmal sah ich, wie die beiden Rettungsschwimmer an der Son Moll sehr aufgeregt zum
Strand rannten und einer auch immer mal wieder zurückkam. Nach zwei bis drei Minuten bin ich
mal hinterher, um zu gucken, was denn da los ist.
Am Strand lag eine leblose Person und die beiden versuchten, die Dame, ungefähr 19 Jahre alt,
zu reanimieren. Zur Erklärung: ich habe einen vierwöchigen Rettungshelferlehrgang belegt und
weiß, wovon ich spreche. Also: die beiden haben alles falsch gemacht, was man bei einer Mund zu
Mund - Beatmung und bei einer Herzmassage falsch machen konnte: Kopf nicht überstreckt...
falscher Rhythmus...
Habe den beiden dann zu verstehen gegeben, dass die da weg sollen. Also hab ich mich an die
Person begeben. Zum Glück kannte sich noch eine Person am Strand richtig mit der Reanimation
aus.
Ganze 30 Minuten hat es gedauert, bis Rettungssanitäter vor Ort waren. Sind gaaanz gemütlich
über den Strand gelaufen. Zwischendurch hab ich mich während der Massage mal umgeguckt und
die Leute am Strand gefragt, ob nicht mal einer helfen könnte, den Freund wegnehmen und so
was. Die haben alle nur doof weggeguckt oder ängstlich zur Seite. Soviel auch zur Zivilcourage!!!
Die Dame hat es übrigens nicht überlebt, war bestimmt schon tot, als sie aus dem Wasser kam.
Also kurz gesagt: Die Jungs da am Strand können gar nichts.
101
Karlheinz Schmitt
Keiner warnt dich, kaum einer rettet dich
Wir kamen erstmals Ende Oktober 1974 nach Formentera.
Die Insel und die Badestrände waren menschenleer.
Ahnungslos haben wir stundenlang in hoher Brandung
gebadet. Drei Jahre später, 1977, kamen wir, bereits zum
vierten Mal, so gegen 10 Uhr an den Nacktbadestrand
Llevante. Einige, die wir vom Sehen her kannten, saßen am
Ufer. Vor ihren Augen gingen wir ins Wasser und waren
sofort derart weit vom Ufer entfernt, dass wir nur mit
großer Mühe und völlig erschöpft wieder zurückkamen.
Die Nackten am Ufer hatten zwar auch zuvor schon die stark ablandige Strömung erfahren,
hielten es aber nicht für nötig, uns zu warnen.
Gegen 11 Uhr hörten wir Hilfeschreie, eine Frau trieb draußen im Wasser. Die Playboys, die sonst
immer den ganzen Tag über ihre schönen Körper zur Schau stellten, sprangen aus dem Wasser!
Die Strandbewohner stellten sich taub.
Obwohl ich kein guter Schwimmer bin, konnte ich die Hilferufe nicht überhören und habe die
Frau trotz Wellengang und ablandiger Strömung aus dem Wasser geholt. Nun lag sie am Strand,
bewusstlos, röchelnd mit Schaum vor dem Mund. Keiner der Umstehenden wusste, was nun zu
machen sei.
Nach ungefähr einer halben Stunde atmete sie Gott sei Dank wieder.
Zwischenzeitlich war auch ein Urlauber-Motorboot gefunden, was sie auf direktem Weg nach
Ibiza ins Krankenhaus brachte. Sie hat es überlebt und ich bekomme immer noch
Weihnachtspakete von ihr.
Unsere Erkenntnisse daraus: Keiner warnt dich, kaum einer rettet dich, keiner kann dir nach der
Rettung situationsgerecht helfen.
Wir waren insgesamt 15 Mal auf Formentera. Fast immer nur am Llevante-Strand,
Letztmals 1997, denn damals fanden wir am dritten Urlaubstag schon morgens einen Ertrunkenen
(Kundige sagten, es sei schon der 20. in diesem Jahr) und an zwei aufeinander folgenden Tagen
retteten einige Männer (nach reichlichem Zögern) ein deutsches Mädchen (ungefähr 20 Jahre,
Leistungsschwimmerin) und einen Italiener vor dem sicheren Ertrinken.
Danach saßen wir nur noch mit Herzklopfen am Strand und beobachteten, wie ständig Urlauber
kamen, die oft auch trotz unserer Warnungen ins Wasser gingen.
Seither haben wir Formentera von unseren Urlaubszielen gestrichen, weil wir aus Altersgründen
keinen Hilferufenden mehr retten können und nicht zusehen wollen, wie Badeurlauber ertrinken,
nur weil keiner der Verantwortlichen es auch nach Jahrzehnten nicht für nötig findet, sie auf die
Gefahren eindringlich hinzuweisen. Wir haben das ZDF und den Stern angeschrieben und um ihre
Hilfe gebeten. Ergebnis gleich null.
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In Teneriffa (Puerto de la Cruz, Playa Jardin) ist das perfekt organisiert: Situationsgerecht
aufgezogene Flaggen und, immer anwesend, auch bei roter Flagge, ein spanischer Lebensretter,
der die "Lebensmüden" sofort zurückpfeift und im Notfall auch schnell aus dem Wasser holt.
Dass Deutsche auf Formentera Hilfe organisieren müssen, finden wir erbärmlich. Wir haben die
Situation nochmals mit folgenden Erkenntnissen und Vorschlägen diskutiert:
Menschen ertrinken primär nicht wegen der Brandung, sondern weil sie von ablandigen
Strömungen abgetrieben werden, ohne dass sie das realisieren. Zu realisieren, dass man
abgetrieben wird, ist auch ziemlich schwierig. An "unserer Bucht" ist ein großer Felsvorsprung
ins Wasser. Wenn man nun ins Wasser steigt, kann man sich die Stelle, wo es zu tief wird und
man schwimmen muss, gut merken und sieht dann auch, wie schnell man sich davon entfernt. Ohne
einen derartigen Punkt in der Nähe und senkrecht vom Strand entfernt, wird es schwierig. Aber
dafür sollten ja auch die Fahnen und Wächter sorgen.
Ideal wäre es, wenn man erreichen könnte, dass in jedem Zimmer, egal ob Hotel, Appartement
oder Privatunterkunft eine mehrsprachige Info hängt, die auf die Gefahren hinweist. Zusätzlich
sollten auch noch die Reiseleiter in ihrer Ankunftsinfo als Erstes darauf hinweisen und nicht nur
ihre Ausflüge aufdrängen.
Wenn einer über die Situation informiert ist und trotzdem ins Wasser geht, muss er dumm oder
lebensmüde sein.
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Stefan Bauer
Zeuge einer sinnlosen Tragödie
Am 12. Januar 2004 wurden meine Frau und ich Zeuge einer absolut sinnlosen Tragödie am
Strand von Tazacorte, La Palma, Kanarische Inseln.
Es war ein herrlicher, sonniger Tag. Der Atlantik glänzte trügerisch ruhig in der Sonne. Ich war
dabei, mich auszuziehen, da beobachtete ich, wie drei Personen am Strand unter mir
vorbeischlenderten. Sie gingen in scheinbar sicheren Abstand zum Wasser, 10 Meter unter mir
vorbei, als sie von einer plötzlich auftretenden Riesenwelle erfasst wurden und zu Boden sackten.
Ein junger Mann neben mir und ich erkannten die Situation sehr schnell und eilten sofort zur
Hilfe. Ich griff sofort nach einer der beiden Frauen und zog sie aus dem Wasser, wegen der
starken Unterströmung hatten wir erhebliche Mühe bei der Rettung. Ich lief sofort wieder
Richtung Wasser und wollte der nächsten Person helfen, doch die enormen Wassermassen, die
aus dem steilen Sandstrand zurück strömten, waren zu stark. Eine riesige Welle türmte sich vor
uns auf und riss uns mit.
Mit letzter Kraft konnte ich mich aus den Fluten befreien und fiel benommen auf den Boden. Der
andere Helfer konnte sich und eine der Verunglückten ebenfalls in Sicherheit bringen, aber eine
Person fehlte. Inzwischen waren weitere Touristen herbeigeeilt, und als die Wellen endlich
wieder schwächer wurden, konnte die dritte Person geborgen werden. Die ältere Frau wurde
leblos aus dem Wasser geborgen. Viele herbeigeeilte Touristen, darunter auch eine Ärztin,
versuchten alles, um der Frau zu helfen. Leider dauerte es mindestens 30 Minuten, bis die
Notärzte eintrafen. Zu lange, die Frau überlebte nicht.
Am ganzen Strand war keine Aufsicht oder Wasserwacht mit lebensrettendem Gerät, einziger
Hinweis auf die Gefahr war ein kleiner, ausgeblichener roter Fetzen auf einem Masten, einfach
zu wenig, um ahnungslose Touristen auf die Gefahr auf dem mehrere hundert Meter langen
Strand hinzuweisen.
Der Atlantik war vor und nach dem Unglück minutenlang völlig ruhig, die Frau bewegte sich in
scheinbar sicherem Abstand zum Wasser, in solchen Fällen müssen die Touristen einfach auf die
Gefahr aufmerksam gemacht werden.
Am nächsten Tag kehrte ich noch einmal an den Unglücksort zurück und konnte es einfach nicht
fassen, an derselben Stelle vergnügten sich Touristen bei selben Bedingungen wie am Tag zuvor.
Niemand hatte sie gewarnt.
Die Ignoranz der dortigen Behörden kann ich mir nicht erklären, zumal dort, wie ich später
erfuhr, schon öfter Touristen ertrunken sind. Diesen Bericht werde ich an alle betreffenden
Institutionen weiterleiten, in der Hoffnung, damit vielleicht etwas bewegt werden kann,
Menschen mehr auf Menschen achten und Ignoranz bzw. Unfähigkeit von Behörden nicht noch
weitere sinnlose Tragödien zulassen.
104
Claudia Stellmacher
Wir haben unser ganzes Leben miteinander verbracht
Am Hauptstrand in Westerland auf Sylt, vor dem Seeblick. Wunderschönes Strandwetter, tolle
Wellen, Wind aus Westen. Wir haben gerade noch in Höhe
Seeblick einen Strandkorb bekommen, denn wir sind erst spät
losgekommen. Leider war nichts mehr am bewachten
Badestrand frei. Aber der Weg ist ja nicht so weit, wenn man
ins Wasser möchte.
Es flattert die gelbe Flagge, das bedeutet, dass nur an
bewachten Strandabschnitten gebadet werden darf, dabei
sind die Wellen gar nicht so groß. Mit den Kindern gehen wir
ins Wasser, kämpfen mit den Wellen und genießen das Spiel mit den Meergewalten. Danach
wärmen wir uns im Strandkorb wieder auf, die Kinder sind netterweise unterwegs und holen
Kaffee.
Wir liegen im Strandkorb, plötzlich höre ich eine helle Stimme „Hilfe!“. Aha, Kinder beim Spielen,
denke ich, kurz darauf höre ich wieder einen Hilferuf, Sekunden später darauf „Hilfe“ von einer
männlichen Stimme. Christian, mein Mann, und ich schauen uns an, stehen auf und schauen, was
dort unten, 50 Meter von uns entfernt, im Wasser passiert.
Christian geht, wie an Fäden gezogen, hinunter zum Strand, direkt ins Wasser und hilft einem
Mann, sofort danach holt er zusammen mit einem 17 oder 18 Jährigen noch einen weiteren Mann
aus der Strömung. Beide sind um die 60 und völlig erschöpft.
Der Junge trägt darauf das Kind, das um Hilfe gerufen hatte, aus dem Wasser, als ich mich
endlich entschlossen habe, auch einzugreifen. Eine Frau wird aus dem Wasser geführt, ich renne
und schwimme zu ihr hin, ergreife ihre Hand und ziehe sie mit einem anderen Mann zusammen aus
dem Wasser. Am Wasserrand liegt ihr Mann, schwer atmend. Er hat einen Herzschrittmacher
und muss erst wieder zu Atem kommen. Auch er wollte helfen und brauchte selbst Hilfe.
Nachdem sich alle ein wenig beruhigt haben und klar ist, dass niemand mehr unmittelbar
gefährdet ist, gehen wir, völlig erschöpft und emotional tief bewegt, wieder zum Strandkorb.
Eine ältere Dame spricht uns an und fragt, warum wir geholfen und wo wir die Hilfeschreie
gehört hätten. Sie ist erstaunt, als wir ihr erzählen, dass wir direkt von Strandkorb gekommen
sind, denn sie sagt, sie war auch im Wasser und habe nach den Hilferufen versucht, Leute, die
weiter unterhalb am Strand gelegen haben, zur Unterstützung zu bewegen.
Sehr aufgewühlt sitzen wir im Strandkorb. Die Kinder, die Kaffee geholt hatten, können das
eben Erlebte kaum begreifen, so friedlich ist die Szenerie jetzt wieder. Immer wieder
schweifen unsere Blicke beunruhigt auf das Meer. Wir können gar nicht begreifen, was für ein
Drama sich eben abgespielt hatte.
Etwas später werden zwei Mädchen im Teenageralter von einem Rettungsschwimmer an Land
geholt, beide sind zu erschöpft, um sich an das Board zu klammern. Sie werden von ihrem
schimpfenden Großvater in Empfang genommen.
Es ist 15 Uhr. Beachball am Strand, immer wieder unterbrochen durch den besorgten Blick aufs
Meer, das wir jetzt mit anderen Augen anschauen.
105
Richtig entspannen können wir uns alle nicht. Zu gegenwärtig ist die Gefahr, die hinter der
Strandidylle lauert. Immer wieder gehen Kinder alleine ins Wasser. Mauritz, 9 Jahre alt, warnt
zwei kleine Mädchen, die gehen gleich wieder aus dem Wasser.
Ein Seniorenpaar geht ins Wasser, Christian und Mirek (12) unterbrechen das Spiel, gehen hin
und warnen die beiden vor der Strömung. Der Mann, fünf Meter weiter draußen, winkt seine Frau
ins Wasser. Sie folgt zögerlich, bleibt aber ziemlich dicht am Wassersaum.
Ihr Mann schwimmt etwa 10 Meter raus, zwei Surfer sind recht dicht bei ihm, verlassen aber
kurz darauf das Wasser. Plötzlich wirkt der Mann angespannt. Mauritz sagt: „Sein Gesicht ist
wie ein Hummer“, so dass wir beschließen, Hilfe von den Rettungsschwimmern zu holen.
Mirek rennt irrsinnig schnell zum bewachten Badestrand, als Christian dann meint, ein leises
„Hilfe“ von dem Mann, der immer noch ruhige Schwimmbewegungen ausführt, zu vernehmen. Er
rennt Mirek hinterher, da er befürchtet, dass Mirek nicht ernst genug genommen werden
könnte. Ein anderer Mann steht schon bei den Rettungsschwimmern und weist auf die Not des
Senioren hin.
Die Frau ist mittlerweile aus dem Wasser und ruft: „Hilfe, mein Mann ertrinkt!“. Ich renne zu ihr
hin und sage ihr, dass schon jemand unterwegs sei. Ihr Mann hält sich auf der Stelle und ich
signalisiere ihm, wild gestikulierend, dass er nach rechts mit der Strömung schwimmen soll. So
hüpfe ich zwischen Wasser und seiner Stoßgebete in den Himmel schickenden Frau hin und her,
versuche sie zu beruhigen, nehme sie in den Arm, winke dann wieder ihrem Mann und brülle ihn
an. Versuche, die Entfernung von 20 Metern und der lauten Brandung zu überschreien.
Endlich kommt der Rettungsschwimmer von links mit seinem gelben Board zu dem Mann. Aber der
ist bereits vornüber ins Wasser gekippt. Die Frau in meinen Armen ist verzweifelt, ich versuche
ihr zu erklären, dass der Retter gewiss noch zeitig da sein wird und ihrem Mann geholfen werden
kann. Die Frau ruft immer wieder: „Er stirbt, er stirbt, lieber Gott, lass ihn nicht sterben“ und
ich sage: „Er wird es schaffen, das schafft man, auch wenn man kurz unter Wasser ist“.
Als der Retter versucht, ihn auf das Board zu ziehen, gleitet er völlig leblos immer wieder vom
Brett. Der Schwimmer überlässt das Board sich selbst und zieht den Mann in der Rückenlage aus
dem Wasser. Dann liegt er völlig erschlafft im Sand, sein Gesicht ist violett-grau verfärbt und
er zeigt keinerlei Lebenszeichen. Sofort beginnt sein Helfer, ihn zu reanimieren. Ein anderer
Rettungsschwimmer, der sich vollständig seiner Sachen entledigt hatte, rennt ins Wasser und
holt das Board wieder an Land. Seine Sachen drückte er Christian im Vorbeirennen in die Hand,
ebenso wie sein Handy, um einen Notruf abzusetzen.
Christian reicht mir das Handy und rennt zum Wasser, um einen etwa sechsjährigen Jungen aus
dem Wellen zu ziehen, der zu seinem Vater will.
Ich wähle 112, dort sagt der Mann am anderen Ende der Leitung, dass schon ein Notruf zu
derselben Sache, so habe ich ihn verstanden, eingegangen sei und gerade bearbeitet würde. Ich
sehe im Wasser den Vater des Kindes – das Kind selber habe ich gar nicht wahrgenommen - und
brülle ins Handy: „Oh Gott, da ist noch einer im Wasser“.
Mittlerweile hat sich eine Traube von Helfern um den Mann und die Helfer gebildet. Seine Füße
liegen am Meeressaum. Er sieht so tot aus, aber unermüdlich bekommt er Atemspende und
Herzmassage. Seine Frau sitzt verzweifelt zwei Meter weiter daneben auf dem Board der
Schwimmer. Bei ihr ist eine sehr nette und kompetente Frau, die beruhigend auf sie einredet und
106
sie dazu bewegt, die Schwimmsachen auszuziehen und sich abzutrocknen.
Verzweifelt sagt die Frau „Wir haben unser ganzes Leben miteinander verbracht.“ Die andere
Frau fragt, ob sie jemanden anrufen möchte und sie erwidert: „Anrufen tut man, wenn jemand
tot ist“.
Ich hocke mit Shirt, Hose und Handy des Schwimmers daneben und fühle mich so hilflos und
überflüssig, völlig überfordert mit der ganzen Situation. Das Ehepaar ist in guten Händen, um die
Frau wird sich gekümmert, um ihren Mann auch. Mittlerweile wird er bebeutelt und auch ein
Defibrillator ist eingetroffen, so dass er geschockt werden kann. Um die Helfer hat sich eine
Gruppe von Gaffern versammelt. Kinder in der ersten Reihe.
Immer wieder gehe ich zu Christian und meinen Kindern. Bitte sie wegzuschauen, sie haben eh zu
viel gesehen. Eine vermeintliche Ewigkeit verstreicht bis zum Eintreffen des Rettungswagens,
bis dahin Beatmung, Herzmassage, Erbrechen und die bange Frage, ob es doch noch einen
Hoffnungsschimmer gibt. Ich kann mich nicht mit den Kindern zurückziehen, denn immer noch
halte ich die Sachen des Schwimmers in der Hand, der kleine bärtige Mann kniet unermüdlich
arbeitend – tapfer – neben dem Opfer, splitterfasernackt.
Endlich wird dieser in den Rettungswagen verfrachtet, ich übergebe die Klamotten und das
Handy und wir gehen zurück zum Strandkorb. Mit Blaulicht fährt der Wagen davon, vielleicht ein
Hoffnungsschimmer, denn wenn jemand tot ist, gibt es kein Blaulicht. Die Frau wird von zwei
jungen Polizisten weg begleitet, wahrscheinlich, um ihre Sachen zusammen zu suchen.
Aufgewühlt, den Tränen nahe. Erste Versuche, sich an das Geschehene heranzutasten. Mauritz
weint, Mirek ist bemüht tapfer und berichtet von zwei kleineren Jungs, die er auch noch aus dem
Wasser gezogen hat. Kurze Gespräche mit den Strandkorbnachbarn und das dringende
Bedürfnis, ganz schnell nach Hause zu gehen.
Als wir zuhause ankommen sind und Christian seine Sachen gepackt hat - er
muss am nächsten Tag arbeiten und deshalb den Zug bekommen - sehen wir den
Rettungshubschrauber am Himmel und ich sage zu meiner Familie: „Jetzt bringen sie ihn
bestimmt aufs Festland.“
Am Abend bin ich dann mit den Kindern noch mal zum Strand gegangen, um Rosen dort
abzulegen, wo sich das furchtbare Drama abgespielt hat.
Nach dem Vorfall vom Sonntag bin ich am Montag mit meinen Kindern losgegangen, um bei der
Polizei Anzeige gegen Unbekannt, die Bürgermeisterin oder irgendjemanden zu stellen, damit
aufgeklärt wird, was am Vortag passiert ist. Auf der Wache wurde ich von einem jungen Beamten
abgewimmelt, ich meine, es war sogar einer der beiden, der die Frau des Opfers begleitet hat.
Der Polizist sagte, dass der Mann leben würde. Und dass ich nicht einfach so alle anzeigen könne,
gegen wen sie denn da ermitteln sollten...
Mir ging es in erster Linie darum, dass es nicht sein kann, dass man an einem wunderschönen
Sonntagnachmittag, 200 Meter von der Bewachung entfernt, in der Hauptsaison am vollen
Hauptstrand von Westerland ertrinken kann.
Der Beamte schickte uns zum Ordnungsamt, dort sollten wir unsere Geschichte loswerden. Für
mich war es wichtig, dass meine Kinder - nach dem Schock vom Vortag - sehen, dass man etwas
107
unternehmen kann, dass man nicht so hilflos ist, wie es erst den Anschein hat. Also gingen wir
zum Ordnungsamt. Eine halbe Stunde waren wir zu Fuß unterwegs. Dort wollte uns wieder keiner
haben, niemand unsere Geschichte anhören. Man schickte uns zur Kurverwaltung.
Dort landeten wir schließlich bei dem Leiter der Personalabteilung Sylt Tourismus Service, der
behauptete, von dem Vorfall nichts zu wissen und sich dann aber bereit erklärte, ein Gespräch
mit dem Chefschwimmmeister zu arrangieren. Weiterhin erklärte er, dass seit 10 Jahren
niemand mehr vor Sylt ertrunken sei.
Am Montagabend gingen wir auf einen Vortrag von Manfred Winkler, Rettungsschwimmer, der
über seine Rettungen im Jahre 2003 berichtete. Er nahm auch Bezug auf die Rettung vom
Vortage und die chaotischen Zustände, die durch die Strömung entstanden seien und berichtete,
dass der Mann ausgeflogen wurde und nun in Flensburg im Koma liege, wohl ohne Hoffnung.
Weiterhin sagte er, dass dieser Tag der Schlimmste seit Jahren gewesen sei und sie etliche
Menschen aus der Strömung und dem Meer hätten retten müssen.
Dann kam er auf die Rip-Strömung vor Sylt zu sprechen, hier nennt man sie Treckerströmung.
Ich fahre seit 40 Jahren nach Sylt in den Urlaub, Treckerströmung, und wie man sich darin
verhalten kann, hatte ich noch nie gehört. Herr Winkler erwähnte auch die Gefahr durch die
Buhnen vor Westerland, die das Entstehen der Strömung begünstigen. Und dass man
diese für etwa 10.000 Euro entfernen lassen könne. Vor Kampen (so ein Zufall) sei das bereits
passiert.
Mit vielen neuen Informationen ging ich am nächsten Tag in das Gespräch mit den Herren von der
Tourismus GmbH. Nun musste ich den Chefschwimmmeister davon überzeugen, dass es nicht um
Kritik an der Arbeit seiner Rettungsschwimmer gehe, denn die haben wir wirklich als kompetent
und hervorragend erlebt, sondern um grundsätzliche Fehler im System.
Erschwert wurde das Gespräch durch die Ausführungen, dass der Mann vom Vortag ja gar nicht
tot sei und der Badeunfall deshalb passiert sei, weil der Mann einen Herzinfarkt erlitten habe
und deshalb nicht ertrunken sei. Das entkräftete die Dringlichkeit meiner Argumente.
Möglich nach dem Stand meiner Information, für den Mann und seine Frau aber völlig unwichtig.
Aber für die Statistik ist es ja anscheinend wichtig, denn die bleibt so sauber. Für mich stinkt
die ganze Sache zum Himmel.
Das System von Schweigen und Verdrängen scheint auf der Insel gut zu funktionieren und ich
hatte den Eindruck, man war recht froh, dass ich dann am Mittwoch wieder abgereist bin. Man
wird so ein bisschen auf die hysterische Schiene geschoben.
Diese Vorgeschichte erklärt auch, warum die Vorfälle vom 26. Juli 2009 keinerlei Erwähnung im
Sylter Anzeiger gefunden haben. Der Mann ist zwei Tage später in Flensburg verstorben.
108
Tipps von „Grüne Flagge“ bis „No risk, no fun“
Grüne Flagge
Nach wir vor existiert diese Farbe an Europas beflaggten Badestränden, obwohl die
Empfehlungen für die Strandsicherheit bereits seit mehreren Jahren die Abschaffung der
grünen Flagge beinhalten. Und dies völlig zu Recht. Die Farbe grün im Flaggensystem suggeriert
eine scheinbare Sicherheit, die es im Wasser nicht geben kann.
Erschwerend kommt hinzu, dass es noch Strandabschnitte gibt, an denen die grüne Flagge
gehisst wird, die aber überhaupt nicht bewacht sind! Manchmal bleibt die Flagge auch über
Nacht hängen, wenn das Wetter am Vortag in Ordnung war. Am nächsten Tag ist dann das
Wasser gefährlich, die grüne Flagge hängt, bis die Strandaufsicht oft erst am späten Vormittag
kommt. Fazit: Die grünen Flaggen müssen endlich verschwinden!
Helikopter
Die schnellen und flexiblen Luftfahrzeuge sind ein optimales Beförderungsmittel für
Notfallmediziner und werden in immer mehr Ländern erfolgreich bei der Wasserrettung
eingesetzt, zumal Ertrinken ein extrem zeitkritischer Prozess ist. Bei einem Bewusstlosen mit
Herzstillstand sinkt die Überlebenschance pro Minute um jeweils etwa zehn Prozent. Ein
Halbertrunkener ohne Helikopterhilfe mit lebensrettendem Defibrillator an einem schwer
zugänglichen Naturstrand hat nur selten eine Überlebenschance.
Holland
Die westfriesischen Inseln und das Ijsselmeer gelten als gefährlich, die Gezeitenströmungen bei
Einsetzen der Ebbe an der Nordsee sind auch hier nicht ohne Risiko.
Bewachung durch die Strandwacht und Warnhinweise in Form von mehrsprachigen Info-Tafeln
sind zufriedenstellend. In Holland ist das Ertrinken bei Kindern die unfallbedingte Todesursache
Nummer 1. Im Notfall: Deutsche Botschaft, Den Haag, Polizei und Unfallrettung: 112 (auch
mobil).
Hotelpools
Hotelpools sind deshalb nicht risikolos, weil viele Eltern mit permanenter Bewachung durch das
Hotelpersonal rechnen, was selten der Fall ist. Die wichtigste Empfehlung: Erst einmal die
Bewachungssituation überprüfen, die Hinweisschilder lesen und die Kids nie aus den Augen lassen.
Wo sind die Rettungsringe zum Zuwerfen? Wo befindet sich die Erste Hilfe - Ausrüstung? Die
meisten Badeunfälle ereignen sich in den Swimmingpools von Hotels und Wohnanlagen, berichtet
Inselradio Mallorca in seiner Internet-Ausgabe.
Italien
Ausbildung und Ausstattung der Rettungsdienste (besonders an der italienischen Adriaküste)
sind zufriedenstellend. Die Koordination der Rettungsdienste besonders außerhalb der beliebten
Urlaubszentren und an den süditalienischen Stränden lässt aber zu wünschen übrig. Außerdem
gibt es auch hier zu wenig Rettungsschwimmer bei überfüllten Strandabschnitten während der
Hochsaison. Im Notfall: Deutsche Botschaft, Rom, Tel. 06492131, Polizei 112 (auch mobil),
109
Unfallrettung 118.
Kälteschock
Ende April 2007 in Deutschland: Heißes sommerliches Wetter und Lust zum Baden in Gewässern,
die sich noch gar nicht aufgeheizt haben konnten. 13 bis 15 Grad. Für einen gesunden Menschen
oder einen Sportler ist ein Bad in einem 15 Grad kalten Wasser kein Problem. Für einen
Kreislaufschwachen oder Kranken allerdings schon: Es kann zu Krämpfen, Kreislaufversagen und
zuletzt zu einem Herzstillstand kommen. Wir raten zur Vorsicht: Nie irgendwo hineinspringen,
wenn Sie nicht wissen, wie kalt das Wasser tatsächlich ist und sich langsam abkühlen, um keinen
Kälteschock zu erleiden. Ein derartiges Ereignis könnte auch einen Krampf im Kehlkopfbereich
auslösen, das in weiterer Konsequenz zur Bewusstlosigkeit und zum Ertrinkungstod führen kann.
Gerade bei Abkühlungen an Bächen oder Teichen sollte darauf geachtet werden, nicht allein zu
schwimmen, damit im Notfall ein Helfer zur Stelle ist.
Kanarische Inseln
Im deutschen Winter gelten die Kanarischen Inseln als ideales Reiseziel für Badeurlaub und TShirt-Wetter. Wassertemperatur: mindestens 18 Grad. Massen von Urlaubern meist mittleren
Alters erholen sich vom trüben Wetter in Deutschland.
Die Strände laden entweder zum Sonnenbaden, zu ausgiebigen Spaziergängen oder auch zu einem
verlockenden Sprung in die Fluten ein. Die Kanarischen Inseln sind eine ideale Lösung für einen
Strand- und Sonnenurlaub in der deutschen Nebensaison. Die gute Alternative zwischen
zeitraubenden Fernflügen und den zwischen November und Mai nicht gerade sommerlich warmen
Balearen.
Kinder
Der amerikanische Wasserrettungsexperte Frank Pia hat in einem
Interview, das ich vor einigen Jahren mit ihm in New York führte, das
oft verkannte Phänomen des "silent drowning" (stilles Ertrinken)
beschrieben, das hauptsächlich für Kinder gilt.
"Ich bin überzeugt davon, dass es bei Menschen im Wasser einen
großen Irrtum in der Bewertung von drohenden Ertrinkungsgefahren
gibt. Menschen ist der Unterschied zwischen dem Verhalten von
Personen, die Badespass haben und denen, die Probleme im Wasser
haben und aktuell ertrinken, nicht bewusst. Die übliche Vorstellung
ist, dass ein Schwimmer in einer Notsituation dadurch auf sich
aufmerksam macht, indem er um Hilfe ruft und entsprechende
Zeichen gibt. Dieses Szenario kennen Menschen vor allem aus Filmen und aus dem Fernsehen. Ein
Mensch, der ertrinkt, ist aber in der konkreten Gefahrensituation überhaupt nicht mehr fähig,
zu schwimmen und sich über Wasser zu halten - und als Nichtschwimmer war er noch nie in der
Lage dazu! Die ertrinkende Person kann also nicht um Hilfe rufen, weil sich in diesem Moment
Mund und Nase ständig entweder unter Wasser befinden oder über der Wasseroberfläche sind,
um Luft zu inhallieren und zu atmen! Der Ertrinkende hat also weder Zeit noch Ressourcen, um
durch Hilferufe auf sich aufmerksam zu machen. Dieser Mensch kann im Überlebenskampf nicht
um Hilfe rufen, weil die Natur ihn instinktiv zwingt, an der Wasseroberfläche zu bleiben, um zu
versuchen, seine Atmungsorgane einzusetzen. Das Fatale in dieser Situation ist, dass dieser
110
Kampf sehr kurz ist. Denn er dauert in den meisten Fällen nur zwischen 30 und 60 Sekunden,
bevor der Mensch untergeht und ertrinkt“.
Kinderfreundlich (oder familienfreundlich)
Es gibt kaum ein Prädikat, das in der Tourismuswerbung öfter verwendet wird als der Begriff
"kinderfreundlich".
Gemeint ist damit oft nur, dass der Strand flach abfällt. Das aber reicht für die Sicherheit
Ihrer Kinder nicht aus. Erkundigen Sie sich und seien Sie lieber skeptisch. Nur dann, wenn ein
Strandabschnitt auch bewacht ist, kann er als kinderfreundlich bezeichnet werden.
Das entlastet Sie als Eltern natürlich nicht von der Verpflichtung zur permanenten Beobachtung
Ihrer Schützlinge. Übrigens gilt zwingende Bewachung durch Sie und durch Wasserretter
natürlich auch für Strände, die mit dem ebenfalls überstrapazierten Begriff
"familienfreundlich" bezeichnet werden.
Laienretter
Retter können auch Sie werden, wenn Sie am Badestrand anderen Menschen in Not helfen wollen
und müssen. In dieser Situation ist Vorsicht geboten: Nach Aussagen von professionellen
Wasserrettern kommt jeder zehnte Laienhelfer ums Leben, weil die Vorsichtsmassnahmen nicht
beachtet werden, die Voraussetzungen für sinnvolle Hilfe nicht gegeben sind und Retter
denselben Gefahren (etwa durch Unterströmungen) wie der Verunglückte ausgesetzt sind oder
Opfer der Panikreaktionen des Schwimmers werden können.
Setzen Sie also immer zuerst eine so genannte Rettungskette in Bewegung. Panik ist ein großer
Feind von professionellem Verhalten. Bitte bleiben Sie ruhig. Delegieren Sie Aufgaben an andere
Strandbesucher! Sorgen Sie mit Hilfe anderer >>Strandbesucher für Alarmierung. Als
Laienretter sollten Sie geübt sein und nie - vor allem nicht im Meer mit drohenden RipStrömungen - ohne ein Hilfsmittel (Boot, Auftriebskörper) ins Wasser gehen. Falls Sie sich die
Rettung nicht zutrauen, veranlassen Sie die Rettung durch andere Personen. Spielen Sie nicht
den Helden!
Beruhigen Sie den Gefährdeten und bringen Sie ihn nach Möglichkeit mit Stützung des Kinns an
Land. Retten Sie - falls sich mehrere Personen in Not befinden - immer von "außen nach innen".
Beziehen Sie andere anwesende Personen in die weitere Versorgung mit ein. Ist die Person
bewusstlos, überprüfen Sie Puls und Atmung, führen Sie falls erforderlich Herzdruckmassage
und Mund-zu-Nase-Beatmung durch. Ist die Person bei Bewusstsein, bringen Sie sie in die stabile
Seitenlage und wickeln Sie sie wegen der Gefahr der Unterkühlung in eine Decke - auch bei
hohen Temperaturen.
Lanzarote, Spanien
Eigentlich ist das Baden und Schwimmen an der gesamten Nordwestküste aufgrund der extrem
gefährlichen Strömungen nur Lebensmüden zu empfehlen. Die Famara-Bucht ist zu jeder
Jahreszeit und auch bei schönem Wetter lebensgefährlich.
An den Stränden von Puerto del Carmen sind die Strömungen meist geringer, Wind und Wellen
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sind nicht sehr kräftig, so dass man die meiste Zeit relativ gefahrlos baden kann und hier auch
mit Kindern gut aufgehoben ist. Aber es gibt doch Zeiten mit ungünstiger Wetterlage. Beachten
Sie - wie immer - daher auf jeden Fall die Warntafeln und die Flaggen: grün bedeutet
unbedenklich, orange steht für Gefahr, rot bedeutet absolutes Badeverbot.
La Palma, Spanien
Zusätzlich zu den beschriebenen Gefahren auf den Kanarischen Inseln gibt es auf La Palma
gelegentlich Riesenwellen am Strand, die - man kann es kaum glauben - sogar Spaziergängern
zum Verhängnis werden können. Zitat eines Beobachters: „La Palmas Brandung gehorcht keinen
Fähnchen, ob sie nun blau, grün oder rot sein mögen. Das Meer ist sich hier nur selbst
Rechenschaft schuldig und fragt nicht nach menschlichen Gesetzen. Es mag viele Stellen auf der
Welt geben, an denen das Schwimmen hin und wieder tückisch ist. Auf La Palma kann jedoch
bereits ein Strandspaziergang bei ruhiger Brandung unvermittelt tödlich enden." Im Januar
2004 wurde ein Spaziergang am Strand von Tazacorte zur tödlichen Falle. Eine plötzlich
auftretende Riesenwelle erfasste bei ruhiger See drei Menschen. Zwei konnten von beherzten
Urlaubern gerettet werden, für eine Person kam jede Hilfe zu spät.
Mallorca, Spanien
Neun Millionen Menschen kommen in jedem Jahr auf die nach wie vor beliebteste Ferieninsel
deutscher Pauschalurlauber. Für die meisten von ihnen gibt es neben Sonne, Erholung, Spaß,
"Sex, Drugs und Ballermann" einen weiteren Grund, warum sie hier Urlaub machen: Baden an
einem der 175 Strände.
Bewachung gibt es an den stark frequentierten Stränden, allerdings ist während der Hauptsaison
das Verhältnis zwischen der Zahl der Strandbesucher und der Zahl der Rettungsschwimmer
unausgewogen. Irritierend ist auch, dass es für den Notfall zwei Notrufnummern gibt (112 und
061). Hier hat es in der Vergangenheit Koordinationsprobleme und zeitliche Verzögerungen
gegeben. Der im Sommer stark frequentierte Naturstrand "Es Trenc" im Süden Mallorcas ist
deshalb gefährlich, weil er nicht bewacht ist und sich der Unfalldienst erst einmal durch das
Naturschutzgebiet begeben muss. Angesichts der zeitkritischen Prozesse bei
Ertrinkungsunfällen hat dies in den letzten Jahren immer wieder zu tödlichen Unfällen geführt.
Mallorca-Police
Bei Nutzung eines Mietwagens sind in vielen Urlaubsländern die Deckungssummen der
Versicherer deutlich geringer als in Deutschland. Während hierzulande der Gesetzgeber einen
Mindestschutz für Personen in Höhe von 2,5 Millionen Euro verlangt und für Sach- oder
Vermögensschäden 500.000 bzw. 50.000 Euro, so belaufen sich die Versicherungssummen in
vielen anderen Ländern nur auf Bruchteile dieser Beträge. Und das heißt nichts anderes als: Im
Falle eines Falles übernehmen die örtlichen Versicherer nur diese Mindestleistungen – alles
andere zahlt der Tourist aus eigener Tasche. Gerade nach Unfällen mit schwerwiegenden
Personenschäden können so schnell existenzbedrohende Forderungen auf den Unfallverursacher
zukommen.“
Die Versicherung heisst im Fachjargon Excedentenversicherung, bekannter ist sie aber unter
dem Namen „Mallorca-Police“. Bei dieser Police handelt es sich um eine Zusatzversicherung
speziell für Mietwagen, -motorräder und -mopeds während des Urlaubs im europäischen Ausland.
Sie lässt sich beim Versicherer für die Dauer zwischen einem und zwölf Monaten erwerben und
kostet monatlich rund 20 Euro. Eine Erweiterung ist lediglich einmal jährlich für die Dauer von
112
drei Monaten möglich. Die Kosten für die Erweiterung belaufen sich auf etwa 30 Euro.
Bei einigen deutschen Kfz-Versicherern ist dieser Zusatzschutz bereits in der normalen KfzHaftpflicht enthalten. In diesem Fall ist eine weitere Versicherung überflüssig. Sie sollten
prüfen, bei welchem Versicherer sie ihre Kfz-Haftpflichtversicherung inklusive Mallorca-Police
zu den besten Konditionen bekommen.
Mietwagen
Die Bilanz der ADAC-Tester war erschreckend: Von 61 überprüften Stationen in sechs
Urlaubsländern sei jeder fünfte Anbieter durchgefallen, berichtete der Autoclub. Jedes vierte
Auto habe erhebliche Mängel gehabt, jedes zehnte Auto sei zudem nicht mehr verkehrssicher
gewesen und hätte nicht vermietet werden dürfen. Zu bemängeln seien auch der
Versicherungsschutz und der Service am Kunden. Kindersitze würden beispielsweise oft als
überflüssig angesehen. Knapp 50 Prozent der Stationen hätten allerdings "gut" bis "sehr gut"
abgeschnitten.
Unterwegs waren die Tester auf Korfu, Sardinien, Korsika, Gran Canaria, Ibiza und Zypern, dem
spanischen sowie griechischen Festland und in der Türkei. Sie mieteten inkognito bei
international bekannten sowie regionalen und lokalen Anbietern Fahrzeuge für einen
Tagesausflug einer vierköpfigen Familie mit Kleinkind. Mittels Checkliste wurde der technische
Teil des Fahrzeugs, etwa Fahrwerk, Lenkung, Elektrik, Beleuchtung oder Insassensicherheit
geprüft. Beim Serviceteil kamen etwa Versicherungsleistungen, Vertragsgestaltung und
Kundenservice auf den Prüfstand.
Nichtschwimmer
Nach der so genannten Sprint-Studie des Deutschen Sportbundes (2005) hat ein "großes Manko
an fehlenden Sportstätten bei 20 Prozent aller Schulen" dazu beigetragen, dass das Stundensoll
des Schwimmunterrichts nicht erfüllt werden kann. Auch die Schließung vieler öffentlicher
Bäder oder ihre Nutzung als "Spaßbäder" stellt laut Bundesregierung ein wachsendes Problem
dar. Man setze sich zwar für Verbesserungen im Schulsport ein, müsse aber auf die
Zuständigkeit der Länder und Kommunen verweisen. Im Klartext: Es ist, wie es ist und die
Wahrscheinlichkeit, dass sich im föderalen System der Schwimmeranteil flächendeckend
verbessert, liegt knapp über null. Und auch diese Gründe sind entscheidend und werden gern
unter den Teppich gekehrt: immer mehr verbreitete motorische Defizite, mangelnde
Bereitschaft von Eltern, ihre Kinder in den Schwimmkurs zu schicken und auch fehlender
Schulschwimmunterricht.
In Schwimmbädern mögen Nichtschwimmer-Kids die größte Risikogruppe sein. In anderen
Gewässern wie dem Meer trifft dies nicht zu. Hier spielen Unkenntnis über die Gefahren,
Risikobereitschaft und Leichtsinn sowie nicht vorhandene Warn- und Rettungssysteme eine
mindestens genauso große Rolle wie Schwimmfähigkeiten. Augenscheinlich hilft es, wenn man
schwimmen kann – wenigstens wegen des psychologischen Antriebes, den es gibt, wenn man
plötzlich ins Wasser fällt. Andererseits ertrinken genau so viele Schwimmer wie
Nichtschwimmer in Situationen, in denen Schwimmen möglich ist. Allzu oft sind gute Schwimmer
sogar wesentlich risikobereiter als Nichtschwimmer und weniger gute Schwimmer haben (etwa
am Atlantik) oft mehr Respekt vor dem bewegten und oft Furcht erregenden grollenden Wellen.
Nordsee
113
Gefährlich sind vor allem Gezeitenströmungen bei
Einsetzen der Ebbe, Brandungssog und Priele im
Wattenmeer bei auflaufendem Wasser. In den
Sommermonaten existieren insgesamt gute
Sicherheitsbedingungen durch die Präsenz von
Wasserrettungsdiensten - besonders auf den
Inseln. Das gilt aber nur dann, wenn Sie die
Badezeiten und Badezonen beachten.
No risk, no fun
Wir kennen diesen Spruch aus dem Bereich der
Extremsportarten. Aber es ist so eine Sache mit dem Spaß und dem Risiko. Große Menschen
gehen eher Risiken ein als kleine, Frauen sind vorsichtiger als Männer und mit steigendem Alter
lässt die Risikobereitschaft deutlich nach: Zu diesen Resultaten kamen Wissenschaftler der
Instituts zur Zukunft der Arbeit, der Universität Bonn sowie des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung in Berlin. Besonders bemerkenswert: Wer gerne Risiken eingeht, ist mit
seinem Leben zufriedener. Zufriedener vielleicht, aber vielleicht haben Menschen dann auch eine
kürzere Lebenszeit. Und wenn Sie das Risiko für den Spaß im Wasser brauchen, sind andere
Menschen ebenfalls durch Sie gefährdet. Und die wollen sicher selber entscheiden, ob sie ein
Risiko eingehen wollen....
114
Karl-Heinz Fucker
Ich habe nie erfahren, wer sie waren
Ich habe nie erfahren, wer sie waren oder woher die zwei Kinder stammten, als diese nach der
Rettungsaktion die Kleider packten, sich anzogen und mit dem Schlauchboot unter dem Arm
wieder in Richtung Muhr am See verschwanden. Keine Ahnung, ob sie Touristen in den Ferien
oder Ortsansässige waren, sie hatten jedenfalls Glück, dass jemand an diesem Tag am See
anwesend war.
An diesem Tag im Frühjahr wollte ich einige technische Dinge im Clubgebäude des YachtclubAnsbach-Gunzenhausen erledigen. Auf der Anfahrt fielen mir kurz hinter Muhr am See zwei
Kinder auf, welche ein kleines Badeboot Richtung See trugen. Aber weit und breit waren keine
Eltern zu sehen. Da dies wochentags (ich hatte zu diesem Zeitpunkt als Schüler frei) geschah,
das Wetter wegen ablandigen Windes eigentlich nicht zum unbeaufsichtigten Baden in der
Muhrer Bucht geeignet war, beschloss ich neben den Arbeiten ab und zu mal hoch zum See zu
laufen und nachzusehen. Erst hielten die Kinder sich in der Muhrer Bucht auf und spielten am
Strand. Aber als ich aufgrund von lauter werdenden Windgeräuschen wieder zum See hochlief,
stellte ich fest, dass die Kinder sich Badekleidung angezogen und die Kleidung am Strand
zurückgelassen hatten. Das Boot war mit dem Wind bereits ein gutes Stück Richtung Seemitte
abgetrieben. Der Wind und das Wasser sind im April trotz Sonnenschein und angenehmer
Lufttemperaturen oft noch ziemlich kalt, gerade auf dem See weiter draußen.
In diesem Moment hatten die Kinder ebenfalls das Abtreiben bemerkt und einer der Beiden
sprang ins Wasser, um das Boot (gegen den Wind) wieder zum Strand und den Kleidern
schwimmend zurückzuziehen. Ein Motorboot lag leider noch nicht im Wasser und unsere
Segeljollen waren auch noch im Winterlager, die Schwimmstege waren gerade erst wieder
ausgebracht worden. Ich rief daher sofort hinüber, dass der Ziehende sofort wieder einsteigen
soll, bevor er die Verbindung mit dem Boot verliert und unterkühlt. Für einen Notruf über das
Clubtelefon fehlte in diesem Fall die Zeit, ich wollte die Jungs ständig im Blick behalten und
außerdem wäre es schwer gewesen, im Wellengang des inzwischen aufgefrischten Windes einen
Kopf wieder aufzufinden und zu identifizieren (mein Handy war gerade wegen eines Defekts zu
Hause).
Bei diesem Wetter waren auch keine Radfahrer auf dem Rundweg um den See unterwegs.
Den Jungs konnte ich klarmachen, dass die einzige Chance in einem Paddeln Richtung Ufer
besteht, egal wo sie anlanden.
Nach einiger Zeit erreichten sie einige Hundert Meter entfernt das Ufer. Sie zitterten stark
und konnten sich nur noch roboterartig bewegen.
Als erstes wurden die Beiden von mir in eine Rettungsdecke aus dem Kfz-Verbandskasten
gesteckt und ich holte deren Kleider vom Strand. Nach einer Aufwärmphase in meinem Fahrzeug
mit voll aufgedrehter Heizung wollten sie wieder nach Hause gehen, eine Rückfahrt nach Muhr
mit mir lehnten sie ab, also zog ich die Ventile des Bootes auf und die Jungs konnten mit dem so
entleerten Boot wieder Richtung Wohnung abziehen.
115
Norbert Mertens
Nessi
Wie in jedem Jahr wollte ich mindestens einmal unsere alte Freundin "Nessi", dieses Riff knapp
unter der Wasseroberfläche in der Bucht von Sa Roqueta besuchen. Da es in diesem Jahr
während unseres Urlaubes meist recht wellig war und man das Riff von den übrigen Wellen kaum
unterscheiden konnte, schob ich den Schnorchelausflug bis zu einem unserer letzten Urlaubstage
auf. Aber dann wollte ich nicht länger warten und machte mich auf den Weg, allein.
Die Wellen waren etwas niedriger geworden, so dass man von Land aus Nessi relativ gut
ausmachen konnte.
Im Wasser sah das aber schon ganz anders aus. Sehr stark war der Wellengang nicht, aber es
war schwierig, den geraden Weg zu finden, da die normalen Wellen die Brandungswelle des Riffes
meist verdeckten. Die grobe Richtung war ja klar, und hin und wieder konnte ich die
Brandungswelle über dem Riff erkennen, also ging es auch weiter, obwohl ich bereits
zwischendurch mehrmals bemerkte, dass ich von der Ideallinie recht weit abgekommen war.
Eigentlich hätte ich mir da schon sagen müssen "Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste" und
umkehren sollen. Aber das Wasser trug mich so schön.
Schließlich kam ich bei Nessi an, nicht mal besonders stark erschöpft. Wie immer schwamm ich
von hinten an das Riff heran, da es auf der Seeseite flach abfällt und man deshalb besser auf
den Unterwasserfelsen kommt, dessen höchste Spitze so etwa knietief unter der
Wasseroberfläche liegt. Aufgrund der Wellen war es nicht so einfach, auf den Felsen zu
kommen, ich wurde dann auch mehr hinaufgespült, das heißt, von einer "kontrollierten
Besteigung" des Unterwasserfelsens kann in keiner Weise die Rede sein. Als ich schließlich oben
ankam, versuchte ich mich aufzurichten. Das gelang mir auch wirklich sehr gut, so gut, dass ich
im nächsten Moment im Rücken von einer Welle erwischt wurde, die mich vor den Rand des Riffs
ins Wasser wirbelte, als ich gerade so richtig schön tief Luft durch meinen Schnorchel holen
wollte.
Unter Wasser, auf der dem Land zugewendeten Seite, fällt das Riff senkrecht und schroff ab.
Dort wurde ich von der Welle hineingestoßen und unter Wasser salto - oder vielmehr
karussellmässig - rumgewirbelt, und zwar so, dass ich nicht mehr wusste, wo oben und unten war.
Hinzu kam, dass ich statt eines Luftzuges einen tiefen Zug Salzwasser zu mir nahm. Ich bekam
Angst — wieder an die Wasseroberfläche gekommen, wollte ich dann doch endlich Luft, zog aber
noch mal kräftig Wasser ein -, die nächste Welle hatte mich bereits wieder voll erwischt. Jetzt
bekam ich richtig Angst, Scheißangst. Panik. In diesem Moment habe ich gedacht: das war's,
Ende.
Irgendwie, gelobt sei Allah oder wie der sonst heißen mag, bekam ich aber doch noch Luft. "Nix
wie weg von Nessi" war mein einziger Gedanke. Ich konnte dieser gemeinen
Unterwasserverwirbelung vor dem Felsen entkommen. Ich habe da, glaube ich, großes Glück
gehabt; nachdem ich wieder aus dieser verrückten Zone vor dem Riff heraus war, konnte ich
halbwegs normal zurück schwimmen, die rettende Küste vor Augen - Nach meiner Ankunft am
Strand habe ich dann erst mal einige katholische Biere (San Miguel) und einige Kräutertees mit
Geschmack (Hierbas) getrunken, und das nicht nur, um den Salzwassergeschmack im Hals
loszuwerden.
Mitbekommen hat das am Strand aufgrund der Entfernung niemand, das ist auch gut so. Ich habe
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es auch nicht großartig publik gemacht, versteht sich — wer gesteht schon gern seine eigene
Dummheit, Leichtsinnigkeit und Selbstüberschätzung ein.
117
Jürgen Kosian
Wasserwand
Es sollte ein traumhafter Familienurlaub werden.
Ich ahnte nicht, was noch passieren würde, als
ich am 26. Dezember 2004 zusammen mit meiner
Frau das direkt am Stand gelegene
Frühstücksrestaurant unseres Hotels in Khao
Lak betrat.
Einige Meter von mir entfernt rief plötzlich eine
Frau "Look at this!", stand vom Tisch auf und sah
angestrengt aufs Meer. Ich blickte in dieselbe
Richtung, konnte aber nichts Außergewöhnliches
erkennen und schlug daher vor, an den Strand hinunter zu gehen, um zu sehen, was sich dort tat.
Meine Frau war zwar wenig begeistert, folgte mir aber trotzdem einen Moment später.
Der Weg, den wir entlang gingen, endete an einem Rasenstück, gleich dahinter begann der
Strand. Noch vor dem Strand blieb ich stehen. In weiter Ferne konnte man einen dünnen, nicht
sehr auffälligen, gleißend weißen Gischtstreifen erkennen, der sich über die gesamte Breite des
Horizonts zog. Mein erster Gedanke war, dass die Flut eingesetzt hatte. Weiter draußen konnte
man durch die vorangegangene Ebbe Korallenbänke sehen. Es bot sich ein ungewöhnlich
faszinierender Anblick.
Die Sonne schien schon sehr warm, es war ein schöner, windstiller Morgen. Der Gedanke an eine
Bedrohung kam mir nicht.
Als ich einen Augenblick später wieder aufs Meer sah, sah es aus, als habe der Gischtstreifen
zwischenzeitlich einen großen Sprung zum Strand gemacht, er sah auch nicht mehr weiß, sondern
gelblich aus. Mir wurde klar, dass die Welle, die inzwischen gewaltig an Höhe zugenommen hatte,
den Strand überspülen würde.
Meine Frau, die mich mir zuliebe an den Strand begleitet hatte, war etwa 10 Meter hinter mir
stehen geblieben. Ich sagte ihr, dass wir hier weg gehen sollten und ging zunächst einige Meter
zurück.
Bei nochmaligem Zurückblicken sah ich auf eine fünf oder sechs Meter hohe Wasserwand voller
Schaum und Dreck, die sich vor mir aufbaute. Es war nicht mehr der türkisblaue Ozean, den ich
einige Minuten zuvor noch gesehen hatte.
Es war völlig irreal, ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Ich hörte niemanden schreien und
auch das Wasser kam mir völlig geräuschlos vor. Ein Entkommen war nicht mehr möglich, die
Welle traf mich mit voller Wucht, sie schob mich eher voran, als dass sie mich mitgerissen hätte.
Ich konnte nichts mehr sehen und hatte keinen Überblick, überall um mich herum waren nur
Wasser und herumwirbelnde Gegenstände.
Ein Gefühl der Unwirklichkeit überkam mich, während mich die Welle, ohne nachzulassen, nach
vorn drückte. Dabei hatte ich längst den Bodenkontakt verloren und wurde wie
zusammengekauert mit unbeschreiblicher Gewalt von der Welle immer weiter voran getragen.
118
Das Gefühl der Unwirklichkeit war vielleicht auch deshalb entstanden, weil ich einen Moment lang
dachte: So etwas Ähnliches hast du schon einmal erlebt.
Vor vielen Jahren hatten wir im Winter auf Fuerteventura Urlaub gemacht. Unsere älteste
Tochter Nadine war damals noch klein. Wir spielten am Rand des Swimmingpools „Flugzeug“. Ich
hielt sie an beiden Händen fest und ließ sie mit viel Schwung um mich kreisen. Während ich mich
immer weiter im Kreis drehte, wurde mir plötzlich schwindlig, ich verlor das Gleichgewicht. Wir
beide stürzten in den eiskalten Pool. Selbst als ich unter Wasser mit den Händen ruderte und die
Eiseskälte spürte, war ich noch der Überzeugung: das kann nicht sein, das ist nicht wirklich! Erst
als das Salzwasser in meinen Augen brannte, konnte ich nicht umhin, festzustellen, dass ich ins
Wasser gefallen war. Das bedeutete für mich: sofort nach Nadine greifen und sie aus dem
Wasser halten.
Diesen Übergang vom Gefühl des ganz Unwirklichen zum Akzeptieren der Realität erlebte ich nun
noch einmal.
Erst als ich fühlte, wie im Wasser herumwirbelnde Gegenstände gegen meinen Körper prallten,
näherte ich mich der Wirklichkeit. Mein erster Gedanke galt meiner Frau, die vermutlich
irgendwo in der Nähe sein musste, ich versuchte zwar, zu ihr zu steuern, aber ich konnte nichts
gegen die Strömung ausrichten. Ich hatte keine andere Wahl als mich dieser Kraft zu beugen.
Irgendwann erwachte mein Kampfgeist, ich wollte nur noch aus dem Wasser herauskommen.
Dabei war mir theoretisch klar, dass nach jedem Wellenkamm ein Wellental kommt, dieses
müsste ich also nur abwarten, um an der Oberfläche Luft holen zu können. Doch das ersehnte
Wellental kam nicht und so atmete ich irgendwann zwangsläufig ein und schluckte Wasser.
Zusammen mit dem Wasser muss ich auch Luftblasen eingeatmet haben. Diese hielten mich am
Leben.
Lange Zeit ließ der Druck nicht nach, es rauschte und gurgelte um mich herum, ich hatte keine
Ahnung mehr, wohin ich getragen worden war und versuchte nur noch, mich, so gut es ging,
gerade zu halten, um mich nicht zu überschlagen.
Auf einmal wurde ich mit den Füßen nach vorne durch einen Engpass gezogen, vielleicht eine Art
Rohr oder Schacht. Als ich dann das erste Mal zum Stehen kam, stieß ich mit meinem Kopf an
eine Betondecke. Hatte der Albtraum nun ein Ende?
Ich hatte zwar festen Boden unter den Füßen, stand aber gebückt und bis zum Kinn in absoluter
Dunkelheit im Wasser. Um herauszubekommen, wo ich mich eigentlich befand, tastete ich
zunächst meine Umgebung mit den Händen ab, über mir war eine geschlossene Decke.
Das ist wie in dem Film "der Untergang der Poseidon", dachte ich. Mutige Passagiere auf einem
gekenterten Ozeandampfer erkämpften sich in diesem Film ihren Weg in die Freiheit. Sie
schwammen und tauchten durch verschiedene geflutete Decks nach oben. Als sie endlich im
bäuchlings treibenden Rumpf ankamen, hämmerte einer von ihnen mit einer Eisenstange gegen die
Decke. Zum Glück war genau an dieser Stelle der Rettungshubschrauber gelandet und wartete.
Seite 10
Ein Schweißgerät war auch griffbereit, ein großes Loch wurde gebrannt und mit einem "Hurra,
wir sind gerettet!" stiegen die Helden ins Freie.
119
Ich griff irgendeinen der im Wasser schwimmenden Gegenstände und schlug mit diesem wie in
dem Film mit voller Kraft gegen die Decke, aber schon währenddessen wurde mir klar, dass
dieser Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen, vollkommen sinnlos war. Überall um mich herum
nahm ich nur Gurgeln und Brechen, das Knirschen sich verbiegender Eisenträger, wahr.
Mir war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wo ich mich befand. Daher tastete ich meine Umgebung
nochmals ab und fühlte dabei etwas Festes, das abwärts führte, möglicherweise eine Wand, die
tief im Wasser stand.
Das einzig Wichtige war jetzt, herauszukommen und meine Familie zu finden. In meiner Not und
Verzweiflung begann ich, mit Gott zu sprechen. Ich beschrieb ihm meine Situation und die
Umgebung, in der ich mich wieder gefunden hatte. Durch das Gespräch regte sich Zuversicht in
mir. Trotz nach wie vor herrschender absoluter Dunkelheit hatte ich das Gefühl, etwas sehen zu
können, als würde ein Licht aus mir heraus strahlen. Gleichzeitig waren auf einmal meine
Gedanken klar und strukturiert.
Links und rechts von mir waren glatte Betonwände eingezogen. Der Raum, in dem ich mich befand,
war drei mal drei, vielleicht vier mal vier Meter groß. Ich dachte kurz darüber nach, was
geschehen würde, wenn die Decke einstürzte oder der Raum weiter mit Wasser voll liefe, diese
Gedanke ließen mein Herz höher schlagen. Der Gedanke an meine Familie, die Hoffnung, dass
diese ebenfalls überlebt hatte und nicht zuletzt die Gespräche mit Gott halfen mir, meine
Klarheit zu behalten und Kräfte zu mobilisieren, um mich aus dem „Verlies“ zu befreien.
Im Wasser um mich herum trieben Unrat, Gestrüpp, losgerissene Bretter und auch die Leiche
eines Menschen. Ich registrierte die Leiche zwar, spürte aber keine Trauer oder ähnliches.
Meine Gedanken waren damit beschäftigt, aus dem Wasser heraus und meiner Familie zu Hilfe
zu kommen. Andere Gedanken ließ ich nicht zu.
Wieder fiel mir der Film „Der Untergang der Poseidon“ ein und ich entschloss mich, unter der
Wand hindurch zu tauchen. Es kostete mich einige Überwindung, meinen Kopf wieder in das
Wasser zu stecken, daher zögerte ich zunächst, doch der Drang, meiner Lage zu entkommen, war
stärker. Ich versuchte zu ertasten und zu erahnen, was mich auf der anderen Seite der Wand
erwarten würde und hoffte darauf, wieder eine Luftblase zum Atmen vorzufinden.
Also tauchte ich ab und stieg auf der anderen Seite wieder in absoluter Dunkelheit auf. Angst
hatte ich keine und auch die Hoffnung gab ich nicht auf. Ich sprach weiter mit Gott, während ich
meine Umgebung abtastete und teilte ihm auch jeden meiner weiteren Schritte mit. Auch wenn
ich keine Stimmen hörte oder Erscheinungen hatte, empfand ich meine Schilderungen als einen
Dialog zwischen Gott und mir. Immer hatte ich das tiefe Gefühl, nicht allein zu sein.
Ich tauchte immer wieder unter Trennwänden hindurch und gelangte so von einer Kammer in die
nächste. Dabei musste ich feststellen, dass ich in die falsche Richtung getaucht war und musste
zu meinem Ausgangspunkt zurückkehren. Ich orientierte mich an den aus der Ferne zu mir
durchdringenden Geräuschen. So erreichte ich einen Abschnitt, in dem ich hinter einem Sturz
keine Luftblase zum Atmen fühlen konnte. Auch die Wasserströmung war stärker als bisher und
Luftblasen stiegen auf. Meine Atemreserven waren fast aufgebraucht und ich dachte daran, dass
ich die Orientierung nicht verlieren durfte, um den möglichen Rückweg zur rettenden Luftblase
wieder zu finden.
Plötzlich wurde ich zusammen mit anderen Gegenständen und begleitet von Luftblasen wie durch
ein Wunder nach oben getragen. Während ich aufstieg, schwand die Dunkelheit und die kleinen
120
Bläschen bekamen durch das einfallende Sonnenlicht langsam Konturen. Ich konnte durch das
schmutzige und trübe Wasser wieder Licht sehen.
Diesen Augenblick, als ich wie schwerelos und umgeben von Luftblasen, die wie Perlen aussahen,
aufstieg, sich die Dunkelheit auflöste, das grelle Tageslicht meine Augen berührte und ich
endlich wieder Luft in meine Lungen bekam, empfand ich wie eine zweite Geburt. Es war ein
angenehmes Gefühl, ich spürte keine Schmerzen und fühlte mich sehr glücklich. Vielleicht ist es
paradox, aber ich möchte diesen Moment, genau diesen, in meinem ganzen Leben nicht missen.
Wie lange dieser Aufstieg gedauert hat, kann ich im Nachhinein nicht sagen, irgendwann
erreichte mein Kopf die Wasseroberfläche. Ich muss, während ich hochgezogen wurde, geatmet
haben, denn meine Luftreserven waren eigentlich längst aufgebraucht gewesen.
Intuitiv rief ich nach meiner Frau und den Kindern, erst jetzt nahm ich die Zerstörung der
Gebäude und der gesamten Umgebung wahr. Die Hotelanlage war fast vollkommen in den Fluten
verschwunden.
Nina und Shelly, meine Töchter, habe ich fast unverletzt auf einem Balkon gefunden. Meinen
Sohn Phil fand ich schwer verletzt in dem Empfangsgebäude des Hotels. Und auch meine Frau
war gesehen worden, sie war ebenfalls in Sicherheit.
Gemeinsam mit vielen anderen Menschen, schlugen wir uns bis zu einem kleinen Hügel hinter dem
Hotel durch. Und jetzt erst wurde mir bewusst, was für ein unendlich großes Glück wir gehabt
hatten. Jetzt erst spürte ich wirklich die Prellungen und Wunden an meinem Körper und hatte
das Bedürfnis, mich auszustrecken. Der Rest meiner Energie, die mich bisher noch in Bewegung
gehalten hatte, entwich aus mir wie Luft aus einem Ballon.
121
Tipps von „Notruf“ bis „Schwimmflügel“
Notruf (und die fünf Ws)
Notruf war nicht nur der Name einer im August 2006 eingestellten TV-Sendung auf RTL. Der
Name beschreibt ein Signal, das übermittelt wird, um bei einem Notfall professionelle Hilfe von
Rettungsdiensten, Feuerwehr und Polizei zu alarmieren. Eine Notsituation kann in jeder Sekunde
entstehen. Hier kann man sich die "fünf Ws" noch einmal einprägen: (wo, was geschah, wie viele
Personen, welche Erkrankung oder Verletzung, warten auf Rückfragen) Wichtigste Tipps bei
Badeunfällen: Erst die Rettungskette mit dem Notruf 112 über Handy (ohne Vorwahl) in Gang
setzen, erst dann helfen und die Rettungstipps beachten.
Bei Unfällen und anderen Notlagen im In- und Ausland kann es auf jede Sekunde ankommen, am
Strand, auf der Straße, beim Wandern. Bundesweit ist die 110 die Polizei, bei Rettungsdienst und
Feuerwehr - die 112. In Europa kann die 112 in vielen Ländern auch per Handy ohne Vorwahl
gewählt werden. Ein Trick bei schlechtem Netzempfang: An abgelegenen Stellen (Gebirge,
einsame Badeseen) Handy ausschalten, wieder einschalten und 112 wählen - das Handy sucht sich
dann das stärkste Netz. Dank der Björn-Steiger-Stiftung gibt es seit 2006 ein HandyOrtungssystem – zu nutzen nach kostenloser Registrierung. Das Servicecenter in Deutschland
hat eine mobile und kostenlose Notrufnummer: 0800 / 66 83 663. Hierbei wird der Standort
über das Handy lokalisiert: Helfer finden schneller zum Einsatzort.
In der Schweiz ist die Polizei via Festnetz unter 117 zu erreichen, Unfälle unter 144. In
Österreich kommt Hilfe unter 133 oder 144. Weitere Ausnahmen im Festnetz: Bulgarien: 150,
Italien: 118, Mazedonien: 194, Norwegen: 113, Polen: 999, Serbien: 94, Spanien: 061. Tipp:
Machen Sie sich vor dem Urlaub beim Automobilclub über die jeweils gültigen Telefonnummern
schlau und speichern Sie diese auf Ihrem Handy.
Organspendeausweis
Seit Jahren habe ich einen Zettel zwischen den Ausweispapieren und war kürzlich entsetzt über
die Meldung, dass es nur 4000 Transplantationen pro Jahr in Deutschland gibt und 12.000
Menschen in Deutschland auf eine Niere, ein Herz oder eine Lunge warten.
Jeden Tag sterben drei Deutsche, weil es nicht genug Spender gibt. Der Grund: Immer noch gilt
in Deutschland die Zustimmungsregelung. Der Verstorbene oder die Angehörigen müssen
zugestimmt haben - durch den Spendenausweis oder den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen.
Zu hoffen ist, dass die Widerspruchsregelung in Deutschland zügig Wirklichkeit wird: Wenn der
Verstorbene zu Lebzeiten nicht widersprochen hat, können Transplantationen erfolgen und die
Zahl der vergeblich wartenden Menschen wäre deutlich kleiner - aber nur dann, wenn die Politik
mehr Zeichen setzen und mehr Kliniken mitmachen würden. Im internationalen
Organspendenvergleich ist Deutschland nur Mittelmaß.
Also, liebe Leser dieser Zeilen, besorgen Sie sich (möglichst noch vor Ihrem Urlaub) bei Ihrem
Arzt oder Apotheker Ihren Organspendeausweis. Die "Nebenwirkungen": Wenn Ihnen etwas
passieren sollte, sorgen Sie dafür, dass ein Mensch oder mehrere Menschen weiter leben können.
Osteuropa
Sicherheitstechnisch hat Osteuropa eine kritische Infrastruktur. Allerdings sind
Ausbildungsniveau bei Rettungsschwimmern (besonders in den Regionen Rijeka und Dubrovnik)
122
und auch die Rettungslogistik in Kroatien und auch in Bulgarien (Schwarzes Meer) verbessert
worden. Für Notfälle: Rumänien: Deutsche Botschaft, Bukarest, Tel. (021) 2029830, Polizei: 955
und 112, Unfallrettung/Notarzt: 961 und 112, in den Mobilnetzen: 112. Bulgarien: Deutsche
Botschaft, Sofia, Tel.: (02) 918380, Polizei: 166, Unfallrettung/Notarzt: 150.
Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht
Für viele Menschen, der Verfasser gehört auch dazu, ist es eine grauenhafte Vorstellung, durch
einen Unfall oder eine Krankheit nicht mehr über sich selbst entscheiden zu können. Die
amerikanische Komapatientin Terri Schiavo konnte sich nicht mehr wehren, sich nicht mehr
entscheiden: Ihr Körper und ihre Seele wurden bis zu ihrem Tod zum würdelosen Spielball
juristischer und politischer Auseinandersetzungen.
Einen Ausweg gibt es aber in "guten Zeiten": Mit einer Patientenverfügung und einer
Vorsorgevollmacht kann vorgebeugt werden, denn der Wille des Patienten gilt auch im Notfall. In
der Patientenverfügung können Sie schriftlich festhalten, welche medizinische Behandlung Sie
im Falle einer schweren Erkrankung oder eines Unfalls wünschen - und welche nicht. Mit einer
Vorsorgevollmacht legitimieren Sie eine Person Ihres Vertrauens, Ihre Rechts- und
Vermögensangelegenheiten zu klären.
Pauschalurlaub
Die Terminpläne der Reiseleitungen großer Touristikunternehmen sind heutzutage straff
durchorganisiert. Für Sie heißt das: Ihr persönlicher Ansprechpartner ist nur noch zu vorher
festgelegten Zeiten im Hotel. Wenn Sie wissen möchten, wie es mit der Sicherheit am Strand
vor dem Hotel aussieht, sollten Sie unseren Tipp unter dem Stichwort Begrüßungstreffs
beachten oder sich anhand der Informationsmappen im Hotel oder der so genannten
Zielgebietsinformationen, die der Veranstalter Ihnen übergibt, schlau machen. Wenn hier keine
Informationen zur Strandsicherheit auftauchen, fragen Sie das Hotelpersonal, die
Einheimischen oder andere Urlauber nach möglichen Gefahren.
Pfützen
Es ist unfassbar, aber wir haben Fälle dokumentiert, bei denen Kleinstkinder in Wassertiefen von
10 Zentimetern ertrunken sind oder lebenslange und irreparable Schäden mit der Diagnose
Wachkoma erlitten haben. Bitte lassen Sie Ihre Kinder nie aus den Augen. Die
gebetsmühlenartige Wiederholung dieses Tipps hat ihre volle Berechtigung.
Polen
In Polen gibt es vergleichsweise wenige öffentliche Schwimmbäder. Hinzu kommt, dass viele
Menschen die Eintrittsgelder nicht aufbringen wollen oder können und lieber in der Oder baden.
Was nicht beachtet wird: Die Oder ist zum Baden nicht freigegeben, das Ertrinkungsrisiko ist auch wegen fehlender Bewachung - überaus groß. Im Notfall: Deutsche Botschaft, Warschau,
Tel. 0225841700, Polizei 997 und 112, Unfallrettung/Notarzt:999, in den Mobilnetzen : 112.
Portugal
Wir haben Strände Costa, Mecco, Sintra, Azenhas, Guincho und an der Linha Lisboa-Cascais
(Bereich Lissabon) im August 2005 besucht. Diese waren beflaggt, es waren Rettungsschwimmer
und Material vor Ort und es sah "kompetent" aus - bis auf wenige Ausnahmen bei kleinen
123
"Praias". Ebenfalls waren an diesen Stränden auch dreisprachige Warnschilder aufgestellt.
Als eines der wenigen Länder in Europa droht Portugal mit Sanktionen bei Missachtung von
Badeverboten. Seit 2006 müssen Schwimmer, die sich trotz Verbot ins Wasser begeben, mit
einer Strafe rechnen. Wer eine entsprechende Warnung etwa durch eine rote Flagge ignoriert,
kann mit einem Bußgeld von bis zu 55 Euro zur Kasse gebeten werden. Auch die Benutzung von
Wassersportgeräten außerhalb ausgewiesener Zonen kann bestraft werden.
Etwa 20 Regelverstöße an Stränden am Meer und an Flüssen können geahndet werden, darunter
fällt auch die Missachtung von Anweisungen des Aufsichtspersonals. Eine rote Fahne bedeutet,
dass Baden generell verboten ist. Eine gelbe Fahne weist darauf hin, dass der Aufenthalt im
Wasser zwar erlaubt ist, das Schwimmen aber nicht. Eine grüne Flagge signalisiert, dass das
Baden und Schwimmen erlaubt ist. Im Notfall: Deutsche Botschaft, Lissabon, Tel. 218810210,
Polizei, Unfallrettung und Notarzt (auch mobil): 112
Promille
Zwischen 0,0 und 0,9 Promille liegen die Grenzen in den Ländern Europas. Wenn Sie der Meinung
sind, Deutschland sei angesichts der Promillegrenze von 0,5 rigide, lesen Sie besser weiter. 0,00:
Kroatien, Rumänien, Slowakei, Tschechien, Ungarn: Warum osteuropäische Länder schärfere
Bedingungen haben als westeuropäische? Darüber könnte man philosophieren.
Im Polen sind es 0,2 Promille. Darüber hinaus kostet es zumindest auf dem Papier 1200 Euro.
Wenn nicht sofort gezahlt wird, wird schon mal das Auto einbehalten. In England kann man bis
7200 Euro zahlen, wenn die Grenze überschritten wird. Am häufigsten liegt die Obergrenze
inzwischen bei 0,5 Prozent: Neben Deutschland gilt das für Italien, Frankreich, Spanien,
Portugal, Osterreich und für die Niederlande.
Reanimation
So wenig Medizinisches wie möglich, aber so viel wie nötig: Unter einer Reanimation versteht man
das Durchführen von Maßnahmen, die einen Atem- und Kreislaufstillstand beenden sollen. Dabei
lassen sich Basismaßnahmen, die im Rahmen der lebensrettenden Sofortmaßnahmen durchgeführt
werden, von erweiterten Maßnahmen unterscheiden. Gelegentlich bezieht sich der Begriff auch
nur auf die Basismaßnahmen.
Basismaßnahmen sind die vom Ersthelfer (sowohl von Laien als auch von professionellen Helfern)
durchgeführt werden müssen, umfassen das Erkennen des Kreislaufstillstandes, Absetzen eines
Notrufes, Freimachen der Atemwege, Beatmung des Verunglückten und Durchführung einer
Herzdruckmassage. Das Ziel dieser Maßnahmen ist die Versorgung lebenswichtiger Organe mit
Sauerstoff. Erweiterte Maßnahmen, die von Mitarbeitern des Rettungsdienstes und vom Notarzt
und medizinischem Fachpersonal im Krankenhaus durchgeführt werden, haben zum Ziel, den
Kreislaufstillstand zu beenden und eine regelmäßige Herzaktion wiederherzustellen. Dabei
kommen Medikamente, Intubation, Defibrillator und Herzschrittmacher zum Einsatz.
Bei Bewusstlosigkeit, doch normaler Atmung, wird der Betroffene in die stabile Seitenlage
gebracht. Besteht keine normale Atmung, muss sofort mit der Herzdruckmassage begonnen
werden. Sie besteht keinesfalls darin, Wasser aus Lunge oder Magen "herauszuschütteln". Das
bringt nichts und kostet Zeit.
Der Helfer macht den Oberkörper des Betroffenen frei, sucht die Mitte des Brustkorbs und
124
drückt mit übereinander gelegten Handballen das Brustbein vier bis fünf Zentimeter tief
Richtung Wirbelsäule. Die Frequenz beträgt zirka 100 pro Minute. Nach 30 Druckmassagen
folgen zwei Atemspenden. Hierzu wird der Kopf des Betroffenen nach hinten überstreckt. Der
Helfer legt den geöffneten Mund über den Mund des Patienten und beatmet diesen, bis sich
dessen Brustkorb hebt. Danach folgen wieder 30 Herzdruckmassagen. Bei der Reanimation gilt:
zuerst 30mal das Herz massieren und dann zweimal beatmen. 30 Mal soll der Brustkorb
komprimiert, dann zwei Mal Luft in die Lungen geblasen werden. Die 30:2-Regel sollte auch dann
angewendet werden, wenn zwei Helfer zur Stelle sind. Ausnahme ist den Angaben zufolge die
Wiederbelebung von Kindern, bei denen das Verhältnis von Herzdruckmassage zu Beatmung 15:2
lautet.
So gut wie sicher ist, dass es bald neue Guidelines zur Reanimation geben wird und bei der
Laienreanimation und plötzlichem Herztod die Beatmung ganz entfällt - nicht jedoch beim
Ersticken und beim Ertrinken.
Regentonnen
Beinahertrinken im Gartenteich oder in der Regentonne führen oft zu den häufigsten bleibenden
Hirnschädigungen bei Kleinkindern. Dabei könnten manches Mal einfache Sicherungsmaßnahmen
helfen, solche Unfälle zu vermeiden. Schauen Sie auch bitte mal unter dem Begriff Gartenteiche
nach.
Reiseapotheke
Manchmal hilft es schon ein wenig, wenn man weiß, dass die Mittel, die der ADAC empfiehlt, im
Gepäck sind. Zur Grundausstattung zählen Fieberthermometer, Pinzette, Schere, Wundpflaster,
Sonnenschutzcreme, Wund-Desinfektionsmittel, ein Gel gegen Sonnenbrand, Schmerzmittel,
Mückenschutz, ein Mittel gegen Insektenstiche sowie Präparate gegen Husten und Erkältung.
Langzeit- und Dauererkrankte sollten auf keinen Fall ihre regelmäßig einzunehmenden
Medikamente vergessen und zusätzlich für eine getrennt aufbewahrte Reserve sorgen: Im
Urlaubsland nicht immer erhältlich, müssen fehlende Arzneimittel unter oft großem Aufwand in
Deutschland organisiert und nachgeschickt werden.
Reiseführer
Die Zeiten der alternativlosen Baedeker für die Ferienreise sind nun endgültig vorbei, und in
Internet-Zeiten haben es die Verlage schwer, die nach kurzer Zeit veralteten Broschüren als
aktuell zu bezeichnen. Die Lösung für die Zukunft könnte - solange der Mensch seine
ausgedruckten Empfehlungen auch gern noch mit in den Urlaub nimmt - diese durch aktuelle
Informationen im Internet auszudrucken und mit in das Gepäck zu nehmen.
Risikobewertung
Kann man sehen, ob Badestrände gefährlich sind? Leider ist das eher ein komplexer Prozess,
obwohl es nur drei wesentliche Bereiche für die Sicherheit im Wasser gibt: Die Natur mit ihren
Gegebenheiten (aber auch mit ihren Launen), der Mensch mit seinen Verhaltensmustern und
seinen Unzulänglichkeiten und das Vorhandensein und die Qualität von Warn- und
Rettungssystemen.
Rip-Strömungen
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Rip-Strömungen an den Stränden in Europa sind die gefährlichsten Ursachen für Badeunfälle und
für den Ertrinkungstod beim Badespass im Urlaub. Der Grund: Die "unsichtbaren Killer" tauchen
urplötzlich, überall und zu jeder Jahreszeit auf. Panikreaktionen sind dann vorprogrammiert. 80
Prozent aller Rettungseinsätze erfolgen
wegen Rip-Strömungen. Vor allem werden die
Gefahren von Rip-Strömungen durch
Kommunen, Hotels und Veranstalter oft
"totgeschwiegen" und die ahnungslosen
Urlauber an Badestränden Europas viel zu
selten über diese Gefahren informiert.
Rote Flagge
Rote Flagge bedeutet absolutes Bade- und
Schwimmverbot. Wenn Sie sich nicht daran
halten, riskieren Sie nicht nur Ihren eigenes
Leben, sondern bringen auch andere
Menschen, die Ihnen helfen wollen, in
Lebensgefahr. Übrigens - vielleicht kennen
Sie das - ist der Weg in das Wasser bei
Badeverbot und roter Flagge für viele
Menschen leichter, wenn andere Badende
schon im Wasser sind. Dass Sie sich dann
sicherer fühlen, ist verständlich. Das Risiko
ist dann leider auch nicht geringer.
In den meisten Ländern haben Sie, wenn es
denn gut ausgeht, nicht mal eine Strafe wegen einer Ordnungswidrigkeit zu befürchten. Eine
Ausnahme bilden bisher Frankreich und Portugal, die Verstöße gegen die Baderegeln mit einer
Geldstrafe belegen.
Schnorcheln
"Wahnsinn" schießt es einem durch den Kopf, wenn man - wie es mir vor ein paar Jahren erging den Kopf mit Maske und Schnorchel in einer Bucht auf Bali in das Wasser hält. Soweit zur
Faszination. Weniger faszinierend ist es, wenn Schnorchler aus lauter Begeisterung vergessen,
den Kopf gelegentlich über Wasser zu halten und ihren Standort zu checken. Jetzt kann es
passieren, dass man weit weg ist. Dann ist es schön, wenn jemand da ist - der Partner, ohne den
man sich nicht in die Faszination der bunten Fische begeben sollte. Der brauch dich dann nur eine
Minute abzuschleppen. Und die Urlaubswelt ist wieder in Ordnung
Schweinegrippe
Viele Diskussionen und Irritationen gibt es rund um die Impfungen gegen die Schweinegrippe.
Das Centrum für Reisemedizin CRM empfiehlt Auslandsreisenden, sich gegen die Schweinegrippe
impfen zu lassen - allein schon wegen Menschenansammlungen, vollen Warteräumen an Flughäfen
und Gedränge in Bussen und Bahnen. "Da weiterhin viele Infektionen im Ausland erworben
werden, halten wir die Impfung insbesondere für Personen mit Risikofaktoren, wie zum Beispiel
für chronisch Kranke, für sinnvoll", wird Tomas Jelinek, wissenschaftlicher Leiter des CRM
zitiert. Das CRM empfiehlt als Vorsichtsmaßnahme, sich häufig die Hände zu waschen und
größere Menschenansammlungen sowie den Kontakt zu Kranken zu meiden.
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Schwimmbäder
Schwimmbäder haben sich in den letzten Jahren verändert. Heute werden statt
Lehrschwimmbecken Wasserlandschaften mit möglichst hohem Spaßfaktor angeboten. Der
größte Nachteil für die Badesicherheit ist, dass das Schwimmen lernen immer weniger möglich
ist und die Anlagen unübersichtlicher geworden sind. Der Vorteil: Sie sind (im Gegensatz zu fast
allen Badeseen) in Deutschland immer bewacht sind. Es gibt schnelle Verfügbarkeit von Erster
Hilfe.
Umso unverständlicher ist es, dass in den letzten Jahren häufig Unfälle, auch tödliche, in
Schwimmbädern passieren. Grund für dieses negative Entwicklung ist neben der
Unübersichlichkeit der Bäder und der Überforderung de ausgedünnten Personals die
anachronistisch anmutende technische Ausstattung. Jeder Mittelklassewagen ist
sicherheitstechnisch heutzutage besser ausgestattet als ein öffentliches Schwimmbad. Wichtig
ist, dass Probleme der Badegäste im Wasser ohne zeitliche Verzögerung erkannt werden und das
das Aufsichtspersonal durch technische Möglichkeiten (Sensoren, Kameras unter Wasser)
unterstützt und sofort alarmiert wird.
Schwimmflügel
Achten Sie bei Schwimmflügeln unbedingt darauf, dass diese vom TÜV positiv bewertet wurden.
Manchmal sind die Sicherheitsflügel aber überhaupt nicht gern gesehen. Auf Norderney sind
Schwimmflügel verboten. Begründung: Kinder würden sich mit den Flügeln zu sicher fühlen und
sich damit in Gefahr begeben.
Wenn man die Begründung auf das Autofahren übertragen würde, müssten etwa Kindersitze und
Sicherheitsgurte verboten werden, weil sie zu riskanterem Fahren verleiten könnten. Das
verantwortliche Verhalten von Eltern wird durch derartige Regelungen ad absurdum geführt.
127
Jochen Börner
Alles, was bleibt…
Viele Jahre sind vergangen. Schlimme Ereignisse droht
man zu verdrängen und zu vergessen. Ich gebe das
wieder, woran ich mich erinnern kann, auch wenn das
eine oder andere eventuell nicht zeitlich chronologisch
aufgeschrieben ist.
Es fing mit einem schweren nächtlichen Gewitter im
Sommer 1993 an, gewissermaßen als Vorbote eines
Unheils, welches sich rund ein Jahr später ereignen
sollte. Es gibt Gewitter, die sind besonders ausgeprägt
und beeindruckend stark und genau ein solches
"Weltuntergangsgewitter", wo tatsächlich zu jeder Sekunde ein starker Blitz herniederfuhr,
kam unmittelbar auf uns zu.
Ich verspürte ein beängstigt beklemmendes Gefühl, als das Unwetter auf uns zukam. So muss
der Weltuntergang aussehen, dachte ich. Es stürmte und blitzte unaufhörlich. Die Wolken, die
durch das ständig aufleuchtende Blitzen deutlich zu sehen waren, schienen dunkler als die Nacht
selbst zu sein. Ein bedrohliches Szenario. Sicher, ich habe schon viele Gewitter erlebt und
gesehen, aber nie etwas dergleichen. Ich verzog mich ins Haus und das Unwetter zog heftig
tobend über uns hinweg.
Im Nachhinein erscheint es mir so, als wäre dieses Gewitter von damals ein teuflischer,
persönlicher Vorbote für mich gewesen, für eine schreckliche Zeit, die noch geschehen sollte.
Am nächsten Morgen fand ich völlig überraschend in unserem Garten eine Schildkröte sitzen, die
uns ganz sicher, bedingt durch dieses nächtliche Gewitter zugelaufen war. Bis heute weiß ich
nicht, woher sie kam oder wem sie gehörte. Sie saß im Garten und sie war da.
Ich freute mich über diesen exotisch anmutenden Gast und kaufte mir sogleich ein Buch über
Schildkröten, um mehr zu erfahren. Daraus erfuhr ich dann, dass es sich um eine
Rotwangenschildkröte und somit um eine Wasserschildkröte handelte, die sich zu mir verirrt
hatte.
Sie war der Ansporn, dass ich einen Gartenteich baute, in dem sie sich wohl fühlen sollte. Bereits
seit längerer Zeit hatte ich das "Projekt Gartenteich" im Kopf, hätte es aber wahrscheinlich
nicht so schnell realisiert, wenn eben nicht diese Schildkröte aufgetaucht wäre.
Ich baute ihr, im Garten, ein etwa 2 Meter auf 3 Meter und etwa 1,50 Meter tiefes Becken.
Drumherum montierte ich einen 1,80 Meter hohen Sicherheitszaun und eine Eingangstür zum
Gartenteichgelände mit gleich zwei Schlössern. Damit sich keiner so leicht Eintritt verschaffen
konnte. Und schon gar nicht Kinder.
Ich hoffte damit, die Sicherheit erheblich zu erhöhen.
Schließlich wurde der Teich fertig gestellt und wir hatten vorerst viel Freude daran.
Es hätte eigentlich ein schöner Tag werden können, jener 11. September 1994. Es war ein
Sonntag und die Sonne schien am wolkenlosen Himmel. Ein Igel lief quer über den Hof und
kletterte in einen Schutthaufen aus lockeren Steinen. Ich befürchtete, dass er dort sein
128
Winterquartier aufschlagen wollte. Die Steine jedoch sollten sehr bald dort verschwinden.
Außerdem schwebte er in akuter Gefahr, sich dort zu verklemmen.
Ich sah mir das Ganze an, zusammen mit meiner Tochter Jasmin und meinem Sohn Philip, der zu
dieser Zeit 19 Monate alt war und schon recht fix auf seinen Beinen laufen konnte.
Ich beschloss, den Igel aus den Steinhaufen herauszuholen, um ihn im Feld laufen zu lassen. Da
ich jedoch befürchtete, dass er sich in meiner Hand verbeißen könnte, kam mir der Gedanke, ihn
mit einem Netz zu fangen und ihn aus dem Schutthaufen heraus zu ziehen.
Ich ging dazu zum Gartenteich, musste vorher die Türen zum Eingangsbereich entriegeln, die ja
mit 2 Schlössern zur Sicherheit verriegelt war. Da der Igel drohte, sich innerhalb des
Schuttberges weiter zurück zu ziehen, musste ich mich sehr beeilen.
Da passierte mir ein ganz schlimmer und folgenschwerer Fehler, der mein Leben massiv
verändern sollte.
Anstatt mir die Zeit zu nehmen, beide Schlösser, nachdem ich das Netz hatte, ordnungsgemäß
abzuschließen, um den Gartenteichbereich zu verriegeln, war ich so sehr in Eile und in Gedanken
bei dem Igel, dass ich die Tür lediglich zudrückte und eilig zum Igel zurück rannte.
Weder ich noch meine damals 7-jährige Tochter, Philips Schwester, die sich auch im Hof
aufhielt, bekamen mit, wie sich Philip völlig unbemerkt Eintritt zum Gartenteich verschaffte,
indem er offensichtlich die Tür aufdrückte.
Was dann genau geschah, entzieht sich unserer Kenntnis. Wahrscheinlich ging Philip wohl zum
Rand des Teiches .... Möglicherweise hat er einen Goldfisch gesehen, sich vornüber gebeugt ....
Gleichgewicht verloren .... Jedenfalls ist er hineingestürzt, womöglich gar kopfüber. Es war
nichts zu hören, kein Schrei, kein platschendes Wasser, nichts.
Mir gelang es, den Igel zu fangen und ihn in eine Kiste zu setzen, um ihn zu einem späteren
Zeitpunkt im Feld wieder freizulassen, damit er sich ein besseres Winterquartier sucht. Es war
Mittagszeit und ich ging ins Haus hinein, um mir eine Pizza in den Ofen zu schieben. Nicht
ahnend, dass mein Sohn bereits um sein Leben kämpfte.
Birgit, Philips Mutter, machte Philips Mittags-Trinkflasche fertig, die er gewöhnlich zu dieser
Zeit bekam und ging hinaus, um sie ihm zu geben, während ich mich ins Wohnzimmer hineinsetzte
und den Fernseher anschaltete.
Es war wohl bis zum damaligen Zeitpunkt der letzte sorglose Moment, den ich bis zum heutigen
Tag hatte. Ich weiß nicht mehr, was im Fernseher lief, als ich ein für mich völlig unerklärliches
Schreien hörte.
Im ersten Augenblick dachte ich, das kommt vom Fernseher, doch das, was dort lief - da passte
kein Schreien hin. Irgend etwas umfasste mein Herz wie eine Stahlklammer, als ich den
Fernsehton stumm schaltete, aber das unwirkliche Schreien blieb. Es war wie in einem schlimmen
Traum, irgendwie wirkte alles zähflüssig, verschwommen und unwirklich - es musste etwas ganz
Schreckliches passiert sein. Mit diesem Gedanken sprang ich von der Couch im Wohnzimmer auf
und eilte zur Eingangstür. Ich riss sie auf und sah Birgit mit einem kleinen wassertropfenden,
bewegungslosen Körper in den Armen.
129
Ich hatte keine Zeit mehr zum Erschrecken, ich rannte zu Birgit und entriss ihr geradezu den
leblosen Philip aus ihren Armen. Ich legte ihn auf den Boden und drückte mit beiden Händen
kräftig auf seinen kleinen Brustkorb. Wasser ergoss sich in Strömen aus Mund und Nase. Ich hob
ihn auf und eilte zu dem kleinen Vorraum im Eingangsbereich des Hauses. Dort legte ich ihn
wieder hin und kämpfte darum, dass er zu sich kam.
Unglaublich viel Wasser konnte ich aus ihm herauspressen, seine beiden blauen Augen waren
geöffnet, aber er atmete nicht, reagierte nicht, sein Herz schlug nicht mehr.
Birgit stand fassungslos an der Tür, ebenso Jasmin, Philips Schwester, die mit 7 Jahren das
ganze schreckliche Szenario mitbekam. Ich rief Birgit zu, sofort den Notarzt zu rufen. "Welche
Nummer?" fragte sie zurück. Mir fiel in dieser Notsituation nur die 110 ein (erst später wurde
mir bewusst, dass man lieber die 112 hätte wählen sollen) und Birgit rief eiligst dort an, während
ich weiterhin unentwegt versuchte, Philip zu retten.
"Verdammt" dachte ich, das sieht wirklich nicht gut aus. Seltsamerweise dachte ich daran,
welche Vorhaltungen ich zu hören bekommen würde, vor allen Dingen von meinen Eltern, die mich
stets vor dem Bau des Gartenteiches gewarnt haben.
Während Birgit am Telefon mit der Polizei sprach und so schnell wie möglich einen Notarztwagen
mit einem Notarzt anforderte, versuchte ich alles, um Philip wieder ins Leben zurückzuholen.
Birgit wurde von den Beamten gebremst, der die Situation einfach nicht verstehen wollte, oder
den Ernst nicht begriff. Der Beamte am Telefon wollte Birgit beruhigen und sie solle alles erst
mal ganz langsam und von vorn erzählen, was überhaupt passiert ist. Bevor der Beamte den Ernst
der Situation begriff, vergingen wertvolle Minuten.
Philip reagierte auf nichts, was ich tat, und spätestens in diesem Moment wusste ich, dass er
nicht mehr unter uns ist. Sein Blick mit seinen geöffneten hellen blauen Augen, ... sie sahen noch
so lebendig aus. Was mögen sie gesehen haben?
Mir war auf einen Schlag klar, dass mein Leben, so wie es bisher war, vorbei war. Egal wie das
hier nun ausging, nichts mehr würde so sein, wie es vorher war.
Anstatt des Notarztwagens kam die Polizei herbei mit zwei Beamten. Sie sahen mich auf Knien
bei meinem Sohn im Vorraum, dem ich noch immer zu helfen versuchte. Sie schauten sich
unschlüssig an, sahen mich um meinen Sohn kämpfen, aber reagierten unsicher und manchmal gar
teilnahmslos. Was hätten sie auch tun sollen?
Während ich um Philip kämpfte, schauten sie sich währenddessen den "Tatort" Gartenteich an,
um den Unfallhergang zu rekonstruieren. Ich hörte, wie die beiden miteinander redeten, ob mir
eine Anzeige droht, ob man mich anklagen kann. Oder ob ich so nicht schon genug bestraft sei.
Das alles bekam ich mit, während ich Philip fest an mich drückte und die beiden aufforderte, ob
es vielleicht mal möglich wäre, nachzufragen, wo der Notarzt bleibt. Einer der Beamten holte
sein Funkgerät, bekam aber keine zufrieden stellende Antwort. Nach etwa fünf weiteren
unendlich langen Minuten war immer noch kein Notarzt da. Ich forderte die Beamten nochmals
auf, nachzufragen. Anscheinend kamen sie nicht auf den Gedanken, von selbst mal nachzufragen.
Möglicherweise dachten sie, dass da nichts mehr zu machen ist und die Mühe nicht mehr lohnt?
Krankenwagen sei unterwegs, bekam ich zu hören. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob
die Beamten die ganze Zeit über da blieben oder gingen. Tatsache ist, dass zwar ein
130
Krankenwagen kam, allerdings ohne den ausdrücklich angeforderten Notarzt - lediglich mit zwei
jungen Rettungssanitätern besetzt.
Philip kam in den Krankenwagen und die Rettungssanitäter versuchten wirklich ihr Bestes. Vom
Unglück bis zum Eintreffen des Rettungssanitäters vergingen knappe 30 Minuten. 30 Minuten
ohne Herzschlag und Atmung. Etwa 10 Minuten später traf endlich eine Notärztin von der
Frankfurt Höchster Klinik ein.
Als ich sah, dass sich endlich alle um Philip bemühten und die Ärztin eintraf, als ich sah, dass die
Nachbarn neugierig am Zaun hingen, das Geschehen verfolgten und Schaulustige dazukamen,
verließ ich den Krankenwagen. Ich konnte nichts mehr für ihn tun, er war nun in besseren Händen.
Nun lag es tatsächlich in Gottes Händen, ich rechnete nicht mehr damit, dass Philip wieder leben
würde.
Ich zog mich alleine zurück ins Haus, ins Wohnzimmer, auf die Couch, wo im Fernsehen eine
Tierfilmdokumentation lief. Die Pizza stand unberührt vor mir. Ich sah die Dokumentation wie in
Trance und draußen auf der Straße, die vom Krankenwagen völlig blockiert war, kämpften nun
Andere um Philips Leben. Ich erwartete, dass gleich jemand rein kam und mir sagte: Es tut uns
leid, aber ihr Sohn ... wir taten alles, doch ...
Nach einer Weile stürzte Birgit hinein und sagte das völlig Unfassbare, "Er lebt"! ...
Wie ich später erfuhr, war ein erfahrener Notarzt in der direkten Nähe gewesen und bekam mit,
dass da wohl ein Einsatz war, sah jedoch den Krankenwagen stehen und dachte fälschlicherweise,
das die Situation unter Kontrolle sei.
Ebenso erfuhr ich später, dass die Notärztin den Weg zum Einsatzort nicht fand und
umständlich über die Polizei erst geführt worden ist. Eine Kette von unglücklichen Dingen, die
nicht abreißen wollte, hing wie eine Glocke über uns.
Es ist nicht so, dass Kelsterbach fernab von großen Städten liegen würde, in 20 Kilometern ist
man in Frankfurt, Mainz, Wiesbaden. Es war Sonntag, kaum Verkehr auf den Straßen, eigentlich
allerbeste Bedingungen für einen Rettungseinsatz, sollte man denken.
Trotzdem passierte es, dass erst rund 40 Minuten nach dem Anruf eine ausgebildete Notärztin
bei Philip war, die ihn nach etwa 10 Minuten intensiver Herzdruckmassage tatsächlich wieder zum
Leben erwecken konnte.
Philip wurde mit Blaulicht in die Klinik gefahren. Birgit hatte zwischenzeitlich bei
Gemeindemitgliedern der Petrus-Gemeinde Kelsterbach Beistand gesucht, die sofort kamen und
uns im privaten PKW zur Frankfurt-Höchster Klinik mitgenommen haben. Dort angekommen,
wurde Philip aus dem Krankenwagen in einer Trage liegend heraus transportiert.
Zwei zufällig dort vorbeikommende Leute blieben mit der Bemerkung "Der ist ja noch so klein"
betroffen stehen.
Philip wurde sofort zur Intensivstation gebracht. Die beiden Gemeindemitglieder fragten, ob sie
uns noch helfen könnten. Dann ließen sie uns allein.
Wir saßen da und warteten. Insgeheim hatte ich tatsächlich die naive Hoffnung, Philip wird wach,
bleibt noch ein oder zwei Tage zur Beobachtung, dann können wir ihn mitnehmen und die Sache
131
wäre zwar schrecklich, aber es hätte ein gutes Ende gehabt. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir
da saßen, bis da endlich ein Arzt zu uns kam und seinen Bericht erstattete, der dann das
tatsächliche Ausmaß der Katastrophe so langsam erahnen ließ.
Das Philip tatsächlich noch lebte, lag womöglich an seiner massiven Unterkühlung, die er hatte.
Sie haben 18 Grad bei ihm gemessen, was in diesem Zusammenhang sein Glück war. Wäre das
Unglück im Sommer passiert, wäre das Wasser wärmer gewesen, hätte er es sehr wahrscheinlich
nicht mehr geschafft.
Außerdem diagnostizierte man einen Herzhinterwandinfarkt mit kompletter Lähmung der
rechten Körperhälfte. Man hat ihn nun in ein künstliches Koma gelegt und man wartet nun die
nächsten drei Tage ab. Wenn das Gehirn anschwellen würde, wäre sein Leben akut gefährdet
worden.
In den darauf folgenden Tagen geht es weiterhin um sein Leben. Nach einer Woche wollte man
das künstliche Koma beenden und hoffen, dass er zu sich kommt. Garantieren kann man das leider
nicht, aber die Möglichkeit besteht. Da durch den langen Sauerstoffmangel im Gehirn sicher
Schäden aufgetreten sind, bleibt abzuwarten, wie sich das auswirkt.
Spätestens in diesem Moment ist in mir die Hoffnung zerrissen, das alles schnell wieder gut
wird.
Hier endet vorerst die Geschichte von Philip. Es würde den zuträglichen Rahmen sprengen, die
ganze Geschichte nach dem Unfall zu erzählen. Die Geschichte wird jedoch im Internet auf
Philips Homepage aktualisiert und erweitert. Einsehbar ist die Lebensgeschichte auf Philips
Homepage im Internet unter www.widesky.de unter der Rubrik "Philips schwerer Weg".
132
Claudia Neumann
Lebenslänglich
Tom ertrank am 11. Juli 2005, einem heißen Sommertag,
unbemerkt in einem beaufsichtigten Schwimmkursus für das
Silberabzeichen der Stadtbad GmbH Braunschweig.
Bis zu diesem Zeitpunkt war unser Sohn ein gesundes,
freigeschwommenes Kind im Alter von sieben Jahren. Bis
zum Unfallzeitpunkt hatte er mit zwei jüngeren Brüdern
eine völlig normale Entwicklung und behütete Kindheit
erlebt. An diesem Tag wurde Tom gemeinsam mit seinem
Bruder Malte, damals 6 Jahre alt, von mir zum Schwimmkursus gebracht. Der jüngste Bruder
Nick, 3 Jahre alt, blieb bei mir außerhalb der Schwimmhalle wartend. Es war ja ein Kurs „ohne
Elternbeteiligung“.
Um 16.02 Uhr habe ich Tom das letzte Mal hinter der Scheibe zugewinkt. Um 16.11 Uhr brach
die gesamte Welt für unsere Familie zusammen.
In dem durch Kette getrennten separaten Beckenteil wurde
Toms leblos unter Wasser treibender Körper von einem
unbeteiligten, tauchenden Badegast entdeckt und geborgen.
Der Schwimmlehrer war zu diesem Zeitpunkt durch eine
Unterhaltung abgelenkt.
Erschwerend kam hinzu, das sich unerlaubter Weise zwei
Schwimmkurse in dem Bereich überschnitten und es zur
„Verwechslung“ tauchender Schwimmschüler kam.
Man rief mich in die Schwimmhalle, wo Tom bereits am Beckenrand manuell reanimiert wurde.
Malte traf ich schreiend, weinend und unbeaufsichtigt im Badebetrieb vor.
Der Schwimmlehrer lief mir entgegen und bugsierte mich gegen meinen Willen in den
Außenbereich des Stadtbades. Ich sah hinter der Scheibe dem Chaos zu. Der Notarzt traf erst
20 Minuten später ein und defibrillierte Tom mehrfach.
Während dieser Zeit wurde das Becken nicht geräumt. Kinder standen daneben und schauten zu.
Diesen Anblick werde ich nie in meinem Leben vergessen.
Alle beteiligten Aufsicht führenden Personen der Stadtbad GmbH sahen sich trotz
entsprechender Ausbildung nicht in der Lage, das bereitgestellte Gerät zu bedienen, weil die
notwendige Isomatte fehlte. Somit vergrößerte sich Toms Sauerstoffunterversorgung
zusätzlich.
Danach begann für unser Kind ein monatelanger, entsetzlich qualvoller Leidensweg auf den
Intensivstationen in Braunschweig und Brandenburg. Tom Zustand wechselte von Koma,
lebensbedrohlichen Vitalentgleisungen , Streckspastiken und endlosen Schreiattacken.
Wir Eltern, die Großeltern und die jüngeren Brüder und auch die Ärzte und das Pflegepersonal
saßen oft hilflos und abwartend daneben.
133
Wir beschäftigten uns auch mit moralischen Grenzen in der lebenserhaltenden Medizin und
damit, was man einem Menschen wohl wie lange „antun kann“.
Tom wollte leben. Seine Willenstärke hat unsere Zweifel vertrieben.
Die rechtliche Seite von diesem Unfall stellt für uns bis heute eine bisweilen kaum erträgliche
Belastung dar. Glücklicherweise werden wir von unseren Anwälten hervorragend unterstützt.
Im Nachgang vieler Ermittlungen sprach das Landgericht Braunschweig im Februar 2009 Tom
aufgrund von Organisationsverschulden und Verletzung der Aufsichtpflicht den vollen
Haftungsanspruch zu. Dagegen hat die Stadtbad GmbH nun noch Berufung eingelegt. Die sehr
zögerlichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Braunschweig wurden mehrfach eingestellt,
aufgenommen und laufen immer noch an.
Die Geschäftsführung der Stadtbad GmbH hat bis heute kaum etwas an bestehenden
Verhältnissen geändert. So unterrichtet der unzureichend ausgebildete Schwimmtrainer trotz
des laufenden Verfahrens und der Verurteilung bis heute Kinder im Schwimmen, gleichzeitig
tritt er als Werbeträger mit Foto für Schwimmkurse im Internet auf. Wir als Eltern haben
mehrfach mit unseren Anwälten versucht, im Interesse der Badesicherheit der Kinder und
vertrauensvollen Eltern auf diese für uns unhaltbare Situation aufmerksam zu machen. Bis heute
wurden wir an entsprechenden verantwortlichen Stellen abgewiesen.
Erst im Frühjahr 2006 hatte sich sein Leben und Dasein soweit stabilisiert, dass er mit mir
wieder nach Hause konnte. Während der ganzen Zeit in den Kliniken war das gesamte
Familienleben, vor allem für die kleinen Brüder schwer belastet.
Heute ist unser Sohn ein fröhliches stabiles Kind. Toms Behinderungen werden lebenslänglich
bleiben.
Er ist erblindet, trägt eine Baclofenpumpe zur
Spastikreduzierung, die Sprachproduktion ist zögerlich
und er wird immer auf maximale Hilfestellung
angewiesen sein.
Dennoch besucht Tom eine Körperbehindertenschule, in
der er sehr liebevoll von Pädagogen, Therapeuten und
von seinem Schulbegleiter betreut wird. Dank vieler
spendenwilliger Menschen konnte Tom sogar mehrere
erfolgreiche Delphintherapien auf Curacao machen.
Unsere Hoffnung ist, dass Toms Zukunft über einen entsprechenden Schadensausgleich beim
Oberlandesgericht geregelt wird. Eines Tages werden wir vielleicht Tom nicht mehr behüten
können und wünschen uns, dass seine Brüder dies in einem angemessenen finanziellen Rahmen
weiter tun können.
Tom hat uns durch seinen Unfall viele neue Dinge im Leben kennen lernen lassen, Schlechtes und
Gutes. Sein Lächeln und lautes Lachen lassen uns weitermachen.
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Hans Heinrich Tietje
Der schönste Sommer meines Lebens
Bis vor einem Jahr war ich beruflich noch voll eingespannt als Geschäftsführer einer kleinen
GmbH, die Sanitärprodukte verkauft. Aufgrund der permanenten Überforderung in diesem Beruf
und wegen meines Alkoholproblems bin ich vor einem Jahr in den Vorruhestand gegangen.
Und das war sicherlich das Beste, was ich tun konnte. Endlich hatte ich mehr Zeit mich, meinen
Hobbys zu widmen und konnte endlich mein Alkoholproblem besiegen. Besonders geholfen hat mir
in dieser schweren Situation mein Bernhardiner Alfred.
Meine Angehörigen und Freunde haben sich bereits vor über zehn Jahren von mir abgewandt
aufgrund meines Alkoholismus. Als ich dann in den Vorruhestand ging, habe ich mir auf Anraten
meines Psychologen den Alfred angeschafft. Der Hund ist bekanntlich ein guter Freund des
Menschen und über Hunde lernt man schnell andere Hundebesitzer kennen. Mit dem Alfred
verbrachte ich einen richtig schönen Sommer. Endlich gab es einen Grund, abends nicht bis in die
Puppen zu saufen und an einer Straßenecke zu versacken, denn ich musste ja immer pünktlich um
7 Uhr mit dem Alfred in den Park.
Einen so großen Hund habe ich auch extra deswegen gewählt, weil der viel Bewegung braucht und
ich dann gar keine Gelegenheit mehr habe zum Saufen. Mein Glück nahm vorerst kein Ende, denn
über den Alfred lernte ich auch noch eine nette und charmante Frau kennen, die ebenfalls viel
mit ihrem Hund im Park unterwegs war. Ihr Hund war allerdings schon älter und musste viel an
die frische Luft, da sein Verdauungstrakt bereits leicht beschädigt war und das auf Dauer in der
Wohnung nicht so gut kam.
Der letzte Sommer war der schönste meines Lebens.
Anfang Januar, als es immer so stark gefroren hat, war ich mit dem Alfred extra mit dem Zug
raus in die Natur gefahren, denn so als Vorzeitruheständler habe ich ja Zeit und fit bin ich jetzt
ja auch jeden Morgen.
Wir kamen dann auch an einem See vorbei, der mit einer Eisdecke und himmlischem Schnee
bedeckt war. Leider befand sich auch eine Gruppe von Enten auf dem See, die dem Alfred
provozierend zuschnatterten.
Bernhardiner gelten ja grundsätzlich als äußerst gutmütig, können jedoch in Extremfällen durch
Kleinigkeiten derart in Rage geraten, dass sie praktisch ihren Verstand nicht mehr benutzen. So
kam es auch mit dem Alfred und das war sein Ende. Während die Enten ja extrem leicht waren
und zudem noch gut schwimmen können, brach Alfred bereits in das Eis ein, bevor er die Enten
mit seinen Hechtsprüngen erreicht hatte. Ich schrie um Hilfe, doch in der kargen Landschaft
konnte mich keiner hören.
Ich selber kann leider auch nicht schwimmen und mir wurde auch immer geraten, dass man
niemals einem Hund hinterher springen soll, wenn der im Eis versackt. Ich kam mit dieser
Situation nicht mehr klar, der Alfred unter dem Eis und ich am Rand, mir wurde vor Stress
schwarz vor Augen und ich verlor das Bewusstsein.
Zum Glück hat mich ein Spaziergänger anderthalb Stunden später gefunden und einen
Krankenwagen gerufen, so dass ich mit einer Unterkühlung und einem Nervenzusammenbruch ins
Krankenhaus eingeliefert wurde. Heute bin ich froh darüber, ins Krankenhaus gebracht worden
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zu sein, auch wenn ich fast erfroren wäre, denn sonst hätte ich bestimmt wieder zur Flasche
gegriffen.
Ich wurde noch zwei Wochen im Krankenhaus wegen meines Nervenzusammenbruchs betreut und
dann wieder in die ambulante Therapie bei meinem Psychologen entlassen.
Den Alfred habe ich auf dem örtlichen Tierfriedhof beerdigt. Nachdem es etwas getaut hatte,
konnte ein Landwirt seinen Leichnam aus dem See bergen und er wurde überführt.
Der Verlust löst immer noch starke Schmerzen in meinem Innersten aus. Dieses Wesen, wenn es
auch nur ein Hund war, hatte mir endlich geholfen, vom Alkohol weg zu kommen und mir den
schönsten Sommer meines Lebens beschert.
Jeden Tag besuche ich sein Grab und danke ihm.
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Tipps von „Senioren“ bis „Zehn Irrtümer“
Senioren
Seniorenurlaub im Ausland wird von Jahr zu Jahr populärer. Allerdings steigen mit der
zunehmenden Mobilität älterer Menschen auch die Gefahren, wenn etwa an den
Strandabschnitten Maspalomas und Playa del Inglés auf Gran Canaria für die meist älteren nicht
ein einziger Defibrillator zur lebensrettenden Schockbehandlung zur Verfügung ist.
Senioren tun gut daran, nicht nur beim Schwimmen ihre körperlichen Einschränkungen zu
respektieren. Den Ertrinkungsstatistiken ist abzulesen, dass die Zahl der Ertrinkungsopfer besonders in den europäischen Urlaubsländern - in den letzten Jahren in der Altersgruppe
zwischen 50 und 70 Jahren deutlich angestiegen ist. Die Gründe liegen neben der seit Jahren
ansteigenden Mobilität auch in der oft eingeschränkten körperlichen Konstitution älterer
Menschen, im fehlenden Gefahrenbewusstsein von Seniorinnen und Senioren. Aufklärung, das
Bewusstsein für die Gefahren, Schwimmunterricht und der Umgang mit dem Element Wasser
liegen eben oft weit zurück. Nach einer Studie können nur 44 Prozent der über 60-Jährigen
schwimmen.
Sex
Der beste Schutz vor Aids und Geschlechtskrankheiten ist Enthaltsamkeit. Das ist zwar eine
Plattitüde, Wichtiger ist die Erkenntnis, dass sexuelle Enthaltsamkeit ähnlichen Gesetzen folgt
wie das Fasten: Ist der Wille nicht stark genug, führt der Hunger zur unkontrollierten
Nahrungsaufnahme. Auch beim Thema Aids wollen wir den Teufel nicht an die Wand malen, aber
wenn Sie sich mögliche Folgen nicht vorher klar machen und Sex ohne Kondom außerhalb Ihrer
festen Partnerschaft haben, handeln Sie verantwortungslos- und rücksichtslos und riskant.
Übrigens: Außerhalb Europas gibt es Kondome jedoch nicht immer in der gewohnten Qualität. Ein
Vorrat schützt vor einem "geplatzten" Date.
Gonorrhoe steht nach Diarrhoe, Malaria, akuten fieberhaften Atemwegsinfektionen und
Hepatitis A an fünfter Stelle der Gesundheitsprobleme bei Reisen in Entwicklungsländer.
Bezeichnend für die meisten Geschlechtskrankheiten ist, dass sie auch durch scheinbar gesunde
Personen übertragen werden. Viele Infizierte lassen keine Krankheitssymptome erkennen.
Trotzdem besteht ein hohes Ansteckungsrisiko. Oft wissen Betroffene selbst nicht, dass sie
eine Geschlechtskrankheit übertragen können. Zudem sind Aids und andere sexuell übertragbare
Krankheiten wie Gonorrhoe, Hepatitis B und Syphilis in vielen Ländern außerhalb Europas
erheblich stärker verbreitet als bei uns.
Sichere Länder
Welche Länder sind am sichersten? Die Antwort gibt das Unternehmen Control Risks mit der
Studie "Risk Map". Alle Länder wurden weltweit in 5 Risikostufen eingeteilt: unerheblich, niedrig,
mittel, hoch und extrem. Das Sicherheitsrisiko wird ermittelt aus der Zahl der Diebstähle und
anderer Kleinkriminalität, Überfällen, aber auch Entführungen und bewaffneten Übergriffen
sowie Sachbeschädigung oder Betrug.
Wenn Sie auf der sicheren Seite sein wollen, sollten Sie nach Skandinavien fahren. Dänemark,
Norwegen, Finnland und Island sind laut der Studie die sichersten Länder weltweit. Aber auch
die übrigen Teile Europas können relativ bedenkenlos bereist werden - mit Ausnahme von Sizilien
und Teilen Süditaliens, dem Baskenland, dem Kosovo, Teilen Albaniens und Mazedoniens sowie
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Thessaloniki und Athen. Diese Regionen wurden mit einem mittleren Risiko bewertet. Als
gefährlichstes Land der Welt gilt Somalia mit der Risikostufe "extrem" für nahezu das gesamte
Land. Dies bedeutet, Recht und Gesetz sind außer Kraft, es herrschen bürgerkriegsähnliche
Zustände. Auch in Teilen der Staaten Kongo und Tschad sowie große Teile des Sudans wurden die
Sicherheitsrisiken für Ausländer als "extrem" eingestuft. Außerhalb des afrikanischen
Kontinents ist das Risiko nur in den Ländern Irak und Afghanistan "extrem". In den klassischen
nordafrikanischen Reiseländern Marokko, Tunesien und Ägypten dagegen können geschäftlich und
privat Reisende auch 2010 mit einem niedrigen Risiko rechnen. Aber auch in tropischeren
Regionen des Kontinents gibt es sichere Reiseziele wie den Senegal an der Westküste Afrikas.
Sichere Strände
Fehlanzeige: sichere Strände gibt es nicht, aber Strandabschnitte mit begrenztem Risiko, weil
die Bedingungen hinsichtlich Strandbeschaffenheit, Zugang zum Wasser, Strömungen, Wind und
Wetter sowie Bewachungssituation und Rettungsdienste zufrieden stellend, gut und vereinzelt
sogar sehr gut sind. Übrigens: Weil Baden und Schwimmen nie gefahrlos sind, werden Gemeinden
mit professionell gesicherten Strandabschnitten auch nur selten mit diesem Attribut werben -und das ist vielleicht auch ganz gut so. Sonst würden etliche Urlauber noch leichtsinniger
werden...
Sicherheitsgefühl
"Was lässt uns", schreibt die Frankfurter Reisejournalistin Claudia Diemar, "mit überhöhter
Geschwindigkeit in Nebelbänke rasen, die Warnschilder für Wohnwagengespanne im
windgebeutelten Süden Frankreichs missachten, in riskanten Situationen überholen? Fern dem
Alltag glauben wir uns mit magischen Kräften behaftet. Wir haben Sehnsucht nach Intensität.
Der schnelle Wechsel in anderes Klima, andere Landschaften lässt uns wie Helden eines Films
sein. Wir wollen die Elemente spüren: die Hitze, die Kühle des Meeres, die Luft der Gipfel. Wir
wollen Grenzen ausloten. Warum sonst radeln biedere Beamte durch die Sahara, durchqueren
Durchschnittsbürger das Packeis, wollen Angestellte auf Achttausender? Je mehr wir uns
spüren, desto näher scheinen wir der Unsterblichkeit.“ Und Karl Born von der Fachhochschule
Harz in Wernigerode antwortet auf die nach dem 11. September 2001 gestellte Frage, warum
man reist, wenn denn alles so gefährlich sei? "Weil wir einerseits denken, dass uns selbst nichts
geschieht, und andererseits fatalistisch denken: wenn es passieren soll, kann es überall
passieren".
Sonnenbrand und Hautkrebs
"Ihr müsst euch eincremen!" warnten mich meine Eltern in den 50er Jahren auf Norderney.
Wenn ich es auf die leichte Schulter nahm, waren die vorstellbaren Folgen auf rote Haut und
schlimmstenfalls Sonnenstich mit Fieber beschränkt. Wir wussten es damals nicht besser.
Urlaubsbräune ist in Europa immer noch ein Synonym für Wohlbefinden. Heute aber haben wir
zum Glück ein Gefahrenbewusstsein.
Sonne ist der schlimmste Feind unserer Haut, die uns im Sommerurlaub täglich mit Strahlen
bombardiert. Diese Strahlen fördern nachweislich das frühzeitige Altern und die
Krebsentstehung. Statistiken belegen, dass jeder sechste von uns Hautkrebs bekommt und dass
in neunzig Prozent der Fälle dieser Hautkrebs eine direkte Folge von UV-Bestrahlung durch die
Sonne ist. Tatsächlich erhöht ein schwerer Sonnenbrand vor dem 18. Lebensjahr dramatisch das
Hautkrebsrisiko. Ein Sonnenbrand - gerötete und brennende Haut - verschwindet nach wenigen
Tagen wieder. Aber die Haut vergisst nicht. Die Erbsubstanz der Haut hat ein Gedächtnis. Je
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mehr Sonnenbrände sich ansammeln, desto mehr steigt das Risiko, dass sich später im Lauf des
Lebens ein Hautkrebs entwickelt. Wiederholte Sonnenbrände in den ersten 20 Lebensjahren
erhöhen das Hautkrebsrisiko markant. Die Hautkrebsrate steigt jedes Jahr um 7 Prozent.
Also: Ihr müsst Euch eincremen! Und - je nach Hauttyp, Haarfarbe und dem zusätzlichen
Risikofaktor Sommersprossen - nach 5 bis 40 Minuten raus aus der Sonne!
Spanien
Nirgendwo in Europa ertrinken so viele Menschen wie im Urlaubsland Spanien - nach Recherchen
der Organisation Blausand.de in jedem Jahr zwischen 2000 und 3000 Menschen. Riskant sind vor
allem Strandabschnitte auf den Kanarischen Inseln und an den Festlandstränden, aber auch auf
den Balearen.
Im Notfall: Deutsche Botschaft, Madrid, Tel. 915579000, Polizeinotruf (auch mobil) 112,
Unfallrettung / Notarzt 061.
Strömungen
Rip-Strömungen an den Stränden in Europa sind die gefährlichsten Ursachen für Badeunfälle und
für den Ertrinkungstod beim Badespass im Urlaub. Der Grund: Die "unsichtbaren Killer" tauchen
urplötzlich, überall und zu jeder Jahreszeit auf. Panikreaktionen sind dann vorprogrammiert.
Acht von zehn Rettungseinsätzen erfolgen wegen Rip-Strömungen. Die Gefahren werden durch
Kommunen, Hotels und Reiseveranstalter oft "totgeschwiegen" und die ahnungslosen Urlauber an
Badestränden Europas viel zu selten über diese Gefahren informiert.
Tauchen
"Do you remember when diving was dangerous and sex was safe?" (Kannst du dich noch an die
Zeiten erinnern, als Tauchen gefährlich und Sex sicher war?) steht auf dem T-Shirt meiner
thailändischen Tauchschule. Ist Tauchen heutzutage wirklich so sicher wie der Spruch
suggeriert? Eher wohl nicht. Zu vielfältig sind die Risiken und auch hier sind fehlende Kondition,
gesundheitliche Vorschädigung, Leichtsinn und die Missachtung des „Buddy-Prinzips“, nicht allein
abzutauchen, die hauptsächlichen Unfallgründe.
Teneriffa
Badewetter gibt es auf Teneriffa während des ganzen Jahres. Der schönste Strand, Playa las
Teresitas ist das Naherholungsgebiet der Hauptstädter aus Santa Cruz. Der mit mehr als 3
Kilometern längste (und helle) Naturstrand liegt bei El Médano im Süden der Insel. Alle anderen
der 43 Strände sind von Natur aus dunkel. Was für alle Kanarischen Inseln gilt, ist auch hier zu
beachten: Höchstens 30 Prozent aller Strandabschnitte sind bewacht und der rauhe Atlantik ist
extrem strömungsintensiv und kann urplötzlich - auch bei sonnigen Wetter - zur unsichtbaren
Gefahr werden. Auf Teneriffa, der größten Insel der Kanaren, gelten die Strände "Playa de
Socorro" bei Los Realejos und "Playa Bollulo" von La Orotava wegen häufiger Unterströmungen
als besonders gefährlich.
Thrombose
139
Im Zeitalter der oft klaustrophobieverdächtigen Enge in den fliegenden Röhren ist der Stau in
den Venen, der lebensbedrohlich sein kann, ein ernst zu nehmendes Thema. Schon der Flug auf
die Kanarischen Inseln kann Gefahr bedeuten. Kaum Beinfreiheit, im Sitz zur Bewegungslosigkeit
verdammt. Auch lange Bus- und Autofahrten, besonders wenn es richtig heiß ist, können für Ihre
Gesundheit gefährlich werden, denn: “Wer länger als 4 Stunden sitzend unterwegs ist, hat ein
deutlich erhöhtes Thromboserisiko”, warnt Olaf Förster von der Deutschen Gesellschaft für
Reise- und Touristikmedizin. Die Empfehlung: Wandern Sie einmal pro Stunde durch das Flugzeug
und nutzen Sie beim Auto- und Bus fahren die Pausen für körperliche Bewegungen. Und viel
trinken sollten Sie sowieso.
Tsunamis
Sollte man auf irgendeinem Wege von einem Erdbeben, insbesondere einem Seebeben erfahren
oder es selbst gespürt haben, muss auch mit einem Tsunami gerechnet werden. Dabei muss man
wissen, dass ein Tsunami aus einer Serie von Wellen besteht und die erste Welle dabei nicht die
höchste sein muss.
Als Hinweise auf das Auftreten eines Tsunami können bereits vor dem Auftreffen der Wellen
auf das Ufer laute Geräusche (wie von Autos oder einem Flugzeug) und merkwürdige kleinere
Wellenbewegungen, ein plötzliches Zurückweichen des Wassers und Schaumkronen weit draußen
auf dem Meer als Warnsignale auftreten
Um der Gewalt zu entgehen, besteht der beste Schutz im Aufsuchen höher gelegener Gebiete.
Sollte die Zeit zu kurz sein, sollten die oberen Stockwerke fester Gebäude aufgesucht werden.
Bei den genannten Anzeichen für ein Tsunami sofort aus dem Wasser laufen, alles stehen und
liegen lassen und weg vom Strand. Flüsse, Fjorde oder engere Buchten sollten unbedingt
gemieden werden, da sich Wellen hier auf Grund der Enge auftürmen können. Schiffe, wie
Sportmotorboote oder Segelschiffe sollten so schnell wie möglich tieferes Wasser aufsuchen
und sollten auf keinen Fall versuchen, an Land zu kommen.
Türkei
Zuständig ist oft nur das Hotelpersonal, flächendeckende Strandsicherheit ist an türkischen
Badestränden nicht vorhanden. Oft scheint es die Einstellung zu geben, dass zumindest
außerhalb der großen Touristenzentren die Verantwortung ausschließlich bei den Urlaubern liegt.
So genannte Naturbadestrände, das sind öffentliche Strandabschnitte, die nicht nur von Gästen
eines Hotels besucht werden können, sind grundsätzlich nicht bewacht. An der „türkischen
Riviera“ zwischen Antalya und Alanya wurden in den letzten Jahren viele Badeunfälle bekannt.
Im Notfall: Deutsche Botschaft, Ankara, www.ankara.diplo.de,Tel.: (0312) 4266959, Polizei: 155,
Unfallrettung/Notarzt: 112, in den Mobilnetzen: 112.
Tunnel
Wichtig ist es, dass Sie im Tunnel die Höchstgeschwindigkeit beachten, einen großen
Sicherheitsabstand einhalten, niemals wenden oder rückwärts fahren und eventuelles Feuer nur
im Anfangsstadium selbst löschen – dann: sofort weg vom Feuer und den Tunnel über die
Notausgänge verlassen. Der ADAC und seine Partnerclubs haben 2007 insgesamt 51 Tunnel in 13
europäischen Ländern unter die Lupe genommen. 18 Tunnel erhielten die Note „sehr gut“. Bei
einem Fünftel der Testkandidaten musste die „Rote Karte“ gezeigt werden. Dreimal wurde das
Urteil „bedenklich“ vergeben, siebenmal sogar ein „mangelhaft“.
140
Überfälle
Die nachstehenden Tipps haben zum Ziel, dass Sie nichts dazu beitragen, die Situation eskalieren
zu lassen und Sie keinen Schaden an Leib und Leben nehmen.
Die wichtigste Empfehlung: Rennen Sie nicht wie ein ängstlich aufgescheuchtes Huhn etwa durch
die South Bronx in Manhattan rennen (übrigens ein Vorurteil – die Kriminalität von New York
liegt deutlich unter der Rate anderer amerikanischer Großstädte). Versuchen Sie einfach, sich so
zu verhalten wie Einheimische. Wenn Sie überfallen werden: Geben Sie bereitwillig Ihr
„Diebesgeld“ ab, das Sie sich schon vorher in einer separaten Tasche zurechtgelegt haben. Und
seien Sie nicht zu geizig: 30 bis 40 Euro sollten es schon sein, sonst verärgern Sie den Dieb. Sie
wollen Eskalationen verhindern! Dass die Zeit des (sichtbaren und leicht wegzunehmenden)
Brustbeutels vorbei ist, hat sich sicher herumgesprochen. Empfehlenswert ist eine innen in die
Hose eingenähte nicht sichtbare Geldtasche mit Reißverschluss, in der auch Ihre Kreditkarte
Platz hat.
Unfallversicherung
Gute Anbieter mit verbraucherorientierten Versicherungsbedingungen haben eindeutige
Regelungen dahingehend getroffen, dass auch Badeunfälle als mitversichert gelten. Sie sollten
sich rechtzeitig bei ihrer Versicherung informieren und abklären, inwieweit Sie auch für diesen
Fall der Fälle abgesichert sind. Insbesondere bei Altverträgen lauern gelegentlich
Leistungslücken.
Unterkühlung
Unterkühlung, Hypothermie, ist ein Zustand nach Kälteeinwirkung auf den Körper eines
Lebewesens, das heißt, die Wärmeproduktion war über längere Zeit geringer als die
Wärmeabgabe. Unterkühlung kann Gesundheitsschäden oder Schlimmeres herbeiführen.
Bei Unfällen im Wasser muss man immer, auch bei sommerlichen Temperaturen, von einer
Unterkühlung des Verunglückten ausgehen. Die optimale Rettungskette in Fällen von
Unterkühlung sieht so aus: Notruf absetzen oder veranlassen, den Geretteten schonend aus dem
Gefahrenbereich bringen; wenn möglich, in einen Raum mit Zimmertemperatur, mindestens an
einen windstillen Ort, ihn flach lagern, wenig bewegen und mit Wolldecken zudecken oder
einwickeln, eine Rettungsdecke nie direkt auf die Haut bringen, (diese wäre wegen fehlender
Isolationswirkung nutzlos), zunächst nur den Körper (entsprechend dem zentralen Kreislauf)
mittels Decken etc. aufwärmen, Kontrolle der Vitalfunktionen, Betreuen des Patienten bis zum
Eintreffen des Rettungsdienstes.
Unterlassene Hilfeleistung
Wenn Sie bei Notfällen nicht die zumutbare, also die Ihren Fähigkeiten entsprechende Hilfe
leisten, machen Sie sich nach § 323 c des Strafgesetzbuchs wegen unterlassener Hilfeleistung
strafbar. Bevor Sie Ihr Leben riskieren: es gibt Ausnahmen, etwa bei erheblicher
Eigengefährdung des Helfers. Diese ist gegeben, wenn Sie einen Schwimmer draußen im Wasser
sehen, der in eine Rip-Strömung geraten ist. Sie müssen sich denselben Gefahren nicht
aussetzen, machen sich nicht strafbar und würden auch unverantwortlich Ihrem eigenen Leben
gegenüber handeln. Eine zumutbare Maßnahme ist es aber in jedem Fall, die Rettungskette in
Gang zu setzen, einen Notruf abzusetzen und Hilfe herbeizuholen.
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Verantwortung
Solange nichts passiert, fragt selten jemand nach der Verantwortung. Aber wenn ein Unfall
passiert, ist leider oft auch unklar, wer verantwortlich dafür ist. Hier einige Beispiele: Bei einem
Badeunfall machen Eltern, die ihre Aufsichtpflicht vernachlässigt haben, oft die Badeaufsicht
verantwortlich. Bei einem Badeunfall sind es der Verunglückte, die Rettungsorganisation, die
Kommune oder der Reiseveranstalter. Wenn Organisationen oder Menschen nicht in Frage
kommen, werden Regen, Eisglätte, Nebel, schlechte Sicht (beim Autofahren) oder Wellen, Wind,
Strömungen, Hitze oder Tsunami (bei Wasserunfällen) "verantwortlich" gemacht.
Menschen verwechseln Ursache und Verantwortung. Wenn etwa die Hitze des Vorjahres Schuld
an der Tatsache sein soll, dass im letzten Jahr mindestens ein Drittel mehr tödliche Badeunfälle
passiert sind, vergisst der Mensch, dass man nicht in der Lage war, sich durch vorbereitende
Maßnahmen auf die Launen der Natur einzustellen.
Verkehrsunfälle
2009 gab es wieder 10 Prozent weniger Verkehrstote als im Jahr davor. Das ist die niedrigste
Zahl seit 1950, obwohl es heute im Vergleich drei Mal so viel Autos gibt. Die Opfer sind zu 60
Prozent Autofahrer, 16 Prozent weniger als im Vorjahr.
Übrigens gibt es im Gegensatz zum Ertrinken bei Verkehrsunfällen ein deutlich größeres
Gefahrenbewusstsein - nicht zuletzt verursacht durch eine wirksame Kampagne gegen den
Unfalltod auf Deutschlands Straßen - und riesengroße Unterschiede bei präventiven Maßnahmen
wie der technischen Entwicklung von Fahrzeugen, Unfall verhindernde Maßnahmen im Straßenbau
und der flächendeckenden Optimierung im Bereich des Rettungsmanagements, während 98
Prozent der Risikobadestellen in Deutschland (Seen, Flüsse, hier ertrinken die meisten
Menschen, unbewacht und ungesichert sind.
Wachkoma
Bei Statistiken zur Zahl von Ertrinkungsopfern wird oft vergessen, dass auf einen Todesfall
vermutlich noch einmal fünf bis zehn Beinahe-Ertrinkungsfälle kommen. Diesen Menschen, meist
sind es Kinder, kann zwar durch intensivmedizinische Maßnahmen immer häufiger das Leben
gerettet werden, jedoch sind die Langzeitresultate ernüchternd, wie eine Untersuchung zeigt:
Jedes vierte beinah ertrunkene Kind, das wiederbelebt wird, stirbt innerhalb des ersten Jahres
nach dem Unfall. 18% liegen nach einem Jahr immer noch im Koma, bei 37% bleiben schwere und
bei 13% mäßige neurologische Schäden zurück. Nur in 7% der Fälle finden sich leichte bis gar
keine neurologischen Defizite. Jedes zweite Kind trägt eine Epilepsie davon.
Warnflaggen
In den meisten Ländern Europas gibt es die folgende Flaggenfarben:
Grün: Geringe Gefahr Baden erlaubt
Gelb: Mittlere Gefahr, Baden gefährlich
Rot: Hohe Gefahr, Baden verboten
An vielen Stränden gibt es ein farbenfrohes und buntes Bild und es sieht aus wie auf einem
amerikanischen Kindergeburtstag. Der Nachteil: An etlichen Stränden sind gelbe und rote
Warnflaggen nicht gut zu erkennen.
142
Empfehlung: Erkundigen Sie sich in Ihrem Urlaubsland nach Ausnahmen und seien Sie skeptisch,
wenn die grüne Flagge gehisst ist. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass der Badestrand auch
bewacht ist. Grüne Flaggen vermitteln eine trügerische Sicherheit.
Der Weltverband der Wasserrettungsorganisationen hat inzwischen ein neues
Sicherheitskonzept vorgeschlagen. Demnach sollen rot/gelbe Flaggen in den nächsten Jahren
weltweit an Stränden und Badegebieten eingeführt werden. Man hat sich darüber hinaus für das
Setzen von Windsäcken (rot-weiss oder orange) ausgesprochen. Sie sollen nur bei ablandigem
Wind gesetzt werden und auf die Gefahr hinweisen, auf offenes Meer abzutreiben.
Warnschilder
Warnschilder an Europas Badestränden? Diese sind unverständlicherweise oft auch an
unbewachten Stränden absolute Mangelware. Die Tatsache, dass die mit Abstand größten
Gefahren am Mittelmeer und am Atlantik Rip-Strömungen sind und auf diese Gefahren nur in
Ausnahmen hingewiesen wird, ist ein Skandal.
Die Zeichen, auf die Sie vor dem Baden achten sollten, sind: Warnflaggen, Hinweisschilder auf
spezielle Bedingungen (Bedeutungen der Flaggen, Badeverbot, Strömungen, Standorte von
Rettungsschwimmern und Erste Hilfe-Stationen). Und es wäre schon nicht schlecht, wenn Sie
wissen, wie Sie eindeutig signalisieren können, wenn Sie Probleme im Wasser haben: Arme nach
oben und zur Seite schwenken. Das ist deshalb wichtig, weil Ihre Rufe bei intensiven
Wellengeräuschen akustisch untergehen, geschluckt werden. Keiner hört Sie. Aber man sieht
Sie.
Wasserrettungshunde
Wasserretter gibt es auch auf vier Beinen - nicht unumstritten, trotzdem faszinierend. Hunde –
auch wenn Sie in Wasserrettung ausgebildet sind – werden sich auch in Notsituationen
artgerecht verhalten und individuellen Rettungssituationen mit panisch reagierenden Menschen
nicht unbedingt gerecht werden. Immerhin soll es bereits Lebensrettungen der tierischen Art
gegeben haben.
In Italien zum Beispiel tragen Lebensretter Fell statt knapper Badehose: Wasserrettungshunde
bewachen 8000 Kilometer Küste. Am Lago d`Iseo in Norditalien werden sie für ihren
gefährlichen Einsatz trainiert. Mit dem Hubschrauber gelangen die Retter auf vier Beinen zur
Unglücksstelle. Dann kommt der Sprung ins Meer. Vor Triest gibt es für zwei Tage ein großes
Gebell. Dort treffen sich alle Rettungsstaffeln des Landes zu einem Manöver.
Wattenmeer
Wenn Sie die „10 Gebote für unkundige Wattwanderer“ beachten, schützen Sie sich vor den
häufig unterschätzten Gefahren: 1. Nie allein ins Watt und bei aufziehendem Gewitter oder bei
Nebel sofort wieder raus. 2. Vorher nach Wattwanderungszeiten (Tafel) erkundigen. 3.
Markierungspunkt auf dem Festland merken. 4. Muschelbänke meiden (Verletzungsgefahr). 5.
Auf den Rat von Kundigen hören. 6. Nie in der Fahrinne baden. 7. Bei auflaufendem Wasser nie in
der Nähe von Prielen aufhalten – besonders gilt das für Nichtschwimmer. 8. Benutzen Sie keine
Luftmatratzen im Watt. 9. Ablaufendes Wasser und Ostwind sind riskant – auch für gute
Schwimmer. 10. Bei ablaufendem Wasser nicht zu weit hinausschwimmen.
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Und es kann Ihnen auch nicht schaden, wenn Sie Ihr Handy mitnehmen. Höchstens dem Handy.
Zehn Irrtümer
Es geht dabei um die größten Gefahren beim Schwimmen im Meer, die tragischerweise von den
meisten Urlaubern erst dann erkannt werden, wenn sie diese Probleme hautnah erleben.
Rettungsschwimmer berichten, dass Rip-Srömungen die Ursache für bis zu achtzig Prozent aller
Rettungseinsätze im offenen Meer sind.
Ertrinken wird man kaum verhindern können.
Irrtum 1. Experten haben ermittelt, dass weltweit vier von fünf aller Ertrinkungsunfälle durch
vorbeugende Maßnahmen verhindert werden könnten.
Ich bin ein guter Schwimmer, ich bin weniger gefährdet.
Irrtum 2. Und Auch gute Schwimmer sind den Kräften des Wassers oft nicht gewachsen, wenn
sie von Strömungen weggezogen werden. Die Erfahrung zeigt auch, dass weniger erfahrene
Schwimmer mehr Respekt vor dem Meer haben
Aus einer Unterströmung komme ich leicht wieder raus.
Irrtum 3. Selbst wenn Sie wissen, wie Sie sich verhalten sollten (nicht gegen die Strömung
kämpfen und sich seitlich heraus treiben lassen), könnte Ihnen entstehende Panik einen Strich
durch die Rechnung machen.
Unterströmungen treten nur im Winterhalbjahr auf.
Irrtum 4. Auch in der Hauptsaison und in den heißen Sommermonaten muss mit Strömungen
gerechnet werden.
Wenn Strände nicht bewacht sind, sind sie nicht gefährlich.
Irrtum 5. Das wäre schön! Die meisten Strände in Europa sind nicht bewacht. Bewachung findet
(wenn überhaupt) nur in Urlaubszentren und an stark besuchten Stränden statt. Es ist, wenn
möglich, immer besser, an bewachten Stränden zu baden.
Wenn jemand Hilfe braucht, schwimme ich sofort hin und rette ihn.
Irrtum 6. Jeder zehnte Retter kommt durch unüberlegte Rettungsaktionen ums Leben. Sie
gefährden sich zusätzlich, wenn Sie allein retten wollen, ohne vorher eine Rettungskette
(Notruf, Rettungswacht, Abstimmung mit anderen Strandbesuchern) in Gang zu setzen. Retten
sollten Sie möglichst nur mit anderen Menschen, mit Auftriebskörpern und nur dann, wenn Sie
sich dies körperlich zutrauen.
Strömungen entstehen nur, wenn der Wind Richtung Meer weht.
Irrtum 7. Viel gefährlicher ist es oft, wenn der Wind auflandig Richtung Strand weht und das
zurücklaufende Wasser mit dem auflandigen Wasser Verwirbelungen bildet. Gefährlich sind
ablandige Winde dann, wenn Luftmatratzen oder Gummiboote benutzt werden - besonders von
Kindern.
Bei grüner Flagge gibt es keine Gefahr, ich brauche also nicht aufzupassen.
Irrtum 8. Die grüne Flagge suggeriert (trügerische) Sicherheit, die es nicht gibt. Außerdem
können sich die Bedingungen innerhalb kurzer Zeit ändern. Grüne Flaggen haben an Badestränden
nichts zu suchen!
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Strömungen gibt es eigentlich nur bei höheren Wellen.
Irrtum 9. Entscheidend sind vor allem Windstärke, Windrichtung und die Bodenform unter
Wasser. Schwallbrecher zum Beispiel brechen unterhalb der Wasseroberfläche und können rund
um Felsen sehr gefährlich sein.
Ich sehe schon, wenn es gefährlich ist.
Irrtum 10. Unterströmungen sind für Laien unsichtbar, nur spürbar.
P.S.: Kommen Sie gut wieder zurück!
Wenn Sie sich diese Tipps für die Sicherheit im Urlaub gelesen haben, sind Sie, Ihre Familie und
Ihre Freunde bestens dafür gerüstet, um gut erholt und sicher zurückzukommen.
Wo auch immer Sie Ihren Urlaub verbringen, am Atlantik, am Mittelmeer oder in Deutschland am
Badesee in Ihrer Nähe: Wir wünschen Ihnen für die schönsten Wochen des Jahres alles Gute.
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Pressestimmen zu Rolf Lüke
"Dass sich die Situation in den letzten Jahren leicht gebessert
hat, haben die Spanier einem Deutschen zu verdanken: Der
Bremer Unternehmensberater Rolf Lüke setzte sich für ein
funktionierendes Sicherheits- und Warnsystem auf allen Inseln
ein. Anlass war der Ertrinkungstod seiner Schwester, einer
Hamburgerin". (Hamburger Abendblatt)
Lüke schätzt, dass jedes Jahr 50 bis 70 Urlauber allein auf Mallorca ertrinken, offiziellen
Statistiken, die meist bei 20 bis 30 Toten liegen, misstraut er: "Wer im Wasser an
Herzversagen stirbt, wird nicht mitgerechnet, dabei sind Herz-Kreislauf-Probleme häufigste
Ursache bei Ertrinken." (Welt am Sonntag)
Bei den Behörden von Formentera hat er bereits erwirkt, dass Rettungsschwimmer an den
Stränden postiert werden. 80 Prozent aller Todesfälle weltweit hätten durch Aufklärung
verhindert werden können, so Lüke. Während bei Erwachsenen das Überschätzen der eigenen
Kräfte und Alkoholmissbrauch fatale Folgen haben können, sind es bei Kindern meist die Eltern,
die ihre Aufsichtspflicht versäumen". (mare)
Angesichts der gestiegenen Zahl von Ertrunkenen müssen die Kommunen nach Ansicht der
Wassersicherheits-Initiative Blausand.de bei der Bewachung von Badegewässern stärker in die
Pflicht genommen werden. "Denn sie sind dafür verantwortlich, dass ihre Flüsse und Seen
entweder ausreichend bewacht oder wirksam abgesperrt werden", sagte Blausand-Gründer Rolf
Lüke. "Aber in 90 Prozent der Fälle in Deutschland ist das nicht gewährleistet". (Die Welt)
Beates Bruder Rolf Lüke kämpft gegen den Tod am Badestrand. Im Internet. Blausand.de heißt
seine Initiative. Was einmal als Trauerbewältigung begann, ist mittlerweile eines der größten
Portale zum Thema Strandsicherheit. Unterstützt von freiwilligen Helfern in ganz Europa; bietet
der Unternehmensberater aus Bremen Informationen zu Stränden von Portugal bis zur Türkei.
Hunderte Bittbriefe hat er an die Verantwortlichen in den Badeorten geschrieben. Doch viele
veröffentlichen nicht einmal die Zahl ihrer Unfälle - "aus Angst vor Prestigeverlust", vermutet
Lüke. (Stern)
Ist ein Kind erst mal untergegangen, blieben vielleicht noch "3 bis 4 Minuten", um es zu retten,
so Lüke. Eine niedrige Wassertemperatur erhöht dabei die Überlebenschancen, denn damit wird
der Sauerstoffbedarf von Herz und Gehirn gesenkt. Umgekehrt sind die derzeit herrschenden
hohen Wassertemperaturen ungünstig, wenn ein Mensch keine Luft mehr bekommt. Werden
Kinder nach längerer Zeit gerettet, bleiben oftmals irreparable Hirnschäden. Kinder, die nicht
schwimmen können, geraten also schon in Gefahr, wenn sie etwa in einem See nur wenige
Zentimeter zu weit ins Tiefe gegangen und dabei mit dem Mund unter Wasser geraten sind. (taz)
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Autoren
Rolf Lüke
Nach dem Ertrinkungstod seiner Schwester Beate auf der spanischen Ferieninsel Formentera im
September 1999 gründet Rolf Lüke das Webportal www.blausand.de und erwirkt in den
Folgemonaten ein Bewachungs- und Sicherheitskonzept für die kleine Baleareninsel. Die
Ertrinkungszahlen gehen daraufhin deutlich zurück. Rolf Lüke, Herausgeber dieses Buchs, will
durch Aufklärung über Ertrinkungsgefahren dazu beitragen, die Zahl der Ertrinkungsopfer in
Europa zu reduzieren.
Diane Unkert
Im Sommer 2000 verliert ihr Sohn Stephan im Alter von 6 Jahren sein Leben bei einem
Badeausflug auf der Insel Djerba. Ein Urlauber findet ihn im Schwimmerbecken.
Susanne Frerix
Im September 2004 ertrinkt der Vater von Susanne Frerix an der Costa de la luz in Andalusien.
Ulla Suck
Auf der Ferieninsel Mallorca, am Strand von Can Picafort, ertrinkt der Vater von Ulla Suck im
Oktober 2003 an seinem ersten Urlaubstag in einer Rip-Strömung. Offiziell sollte dieser Strand
bis Ende Oktober bewacht sein.
Brigitte Flanagan
Im Jahr 2007 ertrinkt Liam Flanagan vor den Augen seiner Frau an einem unbewachten Strand
im türkischen Alanya. Inzwischen gibt es an diesem Strand mehrsprachige Warnschilder, weil
Brigitte Flanagan über türkische Medien Druck gemacht hat. Sie klagt gegen die zuständige
Gemeinde in der Türkei, weil Liam Flanagan trotz bekannter Strömungsgefahren und früherer
Badeunfälle an diesem Strand nicht gewarnt worden war.
Evelyn Wagner
Die Mutter von drei Kindern fliegt im Juli 2001 mit ihrer Familie nach Ouranoupolis auf der
griechischen Kloster - Halbinsel Athos, als ihr Sohn Philipp am ungesicherten Absaugstutzen im
Auslaufbecken einer Wasserrutsche, ohne Genehmigung gebaut, angesaugt wird und ertrinkt.
Evelyn Wagner klagt und erwirkt nach jahrelangem Kampf ein Urteil vor dem Bundesgerichtshof,
das Reiseveranstalter auch für fremde Freizeitanlagen verantwortlich macht, die auf dem
Urlaubsgelände zur Verfügung stehen.
Özkan Arslan
Die Schwester des Berliner Drehbuchautors kommt 2004 an einem unbewachten Badestrand in
Andalusien (Spanien) ums Leben. Im Brief an eine Freundin berichtet ihr Bruder von den Tagen
der Ungewissheit und der Verzweiflung.
Elisabeth Seitz
Im Oktober 2003 will das Ehepaar Seitz aus München einen gemeinsamen Campingurlaub auf
Sizilien verbringen. Am dritten Urlaubstag ertrinkt Roland Seitz am Strand von Sferracavallo in
der Nähe von Palermo vor den Augen seiner Frau.
Andrea Goebel
Im September 2005 nehmen Nicole Goebel und ihr Freund Frank an einem organisierten Ausflug
zur Westküste der Insel Fuerteventura teil. An der Costa Agua Liques stellt sich Nicole auf ein
flaches Plateau am Meer, damit Frank ein Foto von ihr machen kann. Die Schwester von Andrea
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Goebel wird von einer großen Welle umgerissen und aufs Meer hinausgezogen. Frank wirft sich in
die Wellen, um sie zu retten.
Hans-Jürgen Christ
Sein Sohn Robert, gerade 30 Jahre alt geworden, stirbt im September 2008 beim Schnorcheln
auf der Insel Saona im Süden der Dominikanischen Republik. Zweieinhalb Stunden wartet die
Ausflugsgruppe vergeblich auf seine Rückkehr. Dann wird Robert Christ in etwa zwei Metern
Tiefe gefunden. Es fehlt ihm ein Arm. Die Autopsie ergibt, dass ihn ein Motorboot überfahren
haben muss.
Wolfgang und Ingrid Scheffelmeier
Im März 2002 ertrinken die Soldaten Samuel Scheffelmeier (21) und Stefan Paul (22) während
eines Nato-Manövers in der Ostsee, als ein Beiboot kentert, das die beiden Soldaten von einem
Besuch der britischen Fregatte „Cumberland“ zurück zur „Mecklenburg-Vorpommern“ bringen
soll. Der Sohn von Wolfgang und Ingrid Scheffelmeier kämpft 22 Minuten um sein Leben.
Ronald Schmid
Der Frankfurter Rechtsanwalt Prof. Dr. Ronald Schmid gilt als Deutschlands bekanntester
Reiserechtler, war von 1992 bis 2007 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Reiserecht e.V.
und ist seit 1999 Honorar-Professor an den Technischen Universitäten Darmstadt und Dresden.
Kathrin Böhler
Am Karfreitag 2009 stirbt Lisa, 12 Jahre alt, vor den Augen ihrer Freunde beim Kajakfahren im
südfranzösischen Fluss Ardèche. Lisa wurde bewusstlos und konnte sich nicht mehr befreien,
nachdem sie gekentert war, das Boot verlassen hatte, von der Strömung mitgerissen wurde und
mit ihrer Schwimmweste in einem Felsloch stecken geblieben war. René hat kurz nach ihrem Tod
Lisa-Aufkleber drucken lassen und alle aus Lisas Verein haben sich Aufkleber auf ihre Boote
geklebt. Auch Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus anderen Vereinen, die Lisa kannten,
wollten einen Aufkleber haben. 2009 ist die gesamte deutsche Junioren- Nationalmannschaft
der Wildwasserkanuten mit Lisa-Aufklebern auf dem Boot gestartet.
Johannes Schultz
Johannes Schulz entwickelt das Kunstobjekt „La Riada“ auf einer Landzunge der spanischen Insel
Formentera. Zum Wasser hat der frühere Leiter des BMW-Museums eine respektvolle
Beziehung, nachdem er als Kind fast im Rhein ertrunken wäre. Wenn er in der Nähe seiner
Steinskulpturen im Mittelmeer schwimmen geht, ist immer eine Palette aus Holz in der Nähe.
Antje Wiederhold
Gleich mehrere Lebensretter hat Antje Wiederhold in Litauen am Kurischen Haff: ihren Mann
und zwei Ärzte am Strand.
Heinz Kirchner
Auf Usedom gerät der Urlauber in eine Unterströmung und kann sich gerade noch retten. Heinz
Kirchner warnt später einen Vater vor der Gefahr. Der schaut ihn ungläubig an. Seine Kinder
bleiben im Wasser.
Klaus Schäfer
Der Urlauber entkommt dem Ertrinkungstod am „Playa Muerte“ auf Fuerteventura nur knapp.
Wilfried Wittstruck
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Prof. Dr. Wilfried Wittstruck arbeitet im Institut für Geistes- und Kulturwissenschaften an der
Universität Vechta (Niedersachsen). Tätigkeitsschwerpunkte: Literaturwissenschaft und –
didaktik.
Ines Heckmann
Die Urlauberin aus Neuss sieht, dass eine Frau in Portugal reanimiert wird. Es gibt viele
Schaulustige. Einer von ihnen wird wenig später fast selbst zum Opfer.
Eva Schabedoth
Never trust the sea: „Trau niemals dem Meer, auch wenn es völlig harmlos aussieht“, sagt Eva
Schabedoth. „Was wir jedes Jahr in der Bretagne an Idiotie erleben, ist einfach unfassbar“.
Guido
Badeunfall auf Mallorca. „Die Jungs“, sagt Guido, „haben alles falsch gemacht, was man falsch
machen konnte“.
Karlheinz Schmitt
Der Hamburger und seine Frau haben die Insel Formentera vor einigen Jahren von der Liste
ihrer Urlaubsziele gestrichen, weil sie aus Altersgründen keinen Hilferufenden mehr retten
können und nicht zusehen wollen, wie Badeurlauber ertrinken.
Stefan Bauer
Auf der kanarischen Insel La Palma werden 3 Personen von einer Riesenwelle erfasst.
Claudia Stellmacher
Seit über 40 Jahren Sylt-Urlauberin, erlebt die Mutter von 2 Kindern im Juli 2009 das reine
Chaos am Strand von Westerland. Ihre Absicht, die Ereignisse dieses Tages zum Thema zu
machen, stellen sich als schwierig heraus.
Thomas Birker
Der Urlauber rettet einer Mutter von zwei Kindern das Leben. Weder Strandbesucher noch
Retter bekommen etwas davon mit.
Jo-Ann Hüls
Jedes Jahr, immer am 17. Juli, feiert Jo-Ann Hüls ihren zweiten Geburtstag, seitdem sie 1981
um ein Haar in Spanien ertrunken wäre. Bei dem unbekannten Mann aus Backnang, der vom Strand
aus „Kette bilden!“ rief und dadurch die Rettungsaktion auslöste, konnte sie sich bis heute nicht
bedanken.
Karl-Heinz Fucker
Nachdem zwei Kinder aus dem Wasser gerettet werden, ziehen sie sich an und verschwinden mit
ihrem Schlauchboot unter dem Arm. Der Retter hat die Kinder nie wieder gesehen.
Norbert Mertens
Ein Riff in der Bucht von Sa Roqueta auf Formentera wird dem Schnorchler fast zum Verhängnis.
Jürgen Kosian
Der Hamburger Unternehmensberater überlebt im Dezember 2004 zusammen mit seiner Frau
Heidi und den drei Kindern Michelle, Phil und Nina (Tochter Nadine war zu Hause geblieben) den
Tsunami. Zwei Drittel der etwa 8000 Tsunami-Opfer Thailands sterben im thailändischen Khao
Lak. Im „Magic Lagoon“, dem Urlaubshotel von Familie Kosian, verliert die Hälfte der über 700
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Gäste und Mitarbeiter ihr Leben. Jürgen Kosian möchte “das zurückzahlen, was uns geschenkt
wurde“, versteigert zu Gunsten der Opfer eine Chevrolet Corvette, Baujahr 1958, im Wert von
75.000 Euro und engagiert sich mit „Lichtblick - Verein für Katastrophenopfer e.V.“ für
Hilfsprojekte in Südostasien.
Jochen Börner
Ein unachtsamer Moment im September 1994 löst eine Tragödie aus. Der damals 19 Monate alte
Philip fällt geräuschlos in einen Teich und lebt seitdem im Wachkoma. „Alles, was bleibt, ist die
Hoffnung und die Liebe, die andere dir entgegenbringen“ sagt sein Vater.
Claudia Neumann
Am 11. Juli 2005 geht Tom, der Sohn von Claudia Neumann, während eines beaufsichtigten
Schwimmkurses in Braunschweig unbemerkt unter. Ein tauchender Badegast entdeckt ihn erst
nach mehr als vier Minuten. Der Notarzt trifft nach weiteren 20 Minuten ein. Tom überlebt
schwerstbehindert.
Hans Heinrich Tietje
Als der Ruheständler und sein Bernhardiner Alfred im Januar an einen See kommen, bricht der
Hund im Eis ein und ertrinkt. Fast wäre Hans Heinrich Tietje auch noch ums Leben gekommen,
nachdem er vor Entsetzen das Bewusstsein verliert und erst später von einem Spaziergänger mit
Unterkühlungen gefunden wird.
Vorläufiges Manuskript zum Buch „Der Himmel stand still – Menschen berichten über das Ertrinken“
Autor: Rolf Lüke | Werderstr. 39/41 | 28199 Bremen | Mobil 0172/4003073
Mail: [email protected] | Web: www.blausand.de, www.beachsafety.eu
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