Die Berufsmoral auf dem Prüfstand der Ethik

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Die Berufsmoral auf dem Prüfstand der Ethik
Die Berufsmoral auf dem Prüfstand der Ethik
Soziale Arbeit als wertorientiertes Handeln
Die Philosophin Annemarie Piper eröffnete die Arbeitstagung von AvenirSocial mit weit
gefächerten Reflexionen zur Berufsmoral. Weil die meisten Menschen nicht selbständig
arbeiten, sondern in abhängigen Berufen tätig sind, gerät ihre Berufsmoral mit dem Ideal der
Autonomie in Konflikt. Die Berücksichtigung ethischer Werte und moralischer Normen ist
aber unabdingbar, um das Kerngeschäft Sozialer Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen
ausüben zu können.
Von Annemarie Pieper
Mit Berufsmoral oder Standesethos bezeichnet man einerseits die Einstellung zu der beruflichen
Tätigkeit, die man ausübt, das persönliche Engagement also, mit dem man seine Kräfte im Beruf
einsetzt. Andererseits ist mit Berufsmoral das Ensemble von Regeln gemeint, wie sie zum Beispiel
in einem Pflichtenheft zusammengefasst sind. Die Berufsmoral stärkt das individuelle
Verantwortungsbewusstsein und steckt den Handlungsspielraum ab, innerhalb dessen die
Arbeitsleistung erbracht werden muss und hinsichtlich ihrer Effizienz bewertet wird. Die meisten
Menschen arbeiten nicht selbständig, sondern in abhängigen Berufen. Und dies bringt hinsichtlich
der Berufsmoral Probleme mit, Probleme, die mit dem Ideal der Autonomie zusammenhängen.
Ich möchte dieses Problem daher in einem ersten Schritt im Zusammenhang mit der moralischen
Entwicklung diskutieren, denn diese Entwicklung haben wir alle durchlaufen. Sie nachzuvollziehen
hilft uns einerseits, uns selbst zu verstehen, andererseits aber auch, was gerade in sozialen
Berufen wichtig ist, bei der Einschätzung des Selbstbildes anderer. In einem zweiten Schritt werde
ich dann auf die Berufsmoral eingehen, indem ich sie als Spezialfall moralischer Selbstbestimmung
charakterisiere. Abschliessend möchte ich mit Ihnen einen Blick auf jene Werte werfen, die in
westlichen Zivilisationen das normative Gerüst für eine moralische Praxis abgeben.
1. Die moralische Entwicklung: Das eigene Selbstverständnis und das Selbstbild anderer
besser verstehen
Der moderne Mensch versteht sich als freies Wesen, wobei mit Freiheit nicht eine natürliche
Eigenschaft, sondern eine erworbene Kompetenz gemeint ist. Wir werden nicht frei geboren,
sondern ganz im Gegenteil als schutzlose, hilfsbedürftige, von der Fürsorge anderer abhängige
Wesen. Wenn wir uns trotz dieser Ausgangsbedingungen dennoch Freiheit zuschreiben, dann nicht
in einem deskriptiven, sondern in einem normativen Sinn: Freiheit ist das Ziel, auf das hin sich das
menschliche Individuum entwickeln soll.
Wie für alle normativen Konzepte gilt auch für das Freiheitspostulat, dass nur solche Handlungen
zulässig sind, die die Ausgangsbedingungen, unter denen sie erfolgen, bestätigen und erhalten.
Meine Handlung ist nur dann wahrhaftig, gerecht, solidarisch, wenn sie wiederum wahrhaftiges,
gerechtes, solidarisches Handeln generiert, anstatt die Voraussetzungen für solches Handeln zu
destruieren. Das gleiche gilt für die Freiheit. Eine Freiheit, die ich für mich fordere, unter
Inkaufnahme der Unfreiheit anderer, vernichtet ihre Ausgangsbedingungen und damit ihren
normativen Geltungsanspruch.
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Dies zu lernen ist schwer, weil naturgemäss jeder für sich das meiste, das beste, das Maximum will.
Das meiste, beste und Maximale im Sinne der Moral ist jedoch Freiheit im Sinne von Autonomie,
wörtlich verstanden: Freiheit, die sich selbst (autos) einen Nomos, eine Norm, ein Gesetz gibt. Und
dieses Gesetz beinhaltet, dass nur der sich Freiheit zuschreiben darf, der in seinem Handeln die
Ausgangsbedingungen der Freiheit für jedermann aufrechterhält. Bis zu dieser Einsicht braucht es
einen langen Weg, der durch heftige Kämpfe gegen sich selbst und die anderen, als Rivalen
wahrgenommenen Mitmenschen gekennzeichnet ist.
Viele Autoren haben diesen Weg der Autonomwerdung des Individuums als einen über mehrere
Stufen erfolgenden Entwicklungsprozess beschrieben. Besonders anschaulich ist dies nach
meinem Dafürhalten Friedrich Nietzsche gelungen. Nietzsche hat in seinem Hauptwerk Also sprach
Zarathustra von drei Verwandlungen gesprochen, die der einzelne im Zuge seiner moralischen
Entwicklung durchmacht. Nietzsche bezeichnet die im Verlauf dieser drei Verwandlungen erreichten
Stufen als Stufe des Kamels, des Löwen und des Kindes. Wie die Namen bereits andeuten, sind die
beiden ersten Stufen noch tierische Vorformen der eigentlich menschlichen Stufe, der des Kindes.
Wer die erste Stufe erreicht hat, verwandelt sich in ein Kamel und hat sich damit bereits bis zu
einem gewissen Grad von den Ausgangsbedingungen der biologischen Evolution abgekoppelt: er
erfährt, dass er sich eigene, vom Kausalprinzip der Evolution unabhängige Ziele zu setzen vermag.
Doch an die Stelle der Fremdbestimmung durch die Natur ist nun eine andere getreten, die den
Freiheitsdrang zügelt: die überkommenen Moralvorschriften. Die Menschen werden wie ein Kamel
beladen, und die Ladung besteht aus jenen althergebrachten Normen und Wertvorstellungen, die in
der Gemeinschaft, zu der man gehört, als Handlungsregulative überliefert sind.
Nach der zweiten Verwandlung erreicht der Mensch die Stufe des Löwen. Sein Freiheitsdrang treibt
ihn dazu, die ihm durch Erziehung aufgebürdete Last der Moral abzuschütteln und die Gültigkeit
des Überlieferten zu negieren. Der Löwe verhält sich destruktiv hinsichtlich der geltenden Moral und
seines durch diese infiltrierten alten Ichs. Er verwirft die Regeln, die er bisher befolgt hat, um den
erniedrigenden Zwang des Gehorchenmüssens in sich auszurotten. Er setzt dem „du sollst“ der
tradierten Normen sein „ich will nicht“ entgegen und schafft damit um sich herum „Wüste“ wertfreie
Zone.
Die Stufe des Löwen ist jedoch eine Übergangsstufe. Die Negation des Alten ist nicht schon
Hervorbringung von etwas Neuem. Erst wenn es dem Löwen gelingt, selber produktiv zu werden,
erst als Werteschöpfer überwindet er den Tierstatus. Der Löwe wird zum Menschen.
Die dritte Verwandlung, in welcher sich die Menschwerdung vollzieht, führt nach Nietzsche auf die
Stufe des Kindes. Damit deutet er an, dass auch der zum Menschen gewordene Löwe noch nicht
fertig ist, dass er sich entwickeln muss, um er selbst zu werden. Doch die Kindstufe bedeutet einen
radikalen Neuanfang, eine Ursprünglichkeit, die die vorausgegangenen Stufen des Kamels und des
Löwen als abgeschlossene Stadien hinter sich gelassen und überwunden hat. „Unschuld ist das
Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein aus sich rollendes Rad ...“
Das Bild des aus sich rollenden Rades macht die auf der Kindstufe neu gewonnene Kraft, die
keines fremden Anstosses mehr bedarf, besonders anschaulich. Die Menschwerdung – eine
Selbstgeburt (man wird nicht mehr von jemand anderem geboren) – besteht in der Kraft, sich selbst
zu bestimmen, sich selbst zur Autonomie zu ermächtigen und sein Leben gemäss seinen eigenen
Wertschätzungen zu führen. Auch der zu sich selbst gekommene Mensch, der als Kind beginnt,
orientiert sich allerdings an Werten und setzt damit seiner Willkür Grenzen. „Kannst du deinen
Willen über dir aufhängen wie ein Gesetz?“ Mit dieser Frage testet Nietzsches Zarathustra einen
seiner Schüler, um herauszufinden, ob er schon zur Autonomie fähig ist oder sich noch fremd
bestimmen lässt.
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Echte Autonomie unterstellt sich ausschliesslich dem eigenen Wollen. Dieses Wollen wirft die
überlieferten Werte nicht einfach über Bord, aber es nimmt eine Umwertung vor. Werte, Tugenden,
Ausdrücke wie gut und böse, Moralität usf. werden in das Selbstverständnis des autonom
gewordenen Ich integriert, und zwar so, dass nicht mehr das Wir das Ich mittels moralischer Gebote
und Verbote in seinem Verhalten bestimmt, sondern das Ich sich selbst bestimmt, indem es eigene
Wertvorstellungen entwirft und zum Massstab seines Handelns erhebt.
Damit charakterisiert Nietzsche die moralische Entwicklung als Ichwerdung, als den Weg vom Wir
zum Ich. Den anderen, den empirischen Weg zur moralischen Kompetenz als einen Weg nicht vom
Wir zum Ich, sondern vom Ich zum Wir, hat der Entwicklungspsychologe Jean Piaget in seiner
Schrift Das moralische Urteil beim Kinde (1981) beschrieben. Auch Piaget hat ein Dreistufenmodell
vorgelegt: Auf eine Phase frühkindlicher heteronomer Moral, in welcher das Kind von aussen
kommende, nicht von ihm selbst gewählte Imperative verinnerlicht (vergleichbar Nietzsches
Kamelstufe) folgt ein Zwischenstadium, in welchem das Kind den antrainierten moralischen Regeln
nicht mehr deshalb gehorcht, weil Autoritätspersonen ihre Befolgung vorschreiben, sondern weil die
Regeln es gebieten. Das Kind hat damit bereits gelernt, moralische Regeln als etwas Allgemeines
zu betrachten, das zur gemeinsamen Praxis gehört und deshalb Anerkennung verdient.
An diese Übergangsphase schliesst sich dann das eigentliche Moralverständnis an, das mit einem
Bewusstsein der Regeln als solcher verbunden ist. Auf dieser Stufe der autonomen Moral vermag
das Kind Regeln bezüglich ihres Geltungsanspruchs zu hinterfragen und kritisch zu überprüfen. Es
lässt nichts mehr gelten, bloss weil es immer schon gegolten hat oder weil namhafte Instanzen
aufgrund ihrer Macht für die Gültigkeit bürgen. Vielmehr muss sich die Geltungskraft von Normen
und Werten aus jedermann einsichtigen Prinzipien rechtfertigen lassen.
Piaget verdeutlicht sein Modell an der Gerechtigkeitsvorstellung, die beim Kind anhebt mit einem
Verhalten, das auf Vergeltung für erlittenes Unrecht aus ist, wobei Vergeltung den Wunsch nach
Rache und Bestrafung mit einschliesst. In der Übergangsphase hält das Kind zwar noch an der
Vorstellung vergeltender Gerechtigkeit fest, aber es lässt den Rache− und Sühnewunsch zugunsten
einer einfachen Wiedergutmachung fallen. Auf der Stufe autonomer Moral endlich tritt an die Stelle
der vergeltenden Gerechtigkeit die verzeihende Gerechtigkeit, die von Grossmut und Nächstenliebe
geprägt ist.
Piaget und noch detaillierter dann Lawrence Kohlberg beschreiben das Heranreifen einer
handlungskompetenten Persönlichkeit als einen Prozess sozialen Lernens. Niemand wird als
vollwertiges Mitglied einer Gesellschaft geboren, sondern muss zum zoon politikon resp. animal
sociale allererst erzogen werden. Piaget sieht im sozialen Lernen eine Einübung in
selbstverantwortliches, an verallgemeinerbaren Normen und Werten orientiertes Handeln. Soziales
Lernen im Zuge der moralischen Entwicklung hat Autonomie zum Ziel in dem Sinn, dass das
Individuum moralische Kompetenz erwirbt als jene Fähigkeit der praktischen Urteilskraft, die
ethische Prinzipien und handlungsrelevante Sachverhalte korrekt aufeinander zu beziehen versteht.
Die Frage dabei ist jedoch, welches Gewicht soll die Stimme des Wir und welches die des Ich für
die Urteilsbildung haben? Ethiker wie Karl Otto Apel und Jürgen Habermas haben in Verbindung mit
Piaget und Kohlberg das egoistische Ich zum Schweigen gebracht, um einem autonomen Ich zum
Durchbruch zu verhelfen, das auf die Stimme des Wir hört und zugleich seinen berechtigten
Ansprüchen Geltung verschafft in einem herrschaftsfreien Diskurs.
2. Die Berufsmoral: Ein Spezialfall moralischer Selbstbestimmung
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Ohne dies hier weiter auszuführen, möchte ich wieder auf die Berufsmoral zurückkommen, die ihre
Standesangehörigen dem gleichen Dilemma aussetzt wie die Moral die Mitglieder der
Gemeinschaft. Einerseits wird den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abverlangt, dass sie
moralische Kompetenz besitzen, Verantwortungsbewusstsein und praktische Urteilskraft,
andererseits sind die in der Berufsmoral zusammengefassten Handlungsdirektiven oft so
engmaschig, dass kaum Spielraum bleibt für eigenständige Entscheidungen. Und was das Dilemma
noch verschärft: In den meisten nicht selbständig ausgeübten Berufen trifft man hierarchische
Strukturen an – flache Hierarchien, wo Teamwork geleistet wird, steile Hierarchien etwa beim
Militär, beim Klerus und beim Klinikpersonal.
Hier stellt sich für die einzelne Person die existentiell drängende Frage nach der individuellen
Autonomie, zumal dann, wenn die Handlungsanweisungen zwar von oben kommen, bei Fehlern
aber in der Regel weiter unten jemand den Hut nehmen muss. Es hat den Anschein, als würden wir
alle zur Autonomie erzogen, um dann bei der Ausübung eines Berufs festzustellen, dass
autonomes Handeln dort nur ganz wenigen vorbehalten ist, obwohl die jeweilige fachliche
Kompetenz unbestritten ist und sich alle in gleicher Weise dem Standesethos verpflichtet fühlen.
In kommunistischen Utopien hat man dieses Problem bekanntlich dadurch zu eliminieren versucht,
dass man das Prinzip der strikten Gleichheit aller Berufsausübenden vertrat und jeder, ob
Fabrikarbeiter oder Konzernboss, ungeachtet seiner Qualifikation den gleichen Lohn bekam.
Dadurch ergab sich jedoch ein neues, psychologisches Problem. Ohne besondere Anreize strengt
niemand sich besonders an. Der Ehrgeiz erlahmt. Dem versuchte man gegenzusteuern durch
öffentliche Belohnungen in Form von Ehrungen, Ordensverleihungen etc. für herausragende
Leistungen. So wie früher im Sport die Sieger nicht mit hohen Geldsummen, sondern mit Medaillen
und Pokalen ausgezeichnet wurden.
Ein solches kommunistisches Modell, das für alle Arbeiten den gleichen Lohn vorsieht, hätte in
unserer Zeit, in welcher der Typus des homo consumens an die Stelle des homo sapiens getreten
ist, ersichtlicherweise keinen Erfolg. Dennoch habe ich den Eindruck, dass gerade die Berufsmoral
und die ethisch−kritische Reflexion auf den von der Berufsmoral erhobenen Anspruch auf
Autonomie der Handlungsträger trotz hierarchischer Strukturen in letzter Zeit eine veränderte Sicht
der Dinge bewirkt haben. Die beharrliche Kritik an den Gehältern des gehobenen Managements in
Industrie und Wirtschaft hat dazu geführt, dass man nicht mehr oder allenfalls noch hinter
vorgehaltener Hand von Sozialneid der zu kurz Gekommenen spricht, sondern einzusehen beginnt,
dass eine Entlohnung, die in keinem Verhältnis mehr zur erbrachten Leistung steht, ein
Gerechtigkeitsproblem erzeugt, das dazu nötigt, das in sich masslose ökonomische
Handlungsmodell wieder auf seine demokratische Grundlage zurückzuführen.
Oder, ein anderes Beispiel: in der Ärzteschaft dominierte traditionell ein patriarchales Berufsethos,
das jegliche Mitsprache der Patientinnen ausschloss. Die „Götter in Weiss“ mussten mühsam
lernen, dass die Patientenautonomie ein Recht ist, dem durch Informationspflicht und
Aufklärungspflicht Rechnung getragen werden muss. Im Rahmen einer Care−Ethik wird
Fürsorglichkeit nicht mehr missverstanden als Gestus des „Ich weiss, was das beste für dich ist,
vertrau dich mir blind an“, sondern als eine Haltung, die den Patienten als gleichwertigen
Gesprächspartner anerkennt, über dessen Körper und Psyche nicht einfach verfügt werden kann,
sondern für dessen Wohlergehen einvernehmlich eine Therapie vereinbart werden muss. Nur in
persönlichen Gesprächen erfährt der Arzt/die Ärztin etwas über die Lebensqualität ihres
Gegenübers und kann für darauf zugeschnittene Behandlungsstrategien mit Argumenten werben.
Zuhörenkönnen ist demzufolge eine Fähigkeit, die die Patienten sich von ihren Ärzten, sozialen
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Betreuerinnen und Pflegepersonen erhoffen, nicht das Herantragen allgemeiner, vorgefertigter
Standardmuster an ihren besonderen Fall. Vielmehr bedarf es einer Analyse der Bedingungen, die
erfüllt sein müssen, damit das Gespräch zwischen Betreuten und Betreuenden gelingt. Es fehlt
häufig an Urteilskraft, nicht an wissenschaftlicher oder fachlicher Kompetenz, sondern an
praktischer Urteilskraft.
Urteilskraft ist die Kunst, Allgemeines und Besonderes richtig aufeinander zu beziehen, im
Theoretischen wie im Praktischen. Ich muss zum Beispiel wissen, dass ich auf dem Markt kein Obst
kaufen kann, sondern immer nur Äpfel, Kirschen, Birnen. Wenn ich ein Pfund Obst verlange, wird
prompt eine Rückfrage kommen, was genau ich denn haben möchte. Trotzdem ist es wichtig,
Gattungsbegriffe wie Obst, Gemüse, Lebensmittel zu haben, um nicht immer alle Unterarten einzeln
aufzählen zu müssen, wenn die Situation dies nicht erfordert.
In Bezug auf das Verhalten von Menschen ist die Beurteilung indessen ungleich schwieriger, weil
wir es eben nie abstrakt mit Menschen zu tun haben, auch nicht mit Individuen an sich, sondern mit
Einzelpersonen, die nach Massgabe ihres Freiheitsverständnisses das Allgemeine in ihrem Leben
unterschiedlich umgesetzt haben. Das praktisch Allgemeine sind jene Wertvorstellungen, die in
moralischen und rechtlichen Normen als allgemein Verbindliches ihren Ausdruck finden und in der
Kultur einer Handlungsgemeinschaft verankert sind. Werte und Normen haben eine
handlungsorientierende Funktion, und praktische Urteilskraft zeigt sich darin, dass jemand im
Stande ist, Normen in einzelnen Handlungen korrekt zu befolgen (nicht zu lügen, fair zu sein etc.);
und er vermag auch umgekehrt einzelne Handlungen anderer daraufhin zu beurteilen, ob sie
allgemein anerkannte Werte verletzen oder gegen rechtliche Regeln verstossen, was Sanktionen
nach sich ziehen kann.
Es gibt hoch intelligente Menschen, die über keine Urteilskraft verfügen. Sie sind Experten des
Allgemeinen, ohne einen Bezug zu Einzelfällen herstellen zu können. Umgekehrt gibt es auch
Experten des Besonderen, die ausserstande sind, einen Bezug zu einem Allgemeinen herzustellen.
Wir sagen dann häufig: Jemand sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Mit jemandem, der nur
den Wald sieht, kann man nicht über einzelne Bäume reden. So ähnlich laufen viele Gespräche im
Bereich der Sozialen Arbeit ab. Allgemeines und Besonderes bleiben unbezüglich aufeinander, weil
auf beiden Seiten das nötige Beziehungsvermögen fehlt.
Schon im Rahmen der Ausbildung für einen sozialen Beruf müsste daher stärker darauf geachtet
werden, dass Urteilskraft nicht nur theoretisch für die Einschätzung der zu betreuenden Person
wichtig ist, sondern auch praktisch im Umgang mit ihr. Oft sind Betreuerinnen und Betreuer im
unteren Bereich der Hierarchien näher an den Personen dran, denen sie ihre Hilfe zuteil werden
lassen, als die Spitze. Ihre an Einzelfällen geschulte praktische Urteilskraft, verbunden mit einem
selbstbewussten Autonomieverständnis, befähigt sie zu erfahrungsgestützten Urteilen, die sie
jederzeit unerschrocken auch nach oben verteidigen sollten. Zum Berufsethos gehört durchaus ein
gewisses Mass an sozialer Zivilcourage, abgefedert durch persönliche Integrität.
3. Die Werte der westlichen Zivilisation: Ein normatives Gerüst für eine moralische Praxis
Grundlage unseres gesamten sozialen Verhaltens, nicht nur in den sozialen Berufen, sondern auch
im Alltag, sind jene Werte, die als Errungenschaften von Humanismus und Aufklärung unser
demokratisches Selbstverständnis begründen: Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit als Facetten
von Menschenwürde. Ich möchte Ihnen daher abschliessend eine Übersicht über die Werte geben,
die sich in demokratisch verfassten Gesellschaften als allgemein verbindliche Massstäbe des
Handelns herausgebildet und als solche bewährt haben.
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Zu unterscheiden sind drei Gruppen von Werten (siehe nebenstehenden Kasten): zuoberst die
demokratischen oder ethischen Grundwerte, die im Begriff Menschenwürde verankert sind. Das
Wort ‚Würde’ ist verwandt mit dem Wort ‚Wert’. Mit Menschenwürde meinen wir demnach den Wert,
den wir jedem menschlichen Wesen unangesehen seines Geschlechts, seiner Rasse und seiner
individuellen Besonderheiten diskussionslos zugestehen müssen. Der Wert der Menschenwürde
verpflichtet dazu, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit als Grundwerte zu respektieren, auf die
jedes Individuum ein unantastbares Recht hat.
Die mittlere Gruppe von Werten umfasst die im Verlauf der kulturellen Evolution entstandenen
moralischen Werte, die für alle Mitglieder der Handlungsgemeinschaft ein gutes Leben ermöglichen
sollen. Die Individualwerte sichern das Recht auf persönliche Selbstentfaltung, die Sozialwerte
sichern das einvernehmliche Miteinanderumgehen der Individuen, und die ökologischen Werte
sichern nicht nur die Lebensqualität der menschlichen Individuen durch einen pfleglichen Umgang
mit der Umwelt, sondern gestehen auch aussermenschlichen Lebewesen einen
Quasi−Subjektstatus zu.
Die Berufsmoral ist übrigens zwischen den beiden ersten Gruppen der moralischen Werte
angesiedelt; sie vernetzt Autonomie und Solidarität.
Die unterste Gruppe von Werten umfasst die ökonomischen Werte. Freie Marktwirtschaft und
Vertragsfreiheit garantieren das Recht, durch Arbeit und Handel Werte zu erwirtschaften und
Güterwerte für den Eigenbesitz zu erwerben.
Das für mich Entscheidende dieses Wertesystems ist die Rang− bzw. Prioritätenordnung unter den
drei Wertgruppen. Aus normativer Perspektive – unter dem Gesichtspunkt des Sollens also – ist die
Graphik von oben nach unten zu lesen. Das heisst: Die demokratischen Grundwerte bilden das
ethische Fundament sowohl für die moralischen wie für die ökonomischen Werte. Ohne die im
Begriff der Menschenwürde zusammen gefassten Werte Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit
verlieren die moralischen und die ökonomischen Werte ihren Wertcharakter. Individueller oder
nationaler Egoismus sind die Folge.
Liest man die Graphik von unten nach oben, in einem deskriptiven, nichtnormativen Sinn, heisst
das: Die ökonomischen Werte sind die materielle Basis, auf welcher die moralischen Werte und die
ethisch−demokratischen Grundwerte ihre normative Kraft entwickeln. Die Tendenz geht jedoch
heute – und zwar in einer negativen Bedeutung von Wertewandel – dahin, die Rangordnung
umzukehren. Die ökonomischen Werte werden als die eigentlichen, global verbindlichen Werte
deklariert, während die beiden übrigen Wertgruppen als Überbauphänomene abgetan werden – als
ein idealistischer Luxus, auf den man glaubt, verzichten zu können.
Aufgrund dieser Verarmung des Wertbegriffs durch seine Reduktion auf zählbare und berechenbare
Grössen hat auch jeder Mensch seinen Preis und wird von Headhuntern (Kopfjägern) bezüglich
seines Wertes taxiert. Um ihm mit der Menschenwürde wieder seinen eigentlichen Wert
zurückzugeben, ist eine Resozialisierung des homo oeconomicus nötig. Zur Grundlage unseres
Handelns muss an die Stelle eines quantifizierenden wieder ein qualitatives Wertbewusstsein
treten. Statt eines grenzenlosen Nutzenwachstums auf Kosten derer, die nicht mithalten können,
und deshalb – gleichsam als Muster ohne Wert – wegrationalisiert werden, muss ein erneuertes
Wertbewusstsein wieder den Wert der Menschenwürde zugrunde legen, der die Werthaftigkeit des
als wertvoll Erachteten verbürgt und am Individuum festmacht, anstatt den Fetisch der
Globalisierung anzubeten.
Menschenwürde fordert, im Mitmenschen das andere Ich zu sehen, dem ich das schulde, was ich
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für mich selbst beanspruche: Solidarität, Chancengleichheit, Fairness, Toleranz, das Recht auf freie
Selbstverwirklichung. In Anwendung auf Menschen erweist sich der Nutzenkalkül als inhumanes
Instrument, durch welches das Gesamtquantum Menschheit klassifiziert, hierarchisiert,
instrumentalisiert, in Sieger und Verlierer eingeteilt wird. Die Grundwerte und die darauf
aufbauenden Werte fordern, dass die Menschen sich als Freie und Gleiche gegenseitig
respektieren. Und dieser Respekt muss auch die normative Grundlage der ökonomischen Werte
sein, ohne die sie ihre Berechtigung verlieren.
Die in der Menschenwürde verankerten demokratischen Grundwerte sind also jene ethischen
Werte, auf deren Basis die moralischen Werte angemessen verwirklicht werden können und die
ökonomischen Werte zur materiellen Absicherung eines für alle guten Lebens an die beiden
anderen Wertgruppen angebunden werden. Die Anerkennung jedes Individuums als gleichwertige
Person ist jedoch die Grundvoraussetzung, unter der eine Verständigung über die Verbindlichkeit
und den Geltungsbereich von Werten herbeigeführt werden muss.
Halten wir allerdings auch fest: Eine Korrektur der Diktatur der ökonomischen Werte kann nicht
durch eine Diktatur der ethisch−demokratischen oder eine Diktatur der moralischen Werte in die
Schranken gewiesen werden. Die Verabsolutierung ethisch−demokratischer Grundwerte führt in
den Fundamentalismus, der kulturelle Unterschiede, wie sie sich in einer Vielzahl regionaler
Moralen niederschlagen, nicht zur Kenntnis nimmt und ökonomische Werte verächtlich macht. Die
Verabsolutierung moralischer Werte hat einen rigorosen Moralismus zur Folge, der sich um
allgemein verbindliche, ethisch−demokratische Prinzipien nicht schert, die oberste Wertgruppe also
ausblendet, um die eigenen kulturellen Errungenschaften als allgemeinmenschliche
Orientierungsformen ideologisch festzuschreiben. Die ökonomischen Werte werden infolgedessen
in den Dienst des Moralismus gestellt.
Fundamentalismus, Moralismus und Ökonomismus sind das Resultat einer Aufspaltung der drei
Wertgruppen. Nur wenn es gelingt, sie im Rahmen einer Rangordnung, welche auf der Basis eines
normativen Diskurses die Prioritäten festlegt, wieder aufeinander zu beziehen, kann die praktische
Urteilskraft ihr Kerngeschäft betreiben, nämlich nach bestem Wissen und Gewissen Handlungen zu
planen, die unter Berücksichtigung ethischer Werte und moralischer Normen am besten geeignet
sind, soziale Probleme als solche zu erkennen und unter Einbeziehung ökonomischer Ressourcen
zu lösen. Dieses Kerngeschäft der praktischen Urteilskraft ist auch Ihr Kerngeschäft. Die vielfältigen
Formen von Hilfe, die Sie anbieten, setzen eine geschickte Vermittlung zwischen Ich und Wir
voraus, die auf Sozialverträglichkeit abzielt. Das Ich muss dem Wir, und das Wir muss dem Ich
sozial verträglich gemacht werden. Eine wahrlich nicht leichte Aufgabe, die im alltäglichen Umgang
mit ganz unterschiedlichen Anforderungen zu bewältigen ist.
Annemarie Pieper gehört zu den wichtigsten deutschen Philosophinnen des 20. Jahrhunderts. Von
1981 bis 2001 war sie ordentliche Professorin für Philosophie an der Universität Basel. Ihre Die
Schwerpunkte liegen vor allem auf dem Gebiet der Ethik, der feministischen Philosophie und der
Existenzphilosophie. Ihre „Einführung in die Ethik“ gehört zu den Standardwerken des Faches.
Pieper ist einem größeren Publikum durch Radio− und Fernsehsendungen bekannt. Beim
Schweizer Fernsehen moderiert sie die Sendung „Sternstunde Philosophie“. Sie ist außerdem
Mitherausgeberin der Kritischen Gesamtausgabe der Briefe Friedrich Nietzsches sowie des
Jahrbuches der Nietzsche−Gesellschaft „Nietzscheforschung“.
Pieper promovierte 1967 an der Uni Saarbrücken im Fach Philosophie. 1972 habilitierte sie sich an
der Ludwig−Maximilians−Universität München und war dort bis 1981 Universitätsdozentin und
Professorin für Philosophie. Sie wirkte als Editorin in der Schelling−Kommission der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften mit.
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