1 Gegenwirkung durch Tun. Erfahrungen aus über zehn Jahren

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1 Gegenwirkung durch Tun. Erfahrungen aus über zehn Jahren
Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien
Gegenwirkung durch Tun. Erfahrungen aus über zehn Jahren Jugendarbeit in
Fürstenwalde
Von Horst Helas (Berlin)
An den genauen Termin kann ich mich nicht mehr erinnern, als mich Rolf Richter anrief. Er
habe in einem Jugendklub in Fürstenwalde mit rechtsextrem eingestuften Publikum zugesagt,
über Hitler und Stalin zu reden. Termin: nächste Woche, ob ich mitkäme. Wir würden einen
Videofilm zeigen. Die Sozialarbeiterin im Nord-Klub wollte außerdem etwas aus dem GulagRoman von Solschenizyn „Der erste Kreis der Hölle“ vorlesen. Weit kamen wir an diesem
Abend nicht mit unserer Argumentation, daß man zwar vieles vergleichen, aber nicht alles
einfach gleichsetzen kann. Nur eine Frage machte die jungen Männer mit den sehr kurzen
Haaren - weibliches Publikum hatten wir an diesem Abend nicht - stutzig, brachte allerdings
ihr scheinbar festgefügtes Bild über Adolf Hitler und das „Dritte Reich“ wohl nicht gleich in
Erschütterung: Warum gehörten am Ende des 2. Weltkrieges so viele Länder zur AntihitlerKoalition, welche Gründe gab es dafür? Daß wir mit dieser Frage vielleicht bei dem einen
oder anderen Jugendlichen einen kleinen Anstoß zum späteren Nachdenken gegeben hatten,
das werteten wir als Erfolg.
Seither habe ich in Fürstenwalde in größeren Abständen, meist an der Seite Rolf Richters, mit
Jugendlichen zu tun gehabt, bei Vorträgen und Exkursionen, gemeinsamen
Zeitzeugengesprächen und bei Stadtführungen. Das Berlin-Brandenburger Bildungswerk e. V.
hat diese kontinuierliche Arbeit in wechselnden Projekten möglich gemacht, das
Landesjugendamt Brandenburg und Behörden im Landkreis Oder-Spree sowie der Stadt
Fürstenwalde haben dies all die Jahre gefördert.
Die Themen, mit denen wir befaßt waren, umfaßten eine breite Palette von Ereignissen aus
der jüngsten Zeitgeschichte.
Halbe. Bei klirrendem Frost besuchten wir mit Jugendlichen den Soldatenfriedhof in Halbe.
Jeder Teilnehmer konnte sich selbst davon überzeugen, daß die Daten auf den einheitlich
gestalteten Grabsteinen auf ein sehr kurzes Leben schließen ließen. Viele von Hitlers „letztem
Aufgebot“ zur Verteidigung Berlins wurden nur 17 Jahre alt. In Halbe liegen etwa 22 000
Tote, 8 000 von Ihnen konnten identifiziert werden.
Ketschendorf. Das ist ein Ort im Süden Fürstenwaldes, da, wo sich einst das große
Reifenwerk befand und wo man zur Autobahn gelangt. Von Herbst 1945 an befand sich hier
ein Gefangenenlager des NKWD, in das von den Russen „Funktionsträger“ des
nationalsozialistischen Regimes, aber auch viele Unschuldige eingesperrt wurden. Unter den
dort Inhaftierten waren auch Kinder und Jugendliche, die Jüngsten erst 13 Jahre alt. Die
Sterberate war hoch. Manche, die überlebten, kamen von Ketschendorf aus anschließend noch
in ein Lager irgendwo in den Weiten Rußlands. Von dort kehrten einige erst Mitte der 50er
Jahre nach Deutschland zurück. Es gehört für mich zu den bewegendsten Momenten der
Jugendarbeit in Fürstenwalde, daß sich Mitglieder der „Initiativgruppe NKWD-Lager
Ketschendorf“ bereit fanden, mit Jugendlichen über diesen Abschnitts ihres Lebens zu
sprechen. Die Jugendlichen fragten sehr sensibel und taktvoll. Die Älteren, die nach den
Mitgliederlisten der HJ und des BDM der Stadt Fürstenwalde verhaftet worden waren,
erzählten offen und genau. Übrigens war ihnen das Berichten in der DDR verboten. Ich
bekenne es ganz offen, ich hatte von solchen Lagern bis 1989 kaum etwas gehört.
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Ein anderes Beispiel. Von Florian Wilke, dem Leiter des Heimatmuseums Fürstenwalde,
hatte ich erfahren, daß es in der Stadt einmal eine Synagoge und einen jüdischen Friedhof
gegeben hat; einige Grabsteine blieben bis heute erhalten. Und es hat in Neuendorf im Sande
ein Hachscharah-Lager gegeben, in dem sich junge Juden, vor allem aus Berlin, nach 1933
darauf vorbereiteten, nach Palästina zu emigrieren. Ihre Flucht gelang letztlich nicht, sie
endete in einem Vernichtungslager im Osten. Was lag näher, als dieses Kapitel Fürstenwalder
Geschichte wieder bekannter zu machen. Vorträge in der „Kulturfabrik“ und im „Club im
Park“ zeigten, daß kaum einer der Veranstaltungsteilnehmer Juden persönlich kannte, daß es
aber viele Fragen gab: warum Juden so reich sind, warum es in bestimmten Berufen
besonders viele Juden gegeben hat, wer eigentlich ein Jude ist, ob die Juden wirklich Jesus
erschlagen haben, warum sich Juden und Araber in Israel nicht vertragen. Das BerlinBrandenburger Bildungswerk machte es möglich, im Nachgang zu diesen Veranstaltungen
1999 eine Broschüre herauszugeben.
Im Sommer diesen Jahres zeigten wir im Rahmen des deutsch-polnischen Jugendlagers des
„JugendNordclubs“ den Film von Agniezska Holland „Europa, Europa.“ Er basiert auf den
Lebenserinnerungen von Salomon Peres. Der Film war in deutschen Kinos unter dem Titel
„Ich war der Hitlerjunge Salomon“ zu sehen. Salomon Peres, der heute in Israel lebt, ist im
Land Brandenburg häufig willkommener Gast bei Veranstaltungen mit Jugendlichen. Mit ihm
kann man „Geschichte anfassen“, noch dazu erfährt man von einem ungewöhnlichen
Lebensweg. Aus einer westdeutschen Kleinstadt kommend, gelangt der jüdische Junge
Salomon mit den Eltern und Geschwistern nach 1933 nach Polen, bei der Teilung Polens
zwischen Hitler und Stalin 1939 wird er als Waisenjunge Zögling eines sowjetischen
Kinderheims und strammer Komsomolze, 1941 gerät er auf der Flucht vor den
einmarschierenden deutschen Truppen in Gefangenschaft, gibt sich als „Volksdeutscher“ aus,
was ihm geglaubt wird. Obwohl er kaum ein typisch „arisches“ Aussehen aufweisen kann,
wird er an eine NSDAP-Führerschule für Nachwuchskräfte delegiert und hat alle Mühe, seine
eigentlich offensichtliche jüdische Herkunft (Beschneidung!) zu verbergen. Zu Kriegsende
rettet ihn die Tatsache, daß er jüdische Gebete noch auswendig aufsagen kann, vor der
Erschießung durch die Russen.
Der Film war für die Jugendlichen eine recht schwierige Materie, dennoch entspann sich eine
interessante Debatte. Gesprochen wurde darüber, ob deutsche wie polnische Jugendliche von
ihren Eltern und Großeltern über „damals“ schon einmal etwas gehört haben und auch
darüber, ob junge Leute es eher gut oder eher schlecht finden, daß Polen nun in die
Europäische Union kommt und sich Grenzen verschieben werden.
DDR-Nostalgie hat auch um Fürstenwalde keinen Bogen gemacht und im Nord-Klub gab es
dazu eine gut besuchte Veranstaltung. Erinnerungsstücke von Opa, Oma und den Eltern
wurden mitgebracht, „Zeitzeugen“ wurden eingeladen, der Sound jener Zeit beschallte den
Raum, Mitglieder des Klubs drehten ein Video über die Veranstaltung, die schließlich zu
einer politischen Debatte der Alten geriet; die Jugendlichen selbst kamen kaum zu Wort.
Deshalb wird es eine zweiter Veranstaltung geben, in der dann die Jugendlichen ihre Fragen
loswerden können: Warum war fast jeder in der FDJ, warum hatte in der DDR jeder Arbeit,
war in der DDR wirklich alles Zwang, welche Freiheiten gab es für Jugendliche, warum
wurden Menschen benachteiligt oder gar verfolgt, die nicht in die FDJ eintreten wollten und
so weiter und so weiter.
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Jugendklubs sind in Wahlzeiten immer auch willkommene Orte für „Jungwähler“Veranstaltungen. Politiker geraten dabei manchmal schneller ins Schwitzen als sonst
gewohnt, zum Beispiel wenn sie gefragt werden, was sie mit siebzehn Jahren gemacht haben
oder einzelne Landespolitiker mehr ins kritische Visier geraten als die anderer Parteien. Auch
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nach den Kommunalwahlen vom 26. Oktober 2003 bleiben für künftige Veranstaltungen viele
Fragen offen: Warum gehen junge Leute nicht wählen, wie ist der große Erfolg der FDP in
Fürstenwalde zu erklären, wie geht das „Bündnis gegen Rechts“ in Fürstenwalde, dem alle
etablierten Parteien angehören damit um, daß sie im neugewählten Kreistag Oder-Spree
gleich mit den Vertretern von drei rechten Parteien konfrontiert sein werden: DVU, NPD und
Schill-Partei? Und schließlich wäre noch zu klären, warum SPD-Mitglieder nicht zur Wahl
gingen, die PDS (immerhin!) nicht mehr als ihre Stamm-Wähler mobilisieren konnte und ob
der Triumph der CDU unter Innenminister Schönbohm nach den Kommunalwahlen zur
Gewißheit wird, daß es mit den Landtagswahlen 2004 in Brandenburg zu einem
Regierungswechsel kommen wird.
Der „Club im Park“ ist in Fürstenwalde unter anderem dafür bekannt, daß dort stets ein
interessantes internationales Filmprogramm geboten wird und „jugendgemäße“ Life-Musik
die Stimmung auch ohne Hilfsmittel oft zum Kochen bringt. Dazwischen finden auch die
regelmäßig durchgeführten, scheinbar trockenen Bildungsveranstaltungen große Resonanz. So
im Oktober zum Thema „America today“ mit Thomas Simon von der deutschnordamerikanischen Gesellschaft und der aus Chicago stammenden Schwarzen (so der exakte
nichtrassistische Begriff) Prescilla Layne, studiere Germanistin und zur Zeit in Berlin an einer
Schule tätig. Beide räumten mit so manchem antiamerikanischen Vorurteil auf und konnten
sich der vielen Fragen zum „Innenleben“ dieses Riesenlandes kaum erwehren. Vorher im
Klub gezeigte Filme wie „Bowling für Columbine“ von Oskar-Preisträger Michael Moore
boten zu Beginn des Gesprächs genügend Stoff für kontroversen Meinungsaustausch.
Und so soll es weiter gehen, geplant sind zum Beispiel Veranstaltungen zur Geschichte der
Deutschen als Minderheit in Rußland und ihrer Zwangsumsiedlung in der Sowjetunion unter
Stalin, zur Identitätsfindung der sogenannten „Rußlanddeutschen“ in der neuen Heimat
Fürstenwalde, zum Konflikt zwischen Arabern und Israelis und anderes mehr.
Es gibt nur einen „Schönheitsfehler“. Die Arbeitstellen von Carsten und anderer im Lande
Brandenburg, die - jeder für sich und jeder auf eigene Weise - engagierte, von immer neuen
Generationen akzeptierte Jugendarbeit leisten, sind gefährdet. Diese Stellen könnten dem in
Brandenburg von SPD und CDU geplanten Sparkurs im Haushaltsjahr 2004 (Kürzung des
sogenannten 610-Stellen-Programms) zum Opfer fallen. Wenn man hört, daß gleichzeitig im
Verfassungsschutzamt des Landes hochbezahlte Stellen neu eingerichtet werden sollen, so
fragt man sich schon, welche Konzepte gegen Rechtsextremismus sind die wirksameren:
kontinuierliche, präventive Jugendarbeit vor Ort oder „Nachforschungen“ des
Verfassungsschutzes in der „rechten Szene“?
Rolf Richter und ich kennen Carsten und Kai nun schon eine lange Zeit. Keiner fragt den
anderen danach, bei welcher Partei er zu Wahlen sein Kreuz macht. Aber alle vier - und so
viele andere, siehe den Beitrag von Gabi Moser in diesem Heft - mühen sich. Das BerlinBrandenburger Bildungswerk und unsere Partner in den Verwaltungen auf Landes-, Kreisund Stadtebene in Brandenburg geben alle Hilfe, um mit Jugendlichen im Gespräch zu
bleiben, damit sich jeder von ihnen zu den Zuständigen rechnet, wenn es gilt, Front zu
machen gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und
Intoleranz. Dafür lohnt jeder Einsatz - und es macht Spaß. Und dies braucht auch Geld.
Publikationen, die im Gefolge der Jugendarbeit des Berlin-Brandenburger
Bildungswerkes in Fürtsenwalde entstanden sind (Auswahl)
Aufgerüttelt. Fürstenwalder Jugendliche über Filme gegen Nazismus und Krieg, 1996.
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Hoffnung inmitten von Ruinen? Schülerinnen und Schüler erkunden den Nachkriegsalltag in
Fürstenwalde. Ein Projekt mit dem Katholischen Gymnasium Bernhardinum. Mit einem
Geleitwort von Kardinal Georg Sterzinsky, 1996.
Horst Helas unter Mitarbeit von Birgit Gregor: Davidstern und Synagoge. Antworten auf
Fragen Fürstenwalder Jugendlicher zur Geschichte der Juden in Deutschland, 1999.
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