Die Reise nach Westen

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Die Reise nach Westen
Toril Brekke
Die Reise nach
Westen
Roman
Aus dem Norwegischen von
Gabriele Haefs
Die norwegische Originalausgabe dieses Buchs erschien 2008
unter dem Titel »Gullrush« bei Aschehoug, Oslo.
Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert.
Der Verlag bedankt sich dafür.
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Deutsche Erstausgabe März 2010
Copyright © 2008 H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, Oslo
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Viola Eigenberz
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: Photoimagerie/Alamy Mauritius Images/Old Visuals
Kartographie: Copyright © by Gerd Eng Kielland
Satz: Adobe InDesign im Verlag
ISBN 978-3-426-40027 -2
Vorwort
E
s begann im Jahre 1825, als eine kleine Schar von Quäkern und Haugianern über das Meer nach Amerika reiste,
auf der Suche nach dem Recht auf Glaubens- und Gedankenfreiheit. Später folgten andere, die Armut und Wohnungsnot,
Bürokratie und Steuereintreibern den Rücken kehrten.
Die Koshkonong-Prärie im Süden von Madison im Staat Wisconsin war eine der Gegenden, wo sich eine blühende norwegische Gesellschaft entwickeln sollte. Hier gründete der junge
Mandt aus Arendal später eine Wagenfabrik, und an einem
hier gelegenen Binnensee machte Ole Evenrudstuen seine ersten Experimente mit Außenbordmotoren.
Auswanderer ließen sich gern in der Nähe ihrer Landsleute
nieder; auf diese Weise entstanden etliche Orte mit starker
norwegischer Prägung, wie Coon Valley, Westby und Decorah, wie Bemidji und Grand Forks und noch viele, viele andere.
Zugleich lebten die Einwanderer im Rahmen der historischen
Entwicklung ihres neuen Erdteils. Im Jahre 1848 wurde in
Kalifornien Gold gefunden, und viele Norweger, die vom
Reichtum träumten, machten sich dorthin auf den Weg. Zu
Beginn der sechziger Jahre brach der Bürgerkrieg aus. Norweger waren dabei. Sie kämpften und fielen. Einige kamen zu
Ehren. In Madison steht ein Denkmal für Oberst Hans Christian Heg, geboren in Lier bei Drammen.
Die Arbeit an diesem Buch hat mich nach Chickamauga im
Staat Georgia geführt, wo Oberst Heg und eine Reihe anderer
in Norwegen geborener Soldaten fielen. Und sie führte mich
auf den Weg der sogenannten »Forty-niners«, dieser Tausen5
den und Abertausenden, die auf der Suche nach Gold aus dem
Mittleren Westen nach Kalifornien zogen. Ich übernachtete in
der Stadt Placerville, die damals Hangtown genannt wurde, in
einem Hotel aus der Goldgräberzeit. Dort entdeckte ich ein
Haus, dessen gesamte Rückwand vom Bild eines Mannes mit
Rucksack und langen Skiern bedeckt war. Das war Snowshoe
Thompson, geboren in Telemark, der sagenumwobene Postbote, der auch im Winter die Post über die Goldberge transportiert hatte.
Dies ist ein Roman, aber die Fiktion befindet sich innerhalb
eines gegebenen historischen Rahmens mit tatsächlichen Ereignissen. Die Handlung wird von erdichteten Gestalten vorangetrieben. Aber im Hintergrund gibt es auch einzelne historische Personen, wie Heg aus Lier und den Briefträger mit
den langen Skiern, wie Foster Olson oder Bjørn Andersen
Kvelve und dessen Frau Abel aus der Koshkonong-Prärie.
Die Reise nach Westen ist eine abgeschlossene Fortsetzung
von Elises Traum. Brenda und Hølje, die im vorigen Buch
Kinder waren, sind hier die Hauptpersonen.
Es kann rasch zu viele Namen geben, über die wir den Überblick behalten müssen. Am Ende des Buches folgt eine Liste
der wichtigsten.
Am Ende möchte ich mich bedanken bei Elaine Olson und
Clinton Bagstad, die mir in Norskedalen in Coon Valley im
Staat Wisconsin begegnet sind, außerdem Carol Nelson, Beverly Webster und Mary Ann Larson, die ich in Wilmar getroffen habe, dazu Joelyn Scriba und ihre Familie in Bemidji –
alle aus dem Staat Minnesota. Des Weiteren danke ich Bruce
Gjovik aus Grand Forks, North Dakota, Rune Engebretsen
und Verlyn Anderson aus Fargo / Moorhead an der Grenze
zwischen Minnesota und North Dakota, Marjorie Thelen aus
Cheyenne in Wyoming, Liv Marit Håkenstad aus Biri, Anna
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und Ola Jo Botheim und Ingebjørg Ulfsby Bottheim aus Lesja. Zum Schluss ein Dank an Bibbi Nore und Anne Poulsson
für nützliche Ratschläge und an Anne Brit, Trygve, Lars und
Øyvind für angenehme Reisebegleitung.
Toril Brekke,
Liholt, Juni 2008
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Teil I
Die Hoffnung
auf Besseres
Eine Mahlzeit im Schein
eines Lagerfeuers
W
ir werden reich sein, Brenda, das verspreche ich!
Das waren Annies Worte, Annie mit der Kneipe, die
Annie’s Inn hieß, Annie, bei der Brenda und ihr Onkel in ihrer ersten Zeit in Chicago auf dem Hängeboden über den
Biergästen hatten hausen dürfen.
Aber Brenda wollte nicht auf Annies Weise reich werden. Dabei ging es um mehr als nur darum, Whiskey und Bier auszuschenken – Annies Träume von Reichtum setzten ihre Hoffnungen auf Brendas Jugend und ihr blondes Haar.
Deshalb suchte Brenda Menschen, die nach Norden und Westen wollten, in einen kleinen Ort im Süden von Madison und
im Norden von Janesville und Beloit, jedenfalls fort von Chicago und in Richtung Koshkonong-Prärie, wo sie Verwandtschaft hatte.
Dort lebte ihr Vater, der Quäker Håvard aus Stavanger in
Norwegen, ein Mann, der in der Alten Welt zurückbleiben
musste, als Brendas Mutter schwanger an Bord einer Schaluppe gegangen war, der später aber über das Meer gekommen
war, um seine Geliebte zu suchen. Jetzt lebte er in Koshkonong, wenn auch mit einer anderen Frau, denn Elise weilte
nicht mehr unter den Lebenden.
Brenda war also mutterlos, hatte jedoch einen Vater. Dass er
Quäker war, ließ sie glauben, er sei ein guter Mann, denn alle
Quäker, die sie jemals kennengelernt hatte, waren kluge und
gütige Menschen gewesen. Also musste er seiner Tochter doch
wohl so manchen guten Rat geben können, dachte Brenda,
einige Worte, die Ordnung in ihrem Leben und ihren Gedan11
ken schaffen und sie auf einen breiteren und sicheren Weg geleiten könnten.
Und sie sprach mit den Männern in der Kneipe, ob vielleicht
einer in der Richtung zu tun hatte, in die sie reisen wollte. Der
Einzige, der zögerte, ehe er den Kopf schüttelte, war ein Schiffer. Er hatte eine Mutter in Beloit, eine schwächliche Witwe,
die vom Sticken von Bibelworten lebte. Brenda schürte die
Mutterliebe des Mannes, bis er sich zu dieser Reise entschloss.
Beloit liegt genau in meiner Richtung, sagte Brenda.
Aber ich kann dich nicht mit zu meiner Mutter nehmen, sagte
der Kapitän.
Schäm dich, du Feigling, dachte Brenda.
Dann suche ich mir eine Unterkunft, sagte sie laut.
Und so beschlossen sie, sich einige Tage später auf den Weg zu
machen.
Was willst du denn in der Wildnis?, fragte Annie mit der Kneipe. Dieser Vater hat dir ja wohl nie viel zu sagen gehabt.
Wir sind uns doch nur ein einziges Mal begegnet, erwiderte
Brenda.
Und was war das für ein Freudentag!, spottete Annie. Ein
stürmischer und in Blut getränkter Herbsttag!
Ich habe außerdem Grüße und ein Geschenk zu übermitteln,
sagte Brenda.
An den Quäker?
Nein, an seinen Stiefsohn. An den Jungen, der Hølje heißt.
Grüße von Mary vom Puppentheater.
Ach so, murmelte Annie. Na dann. Ja, ja.
Aber komm bald wieder, meine Goldpuppe, waren ihre Abschiedsworte für Brenda, und sie küsste sie auf ihr Umschlagtuch, als der Tag gekommen war und Brenda sich mit dem
Kapitän auf die Reise machte.
Brenda hatte sich für die Schlittenfahrt durch Wind und
Schnee dick eingemummelt. Zunächst und ganz insgeheim
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trug sie eins der von ihrem Onkel hinterlassenen Beinkleider,
eine Frieshose, die Ansgar so lange benutzt hatte, wie Brenda
sich überhaupt zurückerinnern konnte. Darüber trug sie mehrere Röcke. Schließlich hatte sie noch einen langen Mantel an,
und sie hatte sich einen breiten Wollschal kreuzweise über die
Brust gebunden. Ihre nackten Fäuste schob sie unter die Felle,
in die der Schiffer sie dann wickelte.
Aber dass du keine Handschuhe hast, meine Süße, murmelte
der Mann, zog sich den Hut tiefer über die Ohren und packte
die Zügel.
Dann waren sie unterwegs, und in Brenda keimte Freude, der
erste Hauch von Glück, den sie seit langer Zeit verspürt hatte.
Das lag an Bewegung und Geschwindigkeit, an den Windstößen, die ihr fast den Atem raubten, an der Reise an sich, die ein
Von und ein Nach enthielt und die zu einer Veränderung führen konnte. Wie der Traum von einem Abenteuer, so, wie er in
ihr Wurzeln geschlagen hatte, als sie und ihr Onkel sich ein
Jahr zuvor der Theatertruppe von Mary und dem Böhmen angeschlossen hatten. Brenda und Ansgar sollten die Trommel
schlagen und die Theaterpuppen über die kleine Bühne führen. Ansgar sollte dem Böhmen außerdem beim Schnitzen
neuer Holzfiguren helfen, während Brenda zusammen mit
der gleichaltrigen Mary Geschichten ersann, die sie dem Publikum vorführen konnten.
Aber es war bei den Vorbereitungen und einer einzigen unvollendeten Vorstellung geblieben. Der blutige Tag hatte alle
Träume zertreten.
Kannst du nicht dieses feine Lied singen?, bat der Kapitän, als
sie schon ein gutes Stück in die Wildnis gefahren waren.
Brenda sang das Trinklied, von dem sie wusste, dass es ihm
gefiel, und er lachte schallend, obwohl der Wind die meisten
Töne fortriss.
Noch einmal, befahl er, und sie tat, wie ihr geheißen.
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Später an diesem Vormittag hielten sie an und teilten ihren
Proviant. Sie fragte ihn nach dem Leben auf den Seen, und
seine Wangen röteten sich vor Erzählerfreude. Dann ging es
weiter, bis es dämmerte, und er zündete eine Fackel an, die
Brenda halten musste.
Zweimal übernachteten sie unterwegs. Am ersten Abend stellte er sie dem Paar, an dessen Tür sie klopften, als Stieftochter
seines Vetters vor, am zweiten nannte er Brenda sein Patenkind. In Beloit zeigte er auf eine Kneipe, in der man übernachten konnte. Wie zur Entschuldigung dafür, dass er sie nicht
einmal hineinbegleitete, schenkte er ihr seine großen verfilzten Seefäustlinge, ehe er sich verabschiedete.
Bald saß Brenda in einer Ecke an einer fremden Feuerstätte in
einem Raum, der an Annies Saloon erinnerte, und verzehrte
eine Portion Bohnen mit Speck; sie hatte ihren Mantel ausgezogen, den Schal aber locker über den Haaren liegen lassen.
Sie war sechzehn Jahre alt. Es war der Spätwinter 1843. Brenda dachte an ihren Vater, diesen hochgewachsenen Mann mit
den Schatten um die Augen. Sie dachte an diese drei Menschen, die eigentlich zusammengehört hätten, die aber niemals
unter einem Dach gewohnt hatten, eine Mutter, ein Vater und
ein Kind. Der Onkel Ansgar war für Brenda da gewesen,
nachdem die beiden eine vom Tode gezeichnete Elise verlassen hatten. Jetzt weilten nur noch Håvard und Brenda unter
den Lebenden.
Ach ja, sagte neben ihr eine Stimme. Du willst zu deinem Vater?
Brenda zuckte zusammen.
Zum Quäker Håvard, sagte jetzt der Fremde.
Brenda nickte.
Deiner Mutter so ähnlich, sagte der Mann. Kein Irrtum möglich. Wir sind uns schon einmal begegnet.
Wo denn?
Beim Ontario-See, als du noch klein warst. Ich bin mit der
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Restauration über das Meer gekommen, demselben Schiff wie
Elise.
Foster Olson, sagte er und streckte ihr die Hand hin, während
er hinzufügte: Damals habe ich mich Thorstein Bjorland genannt.
Foster Olson, Thorstein Bjorland, Brenda konnte sich weder
an diese Namen noch an das Gesicht des Mannes erinnern,
aber er hatte ein Lächeln, das wärmte.
Auf diese Weise hatte der morgige Tag eine Richtung und ein
Ziel erhalten, noch ehe sie sich auf den Boden und nicht ins
Stroh der ihr zugewiesenen Kammer legte, denn das Stroh
wimmelte nur so von Ungeziefer. Vollständig angezogen legte
sie sich schlafen, mit Röcken und Mantel und den Beinkleidern des Onkels, mit Schal und Tuch und Stiefeln und allem,
und sie verspürte eine feine Ruhe im Körper, wenn sie an Foster Olson dachte. Fast wie ein Verwandter, so kam es ihr vor.
Jemand, der von ihr wusste und die Zusammenhänge kannte.
Jemand, der Bilder von ihr als kleines Kind mit sich herumtrug.
Ihr Vater hatte keine solchen Bilder. Er hatte in einem Gefängnis in Europa gesessen, als Brenda geboren worden war.
Am nächsten Morgen ging die Reise weiter, hinter zwei müden Ochsen, während der Mann mit den Zügeln von der
Schönheit von Brendas Mutter Elise und ihrem doppelten und
plötzlichen Tod erzählte. Mit dem doppelten meinte er, dass
ihre norwegischen Freunde geglaubt hatten, sie sei schon lange zuvor einer Seuche erlegen. Aber dann war sie gewissermaßen von den Toten auferstanden, als reiche Dame aus den
Südstaaten, um am Ende einem Messer zum Opfer zu fallen.
Aber war sie ein guter Mensch?, fragte Brenda.
Sie hat Blaubeerpie gebacken, sagte Foster Olson. Das ist das
Beste, woran ich mich aus der Zeit am Ontario erinnern kann.
Der Rest war Fieber.
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Brenda hatte seit dem jähen und endgültigen Tod ihrer Mutter
einen inneren Sog verspürt, die Sehnsucht, etwas zu finden,
das Gut und Böse aufwiegen konnte. Blaubeerpie war nicht
sehr viel. Sie brauchte mehr. Denn die Mutter war so erschütternd schroff gewesen, so gemein und höhnisch auf dem windigen Platz, wo der Wagen des Puppentheaters mit der kleinen Bühne aufgebaut war, so unbegreiflich abweisend zu ihrer
eigenen Familie, dem Bruder Ansgar, den sie seit zwölf, dreizehn Jahren nicht mehr gesehen hatte; was war mit ihr geschehen? War sie so gewesen, in ihrem eigentlichen Wesen? Danach wollte Brenda den Vater ebenfalls fragen, da er Elise
doch gekannt hatte.
Foster Olson fuhr sie ans Ende eines Feldes, das Håvard und
sein Stiefsohn aufgepflügt hatten. Bald hatte sie eine Schwelle
überstiegen und stand im Haus. Sie stand auf einem Lehmboden in einer kleinen ärmlichen Holzhütte. Die Luft war von
Rauch gesättigt, als sei das Abzugsloch von Schnee bedeckt
oder gar nicht vorhanden. Am Rand der Feuerstätte saß ihr
Vater und schlug mit langsamen Bewegungen den Pfeifenkopf
auf einem Stein aus. Er sah ihr entgegen, jedoch ohne ihrem
Blick zu begegnen, als sei sie aus Luft oder als sei der Mann
blind. Aber er war nicht blind, das wusste sie.
Ich bin Brenda, sagte sie verwirrt.
Komm herein, Kind, zwitscherte Gunhild, Håvards neue
Frau. Natürlich, du bist Brenda, natürlich bist du das!
Brenda stand schon im Haus und hatte die Tür hinter sich
geschlossen, als diese Worte gesagt wurden. Weiter ins Haus
konnte sie nicht gehen, denn es gab keinen Platz. Dort waren
die Feuerstätte und der Mann. Dort waren die Pritschen an
der Wand. Dort waren drei Reisetruhen, die eine stand offen,
und im Deckel lag ein schreiender Säugling. Und es gab Kochtöpfe und einen Rocken.
Nur der Rocken stand zwischen Brenda und dem Vater. Jetzt
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stopfte der Vater sich die Pfeife. Jetzt gab er sich Feuer und
fügte dem Rauch im Raum neuen Rauch hinzu.
Setz dich, zwitscherte Gunhild. Du musst doch nach der Reise hungrig sein.
Brenda spürte ihn im Leib, den Hunger, sie antwortete jedoch
nicht. Denn der Vater hatte sie noch nicht begrüßt.
Sie selbst brachte Grüße von Foster Olson mit, aber wie sollte
sie die Freundlichkeit eines anderen jemandem übermitteln,
der nicht zu erkennen gab, dass er ihre Anwesenheit bemerkt
hatte?
Ein Mädchen, zwitscherte Gunhild und schaute zu der Kleinen im Truhendeckel hinüber. Sie soll Marja heißen.
Und Brenda fühlte sich doppelt fremd im Geplärre dieser
Halbschwester, von deren Existenz sie nicht gewusst hatte.
Aber noch wartete sie, einen tiefen, zitternden Atemhauch
lang, darauf, dass der Vater aufstand und nach ihrer Hand
griff, dass er sie mit Wärme ansah, dass er lächelte, mit seinen
blauen Augen, die in einem ewigen Schatten lagen, dass er sie
in den Arm nahm und etwas Wichtiges sagte.
Das passierte nicht.
Der Mann schwieg. Seine Frau schwieg. Sogar der Säugling
schien den Atem anzuhalten. Alles, was zu hören war, war der
Schneewind, der durch die undichten Wände drang, bis das
Kind ein leises Wimmern ausstieß.
Ich habe Hølje etwas mitzuteilen, brachte Brenda endlich heraus.
Und sie drehte sich zur Tür um, da Hølje nicht zu sehen war, als
ob sie ihr Anliegen gleich nach Chicago zurückbringen wollte,
zur Not zu Fuß, da sie offenbar vergeblich gekommen war.
Er ist auf Jagd, sagte seine Mutter fröhlich. Vorhin habe ich
ihn noch hier in der Nähe gesehen. Du kannst meine Skier
nehmen.
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Einen ganzen Tag lang folgte Hølje nun schon den frischen
Spuren, dazu auch einige Stunden der Nacht. In weiten Bögen
hatten sie sich bewegt, der Hirsch und der Junge, über flaches
Prärieland, an vereisten Ufern von Seen und Bächen, durch
Wäldchen aus kleinwüchsigen Eichen; der Mensch zumeist
mit dem Gesicht nach unten, den Vertiefungen im Schnee vor
den Skispitzen zugewandt, den Blick nur zum kurzen Atemholen zwischen einem Schritt und dem nächsten erhoben,
während er spähte und horchte. Zweimal hatten sie sich unterwegs seiner Wohnstatt genähert, aber dann war das Wild
weitergelaufen. Dann hatte es unter dem Sternenlicht gestanden, deutlich vor dem blaubleichen Schnee, ein ausgewachsener Bulle, er stand dort und atmete schwach, wie vor einem
Kampf gegen einen Rivalen oder als habe er keine Kraft mehr
und wolle sich ergeben. Aber so war es nicht. Er war in eine
unsichtbare Falle getappt. Auf drei Seiten witterte er Menschen, deshalb zögerte er, während er nach einem möglichen
Ausweg suchte.
Hølje begriff erst, als er dort stand, mit dem Echo des Schusses in den Ohren, die Brust erfüllt von erregtem Glück, dass
sie das Wild zu mehreren umringt hatten. Aber jetzt entdeckte er die kleine Gruppe von Indianern, die sich auf Schneeschuhen über das Eis bewegte. Zwei erwachsene Männer und
eine Frau, und der eine Mann hielt eine kleine Axt in der
Hand. Hølje hatte sie schon früher gesehen, im Sommer und
Herbst, hatte sie auf der anderen Seite des Ackerlandes vorbeigehen sehen, und der größere der Männer hatte einmal
stumm zusammen mit Håvard, Høljes Stiefvater, in der Holzhütte am Feuer gesessen, das war kurz vor Weihnachten gewesen.
Die Indianer bekamen eine Keule des Hirsches, ehe sie weiterzogen.
Vielleicht hätte ich ihnen zwei Keulen geben sollen, dachte
Hølje später, als ihm aufgegangen war, wie viel die anderen
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dazu beigetragen hatten, dass der Hirsch erlegt worden war.
Aber jetzt waren sie nicht mehr zu sehen.
Er hatte das hastig zusammengetragene Lagerfeuer noch nicht
anzünden können, als er die Anwesenheit eines weiteren Menschen am Ufer des kleinen Sees ahnte, wo die Jagd ein Ende
genommen hatte. Hølje spürte sie, ehe er sie sah, er spürte
Brenda, und die Freude in seinem Körper wurde stärker.
Aber konnte es denn wahr sein?
Er sah sie jeden Tag vor sich, ganz nah, wie in einem Traum;
ein Gesicht, ein Kleid oder einen Punkt, der sich aus der Ferne
näherte, aber auch dann wie in einem Traum, denn im Wind
dort draußen war ja doch niemand, oder es waren ganz andere. Er hatte sich monatelang gesehnt und gewartet, denn sie
musste doch kommen! Hier lebten doch ihre Verwandten!
Høljes Stiefvater war Brendas Vater. Also musste sie sich doch
hergezogen fühlen!
Das Feuer brannte, als die Gestalt dahinter mehr als eine undeutliche Bewegung wurde, auch wenn sie weiterhin nur ein
Gesicht ohne Züge war, ein in einen Schal eingehüllter Kopf,
der in einer raschen Bewegung mit dem Körper in eins überging. Trotzdem fühlte sich Hølje von Magie erfüllt, wie in der
Erwartung einer Theatervorstellung.
Brenda hatte den Hirsch und den Jungen im Mondlicht vor
dem Schnee geahnt, und sie hatte das Aufblitzen gesehen, als
der Schuss die Stille zerfetzte. Jetzt war sie von Hølje erfüllt
wie zuvor, während ihrer langen Reise, vom Vater; Hølje vor
dem Theater, unter den anderen Erwartungsvollen. Und sie
ließ die Erinnerungen aufsteigen, als sie sich dem Schein seines Feuers näherte, die Erinnerung an Chicago im Herbstlicht, an den Platz mit dem Theaterwagen und der kleinen
Bühne, die Spannung hinter dem Vorhang, wo sie selbst mit
der gleichaltrigen Mary stand, als Mary ihr im Publikum Hølje zeigte.
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Brenda sah einen jungen Mann mit offenem Gesicht unter einer Pelzmütze. Die beiden hinter dem Vorhang kicherten, wie
nur Mädchen kichern können, wenn sie einen Jungen sehen,
der ihnen vielleicht gefällt.
Nice boy, sagte Mary.
Oh yeah, antwortete Brenda.
Charmy, sagte Mary in ihrem gebrochenen Englisch.
Ich wusste nicht, dass du einen Freund hast, neckte Brenda
sie. Hast du ihn geküsst?
Geküsst? Bist du verrückt?
Sie hatten sich vor Kichern gekrümmt.
Wir sind uns nur einige Male begegnet, erklärte Mary. An Orten, wo wir gespielt haben. Und auf der Landstraße. Einmal
haben wir an einer Biegung eine Mahlzeit geteilt. Er und der
lange Mann, der neben ihm steht, haben uns getrockneten
Schinken gegeben. Meine ewig hustende Mutter hat ihnen
Hasenfleisch gegeben.
Dieses geflüsterte Gespräch und das halb erstickte Lachen bildeten die letzten Reste der leuchtenden Kindheit in ihrem Leben, das wusste Brenda, als sie sich hier über den Schnee bewegte. Kurz nach Beginn der Vorstellung riss ihre Kindheit ab
und nahm ein Ende. Das lag an einer boshaften, höhnischen
Frau, ihrer Mutter Elise. Und an einem Messer. Und an einem
Schuss.
Und Hølje sah Brenda, wie sie sich in der Winternacht zeigte,
sah sie nah und fern zugleich, sah sie im Herbstlicht auf einem
Platz in Chicago, nachdem das Messer zugestoßen hatte,
nachdem der Schuss gefallen war: eine dünne Gestalt mit hellen, hellen Haaren, im Blick der Sog der Verzweiflung, mit
einem Paar verschlissener und zu großer Stiefel, die sie aussehen ließen wie ein Kind.
Das Bild brannte sich in ihn ein. Seither liebte er sie mit der
Kraft eines fünfzehnjährigen Jungenherzens.
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