Volltext - Herbert Quandt

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Volltext - Herbert Quandt
1 3 . K O N F E R E N Z »T R I A L O G D E R K U LT U R E N «
I N KO O P E R AT I O N M I T D E M A M E R I K A N I S C H E N G E N E R A L KO N S U L AT
Migranten
als Zielgruppe?
Beiträge zur Medienrezeptionsforschung
und Programmplanung
HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAG
D E R H E R B E R T Q UA N DT-STI F TU N G
VON ROLAND LÖFFLER
U N T E R M I TA R B E I T V O N S T E P H A N I E H O H N
Inhalt
Zum Geleit
04
Von Susanne Klatten
Grußwort
07
Vom Schmelztiegel zur Salatschüssel
Von Edward M. Alford
Einleitung
09
Migranten als Zielgruppe?
Medienrezeptionsforschung und Programmplanung
Von Roland Löffler
I. Integrationspolitik und Medien
18
Integrationspolitik und das Publikum –
Der politische Umgang mit Medienwirkungen
Von Armin Laschet
26
Personelle Vielfalt in den Medien als Spiegel unserer Gesellschaft –
Perspektiven hessischer Integrationspolitik
Von Rudolf Kriszeleit
II. Amerikanische Medienwirkungsforschung
und ihre medienpolitischen Konsequenzen
30
Stereotype, Massenmedien, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit
Ein Blick auf die amerikanische Gesellschaft und die US-Forschungslandschaft
Von Bradley W. Gorham
43
Die Diversity-Politik der amerikanischen
journalistischen Selbstverwaltung
Von Sally Lehrman
III. Der öffentliche Rundfunk und die Migranten:
Medienrezeptionsforschung und Programmplanung
64
Medienrezeption und Migration –
Aktuelle Forschungsergebnisse und -perspektiven
Von Georg Ruhrmann
84
Migranten und Milieus –
Auswirkung auf die Programmplanung
des öffentlichen Radios und Fernsehens
Von Ulrich Neuwöhner
02
I N H A LT
97
Migration und Integration. Eine Herausforderung für Politik und Medien –
nicht erst seit der SINUS-Studie
Von Karl-Heinz Meier-Braun
103
Zum Stand der Rezeptions- und Wirkungsforschung
Ein Kommentar aus der Perspektive der angewandten Medienforschung
Von Erk Simon
113
Sprache ist Macht –
Diskussion zur Medienanalyse und Programmplanung
im öffentlichen Rundfunk
Mit Karl-Heinz Meier-Braun, Ulrich Neuwöhner, Marjan Parvand, Manfred
Krupp und Birand Bingül (Moderation)
IV. Privatfernsehen und Popkultur:
Durch Zielgruppenorientierung zur medialen Integration?
128
Die Faszination der Casting-Shows.
Oder: Migranten auf der Suche nach Anerkennung und sozialem Aufstieg
Von Canan Topçu
135
Die demokratischen Stars?
Migranten als Zielgruppe der Popkultur im Privatfernsehen
Mit Ismail Erel, Julian Geist, Walter Kindermann,
Stella Salato und Birand Bingül (Moderation)
Schlusswort
143
Migranten als Zielgruppe? Die Wirklichkeit wirkt am meisten
Von Birand Bingül
Anhang
148
Die Autoren
156
Teilnehmer der Konferenz
158
Die Herbert Quandt-Stiftung und der Trialog der Kulturen
160
Impressum
03
Zum Geleit
V O N S U S A N N E K L AT T E N
Der Herbst ist in der Herbert Quandt-Stiftung die Zeit der »Trialog der Kulturen«-Jahreskonferenz. Deshalb kamen am 19. November 2009 rund achtzig Gäste aus dem Journalismus, den Wissenschaften und der Politik in das Haus der Stiftungen nach Bad Homburg,
um erneut das Verhältnis von Migration und Medien zu beleuchten. Wenn wir nun die
Erträge dieser 13. »Trialog«-Tagung dokumentieren, hat das zwei Gründe: Erstens signalisieren wir damit, dass der Themenschwerpunkt »Medien als Brücke zwischen den Kulturen« zu unseren grundlegenden inhaltlichen Programmlinien zählt. Zweitens belegen
die folgenden Texte, welche grundsätzliche Strategie der Herbert Quandt-Stiftung und
mir als Stiftungsratsvorsitzender wichtig ist: Wir möchten führende Stimmen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Richtungen zusammenbringen und ihnen eine Plattform
für Meinungsaustausch, Analyse und Lösungssuche bieten. Wir setzen diesen Ansatz in
unterschiedlichen Formaten um (Tagungen, Projekte, Wettbewerbe, Gesprächskreise,
Podiumsdiskussionen, Stipendien, Bücher etc.). Auf diese Weise wollen wir die für uns
relevanten politischen Phänomene kritisch und konstruktiv begleiten oder auch erstmalig
öffentlich ins Zentrum der Debatte stellen. Gemeinnützige Stiftungen selbst sind keine
politischen Akteure. Sie haben aber die Aufgabe, wie ein Resonanzboden Fragen gegenüber Politik, Medien, Gesellschaft aufzuwerfen, Anregungen zu geben und modellhaft
Lösungsbeispiele für bestimmte Probleme zu geben.
Eines unserer eingeführten Projekte zum Thema »Migration und Medien« ist der Runde
Tisch deutscher und türkischer Journalisten. In Frankfurt, wo wir mit den beiden Kirchen
kooperieren, sowie in Berlin – in Kooperation mit dem Bundesinnenministerium – treffen
sich drei- bis fünfmal pro Jahr Journalisten aus deutsch- und türkischsprachigen Leitmedien, um einschlägige integrations-, religions-, medien- und innenpolitische Themen zu
diskutieren und ihre jeweilige Kommentierung darzulegen. Daraus erwächst nicht nur ein
gutes, bisher nicht existentes Netzwerk begleitet von einem intensiven Informationsaustausch, sondern auch ein besseres Verständnis der anderen Seite und deren Kommentierung.
Interkulturell ausgerichtet ist auch unser Stipendienprogramm für Nachwuchsjourna04
ZUM GELEIT
listen aus Deutschland, Israel und Palästina. Seit 2002 vermitteln wir einen regen Austausch zwischen angehenden Berichterstattern der drei Regionen und Kulturräume.
Dabei werden Vorurteile revidiert, Konflikte im Diskurs angegangen und journalistische
Kompetenzen vermittelt. Dass drei unserer Alumni heute als Korrespondenten aus Nahost berichten, ist für uns eine Bestätigung, dass der »Trialog der Kulturen« gerade auch
für Journalisten förderlich ist.
Die intensivsten Plattformen der Stiftung im »Trialog der Kulturen« bilden jedoch unsere
Jahrestagungen. Seit drei Jahren vertiefen wir das Thema »Migration und Medien« unter
verschiedenen Aspekten, mit je unterschiedlichen Länderschwerpunkten und Kooperationspartnern. 2007 traten wir als Partner des Potsdamer M100 Sanssouci Colloquiums
zusammen. Als The East-West Media Bridge ging es zwischen führenden Journalisten aus
dem Mittleren Osten sowie aus dem Westen und Osten Europas um den Einfluss transnationaler Medien auf internationale Beziehungen, die Pressefreiheit und Selbstzensur
von Journalisten sowie die Integration von Minderheiten in Europa.
2008 fand die Tagung auf Schloss Höchst gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium
statt. Länderschwerpunkt war die kanadische Einwanderungsgesellschaft. Sie ist im 2009
erschienenen Buch »Migration und Medien. Standortbestimmungen aus Wissenschaft, Politik und Journalismus« dokumentiert. Den Blick auf die USA richteten wir 2009 gemeinsam mit dem amerikanischen Generalkonsulat, dem wir an dieser Stelle herzlich danken.
Die Konferenz des Jahres 2009 schließt unmittelbar an die Veran- Migration und Integration
staltung des vorherigen Jahres an und vertieft einen ganz speziellen sind zentrale Themen der
politischen Kommunikation
Aspekt, nämlich die Frage: Sind Migranten für die Formate des und der Berichterstattung
Fernsehens eine relevante Zielgruppe? Und wenn ja, gibt es in dieser in Presse, Rundfunk und
Internet.
Hinsicht Unterschiede zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten
Sendern? Welche Rolle spielen unterschiedliche Modelle der Medienrezeptionsforschung?
Und bieten sich Chancen für eine mediale Integration durch eine integrationsfreundliche
Programmplanung?
Wie ist der Beitrag der Medien zu einer gelingenden Integrationsgesellschaft überhaupt
zu bewerten?
Es ist offenkundig, dass Migration und Integration zentrale Themen der politischen
Kommunikation und der Berichterstattung in Presse, Rundfunk und Internet sind. Häufig war und ist die Berichterstattung in den Medien sehr plakativ, wenn es um Ausländer und Neubürger geht. Das kann Vorurteile verschärfen oder zumindest zementieren.
Erfreulicherweise sind seit einigen Jahren auch Veränderungen erkennbar. Diese wollen
wir als Herbert Quandt-Stiftung fördern und setzen uns für eine differenzierte Bericht05
SUS A N N E K L AT T E N
erstattung ein, für die Vermeidung von Stereotypen und die mediale Integration von Zuwanderern, ohne naiv die vorhandenen Probleme zu ignorieren. Blicken wir in die nahe
Zukunft, so ist klar, dass wir nicht nur eine genauere Berichterstattung über Migration
und Integration brauchen, sondern auch journalistische Formate, die Migranten ansprechen – und natürlich auch kompetente Journalisten mit Zuwanderungsgeschichte, die die
Vielfalt unserer Gesellschaft abbilden und ihre unterschiedlichen kulturellen Prägungen
als Kompetenzen einbringen.
06
GRUSSWORT
Vom Schmelztiegel zur Salatschüssel
VON EDWARD M. ALFO RD
Die Herbert Quandt-Stiftung bemüht sich schon lange um ethnische und kulturelle Vielfalt. Insbesondere der jährliche »Trialog der Kulturen« hat die öffentliche Debatte dieses
Themas außerordentlich bereichert.
Mein eigenes Land, die USA, wurde von Beginn an mit den Herausforderungen ethnischer und kultureller Vielfalt konfrontiert. Unser Streben danach, eine tolerante und
demokratische Gesellschaft zu schaffen, hat sich auch im Motto unseres Siegels niedergeschlagen: E Pluribus Unum.
Die Populärkultur in all ihren verschiedenen Formen ist vielleicht seit jeher der wichtigste Integrationsmotor in den Vereinigten Staaten: Ob Musik, Tanz, Stummfilm oder
Sport – hier wurde es den Mitgliedern verschiedenster ethnischer Gruppen möglich, in
unserer Gesellschaft Erfolg zu haben, und zwar noch bevor diese die englische Sprache
beherrschten. Sport zum Beispiel eint Athleten und Zuschauer gleichermaßen. Wir bejubeln Sportler verschiedenster ethnischer Herkunft – von Jesse Owens über Michelle Kwan
zu Tiger Woods – und haben ihren Beitrag zu unserer Gesellschaft schätzen gelernt.
Im kulturellen Bereich haben viele unserer genuin amerikanischen Kulturprodukte – ob
Jazz, Musicals oder Hollywood – in Wirklichkeit einen eindeutig ethnischen Ursprung.
Unter den gefeierten Songschreibern der 1920er und 1930er Jahre war Cole Porter der
einzige WASP, also weißer angelsächsischer Protestant. Die berühmten Filmstudios in
Hollywood Warner Brothers, Paramount, MGM und Universal wurden allesamt von osteuropäischen Einwanderern gegründet. Und als der Hollywood-Produzent David Selznick,
selbst ein russischer Einwanderer in die Vereinigten Staaten, gefragt wurde, welche Musik
er für Vom Winde verweht, das amerikanische Filmepos schlechthin, verwenden würde,
lautete seine Antwort: »Gute, alte jüdische Musik.«
Bis weit in die 1960er Jahre allerdings wurden ethnische Herkunft und Hintergründe der
amerikanischen Kultur und ihrer Protagonisten bewusst verdeckt gehalten. Bis zu dieser
Zeit nahmen die Hollywood-Filmstars angelsächsische Namen an und machten damit
ihre ethnischen Wurzeln unkenntlich. Um sich überhaupt vermarkten zu lassen, wurde
so aus Margarita Carmen Cansino Rita Hayworth und aus Issur Danielowitsch Demsky
wurde Kirk Douglas.
In den siebziger Jahren änderte sich dies komplett: Das Assimilationsstreben machte
einem neuen ethnischen Bewusstsein Platz; Amerikaner besannen sich wieder auf
und identifizierten sich mit ihren ethnischen Wurzeln und ihrem kulturellen Erbe.
07
EDWARD M. ALFORD
Black Pride, Italian Power oder Polish Pride – so lauteten die neuen Wahlsprüche. Das
»Schmelztiegelkonzept« wurde vom Bild Amerikas als »Salatschüssel« ersetzt, in der sich
ein multikultureller Mix ergibt. Diese Entwicklung wurde von der
Das »SchmelztiegelkonBürgerrechtsbewegung begründet oder zumindest von ihr verstärkt.
zept« wurde vom Bild
Amerikas als »SalatHeutzutage muss eine Jennifer Lopez ihren puertorikanischen Hinschüssel« ersetzt, in der
tergrund nicht mehr hinter einem englisch klingenden Nachnamen
sich ein multikultureller
verstecken. Afro-Amerikaner, Deutsch-Amerikaner, Hispano-AmeMix ergibt.
rikaner und all die anderen »Bindestrich-Amerikaner« zusammen
bilden eine Gesellschaft, die durch ethnische und kulturelle Vielfalt gekennzeichnet ist
– eine gleichermaßen schwierige wie bereichernde Entwicklung.
Hieraus ergeben sich tief greifende Konsequenzen für die Politik, die akademische sowie
die Geschäftswelt und natürlich auch für die Medien. Wenn wir im privaten und/oder geschäftlichen Umfeld nur wenig Kontakt mit anderen ethnischen Gruppen haben, stammt
unser Wissen über diese Gruppen fast ausschließlich aus den Medien. Auch unsere Haltung gegenüber bestimmten ethnischen Gruppen und uns selbst kann erheblich durch
Meldungen und Berichte in den Medien beeinflusst werden. Ähnlich kann die Haltung
einer ethnischen Gruppe gegenüber einer anderen, wie auch deren Einstellung gegenüber
der Mehrheit beeinflusst werden. Entsprechend groß ist die Verantwortung der Medien,
und das zu einer Zeit, die sehr wettbewerbsintensiv ist.
Der Druck, eine gute, komprimierte Story für ein möglichst breites Publikum zu produzieren, macht es Journalisten heutzutage oft schwer, tiefer in ein Themenfeld einzusteigen
und Stereotype sowie Plattitüden zu vermeiden. Sich der oftmals hohen Sensibilität von
Themenfeldern um Ethnizität und Religion bewusst, sieht sich der Journalist manches
Mal sogar gezwungen, zwischen politischer Korrektheit und Redefreiheit abzuwägen.
Wie solche Balanceakte funktionieren und was wir in diesem Zusammenhang aus den
in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen lernen können, das sind wichtige Themen
für multikulturelle Gesellschaften, in denen die Medien eine maßgebliche Rolle bei der
Bildung von Meinungen, Haltungen und politischen Entscheidungen spielen. Von daher
freut es mich sehr, dass die Herbert Quandt-Stiftung gerade diese Frage zum Thema der
diesjährigen Konferenz gemacht hat.
08
EINLEITUNG
Einleitung: Migranten als Zielgruppe?
Medienrezeptionsforschung und Programmplanung
VON ROLAND LÖFFLER
Migration und Integration, das Eigene und das Fremde sind heute zentrale Themen der
politischen Kommunikation und der Berichterstattung in Presse, Rundfunk und Internet. Das kann kaum überraschen, besitzen doch rund 15 Millionen
In Deutschland gibt es
Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund – das sind bisher keine Tradition
in der Erforschung der
etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung.
Wirkung von BerichtDie Verständigung zwischen Kulturen, Religionen und Weltan- erstattung auf das
schauungen kann gelingen, wenn Medien ausgewogen und kritisch Publikum.
berichten. Doch was bewirkt dies eigentlich bei den Migranten und
auch in der Mehrheitsgesellschaft? Dazu bedarf es einer profunden Rezeptionsforschung.
In Deutschland gibt es bisher keine Tradition in der Erforschung der Wirkung von Berichterstattung auf das Publikum. Dies ist in Nordamerika anders, weshalb die USA in
diesem Band zum Vergleich herangezogen werden. Erst in den letzten Jahren sind hierzulande erste Wegmarken gesetzt worden.
Migranten werden nun vermehrt innerhalb ihrer Lebensstile und Milieus als »Zielgruppe« analysiert und identifiziert. Die Mediennutzungsforschung geht im Kern von einem
aktiven Publikum aus, welches sich die Medieninhalte nach seinen Bedürfnissen aussucht.
Das hat Auswirkungen auf die Programmplanung und auch die Medienpolitik. Nutzungsstudien zeigen individuelle und individualisierte Selektions- und Motivationsmuster
im Medienkonsum.
Die Herbert Quandt-Stiftung wendet sich mit diesem Buch erneut dem Thema »Migration und Medien« zu. 2009 hat sie dazu bereits einen Band vorgelegt.1 Sie will mit der hier
vorzustellenden Publikation zur Frage »Migranten als Zielgruppe?« die wissenschaftliche
und medienpolitische Debatte weiter vorantreiben. Dabei geht es um folgende Fragen:
Sind Migranten gerade für Fernsehplaner bereits eine relevante Zielgruppe? Und wenn ja,
gibt es Unterschiede zwischen dem öffentlich-rechtlichen und dem privaten Fernsehen?
Wie beeinflussen Stereotype die Berichterstattung?
Welche Rolle spielen unterschiedliche Modelle der Medienrezeptionsforschung? Und bieten sich Chancen für eine mediale Integration durch eine integrationsfreundliche Programmplanung?
Dabei soll gezeigt werden, dass Medien nicht einfach »wirken«; die Rezipienten lassen sie
wirken.
1
Vgl. Herbert Quandt-Stiftung (Hg.): Migration und Medien. Standortbestimmungen aus Wissenschaft, Politik und
Journalismus. Frankfurt 2009.
09
ROLAND LÖFFLER
Der Stellenwert von Mediennutzung als Gradmesser für Integration sollte also in Forschung und Politik differenziert betrachtet werden. Diese Ansicht reflektieren auch die
beiden politischen Positionsbestimmungen des langjährigen nordrhein-westfälischen Integrationsministers Armin Laschet (CDU) sowie des Staatssekretärs im Hessischen Ministeriums der Justiz, für Integration und Europa, Rudolf Kriszeleit (FDP).
So bekannte sich Laschet – für einen CDU-Politiker noch immer eher ungewöhnlich –
deutlich dazu, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, 2 in dem die Medien eine
wichtige Rolle zur gesellschaftlichen Inklusion, aber ebenso auch zur Exklusion hätten.
Deshalb stellte er zwei Forderungen auf:
1. Die deutschsprachigen Medien müssten sich stärker als bisher für die Interessen der
Zugewanderten öffnen.
2. Die ausländischen, speziell die türkischsprachigen Medien in Deutschland sollten sich
weniger auf die Belange des Herkunftslandes konzentrieren, sondern die konkreten Interessen der Einwanderer hier in Deutschland berücksichtigen. So sollten sie sich früher
oder später als Teil der deutschen Medienlandschaft verstehen.
Kriszeleit warb für die personelle Diversity-Politik in deutschen Medien als Teil einer
neuen Willkommenskultur. Kenntnisse von kulturellen Besonderheiten der Zugewanderten seien unabdingbar, um Verständnis und damit auch gesellschaftliche Akzeptanz
zu erreichen. Personelle Vielfalt in den Medien solle die Vielfalt unserer Gesellschaft widerspiegeln.
Amerika hat auf diesen Gebieten bereits eine jahrzehntelange Erfahrung. Es gibt Selbstverpflichtungen der journalistischen Berufsverbände zur Förderung von Minderheiten.
Deshalb soll in diesem Buch the American experience zu Wort kommen. Der Kommunikationswissenschaftler Bradley W. Gorham von der Syracus-University im Bundesstaat New
York und ausgewiesener Medienrezeptionsforscher geht in seinem Beitrag Stereotype,
Massenmedien, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit grundlegend auf die amerikanische
Gesellschaft und Forschungslandschaft ein. Seine These: Stereotype sind unvermeidlich,
wir Menschen brauchen sie zur Herausbildung unserer Identität und zur Reduktion einer
komplexen Umwelt. Für die Medien ist diese Erkenntnis aber kein Freibrief, sollen sie
doch nicht nur Informationen und Fakten liefern, sondern im besten Falle auch einen
Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten. Die Forschung zeige nämlich, dass Menschen
der Tendenz zu Stereotypen entgegenwirken könnten, sofern ihnen die Chance gegeben
wurde, Informationen kontrolliert zu verarbeiten. Wenn man gering voreingenommenen
Personen erkläre, wie stereotype Informationsverarbeitung ablaufe, seien diese vielfach
dazu in der Lage, das Ergebnis entsprechend zu verändern. Für Gorham ist dies ein wichtiges Ergebnis, lasse es doch die Annahme zu, dass sowohl für Produzenten als auch für
2
Laschet, A.: Die Aufsteiger-Republik – Zuwanderung als Chance. Köln 2009.
10
EINLEITUNG
Konsumenten der Medien das Wissen über die stereotype Natur von Botschaften und
deren Verarbeitung ein erster Schritt zur Veränderung ihrer Interpretation wird.
Eine gezielte medienpolitische Umsetzung dieser Erkenntnis hat durchaus Folgen, wie dies
die Entwicklungen in den USA – nicht erst seit der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten
– belegen: Waren noch vor einigen Jahren nur wenige Schwarze im Fernsehen zu sehen,
gibt es nun eine stärkere Präsenz von Afro-Amerikanern, nicht zuletzt in der Populärkultur.
Daran anschließend skizziert die Journalistin, Wissenschaftlerin und langjährige Diversity-Beauftragte der einflussreichen Standesvereinigung Society of Professional Journalists
(SPJ), Sally Lehrman, wie sich eine Politik der ethnischen Vielfalt in die journalistische
Praxis umsetzen lässt. Zwei Erkenntnisse sind für sie zentral:
a) Das Diversity-Konzept muss von den Redaktionen ernst genommen werden. Wohlfeile
Formulierungen nützen nichts, wenn die Redakteure Integration nicht wirklich wollen.
b) Medien müssten Leser, Hörer und Zuschauer immer wieder daran erinnern, dass die
USA historisch auf dem Fundament der Diversität gegründet worden sind, Schwarze und
Hispanos über Jahrhunderte einen Großteil der amerikanischen Bevölkerung ausmachten.
Deshalb müssten Journalisten bereits in ihrer Ausbildung für diese Fragen sensibilisiert werden.
Ein weiteres Instrument bei der Vermeidung von Vorurteilen ist eine Richtlinie, die die
SPJ auf der Grundlage ihres Ethikkodex erarbeitet hat, um religious profiling, also eine
Vorverdächtigung aufgrund von Religionszugehörigkeit, zu vermeiden. Journalisten und
Fotografen sollen beispielsweise die Darstellung von Amerikanern arabischer Herkunft
und von Muslimen als monolithische Gruppen vermeiden und nicht suggerieren, es sei
etwas Ungewöhnliches, auf dem Boden kniend zu beten, arabische Musik zu hören oder
aus dem Koran zu zitieren.
In Deutschland befindet sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk beim Thema Integration in einer merkwürdigen Zwitterstellung. Einerseits hat er sich im Nationalen Integrationsplan dazu verpflichtet, das Thema zu fördern und auch entsprechendes Personal
mit Migrationsgeschichte einzustellen. Andererseits erreicht er migrantische Zuhörer und
Zuschauer nur schwer. So bevorzugen beispielsweise die türkischen Mitbürger weiterhin
ihre türkischen Sender, weil diese nicht nur den Heimatbezug herstellen, sondern auch
lebendigere Unterhaltungsprogramme anbieten.
Unstrittig ist jedoch, dass sich die Medienforschung und die Programmplanung des
öffentlichen Rundfunks dem Thema Integration intensiver als bisher annehmen. Die
grundlegenden Fragen der Medienrezeptionsforschung im deutschen Kontext erklärt der
Jenenser Kommunikationswissenschaftler Georg Ruhrmann.
Ruhrmann greift dabei auch auf die amerikanische Forschung der letzten Jahrzehnte zurück. Er diskutiert die Vorzüge und Nachteile des Repräsentations- und des Instrumental11
ROLAND LÖFFLER
modells im Blick auf die Integrationsfrage: Bilden die Medien nur die soziale Wirklichkeit
bzw. die Prozesse der Migration ab? Oder beschleunigen sie (so das Instrumentalmodell)
auch und gerade solche Ereignisse, die für desintegrative Tendenzen stehen (fremdenfeindliche Anschläge, Kriminalität von Ausländern oder Konflikte zwischen Jugendbanden mit Migrationshintergrund)?
Zudem fragt Ruhrmann danach, ob sich Mehrheitsgesellschaft und Migranten überhaupt
von den Medien beeinflussen ließen. Diese Frage sei nicht leicht zu beantworten, besitze
Deutschland doch keine große Tradition der Medienwirkungsforschung, auch wenn die
große ARD/ZDF-Studie Migranten und Medien (2007) sowie weitere kleinere Detailuntersuchungen zur Medienrezeption einen Durchbruch gebracht hätten.3 Die ARD/ZDFStudie bringe jedoch Befunde, die zur Versachlichung der öffentlichen Debatte beitragen
könnten:
Es zeige sich nämlich, dass
a) es keine mediale Parallelwelten in Deutschland gebe,
b) Sprachkenntnisse für die Nutzung deutscher Medien unabdingbar seien,
c) die Relevanz heimatsprachlicher Medien von der Herkunft, vom Alter, von der Bildung
und von der jeweiligen biografischen Situation des Zuschauers abhänge,
d) das Fernsehen für In- und Ausländer als Leitmedium fungiere, gleichzeitig bei jüngeren Nutzern das Internet große Bedeutung besitze.
e) Dagegen ist die Zeitungslektüre, die ja auch zur regionalen Integration beitragen könne,
stark von den Sprachkenntnissen abhängig. Wer schlecht Deutsch spricht, liest im Zweifel
keine deutsche Zeitung.
f) Schließlich werden Integrationsthemen im Hörfunk nur von rund zwanzig Prozent
der Migranten gehört, auch weil die meisten Zuwanderer die speziellen Ausländerprogramme gar nicht kennten.
g) Das wohl wichtigste Ergebnis der Medienforschung ist jedoch die Erkenntnis, dass
Migranten die in der Regel von Inländern ausgewählten und formulierten Meldungen
anders wahrnehmen als die Deutschen.
Experimentelle Studien zum sogenannten Framing verweisen darauf, dass die Verarbeitung von Fernsehnachrichten nicht nur von den Themen der Berichterstattung, sondern
auch durch ihre argumentative Strukturierung, durch die formalen Rahmenkonstruktionen der Nachrichten (den Frames) beeinflusst würden. Wie bereiten Journalisten ein
Thema auf und wie erklären sie es? Beschreiben sie es eher kurz und schildern das Ereignis in einfachen Ursachen-Wirkungsbeziehungen (episodisches Framing)? Oder wählen
sie einen komplexeren, d. h. hintergrund- und folgenorientierten Kontext der Darstellung
(thematisches Framing)? Das einfachere, episodische Framing führe leicht zu Missverständ-
3
Vgl. statt anderer Ruhrmann, G./Sommer, D./Klietsch, H./Niezel, P.: Medienrezeption in der Einwanderungsgesellschaft. Eine vergleichende Studie zur Wirkung von TV-Nachrichten. Mainz 2007. Sauer, M.: »Mediennutzungsmotive türkeistämmiger Migranten in Deutschland.« In: Publizistik 55, 1/2010. S. 55-76.
12
EINLEITUNG
nissen oder gar Stereotypen. Dann bewerteten ausländische Zuschauer TV-Nachrichten
über Migranten insgesamt pessimistischer und parteiischer, woraus sich für die Forschung
und journalistische Praxis große Herausforderungen ergäben.
Das bedeutet, so Ruhrmann, für eine auf mehr Verständigung ausgerichtete Kommunikationspolitik und einen entsprechend sensibleren Journalismus: Das Framing der Beiträge über Migranten beeinflusst möglicherweise mehr Meinungen, Verhalten und das
Wissen der Zuschauer als das bloße Setzen von Themen.
Erk Simon (WDR) vertieft diese Aspekte unter praktischen Gesichtspunkten. Ihn interessiert besonders die Frage, wie Medien und einzelne Programmangebote auf die Zuschauer wirken, wie sie bewertet werden und welche Unterschiede diesbezüglich zwischen Zuwanderern und Deutschen bestünden. Simon betont, dass heimat- und deutschsprachige
Programme durchaus unterschiedliche Funktionen hätten und in ihrer Unterschiedlichkeit Bedeutung für die Meinungs- und Identitätsbildung besäßen. Nicht nur die reinen
Informationen über Ereignisse in der alten Heimat seien bedeutsam, sondern auch das
emotionale Erleben bestimmter Programmangebote etwa von Serien oder regelmäßig
wiederkehrenden Unterhaltungssendungen, die mit der gesamten Familie gesehen würden. Gerade im emotionalen Bezug zu Fernsehsendungen bestünden erkennbare Differenzen zwischen unterschiedlichen Ländern und Kulturen.
Für den öffentlichen Rundfunk stellt sich natürlich der Auftrag, prinzipiell alle Bürger
– sprich: ein gemeinsames Publikum – zu erreichen. Deshalb sei die Wirkungsforschung
sehr bedeutsam, auch um Vorurteile abzubauen. Zukünftig müssten die Sender der ARD
Programmbewertungen und Reaktionen auf einzelne Angebote nicht allein in speziellen
Studien zu Migranten-Zielgruppen auslagern, sondern in gemeinsamen Stichproben untersuchen, in denen der Zuwanderungshintergrund nur ein Merkmal neben anderen sei.
In der Praxis werden in der konkreten Medienwirkungsforschung zwei Modelle angewandt: Die MedienNutzerTypologie sowie die SINUS-Milieus. Dieses Modell, das von
dem privaten SINUS-Institut in Heidelberg entwickelt wurde, blickt stark auf Lebensstile und die damit verbundenen Einstellungen. Ulrich Neuwöhner von der SWR-Medienforschung führt in dieses Konzept ein, während der Leiter von SWR-International,
Karl-Heinz Meier-Braun medienpolitische Konsequenzen daraus zieht. In einer abschließenden Diskussionsrunde mit den beiden SWR-Vertretern vertiefen der Fernsehdirektor
des Hessischen Rundfunks, Manfred Krupp und die ARD-Tagesschau-Redakteurin und
Vorsitzende des Vereins Neue Deutsche Medienmacher, Marjan Parvand, die dargestellten Aspekte unter programmplanerischen Gesichtspunkten. Dabei ergaben sich durchaus
kontroverse Einschätzungen.
Der hr-Direktor Krupp sieht in den Ergebnissen der Medienforschung zur medialen
Integration von Ausländern zunächst einen allgemeinen Trend bestätigt, dass nämlich
die ARD große Probleme hat, ein jüngeres Publikum zu erreichen. Damit dies gelinge,
13
ROLAND LÖFFLER
müsste man sich genau über die einzusetzenden Instrumente deutlich werden. Krupp
unterscheidet grundsätzlich zwischen Programmplanung, Programmentwicklung und
Formatentwicklung. In der Alltagsplanung spiele das Thema Migration meist keine
große Rolle. In der Programmentwicklung und in der Formatplanung sei es wichtig,
müssten hier Fernsehmacher doch danach fragen, wie sie Wirklichkeit angemessen abbildeten.
Da der öffentlich-rechtliche Auftrag auf ein qualitativ hochwertiges, informatives Fernsehen abziele, das Fernsehen aber gleichzeitig das mediale Leitmedium
Wer bürgerliche Misei, das Inhalte extrem emotional transportiere, stünden Programmgranten erreichen will,
muss fast die gleichen
planer oft in einem Zwiespalt. Bestimmte, auch migrantische Milieus
Instrumente anwenden
könne man am besten mit emotionalen Angeboten erreichen, etwa
wie bei bürgerlichen
durch fiktionale und unterhaltende Programme – sei es der Tatort
Deutschen.
oder die Lindenstraße. Eine Folge Lindenstraße könne möglicherweise
mehr bewirken als drei Folgen Monitor, Report und Fakt zusammen, so Krupp.
Dagegen betrachtete die gebürtige Iranerin Parvand Migranten durchaus als relevante
Zielgruppe des öffentlichen Rundfunks für inhaltsstarke Sendungen. Allerdings war sie
dafür, Migranten als ebenso differenzierte Zielgruppe wie alle anderen zu betrachten. Wer
bürgerliche Migranten erreichen wolle, müsse fast die gleichen Instrumente anwenden
wie bei bürgerlichen Deutschen. Viel wichtiger erschien ihr aber die Realität in unseren
Redaktionen. Für die Neuen Deutschen Medienmacher steht fest: Deutschland braucht
mehr Migranten an den Redaktions- und Planungstischen, damit die gesellschaftliche
Realität besser abgebildet wird.
Dies leisten die privaten Sender möglicherweise auf ganz anderen Wegen. Privatfernsehen,
Popkultur und mediale Integration gehören eigenartigerweise zu den bisher in der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussion eher vernachlässigten Themen, obwohl
die Statistiken deutlich belegen, dass privates Fernsehen bei Migranten sehr beliebt ist.
Die Ergebnisse der Casting-Shows sprechen eine deutliche Sprache: Bei den RTL-Shows
Deutschland sucht den Superstar oder Das Supertalent oder dem ProSieben-Format Popstars sind überdurchschnittlich viele Migranten unter den Teilnehmern und Gewinnern.
Auch eine Reihe von Moderatorinnen und Moderatoren in der RTL-Senderfamilie, bei
ProSieben/SAT 1, bei VIVA und MTV haben einen nicht-deutschen Hintergrund. Wie
kommt das? Laufen die Dinge hier etwas unorthodoxer ab als im öffentlichen Sektor?
Hat die sehr pragmatische Integration von Migranten mit sozialen Aufstiegshoffnungen,
mit großem Talent oder den Marketingstrategien der Sender zu tun? Geben bunte Biografien einem Sender aus Köln oder München vielleicht etwas internationales Flair?
Die Redakteurin der Frankfurter Rundschau, Canan Topçu geht in ihrer Reportage Die
Faszination der Casting-Shows. Oder: Migranten auf der Suche nach Anerkennung und sozialem Aufstieg diesen Fragen nach. Vertieft werden sie in der Diskussionsrunde unter dem
Motto Die demokratischen Stars? Migranten als Zielgruppe der Popkultur im Privatfernsehen,
14
EINLEITUNG
an der der Konzernpressesprecher der ProSiebenSAT 1 Media AG, Julian Geist, der stellvertretende Chefredakteur der türkischen Zeitung SABAH, Ismail Erel, der Abteilungsleiter für Integration im Hessischen Ministerium der Justiz, für Integration und Europa,
Walter Kindermann, sowie die italienisch-deutsche Sängerin und Deutschland sucht den
Superstar-Teilnehmerin Stella Salato teilnahmen. Privatfernseh-Mann Geist hielt darin
unumwunden fest: Ziel des Senders sei es, eine Sendung spannend zu machen. Deshalb
sei es kaum verwunderlich, dass in der Endrunde einer Casting-Show möglichst viele
Kandidaten mit unterschiedlichen Charakteren ausgewählt würden, mit denen sich der
Zuschauer identifizieren könne. Eine Zielgruppe reiche nicht, wenn man im Idealfall
jeden Deutschen erreichen wolle. Hintergedanken mache sich sein Sender also schon, aber
eine auf Migranten zugeschnittene Strategie stehe nicht dahinter. Vielleicht ist gerade das
ein Erfolgsrezept für eine sehr praktische mediale Integration.
Der Band schließt mit einem Ausblick des WDR-Journalisten Birand Bingül, der die der
Publikation vorausgehende 13. »Trialog der Kulturen«-Jahreskonferenz souverän moderiert
hat. Ihm gilt genauso unser besonderer Dank ebenso wie Prof. Dr. Georg Ruhrmann von
der Universität Jena, der wesentliche Impulse zur inhaltlichen Ausgestaltung der Konferenz
beigesteuert hat.
15
I. Integrationspolitik
und Medien
Integrationspolitik und das Publikum
Der politische Umgang mit Medienwirkungen
VON ARMIN LASCHET
Nicht erst seit dem Beitrag eines früheren Berliner Finanzsenators über den Stand der
Integration in der Bundeshauptstadt wissen wir, dass über Medien mitunter auch Äußerungen transportiert werden, die dem Integrationsprozess schaden können. Auch der
Streit um den Neubau einer großen Moschee in Köln, der bundesweit Beachtung gefunden hat, wurde zu einem Großteil über die Medien ausgetragen – sicher nicht zum Vorteil
der Integration. Andererseits lassen sich neue Ansätze auch nur medial vermitteln. Das
Klima in einem Land wird ganz wesentlich von Medien geprägt.
Für mich steht deshalb das Thema »Medien und Integration« ganz oben auf der Agenda,
seit ich 2005 mein Amt als erster Integrationsminister angetreten habe. Integration, das
ist mir nämlich sehr schnell bewusst geworden, ist nur zu einem Teil – vielleicht sogar zu
einem kleineren Teil – eine Frage von Gesetzen oder staatlichen Programmen.
Integration ist vielmehr sehr stark von psychologischen Faktoren abhängig – weit mehr als
die Wirtschaftspolitik beispielsweise, von der man bekanntlich ja auch schon sagt, dass sie
zu fünfzig Prozent Psychologie sei.
Und das heißt zugleich: Integration ist eine Frage der Kommunikation: Es geht darum,
welche Signale wir aussenden, welche Sprache und welche Bilder über die Medien vermittelt werden. Wenn wir über Integration sprechen, sind Ton und Haltung von nicht zu
unterschätzender Bedeutung.
Ein internationaler Migrationsforscher sprach von einer geänderten »kollektiven Körperhaltung« der Deutschen gegenüber den Zugewanderten. Ich will nicht sagen, dass die Medien
aus Integration kurzerhand eine Erfolgsgeschichte ohne Wenn und Aber machen können.
So einfach wird es nicht gehen. Fehlen nämlich die grundlegenden Voraussetzungen, z. B.
% w
enn Menschen mit Zuwanderungsgeschichte deutlich schlechtere Bildungs- und Berufschancen haben,
% w
enn ihre Arbeitslosenquote sehr viel höher ist,
% w
enn sie Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren,
dann lässt sich dieses Problem nicht durch die Medien heilen, sondern nur durch eine
Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das ist eine Aufgabe, für die die Politik
sorgen muss.
Aber welches Klima für Integration besteht, welches Bild die Mehrheitsgesellschaft von
Menschen mit Zuwanderungsgeschichte hat, wie diese wiederum die Mehrheitsgesell18
I N T E G R AT I O N S P O L I T I K U N D M E D I E N
schaft sehen, ob sie sich willkommen oder ausgegrenzt fühlen – das wird doch sehr stark
durch Medien bestimmt. Das ist eine logische Konsequenz des Medienzeitalters, in dem
wir leben.
Die Rolle der Medien im Integrationsprozess
Es ist unübersehbar: Medien prägen unser Leben. Zeitungen, Radio, Fernsehen oder
Internet informieren, bewerten und interpretieren – so werden sie zu wichtigen Katalysatoren der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie prägen öffentliche Diskurse und haben
erheblichen Einfluss auf unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit. Weil Medien zur gesellschaftlichen Inklusion beitragen können, aber ebenso auch zur Exklusion, spielen sie
in der Migrations- und Integrationspolitik eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Denn sie bieten zum einen die Möglichkeit, den interkulturellen Dialog zu fördern und
so den Zusammenhalt zu fördern. Aber ebenso können sie auch zu Stigmatisierung, Ausgrenzung und Feindseligkeit beitragen. Nicht nur, aber vor allem das Internet ist voll von
Medieninhalten, die für das Zusammenleben in der Gesellschaft schädlich sind.
Wir leben in einem Einwanderungsland1
Genau das können wir uns als Einwanderungsgesellschaft nicht leisten. In einer kulturell
bunteren Gesellschaft brauchen wir mehr Integration, mehr Miteinander der Kulturen
und Religionen. Eine bunte Einwanderungsgesellschaft sind wir längst geworden.
Anhand einiger Zahlen aus Nordrhein-Westfalen will ich das verdeutlichen:
Bereits heute leben in Nordrhein-Westfalen Menschen mit familiären Wurzeln aus mehr
als 180 Ländern.
% Fast ein Viertel der Einwohner Nordrhein-Westfalens hat eine Zuwanderungsgeschichte. In großen Ballungszentren ist ihre Zahl zum Teil noch wesentlich höher.
% In den Städten des Ruhrgebiets, in Berlin, Köln, München und Stuttgart haben rund 38
Prozent der Kinder eine Zuwanderungsgeschichte. Bei den jungen Menschen unter 18
Jahren hat in Köln (48,5 Prozent) und Düsseldorf (49,4 Prozent) sogar etwa jeder zweite
eine Zuwanderungsgeschichte. In der westfälischen Stadt Hagen sogar 55,7 Prozent!
Die Gruppe der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte geht weit über den Kreis der
Ausländer hinaus.
Wir zählen die Eingebürgerten ehemaligen Ausländer ebenso dazu wie die Aussiedler
und Spätaussiedler – sowie all diejenigen, die einen Elternteil haben, der im Ausland
geboren und nach Deutschland zugewandert ist. Diese Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sind im Durchschnitt deutlich jünger als die nicht Zugewanderten. Liegt
das Durchschnittsalter der deutschen Bevölkerung insgesamt heute bereits bei 42,5
Jahren, sind Menschen mit Zuwanderungsgeschichte im Durchschnitt gerade einmal
1
Laschet: Die Aufsteiger-Republik – Zuwanderung als Chance.
19
ARMIN LASCHET
33,4 Jahre alt. Rund 21 Prozent der deutschen Bevölkerung sind über 65 Jahre alt,
aber nur rund 8 Prozent aller Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gehören dieser
Altersgruppe an.
Ohne die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sähe das Verhältnis zwischen der jungen und der älteren Generation also heute noch sehr viel dramatischer aus. Nicht zuletzt
mit Blick auf die demografischen Entwicklungen und die daraus resultierenden Konsequenzen können wir es uns nicht leisten, ihr gesellschaftliches Potenzial nicht voll auszuschöpfen.
Nur ein Beispiel: Der Fachkräftemangel, den die deutsche Wirtschaft bereits heute in
einigen Branchen deutlich spürt, wird sich demografisch bedingt weiter verschärfen. Die
Kenntnisse und Fähigkeiten der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sind in diesem
Kontext eine Ressource, auf die wir nicht verzichten können.
Drei Ebenen im Umgang der Medien mit Integration
Ich würde mich daher freuen, wenn die Zuwanderer, ihre Anliegen und ihre Interessen
noch stärker als bisher in den Medien sichtbar würden: in Fernsehen und Hörfunk, in den
Printmedien und im Internet. Das wäre gelungene mediale Integration.
Ich glaube, es lohnt sich, diese mediale Integration einmal genauer anzuschauen und
dabei drei zentrale Ebenen zu unterscheiden:
1. die Adressaten und damit die Nutzer mit Zuwanderungsgeschichte;
2. die Inhalte, also die Frage, wie migrations- und integrationspolitische Themen in den
Medien dargestellt werden;
3. und drittens die Akteure, d. h. welche Rolle Zuwanderer selbst in der Medienwelt spielen.
1. Adressaten
Klar ist: Je größer der Anteil der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte an der Gesamtbevölkerung ist, umso größer wird ihr Gewicht als Medienkonsumenten. Wer bei seiner
Programmgestaltung die Gruppe der Zugewanderten komplett ausblendet, dem werden
langfristig Leser, Zuhörer und Zuschauer verloren gehen.
Aus Studien wissen wir, dass diese Gefahr durchaus nicht vollkommen aus der Luft
gegriffen ist. Zwar lässt sich zunächst einmal feststellen, dass es eine ausgeprägte mediale Parallelgesellschaft bzw. eine mediale Segregation für Deutschland nicht gibt. Die
deutschen Medien erreichen auch die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Die allermeisten Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nutzen nicht nur muttersprachliche
Medien.
20
I N T E G R AT I O N S P O L I T I K U N D M E D I E N
Das zeigt sowohl die Studie Migranten und Medien 20072 der ARD/ZDF-Medienkommission als auch die im Jahr 2009 veröffentlichte Mehrthemenbefragung der Stiftung Zentrum
für Türkeistudien3, die im Auftrag meines Hauses durchgeführt wurde.
Mit 2,8 Millionen stellen die türkeistämmigen Migranten die größte Migrantengruppe in
Deutschland dar. Sie verfügen über ein umfangreiches Mediennetzwerk, daher kommt
ihnen eine besondere Bedeutung zu. Die übergroße Mehrheit der türkeistämmigen Migranten (neunzig Prozent in Nordrhein-Westfalen) nutzt sowohl deutsche als auch türkische Medien. Gleichwohl orientiert sich ein Großteil der Zugewanderten weiterhin an
der Berichterstattung muttersprachlicher Medien. Das gilt besonders für die Menschen
mit Wurzeln aus der Türkei.
Wir haben mehrere türkische Zeitungen und türkische Fernsehkanäle in Deutschland
sowie zahlreiche türkischsprachige Magazine und Zeitschriften. Sie sind für viele eine
Verbindung zur alten Heimat und Kultur. Das macht sie für türkeistämmige Zuwanderer ebenso attraktiv wie der größere Unterhaltungswert des türkischsprachigen Fernsehprogramms.
Für die meisten türkeistämmigen Zuwanderer gilt: Die deutschsprachigen Medien erreichen ihre Köpfe, aber die türkischsprachigen Angebote erreichen ihre Herzen. Sie bevorzugen Medien, von denen sie auch emotional angesprochen zu werden. Ich verfolge sehr
Fragen aus dem Publikum
2
Migranten und Medien 2007. Ergebnisse einer repräsentativen Studie der ARD/ZDF-Medienkommission. URL:
http://www.unternehmen.zdf.de/fileadmin/files/Download_Dokumente/DD_Das_ZDF/Veranstaltungsdokumente/Migranten_und_Medien_2007_-_Handout_neu.pdf.
3
NRW-Mehrthemenbefragung 2009. Jährliche Repräsentativbefragung des Zentrums für Türkeistudien zu den Lebenslagen Türkeistämmiger. URL: http://www.zft-online.de/UserFiles/File/NRW-Bericht%202009.pdf.
21
ARMIN LASCHET
intensiv die türkischen Medien in Deutschland – aber natürlich nicht so sehr wegen ihres
größeren Unterhaltungswerts.
Für mich als Integrationsminister sind die türkischsprachigen Medien in Deutschland oft
der direkteste Weg zu den Menschen mit türkischer Zuwanderungsgeschichte. Sie sind
zugleich die beste Möglichkeit, um mich über das zu informieren, was die Zuwanderer
selbst bewegt, die bei uns in Deutschland leben. In den deutschsprachigen Medien finde
ich darüber verhältnismäßig wenig. Das bestätigen auch die Zuwanderer.
Daraus folgt zweierlei:
1. Die deutschsprachigen Medien müssen sich stärker als bisher für die Interessen der Zugewanderten öffnen.
2. Die türkischsprachigen Medien in Deutschland müssen den Prozess fortsetzen, sich für
die Interessen der Einwanderer zu öffnen. Lange Zeit waren sie stark auf das Herkunftsland fixiert. Es ist gut, dass sie sich nach und nach als Teil der deutschen Medienlandschaft verstehen.
2. Medieninhalte
Wenn Menschen mit Zuwanderungsgeschichte stärker als Adressaten der Medien wahrgenommen werden, führt das auch zu einem Wandel der Inhalte: zu einer neuen Sicht auf
die Zuwanderer ebenso wie auf die Einwanderungsgesellschaft.
Auch in den türkischsprachigen Zeitungen setzt sich die Erkenntnis durch, dass nicht
jeder, der sich kritisch über die Türkeistämmigen äußert, ein rechtsextremer Demagoge ist. Ebenso werden in den deutschsprachigen Boulevardmedien längst nicht mehr alle
Zuwanderer pauschal als Empfänger staatlicher Transferleistungen und Kriminelle dargestellt. Dass diese neuen Perspektiven allerdings noch fragil sind, das zeigen die Berichte
über jugendliche Gewalttäter mit Zuwanderungsgeschichte ebenso, wie es die Berichterstattung über das Brandunglück in Ludwigshafen offengelegt hat.
Bei dem Unglück in einem Mehrfamilienhaus im Februar 2008 kamen neun Menschen
türkischer Herkunft ums Leben. In der türkischen Community wurden damals der Verdacht und der Vorwurf laut, es handele sich um Brandstiftung. Zumal es auch in anderen
Städten zu Bränden mit Opfern türkischer Herkunft kam. Auch in den türkischsprachigen Medien, die auch hier in Deutschland gelesen und gesehen werden, ist sehr schnell
die Version eines fremdenfeindlichen Anschlags verbreitet worden. Das sind schon Unterschiede in der Reaktion, denn in vielen deutschen Medien war vor allem die Perspektive
vorherrschend: Wir müssen doch erst mal die Ergebnisse der Ermittlungen abwarten.
Ich hätte mir da von manchen deutschen Medien mehr Verständnis für die Ängste der
türkeistämmigen Mitbürger gewünscht, sie könnten zu Opfern fremdenfeindlicher Gewalt werden. Und von den türkischen Medien hätte ich mir deutlich mehr Zurückhaltung gewünscht, was die lange Zeit der unklaren Hintergründe des Brandes betraf. Das
22
I N T E G R AT I O N S P O L I T I K U N D M E D I E N
ist ein Beispiel dafür, was ich mit Verantwortung der Medien für die Integration meine.
Eine Berichterstattung, die sich an der Sache orientiert, die aber zugleich auch sensibel
ist.
Die zentrale Frage in diesem Kontext lautet also:
»Wie werden migrations- und integrationspolitische Themen tatsächlich kommuniziert?«
Spricht man über das »Wir-Gefühl« bzw. das »Signal des Willkommens« in der Gesellschaft, gehört dazu auch unweigerlich die Frage, inwieweit Medien heute zum Abbau
oder aber zur Verstärkung von Stereotypen und Vorurteilen in der Gesellschaft beitragen.
Welche Bilder verwenden die Medien, wenn es beispielsweise um den Stand der Integration oder Menschen mit Zuwanderungsgeschichte geht? Fragen wir uns einmal selbst:
Welches Bild haben wir im Kopf, wenn es um gelingende Integration oder aber um Integrationsprobleme geht? Bei Misserfolgen der Integration haben wir allzu oft die gleichen stereotypen Bilder vor Augen: Eine Frau mit Kopftuch, männliche Jugendliche im
Gangsta-Look, die Hinterhofmoschee im Problemstadtteil. Diese Bilder illustrieren dann
auch allzu häufig Fernsehbeiträge, Internetberichte und Zeitungsartikel zu Integrationsthemen. Anders verhält es sich, wenn wir an Bilder gelingender InteNoch immer werden
gration denken. Hier sind es häufig Assoziationen aus dem eigenen Menschen mit ZuUmfeld: Der Nachbar, der Arbeitskollege oder ein Spitzensportler – in- wanderungsgeschichte
in den Medien häufig
dividuelle Bilder und eben keine kollektiven Stereotype. Es überrascht mit nur negativen
daher kaum, dass von den türkeistämmigen Mediennutzern »Signale Bildern verbunden, wie
Kriminalität, Unterdrüdes Willkommens« in den deutschsprachigen Medien immer noch ckung der Frau, Terror
schmerzlich vermisst werden. Noch immer werden Menschen mit Zu- und Gewalt.
wanderungsgeschichte in den Medien häufig mit nur negativen Bildern
verbunden, wie Kriminalität, Unterdrückung der Frau, Terror und Gewalt. Viel zu selten
wird der Fokus dagegen auf die Erfolge der Zugewanderten gerichtet, die als geachtete
Mitglieder der Gesellschaft längst integriert sind.
Deshalb versuchen wir in Nordrhein-Westfalen, »Vorbilder der Integration« bekannt zu
machen. Sie auch in den Medien unterzubringen und so bekannt zu machen, bedeutet
mitunter ein mühsames Anrennen gegen fest gefügte Urteile. Das gilt in besonderem
Maße auch für den Islam in den Medien. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass
auch über den Islam vorurteilsfrei und fair berichtet wird.
Wenn sich in den Redaktionen beispielsweise herumsprechen würde, dass der Islam nicht
per se als Integrationshemmnis gelten kann, wäre schon viel gewonnen. Wer aber im
Islam einen prinzipiellen Widerspruch zu unserer freiheitlich-demokratischen Werteordnung sieht, der läuft auch Gefahr, die religiöse Prägung für jeden Missstand verantwortlich zu machen, auch wenn die Ursachen ganz woanders liegen.
23
ARMIN LASCHET
3. Akteure
Damit Medien bei Fragen der Integration in Zukunft seltener daneben liegen – im Ton
wie in der Sache – braucht es mehr Sensibilität und interkulturelle Kompetenz der Medienmacher. Noch besser aber wäre eine größere Beteiligung der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte selbst, mit anderen Worten: Noch mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte müssen in die Redaktionen!
Erfreulicherweise gibt es bereits zahlreiche Beispiele dafür, dass sich die Medien in
Deutschland für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte öffnen. Ich denke dabei u. a.
an die journalistischen Talentwerkstätten WDR grenzenlos und SWR International, mit
denen speziell junge Journalisten aus Einwandererfamilien gefördert werden.
Auch in der Programmgestaltung ist zunehmend sichtbar, dass wir in einer kulturell
vielfältigen Einwanderungsgesellschaft leben: Wenn heute TV-Kommissare oder Nachrichtensprecherinnen eine Zuwanderungsgeschichte haben, dann sind das wichtige
Schritte auf dem Weg zur medialen Integration.
Weitere Beispiele ließen sich finden:
% Cosmo TV, ein interkulturelles Magazin des WDR, das sich wöchentlich mit dem interkulturellen Dialog und dem Themenfeld Integration beschäftigt.
% F
unkhaus Europa, das Hörfunkprogramm des WDR in Zusammenarbeit mit Radio
Bremen und dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB). Das Funkhaus Europa ist
sogar im doppelten Sinne integrativ angelegt: Es soll sowohl die innerdeutsche als auch
die europäische Integration unterstützen.
% F
ernsehformate wie Alle lieben Jimmy (RTL) und Türkisch für Anfänger (ARD), die sich
humorvoll mit interkulturellen Alltagssituationen in Deutschland beschäftigten. Dass
diese TV-Formate von Integrationspolitikern und Feuilletonisten offenkundig mehr
geliebt werden als vom Publikums-Mainstream, sollte die Programmverantwortlichen
nicht davon abhalten, weiterhin qualitätvolle Sendungen wie diese zu produzieren.
% S chließlich leisten Comedy-Formate wie Was guckst Du oder Comedians wie Django
Asül und Kerim Pamuk wichtige Beiträge zur Entkrampfung des Verhältnisses von
Einheimischen und Zugewanderten.
Überdies hätten mehr Zugewanderte in den Redaktionen und vor den Kameras noch
einen weiteren wichtigen Effekt: Sie könnten jungen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte verdeutlichen, dass sie Chancen auf beruflichen und sozialen Aufstieg in
Deutschland haben und dass es dafür nicht nur den Weg über die Casting-Shows gibt, in
denen auffallend viele junge Zuwanderer ihre Chance suchen.
Wir müssen ihnen vielmehr zeigen, dass sie vor allem über Schule, Studium und Berufsausbildung echte Aufstiegsperspektiven in unserem Land haben. Für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes kommt es entscheidend darauf an, dass es uns gelingt, allen jungen
Menschen – gleich welcher kulturellen oder sozialen Herkunft – gute Bildungschancen
24
I N T E G R AT I O N S P O L I T I K U N D M E D I E N
und berufliche und gesellschaftliche Integrationsmöglichkeiten anzubieten. Das darf
nicht vom Erfolg einer Casting-Show oder anderen Zufällen abhängen. Nur so können
wir wieder eine Republik der Aufsteiger werden.
Dazu brauchen wir auch die Medien. Denn wenn es darum geht, Integration zu fördern
und Integrationshemmnisse zu beseitigen, hat das viel mit Kommunikation, mit Signalen
und mit der richtigen Wahrnehmung zu tun. Wie wir andere wahrnehmen, was wir über
sie wissen, das wird vorwiegend über die Medien vermittelt.
Ob also Integration gelingen kann, hängt zu einem nicht unerheblichen Teil auch von
der Sensibilität der Medien und Medienmacher ab. Das gilt für deutschsprachige Medien
genauso wie für die heimatsprachlichen Medien in Deutschland.
Ich bin davon überzeugt, dass in der medialen Integration ein Schlüssel für das Gelingen
der gesellschaftlichen Integration liegt. Wir müssen ihn nur ins Schloss stecken und umdrehen.
25
Personelle Vielfalt in den Medien als Spiegel
unserer Gesellschaft
Perspektiven hessischer Integrationspolitik
VON RUDOLF KRISZELEIT
Die Hessische Landesregierung begrüßt, dass das gesellschaftlich sehr wichtige Thema
»Migration und Medien« bereits zum dritten Mal Gegenstand dieser Konferenzreihe ist.
Medien sind Mittler. Mittler zwischen Menschen, zwischen Communities, Werthaltungen
und Zeitströmungen. Medien illustrieren und pointieren gesellschaftliche Entwicklungen, sie greifen – ohne den Anspruch auf wissenschaftliche Präzision – wahrgenommene Realitäten auf und zeigen sie. In Worten und mehr noch in Bildern. Und genau das
passiert auch in der Rolle der Medien als Mittler zwischen der Mehrheitsgesellschaft und
Zugewanderten. Medien sind »Brücken zwischen Kulturen«. Medien prägen das Bild von
Migranten in der Gesellschaft und beeinflussen dadurch die Wahrnehmung von Zugewanderten durch die Mehrheitsgesellschaft. Damit können Medien zu der Akzeptanz
von Migranten beitragen, aber auch die Wahrnehmung von Zugewanderten als Fremde
verstärken.
Positive Ergebnisse für mediale Integration versprechen Maßnahmen, die Migranten
in die Mitarbeit bei Medien als Journalisten und Produzenten miteinbeziehen. Es geht
dabei um die sogenannte personelle Diversifikation in deutschen Medien als Teil einer
neuen Willkommenskultur, die auch mit dem Ansatz der Diversity-Politik verbunden ist.
Kenntnis von kulturellen Besonderheiten und Hintergründen von Zugewanderten ist unabdingbar, um Verständnis und damit auch gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen.
Personelle Vielfalt in den Medien soll im Idealfall die Vielfalt unserer Gesellschaft widerspiegeln.
Die aktuelle Allensbach-Studie zeigt, dass sich die meisten Zuwanderer mit Deutschland
identifizieren. Zugleich stellt die Studie fest, dass das Gefühl der Anerkennung bei Zugewanderten nicht so verbreitet ist wie bei Einheimischen. Das ist ein Problem. Die Politik
wird sich diesem Problem stellen müssen. Ein Schritt in die richtige Richtung enthält
die Koalitionsvereinbarung in Hessen. Danach sollen ausländische Unternehmen, erfolgreiche Wissenschaftler, Studenten, Künstler und Sportler mit Migrationshintergrund für
ihre Leistungen öffentliche Anerkennung erfahren. Ihre Vorbildfunktion in dieser Gesellschaft soll bewusst herausgestellt werden.
26
P E R S O N E L L E V I E L FA LT I N D E N M E D I E N A L S S P I E G E L
UNSERER GESELLSCHAFT
Eine ausbalancierte Information über Migration und Migrationsgeschehen bedeutet,
Schattenseiten der Migration nicht zu überdimensionieren und positive Aspekte nicht zu
kurz kommen zu lassen. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Vielfalt unserer Medienlandschaft diese Aufgabe meistern wird.
Medien erfüllen auch eine Orientierungsfunktion für Zugewanderte Medien erfüllen auch
in der deutschen Gesellschaft. Sie vermitteln Informationen und Vor- eine Orientierungsfunktion für Zugewanderte in
bilder über Chancen und Entwicklungsperspektiven für Zugewan- der deutschen Gesellderte in dieser Gesellschaft. Versetzen wir uns für einen Moment in die schaft.
Situation eines Zuwanderers in Deutschland.
Wir als Einheimische orientieren uns in dieser Gesellschaft dank unserer Sozialisation
und durch unsere Umgebung. Diese Sozialisation nehmen wir für selbstverständlich und
sehen sie nicht als Ergebnis eines langen Prozesses. Medien können dabei helfen, gegebenenfalls bestehende Orientierungs- und Informationslücken bei Migranten zu schließen.
Dabei geht es nicht nur um Informationen für Migranten, die bereits in Deutschland
leben. Es geht auch darum, ein realistisches Bild über Chancen, Rechte und Möglichkeiten
von Zugewanderten in Deutschland nach außen zu vermitteln. Wir sind auf eine qualifizierte Zuwanderung, insbesondere wegen des demografischen Wandels, angewiesen. Es
sollte potenziellen Einwanderern vermittelt werden, dass sich Leistung in Deutschland
– unabhängig von Herkunft und Hautfarbe – lohnt und dass sie hier willkommen sind.
Ein Beispiel für eine erfolgreiche Kooperation zwischen Medien und dem Land Hessen
bietet die Zusammenarbeit der hessischen Polizei mit der türkischen Zeitung Hürriyet.
Diese Zeitung wirbt um türkische Zuwanderer für den hessischen Polizeidienst. Von den
im Februar 2009 in Hessen neu eingestellten Polizeivollzugsbeamten haben bereits 17
Prozent einen Migrationshintergrund. Das Ziel der Landesregierung ist es jedoch, diesen
Anteil – bei der Polizei und im öffentlichen Dienst allgemein – in den kommenden Jahren weiter zu erhöhen.
Die deutsche Gesellschaft hat bereits in ihren Anfangsjahren eine erfolgreiche Integration von Vertriebenen geleistet. Es bedarf einer Rückbesinnung auf diese Integrationsgeschichte. Eine neue Integrationswelle im Zusammenhang mit der Europäischen Union
und mit globalen Wanderungsprozessen verlangt eine erneute Integrationsanstrengung
des Staates, der Gesamtgesellschaft und der Medien als Teil dieser Gesellschaft. Es bedarf
einer gegenseitigen Öffnung, einer Anpassung und des gegenseitigen Respekts – gemeinsam und miteinander. Eine integrierte Bürgergesellschaft ist das, was die hessische Integrationspolitik anstrebt.
27
II. Amerikanische
Medienwirkungsforschung
und ihre medienpolitischen
Konsequenzen
Stereotype, Massenmedien,
soziale Gerechtigkeit und Gleichheit
Ein Blick auf die amerikanische Gesellschaft
und die US-Forschungslandschaft
VO N B R A D L E Y W. G O RH A M
Es gibt eine Vielzahl an Beispielen rassenbezogener Fehldarstellungen bzw. -äußerungen in
der Populärkultur und Politik, die ich in meine Lehrveranstaltungen über Diversität und Massenmedien einbringen kann. Welcher Bevölkerungsgruppe ist Mel Gibson diese Woche auf die
Füße getreten? Welche voreingenommene oder beleidigende Äußerung eines Politikers wurde
auf Tonband mitgeschnitten und in YouTube eingestellt? Auf welche ethnische Gruppe wirkt
sich diese neue Werbung diskriminierend aus? Die USA sind nicht nur durch ein hohes Maß
an Diversität geprägt, sondern auch durch eine Vielzahl an Medienunternehmen: So werden
fast zwangsläufig immer wieder Beispiele publik, die von einfacher Unkenntnis bis hin zu unverhohlenem Rassismus zeugen. Die offenkundigen Beispiele jedoch lassen uns leicht vergessen, welche bedeutende Rolle die Medien bei der Verbreitung und Förderung – oftmals auch
der Provokation – ausgeprägter rassenbezogener und ethnischer Stereotype spielen. Gerade
weil die Massenmedien das Bild beeinflussen, das wir von uns selbst und den Menschen um
uns herum haben, können sie entscheidend dazu beitragen, Veränderungen in der Gesellschaft
zu bewirken, die für ihre Bürger zu höherer Gerechtigkeit und Gleichbehandlung führen.
Um besser verstehen zu können, welche Rolle die Medien im Zusammenhang mit der Entwicklung von Stereotypen spielen und inwieweit sie bereits zur Förderung sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit beigetragen haben, halte ich es für wichtig, zunächst einmal genauer
hinter die Prozesse zu schauen, die daran beteiligt sind, wie Medienbotschaften die Sicht
auf uns selbst und andere beeinflussen. Diese Prozesse beinhalten vier Schlüsselkonzepte:
% Soziale Identität
% Stereotype
% Priming
% Framing
Das Verständnis des Zusammenspiels dieser Konzepte lässt uns erkennen, welchen Einfluss Medienbotschaften auf ihre Rezipienten haben und vor welchen Herausforderungen
die Medien stehen, aber auch welche Chancen sich ihnen bieten, eine positive Entwicklung weiter voranzutreiben.
30
STEREOTYPE, MASSENMEDIEN,
SOZIALE GERECHTIGKEIT UND GLEICHHEIT
1. Soziale Identität
Die Theorie der sozialen Identität, die seit ihrer Begründung durch Henri Tajfel und John
Turner im Jahr 1986 immer wieder Gegenstand ausführlicher Untersuchungen geworden
ist, zeigt, wie das Selbstverständnis des Einzelnen zu einem gewissen Grad von der Identifikation mit einer sozialen Gruppe abhängt.1
Nach dieser Theorie trägt die Wahrnehmung der Einzelnen im Hinblick auf die Gruppen, mit denen sie sich identifizieren (die Eigengruppen) sowie die Gruppen, denen sie
sich nicht zugehörig fühlen (die Fremdgruppen), zu einem positiven Selbstbild bei. Insofern stellt die soziale Identität einen Schnittpunkt zwischen dem Individuellen und dem
Sozialen dar, da Menschen ihr Selbstbild aus dem entwickeln, was sie über sich selbst denken, was die anderen über sie denken und dem, was die anderen ihrer Meinung nach über
sie denken.2 Die meisten von uns haben multiple soziale Identitäten, da wir uns selbst basierend auf sozial konstruierten Kategorien wie Rasse, Geschlecht, Ethnizität, Alter und
sexueller Orientierung begreifen und wissen, dass uns die anderen ebenfalls so sehen. Der
Grad unserer Identifizierung mit einer bestimmten sozialen Gruppe ist keine dichotome
Variable – es geht nicht um ein Entweder-Oder. Vielmehr kann das Zugehörigkeitsgefühl
zu einer bestimmten Gruppe sehr stark variieren, und die Bedeutung einer bestimmten
sozialen Kategorie kann davon abhängen, in welcher Situation wir uns befinden oder mit
wem wir zusammen sind. Für andere mag eine bestimmte soziale Kategorie hingegen fast
durchgängig relevant und bedeutend sein und so den Blickwinkel bestimmen, aus dem
heraus die Welt betrachtet und verstanden wird. Wir verstehen und interpretieren also die
Welt um uns herum zu einem gewissen Grad auf Basis der sozialen Gruppen, mit denen
wir uns identifizieren. In der Regel wissen wir jedoch auch um die sozialen Gruppen,
denen wir durch die anderen zugeordnet werden, und erkennen, wie diese Gruppen unsere Interaktionen beeinflussen.
Dies ist nach den amerikanischen Kommunikationswissenschaftlern Jake Harwood und
Abhik Roy wichtig für die Untersuchung der Massenkommunikation, da soziale Identität einen Einfluss darauf hat, welche Auswahl Medienproduzenten bei der Ausarbeitung
von Medieninhalten treffen, mit welchen Bildern und Darstellungsweisen diese Inhalte
transportiert werden und schließlich auch dafür, wie die Rezipienten diese Medieninhalte
auswählen und interpretieren. 3 Die Massenmedien repräsentieren einen wichtigen Schauplatz, an dem verschiedene Akteure darum kämpfen, ihrer eigenen Definition von sozialen Gruppen und sozialer Identität eine hervorragende Stellung zu geben. Diese Kämpfe
finden nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Gruppen statt.
1
Tajfel, H./Turner, J.: »The social identity theory of intergroup behaviour.« In: Worchel S./Austin, W. G. (Hg.): The
Psychology of Intergroup Relations. Chicago 1986. S. 7-24.
Hogg, M. A.: »Social identity theory.« In: Burke, P. J. (Hg.): Contemporary Social Psychological Theories. Stanford
University Press. Palo Alto, CA. 2006. S. 111-136.
3
Harwood, J./Roy, A.: »Social identity theory and mass communication research.« In: Harwood J./Giles H. (Hg.):
Intergroup Communication. New York 2005. S. 189-212.
2
31
BR ADLE Y W. GORHAM
Für diejenigen, die sich mit Migration, kulturellem Pluralismus und Toleranz beschäftigen, ist daher soziale Identität ein Schlüsselkonzept zum Verständnis der dynamischen
Wechselwirkung zwischen Medien und deren Publikum. Die soziale Identität derjenigen, die Medienbotschaften konzipieren, ist von Bedeutung: So dokumentierte z. B. Don
Heider, dass große ethnische Minderheitengemeinschaften in Hawaii und New Mexico
teils deshalb kaum in der lokalen Nachrichtenberichterstattung vorkamen, weil die überwiegend weißen Reporter und Produzenten die Belange dieser Gruppen nicht verstanden oder sich mit deren Sichtweisen nicht identifizieren konnten.4 Inzwischen beeinflusst
der Grad der Gruppenidentifizierung nicht nur, welche Medienprodukte die Mitglieder
einer Gruppe auswählen, sondern auch welchen Nutzen sie daraus ziehen. Diana Rios
und Stanley Gaines zeigten auf, dass Amerikaner mexikanischer Abstammung, die sich
stark mit ihren mexikanischen Wurzeln identifizierten, spanischsprachige TV-Formate
nutzten, um ihre kulturelle Identität zu wahren.5 Demgegenüber konsumierten diejenigen, die sich weniger mit ihrer mexikanischen Identität auseinandersetzten, diese Sendungen in geringerem Ausmaß. Oftmals sind es die ethnischen Medien, aus denen die
Mitglieder einer ethnischen Gruppe etwas über ihre soziale Identität lernen können; vor
allem wenn in den Mainstream-Medien über ihre Gruppe nur wenig berichtet oder das
dort erzeugte Bild als eher ungenau erachtet wird.6
2. Stereotype
Im täglichen Sprachgebrauch verstehen wir unter Stereotypen in der Regel überspitzt negative Verallgemeinerungen einer Gruppe; doch eine solche Definition ist bestenfalls unvollständig. Stattdessen sollten wir Stereotype vielleicht eher als »Schemata« auffassen, so
wie es in der Sozial- und Kognitivpsychologie der Fall ist. Für einen Psychologen stellt ein
Schema einen kognitiven Rahmen dar, der uns hilft, unsere Umwelt schnell und effizient
zu begreifen. Wenn sich das Gedächtnis herausgebildet hat, um uns zu helfen, unsere
Umwelt rasch zu interpretieren und Vorhersagen über sie machen zu können, dann sind
Schemata die kognitiven Kategorien, die unser Gedächtnis nutzt, um unsere Umgebung
effizient aufzuschlüsseln. Dies wiederum stellt einen großen evolutionären Vorteil für das
Agieren in dieser Umwelt dar.7 Kognitivpsychologen haben schon vor langem aufzeigen
können, dass wir sehr schnell in der Lage sind, Schlüsselcharakteristika eines Prototyps
dadurch zu erkennen, dass wir Variationen dieses Prototyps wahrnehmen.8 Das heißt,
man muss uns keinen spezifischen Prototypen zeigen oder diesen als solchen bezeichnen:
4
Heider, D.: White news: Why local news programs don’t cover people of color. New York 2000.
Rios, D./Gaines, S. O.: »Latino media use for cultural maintenance.« In: Journalism and Mass Communication Quarterly, 75/1998. S. 746-761.
6
Vgl. Riggins, S. H.: »The media imperative: Ethnic minority survival in the age of mass communication.« In: Riggins, S. H. (Hg.): Ethnic Minority Media. Thousand Oaks, CA, 1992. S. 1-22.
7
Glenberg, A. M.: »What memory is for.« In: Behavioral and Brain Sciences, 20/1997. S. 1-55.
8
Siehe z. B. Hintzman, D. L.: »Schema abstraction in a multiple trace memory model.« In: Psychological Review,
93/1986. S. 411-428.
5
32
STEREOTYPE, MASSENMEDIEN,
SOZIALE GERECHTIGKEIT UND GLEICHHEIT
Unser Gehirn übernimmt die Aufgabe, Schlüsselmerkmale anhand der Variationen dieser Merkmale zu erkennen. Schemata stellen demnach die Sammlung von Schlüsselcharakteristika dar, deren gemeinsames Auftreten wir in Bezug auf eine Kategorie erkennen.
Sie entwickeln sich, weil wir wiederholt und anhaltend Variationen ausgesetzt sind, die
wir als einer Kategorie zugehörig wahrnehmen. Deshalb ist für die Entwicklung eines
relativ stabilen kognitiven Schemas die konstante Wiederholung von zusammen auftretenden Eigenschaften notwendig.
Wir haben Schemata für Objekte, Ereignisse sowie für Gruppen von Ein Stereotyp ist eine
Menschen, und so versteht der Kognitivpsychologe unter einem Stere- andere Form des Schemas, das uns hilft, die
otyp einfach eine andere Form des Schemas, das uns hilft, die soziale soziale Welt effizient
Welt effizient zu klassifizieren und vorherzusagen. Ein Stereotyp kann zu klassifizieren und
vorherzusagen.
demnach als eine Sammlung von Merkmalen und Eigenschaften aufgefasst werden, deren gemeinsames Auftreten wir bei den Menschen erwarten, die wir als
einer Gruppe zugehörig wahrnehmen.
So hilft uns ein Stereotyp – in seiner Funktion als Schema – eine Einzelperson, der wir
aus einer sozialen Gruppe heraus begegnen, relativ schnell und eindeutig zu verstehen,
und es gibt uns darüber hinaus eine Richtung vor, wie wir uns dieser Person gegenüber
verhalten sollen.
3. Priming
Dies hat wichtige Konsequenzen und bringt uns zum Konzept des Priming. Wenn wir
auf ein sehr eng mit einem bestimmten Schema verknüpftes Merkmal oder eine eng verknüpfte Eigenschaft treffen, neigen wir dazu, auch die übrigen Merkmale und Eigenschaften zu erwarten, die mit diesem Schema verbunden sind. Insofern tragen Schemata
dazu bei, Erwartungen zu strukturieren, und indem sie dies tun, strukturieren sie auch
unsere Wahrnehmung. Wenn wir nur oft genug den gleichen Stimuli ausgesetzt sind,
kann sich die Aktivierung dieses Schemas automatisieren, d. h. sie erfolgt ohne bewusste
Wahrnehmung und Kontrolle. Wenn wir also einem schema-relevanten Merkmal gegenüberstehen, aktiviert unser Gehirn automatisch das Schema und damit gleichzeitig
alle anderen Merkmale, die mit diesem Schema assoziiert worden sind. Unser Gehirn
erwartet dann auch das Auftreten all dieser anderen Merkmale und beginnt damit, die
aus der Umwelt eingehenden Informationen gemäß den Erwartungen, die das Schema
strukturiert hat, wahrzunehmen. Dieser Prozess läuft größtenteils außerhalb unseres Bewusstseins sowie relativ schnell und effizient ab, damit wir entscheiden können, wie wir
uns unter den gegebenen Umständen zu verhalten haben. Die Aktivierung der assoziierten Merkmale und deren Einfluss auf unsere nachfolgenden Wahrnehmungen bezeichnet
man als Priming. Es ist wichtig, an dieser Stelle besonders hervorzuheben, wie häufig Priming abläuft, ohne dass wir uns dessen überhaupt bewusst sind.
33
BR ADLE Y W. GORHAM
In ihrer wegweisenden Studie über das Priming von Rassenstereotypen untermauerte Patricia Devine als Erste, dass selbst gering voreingenommene Personen Informationen in
stereotyp-kongruenter Weise verarbeiten.9 Sie zeigte auf, dass ein Priming von negativen
Stereotypen in Bezug auf Schwarze sogar bei denjenigen möglich war, die sich bewusst
gegen negative Charakterisierungen von Schwarz-Amerikanern sträubten, und wie diese
Stereotype die Verarbeitung nicht eindeutiger Informationen in stereotyp-kongruenter
Weise beeinflussen. Als zentrales Ergebnis ihrer Studien beschrieb Devine, dass sich die
Mehrzahl der Menschen in einer Kultur, trotz deren oftmals entgegengesetzten bewussten
Überzeugungen, nicht von den gesellschaftlich festgelegten Stereotypen über Gruppen
frei machen kann. Die kulturellen Stereotype mancher Gruppen treten so häufig auf, dass
sie sich zu anerlernten Schemata entwickeln, deren Priming dann ohne Weiteres auch bei
denjenigen möglich ist, deren bewusste Überzeugungen gegen die Stereotype gerichtet
sind. Wenn das Priming eines kulturellen Stereotyps erst einmal erfolgt ist, beeinflusst
dies, auf welche Art und Weise Menschen die nachfolgenden Informationen wahrnehmen. Dies alles geschieht häufig, ohne dass sich die Person dessen überhaupt bewusst ist.
Priming entwickelte sich, um unter Zuhilfenahme nur weniger besonderer kognitiver Ressourcen mit unserer Umwelt zu interagieren und diese besser einzuschätzen. Allerdings
kann dies im sozialen Umfeld dazu führen, dass wir von Annahmen ausgehen, die nicht
erwiesen sind. Diese Annahmen wiederum können unbewusst unser Denken beeinflussen.
Wenn unsere soziale Welt beständig Botschaften über Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe bereithält (kulturelle Stereotype), dann ist es wahrscheinlich, dass wir ein
Schema zu dieser Gruppe entwickeln. Durch konsequente Wiederholung bestimmter
Botschaften kann der kulturelle Stereotyp unsere Verarbeitung der Informationen über
diese Gruppe in Richtungen beeinflussen, die uns nicht einmal bewusst sind, da dieses
Priming größtenteils außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung oder Kontrolle stattfindet. Die Gefahr liegt in Folgendem: In einer symbolischen, mit Stereotypen überfluteten Umwelt werden selbst die Menschen, die möglicherweise solche kulturellen Stereotypen nicht einmal bewusst übernehmen, diese als Schemata so verinnerlichen, so dass
ihre Wahrnehmung und Interpretation der Informationen und der Umwelt um sie herum
davon später beeinflusst werden können.
Nach der bahnbrechenden Arbeit von Devine haben zahlreiche Studien untermauert, wie
leicht eine stereotype Informationsverarbeitung bei Menschen induziert werden kann, die
ansonsten nicht an Stereotype glauben.10 Dies hat klare Konsequenzen für die Massenkommunikation, denn unsere Medien repräsentieren eine wichtige Quelle für die Botschaften über Mitglieder verschiedener sozialer Gruppen.
9
Devine, P. G.: »Stereotypes and prejudice: Their automatic and controlled components.« In: Journal of Personality
and Social Psychology, 56/1989. S. 5-18.
Vgl. Bargh, J. A. (Hg.): Social Psychology and the Unconscious: The Automaticity of Higher Mental Processes. New
York 2006.
10
34
STEREOTYPE, MASSENMEDIEN,
SOZIALE GERECHTIGKEIT UND GLEICHHEIT
Wenn wir in einer Medienbotschaft mit Aussagen über ein Mitglied einer sozialen Gruppe konfrontiert werden, dann kann diese Botschaft sehr wohl unsere Stereotypen über die
Gruppe aktivieren, ohne dass wir uns dessen als Rezipienten bewusst sind. Jede Nachricht
über ein Mitglied einer sozialen Gruppe kann möglicherweise ein Stereotyp über diese
Gruppe beim Rezipienten entweder verstärken oder in Frage stellen.
Deshalb ist Folgendes für die jeweilige Informationsverarbeitung wichtig: Wenn die Botschaft mit dem Schema kompatibel ist, das über diese Gruppe bereits besteht, dann wird
sie schneller und effizienter verarbeitet, als wenn sie sich gegen das Schema richtet. Wenn
die Nachricht nicht eindeutig ist, dann wird sich eher der unseren Schemata inhärente
Verarbeitungsvorteil durchsetzen und die Interpretation so beeinflussen, dass bestehende Stereotype verstärkt werden. Letztlich drängt uns also die automatische Verarbeitung
von Botschaften meist in die Richtung von stereotyp-kongruenten Interpretationen. Darin
liegt eine kognitive Problematik, der sowohl Medienproduzenten als auch Medienrezipienten gegenüberstehen. Botschaften werden in der Regel so verarbeitet, dass Stereotype
verstärkt werden, eben weil diese Vorgehensweise kognitiv weniger herausfordernd ist.
4. TV-Konsum und Stereotypenbildung
In der Forschung zur Massenkommunikation vermutet man seit langem, dass der Konsum immer gleicher Bilder von Minderheitengruppen die Art und Weise, wie Menschen
über diese Gruppe denken, beeinflussen kann. Über Jahrzehnte hinweg haben George
Gerbner und seine Kollegen in ihren Studien zum Kultivierungseffekt auf Korrelationsstrukturen zwischen TV-Konsum und bestimmten Überzeugungen zur sozialen Realität
hingewiesen.11 Entsprechend haben Forscher die Strukturen von Medienbotschaften über
verschiedene soziale Gruppen untersucht. Inhaltsanalysen lokaler US-amerikanischer
TV-Nachrichten haben z. B. gezeigt, dass Afro-Amerikaner sehr oft im Zusammenhang
mit Verbrechen genannt werden.12 Die Forscher sind der Meinung, dass diese Vermengung einen wesentlichen Einfluss auf das Bild Weißer von Schwarzen hatte.13 Inhaltsanalysen aus verschiedensten Kontexten belegen allgemein die stereotype Darstellungsweise
vieler ethnischer Minderheitengruppen in den USA.14 Diese Untersuchungen bilden die
Grundlage für Annahmen über die Auswirkungen, die solche Darstellungsweisen auf das
Publikum haben.
In der Kommunikationsforschung haben wir zwar erst recht spät damit begonnen, die
Erklärungsansätze von Schemata auf unsere eigene Arbeit anzuwenden, doch ist die Arbeit, die derzeit geleistet wird, für uns alle wichtig. Experimentelle Untersuchungen, in
11
Vgl. Morgan, M./Shanahan, J./Signorielli, N.: »Growing up with television: Cultivation Processes.« In: Bryant, J./
Oliver, M. B. (Hg.): Media Effects: Advances in Theory and Research. New York 2009. S. 34-49. Zu Gerbner vgl.
auch: Telling all the Stories. Collected Essays. New York 2000.
12
Dixon, T. L./Linz, D.: »Overrepresentation and underrepresentation of African Americans and Latinos as lawbreakers on television news.« In: Journal of Communication 2000. S. 131-154.
13
Entman, R. M./Rojecki, A.: The Black Image in the White Mind. Chicago 2000.
14
Für einen Überblick siehe Mastro, D. E.: »Effects of racial and ethnic stereotyping.« In: Bryant J./Oliver, M. B. (Hg.):
Media Effects: Advances in Theory and Research. New York 2009. S. 325-341.
35
BR ADLE Y W. GORHAM
denen man die ethnische Herkunft eines Verdächtigen abänderte, alle übrigen Fakten
des Verbrechens jedoch unberührt ließ, scheinen untermauern zu können, dass Weiße
tatsächlich Schemata in Bezug auf Schwarze verinnerlicht haben und entsprechend reagieren, sobald diese aktiviert werden. So halten Weiße einen schwarzen Verdächtigen eher
für schuldig als einen Weißen15; sie halten den schwarzen Verdächtigen für gefährlicher16
und schwarze Politiker für aggressiver.17 Mary Beth Oliver fand heraus, dass Menschen
dazu neigen, dominanten Stereotypen nachzugeben und Nachrichtenbeiträge, die sowohl
Weiße als auch Schwarze betreffen, im Gedächtnis falsch abzuspeichern:18 Obwohl wir
uns sehr wohl richtig erinnern, dass der Verdächtige, den wir in den gestrigen Nachrichten gesehen haben, ein Weißer war, werden wir wahrscheinlich in einem Monat glauben,
dass es ein Schwarzer war. Auch Sportkommentatoren neigen dazu, schwarze und weiße
Sportler, die z. B. auf der gleichen Position spielen, in einer Weise zu beschreiben, dass
dominante rassenbezogene Stereotypen verstärkt werden.19
5. Linguistic Intergroup Bias
Es ist wichtig, an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, dass diese Ergebnisse vermutlich das Produkt weitgehend unbewusster kognitiver Prozesse sind. Es ist nicht so,
dass die Teilnehmer dieser Studien besonders voreingenommen waren oder dass sie die
Mitglieder der Fremdgruppe absichtlich in einem schlechten Licht darstellten. Genau
hier liegt die Bedeutung dieser Untersuchungen: die kognitiven Prozesse, die stereotypkongruentes Denken reproduzieren, laufen relativ schnell und ohne unsere Absicht ab. In
meinen eigenen Untersuchungen habe ich z. B. aufzeigen können, dass weiße Rezipienten
eher dazu tendieren, subtile sprachliche Unterschiede in ihren Beschreibungen eines Verdächtigen aufgrund seiner Rassenzugehörigkeit zu zeigen.20
Der Linguistic Intergroup Bias (LIB) beschreibt das Phänomen, dass Menschen eher auf
eine abstrakte Sprache zurückgreifen, also z. B. Adjektive nutzen (»er ist gewalttätig«),
wenn sie Mitglieder der Fremdgruppe in negativen Verhaltensweisen beschreiben. Wenn
es jedoch darum geht, ein Mitglied der eigenen Gruppe zu beschreiben, dann wird eher
die konkrete Beschreibung (»er schlug sie« oder »er verletzte sie«) gewählt, die sich präzise
und beobachtbar auf die spezifische Situation bezieht und auf diese begrenzt ist.21 Ad15
Peffley, M./Shields, T./Williams, B.: »The intersection of race and crime in television news stories: An experimental
study.« In: Political Communication, 13/1996. S. 309-327.
Dixon, T. L./Maddoz, K.: »Skin tone, crime news, and social reality judgments: Priming the stereotype of the dark
and dangerous Black criminal.« In: Journal of Applied Social Psychology, 35(8)/2005. S. 1555-1570.
17
Entman, R. M.: »Blacks in the news: Television, modern racism, and cultural change.« In: Journalism Quarterly,
69(2)/1992. S. 341-361.
18
Oliver, M. B.: »Caucasian viewers’ memory of Black and White criminal suspects in the news.« In: Journal of Communication, 49(3)/1999. S. 46-60.
19
Billings, A. C.: »Depicting the Quarterback in Black and White: A Content Analysis of College and Professional
Football Broadcast Commentary.« In: Howard Journal of Communications, 15(4)/2004. S. 201-210.
20
Gorham, B. W.: »News media’s relationship with stereotyping: The linguistic intergroup bias in response to crime
news.« In: Journal of Communication, 56/2006. S. 289-308.
21
Maass, A./Milesi, A./Zabbini, S./Stahlberg, D.: »Linguistic intergroup bias: Differential expectancies of in-group
protection?« In: Journal of Personality and Social Psychology, 68/1995. S. 116-126.
16
36
STEREOTYPE, MASSENMEDIEN,
SOZIALE GERECHTIGKEIT UND GLEICHHEIT
jektive implizieren stabile Dispositionen und einen andauernden Zustand des Beschriebenen: Aus der reinen Beobachtung eines spezifischen Verhaltens können darüber nur
Annahmen getroffen werden, und insofern weist die Verwendung von Adjektiven auf
einen gewissen Grad an Stereotypisierung hin. Der Linguistic Intergroup Bias ist demnach
ein subtiler linguistischer Marker, der anzeigt, wie soziale Identität unsere Denkstrukturen beeinflusst.
In einer meiner Untersuchungsreihen sahen sich weiße Teilnehmer eine TV-Nachrichtensendung an, in der über eine Verbrechensserie berichtet und das Bild eines Verdächtigen
gezeigt wurde, mit dem die Polizei sprechen wollte.22 Die Teilnehmer, denen ein schwarzer Verdächtiger gezeigt wurde, beschrieben die Verbrechen viel eher in einer abstrakten
Sprache, wohingegen diejenigen, die dieselben Nachrichten jedoch mit dem Bild eines
weißen Verdächtigen sahen, eher dazu neigten, konkretere Beschreibungen zu wählen.
Obwohl die über den Fall gegebenen Informationen genau dieselben waren, reichte die
Hautfarbe des Verdächtigen auf dem Foto aus, Stereotype von Schwarzen zu aktivieren
und die Wahl der sprachlichen Mittel der Teilnehmer zu beeinflussen. Dieser Effekt war
zudem umso stärker bei den Teilnehmern mit hohem TV-Nachrichtenkonsum, was darauf schließen lässt, dass nicht nur ein kurzfristiges Priming gegeben war, sondern dass
diese Teilnehmer vermutlich daran gewöhnt waren, Schwarze in Verbindung mit dem
kulturellen Stereotyp wahrzunehmen.
In bislang noch unveröffentlichten Untersuchungen habe ich heraus- Wenn ein persönlicher
gefunden, dass auch die Motivation, warum Menschen Nachrichten Kontakt nicht gegeben ist, beruhen die
anschauen, eine wichtige Rolle spielt:23 Weiße, die sehr viel TV-Nach- Wahrnehmungen von
richtensendungen konsumieren, um über die Ereignisse in ihrem en- und Informationen über
soziale Gruppen häufig
geren sozialen Umfeld informiert zu sein, tendieren dazu, Stereotype auf den Massenmedien.
über Schwarze wie auch Weiße zu übernehmen, und zudem neigen sie
schneller zu Vorurteilen. Diese Verhaltensmuster waren jedoch nicht weiter ausgeprägt
bei den Weißen, die Nachrichten zur Unterhaltung anschauen. Wenn wir also aus den
Nachrichten Informationen über unser Umfeld erwarten und die dort übermittelten Botschaften uns ständig mit der Darstellung bestimmter Gruppen als Problem konfrontieren,
scheint es wahrscheinlicher, dass wir solche Botschaften verinnerlichen und heranziehen,
wenn wir an diese Gruppen denken oder versuchen, sie zu verstehen und Verhaltensweisen zu interpretieren.
Auf Folgendes muss hier ebenfalls hingewiesen werden: Wenn ein persönlicher Kontakt
nicht gegeben ist, beruhen die Wahrnehmungen von und Informationen über soziale
Gruppen häufig auf den Massenmedien. Yuki Fujioka untersuchte in diesem Zusammen-
22
23
Siehe Gorham: »News media’s relationship with stereotyping.«
Gorham, B. W.: »News media use, stereotypes, and prejudice: Does news viewing support Whiteness?« In: Journal
of Broadcasting & Electronic Media (zum Druck angenommen – in Vorbereitung).
37
BR ADLE Y W. GORHAM
hang eine Gruppe von japanischen Austauschstudenten in den USA, die eher weniger persönlichen Kontakt zu Afro-Amerikanern hatten.24 Er fand heraus, dass es eine Beziehung
zwischen dem Fernsehkonsum und der Übernahme von Stereotypen über Schwarze gab.
Andere Studien legen nahe, dass persönliche Erfahrungen, sofern sie kongruent mit einem
Stereotyp sind, den Einfluss von im Fernsehen gezeigten Stereotypen verstärken können.25
6. Framing
Wenn wir also kognitiv prädisponiert sind, Medienbotschaften so zu interpretieren, dass
Stereotype in unserer symbolischen Umwelt verstärkt werden, dann spielt es sehr wohl
eine Rolle, wie soziale Gruppen dargestellt und mit welchen Themenfeldern sie assoziiert werden. Hier kommt nun das Konzept des Framing ins Spiel. In der Kommunikationswissenschaft bezieht sich Framing auf die Art und Weise, wie Medienbotschaften bestimmte Denkweisen zu einem Thema hervorheben können und diese augenscheinlicher
machen, während andere mögliche Denkweisen zu diesem Thema heruntergespielt bzw.
komplett ignoriert werden.26 Nach diesem Verständnis ist Framing eine Darstellungsweise von Inhalten – Botschaften rahmen ein Thema oder eine Gruppe in einer ganz bestimmten Art und Weise ein. Und dies hat möglicherweise Auswirkungen auf die Rezipienten, indem nämlich einige kongruente Vorstellungen eher als andere aktiviert werden.
So kann zum Beispiel das Thema Einwanderung medial gerahmt werden als Belastung
der Ressourcen eines Landes oder aber als Chance für neues Wachstum, die sich aufgrund
der verschiedenartigen Fähigkeiten der Migranten ergibt. Um die Sprache der Psychologie zu nutzen: Framing funktioniert, indem einige Schemata aktiviert werden und andere
nicht. Dadurch ist es möglich, die Art, wie die Rezipienten über ein Thema denken, zu
dirigieren, indem nämlich die für ein Thema relevanten Schemata subtil verändert werden. Mit der Zeit kann konsequentes Framing eines Objekts in eine bestimmte Richtung
Teil des Schemas für dieses Objekt werden. Dies hat auch für soziale Gruppen deutliche
Auswirkungen, da sich nämlich die Art ihrer Darstellung nicht nur daraus ergibt, welche
Merkmale und Eigenschaften zu ihrer Beschreibung herangezogen, sondern auch mit
welchen politischen Themen sie in Verbindung gebracht werden. Die Art der medialen
Rahmung von sozialen Gruppen in politischen Debatten trägt demnach nicht nur zur
Entwicklung von Schemata in Bezug auf diese Gruppen, sondern auch in Bezug auf die
Themen bei, die für sie relevant sein können.
Das Thema Einwanderung im Zusammenhang mit der sozialen Gruppe der Hispanics
24
Fujioka, Y.: »Television portrayals and African American stereotypes: Examination of television effects when direct
contact is lacking.« In: Journalism and Mass Communication Quarterly, 76/1999. S. 52-75.
Tan, A./Fujioka, Y./Lucht, N.: »Native American stereotypes, TV portrayals, and personal contact.« In: Journalism
and Mass Communication Quarterly, 74/1997. S. 265-284.
26
Entman, R. M.: »Framing: Toward clarification of a fractured paradigm.« In: Journal of Communication, 43(4)/1993.
S. 51-58. Siehe auch Scheufele, D. A.: »Framing as a theory of media effects.« In: Journal of Communication,
49/1999. S. 103-122. Vgl. Auch Tewksbury, D./Scheufele, D. A.: »News framing theory and research.« In: Bryant,
J./Oliver, M. B. (Hg.): Media Effects: Advances in Theory and Research. New York, London 1999.
25
38
STEREOTYPE, MASSENMEDIEN,
SOZIALE GERECHTIGKEIT UND GLEICHHEIT
oder Hispano-Amerikaner in den USA liefert ein aufschlussreiches Beispiel darüber, wie
schwierig die symbolische Umwelt sogar für große Migrantengruppen mit entsprechender
politischer und wirtschaftlicher Macht sein kann. Allein die Terminologie, die zur Beschreibung dieser Gruppe herangezogen wird, unterstreicht die Komplexität der sozialen
Identität: Der Begriff Hispanic ist ein Sammelbegriff, den ursprünglich das Census Bureau, die US-Bundesbehörde für Bevölkerungsstatistik, zur Beschreibung verschiedener
spanischsprachiger ethnischer Gruppen aus Mexiko, Zentral- und Südamerika sowie
der spanischsprachigen karibischen Inseln, wie Puerto Rico und Kuba, heranzog. Neben
ihrer spezifischen Ethnizität (Mexikaner, Kolumbianer, Kubaner, usw.) favorisieren viele
Hispano-Amerikaner den Begriff Latino (männlich) bzw. Latina (weiblich) als breit gefassten Marker sozialer Identität, doch Hispanic ist der unter der breiten Masse der Gesellschaft, insbesondere unter den Weißen, am weitesten verbreitete Begriff. Obwohl der
Begriff häufig in Verbindung mit der ethnischen Herkunft gebraucht wird – Hispanics
werden mitunter als »nicht Weiße« definiert – ist dies in Bezug auf die Hautfarbe häufig
nicht zutreffend. Mit knapp über 45 Millionen Menschen, das sind rund 15 Prozent der
US-Gesamtbevölkerung, repräsentieren Hispanics aktuell die größte Minderheitengruppe
in den USA. Zudem sind sie eine der am schnellsten wachsenden Gruppen.27 Den Hispanics stehen in den USA zwei spanischsprachige TV-Networks (Univision und Telemundo)
zur Verfügung sowie eine Reihe von Kabelkanälen (Mun2 z. B. richtet sich speziell an
junge, zweisprachige und bikulturelle Hispanics). Die Popularität dieser Medien hat stark
zugenommen, und trotz der aktuellen Wirtschaftskrise, die die meisten der US-Medien
stark beeinträchtigt hat, zeigen sich die Umsätze und Gewinne dieser Medienunternehmen laut des Branchenmagazins Advertising Age und des US-Wirtschaftsverbands National Association of Broadcasters (NAB) anhaltend positiv.
Da die Hispanics einen so großen, immer noch wachsenden und für das Geschäft der
Medien lukrativen Anteil der Bevölkerung ausmachen, könnte man annehmen, dass die
amerikanischen Mainstream-Medien in der Darstellung dieser sozialen Gruppe sowie
deren komplexen und nuancierten Erfahrungen gute Arbeit leisten. Dem ist jedoch nicht
so: Studien belegen, dass die Gruppe der Hispanics nicht nur zur besten Sendezeit unterrepräsentiert sind (lediglich 3,9 Prozent der gezeigten Darsteller), sondern zudem auch in
stereotyper Weise und im Vergleich zur weißen Mehrheit als eher negativ dargestellt werden.28 Eine diversifizierte und repräsentative Darstellung der Hispanics wird größtenteils
den spanischsprachigen Fernsehketten überlassen, wodurch der Mehrheit der Zuschauer
die Möglichkeit vorenthalten wird, diese sozialen Gruppen als Teil der symbolischen Umwelt zu sehen.
27
28
Pressemitteilung US Census Bureau: »US Hispanic population now surpasses 45 million.« http://www.census.gov/
Press-Release/www/releases/archives/population/011910.html (01.05.2008).
Mastro, D. E./Behm-Morawitz, E.: »Latino representation on prime-time television.« In: Journalism and Mass
Communication Quarterly, 82/2005. S. 110-130.
39
BR ADLE Y W. GORHAM
Hispanics in New York
In den Nachrichten kommen Hispanics zwar vor, jedoch oft im Zusammenhang mit Berichten, die ihnen häufig nicht zum Vorteil gereichen. Dies unterstreicht, wie Framing die
Wahrnehmung sozialer Gruppen negativ beeinflussen kann. Das Thema »Einwanderung
in die USA« ist so oft im Zusammenhang mit illegalen Einwanderern aus Mexiko diskutiert worden, dass David Domke mit einigen Kollegen in einer Studie aufzeigen konnte,
dass allein das Erwähnen des Begriffs Immigration ausreicht, negative Stereotype von Hispanics beim Rezipienten zu aktivieren.29 Die im Bezug auf das Themenfeld angewandte
Terminologie – es werden die Begriffe »illegale Ausländer« oder »illegale Einwanderer«
verwendet – trägt zum Framing einer ganzen Volksgruppe als Gesetzesbrecher bei. Der
Berufsverband hispanischer Journalisten in den USA hat hier den Begriff »nicht-« bzw.
»unregistrierter Arbeiter« als genauere und weniger negative Bezeichnung vorgeschlagen,
doch nutzen ihn die wenigsten Nachrichtenjournalisten; einige Kommentatoren haben
ihn sogar scharf kritisiert. Einwanderung wird zudem häufig als Problem oder Belastung
für die Wirtschaft des Einwanderungslandes medial gerahmt:30 Die Mehrzahl der Nachrichten beschäftigt sich mit den vermeintlichen Auswirkungen auf den Staatshaushalt
sowie den Gesetzesvollzug aufgrund illegaler Einwanderer im Land. Selbst der erst kürzlich auf CNN ausgestrahlte vierstündige Dokumentarfilm »Latinos in Amerika« wurde
29
Domke, D./McCoy, K./Torres, M.: »News media, racial perceptions and political cognition.« In: Communication
Research, 26(5)/1999. S. 570-607.
30
Ebd.
40
STEREOTYPE, MASSENMEDIEN,
SOZIALE GERECHTIGKEIT UND GLEICHHEIT
dafür kritisiert, dass sein Fokus fast ausschließlich den rauen Bedingungen galt, denen
nicht-registrierte Einwanderer ausgesetzt waren, und dabei die vielfältigen Erfahrungen
und Sichtweisen der entweder eingebürgerten Hispanics oder derjenigen mit dauerhafter
Aufenthaltsgenehmigung fast gänzlich außer Acht ließ.31
Die in dieser Form beständig wiederholte Berichterstattung hat einen Einfluss darauf, wie
das breite Publikum alle Hispanics sieht, da es kaum andere Darstellungsweisen in den
US-Medien gibt, die diesem negativen Schema entgegenwirken könnten.
Ethnische Medien, wie beispielsweise die spanischsprachigen Sender in den USA, können
zwar das ethnische Publikum mit wichtigen Darstellungsformen ihrer selbst bedienen,
doch bevor diese komplexen und vielfältigen Formen nicht auch in die Mainstream-Formate Eingang finden, wird die symbolische Umwelt negative Schemata über Minderheitengruppen verstärken.
7. Schlussfolgerungen
Das bislang Geschilderte lässt den Leser womöglich zweifeln, inwieweit die Massenmedien eine positive Rolle im Zusammenhang mit der Förderung sozialer Gerechtigkeit und
Gleichheit spielen können. Es scheint naiv zu sagen, die Medienproduzenten sollten bessere und genauere Darstellungsformen produzieren. Natürlich gibt es sehr wohl wichtige
Punkte, deren Beachtung den Produzenten und Mitarbeitern in den Medien dabei helfen
kann, den beschriebenen Tendenzen entgegenzuwirken. Meine Kollegin Sally Lehrman
wird diese Punkte vertiefen. Insofern werde ich mich darauf beschränken aufzuzeigen,
was wir als Rezipienten – laut der Forschung – tun können.
Ein wichtiger Aspekt der bedeutsamen Arbeit von Patricia Devine aus dem Jahr 1989
über die automatischen und kontrollierten Komponenten im Prozess der Stereotyp- und
Vorurteilsbildung wird häufig übersehen: Devine zeigte nicht nur, dass wenig voreingenommene Personen dazu tendierten, Informationen in stereotyp-kongruenter Weise zu
interpretieren, wenn diese Stereotype voraktiviert waren. Sie zeigte auch, dass die Personen dieser Tendenz entgegenwirken konnten, sofern ihnen die Chance gegeben wurde,
Informationen kontrolliert, d. h. bewusst, zu verarbeiten. In nachfolgenden Arbeiten
konnten Devine und ihre Kollegen Folgendes untersuchen: Wenn man gering voreingenommenen Personen erklärte, wie stereotype Informationsverarbeitung abläuft, oder
man ihnen die Aktivierung eigener Stereotype aufzeigte, waren diese vielfach dazu in
der Lage, den Verarbeitungsprozess zu kontrollieren und das Ergebnis entsprechend zu
verändern.32 Gering voreingenommene Teilnehmer, also diejenigen, die bewusst persönliche Überzeugungen zu Gleichheit und Toleranz vertreten, fühlen sich meist schlecht,
31
32
Paredes, V.: »CNN’s ‘Latinos in America’ leaves much to be desired.« Advertising Age Website: http://adage.com/
bigtent/post?article_id=139958 (27.10.2009).
Siehe z. B. Monteith, M. J.: »Self-regulation of prejudiced responses: Implications for progress in prejudice-reduction efforts.« In: Journal of Personality and Social Psychology, 65/1993. S. 469-485.
41
BR ADLE Y W. GORHAM
wenn kulturelle Stereotype aktiviert werden und versuchen, diesem Effekt entgegenzuwirken. Dies ist ein wichtiges Ergebnis, lässt es doch folgende Annahme zu: Sowohl für
die Produzenten als auch die Konsumenten der Medien kann das Wissen über die stereotype Natur von Botschaften und deren Verarbeitung ein erster Schritt zur Veränderung
ihrer Interpretation werden. Mit der Zeit können stereotype Bilder einen internen Dialog
hervorrufen, der, durch Wiedererkennung und Ablehnung initiiert, zu einem Teil des
eigentlichen Schemas werden kann. Botschaften, die uns bewusst machen, wie schnell wir
Stereotypen verfallen, können insofern produktiv sein, als sie eine kritische Auseinandersetzung mit sozialer Identität und Diversität fördern.
Ein von Kritikern der Diversitätsdiskussion häufig angeführter Vorwurf lautet, dass allein schon das Sprechen über eine Sache die Aufmerksamkeit auf Stereotype lenke und
diese verdichte. Deshalb, so die Argumentation, sollten wir nicht darüber sprechen. Doch
das lässt außer Acht, dass diese stereotypen Bilder häufig schon in unserer symbolischen
Umwelt existieren und insofern bereits zu unseren Schemata darüber beitragen, was verschiedene soziale Identitäten bedeuten. Es sind jene Diskussionen über die gewählten
Repräsentationsformen sowie weitere, verschiedenartige Darstellungen, die ein kritisches
Bewerten und Nachdenken über den Identitätsprozess selbst stärken. Solche Diskussionen, wie auch die hier genannten Untersuchungen, führen weniger zu einer Verdichtung
der Schemata, sondern helfen vielmehr dabei, die Kontrolle, die diese auf unsere Reaktionen haben, aufzubrechen.
Ich selbst habe über die Jahre einen Wandel der USA miterleben können: Eine Entwicklung, die uns von nur wenigen Schwarzen im Fernsehen und dem vorherrschenden Gefühl, dass »die« sich von »uns« so sehr unterscheiden, hingeführt hat zu deren starken
Präsenz durch die verschiedenen Formen der Populärkultur hinweg und darüber hinaus
zu einem Afro-Amerikaner, der zum Präsidenten gewählt wurde. Wir haben einen wertvollen, wenn auch oftmals kontroversen Diskurs über die Bedeutung dieser sozialen Identitäten in eben jenem Zeitraum geführt. Obgleich die USA noch einen weiten Weg zu
gehen haben, um all ihren Bürgern soziale Gerechtigkeit und Gleichheit zuteil werden
zu lassen, kann nur wenig Zweifel darüber bestehen, dass die erzielten Erfolge zumindest
teilweise darauf zurückzuführen sind, dass die Repräsentationsformen in unseren Medien
diversifizierter geworden sind und die Diskussion über diese Abbilder zugenommen hat.
Diese neuen Formen helfen vielen von uns, die Schemata darüber, was es heißt, sich als
»Amerikaner« zu identifizieren, neu zu »programmieren«. Und sie lassen uns mit mehr
Toleranz und Akzeptanz denjenigen gegenübertreten, deren »Besonderheiten« wir früher noch abgelehnt, ignoriert und ins Lächerliche gezogen haben.
42
D I E D I V E R S I T Y- P O L I T I K D E R A M E R I K A N I S C H E N J O U R N A L I S T I S C H E N S E L B S T V E R WA LT U N G
Die Diversity-Politik der amerikanischen
journalistischen Selbstverwaltung
V O N S A L LY L E H R M A N
Vor über vierzig Jahren, genauer gesagt im Jahre 1968, verpflichteten sich die US-Nachrichtenmedien dazu, eine größere ethnische Vielfalt in ihren Redaktionen zu etablieren. Die
fast ausschließlich weiße Belegschaft sollte mit Journalisten unterschiedlicher Rasse und
Ethnizität bereichert werden. Durch eine veränderte Zusammensetzung der Reporter- und
Redaktionsteams, so versprachen die Verantwortlichen, würden sich auch die Nachrichteninhalte ändern. Man wollte daran arbeiten, alle Amerikaner in der Berichterstattung abzubilden – nicht nur die weiße Mehrheit. Dieses neue Konzept entstand nicht etwa aus der
plötzlichen Erkenntnis in den oberen Etagen der Medienunternehmen, dass die Presse an
der amerikanischen Geschichte vorbei gearbeitet hatte. Noch bis in die zweite Hälfte des
zwanzigsten Jahrhunderts hatten die Zeitungen dem Aufstieg einflussreicher Farbiger einfach keinerlei Beachtung geschenkt: Sie interessierten sich nicht für jemanden wie A. Philip
Randolph, der die Gründung der ersten Gewerkschaft für schwarze Arbeitnehmer leitete,
oder W.E.B. DuBois, den bekannten Bürgerrechtler, Sozialwissenschaftler und Intellektuellen.1 Und als sie in den 1950ern und 1960ern nicht länger umhin kamen, sich mit den
Kämpfen um die Bürgerrechte für Afro-Amerikaner auseinanderzusetzen, waren es vornehmlich weiße Reporter, die über die Sitzstreiks und Demonstrationsmärsche berichteten,
mit denen Gleichberechtigung gefordert wurde. Sie dokumentierten auch die gewaltsamen
Reaktionen der Weißen im Süden auf diese Proteste.2 Latinos, Asiaten oder Indianer wurden in den Nachrichten kaum erwähnt, und wenn, dann als Kriminelle oder als Bedrohung.
Doch die Nachrichtenindustrie wurde schließlich Mitte der sechziger Jahre zu einem
Umdenken gezwungen, nachdem es amerikaweit zu gewaltsamen Rassenunruhen in den
von Schwarzen bevölkerten Vierteln der Städte wie Los Angeles, Chicago und Detroit
gekommen war. Tief beunruhigt rief Präsident Lyndon B. Johnson eine Kommission zur
Untersuchung der Ursachen für die Ausschreitungen ins Leben. Nach siebenmonatiger
Arbeit prangerten die Kommissionsmitglieder gerade die Medien an. Der nach ihrem
Vorsitzenden Otto Kerner benannte Bericht der Kommission aus dem Jahr 1968 rügte die
Einstellungs- und Berichterstattungspraktiken der Nachrichtenmedien als »schockierend
rückständig«.3 Durch die Analyse der Inhalte von Fernsehen und Zeitungen kam die
1
Roberts, G./Klibanoff, H.: The Race Beat: The Press, The Civil Rights Struggle, and The Awakening of a Nation.
New York 2006.
Ebd.
3
National Advisory Commission on Civil Disorders: Kerner Report. New York 1968. Siehe www.eisenhowerfoundation.org/docs/kerner.pdf.
2
43
S A L LY L E H R M A N
Kommission zu dem Schluss, dass die Medien die landesweit schwelende Rassenproblematik schon seit Jahren nicht angemessen dargestellt hatten. Laut Bericht spiegelten die
Journalisten dabei »die Vorurteile, den Paternalismus und die Gleichgültigkeit des weißen
Amerikas« wider. Die Medienberichterstattung über die Aufstände enthielt Gerüchte;
das Ausmaß der Unruhen sowie der durch sie verursachten Schäden erschienen aufgrund
aufgeblähter Statistiken übertrieben dargestellt. »Die Medien«, so die Kerner-Kommission, »berichten und schreiben aus der Weltsicht von Weißen.« Aus diesem Grund sei
sich die weiße Bevölkerung der von Schwarzen verspürten Isolation und Missachtung
überhaupt nicht bewusst. Für die privilegierte Mehrheit schienen die Gewaltausbrüche
in jenen Sommern wie aus dem Nichts zu entstehen. Und als die Probleme schließlich
außer Kontrolle gerieten, hatte sich die Nation insgesamt nur wenig dafür verantwortlich
gefühlt, etwas dagegen zu unternehmen.
Veränderungen in der Nachrichtenindustrie
Nach dem vernichtenden Urteil des Kerner-Berichts versprachen die Nachrichtenunternehmen Veränderungen, und der Bericht setzte eine Welle von Neueinstellungen in
Gang. Doch weiße Herausgeber kritisierten die geringe Zahl qualifizierter Journalisten
aus ethnischen Minderheitengruppen. Auch zehn Jahre später hatte sich kaum etwas verändert. Über Amerika zu berichten war nach wie vor Sache von weißen, männlichen
Journalisten. Und diese schafften es nicht, ihr Urteil darüber, wer oder was wichtig war,
aus einer anderen als der weißen, männlichen Mittelklasseperspektive heraus vorzunehmen. Beiträge über die raue Realität innerstädtischen Lebens wie auch über Kultur und
Geschichte der Minderheiten in Amerika schafften es selten in die Nachrichten. Journalisten, die man aufgrund ihrer ethnischen Herkunft angestellt hatte, wurden häufig
ausgegrenzt. Viele von ihnen verließen nach nur wenigen Jahren entmutigt das Nachrichtengeschäft. In den späten siebziger Jahren kämpfte eine kleine Gruppe Minderheiten
angehöriger Journalisten erneut für Veränderungen und konnte die Verantwortlichen
davon überzeugen, dass eine größere Mitarbeitervielfalt in den Redaktionen zu einem
repräsentativeren, präziseren und anspruchsvolleren Journalismus führe. Sie rangen den
Verantwortlichen die Verpflichtung ab, die gängige Einstellungspolitik zu ändern. 1978
setzte sich die Amerikanische Gesellschaft der Zeitungsredakteure (American Society of
Newspaper Editors, ASNE) offiziell das Ziel, die Diversität in der Bevölkerung bis zum
Jahr 2000 auch in den Redaktionen abzubilden. Richard Smyser vom Oak Ridger in
Tennessee, der Vorsitzende des damaligen ASNE-Minderheitenausschusses, empfahl dem
Vorstand: »Die Bemühungen, Minderheiten anzuwerben, auszubilden und einzustellen,
müssen dringend wieder verstärkt werden. Denn es ist einfach richtig, so zu handeln. Und
es liegt zudem im wirtschaftlichen Eigeninteresse der Zeitungsindustrie.«4
4
American Society of Newspaper Editors: Diversity Timeline. Siehe http://www.asne.org/key_initiatives/diversity/
asne_diversity_history.aspx.
44
D I E D I V E R S I T Y- P O L I T I K D E R A M E R I K A N I S C H E N J O U R N A L I S T I S C H E N S E L B S T V E R WA LT U N G
Seither ist Amerika noch diversifizierter geworden. Die Zeitungs-, Rundfunk- und TVRedaktionen allerdings haben mit den Veränderungen nicht Schritt gehalten; im Jahr 2000
lagen sie weit entfernt von ihrem selbst gesetzten Ziel, bis zu diesem Zeitpunkt die Zusammensetzung der Bevölkerung in den Redaktionen zu spiegeln. 1998, als farbige Journalisten
gerade einmal 11,5 Prozent der Mitarbeiter in den Redaktionen gegenüber 26 Prozent der
Gesamtbevölkerung ausmachten, kamen die Mitglieder der ASNE erneut zusammen und
machten zeitliche Zugeständnisse. Unter »nachdrücklicher Bekräftigung« des eigentlichen
Ziels verlängerten die Redakteure die Umsetzungsfrist bis spätestens 2025.5 In einem neuen
Diversitäts-Leitbild verpflichtete man sich dazu, dass »zumindest jede Zeitung farbige
Journalisten beschäftigen und die Diversität der Städte und Gemeinden, in denen sie erscheint, widerspiegeln sollte«. Zudem versprach die Gruppe der Redakteure, den Frauenanteil in der jährlichen Redaktionsvollerhebung abzufragen und Problemstellungen anzugehen, die im Einstellungs- und täglichen Arbeitsprozess in den Redaktionen dem Aufbau
einer diversifizierten Belegschaft entgegenstanden. Über zehn Jahre später heißt es nun
in der jüngsten Printredaktionserhebung aus dem Jahr 2010, dass Minderheiten lediglich
knapp über 13 Prozent der Mitarbeiter in den Redaktionen landesweit, aber ungefähr ein
Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen.6 In einigen Teilen der USA können die Bemühungen der Redaktionen schon längst nicht mehr Schritt halten mit der sich verändernden
Bevölkerungsstruktur: Sogenannte »Minderheiten« konstituieren über fünfzig Prozent in
vier Staaten und Washington, DC. Demgegenüber ist die Zahl der durchweg mit weißen
Mitarbeitern besetzten Redaktionen seit 2006 stetig gestiegen. Laut der jüngsten Erhebung
beschäftigen 465 Printredaktionen, das entspricht der Hälfte aller Redaktionen, die an der
ASNE-Umfrage teilgenommen haben, ausschließlich weiße Mitarbeiter.
Angesichts des aktuellen Trends in Richtung Online-Journalismus argumentieren einige, dass sich Vielfalt in den Redaktionen durch die Anstellung neuer, junger Mitarbeiter
aus einer sich immer stärker diversifizierenden Bevölkerung fast im Alleingang ergeben
werde. In der Tat zeigte die jüngste ASNE-Redaktionserhebung, dass Journalisten aus
Minderheiten zwanzig Prozent der insgesamt 1.333 rein im Online-Bereich der Zeitungen Beschäftigten ausmachten, allerdings hatten von den 28 rein online erscheinenden
Zeitungen nur sieben die Fragebögen zurückgesandt, wodurch das genannte Ergebnis
vorsichtig zu bewerten ist.7 In einer 2009 von Leading Edge Associates, einer Beraterfirma aus dem Silicon Valley, durchgeführten Umfrage äußerten sich Online-Journalisten
ambivalent und teilweise offen feindselig zum Thema Diversität. Fast zwei Drittel der
Befragten gaben an, Vielfalt in Belegschaften sei »kein Thema« oder »von nur gerin5
ASNE sets new vision for newsroom diversity beyond 2000. Pressemitteilung: 20.10.1998. Siehe http://204.8.120.192/
index.cfm?ID=1400.
ASNE-Pressemitteilung: Journalists leaving newsrooms slows, ASNE counts online only journalists for first time.
11.04.2010. Siehe http://www.asne.org/article_view/articleid/763/journalists-leaving-newsrooms-slows-asne-countsonline-only-journalists-for-first-time-763.aspx.
7
Ebd.
6
45
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ger Bedeutung«. Ein Journalist antwortete: »Diversität bedeutet etwas hochzuhalten, das
nicht wirklich wichtig oder ausschlaggebend dafür ist, einen Job zu erledigen. Diversität
kann eine Art von Diskriminierung darstellen. Ein Bewerber sollte aus keinem anderen
Grund als seinen Fähigkeiten für eine Stelle ausgewählt werden.«
Warum ist Diversität wichtig?
Von Diversität geprägte Redaktionen sind nicht zwingendermaßen ein Garant für eine
integrativere Berichterstattung. Doch kann ein höherer Anteil an Journalisten aus Minderheiten in den Redaktionen sehr wohl zu Veränderungen führen. In ihrem 2009 erschienenen Bericht darüber, wie Minderheiten angehörige US-Journalisten den Einfluss
von Diversität wahrnehmen, schrieben Katsuo A. Nishikawa, Politikwissenschaftler an
der Trinity University (San Antonio, Texas), und seine Foschungskollegen: »[…] diversifizierten Redaktionen kann es gelingen, die stereotype, zweidimensionale Darstellung
von Minderheiten in eine genauere, vielschichtigere Beschreibung zu überführen. Es
bedarf jedoch einer kritischen Masse an Journalisten aus den Reihen der Minderheiten,
die diesem Ziel verpflichtet sind, um eine solche Veränderung zu bewirken.«8 Chefredakteure, die in der Leitung diversifizierter Redaktionen Erfahrung sammeln konnten,
bestätigen, dass im Zuge einer größeren Vielfalt die Berichterstattung aller Mitarbeiter
abwechslungsreicher und komplexer geworden sei. Unabhängig von ihrem Hintergrund
suchen Reporter mehr Quellen und befragen unterschiedliche Personen, und erreichen so
effektiver Genauigkeit und Gewicht in ihrer Arbeit. Sie werden sich der Vielzahl der von
Minderheiten ausgehenden Fragestellungen und Themen bewusster, statt diese Gruppen
lediglich anhand von Stereotypen zu betrachten. Ein ausgeglichener demografischer Mix
unter den Redakteuren und Nachrichtenproduzenten lässt die Redaktionen zudem von
einem entsprechenden Bewusstsein und Gesprächen profitieren, die unsensibler Sprache
und impliziter Stereotypisierung entgegenwirken.
Die Genauigkeit der Berichterstattung wächst
mit Aufmerksamkeit
und Aufgeschlossenheit
gegenüber Diversität.
Für die ASNE ist Diversität sowohl für die Arbeitsweise der Journalisten als auch für das Geschäft im Allgemeinen wichtig. Als sie
2009 die Diversity Pacesetter Awards einführten, um damit die um
Vielfalt bemühten Redaktionen zu ermutigen und diesbezügliche
Leistungen anzuerkennen, erklärte die Gremiumsleitung:
»In dem Maße wie sich örtliche Gemeinschaften stärker diversifizieren, steigt durch eine
ebenfalls größere Vielfalt in den Redaktionen die Fähigkeit der Zeitungen, tatsächlich
über sämtliche zugehörige Gruppen zu berichten und sie zu erreichen.
8
Nishikawa, K./Towner, T./Clawson, R./Waltenburg, E.: »Interviewing the Interviewers: Journalistic Norms
and Racial Diversity in the Newsroom.« In: Howard Journal of Communications, 20(3)/2009. S. 242-259.
doi:10.1080/10646170903070175.
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Sowohl die Sensibilität in Bezug auf mögliche Themen, als auch das Gespür für feine
Nuancen, das Wahrnehmen von Veränderungen und das Erkennen relevanter Beiträge werden durch eine diversifizierte Belegschaft verbessert. Die Genauigkeit der
Berichterstattung wächst mit Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber Diversität.
Angesichts der sich verändernden Öffentlichkeit ist es eine eindeutig kluge Geschäftsentscheidung, mehr Inhalte zu bieten, die mehr Lesern das Gefühl vermitteln, dass
sie selbst und die Menschen in ihrer Umgebung den Zeitungen (sowohl Print als auch
Online) wichtig sind. Eine diversifizierte Belegschaft unterstreicht diese Botschaft nach
außen.« 9
Versäumnisse in der Berichterstattung
Trotz des augenscheinlichen Bewusstseins über die Bedeutung von Diversität bei Belegschaften und Inhalten, haben die amerikanischen Nachrichtenorganisationen insgesamt
eher wenig in dieser Richtung vorzuweisen. Die mangelnden Fortschritte, so äußerten
sich farbige Journalisten in einer jüngst durchgeführten Online-Umfrage, zeigten sich in
einer Berichterstattung, die an der verstärkt multikulturellen Bevölkerung vorbeigehe.
Die Antwort auf die Frage »Glauben Sie, dass die etablierten Medien adäquat über Rassenbeziehungen in einer multirassischen Gesellschaft berichten?«, lautete bei 95 Prozent
der abgegebenen 414 Stimmen »Nein«.10 Und 41 Prozent der befragten Journalisten waren
der Meinung, dass Online-Blogger und unabhängige Websites zu einer Verschlechterung
der Berichterstattung beigetragen hätten. Don Heider, der derzeitige Dekan der School of
Communication an der Loyola-Universität in Chicago, äußerte sich nach der Untersuchung
lokaler Nachrichtenorganisationen in zwei multikulturellen Märkten vernichtend: »Was
uns die Nachrichtenmedien heutzutage liefern, sind ‚weiße Nachrichten’ – Nachrichten
aus der Perspektive von Weißen.«11
Zwar haben wir in den letzten Jahrzehnten Fortschritte erzielt, doch sind wir noch lange
nicht am Ziel. Eine Vielzahl von Beispielen unterlegt, wie weit sich die Nachrichtenorganisationen von der aktuellen Realität in den USA entfernt haben. Eine Abkopplung,
die besonders kritisch geworden ist, seit die Nation mit Barack Obama ihren ersten
afro-amerikanischen Präsidenten hat. Während der Präsidentschaftskampagne im Jahr
2008 schwankten die Nachrichtenmedien zwischen dem Infragestellen seiner Person als
»schwarz genug« und Befürchtungen, er sei in beunruhigendem Maße zu schwarz.12 So
zum Beispiel, als die Predigten von Reverend Jeremiah Wright, Obamas ehemaligem Pa9
ASNE: Saluting the Diversity Pacesetters. 2007. Siehe http://www.asne.org/pacesetter/index.html.
UNITY: Journalists of Color and TheLoop21.com. Journalism in Color survey report, 18.03.2010. Siehe http://theloop21.com/news/slideshow-race-media-survey-results.
11
Heider, D.: White News: Why Local News Programs Don‘t Cover People of Color. New York 2000.
12
Sarmah, S.: »Is Obama Black Enough?« In: Columbia Journalism Review, 15.02.2007. Siehe http://www.cjr.org/
politics/is_obama_black_enough.php.
10
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stor an der Trinity United Church of Christ in Chicago, aufgrund ihrer wütenden Kritik an
der Behandlung von Schwarz-Amerikanern Schlagzeilen machten.13
Verfolgte man jedoch die Nachrichten in den Massenmedien, erfuhr man nur wenig darüber, wie Schwarz-Amerikaner sich selbst sehen, was sie über Rassenfragen in den USA
oder die Traditionen schwarzer Theologen denken.14 Stattdessen unternahmen die Nachrichtenmedien recht unbeholfene Versuche, sich der Rassenthematik zu nähern. MSNBC15
beispielsweise schien sich nicht der Ironie bewusst, als man ein durchweg weißes Podium
zur Diskussion von Rassenfragen in den USA im Umfeld der historischen Wahlkampagne Barack Obamas zusammenstellte.16
Als Barack Obama die Wahl gewann und damit der erste schwarze Präsident der USA
wurde, triumphierten die ersten weißen Nachrichtensprecher, es habe ein neues politisches
Zeitalter in Amerika begonnen und die Nation habe die Rassenfrage überwunden.17 Sowohl im beruflichen wie im privaten Bereich mögen wir verstärkt Integration und Akzeptanz erleben, doch in der allgemeinen Öffentlichkeit sind Feindseligkeiten inzwischen
schon fast an der Tagesordnung. Die Wahl Obamas schien Rassenängste neu zu beleben.
Es kam zu hasserfüllten Auseinandersetzungen um entsprechende Themenkomplexe,
mitunter angeführt von Mitarbeitern der Nachrichtenmedien. So wurde im Juli 2009 eine
nationale Debatte losgetreten, als Henry Louis Gates Jr., ein afro-amerikanischer Wissenschaftler der Harvard University, vor seinem eigenen Haus von einem weißen Polizisten
verhaftet wurde, der auf einen telefonischen Hinweis wegen eines möglichen Einbruch
reagiert hatte. Präsident Obama erklärte zunächst, die Polizei habe »dumm gehandelt«,
entschuldigte sich dann aber für seine Wortwahl. Er versuchte, der angespannten Atmosphäre entgegenzuwirken und eine besonnene Diskussion über die Beziehung zwischen Minderheiten und der Polizei in Gang zu bringen, indem er die beiden Männer
zu einem Versöhnungsgespräch bei einem Glas Bier ins Weiße Haus einlud. Daraufhin
nannte Glenn Beck, der Moderator von Fox News, Obama einen »Rassisten« und unterstellte ihm, einen »tief sitzenden Hass gegen die weiße Bevölkerung und die Kultur der
Weißen« zu hegen. 18
13
Ross, B./El-Buri R.: »Obama’s Pastor: God Damn America, U.S. to Blame for 9/11. Obama’s Pastor, Rev. Jeremiah
Wright: Has a History of What Even Obama’s Campaign Aides Say Is ‘Inflammatory Rhetoric.« In: ABC News,
07.03.2008. Siehe http://abcnews.go.com/Blotter/DemocraticDebate/story?id=4443788&page=1.
14
Dawson, M.: »Is Obama Wrong About Wright? Among black Americans, Jeremiah Wright may not be that far
out of the mainstream.« In: TheRoot.com, 17.03.2008. Siehe http://www.theroot.com/views/obama-wrong-aboutwright.
15
MSNBC ist ein US-amerikanischer Nachrichtensender mit Sitz in New York. Er ging 1996 auf Sendung und ist ein
Gemeinschaftsunternehmen von NBC Universal und Microsoft.
16
Diskussion in der wöchentlichen Talk Show »Morning Joe« bei MSNBC, 2008. Siehe http://www.msnbc.msn.com/
id/3036789/.
17
Schorr, D.: »A New Post-Racial Political Era in America.« In: National Public Radio, 28.01.2008.
18
Beck, G.: In Fox and Friends, 28.07.2009. »Obama has exposed himself as a guy with a deep seated hatred for white
people […].«
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Straßenbild in New York
Kurz davor im selben Monat hatten verschiedene Senatoren im Verlauf des Ernennungsverfahrens von Sonia Sotomayor zur obersten Bundesrichterin der USA eine Versicherung verlangt, dass ihre richterlichen Entscheidungen weder durch ihr Geschlecht noch
durch ihre puertorikanische Herkunft beeinflusst würden. Im Mai hatte die New York
Times über eine Rede von Sotomayor aus dem Jahr 2001 berichtet, in der sie geäußert
hatte, dass persönliche Erfahrungen »bei der Urteilsfindung einen Unterschied machen
können und werden« und dass sie hoffte, die reiche Lebenserfahrung könne sie als eine
49
S A L LY L E H R M A N
Latina zu einer besseren Richterin machen.19 Die Bemerkungen ließen Forderungen nach
ihrem Rücktritt laut werden. Der Radiokommentator Rush Limbaugh nannte sowohl Sotomayor als auch Obama reversed racists.20
Ebenfalls im Frühjahr 2009 behauptete Lou Dobbs, zu dieser Zeit Moderator bei CNN,
dass nicht-registrierte Einwanderer aus Mexiko Lepra verbreiteten. Zu einem früheren
Zeitpunkt des Jahres bezeichnete er die US Hispanic Chamber of Commerce, einen etablierten Wirtschaftsverband, als eine »Organisation, deren eigentliches Interesse im Export Mexikos von Drogen und illegalen Einwanderern in die Vereinigten Staaten« liege. 21
Für einige Beobachter steht sein Ausstieg bei CNN im darauf folgenden November im
Zusammenhang mit der von US-Latinos initiierten Basta Dobbs!-Kampagne, in der diese
den Moderator in Online-Netzwerken, SMS-Nachrichten, Radiowerbung und auf Veranstaltungen aufs Schärfste dafür kritisierten, dass er »Hass fördere«22.
Die Krise der Nachrichtenindustrie
Die genannten Ereignisse treten deshalb umso deutlicher hervor, als sich das Nachrichtengeschäft einem zunehmenden wirtschaftlichen Druck ausgesetzt sieht, und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der die amerikanische Gesellschaft eine besonders klare, präzise
und bedachte Berichterstattung zur Rassenthematik benötigt. Laut aktueller Schätzung
des jährlichen Berichts zum Stand des US-Journalismus, The State of the News Media 2010,
haben die amerikanischen Zeitungen ihre Budgets für die Berichterstattung und Redaktion um insgesamt 1,6 Milliarden US-Dollar gekürzt.23 Allein 2009 wurden in den Redaktionen mehr als 14.000 Mitarbeiter entlassen. Zahlreiche Redaktionen wurden geschlossen;
andere haben sich auf das reine Online-Geschäft spezialisiert. Die Auflagenhöhe des San
Francisco Chronicle, der die San Francisco Bay Area in Kalifornien bedient, ging 2009 um
ein Viertel zurück. Auch das Zeitschriftengeschäft ist nicht verschont geblieben: Conde
Nast, einer der größten amerikanischen Zeitschriftenverlage, verlor mehr als ein Drittel der
Anzeigenseiten. Jerry Ceppos, Dekan der Reynolds School of Journalism an der University
of Nevada, Reno, beschrieb in einem Interview das Klima in der Branche folgendermaßen:
»In der Nachrichtenindustrie herrscht Panik. Es geht um’s nackte Überleben.«
Trotz der radikalen Rationalisierungsmaßnahmen im Mediengeschäft gibt es Gründe, optimistisch zu sein. Die Unternehmen werden gezwungen, mit neuen Formen der Nachrichtenübermittlung zu experimentieren. Sie suchen nach multimedialen Möglichkeiten, Nutzer
auf ihre Websites zu ziehen. Sie versuchen sich in sozialen Netzwerken und Social-Sharing19
Savage, C.: »A Judge‘s View of Judging is on the Record.« In: New York Times, 14.05.2009.
Khan, H./Tapper, J.: Newt Gingrich on Twitter: Sonia Sotomayor ‘Racist’, Should Withdraw, ABC News, 27.05.2009.
Folkenflik, D.: »What‘s Behind Lou Dobbs leaving CNN?« In: National Public Radio (NPR), 12.11.2009.
22
Siehe http://www.bastadobbs.com.
23
Project For Excellence In Journalism and Rick Edmonds, Newspapers: Summary Essay. The State of the News
Media 2010: An Annual Report on American Journalism. Siehe http://www.stateofthemedia.org/2010/newspapers_
summary_essay.php.
20
21
50
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Plattformen, wo Leser sich Berichte gegenseitig empfehlen können. Man testet Twitter, Einträge auf Facebook24 und den sogenannten »Bürger-Journalismus«. CNN lädt Internetnutzer dazu ein, eigene Artikel auf iReport einzureichen,25 wobei der beste Amateurbeitrag
auf einer offiziellen Profiseite erscheint. Einige der Journalisten, deren Stellen gestrichen
wurden, suchen nach neuen Wegen, ihre Arbeit fortzuführen. Ein Modell besteht darin,
bewusst und ausschließlich lokal zu arbeiten. So startete eine Gruppe von arbeitslos gewordenen Journalisten in San Diego, Kalifornien, die gemeinnützige, investigative NachrichtenWebsite Voice of San Diego. Diese berichtet ausführlich über die Lokalpolitik und finanziert
sich über regelmäßige User, Stiftungsgelder und Spenden. Ihr Ziel ist die Förderung der
eigentlichen Aufgabe des Journalismus – der Demokratie zu dienen – und zwar durch die
intensive Darstellung der Arbeit der kommunalen Verwaltung. Eine andere Gruppe in San
Diego gründete das San Diego News Network, das als gewinnorientiertes Unternehmen mit
der lokalen Zeitung konkurriert. Die Betreiber hoffen, ihre Idee als Franchise vermarkten
und ähnliche Webseiten für weitere Städte einführen zu können.26
Es gibt eine Vielzahl von Startup-Unternehmen, die sich auf die umfassende Berichterstattung in Gesundheits- oder Regierungsfragen zu spezialisieren versuchen, die an zahlende Kunden, also an etablierte Nachrichtenunternehmen, weitergeliefert wird. Diese
Startups finanzieren sich über Stiftungsgelder und arbeiten auf gemeinnütziger Basis.
Das Startkapital der Texas Tribune zum Beispiel stammt von einem Risikokapitalgeber;
Werbung wird nicht platziert, und die erarbeiteten Beiträge werden den Zeitungen und
TV-Sendern kostenlos zur Verfügung gestellt. Ethnische Medien, schon lange eine wichtige Nachrichten- und Informationsquelle für Einwanderer und Minderheitengruppen,
sind nach wie vor aktiv. Natürlich haben auch sie finanzielle Einbußen hinnehmen müssen, doch können sie auf treue Anhänger zählen. Laut einer Umfrage von Bendixen & Associates und New America Media aus dem Jahr 200527, ziehen 45 Prozent der Minderheiten
ethnische Medien den Mainstream-Pendants vor. Obwohl auch diese wirtschaftliche Einbußen hinnehmen müssen und mit Sorge die Budgetkürzungen der Werbetreibenden
beobachten, erwarten siebzig Prozent von ihnen laut einer Umfrage von Forschern der
San Francisco State University28ein Anwachsen ihrer Nutzerzahlen.
Es entwickelt sich also eine interessante Nachrichtenlandschaft. Im Internet kann der Nutzer sich über die Nachrichten zum Beispiel in den großen Zeitungen wie der New York Times
oder der Washington Post informieren und zu den Themen ergänzend entweder Berichte
24
Vgl. z. B. NYT und New America Media Facebook-Seiten.
Siehe http://www.cnnireport.com.
Vgl. http://www.sdnn.com for San Diego News Network sowie http://www.voiceofsandiego.org for Voice of San
Diego.
27
Bendixen and Associates: »Ethnic Media in America: The Giant Hidden in Plain Sight.« New America Media 2005.
Siehe http://news.newamericamedia.org/news/view_article.html?article_id=0443821787ac0210cbecebe8b1f576a3.
28
Cruz, R./Azocar, C./Funabiki, J.: »The Health of Ethnic Media, Needs and Opportunities.« McCormick Foundation and the Center for Integration and Improvement of Journalism 2008.
25
26
51
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und Blogs linksorientierter Websites wie der Huffington Post oder einer rechts-konservativen
Site wie Hot Air lesen.29 Auch mit Hilfe entsprechender ethnischer oder Community Sites
kann sich der Leser ein genaueres Bild über die Nachrichten machen. Kritiker befürchten,
dass die Denkweise der Nutzer immer vorhersehbarer wird. Doch Websites wie NewsTrust.
net, die ihre Aufgabe darin sehen, zum kompetenten Umgang der Öffentlichkeit mit Nachrichten beizutragen, nutzen soziale Netzwerke, um die Lücken zu schließen, die durch die
Beiträge einzelner Nutzer möglicherweise entstehen können.30 Die Nutzer melden sich an,
stellen Artikel, die sie interessieren, auf der Site ein und bewerten ihre eigenen sowie die von
anderen eingestellten Artikel. NewsTrust bringt die User zusammen, um für Qualitätsjournalismus einzutreten, schlechte journalistische Arbeit zu kritisieren und eine von ihnen als
wichtig erachtete Arbeit gemeinsam anzugehen. Dies alles geschieht über das Internet.
All diese Veränderungen bewirken zwei Dinge:
Zum einen werden Journalisten ihrer Leserschaft gegenüber aufmerksamer und zugleich
verantwortungsbewusster. Diejenigen von uns, denen Diversität und korrekte Darstellung wichtig sind, können diese Tatsache dazu nutzen, eine noch präzisere Berichterstattung zu fördern.
Zum anderen wird es uns möglich, in der Berichterstattung neue Wege zu gehen. Althergebrachte Vorstellungen darüber, was als vertrauenswürdige Quelle anzusehen ist, wer eine Autorität auf einem Gebiet darstellt, oder gar über die Frage, welche Information es überhaupt
wert ist, in die Nachrichten zu kommen, all das kann uns hin zu »weißen Nachrichten«
führen. Wenn es jedoch gelingt, die neu entstehenden Unternehmen davon zu überzeugen,
dass sie nicht nur mehr Aufmerksamkeit, sondern vor allem auch eine sehr treue Leserschaft
gewinnen können, wenn sie über all die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den USA
berichten, dann haben diese die Chance, eine von Grund auf integrativere Arbeit zu leisten.
Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung wäre es, dass sich die Verantwortlichen
vorrangig für die Diversität ihrer Belegschaften einsetzten. Aufbauend auf den bisherigen Ansätzen können wir in Richtung grundlegender Veränderungen arbeiten. Bislang
haben wir vier wichtige Dinge gelernt:
% Wille und Engagement zur Veränderung müssen von der Spitze ausgehen.
% Es ist sehr wichtig, wer Nachrichten produziert und wer in diesen vorkommt.
% Die neuen Medien bieten eine Chance zu Veränderungen in bislang noch nicht erkanntem Ausmaß.
% Journalismus muss über Integration hinausgehen, um die Bedeutung von Diversität
klar veranschaulichen zu können.
29
30
http://www.huffingtonpost.com, http://www.hotair.com.
http://www.NewsTrust.net.
52
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Engagement im Management der San Jose Mercury News
Santa Clara County, wo sich auch die Santa Clara University befindet, liegt im Zentrum
des Silicon Valley. Aktuell sind rund 62 Prozent der Bevölkerung in der Region Hispanos
oder einer anderen Minderheit angehörig; es werden mehr als einhundert verschiedene
Sprachen gesprochen. Schon vor nahezu zehn Jahren bezeichnete man die Bevölkerung
als »Minderheiten-Mehrheit«, da die Zahl der dort lebenden Asiaten, Schwarzen und
Latinos zusammengenommen die der Weißen übertraf. Die regionale Zeitung San Jose
Mercury News war zwar längst nicht so diversifiziert wie die Öffentlichkeit um sie herum,
doch zeichnete sie sich US-weit aufgrund ihrer ungewöhnlich breit aufgestellten Redaktion aus: Mit einer Belegschaft, die zu einem Drittel aus Angehörigen von Minderheiten
bestand, war die San Jose Mercury News weitaus besser als jede andere US-Zeitung darauf
vorbereitet, die sich verändernde Bevölkerung des Landes zu erreichen. Jerry Ceppos, der
damalige Managing Editor und heutige Dekan der University of Nevada in Reno erklärte
kürzlich, wie und warum er die demografische Zusammensetzung der zu Beginn seiner
dortigen Tätigkeit fast ausschließlich weißen Belegschaft der Zeitung veränderte.
Für ihn war der Handlungsbedarf mehr als offensichtlich: Wann immer er sich in den
nahe gelegenen Einkaufszentren, Universitäten oder auf öffentlichen Plätzen aufhielt
und die heterogene Bevölkerung sah, sprang ihm der Gegensatz zu seiner Redaktion ins
Auge. »Es war eindeutig, dass wir die Region nicht bedienen konnten, ohne sie besser zu
verstehen«, so Ceppos. Er führte Veränderungen ein und lernte mit jedem Schritt dazu.
Zunächst lud Ceppos Vertreter der verschiedenen in der Region lebenden Bevölkerungsgruppen in die Redaktion ein: Sie sollten seinen Mitarbeitern die Lebensweise und Kulturen der verschiedenen Gruppen, unter ihnen auch Vietnamesen und Mexikaner, näher
bringen. Doch musste er bald feststellen: »Bevor man nicht Leute aus der Gemeinschaft
vor Ort einstellt, funktioniert es nicht.« Ceppos und andere führende Zeitungsmanager
verpflichteten sich, multikulturelle Belegschaften aufzubauen. Dabei veränderten sie ihre
Einstellungskriterien und machten Erfahrungen im Umgang mit anderen Kulturen zu
einem wichtigen Bestandteil neben Arbeitsproben und akademischen Abschlüssen.
Auf neuen Wegen zu neuen Kunden
Ceppos brachte zudem zwei Zeitungen an den Start, die sich der Sprache der Einwanderer selbst bedienten: nämlich Spanisch (Nuevo Mundo) und Vietnamesisch (Viet Mercury).
Laut Ceppos verstand man allmählich, dass »immer mehr Menschen ins Land kommen,
die lieber in ihrer eigenen Sprache lesen«. Ceppos hoffte, man würde mit den nicht-englischsprachigen Zeitungen das Interesse der Einwanderer wecken und sie als treue Leser
gewinnen können. Schließlich würden diese Leser oder ihre Kinder zur englischen Ausgabe der Zeitung wechseln. Diese Vorgehensweise traf nicht nur auf positives Echo, da
die nicht-englischen Ausgaben der Mercury News eine Konkurrenz zu den bereits beste53
S A L LY L E H R M A N
henden ethnischen Medien vor Ort darstellte. Laut Ceppos machte sich die Entscheidung
jedoch bezahlt, vor allem was die Qualität des Journalismus betraf. Aufgrund ihrer engen
Bindungen in die lokalen Bevölkerungsgruppen, ihrer Kenntnisse über und Erfahrungen
mit Kultur wie Sprache der Einwanderer, gelang es Reportern beider Zeitungen, wichtige
Missstände aufzudecken. Die Fachkompetenz dieser Journalisten und weiterer neu eingestellter Mitarbeiter wirkte in den Redaktionen weiter, und auch die anderen Mitarbeiter
spürten Nachrichten und Trends auf, die sie zuvor nicht beachtet hatten. Dazu zählten
heftig geführte Kontroversen innerhalb der und zwischen den verschiedenen ethnischen
Gruppen, mögliche von der vietnamesischen Glücksspielkultur ausgehende Gefahren, ein
in der Region weit verbreitetes fremdenfeindliches Klima und Angriffe auf Immigranten.
Ein Reporter namens De Tran enthüllte Informationen über eine Gruppe von Ärzten, die
sich an neu aus Vietnam eingereisten Patienten bereicherten. Die zunehmende Vielfalt
der Mitarbeiter, so Ceppos, »veränderte die Zeitung ungemein. So entstanden Hunderte
von fabelhaften Berichten.«
Vielschichtige Strategien
Damals gehörte die San Jose Mercury News zur Knight Ridder-Zeitungskette, die ebenfalls strukturelle Veränderungen einleitete, um im gesamten Konzern eine integrativere
Einstellungspolitik voranzutreiben. Knight Ridder knüpfte Bonuszahlungen für Manager
an deren Personalpolitik. Der Pressekonzern vergab Hochschulstipendien, baute Praktikumsprogramme für talentierte Nachwuchsjournalisten aus Minderheitsgruppen auf und
führte ein Führungskräfte-Entwicklungsprogramm ein. In dem Maße wie Knight Ridder
als ein in Sachen Diversität führendes Unternehmen bekannter wurde, war es leicht für
Manager wie Ceppos, gute Leute zu finden. Für Ceppos lag die Grundvoraussetzung für
ethischen Qualitätsjournalismus in einer Redaktion, in der es zahlreiche Mitarbeiter mit
Migrationshintergrund und verschiedenen Erfahrungswelten gab. Sein Rat:
% Ziehen Sie sich eigene Leute heran. Bieten Sie Programme an Colleges und Universitäten an, die junge Migranten für Journalismus begeistern. Stipendien und Praktikumsplätze für Studenten können deren direkten Weg in die Redaktionen öffnen.
% Werben Sie Reporter an bzw. ab. Unter Umständen macht es Sinn, Journalisten aus den
Redaktionen in ihrem Heimatland, zum Beispiel der Türkei, anzuwerben, oder aus
Nachrichtenhäusern, die die Immigrantengemeinschaft in Deutschland bedienen.
% Geben Sie neuen Mitarbeitern die Chance, Führungspositionen zu übernehmen, wo sie
Änderungen vorantreiben können.
% Optimieren Sie Ihre Einstellungsverfahren und nehmen Sie Abstand von den Old-BoysNetworks – d. h. Leuten, die jemanden in der Redaktion kennen oder eine ähnliche
Biografie aufweisen.
% Machen Sie sich bewusst, dass Medienunternehmen, die nicht handeln, Einbußen erleiden werden. Oder, um Ceppos direkt zu zitieren: »Sie werden jene Bevölkerungsgrup54
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pen nicht verstehen und erreichen können; die Anzeigenkunden werden das merken.
Folglich werden diese Nachrichtenunternehmen zunehmend an Bedeutung verlieren.«
Druck »von innen« am Beispiel der Society of Professional Journalists
Knight Ridder und die San Jose Mercury News sind gute Beispiele dafür, welche Bedeutung ein vom Management gelebtes Engagement innerhalb von Unternehmen hat. Doch
ebenso hat sich in den USA deutlich gezeigt, wie wichtig auch Druck
Durch die ständige Darvon Seiten der Mitarbeiter selbst ist. Die folgenden vier UNITY-Ver- stellung Schwarzer vorbände, die sich aus farbigen Journalisten zusammensetzen, haben sich nehmlich als Unterhaläußerst intensiv für eine Optimierung der Einstellungsverfahren und tungskünstler, Sportler
oder Kriminelle wurden
eine präzisere Berichterstattung ausgesprochen: die National Associati- diese marginalisiert.
on of Black Journalists, die National Association of Hispanic Journalists,
die Asian American Journalists Association und die Native American Journalists Association.
Ich selbst habe mich vor allem innerhalb der Society of Professional Journalists (SPJ), dem
ältesten und am breitesten aufgestellten Journalismusverband in den USA, engagiert.
Eine Vielzahl der durch die SPJ vertretenen weißen Journalisten sah keine Notwendigkeit
für Veränderungen – und dies trifft zum Teil auch heute noch zu. Doch innerhalb einer
kleinen Gruppe von Journalisten der SPJ fühlten wir uns für eine Verbesserung der Berichterstattung insgesamt verantwortlich. Wir wussten, dass sich die Zusammensetzung
der Belegschaft in den Redaktionen nur allzu langsam veränderte. Und es war uns zudem
bewusst, dass eine unsensible journalistische Arbeitsweise nicht ohne Auswirkungen
blieb. Durch die ständige Darstellung Schwarzer vornehmlich als Unterhaltungskünstler, Sportler oder Kriminelle wurden diese marginalisiert. Die Wissenschaftler Travis L.
Dixon und Daniel Linz konnten feststellen, dass Afro-Amerikaner im Vergleich zur Zahl
tatsächlicher Verhaftungen unverhältnismäßig oft als Gesetzesbrecher in den lokalen TVNachrichten dargestellt werden. Demgegenüber steht die unverhältnismäßig häufige Darstellung Weißer als Opfer; Latinos kommen in beiden Rollen eher weniger vor.31 Es war
uns bewusst, dass die wiederholte Betonung von Minderheiten als »Problemverursacher«
Ängste unter der weißen Bevölkerung schürte und kultivierte. Das Hervorheben von Immigranten in erster Linie als Konkurrenten am Arbeitsmarkt oder als Störfaktoren für
die Öffentlichkeit führte zu offener Ablehnung.
Diversität als zentraler Grundwert und Aspekt der Ethik
Mit Hilfe dreier Argumentationsansätze forderten wir unsere Kollegen dazu auf, fairer
und genauer über Minderheiten zu berichten. Zunächst erinnerten wir die Mitglieder der
SPJ daran, dass Diversität seit jeher ein zentraler Wert unseres Verbands darstellte, nachzulesen in unserem Leitbild. Dort heißt es:
31
Dixon, T./Linz, D.: »Race and the Misrepresentation of Victimization on Local Television News.« In: Communication Research, 27/2000. S. 547-573.
55
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1. Die Society of Professional Journalists verpflichtet sich zur Aufrechterhaltung einer freien
Presse als Eckpfeiler unserer Nation und unserer Freiheit.
2. Um sicherzustellen, dass der in der Verfassung der USA niedergelegte Grundsatz der
Selbstbestimmung auch in Zukunft Bestand hat, muss jeder amerikanische Bürger gut
informiert sein, um auf dieser Basis Entscheidungen für sich selbst, aber auch für die Gemeinschaft, in der er lebt, sowie für die Nation als Ganzes fällen zu können.
3. Es ist die Aufgabe des Journalisten, diese Informationen korrekt, umfassend, zeitnah
und verständlich zur Verfügung zu stellen.
Aufgabe der Society of Professional Journalists ist es:
• den Informationsfluss zu fördern,
• die Einhaltung der im ersten Zusatz der Verfassung garantierten Freiheit der Rede und
Presse stetig zu überwachen,
• in der Ausübung des Journalistenberufs hohe Qualitätsstandards zu setzen und
ethisches Verhalten anzuregen,
• Exzellenz unter den Journalisten auszubauen,
• die kommenden Generationen talentierter junger Menschen für den Beruf des engagierten Journalisten zu begeistern,
• sich für Diversität im Journalismus einzusetzen,
• die führende, breit aufgestellte Mitgliedsorganisation für Journalisten zu sein,
• ein Klima zu fördern, in dem Journalisten ihren Beruf ungehindert ausüben können.32
Die SPJ hat diese Werte in einem Ethikkodex festgeschrieben,
der jeden Journalisten dazu aufruft, »nach Wahrheit [zu] streben
und über sie [zu] berichten«. In der Präambel des Kodex heißt es:
»Die Mitglieder der Society of Professional Journalists vertreten den
Standpunkt, dass die Aufklärung der Öffentlichkeit die Voraussetzung für Gerechtigkeit ist und das Fundament der Demokratie
darstellt.
Es ist die Pflicht jedes Journalisten, dieses Ziel zu verfolgen, indem er sich um Wahrheit
bemüht und eine faire und vollständige Darstellung von Geschehnissen und Themen liefert.« In der vor über zehn Jahren aktualisierten Fassung des Kodex hielt das Ethikkomitee der SPJ fest, dass »Wahrheit« auf der Verbindung verschiedener Perspektiven basiert,
einschließlich der Sichtweisen jener, die sich am Rand der Gesellschaft befinden. Gemäß
Kodex sollten Journalisten:
»Wahrheit« basiert
auf der Verbindung
verschiedener Perspektiven, einschließlich
der Sichtweisen jener,
die sich am Rand der
Gesellschaft befinden.
32
Siehe http://www.spj.org (Hervorhebung durch die Autorin).
56
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• offen das Thema Vielfalt angehen und über das breite Erfahrungsspektrum verschiedener Menschen berichten, selbst dann, wenn dies unpopulär sein sollte,
• ihre eigenen kulturellen Werte hinterfragen und es vermeiden, diese anderen aufzuzwingen,
• Stereotypisierungen nach Rasse, Geschlecht, Alter, Religion, Ethnizität, geografischer
Zugehörigkeit, sexueller Orientierung, Behinderung, Aussehen oder sozialem Status
vermeiden,
• für einen offenen Meinungsaustausch eintreten, unabhängig davon, ob sie die geäußerten Meinungen selbst ablehnen,
• den Wortlosen eine Stimme geben; offizielle und inoffizielle Informationsquellen können dabei gleichwertig sein.
Die SPJ hat diesen Kodex veröffentlicht und Diversität in die Diskussion journalistischer
Ethik einbezogen.
Richtlinien zur Vermeidung von religiösem Profiling
Mit unseren Bemühungen haben wir andere Journalisten und die breite Öffentlichkeit
manches Mal vor den Kopf gestoßen. Kurz nach den Anschlägen auf das World Trade
Center am 11. September 2001 zum Beispiel nahm die Gewalt gegen Muslime und sogar
gegen Menschen, die manchem bloß als Muslime erschienen, stark zu. In einigen Fällen
hatten wir das Gefühl, dass die Journalisten durch ihre Art der Nachrichtenbeschaffung,
deren Bearbeitung und Auswahl das Gewaltklima schürten. Teilweise mittels subtiler
Wortwahl, manchmal jedoch auch recht offen, stellten Reporter Muslime oftmals als
Angst erregend, gewaltbereit und als mit Wertvorstellungen behaftet dar, die von den traditionellen amerikanischen Maßstäben stark abwichen. Auf Grundlage des Ethikkodex
der SPJ haben wir eine Reihe von Richtlinien erarbeitet, die Reportern und Fotografen
dabei helfen sollen, religious profiling, also eine Vorverdächtigung aufgrund von Religionszugehörigkeit, zu vermeiden. Dazu zählen die folgenden Empfehlungen:
• Vermeiden Sie die Darstellung von Amerikanern arabischer Herkunft und von Muslimen als monolithische Gruppen.
• Machen Sie in Ihrer Berichterstattung keinerlei Unterschiede, egal ob es sich um die
Opfer von Belästigungen, Mord, Formen von Hasskriminalität oder die Opfer offenkundiger Terroranschläge handelt.
• Vermeiden Sie Andeutungen, es sei etwas Ungewöhnliches, auf dem Boden kniend zu
beten, arabische Musik zu hören oder aus dem Koran zu zitieren.
Nach der Veröffentlichung dieser Richtlinien beschimpfte man uns als anti-semitisch und
als anti-amerikanisch. Wir wurden beschuldigt, »Werbung für den Islam« zu machen.
57
S A L LY L E H R M A N
Dabei ging es uns lediglich darum, Journalisten von der Verwendung hetzerischer Parolen und Bilder abzuhalten. Denn es war uns bewusst, dass die Medien ein Klima schaffen
können, in dem Hasskriminalität gebilligt wird. Rückblickend müssen wir festhalten,
dass wir unsere Vorstellungen effektiver hätten vorbringen müssen bzw. die abwehrenden
und politischen Reaktionen darauf hätten entschärfen sollen. Vielleicht hätten wir unsere
Ideen durch die Führungspersönlichkeiten in der SPJ persönlich vortragen lassen sollen,
statt auf deren Verbreitung im Internet und durch Pressemeldungen zu setzen. Trotz
allem haben wir keinen Rückzieher gemacht, und die Richtlinien haben bis heute Bestand. Damals wie heute beobachten wir eine schwelende Feindseligkeit unter den Weißen gegenüber Einwanderern und Minderheiten. Sie scheinen ihre eigenen kulturellen
Werte und Ideale durch die Neuankömmlinge bedroht zu sehen – wie schließlich auch
durch sämtliche Regelungen und Vorgehensweisen, die sich gegen die Diskriminierung
Nicht-Weißer richten. Bisweilen macht sich dieses Gefühl längst nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Redaktionen breit. Aus diesem Grund werden wir nicht müde,
auf den demografischen Wandel der Städte und Gemeinden hinzuweisen, über die wir
berichten. Und wir erinnern Journalisten an deren Berufsethos mit der Forderung nach
Fairness und Genauigkeit.
Arbeitsmittel und Weiterbildungsmaßnahmen
Nicht zuletzt vertreten wir die Meinung, dass ein durch Vielfalt geprägter Journalismus
ein wichtiger Schritt in Richtung eines hochwertigen Qualitätsjournalismus ist. Wir nutzen unter anderem unseren Blog, unseren Newsletter, unser Magazin (Quill) und Weiterbildungsmaßnahmen, um Journalisten zu zeigen, wie es ihnen gelingen kann, ihre Berichterstattung integrativer zu gestalten. Manchmal beklagen sich Reporter, wie schwierig
es sei, Experten oder andere Informationsquellen zu finden, die nicht weiß sind. Darüber
hinaus stelle die Suche nach Informanten aus Minderheitengruppen eine Art der Parteinahme dar und sei damit unethisch. In diesem Fall verweisen wir auf die Statistik: Laut
einer Studie des deutschen Medienforschungsinstituts Media Tenor basieren 92 Prozent
der Nachrichten sämtlicher US-Medien auf den Informationen Weißer.33 Dass einer einzigen demografischen Gruppe im Land eine derartig ausschlaggebende Stimmengewalt
verliehen wird, führt unserer Meinung nach zu Verzerrung und Ungenauigkeit in der
Berichterstattung. Aus Gründen der Fairness und Genauigkeit ist es jedoch wichtig, anderen Gruppen die Möglichkeit zu geben, für sich selbst und aus ihrer eigenen authentischen
Erfahrung heraus zu sprechen. Mit dem Rainbow Sourcebook haben wir schließlich ein
Werkzeug entwickelt, mit dem es einfach ist, nach Stimmen außerhalb des engen demografischen Bands zu recherchieren, das wir normalerweise in den Nachrichten abgebildet
sehen: Es handelt sich hierbei um eine Datenbank, die nach Experten aus verschiedensten
33
Media Tenor: »It‘s a Man‘s World – Even More in the Media.« Media Tenor Quarterly, 4/2003. S. 36-37. http://www.
medientenor.org.
58
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Bereichen – Minderheitengruppen, Frauen, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, usw. – durchsucht werden kann.34
Darüber hinaus halten wir das Fault-Lines-Konzept des Maynard Institute for Journalism
Education in Oakland, Kalifornien, für ein sehr hilfreiches journalistisches Arbeitsmittel.35 Das in Bezug auf Diversität entwickelte Denkmodell hilft Journalisten, sich nicht
allein auf persönliche Erfahrungen, instinktive Reaktionen und gewohnte Netzwerke zu
verlassen und so zu besseren Beiträgen zu gelangen. Laut Institut gibt es sogenannte Fault
Lines oder Trennlinien in der Gesellschaft, die beeinflussen, wie wir die Welt sehen und
erleben: Rasse, soziale Stellung, Geschlecht, Generation und Geografie. Einige Journalisten, die mit dem Konzept arbeiten, verweisen noch auf eine weitere Kategorie, nämlich
die der Ideologie bzw. Religion. Durch Hinterfragen der Fault Lines gelangt der Reporter
möglicherweise zu einer neuen Sichtweise für einen Beitrag, oder entdeckt Zusammenhänge, die über das Offensichtliche hinausgehen. Berichtet der Journalist beispielsweise
über den Arbeitsmarkt in den USA, kann der Blick auf die Kategorien »Generation«
und »Klasse« hilfreich sein. Während sich junge Leute mit guten familiären Beziehungen
sicher fühlen mögen, befürchten vielleicht Studenten, die als erste in ihren Familien überhaupt ein Studium absolvieren, niemals einen guten Job zu finden. Schließlich mag es
unter den Bewohnern in ärmeren Gegenden nur wenig Besorgnis geben, sehen sie doch
ihre Chancen unverändert: nämlich als ernüchternd niedrig.
Neue Perspektiven öffnen: Ungleichbehandlung verstehen
All dies sind gute Instrumentarien. Doch sind zwei weitere wichtige Schritte notwendig,
um alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche der USA abzubilden, damit die verschiedenen Konsumentengruppen schließlich ein vollständigeres Bild voneinander erhalten.
Wir müssen mehr tun, um in Amerika die Voreingenommenheit zu überwinden, die
zu Rassenverunglimpfungen oder gar zu durch Hass motivierten Übergriffen führt. Sie
macht es möglich, dass mit einfachem Achselzucken über die offen gegen die oberste Bundesrichterin Sonia Sotomayor vorgetragenen Vorurteile hinweggegangen wird statt dagegen die Stimme zu erheben.
Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen:
1. Das Diversitätskonzept muss in den Redaktionen ernst genommen werden. Noch
immer scheint es selbst für gute Journalisten eine Art »Malen-nach-Zahlen-Spiel« zu
sein: Man nehme eine Palette an Farben, bearbeite einen Artikel mit ein paar ethnischen Tupfern – und schon glaubt man, die Vielfalt der Gesellschaft sei abgebildet.
Doch das ist ein zu oberflächlicher Ansatz.
34
35
www.spj.org/divsourcebook.asp.
http://www.maynardije.org/faultlines.
59
S A L LY L E H R M A N
2. Wir müssen unsere Leser daran erinnern, dass die heutigen USA auf dem Fundament
der Diversität gegründet wurden, auch wenn dies nicht unbedingt immer harmonisch
ablief. Schon sehr lange haben Schwarze und Hispanos einen Großteil der amerikanischen Bevölkerung ausgemacht. Doch über Jahrhunderte war es ihnen aufgrund von
Gesetzen, Richtlinien und Verfahrensweisen nur begrenzt möglich, Land zu besitzen
oder Vermögen aufzubauen. Die ersten Siedler bevorzugten weiße Landbesitzer in politischen Ämtern und öffentlichen Einrichtungen und in Ansätzen ist dies heute immer
noch spürbar. An der Santa Clara University und der San Francisco State University wird
zurzeit ein Programm ausgearbeitet, das Journalisten helfen soll, über systemische Ungleichbehandlung und erlebte Erfahrungen bezüglich rassischer und ethnischer Hierarchien in den USA zu berichten. Reporter sollen lernen, die in den Richtlinien und
Verfahrensweisen von öffentlichen Institutionen eingebauten Ansätze zur Förderung
der Gleichberechtigung und Teilhabe im Zusammenhang mit Themen wie Bildung,
Regierungs- oder Gesundheitswesen abzubilden.
Im Bereich des US-Gesundheitswesens arbeitende Journalisten beispielsweise haben schon
darüber berichtet, wie groß die Unterschiede in der Lebenserwartung bei Schwarzen, Latinos der zweiten Generation und Weißen in den USA sind. In einem nächsten Schritt
könnten sie darüber berichten, wie sich das Erleben von Rassismus auf Stress und Herzkrankheiten auswirkt. Sie könnten über die Zusammenhänge zwischen Problemvierteln
und Fettleibigkeit schreiben. Sie könnten die geografischen Zusammenhänge zwischen
Asthma im Kindesalter, verfallenden Schulen und industrieller Umweltverschmutzung
kartografieren, die betrachtet nach Hautfarbe und Einkommen jeweils ganz unterschiedlich aussähen. In Alameda County, Kalifornien, zum Beispiel, haben die Gesundheitsbehörden herausgefunden, dass Menschen, die in den wohlhabenderen Hügelvierteln leben, eine
um zehn Jahre höhere Lebenserwartung haben als diejenigen in den ärmeren Gebieten der
Ebene – das sind die Viertel, in denen die Anzahl der schwarzen Bürger überwiegt.
Wir neigen dazu, Probleme in der amerikanischen Gesellschaft als individueller Natur zu
beschreiben. Dadurch wird es oft schwierig zu erkennen, wie diese Probleme angegangen
werden müssen. Journalisten, die sich zur Verdeutlichung von Themen und Sachverhalten gern persönlicher Geschichten und dramatischer Schilderungen bedienen, müssen
sich darin üben, die diesen zugrunde liegenden Strukturen aufzuzeigen. Sie müssen sich
Folgendes fragen lernen:
Was steht hinter dem Einzelnen oder einer Institution?
Wie hat Geschichte für einige in der Gesellschaft Chancen gestaltet?
Warum nicht auch für die Anderen?
Inwieweit wirft sie noch heute Grenzen für einige auf?
60
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Wenn Journalisten ihre Arbeit auf diese Weise angehen, ist es ihnen möglich, die ineinandergreifenden und voneinander abhängigen Kräfte aufzuzeigen, die eine individuelle
Entscheidungsfindung vorantreiben oder erschweren. Sie können die Möglichkeiten
für eine kohärente Sozialpolitik hervorheben, die Gerechtigkeit fördert. Das Bemühen
um eine Berichterstattung aus unterschiedlichsten Perspektiven heraus ist wichtig, doch
sollten Journalisten auch damit anfangen, genauer die Umstände zu analysieren, die das
Leben Einzelner – abhängig von Rasse oder Ethnizität – beeinflussen.
Schlussbemerkung
Aktuell nimmt die Zahl an Rassen und Religionen in Amerika und Deutschland sogar
immer noch weiter zu. Wenn die Berichterstattung nicht besser wird, werden wir möglicherweise Zeugen sich verstärkender Konflikte oder gar offener Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen Gruppen. Ist es Aufgabe des Journalisten, gegen Fremdenangst
und Naivität anzugehen? Meiner Meinung nach ja! In den USA beziehen Journalisten
keine Stellung zu einwanderungspolitischen Fragen oder Diskriminierungsvorwürfen.
Doch sind wir der Überzeugung, dass es unsere Aufgabe ist, der Demokratie zu dienen: Das bedeutet, dass wir die Vielfalt aller Menschen und Bevölkerungsgruppen, deren
Leben, Arbeit und Freizeit in den USA stattfindet, in unsere Berichterstattung einbinden
müssen.
61
III. Der öffentliche Rundfunk
und die Migranten:
Medienrezeptionsforschung
und Programmplanung
GEORG RUHRMANN
Medienrezeption und Migration
Aktuelle Forschungsergebnisse und -perspektiven
VON GEORG RUHRMANN
1. Vorbemerkung
Über Jahrzehnte hinweg hatte die Politik das Thema Integration von Migranten nicht
behandelt. Heute weiß man besser als früher, dass gerade bei den großen Volksparteien,
aber auch bei den Grünen diese Ignoranz unter anderem auch ideologisch motiviert war.
Historisch ist dies jedenfalls noch nicht aufgearbeitet.1 Zumindest aus wissenschaftlicher
Perspektive lässt sich nun auch feststellen: Das sozialwissenschaftliche Wissen über Integration2 braucht in der Bundesrepublik Deutschland – wie man etwa in der Literatur der
angewandten und auch Medienforschung lesen kann3 – bis zu vierzig Jahre, um in die
Kalküle von Entscheidern, Wirtschaft und Politik einzugehen.
Heute operieren die Verantwortlichen in Unternehmen, Rundfunkhäusern und in Ministerien tatsächlich mit einem anspruchsvolleren Begriff und Konzept der Integration
– das ist ein Fortschritt! Sie war über Jahrzehnte hinweg nur soziologischen Kennern vorbehalten. Gleichwohl ist das im Land der Dichter, Denker, Juristen und Diplomingenieure ein seltsamer Befund: Denn im Bereich der Naturwissenschaft – von der Bio- bis hin
zur Nanotechnologie – wäre so ein time lag zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen
und praktischen Verwendungen undenkbar. Nicht zuletzt, weil ein solcher Erkenntnisverzicht auch unverantwortlich ist.
Migration und Integration, das Eigene und das Fremde sind heute ganz selbstverständliche und zentrale Themen der politischen Kommunikation sowie der aktuellen Berichterstattung in Presse, Rundfunk und Internet. Die im Westen durch die Werte der Aufklä1
Über lange Zeit ließ sich feststellen, dass Konzepte und Theorien von Integration – sei es nun von Lockwood in
den 1960er Jahren oder Giddens, Lash oder Beck in den 1980er Jahren – häufig nicht verwendet (und verstanden)
wurden. Inzwischen wird das Integrationsthema in Deutschland auf vergleichsweise hohem Niveau auf Regierungsebene behandelt. Siehe statt anderer: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
u. a.: Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege, Neue Chancen. Berlin 2007. Vgl. statt anderer Flam, H. (Hg.):
Migranten in Deutschland. Statistiken – Fakten – Diskurse. Konstanz 2007.
2
Siehe dazu Berry, J. W./Phinney, J. S./Sam, D. L./Vedder, P.: »Immigrant Youth: Acculturation, Identity, and Adaption.« In: Applied Psychology. An International Review 55, 3/2006. S. 303-332. Zum größeren sozialwissenschaftlich
und von der Kommunikationspraxis inspirierten Diskurs vgl. statt anderer die Beiträge in Chervel, T./Seeliger, A.
(Hg.): Islam in Europa. Eine internationale Debatte. Frankfurt 2007. Beck, U.: Der eigene Gott. Friedensfähigkeit
und Gewaltpotential von Religionen. Frankfurt 2008. Weidner, S.: Manual für den Kampf der Kulturen. Warum der
Islam eine Herausforderung ist. Ein Versuch. Frankfurt/Leipzig 2008. Sieprath, M.: »Fürchtet euch nicht vor neuen
Technologien. Öffentliches Leiden und Sterben des Medienpapstes. Die Medien als Stimulanzfaktor einer kurzfristigen Massenbewegung.« In: Sieprath, M. E. (Hg.): Religion und Massenmedien. Berlin 2009. S. 11-32.
3
Vgl. Trebbe, J./Weiß, H. J.: »Integration als Mediennutzungsmotiv? Eine Typologie junger türkischer Erwachsener
in Nordhrein-Westfalen.« In: Media Perspektiven, 9/2007. S. 136-141.
64
M E D I E N R E Z E P T I O N U N D M I G R AT I O N
rung motivierte Verständigung zwischen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen
kann gelingen: Eine Bedingung hierfür ist, dass Medien ausgewogen und kritisch, das
heißt, dass sie journalistisch berichten.
Nachfolgend wird zunächst ganz allgemein die Rolle der Medien anhand von zwei klassischen Modellen diskutiert (vgl. Kap. 2). Bevor die Mediennutzung und -rezeption von
Migranten zur Sprache kommen (vgl. Kap. 2.2), werden zunächst allgemein – und weitgehend nicht spezifisch für Menschen mit Migrationshintergrund – solche Wirkungen
von Medien diskutiert, die desintegrative Folgen haben können und als Medienwirkung
immer wieder besonders prominent diskutiert werden: Die Gewalt im Fernsehen und im
Netz (vgl. Kap. 2.1).
2. Zur Rolle der Medien
Seit über sechzig Jahren untersuchen amerikanische Kommunikationswissenschaftler,
wie Medien die Verständigung zwischen den Kulturen, Religionen und Weltanschauungen beeinflussen können. Dabei werden klassischerweise immer zwei Modellvorstellungen des Verhältnisses von Medien und Wirklichkeit hervorgehoben.4 Einerseits repräsentieren Medien Prozesse der Migration und das Verhalten einzelner Migranten. Nach
diesem Repräsentationsmodell bilden die Medien die soziale Wirklichkeit ab, Medien fungieren quasi als Chronisten des Zeitgeschehens.
Andererseits (und zugleich) akzentuieren und bewerten Presse, Fernsehen und Internet
gerade solche Ereignisse, die für desintegrative Tendenzen stehen, wie in unserem Falle
fremdenfeindliche Anschläge, Kriminalität von Ausländern oder Konflikte zwischen Jugendbanden mit Migrationshintergrund. Hierbei spricht man vom Instrumentalmodell.
Dies können Medienereignisse par exellence sein – only bad news are good news. Gerade im
Kontext von Migration und Migrationspolitik – aber auch in Zeiten des Wahlkampfes,
bei zentralen gesellschaftlichen Kontroversen und Konfliktlagen oder auch bei Kampagnen gegen einzelne Firmen oder Politiker – lässt sich das Instrumentalmodell der Medien
veranschaulichen.
2.1 Exkurs 1: Medienwirkungen – das Beispiel Gewalt
Ähnliches lässt sich auch für das größere Thema von Gewaltwirkungen im Fernsehen annehmen. Dazu existieren eine Reihe von Ansätzen und Konzepten, die von der Beschreibung ästhetischer Funktionen der Gewaltdarstellungen, über evolutions- und emotions-
4
Siehe dazu aus der Perspektive der Geschichte der Inhaltsanalyse als Methode, bei der von einem Text auf ei-nen
Kontext der sozialen Wirklichkeit geschlossen wird statt anderer: Inglis, R.: »An Objective Approach to the Relation
between Fiction and Society.« In: American Sociological Review 3/1938. S. 526-533. Berelson, B./Salter, P.: »Majority
and Minority Americans: An Analysis of Magazine Fictions.« In: Public Opinion Quarterly 10/1946. S. 168-190.
Merten, K.: Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. Opladen 1995.
65
GEORG RUHRMANN
theoretische Gründe bis hin zur Motivations- und Sozialpsychologie reichen.5 Sie wurden
bisher kaum für einzelne Migrantengruppen spezifiziert;6 die internationale Forschung
konzentriert sich häufiger auch auf die eher integrativen Wirkungen der Mediennutzung
von Immigranten.7
2.1.1 Fernsehen
Wie bei psychosozialen Risikogruppen8 kann auch bei Gruppen mit Migrationshintergrund
vermutet werden, dass Gewaltfilmkonsum mit einem Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit zusammenhängt.9 Jugendliche konsumieren Gewalt, um mitreden zu können. Ein weiteres Nutzungsmotiv stellt Angstbewältigung und Angstlust dar. Auch unabhängig vom
Migrationshintergrund schauen angstneurotische Patienten besonders häufig angsterregende
Inhalte im Fernsehen.10 Eine Reihe von Studien zeigen, dass sich Individuen mit aggressiven
Prädispositionen bevorzugt TV-Programmen mit Gewalt zuwenden. Dabei ist relevant zu
fragen, ob die im Fernsehen gezeigten Gewaltdarstellungen die Gewaltbereitschaft der Zuschauer steigern und welche Prozesse einer möglichen Wirkung zugrundeliegen.
Metaanalysen zeigen, dass Mediengewalt eine verstärkende Wirkung auf das aggressive
Verhalten hat.11 Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Gewalt als effektives Mittel der Zielerreichung dargestellt wird, wenn die gezeigte Gewalt absichtsvoll ist,
Häufiger Konsum von
wenn sie die Identifikation mit dem Täter ermöglicht und wenn der
TV-Gewalt verändert die
Einstellung zur Gewalt.
Zuschauer bei der Rezeption selbst emotional erregt ist, etwa in Form
von Freude, Ärger, Frustration oder Wut. Die Erregung überträgt
sich quasi auf den Zuschauer. Häufiger Konsum von TV-Gewalt verändert die Einstellung zur Gewalt: So werden von TV-Vielsehern Gewalt und Kriminalität in der sozialen
Wirklichkeit überschätzt.
Die Medienwirkungsforschung analysiert seit langem die relevanten Einflussvariablen und
versucht sie aufeinander zu beziehen: Personale Merkmale wie Alter, psychosozialer Entwicklungsstand, Persönlichkeitsstruktur (vor allem eine aggressive Persönlichkeit) sowie
Selbstwertgefühl beeinflussen die Wirkung von Gewalt. Hinzu kommt das Geschlecht der
5
Vgl. Murray, J. P.: »Media Violence. The Effects are both real and strong.« In: American Behavioral Scientiest,
51/2008. S. 1212-1230.
Vgl. Feshbach, S./Tangney, J.: »Television Viewing and Aggression: Some Alternative Perspectives.« In: Perspectives
on Psychological Science, 3/2008. S. 387-389.
7
Vgl. statt anderer Elias, N./Lemish, D.: »Media Uses in Immigrant Families: Torn between ‚Inward‘ and ‚Outward‘
Paths of Integration.« In: International Communication Gazette, 70/2008. S. 21-40. Elias, N./Lemish, D.: »Spinning
the web of identity: the roles of the internet in the lifes of immigrant adolescents.« In: New Media & Society, 11/2009.
S. 533-551. Yagmurlu, B./Sanson, A.: »Acculturation and Parenting Among Turkish Mothers in Australia.« In:
Journal of Cross-Cultural Psychology, 40/2009. S. 361-380. Ogan, C./Ozakca, M.: »A Bridge Across the Bosphorus:
Returned Migrants, their Internet and Media Use and Social Capital.« In: Social Science Computer Review, 28/2010.
S. 118-134.
8
Vgl. Comstock, G.: »A Sociological Perspective on Television Violence and Aggression.« In: Behavioral Scientist,
51/2008. S. 1184-1211.
9
Vgl. Leudar, I./Hayes, J./Nekvapil, J./Baker, J. T.: »Hostility themes in media, community and refugee narratives.«
In: Discourse & Society, 19/2008. S. 187-221.
10
Vgl. Vitouch, P.: Fernsehen und Angstbewältigung. Zur Typologie des Zuschauerverhaltens. Wiesbaden 2007.
11
Vgl. statt anderer Savage, J./Yancey, C.: »The Effects of Media Violence Exposure On Criminal Aggression: A MetaAnalysis.« In: Criminal Justice and Behavior, 35/2008, S. 772-791.
6
66
M E D I E N R E Z E P T I O N U N D M I G R AT I O N
Nutzer; bei gewalthaltigen Computerspielen wurden in manchen Untersuchungen für Männer stärkere Wirkungen gefunden als für Frauen (vgl. Abschnitt 2.1.2). Gerade bei jüngeren
Menschen ist das soziale Umfeld bedeutsam: Familie, Schule und gleichaltrige Gruppen moderieren bei jungen Menschen die Entstehung aggressiven Verhaltens. Besteht Gewalt in Familien, präferieren Kinder und Jugendliche stärker gewalthaltige Inhalte. Zu den situativen
Merkmalen zählen: bestimmte Hinweisreize, etwa aggressive Wörter oder vorhandene reale
Waffen. Hinzu kommen Einflussgrößen: Der Konsum von Drogen bzw. Alkohol. Schließlich und eben nicht an vorderster Stelle sind die Gewaltdarstellungen in den Medien selbst
zu nennen: ein feindseliger Attributionsstil – wie er etwa in Nachrichten privatkommerzieller Sender12 oder aber auch in fiktionalen Programmen des Fernsehens auftritt – kann zur
verstärkten Gewaltwirkung führen. Hinzu kommt die Ausbildung und Verstärkung stark
normativer Überzeugungen aufgrund und mittels gewalthaltiger Darstellungen.
Die Wechselwirkungen der Faktoren verweisen darauf, dass je nach personalen Merkmalen des Individuums unterschiedlich ausgeprägtes und intensives aggressives Verhalten
evoziert wird. Medien wirken für unterschiedliche Individuen unterschiedlich und spezifisch.13 In der (medien)politisch erhitzten Diskussion wird dies häufig ignoriert oder verkannt, wenn man pauschale, flächendeckende und starke Medienwirkungen unterstellt.
2.1.2 Gewalt im Internet sowie bei digitalen Spielen und ihre Wirkungen
Internet bzw. digitale Spiele sind im Unterschied zum Fernsehen interaktiv, ein Kommunikationspartner ist zumindest virtuell präsent. Die Interaktion kann partiell anonym
ablaufen und die Kommunikationsbeziehung verläuft synchron nonZwischen Anspruch
verbal und verbal. Was sind die Besonderheiten in Bezug auf Gewalt? und Wirklichkeit
Das lässt sich hier nur facettenartig darstellen: Im Internet werden un- strafrechtlicher
Sanktion von gewaltzensiert besonders brutale Bilder gezeigt (z. B. auf Videoplattformen), verherrlichenden und
die in anderen Medien nicht zuletzt aufgrund journalistischer Stan- verfassungsfeinddards und anderer Selektionskontrollen – etwa der institutionalisierten lichen Inhalten liegt
in Deutschland eine
Medienaufsicht – nicht dargestellt werden (können) bzw. undenkbar große Kluft.
sind. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit strafrechtlicher Sanktion
von gewaltverherrlichenden und verfassungsfeindlichen Inhalten liegt in Deutschland aus
einer Reihe von Gründen eine große Kluft. 14
12
Vgl. Ruhrmann, G./Sommer, D./Klietsch, H./Niezel, P.: Medienrezeption in der Einwanderungsgesellschaft. Eine
vergleichende Studie zur Wirkung von TV-Nachrichten. Mainz 2007. Maier, M./Ruhrmann G.: »Celebrities in Action and other News. News factors of German TV news 1992-2004. Results from a Content Analysis.« In: Human
Communication 11, 2/ 2008. S. 197-214.
13
Anderson, C. A. et al.: »The Influence of Media Violence on Youth.« In: Psychological Science in the Public Interest,
4/2003. S. 81-110. Douglas, A. u. a.: »The Effects of Prosocial Video Games on Prosocial Behaviors: International
Evidence From Correlational, Longitudinal, and Experimental Studies.« In: Personality and Social Psychology Bulletin, 35/2009. S. 752-763.
14
Vor allem fehlen qualifizierte Experten. Die technische Ausstattung ist häufig veraltet. Die juristische Bewertung
verliert häufig aufgrund des Zeitverzuges zwischen Angebot und Prüfung an Validität. Auch organisatorische Ressourcen fehlen. Und es mangelt auch an einer entsprechenden politischen Kommunikationskultur entsprechender
Einrichtungen.
67
GEORG RUHRMANN
Was die Wirkung anbetrifft, fördert vorhandene Aggressivität, das sensation seeking, das
mit dem Konsum gewalthaltiger Inhalte korreliert. Entscheidend sind Entfremdung von
Familie und Schule, die gerade auch bei männlichen Jugendlichen zu veränderten Wahrnehmungen von Wirklichkeit, zur fortschreitenden Vereinsamung und psychosozialen
Verelendung führen und nach bisherigen Erkenntnissen die Nutzung gewalthaltiger
Websites erklären können.15
Man folgert also, dass man aufgrund der Kenntnisse personaler, situativer und sozialer
Einflussfaktoren Problemgruppen identifizieren kann. Dabei handelt es sich um Kinder
und Jugendliche, die für die negativen Einflüsse von Gewalthinhalten besonders empfänglich sind. Diese High Risk Players sind nach Untersuchungen von D. Gentile/C. A.
Anderson aus dem Jahre 2003 sowie von J.B. Funk aus dem Jahre 2004 Jugendliche bzw.
Kinder unter 11 Jahren mit einem wenig stabilen Wertesystem und geringem Unterscheidungsvermögen im Umgang mit Fiktion und Realität.16 Die elterliche Regulierung des
Medienverhaltens fehlt, insbesondere beim Umgang mit dem Netz.17 Dominant ist auch
ein exzessiver Computerspielkonsum mit Suchtverhalten und starker Präferenz von gewalthaltigen Spielen. Die Mitglieder dieser Risikogruppen zeichnen sich aus durch geringe Problemlösungsfähigkeiten in der realen sozialen Interaktion, Probleme bei der Affektregulation, geringe Empathie, Schuldgefühle, fehlende moralische Standards sowie
geringe Frustrationstoleranz und leichte Reizbarkeit.
2.2 Mediennutzung und -rezeption von Migranten
Im letzten Jahrzehnt haben gerade Wirtschaft und Politik postuliert: Integration kann nur
dann gelingen, wenn Medien ausgewogen und kritisch berichten. Doch was bewirkt diese
Berichterstattung? Lassen sich die Mehrheitsgesellschaft, aber auch die Migranten selbst
beeinflussen? Dazu bedarf es einer profunden Rezeptionsforschung. Doch in Deutschland
gibt es bisher keine große Tradition der Erforschung der Wirkung von Berichterstattung auf
das Publikum. Gleichwohl existieren (für andere Themen) natürlich fortgeschrittene Bemühungen und einzelne gute, ja exzellente Beispiele. Zumeist stammen aber die relevanten
Impulse für die Medienwirkungsforschung aus den USA, insbesondere auch zum Thema
von Gewalt im Fernsehen und im Netz und ihre Wirkung auf bestimmte Risikogruppen.18
Gleichwohl sind allerdings in den letzten Jahren auch in Deutschland beim Thema Integration mit der großen ARD/ZDF-Studie Migranten und Medien (2007) sowie weiteren kleineren
15
Vgl. Williams, D.: »Virtual Cultivation: Online Worlds, Offline Perceptions.« In: Journal of Communication 56,
1/2006. S. 69-87.
Vgl. Gentile, D./Anderson, C. A.: »Violent video games: The newest media hazard.« In: Gentile, D. (Hg.): Media
violence and children. Wesport CT 2003. S. 131-153. Funk, J. B. u. a.: »Violence exposure in real-live, video games,
television movies and the internet: Is there desenistization?« In: Journal of Adolescence, 27/2004. S. 23-39.
17
Vgl. Anderson, C. A.: »An update on the effects of playing violent video games.« In: Journal of Adolescence. 27/2004.
S. 113-122.
18
Vgl. Bryant, J./Oliver, M. B.: Media Effects: Advances in Theory and Research. New York 2009.
16
68
M E D I E N R E Z E P T I O N U N D M I G R AT I O N
Detailuntersuchungen zur Medienrezeption erste Wegmarken gesetzt worden.19 Migranten
werden nun innerhalb ihrer Lebensstile und Milieus als »Zielgruppe« analysiert und identifiziert. Die Mediennutzungsforschung geht im Kern von einem aktiven Publikum aus,
welches sich die Medieninhalte nach seinen Bedürfnissen aussucht. Nutzungsstudien zeigen
individuelle und individualisierte Selektions- und Motivationsmuster im Medienkonsum. Die
Fernsehanbieter setzen dieses Wissen in Programmmarketing und Programmplanung mit
unterschiedlichen Akzenten nun auch gezielt beim Thema Migration und Integration um.20
Die 13. Trialog der Kulturen-Konferenz hat daher ganz konkret gefragt, wie »Inländer«
und Einwanderer die öffentliche Debatte über Migration und Integration bzw. entsprechende Medieninhalte nutzen, aufnehmen und verstehen. Wie empfinden in Deutschland
lebende Migranten das Informationsangebot der deutschen Medien? Inwieweit fühlen
sie sich hier berücksichtigt und adäquat repräsentiert? Welche Einflüsse haben Einstellungen, Haltungen und Vorwissen auf die Präferenz und Rezeption bestimmter Inhalte?
Dabei soll gezeigt werden, dass Medien nicht einfach »wirken«; die Rezipienten lassen
sie wirken. Der Stellenwert von Mediennutzung als Gradmesser für Integration soll in
Forschung und Politik differenzierter betrachtet werden – dazu will der vorliegende Artikel beitragen. Denn wenn wir über die Nutzung, Rezeption und Wirkung von Programmen zur Migration über Integration mehr wissen, lässt sich gezielter eine Kommunikationspolitik betreiben, die nicht nur gut gemeint, sondern auch gut gemacht ist. Ziel
der weiteren Ausführungen ist es, überblicksartig Beispiele der Mediennutzungs- und
Rezeptionsforschung zum Thema Migration vorzustellen bzw. auf relevante Arbeiten zu
verweisen. Dabei geht es eher um allgemeine Tendenzen der Forschungsentwicklung –
ein Anspruch auf Vollständigkeit kann und soll an dieser Stelle nicht gegeben werden.21
3. Studien zur Mediennutzung und -rezeption
Welche Medien nutzen Migranten? Dieser Frage gehen häufig Studien gerade der angewandten Medienforschung nach. Die Untersuchungen werden oft von den TV-Anstalten
selbst beauftragt und durchgeführt. Vorteilhaft erweisen sich dabei große und bezogen
auf die klassische Zielgruppenforschung auch repräsentative Stichproben.22
19
Vgl. statt anderer Ruhrmann, G./Sommer, D./Klietsch, H./Niezel, P.: Medienrezeption in der Einwanderungsgesellschaft. Eine vergleichende Studie zur Wirkung von TV-Nachrichten, Mainz 2007. Sauer: »Mediennutzungsmotive
türkeistämmiger Migranten in Deutschland.«
20
Vgl. ARD/ZDF: Migranten und Medien. Ergebnisse einer repräsentativen Studie der ARD/ZDF-Medienkommission. Frankfurt, Mainz 2007. Simon, E.: »Migranten und Medien 2007. Zielsetzung, Konzeption und Basisdaten
einer repräsentativen Studie der ARD/ZDF-Medienkommission.« In: Media Perspektiven, 9/2007. S. 426-435.
21
Siehe dazu allein nur zu neueren Überblicken statt anderer: Bonfadelli , H.: »Die Darstellung ethnischer Minderheiten
in den Massenmedien.« In: Bonfadelli, H./Moser, H. (Hg.): Medien und Migration. Europa als multikultureller Raum.
Wiesbaden 2007. S. 147-182. Geißler, R./Pöttker (Hg.): Media, Migration, Integration. European and North American
Perspectives. Bielefeld, New Brunswick, London 2009. Ruhrmann, G.: Migranten und Medien. Dokumentation zum
Forschungsstand der wichtigsten Studien über die Mediendarstellung, Nutzung und Rezeption von Migranten und ethnischen Minderheiten von 2003 bis 2009 (mit F. Schulz und S. Eckardt). Jena, Köln 2009b (Online). Bucher, P./Piga, A.:
»Medien und Migration – ein Überblick.« In: Dahinden, U./Süss, D. (Hg.): Medienrealitäten. Konstanz 2009. S. 33-50.
22
Vgl. ARD/ZDF: Migranten und Medien.
69
GEORG RUHRMANN
Junge Migranten der
zweiten und dritten
Generation sind eine
von den Medien leichter
erreichbare Gruppe.
Dennoch fällt auf, dass die ethnische Vielfalt der Migranten meistens
nicht repräsentativ untersucht wird. Auch die aus der sozialpsychologischen Forschung bekannten Inter- und Intragruppenunterschiede der
jeweiligen Migrantengruppen werden eher selten beachtet. Die erste
Generation bzw. ältere Migranten sind vergleichsweise schlecht erforscht. Im Wesentlichen
liegt das an Sprachbarrieren. Diese Migrantengruppen sind allgemein schlechter integriert.
Hingegen sind junge Migranten der zweiten und dritten Generation eine von den Medien
leichter erreichbare Gruppe. Nachweisbar ist der Zusammenhang zwischen Bildung, Sprache, politischem Interesse sowie Motiven der Mediennutzung mit dem Grad der Integration.
3.1 ARD/ZDF-Studie Migration und Medien
Es ist das große Verdienst von ARD und ZDF, eine erste bundesweit repräsentative Untersuchung zum Stellenwert deutscher und heimatsprachiger Medien, vor allem der elektronischen
Medien bei in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund, das sind ca. 15,3
Millionen oder ca. zwanzig Prozent der Bevölkerung vorgelegt zu haben.23 Aus der Fülle der
komplexen und relevanten Befunde, lassen sich exemplarisch folgende herausgreifen:
1. Es existiert keine ausgeprägte mediale Parallelgesellschaft. Dies war immer wieder von
besorgten Kultur- und Medienkritikern, nicht zuletzt auch mit Blick auf Migrantenmedien behauptet worden. Dieser Befund ist auch deshalb wichtig, da er zeigt, dass
Integration und Desintegration ein soziales und sozialstrukturelles24 sowie auch ein entwicklungs- und sozialpsychologisches Problem ist.25 Erst daraus kann dann auch eine
Frage der Mediennutzung und -wirkung abgeleitet werden.
2. Für die Nutzung deutscher Medien sind Sprachkenntnisse unabdingbar. Überhaupt ist
die Rolle der Sprache für eine umfassende Integration, für den Erfolg materieller und
kultureller Teilhabe, aber auch für das Verständnis, die Toleranz und Weiter-entwicklung
gesellschaftlicher Werte zentral.26 Politik und Parteien wollten bis in die 1990er Jahre Integration eher nur als Addition oder unspezifizierte Multiplikation von Kulturen begreifen. Integration jedoch ist ein konflikt- und spannungsreicher Prozess, in dem Migranten
einerseits ein umfassender sozialer und kultureller Kontakt zur Aufnahmegesellschaft
gelingt, sie andererseits aber auch die eigene kulturelle Identität nicht verlieren.27
23
Simon: Migranten und Medien 2007.
Vgl. Geissler/Pöttker: Media, Migration, Integration.
25
Vgl. Berry u. a.: Immigrant Youth.
26
Vgl. Gorham, B. W.: »News Media’s Relationship with Stereotyping. The Linguistic Intergroup Bias in Response to
Crime News.« In: Journal of Communication, 56, 2/2006. S. 289-308. Ruhrmann, G.: »Migranten und Medien. Stationen der Kommunikationsforschung.« In: Herbert Quandt-Stiftung (Hg.): Migration und Medien – 12. Trialog der
Kulturen. Bad Homburg v. d. Höhe 2009a. S. 26-38. Ruhrmann, G./Sommer, D.: »Vorurteile und Diskriminierung
in den Medien.« In: Beelmann, A./Jonas, K. (Hg.): Diskriminierung und Toleranz: Psychologische Grundlagen und
Anwendungsperspektiven. Wiesbaden 2009. S. 419-434.
27
Vgl. Berry u. a.: Immigrant Youth.
24
70
M E D I E N R E Z E P T I O N U N D M I G R AT I O N
Produktion einer türkischen Zeitung in Mörfelden-Walldorf
3. Indes ist die Relevanz heimatsprachiger Medien sehr spezifisch und hängt von der Herkunft, vom Alter, von der Bildung, von der jeweiligen biografischen Situation ab. Auch
die journalistische Qualität der Medienangebote ist entscheidend. Dies zeigen nicht zuletzt auch die Untersuchungen von Migranten-Medien selbst.28
4. Bestätigt wird der Befund, dass Fernsehen auch für Migranten – wie für die Inländer –
als Leitmedium und Unterhaltungsmedium fungiert. Viel zu lange hatte sich die Kommunikationsforschung, aber auch die politische Diskussion auf die Rolle der Presse, die
nach wie vor wichtig ist (vgl. Punkt 6) konzentriert und dabei übersehen, dass es gerade
das Fernsehen ist, in dem Identifikationspotenziale und Rollenvorbilder aufgebaut bzw.
vorgelebt werden.
5. Damit ist zugleich die Frage aufgeworfen, wie das Internet genutzt wird. Auch hier
zeigt sich, dass das Internet vor allem für jüngere Migranten relevant ist: für die Alltagskommunikation zwischen Familie, Freunden, Peergroups und Netzwerken aller Art. 29
28
Kosnick, K.: Migrant Media. Turkish Broadcasting and Multicultural Politics in Berlin. Bloomington (IN) 2007.
Müller, D.: »Von der ‚Parallelgesellschaft’ zur pragmatisch-kulturellen Öffentlichkeit. Die Bedeutung des Medienverhaltens der türkischen Einwanderung für den Integrationsprozess.« In: Herbert Quandt-Stiftung (Hg.): Migration und Medien – 12. Trialog der Kulturen. Bad Homburg v. d. Höhe 2009. S. 60-74.
29
Vgl. Enders, K./Weibert, A.: »Identität im Social Web. Von der Bedeutung der Ethnizität für den gesellschaftlichen Eingliederungsprozess im digitalen Medienumbruch.« In: Geißler, R./Pöttker, G. (Hg.): Massenmedien und
die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland. Forschungsbefunde. Bielefeld 2009. S. 333-350. Heise, N./
Schmidt, S.: »Muslimische Weblogs im deutschsprachigen Internet.« In: Herbert Quandt-Stiftung (Hg.): Migration
und Medien – 12. Trialog der Kulturen. Bad Homburg v. d. Höhe 2009. S. 125-136.
71
GEORG RUHRMANN
6. Gerade die für die lokale und regionale Integration nicht unwichtige Zeitungslektüre
ist in hohem Maß abhängig von Sprachkenntnissen. Das ist auch deshalb relevant, weil
den deutschen Regional- und Lokalzeitungen – noch immer – ein signifikantes publizistisches Potenzial und ein vergleichsweise hohes journalistisches Niveau bescheinigt
werden kann.
3.2 Medienrezeption in der Einwanderungsgesellschaft
Unter diesem Titel versucht eine eigene Studie, vergleichend Urteile von Inländern und
Migranten bei der Rezeption des Themas Migration in ausgewählten TV-Nachrichtensendungen zu analysieren.30 Verknüpft werden dabei Befragungen zur Mediennutzung
von Migranten mit Rezeptionsexperimenten, die zeigen, wie die jeweiligen Gruppen verschiedene Nachrichten einstellungsbedingt nutzen und rezipieren.
=XVFKDXHU
Inländer
Migranten
Bezugnahme
Instrument:
Inhaltsanalyse
1. Instrument: Zuschauerbefragung (Inländer+Migranten)
2. Instrument: Rezeptionsexperimente
(Inländer+Migranten)
5HNRQVWUXNWLRQHQGHU=XVFKDXHU
‡(LQVWHOOXQJHQ‡:LVVHQ‡%HZHUWXQJ
30
Vgl. Ruhrmann u. a.: Medienrezeption in der Einwanderungsgesellschaft.
72
bereits
abgeschlossen
791DFKULFKWHQEHU0LJUDQWHQ1 Bezugnahme
bereits
abgeschlossen
Gesamtdesign des Projekts
M E D I E N R E Z E P T I O N U N D M I G R AT I O N
Zunächst wurden TV-Nachrichten über Migranten umfassend analysiert und typisiert.
Als Ergebnis erhält man Prototypen von Nachrichten, die jeweils hinsichtlich relevanter
inhaltlicher Merkmale (Akteure, Thema, Problemdefinition, Bewertungen, Zurechnungen, Lösungsvorschläge) in sich homogen sind, sich voneinander aber deutlich unterscheiden. Die Zuschauer bekommen dann in einem Quasi-Experiment ausgewählte Meldungen gezeigt. Analysiert wurden die Wirkungen dieser Meldungen auf den Zuschauer.
Etwa indem die Erinnerung an die Meldung abgefragt oder geprüft wurde, wie korrekt
sich die Zuschauer an Einzelheiten der gesehenen Meldung erinnern können.
Darüber hinaus interessierten die Einstellungen sowie die Mediennutzungsgewohnheiten
der Befragten – wie in der ARD-/ZDF-Studie für Deutschland repräsentativ dargestellt.
Schließlich ging es in der vorliegenden Studie um Vergleiche zwischen Inländern und
Migranten hinsichtlich der Medienwirkung.
Obwohl der vorurteilslösende Effekt von medial gezeigtem Kontakt zwischen Migranten
und Inländern bekannt ist, wurde er für die Medienberichterstattung (im Fernsehen) bisher nicht nachgewiesen. Auch dies wird in der vorliegenden Studie erstmals am Beispiel
von TV-Nachrichten untersucht.31
Medienwirkung ist einstellungsbedingt. Die Studie zeigt auf, welche Rezipienten sich
welche Nachrichten wie anschauen – und zwar Inländer und Migranten. Solche vergleichenden Untersuchungen wurden bisher kaum durchgeführt. Explizit wird gefragt, wie
die in Deutschland lebenden Migranten die Berichterstattung über sich selbst empfinden.
Inwieweit fühlen sie sich hier berücksichtigt und adäquat repräsentiert? Wie erinnern
und bewerten sie Fernsehnachrichten über ihre Eigengruppe? Inwiefern unterscheidet
sich diese Wirkung von dem Einfluss des Fernsehens auf die deutsche Bevölkerung? Und:
Wie nehmen unterschiedliche Migrantengruppen deutsche TV-Nachrichten wahr? Die
durchgeführten Befragungen verstehen sich als eine Pilotstudie. Für ein Sample von migrantischen und inländischen Meinungsführern zeigt sich:32
1. Migranten präferieren die privatkommerziellen TV-Sender. Dementsprechend werden
auch die Nachrichtenprogramme von Kabel1, VOX oder RTL II häufiger gesehen als
die von ARD oder ZDF. Dritte Programme werden vergleichsweise selten wahrgenommen. Dieser Befund zeigt sich auch für viele Gruppen der deutschen Bevölkerung mit
weniger Bildung.
2. Migration als Thema im Hörfunk wird nur von gut zwanzig Prozent der Migranten
gehört; viele kennen die speziellen Ausländerprogramme des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks nicht. Auch hier lassen sich Parallelen zur jüngeren deutschen Bevölkerung
31
32
Ebd.
Vgl. zu Einzelheiten: Klietsch, K./Niezel, P.: »Nutzung und Wirkung der Migrantenberichterstattung: Ergebnisse
einer Befragung.« In: Ruhrmann, G./Sommer, D./Klietsch, H./Niezel, P.: Medienrezeption in der Einwanderungsgesellschaft. Eine vergleichende Studie zur Wirkung von TV-Nachrichten. Mainz 2007. S. 28-69.
73
GEORG RUHRMANN
mit vergleichsweise weniger Bildung ziehen, deren Affinität zu öffentlich-rechtlichen
Angeboten geringer ist.
3. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich auch, dass Migranten solche Themen bevor-zugen, die weniger negativ-kontrovers sind. Dies kann daran liegen, dass solche Themen
häufiger unterhaltsam präsentiert werden als komplexere politische Inhalte.33 Deutlich
wird auch, dass für Migranten besonders die persönliche Relevanz eines Nachrichtenthemas rezeptionsleitend ist.
4. Zudem kann gezeigt werden,34 dass und wie Migranten die in der Regel von Inländern
ausgewählten und formulierten Meldungen anders wahrnehmen als die Deutschen.
Experimentelle Studien zum Framing35 verweisen darauf, dass die Verarbeitung von
Fernsehnachrichten nicht nur von den Themen der Berichterstattung, sondern auch
durch ihre argumentative Strukturierung, durch die die sogenannten formalen Frames
beeinflusst werden.36 Wie bereiten Journalisten ein Thema auf und (wie) erklären sie
es? Beschreiben sie es eher kurz und schildern das Ereignis in einfachen UrsachenWirkungsbeziehungen (episodisches Framing)? Und/oder wählen sie einen komplexeren,
d. h. hintergrund- und folgenorientierten Kontext der Darstellung (thematisches Framing)? Diese Form des Framing beeinflusst – wie einige Studien zeigen – die Erinnerung der Zuschauer. Wie D. Sommer zeigen kann, wird »die Bewertung der Beiträge,
vornehmlich auf eher emotional relevanten Dimensionen, […] maßgeblich durch die
Interaktion von formaler Rahmung (Frames) und Beitragsthema bestimmt«.37 Ähnlich
wie die Journalisten, rahmen auch die Zuschauer spezifische Themen und ihre Bewertung entweder episodisch oder thematisch. Dabei zeigt sich: »Ausländische Rezipienten
bewerten TV-Nachrichten über Migranten insgesamt als pessimistischer und parteiischer, was wiederum für eine gruppenspezifische Rezeption spricht.«38 Dies bedeutet
33
Vgl. dazu auch Iyengar, S.: Is anyone responsible? How television frames political issues. Chicago 1991.
Vgl. Sommer, D.: »Framing und Kontaktinformation in der Rezeption. Experimentelle Studien.« In: Ruhrmann,
G. u. a.: Medienrezeption in der Einwanderungsgesellschaft. Eine vergleichende Studie zur Wirkung von TVNachrichten. Mainz 2007. S. 70-103.
35
Gütschow, A./Sommer, D./Ruhrmann, G.: »Medienberichterstattung und kausale Inferenzen: Die Anwendung
des Linguistic Category Model zur Untersuchung von Framing-Effekten beim Rezipienten.« In: Schemer, C./
Wirth, W. (Hg.): Zwischen Medienallmacht und -ohnmacht. Rezeption und Wirkung politischer Medienangebote.
Baden-Baden 2010 (im Druck). Sommer, D./Ruhrmann, G.: »Ought and Ideals. Framing people with migration
background in TV-News.« In: Conflict and Communication (under review) 2010. Zum Framing-Ansatz vgl. statt
anderer: Matthes, J.: Framing-Effekte. Zum Einfluss der Politikberichterstattung auf die Einstellungen der Rezipienten. München 2007. Scheufele, B./Scheufele, D.: »Of Spreading Activation, Applicability, and Schemas: Conceptual Distinctions and Their Operational Implications for Measuring Frames and Framing Effects.« In: D´Angelo,
P./Kuypers, J. (Hg.): Doing News Framing Analysis. Empirical and Theoretical Perspectives. New York 2010. S.
110-134. Sha, D. V./Boyle, M. P./Schmierbach, M./Keum, H./Armstrong, C. L.: »Speficity, Complexity, and Validity.
Rescuing Experimental Research on Framing Effects.« In: D´Angelo, P./Kuypers, J. (Hg.): Doing News Framing
Analysis. Empirical and Theoretical Perspectives. New York 2010. S. 215-232.
36
Vgl. Iyengar: Is anyone responsible? Matthes: Framing-Effekte. Sommer: Framing und Kontaktinformation in der
Rezeption.
37
Vgl. Sommer: Framing und Kontaktinformation in der Rezeption. S. 88.
38
Ebd.
34
74
M E D I E N R E Z E P T I O N U N D M I G R AT I O N
für eine auf mehr Verständigung ausgerichtete Kommunikationspolitik und einen entsprechend sensibleren Journalismus: Das Framing der Beiträge über Migranten beeinflusst möglicherweise mehr Meinungen, Verhalten und das Wissen der Zuschauer als
das bloße Setzen von Themen.
5. Ebenfalls experimentell wird auch die Kontakthypothese überprüft.39 Ursprünglich besagt die Idee der Kontakthypothese, dass bestehende negative Einstellungen und Feindlichkeit gegenüber Fremdgruppen durch Kontakt reduziert werden
Medien können stellkönnen. Fremdenfeindlich eingestellte Rezipienten ohne persön- vertretenden Kontakt
lichen Kontakt zu Migranten glauben häufig, das von den Medien bieten, der ähnliche
Effekte erzeugt wie
gezeichnete Ausländerbild sei zu positiv und genieße eine zu große direkt erlebter.
Publizität. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass Kontakt nicht
immer direkt sein muss, sondern beispielsweise auch über beobachteten Kontakt zwischen Eigen- und Fremdgruppe oder das Wissen um einen solchen wirken kann. Medien können also stellvertretenden Kontakt bieten, der ähnliche Effekte erzeugt wie
direkt erlebter.
In der aktuellen Studie wurde daher der gezeigte Kontakt zwischen Inländern und Migranten in TV-Nachrichten untersucht.40 Zwar macht es – wie die Befunde der Experimente zeigen – keinen Unterschied, ob die Rezipienten Kontakt zwischen verschiedenen
sozialen Gruppen dargeboten bekommen. Die Bewertung des Beitrages unterscheidet
sich jedoch zwischen Inländern und Migranten: Letztere bewerten die Nachrichten als
emotionaler und spannender aufgrund ihrer stärkeren Betroffenheit von der Thematik.
Migranten schätzen – so lässt sich vermuten – die Reflexivität des Kontaktes anders ein.
Auch die gezeigten Akteure werden unterschiedlich bewertet.
4. Forschungsperspektiven
Aus den bisherigen Befunden ergeben sich folgende Anforderungen an weitere empirische
Forschungen, die mehrstufig erfolgen sollten. Auf der Ebene der Kommunikatoren bzw.
Onlinebetreiber wären Hintergründe von Geschäftsmodellen und Angebotsstrategien zu
ermitteln. Auf der Ebene der Inhalte wären Indikatoren für aggressive Bilder und Aussagen sowie ihre Kontextualisierung (Framing) zu analysieren.41 Das erfordert komplexere
Online-Inhaltsanalysen auf der verbalen (auditiven) und non-verbalen (visuellen) Ebene
im Rahmen eines Mehrmethodendesigns, wie es bereits in anderen Zusammenhängen bei
39
Vgl. Sommer: Framing und Kontaktinformation in der Rezeption. Ruhrmann/Sommer: Vorurteile und Diskriminierung in den Medien.
Vgl. Sommer: Framing und Kontaktinformation in der Rezeption.
41
Vgl. Scheufele, B.: »Frames, schemata, and news reporting.« In: Communcations 31, 1/2006. S. 65-84. Matthes:
Framing-Effekte. Sha u. a.: Speficity, Complexity, and Validity.
40
75
GEORG RUHRMANN
der Fernsehrezeption erprobt wurde.42 Zugleich wäre zu prüfen, warum einzelne Nutzer bestimmte Inhalte auswählen und wie diese rezipiert werden. Dabei wären folgende
Punkte zu beachten:
1. Einbettung von Experimenten zu Kurzzeitwirkungen in Langzeituntersuchungen.
Diese lieferten Aussagen über kumulative Effekte und über die Richtung von Kausalzusammenhängen.
2. Zu berücksichtigen sind relevante Drittvariablen (Kontextvariablen) bei Gewaltdarstellungen und -wirkungen, etwa im Bereich von Framing-Konzepten.43 Hier geht es
um personale, situative und soziale Variablenkomplexe.
3. Konzeption von zielgruppenspezifischen Inhalts- und Wirkungsstudien, um valide Aussagen über Inhalte und Wirkungen verschiedener Gewaltprogramme zu treffen. Diese
Zielgruppen sind auch in Bezug auf die oben geschilderten Risikogruppen zu variieren.
4. Bisher operieren die meisten Studien zur Wirkung von Spielen, die von international
aufgestellten Firmen produziert und vertrieben werden, auf der nationalen Ebene.
Dafür gibt es einige Gründe: Fehlende Ressourcen und noch zu geringe internationale
Vernetzung der deutschen Kommunikationsforschung. Notwendig sind jedoch internationale Vergleiche zu unterschiedlichen Nutzerkulturen und zum Umgang mit Gewalt sowie ihren sozialen Folgen in den einzelnen Gesellschaften.
5. Einzubeziehen wären außereuropäische Kulturen wie z. B. Asien, die arabische Welt
sowie Afrika. Insgesamt ist die Forschung sowohl theoretisch, als auch methodisch und
empirisch zu stärken. Die Kommunikationsforschung hat in einzelnen Bereichen in
den letzten Jahren Fortschritte gemacht, die Online-Forschung steckt jedoch in den
Kinderschuhen. Im Sinne eines public unterstanding of sciences sind die Ergebnisse auch
einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
5. Ausblick und Praxisrelevanz
Die Ergebnisse der ARD/ZDF-Studie und internationale Nutzungs- und Rezeptionsstudien sind facettenreich und komplex. Daraus ergeben sich Empfehlungen und Perspektiven für die weitere Diskussion44 sowie auch – mit Einschränkungen45 – für die Praxis:
42
Vgl. Maier, M./Stengel, K./Ruhrmann, G./Marschall, J./Zillich, A./Göbbel, R.: »Synchronisierung von Erhebungsinstrumenten zur Erfassung des dynamischen Nachrichtenprozesses am Beispiel der Krisenkommunikation.« In:
Jandura, O./Quandt, T. (Hg.): Methoden der Journalismusforschung. Wiesbaden 2010 (im Druck).
43
Vgl. Matthes: Framing-Effekte. Sha u. a.: Speficity, Complexity, and Validity. Scheufele/Scheufele: Of Spreading Activation, Applicability, and Schemas.
44
Vgl. ARD/ZDF: Migranten und Medien. Ruhrmann/Sommer u. a.: Medienrezeption in der Einwanderungsgesellschaft.
45
Vermutlich lassen sich Ergebnisse neuerer kognitionspsychologischer Analysen subtilerer Formen sprachlicher
Diskriminierung nicht direkt bzw. umstandslos in die Praxis der Medienmacher übertragen. (Vgl. statt anderer
Gorham: News Media’s Relationship with Stereotyping. Gütschow/Sommer/Ruhrmann: Medienberichterstattung
und kausale Inferenzen. Geschke, D./Sassenberg, K./Ruhrmann, G./Sommer, D.: »Effects of linguistic abstractness
in the mass media: How newspaper articles shape readers’ attitudes towards migrants.« Article accepted for publication. In: Media Psychology 2010 (im Druck). Vgl. Fritsche, I./Kessler, T./Mummendey, A./Neumann, J.: »Minimal
and maximal goal orientation and reactions to norm violations.« In: European Journal of Social Psychology 39/2009
S. 3-21. Sommer/Ruhrmann: Medienberichterstattung und kausale Inferenzen.
76
M E D I E N R E Z E P T I O N U N D M I G R AT I O N
Zu empfehlen ist eine weitere kontinuierliche Forschung.46 Diese ist wichtig, um über
einen Zeitverlauf auch den Wandel in der Mediennutzung und mögliche Implikationen
für Integrationsaspekte frühzeitig erkennen zu können. Auch für vergleichende Zwecke
sind Ergebnisse aus Langzeituntersuchungen von hohem Wert. Allerdings sind hier die
Forschungsförderung und die Medienforschung der Rundfunkanstalten zurückhaltend;
Langzeitstudien werden zwar präferiert, jedoch kaum gefördert und gepflegt.
Dabei bleibt es eine bisher nicht eingelöste Herausforderung, die integrativen Leistungen
der Medien besser zu verstehen. Denn nach soziologischen Erkenntnissen sind integrative Prozesse vor allem im sozialstrukturellen Kontext zu sehen. Es geht auch um eine
Auseinandersetzung um materielle und kulturelle Ressourcen, manche sprechen sogar
von Konflikten und Kämpfen um die Deutungsmacht in politischen, kulturellen und
auch wissenschaftlichen Diskursen.47 Hier spielen Medien sicher eine zunehmende Rolle.
Indes geht es in Diskursen definitionsgemäß – wie übersehen wird – zunächst um Fragen
der Struktur und Verteilung von Macht, Einfluss und organisierten Interessen, innerhalb
derer die »Rolle« oder die »Wirkung« von Medien ganz unterschiedlich interpretiert werden kann.48
Eine zentrale Domaine künftiger Kommunikationsforschung liegt in den Bereichen von
Fiktion und Unterhaltung.49 Bislang beschränken sich Untersuchungen zu Migranten und
Medien zumeist auf die Nachrichtenberichterstattung. Gleichwohl sieht sich die künftige
Kommunikationsforschung von fiktionalen Medieninhalten herausgefordert. So lässt sich
fragen: Wie machen Serien und Spielfilme das Thema Einwanderung für Journalisten
und Zuschauer gleichermaßen erlebbar? Wie wird der Integrationsprozess beeinflusst?
Lassen sich stereotype Vorstellungen durchbrechen und Vorurteile neutralisieren?50 Da
die Variabilität von Unterhaltungsthemen hoch ist, sind komplexe Inhaltsanalysen er-
46
Vgl. ARD/ZDF: Migranten und Medien.
Vgl. Van Dijk, T. A.: »Discourse and manipulation.« In: Discourse & Society, 17/2006. S. 359-383.
48
Ebd.
49
Vgl. dazu aus unterschiedlicher Perspektive statt anderer Comstock: A Sociological Perspective on Television Violence and Aggression. Becker, A. B./Scheufele, D. A.: »Moral Politicking: Public Attitudes toward Gay Marriage in
an Election Context.« In: International Journal of Press/Politics, 4/2009. S. 186-211. Achtenhagen, L./Nörback, M.:
»Entertainment Films and Organization Theories.« In: Lantzsch, K./Altmeppen, K.-D./Will, A. (Hg.): Handbuch
Unterhaltungsproduktion. Beschaffung und Produktion von Fernsehunterhaltung, Wiesbaden 2010. S. 52-66. Trebbe, J./Schwotzer, B.: »Fernsehunterhaltung: Platzierung, Formate und Produktionscharakteristika.« In: Lantzsch,
K./Altmeppen, K.-D./Will, A. (Hg.): Handbuch Unterhaltungsproduktion. Beschaffung und Produktion von Fernsehunterhaltung. Wiesbaden 2010. S. 81-100. Vgl. Mikos, L.: »Unterhaltungsrezeption: Das Fernsehpublikum und
die Qualität der Unterhaltung.« In: Lantzsch, K./Altmeppen, K.-D./Will, A. (Hg.): Handbuch Unterhaltungsproduktion. Beschaffung und Produktion von Fernsehunterhaltung. Wiesbaden 2010. S. 81-100. Smith, A.: »Lifestyle
television programmes and the construction of the expert host.« In: European Journal of Cultural Studies, 13/2010.
S. 191-205. Sowie aus der Praxis der Unterhaltungsproduktion: Havens, T.: »The Business and Functions of Global
Television Fairs.« In: Lantzsch, K./Altmeppen, K.-D./Will, A. (Hg.): Handbuch Unterhaltungsproduktion. Beschaffung und Produktion von Fernsehunterhaltung, Wiesbaden 2010. S. 52-66. Winkler, W.: »Helmut Thoma über
Unterhaltung.« In: Süddeutsche Zeitung 17./18. April 2010. S. V2/8 (Wochenende)
50
Vgl. Sauer: »Mediennutzungsmotive türkeistämmiger Migranten in Deutschland«. Wodak, R.: »The glocalization
of politics in television: Fiction or reality?« In: European Journal of Cultural Studies, 13/2010. S. 43-62.
47
77
GEORG RUHRMANN
forderlich.51 Zudem stellt sich die Frage, inwieweit die journalistischen Standards (die ja
auch für Unterhaltung und Fiktion gelten sollten) zur gefundenen Negativ-Tendenz in
der Migranten- bzw. Minderheitenberichterstattung beitragen. Integration, Fiktion und
Unterhaltung sind darüber hinaus ein sozialer und thematischer Komplex, der neue und
vielleicht neuartige Diskurse über journalistische Qualität beleben und entfachen kann.
Ein weiteres Anliegen nicht nur der Medienforschung, sondern explizit auch der Medien- und Kommunikationspolitik sollte es sein, Zuwendungsbarrieren zum öffentlichen
Rundfunk zu vermeiden. Entsprechende Nichtnutzung öffentlich-rechtlicher Angebote
lässt sich auf Defizite von Bildung und politischer Sozialisation zurückführen.52 Was die
Repräsentanz von wirtschaftlichen und politischen Ereignissen in manchen Regionen betrifft, kann man sogar von einer Ignoranzspirale der privat-kommerziellen Sender sprechen. Die Medienanstalten müssen versuchen, ihr Programmangebot für einzelne Zielgruppen effektiver zu gestalten.53 Dieses Thema ist indes nicht spezifisch für Migranten,
sondern seit zwanzig Jahren ein Klassiker in der Mediennutzungs- und Wirkungsforschung.54
Wesentlich für gelingende Integration sind und bleiben – das sei abschließend noch einmal betont – wirtschaftliche, sozialstrukturelle und politische Bedingungen in Europa
und in Deutschland. Die bisweilen angemahnte »Kultur des Willkommens« kann den
Medien von der Wirtschaft und Politik nicht verordnet werden; sie kann sich indes quasi
als unbeabsichtigte Nebenfolge entsprechender Veränderungen einstellen. Dann und erst
dann können journalistisch verbesserte Informations- und Fiktionsangebote ihre integrative Funktion entfalten. Erst dann kann die Nutzung und Rezeption von integrationsrelevanten Themen nicht mehr nur als öffentlich-rechtliche Belehrung empfunden werden.
Die meisten Gruppen der Bevölkerung könnten – auch unabhängig von Bildung und
Einkommen – den informativen und unterhaltenden Beiträgen, die den sozialen Wandel
in der Bundesrepublik Deutschland repräsentieren, nicht nur viel zitierte Risiken, sondern vor allem auch weitreichende Chancen der Globalität abgewinnen.
51
Vgl. Görke, A./Ruhrmann, G.: »Public Communication between Facts and Fictions. The Construction of Genetic
Risks.« In: Public Understanding of Science 12 (3)/2003. S. 229-255.
Zumal seit Jahren evident ist, dass der politische Gehalt von TV-Nachrichten der meisten privat-kommerziellen
Sender kontinuierlich sinkt (Maier/Ruhrmann: Celebrities in Action and other News), während der Anteil von
Politik in den öffentlich-rechtlichen Sendern sogar wieder steigt (vgl. Maier/Stengel/Ruhrmann/Marschall/Zillich/
Göbbel: Synchronisierung von Erhebungsinstrumenten.). Auch wird der Befund bekannt, dass der Anteil von
Nachrichten am Gesamtprogramm der privat-kommerziellen Sender sinkt (vgl. Krüger, U. M.: »InfoMonitor 2008:
Fernsehnachrichten bei ARD, ZDF, RTL und SAT.1.« In: Media Perspektiven, 2/2009. S. 50-72.), was Anfang 2010
auch in der medienpolitischen Debatte bzw. auf den Medienseiten der großen deutschen Tageszeitungen kritisch
diskutiert wurde.
53
Vgl. Zambonini, G./Simon, E.: »Kulturelle Vielfalt und Integration: Die Rolle der Medien.« In: Media Perspektiven, 3/2008, S. 120-124.
54
Vgl. Schenk, M.: Medienwirkungsforschung. Tübingen 32007.
52
78
M E D I E N R E Z E P T I O N U N D M I G R AT I O N
6. Literatur
Achtenhagen, L./Nörback, M.: »Entertainment Films and Organization Theories.« In: Lantzsch,
K./Altmeppen, K.-D./Will, A. (Hg.): Handbuch Unterhaltungsproduktion. Beschaffung und
Produktion von Fernsehunterhaltung, Wiesbaden 2010. S. 52-66.
Agergaard, S.: »Elite Athletes as Migrants in Danish Women‘s Handball.« In: International Review
for the Sociology of Sport, 43/1/2008. S. 5-19.
Alliveri, S.: Conflicts over Mosques in Europe. Policy Issues and trends. London 2009.
Anderson, C. A.: »An update on the effects of playing violent video games.« In: Journal of Adolescence. 27/2004. S. 113-122.
Anderson, C. A. et al.: »The Influence of Media Violence on Youth.« In: Psychological Science in
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83
Migranten und Milieus
Auswirkung auf die Programmplanung
des öffentlichen Radios und Fernsehens
VON ULRICH NEUWÖHNER
Der Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NordrheinWestfalen, Armin Laschet, weist in seinem Buch Die Aufsteiger-Republik – Zuwanderung
als Chance auf den Vielfaltaspekt hin, den er als »Charakteristikum eines Einwanderungslandes« bezeichnet. Daran knüpft der folgende Beitrag an, in dem der Versuch
unternommen wird, die Vielfalt von Migranten nicht unter dem Aspekt der ethnischen
Vielfalt, sondern unter einem soziologischen, milieuspezifischen Ansatz zu betrachten.
Denn »[…] genauso wie die Mehrheitsgesellschaft keine homogene Gruppe ist, weisen
auch die Zuwanderer in ihren einzelnen Gruppen heterogene Strukturen auf«1. Um gesellschaftspolitisch effektiver handeln zu können, müsste man noch stärker nach Zuwanderergruppen kategorisieren. In einem ausdifferenzierten Angebots- und Nutzermarkt
wird es auch für die Planer im öffentlich-rechtlichen Rundfunk immer wichtiger, die
Bedürfnisse der Nutzer von Fernsehen, Radio und Internet zu kennen, um darauf zu
reagieren können. Aber was wissen die Planer über die Grundbedürfnisse einer Nutzergruppe, die in Zukunft auch als Mediennutzer an Bedeutung immer mehr gewinnen
wird?
Keine Parallelwelten in der Mediennutzung
Das Mediennutzungsverhalten von Migranten bzw. Menschen mit Migrationshintergrund ist bereits seit Jahren ein Gegenstand der Medienforschung. Allerdings hat sich
die Forschungsperspektive deutlich verändert: In den 1970er und 1980er Jahren bezogen
sich die Umfragen noch auf die »Gastarbeiter« und deren Nutzung der ARD-Gastarbeiterprogramme. Der gesellschaftliche Wandel rückte in den letzten Jahren die Frage nach
medialen Parallelgesellschaften in den Vordergrund. Dabei geht es auch um die Frage,
welche Medien von wem wie genutzt werden.
Die ARD/ZDF-Studie Migranten und Medien 20072 liefert dazu wichtige Hinweise. Sie
wurde zum Beleg, dass die Hypothese einer medialen Parallelgesellschaft empirisch nicht
haltbar ist. Die Ergebnisse dieser Studie weisen darauf hin, dass vor allem Sprachkenntnisse entscheidend sind, welche Programme genutzt werden. Medienangebote des Ursprunglandes werden vor allem deshalb genutzt, weil in der Interessenhierarchie von Migranten die eigenen Wurzeln weiterhin eine besondere Rolle spielen.
1
2
Laschet, A.: Die Aufsteiger-Republik – Zuwanderung als Chance. Köln 2009.
Simon, E.: »Migranten und Medien 2007.« In: Media-Perspektiven, 9/2007. S. 426-435.
84
MIGRANTEN UND MILIEUS
Ganz generell kommen die Autoren der Studie aber zu dem Schluss, dass Fernsehen, Internet und Radio die meistgenutzten Medien sind. Dabei werden die Programmangebote
der öffentlich-rechtlichen Anbieter geschätzt und als seriöse und informative Angebote
wahrgenommen. Der Nutzungsschwerpunkt liegt aber – nicht ganz unähnlich wie bei
den Altersgenossen ohne Migrationshintergrund – häufig bei den Angeboten der privatkommerziellen Sender, da diese den Bedürfnissen nach und Erwartungen von Emotion
und Fiktion mehr entsprechen als die traditionellen Informations- und Unterhaltungsangebote der Öffentlich-Rechtlichen. Die Ergebnisse der ARD/ZDF-Studie Migranten und
Medien stimmen dabei in vielen Punkten mit den Ergebnissen von vergleichbaren Studien
aus anderen europäischen Ländern überein, die ebenfalls keine Parallelwelten in Bezug
auf Medien feststellen.3
In einem Punkt steht die Studie Migranten und Medien aber weiterhin in der Tradition der
Analysen der frühen Forschungen zu Gastarbeitersendungen. Die Darstellung der Ergebnisse folgt überwiegend einem ethnischen Ansatz, das heißt die Mediennutzung wird
vorwiegend nach ethnischen Gruppen unterschieden. Hier stellt sich aber die Frage, ob
dabei nicht außer Acht gelassen wird, dass viele dieser ethnischen Gruppen in Deutschland inzwischen gemeinsam sozialisiert werden. Die auch unter dem Integrationsaspekt
interessante Frage nach Gemeinsamkeiten im Lebensstil jenseits der ethnischen Gruppen,
lässt sich jedoch nicht direkt erkennen, sondern ist nur auf Basis der Lebensstil- bzw.
Milieuforschung zu beantworten. Für Personen mit Migrationshintergrund lagen aber
bisher keine repräsentativen, mit der deutschen Wohnbevölkerung vergleichbaren milieuspezifischen Analysen vor. Dabei sind Typologien, wie die ARD MedienNutzerTypologie (MNT2.0) und vor allem die SINUS-Milieus, inzwischen feste Bestandteile einer
modernen Programmplanung – sowohl öffentlich-rechtlicher als auch privat-kommerzieller Sender. Das SINUS-Institut Heidelberg ist in diesem Forschungsbereich seit Jahren
führend tätig. Vor allem im Konsumbereich, aber auch in vielen Non-Profit-Institutionen
(z. B. sozialen und kirchlichen Einrichtungen) und im Medienbereich sind die SINUSMilieus seit Jahren ein weit verbreitetes Modell zur strategischen Zielgruppenplanung. Im
Bereich der Fernsehforschung lassen sich z. B. Erfolg und Misserfolg von Sendungen auch
auf Basis der zehn SINUS-Milieus in Deutschland bestimmen.
Bereits 2007 hatte SINUS Sociovision im Auftrag einer breiten Auftraggeberseite aus Politik, Wirtschaft und sozialen Einrichtungen erstmals eine qualitative Milieustudie unter
Migranten durchgeführt und diese 2008 in einer großen repräsentativen Studie empirisch
abgesichert. 4 Für den Medienbereich haben die Landesanstalt für Kommunikation Ba-
3
Ruhrmann, G.: Migranten und Medien, Dokumentation zum Forschungsstand der wichtigsten Studien über die
Mediendarstellung, Nutzung und Rezeption von Migranten und ethnischen Minderheiten von 2003 bis 2009 für
CIVIS-Medienstiftung. Institut für Kommunikationswissenschaft, FSU. Jena 2009.
4
Vgl. SINUS Sociovision: Zentrale Ergebnisse der Sinus-Studie über Migranten-Milieus in Deutschland. http://www.
sociovision.de/uploads/tx_mpdownloadcenter/MigrantenMilieus_Zentrale_Ergebnisse_09122008.pdf.
85
ULRICH NEUWÖHNER
den-Württemberg (LfK) und der SWR die Patenschaft (und Finanzierung) für die Fragen der Mediennutzung übernommen. Und obwohl diese Studie im Vergleich zur ARD/
ZDF-Studie 2007 keine Mediennutzungsstudie im eigentlichen Sinne darstellt, ergeben
sich aus den Ergebnissen interessante Aspekte für die Programmplanung.
Mediennutzung von Migranten aus einer neuen Perspektive
Die milieuspezifische Betrachtung von SINUS berücksichtigt die soziale Lage (Status)
und die Grundorientierung (Werte) von Individuen. Schulbildung, Einkommen, beruflicher Stand bestimmen die soziale Lage, während Einstellungen und Werte die Grundorientierung bestimmen.
Die Grundorientierung von Migranten in Deutschland lässt sich nach SINUS anhand
von drei Dimensionen beschreiben:
% Hinsichtlich der Dimension Traditionelle Orientierung wird zwischen einer archaischen
und einer ethnischen Tradition unterschieden. Die archaische Tradition steht für eine
dogmatische, strenge Auslegung von Traditionen, die sehr häufig durch Religion vorgegeben ist. Die Bereitschaft zur Integration in eine weitgehend als »ungläubig« empfundene Welt ist daher gering. Die ethnische Auffassung von Traditionalität ist dagegen
durch die frühe Gastarbeitergeneration geprägt. Hier stehen vor allem die materielle
Absicherung und Tugenden wie Sparsamkeit und Bescheidenheit im Vordergrund der
Grundwerte.
% Für die zweite Dimension der Grundorientierung Modernität finden sich ebenfalls zwei
unterschiedliche Ausprägungen. Konsum-Materialismus steht für eine starke auf materielle Werte ausgerichtete Grundorientierung, wobei der Konsum häufig einen Ausgleich
für soziale und kulturelle Entwurzelung darstellt. Individualisierung beruht dagegen
auf einer Grundorientierung, die auf individuelle Freiheiten und auf Aufklärung ausgerichtet ist.
% D
ie dritte Dimension der Grundorientierung bezeichnet SINUS mit dem Begriff Multi-Optionalität. Die kulturelle Identität wird hier neu gemischt. Die kulturelle Herkunft
und Traditionen werden zu Gunsten einer multikulturellen Identität neu definiert und
manifestieren sich in der Ausbildung neuer Subkulturen.
Auf Basis dieser Status- und Werte-Matrix unterscheidet SINUS Gruppen von Individuen mit gemeinsamen Einstellungen sowie sozialer Lage und fasst sie zu acht Milieutypen zusammen.
Auf die Personen mit Migrationshintergrund übertragen bedeutet dieser Ansatz somit
einen Wechsel von der ethnischen Perspektive auf die Perspektive gemeinsamer Wertvorstellungen und einer ähnlichen sozialen Lage von Migranten. Sie werden unten näher
erklärt.
86
MIGRANTEN UND MILIEUS
Das SINUS-Migranten-Milieu-Modell
Eine wesentliche Voraussetzung für ein Migranten-Milieu-Modell und die Quantifizierung von Milieus ist eine Übereinkunft, wer unter den Begriff Personen mit Migrationshintergrund subsumiert wird. Das Statistische Bundesamt schuf 20055 mit seiner
Definition dazu die Grundlage. Die Grundgesamtheit der 15 Millionen Menschen mit
Migrationshintergrund in Deutschland setzt sich zu 47 Prozent aus Ausländern ohne
deutschen Pass und zu 53 Prozent aus Deutschen mit Migrationshintergrund zusammen.
Deutsche mit Migrationshintergrund sind eingebürgerte Ausländer, Deutsche, die zumindest einen Elternteil mit ausländischem Hintergrund aufweisen und deutschstämmige Rückkehrer vornehmlich aus osteuropäischen Ländern.
Auf Basis dieser Grundgesamtheit wurde eine repräsentative Stichprobe von 2.072 Personen ab 14 Jahren gezogen und in mündlich-persönlichen Interviews von mehrsprachigen Interviewern befragt. Im Fokus der Untersuchung standen Fragen zur Integration
(z. B. Sprachkenntnisse, Kontakte mit Einheimischen), zur Sozialstatistik (Beruf, Haushaltsgröße, Schulbildung u. a.), zum Lebensstil (Freizeit, Mediennutzung, Religion u. a.),
zu Fragen der Haushaltsausstattung (Gerätebesitz) sowie zu politischen Präferenzen etc.
Ziel der repräsentativen Studie war es, die in der vorausgehenden qualitativen Studie6
gemachte Differenzierung in acht unterschiedliche Milieus zu quantifizieren, d. h. verlässliche Aussagen über die Größe dieser Milieugruppen zu geben, die – auch wenn sie
unterschiedliche ethnische Wurzeln haben – viele Einstellungen, Zukunftsperspektiven
und Wertorientierungen miteinander teilen. Gleichzeitig bietet das Modell die Möglichkeit, Gemeinsamkeiten mit dem Milieumodell der deutschen Wohnbevölkerung7 darstellen zu können.
5
Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Bevölkerung mit Migrationshintergrund.
Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Wiesbaden 2007.
Beck, S./Perry, Th.: »Migranten-Milieus, Lebenswelten und wohnungsbezogene Interessen.« In: vhw 4/2007.
http://www.vhw.de/fileadmin/user_upload/Download-Dokumente/Forschung/Migranten-Milieus/Migranten_in_
Deutschland_Beck-Perry.pdf.
7
SINUS Sociovision: Informationen zu den SINUS-Milieus 2009. http://www.sociovision.de/uploads/tx_mpdownloadcenter/informationen_2009_01.pdf.
6
87
ULRICH NEUWÖHNER
Kurzbeschreibung der SINUS-Migranten-Milieus
An dieser Stelle werden die acht Migranten-Mileus kurz beschrieben.8
Das Adaptive Bürgerliche Milieu ist – ebenso wie das gleich genauer zu erläuternde Statusorientierte Milieu – ein bürgerliches Milieu:
1. Mit einem Anteil von 16 Prozent stellt das Adaptive Bürgerliche Milieu eines der großen
Migranten-Milieus dar. Es handelt sich hierbei um ein typisches Aufsteiger-Milieu, das
pragmatisch und optimistisch den Anforderungen in Beruf und Familie begegnet. Das
Streben nach Harmonie und Integration steht im Vordergrund.
2. Mit einem Anteil von 12 Prozent stellt das Statusorientierte Milieu ein weitgehend
etabliertes Segment der Migrantenpopulation dar. Es handelt sich um leistungs- und
genussorientierte Menschen mit einem hohen kulturellen und sozialen Kapital. Die
überwiegend gute ökonomische Basis macht dieses Milieu zu einem Leitmilieu mit
Vorbildcharakter für das Adaptive Bürgerliche Milieu.
Das Intellektuell-kosmopolitische Milieu und das Multikulturelle Performermilieu bilden das
moderne, ambitionierte Migranten-Milieusegment.
8
Beck/Perry: »Migranten-Milieus, Lebenswelten und wohnungsbezogene Interessen.«
88
MIGRANTEN UND MILIEUS
3. Das Intellektuell-kosmopolitische Milieu (11 Prozent) weist eine hohe formale Bildung
und einen gehobenen Lebensstandard auf. Die Grundhaltung ist von Aufklärung und
Emanzipation und vom Leitbild einer multikulturellen Vielfalt geprägt.
4. Das junge Multikulturelle Performermilieu (13 Prozent) ist leistungsorientiert im Beruf
(materielle Absicherung und Erfolg) und legt hohen Wert auf eine intensive Freizeitgestaltung (Sport, Partys, Erlebnisorientierung).
Die Grundorientierungen des Religiös-verwurzelten Milieus und des Traditionellen Gastarbeitermilieus basieren dagegen auf sehr traditionellen Wertvorstellungen.
5. Das Religiös-verwurzelte Milieu (7 Prozent) weist einen einfachen Lebensstandard und
ein strenges Moral- und Ehrverständnis auf. Religiöse Gebote bilden das Grundgerüst
für den Umgang mit Familie und Fremden. Die Integrationsbereitschaft ist eher gering
und deutsche Sprachkenntnisse sind unterdurchschnittlich vorhanden.
6. Das mit einem Anteil von 16 Prozent große Traditionelle Gastarbeitermilieu ist deutlich
von materieller Absicherung und Solidarität untereinander geprägt. Die Familie besitzt
auch hier einen sehr hohen Stellenwert und steht im Zentrum des Weltbildes.
Die beiden Milieus der Entwurzelten und der Hedonistisch-subkulturellen stellen zwei prekäre Migrantenmilieus dar:
7. Das junge Hedonistisch-subkulturelle Milieu zählt mit einem Anteil von 15 Prozent zu
den großen Milieus. Die Grundorientierung ist durch und durch hedonistisch geprägt.
Provokation und Rebellion bringen Prestige in Gangs und Subkulturen.
8. Das Entwurzelte Milieu weist eine niedrige soziale Lage auf. Der Traum vom guten
Leben wird häufig über Kredite und Schulden zu realisieren versucht. Häufig fehlt es
an kulturellem Kapital (Bildung) um aufzusteigen. Psychologische Traumata, häufig
verursacht durch Flucht und Vertreibung, sind in diesem Milieu verbreitet.
Mit Ausnahme vom Religiös-verwurzelten Milieu (türkischer Migrationshintergrund)
und Entwurzelten Milieu (Ex-Jugoslawien) weisen die anderen Milieus keine ethnischen
Schwerpunkte auf.
Im Vergleich zum SINUS Milieu-Modell der deutschen Wohnbevölkerung ist das Spektrum der Grundorientierungen breiter und heterogener. Dies wird von SINUS vor allem
auf ein breiteres und vielfältigeres Erfahrungsspektrum innerhalb der Migrantenpopula89
ULRICH NEUWÖHNER
tion zurückgeführt. Andererseits fehlen die konservativen, bildungsbürgerlichen Milieus
in den Migrantenmilieus. Insgesamt sind die Migranten auch deutlich jünger als die deutsche Wohnbevölkerung.
Medienausstattung und Mediennutzung
Die technische Ausstattung ist ähnlich gut wie in den (vergleichbaren) Milieus der Gesamtbevölkerung. Die Haushalte sind mit Radio- und Fernsehgeräten über alle Milieus
hinweg voll ausgestattet. Das Mobiltelefon ist ebenfalls praktisch in allen Haushalten vorhanden. Die Verbreitung von schnellen Internetanschlüssen (DSL) entspricht ebenfalls
weitgehend der deutschen Wohnbevölkerung. Dies bedeutet aber auch, dass es massive
Unterschiede zwischen den einzelnen Milieus gibt, wenn es um Multimedia-Anwendungen geht. Während die traditionellen Milieus hier eine stark unterschiedliche Ausstattung aufweisen, zählen Multimedia-Geräte und -Anwendungen bei gehobenen und
modern-orientierten Milieus bereits zur Grundausstattung. Sowohl in der deutschen
Wohnbevölkerung als auch in der Migrantenpopulation ist eine multimediale Zwei-Klassen-Gesellschaft feststellbar.9
Wochenmarkt, Frankfurt/Main
9
Klingler, W./Kutterhoff, A.: »Stellenwert und Nutzung der Medien in Migrantenmilieus.« In: Media Perspektiven,
6/2009. S. 297-308.
90
MIGRANTEN UND MILIEUS
An der Spitze der täglich genutzten Medien findet sich sowohl in der deutschen Wohnbevölkerung als auch bei Migranten das Fernsehen. Rund 86 Prozent schalten täglich
bzw. fast täglich den Fernseher ein. Die Radionutzung ist mit 58 Prozent Tagesreichweite in der Migrantenpopulation deutlich geringer als in der Mehrheitsgesellschaft
(78 Prozent) und konzentriert sich stärker auf die beiden bürgerlichen MigrantenMilieus. Die tägliche Nutzung von Tageszeitungen ist bei Migranten mit 36 Prozent
ebenfalls geringer als in der Mehrheitsgesellschaft (65 Prozent). Hier wirkt sich aus,
dass die Migrantenpopulation insgesamt jünger ist. Denn auch in den jüngeren Milieus
der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund ist die Tagesreichweite der Tageszeitung
unterdurchschnittlich. Ähnliches gilt auch für andere Lesemedien, wie Bücher und
Zeitschriften, nicht aber für das Internet. Deutlich höher als in der deutschen Wohnbevölkerung ist die tägliche Handynutzung. Die »1:1-Kommunikation« besitzt offenbar
einen deutlich höheren Stellenwert. Auch die Nutzung von DVD und Videos ist bei
Migranten stärker ausgeprägt.
Fernsehnutzung
86 Prozent der Migranten insgesamt nutzen täglich das Fernsehen. Einzig im Intellektuell-kosmopolitischen Milieu (Tagesreichweite 73 Prozent) ist die tägliche Fernsehnutzung leicht unterdurchschnittlich. Auch dies ist ein Effekt, der sich aber auch im entsprechenden Milieu der deutschen Wohnbevölkerung, den Postmaterialisten, zeigt.
Die Affinität zu bestimmten Programmen wurde in der Studie über die Frage nach dem
Fernsehlieblingsprogramm bzw. dem zweitliebsten Fernsehprogramm erhoben. Nur
rund acht Prozent der Personen mit Migrationshintergrund nennen ein fremdsprachiges,
ausländisches Fernsehprogramm als Lieblings- bzw. Zweitlieblingsprogramm. Deutlich
91
ULRICH NEUWÖHNER
überproportional ist der Anteil im Religiös-verwurzelten Milieu (24 Prozent), im Traditionellen Gastarbeiter Milieu (12 Prozent) und im Entwurzelten Milieu (11 Prozent).
Dagegen favorisieren rund 21 Prozent ein öffentlich-rechtliches Fernsehprogramm. Überdurchschnittlich beliebt sind ARD, ZDF, arte und Co. im Intellektuell-kosmopolitischen, im
Adaptiven Bürgerlichen und im Traditionellen Gastarbeiter-Migranten-Milieu. Deutlich geringer sind die Präferenzen für öffentlich-rechtliche Programme im Multikulturellen-Performermilieu, im Hedonistisch-subkulturellen Milieu und im Entwurzelten Milieu. Wie in der ARD/
ZDF-Studie Migranten und Medien zeigt sich auch hier der Effekt, dass die Präferenzen der
jungen, modernen Mediennutzer eher bei den privat-kommerziellen Programmen liegen,
die insgesamt stärker auf emotionalisierende Programmangebote setzen und damit sowohl
bei jungen Migranten als auch bei Nicht-Migranten insgesamt erfolgreicher sind. Moderne
und jüngere Milieus weisen im Vergleich zu den traditionellen Milieus eine andere Mediensozialisation auf, die sich auch auf ihre Programmbindung und Programmpräferenzen
auswirkt. Für die traditionell geprägten Nutzergruppen war das Fernsehen insgesamt noch
ein relativ neues, innovatives Medium. Die emotionale Bindung an die öffentlich-rechtlichen
Erstanbieter ARD und ZDF ist daher deutlich höher. Für jüngere Nutzergruppen ist Fernsehen dagegen eine Selbstverständlichkeit. Die öffentlich-rechtlichen Programme besitzen
hier keinen Bonus mehr, sondern müssen sich im Wettbewerb des dualen Rundfunksystems
behaupten.
Alles eine Frage des Lebensstils?
Erste Ansatzpunkte für die Programmplanung
Die Ergebnisse der Migranten-Milieu-Studie weisen darauf hin, dass die Bedürfnisse und
Erwartungen von Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland auch in Bezug auf
Medienauswahl und Medieninhalte weniger von der ethnischen Herkunft, sondern – wie
92
MIGRANTEN UND MILIEUS
in der Mehrheitsgesellschaft auch – vor allem von der Grundorientierung und dem sozialem Status abhängen. Dadurch ergibt sich eine Vielzahl von Übereinstimmungen mit der
Milieulandschaft der deutschen Mehrheitsgesellschaft.
In der Abbildung sind die SINUS-Milieus der Mehrheitsgesellschaft und der Migranten
zusammen verortet dargestellt. Diese gemeinsame Verortung zeigt die Unterschiede und
die Gemeinsamkeiten. Ein Unterschied ist darin begründet, dass das bildungsbürgerlich
geprägte SINUS-Milieu der Konservativen in der Mehrheitsgesellschaft keine Entsprechung in den Migranten-Milieus hat. Gleiches gilt mit Blick auf die Mehrheitsgesellschaft
für das SINUS-Milieu der DDR-Nostalgischen. Auch hier findet sich kein Migranten-Milieu, das diesem spezifisch ostdeutschen SINUS-Milieu zuzuordnen ist. Für die Leitmilieus
der Mehrheitsgesellschaft – die Etablierten und den Postmateriellen – gilt, dass diese Milieus zwar in den Migranten-Milieus eine Entsprechung aufweisen (Statusorientiertes Milieu,
Intellektuell-kosmopolitisches Milieu), dass sie aber im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft
derzeit hier weiterhin unterdurchschnittlich ausgeprägt sind. Trotzdem finden sich auch in
Gesellschaftsbereichen, in denen Vertreter dieses Milieus überproportional vertreten sind,
wie z. B. Medien, Kultur und Politik, zunehmend Persönlichkeiten mit Migrationshintergrund. Bekannte TV-Moderatorinnen wie Nazan Eckes oder Dunja Hayali, Autoren wie
Vladimir Kaminer, Filmemacher wie Akin Fatih und Politiker (wie Lale Akgün, Cem
Özdemir, Zeca Schall, Philipp Rösler) repräsentieren in der modernen deutschen Mediengesellschaft selbstbewusste, moderne Migranten-Milieus. Die modern-orientierten Milieugruppen, die für veränderte Werte und Einstellungen in der Grundorientierung stehen,
sind unter den Migranten-Milieus dagegen überdurchschnittlich vertreten.
Die SINUS-Milieus der Mehrheitsgesellschaft Moderne Performer und Experimentalisten
finden im Multikulturellen Performermilieu im Migranten-Modell ihre Entsprechung.
Als Beispiel sei hier nur auf die HipHop-Szene im Musikbereich verwiesen: Musiker
mit Migrationshintergrund – man denke an: Xavier Naidoo, Gentleman, Samy Deluxe,
Bushido, Cassandra Stehen – sind integraler Bestandteil der deutschen Popkultur. Aber
auch in den prekären Unterschichtmilieus der Mehrheitsgesellschaft (Hedonisten, Konsum-Materialisten) sind Migranten eher überrepräsentiert. Das Hedonistisch-subkulturelle
Milieu und das SINUS-Milieu der Entwurzelten haben in der Migranten-Milieu-Landschaft ein stärkeres Gewicht. Hier spiegeln sich die im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft unterdurchschnittlichen Bildungsabschlüsse wider, die einem gesellschaftlichen
Aufstieg entgegenstehen. Durchschnittlich vertreten sind die Migranten-Milieus dagegen im Mainstream-Milieu der Bürgerlichen Mitte (Adaptives Bürgerliches Milieu) und
im Milieusegment, in dem traditionelle Werte dominieren. Die Wertvorstellungen des
Traditionellen-Gastarbeitermilieus (Migranten-Modell) stimmen zum Teil mit den Werten
der Traditionsverwurzelten überein. Deutlich archaischer geprägt ist allerdings das Religiös-verwurzelte Migranten-Milieu. Die Moralvorstellungen sind hier deutlich rigider als in
93
ULRICH NEUWÖHNER
dem SINUS-Milieu der Traditionsverwurzelten in der deutschen Mehrheitsgesellschaft.
Eine Aufgabe der Medien ist es daher, diese Vielfalt und Fülle von Migranten-Milieus
und die gegenseitige Verschränkung von Milieus der Mehrheitsgesellschaft und von Migranten abzubilden. Medienberichte über punktuelle Ereignisse wie sogenannte Ehrenmorde, fundamentalistische Hassprediger oder kriminelle Übergriffe bilden nur einen
Teil der Wirklichkeit ab. Das SINUS-Migranten-Milieu-Modell weist darauf hin, dass
es sich hierbei um extreme Verhaltensweisen handelt, die in einem bestimmten Milieu
unter spezifischen Umständen entstehen können, dass aber eine Generalisierung auf bestimmte ethnischen Gruppen oder gar generell auf Menschen mit Migrationshintergrund
eine starke Verzerrung der Wirklichkeit bedeutet.
Die Ergebnisse der Migranten-Milieu-Studie und Ergebnisse aus dem SINUS-Modell
für die Gesamtbevölkerung weisen in vielen Bereichen auf Gemeinsamkeiten von Migranten und Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft hin: So ist insgesamt eine Tendenz
zur Multi-Optionalität und Individualisierung der Mediennutzung in modernen Milieus
feststellbar. Vor allem die traditionellen Anbieter (TV, Radio, Print) müssen sich somit
auf veränderte Nutzungsgewohnheiten einstellen und Inhalte entsprechend und zielgruppengerecht anbieten, wenn sie an Akzeptanz nicht verlieren und den Anschluss an die
Milieus mit moderner Grundorientierung nicht verpassen wollen.
Aus der Studie ergeben sich für die Programmplanung auch gemeinsame inhaltlich-thematische Anknüpfungspunkte, um Mehrheitsgesellschaft und Migranten zu erreichen,
da sich die jeweiligen Themeninteressen teilweise überschneiden. Bei der Themenauswahl gilt z. B., dass traditionell ausgerichtete Milieus und bürgerliche Milieus eine Präferenz für Themen aus dem Bereich Natur/Tiere und vor allem für Gartenthemen aufweisen, während z. B. im Performer Milieu von Migranten und Mehrheitsgesellschaft Musik,
Mode, Kino und Film, Sport als gemeinsame Themeninteressen geteilt werden. Die Programmplanung kann somit in vielen Bereichen von gemeinsamen Themeninteressen von
Migranten und den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft ausgehen. Im SWR Fernsehen
gibt es z. B. mit der Sendereihe Meine Küche, Deine Feste eine Sendung, die über das
Thema Essen und Familie Migranten und Mehrheitsgesellschaft verbindet.10
Das Interesse an Politik und vor allem der Darstellung von Politik in den Medien in hedonistisch geprägten, jungen Lebenswelten von Migranten und Gesamtbevölkerung ist
dagegen nur noch schwach ausgeprägt. Vor allem für die diesem Aspekt besonders verpflichteten Programmplaner im öffentlich-rechtlichen Rundfunk stellt sich die Frage, wie
dieses für die demokratische Partizipation wichtige Themengebiet in den Programmen
wieder an Attraktivität gewinnen kann. Unter diesem Aspekt ist auch die Hinwendung
10
Siehe dazu auch den Beitrag von Meier-Braun in diesem Band: Migration und Integration – nicht nur seit der
SINUS-Studie eine Herausforderung für Politik und Medien. S. 97-102
94
MIGRANTEN UND MILIEUS
von modernen Milieugruppen zu einer emotionalen und erlebnisorientierten Ansprache
von Bedeutung. Aber auch ein attraktives Online-Angebot ist eine Chance, da Informationen in den modernen Milieus generell stärker über das Internet gesucht werden als in
den linearen Angeboten von Radio und Fernsehen. Vor allem die Präsenz in sozialen
Netzwerken bietet die Chance, die jungen Milieus von Migranten- und Mehrheitsgesellschaft u. a. auch mit Politikthemen zu erreichen.
Insgesamt ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen in der Mitte der Gesellschaft überdurchschnittlich akzeptiert. Dies schließt traditionelle, aufstiegsorientierte-adaptive und intellektuelle Milieus ein. Die Akzeptanz in den Milieus mit moderner Grundorientierung
ist dagegen schwächer. Die Programmplanung steht daher vor der Frage, mit welchen
Formaten und Mitteln die Programme fit für die Zukunft gemacht werden können.11
In Milieus mit großer kultureller Distanz und geringen Deutschkenntnissen besteht dagegen auch eine Distanz zu deutschsprachigen Medien insgesamt. Auch hier stellt sich die
Frage, mit welchen Mitteln schwer erreichbare Migrantenmilieus auf öffentlich-rechtliche
Kultur-, Bildungs- und Verbraucherangebote aufmerksam gemacht und besser erreicht
werden könnten.
Für die Medienforschung bedeutet der SINUS-Milieuansatz einen zusätzlichen finanziellen und organisatorischen Aufwand, da die Zuordnung zu den Milieus nur auf Basis
spezieller Fragen und Statistiken möglich ist. Aber es reicht offenbar nicht mehr aus, nur
den ethnischen Hintergrund zu kennen, um das Medienverhalten von Migranten zu erklären. Auch die soziodemografischen Variablen wie Alter und Geschlecht bieten nicht
immer eine zuverlässige Gewähr für eine Differenzierung, da sie sich über die verschiedenen Milieugruppen zum Teil sehr gleichmäßig verteilen. So gibt es sehr junge Angehörige des Religiös-verwurzelten Milieus, die sich in ihren Interessen stark von Gleichaltrigen
aus dem Multikulturellen Performermilieu unterscheiden.
Andererseits weisen die Ergebnisse aber auch darauf hin, dass die Gemeinsamkeiten
zwischen Mehrheitsgesellschaft und Migranten inzwischen recht groß sind und – durch
den demografischen Wandel bedingt – vermutlich weiter zunehmen werden. Inzwischen
erscheint die Erhebung in einer gemeinsamen Stichprobe von Migranten und Nicht-Migranten auch auf Basis der hier dargestellten Ergebnisse aus Forschungssicht daher weitgehend unproblematisch. So basieren die großen nationalen Reichweitenuntersuchungen
(Media-Analysen, kurz ma) zu Radio (ma Radio) und Tageszeitung/Zeitschriften (ma
Print) inzwischen auf einer gemeinsamen Stichprobe von Migranten und deutscher
Wohnbevölkerung.12 Voraussetzung ist allerdings, dass die Teilnehmer dem Interview in
deutscher Sprache folgen können. D. h. die neue ma-Grundgesamtheit der deutschspra-
11
12
Ebd.
Siehe dazu AG.MA, 2010, FAQS zur »Erweiterung der Grundgesamtheit« der ma 2010 Printmedien im Internet:
http://www.agma-mmc.de/files/FAQ.pdf.
95
ULRICH NEUWÖHNER
chigen Bevölkerung setzt sich somit aus Deutschen, EU-Ausländern und deutschsprachigen Nicht-EU-Ausländern zusammen. Nicht berücksichtigt sind demnach nur diejenigen Migranten, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, die daher aber – wie
gezeigt – kaum deutschsprachige Medienangebote nutzen. Um das Mediennutzungsverhalten auch dieser Migrantengruppen zu erfassen, werden weiterhin spezielle Untersuchungen notwendig sein.
Zusammenfassung
Die Ergebnisse der SINUS-Studie Migration und Milieus zur Mediennutzung vermitteln
die Grundzüge, wie Migranten mit den in der medialen Umwelt vorhandenen Angeboten
umgehen. Dabei zeigt sich erneut, dass es zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund keine Parallelmedienwelten, sondern viele Gemeinsamkeiten gibt. Viele
Migranten nutzen das Mediensystem der Bundesrepublik in ganz ähnlicher Weise wie
die Gesamtbevölkerung. Dies bedeutet auch, dass sie in Bezug auf Angebote Präferenzen
entwickelt haben, die mit ihrer Grundorientierung und sozialen Lage in Zusammenhang
stehen. Der milieuspezifische Ansatz weist daher darauf hin, dass zwischen Migranten
und Gesamtbevölkerung vor allem viele Gemeinsamkeiten bestehen und sich der Fokus
von den Unterschieden auf das Gemeinsame verlagert. Mediale Integration bedeutet daher
schließlich auch, dass Menschen mit Migrationshintergrund in allen Programmen und
Angeboten eine selbstverständliche Präsenz auch als Akteure und Redakteure erlangen.
96
M I G R AT I O N U N D I N T E G R AT I O N
Migration und Integration. Eine Herausforderung
für Politik und Medien
nicht erst seit der SINUS-Studie
VON KARL-HEINZ MEIER-BRAUN
1. Die Rolle der Medien
Den Medien kommt eine wichtige Rolle zu, was die viel beschworene Integration angeht.
Sie können Vorurteile verstärken oder abbauen helfen. Lange Zeit zeichneten Medien ein
undifferenziertes Bild der »Ausländer« in Deutschland. Die Weiterentwicklung, die in
der zweiten und weiteren Generation stattgefunden hat, blieb weitgehend unberücksichtigt. Die »Frau mit dem Kopftuch« erscheint auch heute noch öfters als Symbol für die
Mehrzahl der Ausländer, sprich Türken. Das verzerrt die Wirklichkeit. Es fehlten und
fehlen positive oder auch »normale Bilder« aus der Alltagswirklichkeit im Zusammenleben zwischen Einheimischen und Zugewanderten, auch wenn sich die Berichterstattung merklich verbessert hat. Es mangelt noch an grundsätzlichen Informationen und
Hintergrundberichten. So wird von der breiten Bevölkerung bei Umfragen die Zahl der
Ausländer in Deutschland weit überschätzt, oft sogar noch eine doppelt so hohe Anzahl
angegeben, wie sie der Wirklichkeit entspricht, und das selbst von Personen, die keine
Vorbehalte gegenüber Ausländern hegen. Gerade diese Überschätzung könnte aus der
dramatisierten Darstellung des Ausländerthemas in Politik und Medien resultieren.
Wenn von der weltweiten Migration in den Medien die Rede ist, steht oft das Bedrohliche
im Vordergrund. »Ansturm auf die Wohlstandsfeste«, »Ansturm der Armen«, »Sturm
auf Europa« – so lauteten beispielsweise Schlagzeilen von Nachrichtenmagazinen. Bei
der Begriffswahl und Sprache in den Migrationsberichten haben sich Ausdrücke aus
der Welt des Militärischen oder gar des Verbrechens eingeschlichen. Insgesamt besteht
die Gefahr, dass die Medien das alte Feindbild »Bedrohung durch den Kommunismus«
durch ein neues, nämlich »Bedrohung durch die neue Völkerwanderung« bzw. durch
den Islam ersetzen. Viel wichtiger wäre es jedoch, wenn die Medien über die Fluchtursachen aufklären und immer wieder deutlich machen würden, dass sich das Weltflüchtlingsproblem auf der südlichen Halbkugel und nicht bei uns abspielt. Die dramatischen
Bilder von »Armutsbootsflüchtlingen« im Mittelmeer weisen aber sehr eindrucksvoll
auf die Ausläufer des Dramas hin und können über die Medien das Bewusstsein für
das Problem schärfen und Fluchtursachen deutlich machen. Manchmal wird allerdings
der Eindruck erweckt, Migranten und Flüchtlinge seien das Problem und nicht Kriege,
Konflikte und der Nord-Süd-Gegensatz. Es wäre fatal, wenn Migranten und Flücht97
K A R L- H E I N Z M E I E R - B R AU N
linge zu Sündenböcken für weltweite und innerstaatliche Probleme wie Massenarbeitslosigkeit gemacht würden.
1.1. Die Situation in Deutschland
Journalisten aus den Einwandererfamilien sind zwar schon längst keine Exoten mehr in
der deutschen Medienlandschaft, man findet aber immer noch viel zu wenige von ihnen
in Presse, Funk und Fernsehen. Dabei können sie das redaktionelle
Die Medien müssen
Arbeiten bereichern, einen anderen Blickwinkel und Sachverstand
weiterhin ihre Rolle als
kritische Begleiter der
einbringen, die Berichterstattung erleichtern und ein neues Publikum
Migrationspolitik und
an die Medien binden. Gerade hier müssen die öffentlich-rechtlichen
ihre wichtige Wächterfunktion wahrnehmen.
Rundfunkanstalten, aber auch die Printmedien ihre Bemühungen
verstärken und insgesamt das »Ausländerthema« fest in der Ausund Fortbildung verankern. Die Tatsache, dass sich die Bundesrepublik jahrzehntelang
weigerte, den Tatsachen eines Einwanderungslandes ins Auge zu sehen, hat sich natürlich
auch in den Medien niedergeschlagen.1
Lange Zeit waren es auch Journalisten, die als »einsame Mahner« in der Wüste staatliche
Integrationsmaßnahmen gefordert und sich für die Anerkennung der Realitäten im Einwanderungsland Deutschland ausgesprochen haben.2 Die Erkenntnis, dass Deutschland
Einwanderungsland ist und dass die Politik dies offiziell akzeptiert hat, ist auch auf die
Berichterstattung in den Medien zurückzuführen.
Im Rahmen des Nationalen Integrationsplans vom 12. Juli 2007 haben sich die Medien –
allen voran die ARD – zu verstärkten Integrationsmaßnahmen verpflichtet. Die Medien
müssen aber weiterhin ihre Rolle als kritische Begleiter der Migrationspolitik und ihre
wichtige Wächterfunktion wahrnehmen. Dies könnte schwierig werden, da die Medien
selbst ein Teil des Integrationsplans sind und damit gleichsam in die staatliche Migrationspolitik eingebunden werden.
1.2. Die Situation im europäischen Ausland
Nicht nur in Deutschland spielen die Medien eine wichtige Rolle in der Migrationspolitik.
So zeigt beispielsweise eine Untersuchung, die sich mit den sozialen Bewegungen illegaler
Migranten befasst, wie in Spanien, Frankreich und der Schweiz sogenannte »Illegale« erfolgreich ein kollektives Bleiberecht mit Unterstützung der Medien erkämpfen konnten. Tageszeitungen – so das Ergebnis der Untersuchung – fungierten in allen drei Ländern als Unterstützer der Legalisierungsbewegungen.3 In allen drei untersuchten Ländern wurden die
Proteste illegaler Migranten durch die Medien zu einem beherrschenden Thema in der Öffentlichkeit. Das Thema insgesamt erhielt ein hohes Maß an Personalisierbarkeit und Emoti1
2
3
Meier-Braun, K. H.: Deutschland, Einwanderungsland. Frankfurt 22003.
Frech, S./Meier-Braun, K. H. (Hg.): Die offene Gesellschaft – Zuwanderung und Integration. Schwalbach/Ts 2007.
Laubenthal, B.: Der Kampf um Legalisierung. Soziale Bewegungen illegaler Migranten in Frankreich, Spanien und
der Schweiz. Frankfurt/New York 2006.
98
M I G R AT I O N U N D I N T E G R AT I O N
onalität. Durch die Bündelung von Aspekten wie Ausbeutung, Gewalt und Tod erreichte es
eine intensive Nachrichtenrelevanz. Der zentrale Beitrag der Medien zum Erfolg der Bewegungen bestand darin, dass sie einen eigenen, veränderten Diskurs zur illegalen Migration in
Bewegung setzten. Sie bewirkten damit einen Perspektivenwechsel in der öffentlichen Wahrnehmung: Sogenannte illegale Migranten wurden nicht mehr länger als anonyme Gruppe
und als Herausforderung für die nationale Sicherheitspolitik gesehen, sondern als Individuen
und gleichzeitig als Opfer verfehlter staatlicher Einwanderungspolitik dargestellt. In diese
veränderte Darstellung flossen auch Argumente für eine Legalisierung des Aufenthalts von
illegalen Migranten ein. Die Medien appellierten an die jeweiligen Regierungen, illegalen
Migranten ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. Sie waren vor allem der Transmissionsriemen,
der die Forderungen der Bewegungen in Druck auf die Regierungen umwandelte. Die Untersuchung geht davon aus, dass die Medienberichterstattung politische Entscheidungen beeinflusst hat. Alle untersuchten Tageszeitungen – regionale und nationale, linke und rechte –
behandelten das Thema Legalisierung intensiv, und es bestand eine hohe Übereinstimmung
in der Bewertung und Kommentierung. In Frankreich beispielsweise sorgten die Medien
auch in der Sprachpolitik für Veränderungen: von clandestins zu sans-papiers.
2. Die Rolle der Politik
Die Massenmedien haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Aber auch die Eliten
in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die durch ihre Äußerungen das »Ausländerbild«,
die öffentliche Debatte, den Diskurs über Minderheiten in Deutschland entscheidend mitprägen. Parolen wie »Ausländer leben auf unsere Kosten« entstehen nicht unbedingt an
den Stammtischen, sondern werden mit Aussagen wie »Einwanderung in die Sozialsysteme« in die Welt gesetzt und dann von den Stammtischen aufgegriffen.
2.1. Das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat (2002)
Oftmals reichen die Medien nur weiter, was ihnen Politiker und Ministerien, auf deren
Informationen sie angewiesen sind, in der Ausländerpolitik vorgegeben haben. Wie sehr
die Politik auf die Medien achtet, was die Darstellung ihrer Rolle in der Ausländerpolitik
angeht, zeigt das Beispiel der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz am 22. März
2002 im Bundesrat:4 Die Empörung vom Vorabend über die bevorstehende, umstrittene
Zählweise des Bundesratspräsidenten wurde – so Peter Müller (CDU), Ministerpräsident
des Saarlandes – nochmals am nächsten Tage sozusagen für die Medien in der Bundesratssitzung »nachgespielt«. Jörg Schönbohm sagte beispielsweise, als er vom Posten des
Berliner Innensenators zum Amt des Vorsitzenden der Brandenburger CDU wechselte,
er habe Worte wie die »Auflösung der türkischen Ghettos in Berlin« wählen müssen,
4
Bei der Abstimmung über das Gesetz im Bundesrat stimmte das Schlüsselland Brandenburg uneinheitlich: Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) votierte mit Ja, sein Koalitionspartner, Innenminister Jörg Schönbohm (CDU),
mit Nein. Bundesratspräsident Klaus Wowereit wertete dieses gesplitterte Votum nach einer Nachfrage als Zustimmung, obgleich dies verfassungsrechtlich strittig ist.
99
K A R L- H E I N Z M E I E R - B R AU N
um die Aufmerksamkeit der Medien zu erreichen. Wochen und Monate lang habe er
das Zusammenleben der Völker ausgewogen kommentiert, aber niemand habe eine Zeile
geschrieben.
2.2. Die Nützlichkeitsdebatte
In den letzten Jahren hat sich ein gewisser Wandel in Politik und Medien hin zu einem
positiveren »Ausländerbild« vollzogen: Weg vom »Gastarbeiter bei der Müllabfuhr« hin
zum »gesuchten Computerspezialisten«. Die Erkenntnis, dass wir aufgrund des Bevölkerungsrückgangs verstärkt auf Einwanderung angewiesen sind, hat sich in Politik und
Medien niedergeschlagen. Das Bild »Das Boot ist voll« entwickelt sich zum »Das Boot
wird immer leerer«. Das Fundament, auf dem diese neue Sicht von Migration steht, ist
allerdings noch sehr schwach und hat bereits Risse bekommen. Außerdem besteht die
Gefahr, dass auch in Medien, nicht nur in der Politik, zwischen Ausländern, die – wie es
heißt – »uns nutzen und solchen, die uns ausnutzen«, unterschieden wird und damit vor
allem Flüchtlinge und Asylbewerber weiter ausgegrenzt werden. Eine Nützlichkeitsdebatte hat auf jeden Fall längst eingesetzt. Die Frage bleibt, warum der Diskurs – selbst in
Wahlkämpfen – nicht auch von positiven Bildern bestimmt werden kann, ohne dass die
Probleme und Schwierigkeiten ausgeklammert werden. Warum kann nicht zum Beispiel
verstärkt auf die Bedeutung und Leistungen der ausländischen Wohnbevölkerung für
Wirtschaft und Gesellschaft hingewiesen werden?
Migration als Bereicherung – das ist aber kaum ein Thema in Politik und Medien.
3. Migration und Integration am Beispiel des Südwestrundfunks (SWR)
Der Süddeutsche Rundfunk richtete bereits am 1. Dezember 1961 eine halbstündige Wochensendung für Italiener ein. Die neun Landesrundfunkanstalten der ARD beschlossen, vom 1. November 1964 an, im Hörfunk gemeinsam ein allabendliches Ausländerprogramm auszustrahlen. Dieser Gastarbeiterfunk richtete sich an italienische, türkische,
griechische, spanische und jugoslawische Hörer. Im Laufe der Jahre ging die Nutzung der
Programme immer weiter zurück. Die Sendungen wurden der veränderten Situation im
Einwanderungsland Deutschland angepasst. Die Bewusstseins- und Praxisveränderung
führte zu einem interkulturellen Angebot. Aus den Gastarbeitersendungen wurde ein multikulturelles Angebot für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.
Mit der täglichen Sendung SWR International hat der Sender ein modernes Radioangebot
in deutscher Sprache eingerichtet, das durch ein mehrsprachiges Internetangebot ergänzt
wird. Außerdem ist das Thema Migration und Integration längst in der Mitte des Programms verankert. Beim SWR wird mit Migranten und nicht über sie gesprochen. Als
Vertreter der Migranten saß nach der Gründung des SWR Memet Kiliç im Rundfunkrat,
heute hat Rino Iervolino dieses Amt inne.
100
M I G R AT I O N U N D I N T E G R AT I O N
Der SWR hat in seinem Sendegebiet den höchsten Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund in Deutschland.5 Stuttgart weist im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten bundesweit mit vierzig Prozent den höchsten Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund auf, Mannheim liegt bei knapp dreißig Prozent, Mainz bei mehr als zwanzig
Prozent.6 Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung wird dieser Anteil im Publikum der
Rundfunkanstalten weiter zunehmen.
3.1. Fachredaktion SWR International
SWR International ist eine Fachredaktion des Südwestrundfunks mit Sitz in Stuttgart.7
Als Schnittstelle beliefert sie alle Programme mit Informationen und Beiträgen und stellt
innerhalb des Senders ein Kompetenzzentrum für Migration, Integration und Interkulturelles dar.
Mit einer breiten Palette von Themen aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, dem gesamten Bundesgebiet und auch aus dem Ausland leistet die Redaktion einen Beitrag für die
Integration von Migranten. Deutschen Hörern möchte SWR International einen anderen
Blickwinkel für das Zusammenleben von Zugewanderten und Einheimischen liefern und
damit auch zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beitragen. Journalisten mit einem
multikulturellen Hintergrund gestalten die Sendungen und schaffen so einen lebenden Beweis für die Integration in den Medien. Im Radio bietet SWR International auf SWR.Contra
täglich von Montag bis Freitag von 16.05 Uhr bis 16.30 Uhr ein multikulturelles Magazin an.
3.2. Ausblick
Im SWR findet die Integration mitten im Programm statt. Zahlreiche Journalisten haben
selbst einen Migrationshintergrund. In diesem Zusammenhang schrieb eine Tageszeitung: »Hier wird auch eingelöst, was oft nur vollmundig verlangt wird: mehr Menschen
mit Migrationshintergrund ans Mikrofon, wie die Moderatoren Cüneyt Özadali, Anna
Koktsidou oder Utku Pazarkaya.«8
Im Rahmen des 1. Fortschrittsberichts des Nationalen Integrationsplans strebt die ARD
an, »in naher Zukunft für ihre Hauptinformationsformate im Ersten verstärkt geeignete
Journalist/Innen mit Migrationshintergrund zu gewinnen«. Der Fortschrittsbericht stellt
auch fest, dass der Nationale Integrationsplan in den Medien die Sache der Integration
vorangebracht hat. Durch den demografischen Wandel werden Migranten gerade auch
für die Presse immer wichtiger als Leser oder Abonnenten. Alle Studien belegen, dass
5
Meier-Braun, K. H./Weber, R. (Hg): Kulturelle Vielfalt. Baden-Württemberg als Einwanderungsland. Stuttgart
2005.
Meier-Braun, K. H./Weber, R.: Kleine Geschichte der Ein- und Auswanderung in Baden-Württemberg. Regionalgeschichte – fundiert und kompakt. Leinfelden-Echterdingen 2009.
7
Stuttgart: Zuwanderung seit 30 Jahren als Chance und Bereicherung – Die Integrationspolitik der Landeshauptstadt
gilt bundesweit als vorbildlich. In: Statistik und Informationsmanagement, Monatshefte, Landeshauptstadt Stuttgart, 3/2008. S 60 ff.
8
Erschienen in der taz vom 16. Oktober 2007.
6
101
K A R L- H E I N Z M E I E R - B R AU N
Menschen mit Migrationshintergrund sowohl deutsche als auch fremdsprachige Medien
benutzen. Die Medien stehen hier vor einer Herausforderung, das ungenutzte Potenzial
dieser Zielgruppe zu erschließen und Migranten noch besser in die Medien zu integrieren.
4. Acht Thesen zur Bedeutung der SINUS-Milieu-Studie für die
Programmplanung
1. Besonders in den jungen Jahrgängen, deren Einbeziehung in die Programme sich der
SWR als Unternehmensziel gesetzt hat, haben wir heute schon überdurchschnittliche
Anteile von Migranten. Bis zum Jahr 2019 wird aufgrund des demografischen Wandels voraussichtlich fast die Hälfte aller Gebührenzahler einen Migrationshintergrund
haben.
2. Ein wichtiges Unternehmensziel für die Medien sollte die Einbeziehung von Menschen
mit Migrationshintergrund sein.
3. Die Alltagswirklichkeit einer Gesellschaft mit vielen Kulturen müsste sich als Normalität in den Medien widerspiegeln.
4. Der Kultur- und Heimatbegriff sollte der Realität eines multikulturellen Landes angepasst werden. Wie über Fasnetsbräuche, Volksfeste und Umzüge berichtet wird, so
müsste es beispielsweise auch Sendungen über ein Sommerfestival der Kulturen geben.
5. Das Thema Migration und Integration sollte als Querschnittsaufgabe in den Medien verankert sein.
6. Das Thema müsste zur »Chefsache« werden und entsprechende Unterstützung erhalten.
7. Hintergrundberichte über Fluchtursachen und weltweite Migration sind gefragt.
8. Projekte speziell für Jugendliche müssten ausgebaut werden. Dabei sollten Inhalte in soziale Netzwerke (beispielsweise Facebook oder Twitter) ausgespielt werden und Schüler
beispielsweise über Medienworkshops direkt in Programme und Onlinepräsenz eingebunden werden.
102
Z U M S TA N D D E R R E Z E P T I O N S - U N D W I R K U N G S F O R S C H U N G
Zum Stand der Rezeptions- und Wirkungsforschung
Ein Kommentar aus der Perspektive der angewandten
Medienforschung1
VON ERK SIMON
Welche Rolle spielen die Medien im Integrationsprozess, wie und mit welchen Erwartungen werden die Medien von Zuwanderern genutzt? Wie werden Integration als
Thema und Zuwanderer als Akteure in den Medien abgebildet und welche Wirkung
haben die Programmangebote auf unterschiedliche Zuschauergruppen? Für die Programmverantwortlichen sind Antworten auf diese Fragen wichtig, um attraktive Programmgenres, Themen und Sendeplätze anbieten zu können, die Zuwanderer ebenso
wie ‚Bio-Deutsche’2 erreichen und ansprechen. Ich möchte eine kurze Einschätzung aus
Sicht der angewandten Forschung geben sowie auf kontrovers diskutierte Themen und
offene Fragen hinweisen.
Die erste Studie zur Mediennutzung von Zuwanderern führten ARD und ZDF bereits
im Jahr 1982 durch. In den vergangenen Jahren wurde die Forschung intensiviert, zum
Beispiel mit Studien zur Radionutzung, zu einzelnen Zielgruppen wie etwa jungen türkischstämmigen Zuwanderern, zu Nutzungsmotiven sowie exemplarischen Wirkungsanalysen. Im Jahr 2007 führten ARD und ZDF dann die erste umfassende, bundesweit
repräsentative Studie zur Mediennutzung Medien und Migranten 2007 durch, die sich am
Vorbild der Langzeitstudie Massenkommunikation orientierte und Zuwanderer aus verschiedenen Herkunftsländern einbezog.3 ARD und ZDF werden diese Studie kontinuierlich fortsetzen, die nächste Untersuchungswelle ist für das Jahr 2011 geplant.
1. Repräsentanz von Zuwanderern/Themen der Einwanderungsgesellschaft
Medien wirken nur mittelbar und können nicht in einer einfachen Ursache-WirkungRelation die gewünschten positiven Integrationseffekte erzielen.4 Zunächst sind Repräsen1
Teile dieses Beitrages wurden in einer früheren Version bereits in Media Perspektiven publiziert. Vgl.: Zambonini,
G./Simon, E.: »Kulturelle Vielfalt und Integration: Die Rolle der Medien. Forschungsstand, Perspektiven und Maßnahmen.« In: Media Perspektiven, 3/2008. S. 120 ff.
2
Der Begriff ‚Bio-Deutsche’ wird hier für alle Deutschen ohne Migrationshintergrund verwendet, die in Deutschland
geboren sind und hier leben.
3
Darkow, M./Eckhardt, J.: »Massenmedien und Ausländer in der Bundesrepublik. Erste Ergebnisse eines ARD/ZDFProjekts zum Medienverhalten in der Bundesrepublik lebender Griechen, Italiener, Jugoslawen, Spanier und Türken.« In: Media Perspektiven, 7/1982. S. 462 ff. Siehe auch Simon, E.: »Migranten und Medien 2007. Zielsetzung, Konzeption und Basisdaten einer repräsentativen Studie der ARD/ZDF-Medienkommission.« In: Media Perspektiven,
9/2007. S. 426 ff. Walter, M./Schlinker, U./Fischer, C.: »Fernsehnutzung von Migranten. Ergebnisse der ARD/ZDFStudie Migranten und Medien 2007.« In: Media Perspektiven, 9/2007. S. 436 ff. Oehmichen, E.: »Radionutzung von
Migranten. Ergebnisse der ARD/ZDF-Studie Migranten und Medien 2007.« In: Media Perspektiven, 9/2007. S. 452 ff.
4
Vgl. Trebbe, J./Weiß, H. J.: »Integration als Mediennutzungsmotiv? Eine Typologie junger türkischer Erwachsener
in Nordrhein-Westfalen.« In: Media Perspektiven, 3/2007. S. 136 ff.
103
ERK SIMON
tanz von Migranten in den Medien und die Abbildung politischer und gesellschaftlicher
Diskurse wichtige integrative Funktionen, die zum Abbau von Vorurteilen und sozialer
Distanz beitragen können.5 Immer wieder wurde und wird kritisiert, dass Medien ein
unvollständiges Bild der Zuwanderer in Deutschland zeichnen, indem sie zu wenig Normalität abbilden und über Zuwanderer zu häufig in problematischen Zusammenhängen
(z. B. Integrationsprobleme, Kriminalität, Terrorismus) berichten. Damit verbunden ist
der Vorwurf an die Medien, stereotype Wahrnehmungen zu befördern und Ängste und
Ressentiments zu schüren. Der Kommunikationswissenschaftler Bonfadelli hat in diesem
Zusammenhang vier Problemfelder identifiziert:6
Zeigen und Ausblenden: Phänomene werden immer wieder in einen ganz bestimmten
Kontext gestellt, der eine bestimmte Realität nahelegt (z. B. extremer Islamismus als Ursache). Das normale, unspektakuläre Leben wird dagegen ausgeblendet.
Symbole statt Information: Damit ist die Wiederholung der immer gleichen Zeichen gemeint (z. B. Kopftuchträgerinnen, sich zum Gebet niederkniende Moslems).
Willkürliche Verknüpfungen: z. B. Gleichsetzung Islam und Gewalt.
Metaphern und Stereotype: Durch Wiederholung der immer gleichen Bilder und Ausschnitte
wird latent ein Bedrohungsszenario erzeugt, z. B. Muslime sind bald in der Mehrheit.
Forschungsarbeiten (Inhaltsanalysen) zu diesen Fragen beziehen sich in vielen Fällen allerdings nur auf Teile des Programmangebotes, oft auf Nachrichten, die spezifischen Produktions- und Auswahlbedingungen (Nachrichtenfaktoren) unterliegen und nicht ohne
Weiteres auf andere Genres übertragbar sind. Diese speziellen BeMehrfach wurde darauf
hingewiesen, dass unter- dingungen betreffen in erster Linie die Themenauswahl, die durch
haltende und fiktionale
die Faktoren Aktualität, Konflikthaltigkeit und Relevanz geprägt
Sendungen in besondesind. Im Sinne der unterstellten Wirkungen auf die Zuschauer reicht
rem Maße integrative
es dabei nicht, allein die Themenauswahl der Sendungen zu unterPotenziale bieten.
suchen. Wichtiger wäre es zu wissen, wie die Themen aufbereitet
werden. Werden etwa unterschiedliche Standpunkte dargestellt und diskutiert oder wie
häufig und in welcher Funktion treten Zuwanderer auf?
Einzelne Untersuchungen, die sich auf andere Genres und längere Programmstrecken
beziehen, sind seltener und kommen durchaus zu anderen Ergebnissen. Mehrfach wurde
5
Vgl. Esser, H.: »Assimilation, Integration und ethnische Konflikte. Können sie durch ‚Kommunikation’ beeinflusst
werden?« In: Schatz, H./Holtz-Bacha, C./Nieland J.-U. (Hg.): Migranten und Medien. Neue Herausforderungen an
die Integrationsfunktion von Presse und Rundfunk. Wiesbaden 2000. S. 25 ff.
6
Bonfadelli, H.: »Die Darstellung ethnischer Minderheiten in den Massenmedien.« In: Bonfadelli H./Moder, H.
(Hg.): Medien und Migration. Europa als multikultureller Raum? Wiesbaden 2007. S. 95 ff.
104
Z U M S TA N D D E R R E Z E P T I O N S - U N D W I R K U N G S F O R S C H U N G
darauf hingewiesen, dass unterhaltende und fiktionale Sendungen in besonderem Maße
integrative Potenziale bieten.7 So weisen beispielsweise viele Filme sozialkritisch auf Alltagsrassismus, Flüchtlingselend hin und geben positive Beispiele für das Zusammenleben
der Zuwanderer und Deutschen ohne Migrationshintergrund. Christina Ortner stellt in
ihrer Analyse der ARD-Tatort-Reihe z. B. fest, dass in diesen Krimis das Thema Migration vielseitig beleuchtet wird und Beispiele für konfliktfreies Zusammenleben aufgezeigt
werden.8
Zahlreiche Beispiele belegen die Potenziale von fiktionalen Angeboten, die Themen Integration und Zuwanderung mit einem hohem Wirkungsgrad zu präsentieren, so z. B.:
Zeit der Wünsche (BR/WDR), Wut (WDR), Neger, Neger, Schornsteinfeger (ZDF), Madrid
(ZDF) oder auch die Serien Tatort, Türkisch für Anfänger, Lindenstraße (ARD) und Kriminaldauerdienst (ZDF). In ganz unterschiedlichen Formaten in öffentlich-rechtlichen und
privaten Programmen lassen sich Beispiele für die verstärkte Präsenz von Zuwanderern
im deutschen Fernsehen finden, neben den aktuellen Sendungen, politischen Magazinen,
Reportagen und Dokumentationen auch in den Sparten Show, Kinderprogramm und
Comedy.
Eine Programmanalyse am Beispiel des WDR-Fernsehens aus dem Jahr 2004 ermittelte,
dass Zuwanderer und das Thema Integration in zahlreichen Sendungsformen, Genres
sowie in vielfältigen Themenzusammenhängen anzutreffen sind.9 Die Themenbereiche,
in denen Migration und Migranten im WDR-Fernsehen vorkommen, sind nicht auf
Problembereiche beschränkt. Am stärksten ist die Präsenz von Zuwanderern und dem
Thema Integration bei den tagesaktuellen regionalen Sendungen, die sich besonders dicht
am Lebensalltag der Menschen in Nordrhein-Westfalen orientieren. Dieser Befund ist
auch deshalb besonders wichtig, weil Sendungen wie Aktuelle Stunde, Lokalzeit und Westpol die zuschauerstärksten Angebote des WDR-Fernsehens darstellen.
Obgleich es bislang keine Längsschnittstudien gibt, die diese Entwicklungen anhand von
empirischen Daten belegen, deutet vieles daraufhin, dass die Präsenz von Zuwanderern in
den Medien zugenommen und sich der häufig beklagte Negativismus abgeschwächt hat.
Zukünftige Programmanalysen in diesem Bereich sollten das Programmangebot möglichst umfassend analysieren und insbesondere auch fiktionale und unterhaltende Genres
berücksichtigen. Nur anhand standardisierter und damit vergleichbarer Erhebungsinstrumente lassen sich Entwicklungen über einen längeren Zeitraum erfassen und Veränderungen in der Präsenz sowie in der Darstellung von Zuwanderern belegen.
7
Vgl. Geißler, R.: »Hybride Mediennutzung. Migration und Medien als Modethema.« In: epd Medien, 6/2008. S. 9 ff.
Vgl. Ortner, C.: Migration. »Das Thema Einwanderung in der Reihe Tatort.« In: Medien und Kommunikation
1/2007. S. 5 ff.
9
Vgl. Krüger, U./Simon, E.: »Das Bild der Migranten im WDR-Fernsehen. Ergebnisse einer empirischen Programmanalyse.« In: Media Perspektiven, 3/2005. S. 105 ff.
8
105
ERK SIMON
Kritisch muss auch angemerkt werden, dass sich Inhaltsanalysen fast ausschließlich auf
TV und Presse beziehen. Für das reichweitenstarke Medium Hörfunk, wo es insbesondere bei den öffentlich-rechtlichen Programmen ein umfangreiches Programmangebot
zum Thema Integration und Zuwanderung gibt, sind fast keine entsprechenden Untersuchungen vorhanden.
2. Mediennutzung/Fokus: Türkischstämmige Zuwanderer
Die Medien können ihre integrative Funktion nur dann erfüllen, wenn sie auch genutzt
werden und somit Informationen über verschiedene soziale und kulturelle Gruppen kommunizieren können. Insbesondere dem Fernsehen kommt dabei eine wichtige Rolle zu,
weil es das reichweitenstärkste Medium bei Migranten ist.10
Die vorliegenden Forschungsergebnisse zeigen, dass eine starke Nutzung heimatsprachiger Medien, wie sie zum Beispiel insbesondere bei den Migranten türkischer Herkunft
zu finden ist, nicht unbedingt als mediale Abgrenzung oder Rückzug in das viel zitierte
Medienghetto interpretiert werden muss. Nicht die Assimilation an die deutsche Medienkultur, das heißt die überwiegende Nutzung deutschsprachiger Medien, sondern vielmehr die Integration von Elementen der Herkunftskultur (heimatsprachige Medien) mit
denen deutscher Kultur (deutsche Medien) entspricht der Lebenswirklichkeit der meisten
Zuwanderer in Deutschland.
Dem entsprechen die vorliegenden Forschungsergebnisse, die zwischen Integrationsstatus
und Nutzung deutschsprachiger Medien meist nur schwache Zusammenhänge finden, so
dass die Formel Nutzung deutschsprachiger Medien gleich gelungene Integration in Frage zu
stellen ist.11
Wie stark das Interesse und die Bindung an heimatsprachige Programme ausgeprägt ist,
hängt dabei stark von den Faktoren Alter, Geburtsland, Bildung sowie den deutschen
Sprachkenntnissen ab. Zwar ist in quantitativer Hinsicht festzustellen, dass der Umfang der
Nutzung heimatsprachiger Programme bei jüngeren Generationen geringer wird. Jedoch
können sich offenbar aufgrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen zumindest temporär auch gegenläufige Tendenzen ergeben. So kam eine WDR-Studie aus dem Jahr 2006
zu dem Ergebnis, dass sich türkischstämmige junge Erwachsene wegen des veränderten gesellschaftlichen Klimas – Zunahme von Vorurteilen, Stereotypen, abweisenden Haltungen
– und der prekären sozialen Lage wieder stärker und offensiver zur türkischen Kultur bekennen als ältere Altersgruppen. Die Nutzung des türkischen Fernsehens spielt in diesem
Zusammenhang auch für das Selbstbild und die Identitätsbildung eine wichtige Rolle.
Nach unseren Ergebnissen ist die sogenannte hybride Mediennutzung bei türkischstämmigen Zuwanderern dominierend: So ist es auch für Jugendliche durchaus typisch, am
10
11
Vgl. Walter/Schlinker/Fischer: »Fernsehnutzung von Migranten.«
Vgl. Trebbe/Weiß: »Integration als Mediennutzungsmotiv?«
106
Z U M S TA N D D E R R E Z E P T I O N S - U N D W I R K U N G S F O R S C H U N G
Abend zunächst die Daily-Soap im türkischen Fernsehen gemeinsam mit den Eltern zu
sehen und danach im eigenen Zimmer vielleicht CSI oder Germany’s next Topmodel im
deutschen Fernsehen einzuschalten.
Die überwiegende Mehrheit der Zuschauer türkischer Herkunft schaltet täglich sowohl
deutsches als auch türkisches Fernsehen ein, wobei die Tagesreichweite des türkischen
Fernsehens etwas höher ist. 61 Prozent sehen täglich deutsche und 70 Prozent türkische
Fernsehprogramme. Jüngere und in Deutschland geborene Zuschauer schalten dabei eher
deutsche Programme ein. So liegt die tägliche Nutzung deutscher und türkischer Programme bei der Altersgruppe 14 bis 29 Jahre mit 68 Prozent auf einem identischen Niveau. Von den türkischen Zuschauern, die in Deutschland geboren sind, werden deutsche
Programme (74 Prozent) sogar stärker als türkische Programme (65 Prozent) gesehen.
Anders bei Zuschauern, die als Sprache Türkisch bevorzugen: Hier dominiert eindeutig die Nutzung türkischer Programme mit 77 Prozent täglicher Nutzung, während das
deutsche Fernsehen nur auf 46 Prozent kommt. Nur eine Minderheit – 16 Prozent – sieht
(fast) nie deutsches Fernsehen, wobei dieser Anteil bei Jüngeren und in Deutschland Geborenen am geringsten ist. Noch geringer – 9 Prozent – ist der Anteil derjenigen, die nie
türkische Programme einschalten.
Deutsches und türkisches Fernsehen, tägliche Nutzung
in Prozent
66
GESAMT
14 BIS 19 JAHRE
70
68
68
55
30 BIS 49 JAHRE
DEUTSCHLAND
65
52
TÜRKEI
INTERVIEW: DEUTSCH
63
46
INTERVIEW: TÜRKISCH
0
20
40
deutsches Fernsehen
72
74
74
74
77
60
80
100 %
türkisches Fernsehen
107
ERK SIMON
Zuwanderer sind auch in Bezug auf ihr Medienverhalten keine homogene Gruppe. Eine
nach Herkunftsländern und nach Soziodemografie differenzierte Betrachtung des Mediennutzungsverhaltens ist deshalb notwendig. Zu häufig werden generalisierte Aussagen
über die Migranten als Bevölkerungsgruppe insgesamt getroffen. Eine differenziertere
Analyse kann nach Faktoren der sozialen Lage, nach Nutzertypen oder nach Wertorientierungen und Lebenswelten erfolgen. Die Migranten haben, sofern sie selbst zugewandert sind, eine in Bezug auf Nutzungsgewohnheiten, Rezeptionserleben und inhaltliche
Präferenzen sehr vielfältige Mediensozialisation erfahren. Insbesondere an Forschungsprojekten, welche die Rolle der Mediensozialisation in der Familie und im Herkunftsland sowie die Einflussstärke kulturell geprägter Präferenzen und Nutzungsweisen in
den Blick nehmen, besteht nach wie vor ein Defizit. Solche Forschungsansätze könnten
auch dazu beitragen, die vorliegenden repräsentativen Ergebnisse besser zu erklären und
Empfehlungen für die Programmgestaltung abzuleiten.
3. Medienwirkung
Die Fragen der Medienwirkung können auf verschiedenen Ebenen untersucht werden,
wobei die in diesem Band von Bradley W. Gorham ausgeführten Analysen zur Bildung
und zur Wirkung stereotyper/klischeehafter Darstellungsformen eine hohe Relevanz
für die Medienpraxis haben.12 Insbesondere in Deutschland werden diesbezügliche Forschungsergebnisse zu wenig erklärt und häufig rein deskriptiv für die medienpolitische
Diskussion instrumentalisiert. Eine verstärkte Auseinandersetzung mit den methodischen
Ansätzen der amerikanischen Wirkungsforschung als auch mit der konstruktiven Umsetzung der Ergebnisse in der Programmarbeit würde die Diskussion in Deutschland sicher
voranbringen.
Aus der Sicht der angewandten Forschung interessiert außerdem die Frage, wie deutsche und heimatsprachige Medien generell und wie einzelne Programmangebote auf die
Zuschauer wirken, wie sie bewertet werden und welche Unterschiede diesbezüglich zwischen Zuwanderern und Deutschen und Zuwanderungshintergrund bestehen.
Heimat- und deutschsprachige Programme haben unterschiedliche Funktionen und sind
gleichermaßen wichtig für die Meinungs- und Identitätsbildung. Neben der Informationssuche in Bezug auf aktuelle Ereignisse im Heimatland sind das emotionale Erleben
bestimmter Programmangebote im türkischen Fernsehen (z. B. bei täglichen Serien) und
auch die Nutzung im Familienkontext wichtige Motive für die Hinwendung zu heimatsprachigen Medien. Insbesondere im Hinblick auf das emotionale Erleben bei der Mediennutzung – und dies gilt sowohl für Unterhaltungs- als auch für Informationssendungen –
werden starke kulturell geprägte Unterschiede zwischen deutschen und heimatsprachigen
12
Vgl. den Beitrag von Gorham in diesem Band. S. 30-42.
108
Z U M S TA N D D E R R E Z E P T I O N S - U N D W I R K U N G S F O R S C H U N G
Medien wahrgenommen.13 Die Prägung durch zwei Länder und Kulturen spiegelt sich in
der Nutzung und Wirkung von deutschem und türkischem Fernsehen wider. So wird am
türkischen Fernsehen die Emotionalität geschätzt, die über Spielfilme und Serien, aber
auch über Nachrichten und Magazinsendungen vermittelt wird. Türkisches Fernsehen
bietet außerdem Familienfernsehen im klassischen Sinne: Es thematisiert familiäre Bindungen, betont die Einheit und ermöglicht ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Familie
vor dem Fernseher. Dagegen steht das deutsche Fernsehen für Sachlichkeit und Distanz;
dies gilt sowohl für Informationsangebote als auch für fiktionale Sendungen. Es gilt aber
auch als inhaltlich substanzieller und glaubwürdiger.
Die Forschungsergebnisse zeigen ebenfalls, dass bei den türkischstämmigen Zuschauern – und dies ist sicher auch auf andere Migrantengruppen übertragbar – ein starker
Wunsch nach glaubwürdigen und überzeugenden Darstellern und Moderatoren türkischer Herkunft besteht. Obgleich die Programmqualität des deutschen Fernsehens
generell geschätzt wird, ergibt sich bei anderen Punkten ein durchaus kritisches Bild.
Deutlich wird der Wunsch nach einem positiveren Bild von der Türkei im deutschen
Fernsehen sowie nach einer stärkeren Präsenz von Moderatoren und Darstellern türkischer Herkunft. So stimmen der Aussage »Das Bild, das im deutschen Fernsehen von
der Türkei gezeigt wird, ist oft zu negativ« 72 Prozent der türkischen Zuschauer zu. 75
Prozent wünschen sich im deutschen Fernsehen mehr Hintergrundinformationen aus
der Türkei. Ebenfalls eine eindeutige Mehrheit – 75 Prozent – wünscht sich einen höheren Anteil türkischstämmiger Darsteller und Moderatoren im deutschen Fernsehen.
Auch in Bezug auf fiktionale Sendungen, die als Genres sehr beliebt sind, gibt es Hinweise auf kulturell bedingte Zugangsbarrieren zum deutschen Fernsehen. Der Aussage
»Die Serien im deutschen Fernsehen zeigen oft zu wenig Gefühl« stimmt die Mehrheit
der Befragten (60 Prozent) zu. Immerhin jeder zweite Zuschauer türkischer Herkunft
gibt auch an, dass er die Probleme und Handlungen der Serien im deutschen Fernsehen
oft nicht nachvollziehen kann.
4. Wirkungsforschung zum WDR-Fernsehfilm Wut
Von besonderem Interesse ist die Wirkungsanalyse in Bezug auf die Aufbereitung kontroverser, gesellschaftlich brisanter Themen wie im Fall des WDR-Fernsehfilms Wut.
An diesem Beispiel können die Potenziale einer Wirkungsanalyse dargestellt werden, die
in diesem Fall in Form einer tiefenpsychologischen Exploration auf der Grundlage von
Workshops mit türkischstämmigen und deutschen Jugendlichen erfolgte.14
13
Vgl. Hammeran, R./Baspinar, D./Simon, E.: »Selbstbild und Mediennutzung junger Erwachsener türkischer Herkunft.
Ergebnisse einer qualitativen Studie.« In: Media Perspektiven, 3/2007. S. 126 ff. Vgl. Simon, E./Kloppenburg, G.: »Das
Fernsehpublikum türkischer Herkunft – Fernsehnutzung – Einstellungen und Programmerwartungen. Ergebnisse
einer Repräsentativbefragung in Nordrhein-Westfalen.« In: Media Perspektiven, 3/2007. S. 142 ff.
14
Simon, E./Hammeran, R.: »Wie wirkt ‚Wut’? Ergebnisse einer qualitativen Studie mit deutschen und türkischstämmigen Jugendlichen zum WDR-Fernsehfilm ‚Wut’.« In: Zwischen den Kulturen. Fernsehen, Einstellungen
und Integration junger Erwachsener mit türkischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen. Westdeutscher Rundfunk
2006. S. 48 ff.
109
ERK SIMON
110
Z U M S TA N D D E R R E Z E P T I O N S - U N D W I R K U N G S F O R S C H U N G
Schon bevor die kontroverse öffentliche Diskussion um den Fernsehfilm Wut begann,
wurde von der WDR-Medienforschung eine Untersuchung zur Wirkung des Fernsehfilms in Auftrag gegeben. Ausgangspunkt für diese Studie war die Frage, wie türkische
und deutsche Jugendliche auf Wut reagieren, welche Emotionen ausgelöst und welche
Diskussionen in Gang gesetzt werden?
Im Ergebnis dieser Untersuchung zeigt sich, wie stark die in der öffentlichen Diskussion
antizipierten Wirkungen von Wut und die tatsächlichen Wahrnehmungen der Zuschauer
auseinanderklaffen. So spielen z. B. die Gewalt und Brutalität des Films in der Diskussion
der Jugendlichen nur am Rande eine Rolle, psychologisch wirksamer sind ganz andere
Elemente der Geschichte. Die Jugendlichen nehmen keine eindeutige Täter- und Opferzuschreibung vor. Im Gegenteil: Der Film bewirkt eine differenzierte Wahrnehmung
der Figuren: Insbesondere der türkische Jugendliche Can wird gleichermaßen als Täter
und als Opfer erlebt. Der Film wird in der Ausgangssituation mehrheitlich als realistisch
eingeschätzt: Drogen, »Abziehen«, Gewalt sowie Probleme zwischen deutschen und türkischen Jugendlichen gehören für viele zum Alltag. Die Zuspitzung des Konfliktes insbesondere in der Schlussszene wird als filmisches Mittel erkannt. Sowohl deutsche als auch
türkische Jugendliche lehnen es ab, den Film auf den Konflikt zwischen Deutschen und
Türken sowie auf das Thema Gewalt reduziert zu sehen.
Das Hauptthema für die Jugendlichen sind die Familienbeziehungen: Der Vater-SohnKonflikt ist für sie der eigentliche Motor der Handlung. Dementsprechend entschlüsseln
die Jugendlichen den Film über die Vater-Sohn-Beziehung. Die Schattenseiten der jeweils
eigenen Familienkultur werden freigelegt. Die deutschen Jugendlichen thematisieren die
Unverbindlichkeit und Beliebigkeit in der deutschen Familie. Die türkischen Jugendlichen sehen sich im Spannungsfeld zwischen stark reglementierten traditionellen Familienstrukturen und westlicher Lebenswelt und sehnen sich in beiden Welten gleichermaßen nach Wahrnehmung ihrer Person. Die Jugendlichen sprechen sich auch aufgrund
der emotionalen Wirkung des Films ausdrücklich für eine anschließende Diskussion aus.
Auch in der Schule könne der Film gezeigt werden und eine längst überfällige Diskussion
anstoßen. Kernfrage: Wie sollen wir (miteinander) leben?
5. Fazit
Im Hinblick auf die Adressierung von Inhalten an ein gemeinsames Publikum von Zuwanderern und Deutschen ohne Zuwanderungshintergrund ist das Potenzial, welches die
verschiedenen methodischen Ansätze der Wirkungsforschung bieten, bei weitem nicht
ausgeschöpft. Für die angewandte Forschung bedeutet dies auch, Programmbewertungen
und Reaktionen auf einzelne Angebote zukünftig nicht allein in speziellen Untersuchungen bei Migranten-Zielgruppen, sondern in gemeinsamen Stichproben zu untersuchen, in denen der Zuwanderungshintergrund nur ein Merkmal neben anderen ist.
111
ERK SIMON
In stärkerem Maße als bisher wird Wirkungsforschung notwendig sein, um auszuloten,
mit welchen Inhalten, Gestaltungsmitteln und Erzählweisen sowohl Zuwanderer als auch
Deutsche angesprochen werden können. Dazu sind auch vergleichende Untersuchungen
notwendig, die der Frage nachgehen, wie einzelne Angebote von Zuwanderern und von
Deutschen wahrgenommen und beurteilt werden, welche Wirkungen sie entfalten.
112
DISKUSSIONSRUND E AM 19. N OVEMBER 20 091
Sprache ist Macht –
Diskussion zur Medienanalyse und
Programmplanung im öffentlichen Rundfunk
TEILNEHMER
Karl-Heinz Meier-Braun: Redaktionsleiter, SWR International
Ulrich Neuwöhner: Referent, SWR Medienforschung
Marjan Parvand: ARD, Vorsitzende Neue Deutsche Medienmacher e. V.
Manfred Krupp: Fernsehdirektor, Hessischer Rundfunk
Birand Bingül (Moderation): Redaktionsleiter Cosmo TV, WDR
A U S D E M P U B L I K U M D I S K U T I E R T E N M I T:
Julian Geist: Konzernsprecher, ProSiebenSat1 Media AG
Reinold Hartmann: Redaktionsleiter Kirche und Leben evangelisch, ZDF
Frank Habann: Institut für Publizistik, Universität Mainz
Walter Kindermann: Leiter der Abteilung Integration, Hessisches Ministerium der Justiz,
für Integration und Europa
Khue Pham: Absolventin, Henri-Nannen-Schule
Georg Ruhrmann: Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften, Universität Jena
Herr Krupp, Sie sind
seit 2005 Fernsehdirektor des Hessischen
Rundfunks. Welche Bedeutung hat das Milieumodell für Sie?
Birand
Bingül:
Das Milieumodell ist ausgesprochen hilfreich, weil es uns Ansätze zu
weiteren Überlegungen gibt. Die ARD ist so
Manfred Krupp:
vielfältig wie die multikulturellen Milieus.
Von daher gibt es zwei Arten, sich den Mediennutzern zu nähern. Das eine ist das Modell
der SINUS-Milieus2, das andere die MedienNutzerTypologie.3 Der Hessische Rundfunk
arbeitet mehr mit der MedienNutzerTypologie. Viele Probleme, die wir ohne das Thema
Migration ohnehin schon gehabt hätten, wur-
1
Tagesaktuelle Bezüge wurden bewusst beibehalten.
Siehe dazu auch den Beitrag von Ulrich Neuwöhner, S. 84-96 in diesem Band.
3
Die MedienNutzerTypologie wurde vor rund zehn Jahren zur typologischen Segmentierung des Publikums von
Hörfunk und Fernsehen entwickelt. Die aktuelle MedienNutzerTypologie 2.0 bildet mit zehn Nutzertypen das Gesamtspektrum unterschiedlicher Verhaltensmuster der Medienrezeption in der Bevölkerung ab. Dazu gehören: 1.
Junge Wilde, 2. Zielstrebige Trendsetter, 3. Unauffällige, 4. Berufsorientierte, 5. Aktiv Familienorientierte, 6. Moderne Kulturorientierte, 7. Häusliche, 8. Vielseitig Interessierte, 9. Kulturorientierte Traditionelle, 10. Zurückgezogene.
URL: http://www.ard-zdf-onlinestudie.de.
2
113
den dadurch noch potenziert. Der größere
Teil der Migranten ist jünger. Wir haben als
öffentlich-rechtlicher Sender Probleme, das
jüngere Publikum zu erreichen. Von daher
kommen zwei Problemebenen zusammen.
Ich würde gerne unterscheiden zwischen
Programmplanung, Programmentwicklung
und Formatentwicklung. In der Alltagsplanung spielt das Thema Migration erst einmal
gar keine große Rolle, weil es ganz andere
Schwerpunkte gibt. In der Programmentwicklung und in der Formatplanung ist es
durchaus wichtig, denn hier muss man sich
fragen: Wie bildet man die Wirklichkeit angemessen ab? Wir müssen auch berücksichtigen, dass wir in einem Spannungsverhältnis
stehen zwischen dem öffentlich-rechtlichen
Auftrag, der von uns qualitativ hohes und
informatives Fernsehen erwartet, und der
Funktion des Fernsehens als Leitmedium,
das sich extrem emotional transportiert.
Wenn wir bestimmte Milieus erreichen wollen, können wir dies nur, indem wir ihnen
auch eine emotionale Fläche bieten. In der
ganzen Diskussion wird der reine Informationsbereich massiv überschätzt, der fiktionale
und Unterhaltungsbereich hingegen stark
unterschätzt. Wenn ich mich entscheiden
müsste, welche deutsche Sendung am meisten dazu beigetragen hat, Menschen im Alltag für bestimmte gesellschaftliche Themen
zu sensibilisieren, dann wüsste ich nicht, ob
ich den Tatort oder die Lindenstraße nennen
würde. Es gibt kaum Formate, die gesellschaftlich relevante Themen so gut transportieren und so nah an die Herzen bringen
können, wie diese. Eine Folge Lindenstraße
kann möglicherweise mehr bewirken als drei
Folgen Monitor, Report und Fakt zusammen.
114
Birand Bingül: Sie haben die Programmund Formatentwicklung angesprochen.
Vielleicht können Sie uns auch einen Einblick geben, in welche Richtung Sie hier
denken?
Als ein regional orientiertes Programm würden wir niemals formulieren: »Migranten sind unsere Zielgruppe.« Nicht etwa, weil sie für uns nicht wichtig
sind, im Gegenteil, aber für eine Zielgruppe
ist der Begriff »Migrant« zu breit gefächert.
Man kann nicht jemanden, der aus Kroatien
kommt und im Schnitt 27 Jahre in Deutschland gelebt hat, vergleichen mit einem nur
neun Jahre in Deutschland lebenden Polen
oder Türken. Dies sind unterschiedliche Milieus. Iraner zählen beispielsweise oft zu den
Eliten in Deutschland, während wir bei Türken oft sehr tradierte Milieus vorfinden. Die
Zielgruppe muss man wesentlich genauer
definieren. Der Hessische Rundfunk trifft
mit jeder Redaktion eine Programmvereinbarung. In der Programmvereinbarung muss
die Redaktion festlegen, welche MedienNutzerTypen – das können sie auch mit SINUSMilieus übersetzen – sie verstärkt erreichen
will. Unsere Herangehensweise geht auf
zwei Prinzipien zurück: Erstens wollen wir
die Zuschauer, die wir regelmäßig erreichen,
dazu bringen, länger in unseren Programmen zu verweilen. Zweitens wollen wir die
Zuschauer, die gelegentlich Kontakt zu uns
haben, dazu bringen, regelmäßiger Kontakt
zu uns zu halten. Der zweite Bereich ist ein
ganz wichtiger im Hinblick auf bestimmte
Migrantenmilieus. Über bestimmte Formate
gibt es bereits einen gelegentlichen Kontakt.
Zu ihnen ist die Tür schon offen. Die He-
Manfred Krupp:
SPRACHE IST MACHT
Karl-Heinz Meier-Braun, Marjan Parvand, Birand Bingül, Manfred Krupp und Ulrich Neuwöhner in der Diskussion
rausforderung besteht darin, sie dazu zu
bringen, regelmäßig einzutreten und bei uns
zu verweilen.
Migranten sind in dem
Sinne keine Zielgruppe, sagt Herr Krupp.
Können Sie sich damit anfreunden, Frau
Parvand? Sie sind beim Norddeutschen
Rundfunk in der Redaktion der Tagesschau
tätig und außerdem Vorsitzende der Neuen
Deutschen Medienmacher, einer Netzwerklobbyorganisation für die Interessen von
Journalisten mit Migrationshintergrund.
Birand Bingül:
Marjan Parvand: Wenn Herr Krupp das
für sich und den Hessischen Rundfunk so
bezeichnet, halte ich das erst einmal für
einen Fehler. Ich glaube, Migranten können
schon eine Zielgruppe sein. Migranten sind
als Zielgruppe genauso differenziert wie
alle anderen Zielgruppen, mit denen Sie
sich beschäftigen. Die vorgestellten Studien
haben gezeigt, wie viele Gemeinsamkeiten
Migranten mit den anderen Zielgruppen
haben. Wenn Sie tatsächlich die bürgerlichen Migranten erreichen wollen, müssen
Sie fast die gleichen Instrumente nutzen wie
bei bürgerlichen ‚Bio-Deutschen’. Ich halte
dies jedoch für eine viel zu theoretische
Diskussionsebene. Viel spannender ist doch
die Realität in unseren Redaktionen. Einige
haben bereits ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass auch Migranten Forderungen
stellen können. Wie kann man mit ihnen
umgehen? Und wie kann man mit denjenigen, die draußen sind und Forderungen
haben, sich aber nicht abgebildet fühlen,
verfahren? Deswegen stellen wir von den
Neuen Deutschen Medienmachern sehr klare
Forderungen. Migranten müssten verstär115
kt in festen Redaktionsstrukturen, an den
Redaktions- und Planungstischen dabei
sein. Es geht auch darum, wie wir in den
Redaktionen über Migranten sprechen.
Eine Kollegin sagte kürzlich zu mir: »Ich
habe eine Geschichte, in der es um Ausländerkinder geht, die gegeneinander Fußball
spielen sollen, damit sie sich nicht gegenseitig abstechen.« Sie hat das ohne Vorbehalte
erzählt. Ich antwortete: »Wenn du das so
erzählst, werden wir die Geschichte nicht
machen, weil es einfach zu schrecklich
klingt.« Dabei ging es eigentlich darum,
dass sich ein Rabbi und ein Imam gemeinsam überlegt haben, wie man jüdische mit
muslimischen Kindern zusammenbringen
kann. Man lässt sie gegeneinander Fußball
spielen. Sprache ist Macht. Wir wissen alle,
dass oftmals die Empathie oder die multikulturelle Sichtweise fehlt. Daraufhin formulierte es die Kollegin so: »Es geht um
Integration; es ist ein interessantes Thema,
es ist ein gutes Projekt.« Und schon wurde
der Beitrag in der Tagesschau ausgestrahlt.
Als Vertreterin der Neuen Deutschen Medienmacher stehe ich dafür ein, dass es um
Taten geht. Es muss etwas geschehen, sonst
verliert der öffentlich-rechtliche Rundfunk
Zuschauer.
Sie sprachen von zwei
Möglichkeiten, Migranten zu erreichen:
Wir orientieren uns an deren Bedarf, oder
wir betreiben eine aktive Politik in den
Medienhäusern.
Birand Bingül:
In puncto Zielgruppen
haben wir überhaupt keinen Dissens. Es ist
nur die Frage, wie man Zielgruppen defiManfred Krupp:
116
niert. Natürlich schauen wir auf bestimmte
Zielgruppen, und in diesen Zielgruppen
befindet sich ein bestimmter Anteil Migranten. Wenn wir sie ausgrenzen, ignorieren wir die gesellschaftliche Wirklichkeit, also auch Gebührenzahler. Wir haben
einen Auftrag, alle zu erreichen und nicht
nur diejenigen, die im Panel der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) erfasst
werden, also die in den Quoten abgebildet
werden. Für mich ist nicht entscheidend, ob
wir Forderungen von Peergroups erfüllen,
sondern was dahintersteckt. Es sagt noch
überhaupt nichts aus, ob ich fünfzig Prozent einer Redaktion mit Migranten besetzt
habe und dann ein bestimmtes Thema besser beurteilen kann. Also ist das Kriterium
»Migrant« alleine nicht ausschlaggebend.
Bei uns sind zwei junge Kolleginnen für
die Tagesplanung und die Vorplanung des
Feiertagsprogramms zuständig. Die eine
ist Kroatin und die andere hat bosnische
Wurzeln. Das werden Sie erst einmal an
der Planung nicht merken. Es gab in den
viereinhalb Jahren, in denen ich Fernsehdirektor bin, zwei Situationen, bei denen
deren Migrationshintergrund auffiel.
Einmal während der Fußballweltmeisterschaft, als vor ihrem Büro eine kroatische
Flagge hing. Und das zweite Mal, als der
Papst in Deutschland war. Die kroatische
Kollegin wollte möglichst viele Berichte
über den Papst in Deutschland einbringen, weil er für sie ein wichtiges Identifikationsmerkmal darstellte. Das bedeutet,
der Faktor »Migrant« allein betrachtet, ist
zu wenig. Wenn wir aber in unseren Redaktionen oder in unseren Arbeitsfeldern
bestimmte Lebenserfahrungen und be-
SPRACHE IST MACHT
stimmte Lebenshintergründe ausblenden,
sparen wir einen Teil der Lebenswelt aus.
Ich wehre mich ein bisschen dagegen, die
Milieus mit dem Oberbegriff »Migrant«
quasi abzuwickeln.
Ich bin gerne bereit zu
sagen, dann nehmen wir Migranten aus
vielen verschiedenen Milieus. Bei der Tagesschau gibt es jetzt ungefähr drei Kollegen
in der zentralen Redaktion, die einen Migrationshintergrund haben und eine Veränderung im Programm bewirkt haben.
Unter anderem mit dem Vorschlag, bei den
Vox Pops, den Volksbefragungen auf der
Straße, verstärkt Menschen mit Migrantionshintergrund zu interviewen. Wenn
jeder fünfte Bürger inzwischen einen Migrationshintergrund hat, dann brauchen
wir auch dessen Stimme. Genau das traut
sich aber ein unter Zeitdruck arbeitender
Reporter manchmal nicht. Hinzu kommen
Vorurteile wie: »Der spricht bestimmt kein
Deutsch.« Die Redaktion muss die Leute
darauf hinweisen und sagen: »Bezieht die
Migranten mit ein, sonst spiegelt das die
Realität nicht ausreichend wider.«
Marjan Parvand:
Herr Professor MeierBraun, Sie sind Leiter von SWR International und Integrationsbeauftragter des
Südwestrundfunks. Außerdem sind Sie als
Honorarprofessor an der Universität Tübingen tätig und Mitglied im Rat für Migration. Das ist ja ein ganz neuralgischer
Punkt, der auch die Öffentlich-Rechtlichen
umtreibt. Sind Migranten in den Reporter-,
Moderatoren- und Redaktionsleiter-Positionen vertreten? Und greift andererseits die
Birand
Bingül:
gezielte Einstellung von Migranten nicht
zu kurz, ist dies – kritisch betrachtet –
eine Form der positiven Diskriminierung?
Kann es nicht egal sein, woher die Leute
kommen? Hauptsache, sie bringen die
Voraussetzungen und die Kompetenz für
ihren Beruf mit?
Die Voraussetzungen müssen natürlich für alle gleich
sein. Man kann niemanden wegen seines
Hintergrunds bevorzugen. Das wollen wir
auch nicht, und ich glaube, Frau Parvand
sieht das auch so. Ich habe einmal vor einer
Tagung in unserem interkulturellen Redaktionsteam gefragt: »Seid Ihr hier für
die Einführung einer Quote oder nicht?«
Alle waren der Meinung: »Wir wollen
keine Quote. Wir sind hier, weil wir die
inhaltlichen Voraussetzungen erfüllt und
den Job bekommen haben, wie alle anderen auch.« Wesentlich erscheint mir, dass
eine andere Sichtweise verloren geht, wenn
diese Kollegen nicht präsent sind. Sie bringen Themen ein, die wir sonst gar nicht
hätten. Das Thema wird noch zu wenig
als Bereicherung in den Medien gesehen.
Und sehr wichtig und nicht zu unterschätzen sind natürlich auch die Leitbilder auf
dem Bildschirm. Kollegen kommen mit
erkennbaren nicht-deutschen Namen, für
die es in der ARD und beim ZDF immer
wieder Beispiele gibt.
Karl-Heinz Meier-Braun:
Man darf es aber auch
nicht überschätzen. Vor dieser Tagung
habe ich mir die ARD-Studie von 2007 Migranten und Medien noch einmal angesehen.
Darin werden Reichweiten im Tagesverlauf,
Manfred Krupp:
117
differenziert nach Herkunft und Prozent
aufgeführt. Highlights in der ARD bei Migranten: Tagesschau und Sturm der Liebe.
Und beim ZDF Heute und Wege zum Glück.
Es gibt in unseren Gremien viele Menschen,
die sagen: »Ihr müsst mehr Migranten erreichen, aber so etwas Emotionales, solche
Soaps, das dürft Ihr nicht machen.« Genau
hier besteht der Konflikt: Wenn wir mehr
Migranten erreichen wollen, müssten wir
bestimmte Formate, die bei uns höchst
umstritten sind, ausweiten. Darin liegt das
Spannungsverhältnis zwischen dem öffentlich-rechtlichen Auftrag und dem Versuch,
möglichst viele Menschen zu erreichen. Ein
anderes Beispiel: Wenn ich Kirchenvertreter frage, wann das Wort zum Sonntag die
jüngsten und von den absoluten Zahlen her
die meisten Zuschauer verzeichne, dann
lautet die Antwort: »Wenn danach Boxen
auf dem Programm steht.« Dies lehnen die
für das Wort zum Sonntag in der Redaktion Verantwortlichen auf das Heftigste ab.
Es gibt die These, dass Deutschland sucht
den Superstar eines der besten Formate zur
Integration gewesen sei, und zwar deshalb,
weil Migranten dort in einer Gewinnerposition gezeigt werden. Deutschland sucht den
Superstar ist ein Format, das wir in dieser
Form nicht zeigen würden, weil es Mobbing
kultiviert und teilweise menschenverachtende Elemente beinhaltet. Von den zehn Sendungen im hr-Fernsehen, die von den meisten jüngeren Zuschauer im Alter von 14
bis 49 Jahren gesehen werden, waren neun
Sportsendungen und der European Song
Contest. Wir müssen uns über eines klar
werden: Wer will, dass wir mehr Menschen
mit Migrationshintergrund und deutlich
118
Jüngere erreichen, muss auch in Kauf nehmen, dass wir diese Diskussion nicht nur
über die Informationsformate führen, sondern ganz wesentlich über diejenigen, mit
denen wir Emotionen erzeugen können.
Ich spitze es einmal zu:
Müssen die ARD, das ZDF und die Dritten
in einem gewissen Sinne seichter werden?
Sturm der Liebe gilt ja durchaus als seicht.
Müsste man mehr emotionale, fast schon
kitschige Formate anbieten? So lautet doch
Herrn Krupps These, die wiederum mit
dem öffentlich-rechtlichen Programmauftrag und Ethos kollidiert und damit die
Quadratur des Kreises beschreibt. Ulrich
Neuwöhner ist Referent in der Abteilung
Medienforschung des Südwestrundfunks
in Stuttgart und dort zuständig für die
»Programmberatung
Hörfunk/Fernsehen/Internet«. Wie gehen Sie damit um?
Birand Bingül:
Ulrich Neuwöhner: Die Quadratur des
Kreises muss versucht werden, wenn wir
das Ziel erreichen wollen. Vieles ist über
Fiktion möglich. Es muss auch nicht immer
das Seichteste sein, aber es muss etwas
Emotionales sein. Auch die Ansprache
spielt eine große Rolle. In dieser Hinsicht
haben wir relativ wenig anzubieten.
Marjan Parvand: Ich würde gerne noch
eine Sache hinzufügen: Es gibt kleine Wege,
um bei den Nachrichtenformaten dafür zu
sorgen, dass sich Menschen mit Zuwanderungsgeschichte aufgehoben fühlen. Diese
Menschen schauen auch die deutschen
Nachrichten. Wie kann man sie erreichen?
Zum einen durch Moderatoren und durch
SPRACHE IST MACHT
die bereits erwähnten Vox Pops oder durch
entsprechende Interviewpartner zu Fachthemen. In den USA gibt es inzwischen
eine Datenbank, um bei ganz normalen
Alltagsthemen den marokkanischen Arzt
zur Schweinegrippe zu befragen. Wenn wir
dieses Bewusstsein in den Redaktionen erzeugen wollen, brauchen wir Menschen, die
auch ein bisschen Sensibilität mitbringen.
Hier eine Umfrage und
dort der Experte, der sich zur Schweinegrippe äußert und nicht zu Integrationsthemen.
Die Politik der kleinen Schritte, wäre das
nicht ein Weg, den die Öffentlich-Rechtlichen gehen könnten oder bereits gehen?
Birand Bingül:
Den Weg kann und
muss man gehen. Aber warten Sie ab, bis
wir bei den O-Ton-Gebern das erste Kopftuch sehen. Dann werden einige sagen,
da kommt schon wieder das KopftuchKlischee. Das Kopftuch ist aber nicht nur
Klischee, es ist ein Teil unserer Realität.
Ein positives Beispiel sind Gesundheitssendungen. Hier gibt es viele Ärzte mit
Migrationshintergrund. Sie sind teilweise
fernsehgeeigneter, sprechen einfacher und
verständlicher als mancher deutsche Facharzt. Das beste Beispiel für die Verbindung
der Ansprüche ist aus meiner Sicht der
Tatort. Er hat hohe Reichweiten, erreicht
also viele Zuschauer. Er schildert auf eine
unterhaltsame und spannende Art gesellschaftliche Themen. Und er verzeichnet in
den unterschiedlichsten Milieus Zuwachsraten. Wir wissen zum Beispiel, dass der
Tatort am Sonntag in den social communities das am häufigsten genannte Thema ist.
Manfred Krupp:
In solchen Formaten gilt es, unser Spektrum noch etwas stärker auszuweiten. Ziel
ist, einerseits Tabus anzusprechen, aber auf
der anderen Seite nicht zur Klischeebildung beizutragen.
Der NDR hat dies sehr
plakativ über die Hauptfigur Mehmet
Kurtulus alias Cenk Batu im Tatort umgesetzt. Wie setzt der Hessische Rundfunk
das Ziel um?
Birand Bingül:
Der Hessische Rundfunk
hat im Tatort einen anderen Ansatz gewählt. Der hessische Tatort spielt in Frankfurt, und in dieser Stadt können Sie keinen
Tatort produzieren, ohne die Realität abzubilden. Hier liegt der Anteil von Menschen
mit Migrationshintergrund bei über dreißig
Prozent. Beim letzten Tatort ging es um chinesische Immigranten, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in einem Container in der Stadt gefangen gehalten wurden.
Das war zwar ein Flüchtlings- und kein
Migrationsthema. An den Veränderungen
in der Stadt ist jedoch erkennbar, dass aus
dem Flüchtlings- zukünftig auch ein Migrationsthema wird.
Manfred Krupp:
So wie Sie öffentlichrechtliches Fernsehen dargestellt haben,
entsteht der Eindruck, wir haben das hehre,
öffentlich-rechtliche Fernsehen und auf
der anderen Seite die Gegenwelt. Es geht
bei den Milieus auch um Qualität, und ich
glaube, das ist ein Anlass, um über Qualität im öffentlich-rechtlichen Fernsehen
zu sprechen. Die kann gut oder schlecht
sein. Es gibt auch hervorragende InformaGeorg Ruhrmann:
119
tionssendungen im privaten Programm.
Ich halte es für wichtig, die Wirkung von
Informationssendungen mehrdimensional
zu diskutieren.
Reinold Hartmann: Ich würde nicht vorschnell in Alternativen denken, die Integration im Fernsehen ist eine Querschnittsaufgabe. Es fängt beim Zielgruppenprogramm
an, wie wir es jetzt im Forum am Freitag1
machen, das mein Kollege Abdul-Ahmad
Rashid leitet. Von unserem Forum am Freitag aus erreichen Programme die ganze
Nachrichtenwirklichkeit vom Heute-Journal bis zur Heute-Sendung. Es fängt bei
einer ganz kleinen Programmanstrengung
an, Muslime machen Berichterstattung für
Muslime, die auf das ganze Programm ausstrahlt. Migranten müssen sich selbst wiedererkennen, sozusagen face-to-face. Dunja
Hayali vom Heute-Journal moderierte beispielsweise kürzlich die Sendung Sternstunden der deutschen Geschichte. Dies wäre vor
einiger Zeit noch nicht möglich gewesen;
heute ist es eine Selbstverständlichkeit. Ganz
abgesehen vom thematischen Know-How,
das wir in den Redaktionen dazugewinnen,
bedeutet die Mitarbeit von Migranten einen
Perspektivenwechsel. Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich mich mit meinem
Kollegen Abdul-Ahmad Rashid unterhalte:
Da trifft eine andere Welt auf mich, ich
lerne dazu und freue mich, wenn ich diese
Eindrücke in die Wirklichkeit des Fernsehens hineinbringen kann, was sehr schwer
ist. Aber ich sehe es als große Bereicherung
4
und würde mich freuen, wenn wir den
Weg weitergehen könnten. Problematisch
ist, dass es bei Beiträgen über Migration
schnell langweilig wird, wenn man nicht
nur Gutes berichten möchte. Ich denke, es
braucht noch einen langen Weg bis zur erfolgreichen Umsetzung.
Was genau macht es denn
so schwer, die Eindrücke in die Wirklichkeit
des Fernsehens umzusetzen? Sind es die allgemeinen Umstände, ist es die Herausforderung, andere Redaktionen überzeugen
zu müssen, sind es finanzielle Gründe oder
Schwierigkeiten in der Stoffsuche?
Birand Bingül:
Es sind die Quoten.
Im ZDF gab es eine Migrationswoche mit
dem Titel Wohngemeinschaft Deutschland.
Eine Woche Migrationsthemen, und die
Quoten sind signifikant gesunken. Das war
eine gute, öffentlich-rechtliche Anstrengung, die nicht belohnt wurde. Man muss
wissen, was man tut, und es trotzdem tun.
Ich denke, die Selbstverständlichkeit einer
Moderatorin, eines Redakteurs am Arbeitsplatz, auch die eines Tatort-Kommissars, das ist der beste Weg, den man forcieren muss. Da es beim ZDF keine Vertreter
von Migranten in den Aufsichtsräten und
in den Rundfunkräten gibt, müssen wir es
erst einmal selbst in die Hand nehmen.
Reinold Hartmann:
Ich stimme Ihnen zu: Es
ist extrem wichtig, dass auf dem Bildschirm
Menschen sind, denen man Migrationser-
Manfred Krupp:
Das Forum am Freitag ist eine wöchentliche Online-Sendung, die Muslimen in Deutschland die Möglichkeit bietet,
ihre Erfahrungen in das gesellschaftliche Gespräch einzubringen. Es richtet sich sowohl an Muslime als auch an
Nicht-Muslime und vermittelt Einblicke in die Vielfalt muslimischen Lebens in Deutschland.
120
SPRACHE IST MACHT
fahrung und Migrationshintergrund anmerkt. Da ist es natürlich viel einfacher,
wenn jemand am Namen gleich zu erkennen ist. Es gibt in unserem Boulevardmagazin eine Moderatorin, der ihr Migrationshintergrund nicht gleich anzumerken
ist. Sie hat einen urdeutschen Namen, und
wenn man sie fragt, woher sie komme, antwortet sie: »Aus Bayern.« Im weiteren Verlauf der Unterhaltung kommt heraus, dass
ihr Vater aus Äthiopien stammt. Wenn wir
auf bestimmte Programme das Etikett Migration kleben, erreichen wir eher die Abwehrreaktion als die Auseinandersetzung.
Entscheidend ist, dass es selbstverständlicher Bestandteil aller Formate sein muss.
Die Schlüsselfrage lautet: Wie erreichen
wir, dass die Lebenswelt, die die Migranten
ganz selbstverständlich umfasst, in allen
wesentlichen, relevanten Formaten abgebildet wird?
Marjan Parvand: Die Neuen Deutschen
Medienmacher überlegen gerade, die Einführung einer Quote für Journalisten mit
Migrationshintergrund in den Redaktionen zu fordern. Ich weiß, die Quote ist
nicht sehr populär, und viele von uns sind
der Meinung, sie seien gut genug, um in
der Arbeitswelt auch anders zu bestehen.
Das beste Argument für die Quote hat
Rita Süssmuth kürzlich geliefert. Sie äußerte: »Eine demokratische Gesellschaft,
die es nicht schafft, ihre Bürger durchlässig
und unabhängig vom Hintergrund in alle
Institutionen zu bringen, hat ein grundsätzliches Problem. Wenn man darauf mit
einer Quote reagieren muss, ist das ein
Problem. Wenn man aber diesen Zustand
einfach so belässt wie es ist, ist das ein noch
größeres Problem.« Ich stimme ihr in diesem Punkt zu.
Birand Bingül: Da gehen die Finger hoch,
das war klar. Herr Meier-Braun, Sie sind
lange genug dabei, und meines Wissens
haben Sie nie Quoten gefordert?
Karl-Heinz Meier-Braun: Wie bereits gesagt, habe ich eine Umfrage bei den Kollegen mit Migrationshintergrund bei uns im
Sender gemacht. Keiner wollte die Quote.
Selbstverständlich muss man sich mit dieser Problematik auseinandersetzen, ich bin
eher für Förderpläne, um Mut zu machen.
Viele sagen, sie seien nur zum Rundfunk
gekommen, weil man sie dazu ermutigt
habe. Wir haben es auch mit einem Problem der sozialen Schichten zu tun. Es gibt
nicht viele Arbeiterkinder im öffentlichrechtlichen Rundfunk. Ohne Zweifel gibt
es Parallelen zu der »berühmt-berüchtigten Frauenfrage«. Wenn man Frauen in
den Medien nicht gezielt gefördert hätte,
gäbe es heute nicht so viele Frauen in Führungspositionen, obwohl es immer noch zu
wenige sind. Ich denke, das Thema Migration stellt eine ähnliche Herausforderung
dar, der man aber nicht mit Quoten begegnen sollte.
Meiner Meinung
nach lässt sich das Problem nicht mit einer
Quote lösen. Wir hatten das Glück, die
neue Integrationsabteilung in Hessen zusammenzustellen. Der Anteil der Mitarbeiter in unserer Abteilung, die über einen
Migrationshintergrund verfügen, beträgt
Walter
Kindermann:
121
vierzig Prozent. Nach Quote wären es weniger. Wir haben unserer Auswahl jedoch
nicht den Migrationshintergrund, sondern
die Qualität als Kriterium zugrunde gelegt.
Wie wollen wir denn quotieren? Entsprechend der jeweiligen Bevölkerungsanteile?
Dann entsprechend den diversen Gruppen? Ich denke, wir gehen in eine Zukunft
mit jungen, qualifizierten Menschen, und
irgendwann wird deutlich: »Migrationshintergrund ist etwas ganz Normales.«
Es ist auch keine Forderung der Neuen Deutschen Medienmacher,
sondern ein Gedanke, den wir in Erwägung ziehen. Wir denken aber auch in anderen Strukturen, unter anderem glauben
wir, dass es das Wichtigste ist, die Mehrheitsgesellschaft mitzunehmen, wenn man
von Integration spricht. Aus diesem Grund
haben wir Mentorenprogramme aufgesetzt, die genau nach diesen Prinzipien
funktionieren. Das ist natürlich auch ein
Weg. Nichtsdestotrotz muss man auf politischer Ebene manchmal klare Forderungen stellen, weil dann erst die Unruhe
entsteht, die für Veränderungen notwendig
ist.
Marjan Parvand:
Ich bin Schülerin an der
Henry-Nannen-Journalisten-Schule. Bei
unserem Auswahlverfahren gab es in der
Finalrunde ungefähr achtzig Teilnehmer,
drei davon mit Migrationshintergrund.
Im Gespräch tauchte genau die Frage nach
der Einführung einer Quote auf. Ich habe
mich dagegen ausgesprochen. Einerseits ist
es ein wirklich großes Problem, dass es so
wenige junge Journalisten mit Migrations-
Khue Pham:
122
hintergrund gibt. Ich glaube, es liegt zum
Teil am mangelnden Selbstvertrauen. Es
fehlt auch das Selbstverständnis, mit dem
wir sagen: »Wir sind Teil dieser Gesellschaft und gehören zu den Leuten, die zu
ihr sprechen sollten.« In den Redaktionen
herrscht zum Teil eine sehr große Offenheit gegenüber Erfahrungen und Sichtweisen der Migranten, obwohl es keine
eindeutige Personalpolitik für Migranten
gibt. Dies gilt nicht nur für Integrationsthemen, in die Journalisten mit Migrationshintergrund oft eine andere Sicht einbringen, sondern auch für andere Themen.
Daher glaube ich, dass es ein guter Ansatz
ist, wenn man dieses informelle Recruiting
von Nachwuchskräften fördert. Dass es
unbedingt nötig ist, eine Quote festzusetzen, glaube ich nicht.
Karl-Heinz Meier-Braun: Dies ist natürlich auch immer noch ein gesellschaftspolitisches Problem. Laut einer kürzlich
erschienenen Studie haben es Migrantenkinder mit Hochschulabschlüssen immer
noch viel schwerer als Kinder mit deutschem Hintergrund. Das zeigt sich natürlich auch im Journalismus. Viele stellen sich auch die Frage: »Warum soll ich
gerade Journalist werden? Jetzt habe ich
meinen Hochschulabschluss geschafft, da
werde ich lieber Arzt oder etwas anderes.«
Birand Bingül: Herr Löffler, wie denken
Sie über die Quote?
Es gibt auch andere Methoden als Quoten. Im nationalen Integrationsplan haben sich sowohl die öfRoland Löffler:
SPRACHE IST MACHT
fentlichen Rundfunksender als auch die
Zeitschriftenverleger und -verbände zu
einer Selbstverpflichtung entschlossen.
Wenn es einen positiven Beschluss von der
Spitze gibt, können Veränderungen durch
gezielte Maßnahmen entstehen. Natürlich gibt es auch Probleme: Im Deutschen
Presserat gibt es zum Beispiel keinen einzigen Migranten oder Vertreter eines nichtdeutschsprachigen Mediums. Es gibt einen
Veränderungsbedarf, der irgendwann in
Gang gesetzt werden muss.
Es ist nicht nur beim
Hessischen Rundfunk, sondern auch in
den anderen ARD-Anstalten inzwischen
selbstverständlich, dass das Thema Migration bei der Auswahl und Ausbildung von
Journalisten eine Rolle spielt. Haben wir
zum Beispiel zu wenige Journalisten mit
naturwissenschaftlichem, wirtschaftswissenschaftlichem oder mit Migrationshintergrund, wird dieses Kriterium bei der
Vorauswahl der Volontäre ausdrücklich
vermerkt. Bei den letzten beiden Jahrgängen stellten wir Volontäre ohne Migrationshintergrund ein, beide hatten jedoch
ein Drittel ihres Lebens in Frankreich verbracht. Beide wären bei einer Migrantenquote durchgefallen, weil sie keinen Migrationshintergrund aufweisen konnten, aber
sie brachten einen Erfahrungshorizont mit,
den wir gerade für diese Frage gebrauchen
können. Dies soll zeigen, dass es Möglichkeiten der Auswahl ohne die Quote gibt.
Manfred Krupp:
Ich würde gerne Herrn
Krupp einen Vorschlag zum Thema Fernsehunterhaltung unterbreiten. Wir haben
Frank Habann:
festgestellt, dass man das jüngere Publikum mit Migrationshintergrund praktisch
nur noch über gute Unterhaltung und
Fiktion erreichen kann. Das ist aber bei
den Öffentlich-Rechtlichen inzwischen
eine Leerstelle, da Unterhaltung fast gar
nicht vorkommt. Wie wäre es denn, wenn
wir Leuten wie Fatih Akin oder anderen
sehr guten Regisseuren ein paar Millionen
gäben, um eine Fernsehserie auf einem
qualitativ hohen Niveau zu produzieren?
Denn die Gleichung Unterhaltung gleich
Seichtigkeit, finde ich des öffentlich-rechtlichen Fernsehens eigentlich unwürdig.
Halten Sie es für denkbar, dass man eine
öffentlich-rechtliche Serie mit multikulturellem Hintergrund auf hohem Niveau auf
die Beine stellen könnte?
Genau das haben wir bereits getan und trotz permanent schlechter
Quote fortgesetzt. Türkisch für Anfänger
ist eine hochwertige Serie, sehr gut umgesetzt, herausragende Schauspieler und
sehr unterhaltsam. Leider liegt uns keine
vertiefende Studie über die Wirkung vor.
Wir wissen jedoch, dass diese Reihe nach
normalen Kriterien schon nach der ersten
Staffel abgesetzt worden wäre, weil sie im
Werbeumfeld stattfindet. Insgesamt haben
wir vier Staffeln produziert, bei der vierten
hat der Bayerische Rundfunk noch einmal Geld zugeschossen, und auch andere
Sender wie wir haben sich dafür stark gemacht. Einer Tatsache müssen wir uns stellen: Bestimmte Dinge funktionieren nur in
bestimmten Genres. Und es ist eben nicht
die hochwertige Fernsehserie, sondern die
Soap Sturm der Liebe, die ankommt. Und
Manfred Krupp:
123
Kinder als Fernsehkonsumenten
eine Soap, die man versucht, extrem hochwertig darzustellen, ist keine Soap mehr.
Wenn wir den Anspruch haben – und
den müssen wir als Öffentlich-Rechtliche
haben – die Leute zu erreichen, die unsere
Gebühren zahlen, und nicht nur die Bildungseliten, dann müssen wir denen auch
ein Angebot machen. Das ist ein schwieriger Spagat, weil wir ein bestimmtes Niveau nicht unterschreiten dürfen.
Ein wichtiges Kriterium in unserem Auftrag ist die Menschenwürde. Wir dürfen
nicht jeden Preis zahlen, um alle zu erreichen, aber wir müssen uns mit dieser Frage
befassen. Die gleiche Diskussion haben wir
jetzt bei den jungen Zuschauern. Das ZDF
hat mit ZDFneo einen Kanal entwickelt,
der sich sehr stark an jüngeren Zuschauern
orientiert und sicher auch einen höheren
Migrantenanteil an sich binden wird.
Dann heißt es aber gleich, das ZDF macht
124
jetzt Privatfernsehen. Weil wir genau die
Elemente einbauen, mit denen man potenziell andere Zuschauerschichten erreichen kann, die man mit dem tradierten
Hauptprogramm nicht mehr erreicht.
Wenn wir diesen Versuch aber nicht machen, kommen wir an bestimmte Gruppen
in der Gesellschaft nicht mehr heran. Und
wir brauchen, genauso wie das ZDF das
macht, auch in der ARD eine Art FlottenStrategie, die festlegt, mit welchen Programmen und Angeboten die ARD welche
Zielgruppen und Milieus ansprechen und
erreichen will. Das große Problem im öffentlich-rechtlichen Fernsehen liegt darin,
dass wir die Unter-Zwölf-Jährigen noch
durch den KIKA erreichen. Dann reißt es
ab; es entsteht ein schwarzes Loch. Wir erreichen diese Leute erst wieder ab 25. Und
genau diese Zielgruppe müssen wir ansprechen. Hier sind die Migranten ein extrem
SPRACHE IST MACHT
wichtiger, dominanter Teil. Wenn wir sie
erreichen wollen, müssen wir den Faktor
Migration mitdenken. Und die Debatte
ist auch mit denen zu führen, die der Meinung sind, dass uns unser Auftrag genau
dies verbietet.
Birand Bingül: Ich würde gerne noch eine
weitere Perspektive einbringen und blicke
auf Herrn Geist, den Konzernsprecher von
ProSieben/Sat.1. Was halten Sie von der
Diskussion?
an Arabella Kiesbauer, Cherno Jobatey
oder Aiman Abdallah, der das Wissensmagazin Galileo moderiert hat. Dennoch
kommt es immer noch zu sehr hässlichen
Zuschauerreaktionen, wenn wir Menschen
mit erkennbarem Migrationshintergrund
auf dem Bildschirm zeigen. Es würde mich
interessieren, wie man im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit diesen Problemen
umgeht. Wie reagieren Sie auf Polarisierungen bei den Zuschauern?
Ich glaube, da gibt es
keinen großen Unterschied. Vielleicht betrachte ich die Reaktionen nicht mehr ganz
so heftig, weil ich viele Jahre für die beiden
Friedman-Formate im Hessischen Rundfunk/Fernsehen und in der ARD zuständig war. Neben den negativen gibt es aber
inzwischen auch viele positive Reaktionen,
und genau das ist der Punkt, der sich im
Vergleich zu früher inzwischen geändert
hat.
Manfred Krupp:
Julian Geist: Der Abstand zwischen dem
öffentlich-rechtlichen Fernsehen und dem
Privatfernsehen ist gar nicht so groß, wie
wir manchmal glauben. Ich denke, in Ihren
Häusern finden exakt dieselben Diskussionen statt wie bei uns. Manchmal sind die
Vorzeichen ein bisschen anders, manchmal sind es die Rahmenbedingungen und
manchmal die Protagonisten, aber grundsätzlich sprechen wir über dasselbe. Nicht
vorstellbar wäre in unseren Häusern jedoch
die Auflage, einen gewissen Prozentsatz an
Volontären, Redakteuren oder Autoren im
fiktionalen Bereich mit Migrantionshintergrund einzustellen. In einem vollständig
auf Marktwirtschaft angewiesenen System
geraten Sie sehr schnell an die Grenze, wo
es heißt: »Es tut mir leid, aber es ist wichtig, dass die Person, die wir einstellen, die
bestmögliche Boulevardsendung abliefert
oder das bestmögliche Buch für eine Soap
oder den bestmöglichen Wissensbeitrag.«
Die privaten Sender waren sicherlich sehr
weit vorne, als es darum ging, Gesichter,
die erkennbar nicht ‚bio-deutsch’ waren,
auf den Bildschirm zu bringen. Ich denke
125
IV. Privatfernsehen und Popkultur:
Durch Zielgruppenorientierung
zur medialen Integration?
Die Faszination der Casting-Shows
Oder: Migranten auf der Suche nach Anerkennung
und sozialem Aufstieg
VON CANAN TOPÇU
Immer mehr Jugendliche mit Migrationshintergrund nehmen an Casting-Shows der Privatsender teil. Auf der Suche nach Anerkennung und Erfolg sind sie bereit, einen hohen Preis zu
zahlen und nehmen die harten Zurückweisungen der Juroren in Kauf. Warum sich Jugendliche von diesen Formaten magisch angezogen fühlen und wie Privatsender und Wissenschaftler diese Entwicklung bewerten, dieser Frage ist Canan Topçu, Redakteurin der Frank furter
Rundschau, nachgegangen und hat die Ergebnisse anhand einer Reportage veranschaulicht.
Besonders aufgebrezelt hat sich Mefail für den bevorstehenden Auftritt nicht. In weißem T-Shirt, Jeans und Turnschuhen sitzt er auf einer Biergarten-Bank. Er wartet und
wippt dabei mit den Beinen. Es ist ein nervöses Wippen. Mefail will gerne wissen, wann
er an der Reihe ist. Die Mitarbeiterin der Firma, die die Casting-Show Das Supertalent
produziert, kann ihm nichts Genaues sagen. »Sie kommen auf jeden Fall alle noch
dran«, versichert die zierliche Frau in ruhigem Ton.
Also wartet Mefail mit etlichen anderen darauf, dass er aufgerufen wird und vorsingen
kann. Eben deswegen ist der 17-Jährige frühmorgens mit seiner Mutter in den Zug
gestiegen und von Saarlouis in den Norden von Frankfurt gefahren. Gegen 13 Uhr sind
sie am Ziel: Im Bürgerzentrum Niederhöchstadt findet die Vorauswahl für Das Supertalent statt. In dieser Fernsehshow bei RTL wird ein besonderes Talent gesucht, das die
Zuschauer per Televoting aus einer getroffenen Vorauswahl küren. 2009 bewarben sich
mehr als dreißigtausend Kandidaten. Nur zwölf schafften es dann in die Live-Sendung.
Seit fast zwei Stunden sitzt Mefail mittlerweile in dem Zelt, das auf einer Wiese vor dem
Veranstaltungsort als Warteraum dient. Zuvor musste der Saarländer einen Fragebogen
ausfüllen und sich in die Schlange stellen, die sich schon gegen Mittag am Eingang gebildet hatte. An diesem Mai-Sonntag scheint nach wochenlangem Regen wieder die Sonne
und lässt das Warten erträglicher werden. Das Wetter jedenfalls scheint es gut zu meinen
mit all den Menschen, die von sich meinen, gut singen, tanzen oder etwa jonglieren zu
können. Im Laufe des Tages werden es einige hundert Bewerber sein, die sich präsentieren. Sie alle wollen die Mitarbeiter der Produktionsfirma überzeugen und in die nächste
Runde kommen. Im Frankfurter Vorort Eschborn startet die erste der drei Vorauswahlrunden für die nächste Staffel; Termine gibt es auch in acht anderen deutschen Städten
wie etwa Stuttgart, München, Hamburg oder Köln.
128
P R I VAT F E R N S E H E N U N D P O P K U LT U R
Vor dem Bürgerzentrum warten Menschen in Gruppen oder einzeln auf Einlass. Vom
Sprecher der Produktionsfirma ist zu hören, dass die Bewerber ein Spiegelbild der Gesellschaft seien – »von Hartz-4-Empfängern bis zu Leuten mit Uni-Abschluss«, alles sei vertreten. Mag sein, dass es auch ein paar Akademiker unter den Aspiranten gibt, die Mehrheit scheint aber einer anderen Gesellschaftsschicht anzugehören. Ein buntes Völkchen
ist es allemal, das zusammengekommen ist: Junge und Alte, Blonde und Dunkelhaarige,
Hell- und Dunkelhäutige, Dicke und Dünne, Große und Kleine, Hübsche und Hässliche.
Die Vielfalt ist unübersehbar – und auch nicht zu überhören. Die einen tauschen sich
auf Deutsch aus, andere auf Italienisch oder Spanisch. Gesprochen wird auch Türkisch,
Persisch, Kroatisch.
Mefail spricht mit seiner Mutter Albanisch. Die Familie stammt aus dem Kosovo und kam
vor 15 Jahren nach Deutschland. Damals war Mefail gerade mal zwei Jahre alt und hatte
lediglich einen älteren Bruder. Inzwischen sind drei weitere Geschwister hinzugekommen,
das jüngste ist drei Jahre alt. Vater und Mutter schlagen sich als Hilfsarbeiter durch; Mefail will später einmal nicht aufs Geld schauen müssen. »Mein Traum ist es, berühmt zu
werden und mit Musik oder als Model Geld zu verdienen«, sagt der Elftklässler. Deswegen bewirbt er sich für die Casting-Show bei RTL. Sein Traum ist kein anderer als der
von Melanie, die ebenfalls im Zelt wartet. Die 14-Jährige hat ein Fahrrad mitgebracht; zu
einem Song von Nelly Furtado will das blonde Mädchen Akrobatik auf Rädern vorführen.
Mit einem eigenen Lied will Mefail sein Glück versuchen. Der Junge mit dem akkuraten
Kurzhaarschnitt will unbedingt weiterkommen. Weiterkommen bis vor die TV-Kamera;
er will den Juroren Dieter Bohlen, Sylvie van der Vaart und Bruce Darnell, aber auch allen
anderen zeigen, was er kann. Nämlich Rappen. »Wenn aus Freundschaft Liebe wird«, hat
er das Stück genannt. Kein Brutalo-Rap, in dem es hart zur Sache geht, sondern einer, der
sanft ist und das erzählt, was Mefail durch den Kopf geht.
Ein Lied will an diesem Nachmittag auch Hülya singen. Das zierliche Mädchen mit langen dunklen Haaren, Tochter türkischstämmiger Eltern, ist ein Fan der US-amerikanischen Sängerin Miley Cyros, die auch hierzulande bei Teenies besonders beliebt ist. Wie
Mefail ist Hülya zum Casting mit ihrer Mutter gekommen. Die Autofahrt aus Wetzlar bei
Gießen hat nicht ganz so lange gedauert. Eine Stunde waren sie unterwegs. Nun sitzt die
13-Jährige mit ihrer Mutter Emine im Zelt. Die harte Holzbank bereitet Emine Probleme;
sie ist nämlich im siebten Monat schwanger. »Hülya hat eine gute Stimme, vielleicht eine
so gute, dass sie weiterkommt«, sagt die 37-Jährige. Und auch, dass ihre Eltern es ihr
wohl nicht erlaubt hätten, an einer Casting-Show im deutschen Fernsehen teilzunehmen.
Damals, als sie so alt war wie ihre Tochter jetzt, gab es solche Sendungen gar nicht, also
auch nicht die Möglichkeit mitzumachen. Emine ist sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt
angesprochen gefühlt und beworben hätte. Als ihre Tochter den Wunsch äußerte, am
129
CANAN TOPÇU
Wettbewerb teilzunehmen, da hat Emine keinen Gedanken daran verschwendet, dass es
wegen der türkischen Herkunft aussichtslos sein könnte.
Und das nicht ohne Grund. Schließlich lässt sich an den bisherigen Teilnehmern erkennen,
dass bei den Auswahlverfahren alles andere als Nationalität und ethnische Herkunft eine
Rolle spielen. Ob Germany’s next Topmodel (GNTM) oder Deutschland sucht den Superstar
(DSDS): Etliche Kandidaten haben einen Migrationshintergrund. Bei der Finalrunde der
fünften DSDS-Staffel beispielsweise kamen neun der zehn Teilnehmer aus Einwandererfamilien. Stella Salatos’ Eltern stammen aus Sizilien, Fady Maloufs aus dem Libanon, Monika Ivkics aus Bosnien-Herzegowina und Collins Owusus aus Ghana, dann gab es Kandidaten mit spanisch-rumänischen, niederländischen und polnischen Eltern. Wer dahinter
eine besondere Strategie der privaten Sender im Sinne der Integration vermutet, der irrt.
»Bei Casting-Formaten zählt allein die Qualität und die Ausstrahlung der Kandidaten«,
betont RTL-Sprecher Matthias Bolhöfer. Qualität und Ausstrahlung, diese Faktoren würden auch für andere Formate sowie Darsteller von Serien und Moderatoren gelten. »Wir
sind ein Vollprogrammsender und bilden in unserem Programm nicht mehr und nicht
weniger als die ganze Vielfalt der Gesellschaft ab«, sagt Bolhöfer. Seien es Casting-Shows,
Comedy, Informationsprogramme, Sitcoms, Soaps oder Serien – die Programmplaner
machten sich keine speziellen Gedanken darüber, wie sie gezielt Migranten berücksichtigen und ansprechen könnten und sollten. »Wir machen unser Programm für alle und
schauen dabei nicht auf Herkunft, Nationalität, Einkommen oder sonstige Kriterien. Aus
diesem Selbstverständnis heraus sind Migranten bei uns im Programm ganz selbstverständlich genauso so vertreten wie andere Bevölkerungsgruppen auch«, so Bolhöfer.
Und das gilt wohl auch für andere Privatsender. Vox beispielsweise sucht für das neue
Casting-Format X Faktor, das ab Herbst laufen soll, Bewerber mit dem »gewissen Etwas«.
Dieses »gewisse Etwas« beziehe sich keineswegs auf die Herkunft eines Kandidaten, sondern auf die Darbietung in der Live-Sendung, erklärt Vox-Sprecherin Katrin Kraft. Es
spiele überhaupt keine Rolle, ob die Bewerber aus Köln-Kalk, aus dem Berner Oberland
oder aus Istrien kämen. »Wir suchen die beste Stimme und beeinflussen in keiner Weise,
wer sich für X Factor bewirbt.« Und weil es um Können gehe und um nichts anderes,
werde auch keinerlei Statistik darüber geführt, wie viele der Bewerber welchen Hintergrund haben.
Einst war auch das Samstagabendprogramm im ZDF ziemlich multikulturell, noch
bevor das Wort erfunden und in Integrationsdebatten geradezu inflationär verwendet
wurde. Die Interpreten der ZDF-Hitparade jedenfalls waren nicht weniger international
als die Musikwettbewerbe der privaten Sender heute. Bei der ersten Sendung im Januar
1969 hatten vier der 14 Sänger einen Migrationshintergrund, wie man es heute nennen
130
P R I VAT F E R N S E H E N U N D P O P K U LT U R
würde. Der jugoslawische Sänger Bata Ilić war 29 Jahre alt, also so alt wie Deutschlands
neuer Superstar Mehrzad Marashi, als er erstmals fürs deutsche Fernsehpublikum »Mit
verbundenen Augen« sang. Aus Frankreich stammte Jacqueline Boyer, aus Schweden
Siw Malmkvist, und tschechische Wurzeln hatte Karel Gott. Einen Monat später debütierte eine junge Frau mit dunklen Augen und langen, schwarzen Haaren, die aus einem
der Länder stammte, aus dem Deutschland damals noch Gastarbeiter anwarb: Die griechische Sängerin Vicky Leandros.
Vor vier Jahrzehnten wurden weder Vicky Leandros und ihr Landsmann Costa Cordalis, ein ebenfalls häufiger Gast der ZDF-Hitparade, noch die aus Italien stammende Rita
Pavone mit Arbeitsmigranten und Problemfällen in Verbindung gebracht; auch nicht die
vielen anderen ausländischen Sänger deutscher Schlager, die im Fernsehen auftraten. Ein
Unterschied zu den heute in privaten Kanälen zu hörenden Personen besteht zweifelsohne
darin, dass es sich bei Cordalis und Co. um ausgebildete, professionelle Sänger handelte.
Ihre Popularität beim deutschen Publikum hing in den 1960ern und 1970ern von anderen Faktoren ab. »Sie wurden mit Sonne, Urlaub und Freiheit, Exotik assoziiert«, erklärt
der Medienpsychologe Jo Groebel. Mit dem öffentlich-rechtlichen Auftrag zur Integration
hatten die Darbietungen von Roberto Blanco, Ricky Shane, Olivia Molina und all den
anderen damals nichts zu tun.
Wenn heute Migranten in Sendungen des deutschen Mainstream- »Dass Migranten im
Fernsehens singen oder tanzen, stellt ihre TV-Präsenz einen Beitrag deutschen MainstreamTV auftauchen, strahlt
zur Integration von Migranten und Einheimischen dar, so Medien- die Botschaft aus, dass
und Kommunikationsforscher. Der Fernsehauftritt von Menschen un- sie zur hiesigen Gesellschaft dazugehören.
terschiedlicher Hautfarbe und Herkunft sei ein Ausdruck von medialer Integration von Zugewanderten und deren Nachkommen.
Der Soziologe und Kommunikationswissenschaftler Rainer Geißler aus Gießen sieht das
Integrative dieser Formate zum einen darin, dass Zuschauer mit Migrationshintergrund
im deutschen Fernsehen Personen sehen, mit denen sie sich identifizieren können. »Dass
Migranten im deutschen Mainstream-TV auftauchen, strahlt die Botschaft aus, dass sie
zur hiesigen Gesellschaft dazugehören.« Eine integrative Wirkung habe es auch für die
autochtone Bevölkerung; ihr werde über die TV-Präsenz von Personen mit unterschiedlicher Herkunft vorgeführt, dass Deutschland eine multiethnische Gesellschaft ist.
Auch der Kölner Medienwissenschaftler Jörg Hagenah weist auf den Integrationsaspekt
aus der Zuschauerperspektive hin: »Fernsehen gehört zum Alltag vieler Menschen. Und
wenn in Musikwettbewerben und Soaps Migranten auftauchen, dann werden sie in gewisser Weise zum Bestandteil des Alltags der Zuschauer. Diese Sendungen haben somit
einen positiven Effekt.« Formate wie DSDS gehörten nicht nur zu den beliebtesten Sendungen, sondern erreichten entgegen gängiger Annahmen Menschen unterschiedlicher
Gesellschaftsschichten, wie der Medienexperte Hagenah und sein Kollege Heiner Meule131
CANAN TOPÇU
mann in einer Studie herausgefunden haben. »Alle sehen alles, damit alle mit allen darüber reden können« – so lautet eine ihrer Schlussfolgerungen aus der 2007 unter dem Titel
»Unterschichtsfernsehen? Integration und Differenzierung von bildungsspezifischen
Teilpublika« veröffentlichten Untersuchung.1 Bei Sendungen mit hohen Einschaltquoten
in unterschiedlichen sozialen Gruppen würden viele Menschen erreicht und könnten sich
gruppenübergreifend austauschen.
Mehr als sieben Millionen Menschen schauten sich im April 2010 das DSDS-Finale an,
also knapp vierzig Prozent aller Fernsehzuschauer des Abends. Bei den 14- bis 49-Jährigen
lag der Marktanteil nach Angaben des Senders sogar bei mehr als der Hälfte. DSDS und
GNTM sind mit »62 Prozent Marktanteil bei den 12- bis 17-Jährigen der Quotenerfolg
des neues Jahrtausends«, heißt es in einer Studie des Internationalen Zentralinstituts für
das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) aus dem Jahr 2009. IZI-Leiterin Maya Götz und
ihre Kollegin Johanna Gather richteten ihr Augenmerk auf GNTM und DSDS. Warum
begeistern sich so viele Kinder und Jugendliche für das Genre Casting-Show? Was lernen
Kinder und Jugendliche aus den Formaten, bewusst oder auch ohne es zu merken? Diesen
Fragen ging die Studie nach, für die 1300 Schülerinnen und Schüler zwischen 9 bis 22 Jahren befragt wurden. Eines der Ergebnisse lautet: Sendungen wie DSDS sind beliebt, weil
sie Parallelen zur Erfahrungswelt der jungen Zuschauer aufzeigen. Die Kandidaten »sind
ähnlich alt wie die Rezipienten, sie streben nach einem hohen beruflichen Status, sie müssen
sich in außergewöhnlichen Herausforderungen beweisen und sind ständig der Beurteilung
durch andere ausgesetzt«. Was Kinder und Jugendliche bewusst aus der DSDS-Sendung
lernten, liege eher in symbolischen Orientierungen wie etwa »Das Beste für seinen Traum
geben und immer an sich selber glauben«, erklären die Autorinnen.
»Das Faszinierende an Casting-Shows ist, dass sie jeden einladen, sich den Traum zu erfüllen – und das ganz unabhängig von der Herkunft. Da wird suggeriert, dass jeder eine
Chance hat, etwas aus seinem Talent zu machen und nicht darauf zu warten, dass jemand
von der Plattenfirma an der Tür klingelt«, erklärt Medienpsychologe Jo Groebel das Phänomen. Ob Thomas Dogoj aus Polen (Sieger der fünften Staffel von DSDS) oder Daniel
Schuhmacher aus Pfullendorf in Baden-Württemberg (Sieger der sechsten Staffel): Sie
sind nach Einschätzungen von Wissenschaftlern für junge Medien-Konsumenten Identifikationsfiguren und Vorbild für Aufstiegsmöglichkeiten. Der Migrationshintergrund ist
dabei weder ein Bonus noch ein Hindernis.
Dass seine Herkunft von Nachteil sein könnte, hat Mefail nicht einmal in Erwägung gezogen. Er rechnet sich gute Chancen aus, gerade weil er mit so manchem TV-Star etwas
gemeinsam hat – nämlich ausländische Wurzeln. Jüngstes Beispiel für Aufstiegsperspek1
Hagenah, J./Meulemann, H.: »Unterschichtsfernsehen? Integration und Differenzierung von bildungsspezifischen
Teilpublika.« In: Publizistik, 2/2007. S. 154-173.
132
P R I VAT F E R N S E H E N U N D P O P K U LT U R
tiven ist Merzad Marashi, der Sieger der siebten DSDS-Staffel. Der aus dem Iran stammende 29-Jährige setzte sich beim Finale im April 2010 gegen Menowin Fröhlich durch.
Den Traum vom Ruhm träumen die Merfails und Melanies hierzulande gleichermaßen,
unabhängig von der Herkunft. Wie kommt es, dass es recht viele Merfais und Merzads
in die Sendungen schaffen? Hängt es mit der demografischen Entwicklung zusammen?
Korrespondiert der Anteil dieser Bewerber mit dem hohen Bevölkerungsanteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund? Ist also ihre Präsenz vor der TV-Kamera ein
ganz natürlicher Prozess?
Auf den soziokulturellen Hintergrund der Kandidaten weist die Frankfurter Kulturanthropologin Kira Kosnick hin: Es handele sich bei den meisten Bewerbern – unabhängig
von ihrer Herkunft – um Menschen, die aus ökonomisch relativ schwachen Familien kommen. Kosnick stellt aber auch einen Zusammenhang zu den geringeren Aussichten von jungen Migranten her, über formale Bildungswege voranzukommen und erfolgreich zu sein.
Die Pisa-Studie und andere Untersuchungen wie etwa zu Berufsperspektiven zeigten, dass
junge Migranten – selbst bei gleichen Leistungen – hierzulande benachteiligt würden und
weitaus mehr von Arbeitslosigkeit betroffen seien. »Trotzdem wollen diese Jugendlichen ihr
Leben erfolgreich gestalten. Sehr viele Optionen gibt es für sie aber nicht.« So träume so
mancher von der Musikkarriere, zumal es in der internationalen Musikszene sehr viele Vorbilder und Identifikationsfiguren gebe. »Denn die Pop- sowie die R- and B-Szene ist schon
immer ganz stark von ethnischen Minderheiten geprägt gewesen«, erklärt Kosnick.
Popstars-Jury 2010 (Pro7): Detlef Soost, Mara Jandorá, Thomas M. Stein
133
CANAN TOPÇU
Die Kultur- und Medienwissenschaftlerin Gabriele Dietze weist in einem Artikel über
Casting-Shows darauf hin, dass die Kandidaten »zunächst ohne Referenz zu ihrer Herkunft« präsentiert würden. Ihr häufig mit Schwierigkeiten belastetes familiäres Umfeld
werde als positive Herausforderung gewertet. »Die human-touch-Trailer, Einspieler, mit
denen die Superstar-Bewerber vorgestellt werden, bieten einem Millionenpublikum Anschauungsunterricht: Wie kommt man in komplexen transnationalen Lebensarrangements zurecht? Da sieht und hört man von Familien mit ungeklärtem Flüchtlingsstatus,
von in Bürgerkriegsländern zurückgelassenen Eltern, aber auch von globalisierten polyglotten Lebensläufen, Animateur-Nomadentum und Bohemekulturen«, stellt Dietze fest.
Die Live-Show simuliere, »was im wirklichen Leben notwendig wäre: Akzeptanz, Ermutigung, Autorisierung, Liebe«. Casting-Shows des Privatfernsehens lösen nach Meinung
von Dietze das Integrationsproblem »mit leichter Hand: Sie bringen die ‚Ausländerfigur’
durch emotionale Beheimatung zum Verschwinden«.
Eine Wirkung, die private Sender sich nicht auf die Fahne geschrieben haben, die scheinbar ein Nebeneffekt des kommerziellen Interesses ist. Denn es geht ja nicht wirklich
darum, neue Stars für die Musikindustrie zu gewinnen. Die einzigen Gewinner sind die
Sender, denn hohe Einschaltquoten erhöhen die Werbeeinnahmen.
Diese Zusammenhänge durchblickt Mefail nicht. Der Elftklässler ist sich aber durchaus bewusst, dass die Finalisten »nur für kurze Zeit berühmt sind«. Von den meisten Siegern höre
und sehe man ja nach kurzer Zeit nichts mehr. Er stellt es fest, ohne von seinem Traum
abzulassen. Denn die Botschaft, dass fürs Vorankommen das künstlerische Können und der
Sympathiefaktor beim Publikum ausschlaggebend sind, ist bei ihm angekommen. Als am
Sonntagnachmittag gegen 15 Uhr sein Name aufgerufen wird, denkt er: »Meffi, du packst
das, du überzeugst die Jury … hoffentlich komme ich weiter.« Vor dem Auftritt hat er Angst.
Angst davor, dass er seinen Text vergisst oder gar vor Aufregung keinen Ton rausbekommt.
Mefail reißt sich zusammen, stellt sich vor und rappt seinen Song: »Wenn aus Freundschaft
Liebe wird«. Dabei denkt er: »Bitte Gott, hilf mir, und lass mich weiterkommen.«
Nur knapp fünf Minuten dauert Mefails Auftritt. Dann muss er wieder warten, noch einmal vorsingen. Gegen Abend das Urteil: Der 17-Jährige hat es nicht in die nächste Runde
geschafft. Geknickt treten Mutter und Sohn die Heimreise nach Saarlouis an.
»Leider hat es nicht gereicht«, resümiert Mefail später. »Wegen einer Verletzung an der
rechten Hand konnte ich beim Tanzen nicht alles geben.« Er will sich wieder bewerben.
»Leistung zahlt sich aus«: Auch diese Botschaft ist offensichtlich bei Mefail angekommen.
134
DISKUSSIONSRUND E AM 19. N OVEMBER 20 091
Die demokratischen Stars?
Migranten als Zielgruppe der Popkultur
im Privatfernsehen
TEILNEHMER
Ismail Erel: Stellvertretender Chefredakteur, Sabah (Europaausgabe)
Julian Geist: Konzernsprecher, ProSiebenSat1 Media AG
Leiter der Abteilung Integration, Hessisches Ministerium der Justiz,
für Integration und Europa
Stella Salato: Teilnehmerin DSDS, Projektmanagerin in einer PR-Agentur
Walter Kindermann:
Birand Bingül (Moderation):
Redaktions-
leiter Cosmo TV, WDR
Frau Salato, Sie haben vor
anderthalb Jahren an der Deutschland sucht
den Superstar-Staffel (DSDS) bei RTL teilgenommen und den siebten Platz belegt.
Wie denken Sie an diese Zeit zurück? Wie
haben Sie sich gefühlt, und wie schnell
wurden Sie wieder von der Normalität eingeholt?
Birand Bingül:
Ich glaube, wenn man an
einer solchen Sendung teilnimmt, macht
man sich von Anfang an klar, dass Ruhm
und Bekanntheit vielleicht nur von kurzer
Dauer sind. Die meisten Teilnehmer sind
sich dessen bewusst.
Stella Salato:
Birand Bingül: War es für Sie ein besonderer Anreiz zu wissen, dass das Publikum
1
und nicht nur die Jury Sie und Ihre Leistung gut fand, Sie quasi ein »demokratischer Star« hätten werden können?
Ehrlich gesagt, macht das
eher etwas Angst. Man fühlt sich unsicher,
wenn man in diese Show geht und hofft,
dass das Publikum einen mag oder zumindest akzeptiert. Der dadurch entstehende
Druck ist enorm hoch.
Stella Salato:
Unter den letzten zehn ist
der Druck natürlich am höchsten, weil nur
noch sehr gute Leute mit unterschiedlichen
Fähigkeiten übrig bleiben. Auffällig war,
dass unter den letzten zehn Kandidaten
sieben oder acht einen Migrationshintergrund aufwiesen. Wurde dies von den
Teilnehmern thematisiert?
Birand Bingül:
Tagesaktuelle Bezüge wurden bewusst beibehalten.
135
Stella Salato: Für mich war es völlig
natürlich, dass Menschen verschiedener
Kulturen an einer solchen Sendung teilnehmen. Ich hatte nie das Gefühl, jemand
würde aufgrund dessen benachteiligt oder
bevorzugt. Ich glaube, das hatte keiner
der Teilnehmer. Über meine Herkunft
habe ich mir im Vorfeld keine Gedanken
gemacht. Ich bin Italienerin, habe keinen
deutschen Pass, meine Wurzeln sind nicht
in Deutschland, aber ich bin hier geboren
und aufgewachsen. Die Fragen: »Komme
ich weiter? Habe ich eine Chance? Nimmt
das Publikum mich ernst? Mögen die
mich?« habe ich mir im Zusammenhang
mit meiner Herkunft nicht gestellt.
Es ist viel diskutiert worden, ob man sich bei RTL Gedanken über
die Zusammensetzung der Teilnehmer gemacht hat und bei der Auswahl womöglich
Einfluss genommen hat. Haben Sie von dieser Diskussion etwas mitbekommen, oder
gehört, dass es eine Strategie gab nach dem
Motto: »Diesmal wollen wir besonders bunt
sein, weil wir glauben, das kommt an?«
Birand Bingül:
Stella Salato: Selbst wenn dies ein Kriterium gewesen wäre, hätten die Kandidaten
bestimmt nichts davon mitbekommen. Ich
denke oder hoffe zumindest, dass Talent
eine große Rolle gespielt hat. Insbesondere in meiner Staffel waren alle Sänger talentiert. Je bunter, je interkultureller die
Auswahl, je mehr Temperamente und
Persönlichkeiten aufeinander treffen, desto
spannender wird es für die Zuschauer. Ob
sich dabei jemand etwas gedacht hat, vermag ich nicht zu beurteilen.
136
Herr Geist, Sie haben bei
Pro7 mit Popstars ein vergleichbares Format.
Gibt es bei Popstars eine Strategie, eine für
die Musikbranche typische Mischung der
Kulturen zu repräsentieren, die die Sendung
attraktiver, bunter und lebendiger macht?
Birand Bingül:
In gewisser Weise ist dies
sicher ein Kriterium. Wenn Sie sich die
Privatfernsehszene in Deutschland anschauen, waren die Musiksender die ersten,
die auf Moderatoren mit multikultureller Herkunft gesetzt haben. Ich kann mir
aber nicht vorstellen, dass die Kollegen von
RTL gesagt haben: »Dieses Mal brauchen
wir sieben Menschen, die keinen ‚bio-deutschen’ Hintergrund haben.« Viel wichtiger
ist der Aspekt, dass Leute mit Migrationshintergrund die Sendung attraktiver machen. Das Fremde ist immer interessant –
das alltägliche deutsche Umfeld, das erlebe
ich jeden Tag in der S-Bahn.
Wichtig ist: »Wie erhalte ich eine Vielfalt,
die die Fernsehsendung spannend macht?«
Es ist nicht verwunderlich, dass gerade in
der Endrunde Kandidaten mit unterschiedlichen Charakteren ausgewählt werden, mit
denen sich der Zuschauer identifizieren
kann. Diese Palette von Charakteren gibt es
in jeder Show. Sie können sich nicht nur auf
eine Zielgruppe fokussieren, sondern müssen im Idealfall jeden Deutschen erreichen.
Hintergedanken gibt es sicher, aber eine
auf Migranten zugeschnittene Strategie
steht bestimmt nicht dahinter.
Julian Geist:
Wäre es zynisch zu sagen,
es gibt eine Art »Exoten-Bonus«?
Birand Bingül:
D I E D E M O K R AT I S C H E N S TA R S ?
Julian Geist: Ich halte es nicht für zynisch.
In gewisser Weise haben Sie Recht. Das
Wort »Exoten-Bonus« gefällt mir jedoch
nicht, ich würde es eher »FremdheitsBonus« oder »Vielfalts-Bonus« nennen.
Wenn wir eine Popstars- oder eine DSDSEndgruppe präsentieren, deren Vertreter
alle aus dem Umkreis Köln kommen und
keinen Migrationshintergrund oder sonstige Besonderheiten aufweisen, wird diese
Staffel nicht besonders erfolgreich sein, da
bin ich ziemlich sicher.
An der aktuellen PopstarsStaffel nahmen auch ein oder zwei türkischstämmige Kandidaten teil. Herr Erel,
Sie sind stellvertretender Chefredakteur
der Europaausgabe der türkischen Zeitung
Sabah. Werden Sie mit dem Wunsch der
Leser konfrontiert, über diese Kandidaten
zu berichten?
Birand Bingül:
Ismail Erel: Die meisten Leser erwarten von
uns, dass wir über das türkische Mädchen
namens Elif berichten. War dies einmal nicht
der Fall, erhielten wir Nachfragen. Berichteten wir über sie, bekamen wir vereinzelte
Anrufe von Lesern, die uns fragten, was an
dieser Elif so phänomenal sei, dass sie auf der
Titelseite erscheine. Es sei doch endlich mal
an der Zeit, dass der Erfolg eines türkischen,
italienischen oder afghanischen Mädchens in
den Medien als normal betrachtet werde und
nicht als wichtiges Ereignis.
Dieser Aspekt ist nicht nur für uns, sondern
für jedes türkisches Medium ein Thema.
Herr Kindermann, in der
Politik spielt es doch auch eine Rolle, wie
Birand Bingül:
sich Migranten in der Lebenswirklichkeit
abbilden lassen. Gibt es in der Politik vielleicht einen unverkrampfteren Zugang als
beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen?
Walter Kindermann: In beiden Fällen,
sowohl bei den Privaten als auch bei den
Öffentlich-Rechtlichen, können wir für
alle Darstellungen dankbar sein. Denn in
vielen gesellschaftlichen Institutionen gibt
es Bilder, die der gesellschaftlichen Realität
nicht mehr entsprechen. Nicht nur in den
Führungsebenen der Fernsehanstalten gibt
es zu wenige Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch beim Deutschen
Gewerkschaftsbund, in der Katholischen
Kirche, egal, wo Sie hinschauen. Unsere
gesellschaftliche Realität besteht aus vielen
Menschen mit dieser Geschichte. Daher
ist es wichtig, dies auch im Fernsehen zu
zeigen. Auch bei einer differenzierten Betrachtung des Begriffs »Migrant« darf man
die gesellschaftliche Herausforderung in
Deutschland nicht vergessen: Es geht um
die Verbesserung des sozialen Aufstiegs
einer großen bildungsfernen Schicht, die
durch eine gezielte Gastarbeiterzuwanderung geholt wurde. Das ist eine große sozialpolitische Aufgabe. Außerdem müssen
wir uns bewusst machen, dass wir in einer
offenen Welt leben. Diese Tatsache prägt
auch die Anforderungen an Politik und
Verwaltung. Es gilt, dem Land bewusst zu
machen, dass heute in Hessen vierzig Prozent der Unter-Fünf-Jährigen einen Migrationshintergund aufweisen und 2020 eine
deutlich sichtbare Größe darstellen werden.
Für solche administrativen und politischen
Herausforderungen ist es eine Hilfe, wenn
137
Julian Geist, Walter Kindermann, Birand Bingül, Stella Salato und Ismail Erel in der Diskussion
im Fernsehen erfolgreiche Menschen mit
erkennbarem Migrationshintergrund gezeigt werden. Damit werden zwei Aussagen transportiert:
1. Der Erfolg ist möglich, dies betrifft den
Aspekt des sozialen Aufstiegs.
2. Es gibt die Menschen, die wir ‚Bio-Deutsche’ im Alltag oft ausblenden, wenn wir
z. B. in der S-Bahn an ihnen vorbeisehen.
Sie sind da, sie gehören zu uns.
Wenn wir uns dann fragen, wie unser Land
2020 aussehen soll, werden wahrscheinlich
alle sagen: »Es soll weltoffen und friedlich
sein, und alle Menschen, unabhängig von
ihrer Herkunft, sollen sich als gemeinsame
Bürgergesellschaft verstehen.« Das ist
unser Ziel. Deshalb bin ich dankbar, wenn
das Fernsehen diese Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Herr Geist, Sie vertreten
die Ansicht: »Medien sind kein IntegratiBirand Bingül:
138
onswerkzeug für medienpolitische Zwecke.« Warum nicht?
Ich glaube nicht, dass man
durch eine verkrampft positive Darstellung
den Integrationsprozess fördert. Das halte
ich für genauso absurd wie die Aussage
»Fernsehen macht dumm« oder »Zeitung
lesen macht schlau«. Beides sind einfache
psychologische Erklärungsmechanismen,
die nicht mehr zeitgemäß sind. Medien
bilden natürlich eine gesellschaftliche Realität ab. Gleichzeitig erlaube ich mir noch
eine Bemerkung zu Migranten in Führungspositionen: Bis zum 1. März 2009
wurden einhundert Prozent des deutschen
Privatfernsehens von Migranten kontrolliert. Mein erster Vorstandsvorsitzender,
Georg Kofler, war Italiener, mein zweiter
Vorstandsvorsitzender, Urs Rohner, war
Schweizer, der Dritte, Guillaume de Poche,
war Belgier und Gerhard Zeiler von RTL
Julian Geist:
D I E D E M O K R AT I S C H E N S TA R S ?
ist Österreicher. Jetzt gibt es zum ersten
Mal einen deutschen Vorstandsvorsitzenden, Thomas Ebeling. Die Migranten sind
in den Führungspositionen dieser Branche
gut vertreten.
bin hier geboren und aufgewachsen. Meine
schulische Ausbildung habe ich ebenfalls
in Deutschland abgeschlossen. Wie jedes
Mädchen habe auch ich meine Träume und
Ziele, die ich gerne verwirklichen möchte.
Gerade in der Musik-Branche ist es heutzutage schwer, ein Standbein zu bekommen
oder von jemandem bemerkt zu werden.
Der Weg, dies zu erreichen, führt oft nur
über die Casting-Show. Man knüpft daran
die Hoffnung, dass sich vielleicht auch andere Türen öffnen. Dies geht zurück auf
den Traum, etwas mehr als der Nachbar
von nebenan oder die Freunde zu erreichen.
In den Feldern Unterhaltung, Musik und Sport haben Migranten
offensichtlich bessere Aufstiegschancen
oder schaffen es leichter, erfolgreich zu
sein, während es an anderen Stellen unserer Gesellschaft offenbar schwieriger ist.
Nehmen wir das Beispiel Sport: Fußballer
wie Mesut Özil werden doch auch in Ihrer
Zeitung gerne als Erfolgsvorbilder hochgehalten nach dem Motto: »Unsere Jungs
haben es geschafft.«
reichen als die Eltern?
Ismail Erel: Sport ist für sie der kürzeste
Weg zum Erfolg. Die Jungen merken
genau, wenn sie das Talent besitzen und
hart trainieren, haben sie alle Möglichkeiten. Kein Trainer oder kein Verein der
Welt würde einen Fußballer auf der Bank
schmoren lassen, weil er einen Migrationshintergrund hat. Deshalb gibt es auch in
den Jugendmannschaften fast aller großen
Vereine viele Jugendliche mit Migrationshintergrund.
Stella Salato: Sicherlich auch mehr als
die Eltern. Meine Eltern haben in gewisser
Hinsicht viel erreicht. Ich möchte auf einer
anderen Ebene Dinge erreichen, die meinen Eltern möglicherweise nicht wichtig
sind. Nicht jeder möchte in die Medien
gehen, an einem Casting teilnehmen oder
sich von morgens bis abends interviewen
lassen. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen von dem, was er möchte oder nicht
möchte.
Birand Bingül: Frau Salato, was gab Ihnen
Birand Bingül: Dahinter steckt aber schon
den Antrieb, bei DSDS mitzumachen?
Ihre Eltern kamen als Gastarbeiter nach
Deutschland. Gab es auch diesen Aufstiegswillen, der oft thematisiert wird?
ein großer Wille, seinen Weg zu machen.
Herr Kindermann, Sie sind Abteilungsleiter im Hessischen Ministerium der Justiz,
für Integration und Europa. Ich möchte den Aspekt des Aufstiegswillens noch
einmal vertiefen. Wie wir soeben gehört
haben, gibt es im Fußball die Einstellung:
»Wenn die Jungen hart arbeiten, dann
Birand Bingül:
Meine Eltern leben bereits
seit über vierzig Jahren in Deutschland.
Ursprünglich kamen sie aus Sizilien. Ich
Stella Salato:
Birand Bingül: Vielleicht auch mehr zu er-
139
kommt auch der Erfolg.« Sind deutsche
Jungen und Mädchen vielleicht etwas satter, weil es ihnen deutlich besser geht?
In allen hoch entwickelten Einwanderungsgesellschaften
kann man diese Beobachtung machen.
In US-amerikanischen Studien über Einstellungen zum Schulbesuch beispielsweise zeigen Zuwandererkinder positivere
Werte. Da mag aber auch der Aspekt der
»sozialen Erwünschtheit« eine Rolle spielen, denn für die amerikanischen Jugendlichen aus der Mittelschicht ist es nicht
angesagt, zu behaupten, man gehe gerne
in die Schule. Bei uns mag das so ähnlich
sein. Ich habe den Eindruck, dass das Fernsehen gesellschaftliche Realität realistischer
abbildet, als diese in manchen deutschen
Köpfen vorhanden ist. Viele Bürger laufen
mit Scheuklappen herum. Das Fernsehen
eröffnet mit seinen Bemühungen, die gesellschaftliche Wirklichkeit auch auf den
Bildschirm zu bringen, neue Perspektiven.
Es hilft uns auch beim Integrationsprozess, zum Beispiel im Kontakt zu religiöstraditionell verfestigten Milieus. Wenn ich
mit manchen Vereinsvertretern spreche,
die mir verdeutlichen, welche Traditionen
aus ihren Herkunftsmilieus sie fortzuführen versuchen, muss ich sagen, dass manche davon mit Blick auf das Rollenbild der
Mädchen nicht unbedingt mit den Prinzipien des deutschen Erziehungswesens
übereinstimmen. Dann ist es von Vorteil,
wenn im Fernsehen weltoffene, engagierte
Mädchen gezeigt werden. In Deutschland
gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Es gibt aber Bevölkerungsgruppen,
Walter Kindermann:
140
deren Ehrenkodex unsere Vorstellung von
Gleichbehandlung ablehnt, wie etwa beim
Thema Homosexualität. Für die gesellschaftliche Diskussion ist es hilfreich, wenn
die Lindenstraße oder eine andere Sendung
dieses Thema aufgreift.
Ich ginge nicht so weit, den Medien von Seiten der Politik den Auftrag zu geben: »Sorgen Sie mal bitte für Integration.« Das ist
in der Tat nicht ihre Aufgabe. Aber wenn
sie helfen, die Realität darzustellen und sich
dann noch bemühen, journalistisch sauber
zu arbeiten, dann ist alles getan, was an dieser Stelle getan werden kann.
Können Sie mit dieser diplomatischen Form leben, Herr Geist?
Birand Bingül:
Julian Geist: Auf jeden Fall. Ich betrachte
es nur von einer anderen Seite, indem ich
argumentiere, dass die gesellschaftliche
Realität unsere Zuschauer sind. Wenn wir
unsere Zuschauer nicht abbilden, haben
wir irgendwann keine mehr. Medien halten ihren Lesern, ihren Zuschauern und
ihren Zuhörern einen Spiegel vor. Erkennen sie sich nicht wieder, suchen sie sich
im Zweifelsfall einen anderen Sender oder
ein anderes Unterhaltungsmedium. In diesem Punkt sind wir ganz nah beieinander.
Davon unabhängig glaube ich auch, dass
die Lebenswelt der Redakteure durch ihr
unmittelbares Umfeld geprägt wird. Man
macht Fernsehen für die Menschen, die
man kennt und für die Welt, aus der man
kommt.
Stichwort »Quotenmessung«: Pro7 ist ein Profitunternehmen.
Birand Bingül:
D I E D E M O K R AT I S C H E N S TA R S ?
Nicht-EU-Ausländer werden in der Zuschauermessung nicht berücksichtigt. Ist
es nicht ein Problem für Sie zu wissen,
dass Sie bei diesen Gruppen relativ gut
abschneiden und bei Berücksichtigung
dieser Zuschauerdaten gegenüber einigen
Konkurrenten viel besser dastehen würden?
Julian Geist: Das ist in der Tat für uns ein
großes Problem und ein gesellschaftliches
noch dazu. Dies gilt auch für die Kollegen von RTL, die mindestens genauso wie
wir profitieren würden. Es kann meiner
Meinung nach nicht sein, dass so große
Bevölkerungsgruppen in den Panels der
Gesellschaft für Konsumforschung nicht
abgebildet werden.
Wo sehen Sie die Ursachen? Sind sie finanzieller oder methodischer Natur?
Birand Bingül:
Als Wirtschaftsunternehmen ist für uns grundsätzlich alles eine
Geldfrage. Natürlich ist es auch ein methodisches Problem, insbesondere bei der Zusammensetzung der Befragungspanels bei
der Quotenmessung. Dies sind schwierige
Fragen. Wenn ich aber eine Gruppe von
Menschen habe, die einen Bevölkerungsanteil repräsentiert, muss ich diese einfach
aufnehmen. Die Verantwortung liegt bei
der Technikkommission, die sich mit diesen Themen beschäftigt. Die Verantwortlichen in der Kommission müssten sich
zusammenraufen, sonst wird es nach meiner Einschätzung noch Jahre bis zu einer
Lösung dauern.
Julian
Geist:
Lassen Sie mich noch ein Beispiel geben,
wie eng die Darstellung von Menschen mit
Migrationshintergrund im privaten Fernsehen mit der Gefahr der Diskriminierung verknüpft sein kann: Stefan Raab hat
auch dieses Jahr wieder die erfolgreichste
Wahlsendung bei jungen Menschen gemacht. TV Total Bundestagswahl ist eine
sensationelle Geschichte, eine der wenigen
wirklich intelligent gemachten Initiativen,
um junge Leute für das Thema Politik zu
begeistern. Im Vorfeld der Sendung gab es
den TV Total-Erstwählercheck. Bei diesem
Format war mir der Migrantenanteil deutlich zu hoch. Es wurden zu viele Menschen
von der Straße geholt, die nicht flüssig
deutsch sprachen oder erkennbar ausländische Wurzeln hatten. Vergleiche ich diese
Beispiele mit den Kindern meiner Freunde
oder Geschwister, die eine wesentlich höhere politische Bildung mitbringen, glaube
ich, diese Kinder hätten auch nicht besser
abgeschnitten. Genau hier muss das Privatfernsehen darauf achten, diese Fremdheit,
die ihren Reiz hat, nicht zu missbrauchen,
indem sie Menschen zur Schau stellt. Auch
in den Redaktionen gibt es immer wieder
Diskussionen, wie weit man gehen dürfe.
Mit dieser Frage müssen sich die Medien
generell und das Privatfernsehen besonders
auseinandersetzen, damit Menschen mit
Migrationshintergrund nicht diskriminiert
werden.
In dieser berühmten Bundestagswahlsendung gab es beispielsweise
ein junges Mädchen namens Ebru, das in
der von Ihnen beschriebenen Weise vorgeführt wurde. Sie war mit den Fragen
Birand Bingül:
141
offensichtlich überfordert und wurde drei
Minuten lang in einer sich im Kreis drehenden Diskussion persifliert.
Dieses Risiko ist beim privaten Fernsehen sicherlich größer als beim
öffentlich-rechtlichen Fernsehen, weil es
dort andere Kontrollmechanismen gibt.
Aber auch bei uns wird dies diskutiert.
Genau wie Sie darauf reagieren, haben
auch ich und andere Kollegen aus dem
Unternehmen auf das Interview reagiert.
Manche rufen auch in der Redaktion an
und sagen: »Das geht eigentlich zu weit.«
Die Sendung von Stefan Raab hat natürlich ein spezielles Format, das davon lebt,
Grenzen zu überschreiten. Geschieht dies
bei einer Person aus dem Ruhrgebiet, regen
wir uns darüber nur weniger auf als bei
einem türkischstämmigen Mädchen.
Julian Geist:
In meiner WDR-Redaktion Cosmo TV war man der Meinung, das
Mädchen hätte sich nicht wehren können.
Wenn der Popstar auf seiner Couch veralbert wird oder Politiker in der Bundeswahlrunde, kann man davon ausgehen,
dass sie der Diskussion gewachsen sind.
Birand Bingül:
Trotzdem bin ich sicher:
Wenn dasselbe Mädchen genauso unbedarft gewesen wäre und ‚bio-deutsch’, hätten wir uns weniger aufgeregt – auch darüber muss man nachdenken.
Julian Geist:
Wenn es ein ‚biodeutsches’ Mädchen gewesen wäre, hätten wir uns eher darüber unterhalten,
was Menschen reizt, in Sendungen zu
Walter Kindermann:
142
gehen, in denen sie öffentlich bloßgestellt
werden.
Birand Bingül: Frau Salato, hat Sie der
Gedanke, sich vor laufender Kamera von
Dieter Bohlen beleidigen zu lassen, nicht
abgeschreckt?
Ich habe lange gezögert, ob
ich bei DSDS mitmachen soll oder nicht.
Natürlich habe ich mir Gedanken gemacht,
ob ich nach dem Vorsingen Beleidigungen
oder Demütigungen vor den Kameras über
mich ergehen lassen muss. Aber letztendlich geht man das Risiko ein, weil man
hofft, gut anzukommen. Ich habe mir gedacht: »Es wird schon nicht so schlimm,
versuch es einfach.« Mein Freundeskreis
hat mich darin auch bestärkt: Viele nehmen es in Kauf, dass Dieter Bohlen einen
herablassenden Spruch macht und denken
sich: »Wenigstens habe ich es probiert.«
Stella Salato:
SCHLUSSWORT
Migranten als Zielgruppe? Die Wirklichkeit wirkt
am meisten
VON BIRAND BINGÜL
Die mediale Integration ist in diesem Themenfeld zum Modebegriff geworden. Mediale
Integration: Das klingt so gut, so verdienstvoll, so einfach. Wenn wir in den Medien das
Richtige drucken, twittern oder ausstrahlen, wird das zuträglich für die Integration sein.
Es herrscht an dieser Stelle ein beinahe naiver Glaube an das Gute in den Medien vor. Ich
würde das persönlich auch gerne so sehen, allein mir fehlt der Glaube. Und die Belege
fehlen sowieso. Jetzt mag es den einen oder anderen überraschen, dass ausgerechnet ich
das sage als Leiter des einzigen Fernsehmagazins in Deutschland, das sich ausschließlich
mit Migration und Integration beschäftigt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Gerade
weil ich für Cosmo TV im WDR-Fernsehen arbeite, bin ich dieser Meinung.
Zunächst einmal sind die Medien überhaupt nicht homogen. Die einen berichten so, die
anderen so. Die Gesamtwirkung der Medien ist so komplex, dass selbst nobelpreisverdächtige Chaosforscher chancenlos sein dürften, sie zu entschlüsseln. Dann haben Medien
ein unterschiedliches Gewicht. Angenommen, fünf Lokalzeitungen und drei kleine Sendungen im Radio berichten das Richtige über die Integration, kritisch-konstruktiv, nah
am Menschen und auf Augenhöhe, hintergründig, ausgewogen. Wirkt das jetzt mehr,
als wenn der Spiegel einmal im Jahr eine völlig verzerrte Titelgeschichte bringt über die
geknechteten Muslima?
Sowohl weite Teile der Wissenschaft als auch der Politik schreiben den Medien, insbesondere dem Leitmedium Fernsehen, unglaubliche Wirkkräfte zu – gute wie schlechte. Die
Bandbreite ist groß: Von »Fernsehen macht doof« bis »Fernsehen integriert« haben sehr
kluge Köpfe allerlei Thesen aufgestellt. Fakt ist, und das belegen die Texte dieses Bandes,
dass die Wirkung von Medien erstens sehr schwierig zu messen ist und wenn es dann
gelingt, zweitens, die Ergebnisse doch sehr schmal sind. Allgemein lässt sich sagen, dass
Medien am ehesten beim Zuschauer bereits gefestigte (Vor-)Urteile und Einstellungen
verstärken.
Das führt in der Praxis zu skurrilen, ja beinahe absurden Situationen. Zum Beispiel haben
wir bei Cosmo TV ein Porträt über einen Aufsteiger gezeigt. Ein Migrant, der sich gegen
etliche Widerstände hochgekämpft hat – eine echte Positivgeschichte, ein Vorbild, sollte
man meinen. So haben wir den Film auch moderativ eingebettet. In unserer Redaktion
wäre niemand auf die Idee gekommen, diese Geschichte als negatives Zerrbild zu sehen.
Wir haben den jungen Mann auch nicht hochgejubelt. Seine Lebensgeschichte war span-
BIRAND BINGÜL
nend und aussagekräftig genug. Jetzt dürfen Sie drei Mal raten, was die Reaktionen der
Zuschauer waren. Migranten schrieben uns, dass wir wieder so einen Loser zeigen (der
Mann stammte aus schwierigen Verhältnissen). Deutsche wiederum schrieben uns, wir
würden da wieder so einen kleinen Ausländer hochjubeln.
Diese Reaktionen sind vermutlich nicht repräsentativ für alle Zuschauer. Aber was ich
sagen will, belegen sie gut: Selbst wenn Journalisten bei der Auswahl der Geschichten eine
Wirkung annehmen, bleibt es den Zuschauern vorbehalten, genau diese oder eine ganz
andere Wirkung bei sich wahrzunehmen. Das ist auch gut so.
Mediale Integration als volkspädagogische Gehhilfe – dieser Gedanke fällt mir schwer.
Im Gegenzug wäre es unseriös, Veränderungen zu leugnen. Es tut sich was. Ich nenne
das eher einen Klimawandel. Der ist zuallererst abhängig von der alltäglichen Wirklichkeit: Wenn in Großstädten jedes dritte Kind ausländischer Herkunft ist, dann ist diese
Gruppe nicht mehr zu übersehen und zu marginalisieren. Das ist in Deutschland einfach
so passiert, egal, wie böse und schlecht die Medien jahrzehntelang über »die Ausländer«
und »die Asylanten« geschrieben haben. Kein Wunder also, dass sich das gesellschaftliche
und politische System wegen der neuen Wirklichkeit auch neu justieren muss. In dieser
Phase steckt Deutschland gerade. Durch die aufeinander abgestimmte Bemühung in allen
Bereichen, der Integration mehr Bedeutung beizumessen und Migranten anzuerkennen,
entsteht insgesamt ein neues Klima. Gute, journalistische Medien müssen diese Entwicklung beobachten, beschreiben und analysieren, denn sie ist sehr wichtig für alle im Lande.
Dieses neue, offenere Klima ist auch beeinflusst vom Zeitgeist. Ein – mehr oder weniger
– schwarzer Präsident: Das finden heute die meisten Deutschen cool.
Meine These lautet also: Die Wirklichkeit wirkt am meisten. Dabei ist die Wirklichkeit
nüchtern, sehr nüchtern. Zum Beispiel hat die Bild-Zeitung im Februar 2010 auf Seite 1
in dicken Lettern zum ersten Mal von »Migranten« gesprochen. Und nicht mehr, wie so
lange üblich, von »Ausländern«. Nanu? Wird jetzt auch noch die Bild-Zeitung politisch
korrekt, weil diverse andere Medienunternehmen und die Medienpolitik ein Klima der
Anerkennung oder gar der verhassten politischen Korrektheit geschaffen haben? Oder ändern sich die Zeiten auch ganz von alleine, geht der Springer-Konzern aus strategischen
Interessen eine Partnerschaft mit der türkischen Dogan-Gruppe ein und erkennen die führenden Köpfe des Blattes, dass die breite Masse der Migranten doch eigentlich die geborene
Zielgruppe für die Bild-Zeitung sein müsste: Unterdurchschnittlich gebildet, boulevardinteressiert und im Deutschen nicht kompatibel mit dem Feuilleton der Frank furter Allgemeinen Zeitung. Den potenziellen Kunden muss man ja nicht unnötig vor den Kopf stoßen.
Migranten als Zielgruppe, das ist ein schwieriges Geschäft. Wie wollen Sie eine Gruppe
gezielt ansprechen, die so richtig gar nicht existiert? Was den Russlanddeutschen bewegt,
interessiert den Türkeistämmigen kaum. Der arme Opi aus der Gastarbeitergeneration
144
SCHLUSSWORT
Birand Bingül im Gespräch mit Michael Radix
hat herzlich wenig gemein mit dem promovierten Global Player. Das macht es für Medien
schwierig, auf diese Zielgruppe zugeschnittene Programme anzubieten. So bleiben die Herkunftssprachen und -kulturen meist der einzige Bezugspunkt, um unter den Migranten
eine echte Zielgruppe zuzuschneiden. Doch das sind kleine Publikationen, die heutzutage
auch noch massiv in Konkurrenz zu den Heimatmedien stehen. Viele von ihnen konnten in
der Vergangenheit wirtschaftlich nicht überleben. Das führt in den neueren Überlegungen
dazu, Migranten sozialen Milieus zuzuordnen, die denen der ‚Bio-Deutschen’ gleichen.
In großer Zahl befinden sich die Migranten in sozial schwachen, bildungsfernen Milieus
wieder. Das ist ein großes Problem zum Beispiel für öffentlich-rechtliche Sender wie den
WDR oder das ZDF. Sie bekennen sich zwar zu ihrer Verantwortung, was den Klimawandel in Sachen Integration angeht, doch ihr informationsorientiertes Angebot passt weniger zu den Interessen des entsprechenden Publikums. Das schaut lieber amerikanische
Serien bei den Privaten oder Sitcoms bei den Heimatsendern. Um entsprechende Themen
zu setzen, ist die Unterhaltung wohl wichtiger als die Information geworden. Ein TatortKommissar, der recht beiläufig auch noch türkischer Herkunft ist, sagt vielen vielleicht
mehr als zwanzig Sendungen Cosmo TV. Trotzdem haben wir im öffentlich-rechtlichen
Fernsehen unsere Berechtigung und Bedeutung als Fachredaktion, die kompetent Inhalte aufarbeitet. Und wenn in Deutschland sucht den Superstar sieben von zehn Finalisten
fremde Wurzeln haben, dann interessiert sich ein Millionenpublikum am Samstagabend
immerhin für die Lebensgeschichten dieser Stars in spe. Das bildet die neue Wirklichkeit
145
BIRAND BINGÜL
ab und verstärkt sie womöglich auch. Ohne erhobenen Zeigefinger …! Außerdem darf
niemand annehmen, dass Migranten nur Migranten sehen wollen.
Allerdings haben Migranten als Zielgruppe zumindest im Fernsehen ein schlechtes Standing: Menschen, die nicht aus dem EU-Ausland stammen, werden für die wichtigen
Quoten gar nicht gemessen. Das wird sich durchaus ändern, aber
Alle Medien müssen für
bestenfalls in einigen Jahren. Solange ist der Fernsehgeschmack vieihre eigene Zukunftssicherung Wege suchen,
ler Migranten Luft für Programmplaner und -strategen. Auch hier
mehr Migranten zu
erreichen, ohne Stamm- wirkt die Wirklichkeit normativ.
kunden zu verprellen.
Wenn die Wirklichkeit am meisten Einfluss hat, dann stellen sich für
die Zukunft dieses Diskurses eine Reihe von Fragen: Wie können Medien diese sich ändernde Wirklichkeit abbilden, ohne in Abwehr oder politischer Korrektheit zu verkrampfen? Welche Formen und Gefäße finden Medien, um dieses Thema mit
gelassener Beiläufigkeit zu bearbeiten, ohne beliebig zu werden? Wie schaffen es Medien,
entsprechende Menschen und Themen an prominentester Stelle zu platzieren, ohne in eine
zweischneidige Quotendiskussion zu geraten? Alle Medien müssen für ihre eigene Zukunftssicherung Wege suchen, mehr Migranten zu erreichen, ohne Stammkunden zu verprellen. Wie können Medien im journalistischen Bereich die Qualität der Berichterstattung
verbessern, ohne die Schere der politischen Korrektheit im Kopf zu haben? Welche Medien
sind am Puls der Zeit und erkennen, wann sich Justierungen von Personal und Programm
aus der Lebenswirklichkeit heraus ergeben?
Vieles wird, wie so oft, von den Entscheidern und Kreativen in den Unternehmen abhängen. Ich habe auf diese Fragen aber keine fertigen Antworten. Und ehrlich gesagt,
wenn ich sie hätte, würde ich sie nicht verraten. Denn wer tragfähige Lösungen für diese
Herausforderungen findet, wird einen spürbaren Wettbewerbsvorteil haben.
146
ANHANG
Anhang
147
Die Autoren
Berufsdiplomat im Rang eines
Gesandten Botschaftsrats, trat am 19. August 2009 das Amt
des US-Generalkonsuls in Frankfurt am Main an. Zuvor
war er Stabschef des Staatssekretärs für Management im
US-Außenministerium. Seit 1978 im Auswärtigen Dienst,
war er u. a. tätig an den Botschaften in Bagdad, Islamabad,
Moskau, Rom, Dhaka, Windhoek, Addis Abeba, Leningrad, Nairobi und in Manama, Bahrain. Ned Alford hat
mehrere hohe Auszeichnungen des Außenministeriums
erhalten.
Edward (Ned) M. Alford:
Geboren 1974 in Wickede-Wimbern,
Nordrhein-Westfalen. Studium des Journalismus und
der Amerikanistik in Dortmund. Fernsehredakteur beim
Westdeutschen Rundfunk, Kommentator der ARD Tagesthemen. 2009/2010 Redaktionsleiter von Cosmo TV, dem
Integrationsmagazin im WDR-Fernsehen. Ab November
2010 stellvertretender Unternehmenssprecher des WDR.
2002 publizierte er seinen ersten Roman Ping. Pong. Für
viel Aufmerksamkeit sorgte im Januar 2007 sein Artikel in
der Wochenzeitung Die Zeit: Deutschtürken, kämpft selbst
für eure Integration! Im Oktober 2008 erschien sein neues
Buch Kein Vaterland, nirgends – ein »Debattenbuch« zu gesellschaftlichen Verwerfungen
und Integration. Er moderiert zum zweiten Mal nach 2008 die Trialog der KulturenKonferenz der Herbert Quandt-Stiftung.
Birand Bingül:
148
DIE AUTOREN
Ismail Erel: Geboren
1971 in Bursa, Westtürkei. Lebt seit
1973 in Deutschland. Nach Schulabschluss Germanistikstudium, Abschluss 1994. Seit 1995 tätig als Journalist, bis
1999 Chefreporter der Sabah. Ende 1999 bis Oktober 2008
Redaktionsleiter bei Hürriyet. Seit Oktober 2008 Stellvertretender Chefredakteur der Europaausgabe der türkischen
Tageszeitung Sabah mit Sitz in Mörfelden-Walldorf.
Geboren 1968 in München. Studium der
Rechtswissenschaften, Anglistik und Philosophie in
Bayreuth, Aix-en-Provence, Wales und München. Seit Juli
1995 tätig in der ProSiebenSat.1 Group. 1997-2006 verantwortlich für das gesellschaftliche Engagement der ProSiebenSat.1 Group. 2000 Mitbegründer von startsocial, dem
erfolgreichsten Ideenwettbewerb im dritten Sektor (www.
startsocial.de), dessen Schirmherrin jetzt Bundeskanzlerin
Angela Merkel ist. Aufgrund seines Engagements für den
Bundesverband Alphabetisierung wurde er 2003 zusammen mit der damaligen Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn zum Botschafter
der Alphabetisierung ernannt. 2001-2004 Mitglied des Beirats der Deutsche Bank Stiftung für das Projekt Coole Schule. April 2006 bis März 2009 Leiter Unternehmenskommunikation der ProSiebenSat.1 Media AG. Seit März 2009 Konzernsprecher.
Julian Geist:
Aufgewachsen in Philadephila. Studium der Kommunikationswissenschaften an der Pennsylvania State University in University Park, der University of Wisconsin in Madison sowie der Australian National
University, Canberra. Promotion 2002 in Madison mit dem
Thema »The Social Psychology of Ideological Struggle in
the Interpretation of Race-Related Television News.« Seit
2001 Associate Professor im Communications Department,
S.I. Newhouse School of Public Communications der Syracuse University, New York State. Er forscht und lehrt über
Massenkommunikation und Diversity, Kommunikationstheorie, Medieneffekte auf Gesellschaft und Politik, Diversity-Strategien und die Psychologie der Medienwirkforschung
sowie international images in media.
Bradley W. Gorham:
149
Susanne Klatten: Geboren 1962 in Bad Homburg. Business Studies an der University of Buckingham (UoB), BSc.
1988 Studium am International Institute for Management
Development (IMD), Lausanne, MBA. Seit 1991 selbständige Unternehmerin. Aufsichtsratsmandate in familiennahen Unternehmen: Stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der ALTANA AG, Aufsichtsratsmitglied der BMW
AG. Aufsichtsratsvorsitzende der UnternehmerTUM
GmbH, Garching. Vorsitzende des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung. Mitglied des Hochschulrates der
Technischen Universität München.
Geboren, 1952. Studium der Psychologie an der Freien Universität Berlin. 1974 Diplom. Von
1974-1978 Aufbau einer Drogenabteilung in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel. 1979 Promotion an der Freien
Universität Berlin. Von 1979-1983 Leitung der Arbeitsgruppe Jugendforschung an der Technischen Universität
Berlin. 1983-1990 Fachlicher Leiter des Therapieverbundes
»Jugendberatung und Jugendhilfe« in Frankfurt am Main.
Von 1990 bis März 2009 im Hessischen Sozialministerium tätig: zunächst Referatsleiter in der Zuständigkeit für
Suchthilfeplanung und Jugendpolitik, dann Sektenbeauftragter und danach Zuständigkeit für Gesundheitspolitik. Von 1999 bis März 2009 Leiter der Abteilung »Arbeit / Soziales / Integration«. Seit März 2009 leitet er im Ministerium der Justiz, für Integration und
Europa die Abteilung »Integration«.
Walter Kindermann:
Rudolf Kriszeleit: Geboren 1955 in Frankfurt am Main.
Nach dem Abitur Studium der Rechtswissenschaft in
Frankfurt am Main, 1982 Zweites Juristisches Staatsexamen. Zugleich Studium der Volkswirtschaftslehre in
Frankfurt am Main von 1974-1979. 1994 Promotion an
der Universität Hannover. 1982-1983 Wissenschaftlicher
Assistent am Institut für Internationales Wirtschaftsrecht
der Universität Frankfurt, danach bis 1987 Staatsanwalt
bei der Staatsanwaltschaft am Landgericht Frankfurt
am Main. Von 1987-1990 Referent der FDP-Fraktion im
Hessischen Landtag, bis 1995 Referatsleiter beim Hessischen Ministerium der Finanzen
und dort zuständig für Grundsatzfragen der Finanzpolitik sowie Bundesratsangelegen-
150
DIE AUTOREN
heiten. 1995-2001 Finanzreferent und Leiter der Finanzabteilung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) sowie Geschäftsführer der Versorgungsstiftung der
EKHN. 2001 Vorstandsmitglied bei der Investitionsbank Hessen und Geschäftsführer
der Mittelständischen Beteiligungsgesellschaft Hessen mbH. Seit 1976 Mitglied der FDP.
Seit 2005 im FDP-Kreisvorstand Frankfurt am Main. Seit 2009 Staatssekretär im Hessischen Ministerium der Justiz, für Integration und Europa.
Manfred Krupp: Geboren 1956 in Troisdorf. Nach dem
Abitur 1976-1983 Studium der Politik, Soziologie und
Öffentliches Recht in Gießen und Marburg. 1983/1984
Studiengangplaner an der Universität/Gesamthochschule Kassel. 1984 Volontariat beim Hessischen Rundfunk
(Fernsehen), ab 1986 Fernsehredakteur beim Hessischen
Rundfunk mit Redaktion und Moderation der Regionalnachrichten, politischer Diskussionssendungen, aktueller
Nachrichtensendungen und Magazine, regionaler Features. Ab 1990 landespolitischer Korrespondent und Leiter
hr-Fernsehstudio Wiesbaden, Leitung und Moderation des landespolitischen Magazins, diverser Wahlsendungen sowie aktueller Beiträge für Hessenschau, Tagesschau, Tagesthemen
und politische Magazine. Seit 1996 Abteilungsleiter Hesseninformation (verantwortlich
u. a. für das tägliche Regionalmagazin Hessenschau, Hessentext, Wahlberichterstattung
im hessen fernsehen), seit 1999 stellvertretender Chefredakteur Fernsehen beim Hessischen
Rundfunk sowie Kommentator Tagesthemen. Ab April 2001 Chefredakteur Fernsehen
beim Hessischen Rundfunk, seit April 2005 Fernsehdirektor Hessischer Rundfunk.
Geboren 1961 in Aachen. Studium der
Rechts- und Staatswissenschaften in München und Bonn,
1. Juristisches Staatsexamen vor dem Oberlandesgericht
Köln, Ausbildung zum Journalisten. Freie journalistische
Tätigkeit für bayerische Rundfunksender und das Bayerische Fernsehen, Chefredakteur, Geschäftsführer und
Verlagsleiter der Einhard-Verlags GmbH. Im Jahr 1989
wurde er in den Rat der Stadt Aachen gewählt. Ab 1991
wurde er stellvertretender Vorsitzender des CDU-Bezirksverbands Aachen, seit 2001 Kreisvorsitzender. 1994
gewann er das Direktmandat für den Wahlkreis AachenStadt bei der Wahl zum Deutschen Bundestag, dem er bis 1998 angehörte. 1999-2005 Europaabgeordneter. 2005-2010 Staatsminister für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. Seit 2010 Erster Stellvertretender Vorsitzender
Armin Laschet:
151
der CDU-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen. Seit Dezember 2008 Mitglied des
Bundesvorstands der CDU Deutschlands. Mitglied des Zentralkomitees der deutschen
Katholiken (ZdK).
Inhaberin des Knight Ridder – San Jose
Mercury News Endowed Chair in Journalism and the
Public Interest an der Santa Clara University in Kalifornien – und feie Journalistin mit den Spezialgebieten Integration, Migration, Rassenfragen, Identität und Gender
im weiteren Kontext von Medizin und Wissenschaft. Sie
veröffentlichte in bedeutenden Magazinen wie Scientific
American, Health, Salon.com, Nature, The Boston Globe
und The DNA Files. Sie produzierte zudem drei große
Radiodokumentationen zum Thema Genetik für das National Public Radio. Sie engagierte sich – etwa als Autorin News in a New America – für
die Gleichberechtigung von Minderheiten, Diversity in der Personalpolitik von Medienanstalten und hatte deshalb über ein Jahrzehnt den National Diversity Chair der Society
of Professional Journalists, eine der wichtigsten journalistischen Berufsorganisation der
USA, inne. Für ihr Engagement erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, so 1995-96 das
John S. Knight Fellowship, 2002 den Peabody-Award sowie den Columbia/Du Pont Silver
Baton-Preis.
Sally Lehrman:
Roland Löffler: Geboren 1970 in Homberg/Efze. 1991–
1998 Studium der Ev. Theologie und Philosophie in Tübingen, Berlin, Cambridge und Marburg. Seit 1997 freiberufliche journalistische Tätigkeit u. a. für Neue Zürcher
Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Furche (Wien), Rheinischer Merkur, Das Parlament. 2002-2004 Vikar der Ev.
Kirche von Kurhessen-Waldeck. 2005 Promotion in Marburg zum Dr. theol. mit einer Arbeit zu den Kirchen und
der Palästinafrage 1918-39. 2005-2006 Wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Universität Marburg. 2006 Gastprofessor an der Université de Montreal. Seit 2007 Leiter des Themenfeldes Trialog der Kulturen
der Herbert Quandt-Stiftung.
152
DIE AUTOREN
Karl-Heinz Meier-Braun: Geboren 1950 in Stuttgart. Studium der Politikwissenschaft und Anglistik an der Universität Tübingen. Promotion über »Ausländerpolitik in
Deutschland«. Leiter der Redaktion SWR International
und Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks Stuttgart (SWR). Seit 1991 Honorarprofessor an der Universität
Tübingen. Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft
für die Vereinten Nationen (DGVN) Landesverband Baden-Württemberg und der Kommission für internationale
Bevölkerungsfragen der DGVN Bonn. Redaktionsbeirat
der Zeitschrift für Kulturaustausch des Instituts für Auslandsbeziehungen Stuttgart und
Mitglied im Rat für Migration (RfM).
Ulrich Neuwöhner: Geboren 1960 in Rüthen (Westfalen),
Studium der Psychologie an der Justus-Liebig-Universität
Gießen, seit 1989 als Referent in der Abteilung Medienforschung des SDR bzw. SWR in Stuttgart in der Programmberatung Hörfunk/Fernsehen/Internet tätig. Lehraufträge
an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Pop-Akademie
Baden-Württemberg, Hochschule der Medien Stuttgart.
U. a. Vorträge zum Thema Migration und Medien auf dem
11. Medienforum Migration (Mai 2009) in Stuttgart und bei
Migra Nord in Stockholm (Oktober 2009).
Geboren 1970 im Iran, aufgewachsen
im Iran, den USA und Deutschland. Studium der Germanistik, Amerikanistik und Medienwissenschaft. Auslandsstudium am Randolph Macon College in Lynchburg/
Virginia. Magisterabschluss. Freie Mitarbeit beim ZDFMorgenmagazin und heute-journal. 2001-2007 Reporterin/
Redakteurin bei N24. Seit Anfang 2008 Redakteurin bei
der Tagesschau in Hamburg. Mitbegründerin und 1. Vorsitzende des Vereins Neue Deutsche Medienmacher. Vortrags- und Seminartätigkeit zu Fernsehjournalismus und
Migrationsthemen an den Universitäten Bochum, Hamburg und Potsdam. Moderationen
für die US-Botschaft, RIAS und Körber-Stiftung; 2007 RIAS-Fellowship: fünfwöchiger
Arbeitsaufenthalt bei CBS in Jacksonville/Florida.
Marjan Parvand:
153
Georg Ruhrmann: Geboren 1955 in Soest/Westfalen. Studium der Biologie und Soziologie in Marburg und Bielefeld. 1983-1993 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Bielefeld. 1986 Promotion über »Rezipient und Nachricht«.
1987-1993 Hochschulassistent am Institut für Publizistik
in Münster. Habilitation mit einer Arbeit über Risikokommunikation. 1994-1996 Projektleiter am Duisburger
Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung e. V. 1995 Auszeichnung mit dem Preis der Schader-Stiftung »Gesellschaftswissenschaften im Praxisbezug«. Seit 1998 Inhaber
des Lehrstuhls für Grundlagen der medialen Kommunikation und der Medienwirkung
an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Universität Jena. Seit 2002
Mitglied der DFG-Forschergruppe Discrimination and Tolerance in Intergroup Relations.
Seit 2003 Mitglied in der Versammlung der Thüringer Landesmedienanstalt. Seit 2006
beteiligt am Exzellenzcluster »Laboratorium der Aufklärung«. Forschungsschwerpunkte
sind unter anderem Methoden der Medienwirkungsforschung, Risikokommunikation
sowie Migration und Medien.
Stella Salato: Geboren 1985 in Bad Homburg vor der
Höhe. Nationalität: Italienisch. 1996-2002 Realschule mit
Abschluss an der Maria-Ward-Schule in Bad Homburg;
2002-2005 Fachhochschulreife mit Abschluss an der Feldbergschule in Oberursel. Juli 2005 Teilnahme am New Yorker – Dress for the moment-Casting. Erster Platz und damit
verbunden die Möglichkeit, zwei Werbesongs in Fernsehen
und Kino für die Modekette einzusingen. August 2005 bis
Februar 2008 Ausbildung zur Mediengestalterin in Frankfurt. Februar 2008 Teilnahme an der RTL-Casting-Show
Deutschland sucht den Superstar, wo sie in die Phase der Mottoshows (also unter die letzten
zehn Teilnehmer) kam und als Achte ausschied. Seit August 2008 in einer PR-Agentur in
Bad Homburg im Bereich Projektmanagement tätig.
154
DIE AUTOREN
Erk Simon: Studium der Soziologie, Psychologie und Germanistik. Mitarbeiter bei verschiedenen Marktforschungsinstituten und an der Universität zu Köln. 1995-2001 Referent für Medienforschung beim Süddeutschen Rundfunk/
Südwestrundfunk in Stuttgart. Seit 2001 Medienforscher
beim WDR und seit 2003 verantwortlich für den Bereich der Fernsehforschung. Forschungsschwerpunkte:
Qualitative und quantitative Programmforschung sowie
Migranten in Deutschland: Mediennutzung und Medienwirkung. 2006 Leiter des WDR-Projektes »Zwischen den
Kulturen – Fernsehnutzung, Einstellungen und Integration junger Erwachsener türkischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen«.
Canan Topçu: Geboren 1965 in Bursa, Türkei. Abitur in
Hannover. Studium der Literaturwissenschaft und Geschichte an der Leibniz-Universität Hannover. Volontariat bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Seit 1999
Redakteurin der Frank furter Rundschau. Schreibt auch als
freie Journalistin für zahlreiche andere Medien.
Migration und Integration sind ihre Schwerpunktthemen
als Publizistin und Referentin. Seit 2004 ist sie Dozentin
an der Hochschule Darmstadt im Fachbereich Media. 2007
veröffentlichte sie das Buch »EinBÜRGERung. Lesebuch
über das Deutsch-Werden. Portraits, Interviews, Fakten.«
155
13. Konferenz »Trialog der Kulturen«
am 19.11.2009 in Bad Homburg v. d. H.
TEILNEHMERLISTE
Alford, Edward; US-Generalkonsul
Appelhans Dr., Jörg; Vorstand Herbert Quandt-Stiftung
Bierschwale, Ingo; dpa – deutsch-türkischer Dienst
Bingül, Birand; WDR
Dahl, Sylvio; Electronic Media School
Deniz-Roggenbruck, Türkan; Büro für Migrationsfragen, Stadt Braunschweig
Doymus, Mustafa; Universität Siegen
Erel, Ismail; Sabah
Essen Dr., Karsten; Herbert Quandt-Stiftung
Fahrion, Georg; Henri-Nannen-Schule
Foraci, Ulrike; agah-Landesausländerbeiratsvorsitzende
Froelich Dr., Margit; Evangelische Akademie Arnoldshain
Geist, Julian; ProSiebenSat1 Media AG
Gorham Prof. Dr., Bradley W.; Syracuse University New York State
Güngör, Baha; Deutsche Welle
Habann Dr., Frank; Universität Mainz, Institut für Publizistik
Haque, Yusuf; IPD Köln
Hartmann Dr., Reinold; ZDF
Hirseland, Katrin; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Kalden, Sebastian; Herbert Quandt-Stiftung
Kindermann Dr. Walter; Hess. Minis. d. Justiz, f. Integration u. Europa
Klatten, Susanne; Stiftungsratvorsitzende Herbert Quandt-Stiftung
Kriszeleit Dr., Rudolf; Staatssekretär im Hess. Minist. d. Justiz, f. Integration u. Europa
Krückeberg Dr., Siegfried; Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Rundfunk
Krupp, Manfred; Hessischer Rundfunk
Kul, Ismail; Zaman
Laschet, Armin, MdL; Staatsminister a.D.
Lehrman Prof. Dr., Sally; Santa Clara University
Löffler Dr., Roland; Herbert Quandt-Stiftung
Lüders, Christine; Hessisches Kultusministerium
Maier, Gregor; Hochtaunuskreis
Mec, Ilyas; Hessischer Rundfunk
Meier-Braun Prof. Dr., Karl-Heinz; SWR International
156
TEILNEHMERLISTE
Micksch, Jürgen; Interkultureller Rat in Deutschland
Müller Dr., Daniel; Universität Siegen/Dortmund
Müller, Rabeya; IPD Köln
Müller, Stefanie; Hessischer Rundfunk
Neuwöhner, Ulrich; SWR Medienforschung
Nieto, Isabel; Hessischer Rundfunk, Ausländerprogramm
Parvand, Marjan; ARD / Vorsitzende Neue Deutsche Medienmacher e. V.
Petry, Christian; Freudenberg Stiftung
Pham, Khuê; Henri-Nannen-Schule
Radix, Michael; CIVIS medien Stiftung GmbH
Rashid, Abdul-Ahmad; ZDF
Ruhrmann Prof. Dr., Georg; Universität Jena
Safiarian, Kamran; ZDF
SAID, Stiftungsrat Herbert Quandt-Stiftung
Salato, Stella; Mediengestalterin / Sängerin
Salloum, Raniah; Henri-Nannen-Schule
Schäfer Prof. Dr., Hermann; Stiftungsrat Herbert Quand-Stiftung
Schneider, Niels-Holger; Herbert Quandt-Stiftung
Schüßler, Christine; Herbert Quandt-Stiftung
Simon, Erk; WDR Medienforschung
Spöcker, Christian; epd Hessen
Toepfer, Stefan; Frankfurter Allgemeine Zeitung
Tüchter, Ilja A.; Rheinpfalz
Wagner Dr., Richard; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Weigand, Roman; Herbert Quandt-Stiftung
Wieland Dr., Walter; US-Generalkonsulat
Wiesinger, Gerhard; US-Generalkonsulat
Zambonini Dr., Gualtiero; WDR
157
Die Herbert Quandt-Stiftung und der Trialog
der Kulturen
Herbert Quandt-Stiftung
Den Bürger stärken – die Gesellschaft fördern
Gestiftet als Dank für die Lebensleistung des Unternehmers Dr. Herbert Quandt setzt
sich die Herbert Quandt-Stiftung für die Stärkung und Fortentwicklung unseres freiheitlichen Gemeinwesens ein. Ausgangspunkt ihres Handelns in den Satzungsbereichen
Wissenschaft, Bildung und Kultur ist entsprechend diesem Vorbild die Initiativkraft des
Einzelnen und die Einsatzbereitschaft für Andere. Die Stiftung will mit ihrem Wirken
dazu beitragen, das Ideal des eigenständigen Bürgers zu fördern: Sie möchte Menschen
anregen, ihre individuellen Begabungen zu entfalten und Verantwortung für sich sowie
für das Gemeinwesen zu übernehmen.
Die Stiftung ist grundsätzlich operativ tätig in Form von längerfristigen Programmen. Sie
greift gesellschaftspolitische Themen auf, erschließt sie in Kooperation mit der Wissenschaft, entwickelt praktikable Lösungsansätze und bringt sie in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politik. Sie möchte damit auch die politische Kultur unseres Landes
fördern. Je nach Erfordernis setzt die Herbert Quandt-Stiftung auf Bündnisse mit anderen Institutionen und Organisationen, um den gesamtgesellschaftlichen Dialog zu fördern
sowie Andere zu ermutigen, die Anliegen der Stiftung aufzunehmen und weiterzutragen.
Trialog der Kulturen
Durch den Globalisierungsprozess auf der einen und die weltweite Migration auf der
anderen Seite wird die räumliche Trennung zwischen unterschiedlichen Kulturen in
einem bisher nicht gekannten Maße überwunden. Im Kontext dieses nach dem Ende des
Ost-West-Antagonismus gestiegenen kulturellen Austauschs, sehen sich die unterschiedlichen Kulturen stärker auf sich selbst und die Notwendigkeit eigener Identitätsbegründung zurückgeworfen.
Die scharfe Scheidung des Eigenen vom Fremden scheint für viele Menschen einen Ausweg aus der kulturellen Verunsicherung zu bieten. Oft genug werden aus Unterschieden
dann Gegensätze.
Die Herbert Quandt-Stiftung rief den »Trialog der Kulturen« im Jahre 1996 ins Leben.
Sie wollte dem damals erschienenen Buch Clash of Civilizations und der darin von Samuel
Huntington beschriebenen Konfliktgefahr das Verständigungspotenzial der drei abrahamischen Weltreligionen und Kulturen – Judentum, Christentum und Islam – entgegen158
H E R B E R T Q UA N D T- S T I F T U N G
setzen. Ganz bewusst wird der Trialog der Kulturen daher als interkulturelles und nicht
primär als interreligiöses Anliegen aufgefasst.
Der Begriff des »Trialogs« macht deutlich, dass sich der von der Stiftung unterstützte interkulturelle Austausch auf das Judentum, das Christentum und den Islam und nicht auf
beliebig viele Teilnehmer bezieht. Neben der jährlich stattfindenden Trialog-Konferenz
initiiert und begleitet die Stiftung Projekte in den Bereichen Bildung und Medien.
159
Impressum
HERAUSGEBER
Herbert Quandt-Stiftung
Am Pilgerrain 15
61352 Bad Homburg v. d. Höhe
www.herbert-quandt-stiftung.de
VERLAG
Verlag Herder GmbH
Hermann-Herder-Str. 4, 79104 Freiburg
www.herder.de
TEXTREDAKTION
Dr. Roland Löffler, Stephanie Hohn
L E K T O R AT
Stephanie Hohn, Eva Lang
ÜBERSETZUNG
Bradley W. Gorham und Sally Lehrman aus dem Amerikanischen von Monika Miller
FOTOGRAFIE
Mirko Krizanovic
Michael Merz
Archiv ProSiebenSat.1 Media AG
G E S TA LT U N G S K O N Z E P T
Stählingdesign, Darmstadt
S AT Z U N D B I L D B E A R B E I T U N G
Weiß-Freiburg GmbH – Grafik & Buchgestaltung
HERSTELLUNG
freiburger graphische betriebe · fgb
© Herbert Quandt-Stiftung
Alle Rechte vorbehalten.
Oktober 2010
ISBN 978-3-451-30449-1