pdf des Bandes - Historisches Kolleg

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pdf des Bandes - Historisches Kolleg
Schriften des Historischen Kollegs
Herausgegeben
von der
Stiftung Historisches Kolleg
Kolloquien
47
R. Oldenbourg Verlag München 1999
Verstaatlichung der Welt?
Europäische Staatsmodelle und außereuropäische
Machtprozesse
Herausgegeben von
Wolfgang Reinhard
unter Mitarbeit von
Elisabeth Müller-Luckner
R. Oldenbourg Verlag München 1999
S c h r if t e n des H is t o r i s c h e n K ollegs
im A u ftra g der
S tiftu ng H istorisches Kolleg im Stifterverband für die D eutsche W issenschaft
herausgegeben von
L othar Gail
m V erb in dun g mit
M anfred Erhardt, A r n o ld Esch, Etienne Francois, Klaus H ild e b r a n d , H ilm a r Köpper,
J o ch en M artin , H ein rich N öth, U rsula Peters, W in frie d S ch ulze und M ic hael Stolleis
G eschäftsführung: G eo rg Kalm er
R e cla k t io n : E1isabeth M ü llc r -L u c k n e r
O rga n isa tio n sa ussch uß :
G eo rg Kalmer, H e r b e r t Kie ßling, Elisabeth M ü lle r-L u ck n e r, Hein/,' Rudi Spiegel
Die Stiftung H isto risc h e s K olleg hat sich fü r den Bereich d er historisch o rientierten W is s e n ­
schaften die F ö rd eru ng von G ele hrten, die sieh durc h h erausragend e Leistungen in Fo r­
s ch un g und L eh re ausge w ie se n haben, zu r A ufg abe gesetzt. Sie vergib t zu die sem Z w e c k
jährlich bis zu drei F o rsch un gsstip en die n un d ein F ö rd ers tip en d iu m so w ie alle drei Ja h re den
„Preis des H istorisc he n K o lle gs“,
D ie Fo rsch un gsstip en d ien, deren V erle ih ung zu gle ic h eine A u s z e ic h n u n g für die bisherigen
L eistungen darstellt, sollen den berufenen W is sen schaftlern w ä h re n d eines Kollegjahres ehe
M ö glic h k eit bieten, frei von anderen V erpflichtungen eine grö ßere Arbeit abzusch ließen .
Professor Dr. W o lfg a n g R einh ard (Freib u rg) w a r - z u sa m m e n mit Professor Dr. Dr. G erhard
Besier (H eid elb erg ), Professor Dr. David J. G ohen (B erkeley, C al.) und Dr. Lutz. K linkham mer (K öln) - S tip endiat des H istorischen Kollegs im K ollegja hr 1997/98. Den O b lie g e n h e i­
ten der Stip endiaten ge m ä ß hat W olfgan g R einh ard aus seinem A rbeitsbereic h ein ["Collo­
q u iu m zu m T h e m a „Die A u s b re itu n g des euro päis chen Staates üb er die t r d e - eine L rio lgsg e sc h ich te ?“ vo m IS. bis 21. M ärz 1998 im H is torischen Kolleg gehalten. Die Ergebnisse des
K o llo q u iu m s w erd e n in die sem Band veröffentlicht.
Die Stiftung H istorisches K olleg w ird vom S tiftungsfo nds D eutsche B an k z u r F o rderu ng der
W issenschaft in Fo rsch un g und Lehre und vom Stifterverb and für die D eutsche W issenschaft
getragen.
Die D eutsche B iblioth ek - C I P E m heitsaufnahm e
V e r s t a a t l i c h u n g d e r W elt? E uropäische S taatsm od elle und au ß e reu ro p ä isch e M ach tpro zesse/
hrsg. von W o lfg a n g R einh ard unter M itarb eit von Elisabeth M üller-L u ck ner. M ünchen: O ld e n b o u r g , 1999
(Schriften des H istorischen Kollegs: K olloquie n; 47)
IS B N 3-486-56416-1
© 1999 O ld e n b o u r g W issen schattsv erlag G m b H , M ün c he n
R o s en h eim e r Straße 145, D-S1671 M ün chen
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der G ren zen des Urh eb errech tsgesetzes ist o hn e Z u s tim m u n g des Verlages u n z u ­
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und die E insp eicherun g und Bearbeitun g in elek tro nisch en System en.
G ed ru c k t auf säurefreie m , alt er u n gsb estä n d igem Papie r (chlo rfre i gebleicht)
G esam th erstellun g: R. O l d e n b o u r g G raph isch e Betriebe G m b H , M ü n chen
ISBN 3-486-56416-1
Inhalt
Wolfgang Retriha)x!
Einführung: Moderne Staatsbildung - eine ansteckende Krankheit? ............
VII
Verzeichnis der Tagungsteilnehmer ...............................................................................
XV
A m erika
Jü rg en H eideking
„Ableger“ Europas oder historischer Neubeginn? Bntisch-A m erika und
die U S A ....................................................................... '...............................................................
1
Michacl Riekenberg
Gcwaltmarkt, Staat und Kreolisation des Staates in der Provinz Buenos
Aires, 1775-1850 ......................................................................................................................
19
H a m Werner l o b l e r
Die Entwicklung des mexikanischen Staates im 19. und 20. J a h rh u n d e rt. . .
37
Peter Waldmann
Nachahmung mit begrenztem Erfolg. Zur Transformation des
europäischen Staatsmodells in L a t e in a m e r ik a ...........................................................
53
Süd - un d O stasien
D i e t m a r R o t h e r mit n d
Der Strukturwandel des britischen Kolonialstaats in Indien 1757-1947 . . .
69
Gita D h a ra m p a l- Fr ick
Das unabhängige Indien: Visionen und Realitäten .................................................
87
Wolfgang S chw en tk er
Staatliche Ordnungen und Staatstheorien im neuzeitlichen Japan .................
113
Jürgen O sterhammel
China vor 1949: Widerständigkeit und selektive Ü b e r n a h m e n .........................
133
VI
Inhalt
X u e w u Gu
Neue politische Eliten und Staatsbildung in China nach Deng Xiaoping . .
153
islam isch e W elt
Gudrun K räm er
Moderner Staat, kolonialer Staat? Ä gypten und der Fruchtbare H albm ond
165
J a m i l M. A b u n - N a s r
Der Staat im M aghrib und seine Entwicklung nach 1830 .....................................
189
M. R e z a Fa r i b or z H a m z e h ’e e
Das Modell Iran - zwischen säkularem Staat und Gottesstaat .........................
207
A frik a süd lich der S a h a ra
Trutz v o n Trotha
Über den Erfolg und die Brüchigkeit der Utopie staatlicher Herrschaft.
Herrschaftssoziologische Beobachtungen über den kolonialen und
nachkolonialen Staat in W e s ta f r ik a .................................................................................
223
A l b e rt Wirz
Körper, Kopf und Bauch. Zum Problem des kolonialen Staates im
subsaharischen Afrika ..........................................................................................................
253
C h r i s t o p h Marx
Zimbabwe: Von der Siedlerherrschaft zum Nationalstaat ..................................
273
C hr i s Tapscott
State Formation in Post-Apartheid South Africa ....................................................
303
Z u sam m en fassu n g
Wolfgang R ein hard
Geschichte der Staatsgewalt und europäische Expansion ..................................
317
Harald H aury
Protokoll der Stellungnahmen zu Kolloquium und A b s c h lu ß v o r tr a g ..........
357
Personen- und Geographisches Register
367
Einführung:
Moderne Staatsbildung - eine ansteckende
Krankheit ?
Es gibt derzeit knapp 200 Staaten auf der Welt, die alle den Anspruch erheben,
souveräne Staaten, Nationalstaaten und moderne Staaten im europäischen Sinn zu
sein. A uf den ersten Blick ist es also Europa gelungen, seine spezifische politische
Kultur flächendeckend in den Rest der Welt zu exportieren. Da Kolonialismus
und Imperialismus dabei eine ausschlaggebende Schrittmacherrolle gespielt ha­
ben, könnte man diesen Sachverhalt als Erfolg oder sogar als positives Ergebnis
von Kolonialismus und Imperialismus bewerten. Anscheinend lebt es sich besser
im modernen Staat à l ’européenne, denn sonst hätten sich die anderen doch nicht
auf Dauer für ihn entschieden.
A uf den zweiten Blick stellt sich freilich heraus, daß zwei Drittel bis drei Viertel
dieser außereuropäischen Staaten nach europäischen Maßstäben erhebliche Defi­
zite an moderner Staatlichkeit aufzuweisen haben und gar nicht so gut mit dieser
leben. Es fehlt an Demokratie und Beachtung der Menschenrechte. Die Staatsklas­
sen sind so korrupt, daß der Staat kaum mehr Leistungen für das Gemeinwohl er­
bringt. Im Extremfall wird sogar von „Staatszerfall“ gesprochen. Solche Maßstäbe
anzulegen, mag zw ar als typisch westliche A rroganz erscheinen, ist aber deswegen
berechtigt, weil die Betroffenen selbst in der Regel durchaus Wert darauf legen,
diesen Maßstäben gerecht zu werden. Für einen Historiker, der sich einerseits
anderthalb Jahrzehnte intensiv mit der Geschichte der europäischen Expansion
befaßt hat, andererseits versucht, eine zusammenfassende Darstellung der Ge­
schichte der Staatsgewalt in Europa zu schreiben, ergeben sich aus diesem kri­
tischen Befund an der Schnittstelle seiner Arbeitsgebiete zahlreiche Fragen, zu de­
ren Beantwortung dieses Kolloquium dienen soll:
- Wie verhält es sich wirklich mit den im Westen so genannten „Defiziten“ an
Staatlichkeit?
- Warum gibt es Fälle ohne diese Defizite wie z.B. die U SA ?
- Sind die Defizite auf Fehler der „Fixporteure“ beim mehr oder weniger kolonialistischen „Export“ des Artikels „Staat“ zurückzuführen?
- O der auf Fehler der „Importeure“ beim „Im port”?
- O der sind sie in grundsätzlicher Inkompatibilität westlicher politischer Kultur
mit nichtwestlicher begründet?
- Ist Staatsbildung westlichen Musters daher eine A rt von ansteckender K rank­
heit, von der man die Befallenen möglichst schnell kurieren sollte?
VI I I
W o ltg a n g R ein h a rd
- Oder ist die Heilung von der Zeit zu erwarten, die wie viele Wunden so auch
die von den Exporteuren und Importeuren des Staates geschlagenen heilen
wird ?
- Oder haben die Betroffenen sich stillschweigend selbst kuriert, indem sie der
westlichen virtuellen Medienwelt zwar weismachen, auch sie hatten Staaten,
wie man sie dort anscheinend haben muß, während sie m Wirklichkeit m aller
Stille aus autochthonem und westlichem Material etwas Drittes, Neues gemacht
haben?
Um diese fragen in einer Weise zu beantworten, die Vergleiche und damit all­
gemeine Schlußfolgerungen gestattet, müssen sie genauer operationalisiert wer­
den, und man muß sich zunächst einmal darüber verständigen, was mit dem mo­
dernen europäischen Staat eigentlich gemeint sein soll. Damit soll nicht der t r b last des Idealismus, der unersättlichen deutschen Lust an Begriffsgeschichte, ge­
frönt, sondern nur ein vorläufiger heuristischer Apparat zur Verfügung gestellt
werden, der sich durchaus als offen für Revision versteht, auch wenn sein Urheber
ihn zunächst einmal für ziemlich überzeugend hält. N ur ein solcher Apparat er­
laubt Vergleiche m generalisierender Absicht, während ohne ihn nur kontrastiv­
differenzierende Vergleiche möglich sind. Daran besteht unter Historikern aber
kein Bedarf, weil sic a priori wissen, daß sowieso alles überall immer anders ist.
Hier soll es hingegen darauf ankommen, daß zw ar das Allgemeine nie allgemein,
sondern immer nur als Besonderes vorkommt, man aber deswegen nicht die Fä­
higkeit verkümmern lassen darf, das Allgemeine im Besonderen zu erkennen, j e ­
denfalls ist dies das methodische Ziel meiner derzeitigen Arbeit.
a) Der europäische Staat - eine Arbeitsdefinition
U m mit scharfen Kategorien arbeiten zu können, soll als Staat für uns nicht jedes
einigermaßen organisierte menschliche Gemeinwesen im Sinne der bereits von
Aristoteles postulierten „anthropologischen N otwendigkeit des Staates" (Ulrich
S c h e u n e r ) gelten, sondern der moderne europäische Staat, der in Europa erst im
„langen“ 19. Jahrhundert seine volle Ausbildung erreicht hat und allem Anschein
nach m dieser Gestalt freiwillig oder unfreiwillig, erfolgreich oder erfolglos vom
Rest der Welt übernommen wurde.
Nach G e o r g J c l l i n e k besitzt dieser moderne europäische Staat drei oder vier
notwendige M erkm ale, die ihn zusammengenommen von anderen unterscheiden:
1. ein S t a a t s g e b i e t als ausschließlichen Herrschaftsbereich,
2. ein S t a a t s v o l k als seßhaften Personenverband mit dauernder M itglied­
schaft (N om aden z.B. könnten dann per definitionein keinen modernen Staat
haben),
3. eine s o u v e r ä n e S t a a t s g e w a l t , wobei
a) S o u v e r ä n i t ä t -nach i n n e n das Monopol der legitimen A nwendung physischer
Gewalt bedeuten soll,
E in fü h ru n g
IX
b) S o u v e r ä n i t ä t n a c h a u ß e n die rechtliche (aber nicht unbedingt: auch taktische)
U nabhängigkeit von anderen Instanzen.
Es mag Anstoß erregen, daß R echtsstaatsprinzip, Menschenrechte und D em o­
kratie (noch) nicht auftauchen, wir müssen aber ehrlicherweise zugestehen, daß
sie m der europäischen Staatengeschichte keineswegs so allgemein Geltung gehabt
haben, daß wir sie zu r generellen Definition des modernen europäischen Staates
heranziehen dürften. Vielleicht macht uns diese Einsicht etwas weniger „an­
spruchsvoll“ hinsichtlich der „Defizite“ bei Staaten außerhalb Europas! Ks sollte
uns als Wissenschaftlern ohnehin um das Vorhandene und nicht - zumindest nicht
sofort - um das Wünschenswerte gehen.
Nichtsdestoweniger ist historisch-phänomenologisch eine weitere inhaltliche
Ausfüllung dieses formalen Rahmens möglich und für unsere vergleichenden
Zwecke auch nötig. So ist etwa eine gemeinsame Eigenschaft der drei G rund­
merkmale nach J e l l i n e k ihre grundsätzliche E i n h e i t l i c h k e i t (fast ist man versucht,
von Q uantihzierbarkeit zu sprechen), die man mit manchen Vertretern der Post­
moderne durchaus als allgemeines Wesensmerkmal von Modernität ansprechen
könnte. Jedenfalls verdient dieser Gesichtspunkt weitere Entfaltung:
1. Das S t a a t s g e b i e t hat
1.1. überall denselben Status, besteht aus r e c h t l i c h g l e i c h f ö r m i g e n Teilen und ist
insofern homogen. Es gibt grundsätzlich keine privilegierten Orte oder Gebiete.
1.2. Dazu gehört eine eindeutige, l i n e a r e G r e n z e und
1.3. eine möglichst weitgehende r ä u m l i c h e Gesc hl os se nh ei t' , Enklaven und Ex­
klaven sind anachronistisch.
f.4. Außerdem gibt es eine Tendenz zur wirtschaftlich lebensfähigen M i n d e s t ­
g r ö ß e e i n e s Staates, die sich vermutlich aus Autarkievorstellungen herleitet. Ge­
bilde wie Liechtenstein oder der Vatikan werden infolgedessen politisch nicht
ernst genommen und nur aus anderen Gründen wegen ihrer N ützlichkeit akzep ­
tiert.
2. Das S t aa t s v o l k ist ebenfalls grundsätzlich einheitlich,
2.1. zunächst in seinen Rechten - oder auch in deren Fehlen, denn R e c h t s g l e i c h ­
h e i t kann auch aut gleiche Rechtlosigkeit hinauslaufen.
2.2. Das hängt damit zusammen, daß die politische Grundeinheit, aus der sich
moderne Staaten zusammensetzen, der einzelne Untertan als I n d i v i d u u m ist und
nicht wie früher die Familie oder die Korporation oder der Herrschaftsbereich
eines Feudalherrn usf. Auch die Grundrechte sind im westlichen Verständnis In­
dividualrechte!
2.3. Die Einheitlichkeit des Staatsvolks kann, muß aber nicht ihren N ieder­
schlag im Bewußtsein der Menschen finden, einer gemeinsamen N a t i o n anzuge­
hören. Moderne Staaten innerhalb und außerhalb Europas sind per definitionem
Nationalstaaten oder behaupten das jedenfalls, denn Staat und Nation brauchen
keineswegs deckungsgleich zu sein.
2.4. Als weiteres Modernitätsmerkm al gilt in der Regel die P a rt iz i pa ti o n des
Staatsvolkes an der Ausübung der Staatsgewalt, auch wenn sie in der engeren F or­
maldefinition nach J e l l i n e k ebenfalls nicht enthalten ist. Sie braucht nicht unbe­
X
W olfgang R einh ard
dingt in demokratischer Weise stattzufinden, denn ebenso weit verbreitet dürfte
die undemokratische, „totalitäre“ M assenmobilisierung sein, die ja lange genug
auch in Europa zum Repertoire des modernen Staates gehörte.
3. Die S t a a t s g e w a l t ist
3.1. ebenfalls trotz Gliederung in verschiedene O rgane n u r e i ne , denn der m o­
derne Staat kennt keine autonome Herrschalt eigenen Rechts von Adeligen,
Häuptlingen, Priestern oder Gemeinden. Auch die Gemeinde lebt heute trotz for­
maler Selbstverwaltung letztlich von Staates Gnaden, Insofern ist, historisch gese­
hen, die Schweiz kein völlig moderner Staat und Großbritannien erst in jüngerer
Zeit dazu geworden.
3.2. Die Staatsgewalt beruht nicht mehr auf transzendenter L e g i t i m a t i o n von
außerhalb, denn der moderne Staat ist säkular. Ihre Legitimation beruht vielmehr
auf K o n s e n s , der durch demokratische Verfahren hergestellt werden kann, aber
nicht muß, denn er läßt sich auch fiktiv konstruieren.
3.3. Diese eigentümliche Selbstlegitimation gestattet es der Staatsgewalt, se l bs t
ü b e r i h r e K o m p e t e n z z u e n t s c h e i d e n , das heißt
3.3.1. die G r e n z e n d e r S t a a t s g e w a l t , das Rechtsstaatsprinzip und vor allem die
G rund- und Menschenrechte, sind also nur selbstgesetzte, die unter entsprechen­
den U mständen durchaus zur Disposition stehen und auch in Europa oft genug
zur Disposition standen.
3.3.2. Aus diesem Grund ist l e g i t i m e r W i d e r s t a n d im Rahmen des bestehenden
staatlichen Systems grundsätzlich unmöglich, mag er auch von einer Verfassung
noch so vollmundig garantiert sein.
3.3.3. Daraus ergibt sich weiter die wohlbekannte und die Modernität des euro­
päischen Staates mehr als alles andere kennzeichnende A u s w e i t u n g d e r Z u s t ä n d i g ­
keit d e r S t a a t s g e w a l t zum „Totalstaat“, der manchmal vom totalitären Staat nicht
mehr weit entfernt ist, sowie
3.3.4. die dem entsprechende A u s d e h n u n g d e r S t a a t s q u o t e an den Ressourcen
des Landes.
3.4. Die Staatsgewalt wird im modernen Staat g l e i c h f ö r m i g ausgeübt, das heißt
3.4.1. r e c h t l i c h r e g u l i e r t , was im allgemeinen auch schriftlich reguliert bedeutet,
3.4.2. von berufsmäßigen, dazu besonders qualifizierten und als System organi­
sierten Staatsdienern, der B ür ok ra t ie , die ihren eigenen, keineswegs nur rechtli­
chen Verfahrensregeln folgt.
3.5. Schließlich erfolgt auch die A usübung des G e w a l t m o n o p o l s nach innen wie
nach außen mit r e g u l i e r t e r u n d o r g a n i s i e r t e r G l e i c h f ö r m i g k e i t , das heißt
3.5.1. die Untertanen werden gleichmäßig e n t w a f f n e t . Die U SA wären dann,
historisch gesehen, kein völlig moderner Staat und Großbritannien eben erst im
Begriff, einer zu werden.
3.5.2. Das Gewaltmonopol im Innern liegt bei einer professionellen, organisier­
ten und in ihrem Vorgehen rechtlich regulierten Polizei,
3.5.3. das Gewaltmonopol nach außen bei einem zumindest teilprofessionali­
sierten und ebenfalls hochorganisierten Militär.
Die A nwendung dieser an der europäischen Geschichte und Gegenwart ge-
E in füh run g
XI
wonnenen Kategorien auf außereuropäische Fälle bedarf freilich der Umsetzung
in eine stärker spezifizierte Fragestellung.
b) Die A usbreitung des europäischen Staates über die Erde ein Frageraster
Erhebliche Unterschiede auf Seiten der „Exporteure“ wie der „Importeure“ des
modernen Staates führen automatisch dazu, daß unser Fragenkatalog trotz seiner
Knappheit zw ar hoffentlich alle wesentlichen Aspekte als M öglichkeiten erfaßt,
aber selbstverständlich nicht in jedem Fall vollständig angewandt werden kann.
Vor allem zwei mögliche M odifikationen sind bei seiner A nw endung unbedingt
im Auge zu behalten.
Das ist erstens die Tatsache, daß wir es ja nicht nur mit Kolonien im engeren
Sinn, sondern auch mit Protektoraten zu tun haben - was m.E. trotz der kolonia­
len Praxis der „indirect rule“ keinen großen Unterschied macht
vor allem aber
mit wenigstens formell unabhängigen Ländern in Süd- und Ostasien sowie in der
islamischen Welt, die sich unter äußerem und innerem D ruck dennoch zur Ü b er­
nahme europäischer Staatlichkeit bereit fanden. O bw ohl man dabei in manchen
Fällen zumindest für einige Zeit durchaus zu Recht von „H albkolonien“ sprechen
kann, lassen sich dennoch manche Fragen unseres Rasters überhaupt nicht oder
nur entsprechend modifiziert auf sie anwenden. So orientierte sich zw ar die japa­
nische Reformelite selbstverständlich am machtträchtigen europäischen Staats­
modell, aber eben nicht notgedrungen an demjenigen einer bestimmten Kolonial­
macht. Statt dessen prüfte sie das „Angebot“ der möglichen „Importeure“ und
entschied sich dann selbständig für das aus ihrer Sicht am besten geeignete, näm­
lich das preußische.
Zweitens spielt offensichtlich der Zeitfaktor eine zentrale Rolle. Es macht ein­
fach einen Unterschied, ob eine Kolonie beim Zeitpunkt der U nabhängigkeit
einen jahrhunderte- oder wenigstens jahrzehntelangen Lernprozeß in der politi­
schen Kultur der Metropole hinter sich hat wie Britisch-Am erika oder bis zu
einem gewissen Grad auch Britisch-Indien, oder ob sie nahezu unvorbereitet mit
unerwarteter Plötzlichkeit in die Unabhängigkeit entlassen wird wie der belgische
Kongo. Das ist einer der Gründe, weshalb die Beiträge des Kolloquiums einiger­
maßen nach dem Datum der Unabhängigkeit der Länder bzw. ihrer folgenreichen
Begegnung mit dem europäischen Staat angeordnet sind. Ein weiterer besteht in
dem Versuch, auf diese Weise der Tatsache gerecht zu werden, daß sich auch der
europäische Staat selbst während seines jahrhundertelangen Einflusses auf außer­
europäische politische Kulturen weiterentwickelt hat, ja eigentlich selbst erst zur
Reife gelangt ist. So ist der britische Staat von 1947 sicherlich nicht mehr mit dem ­
jenigen von 1776 identisch gewesen.
Mit solchen notwendigen Modifikationen sollten die folgenden Kategorien un­
serem Erkenntnisinteresse wenigstens einigermaßen gerecht werden:
XII
W o ltg a n g R einhard
1. Das Staatsmodell der Kolonialmacht, vorwiegend in der Metropole,
- sein Charakter, gemessen an der juristischen Formaldehnition nach J e l l i n c k ,
- seine konkrete institutionelle Gestalt,
- seine politische Kultur und seine politischen Eliten,
- das spezifische N ationalbewußtscin der Metropole,
- Wandel des Staatsmodells im Laut der Zeit und dessen Rückwirkungen aut
die Kolonien.
2. Das koloniale Herrschaftssystem der Kolonialmacht,
- seine konkrete institutionelle und soziale Gestalt,
- deren Zusam m enhang oder Nicht-Zusammenhang mit dem metropolitanen
Staatsmodell,
- Einbeziehung oder N ichteinbeziehung der Kolonie in den Nationbegriff der
Metropole,
- die politischen Eliten der Kolonie und ihr Verhältnis zu denjenigen der M e­
tropole einerseits, den vorkolonialen des betreffenden Gebiets andererseits,
- die spezifisch koloniale politische Kultur,
- Wandel des kolonialen Herrschaftssystems im Lauf der Zeit, dessen U rsa­
chen im Mutterland, in der Kolonie, in der Weltpolitik sowie die A u s w irk u n ­
gen auf die Kolonie.
3. Die vorkoloniale politische Kultur und Struktur des Landes,
- ihre konkrete institutionelle und soziale Gestalt,
- ihr Niederschlag in vormodernem Nationalgefiihl für das ganze Land oder
Teile,
- ihre möglicherweise von der Kolonialherrschaft abgeschnittenen Entwick­
lungstrends,
- ihr Überleben unter und ihr Beitrag zu dem Herrschaftssystem der Kolonial­
macht,
- die vorkolonialen politischen Eliten und ihre Rolle unter der Kolonialherr­
schaft.
4. Dekolonisation, Staats- und Nationbildung,
- nachkoloniale Staatsbildung als Weg zur N ationbildung oder bereits vorhan­
denes Nationalbewußtsein als Voraussetzung der Staatsbildung,
- verfassungspolitische Zielvorstellungen der antikolonialen B ewegungen, ihre
Ursprünge und ihre Anpassung an die Situation,
- verfassungspolitische Zielvorstellungen der Kolonialmacht (wenn es welche
gab),
- Föderationsmodelle in der Vorstellung der Kolonialmacht und der antikolo­
nialen Bewegung,
- Zustandekommen und konkrete institutioneile Gestalt des neuen Staates,
- die politischen Eliten der Dekolonisation,
- die politische Kultur, die sich in der Dekolonisation manifestiert.
5. Entwicklung des nachkolonialen Gemeinwesens,
- Erfolg oder M ißerfolg nationaler Integration,
- Kontinuität oder Wandel des bei der Dekolonisation geschaffenen Staates,
h in iü lir u n ^
XIII
- tatsächlicher oder fiktiver Rückgriff auf vorkoloniale Elemente,
- m it den westlichen Staaten gemeinsame innovative Momente (Globalisie­
rung, Parastaatlichkeit) und deren mit jenen gemeinsame oder von ihnen ver­
schied e n e Ve r a r b e i t u n g,
- Entwicklung neuer politischer Eliten, neuer politischer Kultur, neuer politi­
scher Gesellschaft (das Problem der Zivilgesellschaft).
- Gründe für „Erfolge“ oder „Mißerfolge“ des nachkolonialen Gemeinwesens
und seines westlichen Modells sowie mögliche Zusammenhänge zwischen
beidem,
- Erfolge, Krisen und Scheitern von Föderationen.
6. Bilanz,
- Verhältnis von vorkolonialem Erbe, kolonialem Einfluß und nachkolomaler
Entwicklung,
- Verhältnis von Langzeitw irkung (U SA, Lateinamerika), begrenzter Langzeitwirkung (Britisch Indien), K urzzeitwirkung (deutsche Kolonien).
c) Die Beiträge des Kolloquiums - viele Antworten
Erwartungsgemäß erwies sich die Vorabversendung von Arbeitsdefinition und
Frageraster nicht nur als hilfreich, um Probleme zu formulieren und eine verglei­
chende Diskussion zu ermöglichen, sondern auch als nützliche Provokation, um
mehr oder weniger heftigen Widerspruch auszulösen. Die Definition des m oder­
nen Staates durch deutsche Juristen erschien allzu starr und statisch, um der D y ­
namik von Machtprozessen gerecht zu werden. Dabei wurde von den Soziologen
die ausschlaggebende Bedeutung der Akteure im jeweiligen Einzelfall in einer
Weise betont, die dem um Vergleichbarkeit und Systematik bemühten Historiker
bisweilen das Gefühl einer verkehrten Welt vermittelte, wurde er doch seinerzeit
im Zeichen des umgekehrten Verhältnisses von Geschichte und Soziologie w is­
senschaftlich sozialisiert. Die Beiträge wissen durchaus von Erfolgsgeschichte zu
berichten, aber oft von Erfolgen, die ausdrücklich darauf beruhen, daß der Staat
gerade nicht in seiner modernen europäischen Form übernommen wurde. Auf der
anderen Seite erweisen sich angebliche Mißerfolge, von besonders krassem
„Staatsversagen“ einmal abgesehen, häufig als Wege zur alternativen Ausbildung
funktionierender intermediärer oder parastaatlicher Formen politischer O rgani­
sation. Da diese Entwicklung mit ähnlichen Tendenzen in Europa zu konvergie­
ren scheint, wurde schließlich die trotz ihrer Scherzhaftigkeit bedenkenswerte
Feststellung getroffen, der moderne Staat sei eigentlich nur noch ein Thema der
Historiker, denn er gehöre weitgehend bereits der Vergangenheit an. Man sieht,
das Kolloquium erwies sich auch als erfolgreiches interdisziplinäres Experiment,
obwohl oder gerade weil die Einladungen nach der Kompetenz für die Geschichte
bestimmter Erdräume ohne Rücksicht auf die Faehzugehöngkeit ausgesprochen
wurden.
Bei diesem Diskussionsstand lassen sich die einzelnen Beiträge nicht von vorne
herein zu einem geschlossenen Gesamtbild harmonisieren. Der vorliegende Band
spiegelt statt dessen die Offenheit des Kolloquiums bis zum Schluß, wo einerseits
der Einladende den Versuch einer Synthese aus der Perspektive einer Gesamtge­
schichte der europäischen Expansion unternimmt, andererseits die Teilnehmer
ihre jeweilige Sicht der Dinge noch einmal zusammenfassen.
Der Versuch, meine beiden Arbeitsgebiete Geschichte der Staatsgewalt und Ge­
schichte der europäischen Expansion mit der Hilfe ausgewiesener Expertinnen
und Experten zusammenzuführen, w urde mir im Rahmen meines einjährigen
Forschungsstipendiums 1997/98 ermöglicht durch die von der Deutschen Bank
getragene Stiftung Historisches Kolleg im Stifterverband für die Deutsche W is­
senschaft. Ich danke den Vertretern dieser Institutionen sowie Elisabeth MüllerLuckner mit ihren Helferinnen und Helfern, die die M unifizenz der Stifter in per­
fekte Organisation, liebenswürdige Gastfreundschaft und effiziente Herausgeber­
arbeit umgemünzt haben, ganz besonders Karsten Jedlitschka für die Vereinheit­
lichung des Manuskripts. Dank gebührt aber vor allem den Kolleginnen und Kol­
legen, auf deren Beiträgen das Kolloquium beruht. D ankenswerterweise haben
Sonia A bun-N asr und Ullrich Lohrmann es durch ihre Übersetzungstätigkeit
möglich gemacht, daß Chris Tapscott aus Südafrika auch ohne Deutschkenntnissc
aktiv an unseren Diskussionen teilnehmen konnte. H arald Flaurv gebührt Dank
für sein unermüdliches und erfolgreiches Protokollieren.
München, im Juli 1998
Wolfgang R einhard
Verzeichnis der Tagungsteilnehmer
Prof. Dr. Jarnil M. Abun-Nasr, Bayreuth
Sonia Abun-Nasr, Freiburg
Prof. Dr. Walter Demel, Neubiberg
Priv.-Doz. Dr. Gita Dharampal-Frick, Augsburg
Prof. Dr. Martin Geyer, München
Priv.-Doz. Dr. X uew u Gu, Freiburg
Dr. M. Reza Fariborz H am z eh ’ee, Augsburg
H arald Haury, Freiburg
Prof. Dr. Jürgen Heideking, Köln
Dr. Lutz Klinkhammer (Stipendiat des Historischen Kollegs 1997/98)
Prof. Dr. Gudrun Krämer, Berlin
Ullrich Lohrmann, Freiburg
Dr. Elisabeth Müller-Luckner, Historisches Kolleg München
Priv.-Doz, Dr. Christoph Marx, Freiburg
Prof. Dr. Jürgen Osterhammel, Genf
Prof. Dr. Wolfgang Reinhard (Stipendiat des Historischen Kollegs 1997/98)
Prof. Dr. Michael Riekenberg, Leipzig
Prof. Dr. Dietmar Rothermund, Fleidelberg
Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Schwentker, Hagen
Prof. Dr. Chris Tapscott, Belville/Siidafrika
Prof. Dr. Hans-Werner Tobler, Zürich
Prof. Dr. Trutz von Trotha, Siegen
Prof. Dr. Peter Waldmann, Augsburg
Prof. Dr. Wolfgang Weber, A ugsburg
Prof. Dr. Albert Wirz, Berlin
J ü r g e n He ideking
„Ableger“ Europas oder historischer Neubeginn?
Britisch-Amerika und die U SA
Einleitung
Dieser Beitrag knüpft an eine Kernfrage an, die amerikanische Historiker schon
seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigt: Pflanzten die Kolonisten den
„Keim“ des europäischen Staates in den nordamerikanischen Boden, wo er sich
entsprechend den geographischen, klimatischen und demograpluschcn Bedingun­
gen entfaltete, oder entstand in Am erika durch den „Zusammenprall von Zivilisa­
tion und W ildnis“ an der l ' r o n t i c r , wie Erederick Jackson Turner 1893 behauptete,
etwas völlig Neues, Ein zigartiges1? Letztere These vom A m e r i c a n e x c e p t i o n a l i s m
hat der Politik Wissenschaft ler Seym our Martin Lipset vor kurzem noch einmal
emphatisch bekräftigt, aber die kritischen Einwände von Historikern ließen nicht
lange auf sich warten--.
Das Thema der „Ü bertragung“ des europäischen Staates in die „Neue Welt“ er­
weist sich bei genauerem Hinsehen als recht komplex, denn es besteht keineswegs
Einvernehmen darüber, welches Staatsmodell denn eigentlich übertragen worden
ist und wie es sich in Britisch-Am crika und den USA entwickelt hat. Im folgenden
soll dieser Transfer-Prozeß unter dem Gesichtspunkt beleuchtet werden, welche
Modifikationen das englische Staatsmodell in Amerika erfuhr, und inwiefern die
amerikanische Lösung als „modern“ bezeichnet werden kann.
Die Kolonialzeit gehört zu den Epochen der amerikanischen Geschichte, die in
den beiden letzten Jahrzehnten am gründlichsten revidiert und umgeschrieben
worden sind. Die Historiker haben den europazentrischen Blickwinkel durch ei­
nen indianischen und afrikanischen ergänzt, zuweilen sogar ersetzt. Bis vor ku r­
zem überwog in den Darstellungen noch das heroische Bild der Siedler, die sich
gegen mannigfaltige Gefahren und Schwierigkeiten behaupteten und Zivilisation
1 Mit seinem b erü h m te n Vortrag „T he S ign ih ea n ce ol the Pro n tier in A m e r ic a n ITistory“,
den I'urner 1893 auf der Tagung der A m e r ic a n H i s t o n c a l A sso cia tio n in C h ic a g o hielt, wandte
er sieh gegen die an den O s tk ü s ten -U n tv ers itä ten v o rherrsch en de g e r m t h e o r y , die von einer
Ü b e rtr a g u n g eu ro päischer Institutionen auf A m e r ik a ausging.
- S e y m o i t r M artin L ipset , A m e ric a n Exceptionahsm : A D o u b le-E d g e d S w o r d ( N e w York
1996); siehe dazu den R ev iew Essav in: A H R 102 (1997) 748-774.
2
J ü r g e n H e id e k in g
und Fortschritt in die „Neue Welt“ trugen. Fleute nennt Jo h n M. M u rn n in einem
von der A m e r i c a n H i s t o r i c a l Ass oci at io n herausgegebenen Sammelband die engli­
schen Kolonien „Nutznießer einer Katastrophe“ (Beneficiaries of Catastrophe),
der 40 bis 60 M illionen Menschen zum Opfer gefallen seien: „N obody can now
make a compelling case that the settlement of the Americas was a net benefit to
mankind until sometime in the 19th cen tury“ (S. 5). Der sog. „Entdeckung“ A m e­
rikas sei vielmehr eine „tragedy of huge proportions“ gefolgt, und lange Zeit habe
die Zahl der „Verlierer“, also v.a. Indianer und afrikanische Sklaven, diejenige der
„ G ewinner“ bei weitem übertroffen3. Das Problem der moralischen Verantwort­
lichkeit soll aber nicht im M ittelpunkt dieser Ausführungen stehen. Vielmehr geht
cs um den Nachweis, daß die U SA nicht zuletzt in Opposition zu dem entstanden
sind, was im 18. Jahrhundert in Europa als „modern“ galt, und daß sie einige „vor­
moderne“ Züge der Staatlichkeit lange Zeit, z.T. bis in die Gegenwart, beibehalten
haben. Paradoxerweise sind es aber gerade diese Abweichungen vom zeitgenössi­
schen europäischen Modell, die aus heutiger Sieht die „M odernität“ der U SA und
ihre Attraktivität für den Rest der Welt ausmachen.
1. Das britische Staatsmodell und seine R ückw irkungen
auf die Kolonien
Ähnlich wie die amerikanische Kolonialgeschichtsschreibung verzeichnet die
englische Historiographie des 17. und 18. Jahrhunderts in jüngerer Zeit einen tief­
greifenden Wandel. In seiner 1982 erschienenen „Oxford H isto ry of the American
Revolution“ beschrieb Robert Middlekauff das englische „M utterland“ noch als
eine im wesentlichen traditionelle Gesellschaft mit statischer politischer O rd ­
nung. Seither liegt der Akzent dagegen auf raschem Wandel, der spätestens mit der
G l o r i o u s R e v o l u t i o n Emde des 17. Jahrhunderts einsetzte und der England binnen
weniger Jahrzehnte auf spektakuläre Weise transformierte4. Zwar konnte die
landbesitzende Oligarchie die politische Kontrolle behalten, aber ansonsten
herrschten angeblich überall D ynam ik, Wachstum und Modernität. T. FI. Breen
faßt in einem Aufsatz aus dem letzten Jahr die wesentlichen Elemente und Ergeb­
nisse dieses Wandlungsprozesses zusammen: (1) die Entwicklung und Reife eines,
wie er schreibt, „impressive fiscal-military state“, der mit s e i n e m Steuer-, Bankund Kreditwesen, seinem Rechtssystem, seinen See- und Landstreitkräften und
seiner komplexen Bürokratie alle europäischen Rivalen in den Schatten stellte;
(2) die Zentralisierung des politischen Entscheidungsprozesses im WestminsterParlament, das unangefochtene verfassungsmäßige Souveränität erlangte; (3) das
3 J o h n M. M urrin , Beneficiaries of C atastro ph e: T h e English C o lo n ie s in A m e ric a , in: Eric
T o n e r (FIrsg.), T h e N e w A m e ric a n H is t o r y (Ph iladelp hia 2 1997) 3 -3 0 , v.a. 5; siehe auch Ian
K. S t e e l e , E x plo din g C o lo n ia l A m e ric a n H is t o r y : A m e rin d ia n , A tlantic , and G lo bal Pe rsp e c­
tives, in: R ev iew s in A m e ric a n H is t o r y 26 (1998) 70-95.
4 Vgl. P a u l L a n g f o r d , A Polite and C o m m e r c ia l People: England, 1727-1783 (O x fo rd 1989).
B n tis c h -A m c r ik a und die U SA
3
Wachstum von Handel, Gewerbe und M anufakturwesen, angespornt, aber k ei­
neswegs allein verursacht durch die Profite im Kolonialhandel; (4) der Aufstieg
einer selbstbewußten, leistungsfähigen und konsumfreudigen Mittelschicht, die
sich zunehmend auch politisch artikulierte; und (5) die Äußerungen eines wach­
senden Gefühls von Patriotismus, nationalem Bewußtsein und „britischer“ Iden­
tität5.
Im 18. Jahrhundert w ar demnach in England vieles im Fluß, und moderne staat­
liche Strukturen sowie ein modernes Staatsverständnis nahmen Gestalt an. Dieses
neue Modell einer parlamentarischen Monarchie ( K i n g in P a r l i a m e n t ) stand in
wesentlichen Punkten im Widerspruch zu den allgemein herrschenden Vorstel­
lungen von der „English Constitution“ mit ihrem „mixed and balanced government“, d.h. einem freiheitssichernden Regierungs- und Gesellschaftssystem, in
dem monarchische, aristokratische und demokratische Elemente z usam m en w irk­
ten und sich die Waage hielten.
Der innere Wandel wirkte sich m doppelter Hinsicht auf das Verhältnis zu den
Kolonien aus. Zum einen nahm die Tendenz zu, die rationalen, bürokratischen
Strukturen auf die Kolonien zu übertragen und diese Gebiete an der Peripherie
aus wirtschaftlichen und strategischen Gründen einer stärkeren Kontrolle durch
die Metropole zu unterwerfen. Zum anderen schuf das steigende Nationalgefühl
eine psychologische Kluft zwischen den Engländern und den Siedlern, die in
N ordam erika allerdings lange Zeit nicht wahrgenommen wurde. Während die
Engländer von „unseren Kolonien“ im Sinne eines Besitzanspruchs sprachen,
fühlten sich die Siedler als gleichberechtigte M itglieder des britischen Empire, die
alle „liberties and privileges of Englishmen“ genossen. Die Engländer begannen
auch kulturell auf die Siedler herabzublicken, die sich vor allem die rohen und un ­
gehobelten Manieren der englischen Volkskultur zu eigen zu machen schienen6.
2. Das Herrschaftssystem des British Empire und die
regionale Struktur der Kolonien
Ebensowenig wie die „englische Verfassung“ schriftlich klar fixiert war, gab es
einen festen konstitutionellen Rahmen für das im Entstehen begriffene britische
Empire. Auch m diesem Zusammenhang betont die neuere Forschung den „dyna­
mischen Charakter der M etropole England“, die Schottland, Irland, die Karibik­
inseln und die nordamerikanischen Festlandskolonien zu einem „expansive A t ­
lantic empire“ formte. Die staatsrechtlichen Verhältnisse innerhalb dieses Empire
variierten erheblich oder blieben unbestimmt. W ährend Schottland seit 1707 eine
Union mit England bildete und Abgeordnete ins Londoner Parlament wählte,
5 T. H. B re e n , Id e o lo g y and N a u o n a lis m cm d ie Eve of die A m e r ic a n R ev olu tio n: Revisions
O n cc M o re in N ee d of R cvisin g, in: JA F I 84 (1997) 13-39.
6 R i c h a r d P. G d d r i e , T h e Profane, the Civil, and the G o d ly: T h e R efo rm a tio n of M a n n e rs in
O r th o d o x N e w England ( L o n d o n 1996).
4
J ü r g e n H e id ek in g
hatten die Protestanten in Irland ihre eigene nationale Legislative; die am erikani­
schen Kolonien durften dagegen nur einige Interessenvertreter, die sog. c o l o n i a l
a g e n t s , nach London entsenden, die kein Stimmrecht im Parlament besaßen. In­
tern verfügten die Siedler allerdings über eine weitgehende politische Autonomie
(s e l f - g o v e r n m e n t ), die sie durch ihre Repräsentativorgane, die kolonialen A s s e m blies, sowie durch die T o w n und C o u n t y M e e t i n g s und lokale G eschw orenenge­
richte ausübten. Die Kolonialparlamente erkämpften sich im Laufe der Zeit selbst
dort eine maßgebliche Stellung, wo vom englischen König ernannte Gouverneure
und Räte amtierten. Dieses hohe Maß an Selbstregierung und Selbstverwaltung
war der Londoner Regierung schon m der R estaurations/eit nach dem Bürger­
krieg des 17. Jahrhunderts ein Dorn im Auge gewesen. Der Versuch, einige der
Festlandskolonien unter absolutistischem Vorzeichen als D o m i n i o n o f N e w E n g ­
l a n d zusammenzufassen, hatte aber in den 1680er Jahren heftigen Widerstand der
Siedler provoziert und war im Verlauf der G l o r i o u s R e v o l u t i o n gescheitert. Dar­
auf folgte eine längere Phase der sog. „heilsamen Vernachlässigung“ (sa liita ry
n e g l e c t ) , in der sich che Kolonien trotz der formellen Oberaufsicht von Krone,
Außenministerium, Parlament, Privv Council und Board of Trade (seit 1696) na­
hezu im „W ildwuchs“ entwickeln konnten''. Dieser Zustand wurde seit den
1740er Jahren durch ein straffes Anziehen der administrativen Zügel abgelöst, das
nun jedoch im Zeichen des modernen Macht- und Handelsstaates geschah. Nach
dem Siebenjährigen Krieg, als es darum ging, wer die enormen finanziellen Lasten
tragen sollte, verschärfte sich diese Tendenz weiter und setzte, angefangen mit
dem S t a m p Act 1763, eine Kettenreaktion in Gang, die zur Unabhängigkeitserklä­
rung von 1776 hinführte. Die Metropole b e k ä m e in d i e s e m K o n f l i k t wie selbst­
verständlich darauf, daß die Souveränität des Parlaments unteilbar sei, daß es m
seiner Macht liege, den Handel der Kolonien zu regulieren, und daß die Siedler für
bestimmte Zwecke besteuert werden dürften, auch wenn sie nur „virtuell“ im Par­
lament vertreten seien. Alle diese Prämissen, speziell aber die letzte, wiesen die
Führer der Kolonisten entschieden zurück. Gerade der Versuch, das englische
Modell für Britisch-Amerika verbindlich zu machen und die Empire-Beziehun­
gen im „modernen“, bürokratischen Sinne zu reorganisieren, trug also ganz w e­
sentlich zur Loslösung der nordamerikanischen Kolonien vom Mutterland beiif.
Lenkt man den Blick auf die Kolonien, dann stechen die Uneinheitlichkeit der
Entwicklung und die Diversität der Verhältnisse ins Auge. Zwar übten angelsäch­
sisches Rechtsdenken und c o m m o n l a w sowie englische Verfahrensweisen und
Institutionen durchweg einen starken Einfluß aus. Dennoch wurden die Kolonien
nicht zu einem Abbild des Mutterlandes. So scheiterten alle Pläne, Feudal- und
Lehensverhältnisse nach europäischem Muster zu etablieren, an der leichten Ver­
7 W o lfg a n g R e in h a r d , Parasit o d er P artn er? E uropäische W irtsch a ft und N eu e Welt J 50 0—
1800 (M ü n ste r 1997) 134-155.
s An dieser Stelle m uß abe r betont w erd e n , daß sich das von Fra n kre ic h abgetretene Kanada
der R evolu tio n eb en s o w e n ig anschloß w ie die britischen K arib ikinseln. Besonders Kanada
bietet hinsic htlich der Ü b e r t ra g u n g von europäischen S taatsm odellen intere ssante Vergleichsm öglichkeiten mit den U S A , die hier jedoch nicht erörtert w e rd e n kö nnen.
B r u is c h -A n ie r ik a und die U S A
5
fügbarkeit über Grund und Boden. Bis zum 18. Jahrhundert bildeten sich vier
Regionalkulturen heraus, die teils durch die Herkunft der Siedler, teils durch die
Bedingungen vor O rt geprägt wurden: (a) das puritanische Neucngland, in dem
kleine Familienfarmen sowie Handel, Schiffbau und Fischfang das Bild bestim m­
ten; (b) die religiös und ethnisch gemischten Mittelatlantikkolonien, die bessere
Voraussetzungen für den Getreideexport und die gewerbliche Entwicklung boten;
(c) die Küstenregionen der südlichen Kolonien, in denen eine auf Sklavenarbeit
und s t a p l e c r o p s (Tabak, Reis, Indigo, Baumwolle) basierende Plantagenwirtschaft
entstand; und (d) das Hinterland der südlichen Kolonien, in dem vorwiegend
schottisch-irische Presbyterianer siedelten, die sich den Ruf harter Indianerkämp­
fer und rauhbeiniger, fast „unregierbarer“ F r o n t i e r s m e n erworben hatten. Wie die
wirtschaftlichen Verhältnisse, die Lebensbedingungen und das Klima, so variierte
auch die politische Kultur von Region zu Region: während sich in Neuengland die
egalitäre T o w n A/eef/wg-Demokratie mit einem autoritären puritanischen Kir­
chenregiment verband, überwog in den Mittclkolonien der liberal-individualistische Geist des Quäkertum s; im Süden schließlich existierte eine sozial elitäre, auf
die anglikanische Staatskirche gegründete Pflanzergesellschaft Seite an Seite mit
einer radikalen / ro» i/er-Demokratie9.
Abweichend von England bildete sich in Am erika schon früh eine Tradition ge­
schriebenen Verfassungsrechts heraus. So besaß jede Kolonie eine vom König
oder vom Parlament verliehene C h a r t e r , auf die sich die Siedler bei A useinander­
setzungen mit den Gouverneuren immer wieder beriefen. Im Laufe der Zeit w u r ­
den diese C h a r t e r s , die hauptsächlich Organisationsstatuten waren, fast überall
durch spezielle U rkunden ergänzt, die die Rechte und Privilegien der Bürger auf­
zählten. Eine negative A bweichung vom englischen Modell stellte die Sklaverei
dar, che von der Karibik aus zuerst in die südlichen Festlandskolonien gelangte.
Während das englische c o m m o n l a w diese Form der persönlichen Unfreiheit nicht
kannte, schloß das amerikanische Eigentumsrecht seit dem späten 17. Jahrhundert
den Besitz an Sklaven ein, die den Status von c b a t t e l besaßen, d.h. verkauft und
belieben werden durften. Dieses Schicksal konnte auch Indianer ereilen, die in
Gefangenschaft gerieten und dann zumeist auf die Karibikinseln verkauft wurden.
Unter der Herrschaft der Krone und im Rahmen des britischen Empire war
also m N ordam erika eine Staats- und Gesellschaftsform entstanden, die in einigen
Punkten dem englischen Modell ähnelte, m mancher Hinsicht aber bereits origi­
nären Charakter trug. Auf der einen Seite wurden die Kolonien in die allgemeine
W achstumsdynam ik des atlantischen Wirtschaftssystems einbezogen und hatten
auch teil an den geistigen Strömungen der Zeit, insbesondere der Aufklärung. Auf
der anderen Seite widersetzten sie sich dem Trend zur Zentralisierung und Büro­
kratisierung, der von London ausging, um ihre regionalen Interessen, Besonder­
heiten und Identitäten zu wahren. Dabei blieb allerdings jede einzelne Koloniestärker auf die Metropole hin ausgerichtet als auf ihre Nachbarkolonie. Bezeich9 D a v i d H a c k e tt b i s c h e r , A lb i o n ’s Seed: F o u r British F o lk w av s in A m erica ( N e w York,
O x fo rd 1989).
6
Jü r g e n H eid ek in g
nenderweise kam selbst in den 1750er Jahren, als sich der Entsehcidungskampf
gegen die Franzosen und deren indianische Verbündete bereits abzeichnete, keine
formelle interkoloniale Zusammenarbeit zustande10. Während des Y r en c h a n d
I n d i a n War ab 1755 erreichten das „britische“ Bewußtsein und der Empire-Pa­
triotismus der Siedler sogar ihren Höhepunkt. Erst der nach dem Sieg über die
Franzosen zunehmende politische Druck aus London ließ die Kolonisten deut­
licher erkennen, daß sie gemeinsame Interessen hatten und daß sie bei der Vertei­
digung dieser Interessen gegen die Machtansprüche der Metropole aufeinander
angewiesen waren.
3. Revolution, Unabhängigkeitskrieg und Staatsbildung
in Britisch-Nordamerika
Die revolutionäre Loslösung der Siedler vom Mutterland erfolgte zu einem Zeit­
punkt, als die Uberlebensfähigkeit der englischen Kolonien auf Grund des vor­
ausgegangenen rapiden Wirtschaftswachstums und der Ausschaltung Frankreichs
gesichert war. Materielle Interessen allein gaben aber keineswegs den Ausschlag
bei der Entscheidung für die Unabhängigkeit, sondern sie w irkten zusammen mit
geistig-ideologischen Strömungen, die auch große Bedeutung für die politische
Kultur des postkolonialen Gemeinwesens erlangten. Zum einen nahmen viele
Siedler die „M odernisierung“ in England als Abweichung von der imaginären
English C o n s t i t u t i o n und damit als Korruption, politisch-moralischen N ieder­
gang und Dekadenz wahr, gegen die sie sich abkapseln oder sogar zur Wehr setzen
mußten. Dabei bedienten sie sich der Rhetorik der radikalen englischen C o u n t r y Opposition gegen die Sym bolfigur der Modernisierer, den Premierminister Lord
Walpole. Diese Kritik trug republikanische Züge, weil sie auf Denkfiguren und
Begriffe der Antike und der Renaissance rekurrierte: So wurde etwa in den C a t o
L e t t er s von Trenchard und Gordon wie später in den Flugschriften der amerika­
nischen Patrioten die korrupte, luxussüchtige und machtgierige Metropole den
einfachen, dem Gemeinwohl verpflichteten Kolonien gegenübergestellt. Das zen­
trale Schlagwort in diesem Diskurs war Tugend, v i r t u e , verstanden als Verantwor­
tung und Opferbereitschaft des einzelnen Bürgers für die Belange des Gemein­
wesens. Aus dieser Sicht wirkten alle englischen Maßnahmen seit dem Siebenjäh­
rigen Krieg wie Elemente eines von langer Hand vorbereiteten verschwörerischen
Plans, um die Kolonien ihrer Selbständigkeit und ihrer moralischen Integrität zu
berauben, ja sie zu „versklaven“.
Die zweite Strömung entstand offenbar in Reaktion auf den bereits angespro­
chenen Nationalismus der englischen Mittelschichten, der einen dezidiert exklusi10 Benjam in F ranklin s A l b a n y P lan o j U nion von 1754 sah eine „allgem eine R egieru ng in
A m e r ik a “ mit von der K ro ne eingesetztem G eneralp räsid enten und g ew ähltem „G roßen
R a t “ als R epräsentatio n „des Volkes der verschiedenen K o lo n ie n “ vor, fand jedoch ke in e Z u ­
s tim m ung.
B ritis c h - A m e rik a un d die U S A
7
ven Charakter annahm und die Kolonisten zu fremden Untertanen herabstufte.
Hierauf antworteten die Sprecher der Siedler zunächst mit der Betonung ihrer
gleichwertigen „englischen Rechte und Freiheiten“. Als dies wenig fruchtete,
führten sie immer häufiger ihre „natürlichen Rechte“ ins Feld, die sie auch beim
Eingehen eines Gesellschaftsvertrags nicht aufgeben konnten. Sie konterten die
englischen A nm aßungen mit der Sprache des Liberalismus, die durch die Werke
von John Locke Verbreitung in den Kolonien gefunden hatte. Erst das wachsende
Nationalgefühl in England weckte demnach in den Kolonien das Bewußtsein
einer gemeinsamen amerikanischen Identität und der Andersartigkeit gegenüber
Europa. Das Verlangen nach Unabhängigkeit entsprang also in nicht geringem
M aße dem Gefühl der Siedler, von den Engländern, den „unfeeling brethren“, wie
Jefferson sie im Entwurf der D e c l a r a t i o n o f I n d e p e n d e n c e nannte, verschmäht,
zurückgestoßen und als Bürger zweiter Klasse behandelt zu w erd en 11. Die Be­
griffe v i r t u e und n a t u r a l r i g h t s mit den ihnen entsprechenden republikanischen
und liberalen D enkm ustern und Weltanschauungen bildeten dann auch die
Grundlage für eine eigenständige amerikanische politische Kultur, die in sich kei­
neswegs spannungs- und konfliktfrei war. H inzu kam noch der puritanische Pro­
testantismus, der in seiner durch die A ufklärung gemäßigten Form auf alle Kolo­
nien abfärbte und den Glauben der Siedler an ihre A userwähltheit und besondere
Rolle im historischen Prozeß bestärkte12.
Die verfassungspolitischen Zielvorstellungen der Kolonialmacht, die auf dem
Prinzip der Parlamentssouveränität und der Unterordnung der Kolonien unter
das imperiale Zentrum beruhten, erwiesen sich als unvereinbar mit dem Verlangen
der Siedler nach Gleichberechtigung im Rahmen des Empire. K om promißvor­
schläge w ie der U nionsplan des Amerikaners Joseph G allo w ay hatten keine
Chance, weil sich die Engländer w enig flexibel und innovationsbereit zeigten, und
weil auf der Gegenseite der Wunsch nach Unabhängigkeit bei Teilen der kolonia­
len Elite und in der B evölkerung immer stärker wurde. Da die Kontrahenten aut
ihren grundsätzlichen Positionen beharrten, ließ sich die Eskalation des Konflikts
nicht vermeiden. Revolution und Unabhängigkeitskrieg dürfen aber nicht nur als
eine Auseinandersetzung zwischen Engländern und Kolonisten verstanden w er­
den, denn sie waren auf amerikanischer Seite von heftigem inneren Streit bis hin
zum Bürgerkrieg begleitet. Beim Zusammenprall zwischen englandtreuen „Lo ya­
listen“ und nach Freiheit strebenden „Patrioten“ ging es im Letzten um die Ent­
scheidung zwischen dem englischen Staats- und Verfassungsverständnis und
einem genuin amerikanischen Republikanismus. Das Denken der Loyalisten trug
hierarchisch-elitäre Züge, aber sie können keineswegs als Reaktionäre abgetan
11 J ü r g e n H e i d e k in g , T h e Im age o f an English E n e m y D u rin g the A m e ric a n R ev olu tio n, in:
R a g n h i l d F i e b i g - v o n H a s e u n d U rsula L e h m k u h l (H rsg.), E n e m y Im ages in A m e ric a n
H is t o r y (Provid ence, R.I. 1997) 91 -107.
12 H a n s Vorländer, H e g e m o n ia le r L ib eralism u s: Politisches D en k en und p olitis ch e K u ltu r in
den U S A 1776-1920 (F ra n k fu rt, N e w Y o rk 1997); vgl. L in d a K. K e r b e r , T h e R e v o lu tio n a ry
G eneratio n: Id eolo gy, Politics, a nd C u lt u r e in the E a rly R e p u b h c , in: Eric F o n e r (FIrsg.), The
N e w A m e ric a n H is t o r y (P h ila d e lp h ia 21997) 31 -59.
8
J ü r g e n H eiclekiüs;
werden. Männer wie Thomas Hutchinson, der Gouverneur von Massachusetts,
waren m mancher Hinsicht sogar „aufgeklärter“, wirtschaftlich fortschrittlicher
und „moderner“ als ihre radikalen Widersacher vom Schlage eines Samuel Adams
und John Adams. Nach dem Unabhängigkeitskrieg, der 1781 in Yorktown z u g u n ­
sten der Patrioten entschieden wurde, flüchteten zehntausende von Loyalisten
nach Kanada, wo ihre Präferenz für die englische Staats- und Gesellschaftsord­
nung langfristig die politische Kultur der neuen britischen Besitzung - und damit
auch das ambivalente Verhältnis zu den USA - mitprägte.
Der Übergang von den dreizehn norclamerikanischen Kolonien zu den Staaten
erfolgte zwischen 1776 und 1783 auf der Grundlage der Volkssouveränität, die
hier erstmals in der N euzeit praktisch angewendet wurde. Als am besten geeigne­
tes Verfahren erwies sich die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, die
den Verfassungstext formulierte, der dann wiederum den wahlberechtigten Bür­
gern in den Staaten (im Durchschnitt ca. 70 Prozent aller weißen Männer über 21
Jahre) zur Annahme unterbreitet wurde. Diese ersten Staatenverfassungen stärk­
ten im allgemeinen che Stellung der Parlamente und schwächten diejenige der
Gouverneure, die sich nun in den meisten Fällen jährlich zur Wiederwahl stellen
m ußten13. Parallel hierzu entstand eine Konföderationsverfassung, die Articl cs o f
C o n f e c l e r a t i o n , die bis 1781 von allen Staatenparlamenten ratifiziert wurde. Die
negativen Erfahrungen, die man mit dieser Form der lockeren Zusammenarbeit
von souveränen Staaten sammelte, führte 1787 zum Verfassungskonvent von Phil­
adelphia und im Jah r darauf zur Annahme der C o n s t i t u t i o n o f t h e U n i t e d St at es o f
A m e r i c a . Diese Bundesverfassung wurde 1791 durch eine Grundrechteerklärung,
die ersten zehn Amendments oder Bill o f Ri ght s, erg än zt14. Die Methode der
Amendments diente auch später dazu, die Verfassung zu ändern und an gew an­
delte äußere Verhältnisse anzupassen. In ihren wesentlichen Grundzügen ist die
C o n s t i t u t i o n nun aber schon seit über 200 Jahren in Kraft und wird deshalb zu
Recht als die älteste noch geltende geschriebene Verfassung der Welt bezeichnet.
4.
Die postkoloniale Entwicklung und die
strukturellen Besonderheiten der Vereinigten Staaten
Daß die Vereinigten Staaten unter dem Druck von Krieg und Krise Gestalt annahmen, hatte weitreichende Folgen: Hier entstand der identitätsstiftende M ythos
des heroisch um seine Freiheit kämpfenden Volkes, das durch Revolution und
Verfassungsgebung eine neue Epoche der Weltgeschichte einleitete. Der Zusam­
menhalt der Union geriet allerdings schon unmittelbar danach ernsthaft in Gefahr,
als die ideologischen Einflüsse der Französischen Revolution und die ökonomil-’ Willi P a u l A d a m s , R e p u b lik a n isc h e Verfassung und b ü rge rlic h e Freih eit: Die V erfassun­
gen und politischen Ideen d er am erik anisc he n R ev o lu tio n (D a n n s t a d t 1973).
14 J ü r g e n H e i d e k i n g , Die Verfassung vor dem Ric hterstuhl: V orgeschichte und R a tifizieru n g
der am erik anischen V erfassung 1787-1791 (Berlin, N e w York 1988).
Briti.sch-Ain crika und die U S A
9
sehen Rückwirkungen der europäischen Kriege einen heftigen Parteienstreit in
den USA auslösten. W ahrend sich die Fecleralisls um Alexander Hamilton w irt­
schaftlich und politisch eher am englischen Vorbild ausnehteten, setzten die
R e p u b l i c a n s unter Führung von Thomas Jetferson, der 1801 /.um Präsidenten ge­
wählt wurde, dem europäischen Modell des Handels-, Manufaktur- und M acht­
staates bewußt die Vision eines Ag r a r i a n E m p i r e der unabhängigen Farmer entge­
gen. Obwohl immer wieder die Rede davon war, daß Parteien schädlich für das
Gemeinwohl seien, entstand in der Praxis ein nationales Z w e ip arte ie n sy stem , das
die politische Debatte anbeizte, zugleich aber die freigesetzten Energien in kon­
struktive Bahnen lenkte. Durch den erfolgreichen (oder besser gesagt glimpf­
lichen) Ausgang des sog. „zweiten Unabhängigkeitskrieges" gegen England von
1812 bis 1814 wurde die Union gerettet und der Mythos des konstitutionellen und
politischen Neubeginns noch gestärkt. Danach konnten die USA auf der G rund­
lage der Verfassung und der N o r t h w e s t O r d i n a n c e des Kongresses von 1787, die
den Übergang von Territorien in Staaten regelte, nach Westen voranschreiten.
Diese kontinentale A usdehnung des föderativ-demokratischen Staatsm odells, die
unter dem Schlagwort der M a n i f e s t D e s t i n y erfolgte und bis zur Mitte des
19.Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen war, erfolgte zu Lasten der Indianer
(sic wurden in Reservate verdrängt) und der Spanier bzw. Mexikaner, die große
Gebiete ihres Kolonialreiches bzw. ihres postkolontalen Staates einbüßten. Durch
die Expansion vom Atlantik zum Pazifik entstand ein riesiger, für europäische
Verhältnisse nahezu unvorstellbarer Binnenmarkt, der langfristig den Aufstieg der
U SA zur stärksten Wirtschaftsmacht der Erde ermöglichte. Über die Frage, w el­
che Rolle der Staat in diesem Prozeß spielen sollte, kam es allerdings wiederum zu
einem heftigen Richtungsstreit in der Elite, und erneut unterlagen diejenigen, die
sich stärker an europäischen Entwicklungsmodellen orientierten (die Befürworter
des A m e r i c a n S y s t e m um John Q uincy Adams und die Whigs), gegen die Expo­
nenten einer eigenständigen, dezentralen amerikanischen Lösung, wie sie von A n ­
drew Jackson und der D e m o c r a t i c P a r t y propagiert wurde. Im Zuge der West­
expansion verschärften sich auch die sektionalen Spannungen und der Streit über
die Sklaverei, die in den 1850er Jahren den Zusammenbruch des sog. „zweiten
Parteiensystems“ von Whigs und Demokraten herbeiführte und 1860/61 in Sezes­
sion und Bürgerkrieg mündeten.
Der transatlantische Vergleich legt den Schluß nahe, daß die amerikanische U n­
abhängigkeit und der Auf- und Ausbau des Bundesstaates zumindest partiell eine
Revolte gegen das nationale und imperiale Staatsmodell Englands darstellten,
gegen den „impressive fiscal-military state“, der damals in Europa allgemeine
Bewunderung erregte. N im m t man die Verhältnisse und Entwicklungstrends in
England im 18. und 19. Jahrhundert als Maßstab für staatliche Modernität, dann
erscheint das amerikanische Modell in mancher Hinsicht als unmodern, zum in ­
dest aber als andersartig. Aut diese „Andersartigkeit“ hat Gordon S. Wood in sei­
nem kontroversen Buch „The Radicalism ol the American R evolution“ hmgewiesen, allerdings eher im Sinne einer „Modernisierung“, d.h. des Übergangs von ei­
ner traditionell-hierarchischen Gesellschaft zu einer modernen, liberal-egalitären
10
Jü r g e n H e id ek in g
M ittelsch ich tsdem o kratie13. Es wäre vermessen, wollte man versuchen, die ko m ­
plexe politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der U SA von der
Entstehung bis in unser Jahrhundert in wenigen Worten zu skizzieren 16. Im
folgenden sollen deshalb nur diejenigen Elemente angesprochen werden, die im
ob igen Sinne als „unm odern“ gelten könnten. Das Erstaunliche daran ist, daß
diese selbst gewählte partielle „Rückständigkeit“ den Aufstieg der U SA keines­
wegs behindert, sondern ihn möglicherweise sogar erleichtert und beschleunigt
hat. Folgende fünf Punkte seien genannt:
4.1.
Die B e g r e n z u n g d e r staatlichen Macht
d u r c h Verf assung, G e w a l t e n t e i l u n g u n d G r u n d r e c h t e
Die koloniale Tradition des s e l f - g o v e r n m e n t und die ideologischen Einflüsse des
Republikanismus und Liberalismus verhinderten, daß in den U SA ein „starker
Staat“ im europäischen Sinne entstand. Die Verfassung von 1787/88 errichtete
zwar eine nationale Regierung, aber deren Befugnisse wurden umgehend durch
Gewaltenteilung, c h e c k s a n d b a l a n c e s und Grundrechtsgarantien auf das N o t­
wendigste eingeschränkt. Im Verfassungsrecht und insbesondere in den G rund­
rechten spiegelte sich nach amerikanischer Auffassung das Naturrecht wider, das
letztlich göttlichen Ursprungs war. Hieraus resultierte eine spezifische Form des
Konstitutionalismus, den Europäer halb bewundernd, halb herablassend als „Ver­
fassungsverehrung“, „Verfassungsheiligung“ oder „Verfassungskult“ bezeichneten 17. Da die Verfassung in den U SA erst die Nation konstituierte, w urde sie - ge­
meinsam mit der Unabhängigkeitserklärung - zur wichtigsten Quelle von staat­
licher Legitimität und nationaler Identität18.
Der Staat erlangte demgegenüber keinen Wert an sich, sondern g o v e r n m e n t be­
deutete treuhänderische M achtausübung auf Zeit im Namen und im Interesse des
Volkes. Das Ergebnis w ar nicht die Parlamentssouveränität englischer Prägung,
sondern ein „limited government“, ein verhältnismäßig „schwacher“ Staat, der
dem Individuum und dem gesellschaftlichen Spiel der Kräfte viel Raum ließ. Diese
Freiheit von staatlicher Kontrolle und Bevormundung setzte vor allem im w irt­
schaftlichen Bereich enorme Energien frei, aber sie hatte auch ihre Schattenseite:
13 G o r d o n S. W ood, T h e R a d ic alis m of thc A m e ric a n R ev o lu tio n ( N e w Y o rk 1992).
16 Sie he ausführlich J ü r g e n I i e i d e k i n g , G eschic hte der U S A ( T ü b in gen , Basel 1996).
17 J ü r g e n H e i d e k in g , T h e L a w of N a tu r e and N a tu ra l Rig hts: D ie Po sitivieru n g des N a t u r ­
rechts im A m e r ik a des ausge he nde n 18. Ja h rh u n d e rts , in: O t t o D a n n un d D i e t h e l m K l i p p e l
(H rsg.), N a tu rr e c h t - S p ä ta u f k lä r u n g - R ev o lu tio n ( H a m b u r g 1996) 4 8 - 6 0 . Z u r bedeu ten den
R o lle von lokale n G erichten, d ie in der späten K o lon ialzeit u n d d e r frühen R e p u b lik auch als
z u sätzlich e p olitische R e p rä se n ta tiv o rg a n e die nten, siehe J . R. P o l e , Refle ctio ns on the A m e r ­
ican L a w and the A m e r ic a n R ev o lu tio n , in: W illia m and M a r y Q u a r t e r l y 50 (1993) 122-159.
18 J ü r g e n H e i d e k in g , Die Verfassungsfeiern von 1788: D as Ende der A m e r ik a n is c h e n R e v o ­
lutio n un d die A n fän g e einer n ationale n F e s tk u ltu r in den V erein igten Staaten, in: D er Staat
34 (1995) 39 1 -4 1 3 ; vgl. L iah G r e e n f e l d , T h e O rig in s and N a tu r e of A m e ric a n N a tio n a lis m in
C o m p a ra tiv e Perspective, in: K n u d K ra k a u (H rsg.), T h e A m e r ic a n N a tio n - N a tio n a l Iden ­
tity - N a tio n a lis m (M ü n s t e r 1997) 19-52.
B r itis c h -A m e r ik a und die U S A
11
Der Staat übte, zumal an der Siedlungsgrenze, kein wirksames Gewaltmonopol
aus, und er konnte deshalb auch die Indianerstämme nicht gegen die fortwähren­
den Übergriffe von landhungrigen Siedlern schützen. Noch heute wird darüber
gestritten, ob das zweite Am endment den privaten Waffenbesitz verfassungsmä­
ßig garantiert oder ob seine ursprüngliche Funktion nur darin bestand, die Ein­
s a t z f ä h i g k e i t der einzelstaatlichen M ilizen zu gewährleisten.
Trotz der geringen Machtmittel der Bundesregierung ist es im Verlauf der terri­
torialen Expansion nach Westen nicht zur Loslösung von F r o n t i e r - Gebieten oder
war zu militärischen Angriffen aus der F r o n t i e r auf die Küstenstaaten gekommen.
Dieser Umstand verdient mehr Beachtung, als er bislang gefunden hat, zumal
wenn die Situation in Lateinamerika als Vergleichsmaßstab herangezogen wird.
Während der Kolonialzeit und unmittelbar nach der Entstehung der U SA kam es
gelegentlich zu Aufständen von Bewohnern der b a c k c o u n t r y , die zumeist aber wie S h a y s ’ R e b e l l i o n von 1786 und die Wh i sk ey R e b e l l i o n von 1794 - rasch und
weitgehend unblutig von den etablierten Autoritäten niedergeschlagen werden
konnten. Entgegen Turners These von der großen Bedeutung der F r o n t i e r betont
die neuere Forschung, daß die wesentlichen politischen, wirtschaftlichen und ku l­
turellen Einflüsse von der Ostküste in den Westen verliefen und nicht umgekehrt.
Spezielle Aufm erksam keit findet heute die E ntwicklung von Städten an d e r F r o n ­
tier, die weit in ihr Umland ausstrahlten und den gesamten Mittleren Westen präg­
ten, Städte wie Chicago und St. Louis waren aber auf das Kapital und die Aufträge
aus dem Osten angewiesen, und die lokalen Politiker und U nternehmer (b o o s t e r s )
unterhielten meist enge Kontakte zur Ostküstenelite. Sie sorgten auch dafür, daß
die Unsicherheit an der F r o n t i e r allmählich durch l a w a n d o r d e r abgelöst w u rd e 19.
Diese Interessenverquickung trug offenbar entscheidend dazu bei, die Spannun­
gen zwischen F r o n t i e r und alten Staaten zu mindern und ihre Konkurrenz in
friedliche Bahnen zu lenken.
4.2. D e r Verzicht a u f Z e n t r a l i s i e r u n g u n d B ü r o k r a t i s i e r u n g
Eine Zentralisierung und Bürokratisierung, wie sie für die europäischen N ational­
staaten charakteristisch war, fand in den USA nur unvollkommen und mit erheb­
licher Verspätung statt. Der amerikanische Föderalismus, der aus den kolonialen
Strukturen hervorging und dem Autonomiestreben der Einzelstaaten Rechnung
trug, w urde von den Europäern zunächst nicht als innovative Einrichtung, son­
dern - ähnlich wie die Struktur der Schweiz oder der Niederlande - als ein staats­
rechtliches Relikt betrachtet. Die Zukunft schien dem nationalen Einheitsstaat
englischer oder französischer Prägung zu gehören, der seine Bürger und seine ma­
teriellen Ressourcen ungehindert mobilisieren konnte. Da sich der Begriff Rcpu-
19 Siehe hie rzu das gru n d le g e n d e W e rk von William J. C r o n o n , N a t u r e ’s M e tro po lis: C h i ­
cago and the G reat West ( N e w Y o rk 1991).
J ü r g e n H c id ek m g
bltk mit altertümlichen oder kleinräumigen Gebilden verband20, war es aus euro­
päischer Sicht höchst fragwürdig, ob eine föderative Republik das gesamte Terri­
torium bis zum Mississippi und möglicherweise bis zum Pazifik würde kontrol­
lieren können. Genau das hatten aber Amerikaner wie Washington, Madison und
Jefterson im Sinn, wenn sie vom zukünftigen A m e r i c a n E m p i r e o f L i b e r t y spra­
chen. Die N o r t h w e s t O r d i r u m c e des Kongresses von 1787 regelte, daß die Westge­
biete nach Erfüllung bestim m ter Voraussetzungen als gleichberechtigte Staaten in
die Union aufgenommen werden sollten, und sie schloß auch bereits die Sklaverei
im Nordwesten aus. Das heikle Problem der Souveränität wurde auf neue Weise
gelöst: Souverän war allem das Volk, aber es konnte die Regierungsbefugnisse auf
den Bund und die Emzelstaaten verteilen, die in ihrer jeweils eigenen Sphäre un­
eingeschränkt Verantwortung trugen. Die Bundesverfassung bildete das „supreme
law of the land“, und der Oberste Gerichtshof mußte dafür sorgen, daß die Ge­
setze und Verordnungen der Staaten wie des Bundes mit der Verfassung konform
waren. Madison nannte die vom europäischen Standpunkt aus schwer verständli­
che Lösung m den L c d e r al i st P a p er s „partly national and partly federal“. Diese
Konstruktion bildete die Voraussetzung für die kontinentale Ausdehnung der
Union bis 1850, ehe alle europäischen Maßstäbe für die Größe und Struktur eines
Staatswesens sprengte. Die A m erikaner selbst hatten allerdings erhebliche Schw ie­
rigkeiten mit der Auslegung der Verfassung, denn immer wieder flammte der Streit
darüber auf, ob die Union Vorrang vor den Staaten habe, oder ob die Staaten w ei­
terhin „unabhängig“ oder sogar „souverän“ seien21. Erst der Sieg des Nordens im
Bürgerkrieg beantwortete diese Frage im Sinne der ersten, „nationalen“ Interpre­
tation, aber auch danach war die Bundesregierung keineswegs allmächtig.
Die konstitutionellen Begrenzungen, das republikanische M achtm ilkrauen und
die schiere Größe der Union verhinderten, daß auf der Ebene des Bundesstaates
wie der Emzelstaaten umfangreiche, kostspielige Bürokratien entstanden. Der
Mangel an staatlicher Leistungsfähigkeit wurde durch die Selbsthilfe der Gesell­
schaft: wettgemacht, die sich für die unterschiedlichsten Zwecke in zahllosen
v o l u n t a r y a s so c i a t i o n s - Vereinen, Clubs, Logen, Korporationen etc. - organi­
sierte. Dieser Umstand beeindruckte schon Alexis de Toequeville in den 1830er
Jahren, und Max Weber stellte zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf einer Am erikareisc fest, die Vereinigten Staaten seien „kein formloser Sandhaufen von Indivi­
duen, sondern ein G ewirr streng exklusiver, aber voluntanstischer Verbände"22.
Im Laute dieses Jahrhunderts haben die USA ihr „bürokratisches Defizit“ gegen­
über Europa allmählich abgebaut, aber der antibürokratische und antizentralisti-° Diese V orstellung hatte M o n te s q u ie u in De l'e sp r it d e s lo is bestärkt. Seiner M e in u n g nach
k o nn te eine gro ß r ä u m ig e R e p u b lik nur als lo ck erer S ta atenb un d existieren.
- 1 Zur s t a t e s ’ r i g h t s - D o k trin , die besonders im Süden p o p ulä r war, siehe n euerdin gs A n d r e ic
C. l . e n n e r , Jo h n T a y lo r and the O rigin s ol A m eric an Federalism , in: J o u r n a l of the Larlv
R ep u b lic 17 (1997) 39 9-423.
W o lfg a n g J. M o m m s e n , M ax W eb er und die Vereinigten Staaten von A m e rik a , in:
R a g n h i l d L i e h i g - v o n H a s e und J ü r g e n H e i d e k i n g (H rsg.), Zwei W ege in die M oderne:
A sp ek te der d eu tsc h -a m e r ik a n is c h e n B ezie hu ngen 1900-1918 (Trier 1998) 91 -103.
B n t i s c h -A m e n k a und die U SA
13
sehe 'G eist wird in der B evölkerung w eiterhin vachgehalten, h r gehört of fenbar
untrennbar zur amerikanischen politischen Kultur, und er bildete geradezu die
Voraussetzung für die Entstehung einer „Z ivilgesellschatt“, wie sie die USA in
reinster Form verkörpern.
4.3. D e r Verzicht a u f e i n e s ta r ke M i l i t ä r m a c h t
Die Gründe, aus denen die Gründergeneration auf die Errichtung einer starken,
permanenten Militärmacht verzichtete, waren ähnlich gelagert. Die tiefsitzcnde
Abneigung der Siedler gegen eine S t a n di n g a r r n y nach europäischem Muster hei
hierbei besonders ins Gewicht, Auch nach der Unabhängigkeit verließ man sich in
erster Linie aut die M ilizen der Einzelstaaten, eine Art dezentrale Volkswehr,
deren militärischer Wert von Experten wie George Washington nicht sehr hoch
veranschlagt wurde. Die reguläre amerikanische Armee zählte in Fnedenszeiten
stets nur wenige Tausend Mann, die zumeist in Forts entlang der indianergrenze
Dienst taten. Die wenigen Kriegsschiffe, deren Bau der Kongreß bewilligte, reich­
ten kaum zum Schutz der Küsten und der Großen Seen aus2’ .
D ieses archaisch anm utende System verführte viele Europäer dazu, die Kampf­
kraft der Amerikaner zu unterschätzen. Es zeigte sich aber immer w ieder, daß der
„schwache Staat“ USA genau dann, wenn es darauf ankam - 1812-14, 1846-48,
1861-65, 1898 und 1917/18 - ungeahnte Kräfte entfalten konnte, indem er rasch
Freiwilligenheere aufstellte und die Wirtschaft in den Dienst der Kriegführung
stellte. Nach dem Friedensschluß wurde das Militärpotential regelm äßig wieder
abgebaut, weil man die hohen Kosten und den Einfluß des Militärs auf die Politik
fürchtete. Eine Ausnahme bildete die Flotte, die seit Ende des 19. Jahrhunderts als
Symbol staatlicher Macht in der Epoche des Imperialismus systematisch aufgerü­
stet wurde. 1898 gaben die U SA der „kolonialen Versuchung“ nach, aber die repu­
blikanisch-demokratischen Gegenkräfte der Gesellschaft blieben stark genug, um
die Expansion in überseeische Gebiete in Grenzen zu halten24.
In Militär- und Bündnisfragen bewirkten der Zweite Weltkrieg und mehr noch
der Kalte Krieg unter dem Schlagwort n a t i o n a l s e c u n t y einen grundsätzlichen
Einstellungswandel, der die USA zur militärischen „Supermacht“ werden ließ. In­
wieweit dies die politische Kultur der Zivilgesellschatt beeinträchtigte, etwa durch
die H erausbildung eines „militärisch-industriellen Komplexes“, w ird seit einiger
Zeit kontrovers diskutiert. Nach wie vor ist der G rundsatz des Primats der politi­
schen Führung jedoch tief im amerikanischen Bewußtsein verankert, und Staats­
streiche von Militärs, w ie sie in vielen anderen Ländern leider zur Gewohnheit ge­
worden sind, erscheinen in den U SA auch für die Zukunft ausgeschlossen.
J ü r g e n Ileicleki/ig, „P e o p le ’s W a r or Sta n d in g A n n v ? “ Die D ebatte über M ilitä rw es en und
Krieg in den Vereinigten Staaten von A m e r ik a im Zeitalter der Fran zö sischen R ev olu tio n, in:
f o b a n n e s K n u t s c h und H e r f r i e d M ü n k ler (H rsg.), Die W ie d er g e b u r t des Krieges aus dem
Geist der R evolu tio n (Berlin 1998) im D ruck.
24 E d w a r d P C rapol, C o m i n g to Terms w ith Empire: T h e H is to rio gra p h )' of L a te-N in e te e n t h - C e n tu r v A m e ric a n F o reign Relations, in: D ip lom atie H is t o r y 16 (1992) 573-597.
14
J ü r g e n H e id ek in g
4.4. D i e T r e n n u n g v o n K i r c h e u n d St aat
Die engen Verbindungen, die in den meisten Kolonien zwischen Regierungen und
etablierten Kirchen bestanden, lösten sich im Gefolge der Revolution auf und
wurden durch eine strikte Trennung von Kirche und Staat ersetzt. Dieser Prozeß
begann in den 1780er Jahren in Virginia, w o sich Baptisten und andere nonkonfor­
mistische Glaubensgemeinschaften seit längerem über die Steuerprivilegien der
Anglikanischen Kirche beschwert hatten. Der Act j o r E s ta bl i s h i ng R e l i g i o u s F r e e ­
d o m von 1786 bestätigte die schon in der Virginia D e c l a r a t i o n o f R i g h t s von 1776
garantierte individuelle Religions- und Gewissensfreiheit und errichtete darüber
hinaus, in den Worten von Thomas Jefferson, einen „wall of Separation“ zwischen
der kirchlichen und der staatlichen Sphäre. Das erste A m endment von 1791 unter­
sagte dem Kongreß, eine Staatskirche einzurichten oder die freie Religionsaus­
übung zu behindern. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts machte das
Beispiel Virginias überall, zuletzt auch in den puritanischen Neucnglandstaaten
Schule. Während sich also in England und auf dem europäischen Kontinent das
Staatskirchentum - mit mehr oder weniger Toleranz für Nichtmitglieder - durch­
setzte, ging die Entwicklung in den U S A in die entgegengesetzte Richtung. Dies
blieb nicht ohne A usw irkun gen auf das Verständnis der Am erikaner von politi­
scher Freiheit und Pluralismus und damit auf die politische Kultur des Landes ins­
gesamt. Entgegen mancher Befürchtungen und nativistischer oder fundamentali­
stischer Gegenbewegungen beeinträchtigten weder das Nebeneinander vieler
Glaubensgemeinschaften noch die strikte Trennung von Kirche und Staat das re­
ligiöse Leben in den USA, sie setzten vielmehr zusätzliche Energien frei. Erwekkungsbewegungen, religiös motivierte Reformbewegungen, Kirchengründungen
und religiös-utopische Gemeinschaftsexperimente wurden geradezu zum C h a­
rakteristikum des 19. Jahrhunderts, an dessen Ende ein weit höherer Prozentsatz
der Am erikaner einer Kirche angehörte als im ja h r 1800. Auch im 20. Jahrhundert
ist die vorhergesagte Säkularisierung nicht eingetreten oder zumindest wesentlich
schwächer ausgefallen als in Europa25. Wenn M ax Webers These vom Zusam m en­
hang zwischen Modernisierung und Säkularisierung zutrifft, müßte man für die
U SA wiederum eine Ausnahme von der Regel reklamieren und sie als „partiell un­
m odern“ einstufen. M it gleichem Recht läßt sich aber behaupten, daß die A m eri­
kaner eine eigene Form von moderner Staatlichkeit entwickelt haben, die nicht im
Widerspruch zur Religiosität breiter Bevölkerungsschichten steht. H ierzu gehört
auch das Phänomen der c i v i l r e l i g i o n , einer alle Glaubensbekenntnisse übergrei­
fenden Zivilreligion, deren Symbole, Rituale und Zeremonien darauf ausgerichtet
sind, die Nation immer wieder auf die als universal verstandenen Werte der U n a b ­
hängigkeitserklärung und der Verfassung zu verpflichten.
- 5 William R. H u t c h i s o n , From U n i t y to M u ltip lic ity : A m e ric a n R elig io n(s) as a C o n c e rn for
the H is to ria n , in: J ü r g e n H e i d e k i n g (H rsg.), R eligio n (e n ) in der am erik a n isc h e n G eschichte,
A m e r ik a s tu d ien / A m erica n Studie s 38 (1993) 34 3-350.
B r itis c h -A m e r ik a un d die U S A
15
4.5. D e r Verzicht a u f e t h n i s c h e u n d r e l i g i ö s e H o m o g e n i t ä t
Es gehörte zu den Prämissen des neuzeitlichen europäischen Staatsdenkens, daß
eine Nation ethnisch, religiös und kulturell möglichst homogen sein sollte. Die
modernen Nationalstaaten machten es sich zur Aulgabe, diese H omogenität mit
allen Mitteln, notfalls auch durch Repression und Gewalt herzustellen. Wie sehr
diese Tradition nach Nordam erika hinüberwirkte, läßt sich daran ermessen, daß
selbst in den USA ein starker D ruck in Richtung Einheitlichkeit und H om ogeni­
tät ausgeübt wurde, obwohl dies in einem Einwandererland eigentlich von Anfang
an ein aussichtsloses Unterfangen war. Die oben erwähnte Religionsfreiheit
scheint gegen einen solchen Konformitätsdruck zu sprechen, aber sie kam in der
Praxis zunächst allein den Protestanten zugute, während Katholiken, Juden und
Andersgläubige außerhalb des kulturellen m a i n s l r e a m blieben und allerhand Be­
nachteiligungen und Verdächtigungen in Kauf nehmen mußten. Dies änderte sieh
im Laufe des 20. Jahrhunderts, aber bis in unsere Tage hält die Mehrheit an einer
judeo-christlichen Identität als einer neuen Art von Homogenität fest. Der prote­
stantische Fundamentalismus, der seit den 1980er Jahren beträchtlichen politi­
schen Einfluß ausübt, vertritt in dieser Elinsicht einen besonders rigiden Stand­
punkt. Allmählich scheint sich in den U SA jedoch ein umfassenderes Religions­
verständnis durchzusetzen, das neben sämtlichen großen Weltreligionen auch
afrikanische und indianische Naturreligionen einschließt. Hinsichtlich der ethni­
schen Zusammensetzung verlief die E ntwicklung nicht wesentlich anders. U nein­
geschränkt akzeptiert wurden anfangs nur Einwanderer aus N o rd- und Westeu­
ropa, unter denen das anglo-amerikanische Element deutlich überwog. Ost- und
Südeuropäer, die mit der zweiten Welle der M asseneinwanderung nach dem B ür­
gerkrieg in die U SA gelangten, galten dagegen als schwer assimilierbar. M an un ­
terzog sie einer forcierten „Amerikanisierung“ und bremste den Zustrom dann in
den 1920er Jahren durch diskriminierende Einwanderungsquoten ab. Für Asiaten
war es vom Ende des 19. bis zur Mitte dieses Jahrhunderts fast unmöglich, legal in
die U SA einzuwandern und die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erlangen.
M exikaner wurden als Wander- und Saisonarbeiter geduldet, konnten aber jeder­
zeit wieder über die Grenze abgeschoben werden. Die Sklaven hätten viele A m e­
rikaner gern wieder nach Afrika zurücktransportiert, und die indianischen U rein­
wohner entgingen nur knapp der Ausrottung. A fro-A m erikaner und Indianer er­
hielten zw ar 1868 bzw. 1924 die Staatsbürgerschaft, doch die wirkliche rechtliche
Gleichstellung dieser beiden M inderheitengruppen erfolgte erst durch die Bürger­
rechtsreformen der 1960er Jahre, und ihre volle Integration in die amerikanische
Gesellschaft ist immer noch nicht gelungen26.
Trotz des starken Konformitätsdrucks, der auf rassische, ethnische und reli­
giöse Minderheiten ausgeübt wurde, sind die Am erikaner nie eine homogene N a­
tion geworden. Die M acht der Umstände w ar einfach zu groß, um die Metapher
des „Schmelztiegels“ ( m e l t i n g p o t ) w ahr werden zu lassen. Es bedurfte allerdings
26 L in d a K. K e rb e r, T h e M e an in gs of C itiz e n s h ip , in: J A H 84 (1997) 833-854.
16
Jü r g e n H e id ek u ig
eines langen Lernprozesses, um zu erkennen, daß Homogenität kein Wert an sieh
ist, sondern daß die moderne Zivilgesellschalt sogar von der kulturellen Vielfalt
einer diversen Bevölkerung profitieren kann. Insofern beweist die Geschichte der
USA, daß Modernisierung nicht Vereinheitlichung bedeuten muß, und daß sich
Modernität und kultureller Pluralismus durchaus miteinander vereinbaren lassen.
Das sind grundlegende Hinsichten, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein weder in
A m erika noch m Europa allgemein akzeptiert wurden, und die selbst heute noch
in großen Teilen der Welt auf Mißtrauen und Unverständnis stoßen.
Wenn man das aufklärerische Postulat: des „größten Glücks der größten Zahl
von Menschen“ (t b e g r e a t e s t b a p p i n e s s o f t b e g r e a t e s t m t m b e r o f p c o p l e ) zum
Maßstab macht, dann darf man die Entwicklung der USA im 20. Jahrhundert mit
gewissen Einschränkungen als „Erfolgsgeschichte“ bezeichnen. O bw ohl die USA
schon im 19. Jahrhundert als das Land der Freiheit und der unbegrenzten M ö g­
lichkeiten galten, müssen zu der Zeit noch allzuviele Menschen, insbesondere
Schwarze und Indianer, aber auch Industriearbeiter, Am erika eher als einen „Alp­
traum “ erlebt haben. Im 20. Jahrhundert vollzog sich dann jedoch eine progres­
sive Öffnung der amerikanischen Gesellschaft, durch die der ideologische A n ­
spruch und die soziale Realität besser m Einklang miteinander gebracht wurden.
Durch die nach wie vor bestehende soziale Ungleichheit wird dieser Erfolg zwar
beeinträchtigt, aber nicht: grundsätzlich in Frage gestellt. Die „Erfolgsgeschichte“
ist jedoch weniger der Übertragung eines europäischen Modells nach Amerika zu
verdanken als der A usnutzung des Potentials, das im eigenen „amerikanischen
Ex p e n m e n t “ s t e c k te.
5. Bilanz
Der hier gewählte Blickwinkel birgt die Gefahr, daß der Anteil des vorkolonialen,
englischen Erbes zu gering bewertet und die Differenz zwischen Europa und
N ordamerika im Sinne eines überholten A m e r i c a n e x c e p t i o n a l i s m überbetont
wird. Es soll keineswegs bestritten werden, daß die weißen Siedler, die sich lange
Zeit als Europäer in der „Neuen Welt“ verstanden, einen wesentlichen Beitrag zur
Ausbreitung des europäischen Staates und des europäischen Wirtschaftssystems
über die Erde geleistet haben. Mit Blick auf die generelle Themenstellung kam es
aber darauf an zu zeigen, daß keine schematische Übertragung von einem Konti­
nent auf den anderen stattgefunden hat. Vielmehr sind die Am erikaner in einigen
wesentlichen Punkten von der Bahn abgewichen, aut der sich die „modernen“ eu­
ropäischen Staaten im 18. Jahrhundert bewegten. Diese institutionellen und ideo­
logischen Abweichungen kamen vielen Europäern damals wie Schwächen, R ü ck ­
stände oder Fehlentwicklungen vor; heute erscheinen dagegen die Entscheidun­
gen für einen konstitutionell begrenzten „schwachen“ Staat, für eine föderative
Republik kontinentalen Zuschnitts, für religiösen und politischen Pluralismus
und gegen bürokratischen Zentralismus ausgesprochen fortschrittlich und „mo­
lir it is c li- A m e r ik a und die U S A
17
dern“. Die immer wieder bewunderte oder verabscheute „M odernität“ der USA
resultiert also nicht zuletzt aus einer Resistenz gegen Strukturen, Institutionen
und Normen, die in Europa im 18. und 19. Jahrhundert als „modern“ und z u ­
kunftsweisend galten. So sind die U SA nie ein „Leviathan“, ein bürokratisch
durchorganisierter homogener Nationalstaat geworden, wie er vielen Europäern
als Ideal vorschwebte; m gleicher Weise wehrten sich die Am erikaner gegen die
von Max Weber prognostizierte „Entzauberung der Welt“ und hielten allen Säku­
larisierungstendenzen zum Trotz an religiösen G rundüberzeugungen fest. Das
trug sicher ganz wesentlich zu ihrer Resistenz gegen die totalitären Versuchungen
des 20. Jahrhunderts bei. Statt eines „Leviathan“ oder Wohlfahrtsstaates haben die
USA früher als alle anderen Länder eine „Zivilgesellschaft“ {civil s o c i e t y ) hervor­
gebracht, die den Handlungsspielraum, die Rechte und die Entfaltungsmöglich­
keiten der Bürger höher schätzt als die Autorität und Ordnungsmacht des Staates.
Gerade in dieser Elinsicht sind die USA im 20. Jahrhundert zum Vorbild für libe­
rale und demokratische Reformer in allen Teilen der Welt geworden.
Trotz aller sozialen, ethnischen, religiösen und regionalen Diversität existiert
eine amerikanische Nation und bildet die amerikanische Geschichte eine Einheit.
Die Integration dieser Nation aus vielen Einwanderer- und Minderheitengruppen
erfolgte weniger durch staatlichen D ruck als über gemeinsame Prinzipien und
Werte sowie mittels nichtstaatlicher Strukturen, zu denen an erster Stelle die an­
onym en Kräfte des kapitalistischen Marktes gehören. Besonders wichtig war und
ist aber die Konstanz politischer Grundwerte, verkörpert in den G ründungs­
dokumenten D e c l a r a t i o n o f I n d e p e n d e n c e , C o n s t i t u t i o n und Bill o f R i gh t s, oder
abstrakt ausgedrückt im amerikanischen Konstitutionalismus. Im Laufe der Zeit
haben sich diese Werte zwar verändert und an gewandelte Bedingungen angepaßt,
aber sie sorgten doch durchgehend lür eine im Kern liberale, individualistische,
demokratisch-egalitäre und anti-etatistische A usrichtung der amerikanischen Ge­
sellschaft. H inzu kam die Bereitschaft des einzelnen, sich mit Nachbarn und
Gleichgesinnten zusam menzutun, um gemeinsame Interessen zu verteidigen, Ge­
fahren abzuwenden oder bestimmte Ziele zu erreichen. Dieses „voluntanstische“
Element verhinderte, daß der Individualismus zur totalen Atomisierung der Zivil­
gesellschaft führte. Die ständige Spannung, die zwischen den politischen Idealen
und der politischen Realität herrscht, erzeugte viel von der D ynam ik, die das
„amerikanische Experiment" von Beginn an auszeichnete. Seit dem Zweiten Welt­
krieg w irk t das „amerikanische M o dell“ trotz seines sozialstaatlichen „Defizits“
offenkundig stark nach Europa zurück, und nach dem Untergang des Kom m unis­
mus strahlt es auch zunehmend auf die restliche Welt aus.
In Deutschland übte das Beispiel der USA übrigens schon auf die Revolu­
tionäre von 1848/49, insbesondere auf deren radikalen Flügel, eine starke A n ­
ziehungskraft aus. Das Ideal, das nach der Revolution verfolgt wurde, war jedoch
wieder der monarchische, bürokratisch organisierte, nationale Machtstaat. Die
Entwicklung in England verlief anders, aber es dauerte doch bis ms 20. Ja h r­
hundert, bevor sich das englische und das amerikanische Modell im Zeichen
von Demokratie und A n g l o - S a x o n i s m wieder einander annäherten. Als gutes „ter-
18
Jü r g e n H e id e k in g
tium comparationis" könnte Kanada dienen, das die Trennung vom Mutterland
nicht mitvollzogen hat, das aber viele Charakteristika mit den U SA teilt. Hier
bieten sich noch viele Gelegenheiten zu vergleichender Forschung, sowohl was
die langfristigen Entwicklungslinien angeht, als auch diachron hinsichtlich der
Frage, wie die drei Staaten jeweils auf ähnliche Probleme und Herausforderungen
reagierten.
Michael Riekenberg
Gewaltmarkt, Staat und Kreolisation des Staates
in der Provinz Buenos Aires, 1775-1850
1. Zur Fragestellung
Dieser Beitrag behandelt die Staatsbildung in der Provinz Buenos Aires im späten
18. und frühen 19. Jahrhundert. Zutreffender ist allerdings, von zwei Staatsbildun­
gen in diesem Zeitraum zu sprechen, der bourbonischen 1776 und der republika­
nischen nach 1810, wobei letztere wiederum verschiedene Teilformen mehr zentristischer oder eher provinzial-kleinstaatlicher Art besaß. Aus pragmatischen
Gründen werden diese beiden Staatsbildungen hier nacheinander behandelt. J e ­
doch gilt das eigentliche Interesse den überdauernden Strukturproblemen, die sie
miteinander verbanden.
Die Entwicklung des Staates kann von verschiedenen Seiten betrachtet werden,
und je nachdem rücken einzelne Aspekte in den Blickpunkt und bleiben andere
am Rand. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Kreolisation des Staates. Den
Begriff der Kreolisation hat der schwedische Kulturanthropologe U lf Hannerz
geprägt. Der Begriff der Kreolisation bezieht sich auf (in dieser Reihenfolge) Peripherie-Zentrum-Beziehungen und impliziert den der Globalisierung w ie um ge­
kehrt. H annerz bezeichnet damit die Veränderungen, die die „W eltkultur“ er­
fährt, wenn von den Zentren ausgehende Entwicklungen in periphere Kulturpro­
file aufgenommen und diversifiziert w erd e n 1. Jedoch reduziert sich die Bedeutung
des Kreolisationbegriffs nicht auf Akkulturationsvorgänge, die Verluste einge­
schlossen, die globale Strukturen oder Prinzipien beim Transfer in regionale Kul­
turen erfahren können. Ebensowenig läßt er sich im Sinn eines c h a l l e n g e - r e 1 Vgl. U lf H a n n e r z , C u lt u r a l C o m p le x ity . Studie s in the Social O r g a n iz a tio n of M ean in g
( N e w York 1992) 3 9 f., 265 f., k ü n ftig zitiert: H a n n e r z , C u ltu r a l C o m p le x it y ; d e rs ., „ K u lt u r “
in einer vernetzten Welt, Z u r R ev ision eines eth no lo gisch en Begriffs, in: K ultu ren -Id en titä ten -D isk urse. P erspektiv en E u ro p ä isch er E th no lo gie, hrsg. von W o lfg a n g K a s c h u b a (Berlin
1995) 64 -8 4 . Zu „ G lo b a lis ieru n g en “ des euro p ä isc h e n Staates vgl. Ali K a z a n g ic il, Paradigtns
of M o d e r n State F o r m a tio n in the P erip hery, in: T h e State in G lo bal Perspectiv e, hrsg. von
Ali K a z a n g i c i l (Paris 1986) 119-142, 122 f. Z u m „ Im p o r t “ eu ro päischer S taatsvo rstellu ngen
nach L a te in a m e r ik a vgl. u .a . M a n f r e d M ols, Begriff u n d W irk lic h k e it des Staates in L a t e in ­
am erik a , in: Z u m S taatsverständnis d er G ege n w a rt, hrsg. von M a n f r e d H ä t t i c h (M ü n ch en
1987) 185-220, 193 f.
20
M ic h a e 1 R i c k c n be r g
s/wzse-Modells verstehen, wonach Kreolisationen als einfache Reaktionen aui
Anstöße „von außen“ zu definieren wären. Und schließlich nimmt er auch keinen
t i m e l a g an, wie es in der amerikanischen Kulturanthropologie heißt, also ein tem­
poräres Zurückbleiben lokaler Entwicklungen gegenüber „M odernisierungen“ im
„Zentrum“. Kreolisationen stellen vielmehr ein „Creative interplay“2 dar, in deren
Verlauf durch dichte Interaktionen auf der Grundlage regionaler, aber nicht auto­
nomer Ressourcen, durch die vorhandene Perspektivenvielfalt und durch die d a­
durch ausgelösten Diversifikationen immer neue, singuläre kulturelle Komplexe
erzeugt werden. Nach diesem M uster soll der Begriff hier für das Thema des Staa­
tes nutzbar gemacht werden.
N un besitzt der Begriff bei H annerz eine sehr kulturalistische, ursprünglich
linguistische Komponente, die für den La Plata-Raum jedoch zu modifizieren ist3.
Für unseren Untersuchungszeitraum können Kreolisationen des Staates in L a­
teinamerika grob danach unterschieden werden, ob sie auf das Einwirken zwar
lokaler, aber verhältnismäßig starker, ethnisch geschlossener Gemeinwesen ( c o ­
m u n i d a d e s ) auf den Staat zurückzuführen waren oder aber ob sie in erster Linie
daher rührten, daß der Staat und die von ihm vertretenen Prinzipien in einer nur
lose strukturierten, zerstreuten Gesellschaft keinen Rückhalt fanden. Beispiele für
den ersten Fall gab es in den Zentren der spanischen Herrschaft in A m erika, wie in
Mexiko, wo die Entwicklung des Staates in starkem Maße vom Konflikt zwischen
den dörflich segmentären Gemeinwesen und dem Staat geprägt war*. Auch w u r­
den Kreolisationen des Staates hier durch „große Traditionen“3 legitimiert: Inner­
halb der kreolischen Elite in M exiko oder auch in Peru bildete sich im späten
18.Jahrhundert eine Geisteshaltung aus, die die Erinnerung an die vorspanische
Zivilisation der A zteken oder Inkas pflegte und die eine kognitive A bw ehr euro­
päischer Einflüsse vorbereiten konnte.
Im Vergleich dazu fiel das La Plata-Gebiet, von den Übergangszonen in die
bolivianischen A nden mit ihren gegenüber dem atlantischen Tiefland abweichen­
den ethnischen Verhältnissen abgesehen, in die zweite Gruppe. Noch im späten
18. Jahrhundert w ar das heutige Argentinien ein in Spanisch-Amerika randständi­
ges Gebiet, das kaum erschlossen und nur dünn besiedelt war. Vor allem fehlte es
an Menschen für das Wachstum von Städten, die als kulturelle Entwicklungszen2 H a n n e r z , C u lt u r a l C o m p le x it y 265.
Z u r B e d e u tu n g k u ltu r e lle r F ak to ren fü r die E n tw ic k lu n g A rgen tinien s, a llerdin gs m it s ta r ­
ke m G e g e n w a r ts b e z u g , vgl. C a rlo s H. W a ism a nn , Reversal of D ev e lo p m en t in A rgentina:
P o s tw a r C o u n t e r r c v o lu t io n a r y Policie s and their S truc tu ral C o n s e q u c n c es (Prin ceton 1987)
94 -1 2 7 .
4 V gl. J o h n G le d b ill, L egacie s of Em pire: Political C e n tr a liz a tio n and C la ss F o rm a tio n in the
H is p a n ic A m e ric a n W o rld , in: State and Society. T h e Em ergen ce and D eve lo p m en t of Social
H ie r a r e h y and Political C e n tra liz a tio n , hrsg. von J o h n G le d b ill, B a rb a r a B e n d e r (Boston
1988) 30 2 -3 1 9 , 3 1 3 ff.; P e t e r F. G u a r d i n o , Peasants, Polities, and the Fo rm a tion of M e x ic o s
N a tio n a l State: G ue rrero 1800-18 57 (S ta n lo rd 1996) 82 ff.
5 S h m u e l N o a h E isenstadt, D ie K o n s tr u k tio n n atio n a ler Identitäten in vergleichend er P e r ­
s pektiv e, in: N a tio n a le und ku ltu re lle Identität, hrsg. von B e r n h a r d G ie se n (F ra n kfu rt a.M.
1991) 2 1 - 3 8 , 2 3 .
D ie P ro vin z Buenos A ires 1 7 7 5 -1 8 3 0
21
tren und als Mittelpunkt staatlicher Organisation hätten tungieren können. Die
Stadt Buenos Aires zählte um 1750 nur 12000 Einwohner, und im Innern der Pro­
vinz siedelten kaum mehr Menschen6. Der argentinische Historiker Tulio Halperin Donghi schrieb kürzlich, Argentinien habe vor dem Beginn der massiven Ein­
wanderungen aus Europa, vor allem aus Italien und Spanien7, in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts eigentlich gar nicht existiert, „... als Land natürlich
schon, aber nicht als Gesellschaft“. Und bei John Lynch heißt es über das heutige
Argentinien um 1800, „...the structure of society was simple and its scale was
small“8. Vor allem im Süden w urde der Charakter des Landes durch den Bestand
von Frontierräumen geprägt, wobei es sich um nicht klar umrissene Ubergangszonen zwischen spanisch-kreolischen und unabhängigen indianischen Bevölke­
rungen handelte. Die Frontiers stellten eigene sozio-kulturellc „Figurationen“
(Norbert Elias) dar, die im La Plata-Raum bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts
hinaus Bestand hatten9.
Die Kernfrage, die sich stellt, ist, w ie unter diesen Umständen die Durchsetzung
staatlicher Herrschaft gelang. Dabei sind zwei gegenläufige Trends zu unterschei­
den. Zum einen verlangte die Gesellschaft im La Plata-Gebiet aufgrund ihrer ge­
ringen Dichte und Differenzierung offenbar weniger Rücksichtnahme von seiten
der Politik. Auch aus diesem Grund war die politische Öffentlichkeit, die sich im
späten i 8. Jahrhundert in der Stadt Buenos Aires zu formieren begann, für Einflüsse
aus Europa durchlässig. Teile der städtischen Eliten, wie die sog. Jakobiner, die nach
der sog. M airevolution 1810 in Buenos Aires zeitweilig politisch tonangebend
w are n 10, orientierten sich in ihrer politischen Programmatik und ihren Gesell6 Vgl. L u d g e r a K l c m p , Von d er „G ran A l d e a “ zu r M etro po le . Zur E n t w ic k lu n g von Buenos
Aires un ter beson derer B e rü c k s ic h tig u n g des Stadt-Land-G egcnsatz.es (S a arb rü ck e n 1985)
45 f.
7 Vgl. J o s é Luis M o r e n o , J o s e A n to n i o M a t e o , El „ r e d es cu b rim icn to “ de la d em o g r a fía h is tó ­
rica en la h isto ria econ ó m ica y social, in: A n u a rio 1EHS 12 (1997) 35 -5 5 . Z u r italienischen
E in w a n d e r u n g siehe F e r n a n d o D e v o t o , G i a n j a u s t o R osoli, La in m igración italiana en la A r ­
gentin a (B ueno s A ires 1985); M a rio C. N a s c i m b e n e , L os italianos y la in tegració n nacional.
H isto ria evolutiv a de la co le ctiv id ad italiana en la A r g e n tin a 1835-1965 (B ueno s A ires 1988);
z u r spanischen C e s a r Yañez G a lla r d o , A rgen tin a co m o país de destino. La em ig ra ció n esp a­
ñola entre 1860-1930, in: Estudios M ig ra to rio s Latin o a m eric a n o s 13 (1989) 4 6 7-498 .
8 Pulió H a l p e r m D o n g h i , Die historische E rfa hru ng A rgen tin ien s im la tein a m erika n isch en
V ergleich, m: A rgen tinien . Po litik, W irtschaft, K u ltu r und A u ß e n b e z ie h u n g e n , hrsg. von
D e t l e f N o l te und N ik ola us Werz ( F r a n k fu r t a.M . 1996) 18-28, 19; J o h n L y n c h , Erom indep en den ce to national o rganization , in: A rgen tina since Independence, hrsg. v on L eslie B e t h e l l
(C a m b r id g e 1993) 1-46, 12.
9 Vgl. als Ü b e r b lic k vor allem F l e h e C l e m e n t i , La frontera en A m eric a: un a clave in terp reta­
tiva de la histo ria am eric ana, 4 Bde. (B ueno s A ires 1985/1989). Z u m K o nzept der Fronticr
vgl. u .a . G r e g o r y H. N o b les , A m e ric a n Frontiers: C u lt u r a l Encounters and C o n tin en ta l
C o n q u e s t ( N e w York 1997).
10 Vgl. R i c a r d o Z o r r a q u i n B eeú , Los gru p o s sociales en la revolució n de M a y o , in: H is to ria 6
(1961) 4 0 - 6 3 , 45 ff.; N o e m i G o l d m a n , EI discurso co m o obje to de la historia: el discurso
político de M a ria n o M o r e n o (B ueno s A ires 1989); dies., H isto ria y L enguaje. Los discursos
de la R ev olu ción de M a y o (Buenos A ires 1992); P ila r G o n z á le z B e r n a ld o , L a R ev olu ción
Francesa v la em ergen cia de nuevas p ráctic as de la política: la irrupció n de la socia bilidad
22
M ichael R ie k e n b e r g
schaftsbildern gänzlich an europäischem, vor allem französischem Gedankengut.
Gleichzeitig jedoch bestand im Landesinnern eine robuste, „vitale“ Gesellschaft1',
die auf den Staat wenig angewiesen schien. Diese leistete keinen direkten W ider­
stand gegen den Staat. Aber in ihr wurde der Staat als etwas Überflüssiges oder als
Störenfried für eigene Interessen und Geschäfte betrachtet und aus Räum en der Ge­
sellschaft wie aus ganzen Territorien fernzuhalten versucht. Mittel dazu konnten
z.B . die selektive Versorgung des Staates mit Informationen, das Hinhalten oder
auch Einschüchterungen des Staates sein: Ende 1806 z.B. erschien eine Gruppe in­
dianischer Kaziken vor dem Stadtrat von Buenos Aires, die anbot, an der Seite der
kreolischen M ilizen die damals enorme Zahl von 20000 Kriegern aufzubieten, soll­
ten die Engländer nochmals in das La Plata-Gebiet einfallen12. Was hier vorder­
gründig als Hilfsangebot auftrat, stellte tatsächlich eine verdeckte D rohung dar.
Nun sind Begrenzungen des Staates durch die Gesellschaft üblich13. In der Pro­
vinz Buenos Aires finden wir im späten 18. Jahrhundert jedoch besondere struk­
turelle Gegebenheiten vor, insbesondere die demographischen Verhältnisse und
den Bestand der Frontiers, die den Staat in seinen Entwicklungschancen von
vornherein benachteiligten. A uch besaß der Staat in dem kurzen Zeitraum, der
zwischen der G ründung des Vizekönigreichs La Plata 1776 und der Staatskrise in
der Unabhängigkeitsbewegung um 1810 lag, nicht die Möglichkeit zur vollen Ent­
faltung. Damit waren jedoch die Kräfte bei der Entwicklung des Staates anders
verteilt. Die Staatsbildung in der Provinz Buenos Aires läßt sich deshalb nur be­
dingt in der Weise beschreiben, daß der Staat sich von einem inneren Zentrum
(hier: der Stadt Buenos Aires und der dortigen Konzentration staatlicher O rgan i­
sationsleistungen) ausgehend im m er mehr „nach außen“ entwickelt hätte, etwa
indem er soziale oder ethnische Kräfte ihrer Machtressourcen beraubt und peri­
pheren Gebieten ihre Autonom ie und Identität genommen hätte. Vielmehr gab es,
was im übrigen ja auch seit langem bekannt ist, auch umgekehrte Prozesse. Im
Kern handelte es sich dabei um Ü berwindungen des Staates „von außen“, w o ­
durch der Staat bzw. die „state political culture“ entkräftet und mit Elementen
einer vorstaatlichen „nonetatist political culture“ aufgefüllt w u rd en 14. In einer
polític a en ei Rio de la Plata revolucio naria , 1810-1815, in: B ole tín del In stituto de H isto ria
A r g e n tin a y A m e r ic a n a 3 (1991) 7 - 2 7 ; Im agen y recepción de la R ev o lu ció n Francesa en la
A r g en tin a , hrsg. von G r e g o r i o W e i n b e r g (B ue n o s A ires 1990).
11 Vgl. P e t e r W a ld m a n n , A rgen tin ien , in: H a n d b u c h d er G eschic hte L a tein a m erik a s, Bd. 3
(S tu ttgart 1996) 88 9 -9 7 2 , 951.
12 V gl. A cu erd o s del ex tin gu id o cab ild o de B uen os Aires. Serie IV, Bd. 2 (B ueno s A ires 1926)
277 ñ ., zitiert nach R a ú l ]. M a n d n r ü , Las fronteras y la socie dad in d ígena en el ám bito p a m ­
peano, in: A n u a r io IE H S 12 (1997) 2 3 - 3 4 , 23, k ü n ftig zitiert: M a n d r m i , Las fronteras. Eine
erste englische sog. In vasion fand im J u n i 1806 statt, eine zw e ite 1807. Sic trugen er heblich
d a zu bei, den p olitischen status qu o im L a Pla ta -G eb ie t zu verä ndern.
13 Vgl. M a r c e llo C a r m a g n a n i , Estado y socie dad en A m e r ic a Latin a, 1850-1930 (B arcelo na
1984) 68 ff.; F e r n a n d o E s ca la n te G o n z a lb o , D ie b ü rge rlic h e G esellschaft un d die G ren zen des
H a n d lu n g s sp ie lr a u m e s des Staates, in: D er S taat in L a t c m a m e n k a , hrsg. von M a n f r e d M ols,
J o s e f T h e s i n g ( M a in z 1995) 211-227 .
14 P e t e r Skalnik, O u t w i t t i n g the State. A n In tro duction , in: O u t w i t t i n g the State, hrsg. von
D ie P r o v in z B u en o s A ires 17 7 5 -1 8 5 0
23
günstigen historischen Konjunktur, der Unabhängigkeitskrise im frühen 19.Ja h r ­
hundert, sollte diese Ü berw indung des Staates „von außen“ schließlich eine grö ­
ßere Kraft als die vom Staat angestrebte Entmachtung gesellschaftlicher Gruppen
entfalten und zur Kreolisation des Staates führen. Bevor ich dazu komme, befasse
ich mich aber zunächst mit den Strukturkonflikten bei der Entwicklung des Staa­
tes im späten 18. Jahrhundert.
2. Gewaltm arkt und Staat in der ausgehenden Kolonialzeit
Vor der G ründung des Vizekönigreichs im Jah r 1776, als in Buenos Aires ein von
Spanien aus dirigierter Verwaltungsstaat ins Leben gerufen wurde, kann man nur
eingeschränkt von der Existen?, eines Staates im La Plata-Gebiet sprechen, sofern
darunter ein Ensemble politischer Institutionen verstanden wird, die über ein klar
abgegrenztes Gebiet die Herrschaftsbefugnisse verwalten. Noch Ende der 1760er
Jahre gab es nur eine Handvoll Beamte in der Stadt Buenos Aires. Kirche und Kle­
rus waren im südlichen La Plata-Gebiet wenig wirkungsvolle Instrumente bei der
D urchdringung der Region durch die Spanier. In den Frontierräumen überwog
bis ins späte 18. Jahrhundert der Zwang zur Selbsthilfe. Die Institutionenbildun­
gen in der Zeit der bourbonischen Reformen hatten auf lokaler Ebene häufig p ri­
vate Schutzgemeinschaften zur G rundlage115.
M it der G ründung des Vizekönigreichs 1776 wurden die Verwaltung reformiert
und aufgestockt und Explorationen mit dem Ziel der Gewinnung systematischer
Kenntnisse des Landesinnern gefördert. Wirtschaftliche Überlegungen spielten
eine wichtige Rolle, vor allem die Absicht, „... to provide a more rational and
efficient outlet of goods [aus dem A ndenraum ; M.R.] to the S o u th e r n A tlantic“ 16.
Überlagert wurden diese ökonomischen Erwägungen jedoch vom G ewaltpro­
blem. Angesichts der außenpolitischen Konstellation, wegen der seit etwa 1740
zunehmenden Konfliktlastigkeit der Frontier im südlichen La-Plata-Gebiet sowie
schließlich aufgrund der Defizite, die im Landesinnern im Bereich der Sozialkon­
trolle und Sozialdisziplinierung bestanden, stand die Gewaltfrage im Zentrum der
Staatsbildung in der Region. 1778 entsandte die spanische Regierung ein größeres
Truppenkontingent nach Buenos Aires, um die Portugiesen am N ordufer des La
Plata zu bekämpfen. Damit erlangte der Staat erstmals ein größeres G ewicht in der
Region. Er geriet zu einer M achtzusam m enballung, und es setzte zugleich ein
starker Einfluß militärischer Eliten auf den Staat ein, der trotz aller VeränderunP e t e r Skalnik (Politic al A n t h r o p o lo g y Bd. 7, N e w B ru n s w ic k 1989) 1-21, 13, 18, k ü n ftig z i­
tiert: Skalnik, O u tw ittin g .
15 Vgl. z .B . E n r iq u e ta A. M o l i n e d e B e r a r d o n i , Historia de M a rco s Paz. D esd e sus orígenes
hasta la cr eación del P artido , 1636-1880 (L a Plata 19 78) 19 ff.
M ark D. S z u c h m a n , F ro m Im perial H in te r la n d to G ro w t h Pole: R ev o lu tio n , C h a n g e , and
R es to ra tio n in the R ío de la Plata, in: R ev o lu tio n and R estoratio n: T h e R ea r r a n g em en t of
P o w e r in A rgen tina, 1776-1860, hrsg. von M ark D. S z u c h m a n , J o n a t h a n C. B r o w n (L in co ln
and L o n d o n , Nebr. 1995) 1-26, 4, k ü n ftig zitiert: R ev o lu tio n and R estoratio n.
24
M ic h ae 1 R ie k c n b e r g
gen, die sieh in der Zusammensetzung oder bei der politischen Rolle des Militärs
zwischen 1778 und der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen, in der Folgezeit
nicht mehr rückgängig gemacht werden sollte17.
Ein vorrangiges Ziel der vizeköniglichen Regierung in Buenos Aires bestand
nach 1776 darin, die Verteidigungskraft in der Region zu erhöhen, die von den In­
dios bedrohten Handelswege in den A ndenraum zu sichern und den Einfluß des
Staates auf die Ausübung kollektiver physischer Gewalt zu vergrößern. Der Staat
sah sieh dabei jedoch mit G ewaltmärkten, die in den Frontierräumen bestanden,
konfrontiert. Nach Georg Eiwert entstehen G ewaltmärkte beim Zusammentref­
fen der Warenökonomie mit gewaltoffenen Räumen, in denen es keine festen,
staatlichen Begrenzungen des Gewaltgebrauchs g ib t18. G ewaltmärkte werden
durch das „ökonomische Motiv des materiellen Profits“ bestimmt, wobei es zu
unterschiedlichen Mischungen und Übergängen zwischen dem marktvermittelten
Warentausch einerseits und räuberischen oder anderen gewalttätigen Formen des
Gütererwerbs andererseits kommt. Kennzeichen des G ewaltmarktes ist, daß der
Warentausch in hohem Maße durch die physische Gewalttat reguliert wird und/
oder daß die Gewalthandlungen selbst unmittelbar kommerzialisiert sind. Die
wirtschaftliche Bedeutung der Ware Gewalt schließt dabei andere Erzeugnisse
vom M arkt aus. Gewaltmärkte müssen, sollen sie funktionieren, „lukrativ“ sein.
Sie fallen durch die Erschöpfung ihrer inneren Ressourcen oder durch die M ono­
polisierung der Gewalt zusammen.
Das Konzept des Gewaltmarkts betont wie andere ökonomisch orientierte A n ­
sätze auch den rationalen Charakter der physischen Gewalttat: „Economic theory
puts violence into the context of rational political behavior.“ 19 Dies ist ein wesent­
licher Grund, warum das G ewaltm arktkonzept ein anderes Verständnis der Fron­
tier in Eateinamerika, die lange Zeit als ein strukturenloser, anarchischer und
ungehemmt gewaltbesetzter Raum verstanden worden ist, eröffnet. N un ist, um
Mißverständnisse zu vermeiden, nicht gemeint, daß alle Frontiers in Lateiname­
rika zu jeder Zeit G ewaltmärkte dargestellt hätten. Das w ar nicht der Fall. Aber
für den Zeitraum um 1800 können die Frontierräume im Süden der Provinz Bue­
nos Aires als eme rudimentäre Variante des Gewaltmarktes definiert werden. Die
im 18.Jahrhundert aufgrund des Viehhandels und des Schmuggels zunehmende
Attraktivität der Frontier für Indiogruppen aus dem Süden bzw. aus Chile, die
Migrationen, die dadurch ausgelöst wurden und eine verstärkte Rivalität um Res­
sourcen anstießen, sowie schließlich das Fehlen eines Staates, der den seit 1740 in
17 Vgl. Ly m a n L. J o h n s o n , T h e M il it a r y as C a t a ly s t of C h a n g e in Late C o lo n ia l Buenos
Aires, m: R ev olu tio n and R esto ra tio n : T h e R ea r r a n g em en t of P o w e r in A rgen tin a, 17 761860, hrsg. von M ark D. S z u e h m a n , J o n a t h a n C. B r o w n (L in co ln and L o n d o n , Nebr. 1995)
2 7 - 5 3 ; J u a n B e v e r i n a , El virreinato de las p rovincias del R ío de la Plata, su o rga n iza ció n
m ilitar (B ue no s A ires 1935).
18 Vgl. z u m Folg enden G e o r g E iw er t, G e w a ltm ä r k te . Be ob a ch tu ng en zu r Z w e ck ra tio n a litä t
der G ew a lt, in: Soziologie der G ew a lt, hrsg. von Trutz v o n T roth a (KZfSS S onderheft 37,
O p la d e n 1997) 86 -101, kü nftig zitiert: E i w e r t , G ew a ltm ä rk te.
19 W ilb er A. C h a f f e e , T h e Econ o m ics of V iolen ce in Latin A m eric a. A T h e o r y of Political
C o tn p etitio n (W estport, C o n n . 1992) 141.
D ie Pro vinz Buenos A ires 1 7 75-18 50
25
der Frontier einsetzenden Anstieg der G ewaltkurve hätte abbremsen und um keh ­
ren können: Diese Faktoren dürften in erster Linie für den Ausbau der Frontier
zum Gewaltmarkt verantwortlich gewesen sein. Dabei lassen sich im Rückgriff
aut che Unterscheidungen, die Eiwert trifft, ein interner Markt, der sich um den
„attack trade“ (Salzhandel) und den Raub (vor allem Viehdiebstahl und andere
Überfälle, aber auch Lösegelderprcssungen20) rankte, sow ie ein externer Markt, in
dem mit Hilfe indianischer Gruppen, wie der aus Chile in die La Plata-Region
vordringenden Araukaner (Mapuches), der Gütertransfer und Schmuggel von der
Atlantikküste nach Chile abgewickelt wurde, voneinander trennen. Insofern
prägten die Figuration Frontier/Gewaltmarkt dichte (in heutiger Terminologie)
interkulturelle Netze, und die neuere Forschung beschäftigt sich primär damit.
Darüber droht jedoch in Vergessenheit zu geraten, daß der G ewaltmarkt gleich­
zeitig eine ständige Unsicherheit barg, die in der potentiellen Bereitschaft des
jeweils Stärkeren zur unkontrollierbaren, zerstörerischen physischen Gewalttat
begründet war.
Aus dem Strukturkonflikt zwischen Staat und Gewaltmarkt erklärt sich das
große Gewicht, das der Monopolisierungsvorgang der Gewalt für die bourbonischc Staatsbildung im La Plata-Gebiet besaß. In diesem Sinn stand am Anfang der
(neueren) Staatsbildung das Exterminierungskonzept: Im Jahr 1777 schlug der Vi­
zekönig Pedro de Cevallos vor, die „barbarischen“ Indios im Süden m gezielten
Kriegszügen auszurotten21. Z war hatte es schon seit 1500 in Amerika gelegentlich
kriegerische Vernichtungen indianischer Gruppen durch die Spanier wie um ­
gekehrt gegeben. Nunm ehr jedoch entstand in der Phase der bourbonischen
Reformen ein Projekt zur gezielten, staatlich organisierten und militärisch durch­
geführten Vernichtung von Indiobevölkerungen. Das Exterminierungskonzept
w ar innerhalb einer in Spanien wie in Spanisch-Amerika utilitaristisch gewende­
ten Auf klärung22 angesiedelt und w urde aus der Absicht zum Ausbau des Staates
entwickelt. Insofern stellte es ein M odernisierungsphänomen dar. O bw ohl es die
in der Frontier vorhandenen Emotionen aufgriff, waren seine Vertreter in erster
Linie Repräsentanten des europäischen Typus von Staatsverständnis. Dazu zähl­
ten die Spitzen der bourbonischen Verwaltung, später die liberalen politischen
Vgl. S usa n M. Socolo-ia, Spanish Cap tivo s in Indian Societies. C u lt u r a l C o n t a d alo n g the
A rgen tin o Frontier, 1600-1835, in: H A H R 72 (1992) 73 -99; C a rlo s A. M a y o , A m a lie L a tru b e s s e , Terratenientes, soldad os v cautivos: La frontera 1736-1815 (La Plata 1993) 7711.; R a ú l
/. M a n d r in i, Indios v fronteras en el arca pam p ean a, siglos X V L X I X , m: A n u a rio ÍEHS 7
'(1992) 59 -7 3 , 60 f.
21 Vgl. /u a n J. B ied rna , C ró n ica s m ilitares. A ntecedentes históricos sobre la ca m p a ñ a contra
los in dio s, Bd. 1 (Buenos A ires 1924) 127. A u f das E x term in ie ru n gs p ro b lem in d e r B o u r b o ­
n enzeit hat sch einb ar als erster J u a n J. C a b o d i A nfan g der 1950er J a h re hing ew iesen . Vgl.
M a y o , L a tru b e s se , Terra tenientes 23. Z u m zeitgle ic h en A u fk o m m e n des E x term in ierun gsk o n ze p ts in der Frontier im N o r d e n M e x ik o s vgl. S ilv io '¿a va la . Las in stituciones jurídicas
en la co n quista de A m é ric a (M éx ic o 1971) 457 f.; B ea triz Vitar, Las fronteras bárbaras en los
virreinatos de N ue va España v Perú, in: R evista de In dias 203 (1995) 3 3 - 6 6 , 50.
22 Vgl. ¡ o s é C a rlo s C b i a r a m o n t e , La crítica ilustrada de la realidad. E conom ía y socie dad en
el p en sa m ie n to argentin o e ib ero a m eric a n o del siglo XVIII (B ueno s A ires i 982).
26
M ic h a e l R ic k e n b c r g
Kreise in der Stadt Buenos Aires. Zu nennen sind ferner die aus den napoleonischen Kriegen in das La Plata-G ebiet migrierten Offiziere, wie der Oberst Fede­
rico Rauch, der 1786 im Elsaß geboren w ar und 1819 in die Provinz Buenos Aires
kam, sowie allgemein der, wie es hieß, „europäische“ Typ des M ilitärs2-’ .
Mittels des Exterminierungskonzepts beabsichtigte der Staat, die N etzwerke,
die an der Frontier Macht gewährten, aufzulösen, die soziale Realität der Gewalt
zu reinterpretieren und den Zugang zur physischen G ewaltanwendung neu zu or­
ganisieren. Das Exterminierungskonzept richtete sich vordergründig allein gegen
die Indios, zielte jedoch auch auf den Ausbau der sozialen Kontrolle der im La
Plata-Gebiet im späten 18. Jahrhundert recht ungebundenen und mobilen ländli­
chen Unterschichten24. Immerhin gewährte die Frontier „... um 1800 eine A u to ­
nomie, die in der Epoche als Rebellion bewertet w urde“25. Reorganisationen der
M iliz26 oder Gesetze gegen das Vagabundieren waren insofern Bestandteil des Ex­
terminierungskonzepts. Im gleichen Zeitraum kam auch der Begriff des Gaucho
als eine soziale Kategorie mit negativen Anklängen auf. Die romantisierenden
Verklärungen des Gaucho zu einer positiven Identifikationsfigur der argentini­
schen Nation gehören einer späteren Zeit an27.
Das Exterminierungskonzept kam in der Provinz Buenos Aires bis in die
1830er Jahre, von Randepisoden abgesehen, nicht zur Ausführung. Dies lag daran,
daß Schlüsselgruppen in der Frontier seine D urchführung verhinderten. Der Be­
griff der Schlüsselgruppe wird hier dem der Elite vorgezogen. Zwar entstand in
der Provinz Buenos Aires mit der Liberalisierung des Handels 1776 auch eine
neue Gruppe aus großen Viehzüchtern28. Zwischen 1790 und 1800 verdoppelten
sich in der Provinz Buenos Aires die Einkünfte, die aus dem Export von Viehpro­
dukten erwirtschaftet wurden. Die Viehzüchter lebten jedoch meist in der Stadt
und verfügten nicht über die spezifischen Sozialisationserfahrungen und kulturel­
len Lebensstile, die für eine soziale Elite in der Frontier konstitutiv gewesen w ä ­
23 Vgl. A lv a ro B a r r o s , Indios, fronteras y segu rid a d in terio r ( '1 8 5 7 ; Buen os A ires 1975) 65 í.
Eine sehr gute D o k u m e n ta tio n d er un tersch ie d lic h e n S trategie n, die in den G e w a ltk o n flik te n
in der F ro ntier ve rfolgt w u rd e n , findet sich in Política segu id a con el abo rig en , hrsg. vom
C o m a n d o G eneral del Ejército, D ire cción de Estudios H istórico s, 4 Bde. (Bueno s A ires
1973/74).
24 Vgl. die Ü b e rb lic k e z u m F o rsch u n gssta n d von R o b e r t o Di S t e f a n o , El m u n d o rural rio platense, in: Bole tín del In stituto de H is to r ia A r g e n tin a y A m e ric a n a 4 (1991) 117-128; J u a n C.
G a r a v a g lia , J o r g e G e l m a n , R u ra l H is t o r y o í the R io de la Plata 1600-1850, in: L A R R 30
(1995) 75-105.
25 E d u a r d o Migue?,, M a n o de o bra, p ob lación rural y m entalid ades en la ec o n o m ía de tierras
abiertas de la p rovincia de Buen os A ires, in: A n u a r io IE H S 12 (1997) 163-173, 172.
26 V g l . J u a n C. W alther, La co n quista del desierto (Buenos A ires 1973) 2 4 3 ff.
27 Vgl. z u m G auc h o b e griff un d seiner negativ en B e se tzu n g in der ausgehenden K o lon ialzeit
D i e g o A. Santillá n, G ran En ciclop edia A r g en tin a , Bd. 3 (B ueno s A ires 1957) 501. Ferner
J u l i o A. M u z z io , D ic cio nario h istó ric o y b io gráfic o de la R ep ú b lic a A rgen tin a , Bd. 1 (Buenos
A ires 1920) 2 0 0 f. Zur V erklä ru n g des G a u c h o im Zuge der argentin is ch en N a tio n sb ild u n g
vgl. N icolas S h u m w a y , T h e Inventio n of A rg e n t in a (B e r k e le y 1991)261 ff.
28 Vgl. D i d i e r N. M a r q u ie g u i , Estancia y p o d e r p olítico en un p ar tido de la ca m p a ñ a b o n a e­
rense: L ujan 1756-1823 (B ueno s A ires 1990).
D ie P ro vin z B u en o s A ires 17 7 5 -1 8 5 0
27
ren. Der Begriff der Schlüsselgruppe besitzt demgegenüber den Vorteil, daß er die
Bedeutung berücksichtigt, die von ihrer sozialen Lage her mittlere Gruppen, wie
lokale Händler, oder subalterne Gruppen, wie örtliche Milizoffiziere oder Ver­
walter, in der Frontier besitzen konnten. Diese Schlüsselgruppen, nicht die im
engeren Sinn sozialen Eliten, verfügten über genaue Kenntnisse des Gewaltmarkts, und der Staat w ar ohne ihre M itw irkun g vor O rt weder „machbar“ noch
durchsetzungsfähig. Das Interesse dieser Schlüsselgruppen an Kriegen gegen die
Indios und an dem ungehinderten Vordringen des Staates war jedoch im späten
18.Jahrhundert gering, zumal der Boom der Viehwirtschaft in diesem Zeitraum
zu Erschütterungen der ländlichen Gesellschaft führte und die gesamte Lage in
der Frontier wohl eher als instabil und sensibel zu umschreiben war.
Der Strukturkonflikt zwischen Staat und Gewaltmarkt wurde damit trotz aller
Zentralisierungsschübe und Stärkungen der staatlichen Exekutive in der B ourbo­
nenzeit nicht gelöst. Ein staatliches Gewaltmonopol w urde nicht errichtet, weil
weder die an dem Ausbau des Staates interessierten Kreise noch diejenigen, die
von der Kontrolle des Gewaltmarkts profitierten, sich entscheidend gegen den an­
deren durchzusetzen vermochten. H inzu kam, daß wichtige Teile der Gesellschaft
von beiden Systemen profitierten, vom Staat wie vom G ewaltmarkt, und an einer
Aufrechterhaltung der Spannungen zwischen beiden interessiert waren. A uf die­
ser Grundlage spielte sich im späten 18. Jahrhundert eine A rt geschäftsmäßige Be­
ziehung ein: A g r e e m e n t s wurden getroffen, die beiden Seiten, dem Staat wie den
Profiteuren des Gewaltmarkts, Vorteile verschaffen sollten und die die wechsel­
seitige A nerkennung relativ klar abgegrenzter Einflußsphären zur Voraussetzung
hatten. Dies verlieh dem Handeln der Akteure in der Frontier einen pragmati­
schen, zweckrationalen Charakter. Zwar bestanden Ängste, H aß- und Rache­
gefühle in der Frontier, die aus den wechselseitigen Überfällen und den im La
Plata-Gebiet seit 1740 zunehmenden Kleinkriegen der m a l o c a herrührten29. Aber
diese Emotionen waren, um neuerlich Eiwert zu zitieren, nicht strukturenbil­
dend30, und dies erklärt im übrigen auch den erstaunlich hohen Grad klientelarer
Steuerbarkeit, den die Gewaltkonflikte zwischen spanisch-kreolischen und india­
nischen Gruppen im La Plata-Gebiet besaßen und den ich an anderer Stelle näher
beschrieben habe31.
29 V gl. A lfr e d J. T a pson , In dian W arfare on the P am p a d u rin g the C o lo n ia l Perio d, in:
H A H R 42 (1962) 1-18, 8 f.; L e o n a r d o L e ó n Solis, Las in vasio nes indíg enas co n tra las lo cali­
dades fronteriz as de Buenos A ires, C u y o y C h ile 1700-1800, in: B ole tín A m e ric a n is ta 36
(1987) 75 -104. A u c h zeitgen össis ch e B e ric hte aus der Fro ntier d o k u m e n tie re n den Bestand
von H a ß g e fü h le n . Vgl. Actas C a p itu la r e s d e la Villa de C o n c e p c ió n del R ío C u a rto , años
1798 a 18Í2 (Bueno s A ires 1947) 183. Z u m Begrif f d er „m a lo ca “ siehe J u a n C o r o m i n a s , D ic ­
c io n a rio crítico etim o ló gico de la leng ua castellana, Bd. 3 (Bern 1956) 2 0 7 f.
30 EInzer t, G e w a ltm ä rk te 88.
31 V gl. M i c h a e l R i e k e n b e r g , E thnische K rie ge in L a te in a m e r ik a im 19. J a h r h u n d e r t (Stuttgart
1997) 70 f.; ders., M ik ro e th n ie n , G e w a lt m ä r k t e , Frontiers, in: Politische un d ethnische G e­
w a lt in S ü d o s te u ro p a und in L a te in a m e r ik a im V ergleich, hrsg. von W o l f g a n g H ö p k en ,
M i c h a e l R i e k e n b e r g (K ö ln ,W ie n ,W e im a r 1999; in V orb ereitung).
28
M ic h a e i R ic k e n bcr g
A ufgrund der Zwänge, das Verhältnis zu den Indiogruppen zu regulieren,
Bündnisse zu schließen und vor Ort und ohne den Staat über Krieg und Frieden
zu entscheiden, barg der G ewaltmarkt Elemente einer vorstaatlichen politischen
Kultur. Diese klar und eindeutig benennen zu wollen, ist kaum möglich. Vermut­
lich zählten dazu jedoch die sich akkum ulierenden Gewalterinnerungen und Tra­
ditionen der Selbsthilfe, partikulare Identitätsbildungen auf der Basis regionaler,
mehrethnischer Netze sowie das M ilk rauen gegen den Staat und die urbane poli­
tische Kultur. Bestandteil der vorstaatlichen politischen Kultur im Gewaltmarkt
Frontier war aber auch die Bildung eigener Institutionen, wie der „Parlamente“,
die im späten 18. Jahrhundert aus Chile kommend im Süden der Provinz Buenos
Aires Verbreitung fanden-’2. Dabei handelte es sich um Zusammenkünfte z w i­
schen indianischen Kriegertrupps und Angehörigen der spanisch-kreolischen
Schlüsselgruppen in der Frontier. Diese Parlamente bargen verschiedene O ptio­
nen. Sie versorgten die Schlüsselgruppen in der Frontier mit autonomen Macht­
ressourcen, vor allem durch die khentelaren Bindungen und Allianzen, die mit
den indianischen Kaziken eingegangen wurden. Gleichzeitig bildeten die Parla­
mente aus der Sicht des Staates Institutionen rationaler Gewaltvermeidung, so daß
der Staat entlastet wurde, insbesondere durch das nach 1800 forcierte Vertragswesen auf der Basis der Parlamente-’-’. Später vergab der Staat Lizenzen für die A u s­
handlung von Friedensverträgen mit den Indios: „Government licences formalized the terms of peace, named specific hacendados as protectivc patrons of the
new a llie s...“34 In den Verträgen wurden indianischen Ethnien eigene Ju risd ik ti­
onsgebiete konzediert. Auch w urde es in diesem Zeitraum üblich, den Begriff der
Frontier (im zeitgenössischen Sprachgebrauch: f r o n t e r a ) im Sinn einer Linie und
nicht länger als einen offenen Raum zu interpretieren3-1’. Insofern kam es um 1800
zu Institutionahsierungsschüben m der Frontier, in denen sich das Bemühen des
Staates ausdrückte, einen stärkeren Einfluß auf die Frontier zu gewinnen, ohne
daß er diese deshalb einfach nach seinen Normen und Interessen hätte verändern
können.
3- Vgl. Luis M. M é n d e z B e l t r a n , La o rga n iza ció n de los p arla m ento s de in dio s en el siglo
X V III, in: Relacio nes fronteriz as en la A r a u ca n ía , hrsg. von S e r g i o Villalobos u .a . (Santiago
de C h il e 1982) 109-174.
33 Vgl. d a zu A b e la r d o L e v a g g i , Tratados cele brados entre go biern os a rgentin os e indios del
s u r de Buen os Aires, Santa Fe, C ó r d o b a y C u y o , 1810-1852, in: R ev ista de H is t o r ia del D e ­
recho R ic a r d o Levene 30 (1995) 87 -165. Z u r „E n tla stun g“ des Staates w ie zu r S ta atsb ild u n g
ü b e r h a u p t siehe auch Trutz v o n T r o th a , K o lon iale H errschaft. Z u r s oziologischen Th eo rie
d e r S ta atsen tste hu ng am Beispiel des „Schutzgebietes T o g o “ (T ü b in gen 1994) 1-31.
34 Vgl. K r is t in e L. J o n e s , I n d ia n -C r e o le N ego tia tion s in the So u th e rn Frontier, in: R e v o lu ­
tion and R esto ra tio n 103-123, 111, k ü n ftig zitiert -.Jones, In d ia n -C re o le N ego tia tio n s.
~
’ s V gl. M i c h a e l R i e k e n b e r g , „A n iq u ila r hasta su ex term in io a estos i ndi os . . U n en savo para
repensar la frontera bonaerense 1770-1830, in: I b e ro -A m erica n a Pragcnsia 30 (1996) 61 -75,
62 ff.
I )ic Provinz Buenos Aires J 775-J 850
29
3. Die Staatskrise nach 1808 und die Kreolisation des Staates
In der Gegenwart sind es häufig Situationen des Staatskollapses, in denen politi­
sche Akteure sich auf ethnische Loyalitäten oder lokale Bande zurückziehen, um
von dort aus gegen das „Zentrum“ und das dort vertretene Staatsverständnis zu
opponieren36. Ähnliches vollzog sich im frühen 19. Jahrhundert in Lateinamerika.
Die U nabhängigkeitskrise ging mit Erschütterungen des Staates bis hin zu Staatszcrfallsprozesscn einher, und vielerorts begründeten in der Folge einzelne mäch­
tige iu arl ords , sog. c a u d i l l os , Herrschaftsgefüge, deren Institutionalisierungsgrad
zu gering war, als daß man von staatlichen Strukturen hätte sprechen können37.
Starke politische Fragmentierungen waren die Folge. Nach 1820 zerfiel das Ge­
biet des heutigen Argentinien vorübergehend in vierzehn eigenständige, vonein­
ander unabhängige Provinzstaaten oder staatenähnliche Gebilde. Diese Fragmen­
tierung hing neben der Staatskrise und dem Wegfall der monarchischen Autorität
vor allem mit den ungleichen Entwicklungen zusammen, die die Wirtschaft in den
einzelnen Teilregionen des La Plata-Gebiets nach der Liberalisierung des Handels
1778 genommen hatte. Etwas vereinfacht standen K onjunkturen auf der A tlantik­
seite Depressionen im Andenraum (C u yo , Catamarca, usw.) gegenüber, woraus
heftige Rivalitäten und Abstoßungen zwischen einzelnen Teilregionen herrühr­
ten38. H inzu kam das Wirken lokaler Identitäten. In den politischen Texten, die im
frühen 19. Jahrhundert im La Plata-Gebiet Verbreitung fanden, waren aufgrund
der in der Region erst spät, um 1775 einsetzenden Staatsbildung auch vorabsolu­
tistische Repräsentationsgedanken enthalten. Diese sprachen den Städten Souve­
ränitätsrechte zu. Hierdurch w urde ein Prozeß der „Territorialisierung der Souve­
ränität“ begünstigt, der nach 1820 dazu führte, daß sich im Gebiet des ehemaligen
Vizekönigreichs La Plata eine Vielzahl kleinerer „territorialer politischer Einhei­
ten als Souverän“ betrachtete39. Zentristische Konzepte des Staates verloren vor­
übergehend fast völlig an Einfluß.
36 /. W illiam Z a rtm a n , Po sin g the P ro blem of State C o llap s c, in: C o ilap s ed States. T h e D es­
in tegratio n and R estoratio n of L eg itim atc A u th o r ity, hrsg. von /. William Z a r t m a n (B ou lder
1995) 1 - 1 4 , 8 .
37 Vgl. R a lf D a h r e n d o r f , W id e rsp rü c h e d e r M o d ern itä t, in: M o d ern itä t un d Barbarei. S o z io ­
lo gische Z eitd iagn o se am Ende des 20. Ja h rh u n d e rts , hrsg. von Max M üller, H a n s - G e o r g
S o e f f n e r (F ra n kfu rt a.M. 1996) 194-204, 195; J o h n L ynch, C a u d illo s in S pam sh A m eric a
1800-1850 ( O x fo rd 1992).
38 Vgl. J o s é (J a rlo s C h i a r a m o n t e , La cuestió n regio nal en el proceso de gestación del estado
n acio nal argentin o, in: La un id a d nacional en A m é ric a Latina. Del regio nalism o a la n acio na­
lidad, hrsg. von M a r c o P a la cio s (M éx ic o 1983) 51 -8 5 ; d ers., El federalism o arge n tin o d uran te
la p rim era mitad del siglo X IX, in: F e deralism o s la tin oam eric anos: M éxico , Brasil, A rgen tin a,
hrsg. von M a r c e llo C a r m a g n a m (M éx ic o 1993) 81 -1 3 2 ; J u a n C a rlo s G a r a v a g l i a , C r e c i­
m ien to eco n ó m ico y d if erenciacio nes re gio nale s: el Río de la Plata a fines del siglo X V III, in:
d e rs .. Econ o m ía, socie dad y regio nes (B ue no s A ires 1987) 13-64; M a g n u s M ö r n e r , Region
and State in Latin A m erica s Past (B a ltim o re, Lon do n 1993).
39 Sie he R a ú l Fradkin u .a ., C a m b io s y p erm anencias: Buenos A ires en la p r im e ra mitad del
siglo X IX , S. 13-21, in: A n u a rio lEFIS 12 (1997) 13-21, I S ;J o s e C a rlo s C h i a r a m o n t e , C i u d a ­
des, Provincias, Estados: O rígen es de la N a c ió n A rgen tin a , 1800-1846 (B ueno s A ires 1997)
30
M ichael R ie ken b e rg
M it der Unabhängigkeitskrise stellte sich die G ew altfrage in neuer Form. Die
Krise des Staates ging mit einer Ausbreitung innerer Kriege und „M ilitarisierun­
gen der politischen Kultur“40 einher. Es waren dabei keineswegs immer nur die
Zerrüttung des Staates und ziviler Ordnungen, die diese Militarisierungsschübe
begünstigten. In der Provinz Buenos Aires z.B. war die Kontinuität von Staatlich"
keit beim Ü bergang von der kolonialen zur republikanischen O rdnung ver­
gleichsweise hoch. Andere Entwicklungen gab es freilich in Teilen des Landesinnern, wo die Unabhängigkeitskrise und wirtschaftliche Depressionen zu tiefen
Brüchen in den sozialen und politischen Strukturen führen konnten. Zerfiel die
staatliche Autorität und entstand ein Machtvakuum, so beruhten Rekonsolidierungen der O rdnung allein auf der Fähigkeit lokaler w a r l o r d s , ein politisches und
soziales Krisenmanagement mit despotischen, kriegerischen Mitteln zu betrei­
ben41.
In der Provinz Buenos Aires führte dagegen erst der ungünstige Verlauf des
Kriegs gegen Brasilien 1824 bis 1826 dazu, daß das von städtischen Kaufleuten,
„bildungsbürgerlichen“ Gruppen wie den Juristen und Teilen des Militärs getra­
gene Modell eines liberalen Einheitsstaates mit parlamentarischen Strukturen den
politischen Rückhalt verlor. Es hat den Anschein, daß die Provinz. Buenos Aires
durch den ungünstigen Verlauf dieses zwischenstaatlichen Krieges gegen Brasilien
in eine tiefere Krise gestoßen wurde, als es durch die politische Lostrennung von
Spanien 1813/16 der Fall gewesen war. Die Regierung, die von 1824 bis 1827 unter
der Führung von Bernardino Rivadavia, dem Sohn eines spanischen Kaufmanns,
stand, verlor dadurch an Rückhalt, zumal auch die Modernisierungsabsichten, die
sie angelehnt an das britische Modell verfolgte, auf Widerstand trafen42. Auch
drohte Rivadavia, das überkommene a g r e e m e n t zwischen Staat und Frontier auf­
zukündigen 43. Neue Erschütterungen des Staates waren die Folge, die zu den hef­
tigen inneren Kriegen und Unruhen von 1829 führten und die der Ü berw indung
des Staates „von außen“ den letzten Anstoß gaben.
Die Verbreitung der inneren Kriege (von Bürgerkriegen sollte man für das La
Plata-Gebiet im frühen 19. Jahrhundert nicht sprechen, weil der Staat insgesamt
zu schwach war, als daß er inneren Gewaltauseinandersetzungen den Charakter
95 f.; F r a n c o i s - X a v ie r G u e r r a , T h e S p a n is h - A m e r ic a n T radition of R ep resen ta tio n and its
E u rop ean Roots, in: J L A S 26 (1994) 1-35.
40 I n g e B uisson, P ro blem e der S ta a te n b ild u n g im spanischen S ü d a m erik a , 1810-1830, in:
S t a ate n b ild u n g in U bersee. D ie Staate n w e lt L a tein a m erik a s und Asiens, hrsg. von J ü r g e n El­
v e r t , M i c h a e l S a le w sk i (Stu ttgart 1992) 11 -19, 17.
41 Ein Beispiel sind die G eb iete im A n d e n r a u m , in denen d er C a u d illo Fa c u n d o Q u ir o g a sich
nach 1820 zu r p olitischen Sch lü sselfigur aufsch w an g. Siche z .B . das S chreiben von M .G.
Q u ir o g a an J u a n Fa c u n d o Q u ir o g a vom 17.0 1.18 27, in d em er beric htete, daß in San J u a n
kein erlei „ A u t o r it ä t “ m eh r vo rh a n d en sei un d „das V o lk “ sich in einem Z ustand vö llige r Ver­
w ir r u n g u n d U n s ich erh eit befinden w ü r d e . Vgl. A rch iv o del B r ig a d ie r G eneral J u a n F acundo
Q u ir o g a , Bd. 4 (B ueno s A ires 1988) 297.
42 V gl. R ivadav ia y su tiem p o, hrsg. v o n N idia A reces, E d g a r d o O s s a n a (B ueno s A ires 1984);
D a v i d R ock , A rgen tin a 1516-1987 ( L o n d o n 1987) 96 ff.
43 V gl. D io n is io S c h o o Lastra, El in dio del desierto 1535-1879 (B ue n o s A ires 1977) 71.
W”
Die Pro vinz Buen os A ires 17 7 5 -1 8 5 0
31
von Bürgerkriegen hätte verleihen können) führte nicht etwa dazu, daß sich auch
der G ewaltmarkt in gleicher Weise ausgedehnt hätte. Vielmehr verlief die Ent­
w icklung in umgekehrter Richtung: Die inneren Kriege, die im La Plata-Gebiet
nach 1813 ausbrachen und mit Pausen und in variierender Stärke bis 1852 vorka­
men, bewirkten, daß der G ewaltmarkt politisiert wurde. Damit ist gemeint, daß
die Kräfte und Ressourcen des Gewaltmarkts in die einen zunehmend gewalttäti­
geren Verlauf nehmenden innenpolitischen Auseinandersetzungen im La PlataRaum einbezogen wurden. Dadurch war aber auch die alte Trennung von G ew alt­
markt und Staat nicht mehr aufrechtzuerhalten, und die Schlüsselgruppen in der
Frontier begannen, und dies im übrigen teils durchaus gegen ihren Willen und nur
notgedrungen, „nationale“ Politik zu betreiben. Aufgrund der Erinnerungskultu­
ren der G ewalt44, die in der Frontier bestanden, vermochten es dabei besonders
erfolgreiche w a r l o r d s , ihre Einflußsphären zu den neuen „hegemonischen militä­
rischen Zentren“45 der Region auszubauen und auf dieser Grundlage auf die Ent­
w icklung von Staat und Nation entscheidend Einfluß zu nehmen. Das beste Bei­
spiel w ar wohl der politische Aufstieg von Juan Manuel Rosas, ursprünglich ein
Viehzüchter und M ilizkom m andeur in der südlichen Frontier, der 1829 G ouver­
neur der Provinz Buenos Aires und Chef der argentinischen Konföderation
wurde. Rosas verkörperte den nach Eiwert in Gewaltmärkten nicht untypischen
Aufstieg vom Wirtschafts“bürger“ über den w a r l o r d zum m achtakkumulierenden
Staatsmann. Grundlage des politischen Aufstiegs von Rosas w ar dabei die „alliance structure“ im G ewaltmarkt Frontier, .. a political base upon which to build
his rise to national pow er"46. Von 1829 bis 1852 bestimmte Rosas wie kein anderer
die Geschicke im heutigen Argentinien.
Der Staat, den Rosas nach 1829 errichtete, ist in der Forschung als autokratisch-kriegerischer Staat bezeichnet worden. Ausschlaggebend für den Erhalt
und die Durchsetzung der staatlichen Macht war jedoch in erster Linie die
starke wirtschaftliche Stellung der Hafenstadt Buenos Aires. Nach 1810 wurde
das koloniale Abgaben- und Steuersystem aufgehoben, in der Provinz Buenos
Aires 1821 ebenso die Verbrauchssteuer a l c ab a la . Seit 1821 wurden die staatli­
chen Einkünfte fast nurmehr aus den Zöllen erwirtschaftet. Diese Zolleinkünfte
w urd en im Hafen von Buenos Aires, der praktisch den gesamten Außenhandel
des heutigen Argentinien kontrollierte, weitgehend monopolisiert. Der Provinz­
staat Buenos Aires w urde dadurch in die Lage versetzt, dauerhaft einen ver­
gleichsweise mächtigen „politisch-militärischen A pparat“ zu unterhalten47, w o r­
44 Vgl. C a rlo s M a y o , Socie dad rural y m ilita riza ció n d e la frontera en Bu en os Aires, 1 7 371810, in: J B L A 24 (1987) 25 1-263 .
45 Tulio H a i p e r m D o n g h i , El s u r g im ien to de los ca u d illos en el m arco de la socie dad rioplatense p ostrevo lu cion aria, in: Estudios de H is to ria Social 1 (1965) 121-149, 135; siehe auch
d e rs ., C la se terratenie nte y p o d e r político en Buen os A ires 1820-1930, in: C u a d e r n o s de
H is to ria R eg io n a l 15 (1992) 26 f.
46 J o n e s , N ego tia tio n s 115. Vgl. auch A rtu ro E. S a m p a y, Las ideas políticas de J u a n M an uel
de R osas (B ueno s A ires 1972); E rn esto H. C e lesta , Rosas. A p o rte s para su historia, Bd. 1
(B ue n o s A ires 1969).
47 V gl. z u m V o rh ergehend en C a rlo s M a rich a l, Lib eralism and Fiscal Policy: T h e A rgen tin e
32
¡Vi i c 11a e t R i ok e n b c r g
auf seine hegemoniale Rolle im Staatsbddungsprozeß m Argentinien im 19. Jah r­
hundert begründet war.
Es verdient Beachtung, daß auch die Regierung Rosas an dem im „Estatuto“
von 1813 begründeten Konzept einer Staatsbürgernation festhielt, ebenso an dem
allgemeinen gleichen Wahlrecht für Männer über 21 Jahre, das 1821 in der Provinz
Buenos Aires erlassen worden war, sowie an der parlamentarischen Legitimierung
der Regierung. Damit wurde das Gehäuse eines formal demokratischen Staates
aufrechterhalten, worin auch die aus dem Kolonialstaat hergebrachte Bedeutung
des Rechtswesens in Spanisch-Amerika nachklang48. Individuelle Biographien ka­
men hinzu, zumindest bei den juristisch gebildeten Teilen der politischen Elite in
Lateinamerika im 19. Jahrhundert, deren Bedürfnis zur rechtlichen Legitimierung
des Staates hoch war. Innerhalb dieses äußeren Rahmens demokratischer Legiti­
mierung war der Staat unter Rosas jedoch eminent gewaltbereit, um die eigene
Autorität durchzusetzen und zu konsolidieren. Auch begriffsgeschichtlich läßt
sich übrigens die Zunahme der Gewaltbereitschaft, die die Staatsbildungen im La
Plata-Gebiet im frühen 19. Jahrhundert begleitete, verfolgen: War bei den ersten
inneren Kriegen nach 1813 meist noch von Bruderkriegen die Rede, so wurde seit
den 1820er Jahren der Exterminierungsbegriff gebräuchlich, ehe dann seit den
1830er Jahren der Begriff des Terrors in den Vordergrund trat, um die G ew altpra­
xis des politischen Gegners zu bezeichnen.
Der Aufstieg der w a r l o r d s als eine neue Trägergruppe des Staates wurde durch
das Problem der Sozialdisziplinierung begünstigt. Traditionell erschwerte der
Bestand der Frontiers und von Fluchtzonen die Aussichten auf eine erfolgreiche
soziale Kontrolle im La Plata-Raum. Im Gegensatz zum Hochland fand in dieser
Region keine Eingewöhnung der ländlichen Bevölkerung in die Strukturen dörf­
licher c o m u n i d a d e s statt, die in Mexiko oder Peru recht rigide soziale Disziplinie­
rungsleistungen hervorzubringen vermochten. Die U nabhängigkeitskrise ver­
schärfte dieses Problem defizitärer sozialer Kontrolle. Sie führte zu einer „fast
völligen Erosion von Autorität und sozialer H ierarchie“, und der „gesetzlose
R au m “, der zuvor „nahe den indianischen Territorien“ bestand, drohte sich nach
1813 auf das gesamte argentinische Litoral auszudehnen49. Erfolgreiche w a r l o r d s
zeichneten sieh in dieser Situation dadurch aus, daß sie mit einigem Erfolg untere
ländliche Bevölkerungsgruppen sowohl zu mobilisieren w ie in sozialer Hinsicht
P aradox, 1820-1862, in: Lib era is, Politics, and Power. State Fo rm a tion in N in e t c e n t h -C c n t u r y Latin A m e ric a, hrsg. von V incent C. P e lo s o und B a r b a r a A. F en en b a u r n (A th en s, G e o r ­
gia 1996) 90 -1 1 0 ; Tulio H a l p e n n D o n g b i , G u e rr a y finanzas en los orígenes del estado a r g e n ­
tin o 1791-1850 (B ueno s A ires 1982). Z u r B e d e u tu n g der Z ö lle für die S ta atsb ild im g in
A rg en tin ien siehe auch Frank I b o l d , S ta atsb ild im g in A rgen tin ien : Die P ro vinze n Salta und
J u j u y im Span nu ngsfeld von W ir tsch a ftsre gio n und „ N a tio n a ls ta a t“ 18 50-1885 (Köln, W e i­
mar, W ie n 1997) 189 f.
48 Vgl- J e a n - P h i l i p p e G eriet, A m b ig u ité s d ’un m odèle, enje ux d ’ un p ro gra m m e, in: The H é ­
ritage o í the Pre-Indu strial Eu rop ean State, hrsg. von Wrrn B lo c k m a n s u .a . (L is sab on S996)
261-278,266.
49 R i ca r d o D. S a lv a t o r s : T h e B r e a k d o w n of Social D is cipline in the B an da O rien ta l and the
L ittoral, 1790-1820, in: R ev o lu tio n and R estoratio n 74 -102, 74, 95.
Die Pro vinz Buen os A ires 1775 - 1 8 5 0
33
zu kontrollieren vermochten, und dies trug erheblich dazu bei, ihre Macht zu
mehren.
A uf dem Hintergrund der Bedeutung, die die Gewaltfrage für die Staatsbil­
dung im La Plata-Gebiet besaß, verdienen mehrere Merkmale des Staates unter
Rosas besondere Beachtung. Zunächst ist in Anlehnung an Max H orkheim er das
r a q u e t e e r i n g als Mittel der Staatsbildung zu nennen-'’0. Rosas kannte diese Praxis
aus dem G ewaltmarkt Frontier, wo er sie gegenüber unbotmäßigen Kaziken, wie
Zeitgenossen berichteten, anscheinend zu perfektionieren verstand. Nachdem
Rosas 1829 an die Spitze der Regierung in Buenos Aires getreten war, kam das
R a q u e t e e r i n g und der damit verbundene Auf- und Abbau der Bedrohungsge­
walt und von Schutzversprechen mehr und mehr gegenüber anderen Provinzen
zur A nwendung, um auf diese Weise die politisch-militärische Hegemonie von
Buenos Aires innerhalb der argentinischen Konföderation durchzusetzen. Rosas
vermochte es dadurch, sich de facto zu einer Art D iktator über che meisten ar­
gentinischen Provinzen aufzuschwingen. Durch die damit verbundene Integra­
tion und zwanghafte Zentrierung trug Rosas zur nationalstaatlichen O rganisa­
tion des Landes nach 1861 bei. Dies galt vermutlich ebenso für die Gewaltpraxis,
weil die daraus erwachsende Ermüdung über den Gewaltgebrauch die Kompro­
mißbereitschaft der verschiedenen Provinzeliten untereinander mittelfristig för­
dern sollte.
Bei den Institutionen, die unter Rosas neu gebildet wurden, ist die m a s b o r e a
hervorzuheben. Dabei handelte es sich um eine Art staatsterroristische Polizei,
die gegen politische Widersacher, ebenso aber auch gegen soziale Randgruppen
agierte51. Die m a s b o r e a drängte politisch oppositionelle Kreise, wie die sog. R o ­
mantiker von 1837, ins Exil, und es gelang ihr weitgehend, den städtischen
Raum zu befrieden. Die Senkung der Kriminalitätsrate nach 1830 deutet zum in ­
dest darauf hin52. Der Terror und die stete Gewaltandrohung, die der Staat aus­
übte, stellten dabei ein Mittel dar, ihm ein Gewaltmonopol zu erringen. Gleich­
zeitig litt darunter aber die Zivilisierung des Staates53, weil die G ew altanw en­
50 H o r k h e im e r hat sich bereits um 1940 mit dem Staat als R a cke t befaßt. Zitiert w ir d aber
meist C h a r le s Tilly, W a r M a k i n g and State M a k i n g as O rg a n iz e d C rim e , in: B rin gin g the State
Back, hrsg. von P e t e r B. E v a n s u .a . ( C a m b r id g e 1986) 169-191.
51 Vgl. J o h n L y n c h , A rg e n tin e Dictator. J u a n M a n u el de Rosas 1829-1852 (O x fo rd 1981)
201 ff. Z u m Begrif f des S taatsterro rism u s vgl. P e t e r W a ld m a n n , Staatliche un d p arastaatlic he
G e w a lt in Latein a m erik a , in: L a tein a m erik a am Ende des 20. Ja h rh u n d e rts , hrsg. von D e t l e f
J u n k e r u.a. (M ü n c h e n 1994) 75 -103; D e t l e f N o lte, Staatsterro ris m u s: Begriffsbestim m un g
und A n a ly s ea n sä tze, in: L a te in a m e r ik a 6 (1989) 76 -8 0 ; V ig ilantism and the State in M o d e rn
L atin A m erica, hrsg. von M a rth a K. E lu g g in s ( N e w Y o rk 1991).
52 Vgl. R i c a r d o D. S a l v a t o r e , Los crím enes de los paisanos: un a apr ox im ación estadística, in:
A n u a r io IE H S 12 (1997) 91 -100.
53 U b e r Staat und Z ivilisierun g vgl. u.a. N o r b e r t Elias, U b e r den Pro zeß der Zivilisation,
Bd. 2 ( F ra n k fu rt a.M. 1979) 325 ff.; G o d f r i e d v a n B e n t h e m v a n d e n B e r g h , D y n a m i k von R ü ­
stu n g und Staatc n b ild u n g sp ro zc sse n , in: M a ch t un d Z ivilisatio n, hrsg. von P e t e r G l e i c h m a n n
u.a. ( F ra n k fu rt a.M . 1984) 2 1 7 - 2 4 1 ; R o b e r t M u c h e m b l e d , Elias und die neuere histo rische
F o rs ch u n g in Fran kreich, in: N o r b e r t Elias und die M ensch en w issen schaften, hrsg. von
K a r l - S i e g b e r t R e h b e r g ( F ra n k fu rt a.M . 1996) 2 7 5 -2 9 0 ; C h r i s t o p h Marx, Staat un d Zivilisa-
34
M ichael R ic k e n b c r g
dung der m a s h o r c a zwar vergleichsweise kalkuliert und nüchtern geplant, aber
ungesetzlich war. Im Landesinnern diente vor allem die Miliz staatlichen Bedrohungs- und Disziplinierungsabsichten. U m 1825 leisteten angeblich 10000
M ilizionäre im Innern der Provinz Buenos Aires Dienst, wobei die Gesamtbe­
völkerung damals bei ungefähr 65000 Menschen lag, so daß, stimmen die Zah­
len, ein sehr hoher Prozentsatz der erwachsenen männlichen Bevölkerung vom
M ilizdienst erfaßt war. Zwischen 1830 und 1850 verdoppelte sich die Bevölke­
rung im Innern der Provinz Buenos Aires, meist durch Migration aus anderen
Provinzen, und die Zahl der Ortschaften dort stieg von 20 im Jahr 1810 auf über
60 nach 1850. Dies trug entscheidend dazu bei, den Charakter der Frontier zu
verändern. Inwieweit die M iliz als Institut der Sozialdisziplinierung fungierte, ist
allerdings umstritten, weil Desertionen, Vermeidungsverhalten usw. offenbar
weiterhin verbreitet w aren54. Insgesamt beruhte die Stärke des Staates unter
Rosas jedenfalls, um eine Unterscheidung von Michael Mann aufzugreifen, eher
auf „despotischen“ Kapazitäten der Herrschaft, weniger auf „infrastrukturellen“
M itteln55.
4, Kontrafaktische Überlegungen
In Europa waren Kriege und Revolutionen nötig, um den modernen Staat und
eine dazugehörige politische Kultur durchzusetzen. Im Gebiet des heutigen A r ­
gentinien führten die sog. M airevolution von 1810 und der zwischenstaatliche
Krieg gegen Brasilien 1824-1826 dagegen zu anderen Ergebnissen. Die Staatsbil­
dung in der Provinz Buenos Aires nach 1820 läßt sich als eine vorübergehende
Ü berw indung des Staates von der Peripherie her lesen, ohne daß diese Betrach­
tung des Problems weniger plausibel wäre als die Gegenperspektive, die vom
„Zentrum“ ausgeht. Elemente einer politisch-militärischen Kultur, die im Ge­
w altm arkt funktional gewesen waren, wurden damit in den Staat verlagert, ver­
bargen sich in dessen formaler O rdnung und transformierten dessen ursprüngli-
tion, in: S a ec ulum 47 (1996) 2 8 2 - 2 9 9 ; W o l fg a n g j ä g e r , M cnsch en w issen sc h a ft und histo rische
S ozialw is sen sch aft. M ö g lic h k e ite n un d G ren zen d er R e z e p tio n von N o r b e r t Elias in der G e ­
schic htsw issenschaft, in: A rch iv für K ulturge sc hich te 77 (1995) 85 -117.
54 A llg e m e in vgl. W aldo A nsaldi, J o s é Luis M o r e n o , Estado y sociedad en el p en sam iento na­
cional (Bueno s A ires 1989); O. C a rlo s C a n s a n e llo , D o m ic ilia d o s y transeúntes en el proceso
de fo rm ació n estatal b on aerense ( 182 0-183 2), in: Entrepasados. R ev ista de H is to ria 6 (1994)
7-2 2 . E n ger z u r M iliz R i c a r d o D. S a l v a t o r e , R e c lu ta m ie n to militar, dis c ip lin a m ien to y prole tar ización en la era de R osas, in: B ole tín del Instituto de H is t o r ia A rgen tin a y A m e ric a n a 5
(1992) 25 -4 8 .
55 V gl. M i c h a e l M a n n , G esch ic hte der M a ch t, Bd. 1/2 ( F ra n k fu rt a.M , N e w Y o rk 1991).
Siehe z u m P ro blem d e r „ S tä rk e“ des Staates in L a tein a m erik a E v e l y n e H u b e r , A ssessm ents
of State Strength, in: La tin A m e r ic a in C o m p a ra t iv e Perspective. N e w A pp roac he s to
M e th o d s and A n a ly s is ( B o u ld e r 1995) 163-193, 168 ff.
D ie Pro vinz Buenos A ires 1775-18 50
35
che Prinzipien: „(i)ncorporatecl into states..., these mechanismens strike back and
outwit the state political culture.“56
Diese Kreolisation des Staates in der Provinz Buenos Aires im frühen 19. Ja h r ­
hundert reichte jedoch nicht so weit, daß es ein alternatives Projekt der Staatsbil­
dung gegeben hätte. Zwar nahmen die klientelaren Bindungen oder militärischen
Allianzen zwischen den kreolischen ■
w a r l o r d s und den Kaziken in der Frontier
nach 1820 mitunter beachtliche Ausmaße und Intensität an. Der argentinische
Historiker Raúl M andrini spricht von „politischen Zentren“ bzw. eigenständigen
politischen Apparaten, die unter der Kontrolle mächtiger Kaziken, die sich auf die
Kontrolle der Handelskreisläufe im G ewaltmarkt und auf klientelare Absprachen
stützten, m der Frontier entstanden seien. Bei Kristina Jones ist ähnlich von der
Bildung von „more hierarchical and military political formations“57 die Rede,
jedo ch waren die klientelaren Bindungen in der Frontier letztendlich wohl zu lose
und zu wenig dauerhaft58 sowie der G ewaltmarkt Frontier aufgrund kriegsbe­
dingter Krisen der Viehwirtschaft vermutlich auch zu anfällig, als daß diese B in­
dungen zum Kern eines anderen, neo-traditionalen Typs der Staatsbildung hätten
werden können. Ob die Akteure in der Frontier damals an so etwas überhaupt
dachten, ist ohnehin ungewiß.
Indem die Öffnung für den Weltmarkt der Vieh- wie Agrarwirtschaft am
La Plata im frühen 19. Jahrhundert gegenüber der Kolonialzeit ganz, neue Expan­
sionschancen eröffnete59, wurden die Erwerbsmöglichkeiten, die der G ew alt­
markt Frontier abwarf, im Vergleich zu den neuen Gewinnchancen der
Exportwirtschaft bedeutungslos. „Frontiers expanded or contracted in response
to external market dem an ds.. .“60, und dies w ar neben den veränderten politischen
Zwängen nach 1810 der Grund, warum auch die Schlüsselgruppen in der Frontier
begannen, eine neue H altung zum Staat einzunehmen und die „N ation“ gegen­
über den klientelaren Netzen im regionalen G ewaltm arkt zu favorisieren. 1833/34
begann Rosas, das Exterminierungskonzept, das bourbonische Beamte 1777 vor­
gedacht hatten, in Feldzügen in die südliche Pampa erstmals Gestalt annehmen zu
lassen. Damit w urde der Gewaltmarkt in der Frontier beseitigt, und die „N ation“
begann sich als Lösung der Staatskrise im heutigen A rgentinien zu etablieren. W i­
derstände dagegen, wie eine Rebellion in der Frontier im Süden 1837, in der sich
die alte Distanz lokaler Schlüsselgruppen und unzufriedener Viehfarmer gegen­
über dem Staat reproduzierte, schlug Rosas nieder. Jedoch handelte es sich bei die36 Skalnik, O u t w i t t i n g 13.
57 M a n d rin i, Las frontera s 32 f.; J o n e s , I n d ia n - C r c o le N ego tia tion s 110.
38 Zu der Frage, in w ie w e it auf „Zeit abgeschlo ssene B ü ndn isse von G rup p e n , die einige g e ­
m ein sam e Interessen h a b e n “, zu m „Kern von S ta ate n “ w e rd e n kö nn en , siehe bereits J o s e p h
R. S t m y e r , D ie m ittelalterlichen G ru n d la ge n des m od e rn e n Staates (K öln, W ie n 1975) 3 f.
>9 Vgl. H ild a S a b a to , A g ra ria n C a p ita lis m and the W o r ld M arket. Buen os A ires in the P a s to ­
ral A g e 1840-1890 ( A lb u q u e r q u e 1990) 41 f.
60 Alistair H e n n e s s y , T h e F ro n tier in Latin A m e ric a n H is t o r y (A lb u q u e r q u e 1978) 21; ferner
Tulio H a l p e r i n D o n g h i , L a expansió n de la frontera de B u en o s Aires, 1810-1852, in: Tierras
nuevas. E x pansió n territorial y ocup ación del suelo en A m érica, siglos X V I-X 1X (M éx ico
1969) 77-91.
36
M ic hael R ic k e n b e r g
ser „N ation“ zunächst bloß um ein Projekt, das die Auflösung des Gewaltmarkts
neben dem Staat, die Transformation der Frontier zur „Grenze“ und die Stigmati­
sierung vormals verbündeter Kaziken und Indiobevölkerungen zu ethnisch Frem ­
den, gar ethnischen Feinden vornahm61. Nationalistische Bewegungen, die den
Begriff der Nation mit anderem Inhalt füllten, entstanden in Argentinien wie in
den anderen Ländern Lateinamerikas erst sehr viel später, zu Beginn des 20. Ja h r ­
hunderts, und unter gänzlich anderen politischen Vorzeichen und mit anderer
sozialer R ückendeckung62.
61 Vgl. M i g u e l A. B a r t o l o m é , La desin d ia n iza e ió n de la A rg en tin a , in: B ole tín de A n t r o p o l o ­
gía A m e ric a n a 11 (1985) 39 -50.
62 Vgl. R o d o l f o S t a v e n h a g e n , C h a lle n g in g the N a tio n -S ta te in L atin A m eric a, in: J o u r n a l of
In ternatio nal Affairs 45 (1992) 42 1 -4 4 0 ; D a v i d B r a d i n g , N a tio n a lis m and S t a te -B u ild in g in
Latin A m e ric a n H isto ry , in: I b e ro -A m erik a n isc h es A rch iv 20 (1994) 83 -108.
§§
Hans Werner Tobler
Die Entwicklung des mexikanischen Staates
im 19. und 20. Jahrhundert
Der vorliegende Beitrag belaßt sich mit der E ntwicklung des postkolonialen Staa­
tes in Mexiko. Er orientiert sich deshalb nur partiell an dem vom Herausgeber die­
ses Bandes, Wolfgang Reinhard, vorgelegten, stark auf die koloniale Prägung der
außereuropäischen Staaten ausgerichteten allgemeinen Fragenraster. Die spätko­
lonialen Reformen des mexikanischen Staates und insbesondere die Form der Dekolonisation übten zwar einen nachhaltigen Einfluß auf die Staatsentwicklung
bzw. den Staatszerfall in den ersten Jahrzehnten nach der erlangten U nabhängig­
keit aus, im weiteren Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts waren es indessen z u ­
nehmend autochthone Kräfte sowie der wachsende Einfluß außenwirtschaftlicher
Faktoren, welche die besondere Entwicklung des mexikanischen Staates bestim m ­
ten.
Diese Entwicklung läßt sich in drei deutlich unterschiedliche Phasen gliedern.
Betrachtet man das Gewaltmonopol und die effektive Steuerhoheit als unver­
zichtbare M erkm ale des modernen Staates, so wird man in der ersten Phase von
der erlangten U nabhängigkeit von Spanien 1821 bis ins letzte Drittel bzw. Viertel
des 19. Jahrhunderts lediglich von Ansätzen eines solchen Staates sprechen kön­
nen. Zwischen den 1860er bzw. 1870er Jahren und dem Ausbruch der m exikani­
schen Revolution 1910/11 vermochte der mexikanische Staat - hier immer als
Zentral- bzw. Nationalstaat verstanden - in einem sich gegenseitig bedingenden
und verstärkenden Prozeß innermexikanischer Stabilisierung und durch das A us­
land induzierten Wirtschaftswachstums seine D urchsetzungsfähigkeit in adm ini­
strativer, polizeilicher und fiskalischer Hinsicht deutlich zu erhöhen und allm äh­
lich auf das ganze Staatsterritorium auszudehnen. Dennoch w ar auch dieser Staat,
wie sein rascher Zusammenbruch in der Anfangszeit der mexikanischen Revolu­
tion 1910/11 zeigen sollte, keineswegs so gefestigt, wie das Herrschaftssystem un ­
ter Porfirio Diaz (1876-1911) nach außen den Anschein zu erwecken suchte. Die
revolutionären Bürgerkriege im Jahrzehnt zwischen 1910 und 1920, welche die
dritte der hier erwähnten Phasen einleiteten, führten vorübergehend zw ar noch
einmal zu einem Wiederaufleben regionaler Machtbereiche und damit zu einer
kurzfristigen Schwächung des Zentralstaates, aber bereits in den 1920er Jahren
ging dieser gestärkt aus der politischen U m w älzun g der Revolution hervor. Nicht
38
Han s W er n e r Tobler
nur setzte sich die staatlich-administrative D urchdringung der Gesellschaft nun in
beschleunigter und intensivierter Form fort; der postrevolutionäre Staat verän­
derte auch seinen Charakter gegenüber dem vorrevolutionären politischen System
nachhaltig. Einerseits begnügte er sich nicht mehr mit der Schaffung günstiger
Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Wachstum, sondern versuchte - nicht
zuletzt unter dem Einfluß nationalistischer Strömungen, die durch die Revolution
Auftrieb erhalten hatten - selber zu einem wesentlichen Träger der wirtschaftli­
chen Entwicklung zu werden, andererseits gab er sich - im Rahmen eines fakti­
schen Einparteiensystems - eine neue - semikorporative - institutionelle Struktur.
I.
Die Independencia, die Unabhängigkeit M exikos von Spanien, bedeutete keines­
wegs einen scharfen Einschnitt in der politisch-gesellschaftlichen und wirtschaft­
lichen Entwicklung Neu-Spaniens bzw. M exikos seit dem späten 18. Jahrhundert.
Vielmehr bewirkte die Fortdauer kolonial geprägter Verhältnisse insbesondere m
der Gesellschaft, aber auch die Kontinuität gewisser Formen staatlicher O rganisa­
tion in den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeitsperiode eine ambivalente
Konstellation, die - verstärkt durch die langanhaltende wirtschaftliche Depres­
sion - maßgeblich zur chronischen Schwäche und Anfälligkeit des mexikanischen
Staates bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus beitrug.
Schon der Dekolonisation haftete in M exiko ein unverkennbar ambivalenter
Charakter an. Zwar entstand auch in Neu-Spanien eine kreolische Opposition ge­
gen die im späten 18. Jahrhundert im Zeichen der bourbonischen Reformen „mo­
dernisierte“ und im Interesse des Mutterlandes effizienter gestaltete Kolonialver­
waltung, welche die N utzun g der wirtschaftlichen Ressourcen nun nicht mehr an
Privatleute und Korporationen abtrat, sondern die Kontrolle und die N u tz n ie­
ßung der wichtigsten wirtschaftlichen Tätigkeiten unmittelbar selbst übernahm 1.
Der Verlauf der eigentlichen Dekolonisation unterschied sich allerdings deutlich
von jenem im spanischen Südamerika. Nach dem Ausbruch antispanischer A u f­
stände unter H idalgo und Morelos schlossen sich nämlich kreolische Elite und
kolonialspanische Verwaltung zur N iederschlagung dieser Bewegungen zusam ­
men, nachdem diese auch einen Sozialrevolutionären Anstrich anzunehmen be­
gannen. Die schließliche Erklärung der U nabhängigkeit Mexikos von Spanien
1821 erfolgte dann gleichsam unter reaktionären Vorzeichen, nämlich gegen die
1820 in Spanien in Kraft gesetzte liberale Verfassung von Cádiz, welche die Privi­
1 A le ja n d r a M o r e n o T o s ca n o , E n r iq u e F lo r e s ca n o , El Sector Extern o y la O rg a n iz a c ió n E sp a­
cial y R eg io n a l de M é x ic o ( 152 1-191 0), in: C o n t e m p o r a r y M e x ico , hrsg. v. J a m e s W. Wilkie
u. a. ( B e rk e le y 1976) 6 2 - 9 6 ; hier: 74, im fo lg enden zitiert: M o r e n o , F lo r es ca n o , Sector externo;
D a v i d A. B r a d i n g , G ob ie rn o v élite en el M é x ic o co lo nial d u ra n te el siglo X V III, in: H isto ria
M e x ic a n a 92 (1974) 61 1 -6 4 5 , im folg enden zitiert: B r a d i n g , G ob ie rno .
D ie E n t w ic k lu n g des m ex ik anischen Staates im 19. un d 20. J a h r h u n d e r t
39
legien sowohl der kreolischen Aristokratie als auch der katholischen Kirche be­
drohte.
Die Am bivalenz der Dekolonisation zeigte sich schließlich auch darin, daß nach dem kurzen Zwischenspiel einer unabhängigen Monarchie unter Iturbide die neue republikanische Verfassung von 1824 zw ar Prinzipien wie Repräsentati­
vität, Rechtsgleichheit und Meinungsfreiheit verkündete, die in der Kolonialzeit
wurzelnden Sonderrechte von Klerus und Armee aber fortbestanden. Den Indios
wurde z w ar die zivilrechtliche und politische Gleichstellung mit Spaniern und
Kreolen zugestanden, soweit sie in eigenständigen indianischen c o n m n i d a d e s leb­
ten, entzogen sie sich aber auch im 19. Jahrhundert weitgehend dem unm ittel­
baren Zugriff durch den mexikanischen Staat.
H erausragende M erkm ale des unabhängigen mexikanischen Zentralstaates w a ­
ren im ersten halben Jahrhundert seiner Existenz seine chronische innere Schwä­
che aufgrund der geringen territorialen Reichweite seiner tatsächlichen Durchset­
zung, die sich im wesentlichen auf das Gebiet um die Hauptstadt, die wichtigsten
Häfen und die Grenzzollposten beschränkte, die extreme finanzielle A bhängig­
keit vornehmlich von Zolleinnahmen und Darlehen von a g i ot i s ta s und schließlich
die Tatsache, daß der Staat in rascher Abfolge von sich gegenseitig befehdenden
Faktionen beherrscht, ja zu deren eigentlichen Beute wurde. Ganz allgemein
drückte sich diese Entwicklung darin aus, daß sich der Staat immer mehr in eine
Vielzahl lokaler und regionaler Machtbereiche auflöste.
A usdruck der extremen politischen Instabilität w ar die Tatsache, daß sich in
den ersten drei Jahrzehnten des unabhängigen M exiko, d.h. bis 1850, fünfzig ver­
schiedene, überwiegend aus Militärrevolten hervorgegangene Regierungen ablö­
sten, von denen nicht weniger als elf unter der Präsidentschaft des Generals A n to ­
nio Lopez de Santa Anna standen. A uch die starke Zunahme sozialer U nruhen von großen Regionalkonflikten w ie z.B. den „Kastenkriegen“ der Yaquis im N o r­
den und der Mayas im Süden bis hin zu lokalen Aufständen offensiver c a m p e s i n o s
- w ar gleichermaßen Ursache und Ausfluß der Schwäche des Zentralstaates, der
auch von außen zunehmend unter D ruck geriet. Zwar gelang es Mexiko Ende der
1820er Jahre, eine geplante spanische W iedereroberung zu verhindern, aber die
damit verbundene A usweisung der Europaspanier beraubte M exiko gleichzeitig
bedeutender Kapitalien, was die Handels- und Kapitalpenetration englischer,
französischer, deutscher und nordamerikanischer Kaufleute und Investoren ent­
scheidend begünstigte. In den 1830er Jahren spaltete sich Texas ab, und nach dem
verlorenen Krieg gegen die U SA von 1846 bis 1848 schien M exiko gar „dem linde
seiner staatlichen Existenz“ entgegenzugehen2.
Welches w aren die H auptgründe für diesen staatlichen Auflösungsprozeß, der
deutlich mit der relativen politischen Stabilität während der vorangegangenen Ko­
lonialperiode wie auch mit der unverkennbaren staatlichen Konsolidierung seit
1 W a lth er L. B e rn e ck er , R a y m o n d Th. B u v e , M e x ik o 1821-1900, in: H a n d b u c h d e r G e ­
schic hte L a tein a m erik a s 2 (Stu ttgart 1992) 49 8 -5 5 6 , hier: 508, im folgenden zitiert: B e r n e k ker, B u v e , M exiko.
40
Han s W ern er Tobler
dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, also unter der Herrschatt von Porfirio
Diaz, kontrastierte?
Zunächst entstand mit der Loslösung aus dem spanischen Reichsverband, d.h.
mit dem Fortfall des einigenden Bandes durch die spanische Krone, ein Legitim i­
tätsvakuum, das durch den neuen republikanischen Staat während langer Zeit
nicht aufgefüllt werden konnte. Nachdem sich während der U nabhängigkeitspe­
riode und in unmittelbarem Anschluß daran „alte Gewohnheiten zivilen G ehor­
sams und sozialer Ehrerbietung aufgelöst hatten, entstanden neue Bindungen von
Interesse und Loyalität nur äußerst langsam“3. Mit diesem Phänomen waren auch
andere Staaten nach dem Übergang von kolonialer Herrschaft zu postkolonialer
Eigenstaatlichkeit konfrontiert. Während aber z.B. in Nordam erika der U n ab ­
hängigkeitskrieg gegen England eine identitätsstiftende W irkung entfaltete und es
den Gründungsvätern der U SA mit der Verfassung von 1787 weitgehend gelang,
eine neue republikanische Legitimität zu begründen, als Voraussetzung für einen
im 19. Jahrhundert sowohl in der wirtschaftlichen Entwicklung als auch in der
territorialen Erschließung des Kontinents durchaus funktionalen und erfolgrei­
chen Staat, war in Mexiko das Gegenteil der Fall.
Dies rührte einerseits aus den Unterschieden der jeweiligen postkolonialen Eli­
ten her, andererseits aus den Besonderheiten des spanischen Kolonialsystems in
M exiko gegenüber dem britischen in N ordam erika und schließlich der durch die
Indepcndencia nicht grundlegend veränderten Sozialstruktur in M exiko, welche
die Fragmentierung der politischen Macht und die Entstehung lokaler und regio­
naler Machtbereiche begünstigte.
Ein G rundcharakteristikum der staatlichen Entwicklung Mexikos im 19. Ja h r­
hundert war die Tatsache, daß bis ins späte Porfiriat keine hegemoniale Schicht,
keine homogene gesellschaftliche Elite, kein schlagkräftiges Bündnis wirtschaftli­
cher Interessenvertreter existierte, welche willens und fähig gewesen wären, einen
neuen starken Staat im Dienste eines nationalen Entwicklungsprojektes aufzu­
bauen. Abgesehen von der Tatsache, daß zum Zeitpunkt der U nabhängigkeit „ein
Großteil der wirtschaftlichen, militärischen und administrativen Führungsposi­
tionen M exikos nach wie vor in spanischen H än den “ lag, fehlte z.B. auch w eitge­
hend eine Bourgeoisie von industriellen U nternehmern und Exportproduzenten,
die naturgemäß ein großes Interesse an der Errichtung eines starken, zentralisti­
schen Staates gehabt hätten4. Weder die noch vornehmlich für den lokalen M arkt
produzierenden und insofern weitgehend autarken Großgrundbesitzer und der
Klerus, der ungefähr die Hälfte des mexikanischen Bodens kontrollierte, noch die
Bergwerksunternehm er und Kaufleute „waren für längere Zeit allein in der Lage,
die Macht im Interesse einer einzigen gesellschaftlichen Schicht oder Gruppe aus­
zuüben“5.
B r a d i n g , G o b ie rn o 639.
4 B e r n e ck e r , B iiv e , M e x ik o 506; vgl. auch F r i e d r ic h K atz , D eu tsc h la n d, D ia z und die m e x ik a ­
nische R ev o lu tio n - Die d eu tsche Po litik in M e x ik o 1870-1920 (Berlin 1974) 30, im fo lge n ­
den zitiert: Katz, D eutschla n d.
3 B e r n e ck e r , B u v e , M e x ik o 498.
Die E n tw ic k lu n g des m exik anis chen Staates im 19. un d 20. Ja h rh u n d e rt
41
Diesen Vertretern der cl as es p r o d u c t i v a s stand zudem jene hauptsächlich städti­
sche Mittelschicht aus Advokaten, Journalisten, Kleinhändlern gegenüber, die
„Sprößlinge jener Klasse von Freiberuflern, die m die Politik sowohl aus innerer
Überzeugung drängten als auch im Bestreben, dort ein Vermögen zu machen“6.
Das „prekäre Gleichgewicht“ zwischen diesen beiden Gruppierungen, deren erste
„konservativen“ und deren zweite „liberalen“ Ideen zuneigte, bewirkte zwischen
1821 und 1857 „die extreme Schwäche sämtlicher Regierungen dieser Jahre, die
Abwesenheit einer starken Zentralgcwalt und den damit zusammenhängenden
Vormarsch lokaler Kräfte und Interessen“7.
Zu dieser ausgeprägten Heterogenität der postkolonialen Eliten gesellte sich cm
spezifisch spanischkoloniales Erbe, das der erfolgreichen Bildung eines N ational­
staates im frühen 19, Jahrhundert ebenfalls entgegenstand. Anders als m den w ei­
ßen Siedlungskolonien Britisch-Nordamerikas existierte in Neu-Spanien keine
politische Selbstverwaltung der Kolonialbevölkerung, die über die Beteiligung der
kreolischen Oberschicht an der Stadtverwaltung hinausging. Darüber hinaus u n ­
terschied sich das spanische Kolonialsystem in M exiko vom britischen durch die
ausgeprägte politische und wirtschaftliche Zentralisierung auf Mexiko-Stadt; eine
eigenständige, „gleichberechtigte“ Entwicklung der verschiedenen Regionen wie in den dreizehn nordamerikanischen Kolonien - hatte es deshalb in N eu-Sp a­
nien nicht gegeben.
Der Zusammenbruch des kolonialen Systems zentraler Kontrolle durch die
Hauptstadt bewirkte deshalb nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich eine
markante Tendenz zur Regionalisierung, indem z.B. neue - regionale - H andels­
wege über zuvor zweitrangige Häfen entstanden. „Lange behindert durch die
Hegemonie von Mexiko-Stadt, sprengten Städte und Distrikte die alten kolonia­
len Fesseln. Guadalajara benutzte nun Handelsrouten, welche die durch das M o ­
nopol der Hauptstadt geschützten lästigen Zwischenhändler umgingen. Die nörd­
lichen Staaten stellten engere Wirtschaftsbeziehungen mit dem Süden der USA
her. Silberproduzenten in Alamos reduzierten ihre Kosten, indem sie A usrü­
stungsgüter über den Hafen von Guaymas anstatt über das entfernte Acapulco
einführten, wie das in der Kolonialzeit vorgeschrieben war. Die Hafenstadt Tam­
pico bestand darauf, Einkünfte für sich zurückzubehalten, die in Veracruz sonst in
die Kasse des Bundesstaates gelangt w ären.“8
Diese Tendenz zur wirtschaftlichen Regionalisierung, der im politischen Be­
reich eine ausgeprägte Fragmentierung zentralstaatlicher Macht entsprach, wurde
schließlich durch die politisch-gesellschaftlichen Effekte der U nabhängigkeitsbe­
wegung, d.h. die in den ersten Jahrzehnten nach der Independencia endemischen
Konflikte zwischen rivalisierenden bewaffneten Verbänden, wie auch durch die
6 B ra d in g , G o b ie rn o 640.
' M o r e n o , l i o r e s e a n o , S ector externo 75.
8 P a u l J, V a n d e r w o o d , D is o rd e r and Progress. Bandits, Police, and M c xica n D evelo pm en t
(W ash in gto n 1992) 25, im folg enden zitiert: V a n d e r w o o d , D isorder; M o r e n o , F l o r e s a i n o , S ec­
tor externo 77.
42
H a n s W ern er Tobler
Existenz der in der ländlichen So zialstru ktu r w urzelnden privaten M achtdom ä­
nen, wie etwa der Hacienda, verstärkt.
Der Verlauf der Independencia hatte auch in Mexiko eine starke Militarisierung
der Politik bewirkt. Ehemalige Insurgentenführer wie auch ehemalige kreolische
Offiziere der loyalistischen Truppen stellten mit ihrem bewaffneten Anhang in
den ersten drei Jahrzehnten nach 1821 den wichtigsten - in sich allerdings chro­
nisch zerstrittenen - Machtfaktor im unabhängigen M exiko dar. W ährend es in
Neu-Spanien im Jah r 1800 eine Armee von 9000 Soldaten gegeben hatte, waren es
am Ende der Independencia 75000, eine Zahl, die unter Iturbide auf 16000 Solda­
ten zurückging, bis 1855 aber w iederum auf 64000 anschwoll9. Diese Armee w ar
zwar das wichtigste Instrument für eine gesteigerte soziale Mobilität, insbeson­
dere auch für Angehörige der mestizischen Mittelschicht, sie war gleichzeitig zusammen mit dem bis in die 1860er Jahre ebenfalls endemischen Banditismus aber auch die wichtigste Ursache für die extreme politische Instabilität und die
Situation nicht abreißender Bürgerkriege.
Bandenwesen - nach Paul Vanderwood übrigens vorwiegend bar jeder Hobsb aw m ’schen Konnotation des s o c i a l b a n d i t - und Armee standen zudem in vielfäl­
tigen Wechselbeziehungen: Zuweilen verbündeten sie sich, entlassene Soldaten
verwandelten sich oft in Banditen, und in kritischen Phasen schreckten selbst P o ­
litiker wie Benito Juárez nicht davor zurück, Banditenverbände in ihre „reguläre“
Armee auf zunehm en1°.
Einen einigenden Machtfaktor konnte eine solche, in sich zersplitterte Armee,
die keinerlei abstrakte Staatsloyalität kannte, natürlich nicht darstellen. Vielmehr
zeichneten sich die zahlreichen bewaffneten Verbände durch eine ausschließlich
personale, klientelistische Loyalität gegenüber ihrem jeweiligen j e f e aus, wie sie
für caudillistische Herrschaftsformen charakteristisch sind.
In der den ländlichen Bereich außerhalb der indianischen Dorfgemeinschaften
beherrschenden Institution der Hacienda mit ihren unzweideutigen inneren H ier­
archieverhältnissen fanden solche Personalbeziehungen einen idealen Nährboden,
was sich auch darin ausdrückte, daß es oft Großgrundbesitzer waren, die mit
Hilfe ihrer Privatarmeen aus bewaffneten Landarbeitern und Pächtern ihrer G ü ­
ter zu lokalen c a c i q u e s oder gar regionalen c a u d i l l o s aufstiegen11. Vielfach begnüg­
ten sie sich mit der Kontrolle ihres begrenzten Machtbereichs, zuweilen griffen sie
aber auch in die Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Hauptstadt (und da­
mit des Zentralstaates) ein.
Die für die Arm ee - sowohl für die „regulären“, d.h. durch die jeweilige R egie­
rung „kontrollierten“, wie auch für die sich dieser Kontrolle entziehenden be­
waffneten Verbände, die beide ja auch sehr rasch die Seiten wechseln konnten charakteristischen personalen Gefolgschaftsverhältnisse galten in hohem Maße
9 V a n d er w o o d , D is o rd e r 30.
10 Vanderwood, Disorder.
11 P e t e r W a ld m a n n , C a u d illis m o als K onstante d er p olitisch en K u ltu r L a tein a m erik a s? , in:
G ew a lt in L a tein a m erik a , hrsg. v. P e t e r W a ld m a n n (K öln, W ie n 1978) 191-206; M o r e n o ,
F lo r es ca n o , Sector externo 82-84.
Die E n t w ic k lu n g des m ex ik a n isc h e n Staates im 19. und 20. J a h r h u n d e r t
43
auch für die entstehende Beamtenschaft. Diese rekrutierte sich sozial - nach der
Charakterisierung durch Francisco Bulnes - aus dem „städtischen intellektuellen
Proletariat“, dessen Schicksal untrennbar mit jenem der jeweils den Staat beherr­
schenden politischen Clique verbunden w a r 12. Da die Beamten bei jedem Regie­
rungssturz ebenfalls ausgewechselt wurden, konnten keine von den politischen
Faktionen unabhängige, lediglich dem Staat als solchem verpflichtete Bürokratien
entstehen13.
Was Inge Buisson für die postkoloniale Staatenbildung im spanischen Südam e­
rika festgestellt hat, gilt deshalb uneingeschränkt auch für den nachkolonialen
Staat in M exiko bis weit ins 19., ja in mancher Hinsicht bis ins 20. Jahrhundert:
Sowohl in der Armee als auch in der Bürokratie wird man vergeblich „nach einer
Einstellung suchen, die - nach den Worten Max Webers - dem Staat gegenüber auf
der Dienstpflicht beruht für einen sachlichen, unpersönlichen Zweck und der
Obödienz gegenüber abstrakten N o rm en “ 14.
Wie schon angedeutet, zeichnete sich der Zentralstaat nicht nur durch seine ter­
ritorial, politisch-administrativ und wirtschaftspolitisch äußerst begrenzte R eich­
weite aus, sondern ebenso durch seine finanzielle Auszehrung und seine fiskali­
sche Impotenz gegenüber den Einzelstaaten, genossen die Gliedstaaten doch
„steuerpolitisch nahezu unbeschränkte A uton o m ien “ 13. Der Zentralstaat w ar
deshalb in erster Linie auf die Zolleinnahmen angewiesen, die zwischen 60% und
70% seiner gesamten Einkünfte ausmachten. Da diese aber angesichts der chroni­
schen politischen Wirren, d. h. der keineswegs dauerhaft gesicherten Kontrolle der
wichtigsten Häfen durch die Regierung, sehr unregelm äßig eingingen, konnte der
Finanzbedarf des Staates nur durch Darlehen und Vorschüsse seitens Privater,
insbesondere auch ausländischer ag io t is t as , gedeckt werden. Sowohl die A bhän­
gigkeit von Außenhandelszöllen als auch von ausländischen Geldgebern zeigt im
übrigen drastisch die A bhängigkeit des neuen Staates von externen Faktoren auf16.
Wie angedeutet, stand M exiko um die M itte des 19. Jahrhunderts - nach dem
verlorenen Krieg gegen die U SA und um mehr als die Hälfte seines ursprüngli­
chen Staatsterritoriums amputiert - am Rande seiner staatlichen Auflösung. Diese
nationale Existenzkrise begünstigte nun allerdings eine Entwicklung, die - z u ­
nächst auf der Ebene eines liberalen Programms, d.h. der neuen Bundesverfassung
von 1857, seit der zweiten Hälfte der 1860er Jahre dann zunehmend auch in der
politisch-gesellschaftlichen Realität - den Boden für ein Wiedererstarken des N a­
tionalstaates legte. Im Sommer 1855 gelang es nämlich den Liberalen, den Gene­
ral-Präsidenten Santa Anna, den wichtigsten Exponenten des bisherigen Regimes,
12 B r a d i n g , G o b ie rn o 640.
13 L a u re n s B. P erry, El m ode lo liberal y la polític a p ráctic a en la R ep ú b lic a restaurada, in:
H is to ria M e x ic a n a 92 (1974) 6 4 6 -6 9 9 , hier: 656 f., im folg enden zitiert: P erry , M o d e lo liberal.
14 I n g e B uisson, P ro b lem e der S ta ate n b ild u n g im spanischen S ü d a m erik a , in: S ta ate n b ildu n g
in Ü b ersee. D ie Staate n w e lt Lateinamerikas und A sien s, hrsg. v. J ü r g e n E lvert, M i c h a e l
Sale-wski (S tu ttgart 1992) 11 —19, hier: 18.
15 B e r n e ck e r , Btive, M e x ik o 518.
16 M o r e n o , F lo r es ca n o , Sector externo 80.
44
H a n s W ern er Tobler
zu stürzen und die G ru n d lag e für eine „ R e f o rm “ ( R e f o r m a ) der p olitischen und
gesellschaftlichen so w ie (üb er das D e sam o rtisatio n sge se tz ) z.T. auch der w i r t ­
schaftlichen V erhältnisse zu schaffen.
Die am a m e rik an isc h en Vorbild orien tierte Verfassung von 1857 v eran k erte das
allgem ein e m än n lich e W ahlrecht, g e w äh rte die b ürgerlich en Rechte, an erk an n te
W irtsch afts-, A rb eits- und V erein igun gsfreiheit und erklärte den Staat z u r R e p u ­
blik m it r e p räse n tativ -d e m o k ra tisc h em A ufb au u n d fö deralistisch er Struktur.
Kirche und A r m e e verlo ren ihre aus d er K o lo n ialze it stam m e n d e n So n derrechte,
der u m fan greich e k irch lich e G ru n d b esitz sollte aufgeteilt und m it der gle ic h z e iti­
gen A u fh e b u n g des k o rp o rativ en G r u n d e ig e n tu m s der in dianisch en D o r fg e m e in ­
schaften sollte eine w e itere in te rm ed iäre G e w a lt beseitigt und die Indios als in d i­
v id uelle Staatsb ü rge r der u n m itte lb are n K o ntro lle d u rc h den Staat un terw o rfen
w erd en. A b gesehen davon , daß z .B . m it der D e sam o rtisatio n der K irch eng üter
die von den lib eralen T h e o re tik e r n a n gestreb ten gesellschaftlichen u n d w ir tsc h a ft­
lichen Ziele, d. h. die so ziale V erb reiterun g d er G r u n d b esitze rsc h ic h t u n d die E n t­
steh u n g einer d y n a m isc h e n Klasse m ittlerer L a n d w ir te , im w esen tlich en nicht e r ­
reicht w u rd e n und daß die gesetzlich vorge sc h rie b e n e In d iv id u alisieru n g b ä u e r li­
chen G e m e in b e sitz e s w ä h r e n d Jah rz e h n te n auf den h in h alten d e n W iderstan d der
D o rfgem ein schaften stoßen sollte, blieben auch die p olitischen Ziele d e r Verfas­
sun g von 1857 für ein volles J a h rz e h n t ohne effektive W ir k u n g auf natio n aler
Ebene. Die an tik le rik ale n M a ß n a h m e n der Lib eralen riefen n äm lich den e rb itte r­
ten W id e rsta n d d er k ath o lisch en K irche und der m it ihr v erb ü n d e ten k o n se rv ati­
ven Kräfte hervor u n d stürzten M e x ik o in einen neuen, z eh n jäh rigen , äußerst
w ech selv o llen B ü rg erk rie g , der erst 1867 - nach einer 1861/62 erfolgten In te rv en ­
tion fran z ö sisch er T rup p en und der E rrich tu n g eines K aiserreichs un ter dem
österreich ischen E rz h e rz o g M a x im ilia n , einer M o n a rc h ie von N ap o leo n s G n aden
- mit dem e n d g ü ltig e n Sieg der lib eralen A rm e e n , die „als n atio n ale B efreier
sch ließlich nah ezu alle politischen G ru p p en u n d B ev ö lk e ru n gssc h ic h ten hatten
m o b ilisieren k ö n n e n “, ein E nde fa n d 17.
II.
W ie einleitend an ged eutet, läßt sich z w isc h e n den späten 1860er J a h re n und dem
A u sb r u c h d er R e v o lu tio n von 1910 ein allm äh lich es E rstarken des N atio n alstaates
beob ach ten , das auf einer engen W e c h s e lw ir k u n g von politisch-gesellsch aftlich er
S tab ilisieru n g im Innern und dem (d ad u rch b egü n stigte n ) Einsetzen eines vorab
durch A u slan d sin v estitio n e n in d u z ie rten w irtsch aftlich en W ach stum s b eruhte,
das dem m e x ik a n isc h e n Staat ü b e rh au p t erst die n o tw e n d ig en M ittel z u m A u sb au
seiner V e rw a ltu n g und seiner O r d n u n g s k r ä fte zufließen ließ. D ie w ich tigsten
F ak to re n dieser E n tw ic k lu n g seien im fo lgenden k u rz um rissen.
17 B e rn e ck er , B u v e , M e x i k o 513.
Die E n t w ic k lu n g des m ex ik a n isc h e n Staates im 19. und 20. Ja h r h u n d e r t
45
Schon in der Zeit der so genan n ten r e p ú b l i c a r e s t a u r a d a (18 6 7 -1 8 7 6 ), d. h. unter
den R e g ie r u n g e n der liberalen R e fo rm p räsid e n te n Benito J u á r e z und Sebastián
L e rd o de Tejada, zeigte sich die D isk re p an z z w isc h en liberalem R e fo rm p ro je k t
und p o litisch -gesellsch aftlich er Realität deutlic h , im staatlichen Bereich äußerte
sich diese z. B. in der taktischen B e d e u tu n g slo sig k e it von W ahlen und in der Tat­
sache, daß die P räsiden ten die ko n stitutio n ellen E in sc h rä n k u n ge n ih rer K o m p e ­
tenzen d u rc h häufige Su spen sio n der v erfassun gsm äß igen G ru n d rec h te und die
In an sp ru ch n ah m e a u ß e ro rd e n tlic h e r Vollm achten in den B ereichen Staatsfin an ­
zen und M ilitä r zu üb erspielen s u c h te n 18. Ziel dieser P o litik w ar die w ir k s a m e B e­
k ä m p fu n g des im Gefolge der B ü rg e r k rie g e und der französischen Intervention
erneut stark a n g esc h w o lle n e n B anden w esen s, die N ie d e rsc h la g u n g häufiger A u f ­
stände e h em alige r liberaler G eneräle, die nach 1867 bei der Verteilung e in flu ß re i­
c h er P ositio nen und lu k rativ e r P frü n d en zu k u r z g e k o m m en waren, u n d sc h lie ß ­
lich der V ersuch, den im Verlauf u n d im Gefolge d e r B ü rg erk rie g e erneut e r sta r k ­
ten region alen c a u d i l l i s m o u n ter K o ntro lle zu bringen.
M it diesen P ro b le m en , insbeso n dere d er B an d ite n b e k äm p fu n g u n d der K o n ­
trolle regio n aler c a u d i l l os , blieb in der ersten H älfte seiner H errsc h aftsz e it auch
d er 1876 an der Sp itze eines A ufstan des u n z u frie d e n e r T ruppenteile an die M a c h t
gelan gte eh em alige General P orfirio D íaz (P räsid en t z w isc h e n 1876 und 1880 und
w ie d e r u m u n u n terb ro ch e n z w isc h e n 1884 und 1911) kon fron tiert. D ie B a n d ite n ­
b e k äm p fu n g w a r ein w ic h tig e r Sch ritt z u r an gestreb ten gesellschaftlichen P a z ifi­
z ie r u n g des Landes, die K ontrolle region aler c a u d i l l o s sollte den u n m ittelb aren
E influß des Zentralstaates allm äh lich auf das gan z e S taatste rrito riu m ausdehnen.
Z u r B ek ä m p fu n g des B an d e n w e se n s griff D íaz auf ein In strum en t z u r ü c k , das
1861 bereits u n ter B en ito J u á r e z geschaffen w o r d e n war, die nationale L a n d g e n ­
darm e rie der rurales. U n te r J u á r e z w are n es oft eh em alige B anditen gew esen , die
in das neue E liteko rp s d er berittenen L an d p o liz e i au fgen o m m e n w u rd e n . U n te r
D íaz b egann sich die L au fbah n d e r r u r a l e s zu p ro fessio nalisieren , w o b ei es alle r­
d in gs entgegen früh eren Vorstellungen w e n ig e r v a q u e r o s aus dem N o r d e n w aren ,
w elch e in das K orps d er r u r a le s eintraten als v ie lm e h r c a m p e s i n o s u n d H a n d w e r ­
k er aus Z e n t ra lm e x ik o 19.
Die r u r a l e s - hoch zu R o ß, m it den m o dern sten Waffen au sgerüstet u n d in im ­
posante U n if o rm e n g ek leid et - w u rd e n zu n äch st z w a r tatsächlich vor allem gegen
die B an diten eingesetzt, im Verlauf des späteren P orfiriats ab er z u n e h m e n d auch
gegen b äuerlich e R ev olten und A rb eite rstreik s. Das neue, d ir e k t der B u n d e sr e g ie ­
ru n g un terstellte Korps d e r beritten en L a n d p o liz e i trug s o w o h l in M e x ik o selbst,
w ie vor allem auch bei auslän d isch en B eo b achtern viel z u m E in d ru c k von einer
rasch v oran schreiten den gesellschaftlichen P a z ifiz ie ru n g des län dlich en M ex ik o
w äh re n d des P orfiriats bei.
Tatsächlich spiegelt sich allerdin gs auch in dieser Institution die für das porfiristische H e rrsc h aftssy ste m in sgesam t c h arak teristisch e D isk re p an z z w isc h e n autois p e r r y ) M o d elo liberal 64 9 -6 5 2 , 664.
19 V a n d c r w o o d , D is o rd e r 101-117.
46
H a n s W ern er Tobler
ritärem A n s p ru c h u n d nach w ie vor v o rh an d en er S ch w äc h e d eutlich wider. Bei
allem äußeren Im p o n ie rge h a b e d er r u r a l e s kam en diese dem B an d e n w e sen n ä m ­
lich n u r u n z u lä n g lic h bei, w o v o n nicht z u le tz t d rak o n isch e G esetze der 1860er
und 1870er Jah re, nach w e lch en B an diten ohne G erich tsverfahren auf der Stelle
erschossen w e rd e n d urften , Z eugnis ab le gen 20.
A u c h hinsich tlich d er P ro fession alität des h och gelo b ten E liteko rp s sind a u f ­
gru n d von V an d e rw o o d s F o rsc h u n ge n Z w eifel an gebracht: „D esertionen, In su b ­
o rd in atio n und verb reitete T ru n k e n h e it p rä gte n die O rg an isatio n und verstärkten
sich im letzten Ja h rz e h n t des P orfiriats so g ar n o c h .“ Viele r u r a le s endeten „in der
R o u tin e eines statio n ären P o liz e ip o s te n s ... O b w o h l sie den A n sch ein m achten,
üb erall zu sein, w a r e n ihre Bestände relativ klein, un ge fäh r 2000, und die m eisten
w are n u m die H a u p tsta d t h e ru m k o n z e n t r ie r t .“21
N e b en gew issen Erfolgen auf dem G ebiet der gesellschaftlichen P a zifiz ieru n g
äußerte sich die K o n so lid ieru n g des N atio n alstaates u n ter Porfirio D íaz v o r allem
in der w ac h se n d e n K o ntro lle der region alen M ach tb ereich e, der c a c i c a z g o s , durch
die Z en tralregieru n g . A u c h diese region alen M a c h tb ere ich e hatten w äh re n d und
im G efolge d e r B ü rg e rk rie g e der 1850er und 60er J a h re erneut an S tärk e g e w o n ­
nen. C h a ra k te ristisc h für das suk z essiv e E in d rin ge n des Z entralstaates in die
M a c h td o m ä n e n re gio n ale r E liten w a r allerdin gs n icht eine gleichsam m e c h an i­
sche, a p erso n ale M a c h ta u sd e h n u n g der natio n alen E xek utive, als v ielm e h r ein auf
d er p e rso n alen E bene z w isc h e n dem P räsiden ten und den regio n ale n c a u d i l l o s
au sg e h an d e lte r K o m p ro m iß , eine n e g o c i a c i ó n z w isc h e n n atio n alen un d region alen
M ach th ab ern . In gew issen F ällen gelan g es D ía z zwar, eigenstän dige c a c i c a z g o s zu
v ern ichten , ty p isc h er w a r allerdin gs je n e r V o rgang d e r E in b in d u n g region aler
c a u d i l l o s in das „nationale S y s t e m “, d e r d arau f beruhte, daß sich region ale M a c h t ­
h aber - gegen w e itg eh e n d e A n e rk e n n u n g ih re r P osition in d e r von ihnen k o n t r o l­
lierten R e g io n - auf die E in h altu n g politischer L o y a litä t g eg e n ü b er D íaz v er­
pflichteten.
D iese P o litik des P räsiden ten g e g e n ü b er den region alen M a c h th ab e rn w a r A u s ­
fluß einer u m fassen deren „ K o n z iliatio n sstrate g ie“, m it der D íaz in den ersten J a h ­
ren seiner H e rrsc h aft die gesellschaftliche Basis seines R egim es zu verb reitern
trachtete. Sie w a r „ d arau f ausgerichtet, einerseits die u n z u frie d e n e n F ak tio n e n in ­
nerh alb des lib eralen L agers, andererseits auch die nach 1867 ausgesch alteten k o n ­
servativen Kräfte in sbeso n dere d er K irche, d e r L an d aristo k ratie , der M ilitärs usw.
an das n eue R e g im e zu b inden , sei es, daß z .B . die a n tik le rik ale n V erfassun gsbe­
stim m u n g e n z w a r nicht aufgeh o ben , aber z u n eh m e n d lascher a n g e w a n d t w u rd e n
oder daß den alten K o nservativen n icht n u r ihr E ig en tum geschü tzt, so n d ern auch
w ie d e r w a c h se n d e r p o litisc h e r E influß e in g eräu m t w u r d e “22.
20 V a n d e r w o o d , D is o rd e r xiv.
21 V a n d e r w o o d , D is o rd e r xxxiv.
12 H a n s W e r n e r Tobler, D ie m ex ik a n isc h e R ev o lu tio n . G esellschaftlicher W andel und p o lit i­
scher U m b r u c h , 1876-1940 ( F ra n k fu rt 1984) 43, im fo lg end en zitiert: Tobler, M e x ik a n isc h e
R evolu tio n.
Die E n t w ic k lu n g des m ex ik anischen Staates im 19. und 20. J a h r h u n d e r t
47
Die bis in die 1890er Ja h re fo rtschreiten de K o n so lid ie ru n g des Zentralstaates,
die sich nicht n u r in der A u s d e h n u n g seiner territo rialen R e ich w e ite , so ndern vor
allem auch in d e r V erstärk un g seiner ad m in istrative n D u rc h setz u n g sfäh ig k e it z JB. ü b er die v o r den G o u v ern e u re n ernan n ten j e f e s p o lí t i c o s , d. h. D is trik tv o r s te ­
her, denen in ih rem V e rw altu n g sb e z irk p ra k tisch säm tlich e ad m in istrative n A u f ­
gaben von d er A u fre c h te rh altu n g von R u h e und O r d n u n g bis z u m S te u erein z u g
übertragen w are n - äußerte, ist allerdin gs aus einer aussch ließlich p olitisch en P e r ­
s p e k tiv e nicht v erstän dlich . V ielm eh r m uß für eine befriedigende E rk läru n g dieses
Prozesses auf F akto ren d e r w irtsch aftlich en E n tw ic k lu n g u n d ih rer p rim ä r e x te r­
nen B e stim m u n gsfak to ren , des d am it v erb u n d en e n In fra stru k tu rau sb au s und der
dadurch b e w irk te n V eränderun gen in nerh alb d e r m ex ikanisch en Elite z u r ü c k ­
gegriffen w erd en.
Seit den 1880er J a h re n setzte in M e x ik o eine b e sch leun igte w irtsch aftlich e M o ­
dernisierun g ein, die in sbeso n dere d u rc h das m assive E in ström en von A u s la n d s ­
kapital ausgelöst w u rd e , das z w isc h en 1884 und 1911 von 110 M illio n en Pesos auf
3,4 M illiard e n Pesos anstieg. B ergb au un d E rd ö lfö rd e ru n g , E xpo rtlan dw irtsch aft,
B ankw esen und verarb eiten de In dustrie erhielten in diesen J a h rz e h n te n starke
W ach stum sim p ulse. B egleitet un d in h o h em M a ß e getragen w a r der w ir tsc h a ftli­
che A u f s c h w u n g von dem ebenfalls ü b e r w ie g e n d v om A u slan d sk ap ital in d u z ie r ­
ten A u sb au der In frastruktur, w ie der M o d e r n is ie r u n g d e r H äfen , der E rrichtun g
eines m o dern en K o m m u n ik a tio n ssy ste m s (Telegraf) un d in sbeso n dere des Baus
von E isenbahnlinien, w e lc h e das Z en tru m des L an des m it dem w ic h tig ste n A u s ­
fuhrhafen V e racru z und den U S A v erb an d e n 23.
A bgesehen d avon , daß die neuen E is e n b ah n v e rb in d u n g en un d K o m m u n ik a t i­
onsmittel die verstärkte K o ntro lle d e r B u n d e sr e g ie ru n g ü b er die S taatsg o u v er­
neure u n d die j e f e s p o l í t i c o s ü b e rh au p t erst m ö glich m ach ten , b e w irk te n sie vor
allem eine verstärkte in ternatio n ale A u s r ic h tu n g der m ex ika n isc h e n V o lk s w irt­
schaft un d n icht z u le tz t die E ntsteh un g eines natio n alen M ark te s. B eide F akto ren
hatten n ach h altige A u s w ir k u n g e n auf das V erhalten der region alen M a c h tg ru p p e n
und auf die E ntsteh un g einer neuen Elite mit z u n eh m e n d nicht m eh r n u r r e g io n a ­
len, sondern natio n alen Interessen un d v erm e h rt k o sm o p o litisch er A u sric h tu n g .
D urch diese E n tw ic k lu n g w u r d e d er p olitische M ac h tan sp ru ch der Z en tral­
regierung auch w irtsch aftlich ab gestü tzt un d b e gan n der W id erstan d der R e g io n a l­
eliten b e id e r V erte id igun g ih rer w irtsch aftlich en u n d fiskalischen Son derin teressen
in den 1890er J a h re n sp ü rb a r a b zu b rö c k e ln . In jen e m Ja h rz e h n t w u r d e n die B in ­
nenzölle aufgeh o ben u n d 1895 eine Verf assu n g sä n d e ru n g eingefü hrt, w elch e es den
Gliedstaaten v erb o t, „ M ü n z e n zu p rägen , P apiergeld au sz u ge b e n , den Transit von
Personen und H a n d e lsg ü te rn zu regulieren und Steuern auf den K o n su m u n d den
Handel n atio n aler und au slän d isc h er G ü ter zu e rh e b e n “24.
2~
’ Tobler, M e xika n isc h e R ev o lu tio n 49 -67.
24 Marcello C a r m a g n a n i , T erritorialid ad y federalism o en la fo rm ació n del Estado mexic ano,
in: Problem as de la form ació n del Estado y de la N a c ió n en H isp a n o a m é ric a , hrsg. v. I n g e
Buisson u.a. (B on n 1984) 28 9 -3 0 4 , hier: 301, im fo lgend en zitiert: C a r m a g n a n i , T e rrito ria li­
dad.
48
Han s W ern er Toblcr
N ach C a r m a g n a n i w a r es letztlich die „z u n eh m en d e K o m m erz ialisieru n g der
m ex ika n isc h e n W irtsch alt und die d am it verb u n d e n e Ü b e r w in d u n g region aler
M ärk te , w elch e die E n tw ic k lu n g n euer F u n k tio n e n des Z entralstaates b e g ü n ­
stig te.“ D ie Ü b e r w in d u n g einer stän d isc h -territo rial fragm entierten O r d n u n g am
Ende des 19. J a h rh u n d e rts en tsp ran g in M e x ik o deshalb „im U n tersch ied zu g e ­
w issen eu ro p äisc h en Gebieten stärk e r d er E n tw ic k lu n g der diesem Vorgang z u ­
gru n d e liegenden w irtsch aftlich en Verhältnisse, in sbeso n dere der Entstehung
eines n atio n ale n M ark te s, als einem P ro z e ß staatlich er D isz ip lin ie ru n g “2-''.
V e rkö rp ert w u rd e die aus dieser E n tw ic k lu n g h erv o rge gan ge n e neue Elite
durch jene tech n ok ratisch o rien tierte F ü h ru n gssc h ic h t, die c ient ífic os, auf die sich
P orfirio Díaz in der z w eite n H älfte seiner H errsch aft z u n eh m e n d stützte. Die
c i e n t í f i c o s b ildeten den Kern der neuen O b ersch ich t, deren breit gefächerte w i r t ­
schaftliche Interessen und - d am it verb u n d e n e - politische P ersp ektiven die r e g io ­
nalen D im e n sio n e n der trad itio n e llen g ru n d b esitze n d e n O lig arch ie sprengten.
F ü r diese k o sm o p o litisc h o rien tierte neue F ü h ru n gssc h ic h t w a r die an gestreb te
w irtsch aftlich e E n t w ic k lu n g des L andes n u r m it H ilfe des A u sla n d sk a p ita ls d e n k ­
bar, w o b e i sie selber häufig als V erm ittler z w isc h e n den auslän disch en U n t e rn e h ­
men u n d d er m ex ikanisch en R e g ie r u n g fungierte, insbeso n dere auch als A u f ­
sichtsräte d er gro ß en , meist eu ro p äisc h e n F irm e n 26.
N ach J u a n Felipe Leal hatte die vo rn e h m lic h a u ß e n b estim m te w irtsch aftlich e
E n t w ic k lu n g im späten P orfiriat auch nachh altige A u s w ir k u n g e n auf den m e x ik a ­
n ischen Staat: „Die Tatsache, daß die h e gem o n iale F ra k tio n d er M ach te lite au slä n ­
discher H e r k u n ft w a r und sie deshalb ih re E ntscheidun gszentren au ß e rh alb des
L an des hatte, m achte die E xistenz einer politischen Szene, d .h . p olitischer P a r ­
teien u n d eines f u n k tio n ie re n d en K ongresses, überflüssig. Deshalb w ir k te sich ihr
D r u c k nicht z u gu n sten eines p arlam en tarisch e n R e gim e s als v ielm eh r in R ic h tu n g
auf die D ik ta tu r der E xekutive aus, d u rc h w elc h e sie ihre Interessen w ah rn a h m .
D ad u rc h w u rd e n z w a r die auto ritären Z üge des lib eral-o ligarc h isc h e n Staates a k ­
z en tuiert, g leic h z eitig aber der N atio n alstaat ge stä rk t.“27
So sehr d e r Staat - und in sbeso n dere d e r Zentralstaat - u n ter P orfirio D ía z also
an S tärke und D u rc h se tz u n g sfäh ig k e it g e g e n ü b er lo kalen und region alen In teres­
sen g e w an n , so gering blieb allerdin gs angesichts des Fehlens von P arteien und
V erbänden u n d angesichts der S c h w äc h e des Kongresses und der J u d ik a tiv e g e ­
g e n ü b er d e r R e g ie r u n g die In stitu tio n alisie ru n g des porfiristisch en R egim es. D ie ­
ses w a r v ielm e h r ga n z auf die P erso n von P orfirio D íaz und seine F äh ig k e it a u s ­
gerichtet, als oberster S ch iedsrich ter z w isc h en rivalisieren den E litefrak tion en zu
fungieren. Solange D íaz diese A u fgab e w a h rn e h m e n kon n te, w ar die p olitische
Stabilität ge w äh rleiste t. Als er gegen E nde seiner D ik ta t u r dieser F u n k tio n im m e r
25 C a r m a g n a n i, Territorialidad 302.
1,1 Kat/., D eu tschlan d 36 -46.
17 J u a n F elip e Leal, El Estado y el b lo q u e en el p o d e r en M éxico, 1867-1914, in: H isto ria
M e xican a 92 (1974) 70 0-721 , hier 714.
Die E n tw ic k lu n g des m ex ik anischen Staates im 19. und 20. J a h r h u n d e r t
49
w en ige r gerecht w u rd e , trug die m an gelnd e p olitische In stitu tio n alisie ru n g der
p o rh ristisch en H errsch aft m aßgeb lich zu deren Ende bei.
A n ders als in den übrigen latein am erikan isch en Staaten jener Zeit bedeutete in
M e x ik o der Stu rz des über ac h tz igjä h rige n D iaz im J ah re 1911 allerdin gs nicht
einfach das Ende einer lan gleb igen D iktatur, so n d e rn m ark ierte den A n fan g eines
u-ewaltsamen U m b ru c h s, der w ä h r e n d der z eh n jäh rige n m ex ikanisch en R e v o ­
lution z w isc h e n 1910 und 1920 weit über einen rein politischen R egrm ew echsel
h inausgin g und Z üge einer breit ab gestü tzten gesellschaftlichen R e v o lu tio n a n ­
nahm.
III.
Die in sich vielfältig v erflochtenen p olitischen, gesellschaftlichen und w ir tsc h a ft­
lichen U rsach en dieser U m w ä l z u n g w ie auch die b edeu tsam en externen Einflüsse
auf A u sb ru ch und Verlauf der m e x ikan isc h e n R e v o lu tio n k önnen an dieser Stelle
nicht referiert w e rd e n ; lediglich einige S tic h w o rte seien dazu an gefü h rt28. D ie R e ­
v olution hatte z w e i H au p tz e n tre n , den N o rd en und den Süden, die auch politisch
und gesellschaftlich u n tersch ied lich e R ev o lu tio n sb e w e g u n g en h erv o rbrachten.
W ä h re n d im N o r d e n p olitisch u n z u frie d e n e A n g e h ö r ig e d er M ittelsch ich t
H au p tträg e r d er bew affneten A u tsta n d sb e w e g u n g e n w u rd e n , bildeten im Süden
K leinbauern, die sich gegen die E x pan sio nsten den zen des G r o ß g ru n d b e sitz e s
wehrten, das G ros der R e v o lu tio n sb ew eg u n g .
N ach d em sich diese beiden R e v o lu tio n sflü ge l zu n äc h st im Kampf gegen D iaz
und seinen N ac h fo lg e r H u er ta erfolgreich v erb ü n d e t und diese gestü rz t hatten,
kam es schon 1915/16 zu einem nicht m in d er heftigen B ü rg e r k rie g z w isc h en d ie ­
sen R ev o lu tio n sfrak tio n e n , d er 1917 mit dem Sieg des n örd lich en R ev o lu tio n s­
flügels endete.
W esentlich im v orliegenden Z u sam m e n h an g d e r m ex ikan isc h e n S t a a ts e n tw ic k ­
lung ist die Tatsache, daß aus der R ev o lu tio n ein n euer Staat h erv o rgin g, der sich zum in d est im la tein am e rikan isc h en K ontext - nicht n ur d urch eine a u ß e r g e w ö h n ­
liche Stärke auszeichn ete, so nd ern der auch n euartige F u n k tio n e n im B ereich der
W irtsch aftspo litik und des so zialen A u sg leic h s, d .h . d e r gesellschaftlichen Inte­
gration von B auern u n d A rb eitersch aft in das p o strevo lutio n äre S y ste m , ü b e r ­
nahm.
Folgende H a u p tfa k to re n w aren für diese E n tw ic k lu n g v eran tw o rtlich:
1.
Die z eh n jäh rige n R e v o lu tio n sk rie g e , die zeitw eise Z eh n tausend e, w en n nicht
H u n d e rttau se n d e von M ensch en u n m itte lb ar erfaßten, lösten in M e x ik o einen g e ­
w altigen p olitischen und gesellschaftlichen M o b i l i s i e m n g s s c h u b aus. A n d e rs als
im 19. J a h rh u n d e rt k am den „ M asse n “ im p o stre v o lu tio n äre n S y ste m seit den 20er
Jahren deshalb ein b eträchtliches G e w ic h t zu. Die aus den n ördlich en R evolu~8 Vgl. Alan S. K n i g b t, T h e M e xican R evolu tio n ( C a m b r id g e 1986); als Ü b e r b lic k bis 1940:
Tobler, M e x ik a n isc h e R evolu tio n.
50
H a n s W ern er Tobler
tio n sarm een h e rv o rge gan ge n e neue Staatsführung verstan d es geschickt, die d urch
die R e v o lu tio n ausgelö sten M o b ilisie ru n g seffe k te für ihr R e g im e zu n ützen , in ­
d em sie diesem eine ge w isse M assenb asis in F o rm r e g im e lo y a le r G ew e rk sc h afte n
und B a u e rn o rg an isatio n e n verschaffte. M it den G e w erksc h afte n sch lo ß die R e g ie ­
run g einen P akt ab, der diesen staatliche F ö rd e ru n g u n d einigen G e w e rk sc h a fts­
führern p olitischen E influß verschaffte. D ie B au e rn w u rd e n d u rc h das in der R e ­
volu tio n sverfassun g von 1917 v eran k erte M a n d a t einer L an d re fo rm g ew o n n e n ,
auch w e n n d ie L an d v e rte ilu n g in grö ß erem U m fan g erst in der z w e ite n H älfte d er
30er J a h re einsetzte.
D iese F orm der M e d ia tisie ru n g gesellsch aftlich er M a sse n b e w e g u n g e n „von
o b e n “, d .h . eine M asse n m o b ilisie r u n g un ter gle ich z e itige r M assen k o n tro lle , b e ­
reitete auch den B o d e n für den in d e r z w e iten H älfte d e r 3 0 e r J a h r e un ter C á r d e ­
nas v o rg e n o m m en e n in stitutio n ellen E inbau des A rb eiter- u n d des B au e rn se k to rs
in die R ev o lu tio n sp arte i, also die Schaffung eines s e m ik o rp o rativ e n Staates unter
d e r A e g id e eines faktischen E in p arte ie n syste m s, vor.
2. Ein w e se n tlic h er F a k to r für die seit den 30er J ah re n a u ß e r g e w ö h n lic h e p o li­
tisch-gesellschaftliche Stab ilität M e x ik o s w ar d ie Tatsache, daß in den R e v o lu ­
tio n sk riegen die alte porfiristisch e A r m e e v ernichtet w o rd e n war. Im Lau fe der
30er J a h re w u r d e auch die neue, aus den R e v o lu tio n sv e rb än d e n h erv o rge gan ge n e
A r m e e w e itg e h en d do m estiz iert, d. h. dem F ü h ru n g sa n sp ru c h der R e g ie r u n g u n ­
terw o rfen . A n ders als in den üb rig e n Staaten L ate in a m erik as stellte die A rm e e
deshalb seit den 30er J ah re n keine g e g e n ü b er d e r p olitischen F ü h r u n g eige n stän ­
dige V eto m ach t m e h r dar.
3. W ä h r e n d un d im Gefolge d e r R e v o lu tio n erhielt d er „revo lution äre N a t io n a ­
lism u s“ als R e a k tio n auf den ü b e rm äch tig e n W irtsch aftsein fluß des A u slan d s, in s­
b eson dere der U S A, stark en A u ftrie b 29. D ie V erfassung von 1917 hielt d en n auch
die n atio n ale K o ntro lle ü b er die E rd ö lv o r k o m m e n und die ü b rigen B o d en sch ätz e
s o w ie eine B e g r e n z u n g des auslän disch en G ro ß g ru n d b e sitz e s fest, ohne allerdin gs
diese B e stim m u n g e n gegen den stark e n auslän d isch en W id erstan d z un ächst
durc h setz en zu k ön n en. D er „revo lution äre N a t io n a lis m u s “ zielte im K ern auf
eine W ie d e r e rla n g u n g der natio n alen S o uv erän ität über die m ex ikan isc h e V o lks­
w irtsch aft u n d a u f eine w irtsch aftlich e E n tw ic k lu n g , die sich v o rran g ig au f n a tio ­
nale Kräfte u n d R e sso u rcen stützte. W ie die c i e n t í f i c o s m aß auch die neue p o s t­
revo lu tio n äre Elite dem w irtsch aftlich en W a ch stu m eine hohe P rio rität zu. Von
den porfiristisch en W irtsch a ftstec h n o k rate n u n tersch ied sie sich allerdin gs nicht
n u r in ih rer n atio n alistisch en, g e g e n ü b er dem A u sla n d sk a p ita l z w a r nicht g r u n d ­
sätzlich ab lehn en den , aber do ch k ritisch eren E in stellu ng, so ndern vor allem auch
in ih rer H a lt u n g ge g e n ü b er dem Staat, dem sie als ak tiv e m E n tw ic k lu n g sfa k to r ein
viel grö ßeres G e w ic h t beim aß. A n ge sich ts des nach w ie vor ü b e rm äch tig en W ir t ­
schaftseinflusses des A u slan d s schien n äm lich lediglich der Staat in der Lage zu
sein, die strategischen w irtsch aftlich en E n tsch e id u n gsz e n tre n w ie d e r stärk e r aus
29 R o b e r t F. S m ith , T h e U n ite d States and R ev o lu tio n ä r)' N a tio n a lis m in M exico, 1916-1932
( C h ic a g o 1972).
D ie E n t w ic k lu n g des m ex ik anischen Staates im 19. und 20. J a h r h u n d e r t
51
dem A u slan d nach M e x ik o z u r ü c k v e r la g er n zu k ön n en. Sch o n daraus ergab sich
natü rlich eine u n v e r k e n n b a r etatistische A u s r ic h tu n g der n ach rev o lutio n ären
E ntw ic k lu n gsstrategie . Eine zen trale B e d e u tu n g k am dabei der B ereitstellun g von
In vestitio n skapital d urch den Staat zu. M it der G r ü n d u n g d er staatlichen Z en tral­
b an k, des B a n c o d e Mé xi co, w u r d e ein erster Sch ritt in diese R ic h tu n g u n te r n o m ­
men. D aneben hatte der Staat aber auch jene In fra stru k tu rin v estitio n e n auf dem
Gebiet des V erkeh rsw esen s, des K o m m u n ik a tio n ssy stem s, der lan d w irtsc h a ftli­
chen B e w ässe ru n g usw. v o rz u n e h m e n , die dem priv aten U n te rn e h m er üb erhau pt
erst ausreichen d e In vestitio n san reize bieten w ü rd e n . D er Staat sollte also zu je ­
nem F a k to r w erd e n , der lan gfristig nicht nur die m ex ika nisch e W irtsch aft w ieder
in eine „nationale Ö k o n o m i e “ z u r ü c k v e r w a n d e ln , sondern - angesichts der w ir t ­
schaftlichen S c h w äc h e d e r m ex ikanisch en B ou rgeo isie - auch d e r E n tw ic k lu n g
des n ationalen K ap italism us k räftige Im p ulse verleih en w ü r d e 30.
W ä h r e n d sich dieses neue E n tw ic k lu n g sp r o je k t in den 20er J a h re n erst an satz ­
w eise realisieren ließ, n ah m es in den späten 30er J a h re n , unter d er P räsidentschaft
von L áz aro C árd e n as, deutlich ere G estalt an (u.a. N a tio n a lis ie ru n g der au slä n d i­
schen Ö lgesellsch aften u n d Sch affun g eines w irtsch aftsin terv en tio n istisch en
e s t a d o e m p r e s a r i a l ) ; dies in sbeso n d ere, n ach d e m die verän d erte in terna tio n ale
K o nstellatio n im G efolge von R o o sevelts P o litik der „guten N a c h b a rsc h a ft“ und
d er aufziehen den K riegsgefahr in O stasien und E urop a M e x ik o auch in der In­
n enp o litik grö ß ere G e s ta ltu n g sm ö g lich k e ite n einräum te.
4.
Die w ä h r e n d Ja h rz e h n te n a u ß e rg e w ö h n lic h e politisch-gesellsch aftlich e S ta­
bilität des p o stre v o lu tio n äre n M e x ik o beru hte allerdin gs nicht nur auf der w i r k ­
samen K ontrolle der g ro ß en gesellschaftlichen Verbände „von o b e n “ (im R ah m e n
des P R I-S y ste m s), so ndern ebenso auf der - z u m in d est k u r z - und mittelfristig
du rc h au s erfo lgreich en - gesellschaftlichen In te gratio n sp o litik des C árclenas-R egim es ( A g ra rre fo rm , arb eiterfreun dlich e G ew e rk sc h aftsp o litik ).
A m Ende von C á r d e n a s ’ P räsidentschaft (1940) hatten sich die G r u n d z ü g e des
n euen politisch-gesellsch aftlich en Sy ste m s und der n ach rev o lutio n ären W irtschaft
d eutlich herau sgeb ild et. E ntstanden w a r ein Staat se m ik o rp o rativ e r P räg u n g , ein
auto ritäres politisches S y ste m und eine W irtsch aft, die - nach dem m ark anten
R ü c k g a n g des auslän disch en W irtsch aftsein flusses im G efolge der N a tio n a lisie ­
run gen - ihre D y n a m ik in z u n e h m e n d e m M a ß e staatlichen Im p ulsen v erdan k te31.
N ac h 1940 verlo ren die so zialen E m p an z ip a tio n sziele des C á r d e n a s-R e g im es
z w a r z u n e h m e n d an B ed e u tu n g, der in der z w eite n H älfte der 30er J a h re geschaf­
fene in stitutio n elle R ah m e n , d .h . die beson deren B ez ie h u n g en z w isc h en Staat,
R e gie ru n gsp a rte i (1946 u m b e n a n n t in PRI: P a r t i d o R e v o l u c i o n a r i o In s t i t u ci o n al )
und gesellschaftlichen G rup p en aber blieb bestehen und sch uf eine besonders
gün stige V o raussetz un g für hohes w irtsch aftlich es W ach stum , dessen politisch
-,0 Je a n Meyer, Estado y socie dad con Calles, in: H is to ria de la R ev o lu ció n m exic ana 11 ( M é ­
xico 1977) 28 3-290 .
31 Lorenzo Meyer, El Estado m exic ano co n te m p o r án eo , in: H is to ria M e xican a 92 (1974) 7 2 2 752, hier: 73 5-741.
52
Hans W ern er Toblcr
und sozial potentiell destab ilisieren d e Effekte mittels der K o ntro llm ech anism en
d er R e v o lu tio n sp arte i auf ein M in im u m b esch rän kt w u rd e n . A u c h der starke,
w irtsch aftsin terv en tio n istisch e Staat und ein g e m äß ig ter N atio n alism u s blieben
als Erbe der R ev o lu tio n zu n äc h st erhalten und bereiteten den Boden für jenes
v ield isk u tierte m i l a g r o m e x i c a n o (m ex ik an isch es W u n d e r ), das - in A b w e ic h u n g
von den vorh e rrsc h en d en latein am e rikan isc h en E n tw ic k lu n g stre n d s - bis in die
60er J ah re hohe w irtsch aftlich e W ach stum sraten mit au sge p rägter p o litisch -g e ­
sellschaftlicher Stabilität v erb an d 32.
Daß allerdin gs dieses spezifisch m e x ika n isc h e „ E n t w ic k lu n g s m o d e ll“ politisch,
w irtsc h aftlic h u n d gesellschaftlich im m e r mehr an seine G renzen gestoßen und
angesichts der h eutigen V erhältnisse im m e r w e n ige r „ fu n k tio n a l“ g e w o r d e n ist,
zeigt die E n tw ic k lu n g m indestens seit den 70er J ah re n ü b e rd eu tlic h auf. Die w ir t ­
schaftlich b eherrsch en de R olle des Staates ist im Z eichen der allgem einen L ib e r a ­
lisie ru n gsw e lle ebenso ab gebaut w o r d e n w ie der W irtsch aftsn a tio n alism u s durch
den Beitritt zu einer k o n tin en talen F re ih an d elsz o n e ersetzt wurde-*3. O b es aller­
d in gs auch gelingt, das auto ritäre p olitische H errsch aftssy ste m mit seiner tra d i­
tionellen V o rm ac h tste llu n g des P R I im Sinne einer echten D e m o k ratisieru n g
dauerh aft zu refo rm ieren , erscheint heute - tro tz u n ü b e rseh b arer E ro sio n s­
ersch e in u n gen des P R I-R e g im e s in den letzten J ah re n - noch im m e r als eine w e i t ­
gehend offene Frage.
32 R o g e r D. H a n se n , T h e Politics of M c xica n D eve lo p m en t (B altim ore, Lon do n 1971); M a n ­
f r e d Mols, M e x ik o im 20. Ja h rh u n d e r t. Politisches S ys tem , R e g ieru n g s p ro ze ß und politische
P a rtiz ipatio n (Pa d e rb o rn 1982).
33 H a n s W e r n e r Tohler, M e x ik o , in: H a n d b u c h der G eschic hte L a tein a m erik a s 3 (Stuttgart
1996) 25 7 -3 6 3 , hier: 33.3-348.
Peter W aldm ann
N achahm ung mit begrenztem Erfolg
Zur Transformation des europäischen Staatsmodells
in Lateinam erika
M an kön n te d a rü b e r streiten, ob es sinnvoll o d er nicht vielm eh r z y n isc h ist, nach
dem E x po rterfolg des euro päisch en Staatsm odells in anderen G ro ß re gio n en , etwa
dem A frik a süd lich der Sahara, zu fragen. In b e z u g auf L ate in a m erik a ist diese
Frage hingegen vollau f berechtigt. D enn dieser Teil A m e rik as w u r d e mehrere
h un dert J ah re lang, d .h . w äh ren d eines längeren Z eitraum s als irgen d e in e andere
außere u ro p äisc h e R e gio n , von E urop a aus regiert. Insofern w a r es nicht e rstau n ­
lich, daß sich die fü h ren den P o litik e r und politisch interessierten In tellektuellen
nach E rlan gun g der U n a b h ä n g ig k e it zu B eginn des 19. Ja h rh u n d e rts stark an der
euro päisch en V erfassun gsdisku ssion o rientierten. Die en tsp rech enden Prin zipien
und In stitution en sind in zw isch en z u m festen B estandteil der p olitischen K ultur
dieser L än der g e w o rd en , man kann deren politische G eschichte und ak tu elle Lage
nicht verstehen, ohne stän d ig auf aus der euro päisch en Staatslehre und -praxis
entlehnte G e d an ke n , R e ge ln und F iguren zu rek u rrie re n . Dies ist jed och n ur die
eine Seite des p olitischen Prozesses. D aneben gibt es noch eine an dere, durch
K lien telism us u n d P artik u larism u s bestim m te Seite, die der vo llstän d igen D u r c h ­
se tz u n g des e u ro päisch en Staatsm o dells stets im Wege stand. D er Z w ie sp alt z w i ­
schen diesen beiden „V erfassun gen “ w ird das Referat w ie ein roter F ad en d u r c h ­
ziehen. Z un äch st w e rd e n einige Z üge h erau sgearb eitet, in d enen der latein am e ri­
kanische Staat deu tlic h von seinem e u ro päisch en Vorbild ab w eicht. Vor allem hat
er es nie v erm o ch t, ein effektives G e w a ltm o n o p o l d u rc h z u se tz e n und die B ürg er
en tsp rech end zu disz ip lin ie ren , z w e i G ru n d v o ra u sse tz u n g e n der euro päischen
Staatsbild u ng, die im z w e ite n A b sc h n itt etw as e in g eh en d er b ehan delt werden.
D er dritte u n d letzte A b sch n itt un terstreich t die politische Sch lüsselrolle der
M achteliten ( pozuer c o n t e n d e r s nach C h a rle s W. A n d e r s o n ) 1, die sich vom Staat
das Gesetz politischen H a n d e ln s nie haben streitig machen lassen.
1 C h a r le s IV. A n d e r s o n , Polities and Econ o m ic C h a n g e m L atin A m eric a. I he G o v ern in g of
Restless N a tio n (Prin ce to n u. a. 1967) 89 tf.; d e n . , T o w ard a T h e o r y of Latin A m e ric a n P o li­
ties, in: P e t e r G. S n o w (.Hrsg.), G o v ern m e n t and Polities in L atin A m c ric a ( N e w York 1967)
23 0 -2 4 6 ; künftig zitiert: A n d e r s o n , T o w a rd a T heory.
54
Peter W aitlm ann
Abweichungen vom Vorbild
Die D isk ussio n u m den latein am e rikan isc h en Staat w u rd e lange Zeit d urch die
V orstellung fehlgeleitet, es handle sich um einen m äch tigen , einen „stark e n “ Staat.
Die iberische T radition des A u to rita rism u s, die B e to n u n g hierarchisch er D e n kund V crhaltensm uster d u rc h die kath o lisch e K irche, die ja h rh u n d e rte lan g ein
G lau b e n sm o n o p o l auf dem S u b k o n tin e n t innehatte, h och gesteck te und w e itre i­
ch en de E rw a rtu n g e n an P o litik e r und staatliche Instanzen von seiten der B ev ö lk e ­
run g, nicht z u le tz t die h e rau srage n d e B ed e u tu n g des M ilitärs so w ie von M ilit ä r r e ­
gim en in den v ergan ge n en J a h rz e h n ten - all dies schien die vorran gige B ed e u tu n g
zu un terstreich en , die dem Staatsapp arat in diesen G esellschaften z u k o m m t. D a ­
bei ließ m an sich von den um fassen den R e g u lie ru n g san sp rü c h e n b lenden, welch e
diese Staaten hinsich tlich der u n tersch iedlich sten gesellschaftlichen Bereiche, e in ­
sch ließlich d er W irtsch aft, geltend machten. H ätte m an m eh r darau f geachtet,
in w ie w e it die S taatsorgan e auch z u r D u rc h setz u n g d er zah lreic h e n von ihnen e r ­
lassenen Vorschriften u n d A n w e is u n g e n im stande w aren , so hätte man sich schon
früher ein anderes B ild von ihnen gem acht.
T atsächlich, dies ist einer d e r A u sg a n g sp u n k te des R eferats, h aben w ir es im
Falle L a te in a m erik as ü b e r w ie g e n d m it eher sc h w ac h e n Staaten zu tun 2. D ie A u s ­
n ah m en von dieser R e ge l b ilden C h ile , w o der Staat eine e u ro päisch en Verhältnis­
sen v ergleich bare h e gem o m ale P ositio n ge ge n ü b er der Gesellschaft erlangt hat,
und p o stre v o lu tio n äre R egim e , e tw a M e x ik o bis in die 60er J a h re so w ie das von
C astro b eherrschte K uba. Im üb rigen k ön n en diese Staaten je d o ch n u r als partiell
so uv erän im Sinne der K riterien von G. J e llin e k bzw. W. R e in h a rd bezeichnet
w e r d e n 3. Z w ar ist es ihnen nach an fänglich en b lutig en A u se in an d ersetz u n g e n
z D ie fo lg end e S k iz z e b eru ht p rim ä r a uf den eigenen F o rs ch u n gen des Verfassers z u r P ro b le­
m a tik p olitisch er G e w a lt in L a te in a m e rik a un d w eicht üb er w e ite S trecken von der ü b lichen
A uffassu ng vorn Staat und seinen F u n k tio n en in d ie ser G ro ß re gio n ab. D eshalb läßt sie sich
n ur b egrenzt mit L it er a tu r h in w e is en un term a ue rn. Im m erhin w ir d in einigen neueren S tu ­
dien, b eisp ie lsweise d e r A rb e it von F. Escalante G o n za lb o o d er den jü n g eren A ufsätzen G.
O ’D on nells, ebenfalls ve rm e h r t auf die h ier betonte D o p p e ls t ru k t u r des Staates hingewie sen.
Vgl. P la n s W e r n e r Tobler, P e t e r W a ld m a n n (H rsg.), Staatliche u n d parastaatlic he G ew a lt in
L a tein a m erik a (F ra n k fu r t 1991); P e t e r W a ld m a n n , P olitik un d G ew a lt in L a tein a m erik a
( In n s b ru ck e r G eo gra p h isch e S tudien 21, 1994) 73 -80; d e n . , El nacim ie nto de la Policía m o ­
d er na en A le m a n ia del siglo X I X y alg unas con clu sio n es relacionadas con la A m é ric a Latina
de hoy, in: P e t e r W a ld m a n n (H rs g .), J u s tic ia en la calle. En sayo s sobre la Policía en A m e ric a
L a tin a (M edellin 1996) 31 -5 4 ; ders., S oziale A no m ie. Z u r F r u c h tb a r k e it eines klassischen s o ­
zio lo gischen K o nzeptes in b ezu g auf die E n tw ic klu n gslä n d er, in: A sso ciatio ns 2, H eft 1
(1998) 5 - 3 7 ; k ü n ftig zitiert: W a ld m a n n , S oziale A no m ie. A llg e m e in zu r D isku ssio n über den
la tein a m erika n isch en Staat vgl. M a n f r e d Mols, J o s e f T h e s i n g (Hrsg.), D er Staat in L a tein a m e­
rik a ( M a in z 1995) so w ie ( J o h n /. B r a d f o r d (H rsg.), R edé fin ir l’ Etat en A m é r iq u e Latin e (P a ­
n s 1994). F ü r dieses R eferat besonders n ützlich w a r F e r n a n d o E s ca la n te G o n z a l b o , C i u d a d a ­
nos Im agin ario s. M e m o ria l de los A fanes y D esventuras de la V irtud y A p o lo g ía del Vicio
Triunfante en la R ep ú b lic a M e x ica n a (M ex ic o 1992); kü nftig zitiert: G o n z a lb o , C iu d a d a n o s
Im agin ario s.
' G e o r g J e l li n e k , A llg e m e in e Staatsle hre (Berlin -1905) 3881 ff.
Z u r T ran sform atio n des euro päis chen Staatsm odells in L a t e in a m e n k a
55
bald gelun gen , eine relativ stabile, n ur durch w e n ige K riege un terb ro ch e n e E in i­
g u n g über ihre äußeren G renzen zu erzielen. D er mit N a c h d r u c k nach außen hin
geltend gem ach ten So u v e rän ität steht aber eine augen fällige U n f ä h ig k eit ge g e n ­
über, den staatlichen So uv e rän itätsan sp ru ch auch nach innen hin zu v e r w i r k l i ­
chen. W as die in nerstaatlich e Sp h äre betrifft, so lösen die meisten la te in a m e r ik a n i­
schen Staaten keines der drei T eilk riterien von So u v e rän ität nach G. J e llin e k ein:
Sie haben es nicht fertiggeb rach t, ein einheitliches Staatsvo lk zu schaffen, ihr Ter­
rito rium bleibt z erstückelt, ihr p hysisch es Z w a n g sm o n o p o l ist k ein esw e gs u n a n ­
gefochten.
F ü r die T hese von der ein g esc h rän k te n So uv eränität lassen sich viele Belege anführen: E tw a die Tatsache, daß die un tersch ied lich en B ev ö lk e ru n g sg ru p p e n , vor
allem in Staaten mit einem h ohen In dian eran teil, n icht den gleichen Z u gan g zu
V e rw altu n g sb e h ö rd e n und G erich ten haben; o d er die B e d e u tu n g von B e z ie ­
h u n gsn etzen u n d in form ellen P aralle ln o rm e n , w elch e das offizielle R e c h t relati­
v ieren und oft k o n te rk ariere n . B eso n d ers sp rich t für sie, daß es in diesen L än dern
R ä u m e und B ereiche b eträchtlichen A u sm a ß e s gibt, die dem staatlichen Zugriff
sc h lich tw e g en tz o g en un d von alternativen M ä ch te n beherrsch t sind.
Dies ist kein p rin z ip ie ll n euer Befund. B ereits aus der K o lo n ialzeit u n d dem
19.J a h rh u n d e rt w issen wir, daß sich die staatliche K o ntro lle im w e se n tlic h en auf
die Städte und deren U m la n d besch rän kte, w ä h r e n d in dem sch ier grenzen lo sen
H in terlan d gesellschaftliche G ru p p e n den Ton an gab en, die sich um die Z en tral­
macht w e n ig k ü m m e rte n . So herrschte an den A n d e n ab h än g e n ( v e r t i e n t e s ) und
in den F lußtälern K o lu m b ien s ebenso w ie in den T älern ( v a l l e s ) G uatem alas
das reine F au stre ch t4. A u f den argentin isch en P a m p a s und den ven ezolan isch en
Ll an os hatten stets m äch tige G r o ß g ru n d b e sitz e r o d e r zu region alen C a u d illo s
e m p orgestiegen e V ieh hirten das Sagen. In entlegen en L an desteilen o perieren de
R äu b e rb an d e n o d er nach einem eigenen R e g e lk a n o n leben de In d ia n e r k o m m u n e n
run d en dieses B ild tradition ell staatsferner B ereiche ab.
B e m e r k e n sw e r te r w e ise hat deren Zahl und B ed e u tu n g im V erlaufe cies P ro z e s­
ses, den man „ E n t w ic k lu n g “ o der „ M o d e r n isie r u n g “ zu nennen pflegt, nicht ab-,
so ndern eher z u g en o m m e n . W aren sie früh er allenfalls am R a n d e o der außerh alb
des staatlichen E in flußb ereich es anzutreffen, so begegnet m an ihnen heute auch
im Z en tru m dieser G esellschaften, z. B. m itten in den G ro ßstädten . So gibt es g e ­
g e n w ä rtig in säm tlich en latein am e rikan isc h en M e tro p o le n U n tersc h ic h te n v ierte l,
die von der P olizei sy ste m atisc h gem ieden w e rd en , w e il sie d o rt tätlich an ge grif­
fen zu w e rd e n r isk ie rt5. H ie r üb en G ru p p en die M a c h t aus, die dem Staat gle ic h ­
4 Vgl. etw a M i c h a e l R i e k e n b e r g , Z u m W ande l von H errschaft und M e ntalität in G uatem ala.
Ein B eitrag zu r S ozialg eschich te L atein a m erik a s (K öln, W ie n 1990) 33 ff.
5 Dies gilt s o ga r fü r ein nach eu ro päischen M aßstäb en z ie m lic h zivilisiertes L a n d w ie A r g e n ­
tinien. Bei einem ein w ö ch ige n A u fe n th a lt als G astd o zen t in C ó r d o b a , der z w e itg rö ß te n
Stadt des Landes, w u r d e dem Verfasser gesagt, ein zentra l gelegenes Slu m v ierte l w ü r d e von
je derm ann , einschließlic h der Po li zei, gem ieden. L edigli ch am S on ntag habe m an freien Z u ­
tritt zu ihm; an die sem Tag finde do rt ein M a rk t statt, auf d em man die w ä h r e n d der W oche
gestohlenen bzw. geraub ten G ege nständ e z u r ü c k k a u fe n könne.
56
Peter W altlinann
g ü ltig oder feindlich gege n ü b ersteh e n : R ivalisieren de B anden ju g e n d lic h e r K rim i­
neller, M iliz e n und „Todesschw adronen“, R ausch giftkartelle, G an gsterb o sse samt
ihren L eib w ach en. Teils haben sie cm W illk ü r r e g im e errichtet, teils steht ihre
H errsch aft jedoch im Zeichen transparenter, freilich d rak o n isc h e r Regeln, che mit
den offiziellen G esetzen k ollidieren .
Em w eiteres, so gar im Z en tru m der fö rm lich en S taatsge w alt angesiedeltes B ei­
spiel für einen rechtsfreien R a u m sind die Strafanstalten 111 diesen L än dern 6. Sie
un terliegen gro ßen teils kein e sw e gs einer effektiven staatlichen A ufsich t, sondern
bilden E nklaven m it eigenen N o r m e n , in denen che H äftlinge ihr Z usam m en leb en
selbst o rganisiert haben. Das V ollzu gsperso nal ist w eitgeh en d entm achtet, die P o ­
lizei hütet sich, in die inneren A n gelegen h eiten der stren g h ierarchisch aufgeb auten Insassengem einschaft ein z ugreifen , so nd ern b egn ü gt sich d am it, die A n stalten
nach außen hin zu ü b e rw ac h e n , so daß keine grö ß ere G efah r für das gesellschaftlic h -räu m lic h e U m feld von ihnen ausgeht. N eb en diesen neu en tstandenen staats­
freien Z onen in den urb an en Zentren dieser G esellschaften existieren w eiterh in
Gebiete im län dlich en H in te r la n d , w o G ro ß gru n d b esitz er, G uerillav erb än d e oder
sonstige alternative M äc h te gem äß einem eigenen R e ge lk an o n herrschen.
In einem anderen Z u sam m e n h an g w u rd e für solche, dem un m ittelb aren staatli­
chen Zugriff en tzog en e soziale G em einsch aften und R ä u m e die F orm el „ A u to n o ­
mie im Schatten des L e v ia th a n “ v erw e n d e t7. Sie zeigt in treffender Weise die
G renzen dieser teilso uv erän en G eb ilde aut und d eutet auf die staatlich en S c h w ä ­
chen hin, denen sie ihre E ntsteh un g verdanken. „Im Schatten des L e v ia th a n “
heißt, daß cs sich k ein e sw egs um gän zlich u n ab h än gig e soziale G ru p p en handelt.
Ihre So uv eränität ist g e w isse rm aß e n n u r vom Staat entlehnt. W ü r d e die S taatsfü h ­
run g beschließen, die v erfügb aren Sich erh eitsk räfte zu b ün deln - einen größeren
Verband von p o liz e ilich en bzw. m ilitärisch en E inheiten zu bilden, diese s y s te m a ­
tisch auf einen längeren E insatz v o rz ub ereiten und diesen auch durchzutühren - ,
dann w ä r e sie im allgem einen d u rc h au s in der Lage, die altern ativen M a c h t e n k la ­
ven zu besetzen und a u sz u lö sc h e n bzw. unter ihre B o tm ä ß ig k e it zu bringen. Fälle
w ie der K o lu m b ien s, w o G u e r illao rg an isatio n e n b estim m te Landesteile seit J a h r ­
z eh n ten fest in ih re m B esitz haben, b ilden eher die A u sn a h m e als die Regel. A l le r ­
dings w ü rd e eine solche K räfteko n z en tratio n einen R e sso u rc en au fw an d und eine
o rg anisato risch e A n str e n g u n g erfordern, zu denen sich diese Staaten n ur in b e ­
sonderen K risen situ atio n en autraffen können.
D am it stoßen w ir z u m Kern der u n v o llk o m m e n e n S taatlich k eit des late in a m e ­
rikan isch en „Staates“ vor: d em „V o llzu gsdefizit“ der staatlichen V e rw altu n g sb e ­
hörden, die bis heute au ß e rstan d e sind, die m g ro ß er Zahl erlassenen G esetzesvor6 F ü r V enezuela vgl. etw a Luis Gerardo Gabaldön, Tendencias y pcrspectiv as del control
social en V enezuela en la decada de los noventa, in: Luis G e r a r d o G a b a l d ö n , C h r i s t o p b e r
B irb e ek (H rsg.): C o n t r o l Social y Ju stic ia Penaf en V enezuela. E nsayos en h om en a je a H e cto r
Febres C o r d e r o ( M c n d a 1996) 15-35.
7 W a ld m a nn, S o zia le A n o m i e 2 6 lf. D er A u s d r u c k w u r d e in etw as m odifizierter Form von
Gerd Spittler ü b e r n o m m e n , der ihn für b estim m te F o rm en der Streitschlichtung in Afrik a
benutzte.
Zur T ran sform atio n des euro päis chen Staatsm odells in Lacein am erik a
57
schritten und V erordn un gen effektiv d urchzusetzen8. Es ist im N ach h in ein
sc h w e r zu b eurteilen, ob diese V o llzu gsschw äch e mit d em W id e rsta n d zu erklären
ist, den bestim m te G ru p p en von A n fan g an o b rigk e itlic h en A n o rd n u n g e n und
Z w än ge n en tgegen setzten , o der dam it, daß es an dem en tschiedenen W illen der
politischen E n tsc h e id u n gsträge r und ihres V ollzugstabes fehlte, der Gesellschaft
v erb in dlich ein bestim m tes R e g e lw e r k aufzuerlegen . Seit der früh en K olonialzeit
b egegnet man in so w eit einem stets w ie d e rk e h re n d en M uster: Z un äch st w e rd en
von seiten der O b rig k e it A n fo rd e ru n g en geltend gem acht, die auf eine deutliche
B esc h rän k u n g der H an d lu n g sfre ih e it der U n tertan en so w ie auf die B eseitigun g
aus staatlicher Sicht fra g w ü r d ig e r m o ralisch er und rech tlich er Verhaltensw eisen
hinauslaufen. M it der en tschiedenen W e ige ru n g gesellschaftlicher Schlüsselgrup­
pen und -perso n en k on fron tiert, sich dem neuen G esetz zu b eugen, lenken die
Staatsträger aber ein und passen sich schließlich so gar in ihrem eigenen Verhalten
den gesellschaftlichen Sp ielregeln an, die zu b ekäm p fen sie an getreten waren.
Als E rgebnis der gescheiterten B em ü h u n g en , die G esellschaft einer effektiven
staatlichen K o ntro lle zu un terw e rfe n , läßt sich eine ebenso dauerhafte wie subtile
D u r c h d rin g u n g der Staatsap p aratu r d urch gesellschaftliche Interessen und Ver­
fah ren sw eisen konstatieren. Vor allem in der F u n k tio n sw eise d e r staatlichen B ü ­
ro k ratie spiegelt sich che Ü b e r la g e ru n g staatlich -n eu tralen d u rc h gescllschaftlichp artik ularistisch es D e n k e n wider. D en meisten B eam ten ist eine strik te A nstaltsd isz ip lm i. S. M ax W ebers, d. h. das E ntscheiden nach ab strak ten R egeln si n e i m et
S t u d i o , fre m d 9. Sie haben z w a r eine leidlich p räzise Vorstellung von den A ufgab en
ihrer B ehörde so w ie v o r allem von den P rivilegien, che ihnen als staatlichen F u n k ­
tio n strägern zusteh en , d och mit dem jeglicher B ü ro k ratie im m an enten Postulat
der E n tsu b je k tiv ie ru n g von H errsch aft k ön n en sie sich nicht an freun d en . Viel­
mehr betrachten sie ih re P osition nicht zuletzt als C h an ce , sich zu bereichern und
diejenigen, die ihnen nahestehen, an den aus dem A m t fließenden Vorteilen teilh a­
ben zu lassen. B ek an n tlich sind V e rw altu n g und G e rich tsw e se n in L ate in am erik a
- w o b ei freilich nach L ä n d e rn zu differen zieren ist - von der Basis bis z u r Spitze
äußerst anfällig für K o rrup tio n .
D er M an gel an Staatlich k eit, der in der fehlenden D u r c h se tz u n g der Gesetze
z u m A u s d r u c k k o m m t, ist auch aut anderen Ebenen staatlich er E in flußn ah m e
und V orgehensw eise erkennbar. Er rückt das Staatshandeln in sgesam t in ein e ige n ­
tüm liches Z w ielicht. L etztlich verm ißt man ein eigenständiges, dem G em ein w o h l
verpflichtetes Staatsprin zip , eine Staatsraiso n 10. H o h e itlic h e A k te geraten rasch in
den Verdacht der P arteilich k eit, insbesondere einseitiger p a rtik u laristisc h er Inters Vgl, hierzu E rn esto Gar/.nn Vaides, Eine kritische A n a ly se der F u n k tio n en des Rechts in
L atein am erik a, in: I b cro -A m erik a m sc h e s A rch iv 23, Heft 3 - 4 (1997) 32 1-364; kü nftig zitiert:
Vaides, Lin e kritische A nalyse.
v Max W eb er ; W irtschaft und Gesellschaft (T üb in gen ’ 1972) 12 8ff., 551 ff.; kiin ltig zitiert:
W eb er , W irtschaft und Gesellschaft.
10 Zur E n tstehu ng dieses K onzepts in Europa vgl. H e r fr ie c l M iink ler, Im N a m e n des Staates.
Die B e g r ü n d u n g der Staatsraison in der F rü hen N eu zeit (F ra n k fu rt 1987) insbes. Kap, IV.;
k ü n ftig zitiert: M iinkler, im N a m e n des Staates.
58
Peter W a ld m a n n
e sse n w ah rn e h m u n g . Es fällt auf, daß diese Gesellschaften - wie erneut bei den
jün gsten F u ß b allw e ltm e istersc h afte n deutlich w u rd e - z w a r h o c h g rad ig n atio n a­
listisch sind, d er Staat in ihnen jedoch n u r geringes A n seh en genießt. Die P riv a­
tisierun g ö ffentlicher G ü ter führt in letzter K o n seq u en z d az u , daß die Grenze
z w isc h e n öffentlicher und p riv ater Sp h äre w e itg e h e n d v ersc h w im m t. Sie ist
ebenso un d e u tlic h w ie jene z w isc h e n dem P riv atm an n u n d d em Staatsbürger, der
d u rc h gän g ig e, für je d e rm a n n gleiche R ech te und Pflichten hat. B estim m en d sind
vielm eh r die in te rm e d iären G ew alten: Verbände, In teressengrup p en un d h a lb ­
öffentliche In stitution en , die den R a u m z w isch e n der S taa tsge w alt und dem e in ­
zelnen ausfüllen u n d b e w irk e n , daß die H o h e itsb e z ie h u n g z w isc h e n ihnen in sp e­
zifischer W eise geb ro ch en u n d verfälscht w ird. U n te r ih rem E in fluß gibt es kein
generelles U n te rw e rfu n g sv e rh ä ltn is, so ndern z ahlreiche g rad uelle A b stu fu n g en
der G eh orsam sp flich t, k ein e G leichh eit vor dem G esetz, so ndern nur S o n d e rtat­
b e stä n d e 1*.
Ü b e r der B eto n u n g von M e rk m a le n , in d enen der latein am e rikan isc h e Staat von
seinem e u ro päisch en Vorbild a b w eicht, sollte gle ic h w o h l z w e ie rle i nicht v erges­
sen w e rd e n . Erstens ist zu un terstreich en , daß es sich u n geach tet aller aufgezeig ter
S c h w äch e n den no ch u m einen Staat handelt, d .h . u m ein politisches K o ordin ations- u n d R e g u lie r u n g s z e n tru m eigener A rt, das ü b e r beträchtliche Resso urcen
(Ä m te r und P frün d en , Ehre u n d Prestige, R e g u lie r u n g sk o m p e te n z e n ) verfugt.
Von der gen uin en N ic h tstaatlic h k e it trennt die m eisten la tein am e rik an isc h en G e ­
sellschaften, w ie Fälle o ffen k u n d ige n Staatszerfalls (e tw a in A fgh an istan ) zeigen,
noch eine w eite Strecke. Z w e ite n s d arf die m an gelnde Bereitschaft, N o r m e n strikt
z u befolgen, von A u s n a h m e n abgesehen, nicht m it G le ich g ü ltig k e it o der offener
A u fle h n u n g gegen die staatlichen G esetze v erw e c h se lt w e r d e n 12. N e u e s o z ia l­
rechtliche B e stim m u n g e n w e r d e n ebenso von einem b reiten P u b lik u m z u r K enn t­
nis gen o m m en w ie V eränderun gen der Strafgesetze, d ie A u fste llu n g des Staats­
haushaltes w ir d m it nicht g erin gerer A u f m e r k s a m k e it verfo lgt w ie die E in h altun g
von V erfahrensvorschriften bei W ahlen. D er ständige V erstoß gegen die G esetze
sch ließt nicht aus, daß diesen im ko lle k tiv en B ew u ß ts e in ein h oh er Stellen w ert
z u k o m m t. Ein „ E n tw e d er - o d e r “ w ird der d o p p e lb ö d ig en H a ltu n g , die viele L a ­
tein am e rik an e r in b e z u g auf den Staat u n d das fo rm elle R ec h t einn eh m en, nicht
gerecht.
11 Dies ist eines d er H a u p t th e m e n der S tudie von F. E sca la n te G o n z a l b o (vgl. ebd., S. 97 ff.).
A us einer anderen W a rte w ir d die selb e P ro b lem a tik von R a in e r H u h le aufgegriffen, w e n n er
vo m Staat die H e r ste llu n g des G e w a ltm o n o p o ls z u m S ch utz des einzeln en vor M ensch en rech tsverletzu ng en verlangt. R a i n e r F ia b le , L a violació n de los D erechos H u m a n o s , Privile­
gio de los Estados?, in: M e m o r ia . Bole tín in fo rm ativo del D I M L 5 (1993) 6-2 1.
12 Vgl. das noch heute in L a tcin a m ertk a oft zu h örende S p r ic h w o rt „se acata pero no se c u m ­
p le“, w as s in nge m äß bedeutet, man erk en n e eine R egel gru n d sä tzlic h an, o hn e sie je doch zu
befolgen.
Zur T ran sform atio n des euro päis chen Staatsm odells in L a tein am erik a
59
Fehlendes staatliches Gewaltmonopol und
Disziplinierungs Versäumnisse
D ie h erau sgeh o b en e D u r c h se tz u n g ssc h w ä c h e des latein am e rikan isc h en Staates
hängt aufs engste m it dem F ehlen jenes S o u v erän itä tsm erk m als z u sam m e n , das
nach M ax W eber m eh r als alles an dere m o dern e Staaten auszeichn et: das M o n o p o l
d er A u s ü b u n g p h y sisc h e n Z w a n g s 13. D er latein am e rik an isc h e Staat - w ie ü b r i­
gens auch der m äch tige N a c h b a r im N o rd en , die Vereinigten Staaten von A m e r ik a
- hat dieses M o n o p o l seinen B ü rg ern nie definitiv ab rin gen k ön n en. N atü rlich
gib t es in so w eit beträchtliche U n tersc h ie d e z w isch e n den versch ieden en Ländern.
D er chilenische Staat üb t eine viel effektivere K o ntro lle über die Gesellschaft aus
als der benach b arte argentin isch e Staat, die Situation im von c h ro n isch en inneren
K o nflikten h eim gesu ch ten K o lu m b ie n ist nicht ohne w eiteres mit jener im relativ
friedlichen z en tralam erik an isc h e n C o sta R ica zu v ergleich en , un ter M ilit ä r re g ie ­
ru n g e n w äc h st der auf die B ü rg e r ausgeü bte H errsch aftsd ru c k , u n d geht folglich
d eren Bereitschaft zu e ig en m ä ch tig er Selbsthilfe en tsp rech end z u rü c k . D en no ch
k an n die allgem eine T h ese g e w a g t w e rd e n , daß nach v erb reiteter A u ffassu n g in
diesen L än d ern d er Staat vom e inzeln en keinen b e d in g u n g slo se n G e h o rsam e r ­
w a r te n k ann, so ndern es diesem freisteht, sich in A u sn a h m e situ a tio n e n gew altsam
gegen einen an geblich en o d er tatsächlichen M iß stan d z u r W ehr zu setzen.
Z ur B estätig un g der T hese gen ügt es, die Z eitungen in einer belieb igen latein ­
am e rikan isch en M e tr o p o le d u rc h z u b lätte rn , die voll von N o tiz e n über g e w a lt ­
sam e Z u sam m en stö ß e z w isc h e n e inzeln en B ü rg ern , gan z en G ru p p en o d e r den
B ü rg ern und den staatlichen O rd n u n g sk r ä f te n sind. D er Verfasser hat vor einigen
J ah re n z u r Ü b e r p r ü f u n g der T h ese eine kleine Studie ü b er H o n d u r a s in A u ftrag
gegeben, eines der friedlichsten L ä n d e r Z en tralam erik as. Sie zeigte, daß w äh rend
d e r sechs M on ate, ü b er die sich die U n te rs u c h u n g erstreckte, A k tio n e n militanten
A ufb egeh ren s so ziale r G ru p p e n gegen B eh ö rd en und deren E ntscheidun gen an
d e r T ageso rd n u n g w a r e n : Von der g e w altsam e n B ese tzu n g von S t r a ß e n k r e u z u n ­
gen, B rü ck e n , G eb äu d e n o der als Siedlun gsgeb iet r e k lam ie rte n Terrains ü b er A n ­
griffe auf P olizisten o d e r das Stü rm e n gegn erisch er W a h lv e rsam m lu n g en bis hin
zu massiven rassistischen A u ssc h reitu n g e n und der E n tfü h ru n g o pp o sitio n eller
P o l it ik e r 14. Ein w eiteres B eisp iel bietet der K o nflik t in d er klein en s ü d m e x ik a n i­
schen P ro v in z C h iap a s, der seit einiger Zeit im m e r w ie d e r für S ch lagzeilen sorgt.
O b w o h l d er p o stre v o lu tio n äre m e x ikan isc h e Staat seine Gesellschaft w ie kaum
ein an derer durch ein eng geflochtenes N e t z w e r k r e g ie r u n g slo y a ler Institutionen
und V erbände k o n tro llie rte, k o n n te er nicht v erh in d ern , daß in einem Teil des
13 Vgl. W eber, W irtschaft u n d Gesellschaft 29. „Staat soll ein politisch er A nstaltsb etrieb hei­
ßen, w e n n und in so w e it sein V e rw altu ngsstab erfolgreich das M o n o p o l le gitim en physischen
Z w a n gs fü r die D u r c h f ü h r u n g d er O r d n u n g e n in A n sp ru ch n im m t .“
14 Vgl. auch L eticia S a lo m a n , La violencia en H o n d u r a s (Tegucigalp a 1993).
60
Peter W a ldm a n n
Landes G ru p p en ihrer U n z u frie d e n h e it mit den lo kale n V erhältnissen gew altsam
A u s d r u c k verliehen
D ie T hese v om m an ge ln d e n G e w altm o n o p o l des latein am erikan isc h en Staates
hat zw ei A sp ekte. Z um einen besagt sie, daß es dem Staat un d seinen Vertretern
nie gelun gen ist, die B ü rg e r zu einem definitiven Verzicht auf eigenm ächtige
Selbsthilfe zu b ew egen. D am it soll nicht behau ptet w e rd e n , jed erm an n w ürde,
w an n im m e r es ihm beliebt o der zu r D u rc h setz u n g seiner Z w e ck e n ützlich er­
scheint, ge w altsam über seine M itm en schen herfallen. D och als subsidiäres Mittel
vor allem jener G ru p p en und In dividu en, die über keine n en n en sw erten sonstigen
M ac h tresso u rc e n verfügen (d .h . der U n te rsc h ich te n u n d so zialen R an d gru p p en ),
erfreut sich der R e k u r s aut G e w alt o der deren A n d r o h u n g du rc h au s einer breiten
A k ze p ta n z . D er z w e ite A sp e k t betrifft die innere S tr u k tu r des Staatsapparates
selbst. Dessen S ch w äc h e zeigt sich u.a. daran, dal? er tra d itio n e lle rw eise a u ß e r ­
stande war, die eigenen O rgan e , vor allem die Sich crh eitskräfte, zu striktem G e ­
h orsam zu z w in g e n . Kleine und grö ßere M eute re ien , Staatsstreichversuche und
e rfolgreiche Putsche w aren bis vor nicht allzu lan ger Zeit in dieser R egio n keine
Seltenheit. Es w ird sich erst zeigen müssen, ob der Ü b e r g a n g z u r R egierun gsfo rm
der P arlam en tarisch en D e m o k ratie in fast allen diesen Staaten seit 1985 einen en d­
gültigen A b schied von diesen politischen G e w a ltp r a k tik e n bedeutet.
D er ch ro nischen M iß a ch tu n g des G e w altve rb o ts so w o h l auf der gesellschaftli­
chen als auch auf d e r p olitischen Ebene v erd an k t L ate in a m e r ik a seinen in te rn a tio ­
nalen R u f eines politisch instabilen, durch un u n terb ro c h e n e , häufig gew altsam
ausgetragen e so zio -p o litisc h e K onflikte geprägten S u b k o n tin e n t s 16. Die U b iq u ität und Vielfalt der G e w altm an ife statio n e n darf jedoch nicht zu dem Fehlschluß
verleiten, die Zahl p olitischer G e w alto p fe r in dieser R e gio n übertreffe jene in an ­
deren a u ß e re u ro p äisc h en G ro ß regio n en . M it erheblichen Verlusten an M e n sc h e n ­
leben verb u n d e n e externe K riege w a r e n hier ebenso eine relativ seltene A u sn ah m e
w ie einen hohen B lu tz o ll fordern d e R e v o lu tio n en . Es ist m e h r die diffus stre u ­
ende, u n d isz ip lin ie rte G e w alt, die das politische B ild b estim m t, als große, jedoch
d urch aus disz ip lin ierte G e w altsc h iib e , w ie sie für die jün gere Geschichte Europas
c h arakteristisch sind. D ieser U n tersch ied h än gt m it d e r untersch iedlich en gesell­
sch aftsgeschichtlichen E n tw ic k lu n g in den beiden G ro ß re g io n en z u sam m e n , che
h ier k u r z sk iz z ie rt w e rd e n soll.
[n E uropa ist die K o n z e n tratio n der G e w altm itte l beim Staat das E rgebnis eines
sich ü b er m eh rere J a h rh u n d e rte erstreck en den Prozesses, in dessen Verlauf die
staatliche F ü h ru n gssp itze im m e r m e h r K o m petenzen usurpierte. Da sich die ge­
sellschaftlichen G ru p p en (die Regio n en , Stände, K o m m u n en ) ihre a lth e rg eb rac h ­
ten Rechte und ihre Selb stän digk eit nicht w id e rstan d slo s en treißen ließen, mußte
ihnen die M a c h tv e r la g e r u n g z u g u n sten der neuen staatlichen H errsch aftszen tren
' Statt vieler W o lf g a n g G a b b e r t , C h iap as —D ie G ren zen der K ooptatio n und der Aufstand
von 1994, in: L a tein a m erik a . A n a ly s e n und Berichte, Bd. 21 (Bad H o n n e f 1997) 162-178.
1,1 Vgl. etwa die Beiträge in d em klassischen S am m e lb a n d von F ra n cis co J o s é M o r e n o , B a r­
b a ra M ü r a n i (H rsg.), C o n flic t and V iolence m Latin A m e ric a n Politics. A B o o k of R eadm gs
( N e w York 1971).
Zur Tran sform atio n des euro päis chen Staatsm odeils in L a te m a m e n k a
6
in einem m üh sam en , von zahlreichen K o nflikten begleiteten U n te rw e r fu n g s - und
p j s z ip lin ie ru n gsp ro z eß ab ge ru n g en w erden. G ro b gesp ro ch en lassen sich dabei
zw ei Phasen u n te r sc h eid e n 17, ln der ersten Phase w äh re n d des 17. und 18. J a h r ­
hunderts fand das statt, w as G erhard O estreich als F u n d am e n tald isz ip lin ieru n g
bezeichnet hat: Die m o n arch ische Spitze verstärkte ihren U n te rw e r f u n g s- und
G e h o r s a m s d r u c k so w o h l auf den im Entstehen begriffenen staatlichen E x e k u tiv ­
apparat als auch auf die Gesellschaft insgesam t. B eider Freiheiten w u rd e n e in ­
geschränkt, sie w u rd e n v erm e h rt für staatliche Ziele und Interessen in die Pflicht
Genommen. Diese B em ü h u n g e n w are n in b e zu g auf die Staatsorgan e selbst, die
Verw altung und das M ilitär, d urch aus erfolgreich; beide w u rd e n in jener Zeit zu
einem gefügigen In strum en t in den H än d e n d er politischen M ac h th ab e r geform t
(„Stabsdiszip lin “). D agegen dran gen die staatlichen K o n tro llan stre n gu n ge n nicht
bis auf die untere Ebene der gesellschaftlichen S c h ic h tu n g sp y ra m id e durch . N eue
Formen statistischer E rfassung säm tlich e r Bürger, M aß n ah m en ih rer ad m in istr a ­
tiven E in rah m u n g und G än g e lu n g so w ie d rak o n isc h e S trafan d ro h u n ge n für den
Fall der M iß ach tu n g staatlich er Ver- und G ebote ko n n te n nicht d a rü b e r h in w e g ­
täuschen, daß das G ros d e r B ev ö lk e ru n g , einsch ließlich K rim in e lle r und R a n d ­
gruppen, im Z eitalter des A b so lu tism u s noch au ß e rh alb der R e ic h w e ite des staat­
lichen Zugriffs lag. Dies sollte sich erst in d er z w e ite n Phase, die das 19. und frühe
20. Jahrhundert um faßte, ändern. O b w o h l in ihr au to kratisch e H e rrsc h afts­
system e durch p arlam en tarisch e M o n arch ie n o der D e m o k ratien ersetzt w u rd e n ,
welche dem B ü rg e r ge w isse R ech te e in räu m te n u n d die o b rigk eitlic h e M a c h t a u s ­
übung e in k lagb aren R egeln un terw arfe n , n ah m n u n m e h r die K o ntro ll- und P en e ­
trationskapazität staatlich er M ac h tin stan z en in einem bis dah in k a u m v o rstellb a­
ren M aß e zu. Dies lag, w a s die gestiegenen M ö g lich k eite n , ein T errito rium bis in
die letzten W in k e l zu b eherrschen, betrifft, v o r allem am raschen A u sb au des
Schienen- und S traßenn etzes, der seinerseits w ie d e r u m eine Folge des in d u strie l­
len A ufsch w un gs, des z u n e h m e n d e n H an d e ls so w ie des W ach stum s u n d der stei­
genden M o b ilität der B e v ö lk e r u n g war. A ls so ziale D isz ip lin ie ru n g sin stru m en te
par excellence e rw iesen sich Betriebe u n d Anstalten, die den Z öglin gen und Insas­
17 Die Literatur zu r im folg enden behandelten T h e m a t ik ist selbst lü r H is toriker, die a uf die
brühe N euzeit spezialisie rt sin d, kaum noch überschaubar. Sie setzt sich u.a. kritisch mit den
Arbeiten von M ax Weber, N o r b e r t Elias un d M ic hel Foucault auseinander, w elch e die D is ­
zip linierungsdebatte a ngestoßen haben. D er Verfasser b egn ügt sich mit dem H in w e is auf e i­
nige für ihn besonders in stru ktiv e Beiträge: G e r h a r d O e s t r e i c h , S t r u k t u r p r o b le m e des e u r o ­
päischen A b solutism us, in: ders., Geist und Gestalt des frü h m o d ern en Staates. A u s g e w ä h lte
Aufsätze (Berlin 1969) 179-197; S te fa n B r e u e r , S o zia ld iszip lin ieru n g. P ro b lem e und P r o ­
blem verlagerungen eines K o nzepts bei M ax Weber, G erh ard O estreic h und M ic hel Foucault,
in: C. S ach ß e, F. T e n n s t e d t (H rs g .), Soziale Sic herheit und soziale D is z ip lin ie r u n g (F ra n kfu rt
1986) 45 -69; M o h a m m e d R a s se m , B em e rku n ge n z u r „S o z ia ld isz ip lin ie r u n g “ im F r ü h m o d e r ­
nen Staat, in: Z eitschrift für Politik 30, H eft 3 ( 1983) 21 7 -2 3 8 ; kü nftig zitiert: R a ssem , B e m e r­
kungen. Einen guten Ü b e r b lic k über die G es am tepo ch e bietet M i c h a e l M a n n , T h e Sources of
social power, Vol. II, T h e rise of classes and nation-states, 1760-1914 (C a m b r id g e 1993);
speziell auf die M ach teliten bezo gen W o lfg a n g R e i n h a r d (H rsg.), Les élites du p o u v o ir et la
construction de l’ Etat en E u rop e (Paris 1996).
62
Peter W a ldm a n n
sen ein neues Z eit- und P flich tgefühl verm ittelten: S ch ulen und K asernen, F abri­
ken, G efängnisse, Z ucht- und A rb eitsh äu se r (letztere gab es allerd in gs schon seit
dem 16. Jah rh u n d e rt). D er w ic h tig ste staatliche A gen t, d e r in den sich schnell au s­
deh nen den G ro ß städ ten über H y g ie n e und Sau b e rk eit, R u he, O r d n u n g und S i­
cherheit w ach te, w a r die erstm als 1838 in L o n d o n e ing efü hrte und von da sich
ü b er den g an zen K o ntinen t v erb reitende urb an e S c h u t z p o liz e i18.
In der R ü c k sc h a u u n d verglich en mit L ate in a m erik a ersch ein en vor allem zw ei
Z üge w ich tig, w elc h e den A u fstie g des e u ro päisch en Staates zu u n b esch rän kter
M ach tfülle ken n z eic h n ete n : Z um ersten w a r dies d er starke R iv alitätsd ru c k , der
auf den sich h e rau sb ild e n d en e u ro päisch en H e rrsc h a ftsz en tre n lastete. Die k o n ­
fessionelle K o n k u rre n z und die K o n k u r r e n z z w isc h e n den ständig um die H e g e ­
m o n ie in E urop a k äm p fe n d e n an gehen den Staatsgebild en w are n der H a u p tm o to r
ih rer E n tw ic k lu n g u n d z ugleich der H eb el, um G läu b ig e und U n te rtan en ver­
m eh rt in die Pflicht zu n e h m e n 19. B eisp ielsw eise setzten die M o n arc h e n eine
regelm äß ig e B esteu e ru n g der B ü rg er nur d an k dem stän d igen H in w e is auf die aus
K riegen resultieren den G efahren u n d die für eine w ir k s a m e V erteid igun g erfo r­
derlich en fin anziellen A u fw e n d u n g e n durch. D er an dere Z ug b ezieh t sich auf das
m entale P en d an t z u r E rlan g u n g des G e w altm o n o p o ls, den geistigen D isz ip lin ie ­
ru n gsp ro z eß : B ez e ich n e n d erw e ise verlief er in E urop a „von oben nach u n ten “ .
D e m N e o sto izism u s v erpflichtete G elehrte w ie Ju stu s L ip siu s, E rasm u s von R o t ­
terdam und andere hatten bereits früh gem ah n t, H e r rsc h e r u n d alle diejen igen , die
p olitische V e ra n tw o rtu n g trügen, m ü ß te n z un ächst selbst ihre Leiden sch aften im
Z aum halten und ein Verhalten gem äß den klassisch en T ugend en der digni tas,
f i r m it as , c o n s t a n t i a u n d c l e m e n t i a erlernen, bevor sie d ergleich en von ihren U n ­
tertanen e rw arten k ö n n te n 20. A u c h w en n F ürsten b eleh ru n g en dieser A r t in ihrer
p ra ktisch e n T ra gw eite nicht üb ersch ätzt w e rd e n dürfen, w eisen sie d och darauf
hin, daß z u m in d est im G ru n d satz die M ax im e an e rk an n t w u rd e , die H e r rs c h e n ­
den sollten ein V orbild für die B eherrsch ten sein.
N ac h einer solchen M a x im e suchen w ir im k o lo n ialen S p an isc h a m erik a v erg e b ­
lich. Z w a r w are n auch dort, w ie aus einer k ü rz lic h e n U n te rs u c h u n g von Peer
Sch m idt h erv o rgeh t, die n eostoischen Leh ren leidlich b ekan n t und verbreitet,
d o ch spricht nichts dafür, daß sie bei den K o lo n ialb eam te n oder K reolen auf
18 /' .C. Mathe?', P u blic O r d e r in the A g e of the C h a rtists (M a n c h e ste r 1959); für die Ent­
w ic k lu n g in P re uß e n A lh r e c h t Funk, Po lizei und Rechtsstaat. D ie E n t w ic k lu n g des s taatli­
chen G ew a ltm o n o p o ls in Preußen 1848-1914 (F ran kfu rt, N e w York 1986).
19 D ieser in der neuen L itera tu r besonders h erausgestellte Z u g der euro päis chen E n t w ic k ­
lu ng ist schon von B e rtra n d de J o u v e n e l in den 40er Ja h r en kla r ge sehen w o r d en . B e r t r a n d d e
J o u v e n e l , D u pouvoir, insbes. Kap. 18 (D e la co n curren ce p olitiqu e) (P aris 1972). Ein v o r lä u ­
figes Resurnc der F o rs ch u n g w ir d ge zoge n von J o h a n n e s B u r c k h a r d t , D ie F ried lo s igk eit der
F rühen N eu zeit. G r u n d le g u n g einer T h e o rie der B ellizität Europas, in: Zeitschrift für H is t o ­
rische F o rsch un g 24, H eft 4 (1997) 50 9 -5 7 4 ; zu r Rivalität der K onfe ssionen, W o lf g a n g R e in ­
h a r d , Z w a n g z u r K o nfession alisic run g. P ro le g o m e n a zu einer T h eo rie des konfessio nellen
Zeitalters, in: Zeitschrift fü r H is to risc h e F o rs ch u n g 10, F le h 3 (1983) 25 7-277 .
20 R a ssem , B e m e rk u n ge n 221 ff.; M iinkler, Im N a m e n des Staates 185 ff.
Zur T ran sform atio n des eu ro päischen Staatsm odells in L a tein a m erik a
63
f r u c h t b a r e n B oden gefallen w ä re n 21. A u c h von anderen Fällen k o lo n iale r H e r r ­
schaft ist b ekan n t, daß m an sich in den K o lo nien, unter B eru fu n g auf die a u ß e r g e ­
w öhnliche, von den R e g ie re n d e n im M u tte r la n d n ur sch w er zu b eurteilende Sachu n d P roblem lage, gern das Rech t h e rau sn im m t, G esetze zu m ißach ten oder für
die eigenen Z w e ck e z u rec h tz u b iege n . In b e z u g auf die spanischen U b e r s e e k o lo ­
nien kann an ge n o m m e n w e rd e n , daß sie so w o h l von den tem p o rär do rt w e ile n d en
A n g e h ö r i g e n der sp an isch en K o lo n ialv erw altu n g als auch von den K reolen m e h r ­
h eitlich als C h an ce einer m ö glichst raschen und gegebenenfalls rücksich tslo sen
B e r e i c h e r u n g verstanden w u rd e n . W en n gleich sich die K rone w ie d e rh o lt g e g e n
die A u sb e u tu n g der Indios u n d die c h ro n isch e N e ig u n g z u m A m tsm iß b ra u c h
s te m m te , gab sie doch ebenso r egelm äß ig schließlich nach. Teilweise leistete sie so ­
gar der N e ig u n g z u m A m t e r k a u f u n d z u r K o rrup tio n zu sätzlic h Vorschub, indem
sie ihren B eam ten ein so geringes E ntgelt für deren h oh eitlich e T ä tig k e ite n g e ­
währte, daß diese p raktisch g e z w u n g e n w u rd e n , auf illegale G esch äftsp rak tiken
auszuw eich en 22. Als das spanische K ö nigsh aus sch ließlich in der z w e iten H älfte
des 18. Jah rh u n d e rts die o b rig k e itlic h en Z ügel an zo g und mittels einer V e rw al­
tungsreform ( “ In te n d a n te n sy ste m “) das S te u e rau fk o m m e n d e r K o lonien zu S t e i ­
erern trachtete, da w eh rten sich diese u n d sagten sich - in so w e it ist die Situation
durchaus der N o r d a m e r ik a s vergle ich b ar - v om M u tte r la n d e los. M it anderen
Worten: Ihre p olitische U n a b h ä n g ig k e it fiel gen au in den Z eitp u n kt, zu dem die
A u sw irk u n g e n des von eien e u ro päisch en Staaten ausge h e n d en Z en tralisierun gsund D isz ip lin ie ru n gssc h u b s auch an der la tein am erik an isch en P erip h erie sp ü rb a r
zu werden begannen.
W u rde in E urop a d u rc h die F ran z ö sisch e R e v o lu tio n und die sk izz ie rte E n t­
w ic k lu n g im 19. J a h rh u n d e rt die K luft z w isc h e n den w e itg e h e n d e n staatlichen
Ansprüchen auf L e n k u n g und K ontrolle d er B ü rg e r und den realen L e b e n sv e r­
hältnissen zu n eh m e n d geschlossen, so riß sie in L ate in a m er ik a im G egen teil i m ­
mer w e iter auf. D ie sich ü b er einen b eträchtlichen Z eitrau m h in z ie h en d e n U n a b ­
h än gigkeitskriege m ü n d ete n b e k an n tlic h in innere F eh d en u n d W irre n , bei denen
sich rivalisierende C a u d illo s die Vorherrschaft ü b er die selbstän dig g e w o rd en e n
Gebiete streitig m achten, w o b e i die öffentliche O r d n u n g w e itg e h e n d z u s a m m e n ­
brach23. U b er Ja h rz e h n te h in w e g w a r e n W illk ü r und G e w a ltm iß b r a u c h an d e r T a 21 P e e r S ch m id t, N e o e s to ic is m o y d is c ip lin a m ien to social en Ib ero am éric a co lo nial (siglo
XVII), in: K a r l K o h u t, S o n ia V. K o s e (H rsg.), Pensam ie nto eu ro pa y cu ltura colo nial ( F r a n k ­
furt/Main 1997) 181-204.
22 H orst P i e ts c h m a n n , A m te r h a n d e l un d K o rrup tio n , in: W alth er L. B e r n e c k e r u.a. (H rsg.),
H an dbu ch der Geschic hte L atein a m erik a s, Bd. 2, M ittel-, S ü d a m e r ik a un d K arib ik bis 1760
(Stuttgart 1994) 363 ff.; ausfüh rlic h e r dazu H o r s t P i e t s c h m a n n , B u ro c ra cia y co r ru p c ió n en
Hispanoamérica colo nial. U n a apr o x im a ció n tentativa, in: N o v a A m e ric a n a 5 (1992) 11-37.
2j I n g e Buisson, H e r b e r t S ch o tt e li u s , Die U n a b h ä n g ig k e it s b e w e g u n g e n in L a tein a m erik a ,
1788-1826 (Stu ttgart 1980); I n g e B u is so n , Zerfall des spanischen W eltreic hes und die S taaten ­
bildung in L atein am erik a, in: W elttrend s 1995, H eft 6, 25 -3 5 . Vgl. auch das Kapitel „L a te in ­
amerika in der spätko lo n ialen Phase und der Perio de früher S ta ats b ild u n g (176 0 -1 8 3 0 ) von
J o h n R. Fisher, in: W a lth er L. B e r n e c k e r u .a . (H rsg.), H a n d b u c h der G eschic hte L a t e in a m e ­
rikas, Bd. 2, I„ateinam erika von 1760 bis 1900 (Stu ttgart 1992) 15 ff.
64
Pctor W a ldm ann
geso rdn un g, galt nur das Recht des Stärkeren. Als sch lie ß lic h d er jew eils m ä c h tig ­
ste dieser Kriegsfürsten sich gegen seine K o n k u rren ten d u rc h g ese tzt hatte, den
N ationalstaat begründete, und, beraten von juristisch gesch u lten In tellektuellen ,
die mit der europäischen und n o r d am e rik an isc h e n R e c h ts e n tw ic k lu n g vertraut
waren, eine Verfassung erließ, da w a r es im a llge m e in en schon zu spät, u m den
E n tw ic k lu n gs- und M aehtv orsp ru ng des Staates auf d e m alten K ontinent noch
aufzuholen. Wenngleich es nicht an ern stgem ein ten A n str e n g u n g e n fehlte, den
Verfassungstext auch in die p olitische W ir k lic h k e it u m z u se tz e n (die Verfassungsväter verstanden sich häufig auch als Erzieher ih rer L än d er), blieb doch ein d e u t ­
licher Abstand zwischen den rep u b lik an isch en , auf die P rin z ip ie n der G e w a lt e n ­
teilung, der bürgerlichen Freiheit und G leichheit e in g e sc h w o re n e n V erfassungs­
texten einerseits, und der politischen Praxis an dererseits bestehen, die von A uto ritarism us, Personalismus und k lien telistischen B e z ie h u n g sn e tze n gep rägt w ar24.
Eine unüb erseh b are Schizophrenie von D isk u rs und D e n k e n ist seitdem zum
festen Sign um lateinam erikanischer Politik gew o rd en .
U m zu verstehen, w arum der Staat in L ate in a m erik a nie zu einer glaubhaften
K opie des europäischen Vorbildes w e rd e n k on n te, m uß m an noch drei w eitere
U m stän d e in R echnung stellen: Erstens das Fehlen ernsth after auß en p o litisc h e r
K onflikte, die das eigentliche S c h w u n g r a d der e u ro päisch en S ta a tsen tw ic k lu n g
w äh re n d der ganzen frühen N e u z e it g eb ildet hatten. Die G r o ß rä u m ig k e it L a te in ­
am erikas ersparte den jungen Staaten verbissene territo riale A u s e in a n d e r s e t z u n ­
gen, w ie sie im eng gekam m erten Europa un v erm e id lic h w aren und ließ eher die
effektive A usfü llu n g und K ontrolle des teilw eise im m en sen (oder extrem z e r k lü f ­
teten) eigenen Territoriums zum P ro b lem w erden. Z w e ite n s v erm iß t m an in L a ­
tein am erika die Betriebe und A nstalten, die eine k a u m zu ü b ersch ätzen de Rolle
bei der U n te rw erfu n g und „ A b rich tu n g “ der breiten B e v ö lk e r u n g in E uropa
spielten. Das M ilitär in L ate in am erik a w a r ü b er J a h rh u n d e rte h in w e g eine s c h w a ­
che und z ud em undisziplinierte Institution, F ab rik e n e n tstanden in den auf den
E xport tierischer und mineralischer Rohstoffe sp ezialisierten L än d e rn frühestens
ab den 30er Jah ren dieses Jah rh u n d erts, die Schulen w a r e n und sind gro ßen teils in
p rivater H an d. Die einzige, system atisch O r d n u n g und Z ucht v erb reiten d e Insti­
tution w a r der Jesuitenorden, der noch w äh re n d der K o lo n ialzeit aus L atein am erika vertrieben w u rde. Schließlich ist drittens nicht zu vergessen, daß diese Staaten
unter einem repu blik anisch-freiheitlichen Vorzeichen g e grü n d e t w u r d e n 23. D am it
entfiel der sich über mehrere Jah rh u n d e rte e rstreck en d e ab so lu tistische Vorlauf,
d er in Europa jene G runddisposition z u r U n te rw er f u n g un ter die Staatsgew alt
e rze u gt hatte, die es dem lib eral-d e m o k ratisc h e n Staat des 19. Jah rh u n d e rts gestat­
tete, relativ mühelos das begonnene W erk der E in p assun g der B ü rg er in den n a tio ­
nalstaatlichen O rd n u n gsrah m e n zu vollenden.
24 Valdés, Eine kritische A naly se, insbes. S. 3 2 5 ff.; Brian L o v e m a n , T h e C o n s titu tio n of
Tyrannv. R egim es of Exception in Spanish A m erica (Pittsburgh, L o n d o n 1993).
23 D a v i d A. B ra d in g , Nationalist!) and S ta te -B u ild in g in Latin A m e ric a n H istory, in: IberoA m erikan isch es A rch iv 20, H eft 1-2 (1994) 83 -108, 94 f.
Zur T ran sform atio n des euro päis chen StaatsmodelLs in L a t e m a m e n k a
65
Das Aushandeln des Gehorsams (negociar la obediencia)
Was sich als u n v o llk o m m e n e A u sb ild u n g der Staatsm acht darstellt, kann u m g e ­
k eh rt auch als relativer T rium p h der gesellschaftlichen F ü h ru n g sg ru p p e n , d er bro~
ke>; i n t e r m e d i a r i o s , M ach tfakto ren oder w ie im m e r sie in der L ite ratu r genannt
w erden, über das politische H errschaftszentrum dieser L ä n d e r verstanden w er­
den. Sie haben zu v erh in d ern g e w u ß t, d aß der Staat sich von d e r Gesellschaft a b ­
löste und als eine A nstalt eigenen Rechts k onstituierte, w elch e die R a h m e n b e d in ­
gun gen und V erhaltensn o rm en für den einzeln en so w ie so ziale G ru p p en v e r b in d ­
lich festlegte. In L ate in a m erik a w u r d e der Staat nie z u m S e lb stz w e c k , sondern
blieb stets n ur M ittel für diverse gesellschaftliche Z w eck e. Er bildet ein in stitu tio ­
nelles F o ru m , auf dem so w o h l p olitische F ü h ru n g sc liq u e n als auch sch w ächere
so ziale G rup p en ihre F o rd e ru n gen artik ulieren , Fnteressenkonflikte austragen,
eine U m v e r te ilu n g der E in k o m m e n sch an c en und V erm ögensverhältnisse zu e rre i­
chen suchen. F rag lo ser G eh o rsam von seiten der B ü rg er auf A n o rd n u n g e n staat­
licher A uto ritätsträge r hin ist bis z u r G e g e n w art die seltene A u sn ah m e geblieben.
Im R egelfall w ir d der G eh o rsam „ a u sg eh a n d e lt“26, d .h . cs w ird ein K o m p ro m iß
z w isc h e n A m tsträge rn , die den Staat so w ie das allgem ein e Wohl vertreten oder
w en igsten s zu vertreten vorgeb en, und w iderspen stigen , un z u frie d e n e n B ürgern
oder G ru p p en von B ü rg ern geschlossen. Insofern spiegelt der p olitische P ro z e ß in
L ate in a m erik a noch ein vorab so lutistisches, p rim ä r dem V erhan dlun gs- u n d Ver­
tragsp rin zip verpflichtetes V erfassun gsm o dell w id e r 27.
C h arle s T illv hat in einem häufig zitierten A ufsatz aus den 80er J ah re n d a r g e ­
legt, d aß der M a c h ta u f s c h w u n g des e u ro päisch en Staates der frühen N eu z e it auf
der fortgesetzten „E rp ressu n g“ seiner B ü rg er beruhte: Indem d er ab so lutistische
Fürst eine ständ ige B ed ro h u n g von seiten k rie gslü ste rn e r N a c h b arh e rrsc h er s u g ­
gerierte, fand er einen pro b aten V o rw an d, um seine F u n k tio n einer u n e n tb e h rli­
chen S c h u tzm a ch t für das L and u n d dessen B ev ö lk e ru n g im m e r mehr a u s z u w e i­
ten28. Es ist b e zeichn en d für L ate in a m e rik a, daß d o rt die R o llen eher u m g e k e h rt
verteilt w are n , daß n äm lich gesellschaftliche G ru p p en in die R olle des Erpressers
schlüpften und den Staat nach Kräften aussau gten o der auf andere Weise für ihre
p artik u laristisc h en Z w e ck e m ißb rauch ten . D ie P ressio n sanfälligk eit des latein ­
a m e rik an isc h en Staates ist sp ric h w ö rtlic h . Sie hängt zun ächst mit dessen D o p p e l­
stru k tu r z u sam m e n , der Tatsache, daß er n ur b edin gt eine b ü ro k ratisc h e A p p ara- h G o n z a lb o , C in d a d a n o s Im agin ario s 114, 124, 132 usf.
H ie r zeigt sich d urch au s eine Parallele zu r B e d eu tu n g des V ertragsprinzips als G run d lage
des V erfassungskonsenses m den U S A , w ie cs von J ü r g e n H e id c k in g m diesem Band h era u s ­
gearbeitet w u rd e , daneben aber auch zu den p olitischen D en k k a te g o r ie n ethnischer M in d e r ­
heiten in Kuropa, die g e g en ü b er dem Zentralstaat nie gew is se L oy a litä tsvo rb e h a lte a u f g e g e ­
ben haben. Vgl. P e t e r W a ld m a n n , Ethnischer R a d ika lism u s. Ursach en und Folgen g e w a lt ­
sam er M in d e rh eiten k o n flik te (O p la d e n 1989) 285 ff.
2S C h a r le s Tilly, W a r M a k i n g and State M a k in g as O rg a n iz e d C r im e , in: P. B. Evans, D i e t e r
R u e s c h e m e y e r , I 'b e d d a S k o c p o l (H rs g .), B n n g m g the State Back in (C a m b rid ge/ M a ss. 1985)
169-191.
66
Peter W a ld m a n n
tur im Sinne M ax W ebers, so ndern vor allem ein k lien telistisches N e tz w e r k u n g e ­
heueren A u sm a ß es darstellt, dessen M itg lie d e r in form ell v erpflichtet sind,
F reun d e und V erw an dte an den Vorteilen der M ac h t teilhaben zu lassen29. D er
U n m u t g rö ß erer G ru p p e n und Verbände über staatliche M a ß n a h m e n oder einen
politischen K ursw e ch se l äußerte sich tradition ell v o r allem m der A n d r o h u n g
oder dem ex em plarisch en V o llzu g von G e w altak ten . A n B eispielen aus der fern e­
ren oder jü n g e r e n V ergan gen h eit fehlt es nicht. D azu zählen etw a auffällige T ru p ­
p e n b e w e g u n g e n in einer nahe der H au p tstad t gelegenen G ro ß kase rn e, w e n n p o li­
tische E n tsch eid un gen anstehen, die die Interessen des M ilitärs tangieren; m ili­
tante S treik ak tio n en sam t der B ese tzu n g von G e b äu d e n d urch Staatsangestellte,
denen eine G e h altse rh ö h u n g v e rw e ig e rt w ir d ; m it G e w alta u ssc h re itu n g e n ver­
b un d e n e D e m o n stratio n en von U n te rsch ic h t- und M a rg in a lg r u p p e n als R eak tio n
auf die V erteuerun g d e r G ru n d n a h r u n g sm itte l oder d er Preise für N a h v er k e h r s ­
mittel. Im Z uge der jü n g sten D e m o k r a tisie r u n g sw e lle h aben sich die D ru c k m ittel
stärk e r z u m k o m m u n ik a t iv - s y m b o lis c h e n Bereich hin verlagert, d och am G r u n d ­
m echan ism us der E in flu ß n ah m e auf den Staat mittels Pressio n en und B ez ie h u n ­
gen und der A u s h a n d lu n g von K o m p ro m isse n nach dem R e z ip r o z itä tsp r in z ip hat
sich nur w e n ig geändert.
D ie Frage liegt nahe, w a r u m die M a ch te lite n dieser L ä n d e r sich ü b erh au p t auf
die k o m p liz ierte F orm des m o d ern e n R echtsstaates eingelassen haben, u m ih re In­
teressen zu a rtik u lie ren u n d ihre K o nflikte a u sz u tra g en , anstatt ein sim pleres
H errsc h aftsm o d e ll, e tw a p atrim o n ia le n M usters, v o r z u z ie h e n 30. D ie A n tw o r t ist
vielschichtig. Z u m ersten ist daran zu erinnern, daß n icht w en ige dieser Staaten in
der Tat über J a h rz e h n te h in w e g un ter einem M ilitä rre g im e standen, das die G e ­
w alte n te ilu n g aufgeh o b en hatte und in seiner G r u n d s tr u k t u r auf die alleinige
H errsch aftsach se: h ier die m ilitärisch e E x ek utive - d o rt d er bun te Rest von In te r­
essengrup p en und p o litisch en M a ch tasp iran ten , r e d u zie rt war. W en n sie den no ch
allesam t, m in desten s äuß erlich , z u m d e m o k ratisch e n Verfassungsstaat z u r ü c k g e ­
keh rt sind, so ist dies z u m einen dem Einfluß des in ternatio n alen M e in u n g sk lim as
und den eng dam it v erk n ü p fte n V ergab ek riterien in te rn atio n aler O rgan isatio n e n ,
w ie des In tern atio n alen W ä h r u n g sfo n d s oder der W eltb an k , für Kredite und
H ilfsg e ld e r aller A rt z u z u sc h re ib en . Es lag jedo ch z u m an d eren auch an der p o li­
tischen S tim m u n g u n d dem P ro testd ru c k in diesen L än d e rn selbst, d urch welch e
die M ilitärs z u m p olitischen R ü c k z u g g e z w u n g e n w u r d e n . Eine fast 200jährige
am W esten o rien tierte V erfassun gstraditio n b e w irk t, daß In stitution en w ie eine
u n ab h än gig e J u s t iz o d e r freie W ahlen , auch w e n n gegen ihren Geist u n d B u c h sta ­
ben häufig v erstoßen w u rd e und im m e r noch w ir d , in zw isch e n zu einem festen
B estandteil d e r p olitischen K u ltu r dieser L ä n d e r g e w o r d e n sind. A u ß e r d e m gibt
29 Eine In terpretation dieses Ph ä n o m en s aus ö k o n o m is c h e r Sie ht liefert R u p e r t F J. P n tz l,
K o rrup tion und R e n t- S e e k in g in L atein a m erik a . Z u r politisch en Ö k o n o m ie auto ritärer
politisch er S y s te m e ( B a d en -B a d en 1997).
30 Sie he etw a H. C. F elip e M a nsilla, N e o p a trim o n ia lis tisc h e A sp e k te von Staat un d G esell­
schaft in L atein a m erik a . M a ch telite und B ü r o k r a tism u s in einer p olitischen K u ltu r des A u to ritarism us, in: Politische V ie rteljahresschrif t X X X ! (1990) 33—53.
Zur Tran sform atio n des euro päis chen Staatsm odelis in L a tein anierika
67
es noch ein aus der M ac h tp rax is e rw achsen des A rg u m e n t für die B eib e h altu n g des
hybriden Status quo, E uropäische B eo b achter m ag es h alsbrecherisch an m uten ,
wie P olitiker dieser Län d er im G ru n d e den R egeln und P rin z ip ien z w e ie r p o li­
tisch-gesellschaftlicher O r d n u n g e n R ec h n u n g tragen müssen: Einerseits den
G rundsätzen der G leichh eit, Freiheit s o w ie des Respekts vor den G esetzen, die in
der formellen Verfassung verankert: sind, und andererseits den G e ge n w e rte n des
P artik ularism us, der R ü c k sic h tn ah m e aut Son d erin teressen und k lien telistisehe
Bindungen, die eine k au m w en ige r w ir k u n g s m ä c h t ig e A lte r n a tiv o r d n u n g darstel­
len, W er indessen in diesen d ualen S tru k tu re n au fge w ac h sen ist, em p fin det sie
nicht un b edin gt als B elastun g, so ndern sieht m ihnen auch eine C h an ce : die
Chance der E rschließung z u sätz lich er R e sso urcen (trotz seiner S c h w äc h e stellt
der Staat nach wie vor ein w ich tiges Reservo ir an R essourcen dar) und vor allem
der E rw eite ru n g des je w e ilig e n M ac h tsp ie lra u m s d urch das gegen seitige A u ssp ie ­
len der beiden O r d n u n g e n 31,
Welche G rün d e letztlich auch im m e r für die latein am e rikan isc h en Eliten a u s ­
s c h l a g g e b e n d dafü r gew esen sein m ö gen, sich in einem dualen V erfassungsm odell
einzurichten, sicher ist, daß d ad u rch die Q u alitä t des Staates w ie auch des Staats­
handelns, gem essen am e u ro päisch en Id e a lty p u s, eine g r u n d le gen d e M o d ifik a tio n
erfahren hat. Z ugespitzt kö n n te man behaupten, der Staat v erk ö rp ere in diesen
Ländern nicht K onstanz und B ere c h e n b ark e it, so nd ern sei eine Q u e lle stän diger
Verunsicherung für seine Bürger. D iese U n sich erh eit trifft zu n äc h st d iejenigen,
die u n m ittelb ar im Staatsdienst beschäftigt sind o d er eine p olitische L au fb ah n e in ­
geschlagen haben. D er u n ter c h ro n isch em R e sso u rc en m an ge l leidende latein a m e ­
rikanische Staat v erm ag seinen A n ge stellten und Beamten nicht n u r k ein a u s r e i­
chendes und sicheres Salär zu garan tieren , so nd ern er respektiert auch nicht die
G rundregeln p olitischer G e w a lte n te ilu n g u n d b ü ro k ratisc h e r Professionalität.
Beamte m üssen stets auf E in m isch un gen ih rer V orgesetzten in ihre A m tsgesch äfte
gefaßt sein, die E xek utive setzt sich laufend ü b er die U n a b h ä n g ig k e it der J u stiz
hinweg - die Beispiele ließen sich v erm eh ren . In diesen K ontext fällt auch die B e­
obachtung, daß sich P arte ip o litike r bis vor k u r z e m nicht aut den A u s g a n g von
Wahlen verlassen k on n ten , da die A m tsü b e rn a h m e durch den je w e ilig e n W a h l­
sieger zusätzlich vom A u s g a n g seiner G espräche mit den b e d eu te n d e n M a c h t ­
verbänden, allen v oran das M ilitär, a b h in g 32.
Doch nicht n u r für P o litik e r und im öffentlichen D ienst B eschäftigte stellt der
lateinam erikanische Staat einen U n sich erh eitsfak to r dar, dasselbe gilt, in w e n n ­
möglich noch v erstärkte m M aße, für den einfachen Bürger. E x em plarisch für das
allgemeine M iß trau e n , das die E in stellu ng d er m eisten M en sc h e n in diesen L ä n ­
dern gegen üb er den S taatsbeh ö rden ken n z eic h n et, ist ihr Verhältnis z u r P o liz e i33.
Die latein am erikan isch e P olizei ist in den A u g e n der B ev ö lk e ru n g eine äußerst
31 Vgl. hierzu W a ld m a n n , S oziale A n o m ie 2 9 ff.
-’2 A n d erson , T o w a rd a T h e o r y 233, 236.
J- P e t e r W a ld m a nn, C a ro la S ch m id , Schutz o d er Erpressung. A n n ä h e r u n g an das R ealpro fil
der lateinam erikanischen Polizei, in: L a tein a m erik a J a h r b u c h 1996 ( F ra n k fu rt 1996) 39 -61.
68
Peter W ald m ann
d ub io se Institution, die in dem Ruf steht, nicht für die A u fre c h te rh a ltu n g der
öffentlichen Sicherheit und O r d n u n g zu sorgen, so n d ern im G egen ted die a llg e ­
meine U n sich erh eit noch zu erhöhen. S p r ic h w ö r te r w ie „w e n n D u einen P o liz i­
sten siehst, wechsle rasch die S traß e n se ite “ o d e r „w e n n Du m it einem Problem
zu r P olizei gehst, w ird noch ein grö ß eres d a r a u s “ geben d ieser v erb reiteten S k e p ­
sis und A n gst in treffender Weise A u s d r u c k . Ein b ra silian isc h er Sch riftsteller
zeigte d em Verfasser vor k u r z e m , auf seine M e in u n g z u r b rasilian isch en Polizei
befragt, m eh rere V isiten k arten von P olizisten seines W o h n o rte s (R io de Jan eiro ),
die er ständig mit sich führte. D iese B ew eise seiner F re u n d sc h aft m it P o liz e ib e a m ­
ten, so erklärte er, sch ützten ihn davor, von P o liz iste n e rp reß t u n d m iß h a n d elt zu
w e rd e n , w ä h r e n d er vor K rim in ellen keine A n g st habe, da sie ih m n u r das w e g ­
nähm en, w as er bei sich trage. D er K o m m en tar zeigt, w o die eige n tlich e W u rz e l
der Irritation d er B ü rg e r ü ber die S ta a tsv e r w a ltu n g im a llge m e in e n und die Polizei
im b eson d eren liegt: W e n iger in d er Tatsache, daß diese ihnen L asten u n d P flich ­
ten auferlegen, w as sch ließlich jede S ta atsad m in istratio n tut; v ielm e h r darin, daß
R ech te u n d Pflichten nicht in einem an gem essen en V erhältnis z u e in a n d e r stehen
und vor allem darin, daß d er Staat, in p erv erser V e rk e h ru n g seiner eigentlichen
F u n k tio n , zu einem sc h w e r k a lk u lie r b a re n R is ik o fa k to r im A lltagsleb en der B ü r ­
ger g e w o rd en ist.
U n ge ac h te t dieses allgem ein en U n b e h a g e n s und d er nach außen hin fragil und
h y b r id e an m uten d e n S t r u k tu r sollte man die T ragfäh igk e it und Z ä h leb ig k eit des
latein am e rikan isc h en Staates nicht un tersc h ätz e n . Er hat bereits w ie d e r h o lt seine
A n p assu n g sfäh ig k e it an tiefgreifende V e rän d e ru n gen d e r regio n ale n o d e r globalen
R a h m e n b e d in g u n g e n b ew iesen . In d e r V ergan gen h eit hat es k ein e sw e g s an m eh r
oder w e n ig e r re v o lu tio n ären B ew eg u n g en in diesem Teil A m e r ik a s gefehlt, die mit
dem A n sp ru ch auf eine rad ik ale S ä u b e ru n g des Staatsapp arates von k lien telistischen E lem enten auftraten. D ie E rfah run g hat jed o c h , w ie C h a rle s W. A n d erso n
schon früh erkan n te, gezeigt, daß ihr Elan im Z w eifel n u r so lang e an hielt, solange
sie noch v om Kreis d e r m aß g e b lich e n p o w e r c o n t e n d e r s ausgesch lossen w a r e n 34.
N a c h d e m sie, nicht z u le tz t d a n k ihres D ro h g e b ah re n s, die A u fn a h m e in den Z ir ­
kel der M achteliten erreicht hatten, pflegten sie ihre w e itre ic h e n d e n R e f o r m a n ­
sprü che z u r ü c k z u n e h m e n und sich den h e rrsc h e n d e n p o litisch en Sp ielregeln
w eitgeh en d an zupassen. Viel sp rich t dafür, daß sich diese erstau n lic h e A b s o r p ­
tio n skraft des p olitischen S y ste m s auch angesichts d e r jü n g ste n S t r u k tu r h e r a u s ­
forderun gen - L ib eralism us und D e m o k r a tis ie r u n g - b e w äh rt, d .h . daß z w a r fo r­
melle Z ugestän dn isse an den p olitischen Z eitgeist ge m ac h t w e r d e n , von denen
aber die tieferen M e ch an ism e n der M a c h ta u s h a n d lu n g u n d - V e r t e i l u n g n u r tangentiell b erü h rt werden-5-’’.
■'4 A n d e r s o n , T o w ard a T h e o r y 233 f.
35 G u i l l e r m o O ’D o n n e ll, O n d ie State, D em o c ra tiz a tio n and Sorne C o n c e p tu a l Pro blem s: A
Latin A m e ric a n V iew w ith Glanees at sorne p o s tc o m m u n is t C o u n t r ic s , in: W o rld D e v e lo p ­
m ent 21, Nr. 8 (1993) 1355-1369; ders.. Ilusiones sobre la C o n s o lid a c ió n , in: N u e v a Sociedad
62 (1997) 70-89.
D ietm ar R o th erm u n d
Der Strukturwandel des britischen Kolonialstaats
in Indien 1757-1947
Einleitung
D er b ritisch -in d isch e Staat w ar ein h y b rid e s Gebilde, das einerseits B auelem en te
v o rk o lo n ia le r H errsch aft enthielt, an dererseits d urch die Ü b e r tr a g u n g typ isch er
M e rk m a le britischer Staatlich k eit gep rägt w u rd e . Die M isc h u n g dieser E lem ente
v o llz o g sich z unächst nicht planvoll. A u c h erlebte G r o ß b ritan n ie n im späten 18.
und frühen 19. J a h rh u n d e rt einen en orm en p olitischen und so zialen W andel, der
sich m itte lb ar auf den b ritisch -in d isch en Staat a u sw irk te. Sch ließlich w u r d e in der
z w e ite n H älfte des 19. J a h rh u n d e rts z u r L e gitim atio n der H e rrsc h aft d er b riti­
schen Krone au sd rü c k lich auf das M o g u le rb e z u r ü c k g e g n f f e n , freilich n u r im
Sinne einer sym b o lisc h e n R e p rä sen tan z , die beim Bau d er im p erialen H au p tstad t
N e w Delhi ihren deutlich sten A u s d r u c k fand, als die Tage des britischen W e lt­
reichs bereits gez äh lt waren.
Im fo lgenden Text sollen zu n äc h st die G r u n d z ü g e v o rk o lo n ia le r H e rrsc h aft in
Indien und die E n tw ic k lu n g des Staats in G ro ß b ritan n ien und die Ü b e r tr a g u n g
seiner H e r rsc h aftsstru k tu re n auf In dien ein an d er gegen üb ergestellt w e rd e n . Der
britische Staat w a r vo rn e h m lich ein H an delsstaat. Er trat in Indien auf einen
A grarstaat und un terw art sich diesen, ohne ihn in einen H a n d e lsstaat u m z u w a n ­
deln. So ergab sich ein Z ustan d, den m an als parasitäre S y m b io se b ezeich n en kann.
U m diesen Z ustand näher zu k en n z eich n en , w ir d im dritten A b sc h n itt dieses B e i­
trags die N e u o r d n u n g von G ru n d ste u e r und B o den rech t an alysiert. A ls w ich tiges
H e rrsc h aitse le m e n t ist sch ließlich die E n tw ic k lu n g eines k o lo n iale n „ R e c h ts­
staats“ h erv o rzuh eb en . Er w ird im vierten A b sc h n itt vorgestellt. Als n o tw e n d ige
Folge d e r E rrichtun g dieses „R ech tsstaates“ ergab sich eine N e u o r d n u n g der G e ­
setzgeb un g, die zu V erfassun gsrefo rm en führte, die auf den in dischen Staat bis
heute prägen d g e w ir k t haben. Ihnen ist d er tünfte A b sch n itt ge w id m e t. A b s c h lie ­
ßend w ird ü b er die k o lo n iale W irtsc h aftso rd n u n g berichtet, die zu n äc h st d urch
die britische F re ih a n d elso rth o d o x ie g e k en n z eic h n et war, d an n ab er infolge von
W e ltw irtsc h aftsk rise und K rie gsw irtsc h aft in terven tio n istisch e Z üge an n ah m , die
auch für die E n tw ic k lu n g Indiens nach der E rlan gu n g d er U n a b h ä n g ig k e it b e­
stim m en d blieben.
D ietm ar R o t h erm u n d
I. G r u n d z ü g e vorkolon ia ler Herrschaft in Indien
Das alte in disch e K ö n igtu m , das als E xpo rtartikel bis nach Sü dostasien verbreitet
w u rd e , w ar d urch eine rituelle, d u rc h B rah m an e n legitim ierte So uv eränität g e ­
ken n zeich n et. Weite B ereiche der Gesellschaft blieben der S elb sto rgan isatio n
überlassen. Der K önig fun gierte dabei als Schiedsrichter. Sein e H e rrsc h aftsre ich ­
w eite w a r meist b esch rän kt, doch w e n n er über eine reiche Regio n herrschte und
g e n ü g e n d Streitkräfte z u r V erfügun g hatte, ko n n te seine m ilitärische In terv en ­
tio n sreich w e ite beträchtlich sein.
M it der E rric h tu n g islam isch er Staatsw esen in Indien ab ca. 1200 entstand dort
jedoch eine neue H errsc h aftsfo rm , die man als M ilitärfeu d alism u s bezeichnen
k ann. D ie M ac h t der neuen Staaten b eruhte auf stehenden H e e ren pro fessio neller
Reiterk rieger. D ie U n te rh a ltu n g dieser H e e re w a r kostspielig. Sie w u rd e d urch die
Z u te ilu n g von M ilitärleh en (iqta, j a g i r ) finanziert, die an die F u n k tio n des L e h n s ­
m an n es und nicht an seine Person geb un d en w aren . H in d u k ö n ig e , die sich gegen
die islam ischen E roberer z u r W eh r setzten, m ußten diese S tr u k tu r nachahm en.
D ie lo kale S e lb stv e rw a ltu n g w u r d e u n terd rü c k t. Es entstand eine m ilitärfeudale
U r b a n isie r u n g . D ie Städte dieser Zeit hatten meist eine dreifache F unktion. Sie
b e h e rb ergten die G arn ison , w a re n Z en tru m der B e z ir k sv e rw a ltu n g und z ugleich
M ärk te . D er lo kale K av a lle rie k o m m a n d a n t w a r in P erso n alu n io n auch V e rw al­
tungschef. U n t e r U m stä n d e n w a r er so gar der G rü n d e r der Stadt (z .B . Kempe
G o w d a in B angalo re). In den m eisten Fällen w ar der K o m m a n d a n t ein F re m d lin g
o hn e eigene H au sm ac h t. H a tte er h öhere A m b itio n en , strebte er als U s u r p a t o r ins
S taatsze n tru m und sicherte d am it die E rh altu n g der M ach tstruk tur. Es w a r t y ­
pisch, daß die neuen m ilitärfe u d ale n Staaten nach ih rer H a u p tsta d t (D elh i-S u ltanat, R e ic h von V ijay an ag ar) u n d nicht nach einer D y n a stie b enan n t w u rd e n . Eine
d y n a stisc h e B ez e ich n u n g k am erst w ie d e r mit den G r o ß m o g u ln auf, die ein G ro ßreich in Indien schufen, die m ilitä rfe u d ale G r u n d s tr u k t u r b eibehielten, aber das
Leh n s- u n d S teu erw e sen sta n d a r d isie rte n 1.
D ie M o n e tisie r u n g d e r G ru n d ste u e r w a r von e n tsch eiden der B e d e u tu n g für die
E rh altu n g der Z en tralm ac h t d e r G ro ß m o g u ln , z u m al sie sich auf eine besonders
teu re W affen gattun g, die b e w e g lich e Feldartillerie, grün dete. A u f w e n d ig e K rie g ­
fü h r u n g und das Ü b erstr a p a z ie r e n der A grarb a sis führten sch ließ lich z u m Zerfall
des M o g u lre ic h e s. Das 18. J a h r h u n d e r t w a r dan n durch eine K o m m erz ialisieru n g
der M a c h t g e k en n z eic h n et2. R e ic h e K aufleute und Steu e rp äc h te r w u rd e n zu
G läu b ig e rn region aler H e r rs c h e r in einem d ezen tralisierten p olitischen System .
1 Z u r D a rste llu n g d er vo rk o lo n ialen G eschic hte Indiens siehe H e r m a n n K ulk e, D i e t m a r R o t b e r m u n d (H rsg.), G eschic hte In diens ( M ü n c h e n 2 1998), künftig zitiert: K ulk e, R o t h e r m u n d ,
G esch ic hte In diens; ferner: H e r m a n n K u lk e (H rsg.), T h e State in In dia, 1000-1700 (Delhi
1995).
2 C h r i s t o p h e r A. B a yly , In dia n S o c ie ty and the M a k i n g of the British E m p ire ( C a m b r id g e
1987) 32 ff., ferner C h risto p h e)' A. B a yly , R ulers, T o w n s m e n and Ba/aars. N o rth In dian
S o c ie ty in the A g e of British Expansio n (D elh i 2 1992) 194 f.
D er S t r u k t u r w a n d e l des britischen Kolo m alstaats m Indien 1757-194/
71
Sö ld n e rfü h re r stellten sich dem besten Z ahlm eister z u r Verfügung. Die britische
O stin dicn gcsellsch aft ko n n te sich in dieser U m g e b u n g z u r T errito rialm ach t auf­
sc h w in gen . Ihre W u n d e rw affe w a r die Infanterie, die nach neuen euro päisch en
M e th o d e n gedrillt und von den indischen M achth abern , die n ur K a v alle rie tru p ­
pen ernst nah m en , z un ächst un tersc h ätz t w u rd e . Die euro päisch e Ü b erleg en h e it
in Indien w u r d e nicht d u rc h bessere Waffen begrü ndet, so nd ern aussch ließlich
durch bessere O rgan isatio n .
2.
Die Bedingungen der Übertragung
europäischer Herrschaftsstrukturen nach Indien
Die Ü b e r tr a g u n g von H e rrsc h aftsstru k tu re n setzt voraus, daß diese einen Grad
von A r tik u la t io n erreicht haben, d er es erm ö glic h t, sie von ih rem histo risch g e ­
w ach senen K ontext ab zu lö sen und in eine g an z andere U m g e b u n g zu v erp flan ­
zen. Im M itte la lte r galt dies fü r die Ü b e r tr a g u n g des indischen K ö n ig tu m s nach
S üdostasien. D iese Ü b e r tr a g u n g w a r je d o c h k ein e sw e gs m it einer k o lo n iale n A u s ­
b e u tu n g v erb un den. Sie erfolgte z u m e ist auf Initiative e in h e im isc h er H errscher,
die indische K u ltu rex p e rte n einlu den , die ihnen zeigten, w ie m an einen Staat
m ach t3. Die Ü b e r tr a g u n g britischer H e r rsc h a ftsstru k tu ren nach Indien erfolgte
d agegen nicht aufgrun d in disch er Initiative, sie w u rd e nicht einm al v o n d e r b riti­
schen K rone betrieben, so n d ern ergab sich allein aus den A k tiv itä te n einer b ü r g e r ­
lichen H an delsgesellsch aft. Diese w u r d e p ra k tisch zu einem Staat im Staate. Die
Ü b e r tr a g u n g von H e rrsc h a ftsstru k tu re n erfolgte d urch die V e rm ittlu n g dieser
Gesellschaft. D esh alb m uß zu n äc h st die F rag e b e an tw o rtet w e rd e n , w e lc h e
U m stä n d e den A u fstie g dieser Gesellschaft u n d die V erm eh run g ih rer M a c h t b e­
dingten.
D e r w ic h tigste U m sta n d w a r die K o m m e rz ia lisie ru n g der M a c h t in G r o ß b r i­
tannien im Laufe des 17. J a h rh u n d e rts. Vorher w a r dieses P h än o m e n im Z u s a m ­
m e n h an g m it der E n tw ic k lu n g Indiens im 18. J a h rh u n d e rt e r w ä h n t w o r d e n . In
G ro ß b ritan n ie n v o llz o g sich diese K o m m e r z ia lisie r u n g schon im 17. J a h rh u n d e rt,
sie hatte d o rt ab er eine viel b reitere u n d sicherere Basis als in Indien. Von b e so n ­
d e rer B ed e u tu n g w a r C r o m w e lls R e v o lu tio n , die die M acht der K rone brach, die
des P arlam en ts stärkte und da z u noch die B este u eru n g au sw eite te un d differen ­
zierte. Z ölle u n d V erbrauch ssteu ern w u rd e n w eit w ic h tig e r als die B esteu eru n g
des B odens. „Tax f arm in g “ n ah m zu, z u g le ich w u rd e n K re d itw ü r d ig k e it u n d K re­
dita u fn ah m e d e r R e g ie ru n g auf diese W eise v ergrö ßert. D ie R e g ie r u n g lieh Geld
und g e w äh rte ihren G läu b ige rn Steuerein z ugsrech te. Die K re d itv ergab e bediente
sich n euer M ittel, die rechtlic h ab gesich ert w a r e n 4.
3 K a lk e, R o t h e r m u n d , G eschic hte Indiens 172 f.
4 M i c h a e l J. B ra d d ick , T h e N erves of State. Taxatio n and F in a n cin g of
1558-1714 (M an c h e ste r 1996).
the English State,
72
D ietm a r R o th erm u n d
Die O stindicngesellschaft beteiligte sich an solchen G eschäften, auch sie w u rd e
zum G läubiger der R e gie ru n g und sicherte sich dam it die F ortd au e r ih rer P riv ile ­
gien. Im U nterschied zu p ro m in e n te n E inzelnen, die von diesem S y stem p ro fitie r­
ten, hatte die O stin dien gesellsch aft als K o rp o ratio n die M ö g lic h k e it in stitu tio n e l­
ler K onsolidierung. D ie E rrun gen sch aften k o rp o rativ er L e rn p ro ze sse ü b e r d a u e r ­
ten die Generationen. Dies galt auch für die K o n so lid ieru n g der B rü c k en kö p fe,
die die Gesellschaft in Indien aufbaute. Fern er traf sie bereits im 17. J a h rh u n d e rt
E ntscheidungen, die g eradezu m o d e rn an m uten . Sie stellte 1660 den Schiffsbau
auf einer eigenen Werft ein, gab dan n üb e rh au p t das Sc liiffseigcn tum aut und m ie ­
tete ( l e a s i n g ) die Schifte in d iv id u e lle r Schiffseigner3. A u ß e r d e m baute sie eine ei­
gene Bürokratie auf, den so genan n ten „C o v en an ted Service", dessen A n geh ö rige
eine regelrechte L aufbah n hatten und versetzb ar waren. Die G eh älter w are n g e ­
ring, und die K aution, die d er „C o v en an te d S erv an t“ bei der A u fn ah m e in den
Dienst hinterlegen m ußte, üb ertraf m eh rere Jahresgehälter. Es w u r d e also v o rau s­
gesetzt, daß der M an n sich vor O r t bereicherte. Die H in te r le g u n g der K aution
verhinderte, daß er dabei grö blich gegen die Interessen der Gesellschaft verstieß.
Die D irektoren d er G esellschaft hatten das Recht, K an didaten für diese Stellen
vorzuschlagen. Diese P atro nage w a r eine zusätzlic h e V ersicherung gegen A m t s ­
mißbrauch. Im Schadensfall ko n n te sich das D ir e k to r iu m an den P atron des A n ­
gestellten wenden. Die O stin d ie n gese llsc h aft als Staat im Staate p aßte in ihren
Stru k tu rm e rk m a le n gut in das M u ster der K o m m erz ia lisieru n g der M acht, das
G ro ßbritannien zu jen er Zeit auszeichnete.
Die koloniale Staatlich keit, die von diesen „C o n v e n an te d S e rv an ts“ getragen
w u rde, bildete sich zuerst in den B rü c k e n k ö p fen aus, die die G esellschaft an den
Küsten Indiens errichtete. Die A u fre c h te rh a ltu n g von R u h e und O r d n u n g in den
betreffenden Siedlungen, die D isz ip lin ie ru n g der einh eim isch en A rb eitersch aft
(Hafenarbeiter, Weber, B leich er etc.) erforderte die H e r a n b ild u n g einer z unächst
sehr rudim entären O b rig k e it, die nach und nach ihre S te llu n g ausb aute6. Das T ex­
tilgeschäft bedingte ein im m e r stärkeres E ngagem en t im H in te rlan d der B r ü c k e n ­
köpfe. Platte man zuerst n ur W aren aufgekauft, die der in disch e M a r k t gerade anbot, w u rd en im Laufe d er Zeit im m e r m eh r spezifische B estellun gen autgegeben
und mit Vorschüssen gearbeitet. B ritisch e Söldner, die die Gesellschaft im p o r ­
tierte, w urden v o rz u g sw e ise u n ter den W ebern rekrutiert, die vor O r t indische
Weber in neue P ro d u k tio n sm e th o d e n ein w eisen k on n ten , w e n n sie gerade nicht
ihr K riegsh an dw erk ausü ben m u ß t e n 7. In dem M aß e , in d em die A n gestellten der
Gesellschaft ins H in te rlan d Vordringen m ußten, m ehrten sieh auch ihre K e n n t­
nisse des Landes, und sie w u ß te n bald genau über die R e gierun gsgesch äfte und das
' K irti N. C h a u d b u r i, T h e T rading W o rld of A sia and die English East India C o m p a n v ,
1660-1760 (C a m b rid ge 1978) 133.
h R a v t Ahuja, Die E rz eug un g k o lo n ia ler Staatlich keit und das P ro b lem d e r A rbeit. Eine S t u ­
die zu r Sozialgcschichtc d er Stadt M adras und ihres H in terlan d es zw isc h e n 1750 und 1800
(unveröflentl. Dissertation U n iversität H e id e lb e rg 1997).
' S e r g io Aiolfi, Calicos und ge druc ktes Zeug. D ie E n tw ic k lu n g der englischen T e xtilve rede­
lung und der Tuchhandel der East India C o m p a n y , 16 50-1750 (Stu ttgart 1987) 381.
D er S t r u k t u r w a n d e l des britischen Kolonialstaats in Indien ¡ 7 5 7 - 1 9 4 7
73
S te u e ra u fk o m m e n der e inh eim isch en H e r r s c h « ' bescheid. Dies k am der G ese ll­
schaft z u g u te , als ihr A n ge ste llter R o b e rt C liv e 1757 den N a w a b von Bengalen
besiegte und 1765 vom G ro ß m o g u l die Steuerho h eit ( D n o a n i ) von B en galen im
N am e n der G esellschaft üb e rn ah m . C liv e hatte zu n äc h st dafür plädiert, daß die
britische K rone diesen R echtstitel üb e rn ah m , doch P rem ie rm in iste r Pitt w a r d a ­
gegen, w eil er befürchtete, daß K ö nig G e o rg III., der ohnehin ab so lu tistische A m ­
bitionen hatte, durch das S te u e rau fk o m m e n Bengalens in fin an z ie ller H in sicht
vom P arlam e n t u n ab h än gig w e rd e n könnte.
U n te r diesen B ed in gu n ge n entstand eine sehr m e r k w ü r d ig e S taatsk o n stru k tio n :
Die Gesellschaft ü b ern ah m die T errito rialherrsch aft in Bengalen und dan ach auch
in anderen P ro v inzen Indiens, übte sie aber bis 1858 form ell im N a m e n des
m ach tlo sen G ro ß m o g u ls aus. A n d e re rse its v erabschiedete das britische Parlam en t
G esetze ( R eg u Ui t in g Acts), die diesem h y b r id e n Staatsgebilde eine Verfassung g a ­
ben, die zu n äch st exekutive un d legislative B efugnisse nicht v o n e in an d e r trennte.
D em in K alku tta residierenden G e n eralg o u v e rn e u r stand in L o n d o n ein A u f ­
sichtsrat ( B o a r d o f C o n t r o l ) gegenüber, dessen V o rsitzender so zu sagen d er Vor­
läufer des späteren Indicm ninisters (S e c r e t a r y o f S t a t e f o r I n d i a ) w a r 8. D ie G esell­
schaft bildete einen Puffer z w isc h e n Indien und dem britischen p olitischen S y ­
stem. Ihre E inkünfte w u rd e n als D iv id en d e an che A k tio n ä re der Gesellschaft
gezahlt, ihre Verluste m uß ten jed o ch ebenso von diesen getragen w erd e n . In der
F olgezeit w urde zunächst das H a n d e ls m o n o p o l der G esellschaft vom P arlam en t
ab g e sch ath (1813) und ihr sch ließ lich so gar d er C h a ra k te r einer H a n d e lsg e se ll­
schaft ab e rk an n t (1833). So blieb die G esellschaft danach eine reine R e g ie r u n g s­
agentur. D er G e w in n , den sie aus dieser T ä tig k e it zog, durfte w e iterh in als D iv i­
dende an die A k tio n ä re der Gesellschaft au sgesch üttet werden.
D er Tatsache, daß die A n gestellten der Gesellschaft nun p ra k tisch R e g ie r u n g s ­
beam te w aren , w u rd e bereits 1793 durch eine V erw altu n g srefo rm R e c h n u n g
getragen , bei der die k o m m er z ie lle n F u n k tio n e n von der R e g ie ru n g stä tig k e it
getren nt w u rd e n und die mit der T errito rialv e rw a ltu n g betrauten A n gestellten
w ese n tlich h öhere G ehälter b e k a m e n , u m sie gegen K o rrup tio n geleit zu machen.
Das z u v o r b eschriebene P a tro n a g e sy ste m blieb aber bei der R e k r u tie r u n g auch
dieser „B eam te n “ erhalten. Die B eto n u n g der R o lle dieser neuen „ B eam ten “ soll
nicht bedeuten, daß die Briten ihren K o lo n iaistaat auf einer tabu la rasa e r rich te ­
ten. Ihre Zahl w a r sehr b egren zt, und ohne ihre in dischen U n terg e b e n e n hätten
diese w e n ig e n „leitenden A n g e ste llte n “ ü b e rh au p t nichts b e w irk e n k ön n en. Es
kam ihnen z ugute, daß die e inh eim isch en V orgängerregim e bereits eine e in g e­
spielte G r u n d ste u e r v e r w a ltu n g und O rg a n e einh eim isch er R ec h tsp rec h u n g h at­
ten, an die das britische V e r w a ltu n g ssy ste m „ an g e d o ck t“ w e rd e n k onnte. Der
in disch e B ü ro v o rste h e r im A m t des b ritischen „ C o lle c to r “ w a r insbeso n dere in
den frühen J ah re n der T errito rialherrsch att der O stin d ien gesellsch aft ott der e i­
gen tlich e H e r r der D istrik tv e r w a ltu n g . Es gib t eine vielbeachtete U n te rsu c h u n g
8 /. K. K a ye, T h e A d m in is tra tio n o! die East India C o m p a n y . A H is t o r y of In dian Progress
( L o n d o n 1853) 124 fl.
74
D ietm a r R o th e rm u nd
der Geschichte eines sü din dischen D istrik ts im frühen 19. Ja h rh u n d e rt, die den
E in d ru c k v erm ittelt, der C o lle c to r sei n ur eine M ario n ette in den H än d e n seines
B üro vo rstehers g e w e se n 9. D o c h in dem selb en Buch w ird die A rbeitsw eise eines
an d e re n britischen B eam te n geschildert, der es verstand, seine U n te rg e b e n e n ein ­
zusetzen, um so lchen e ige n m ä ch tigen B üro v o rsteh ern auf die Schliche zu k o m ­
men. D ie Stärke der O stin d ien gesellsch aft bestand auch hier w ie d e r darin, daß sie
als K o rp o ratio n eine k o lle k tiv e L e rn fä h ig k e it hatte und auf diese Weise die O b e r ­
hand behielt.
In zw ischen hatte der britische Staat einen b e m erk e n sw erte n W andel erlebt. Die
B ev ö lk e ru n g u n d das V o lk sein k o m m en w are n stark an ge w ach sen , die in dustrielle
R e v o lu tio n hatte die P ro d u k tio n sv erh ältn isse g ru n d le g en d ge w an d e lt. N eue
Ideen hatten sich verbreitet: A d a m S m ith hatte die F re ih an d elsth eo rie begrü ndet,
und J e r e m y B en tham p redigte die L eh ren des U tilitarism u s. D ie „E van gelicals“
setzten sich für ein n eues C h ris te n tu m ein und sorgten u n ter a n d erem für das Ver­
bot d e r Sklaverei im b ritischen W eltreich so w ie für clie E ntsen d u n g von M issio n a ­
ren in alle seine Länder. C h ristlic h e s S e n d u n g sb e w u ß tse in und U tilita r ism u s v e r ­
b anden sich zu einer gerad ez u aggressiven M isc h u n g von z ivilisato risc h em U b e rlegenheitsgefühl und d e r V erpflich tun g z u r W eltverb esserun g. L o rd M acaulay,
von dem später noch die R e d e sein w ir d , w a r ein b rillan ter R ep rä sen tan t dieses
b ritischen Zeitgeistes.
Dieses S e n d u n g sb e w u ß tse in w u r d e durch den g ro ß en A u fstan d von 1857 z u ­
tiefst erschüttert. Die B riten leiteten aus diesem Ereignis clie F o lg e r u n g ab, daß die
Inder die Segn un gen der Z ivilisation, die sie ihnen gebracht hatten, ablehnten und
auf tradition elle Weise regiert w e r d e n w o llten . Da die H e rrsc h aft d e r O s tin d ie n ­
gesellschaft nach dem A u fstan d d u rc h die d e r britischen K ro n e ab gelöst w u rd e,
die nun auch die F u n k tio n des in die V erban n un g geschickten G r o ß m o g u ls ü b e r ­
n ah m , lag es nahe, z u r L e g itim a tio n d ieser H e rrsc h aft auf die sy m b o lisc h e R e p r ä ­
sentanz des M o g u lreic h e s z u r ü c k z u g r e ife n . K önigin V ik to ria w u r d e K aiserin von
Indien ( K a i s a r - i - H i n d ) u n d aus diesem A n la ß w u rd e 1877 in Indien ein „ D a r b a r “
abgehalten, eine H o fv ersam m lu n g , w ie sie die G ro ß m o g u ln e in z u b e ru fe n p fleg­
t e n 10. D ie indischen F ürsten versa m m e lten sich do rt u n d w u r d e n m it O r d e n und
E hren zeichen belohnt, u m ihre L o y a litä t zu festigen.
D an e b e n w u rd e die im p eriale B ü ro k r a tie gefestigt u n d aufgew ertet. Das alte
P atro n ag esy ste m w u r d e abgeschafft. D ie neuen B ü ro k rate n w are n z u m eist A b s o l­
venten der U n iv e rsitäten von O x fo rd u n d C a m b r id g e un d m u ß te n eine strenge P r ü ­
fun g bestehen, um in den „Indian C iv il S erv ice“ (I.C .S.) aufg e n o m m en zu w erden.
Z w ar hatte K önigin V ik to ria in ih rer P ro k la m a tio n von 1858 ih ren in disch en U n ­
tertanen die G leichstellun g bei der A u f n ah m e in diesen D ien st v ersp roch en, aber die
9 R o b e r t E. I-'rykenberg, G u n t u r D istrict, 1788-1848. A H is t o r y of L ocal In flu en ce and C e n ­
tral A u t h o r it y in S outh In dia ( O x fo rd 1965).
10 B e r n a r d S. C o h n , „ R ep resentin g A u t h o r it y in C o lo n ia l In d ia “, in: B. S. C o h n (H rs g .), An
A n th r o p o lo g is t a m on g the H is to ria n s and O t h e r Essays (O x fo rd 21988) 63211'., ferner: J ü r ­
g e n L ü t t , Z w isc he n „ A u s b e u t u n g “ und „G oo d G o v e r n m e n t “, in: H istorisc he M itteilu n g e n
d er R a n k e G esellschaft (Beiheft 2 S ta ate n b ild u n g in Ü b ersee) 111 ff.
D er S tr u k tu rw a n d e l des britischen Kolo nialstaats in Indien I7;->/~1947'
75
b e treifen den A u sfü h ru n g sb e stim m u n g e n sorgten für eine w eitere D is k r im in ie ­
rung, Die Prüf ungen w u rd e n nur in L o n d o n abgehalten und m ußten bis z u m 19, L e ­
b ensjah r absolviert w erden. In der hatten dabei n ur eine C h an ce , w e n n sie in ganz
ju n g e n J ah re n auf eine E litcschule in E ngland geschickt w u rd e n , dann ab er erw ies
sich oft noch die o bligato risch e R e itp r ü fu n g als H ü rd e , und w en n auch die g e n o m ­
men war, kon n te es dem ju n g e n indischen V e rw altu n g sb e am te n passieren, daß er
w e g e n eines geringfü gigen Fehlers entlassen w u rd e , den man einem B riten v e r z ie ­
hen hätte. D er K orpsgeist des I.C .S. kon n te das E in drin gen eines frem d en Elements
nicht v ertragen. Es kam hinzu, d aß m an den Indern nach 1857 g ru n d sätz lic h m iß ­
traute. Dieses vage M iß trau e n w u rd e nach d er V erbreitung so z ia l-d a r w in istisc h e r
Ideen d u rc h T h e o rie n rassischer Ü b e rleg en h e it un term auert. Das G efühl z iv ilisa ­
torischer Ü b e rleg en h e it, das schon vor 1857 geherrscht hatte, aber dam als noch mit
der Z uv ersicht verb un d en war, m an k ö n n e auch den Indern die S e gn u n ge n dieser
Z ivilisation v erm itteln, w u rd e d urch die V orstellung abgelöst, daß n u r die w eiße
R asse z u r Z ivilisation befähigt sei, die anderen Rassen aber g ru n d sätz lic h m in d e r ­
w e rtig seien. D ie w eiße R asse müsse die an deren Rassen in deren eigenem Interesse
beherrschen, R u d y a r d K ipling, d er zu jener Zeit als ju n ge r J o u rn a lis t m Indien
arbeitete, gab diesem G efühl mit den geflügelten W o rten vom „w h ite m a n ’s b u r d e n “
und v o m „lesser breed w ith o u t the la w “ beredten A u s d r u c k 11.
D er in disch e N a tio n alism u s w u r d e d u rch diese britische „ W eltan sc h au u n g “ g e ­
rad e zu h erausgefordert. D ie N a tio n a listen berief en sich auf die P ro k la m a tio n K ö­
nigin V ikto rias, aber auch auf die Ideen lib eraler P h ilo so ph en w ie J o h n S tuart M ill
und traten gegen den R asse n d ü n k e l d e r im p eriale n britischen Elite an. In G r o ß ­
b ritan nien selbst w a r das späte 19. J a h rh u n d e rt d urch lebhafte p olitische D eb atten
u n d R e fo rm b e stre b u n g en ge k en n z eic h n et. D er britische Staat: e n tw ic k e lte sich
weiter, doch das W eltreich w u rd e z u m R e fu g iu m reaktio n ärer Kräfte. D er Vizek ö n ig L o rd C u r z o n forderte g e rad ez u , m an m öge u m das Im p e riu m einen Zaun
ziehen, an dem eine W arntafel stehe: „P arlam en tariern ist d er Z utritt v erb o te n “ .
Das R ez ep t, D e m o k ratie n u r für den H a u s g eb r a u c h und D espotie für das Im p e ­
rium , w a r nicht auf die D auer an w en dbar. Eine p arlam en tarisch e D e m o k r a tie w ie
die G r o ß b ritan n ie n s ko n n te nicht auf lange Sicht einen D u alism u s der H e rrsch aftsfo rm en aufrechterhalten. D ie indischen N atio n alisten w ie d e r u m , denen
m an die p arlam en tarisch e R e g ie r u n g sf o r m lange Zeit v oren th ielt, b eharrten
sch ließlich so sehr auf die Ü b e r n a h m e gerade dieser R e g ie ru n g sfo rm , daß sie A l ­
tern ativen daz u nicht einm al ernsthaft disk utierten . So entfaltete die Ü b e r tr a g u n g
der britischen Staatsform nach Indien eine E ig en d y n a m ik , che sich auch d u rc h die
A n k n ü p f u n g an die T radition des M o g u lre ic h e s nicht m e h r b rem sen ließ. Bei der
S c h ild e ru n g d er V erfassun gsrefo rm en w ir d dieses T h e m a w ie d e r aufgegriffen. Z u ­
nächst ab er sollen z w e i w ese n tlic h e B ereiche k o lo n iale r H errsch aft, n äm lic h die
H e rrsc h aft über den B oden un d die E ntsteh un g des k o lo n iale n „R ec h tsstaats“,
n äh er u n tersuch t w erden.
11 P e t e r }. M a r s h a ll (H rsg.), C a m b r i d g e Illustrated H is t o r v of the British Em p ire ( C a m ­
b rid ge 1996) 218 f.
76
I) i e t m a r Ro t h c n n u nd
3. Die Grundlagen des kolonialen Agrarstaats:
Steuerveranlagung und Bodenrecht
W ie bereits erw äh n t, bem äch tigte sich in Indien der b ritische H an d e lsstaat, v e r tre ­
ten durch die O stin dien gesellsch aft, eines m ilitärfe u d a le n A grarstaats, und es en t­
stand eine parasitäre S y m b io se , bei der der indische „ W ir t “ d u rc h den britischen
„P arasiten “ geläh m t und ausgesau gt w u rd e . D as A ussaugen hatte nur in sofern
eine G renze, als der Parasit am F o rtleb e n des W irts in teressiert w a r und die S y m ­
biose d ah er so gestalten m ußte, daß sie sich auf die D a u e r b e w äh rte. D am it soll
nicht gesagt sein, daß die Briten von v orn h erein eine b e w u ß te P la n u n g betrieben
hätten, die die A b sc h ö p fu n g von R esso urcen und die R e g e n e ra tio n sf ä h ig k e it des
„ W irts“ sorgfältig au fein ander ab stim m te. Z unächst ein m al g e n ü gte es, die Ineffi­
zienz und die R e ib u n g sv erlu ste des m ilitärfeud alen A g rarstaats zu elim inieren.
D ie Ineffizienz bestand d arin, daß einh eim isch e H e r rsc h e r G r u n d s te u e r v e r a n la ­
g u n g (jarna) und - e in tr e ib u n g ( h as i l ) u n te r sc h ie d e n 12. D am it ergab sich eine ge­
wisse T oleranz, die klim atisch en u n d politischen S c h w a n k u n g e n gle ic h e rm aß e n
R e c h n u n g trug, meist ab er d az u führte, daß w en ig e r e in g etrieb e n w u rd e , als m ö g ­
lich g ew esen wäre. Die B riten gin gen davon aus, daß das, w as o rd n u n g sg e m ä ß
veranlagt w o rden war, auch voll und gan z e in g etrieb e n w e r d e n s o llte 13. Ferner
führten sie ihre rechtlic hen V o rstellungen vom E ig en tu m am B o d e n ein und im
E in klan g dam it das R e c h t z u r Z w a n g sv e r ste ig e r u n g des B esitzes von S te u e r­
sch uldnern . Im üb rigen ü b e rn ah m e n sie üb erall die S te u e rv e ra n la g u n g ssy ste m e
d er V o rgängerregim e, die diese oft in der E ndphase der V e rteid igu n g gegen die
britischen Eroberer verschärft hatten.
Im frühen 19. Ja h rh u n d e rt w u rd e n d ie b ritischen S te u e rb e am te n d u rc h die L e h ­
ren R ic ard o s in der D u r c h fü h r u n g h oh er S te u erv e ran la g u n g e n erm u tigt. R icardo
hatte betont, daß sich im Z uge der W ir ts c h a f ts e n tw ic k lu n g d e r W ert des Bodens
als knappes G ut auto m atisch erhöht. D ie W ir ts c h a f ts c n tw ic k lu n g sei aber eine
L eistun g der gesam ten G esellschaft und k äm e vö llig un v erd ie n t ( u n e a r n e d i n c r e m e n t ) dem B esitzer des B oden s zugute. D ieses „un earned in c re m e n t“ dürfe
also un ter U m stän d e n bis z u r vollen H ö h e d u rc h B este u e ru n g e in g ez o ge n w e r ­
den, d am it es auf diese Weise d e r Gesellschaft in sgesam t z u g ele ite t w e r d e 14. Die
von den britischen S teuerb eam ten em g e zo g e n e n B eträge k am e n n atü rlich k ein e s­
w egs der indischen Gesellschaft z u gu te , so ndern dienten d er F in a n z ie r u n g des
p arasitären K olonialstaats, d och d a r ü b e r sc h w ie ge n sich die S te u e rb e am te n n atü r­
lich aus. Sie bildeten sich n u r etw as darau f ein, daß sie den in effizienten m ilitä r ­
12 h j a n H a b ib , The A gra ria n S y s te m of M u g h a l In dia (155 6 -1 7 0 7 ) (L o n d o n 1963) 196 f.
D i e t m a r R o t h e r m u n d , G ov ern m e n t, L a n d lo r d and Peasant m India. A g r a r ia n Relations
u n d e r British Rille, 1865-1935 (W iesb a d en 197S) 36 f., k ü n ftig zitiert: R o t h e r m u n d , G o v e r n ­
ment, L andlord and Peasant.
14 D i e t m a r R o t h e r m u n d , T h e L a n d R ev en ue Problem in British India, in: d.ers. (H rsg.), The
Indian E c o n o m y un der British R u le and O t h e r Essays ( N e w Delhi 1981) 9 2 -1 1 3 , künftig
zitiert: R o t h e r m u n d , L and R evenue Problem .
D er S t r u k t u r w a n d e l des b ritischen Kolonialstaats in Indien 1757-1947
77
feudalen A grarstaat reorganisiert und ein g rößeres S te u e rau fk o m m en zu v erz e ich ­
nen hatten als ihre Vorgänger.
W ä h r e n d der m ilitärfeudale A g rarstaat nicht n u r unter Ineffizienz, sondern
auch un ter R e ib u n gsv erlu ste n litt, w u ß te n die Briten auch diese letzteren rasch zu
m indern. Die m ilitärfeudalen L e h n sh e rren hatten viel Geld für T ruppen und für
ihre eigene H ofhaltung ausgegeb en. Den Briten gelang es bald, gan z Indien zu
entw affnen und zu „befried en “ . Ihre b ü rge rlic h e n Beamten kam en mit einem k lei­
nen V erw altu ng sstab aus und b etrieben keine au fw e n d ig e H o fh altu n g. So k o n n ­
ten die S teuerausgab en beträchtlich r e d u zie rt w e rd e n . Die Briten beto n ten freilich
nicht, daß die A usg aben der L eh n sh errn im L an de blieben und als Sold, Lohn
oder G eh alt in indische Taschen flössen, w äh ren d die K o lo n ialh erren hohe B e ­
träge au ß e r L an des transferierten.
Das gläu b ige rfre u n d lic h e britische R ech t, das in G r o ß b ritan n ie n viel z u m W ir t ­
sc h aftsw ach stum beigetragen hatte, erw ies sich in Indien h aup tsächlich als ein
Instrum ent der reib un gslo sen Ste u e rein tre ib u n g. Die Position des indischen
G eld verleihers w u rd e d urch dieses R e c h t en orm g e s tä r k t 15. A g r a r k r e d it stand den
B auern jed erz eit z u r V erfügung, freilich zu hohen Zinsen, die b e w irk te n , daß sie
in p e rm an e n te r Sch uldk n ech tsch aft gehalten w u rd e n . Die p arasitäre S ym b io se
von britischer K o lo n ialh errschaft und in disch em A grarstaat fand im Verhältnis
des G eld verleihers zum B auern ihre E ntsp rech un g. Die Briten b etonten die Idee
der Vertragsfrciheit z w isc h e n G läu b ig e rn und Sc h u ld n e rn und b eachteten nicht,
daß ihr S te u e rd ru c k den Bauer, d e r nicht lesen und schreiben kon n te, in die A b ­
h än gigkeit des gerissenen G eldverleihers trieb. Sie nahm en n ur d a n k b a r zur
K enntnis, daß der G eldverleiher stets K redit für die B ez ah lu n g der Steuern g e ­
w ährte, um nicht die S icherheit zu v erlieren, die der L an d b esitz seines Sch uldn ers
ihm bot.
N a c h d e m die B riten w äh re n d des gro ß en A ufstan ds von 1857 erlebt hatten, daß
sich viele B auern den A ufstän disch en anschlossen, kam en ihnen Z w eifel, ob sie sich
nach w ie vor auf die B eh errsch un g des indischen A grarstaats verlassen k o n n te n und
ob der d u rc h ihr Rech t p riv ile gie rte G eld ve rle ih e r als p olitische S tütze ihres R e ­
gimes b ra u c h b ar sei. Ein B auern aufstan d im H o c h la n d von M a h a ra sh tra im Jah re
1875, bei dem G eldverleiher angegriffen und Sch uldsch ein e v erbrannt w u rd e n , ver­
stärkte diese Zweifel. In den letzten Jah rz e h n te n des 19. Jah rh u n d e rts erließen die
Briten eine Flut von G esetzen, m it denen Pächter geschützt und die V eräußeru ng
von L and an G eldverleiher b ehin dert w u r d e 16. Die Briten hatten sich offensichtlich
entschlossen, nun in der Schicht der reicheren B auern eine soziale Basis für ihre
H errsc h aft zu finden und von den P rin z ip ien der Vertragsfreiheit und des g lä u b i­
gerfreun dlich en Rechts ab z u rü c k e n . D ie ser K ursw echsel ergab sich a llm äh lich und
ohne öffentliche P ro p agan d a. Er blieb auch späteren indischen H is t o r ik e rn ver­
borgen , die stets w iederho lten , die B riten hätten sich auf die „feudal classes“ ge­
stützt. In dieser H in w e n d u n g z u r U n t e r s t ü t z u n g der B auern k o m m t d eu tlic h eine
13 R o t h e r m i i n c l , G ov ern m ent, L a ndlord and Peasant 17.
16 R o th e rm u ru L G ov ern m ent, Lancllord and Peasant 61 ff.
78
D ietm a r R o th erm u n d
p lanvo lle N e u g e sta ltu n g der oben e rw äh n te n p arasitären S y m b io se z u m A u sd r u c k .
Sic e rw ies sich z un ächst als sehr nützlich. Die Briten ko n n te n den w ach senden N a ­
tio n alism us städtisch er K reise in Indien mit G elassenheit betrachten, solange sie
sich der U n terstü tz u n g d er B auern sicher w aren . Erst der rap ide A grarp re isv erfall
in der W eltw irtsch aftsk rise m achte den B riten in dieser H in sic h t einen Strich durch
die R ech nu ng. Die durch die Krise betroffenen B au e rn w an d ten sich von den Briten
ab und dem N atio n a lk o n g r e ß zu, der unter der F ü h ru n g G an dh is schon seit 1920
den B auern m eh r B each tu n g ge sc h e n k t hatte.
Das britische G r u n d ste u e r sy ste m z erb rach in der Krise, und die b a u e r n fr e u n d ­
lichen Gesetze, die das g lä u b ig e rfre u n d lic h e R ech t e in g esch rän k t hatten, erw iesen
sich in der W irtsch aftskrise als u n g e n ü g e n d 17. Damit w u rd e diese Krise auch z u r
Staatskrise des K olonialstaats. Dies w u rd e z un ächst da d u rc h üb e rd eck t, daß der
nun von den B auern un terstü tz te N a tio n a lk o n g r e ß sich als staatstragen d erwies
und in m eh reren P ro vinzen Indiens R e g ie r u n g e n bildete - un d dies haup tsäch lich
deshalb, weil die län d lich en W ä h le r von ihm eine Besserung der b estehenden G e ­
setze erw arte ten und dam it einen d e m o k ratisch e n W andel und nicht einen revo ­
lution ären K am pf un terstützten . Dies m uß im Z u sam m en h an g m it den Verlassu n gsre fo rm e n gesehen w e r d e n , ü b er die später zu berichten ist, n ac h d e m z u ­
nächst die E n tw ic k lu n g des k o lo n ia le n „R ech tsstaats“ geschildert wird.
4, Der Werdegang des kolonialen „Rechtsstaats“
D ie V e rp flan z u n g des b ritischen R ec h ts nach Indien w ar ein lan gfristige r Vorgang,
der nicht m it d er J u r is d ik t io n ü b er Inder, sonderen ü b er in Indien lebende E u r o ­
p äe r seinen A n fan g nahm. N ac h bescheidenen A n sätze n in den „P resid en cy
T o w n s “ k am es schließlich z u r E n tsen d u n g eines kö n iglic h en obersten Richters,
der ein e m „Sup rem e C o u r t “ in K alk u tta Vorstand. A ls der G e n eralg o u v e rn e u r
W arren H astin gs aus L o n d o n den Befehl b ekam , „to stand forth as D i w a n “, d. h.
die mit d er D iw a n i von B en galen gegeb en en Pflichten, zu denen auch die D iw a n iG erich tsb ark e it gehörte, au sz u ü b e n , w an dte er sich an den R ich ter Sir Eiiah Imp e y und bat ihn, che A u fsic h t auch über diesen Z w e ig der G e rich tsb ark e it zu
ü b erneh m en. D ie D iw a n i-G e r ic h t s b a rk e it ( D i w a n i Ada l at ) betraf nicht e tw a nur
reine S teuerangelegen heiten, so n d ern das gesam te G e w o h n h e itsre c h t auß erh alb
des v om Kadi ( Q a z i ) w a h r z u n e h m e n d e n islam ischen Rechts, Zu d iesem G e w o h n ­
h eitsrecht geh örten fast alle E rbschafts- und B o den rech tsfragen und das ganze
E lindurecht, das nicht unter die J u r is d ik t io n des Kadi fiel. I m p e y nahm sich dieser
A u fg a b e mit gro ß em Eifer an und e n tw a r f eine P ro z e ß o r d n u n g m it allen F o r m a ­
litäten für die V o rladun g, die Sch riftlichk eit des Verfahrens etc. So sch uf er die
G ru n d lag en für den k o lo n iale n Rechtsstaat, der bald alle F u n k tio n e n der ein h ei­
m isch en G erich tsb ark e it u su rp ie re n sollte. Im p e y setzte sich d e m V o rw u rf aus,
17 D i e t m a r R o t h e r m u n d , India m the G reat D ep ressio n , 1929-1939 ( N e w D elh i 1992) 123 ff.
Der S t r u k t u r w a n d e l des britischen K olo nialstaats in Indien 1757-1947
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z w e i H e rren zu dienen, denn als k ö n ig lic h er R ic h te r kon n te er eigentlich kein
A m t in der le tztlich noch dem G r o ß m o g u l u n tersteh en den D iw a n i-G e r ic h tsb a rkeit überneh m en. D och da die O stin d ie n gese llsch aft selbst als D ie n er z w e ie r H e r ­
ren fungierte, besagte dieser V o rw urf p ra ktisch sehr w en ig. Im p e y übte sein A m t
w e ite r aus, und sein N ac h fo lge r W ilh a m s Jo n e s ließ das H in d u r e c h t k odifizieren
und ü b ersetzen , um den b ritischen B eam ten , die in ihren D istrik te n die P ositio n
des R ichters (District M a g i s t r a t e ) innehatten, ein In strum en t für ihre R e c h tsp re ­
ch un g an die H a n d zu g e b e n 18.
D ie britische R ec h tsp rec h u n g in Indien w ar von v ornherein kein u n e ig e n n ü t z i­
ges U n te rn e h m en . Sie brachte d em K o lo n ialstaat d urch die hohen G e r ich tsg e b ü h ­
ren E inkünfte ein, die die K osten für die E rh altun g von Richtern und G erichten
überstieg. D ie einh eim isch e G erich tsb ark e it v erlo r rasch an Boden, denn jeder,
der vor einem einh eim isch en G erich t den K ürzeren gezogen hatte, lief z u m b riti­
schen R ic h te r und z w a n g dam it auch seinen K ontrahenten, vor diesem zu erschei­
nen. Die britische G erich tsb ark eit verb reitete sich g eradezu w ie ein F läch e n b ran d
über gan z Indien. Das galt bald auch für che Strafgerich tsb arkeit, bei der die B r i­
ten, so lange sie v o rgab e n im N a m e n des G r o ß m o g u l R ech t zu sprech en, auf den
R at islam ischer „law officers“ h ören m uß ten. Sie legten diesen Rat aber so aus, daß
er ih rem R ech tsem p fin den entsprach. Die im islam ischen R ec h t vorgeseh en en
V e rstü m m elu n ge n , die sie gräßlich fanden, w u rd e n nicht v ollzogen, statt dessen
verh än gten die b ritischen R ic h te r viel rascher die Todesstrafe, die bei E ig e n tu m s­
delikten dam als auch noch in G ro ß b ritan n ie n h äufig ausgesp roch en w u r d e 19.
U m die M itte des 19. J a h rh u n d e rts w u rd e die b ritisch-in d isch e R ech tsp raxis
von juristisc h e n E xperten k o d ifiz ie rt und in einigen g ro ßen G esetzen z u s a m m e n ­
gefaßt (z .B . C o n t r a c t Act, T r a n s f e r o f P r o p e r t y Act, Evidence Act)20. D am it w ar
B ritisch -In d ie n selbst dem M u t te r la n d voraus, in dem dergleich en w e itge h e n d
von R ic h te rn au fgru n d von P räz e d e n z fälle n ( j u d g e - m a d e lazv) entschieden
w u rd e . E inige dieser in d isch en G e se tz e sw e rk e w u r d e n später in an dere britische
K o lo n ien exportiert. A u c h das Strafgesetz w u r d e 1861 d urch den von L o rd M ac a u la y geschrieb en en Indian Penal C o d e reform iert, m an nah m en d g ü ltig von der
F iktio n A b sch ied , im N a m e n des G r o ß m o g u l islam isches R ech t zu sprechen.
Eine B eso n d erh eit des b ritischen Ju s t iz w e s e n s in Indien w a r die v ö llige Tren­
n u n g von z iviler G e rich tsb ark e it un d Ste u e rgerich tsb arke it. Das hatte einen guten
G ru n d : D ie B e m e ssu n g sg ru n d lag e d er G ru n d steu e r sollte niem als z u m G e ge n ­
stand eines P rozesses vor G erich t w e r d e n . Die Briten sprachen z w a r viel von der
w issen sch aftlich en G e n au ig k eit ih rer Steu e rveran la gu n gen , w are n sich aber letzt­
lich doch der Tatsache b e w u ß t, daß es sich u m w illk ü r lic h e E n tsc h e id u n ge n h an ­
delte. D er In sta n z e n z u g der S te u erg erich tsb a rk e it (C o l l e c t o r - D i v i s i o n a l C o m m i s s i o n e r - B o a r d o f R e v e n u e ) b edeutete, daß im m e r n ur Vorgesetzte ü b e r die
is M. P. Ja in , Outlines of In dian Legal H is t o r y (B o m b a y 51990) 581 f., k ü n ftig zitiert: Jain,
O u th nes.
19 J ö r g Fisch, C h e a p Lives and D ear Lim bs. T h e British Tran sform atio n of the Bengal C r im inal Law, ( 7 6 9 - 1 8 1 7 (W iesb aden 1983).
20 ja in , O u tlin es 4 9 6 ff.
80
I ) i e t m a r R o t h c r m u nd
E ntscheidun gen ihrer U n te rge b e n en urteilten, die o hn eh in ihrer A u fsic h t u n te r ­
standen. In den Steuergesetzen (L a n d R e v e n u e ( J o d e s ) w ird der In sta n z e n z u g und
die Z u stän d igk e ite n d er je w e ilig e n B eam ten bis ms E inzelne geregelt, über die B e ­
m e ssu n g sg ru n d lag e der G ru n d ste u e r ab er findet man do rt kein W o rt21.
D er kolo n iale Rechtsstaat w a r so, w ie er im 19. J a h rh u n d e rt seine en dgültige
G estalt annahm , ohne Z w eifel ein im p osantes G ebäude. M an kann das S y ste m des
k o lo n iale n Rechts aber auch als ein N e tz betrachten, in dessen M aschen sich die
Inder verstrickten. U b e r die A u s w ir k u n g e n des g läu b ig e rfre u n d lic h e n Rechts
w u rd e bereits berichtet. Es gab aber auch Gesetze, die in das indische B rau ch tu m
e m g n tfe n , so etw a das Verbot d er W it w e n v e r b re n n u n g o der e tw a ein G esetz z u r
F estsetz un g des H eiratsalters ( Ag e o/ C o n s e n t ) . U n te r den indischen N a t io n a li­
sten gab es heftige D ebatten z w isc h e n den So z ialre fo rm ern und den N a tio n a l­
revo lution ären, Die R e fo rm e r b e grü ß te n die U n te rstü tz u n g ih re r B em ü h u n g en
durch en tsprechende G esetz ge b u n g, die N a tio n a lre v o lu tio n ä re hielten dagegen,
daß d urch jedes G esetz, mit dem sich die Briten zu Sch iedsrich tern in solchen F ra­
gen m achten, die Freiheit der Inder k o m p r o m ittie rt werde.
Bei der U n te rd r ü c k u n g n atio n alistisch er B estreb un gen k on n ten sich die Briten
im m e r auf ihre Pflicht berufen, R u h e und O r d n u n g au frech tzu erh alten . So gese­
hen w a r der kolo n iale R echtsstaat eine Z w an gsan stalt, die nur in gerin ge m M aße
auf die A u s ü b u n g von G e w alt an g e w ie se n war, z um al d urch die E ntw affn un g der
B ev ö lke ru n g das G e w altm o n o p o l des Staates ohn eh in gesichert war.
Welch gru n d le gen d e p olitische B ed e u tu n g die k o lo n iale G e se tz g e b u n g hatte,
w u r d e schon am Beispiel der b au e rn fre u n d lich e n G esetze gezeigt, die ihre W ir ­
k u n g nicht verfehlten. Der A u sb a u des k o lo n ialen Rechtstaats hatte freilich auch
noch eine andere p olitische W ir k u n g , die letztlich der M ac h te rh altu n g der K o lo ­
nialherren z uw iderlief: Die E ntsteh un g eines g ro ßen Standes in d isch er R e c h tsan ­
wälte. Selbst m der k lein sten D istrik th au p tstad t gab es schon im 19. J a h rh u n d e rt
eine „Bar A sso c iatio n “ und eine „Bar L ib r a r y " , die zu A n s a tz p u n k te n politischer
W ille n sb ild u n g w e rd e n k on n ten . Indische B ildu n gsb ürger, d ie k a u m hoffen
kon n ten , in den I.G.S. au fgen o m m e n zu w e rd en , ko n n te n nach dem britischen
P rin z ip „from the bar to the b e n c h “ eine Stellun g als R ic h ter erlan gen , ja sogar
R ic h te r am O b erlan d e sge ric h t (H i g h C o u r t ) w erden.
Das K ontrastbeispiel Indonesiens ist hier lehrreich, denn d o rt üb erließen die
N ie d erlän d e r die G erich tsb ark eit w e itge h e n d d em e inh eim isch en A del. D ie K o lo ­
n ialv e rw altu n g kodifizierte z w a r auch hier das G e w o h n h e itsre c h t ( P a n d e k t e n v a n
b e t A d a t r e c b t ) , aber da die R ec h tsp rec h u n g w e iterh in trad itio n elle n B ahnen
folgte, gab es keine in d on esischen R ech tsan w älte.
D ie in dischen R e ch tsan w älte haben nicht nur im natio n alen F re ih e itsk am p f
eine füh rende R olle gespielt, sie blieben auch nach d er E rla n gu n g der U n a b h ä n ­
gigk e it B ew ah re r reeh tsstaatlicher P rin zipien . Im K olonialstaat w a r z w a r das
Recht letztlich ein In strum en t dieses Staates und diente d er M a c h te rh a ltu n g der
- 1 R o t h e r m u n d , Land R ev en ue P ro blem 97.
Der S t r u k t u r w a n d e l des britischen K olo nia lstaats m Indien 1737-1947
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K o lo n ialh erren, aber die R e ch tsp rin z ip ien ließen sich auch gegen die K o lo n ia l­
herrschaft zitieren und dann auch z u r S ic h e ru n g einer freien R e p u b lik v erw en d en ,
5, Die Entwicklung der Verfassungsreformen
Die E rrich tu n g und E rhaltung des k o lo n iale n Rechtsstaats erfo rderte auch eine
koloniale G e se tz ge b u n g vor O rt. M a n ko n n te diese u n m ö g lic h dem P arlam e n t im
fernen L o n d o n überlassen. Z un äch st blieb diese dem „G o v ern o r G en eral in
C o u n c il “ überlasssen, w o b e i der Z usatz „in C o u n c il “ nur andeuten sollte, daß ein
g e w isse r in stitutio n eller R ah m e n gegeben war. Der „ C o u n c il“ w a r ein E x e k u tiv ­
rat. D ie G esetze w u r d e n als „ R e g u la tio n s “ (V ero rdnu ngen , Erlässe) bezeichnet.
Sie w a re n m an chm a l w id e rsp rü c h lic h , man sah ihnen an, daß sie ohne juristisch en
Sach verstan d e n tw o rfen w o r d e n w a r e n 22. Erst als L o rd M a e a u la y 1835 als „ L a w
M e m b e r “ dem „ C o u n c il“ h in z u g e fü g t w u rd e, änderte sich das. M it ihm begann
eigentlich die b ritisch-in disch e L egislative. N u n versteht man un ter einer L e g isla ­
tive meist ein G re m iu m , das auf irge n d e in e Weise den V o lksw illen repräsentiert.
D av o n kon n te natü rlich zun ächst keine Rede sein. Erst nach der Ü b e r n a h m e der
H errsch aft über Indien durch die K rone w u rd e ein Im perial L egislative C o u n c il
(1861) errichtet, dem einige Inder an gehö rten . Es w aren aber lediglich vom V ize­
k ö n ig ernan n te H o n o ratio re n , k eine g e w äh lten Volksvertreter23. D er 1885 g e­
grü n d e te Indische N a tio n a lk o n g r e ß , zu n äc h st eigentlich auch n ur ein H o n o r a t io ­
renverein, m achte es sich z u r A u fgab e , eine E rw eite ru n g dieses Legislativrats
d u rch zu se tze n . Dabei sollten auch ge w äh lte Volksvertreter b e rü ck sic h tigt w e r ­
den. Dieses Z ugestän dn is w u rd e 1892 gem acht. Einige p ro m in en te A n g e h ö rig e
des N atio n alk o n g re sse s ko n n te n nun ihren E in z ug in den Im perial L egislative
C o u n c il halten, sie w u rd e n von Provincial Legislative C o u n c ils gew äh lt. A b e r der
V iz e k ö n ig behielt sich vor, sie nach der W ahl zu ernennen (n o m i n a t i o n u p o n e l e c tiori). G ru n d sätz lic h hätte er einem m iß lie b ige n Volksvertreter die E rn e n n u n g
v e r w e ig e r n k ö n n e n .
D er W ahlsieg der L ib eralen Partei in G r o ß b ritan n ien (1906) und die E rn e n n u n g
des lib eralen P h ilo so ph en J o h n M o r l e y z u m In d ie n m in ister erw eck te bei den L i ­
beralen im N atio n a lk o n g r e ß H o ffn u n g en auf eine Verfassungreform in ihrem
Sin n e24. M o r l e y hatte es jed o ch m it dem kon servativ en V iz e k ö n ig L o rd M in to zu
tun, der trotz des M a c h tw e ch sels in G ro ß b ritan n ie n im A m t blieb, da m an dem
P rin z ip h uldigte, daß der V iz e k ö n ig kein Spielball der b ritischen P arte ip o litik sein
sollte. M o r le y pochte jedoch auf seinen Vorrang als p arlam en tarisch e r M in ister
und betonte, d er V iz e k ö n ig sei ebenso sein U n te rg e b e n e r wie der A m tsd ie n e r vor
21 R o t b e r r n u n d , G ov ern m ent, I.andlord and Peasant 56.
P a r a m a t m a Sb a ra n , T h e Im peria l L eg islative C o u n c il of India from 1861 to 1920. A S t u d y
23
of
to
24
the Interactio n of C o n s titu tio n a l R cfo rm s and N a tio n a l M o v em en t w ith Special Reference
the G ro w th of Indian L egisla ture up to 1920 ( N e w Delhi 1961).
S t a n le y W olpert, M o rle v and India, 1906-1910 (B e r k e le y 1967).
82
D ietm a r R o th erm u n d
seiner Tür. L etztlic h w u rd e M o r l e y jedo ch von M into und dessen intelligentem
S taatssek retär R is le y au sm an ö v rie rt und davon ü b e rze u gt, daß die p a r la m e n ta ri­
sche R e g ie ru n g sfo rm selbst in b esch eidenen A n sätzen für Indien u n ge e ign et sei.
In einer R e d e gin g M o r le y dan n so gar so weit, öffentlich zu b ehau pten, d e r P a r ­
lam e n tarism u s sei für die Inder eb en so w e n ig geeign et w ie ein P elz m an tel im
h eißen in dischen Sommer. Er ließ sich auch v om W ert sep arater W ä h le r s c h a f ­
ten für die indischen M u slim s ü b e r z e u g e n , n achdem R isle y ih m v o rge h alte n hatte,
daß territo riale W ä h le rsch afte n z u r In teressenag gregatio n bei M e in u n g s m in d e r ­
heiten geeign et seien, nicht ab er bei religiösen M in d e rh eite n 25. Als Beispiel zog
er P ro testan ten und K ath o like n in Irland heran. D a M o r le y frü h e r einm al für
Irland z u stä n d ig gew esen war, hatte R isle y dieses B eip iel offen b ar m it B edach t
erw äh nt.
Als d er füh ren de liberale N a tio n a lis t G. K. G o k h ale k u r z v o r seinem Tod im
J ah re 1915 v om G o u v e rn e u r von B o m b a y u m einen E n tw u rf seiner Vorstellungen
ü b er die R ic h tu n g der nächsten V erfassun gsrefo rm gebeten w u rd e , erhob G o k ­
hale k ein e E in w än d e gegen die in z w isc h e n eingefü hrten separaten W ä h le rsc h afte n
für M u slim s u n d sah den V erfassun gsfortsch ritt in A n alo g ie z u m d eutsch en
R eich tstag, den er a u sd rü c k lic h e r w ä h n te 26. D ieser E n tw u rf w u r d e sp äter als sein
„Politisches T estam en t“ b ezeichnet. Es b e zo g sich freilich n ur auf einen F o r t ­
schritt in d er bereits d urch die M o r le y - M in t o - R e f o r m vorgegeb e n e n R ic h tu n g.
G o k h a le ko n n te nicht ahnen, daß der In d ien m in ister M o n ta g u z w e i J a h re später
eine b ed eu tsam e R ic h tu n g sä n d e r u n g v e r k ü n d e n sollte, als er von „responsible
g o v e r n m e n t“ als Ziel der nächsten V erfassun gsrefo rm sprach. M o n t a g u hätte lie­
ber das W o rt „se lf-g o v e rn m en t“ g ew äh lt, aber der k on servativ e K rie gsm in ister
L o r d C u r z o n b estan d statt dessen au f „responsible g o v e r n m e n t“, w o b e i er „re­
sp o n sib le “ im alltäglichen Sinne verstan d, n icht aber im p arlam en tarisc h en Sinn,
denn dan n k o n n te das W o rt n u r bedeu ten , daß die R e g ie r u n g sich au f eine M e h r ­
heit im P arlam e n t stützen u n d b eim Verlust d er M e h r h e it z u r ü c k tr e te n m ußte.
M o n t a g u a k ze p tie rte C u r z o n s V orschlag und arbeitete d an n an einer R e fo rm , die
dem p arlam en tarisc h e n Sinn des W ortes „resp o n sib le“ entsprach. Es w a r ihm d a ­
bei freilich b e w u ß t, daß die sep araten W ä h le rsc h aften n icht m it ein em S y ste m des
„responsible g o v er n m e n t“ v ere in b ar w are n , w ä h r e n d sie in dem v o rigen Sy ste m ,
in dem die R e g ie r u n g sich n icht auf eine M e h r h e it in d e r Legislative stützte, u n ­
p ro b le m atisch w aren . D o ch in z w isc h e n b etrachteten die M u slim s die separaten
W ä h le rsc h a fte n als ih ren B esitzstan d u n d d ah e r w a r ihre A b sc h affu n g u n m ö g ­
lic h ^ .
Die sch ic ksalh afte W eic h e n ste llun g, die d u rc h die K o m b in atio n von „respo n si­
ble g o v e r n m e n t“ u n d separaten W äh le rsc h afte n v o llz o g e n w u rd e , sollte später zur
T eilun g Indiens führen, doch das w a r den Z eitgenossen noch n icht b ew uß t. Sie
25 D i e t m a r R o t h e r m u n d , D ie p olitische W ille n s b ild u n g in India, 1900-19 60 (W iesb aden
1965) 63, k ü n ftig zitiert: R o t h e r m u n d , Politische W illen sb ild un g.
26 R o t h e r m u n d , Politische W ille n s b ild u n g 76.
27 R o t h e r m u n d , Politische W ille n s b ild u n g 78.
D er S t r u k t u r w a n d e l des britischen K olo nialstaats in Indien 1757-1947
83
störte eher ein an derer A sp e k t der M o n t a g u -C h e lm s f o r d -R e f o r m von 1920, die
E in fü h ru n g der „ d y a r c h y “ . D a r u n te r v erstand m an die E rric h tu n g von P ro v in z ­
regierun gen , die n u r zu einer H älfte aus g e w äh lten indischen M in iste rn , z u r a n d e ­
ren aber aus ernan n ten b ritischen B eam te n bestan den, die z u d e m noch die „k las­
sischen “ Ressorts (In n en m in iste riu m , F in an z m in isteriu m ) innehatten. Erst die
nächste R e fo rm , die im G o v ern m e n t of Indta A c t 1935 ihren A u s d r u c k fand, g e ­
w äh rte „provincial a u t o n o m y “, d .h . alle M in iste rie n w u rd e n von g ew äh lten in d i­
schen M in iste rn besetzt. Die separaten W äh lersch aften w u rd e n aber auch w e it e r ­
hin beib ehalten. Das W a hlrecht blieb jedo ch nach b ritischer K o nv entio n das
M eh rh eitsw ah lre ch t. Das b edeutete, daß die M u slim s in den P ro v in z e n , in denen
sie in d er M in d e r h e it w aren , p ra k tisch k ein e C h a n c e hatten, sich an der R e g ie r u n g
zu b eteiligen, es sei denn sie w ü rd e n in K o alitio n sre gie ru n g en einb ezogen . In den
M u slim m e h rh e itsp r o v in z e n w a r e n die separaten W äh le rsc h afte n als M in d e r ­
h eiten sch utz überflüssig. Ihre B eib e h altu n g erw ies sich als kon trap ro duk tiv .
D och sie w u rd e n nach w ie v o r von den M u slim s als politischer B esitzstan d b e­
trachtet.
Bei den N a c h k r ie g s w a h le n v o n 1946, in denen die M u s lim lig a u n ter der F ü h ­
run g M . A. Jin n a h s die m eisten Sitze in den separaten W ä h le rsc h afte n erran g und
dieser W ahlsieg als eine B estätig u n g d er von dieser Partei v ertretenen P akistan F o rd e ru n g b etrachtet w u rd e , zeigte sich dan n die v erh eeren de W ir k u n g solcher
W ä h lersc h afte n in V erbin dun g m it dem M e h r h e itsw a h lr e c h t und dem P rin z ip des
„respo n sib le g o v e r n m e n t“28. N ie m a n d erin n erte sich m eh r daran, daß diese W ä h ­
lerschaften eingefü hrt w o r d e n w aren , w eil das P rin z ip der territo rialen V o lksver­
tretung n icht d a z u geeignet sei, u m religiöse M in d e rh eite n an gem essen zu re p rä­
sentieren. N u n aber füh rten die W ah le rge b n isse von 1946 zu territo rialen K o nse­
qu en z en , d. h. z u r T eilung Indiens. D ie B riten, die sich viel d a ra u f einb ildeten , daß
es ihnen ge lu n gen war, z u m ersten M al in d er G eschichte Indien politisch zu e in i­
gen, hatten d urch eine k u r z sic h tig e V erfassun gspo litik diese E rrun gen sch aft selbst
w ie d e r z un ich te gemacht.
Ein w eiteres P ro b lem , das sich aus der britisc h -in d isc h e n V erfassun gspo litik e r ­
gab, w a r die p ro b lem atisch e V erb in d un g von P a rlam e n tarism u s und F ö d eralis­
m us. Die K o lo n ialh erren hatten den F ö d e ralism u s 1935 in Indien n u r desh alb ein ­
geführt, w eil er ihnen erlaubte, eine b egren zte M a c h tü b e rtr a g u n g auf p r o v in z ie l­
ler Ebene m it der M a c h te rh a ltu n g d e r Z en tralre g ie ru n g zu v erb in den . D araus
w u rd e ein zen tralistischer Q u a si-F ö d e ra lism u s, d er noch heute die in disch e Ver­
fassu n g sstru k tu r ken n zeich n et. Es k am h inzu, daß das freie In dien voll und ganz
den P arlam e n tarism u s britischer P räg u n g üb e rn ah m , der ihm lange v oren th alten
w o rd e n war. N u n ist aber d er britische P a rlam e n tarism u s ausgesp roch en z e n tra li­
stisch. Dies hatte seinerzeit d a z u geführt, daß die am e rikan isc h en K o lo n ien sich
vom M u tterla n d lossagten. O h n e Z w eifel hat d e r P arlam en tarism u s die Einheit
Indiens gestärkt, ab er auch d a z u geführt, daß die in disch en B u n d eslän d e r ein g e ­
spanntes Verhältnis z u r Z en tralre gie ru n g haben. Ü b rige n s b eru h t d er P a rla m e n ta ­
28 R o t h e r m u n d , Politische W ille n s b ild u n g 200.
84
D ietm a r R o t h e r m u n d
rism us in Indien genau w ie in G ro ß b r ita n n ie n aut u n g esc h rieb en e n K o n v en tio ­
nen. In d er sonst sehr u m fan g re ich e n in disch en Verfassung steht d e r lap idare Satz:
„There shall be a P rim e M in is t e r “ . D ies w ir d so in terpretiert, daß d ieser P re m ie r ­
m in ister dieselben R ech te und P flich ten w ie d e r b ritische P r e m ie r m in iste r hat. An
sich ist die indische V erfassung je d o c h eher eine P räsid ialv e rfassu n g, die noch
deu tlic h zeigt, daß sie in ihrer frü h ere n F orm dem V iz e k ö n ig auf den Leib g e ­
sch rieb en w o rd e n w a r 29.
6. Vom W irtschaftsliberalismus zum Interventionsstaat
B ish er w a r hier vom b ritisc h -in d isc h e n Staat im H in b lic k auf seine p olitische
F orm gesp ro ch en w o rden. N u r gelegentlich w u r d e auf w irtsc h aftlic h e P h ä n o ­
mene, z .B . die W irtsch aftskrise, h in g ew iese n . A b sc h lie ß e n d soll je d o c h die W ir t ­
sch aftsp o litik dieses Staates b etrach tet w e r d e n . D abei k an n kein Ü b e r b lic k über
die W irtsch aftsgesch ich te Indiens un ter k o lo n ia le r H e rrsc h aft gege b en w e r d e n 30.
Es geht lediglich um die w irtsc h aftsp o litisch e n G ru n d sä tz e und ih ren W andel
un ter dem D r u c k histo risch er Ereignisse.
D er K o lo n ialstaa t berief sich z u n äc h st auf die P rin z ip ien des L ib e r a lism u s31.
Indien w u r d e unter diesem R e g im e zu einer „offen en “, den K räften des W e lt­
m arkts u n terw o rfen e n V o lksw irtsch aft. Bereits in den 1870er J a h re n w ie se n in d i­
sche N atio n alisten , die F rie d rich List gelesen hatten, d a ra u f hin, daß die britische
W irtsch aftsp o litik eine In d u strialisie ru n g Indiens verh in d ere und n u r d er W ir t ­
schaft G ro ß b rita n n ie n s Vorteile b rin g e 32. Solche K lagen füh rten zu nichts. Die
Briten hielten u n b e irrt an ih rer W irtsch aftsp o litik fest. Sie b e sch rä n k ten sich auf
die G esta ltu n g der W ä h r u n g s p o litik . Dies hatte auch den Vorteil, daß sie kein erlei
In terv en tion sap p arat b rauch ten u n d mit einem M in im u m an V e r w a ltu n g s b ü ro ­
kratie au sk am e n . Selbst bei H u n g e r sn ö te n h atten sie auf diese W eise ein A libi.
S taatsinterv en tio n kon n te n u r m a rk tv e rz e rre n d w ir k e n und m uß te d ah e r v e r m ie ­
den werden.
Erst als der F re ih an d elsim p e rialism u s nach d em E rsten W e ltk rie g un ter den
D ru c k der a uslän d isch en K o n k u r r e n z geriet, w u r d e Schritt für Sch ritt ein R e g im e
von S c h u tzz ö llen eingeführt, die an geblich n u r d a z u dien en sollten, indische P r o ­
d u k te vor deutscher, belgisch er und jap an isc h e r K o n k u r r e n z zu sch ützen . D a sie
jedoch d urch Z ollp räferen zen für britische P ro d u k te d u rc h lö ch e rt w u rd e n , w a r
deutlic h, daß es w e n ig e r u m den Sch utz d er in disch en W irtsch aft als u m die E rh al­
tun g britischer M a rk tan te ile ging. U n te r d em E influß der W e ltw irtsc h aftsk rise
w u rd e 1932 auf der K o nferenz von O tt a w a das R e g im e d er „im p erial p re feren c es“
R o t h e r m u n d , Po litische W ille n s b ild u n g 215 f.
Siche h ie rzu D i e t m a r R o t h e r m u n d , An Econ o m ic H is t o r y of In dia (L o n d o n 2 1993).
S. A m b im j a n , C lassic al Political E c o n o m y and British R u le in India ( C a m b r i d g e 1978).
K a s h i n a th T Telang, Free Tra de and Pro tection from an In dian Poin t of V iew (1S77), in:
K a s h i n a t h T. T elang, Sclected W ritin gs and Speeches ( B o m b a y 1916) 97 -181.
29
30
31
32
Der S t r u k t u r w a n d e l des britischen Kolonialstaats in Indien 1737-1947
85
e in g e iü h r t33. U n te r diesem R egim e genossen rund 160 britische P ro d u k te bevorzugten Z u gan g z u m in dischen M a rk t, dafü r hatten 10 indische G üter völlige Z o ll­
freiheit in G ro ß b ritan n ie n . Es handelte sich dabei allerdings nur um Güter, die die
Briten auch sonst nirgends b illig er hätten e ink aufen k önnen. Die indischen N a tio ­
nalisten zogen ihre Lehren daraus. Von nun an käm p ften sie ebenso w ie für che
G e w ä h r u n g des un geschm älerten P arlam e n tarism u s für die E in füh run g echter
S ch u tzz ö lle, die eine In d u strialisie ru n g d urch Im p o rtsu b stitu tio n e rm ö glich en
w ü rd en . D ie Briten hatten d urch ihre W ir tsch aftsp o litik die F reih an clelsdo ktn n ,
an der sie formell w e iterh in festhielten, völlig in M iß k r e d it gebracht.
’D urch die N o tw e n d ig k e it, im Z w e ite n W e ltk rie g in Indien G üter für den
K riegsb edarf zu requirien und P reistreib ereien bei den N a h ru n g sm itte lg etre id e n
zu b ekäm p fen , u m die V ersorgung der indischen B ev ö lk e ru n g zu sichern, w u rd e
B ritisch -In d ie n schließlich z u m Interventionsstaat gro ßen M aßstabs. D ie Verwaltun gsleistun gen aut diesem Gebiet w are n b e w u n d e rn sw e r t. Z ur Zeit der G e w ä h ­
run g d er U n ab h än g ig k e it erhielten bereits rund 150 M illio n e n Inder L e b e n s m it ­
telkarten. Z ugleich w a r für den A u fk a u t und die L ag erh a ltu n g von G etreide eine
große O rg an isatio n b u ch stäb lich aus d e m B oden gestam pft w o rden. D er gesamte
Interven tion sap p arat stand später d er R e g ie r u n g der R e p u b lik Indien z u r Verfü­
gung. J a w a h a r la l N eh ru hätte seine p lan w irtsc h aftlic h e n A m b itio n e n o hn e einen
so lchen A p p arat gar nicht v e r w ir k lic h e n k ö n n e n 34. M ah atm a G an dh i hatte sich in
den letzten M o n ate n seines Lebens für einen A b b au des B e w irtsch aftu n g ssy ste m s
eingesetzt und dabei gan z äh n lich w ie L u d w ig E rh ard argum en tiert, d e r w en ige
M on ate später der B ew irtsc h aftu n g im N a e h k rie g sd e u tsch la n d ein Ende setzte33.
A b e r m Indien ließ sich der eingespielte A p p a ra t des kolo n ialen In te rv en tio n s­
staats nicht so rasch a uß er G efecht setzen, z u m al N e h r u ihn für seine Z w e c k e n u t­
zen kon n te. So hinterliessen die Briten auf diesem Gebiet Indien ein Erbe, dessen
P rin zipien d enen ihres früh eren F re ih an d elsim p erialism u s d iam etral e n tg e g e n ­
gesetzt waren.
Schlußbemerkungen
Die Frage nach der Ü b e rtra g u n g britischer Staatlich k eit nach Indien läßt sich d a ­
h ingehend b ean tw o rte n , daß eine Vielzahl k o n tin g en ter Ereignisse diesem P ro z e ß
im m e r w ie d e r neue A nstöße gab, die jedo ch nicht in eine R ich tu n g zielten und oft
sogar ein an d er e n tgegen gesetzt w aren . D ie p olitische W ille n sb ild u n g auf b riti­
scher Seite w a r oft w idersprüch lich. In d e r frühen Zeit stim m ten die A bsichten
33 B. P Adarkar, T h e Indian Fiscal P o licy (A lla h a b a d 1941) 5 2 0 ff.
-,4 D i e t m a r R o t h e r m u n d , Die A nfän ge der in dischen W irtsch a ftsp la n u n g im Z w e iten W elt­
krieg, in: P e t e r H a lldiity.el u.a. (H rsg.), D ritte Welt: H is torische P rägun g und p olitisch e H e r­
a u sfo rd e ru n g (Festschrift fü r R. von A lb e rtin i) (W iesb ad en 1983) 81 -94.
D i e t m a r R o t h e r m u n d , M a h atm a G andhi. Der R e v o lu t io n ä r der G ew a ltlo s ig k eit. Eine
p olitische B iograp hie (M ü n ch en 1989) 435.
86
D ie tm a r R o th e rm u n d
d e r D ire k to re n der O stin d ien gesellsch aft un d der „men on the s p o t“ selten ü b e r ­
e in 36. Die britische T e rrito n alh e rrsch aft in In dien w u r d e p raktisch gegen den W il­
len L o n d o n s etabliert. D er alte Sp ruch , die Briten hätten ihr W eltreich in „a fit of
ab se n tm in d e d n e ss“ erru n ge n , reflektiert diese Tatsache. N u r hielten die Briten
m eist sehr zäh an dem fest, w as ihnen „ z u fällig “ in die H ä n d e geriet.
F ü r die Ü b e r tr a g u n g staatlich er In stitution en gab es k eine M o d e llv o rs t e llu n ­
gen. Vieles w u r d e ad hoc geregelt u n d n ahm nach u n d nach die W ü r d e des A lt h e r ­
geb rach ten an. G elegentlich w u rd e ein liberales S e n d u n g sb e w u ß tse in z u r Schau
getragen , aber letztlich zählte d och im m e r n u r die E rh altu n g d e r M ac h t. Diese
w u r d e jedo ch selten im Sinne b ru taler G e w a lt verstanden, so n d ern „re ch tlich “ ab ­
gesichert. A ls sich die B riten sch ließlich auf V erfassungsreform en einließen, taten
sie auch dies im Sinne d e r M a c h te rh a ltu n g u n d nicht u m die S e lb stb e stim m u n g
d e r In d e r zu fördern. D as Spiel w a r alle rd in gs insofern gefährlich, als es E rw a r ­
tun gen w e c k te , die die B riten nicht erfüllen kon n ten . D ie A u f r e c h t e rh a k u n g einer
u n ab se tz b are n E x ek utive bei g le ic h z e itige n Z ugestän dn issen an eine „V olksver­
tr e t u n g “ m u ß te z u r Z w ic k m ü h le w erd e n , w ie L o rd D u rh a m dies schon im frühen
19.J a h r h u n d e r t in seinem B ericht ü b e r K anada d argestellt h atte37. H in te r Lord
M o r le y s V ergleich des P arla m en tarism u s m it einem P elz m an te l v erb arg sich das
U n b e h a g en eines lib eralen Im p erialisten , der w u ß te , daß L ib e ralism u s u n d Im p e­
rialism us letztlich nicht m itein an d e r v ere in b ar w aren .
D en in disch en N atio n alisten blieb dieser W id e rsp ru ch nicht v erb o rge n , und sie
taten, w as sie n u r k on n ten , u m ihn a u fz u d e c k e n und ins B e w u ß tse in zu heben. Es
w a r diese dialektische S p an n u n g, die sch ließlich m e h r z u r Ü b e r tr a g u n g b ritischer
Staatlich k eit nach Indien b eitru g als die A b sich te n der B riten es je verm o ch ten .
D ie nachträglich e R e k o n s tru k tio n eines b e w u ß ten „transfer of p o w e r “ w ir d d ie ­
sem p olitischen P ro z e ß n icht gerecht.
36 S tig F ö r ste r , D ie m ächtigen D ien er d er East In dia C o m p a n y . U rsa ch en un d H in te r g rü n d e
der britischen E xp a n sio n sp o litik in Südasie n, 1793-1819 (Stuttgart 1992).
37 R o t b e r m u n d , Politische W ille n s b ild u n g 77.
Gita D haram pal-Frick
Das unabhängige Indien: Visionen und Realitäten
Im B lic k auf die S taatsp ro b lem atik im u n ab h än g ig en Indien sieht man sich mit
einer e inig erm aßen p arad o x e n Situ atio n k on fron tiert: Im Gefolge eines von m as­
senhafter M o b ilisie ru n g getragenen K am pfes z u r B efreiun g aus dem k o lo n iale n
Jo c h G ro ß b ritan n ie n s u n d von einem d am it ein h e rge h en d e n o k tr o y ie r te n R e g ie ­
r u n g ssy ste m entscheidet sich die u n ab h än gig e R e p u b lik Indien nach lebhaften
D eb atten für ein Staats- und V erfassun gssystem von erneut w e stlich e r P ro v e ­
n ie n z 1. D ieser V organg ist von z ahlreichen W id e rsp rü c h e n gek en n z eich n et, d a r ­
u n ter der g r u n d le gen d e n Sp an n u n g z w isc h e n em p hatisch v orge tragen e n u t o p i­
schen V isionen einerseits und der N a c h g ie b ig k e it ge ge n ü b er der H in te r la s s e n ­
schaft kolo n ial geschaffener p o litisch e r Realitäten u n d S a c h z w ä n g e a n d e r e r s e i t s 2;
so b ehalten nach w e stlich e m M u s t e r zugesch n itten e In stitution en ihren Einfluß
auch in einer Epoche, in der sich die e uro päisch e T radition gegen üb er dem p o liti­
schen u n d so zialen G e ltu n gsa n sp ru c h e in h eim isch er Traditionen sc h ein b ar auf
dem R ü c k z u g befindet3. M ö g e n die indischen E n tw ic k lu n g e n in vielen k o n te x tu ellen Specifica auch e in z ig artig erscheinen, so hat es im h istorischen R ü c k b lic k
d o ch z u g le ich den A n sc h e in , daß das G r u n d m u ste r sich - fast in einer A r t von
in hären ter L o g ik der D e k o lo n isatio n - von den späten 40er J ah re n bis in die 70er
J a h re h inein in der p olitischen F o rm atio n vieler ju n g e r asiatischer un d a fr ik a n i­
scher Staaten w ie d e rh o lte, als diese sich als u n ab h än g ig e N a tio n alstaate n zu k o n ­
stituieren su c h te n 4. W enn die fo lgen d e n R eflex ion en sich aussch ließlich m it In ­
1 Z u r h istorischen D o k u m e n ta tio n aus in disch er Sicht vgl. P. N. C h o p r a , P a r t h a S a ra th i
G u p ta (H rsg.), T o w a rd s F reed o m : D oc um en ts on the M o v e m e n t for In dep en d en ce in India
( N e w D elh i 1985 H.); das britische G ege n s tü c k sind die einschlä gig en A k t e n p u b lik a t io n e n in:
P. N. S. M a n s e r g h , E. P. M o o n , E. W. R. L u m b r y (H rs g .), C o n s titu tio n a l R ela tion s b etw een
Britain and in dia . T h e Transfer o f P o w e r 1942-47, 12 Bde. ( L o n d o n 1983-90).
2 Vgl. in sbeso nd ere S u e h e t a M a b a ja n , B ritish Po licy, N ation alist S tra te g y and P o p u la r N a ­
tio nal U p s u r g e , in: M y t h and R ea lity: T h e S truggle for F re ed o m in India, 1945-47, hrsg. von
A m it K u m a r G u p ta ( N e w D elh i 1987) 54 -9 8 .
3 S ie he J o h n D a r w i n , Britain and D ecolo n is ation . T h e R etrea t from E m p ire in the Post-War
W o rld ( L o n d o n 1988), bes. Kap. 3 („Th e C risis o f E m pire, 19 45-48 ") un d Kap. 4 („W orld
P o w e r or E m piria l D e c lin e“), so w ie Gita D h a r a m p a l-F rick , Das „E ndspiel“ des B ritish Raj.
In diens A u fb r u c h in die U n a b h ä n g ig k e it, in: G W U 48/1 (1997) 3-22.
4 Z u m w e itere n Kontext vgl. u .a . die B eiträge in: W o lfg a n g J. M o m m s e n , J ü r g e n O s t e r h a m ­
m e l (H rs g .), Im perialism and After. C o n t in u it ie s and D isco ntin uities ( L o n d o n 1986); D a g ­
m a r E ngels, S h u la M arks (H rsg.), C o n t e st in g C o lo n ia l H e g e m o n y . State and S o c ie ty in
88
G ua D h a r a m p a l - Frick
dien befassen, so sollten dabei g le ic h w o h l die p arad ig m atisc h c n ebenso wie die
sp ezifischen Z üge der indischen E n tw ic k lu n g sichtbar werden.
Im b esch ran kten R au m eines A ufsatzes k ann ich nur einen sehr sk izz en h aften
Ü b erb lic k geben und vielleicht einige Ü b erleg u n g en und F ragen fo rm u lieren . Die
historischen V oraussetzun gen der Im p lan tatio n euro päisch er Staatsstruk tu ren
w äh re n d der britischen K o lo n ialh errschaft hat D ietm ar R o th e r m u n d in seinem
m agistralen Ü b e rb lick dargestellt; ich setze seine A u sfü h ru n g en im folgenden
voraus und verzichte w eitgehen d auch darauf, den A ufb au und die k o n k reten In­
stitutio nen des indischen Staates nach 1947'’ zu erörtern. Statt dessen k o n z e n triere
ich mich auf einen A sp ekt, d er m A n a ly sen der postk olo n ialen Situation Indiens
häufig zu k u rz k o m m t, n äm lich auf die K ritik des euro päisch en Staatsm odells in
den Kreisen d e r indischen U n a b h ä n g ig k e itsb e w e g u n g und auf einige E n tw ürfe
z u r E rsetzu n g d er k olonialen S tru k tu re n d u rc h ,a u to ch th o n e ‘, d.h. stärk e r mit
T radition en des Su b k o n tin e n ts v erb un dene F o rm e n der politischen O rganisatio n.
S o w eit diese E n tw ürfe aus einer K ritik der k olo n ialen K o ntinu ität staatlicher
S tr u k tu r e n in Indien hervo rgin gen , ist dam it bereits gesagt, daß ihre U rh e b e r in
der A u sb r e itu n g des euro päischen Staatsm odells keine „ E rfo lgsgesch ich te“ er­
k ann ten; z ugleich m uß man von vorn h erein einräum en , daß auch die im folgenden
vorgestellten G e g e n k o n zep te im Bereich des Visionären steck enb lieb en und zu
k ein e r ü b e rzeu g e n d e n V e rw irk lic h u n g gelangten. In diesem N eb en e in an d e r
z w e ie r „ M iß e rfo lg sg e sch ic h te n “ dürfte ein guter Teil des indischen D ilem m as bis
in die G e g e n w art erfaßt sein.
I.
N a tü r lic h m uß man bei diesem T h e m a zuallererst von M o h a n d a s K aram chand
G an dh i sprechen, dem „Vater der N a t io n “ - das E pitheton g e w in n t d abei d eutlich
ironische Z üge, denn der N ation alstaat, der in Indien entstand, lief den tiefsten
Ü b e r z e u g u n g e n G andhis durch aus z u w id e r 6. W orin bestanden, auf den k ürzesten
A frica and India ( L o n d o n 1994), im folgenden zitiert: E n g e ls , Marks, C o lo n ia l H e g e m o n v ;
J ü r g e n E lv e r t , M i c h a e l S a le w sk i (H rsg.), S t a ate n b ild u n g in Übersee. Die S la a t e n w e lt L a tein ­
am erik as, Süd- u n d O stasiens (Stu ttgart 1994) sow ie zu letzt die a ufsch lu ßreic hen A n a ly s en
in M a rtin D o o r n b o s , S u d ip ta K a v i r a j (H rsg.), D yn a m ics of State Fo rm ation : India and
L u ro p e C o m p a r e d ( I n d o -D u tch Studie s on D eve lo pm en t A lternatives 19, N e w Delhi 1997),
im folg enden zitiert: D o o r n b o s , K a v ir a j, State Form ation.
5 Vgl. zu letzt P art h a C h a t t e r j e e (H rsg.), State and Polities in India ( N e w Delhi 1997), im
fo lgenden zitiert: C h a t t e r je e , State and Politics, mit einleitendem Ü b erb lick z u r politischen
G esch ic hte des un a bh ä ng ige n Indien; siehe ferner P a u l R. Brass, T h e Politics of India since
Independence (T he N ew C a m b rid g e H is t o r y of India I V / 1, C a m b r id g e 2 1994), im fo lgenden
zitiert: Brass, In dep en den t India.
6 Vgl. die p ar ad igm a tisc h e F o r m u lie ru n g in G andhis politischem Manifest: H i n d Stvaraj
(1909), w ie d e r a b g ed ru ck t in: C o llecte d W o rk s of M a h atm a G andh i (im folg enden zitiert:
GW M G ) X ( N e w Delhi 1963) 6 -6 8 . Das S t a n d a rd w e r k zu G andhis politischem D en ken ist
R a g h a v a n l y e r , The M o ral and Political T h o u g h t of M a h a tm a G a n d h i ( N e w Y o rk 1973), im
Das u n a b h ä n g ige In dien
89
N e n n e r gebracht, die G rün de für G an d h is Z u r ü c k w e is u n g des m o dern en Staates?
Ich w ü r d e w e n igsten s die folgenden E lem ente von G andhis S taatskritik h e rv o r ­
heben, die sich in m an cher H in sicht mit den A r g u m e n te n jün gerer A u to re n b e­
r ü h rt7:
- d er m o d e rn e Staat erscheint G andhi als h o c h grad ig zen tralisiert und darin als
in tolerant g eg en ü b er sich selbst b e stim m e n d en G em einsch aften 8;
- mit seinem G e w a ltm o n o p o l basiert der m o dern e Staat in G andhis Sicht auf
dem G eb rau ch o d e r z u m in d est d e r A n d r o h u n g von Z w a n g und p h y s is c h e r G e ­
w a lt 1-1; er versäum t es darüber, die m o ralisch e Energie seiner B ü rg er a u sz u b ild e n
und zu f ö r d e r n 10;
- der m o d e rn e Staat ist un p ersö n lich und b ü ro k ratisch , eine „seelenlose M a ­
sc h in e rie“ , die nach ab strakten und stren gen Regeln fun k tio n iert und d arü b e r ö r t ­
liche G egeb en h eiten ebenso vernachlässigt w ie die persö n lich e V erantw o rtlich keit
und E igeninitiative der S ta a tsb ü rg e r 1*;
- d er m o d e rn e Staat erhebt in G andhis A u g en die territo riale U n v e rle tzlic h ke it
z u m Fetisch, k en n t w e n ig Sk rup el, z u r V erteidigun g seines Staatsgebiets m e n sch ­
liches Leben zu opfern, und ist eifersüchtig aut die un b e d in gte und aussch ließ lich e
L o y a litä t seiner U n te rtan en b e d a c h t1-;
- selbst in seiner liberalen und d em o k ratisch e n Spielart ist der m o d e rn e Staat
G an dh i zufo lge in dividualistisch m dem b e d en k lich e n Sinne, daß er die Rechte
anstelle der Pflichten und V e ran tw o rtlich k e iten der B ürger betont und den A k -
lo lgenden zitiert: I y e r , T h ou ght. U b er G andh is S tellen w ert im p o stkolom alen In dien b e­
m erkt l y er, ebd. S. 4, zu treffen d : „In India the trib ute n o w p aid to him as .F a th e r of the
N a t i o n “ and as sain t or prophet is often a co m pensation b y the in telligentsia for its failu re to
s tu d y his w ritin g s and to co n sider s erio u sly his political in sigh ts.“
7 Vgl. insbesondere J o h n H o f f m a n , B e y o n d the State. A n In tr o d u c to r y C r itiq u e ( C a m b rid g e
1995). M e in e A u s fü h r u n g e n verd ank en w esentlich e A n re g u n g en den ein geh en den Studie n
von B h ik h u P a rek h , G a n d h i’s Political P h ilo s o p h y (L o n d o n 1989); d e n . , C o lo n ia lis m , T r a ­
dition and Reform. A n A n a ly s is of G a n d h is Political D iscourse ( N e w D elh i 1989), bes.
Kap. 3: „G andhi and Y u g a d h a n n a “ (im folgenden zitiert: P a rek h , C o lo n ia lis m ), so w ie der
B e itra gssa m m lun g von S u b r a ta M u k h e r je e , S ushila R a m a s u u u n y (H rsg.), Facets of M a h atm a
G and h i, 4 Bde. ( N e w D elh i 1994), im folgenden zitiert: M u k h e r je e , R a tn a s w a m y , Facets.
s F ü r B ele gstellen vgl. u .a . H a rija n (30. 12. 1939 un d IS. I. 1942) so w ie G andh is Interview
mit N irm af K um ar Bose, T h e Hindustan Times (17. 10. 1935), wieder in: C W M G FIX , 3 1 6 20.
K> „ I he State represents violence in a concentrated and o rga n ized form. [ .. . ] It can never be
w ean ed from violence to which it o w es its very ex istence.“ So G andhi mi In te rview m it N.K.
Bose, C W M G F IX , 318.
10 Vgl. im einzeln en P a rt h a C h a t t e r j e c , G an d h i and the C r itiq u e of C ivil Society, in: S u b a l ­
tern Studie s III: W ritin gs on South Asian H is t o r y and Society, hrsg. von R a n a jit G u h a ( N e w
Delhi 1984) 153-195.
11 “T h e in div id ual has a soul, but the State is a soulless machine. [ . . . ] I look upon an in crease of
the p o w e r of the State w ith the greatest tear, because alth ou gh w h ile a p p a ren tly d o in g good
b y m in im iz in g exp lo itation , it does the greatest harm to m a n k in d b y d e s tr o y in g in d iv id ­
uality, w h ic h lies at the root of all p ro gre ss.“ In terview mit N. K. Bose, C W M G FIX , 318.
12 D azu P a rek h , C o lo n ia lism 74, so w ie ausfüh rlic h e r G o p m a n t h D h a w an, The Political P h i­
lo s o p h y of M a h atm a G and h i ( A h m ed a b a d 1967).
90
G it a D h a r a i n p a l - F r i c k
z en t auf E ig en in teressen statt auf A ltru is m u s le g t13; er ist m aterialistisch in dem
Sinne, daß er seine m o ralisch e L e g itim ität v o rra n g ig aus seiner F äh ig k e it ableitet,
die m ateriellen Interessen seiner B ü rg er zu b e fö rd e rn 14;
- da es ih m an einer ü b ergreifen den m o ralisch en O rie n tie ru n g fehlt, w ird der
Staat z u m S c h au p latz des K onflikts z w isc h e n o rg anisierten G ru p p en , d ie ihr je ­
w eiliges Eigeninteresse d u r c h z u se tz e n und ihren p a rtik u lären N u tz e n zu m a x i­
m ie ren s u c h e n 13;
- das auf geregelter A u s tr a g u n g von K o nflikten und K o ntro versen basierende
R e g ie r u n g s s y s te m des m o dern en Staates w eist in dieser Sicht eine in h äre n te T en ­
d en z z u r V e rgrö ß eru n g b esteh en der D ifferen zen auf; d er Geist des K o m p r o m is ­
ses w e r d e d ad u rc h gesc h w äc h t und d e r politische D isk u rs im gan zen v ersch ärft16.
Insgesam t n im m t G an d h i an, daß der Staat n u r d a r u m z u r ein z ige n A re n a p o li­
tischen H a n d e ln s g e w o rd en sei, w e il ih m der m o d ern e M e n sch all seine m o r a li­
schen und so zialen K o m p eten z en ü b e r a n tw o r te t habe; diese D e le g ie ru n g läuft
G an dh is G laub en an die m o ralisch e A u to n o m ie des In d iv id u u m s en tgegen und
v erträ gt sich nicht m it seiner Ü b e r z e u g u n g , daß die w a h re G e w alt b eim Volk lie ­
gen m üsse und n icht bei R e g ie r u n g e n und P a rla m e n te n 17. K urz; N ac h Gandhi
k an n das In d iv id u u m seine Ü b e rle g e n h e it g e g e n ü b er je d w e d e m S y ste m b e h a u p ­
ten, da der Staat keine logische o d e r m o ralisch e P rio rität ge ge n ü b er d e m E in z e l­
nen b e s it z t 18. In dem er einräum t, d aß die m o n istisch e O rg an isatio n der Staats­
m ach t d er relativ h om ogen en so zialen W ir k lic h k e it e u ro p äisch er G esellschaften
g e m äß sein kön n te, hebt G an dh i z u g leich hervor, dasselbe A r g u m e n t k ö n n e im
H in b lic k auf Indien nicht gelten, w eil dessen Gesellschaft d urch eine P luralität
von G em einsch aften gep rägt sei, die je w e ils ihre eigenen T raditionen d e r S e lb st­
r e g ie ru n g besäßen und eher durch v ielgestaltige k u ltu relle B in d u n g e n als durch
eine üb e rgreife n d e politische O r d n u n g m itein an d e r in Z u sam m e n h an g s tü n d en 19.
13 In G a nd h is W orten: „R ig hts flow from a d ue p erfo rm ance of duties. It is the fashion n o w ­
a d a y s to ig nore duties and assert or rather usurp rights. ( . .. ) V io lence becom es im p erativ e
w h e n an a ttem pt is m ade to assert rights w it h o u t reference to d u ties .“ In terview m it N.K.
Bose, C W M G L IX , 320.
14 A u s fü h r lich er in: H in d S w araj, C W M G X, 19 ft.
1:1 Vgl. besonders G and h is P o le m ik gegen den britischen Parlam entaris m us: „P arliam en t is
w it h o u t a real master. U n d e r the Prim e M in ister, its m ov em en t is not s te a d y b ut it is b ufietted
a b o u t like a prostitute. T h e P rim e M in is t e r is m ore concerned abo ut his p o w e r than about
the w elfare of P arlia m en t. H is en e r g y is co n centrated up o n securing the success of his party.
H is care is not a lw a y s that P arlia m en t shall do lig h t. P rim e M in isters are k n o w n to have
m ad e P arliam en t do things m e re ly for p a r t y a d v a n ta g e.“ Ebd. 1 7 f., so w ie seine K ritik der
politisch en Parteien, C W M G X V I, 6.
16 „G o v e rn m e n t’s P o w e r versus P e o p le’s P o w e r “, in: C W M G X X X V II, 190—91.
17 Vgl. T. G. T en d u lk a r , M ah atm a : T h e Lif e of M o h a n d a s K aranich and G andh i, Bd. 6 ( B o m ­
b a y 1951-54) 23, 340.
18 Vgl. d a zu die g ru n d lege n d e S tudie von G e n e S h a r p , G and h i W ields the W eap on of M oral
P o w e r (A h m e d a b a d 1960) 3 ff.
19 D h a w a n , Political P h ilo s o p h y 288 ft.; ex p lizit bei Bhik hii P a rek h , C u lt u r a l D iv e rs ity and
the M o d er n State, in: D o o r n b o s , K a v i r a j, State F o rm ation , 177-203, 177: „ . .. this t h e o ry [d. h.
das K o nzept des m onistischen Staates, G. D h .-E ] presup po ses a cu ltu r a lly h om oge ne ou s
Das u n a b h ä n g ig e Indien
91
Die w ir k lic h e M a c h t liege hier bei der einzeln en D orfgem ein schaft, u n d U n iv e r ­
salität und So uv eränität k äm e n in erster L inie d er sich selbst erhaltenden m o r a li­
schen O r d n u n g , dem d h a r r n a , zu, der auch d e r H e r rsc h e r im N o rm a lfa ll u n te r g e ­
o rdn et sei; dessen F u n k tio n bestehe v o rran g ig darin, m ögliche Verstöße gegen die
O r d n u n g zu un terb in d e n , nicht aber die fun d am en tale n R egeln des gesellsch aftli­
chen Z u sam m e n leb e n s selbst zu erlassen. D er H e r rsc h e r besitze k ein erlei g e se tz ­
g ebende A u to ritä t, und die im w esen tlich en auf das E inziehen von Steuern b e ­
sch rän k te B e z ie h u n g z w isc h e n K ö nigreich o d e r Im p e riu m auf der einen Seite und
dem D o rf auf d er anderen Seite v eran sch aulic h e die M arg in alitä t des v o rm o d e rn en
in disch en Staates20.
Im E in k lan g m it dieser histo risch en R e k o n s t ru k t io n der in d igenen p olitischen
Praxis b estan d „w ah re P o litik “ für G an dh i in d em Versuch, sich d er A b h ä n g ig k e it
v om Staat zu en tz ieh en 21; sie m u ß te a u ß e rh alb seines R ah m e n s stattfinden u n d auf
eine W ie d e rb e le b u n g derjen igen u n ter k o lo n ia le m R e g im e v e rk ü m m e rte n T rad i­
tionen ab zielen , ohne die die U n a b h ä n g ig k e it rein form al u n d eigentlich b e d e u ­
tun gslos b leiben m ü ß te22. In p ra gm atisch e r E in ste llu n g räum te G an dh i ein, w e n n
Indien un fäh ig sei, eine A ltern ativ e z u m m o d e rn e n Staat als solchem zu e n t­
w ic k e ln , so solle es doch z u m in d est an einem altern ativen M o d e l l dieses Staates
arb eiten 23.
M it diesem Ziel vor A u g en suchte er die N a t u r des Staates neu zu definieren
und seine tragen d en In stitution en en tsp rech end zu b estim m en ; die w ic h tigste n
einsch lägigen Ü b e r le g u n g e n lassen sich e tw a fo lgen d e rm aß e n zusam m en fassen :
s o c ie ty and b ecom es a source of disorder, in ju stic e and violence w h en applied to cu ltu r a lly
hetero gen eo us socie ties.“
20 Vgl. die g r u n d leg e n d e S tudie von A. S. Altekar, State and G o v ern m e n t in A ncie n t India
(D elh i 1949) so w ie die A u s fü h ru n g e n u .a . bei S. N. E isensta d t, H istorical Experience, C u l t u ­
ral T radition s, State Fo rm a tion and Political D y n a m ic s in In dia and Europe, in: D o o r n b o s ,
K a v i r a j, State F o rm a tio n 44; S u d ip ta K a v i r a j, T h e M o d e r n State in India, ebd., 227 ff.;
D h a r a m p a l, In d ia ’s Polity, Its C h a ra cteristics and C u r r e n t Problem s, in: Th e H e r ita g e of the
P re -In d u s tria l E u rop ean State (L is bo n 1996) 137 ff.
21 Vgl. G a ndh is R e d e v o r der V ersa m m lu n g des G a n d h i S e v a S a n g h ( M a lik a n d a , 2 1 . 2 . 1940,
in: C W M G L X X I, 25 1 -2 5 6 ), w o er zw isc h e n „true p o litics “ un d „ p o w e r p o litics “ u n t e r ­
scheidet.
22 Vgl. in die sem S in ne d ie D isku ssio n des „C o n str u c tiv e W o rk s C o m m it t e e M e e t in g “, N e w
D elh i, 11. 12. 1947, in: C W M G X C , 21 5 -2 2 1 . S w a r a j, d .h . die vollständige Selb stregieru n g
u n d U n a b h ä n g ig k e it In diens, schlo ß fü r G a n d h i die Idee einer m oralischen E r n eu eru n g des
Landes m it ein, die d u rc h das p r aktisch e M ittel des sogenan nten C o n s t r u c t i v e P r o g r a m m e
erreic ht w erd e n sollte (H a rija n , 27. 1. 1940, in: C W M G L X X I , 126, un d „C o n stru c tiv e P r o ­
gra m m e : Its M e a n in g and P la ce“, in: C W M G LX X V , 159-60); vgl. auch B h ik h u P a rek h ,
G andh i and the R ege n e ra tio n of In dian C iv iliz a tio n , in: M u k h e r je e , R a m a s w a m y , Facets IV,
55 -80.
23 Vgl. P a re k h , C o lo n ia lis m 97 f. F ü r die ch arakteristisc he M is c h u n g aus Z ielb e w u ß ts ein und
K o m p ro m iß b ere itsch a ft vgl. etw a G andh is Ä u ß e r u n g : „I am suggesting m a n y w a y s to en ­
sure that the voice of P arliam en t is the voic e of the people and not that of hired voters. W ith
this end in v ie w I am s earching for a devic e w h ic h w ill en able us to listen to the voic e of the
entire people . A ll system s are bou nd to be defective. We are lo o k in g for a system w h ic h will
y ield m a x im u m benefit to In d ia.“ N ava jiva n , 24. 8. 1924, in: C W M G XXV, 34.
92
G \ t a 1) h a r a m p a 1- 1' r i c k
D er Staat sollte eher eine k ultu relle als eine territo riale Einheit darstellen und die
A u frechterh altun g eines überlieferten Lebensstils sicherstellen; er sollte sich d e m ­
nach nicht als monolithische O r d n u n g begreifen, sondern als ein lockeret Z u s a m ­
m enschluß d er 700000 Dörfer des S u b k o n tin en ts24; jede dieser U ntergliederungen
ist dabei als m eh r oder w en iger offen und b eständigem W andel un terw o rfen g e ­
dacht, u n d die ihr z ugeh örigen In dividu en b esitzen vielfältige Identitäten und e n t­
sprechend vielschichtige ethnische’ und religiöse, soziale und territoriale L o y a litä ­
ten2-'’ . A n statt diese gegliederte Fülle von G em einschaften durch die Singularität des
ü b ergreifenden u n d allum fassenden m o dern en Staates z u ersetzen, gelte es, sie im
Gegenteil zu schützen und w iederzub eleben . D er Staat solle nicht zu einei A n ­
sam m lu n g isolierter und durch nichts als das ab strakte M e rk m al ihrer Staatsange
Hörigkeit v erb un den er Individuen w e rd en , so n d ern sich als eine G em einschaft von
G em einschaften bestim m en, als lose stru ktu rierte r d ezen traler Verbund 01 pani­
scher so zialer Einheiten, die jew eils ihre eigenen Repräsentanten bestim m en w ih de,
diese Vertreter w ie d e ru m w ü rd e n aus ih rer M itte das nationale Komitee wählen.
D urch diese B eto n u n g in direk ter W ahlen und d urch die Tatsache, daß die w eit! ei chendsten Befugnisse bei den örtlichen G em einschaften liegen sollten, sollte d e ie n
politische A u to n o m ie , wirtschaftliche U n ab h än g ig k eit und soziale Integrität si­
chergestellt w e r d e n 26. Gandhis bereits von 1920 stam m ende N e u fo rm tilie ru n g det
Verfassung des indischen N atio n alk o n gre sse s u n d deren erfo lgreich er Einsatz w ä h ­
rend des U n ab h än gigke itskam p fs belegten die F u n ktio n stü ch tigk e it dieset a lter­
nativen politischen O rgan isatio n sfo rm 27. Später u m sch rieb G andhi seine Vision
von der politischen O r d n u n g eines un ab h än gig en Indien wie folgt:
„ln this structure, co m posed of in nu m erab le villages, there w ill be ever w i d e n i n g , nevet as­
cending circles. Life will not be a p yra m id w ith the apex sustained b y the bottom. But it will
be an oceanic circle wh ose centre w ill be the indiv idual, a lw a y s re ad y to perish foi the village,
the latter re ad y to perish for the circle of villages .. .‘‘2H
24 „You see the centre of p o w e r n o w is in N e w Delhi, o r in C a lc u tta and Bombay, in the big
cities. 1 w o u ld have it distrib uted a m ong the seven h undred thousand villages ol India. Zu.
in J a y a p r a k a s h N a r a y a n , G andh i and the Politics of D ecentralisation, in: Q u e st 64 (1970) l a,
vgl. auch G andhis A usfü h ru n ge n zum T h e m a „Village S w a ra j" , H arijan, 26. 7. 1942, in.
CWMG L X X V I, 308 f.: „H ere there is perfect d e m o c r a c y based u p o n in div id ual freedom.
The indiv idual is the architect of his o w n governm ent. 1 he law of n on-vio le nce rules him anc
his go vernm en t [.■■)“; entsprechend das G espräch mit M a n u G andh i, Patna, 18.4. 1 M7, in.
C W M G L X X X V I I, 303: „True India lies in its seven lakh villages. (.. -1 I w a n t to infuse new
life into these villages. We should stop ex p lo itin g the villages and sho uld closely exam in e the
in ju stice done to the villages and strengthen their econom ic structure.
r .
25 Vgl. u.a. H in d S w araj, in: C W M G X, 29; N avajivan, 10. 5. 1931, in: C W M G XLVI, luv,
H arijan , 4. 8. 1940, in: C W M G L X X X V U I, 338. '
.
26 Siehe G and h is P räzisieru ngen bei der R o u n d Table C o nfere nc e (L o n d o n 1931), in.
C W M G XLVIII, 314-25.
27 Für den Text d er Verfassung von 1920 siehe N. V. R a j k n m a r , D evelo pm ent of the C o n ­
gress C o nstitutio n ( N e w Delhi 1949) 4 5 -5 9 ; vgl. auch/ . C. Wilson, (.h a n g in g the Rules o
Indian Politics: G andh i and the C o n g res s C o n s titu tio n , 1920-1939, in: M u k h cr je e, R a rn a Swarny, Facets II, 160-180.
2« H arijan, 28. 7. 1946, in: C W M G L X X X V , 33.
Das un a b h ä n g ige Indien
93
D ieser G esam taufb au sollte nicht aus hierarchisch en Ebenen bestehen, vielm eh r
galt jeder Kreis des o c e a n i c c i r c l e in seiner eigenen Sphäre als g leicherm aßen
souverän. Die auf einem breiten K onsensus b asierende S e lb stregierun g lo kaler
G em einschaften, die d urch die sog. p a n e b a y a t s , d .h . die traditionellen V e rsam m ­
lun gen der D o rfältesten 29, vertreten w u r d e n , dieses örtliche s e l f - g o v e r n m e n t sollte
viele der F u n k tio n e n üb e rn eh m e n , die in der geg e n w ärtig e n O r d n u n g an den
m o n op o listisch en Staat delegiert waren-'0; unter an derem sollten die P olizei, die
J u stiz , das Ste u e rw e sen , die so zialen D ienste und die P lan u n gsh o h e it säm tlich
d ezen tralisiert sein; auf diese Weise w ü rd e n den G em einschaften der äuß eren
Kreise w e n ig er A u fg ab e n zufallen; die fö derale Ebene w äre mit den B ereichen
V erteidigun g, A u ß e n p o litik , W ä h r u n g so w ie mit d er K o ordin atio n der A b s t im ­
m u n g z w isc h e n den P rovinzen betraut. U m die R o lle so zialen Z w an ges zu r e d u ­
zieren, kö n n te die P o liz e i d u rc h lo kale F re iw illig e ersetzt w e rd e n , die zu m o r a ­
lischen F üh rern und gew altfreien F rie d e n sh ü tern o der s a t y a g r a b i ausgeb ildet
w ä r e n 31; und selbst das stehende H e e r w ä r e zu ersetzen d urch einen Verband von
B ü rg ern , die in den M e th o d e n der ge w altlo se n n ationalen V erteidigung geschult
w o rd e n w ä r e n 32. (In solchen Vorschlägen k o m m t auch z u m A u sd r u c k , daß G a n ­
dhi w o h l an eine E rstreck un g dieser „ozean isch en K reise“ auch über nationale
G re n z e n h inaus dach te33.) N o ch am Vorabend seiner E rm o rd u n g sch lu g G an d h i
in einem D o k u m e n t, das als sein „last w ill and testam en t“ b e k a n n tg e w o rd e n ist34,
die k o n k re te M a ß n a h m e vor, den Indian N a tio n a l C o n g ress au fz u lö se n 33 und ihn
19 Vgl. G andh is E rläuteru ng des Term inus: „It lite ra lly m eans an a ssem b ly of five elected b y
villagers. It represents the system b y w h ic h the in n u m era b le village republics of India w ere
go verned. But the British G ov ern m ent, b y its ru th le ss ly thro ugh m ethod of revenue co lle c ­
tion, alm ost d e s tr o y ed these a ncie nt republics, w h ic h co uld not stand the shock of this reve­
nue c o llec tio n .“ Y o un g India, 28. 5. 193 1, in: C W M G X LV I, 239.
30 „In dep en den ce m ust begin at the bottom . T h u s , e v ery village w ill be a republic or pancha y a t h av in g full p ow e rs. It follows, therefore, that e v er y village has to be self-sustatned and
capable o f m a n a gin g its o w n affairs even to the extent o f d efen din g itself against the w h ole
w o rld ." Harijan,' 2S" 7. 1946, in: C W M G L X X X V , 32.
31 „The p olice of inv conceptio n w ill be of a w h o lly different pattern from the p re s e n t-d a y
force, its ranks w ill be co m posed o f believers in n on-vio le nce. T h e y will be servants, not m a s ­
ters of the people. T h e p eople will in stinctively re nder them e v ery help, and th ro u gh m utual
c o -o p era tio n they w ill easily deal w ith ev er-decreasing d is tu rb a n c es .“ H a rija n b a n d h u , 3 1 .8 .
1940, in: C W M G L X X I I , 403; vgl. auch R. R. Dvwarkar, S a tyagrah a: A N e w W a y o f Life and
A N e w T e ch niqu e fo r Social C h a n g e , in: Mukherjee, R a m a s i v a m y , Facets I, 85 -95.
-w H a n ja n , 12. 5. 1946, in: C W M G L X X X IV , 89.'
In vo llem B e w u ß ts e in k ritis c h -„ rea lp o litis ch er“ h in w ä n d e bekräftigt G andhi: „I m a y be
taunted w ith the reto rt that this is all U t o p ia n and, therefore , not w o r th a sin gle thought. If
E u c lid ’s poin t, tho ugh incapable of bein g d r a w n b y h u m a n agency, has an im p erish able value,
m y p ic tu re has its o w n for m a n k in d to live. Let In dia live for this true picture, th o u g h n ever
realiz able m its co m p leten ess.“ H a n ja n , 28. 7. 1946, tn: C W M G L X X X III, 33.
34 D er Titel dieses nachgelassenen Entwurfs lautet „D raft C o n s titu tio n of C o n g r e s s “, N ew
Delhi, 29. f. 1948. Das O r ig in a ld o k u m e n t befindet sich im A I C C File no. 1578, N e h r u M e ­
m orial M u s e u m and L ib r a ry ; E rstveröffentlichung in H arijan, 15. 2. 1948', w ie d e r m: C W M G
X C , 52 6-528 .
35 G a ndh is B e g rü n d u n g lautet: „ [ ...) the C o n g res s in its present shape and form, i.e., as a
p ro p a g a n d a vehicle and p a r lia m e n ta ry m achin e, has outlived its use. India has still to attain
94
G i t a D h a r a m p a 1- F r i c k
in einen lok s e v a k s a n g b zu v erw a n d e ln , d. h. in eine natio n ale O rg an isatio n frei­
w illig e r Sozialarb eiter, die sich ü b er das gesam te Land verteilen und als v ielseitig
e in setzb a re ö rtlic h e F ü h re r fun gieren sollten, um so die lo kalen G em einsch aften
w ie d e r z u b e le b e n u n d „ p e o p le ’s p o w e r “ aufz ub auen : D er passive und fügsam e
U n t e rt a n (im Sinne des h erk ö m m lich e n Staatsdenkens) sollte sich in den „en ga­
g ie r te n “ B ü rg e r m it d e r F äh ig k e it z u r ak tiv e n Teilnahm e an den öffentlic hen A n ­
ge le ge n h e ite n v erw a n d e ln . N a c h G an d h is Ü b e r z e u g u n g w ü rd e das m o n o p o listi­
sche P otential des Staates drastisch z u r ü c k g e h e n und seine Z w a n g sg e w a lt so w o h l
m o ralisc h w ie m ateriell u n term in ie rt w e rd e n , sobald d e r E inzelne seine eigene
M a c h t e rk an n t und sie sich zu k o n stru k tiv em G eb rau ch an geeignet hätte36. G a n ­
dhi sch ien auf die se m W ege zu einem p ra k tik a b le n K o m p ro m iß gelangt z u sein,
in d em , für eine b e gre n z te Ü b e rg a n g sz e it, die politische O r d n u n g des u n a b h ä n g i­
gen In dien auf z w e i v ersch ieden en Säu len ruh en sollte: d em „offiziellen Staat" im
B esitz d e r ge se tz m ä ß ig e n A u t o ritä t u n d dem tran sfo rm ierten N atio n a lk o n g r e ß
m it seiner m o ralisch e n A u to ritä t ge g e n ü b e r den B ü rg e rn 37. D am it bot sich dem
L an d die e in z ig artig e C h an ce , m it der nich t-staatlich en O rg an isa tio n des k o lle k ti­
ven Leb ens zu ex p e rim e n tie ren ; G an dh i w a r allenfalls daz u bereit, den Staat v o r ­
ü b e rg eh e n d als ein Orc/wxMgsinstrument zu a k ze p tie re n , nicht jedoch als einen
A g e n te n so zialen W andels o d er gesellsch aftlich er R e f o r m , da staatlich initiierte
R e fo rm e n nach seiner Ü b e r z e u g u n g m o ralisch e Trägheit b egün stigten. Je d e g e ­
sellsch aftlich e R e fo rm sollte d ah e r in d e r h aup tsäch lichen V e ran tw o rtu n g d er von
ihr betroffenen selbstregierten G em einsch aft verbleiben. Die Z en tralre gie ru n g
sollte w e n ig m e h r tun, als diese R e f o rm p r o je k te zu erleichtern und zu k o o r d in ie ­
ren 38. D ieser G e d a n k e einer G e ge n in stan z au ß e rh alb der staatlichen O r d n u n g
sollte eine U n z u lä n g lic h k e it selbst d e r lib eralen D e m o k ratie ausgleich en , d e r z u folge die E x isten z von O p p o sitio n sp arteie n noch im m e r alle p o litisch e E nergie auf
die Sp h äre des Staates k o n z e n triert hielt und die Gesellschaft im g an zen d e r p o li­
tischen M a c h t b eraubte. Tatsächlich w a r G andhi entschieden d e r M e in u n g , die
C h a n c e n für einen m o ralisch en , so ziale n , w irtsch aftlich en und p o litisch en F o r t­
sch ritt seien u m so größer, je w e ite r die D e z en tralisie ru n g d e r M a c h t in der G e se ll­
social, moral and economic independence in terms of its seven hundred thousand villages as
distinguished from its cities and towns. The struggle for the ascendency of civil over military
power is bound to take place in India’s progress towards its democratic goal. It [d. h. der
Kongreß] must be kept out of unhealthy competition with political parties and communal
bodies.“ Ebd., 526f.
36 Iyer, T h o u g h t 55 f.: „In this w a y the p urification o f ,p o w e r politics' w o u ld b eco m e p ossi­
ble. H e n c e the e n o rm o u s im p ortanc e that G a n d h i gave to w h at he calle d the .C o n s tru c tiv e
P r o g r a m m e ' la u nched b y the v o lu n t a ry servants of the p eo ple .“
37 N a c h d er D e u tu n g von Parekh (C o lo n ia lis m 97 f. so w ie ders., Political P h ilo s o p h y 122 ff.)
stand bei die ser K o nze ptio n einer politisch en A u fg a b e n v e rte ilu n g m ö g lic h e rw eis e das t r a d i­
tio nelle B ü ndn is z w is c h e n K sh a triy a s und B r a h m a n en Pate, w o b e i d er Staat die K s h a triy a F u n k tio n üb ernah m , die Gesellschaft zu regie ren, w ä h r e n d dem erneuerten C o n g res s d ie tra­
ditio n elle b rahm anische R o lle zufiel, die in d is ch e Gesellschaft zu erhalten u n d zu erneuern
und d abei auch den Staat zu führen, zu b eraten und, falls erforderlich, zu kritisieren.
38 G a n d h i erläutert: „The State w ill be there to c a r r y out the w ill of the people , not to dic tate
to them or force them to do its w il l. “ T h e H in d u , 26. 1. 1946, in: C W M G L X X X I I I , 27.
Das u n a b h ä n g ig e In die n
95
schaft gediehen w a r 39. O b w o h l er am K o m p r o m iß einer m in im alen S ta atsin ter­
vention festhielt, erschien ihm eine staatsfreie G esellschaft als ideale Z ie lv o r ­
stellung d e n k b a r und m it den gen an n ten M itte ln auch realisierb ar40. - Bei der
E ntscheidun g ü b er die p olitische O r d n u n g eines un ab h än g ig en Indien w u r d e
Gandhis V ision freilich z u gu n sten von N e h ru s eigenem E ntw urf eines nach dem
M u ster der w estlich en In dustriegesellschaften gestalteten und in der staatlichen
Sphäre zen tralistisch organisierten S ystem s p re isge ge b en 41.
II.
W a ru m fand G an d h i kein G e h ö r? Die A n tw o r t ist k om plex: Z un äch st einm al
kam, auf der E bene der k o n k rete n E reign isgeschich te, G andhis Vorschlag z u r
A u flö su n g des K ongresses zu spät. D er neue Staat w ä r e hilflos g ew esen ohne eine
gut o rg an isie rte p olitische P artei, die z u r „staatstragend en un d staatsgetragen en
P arte i“42 w e r d e n sollte. A n gesichts der ak u ten w irtsch aftlich en und p olitischen
P ro b lem e, den en sich Indien nach U n a b h ä n g ig k e it s k a m p f und T eilung g e g e n ­
übersah, erschien ein stark e r und zen tralistisc h e r Staat als absolutes M u ß . D ie G e ­
fahr, daß eine A u flö su n g d er K o n greß p artei den Staat im gan zen g e läh m t u n d ihm
die M ö g lic h k e it v erb aut hätte, sich z u k o n so lid ie re n und eine öffentliche L e g it i­
mität z u g e w in n en , diese G efahr w a r nicht v o n d er H a n d zu w eisen. Ü b e r d ie s traf
das üb ereilte T em po, m it dem die T eilun g des S u b k o n tin en ts und d er Transfer of
P o w er an die b eid en un ab h ä n g ig en p olitischen E inheiten Indien u n d P akistan
du rc h die B riten beschlossen u n d d u r c h g e z o g e n w u r d e - das u rsp rü n g lic h av i­
sierte D a tu m des 30. J u n i 1948 w u r d e dabei au f den 15. A u g u s t 1947 v o rv e rle g t43
39 Vgl. beson d ers G a nd h is B rief an N e h r u vo m 5. 10. 1945, in: C W M G L X X X I , 31 9-21.
40 G andh i um sch reibt die se Visio n etw a fo lge n d e rm a ß en : „If national life b ecom es so perfect
as to beco m e s elf-regu la ted , no representatio n is necessary. T h ere is then a state of e n lig h te n ­
ed anarchy. In such a state ev ery o n e is his o w n ruler. H e rules himself in such a m a n n e r that
he is n ever a h indran ce to his neig hbour. In the ideal state therefore there is no political p o w e r
b ecause there is no S tate.“ Yo un g India, 2. 7. 1931, in: C W M G XLVII, 91. An a n d e rer Stelle
räum t er ein: „We m igh t re m e m b er tho ugh that a Statele ss s o c ie ty does not exist a n y w h e r e in
the w o rld . If such a s o c ie ty is p ossib le it can be established first o n ly in India. F o r attem pts
have been m a d e in India t o w a r d s b rin g in g a b o u t suc h a so c ie ty .“ H a rija n Sevak, 15. 9. 1946,
in: C W M G L X X X V , 267.
41 Eine D is k u s s io n von G andh is A ltern a tiv v o rs te llu n gen und ihrer Z u r ü c k w e is u n g durc h
N e h r u bei S u d h i r C h a n d r a , „The L a n g u a g e of M o d e r n Ideas“ : Refle ctio ns on an E th n o lo g i­
cal Parab le , in: T hesis Eleven 39 (1994) 39—51, bes. 44 -5 1 . E tw a v ierzig J a h r e z u v o r hatte
G a n d h i die ses ,w e s tlic h e “ M o d ell in p oin tie rte r F o r m u lie r u n g z u rü c k g ew ies en : „You w a n t
the tiger’s nature, b ut not the tiger; that is to say, y o u w o u ld m ake India English. A n d w h e n it
becom es English, it w ill be called not H in d u s ta n but E n glista n . This is n ot the s w a r a j that I
w a n t . “ H in d S w a ra j, in: C W M G X, 15.
42 So die F o r m u lie r u n g von D i e t m a r R o t h e r m u n d , Staat un d G esellschaft in In dien ( M a n n ­
heim 1993) 21.
43 A m 3. J u n i 1947 w u r d e ein „F inal P la n “ offizie ll d urc h V ice roy M o u n tb a tte n b e k a n n tg e ­
m acht, d er einen raschen britischen R ü c k z u g u n d d ie Ü b e r t r a g u n g der M a ch t an zw e i N ach -
96
Gita D h a r a m p a l - F n c k
auch die K o n grd sfü h ru n g unverhofft und unvorbereitet: Im W illen zu einer
schnellen und leichten M ac h tergre ifu n g und in der zusätzlic h en Sorge, das g e ­
stutzte Indien im Chaos der T eilung h alb w e gs intakt zu halten, z o g die p olitische
Elite es vor, den U m stan d zu ign o rieren , daß am 15. A u g u st 1947 k ein e sw egs eine
w irklich e U n ab h än gigk e it erlangt w u r d e , so ndern allein der Ü b erg an g s- und
K o m p ro m iß zu stan d eines D o m in io n statu ts44. Sechs M on ate nach d er T eilun g er­
hielt die C ongress-Führung durch G andhis E rm o rd u n g eine freiere H an d . Zu
Gandhis Lebzeiten hatte der C o n g ress G an dh i vor allem als den heiligen M a ­
hatm a porträtiert43, und dies w o h l nicht allein, um ein m a sse n w irk sam e s Idol zu
präsentieren, sondern auch, um von G andhi als politisch re v o lu tio n äre m E x p e ri­
mentator ab zulenken. Diesen Kreisen erschien die A r a nach der Teilung als eine
zu unsichere Zeit für Experimente.
Zweitens aber m uß man auf tieferliegende G rün de z u rü c k g re ife n , w e n n man
die A b le h n u n g erklären will, auf die G an dh is E n tw u rf bei der p olitischen Elite
stieß: M an m uß sich klarm ach en , daß das Z w ischen sp iel von nah ezu z w e i J a h r ­
hunderten k olonialer F rem dh errsch aft f u n d am en tale V e ränderun gen z u r Folge
hatte: H ie rh e r gehören nicht allein die ad m in istrativen , legislativen, ju ristisch en
und wirtschaftlichen, sondern ebenso che einsch n eiden den k og nitiven T ransfor­
mationen im Gefolge einer d urch die K o lo n ialm ac h t ausgeü bten staatlichen S o u ­
veränität. Besonders seit der M itte des 19. Ja h rh u n d e rts regierte der im p eriale
Staat unter R ückgriff auf ein neues rationalistisches W eltbild m it neuen B e s t im ­
mungen von Begriffen w ie I n d i v i d u u m , E i g e n t u m , G e s e l l s c h a f t und S ta at ‘H\ D a r ­
aus resultierte eine v erh ängnisvolle F e h le n tw ic k lu n g in der S tr u k tu r der indischen
P olitik, nämlich eine m entale Kluft z w isc h e n den M itte lk lasse-E lite n und der g e ­
wöh n lich en indischen B ev ö lke ru n g47; das P ro b lem der m an gelnd en V e rstän d lic h ­
keit und Einsichtigkeit der politischen In stitution en für die M e h rh eit der B e v ö l­
k eru n g hat hier seinen U rsp ru n g , u n d es sollte du rc h sch lage n auch auf die p o liti­
sche O r d n u n g und die staatlichen S tr u k tu r e n des un ab h än gig en In dien 48. Fern er
fo lg e-D o n un io n s, näm lich an Indien und an ein „ z w e iflü g e lig es “ Pakistan im N o r d w e ste n
und N ordosten des Subkontin ents, ank ün d igte . Vgl. den Text d ie ser R e g ie r u n g s e r k lä r u n g in:
C W M G L X X X V I I l, A ppendix [, 4 7 4-478 . Das D a tu m , der z w e ite J a h r e s ta g d er jap anischen
Kapitulatio n am 13. A u g u st 1945, sollte an den grö ß te n T rium ph in M o u n tb a tte n s Leben a n ­
kn üpfen. b ür eine positive B e w e rtu n g von M o u n tb a tte n s „ E ffizienz“ wie auch von L abo urs
„c o m m itm e n t“ gegen üb er Indien vgl. EI. V. B r a s t e d un d C a r l B r i d g e , „15 A u g u st 1947“ :
L a b o u r s Parting Gift to India, m: India. C r e a tin g a M odern N a tio n , hrsg. von J i m M a ss e lo s
(N e w Delhi 1990) 3-36.
44 Vgl. G andhis brüsken K om m entar: „ W h y so ju b ila n t? P u m a s-iearaj [ d .h . vollständige
Selbstregien m g] is far off“. The H m d u s ta n T im es, 28. 7. 1947.
45 D a zu ü. a. Sbahid. A min, G andhi as M a h atm a : G o r a k h p u r D istrict, L astern UP, 19 21-2, in:
Subaltern Studies III ( N e w Delhi 1984) 1-61.
4<’ Vgl. etwa S ud ip ta K a v ira j, O n the C o n s tr u e tio n of C o lo n ia l Po w er: Structure, D iscourse,
H e gcm o n y, in: Engels, Marks, C o lo n ia l H e g e m o n y 19-54.
47 G run d legen de Studien sind u.a. Anil Seal, T h e L m erge nc e of In dian N a t i o n a le m :
C o m p etitio n and Collaboratioti m the L ater N in eteenth C e n t u r y (C a m b r id g e 1968); B. T.
M eC u lly, English Educatio n and the O rig in s of In dian N a tio n a lis m ( C o lu m b ia 1940).
4S Im Brief an einen unb ekan nten A dressaten zieht G andh i die S ch lu ßfo lge run g: „You are
Das u n a b h ä n g ige in die n
97
w u rd e das P rin zip p ro p agiert, der Staat besitze die A u to rität z u r E in m isc h u n g m
die soziale Sphäre; hierher gehört auch die schärfere K lassifizierung und K o d ih zieru n g von K riterien w ie R eligio ns- und K aste n z u ge h ö rigk eit, deren G r e n z v e r ­
läufe in der trad ition ellen in disch en Gesellschaft eher fließend gew esen w aren .
U nd sch ließlich beansp ruch te der K o lo n ialstaat als so uv erän er und vorgeb lich
n eutraler V ertreter der p olitischen M o ral das Rech t, sich der A n liegen s o g e n a n n ­
ter M in d e rh eite n an zu n eh m e n ; die K o n se q u en z dieser auch taktisch b edin gten
d i v i d e a n d r u l e p o l i c y w a r eine Sp altu n g der N a tio n a lb e w e g u n g , eine B estärk u n g
des religiösen Sep aratism u s und letztlich die E ntstehung z w e ie r getrennter, jew eils
d urch die R e lig io n sz u g e h ö rig k e it ih rer B ev ö lk e ru n g sm e h rh eit d efinierter S taa­
ten49. Im Z u sam m e n h an g d a m it v erführte d er h errschende o n e n talistisch e D is ­
kurs die w estlich erzo ge n en Inder zu einer G e rin g sc h ätz u n g ihrer eigenen K ultur
und zu der A n n ah m e , in der eigenen G eschichte lägen keine b ra uch b aren p o liti­
schen M o d e lle bereit, auf die bei der R e k o n stru k tio n des L andes z u rü ck ge griffen
w erd e n k ö n n te, so daß der m o dern e Staat w estlich en Z uschnitts den einzigen
ratio n alen M o d u s einer m o d e rn verfaßten p olitischen und gesellschaftlichen O r d ­
nun g darste llte 30.
H ie r k a m J a w a h a r la l N e h ru s Vision ins Spiel, die d u rc h G e d an ke n des fabianischen S o z ialism u s inspirierte Vorstellung eines U m b au s der indischen G e se ll­
schaft nach dem Vorbild w e stlich e r Staatsform en m it dem Ziel, Sicherheit, E n t­
w ic k lu n g , W irtsch aftsw ac h stu m und w issen schaftlichen F ortsch ritt zu g e w ä h r ­
leisten und D e m o k ratie, Säk u larism u s und S o z ialism u s zu befördern, k u rz: einer
reineren Version w estlich g ep räg ter politischer M o d e rn ität zum D u r c h b r u c h zu
verhelfen, als sie in der Zeit des K o lo n ialism us m ö glich gew esen w a r 51. W o G a n ­
dhi ein indisches A ltern ativ m o d e ll p ro p agie rt hatte, e n tw arf N e h ru ein A n p a s ­
su n gsm o d ell: die Vision, den Westen m it dessen eigenen M itte ln zu überholen.
A u c h diese Vision w a r keine „ E rfo lgsgesch ich te“ .
g ra v e ly m ista k en in a ssu m in g that as soon s w a r a j co m es p ro s p e r ity will flood the co un try. If,
before a s su m in g that, y o u had used y o u r im a gin a tio n a bit to see that after 150 years of s la v ­
ery, we' w o u ld need at least half that m uch tim e to cleanse o ur b o d y -p o lit ic of the virus that
has infiltrated e v er y cell and pore of o u r bein g d u r i n g o ur subje ctio n, y o u w o u ld not have
found it n ecessary to ask me. I am sure yo u w ill un der stand w h a t I mean, nam ely, that tar
greater sacrifices w ill be needed after the a ttainm en t of self-go vern m en t to establish go od
go vern m en t and raise the people than w ere required for the attainm en t ot freedom b v means
o f s a t y a g r a h a . “ 6. 6. 1947, in: C W M G L X X X V I I I , 8 6 f.
49 Zur p olitis ch -h is torischen Genese der T eilung vgl. u.a. C. H. Philips und Ai. D. Warn¡.¿'right (H rs g .), T h e Partitio n of India. Policies and Perspectives 1935-1947 ( L o n d o n 1970);
Anita I n d e r S i n g h , T h e O rigin s of the P artitio n of In dia 19 36-47 (O x fo rd 1987). Trotz seiner
hin du istisch en B e v ö lk e ru n g s m e h rh eit betonte das u n a b h ä n g ige Indien den sä ku la ren C h a ­
r a k ter seines staatlichen S ystem s; vgl. u. a. P. C. J o s h i , Secularism and D evelo pm en t: T h e In ­
dian E x p erim e n t (New' Delhi 1995).
50 Vgl. u .a . die g ru n d leg e n d e S tudie von P a rth a C h a t t e r j e e , N a tio n a list T h o u g h t and the
C o lo n ia l W orld. A D erivative D isco urse? ( L o n d o n 1986), so w ie den Beitrag von R a v i n d e r
K u m a r , State F o r m a tio n m India: R etrospect and Prospect, in: D o o r n b o s , K a v ir a j, State F o r ­
m ation 403 f.
51 V gl. seine Vision in J a w a h a r l a l N e h r u , T h e B asic A p p ro a c h ( N e w D elh i 1958).
98
Gita D ha ra m pal - F rick
III.
Infolge d e r extrem en p olitischen In stabilität nach der T eilung des S u b k o n tin e n ts
e rw ies es sich freilich als n o tw en d ig , den ü b e r k o m m e n e n zen tralisierten Z w a n g s ­
a p p arat des k o lo n iale n Staats nicht e tw a a b zu b a u e n , so n d ern ihn im G egenteil
n och zu verstärken : die N e u a n sie d lu n g H u n d e r tta u se n d e r F lü c h tlin g e 52, der ter­
rito riale K o n flik t mit P akistan u m K ash m ir53, der R ü c k g r if f auf m ilitärisch e G e ­
w a lt z u r In tegration b e itr ittsu n w illig e r F ü rste n tü m e r w ie J u n a g a d h und H y d e r a ­
bad in d ie Indische U n io n 54 - diese K o nstellatio n en ließen den massiven E insatz
der m ilitärisc h en , p o liz e ilich en und b ü ro k ra tisc h e n M a c h ts tr u k tu r e n u n u m g ä n g ­
lich ersch ein en , die d er k o lo n iale Staat h interlassen hatte. N a c h d em der p o s t k o lo ­
niale Staat sich dieser Vorgefundenen R e sso u rc en aber erst einm al b edien t hatte,
M a n schätzt, daß u n g e fä h r 7,5 M illio n en H in d u s und Sik hs P ak istan in R ic h t u n g In dien
verließen un d 8 M illio n e n M o slem s in der G eg e n ric h tu n g un te rw e g s w a ren ; im östlichen
P u njab w u r d e n ca. 2 M illio n e n H e k t a r La n d verlassen, im W esten w a re n es 2,7 M illio n e n
H e ktar. F ü r detaillierte A u s fü h r u n g e n vgl. die B eiträge in: M u s h i n t l H a s a n (H rsg.), In d ia ’s
Partitio n : Process, S tr a te g y and M o b iliz a t io n (D elh i 1993); z u letz t ist eine u m fan g re ich e
S a m m lu n g vo n A u g e n z e u g e n b e ric h t e n erschienen: ders. (H rsg.), India P a rtitio n ed : The
O t h e r F ace of Fre edo m , 2 Bde. (D elh i 1995).
53 Das F ü r s te n t u m J a m m u un d Kashmir, das s o w o h l an In dien w ie an Pakistan gre n zte un d
sich k e in em d e r beid en Staaten a nschloß, besaß einen hin du istisch en R egenten un d eine
ü b e r w ie g e n d m o sle m isc h e B e vö lke ru n g. D ie M o slem s w a re n in d er zentrale n Talregion, d em
Vale of Kashm ir, ko nze n triert, w ä h r e n d die h indu istisch e M in d e r h e it im südlich gele genen
G ebiet vo n J a m m u lebte. A ls aus P ak istan e in g ed ru n g e n e Path a n e n -V crb ä n d e a uf die H a u p t ­
stadt S r in a g a r vo r z u s to ß e n dro hten , ersu ch te M a h a r a ja H a ri Sin gh In dien um m ilitärischen
Beistand. A u f A n ra te n M o un tb a tte n s ve rw e ig e r te In dien die E n tse n d u n g v o n T ru pp en , falls
K a sh m ir sich nicht für den fö rm lichen A n s c h lu ß an Indien entscheide. N a c h erfolgtem B e i­
tritt erklä rte In dien seine A bsicht, in K a s h m ir ein R efere n d u m üb er die Z u g e h ö r ig k e it zu
In dien o d er P a k ista n a bz uh alten , sob ald der Fried e w ie d erh erg es te llt sei. Info lge des b e w a ff­
neten K o n flikts b eider Staaten über K a s h m ir im J a h r 1948 und der nachfolgen den Z ieh un g
einer W affen stillstan dslin ie durc h die V ereinten N a tio n en k a m diese V o lk s a b s tim m u n g nie
zustande.
54 J u n a g a d h w a r ein von in d is ch em T e rrito riu m u m g e b e n e r Kle in staat in K a th ia w a r (W estIn dien) m it h in d u is tis ch er B e v ö lk e ru n g u n d eine m m osle m isc h e n H errscher. A ls d e r Staat
sich P a k is ta n anschloß , w u r d e er von in disch en Tru pp en besetzt, un d nach einer V o lk s ab ­
s tim m u n g trat J u n a g a d h d e r In dischen U n io n bei. - D ie Situatio n in H y d e r a b a d m it seinem
m o s le m isc h e n H errscher, dem N iz a m , u n d einer h in duistisch en B e v ö lk e r u n g s m e h rh eit
stellte sich ähnlich, aber noch k o m p liz ie rte r dar. Als größtes der in dischen F ü r s te n tü m e r
strebte H y d e r a b a d trotz seiner eingeschlo ssenen L age im H e rzen Indiens die U n a b h ä n g ig ­
keit als so u v e r ä n e r Staat an u n d verstän d igte sich m it In dien a uf ein einjähriges S tillh a lte a b ­
k o m m e n , u m den F o r tg a n g d er laufenden V erh a n d lu n g en zu erm ö glich en . M it fo rtsc hre iten ­
der U n r u h e in H y d e r a b a d u n d un ter d em E in d ru ck , daß p ar am ilitärisch e V erbände ex tre­
m istisch er M o slem s do rt z u n e h m en d an E influ ß ge w a n n en , sch ic kte die in dische R e g ie ru n g
in einer „ P o liz e ia k t io n “ T ru p p en in das L a n d , u m „law and o r d e r “ w ie d erh erzu ste llen .
H y d e r a b a d schlo ß sich unter die sem D r u c k der In dischen U n io n an. F ü r ausfüh rlic he D a r ­
ste llun gen vgl. V. P. M e n o n , T h e S t o r y of the In tegratio n of the In dian States ( M a d ra s 1961)
so w ie R o b i n J e f f r e y (H rs g.), People , Princes and P a r a m o u n t Power. S o c ie ty and Po litics in
the In dia n P r in c e ly States (D elh i 1978).
Das un a b h ä n g ige Indien
99
w u rd e es sch w ie rig , sie später a b z u b a u e n 55. U n d tatsächlich gibt es gen ügen d
In dizien für die T hese, daß das kolo n ialistisch e Staatsethos dessen einh eim isch en
Erben d u rc h au s zusagte. So geriet, um nur dieses eine B eispiel zu nennen, die U m ­
w a n d lu n g d e r R e sid e n z des V iz e k ö n igs z u m R ash trap ati B havan, dem Sitz des
indischen Präsiden ten , z u m u n ü b e rseh b aren S y m b o l solcher K o ntinuität. D aß das
S taatso b e rh au p t eines arm en D ritte -W e lt-L a n d e s in einem gigan tisch en Palast
residieren sollte, dessen ursp rü n g lich e Z w e c k b e s tim m u n g darin lag, ein K o lo n ia l­
v olk zu b eein d ru ck e n und in u n te rw ü rfig e s Staunen zu versetzen, schien der Sen ­
sibilität d e r neuen „ d e m o k ratisch e n “ M a c h th a b e r n icht viel an h aben zu k önnen.
G an d h i hatte dagegen p rotestiert und vo rgesch lagen , den w eitläufigen K o m plex
als K ra n k e n h au s zu n utzen - ab er vergebens.
In sgesam t k an n m an sagen, daß der neue indische N a tio n alstaat z w e i deutlich
versch ieden e un d sc h w e r m itein an d e r v erein b are E rbschaften an trat56: Z u m e i n e n
griff er z u r ü c k auf die ko lo n ialstaatlic h e n S y ste m e von innerer H errsc h aft und
K o ntrolle, auf ihr auto ritäres u n d hierarchisch es adm in istratives Ethos, ihre G e ­
setze un d Sp ielregeln. G e ge n ü b er dem einfachen Staatsbü rger und insbeso n dere
g e g e n ü b er den u n teren Schichten der B e v ö lk e r u n g galten auch w e iterh in die e in ­
gespielten V erhältnisse der M a rg in a lisie r u n g u n d einer m ac h tge stü tzte n U n t e r ­
d r ü c k u n g , Verhältnisse w ie sie in sbeso n dere in staatlichen R epressalien ge gen üb er
A k tio n e n p o litisc h e r U n b o tm ä ß ig k e it und Dissiclenz o der g eg en ü b er d e r D r o ­
h un g k o m m u n istisc h e r A u fstän d e in T elengana u n d an d e rsw o z u m A u s d r u c k k a­
m en37. D ieser staatliche G e w alte in satz befand sich im W id e rsp ru ch zu d e r z u m i n ­
dest in der V erfassun gsth eo rie p ro k la m ie rte n V o lkssou verän ität, w o r a u f ich noch
z u r ü c k k o m m e n w erd e. A u f d e r a n d e r e n S e i t e stand dem die N ac h fo lg e einer
t riu m p h iere n d en n ationalen B efre iu n g sb e w e g u n g gegenüber, deren leiten de Z ie l­
se tz u n g es gerade g ew esen war, diese Praxis des stark en Z entralstaates zu b estre i­
ten u n d an zu greifen . W eitere F ak to re n (von den en z u m Teil schon die Rede w ar)
tru gen d a z u bei, die w id e r sp r ü c h lic h e u n d s p a n n u n g sreic h e Situation z u v ersc h ä r­
fen: N e h ru s Vision eines d e m o k ratisch e n S o z ialism u s, die tradition elle indische
V orstellung deze n tra le r p olitischer G em einsch aften , die darn ie d e rlieg en d e
p o stk o lo n ia le W irtsch aft, sch ließlich das allgem ein e C h ao s nach der T eilung des
S u b k o n tin e n ts.
55 Vgl. die E rlä u teru n g en des M in is terp rä sid en ten N eh ru : „We had, fo rtun ately , a peaceful
transfer of p o w e r in this co un try, w it h a ru n n in g m achin e. A ru n n in g m ach ine has its a d v a n ­
tages and disadvantages. I p refe r the advantages. T h e disad van tag e m a y be that y o u are tied
up w it h certain processes w h ic h take tim e to change. T h e advan tages are obviou s - that yo u
do not d e s t r o y and start fro m scratch. W e started at a h ig h er level co m pare d to m ost c o u n ­
tries in A sia .“ R ede 111 der L o k S abha, 21. 12. 1954, in: J a w a h a r l a l N e h r u , Speeches, Bd. 3
( N e w D elh i -’ 1983) 9, im folg enden zitiert: N e h r u , Speeches.
^ Vgl. h ierzu d ie A u s fü h r u n g e n bei Brass, In dep en den t In dia 1-28 („ C o n tin u itie s and d is ­
c o ntinuitie s b etw ee n p re- and p o s t-in d e p e n d e n c e In d ia “), so w ie S uchpta K a v i r a j, T h e M o d ­
ern State in In dia, in: D o o r n b o s , K a v i r a j , State F o rm a tio n 233 f.
57 Vgl. M o h a n R a m , T h e C o m m u n is t M o v em en t in A n d ra , in: R ad ic al Politics in S outh Asia,
hrsg. von P a u l Brass und M a rcu s F ra n d a ( C a m b r id g e , Mass. 1973).
100
G ita D h a r a m p a l-F r ic k
In einem solchen Kontext allge m e in er A u flö su n g erregte die A u s a r b e itu n g der
neuen V erfassung w e n ig öffentliches Interesse58. Die 1946 eingerich tete Verfas­
su n g g e b e n d e V ersam m lu n g w a r n ur der T h e o rie nach repräsentativ für die G e ­
s am tb e v ö lk e ru n g , denn m an m u ß sich v erg e g e n w ärtig e n , daß n u r 2 8,5% der
e rw ac h sen e n B ev ö lk e ru n g in den W ahlen von 1946 zu den Provinzialversam m ­
lungen ab stim m e n d urften, aus denen die M itg lie d e r d er V erfassun ggeben den Ver­
s a m m lu n g a u sg e w äh lt wurden-'’9. Im ü b rige n bestand das E n tw u r fsk o m m itte e
nicht e tw a aus den F ü h re rn der F re ih e itsb e w e g u n g , so ndern aus R ec h tsa n w älte n
und h ohen V erw altu n g sb e am te n , die ihre A u s b ild u n g im D ien st des B ritish Raj
erhalten hatten. D en Vorsitz der K o m m issio n hatte Dr. B. R. A m b e d k a r inne, d e s­
sen O p p o sitio n ge ge n ü b er G an dh is Z u k u n ftsv isio n beson ders in seiner v eh e m e n ­
ten A b le h n u n g von G an dh is Id e alisie ru n g d e r D o rfge m e in sc h aft z u m A u s d r u c k
kam. In einer A u ssp rac h e über die B e d e u tu n g d er D ö rfer für die G e staltu n g der
kün ftigen p olitischen O r d n u n g Indiens erklärte A m b e d k a r w ö rtlich : „W h at is the
village but a sin k of localism , a den of ign o ran ce, n a r ro w -m in d e d n e ss and c o m m u n a lism .“60 Ein z u r B e sc h w ic h tig u n g der G a n d h i-F r a k tio n w ä h r e n d d er Debatte
gefaßter p r o - f o n n a - ß e s c h l u i l verp flich tete den Staat z u r Sch affun g von D o r f - R ä ­
ten o der v i l l a g e p a n c h a y a t s als Ein heiten d e r lo kalen Se lb stv e rw altu n g. A n einem
besonders iron isch en P u n k t der D eb atte kritisierten einige M itg lie d e r der Verfas­
su n g g e b e n d en V ersam m lun g, daß der v orgelegte V erfassun gsen tw urf für die
neuen in d isch en Staatsbeam ten dieselb en M ach tp o sitio n e n u n d P riv ilegien v o r ­
sehe, w ie sie ih re ko lo n ialistisch en V o rgäng er in n e ge h ab t hatten; der I n n e n m in i­
ster V allab h bh ai Patel wies dieses A r g u m e n t mit dem V o rw urf z u r ü c k , es en t­
sp rin ge an tin atio n ale m D e n k e n 61.
D e r sch ließlich verab sch iedete, ä u ß erst k o m p liz ie r te u n d u n d u rc h sich tig e Ver­
fassungstext - es h an delt sich um die längste Verfassung d er W elt - b e ru h t m a ß ­
geb lich auf dem G o v e r n m e n t o f I n d i a Ac t von 1935, d e r ad m in istrativen Bib el der
k o lo n iale n R e g ie r u n g 62, u n d ü b e r n im m t neben d em m aß geb lich e n Vorbild von
58 R e m in d e r K u m a r, T h e S tructu re of Politics in India on the Eve of Independence ( O c c a s io n ­
al Papers on H is t o r v and Society, N e h r u M u s e u m and L ib ra ry, 2. Folsrc X VI, N e w D elh i
1989).
59 G r a n v i l l e Austin, T h e In dian C o n s titu tio n . C o r n e r s to n e of a N a tio n ( O x fo rd 1966) 10, im
folg enden zitiert: Austin, In dian C o n s titu tio n .
60 Zitiert in: D b a r a m p a l , Pa n ch a ya t Raj as the Basis of In dian Po lity: A n Exp lo ration into
the Pro ceedings of the C o n s titu e n t A s s e m b ly ( A V A R D , N e w Delhi 1962) 25.
61 Es w u r d e geltend gem acht, ihre b eson deren Privilegien w ü r d e n es den S taatsbedie nsteten
erle ichtern, ge gen ü b er Pre ssionen und B este ch u n gsv ersu c h e n standhaft zu bleiben; vgl. im
D etail das S t a n d a r d w e r k zu r in dischen B ü r o k r a tie : B. B. M isra, G o v ern m e n t and B u r e a u ­
c r ac y in India, 1947-1976 ( N e w D elh i 1986).
62 V gl. dazu C a r l B r i d g e , H o ld in g In d ia to the E m pire: T h e B ritish C o n s e rv a tiv e P a r ty and
the 1935 C o n s titu tio n ( N e w D elh i 1986). Brass, In d ep en d en t India 2, b eschreibt die G r u n d ­
zü ge des ü b e r n o m m e n e n ko lo nialen Staatsapp arats w ie folgt: „The features of co n tin u ity
in cluded the adop tio n of a federal sy s te m of g o v er n m en t w ith three le gislative lists of p o w e rs
to be exercised ex c lu sively b y the U n io n , ex c lu siv e ly b y the states, or co n curren tly, and a
co m b in a tio n of a co n sid erab le d eg ree of provincial a u t o n o m y w it h extensiv e p o w e rs left to
Das u n a b h ä n g ige In dien
101
W estm in ster63 E lem ente auch aus den Staatsm o d ellen der am erikan isch en , f r a n z ö ­
sischen, sc h w e ize risch e n und irischen V erfassung; die P räam bel dieser Verfassung,
die Indien am 26. J a n u a r 1950 in eine p arlam en tarisch e D em o k ratie mit so w o h l
zen tralistischen w ie auch föderalen Z ügen v erw a n d e lte, beginnt mit dem rh e to ri­
schen B ek en ntn is; „We, the people of India .. . give to ourselves this C o n s t it u ­
t io n “, w o rau s hervo rgeh t, daß die verw e stlic h te politische Elite sich als den H ü te r
der a llgem ein e n Volksinteressen an sah 64, z u g le ich jedoch (anders als G an d h i) der
F äh igk eit des Volkes tief m ißtrau te, seine eigenen Interessen k lar zu definieren
oder sie k on sisten t zu verfolgen. Tatsächlich w a r die Kluft z w isc h e n den P r ä m is ­
sen der indischen Verfassung von 1950 einerseits und den unter d er M asse der B e­
v ö lk e ru n g vorh errsc h en d e n N o r m e n an dererseits en orm ; man hat dieses Gefälle
z w isc h e n I n d i a u n d B h a r a t verglich en mit d er K luft z w isc h e n d er am e rik a n isc h en
Verfassung von 1789 un d der L eb ensw eise d er zeitgen össisch en e inh eim isch en In­
d ian erstäm m e65. Jeden falls w ir d m an sagen k ö n n e n , daß die indische Gesellschaft
in diesem D o k u m e n t ü b e rw ie g en d als ein passives M aterial in E rw a rtu n g b e v o r­
steh en der tiefgreifender U m w a n d lu n g e n begriffen w u r d e 66.
the Center, in clu d in g em e rg e n c y p o w e rs w h ich m ade it p ossible to convert the federal s ystem
into a u n it a r y one. Sim ilarly, the C o n s titu tio n of India is federal, but contains s tro n g u n ita ry
features, in c lu d in g a stro n g central go ver n m en t w h ic h retains not o n ly extensive e m e rg en cy
p o w e rs but the re sid u a ry p o w e rs of the U n io n as well. T h e states are n o r m a lly supposed to
fu nctio n a u to n o m o u s ly , but the C e n t e r retains the ultim ate p o w e r to co ntrol, even take over
the direct a d m inistratio n, of the states un d e r certain co n d itio n s .“
63 Eine W ahl, die von N e h r u fo lge nde rm aßen b egrü n d e t w ird : „W e chose it [d .h . die p a r la ­
m en tarische D em o k ra tie, G.Dh.-F.] - let us give credit w h e r e credit is due - b ecause w e a p ­
proved of its fu nctio nin g in o th er countrie s, m ore esp ecially the U n ited K in gdo m . So, this
Parliam en t and the L o k Sabha b ecam e to som e extent like the British Parlia m en t and the B r i­
tish H o u s e of C o m m o n s , in regard to o ur rules of p ro c ed u re and m ethods of w o r k . “ R ed e in
der L o k Sabha, 28. 3. 1957, in: N e h r u , Speeches III, 156. Z w ei Ja h rz eh n te später fo rm uliert
ein fü hre nde r in disch er P o li to lo ge die folgende Kritik : „ ( . . . J h itchin g the sy s te m to the W e s t­
m in ister m odel of go ver n m en t w as a great mistake. In co ur se of tim e it turned such a r e m a r­
kable p a r ty system into an in stru m e nt of centralised power, led to a m a n ip u la tive s ty le of p o l­
itics, and paved the w a y for the a s ce n d a n cy of a b ure au cra tic State w h ich is in m a n y w a y s a
n egatio n of d em o cratic p o litics.“ R a jn i K o t h a r i, D em o c ra tic P o lity and Social C h a n g e m In­
dia (New- D elh i 1976) 28.
64 Vgl. in die sem Z u s a m m en h a n g den K atalo g der G ru n d rec h te („F u n d a m en ta l R igh ts of the
P e o p le“) un d die R ic htlinie n d e r staatlichen P o litik („D irective P rin c ip les“), „a co m binatio n
of p rotectio n s for the people against the en cr oach m en ts of state a u t h o r ity w ith directiv es to
the state to in tro d u ce specified re form s to m ake those rig hts effective.“ Brass, Independent
In dia 2; a usfüh rlich dazu A ustin , In dian C o n s titu tio n , Kap. 3 & 4.
Vgl. Satish Saber-iual, A Ju n c tu re of Traditions, in: D o o r n b o s , K a v i r a j, State F o rm ation
88 .
66 Vgl. R. S u d a r s h a n , T h e Political C o n s e q u e n c es of C o n s titu tio n a l D iscourse, in: State and
N a tio n in the C o n te x t of Social C h a n g e , hrsg. von T. V. S a t k y a m u r t h y ( N e w D elh i 1994)
55-86.
102
G itaOharampal-Frick
IV.
Der demokratische Grundsatz (als hervorstechendes Unterscheidungsmerkmal
gegenüber dem kolonialen Staatsmodell), daß die politischen Verwalter den durch
sic Verwalteten direkt verantwortlich sein sollten, w urde bedauerlicherweise hint­
angestellt67. Es w urde unterstellt, daß das allgemeine Erwachsenenstimmrecht
eine ausreichende Kontrolle gegenüber Politikern und der Administration ge­
währleiste. Ebenso nahm man an, daß der m Wahlen ausgedrückte Wille des Vol­
kes eine ausreichende Legitimationsgrundlage für eine Regierung darstelle; wenn
jedoch einflußreiche G ruppierungen über mannigfache Möglichkeiten verfügen,
den W ählerwillen in riesigen Wahlkreisen zu ihren Gunsten zu manipulieren,
dann muß dies die Legitimität der R egierung und der politischen O rdnung insge­
samt in gravierender Weise untergraben. Denn zweifellos setzt das Funktionieren
staatlicher Prozesse w ie der politischen Gesetzgebung oder der Gewaltenteilung
zwischen Legislative, Exekutive und ju d ik ativ e einen hohen Grad an A kzeptanz
gegenüber den entsprechenden demokratischen Spielregeln voraus, und diese A k ­
zeptanz w iederum muß sich auf entsprechende normative Überzeugungen stüt­
zen können. Wo diese normative Stützung der politischen Verfahrensregeln (oder
sogar deren schieres Verständnis) nur schwach ausgebildet ist oder ganz fehlt,
wird es leichter, die m i e s o f the g a r n e zu verletzen und damit das Vertrauen in den
politischen Prozeß insgesamt zu beschädigen - ein Schicksal, das dem indischen
Staatsexperiment und seiner parlamentarischen Demokratie von Anbeginn w id e r­
fuhr. Kurz: Der faktischen Einrichtung formalstaatlicher Strukturen stand hier
immer nur ein begrenztes Verständnis für die komplexe Spanne an Fähigkeiten,
Werten, Motivationen und praktischen Gegebenheiten gegenüber, die für ein be­
friedigendes Funktionieren dieser Institutionen unabdingbar sind. Trotz aller ver­
fassungsmäßigen D rapierung weist daher das Funktionieren dieses Staates in der
konkreten Praxis Züge eines Erobererstaates auf68.
Im Zentrum dieser politischen Konzeption stand die Idee vom sozialistischen
Staat als eines Garanten von Aufbau und Entwicklung: Im Verein mit dem Vor­
haben einer durchgreifenden M odernisierung und eines C atch up w it h t h e WestS y n d r o m s führte diese Leitvorstellung, der Nehru selbst unbedingte Priorität ein­
räumte, z um Riesenprojekt eines staatlich geplanten und gelenkten sozialen Wan-
67 Zur B e w e r t u n g des h b e ra ld e m o k r a tis c h e n Staatsm od ells in der jü n g eren F o rs c h u n g vgl.
D. L. Sheth, Ashis N a n d y (H rs g .), T h e Multivcrse o f D e m o c ra c y ( N e w D elh i 1996).
6S Vgl. u .a . Sudipta K aviraj, O n the C ris is o f Political Institutions in India, in: C o n trib u tio n s
to In dian S o c io lo g y 18/2 (1984) 2 2 3 -2 4 3 ; S ab erw a l, Ju n c tu r e of Traditions, in: D oornbos,
K avira j , State F o rm a tio n 95; Z oya H asan , S. N. J h a , R a s h ee d u d d in K h an (H rsg.), T h e State,
Political Process and Id entity: R eflectio ns on M o d e r n India ( N e w Delhi 1989); T K. O o m m en , Alien C o n c ep ts and S o u th A sian R eality. R espo n ses and R efo rm u la tio n s ( N e w Delhi
1995); M yron Weiner, T h e In dian P arad o x . Essays in In dian Politics, hrsg. von Ashutosh
Varshney ( N e w D elh i 1989), Kap III („E lectoral Po litics“); Parul Chakra varaty, D em ocratic
G overnm ent and Electo ra l Process ( N e w D elh i 1997) 5 7 ff.
D a s u n a b h ä n g i g e I n d ie n
103
dels („dams are the temples of m odem India“, lautete ein gängiger Slogan69) und
machte einen zentralisierten Staatsapparat gigantischen Ausmaßes erforderlich70;
die tatsächlich existierende Staatsmaschinerie jedoch war ein Produkt der kolonia­
len Ara, und ihre schwerfälligen bürokratischen Strukturen stammten aus dem
19.Jahrhundert71. Eine weitere enorme Aufblähung staatlicher Strukturen resul­
tierte aus der durch die Regierung geförderten Schaffung eines großen öffentli­
chen Sektors verstaatlichter Schlüsselindustrien (bei gleichzeitiger Vernachlässi­
gung des agrarischen Bereichs). Da der kapitalistische Warensektor unter strenger
Staatskontrolle gehalten wurde, um auch im wirtschaftlichen Bereich che U nab­
hängigkeit des Landes zu gewährleisten und seine Abhängigkeit von Importen zu
verringern, übernahm der interventionistische Staat die Verantwortlichkeit nicht
nur für die Industrialisierung, sondern auch für soziale Gerechtigkeit und öffent­
liche O rdn un g72. Spätestens nach der Verabschiedung der ersten drei bis vier
Fünfjahrespläne wurde jedoch offenkundig, daß kapitalistisches Wachstum und
69 V gl. N e h r u s R e d e vor der E rö ffnu ng des N a n g a l-K a n a ls , 8. 7. 1954, in: N ehru, Speeches
III, 1-4 („Temple s of the N e w A g e “).
70 N e h r u selbst ko nstatierte die adm in istra tiv e W u c h e r u n g hilflos: „I see a strange maldevelo pm en t in the c o u n t ry and it conju res up before me a figure of a man five feet tall but w ith
arms four feet long. T h e w a y G o v ern m e n t o rga niza tion s and dep artm ents m u lt ip ly leads us
n o w h e r e b ut to w aste. W it h the g r o w th of offices arises the p ro b lem of c o -o rd in a tio n b e ­
tw een them. A co -o rd in a tin g a g e n c y is created and, as usual, its size also goes on in creasing.
Th en arises the p rob lem of h o w to co -o r d in a te the activities of the co -o r d in a tio n agencies.
A ll this is at once bafflin g and am usin g. [ . . . ] I have heard that before the w a r there w e r e o n ly
3,200 peons in D elh i but n o w this n u m b e r has in creased to 10,000.“ E rö ffnu ng sv ortra g bei
d er V ers a m m lu n g des C e n tr a l Bo ard of Irrigation and Pow er, N e w Delhi, 26. 10. 1953, in:
N eh r u , Speeches III, 121-3 („Th e A d m in is tra tiv e J u n g l e “). F ü r eine D a rste llu n g dieses
D ile m m a s und eine A u s e in a n d e r s e t z u n g m it N eh ru s Z ielvorstellu ngen un d w ec h se ln d er
V orgehensw eis e vgl. Bhikhu Parekh, J a w a h a r l a l N e h r u and the C risis of M o d ern is a tio n , in:
C r isis and C h a n g e in C o n t e m p o r a r y In dia, hrsg. von U pendra Baxi un d Bhikhu Parekh
( N e w D elh i 1995) 2 1 -5 6 .
71 N e h r u selbst w a r sieh die ser N a ch te ile voll b e w u ß t, sah je doc h kein en A u s w e g aus dem
D ilem m a: „ O u r services are steeped in a s y s t e m o f gra d a tio n w h ic h is p r o b a b ly the le g a c y of
British rule. O n e co u ld explain such a classification in the old system because it w a s the very
basis of a dm inistra tio n. A ll persons in the e m p lo y m e n t of the G o v ern m e n t w e r e un d e r the
V icero y, w h o w a s s up rem e, and perhaps such an a rra n g em en t w as suited to those tim es. Such
a pattern is to ta lly o u t of place in the p resen t set-up and co nditio ns. B u t the p it y of it is that
p e o p le ’s m in ds still clin g to the old s y s te m ." R ed e vo r d e m C e n tr a l B o a rd of Irrigation and
Pow er, N e w D elh i, 26. 10. 1953, in: N eh r u , Speeches III, 119.
72 N e h r u fo rm u liert eind ringlic h: „It is obviou s, in a c o u n t r y as u n dev elop ed as o urs, that we
cannot progress except b y State in itiative, except b y e n la rgin g the p ub lic sector, and except
b y c o n tro llin g the p riv ate secto r at im p o r ta n t points. I ca n no t o b v io u sly go into the questio n
of w h e re the line sh o uld be d ra w n . B u t the line w ill ever be a ch a n g in g one, because the
p ub lic secto r w ill be a g ro w in g one. T h e im p o rta n t th in g is that the strategic p oin ts m ust be
co n tro lled b y the S tate.“ R ed e in d er L o k Sabha, 21. 12. 1954, in: N ehru, Speeches III, 13-14.
B a ld e v Raj Nayar, T h e M o d er n is a tio n Im perative and In dia n Pla n n in g ( N e w D elh i 1972),
sieht die Strategie eines b evo rzug te n A u s b a u s d er S ch w e r in d u str ie als Fo lg e eines „ Im p e ra ­
tivs der M o d e r n is ie r u n g “ als V orau ssetzu ng d er g e nan nten s o zia lrelo rm e ris ch en Z ielse tzu n ­
gen; zu die sem T h e m e n k o m p le x vgl. z u letz t die U n t e r s u c h u n g von N eerja M ah esh w ari,
Econ o m ic P o lic y of Ja w a h a r la l N e h ru ( N e w D elh i 1997).
104
G i t a D h a r a m p a I- F n c k
soziale G erechtigkeit ein ander widerstreitende Zielvorstellungen waren: Der Staat
schreckte davor zurück, die U nterstützung durch die vermögenden Schichten der
indischen Gesellschaft aufs Spiel zu setzen. Ein Beispiel ist das Schicksal der
Landreformen, w o aufgrund der Koalition zwischen reichen Bauern und politi­
scher oder adm inistrativer Elite Pächter unter Berufung auf Gesetze von ihrem
Land vertrieben wurden, die eigentlich der Verbesserung ihrer Lebensbedingun­
gen hätten dienen sollen7-’. Die regierende Elite machte sich die sozialen Verant­
wortlichkeiten des Staates nie wirklich zu eigen, und ohnehin taugten die überlie­
ferten kolonialen Verwaltungsstrukturen nicht unbedingt zur Durchsetzung so­
zialer W ohlfahrtsprogram m e74. Die große und mächtige Staatsmaschinerie, die die
neue Vision einer rational strukturierten Gesellschaft durchsetzen sollte, litt z u­
nehmend unter der Einflußnahme verschiedener Interessengruppen (Industrielle
und Großbauern, leitende Angestellte und Bürokraten)75. Einerseits sprachen die
Verantwortlichen der staatlichen Planwirtschaft von der Erschaffung einer schö­
nen, neuen Welt - der historischen Rolle der Volksmassen wurde dabei reichlich
rhetorischer Tribut gezollt, während in W irklichkeit ein tiefsitzendes Mißtrauen
gegenüber ihrer Fähigkeit vorherrschte, selbst ihre unmittelbarsten lokalen A n ge­
legenheiten in eigener V erantwortung zu regeln. Zwangsläufig führte diese Kon­
stellation zur H erausbildung einer professionellen (und an grundlegenden sozia­
len Reformen desinteressierten) Politikerkaste, ferner zu einer immensen Expan­
sion der staatlichen Bürokratie und zu einer drastischen Erhöhung der Staats­
quote; schließlich kam es infolge der wachsenden Verstrickungen von Geschäft
und Politik zu einem unkontrollierbaren Anstieg der Korruption76, Ein System,
73 Vgl. den fo lgenden b e z e ic h n e n d e n A u s z u g aus einem offiziellen U n tersuc h u n gsb cric h t:
„The attitu de of the b u r e a u c r a c y t o w a r d s the im p lem en ta tio n of land reform s is ge n e r a lly
lu k e w a r m and often apathetic . T h is is, of co urse, inevitable because, as in the case of men
w h o w ie ld p olitic al power, those in the h igh er echelons of adm in istra tio n also are s ubstantial
la n d o w n ers them selv es or t h e y have close links w it h big la n d o w n ers. T h e village fu nc tio n ­
aries like p atw a ris , ka rm ch a rie s, s a m b o g s, talatis, etc., are in e v ita b ly p e tty lan dow n ers. T h ev
are also un d e r the s w a y of b ig la n d o w n e r s “ . P lann ing C o m m iss io n , R e p o rt of the Task Force
on A g ra ria n R ela tio n s ( N e w D elh i 1973) 9. A u sfü h r lic h e D a rste llu n ge n und A n a ly s e n z u ­
letzt bei C. Siva Sankar R eddy, Politics of L and R eform s in India ( N e w D elh i 1997),
74 A u c h N c h r u rä u m te ein: „ D u r in g the British p erio d b u r e a u cr a cy w as considered to be a
bad w o r d b y us, and s o m e th in g of that association clings to it even now. It stood for g o v e r n ­
ment officials w h o co n sidered them selv es su p erio r to the co m m o n people. Th ere w as s o m e ­
thing in that criticism , and I th in k it is still s o m e w h a t t r u e .“ A nsprache v o r dem In dian In sti­
tute of Public A d m in is t r a t io n , N e w D elh i, 6. 4. 1957, in: N eh r u , Speeches III, 159-160. Für
eine eing eh en de vergle ic he nde S tu d ie vgl. Ralph Braibanti, A sian B u reau cratic System s
Em ergen t from the British Im perial T radition (D u r h a m 19S5); eine analytisc h e D arstellu ng
d er h istorischen K o ntin uitäten gib t D a v id C. Potter, In d ia ’s Po litical A d m in is tra to rs , 1919—
1983 ( O x fo rd 1986).
° A u s fü h rlich er Kavrra /, T h e M o d e r n State in India, in: D oornbos, Kaviraj, State F o rm ation
239 f.
76 Vgl. zu letzt die Beiträge in: K u ld e e p M a th u r (H rs g .), D eve lo pm en t P o lic y and A d m i n is ­
tration ( N e w D elh i 1996), s o w ie die S t u d ie von Vinod Pavarala, Interpretin g C o r ru p tio n .
Elite Perspectives in India ( N e w D elh i 1996).
D a s u n a b h ä n g i g e I n d ie n
105
das in der 'I'heone als Staatssozialismus gelten wollte, erwies sich m der alltäg­
lichen Praxis als ein Nährboden zur Beförderung skrupelloser Privatinteressen,
die sich der Staatsmaschinerie zu bedienen w ußten77.
V.
In dieser Situation ergaben sich verschiedene Ungereimtheiten: I)a Gandhi auch
weiterhin als „Vater der N ation “ apostrophiert w urde und eine zumindest zere­
monielle Verehrung genoß, stellt sich die Frage, in welcher Weise seine Vision von
der Zukunft Indiens durch einen Staat angeeignet und kontrolliert wurde, der sich
auf den Weg zu einem zentralisierten „Sozialismus" begeben und sich dem A uf­
bau der Schwerindustrie verschrieben hatte78. Wie kam es dazu, daß Gandhis Pro­
gramm in der Ära Nehru seine D yn am ik einbüßte?
Unter Gandhis offiziell proklamiertem N achfolger Vinoba Bhave, zu dem
Nehru persönliche Verbindungen unterhielt, verwandelte sich der gewaltfreie Wi­
derstand aus den Zeiten des Unabhängigkeitskam ples in eine passive Zustimmung
zu Nehrus Staat79. Die staatliche Hilfe für Vinobas Programme der Landschen­
kung (b h o o d a n und g r a m d a n ) bedeutete eine Investition zugunsten eines breiten
gesellschaftlichen Konsenses. Der zentralistische Staat konnte es sich leisten,
selbst seine durch Gandhi inspirierten Alternativen zu subventionieren80; auf­
grund solcher staatlichen Förderung wurden die gandhnstischen Khadi- und
Dorhndustrien paradoxerweise bald selbst in das kapitalistische b ig b u s m ess ver­
wickelt. Kurz: Gandhis Vision w urde durch die offizielle Staatsrhetorik verein­
nahmt und trug dazu bei, die staatlichen Eingriffe und Kontrollen m allen Berei­
chen der Gesellschaftspolitik zu legitimieren. Sogar die dörfliche Selbstregierung
des sog. p a n e b a y a t i raj ließ sich in den Gesamtplan der staatlichen Zentralisierung
in nützlicher Brückenfunktion integrieren, indem sie etwa dazu verhalf, ein Netz
von Verbindungen zwischen der Kongreßregierung und lokalen dörflichen Füh­
rern zu knüpfen81; andererseits versagte sie bei ihrem ursprünglichen Ziel, dem
Aufbau einer dörflichen Basisdemokratie, vollständig. Beinahe alle Fallstudien
/7 Für eine string en te K ritik der Be zie hu nge n zw isc h e n staatlicher B ü rok ratie und P olitik
auf lo kale r Ebene vgl. anh and k o n k r e te r F allstudie n J a n B rem an , „I am the G ov ern m ent
L a b o u r O f fic er..
State P rotection tor R ural Prole tariat of South G uja rat, in: E conom ic and
Political W e e k ly [E P W ] 20/24 (1985) 1043-55.
78 Vgl. N eh rus R ed e („Place of the Big M a c h in e “) zu r Eröffnung einer F ab rik am G eb urtstag
M a h atm a G a ndhis, 2. 10. 1955, Peram bur, M a d ra s, in: N eh r u , Speeches III, 23.
79 R ich ard C. Fox, G andh ian U to pia : E xperim ents with C u lt u r e (Boston 1989) 169 ff., im
folgenden zitiert: Fox, G andh ian Utopia.
80 Vgl. N e h r u s R ede bei d er Eröff nung des Khadi and V illage In dustries B oard, N e w Delhi,
2. 2. 1953 („The N e w R ole of K h ad i“) in: N ehru, Speeches II, 9 6 -9 9 , sow ie die m a te n a lreie h e
S tud ie von L akshmi C. J a m und K a ren C oelh o, In the W a k e of Freedom : I n d ia ’s T ryst with
G ooperatives ( N e w D elh i 1996).
S! Vgl. B a lw a n t r a y M e h ta C o m m it t e e R ep o rt (1957), in: Shriram M aheslnuari, R ural D eve l­
o pm en t in India: A Public Policv A p p ro a c h ( N e w D elh i 1985) 52-53.
106
G ita D h a r a m p a l-F ric k
zeigen, daß einflußreiche Kreise sich die Dorfregierung und ihre Ressourcen für
ihre eigenen Zwccke zunutze machten. Offenkundig konnte das Experiment lo­
kaler s e l f - g o v e r n a n c e unter den Kontextbedingungen politischer Zentralisierung
und staatlicher Direktiven nicht funktionieren82.
U nter Indira Gandhis personalistischer und populistischer Politik der Armutsbekämpfung (g a n b i h a t a o ) m den siebziger Jahren nahm die humanitäre Rhetorik
an Aufdringlichkeit noch zu, während die Unterprivilegierten weiterhin außer
Reichweite der staatlichen M aßnahmen blieben83; Indien war zur Versorgung sei­
ner Bevölkerung zunehmend auf Getreidelieferungen aus dem Ausland angewie­
sen, und diese erreichten die bedürftigsten Schichten kaum. Gewalttätige m arxi­
stische Widerstandsbewegungen wie das Naxalite R e v o lu t io n a r y M o v e m e n t ge­
wannen in Bengalen, Bihar und in weiten Teilen N ord- und Zentralindiens rasch
an Boden84. Der legitimierende Diskurs des modernen Staates erwies seine ganze
propagandistische W irkungslosigkeit und kaschierte eine zunehmende staatliche
Gewaltbereitschaft, während die Verteilung von Posten und Ämtern immer mehr
zur Hauptaufgabe der Politik zu werden schien85.
In dieser Situation gewann eine neue Vision alternativer Politik an Einfluß, che
sich in der Bewegung für eine „totale Revolution“ (sa m p u rn a kranti) des zum
Gandhi-Anhänger gewandelten früheren Radikalsozialisten Jayaprakash Narayan manifestierte86; sie zielte erklärtermaßen auf eine fundamentale N eu o rd ­
nung des staatlichen Systems in Indien. JP hatte sein Programm bereits 1959 un ­
ter dem Titel A Plea f o r th e R ec o n str u ctio n o f In d ia n P olity und zwei Jahre spä­
ter in der Schrift S w a ra j f o r t h e P eo p le vorgelegt87; es zielte auf die Schaffung
einer partizipatorischen Demokratie ohne politische Parteien und ohne zentrale
Staats- und Regierungsgewalt. Statt dessen sollte es eine fünfgliedrige O rganisa­
tion der politischen O rdnung geben, beginnend beim v i ll a g e p a n c h a y a t bis zum
82 Vgl. Ashok M eh ta C o m m itt e e , R e p o rt on P a n c h a y a ti Raj Institutions ( N e w Delhi 1977)
so w ie M a h e s h w a n , R u r a l D e v e lo p m e n t 6 4 - 6 5 ; für die tam ilischc R egion siehe S. Saraswathi,
T h e M a d r a s P a n ch a ya t S ys tem , Bd. 1 (D elh i 1973), u n d für eine kritische Evalu ation Dharam pal, T h e M a d ra s P a n c h a y a t S ys tem , Bd. 2 (D elh i 1972) bes. 175-194. Z u r offizie llen
a d m inistrativ en B e ric h tersta ttu n g vgl. den A n h a n g in: S. L. Verma (H rs g .), P a n ch a ya ti R aj,
G r a m Sw a ra j and Federal P o li t y (Ja ip u r 1990) 24 8-286 .
83 Vgl. u. a. die w e g w e is e n d e S tu d ie von V. M. Dandekar, N. Rath, P o v e r ty in India: D im e n ­
sio ns and Trends, in: E P W VI/1&2 (1971) 2 5 - 4 8 & 106-46; ferner M ontek S. Ahluwalia,
R u r a l P o v e rty in India: 1956/57 to 1973/74, in: M ontek S. A hluwalia et al., India: O ccasio nal
Papers (W o rld B a n k Staff W o r k in g P a p er 279, W ash in gto n , D .C . 1978); ein gu te r Ü b e r b lic k
bei F rancine Frankel, In d ia ’s Po li tical E con o m y, 19 4 7 -7 7 (Prin ceton 1978).
54 D a z u g r u n d leg e n d S u m an ta B a n erjee, In the W a k e of N axalbari: A H is t o r y of the N a x a ­
lite M o v e m e n t in India ( C a lc u t t a 1980).
55 Vgl. d ie E inzelb eiträge in: H e n r y C. Flart ( H rs g .), In dira G a n d h i’s India: A Political
S y s te m R ea p p ra ise d (B o u ld e r 1976).
86 Vgl. u .a . D a v id S e lb o u rn e ( H r s g .), In T h e o r y and In Practice: E ssays on the Politics of
J a y a p r a k a s h N a r a y a n ( N e w D elh i 1985); G h a n shy a m Shah, Pro test M o vem en ts in Two
In dian States: A S t u d y of the G u ja ra t and B ih a r M o v e m e n ts ( N e w D elh i 1977), so w ie Fox,
G an d h ia n U t o p ia 193ff.
87 B eide P u b lik a tio n e n w u r d e n in V aranasi (Benares) veröffentlicht.
r
D as unab h än g ige In d ien
107
nationalen Ausschuß; jede Ebene sollte ihre eigenen Beamten ernennen und ent­
lassen können, so daß die Uberwachungs- und Kontrollbefugnisse tatsächlich
beim Volk verblieben. Gandhis Konzeption entsprechend, sollte jede Ebene in
ihrer eigenen Sphäre volle Souveränität genießen; die größte Machtbefugnis
sollte bei den lokalen Gemeinschaften liegen, während für das Niveau des Be­
zirks, der Provinz und der Nation nur verminderte Verantwortlichkeiten übrig­
blieben. In den Dörfern sollten Komitees aus der gesamten erwachsenen Bevöl­
kerung und in den Städten sollten Nachbarschaftsräte aus den erwachsenen M it­
gliedern von jeweils etwa hundert Familien über anstehende Probleme beraten
und zu konsensuellen Entscheidungen gelangen. Sie sollten jeweils Vertreter zur
nächsten Verwaltungsebene entsenden, aber M itglieder politischer Parteien soll­
ten von der Kandidatur ausgeschlossen sein; das Ergebnis wäre ein Volkssozia­
lismus anstelle des bestehenden Staatssozialismus. Wegen fehlender U nterstüt­
zung durch Vinobas gandhiistische Fraktion brachte es J P ’s langfristiges Projekt
einer parteilosen Demokratie nur zum Stellenwert eines kurzlebigen Experi­
ments im Rahmen eines gängigen parteipolitischen Wahlkampfes. JP w urde zum
Sprecher der Oppositionsparteien, die sich gegen Mrs. Gandhis Regierung ver­
bündeten; Indira Gandhi warf JP vor, er wolle das Land in eine faschistische
D iktatur führen, und ließ durch den Präsidenten den nationalen A usnahm ezu­
stand verhängen, unter dessen Auspizien die Bürgerrechte ausgesetzt wurden88;
im ganzen Land nutzte der Staat sein Gewaltmonopol für repressive M aßnah­
men, und fast die gesamte Opposition einschließlich JPs w urde verhaftet89. Der
Volksaufstand seinerseits kompromittierte sich als revolutionäre Bewegung, in­
dem er sich auf etablierte politische Parteien stützte. - Die nachfolgende JanataRegierung, die durch ihre erklärte Absicht der Dezentralisierung Hoffnungen
auf eine neue A rt von Politik geweckt hatte, versagte bei der U m setzung von JPs
gandhiistischer Vision vollkommen; statt dessen überschatteten die Rivalität um
politische Ämter und der Streit zwischen den verschiedenen Parteien des B ünd­
nisses alle anderen Ambitionen90.
88 Siehe V P. Dutt, T h e E m e r g e n c y in India: B a c k g r o u n d and R ation ale , in: A sian S u r v e y
XVI/12 (1976) 1124-1138.
89 Sie he Shah C om m ission o f Inquiry, R ep o rt ( N e w D elh i 1978) so w ie D a v id S elb ou rn e, An
E y e to India: T h e U n m a s k i n g of a T y r a n n y ( H a r m o n d s w o r th 1977). Eine kritische D is k u s ­
sio n des a u ß ergesetz lichen un d exzessiven Einsatzes staatlich er G ew altm ittel w ä h r e n d des
A us n a h m e z u s ta n d e s im beson deren, aber auch als G r u n d z u g staatlicher H e rrsc h a fts a u s ­
ü b u n g seit d er U n a b h ä n g ig k e it ü b e r h a u p t in den F allstu d ie n bei A. R. D esai (H rsg.), V io la ­
tion o f D em o c ra tic R igh ts in India, 3 Bde. (B o m b a y 1986).
90 I q b a l Narain, In dia 1977: From Pro m ise to D isen ch a n tm en t?, in: A sia n S u r v e y XXVI/2
(1978) 103-116.
108
G it a D h a r a m p a l - F r i c k
VI.
In den beiden vergangenen Jahrzehnten sind der indische Staat und seine Ideo­
logie weiter unter Druck geraten und sahen sich einer verschärften Legitimations­
krise ausgesetzt91. Zum Abschluß will ich auf einige der zentralen Probleme w e ­
nigstens summarisch verweisen:
- der durch den Staat propagierte Säkularismus führte im Kontext einer plura­
listischen und in weiten Teilen durch religiöse Zugehörigkeiten geprägten Gesell­
schaft nicht etwa zu einer Reduktion, sondern im Gegenteil zu einer Zunahme
religiös motivierter gewaltsamer Konflikte und Spannungen92;
- damit in Zusammenhang steht der Widerspruch zwischen dem theoretischen
Desiderat einer gemeinsamen, allgemeinverbindlichen Rechtsordnung (als eines
Mittels zur Beförderung der nationalen Integration) und der opportunistischen
Bereitschaft des Staates zur Gewährung von Minderheitenprivilegien und Sonder­
rechten (die u.a. zum Vorwurf aus hindunationalistisehen Kreisen führte, die
muslimische Minderheit erfahre eine Vorzugsbehandlung)93;
- ähnliche Gefährdungen des gesellschaftlichen Konsenses resultierten aus dem
politisch-taktischen Mißbrauch von Fördermaßnahmen (insbesondere Stellen­
quotierungen im Staatsdienst) zugunsten als benachteiligt eingestufter, dabei
jedoch faktisch oft durchaus wohlhabender Bauernkasten; anzuführen ist dabei
vor allem die 1990 erfolgte Inkraftsetzung des sog. „Mandal Commission Report
on Protective Discrimination for Other Backward Castes“94. Flier sind zugleich
erhebliche Diskrepanzen zu beobachten zwischen einer egalitären Rhetorik einer­
91 Für ein repräsentatives S p e k tru m der kritischen P erspektiv en vgl. u .a . Rajni Kothari, State
again st D em ocracy: In Search o f a H u m a n e G o v e r n a n c e (N ew D elhi 1988); Alul Kob/i,
D em oc racy and Discontent: In dia’s G r o w in g C r isis of G o v e r n ab ility ( C a m b r id g e 1990);
Satish Saberwal, Roots of Crisis: Interpretin g C o n t e m p o r a r y In dian S o c ie ty ( N e w D elh i
1996) bes. Kap. 7.
92 Aus der Fülle der L iteratu r zu m Thema vgl. u. a. 7. N. Madan, W h ith e r Indian S ec ula rism ?
in: M odern Asian Studie s 27/3 (1993) 667 ff.; Asbis Nandy, T he Politics of S ecularism and the
R ecovery of Religio us Tolerance, in: Veena Das (H rsg.), M irro rs of Violence: C o m m u n itie s ,
Riots and Surviv ors in South Asia ( N e w Delhi 1990) 6 9 - 9 3 ; Mark Ju ergcH sm ey er, The NewC o ld W ar? R eligio us N a tio n a lism C o n fro n ts the S ecular State ( N e w D elh i 1994) 1-44, 7 8 98, sow ie Gita Dharampal-1'rick, Z w ischen „ S ä k u la r is m u s “ und „ K o m m u n a lis m u s “ : klen titätsproble me in der indischen P olitik und Gesellschaft seit d er U n a b h ä n g ig k e it, in: Die
fundam entalistische R evolu tio n. P artik ularis tische B e w e g u n g e n d er G e g e n w a r t und ihr U m ­
gang mit der Geschichte, hrsg. von Wolj%ang R einh ard (F re ib u rg 1995) 133-50.
Vgl. u.a. die jü ngste U n te rs u c h u n g von M u s h in d Hasan, L e g a c y of a D iv id ed N ation:
In d ia ’s M uslim s since Independence (L o n d o n ¡ 9 9 7 ) Kap. 5 („Secularism : The Post-colonial
Predic am ent“), Kap. 8 ( „ E m p o w e r in g Differences: Political A ctio ns, Sectarian Violence and
the Retreat of S ecularis m "), Kap. 9 ( „ A y o d h y a and its C o nse que nc es: R eap praising M in o r it y
Id e n tity “).
94 Die gründlic h ste Studie der d a m it v e rbu ndenen rechtlichen und politischen P ro blem e ist
M arc Galanter , C o m p e t in g Equalities: L a w and the B a c k w a rd Classes in India ( N e w Delhi
1984); spezifischer die D a rste llu n g bei C. Rupa, R eserv ation Po lice: M a n d al C o m m is s io n
and After ( N e w Delhi 1992).
D a s u n a b h ä n g i g e I n d ie n
109
seits und der fortdauernden Verachtung der Unterpnvilegierten und ihres Le­
bensstils andererseits93;
- zu denken ist ferner an die Einforderung kultureller Rechte durch bestimmte
G r u p p e n (und nicht Individuen), che sich durch die definitonsche Hegemonie des
S t a a t e s in ihrer Identität bedroht fühlen96. Paradoxerweise wird dieser Prozeß
häufig selbst von machtpolitischen Erwägungen bestimmt und entsprechend in­
strumentalisiert97; verschärfend kommen wirtschaftliche Spannungen und umweltz.erstörende M aßnahm en im Gefolge staatlich durchgesetzter Entwicklungs­
projekte hinzu98;
- verschärft hat sich gleichfalls der Gegensatz, zwischen staatlichem Zentralis­
mus und einer demokratisch-föderalistischen Gegentendenz mit der Konsequenz
von Spannungen zwischen dem Zentrum und den Bundesstaaten (mit ihren man­
nigfachen autonomistischen und sogar separatistischen Bestrebungen)99. Der
Zentralstaat machte dabei häufig von seinem Gewaltmonopol Gebrauch oder verordnete ein P r e s i d e n t ’s ru le (die bekanntesten Beispiele sind Kashmir, Punjab und
A ssam 100); die Bundesstaaten wiederum vergrößerten im Lauf des vergangenen
95
f ü r einen E in d ru ck von d er ausgesp ro ch en h itzig geführten aka de m isc h e n D isku ssio n vgl,
S barad Patil, S h o u ld Class be the Basis for R e c o g n iz in g B a c k w a rd n e s s? , m: E P W 25/50
(1990); C b a n s b y a m Shah, Social B a c k w a rd n e s s and the Politics of Reservations, in: E P W 26/
11-12 (1991); zu den U rsa ch en der fo rtd auernden A r m u t vgl. Mttkesb E sva ran , Asbok K o t ival, W h y P o v e rty Persists in India. A F r a m e w o r k for U n d e r s t a n d in g the In dian E c o n o m y
( N e w D elh i 1994).
% Vgl. insbesondere die w ic htig e B e itr a g s sa m m lu n g von Rrancinc R. Erankel, M. S. R ao,
D om in ance and State P o w e r in M o d er n India: Decline of a Social O r d e r ( N e w Delhi 1989);
siehe ferner den B e itra g von Veena Das, C u lt u r a l R igh ts and the D efin itio n ot C o m m u n it y ,
in: D oornbos, K aviraj, State Fo rm a tion 29 9-332 , so w ie die exem p la rische F allstudie von
Susanna B. C. D e v a lle , D iscourses of E thnicity: C u lt u r e and Protest in J h a r k h a n d ( N e w
D elh i 1992).
97 Vgl. u .a . D ipankar Gupta, T he Indispensable C entre: E th n icity and Politics m the Indian
N a tio n State, in: J o u r n a l of C o n t e m p o r a r y A sia 20/4 (1990) 52 1-39.
98 Vgl. vor allem A k hileswar Patbak, C o n te sted D om ain s: T h e State, Peasants and Forests in
C o n t e m p o r a r y In dia ( N e w D elh i 1994); Amita Baviskar, In the B e lly of the River: Tribal
C onflicts over D eve lo pm en t in the N a r m a d a Valley ( N e w D elh i 1995); Asbutosh Varshney,
D em ocracy, D eve lo pm en t and the C o u n t r y s id e : U r b a n - R u r a l Struggles m India ( C a m b r id g e
1995); z u letz t j e a n Dr'eze, M eera Samson, Satyajit S ingh (H rs g .), T h e D am and the N ation.
D isplacem ent and Resettle m ent in the N a r m a d a V alley ( N e w D elh i 1997).
99 Vgl. u.a. die Beiträge bei S. C h an drasek h ar (H rsg.), In dian Federalism and A u t o n o m y
( N e w D elh i 1988) so w ie die jüngste U n t e rs u c h u n g von M aya C h adda, Ethnicity, Sec u rity
and S eparatism in In dia ( N e w Y o rk 1997).
100 G egen p ak is tanis chen Protest betrachtet Indien das mit einem (durch H m d u - N a ti o n a listen scharf kritisierten) Son derstatus ausgestattete K ashm ir als in tegralen Bestandteil seines
T erritorium s und argu m e ntie rt, K ashm ir habe sich Indien a uf legalem Wege angeschlo ssen
un d sein gro ß er m osle m isc h e r B e vö lke run gsanteil w ir k e als Triebfeder für die s äkulare Ten­
d en z des in dischen Staates im ganzen; er stelle insofern eine Sic herheitsgarantie für die M i l ­
lionen von M o slem s dar, die nach der T eilu ng in Indien geblie b en seien. D er fortdauernde
k ü nstliche Status q u o im Zeichen m ilitärischer und politisch er M a n ö v e r beid er Seiten und
d er V erw e ig e ru n g des S elbstbestim m un gsrechts für die B e w o h n e r von K ashm ir ist eine der
konstanten H a u p t u rs a c h e n für die Instabilität in der R egion. D ie K ash m ir-F ra g e w a r der
Z ü n d fu n k e für zw e i von drei Kriegen zw isc h e n In dien und Pakistan und d ro ht auch noch in
"1
110
G ita D h a r a m p a l-F ric k
Jahrzehnts ihren politischen Einfluß auf das nationale Geschehen, vor allem auch
durch das verstärkte bundespolitische Hervortreten regionaler Parteien, das w ie ­
derum zu instabilen Regierungskoalitionen füh rte101;
die starke Betonung der nationalen Sicherheit führte zu einem massiven
Anstieg des Verteidigungsbudgets (und in seiner Konsequenz zu mehr staat­
lichem Gewalteinsatz und einer Reihe von schwerw iegenden K orruptions­
skandalen im Rüstungsbereich102), ohne daß Indien heute im Blick auf seine
Grenzen und das Verhältnis zu semen Nachbarn wesentlich sicherer dastünde
als vor 50 Ja h re n 103.
Was werden die Folgen sein? Wenn sich die Tendenz zur M achtverschiebung
weg vom größeren Nationalstaat und hin zu kleineren regionalen oder ethnisch
definierten Gemeinschaften fortsetzt, besteht dann nicht die Gefahr, daß sich der
indische Staat in kleinere Fragmente auflöst? O der w ird Indien als ein Land, das
(etwa im Sinne von Robert Jacksons Q u a si-S ta tes 104) lediglich noch über eine
Quasi-Souveränität verfügt und sich, im Gefolge von Liberalisierung und G lo b a­
lisierung, zunehmend von Programmen und Direktiven großer supra-nationaler
und globaler Organisationen abhängig erweist, wird Indien sich zu einem fremd­
bestimmten Gebilde unter dem D iktat einer globalisierten Wirtschaft fortentwikkeln, einem Staat, der den D ruck dieser Frem dbestim m ungen und m arktw irt­
schaftlichen Sachzwänge wiederum nach innen an die Mehrheit seiner eigenen,
zunehmend einflußlosen Bevölkerung w eitergib t103? O der wird Indien gar, in der
A bw ehr solcher Tendenzen, unter dem wachsenden Einfluß hindunationalistiden n eu n zig er J a h r e n die beiden R ivalen a uf dem S u b k o n tin e n t in einen K o nflik t zu v e r w ik ke ln , den ke in e Seite sich leisten kan n; für E inzelh eiten vgl. Balraj Puri, K ashm ir: T o w ards
In su rgen cy ( N e w D elh i 1993); Bard P ada Saha, T r a n s-B o rd e r Terrorism : In te rn a tio n a lisa ­
tion of the K a s h m ir Tangle ( N e w D elh i 1996). Zum P u n ja b vgl. H arjot S. O beroi, F ro m P u n ­
jab to „K h a lista n “: T e r rito r ia lity and M e caco m m e ntary, in: Pacific A ffairs 60/1 (1987) 2 6 -4 1 ;
R obin J e f fr e y , W h a t ’s H a p p e n in g to In d ia ? P u n ja b E thnic C o n f lic t and the Test for F e d e r a l­
ism ( L o n d o n 1994); D ipankar Gupta, T h e C o n te x t of Ethnicity. S ik h Id e n tity in C o m p a r a ­
tive Perspectiv e ( N e w D elh i 1997). Zu A ssa m vgl. M on iru l Hussain, T h e A ss a m M o v e m e n t:
C lass, Id e o lo g y and I d e n tity ( N e w D elh i 1993); Sanjib Baruah, Po litics of Sub n a tio n a lism :
So c ie ty versus State in A ssam , in: C h a tte rjee , State and Politics 49 6 -5 2 0 .
101 Vgl. zu letzt Francin e R. Frankel, In tro ductio n : T h e Pro b lem , in: U n i t y or In coherence. A
S y m p o s iu m on E m e r g in g Issues in C en tre -S ta te R ela tio n s (S em in a r 459, N e w D elh i 1997)
12-16. D ie gesam te N u m m e r ist d ie sem P ro blem feld g e w id m et.
102 So in sbeso ndere zu d em B e ste ch un gssk an d a l in d er A r a des M in is terp rä sid en ten R ajiv
G andhi, in d em hoh e R eg ie r u n g s b e a m te un d P a rte ifu n k tio n ä re in den Verdacht gerieten,
S ch m ierg elder des sch w ed isc h e n R üs tu n g s u n te r n e h m e n s Bofo rs an g e n o m m e n zu haben. D ie
A n s c h u ld ig u n g e n fü hrten zu r E in se tzu n g eines U n ters u c h u n gs a u ss ch u s s es , dessen absc hlie­
ßen d e E rken ntn isse noch im m e r nicht vorliegen.
1Q3 V gl. die jü ngste S tudie von Vandana M ohla, S A A R C and S u p er P o w e rs ( N e w Delhi
1998).
104 R o b e rt FL Jack son, Q uasi-states: Sovereig nty, In ternatio nal R elation s and the T h ird
W o rld ( C a m b r id g e 1993).
105 D ie R olle des Staates u n d des M a r k te s beim z u n e h m e n d e n E influ ß verlust der breiten
B e v ö lk e ru n gs m e h rh eit betont Rajni K oth a r i , G ro w in g A m n esia: A n E ssay on P o v e r ty and
the H u m a n C o n sc io u sn e ss ( N e w D elh i 1993).
D a s u n a b h ä n g i g e I n d ie n
lil
scher Kräfte zu einem monolithischen H indu R ashtra mutseren, mit allen unab­
sehbaren F o lg e n 106? Das Bewußtsein solcher möglicher künftiger Szenarien läßt
in ganz Indien neue B ewegungen sozialen Protests und kultureller Erneuerung
entstehen, deren Hauptanliegen in der Betonung breiter demokratischer Beteili­
gung und Mitsprache als M ittel zur Kontrolle des Staates durch die Gesellschaft
besteht107. Vielleicht liegt darin nicht nur eine Verstärkung der Ziviigeseilschaft,
sondern auch eine M öglichkeit, dem politischen Diskurs in Indien neue, „ein­
heimische“ Nuancen auf der Linie von Gandhis kom m unitärem Idiom h in zu­
z ugew in n en 108.
106 V gl. aus der m ittlerw e ile sehr um fan gre ich e n L itera tu r die Beiträge tn D a v id L udden
(H rsg.), M a k in g In dia H in d u : R elig io n, C o m m u n i t y and the Politics o f D e m o c r a c y in India
( N e w D elh i 1996).
107 S ie he u. a. Gail O m v e d t , Peasants, D alits and W o m en : D e m o c r a c y and In d ia’s N e w Social
M o vem en ts, in: Jo u rn a l of C o n t e m p o r a r y A sia 24/1 (1994) 3 5 - 4 8 ; Tom Brass (H rsg.), N e w
F a r m e r s ’ M o v e m e n t in In dia ( L o n d o n 1995).
108 Beispiele eines erfolgreichen lo kalen self g o v e r n m e n t d is k u tier t im B lick auf W e s t -B e n g a ­
len G eorge M athew , P a n ch ayati Raj: From L egis la tio n to M o v e m e n t ( N e w D elh i 1994); a ll­
ge m e in e r die D is k u s s io n bei: A. K. M ajum dar, D ecen tralisation of P o w e r Politics in India
( N e w D elh i 1997).
Wolfgang Schwentker
Staatliche O rdnungen und Staatstheorien
im neuzeitlichen Japan
Wer nach der Stellung Japans im Rahmen einer Universalgeschichte europäischer
Staatsmodelle und Herrschaftsformen fragt, wird bald feststellen müssen, daß sich
der fernöstliche Inselstaat einer einlinearen Betrachtungsweise, wie sie die Formel
„Kolonialisierung - Dekolonisation - moderne Staatenbildung“ eigentlich nahe­
legt, entzieht. Drei Gründe sind dafür maßgebend:
1. Legt man die diesem Band zugrundegelegte Formaldefinition des modernen
Staates nach Georg Jellinek an das japanische Beispiel an, so erfüllt Japan die drei
Kriterien moderner Staatlichkeit - die Einheitlichkeit von Staatsgebiet, Staatsvolk
und Staatsgewalt (nach innen und nach außen) - nicht erst seit seiner gewaltsamen
Einbindung in Weltpolitik und Weltwirtschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts,
sondern bereits mit der Reichseinigung des späten 16. Jahrhunderts und der ihr
nachfolgenden Begründung des Tokugawa-Shogunats in den Jahren 1600/03*.
Japans geographische Lage als Inselgruppe am äußersten Rand des eurasischen
Kontinents hat die Vereinheitlichung des Territoriums ohne Einflüsse von außen
erleichtert und die ethnische Homogenität der Bevölkerung gesichert. (H okkaido,
die nördlichste der vier Hauptinseln, die von den Ainu bewohnt wurde, gehörte
während der Tokugawa-Zeit noch nicht zum japanischen Staat und wurde erst im
Zuge der Expansion nach 1868 dem Staatsgebiet in seiner heutigen Form einverleibt.) Die Staatsgewalt lag seit 1603 faktisch allein beim sh ö g u n . Der t e n n ö resi­
dierte mit seinem Hofstaat in Kyoto, nahm Repräsentationspflichten w ahr und
verfügte bis zur M eiji-Restauration 1868 über keinerlei politische Macht. Die daim y ö als landesherrliche Vasallen des s h ö g u n übten die Staatsgewalt in ihren Terri­
torien ( h a n ) in seinem N amen aus.
2. Auch nach der gewaltsamen „Öffnung“ des Landes 1853/54 durch ein am e­
rikanisches Geschwader unter der Leitung M atthew C. Perrys wurde Japan keine
Kolonie im strengen Sinne des Wortes, sondern fiel nach Abschluß der „unglei­
1 Zu d en drei ko n stitu tiv en Elem enten des Staates un d ihrer rechtlichen Stellun g vgl. G e o r g
Jellinek, A llg e m e in e S taatsle hre (Kronberg/Ts. 4 1976) 394 ff. D ie T ran sk rip tion ja p anischer
N a m e n un d Begriffe erfolgt nach H e p b u rn . Bei der N e n n u n g jap anischer N a m e n w ird dem
asiatischen B rau ch folgend d er F a m ilien n a m e vorangestellt. E ine A u s n a h m e bildet die b i­
blio graph ische Erfassung vo n Titeln jap anischer A u to re n in w estlich en Sprachen.
114
W o lfgan g S c h w e n tk e r
chen Verträge“ mit den U SA und den europäischen Mächten gleichsam unter
quasi-koloniale Kontrolle. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stand das Land im
Einflußbereich eines imperialistischen Herrschaftssystems informeller Art, an
dem mehrere westliche Staaten gleichzeitig beteiligt waren. Zu den wichtigsten
Kennzeichen dieses halbkolonialen Systems gehörten die Exterritorialität (bis
1894/99) und die fehlende Zollhoheit (bis 1911).
3. Im lockeren Rahmen dieses Systems, das wie alle informellen Herrschaftsbezichungen eher auf ökonomischer Penetration als auf politisch-militärischen H o ­
heitsrechten beruhte, entwickelte Japan mit der den russischen Einfluß eindäm ­
menden Expansion nach Norden und dem erfolgreichen Vorstoß nach Korea in
den 1870er Jahren selbst imperialistische Initiativen. Der siegreiche Krieg gegen
China 1894/95 bescherte Japan mit Taiwan die erste und in der Zukunft sehr er­
tragreiche Kolonie und machte es vollends nach dem Krieg gegen das zaristische
Rußland 1904/05 zur neuen Großmacht in Ostasien.
Diese Gleichzeitigkeit und Doppelgleisigkeit im perialer Frem dbestim m ung auf der einen Seite des Westens gegenüber Japan, auf der anderen Seite Japans ge­
genüber den asiatischen Nachbarn - prägte seit der Jahrhundertw ende den japani­
schen Staat in der politischen W irklichkeit und im theoretisch-ideologischen
Selbstverständnis. Der europäische Einfluß blieb in diesem Wechselspiel begrenzt.
Dafür w ar er von zu kurzer Dauer, denn die halbkoloniale Herrschaft der w est­
lichen Groß- und Mittelmächte umfaßte zwischen 1860 und 1890 gerade einmal
eine Generation. Das M aß an politischer und kultureller Eigenständigkeit blieb
auch in diesem Zeitraum verhältnismäßig hoch. Aus all diesen Gründen läßt sich
das in der Einleitung zu diesem Band entwickelte A n alyseraster auf Japan nur be­
dingt oder allenfalls in modifizierter Form anwenden. Ältere japanische Traditi­
onsbestände in Politik und Gesellschaft, in Wirtschaft und Kultur haben sich er­
halten und den Staat der Meiji-Zeit entscheidend mitgeprägt. Es ist deshalb z w in ­
gend, im folgenden zunächst den Staat des „vorkolonialen“ Japan zur Zeit der
Reichseinigung und des Tokugawa-Shögunats zu behandeln (1). Sodann sollen die
europäischen Staatsmodelle und ihre Rezeption in Japan skizziert werden, wobei
es zu bedenken gilt, daß der europäische Staat als kolonialer Herrschaftstyp in
Japan nicht hat Fuß fassen können, u. a. auch aus dem Grund, w eil ihm seit der R e­
stauration der iewwo-Herrschaft ein spezifisch japanischer N ationalm ythos entge­
gengehalten wurde, der in der Auseinandersetzung mit der okzidentalen Frem d­
kultur gleichsam neu erfunden wurde (2). In einem dritten Abschnitt werde ich
mich dann Japan als Kolonialmacht in Asien zuwenden, wobei ich mich auf die in
der jüngsten Forschung intensiv diskutierten Fallbeispiele Taiwan und Korea
konzentrieren werde (3). Abschließend wird das Spannungsverhältnis zur Sprache
kommen, das sich in der Zwischenkriegszeit und in den Kriegsjahren aus den Er­
fahrungen mit der quasi-kolonialen Fremdherrschaft durch den Westen und der
eigenen kolonialen Expansion in Asien ergeben hat und den japanischen Staat p rä­
gen sollte (4).
Ein paar Worte müssen am Schluß dieser einführenden Bemerkungen über den
japanischen Begriff des Staates gemacht werden, - eigentlich ein T hem a für sich,
S t a a t li c h e O r d n u n g e n u n d S t a a t s t h e o r i e n im n e u z e i t l i c h e n J a p a n
11 5
das uns aber auch bei oberflächlicher Betrachtung Aufschluß darüber gibt, in w e l­
cher Vorstellungswelt hier zwei völlig unterschiedliche Weisen des Staatsverständnisses aufeinanderprallen. Denn auch der japanische Begriff des Staates in seiner
heutigen Form ist ein Produkt der Neuzeit. Japanisches Altertum und Mittelalter,
wenn man einmal die nicht sehr treffenden europäischen Periodisierungsschemata
anlegt, kannten noch keinen Staat und also auch keinen Begriff vom Staat. Japan
war kuni ( f f i ) im Sinne von Land, Gegend, Region, gelegentlich Heimat. Erst zu
Beginn der Tokugawa-Zeit setzte sich dann als Übernahme aus dem C hinesi­
schen eine spezielle Zeichenkombination für den Begriff des Staates durch: kokka
( [3H<)>h1' 1 den Bedeutung tragenden Zeichen für „Land“ (kuni |5J) und „H aus“
(ie H? )-. Diese semantische Verknüpfung von „Land“ und „H aus“ hat für das
japanische Staatsverständnis weitreichende Implikationen gehabt, da es der m o­
dernen nationalen M ythenbildung in die Hände gespielt hat. Vor diesem H in ter­
grund - so die hier vorweggenom m ene These meines Beitrags - unterscheidet sich
der japanische Staat in Theorie und Praxis in zwei wichtigen Punkten vom ideal­
typischen Staatsmodell europäisch-amerikanischer Provenienz:
1. In Japan bilden nicht die Individuen den Staat, sondern die Familien. Der
t e n n ö fungiert dabei gleichsam als „Hausvater“, kurz: Der japanische Staat ist bis
1945 im Innern und (mit Blick auf Korea seit 1910) auch nach außen „Familien­
staat“ (kazoku kokka ^ j ^ | 5 j ^ ) 2. Da der t e n n ö die Staatsgewalt auf sich vereinigt und den Staat in seiner Spitze
verkörpert (und nicht bloß repräsentiert) und er nach japanischem M ythos in der
Nachfolge der Sonnengöttin Amaterasu und seiner Vorfahren steht, beruht seine
Stellung auf transzendenter Legitimation. Der japanische Staat ist bis 1945 also
nicht säkular und insofern - folgt man einer eurozentrischen idealtypischen H ilfs­
konstruktion von moderner Staatlichkeit, für die die Trennung von Staat und
Religion zentral ist und die uns heute wieder problematisch erscheint - nicht m o­
dern.
In diesen zwei für ihn zentralen Begründungszusammenhängen hat sich der ja ­
panische Staat durch den europäischen Staat bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs
nicht modernisieren lassen. Dies geschieht erst im Zuge der zweiten „Öffnung“
Japans nach 1945, also unter der Zwangsordnung der amerikanischen Besatzung.
I. Der japanische Staat zur Zeit des T okugaw a-Shogunats
Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts kann man von einem einheitlichen Staat in
Japan nicht sprechen. Das Land w ar in zahlreiche Kriegerfürstentümer unterteilt
und politisch zersplittert. Die während der M uromachi-Zeit (1333-1568) in
Kyoto residierenden Ashikaga-sÄog««e und die machtlosen t e n n ö waren auf ihre
2 Ich v e rd a n k e die sen H in w e is Prof. Bito M a sa hide, T o k y o . In den ja p anischen Zeic henlexik a w e rd e n d em Begrif f „ k o k k a “ h eute die gleic hen k o nstitutiv en M e r k m a le z u gesch rie ben,
aus d en en sich d er „Staat“ bei J e llin e k zu sa m m e n se tz t. Vgl. Köjien ( T o k y o 1991) 941.
116
W o lf g a n g S c h w c n t k c r
jeweilige Hausmacht verwiesen und nicht in der Lage, das Land vollständig unter
ihre Kontrolle zu bringen3. Japan war deshalb bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts
ein Konglomerat widerstreitender Partikulargewalten, die allesamt aufgrund des
100jährigen Bürgerkriegs im Innern und nach außen geschwächt waren. Erst in
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelang es drei großen Militärführern Oda Nobunaga, Toyotomi Hideyoshi und Tokugawa leyasu - , die meisten der
miteinander um die Macht ringenden Klans niederzuringen und sukzessive unter
ihre Herrschaft zu zwingen4. Unter Nobunaga wurde den buddhistischen Klö­
stern ein Großteil ihres politischen Einflusses genommen, die Zollschranken
(.sekisho ) abgebaut und zur Klärung der Besitzverhältnisse mit einer Landvermes­
sung ( k en ch i ) großen Stils begonnen. Diese wurde von H ideyoshi in den Jahren
1582 bis 1598 im Zuge der militärischen Unterwerfung des ganzen Landes erfolg­
reich zu Ende geführt5. Der prognostizierte Ertrag an Reis in den einzelnen D ör­
fern (m u ra d a k a ), nicht der Umfang des Lehnsgebietes, gab künftig den Maßstab
für die Belehnung der Vasallen durch den obersten Kriegerfürsten, für Herrschaft
und Gefolgschaft ab. Ein Bündel weiterer Maßnahmen machte den zahlreichen
Bauernaufständen vorerst ein Ende: Ihr Recht zur Bebauung des Landes w urde
anerkannt; der Verkauf von Land und die Migration der bäuerlichen Familien hin­
gegen untersagt. In den berüchtigten „Schwertjagden“ (k a ta n a giri ) des Jahres
1588 w urde die gesamte bäuerliche Bevölkerung von den Heeren H ideyoshis ent­
waffnet. Die sa m u ra i wurden zur Aufgabe ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeiten
gezwungen und vom Land abgezogen; sie mußten sich, gebunden an den Treueeid
gegenüber ihren Herren, zuerst als militärische Gefolgsleute, später als Verwal­
tungsfachleute in den Burgstädten ihren Lebensunterhalt sichern. Das Ergebnis
dieser überall in Japan durchgeführten Maßnahmen w ar eine politische Verein­
heitlichung feudaler Herrschaftsstrukturen, die Sicherung des Gewaltmonopols
für die soziale Elite der Gesellschaft und die soziale Differenzierung der Bevölke­
rung in Krieger und Bauern. Darüber hinaus trugen die Festschreibung eines
staatlichen Privilegs zum Edelmetallabbau und zur M ünzprägung sowie die Stan­
dardisierung der M aße und Gewichte in erheblichem Maße dazu bei, den „zentra­
len Staat“ gegenüber den partikularen Gewalten, verkörpert durch die ehemals
mächtigen Familien und Kriegerfürsten in den Provinzen, zu stärken.
Nach H ideyoshis Tod ging aus den Kämpfen um die Nachfolge Tokugawa
leyasu im Jahre 1603 als Sieger hervor und ließ sich den Titel s h ö g u n (eine A b k ü r­
zung für s e i-i-sh ö g u n : „der die Barbaren vertreibende Militärführer“) verleihen.
Die Familie Tokugawa etablierte in den folgenden Jahrzehnten ein ausgeklügeltes
Herrschaftssystem, das in seiner äußeren Form bis 1867 Bestand haben sollte6.
3 Edwin O. Reichauer, A lbert M. Craig, Japan. Tradition and T r an sform atio n (Boston 1989)
5 7 ff.; künftig zitiert: R eischauer, Craig, Japan.
4 K iyosh i In ou e, G esch ichte Ja p a n s (Fra nkfu rt a.M. 1993) 184-198.
5 M ikiSeiichirö, T aiko kenchi to Chosen shuppei (D ie G ro ß fürstlic h e L a n d e r h e b u n g und die
K orea-E xp editio n ) ( I w a n a m i kö x a N ihon rekishi 9, T o k y o 1975) 82-116.
6 Fujii Jöji, Shihai no s h ik u m i (Das Gefüge der H errschaft) (N ih o n no kinsei 3, T o k y o 1991);
J e a n -P ier re L ehm ann , T h e Roots of M odern Ja p an ( L o n d o n 1982); kü nftig zitiert: L ehm ann,
S t a a t li c h e O r d n u n g e n u n d S t a a t s t h e o r i e n im n e u z e i t l i c h e n J a p a n
117
Die Historiker haben diesen japanischen Staat der Frühneuzeit mit dem Etikett
„zentralisierter Feudalismus“ versehen7. In dieser Formel kommen die beiden
politischen Kraftzentren des Shögunats zum Ausdruck: ein politisch-soziales
System hierarchisch organisierter Abhängigkeiten mit dem s h ö g u n in Edo (dem
heutigen T okyo) an der Spitze und den ca. 250 T errito rialh e rre n ( cia im y ö ) mit ih­
ren sam urai. Der t e n n o und die Hofaristokratie in Kyoto blieben politisch bedeu­
tungslos und hatten lediglich Repräsentationsaufgaben zu erfüllen. Die dairnyö
übten die Herrschaft in ihren Lehnsgebieten zw ar selbständig, aber im Namen
und unter Aufsicht des s h ö g u n aus. Japan war in dieser Epoche des Shögunats ein
hierarchisch gegliederter Ständestaat, mit den sa m u ra i an der Spitze der sozialen
Ordnung, gefolgt von den Bauern, den H andw erkern und den Kaufleuten aut der
untersten Stufe. Ein Regelwerk von Kontrollmechanismen, z.B. die Pflicht der
Territorialfürsten, dem s h ö g u n alle zwei Jahre aufzuwarten und bei der Rückkehr
in ihr Lehensgebiet die Familie als Geisel zurückzulassen, sicherte die politische
Stabilität bei gleichzeitigem sozialen und wirtschaftlichen Wandel. Nach der Ver­
treibung der Christen 1637/39 und der sogenannten Abschließung (sak ok u ) des
Landes vor allen äußeren Einflüssen, mit Ausnahme der holländischen Handelsprivilegien auf einer künstlichen Insel in der Bucht von Nagasaki, blieb die Gel­
tung dieses politisch-sozialen Systems bis etwa 1850 ungebrochen. Alle Versuche
westlicher Staaten, mit Japan in politische oder wirtschaftliche Beziehungen ein­
zutreten, wurden fast 250 Jahre lang erfolgreich zurückgewiesen. Der Kontakt mit
Ausländern w ar Japanern strengstens untersagt. Die weltanschauliche Grundlage
für diese politisch-soziale O rdnung gab der Konfuzianismus ab. Er hat als eine auf
das Diesseits bezogene Soziallehre mit ihren strengen Vorgaben für Uber- und
Unterordnung in besonderem Maße dazu beigetragen, daß sich der Staat in Japan
schon während der frühen Edo-Zeit unter dem D ruck militärischer Gewalt im
Innern konsolidieren und in der weltgeschichtlichen Abgeschiedenheit selbst ge­
wählter Isolierung gegenüber der Außenwelt behaupten konnte.
Der Verfall und Sturz des Shögunats in den 1860er Jahren erfolgte keineswegs
nur unter dem D ruck der westlichen Mächte, sondern w ar auch eine Folge von so­
zialen und ökonomischen Auflösungserscheinungen, verbunden mit dem Erstar­
ken einer quasi-bürgerlichen Schicht in den Städten8. Die Trägerschichten der
M eiji-Restauration 1868 waren aber nicht Bürgerliche, sondern ehemalige s a m u ­
rai niederer Ränge aus den südwestlichen D aim yaten, die äußeren Einflüssen und
Reformen traditionell aufgeschlossener gegenüberstanden als der konservative
Nordosten. Dabei sollte die Wiederherstellung der fe»?z6-LIerrschaft zunächst
dem Ziel dienen, mit einer neuen und starken politischen Führung an der Spitze
Roots; J o h n W hitney Hall, T h e b ak u h a n S ys tem , in: Marius B. J a n s e n (H rsg.), W a rr io r R u le
in Ja p an (C a m b r id g e 1995) 147-201.
7 Reischauer, Craig, J a p an 73 ff.
8 K a g a w a Takayuki, Toshi sh o g y o no hatten (D ie E n t w ic k lu n g des städtischen H a n dels), in:
R ekisbigaku kenkyükai, N ihonshi kenkyükai (H rsg.), K oza N ih o n R ek ish i 6,2 (T o k y o 1992)
195-228.
118
W o lfgan g S c h w c n tk e r
des Staates die fremden „Barbaren“ zu vertreiben9. Doch schnell stellte sich her­
aus, daß Japan den westlichen Mächten militärisch unterlegen war. Die A useinan­
dersetzung mit dem Fremden erfolgte deshalb nicht auf dem Weg gewalttätiger
Konfrontation, sondern durch Adaption und U m w an dlu ng fremdkultureller Ein­
flüsse in Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Aus den Rängen der Trä­
gerschichten dieser Restauration ging eine neue Generation von politischen Füh­
rern hervor, die zuerst vom Westen lernen wollten, um Japan dann gegen den We­
sten zu verteidigen. Die ersten Studienreisen japanischer Regierungsdelegationen
nach Europa und in die U SA , die Anstellung westlicher Experten auf fast allen
Gebieten von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, schließlich die E ntwicklung
des Landes hin zu einer U bersetzungskultur müssen in diesen Zusammenhang ge­
stellt werden. Ein Teil der alten Eliten konnte auf diese Weise auch unter der
neuen politischen O rdnung überleben und kooperierte oft eng mit den Vertretern
westlicher Staaten. A uf diese Weise drangen im Zeitalter der Restauration auch die
europäischen Theorien vom Staat langsam in Japan ein.
II. Europäische Staatstheorien und japanischer Staat
Nach mehr als 250 Jahren der Abschließung erlebte Japan die erste Begegnung
mit einem westlichen Staat als Bedrohung, nachdem 1853/54 ein amerikanisches
Geschwader unter C om m odore Perry das Land gezwungen hatte, sich für den
Handel mit dem Westen zu öffnen. Der im M ärz 1854 abgeschlossene Vertrag
von Kanagawa gestand den Am erikanern zu, in Shim oda auf der Halbinsel Izu
und in Fiakodate auf H o kkaido Handel zu treiben und einen Konsul zu entsen­
d e n 10. Dem folgte vier Jahre später der erste „ungleiche H andelsvertrag“, der die
Beziehungen beider Staaten auf eine breitere Grundlage stellte11. Der Vertrag
von 1858 räumte den A m erikanern zusätzliche Rechte ein, wie etwa das der Sta­
tionierung eines Gesandten in Edo und Osaka, niedrige Zölle sowie das Recht,
amerikanische Staatsbürger in Japan nach Maßgabe amerikanischer Gesetze zu
behandeln (Exterritorialität). Dieser Vertrag und die ähnlich lautenden, in den
folgenden Jahren auch mit Rußland, H olland, England, Frankreich und Preußen
abgeschlossenen Verträge machten Japan zur „H alb-K olonie“ und banden es
in ein multilaterales Herrschaftssystem informell-imperialistischen Zuschnitts
e in 12.
9 W olfgan g Schw entk er, Barb aren un d Lehrm eister. F o rm en fre m d k u ltu r e lle r W a h rn e h m u n g
im J a p an des 19. Ja h r h u n d e r ts , in: E va-Maria Auch, Stig Förster (H rsg.), „ B a rb a r e n “ und
„ w e iß e Teufel“ . K u ltu r k o n flik te un d Im p e ria lism u s in A sien vom 18. bis 20. J a h r h u n d e r t
(Pa d e rb o rn 1997) 101-121.
10 W. G. B easley ( H rs g .), Select D o c u m en ts on Ja p an ese F o reign Policy, 1853-1868 ( L o n d o n
1955) 99 -102.
11 Ebd., 183-189.
12 W olfgan g Reinhard, G eschic hte der eu ro päischen E xpansio n. Bd. 3: D ie A lte W elt seit
1818 (Stu ttgart 1988) 84.
S t a a t li c h e O r d n u n g e n u n d S t a a t s t h e o r i e n im n e u z e i t l i c h e n J a p a n
119
Der Abschluß der „ungleichen Verträge“ hat die zu diesem Zeitpunkt bereits
fragile Regierung des s h ö g u n zusätzlich erschüttert und die M eiji-Restauration
zwar nicht alleine ausgelöst, sie aber doch beschleunigt. M it ihr wurde der japani­
sche Staat in den drei Jahrzehnten bis zum Ausbruch des Kriegs mit China 1894/95
in Form einer „Revolution von oben“ grundlegend um gestaltet13. Der Begriff
Restauration trifft dabei den Kern des Wandels nur insofern, als er auf die W ieder­
belebung der iewwo-Herrschaft verweist. Die Restauration ist aber kein nur rück­
wärts gerichteter Prozeß gewesen, sondern schließt im japanischen Terminus ishin
auch Erneuerung mit ein. Dies betraf vor allem die Machtverhältnisse zwischen
der Regierung in T o kyo , in der unter der formalen Leitung des t e n n ö die Führung
der Restaurationsbewegung aus dem japanischen Südwesten den Ton angab. Die
Ü berw indung des „zentralen Feudalismus“, der sich zum Schluß als die entschei­
dende Schwäche des Shögunats gezeigt hatte, stand deshalb im Vordergrund der
ersten Meiji-Reformen. Die d a i m y ö aus den Provinzen Chöshü, Tosa, H izen und
Satsuma, die das alte System niedergerungen hatten und nun die neue politische
Elite stellten, gaben im M ärz 1869 ihre Territorien nebst den Bevölkerungsregi­
stern an den t e n n ö z u r ü c k 14. Dies w ar mehr als ein symbolischer Akt, denn er
stellte die Herrschaft über Land und Personen auf eine neue Grundlage. Die p o li­
tische Macht ging fortan vom zentralen Staat mit dem t e n n ö an der Spitze aus. Die
anderen d a i m y ö folgten dem Beispiel der südwestlichen Provinzen noch im Som ­
mer des gleichen Jahres, doch sie w urden zunächst entschädigt dadurch, daß sie die
Gouverneure stellen durften und ihnen weiterhin die Steuereintreibung, nun aber
im Namen des t e n n ö , oblag. Zwei Jahre später wurden die Fürstentümer endgültig
in Präfekturen umgewandelt. U m den letzten regionalen Widerstand gegen die
Zentralisierung schon im Keim zu ersticken, mußten die d a i m y ö ihren Wohnsitz in
T o k yo nehmen. Dafür wurden ihnen ihre immens hohen Schulden erlassen und
manche von ihnen mit gutbezahlten Verwaltungsposten abgefunden. Dies waren
die wichtigsten M aßnahmen zur Konsolidierung des Gewaltmonopols im neuen
japanischen Staat.
Nach außen standen die Sicherung und die Neudefinition der Grenzen ganz
oben auf der politischen Agenda der Meiji-O ligarchie. In der internationalen Po­
litik bestand an der Einheitlichkeit des Staatsgebiets wegen der peripheren Insel­
lage Japans eigentlich kein Zweifel; doch in Japan selbst waren die Menschen
unsicher, wie w eit die westlichen Staaten gehen würden, um ihre politischen und
wirtschaftlichen Interessen im „Land der aufgehenden Sonne“ durchzusetzen.
Eine starke Armee schien vielen der beste Garant für die Sicherung nationaler Be­
lange bzw. die Rückgew innung der vollen staatlichen Souveränität. Dazu zählte
auf lange Sicht die Revision der „ungleichen Verträge" und unmittelbar nach der
13 W olfgan g S chw entk er, M o d e rn is ie r u n g von oben. J a p an im 19. J a h r h u n d e r t, in: J ü r g e n
O s te r h a m m e l (H rsg.), A sien in d er N eu zeit. Sie ben histo rische S tationen (Frankfurt/M .
1994) 101-124.
14 Sepp Linhart, N a tio n a lis m u s und S ta ate n b ild u n g im Ja p an des 19. Ja h rh u n d e rts , in: Ernst
B ru ck m üller , Sepp Linhart, Christian M ä h rd e l (H rsg.), N a tio n a lis m u s . W ege d e r S taate nb il­
d u n g in d er auß e reu ro p ä isch en W elt (W ien 1994) 129-151, hier 136 ff.
120
W o 11g a n g S c h w c n t k e r
Restauration die Formulierung eigener territorialer Ansprüche und die „Beneidgung" der Grenzen in einem für Japan günstigen Sinne. Auch wenn zum Zeit
punkt der politischen Umgestaltung nur wenige Japaner H o kkaido bewohnten
so w ar der Anspruch Japans auf diese Insel sowohl im Westen als auch beim
Nachbarn Rußland unbestritten. Anders verhielt es sich mit Sachalin und den Ku
rilen. Eine ältere Vereinbarung aus dem Jahre 1855, wonach die Kurilen und Sa­
chalin je zur Hälfte Rußland und Japan gehören sollten, w urde 1875 dahingehend
modifiziert, daß die Besitzansprüche ausgetauscht werden sollten: Sachalin fiel an
Rußland, die vier Kurilen-Inseln an den japanischen Staat1’ . Im Süden ließen sich
die territorialen Streitigkeiten mit China, die sich vor allem auf die R yükyü-Inselgruppe konzentrierten, nicht ohne den Einsatz militärischer Gewalt beseitigen
Nachdem die Inseln im Pazifik 1871 einseitig der neuen Präfektur Kagoshima"zugeschlagen worden waren, bedurfte es einer japanischen „Strafexpedition" nach
Taiwan, um gegen China die Einverleibung der Inseln als eigene Präfektur O ki­
nawa in den japanischen Staat durchzusetzen16. Der König von R yü k yü wurde
1879 abgesetzt und in T ö kyö unter Hausarrest gestellt. Damit war der japanische
Staat territorial fürs erste saturiert.
Der t e n n ö hatte unmittelbar nach Ü bernahme der Macht in seiner berühmten
Eidescharta vom April 1868 ausdrücklich dazu aufgerufen, Wissen und Erkennt­
nisse in aller Welt zu sammeln, um den vermeintlichen „zivilisatorischen R ück­
stand“, den die japanischen Aufklärer in jenen Jahren ständig beklagten, bald auf­
zuh o len 17. Vor diesem Hintergrund lernten che Bürokraten in der neuen H aupt­
stadt T ö kyö und die Intellektuellen um die zahlreichen neugegründeten Zeit­
schriften auch westeuropäische Staatsvorstellungen kennen. Sie verstanden diese
nicht nur als Gefahr für das eigene Land, sondern als Chance, Japan selbst auf dem
Weg der Reform nach europäischem M uster zu stärken, um schließlich - das war
das eigentliche politische Ziel der M eiji-Reform er - die als demütigend empfunde­
nen „ungleichen Verträge“ aufkündigen zu können. Es kam deshalb in den ersten
Jahren der Meiji-Zeit, die man zu Recht als Periode von A ufklärung und zivilisa­
torischer Öffnung (b u n rn ei kaika) bezeichnet hat, zu zahlreichen Übersetzungen
europäischer Klassiker der politischen Theorie und Gesellschaftslehre18. John
Stuart Mills „On L ib erty“ gehörte 1871 zu den ersten Schriften, die vom japani­
schen Publikum begierig aufgenommen wurden. Dem folgten in den nächsten
Jahren Übersetzungen von Rousseaus „Contrat Social“ und Montesquieus
„L’Esprit d ’Lois“, später Übertragungen der Werke von Bentham, Spencer und
John Locke. Die politisch-theoretischen Klassiker aus Westeuropa dominierten in
jenen Jahren die Diskussionen um die Modernisierung des Staates; der deutsche
Einfluß war unmittelbar nach der Restauration noch gering.
15 Ebd., 128.
i» Ebd.
!/ Ryusaku Tsunoda, Wm. T h e o d o r e d e Bary, D on a ld K e e n e (hlrsg.), S ources of Japanese
Tradition, Vol. II ( N e w Y o rk 1964) 137.
lfi L ehm ann , R oo ts 246; I n o u e K iyoshi, M e iji ishin (D ie M e iji-R e sta u r a tio n ) ( C h ü k ö bunko
N ih o n no rckishi 20, T o k y o 211991) 2 5 2 - 2 8 1 ; kü nftig zitiert: In ou e, M eiji ishin.
S t a a t li c h e O r d n u n g e n u n d S t a a t s t h e o r i e n im n e u z e i t l i c h e n J a p a n
121
Aus de1' begeisterten und breiten Rezeption europäischer Staatsmodelle zu Beoinn der 1870er Jahre könnte man last den Eindruck gewinnen, als sei die W ir­
kung europäischer Staats- und Gesellschaftsauffassungen nach der Restauration
noch gewichtiger gewesen als das Auftreten der westlichen Staaten selbst. Denn
die erste Phase der Reform von Staat und Gesellschaft unmittelbar nach der MeijiR e s t a u r a t i o n erfolgte ja nicht unter dem Druck der französischen Marine, son­
dern stand unter dem Einfluß französischer Rcchtsvorstellungen!y. Maßgebend
dafür war der auch in Europa als modern geltende Code Napoleon, Für die japa­
n i s c h e Rezeption des französischen Rechts waren in diesem Zusammenhang zwei
Gründe ausschlaggebend: 1. Eine der vorrangigen Aufgaben der staatlichen N eu­
ordnung bestand darin, die vielen regionalen Gewalten mit dem neuen Staat zu
versöhnen und die vordem feudalen Herrschaftsgewalten in einer Hand zusam ­
m e n z u f ü h r e n . Das Gewaltmonopol sollte fortan nur noch beim Staat liegen und
n i c h t mehr an die Territorialfürsten delegiert werden. Ihre Entmachtung vollzog
sich im Zuge der U m wandlung der landesfürsthehen Territorien in Präfekturen
nach französischem Vorbild. Die französische Verwaltungspraxis mit ihrer A u s­
richtung auf die politische Zentrale lenkte den Blick der M eiji-Reform er zuerst
auf die französische Rechtslehre. 2. Dabei fungierte der Code Napoléon als M u ­
sterbeispiel für ein lebendiges Rechtssystem, das mit dem Zivil- und Zivilprozeß­
recht, mit dem Handelsgesetzbuch, dem Strafprozeßrecht und dem Strafgesetz­
buch eine umfassende Vorlage für die R egelung der Vertragsverhältnisse und Ver­
waltungsvorschriften in einem modernen, zentralen Staat abzugeben schien. Das
anglo-amerikamsche „case law “ kam demgegenüber für eine Übertragung auf die
japanischen Verhältnisse nicht m Betracht, da eine solche Tradition in Japan un be­
kannt war. Folglich richtete die neue japanische Regierung im Jahre 1869 ein spe­
zielles „Büro zur Untersuchung der fremden Verwaltungspraxis“ ein, dessen Auf­
gabe zunächst einmal dann bestand, französische und andere europäische Rechts­
ordnungen ins Japanische zu übersetzen20. Doch mit der Übertragung fremder
Gesetzestexte m die Landessprache war es natürlich nicht getan. Die optimistisch­
naive Vorgabe von Etö Shinpei, d er dem A m t für Rechtswesen Vorstand, bei der
Übertragung des Code Napoléon die Bezeichnung „ F ra n k reic h “ einfach durch
„Japan“ zu ersetzen, hatte sich schon bald als unsinnig erwiesen21. Man holte des­
halb den ehemaligen Vizepräsidenten der U n iv e rsität Paris Gustave Emile Boissonade de Fontarabie nach T o k y o und übertrug ihm die Aufgabe, an der N eugestal­
tung der japanischen Rechtsordnung m itzuwirken. Das japanische Strafrecht und
Strafprozeßrecht, das am 1. Januar 1882 in Kraft trat, trug seine Handschrift.
Doch schon vorher, im Zuge der Beratungen des Zivilrechts seit 1875, war den
Repräsentanten der Meiji-O ligarchie um O kubo und Iwakura klar geworden, daß
die französische Rechtslehre den Grundprinzipien des europäischen Naturrechts
; Paul-Christian Schenck, D er deutsche A nteil an der G estaltun g des m odernen japanischen
Rechts- und V erla ssungsw esens. D eutsche R echtsberater im J ap an d er Mciji-Zcit (S tu ttgart
1997) 89 ff.; künftig zitiert: Schenck, Anteil.
20 Ebd., 91.
21 Ebd., 92 f.
122
W o lfgan g S ch w en tker
folgte und demgemäß auf den a t o y e n , nicht auf den U n terta n en ausgerichtet war,
und dies war nicht in ihrem Sinne. A uch nach der Restauration, die 1872 unter
anderem die Abschaffung der Privilegien der Samurai nach sich gezogen hatte,
stießen sich französische Gleichheitsvorstellungen an der W irklichkeit sozialer
Ungleichheit; denn die alten Eliten bekleideten auch unter dem neuen Regime
Vormachtstellungen. Darin zuerst drückte sich aus, daß die Restauration eben
eine „Revolution von oben“ war. A uf lange Sicht hatten die französischen Rechts­
vorstellungen deshalb nur wenig Chancen, den Rahmen für die Neufassung des
Zivilrechts abzugeben, zumal die japanische Öffentlichkeit ab 1880 die noch
wichtigere Verfassungsfrage zu diskutieren begann und alle weiteren Entschei­
dungen darüber, nach welchen M aßgaben der neue Staat zu errichten sei, hinter
ciie Lösung dieses zentralen Problems zurücktraten.
Es ist wichtig zu betonen, daß diese Debatten nicht nur in der sterilen A tm o ­
sphäre der Übersetzungsbüros und juristischen Lehranstalten geführt wurden,
sondern jene aktuellen politischen und sozialen Konfliktkonstellationen w id er­
spiegelten, die der Entwicklung Japans hin zu einem modernen Staat die unver­
gleichliche D ynam ik verliehen. Drei Vorgänge sollten in diesem Zusammenhang
eigens zur Sprache kommen, denn sie haben den Geltungsraum staatlicher Macht
in den frühen M eiji-Jahren wesentlich mitbestimmt. U nm ittelbar nach der R e ­
stauration machte sich eine hochrangig besetzte Regierungsdelegation unter der
Leitung Iwakura Tomomis zu einer Studienreise in die U SA und nach Europa
auf22. Zwar scheiterten die Verhandlungen mit den westlichen Staaten über eine
Revision der „ungleichen Verträge“; Japans Stellung in der internationalen Politik
w a r dazu noch zu schwach. Doch aus den Erfahrungen, die die Izvak ura-D elega tion auf der zweijährigen Expedition durch die westliche Welt gewann, zogen die
politisch Verantwortlichen den richtigen Schluß, daß sich Japan zuerst um die R e­
form von Staat und Gesellschaft im Lande selbst küm m ern mußte, wollte man
künftige Vertragsverhandlungen zu einem für Japan günstigeren Abschluß brin­
gen. Ein außenpolitisches Abenteuer w ie der expansive Ü bergriff auf die koreani­
sche Llalbinsel, von dem ein Teil der zurückgebliebenen, deklassierten Samurai
träumte, mußte Japans Stellung eher schwächen, wenn es auf den Widerstand des
militärisch überlegenen Westens traf. Entsprechende Pläne wurden von Iwakura
und den anderen Mitgliedern aus der Führungsriege der Delegation nach ihrer
R ückkehr deshalb sofort sistiert. Die alten Eliten des Kriegerstandes mußten sich
aus der Regierung zurückziehen und w urden in den kommenden Jahren ein Hort
der Unzufriedenheit und Rebellion. Vom Süden aus unternahmen sie mehrere
Aufstände gegen das neue Regime und forderten es ernsthaft heraus. Die größte
Gefahr für den Meiji-Staat ging von der sog. S a tsu m a -R e b ellio n im Jahre 1877
aus23. Sie konnte von der M eiji-Regierung mit Hilfe einer technisch aufgerüsteten
und in moderner Kriegsführung unterwiesenen Armee, die den Samurai überlegen
22 In ou e, M e iji ishin 282 ff.
23 Vgl. R u d o lf H a r tm a n n , G esch ic hte des m od e rn e n Jap an . Von M eiji bis H eisei (Berlin
1996) 42.
Staatlich e O r d n u n g e n u n d Staatsth eo rie n im neuzeitlic h en Jap an
123
war, niedergerungen werden. Der neue Staat hatte sein Gewaltmonopol damit g e­
gen die Feinde im Innern durchgesetzt. Nachgeben mußte die Oligarchie der R e ­
former hingegen in einem K orru p tio n ssk a n d a l im Jahre 1881, der im Zusam m en­
hang mit der Kolonisation Flokkaidös stand24. Geschäftsleute in Osaka mit guten
Verbindungen zum politischen Establishment in T o k yo hatten zinsgünstig A n ­
teilscheine der Erschließungsgesellschaft erwerben können, was in der Öffentlich­
keit zu einem Sturm des Protests führte. Die Kritik zielte vor allem auf die u n ­
durchsichtigen Machenschaften der Regierung, die, vom t e n n o eingesetzt, keiner­
lei parlamentarischer Kontrolle unterworfen war. Die politische Lage beruhigte
sich erst, als der Kaiser in einem Erlaß am 12. O ktober 1881 die Einberufung einer
N ationalversammlung für das Jahr 1890 in Aussicht stellte25. Gleichzeitig wurde
mit den Vorarbeiten für eine Verfassung begonnen.
Charakteristisch für das japanische Nachdenken über den Staat nach der R e­
stauration w ar eine gewisse Orientierungslosigkeit. Bald fragte man sich, ob es d ie
europäische Staatsauffassung überhaupt gebe. O kakura Kakuzö, der später in
Westeuropa mit seinem „Buch vom Tee“ zur Berühmtheit w urde und noch heute
im Westen ein Säulenheiliger der postmodernen Esoterik ist, notierte 1887 nach
einer Reise durch Europa und Am erika: „Worin besteht in diesen Ländern das
eigentlich Westliche. All diese Länder haben unterschiedliche Systeme; was im
einen richtig ist, ist im anderen falsch. Religion, Gebräuche, Moral, - darin gibt es
keine Gemeinsamkeiten. Europa w ird bei uns in einem allgemeinen Sinne d isku­
tiert; das klingt auch wunderbar. Aber die Frage ist doch, ob es das, was Europa
genannt wird, in Wirklichkeit überhaupt gibt.“26 Die japanische Diskussion über
die staatliche N euordnung w ar von dieser grundlegenden Orientierungsproble­
matik geprägt. In der Verfassungsdebatte der 1880er Jahre standen sich im Grunde
zwei Modelle für eine staatliche N euordnung gegenüber27. Der berühmteste Ver­
fechter des englischen Modells, das einen „schwachen Staat“ in einer selbstbewuß­
ten Gesellschaft freier Bürger implizierte, w ar F ukuzaw a Y ükichi28. In zahlrei­
chen Schriften der 1870er und 1880er Jahre trat er dafür ein, der Gesellschaft als
Zusammenschluß gleichberechtigter Bürger gegenüber einem sich autokratisch
gebärdenden Staat zu ihrem Recht zu verhelfen. Schon von F ukuzaw a w urde die
Tendenz des modernen Anstaltsstaats zur A usweitung seiner Regelungskom pe­
tenzen deutlich als Gefahr erkannt. Die japanische Verfassung sollte deshalb dem
englischen Modell auch dahingehend folgen, indem sie ein parlamentarisches Ka­
binettssystem installierte, wonach den Mehrheitsparteien die Regierung zustand.
24 ]. A. Harrison, J a p a n s N o r th e r n Fro n tier (G ainesville, Fla. 1953).
Sch en ck , A n teil 131 f.
25 Vgl. Masaaki Kösaka (H rsg.), J a p an es e T h o u g h t in the M eiji Era ( T o k y o 1958) 220.
27 J o s e p h Pittau, Political T h o u g h t in E a r ly M eiji J a p an (C a m b ridge/M a ss. 1967) 3 7 ff.,
sprich t m it B lick auf die F rag e des Ü b e r g a n g s z u m ko n stitutio n ellen S y s te m von d e r gro ßen
K o ntrov erse z w isc h e n „ G ra d u a lis te n “ un d „R a d ik a lis t c n “ (K ün ftig zitiert als: Pittau, P o liti­
cal T h o u gh t).
28 C a r m e n Blacker, T h e Ja p an ese E n lightenm en t. A S t u d y of the W ritin gs of F u k u z a w a
Y u kich i ( C a m b r id g e 1969).
124
W olfgan g S ch w an k et-
Dies würde den Führern der M e iji-R e sta u ra tio n , wenn sic sich in künftigen Wal
len durchsetzen sollten, eine breite Basis für ihre Politik in der Bevölkerung ge
betr. A ußerdem erlaube ein parlamentarisches System, daß nicht eine Oligarchie
verdienstvoller Männer sich des Staates bemächtige, sondern regelmäßige Wahlen
auch einen Wechsel politischer Macht garantierten. Dieses Modell hatte z w an »s
läufig A usw irkung auch auf eine veränderte Rolle des ten n ö . In einem Essay über
die Stellung des t e n n ö mit dem Titel „Teishitsuron“ aus dem Jahre 1882 plädierte
Fukuzawa, wie vor ihm sein großes Vorbild Bagehot, dafür, daß der Monarch über
der Politik zu stehen habe und allenfalls ein emotionales, gleichsam symbolisches
Zentrum für die Loyalität der Massen gegenüber Staat und N ation darstellen
müsse29. Die Führer der radikaleren „Jiyü M inken U n d ö “ („Bewegung für Frei­
heit und Volksrechte“), zu denen F ukuzaw a selbst Distanz hielt, gingen noch ei­
nen Schritt weiter. U eki Emori, einer ihrer Wortführer, forderte etwa in seinem
berühmten „Verfassungsentwurf- des Staates Jap an “ aus dem Jahre 1880 die Volks­
souveränität und ein Einkammersystem, mit allgemeinen und gleichen Wahlen, an
denen sich auch Frauen beteiligen sollten30. Staat und Regierung sollten nicht
mehr über den gesellschaftlichen Gruppen stehen, sondern aus ihnen hervorgehen
und durch sie kontrolliert werden.
Eine ganz andere Vorstellung vom Staat, seiner Verfassung und seinen zentralen
O rganen hatten die Führer der M eiji-Regierung um Iwakura Tomomi und Ito
Flirobumi sowie seinen einflußreichen Ratgeber Inoue Kowashi, Dieser arbeitete
mit Hilfe des deutschen Juristen Herm ann Roesler seit 1880 die Grundsätze für
eine japanische Verfassung aus, die dem preußischen Modell der konstitutionellen
Monarchie den Vorzug gab vor dem britischen Parlamentarismus31. In einem Vor­
trag vor dem „Verein für Deutsche Wissenschaft“ („Doitsugaku K y o k ai“) sprach
Roesler im Frühjahr 1883 über die „Vor- und Nachteile der deutschen Wissen­
schaft für den Staat und deren A usw irkun gen “32. Seine konservativ temperierte
Staatsauffassung kam in diesem Vortrag deutlich zum Ausdruck. Roesler distan­
zierte sich klar von den Prinzipien der Volkssouveränität und Gewaltenteilung.
Statt dessen redete er dem monarchischen Staat preußischer Provenienz das Wort.
Dies waren Auffassungen, die man in Japan in diesen Jahren von einem Vertreter
der deutschen Staatsrechtslehre erwarten durfte. Die Übersetzungen der bayeri­
schen und württembergischen Verfassungen ins Japanische, welche die mon­
archischen Vorrechte im Vergleich zur preußischen sogar noch stärker betonten,
waren ein weiteres Indiz dafür, daß sich die japanischen Staatsauffassungen im
Zuge der Vorbereitung einer eigenen Verfassung von den französischen und eng­
lischen Vorbildern lösten und im konstitutionellen Obrigkeitsstaat einen geeigne­
29 Fukuzawa Yäkicbi, Z ensh ü ( G e s a m m elte W erke) ( T o k y o 1926) Bd. 5, 439-444 .
30 Pittau, Political T h o u g h t 102 f.
31 Schenck, A nteil 13 0ff. Siehe zu die sem T h e m a auch Noriko K o k u b u n , D ie B e d e u tu n g der
deu tschen für die ja p anische S taatsle hre un ter der M ciji-V erfassu ng (Fran kfu rt/M . 1993),
kü nftig zitiert: K o k u b u n , Bed eu tu ng.
32 J o h a n n e s S iem es , D ie G r ü n d u n g des m od e rn e n ja p anischen Staates un d das deutsche
Staatsrecht. Der B eitrag H e r m a n n R oeslers (Berlin 1975) 146 ff.
S t a a t li c h e O r d n u n g e n u n d S t a a t s t h e o r i e n im n e u z e i t l i c h e n J a p a n
125
R a h m e n für die staatliche N euordnung des Meiji-Staates sahen33. Begründet
wurde die A bwendung von parlamentarischen Konzepten mit dem Argument,
daß J a P a n ~ ähnlich w *e c^ts d e u tsc h e Reich - noch nicht die soziale und ö ko n o ­
mische Entwicklungsstufe erreicht habe, auf der sich bereits England und Fran k­
r e i c h befanden. Itö Flirobumi, der politische Architekt der Meiji-Verfassung und
spätere Ministerpräsident, äußerte sich über diese Fragen nach seinen Beratungen
mit deutschen Staatswissenschaftlern während seiner Europareise 1882: „Nach
nieinen Gesprächen mit zwei berühmten deutschen Wissenschaftlern, Gneist und
Stein, war es mir möglich, zu einem allgemeinen Verständnis der Struktur eines
Staates zu kommen. Unserem eigentlichen Ziel, die Grundlagen der kaiserlichen
S o u v e r ä n i t ä t zu stärken, werde ich mich später widmen. Tatsache ist, daß es in u n ­
serem Land Tendenzen gibt, die zu der falschen Auffassung führen, daß die Arbei­
ten der extremen und radikalen Liberalen in England, Am erika und Frankreich
und ihre Theorien die höchste N orm abgeben müßten. Das w ürde zwangsläufig
zum Staatsumsturz führen. Ich glaube, hier Mittel und Wege gefunden zu haben,
diesen Tendenzen entgegenwirken zu können, und meinem Land damit einen
großen Dienst erwiesen zu haben.“34
Eine besondere W irkung entfaltete das etatistische Staats- und Verfassungsmo­
dell preußisch-deutscher Provenienz auch mittels der Rezeption der deutschen
Staatsrechtslehre im engeren Sinne. H ier ist vor allem der Einfluß des H eidelber­
ger Staatsrechtlers Johannes Caspar Bluntschli zu nennen, dessen „Allgemeines
Staatsrecht“ von Katö H iro yuki, dem Lehrer des M eiji -t e n n ö und späteren Präsi­
denten der Kaiserlichen Universität von T o kyo , in den 1870er Jahren übersetzt
wurde35. Bluntschlis Organismustheorie, die den Staat als eine ethisch-organische
Symbiose auffaßte, in der die Partikularinstanzen eines Staates zu einer harm o­
nischen Ganzheit verschmolzen, bot sich den japanischen Verfassungsschöpfern
ihres diffusen Charakters wegen genau dort an, wo es um die Konservierung japa­
nischer Besonderheiten im Zuge der verfassungsrechtlichen N euordnung ging36.
Mit der Übersetzung Bluntschlis und mit eigenen, stark vom Sozialdarwinismus
ten
33 Schenck, A nteil 141.
34 Watanabe Ikujirö (H rsg.), N ih o n kensei kiso s h iry o ( G ru n d lege n d e M a terialie n z u r k o n ­
stitutionellen R eg ie r u n g Ja p an s) ( T o k y o 1937) 356. Zu Itö vgl. auch I rok a w a Daikichi, Kin dai k o kka no shupp atsu (D ie A n fän ge des m o d e rn e n Staates) ( C h u k o b u n k o N ih o n no rekishi 21, T o k y o 191991) 426-451 .
35 Joh a n n e s Caspar B luntschli , A llge m ein es Staatsrecht, 2 Bde. (M ü n c h e n 4 1868). Zu Kato
H iro yu k i und seiner R eze p tio n von o rga n izistisc h er Staatsle hre un d S o z ia ld a r w in is m u s vgl.
Schenck , A nteil 19 7-199 und K o k u b u n , B ed eu tu n g 26 -64.
36 Bei Jellinek, A llg e m ein e Staatsle hre 150 f., heißt es d arüb er: „G em einsam ist allen diesen
organischen A uffassu ngen die N eg a tio n d e r en tgeg en steh en den Lehre, w o n a ch die sozialen
Gebilde A ggregate darstellen, die aussch ließ lich aus d em Wesen der sie bilde nde n letzten E le­
mente, den Indiv iduen, zu er klären sind. G em ein sa m ist ihnen d a h e r die E rfassu ng der
menschlichen G em einsch aft als einer ur s p r ü n g lich en Einheit, zu der die einzeln en sich derart
als G lieder verhalten, daß sie nur aus d em W esen des G a n ze n heraus v ö llig begriffen w erde n
können. Die o rganische L eh re stellt sich so als G ege n stüc k d er in d iv id ualis tisch en L eh re von
der m enschlichen G em einschaft dar. In allen Ihren F o rm en abe r leidet sie an einem s c h w e r ­
wiegenden Fehler. Sie o periert n äm li ch mit einem Begriff, den sie nicht d efin ie ren k a n n .“
126
W o lfg a n g Sch w en t ker
geprägten Arbeiten wollte Katö die naturrechtliche Lehre von den individuellen
Menschenrechten dekonstruieren und demgegenüber den t e n n ö als Souverän ei­
nes ganzheitlichen Staates legitimieren.
A uf diesen Wegen - durch zahlreiche Ü bersetzungen, mit Hilfe deutscher R at­
geber in Japan und auf den Studienreisen japanischer Politiker und Gelehrter in
den 1870er und 1880er Jahren - entwickelte sich das preußisch-deutsche Staats­
modell für die neuen Machthaber in T o k y o zum Vorbild für einen autoritären,
monarchischen Machtstaat37.
Bei aller Anlehnung an europäische Vorbilder gingen Staatsdenken und Staats­
aufbau im Japan der M eiji-Zeit nicht in bloßer N achahmung auf. Der europäi­
sche Staatsgedanke stieß dort auf Grenzen, wo er mit spezifisch japanischen Tra­
ditionsbeständen kollidierte. Dies w ar der Fall bei der Beschreibung der Rolle
des t e n n ö im Staat. Die Bestim mungen der Verfassung von 1889, wonach der
t e n n ö „heilig und unverletzlich“ (§ 3) war und - das unterschied seine Stellung
von der der europäischen Monarchen - “aufgrund der Göttlichkeit und E w ig­
keit seines Hauses regierte“, also selbst göttlicher N atur war, bestätigten für den
japanischen Staat die „Einheit von Religion und Politik“, von Ritual und R egie­
rung (saisei iteb i )3S. Sie machte den Shintö, einen schamanistischen Kult der
Ahnen- und N aturverehrung, als spezifisch japanische A usprägung religiösen
Bewußtseins, zur Staatsreligion. Bereits 1871 wurden die Shintö-Schreine zu
„nationalen H eiligtüm ern“ und zu Stätten der A usübung „nationaler R iten“
(„ko kka no söshi“) erklärt. Man spricht deshalb auch vom Staatsshintö, dessen
Anliegen seit 1900 Sache des Innenministeriums waren, während alle anderen
Religionsgemeinschaften mit einem untergeordneten Büro für religiöse Angele­
genheiten Vorlieb nehmen m ußten39. Im Zentrum seines Glaubens stand die
Ü berzeugung von der Göttlichkeit des Kaisers und der Einzigartigkeit des japa­
nischen Nationalwesens ( kokutai ), einem für die japanische Staatsauffassung
zentralen Begriff, den der konfuzianische Gelehrte A izaw a Seishisai 1825 in die
staatstheoretische Diskussion eingebracht hatte. „Kokutai“ meint dabei das „in­
nere Wesen, die Essenz, die unverwechselbaren und vor allem unwandelbaren,
ewigen Eigenheiten und Werte der japanischen N ation - all das, was Japan von
anderen Ländern auszeichne und unterschied“40. In dieser Form w urde der Be­
griff als nationaler M ythos nach 1868 gleichsam neu erfunden und als Legitim a­
tionsgrundlage für die Herrschaft des M eiji-fe««ö herangezogen. Der Begriff
umschrieb die politische Existenz eines t e n n ö als unabdingbar für den Fortbe­
stand der Nation, wobei bem erkenswert ist, daß im Japanischen zwischen Staat
und N ation nicht unterschieden wird.
37 So auch die T hese von S ch en ck , A n te il 142.
38 Vgl. den A b d r u c k d er M e iji-V er fa s su n g v o n 1889 ebd., 34 4 -3 5 3 , hier 344.
39 Ernst L ok ow andt, D ie rech tlic h e S tellu n g des S taatsshin tö in der er sten H ä lfte der M eijiZeit (W iesb a d en 1978).
40 Klaus Antoni, L eg itim a tio n staatlich er M a ch t: Das Erbe d er ko k u ta i-Id e o lo g ie , in: G esine
Eoljanty-Jost, A nna-M aria T h rän h ard t (H rs g.), D er sch la n ke jap a n isc h e Staat. Vorbild oder
Sc h r e c k b ild ? (O p la d e n 1995) 4 8 - 6 8 , hier: 50, kü nftig zitiert als: A ntoni , L egitim ation .
S t a a t li c h e O r d n u n g e n u n d S t a a t s t h e o r i e n im n e u z e i t l i c h e n J a p a n
127
Aus all dem entwickelte sich in der späten Meiji-Zeit ein organizistisches Ver­
ständnis des Staates, dem der t e n n o gleichsam als „Hausvater“ oder Fam ilienober­
haupt Vorstand; ihm sollten die U ntertanen Treue bekunden und Respekt bezeu­
gen. Als eine den Grundsätzen der D emokratie entgegenstehende Ideologie des
„Familienstaates“ ( k a z o k u k o k k a ) ist dieses Konstrukt nach 1945 bezeichnet w o r­
den41. Es fand seinen A usdruck im berühmten Erziehungsedikt von 1890, das als
Japans eigentliche Verfassung galt und bis 1945 in jedem Klassenzimmer hing42.
Dieses Edikt kombinierte shintöistischen A hnenkult mit dem konfuzianischen
Verständnis von Treue, Respekt und Gehorsam. Dabei wurde zwischen „Kaiser­
reich“ und „Staat“ unterschieden. In nationalen Notlagen habe der einzelne dem
Staat zu dienen, um die kaiserliche Herrschaft im Geist der Vorfahren zu erhalten.
M it dem Edikt reagierte der japanische Staat auf die Verwestlichung der Gesell­
schaft und griff dabei auf eine rückwärts gewandte, anscheinend archaische Idee
der Staatsspitze zurück, die als Schutz vor kultureller Ü berfremdung dienen
sollte43.
III. Japanischer Staat und koloniale H errschaft
Wie sich Japan unter westlichem Einfluß nach 1868 ausgewählte Elemente des eu­
ropäischen Staates im Zuge der U m w an dlu ng aneignet, so ist auch der japanische
Imperialismus in der frühen Phase ein Stück Mim esis und folgt europäischen Vor­
gaben. Ein Sonderproblem ergibt sich daraus, daß Japan seit den 1870er Jahren zu
einem Zeitpunkt imperialistische Initiativen ergreift, als es selbst noch Objekt
westlicher Einflußnahme ist44. Den Anfang machte im Jahrzehnt zwischen 1873
und 1883 die Einverleibung H okkaidos zum Schutz vor russischen Übergriffen.
Es folgte der „ungleiche Vertrag“ mit Korea im Jahre 1876, das Japan die gleichen
Privilegien einräumen mußte, wie Japan zuvor den westlichen Mächten. Der Sieg
im Krieg gegen China 1894/95 trug Japan mit Taiwan die erste eigene Kolonie ein.
Der Erfolg im russisch-japanischen Krieg von 1904/05 führte dann zu einer A us­
weitung der Einflußsphären in N ordchina und zur Errichtung eines Protektorats
in Korea, 1910 sogar zur Annektierung Koreas. Die A usw eitung des Herrschafts­
raums auf dem asiatischen Kontinent verdankt sich, darin ist sich die Forschung
heute weitgehend einig, staatlicher Initiative. „It was the state“, so Iriye A kira in
seiner großen A nalyse der japanischen A ußenpolitik an der Wende vom 19. zum
20.Jahrhundert, „that undertook the overseas expansion. A nd the key to this
41 K a w a s h im a Takeyoshi, D ie fam ilia le S t r u k t u r d er ja p anischen G esellschaft (1946), in: Karl
Friedrich Zahl (H rsg.), J a p an ohn e M y t h o s (M ü n c h e n 1988) 60-81.
42 Vgl. die englische Ü b e rs e tz u n g in D a v id J. Lu (H rsg.), Ja p an . A D o c u m e n t a r y H is t o r y
( N e w Y o rk 1997) 343 f. Sie he d azu auch Antoni, L eg itim a tio n 51.
43 Ein S t a n d a r d w e r k zu r R o lle des te n n o in J a p an ist Klaus Antoni, D er H im m lis c h e H e r r ­
scher un d sein Staat. Essays zu r S tellu n g des Tenno im m od e rn e n Ja p an ( M ü n c h e n 1991).
44 Fujim ura M ich io, N ih o n gendais h i ( N e u e re G eschic hte Ja p an s) (Tokyo 6 1991) 16 ff.
128
W olfgan g Sch w en tker
phenomenon was the coalescence of domestic factors toward both the creation of
centralized authority and the generation of mass society. Imperialism affirmed and
further strengthened these trends.“45 Die staatliche Herrschaftstechnik war dabei
in den einzelnen Kolonien unterschiedlich.
Auf Taiwan betrieb der japanische Staat Politik nach dem „biologischen Prin­
z ip “. Dieses Konzept kolonialer Herrschaft geht auf Goto Shinpei zurück, der
nach seinem M edizinstudium im Deutschen Reich zuerst in die Gesundheitsabtei­
lung des japanischen Innenministeriums eintrat, bevor er die Leitung der Zivilver­
w altung auf Taiwan übernahm 46. Nach Gotös Auffassung sollte die Lebenswelt
der taiwanesischen Bevölkerung durch die japanische Herrschaft weitgehend un ­
angetastet bleiben. Vielmehr suchte man die Kollaboration mit den alten indigenen Eliten, vor allem mit den Grundbesitzern und Dorfvorstehern, deren Rechte
nach 1 895 von den neuen Herren bestätigt wurden. Der japanische Staat w ar in er­
ster Linie präsent durch eine zivile Verwaltung und durch Militär, weniger durch
seine großen Unternehmen oder Banken. In der systematischen Entwicklungspo­
litik, für die vor O rt ein mit sehr weitreichenden Vollmachten ausgestatteter General-Gouverncur verantwortlich zeichnete, hat man denn auch in der Forschung
lange Zeit die H auptursache für den späteren ökonomischen „Erfolg“ der japani­
schen Kolonialherrschaft gesehen47. Dabei hatte man vor allem die zielgerichtete
staatliche Förderung der Reiswirtschaft im Rahmen eines peripher-kapitalistischen Systems im Auge, das auf Subsistenz und Export abgestellt war. Die brutale
U nterdrückung einheimischen Widerstands durch das M ilitär gerade in der A n ­
fangsphase der japanischen Herrschaft blieb dagegen ein Stiefkind der Forschung.
M ittlerweile sind an der „Erfolgsgeschichte“ des japanischen Kolonialstaats auf
Taiwan Zweifel laut geworden. Chih-m ing Ka, Soziologe an der Academica Sinica
in Taipei, hat kürzlich die These vertreten, daß die taiwanesischen Bauern sich
gegen die Implantierung eines agrarkapitalistischen Systems japanischer Spielart
erfolgreich zur Wehr gesetzt hätten. Die Initiative für sozialen Wandel und ö ko ­
nomischen A ufschwung „did not lie exclusively with colonial rulers and Japanese
capitalists.... The growth of the less dominated (or relatively egalitarian) indigeneous rice sector - not the specific character of Japanese colonialism - was the key
factor that shaped T aiw an’s unique colonial experience.“48
Neben Taiwan genießt Korea als Laboratorium des japanischen Imperialismus
seit geraumer Zeit die besondere Aufm erksam keit der Forschung in Asien und in
den USA. Denn am Beispiel Koreas lassen sich die Phasen der A usw eitung japa­
45 Akira Jriye, J a p a n s D rive to G reat P o w e r Status, in: Marius B. J a n s e n (H rsg.), T h e C a m ­
b rid ge H is t o r y of Ja p an . V ol.5: T h e N in etee n th C e n t u r y (C a m b r id g e 1989) 766.
46 Y. H ayase, T h e C a r e e r of G o to S him p ei: J a p a n ’s Statesm an of R esearc h, 1837-1929 (Ph.D.
F lo rid a State Univ. 1974) 4 0 - 7 1 .
47 R a m on H. M yers, Mark R. P ea ttie (H rsg.), T h e Ja p an ese C o lo n ia l E m pire, 1885-1945
(Prin ceton, N.J. 1984); J o h n F. C o p p er, Taiwan. N a tio n -S ta te or Pro vin c e? (Bould er, Col.
1996).
48 Vgl. C h ih -m in g Ka, J a p a n e s e C o lo n ia lis m in Taiwan. Land Tenure, D eve lo pm en t and
D ep en den cy, 1895-1945 (Bould er, C o l. 1995) 184-186.
T
Staatliche O r d n u n g e n und Staatstheorien im n euzeitlichen J a p an
12 9
nischer Fremdherrschaft geradezu idealtypisch rekonstruieren. A uf erste m ilitäri­
sche Drohungen nach der Restauration folgten 1876 der „ungleiche Vertrag“,
dann die Kanonenbootdiplomatie, 1905 das Protektorat und schließlich 1910 die
Kolonie. Wie der amerikanische H istoriker Peter Duus kürzlich in seiner großen
U ntersuchung zum japanischen Imperialismus in Korea gezeigt hat, entspricht die
japanische Herrschaft in Legitimation und Praxis dem Modell des Imperialismus
rückständiger Staaten wie z. B. des zaristischen R ußland49. Für künftige kom para­
tive Untersuchungen werden von Duus drei Eigenarten dieser Form der Expan­
sion besonders herausgestellt:
1. Die m i l i t ä r i s c h e R ü c k s t ä n d i g k e i t läßt Bedrohungssyndrome entstehen, die
der Expansion einen zunächst defensiven Charakter verleihen.
2 . Die ö k o n o m i s c h e R ü c k s t ä n d i g k e i t verlangt ein stärkeres Engagement des
Staates bezüglich der Bereitstellung der erforderlichen Infrastruktur und der w irt­
schaftlichen Verflechtung von Zentrale und Kolonie oder Einflußsphäre.
3. Das Bewußtsein h i s t o r i s c h e r R ü c k s t ä n d i g k e i t als „late developtng co u n try“
und die Erfahrung der kolonialen Opferrolle läßt einen Panasianismus entstehen,
unter dessen Flagge Japan die Strategie verfolgt, Asien vom Joch des „weißen Im­
perialismus“ zu befreien50.
In Korea folgt der japanische Staat nicht dem „biologischen Prinzip“ kolonialer
Flerrschaft, sondern schlägt den Weg der kulturellen Zwangsassim ilation ein. So
verkündete nach der Annektierung Koreas im Jahre 1910 der t e n n ö , daß Japan
und Korea nun wie in einer „Familie“ zusammenstehen w ürden51. Der „Staatsfam ilism us“ w irk t also nicht nur im Innern, sondern wird auch als koloniales O rga­
nisationsprinzip herangezogen. W ir haben es in diesem Fall mit einer Konzeption
kolonialer Beziehungen zu tun, die sich auf eine vermeintlich rassische Ü berle­
genheit bzw. M inderwertigkeit gründet, daraus eine kulturelle Mission ableitet
und mit den Kolonisierten ähnlich brutal verfährt, wie es die französischen Kolo­
nisatoren in ihren überseeischen Herrschaftsgebieten taten.
IV. D er W eg in den „starken Staat“
Die Erfahrungen mit der halbkolonialen Fremdbestim mung durch die westlichen
Mächte in der Meiji-Zeit, mit dem eigenen Kolonialismus seit 1895 und 1910 und
mit den Versuchen zur D emokratisierung von Staat und Gesellschaft, die in den
1920er Jahren das Schlagwort von der Taisho-Demokratie entstehen ließen, haben
auch auf die weitere Entwicklung des japanischen Staatsdenkens und Staatsver­
ständnisses eingewirkt. Das wichtigste M erkm al der Debatte über den Staat in der
Zwischenkriegszeit w ar die politische Polarisierung der Auffassungen, die aus
49 Siehe d azu P e te r D uus , T h e A bacus and the S w o rd . T h e J ap an ese Penetration of Korea,
18 9 5 -1 9 1 0 (Berkeley, Cal. 1995).'
50 Ebd., 437 f.
51 Ebd., 432.
130
W o lfg a n g S c h w e n tk e r
zwei Richtungen seit etwa 1925 einen deutlichen Schub erhielt. Da war zum einen
der japanische Marxismus, der in der Politik und in den Universitäten des Landes
angesichts der sozialen Probleme eines sich rapide entwickelnden Industriestaates
einen ungeahnten A ufschwung erlebte52. Für Kawakami Hajime, einen seiner
wichtigsten Wortführer, stand der Staat in den Diensten des Kapitals, das in Form
der zaibatsu (Familienholdings) über eine bedeutende wirtschaftliche Macht ver­
fügte. Diese w urde von der Bürokratie auf dem Wege einer langfristig angelegten
Industriepolitik noch zusätzlich verstärkt.
Einen moderateren Kurs schlugen die Verfechter der sogenannten Taishö-Demokratie ein53. Sie setzten sich während der Regierungszeit des T aisho-tennö
(1912-1926) für demokratische Reformen und die W eiterentwicklung der Verfas­
sung in einem parlamentarischen Sinne ein. Zu ihnen zählte auch M inobe Tatsukichi, dessen tewwo-Organ-Theorie auch außerhalb der staatstheoretischen O berse­
minare an der Kaiserlichen Universität von T o k yo für Aufsehen sorgte54. Minobe
gestand dem t e n n o keine dem Staat gegenüber herausgehobene Stellung zu, son­
dern betrachtete ihn lediglich als höchstes O rg a n im Staat, das sich in seinen W ir­
kungsmöglichkeiten an den R ahm en der Verfassung von 1889 zu halten habe.
Nach dem Ende der Taisho-Zeit 1926, die wegen ihrer Liberalität auch mit seinem
Nam en verbunden war, geriet er immer stärker in die öffentliche Kritik konserva­
tiver Kreise aus M ilitär und Bürokratie. Im Jahre 1935 wurden Minobes Theorie
über Staat und t e n n o öffentlich verworfen und seine Bücher verboten. Er selbst
mußte seinen Sitz im Oberhaus aufgeben, w urde aller Posten an der Universität
enthoben und 1935 bei einem Attentat eines nationalen Eiferers schwer verletzt.
Der japanische Staat ging zw ei Jahre später zur nationalistischen U m deutung
der Verfassung über und griff in der berühmten Schrift über das „Nationalwesen“
(„K ok utai n o h o n g i “) auf die seit der Meiji-Zeit neu belebten M yth en der japani­
schen Staatsauffassung zurück55. Zuvor schon hatte der kokutai-~S>egnii Eingang
in mehrere Gesetzeswerke gefunden. In einer Entscheidung des Obersten Reichs­
gerichts vom 31. Mai 1929 w urde k ok utai als die Staatsform definiert, „in der der
aus einer seit jeher ununterbrochenen Abstammungslinie stammende t e n n o gnä­
digst selbst die Oberaufsicht über die Staatsgewalt ausübt“56. Der japanische Staat
hatte sich also zu diesem Zeitpunkt vom europäischen Staatsgedanken freige­
macht und eine spezifisch japanische Staatsauffassung verkündet, die geeignet
war, die N ation bei den bevorstehenden kriegerischen Auseinandersetzungen auf
dem asiatischen Kontinent und mit den U SA hinter dem t e n n o zu vereinen.
52 G e rm a in e A. Hoston, M a rx is m and the C r isis of D e v e lo p m en t in P r e w a r Japan (Prin ceton,
N .J. 1986).
53 I m a i Seiichi, Taisho Dem okurashT (Taisho D em o k r a tie ) ( C h ü k o b u n k o N ih o n no rekishi
23, T o k y o 201991).
54 Frank O. Miller, M in o b e T atsukich i. In terpreter of C o n s t it u t io n a lis m in J a p a n (Berkeley,
C al. 1965).
55 M o m b u s h ö (K u ltu r m in ist e r iu m ) (H rs g .), K o ku ta i no h on gi (D ie G r u n d p rin z ip ie n des
N a tio n a h v esen s) ( T o k y o 1937).
56 Zitiert nach Antoni, L e g itim a tio n 52.
Staatliche O r d n u n g e n un d Staatstheorien im neuzeitlich en J a p an
131
Eine neue Bilanz läßt sich dann erst wieder für die Zeit nach Kriegsende aufmachen, als die amerikanische Besatzungsmacht darauf drängte, die Rolle des t en n ö
neu, d.h. säkular zu definieren und alle familienstaatlichen Restbestände aus der
Verfassung und den ihr beigegebenen Gesetzen zu tilgen. Nachdem ein Dekret
des Supreme Com m ander of the Allied Powers am 15. Dezember 1945 den soge­
nannten Staatsshintö verboten hatte - u.a. „to separate religion from the state“ - ,
legte der Shöwa-iewwo in einer öffentlichen Erklärung zum Neujahrstag 1946
seine „Göttlichkeit“ ab57. Die neue Verfassung von 1947 trug seiner neuen Rolle
als oberster Repräsentant des Staates, der aber nicht mehr in die Politik eingreifen
dürfe, Rechnung58. In der Theorie w ar die amerikanische Besatzungspolitik hin­
sichtlich einer Modernisierung des japanischen Staates recht erfolgreich. Im Japan
der Nachkriegsjahre, beim Wiederaufbau des Landes und in der Auseinanderset­
zung mit der linken Opposition, kamen jedoch bald die alten Eliten an die Schalt­
hebel der M acht zurück. Vor allem dem bürokratischen Absolutismus, der den ja ­
panischen Staat bis heute prägt und ihm in allen Bereichen des alltäglichen Lebens,
vor allem in der Wirtschaft, eine immer noch starke Position verschafft, haben die
Reformen der Nachkriegsjahre w enig anhaben können. Noch heute, am Ende des
20. Jahrhunderts, wo der Glanz der „Japan Inc.“ verblaßt und das Land in den Sog
der asiatischen Krisen geraten ist, stellt das undurchsichtige Netz von staatlichen
Institutionen und wirtschaftlichen Interessengruppen ein strukturelles Dilemma
der Vergangenheit und eine politische Aufgabe für die Zukunft dar.
37 Lu (H rsg.), J a p a n 466 f.
58 A u s z ü g e der Verfassung bei Lu (H rsg.), J a p an 47 2 -4 7 5 . D ie Verfassung legt in Art. I
au s d rü ck lic h fest, daß n u n m e h r der „W ille des V o lk es“ allein die L eg itim ation sb asis für die
S tellun g des te n n ö in Ja p a n sein werde.
Jü rgen O sterhamm el
China vor 1949:
Widerständigkeit und selektive Übernahmen
I.
Die Verhältnisse in China sind schwieriger zu überschauen als die in nicht-kolonisierten Ländern wie Japan, Siam, der T ürkei oder auch Mexiko (vor und nach
dem Revolutionsjahrzehnt 1910-20), in denen sich nationale „Projekte“ des m o­
dernisierenden Staatsaufbaus durchsetzten. Wegen dieser Unübersichtlichkeit
mag es ratsam sein, den Gedankengang dieses Aufsatzes vorweg zusammenfas­
send zu skizzieren.
China hat der Ausbreitung des europäischen Staates größeren Widerstand ent­
gegengesetzt als andere Zivilisationen und politische Räume der Alten Welt. Das
chinesische Kernland wurde niemals europäischer Kolonialherrschaft un terw o r­
fen. N u r in städtischen Küstenenklaven wie H ongkong und dem Zentrum von
Shanghai, die unter ausländische Herrrschaft fielen, bestanden Voraussetzungen
für eine koloniale Ü bertragung westlicher Staatsformen. Hier w urde jedoch keine
koloniale Bürokratie „indischen“ Typs geschaffen, sondern unter autokratischen
oder oligarchischen Regierungsformen nur der Rahmen für eine rechtsstaatlich
geschützte Öffentlichkeit abgesteckt. Daher konnten von der Mitte des 19. Ja h r­
hunderts bis zur Wiederherstellung der chinesischen Souveränität über H o n g­
kong im Jahre 1997 Kritiker des jeweiligen autoritären Regimes in China die
Kronkolonie und (bis 1941) auch die Internationale Niederlassung zu Shanghai
als Basen für den privaten Import von reformistischen oder gar revolutionären
Programmen und Gesinnungen nutzen. Der p o litisch e Transfereffekt der kolonia­
len Randpräsenz der Europäer in China hat die politische Kultur Chinas daher in
einem traditionskritischen, verändernden Sinne beeinflußt. Ohne die Existenz
von Schutzzonen politischer Dissidenz außerhalb der Reichweite des chinesi­
schen Staates wäre die politische Modernisierung Chinas vermutlich (noch) lang­
samer vorangekommen, als dies der Fall war.
Im nichtkolonisierten chinesischen Kernland behauptete sich eine Staatstradi­
tion, die die langlebigste und erfolgreichste der Welt war. Bis zum heutigen Tage
verteidigt die Regierung in Peking im wesentlichen jene Außengrenzen, die das
221 v. Chr. geschaffene dynastische Großreich auf dem H öhepunkt seiner M ach t­
134
J ü r g e n O sterh a m m el
entfaltung erreicht hatte. Das politische System dieses Reiches, das heißt die zen­
tralisierte, bürokratische Universalm onarchie (jim xian ), in der das etwa für Japan
charakteristische Feudalprinzip (fen gjia n ) keine Rolle spielte, erhielt unter der
Song-D ynastie (960-1279) seine endgültige Form. Es bestand bis 1911, als an seine
Stelle eine politisch nur schwach integrierte R epublik trat. Durch inneren Verfall
und die Aggression der Großmächte seit dem O pium krieg von 1839—42 geriet das
kaiserliche System im 19. Jahrhundert in eine schwere Krise, blieb aber stark und
selbstbezogen genug, um westlichen Staatsmodellen, die ihm energisch nahege­
bracht wurden, so wenig wie möglich entgegenzukommen. Eine umfassende
Selbstmodernisierung durch eine vorausschauende Machtelite, wie sie gleichzeitig
in Japan erfolgte, blieb im China des 19. Jahrhunderts aus. Von einer Ausbreitung
des europäischen Staates nach China kann vor der Jahrhundertwende nicht ge­
sprochen werden. Damit steht China in einem extremen Kontrast zu den drei an­
deren politischen Großräumen Asiens: Indien, dem (mit Ausnahme Siams) vo ll­
ständig kolonisierten Südostasien und Japan.
Erst die Niederlage im Krieg gegen den aufstrebenden japanischen Machtstaat
(1895) und die militärische Intervention der vereinigten Großmächte gegen den
fremdenfeindlichen Boxeraufstand (1900) schufen die äußeren Voraussetzungen
für den Kollaps der mandschurischen Q ing-D ynastie und damit des bürokra­
tisch-zentralistischen Einheitsstaates überhaupt. Es ist von größter Bedeutung,
daß die D ynastie zwischen 1901 und 1910 ein Reform programm entwarf und teil­
weise sogar verwirklichte, das alle früheren Ansätze einer Modernisierung des an­
tiquierten politischen Systems w eit in den Schatten stellte. Diese Neue Politik
(.x in z h en g ) der allerspätesten Q ing-Zeit konnte zw ar die Dynastie nicht retten; sie
provozierte durch ihre Radikalität sogar Gegenkräfte, die unter der Parole der
Selbstregierung ( zizhi) provinzialer H onoratiorengruppen maßgebend zum Sturz
des Kaisertums beitrugen. Indessen setzte sie - und darin liegt ihre außerordentli­
che Wichtigkeit - Ziele auf die historische Tagesordnung, die von allen späteren
Reformern bis hin zu Deng Xiaoping und zur Führung der Kommunistischen
Partei Chinas (K PCh), die auf ihn folgte, verbindlich blieben.
Die tatsächliche Übernahme europäischen Organisationswissens im Zuge der
Neuen Politik beschränkte sich auf den Aufbau moderner Armee-Einheiten. Sie
erfolgte unter M itw irkun g japanischer Instrukteure, die w iederum manche der
zuvor im eigenen Lande erfolgreich angewandten Prinzipien preußischer H eeres­
organisation auf dem Kontinent einführten. Die zweite folgenreiche Reform war
die Abschaffung des tausend Jahre alten Systems der staatlichen Beamtenprüfun­
gen im Jahre 1905. Damit entfielen sowohl ein stabiler Karrierenexus zwischen
der ländlichen bzw. städtischen Oberschicht und dem Zentralstaat als auch die
Grundprinzipien der entwickelten Patrim onialbürokratie chinesischen Typs: die
formale Rationalität ihrer Rekrutierung und die aufs äußerste gesteigerte ku ltu­
relle H omogenität ihres Personals. In den Jahren etwa zwischen 1905 und 1912
desintegrierte das kunstvollste und komplexeste Staatsgebilde der vormodernen
Weltgeschichte in der Vertikalen wie in der Horizontalen. Vertikal zerbrach die
durch bürokratische Bereicherungs- und Statuschancen vermittelte A llianz zwi-
C h in a vor 1949
135
sehen der gesellschaftlichen Elite und dem zentralen Staat. Horizontal gab es nun
keinen reichs- oder landesweiten administrativen Apparat mehr. Das M ilitär
taugte nicht als einheitsstiftender Faktor, da es auf provinzialer Grundlage organi­
siert war.
An die Stelle des plötzlich verschwundenen kaiserlichen Staates trat kein von
außen importiertes neues Staatsmodell. Eine neo-im periale diktatorische Re-Integration in den Jahren 1912 bis 1916 durch den Präsidenten Yuan Shikai, die ge­
wisse Anleihen bei westlichen Bürokratiekonzepten machte, blieb ohne regionale
Verwurzelung und Loyalitätsgrundlage und schlug bald fehl. Weder in der späten
Kaiserzeit noch in der frühen Republik gelang ein konvergenter Institutionenauf­
bau, wie er sich in Meiji-Japan oder nahezu gleichzeitig in der Türkischen R ep u­
blik als dem wichtigsten Nachfolgerstaat des Osmanischen Reiches beobachten
läßt. Die konstitutionell geschaffenen Staatsorgane der Chinesischen Republik
taugen nicht als Beweise für den Import des europäischen Staates. Sie blieben bis
zum Ende der republikanischen A ra 1949 wenig mehr als eine Fassade für die R ea­
litäten militärischer Willkürherrschaft: zwischen 1916 und 1928 in einem K onkur­
renzsystem von Quasi-Staaten unter „Warlord“-Kontrolle, zwischen 1928 und
1937 in einem hegemonialen System, das zunehmend von dem nationalistischen
„Generalissimus“ Chiang Kai-shek dominiert wurde, zwischen 1937 und 1949
unter Bedingungen von Krieg und Bürgerkrieg. Es hat in China vor 1949, so kann
man summarisch sagen, keinen systemprägenden Einfluß europäischer Staatsfor­
men gegeben. Auch die Versuche der von Chiang Kai-shek geführten M on o po l­
partei Guomindang, zwischen 1928 und 1937 Teile der zentralen Staatsverwaltung
ausdrücklich nach westlichen Vorbildern zu modernisieren, können nicht als A us­
nahme von dieser Regel gelten. Sie blieben begrenzt und ohne Ausstrahlung auf
eine keineswegs anstaltsstaatlich durchrationalisierte Umgebung. Nach 1937 w u r ­
den alle diese Partialbürokratisierungen von einer selbstzerstörerischen Korrup­
tion erfaßt. A m Vorabend der kommunistischen Machtübernahme konnte von ge­
ordneter Staatlichkeit im Kontrollbereich der Guomindang keine Rede mehr sein.
W ährend die Übertragung europäischer S ta a ts m o d elle nach China ohne einen
nennenswerten Einfluß auf den Verlauf der Geschichte des Landes blieb, waren der
Transfer eines posttraditionalen P o litik verstä n d n isses sowie eines außer- oefer gar
antistaatlichen O rga n isa tio n sw issen s von großer Bedeutung. Das wichtigste poli­
tische FIxportprodukt von Europa nach China w ar die leninistische Kaderpartei.
II.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fehlte den Chinesen jeder Anlaß, sich mit dem
europäischen Staat auseinanderzusetzen. Anders als den Osmanen und den In­
dern begegnete er ihnen nicht als militärischer Gegner. Bis 1839, als im Spätsom­
mer der O pium krieg begann, w urde kein Krieg zwischen China und einer euro­
päischen Macht geführt. Die einzigen konfliktträchtigen Beziehungen, die zum
136
J ü r g e n O s t erh a m m el
Zarenreich in Nordasien, konnten durch staatskluges Verhalten beider Seiten dau­
erhaft friedlich gestaltet werden. Anders als zum Beispiel Osmanen und Siamesen
entsandten die Chinesen keine Diplomaten und Kundschafter in europäische
Hauptstädte (abgesehen von St. Petersburg). Die Jesuitenmissionare und die
zwölf Gesandtschaften europäischer Staaten, die im 17. und 18. Jahrhundert im
Reich der Mitte erschienen, vermittelten nur ungefähre Vorstellungen von den
politischen Verhältnissen im Westen der Alten Welt. Was man erfuhr, erschien als
nicht besonders attraktiv; es illustrierte die seltsamen Gewohnheiten der Barba­
ren. Vor allem fiel auf, daß Europa - im Gegensatz zum chinesischen Reich - ein
zerrissener Kontinent war, in dem es keinem Friedensstifter gelungen war, eine
solche pazifizierende A utorität zu erlangen, wie sie der chinesische Kaiser besaß.
Zwischen den Europäern herrschte ein primitiver D auerkampf - wie unter den
Barbaren jenseits der Peripherie des Reiches. Auch hörte man aus Europa M e r k ­
würdigkeiten wie die, daß Könige sich mit den Großen ihres Reiches arrangieren
mußten, daß die Priester eine Art von eigener staatsähnlicher Korporation bilde­
ten und daß es sogar - in den N iederlanden - ein Gemeinwesen ganz ohne M o n ­
archen gab. Europa hielt für China keine politischen Lehren bereit.
Die chinesische Gleichgültigkeit gegenüber staatlichen Formen jenseits von
T ian x ia („Alles, was unter dem H im m el ist“) erklärt sich nicht allein aus Ethno­
zentrismus und Überlegenheitsphantasien. Selbst wenn man vor etwa 1780 offe­
nen Sinnes von Europa hätte lernen wollen, hätte man dort wenige H inw eise dar­
auf gefunden, daß Europäer Grundfragen von Staatsorganisation und R egierungs­
kunst besser gelöst hätten als das chinesische Reich. Schon die ersten Berichte der
Jesuiten, kurz nach 1600 erschienen, hatten die Vortrefflichkeit der chinesischen
Staatseinrichtungen gelobt. Als 1735 die monumentale Chinaenzyklopädie von
Pater Jean-Baptiste Du Halde erschien, die China als die Sphäre eines aufgeklärten
Despotismus darstellte1, w ar gerade der Yongzheng-Kaiser gestorben, eines der
größten Verwaltungsgenies der Epoche. Die chinesische Staatsbürokratie hatte als
Folge seiner Reformen ein M axim um an Leistungsfähigkeit erreicht2. Auch wenn
man - vor allem bei späteren Autoren wie Voltaire oder François Quesnay, die
sich auf die Jesuitenberichte stützten - manche extreme Idealisierung in Rechnung
stellen muß, so war das Chinalob der A ufklärung keineswegs jene weltfremde
Übertreibung, als das es bis heute unter dem Eindruck negativer Urteile des
19. Jahrhunderts vielfach gilt3. Die Forschung der letzten zwanzig Jahre hat das
Bild eines komplex organisierten und leistungsfähigen Staatsapparates bestätigt,
1 Jea n -B a p tiste Du Halde, D escriptio n gé o gra p h iq u e, h is to riq ue, ch r o n o lo g iq u e, p o litiq u e
et p h y s iq u e de l’E m p ire de la C h in e et de la T a r ta n e C h in o ise , 4 Bde. (Paris 1735).
2 Vgl. Pei H uang, A u t o c r a c y at W o rk . A S t u d y of the Y u n g -c h e n g P erio d, 1723-1735 (Blo om in gto n , L o n do n 1974); Silas H. L. Wh, C o m m u n ic a t io n and Im peria l C o n t r o l in C h in a .
E v olutio n of the Palace M e m o r ia l S ystem , 1693-1735 (C a m b rid g e , Mass. 1970); B eatrice S.
Bartlett, M o n a rc h « and M in isters. T h e G reat C o u n c il in M i d - C h ’ ing C h in a , 1723-1820 ( B e r ­
k e le y 1991).
3 V gl. z u m C h in a b ild des 18. Ja h r h u n d e r ts : J ü r g e n O s te rh a m m e l, D ie E n t z a u b e r u n g Asiens.
E u ro p a und die asiatischen R eiche im 18. Ja h rh u n d e r t ( M ü n c h e n 1998) besonders Kap. 10.
C h in a vor 1949
137
der im 18, Jahrhundert durchaus nicht dem Montesquieuschen Idealtyp einer alles
beherrschenden, Strukturen zerstörenden und die politische M oral zersetzenden
„orientalischen Despotie“ entsprach4. Einerlei, auf welchen soziologischen B e­
griff man ihn bringen will: Der vormoderne chinesische Staat konnte bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts nach den verschiedensten StaatsZielbestimmungen - Si­
cherung innerer Stabilität und äußeren Friedens, ein M inim um an praktizierter
Wohlfahrtsorientierung, symbolische Integration des „body politic“ - neben den
Staatsapparaten des zeitgenössischen Europa durchaus bestehen. H inzu kam der
Test der Zeit. Das chinesische Einheitsreich w ar 221 v. Chr. gegründet worden.
Von 1276 bis zur Gegenwart hat es, von der Klammer einer zentralisierten Ver­
w altung zusammengehalten, mit nur kurzzeitigen Unterbrechungen in Perioden
des Übergangs als unitarischer Großstaat bestanden. Neben der Katholischen
Kirche ist der chinesische Staat die langlebigste politische M akro-Organisation
der Weltgeschichte.
Der chinesische Staat ist niemals in dem Sinne „zusammengebrochen“, wie man
dies vom M oghul-Reich oder vom „gunpower em pire“ der persischen SafawidenD ynastie sagen kann. Ähnlich dem japanischen hat er sich in verschiedenen kri­
senhaften Übergängen transformierend erneuert. Er hat auch niemals den Ü ber­
gang vom polyethnischen Großreich zum territorial kompakten Nationalstaat
vollzogen, w ie er in der Entwicklung vom Osmanischen Reich zur Türkischen
R epublik erfolgt ist. Die heutige Volksrepublik China ist nur unwesentlich kleiner
als der Raum, den der Kaiser auf dem H öhepunkt der Q ing-D ynastie, etwa um
1760, als sein e ff e k ti v e s Herrschaftsgebiet beanspruchen konnte. Nach wie vor
leben innerhalb der Reichs- bzw. Staatsgrenzen fremdethnische, d.h. nicht-hanchinesische V ölker - heute „nationale M inderheiten“ genannt - in geschlossenen
Wohngebieten. Sie machen knapp 6 Prozent der Bevölkerung aus und sind z u ­
gleich - anders als etwa die muslimischen Kurden in der Türkei - auch r e lig iö se
Minderheiten. Es gibt direkte Linien zwischen der Barbarenpolitik der Qing und
der Minderheitenpolitik der Volksrepublik China. Das neuzeitliche China hat
zwei große politische Regim ewechsel erlebt - 1911 den Sturz der Monarchie und
1949 die Ablösung der R epublik durch die kommunistische Volksrepublik - , aber
mit der A usnahme der staatlichen Selbständigkeit der Äußeren Mongolei keine
langfristigen und gravierenden Beschränkungen seiner äußeren geographischen
Form erlitten. Bereits um die Zeitenwende, unter der H an-D ynastie, waren die
heute dicht besiedelten Kernlande in einem riesigen Gebiet von einer Erstreckung
über etwa 22 Breitengrade staatlich vereint5.
Diese einzigartige Kontinuität der äußeren Form verband sich in kaum entw irr­
barer Ursächlichkeit mit zwei weiteren Faktoren: einer ungeheuren kulturellen
4 Vgl. z u sam m e n fasse nd Susan Naquin, E velyn S. Rawski, C h in es e S oc ie ty in the Eighteenth
C e n t u r y ( N e w H a v e n , L o n d o n 1987) 3-2 7 .
5 Z u r A u s d e h n u n g des ch in esischen R eiches in u n tersch iedlichen Epochen vgl. die v o r z ü g li­
chen h is to ris ch en Karten in: Patricia B u ck ley E brey , C h in a . Eine illu strie rte G eschic hte
(F r a n k fu r t a.M ., N e w Y ork 1996) 65 (H a n ), 110 (Tang), 196 ( M in g ), 223 (Q in g), 295 ( V R C h ) .
13 8
J ü r g e n O s te r h a m m e l
Kohäsion des H an-Chinesentum s6 und einer Kontinuität des Primats des Staat­
lichen vor allen anderen Lebensbereichen, selbst der Religion7. Eine solche
Kombination hat China gegen äußere Einflüsse außerordentlich resistent ge­
macht. Jedoch greifen Auffassungen zu kurz, die im China Mao Zedongs oder
selbst dem der gelockerten Parteidiktatur der 1980er und 1990er Jahre nichts als
eine neo-im penale Wiederauflage des sogenannten „alten“ China und in der chi­
nesischen Geschichte nichts als die Tyrannei der Tradition sehen wollen8. Es hat in
C hina ohne Zweifel seit dem späten 19. Jahrhundert eine M odernisierung von
Lebensstilen und daneben und darüber hinaus eine in ihrer W irkung revolutio­
näre Veränderung der gesellschaftlichen O rdnung gegeben. U m die Mitte der
1950er Jahre w ar die „sozialistische U m gestaltung“ der chinesischen Gesellschaft
fürs erste abgeschlossen. Was geschah in dieser Periode des Übergangs mit dem
chinesischen Staat? U nd in welcher Weise kann das, was mit ihm geschah, auf die
„Ausbreitung des europäischen Staates“ zurückgeführt w erden9?
Der am deutlichsten sichtbare Systemtransfer ist im allgemeinen der durch k o­
lo n ia le Herrschaft bewirkte. N un ist China nur entlang seiner Peripherien k oloni­
siert worden. H ongkong w urde 1841 an Großbritannien abgetreten und bis 1997
als Kolonie der britischen Krone regiert. In H ongkong w urde kein Kolonial­
regime bestehenden politischen Formen übergestülpt. Vielmehr war Llongkong bis 1898, als bäuerliche Gebiete angegliedert wurden - eine mobile, von Handel
und Schiffahrt lebende Immigrantengesellschaft. Sie w urde von den britischen
6 Vgl. L o w e ll Dittmer, S a m u e l S. K im (H rs g .), C h i n a s Q u e st for N a tio n a l I d e n tity (Ithaca,
L o n d o n 1993) bes. Kap. 1, 2, 4 u n d 5; z u r k u ltu r e lle n Id entität der C h in e s e n ü b e r die c h in e ­
sischen S taatsgrenzen hinaus: Tu W ei-m ing, C u lt u r a l C h in a : T h e P e r ip h e r y as the Center, in:
ders. (H rsg.), T h e L iv in g Tree. T h e C h a n g i n g M e a n in g o f Bein g C h in es e T o d a y (Stanford
1994) 1-34.
7 Vgl. B en jam in I. Schwartz, T h e P r im a c y of the Po litical O rd e r in East A sian Societies.
S om e P r e lim in a ry G en era liza tio n , in: Stuart R. Sch ram (H rsg.), F o u n d a tio n s and L im its of
State P o w e r in C h in a (L o n d o n , H o n g k o n g 1987) 1—10. A ls gute Ü b ers ic h t üb er p olitische
H e rrsc h a ft im C h in a der D yn a stie n vgl. J ack L. D ull , T h e Evolutio n o f G o v e r n m e n t in
C h in a , in: P au l S. R opp (H rsg.), H e r it a g e of C h in a . C o n t e m p o r a r y Perspectives on C h in es e
C iv iliz a t io n (B erkeley, Los A n ge le s, O x fo rd 1990) 5 5 - 8 5 ; ü b e r das 18. u n d 19. J a h r h u n d e r t:
J ü r g e n O s te rh a m m e l, C h in a un d die W eltg esellschaft. Vom 18. J a h r h u n d e r t bis in unsere Zeit
( M ü n c h e n 1989) 6 9 -8 5 ; S. E. Finer, T h e H is t o r y of G ov ern m e n t from the E arlie st Times,
Bd. 3 ( O x fo rd 1997) 1129-61; R ich ard J. S m ith , C h i n a ’s C u lt u r a l H e ritage. T h e Q in g D y ­
nasty, 1644-19 12 (B o u ld e r 21994) 4 1 - 6 7 . D ie beste fo rm ale B e schreib un g d e r chin esischen
Staatsorganis atio n vor 1911 findet sich bei C harles O. Hücker, A D ic t io n a r y of Offic ial Titles
in Im perial C h in a (Stanfo rd 1985) 3-9 6 .
8 Etwa Fu Z h e n g y u a n , A u to c ra tic T radition and C h in e s e Politics ( C a m b r id g e 1993); W. J. F.
J en n er , C h in a s la n ger W eg in die Krise. D ie T y ra n n ei der G eschic hte (Stu ttgart 1993); w e n i­
ger eind im ensio n al: Z h e n g Chuxuan, A C o m p a r is o n b etw ee n W estern and C h in e s e Political
Ideas. T h e D ifference and C o m p le m e n t a r i t y of the L ib e r a l-D e m o c r a tic a n d M o r a l-D e s p o tic
Traditions ( L ew is to n , N.Y. 1995).
9 M e th o d isc h b e m e rk e n s w e r t ist der Versuch d er V erb in d u n g von Staat, G esellschaft un d
in tern ation alem U m fe ld bei der E r k lä ru n g der chin esischen R ev o lu tio n in Theda Skocpol ,
States and Social R ev olu tio ns. A C o m p a r a t iv e A n a ly s is of France, R ussia , and C h in a ( C a m ­
b rid ge 1979).
C h in a vo r 1949
13 9
Gouverneuren und ihren winzigen Stäben mit sanfter Autokratie regiert. N ahezu
von Anfang an bediente man sich zur Kontrolle der chinesischen „coohe classes“
und zur Organisierung elementarer Wohlfahrtsaufgaben der Hilfe einheimischer
Honoratioren. Diese Zusammenarbeit - ein klassischer Fall von „empire on the
cheap“ - blieb überwiegend informell und w urde erst spät und dann in geringem
Umfang durch die Aufnahme einzelner Chinesen in koloniale Beratungsorgane
formalisiert. Die Regierung H ongkongs blieb ein weniger als scheindemokrati­
sches “C ro w n C o lo n y government“ und w urde erst in letzter Stunde nennens­
wert partizipatorisch ausgeweitet; 1997 wurden diese Errungenschaften wieder
zurückgenommen. Die große politische Bedeutung Hongkongs in der Geschichte
Chinas liegt nicht in administrativer M odernisierung oder Demokratie, sondern
in der Einführung von „rule of la w “, von Rechtsstaat: also Garantie von G run d­
rechten, Unabhängigkeit der Justiz, Gleichheit aller vor dem Gesetz, prozeduraler
Regelhaftigkeit, Appellationsrecht und unabhängiger Advokatur. Durch die A b ­
schirmung elementarer Freiheitsräume von staatlichem Zugriff konnte H ongkong
zur Schule chinesischer Politik und z ur Basis für reformerische und revolutionäre
Bestrebungen werden, die jenseits der Kolonialgrenze nicht geduldet w u rd e n 10.
Ähnliches gilt für die „Konzessionen“ und „Niederlassungen“ in einigen chine­
sischen Städten, den sogenannten „Treaty Ports“, in denen der chinesische Staat
faktisch keine Hoheitsrechte ausüben konnte. Solche Enklaven oder M in iatur­
kolonien gab es in nennenswerter Größe nur in Kanton (Guangzhou), H ankou,
Tianjin und vor allem in Shanghai. U nter diesen Laissez-faire-Systemen war Staat­
lichkeit noch schwächer ausgeprägt als in Hongkong. Die höchste A utorität w ar
in der Regel ein Konsul mit seinem Büro. In der mit Abstand wichtigsten Enklave,
der Internationalen Niederlassung in Shanghai, regierte ein souveräner Stadtrat als
Ausschuß des internationalen Großkapitals. Der politische Transfer- unef Schu­
lungseffekt für Chinesen war hier gleich Null. A ber der Daseinsgrund dieser ei­
gentümlichen Gebilde war die Schaffung exterritorialer Räume, in denen chinesi­
sches Recht nicht galt und die chinesische Polizei nicht tätig werden konnte. Diese
Privilegien erstreckten sich n o len s v o l e n s auch auf die chinesische Bevölkerungs­
mehrheit. Die Niederlassungen und Konzessionen wurden so zu Schutzzonen
politischer Dissidenz und zu Entstehungspunkten von kritischer Öffentlichkeit.
Ihr Sonderstatus endete mit der O kkupation der verbliebenen Enklaven durch die
japanische A rmee in eien Tagen nach Pearl H arb o r11.
10 Frank Welsh, A H is t o r y of H o n g K o ng (L o n d o n 1994); S t e v e Yui-sang Tsang, A M o d e r n
H is t o r y of H o n g k o n g , 1841-19 97 (L o n d o n 1997); Tsai Y un g-fan g, H o n g K o ng in C h in ese
H isto ry . C o m m u n i t y and Social U n r e s t in the B ritish C o lo n y , 1842-1913 ( N e w Y o rk 1993);
Chan Wai K uan, T h e M a k i n g of H o n g K o n g Society. T h r ee Studie s of Class F o r m a tio n in
E a rly H o n g K o ng ( O x fo rd 1991); Chan Lau K it-ch in g , C h in a , Britain and H o n g Kong,
1895-1945 ( H o n g k o n g 1990).
11 A u s einer im m en se n Literatur, besonders üb er Shan gh ai: F. C. J o n es , S hanghai and T ie n ­
tsin, w it h Special R eference to British Interests (L o n d o n 1940); N icholas A. C lifford, Spoilt
C h ild r e n of E m pire. W esterners in Shan gh ai and the C h in e s e R ev o lu tio n of the 1920s ( H a ­
nover, L o n d o n 1991); J ü r g e n O s te rh a m m e l, S han gh ai, 30. M a i 1925. D ie chin esische R e v o lu ­
tion ( M ü n c h e n 1997) 7-2 2 , 60 -1 0 1 , kü nftig zitiert: O s te r h a m m e l, Shanghai. Z u r Entstehung
140
Jü r g e n O s terh a m m el
Die mit Abstand wichtigste Kolonialmacht in China war Japan. Es kontrollierte
von 1895 bis 1945 dte reiche Insel Taiwan und zwischen 1905 und 1945 die M an ­
dschurei zuerst teilweise und später vollständig. H ier - ebenso wie in Korea nach
1910 - etablierten die Japaner ein intensives Kolonialregime mit einem vergleichs­
weise hohen Anteil direkter Herrschaft. Seine M erkmale waren starke Präsenz aus
der M etropole entsandter Verwaltungs- und Polizeikräfte, geringe Delegation von
Befugnissen an einheimische Helfer, massive japanische Eingriffe in die einheimi­
sche Kultur, usw. Interessant wäre die Frage, ob und in welcher Weise sich in den
japanischen Kolonialverwaltungen „westliche“ Elemente japanischer Staatlichkeit
niederschlugen: entweder durch Übertragung aus dem Mutterland oder durch
Imitation europäischer Kolonialsysteme. Die harsche japanische Kolonialpraxis
in China steht jedenfalls in einem deutlichen Gegensatz zur liberalen britischen12.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Kolonialgebiete an Chinas Periphe­
rie nicht zu Brückenköpfen der Diffusion des rationalen Anstaltsstaats europäi­
scher Prägung wurden. Koloniale M odernität13 kam vorwiegend in der Einfüh­
rung kapitalistischer Wirtschaftsformen zum Ausdruck, vor allem von Industrie
und Finanzinstitutionen, sowie in den Effekten einer partiellen kulturellen N i­
schenverwestlichung. Die p o litisch e Innovation, die sie mit sich brachten, war
praktizierter Liberalismus: „minimal government“ plus „rule of la w “. Diese Prin ­
zipien haben vor dem Beginn der Dem okratisierung in Taiwan 1986 auf die staat­
liche Organisation Chinas keinen nennenswerten Einfluß ausgeübt.
III.
Die Niederlage Chinas im O pium krieg gegen Großbritannien führte nicht zu ter­
ritorialer Kolonisierung indischen Typs, sondern zur - teilweise vertraglich ver­
einbarten - marginalen Ergänzung des hochkomplexen chinesischen Staatsappa­
rates durch organisatorische Elemente europäischen Typs. Diese Institutionen
waren von zweierlei Art. Es wurden Proto-Ministerien eingeführt, in denen sich
zentralstaatliche Zuständigkeiten in einer für westliche Ausländer verständlichen
Weise funktional bündeln ließen. So richtete die Q ing-D ynastie 1861 unter dem
einer politisch en Ö ffen tlic hk eit in den ko lo n ia len E nklaven vgl. u.a. R u d o lf G. Wagner, The
R ole of the F o reign C o m m u n it y in the C h in es e Public Sphere, in: C h in a Q u a r t e r l y 142 (Juni
1995) 4 2 3 - 4 3 ; J o a n J u d g e , Print and Politics. „S h ibao “ and the C u lt u r e of R efo rm in Late
Q in g C h in a (Stanford 1996). Z u r geistigen A tm o sp h ä r e in den T reaty Ports des 19. J a h r h u n ­
derts vgl. den guten Ü b e r b lic k bei J e r o m e B. G n e d er , Intellectuals and the State in M o d e rn
C h in a . A N a r ra tiv e H is t o r y ( N e w York, L o n d o n 1981) 84—110.
12 V gl. Louise Young, Im agin ed Em pire. T h e C u lt u r a l C o n s tru c tio n of M a n c h u r ia , in: Peter
Duns, R a m on H. M yers, Mark R. P ea ttie (H rsg.), T h e Ja p an ese W artim e E m p ire, 1931-1945
(Prin ceton 1996) 71 -96; M u rray R u bin stein (H rsg.), Taiwan: A H is t o r y ( A r m o n k , N.Y.
1997).
13 Vgl. Tani E. B a rlo w (H rsg.), F o rm a tio n s of C o lo n ia l M o d e r n it y in East A sia ( D u rh a m ,
L o n d o n 1997): ein B and, der für un ser T h e m a w e n ig hergibt.
C h in a vo r 1949
141
D ruck der Westmächte, die bis dahin diplomatische Verhandlungen mit einer
Kette von Provinzgouverneuren, Sonderkommissaren und Mitgliedern des kai­
serlichen Hofstaates fuhren mußten, ein informelles Außenamt, das Zongli Yamen, e in 14. Dies w ar die erste wichtige N euerung in der zentralen Regierungs­
organisation seit den 1720er Jahren. Das Zongli Yamen wurde allerdings erst 1901
zum Rang eines regulären Außenministeriums (Waijiaobu) erhoben. Weitere R e­
formen dieser Art ließen bis 1903 auf sich warten. Die A nverwandlung westlicher
M odelle zentraler Regierungsorganisation blieb vor der Jahrhundertwende äu­
ßerst begrenzt.
Wesentlich wichtiger war die Herausbildung sino-westlicher Mischinstitutionen, allen voran des Seezollamts (Imperial Maritim e Customs, IMC). N ach sei­
nem Vorbild w urde nach der Jahrhundertwende auch die für die Erhebung indi­
rekter Steuern hochbedeutende Salzbehörde reorganisiert15. Das Seezollamt ge­
wann seine Gestalt, nachdem 1863 Sir Robert Hart, der einflußreichste Ausländer
im China des 19. Jahrhunderts, an seine Spitze berufen worden war. H art schuf
eine Behörde, in welcher der bürokratischen Tradition Chinas eine „rationale“
Verwaltung nach dem Vorbild des Indian Civil Service eingepflanzt wurde. Das
Seezollamt, das 1906 1345 Ausländer (diese in den leitenden Rängen) und 10625
Chinesen beschäftigte15, w ar ein Organ des chinesischen Staates, sein Leiter der in
der kaiserlichen Rangordnung höchstplazierte N icht-Chinese. Das A m t veran­
lagte und erhob sämtliche Außen- und einen Teil der Binnenzölle; zu seinen A uf­
gaben gehörte außerdem der Ausbau von Häfen und Wasserstraßen sowie die
Sammlung von Nachrichten über die wirtschaftlichen Verhältnisse in allen Pro­
vinzen des Reiches. In Sir Robert H arts Sicht lag dieser neuartigen organisatori­
schen Symbiose eine natürliche Llarmonie der Interessen zwischen dem chinesi­
schen Zentralstaat und den imperialistischen Mächten zugrunde. Tatsächlich
funktionierte das System bis mindestens 1895 in dem Sinne, daß sich die Zollein­
nahmen Pekings vervielfachten und damit ein Regim e gestützt wurde, an dessen
Zusammenbruch keine der Großmächte, am wenigsten England und die USA,
interessiert war. Nach 1895 zerbrach die Balance, und die IM C verwandelten sich
in ein Instrument ausländischer Finanzkontrolle. Das Seezollamt war im 19. Ja h r ­
hundert das bemerkenswerteste Beispiel für den Transfer europäischen Verwal­
tungswissens nach C h in a17.
14 Vgl. Masataka B anno, C h in a and the W est, 1858-1861. T h e O rigin s of the T sun gli Yamen
( C a m b r id g e , Mass. 1964).
15 V gl. S. A. M. Adshead, T h e M o d e rn iz a t io n of the C h in e s e Salt A d m in istra tio n , 1900-1920
( C a m b r id g e , Mass. 1970).
16 H osea Ballou Morse, T h e Trade and A d m in is t ra t io n of the C h in ese E m p ire (Shanghai
1908) 363.
17 V gl. Stanley F. Wright, H a r t and the C h in e s e C u s t o m s (Belfast 1950); R ich ard ], Smith,
J o h n K. Fairbank, K a th e rin e F. Bruner, R o b e rt Eiart in C h i n a ’s H istory, in: dies. (H rsg.),
R ob ert H a r t and C h i n a s E a rly M o d ern iza tio n . H is Jo u rn a ls , 1863-1866 ( C a m b r id g e , Mass.
1991) 1—46. Z u r T ä tig k e it der B e hö rde nach 1874 vgl. J o h n K. Fairbank, M artha H en d e rs o n
C o o lid ge, R ich a rd J. Smith, H. B. M orse. C u st o m s C o m m is s io n e r and H is to ria n of C h in a
(L ex in g to n 1995).
142
Jürgen O stcrham m el
Alle anderen Absichten, Pläne und Visionen, den industrialisierten G roßm äch­
ten die Geheimnisse ihres Erfolges abzuschauen und diese für China zu nutzen,
blieben im 19. Jahrhundert auf dem Papier. Dazu gehörten die Vorstellungen, die
H ong R e n ’gan, der letzte überlebende Führer der 1864 unterdrückten großen Taiping-Bewegung, von einer M odernisierung des chinesischen Staates en twickelte18.
H ong wich dabei von der H aupttendenz der Bewegung ab, die auf einen archai­
schen, also das Vorbild des chinesischen Altertums beschwörenden A graregalita­
rismus hinauslief. Hongs weitblickende Entwürfe, das umfassendste R eform ­
programm für China vor 1898, gingen in der blutigen A pokalypse der Taiping
zugrunde. Sie fanden Unterstützung w eder bei den anderen Führern der B ew e­
gung noch bei den Westmächten, denen H o n g erstaunlich weit entgegenkam. Die
weitaus weniger radikalen Reformen, mit denen die knapp siegreiche Q in g-D yn astie nach 1860 auf das Zusammentreffen von innerer und äußerer Bedrohung
reagierte, sparten, abgesehen von der Förderung des Seezollamtes, die binnen­
staatliche Sphäre aus und beschränkten sich auf Militär, Wirtschaft, Technologie
und Erziehungswesen. Es gab auch nicht spurenweise jene Verbindung von
Staats- und N ationsbildung, die nach 1868 in Japan in die Tat umgesetzt wurde.
Bestenfalls kam es zu Versuchen zur Effektivierung der bestehenden Institutio­
nen, deren Form, Reichweite und Legitimationsgrundlage nicht angetastet w u r ­
d e n 19.
Noch H ong R en ’gan hatte nur die vagesten Vorstellungen von Europa und
Am erika. Die Öffnung der chinesischen Gelehrtenwelt zum Ausland begann zag­
haft mit einigen Autoren der 1840er Jahre20. Die erste inoffizielle Erkundungs­
mission nach Übersee, bei w eitem bescheidener angelegt als die japanischen M is­
sionen nach 1860, wurde 1866 entsandt, der erste ständige diplomatische Vertreter
1877 in London akkreditiert21. Weniger aus der Kenntnis des Westens, die über
H ongkong und Shanghai ins Reich der Mitte eindrang, als aus einer erneuerten
Tradition des Reformkonfuzianismus w aren die Vorschläge für ein vorsichtiges
A brücken von der Autokratie alten Stils geschöpft, für die 1898 die Gelehrten
Kang Youwei und Liang Qichao den jungen Kaiser zu gewinnen vermochten. Ein
18 D ie von H o n g R e n ’gan verfaßten o d er ang eregten D o k u m e n te füllen den g rö ßten Teil von
Franz M ichael, T h e Taipin g R eb ellio n. H is t o r y and D ocum en ts, Bd. 3 (Seattle, L o n do n
1971). Vgl. auch ebd., Bd. 1 (Seattle, L o n d o n 1966) 134-168.
19 V gl . J o n a t h a n Ocko, B u reau cratie R e f o r m in Pro vincia l C h in a . T ing J ih - c h ’a n g in R estoratio n K iangsu, 1 8 67-18 70 (C a m b r id g e , M ass. 1983), d aneben im m e r noch M a ry C. Wright,
T h e Last Stand of C h in es e C o n se rva tism . T h e T ’un g -c h ih R estoratio n, 1862-18 74 (Stanfo rd
1957).
20 Vgl. J a n e K a te L eonard, Wei Y uan and C h i n a ’s R e d is c o v e r y of the M a r it im e W o rld ( C a m ­
b rid ge , Mass. 1984); Fred W. D rake, C h in a C h a r t s the W orld; H s ü C h i - y ü and H is G e o g ra p h y o f 1848 (C a m b rid g e , Mass. 1975).
21 V g l./ . D. F rodsham (Ü b ers.), T h e First C h in e s e E m b a ss y to the West. T h e J o u r n a ls of
K u o S u n g - t ’ao, L iu H s i- ju n g and C h a n g T e - y i ( O x fo r d 1974); André Lévy, N o u v elle s lettres
éd ifiantes et cu rie uses d ’E x t rêm e -O ce id en t par des v o y a g e u r s lettrés chin ois à la Belle
E p o q u e 1866-1906 (Paris 1986); z u m Vergleic h: William G. Beasley, J a p a n E n co un ters the
B arb aria n . Ja p an ese Travellers in A m e r ic a and E urop e ( N e w H a ve n , L o n d o n 1995).
r
C h in a vo r 1949
14 3
Putsch konservativer Hofkreise setzte diesem Experiment der „Hundert Tage“
ein jähes Ende22.
Die großen Texte der europäischen politischen Philosophie wurden erst um die
Jahrhundertwende in chinesischen Übersetzungen, die meist kreative A nver­
wandlungen waren, bekannt: A dam Smiths „Wealth of N ations“ 1901/2, John
Stuart Mills „On L ib erty“ 1903, Montesquieus „De l’Esprit des lois“ 1904-1909.
Wie sie gelesen und verstanden wurden und wie sie gewirkt haben, ist kaum unter­
sucht w o rd en 23. So etwas wie einen o r g a n isier ten Liberalismus haben sie jeden­
falls nicht hervorgebracht.
IV.
Fast noch wichtiger als literarische Inspirationen w urden nach der Jah rh un d ert­
wende beobachtete Vorbilder. An H o n gkon g beeindruckte manche die Liberalität
der politischen Verhältnisse, an Japan, dem mit Abstand attraktivsten Modell, das
Tausende von Studenten und Exilanten aus erster Hand kennenlernten, der Erfolg
eines radikalen Umbaus der Institutionen. M eiji-Japan schien China den Weg zur
Erfüllung jener Ziele zu weisen, die a lle Richtungen des nun entstehenden chine­
sischen N ationalismus ebenso anstrebten, wie sie schon die M eiji-O ligarchen ge­
prägt hatten: das eigene Land aus einer Position der Schwäche im Weltsystem her­
aus reich und stark zu machen. Die Forschung hat die Reformen der Jahre 1901
bis 1910, mit denen die Q ing-D ynastie auf die Katastrophe des Boxerkrieges von
1900 antwortete, lange unterschätzt. Das Ancien Regim e der fremdstämmigen
Mandschus, so die nahezu einhelligen Ansichten der um eigene Legitimation be­
mühten chinesischen Revolutionäre und Nationalisten und zunächst auch der
meisten späteren Historiker, habe dem Fortschritt im Wege gestanden und sein
Ende redlich verdient. Inzwischen ist jedoch deutlich geworden, daß die soge­
nannte N eue Politik (X in z h en g) der Jahre nach der Jahrhundertwende bei weitem
wichtiger war als Kang Youweis Reform bewegung von 1898, auch wenn sie sich
nicht mit dem N am en einer großen intellektuellen Leitfigur verband24. Die Neue
22 Vgl. Hsiao K u n g -ch u a n , A M o d er n C h in a and a N e w W orld . K ’ang Y u -w ei, R e fo rm er and
U t o p ia n , 1 8 58-19 27 (Seattle, L o n d o n 1975) bes. Kap. 7. Eine E n th e ro isieru n g der R e f o r m b e ­
w e g u n g u n te rn a h m Luke S. K. K w o n g , A M o saic of the H u n d r e d D ays. Personalitie s,
Politics and Ideas of 1898 (C a m b r id g e , M ass. 1984).
23 V gl. aber z .B . als S tud ie üb er die R e z e p tio n w es tlich er R cchtsvo rstcllu ngen: Marina
Svcn sson , The C h in e s e C o n c ep tio n o f H u m a n Rig hts. T h e D eb ate on H u m a n R ig h ts in
C h in a , 1898-1945 (L u n d 1996).
24 V gl. C b u z o Ichiko, Political and Institutional R eform , in: J o h n K. Fairbank, D enis Twit­
ch e tt (H rs g .), T h e C a m b r id g e H is t o r y of C h in a , Bd. 11 ( C a m b r id g e 1980) 37 5 -4 1 5 ; D ouglas
R. R ey n o ld s, C h in a , 1898-1912. T h e X in z h e n g R e v o lu tio n and J a p an ( C a m b r id g e , Mass.
1993); Paula Harrell, S o w in g the Seeds of C h a n g e . C h in es e Students, Ja p an ese Teachers,
1895-1905 (Stanford 1992); über den w ic h tig sten R efo rm er: D a n iel H. Bays, C h in a Enters
the T w e ntie th C e n tu r y . C h a n g C h ih - t u n g and the Issues of a N e w A ge, 1895-1909 ( A n n A r ­
b o r 1978); zu r M il itä rrefo rm : Ralph L. P o w ell, T h e R is e of C h in es e M ilit a r y Power, 1894-
144
J ü r g e n O s terh a m m e!
P o litik war das Werk einer Gruppe hoher Beamter, die sich von den Ereignissen
zu einem ziemlich radikalen Bruch mit der Vergangenheit, auch ihrer eigenen, be­
w eg e 11 ließen. Die machthabende M onarchin, die Kaiserinwitwe Cixi, die noch
Ig98 einige Mitstreiter Kang Youweis hatte hinrichten lassen, duldete den Kurs­
wechsel. Europäische und amerikanische Berater spielten keine maßgebenden
Rollen.
Innerhalb weniger Jahre w urde vieles erreicht: die geradezu revolutionäre A b ­
schaffung des staatlichen Prüfungswesens, das seit mehr als tausend Jahren den
S t a a t s a p p a r a t mit der Lebensplanung der Oberschicht verschweißt hatte; der be­
g in n e n d e Aufbau eines staatlichen Erziehungswesens auf allen Ebenen; die Schaf­
fung einiger moderner Armeeverbände neben den nahezu nutzlosen traditionalen
jVIilitärorganisationen; der Aufbau einer m odernen Polizei; die U nterdrückung
des Opiumanbaus; Ansätze zu einer Vereinheitlichung des chaotischen W ä h ­
r u n g s s y s t e m s und zu einer Rationalisierung der staatlichen Einnahmen und A u s ­
g a b e n : Für 1911, das dann zum Jah r der Revolution werden sollte, w ar die Vorlage
J es ersten S t a a t s b u d g e t s in der Geschichte Chinas vorgesehen. E in besonders dra­
m a t i s c h e r Sprung aus der Tradition w ar 1906 die Weisung des Hofes, eine Verfas­
sung vorzubereiten, die das Prinzip der G ewaltenteilung kodifizieren sollte: eine
u n e r h ö r t e N euerung in einer politischen K u ltu r , in der die A usüb un g von kaiser­
licher; bürokratischer und subbürokratischer Macht selbstverständlich auf vielen
Schultern gelegen hatte, in der jedoch niemand je an die formelle Repräsentation
von Interessen gedacht hatte, noch weniger an allgemeine Staatsbürgerrechte oder
ein Staatsgrundgesetz. 1908 w urde das erste verfassungsartige D okum ent in der
Geschichte Chinas vorgelegt25. 1909 traten Provinziallandtage zusammen; 1910
wurde eine N ationalversam mlung einberufen. Der H auptnutznießer dieses ele­
m e n t a r e n Parlamentarismus war die lokale Oberschicht der Beamtengelehrten,
Grundbesitzer und Kaufleute, jene „G entry“, der der imperiale Staat immer schon
j ; e subbürokratische Regelung ö r t l i c h e r Angelegenheiten überlassen hatte. Ex­
trem vereinfacht gesagt, konnten sich diese Gruppen nunmehr, nachdem sich die
D y n a s t ie während des Boxer-Abenteuers außenpolitisch diskreditiert hatte und
seitdem einen beunruhigenden Reformeifer an den Tag legte, erstmals ein Leben
u n t e r provinzialer Selbstverwaltung und ohne K a i s e r vorstellen. Die aktiven AntiMandschu-Revolutionäre - Intellektuelle in Exil und U ntergrund, quasi-mafiose
Geheimgesellschaften und Teile der Neuen Armeen - fanden in der G entry still­
s c h w e i g e n d e Verbündete. N ahezu niemand verteidigte daher im H erbst 1911 das
K a ise rh a u s . Niem and besaß aber auch klare Vorstellungen davon, was an die Stelle
des kaiserlichen Systems treten sollte. Die Revolution von 1911 w ar ein Emde
ohne Neuanfang26.
1912 (Prin ceton 1955); S teph en R. M ack innon, P o w e r and Politics in Late Im perial C h in a .
Yuan Shi-kai in B eijing a n d T ia n jin , 1901-1908 ( B e r k e le y 1980).
25 “Prinzipien d er V erfassun g“ (Xianfa D a ga n g), englische Ü b e r s e tz u n g in: William L. Tung,
The Political Institu tion s of M o d e rn C h in a (Den H a a g 1964) 318 f., k ü n ftig zitiert: Tung ,
Political Institutions.
26 Den heutigen F o rsch u n gssta n d üb er 1911 und die Folg en d is k u tiert M ary Backus Rankin ,
i
C h in a vor 1949
14 5
Es ist schwer, der Neuen Politik eines uralten Regimes urteilend gerecht zu
werden. Vieles Angebahnte wurde nicht fortgesetzt oder hatte zumindest keine
la n gfristig günstigen Folgen. W ährungs- und Finanzreformen blieben ein weiteres
Vierteljahrhundert liegen; ab 1917 blühten wieder die Mohnfelder. Die Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung Chinas w urde fortgesetzt - eine Republik
benötigt gewisse republikanische Einrichtungen - , blieb jedoch oberflächlich und
scheinhaft und verdeckte notdürftig che Realitäten von Militärdiktaturen und
Einparteiensystemen27. Am nachhaltigsten w irkten die Militärreform und die
Abschaffung alter Karriere- und Statussicherheiten durch che Beseitigung des
Prüfungssystems im Jahre 1905: Der gering angesehene M ilitärmandarin wurde
durch den Berufsoffizier abgelöst. An die Stelle des sozialen Typus des Beamten­
gelehrten trat der „moderne“ Intellektuelle28.
Es wäre unangebracht, die Neue Politik insgesamt als gescheitert zu bezeich­
nen. Daß sie von der traditionell konservativen konfuzianischen Staatsbürokratie
selbst initiiert worden war, verbaute den Weg politischer Restauration. Es gab
denn auch nach 1911 keinen nennenswerten M andschu-Loyalism us. Sämtliche
sich artikulierenden politischen Kräfte hatten fortan Veränderung auf ihre Fahnen
geschrieben. So revolutionierten die Jahre der Xinzheng-Reformen das chinesi­
sche Politikverständnis: Die Staatsspitze verlor ihre amtscharismatische Aura, als
das Kaisertum erst quasi-konstitutionalisiert und dann abgeschafft wurde. Neben
die traditionelle G emeinwohlrhetorik trat die Idee von Politik als der Vertretung
partikularer Interessen; ein neuer Harm onisierungsdruck ging nun von den
wahrgenommenen Erfordernissen eines defensiven Nationalismus aus. Dem A uf­
bau von Institutionen wurde erstmals eine Bedeutung zugemessen, die bis dahin
der Ausbildung tugendhaften und kultivierten Menschentums Vorbehalten gew e­
sen war. Die westliche Idee, eine gute politische O rdnung werde durch gute
Gesetze und Verfahrensregeln verläßlicher gewährleistet als durch moralisch
gute Machthaber, fand eine bis dahin unbekannte Resonanz m der c h i n e s i s c h e n
Kultur.
Zum Erbe der Xinzheng-Reformen gehört eine Enttraditionalisierung des Po­
litikverständnisses in China. Der Bann des Staatskonfuzianismus w urde bereits
um diese Zeit - und nicht erst in der berühmten Vierten-M ai-Bewegung von 1919
- gebrochen. Daß 1905 zum ersten Mal die neuartige und in den folgenden Ja h r­
zehnten immer wieder eingesetzte Waffe des B oykotts gegen den ausländischen
Handel zur A n w en d un g kam, ist ein weiteres Anzeichen für normativen Wandel.
M an zögert, diese neue, sich erst langsam herausbildende N ormen- und W'erteState and So c ie ty in E a r ly R cp u b lic a n Politics, 1912-18, in: C h in a Q u a r te r lv 150 (Juni 1997)
26 0-281.
Z ur G eschic hte der p olitischen In stitution en un ter der R e p u b lik ( 191 2-194 9) vgl. Tung,
Political Institutions; Zbao Suisbeng, P o w e r b y D esign. C o n s t it u t io n - M a k in g in N ation alist
C h in a ( H o n u l u lu 1996).
Vgl. dazu J ü r g e n O s te rb a m m el, Die erste chin esische K ulturrev olutio n. In tellektu elle in
der N e u o r ie n tie r u n g (191 5-192 4), in: clers. (H rs g .), A sien in der N eu zeit. Sieben historische
Station en ( F ra n k fu rt a.M. 1994) 125-142, hier 127-130.
146
J ü r g e n O s te r h a m m e l
weit des Politischen, zu der auch der Nationalismus in seinen verschiedenen Spiel­
arten gehört29, als „europäisch“ zu bezeichnen. Was wäre auch damit gewonnen?
Die Xinzheng-Reformen samt ihrem kurzfristigen Ergebnis, der revolutionären
Entmachtung der (meisten) Reformer, setzten einerseits das Them a einer um fas­
senden M odernisierung Chinas auf die Tagesordnung, von der es bis heute nicht
verschwunden ist; diese M odernisierung mußte immer dann, wenn es A lternati­
ven gab, nicht notwendig die Form von Verwestlichung oder, enger, Europäisierung annehmen. Andererseits öffnete die Selbstdestruktion des Systems und des
kulturellen Kosmos vormoderner Politik, die symbolisch weniger geschickt abge­
sichert w ar als die imperiale Restaurationsfiktion der japanischen M eiji-U m w älzung und deshalb zu so etwas wie der vorübergehenden Fragmentierung und
Komplexitätsverminderung von Institutionen führte, einen Raum für Problem de­
finitionen und Durchsetzungsstrategien, der nahezu beliebig gefüllt werden
konnte. Anders gesagt: Der M achtkampf, der im imperialen System eine innere
Angelegenheit der Beamtenschaft war, w urde im frühen 20. Jahrhundert externalisiert und dann binnen kurzer Zeit zur Anarchie von Warlordkämpfen und ideologisierten Bürgerkriegen gesteigert. Die K PC h hat ihn dann nach 1949 wieder in
einem neuen monokratischen System internalisierend eingefangen und zur A u s­
einandersetzung der in n er p a rteilich en „Linien“ gezähmt - bis Mao Zedong 1966
mit der „Kulturrevolution“ seinen privaten Bürgerkrieg anzettelte. Ebensowenig
wie ein handlungsfähiges Kaisertum duldet die Kommunistische Partei bis heute
konkurrierende politische Gegenkräfte. Ganz ähnlich hat die Guom indang auf
Taiwan bis Mitte der 1980er Jahre ihr Machtm onopol behauptet.
Dieses Weberschiffchen von Konflikthegung und Konfliktfreisetzung w ar kein
Imitat europäischer Politik. Es ist ohne das Erbe der zentripetalen bürokratischen
Universalm onarchie undenkbar. China hat seit dem Beginn des Taipingaufstandes
1850 politischen Pluralismus nur in der Extremform des Bürgerkrieges kennen­
gelernt - wohlgem erkt: n ich t des langandauerenden Zerfalls der chinesischen
Ö kum ene in Teilstaaten. Alle möglichen politischen Ideen strömten in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts nach C h in a ein und hefteten sich an indigene Interes­
sen und Ideen. Es ist jedoch niemals zu öffentlicher, geregelter und friedlicher Plu­
ralität gekommen. Die Bändigung des Agonalen gelang nur durch die im B ürger­
krieg siegreiche imperiale Parteidiktatur. Die assoziativ-integrative Dimension
des europäisch-nordamerikanischen Politikverständnisses ist in China nicht hei­
misch geworden: Hobbes ohne ein Lockesches Gegengewicht.
29 Z u m chin esischen N a tio n a lis m u s vgl. O s te r h a m m e l, Shan gh ai 114-121; so w ie d ie a n r e ­
genden B e tra c h tu n ge n in Prasenjit D uara, R e s c u in g H is t o r y from the N a tio n . Q u e s t io n in g
N a r r a tiv e s of M o d e r n C h in a (C h ic a g o , L o n d o n 1995).
C h in a vo r 1949
147
V.
Allgemeine Überlegungen dieser A rt werden nicht grundlos an eine Betrachtung
der Revolution von 1911 und ihrer Voraussetzungen geknüpft. Für die Zeit der
Republik zwischen 1912 und 1949 stößt ein narrativ-interpretierendes Vorgehen
auf große Schwierigkeiten. Ein M inim um an Übersichtlichkeit ergibt sich nur von
einer höheren Allgemcinheitsebene aus, die es ermöglicht, die verschiedenen
Schauplätze gleichzeitigen Geschehens zu überschauen. Dem diktatorisch regie­
renden zweiten Präsidenten der Republik, Yuan Shikai, einem der maßgebenden
Reformer der späten Qing-Zeit, der rechtzeitig das Lager gewechselt hatte, gelang
nach 1912 noch einmal die Rezentralisierung des politischen Systems30. Zwischen
Yuans Tod 1916 und der Gründung der Volksrepublik 1949 war China dann in
schnell wechselnden Mustern territorial zersplittert, von inneren Kriegen zerris­
sen und zwischen 1931 und 1945 der Aggression Japans ausgesetzt. D en chinesi­
schen Staat gab es in dieser Periode nicht. Kaum eines der Jellinekschen Kriterien
für europäische Staatlichkeit trifft für diese Phase auf die verschiedenen H e r r ­
schaftsgebiete innerhalb der alten Grenzen Chinas zu. Vor allem kann von dem
für Jellinek besonders wichtigen A spekt der M onopolisierung von Herrscherge­
walt durch den Staat nicht die Rede sein31. China erlebte vielmehr einen schon in
derTaiping-Zeit beginnenden Prozeß der Fundamentalm ilitarisierung: Dörfer be­
waffneten sich gegeneinander und gegen Räuberbanden; Grundbesitzer legten
sich M ilizen zu, die oft zu terroristischen Schlägertrupps ausarteten32. Der „warlordism “ der Zeit zwischen etwa 1916 und 1932 erwuchs aus einer bereits tiefdrin­
gend militarisierten Gesellschaft. Erst die Regierung der Volksrepublik stellte
1949/50 ein unbeschränktes staatliches Gewaltmonopol wieder her.
In einer Lage, in der nach A uswegen aus der multiplen Krise der chinesischen
N ation und Zivilisation gesucht wurde, bezogen sich viele Program matiker auf
westliche Staatsvorstellungen. Einflußreich w ar zeitweise der Anarchismus, der,
eher am friedlichen Kropotkin als am gewalttätigen B akunin orientiert, fast ganz
ohne Staatsgewalt auszukommen hoffte33. Ein Liberalismus, wie er nach etwa
1915 unter dem Eindruck des amerikanischen Pragmatismus John D ew eys ent­
stand, ließ sich recht gut in die Tradition einer konfuzianischen Auffassung vom
Menschen stellen (die er mit kulturrevolutionärem Gestus ablehnte), betonte doch
30 Ernest P. Young, T h e P re sid en cy of Y u an S h i h - k ’ai. L ib era lism and D ic tatorsh ip in E a rly
R e p u b lic a n C h in a (A n n A r b o r 1977).
Jl M a x W eb er k o nn te hier an Je llin e k a n k nü pfen : G a n g o l f H iibinger, S taatstheorie u n d P o li­
tik als W issen schaft im Kaiserreich. G eo rg J e llin e k , O t t o H in tze, M a x Weber, in: H ans M aier
u. a. (H rs g .), P o litik, Philosophie, Praxis. Festschrif t fü r W ilh e lm H e nn is z u m 65. G eb urtsta g
(S tu ttgart 1988) 149 f.
32 Vgl. Philip K u hn , R eb ellio n and Its Enem ie s in L ate Im peria l C h in a . M ilit a r iz a t io n and
Social S tructu re, 1796-18 64 (C a m b r id g e , M ass. 1970); E lizabeth]. Perry, Rebels and R e v o lu ­
tionarie s in N o r t h C h in a , 1845-19 45 (Stanford 1980); Phil Billingsley, B andits in R e p u b lic a n
C h in a (Stanford 1988).
33 Vgl. P e te r ¿’ a r r o w , A n a rc h is m and C h in e s e Political C u lt u r e ( N e w York 1990); A rif Dirlik, A n a rc h is m in the C h in es e R ev o lu tio n ( B e r k e le y 1991).
148
Jü r g e n O s te r h a m m e l
auch er die Erziehbarkeit der Einzelnen zum tugendhaften und damit politisch
richtigen Handeln. Der chinesische Liberalismus, ein nahezu reiner Professoren­
liberalismus, hat die Frage des Aufbaus freiheitssichernder Institutionen zu sei­
nem eigenen Schaden vernachlässigt. N och nicht einmal seine Selbstorganisation
als Partei wollte gelingen. N ur eine M inderheit unter den Liberalen erkannte die
Bedeutung rechtlicher Freiheitsverbürgung. Rechtsstaat und Menschenrechte ha­
ben in China außerhalb der kolonialen Enklaven zu wenige energische Fürspre­
cher gefunden.
Sun Yatsen, der Führer der nationalen Revolution erst gegen die Mandschus
und dann gegen die Militärmachthaber, erklärte zwar, die Gewaltenteilung euro­
päischen Musters gehe noch nicht weit genug, und fügte den klassischen drei G e­
walten eine examinierende und eine kontrollierende Gewalt hinzu: direkte A n lei­
hen bei den kaiserzeitlichen Organen des Prüfungssystems und des Zensorats. Als
1928, drei Jahre nach Sun Yatsens Tod, die von ihm gegründete Partei, die Guomindang, in N anjing eine N ationalregierung errichtete, setzte man die „Fünf-Gewalten-Verfassung“ in die Praxis um 34. Da das N anjing-Regim e jedoch in W irk ­
lichkeit eine durch eine Einheitspartei gestützte und nur konstitutionell ver­
brämte M ilitärdiktatur General Chiang Kai-sheks war, blieb eine effektive G ew al­
tenteilung aus. Einer starken Exekutive vermochte kein anderes Staatsorgan zu
widerstehen. Ohnehin hatte in Sun Yatsens eigener politischer Theorie der konsti­
tutionelle Gleichgewichtsgedanke im Widerspruch zu einer realitätsnäheren Idee
gestanden: China sei noch nicht reif für die D emokratie und bedürfe noch auf län­
gere Sicht einer stufenweise zu lockernden „Vormundschaft“ von Partei und Staat,
kurz: einer auf wahre parlamentarische Verhältnisse vorbereitenden Erziehungs­
diktatur35. Von diesem Prinzip ist die G uom indang während ihrer gesamten
Herrschaft auf dem Kontinent nicht abgeriickt.
Das einzige europäische politische M odell, das einen wirklichen tiefen Einfluß
auf die chinesischen Realitäten ausübte, w ar das der leninistischen Kaderpartei. Es
gelangte nicht durch Texte nach China, sondern durch massive revolutionäre
Entwicklungshilfe. Die organisatorische und dann erst auch die theoretische Ein­
führung des Bolschewismus nach China w a r der mit Abstand wichtigste Fall von
Infusion politischen Wissens aus Europa. Zwischen dem April 1920, als die erste
Komintern-Delegation in Peking erschien, und dem Dezember 1927, als während
der U nterdrückung der sogenannten „Kanton-Kom m une“ die letzten Sow jetver­
treter aus China vertrieben wurden, gelang Teams der Komintern und der Roten
A rmee e r s t e m die G ründung der KP Chinas und ihre Organisation als leninisti­
sche Kaderpartei, z w e i te n s die U m w an d lu ng von Sun Yatsens Guomindang - seit
34 Tung, Po litical Institutions 118-148.
35 Vgl. die v o r z ü g lic h e In terpretation der L eh re Sun Yatsens bei M arie-C laire B e r g è r e , Sun
Y at-sen (Paris 1994) 40 0 -4 5 0 , bes. 430. Zu den D is k u s s io n e n im Kreis um Sun Yatsen vgl.
M ich a el Gasster, C h in e s e Intellectuals and the R e v o lu tio n of 1911 (Seattle, L o n d o n 1969);
R o b e r t A. Scalapino, G e o r g e T. Yu, M o d e r n C h in a and Its Rev olu tio när}' Process. R ec u rr e n t
C h a lle n g es to the Traditional Order. 1850-1920 (Berkeley, Los Angele s, L o n d o n 1985) 6 7 -
C h in a vor 1949
149
1923 mit der KP in einer Einheitsfront verbunden - von einem lockeren Klub der
Sun-Anhänger in eine straff hierarchisch geordnete Institution, die einer Kader­
partei zumindest nahekam, und d ritten s Aufbau, Schulung und Bewaffnung einer
militärischen Elitetruppe, die sich während Chiang Kai-sheks „N ordfeldzug“
1926-28 den Massenheeren der Kriegsherren überlegen zeigen sollte36. Als sich
die G uom indang 1927 in einem blutigen Putsch von ihren kommunistischen Ver­
bündeten und sowjetischen Beratern trennte, waren Partei und Armee selbständig
lebensfähig-57.
Auch die KPCh emanzipierte sich allmählich von ihren sowjetischen M ento­
ren. Sie machte Mitte der zwanziger Jahre eigene Erfahrungen mit der M obilisie­
rung der städtischen Arbeiterschaft und sah sich in den dreißiger Jahren, ins In­
nere Chinas vertrieben, vor der N otw endigkeit, originäre Strategien des Ü b e r­
lebens und der M achterweiterung zu finden. H ier liegt der historische O rt Mao
Zedongs. Die Komintern hatte den chinesischen Kommunisten nicht beigebracht,
wie man einen Staat aufbaut und regiert. Zwischen 1931 und 1934 gab es in Zen­
tralchina, nach dem Langen Marsch 1936 bis 1945 dann in Nordchina ko m m u ­
nistische Staatlichkeit unter Bedingungen militärischer Belagerung, erst durch
Chiang Kai-sheks Armeen, dann durch die Japaner. Europäischen Staatsmodellen
verdanken diese ersten kommunistischen Experimente mit territorialer H err­
schaft wenig. Der „europäische Staat“ ist nicht bis Ruijin oder Yan’an, den beiden
Hauptstädten der KP-Basisgebiete, vorgedrungen.
Deutlichere europäische Spuren findet man im Herrschaftsgebiet der NanjingRegierung zwischen 1928 und 1937, dem Jahr, als der Krieg mit Japan begann. Die
Staatspartei Guomindang verlor viel von der gezielten Schlagkraft, die ihr die so­
wjetischen Berufsrevolutionäre verliehen hatten. Cliquen, Klientelnetze und per­
sonalisierte Führer-Gefolgschaftsverhältnisse - all dies auch traditionelle chinesi­
sche Vergesellschaftungsweisen - breiteten sich im zivilen wie im militärischen
Sektor aus38. Daneben nahm die Guomindang aber auch die Aufforderung ihres
Gründers ernst, staatliche Institutionen aufzubauen.
36 Vgl. C. M artin Wilbur, J u li e L ien -yin g H ow , M is sio n a ries o f R ev olu tio n. Sovie t A d vis ers
and N a tio n a list C h in a , 1920-1927 ( C a m b r id g e , Mass. 1989); K u o H e n g -y ii u .a . (H rsg.),
R K P (B ), K o m in tern un d die n atio n a l-rev o lu tio n ä re B e w e g u n g in C h in a . D o k u m en te , Bd. 1:
1920-1925 ( P a d e rb o rn 1996); D ieter H einzig, S o w jetis ch e M ilitä rb e ra te r bei der K u o m in ­
tang 1923-1927 ( B a d en -B a d en 1978); Arij Dirlik, T h e O rig in s of C h in ese C o m m u n is m
( N e w York, O x fo rd 1989). Die in dig enen U r s p r ü n g e des chin esischen K o m m u n is m u s w e r ­
den jetzt w ie d e r s tä rk er betont bei Yeh Wen-hsin, Provincial Passages. C u ltu re , Space, and
the O rigin s of C h in e s e C o m m u n is m (B e r k e le y 1996).
37 Das Erbe der ge m e in sam en K o m in tern -E rfah ru n g blieb weit über den Bru ch zw ischen
G u o m in d a n g und K P C h im J a h r e 1927 hinaus, ja, bis in die jü n g ste V ergangenheit w irk sa m :
„T he tw o parties, alth ou gh th e y becam e rivals fo r m a ste r y of C h in a and had s h a r p ly c o n tr a ­
sting id eologies, did not repre sent a clear-cut r iv a lr y of co m p e tin g political forms. C o n s t it u ­
tional d e m o c r a c y w as never realized at the level of p o p u la r elections, m u ltip a r ty politics, or
representativ e legislatu res.“ G ilbert R oz m a n u .a ., T h e M o d ern iz a tio n of C h in a ( N e w York,
L o n d o n 1981) 272.
38 Vgl. Tien H u n g -m a o , G o v ern m e n t and Politics in K u o m in ta n g C h in a , 1927-1937 (S ta n ­
ford 1972); L loyd E. Eastman, The A b o r tiv e R evolu tio n. C h in a un der N a tio n a list Rule,
150
J ü r g e n O s tc r h a m m c l
Ü ber die Entwicklung des Staates im China des 20. Jahrhunderts weiß man bis­
lang wenig. Was geschah mit der kaiserlichen Bürokratie nach der Abschaffung
des Prüfungssystems 1905 und dem Verschwinden der Reichsverwaltung 1911?
Was w urde aus den administrativen Organisationen, was aus den einzelnen B eam ­
ten? Die Forschung kann darüber kaum Auskunft geben39. Soviel aber läßt sich
sagen: Zwischen 1912 und 1916 unter Yuan Shikai, mit wesentlich geringerem
N achdruck unter einigen der auf ihn folgenden schwachen Regierungen der Wxrlords und verstärkt dann zwischen 1928 und 1937 unter Chiang Kai-shek und der
G uom indang wurden Versuche zur Rationalisierung der Staatsverwaltung unter­
nommen: Wiederbelebung von Aufnahmeprüfungen, Fachtraining von Beamten,
leistungsorientierte Beförderungen, usw. Ein Erfolg w ar das Entstehen eines ju n ­
gen Diplomatenkorps, das bereits auf der Versailler Friedenskonferenz geschickt
zu agieren verstand. Vor allem während der Nanjing-D ekade setzte sich eine aus­
gesprochene technokratische Ausrichtung durch. Industrialisierung w urde als
eine Aufgabe des Staates gesehen, der mit Hilfe deutscher Militärberater einen militärindustnellen Komplex in Zentralchina aufzubauen versuchte. In der Absicht,
eine staatliche Wirtschaftskontrolle einzuführen, studierte man alle erdenklichen
Modelle wirtschaftspolitischer Intervention: von Roosevelts N ew Deal über den
faschistischen Korporatismus bis zu den sowjetischen Fünfjahrplänen40. Trotz
eines quantitativen Wachstums der Bürokratie und möglicherweise auch einer
Verbesserung ihrer Leistungen war der zentrale Staatsapparat der Guomindang
vor 1937 bzw. 1949 kein „starker“ Staat wie der gleichzeitige japanische und der
chinesische nach 1949. Vor allem war seine fiskalische Grundlage außerordentlich
fragil, vermutlich sogar schwächer als die des spätkaiserlichen Staates, seit die
N anjing-Regierung 1928 die wichtigste direkte Steuer, die Grundsteuer, den Pro­
vinzen überlassen hatte41. Jedes der zahlreichen Regimes in China zwischen 1912
und 1949 quetschte die Bevölkerung erbarmungslos aus, wenn es punktuelle m ili­
tärische Gewalt über sie erlangte. Keines w urde zu einem strukturell stabilen
Steuerstaat, der mit zivilen Mitteln und auf berechenbarer Basis gesellschaftlichen
Reichtum an sich zu ziehen vermochte. Die einzelnen Bürokratisierungsprozesse
auf zentralstaatlicher Ebene summierten sich nicht zu kohärentem „state-buildin g“ . A uch mißlang die von nahezu allen Herrschern Chinas, zuletzt mit großem
Erfolg von der KPCh während des Krieges, geförderte Verankerung einer Dienst­
ethik. Die G uom indang-Bürokratie n a c h 1937 w ar berüchtigt für Arroganz und
Korruption.
Tritt man schließlich einen Schritt z urück und fragt nach langfristigen Prozes­
sen, die sich unterhalb der hohen Politik mit ihren raschen Regimewechseln und
1927-19 37 ( C a m b r id g e , Mass. 1974); J ü r g e n D om es, Vertagte R ev olu tio n. Die P o litik der
K u o m in ta n g in C h in a 1923-19 37 (Berlin 1969).
y> Vgl. als Ü b e rs ic h t üb er den Fo rsch un gssta n d : Ju lia C, Strauss, The E volutio n o f R ep u b lican G o v ern m e n t, in: C h in a Q u a r t e r l y 150 (Jun i 1997) 32 9-51.
40 Vgl. William C. Kirby, G c r m a n y and R e p u b lic a n C h in a (Stanfo rd 1984) Kap. 4 u n d 7.
41 Z u r F inan zgeschich te vgl. Arthur N. Young, C h i n a s N a tio n -B u ild in g Eifort. T h e F in a n ­
cial and Econ o m ic R ec o rd , 1927-1937 (Stanford 1971).
C h in a vor 1949
151
ihrer Ideoiogisicrung zutrugen, so wird man selbst in einer Zeit von Krieg und
B ürgerkrieg eine kontinuierliche und von niemandem geplante Expansion der
Staatstätigkeit in China beobachten42. Der kaiserliche Staat hatte das Riesenreich
horizontal integrieren können, drang aber vertikal nicht sehr tief in die Gesell­
schaft ein. Der rangniederste Vertreter der bürokratischen Hierarchie, so etwas
wie ein „Landrat“, konnte für bis zu 200000 Untertanen zuständig sein. Für O rd ­
nung und Steuerzucht war der kaiserliche Staat auf die Mitarbeit der „G entry“ an­
gewiesen, jener Klasse, aus der sich die Beamten vorwiegend rekrutierten. Späte­
stens 1911 zerbrach diese Allianz zwischen Zentralstaat und Lokalelite43. Fortan
standen die Ansprüche von Beamtenregierung (g u a n z b i ) und Selbstregierung
(zizhi ) in einem unauflösbaren Konflikt. 1911 w ar kurz die U topie lokaler Selbst­
regierung aufgeschienen. Der D iktator Yuan Shikai zerstörte 1914 diesen Traum.
Auch die Bauernschaft leistete dagegen Widerstand; sie fürchtete, ohne den
Schutz des Zentralstaates den lokalen Magnaten ausgeliefert zu sein. Die lokalen
Verwaltungsfunktionen der Honoratiorenfamilien verloren in dem Maße an Be­
deutung, in dem der Staatsapparat auf eine tiefere Ebene als die des Landkreises
vordrang. Dieser unscheinbare Prozeß begann 1908 mit der Einführung des Be­
zirks als niedrigster Verwaltungseinheit. Fortan saßen auch in Kleinstädten von
oben ernannte Beamte, mit denen die gebildete Honoratiorenelite oft kaum noch
kulturelle Gemeinsamkeiten fand. All dies trug zur Schwächung und Delegitimation der Lokalelite bei, und auch deshalb hatte die kommunistische Bauernrevo­
lution später in den vierziger Jahren oft leichtes Spiel. Neben der Zivilverwaltung
breitete sich erstmals in der chinesischen Geschichte auch eine Polizei in Städten
und Dörfern aus; ihre Aufgaben waren traditionell von einem System der Sippen­
haft, dem Baojia-System, erfüllt worden. Die neuen Repräsentanten des Staates
am Boden der Gesellschaft waren oft unfähig und korrupt. In den Städten paktier­
ten sie oft ungeniert mit dem organisierten Verbrechen, in den Dörfern konnten
sie zu den von der kommunistischen Propaganda effektvoll angeprangerten Lo­
kaltyrannen werden.
Dennoch: N im m t man die außerordentliche Militarisierung der gesamten chi­
nesischen Gesellschaft während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinzu, dann
ergibt sich eine beispiellose Vervielfältigung der Chancen des durchschnittlichen
Chinesen, mit zivilen und militärischen Vertretern des Staates in Kontakt und B e­
rührung zu kommen. Diese Expansion staatlicher Präsenz machte ausgerechnet in
einer tumultarischen Periode von Bürgerkrieg und Krieg große Fortschritte. Als die
K PCh vor und nach ihrer offiziellen Machtübernahme im O ktober 1949 in kü r­
42 Vgl. ausfüh rlic h e r O s t e r h a m m e l , Shan gh ai 150-160. Eine w ic h tig e A n re g u n g zu die ser
A n a ly s e k o m m t von Prasenjit Duara, C u lt u re , Power, and the State. R u ra l N o r t h C h in a ,
1 900-1942 (Stanfo rd 1988). Z u m w e n ig erforschten T h e m a der Geschic hte der P o lizei in
C h in a : M ich a el R. D u tton, P o li cin g anc! P u n ish m e n t in C h in a . F ro m P a t r ia r c h y to „the
P e o p le “ (C a m b r i d g e 1992).
43 G r u n d le g en d zu r G eschic hte d er L ok ale lite/“G e n t r y “ im 19. un d frühen 20. Ja h rh u n d e rt:
J o s e p h W. Esherick, M ary Backus Rankin (H rs g .), C h in es e Local Iilites and Patterns of
D o m in a n c e (B e r k e le y 1990).
152
J ü r g e n O sterh a m n ie l
zester Zeit einen landesweit handlungsfähigen starken Staatsapparat aufbaute,
mußte sie ihn nicht völlig aus dem Nichts schaffen44. Gewisse Strukturen fand sie
bereits vor. M it der Übertragung oder Kopie europäischer Modelle hat dies nichts
zu tun. Auch die Ü bernahme sowjetischer Organisationspläne erfolgte erst, nach­
dem die Staatsautorität im wesentlichen bereits wiederhenrestellt
war,
O
44 Z u r R e k o n st ru k t io n des chin esischen S taatsapparates nach 1949 vgl. Frederick C. T eiw es ,
Establishm en t and C o n s o lid a tio n of the N e w R egim e, in: d e n . (H rsg.), T h e C a m b r id g e
H is t o r y o f C h in a , Bd. 14 (C a m b r id g e 1987) 5 1 -1 4 3 ; H arry H a rd in g , O r g a n iz in g C h in a . T he
P ro blem of B u reau cracy, 1949-1976 (Stanford 1981).
Xuewu Gu
N eue politische Eliten, und Staatsbildung in China
nach Deng Xiaoping
I. Vorbem erkungen
A m 4. September 1989 sandte Deng Xiaoping einen Brief an das Politbüro der
Kommunistischen Partei Chinas, in dem er die Parteiführung bat, sein R ücktritts­
gesuch vom Amt als Vorsitzender der Zentralen Militärkommission der Partei
und des Staates zu bewilligen. Eigentlich hatte die Parteiführung schon im Jahre
1987 seinem Antrag, von den Funktionen als ständiges Mitglied des Politbüros
und als Vorsitzender der Beratungskommission der Parteizentrale zurückzu tre­
ten, entsprochen. Nun bat der „Generalarchitekt der Reform en“ seine Genossen,
ihn aus seinem letzten Amt zu entlassen. Deng begründete seinen Antrag damit,
daß sich die neue Parteiführung um Jiang Zemin bereits etabliert habe und sein
definitives Ausscheiden aus der Politik für das „Wesen der Partei, des Staates und
der A rm ee“, so Deng wörtlich, „nützlich“ sein w ü r d e 1.
Sicherlich kann man darüber streiten, ob Deng Xiaoping, nachdem sein
Wunsch im November 1989 in Erfüllung gegangen war, weiterhin hinter den Ku­
lissen regiert hat. Aber spätestens nach dem 14. Parteitag im O ktober 1992 ließ
sein Einfluß auf die aktive Politik in China deutlich nach. In der Tat tritt die neue
Parteiführung um den amtierenden Partei- und Staatschef Jiang Zemin als „Kern
der dritten Generation der Führung“2 zunehmend selbstbewußter auf und
schirmt sich von dem Einfluß der Revolutionsveteranen ab. Sie mag zwar Stein
und Bein schwören, die von Deng Xiaoping eingeleiteten Reformen tortzusetzen,
1 D e n g X iaopin g , I)en g X ia o p in g W en x u a n (A u s g c w ä h lt e W erk e von D en g X iaopin g),
3. B d . ‘'(Beijing 1993) 3 2 2-323 .
2 D eng X ia o p in g betrachtete M a o Z e d on g als „Kern der ersten F ü h ru n g sg e n e ra tio n der
K P C h “, nannte sich selbst „Kern der zw e iten F ü h r u n g s g e n e r a t io n “ und bezcic h nete Jian g
Z em in , den er nach d er N ie d e rw e rf u n g d er S t u d e n t e n b e w e g u n g auf dem Platz des H i m m l i ­
schen F riedens in Beijing im J u n i 1989 als Parteic hef ein gesetzt hatte, als „Kern der dritten
F ü h r u n g sg e n e ra tio n .“ Vgl. D en g X iaopin g , Z u ch en g Yige Shix ing G aigc de Y o u x iw an g de
L in g d a o Jiti ( B ild u n g einer reform istischen und h offnungsvolle n K ollektivfüh run g), in:
D en g X ia o p in g W en x ua n ( A u sg e w ä h lte W e r k e von D en g X ia o p in g ) 3. Bd. (B eijin g 1993)
2 9 6 - 3 0 , in sbeso ndere 2 9 8-299 . "
154
XucwuGu
gibt aber deutlich zu verstehen, daß die politische Entwicklung im Reich der Mitte
unter ihrer Herrschaft eine eigene Prägung erhalten soll.
Wenn es zutrifft, daß ein Generationswechsel in der politischen Führung eines
Landes in der Regel politische Erneuerungen, oder zumindest politische Verände­
rungen, herbeiführen sollte, wirft dieser die Frage auf, was das Ende der Ära Deng
X iaoping für die Staatsbildung in China bedeutet. U m diese Frage differenziert
beantworten zu können, beabsichtigt der vorliegende Beitrag, drei Fragen in den
M ittelpunkt der Untersuchung zu stellen:
1. Wer regiert heute in C hina? Oder, anders ausgedrückt: Wer sind die neuen
politischen Eliten, welche die Staatsbildung Chinas am Ausgang des 20. Jah rh un ­
derts prägen?
2. Welche verfassungspolitischen Zielvorstellungen haben diese Eliten? Oder,
anders formuliert: Inwiefern unterscheiden sich die Staatsvorstellungen der neuen
politischen Eliten von jenen der alten in China?
3. Was haben die neuen politischen Eliten in China bereits unternommen, um
ihre Vorstellung zu verwirklichen? Oder, anders ausgedrückt: Sind in der politi­
schen Entwicklung der Volksrepublik China nach der Ära Deng Xiaoping neue
Tendenzen zu erkennen, die ermutigende Momente aufweisen?
II. W er regiert heute in C hina? - Die Technokratisierung
der chinesischen Führung an der Jahrtausendw ende
W ir wissen, daß die eigentliche Regierung der Volksrepublik China nicht das
Kabinett, sondern der sogenannte „Ständige Ausschuß des Politbüros“ der Kom­
munistischen Partei Chinas ist. Der auf dem 15. Parteitag der Kommunistischen
Partei Chinas im September 1997 neu gewählte „Ständige A usschuß“ besteht aus
sieben Mitgliedern, deren Amtszeit bis 2002 dauern soll. In diesem Sinne spricht
die chinesische Presse vom „Kern der jahrtausendüberbriickenden Füh run g“3.
Bei einer näheren Betrachtung dieses „Führungskerns“ sind folgende vier M e rk ­
male auffällig.
Das erste M erkm al bezieht sich auf die Technokratisierung der Parteiführung.
U nter den sieben Mitgliedern dieses höchsten Führungsgremiums sind vier Elek­
troingenieure (Das sind Jiang Zemin, Partei- und Staatschef; Zhu Rongji, der neu
bestellte Ministerpräsident; Li Peng, ehemaliger Ministerpräsident und neuer Vor­
sitzender des Nationalen Volkskongresses; und H u Jintao, Geschäftsführer des
zentralen Sekretariates und Präsident der zentralen Parteischule), ein Bauingenieur
(Li R uihuan, Präsident des Nationalen Kongresses für Politische Konsultation), ein
M aschinenbauingenieur (Wei Jianxing, C hef der Zentralen D isziplinkontrollkom ­
mission) und ein Ö konom (Li Lanqing, stellvertretender Ministerpräsident).
3 Vgl. h ierfür z .B . den L eitartikel „K ua Shiji de J ia n q ia n g L in gd a o H e x i n g “ („ D er starke
Kern d e r ja h rta u s e n d ü b e rb r ü c k e n d e n F ü h r u n g “), in: R cn m in R ib ao, 20. 09. 1997.
C h in a nach D eng X ia o p in g
155
Es fällt auf, daß die Mehrheit dieser neuen Führungsklasse sich in den 50er Jah ­
ren einer sowjetischen Ausbildung unterzogen hat. Li Peng, der zweite Mann in
der Parteihierarchie, hat beispielsweise sieben Jahre lang in Moskau studiert und
dort seinen Studienabschluß als Elektroingenieur gemacht. Allerdings hatten die
anderen, die auch in der Sowjetunion studiert haben, schon ein solides Studium an
einer chinesischen Universität absolviert, bevor sie ein A ufbaustudium oder ein
Praktikum in der Sowjetunion aufnahmen. M it A usnahme von Li Peng, der nur in
M oskau studiert hat, und Li Ruihuan, der seinen Bauingenieurtitel auf einer
Abendhochschule erwarb, gehören alle M itglieder des „Ständigen Ausschusses“
zu den Absolventen der Spitzenuniversitäten in China.
Das zweite M erkm al besteht darin, daß die Parteispitze frei von Revolutionsve­
teranen ist. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kommunistischen Partei C h i­
nas hat sich heute ein „Führungskern“ formiert, in dem die Revolutionsveteranen
nicht vertreten sind. Die Väter dieser neuen politischen Eliten gehören zw ar zu je ­
ner Generation, die unter der Führung von Mao Zedong gegen die Nationalisten
und die Japaner gekämpft hat. Aber sie selbst waren an den bewaffneten A us­
einandersetzungen nicht beteiligt. Allerdings haben einige von ihnen bei ihrem
kometenhaften Aufstieg von der revolutionären Erbschaft ihrer Väter erheblich
profitiert. Dies gilt für Jiang Zemin, der seine Karriere erst mit Unterstützung der
Veteranen starten konnte, die in den 30er Jahren als Untergebene seines vom Guomindang ermordeten Vaters gekämpft haben. Es gilt aber auch für Li Peng, der mit
vier schon seinen Vater verlor und seinen Aufstieg dem Schutz und der O bhut des
ehemaligen Ministerpräsidenten Zhou Enlai zu verdanken hat. Dieser hatte den
kleinen Li Peng als Waisenkind zu sich genommen und aufgezogen, um seinem
heldenhaft gefallenen Kameraden, also dem Vater von Li Peng, „Trost zu
spenden“.
Beim dritten M erkm al der neuen politischen Führung in China handelt es sich
um die Dominanz der Parteispitze durch O pfer der Kulturrevolution. Außer
Jiang Zemin und Li Peng haben alle M itglieder des „Ständigen Ausschusses“ w äh ­
rend der maoistischen Kulturrevolution negative Erfahrungen gemacht. Einige
wurden von der Arbeit suspendiert und für mehrere Jahre aufs Land geschickt.
Dort mußten sie Selbstkritik üben und körperliche Arbeit leisten. A m stärksten
betroffen w ar der unlängst zum Ministerpräsidenten gewählte Zhu Rongji. Schon
in den 50er Jahren wurde er wegen offener Kritik an Maos linksradikaler W irt­
schaftspolitik zum „Rechtsradikalen“ abgestempelt, ein Titel, der nicht nur politi­
sche D iskrim inierung und gesellschaftliche D em ütigung mit sich brachte, sondern
auch vier Jahre lang entbehrungsreiches Leben auf dem Land. Von diesem Schick­
sal w urde er 1970 ein zweites M al heimgesucht. Diesmal dauerte die Verbannung
aber noch länger. Erst im Jahre 1975 durfte er nach Peking zurückkehren. Er habe,
so berichtet eine inoffizielle Biographie, in diesen fünf Verbannungsjahren
Schweine und Schafe gehütet und Latrinen geputzt4.
4 Siehe K ai Strittmatter, „ N en n t m ich einfach n ur B o ß “, in: S üd d e u tsch e Zeitung, 12. M ä rz
1998.
156
X u c w u Gu
Das vierte M erkmal besteht in der deutlich zu erkennenden Entmilitarisierung
des Führungsgremiums. Nach dem 15. Parteitag ist die Konsolidierung der Partei­
kontrolle über die Volksbefreiungsarmee unmißverständlich sichtbar geworden.
Parteichef Jiang Zemin, der genau wie seine anderen sechs Kollegen im „Ständigen
A usschuß“ des Politbüros keinerlei Erfahrungen im M ilitär gesammelt hat,
scheint es endlich gelungen zu sein, die M ilitärführung der zivilen Parteiführung
zu unterwerfen. Die Volksbefreiungsarmee ist nach dem altersbedingten A us­
scheiden von Adm iral Liu H uaqing nicht mehr im „Ständigen A usschuß“ vertre­
ten. Dies bedeutet, daß die Spitzenmilitärs vom eigentlichen M achtzentrum der
Volksrepublik China entfernt und vom Entscheidungsprozeß auf der höchsten
Ebene ausgeschlossen sind. Die Zentrale M ilitärkom m ission, deren Vorsitz Jiang
führt, ist nur durch ihn im Ständigen Ausschuß vertreten. H ierdurch ist ein Z u­
stand entstanden, in dem die hohen Generäle politische Entscheidungen künftig
nur „mitgeteilt“ bekommen können. Es ist vorauszusehen, daß die Militärs nicht
umhin kommen werden, bei jia n g um U nterstützung zu werben, wenn sie ihre
politischen Interessen durchsetzen möchten.
Insgesamt kann man sagen, daß das C hina der Jahrtausendwende durch eine
kleine Gruppe von hochqualifizierten Technokraten, die ja zum Teil sogar als
„Chefingenieure“ von großen Unternehmen gearbeitet haben, regiert wird. Wenn
es zutrifft, daß beruflicher Hintergrund, geistige Prägung und persönliche L e­
benserfahrung das politische Verhalten des Politikers entscheidend beeinflussen,
haben wir Grund, davon auszugehen, daß die künftigen politischen E ntw icklun­
gen in China überwiegend durch Rationalität, nicht durch Radikalität, bestimmt
werden könnten. Für diese Prognose sprechen sowohl das Vermögen dieser Tech­
nokraten zum logischen Denken, als auch ihre persönliche A bneigung gegenüber
ideologischer R adikalität, die ihnen und ihren Familien während der Kulturrevo­
lution Leid zugefügt hat. Aber auch ihr Charakter als zivile Politiker, der sich
grundsätzlich von jenem des Revolutionärs und Militärs unterscheidet, weist auf
eine rationale Zukunft Chinas hin.
III. V erfassungspolitische Z ielvorstellungen
der neuen politischen Eliten
Damit wird die zweite Frage berührt, die am Anfang dieses Beitrages gestellt
wurde: Welche verfassungspolitischen Zielvorstellungen haben diese Technokra­
ten? O der anders formuliert: Inwiefern unterscheiden sich die Staatsvorstellungen
der neuen politischen Eliten von jenen der alten Eliten in China?
Unter dem rein formalen Aspekt sind die kommunistischen Eliten von Mao Zedong über Deng Xiaoping bis zu jia n g Zemin mit ähnlichen Problemen konfron­
tiert: Alle drei Führungsgenerationen sahen bzw. sehen sich gezwungen, mit dem
von ihrer Vorgeneration unmittelbar hinterlassenen politischen Erbe durch das
Verfolgen einer neuartigen Herrschaftspolitik fertigzuwerden. 1949, als Mao die
C h in a nach D eng X ia o p in g
157
politische Macht ergriff, fühlte er sich vor che historische Aufgabe gestellt, das
im Zuge der inneren U m wälzungen und äußeren Eingriffe vom O pium krieg
(1839-1842) bis zum Bürgerkrieg zwischen den Kommunisten und Nationalisten
(1946-1949) unregierbar gewordene Land regierbar zu machen. Sein Konzept war
die Errichtung eines totalitären Staates, der sich auf drei Säulen - ideologische In­
doktrination, gesellschaftliche Gleichschaltung und totale Nachrichtensperre stützte.
1977, als sich Maos Idee von einem völlig „Neuen C h in a“ nach dem Scheitern
der Kulturrevolution als Utopie erwiesen hatte, stand Deng Xiaoping vor der
Aufgabe, die von Mao hinterlassenen totalitären Ruinen zu beseitigen und einen
neuen Konsens zur Legitimation der kommunistischen Herrschaft herzustellen.
Deng Xiaopings Konzept war die U m wandlung der maoistischen totalitären
Herrschaft in einen autoritären Staat. Deng gab die ideologische Rechtfertigung
der Parteiherrschaft auf und versuchte, die Kommunistische Partei Chinas als
leistungsfähig und damit führungsberechtigt zu präsentieren. Seine „Politik von
Reform und Ö ffnung“ (Gaige Kaifang) machte das Reich der Mitte tatsächlich zu
einem der wirtschaftlich dynamischsten Gebiete der Welt und rettete das am
Rande des Zusammenbruches stehende China.
Aber auch Deng Xiaoping hinterließ Unordnung. Sein Autoritarismus, in des­
sen M ittelpunkt das Konzept „Politik hart, Wirtschaft weich“ stand, brachte zahl­
reiche Probleme mit sich, welche nun die Grenzen des autoritären Systems zu
sprengen drohen. Das grundlegende Problem des chinesischen Staatssystems in
der Gegenwart liegt darin, die Veränderungen im ökonomischen und gesellschaft­
lichen Bereich, die die im Grunde genommen erfolgreiche Reformpolitik herbei­
geführt hat, politisch aufzunehmen und institutioneil darauf zu reagieren3.
Die regierenden Technokraten scheinen dieses Problem erkannt zu haben. Ihre
Lösung nim mt z w ar noch keine festen Strukturen an, ist aber bereits in Konturen
sichtbar. Wenn es zutrifft, daß der politische Bericht von Jiang Zemin auf dem
15. Parteitag mit dem Titel „Das große Banner der Theorie von D eng-Xiaoping
hochhalten und den Aufbau des Sozialismus chinesischer Prägung allseitig zum
21. Jahrhundert vorantreiben“ als das politische Programm der neuen politischen
Eliten in China betrachtet werden kann, haben diese ihre verfassungspolitischen
Vorstellungen über den Ausbau des chinesischen Staates unter ihrer Herrschaft
bereits vorgestellt. Aber auch in anderen Schlüsseldokumenten und Reden der
Parteiführung sind ihre Kerngedanken niedergelegt. Eine ausführliche Analyse
dieser D okum ente läßt die Aussage zu, daß es sich bei der von der Parteiführung
angestrebten Lösung um eine M ischung aus vier Elementen handelt. Diese sind:
1. Aufbau der Rechtssicherheit, 2. Einführung von lokaler Demokratie, 3. Bildung
einer effektiven Regierung und 4. Etablierung der Marktwirtschaft.
5 Vgl. E berh ard San dschn eu ier, D ie K o m m un istisch e Partei C h in a s an der M acht: Po litische
E n tw ic k lu n g e n bis z u m Ende der A r a D en g X ia o p in g , in: Carsten H errm ann-P illath,
M ich ael L ackner (H rsg.), L änderbericht C h in a . Po litik, W ir tsch a ft und G esellschaft im ch i­
n esischen K u lt u r r a u m (Bonn 1998) 169-185, hier 184 f.
158
X u e w u Gu
Was die Rechtssicherheit anbelangt, postulierten die Technokraten ein relativ
formelles Rechtsstaatsprinzip. Bei ihrer Vorstellung von „yifa zh iguo “ (Regierung
durch Gesetze oder „rule oi law “, w ie sie ihre Gedanken in Englisch zu präsen­
tieren versuchten), geht es im wesentlichen um gesetzliche Berechenbarkeit, die
garantieren soll, daß staatliches H andeln für den einzelnen berechenbar und die
W illkür der Staatstätigkeit reduziert wird. Der materielle A spekt des Rechtsstaa­
tes, wonach die A usübung der Staatsgewalt auf die Rechtsideen von Gerechtig­
keit, Gleichheit und Freiheit verpflichtet werden soll, scheint den Technokraten
fremd zu sein. So führte Partei- und Staatschef Jiang Zemin in seinem besagten Be­
richt an: „Yifa zhiguo (also Regierung durch Gesetze) bedeutet, daß die Massen
des Volkes unter der Führung der Partei anhand der Verfassung und der Gesetze
die Staatsverwaltung [...] durchführen, mit dem Ziel, die Staatstätigkeit zu institu­
tionalisieren und zu vergesetzlichen.“ „Die Institutionen und Gesetze", so Jiang,
„sollten [künftig] nicht wegen eines Wechsels der einzelnen Führungspersönlich­
keiten oder wegen Veränderung ihrer M einungen und A rbeitsschwerpunkte geän­
dert werden.“ Jiang betont, daß auch die Partei und ihre politische Führung sich
nur im Rahmen der Verfassung und Gesetze bewegen sollen. Nach Jiang soll bis
zum Jah r 2010 ein Justizsystem in China errichtet werden, in dem die U nabhän­
gigkeit der Justiz garantiert ist6. M it diesen Aussagen sind die neuen politischen
Eliten in China zw ar vom Gedanken an eine Abschaffung der Einparteienherrschaft weit entfernt. Aber sie haben deutlich ihre Entschlossenheit zum Ausdruck
gebracht, die Rechtssicherheit im Sinne der Berechenbarkeit der Staatstätigkeit zu
erhöhen und die W illkür der Regierung bei der A usübung der Staatsgewalt zu be­
grenzen.
Das zweite Eilement der verfassungspolitischen Vorstellungen der Technokra­
ten, also die Einführung von lokaler Demokratie, erweckt den Eindruck, als habe
sich die Parteiführung endlich zu einer groß angelegten Reform im politischen Be­
reich entschlossen. „Wir w erden “, so erklärt der Parteichef, „den W irkungsbe­
reich der D emokratie auf Basisebene erweitern und gewährleisten, daß das Volk
seine demokratischen Rechte direkt ausübt, gesetzlich seine eigenen Angelegen­
heiten regelt und für sich selbst ein glückliches Leben schafft.“ Bei dieser Form u­
lierung fällt auf, daß die neuen politischen Eliten das Recht des Volkes auf Partizi­
pation an politischen Entscheidungen über sein eigenes Schicksal anerkannt ha­
ben. Allerdings wollen die Technokraten die A usübung dieses Rechtes zuerst nur
auf die Basisebene beschränken. N u r die Gemeinden wurden aufgefordert, „das
System der demokratischen Wahl zu vervollkom m nen“, „ihre politischen A k tiv i­
täten und finanziellen Angelegenheiten zu öffnen“. Dadurch soll dem Volk die
M öglichkeit gegeben werden, „sich direkt an Diskussion und Entscheidung über
6 V gl. h ierzu J i a n g Zemin, Das gro ße Ban ner der T h eo rie von D e n g -X ia o p in g h ochhalten
un d den A u fb a u des S o zia lism us chin esischer P rä g u n g allseitig zu m 21. Ja h rh u n d e rt v o ra n ­
treiben (B erich t des G en erals ekretärs d e r K P C h , J ia n g Z em in , auf dem 15. Parteitag am
1 2 .Sep tem b e r 1997), in: R e n m in R ib ao, 22. S ep tem b e r 1997; im folg enden zitiert: J ia n g ,
Bericht.
r
C h in a nach D en g X ia o p in g
15 9
lokale Angelegenheiten und Wohlfahrt auf der Ebene der Gemeinde zu beteiligen
und die Funktionäre demokratisch zu überwachen“7.
Die Bildung einer effektiven Regierung - das ist das dritte Element der verfas­
sungspolitischen Vorstellungen der Technokraten - wird in Peking als eine der
dringendsten Aufgaben der Reformen betrachtet. Begründet wird diese D ring­
lichkeit mit dem Zwang, den durch die Globalisierung, internationale Interdepen­
denz und die Asienkrise ausgelösten Herausforderungen für China rasch und
effektiv zu begegnen. In der Vorstellung dieser Technokraten kann sich China in
der Zeit der Globalisierung beim Wettbewerb mit anderen Mächten nur behaup­
ten, wenn der Staat über ein Verwaltungssystem verfügt, das „hoch effektiv arbei­
tet, koordiniert funktioniert und sich normgerecht verhält“8.
Bei dem vierten Element der technokratischen Vorstellungen von der H err­
schaftsordnung des Staates handelt es sich um die Idee, die nationale Ö konomie
nach den marktwirtschaftlichen Prinzipien zu regulieren. Die Parteispitze scheint
bereit zu sein, alles zu tun, um die Marktwirtschaft in China zu etablieren. Es
wurde diskutiert, den Schutz und die Entwicklung von Privateigentum in der Ver­
fassung festzuschreiben. Durch politische und gesetzliche Begünstigung w urde
der Rang der nicht-staatlichen Wirtschaft und gemischter Eigentumsformen in
der Wirtschaftsordnung Chinas entscheidend erhöht. Die Zeit, in der die nicht­
staatliche Wirtschaft immer als eine „Ergänzung der sozialistischen Staats- und
Kollektivwirtschaft“ stiefmütterlich behandelt wurde, scheint ein für alle Mal vor­
bei zu sein.
IV. D ie technokratischen M aßnahm en zu r Staatsbildung
M it dieser Feststellung verbunden ist die dritte und die letzte Frage dieses Beitra­
ges: Was haben die neuen politischen Eliten in C hina bereits unternommen, um
ihre Vorstellung zu verwirklichen? Oder, anders ausgedrückt: Sind in der politi­
schen Entwicklung der Volksrepublik China nach der Ara Deng Xiaoping neue
Tendenzen zu erkennen, die ermutigende M om ente aufweisen?
In der Tat sind die Technokraten nicht auf der verbalen Ebene verblieben. Viel­
mehr haben sie schon vor dem Tode Deng Xiaopings eine Reihe von Maßnahmen
eingeleitet, um ihre verfassungspolitischen Vorstellungen in die Praxis um zuset­
zen. U m die Berechenbarkeit des staatlichen Handelns zu erhöhen, hat die Partei­
führung die staatliche Rechtssetzung massiv vorangetrieben. Als Ergebnis dieser
Bemühungen formierte sich auf der nationalen Ebene ein Rechtssystem, das aus
drei Stufen besteht: Die Gesetze, die vom Nationalen Volkskongreß verabschiedet
werden; die Regierungsverordnungen, die vom Staatsrat, also dem Kabinett, erlas­
sen werden; sowie die Erlasse und Bestimmungen, die von Ministerien heraus­
7 V g l .J ia n g , Beric ht, ebenda.
8 Vgl. h ierzu d ie E r k lä r u n g von L u o Gan, G en era lse kretä r des Staatsrates, vo r dem N a t i o n a ­
len V o lk s k o n g re ß a m 6. M ä r z 1998, R en m in R ib ao, 7. M ä r z 1998.
1
160
X uew u Gu
gegeben werden. Nach offiziellen Angaben wurden im Zeitraum von 1992 bis
1997 119 Gesetze verabschiedet. D arüber hinaus wurden innerhalb der letzten
Jahre 770 Regierungsverordnungen erlassen. Zudem sollen 30000 Bestimmungen
und Vorschriften formuliert werden, um das Verhalten der Staatsdiener zu nor­
mieren9.
Allerdings haben diese M aßnahm en nicht automatisch zur Erhöhung der
Rechtssicherheit geführt. Das H auptproblem bei dieser Entwicklung besteht
darin, daß keine ausreichenden Begleitmaßnahmen durchgeführt werden, um die
Durchsetzung und A n w en dun g der Gesetze zu garantieren. Machtmißbrauch
und Rechtsverstöße gehören in China noch im m er zur Normalität. Um für dieses
Problem Abhilfe zu schaffen, hat die Parteiführung entschieden, die Kontrollen
über den Gesetzesvollzug zu verstärken. 1997 w urde auf A nw eisung der K om ­
mission für Politik und Recht des Zentralkomitees der KPCh eine großangelegte
landesweite Untersuchung über Fragen des Gesetzesvollzugs durchgeführt. Der
Kampf gegen Defizite und Mißstände im Bereich des Gesetzesvollzugs w urde be­
reits erw äh n t10. Ob diese Bemühungen zu einem Erfolg führen werden, bleibt
noch abzuwarten.
Zu neuen staatsbildenden M aßnahmen der Technokraten gehört auch das Ex­
periment mit der „Bauern-D em okratie“. Seit wenigen Jahren dürfen die Bauern
ihre Dorfvorsteher und Dorfkomitees durch freie, direkte und geheime Wahl be­
stimmen. Wie Kai Strittmatter, der als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung
in Peking 1997 die chinesische Bauern-D em okratie systematisch unter die Lupe
genommen hat, zurecht anmerkte, „sind Chinas Bauern die einzigen im Land, die
frei wählen dürfen, wenn auch nur auf unterster Ebene“ 1*.
In der Tat hat die Parteiführung in der Folge der Abschaffung der Volkskom­
munen und der Dekollektivierung der Landwirtschaft die Dorfdemokratie einge­
führt, um das administrative Vakuum auf dem Land zu füllen. Hierdurch haben
hundert M illionen Bauern die M öglichkeit erhalten, ihre rund 4,2 Millionen Dorfoberen demokratisch zur Verantwortung zu ziehen. In vielen Regionen haben die
D orfbewohner massiv von ihrem Recht Gebrauch gemacht, korrupte Kader von
der Verantwortung für die Gemeinde zu entbinden und ihre eigenen Vertrauten
als Dorfvorsteher einzusetzen12.
Die Bauern-D em okratie krankt im A ugenblick jedoch an vielen K inderkrank­
heiten. Eine davon ist das Problem der Wahlmanipulation durch Stimmenkauf, ein
Phänomen, das Wahlforscher auch in zahlreichen anderen asiatischen Ländern
festgestellt haben. Die Erfahrungen in Taiwan zeigen, daß dort, wo es Chinesen
gibt, die Bekämpfung von Wahlbestechung ein langwieriger Krieg ist. China hat
9 Zur E n t w ic k lu n g d er chin esischen R ec h ts se tzu n g vgl. C h in a a ktuell, 9/1997, 838-839.
10 Ebenda.
11 Kai Strittmatter, C h in a s E x p erim ent nnt der B a u e r n - D e m o k r a tie , in: S ü dd e utsch e Z e i­
tung, 29. D e z e m b e r 1997.
12 Vgl. h ierzu X u e w u Gu, Ketteneffekte der M o d e r n is ie r u n g s u m b r ü c h e in C h in a , in: Welt
Trends, 12 (1996) 81-95.
C h in a nach D en g X ia o p in g
161
noch einen langen Weg vor sich, bis die Bauern-D em okratie einigermaßen mani­
pulationsfrei funktionieren kann.
A ber bei aller Kritik an den Stimmenkäufen bleibt als Tatsache zu vermerken,
daß die Stimmen des Volkes in China nun immerhin eine wertvolle Sache gew or­
den sind. Im Vergleich zur totalitären Zeit, in der das Volk durch permanenten Be­
trug, Verdummung und Bevormundung beherrscht wurde, stellt der Stim men­
kauf, wenn man bei einer positiven Beurteilung bleiben will, doch einen Fort­
schritt dar. A ußerdem ist nicht auszuschließen, daß eine etablierte Bauern-D em o­
kratie große A usw irkungen auf die Wahlen auf den anderen Ebenen haben
könnte. Eine Weiterverbreitung und Verwurzelung der hier umgesetzten Prinzi­
pien wie Selbstbestimmung, Demokratie und Konkurrenzwahl werden zu einer
massiven Entwertung der von den Parteiführungen hinter den Kulissen gesteuer­
ten Wahlen von Bürgermeistern, Gouverneuren, M inistern und Staatspräsidenten
führen. Die Menschen werden dann derartige Wahlinszenierungen zunehmend als
lächerlich empfinden und als undemokratisch ablehnen. Der Wunsch nach einer
Ü bertragung des dörflichen Wahlsystems auf die höheren Ebenen dürfte zweifel­
los w achsen13. In der Tat zeigen sich die demokratisch gewählten „kleinen“ D orf­
oberen gegenüber den undemokratisch bestimmten höheren Parteikadern zuneh­
mend selbstbewußter und souveräner. So sagte ein Dorfvorstand beim Streit mit
einem Parteisekretär: „Ich bin von Tausenden von Menschen gewählt worden, du
nur von ein paar Dutzend. - Und du willst mir befehlen?“ 14
Auch beim Aufbau eines effektiven Staates gehen die Technokraten offenbar
entschlossen vor. A uf der Vollversammlung des 9. Nationalen Volkskongresses im
M ärz 1998 hat sich die Parteiführung mit ihrem Plan zur erheblichen Verschlankung des Staatsapparates durchgesetzt. Durch Abschaffung oder Fusion einer
Vielzahl von Behörden wurde die Zahl der Ministerien von 40 auf 29 reduziert.
Dem Plan zufolge sollen Millionen Staatsdiener entlassen werden. Ziel der R e­
form soll es sein, die Staatsverwaltung vom Wirtschaftsmanagement zu trennen
und die Planstellen in den Regierungsbehörden um 50% zu kürzen.
Flankiert w urde diese radikale U m strukturierung durch eine massive Korrup­
tionsbekämpfung. Nach Angaben der D isziplinkontrollkommission des Zentral­
komitees der Kommunistischen Partei Chinas wurden von 1992 bis 1997 insge­
samt 731 000 Verdachtsfälle untersucht. Das Ergebnis ist erschreckend: 263000
Partei- und Regierungsfunktionäre wurden mittels Disziplinarstrafen gemaßregelt, 121500 aufgrund schwerwiegender Verstöße aus der Kommunistischen
Partei ausgeschlossen, und gegen 37000 Kader w urde ein Strafverfahren er­
öffnet15.
Die vierte Gruppe von Maßnahmen, die aus der Sicht der Technokraten die
Wirtschaftsstrukturen des chinesischen Staates verändern soll, betrifft die Privati­
13 X u e w u Cu, eb enda.
14 Zitiert nach S ü d d e u ts ch e Z eitung, 29. D e z e m b e r 1997.
15 Vgl. h ierzu a usfüh rlich die von Sebastian H eilm an n x usa m m e n ge ste llte n Zahlen üb er das
A u s m a ß u n d den U m fa n g der K o rrup tion in C h in a , in: C h in a a ktuell, 9/1997, 839-840.
162
X u e w u Gu
sierung des Staatssektors und die Errichtung einer marktwirtschaftlich ausgerich­
teten Wirtschaftsordnung. Im heutigen C hina kann man insofern noch nicht von
einer M arktwirtschaft sprechen, als die 118000 Staatsunternehmen immer noch
vom Staat mit vielschichtigen, sichtbaren oder unsichtbaren, M aßnahmen vor
einem marktwirtschaftlichen Wettbewerb geschützt werden. U nter diesen 118000
gibt es 6000 große und mittlere Unternehmen, die finanziell insolvent, strukturell
veraltet und technisch überholt sind. Sie saugen nicht nur seit Jahren den Staat aus,
sondern verhindern auch die Etablierung der Marktwirtschaft im Reich der Mitte.
Aus sozialen und politischen Gründen sind tiefe Einschnitte in diesen Sektor im ­
mer wieder hinausgezögert worden. N un wollen die Technokraten diese schon
längst überfällige Last abtragen, um endlich den Weg für eine echte M ark tw irt­
schaft frei zu machen.
Nicht nur die 6000 großen „Blutsauger“ sollen „geschlachtet“, sondern auch
alle anderen Staatsunternehmen - bis auf die 512 sogenannten „Schlüsselunter­
nehmen“ - ins kalte Wasser der M arktw irtschaft geworfen werden. Durch U m ­
strukturierung, Fusionierung, Veräußerung, Verpachtung oder U m w an dlu ng in
Aktiengesellschaften soll der Staatssektor grundsätzlich privatisiert werden. In
drei Jahren könnte dieses Program m vollendet sein. Offensichtlich liebäugeln die
Technokraten mit einem China, das, von planwirtschaftlichen Überbleibseln be­
freit, die Schwelle ins 21. Jahrhundert zu überschreiten vermag. Die pessimisti­
schen Ermahnungen, wonach die chinesische Volkswirtschaft noch nicht die
Kraft habe, um die bevorstehenden U m brüche zu verkraften, scheinen sie bisher
nicht besonders beeindruckt zu haben. A uch das große politische Risiko, das
mit den massiven Einschnitten ins soziale Leben der 75 M illionen Betroffenen
im Staatssektor verbunden ist, scheint sie nicht von besagtem Unterfangen ab zu­
schrecken.
V. Eine Zwischenbilanz
Aus der oben getätigten A nalyse geht klar hervor, daß sich die neuen politischen
Eliten in C hina intensiv bemühen, das Land zu einem modernen Staat mit mehr
Rechtssicherheit, mehr Demokratie, mehr Effektivität und mehr M arktwirtschaft
zu entwickeln. Ob diese Aufgabe ihnen gelingen wird, bleibt noch abzuwarten.
Die U ntersuchung der gegenwärtigen Entwicklung erlaubt jedoch eine erm uti­
gende Zwischenbilanz, einen begrenzten O ptim ism us für China:
1. Die Technokraten sind zw ar keine überzeugten Liberalen, aber ihre B em ü­
hungen um eine formelle Rechtssicherheit w ird aller Wahrscheinlichkeit nach die
von ihren kommunistischen Vorgenerationen hinterlassene W illkür des staat­
lichen Handelns reduzieren. China scheint im Begriff zu sein, sich zu einem z w e i­
ten Singapur zu entwickeln.
2. Die Technokraten sind zw ar keine überzeugten D emokraten. A b er sie schei­
nen in der D emokratie ein Instrument erkannt zu haben, mit dessen Hilfe sie
C h in a nach D eng X ia o p in g
163
sowohl ihre korrupten Parteigenossen auf der Basisebene abwählen lassen, als
auch den U nm ut der Bevölkerung besänftigen können. Solange die Einführung
der „Bauern-Dem okratie“ nicht rückgängig gemacht w ird, was nur auf Kosten er­
heblicher politischer Ressourcen geschehen könnte, ist eine demokratische Z u­
kunft für China nicht auszuschließen.
3.
Die Technokraten sind zwar keine überzeugten Kapitalisten. Aber es bleibt
ihnen nichts anderes übrig, als mit Hilfe des Kapitalismus Wohlstand hervorzu­
bringen, um die eigene Führungsfähigkeit in der Zeit der Globalisierung unter Be­
weis zu stellen und sich damit die Führungsrolle zu sichern. Die Geschichte wird
zeigen, ob der chinesische Kapitalismus der erste auf der Welt sein wird, der unter
der Führung von Kommunisten realisiert wurde.
Gudrun Krämer
Moderner Staat, kolonialer Staat?
Ägypten und der Fruchtbare Halbmond
I. Erfolgsgeschichten
A m Ende des 20. Jahrhunderts haben sich überall in Nah- und Mittelost politische
Gemeinwesen konsolidiert, die konstitutive M erkm ale des modernen Staates auf­
weisen, wie ihn Jellinek definiert und wie er sich historisch zuerst in Teilen Euro­
pas herausgebildet hat: Sie verfügen über ein homogenes, von festen Grenzen
markiertes Staatsgebiet und eine einheitliche Staatsgewalt, die das G ewaltm ono­
pol nach innen und die Souveränität nach außen beansprucht - wenn sie diese
auch nicht in jedem Fall und zu jeder Zeit durchzusetzen in der Lage ist1. Bei eini­
gen Ländern wie Ä gypten, M arokko, Tunesien oder der Türkei wird man von N a ­
tionalstaaten sprechen, ohne damit die Existenz interner Ethnizitäts- und N atio ­
nalitätenkonflikte zu leugnen; bei anderen - zu nennen sind vor allem die Staaten
der Levante und des Fruchtbaren Halbmondes von Libanon über Syrien bis Irak
und Jordanien - angesichts ihrer unabgeschlossenen Identitätsbildung zumindest
von Territorialstaaten. Eine Ausnahme macht das von der palästinensischen A uto ­
nomiebehörde kontrollierte Territorium, wo die genannten Bedingungen nicht
erfüllt sind.
M it dieser, zugegebenermaßen sehr groben, Linse betrachtet, wird man für den
Nahen und Mittleren Osten die A usbreitung des modernen („europäischen“)
Staates zunächst wohl als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Aufbau und Konsolidie­
rung des modernen Staates sind allerdings keineswegs so eng an die Kolonisierung
der einzelnen Länder durch die europäischen Mächte geknüpft, wie häufig ange­
1 D avon un b e r ü h rt ist die Tatsache, daß die d er zeitig en G ren zen , die in vielen Fällen von den
euro päis chen M ä ch ten m eh r o der w e n ig e r nach eigen em G u t d ü n k e n ge zoge n w u rd e n , in n a ­
tio nalistischen w ie in islam istischen Kreisen im m e r w ie d e r in F rag e gestellt und angefochten
w erde n. D ie G olfkrise v o n 1990-91 bietet h ie rfür ein M u sterb eisp ie l, in d er ein von den K o ­
lo nialm äch ten geschaffener Staat (Irak) un ter B e r u f u n g a uf kolo niales U n re c h t einem a ra b i­
schen N ach b a rstaa t (K u w a it ) die E x isten zb ere ch tigu n g absprach. D ie G o lfkrise bele gt aber
zugle ic h , daß sich die b estehenden Staaten allen id eologisch begrü nd eten A ngriffen zu m
Trotz auch im Fru ch tb a re n H a lb m o n d u n d am Persisch/Arabischen G olf b eh au ptet haben;
le diglic h d er Irak selbst m u ß seit d er G olfkrise (un d bis z u r E rfü llu n g aller von den Vereinten
N a tion en verfü gten A u fla gen ) E inschrän kun gen sein e r S o u v e rä n itä t hin nehm en.
166
G u d ru n K räm er
nommen. Anders als vielfach gedacht, anders vor allem, als arabische N ationali­
sten und islamische Aktivisten es für gewöhnlich darstellen, sind die Staaten der
Region durchaus nicht alle „vom Kolonialismus“ geschaffen und in diesem Sinne
„künstlich“2. Ebenso wichtig: Aus der „Künstlichkeit“ ihrer Entstehung ist nicht
ohne weiteres auf die (mangelnde) Legitimation der postkolonialen Eliten und die
Behauptungsfähigkeit der einzelnen Staaten zu schließen. Fragt man nach der hi­
storischen Tiefe und der Intentionalität, der „Freiwilligkeit“, mit der gerade dieser
Staat in gerade diesen Grenzen geschaffen w urde (und natürlich wäre in jedem
Fall zu klären, wer diese Intentionen zum entscheidenden Zeitpunkt hegte), so
lassen sich vereinfacht zwei Idealtypen unterscheiden:
- „Freiwillige“ Gründungen mit tiefer vorkolonialer Verwurzelung auf der ei­
nen Seite, zu denen etwa Ä gypten, M arokko, Jem en oder auch Oman zu rechnen
sind, außerhalb des arabischen Raums vor allem Iran und die Türkei; selbst ein so
deutlich von britischen kolonialen Interessen geprägter Staat wie Kuwait weist
eigenständige, in das 18. Jahrhundert zurückreichende Wurzeln auf, und auch das
Königreich Saudi-Arabien mit seinen Vorgängerstaaten im 18. und 19. Jah rh u n ­
dert ist in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts zw ar von Großbritannien
gefördert, aber nicht von Großbritannien geschaffen worden.
- „Unfreiwillige“, oder nur von M inderheiten angestrebte, koloniale G ründun­
gen auf der anderen Seite: Staaten, die nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg von den europäischen Mächten geschaffen w u r ­
den, indem sie - gegen den Willen der sunnitisch-arabischen Bevölkerungsmehr­
heit, verschiedentlich jedoch im Einklang mit den Bestrebungen lokaler ethnisch­
religiöser Minderheiten - bestehende administrative und sozioökonomische Ein­
heiten auseinanderrissen und neu zusammenfügten (dies trifft auf alle Staaten der
Levante und des Fruchtbaren Halbmondes von Libanon und Syrien bis Irak und
Palästina bzw. Israel zu). Lediglich ein Staat, der im gleichen Zug aus der Kon­
kursmasse des Osmanischen Reiches kreiert w urde, läßt sich als ganz und gar
künstlich bezeichnen: Transjordanien (seit 1946 Jordanien). A ber gerade das jo r­
danische Beispiel zeigt, daß Genese, Legitimation und Dauerhaftigkeit eines Staa­
tes durchaus nicht so eng korrelieren, wie vielfach angenommen. Auch Jordanien
hat sich im Laufe mehrerer Jahrzehnte (und unter den sehr eigenen Bedingungen
des arabisch-israelischen Konflikts) als Staat konsolidiert, ohne dabei schon zum
Nationalstaat geworden zu sein3.
Meine These lautet nun, und auf der historischen Entwicklung wird im folgenden
auch der Schwerpunkt hegen, daß die Ausbreitung des modernen Staates in N ahund Mittelost nicht so eng an die direkte oder indirekte Kolonisierung gebunden ist,
- Vgl. Iliya H arik, T h e O rigin s of the A r a b State S ys tem , in: Giacomo Luciani (H rs g .), T h e
Arab State (L o n d o n 1990) 1-28; Gudrun Kräm er, L)ie a rabisch e W elt im 20. Ja h r h u n d e r t, in:
Albrecbt Noth, Jürgen Paul (H rsg.), D er islam ische O rie n t - G r u n d z ü g e seiner Geschic hte
( W ü r z b u r g 1998) 4 3 9 -5 0 4 .
Zu J o rd a n ie n , das hier nicht ve rtieft b etrachtet w e rd e n kan n, vgl. K am al Salibi, The
M o d ern H is t o r y of J o r d a n (L o n d o n , N e w Y o rk 1993), k ü n ftig zitiert: Salibi, T h e M o d e r n
History.
Ä g y p te n un d der Fru ch tba re H a lb m o n d
167
wie die viel gebrauchten Begriffe des „kolonialen Staates“ und der „kolonialen Ge­
sellschaft“ dies nahelegen. Ich gehe vielmehr davon aus, daß der moderne Staat im
Falle Irans, der Türkei, Ä gyptens oder auch M arokkos auf der U m form ung bereits
vorhandener, weit entwickelter Staatlichkeit ruht und in diesen Fällen w ie in denen
eindeutig kolonialer Schöpfung durch postkoloniale Entwicklungen gefestigt
wurde, genauer: durch ökonomische und strategische Renten, die den Regimen auf
Grund von Rohstoffvorkommen (Erdöl, Erdgas) und/oder ihrer Positionierung im
Ost-West-, Nahost- und Golfkonflikt zuflossen (dies gilt in erster Linie für Alge­
rien, Ä gypten, Syrien, Jordanien, Irak und die arabischen Golfstaaten). Im ersten
Fall haben w ir es mit eigenständigen W urzeln der Staatlichkeit zu tun, ohne daß
deren Träger notwendigerweise der jeweiligen Gesellschaft entstammten, also im
engen Sinn „indigen“ oder „autochthon“ waren (Beispiel Ä gypten unter der D y ­
nastie M uham m ad Alis), im zweiten mit den Folgen externer Verflechtung und
Frem deinwirkung, d ie -s e lb s t wenn man sie unter „Neokolonialism us“ ein o rd n etnicht mit direkter kolonialer Intervention gleichzusetzen sind. Der moderne ara­
bische Staat ist demnach nicht ohne weiteres ein „kolonialer Staat“. Selbst im Falle
eindeutiger kolonialer Einwirkung sind, wie es die Literatur zum Kolonialismus
zunehmend ja auch fordert, die Eigeninteressen, Bestrebungen und Aktionen lo­
kaler Akteure zu berücksichtigen, die im allgemeinen mehr sind als die bloßen
Handlanger des Kolonialismus oder dessen Opfer.
II. Ä gypten: Vom patrimonialen zum modernen Staat
Ä gyp ten verfügt unstreitig über eine Tradition der Staatlichkeit, die zumindest bis
ins 3. vorchristliche Jahrtausend zurückreicht, und die in annähernd vergleichba­
rer Tiefe allenfalls noch Iran aufweist, nicht aber der Irak (Mesopotamien) oder
Libanon (Phönizien), w o eine vergleichbare Kontinuität nicht festzustellen ist.
Das heißt nicht, daß Ä gypten durch die Jahrtausende hindurch so zentral gesteu­
ert wurde, w ie Wittfogels Theorie von der „hydraulischen Gesellschaft“ es ver­
muten läßt (man denke an die Erste und die Zweite Zwischenzeit in der pharaonischen Ära oder auch an Phasen mamlukischer Herrschaft vom 13. bis 15. Jah rh un ­
dert christlicher Zeitrechnung). Eine zentrale Kontrolle des Niltals w ar überhaupt
erst vom Beginn des 20. Jahrhunderts an möglich und erforderlich, als durch den
Bau des ersten H ochdamms in Assuan die ganzjährige Bewässerung an die Stelle
saisonaler, lokal gesteuerter Ü berschwem m ungen trat, die durch kleinere Einhei­
ten bis hin zur Dorfgemeinschaft im wahrsten Sinne des Wortes „kanalisiert“ w e r­
den konnten4. Ü ber mehr als zwei Jahrtausende w urde Ä gypten von fremden
Dynastien beherrscht und wiederholt in größere Imperien eingegliedert, und sei
es auch, wie unter osmanischer Herrschaft (1516/17-1918), als Provinz eigenen
4 Vgl. Ghislaine A lleaum e, Les S ystèm es h y d r a u liq u e s de l’E g y p te pré-m ode rne . Essai d ’h i­
stoire du p ay sa ge, in: Christian D é c o h e r t (H rsg.), Itin éra ires d ’ Egypte. M é lange s offerts au
père M a u r ic e M a rt in sj (Paris 1992) 30 1-22.
168
G u d r u n K rä m er
Charakters und eigener Verwaltungsstruktur. In der Literatur fällt auf, wie auf der
einen Seite die Kontinuität der ägyptischen Geschichte, wenn nicht die U n w a n ­
delbarkeit der „ägyptischen P ersönlichkeit“ betont wird-“1, zur gleichen Zeit aber
eine Reihe von „G rü nd u ngsm yth en “ geschrieben und diskutiert werden: Wer
schuf, wann, das „moderne Ä g y p t e n “ - N apoléon Bonaparte mit der französi­
schen Expedition der Jahre 1798-1801? M uh am m ad (M ehmed) Ali, der G ouver­
neur Ä gyptens, der während seiner A m tszeit (1805-48) die Autonom ie innerhalb
des Osmanischen Reiches, wenn nicht sogar die U nabhängigkeit anstrebte? Sein
Enkel Ismail (reg. 1863-79), der Ä g yp ten zu einem „Teil Europas“ machen
wollte? Die Briten, die das Land 1882 „vorläufig“ besetzten und erst 1956 ihre
letzten Truppen vom Suez-Kanal abzogen? O der doch erst Gamal Abdel Nasser
(Gamal ’Abdannasir, 1918—70), der sich nach dem U m sturz der „Freien Offiziere“
vom J uli 1952 bis zur katastrophalen Niederlage im Sechs-Tage-Krieg von 1967
als unum strittener Führer des Landes, ja der arabischen Welt fühlen durfte? Die
Frage ist, wie unschwer zu erkennen, eng mit unserer Them atik verknüpft.
Wie meist in der Geschichte, w ird man sich schwertun, in jener des neueren
Ä gypten eindeutige Brüche und ebenso eindeutige Neuanfänge zu belegen: A n ­
sätze zu einer Zentralisierung der M acht, die sich in erster Linie in der A usschal­
tung von Rivalen, der Konfiszierung von Land sowie im Steuerwesen nieder­
schlugen, unternahmen gegen Ende des 18. Jahrhunderts bereits zwei M am lukenbeys - Ali B ey al-Kabir und M uh am m ad B ey Abu 1-Dhahab - , die jedoch keine
neuen, dauerhalten Strukturen zu schaffen vermochten, die als Kennzeichen des
modernen Staates hätten gelten können (der zu dieser Zeit auch in Europa erst im
Entstehen war), und dies auch nicht versucht zu haben scheinen6. Bereits für die
Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist aut parallele Entwicklungen im O sm ani­
schen Reich selbst hinzuweisen, dessen Elite (d.h. mit unterschiedlicher Zielset­
zung der Sultan und die H ohe Pforte, d.h. die Bürokratie) ein Reformprogramm
in Angriff nahm, das 1839—76 unter der Bezeichnung Tanzimat (wörtlich: Rege5 Ein w ic h tig e r P u n k t, gerade a ngesic hts d e r lauten R u f e nach k u lt u re lle r H o m o g e n it ä t und
„ A u t h e n t iz it ä t “ im Zeic hen des Islam: W en n es d en n eine ge n u in ä g y p tis ch e P ersön lichk eit
gibt, von der nicht w e n ig e H is t o r ik e r u n d P o lito lo g en s prech en , dann ist sie nicht identisch
mit der R elig io n s z u g e h ö r ig k e it der B e v ö lk e r u n g s m e h r h e it. Eine K o ntin uität der S tru k tu ren
w ie des „ ä gy p tis c h e n C h a r a k t e r s “ w ir d vie lm e h r ge ra de ü b e r den m e h rm a lig e n R elig io n s ­
wechsel der B e v ö lk e ru n g s m e h r h e it von d en a lt ä g y p t is c h e n K ulten ü b e r das (ko ptis ch e)
C h r is t e n tu m hin z u m (su nn itisc he n) Is lam h in w e g postuliert. V gl. hier Arthur G oldsm ith Jr.,
M o d e r n E gyp t. T h e F o r m a tio n of a N a tio n - S t a t e ( L o n d o n u .a . 1980).
6 M a m lu k e n (arabisch w ö rtlich : E igen tum ): z u m Islam ko nv ertierte, freigelassene w e iß e M i ­
litärsklaven , zu m e is t aus dem K auk asu s, G e o rg ie n o d er R u ß la n d , gele gentlic h auch aus dem
Pelo po nn es s ta m m en d , die nach d em S t u r z der A y y u b i d e n u n d bis z u r o sm a nisc he n E ro b e­
ru n g Ä g y p t e n s (1250-1516/17) d ie h errsch en d e Elite des L a n d e s stellten und auch un ter den
O s m a n e n vo m 17. J a h r h u n d e r t an er ne ut eine d o m in a n te P o sitio n errin gen ko nn ten . Vgl. vor
allem D a n iel C recelius, T h e R o o ts of M o d e m E g yp t. A S t u d y o f the R egim e s of A li B e y alK abir and M u h a m m a d B e y A b u a l- D h a h a b , 1760-1775 ( C h ic a g o 1982); P e te r Gran, Islatnic
Roo ts of C a p ita lis m . E g yp t, 1760-18 40 ( A u stin , L o n d o n 1979) un d F. R o b e r t Fl unter, E g y p t
u n d e r the Khediv es, 1805-1879. Fro m H o u s e h o ld G o v e r n m e n t to M o d e r n B u r e a u c r a c y
(P ittsbu rgh 1984) 9 -1 3 ; kü nftig zitiert: Fl unter, E g y p t u n d e r the Khedives.
Ä g y p te n und der Fru ch tba re H a lb m o n d
169
lu n gcn ) tiefgreifende Veränderungen in Verwaltung, Recht und G esellsch aft be­
wirken sollte. Zum anderen sind lokale, der osmanischen Zentrale mehr oder w e ­
niger locker untergeordnete Machthaber in Libanon sowie dem späteren Palästina
und Irak zu nennen, deren Zentralisierungsbemühungen in ähnliche Richtung
wiesen w ie jene der ägyptischen M am lukenbeys7.
Als die Franzosen 1798 in Ä gypten landeten, w ar in Kairo wie in Istanbul die
N otwendigkeit von Reformen bereits erkannt worden: Das Niltal mußte nicht
aus jahrtausendealtem Dornröschenschlaf (oder Stupor?) erweckt werden. Und
die Franzosen brachten, ungeachtet gewisser Anstrengungen und einer hochflie­
genden Rhetorik, nicht „die M oderne“ nach Ä gypten - dafür waren die Breiten­
wirkung und Nachhaltigkeit ihrer Eingriffe in Steuer-, Verwaltungs-, Rechts- und
Bildungswesen, Armee, Landwirtschaft und Gewerbe zu begrenzt und zu stark
definiert durch die Bedürfnisse einer Besatzungsarmee, deren primäre Aufgabe es
nicht war, Ä gypten ins Licht der Auf klärung zu befördern, sondern es britischem
Einfluß zu entreißen und die schon bald von außen abgeschnittenen Besatzungs­
truppen am Leben zu erhalten8. An diesem Urteil ändert auch die monumentale
„Description de l’E gyp te“ nichts, die französische Wissenschaftler in der kurzen
Zeit ihres Aufenthaltes erstellten, und die in Europa die sich ausbreitende Ä g yp tomanie noch verstärken sollte. Argumentieren läßt sich allerdings, daß die fran­
zösische Besatzung die bestehende O rdnung erschütterte, indem sie die U n z u ­
länglichkeit und „Reformbedürftigkeit“ der militärischen und administrativen
Strukturen für alle sichtbar offenlegte. Die soziale und politische O rdnung gene­
rell w ar damit noch nicht in Frage gestellt. Wie w eit der Bruch mit dem Bestehen­
den tatsächlich reichte, der durch die, ja sehr kurze französische „Expedition“ be­
wirkt wurde, inwieweit Ä gypter nach dem A bzug der Franzosen anders über sich,
den Staat und die Gesellschaft dachten, bliebe im einzelnen zu ermitteln9.
M uham m ad Ali (ca. 1769-1849), osmanischer Offizier albanischer H erkunft
und vom Sultan nach Ä gypten entsandt, um in den Wirren nach dem A bzug der
Franzosen die osmanische O berhoheit wiederherzustellen, 1805-48 faktischer
Herrscher über Ä gypten, wenngleich formal weiterhin im Status eines bloßen
Gouverneurs (■w ali ) des Sultans, unternahm unzweifelhaft Anstrengungen, die
Kontrolle über Wirtschaft und Gesellschaft weiter voranzutreiben, als dies in der
ägyptischen Geschichte je der Fall gewesen war. Kernelemente und -instrumente
der Zentralisierung waren eine auf seine Person ausgerichtete Verwaltung und ein
stehendes, vornehmlich im Lande selbst rekrutiertes Heer, wobei man sich konse­
7 Z u m O sm an isc h e n R eich vgl. H ai il Inalcik, C e n tr a liz a tio n and D ec en tralizatio n in O t t o ­
man A d m in is tra tio n , in: Thomas N a ff Roger O w e n (H rsg.), Studie s in Eightecnth C e n t u r y
Is la m ic H is t o r y (C a r b o n d a le 1977) 2 3 - 5 7 so w ie Bruce M cGow an, T h e A ge of the A ya n , in:
Suraiya Taroqhi u. a., A n E con o m ic and Social H is t o r y of the O tto m a n E m pire, Bd. 2: 1600—
1914 ( C a m b r id g e 1994) 6 5 8 -7 9 ; Beshara Doum ani, R ed isc o v erin g Palestin e (B e r k e le y u.a.
1995) 40 ff., 98 ff.; als Fallstu d ie s. Ahm ad Hasan Joudah, R ev oit in Palestin e in the Eighteenth C e n tu r y . T h e Era of S h a y k h Z ahir a l- ’U m a r (P rin ceton 1987).
8 Vgl. H enry Laurens, L’ E xpédition d ’ E g yp te , 1798-1801 (Paris 1989).
9 Einb licke bietet G ilbert D elanoue, M oralistes et p olitiqu es m usulm an s dans l ’E g y p te du
X IX c siècle ( 1 7 9 8 -1 8 8 2 ), 2 Bde. (Paris 1982), kü nftig zitiert: Delanoue, M o ralisten .
170
G u d r u n K rä m er
quenter als zuvor moderner europäischer Technologie bediente. Osmanische
Herrschaft hatte, in gewissem Einklang mit islamischen Prinzipien, bis dahin vor­
rangig drei Ziele verfolgt: die Wahrung von Recht und Gerechtigkeit, gleichge­
setzt mit der A nwendung des islamischen Rechts, der Scharia (auch wenn faktisch
neben der Scharia obrigkeitliche Satzung, arabisch qanun, und lokaler Rechts­
brauch, arabisch ’urf, Geltung hatten, die in wichtigen Punkten durchaus im W i­
derspruch zur Scharia bzw. den Bestimmungen des islamischen Juristenrechts,
fiqh, stehen ko n n ten )10; die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit
des Reiches, die verbunden sein konnte mit dem Versuch, ciie Grenzen des islami­
schen Herrschaftsgebiets (dar al-islam) auszuweiten, d. h. den J ib a d zu führen;
schließlich die Erhebung von Steuern, ohne die Recht und Sicherheit nicht zu ge­
währleisten waren. Die Steuereinziehung konnte freilich in unterschiedlicher
Form mit ebenso unterschiedlichen A usw irkungen auf das gesellschaftliche und
politische Gefüge erfolgen (sehr vereinfacht: direkte Einziehung durch „Staatsbe­
am te“ und damit unmittelbare Wertabschöpfung mit der M öglichkeit tiefreichen­
der Eingriffe in ländliche wie städtische Macht- und Besitzverhältnisse oder aber
Steuerpacht, d. h. Verlust zentraler Kontrolle über die Einnahmen verbunden mit
erheblichen Gewinnmöglichkeiten der Zwischeninstanzen, zugleich aber geringe­
rer Personalaufwand). Von den Untertanen w urde verlangt, daß sie loyal zum Sul­
tan standen, seine Feinde nicht unterstützten und Steuern zahlten. M ehr nicht.
M uham m ad Ali ging entschieden weiter in dem Bemühen, die Ressourcen des
Landes unter eigene Kontrolle zu bringen - einem Bemühen, das Osmanen und
M am luken im Grundsatz nicht fremd war, in der Praxis bislang aber nicht so u m ­
fassend durchgesetzt worden war, w ie es nun unter M uham m ad Ali geschah. Ob
dem eine systematische Reflexion über Ziele und Instrumente staatlicher Reform
zugrunde lag, die sich wom öglich an einem europäischen Beispiel orientierte
(Rußland unter Peter d. Großen? Frankreich vor und nach der Revolution, ver­
mittelt durch die französischen Invasoren oder in Ä gypten aktive Saint-Simonisten11? Preußen? - ein „europäisches M o d e ll“ staatlicher Reform lag ja nicht vor),
oder ob M uham m ad Ali flexibel und ohne kohärenten Plan auf die sich bietenden
M öglichkeiten und Widerstände reagierte, sei dahingestellt. Dam it bleibt auch of­
fen, ob es sich bei seinen M aßnahm en in erster Linie um N achahmungen, N ach ­
erfindungen, Nachschöpfungen europäischer N euerungen handelte, begleitet von
dem im mer häufigeren Rekurs auf die Vokabeln „Reform “ und „Fortschritt“ 12,
oder die Fortsetzung osmanischer Elerrschaftspraktiken, die dank neuer (m oder­
ner, zunächst in Europa entwickelter) Machtmittel und größter Rücksichtslosig­
10 Vgl. H aim G erber, State, Society, and L a w in Islam. O t t o m a n L a w in C o m p a r a tiv e P e r­
spectiv e ( A l b a n y 1994).
11 Zu ih nen vgl. P hilippe R é g n ie r (H rs g.), Les Sain t-S im o nien s en E gyp te, 1833-1851 (K airo
1989). D ie N e u o r d n u n g d er P ro v in z ia lv e r w a lt u n g etw a le hnte sich e n g an die von B o nap arte
e ingeführte G lie d e r u n g Ä g y p te n s in d ép artem en ts, a rro ndissem en ts usw. an; H u n ter , E g yp t
u n d e r the Khcdiv es 22.
12 Z u r Idee d er „ R e f o r m “ vgl. Alain Roussillon (H rsg.), Entre ré form e sociale et m o u v em e n t
national. Id entité et m od e rn isa tio n en E g y p te (188 2 -1 9 6 2 ) (K airo 1995).
Ä g y p te n und der F r u ch tb a r e H a lb m o n d
171
keit effektiver in die Tat umgesetzt wurden als zuvor, und dies eben (noch) nicht
an der Spitze des Reiches, sondern an dessen Peripherie.
Die Interventionen lassen sich im einzelnen durchaus erlassen. Aber machten
sie M uham m ad Ali zum „Schöpfer“ oder „Vater des modernen Ä g yp te n “ 13? Im
Zentrum stand die Reform des M ilitärwesens, das durch Schaffung eines nach
europäischem M uster formierten stehenden Heeres an Stelle der diversen,
schwer zu mobilisierenden, schlecht koordinierten und technisch unterlegenen
osmanischen Truppen einschließlich der mamlukischen Kavallerie, die system ati­
sche Sammlung „nützlichen“ Wissens und die Einführung neuer Techniken
durchgreifend modernisiert wurde. Nicht der Einsatz modernen Wissens und
europäischer Ausbilder, Söldner und Berater war hier das N eue - auf diese hat­
ten schon die M am luken des ausgehenden 18. Jahrhunderts zurückgegriffen - ,
sondern die Systematisierung der N euerungen - und die Einführung einer
Wehrpflicht, die erstmalig einheimische Ä g yp ter erfaßte14. Z war schuf dies noch
nicht, wie in nationalistischen Kreisen später behauptet, die „ägyptische N a ­
tion“. Wohl aber wurden neben einheimischen M uslim en erstmals auch nicht­
muslimische Kopten rekrutiert - unter ebenso großem Zwang wie ihre m uslim i­
schen Landsleute und ohne jegliche patriotische Begeisterung - , und damit ein
Schritt in Richtung eines einheitlichen, gleichen Pflichten unterworfenen Staats­
volkes getan (die Rechte folgten später). Der unterschiedliche Rechtsstatus von
Muslimen und Nichtmuslimen, den im übrigen auch die Franzosen nicht dauer­
haft angetastet hatten, blieb vorerst erhalten: Erst 1855, ein Jah r vor dem osma­
nischen Reformdekret (batt-i bümayun), das 1856 allen U ntertanen des Sultans
gleiche Rechte und Pflichten zugestand, wurde in Ä gypten die allein auf N ich t­
muslime erhobene Kopfsteuer (jizya ) aufgehoben - gleichfalls ein bedeutsamer
Schritt in Richtung auf Rechtsgleichheit, der aber nicht die Abschaffung aller
Sonderrechte und -pflichten nach sich zog, die bis weit ins 20. Jahrhundert hin­
ein einer Vereinheitlichung des Staatsvolkes in rechtlicher Hinsicht im Wege
standen15. In engem Zusammenhang mit der überaus kostspieligen M ilitärre­
form, die M uham m ad Alis Vorgänger gar nicht hätten finanzieren können, stan­
den zentralistische Eingriffe in Verwaltung, Steuerwesen (1813 Abschaffung der
Steuerpacht, iltizam ), Landwirtschaft (ab 1821 Einführung der langfaserigen
Baumwolle, forcierter Ausbau von Kanälen, Dämmen, Deichen), Handel, ge­
13 So H enry D odw ell, Th e F o u n d e r of M o d e r n E g y p t ( L o n d o n 1968); kritisch d e m g e g e n ­
über Tahir ’Abdalhakim , a l- s h a k h s iy y a a l - w a t a n i y y a a l-m is r iy y a . q i r a ’a ja d id a h -ta rik h misr
(Die n ation ale ä g y p tis ch e Persönlichkeit. Eine N e u d e u tu n g d er ä g y p tis ch en Geschic hte)
(Kairo 1986) 115-23. A f a f Lutfi A l-S a yy id M arsot, E g y p t in the R e ig n of M u h a m m a d Ali
( C a m b r id g e u .a . 1984) b eton t die K o ntin uitä t ge gen ü b er der späten M a m lu k e n z e it, Ehud
Toledano, M u h a m m a d ’A li Pasha, in: E n c y clo p a ed ia of Islam (L eid e n 1954 ff.) hebt das
o sm anische E lem en t hervor.
M H ie r z u g r u n d leg e n d K haled Fahmy, A ll the P a s h a ’s M en. M e h m e d A li, iiis a r m y and the
m a k in g of m o d e rn E g y p t (C a m b r id g e u. a. 1997), kü nftig zitiert: Fahmy, AU the P a sh a ’s Men.
15 E inzelh eiten in m ein em Beitrag: D h im m i ou cito y en . R éflex ion s réform istes sur le statut
des n o n -m u su lm a n s en société is lam iq ue, in: Roussillon (H rs g .), Entre réform e sociale 5 7 7 90, k ü n ftig zitiert: K räm er, D h im m i ou citoyen .
172
G u d r u n K räm er
werbliche Produktion und der Aufbau einer Industrie, die alle dem Zw eck dien ­
ten, die Kontrolle des walis über die Ressourcen des Landes zu sichern, ja, mehr
als das, durch die Ausschaltung aller sonstigen Instanzen (Produzenten, S teu er­
pächter, Händler, auswärtige Agenten) ein „staatliches“ Monopol über Land­
wirtschaft, Handel und Gewerbe durchzusetzen. N euartig w aren die, gleichfalls
eng mit der militärischen Reform und Expansion verbundenen Initiativen im
Bildungs- und Gesundheitswesen, die, so begrenzt ihre unmittelbare Tiefen- und
Breitenwirkung auch sein mochte, den Grundstein für ein sich stetig au sw eiten ­
des staatliches Bildungs- und Gesundheitswesen legten 16.
Zwei Aspekte der Reform verdienen besondere Beachtung: der A usb au der
Verwaltung und die systematische Erfassung der „nationalen“ (d.h. der ä g y p ti­
schen, nicht der gesamtosmanischen) Ressourcen Land, Bevölkerung und im m o ­
biler Besitz in Form von Zensus und Kataster, die sich, über etablierte osnianische Praktiken hinausreichend, nicht nur auf H aushalte, sondern auch auf Indi­
viduen einschließlich der Frauen erstreckten17. Der Aufbau einer zentralisierten
Verwaltung überwand nicht die tradierten patrimonialen Strukturen (household
governm ent im Sinne Hunters) - sollte diese auch gar nicht überwinden: M u ­
hammad Ali behielt sich die Verfügung über Postenvergabe, Kompetenzen, Ent­
lohnung und Bestrafung der Amtsträger sowie die Verwendung der „staatli­
chen“ Einnahmen vor, die von seinem privaten H aushalt nicht getrennt w a r e n 18.
In den mittleren und hohen Rängen der Verwaltung, innerhalb derer militärische
Funktionen in der Regel nicht von zivilen getrennt waren, dominierte das aus
dem Ausland importierte oder zugewanderte („türkische“) militärische Element,
an seiner Spitze Bluts- und angeheiratete Verwandte des walis, von denen viele
w ie er aus dem albanischen Kavalla stammten, sowie Mam luken; hinzu kam en
Armenier, einige wenige Kopten und Europäer; muslimische Ä gypter w aren
nicht Teil dieser Elite. Als eigenständige A kteure ausgeschahet wurden zwei
Gruppen, die zuvor häufig die entscheidenden politischen Allianzen gebildet
16 D aten bei LaVerne K uhnk e, Lives at R is k . P u blic H e a lt h in N in e t e c n t h - C e n t u r y E g y p t
(B e r k e le y u. a. 1990); J a m e s H e y w o r t h - D u n n e , A n In tro d u c tio n to the E listory of E d u ca tio n
in M o d e rn E g vp t ( L o n d o n 1938), k ü n ftig zitiert: H e y w o r t h - D u n n e , A n In tro d u c tio n , und
M u h a m m a d ’Izzat ’A bdalk anm , ta’ rik h a t - ta ’iim m in n ih a y a t h u k m M u h a m m a d ’ A li ila
a w a ’il h u k m Taufiq (G esch ic h te des B i ld u n g s w e s e n s in Ä g y p t e n vom E nde der H e r rsc h a ft
M u h a m m a d A lis bis zu Begin n der H e rrsc h a ft Taufiqs) (K a ir o 1945), k ü n ftig zitiert: ’A bdalkarim, ta ’ rikh.
17 Das fran zö sische C e n t r e d ’Etudes et de D o c u m e n t a t io n éc o n o m iq u e , ju r id iq u e et sociale
( C E D E J) in K airo bereitet un ter L e itu n g von Ph ilip p e F a rg u es un d G hislain e A lle a u m e eine
co m p u te risie rte A u s w e r t u n g der Z ensu sdaten von 18 46-48 vor, d ie detaillierte A ufsc h lüsse
ü b er W irtsch aft, Gesellschaft u n d d em o g r a p h is c h e E n t w ic k lu n g Ä g y p te n s in d e r ersten
H älf te des 19. J a h r h u n d e r ts geben. Vgl. vo rerst K e n n e t h M. C uno, M ich a el J. R eim er, T h e
C e n s u s R egisters of N in e t e e n t h - c e n t u r y E g yp t: a N e w S o u rc e for Social H is to ria n s , in:
British J o u r n a l of M id d le L astern Studie s 24 (1997) 193-216.
IS G ru n d le gen d h ierzu Hunter, E g y p t un d e r the K h ediv es 4, 17-32 un d passim ; N elly
H anna (H rsg.), T h e State and its Servants. A d m in is t r a t io n in E g y p t from O tto m a n T im e s to
the P resent (K airo 1995) so w ie H a n s-Jü rge n K och , V e r w a lt u n g s k u lt u r in Ä g y p t e n (F re ib u r g
1989).
Ä g y p te n un d der Fru ch tba re H a lb m o n d
173
hatten; die M am luken, die, soweit sie nicht 1811 dem M assaker auf der Zitadelle
und nachfolgenden „Säuberungen“ zum Opfer fielen, in die neue Armee einge­
gliedert wurden (wobei M uham m ad Ali und seine wichtigsten Gefolgsleute w e i­
terhin in großer Zahl M am luken kauften und in Militär und Verwaltung einsetz­
ten), und die muslimischen Religions- und Rechtsgelehrten ( U lam a ), die, nach­
dem sie bei der Legitimierung seiner „M achtübernahme“ 1805 noch eine tra­
gende Rolle gespielt hatten, von M uham m ad Ali Zug um Zug ihrer eigenständi­
gen Finanzmittel beraubt (Konfiszierung und Besteuerung der religiösen Stif­
tungen, auqaf) und aus seiner Entourage entfernt wurden. Damit verloren sie
nicht ihren Einfluß auf die Gesellschaft und auch nicht ihre Bedeutung im
Rechts- und Bildungswesen, die keineswegs sofort und umfassend nach säkula­
rem M uster um strukturiert wurden, w'ohl aber den Einfluß auf politische Ent­
scheidungen. Die Spitzen von M ilitär und Verwaltung waren Teil des „herr­
scherlichen“ Haushalts, definiert durch die persönliche Bindung an M uham m ad
Ali, von den wenigen Kopten abgesehen nach H erkunft und Sprache von der
einheimischen Bevölkerung isoliert und zumindest anfangs ohne ökonomische
Interessen und soziale Bindungen im Lande selbst: „A m t“ und Grundbesitz
(oder zumindest Kontrolle über Land) waren zunächst weitgehend voneinander
getrennt. Ihre Stellung verdankte diese Elite allein M uham m ad Ali, an ihm hing
ihr Aufstieg und Fall; die Vergabe ausgedehnter Ländereien an verdiente H ö f­
linge und Angehörige, die lokale Interessen und Bindungen jenseits des Hofes
schaffen und zementieren konnte, datiert vor allem in die 1840er Jahre, als durch
europäische Intervention M uham m ad Alis Monopol über Wirtschaft und H an ­
del bereits gebrochen und die Armee drastisch reduziert worden w a r 19.
Als Ergebnis der Zentralisierungspolitik lassen sich festhalten: ein „Staatsge­
biet“, dessen Grenzen so lange nicht fixiert waren, wie M uhammad Ali auf dem
Wege militärischer Expansion seinen Herrschaftsbereich innerhalb wie außerhalb
des Osmanischen Reiches auszuweiten suchte20; eine „Staatsgewalt“, faktisch
identisch mit dem w ali und seinem H aushalt, die nach innen das Gewaltmonopol
gegenüber den M am luken errungen hatte, ohne die Bevölkerung vor allem M ittel­
und O berägyptens tatsächlich zu entwaffnen, nach außen jedoch der Souveränität
entbehrte; und ein „Staatsvolk“, das in rechtlicher Hinsicht (noch) nicht verein­
heitlicht war. Alles in allem blieb der Staat M uham m ad Alis somit deutlich unter­
halb der oben definierten Schwelle, von der Form her absolutistisch, ohne effek­
tive Schranken obrigkeitlicher M achtausübung (auch nicht in Form des islami­
schen Gesetzes, der Scharia, und der Ulam a als deren H ütern)21. Eine moderne
19 W ä h re n d H u n t e r (vgl. oben, A nm . 18) die T re n n u n g v o n A m t un d G r u n d b e sitz bis in die
1840er Ja h r e p ostuliert, d o k u m e n tie r t M ich a el J. R eim er, daß zu m in d e st in A lex a n d ria hohe
W ü r d e n t rä g e r auch schon in den ersten J a h r z e h n t e n des 19. Ja h r h u n d e r ts u m fan greich en
B oden- un d Im m o b ilien b e sitz erw a rb en ; C o lo n ia l B ridgeh ead . G o v ern m e n t and S o c ie ty in
A lex a n d r ia , 1807-1882 (Bould er, O x fo rd 1997) 60 -63.
20 Vgl. d a z u neben Fahrny, A ll the P a s h a ’s M en auch F red L awson, T h e Social R o o ts of
E g y p tia n Exp ansio nism d u r in g the M u h a m m a d ’A li Perio d ( N e w York 1992).
21 H u n ter ; E g yp t un d er the K hedives 29 -3 2 . Z u m K o nzept d er „orie ntalischen D e s p o tie “,
17 4
G u d r u n K räm er
(im Sinne Max Webers „rationale“) Bürokratie begann sich erst unter M uhammad
Alis Nachfolgern herauszubilclen. In zentralen Bereichen moderner Staatlichkeit
(Militär- und Steuerwesen, Bildung, Gesundheit) allerdings waren, wie sich zeigen
sollte, irreversible Trends in Gang gesetzt worden.
Überblickt man die weitere Entwicklung bis zur britischen O kkupation im
Jah r 1882, so wird man im wesentlichen Kontinuität beim Versuch des Aulbaus
moderner staatlicher Strukturen feststellen, der im Bereich der Verwaltung Er­
folge zeigte, 1882 allerdings keineswegs abgeschlossen war. A n der Spitze der
rasch expandierenden „modernisierten“ Verwaltung stand eine zunehmend d i­
versifizierte, osmanisch- oder arabischsprachige Elite, die im Zuge der rasanten
landwirtschaftlichen Entwicklung (Baum wollboom der frühen 1860er Jahre,
massiver Ausbau der Infrastruktur) steuerlich begünstigte Ländereien erwarb,
sei es durch Schenkung seitens des Vizekönigs, sei es durch Kauf oder Enteig­
nung von Bauern und Pächtern, was ihr eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber
dem Herrscher verschaffte, ohne daß damit die klientelistischen Strukturen der
patrimonialen O rdnung schon überwunden und der Ü bergang vom Höfling
zum Bürokraten vollzogen worden w äre22. Zur angestammten „türkischen“
Militärelite, einer Handvoll A rmeniern und europäischen Beratern - alle auf die
eine oder andere Weise privilegiert, die einen durch den Vizekönig und/oder den
Sultan, die anderen dank europäischer Protektion - traten erstmals Vertreter der
indigenen arabischsprachigen Bevölkerung, die einer schrittweisen Agyptisierung der lokalen Elite den Boden bereiteten: zum einen ägyptische G rundbesit­
zer (Notabein), die über die Provinzialverwaltung an lokalem Einfluß gew an­
nen, zum anderen Angehörige einer in Europa oder an den neuen Regierungs­
schulen geformten Bildungselite, zum Teil bereits soziale Aufsteiger, denen die
„moderne“ (technische) Bildung die M öglichkeit des Aufstiegs geboten hatte
(Beispiel Ali Pasha M ubarak, 1823/24—83)23. Anders als im Falle der osmanivon M o n t e s q u ie u und anderen D e n k e rn d e r fran zö sischen A u f k lä r u n g p o p u la risiert und von
einh eim ischen R efo rm ern , euro päis chen B e ob ach tern und britischen K o lo n ia lb e a m ten zu m
A n la ß o d er V o rw a n d eigenen H a n d eln s ge n o m m en , vgl. ebd. 198; auch M ichael Curtis, T h e
O r ien ta l D espotie U n iv e r s e of M o n te s q u ie u , in: P rinceto n P ap ers in N e a r Eastern Studie s 3
(1994) 1—38 so w ie u n ten , III.
22 Z u m fo lg enden Hunter, E g yp t u n d e r the K hediv es, bes. 54 -1 2 2 , 230; z u r B eratend en V er­
s a m m lu n g ebd. 4 9 - 5 4 ; zu L a n d w irtsc h a ft u n d G ru n d b e sitz E. Roger O w en, C o t to n and the
E g y p tia n E con o m y, 1820-19 14 ( O x fo rd 1969); ’A li B arakat, t a t a w w u r a l- m il k iy y a al-zir a ’i y y a fi m isr w a -a th a rith u ’ala 1-haraka a l- s iy a s i y y a , 1813-1914 (D ie E n t w ic k lu n g des
L andb esitze s in Ä g y p t e n un d ih re A u s w ir k u n g a uf die p olitisch e B e w e g u n g ) (K airo 1977)
un d Kenneth M. Cuno, T h e P a s h a ’s Peasants. L and, Society, and E c o n o m y in L o w e r E g yp t,
1 7 40-18 58 ( C a m b r id g e u . a . 1992); zu den sozialen F o lgen un d Ko sten d e r M o d e r n is ie r u n g
auch Ju d ith E. Tucker, W o m en in N in e t e e n t h - C e n t u r y E g y p t ( C a m b r id g e u .a . 1985); a llge­
m ein er A lexander Schölch, W irtsch aftliche D u r c h d r in g u n g u n d p olitis ch e K o ntrolle d urch
die eu ro päischen M ä ch te im O sm an isc h e n R eich (K on stan tino pel, Kairo, Tunis), in: G e ­
schic hte un d Gesellschaft 4 (1970) 40 4-46.
23 Zu M u b a r a k vgl. Delanoue, M o ralistes, Bd. 2; Hunter, E g y p t un der the Khediv es 113 f.,
123-38; auch Andrea Geier, Von den P h araon en zu den Khediv en. Ä g y p tis c h e Geschic hte
nach den H it a t des ’ A li M u b a r a k ( F ra n k fu rt a.M . 1998).
Ä g y p te n und der F ru ch tb a re H a lb m o n d
175
sehen Tanzimat, die maßgeblich von der Bürokratie vorangetrieben wurden,
nicht dem Sultan selbst, und die zumindest indirekt die Einschränkung herrscherlicher Macht zum Ziel hatten (selbst wenn durchaus nicht alle Reformer die
Einführung einer konstitutionellen O rdnung anstrebten), blieb in Ä gyp ten der
Vizekönig die zentrale politische Figur. Konstitutionelle Ideen spielten, unge­
achtet der Einrichtung einer „Beratenden Abgeordnetenkam m er“ (majlis shura
al-n u w w ab ) im Jah r 1866, deren M itglieder den Vizekönig als gewählte Vertreter
der einheimischen Bevölkerung in zentralen Fragen von Wirtschaft und Verwal­
tung beraten sollten, nur eine untergeordnete Rolle: Die wichtigen Entscheidun­
gen fielen in anderen Gremien.
Zum Zeitpunkt der britischen Besetzung fehlte Ä gypten nicht nur die Souverä­
nität nach außen. Verglichen mit den Jahren nach 1816, als M uham m ad Ali die er­
sten M onopole in Landwirtschaft und Handel durchsetzte, hatte der Staat erheb­
lich an Kontrolle über Wirtschaft, Finanzen und Teile der Justiz eingebüßt: Schon
1840 waren durch den Vertrag von London die staatlichen M onopole über die
agrarische und gewerbliche Produktion des Landes aufgehoben und Ä gyp ten in
das Freihandelsabkommen einbezogen worden, das das Osmanische Reich 1838
für europäische Waren „öffnete“ und lokale M onopolbildung verbot. In dem
Maß, in dem vor allem M uham m ad Alis Enkel Ismail (reg. 1863-79), seit 1867
ägyptischer Vizekönig (Khedive), die Modernisierung des Landes vorantrieb
(Ausbau der Infrastruktur, insbesondere Kanäle, Eisenbahnen, Brücken, Häfen,
Suez-Kanal 1869), das er erklärterweise zum „Teil Europas“ zu machen gedachte,
intensivierte sich die D urchdringung durch europäisches Kapital und europäische
Waren mit der sie begleitenden Einflußnahme - ein Prozeß, der annähernd zeit­
gleich mit ähnlichem Verlauf und Ergebnis in Tunesien wie im Osmanischen
Reich als Ganzem ablief. So erfolgreich der Ausbau von Landwirtschaft, Infra­
struktur und Industrie z um Zweck der Erhöhung staatlicher Einnahmen und da­
mit khedivialer Macht auch w ar - dessen Kosten im übrigen die bäuerliche Bevöl­
kerung trug, die sich rücksichtsloser Besteuerung, Zwangsarbeit (Corvée) und
umfassender Reglementierung weder entziehen konnte noch von ihnen in nen­
nenswertem Umfang profitierte - , verfehlte er doch sein zentrales Ziel: statt Ei­
genständigkeit zu wahren und zu verteidigen, führte er zu deren völligem Verlust.
A uf den Staatsbankrott folgte die Einrichtung einer internationalen Finanzkon­
trolle (Caisse de la Dette Publique, 1876), der Rebellion ägyptischer Offiziere un­
ter Ahm ad U rabi gegen die Bevorm undung durch Europäer und die osmanische
(„turko-tscherkessische“) Elite im Jun i 1882 ein anti-europäischer Aufstand in
Alexandria24. Im Juli 1882 besetzten britische Truppen das Land, die es erst Jah r­
zehnte später wieder verlassen sollten.
24 D a z u Alexander S cbölcb, Ä g y p te n den Ä g y p t e r n ! D ie p olitisch e un d gesellschaftlic he
Krise d er J a h r e 1878-1882 in Ä g y p te n (F re ib u rg, Z üric h 1982) un d J u a n R.I. C ole, C o lo n i a ­
lism and R e v o lu tio n in the M id d le East. Social and cu ltur al o rig in s of E g y p t ’s ’ U r a b i revolt
(P rin ceton 1993).
176
G u d r u n K räm er
III. Die Briten in Ägypten: ratlos
Die britischen Truppen hatten 1882 einen Auftrag: den Suez-Kanal als „Lebensli­
nie“ des Empires zu sichern und europäisches Leben und Eigentum in Ägypten
zu schützen. Pläne für eine längerfristige Besetzung, geschweige denn eine U m ge­
staltung des Landes gab es nicht. Internationale Anerkennung erlangte die briti­
sche Besetzung erst gut zwei Jahrzehnte später, als Frankreich in der Entente cordiale 1904 im Gegenzug zur Anerkennung seiner Ansprüche auf M aro kko der
britischen Präsenz in Ä gypten zustimmte. Soweit britische Politik im folgenden
w irksam wurde, w ar sie im wesentlichen von britischen Beamten und Offizieren
vor O rt formuliert, nicht im Foreign Office in London. Erst bei Ausbruch des Er­
sten Weltkriegs erklärte London Ä gyp ten zum Protektorat und löste damit einsei­
tig die letzten offiziellen Bindungen an das Osmanische Reich. Zu dieser Zeit
hatte sich unter der ägyptischen Bevölkerung bereits Widerstand gegen die O k k u ­
pation formiert, der kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs in der sog. nationalen
Revolution von 1919 zum Ausbruch kam, aus der heraus sich die nationale Bewe­
gung des Wafd (arabisch: Delegation) entwickelte, die in den folgenden Jahrzehn­
ten zum wichtigsten Gegenspieler der Briten werden sollte25. Schon 1922 entließ
London angesichts des massiven - wenngleich weitestgehend unblutigen - W ider­
stands Ä gypten formell in die U nabhängigkeit, behielt sich aber derart gravie­
rende Eingriffsmöglichkeiten vor, daß die Souveränität des Landes nach außen
und innen nicht gewährleistet war: Unter die „Vier Vorbehalte“ fielen nicht nur
die Außen- und Sicherheitspolitik des Landes, die Kontrolle über den Suez-Kanal
und den Sudan, sondern auch der Schutz der Ausländer sowie der einheimischen
Minderheiten, die damit, unabhängig von ihrer Verwurzelung im Land und ihrer
tatsächlichen Bindung an die Briten, der ausländischen Macht zugeordnet w u r ­
den. Lange Verhandlungen brachten Ä gypten 1937 im Vertrag von M ontreux die
Aufhebung dieser Vorbehalte, verbunden mit seiner Aufnahme in den V ö lker­
bund; 1949 fanden die Kapitulationen zugunsten der Ausländer ihr definitives
Finde und damit ein entscheidendes Hindernis für die Rechtshoheit des ägyp ti­
schen Staates, während das Land zugleich aber als Drehscheibe der alliierten
Kriegsführung im M ittelm eer diente. Die uneingeschränkte Souveränität nach in­
nen und außen war erst 1956 erlangt, als die Briten ihre letzten Truppen vom
Suez-Kanal abzogen, den die neue Führung unter Gamal Abdel Nasser zur glei­
chen Zeit in einem spektakulären C oup verstaatlichte.
Die Briten fanden in Ä gypten 1882 kein M achtvakuum vor: Der Vizekönig
herrschte zwar nicht länger uneingeschränkt als „orientalischer D espot“, blieb
aber stark genug, um je nach politischer Konstellation unterschiedlichen gesell­
schaftlichen und politischen Kräften als Integrationsfigur dienen zu können.
Gleichzeitig verfügten andere europäische Mächte - an erster Stelle Frankreich, in
geringerem Umfang auch Österreich-Ungarn, Italien, Preußen bzw. das Deutsche
25 V gl. R e in h a r d Schulze, Die R eb ellio n d er ä g y p tis ch en Falla hin 1919 (Berlin 1981); Marius
D eeh , P a r ty Politics in E g yp t: T h e W afd & Its Riv als, 1919-1939 ( L o n d o n 1979).
Ä g y p t e n und der Fru ch tba re H a lb m o n d
177
Reich sowie Rußland - über Einfiußmöghchkeiten, die das Aktionsfeld der Briten
merklich einschränkten: Auch sie verfolgten in Ägypten bedeutende Wirtschafts­
interessen (insbesondere Suez-K anal-A ktien und Eisenbahnen; Städtebau; Im­
port/Export; zunehmend auch Landbesitz); auch sie stellten zahlreiche Berater in
den verschiedenen Institutionen, Äm tern und Ministerien des Landes (1882 waren
es insgesamt mehr als eintausend)26; auch sie verfügten über ökonomisch w ie po­
litisch bedeutsame Mitspracherechte in der sog. Mixed Administration (nament­
lich der Caisse de la Dette Publique, der Eisenbahnverwaltung und der Suez-Kanal-Gesellschaft), die erst 1904 im R ahm en der Entente cordiale abgeschwächt
wurden; und sie wachten über die Einhaltung der ökonomisch so wichtigen „Ka­
pitulationen“, Rechtsprivilegien, die deren N utznießer - um die Jahrhundert­
wende die Angehörigen von dreizehn europäischen Nationen sowie der U SA und
Brasiliens - weitgehend von der örtlichen Besteuerung und Rechtsprechung be­
freiten und sie einer eigenen Gerichtsbarkeit unterstellten, sei es die ihrer eigenen
Konsuln, sei es die der 1875/76 eingerichteten „Gemischten Gerichte“27. In den
Gemischten Gerichten wie im „modernen“, nicht-religiösen Rechtssektor gene­
rell dominierte das französische Element; Arabisch, Französisch und Italienisch
dienten als Amtssprachen vor Gericht, Englisch war nicht zugelassen. N icht zu
unterschätzen w ar daneben der Einfluß ausländischer Bildungseinrichtungen
kirchlicher w ie nichtkirchlicher Natur, in denen wiederum das Französische und
das Italienische dominierten.
Die grundlegenden Ziele britischer Verwaltung, die in den Jahren nach der Lan­
dung vor O rt formuliert und verfolgt wurden - Sanierung der Staatsfinanzen und
Wiederherstellung von „Ruhe und O rdn un g “, flankiert durch Reformen zugun ­
sten der ländlichen Bevölkerung, die der Besatzung eine moralische Legitimation
verleihen sollten, wenn sie schon der rechtlichen entbehrte - waren auf jeden Fall
nur gemeinsam mit lokalen ägyptisch-osmanischen und europäischen Kräften
durchzusetzen, gegebenenfalls auch gegen deren Widerstand. Britische Herrschaft
in Ä gypten war von Beginn an „indirect rule“ nach dem in Indien erprobten M u ­
ster, die sich, nachdem mehr als ein Jahrzehnt U nklarheit über Form und Dauer
der britischen Präsenz geherrscht hatte und in London wiederholt über einen A b­
zug debattiert worden war, von der Mitte der 1890er Jahre an schrittweise verstetigte und verdichtete28. Die Stellung des Vizekönigs blieb formal ebenso unange­
26 William M. Welch, Jr., N o C o u n t r y fo r a G entlem an. British R u le in E gyp t, 1883-1907
( N e w Y o rk u .a . 1988) 21 f., 4 6 ff., 9 0 ff.; k ü n ftig zitiert: Welch, N o C o u n t r y for a G entlem an.
27 V gl. Nasim Sousa, T h e C a p it u l a t o r y R é g im e of T u rk ey : Its H isto ry , O rig in , and N a tu re
(B a ltim o r e 1933); B yron C an n on, PoHtics o f L a w and the C o u r ts in N in e t c e n t h - C c n tu r y
E g yp t (Salt L a k e C i t y 1988), k ü n ftig zitiert: C an n on, Politics of Law , so w ie N athan ].
B row n , T h e R ule of L a w in the A r a b W orld. C o u r t s in E g y p t and the G u lf ( C a m b r i d g e u .a.
1996), k ü n ftig zitiert: B row n , T h e R u le of Law.
28 Z u m fo lg enden vgl. R o b e rt Tignor, M o d e r n is a t i o n and British C o lo n ia l R u le in Egypt,
1882-1914 (Prin ceton 1966); Welch, N o C o u n t r y for a G en tlem an, insbes. 8-1 8 ; das C r o m erZitat ebd. 12; 21 ff. zu Zahl, Selbstverständ n is un d Lebensstil der a n g lo -ä g y p tisc h c n Elite:
W elch zu fo lg e entfielen in den frühen 1890er Ja h r en auf insgesam t etw a 10000 A ngestellte
der dam als b estehenden sieben ä g y p tis ch en M in isterien rund 300 britische und w eitere 700
17 8
G u d r u n K räm er
tastet wie die Bindung Ä gyptens an das Osmanische Reich, die sich u.a. in jähr
liehen Tributzahlungen niederschlug.
Gefällt wurden die Entscheidungen weitgehend in der britischen Vertretung
(zunächst His Britannic M aje s ty ’s Diplomatie A gen cy and Consulate Genera]
1914 umgewandelt in British Residency, ab 1936 britische Botschaft) und - gan?’
nach dem M uster „dummy-M inister-plus-English adviser“ (Lord Crom er) - uingesetzt durch einige Dutzend britischer Berater in den wichtigsten Ministerien
(Finanzen, Öffentliche Bauten, Justiz und Inneres), die vom ägyptischen Staat be­
zahlt wurden. An der Spitze stand ein Mann, der über mehr als zwanzig Jahre
(1883-1907) unter dem unauffälligen Titel eines „britischen Agenten und Gene­
ralkonsuls“ eben die A rt von persönlicher Autorität und Macht ausübte, die cre_
meinhin mit orientalischer Herrschaft assoziiert wurde: Sir Evelyn Baring (1841—
1917, auch bekannt als „over-Baring“), seit 1891 Baron und seit 1907 Earl of C ro­
mer, Angehöriger des deutschstämmigen Bankhauses Baring Brothers, ursprüng­
lich M ilitär und ohne Universitätsausbildung, aber mit besten Verbindungen ins
liberale Establishment, der 1872-77 als Privatsekretär des britischen Vizekönigs
(seines Cousins Lord N orthbrook) und 1880-83 als Finanzberater von dessen
Nachfolger, Lord Ripon, prägende Jahre in Indien verbracht und 1877-79 als bri­
tischer Kommissar bei der Caisse de la Dette Publique bereits Erfahrungen in der
ägyptischen Finanzverwaltung gesammelt hatte. Die „anglo-ägyptische“ Elite
formulierte und implementierte die britische Politik in Ägypten: Junge Männer
überwiegend, vorzugsweise aus guter Familie, denen Ä gypten das bot, was auch
den Dienst in anderen Besitzungen der britischen Krone attraktiv machte - zu­
mindest im Vergleich zu den sonstigen vorhandenen M öglichkeiten: die Chance,
nicht nur ein Einkommen zu erhalten, vielleicht überhaupt eine Familie gründen
zu können (wenn auch häufig unter schwierigen Umständen), sondern in jungen
Jahren Verantwortung zu tragen, durch Stil oder Leistung auffallen und sich pro­
filieren zu können für interessantere Posten in London oder anderswo, nicht zu­
letzt gewisse Privilegien zu genießen, kurz: „jemand zu sein“, auch wenn man in
England, Schottland, Irland oder Wales „niemand“ war oder nur der jüngere Sohn
aus besserem H ause29.
ko ntin en ta le u ro p ä isc h e Berater; u m 1900 w a r die Zahl d er B riten g e rin gfü gig a uf 350 gestie­
gen, 1917, nach einer 1903 eingefü hrten R e k r u t ic r u n g s - un d A u s b ild u n g s r e f o rm , hingegen
a uf 1700 (ebd. 4 6 - 6 1 , 9 7 -1 0 9 , 145—48); n och d etaillierter Welch, British A ttitu d e s to the A d ­
m in is tratio n of E g y p t u n d e r L o rd C r o m e r 1892-1907 (unveröfftl. Diss., O x fo rd U n iv e rs ity
1978), bes. Kap. II u n d III, kü nftig zitiert: Welch, British A ttitudes.
29 System a tisch e Stu d ie n z u r „ a n g lo - ä g y p tis c h e n “ Elite sin d rar: Einen Ü b e r b lic k bietet
Welch, N o C o u n t r y for a G en tlem a n ; fü r einen späteren Z e itra u m vgl. auch Eugene Rothman, T h e F o rm u la tio n of B r ita in ’s P o li c y t o w a r d s E g yp t: 1922-1925, unveröfftl. Diss. (Lon ­
do n 1979); im p ression istisch bleibt D erek Hopwood, Tales of Em pire. T h e British in the
M id d l e East 1880-19 52 ( L o n d o n 1989). Z ahlreic h sind h ing egen V eröffentlic hungen aus der
F e d er b ritisch er O ffiz ielle r: A n erster Stelle steht der Earl o f C rom er selbst mit seinem z w e i­
b än dig en W e r k „ M o d ern E g y p t “ (L o n d o n 1908); s. d a neben den üb er au s bissigen Lord
E dw ard Cecil, T h e L eisu re o f an E n gli sh O fficial (L o n d o n 1921); Sir Jam es Rennell Rodd,
S ocial and D ip lo m a tie M e m o r ie s, 1894-1901. E g y p t and A b y s s in ia ( L o n d o n 1923) oder auch
Ä g y p te n un d der Fru ch tba re H a lb m o n d
17 9
Inwieweit setzten die Briten, die aus eigener Sicht gegen die verderblichen Folorientalischer Despotie“ zu kämpfen hatten - Korruption, Dekadenz, Indo­
le n z und Inkompetenz - , neue Akzente? Wo intervenierten sie? Wichtigstes Ziel
britischer Verwaltung, die sich, auch das ein eisernes Gebot der „indirect rule“,
finanziell selbst zu tragen hatte30, w ar die Schuldenrückzahlung an die europäichen Gläubiger durch eine Sanierung der Staatsfinanzen. Dementsprechend kon­
zentrierten sich die britischen Interventionen zunächst auf eine N euordnung des
Finanz-, Rechnungs- und Steuerwesens und die weitere A usweitung der agrari­
schen Produktion wie der Infrastruktur (Bau, Instandsetzung und Erweiterung
von Straßen, Kanälen, Deichen und Dämmen, einschließlich des 1902 fertigge­
stellten Hochdamms in Assuan, der die Bebauung weiterer Flächen erlaubte oder
mehrere Ernten auf den bereits genutzten Flächen ermöglichte). Angestrebt
wurde auch eine Verbesserung der Lebensbedingungen der ländlichen Bevölke­
rung (Fallahin) durch Senkung der Steuerlasten und - nicht nur symbolisch be­
deutsame - Reformen wie die Abschaffung der Corvée, die den Dorfältesten
(’Htnda) weitreichende Macht über die Dorfbewohner gegeben hatte, sowie die
Einschränkung der barbarischen Peitschenstrafe, mit der bislang Steuern und
Dienstleistungen erzwungen und selbst kleinste Zuwiderhandlungen bestraft
worden waren31. Unter dem Vorzeichen der moralischen Mission stand auch der
Kampf gegen die Sklaverei, die gegen Ende des Jahrhunderts in Ä gyp ten wie im
Osmanischen Reich generell abgeschafft wurde. U nter britischem Kommando
völlig neu s t r u k t u r i e r t w u r d e das ä g y p t is c h e Militär, dessen obere Ränge erst im
Gefolge des anglo-ägyptischen Vertrags von 1936 ägyptischen Kandidaten zu­
gänglich gemacht wurden, nachdem sie bis dahin Offizieren „türkischer“ bzw.
turko-tscherkessischer Abstam m ung V o r b e h a lte n gewesen waren. Militärischen
Expansionsgelüsten (außerhalb des Sudans) setzten die Briten ein definitives Ende
und fixierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Landesgrenzen, die danach nicht
mehr wesentlich verändert werden sollten (die israelischen Eroberungen im Ju n i­
krieg von 1967, die im Gefolge des Abkom m ens von Cam p David 1979 an Ä g y p ­
ten zurückgegeben wurden, änderten daran grundsätzlich nichts). In der staatli­
chen Verwaltung bemühten sie sich (mit begrenztem Erfolg) um eine EindämS'ir Thomas Russell Pasha, E g yp tia n Service 1902-19 46 ( L o n d o n 1949). Einen E in b lick in den
Lebensstil der e uropäischen Elite, in nerhalb d erer die Briten d urc h eine gew is se D istan z, ein
„insulares D asein “ (W elch) auffielen, bieten Sam ir W. R aafat, M a a d i 1904-1962. S o c ie ty &
History in a C a ir o S u b u rb (K airo 1994) o der Robert Ilbert, A lex a n d rie , 1830-1930, 2 Bde.
(Paris 1996). Zur Z u s a m m e n s e tz u n g der lo ka le n Elite u n ter britischer H errschaft vgl. Jeffrey
G. Collins, The E g yp tian Elite un d e r C r o m c r 1882-1907 (Berlin 1984). Zu den D ifferen ­
zierungen in nerhalb der ko lo n ia len Gesellschaft generell vgl. Ann Laura Stoler, R e th in k in g
Colonial C ategories: E u rop ean C o m m u n it ie s and the B o un daries of R u le , in: C o m p a r a tiv e
Studies in Socie ty and H is t o r y 31 (1989) 1: 134-61.
Vgl. dazu auch C raw ford Young, T h e A fric a n C o lo n ia l State in C o m p a r a t iv e Perspective
(New Haven, L o n do n 1994) 124-33.
Eingehend zu r Fu n k tio n d ie ser R efo rm en als m o ra lisch er L eg itim a tio n d er britischen
O kkupation Welch, N o C o u n t r y for a G en tlem a n 5 4 - 6 0 un d ders., British A ttitu des vi-viii,
23-26, 80 f., 107-47.
180
Guclrun K räm er
mung klientelistisch-patrimonialer Elemente, u.a. durch die Zuordnung persön­
licher Verantwortung32.
Geringe Aktivitäten zeigten sie auf dem Bildungssektor, dessen Förderung
Lord C rom er angesichts knapper Kassen nachrangig, wenn nicht schädlich schien
- nicht vergessen werden sollte, daß auch in Großbritannien die staatliche Schul­
pflicht erst in den 1890er Jahren eingeführt wurde. Die entscheidenden A nstren­
gungen zur Reform der bestehenden Einrichtungen einschließlich der islamischen
A zhar-Universität wie zur Schaffung neuer, „moderner“, d.h. nicht-religiöser
Schulen und Hochschulen wie der 1908 durch private Initiative gegründeten Sultan-Fu’ad-Universität (später: Universität Kairo) gingen von ägyptischer Seite
aus33. Im Rechtswesen weitete sich der moderne, an westlichen Normen und
nicht der Scharia orientierte Sektor zu Lasten des religiösen aus, der schrittweise
auf den Bereich des Familienstandsrechts eingeengt wurde. Träger dieser Ent­
wicklung, die vor die britische Invasion zurückreichte, waren jedoch wiederum
(an französischem Recht geschulte) Ägypter, nicht die Briten. Zugleich erreichte
gerade unter britischer Herrschaft die M ultiplizierung von Gesetzen, Gerichten
und Verfahren ihre höchste Blüte, die jedem Bestreben nach Rationalisierung,
Transparenz und Vereinheitlichung zuwiderlief34. Im ausgehenden 19. Jah rh un ­
dert bestanden in vielfach unklarer Kompetenzabgrenzung nebeneinander: „Indigene (später „Nationale“) Gerichte“ für alle Rechtsstreitigkeiten, die ausschließ­
lich Untertanen des osmanischen Sultans betrafen und in denen im wesentlichen
nach dem modifizierten Code N apoléon Recht gesprochen wurde; Scharia-Ge­
richte für Muslime, und zw ar w iederum Ä gyp ter wie N icht-Ägypter, die auf der
Scharia fußende, jedoch bereits modernen Bedürfnissen angepaßte Bestimmungen
zur A nw endung brachten, die sich an die entsprechenden osmanischen Codizes
anlehnten (u.a. osmanisches Strafgesetz von 1858, Zivilcode von 1876), so daß in
beiden Fällen nicht einfach überliefertes islamisches Recht angewandt wurde;
kirchliche und rabbinische Gerichte für Familienstands- und bestimmte privat­
rechtliche Angelegenheiten der im Osmanischen Reich anerkannten nichtmusli­
mischen Religionsgemeinschaften (türkisch: Millet); Gemischte Gerichte für Z i­
vil-, in begrenztem U m fang auch Strafsachen, in die Ausländer involviert waren;
schließlich Konsulargerichte für zivile, in Teilen auch strafrechtliche Streitfälle
unter Ausländern derselben Staatsangehörigkeit (einschließlich ihrer protégés,
d.h. der unter Protektion des jeweiligen europäischen Staates gestellten U nter­
tanen des Sultans, seien es Individuen oder ganze Religionsgemeinschaften bzw.
deren Klerus und religiöse Einrichtungen).
Alles in allem verwandelte sich Ä gypten unter britischer Herrschaft zweifels­
ohne in eine „koloniale Gesellschaft", gezeichnet von der ökonomischen, politi32 A ufsc h lu ß re ich in die sem Z u s a m m e n h a n g die „typ isch b ritisch e“ W a h rn e h m u n g des
„typ isch ä g y p t is c h e n “ B e am ten - w ie d e r „ägyptischen P e rs ö n lic h k eit“ in sgesam t: Welch,
N o C o u n t r y for a G en tlem a n 4 6 - 8 9 u n d ders., British A ttitu d es 150-72.
33 Vgl. neben H e y w o r t h - D u n n e , A n In tro duction und ’Abdalkarim, t a ’rik h in sbesondere
D o n a ld M. Reid, C a ir o U n iv e r s it y and the M a k in g of M o d e r n E g yp t ( C a m b r id g e u. a. 1990).
34 Vgl. B ro w n , T h e R u le of L a w un d C a n n on, Po litics of Law.
Ä g y p te n und d er Fru ch tba re H a lb m o n d
181
sehen, in gewissem Umfang auch gesellschaftlichen Dominanz der Europäer mit
ihren unterschiedlichen und durchaus widersprüchlichen Interessen. Teile der ein­
heimischen Elite, und zw ar Muslime und Kopten wie Angehörige der heteroge­
nen „lokalen ausländischen M inderheiten“, orientierten sich auch kulturell an
Europa, vornehmlich an dessen mediterranen Vertretern Frankreich, Italien und
Griechenland und selten nur an Großbritannien, übernahmen die französische
oder die italienische Sprache als lmgua franca, gaben ihren Kindern europäische
Vornamen und schickten sie auf europäische Schulen, aßen und kleideten sich
„europäisch“, bauten sich „europäische“ Villen, richteten ihre Wohnungen nach
„europäischem“ Geschmack ein, spielten Karten, lasen französische Romane, be­
suchten europäische Clubs, Cafés, Theater und das 1869 eröffnete Opernhaus,
hörten Verdi, Puccini und Chopin. Ohne Zweifel strebten die Briten danach,
Ä gypten umfassend zu durchdringen, es - ganz nach dem Motto „Wissen ist
M ach t“ - durch systematische Beobachtung und Sammlung von Informationen
regelrecht zu „öffnen“, es transparent, überschaubar, berechenbar und damit be­
herrschbar zu machen35. Infrastruktur, A rchitektur und Städtebau fügten sich die­
ser Absicht ein. Die Franzosen hatten mit ihrer „Description de l ’Egypte“ das
Vorbild abgegeben, die, ungeachtet ihrer außerordentlichen wissenschaftlichen
Verdienste, in erster Linie doch imperialen Zwecken diente. Aber auch die O smanen hatten mit ihren Katastern und Volkszählungen diese Macht durch Wissen ge­
sucht (zunächst einmal ausgedrückt in der Fähigkeit, Steuern zu erheben), und
M uham m ad Ali hatte die Techniken der Disziplinierung und der Kontrolle u n ­
barmherzig verfeinert ~ selbstverständlich nicht mit dem Ziel, Ä gypten kolonialen
Interessen unterzuordnen, sondern seine eigene Stellung gegenüber dem Sultan
wie allen anderen externen Mächten zu festigen, darunter auch den europäischen.
Ein Punkt verdient gerade im Vergleich zu Indien Beachtung: Die Kategorien
zur Erfassung der einheimischen Bevölkerung wurden von den Briten nicht er­
funden und neu in Politik, Recht und Wirtschaft der kolonisierten Gesellschaft
durchgesetzt. Sie entwickelten sich aus der lokalen, islamisch geprägten Tradition,
die in rechtlicher und sozialer Hinsicht lange vor den Briten und Franzosen z w i­
schen M uslimen und N ichtmuslimen, Freien und Sklaven, Einheimischen und
Fremden unterschied und unter den M am luken und Osmanen, wenn auch mit
variablen Kategorien, eine (ausschließlich sunnitische, mamlukische bzw. osmanische) Edite von der Masse der Untertanen abgrenzte. N eu w ar allerdings die aus
Europa (wenngleich nicht aus England) übernommene Idee der Nation und des
Nationalismus, die sich vom ausgehenden 19. Jahrhundert an - nicht zuletzt dank
einer neu entstandenen und rasch expandierenden arabischsprachigen Presse - in
unterschiedlichen Varianten in Ä gypten und der Levante ausbreitete, um nach
dem Ersten Weltkrieg rasch an Boden zu gewinnen36. Der Staat, der sich unter den
35 Vgl. h ie rzu T im othy M itch ell , C o lo n is in g E g yp t ( C a m b r id g e u.a. 1988).
56 Vgl. d a zu J a m e s P. Piscatoria Islam in a W o rld of N a tion -States ( C a m b r id g e u .a . 1986);
R asbid Khalidi u. a., The O rigin s of A r a b N a t i o n a le m ( N e w York 1991); E liezer Tauber , The
A rab M o v cm en ts in W o rld W ar I ( L o n d o n 1993); Israel Gershoni, J a m e s P. Jankow sk i,
E g yp t, Islam, and the Arabs: T h e Search for E g yp tian N a tio n h o o d , 1900-1930 ( N e w York,
182
G u d ru n K räm er
Khediven hcrausbildete und nach 1882 von den Briten mit- und umgestaltet
wurde, war in Ansätzen ein moderner Staat; ihn als „kolonial“ zu bezeichne
scheint mir problematisch.
’
IV. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und
die Entstehung des nahöstlichen Staatensystems
Ä gypten war nach 1882 nicht selten als „verschleiertes Protektorat“ bezeichnet
worden37. Im Dezember 1914, nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, erklärten
die Briten Ä gypten (zeitgleich mit Kuwait) offen zum Protektorat und kappten
damit die letzten formellen Bande zu Istanbul. Nach dem Ende des Kriegs, in dem
das Osmanische an der Seite des Deutschen Reiches gestanden hatte, fielen die
zum größeren Teil bereits militärisch besetzten arabischen Territorien an Groß­
britannien und Frankreich, die dort unter der Ägide des Völkerbundes neben den
bereits bestehenden Protektoraten Ä gypten und Kuwait sowie der Kronkolonie
Aden „M andate“ einrichteten, die sämtlich erst zu diesem Zeitpunkt aus den frü­
heren osmanischen Verwaltungsbezirken geschaffen wurden: Frankreich über­
nahm das M andat über Syrien und Libanon; der Irak und Transjordanien, von
dem Palästina abgegrenzt wurde, fielen an Großbritannien. Der Mandatsauftrag
beinhaltete die Verpflichtung, entwicklungsfähige, aber noch „unreife“ Nationen
auf dem Weg in die Eigenständigkeit zu begleiten, d.h. ihre U nabhängigkeit vor­
zubereiten. Dies galt für Großbritannien und Frankreich gleichermaßen, und in
der Tat w ird man kaum signifikante Unterschiede in der Praxis der Mandats­
mächte gegenüber ihren „M ündeln“ ausmachen können, sieht man von der nicht
ganz unbedeutenden Tatsache ab, daß die Briten Monarchien schufen, die Franzo­
sen Republiken - auch in Syrien, wo 1918 Faisal b. Abdallah, ein Sohn des Scherifen von M ekka, der 1916 an der Seite der Briten den „arabischen Aufstand" gegen
den osmanischen Sultan und Kalifen erklärt hatte, von syrischen Nationalisten
zum König ausgerufen worden war. Von den Franzosen schon im Juli 1920 aus ih­
rem neugewonnenen Herrschaftsgebiet verdrängt, w urde er von den Briten mit
dem - ebenfalls neu geschaffenen - irakischen Thron entschädigt, den seine N ach­
folger bis zur Revolution im Jah r 1958 besetzt hielten. Ein wichtiger Unterschied
lag immerhin darin, daß die Franzosen gezielter als die Briten versuchten, nicht­
muslimische M inderheiten gegenüber der sunnitisch-arabischen Bevölkerungs­
mehrheit zu fördern, sei es durch entsprechende Zusammenfügung bislang unzu­
sammenhängender Territorien (Schaffung Libanons), sei es durch Aufteilung der
syrischen Gebiete38.
O x fo rd 1986). Z u r Presse vgl. Ami Ayalon, T h e Press in d ie A ra b M id d le East. A H is t o t y
( N e w York, O x fo rd 1995).
37 S. z .B . Welch, British A ttitu des 21.
38 Vgl. allgem ein S teph en H. Roberts, A H is t o r y of French C o lo n ia l Po licy, 1870-1925 ( L o n ­
d o n 1929) und William B. C o h e n , R u lcrs of Em pire: T h e French C o lo n ia l Service in Atrica
Ä g y p t e n und d er F ru ch tb a re H a lb m o n d
183
Im übrigen aber praktizierten Briten wie Franzosen die „indirect rule“ (wobei
letztere in Anlehnung an die Politik Marschall Lyauteys (1854-1934) in M arokko
rzuCTsweise von „Assoziierung“ sprachen) und konzentrierten sich im wesent­
lichen" auf diejenigen Felder staatlichen Handelns, die für die Festigung ihrer
H e r r s c h a f t und die Schaffung eines modernen Staates unverzichtbar schienen: die
innere und äußere Sicherheit, die u .a . den Aufbau von Armeen und Sicherheits­
truppe11 unterschiedlicher Art sowie die systematisierte Kontrolle der Bevölke­
rung (u -a - durch Sedentarisierung von Beduinen) voraussetzte, sowie Ausbau und
R a t io n a lis ie r u n g von V e r w a l t u n g , Justiz, Finanz- und Steuerwesen. Sowohl B r i ­
ten wie Franzosen waren dabei auf die Kooperation der lokalen Eliten angewiesen
oder zumindest von Teilen dieser Eliten - in der Levante und im Fruchtbaren
H a lb m o n d städtische N otabein und Grundbesitzer, Religions- und Rechtsge­
lehrte bzw. der Klerus der verschiedenen Religionsgemeinschaften, G roßgrund­
besitzer und Stammesscheichs - , die in der Kooperation (Kollaboration) mit der
Mandatsmacht ihre eigenen Interessen besser gewahrt sahen als in der Konfronta­
tion39. In Ägypten, Transjordanien und im Irak kultivierten die Briten ein enges
Verhältnis zum Monarchen, in der innenpolitischen Auseinandersetzung bildete
sich dort im Verlauf der 20er Jahre ein Dreieck aus Palast, britischer Vertretung
und nationaler Bewegung unterschiedlicher Couleur heraus.
Der Übergang von der Mandats- bzw. Protektoratsherrschaft in die U nabh än ­
gigkeit verlief im arabischen Osten eher gleitend und - ganz im Gegensatz zu den
späteren Entwicklungen in Algerien - weitgehend unblutig. Zwar blieben Streiks,
D e m o n s t r a t io n e n und Boykottaktionen nicht ohne G ewaltanwendung; vor allem
in Syrien und im Irak wagten in den 20er Jahren einzelne Stämme und ethnische
Gemeinschaften wie die Drusen noch den Aufstand gegen die Mandatsmacht; in
Palästina kam es nach zivilen U nruhen in den 20er Jahren 1936—39 zum arabischen
Aufstand gegen die Briten und die von ihnen protegierten Zionisten; im Irak
unternahm 1941 eine Gruppe von Offizieren unter Rashid Ali al-Kailani (ver­
geblich) einen bewaffneten Aufstand gegen die Briten. Aber nirgends w urde die
Unabhängigkeit durch einen Befreiungskrieg erkämpft; im wesentlichen wurde
am Verhandlungstisch um mehr Freiraum, Autonom ie und Selbstbestimmung
gerungen. Der Aufstieg der faschistischen Mächte in Europa machte vor allem die
Briten geneigter zu Zugeständnissen, die verhindern sollten, daß Araber oder
(Stanford 1971); zu S y r ie n Edmund Burke, III, A C o m p a r a t iv c V iew of French N a tiv e Policy in M orocco and S yria , in: M id d le Eastern Studie s 9 (1973) 175-86 s o w ie Philip S. Khoury,
Eine N e u b e w e r t u n g der französischen K o lo n ia lp o litik in Syrien : Die M a n d atsja h re, in:
Linda Schatkowski Schilcher, Claus Scharf ( H r s g .) D e r N a h e O sten in d er Z w isc h e n k rie g s zeit, 1919-1939 (S tu ttgart 1989) 6 5 - 8 9 so w ie 'ders., S y r ia and the French M an date . The
Politics of A rab N a tio n a lis m , 1920-1945 (P rin ceton 1987).
39 Vgl. für S yrien K houry, fü r den Irak Peter Sluglett, Britain in Iraq, 1914-19 32 ( L o n d o n
1976); H anna Batatu, T h e O ld Social Classes and the R c v o lu t io n a r y M o vem en ts of Iraq
(Princeton 1978) un d Ehe zer Tauber, T h e F o rm a tio n of M o d e r n S y r i a and Iraq ( L o n d o n
1995); für (Trans-)Jord an ie n M ary S. Wilson, K in g A b d u lla h , the British and the M a k in g of
Jordan (C a m b r id g e u .a . 1987) so w ie Salibi, T h e M o d e r n H istory.
184
G u d r u n K rä m er
Kurden sich faschistischem Einfluß öffneten40. Nicht umsonst fielen 1936 w ich ­
tige Hürden: Der Irak w urde in die U nabhängigkeit entlassen, das formell schon
unabhängige Ägypten konnte sich von den Fesseln des anglo-ägvptischen Ver­
trags von 1922 b efreien . Weniger entgegenkommend zeigten sich die Franzosen,
die erst nach dem Zweiten Weltkrieg von den Briten und Am erikanern zum A b ­
zug aus Syrien und Libanon bewegt werden konnten.
Der Widerstand gegen die koloniale Bevormundung, der sich von den 20er J a h ­
ren an überall im Nahen und Mittleren Osten artikulierte, bedeutete nicht die A b­
lehnung europäischer Ideen und Ordnungsvorstellungen: Alte politischen Kräfte
von den ägyptischen, syrischen oder irakischen Nationalisten über die Panarabisten und die M uslim brüder bis zu den Sozialisten und den Sympathisanten des
Faschismus orientierten sich an verschiedenen Spielarten des modernen europäi­
schen Staates, der selbst nach dem Zweiten Weltkrieg ja keineswegs auf eine libe­
ral-demokratische O rdnung hin festgelegt schien. Besonders weit au fgefäch ert
war das politische Spektrum in Ägypten, hochdifferenziert aber auch in Syrien,
Libanon (hier noch kom plizierter gestaltet durch das Nebeneinander zahlreicher
ethnisch-religiöser Gemeinschaften), im Irak, in Palästina und zunehmend auch in
(Trans-)Jordanien. Der Aufbau eines modernen, zentralisierten Staats als solchem,
der im Innern das Gewaltmonopol beanspruchte, w ar nicht strittig - dem w id er­
setzten sich in Verteidigung tradierter, jedoch bereits von den osmanischen Refor­
men des 19. Jahrhunderts angetasteter Autonomie nur bestimmte tribale G rup­
pen, deren Widerstand in der Zwischenkriegszeit jedoch mit Hilfe moderner
Technologie und Waffen im wesentlichen gebrochen wurde (relevant insbeson­
dere für Irak, Syrien und Transjordanien; ebenso, wie zu erwarten, im neugebil­
deten saudischen Staat oder auch in Jemen und Oman; Ä gypten und Libanon mit
ihrem geringen Anteil tribaler Verbände blieben hiervon weitgehend unberührt).
Zwar forderten die syrischen und die arabischen Nationalisten in der Levante an­
stelle der bestehenden „Teilstaaten“ die Schaffung einer größeren Einheit - des
„natürlichen Syrien “, umfassend das heutige Syrien, Libanon, Palästina, Jordanien
und Teile des Irak, oder der „arabischen N ation“ überhaupt. Das betraf aber im
wesentlichen die Grenzen des zu schaffenden Staates, nicht seine institutionelle
Gestalt.
Auch die ägyptischen Nationalisten des Wafd und der von ihm abgespaltenen
Gruppen und Parteien wollten den modernen Staat, konkret gesprochen eine
konstitutionelle Monarchie, w ie sie in der ägyptischen Verfassung von 1923 fest­
geschrieben w urde41. H inzu kam die Forderung nach einer Kontrolle der einhei­
40 Vgl. hier Fritz Steppat, Das J a h r 1933 und seine F olg en fü r die arabisch en L änder des Vor­
deren O rien ts, in: G erh a r d Schulz (H rsg.), D ie G roß e Krise der d re iß ige r Ja h re (G ö ttingen
1985) 2 6 1 -7 8 und Stefan Wild , N a tio n a l S ocia lism in die A rab N ea r East b etw een 1933 and
1939, in: Die W elt des Islams 25 (1985) 126-73.
41 Vgl. h ierzu Afaf Liitji a l-S a yyid-M arsot, E g v p t ’s Lib eral Experim ent: 1922-1936 ( B e r k e ­
le y u .a . 1977) so w ie I sra el Gershoni, J a m e s P. Jankotvski, R edeftning the E g yp tian N ation
1930-1945 ( C a m b r id g e u.a. 1995); a llgem ein zu m in tellek tu ellen K lim a d er Z w is c h e n k rie g s ­
zeit Albert H ou ra n i , A ra b ic T h o u g h t in the Lib eral Age, 1798-1939 (L o n d o n 1962).
Ä g y p te n un d der Fru ch tba re H a lb m o n d
18 5
mischen Ressourcen u.a. durch die G ründung nationaler Banken und einer natio­
nalen Industrie, die den Einfluß ausländischer Interessen als A usdruck fortdau­
ernder Abhängigkeit zurückdrängen sollten, sowie die Errichtung tarifärer
Hemmnisse zum Schutz der eigenen Produktion vor dem internationalen Wettbe­
werb, die in Ägypten (wie sonst nur in der T ürkei) auch zu Erfolgen führte42.
Kontinuierlich ausgeweitet wurde zugleich das staatliche Bildungs- und Gesund­
heitswesen. Damit einher ging der Trend zu einer Vereinheitlichung der Rechts­
ordnung, die auf die Abschaffung der Kapitulationen, die Ausländern und von
den europäischen Mächten protegierten Inländern bedeutsame rechtliche und fis­
kalische Privilegien verschafften, und auf eine Kodihzierung des Rechts ein­
schließlich der Scharia (oder dessen, was für Scharia erklärt wurde) auf nationaler
Ebene abzielte. Einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung stellten sich allenfalls
Vertreter der islamischen Gelehrsamkeit entgegen (die ihrerseits längst von U m ­
strukturierungen des religiösen Bildungswesens erfaßt und daher keineswegs u n ­
gebrochen „traditionell“ waren) .sowie die Vertreter einzelner nichtmuslimischer
Gemeinschaften, die zwar die Gleichstellung vor dem Gesetz bejahten, jedoch
nicht den Verlust von Autonomie und Kontrolle im Bereich des für den Zusam ­
menhalt ihrer Gemeinschaften zentralen Familienrechts43.
V. Unabhängigkeit
Die Politik der unabhängigen arabischen Regime läßt sich prinzipiell als F o rtse t­
z u n g dieser Bestrebungen nach Vereinheitlichung und Zentralisierung sehen, die
allerdings im Falle Ä gyptens (anders als etwa m Jordanien) durchaus nicht rein
kolonialen Ursprungs waren. Der Erlangung der Unabhängigkeit folgte überall ganz unabhängig von der ideologischen Prägung und sozialen Verankerung der
herrschenden Eliten, d.h. im „sozialistischen“, von Militärregimes geführten
Ä gypten, Syrien und Irak ebenso wie in der „konservativen“ Monarchie Jo rd a­
nien - die gezielte Ausweitung staatlicher Intervention in allen Bereichen von
Wirtschaft, Recht und Gesellschalt. Die A usweitung erfolgte aus eigenem Impuls
und zum Teil jedenfalls auch aus eigener Kraft, wurde maßgeblich aber gefördert,
wenn nicht überhaupt ermöglicht durch die Renten, die den nahöstlichen R e­
gimen vor allem von den 60er Jahren an zuflossen, sei es, weil sie über Boden­
schätze verfügten (Erdöl und Erdgas im Falle Saudi-Arabiens und der anderen
Golfstaaten sowie Libyens, Algeriens oder auch Irans), sei es, weil sie auf Grund
42 Vgl. Eric Davis, C h a lle n g in g C o lo n ia lism : Bank M is r and E g y p n a n I n d u s tn a liza tio n ,
1920-1941 (Prin ceton 1983); Camilla D a w letscb in - Lindner, Die Türkei und Ä g y p te n in der
W eltw irtsc h a ftskrise 1929-1933 (Stu ttgart 1989) so w ie Lvnda Schatko'wski Schilcher, Claus
S charf (H rs g.) D er N a h e Osten in der Z w isc h c n k n c g s z e it, 1919-1939 (Stuttgart 1989).
43 A m Beispiel der ägy p tisch en A z h a r - U n iv e rs it ä t vgl. A. Chris Eccel, E g yp t, Islam , and S o ­
cial C h a n g e : A l- A z h a r in C o n flic t and A c c o m o d a tio n (B erlin 1984) und fü r die n eueste Zeit
Malika Z eghal, G ardiens de l’ Islam. Les o ulem as d ’a l- A z h a r dans l ’E g yp te co n tem p or ainc
(Paris 1996).
18 6
G u d r u n K räm er
ihrer strategischen Lage und politischen O rientierung die Unterstützung w ech­
selnder externer Parteien erhielten44.
Eine Strukturkrise zwang spätestens ab Mitte der 80er Jahre auch arabische R e­
gime von Ä gypten bis Jordanien, im Zeichen von Strukturanpassung und „Libe­
ralisierung“ privater in- wie ausländischer Initiative in Wirtschaft, Medien, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie der sozialen Fürsorge insgesamt mehr Raum
zu lassen, als dies zuletzt der Fall gewesen war. So stark dieser (begrenzte und
kontrollierte) „Rückzug des Staates“ und die ihn begleitende Entfaltung einer Zi­
vilgesellschaft auch beachtet wurden und werden45 - sie stellen das Modell des
modernen Staates nicht in Frage, sondern allenfalls das Modell des autoritären
Staates, als der sich der moderne Staat im N ahen und Mittleren Osten bislang fast
ausschließlich präsentiert hat. Anzeichen gibt es dafür bislang allerdings nur w e ­
nige. Die Liberalisierung beschränkt sich im wesentlichen auf die Wirtschaft und
bedeutet die Lockerung staatlicher Kontrolle und die Privatisierung nationaler
Konzerne, die bestimmten in- w ie ausländischen Interessen entgegenkommt, w e ­
gen der drohenden Arbeitsplatzverluste jedoch zugleich die Gefahr sozialer U n ­
ruhe birgt. In der Politik sind die Ansätze zu einer Liberalisierung oder gar D e­
m okratisierung bislang bescheiden, wo eine rasche Rücknahm e staatlicher Kon­
trolle noch deutlicher das Risiko verstärkter innerer Unruhe in sich trägt - und
dies in einer sensiblen Region, in der auch für den Westen und die internationalen
Finanzgremien im Zweifelsfall die Wahrung der „Stabilität“ und die Stützung eta­
blierter, berechenbar scheinender Führer immer noch Vorrang genießt vor der
Förderung demokratischer Partizipation (Musterbeispiel arabisch-israelischer
Konflikt und Golfkrise)46. Die Kon troll- und Steuerungsfähigkeit des Staates
wird selbstverständlich auch im Nahen und Mittleren Osten von globalen Trends
beeinflußt, wobei die rasante A usweitung der elektronischen Medien gerade diese,
seit langem von außen „penetrierte“ Region (L. Carl Brown)47 intensiv erfaßt hat
und dort ihre widersprüchlichen W irkungen entfaltet: Erlaubt sie den Regim en
auf der einen Seite die immer dichtere Ü berwachung ihrer Bürger, so setzt sie
staatlichen Zensur- und Ausgrenzungsversuchen zugleich doch engere Grenzen.
Die modernen Kommumkationsmittel nutzen nicht nur die Regierenden, sondern
auch die oppositionellen Kräfte einschließlich der Islamisten, und dies - wie das
44 Z u m K o nzept des „R en tier sta a ts“, das am Beispiel der arabischen Staaten en tw ic k elt
w u r d e , vgl. Claudia Schmidt, Das K o nzept des Rentier-Staates (M ün ster, H a m b u r g 1991);
Peter Pawelka, D er N a h e O sten u n d die In ternatio nale P o litik (Stu ttgart u.a. 1993).
43 A u s der m ittlerw e ile sehr um fan gre ich e n L ite r a tu r vgl. insbesondere Ghassan Salam e
(H rsg.), D e m o c ra c y W it h o u t D em o c ra ts ? T h e R e n e w a l of Politics in the M u s lim W orld
(L o n d o n , N e w Y o rk 1994); Augustus Richard N orton (H rs g .), C iv il S o c ie ty in the M id d le
East, 2 Bde. (L eide n u .a . 1995) un d Ferhad Ibrahim, H eidi Wedel (H rsg.), P ro b lem e der
Zivilgesellschaft im Vorderen O rie n t (O p la d e n 1995).
46 Vgl. ex em p larisch Jonathan S. Paris, W h e n to W o r r y in the M id d le East, in: O rb is 38
(1993) 5 5 3 -6 5 ; kritisch hie rzu Pete W. M oore, T h e In ternatio nal C o n t e x t of L ib eralizatio n
and D e m o c ra tiza tio n in the A r a b W o rld , in: A ra b Studie s Q u a r t e r l y 16 (1994) 4 3 -6 6 .
47 L. C a rl Brown, Internatio nal Politics and the M id d le East. O ld R ules, D a n g e ro u s G am e
(L o n d o n 1984).
Ä g y p te n und der Fru ch tba re H a lb m o n d
187
Beispiel der islamischen Revolution in Iran zeigt, wie sich aber auch für die
Türkei, Ägypten, Saudi-Arabien oder Libanon zeigen ließe - mit beachtlichem
Erfolg48.
VI. Fazit
Das Modell des modernen (autoritären) Staates hat sich im Nahen und Mittleren
Osten durchgesetzt. A m Ende des 20. Jahrhunderts sind keine ernst zu nehmen­
den Gegenentwürfe auszumachen. Der Versuch breiter Bevölkerungskreise, sich
staatlichem Zugriff zu entziehen, und selbst der Widerstand bewaffneter Gruppen
in Algerien oder Ä gypten gegen die Staatsgewalt bedeuten für sich gesehen noch
nicht die Entscheidung zugunsten eines anderen Staatsmodells. Ungeachtet seiner
Genese in Europa und seiner, wie sich zumindest argumentieren ließe, m angeln­
den „A uthentizität“, ist er von allen politischen Kräften als erstrebenswert über­
nommen worden. Ungeachtet ihrer Kritik an der Entstehung des nahöstlichen
Staatensystems, seiner „Korrum pierung“ durch koloniale Einmischung und sei­
ner tatsächlichen oder vermuteten U nterordnung unter ein weltumspannendes
neokoloniales System, stellen selbst arabische Nationalisten und islamische A k ti­
visten den modernen Staat als solchen kaum je in Frage. Auch ihre Gegenentwürfe
sind auffallend staatszentriert, und zw ar auf den modernen Interventionsstaat hin
zentriert, der ein einheitliches Territorium und ein einheitliches Staatsvolk auf­
weist (aus dem allerdings bestimmte religiös-konfessionelle Gruppen ausge­
schlossen sein können), nach innen über das Gewaltmonopol verfügt und nach
außen souverän auftritt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß sie in einigen
Fällen an die Stelle der bestehenden Einzelstaaten die arabische Nation oder einen
islamischen Staat (gelegentlich auch einen islamischen C om m onwealth mit einem
Kalifen an der Spitze) setzen wollen.
U mstritten bleiben allerdings, und das ist natürlich nicht unwichtig, die Rechts­
und Legitimationsgrundlage, auf der er ruhen soll (Naturrecht oder Scharia?), und
die Funktionen, die ihm zugeschrieben werden (Verwirklichung bestimmter, nicht
prim är religiös definierter Grundwerte und Güter oder Verteidigung des Islam?).
An zwei Stellen tritt die Problematik besonders deutlich hervor: Zum einen ist der
A nspruch an den modernen Staat, das Staatsvolk müsse in rechtlicher Hinsicht ein­
heitlich sein, dort nicht voll verwirklicht oder auch nur angestrebt, wo im Zivil- und
Strafrecht oder aber bei der Vergabe von Ämtern in Politik, Verwaltung und Justiz
zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften und Konfessio­
nen differenziert wird (das trifft zum einen Staaten wie Iran, Sudan, Mauretanien,
Saudi-Arabien oder Pakistan, in denen die Scharia Grundlage von Gesetzgebung
4S Vgl. etw a Annabelle Sreberny-M oham m adi, A li M obam m adi, S mall M edia , Big R e v o lu ­
tion. C o m m u n ic a t io n , C u lt u r e , and the Iranian R ev o lu tio n (M in n e a p o h s, L o n d o n 1994) un d
Dole F. Eickelman, Jon W. Anderson, Print, Islam, and the Prospects for C iv ic Pluralism :
N e w R eligio us W ritin gs and T h e ir A udiences, in: J o u r n a l of Islamic Studie s 8 (1997) 43 -62.
188
G u d r u n K räm er
und Rechtsprechung ist, die zwischen Muslimen und Nichtmuslimen unterschei­
det, zum anderen Libanon mit seinem Konfessionsproporz, der alle öffentlichen
Ämter und Positionen erl aßt)49. Abweichungen vom Modell des modernen, auf die
Einheitlichkeit von Territorium, Staatsgewalt und Staatsvolk a u sg e ric h te te n Staates
zeigen sich auch bei islami(sti)schen Entwürfen dort, wo sie zw ar allen Staatsbür­
gern „gleiche Rechte und gleiche Pflichten" zusichern und dabei auch die dauerhaft
im Lande lebenden N ichtmuslime einbeziehen, diese aber von bestimmten
H oheitsfunktionen in Regierung, Justiz (da diese die Scharia anzuwenden hat) und
M ilitär (da dieses zumindest potentiell den Jihad führt) ausschließen und sie allem
Muslimen (wenn nicht sogar: männlichen M uslimen) V o rb e h a lt e n 30.
Zum anderen, und beide Punkte sind miteinander verknüpft, fällt die A usb il­
dung von Territorial- und Nationalstaaten im islamisch geprägten N ahen und
Mittleren Osten - wie der Fall der Islamischen Republik Iran belegt, wie sich aber
ebenso gut am Beispiel Saudi-Arabiens, des Sudan, Pakistans (aber auch Israels)
zeigen ließe - nicht zusammen mit der Säkularisierung von Staat und Gesellschaft.
Das führt zur abschließenden Frage: Muß der Staat säkular sein, um als modern
gelten zu können51? Vollständig säkularisiert sind die wenigsten westlichen Staa­
ten: die Bundesrepublik etwa, die den großen christlichen Kirchen bedeutende
rechtliche Privilegien einräumt, ist es ebenso wenig wie einige skandinavische
Monarchien oder auch Griechenland. Im N ahen Osten bildet nicht nur Iran, son­
dern auch Israel einen problematischen Fall. Keiner der bestehenden arabischen
Staaten ist durchgehend säkularisiert, am weitesten geht, vom Vorbild des franzö­
sischen Laizismus geprägt, sicherlich Tunesien (dessen Regierung allerdings, in
diesem Punkt ganz der Türkei vergleichbar, den religiösen Sektor ihrerseits voll­
ständig zu kontrollieren und zu reglementieren sucht). Wo also die Grenze zie­
hen, jenseits derer das Prädikat „modern“ nicht vergeben wird? Eine akademische
Frage vielleicht, aber für den islamisch geprägten Nahen und Mittleren Osten
doch eine Frage von erheblicher Tragweite.
49 Z u m K o nfe ssion sp ro po rz in L ib a n o n (nach A ren d L ijph ard als A u s d r u c k einer „K onsens u a ld e m o k r a t ie “ zu verstehen) vgl. T h e o d o r H anf, K o exis ten z im Krieg. StaatszcrfalJ und
En tstehen einer N ation im L ib anon ( B a d en -B a d en 1990).
50 Zu zeitgenössischen isla m i(sti)schen S taatsm od ellen und -k o n z e p tio n e ll vgl. Silvia Tellen hach, Die Verfassung der Islam ischen R e p u b lik Iran (Berlin 1985); fü r die sun n itisc h -a ra b ische W elt vgl. H a m id Enayat, M o d er n Islamic Political T h o u g h t (A u stin 1982); A h m e d
Moussalli, M o d er n Islam ic F u n d a m en ta lis t D iscourses on C ivil Society, P lu ra lism and
D em ocracy, in: N orton (H rsg.), C iv il Society, Bd. 2: 79-1 19; G u drun Kräm er, D er „G o ttes ­
sta a t“ als R ep ub lik , in: K ai H afez (H rsg.), D e r Islam und d er Westen. A n s tiftu n g z u m D ia lo g
(F ra n kfu rt a.M . 1997) 4 4 -5 5 und dies., D h im m i ou citoyen.
51 Vgl. hierzu, ohne E in e n g u n g auf den „m o d e r n e n “ Staat, T h e o d o r H anf, M o d e r n is ie r u n g
ohne S ä k u la r is ie r u n g ? Versuch ü b e r religiös-po litische Ideolo gien in der Dritten Welt, in:
Ulrich Matz (H rsg.), D ie B ed eu tu n g der Ideolo gien in der heutigen Welt (Köln u.a. 1986)
129-52 und F riedem an n Büttner, Z w isc h e n P o litisieru n g un d S ä k u la r is ie r u n g - M ö g lic h k e i­
ten und G ren zen einer islam ischen In tegratio n von Gesellschaft, in: tr h a .n l Forndran
(H rs g .), R eligio n und Politik in einer säkula risie rte n Welt (B ad en -B a d en 1991) 137-67.
Jam il M. Abun-Nasr
Der Staat im Maghrib
und seine Entwicklung nach 1830
Mit „M aghrib“ meine ich das Gebiet der heutigen Staaten Tunesien, Algerien und
M arokko, die von den Franzosen kolonisiert wurden. Alle drei Staaten sind in
dem Sinne islamisch, daß Muslime die überwiegende Mehrheit ihrer Bevölkerung
bilden und ihre Verfassungen den Islam als Staatsreligion anerkennen. Sie sind
aber auch Nationalstaaten, deren Bürger keinen Widerspruch sehen zwischen ih­
rer islamischen religiösen Identität und ihrer Zugehörigkeit zu einem Staat, dessen
Zuständigkeit sich auf nur eine unter mehreren anderen islamischen Nationen be­
schränkt. Für die Muslime ist der Nationalstaat eine Selbstverständlichkeit gew or­
den. Sogar die islamistischen (die sogenannten fundamentalistischen) G ruppie­
rungen, die beharrlich die Schaffung islamischer Grundlagen für ihre Staaten for­
dern, stellen ihre Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat nicht in Frage. Die reli­
giöse Konzeption von der nrnma als einer multinationalen, religiös-politischen
Gemeinschaft aller M uslim e hat daher kaum mehr Bedeutung für das politische
Leben der heutigen Muslime. Der Begriff umma wird weiter benutzt, aber über­
wiegend im Sinne des europäischen Begriffes „N ation“ . A m Beispiel der drei Län­
der des M aghrib werde ich die Bedeutung der europäischen Kolonialherrschaft
für die Entstehung der islamischen Nationalstaaten erörtern.
Meine zentrale These lautet, daß die islamischen Nationalstaaten viel stärker
durch administrative M aßnahmen der europäischen Kolonialbehörden als durch
europäische Staatskonzeptionen geprägt wurden. Diese M aßnahmen trugen ent­
scheidend zur Entstehung der beiden wichtigsten Grundlagen der unabhängigen
islamischen Nationalstaaten bei. Die erste Grundlage entstand aus der Zerstörung
der sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die es den Religionsge­
lehrten vor der Kolonialzeit ermöglicht hatten, in ihren jeweiligen Gesellschaften
als von den herrschenden Schichten relativ unabhängige Vertreter der religiösen
Ideale des Islam aufzutreten. Diese Änderung der Rahmenbedingungen versetzte
die Kolonialbehörden in die Lage, die muslimischen religiösen Amtsträger selbst
zu bestellen und sie im Sinne der Kolonialpolitik zu beeinflussen. Außerdem w u r ­
den die Kontakte zwischen den in einem kolonialen Herrschaftsgebiet lebenden
Muslim en und Muslim en in anderen Ländern eingeschränkt. Zusammen mit der
Kontrolle der Kolonialbehörden über die religiösen Amtsträger, konsolidierte
diese Einschränkung die schon vorhandene Aufteilung der Muslime in lokale re­
190
Ja m il M. A b u n - N a s r
ligiöse Gemeinschaften und verlieh ihr eine institutionelle Grundlage. Die H err­
scher der unabhängigen Staaten des Maghrib bestätigten diese Entwicklung, in­
dem sie die staatliche Kontrolle über die religiösen Am tsträger weiter festigten
und das religiöse Leben in der gleichen Weise wie andere Bereiche des öffentlichen
Lebens ihrer nationalen Gemeinschaften verwalteten. Der unabhängige N ational­
staat im Maghrib umfaßt daher eine selbständige islamische religiöse G em ein­
schaft mit eigenen nationalen, offiziell anerkannten religiösen Instanzen. In der
Schaffung von neuen, effizienten Verwaltungsorganen, Gerichtssystemen sowie
Armeen und Polizeiorganen fand sich die zweite, für die Entstehung der islam i­
schen Nationalstaaten bedeutungsvolle Grundlage. D ank dieser strukturellen
Veränderungen hinterließen die Kolomalbehörden den Herrschern der unabhän­
gigen Staaten des Maghrib die für die A usübung zentraler Staatsgewalt erforderli­
chen Verwaltungsapparate.
Die Franzosen ermöglichten also die Entstehung von Nationalstaaten in den
Ländern des Maghrib, indem sie durch M aßnahm en ihrer Kolonialpolitik zum
Emporkommen nationaler islamischer Gemeinschaften beitrugen und wirksam e
Instrumente der A usübung zentraler Staatsgewalt schufen. M it dieser These ver­
binde ich zwei weitere Thesen: 1. schon vor der Kolonialzeit war ein Potential für
die Entstehung von Nationalstaaten in den Ländern des M aghrib vorhanden; und
2. die unabhängigen Nationalstaaten haben sich französische Instrumente der
Ausübung zentraler Autorität weitergehend zu eigen gemacht als die französische
Variante der europäischen politischen Kultur.
Der Staat im M aghrib vor der Kolonialzeit
Vor der Kolonialzeit regierten in M aro kk o mit den 'A law iten und in Tunesien mit
den H usayniden Dynastien, die trotz ihrer fremden Abstam m ung von den jeweils
wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen als nationale D ynastien anerkannt w u r ­
den. Unter ihrer Herrschaft entwickelten beide Länder schon im 18. Jahrhundert
Merkmale eines Nationalstaates. Dies gilt nicht für Algerien, obwohl Expansions­
bestrebungen der osmanischen T ürken, die von Algerien ausgingen, zu dieser
Entwicklung in den beiden benachbarten Ländern beitrugen.
Die osmanischen T ürken eroberten Algerien in den 1520er Jahren im Rahmen
des Kampfes um die Herrschaft im westlichen Mittelm eerraum , den sie mit christ­
lichen Staaten, insbesondere Spanien, führten1. Bis zum Jahre 1659 übte ein Statt­
halter mit dem Rang eines Pasha im N am en des osmanischen Sultans die politi­
sche Autorität in Algerien aus. In diesem Jah r rebellierten die Offiziere der dort
stationierten Janitscharen gegen den osmanischen Statthalter und ersetzten ihn als
Vertreter des osmanischen Sultans und O berhaupt der Verwaltung in Algerien
durch ihren Oberbefehlshaber, den Agba. Diese M euterei bahnte den Weg für die
1 A n d rew C. Hess, T h e fo rgotten Fro ntier: a H is t o r y of the S ix t e e n t h - C e n tu r y Ib ero -A frican F ro n tier ( C h ic a g o 1977) 55-70.
D er Staat im M a gh rib un d seine E n t w ic k lu n g nach 1830
191
G ründung eines quasi republikanischen Militärregim es, für das das im Jahre 1591
in Tunesien entstandene Herrschaftssystem ein M uster lieferte. Ab 1671 übte in
Algerien ein von den dort stationierten Janitscharen gewählter Offizier, der mit
dem Titel D ey (O nkel) bezeichnet wurde, die A utorität des Staatsoberhaupts im
Namen des osmanischen Sultans aus2.
Die durch die Meuterei des Jahres 1669 ausgelöste Entwicklung Algeriens zu
einem autonomen Gebiet des osmanischen Reichs stand im Zusammenhang mit
einer Veränderung der militärischen und wirtschaftlichen Grundlagen des H e rr­
schaftssystems. Der Kampf gegen die Spanier, die auf algerischem Gebiet zu dieser
Zeit noch den Hafen von Wahran (Oran) besaßen, verlor für die Herrscher von
Algerien allmählich seine ursprüngliche Bedeutung. Der Heilige Krieg entartete
zur Piraterie, die zwar als gihäd fi ’l-b ah r (H eiliger Krieg auf dem Meer) bezeich­
net wurde, vor allem aber der Gewinnung von Beute diente. Die herrschende M i­
litärschicht bewahrte ihre türkische Identität durch die Rekrutierung neuer Solda­
ten aus Anatolien, aber in die Marine wurden auch N icht-Türken aufgenommen.
U nter diesen fanden sich auch Europäer, die meist als Gefangene der Piraten nach
A lgier kamen. Manchmal gelangten sie dort dann als Kapitäne von Piratenschiffen
zu Einfluß und R eichtum 3.
Das Regim e der Deys blieb bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts relativ stabil. Dies
w ar möglich, weil die Deys ihrer Unfähigkeit, das Land effektiv zu verwalten,
Rechnung trugen, indem sie ihre Einmischung in das Leben der einheimischen
Bevölkerung auf die Einziehung von Steuern und die Sicherung von Stabilität in
der U m gebung der großen Städte beschränkten. Algier und seine U m gebung un ­
terstanden direkt der zentralen Regierung. Das übrige Land w ar in drei Provinzen
aufgeteilt, die jeweils von einem Offizier verwaltet wurden. Die im islamischen
Recht vorgesehenen Steuern wurden vor allem in den Städten und ihrer U m g e­
bung erhoben4. In den übrigen Gebieten mußten die Stammesgruppen und D orf­
gemeinschaften jeweils eine gam m a , eine Steuerpauschale entrichten. Dieses flexi­
ble Herrschaftssystem konnte aufrechterhalten werden, solange ein großer Teil
der Staatsfinanzen durch Einkünfte aus der Piraterie gedeckt werden konnte. Als
sich dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Änderung der M acht­
verhältnisse im M ittelm eerraum zugunsten der europäischen Staaten vollzog, gin­
gen die Einkünfte der Herrscher von Algerien aus der Piraterie drastisch zurück.
Diese versuchten daraufhin, die fehlenden Mittel durch eine Erhöhung der Steuer,
insbesondere in den ländlichen Gebieten, zu ersetzen. Die Stammesführer reagier­
ten auf diesen Versuch mit Rebellionen, an denen sich, insbesondere in Westalge-
1 C h arles-A n dré Ju lien , H is to ir e de l ’A fr iq u e du N o r d , Bd. 2 (Paris 1956) 275, k ü n f tig z i ­
tiert: Ju lien , H istoire.
3 G o d fr e y Fisher, B a r b a r y L eg en d ( O x fo rd 1957) 89 und A h m a d al-Sarif al-Zahhär, M u d a k karât a l- H ä g g A h m a d al- S a rîf al-Zahhâr, n aq îb asrâf a l- G a z â ’ir 1754-1830 (A lg ie r 1974) 7 4 76, 117-119.
4 Ju lien , H isto ire, Bd. 2, 29 4-295 .
192
j a m i l M. A b u n - N a s r
rien, die Sufi-Bruderschaften beteiligten3. Das Unvermögen des Regimes der
Deys, A utorität außerhalb der großen Städte auszuüben, war der Grund, warum
die Franzosen nach der Eroberung von Algier im Jahre 1830 und der Beendigung
der Herrschaft der Deys noch etwa 30 Jahre brauchten, um das ganze Land unter
ihre Kontrolle zu bringen.
Tunesien entwickelte unter der Herrschaft der H usayniden M erkm ale eines
Nationalstaates. Diese Dynastie kam 1705 an die Macht und behielt sie nominell
auch während der Kolonialzeit. Nach der Eroberung Tunesiens durch die osmanischen Türken im Jahre 1574 erhielt das Land zunächst, ähnlich w ie Algerien bis
zum Jahre 1669, im Namen des osmanischen Sultans einen Statthalter mit dem
Rang eines Pasha. Eine Meuterei der Janitscharen im Jahre 1591 führte dazu, daß
Tunesien im Namen des osmanischen Sultans durch einen Offizier der Armee re­
giert wurde, der den Titel D ey trug und von anderen Offizieren bestimmt w urde6.
W ährend aber in Algerien die Deys das Land bis zur französischen Eroberung im
Jahre 1830 regierten, brach in Tunesien das Regim e der Deys bereits im Jahre 1705
zusammen. Der Anlaß w ar ein Versuch der Deys von Algerien, Tunesien militä­
risch zu erobern und unter ihre Herrschaft zu bringen. H usayn b. 'Ali, ein O ffi­
zier der Kavallerie, koordinierte die Verteidigung von Tunis und eien Kampf der
tunesischen Stammeskrieger gegen die Angreifer. Er übernahm die Macht, nach­
dem die A rmee von Algier zum R ückzug gezwungen worden war. Als Herrscher
von Tunesien ließ er sich aber nicht als Dey, sondern als Bey bezeichnen7. Dies
war der Titel des Offiziers, der in Tunesien für das Eintreiben der Steuer und die
Bekämpfung von Unruhen in den ländlichen Gebieten zuständig war. Im Laufe
des 17. Jahrhunderts wurde das Amt des Bey innerhalb der Familie der Muraditen
erblich. Diese Familie stärkte die Bedeutung des Amtes des Bey sowie ihre eigene
Stellung gegenüber den Deys, indem sie Beziehungen innerhalb der tunesischen
Gesellschaft knüpfte8. H usayn b. 'A li w ar der Sohn eines osmanischen Offiziers
und einer tunesischen Frau. Indem er als Vertreter der Autorität des osmanischen
Sultans in Tunesien den Titel Bey annahm, unterstrich er seine Entschlossenheit,
die Verbindung des Herrschaftssystems zur tunesischen Gesellschaft zu stärken.
Die H usayniden behielten eine symbolische Verknüpfung ihrer Autorität mit
dem osmanischen Reich bei, u.a. durch die Anerkennung des osmanischen Sultans
als Kalifen. Sie regierten Tunesien aber unabhängig von der osmanischen R egie­
rung durch eine kleine, relativ gut bewaffnete Berufsarmee, deren Stärke im Jahre
1788 auf 5000 M ann geschätzt w urde9. Die H usayniden verfolgten auch eine re■
’ Julien, H isto ire, Bd. 2, 29 5-298 ; N äsir al-D in al-Sa ’aydûnî, A l- N i z â m a l-m â lî li T G a z ä ’ir
R T f a t r a a l- 'u t m ä n iy a , 1800-1830 (A lg ie r 1979) 24 2-243 .
6 M oham ed-H édi Cherif, Po uv oir et Société d ans la Tunisie de H ’u s a y n bin 'A li, 1705-1740,
Bd. 1 (Tunis 1984) 76 -80, kü nftig zitiert: C hen), Pouvoir.
7 Cherif, Pouvoir, Bd. 1, 119-140.
8 Ja m il M. Abun-N asr, T h e B e y lic a t e in S e v e n te e n t h - C e n t u r y Tunisia, in: In ternatio nal J o u r ­
nal of M id d l e East S tudie s 6 (1975) 77-80.
9 C. Nyssen, Q u e stio n sur Tunis, in: Charles Monchicourt (H rsg.), D oc um en ts h istoriq ues
sur la T u nisie (Paris 1929) 20.
D er Staat im M a gh rib un d seine E n t w ic k lu n g nach 1830
193
pressive, die Bauern ausbeutende Wirtschaftspolitik. Piraterie wurde in Tunesien
von privaten „Unternehm ern“ p raktiziert10. Die Beys erhielten einen bestimmten
Teil der Beute der Piraten, ihre wichtigste Einnahmequelle aber war das staatliche
Handelsmonopol über den Verkauf der tunesischen Agrarprodukte an europäi­
sche Händler. Eine jüdische Gesellschaft kaufte den Beys das Monopol über den
H andel mit Wachs und Häuten ab. Andere A grarprodukte - wie etwa Ol und Ge­
treide - w urden von Agenten der Beys von den Bauern für feste Preise gekauft und
mit großem G ewinn an die europäischen H ändler weiter verkauft11. Damit hatten
die Beys die Kontrolle über die monetären Bereiche der Wirtschaft. Dies erm ög­
lichte ihnen, die erforderlichen Mittel für die A rmee und che Zentralregierung be­
reitzustellen und den ihnen loyal dienenden prominenten tunesischen Familien
materielle Vorteile zukom m en zu lassen.
Die H usayniden unterstrichen ihre Verbindung mit der tunesischen Gesell­
schaft vor allem, indem sie im Rahmen ihres Herrschaftssystems die gesellschaft­
liche Stellung und die materiellen Interessen der einflußreichen einheimischen
Familien berücksichtigten12. Die malikitischen Religionsgelehrten besaßen gro­
ßen Einfluß in der tunesischen Gesellschaft, u.a. weil sie Mitglieder vornehmer
städtischer Familien waren. Neben ihrer Ernennung zu Qädis und Imame der
großen Moscheen in ihren jeweiligen Städten begünstigten die H usayniden sie z u­
sätzlich durch regelmäßige Zuwendungen und Steuerfreiheit. Außerhalb der gro­
ßen Städte wurden die Oberhäupter der dortigen prominenten Familien zu G ou­
verneuren ernannt. Als Vertreter des Beys konnten diese Notabein ihren Einfluß
innerhalb ihrer Gemeinschaften stärken und große materielle Vorteile für sich
sichern. Denn die Gouverneure hatten ein Anrecht auf einen Teil der Steuern, die
sie von den Bauern ihrer jeweiligen Gebiete eintrieben. Außerdem profitierten sie
auch von ihrer Beteiligung am dortigen staatlichen Handel mit den A grarp rodu k­
te n 13. Brüche in diesem Herrschaftssystem zeigten sich, als die Beys im ^ . J a h r ­
hundert, insbesondere nach der französischen Eroberung von Algerien, nicht
mehr imstande waren, die wirtschaftliche Infiltration Tunesiens durch Europäer
zu verhindern.
Bei der Bevölkerung Marokkos bildete sich ein Bewußtsein von der nationalen
Einheit ihres Landes während des Kampfes gegen die Kolonisierung der Küste
durch die Portugiesen und Spanier seit den 1490er Jahren und gegen die Expan­
sionsbestrebungen der osmanischen T ürken aus Algerien heraus. Eine Dynastie
von Sanfen (N achkom m en des Propheten), die der Sa'dis (1530-1603), kam im
Zusammenhang mit der Verteidigung des Landes gegen die Christen an die
M ach t14 und konsolidierte ihre Autorität, indem sie die wiederholten Versuche
10 Cherif, Pouvoir, Bd. 1, 169-173.
11 J a m i l M. Abun-Nasr, T h e T u n isian State in the e ig h te en th Century, in: R ev u e de I’O ccid cn t
M u s u lm a n et de la M é d iterra n ée 33 (1982) 5 5 -5 9 , k ü n ftig zitiert: Abun-Nasr, T u nisian State.
12 Abun-Nasr, Tunisian State 59-61.
13 Abun-Nasr, Tunisian State 52-3.
14 J e a n B rign o n et al., H is to ire du M aro c (Paris 1967) 2 0 5 - 2 0 9 ; Hess, The Porgotten F ro ntier
4 8 -5 5 .
1
194
Jam il M. A b u n -N asr
der osmanischen T ürken nach 1547, N o rd m a ro k k o unter ihre Herrschaft zu brin­
gen, effektiv bekäm pfte15. Diese D yn astie erreichte den H öhepunkt ihrer .Macht
während der R egierungszeit von A h m ad al-M an sur (1578-1603). Dieser H err­
scher gründete eine „m oderne“ A rm ee, die im Gebrauch von Schußwaffen durch
türkische und europäische Söldner ausgebildet und nach dem M uster der osm ani­
schen Janitscharen organisiert w u r d e 16. Die A nerkennung eines Sarifen als reli­
giös politisches O berhaupt im plizierte eine Konzeption von der nationalen Ein­
heit M arokkos, die sich aber nur durch den Einsatz einer „modernen“, gut be­
waffneten Arm ee, die den Stam m eskriegern an Schlagkraft überlegen war, ver­
wirklichen ließ. N ach dem Tod von A hm ad al-M an sur w urde diese so geschaffene
Einheit unterminiert, weil seine drei Söhne um die Macht kämpften. Die politi­
sche Einheit w urde erst wiederhergestellt, als eine neue Dynastie von Sarifen, die
der 'A law iten, im Jahre 1668 an die M acht kam. Diese Dynastie herrscht in M a ­
rokko bis heute. Den H ö h ep u n k t ihrer M acht erreichte sie während der R egie­
rungszeit von M a w la y Isma'il (1672-1727). Dieser Herrscher konnte seinen A n ­
spruch auf absolute A utorität auch den großen Stammesverbänden gegenüber
durch die Schaffung einer starken Berufsarmee aus 'Abid (schwarzen Sklaven)
durchsetzen. Die jungen Schw arzen w aren in M aro kk o geboren, und ihr recht­
licher Status als Sklaven w urd e damals von mehreren Rechtsgelehrten in Frage ge­
stellt. D ennoch w urden sie im A lter von zehn Jahren zwangsm äßig rekrutiert und
einer strengen, achtjährigen A usb ild un g un terzo gen 17. Auch nach dem Tod von
M a w la y Isma'il w urde die A utorität der Zentralregierung durch einen M acht­
kampf unter seinen Söhnen unterm iniert. Dieser Kampf w ar besonders zerstöre­
risch, weil M a w la y Isma'il etw a 500 Söhne hatte und Offiziere der 'A bid -Armee
unterschiedliche Kandidaten un terstützten 18. Politische Stabilität konnte erst
M a w la y M uham m ad b. 'A b d u lla w ährend seiner Regierungszeit (1757-1790) all­
mählich herstellen, indem er m ehrere Einheiten der 'Abid -Arm ee auflöste und sie
durch Krieger verbündeter Stäm me ersetzte.
Das Herrschaftssystem, das sich in M aro kk o gegen Ende des 18. Jahrhunderts
etablierte, basierte nicht m ehr auf der A usüb un g absoluter Herrschaft durch den
Sultan, dem eine starke Sklavenarm ee zur Seite stand. Es ruhte vielm ehr auf der
A ufrechterhaltung eines G leichgewichts zwischen verschiedenen einflußreichen
Gruppen in der Gesellschaft. Die Berufsarmee umfaßte nunmehr neben d en'A bid
andere Einheiten und w urde durch Krieger ergänzt, die dem Sultan von Stämmen
zur Verfügung gestellt wurden, die Privilegien vom Staat erhielten. Die 'A bid
übten durch ihren Dienst im Palast des Sultans w eiter politischen Einfluß aus,
15 M uham m ad Haggi, A l- 'A lâ q â t a l - M a g r i b i y a a l - 'U t m ä n iy a fi ’ 1-Qarn al-Sädis 'A sar, in:
R e v u e d ’H is t o ir e M a g h r é b in e 2 9 - 3 0 (1983) 15 4-155; A h m ad Tawfiq al-M adani, H a r b at-Talat M i ’at S a n a b a y n a l- G a z â ’ir w a I s b ä n y a ( A lg ie r 1976) 3 6 7-372 .
16 M uham m ad al-Sag lr al-Y ifrâni, N u z h a t a l- H â d î bi A h b â r M u l û k a l- Q a r n a l- H â d î (Paris
1888) 115-118.
17 A h m ad b. H âlid al-Nâsirî, K itâb a l- I s t iq s â ’ li A h b â r D u w a l a l-M a g r ib a l-A q s â vii ( C a s a ­
b la nca 1956) 5 6 - 5 8 , 71 -7 3 , 88, k ü n f tig zitiert: Al-N âsirî, Kitâb a l-Is tiq sâ ’ .
18 Al-N âsirî, K itâb a l-Is tiq sâ ’, Bd. 7, 101-197.
D e r Staat im M a gh rib un d seine E n t w ic k lu n g nach 1830
1 95
während das A m t des Vesiers von Mitgliedern prominenter Familien aus der
Hauptstadt Fes bekleidet wurde. Die Gouverneure anderer Städte stammten aus
Familien, die durch ihre Dienste für den Staat, insbesondere in der Armee, Einfluß
erlangt hatten. Das Staatsmonopol über den Außenhandel w urde während der
Regierungszeit von M aw lay Sulayman (1792-1822) konsolidiert, die praktische
Durchsetzung aber lag bei einflußreichen marokkanischen, insbesondere jü d i­
schen Handelsfamilien. Europäer konnten sich in Tangier niederlassen und durch
marokkanische Agenten Handel treiben19.
Trotz der großen Unterschiede in der Zusammensetzung ihrer herrschenden
Schichten weisen die vorkolonialen Herrschaftssysteme der drei Länder des
M aghrib gemeinsame Züge auf. Die wichtigste Gemeinsamkeit war die enge Ver­
bindung zwischen der Autorität des Staates und den städtischen Gemeinschaften.
Die Einwohner der ländlichen Gebiete wurden als periphere Gruppen betrachtet,
die zw ar zu unterwerfen, aber nicht ins politische System zu integrieren waren.
Die Städte waren wichtige Stützpunkte des Herrschaftssystems sowie Zentren der
religiösen Gelehrsamkeit. Flier waren Einheiten der Berufsarmee stationiert,
deren Befehlshaber mit umfassenden Zuständigkeiten versehen waren. Flier spra­
chen die von den Herrschern zu Qadis ernannten Rechtsgelehrten Recht. D em ge­
genüber übte die Zentralregierung im Leben der Dorfgemeinschaften und Stam ­
mesverbände kaum eine regulierende Funktion aus. Regelmäßige Kontakte der
Zentralregierung mit den ländlichen Gebieten beschränkten sich auf periodische,
häufig saisonale Demonstrationen militärischer Macht, die auch die Gelegenheit
boten, die Steuer einzutreiben. In den schwer zugänglichen Bergregionen, insbe­
sondere in Algerien und M arokko, konnten die Herrscher vor der Kolonialzeit
ihre Autorität häufig nicht einmal in dieser eingeschränkten Form ausüben. Dies
bedeutet, daß die Zentralregierung ihre A utorität in den verschiedenen Teilen
ihres Herrschaftsgebiets unterschiedlich gestalten mußte20. In M aro kko wurde
sogar der Begriff b lâd as-sîba (die verlassenen Gebiete) als Bezeichnung für die
Teile des Herrschaftsgebiets der 'A law iten benutzt, deren Stammesführer dem
Sultan Gehorsam und die Bezahlung von Steuern verweigerten.
In allen drei Ländern des Maghrib hielten die Herrscher es für notwendig, ihre
politische A utorität religiös z,u legitimieren. In Algerien und Tunesien geschah
dies durch die A nerkennung der A utorität des osmanischen Kalifen, in M aro kko
durch die Abstam m ung der Herrscher vom Propheten. Auch der Kampf gegen
die christlichen M ächte w ar eine Form der religiösen Legitimation. Die Bestim­
mungen des islamischen Heiligen Rechts wurden von den Herrschern nur inso­
w eit beachtet, w ie sich dies mit den Erfordernissen der Machterhaltung vereinba­
ren ließ. Insbesondere in den Bereichen des Strafrechts und der Besteuerung w u r ­
den die Bestimmungen des Heiligen Rechts wenig beachtet. Trotz dieser selekti­
19 M o h a m e d e l Mansour, M o ro c co in the R e ig n of M a w l a y S u la y m a n (W is bech 1990) 19-26,
4 2 -4 6 ; Abdallah Laroui, Les O rigin es sociales et cu lturell es du N a tio n a lis m e m arocain ,
1830-1912 (Paris 1977) 81-91.
20 Elhaki H ermassi, Etat et Société au M a gh reb : Etudes co m p a ra tive (Paris 1975) 15.
196
J a m il M . A b u n - N a s r
ven U m setzung des Heiligen Rechts waren die Religionsgelehrten bereit, dem
Herrschaftssystem eine wichtige, zusätzliche Form der Legitimation zu geben,
indem sie sich in religiöse und andere Ä m ter einsetzen ließen.
Diese H altung der Religionsgelehrten erklärt sich aus ihrer Zugehörigkeit zu
den wohlhabenden städtischen Fam ilien sowie durch eine etablierte Tradition des
islamischen religiösen Lebens, die Stabilität stets höher bewertet als die Beachtung
der religiösen Normen. Die H errscher bemühten sich, für die Bekleidung der
wichtigsten religiösen Ä m ter diejenigen Religionsgelehrten zu gewinnen, die be­
reits hohes Ansehen genossen. Gefestigte religiöse Traditionen und familiäre Ver­
bindungen bildeten die G rundlage für die gesellschaftliche Stellung der R eligions­
gelehrten. Meist nahmen sie ihre religiösen Aufgaben innerhalb von Institutionen
wahr, die von den frommen Stiftungen finanziert wurden. Den frommen Stiftun­
gen (A w q ä f in den M agh rib -Län der als Ahbas bezeichnet) gehörten Ländereien,
Läden und andere Immobilien, deren Einkünfte für die Instandhaltung von M o ­
scheen, Schulen und anderen religiösen Bauten sowie für die Zahlung von Gehäl­
tern an ihre Bediensteten verwendet wurden. Deshalb konnten die Religionsge­
lehrten im Leben ihrer Gemeinschaften als von den Herrschern relativ unabhän­
gige Vertreter der islamischen religiösen Ideale auftreten.
Die E ntwicklung des Staates w ährend der Kolonialzeit
Die französische Eroberung von A lgerien hatte A usw irkungen auf die staatlichen
Strukturen in Tunesien und M aro kk o , noch ehe diese beiden Länder im Jahre 1881
bzw. 1912 von den Franzosen besetzt wurden. A ngst vor der militärischen Macht
Frankreichs veranlaßte die H errscher Tunesiens und M arokkos, strukturelle Ä n ­
derungen mit dem Ziel einzuleiten, die U nabhängigkeit ihrer Länder gegen die
Europäer zu verteidigen. Diese Änderungen konnten aber nur mit der Elilfe von
Europäern verwirklicht werden und bahnten damit den Weg für die Ausdehnung
des europäischen Einflusses in beiden Ländern.
In Tunesien wurde das unter den H usayn iden Beys im 18. Jahrhundert entstan­
dene Herrschaftssystem durch die U m strukturierung, die vor der französischen
Besetzung eingeleitet worden war, unterminiert. Im Jahre 1831 begann Ahmad
B ey ( 18 3 7 -5 5 ) die M odernisierung seiner Berufsarmee und gründete 1840 eine
Militärakadem ie für die A usbildung der Offiziere21. Im Jahre 1857 bedrohten die
Franzosen und Engländer M uham m ad Bey (1855-9) mit ihren Flotten und brach­
ten ihn so dazu, ein von den Franzosen ausgearbeitetes Grundgesetz für den tune­
sischen Staat anzunehmen. Im Jahre 1860 trat eine Verfassung in Kraft, die auf der
Grundlage dieses Grundgesetzes erarbeitet wurde. Diese Verfassung sah die
Schaffung eines Staatsrates vor, der die Arbeit der vom Bey ernannten M inister
kontrollieren sollte. In diesem Rat w aren mehrere tunesische Reformer vertreten,
21 L. Carl B row n, T h e Tunisia of A h m a d B e y 1837—1855 (Prin ceton 1971) 26 1-312 .
D er Staat im M a gh rib un d seine E n t w ic k lu n g nach 1830
19 7
und darum empfanden die Franzosen seine Arbeit als Hindernis für die A usdeh ­
nung ihrer Interessen in Tunesien. Deshalb nutzte der französische Konsul Beau­
val die Rebellion, die im Jahre 1864 durch die Erhöhung der Steuer verursacht
wurde und mit deren Anführer er Kontakte hatte, um M uham m ad al-Sadiq Bey
(1859-82) zu zwingen, die Verfassung außer Kraft zu setzen22.
Das Herrschaftssystem brach vor allem deshalb zusammen, weil die Europäer
ihm die wirtschaftliche Grundlage entzogen. Nachdem europäische H andelsge­
sellschaften sich in Tunesien etabliert hatten, konnte das staatliche H andelsm ono­
pol für den Verkauf der tunesischen A grarprodukte nicht mehr aufrechterhaken
werden. Der Staat konnte die G ründung der neuen Armee und andere Innovatio­
nen nur durch die Übernahme von Krediten finanzieren. Korrupte tunesische B e­
amte und europäische, vor allem französische, Banken profitierten von dem G e­
schäft mit den Schulden des tunesischen Staates. Seit 1869 kontrollierte eine inter­
nationale Finanzkommission, deren Vorsitzender ein Franzose war, die Finanzen
des tunesischen Staates23. Der Reformer K h ayr al-Din w ar zwischen 1873 und
1877 M inisterpräsident von Tunesien. Er versuchte vergeblich, durch verschie­
dene Reformen und die Zusammenarbeit mit der Finanzkommission die U nab­
hängigkeit Tunesiens zu wahren24. Vier Jahre nach seiner Entlassung aus dem A m t
besetzten die Franzosen Tunesien.
Auch in M aro kko versuchte die herrschende Dynastie, sich durch eine M o d er­
nisierung ihrer Streitkräfte in die Lage zu versetzen, eine Eroberung ihres Landes
durch die Europäer abzuwenden. Die marokkanische A rmee erlitt eine entschei­
dende Niederlage, als sie im Jahre 1844 versuchte, eine Verfolgung von A m ir 'A b d
al-Qädir, der seit 1832 Krieg gegen die französischen Besatzer Algeriens führte,
durch die französische Armee auf marokkanischem Gebiet zu verhindern2*. In
den Jahren 1859-60 zeigte sich dann nochmals die Unfähigkeit der m aro kkan i­
schen Armee, das Land gegen eine europäische Arm ee zu verteidigen. In dieser
Zeit nahmen die Spanier die Angriffe marokkanischer Stammeskrieger gegen ihre
Siedlung in M elilla zum Anlaß, die Stadt Tetuan zu besetzen und so ihre H e r r ­
schaft in N ordm arokko zu erweitern. Diese Niederlage beeinflußte auch die Be­
ziehungen zwischen M arokko und anderen europäischen Staaten. Nach 1860
konnten die 'A law iten die Ausdehnung der Handelstätigkeit und ganz allgemein
des Einflusses der Europäer in M arokko nicht mehr aufhalten. Diese Rückschläge
bildeten den Hintergrund für die Reform des Verwaltungssystems und die M o ­
dernisierung der Armee, die von M aw lay Hasan I. (1873-1894) initiiert und von
seinem N achfolger M aw lay 'Abd al-'A ziz (1894-1908) fortgesetzt wurden. Euro­
päische Offiziere wurden mit der A usbildung der A rmee beauftragt und moderne
Waffen in verschiedenen europäischen Ländern gekauft. Die dazu erforderlichen
12 J e a n C a n iage, Les O rigin es d u P r o tecto rat français en Tunisie (Paris 1959) 6 9 - 8 8 , 2 1 7 286, künf tig zitiert: G aniage, Les O rigin es.
23 Ganiage, Les O rigin es 287-402 .
24 G. S. v a n Krieken, K h a y r al-D in et la T u nisie 1850-1881 (Leid en 1976) 174-272.
25 C h arles-A n dré J u lien , H isto ire de l’A lg é rie c o n te m p oraine : La C o n q u ê te et les D éb uts de
la C o lo n isa t io n , 1827-1871 (Paris 1964) 197-199.
198
Jam il M. A b u n -N asr
Mittel versuchte M a w la y 'A b d al-'A z iz durch eine Erhöhung der Steuer und die
Einführung eines einheitlichen Steuersystems zu sichern, das auch für die in
M aro kko tätigen Europäer gelten sollte26. Diese U m strukturierung änderte die
Machtverhältnisse zwischen M aro k k o und den europäischen Mächten kaum.
W ährend die Spanier nach 1909 ihre H errschaft über das gesamte N ordm arokko
ausdehnten, erreichten die aus A lgerien hereindrängenden französischen Truppen
die H auptstadt Fes im M ärz 1912. D er Sultan M a w la y 'A b d al-Hafiz mußte einen
Vertrag unterschreiben, der M aro kk o in ein französisches Protektorat u m w an ­
delte. Fünf Monate später w urd e er von den Franzosen abgesetzt.
Die Bemühungen der H errscher von Tunesien und M aro kko , ihre Arm een mit
Hilfe von europäischen Offizieren zu modernisieren, waren eine Reaktion auf die
drohende europäische Expansion. Sie entsprachen aber auch einer im 19. Jah rh u n ­
dert weitverbreiteten H altung der M uslim e zur europäischen Kultur. Seit der In­
vasion Ä gyptens durch N apoleon im Jahre 1798 trat die europäische K ultur im
Leben der M uslim e vor allem als eine auf technischem Wissen basierende m ilitäri­
sche und wirtschaftliche M acht in Erscheinung. Sie waren daher bereit, von den
Europäern das für den Ausbau ihrer eigenen wirtschaftlichen und militärischen
M acht nützliche Wissen, jedoch kaum andere kulturelle M erkm ale zu überneh­
men. Das Kolonialsystem änderte w enig an dieser Haltung. Denn militärische
M acht und wirtschaftliche D om inanz bildeten die Grundlage des kolonialen
Herrschaftssystems. W ährend der Kolonialzeit änderte sich aber die H altung der
M uslim e zu ihrer eigenen überlieferten Kultur. U nter dem Einfluß der reformisti­
schen religiösen Lehre der Salafiyya begannen sie, zwischen dem wahren Islam
und der überlieferten islamischen K ultur zu unterscheiden. W ährend die überlie­
ferte islamische Kultur für die Unterlegenheit der M uslime, die zu ihrer Koloni­
sierung durch die Europäer geführt hatte, verantwortlich gemacht wurde, festigte
sich unter den während der Kolonialzeit herangewachsenen Muslim en die Ü b e r­
zeugung, daß der wahre Islam mit dem Fortschritt vereinbar sei.
Diese Ü berzeugun g w urde eine w ichtige Komponente des neuen nationalisti­
schen Bewußtseins, das sich seit den 1920er Jahren in den Ländern des Maghrib
herauskristallisierte. Denn sie bildete eine G rundlage für die Hoffnung der M u s ­
lime, daß sie als M uslim e durch eigene Kraft zu Macht, Fortschritt und Größe,
also zu den Eigenschaften gelangen würden, die sie an ihren kolonialen Herren
bewundert hatten. Je weitergehend die überlieferten Strukturen einer islamischen
Gesellschaft durch M aßnahm en der Kolonialpolitik zerstört worden waren, desto
untrennbarer verband sich das nationale B ewußtsein in einer solchen Gesellschaft
mit dem Glauben an einen ahistorischen und fortschrittlichen, aber undefinier­
baren wahren Islam.
W ährend der Kolonialzeit haben die Franzosen alle Teile der drei Länder des
Maghrib „befriedet“ und den von ihnen geschaffenen Verwaltungsorganen unter­
worfen. Tunesien und M aro kko w urden als Protektorate im Namen der jew eili­
gen D ynastien regiert. Algerien w ar Kolonie und w urde in der französischen Ver­
26 H e n r i Terrasse, H is to irc du M a r o c ii (Paris 1949) 3 3 1 -8 4 ; Larotii, Les O rig in e s 27 8-303 .
D er Staat im M a gh rib und seine E n t w ic k lu n g nach 1830
199
fassung von 1848 sogar als Teil des N ationalterritoriums von Frankreich aner­
kannt. Dennoch w urde in allen drei Ländern ein „régime d ’administration d i­
recte“ geschaffen, und die vorhandenen Verwaltungsorgane wurden durch neue
Organe „inspirées de l’organisation de l’administration française“ ersetzt27. F^s
wäre w eder möglich noch nützlich, hier die während der Kolonialzeit neu ge­
schaffenen staatlichen Institutionen ausführlich zu beschreiben. Die wichtigsten
davon sollen jedoch kurz geschildert werden.
W ährend der Kolonialzeit entstanden in den Ländern des Maghrib organisierte
Bürokratien mit differenzierten Zuständigkeiten der Ämter. Diese Verwaltungs­
systeme wurden nach der Unabhängigkeit an die neuen Verhältnisse und politi­
schen Zielsetzungen der nationalen Führer angepaßt. Ihre Grundstrukturen w u r ­
den allerdings beibehalten, u.a. weil die zentralistische Tradition der französi­
schen Bürokratie den Bestrebungen der politischen Führer der unabhängigen
Länder des Maghrib entsprach, „à contrôler et à coordonner toutes les grandes
actions du p a y s “2S. Die in der Kolonialzeit gegründeten Gerichtssysteme waren
französisch. Die Gerichte entschieden nach Gesetzen, die in Tunesien und M a ­
rokko von den Franzosen im Namen des jeweiligen Königs erlassen und in A lg e­
rien von der französischen N ationalversam mlung verabschiedet wurden. N u r im
Bereich des Familienrechts der Muslime, einschließlich der Erbschaft, w ar das
islamische Recht anzuwenden. Die Gerichte, die über Fragen des Familienrechts
der M uslim e entschieden, waren aber Bestandteil des kolonialen Gerichtswesens.
Französische Justizbeamte entschieden über die Ausbildung und Ernennung
der in diesen Gerichten tätigen muslimischen Richter. Auch im Bereich der
G erichtsbarkeit leistete das Kolonialsystem einen wesentlichen Beitrag zu den
Strukturen der unabhängigen Nationalstaaten des Maghrib, und zwar in Form
von Gerichtssystemen mit anerkannten richterlichen Instanzen und Zuständig­
keiten. Diese Gerichtssysteme wurden von den unabhängigen Nationalstaaten
übernommen. Ä nderungen betrafen vor allem Einzelheiten des anwendbaren
Rechts und die vollständige Integration des Familienrechts in das staatliche Ge­
richtswesen. Die Armeen und Polizeiorgane, die nach der U nabhängigkeit ent­
standen, sind bis jetzt der französischen Tradition treu geblieben. Auch die in der
Kolonialzeit geschaffene Infrastruktur kam den unabhängigen Nationalstaaten
zugute.
Die A usw irkungen der Kolonialzeit auf die Gestaltung der unabhängigen N a ­
tionalstaaten des M aghrib beschränkt sich aber nicht nur auf die soeben geschil­
derten institutioneilen und materiellen Bereiche. Die Kolonialzeit änderte auch
die Grundlagen des religiösen Lebens und bahnte damit den Weg für die Entste­
hung einer neuen und bewußten Verbindung zwischen Islam und N ationalidenti­
tät. Diese A usw irkun g des kolonialen Herrschaftssystems, die ich oben angedeu­
tet habe, möchte ich jetzt am Beispiel von Algerien genauer darstellen.
11 M iso u m Sbib, Les Institutions adm in istrativ es d u M a gh reb : Les G o u vern em e n t de l ’A lg é ­
rie, du M a ro c un d de la Tunisie (Paris 1977) 13, k ü n f tig zitiert: Sbih, Les In stitutions.
28 Sbib, Les In stitutions 15.
200
J a m il M . A b u n - N a s r
In Algerien w urde die Gestaltung des Verwaltungssystems während der Kolo­
nialzeit durch zwei Faktoren nachhaltig geprägt - zum einen seit 1848 durch die
A nerkennung des Landes als Teil des N a tio n a lte rrito riu m s von Frankreich, zum
anderen durch die Dominanz der französischen Siedler im wirtschaftlichen und
politischen Leben. Beide Faktoren sorgten auch dafür, daß das Land w eiterge­
hende strukturelle Umwandlungen erfuhr als die beiden benachbarten Länder.
Nach 1848 w ar die französische Kolonialverwaltung in Algerien in zwei Zweige
eingeteilt. Für die in Algerien lebenden Franzosen wurden die üblichen französi­
schen zivilrechtlichen Verwaltungsorgane geschaffen, für die nach 1858 ein in Pa­
ris residierender M inister zuständig war. Französische Kommunalräte entstanden
zunächst in den Städten, sie wurden aber auch in ländlichen Gebieten seit den
1890er Jahren gegründet, da mehr als die H älfte der etwa 364000 damals in A lg e­
rien lebenden Franzosen auf dem Land wohnte. Die muslimische Bevölkerung,
die zur gleichen Zeit etwa 3,5 M illionen umfaßte, gehörte nicht zur Zivilgesell­
schaft Algeriens. Bis zum Jahre 1871 war eine besondere Abteilung der Armee, die
der bureaux arabes, für die Verwaltung der muslimischen Gemeinden zuständig.
Die paternalistischen Offiziere dieser bureaux wurden danach durch Bürokraten
ersetzt, die durch den Code de l ’Indigenat mit besonderen Befugnissen ausgestat­
tet w aren29. Entsprechend einem Gesetz aus dem Jahre 1865 durften die M uslime
französische Staatsbürger werden, wenn sie auf die A nwendung des islamischen
Familienrechts verzichteten30. Die Folge dieser Rechtslage war, daß die algeri­
schen M uslim e nur unter Aufgabe des wesentlichen Zeichens ihrer religiösen G e­
meinschaft als vollberechtigte Staatsbürger in die französische Gesellschaft auf­
genommen wurden. Diese Gemeinschaft erhielt keinen autonomen politischen
Status innerhalb der französischen Republik. Ihre Mitglieder lebten überall in A l­
gerien und selbst in Frankreich. Wo immer sie lebten, unterlagen sie den allein für
die M uslim e anwendbaren rechtlichen Bestimmungen. Der Islam trennte daher
die kolonisierten von den vollberechtigten französischen Staatsbürgern.
Zwei Faktoren beeinflußten nachhaltig die Umgestaltung des religiös-politischen Bewußtseins der algerischen M uslim e w ährend der Kolonialzeit. Der erste
war, daß die französischen Siedler den Muslim en die materiellen Vorteile der m o­
dernen Welt vor Augen geführt hatten, nur um ihnen den Zugang zu diesen Vor­
teilen zu versagen. Neben den modernen Betrieben, die von den Franzosen in den
Städten gegründet wurden, trieben die Siedler unter Einsatz moderner Geräte und
billiger einheimischer Arbeitskräfte Landwirtschaft in großem Stil. Die ausge­
dehnten Flächen fruchtbaren Bodens, die von den Siedlern in Besitz genommen
wurden, gehörten zum großen Teil zu den Ländereien, die die Kolonialverwal­
tung den Muslimen durch verschiedene M aßnahmen weggenommen hatte: die
Auflösung der islamischen frommen Stiftungen im Jahre 1843, die U m siedlung
von Stammesgruppen oder die Beschlagnahme des Grundbesitzes von Volksgrup­
29 C h a r les -R o b ert A geron, Les A lge rien s m u s u lm a n s et la France, 1871-1919 i (Paris 1968)
130-208, k ü n ftig zitiert: A geron, Les A lgerien s m usulm an s.
30 A geron, Les A lgerien s m usulm a n s, Bd. 1, 34 3-351 .
D er Staat im M a g h rib un d seine E n t w ic k lu n g nach 1830
201
pen, die an der Rebellion von 1871 teilgenommen hatten. Den Muslimen w urde
keine andere Wahl gelassen, als ihren Lebensunterhalt durch schlecht bezahlte A r ­
beit in den französischen Betrieben oder im niedrigen Dienst der Kolonialverwal­
tung zu verdienen. Auch die französische Schule gab den M uslimen keinen Zu­
gang zu den Vorteilen des modernen Lebens. O bw ohl im Jahre 1883 die Schul­
pflicht in Algerien eingeführt wurde, hatte nur eine kleine Zahl der muslimischen
Kinder Zugang zu einer französischen Schule. Im Jahre 1918 erhielten lediglich
5,7% der muslimischen Kinder im schulpflichtigen Alter von 6—13 Jahren eine
A usbildung in einer französischen Schule31. Mehrere Faktoren veranlaßten die
Muslime, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in großer Zahl vom Land in
die Städte zu wandern. Dadurch entstanden in den Städten arme muslimische
Mehrheiten, die dort durch den Lebensstil der Franzosen sehr direkt mit den
Vorteilen der modernen Welt konfrontiert wurden, zu der ihnen der Zugang ver­
sperrt war.
Der zweite Faktor, der zur Umgestaltung des religiös-politischen Bewußtseins
der algerischen Muslim e führte, w ar die R eligionspolitik der Kolonialverwaltung.
Da mehrere der Erhebungen gegen die französische Herrschaft in Algerien im
Namen des Islam geführt wurden, lag den Kolonialbehörden daran, das religiöse
Leben der Muslime in ihrem Sinne zu beeinflussen. U m die Dominanz der fran­
zösischen Siedler im politischen und wirtschaftlichen Leben Algeriens zu wahren,
mußte verhindert werden, daß die Muslime in großer Zahl französische Staatsbür­
ger wurden. Das Festhalten der M uslime an N ormen des islamischen Heiligen
Rechts im Bereich des Familienlebens konnte vom Kolonialsystem für dieses Ziel
instrumentalisiert werden. Im Gegensatz zu anderen Bereichen des islamischen
Fleiligen Rechts, die außer Kraft gesetzt wurden, w urde dessen A nw endung im
Bereich des Familienlebens der Muslime durch das koloniale Gerichtssystem be­
stätigt und bekräftigt. Das Ziel, das islamische Familienrecht zu einer dauerhaften
Komponente des kolonialen Rechtssystems zu machen, spiegelt sich darin, daß
die Kolonialbehörden seine Kodifizierung auf Französisch veranlaßten. Unter der
Leitung von Professor M orand von der Universität von Algier erstellte eine Kom­
mission französischer Juristen mit Hilfe von muslimischen Rechtsgelehrten einen
Kodex des islamischen Familienrechts, der im Jahre 1916 unter dem Titel Code
musulman veröffentlicht w urde32. Die Franzosen übten auch Kontrolle über die
islamischen religiösen Institutionen. Die Auflösung der islamischen frommen
Stiftungen im Jahre 1843 entzog diesen Institutionen ihre wirtschaftliche G rund­
lage. Die Kolonialverwaltung übernahm danach die Finanzierung der Moscheen
und entschied über die Besetzung der religiösen Ämter. Französische Islamexper­
ten bestimmten die Lehrpläne, nach denen die Qadis und die anderen religiösen
Amtsträger in islamischen Oberschulen, die alle französische Rektoren hatten,
ausgebildet wurden. In den ländlichen Gebieten w urde seit den 1890er Jahren die
31 Ageron, Les A lgé rien s m u su lm a n s, Bd. 1, 3 3 7 -3 4 2 , Bd. 2, 949-962 .
-,2 A geron, Les A lgérien s m u su lm a n s, Bd. 2, 69 8-706 .
202
Ja m il M . A b u n - N a s r
Zusammenarbeit mit den Marabuts gepflegt33. Diese waren führende Persönlich­
keiten der Sufi-Bruderschaften, die als konservative religiöse Kräfte im religiösen
Leben der M uslim e auftraten. Durch diese und andere Maßnahmen verfolgte die
Kolonialverwaltung das Ziel, das religiöse Leben der Muslime in einem traditio­
nellen Rahm en zu halten und seine Entwicklung im Sinne der französischen
Kolonialpolitik zu lenken.
Diese zwei Faktoren sorgten dafür, daß die reformistische Lehre der Salafiyya
mit ihrer Verpflichtung zu einem wahren Islam, der mit dem Fortschritt vereinbar
sein sollte, einen großen Einfluß auf die Entwicklung des religiös-politischen Be­
wußtseins insbesondere der in den Städten lebenden Algerier ausgeübt hat. Diese
Lehre übte einen ähnlichen, wenn auch geringeren Einfluß im religiös-politischen
Leben der Muslim e in M aro kko und Tunesien während der Kolonialzeit aus. Die
Verbindung zwischen reformistischem Islam und Nationalidentität prägte die
Hoffnung, die die M uslim e auf die U nabhängigkeit ihrer Länder setzten und be­
einflußte damit die Gestaltung der unabhängigen Staaten.
Das Staatswesen im Maghrib
nach Erlangung der U nabhängigkeit
Oberflächlich betrachtet weisen die drei unabhängigen Staaten des M aghrib w e ­
sentliche Unterschiede auf. In M aro kk o brachte die Unabhängigkeit im Jahre
1956 die R ückkehr des Sultans M uham m ad V. (1927-61) aus seinem Exil und die
Wiederherstellung der souveränen M acht der Dynastie der 'Alawiten. M u h am ­
mad V. gelang es, sich trotz der Einschränkung seiner Handlungsfähigkeit durch
das französische Protektorat seit den 1930er Jahren zum Sym bol der m aro kkan i­
schen N ation und ihres Verlangens nach U nabhängigkeit zu machen34. Seit 1944
w aren die Nationalisten in der Istiqlal-Partei organisiert, deren Führung aus aner­
kannten Vertretern der religiösen reformistischen Lehre der Salafiyya sowie in
Frankreich ausgebildeten Intellektuellen bestand35. Dennoch trat in M aro kko
nach der U nabhängigkeit der König, und nicht, w ie in Tunesien, der Führer einer
Einheitspartei als Verkörperung des nationalen Willens auf. Nach dem Tod von
M uham m ad V. im Jahre 1961 übernahm sein Sohn Hasan II. die Macht. Er legiti­
mierte seine absolute Autorität z.T. durch die Abstam m ung vorn Propheten M u ­
hammad, untermauerte sie aber durch einen modernen Staatsapparat und eine
moderne A rm ee36. In Tunesien brachte die Unabhängigkeit im Jahre 1956 die
33 A geron, Les A lg é r ien s m u s u lm a n s, Bd. 2, 89 2-908.
34 jo b n P. H alstead, T h e O rig in s and R is e of M o r o c c a n N a tio n a lis m , 1912-19 44 ( C a m ­
b rid ge, M ass. 1967) 20 3 -2 0 4 ; R oger Le Tourneau, E volutio n Po litiqu e de l’A f r iq u e d u N o r d
M u s u lm a n e 1920-1961 (Paris 1 9 6 2 ) 2 1 9 -2 1 .
35 H alstead, T h e O rig in s 161-262.
36 /. C. S a n tu cd & J. J. R egnier A rm ée, P o u v o ir et L ég itim ité au M a ro c, in: M. Teitler et a l ,
Elites, P o u v o ir et L ég itim ité au M a g h reb (Paris 1973) 153-161.
D er Staat im M a g h rib un d seine E n t w ic k lu n g nach 1830
203
Machtübernahme durch Habib Bourguiba, den Helden des U nabhängigkeits­
kampfes, und die N eo-D estour Partei, deren Vorsitzender er seit 1938 w ar37. Ein
Jahr nach der Unabhängigkeit wurde die noch herrschende Dynastie der H u sayniden abgesetzt und das Land zur Republik erklärt. Danach regierte Bourguiba
das Land bis zum Jahre 1987 mit fester Hand und verfolgte eine modernistische,
aber autoritäre Politik38. Algerien erlangte seine Unabhängigkeit von den Franzo­
sen im Jahre 1962 nach einem blutigen siebenjährigen Krieg. Unter der Führung
von Ben Bella wurde zunächst der Versuch gemacht, Algerien in einen marxisti­
schen Staat um zuw andeln39. First nach der M achtübernahme durch den Kriegsmi­
nister Boumediene im Jahre 1965 konnte ein stabiles Herrschaftssystem geschaf­
fen werden, für das eine Einheitspartei, die Front de Libération Nationale (FLN ),
und die Armee die wichtigsten Stützen bildeten. Das Regim e von Boumediene
unternahm ein ehrgeiziges, nach sozialistischen Mustern konzipiertes E ntw ick­
lungsprogramm, es legitimierte sich durch dieses Programm sowie durch die Be­
rufung auf die reformistische Lehre der Salafiyya40.
Trotz der Unterschiede, die zwischen den Herrschaftsstrukturen der drei unab­
hängigen Staaten des Maghrib bestanden, weisen ihre Staatswesen wichtige ge­
meinsame M erkm ale auf. Diese Gemeinsamkeiten ergaben sich z.T. daraus, daß in
allen drei Ländern das institutioneile Erbe der Kolonialzeit zur Grundlage für die
Verwaltungsorgane, Armee und Polizei sowie das Gerichtswesen der unabhängi­
gen Staaten wurde. Pragmatische Überlegungen führten in allen drei Ländern
dazu, daß den in der Kolonialzeit entstandenen Institutionen „une place plus ou
moins grande dans le fonctionement des institutions nationales“ eingeräumt
w urd e41. N och wesentlicher für die ähnliche Gestaltung des Staatswesens in den
drei Ländern des M aghrib w ar die Verbindung, die sich in der Kolonialzeit z w i­
schen dem reformistischen Islam und der Nationalidentität herausgebildet hatte.
Sie führte dazu, daß in diesen Ländern die M uslim e in den Jahren nach Erringen
ihrer politischen Unabhängigkeit die H offnung auf Entwicklung u.a. an ein reli­
giöses Ziel geknüpft hatten. Entwicklung w urde danach nicht nur als M ittel ver­
standen, um das materielle Wohlergehen ihrer Gesellschaften zu gewährleisten.
Sie hatte auch das Ziel, die islamischen Länder in mächtige Nationen u m z u w an ­
deln, die ihre Stellung insbesondere gegenüber den europäischen Staaten w ürden
behaupten können.
Die Gestaltung der Staatswesen in den Ländern des M aghrib w ar nach Erlangen
der Unabhängigkeit stark dadurch beeinflußt, daß die Berufung auf den reformi­
stischen Islam Entwicklung als ein religiös-nationales Ziel legitimierte, ohne daß
37 F ü r das Leb en und W ir k e n von B o u r g u ib a s. u .a . N orm a Salem, Flabib B o u rgu ib a : Islam
and the C re a tio n o f T u nisia ( L o n d o n 1984).
38 F ü r das H e r rsc h a fts s ys tem des u n a b h ä n g ige n Tunesiens s. u. a. C le m e n t H e n r y M oore, T u ­
nisia since In dep en den ce: T h e D y n a m ic s of O n e - P a r t y G o v ern m e n t (B erkeley, Los A ngele s
1965) 71 -104.
39 Ian C leg g , W o r k e r s ’ S elf-M a n a g cm en t in A lg e r ia ( L o n d o n 1971) 39 -56.
40 B ru n o Etienne, A lgérie, C u lt u r e s et R é v o lu tio n (Paris 1977) 118-142, 193-224.
41 Sbib, Les Institutions 14.
204
J a m il M. A b u n - N a s r
dieses Ziel an einem religiös begründeten M odell festgemacht werden konnte. Die
nationalen Führer der Länder des M aghrib machten sich dieses Ziel zu eigen und
seine Verwirklichung zur Hauptaufgabe des unabhängigen Staates. Im Interesse
der Entwicklung forderten sie von ihren Landsleuten große Opfer. Sie nahmen
sich das Recht, uneingeschränkt politische Macht auszuüben. Und weil die M u s ­
lime Entwicklung als religiöses Ziel verstanden, waren sie sogar bereit, die U nter­
ordnung der islamischen N orm en unter die Erfordernisse der Entwicklung durch
ihre nationalen Führer zu dulden. Die politische Kultur, die sich durch die A n er­
kennung von Entwicklung als H auptaufgabe des Nationalstaates herausbildete,
betonte die nationale Einheit auf Kosten persönlicher Freiheit und politischer
Vielfalt. Das Staatsoberhaupt, sei es ein König w ie in M arokko, ein H eld des B e­
freiungskampfes wie Bourguiba in Tunesien oder ein frommer, puritanischer Sol­
dat w ie Boumediene in Algerien, erhob A nspruch darauf, alleiniger Vertreter der
wahren Interessen der Nation zu sein.
Durch diesen Anspruch w urden die Bemühungen der nationalen Führer legiti­
miert, alle Bereiche des öffentlichen Lebens zu kontrollieren und sie im Sinne
ihrer Entwicklungspolitik zu lenken. Dies bedeutete, daß den staatlichen Verwal­
tungsorganen auch in der Gestaltung des ökonomischen und sozialen Lebens eine
aktive Rolle zufiel. Dieser Anspruch führte auch dazu, daß die nationale G em ein­
schaft als eine Großfamilie angesehen w urde, in der das Staatsoberhaupt in der
Rolle eines zw ar manchmal strengen, aber doch immer auch gütigen Vaters auf­
trat. Die Existenz von unterschiedlichen Gruppeninteressen innerhalb der natio­
nalen Gemeinschaft konnte daher nicht geduldet werden. Bei der Durchsetzung
ihrer autoritären Politik stießen die Herrscher des Maghrib in den 1960er und
1970er Jahren insbesondere bei den Gewerkschaften und studentischen Vereini­
gungen auf Widerstand. Erst seit den späten 1970er Jahren traten die Islamisten
(die sogenannten Fundamentalisten) als entschlossene Gegner nicht sosehr des
Nationalstaates als vielmehr der Strukturen, die seinem Herrschaftssystem z u ­
grunde lagen, in Erscheinung.
Das Phänomen der lslamistischen Bewegungen ist eine Folge des Scheiterns der
religiös-nationalistischen Hoffnungen, die die Muslim e mit der U nabhängigkeit
ihrer Länder verbanden. Es steht aber auch damit im Zusammenhang, daß nach
der Unabhängigkeit der Staat in allen drei Ländern des Maghrib die Kontrolle
über die religiösen Amtsträger hatte. In Algerien w urde der Staat unter Boum e­
diene (1965-78) „zum Verwalter des gesamten religiösen Bereiches samt seines
Personals, seiner Ausbildungsstätten und der Pilgerfahrt nach M e k k a “42. Das
M inisterium für Religiöse Angelegenheiten beschäftigte die Inhaber religiöser
Ämter, überwachte den religiösen U nterricht und sogar das Predigen in den
Moscheen und veranstaltete Seminare für islamisches Denken43. D amit wurde der
42 S igrid Faath, A lg erien : gesellschaftlic he S t ru k t u re n un d politische R e fo rm en zu Begin n
d er n e u n z ig er J a h r e ( H a m b u r g 1990) 265.
43 B ru n o Etienne, J e a n Leca, L a P o litiq u e cu ltur elle de TAlgerie, in: A n n u a ir e de l’ A friq u e
d u N o r d 12 (1973) 97 -98.
D er Staat im M a g h r ib un d seine E n t w ic k lu n g nach 1830
205
reformistische Islam dazu benutzt, einen religiösen Konsens zugunsten der staat­
lichen Entwicklungspolitik zu schaffen. Unter diesen Umständen treten die Isla­
misten als Vertreter des eigentlichen, selbständigen religiösen Willens ihrer jew ei­
ligen nationalen Gemeinschaft auf. Ihre Wortführer sind in den überwiegenden
Fällen keine Religionsgelehrten, sondern Intellektuelle, die eine moderne A usbil­
dung genossen haben. Der Korruption und dem Machtmißbrauch in ihren Staaten
stellen sie die moralischen N ormen des Islam entgegen. Sie fordern auch die
U mgestaltung der Strukturen ihrer Staaten im Sinne des Islam, ohne jedoch den
Nationalstaat als solchen in Frage zu stellen.
M. Reza Fariborz Hamzeh'ee
Das M odell Iran zw ischen säkularem Staat und G ottesstaat
Das Phänomen der Ausbreitung des europäischen Staats kann von verschiedenen
Standpunkten aus betrachtet werden. A uf den folgenden Seiten werde ich mich
hauptsächlich mit der Aufnahme der Ideen des europäischen Staats durch irani­
sche Intellektuelle beschäftigen, welche im Gegensatz zum tatsächlichen Import
europäischer Institutionen stehen.
Es gibt nur wenige Länder in der sogenannten Dritten Welt, die wie Iran, keine
eigentliche koloniale Herrschaft erlebten. Im Vergleich zu anderen, direkt kolonialisierten Ländern verlief hier die A usbreitung des europäischen Staats in w e­
sentlichen Punkten anders.
Während der Qajar-Periode im 18. und 19. Jahrhundert begannen die Iraner, in
direkten Kontakt mit Europa zu kommen. Zuerst waren es langfristige Kriege mit
dem zaristischen R ußland, das in expansionistischem Fieber nach Süden strebte.
Wie jeder Krieg bedeuteten diese nicht nur den Verlust vieler Menschenleben und
Zerstörung, sondern auch die Aufgabe großer territorialer Bereiche im Norden
des Iran1. Als Folge davon kamen H underte georgische Muslime in das Landes­
innere, weil sie eine U nterdrückung durch die zaristischen Eroberer fürchteten.
Durch die geographische Nähe zu R ußland und auch über ihre christlichen N ach ­
barn in Arm enien und Georgien waren diese Immigranten schon früher mit Eu­
ropäern in Kontakt gekommen.
Schon seit der safavidischen Herrschaft hatten mehrere muslimische Georgier
höhere militärische Positionen inne, und dies hat sich bis heute schon fast traditi­
onsgemäß gehalten. A ußerdem immigrierten auch kaukasische Intellektuelle, die
wie die militärische Schicht den Russen gegenüber gemischte Gefühle hatten.
Aufgrund ihrer Erlebnisse und Erfahrungen konnten sie für die Russen keine
Sympathie empfinden. N icht leicht verdauten sie die militärische Niederlage und
die russische Kontrolle über Kaukasien, und oft gerieten sie in Widersprüche von
Gefühlen und Verhalten. Trotzdem waren viele Kaukasier bereit, unter russischen
Befehlshabern zu dienen, als erstmals die Organisation der Kosaken durch russi1 G avin R. G. H am bly, Iran d u rin g thc R eig n of Fa th ’A li Shäh and M o h a m m a d Shäh, in:
C a m b r id g e H is t o r y of Iran, Bd. 7: F ro m N a d ir Shah to the Islam ic R ep u b lic (C a m b r id g e
1991) 162.
208
M. R eza F aribo rz H a m z e h ’ce
sehe Ausbilder im Iran eingelührt wurde. Nicht nur die Georgier, sondern alle, die
im Krieg mit den Russen in Kontakt kamen, sahen die militärische Schwäche des
Iran in seiner technischen Rückständigkeit.
Seit der mongolischen Eroberung hatten iranische Kontakte mit Europa be­
standen, hauptsächlich durch diplomatische Gesandte, meistens einseitig von E u­
ropa nach Iran, oder durch Besuche europäischer Abenteurer2. Es existierte auch
eine sehr begrenzte Handelsbeziehung. Anlaß der diplomatischen Kontakte z w i­
schen Iran und Europa waren meistens Kriege gegen die Osmanen; sie führten
jedoch kaum zu einer Zusammenarbeit. W ährend der Safavidischen Periode im
16. Jahrhundert hatte es Kontakte mit portugiesischen Kolonialisten gegeben, die
eine Zeitlang zwei iranische Inseln im Persischen Golf besetzt hielten3, außerdem
waren andere europäische Kolonialmächte mit ihren Handelsniederlassungen im
Iran aktiv. Aber erst seit dem 19. Jahrhundert fand eine allmähliche A usbreitung
der europäischen Staatsform in diesem Gebiet statt.
Nach der Ü bernahme Indiens durch die Engländer häuften sich die direkten
Kontakte mit den Briten. Durch ihre indische Kolonie wurden sie als europäi­
scher Staat Nachbar des Iran, zuerst im Osten, dann im Süden am Persischen Golf
und schließlich westlich im Irak. Im Gegensatz zu den Russen vermieden sie so­
weit wie möglich militärische Konfrontationen. M it ihrer straff durchorganisier­
ten, speziell in Asien hoch entwickelten Geheimdiplomatie zeigten sie ein anderes
Gesicht Europas und verursachten Furcht und Wut, aber auch Respekt. W ahr­
scheinlich hatten die Briten selbst nichts dagegen, sich den R uf von überall an w e­
senden Super-Verschwörern einzuhandeln, jedenfalls wußten sie ihn gut zu ge­
brauchen. So entstanden bereits zu Beginn der Bekanntschaft mit der europäi­
schen Zivilisation bei den Iranern sehr gemischte Gefühle. In der zweiten f-Iälfte
des 19. Jahrhunderts übte das M odell des europäischen Nationalismus großen
Einfluß auf die iranischen Intellektuellen aus. Es war der Beginn eines Prozesses,
der mit der Aufnahme der europäischen Staatsform endete.
Entdeckung und Begeisterung
Die erste Begegnung des Iran mit Europa und dem europäischen Staat rief Begei­
sterung und Faszination hervor. Einige iranische D enker versuchten, ihre Erfah­
rungen mit anderen zu teilen, indem sie sie aufschrieben.
Die Autoren hatten den Stoff ihrer Betrachtungen hauptsächlich durch briti­
sche Offiziere vermittelt bekommen. Die Beschreibungen sind jedoch kaum mehr
als ein Selbstbild britischer Kolonialherrschaft.
2 Siehe: L a u rence Lockhart, Eu rop ean C o n ta c ts w ith Persia, in: C a m b r id g e H is t o r y of Iran,
Bd. 6: T h e T im u r id and Safavid Perio ds, 1350-1736 (C a m b r id g e 1986) 37 3-409 : k ü n ftig
zitiert: Lockhart, Eu rop ean C ontacts.
3 Lockhart, Eu rop ean C o n ta c ts 38 0-381 , 392-393 .
Das M odell Iran
209
Die iranischstämmigen, schiitischen Gelehrten in Indien, deren Schriften wäh­
rend des 19. Jahrhunderts in Iran und Indien viel gelesen wurden, verbreiteten ein
positives Bild des Westens. Sie waren vom europäischen Egalitarismus, Parlamen­
tarismus und dessen technologischen und wissenschaftlichen Leistungen tief be­
eindruckt. Diese Texte waren die ersten, die in persischsprachigen Ländern über
Europa geschrieben wurden, und zwar lange vor dem Prozeß der Modernisie­
rung4. Ihr Wissen über den Westen bezog sich überwiegend auf Großbritannien.
M irza Abu Täleb Khan Esfahäni, der 1799 England besuchte, beschrieb von
1803-1805 seine Reiseerlebnisse. Eine englische Übersetzung seines Reiseberichts
erschien zuerst als „The Accounts of Travels of M irza Abu Talib Khan“ 1910 in
London5. Der persische Text w urde 1912 in Kalkutta veröffentlicht6. Wenn er
über die Demokratie und das englische Parlament spricht, betont er, daß der Kö­
nig seine Untertanen zw ar belohnen, aber nicht bestrafen darf, letzteres ist A u f­
gabe des Magistrats. Der König darf niemanden töten, auch darf er seine Diener
nicht schlagen7. Esfahäni spricht begeistert über die wissenschaftlichen Fort­
schritte im Westen. Er erkennt, daß die Macht, w om it die Engländer die H err­
schaft über Indien errungen hatten, in der technischen E ntwicklung lag8.
Ein anderer Iraner, der als Diplomat Europa besuchte und seine Beobachtungen
publizierte, hieß Abol Llasan Ilchi. Er w urde 1809 nach England geschickt und
1814 nach R ußland. In London besuchte er während seines eineinhalb Jahre lan­
gen Aufenthalts einige wissenschaftliche, industrielle, soziale und politische Insti­
tutionen und Einrichtungen. Als er 1810 das englische Parlament sah, wurde er
zufällig Beobachter eines außergewöhnlichen Ereignisses. Er wurde Zeuge der
Protestaktionen des Parlamentariers Francis Burdett und wunderte sich, daß die
Bevölkerung zu seiner Unterstützung demonstrierte9.
Der 179010 oder 178711 nach Indien ausgewanderte Iraner Shushtari schrieb in
seinem Tohfatol ’älam über die egalitäre Regierung in Europa: „Eines der Gesetze
dieser Leute ist, daß kein Mensch den anderen dominieren darf. Wenn der König
oder die A ristokraten unlogische Forderungen an ihre Untertanen stellen, können
sich diese beim Gericht beklagen.“ 12 Er erzählt weiter, daß ein H err seinen Diener
nicht direkt bestrafen darf, sondern ihn zum M agistrat führen muß. Er spricht
4 J uan R. I. Cole, Invisib lc O cciden talism : E ig h t e e n th - C e n t u r y In do-P e rsian C o n stru c tio n s
of the West, in: Iranian Studie s 25/3-4 (1992) 8; kü nftig zitiert: Cole, Invisible O ccid entalism .
5 Charles Stew art (Ü b ers.), T h e A ccou nts of Travels of M ir z a A b u Talib Khan ( N e w Delhi:
Sona, repr. 1972).
6 A b u Täleb Esfahäni, M a sir-e tälebi h belad-e efrangi, ed. H o s a y n K hadivjä n (Teheran
1972).
7 'A bdol H a d i IT ä ’eri, N a k h o s tin r u y ä r u ’i - h ä - y e andishehgarän-e iran bä d o r ü y e h - y e tamado n -e b u r z h u v ä z i - y e gh arb (Teheran 1372 H .) 275 - 276; k ü n ftig zitiert: H ä ’eri, N akho stin.
8 H ä ’eri, N a k h o s tin 27 8-279 .
9 H ä ’eri, N a k h o s tin 28 4-288.
10 Cole, In visib le O c c id e n ta lis m 9.
11 H ä ’eri, N a k h o s tin 273.
12 M ir ’A b d o l L a tif K han Shushtari, Tohfatol ’älam, hrsg. von S. Movahed (Teheran 1984)
275.
1
210
M . R ez a F a rib o rz H a m z e h ’ee
über das britische Parlament als das Haus der Konsultation und sagt: „Die Be­
wohner eines jeden Dorfes und jeder Stadt werden benachrichtigt, damit sie ihnen
angemessene Repräsentanten auswählen, die in der Flauptstadt die verschiedenen
Angelegenheiten durch Konsultation mit allen besprechen.“
Shushtari stellte sich das britische System sehr idealistisch vor, nach dem ihm
bekannten muslimischen, neo-platonischen Konzept der Herrschaft des Philosophen-Königs. O hne in London gewesen zu sein, bewunderte er die städtischen
Dienstleistungen der Regierung, wie Wasserversorgung, Straßenbeleuchtung,
Krankenhäuser und andere Einrichtungen und schwärmte von der Freiheit der
W issenschaftler13.
Es gibt noch andere nach Indien ausgewanderte Iraner, wie Soltannol V ä’ezin
und A hm ad Kermänshähi, die besonders den englischen Parlamentarismus be­
wunderten. Sie w aren erstaunt über die begrenzte M acht des Monarchen, welche
für sie und ihre Leser, die nur despotische Herrschaft kannten, außergewöhnlich
w a r.
Sie alle erkannten, daß technologische Pintwicklung und Entmachtung der K ir­
che sich gegenseitig bedingten.
Nationalismus
In den obengenannten Büchern werden die europäische Staatsform und die w is ­
senschaftlichen Errungenschaften mit großer Ehrerbietung beschrieben. Ab und
zu wird in einem Satz der Wunsch zum A usdruck gebracht, solche Errungen­
schaften auch in Iran einzuführen.
Das systematische Bestreben nach der Erlangung eines solchen Systems wuchs
mit der Ü bernahm e der damals herrschenden europäischen Ideologie, dem N atio ­
nalismus. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur konstitutionellen
Revolution von 1907 bis 1909 gab es systematische Diskussionen über die A u f­
nahme der europäischen Staatsform und Zivilisation.
Es w ird angenommen, daß schon im 16. Jahrhundert die Safaviden einen irani­
schen „Nationalstaat“ gegründet hatten14. Seitdem existiert ein Staat mit fast glei­
chen Grenzen. Deshalb standen typische Probleme der Staatsgründung w ie in
anderen Ländern Asiens nicht mehr im Wege. Es konnte angenommen werden,
daß ein „W ir“-G ruppen-G efühl als Schiite bei der Bevölkerung des damaligen
Iran auf jeden Fall vorhanden war. A ber die Begegnung mit Europa zerstörte das
ein paar hundert Jahre alte Eigenbild in den Köpfen der Intellektuellen. Das neue
Identitätskonzept, das in der Idee des Nationalstaats begründet ist, w ar von A n ­
fang an mit dem traditionellen Eigenbild in ernstem Konflikt. Deshalb begannen
13 H ä ’eri, N a k h o s tin 275.
14 Siehe: Walther Hinz, Irans A u fstie g z u m N a tio n a ls ta a t im 15. J a h rh u n d e rt (Berlin , L e ip z ig
1936); H anna S o h r w e i d e , D e r Sie g der Safaviden in Persien und seine R ü c k w ir k u n g e n a uf die
Schiiten A n a to lie n s im 16. J a h rh u n d e rt, in: D er Is lam X L I (1965) 95 -223.
Das M o d e ll Iran
211
die iranischen Denker, nach neuen Sym bolen für eine neue Identität zu suchen.
Einer der wichtigen Denker dieser Zeit war A khundzädeh.
Mirza Fath’ali A khundzädeh (gest. 1878) war der Sohn eines Asari-Händlers,
der im zaristischen Kaukasien aufgewachsen war und als Dolmetscher für die
Russen in Tiflis arbeitete15.
Soziologisch gesehen wird das Eigenbild öfter durch Begegnung mit den ande­
ren beeinflußt. In dem Prozeß der „Wir“-Gruppenbildung ist die Anwesenheit
oder mindestens die Vorstellung von „den anderen“ bedeutungsvoll. A kh u n d z ä­
deh war auf der Suche nach nationalen Sym bolen in der vor-islamisch-zarathustrischen Zeit und in der schiitisch-safavidischen Periode. Aus diesem Grund sah er
keinen W iderspruch zwischen den beiden wichtigen Epochen iranischer Zivilisa­
tion und ignorierte Perioden, in denen Iran Teil des arabischen, mongolischen
oder türkischen Imperiums w a r 16.
A khundzädeh war ein großer Anhänger der europäischen Zivilisation, und
seine grenzenlose Begeisterung ging so weit, daß er alle Kritiker Europas als Fana­
tiker bezeichnete17. Er empfand den Islam, besonders in seiner schiitischen Ver­
sion, als sehr reaktionär. Zwei bekannte iranische Modernisten, M elkom Khän in
der Zeit von N äsereddin Shäh und Flasan Taqizädeh, propagierten später, daß die
Iraner ohne irgendeine Rücksicht die materielle und kulturelle Form der europäi­
schen Zivilisation übernehmen sollten18.
Die religiösen Kräfte versuchten, in den neuen historischen Gegebenheiten ihre
Position neu zu definieren. Einige schiitische Theologen verurteilten den europäi­
schen Kolonialism us19. Sie organisierten die Bevölkerung in einem beispiellosen
Protest gegen die Tabak-Konzession englischer Firmen und siegten. Viel mehr
aber waren sie mit der modernistisch orientierten Bewegung der Bahä’i beschäf­
tigt, die sie als häretisch verurteilten. Die Ereignisse um den Tabak-Boykott w u r­
den aber zu einer der wichtigsten Massenproteste in der iranischen Geschichte,
deren Einfluß bis zur islamischen Revolution von 1979 reichen sollte. Eine briti­
sche Firma erhielt 1890 das Monopol zu Einkauf, Verarbeitung und Verkauf des
iranischen Tabaks, welcher in dieser Zeit ein w ichtiger Exportartikel war20. Im
Dezember 1891 erreichte der Tabak-Protest seinen Flöhepunkt, als landesweit
Einkauf und Gebrauch von Tabak boykottiert wurden; sogar die Frauen des
15 M eh r d a d Kia, M ir z a Fath A li A k h u n d z a d e and the C a l l for M o d e r n iz a t io n in the Islamic
W orld, in: M id d le Eastern Studie s 31 (Ju ly 1995) 4 2 2 - 4 8 ; M aryam Sanjabi , R ere a din g the
E nlightenm ent: A k h u n d z a d a and his Voltaire, in: Iranian Studie s 28/1—2 (W in ter/Sprin g
1995) 39 -60.
16 J uan R. /. Cole , M a r k i n g B o un d a rie s, M a r k in g Time: T h e Iran ia n Past and the C o n s t r u c ­
tion of the Self b y Q a ja r T h in k ers , in: Iranian Studie s 29/1-2 (W in ter/Sprin g 1996) 36.
17 Cf. Kia, M ir z a Fath A li A k h u n d z a d e 444.
18 Vlg. Ehsan N araqi, G h o r b a t-e gh arb (Tehran 2535 Sch ähan shäh i, l e r Edition: 1353
S cham si) 3; Ehsan N araqi, A n c h e n kh o d däsht (Tehran 2535 Shäh ansh ähi) 182.
19 'H a ’eri, N a k h o s tin 480 ff.
20 Charles Issawi, E u rop ean E conom ic Penetration 1872-1921, in: T h e C a m b rid g e H is t o r y
of Iran, Bd. 7: F ro m N a d ir Shah to the Islam ic R ep u b lic ( C a m b r id g e 1991) 604; kü nftig z i­
tiert: Issawi, E u ro p ea n E conom ic Pe netration.
212
M. R eza Farib o rz H a m z e h ’ee
Schahs und N icht-M uslim e schlossen sich dem B oykott an. 1892, nach der Er­
schießung einiger Demonstranten in Teheran, w urde der Schah gezwungen, die
Konzession zurückzunehmen. Um den Schaden der Firma bezahlen zu können,
nahm Iran seinen ersten Auslandskredit auf, ausgerechnet von der britischen Im ­
perial B ank21. Die Absage der Konzession war ein Triumph für die Russen in ihrer
Konkurrenz mit den Briten22.
Man sollte hier auch die Aktivitäten eines außergewöhnlichen Mannes, Sayyed
Jam äledin Asadäbädi, bekannt als Afghani, erwähnen, die einen wichtigen Einfluß
auf die konstitutionelle Revolution ausübten. U m 1857-58 besuchte er Indien, w o
er ein starkes anti-imperialistisches Ressentiment entwickelte, das sein weiteres
Leben entscheidend beeinflußte. Seine modernistischen, anti-imperialistischen
Schriften, die er in Indien und Paris schrieb, fanden viele Leser. Einer seiner A n ­
hänger, Rezä Kermäni, tötete sogar den Qajar-Schah, Näsereddin. Asadäbädi und
seine A nhänger spielten eine wichtige Rolle im Tabak-Protest23.
Schon ab dem 19. Jahrhundert bekam die intellektuelle Herausforderung durch
den existierenden Zustand eine entweder religiöse oder anti-religiöse Färbung.
Traditionell haben alle sozialen Bewegungen versucht, die dominanten Religionen
durch andere religiöse oder sozial-ökonomische Vorstellungen zu ersetzen24.
Die letzte religiöse Innovation w urde durch M oham m ad ’Ali Shiräzi durchge­
führt, che sich später zur Bahä’i Religion entwickelte. ’Abdol Bahä ’Abbäs (1844 1921), Sohn von Bahäolläh, dem neuen Bahä’i-Propheten, schrieb während seiner
Exilzeit in Palästina ein Buch, das er „Die geheime Ursache der Zivilisation“
nannte.
Abbäs sah die Europäer nicht als gute „andere“ und die A raber als schlechte
„andere“, w ie A khundzädeh es tat. Er respektierte alle Perioden in der iranischen
Geschichte vor oder nach dem Islam und argumentierte, daß die Iraner nicht eine
einzige Zivilisation oder Kultur besäßen, sondern immer im A ustausch mit ande­
ren Kulturen wären. Deshalb konnte laut seinen A usführungen das gleiche mit
dem modernen Europa stattfinden25. Er pflegte eine alte Tradition der D uldung
anderer R eligionen und führte als Beispiel die gegensätzliche Religionspolitik der
A chemäniden und Safaviden an, als letztere alle nicht-schiitischen Bevölkerungs-
21 Siehe: N ik k i R. K eddie, M ehrdad A m a n a t, Iran un d e r the later Q äjärs, 1848-1922, in:
C a m b r i d g e H is t o r y of Iran, Bd. 7: Fro m N a d ir Shah to the Islam ic R ep u b lic ( C a m b r id g e
1991) 195-196.
22 Rose G reaves, Iranian R elation s w ith G reat B ritain and B ritish India, 17 98-1921, in: C a m ­
b rid ge H is t o r y of Iran, Bd. 7: F r o m N a d ir Shah to the Islam ic R e p u b lic (C a m b r id g e 1991)
409.
23 F ü r m eh r In fo rm atio n üb er die T ä tig k eite n dieses M a n n e s siehe: N ik k i R. K eddie, S a y y id
Ja m a l a l- D in „A1-A fg h a n i“, A Political B io g ra p h y ( B e r k e le y 1971).
24 Siehe: M. R eza Fariborz F lam zeh ’ee, L and of R ev o lu tio n s : A T y p o lo g ic a l S t u d y of Iranian
Social M o v e m e n t (G ö ttin ge n 1991) 65 ff.
25 A b d al-B aha, T h e Secret of D ivine C iv iliz a tio n , trans. b y M a r z ie h Gail (W ilm ette 1970)
25 -32.
Das M o d ell Iran
213
gruppen verfolgten. Er glaubte, daß der moderne iranische Staat sich nicht m die
Religion der Bevölkerung einmischen dürfe26.
Es gab auch Intellektuelle, die die Monarchie oder eine Mischung von mehreren
Regierungsformen bevorzugten. Aber es ist klar, daß man seit diesem Frühsta­
dium der N euh n d un g und der Begegnung mit der europäischen Kultur mit der
eigenen traditionellen Identität in Konflikt geraten war.
Die Vorbilder
Die Intellektuellen während der Qajar-Zeit w aren sich der veränderten Machtver­
hältnisse in der Welt bewußt und daß ihr Land, bedingt durch die Rückständigkeit
der iranischen Gesellschaft, in die Sphäre der europäischen Domination fiel.
Darin w urzelt die romantische Verehrung von Peter dem Großen, dem russischen
Zaren, und Voltaires Buch, in dem er am Beispiel von Peter versucht, den aufge­
klärten Despotismus zu verherrlichen27. Egal w ie romantisch die Schrift von Vol­
taire war, es gab einige, die sich in Petersburg persönlich überzeugen konnten und
in ihren Reisebüchern detailliert darüber berichteten.
Das Leitmotiv war, zu zeigen, wie ein in barbarischem Zustand lebendes Land
sich durch einen aufgeklärten Despoten innerhalb von ein paar Jahrzehnten zivi­
lisierte28. Das tat Peter dank seiner direkten Beobachtungen in Westeuropa und
durch geschickte Verwendung der europäischen Methoden. Nach M aryam
Ekhtiar: „A close examination of their accounts reveals the common conviction
that the application of m any of the same formulas that worked to bring Western
Europe and Russia to the existing level of advancement could be realized in
Iran.“29
U nter einer iranischen Delegation nach Petersburg befand sich ein gewisser
A m ir Kabir, der später als Premierminister die erste Hochschule in europäischem
Stil in Teheran gründete30. Interessant ist der Versuch des Qajar-Vesirs Sepahsälär,
den Schah 1873 und 1878 in der Hoffnung nach Europa zu schicken, daß er sich
wie Peter zu einem „aufgeklärten Despoten“ verwandle. Die teuren Reisen haben
nur das Regime zu mehr Verschuldung gezwungen, ohne aus einem Qajar-Schah
einen Peter den Großen machen zu können31.
26 E dw ard G. B row ne, A T ra v e lle rs N a rra tiv e W ritten to Illustrate the Episode of the Bab
( M a q ä la h - y i sh a k h s l s a y y ä h ) , 2 Bde. ( C a m b rid g e 1891) 1: 1 9 9 -2 0 0 ,2 : 161-162.
27 M aryam Ekhtiar, A n E n co un ter w ith the R ussia n C z a r : T h e Im age of Peter T h e G reat in
E arly Q a ja r H is to r ic a l W ritin gs, in: Iranian Studie s 29/1-2 (W in ter/Sprin g 1996) 68; künftig
zitiert: E khtiar, A n Encounter.
28 Ekhtiar, An E n co un ter 67.
29 Ekhtiar, A n E n co u n ter 61.
50 Ja m sh id B eb n ä m , Irän tyän va a n d is h e h -y e tam ado n (Teheran 1375 H .) 31.
31 Siehe:7 ¡i/o/ Saltaneh, Khäterät, Edition: M a n su re h Etehädie h und Sirus S a ’dvanchyan,
M a jm u ’eh - y c m o tu n va a s näd-e tärikhi, ketäb-e haftom : q ä jä n e h (Teheran 1362 EL) 93;
B ehnam , Ir ä n iy ä n 35.
214
M. R cz a F a rib o rz H a m z c h ’cc
A ußer in Rußland suchten die iranischen Intellektuellen auch bei den Japanern
nach Vorbildern. Es zeigte sich auch in Japan, daß die Übernahme der europäischen
Wissenschaft und konstitutionellen Regierung eine notwendige Bedingung für
U nabhängigkeit und politische Stärke w ar32. Deshalb hatten es nicht nur die
Russen geschafft, von einem barbarischen Zustand zur Zivilisation zu gelangen,
sondern auch die Japaner, die in einem so abgelegenen Teil Asiens lebten. Das war
vorbildhaft für den Iran, der im Eierzen dieses Kontinents lag. Die Diskussion über
Japan wurde mangels Informationen nicht sehr intensiv geführt, jedoch wurde sie
später durch die D enker der islamischen Revolution w ieder aufgenommen.
Das Vorbild Europa selbst hatte die Phase der primären Identifikation mit der
Religion hinter sich. Aber für die Iraner, die noch in dieser Entwicklung standen,
verursachte es Verwirrung. In Europa begann die Industrialisierung mit dem
R ückzug der Religion. Die Religion im Iran w ar besonders in dieser Zeit viel zu
wichtig, um darauf verzichten zu können. Auch das Priestertum war zu stark, um
ohne es Politik machen zu können. Die konfuse Lage führte zu einem Aufstand,
der Verfassungsrevolution von 1907-1909.
Was die Intellektuellen bei der Verfassungsrevolution von 1909 verband, war
ihre U nzufriedenheit mit dem existierenden Zustand, ansonsten hatten sie sehr
unterschiedliche Vorstellungen, was auch auf religiöse Kreise zutraf33.
W ährend der Verfassungsrevolution schrieb die Zeitung Hablal Matin mit be­
wundernden Worten über die Aufklärungszeit in Europa, die im Westen Freiheit,
Menschenrechte und konstitutionelle Regierungen hervorgebracht hatte. Solche
konstitutionellen Regierungen hätten es den Europäern ermöglicht, sich so „ganz
auf den Fortschritt vorzubereiten“ und sich mit der Wissenschaft zu beschäftigen.
H ier verherrlichte die Zeitung sogar den Kolonialismus, weil nur durch ihn die in
Dunkelheit und in Ignoranz lebenden Menschen des Ostens aufwachen könn­
ten34. Sie brachten, in der Sprache der Zeitung, die Sonne der Wissenschaft von
Europa nach Asien.
M an versuchte so gut wie möglich, den europäischen Staat nachzuahmen und
die Despotie zu beenden. Die belgische Verfassung, in der der Monarch nur be­
grenzte Macht hatte, w urde in großen Teilen übernommen.
Die Briten und Russen, die in den meisten politischen Bereichen im Iran m it­
einander konkurrierten, blieben auch in dieser Situation nicht passiv.
Es wird gesagt, daß das Wort M asbrutiyat, das für die emanzipatorische B ew e­
gung gebraucht wurde, erstmals vom britischen Botschafter in einem Telegramm
aus London nach Teheran verwendet w urde35. Die Russen dagegen entschieden
sich für die U nterstützung der Despotie.
32 R oxane H aa g-H igu ch i, A Topos and its D isso lu tion : J a p a n in Sonic 20th C e n t u r y Iranian
Tcxts, in: Iranian Studie s 29/1-2 (W in ter/Sprin g 1996) 75; k ü n ftig zitiert: H aag-H igu ch i, A
Topos.
33 Vgl. H a m id Algar, R elig io u s Forces in Twentie th C e n t u r y Iran, in: C a m b r id g e H is t o r y of
Iran, Bd. 7: F ro m N a d ir Shah to the Islam ic R ep u b lic ( C a m b r id g e 1991) 733 ff.
34 H a a g-H igu ch i, A Topos 74-75.
35 E sm ä’il K h o ’i, A z ä d i, h aqq va ’ edalat (Teheran 1357 H .) 202.
Das M o d ell Iran
215
Eine Bewegung im kaspischen Gilän, bekannt als „Jangali“, und andere A uf­
stände in verschiedenen iranischen Gebieten bewirkten den Aufstieg eines irani­
sches Kosakenführers, der dem europäischen Staat zum Sieg verhalt. Er sagte allen
traditionellen Elementen den Kampf an und entschied sich für eine gewaltige
Transformation der Gesellschaft.
Ein wichtiger Grund für das Scheitern dieser Bestrebungen w ar ein Konflikt
zwischen religiös orientierten und säkularen Revolutionären, der innerhalb der
konstitutionellen Revolution und Jangali-B ewegung immer bestanden hatte.
Selbstverleugnung als M odernisierung
Schließlich w urde die europäische Staatsform durch Reza Schah im Iran etabliert.
Es gibt kaum Zweifel, daß die Machtübernahme von Reza Schah ein Sieg der
Briten war.
Reza Schahs M utter kam aus einer kaukasischen Immigrantenfamilie mit mili­
tärischer Tradition. M it fünfzehn brachte ihn ein O nkel zu den Kosakeninfanterie-Brigaden. Es dauerte dreißig Jahre, bis er zur Spitze der militärischen H ierar­
chie aufgestiegen war. Ausgewählt durch den britischen Agenten Ziyäeddin Tabatabä’i, führte er 1921 einen erfolgreichen Staatsstreich durch.
Bevor Reza mit seinen zweitausend Kosaken und einhundert Gendarmen ver­
suchte, von Q asw in aus Teheran zu erobern, traf er den britischen Militäroffizier
General Ironside und Colonel Sm yth36. Aber ironischerweise sagte Reza in einem
Gespräch mit einem iranischen Offizier: „Alle Kosakenoffiziere von Q aswin und
Teheran sollen sich vereinen, um fremde Mächte rauszuschmeißen und ihre A n ­
hänger zu vernichten.“37
Es ist nicht möglich zu sagen, was er damit meinte, oder was er sich vorstellte.
Ob er sich dessen bewußt war oder nicht38, seine Aufgabe w urde es, die iranische
Gesellschaft zu modernisieren. U m dies anders zu formulieren: Er sollte das Land
in die Sphäre des kapitalistischen Weltmarkts hineinziehen39.
36 A lle B e m ü h u n g e n u m eine konstitutio n elle R e g ie ru n g w a r e n um sonst, weil sie n ur auf
dem P ap ie r blieb un d die D espotie w e ite r herrschte. D o n a ld N. Wilber, R iz a Shah Pahlavi:
T h e R ec o n stru ctio n o f Iran ( N e w Y ork 1975) 42.
37 G eneral H assan A rfa, U n d e r Five Shahs ( L o n d o n 1964) 116.
38 O b w o h l bis jetzt fast alle, einschließlich der A n h ä n g e r der Pahlavi, glauben, daß R eza
Schah ein b ritisch er P a rte igä n ger war, lehnt eine U n t e r s u c h u n g von H o m a K atou zian einen
dire kten K o n ta kt ab. D ie M ö g lic h k e it besteht, daß er gerne sch la uer als die Briten sein
w o llte. Ihm w u r d e s olange freie H a n d gelassen, w ie er im Sin ne d e r Briten handelte. Sobald
er legal und im In teresse seines Landes w ä h re n d des Z w e ite n W eltk rieges N eu tra litä t e r ­
klärte, w u r d e er z u r A b d a n k u n g ge zw u n gen . Siehe: M o h a m m a d ’A li H o m ä y u n K ätuziyän,
Estebdäd, d e m o k r ä s i va n eh zat-e m elli (Teheran 1372 H .) 117; H o m a K a to u zia n , T h e Po liti­
cal E c o n o m y of M o d e r n Iran: D espo tism and P s e u d o -M o d e r m s m , 1926-1979 ( N e w York,
L o n d o n 1981) C h a p tc rs 5, 6; G eneral H osayn Fardust, Z o h u r va s o q u t-e saltanat-e pahlavi,
M o ’as cs ch -ye m o t ä le ’ät va p a z h u h e s h - h ä - y e siy äsi, Bd. I (Teheran 1370 H .) 293, 29 7-298 .
39 A u ß e r d e m nach d em B io gra p h e n von L ord C u r z o n : „ A h v a y s he had d re am t of creatin g a
216
M. R e z a F a rib o rz H a m z e h ’ee
Das Land war besonders in dieser Zeit viel zu wichtig für den Westen, um es zu
übersehen. Ol hatte schon damals enorme B edeutung für die Entwicklung der In­
dustrie im Westen, und bis heute basiert die moderne Industrie hauptsächlich auf
der Energie des Öls. Es genügt zu erwähnen, daß außer Energie 70000 unter­
schiedliche Industrieprodukte aus Öl gewonnen werden.
Bis zum Aufstieg von Reza Schah wurden die Ölfelder durch Nomaden verun­
sichert, und deshalb war das wichtigste, was der neue Herrscher in diesem Bereich
leisten sollte, die G ründung einer starken Zentralmacht, die in der Lage war,
lokale Kräfte zu beseitigen, die jahrhundertelang neben den despotischen H err­
schern existiert hatten. Es ist nicht überraschend, was der erste Minister und der
Hauptorganisator des C oup d ’ Etat, Z iy ä e d d in , für ein politisches Programm auf­
stellte. In seinen Worten: „Eine Armee vor und über allem anderen. Alles für die
Armee und wieder für die A rm ee.“ Die A rmee w urde praktisch nicht geschaffen,
um gegen äußere Feinde zu kämpfen, sondern für die totale Unterdrückung aller
regionalen Mächte und die Herstellung einer Diktatur. Die anschließende Modern isieru n g sp o lm k war ein mühsamer Prozeß, um eine selbstständige Wirtschaft in
eine abhängig konsumierende Wirtschaft zu wandeln.
Ein illustratives Beispiel für die M odernisierungskonzepte Reza Schahs ist in
der „U m kleidungspolitik“ verschiedener Bevölkerungsteile zu sehen, die bereits
m den frühen Jahren seiner Herrschaft durchgeführt und auf gewaltsame Art und
Weise fortgesetzt wurde. 1963 w urden diese Gesetze durch seinen Sohn aufgeho­
ben, als sie nicht mehr als notwendig empfunden wurden40.
Machtpolitischer Hintergrund dieser U m kleidungspolitik, bei der die Be­
völkerung mit vorgehaltener Waffe gezwungen wurde, traditionelle Gewänder
gegen „moderne“ westliche Kleidungsstücke auszutauschen, war eine optisch
erkennbare „Vereinheitlichung“ der gesamten Bevölkerung. Diese Vereinheitli­
chung wurde einerseits als Voraussetzung für den zu realisierenden M odernisie­
rungsprozeß angesehen (wie man auch bei anderen totalitären Regimen beob­
achten kann), andererseits aber auch als machtpolitische Taktik, um eventuelle
Widerstände bestimmter Bevölkerungsgruppen auszuschließen. Denn die Viel­
schichtigkeit der iranischen Gesellschaft fand zur Zeit des Schahregimes ihren
A usdruck in einer bunten Vielfalt verschiedenster Bekleidungsformen, in denen
sich ethnische, religiöse und geographische Zugehörigkeiten der verschiedenen
Bevölkerungsgruppen widerspiegelten. Die damit verbundenen gewachsenen
chain ot vassal states St r e tc h i n g from thc M e d iterra n ea n to the P am irs and protectin g, not the
In dian fro n tier mercly, but o u r co m m u n ica tio n s w ith o u r fu rther E m p ire.“ H a rold G. NicoT
son, C u r z o n : T h e Last Phase, 1919-1925 ( L o n d o n 1934) 121.
40 Reza Schah P ah lew i, A n t w o r t an die Geschic hte: D ie S c h a ll-M e m o ire n , Titel d er O r i g i­
nalausgabe: R ép o n s e à l’ H is to ire (P aris 1979) 99. D iejen igen, die das Gesetz nicht befolgten,
w u r d e n aber nicht „z iv il“ behandelt. Sie w u r d e n auf d er Straße angehalten, ihre K le id er z e r­
rissen. Sie w u rd e n bele id igt und ge schlagen. N u r d ie je nigen , d ie es sich leisten ko nn ten , w ie
der spätere P r e m ierm in is ter Dr. M o sa d e q , blieben m o n a te la n g zu H a u s e und verzic hteten
s o ga r auf den sozial un d religiös w ic h tig en H a m m a m , das öffentliche Bad. Siehe z .B . über
M o sa d e q in: H osa yn K a y -o s to v a n , S iy ä sa t-e m o v a z e n e h -y e inanfi, Bd. II (Teheran 1329,
N a c h d ru c k : Paris 1977) 78-79.
Das M odell Iran
217
Loyalitätsstrukturen zu brechen und als eventuelle Hemmfaktoren auszuschal­
ten, war einer der H auptgründe für die von Reza repressiv durchgesetzte Umkleidungspolitik.
Nicht vergessen werden darf hierbei jedoch, daß es bei dieser optischen „M o­
dernisierung“ als äußerer Ausdrucksform auch um eine sichtbare Manifestierung
des, nur teilweise verstandenen41, westlichen Werte- und Normensystems ging,
die als innere Voraussetzung beginnender „Zivilisierung“ der iranischen Gesell­
schaft angesehen wurde.
Wenn man über westliche Werte spricht, sollte man auch darauf himveisen, daß
diese Diktatoren versuchten, nur selektiv diejenigen Werte zu übernehmen, die
ihre eigene Herrschaft nicht in Frage stellen konnten. Das heißt jedoch nicht, daß
sie z.B. die existierende iranische Verfassung respektiert hätten.
Ein weiteres Beispiel für das politische Bestreben des Schahs, eine „zivilisie­
rende“ Veränderung und U mstrukturierung der iranischen Gesellschaft mit allen
Mitteln durchzusetzen, ist in dem Versuch zu sehen, nomadisierende Viehzüchter
in den verschiedenen Regionen des Landes zur Seßhaftigkeit zu zwingen.
Ein Grund hierfür war auch die Tatsache, daß sich die nomadisierenden Bevöl­
kerungsgruppen aufgrund bestehender Stammesloyahtäten dem politischen Zu­
griff des Schahs entzogen und von ihm als unkontrollierbare Hemmfaktoren
seiner M odernisierungspolitik angesehen wurden. Aber besonders die Macht der
lokalen Stammesführer widersetzte sich dem importierten Konzept des N ational­
staates.
Reza Schah nahm A tatürk zum Vorbild, der sich auch zur Aufgabe machte, die
Macht der religiösen Schicht und der Stammesführer zu zerbrechen. Obwohl
Reza nicht so weit ging wie sein Vorbild in der Türkei, w ar er insgesamt genauso
radikal in der Leugnung von Kultur und Geschichte. Die Wirkungen dieser Poli­
tik konnten auch nicht anders sein als das, was der an sich widersprüchliche M ehmed A kif über die sogenannte moderne Türkei sagt: „People of a nation whose
religion is imitation, whose world is imitation, whose customs are imitation,
whose dress is imitation, whose greetings and language are imitation, m short,
whose everything is imitation, are clearly themselves mere imitation of human
beings, and can on no account make up a com m unity and, hence, can not survive“
(Sebiliirre§at, 1328, no. 27)42, Soviel Imitation, daß Akif nicht mehr merkte, daß
41 K atou zia n nennt das P h ano m cn P sc u d o -M o d e r n is m u s und schreibt: „ M o d e r n is m __is a
p rod u ct of certain d ev elop m e nts in advanced co untrie s, even tho ugh it is subject to criticism
w ithin its o w n context. P s e u d o -m o d ern is m m the T h ird W orld, however, is the prod u ct of
this p roduct: it is ch aracteristic of men and w o m e n in those s ocieties that - regardless o f f o r ­
m al id eological d iv isio ns - are alienated from the cu ltur e and h is to ry of their o w n society,
both in in tellectual ideas and in social aspira tions, but, u n lik e the European m odernists th e m ­
selves, the y seldom have a real u n d e rs ta n d in g of Eu rop ean ideas, values, and tec hn iq ue s.“
K atou z ia n , T h e Po li tical E c o n o m y 103.
42 N ur Yalrnan , Islam ic R eform and the M y s t ic T radition in Eastern T u rkey, in: European
J o u r n a l of S o c io lo g y X /l (1969) 44 -45.
218
M. R e z a F a r ib o r z H a m z e h ’ee
der von ihm und seinen Anhängern propagierte Nationalismus selbst nichts ande­
res als eine blinde N achahm ung ist43.
Das Schahregime, das vom Westen als ein nicht nur die iranische Gesellschaft,
sondern den ganzen Nahen Osten stabilisierendes Regim e gesehen wurde, wirkte
sich für die politische Entwicklung als krisenhaftes M oment aus. Denn die repres­
sive, auf M ilitär und Geheimdienste gestützte Politik des Schahs vertrat ein am
westlichen W erte- und N ormensystem orientiertes Modernisierungskonzept, das
mit traditionellen Strukturen der iranischen Gesellschaft sowohl in Bezug auf tra­
dierte Werte als auch bezüglich gewachsener ökonom ischer Strukturen gewaltsam
brechen wollte.
Im Gegensatz beispielsweise zu einigen M ilitärdiktatoren in Südamerika knüpfte
der Schah, der sich selbst als „M odernisierungsapostel“ verstand, nicht an ein be­
stehendes, durch die vorherrschende Religion, in dem Fall den Islam, geprägtes
Wertekonzept an, sondern versuchte, ein der islamischen Geschichte und Kultur
des Iran nicht entsprechendes Werte- und N orm ensystem zu installieren.
Er hat sich immer wieder als „Erneuerer“ iranischen Großmachtdenkens aus
der Zeit der vor-islamischen Periode verstanden und sich als N achkom m e des
Kyros bezeichnet. Daher nannte sich der Schah auch selbst „Sonne der A rier“.
Gleichzeitig aber verachtete und unterdrückte er die schiitischen Werte und die
Kultur der M ehrheit der B evölkerung und des Klerus.
Ein H auptgrund für dieses politische H andeln bestand darin, daß dem Schah
und seinem vor ihm herrschenden Vater wohl bekannt war, daß der Klerus und die
Lokalfürsten ein wichtiger Faktor politischen Handelns gewesen waren und z u­
vor einen sehr großen Einfluß im Land gehabt hatten.
Im Gegensatz zu frühen D ynastien waren beide Schahs nicht bereit, die politi­
sche Macht mit dem Klerus und den lokalen Fürsten zu teilen, weil sie diese als
H indernis ihrer M odernisierungspolitik ansahen.
Eine Weiterführung dieser Politik bestand in der Landreform - ein wichtiger
Teil der sog. weißen Revolution (weil unblutig, obwohl sie doch blutig war) - , in
deren R ahm en Landbesitzer, meist Fürsten nomadisierender Stämme, durch Ent­
eignung entmachtet wurden. O bw ohl grundsätzlich richtig, hatte die iranische
Landreform des diktatorischen Regimes der Pahlewi eine Verschlechterung der
Zustände zur Folge.
Diese M odernisierungspolitik des Schah, die im Iran auf erheblichen W ider­
stand stieß, w urde im Ausland durchw eg positiv bewertet, hauptsächlich weil sie
als ein von den U SA lanciertes „modernisierendes“, auf „Demokratisierung zie­
lendes“ Reform paket den wirtschaftlichen und politischen Interessen des Westens
entsprach44.
43 A k if ist d er Verfasser der tü rk is ch en N a tio n a lh y m n e .
44 Sie he z. B. M anoochehr Heshmati, Die „w e iß e R e v o lu t io n “ un d deren W ir k u n g a uf die soz io - ö k o n o m is c h e E n t w ic k lu n g Persiens: A n a t o m ie eines gescheiterten M o d e r n is ie r u n g s ­
k o n ze p ts (F ra n k fu r t am M a in 1982).
D as M o d ell Iran
219
Die Eigeninteressen der westlichen Länder an diesem M odernisierungskonzept
werden besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, daß die U SA im glei­
chen Atem zug den Anfang der 50er Jahre sich unter iranischem Vorzeichen um
Dr. Mosadeq entwickelnden Demokratisierungsprozeß unterdrückten und ab­
würgten.
Was Dr. Mosadeq, der wegen seines friedlichen Vorgehens mit Gandhi vergli­
chen wird, eigentlich wollte, war nur die A nwendung der existierenden iranischen
Verfassung45.
A ber er w ar auch derjenige, der die Ö lindustrie verstaatlichte, die sich in der
Hand ausländischer Firmen befand. Er hat dies nach seiner bekannten Rede vor
dem Internationalen Gerichtshof in Den H aag durchgesetzt, was aber zu seinem
Sturz führte. Sein Ziel beruhte auf westlichen demokratischen Werten, aber
gleichzeitig widersprachen diese den wirtschaftlichen Interessen des Westens.
Nach den veröffentlichten Geheimdienstberichten der U S-R egierun g wurden da­
mals mehrere M illionen Dollar zum Sturz von Dr. Mosadeq ausgegeben. Dies
zeigt, daß die U S A in der Iran-Politik nach diesem Sturz nicht an einer D em okra­
tisierung oder Industrialisierung interessiert waren, sondern an einer Konsummo­
dernisierung, die einen wichtigen M arkt für sie sichern konnte.
Da aber gleichzeitig das neue Regime von der Bevölkerung als amerikanische
Marionette angesehen wurde, konnte es, unter anderem, bei vielen einflußreichen
Bevölkerungsgruppen keine Legitimation erreichen.
Deutlich erkennbar waren diese Veränderungen in einer raschen, planlosen
Urbanisierung46, Landflucht, Zerstörung traditioneller Agrarwirtschaft und auf
einheimischer H andw erkskunst basierender Kleinindustrien sowie einer auf Kon­
sum und den Import westlicher Industrieprodukte ausgerichteten Wirtschaft, die
durch den Export von Rohstoffen, vor allem Ol, finanziert werden konnte.
Diese gesellschaftliche U m strukturierung hat in Verbindung mit der repressi­
ven Herrschaftspraxis des Schah zu einer Normenerosion geführt, die sich in so­
zialer D esorientierung kulturspezifischer A usprägung äußerte.
Der existierende säkulare Staat des Pahlewi-Regim es war anscheinend nicht
das, was die iranischen Denker des 19. Jahrhunderts sich vorgestellt hatten. Aber
die D enker der iranischen Revolution waren genauso überzeugt wie ihre Vorfah­
ren, daß man so gut und so bald wie möglich technologische und wissenschaft­
liche Errungenschaften des Westens übernehmen solle. Diese Ideologen wollten
die technologische Entwicklung erreichen, ohne ihre eigene Kultur und Identität
45 Sie he z .B . M oham m ad Mosadeq, B a r g o z id e h -i az m o d ä f e ’ät-e d o k t o r m o h a m m a d -e
m osadeq d a r d ä d g ä h -e n ezäm i, in: Ferdausi (25 D a y 1357 H .) 8-9 , 38; Homa K atouzian,
M u s a d d iq and the Stru g g le fo r P o w e r in Iran (L o n d o n , New' Y o rk 1990); M ichael K ah l Shee­
han, Iran: The Im pact o f U n ited States Interest and Policies ¡9 4 1 - 1 9 5 7 ( B r o o k ly n , N e w
Y o rk 1968).
46 Farokh Hesämiyan, Shah rneshini, m a r h a le h -y e go zarä, in: Farokh Flesämiyän u .a ., Shahrneshini da r irän (Teheran 1363 H .) 21; kü nftig zitiert: Flesämiyän, S hahrneshini. Siehe dazu:
Parviz. Farvardin, Behruz Tiiräni, B iq a r ä r i-h ä - y e s h a h ri-g a n , in: Ferdausi (N a u r u z , ?) 38 -41.
220
M. R eza Fa rib o rz H a m z e h ’ee
zu verlieren. Das Beispiel von Japan blieb Vorbild für die islamisch orientierten
Denker und das Beispiel Rußland in der Form der Sowjetunion für die Linksorientierten.
Auch nach der islamischen Revolution hat die Bedeutung einer technologischen
Entwicklung nicht abgenommen. Einige Verantwortliche im neuen Regime geben
sich .Mühe, das Land zu industrialisieren. Aber acht Jahre Krieg und eine überdi­
mensionale Bevölkerungsexplosion führten die nur aut Ölexport basierende W irt­
schaft in eine Krise, die den Menschen jede Hoffnung auf ein besseres Leben
nahm. Die heutige Regierung ist nicht mehr in der Lage, ihre Anhänger von der
Weisheit ihrer Politik zu überzeugen47. Deshalb gibt es heute wenige Menschen,
die daran glauben, daß die jetzige Regierung in der Lage sei, das Land in die M o ­
dernisierung zu führen. Einigen scheint jetzt wieder eher ein säkularer Staat die
Fähigkeit zur erfolgreichen Industrialisierung zu besitzen.
Egal wie oft Iran in den letzten hundert Jahren zwischen Säkularität und G ot­
tesstaat auf der Suche nach einer Lösung seiner Probleme hin und her geschwankt
ist, der Wunsch nach Industrialisierung hat nie nachgelassen. Es gibt heute kaum
Menschen im Iran, die Modernisierung nicht als den einzigen Weg zum Glück se­
hen. Man glaubt an Modernisierung mehr als an alles andere, und sie ist über jeden
Zweifel erhaben. Aber wenn diese jetzt die einzige Welt-Religion geworden ist, so
ist das eine der Folgen der Ausbreitung des europäischen Staats, oder anders for­
muliert: die Folge der Verwestlichung.
Die A usbreitung des europäischen Staats ist ihrem Hauptmotiv gefolgt, und
zwar: M ärkte für Industrieprodukte zu schaffen und Rohstoffe zu finden48. Und
es ist nicht überraschend, daß es in Ländern wie dem Iran nur Verwestlichung ge­
ben konnte und nicht Industrialisierung. Man hat im Falle der Bemühungen von
Reza Schah beobachten können, daß er trotz seiner Abhängigkeit vom Westen das
Land zu industrialisieren versuchte. Aber bis jetzt hat Iran trotz oder wegen sei­
nes Reichtums an Bodenschätzen kaum Chancen zu einer positiven Entwicklung
gehabt49.
Eine andere Folge der A usbreitung des europäischen Staats im 20. Jahrhundert
w ar unter anderem, daß sie, unter unterschiedlichen Bezeichnungen, überall in der
Dritten Welt eine Reihe von unselbständigen Diktaturen hervorgerufen hat. Es
mag an vielen Faktoren gelegen haben, daß diese möglich wurden, aber wenn wir
es sehr einfach und allgemein formulieren wollen, hat es viel mit typischer K urz­
47 Vgl. Sepehr Zabib, T h e Lett in C o n t e m p o r a r y Iran: Id eolo gy, O rg a n iz a tio n and the Soviet
C o n n ec tio n (L o n d o n 1986) 54.
48 Sie he z .B . Charles Issaun, Eu rop ean Econ o m ic Penetration , 1872-1921, in: C a m b r id g e
H is t o r y of Iran, Bd. 7: From N a d ir Shah to the Islam ic R e p u b lic ( C a m b r id g e 1991) 59 0-607.
1872 w u r d e einem Briten, B aron Ju liu s de Reuter, eine K o nzessio n gem acht, die in W orten
von Lord C u r z o n , einem britischen K o lo n ia lbeam ten : „w as the most co m plete and e x tra o r­
d in a ry su rr e n d e r of the entire industrial resources of a k in g d o m into foreign hands that has
p r o b a b ly ever been dre am t of, m uch less accom p lish ed, in h is t o r y “ . Siehe: Issawi, European
E con o m ic Penetration 593.
49 Siehe z .B . Hesäm iyän, Shah rneshini 2 8 ff.
Das M o d ell Iran
221
sichtigkeit des europäischen Staats zu tun. Sicherlich war es meistens die Aufgabe
dieser Diktatoren, bewußt oder unbewußt, die traditionellen Gesellschaften in die
kapitalistische Weltwirtschaft hineinzuzwingen. Sie erlaubt dem größten Teil der
Menschheit nur, zwischen Industrialisierung einerseits, Arm ut und Abhängigkeit
andererseits zu wählen. Und ich vermute, daß es nicht viele vernünftige Menschen
gibt, die die Industrialisierung aller Gesellschaften auf der Erde, in der bisherigen
Form, für möglich halten.
Trutz von Trotha
Über den Erfolg und die Brüchigkeit der Utopie
staatlicher Herrschaft
H errschaftssoziologische Beobachtungen
über den kolonialen und nachkolonialen Staat in W estafrika
Die europäische Expansion nach Afrika war vieles zugleich. A ber sie war vor al­
lem eine Herrschaftsutopie. Als Utopie der M achtkonkurrenz und Eroberung
ließ sie sich auf die voraussetzungsreichste aller U nternehmungen der Macht ein:
die Utopie staatlicher Herrschaft in den eroberten Gebieten zu verwirklichen*.
Gedacht war die Utopie des kolonialen Staates nach den Vorbildern der europäi­
schen ,Mutterländer'. Die Errichtung des kolonialen Staates war ein revolutionä­
res Unterfangen, selbst wenn auf staatliche Strukturen in den eroberten Gebieten
zurückgegriffen werden konnte; in Afrika südlich der Sahara - und in Westafrika
allemal - w a r dies angesichts der Vorherrschaft von G roß-H äuptling- und H äupt1 U n t e r ,staatlich er H e r rsc h a f t“ o der ,S taat“ verstehe ich eine z entralisierte G ebietsherrschaft.
Die Z entra lm a c h t b ea n sp ruc h t einigerm a ß en erfolgreich das M o n o p o l des legitim en p h y s i­
schen Z w a n gs , das G e w a ltm o n o p o l. Z u m Beispiel in G estalt vo n A rm ee, P o lizei un d über
W affengesetze hat die Z entra lm a c h t also m eh r o d er m in d e r die V erfügu ng üb er die G e w a lt ­
ressourcen u n d vor allem d ie R ec h tfe rtig u n g s g rü n d e fü r gew alttätig es H a n d e ln m o n o p o li­
siert. D e m entspric ht der A n sp ru ch a uf M o n o p o le in den drei klassischen Bereichen der
N o r m o r d n u n g : in der N o r m s e t z u n g , S a n k tio n ie ru n g vo n N o r m a b w e ic h u n g un d im S a n k ti­
on svo llzu g. Von s t a a t li c h e r H e rrsc h a ft“ spreche ich aber nur dann , w en n die Zentralm acht
zu sätzlich noch ü b e r einen b ü ro k ra tis ch en H e rrsc h a fts a p p a ra t verfügt. D as heißt: die H e r r schaftszentrale m ach t auf d em W ege der V er w a ltu n g s b ü r o k r a tie einen A n s p r u ch auf direkte
H e r r sc h a f ts a u s ü b u n g ü b e r die B eherrschten geltend un d kann die sen A n s p r u c h zu m in d e st
teilw eise ve r w ir k lic h e n . U m m öglichen M iß v ers tä n d n is se n v o rzu b eu ge n . G r u n d le g en d für
,staatliche H e r rsc h a f t“ ist nicht, daß die Z entra lm a c h t a u sschließ lich ü b e r büro kratis ch es
H a n d e ln m it den B eherrschten ve rkehrt. Im G egenteil: Im U n ters ch ie d z u m m od e rn e n e u ­
ropäischen A nstaltsstaat, d er vo rherrsch en d auf b ü r o k r a tis ch em H a n d e ln b eru ht, ist es zu m
Beispiel fü r den K o lo n ia lstaat kenn zeich n e n d , daß in w eiten Bereich en der V erkehr m it den
B eherrschten sich in den F o r m en des despotischen un d besonders in term ediären H a n d eln s
vollzieht. K urz: Z entralität, Territorialität, G e w a ltm o n o p o l, M o n o p o le in der N o r m o r d ­
n un g un d B ü r o k r a tie sin d die k o nstitutiv en M e r k m a le dessen, w a s ich im fo lg enden m it den
Begriffen des .S taates“ u nd d e r s ta a t lic h e n H e r rsc h a f t“ benenne; vgl. Trutz v o n Trotha , K o lo ­
niale H errschaft. Z u r sozio lo gisc h e n T h eo rie der S taatsen tstehu ng am Beispiel des S ch u tz­
gebietes Togo ( T ü b in g en 1994; im fo lg enden a b g ek ü rzt: Trotha, H e rrsc haft) IX.
224
Trutz von T ro tha
lingtümcrn, poly- und akephalen Gesellschaften2 allerdings eher selten der Fall.
Es w ar eine U nternehmung, die auf die radikale Umgestaltung, den U m sturz der
politischen O rdnungen in den eroberten Gebieten hinauslief. Die europäische
Kolonialherrschaft bedeutete eine ,Revolution der M acht' und zwar über den
Sachverhalt hinaus, daß sie die angetroffenen politischen Machtverhältnisse, die
vorkolonialen M achtbeziehungen, K onkurrenzen und Konflikte nachhaltig be­
rührte, und obwohl die ,Alten A frikaner' - wie sich die deutschen Kolonialbeam­
ten selbst bezeichneten3 sich in ihrem Konservativismus der ,Bewährung' nicht als
,Revolutionäre der Macht' verstanden. N ichtsdestotrotz: Es ging um die Form
politischer Herrschaft selbst. Davon blieb nahezu keine gesellschaftliche und k u l­
turelle O rdnung unberührt. Die koloniale U ntern eh m un g lief auf die radikale
U m w älzun g der eroberten Ordnungen hinaus und forderte dementsprechend so
ziemlich alle schwerwiegenden Konflikte heraus, die Menschen miteinander
haben können. Im Unterschied zum europäischen Staatenbildungsprozeß zeich­
nete sich die europäische Expansion nicht zuletzt dadurch aus, daß gerade in der
Zeit des Hochimperialismus und des ,Wettlaufs' um koloniale Besitzungen in
Afrika che Utopie des okzidentalen Staates in A frika und anderswo um die
bürgerlich-demokratischen und rechtsstaatlichen Seiten des europäischen Staatsbildungsvorgangs der zweiten Hälfte des 18. und des ganzen 19. Jahrhunderts
verkürzt war und selbst mit grundlegenden kulturellen Gemeinsamkeiten nicht
gerechnet werden konnte. Eine der Formen dessen, was ich im Anschluß an H ein ­
rich Popitz ,Basislegitimität‘ nenne4, nämlich die Basislegitimität der kulturellen
Zugehörigkeit, war für die kolonialen Eroberer zu keinem Zeitpunkt ihrer H err­
schaft erreichbar. Die gewalttätigen Eindringlinge waren und blieben fremde Er­
oberer - auch in ihrem Selbstverständnis5. Aber um so imaginativer und radikaler
erscheint in der Rückschau, woran die gewalttätigen Kolonialregierungen und die
,bewährten' Kolonialbeamten ,im Busch' mit der Verwirklichung bürokratischer
Herrschaft teilhatten.
Im folgenden will ich zwei Dinge tun. Anhand allgemeiner herrschaftssoziologischer Konzepte skizziere ich zuerst kurz einige wesentliche M erkm ale des ko lo ­
nialen und nachkolonialen Staates in Westafrika6, w obei ich von der Unterstellung
1 Zu den verschiedenen T y p e n p olitisch er O r d n u n g e n des v o r k o lo n ia le n A frik a vgl. Trotha,
H errschaft 225—2 6 i u n d die d o rt genan nte Literatur.
3 D ie fran zö sischen K o lo n ia lb e a m ten w a ren hier - w ie so h äu fig - genau er un d sprachen
vom ,b r o u s s a r d ‘ o der , vieux b r o u ss a r d “, vo m ,B u s c h e rfa h ren en '.
4 H einrich Popitz, P h ä n o m en e d er M ach t (T ü b in g e n 2 1992; im fo lgenden ab g ekü rzt: Popitz,
M ach t) 22 1 -2 2 7 ; z u m K o n ze p t d e r , B asisle gitim ität' s. un ten , Teil 1.
5 O h n e Frage gab es zah lreich e Form en, Z u g e h ö r ig k e it zu in szen ieren . D ie S e lb s tb e zeich ­
n un g ,A lte A frik a n e r' ist eine u nter ihnen. D aß d ie sen In sze n ieru n ge n kein Erfolg beschie den
war, legten d ie a n tik o lo n ia le n B e w e g u n g e n un d ein D e k o lo n ia lis ie ru n g s p r o z e ß offen, zu d e s ­
sen W u r z e ln d er ,d o pp elte A n tik o lo n ia lis m u s ' der B e h e rrsc h te n und A n g e h ö rig e n der ,M u t ­
terländer' gehörte. Beide kam en einem ,O f fe n b a ru n g se id ' d e r B asislegitim ität d er k u lture llen
Z u g e h ö rig k e it gleich.
■
’ Ich bezie he m ic h h ier im w esentlich en auf m ein e S tu d ie z u r K olo nia lherrschaft in Togo
( Trotha, H e rrsc haft) un d die B e o b a ch tu n g en u n d Ü b e r l e g u n g e n in m ein en beid en A ufsä tzen
B eob ach tu ngen üb er den ko lo nialen und n ac hk olon ia le n Staat in W es ta fn k a
225
ausgehe, daß sich diese Merkm ale nicht nur in Westafrika finden ließen und lassen.
Ich konzentriere mich auf die herrschaftssoziologischen Konzepte der G ew alt,
I n te r m e d ia r itä t und B asislegitim ität (I)7. Unter dem Begriff der ,ParastaatlichkeiT
untersuche ich anschließend einige Züge des gegenwärtigen Wandels von Formen
des nachkolonialen Staates in Westafrika. Ich gehe dabei von der These aus, daß
der gegenwärtige Wandel selbst wiederum nur eine Variante in einem weltweiten
Vorgang ist, der die Grundfesten des Modells staatlicher Herrschaft berührt, wie
sie die okzidentale Staatsentwicklung in den vergangenen zweihundert Jahren
ausgebildet hat (II). ich schließe mit einer kurzen Zusammenfassung (III).
I. D er koloniale und nachkoloniale Staat in W estafrika:
Von der D om inanz von D espotie und Interm ediarität
und dem Schw und von B asislegitim itäten
Der koloniale und nachkoloniale Staat in Westafrika sind despotische Ordnungen.
Sie sind Ordnungen prekärer Staatlichkeit und begrenzter Basislegitimitäten.
Zweifellos war der Kolonialstaat eine gewalttätige O rdnung, so gewalttätig, um
ein Wort von Bertrand de jouvenel zu paraphrasieren, wie „Räuberbanden“, aus
„G ew alt, Staat und Basisle gitim ität. N o t iz e n z u m P ro b lem der M a ch t in A fr ik a (un d an ­
d e r s w o ) “ (in: M a ch t der Identität - Identität der M acht. Politische Prozesse un d k u ltu re ller
W andel in A frik a , B eiträge z u r A fr ik a lo r sc h u n g 5, hrsg. v. H eidi Willer, Till Förster, Claudia
O r t n e r - B u c b b e r g e r [ M ü n ste r 1995] 1—16; im fo lg end en ab g ekü rzt: Trotha, N o tiz e n ) und
.„Streng, aber ge rec h t“ - ,hart, a ber tü c h tig “. Ü b e r F o rm en von B asislegitim ität un d ihre A u s ­
p rä gu n gen am Begin n staatlich er H e r rsc h a ft“ (in: L eg itim a tio n von H errschaft und Recht /
La le gitim atio n du p o u v o ir et d u d ro it, 3. K o llo q u iu m d eu tsc h -fra n zö sisch er R e c h t s a n t h ro ­
polo gen / 3c C o llo q u e fran co -alle m and des anth ro p o lo gu es du droit, Sankt A u g u stin , 20. 25. N ovem ber 1992, hrsg. v. W ilhelm J. G. M öhlig, Trutz v o n Trotha [K öln 1994] 69-90; im
fo lg end en a b g ek ü rzt: Trotha, Basisle gitim ität).
7 Z w a r gehe ich davon aus, d aß es ,d e n “ K o lo n ia lstaat ebenso w e n ig gab, w ie cs ,d en “ o kzidentale n Staat gibt. Ebenso w ie es n ur eine Fülle von F o rm en o k z id e n ta le r Staatlic h keit gibt,
ebenso gibt es n ur F o r m e n k o lo n ia le r S taatlichkeit. Im K o nzept ,des“ Kolo nialstaates m öchte
ich a llerdin gs M e r k m a le s k izz iere n , von denen ich a nnehm e, daß sie sich - zu m in d e st in z a h l­
reichen - K olonialstaaten fanden lassen. In die sem Sin ne verstehe ich das K o nzept ,des“ K o ­
lo nialstaates nicht als , I d e a lt y p u s “ im M a x W eberschen Sinne, son d ern als ein em pirisches
Konzept. U n ter die sen m eth o d o lo g isch en G esic h tsp u n kte n ist im m e r noch die K o ntroverse
zw isc h e n H u b e r t D esch am p s und L o rd L u g ar d aufsch lu ß reic h, insofern D esch am p s auf den
em p irisch en G em e in s a m k e ite n zw isc h e n dem englischen und französischen M o d ell k o lo n ia ­
ler H errschaft besteht; s. H u b er t D escham ps, U n d nun, L o r d Lug ard , in: M o d e rn e K olom algeschichte, hrsg. v. R u d olf v o n A lbertini ( N e u e W issenschaftlic he B ib lio th ek , G eschic hte 39,
Köln 1970) 20 3 -2 1 9 ; Frederick J o h n D ea ltry Lord Lugard, The D ua l M a n d ate in B ritish Tropical A frica ( L o n d o n 1965/1922); zu G e m ein s a m k eite n un d U n tersch ied en zw ischen dem
ko lo nialen un d n ac h k o lo n ia le n W estafrika u n d anderen R egio n en s. d a zu mein en A ufsatz
„O rdnungstorm en der G e w a lt o der A u ssich ten auf das Ende des staatlichen G e w a lt m o n o ­
p o ls “, (in: Politische In stitution en im W and el, S on derh eft der K öln er Zeitschrift fü r S o z io lo ­
gie und S o z ia lp sy c h o lo g ie 35, hrsg. v. B irgitta N ed e lm a n n [ O p la d en , W ie sb a d en 1995] 129—
166; im folgenden a b g ek ü rzt: Trotha, G e w a ltm o n o p o l).
226
T ru tz von Trotha
deren Erfolgen der Staat „im wesentlichen" entsteht8. Das gilt nicht nur für seine
Geburt in mehr oder minder blutigen Eroberungszügen, die sich gerne E x p e d i­
tionen“ nannten. Das gilt auch für die vielfältigen Formen der Gewalttätigkeit, in
denen die Mitglieder der ,kolonialen Gesellschaft' - d.h. der sozio-kulturellen
O rdnung der Gruppen der Erobererminderheit im Unterschied zu den O rd n un ­
gen der unterworfenen Bevölkerungsgruppen - mit den beherrschten Bevölke­
rungsgruppen verkehrten. Beide Seiten dieser Gewalttätigkeit wurden zu einem
Ferment der M obilisierung des ,doppelten A ntikolonialism us19. In unserem Zu­
sammenhang sind jedoch zwei weitere Seiten der kolonialstaatlichen G ewalttätig­
keit wichtiger. Die eine ist der U m gang mit politischer Opposition und insbeson­
dere mit gewalttätigem Widerstand, auf den man mit jener ,Festigkeit“ - w ie man
zu sagen pflegte - antwortete, die nicht wenige Widerständige das Leben kostete.
In den Kolonialkriegen in Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika w urde diese
,Festigkeit“ zum genozidalen Marschbefehl. Vor allem aber gilt es, die andere Seite
der G ewalttätigkeit hervorzuheben: Der Kolonialstaat w ar in seiner veralltäglichten Herrschaftsausübung, d. h. in der Verwaltung der Kolonien, gewalttätig. Des­
potisches V erwaltungshandeln w ar für ihn konstitutiv.
Ich unterscheide drei Grundformen des Verwaltungshandelns: despotisches,
intermediäres und bürokratisches Verwaltungshandeln10. Für das koloniale Ver­
w altungshandeln war kennzeichnend, daß die verschiedenen H andlungsm uster
eng ineinandergriffen. Willkürlich war zum Beispiel die Rekrutierung von
Zwangsarbeitern, weil im vorhinein w eder abzusehen war, wann die Forderung
erhoben, noch wen sie treffen würde. Typischerweise w ar sie von einer G ewalt­
drohung begleitet, im mer wieder w urde sie mit Hilfe von Gewalt verwirklicht. In­
termediär w ar sie, weil sie in der Regel ohne Einschaltung des Häuptlings nicht
auskam, der nach ,seinen“ Regeln die geforderte A nzahl von Personen zusam m en­
brachte. Bürokratische Elemente enthielt sie, weil sie auf Verordnungen beruhte,
die die Zwangsarbeit regelten, und w eil sie den Anspruch auf den direkten Zugriff
auf die Beherrschten enthielt.
s B er tr a n d d e J o u v e n e l , Ü b e r die S taatsgew alt. D ie N a tu rg es c h ich te ihres W a ch stu m s (F rei­
b u r g 1972) 127,
9 V gl. A n m e r k u n g 5.
10 D espo tis ch es V erw a ltu n g s h a n d e ln ist von W ill k ü r und ih ren S ch w estern - G e w a lt un d die
D r o h u n g m it G e w a lt - b estim m t. In term ediä res V e rw a ltu n g s h a n d eln bedie nt sich fü r die
D u r c h s e t z u n g vo n V e rw a ltu n g s en tsc h e id u n g e n d er .M it t le r“, un ter denen in W esta frik a die
G ro ß -F Iä up tlin g e, H ä u p tlin g e , D o lm e ts c h e r un d lo kalen P o liziste n die w ic h tig sten waren.
Po liziste n w ie ,a d m inistrativ e H ä u p t lin g e “ sind allerdin gs n u r d ann ,M it t le r “, w e n n sie von
d e r staatlichen V erw a ltu n g ö k o n o m is c h in d em Sin ne u n a b h ä n g ig sin d, daß sich ih re M ittel
z u m L e b en s u n te rh a lt u n d ihr persönliches E in k o m m e n p r im ä r aus a nde ren Q u e lle n als
den en der V erw a ltu n g speisen. D er ,M it t le r “ ist vo m ,M a k l e r “ zu un tersch eiden , d e r anders als
der M it t le r seinen L eb en su n te rh a lt ö k o n o m is c h p rim ä r ü b e r seine T ä tig k eit fü r die V er­
w a lt u n g bestreitet. B ü ro k ra tisc h e s V erw a ltu n gs h a n d eln b eru ht auf abstrakten R egeln . Die
ab strakten R ege ln , s o w e it sie fü r die E in w o h n e r vo n B e d e u tu n g sin d, w erd e n ö ffentlich bzw.
d en R ep rä se n ta n te n d e r Beherrschten, den K o lla b o ra teu ren d e r M a ch t o der den a d m in is tr a ­
tiven M ittle rn im b eson deren b ekan nt gem acht. Ü b lic h e rw e is e sind die a b strakten R egeln
schrif tlich niedergelegt.
Be ob a ch tu ng en üb er den ko lo nialen u n d n ac hk olon ia le n Staat in W estafrik a
227
Das Verhältnis der einzelnen Typen des Verwaltungshandelns zueinander war
so verschiedenartig w ie die lokalen Bedingungen oder die Persönlichkeiten der
lokalen Beamten. Aber wesentlicher ist, daß mit veralltäglichtem Despotismus das
o e s a m te Verwaltuneshandeln im Schatten von W illkür und Gewalt steht.
Es gehört zu den Eigenheiten von W illkür und insbesondere von Gewalt, daß
sie expansiv sind. Im Falle staatlicher W illkür und Gewalt heißt das, daß unter
Bedingungen, unter denen keine wirksam en institutionellen und normativen Vor­
kehrungen, welche die Gewalt einhegen, bestehen, W illkür und Gewalt sich auf
den gesamten Verkehr der Menschen mit der staatlichen Verwaltung legen. Wenn
Georges Balandier treffend von der ,kolonialen Situation' sprach und mit Blick
auf das Verhältnis zwischen den kolonialen Eroberern und denen, die ihrer H err­
schaft unterworfen waren, meinte, daß es im Verkehr zwischen Herrschenden und
Beherrschten kein Entrinnen vor den Antagonismen gab, die in der kolonialen Si­
tuation die Herrschenden und Beherrschten trennten11, dann gilt dies in entspre­
chender Weise für die Situation normalisierten despotischen Verwaltungshan­
delns. Die Kolonialherrschaft w ar für die Beherrschten eine despotische Situa­
tion“. Die despotische Situation ist eine O rdnung ohne Basisvertrauen, eine O rd ­
nung generalisierten Verdachts, in der aller Verkehr zwischen der Verwaltung und
Repräsentanten der staatlichen Zentralgewalt auf der einen und den Beherrschten
auf der anderen Seite im Erwartungshorizont von W illkür und Gewalt erfolgt12.
In den Strategien der Widerständigkeit von Bewegung, Verweigerung und defen­
siver Kommunikation, welche die Beherrschten ebenso veralltäglicht haben, wie
sie im Handlungshorizont der W illkür und Gewalt leben, ist diese O rdnung ohne
Basisvertrauen unmittelbar gegenwärtig13.
Die nachkolonialen Staaten Westafrikas haben die despotische Situation auf­
rechterhalten und die G ültigkeit des Sprichwortes der H ausa-Bauern bestätigt,
daß ,die Macht keinen Verstand brauche44. Der politisch-institutionelle Rahmen
konnte zwischen verschiedenen Ländern und im Laufe der nachkolonialen Ge­
schichte der einzelnen Länder verschieden sein. Er reichte von der Herrschaft von
Militärregierungen über Einparteiensysteme unterschiedlicher Observanz bis zu
11 Georges Balandier, S oc io lo gie actuelle de l’A fr iq u e noire. D y n a m i q u c sociale en A friq u e
centrale (Paris 4 J 982) 3-7 2 .
12 Ich führe hier allgem eine Ü b e r le g u n g e n von M a rsh a ll Sahlin s un d E liz ab eth C o ls o n zum
Z u s a m m e n h a n g z w is c h e n G e w a lt und so zia ler O r d n u n g fort; vgl. M arshall Sahlins, The
Spirit of the Gift, in: idem, Stone A g e E con o m ics ( L o n d o n 1974) 149-183; Elizabeth Colson,
Trad ition and C o ntrac t. T h e P ro blem of O r d e r ( C h ic a g o 1974) 3 5 - 5 1 ; s. d a zu auch meine
S tudie n „D istanz u n d N ähe. Ü b e r P o litik, R echt un d Gesellschaft z w is c h e n Selbsthilfe und
G e w a lt m o n o p o l“ ( T ü b in g en 1986) 1-15 u n d „Z wischen S treita n a lys e u n d negativ em E v olu­
tio nism us. S k iz z e n üb er einige P r o b lem e der R ec htsethn olog ie aus sozio lo gisc h e r P e r s p e k ­
tiv e“ (in: Zeitschrift für vergle ic he nde R echtsw is senschaft 86 [1987] 6 1 -1 3 7 , bes. 10 7-115)
un d die d o rt genan nte Literatur.
13 Z u m ga n zen s. Trotha, H e rrsc h a ft 4 11-441 un d die d o rt e r w ä h n te Literatur.
14 Vgl. G erd Spittler, H errschaft üb er B au ern . D ie A u s b r e it u n g staatlich er H e rrsc h a ft und
einer is la m isc h -u rb a n e n K u ltu r in G o b ir ( N ig er) (Fra n kfu rt / M ., N e w Y o rk 1978; im folgen­
den a b g ek ü rzt: Spittler, B au ern ) 92 -94.
228
Tru tz von Trotha
semi-kompetitiven M ehrparteiensystem en15. Staatliche W illkür und Gewalt
waren statt dessen Erfahrungen, die für große Teile der Bevölkerungen und vor
allem für die Mehrheit der bäuerlichen oder nomadischen Bevölkerungen blieben.
Das schloß nicht aus, daß den nachkolonialen Machthabern - wenigstens in den
ersten eineinhalb Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit - manche M ilderung des
gewalttätigen kolonialen Regimes angerechnet wurde, was angesichts einer heute
verbreiteten Kolonialnostalgie nicht vergessen werden darf. Dazu gehörten zum
Beispiel die Abschaffung von Zwangsarbeit und des Menschenfangens oder die
Begrenzung von Schlägen und Fesselungen auf die säumige Erfüllung der Steuerpflicht16.
Folgenreicher w ar indessen, daß es in den nachkolonialen Regimen gleichfalls
zu einer Entfesselung der Gewalt kam, die sich in den jüngsten Entwicklungen
wie in Liberia oder Sierra Leone, um nur zwei Beispiele aus Westafrika zu erw äh­
nen, zum Zusammenbruch der Staatlichkeit selbst gesteigert hat. In der ersten
nachkolonialen Dekade w urde für die Öffentlichkeit Europas der Name ,Biafra‘
zum Syn o n ym für diese Entfesselung der G ew alt17. Zusätzlich fanden zahlreiche
gewaltsame Konflikte statt, ohne daß diese in nennenswertem Umfang oder über­
haupt von der Weltöffentlichkeit wahrgenom m en wurden. Die größten unter ih­
nen haben jüngst Rolf Hofmeier und Volker Matthies in einem Sammelband mit
dem bezeichnenden Titel „Vergessene Kriege in A frik a“ zum Thema gem acht18;
die vielen blutigen lokalen ,Kleinkriege“ z.B. zwischen der malischen Zentralre­
gierung und den Adagh-Tuareg in den Jahren 1963 bis 1965 oder die langjährigen
gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den D agom ba und Konkomba im
Nordosten Ghanas fanden und finden kaum oder keinen Eingang selbst in den
kleingedruckten Nachrichtenteil großer Zeitungen der Weltpresse. A m Ende der
80er Jahre hatte sich aus diesen vielfältigen Formen der entfesselten Gewalt eine
Bilanz ergeben, die manchen Beobachter zu dem Schluß veranlaßte: „Die Postko­
lonie“ in Afrika sei „eine besondere Regierungsform des Todes und der Erfindung
von U no rdn un g“ 19. Die pax colonialis, die der mehr oder minder effektive A n ­
spruch auf das staatliche Gewaltmonopol und die G ewaltdrohung der Kolonial­
macht zumindest auf der Ebene zwischen Bevölkerungsgruppen des Kolonial15 Vgl. Dirk B erg-Schlosser, Z u r T y p o lo g ie a frikan is ch er politisch er S ys tem e im p o s t k o lo ­
nialen Zeitalter, in: Po litikw issen sc h a ftlic h e E n t w ic k lu n g s lä n d erfo rs c h u n g , hrsg. v. Franz
N u sch eler (W ege d er F o r s c h u n g 379, D a rm sta d t 1986) 184-203.
Vgl. Spittler, B au ern 97.
17 ,B ia fra ‘ w a r der N a m e des Staates, mit d em die O stregion N ige ria s, m ehrheitlich von Igbo
besiedelt, die Sezession von N ig e r ia versuch t hatte und in einem blu tig en Krie g zw ischen
1966/67 un d 1970 daran gescheitert w a r; vgl. Axel H a rneit-S ievers, N ige ria: D er S eze ssion s­
krieg u m Biafra. Keine Sieger, kein e Besiegten - Eine afrikan isch e Erfolgsgeschic hte?, in:
V ergessene Kriege in A frik a , hrsg. v. R o l f H ofm eier, Volker M atthies in Z u s a m m en a rb e it mit
dem Institut für A f r ik a - K u n d e (G ö ttingen 1992) 277-318.
18 R o l f H ofm eier, Volker M atthies (in Z u s a m m en a rb e it mit d em Institut fü r A fr ik a -K u n d e ),
V ergessene K rie ge in A frik a (G ö ttinge n 1992).
19 Achille M b em b e, D ésordres, résistances et productiv ité, in: Po litiqu e A fric ain e 42 (1991)
2- 8 .
Be ob a ch tu ng en ü b e r den ko lo nialen und n achk olon ialen Staat in W estafrik a
229
staates vergleichsweise erfolgreich oktroyiert hatte, hatte sich in den nachkolonia­
len Staaten vielerorts verflüchtigt. Ihr Schicksal führt vor Augen, daß die Form
der nachkolonialen politischen Herrschaft, der ,Staat* selbst, eine höchst gefähr­
dete politische Ordnungsform geworden ist.
Anders als das Selbstbild der kolonialen Eroberer suggeriert, waren dem Kolo­
nialstaat in Westafrika in seiner Reichweite und der Durchsetzbarkeit der Ent­
scheidungen, die von seinen Mitgliedern getroffen worden waren, stets enge
Grenzen gezogen. D amit sind nicht die vielfältigen und kontinuierlichen H eraus­
forderungen des kolonialen Machtanspruchs durch gewaltsamen Widerstand und
andere Formen politischer Opposition gemeint, die sich in den U nabhängigkeits­
bewegungen zuspitzten. Dieser Befund gilt statt dessen für den Institutionalisie­
rungsgrad der staatlichen Herrschaft selbst. Der Kolonialstaat in Westafrika war
stets eine prekäre Form von Staatlichkeit. Er gehörte zu den Formen des „schwa­
chen Staates“20. Die Zeichen dieser ,Schwäche1 sind nicht nur die erwähnte
Schlüsselrolle der Gewalt in der Verwaltung des kolonialen Territoriums21, son­
dern die überragende Bedeutung von Intermediarität für die zentralherrschaftli­
che O rdnung und die engen Grenzen bürokratischen Verwaltungshandelns.
Koloniale Herrschaft ist intermediäre Herrschaft. Die Intermediarität der ko lo ­
nialen Herrschaft hat zwei Seiten; ich nenne sie ,Binnen'- und ,Außenintermediarität‘ . U nter ,Binnenintermediarität‘ verstehe ich die vergleichsweise große U n ab ­
hängigkeit der lokalen Verwaltungsbeamten von der Herrschaftszentrale. Sie erst
war zum Beispiel die Voraussetzung dafür, daß der beeindruckende französische
Kolonialbeamte Robert Delavignette einem seiner bekannten und einflußreichen
Bücher den Titel geben konnte: „Les vrais chefs de J’Em pire“22, und damit die
,Stationsleiter‘, co m m a n d a n t s d e c e r c le oder d is t n c t o fficers meinte. Ich gehe auf
diese Form der Intermediarität hier nicht ein23. ,Außenintermediarität‘ meint, daß
im Unterschied zur bürokratischen Herrschaft die Verwaltung keinen direkten
Zugriff auf die Beherrschten hat, sondern sich M ittler suchen muß, die Zugang zu
den lokalen Verhältnissen haben bzw. hersteilen können und typischerweise des­
halb den lokalen Verhältnissen entstammen. Im kolonialen und nachkolonialen
Staat ist intermediäres Verwaltungshandeln das Kernstück des friedlichen Ver20 Vgl .Jo h a n n Baptist Müller, H e rrsc haftsin ten sität un d p olitische O r d n u n g (Berlin 1986)
177-196.
21 In die ser F o r m u lie r u n g s teck t d e r F allstrick d er klassischen M a ch tth eo rie , n äm li ch M ach t
un d G e w a lt einan der en tgeg en zusetze n; vgl. H annah A rendt, M a ch t un d G e w a lt (M ü n ch en ,
Z üric h 1985). Ich habe an a n d e rer Stelle betont, daß die ser G egensatz falsch ist (vgl. Trutz
von Trotha, Z u r S o zio lo g ie der G ew a lt, in: So zio lo gie d er G ew a lt, Son derh eft d e r K ölner
Zeitschrift für S o zio lo g ie u n d S o zia lp sy c h o lo g ie 37, hrsg. v. Trutz von Trotha [O plad en ,
W ie sb a d en 1997] 12-13). W o r u m es in d ie sem Z u s a m m e n h a n g deshalb geht, ist zu u n terstrei­
chen, daß die G e w a lttä tig k e it der V erw a ltu n g die gerin ge R e ic h w e ite und D u rc h s e t z u n g s ­
ch ance b ü ro k ra tis ch en V erw a ltu n gsh a n d eln s sichtbar macht. In die sem Sin ne ist G e w a lt die
w ic h tig e M a ch tresso u rce einer V erw a ltu n g, der es nicht o der noch nicht gelu n gen ist, den
Z u griff auf die Beherrschten durc h b üro kra tisch es V e r w a ltu n g s h a n d e ln sic herzustellen.
22 Paris 1939.
23 Vgl. Trotha, H e rrsc h a ft 8 6 -1 7 2 , 27 8 -2 8 0 , 33 6 -3 5 5 , 44 5-449 .
230
T r u t z von Trotha
kehrs der staatlichen Verwaltung mit den lokalen Bevölkerungen. Seine Vorherr­
schaft entspricht der geringen Reichweite und Durchsetzbarkeit bürokratischen
Verwaltungshandelns.
Im Zentrum der Außeninterm ediarität des Kolonialstaates stand das ITäuptlingtum. Entsprechend der Vielfalt der politischen O rdnungen des vorkolonialen
A frika w ar das H äuptlingtum , auf das die Eroberer trafen, vielgestaltig24. Bis
heute hat das H äuptlingtum diese Vielgestaltigkeit beibehalten. Aber der kolo­
niale Staatsbilclungsvorgang transformierte diese Vielfalt. Er unterwarf sie einer
vereinheitlichenden administrativen Struktur, aus der ein H äuptlingtum entstand,
das ich im Anschluß an Kurt Beck adm inistratives H äup tlin gtum “ nenne25. Es
veränderte völlig das Gesicht des afrikanischen Häuptlingtum s und ist noch im ­
mer die Grundlage des heutigen afrikanischen H äuptlingtum s. Der Vereinheitli­
chungsvorgang folgte drei Grundsätzen: denen der ,D evolution“, der Hierarchie
und des Verwaltungsbezirks.
,D evolution“ meint, daß bei der Besetzung von Stellen, die zum Kern der H err­
schaftseinrichtungen der staatlichen O rdnung gehören und die das Herrschafts­
zentrum nicht zu konkurrierenden Machtzentren werden lassen will und kann,
die Zentralregierung sich das Recht vorbehält, über die Besetzungsmodalitäten
und die Person mindestens die letzte Entscheidung zu treffen. Das hieß, daß die
kolonialen Eroberer in unterschiedlichen Graden die traditionellen Regeln der In­
vestitur abänderten, wenigstens stets zu kontrollieren versuchten, und sich das
Recht der Ernennung, Einsetzung und Amtsenthebung herausnahmen. In der
Kolonialzeit w ar diese zentralherrschaftliche Prärogative weitgehend in der Hand
der lokalen Verwaltungsbeamten, der Stationsleiter - eine Seite der Binnenintermediarität des kolonialen Staates. A uch hing es sowohl von der Stärke des vorko­
lonialen H äuptlingtum s wie von den Interessen des Stationsleiters ab, in welchem
U m fang er den Devolutionsgrundsatz anwendete und anwenden konnte. In den
nachkolonialen Regim en wurden die staatlichen Vorrechte noch stärker zentrali­
siert. Die nachkolonialen M achthaber richteten komplexe Mechanismen ein, um
die Ernennung, Einsetzung, die Entfernung aus dem A m t und das Tun der H äu p t­
linge so strikt wie möglich zu kontrollieren. A uf diese Weise w urde auch die poli­
tische Seite der zentralen Kontrolle gestärkt, die schon während der Kolonialzeit
gegenwärtig war, insofern die Stationsleiter aufmerksam über die Loyalität der
H äuptlinge gegenüber der Kolonialregierung gewacht hatten. Die verbreitete for­
male oder faktische Einparteienorganisation der nachkolonialen politischen H err-
24 Z u m F o lge n d e n vgl. J o u r n a l of L egal P lu ra lis m and U n official L a w QLP), Nr. 3 7 - 3 8 /
1996, spezie lle D o p p e ln u m m e r z u m T h e m a „T he N e w R eleva n ce of T radition al A u t h o r it y
to A fr ic a ’s F u t u r e “, hrsg. v. E. Adriaan B. van R ouveroy van Nieuwaal, D onald L R ay; Trutz
von Trotha, F r o m A d m in is tr a tiv e to C iv il C h ieftain cy. S om e P ro b lem s and Prospects of
A fric a n C h ieftain cy, in: JLP, Nr. 3 7 -3 8 (1996) 7 9 -1 0 7 (im fo lgenden ab g ekü rzt: Trotha,
C h ie ft a in c y ); Trotha, H e r rsc h a ft 2 1 9-334.
25 K urt Beck, S tä m m e im S chatten des Staats. Zur E n tste hu ng ad m in istra tiv er H ä u p tlin g s tü m e r im n örd lich en Sudan , in: S oc io lo gus 39 (1989) 19-35.
Be ob a ch tu ng en üb er den ko lo nialen un d n ac hk olon iale n Staat in W estafrik a
231
ging mit einer strengen Einbindung des ,neo-traditionalen H äuptlings­
wesens“ in die monopolistische Parteistruktur einher.
Dem Grundsatz der Hierarchie folgten die Kolonialregierungen, wenn sie
hierarchische Beziehungen zwischen Häuptlingen erfanden oder stärkten oder in
den Fällen von poly- und akephalen Gesellschaften die Position und Rolle der
Häuptlinge erst schufen, die das Bindeglied zwischen den lokalen Verwaltungsbe­
amten und der Bevölkerung waren. In den nachkolonialen Ordnungen w urde die
hierarchische Struktur des administrativen Häuptlingswesens als Teil der nachko­
lonialen Verwaltung formal zusätzlich betont. Die offiziell anerkannten Verwal­
tungsaufgaben des Häuptlings w urden drastisch eingeschränkt; vor allem ver­
suchte man, dem H äuptling seine besondere Stellung im Rechtswesen zu nehmen.
Dieser Entmachtung der Häuptlinge standen jedoch gleichzeitig die neo-patrimonialen, klientelistischen politischen Strukturen mit ihrer Zurückweisung der for­
malen Rationalität im Max Weberschen Sinne entgegen, die die hierarchische
Struktur des kolonialen Häuptlingswesens schwächten. H äuptlinge wurden auf
wichtigen Positionen des politischen Systems plaziert, sie wurden M itglieder von
politischen Körperschaften auf den unterschiedlichsten Ebenen, vom dörflichen
Rat bis zum nationalen Parlament; einzelne Häuptlinge, die es vermochten,
Schlüsselpositionen in der patrimonialen Struktur und dem klientelistischen
N etzw erk einzunehmen, kamen in den nachkolonialen Regim en zu hohen sozia­
len und politischen Ehren und Ämtern. U m gekehrt gehört es zu den bevorzugten
Inszenierungsmitteln der nachkolonialen Macht, sich mit den Insignien des GroßH äuptlingtum s zu schmücken und die Begleitung von Häuptlingen zu suchen,
besser: zu befehlen.
Für die Bedeutung der H äuptlinge als Mittler und Schlüssel der intermediären
Herrschaft ist allerdings auf eine zwiespältige Folge hinzuweisen, die die Ver­
knüpfung von H äuptlingswesen und neo-patrimonialer, klientelistischer Politik
zeitigt: Sie verwandelt die ,M ittler“ zunehmend in ,M ak ler“26. Schon die Kolonial­
verwaltung leistete der U m w an dlu ng von Mittlern zu M aklern Vorschub, insbe­
sondere wenn sie es mit machtvollen und einflußreichen G roß-H äuptlingen und
H äuptlingen zu tun hatte. In vielen Fällen versuchte sie, diese ökonomisch da­
durch von der Verwaltung abhängig zu machen, daß sie ihnen auf verschiedenen
Wegen Einkünfte zukom m en ließ, typischerweise in der Form von Apanagen.
A ber Kolonialverwaltungen lagen an der kurzen finanziellen Leine bemerkens­
wert knauseriger Aufsichtsorgane und der Parlamente in den ,M utterländern“ und
waren deshalb geizig. Geiz ist jedoch keine zukunftsträchtige Politik, um aus ö ko ­
nomisch unabhängigen M ittlern M akler zu machen, die von der Verwaltung ö k o ­
nomisch abhängig sind. Verallgemeinerter Geiz wiederum ist für jede neo-patrimoniale, klientelistische Politik kontraproduktiv, die auf selektive G roßzügigkeit
und selektiven Geiz gründet - letzterer trifft diejenigen, die für die klientelistische
Politik unerheblich sind. Dementsprechend enthält die neo-patrimonial-klientelistische Politik der nachkolonialen Machthaber einen Zug zur U m w an dlu ng von
schaft
26 Vgl. A n m e r k u n g 10.
232
Tru tz von Trotha
Mittlern zu Maklern, indem sie die H äuptlinge auf der Grundlage von Pfründenpolitik ökonomisch an den staatlichen Verwaltungsapparat bindet. Etwas zuge­
spitzt ließe sich sagen: Was nach Norbert Elias der ,H of‘ für den absolutistischen
Staatsbildungsprozeß der frühen N euzeit w ar27, ist in der Postkolonie die staatli­
che Verwaltung. Sie ist eine Domestikationsagentur der Zentralherrschaft, die aus
ökonomisch unabhängigen Mittlern ökonomisch und im Sozialprestige abhängige
M akler für den U m gan g mit dem Antagonismus zwischen den hauptstädtischen
Machthabern und der Bevölkerung des ,Hinterlandes' macht.
Zwei Organisationsformen setzten im Kolonialstaat den Territorialgrundsatz
des Staates durch: die internationale Grenze und der Verwaltungsbezirk. Beide
revolutionierten die Grundlagen vorkolonialer Herrschaft und Führung. Letztere
waren verankert in sozialen, kulturellen, politischen und persönlichen Beziehun­
gen zwischen dem H äuptling und ,seinen Untertanen*. Ihnen waren die wichtigen
Kontrollmechanismen für den M ißbrauch von Macht komplementär: die verbrei­
tete, vergleichsweise dünne Besiedlung des Raums, die relative A ufnahm ebereit­
schaft gegenüber M igranten von seiten der Immigrationsgesellschaften und die
M igration selbst - die Kündigung der sozialen und politischen Beziehung durch
A bw anderung. Weil die Kolonialverwaltungen im ganzen sorgfältig darauf achte­
ten, daß die Grenzen der Verwaltungsbezirke nicht das verletzten, was die Kolo­
nialbeamten als ,Stam mesgrenzen“ ansahen, berührte das neue Territorialprinzip
die Positionen der H äuptlinge allerdings nur dann, w enn internationale Grenzen
,Stammesland“ zerschnitten28 und sowohl das bekannte Problem der sogenannten
,künstlichen“ kolonialen Grenzen hervorbrachten - als ob es so etwas wie .natür­
liche“ Grenzen gäbe29 - als auch die räumliche O rdnung von H äuptlingtüm ern
neu ordneten. Mehr berührt wird der Territorialgrundsatz durch die U rbanisie­
rung der nachkolonialen O rdnung, weil die wachsende soziale, kulturelle, ethni-
27 N orbert Elias, D ie höfische G esellschaft. U n te rs u c h u n g e n z u r So zio lo gie des K ö nig tu m s
un d d er h öfischen A r is to k r a tie m it einer E inleitung: S o zio lo g ie un d G esch ichtsw issenschaft
(N e u w i e d , B e rlin 1969).
28 Das Beispiel der m alischen T u areg zeigt a llerdin gs, daß in n o m ad isch en G ebieten der S a ­
hara selbst ü b e r in tern ation ale G re n z z ie h u n g e n das T e rrito ria lp rin z ip fo rm al, aber nicht
p raktisch dur c h se tz b a r war. N a ch d em Z w eiten W eltk rie g bis zu r U n a b h ä n g ig k e it M alis
ko nn ten die N o m a d e n s o w o h l die G ren zen z w is c h e n den versch ie d enen ko lo n ia len V e r w a l­
tun gsein h eiten als auch die z w is c h e n den K o lo n ie n überschreiten. D em späteren m alischen
Staat gela ng es zwar, den u n k o n tr o llier ten G r e n z v e r k e h r z u m S ch m u g g e l und d am it risik o-,
aber auch er tragreicher zu m achen. D e r erho bene Z oll w a r m den A u g e n der B esteuerten in ­
dessen nichts anderes als ein Tribut, u n d es galt die in fo rm elle R ege lu n g, daß nur etw a die
H älf te der m itgefüh rten W a re vom Zoll als S c h m u g g e lw a re b esch la gn a h m t w u r d e , der Rest
den S ch m u g g le r n verblieb.
29 D am it w ill ich a llerd in gs nicht einer S o zio lo g ie das W o rt reden, die sich nicht auf die ö k o ­
lo gis chen B e d in g u n g e n von m en schlichem H a n d e ln un d G esellschaften einläßt. Im G e g e n ­
teil: H ä tte die S o zio lo g ie sich m eh r an M o n te s q u ie u gehalten, hätte sie ihre m aterialistischen
G es ic h ts p u n k te nicht n u r a u f G eld un d andere ö k o n o m is c h e Interessen o d er sogenan nte
,B e d ü rfn is s e“ ve rengt; sie hätte statt dessen die im m en se B e d e u tu n g k lim a tisc h e r und anderer
natü rlic h e r V erhältnisse des m en schlic hen R a u m s öfter un d g e n a u er in den B lick g e no m m en .
B e o b a ch tu n g en über den ko lo n ia len und n achk olon ialen Staat in W estafrik a
233
sehe und ökonomische Heterogenität städtischer Lebensräume die territorialisierte Seite des administrativen Häuptlingswesens stärkt.
Trotz der unterschiedlichen Schübe der Vereinheitlichung, Entmachtung und
U m w andlung des Häuptlingtum s seit dem Beginn der europäischen Kolonial­
herrschaft war und blieb die intermediäre Herrschaft der Häuptlinge erhalten. Ihr
wichtigstes Schild gegen den zentralherrschaftlichen Machtanspruch ist ihre Posi­
tion im Rechtswesen, die sie gegen alle Eingriffe, die in wesentlichen Punkten bis
heute stets formal blieben, erfolgreich verteidigen konnten; der Schild der H äup t­
lingsgerichtsbarkeit w urde und wird vielerorts durch eine traditionale oder neotraditionale Legitimierung der Häuptlingspositionen verstärkt30. Die interme­
diäre Herrschaft der Häuptlinge drückt den strengen Gegensatz zwischen den
Herrschenden und Beherrschten, zwischen H auptstadt und ,H interland“, z w i­
schen den Welten der städtischen Zentren und denen der Dörfer und Weiler, der
Bauern und Nomaden aus. Im Unterschied zu den ,zivilgesellschaftlich-integrativen“ intermediären Institutionen der okzidentalen Dem okratien31 nenne ich des­
halb intermediäre Organisationsformen, die den kolonialen und nachkolonialen
Staat mit den lokalen O rdnungen verbinden, ,antagonistische intermediäre O rd­
nungen“32. Anders als ihr zivilgesellschaftlich-integrativer Gegenpart sind sie ein
Zeichen für die Schwäche der Organisationsmacht des kolonialen und nachkolo­
nialen Staates. Die Einschaltung intermediärer Einrichtungen w ie des Häuptlings
ist weniger dem bürokratischen Handeln komplementär, sondern intermediäres
Verwaltungshandeln ist das Substitut für eine bürokratische O rdnung, die im be­
sten Falle so w eit wie die G emarkungen der urbanen Zentren bzw. so weit reicht,
wie die H auptstadtverwaltung ihren kurzen bürokratischen Herrschaftsschatten
zu werfen vermag.
Scheut man die R isiken aller starken Vereinfachungen nicht, dann läßt sich festhalten: U nter den Gesichtspunkten des despotischen und intermediären Verwal­
tungshandelns zeigen sich eher Kontinuitäten zwischen kolonialem und nachko­
lonialem Staat; die nachkoloniale Entwicklung der Basislegitimitäten legt statt
dessen nahe, von einem Schwund von Basislegitimitäten zu sprechen.
30 Vgl. E. A driaan B. ■
v an R o u v e r o y van N ieuwaal, State and C h ie fs: A r e Chie fs m ere P u p pets?, in: J L P Nr. 3 7 -3 8 (1996) 3 9 -7 8 ; Trotha, C h ie fta in c y 8 4 - 9 0 un d die d o rt genannte L it e ­
ratur; s. auch den un ve rä n de rt a ufsch lu ßreic hen B eitrag von Rüdiger Schott, Das R ec h t gegen
das G esetz: T radition elle Vorstellungen un d m o d e rn e R e c h ts p r e c h u n g bei den B ulsa in
N o r d g h a n a , in: R ec h t un d Gesellschaft. Festschrift für H e lm u t S c h c lsk y z u m 65. G eburtstag,
hrsg. v. Friedrich Kaulhach, Werner K ravjietz (B erlin 1978) 605-636 .
31 Sie finden sich zw eifello s auch in auße reu ro p ä isch en d em o k ra tis ch en G esellschaften in d u ­
striellen Typs.
32 M it die ser U n t e r s c h e id u n g w ill ich auch zu r a nalytisc he n Vorsicht g e gen ü b er d er A n w e n ­
d u n g o k z id e n ta le r p olitisch er O r d n u n g s v o r ste llu n g e n auf die afrikan is ch en Verhältnisse b ei­
tragen; solche Vorsic ht fehlt mit B lick auf S ch w a r z a fr ik a z u m Beispiel bei dem G eb ra uc h des
Begriffs der ,Z ivil gesellschaft“, d e r im Z u s a m m e n h a n g mit den D e m o k ra tisieru n g s p ro ze ss e n
seit d em Ende d er 80er J a h re besonders in Tagu ngsb eiträgen eine er hitzte K o n ju n k tu r erlebt
hat.
234
Tru tz von Trotha
Die Kolonialherrschaft mußte ohne einen Legitimitätsglauben der Beherrsch­
ten im Sinne des Max Weberschen Konzepts auskommen. A ber keine Herrschaft
kom m t auf Dauer ohne ,Basislegitimitäten“ aus bzw. jede einigermaßen dauerhafte
Herrschaft bringt Basislegitimitäten hervor, die die bestehende Herrschaft festi­
gen. Was ist Basislegitimität33?
Basislegitimität meint eine Rechtfertigung, die auf einer Bewußtseinsebene
liegt, die zwischen der inhaltlichen Bestim mtheit von Webers Typen der Legitim i­
tätsgeltung oder gar der differenzierten und komplexen Legitimitätstheorien der
politischen Philosophen und Staatsrechtler und einer Folgebereitschaft liegt, die
rein gewohnheitsmäßig, rein interessensbedingt oder rein gefühlsmäßig ist und
von der Weber - nicht ganz überzeugend - behauptet, daß sie ein zu schwanken­
der Grund der Herrschaftslegitimation sei. Im Unterschied zum Weberschen L e­
gitimitätsglauben ist Basislegitimität vergleichsweise unbestim mt und offen für
inhaltliche Konkretisierung. Sie verwendet wie in der Kolonialzeit und in der
nachkolonialen Kolonialnostalgie konnotationsreiche Formeln w ie ,streng, aber
gerecht“, ,hart, aber tüchtig“. In der Basislegitimität erfolgt eine A nerkennung von
Evidenzen, die sich zu einer O rdnung fügen, die so selbstverständlich wie der A ll­
tag ist, weil sie den Herrschaftsalltag bestimmen. Die A nerkennung ist allgemein,
insofern sie sich auf die gesamte O rdnung erstreckt. In der Basislegitimität sind
Herrschende und Beherrschte miteinander verbunden.
Ich unterscheide sechs Evidenzerfahrungen und ihnen entsprechende Formen
von Basislegitimität. Es handelt sich um Erfahrungen, in denen Erfahrungen von
Grundtatbeständen der Vergesellschaftung mit Erfahrungen von Grundtatbestän­
den staatlicher Herrschaft verbunden sind. Ich w ill aber nicht auf alle sechs eingehen, sondern mich auf drei Formen von Basislegitimität beschränken: auf die Er­
fahrung von der überlegenen Verletzungsmacht der Herrschenden - die ,Basis­
legitimität der ü b e r l e g e n e n G ewalt“; auf die Erfahrung von der Organisationsmacht
der Herrschenden - die ,Basislegitimität der Organisationsm acht“; und auf die Er­
fahrung der fundamentalen Zugehörigkeit der Herrschenden und Beherrschten zu
einer gemeinsamen Kultur - die ,Basislegitimität der kulturellen Zugehörigkeit“.
Der gewaltkritische Topos ist so alt wie die klassische politische Philosophie
und das N achdenken über Gewalt und Legitimität. Für bloße Gewalt gibt es da­
nach keine Rechtfertigung. Gewalt läßt sich nur rechtfertigen, indem man auf et­
was anderes als die Gewalt verweist - als Mittel zum Recht, als Verteidigung nach
außen, als U nterwerfung des Feindes oder als domestizierte, den Regeln des
Rechts unterworfene G e w a lt .,Nackte G ewalt“ ist mit dem unauslöschlichen M a ­
kel behaftet, illegitim zu sein. Diese Entgegensetzung von Legitimität und Gewalt
ist in einem herrschaftssoziologischen Kontext irreführend, sie ist eine gefährliche
Illusion. Ü b e r le g e n e Gewalt enthält statt dessen Gründe der Rechtfertigung des
Gewalthabers, die nicht jenseits der Gewalt zu suchen sind. Ü b e r le g e n e Gewalt ist
eine grundlegende Seite der Basislegitimation von Herrschaft und dem staatlichen
Gewaltmonopol komplementär.
33 Z u m fo lg enden s. Popitz, M a ch t 2 2 1 - 2 2 7 ; Trotha , N o tiz e n ; Trotha, Basisle gitim ität.
Be ob a ch tu ng en üb er den ko lo n ia len un d n ac hk olon ia le n Staat in W estafrik a
235
Die siegreiche, die überlegene Gewalt rechtfertigt sich durch ihre Tatsächlich­
keit. Gewalt, vor allem anderen die Macht zu töten, ist so zweifelsfrei wirklich wie
die Natur, der sie als ein Naturereignis zugehört. Überlegene G ewalt is t so z w ei­
felsfrei überlegen wie der herrische Befehl des Siegers und der gebeugte Körper
des fügsamen Besiegten. Die Überlegenheit is t absolut, weil sie das Absolute in
dieser Welt, den Tod, ins Werk setzen kann. Die überlegene Verletzungsfähigkeit
ist überwältigend überlegen, weil die sich selbst rechtfertigende Evidenz der N a ­
tur zur Evidenz des n atü rlich en ' Verhältnisses zwischen Sieger und Besiegtem
wird. Zu Recht beobachtet deshalb Popitz: „Gewalt is t die o r d n u n g s s t i ft e n d e Er­
fahrung schlechthin“34. Als überlegene Gewalt schafft Gewalt O rdnung und ist
sie Ordnungserfahrung. Weil die Gewalt die O rdnung zerstört und sie (wieder-)
erstehen läßt, beweist sie jene gottähnliche Kraft, die in den Ursprungs- und
Herrschaftsmythen der Mächtigen verherrlicht wird.
Die Kolonialherrschaft war Gewaltherrschaft, und daraus bezog sie einen Teil
ihrer Legitimität, ihrer Basislegitimität. In der Postkolonie sind die Verhältnisse
etwas komplexer, wenngleich auch hier eine Kontinuität zur Phase der Dekolonisation aufscheint, in der es den Kolonialherren aus den unterschiedlichsten
Gründen immer weniger gelang, ihre überlegene Gewalt unter Beweis zu stellen.
Die Postkolonie w ar und ist in vielen Teilen Afrikas Gewaltherrschaft. Unter
dem Gesichtspunkt der basislegitimatorischen Seiten der Gewalt wäre es k u rz ­
schlüssig, darin ausschließlich die spezifische legitimatorische Schwäche der Post­
kolonie festzumachen. Eher besteht das umgekehrte Problem. Die überlegene Ge­
walt der Herrscher ist eine der wenigen verbliebenen Q uellen von Legitimität für
die Postkolonie. Diese Tatsache macht zum Beispiel verständlich, w arum die
Herrscher über die Postkolonie die Gewalt nicht nur rücksichtslos ausüben,
sondern ebenfalls in ihren Reden, die oft Drohreden sind, feiern. Jean-Francois
Bayart ist mit seinem glänzenden Buch über den „Staat in A frika“ nur einer von
vielen, der für solcherart sprachliches Feiern der Gewalt zahlreiche Beispiele
gibt35. Seit den Prozessen der ,D emokratisierung' der ausgehenden 80er Jahre, die
zum Teil mit viel Gewalt verbunden w aren und sind, hat sich allerdings das
Blatt gewendet. Mancherorts w ie zum Beispiel in Ghana und insbesondere im
Tuareg-Konflikt von M ali36 hat die despotische G ewalt Niederlagen erlitten,
haben militärische Siege der Beherrschten der staatlichen G ewalt ihren Nimbus
genommen und, umgekehrt, nicht nur die basislegitimatorische Grundlage des
bewaffneten Widerstandes gegen die Zentralgewalt, sondern ebenfalls die Legi­
timitätskritik im Sinne der Legitimitätstheorien der traditionellen politischen
Theorie gestärkt.
Der wichtigste Bruch zwischen der Kolonie und der Postkolonie besteht je­
doch in der Basislegitimität der Organisationsmacht. U nter .Organisationsmacht'
34 Popitz, M a ch t 61 (Herv. i. O rig,).
35 L’Etat en A friq ue. L a p o litiq u e du ventre (Paris 1989) 89; s. auch Po litiq u e Afric ain e
Nr. 4 2 ( 1 9 9 1 ) 2 1 - 2 2 .
36 A u f ihn k o m m e ich in Teil II z u rü c k .
236
Tru tz von Trotha
der Herrschenden verstehe ich die Fähigkeit der Herrschenden, die Mitglieder
einer Gesellschaft oder einzelne, größere Gruppen einer Gesellschaft für die Ver­
wirklichung und Erreichung gesamtgesellschaftlich bedeutender Zwecke planvoll
zu koordinieren und einzusetzen. Die Zwecke können kultureller, besonders reli­
giöser Art sein oder sozialen, ökonomischen oder politischen Charakter haben.
O rganisationsmacht ist einer der tragenden Pfeiler für die Selbstlegitimation der
Herrschenden. Aber die Legitimation der Herrschenden durch den Beweis ihrer
O rganisationsmacht setzt sich auch bei den Beherrschten fort. U m ein Beispiel
aus meinen Forschungen zur Kolonialzeit Togos zu geben: der alte Yao Tchedre
Kpeo aus Lama-Kara bemerkte in einem Interview mit Dadja H alla-K awa Simtaro über die deutsche Kolonialzeit: „Zu Zeiten der Deutschen war es sehr schwer.
Sie (die Deutschen - TT) vertrödelten ihre Zeit nicht. Bei ihnen mußte man immer
arbeiten. Sie waren sehr hart. U nd dennoch waren sie gern gesehen. Ich hatte sie
sehr gern und ich mag sie immer noch. Sie brachten mich dazu, hart zu arbei­
ten.“37 Die Organisationsmacht des Herrschenden wird naheliegenderweise
zwiespältig erfahren. Das Leid, die H ärte der A rbeit und die Grausamkeit, mit der
die Herrschenden ihre Zwecke verfolgen, stehen nicht anders als im Fall der Ge­
w alt der vorbehaltlosen Legitimation entgegen. Aber die Produktivität der O rga­
nisationsmacht, die Tatsache, daß sie etwas bew irkt und verändert, entwickelt
Überzeugungskräfte. Das gilt insbesondere für die gepflanzten Bäume, die Ge­
bäude, Straßen, Brücken usw. In ihnen schafft die Organisationsmacht vollendete
Tatsachen“, deren ,Endgültigkeit“ zum Zeichen ihres unbedingten Anspruches
wird. Indem der Herrschende Tatsachen schafft, die sichtbar, greifbar und dauer­
haft sind, stellt er unter Beweis, daß seine Ansprüche und Forderungen, die er den
Beherrschten vorträgt, nicht leere Worte sind. Sie stellen für jeden sichtbar unter
Beweis, daß den hochfahrenden und herrischen Worten Taten folgen.
Die Organisationsmacht der kolonialen Herrschaft gehörte sicherlich zu den
tragenden Quellen ihrer Basislegitimität. U m gekehrt ist der Mangel an O rganisa­
tionsmacht und besonders ihr Verlust, die zur basislegitimatorischen H yp o th ek
der Postkolonie wurden. Straßen, die in der Kolonialzeit durch die Zwangsarbei­
ter gebaut wurden, zerfallen. Aus dem fleißigen und tüchtigen Stationsbeamten
wird ein Präfekt, der seinen Arbeitsplatz als Sinekure betrachtet. Kollektive A r ­
beiten fallen aus. Schlendrian im besonderen und die A usw irkungen der „Politik
des Bauches“38 auf die Organisationsmacht im allgemeinen entziehen der Zentral­
macht die basislegitimatorischen Grundlagen. In den sogenannten ,Strukturanpassungsprogrammen', die der Internationale Währungsfonds (IWF) inzwischen
zur Bedingung seiner Kreditvergabe gemacht hat, w urde dieser basislegitimatorische Verlust zum basislegitimatorischen Offenbarungseid der nachkolonialen R e­
gime. Er ging nicht nur mit einer Verelendung gerade städtischer Bevölkerungs37 Le Togo ,M u s t e r k o lo n ie “. S ouvenirs de l ’A lle m a g n e dans la Socié té Togolaise, 2 B ände
(A ix-e n -P ro v e n c e: U n iv e r s ité de Provence, 1982) Bd. 2, 745.
3S So lautet b ek a n n te rm a ß e n der U n tertitel des oben er w ä h n te n Buches von Jea n -F ra n cois
Bayart, (s. A n m . 35).
Be ob a ch tu ng en über den ko lo n ia len und n ac hk olon ia le n Staat in W e s ta fn k a
237
gruppen einher, sondern er war auch ein deutliches Zeichen für die Organisations­
unfähigkeit der Herrschenden; es war und ist das Diktat von Fremden, dazu noch
Fremden, die eng mit den alten Kolonialmächten verflochten sind, das die ,Struk­
turanpassung1 zu erzwingen versucht. Wie selbst der aufmerksame Reisende in
westafrikanischen Ländern bemerken kann, kom m t hinzu, daß die ökonomische
,Außenabhängigkeit“ des nachkolonialen westafrikanischen Staates39 sich in einer
Organisationsmacht wiederfindet, die weniger die der Zentralregierung als die in­
ternationaler Entwicklungshilfeorganisationen ist, deren Embleme überall dort zu
finden sind, wo planiert, gegraben, gebaut, alphabetisiert wird, Nahrungsmittel
verteilt oder Kranke geheilt werden. Anders als zur Kolonialzeit wird O rganisa­
tionsmacht nicht von der staatlichen Verwaltung, sondern von deren dekolonisierten Nachfahren, den regierungsamtlichen und Nichtregierungsorganisationen
internationaler Geberländer, bewiesen - die in diesem Sinne auch als Institutionen
der ,Basisc/elegitimierung‘ nachkolonialer Zentralherrschaft verstanden werden
können.
Die O rdnung von Zugehörigkeit, die Bestimmung, w er dazu gehört und w er
nicht, ist konstitutiv für Gesellschaft. Gesellschaft ist eine Grenzziehung z w i­
schen Menschen und ,Barbaren“, Mitgliedern und Nichtmitgliedern, , Eingebo­
renen“ und Fremden, ,uns“ und den ,anderen“. Dabei ist das, was Zugehörigkeit
ausmacht, keineswegs eine eindeutige Sache und leicht zu entscheiden. Die
Grenzziehungen sind sozial relativ, das heißt davon abhängig, w ie das Zugehörig­
keitsverhältnis zwischen den beteiligten Menschen ist; sie sind eine kulturelle und
historische und damit äußerst variable Ordnung. Aber wie immer auch che Zuge­
hörigkeitskriterien aussehen, für die Frage der Basislegitimation ist entscheidend,
daß die Herrschenden Zugehörigkeit gegenüber den Beherrschten geltend m a­
chen können, und dieser Anspruch von den Beherrschten bestätigt wird. Wer un­
widersprochen Zugehörigkeit beanspruchen kann, hat nicht alles, aber ein Konstitutivum der Vergesellschaftung selbst als Legitimation seines Machtanspruchs ge­
wonnen. Er hat im Wortsinne ,Basis‘-Legitimität. Er hat die Rechtfertigung des
,W ir“, das mit Blick auf die ,Barbaren“, die ,Frem den“, ,Schwarzen“, ,Weißen“, ,W il­
den“ typischerweise noch das Verwerfliche, Unmoralische und Unrechte, das M it­
glieder tun, innerhalb der moralischen O rdnung verortet und ,rechtfertigt“, weil
die ,Barbaren“ aus der moralischen O rdnung selbst herausfallen. Zugehörigkeit
begründet eine grundlegende Solidarität. Es ist die Solidarität der Gleichheit. Es
ist die gemeinsame Verbundenheit in einer W ürde, die noch den geringsten der
M itglieder einschließt. Die Basislegitimität des ,W ir“ ist so allgemein, daß sich auf
ihr nahezu beliebig spezifische Legitimationen aufbauen lassen. Die Basislegitimi39 T h om as Bierschenk, A u ß e n a b h ä n g ig k e it un d Intcrmediarität: M e r k m a le des Staates in B e ­
nin vo r 1989 (F U Berlin, Institut fü r Ethnolo gie , S c h w e r p u n k t S o zia la n th ro p o lo g ie, S o z ia l­
a n th rop ologisc h e A rb e itsp a p iere 52, Berlin 1993); s. auch T hom as B ierschenk , G eorg Eiwert,
Dirk K o h n ert, Einleitu ng: E n tw ic k lu n g s h ilfe un d ihre F olg en, in: E n tw ic k lu n g s h ilf e und ihre
Folgen. Ergebnisse em p irisc he r U n t e rs u c h u n g e n in A frik a , hrsg. v. Thom as Bierschenk,
G e o r g Eiwert (Campus Fo rsch un g 684, Frankfurt/M ., N e w Y o rk 1993; im fo lg enden ab g e­
kürzt: B ierschenk u.a ., E n tw ic k lu n g s h ilfe) 7-3 9.
238
T ru tz von Trotha
tat der Zugehörigkeit gewährleistet bekanntermaßen auch dann noch U nterstüt­
zung von seiten der Beherrschten, wenn alle anderen Legitimationen zerbrochen
sind.
Die europäische Kolonialherrschaft hat solche Zugehörigkeitslegitimität nicht
bei der überwiegenden Mehrheit der Beherrschten und erst recht nicht bei den
einheimischen, oppositionellen Eliten erreicht. Sie war eine unüberwindbare
Schranke. Die europäischen Eroberer blieben - bis heute - ,die Weißen“ im U nter­
schied zu ,den Schwarzen“ oder ,Eingeborenen“ oder wie immer die antagonisti­
schen Stereotypen lauteten. Die Herrschaft der Europäer blieb Fremdherrschaft,
Herrschaft ohne die Basislegitimität der Zugehörigkeit. Den afrikanischen Dekolonisationsbewegungen und den nachkolonialen Machthabern gelang es vor
allem, die Basislegitimität der Zugehörigkeit für sich zu beanspruchen. Dieser A n ­
spruch und seine Einlösung durch die Beherrschten standen jedoch im Kontext
der bestehenden oder gerade erst überwundenen Kolonialherrschaft; sie waren
Teil des Antikolonialismus und lebten von ihm. Deshalb war die Basislegitimität
der kulturellen Zugehörigkeit in den nachkolonialen Regim en immer prekär und
widersprüchlich. Ihr stand nämlich ein wichtiger Umstand entgegen: In den nach­
kolonialen Staaten als Vielvölkerstaaten war über die Ethnisierung der Zentral­
herrschaft und insbesondere ihres integralen Bestandteils, der neo-patrimonialklientelistischen Politik, die von Anfang an erfolgte, die kulturelle Zugehörigkeit
der Herrschenden aus der Sicht derer, die von der Herrschaft mehr oder minder
ausgeschlossen oder marginalisiert waren oder die im Blick auf vorkoloniale und
selbst koloniale Verhältnisse sogar die U m keh run g der Positionen von H err­
schenden und Beherrschten erfahren mußten, stets mehr oder minder fragwürdig.
Im jBiafra-Konflikt“ w urde dieser U mstand ebenso virulent w ie in der frühen R e­
bellion der Tuareg der Region Kidal gegen die malische Zentralregierung. In den
Augen der Tuareg der Region Kidal wurde mit der U nabhängigkeit Malis die
Fremdherrschaft nicht überwunden; es w urde lediglich die Fremdherrschaft der
Franzosen durch die Fremdherrschaft ,M alis“ - sprich: der malischen Zentral­
regierung - abgelöst. Heute, fast vierzig Jahre nach dem Ende der Kolonialherr­
schaft, hat das Problem der kulturellen Zugehörigkeit vor allem in O stafrika genozidale Folgen gezeitigt und erheblichen Anteil am Zusammenbruch der Staat­
lichkeit selbst.
Als Zwischenbilanz fasse ich zusammen: Der Kolonialismus des 19. Jah rh u n ­
derts w ar die Expansion einer Herrschaftsutopie, der Utopie des modernen Staa­
tes. Fraglos w ar dieser Expansionsprozeß bemerkenswert erfolgreich, wenn man
bedenkt, daß heute kein Gebiet mehr auf der Erde existiert, das zumindest nicht
de jure von Staaten in Anspruch genommen w ird oder für das, wie im Falle der
menschenleeren Antarktis, A bkom m en zwischen souveränen Staaten bestehen,
das Gebiet bestimmten N utzungen zu unterwerfen. Die Erde w urde über den
europäischen Expansionsprozeß zu einem O rt des globalisierten Anspruchs auf
Staatlichkeit. Das schließt ein, daß staatliche Herrschaft weltweit zur definitiven
Machtvorstellung, zum globalisierten Zollstock der Institutionalisierung von
M acht geworden ist. Dem H im mel der Ansprüche und juristischen Abstraktionen
B e o b a ch tu n g en ü b e r den ko lo n ia len un d n a c h k o lo n ia le n S taat in W estafrik a
239
steht indessen ein voraussetzungsreicher Prozeß der Institutionalisierung von
Macht zu staatlicher Herrschaft gegenüber. Seine W idrigkeiten w urden in West­
afrika - und anderswo - zum bedrückenden Triumph des Despotismus, zum
Machtfeld der Intermcdiarität und zur Unerreichbarkeit oder zum Schwund von
Basislegitimitäten, um nur drei A usdrucksform en der Zerbrechlichkeit von
M achtbildungsprozessen und der H erausbildung staatlicher Herrschaft im beson­
deren hervorzuheben. Dabei waren kolonialer und nachkolonialer Staat sich viel
ähnlicher, als es ihre Protagonisten naheliegenderweise glauben wollten und
konnten. Inzwischen sind die Zerbrechlichkeiten des Staatsbildungsvorgangs in
den nachkolonialen Staaten Schwarzafrikas - und auf dem Trümmerfeld des z u ­
sammengebrochenen Sowjetim periums - zu einer solch verbreiteten Erscheinung
geworden,’ daß das sozialwissenschaftliche Nachdenken über die Prozesse des
O
Staatszerfalls zu einem wichtigen Thema geworden ist40. Es stellt sich deshalb
auch die dringliche Frage, ob die weltweiten Prozesse der Staatsbildung nicht ih­
ren Zenit überschritten haben. Vielleicht sind w ir heute Zeugen globaler Entstaat­
lichungsvorgänge, wobei die D ram atik dieser Entstaatlichungsprozesse nicht nur
in der Zerschlagung eines spezifischen Typs von Staatlichkeit wie des okzidentalen Wohlfahrtsstaates der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt, sondern aus
den Alternativen zum staatlichen Herrschaftstyp im oben bestimmten Sinne41
selbst rührt, die sich in ersten Spuren zu erkennen geben.
M it dem B lick auf Umw andlungen des G ewaltmonopols, dem Kern von Staat­
lichkeit, die weltweit, einschließlich der westlichen Staaten, zu beobachten sind,
habe ich an anderer Stelle diese Vermutung vorgetragen und erläutert42. H ier will
ich im R ahm en des Konzepts der ,Parastaatlichkeit' die Beobachtungen, die mit
dieser Vermutung verbunden sind, an zwei spezifischen Problemen, am Beispiel
der neuen Rolle von Entwicklungshilfeorganisationen in Schwarzafrika und an­
hand des malischen Tuareg-Konflikts weiterführen.
II. Vom Staat zu r Parastaatlichkeit
Was i s t ,Parastaatlichkeit“? Darunter verstehe ich eine Herrschaftsform, in der
gesellschaftliche Machtzentren und relevante nichtstaatliche Gruppen einen Teil
der Souveränitätsrechte der Zentralmacht oder der anerkannten, d.h. formell
und deshalb zumeist rechtlich festgelegten, Aufgaben im Kernbereich der staatli­
chen Verwaltung an sich gezogen haben bzw. an sich ziehen. Diese M acht- und
Aufgabenübertragung ist konstitutionell, zum Beispiel in der Form einer födera­
tiven O rdnung, n ich t vorgesehen. Der Prozeß der Abgabe von Souveränitäts­
rechten und grundlegenden staatlichen Verwaltungsaufgaben geschieht gleich40 I. William Z artm an (H rsg.), C o llap s e d States. T h e D isin te gratio n and R estoratio n of
L eg itim a te A u t h o r it y (B o u ld e r 1995).
41 S. A n m . 1.
42 Vgl. Trotha, G cw a ltm o n o p o l,
240
T ru tz von Trotha
sam als Enteignungsvorgang staatlicher Souveränität und Verwaltung durch Vor­
gänge ,informeller Dezentralisierung' und ,Privatisierung' - was nicht aus­
schließt, daß diese informellen Dezentralisierungs- und Privatisierungsprozesse
in solche formeller und konstitutioneller Art eingebunden sind. Die Enteignung
erfolgt typischerweise durch Gruppen und Einrichtungen, die um die staatlichen
Souveränitätsrechte und grundlegende Verwaltungsaufgaben mit dem Staat ko n ­
kurrieren. Die These lautet: Die Staaten Westafrikas - und in vielen anderen Tei­
len Schwarzafrikas - geraten zunehmend in den Sog der Bildung von parastaat­
lichen Einrichtungen und Ordnungen. Der Kern dieses Vorgangs sind auf der
einen Seite Entwicklungshilfeorganisationen, darunter insbesondere die soge­
nannten ,N ichtregierungsorganisationen‘ (N R O ), auf der anderen Seite die B a­
stionen der kolonialen und nachkolonialen Intermediarität, die Gruppen im
M achtfeld der Intermediarität, allen voran die Trägergruppen des administrati­
ven Häuptlingswesens.
Zu den folgenreichsten jüngeren Entwicklungen in den nachkolonialen Staaten
gehört der wachsende Einfluß der N R O . Die zunehmende Bedeutung der N R O
ist nicht durch einen wachsenden finanziellen Anteil der N R O begründet. Zwar
ist der Anteil der Mittel, die den N R O an den gesamten Entwicklungsgeldern zur
Verfügung stehen, beachtlich. Die finanziellen Ressourcen, auf die N R O Zugriff
haben, waren zu Beginn der 90er Jahre größer als die der International Develop­
ment Association, der Entwicklungsorganisation der Weltbank43. A ber der Anteil
der M ittel, die den N R O an den gesamten Entwicklungsgeldern zur Verfügung
stehen, liegt schon seit Mitte der 70er Jahre unverändert zwischen 11% und 13%.
Die wachsende B edeutung der N R O ist deshalb eine des entwicklungspolitischen
Diskurses und dessen, was hier interessiert - ihres sozialen, ökonomischen und
politischen Gewichts auf der lokalen Ebene. Für die nachkolonialen Staaten ist
der größte Teil der Wohlfahrts- und Entwicklungsmaßnahmen der N R O nicht zu
entbehren. In vieler Hinsicht, wie Dieter Neubert dargelegt hat, ist das Verhältnis
zwischen N R O und nachkolonialem Staat deshalb komplementär und durch
selektive Zusammenarbeit bestimmt44. Die Arbeiten und M aßnahmen der N R O
entlasten den Staat finanziell, sozial und politisch, weil sie die schlechte soziale
Lage der Bevölkerung mildern und auf diesem Wege helfen, soziale und politische
Konflikte zu dämpfen. Aber diese selektive Zusammenarbeit ist gleichzeitig für
beide, Staat wie N R O , eine zwiespältige Angelegenheit. Ich betrachte diesen
Zwiespalt hier allerdings nur aus der Sicht des Staates und konzentriere mich auf
43 N u r Ja p a n , U S A und Fra n kre ic h haben E n tw ic klu n gsh ilfeb u d ge ts, die grö ß e r als die der
N R O z u sa m m e n g e n o m m e n sin d, w o b e i ein Teil der B udgets dieser Staaten wieder über
N R O geleitet wird; zu die sen un d den folg enden A n ga b en s. D ieter Neubert, Entwicklungs­
politische H o ffn u n ge n un d gesellschaftlic he W irk lic h k eit. Eine v ergleichende L änderfallS t u d i e vo n afrikan isch en N ich t-R e g ie ru n g s o rg a n is a tio n e n m K enia und R u a n d a (C a m p u s
F o r s c h u n g 750, Frankiurt/M., New York 1997; im folg enden a b g ek ü rzt: Neubert, N R O ) 2 8 29.
44 N eubert, N R O 354-394 .
B e ob a ch tu ng en über den ko lo nialen und n ac hk olon ia le n Staat in W estafrik a
241
die Aspekte der Problematisierung von Staatlichkeit selbst, die m den Aktivitäten
der N R O angelegt sind45.
Die Arbeit der N R O ist von einem ausgeprägten Autonomiestreben bestimmt.
„Sie wollen weitgehend unabhängig von staatlichem Einfluß über Arbeitsbereiche
und Arbeitseinsätze entscheiden.“46 Entsprechend der gesellschaftspolitischen
Programmatik unter dem Banner ,Vom Staat zum M a rk t“, die in der Weltanschau­
ung der .Globalisierung“ einen imperialen Anspruch erhebt, hat gleichfalls die
Weltanschauung der N R O einen paradigmatischen Wechsel vollzogen. Legten
N R O bis zu den U m bruchjahren der ausgehenden 80er Jahre Wert darauf, den
nachkolonialen Staat stets in ihre Aktivitäten einzubinden, folgen sie heute der
Devise .A utonom ie vom Versager .Staat“ 47. Für ihre praktische Arbeit heißt das,
daß sie nach eigenen Zielsetzungen und Kriterien aktiv werden. Besonders im Be­
reich der kommunalen und ländlichen Infrastrukturen übernehmen N R O soziale
und entwicklungspolitische Aufgaben, die in den Verantwortungsbereich der lo­
kalen Verwaltung gehören - aus der Sicht eines Reisenden habe ich schon oben auf
die Bilder der Gegenwärtigkeit der N R O in Staaten Westafrikas hingewiesen. Vie­
lerorts stehen die N R O in direkter Konkurrenz zur lokalen Verwaltung, wobei
die N R O in der Regel besser ausgestattet sind. Sowohl in ihren Projekten als auch
bei längerfristig angelegten Programmen errichten sie üblicherweise eigene Entscheidungs- und Arbeitsstrukturen, die parallel zur staatlichen Verwaltung beste­
hen. Oft wählen sie ihre Klientel nach weltanschaulichen Gesichtspunkten aus,
die eine mehr oder minder offene H erausforderung der politischen Ideologien der
herrschenden Gruppen sind. Die Organisationen und Arbeitsfelder der N R O las­
sen neue lokale Führungsgruppen entstehen oder sind für bestehende lokale Eli­
ten Chancen zur Durchsetzung ihrer Interessen und für ökonomischen, sozialen
und politischen Aufstieg. Aufgrund ihrer Ressourcenausstattung, die auf lokaler
Ebene der staatlichen Verwaltung typischerweise überlegen ist, und ihrer M ö g ­
lichkeiten, Zugänge zu staatlichen Geldern zu eröffnen, treten die N R O in Kon­
kurrenz zu den etablierten Patronage- und Klientelnetzen. Sie werden zu konkurrenziellen ,Patronage“- und ,Klientelordnungen der Hilfe'48.
45 A us die sem G ru n d b leiben hier w ic h tig e Seiten dieses Z w iespalts, w ie P la n u n gs p ro b le m e
fü r den Staat angesic hts d er relativen K urz fristigk eit der E n tw ic k lu n g s p r o je k te vo n N R O
o der das engere finan zielle Pro blem d e r Fo lg eko sten fü r den Staat, die aus den P ro jekten der
N R O erwachsen, un b erü cksichtig t.
46 N eubert, N R O 383.
47 Zu den em pirisch beo bachtbaren M o d ifik a tio n e n in d e r Praxis siehe w e ite r unten.
48 N a h e lie g e n d e r w e is e hat sich der E n tw ic klu n gsh ilfeb ere ic h mit seinem für die einzeln en
Staaten gro ß en F in a n z v o lu m e n (s. Bierschenk u .a ., E n tw ic k lu n g s h ilfe 12 / Tabelle 1) zu m
Z e n tru m des Patro n a ge - und K li en tels ystem s e n tw ic k elt, das g e ra d e die herrsch en den G r u p ­
pen un d die In hab er der staatlichen M a ch t für ihre M ach tin teressen und nicht z u letz t für ihre
B e r eich eru n g ein zu s etzen wissen. D ieser Tatbestand gehö rt in zw is ch e n b e k a n n te rm a ß e n un d allein als Sach verhalt zu Recht - zu r ,P o litik fo lk lo r e “ der G eber- eb enso w ie zu der der
N eh m erlän der. D arin eingeschlo ssen ist, daß die etablierten p olitischen Eliten die O r g a n is a ­
tio nsfo rm en d er N R O für die eigenen Patro nagein teressen un d K lien teln etze in s tr u m e n ta li­
sieren o der einzeln e N R O für diese Interessen und N e t z e zu in stru m entalisie ren versuchen.
242
Trutz von Trotha
Für die nachkoloniale Zentralherrschaft sind diese Sachverhalte in mehrfacher
Weise zwiespältig. Was auf der einen Seite zwar komplementär ist, ist auf der an­
deren Seite eine augenfällige Offenlegung der geringen und schwindenden O rg a­
nisationsmacht des Staates und insbesondere seiner Verwaltung. Was dies auf der
Ebene einer Lokalverwaltung bedeutet, läßt sich anhand von N ordtogo anschau­
lich machen, von dem die H olländerin M iriam R eÿn e von der Universität Leiden
in einem Tagungsbeitrag49 ein Beispiel gegeben hat, das allen vertraut ist, die mit
Lokalverwaltungen in westafrikanischen Entwicklungsländern zu tun haben. Es
verknüpft zugleich die Problematik der N R O mit der des administrativen H äu p t­
lingswesens. In der ersten Hälfte der 90er Jahre untersuchte R eÿne in der Präfek­
tur Sokodé die Beziehungen zwischen Präfektur, Häuptlingen und N R O und
konnte festhalten, wie sich durch die finanziellen Ressourcen und die O rganisati­
onsmacht der N R O das Verhältnis zwischen Präfektur, Häuptlingen und Bevöl­
kerung und die Tätigkeiten und Funktionen der Präfektur verändern: N R O w e r­
den für alle Fragen, die sich um die Entwicklung Sokodés und seines Verwaltungs­
bezirks drehen, zu den ersten und wichtigsten Ansprechpartnern der Bevölkerung
und der H äuptlinge. Die Beziehung zwischen Häuptlingen und Präfektur verliert
an Bedeutung; dies erfolgt auf der Grundlage einer Geschichte antagonistischer
Intermediarität, in der die Distanz zwischen Häuptlingen und Präfektur seit der
Kolonialzeit ungebrochen ist. A uf diesem Weg w ird die Verwaltung gerade um
diejenigen Aufgaben gebracht, die der Kern ihrer offiziellen Funktionsbestim ­
mung ist. Die M itglieder und nicht zum wenigsten der Präfekt selbst werden von
ihren V erwaltungsaufgaben ,freigestellt1, geben sich dem M üßiggang und der P o ­
litik, nicht zuletzt der eigenen Karrierepolitik hin. M it anderen Worten: N R O
werden zum Konstruktionselement einer Spirale abnehmender staatlicher O rga­
nisationsmacht. Je effizienter N R O werden, desto mehr gewinnen sie adm inistra­
tiven Charakter und desto ineffizienter und politisierter wird die staatliche Ver­
waltung.
Zur abnehmenden Organisationsmacht gesellt sich ein doppelter Legitimitäts­
verlust durch das Wirken der N R O . Den einen habe ich schon erwähnt: den Ver­
lust an jener Basislegitimität, die auf der G rundlage von Organisationsmacht ent­
steht. Der andere trifft den Legitimitätsglauben der Beherrschten im Sinne der
Weberschen und klassischen politischen Philosophie, wobei auch hier Prozesse
entstehen, die ich die ,Delegitimierungsspiralen N R O -bestim m ter Entwicklungs­
politik' nennen möchte, und die N eubert am Beispiel Kenias eindrücklich sk iz ­
ziert hat. Er schreibt: „Die politische Kritik der N R O bedroht nicht nur die H e ­
49 M iriam R eÿ n e, A d m in is tr a tio n locale à Tchaudjo : le réseau des acteurs différents, tel q u e le
préfet, l’a uto rité trad itio nelle et les O N G , V ortrag, gehalten auf d er 1. T a g u n g d er A r b e its ­
g ru p p e E u ro p ä isch er R echtseth n o lo g en (5. T a g u n g d e r A r b e itsg r u p p e deu tsc h -fra n zö sisch er
R e c h t s a n th ro p o lo g e n ) / P rem ière R en c o n tr e E u rop éenn e d ’a n th ro p o lo gie du D ro it (5iè m e
R e n co n tre fra n co -a lle m a n d e des a n th ro p o lo gu es du D roit) z u m T h e m a „ L o k a le R e p r ä se n ­
tanten u n d lo k a le R ep räsentatio n v o n staatlich er G e w a lt im P r o z e ß d e r D e z e n tr a lisa tio n “,
A rn o ld -B e rgs tra e ss e r-I n s titu t für k u ltu rw iss e n s ch a ftlich e F o rsch un g, F re ib u rg i. Brsg., 22. 24. N o v e m b e r 1996.
B e ob a ch tu ng en üb er den ko lo n ia len un d n ac hk olon ia le n Staat in W estafrik a
243
gemonie des Staates, indem sich weitere politische Kräfte im Land etablieren und
diesem das politische Monopol streitig machen, sondern zugleich die staatliche
Legitimität, Dies w irkt zunächst nach innen. ... Die Kritik [der N R O - T T ] an
den sozialen Ungerechtigkeiten, an der Verletzung der Bürger- und Freiheits­
rechte ... stellte auch die Leistungsfähigkeit des Staates in Frage.“50 Das geschieht
insbesondere durch einen, wie Neubert bemerkt, „verdeckten Prozeß, der mögli­
cherweise noch wichtiger ist, aber leicht übersehen werden kann“51. Es ist der
Prozeß der Entwertung staatlicher W ohlfahtts- und Entwicklungsleistungen, die
für den neo-patrimonialen nachkolonialen Staat das Fundament der Legitimation
war und noch ist und die Unterstützung durch wichtige Teile der Bevölkerung ge­
sichert hat. Statt des Staates werden N R O mit ihren Projekten und Angeboten zu
den „Hoffnungsträgern des Ü berlebens“52. N R O eröffnen „alternative Wege des
Zugangs zu Leistungen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und somit zu
einer weiteren Bedrohung der (staatlichen - TT) H egemonie w erd en “53. Neubert
fährt fort: „Einmal in die Kritik geraten, verliert der Staat im direkten Vergleich
der Leistungsfähigkeit zwischen staatlicher Verwaltung und N R O zunehmend an
Boden. W ährend die N R O meist projektbezogen über relativ kurze Zeiträume
bewertet werden, w ird der Staat an seinem flächendeckenden A ngebot und dessen
langfristiger W irkung über viele Jahre hinweg gemessen. ... [D]ie ... Mängel der
Tätigkeit der N R O werden bisher kaum wahrgenommen, so daß die Schwächen
der staatlichen Verwaltung durch ungleiche Bewertungsbedingungen noch ver­
stärkt zu Tage treten.“54
Eine besondere Zuspitzung erfährt die Rolle der N R O , soweit es sich nicht um
nationale, sondern internationale N R O bzw. um solche nationalen N R O handelt,
die - was kennzeichnend ist - mit internationalen N R O in enger Verbindung ste­
hen. In diesem Fall sind die N R O in der internationalen Arena der Entwicklungs­
hilfe Konkurrenten des nachkolonialen Staates. Sie ziehen Ressourcen, die dem
Staat zukom m en könnten, ab. M it wachsender Förderung der N R O auf dem
M arkt der Entwicklungshilfe und Hilfeinterventionen kommen die Mittel, die z u ­
vor an den Staat geflossen sind, N R O zu, was w iederum deren A utonom ie stärkt,
den Zugang des Staates zu Mitteln einschränkt und die Spirale sinkender staatli­
cher Organisationsmacht und des Legitimitätsverlustes weiter nach oben treibt.
Wenn inzwischen durch Einflußnahme und D ruck nationaler und internationaler
N R O Entwicklungshilfe ganz oder in wichtigen Teilen zum Erliegen kommen
kann, dann w ird der nachkoloniale Staat in seinem Fundament selbst getroffen.
M ehr noch: M it dem wachsenden Einfluß von internationalen N R O entstehen
Machtbeziehungen und Machtzentren, die ich die ,internationalisierte Parastaat­
lichkeit' der N R O nennen möchte. In diesen Beziehungen und Zentren, zu denen
50
51
52
53
54
N eubert, N R O 384.
Ebda.
Ebda. 385.
Ebda.
Ebda. 386.
244
T ru tz von Trotha
die einflußreichen N R O der Entwicklungspolitik und ihre Zusammenschlüsse auf
nationaler und internationaler’5 Ebene gehören, wird nicht nur über Projekte und
ihre Durchführung entschieden, die als Inf rastrukturleistungen in den betroffenen
Ländern zum Kern des Verantwortungsbereichs der staatlichen Verwaltung gehö­
ren; sie sind zugleich wichtige Beziehungsnetze und Zentren, in denen Entschei­
dungen darüber gefällt oder wesentlich beeinflußt werden, ob von seiten der O r ­
ganisation in einem bestimmten nachkolomalen Staat überhaupt noch gearbeitet
werden soll oder die verantwortlichen Regierungen der Geberländer weiterhin
Entwicklungshilfe für ein bestimmtes Land bereitstellen sollen. In den Katastro­
phengebieten Afrikas gibt es inzwischen Fälle, in denen N R O faktisch w eitge­
hend unabhängig von den betroffenen nationalen Regierungen entschieden haben,
ob und wie sie intervenieren56.
Es ist angemessen, die O rdnung der Parastaatlichkeit als eine O rdnung von
Formen von Parastaatlichkeit zu verstehen, die sich unter anderem nach dem
Grad unterscheiden, in dem sie den Staat als Typus politischer Herrschaft selbst in
Frage stellen. Angesichts der vielfältigen Beziehungen und Komplementaritäten
zwischen N R O und nachkolonialem Staat gehören aus dieser Sichtweise N R O
und ihre Tätigkeiten unter Bedingungen ,norm aler“ Entwicklungshilfearbeit zu
denjenigen Formen von Parastaatlichkeit, welche die Staatlichkeit des nachkolo­
nialen Staates vergleichsweise begrenzt in Frage stellen - obwohl die langfristigen
Folgen der Spirale aus abnehmender Orgamsationsmacht und den verschiedenen
Weisen der Delegitimierung, wie ich oben unterstrichen habe, nicht unterschätzt
werden dürfen. Anders sieht es in einem Fall wie den nordmalischen Tuareg aus,
bei denen das Machtfeld der Intermediarität zur Grundlage einer .regionalen
55 Zu den einflu ß reic hen N R O d er w es tlich en G eb erlän d er gehö ren in W estafrik a neben den
E n t w ic k lu n g s h ilfeo rg a n isa tio n en der Kirchen un d politisch en Stiftungen z u m Beispiel E uro
A ctio n A sso ciatio n de C o o p e r a tio n et de R e c h e rch e en D éve lo pp em en t ( A C O R D ) , C o -o p e rative A ssistance for R elief E v c r y w h e re ( C A R E Internatio nal), O x fo rd C o m m it t e e A ga in st
H u n g e r ( O X F A M ).
56 Vgl. d en a ufsch lußreichen A r tik e l des K o -D ir e k to rs von A fric an R igh ts in L o n d o n , Alex
d e Waal, N u llö s u n g e n . Die neue M a ch t d er N G O s u n d ihr R u f nach d em Militär, in: die
t a gesze itu n g v. 30. N o v e m b e r 1994, 13-16.
D iese zu gesp itzte B e m e rk u n g b eda rf allerdin gs einer d o pp elten M o d ifik a tio n . Z u m einen
habe ich aus G r ü n d e n der V erein fach un g im V o ran geh en den N R O als eine einheitlic he
S t r u k t u r b ehandelt; das ist m iß verstän dlich. N R O sind ein a u ß e ro rd e n tlich h eterogenes G e ­
bilde. D a rin ist u n te r and e rem eingeschlo ssen, daß N R O u n t ere in a n d e r k o n k u rriere n . Diese
K o n k u rr e n z geht d am it einher, daß N R O dahin tendie ren, zu intervenieren, w e il sie A u f ­
trä ge b rauchen. Z u m anderen ist der n a c h k o lo n ia le Staat n ah elie gen derw e ise im m e r noch
eine E inrich tu ng , die b eim Z u ga n g z u m Interventio nsfeld nicht üb er gangen w e rd e n k an n (s.
auch A n m e r k u n g 48). In E n tw ic k lu n g s p r o je k te n w ir d die ser Tatsache mit der F o rm el von
d e r ,T r ä g e rs tr u k t u r “ R ec h n u n g getragen , die bein haltet, d aß d er n ac h k o lo n ia le S taat in u n t e r ­
schie dlichen F o rm en - t yp is ch er w e is e durc h die R e p rä se n ta n z von Vertretern des Staates in
E n tsc he idu ngs- und B e ra tu n g sgre m ien von E n t w ic k lu n g s p r o je k t e n - ein g eb u n d en w ir d . In
die sem S in ne ließe sich sagen, daß der n ach k o lo n ia le Staat selbst den C h a r a k t e r un d die
F u n k tio n einer in term ediären In stitution ge w in n t, die im Falle in tern ation ale r N R O den
Z u g a n g z u r B e v ö lk e ru n g u nd zu den n ationale n N R O kontrolliert.
■
B eo b a ch tu n g en über den ko lo nialen und n achk olon ialen Staat in W estafrik a
245
Parastaatlichkeit“ zu werden scheint, die grundlegende Souveränitätsrechte des
Staates enteignet, unter deren wichtigsten das staatliche Gewaltmonopol selbst
ist57.
Die nordmalischen Tuareg der Region Kidal haben seit der Unabhängigkeit
Malis ein gespanntes Verhältnis zum Zentralstaat. Wie erwähnt, haben sie den
Herrschaftsanspruch des malischen Staats und seiner Träger nicht nur als Frem d­
herrschaft wahrgenommen, sondern sie haben ihrem zwiespältigen Verhältnis
zum malischen Staat auch durch eine bewaffnete Rebellion in der ersten Hälfte
der 60er Jahre A usdruck gegeben. Der Aufstand w urde von der malischen Armee
in einem zweijährigen Kampf blutig niedergeschlagen. Die Region, der Adagh,
wurde der M ilitärverwaltung unterstellt58. Diese Verwaltung vermochte es nicht,
das antagonistische Verhältnis zwischen den nordmalischen Tuareg und dem m a­
lischen Staat zu mildern oder gar zu beseitigen. Das zeigte sich nach den folgenrei­
chen Ereignissen des Jahres 1989, das heißt, nach dem Zusammenbruch des kom ­
munistischen Imperiums und den weltpolitisch weitreichenden Veränderungen,
die mit ihm verbunden waren. Im Jah r 1990 kam es erneut zu einer Rebellion.
W ieder reagierte die Armee blutig und bedrückte die Bevölkerung durch harte
Repressionen. Anders als in den 60er Jahren gelang es der Armee aber nicht mehr,
die Rebellen entscheidend zu schlagen. Die erste Hälfte der 90er Jahre w ar deshalb
vom H in und H er von Friedensbemühungen und Friedensverträgen auf der einen
und militärischen Auseinandersetzungen auf der anderen Seite gekennzeichnet.
Aber trotz zahlreicher Rückschläge gelang es, einen Frieden zu sichern, der zwar
sehr zerbrechlich ist, aber augenblicklich zur Hoffnung Anlaß gibt, friedliche Be­
ziehungen zwischen den malischen Tuareg und dem Zentralstaat Mali einzurich­
ten, die möglicherweise von größerer Dauer sind - allerdings, wie ich zeigen
möchte, um den Preis einer Paraverstaatlichung, die selbst wiederum große Kon­
fliktpotentiale enthält59.
57 D ie B e m e rk u n g e n zu dem folgenden w esta frika n isc h e n Fallb eispiel b eru hen auf einem
D F G - F o r s c h u n g s p r o je k t üb er ,Staat, E th nizität un d G e w a lt am Beispiel der Tuareg von M ali
un d N ig e r “, das im H e rb s t dieses Jah res abgeschlo ssen w ir d und deren ve r a n tw o r tlic h e r L e i­
ter der Verfasser ist. D ie F o rsch un gen zu die sem P ro je k t w u r d e n von d em E th no lo gen Dr.
G eo rg Klute, U n iv e r s itä t-G e s a m th o c h sc h u le Siegen, durc h gefüh rt. Ich m öchte desh alb b e­
tonen, daß das M a terial für die n achfolgende D a rste llu n g ausschließlich den F o rsch un gen
von Dr. Klu te e n tstam m t. Das schließt ein, daß m ein e theoretischen A n m e r k u n g e n , die ich in
d ie sem Z u s a m m e n h a n g mache, nicht n ur ü b e r w ie g e n d w ie d e r g e b e n , w as Dr. Klu te erarb eitet
hat, s on dern so Teil eines intensiven ge d a n klic h e n A u s ta u s ch es mit Dr. Klu te sin d, daß sie
n ur als Ergebnis eines ge m e in sam en N a ch d en k en s verstan den w e rd e n können. N ic h tsd e s to ­
trotz m öchte ich auch unterstreichen, daß die V e r a n tw o r tu n g für die folg enden F o r m u lie ­
run gen aussch ließlich bei m ir als d em Verfasser liegt. Sollte m ein e D a rste llu n g F ehler oder
and ere U n g e n a u ig k e it e n a ufw eisen, gehen sie allem zu m e in e n Lasten.
58 D er A d a g h blieb fast ein V ie rte lja h rh u n d e rt - n äm lich bis Ende 1986 - allen R eisend en
und Touristen ve rschlossen.
59 F ü r eine k n a p p e E in fü h ru n g in den g e g en w ä rtig en K onflik t, s. G e o r g K lute, D e r T u areg­
ko nflikt in M a li un d N iger, in: J a h r b u c h D ritte Welt 1996. Daten, Ü b ersic hte n, A n a ly sen ,
hrsg. v. J o a c h i m Betz, Stefan B rü ne (M ü n c h e n ) 14 6-161; ausfüh rlicher s. G e o r g Klute, H ostilitcs et alliances. A r ch ä o lo g ie de la dissid ence dans lc m o v em en t rebelle des T o uareg au Mali,
246
Tru tz von T ro tha
Von großer Bedeutung sowohl für den Verlauf der Auseinandersetzung als auch
für die Hoffnung auf friedlichere Verhältnisse w ar und ist die Politik der D em o­
kratisierung und Dezentralisierung, die bekanntermaßen seit Ende der 80er Jahre
und als Teil der Folgen des Kollapses der Sowjetunion die politischen Verhältnisse
in Afrika auf nachhaltige Weise verändert. Wie in anderen afrikanischen Ländern
kam es in M ali 1992 zu demokratischen Wahlen für ein nationales Parlament und
für die Präsidentschaft60. Weitere Dem okratisierungsm aßnahm en w ie Kom m u­
nalwahlen und eine stärkere D ezentralisierung der politischen und adm inistrati­
ven Strukturen sind im Gange oder werden vorbereitet. Vor dem Hintergrund der
Verhältnisse, welche die koloniale Geschichte, die nachkolonialen Verhältnisse
und die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den nordmalischen Tuareg
und der malischen Zentralregierung geschaffen haben, gibt es jedoch schon jetzt
deutliche Anzeichen dafür, daß die Prozesse der Demokratisierung und Dezentra­
lisierung auf dem Machtfeld des H äuptlingtum s und administrativen H äuptlings­
wesens in Prozesse der Paraverstaatlichung einmünden61.
Im Jahre 1995 bemerkte ein nordmalischer Interviewpartner von Georg Klute,
der von Klute unter Verwendung der malischen Begrifflichkeit als „Intellektuel­
ler“ bezeichnet wird: „Mit der Dezentralisierung und der Reform der Verwal­
tungsbezirke werden die tribalen Gegensätze v ersch w in d en .... Die Leute werden
sich nicht mehr nach ihren traditionellen H äuptlingen richten, sondern sie werden
sich auf ihre Gemeinden hin orientieren, weil diese der O rt sind, von dem aus die
Leute verwaltet werden und wo sie ihre politischen und wirtschaftlichen Interes­
sen wahrnehmen. ... Die Leute werden die N ähe dessen suchen, der ihnen Vor­
teile bringen kann, und der C hef einer Gemeinde wird sich mit seiner Bevölke­
rung verbünden, weil er wiedergewählt werden möchte.“ In neuer Variante einer
langen nachkolonialen Diskursgeschichte vom N iedergang des H äuptlingtum s62
in: C a h ie r s d ’ Etudes africaines ( S ch w erp u n k th e ft: L a d ém o cra tie déclinée) 137, X X X V - 1
(1995) 5 5 -7 1 ; É tu d e sur le N o r d M ali. D e la tragédie à l ’espoir, hrsg. v. A C O R D , N O V I B ,
O X F A M (B a m a k o , J u li 1995).
60 Im U n ters ch ie d z u m N a ch b a r la n d N ig e r un d m anch a n d e rem s c h w a r z a fr ik a n isc h e n Land
ist die D e m o k r a tis ie r u n g in M a li bis h eute nicht ab g eb ro c h e n o der gar rü c k g ä n g ig gem acht
w o rd en .
61 Es w ü r d e den R a h m e n der v o rliegend en B e o b a ch tu n g en un d Ü b e rle g u n g e n sprengen, im
ein ze ln en auf die ko m p le x e G eschic hte des n ord m a lisc h e n H ä u p t lin g t u m s un d a d m in is tr a t i­
ven H ä u p tlin g s w e s e n s un d auf diese G eschic hte im Z u s a m m e n h a n g mit den beiden k rie g e ri­
schen K o nflikten einzu gehen. Ich k o n z e n triere m ic h hier deshalb auf Z u s a m m en h ä n ge , die
die P ro zesse der P a rav erstaatlich un g sichtbar m achen. Ich stütze m ic h vor allem a uf drei
A u fsä tze vo n Georg Klute, vo n d enen z w e i n och n ich t veröffentlicht sind: „ 100 ans chef. D e
la chefferie a d m inistra tiv e à la p araso uverain eté ré g io n a le “ (Siegen, U n iv e rs itä t-G es a m th o ch sch ule Sie gen 1997; im fo lg enden a b g ek ü rzt: Klute, 100 ans), „Stam m o d er N a tio n ? K o nzepte
d e r T u a re g - R e b e lle n b e w e g u n g im K a m p f gegen den p o s tk o lo n ia le n S taat“ (Siegen, U n ive rsit ä t-G cs a m th o c h sc h u le Sie gen 1996) un d „D ie R ev o lte d e r is h u m a g h “ (in: E th nizität un d G e ­
w a lt, Schrif ten des D eu tschen O rien t-In s titu ts, H a m b u r g , un d der A rbeitsstelle P o litik des
V orderen O rien ts, Freie U n iv e rs itä t Berlin, hrsg. v. T h om as S cb e ffle r [ H a m b u r g 1991] 134—
149).
62 Vgl. d a z u die Literatur, die in den A n m e r k u n g e n 24 un d 30 genan nt w ird .
B e o b a ch tu n g en über den ko lo n ia len und n ac h k o lo n ia le n Staat m W e s ta fn k a
247
wird in dieser Bemerkung wieder einmal das Ende des Häuptlings vorausgesagt
und gleichzeitig eine ernsthafte Gegenthese zur Annahme einer Paraverstaatli­
chung, dessen M achtzentrum das H äuptlingtum ist, formuliert.
Richtig an dieser Gegenthese ist die unausgesprochene Annahme, daß die Vor­
gänge der D emokratisierung und Dezentralisierung die Grundlagen des adm ini­
strativen Häuptlingswesens selbst verändern. Das gilt mit Blick auf alle drei Kon­
struktionsgrundsätze, die ich erwähnt habe, und es gilt in einem Maße, das die
Annahme rechtfertigt, daß mit D emokratisierung und Dezentralisierung das
Ende des kolonialen und nachkolonialen administrativen Häuptlingswesens ein­
geläutet wird. Da ist, erstens, der Grundsatz der Devolution. Er wird durch den
Grundsatz der freien und geheimen Wahl ersetzt, wom it die Zentralregierung der
Bevölkerung zugesteht, ihre Mittler und M akler selbst auszuwählen. Darin einge­
schlossen ist, daß die Mittler nicht mehr ausschließlich auf den Staat und vor allem
auf dessen finanzielle Ressourcen setzen können, um ihre Position, ihre Macht
und ihren Einfluß auf lokaler Ebene zu sichern. Da ist, zweitens, das Territorial­
prinzip. Ich habe erwähnt, daß der Territorialgrundsatz in kolonialen Zeiten fak­
tisch nur für die internationalen Grenzen galt und selbst dies nicht im Falle der
weiten, unkontrollierbaren Räume der Sahara der Nomaden. Prinzipiell änderte
sich unter nachkolonialen Verhältnissen daran wenig. ,Ironischerweise1 sind es
deshalb weder die g e w ä h r te n Utopisten' des kolonialen Staates noch ihre neo-patrimonialen Nachfolger, die das Territorialprinzip durchgesetzt haben, sondern es
ist und wird die Verknüpfung von D emokratisierung und Dezentralisierung sein,
die das Territorialprinzip der Herrschaft durchsetzt. Als Verwaltungsdezentrali­
sierung, Kommunalisierung und in der Form von Wahlbezirken zwingt sie die
N omaden, sich einer bestimmten Kommune zuzuordnen, wenn sie ihr Wahlrecht
wahrnehmen, auf die lokalen Entscheidungsprozesse Einfluß gewinnen und vor
allem die Ressourcen der Kommunen in Anspruch nehmen wollen. In diesem
Sinne trifft die These des genannten malischen ,Intellektuellen1 zu: D em okratisie­
rung und Dezentralisierung führen zur O rientierung auf die Gemeinde hin. Im
Zusammenspiel von demokratischen Wahlen und dezentralisierender K om m una­
lisierung wandelt sich auch das dritte O rdnungsprinzip des administrativen
Häuptlingswesens, der Hierarchiegrundsatz. An die Stelle der Abhängigkeiten
zwischen Häuptlingen in einer administrativen Pyram ide der Abhängigkeiten und
differenzieller administrativer Rechte tritt eine horizontale O rdnung ko m m un a­
ler Territorien mit gewählten Vertretern gleichen Rechts und gleichen Status.
Kurz: Die Demokratisierungs- und Dezentralisierungsprozesse im heutigen Mali
läuten das Ende einer rund hundertjährigen Geschichte des kolonialen und nach­
kolonialen administrativen Häuptlingswesens in Mali ein. Aber: Sowohl ein Blick
auf die staatliche Flerrschaft vor, während und nach den gewaltsamen A useinan­
dersetzungen der 90er Jahre als auch eine genaue A nalyse der Position und Rolle
des H äuptlingtum s innerhalb der Prozesse der D emokratisierung und ko m m un a­
len Dezentralisierung geben zahlreiche Anhaltspunkte dafür, daß mit dem Ende
des administrativen Fläuptlingswesens nicht das Ende der Herrschaft der H äupt­
linge gekommen ist. Ich w ill drei dieser Anhaltspunkte hier kurz erläutern: Sie
248
T ru tz von Trotha
liegen im Bereich des staatlichen Gewaltmonopols, der Positionierung des inter­
mediären H äuptlingtum s in den demokratischen Wahlen und der Strategien der
Häuptlinge für den U m gang mit diesen Wahlen und in der Art und Weise, wie die
Häuptlinge den Territonalgrundsatz handhaben63.
Die Folgen der Dem okratisierungs- und Dezentralisierungsprozesse lassen sich
entgegen den Ü berlegungen des zitierten ,Intellektuellen“ nicht unabhängig von
den historischen Voraussetzungen betrachten, unter denen sie stattfinden. Eine
für die Frage der Parastaatlichkeit konstitutive Voraussetzung ist, daß die D em o­
kratisierungs- und Dezentralisierungsprozesse in einer historischen Situation einsetzen, in der in dem hier behandelten Falle der Region von Kidal der legitime
staatliche A nspruch auf das G ewaltmonopol schon längst zusammengebrochen
ist. Dafür sind nicht nur die beiden genannten Phasen der nachkolonialen kriege­
rischen Auseinandersetzungen mit der Zentralregierung Beweis, sondern mehr
noch die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols von der Rebellion der
60er zum Aufstand der 90er Jahre. Als die malische Armee die Rebellion in der er­
sten Hälfte der 60er Jahre niedergeschlagen hatte, beschränkte sie sich nicht an­
ders als ihre kolonialen Vorgänger darauf, einen Ring von Garnisonsstädten um
den Adagh zu legen, mit dem im Falle von Unruhen die Zu- und Abgänge aus dem
A dagh gesperrt werden konnten. Das flache Land blieb frei. Die innere Sicherheit
innerhalb des Adagh w ar nicht die Sorge der Militärverwaltung; statt dessen lag sie
in den Händen der ,H äuptlinge“, das heißt, der Konföderationschefs und einer
Ifoghas-,Polizei“, der die Verwaltung halbautomatische Gewehre überließ. Dieser
,Polizei“ aus Angehörigen des Stammes, der die Rebellion angeführt hatte, gelang
es sogar mehrmals, Angrifte von Tuareg-Rebellen, die aus Libyen nach Niger ein­
gedrungen waren, abzuwehren. Bevor die schwerfällige Armee in Marsch gesetzt
war, hatten die Ifoghas das Problem schon gelöst. Mit dem Aufstand der 90er
Jahre zeigte sich für die nordmalischen Tuareg, daß die malische Armee nicht ein­
mal mehr fähig war, die Zu- und Abgänge aus dem Rebellengebiet effektiv zu ko n ­
trollieren. M ehr noch: Die Rebellion führte einerseits den Aufständischen vor
Augen, daß die Armee selbst zu schlagen bzw. es möglich war, ihr solche militäri­
sche N iederlagen zu bereiten, daß die politische Führung sich zu Friedensverträ­
gen bereit erklärte, die eine erhebliche politische und ökonomische Verbesserung
der nordmalischen Tuareg-Region in Aussicht stellten; andererseits machte die
Rebellion klar, daß die Funktion der Schutzmacht in der Region nicht mehr von
der malischen Armee ausgeübt wurde und w ird, sondern vom prekären Verhältnis
der verschiedenen Rebellenbewegungen abhängt, und in den einzelnen TuaregRegionen auf die jeweils dominanten Rebellenbewegungen übergegangen ist.
U nter diesen R ebellenbewegungen kom m t wiederum der Bewegung M o u v e m e n t
63 In d ie sem Z u s a m m e n h a n g ist es un v e rm e id lich , einige S achverhalte zu nennen, die s p e z i­
fisch fü r die m alische S ituatio n sind. D as ist für den Leser, d er nicht mit der malischen S itu a ­
tion vertraut ist, vielleicht etwas m üh sam . Es ist jed och m etho d is ch und theoretisch nicht zu
u m ge h e n , insofern es d a r u m geht, in den B eso nderh eiten - die da rüb er hinaus noch diffizile
Proz esse sind - das A llge m ein e, n äm lich d ie ge g e n w ä r tig e Tran sform atio n des n a c h k o lo n ia ­
len H ä u p t lin g t u m s in den Kategorie n e in e r e m p iris ch en T h e o rie sichtbar zti machen.
Beob ach tu ngen üb er den ko lo n ia len und n achk olon ialen Staat m W e s ta fn k a
249
P op u la ire d e VAzaouad. (MPA) ein gewisser politischer und militärischer Vorrang
zu. Sie hat ihr Kerngebiet in der Region Kidal, wird vom Stamm der Iioghas d o ­
miniert und mit ihm von einem neo-traditionalen c h e f in Kidal. Sie gewährleistet
nicht nur die innere Sicherheit im üblichen Sinne, sondern nimmt inzwischen
ebenso einigermaßen erfolgreich für sich in Anspruch, die politische Gewalt in
der Auseinandersetzung mit dem malischen Staat zu kontrollieren. Der Demokratisierungs- und Dezentralisierungsprozeß findet also in einem Kontext statt, in
dem der Kern von regionaler Parastaatlichkeit bereits hergestellt, nämlich die Zu­
rückweisung des staatlichen Gewaltmonopols durch das regionale Herrschafts­
zentrum verwirklicht ist.
A m risikoreichsten für die Konstitution eines parastaatlichen Häuptlingtums
sind zweifellos demokratische Wahlen. Sie lassen sich als eine Organisationsform
der Devolution verstehen, d.h. des Rechtes zur Besetzung von Herrschaftsposi­
tionen im lokalen Feld, das sich in der kolonialen und nachkolonialen Zeit die
Zentralmacht Vorbehalten hatte. Die Konstitution einer regionalen Parastaatlich­
keit, deren M achtzentrum das H äuptlingtum ist, setzt voraus, daß die Häuptlinge
das V orrecht, das vormals im Prinzip der Zentralmacht Vorbehalten war, für sich
gewinnen. Das heißt im Kontext von Wahlen: Die Häuptlinge müssen Kandidaten
in den Wahlen durchsetzen, welche die Interessen der Häuptlinge vertreten und
diesen verbunden sind. In den Parlamentswahlen von 1992 haben die traditionalen
und neo-traditionalen nordmalischen H äuptlinge der mächtigen Konföderation
der Iwillimidan und von Kidal die Situation falsch eingeschätzt, sind selbst als
Kandidaten aufgetreten und haben die Wahlen zu ihrer und vieler anderer Ü b er­
raschung verloren. A ber sie haben daraus ihre Lehren gezogen und mit zwei Stra­
tegien geantwortet. Die eine greift auf die ,traditionelle' Strategie der Intermediarität und des administrativen Häuptlingswesens zurück. Die ,Devolutionsstrategie‘ der lokalen Führungsgruppen war stets die Strategie einer Gruppe und nicht
auf eine einzige Person festgelegt, weshalb die Besetzung einer H äuptling- und
vor allem G roß-Häuptlingposition sich bis heute typischerweise als Wahl z w i­
schen verschiedenen Kandidaten vollzieht. Statt nun selbst als Kandidaten anzu­
treten, haben die H äuptlinge begonnen, Kandidaten zu unterstützen, von denen
sie annehmen können, daß sie ihr Wahlamt sozusagen ,an der mehr oder minder
kurzen Leine' der Häuptlinge ausüben werden. A uf diese Weise können sie hof­
fen, das Recht zur Besetzung von Herrschaftspositionen auch unter den Risiken
demokratischer Wahlen zu sichern64. Die zweite Strategie antwortet auf das Terri­
torialprinzip des Wahlbezirks. Die H äuptlinge haben begonnen, sich jenes Terri­
torialprinzip der Dezentralisierung und Kommunalisierung zunutze zu machen,
dem sie sich über hundert Jahre zugunsten der traditionalen Verwandtschafts­
und Gefolgschaftsgrundsätze von Herrschaft zu entziehen wußten. Unter A us­
nützung der spezifischen malischen Regelungen veranlassen sie die Gruppen, die
ihnen verbunden sind, sich in den Kommunen registrieren zu lassen, die ihrem
64 Zu Einzelh eiten, w ie in zw isch e n die H ä u p t lin g e bei der K an d id a te n w a h l ve rfahren, vgl.
Klute, 100 ans.
250
T ru tz von T ro tha
Herrschaftsbereich zugehören und in denen durch Wahlen über das Devolutions­
recht der H äuptlinge entschieden wird. A u f diese Weise ist es zum Beispiel schon
jetzt gelungen, die offiziell registrierte und deshalb für die Wahlen relevante Be­
völkerung m einzelnen Regionen grundlegend zugunsten der etablierten H äupt­
lingsgruppe zu verändern und auf diesem Wege die Aussichten für die kom m en­
den Wahlen entscheidend zu verbessern.
Den Grundsatz der Territorialität des modernen Staates machen die ITäuptlingtümer der nordmalischen Tuareg sich nicht nur in den Wahlen zunutze, sie haben
auch angefangen, diesen Grundsatz mit den traditionalen Verwandtschafts- und
Gefolgschaftsgrundsätzen zu versöhnen. Die Dezentralisierung w ird für sie ein
Mittel, den Herrschaftsanspruch auf Menschen durch einen Herrschaftsanspruch
auf ein bestimmtes Gebiet zu erweitern und in der Form von Verwaltungs- und
Gemeindegrenzen zu institutionalisieren. Der Weg dahin führt über die N eu o rd ­
nung von Gemeinde- und Verwaltungsgrenzen. Er ist konfliktreich, weil er zu
heftigen A useinandersetzungen zwischen verschiedenen nordmalischen Häuptlingtümern führt, die über Gebiete streiten, von denen sie wechselseitig behaup­
ten, daß es sich um ,ihr‘ Gebiet handle. Es ist ein Weg, auf dem das gegenwärtige
H äup tlin gtum die traditionelle Herrschaft über Menschen und mit Hilfe von
Tributen in Territorialherrschaft umwandelt.
Ich ziehe die zweite Zwischenbilanz. N icht anders als die staatliche Herrschaft
in vielen Teilen der Welt befindet sich auch der nachkoloniale Staat in Westafrika
in einem grundlegenden Wandel. In manchen Regionen ist dieser Wandel zum
faktischen Zusammenbruch der Staatlichkeit selbst geworden. In anderen R egio ­
nen ist der Wandel moderater, berührt aber den Staat als Herrschaftstyp selbst
nicht weniger. Der nachkoloniale Staat weicht einer O rdnung von Formen von
Parastaatlichkeit. Dafür stehen der Aufstieg der N R O und die Komplementarität
des Niedergangs des administrativen Häuptlingswesens und des ,Aufstiegs' des
Häuptlingtum s. Nichtstaatliche G ruppen nationaler wie internationaler Art in
Gestalt von Entwicklungshilfeorganisationen ziehen Aufgaben im Kernbereich
der staatlichen Verwaltung an sich und erhalten eine weitgehende Verfügungs­
macht über die A rt und Weise der Bewältigung dieser Aufgaben. Regionale
H äuptlingtüm er nutzen den N iedergang des administrativen Häuptlingswesens
zur Konstitution einer regionalen Parastaatlichkeit. Sie schließt ein, daß an den
Grenzen des Herrschaftsbereichs des H äuptlingtum s das Gewaltmonopol der
Zentralmacht endet, die Besetzung von Herrschaftspositionen - und zw ar auch
derjenigen, die in der Form von Parlamentssitzen auf der Ebene des Gesamtstaa­
tes verankert sind - in die, wenn auch m ehr oder minder indirekte, Verfügungs­
macht der Häuptlingsgraßpe übergeht und das H äuptlingtum zur Territorial­
macht wird.
Die beiden Formen von Parastaatlichkeit stehen nicht unverbunden nebenein­
ander, auch wenn sie sehr verschieden und ihre Entstehungszusammenhänge ganz
unterschiedlich sind. Findet Paraverstaatlichung im Fall der N R O im unm ittelba­
ren W irkungsbereich des nachkolonialen Herrschaftszentrums statt, hat die regio­
nale Paraverstaatlichung in Gestalt des H äuptlingtum s ihren O rt vornehmlich an
B eob ach tu ng en üb er den ko lo niale n un d n ac h k o lo n ia le n Staat in W e s t a in k a
251
der Peripherie des nachkolonialen Staates. Paraverstaatlichung ist also ein Vor­
gang, in dem der nachkoloniale Staat sowohl vom Zentrum wie von den Rändern
her umgestaltet wird. Eine besondere Verknüpfung beider Transformationspro­
zesse besteht zusätzlich darin, daß die Organisationen und Aktivitäten der N RO
im Herrschaftsbereich der Häuptlingtüm er liegen können und sie sich auf diesem
Wege wechselseitig verstärken. Die Integrationsprogramme für Rebellen, die als
Teil des Friedensprozesses in Mali in Gang gebracht worden sind, sind Beispiele
solch wechselseitiger Intensivierung von Prozessen der Paraverstaatlichung.
III. Zusam m enfassung
Der europäische Expansionsprozeß hat die Utopie der okzidentalen Staatlichkeit
globalisiert. Diese Utopie ist an der Unselbstverständlichkeit von Prozessen der
M achtbildung in Westafrika und zahlreichen anderen Regionen Afrikas geschei­
tert. Der koloniale und nachkoloniale Staat überwand weder den Despotismus
noch die Ordnungen antagonistischer Intermediarität, die der bürokratischen und
auf ,Entw icklung“ orientierten Staatlichkeit okzidentalen Typs entgegenstehen.
Der nachkoloniale Staat erlebte darüber hinaus und als Folge seines Despotismus
und seiner intermediären Strukturen und Arbeitsweisen folgenreiche Einbrüche
in seiner Basislegitimität. Gegenwärtig sind w ir deshalb einerseits Zeugen des Zu­
sammenbruchs, andererseits von grundlegenden Transformationen des nachkolo­
nialen Staates. In ihnen zeichnen sich neue und innovative Formen von Staatlich­
keit ab. Zwei dieser Formen habe ich mit dem Konzept der ,Parastaatlichkeit' nä­
her zu bestimmen versucht. Was mit ihnen zuguterletzt entstehen wird, ist offen.
Aber diese Formen einer neuen Staatlichkeit sollten der herrschaftssoziologischen
und politikwissenschaftlichen empirischen Forschung und ihrem Nachdenken
eine A nregung sein, die heutigen Prozesse der U m w andlungen zentraler H err­
schaft nicht am Zollstock der überkom m enen Modelle von Staatlichkeit zu mes­
sen. Westafrika ist auf dem Weg, neue Formen von Herrschaft auszubilden - zum
Guten w ie zum Schlechten. Diesen neuen Formen muß unsere Aufmerksamkeit,
unsere Phantasie und unser Bemühen um genaue Begriffe gelten.
Albert Wirz
Körper, Kopf und Bauch
Zum Problem des kolonialen Staates
im subsaharischen Afrika
•
Es w ar im O ktober 1996. Wir standen am Schlagbaum von Goma. Zusammen mit
zwei Kollegen wollte ich von R wanda nach Zaire einreisen. Doch am Tag zuvor
hatte Kinshasa beschlossen, die Grenzen zu R w and a zu schließen, weil es den
Nachbarstaat beschuldigte, die bewaffnete Rebellion der Banjamuleke im Südkivu
militärisch zu unterstützen. Alles Parlamentieren half nichts, w ir mußten auf
rwandisches Territorium zurück. Die H altung der Offiziellen, erst abweisend und
barsch, w urde schnell ungeduldig und drohend. Weil w ir jedoch sahen, daß ein­
zelne Händlerinnen weiterhin mit dicken Warenbündeln passieren durften, hoff­
ten w ir auf einen Gesinnungswandel und beschlossen, auf der rwandischen Seite
zu warten.
In den Stunden des Wartens unter der sengenden Äquatorsonne kamen w ir mit
einem jungen rwandischen Zöllner ins Gespräch. Er hatte an einer Universität
studiert. W ir sprachen über dies und das, über die deutsche Bundesliga, Europa,
die Schweizer Banken. Schließlich kam die Rede auf M obutu Sese Seko, den zairi­
schen Präsidenten, der, w ie w ir aus den BBC -N achrichten erfahren hatten, gerade
eben von der Schweiz nach Südfrankreich weitergereist war, ein schwerkranker
Mann. Er hat sein Land gnadenlos geplündert, nur an sich gedacht; nun wird er
bald sterben, erklärte der junge Zöllner. U nd er wußte auch warum: Schon seit
Jahren habe Mobutu alle paar Monate Bluttransfusionen von frisch geborenen Babies erhalten, jetzt wolle sein Körper dieses Blut nicht mehr annehmen. A uf meine
skeptische Nachfrage, wie das zu verstehen sei, wiederholte er kurzerhand die Ge­
schichte. Er meinte es offensichtlich ernst, aber was heißt das schon? W äh ren d­
dessen setzte ein riesiges Transportflugzeug der zairischen A rmee zur Landung im
nahen Goma an, donnernd flog es vom See her ein.
Wenige Tage später eroberten die Rebellen Bukavu. Wie sich herausstellte, war
das der Anfang vom Ende der M obutu-Diktatur, die unter dem Ansturm der von
Laurent Kabila angeleiteten bewaffneten Opposition zusammenfiel wie ein Kar­
tenhaus. Es bestätigte sich, was informierte Beobachter schon seit Monaten und
Jahren gesagt hatten: Der zairische Staat existierte nur noch formal. Doch anders
als das die Soziologen vermuteten, bedeutete die Zerrüttung des Staates und der
254
A lb e rt W ir z
institutionelle Zerfall keineswegs sein Ende, denn die Rebellenoffensive gipfelte in
einer von den U SA sorgsam vermittelten M achtübernahme in Kinshasa. M obutu
Sese Seko starb kurz darauf in M arokko.
Die neue Regierung änderte sofort den N am en des Landes, aus Zaire wurde
(wieder) die Demokratische Republik Kongo. Die neue Regierung begann zudem
mit dem Aufbau neuer politisch-administrativer Organe, doch sie hielt an den
kolonial geschaffenen territorialstaatlichen Strukturen fest. M it anderen Worten:
Sie modifizierte einzelne Spielregeln, das Spiel selbst aber blieb sich gleich. Auch
die D emokratische R epublik Kongo will ein einheitlicher Nationalstaat sein.
Die von der europäischen Kolonisation geschaffenen Strukturen erweisen sich,
kann man daraus lernen, als dauerhafter, als manche gedacht und andere gehofft
hatten; fast will es scheinen, sie seien ohne Alternative. U nd das, obwohl sie
Afrika zu dem machten, was es heute ist: eine Reihe in sich gespaltener Pcfstkolonien am Rande des Chaos und des Ruins, die sich durch einen eigentümlichen Stil
politischer Improvisation auszeichnen, wo brutale staatliche Gewalt zum Alltag
gehört und sich das Tragische und das Groteske in enger Nachbarschaft bewegen,
w ie Achille Mbembe, der Kameruner Historiker, definiert hat1. Der englische
Publizist Basil Davidson, der den Freiheitskampf der Afrikaner stets mit größter
Sym pathie begleitet hatte, bezeichnet den Nationalstaat gar mit ironischem R ü c k ­
griff auf die zentrale Metapher des imperialistischen Diskurses als Bürde und
Fluch für die A frikaner2.
D arüber rückt die Frage nach den Eigentümlichkeiten des kolonialen Staates im
subsaharischen Afrika einmal mehr in den Blickpunkt. Ich werde dieser Proble­
m atik im folgenden nachgehen, wobei ich mich ihr zuerst über die Institutionen
zu nähern versuche, um dann, angeregt durch das Gespräch mit dem rwandischen
Zöllner und seine Körpermetaphorik, in einem zweiten Teil nach der politischen
Sprache, nach kulturellen Werthaltungen und U bersetzungsproblem en zu fragen.
Abschließend werde ich die Frage der Vergleichbarkeit mit dem modernen euro­
päischen Staat aufwerfen. Es ist mir bewußt, daß das zeitgenössische A frika äu ­
ßerst vielgestaltig ist und daß die Kolonialmächte je eigene politische Traditionen
nach Afrika getragen haben. Ich glaube jedoch, daß die Gemeinsamkeiten größer
sind als die Differenzen. Zumindest werde ich sie im folgenden stärker heraus­
streichen.
Einleitend gilt es festzuhalten, wie kurz die europäische Kolonisation in Afrika
dauerte. N ur gerade etwas mehr als hundertundzehn Jahre sind es her, seit die
Großmächte der Zeit auf der Berliner Kongo-Konferenz die völkerrechtlichen
G rundlagen für die koloniale Aufteilung Afrikas ausmachten und ein erstes Ge1 A chille M b e m b e , P rovisional N otes of the P o s t- C o lo n y , in: A fric a 62/1 (1992).
2 Basil D a vid son , T h e B la ck M a n ’s B u rd en . A fric a and the C u r s e of the N a tio n -S t a t e ( L o n ­
d o n 1992); k ü n ftig zitiert: D a vidson , B la ck M a n ’s Bu rden .
Z u m P ro b lem des ko lo niale n Staates im sub sah arisch en A frik a
255
fl echt virtueller Grenzen für den Kongo zogen. Es folgten die Jahre der Erobe­
rung und Aufteilung Afrikas, die Jahrzehnte des Aufbaus neuer sozialer Räume
und staatlicher Institutionen, ehe, kaum zwei/drei Generationen später, die politi­
sche M acht an Einheimische übertragen und die Unabhängigkeit ausgerufen
wurde. Einzig in Südafrika und an einigen wenigen Orten längs der afrikanischen
Küste dauerte die koloniale Fremdherrschaft länger. U nd nur gerade in Südafrika
waren die Siedler so zahlreich, daß sie zu Trägern einer eigenständigen N ational­
bewegung wurden. Überall sonst blieb die Präsenz der Europäer eine „thin white
line“, w ie A. FI. M. Kirk-Greene sagte, beschränkt auf die Städte, die Zentren der
wirtschaftlichen D urchdringung und die Schaltstellen der Verwaltungshierar­
chie3. Auch die Investitionen blieben vergleichsweise gering. N u r gerade der im
südlichen Afrika konzentrierte Bergbau zog größere Summen privaten Kapitals
an. In der Zeit von 1870 bis 1936 flössen 42,6% oder knapp die Hälfte des Kapitals
allein nach Südafrika4. H ier erreichte denn auch die koloniale D urchdringung ihre
größte Tiefe.
Aber ob Handels- oder Bergbau- und Siedlerkolonie, der direkte Zugriff auf
den einzelnen Staatsangehörigen blieb dem kolonialen Staat überall versagt. Trotz
ihrer technologischen Übermacht konnten die Kolonisierenden nirgends auf in­
termediäre Gewalten verzichten. Und sie mochten sich noch so wortgew altig als
Neuerer und Träger des Fortschritts deklarieren, sie mußten sich doch an das
historisch Gewachsene anpassen. Folglich blieben die Einheimischen trotz U nter­
werfung überall Mitgestalter der eigenen Geschichte. Die kurze Dauer der euro­
päischen Präsenz entsprach ohnehin weniger dem politischen Willen der Koloni­
sierenden, sondern w ar die Folge einer unvorhersehbaren welthistorischen Kon­
stellation, indem der Aufstieg der Sowjetunion, der Zweite Weltkrieg, Indiens
Unabhängigkeit und die chinesische Revolution dem Kolonialismus die legitimatorische Basis entzogen und den afrikanischen Nationalisten zu mächtigen A lli­
ierten verhalfen.
Es ist im übrigen sinnvoll, die europäische Kolonialherrschaft im subsahari­
schen Afrika in zwei Perioden zu unterteilen: in die bis zum Zweiten Weltkrieg
dauernde Phase der Eroberung und Inverwaltungnahme sowie in die danach be­
ginnende Phase der Dekolonisation im Zeichen der Modernisierung. Der kolo­
niale Staat der ersten Periode w ar ein autoritärer Verwaltungsstaat ohne G ewal­
tenteilung, oder besser gesagt eine Despotie, welche sich auf eine Herrschaftsalli­
anz mit den Kräften des Hinterlandes stützte5. Er w a r angewiesen auf die Kolla­
boration oder wenigstens die D uldung ländlicher Notablen, die, einmal besiegt, in
der Vorstellung der Kolonisierenden schnell von Feinden und Repräsentanten der
Barbarei zu Garanten von Ruhe und O rdnung mutierten. Desgleichen versuchten
3 A. H. M. K irk -G reen e, T h e T h in W h i t e Lin e: T h e S ize of the British C o lo n ia l Service in
Africa, in: A fric an A ffairs 79/314 (1980) 2 5 -4 4 .
4 S. FL Frankel, C a p ita l Investm ent in A fric a (L o n d o n 1938) 151.
5 Z u m P ro b lem der H errsc h a ftsa llia n zen vgl. R o n a ld R ob in son, N o n -E u r o p e a n F o u n d a ­
tions o f E u rop ean Im peria li sm : Sketch fo r a T h e o r y o f C o llab o r a tio n , in: R o g e r O w e n und
B ob S u tcliffe (H rs g .), Studie s in the T h e o r y of I m p e ria lism (L o n d o n 1972) 117-142.
256
A lbe rt W irz
die Kolonisierenden ihr Tun zwar grundsätzlich mit Fortschritts" und Efhzienzargumenten zu rechtfertigen. Sich selbst sahen sie als von Gott auserwählte M o ­
dernisieret', die im Einklang mit den Gesetzen der Evolution oder doch der Welt­
geschichte handelten. Das schloß aber nicht aus, daß sie für das eigene Tun vor
Ort, namentlich an der kolonialen Peripherie, je länger desto mehr nach histori­
scher Legitimation suchten und der Bewahrung der Tradition steigende Bedeu­
tung beimaßeti. Daraus resultierte ein Staat, welcher durch einen strukturellen
Dualismus geprägt w ar und Stadt gegen Land setzte6. Macht blieb personenge­
bunden, das Recht ein Instrument, Gehorsam zu erzwingen.
A uch im wirtschaftlichen Bereich fürchteten die Kolonisierenden nichts mehr
als eine wirkliche, grundlegende Veränderung, weshalb denn beispielweise die
Deutschen in Ostafrika die Sklaverei weiterhin duldeten7. Es ging den Kolonisie­
renden nicht um Revolution, sondern um eine verschärfte Ressourcenabschöp­
fung, wobei die Selbstfinanzierung des Staates das Leitziel war. Gleichwohl schuf
der koloniale Staat völlig neue Gegebenheiten. Die vielleicht tiefgreifendste N eue­
rung w ar die Schaffung von völkerrechtlich abgesicherten Territorialstaaten mit
dem Anspruch auf ein staatliches Gewaltmonopol und klaren, festen Grenzen in
Gebieten, die vorkolonial durch unpräzise, sich stetig wandelnde Grenzen und
eine Vielzahl politischer O rdnungen mit höchst unterschiedlichen Graden der
Zentralisierung geprägt waren. Die zeitliche Tiefe dieser politischen Ordnungen
unterschied sich ebenfalls von Ort zu Ort. Selbst in festgefügten Staaten wie dem
Königreich Burundi war das Konzept des Territoriums weitgehend vage und
Herrschaft primär als Herrschaft über Menschen, d. h. Körper (und weniger als
Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet), definiert. Die politische Kontrolle des
Zentrums blieb denn auch auf wenige, nicht notwendigerweise kontingente Kern­
gebiete und Domänen beschränkt, während die Randregionen über mehr oder
minder große Selbständigkeit geboten8.
Dem setzten die Kolonisierenden ein Modell der politischen Organisation ent­
gegen, das durch den Raum und völkerrechtlich sanktionierte Grenzen bestimmt
wird. U nd eben darin liegt meines Erachtens die tiefere Problematik der kolonia­
len Grenzen: Sie trennten nicht nur an vielen Orten Menschen, die sich nahestan­
den; sie begründeten vor allem ein völlig neues politisches Organisationsprinzip.
Man kann in der Grenzziehung überdies eine Metapher für die koloniale D urch­
dringung als ganzes sehen, insofern die Durchsetzung des Territorialpnnzips
nicht nur mit einer Homogenisierung und Hierarchisierung des Raum s einher­
ging, sondern durch zahlreiche weitere Einfriedungen abgesichert wurde. Ins­
besondere die „Erfindung“ der Eingeborenen und der Stämme, von der noch zu
reden sein wird, und die Kodifizierung des Gewohnheitsrechts waren wichtige
Aspekte dieses kolonialen Einfriedungsprozesses.
6 M a h m o o d M am dani, C itiz e n and Subject. C o n t e m p o r a r y Africa and the L eg ac v of Late
C o lo n ia lis m ( L o n d o n 1996).
7 J a n - G e o r g D eu t sch , T h e ,Freeing‘ of Slaves in G erm a n East Africa. T h e Statistical R ecord
18 90-1914, in: Sfavery & A b o litio n 19/3 (1998).
8 T h om as Laely, A u to ritä t und Staat in B u ru n d i (B erlin 1995) Kap. 2.
Zu m P ro b lem des ko lo n ia len Staates im subsaharisehen A frik a
257
Nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings begann eine neue Zeit. Zum ersten Mal
in der Geschichte erlangten die afrikanischen Kolonien damals eine vo lksw irt­
schaftlich wichtige Stellung für die Metropolitanstaaten. Die hochgesteckten w irt­
schaftlichen Ziele konnten jedoch nur erreicht werden, wenn die Produktion und
die Kaufkraft der Kolonien radikal gesteigert wurde. Das verlangte nach Investi­
tionen und einer Modernisierung der Gesellschaft als ganzes. Der Staat selbst
übernahm dabei eine Leitfunktion. Er stellte Kapital für den Ausbau der Infra­
struktur bereit, unterstellte den Anbau und die Vermarktung agrarischer Export­
produkte seiner Kontrolle und übernahm auch soziale Aufgaben im Sinne des
modernen Wohlfahrtsstaates. Kurz, er wurde zu einer in alle Lebensbereiche ein­
greifenden, planenden und disziplinierenden Instanz, welche den direkten Zugriff
auf den einzelnen suchte. Die koloniale D urchdringung erhielt dadurch eine ganz
neue Qualität. M it gutem Recht spricht man deshalb von einer zweiten Besetzung
Afrikas in der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Die nötigen Fachkräfte für die angestrebte umfassende Modernisierung waren
nur vor O rt zu rekrutieren, weshalb nun auch mit dem Ausbau des Schulwesens
ernstgemacht wurde. In der Folge eröffneten sich den Angehörigen der städti­
schen Eliten, zumal den Männern, welche koloniale Schulen besucht, sich euro­
päisches Wissen angeeignet, bürgerliche Lebensmuster und Körperpraktiken
übernommen hatten, neue Perspektiven. Ihre Einbindung ins koloniale System
hatte jedoch, wie sich schnell zeigte, ihren Preis. Die städtischen Eliten verstanden
sich als Bürger und wollten nicht länger Eingeborene sein. Ihre Vertreter forder­
ten unmißverständlich politische Mitsprache. Bemerkenswert daran ist, wie strikt
sie sich an den Werten der europäischen M oderne und an den kolonialen Struktu­
ren orientierten. Das macht deutlich, daß die koloniale Herrschaft - sie mochte
von nur kurzer Dauer sein und noch so oberflächlich erscheinen - Neues mit blei­
bender W irkung geschaffen hatte. In diesem Sinne ist die Kolonisation, denke ich,
doch mehr als nur eine Episode im Strom der afrikanischen Geschichte, obschon
es mir wichtig erscheint, das koloniale Projekt vor dem Hintergrund der weit dar­
über hinausgreifenden afrikanischen Geschichte(n) zu sehen. Was auf ein weiteres
Problembündel hinweist: die Einebnung von vielen zur einen Geschichte als einer
Grundtendenz der Moderne.
Insgesamt schwenkten die Kolonisierenden nach dem Zweiten Weltkrieg auf
eine Herrschaftsallianz mit den zuvor von aller Macht ausgeschlossenen städti­
schen Eliten ein und begannen mit dem Aufbau parlamentarischer Institutionen.
Einzig Südafrika hielt bis in die siebziger Jahre an der kolonialen Fiktion fest, daß
Afrikaner nur auf Zeit in Städten wohnen und daß afrikanische Wertvorstellungen
unvereinbar seien mit einer Demokratie nach europäischem Zuschnitt. Überall
aber blieben die Verantwortlichen darauf bedacht, den Wandel weiterhin unter ih ­
rer Kontrolle zu halten. Ohne daß sie es merkten, verloren sie darüber jedoch bald
einmal die Initiative, denn die prominentesten Vertreter dieser städtischen Elite ich erinnere nur an Kwame N krum ah, N nam di A zikiw e und Felix H ouphouetB oigny - erwiesen sich als M änner mit Charism a und begnadete Taktiker, die es
verstanden, die Kolonisierenden mit deren eigenen Waffen zu schlagen. Schließ-
258
A lb e r t W ir z
lieh „stolperten“ die Europäer mehr oder weniger aus Afrika heraus. Doch die
Niederlage w ar zugleich ein Sieg. Denn immerhin erreichten die zuerst abziehen­
den H erren aus Europa in der Regel einen nicht-revolutionären Machttransfer,
der den Besitzstand wahrte und die M ärkte für die Zukunft offen hielt. W ider­
stand gegen den Wandel führte demgegenüber zur Radikalisierung der N ation al­
bewegungen. Doch die wenigen sozialistischen Experimente blieben ohne Be­
stand.
U m gekeh rt hatte der schnelle Erfolg der antikolonialen Nationalisten einen ho­
hen Preis, wie sich aus dem Nachhinein feststellen läßt: Niemand machte sich die
M ühe, Alternativen zu den metropolitanen Staatsmodellen zu suchen. London
und Paris w aren die Vorbilder, demokratische Nationalstaaten nach metropolitanem Zuschnitt das Ziel. A ber es fehlte der Wille, und es fehlte die Zeit, um aus den
autoritär verwalteten Kolonien funktionierende Demokratien zu machen. Zum
besseren Verständnis muß man sich vor Augen fuhren, daß Afrika mit der Kolo­
nialherrschaft zw ar unabänderlich in die internationale Völkergemeinschaft und
in den Weltm arkt eingebunden wurde. M an muß w eiter bedenken, daß die K olo­
nialherrschaft auch Enklaven modernen Wirtschaftens geschaffen hat, daß jedoch
die Verantwortlichen in den Kolonien aus Angst vor U nruhen und Rebellionen,
w o im m er es ging, Vorgefundene O rganisationsstrukturen vereinfachten und
dann zementierten. Denn nichts fürchteten die Kolonisierenden mehr als einen
schnellen Wandel. Insbesondere unternahmen sie lange Zeit nichts, was auch nur
von Ferne an eine nationale Integration im Rahm en der kolonialen Grenzen erin­
nert hätte. Vielm ehr setzten sie alles daran, den Wandel zu begrenzen und einzelne
Regionen voneinander abzuschotten. Jo h n Com aroff spricht in diesem Zusam ­
menhang von der U m w an d lu ng komplexer Landschaften in „ethnoscapes“ durch
die Kolonisierenden.
N icht alle A frikaner haben diese Kontinuität im Wandel als Mangel em pfun­
den, ganz im Gegenteil. Denn die auf B ewahrung zielende Strategie verhalf den
ländlichen Notabein, jedenfalls den im A m t bestätigten, trotz Verlust ihrer Sou­
veränität und trotz schwindender A utorität zu größerer Macht, als sie je zuvor
gehabt hatten. Sie w aren nun zw ar als weisungsgebundene Hilfskräfte eingebun­
den in eine fremde Hierarchie, doch sie konnten auf die Zwangsgewalt des kolo­
nialen Staates zurückgreifen. Alles in allem beförderte die koloniale Verwal­
tungspraxis die Flierarchisierung bei gleichzeitiger Festschreibung sozialer
G rundstrukturen. Feministinnen sprechen in diesem Zusammenhang sogar von
einer patriarchalen Allianz von Weiß und Schwarz. U n d es fehlt in der Tat nicht
an D okum enten, die offenlegen, wie die Praxis der kolonialen Herrschaft die
U nterordnung von Jungen und Frauen, A bhängigen eben, abzusichern suchte9.
Es sei hier nur daran erinnert, daß Frauen im kolonialen Recht den Status von
bleibend M inderjährigen erhielten. Sicher ist weiter, daß die Bauern (trotz
Steuern, Zwangsarbeit und M arkt) in weiten Teilen Afrikas relativ große A uto9 E. Schm idt, Patria re h y , C a p ita lis m , and the C o lo n ia l State in Z im b a b w e , in: Signs 16 (1991)
7 3 2-756 .
Z u m P ro blem des ko lo nialen Staates im sub sah arisch en A frik a
259
nomie dem Staat gegenüber bewahrten. Göran H yd en sprach deshalb von einer
„uncaptured p easantry“ 10.
Daß die in den späten vierziger Jahren beginnende Übernahm e europäischer
Vorbilder scheitern mußte, ahnten zwar viele, und einige kritische Zeitgenossen
sagten es auch. Doch weil sie es aus einem arroganten, ethnozentrischen Pater­
nalismus heraus taten, disqualifizierten sie sich von vorneherein. Beispielhaft für
die Art, wie die Sorgen in der Zeit artikuliert wurden, sind die Gedanken, die ein
britischer Beamter in Nordnigeria 1946 seinem Tagebuch anvertraute: „We are
q uickly letting the country be upset by the noisy Lagos semi-literate element who
run newspapers for their own personal advantage.“ U nd weiter schrieb er: „The
exasperating thing is that we have such clear-cut, obvious examples of what is
going to happen in w hat is happening in Palestine, India etc. When will we stop
trying to apply Whitehall conditions to peoples w ho are several hundred years
younger (...) It is quite unfair to all concerned.“ 11
Der prägende Charakter dieser D enkfigur („several hundred years yo u n g e r“)
braucht nicht besonders betont zu werden. Sie kehrt in den Schriften der Euro­
päer im mer und immer wieder, seit das Fortschrittsdenken kulturelle Differenzen
als Distanz auf einer einheitlichen Zeitskala imaginiert. Tragisch ist, daß auch ein­
zelne Afrikaner diese Denkfigur übernommen haben, um sie auf ihre Nachbarn
oder die Bauern als soziale Gruppe anzuwenden. Wer aber sagt, daß andere m eh­
rere hundert Jahre jünger seien, der macht aus Zeitgenossen ewige Kinder und
Fremde und sperrt sie aus der gemeinsamen Geschichte aus.
U nd so w urd e denn in der Phase der Dekolonisation dem Gerüst des autoritä­
ren kolonialen Verwaltungsstaats, der ein heterogenes Gebilde in einer vielfach
zerklüfteten historischen Landschaft geblieben war, ein demokratischer Mantel
mit allgemeinem Wahlrecht, Mehrparteiensystem und Gewaltenteilung übergezo­
gen, noch ehe jene selbstbewußte Zivilgesellschaft hatte entstehen können, welche
in Europa als treibende Kraft hinter der D em okratisierung gestanden hatte. Damit
w urde ein politisches System eingerichtet, das auf der periodischen Mobilisierung
möglichst breiter Kreise im Wahlkampf beruht. Afrikanische Politiker haben
schnell erkannt, daß es sich hierbei um eine symbolische Form des Krieges han­
delt, sozusagen eine Fortführung des Nachbarschaftsstreits mit anderen Mitteln.
Das Volk hatte zu Verfassungsfragen im übrigen praktisch nichts zu sagen, denn
die entsprechenden Lösungen wurden in Verhandlungen mit der schmalen Elite
der w ortgewaltigen Nationalisten gesucht.
Nicht daß diese M änner nicht gewußt hätten, was ihre W ähler wollten; nicht
daß sie gegen den Willen des Volkes gehandelt hätten; nicht daß sie nicht um die
Gefahr partieller Lösungen gewußt hätten. D och sie wurden, denke ich, ihrerseits
Opfer des schnellen Erfolgs. Geblendet durch die Machtfrage - das „politische
10 Göran H y d en , B e y o n d U ja m a a in Tanzania. U n d e r d e v e lo p m e n t and the U n ca p tu red
P e asan try (L o n d o n 1980).
11 R ob ert P ea rce (H rs g .), T h e n the W in d C h a n g e d . N ig e r ia n Letters of R o b ert H e p h b u r n
W rig ht, 1936-19 49 ( L o n d o n 1992) 103.
260
A lbe rt W irz
Königreich“, wie Kwarne N krum ah das nannte - und verführt durch den kurzen
konjunkturellen Höhenflug in der Zeit des Koreakriegs, sahen sie darüber hin­
weg, daß die ererbte koloniale Wirtschaftsstruktur ihnen kaum Handlungsspiel­
räume ließ. Daß sie messianische Freiheitshoffnungen geweckt und H äuser ohne
Fundament geerbt hatten. Als problematisch mußte sich schließlich erweisen, daß
die nachrückenden Politiker ihre Legitimation an den meisten Orten aus ihren en­
gen Beziehungen zu den abziehenden Kolonialherren zogen. Basil Davidson
meint denn auch, daß den kolonial begründeten Staaten vor allem das gemeinsame
moralische Band fehle, das in vorkolonialer Zeit Herrschende und Beherrschte
über alle Interessengegensätze hinweg vereinigt h abe12. Das tönt etwas roman­
tisch. Unbestreitbar ist jedoch, daß der moderne Staat etwas Fremdes oder doch
Äußerliches geblieben ist, ähnlich einem wilden Tier, das man jagen und dessen
Fleisch man dann verzehren kann. Unbestreitbar ist zudem, daß die pluralistische
D emokratie in keinem der Staaten A frikas lange Zeit überlebt hat. Und die B üro ­
kratie, das Rückgrat jeder rationalen Herrschaft, hat die für ihr Funktionieren
unabdingbare Unabhängigkeit schnell verloren. Ähnliches gilt für die Gerichte.
Angesichts der großen Lücke zwischen Wollen und Können ist es wohl nicht er­
staunlich, daß die Verantwortlichen vielerorten ihr Fleil in autoritären Lösungen
suchten, und z w ar gerade aus Schwäche.
Dieser politische Zerfall ist unterschiedlich interpretiert worden. M odernisie­
rungstheoretiker führten ihn auf die Schwäche der neuen Institutionen und die
Rückständigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zurück, insbesondere auf
den Mangel an nationaler Einheit. Ihr Rezept hieß: Nation Building bzw. M o b i­
lisierung der Volksmassen in der marxistischen Version. Das eine wie das andere
implizierte autoritäre Lösungen und beförderte die H erausbildung von D ikta­
turen.
Dependenztheoretiker hingegen machten die wirtschaftliche Abhängigkeit von
den Metropolitanstaaten verantwortlich und den Eigennutz der herrschenden
Kreise, wobei unklar blieb, wie man diese bezeichnen soll, als Kompradoren, Staats­
klasse oder Angehörige einer im Entstehen begriffenen Nationalbourgeoisie, und
ob es überhaupt angezeigt sei, von Klassen zu sprechen angesichts der unübersicht­
lichen sozialen Verhältnisse. Inzwischen steht man auch diesen Erklärungsansätzen
w ieder eher skeptisch gegenüber, weil sie, in der Tradition kolonialer Sichtweisen,
den Afrikanern jede Handlungsautonomie absprechen und trennen, was zusam ­
mengehört. Vor allem hat man erkannt, daß sich zwar überall große Wohlstands­
gefälle herausgebildet haben, daß jedoch ein enges N etz von Klientelbeziehungen
bislang noch jeder Klassenbildung die Spitze zu brechen vermochte.
Dennoch, bei aller Kritik im einzelnen sollten die großen Verdienste der De­
pendenztheoretiker nicht vergessen werden. Sie, und allen voran Immanuel Wal­
lerstein, haben die Diskussion über die N öte der Gegenwart aus der ahistorischen
Kurzatmigkeit der strukturfunktionalistischen Soziologie herausgeführt. U nd
durch ihr A ugenm erk für die lo n g u e d u r é e , Fernand Braudels Phänomene langer
12 Davidson, B la ck M a n ’s Burden 291, 297.
Z u m P ro blem des ko lo niale n Staates im sub sah aris ch en A frik a
26!
Dauer, haben sie beigetragen zu einer Wiederentdeckung der Geschichte als p rä­
gender Kraft und als ein Generationen übergreifendes Geschehen voller W ider­
sprüche. Die viel beklagte U nterentwicklung ist nicht Ausgangspunkt, sondern
Folge der abhängigen Eingliederung ins kapitalistische Weltsystem. Und die K o­
lonialperiode, die sowohl von den Kolonisierenden selbst wie von den antikolo­
nialen Nationalisten als säkularer Bruch verstanden wurde, schrumpft in dieser
Perspektive zu einer Episode in einem viel weitergreifenden Prozeß, der im langen
16. Jahrhundert begann und heute noch nicht abgeschlossen ist13. Aus dem Staat
wird in dieser Interpretation ein Instrument in den Händen dominierender W irt­
schaftsinteressen bzw. ein Epiphänomen in der Entwicklung der Produktivkräfte.
Allerdings postuliert die Dependenztheorie, nicht anders als die M odernisie­
rungstheorie und ganz allgemein das in der A ufklärung verwurzelte Fortschritts­
denken, eine teleologische Einheit allen menschlichen Strebens ungeacht kulturel­
ler Unterschiede im einzelnen.
Der p o i n t o f n o r e tu r n ist diesem A rgum ent zufolge bereits mit dem transatlan­
tischen Sklavenhandel erreicht worden. Ohne ihn hätte auch Afrika den Schritt in
die M oderne getan, ohne ihn wäre auch Afrika den Weg Europas gegangen, der
über eine Phase des Handelskapitalismus zur Industriegesellschaft und bürgerli­
chen D emokratie geführt hat. So jedenfalls die kontrafaktische Argumentation
des nigerianischen Historikers Joseph Inikori14, Demgegenüber meine ich, daß es
gerade für einen Historiker/eine H istorikerin unabdingbar ist, für die M öglichkeit
alternativer kultureller Wertsetzungen und damit anderer historischer Entw ick­
lungen offen zu bleiben. Sonst wird aus Geschichte unweigerlich N atu rge­
schichte. U nd der Begriff der Freiheit verliert jeden Sinn. Im übrigen ist unver­
kennbar, daß gerade jene Staaten, die wie das Königreich Asante und die kleinen
Handelsstaaten im Nigerdelta aufs engste in den Menschenhandel verwickelt w a ­
ren, mit zu jenen Ländern gehören, in denen die Bürokratisierung der Herrschaf t
sowie die Arbeitsteilung - zwei wesentliche Aspekte der M oderne - am weitesten
gediehen, ganz zu schweigen vom Sultanat Sansibar, dem Dreh- und Angelpunkt
des ostafrikanischen Sklavenhandels im 19. Jahrhundert.
Wie widersprüchlich historische Entwicklungen interpretiert werden, zeigt sich
sodann in besonderer Schärfe in der A useinandersetzung um ein Kernproblem
afrikanischer Gegenwartsgesellschaften, ich meine das Entstehen und die B edeu­
tung des Tribalismus oder wie w ir uns zu sagen angewöhnt haben: der Ethnizität,
13 Vgl. I. Wallerstein, A u fstie g und kü nftiger N ie d e r g a n g des kapitalistischen W eltsy stem s,
in: D. S en gh aas (H rs g .), Kapitalistische W e ltö k o n o m ie. K ontroversen üb er ihren U r s p r u n g
un d ihre E n t w ic k lu n g s d y n a m ik ( F ra n k fu rt a .M . 1979) 31 -67.
14 Joseph E. Inikori, F o rced M ig ra tio n . T h e Im pact of the E xp ort Slave Trade on A fric an
Societies (L o n d o n 1982) Einleitung.
262
A lb e rt W ir z
welche unauflösbar verknüpft ist mit Vorstellungen, welche die Gesellschaft als
Organism us und den Staat als Körper perzipieren.
Einst galt der Stamm als Inbegriff afrikanischer Sozialordnungen. Der Stamm
mit einem H äuptling an der Spitze ist die normale politische Einheit, behauptete
noch 1952 Diedrich Westermann, der von 1925 bis nach dem Zweiten Weltkrieg
an der Berliner Universität über A frika gelehrt und bis 1939 das International
African Institute in London geleitet hatte15. Westermann brachte mit seiner A u s­
sage das koloniale europäische Denken über das alte Afrika auf den Punkt. U nd
weil der Stamm im evolutionistischen Denken, auf dem die Anthropologen der
Zeit ihre Interpretationen aufbauten, eine Vorform staatlicher Organisation b e­
zeichnet, w urde der Begriff geradezu zu einem Syn o n ym für die behauptete
R ückständigkeit Afrikas. Zudem bezeichnet er eine subnationale Einheit. Kein
W under also, daß zeitgenössische afrikanische Politiker das Stammesdenken nor­
mativ ablehnen und rituell die Ü berw indung des Tribalismus fordern. Das hindert
sie freilich nicht, ihrerseits, wenn nötig, an Stammesgefühle zu appellieren bzw'.
ethnische Solidarität für die eigenen Ziele zu instrumentalisieren.
Die Wissenschaft hat ähnlich widersprüchlich reagiert. Die einen waren üb er­
zeugt, daß das Stammesdenken eine Sache der Vergangenheit sei, weil die G egen­
wart von Klassenbeziehungen bestimmt werde. Wer sich trotzdem in den siebzi­
ger Jahren für die Bedeutung des Stammesdenkens im kolonialen Staatsbildungsprozeß interessierte, mußte damit rechnen, daß man ihm wie den afrikanischen
Bauern „falsches B ew ußtsein“ unterstellte. Andere waren sich gewiß, daß das
Stammesdenken im Zuge der M odernisierung dahinsterben werde. Beiden D en k­
richtungen eigentümlich ist, daß sie Tradition und M oderne dichotomisch gegen­
einander setzen, wobei Tradition mit rückwärtsgew andter Starre und G em ein­
schaftsdenken gleichgesetzt wird, M odernität jedoch mit zukunftsgerichtetem
Wandel, mit Rationalität und Individualität, w ie das M ax Weber vorgedacht hat.
Aber bei genauerem Hinschauen erweisen sich auch diese Denkfiguren als eine
neuerliche Spiegelung des guten alten Eurozentrismus, der die europäische Ent­
wicklung als M aß für die Welt ausgibt.
Als die M odernisierungstheoretiker im übrigen sahen, daß das ethnische D en­
ken bevorzugt in den Städten eine H eim at findet, begannen sie, ländliches Stam ­
mesdenken von städtischer Ethnizität zu trennen. Was durchaus Sinn macht, aber
Stadt und Land als Dichotomie, statt als Polaritäten in einem Kontinuum faßt.
Durch die H intertür des Alltagsdiskurses fanden die alten Denkmuster ohnehin
schnell wieder zurück, vor allem im deutschen Sprachgebiet, w o aus dem Afrika
der Stämme nun halt ein Afrika der Ethnien geworden ist, damit alle Bemühungen
um Differenzierung einebnend und das koloniale Weltbild perpetuierend.
Eines allerdings hat sich tiefgreifend gewandelt: Die Geschichte des Stammes­
denkens selbst ist in den letzten Jahren zu einem bevorzugten Untersuchungsge­
genstand von H istorikern und A nthropologen geworden. Die Gründe dafür sind
15 D ied rich W esterm ann, G eschic hte A frik as. S ta ate n b ild u n g en südlich der Sahara (Köln
1952).
Z u m P r o b le m des ko lo niale n Staates im sub sah arisch en A frik a
263
wohl weniger in Afrika als in Europa und in den U SA zu suchen. Entscheidend
waren für diese Entwicklung meines Erachtens zwei Dinge: zum einen der Schiff­
bruch, den die Schmelztiegelideologie in A m erika erlitt, zum ändern das, was man
als Retribalisierung Europas bezeichnen kann, insofern der europäische, vor allem
aber auch der deutsche Einigungsprozeß und der Zusammenbruch des sowjeti­
schen Imperiums nationalen Identitätsfragen in den Metropolitanstaaten zu neuer
Aktualität verholten haben. Und was für Europa wichtig ist, wird es wohl auch
für Afrika sein. Jedenfalls ist der Identitätsbegriff seither zu einem Sesam-öffnedich für Forschungsgelder geworden.
Und es kam noch etwas weiteres hinzu: Es w ar kund geworden, daß die soge­
nannten Stämme, welche in der Nachkriegszeit als historische Subjekte hervortra­
ten und seither die afrikanische Politik mitprägen, weniger Überbleibsel des alten
A frika als das Resultat kolonialer D urchdringung oder der Modernisierung sind,
bewußt gestaltet und zielgerichtet konstruiert. Der große Oxforder H istoriker
Terence R anger hat dafür den einprägsamen Begriff der „invention of tradition“,
des Erfindens von Tradition, geschöpft. Der geradezu phänomenale Erfolg des
Begriffs hat ihn aber so erschreckt, daß er inzwischen bereits w ieder davon abge­
rückt ist. Er spricht nun lieber von Imagination als von Erfindung16. Doch ich
denke, w ir dürfen ruhig an der ursprünglichen Begrifflichkeit festhalten, solange
wir uns bewußt bleiben, daß es sich nicht um Schöpfungen ex nihilo handelt welche Erfindung entsteht schon aus dem N ichts? Alle bauen sie auf Bestehendem
a u f - , und so lange wir nicht vergessen, daß nicht nur die Kolonisierenden die Ko­
lonisierten manipulierten, sondern auch die Kolonisierten ihre Herren, daß dem ­
nach der Prozeß der Erfindung ein komplexes Wechselspiel interessierter Parteien
bezeichnet. Beteiligt sind daran außer Missionaren, Anthropologen und Kolonial­
beamten in erster Linie die einheimischen Konkurrenten um A m t und W ürden im
kolonialen Staat, die Angehörigen regierender Familien und die großen Abw esen­
den in den meisten Q uellen der Zeit, die Dolmetscher und Soldaten, welche z w i­
schen Herrschaft und Untertanen vermittelten, nicht zu vergessen die Lehrer, die
Evangelisten und Pfarrer, welche in Schulen und Kirchen neue sprachliche Gren­
zen zogen bzw. die Sprache zum wichtigsten identitätsstiftenden Faktor machten,
nicht unähnlich dem Bildungsbürgertum in der europäischen Neuzeit. H ier wird
die gestaltende Kraft der Kolonisierten besonders deutlich.
Es w ird aber auch deutlich, daß Stämme, w ie immer man sie im einzelnen defi­
niert, sowohl Instrumente im Kampf um die Verteilung von Ressourcen in einem
übergeordneten Staatswesen sein können wie auch Orte des Rückzugs, wenn der
Staat seine Schutzfunktion nicht mehr wahrnim m t. So glaubt der nigerianische
16 T erence R anger, T h e Inventio n of T radition in C o lo n ia l A fric a, in: Eric H o b sb a w m ,
T erence R a n g e r (H rs g .), T h e Inventio n of T radition ( C a m b r id g e 1983) 2 1 1 - 2 6 2 und ders,,
T h e Inventio n o f T radition Revisited: T h e C a s e o f C o lo n ia l A fric a, in: T erence R a n ger,
O lu fe m i Vaughan (H rsg.), L e g it im a c y and the State in T w e n t ie th - C e n t u r y A frica ( L o n d o n
1993) 6 2 -1 1 1 ; einen h ervo rra ge n d e n Ü b e r b lic k ü b e r d ie n e u e re D eb a tte gibt Carola Lentz,
„ Tribalism us“ u n d E th nizität in A fr ik a - ein F o r s ch u n g s ü b er b lic k , in: L evia than 23 (1995)
264
Alb ert W ir z
H istoriker Peter Ekeh nachweisen zu können, daß bereits im 18. und 19. Jah rh un ­
dert ein direkter W irkungszusam m enhang zwischen Sklavenraub und Stammes­
bildung bestand. O der anders gewendet: N u r dort sei es zur Herausbildung star­
ker Staaten und zum Abbau verwandtschaftlicher Bindungen gekommen, schreibt
er, wo der Sklavenhandel keine zentrale Bedeutung erlangt habe17. So w ürde denn
die Ethnizität eine Form des Ausstiegs bzw. eines lokalen Triumphs über staat­
liches Scheitern bezeichnen.
In W irklichkeit läßt sich aber für die Zeit vor der Kolonisation nur nachweisen,
daß Staatsbildung und wachsende innere Sicherheit in Afrika wie anderswo auch
mit Krieg nach außen erkauft wurden. Doch so oder so: Im Lauf der Jahre reifte
unter Forschern das Bewußtsein, daß Tribalismus und Ethnizität in erster Linie
eine moralische Ö konom ie bezeichnen, daß sie eine moralische O rdnung um rei­
ßen, welche Gemeinschaft etabliert, indem sie Rechte und Pflichten zuweist, Ehre
definiert, Gutes von Bösem trennt und Konsens beschw ört18.
In eben diesem Zusammenhang sind, so denke ich, auch die zahlreichen Versu­
che afrikanischer Politiker, von Kwame N krum ah bis zu Julius Nyerere, zu sehen,
im Rückgriff auf die vorkoloniale Geschichte eine spezifische Form afrikanischer
Demokratie ohne Parteienstreit zu definieren. Im Bild vom Ältestenrat unter dem
Palaverbaum, wo geredet wird, bis alle zu einer gemeinsamen M einung gefunden
haben, hat dieses Projekt ein gültiges Sym bol gefunden. Kein Zweifel, dabei han­
delt es sich um eine reine Mystifikation. Zumindest fällt auf, daß in all diesen Ent­
würfen komplexe soziale Hierarchien eingeebnet und alle machtbeschränkenden
Institutionen, überhaupt die Vielzahl konkurrierender Institutionen, welche vorkoloniale afrikanische politische Systeme nun einmal kennzeichnen, ausgeklam ­
mert werden, ob es sich nun um Bünde, Altersklassen, Amterdoppelung oder das
Nebeneinander von politischer Führung und Erdherr handelt. Ganz zu schwei­
gen von der Rolle der Gewalt bei der Konfliktaustragung, die völlig verschwiegen
wird, obschon sie überall im alten Afrika eine wichtige Rolle spielte.
Da sind historische Erzählungen wie etwa das großartige Sundjata-Epos, w e l­
ches die Geschichte der G ründung des M ali-Reichs erzählt und eine eigentliche
Sozialcharta entwirft, weitaus realitätsnäher. Sie wissen um die Bedeutung von
Intrigen und Verrat und allgemein um die Funktion extralegaler Mittel in der
Politik. Sie zögern nicht, gerade dem Reichsgründer eine ambivalente Position
zwischen Recht und Macht, zwischen Lebenden und Ahnen, Vernunft und o k ­
kulten Kräften zuzuw eisen 19. Im Vergleich dazu w irken die zuvor genannten
Modelle einer spezifisch afrikanischen Konsensdemokratie wie Sonntagsschulgeschichten. Aber genau da liegt, w ie bereits erwähnt, auch ihre Funktion: Sie
appellieren an eine moralische Ö konomie, die darum weiß, daß der Gewinn der
17 P e te r Ekeh, C o lo n ia lis m and t h e T w o P ublic s in A fric a: A T h eo retical Statement, in: C o m parative Studie s in S o c ie ty and H is t o r y 17 (1975) 91 -112.
18 Vgl. in sbeso nd ere B ru ce B e r m a n ,J o h n Lonsdale, U n h a p p y Valley. C o n flic t in K e n y a and
Africa, Bd. 2 ( L o n d o n 1992).
19 D jibril Tamsir Niane, So u n d ja ta (L e ip z ig 1987).
Z u m P ro blem des ko lo nialen Staates im sub sah arisch en A frik a
265
einen stets mit einem Verlust für andere erkauft wird. U nd daraus beziehen sie
auch ihre Kraft.
Die Kolonisierenden ihrerseits lernten die Stämme, oder was sie dafür hielten,
als eine harmonische Welt gemeinschaftlicher Werte schätzen, wobei sie, gefangen
in ihrem Fortschrittsdiskurs, welcher Afrika als eine verkehrte Welt und als das
radikal Andere definierte, nur zu gerne bereit waren, die Stämme als eine natür­
liche, organische Einheit zu verstehen und Verwandtschaft und Politik gleichzu­
setzen. Erleichtert w urde dieses Mißverständnis durch die politische Sprache im
ländlichen Afrika selbst, insofern Herrschaft da praktisch überall in verwandt­
schaftlichen Begriffen gefaßt und mit einem Verwandtschaftsdiskurs legitimiert
wurde, einem Diskurs, bei dem der Körper selbst ein wichtiger Bedeutungsträger
war. Am deutlichsten trat das dort zutage, w o der Körper des Königs als Metonym für den Staat interpretiert wurde. Es w ird aber auch faßbar in der zentralen
Bedeutung von Begriffen wie „Vater“, „Ältester“ und „Kind“ für den Bereich der
Politik in w eniger zentralisierten Gesellschaften sowie im Einsatz von H eilungs­
ritualen für die Konfliktregelung.
All das paßte zum europäischen Bild vom Afrikaner als einem rein körperhaf­
ten Wesen oder Eingeborenen, d.h. einem in zeitlosen Traditionen gefangenen
Menschen ohne Selbstbewußtsein, ohne individuellen Willen und ohne individu­
elle Rechte, Inbegriff des Antimodernen. Zudem erleichterte es die Sonderbe­
handlung der Afrikaner als Untertanen und Bürger zweiter Klasse und ihren A us­
schluß von den Segnungen des bürgerlichen Rechts. Jedenfalls wurden für die
Eingeborenen eigene Gesetze geschaffen, wobei die Rasse bzw. der Körper zum
wichtigsten Kriterium für die rechtliche Zuordnung der einzelnen Menschen er­
hoben wurde. So bewahrte denn der Körper seine politische Funktion. Während
jedoch in afrikanischen politischen Systemen der Körper als veränderbar w ah r­
genommen wurde, betonte der koloniale Diskurs Stasis und Grenze. Nach dem
Zweiten Weltkrieg w urde im Zuge der Dekolonisation der Untertanenstatus zwar
aufgehoben, nicht aber das Nebeneinander von bürgerlichem Recht und Ge­
wohnheitsrecht.
A uf die zentrale Bedeutung von Körperdiskursen im Rahmen des Aufbaus der
nachkolonialen Staaten hat insbesondere der französische Politikwissenschaftler
Jean-Fran^ois B ayart hingewiesen, der 1989 die wohl einflußreichste N euinter­
pretation des nachkolonialen Staates vorgelegt hat. Sie bezeichnet nicht weniger
als einen Paradigmenwechsel. In offenem Gegensatz zur klassischen (französi­
schen) Politikwissenschaft wendet sich Bayart völlig von der Analyse der kolonial
geschaffenen staatlichen Institutionen ab. Seiner M einung nach sind das nur leere
Hülsen. Stattdessen fragt er nach der sozialen Praxis der Herrschaft - das, was
Michel Foucault, auf den er sich immer wieder beruft, als „gouvernementalite“
bezeichnet hat. Erstmals gilt das Hauptaugenm erk nun den kulturellen H altun ­
gen, mit denen die Menschen ihre Erfahrungen ordnen, und den Alltagsdiskursen,
in denen Vorstellungen über politische Legitimität kom m uniziert werden. Statt
der großen Gesten werden die M ikropraktiken der Beherrschung ins Auge gefaßt,
jene vielfältigen sozialen Handlungsweisen, welche Herrschaft in den Körper ein-
266
A lb e rt W ir z
schreiben und so ganz spezifische Lebensformen hervorbringen. Entsprechend
dem komplexen Machtbegriff von Foucault werden Herren und Untertanen in
einer dialektischen Interaktion gesehen, in komplizenhafter Verstrickung. D ar­
über hinaus erklärt Bayart, daß man die Geschehnisse in der Postkolonie nur
verstehen könne, wenn man nach den historischen W urzeln in der vorkolonialen
Vergangenheit suche20. A uch für ihn verliert die koloniale Penetration mithin ihre
vermeintliche Sonderstellung. Insgesamt verlangt Bayarts Ansatz Offenheit für
die lokalen Stimmen. U nd damit gewinnen die Fragen der Übersetzung neues G e­
wicht.
Das läßt sich an Bayarts zentralem A rgum ent verdeutlichen. Er kommt nämlich
zur Einsicht, daß in der afrikanischen G egenwartspolitik eine besondere Vorstel­
lung des Politischen am Werk sei. Er nennt das „la politique du ventre“, die Politik
des Bauchs. Bayart w ill damit zum A usruck bringen, daß Macht in afrikanischen
Gesellschaften mehr mit Konsum als mit Veränderung zu tun habe. Macht, erklärt
er, bezeichne in afrikanischen Gesellschaften in erster Linie die Fähigkeit zu ko n ­
sumieren. W ie kom m t er darauf? Ganz einfach, in vielen afrikanischen Sprachen
werden für das Reden über die Politik Begriffe des Essens eingesetzt. Wer eine Po­
sition erklom m en hat, der kann essen. „On lui a donné la bouffe“, heißt es etwa in
Kamerun, und wenn er sie wieder verliert, sagt man: „On lui a enlevé la bouffe." Man
hat ihm die N ahrung genommen. In Zaire heißt es: „Le pouvoir se mange entier.“
Macht ißt sich ganz, sie ist unteilbar. U nd in Nigeria trat eine Partei auf, die nannte
sich kurz und bündig: I Chop, You Chop Party. Die H ab ’-ich-zu-essen-dann-hastauch-Du-zu-essen-Partei. Im weiteren sei daran erinnert, daß afrikanische Hexen,
ob Mann oder Frau tut nichts zur Sache, ihre Opfer vorzugsweise „essen“.
Diese D enkfiguren sind nicht neu. Kulturelle H altungen - w ir wissen es alle sind zw ar keineswegs unveränderbar, aber sie wandeln sich langsamer als die Po­
litik. Sie gehören eindeutig zu den Phänomenen langer Dauer. Einer der ersten,
der Zeugnisse zu dieser Essensmetaphorik gesammelt hat, ist im übrigen der Bas­
ler M issionar Johannes Ittmann, der vor und nach dem Ersten Weltkrieg in Südwestkamerun arbeitete21. Noch weiter zurück weisen die Lebenserinnerungen
von Olaudah Equiano, der 1762 in der N ähe der heutigen nigerianischen H afen­
stadt Port Harcourt als Sklave an Bord eines englischen Handelsschiffes gebracht
wurde. Als ihn dort langhaarige Weiße mit roten Gesichtern brutal empfingen,
fürchtete er, w ie er in seinen Lebenserinnerungen schreibt, in eine Welt böser Gei­
ster gekommen und Kannibalen in die Flände gefallen zu sein. Die Grenze z w i­
schen Realität und Imagination verwischt sich. Seine Todesangst umschreibt er
mit der Furcht, verspeist zu werden22. Kein Zweifel, auch er verknüpft M acht und
Essen. Macht über andere setzt er gleich mit der Fähigkeit, sie zu essen oder zu
vernichten.
20 Jea n -F ra n çois B ayart, T h e State in A fric a. T h e Politics of the B e lly ( L o n d o n 1993).
21 J o h a n n e s Ittm an n, V o lk s k u n d lich e u n d religiöse Begrif fe im nördlich en W a ld la n d von
K am eru n (Berlin 1953).
22 O lau dah Equiano, E q u ia n o ’s Travel, his A u t o b io g r a p h y , the Interestin g N a rra tiv e of the
Lif e of O lau d a h E quiano , hrsg. v. P. E dwards (L o n d o n 1976) 16.
Z u m P ro b le m des ko lo niale n Staates im sub sah arisch en A frik a
267
Ganz ähnlich w ird der Souverän, der Macht über Leben und Tod hat und in be­
sonders enger Beziehung zu okkulten Kräften gesehen wird, über seinen Körper
diskursiv konstruiert. U nd weil der Souverän die Gesellschaft verkörpert, ist es
nur logisch, daß ihm auch ein größeres M aß an Eissen zugebilligt wird als den ge­
wöhnlichen Mitgliedern der Gesellschaft. U m gekehrt unterliegt sein Essen aber
auch ganz spezifischen Taburegelungen, denn je höher die Position eines einzel­
nen, desto reiner muß sein Körper sein, zumindest in der Öffentlichkeit23. Das
Reden über das Essen und den Körper ist folglich immer auch ein Reden über die
Verteilung der Macht in der Gesellschaft und die Legitimität oder Illegitimität der
Herrschaft. Dieser Diskurs gewinnt umso größere Bedeutung, als man es in
Afrika vornehmlich mit autoritären Systemen zu tun hat, welche die freie M ei­
nungsäußerung stark einschränken. Da blüht nicht nur die „witchcraft“, die H e ­
xerei, sondern, wie Mahm adou D iawara kürzlich auf brillante Weise demonstriert
hat, auch das, was er mit einem sinnfälligen Neologismus „witcraft“ nennt, die Fä­
higkeit, in preisender Rede Kritik an den Mächtigen zu formulieren, den Herren
auf der Nase herumzutanzen, sie in ihre Schranken zu weisen und damit, wenn
nicht die Freiheit, so doch Freiheiten zu gewinnen24.
Eines sollte man dabei nicht vergessen: Essen, Körper und Macht ergänzen sich
nicht nur in afrikanischen Kulturen zu einem symbolischen System. Ähnliches
gilt für europäische und gewiß auch für andere Gesellschaften in Vergangenheit
und Gegenwart. Auch in unserer Sprache gibt es zahllose Ausdrücke, die Macht
und Essen zusammenbringen. M ehr noch: Das Reden übers Essen unterscheidet
sich nur in der M etaphorik von anderen D iskursen über das, was Recht ist und
das, was Unrecht. Warum das Bayart entgangen ist? Ich weiß es nicht. Wahr­
scheinlich w ar er von der bildhaften A usdrucksweise der kleinen Leute in Afrika
so fasziniert, daß er eine Ü bersetzung in akademische Sprache als A uthentizitäts­
verlust empfinden mußte. Die Folge ist eindeutig: Einmal mehr werden die A fri­
kaner exotisiert. Daß keine böse Absicht dahinter steckt, ist anzunehmen. Von
Bayarts Interpretation ausgehend, möchte ich in Erinnerung rufen, daß in der
europäischen Kulturgeschichte den Unterschichten schon immer besondere Körperhaftigkeit angedichtet worden ist. Man denke nur an die Diskussionen über die
„Magenfrage“ und allgemein an die Perzeption der Arbeiter - aber auch der
Frauen - um die Jahrhundertwende. Waren sie, weil körperhaft wahrgenommen,
deshalb in ihrem politischen Verständnis konsumorientierter als die Bürger? Weg­
weisend scheint m ir hier die Erkennntis, daß der Körper ein vorzügliches Instru­
ment zum Denken ist und eine Folie abgibt, auf der Herrschaft eingeschrieben
und dann wieder abgelesen werden kann.
Einen guten Einstieg in afrikanische Realitäten bietet stets auch die Fiktion.
Zum Them a von Körper und Herrschaft gibt es vielleicht keinen besseren, sicher
keinen unterhaltsameren Führer als den 1990 in Paris veröffentlichten Roman des
23 M ary D ouglas, N a tu r a l S ym b o ls . E x plo rations in C o s m o l o g y ( N e w Y o rk 1982) Kap. 5.
24 M a h m a d o u D iawara, Le griot m and e a l’ heurc de la glob alisatio n , in: C a h ie rs d ’Etudes
Afrie ain es 36/4 (1996) 59 1-612 .
268
A lb e r t W ir z
an der Elfenbeinküste geborenen, in Togo lebenden Schriftstellers Ahm adou
Kourouma „Monne, outrages et défi“. In diesem M eisterwerk rabelesker Erzähl­
kunst entfaltet Ahm adou Kourouma die Geschichte Sobas und seines Herrschers
Djigui. Djigui Keita, König von Soba, der Intelligenteste aller Malinke, ein M ann
geformt aus gutem, gesegnetem Ton, ein Frühaufsteher zudem, der weiter sieht als
andere, offen und mildtätig ist, wenn es ihm paßt, ein weiser Tor.
Die Geschichte reicht von Djiguis Machtantritt bis zu seinem Tod, von der
Eroberung Sobas durch französische Kolonialtruppen um die Jahrhundertwende
bis in die späten fünfziger Jahre, als das Land auf die U nabhängigkeit zuging.
Kouroumas Roman ist zum Teil Heldenepos, zum Teil Schelmenroman. Vor allem
aber ist der Roman eine Parabel über M acht und Machtlosigkeit, poetische
Beschwörung anarchischer Widerständigkeit und zugleich beißende Satire staat­
licher M achtanmaßung, ein abgründiges Spiel um Schein und Wirklichkeit. Ge­
schichte als Fiktion, Fiktion als Blick hinter die Fassaden der politischen Ereig­
nisse, hinein ins Labyrinth der Mentalitäten.
Politik wird von Kourouma dargestellt als ein Maskenspiel der Macht, mit
wechselnden Rollen, aber festem Skript: w o die Sieger verlieren und die Verlierer
trotzdem nicht gewinnen. Der Staat ist ein Ensemble von Mißverständnissen. Die
Protagonisten, Männer allesamt, ringen um Einfluß, Ehre und Macht, um Freihei­
ten, Vorrang und neue Möglichkeiten. Eigennutz und Emanzipation erweisen sich
als Geschwister. Neues tritt neben Altes, und beides wandelt sich dabei. Kompli­
ziert wird die Sache dadurch, daß mit der Kolonialherrschaft neue Herren und mit
ihnen neue Ideen ins Land kommen. Vieles von dem, was sie wollen, bleibt aller­
dings unverständlich, mehr noch: bleibt unverstanden. Die Machtlosen suchen
sich ihren Vorteil durch Schmeichelei zu sichern, aber auch - nach schwejkscher
Manier - durch eine H altung des taktischen Kannitverstans.
Dem Übersetzer und dem Übersetzen kom m t in diesem Verwirrspiel der Poli­
tik eine Schlüsselrolle zu. Dolmetscher sind die stets anwesenden großen A b w e ­
senden in den Quellentexten, mit denen sich Historiker gemeinhin befassen.
Meist sind sie auch die großen Abwesenden in den Werken der Ethnologen. Kou­
rouma, der Geschichtenerzähler, rückt das zurecht. Er macht diese Männer am
Scharnier zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten zu Hauptakteuren, die
zwischen Unvereinbarem vermittelnd den eigenen Vorteil nie vergessen. U nd er
macht sich einen Spaß daraus zu zeigen, w ie sie Begriffe manipulieren, wie sie sie
ins Bedeutungsgeflecht der lokalen Kultur einpassen und nötigenfalls pervertie­
ren, bis die Lüge, die sie mittragen, entlarvt ist. Unnötig zu sagen, daß die Begriffe
des bürgerlichen Freiheits- und Fortschrittsdiskurses, welche die Kolonialherren
von Anfang an gern im Munde führen, sich im Spiegel der Geschichte von Soba als
hohle Phrasen erweisen.
Besonders derb ist Kouroumas Beispiel über den kolonialen U m gang mit dem
Fortschrittsbegriff. Als die Franzosen in ihrem Kampf gegen die im Pariser Parla­
ment mit den Kommunisten zusammenarbeitenden Radikalnationalisten eine
Häuptlingspartei gründen, nennen sie sie großspurig „Parti de la réconciliation
pour rém ancipation et le progrès“, die von Djiguis Sohn Béma als willigem Gehil­
Z u m P ro blem des ko lo nialen Staates im sub sah arisch en A fr ik a
269
fen geleitet wird. Seine Gegner rächen sich jedoch, indem sie PREP, wie sieh die
profranzösische Partei mit Kürzel nennt, als p r o u aussprechen und progressiste,
das ideologische Schlüsselwort im Programm, als p r o g r is s e übersetzen und dabei
die erste Silbe verschlucken. So werden im M alinke aus den als fortschrittlich fir­
mierenden Verteidigern des Status quo sogenannte p r o u sissi. P rou sissi? N un, sissi
heißt soviel wie Rauch, p r o u hingegen - so Kouroum a - bezeichnet die scham­
losen Fürze, welche unvorsichtigen Bohnenessern immer wieder entfahren.
Worte mögen täuschen, lernen wir, der Körper aber spricht wahr. Er allein ist
unbestechlich. Schon früher heißt es einmal: Ob Militärregim e oder koloniale Zi­
vilverwaltung, das sei einerlei, denn sie seien w ie A nus und M und der aasiressenden Hyäne. Entsprechend ekelerregend ihr Geruch. So wird denn der koloniale
Staat als H yän e perzipiert. Umgekehrt wird Djiguis Körper, wird der Körper des
Königs als A usdruck der Lage im Lande gelesen. Geht es ihm gut, geht es seinen
Untertanen gut; geht es ihm schlecht, darben auch sie. Politische Sachverhalte
werden in die Sprache der Physiologie, des Verschlingens und Ausscheidens im
Körper von M ensch und Tier übersetzt. Da die Kolonisierenden im eigenen Den­
ken gefangen blieben, ist es vielleicht nicht erstaunlich, daß sie die Körpermeta­
phorik afrikanischer politischer Diskurse nicht durchschauten. Sie selbst pflegten
eine Körpermetaphorik, die sich an der „Rasse“ orientierte, aber genau so wie das
afrikanische Reden über Essen und Körper darauf zielte, Herrschaft zu naturali­
sieren.
Abschließend stellt sich die Frage, ob der koloniale Staat ein Gebilde sui g e n e r is
oder eine Variante des modernen (europäischen) Staates sei. John Comaroff hat
sich kürzlich dazu geäußert, wobei er dezidiert die Ansicht vertrat, zwischen den
beiden Staatsformen bestehe eine ontologische Differenz25. Er begründete das da­
mit, daß der koloniale Staat im Gegensatz zum europäischen Staat auf Differenz
aufbaue und keine Gleichheit schaffe, daß er in der kurzen Zeit seiner Existenz das
Leben der Afrikaner nicht grundlegend verändert habe, daß die M acht oft nur
symbolisch geblieben sei und daß der koloniale Staat rational und absurd, gewalt­
tätig und ohnmächtig zugleich gewesen sei. Statt Bürger habe er eine hybride
Form von Untertanen/Bürgern mit einem widersprüchlichen doppelten B ew ußt­
sein hervorgebracht. Das zeige sich im Neben- und Gegeneinander eines liberalen,
die Nation als Willensnation autonomer Individuen verstehenden Diskurses der
Bürgergesellschaft einerseits und ethnonationalistischen Diskursen andererseits,
welche die Nation als Ausdruck einer von Gott geschaffenen organischen Einheit
mit gemeinsamer Sprache, gemeinsamer Kultur und gemeinsamer Geschichte ver­
stehen und die folglich auch für Gruppenrechte einstehen.
25 John Com aroff, G ov erm ne ntality , M ateriality, L eg ality, M o d e r n it y : Reflexions on the
C o lo n ia l State in B ritish A fric a and Elsewhcre, Ms. 1998.
270
A lb e rt W ir z
Der entscheidende Unterschied zwischen kolonialem und modernem (europäi­
schem) Staat wäre demnach im rassistisch begründeten Prozeß des kolonialen
„othering“ zu suchen, das im Rahmen des kolonial begründeten Territorialstaates
die Eingeborenen als rassisch, d.h. durch ihren Körper definierte Subjekte erfin­
det, um sie danach in ihren Traditionen einzuschließen. Ganz ähnlich argum en­
tiert der indische H istoriker Partha Chatterjee mit Bezug auf Südasien. Das R as­
sekriterium, so Chatterjee, sei umso eher in den Vordergrund gerückt worden, je
stärker die Logik der Modernisierung in Richtung auf Rationalisierung und N o r­
malisierung gedrängt habe. Je moderner der Staat, desto rassistischer haben sich
die Kolonisierenden verhalten26. Je drängender die Kräfte der Rationalisierung,
desto mehr wurde der Körper in den Vordergrund gerückt.
Ob diese Kriterien genügen, den kolonialen Staat grundsätzlich vom modernen
Staat zu trennen? Immerhin wäre daran zu erinnern, daß auch die europäischen
N ationen erst geschaffen werden mußten und daß auch die H erausbildung der
Gleichheit in den demokratischen Bürgerstaaten mit der Schaffung von Differenz
einhergegangen ist, indem die Bauern, später die Arbeiter und über lange Zeiten
hinweg die Frauen als „Wilde“ galten, was es ermöglichte, ihnen alle oder doch ei­
nen Teil der Bürgerrechte vorzuenthalten. U m gekeh rt w ird in Rechnung zu stel­
len sein, daß gerade das koloniale Projekt die M odernisierung in Europa vorange­
trieben hat, indem koloniale Phantasien und koloniale Erfahrung, das „othering“
in der Ferne, die Schaffung von Gleichheit und die Erfahrung nationaler Eigenheit
in der Fleimat beförderte und beschleunigte. Ann Stoler spricht mit Bezug auf die
Kolonien sogar von „Labors der M oderne“; in analogem Sinne hatten zuvor
schon Wirtschaftshistoriker in den mit Sklaven bewirtschafteten Zuckerplanta­
gen, den „factories in the field“, Vorläufer der modernen Fabrik gesehen27. Es läßt
sich also festhalten, daß die koloniale Expansion sowohl die Kolonisierten wie die
Kolonisierenden beeinflußte und veränderte.
Im übrigen bleibt die Zeit ein entscheidender Faktor bzw. der größere histori­
sche Kontext, in den sich die Kolonisation einfügte. Das ist eine banale Einsicht,
U m so m erkwürdiger, daß sie so selten thematisiert wird. Jedenfalls kann nicht ge­
nug betont werden, daß dem kolonialen Ausgreifen nach Afrika Jahrhunderte des
transatlantischen Sklavenhandels vorangegangen sind. U nd diese Erfahrung
prägte das Bild, das sich die Kolonisierenden von den Afrikanern machten. Z u­
dem begann die koloniale Expansion in Afrika, anders als in Asien und Am erika,
erst richtig, als sich das sozialdarwinistisch geprägte Rassendenken breitmachte
und die M odernisierung in Europa bereits weit fortgeschritten war. Aber selbst in
Europa war damals das allgemeine und gleiche Wahlrecht, die Grundlage einer
wirklichen Demokratie, noch nirgends verwirklicht. Als jedoch die politische
M odernisierung in den afrikanischen Kolonien nach dem Zweiten Weltkrieg end­
26 Partha C h a tterjee, T h e N a tio n and Its F ragm ents: C o lo n ia l and P o s t-C o lo n ia l H istories
(P rin ceton 1993) 14.
27 Frederick Cooper, Ann Laura Stoler, B e tw e en M e tr o p o le and C o lo n y . R e th in k in g a R e ­
search A gen d a , in: Frederick Cooper, Ann L^aura S toler (H rsg.), Tensio ns of Empire, C o lo n ia l
C u ltu r e s in a B o u rge o is W orld (B e r k e le y 1997) 5.
Z u m P r o b le m des ko lo nialen Staates im sub sah arisch en A frik a
271
lieh ernsthaft in Angriff genommen wurde, gehörte der Grundsatz „One man one vote“ zum Kanon der Demokratie. Und so kam denn in den kolonial geschaf­
fenen Staaten das allgemeine und gleiche Stimm- und Wahlrecht zur A nwendung,
lange bevor die Schulbildung jene Breite erreicht hatte, die in Europa für eine
funktionierende Demokratie als unabdingbar gegolten hatte. H inzu kam, daß
man sich nun auch in Afrika von der Idee des Planungs- und Wohlfahrtsstaates
leiten ließ. Die Konkurrenzsituation des Kalten Krieges wirkte ihrerseits be­
schleunigend auf den Demokratisierungsprozeß. All das zusammen mußte zu
einer besonders tiefen Kluft zwischen Wunsch und W irklichkeit führen.
Als letzte, die in den Strudel der Moderne gerissen wurden, stehen die afrikani­
schen Staaten somit vor besonders hohen H ürden, was die U m setzung der Ver­
sprechungen der M oderne anbelangt; aber ich denke nicht, daß sich ihre Probleme
grundsätzlich von jenen anderer Gesellschaften unterscheiden. O der anders ge­
wendet: der Weg in die Moderne ist breit und läßt viele Varianten zu, aber sie füh­
ren (vorerst einmal) alle in die gleiche Richtung. U nd wenn es gute Gründe gibt,
den Politikern zu sagen, sie sollten mehr nach vorn als nach hinten schauen, denn
die Kolonialzeit liege nun doch bereits w eit zurück; so gibt es ebenso viele
Gründe, sich immer wieder an diese Vergangenheit zu erinnern. Sie mag zuneh­
mend verblassen; sie hat gleichwohl die Arena geschaffen, in der die politischen
Kämpfe bis heute ausgetragen werden. U nd wenn der Staat an vielen Orten in
A frika auf dem R ückzug scheint, so finden sich doch immer wieder Leute, welche
ihn erneuern wollen. Dazu gehören nicht zuletzt die internationalen O rganisatio­
nen und andere Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit. Sie perpetuieren
nicht nur die Abhängigkeit, sie stützen auch die staatlichen Institutionen von au­
ßen oder drängen auf einen Neuaufbau, wenn, wie beispielsweise in Rwanda 1994
geschehen, der Staat im Gefolge des Genozids und der Massaker ganz zusam men­
bricht.
U nser Warten an der Grenze zwischen Gisenyi und Goma im O ktober 1996
blieb im übrigen ergebnislos. Im Gegensatz zu allen anderen staatlichen Institu­
tionen funktionierte die Grenzkontrolle weiterhin. Der Schlagbaum blieb für
A usländer geschlossen.
Christoph Marx
Zim babwe:
Von der Siedlerherrschaft zum N ationalstaat
„The w h ite pio n eers and adventurers w h o had
carved o u t fo r themselves farm s and estates and had
for a tim e exercised the p ira te’s right to b o o ty were
the sort of o rig in s w e had as one nation. T h a t tribal
adhesio ns had un s tu ck themselves from that ex p e r i­
m ent and, o n ly un ited, w e cast off the y o k e that had
left us w ith the r e s p o n s ib ility of co n tin u in g the ex­
perim ent un der an o th e r b rand n am e .“
„C ertain ly, the w a y f o r w a r d in c re a s in g ly m eant the
progress of in h u m a n it y rather than the extensio n of
the very freedom s w h ich had given it life. C ertainly,
the m ach ine of the nationstate gave the citizen a
p refabric ated id e n tity and co nscio usness m ade up of
the ro uge and lipstick of the stru ggle and the revo ­
lu tio n .“ 1
Die Toten leben und erheben ihre Stimme. Sie mischen sich in die Geschäfte der
Lebenden ein und mahnen sie zur Umkehr, wenn sie unrecht handeln, wenn sie
gegen die Regeln eines geordneten Zusammenlebens verstoßen oder wenn sie
ihren Pflichten nicht mehr nachkommen. Bei den Shona, der größten Bevölke­
rungsgruppe Zimbabwes, sind es die spirit m e d iu m s , Ahnengeister bedeutender
Chiefs, die die Interessen der ländlichen Bevölkerung artikulieren. Nehanda, das
bekannteste spirit m e d iu m , drohte im Jahr 1997 dem Präsidenten Zimbabwes, R o ­
bert Mugabe, mit der Entmachtung, wenn er nicht seinen Regierungsstil ändere2.
Die Krise des zim babwischen Regimes, das aus einem siebenjährigen, von den
spirit m e d i u m s aktiv unterstützten Guerillakrieg gegen den weißen Siedlerstaat
Rhodesien hervorgegangen war, w urde durch diesen Auftritt Nehandas sichtbar
wie selten zuvor. Denn er offenbarte, daß auch die bislang sichere Verankerung in
1 D a m h u d z o M a rech era, T h e B lack Insider ( H a r a re 1990) 105.
2 South A fric a n Press A g e n c y (S A P A ), M e ld u n g vom 8. 3. 1998. Das M e d iu m N eh a n d a s, S o ­
phia Tsvatayi, hatte m ö g lic h e rw eis e auch eine offene R e c h n u n g zu b egleic hen, da sie in den
80 er Ja h re n R ep ressalien und sogar einer geric h tlichen V eru rte ilu n g a usgesetzt war: Christine
S ylvester, Z im b a b w e - T h e Terrain o f C o n t r a d ic t o r y D e v e lo p m en t (Bould er, San Francisco,
L o n d o n 1991) 155, im folgenden zitiert: Sylvester, Z im b a b w e .
274
C h ris to p h M a rx
der ländlichen Bevölkerung nicht mehr gewährleistet war, nachdem die Regierung
in den 1990er Jahren vor allem mit U nm utsbekundungen der Stadtbevölkerung in
Form von Streiks, A ufruhr und Demonstrationen zu tun gehabt hatte. Die Bedeu­
tung des Auftritts von Nehanda läßt sich ermessen, wenn man in R echnung stellt,
daß in den 70er Jahren erst das Bündnis Nehandas und andererer sp in t m e d i u m s
mit den Guerilleros, die unter der politischen Führung Mugabes standen, die
M öglichkeit einer langfristig erfolgreichen Infiltration Rhodesiens von M o zam b i­
que aus eröflnete3. Die Unterstützung durch die Ahnen erlaubte es den Kämpfern
Mugabes, sich nach dem Vorbild der maoistischen Guerilla-Strategie „wie ein
Fisch im Wasser“ in der ländlichen Bevölkerung zu bewegen. Die Zielsetzung, die
Mugabes Kämpfer und die Landbevölkerung miteinander verband, w ar die E nt­
eignung der weißen Großfarmer, denen der weiße Siedlerstaat die besten Landflächen zugeschanzt hatte. 18 Jahre nach der Unabhängigkeit war das Versprechen
immer noch nicht eingelöst, ein 1997 gestarteter Versuch war am wirkungsvollen
Einspruch des Internationalen Währungsfonds gescheitert. Mit der geschrumpf­
ten Handlungsfähigkeit des Staates, die sich hier manifestierte, gingen ein zuneh­
mend luxuriöser Lebensstil der politischen Klasse und immer neue Fälle von Kor­
ruption in höchsten Regimekreisen einher, die in krassem Gegensatz zu den sin­
kenden R eallöhnen der Bevölkerung in Stadt und Land standen.
Die unübersehbare Legitimationskrise einer Regierung, die seit der U nabhän­
gigkeit 1980 ununterbrochen im A m t ist, ist ein Sym ptom dafür, daß die H an d ­
lungskapazitäten des Staates in den 90er Jahren stark geschrumpft sind. Oft wird
in pauschalisierender Weise von einer generellen Misere Afrikas gesprochen, von
der Krise „des“ afrikanischen Staates. Man beobachtet allgemeine Trends afrikani­
scher E n tw ic k lu n g , die je nach Perspektive in einer Grundtendenz zur persön­
lichen Herrschaft besteht4, in alles durchdringender Korruption, in der allgegen­
wärtigen Gefahr des Tribalismus, des fehlenden Nationalbewußtseins und ande­
rem mehr. N un sind die Ähnlichkeiten zwischen dem Zimbabwe der 90er Jahre
und anderen Staaten Afrikas keineswegs zu bestreiten: Autoritäre Entscheidungs­
strukturen, eine marginalisierte kritische Öffentlichkeit, wachsende Korruption
der Staatsklasse. U nd dies, obwohl die Entkolonialisierung Zimbabwes nicht wie
in vielen anderen Staaten Afrikas von der städtischen Bevölkerung und einer M as­
senpartei getragen wurde, sondern von der Landbevölkerung in einem blutigen
Guerillakrieg. Die Entfernung der politischen Klasse von der Lebensrealität eben
dieser Landbevölkerung dürfte in Zimbabwe mittlerweile nicht weniger ausge­
prägt sein als in anderen Ländern. Trotz struktureller Besonderheiten in Siedler­
kolonien, in denen der Staat in ungeschminkter Form Machtinstrument einer vor
O rt ansässigen weißen Bevölkerung war, ist die grundlegende Gemeinsamkeit
3 D a v id Lan, G un s and R a in - G uerillas and Spirit M e d iu m s in Z im b a b w e (H a r a re 1985);
T erence R a n g er , Peasant C o n sc io u sn e ss and G ue rilla W a r in Z im b a b w e (L o n d o n , Berkeley,
Los A ngeles 1985).
4 R o b e r t H. Jack son , C arl G. R osberg, Person al R u le in B la ck A frica - Prince, A uto c ra t,
Prophet, T y ra n t, (Berkeley, Los A ngeles, L o n d o n 1982) 2 ft.; im folg enden zitiert: Jackson,
R osb erg , Personal Rule.
Z im b a b w e : Von der Sie dle rherrschaft zu m N a tio n a ls ta a t
275
kolonialer Staatlichkeit, nämlich Fremdbestimmung ohne Mitspracherechte, die
eigentliche Ursache für die genannten Ähnlichkeiten.
In Nachfolge der Lehre von der kathartischen W irkung von Gewalt und revo­
lutionärem Befreiungskrieg, wie sie von Frantz Fanon oder Am ilcar Cabral ent­
wickelt wurde, haben einige Afrikawissenschaftler für die Entkolonialisierung
durch Befreiungskriege behauptet, daß in diesem Fall ein w irklicher Bruch mit der
kolonialen Vergangenheit vollzogen würde, sich die nachkolonialen Regimes in
ehemaligen Siedlerkolonien qualitativ von denen anderer afrikanischer Staaten
unterscheiden3. Demgegenüber läßt sich die These vertreten, daß auch in Siedler­
kolonien eine .Dialektik der Entkolonialisierung' am Werk ist, indem die M o d ali­
täten der postkolonialen Staatlichkeit direkt und indirekt durch die Erfahrung
und das Vorbild des Kolonialstaates vorgegeben werden6. Der Befreiungskrieg
schafft keine tabula rasa, die den völligen Bruch mit der Vergangenheit und durch
die Kolonialherrschaft vorgegebenen Strukturen erlaubt, weder im Bereich der
Institutionen noch in dem der politischen Kultur. Dennoch haftet dem N ieder­
gang staatlicher H andlungskapazitäten und der darauf beruhenden Regimekrise
der 90er Jahre keineswegs die U nausweichlichkeit an, die die Ä hnlichkeit mit an­
deren afrikanischen Staaten vielleicht nahelegen mag. Die folgenden A usführun­
gen sollen zeigen, daß die Regim ekrise in erster Linie Ergebnis der rhodesischen
Vergangenheit Zim babwes und bestimmter politischer Weichenstellungen in den
ersten Jahren der U nabhängigkeit ist. Aus diesem Grund sollen zunächst die
grundlegenden Kennzeichen des weißen Siedlerstaates skizziert werden, um
anschließend zu untersuchen, wie das unabhängige Zim babwe mit diesem Erbe
umging.
Die B ritish South A frica C om pany:
Die staatliche H errschaft einer A ktiengesellschaft 1890-1923
Rhodesien w ar zunächst eine Gründung der privaten, mit einer königlichen
Charta ausgestatteten British South Africa Company. Die von Cecil Rhodes or­
chestrierten spekulativen Kapitalinteressen erhofften sich im Gebiet nördlich des
Lim popo einen zweiten Witwatersrand und binnen kurzem hohe Dividenden auf
ihre Einlagen7. Aus diesem Grund sollten nach dem W illen der britischen RegieD ie A u to r e n sin d Basil D avid son und Patrick C h a b a l, zit. in: R on a ld Wekzer, Transform in g Scttle r States - C o m m u n a l C o n f lic t and Internal S ec u r ity in N o r th e r n Ireland and Z im ­
b ab w e (B e r k e le y 1990) 135; im folgenden zitiert: Weitzer, T ran sform in g. Vgl. d a zu auch
C r a w fo r d Young, T h e A fric an C o lo n ia l State in C o m p a ra tiv e Perspectiv e ( N e w H aven, L o n ­
do n 1994) 240; im fo lg end en zitiert: Young, A fric an C o lo n ia l State.
6 Jack son, R osberg, P erson al R u le 16 bestreiten die se K o ntin uitäten und beh au pten, mit der
U n a b h ä n g ig k e it sei ein gän zlich neues politisches S y s te m eingefü hrt w o rd en . F ü r S im b a b w e
ist diese B e h a u p tu n g sic her unzutreffend.
7 la n Phimister, R ho des, R ho desia and the Rand, in: Jo u r n a l o f S ou thern A fric an Studie s 1
(1974) 74 -9 0 ; ¡a n Phimister, A n E conom ic and Social H is t o r y of Z im b a b w e , 1890-1948 -
276
C h r is to p h M arx
rung die Institutionen der Afrikaner unangetastet bleiben, zumindest implizit b e­
zogen sich die in der Charta der BSA C zugestandenen Hoheitsrechte zunächst
nur auf die Verwaltung der weißen Einwanderer8. Als sich die Hoffnungen auf ein
Eldorado binnen weniger Jahre verflüchtigten, begann die Gesellschaft, neben
dem Bergbau die Ansiedlung weißer Farmer zu betreiben. Trotz aller Interessen­
kollisionen fanden landwirtschaftliche und Bergbauinteressen auf der Basis des
Grundkonsenses zueinander, daß die afrikanische Mehrheit dauerhaft von den
kommerziellen Bereichen der Wirtschaft ausgeschlossen werden sollte. Die staat­
lichen Maßnahmen der Siedlerherrschaft dienten in einer ersten Phase der Bereit­
stellung billiger Arbeitskräfte für die Bergbauindustrie und später auch zun eh ­
mend für die Farmen der weißen Siedler9. Die Eingriffe in die afrikanischen
Sozial- und Herrschaftsstrukturen waren in den ersten Jahren noch gering und
beschränkten sich auf die oft willkürliche und brutale Eintreibung von Steuern,
wom it die staatliche Verwaltung von den Afrikanern bezahlt werden sollte10.
Nach der N iederschlagung des antikolonialen Krieges der beiden afrikanischen
Bevölkerungsgruppen der Shona und Ndebele im Jah r 1896/97 konnte das staatli­
che Gewaltmonopol relativ rasch und dauerhaft durchgesetzt werden. N ach der
frühen Phase kalkulierten Terrors und weitreichender W illkür einzelner weißer
Beamter zog die zentrale Verwaltung ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts zun eh ­
mend die Entscheidungs- und Regulierungskompetenzen an sich und vereinheit­
lichte das auf die Af rikaner angewandte R ech t11. Allerdings umfaßte die rechtliche
und Verwaltungsvereinheitlichung nie die gesamte Einwohnerschaft des Territo­
riums zwischen Lim popo und Zambesi, sondern sie w urde rassisch differenziert,
so daß viele Bestimmungen, wie Land- und Paßgesetze, nur für die afrikanische
C a p ita l A c c u m u la tio n and C lass S truggle ( L o n d o n 1988) 2 ff.; im folg enden zitiert: Phim ister ,
H is t o r y of Z im b a b w e .
8 R o y a l Charter, 15.10. 1889, Doe. No. 47, in: D a v id T hroup (H rsg.), British South A fric a
C o m p a n y , B ech u a n a la n d and R h o d esia , 18 85-18 95, British D o c u m en ts on F o reign A ffairs,
Series G: A fric a, 1885-1914, (o.O . 1995) 109-188, hier 113, A b sch n itt 14; s. auch R o b e r t
Blake , A H is t o r y of R h o d es ia ( L o n d o n 1977) 1 0 0 f.; im fo lg enden zitiert: Blake , H is t o r y of
Rhodesia.
9 Phimister, H is t o r y of Z im b a b w e 23 ff. F ü r Y oung , A fric an C o lo n ia l State 79, ist dies „the
ve ry co re of colo nial state co n structio n, the hin ge on w h ic h its lo gic tu r n e d .“ Vgl. a uch C h a r­
les v a n O n selen , C h ib a r o - A fric an M in e L a b o u r in S ou thern R h o d esia , 1900-1933 (L o n d o n
1980) 74 ff., bes. 116.
10 Blake, H is t o r y o f R ho d esia 1 ISf.
11 Phimister, H is t o r y of Z im b a b w e 30 f. A lle rd in gs gab es in S ie d le rk o lo n ie n stets Bereiche,
in denen das staatliche G e w a lt m o n o p o l n ur sehr la n gsam d ur c h g e s e tz t w e rd e n ko nn te, in s ­
b eson d ere gilt dies für die F a rm en , w o sich noch lange eine A r t P a trim o n ia lg erich tsb a rk e it
erhielt. F ü r K enia s. d a z u D a v id M. A n derson , P o li cin g the Settle r State: C o lo n ia l H e g e m o n y
in K en ya , 1900-1952, in: C o n t e st in g C o lo n ia l H e g e m o n y - State and S o c ie ty in A fric a and
India, hrsg. von D a g m a r Engels un d Shula Marks ( L o n d o n , N e w York 1994) 2 4 8 - 2 6 4 . Zu
den A u s w ir k u n g e n der N ie d e rla g e von 1896/97 auf die afrikan isch e B e v ö lk e r u n g s. L a w ­
r e n c e Vambe, A n Ill-Fated People - Z im b a b w e Before and A fte r R h o d es ( L o n d o n 1972) 17.
Z u r R o lle von G e w a lt und T error bei d e r E tab lierun g des K olo nialstaates s. Trutz v o n
Trotha , Koloniale H e rrsc h a ft - Z u r sozio lo gisc h e n T h e o rie d e r S taatsen tstehu ng am Beispiel
des „Schutzgebietes T o g o “ (T ü b in gen 1994).
Z im b a b w e : Von der Sie dle rherrschaft z u m N ation alstaat
277
Bevölkerung galten12. Auch das in den 20er und 30er Jahren kodifizierte, angeb­
lich traditionale „customary la w “ galt nur für Afrikaner, wenngleich das gesamte
Strafrecht den „chiefs“ entzogen wurde. Damit war das „customary la w “ mitsamt
den Chiefs in den Dienst des kolonialen Staates gestellt13. Dennoch hat die relative
Vereinheitlichung des Rechtes etwa im Bereich der Abgaben und Steuern im Ver­
gleich zur vorkolonialen Zeit eine größere Berechenbarkeit hergestellt, was etwa
afrikanischen Händlern trotz der Rassendiskrim inierung größere Entlaltungschancen eröffnete14. Innerhalb der rassischen gab es zusätzlich noch eine geschlechtsspezifische Ungleichheit, indem afrikanische Frauen nach einer eigen­
willigen Ü bersetzung des „customary law “ in die staatliche Gesetzgebung für
unmündig erklärt w u r d e n 15.
Da die Interessen der entstehenden Farmerschaft denen der Minenindustrie
zwar oft zuwiderliefen, ihnen aber untergeordnet blieben, bildete sich schon früh­
zeitig eine Bewegung für die Einführung einer Selbstverwaltung der Siedler, die
mit Hilfe der britischen Regierung schrittweise die Herrschaft der B SA C auflokkerte und 1923 in Form des bis dahin für die britischen Siedlerkolonien üblich ge­
wordenen „responsible government“ die staatliche Herrschaft der Aktiengesell­
schaft beendete16. Gleichwohl blieb der starke Einfluß ausländischer Kapitalinter­
essen noch für lange Zeit bestimmend, prägte auch nach dem Erstarken der Sied­
lerschaft in den 40er Jahren in bleibender Weise die südrhodesische17 Wirtschaft
und ließ eine autonome Handlungsfähigkeit des Staates lange nicht zur Entfaltung
kommen. „Responsible government“ hieß zunächst nur, daß die Regierung der
Kolonie nicht mehr von Großbritannien bestimmt und kontrolliert wurde, son­
dern daß statt eines Gouverneurs ein gewählter Ministerpräsident die Geschäfte
führte und einem Parlament in der Kolonie verantwortlich war. Dieses Parlament
war im südrhodesischen Fall nur von einer Minderheit der B evölkerung gewählt
worden, weshalb die Kolonie in ihrem Status auch den übrigen Siedlerkolonien
des britischen Empire nicht angeglichen wurde. Die weiße Bevölkerung, die nie
12 Vgl. die Z u s a m m e n s te llu n g d er G esetze bei Sabine Fiedler-Conradi, A rbe it und Recht im
ko lo n ia len Z im b a b w e - G esch ic hte einer n achhaltig en E n t w ic k lu n g (M ü n ste r 1996) 158; im
fo lg enden zitiert: Fiedler-Conradi ; A rbe it un d Recht. Zu den Paßgesetzen und d er M i t w i r ­
k u n g d er M in en gesellschaften an deren A u s a r b e it u n g s. ebd. 192 ff.
13 Das C o s t u m a r y L a w w u r d e im A iric a n L a w and C o u rt s A ct von 1937 legislativ festgelegt:
F iedler-C onrad i, A rb e it un d R ec ht 272 f.; Young, A fric an C o lo n ia l State 114 ff. Phimister,
H is t o r y of Z im b a b w e 146 ff.
14 Volker Wild, V ersorg un gsk apitalisten. G eschic hte un d G es ch ä fts k u ltu r a frikan is ch er U n ­
tern eh m er im ko lo n ia len Z im b a b w e (M ü n ch en 1994) 34 f.; im folgenden zitiert: Wild, Ver­
sorgu ng sk apitalisten.
Elizabeth Schmidt, Peasants, Traders, and W iv es - S ho na W o m e n in the H is t o r y of Z im ­
bab w e, 1870-1939 (P o rts m o u th , N H , L o n d o n , H a r a r e 1992) 8 6 ff. u. 1 0 6 ff. Fiedler-C onradi,
A r b e it un d R ec ht 274. D ieses G esetz galt bis ¡982.
16 Vgl. d a zu J a m e s A. C h a m u n o r w a M u ta m b irw a , The R ise of Settie r Power in Southern
R ho d esia ( Z im b a b w e ), 1898-1923 (C r a n b u ry , N.J., L o n d o n , T o ron to 1980) 63 f. u. 167-225;
Phimister, H is t o r y of Z im b a b w e 97 ff.
17 Z w ischen 1911 und 1964 hieß das L and offiziell S outhern R ho desia, anschließend R h o d e ­
sia.
278
C h ris to p h M a rx
mehr als ein Zwanzigstel der G esamtbevölkerung ausmachte, dominierte den
Staat bis Ende der 70er Jahre.
Der Siedlerstaat: „Socialism for w hites“ 1923-1979
Auch nach der Einführung des „responsible government“ war Südrhodesien kein
vollwertiger Staat, da der Kolonie die völkerrechtliche Souveränität fehlte18, was
sich auch darin niederschlug, daß G roßbritannien sich Entscheidungen und Inter­
ventionsrechte in bestimmten, die afrikanische Bevölkerung betreffenden Berei­
chen vorbehielt. Südrhodesien wurde nicht wie die Dominions durch das West­
minster Statute von 1931 taktisch unabhängig, und auch der Colonial Laws Vali­
dity Act, durch den die legislative A utonom ie eingeschränkt war, wurde für
Südrhodesien nicht aufgehoben19. Allerdings nahm England diese Rechte kaum
jemals wahr und verhinderte auch nicht den staatlich durchgeführten Ausbau der
südrhodesischen Gesellschaft in eine rassische Privilegiengesellschaft. Die Vor­
bildfunktion des britischen Staates war angesichts der großen Eigenständigkeit
des Kolonialstaates wenig spürbar, zumal die Autonomie des Kolonialstaates für
Siedlerkolonien in besonders ausgeprägtem M aß zutraf, die aber als bürokratische
Form der Fremdherrschaft wegen des Wahlrechts der weißen Bevölkerung deut­
lich stärker eingeschränkt war als in Kolonialstaaten sonst20. Im Gefolge der Welt­
wirtschaftskrise konnte der Staat seinen Kompetenzbereich allmählich erweitern
und zunehmend in Wirtschaft und Gesellschaft intervenieren21.
Die Gesetzgebung gegenüber der afrikanischen Bevölkerung diente ab den 20er
Jahren weniger der Bereitstellung billiger Arbeitskräfte durch die monetarisierten
Steuern, die vor allem die jungen M änner zur Wanderarbeit zwangen; vielmehr
rückte nun die Furcht der weißen Farmer vor der afrikanischen Konkurrenz im
Bereich des Marktfruchtanbaus m den Vordergrund22. Die rassisch bestimmte
Landverteilung, die den weißen Farmern die fruchtbarsten und infrastrukturell
am besten erschlossenen Gebiete reservierte, sollte die Afrikaner in die Marginali18 Eine rhodcsischc Staatsbü rgerschaft w u r d e erst 1949 eingefü hrt: Phim ister, H is t o r y of
Z im b a b w e 117.
19 Claire Palley, T h e C o n s titu tio n a l H is t o r y and L a w of So u th e rn R h o d es ia 1888-19 65 w ith
special reference to Im peria l control ( O x fo rd 1966) 702 f. u. 742. R ho d esie n besaß zu kein er
Zeit D om in io n -S ta tu s.
20 Young, A fric an C o lo n ia l State 45. Y oungs B e h a u p t u n g (102), d em Staat sei in S ie d le r k o lo ­
nien oft eine v erm itteln d e F u n k tio n z w is c h e n S iedlern u n d a frika n isch er B e v ö lk e ru n g zu gefallen, trifft für R h o d es ie n allein d es w e gen nicht zu, w eil hier die S iedler den Staat d o m in ie r ­
ten. Z u m gru n d le g e n d e n U n ters ch ie d z w is c h e n S iedlerherrschaft un d „ n o r m a le r“ K o lo n ia l­
herrschaft als F re m d h e rrsc h a ft s. Partha C h a tte rjee , W as there a h egem o nic p ro je ct of the
colo nial state?, in: C o n t e st in g C o lo n ia l H e g e m o n y - State and S o c ie ty in A frica and India,
hrsg. vo n D a g m a r Engels u n d Shula Marks (L o n d o n , N e w York 1994) 79 -8 4 , hier 82.
21 Phimister, H is t o r y of Z im b a b w e 17 6 ff. u. 2 5 2 ff.
22 R obin Palmer, L a n d and R acial D o m in a tio n in R h o d e s ia (B erk eley , Los A ngele s 1977)
Kap. 8, bes. 210 ff.
Z im b a b w e : Von der Sie dle rherrschaft z u m N ation alstaat
279
sierung drängen, aber keineswegs die Subsistenzlandwirtschaft vernichten. Das
staatliche Handeln schlug unter dem Einfluß der weißen Wählerschaft und beson­
ders der zunehmend gewichtiger werdenden Farmerverbände in den 30er Jahren
eine segregationistische Richtung ein23, die in vielen M aßnahmen von südafrika­
nischen Vorbildern inspiriert war. Trotz einer intensivierten Reservationspolitik,
die im Land Apportionment Act von 1930 gipfelte, w urde der Ü bergang zur ter­
ritorialen und politischen Aufteilung wie im Südafrika der „H om eland“-Politik in
Südrhodesien aber nie nachvollzogen24.
Die Kehrseite der Ab- und Ausgrenzung der afrikanischen Bevölkerung war
die fortschreitende staatliche Subventionierung der Farmer mit der Einführung
staatlicher Vermarktungsgesellschaften sowie der Auf- und Ausbau eines Wohl­
fahrtsstaates, den ein Autor zutreffend als „Sozialismus für Weiße“ beschrieben
hat25. Maximale Ansprüche an den Staat im H inblick auf die Weißen kontrastier­
ten den minimalen Leistungen für die afrikanische Bevölkerung. Erst der N atio­
nalstaat konnte diesen Doppelcharakter des Staates überwinden. Wenn sich nach
der Definition des Staatesrechtlers Jellinek der moderne Staat durch die Einheit­
lichkeit des Staatsvolkes mit gleichen Rechten und Pflichten auszeichnet26, so gilt
iiir den südrhodesischen Siedlerstaat geradezu das umgekehrte: Die ultima ratio
des Siedlerstaates war die Verhinderung der Einheitlichkeit des Staatsvolkes.
Tatsächlich wuchs im Jahrzehnt nach der Weltwirtschaftskrise die Interven­
tionsmacht und -bereitschaft des Staates gegenüber den bis dahin vorherrschen­
den Minen und Großfarminteressen, die stark von ausländischem Kapital be­
herrscht waren27. Die Interessen der Siedler, die gleichzeitig W ähler waren, rück­
ten mit ihrem wirtschaftlichen Erstarken in den M ittelpunkt staatlichen H an­
delns28. Dies hing mit der wachsenden Bedeutung der Tabakproduktion zusam ­
men, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum größten Devisenbringer aufstieg29.
Staatlicher Interventionismus, zunächst als Abhilfemaßnahme gegen die Depres­
sion der frühen 30er Jahre gedacht, setzte sich in den Folgejahren fort. MarketingBoards und Subventionen, bürokratischer Dirigismus und gesetzgeberische Privi­
legierung der Weißen, die in m erkwürdigem Kontrast zum oft beschworenen
23 Phimister, H is t o r y of Z im b a b w e 195 f.; F iedler-C onradi, A r b e it un d R ec ht 24 6 u. 2 5 4 ff.
24 E n tsprechenden V orstößen d er extrem en R echten erteilte die rhodcsische R e gieru n g unter
Ian Sm ith w ie d e r h o lt eine A bfuhr: P e te r G odw in , Ian H ancock , . R ho d esian s N ev e r D ie“ T h e Im pact of W a r and Political C h a n g e on W h ite R h o d es ia c. 1 9 70-19 80 (H a ra r e 1995)
64 ff., 1 19 ff., 301; im fo lg end en zitiert: G odw in , H ancock , .R h o d esia n s N e v e r D ie “.
25 J e f f r e y Herbst, State Po litics in Z im b a b w e ( H a r a r e 1990) 22; im folg enden zitiert: Herbst,
State Politics. D ie S u b v e n tio n ier u n g d er w eiß en F a rm er w u r d e m er heblich em M a ß von den
o hn eh in üb erbelasteten a frikan isch en B au ern bezahlt: Phimister, H is t o r y of Z im b a b w e
184 ff.
26 G e o r g Jellinek, A llg e m e in e Staatsle hre (D ritte A uflage, Sie b e n ter N e u d r u c k , Bad H o m ­
b urg i9 6 0 ) 406-427 .
27 Flerbst, State Po litics 16 beschreibt g e ra d ezu als ein L e itm o tiv d e r G eschic hte R ho desiens
den „c ontinual effort to strcngth en the p ositio n of W h ite s vis-ä-vis fo reign interests b y grad u a l ly b u ild in g up the state a p p a ra tu s “.
28 Phimister, H is t o r v of Z im b a b w e 297.
29 Ebd. 227.
280
C h ris to p h M arx
Selbstbewußtsein einer Pionier-Gesellschaft standen, verschafften zunehmenden
Wohlstand und Identifizierung mit einem Staat, von dessen Durchsetzungskraft
und M aßnahmen die Fernhaltung afrikanischer Konkurrenz sowohl in der land­
wirtschaftlichen Produktion und im Dienstleistungsbereich wie auch auf dem A r ­
beitsmarkt abhing.
Seit den 1930er Jahren war, u.a. als Gegenmittel gegen den allmählich entste­
henden N ationalismus, eine spezifische Form der in d ir ec t rule ein g efü h rt worden,
die allerdings in keiner Weise mehr an vorkoloniale Traditionen anknüpfen
konnte und zu einer fortschreitenden Delegitimierung der Chiefs führte, die nun
gänzlich in den staatlichen Machtapparat inkorporiert wurden30. Trotz dieser
Aufwertung der Chiefs blieb der Staat in Gestalt der „Native Com m issioners“ auf
der lokalen Ebene präsent. Das Amt des Native Com m issioner läßt genauere Ein­
blicke in den C h arakter des Kolonialstaates zu. In ihrem A m t war nicht nur die
sonst übliche Ressortaufteilung der Verwaltung zurückgenom m en in ein U niver­
salamt, sondern ihnen fielen neben administrativen auch juridikative Funktionen
zu 31. Ihre weitreichenden Kompetenzen und ihr scheinbares Expertenwissen über
die Verwaltung der Afrikaner enthoben die Native Commissioners bis zu einem
gewissen Grad der staatlichen und öffentlichen Kontrolle; sie erwiesen sich als be­
sonders konservativ gegenüber liberalen Vorstößen der Nachkriegszeit32. Gleich­
zeitig manifestiert sich der M im mahsmus des Kolonialstaates in diesem aus dem
Verwaltungsapparat ausgegliederten Beamtenkorps, das in auffälligem Kontrast
zur bürokratischen Metastasenbildung des weißen Wohlfahrtsstaates stand.
Der Siedlerstaat Rhodesien war von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
geprägt: Auf der einen Seite verfügte er über avancierte Methoden innerstaatlicher
Arbeitsteilung, modern ausgerüstete Institutionen zur Durchsetzung staatlicher
Entscheidungen in Form von Polizei und Militär sowie eine sehr weit ausdifferen­
zierte Bürokratie, andererseits diente er in krasser Form den Interessen einer be­
vorzugten Minderheit. In dieser Hinsicht fiel er gewissermaßen in frühmoderne33
Verhältnisse zurück; bezeichnenderweise fehlt ihm der entscheidende Schub des
Nationalismus, der die Vereinheitlichung zu einem Staatsvolk wirklich hätte
durchsetzen können34. Dies manifestierte sich auch m der Problemlosigkeit, mit
50 Fiedler-Conrach , A r b e it und Recht 1351.; Phimister, H is t o r y of Z im b a b w e 196f.
31 Dickson A. Mungazi, C o lo n ia l P o lic y and C o n flic t in Z im b a b w e - A S t u d y of C u ltu r e s in
C o lh sio n , 1890 -1979 ( N e w Y o rk 1992) 97; im folg enden zitiert: M ungazi, C o lo n ia l policy.
32 H ardu’icke Holdemess, Lost C h a n c e - S outhern R h o d es ia 19 45-58 (H a ra r e 1985) 53 1.; im
folg enden zitiert: Holdemess , Lost C hance.
F r ü h m o d ern b ezieht sich hier n atürlich auf den geschich tlic hen K ontext Europas.
34 Wolfgang Reinhard, Das W a ch stu m der Staatsgew alt. H isto risc h e Reflexionen, in: ders.,
A u s g e w ä h lte A b h a n d lu n g e n (H isto risc h e F o rsch u n gen 60, Berlin 1997) 242 u. 247. Einer der
G r ü n d e für das Fehlen eines N a tio n a lis m u s un ter d er w e iß e n B e v ö lk e r u n g lag darin , d aß die
M ehrh eit der w eiß en R h o d es ie r der 60er J a h re erst nach d em Z w e iten W eltk rie g eing ew a ndert war. Z u r S c h w ä ch e des N a tio n a lis m u s unter den W eißen s. auch Phimister, H is t o r y oi
Z im b a b w e 181 u. A nthony Chennells, W h ite R h o d esia n N ation alist!! - T h e M is taken Years,
in: T u rm o il and T e n a c ity - Z im b a b w e 1890-1990, hrsg. von Canaan ßanana (H a r a re 1989)
123-139.
Z im b a b w e : Von der S ie d le rherrschatt zu m N ation alstaat
281
der Rhodesien 1953 Teil der Zentralafrikanischen Föderation wurde, mithin die
territoriale Integrität des Landes aufgegeben wurde. Der Zusammenschluß mit
Nordrhodesien und Nyassaland wurde als Kolonialstaat von der zahlenmäßig
stärksten Siedlerschaft in Südrhodesien dominiert, die ihre Herrschaft allerdings
sehr rasch und bereitwillig wieder aut ihr Kernland zurückzog, als die Entkolo­
nialisierung auch die Föderation erreichte und zur Unabhängigkeit von Zambia
und M alawi führte-^.
Statt einer nationalstaatlichen Konturierung nach außen erwiesen sich die in­
nergesellschaftlichen, rassischen Grenzen als die entscheidenden, die auch die po­
litische Kultur Rhodesiens nachhaltig beeinflußten. Keineswegs handelte es sich
bei der weißen Bevölkerung um eine einheitliche Gruppe, sie war sozial und von
ihrer H erkunft her deutlich stärker ausdifferenziert als etwa die Siedlerschaft
Kenias36. Dennoch schlugen sich Interessengegensätze nur selten in Form offen
ausgetragener politischer Konflikte nieder. Die weiße Arbeiterbewegung wurde in
den 30er Jahren durch eine Allianz aus Arbeitgebern und Staat unterworfen und
anschließend, ähnlich wie in Südafrika zehn Jahre zuvor, als Juniorpartner dem
Privilegiensystem eingegliedert. Ökonomische Interessengruppen verlegten sich
auf informelle Lobbyarbeit statt auf parteipolitische Organisation. Trotz vielfälti­
ger Antagonismen zwischen Stadt und Land, Arbeitgebern und Arbeitnehmern
entwickelte sich keine pluralistische politische Kultur, Südrhodesien blieb nach
1923 faktisch ein Einparteienstaat mit starker Kontinuität der Regierungspolitik,
die sich etwa in der 20jährigen Amtszeit von Premierminister Huggins (1933—
1953) niederschlug37. Die einzige Ausnahme, das liberale Zwischenspiel unter
Premierminister Todd 1953-1958 wurde mit dessen Sturz durch das eigene Kabi­
nett beendet, als seine Politik einer vorsichtigen Öffnung gegenüber den afrikani­
schen Nationalisten die weiße Vorherrschaft anzutasten schien38. Das B ew ußt­
sein, nur eine Minderheit darzustellen und der ab den 50er Jahren zunehmend
offensive afrikanische Nationalismus ließen keinen Spielraum für divergierende
M einungen bei der weißen Wählerschaft. Aus diesem Gruncl konnte sich die A n ­
fang der 60er Jahre gegründete Rhodesian Front sehr schnell als alleinige parla­
mentarische Vertretung weißer Interessen bei den W ählern durchsetzen und unter
Führung des Farmer-Politikers lan Smith den Staat mit dem Beginn des B ürger­
krieges Mitte der 60er Jahre autoritär aufrüsten39.
35 A n th on y Vcrricr, T h e R o a d to Z im b a b w e 1890-1980 (L o n d o n 1986) 71 ff.; im folgenden
zitiert: Verrier, Z im b a b w e .
36 D an e K en n ed y , Islands ot W h ite - Settie r So c ie ty and C u lt u r e in K e n y a and Southern
R ho desia , 1890-1939 (D u r h a m 1987) 94; im folgenden zitiert: K en n ed y , Islands ot W hite.
37 Blake, H is t o r y ot R ho desia 194 f.
-is D azu als B eric ht eines liberale n Politikers: Holderness, Lost C h anc e. Die repressiv en Züge
des T o d d -R e g im es betont dagegen Verrier, Z im b a b w e 8 7 ft.
39 U n geachtet aller p olitischen W en d u n g en und N ied e rla ge n , eines z u n e h m en d härter ge­
fü hrten B ü rgerk rie ges un d schließlich s o ga r des M ach tver lustes der W eißen k o nn te die R h o ­
desian F ro nt ihre a lternativ lose Stellun g als In teressenvertretertn d er rh odesischen Sie dle r bis
1987 erhalten. Z u r Vorgeschichte von UT)i s. J a m e s Barber, T he R oad to R eb ellio n (L on d on ,
N e w 'Y o r k 1967).
280
C h r is to p h M arx
S e lb stb e w u ß tse in einer P io n ier-G esellsch aft standen, verschafften zunehmenden
Wohlstand und Identifizierung mit einem Staat, von dessen Durchsetzungskraft
und Maßnahmen die Fernhaltung afrikanischer Konkurrenz sowohl in der land­
wirtschaftlichen P roduktion und im Dienstleistungsbereich wie auch auf dem A r ­
beitsmarkt abhing.
Seit den 1930er Jahren war, u.a. als Gegenmittel gegen den allmählich entste­
henden Nationalismus, eine spezifische Form der i n d i r e c t r u l e eingeführt worden,
die allerdings in keiner Weise mehr an vorkoloniale Traditionen anknüpfen
konnte und zu einer fortschreitenden D elegitim ierung der Chiefs führte, die nun
gänzlich in den staatlichen Machtapparat inkorporiert wurden30. Trotz dieser
A ufwertung der Chiefs blieb der Staat in Gestalt der „Native C om m issioners“ auf
der lokalen Ebene präsent. Das A m t des Native Com m issioner läßt genauere Ein­
blicke in den Charakter des Kolonialstaates zu. In ihrem A m t w ar nicht nur die
sonst übliche Ressortaufteilung der Verwaltung zurückgenom m en in ein U niver­
salamt, sondern ihnen fielen neben administrativen auch juridikative Funktionen
zu31. Ihre weitreichenden Kompetenzen und ihr scheinbares Expertenwissen über
die Verwaltung der Afrikaner enthoben die Native Commissioners bis zu einem
gewissen Grad der staatlichen und öffentlichen Kontrolle; sie erwiesen sich als be­
sonders konservativ gegenüber liberalen Vorstößen der N achkriegszeit32. Gleich­
zeitig manifestiert sich der M inim alismus des Kolonialstaates in diesem aus dem
Verwaltungsapparat ausgegliederten Beamtenkorps, das in auffälligem Kontrast
zur bürokratischen Metastasenbildung des weißen Wohlfahrtsstaates stand.
Der Siedlerstaat Rhodesien war von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
geprägt: A uf der einen Seite verfügte er über avancierte Methoden innerstaatlicher
Arbeitsteilung, modern ausgerüstete Institutionen zur D urchsetzung staatlicher
Entscheidungen in Form von Polizei und Militär sowie eine sehr weit ausdifferen­
zierte Bürokratie, andererseits diente er in krasser Form den Interessen einer be­
vorzugten Minderheit. In dieser Hinsicht fiel er gewissermaßen in trühmoderne33
Verhältnisse zurück; bezeichnenderweise fehlt ihm der entscheidende Schub des
N ationalismus, der die Vereinheitlichung zu einem Staatsvolk w irklich hätte
durchsetzen können34. Dies manifestierte sich auch in der Problemlosigkeit, mit
30 F iedler-C onradi, A r b e it u n d Recht 135 f.; P h im ister, H is t o r y of Z im b a b w e 196f.
31 Dickson A. Mungazi, C o lo n ia l P o licy and C onflict in Z im b a b w e - A S t u d y of Cultures in
C o lh sio n , 1890 -19 79 ( N e w York 1992) 97; im folgenden zitiert: M ungazi, C o lo n ia l policy.
32 H ardwicke Holderness, L ost C h a n c e - S ou thern Rhodesia 1945-58 (H a r a re 1985) 53 f.; im
fo lg enden zitiert: Holderness, Lost C h ance.
33 F rü h m o d e r n b ezieht sich hier natürlich auf den geschich tlichen Kontext Europas.
-’4 Wolf gang Reinhard, Das W a ch stu m der Staatsgew alt. H is to r isc h e R efle xionen, in: d e n .,
A u s g e w ä h lt e A b h a n d lu n g e n (H isto risc h e F o rsch u n gen 60, B e rlin 1997) 242 u. 247. Einer der
G rü n d e fü r das Fehlen eines N a tio n a lis m u s un ter d er w eißen B e v ö lk e ru n g lag darin, daß die
M e h rh e it d er w eißen R h o d cs ic r d er 60er J a h r e erst nach d em Z w e iten W eltk rie g e in g e w a n ­
dert war. Z u r S c h w ä ch e des N a tio n a lis m u s u n te r den W eißen s. auch Phimister, H is t o r y of
Z im b a b w e 181 u. A nthony Chennelts, W h ite R ho desia n N a tio n a lis m - T h e M is taken Years,
in: Turmoil and T e n a c ity - Z im b a b w e 1890-1990, hrsg. von Canaan Banana ( H a r a re 1989)
123-139.
Zim b abw e: Von der Sie dle rherrschaft zu m N ationalstaat
281
der Rhodesien 1953 Teil der Zentralafrikanischen Föderation wurde, mithin die
territoriale Integrität des Landes aufgegeben wurde. Der Zusammenschluß mit
Nordrhodesien und Nyassaland wurde als Kolonialstaat von der zahlenmäßig
stärksten Siedlerschaft in Südrhodesien dominiert, die ihre Herrschaft allerdings
sehr rasch und bereitwillig wieder auf ihr Kernland zurückzog, als die Entkolo­
nialisierung auch die Föderation erreichte und zur Unabhängigkeit von Zambia
und Malawi führte3-1.
Statt einer nationalstaatlichen Konturierung nach außen erwiesen sich die in­
nergesellschaftlichen, rassischen Grenzen als die entscheidenden, die auch che po­
litische Kultur Rhodesiens nachhaltig beeinflußten. Keineswegs handelte es sich
bei der weißen Bevölkerung um eine einheitliche Gruppe, sie war sozial und von
ihrer Herkunft her deutlich stärker ausdifferenziert als etwa die Siedlerschaft
Kenias36. Dennoch schlugen sich Interessengegensätze nur selten in Form offen
ausgetragener politischer Konflikte nieder. Die weiße Arbeiterbewegung wurde in
den 30er Jahren durch eine Allianz aus Arbeitgebern und Staat unterworfen und
anschließend, ähnlich wie in Südafrika zehn Jahre zuvor, als Juniorpartner dem
Privilegiensystem eingegliedert. Ökonomische Interessengruppen verlegten sich
auf informelle Lobbyarbeit statt auf parteipolitische Organisation. Trotz vielfälti­
ger Antagonismen zwischen Stadt und Land, Arbeitgebern und Arbeitnehmern
entwickelte sich keine pluralistische politische Kultur, Südrhodesien blieb nach
1923 faktisch ein Einparteienstaat mit starker Kontinuität der Regierungspolitik,
die sich etwa in der 20jährigen Amtszeit von Premierminister H uggins (1933—
1953) niederschlug37. Die einzige Ausnahme, das liberale Zwischenspiel unter
Premierminister Todd 1953-1958 wurde mit dessen Sturz durch das eigene Kabi­
nett beendet, als seine Politik einer vorsichtigen Öffnung gegenüber den afrikani­
schen Nationalisten die weiße Vorherrschaft anzutasten schien38. Das B ewußt­
sein, nur eine Minderheit darzustellen und der ab den 50er Jahren zunehmend
offensive afrikanische Nationalismus ließen keinen Spielraum für divergierende
Meinungen bei der weißen Wählerschaft. Aus diesem Grund konnte sich die A n ­
fang der 60er Jahre gegründete Rhodesian Front sehr schnell als alleinige parla­
mentarische Vertretung weißer Interessen bei den Wählern durchsetzen und unter
Führung des Farmer-Politikers Ian Smith den Staat mit dem Beginn des B ürger­
krieges Mitte der 60er Jahre autoritär aufrüsten39.
35 Anthony Werner, The R o a d to Z im b ab w e 18 90-1980 (L o n d o n 1986) 71 ff.; im folgenden
zitiert: Vertier, Zim babwe.
56 Dane Kennedy, Islands of W h ite - Settier So c ie ty and C u ltu re in K en ya and Southern
R hodesia, 1890-1939 (D u r h a m 1987) 94; im folgenden zitiert: Kennedy , Islands of White.
37 Blake, H is to r y of R h o d es ia 194 f.
38 D azu als Bericht eines liberale n Politikers: Holderness, Lost C h ance. D ie repre ssiv en Züge
des T o d d -R egim es betont d agegen Vertier, Z im b a b w e 87 ff.
39 U n geachtet aller p olitischen W en d u n g en und N iederlagen, eines z u n e h m en d härter g e ­
führten Bürgerkrie ges und schließlich sogar des M achtverlu stes der W eiß en k o nn te die R h o ­
desian Front ihre alternativlose Stellung als Interessenvertreterin der rh odesischen Siedler bis
1987 erhalten. Zur V orgeschichte von U D I s. James Barber, T h e R o a d to R eb ellio n (L on don ,
N ew York 1967).
282
C h ris to p h M arx
Ein weiterer Schub in Richtung staatlicher Entwicklung erfolgte mit der einsei­
tigen U nabhängigkeitserklärung (UDI) durch Premierminister Ian Smith (1964—
1978) im Jahr 1965. A uf der einen Seite sollte damit eine verfassungsrechtlich
mögliche Intervention des britischen Gesetzgebers zugunsten einer afrikanischen
Mehrheitsherrschaft unterbunden werden, auf der anderen Seite brachte sie wegen
der weltweiten Verweigerung der völkerrechtlichen Anerkennung und der Ver­
hängung von Sanktionen den Siedlerstaat keinen Schritt weiter aut dem Weg zur
staatlichen Souveränität. Allerdings gelang der Regierung, angesichts der Isolie­
rung eine Solidarisierung und Belagertenmentalität herzustellen und gleichzeitig
eine erstaunlich weit gehende Entpolitisierung, was ihren Handlungsspielraum
beträchtlich erweiterte40. Der unspektakuläre und kaum wahrgenommene Ü b er­
gang zur R epublik Rhodesien im Jah r 197041 legt beredtes Zeugnis davon ab, wie
wenig die weiße Bevölkerung sich als Nation empfand und über die Absicherung
ihrer Privilegien hinaus einen Nationalstaat anstrebte. Der Abbau der Rechts­
staatlichkeit durch die Regierung der Rhodesian Front, die durch den U nabhän­
gigkeitskrieg bedingte A usweitung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten in fast alle
Lebensbereiche und die Reduzierung des Parlaments zu einer A kklam ations­
maschinerie für die Exekutive bildeten den Schlußstein der Entwicklung des
rhodesischen Staates aus der M inim alverwaltung der B SA C am Ende des 19. Jah r­
hunderts.
Die politische Kultur der afrikanischen Bevölkerung
Die Möglichkeit, zumindest informell Einfluß auf die Regierungspolitik zu neh­
men, die den weißen Interessenverbänden oflenstand und worin sie eine beträcht­
liche Virtuosität entwickelten, w ar und blieb den Afrikanern versperrt. Der rhodesische Staat, insbesondere in der Zeit der UDI, unterdrückte neben den dezi­
diert politischen Organisationen auch die übrigen gesellschaftlichen Bereiche, aus
denen eine c i v i l s o c i e t y der afrikanischen Bevölkerung hätte entstehen können42.
Die Presse wurde ohnehin am kurzen Zügel gehalten, die Entwicklung der afrika­
nischen Literatur w urde nach tribalen Gesichtspunkten organisiert und entpoliti­
siert43. Die Kirchen befanden sich in einem Dilemma, da der weiße Teil ihrer Ge­
meinden, der die Kirchen finanziell unterstützte, auf Seiten des Siedlerregimes
stand. Eigenständige afrikanische Kirchen spielten im öffentlichen Leben nur eine
geringe Rolle, schwarze Gewerkschaften waren durch das gesetzliche Streikver­
40 Dies w ir d ü b e r z e u g e n d dargestellt von G odw in , H ancock , .R ho d esian s N ev e r D ie 1. Vgl.
a ber auch K en n ed y , Islands of W h ite 128 ff. u. 190.
41 G odw in , H a n c o c k , .R ho desian s N ev e r D ie“ 51 f.
42 D am it verhielt sich d er Sie dle rstaat nicht g ru n d lege n d anders als der ko lo niale Staat in
A frik a in sgesamt: vgl. d a z u auch Young, A fric an C o lo n ia l State 74 ff.
43 Flora Veit-Wild, Teachers, Preachers, N on -B eliev ers. A Social H is t o r y ot Z im b a b w e a n
L iteratu re (H a ra r e 1993) 2 2 9 ff.; im folgenden zitiert: Veit-Wild, Teachers.
Z im b a b w e : Von d er Sic dlc rherrschaft zu m N ation alstaat
283
bot trotz gelegentlicher Erfolge wie einer Streikwelle nach dem Ende des 2. Welt­
krieges so gründlich rnarginalisiert worden44, daß auch die Regierung Zimbabwes
sie alsbald unterwerfen konnte.
Die rasche Folge von Parteigründungen, -verboten und Verhaftungswellen, die
sich in den 60er Jahren intensivierten, waren einer politischen Kultur der Toleranz
und Meinungsvieltalt bei der Bevölkerungsmehrheit nichts weniger als förderlich.
Die heftigen Führungskämpfe innerhalb der ursprünglich einheitlich organisier­
ten nationalistischen Bewegung bis hin zu ihrer Spaltung in die zwei Parteien
ZA PU und Z A N U 1963, die einander während der beiden folgenden Jahre in
Form gewalttätiger Ausschreitungen bekämpften, legt davon deutliches Zeugnis
ab45. Gleichzeitig w urde die Einheit der Nation als G rundprinzip gegen A b ­
weichler in den eigenen Reihen und gegen Spaltungen, die scheinbar oder wirklich
entlang ethnischer Linien verliefen, aufgeboten. Die Identifizierung der Z A PU
mit der Minderheit der Ndebele, der Z A N U mit der Shona-Mehrheit war aller­
dings erst ein Ergebnis des Krieges und der Nachkriegszeit und selbst in den 70er
Jahren noch nicht absehbar. Immer wieder kam es zu Anläufen, die einander
befehdenden Befreiungsbewegungen Z A N U und Z A P U in Bündnissen, D ach­
organisationen oder gar in ganz neuen Bewegungen w ie FROLIZI zusam m en­
zuführen46.
Neben dem nationalistischen Einheitsgedanken und autoritären Strukturen, die
durch den Siedlerstaat gefördert wurden, erwiesen sich auch einige der afrikani­
schen Traditionen als wenig hilfreich für eine Entwicklung hin zu Meinungsviel­
falt. Trotz der Einbindung der Chiefs in die kolonialen Verwaltungs- und H err­
schaftsstrukturen überlebten vorkoloniale Idealbilder von Herrschaft im Rahmen
des Ahnenkults. Dabei ist zu betonen, daß entgegen immer noch verbreiteten Vor­
stellungen die „erweiterte Fam ilie“ nicht das universale Strukturierungsprinzip
afrikanischer politischer Ordnungen war47. Im Fall der vorkolonialen Shona und
Ndebele läßt sich vielm ehr eine Stratifizierung der Gesellschaft erkennen48, indem
44 Phimister, H is t o r y of Z im b a b w e 263 ff. u. 273.
45 Blake, H is t o r y of R h o d e s ia 352 f.
46 D ie B e fre iu n g s b e w e g u n g e n w a ren ebenfalls au to ritä r stru k tu riert. In sbesondere in der
Z A N U w a r d er A u fstie g R o b e rt M ug a b e s in der m o z a m b ik a n is c h e n G uerillabasis mit hefti­
gen M a ch tk ä m p fen v erbu nden, w o b e i M u g a b e s A ufstieg d urc h die m o z a m b ik a n is eh e R e g i e ­
rung un ter Sa m o ra M ach e! gefördert w u rd e , d ie eine R eihe seiner G egn er inhaftierte: C arol
B. T hom pson, C h a lle n g e to im p e ria lis m - The Fro ntlin e States in the Lib eratio n of Z i m ­
b ab w e (H a ra r e 1985) 64 f. u. D a v id Martin, Phyllis J o h n s o n , T h e S truggle for Z im b a b w e T he C h im u r e n g a W a r (Jo h a n n esb u rg 1981) 275.
47 Klaus Schlichte, K rie g u n d V ergesellschaftung in A fr ik a - Ein B eitrag zu r T h eo rie des
Krieges (K rie ge u n d m ilitan te K o nflikte 7, M ü n s te r 1996) 83 b eh au p te t in einer du rc h geh en d
m ode rn isieru n gsth e o re tisch o rie ntie rten A r g u m e n ta tio n , die „erw eiterte F a m ilie “ sei die
G r u n d la g e des n eo p a trim o n ia le n Staates in A frik a . Z u r Kritik an d e r üb er zo ge n e n B e d e u ­
tung, die V erw a n d tsch a ftssy ste m en b eig em essen w e r d e n , s. W. D. H a m m on d -T ook e, D es ­
cent G rou ps, C h ie fd o m s and S outh A fric an H is toriograp h} ’, in: J o u r n a l of Sou thern A fric an
Studie s 11 (1984) 30 5-319.
48 Z u m Begriff d er stratif iz ierten Gesellschaft s. Niklas L uhm ann, Die G esellschaft d er G e ­
sellschaft (F r a n k fu rt 1997) 678 ff.
284
C h ris to p h M arx
den Chiefs und ihren Familien Privilegien zukamen, für die sie im Gegenzug ge­
rechte O rdnung und Versorgungsleistungen zu liefern hatten. Die Stratifizierung
der vorkolonialen Gesellschaft nach den Grundsätzen politischer Herrschaft und
nicht prim är nach k insbip-S tm k im ,en findet sich nachgebildet in der herausgeho­
benen Bedeutung der m h o n d o r o s , Ahnengeister politischer Herrscher, gegenüber
anderen sp in t m é d iu m s. Die Ahnen traten durch sp in t m é d i u m s aktiv handelnd
auf und bauten allmählich gegen die zu staatlichen Befehlsempfängern geworde­
nen Chiefs eine G egenmacht auf. Die m h o n d o r o s als Ahnen der Häuptlinge zogen
zunehmend die Gewährleistung von Fruchtbarkeit, gerechter Herrschaft, später
auch der Interessenvertretung gegenüber eien Weißen an sich. Dies sollte sich
während des Befreiungskrieges der J970er Jahre zugunsten der Widerstandsbewe­
gungen auswirken, die über die m h o n d o r o s die Verbindung zur ländlichen Bevöl­
kerung herstellen und den Befreiungskrieg legitimieren konnten49. Mit dieser
Form der Legitimation durch die Ahnen gingen autoritäre, teilweise geradezu gerontokratische Vorstellungen aus der vorkolonialen Zeit auf den nachkolonialen
Staat über50.
Für die politische Kultur des unabhängigen Zim babwe w ar diese Rolle der
sp in t m é d i u m s von weitreichender Bedeutung, denn die Legitimation des neuen
Staates wurde bei der Landbevölkerung, zumindest unter der Bevölkerungsmehr­
heit der Shona, weitgehend über die m h o n d o r o s hergestellt. In diesem Sinn wurde
der Staat als Fortführung früherer Herrschaftsformen vor der Kolonialzeit w ah r­
genommen, d.h. der Regierung und dem Staat allgemein wurden Funktionen z u ­
geschrieben, die früher von den Chiefs wahrgenommen worden waren, nämlich
Reichtum zu verwalten und zu verteilen, eine gerechte O rdnung zu verteidigen,
nach innen und außen die Einheit zu repräsentieren, fürsorglich zu handeln und in
ihren spirituellen Funktionen als Regenmacher für Wohlstand zu sorgen51.
Diese Zuschreibungen vertrugen sich weitgehend mit den sozialstaatlichen
Ambitionen und dem nationalistischen Selbstverständnis der Z A N U PF-Regierung. Sie mußten aber zu einer Erschütterung des Vertrauens in diese Regierung
fuhren, sobald der Staat zu so weitgehenden Versorgungsleistungen nicht mehr in
49 Zu den religiösen D im en sio n en des B efreiun gskrieges im S ü d w e ste n un d Westen des L a n ­
des, s. T erence R a n g er , Mark N cu be, R elig io n in the G ue rilla W ar: T h e C a s e of S outhern
M a tabe leland, in: S o c ie ty in Z i m b a b w e s L ib eratio n War, Bd. 2, hrsg. von N gw a b i B h e b e und
T erence R a n g e r ( H a ra re, L o n d o n , Po rtsm o uth , N H 1995) 35 -57.
50 So sprich t M u g a b c häufig üb er die u n b o tm ä ß ig en Studenten als „ K in d er“ : zit. bei Per
N ordlun d, O r g a n is in g the Political A g o ra - D o m in a tio n and D ém o c ra tisatio n in Z am b ia and
Z im b a b w e (U p p s a la 1996) 177; im folg enden zitiert: N ordlun d, O rga n isin g. A u c h FiedlerC onradi, A rbe it un d Recht 2 8 7 ff. bestätigt, daß bei den sc h w a r z e n Z im b a b w e r n h ierarc hi­
sches D en k en stä rk er verbreitet ist als bei den W eißen.
51 D abei ist aber mit J o h n Lonsdale, Political A c c o u n t a b ilit y in A fric an H is tory, in: Political
D o m in a tio n in A fric a - Refle ctio ns on the L im its of Power, hrsg. von Patrick CJiabal ( C a m ­
brid ge 1986) 147 zu beton en , daß die R o lle d er v o r k o lo n ialen H e rrsc h e r im R a h m e n der
w irtsch aftlich en P r o d u k tio n „ n ca rly a lw a y s s y m b o lic rather than m anagerial" war. Die K o n ­
tin uität sozials taatlich en H a n d e ln s ve rläuft d a ru m un gleic h s tä rk er vom Sie dle rstaat zu m
nac hk olon ia le n S im b a b w e als von vo rko lo n ialen p olitischen S ystem en .
Z im b a b w e : Von d er Siedlerherrschaft zum Nationalstaat
285
der Lage war. Die allenthalben weitverbreitete A bhängigkeitsm entalität, die Kon­
formitätserzwingung, das Abwürgen von Innovationen und individueller A k k u ­
mulation durch aus der vorkolonialen Kultur transferierte Mechanismen wie H e­
xereivorwürfe32 trugen das ihre zu den einseitigen und hochgespannten Erwar­
tungen an den Staat bei. Ein starker interventionistischer Staat war in Zimbabwe
leichter legitimierbar als der „schlanke Staat“, der sich aus der Wirtschaft zuneh­
mend zurückzieht und dessen Akzeptanz bei der Bevölkerung eher gering ist.
Die Vorstellungen der afrikanischen Nationalisten über den nachkolonialen
Staat entstammen dem westlichen Staatsmodell des 20. Jahrhunderts, dem dem o­
kratischen National- und Sozialstaat. Diese Vorstellungen sind gleichzeitig in viel­
facher und oft widersprüchlicher Weise dem rhodesischen Vorbild verhaftet, teil­
weise indem sie eine bloße Ausweitung auf ein jetzt einheitliches Staatsvolk anvi­
sierten, teilweise, indem sie sich vom rhodesischen Vorbild in einer akzentuiert
negierenden Form absetzten, diesem darum aber gleichwohl verpflichtet blieben.
Nach einer anfänglichen Phase von den 30er bis in die 50er Jahre, als die afrika­
nischen Funktions- und Bildungseliten eine Aufnahme in das von Weißen do m i­
nierte politische System anstrebten, begann mit der Gründung des „Southern
Rhodesian African National Congress“ im Jahr 1957 die Zeit, da die A frikaner
den Anspruch erhoben, die eigentliche Nation zu bilden53. Die Betonung der Ge­
meinsamkeiten in Kultur und Geschichte, die Mehrheitsverhältnisse und die Ge­
setzgebung, die alle Afrikaner gleichermaßen betraf, führte sie in einer verschie­
dene soziale Milieus umfassenden nationalistischen Bewegung zusammen. Vor
allem der Land H usb andry Act von 1951 ermöglichte der nationalistischen B ew e­
gung erstmals, die darüber hochgradig aufgebrachte ländliche B evölkerung zu erreichens4. Die Einheit der Nation, die Ausschaltung innergesellschaftlicher A n t­
agonismen, das Bestreben, dauerhafte nationale Flarmonie herzustellen und so­
ziale Kämpfe zu vermeiden, zeigen deutliche Parallelen zum Verhalten der weißen
Bevölkerung. Da die Siedlerherrschaft gleichzeitig als Fremdherrschaft, als Kolo­
nialherrschaft, wahrgenommen wurde, war und ist die äußere Souveränität für die
afrikanischen Nationalisten von zentraler Bedeutung und bestimmte in w esentli­
chem M aß ihre Politik nach der Unabhängigkeit des Landes. Im Unterschied etwa
zum Algerienkrieg w ar der Befreiungskrieg aber nicht gegen eine auswärtige Ko­
lonialmacht geführt worden, sondern als ein Bürgerkrieg, an dessen Ende nur die
52 Wild, V ersorg un gsk apitalisten 138 ft. Zur veränderten Bedeutung von H e x e re i in einem
nachk olon ialen Kontext in A frik a s. den Samm elband von J ea n C om aroff, J o h n L. C o m a r o fj
(H rsg.), M o d e r n it y and Its M alc ontents - Ritual and P o w er in Postcolonial A fr ic a (C h ic a g o ,
L o n d o n 1993) bes. die E inleitu ng d er Herausgeber.
53 S ou thern R h o d esia n A fric an N ation al Congress: S tate m e n t of prin cip le s, p o li c y a n d Pro ­
gram m e, S a lis b u r y 1957, in: C h ristopher Nyangoni, G ideon N yandoro ( H rs g .), Z im b a b w e
Independence M o vem en ts - Select Documents (L on d on 1979) 3-1 3; im fo lg e n d e n zitiert:
N yangoni, N y a n d oro, Independence Movements. J o h n Day, In ternatio nal N ation alism T h e extra-territo rial relations of Southern R hodesian African nationalists ( L o n d o n 1967)
14 f.
Zu den G rü n d en für den Zorn der ländlichen Bevölk erung s. D idym tis M u tasa, Black
beh in d bars - R ho desia 1959-19 74 (H arare 1983) 2 7 f.
286
C h r is to p h M arx
Vertreibung der Verlierer oder die Aussöhnung mit ihnen stehen konnte. Darum
wurde auch die Versöhnungspolitik nach 1980 dem Nationalismus subsumiert.
M it der Propagierung eines inklusiven, alle Bewohner des Landes, potentiell
auch die Weißen55, umfassenden Nationalismus konnten sich die Nationalisten
auf vorkoloniale Strukturen beziehen und diese gegen die w ährend der Kolonial­
zeit entwickelte Form scharf umgrenzter Ethnizität in Dienst nehmen. Die vorko­
lonialen Gesellschaften zwischen Lim popo und Zambesi waren integrative Frontiergesellschaften, die sich durch Integrationsbereitschaft, Expansion und Kon­
kurrenz auszeichneten, aber nicht mit einseitigen und eindeutigen kollektiven
Identitäten verknüpft w aren56.
Dem H auptziel der nationalen Einheit wurden alle anderen Zielsetzungen un­
tergeordnet, das gilt insbesondere für die Vorstellungen eines künftigen Zim­
babwe als einem demokratischen Staat. H ier lag die Orientierung an anderen M o ­
dellen als dem rhodesischen nahe, und in der Tat fanden sich in den verschiedenen
Verfassungsvorschlägen, die die Nationalisten gegen Ende der 50er Jahre vorleg­
ten, deutliche Anklänge an das Vorbild des britischen Parlamentarismus57. Diese
Modelle traten jedoch mit dem Beginn des bewaffneten Kampfes zunehmend in
den Hintergrund. Statt dessen w urde der Bedeutungsinhalt von Demokratie z u ­
nehmend auf die Herrschaft der schwarzen Mehrheit nach M aßgabe des Prinzips
„one man one vote“ reduziert, während Meinungspluralismus und Parteienviel­
falt dem Prinzip der nationalen Einheit - im Befreiungskampf notwendiger als
zuvor - geopfert w urden 58. Die nur rudimentäre Ausbildung einer afrikanischen
c iv il s o cie t y während der rhodesischen Herrschaft sollte sich in fataler Weise auf
das nachkoloniale Zim babwe auswirken59.
55 S a lis b u r y D ec laration , 11. Dez. 1974, P u n k t 5, in: N yangon i, N y a n d oro, Indcpendence
M o vem en ts 296 f.
36 Vgl. etw a D a v id B eacb, N d e b e le R aid ers and S hona P ow er, in: J o u r n a l of A fric an H is t o r y
15 (1974) 633-651 u n d ders., T h e S ho na and Z im b a b w e 9 0 0 -1 8 5 0 (G w e r u 1990) 283 ff.; ders.,
T he S ho na and their N e ig h b o u r s (O x fo rd , C a m b rid g e , Mass. 1994) 25 ff., 125, 134 et passim.
D ie B e h a u p tu n g von Jack son, R o s b e r g , Personal R u le 22 w e g e n d e r ethnischen H e te ro ge n ität
hätten n ac h k o lo n ia le afrika n isch e Staaten nicht auf v o rk o lo n iale T radition en aufbauen k ö n ­
nen, geht von einem zu eng ge faßten, ko lo nialen E th nizitätsb egriff aus u n d trifft zu m in d e st
auf S im b a b w e nicht zu, w o s o w o h l w ic h tig e religiöse als auch S cn io ritätsp rin zip icn und
n ationale S y m b o le w ie G rea t Z im b a b w e ethnische D ifferenzen ü b e r w ö lb e n konnten.
57 N a tio n a l D em o c ra tic P a rty : Pro po sals for a n ew and revised C o n s t i t u t i o n for S outhern
R ho desia, 1960, in: N yangon i, N y a n d oro, In dep en d en ce M o v em en ts 3 4 -4 3 ; das Land sollte
die sem P ro g r a m m z u fo lg e n o c h nicht einm al R e p u b lik w e r d e n , s on dern un ter d er britischen
K rone ve rbleiben: ebd. 35.
58 Vgl. die p ro g r a m m atisc h e n Ä u ß e r u n g e n d e r verschiedenen O rg a n is a tio n en in: N yangoni,
N yan doro, I n d ep en den ce M o v em en ts, Z A N U (1963): 64 ff., F R O L I Z I (u m 1971) 171 ff.
A N C (1972) 231, Z A N U (1972) 250 un d die L u s a k a -D e c la r a tio n von 1974, 2 9 5 ff. Zu den
V oraussetzungen fü r eine d aue rhafte V era n k eru n g d er D e m o k r a tie in der p olitischen K ultur
vgl. S a m u e l P. H u n tin g ton , T h e T h ird W ave - D e m o c ra tiz a tio n in the Late T w cntie th C e n ­
t u r y ( N o rm a n , L o n d o n 1991) 263.
59 J ea n -F ra n cois Ba.ya.rt, C iv il s ociety in A fric a, in: Po litical D o m in a tio n in A fric a - Reflections on the L im its of Po w er, hrsg. von Patrick C h a b a l ( C a m b r id g e 1986) 109-129, h ier 111 f.
B a y a r t defin ie rt „civil s o c ie t y “ ge ra d ezu als gesellschaftlic he G e g e n m a ch t gegen den Staat.
Z im b a b w e : Von d er Sie dle rherrschaft z u m N ation alstaat
287
Auch wenn die ab 1980 regierende Z A N U (PF) bis in die 90er Jahre den M a r­
xismus-Leninismus zur Grundlage ihrer Politik erklärte und ins Parteiprogramm
aufnahm, blieben die konkreten Inhalte des von ihr angestrebten Sozialismus aus­
gesprochen vage60. Diese Vorstellungen von Sozialismus sind zu verstehen vor
dem Erfahrungshintergrund des rhodesischen Sozialstaats für die privilegierte
Minderheit. Ausdrücklich wurde Sozialismus nicht als Ergebnis von Klassen­
kampf angesehen, für den - in einer Argumentation, die der von N yerere ähnelt in Afrika keine Grundlage bestünde, sondern dem Nationalismus untergeordnet.
Das teilweise große Übergewicht internationaler Interessen in der rhodesischen
Wirtschaft61 w urde in dependenztheoretischer A rgumentation mit der rhodesi­
schen Minderheitsherrschaft in symbiotischer Verbindung gesehen und blieb nach
dem Sieg über die Siedler als H auptgegner übrig62. Das Plädoyer für einen sozia­
listischen Einparteienstaat wurde begründet mit der N otw endigkeit einer breiten
integrativen nationalistischen Front gegen diesen Feind63. D am it wird die Vorstel­
lung von Sozialismus dem Bestreben nach nationaler Souveränität untergeordnet,
die ihrerseits von völkerrechtlicher U nabhängigkeit auf ökonomische Selbstän­
digkeit ausgedehnt w ird 64. Die Folgen der Vorherrschaft des internationalen Ka60 Z im b a b w e A fric an N a tio n a l U n io n: M W E N J E N o . 2. Z A N U ’s p olitic al p r o g r a m m e, L u ­
saka, 1. A u g. 1972, in: N yangon i, N y a n d oro, In dep en d en ce M o v em en ts 2 4 9 - 2 6 5 , bes. 2 5 7 ff.
Vgl. d azu J e f f r e y H erbst, T h e C o n s e q u e n c es of Id e o lo g y in Z im b a b w e , in: Z im b a b w e in
transitio n, hrsg. von S im on B a yn h a m (S to ck ho lm 1992) 4 5 - 6 4 , hier 49 ff.; im folgenden
zitiert: H erbst, Ideolo gy. C olin S tonem an , L ionel C liffe, Z im b a b w e : Politics, Econ o m ics and
S o c ie ty ( M a r x is t R egim e s Series 29, L o n d o n , Newr York 1989) 3 7 ff.; im folgenden: Stoneman, C liffe, Z im b a b w e . D och selbst die „ P ar ty C o n s t it u t io n “ von 1996 hält noch am S o zia ­
lismus als Ziel fest: Z A N U PF^ P a r t y C o n s titu tio n , A rticle 2, 9.
61 S t e v e N oah C hinam asa M upanduki, Z im b a b w e - A n A n a ly s is of the Soc io -ec on om ic
G eo graph ical S ituatio n and Prospects (D issertatio n, H a m b u r g 1985) 153.
62 Vgl. etw a T heresa C h i m o m b e , F oreign C a p ita l, in: Z im b a b w e - T h e Po litical E c o n o m y of
T ransitio n 1980-1986, hrsg. von I b b o M andaza (H a ra r e 1987) 1 2 3-140 , hier 136 ff.
63 H e r b e r t U sh ew ok u nz e, T h e Po litical S y s te m in Z im b a b w e , in: S y m p o s iu m on P a rlia m en ­
ta ry and N a tio n a l Issues, hrsg. von O tto -B e n e c k e -S tiftu n g and Pa rlia m en t of Z im b a b w e
( B a d en -B a d en 1987) 131-134, hier 134; zu M ug a b c s religiös geprägten S o z ia lis m u s v o rs te l­
lu ngen s. Victor d e Waal, T h e Politics of R econ cilia tio n - Z im b a b w e ’s First D ecadc (L o n d o n ,
C a p e T o w n 1990) 116 ff. Zu den m ö glic h e rw eise p rim ä r h errsch aftspraktischen A sp ek te n
von M u g a b e s V orstellun gen vo m S o zia lism u s, s. Nikolaus Weiss, G r ü n d u n g u n d nationale r
A u fb a u der R e p u b lik Z im b a b w e - D ie p olitischen und ö ko n o m is c h e n G ru n d la g e n ih rer
E n t w ic k lu n g (D issertatio n H o h e n h e im 1984) 174. Schon 1972 ve rkn üp fte die Z A N U a n ti­
ko lo n ia le und antikapitalistisch e A rg u m e n ta tio n e n „In the ex istin g s ystem , A fric an la b ou r is
e m p lo y e d for the benefit of capitalist investors elsew h ere and is therefore alienated. Such
alienation d e s tr o y s the h u m a n p e r s o n a lity of the w o r k e r and does not a lw a y s m a k e it p ossi­
ble for h im to live d e c e n tly or dev elo p his full c ap acity .“ Z im b a b w e A fric an N a tio n a l U n io n:
M W E N J E N o . 2. Z A N U ’s Po litical P ro gra m m e , L u s a k a , 1. A u g . 1972, in: N yangon i, N yan ­
doro, In dep en d en ce M o v em en ts 24 9 -2 6 5 , hier 258.
64 M u g a b e selbst o rdnete dies in ein V ier-Stadien K o n ze p t d er U n a b h ä n g ig k e it ein, die p o li­
tische U n a b h ä n g ig k e it stelle das dritte S ta d ium dar, man m üsse als nächstes das vierte, die
ö ko n o m is c h e U n a b h ä n g ig k e it erreic hen; zit. in: C hristoph Reichert, D as neue Z im b a b w e G esellschaft im Ü b e r g a n g (ISSA, W issenschaftlic he R e ih e 18, B o nn 1984) 202. T ro tz der M o ­
difizieru nge n in d e r W irts ch a ftsp o litik findet sich diese A rg u m e n t a tio n in den W a h lp ro ­
gram m en der Z A N U PF von 1985 un d 1990 unverändert: Z A N U PF Election M anifesto
288
C h r is to p h Marx
pitals, als die das Privilegiensystem des Siedlerstaates in te rp re tie rt wurde, sollten
durch eine Ausdehnung des Sozialstaats auf die gesamte Bevölkerung überw un­
den werden. N a t i o n - b m l d m g wird erreicht durch den starken Staat, d.h. eine
handlungsfähige Regierung, die über eine funktionstüchtige Bürokratie für sozia­
len Ausgleich sorgt. Die Zielsetzung, Privilegien für wenige zu erhalten, wurde
nach der U nabhängigkeit ausgetauscht gegen das Bestreben, Wohlstand für alle
einzuführen. Weil beides einen starken Staat erfordert, erklärt sich daraus die
Kontinuität der politischen Strukturen von der Siedlerherrschaft zum N ational­
staat. Darum blieb bei allen wirtschaftspolitischen Richtungsänderungen seit 1980
der Staat stets im M ittelpunkt aller Konzeptionen63.
Von Rhodesien zu Zimbabwe:
Der „starke“ Staat der 80er Jahre
Als Fortsetzung des interventionistischen Sozialstaats mußte das unabhängige
Zimbabwe ein „starker“ Staat sein, der über die Strukturen und Ressourcen
gebot, die ihm die Einlösung der Versprechungen des Nationalismus erlauben
würde. Alle dirigistischen Instrumente der Siedlerherrschaft wurden beibehal­
ten, ja sogar ausgebaut und jetzt auf die Bevölkerungsmehrheit umorientiert66.
Der Grain M arketing Board schaltete von den Großfarmern auf die afrikani­
schen Kleinbauern als fortan wichtigste Zielgruppe um. Das Gesundheitssystem
w urde dezentralisiert, wobei ironischerweise in diesem Fall der Abbau des Zen­
tralismus die eindeutigste und nachhaltigste Ausgleichsmaßnahme und Verein­
heitlichung zustande bringen konnte67. Der Infrastrukturausbau wurde zum in­
dest in Gang gesetzt, indem die Verkehrswege in den Com m unal Areas erweitert
w urden 68, staatliche Behörden setzten M inim allöhne fest69, und vor allem im
Bildungsbereich w urde das staatliche Engagement in bislang ungekanntem Maß
ausgeweitet.
1985, 18 f., u. Election M an ifesto 1990, 4 u. 12. A u s einer dep en d e nzthe ore tisch en A r g u m e n ­
tation hera us ergib t sich das w ec hse lseitig a u ssch ließen de A lternativenpaar einer gem ein­
w ohlorientierten, weil binnenm arktoricntierten E n tw ic k lu n g gegen „externe W a c h st u m s im ­
pulse und S e lb s tp r iv ile g ie ru n g “ : R en a te K reile, Z im b a b w e : Von der Befreiungsbew egung zu r
Staatsm acht, in: Sozia lw issen sch a ftlic h e S tu d ie n 144 (S aarb rü cke n, Fort L a u d e rd a le 1990) 64.
65 C arolyn Jenkins, T h e Politics of Econ o m ic P o li c y - M a k in g in Z im b a b w e , in: Jo u r n a l of
M o d ern A frie an Studies 35 (1997) 57 5 -6 0 2 ; im fo lg enden zitiert: Jenk ins, P o lic y -M a k in g .
Fü r H erbst, State Politics 8 f. ist die etatistische E instellu ng, die dem Staat eine fü hrende Rolle
im Bereich der W ir tsch a ft zu schreib t, für viele Staaten m A frik a kenn zeich nend.
66 Herbst, Id e o lo g y 54 in terp retie rt die Ü b e r n a h m e d e r rhodes. K rie gsw irtsc ha ft d urch das
u n a b h ä n g ige Z im b a b w e als attrak tive A ltern ative fü r die u n er reic h b a re sozialistische U m ­
gestaltung.
67 Herbst, State Politics 191.
68 T hom as C biram ba, D er A u s b a u der technischen In fra stru ktur im län dlich en Z im b a b w e
(D issertatio n, K arlsruh e 1989) 14 ff.
69 H e r y st, State Politics 193 ff., bes. 215.
Z im b a b w e : Von der S ie dle rhcrrschaft zu m N ationalstaat
289
Die Absichtserklärung der Regierung, sich an die auf zehn Jahre festgelegten
Beschränkungen der staatlichen Handlungsfreiheit durch das Lancaster House
Abkommen zu halten, entsprang der Erkenntnis, daß nur auf diese Weise die in­
ternationale Glaub- und Kreditwürdigkeit Zimbabwes gewährleistet werden
könnte70. Die neue Regierung war auf das Expertenwissen der Weißen, vor allem
in der staatlichen Bürokratie, angewiesen und konnte sich einen umfassenden
Exodus nicht leisten. Damit verzichtete die neue Regierung auf zahlreiche Gestal­
tungsmöglichkeiten und ergab sich in einen Kompromiß, der sowohl in der rassi­
schen Aufteilung der Parlamentssitze einen wichtigen Aspekt des alten Systems
fortführte als auch die angestrebte wirtschaftliche Transformation auf Jahre hin­
aus fast unmöglich machte. Diese Einbuße in der politischen Gestaltungskapazität
kompensierte die Regierung dadurch, daß sie auch dort, wo es für die D urchset­
zung ihrer Ziele nicht notwendig gewesen wäre, Kontinuität zum untergegange­
nen Rhodesien wahrte, in den Bereichen nämlich, die die überwältigende Macht
des Staates gegenüber seinen Bürgern betrafen.
Die R egierung hätte gesellschaftlichen Gruppen stärkere Mitspracherechte ein­
räumen können, setzte aber stattdessen auf Repression und nutzte in den frühen
1980er Jahren alle Gelegenheiten, ihr Entscheidungs- und Regulierungsmonopol
durchzusetzen. Die ersten Jahre der U nabhängigkeit brachten gewissermaßen die
sekundäre Etablierung der Staatsmacht des nun auch völkerrechtlich unabhängi­
gen Staates, diesmal gegenüber denjenigen gesellschaftlichen Kräften, die durch
den Befreiungskampf auf stärkere Beteiligung am öffentlichen und politischen
Leben hofften71. In dieser Zeit ergriffen verschiedene Gruppen die Initiative, um
koloniale Ungerechtigkeiten zu beseitigen, wobei sie aut die U nterstützung oder
zumindest Tolerierung durch den Staat vertrauten. 1980/81 w urde Zim babwe von
einer Welle „wilder Streiks“ - insgesamt etwa 200 innerhalb weniger Monate überzogen, die vom Gewerkschaftsdachverband Z C T U , der im Februar 1981 auf
Regierungsinitiative gegründet worden w ar und fortan in enger A bhängigkeit von
der Regierungspartei Z A N U (PF) gehalten w urde72, nicht unter Kontrolle ge­
bracht werden konnten. Nach anfänglicher Tolerierung schlug die Polizei die
Streiks zum Teil mit Brachialgewalt nieder. In ähnlicher Weise manifestierte sich
nach einer anfänglichen Orientierungsphase das Erstarken des Staates gegenüber
/0 M f r e y D a vid o w , A Peace in S ou thern A frica- T h e L ancaster H o u s e C o n fer e n c e in R hodesia, 1979 (B o u ld e r 1984) 94, zu den V erh a n dlu n g en üb er die Verfassung s. ebd. 5 5 ff.
In den letzten K rie gsjahren w a ren die S taatsstru kturen stre ck en w eise z u sa m m e n g eb ro chen, vor allem in den östlichen L andesteilen d urch V olk skom ittces ü b e r n o m m e n w o rden :
Stonem an, Clifje, Z im b a b w e 100. Die L a n d b e v ö lk e r u n g w a r in ihren Fo rd eru n g en teilw eise
radik aler als die G ue rillero s selbst, in sbesondere die Ju g e n d lic h e n griffen die p atriarchalische
//»eage-Organisation der S ho na an: Normet. K riger, P o p u lä r S tru ggles in Z i m b a b w e s W a r of
National L ib eratio n, in: C u lt u r a l S truggle and D eve lo p m en t in S ou thern A fric a, hrsg. von
P reben K a a rsh olm (.Harare, L o n d o n , Po rtsm o uth, N H 1991) 125-148, hier 133.
L loyd Sacbik onye, Trade Unio ns, Economic and Political D ev e lo p m en t in Z im b a b w e
since In dependence, in: Keep O n K n o c k in g - A H is t o r y of the L a b o u r M o v e m e n t in Z im ­
b ab w e 1900-97, hrsg. von Brian R a ftop ou los und h in P h im ister (H a r a r e 1997) 107-127, hier
108 f.; im fo lg enden zitiert: S acbik on ye, Trade Unio ns.
290
C h ris t o p h M a rx
den „Squatters“. In vielen Teilen des Landes, insbesondere den östlichen, die die
Hauptlast des Befreiungskrieges getragen hatten, gingen landlose Bauern dazu
über, ungenutztes Land, das weißen Farmern gehörte, zu besetzen und zu b ew irt­
schaften. N ach anfänglichem Zögern und Tolerieren griff der Staat auch hier mas­
siv ein und vertrieb zahlreiche Squatters unter Einsatz von Polizei und M ilitär73.
Ganz offensichtlich ging es dabei nicht nur um die D emonstrierung von Rechtssi­
cherheit gegenüber der verunsicherten weißen Farmerschaft, sondern um die
Durchsetzung des staatlichen Entscheidungs- und H andlungsm onopols gegen­
über der afrikanischen Mehrheit. Autonom e und spontane Formen der Selbsthilfe
und Korrektur kolonialer U ngerechtigkeit sollten unterbunden werden. Dem
entspricht, daß man die während des Krieges entstandenen lokalen „Volkskomi­
tees“ nicht in die neuen Staatsstrukturen einbezog, sondern nach ihrer allmäh­
lichen Auflösung neue lokale Staatsstrukturen von oben einführte, die nicht der
Interessenartikulation der Bevölkerung dienten, sondern den Zentralstaat in die
ländlichen Regionen trugen74. Die Rechtsstaatlichkeit, auf die man sich berief, war
der Stärkung der Staatsmacht eindeutig untergeordnet, wie spätere Ereignisse
erhellten, als der Staat auch vor rechtlich zweifelhaften Mitteln nicht z u rü ck ­
schreckte, um nach Autonom ie strebende soziale Interessengruppen auszu­
schalten.
Der zimbabwische Staat übernahm ohne eigentliche N otw endigkeit auch den
rhodesischen Sicherheitsapparat, wobei bemerkenswerterweise weitgehend mit
dem Personal des rhodesischen Staates weitergearbeitet w urde - auch wenn die
Weißen allmählich ausschieden75. Durch die Einschleusung von ZA N U -Parteigängern wurden die Sicherheitskräfte - Armee, Polizei und Geheimdienste - w eit­
gehend auf die politische Linie der Regierungspartei festgelegt. Die Chance, D e­
mokratie nicht nur in Gestalt formal-demokratischer Prozeduren auf parlamenta­
rischer Ebene zu verankern, sondern den Repressionsapparat selbst auf das für ein
demokratisches Staatswesen notwendige und transparente M aß herunterzu­
schrauben, w urde bewußt nicht ergriffen. Die Regierung nutzte alle M öglichkei­
ten, die der Verfassungskompromiß des durch Großbritannien vermittelten L an ­
caster H ouse-A bkom m ens bot, um unter dem dünnen Firnis demokratischer In­
stitutionen die M acht der Exekutive auszubauen76. A m deutlichsten manifestierte
sich die Kontinuität zu Rhodesien in der Aufrechterhaltung des von Ian Smith
verhängten Ausnahmezustandes durch die Regierung M ugabe77. Die Begründung
für die Beibehaltung weitreichender Sicherheitsbefugnisse w urde nachgeliefert,
73 A n dré Astrow, Z i m b a b w e - A R ev o lu tio n L o s t its W a y ? (L o n d o n 1983) 18 0ff.; im fo lgen ­
d en zitiert: Astrow, R ev o lu tio n . H erb s t , State Po litics 6 7 ff. u. bes. 7 6 f.
74 Stonem an , Cliffe, Z im b a b w e , 42, 103 u. 111.
75 Weitzer, Tran sform in g 142 ff. D e r G eh eim d ie n st verfü gt üb er ein G eh eim b u d ge t, das d e r
p arlam entarischen K o n tro lle en tzog en ist: ebd. 146.
76 D a zu gehörte auch der A u fb a u einer eigenen P arteiarm ee in Gestalt d er Youth Brigade:
Weitzer, Tra n sfo rm in g 148.
77 D e r A u s n a h m e z u s t a n d w u r d e erst 1990 aufgehoben. Vgl. auch die, allerdin gs d r a m a ­
tisierte un d nicht im m e r g a n z verläßliche, D a r ste llu n g bei G e o r g e B. N, Ayittey, A fric a
B e tr a y e d ( N e w Y o rk 1992) 173 ff.
Z im b a b w e : Von d er Sie dle rherrschaft z u m N ation als taat
29 1
als die brüchige Koalition mit der PF -Z A PU unter Joshua N kom o in offenen
Konflikt überging, von dem bis heute nicht sicher ist, ob er nicht in kalkulierter
Weise von der Mehrheitspartei Z A N U PF provoziert w urd e78. In dem Zusam ­
menhang erwies sich die Politik der Tribalisierung durch den rhodesischen Staat
als w illkom m ener Vorwand für die Regierung Mugabe, um den Juniorpartner PFZ A PU als tribalistische, gegen die nationale Einheit arbeitende Partei zu denun­
zieren. Dieser Konflikt, der bis in kriegsähnliche Kampagnen überging, zu von
der Regierung toleriertem und verteidigtem Terror gegen die Zivilbevölkerung im
Matabeleland führte79 und erst mit der von der Z A N U PF erzwungenen A m alga­
mierung von Z A N U PF und PF -Z A PU im Jah r 1987 endete, verhalf dem neuen
zimbabwischen Staat, sein G ewaltmonopol dauerhaft und wirksam zu etablieren,
die verschiedenen Partei- und Privatarmeen der Bürgerkriegszeit80 endgültig ab­
zuschaffen und die alleinige Entscheidungs- und Fiandlungsbefugnis des Staates
in allen zentralen Bereichen von Sicherheit, Wirtschaft und Politik durchzusetzen.
1987 w urde durch eine Verfassungsänderung mit dem A m t eines Exekutiv-Präsidenten mit außerordentlich großer Machtfülle der autoritäre Grundzug nochmals
verstärkt81.
Ein weiteres wichtiges Mittel dazu w ar die Partei Z A N U PF. U nm ittelbar nach
der Unabhängigkeit begann ein umfassender Infiltrationsprozeß aller öffentlichen
und staatsnahen Institutionen mit Parteim itgliedern82. Trotz der Tatsache, daß die
Partei bei ihrem zweiten Kongreß im Jahr 1984 mit der Einrichtung eines Polit­
büros sich am Modell des „demokratischen Zentralismus“ osteuropäischer Staats­
parteien ausrichtete83, verlor sie mit ihrer Ausdehnung an politischem Eigen­
78 Weitzer, Tra n sfo rm in g 168 ff. D er T error der A r m e e in M a ta be lela nd ähnelte in fataler
W eise den „ cou nter in s u r g e n c y “ M a ß n a h m e n d er rhodesischen Sic herheitskräfte: ebd. 17 6ff.
79 M o to ( M ä r z 1995) 5 ff.; C a th o lic C o m m is s io n for J u s tic e and Peace, R e p o r t o n the 1980s
D is tu rban ces in M a t a b e lela n d and the M id la n d s ( M ä r z 1997), o nline-V ersion: M a il and
G u a rd ia n (Joh ann esb urg). Vgl. d agegen die offiziö se D a r ste llu n g des M in isters E m m erson D.
M n a n g a g w a , P o s t-in d e p e n d e n c e Z im b a b w e , in: T u rm o il and T e nacity - Z im b a b w e 1890—
1990, hrsg. von C anaan B anana ( H a r a r e 1989) 2 2 5 - 2 4 1 , hier 240.
80 Die an d er „ in tern en “ L ö s u n g beteiligten P o litik er M u z o r e w a und S itho le hatten sich P r i­
vatarm een zu gelegt, die neben den verschiedenen S p e zia ltru p p en des rhodesischen Staates
die L a n d b e v ö lk e r u n g terrorisie rten: S tonem an , C liffe, Z im b a b w e 100.
81 Welshman N cube, S h ep h a rd N z om be, C o n t in u i t y and C h a n g e in the C o n s titu tio n a l D e ­
v elo pm en t of Z im b a b w e , in: C u lt u r a l S truggle and D e v e lo p m en t in So u th e rn A fric a, hrsg.
von P r eb e n K a a rsh olm ( H a ra re, L o n d o n , P o rtsm o u th , N H 1991) 167-181, h ier 1 7 7 f. 1990
w u r d e ein E in k a m m e r- P a tia m e n t eingefü hrt un d die R eg e lu n g , daß d e r F ü h r e r d e r Z A N U
P F a u to m atisch K an d id a t d e r Partei fü r das A m t des Staatspräsid enten w u rd e .
82 N ordlund, O rg a n is in g 145 f. D ie d u rc h das L ancaster H o u s e A b k o m m e n eingefü hrte P u b ­
lic Service C o m m is s io n , die eine P o litisieru n g des öffentlichen D ienstes ve rhind e rn sollte,
k o nn te die sen P ro z e ß allenfalls brem sen. D ie Partei b eka n n te sich auch öffentlich zu die ser
Infiltration, die als n o t w e n d ig e r Schritt a uf d em W eg z u r U n a b h ä n g ig k e it angesehen w urde:
Z A N U PF Election M anifesto 1985, 9 f.
83 S tonem an , Cliffe, Z im b a b w e 7 9 f. D ie M itg lied e r des P o litb üro s w u r d e n von M u g a b e er­
nannt, nicht von d en Parte im itglie d ern g ew ählt. M u g a b e s elitäre A nsichten z u m A vantgard eC h a r a k t e r d er Partei w e r d e n d eutlich in: R o b e r t M u ga b e , T h e U n i t y A cc o rd : Its p r o m is e for
the fu ture, in: T u rm o il and T e n a c ity - Z im b a b w e 1890-1990, hrsg. von C anaan Banana
292
C h r is to p h M a rx
gewicht. Zwar w urde ihr offiziell die Rolle der programmatischen Führung und
die Kontrolle über die Regierung z ugewiesen84, doch geschah in W irklichkeit das
umgekehrte: Die Partei w urde durch zahlreiche Amtshäufungen in Führungs­
positionen von Ministern dominiert und zum reinen Transmissionsriemen der
Regierung in die Bevölkerung hinein85. Von der Partei gingen keine program m a­
tischen Weichenstellungen aus, diese wurden im Kabinett getroffen86. M it dem
Aufstieg zur Staatspartei war ein Machtverlust der Z A N U PF verbunden, der sich
in der Einrichtung eines eigenen M in istry of Political Affairs niederschlug, das für
die Verbindung von Staat und Partei zuständig w ar und das erst 1990 aufgegebene
Projekt eines Einparteienstaates vorbereiten sollte87.
Die Durchsetzung staatlicher Machtansprüche w urde erleichtert durch die
Schwäche der zim babwischen c i v i l society, die ihrerseits ein Erbe der rhodesischen
Siedlerherrschaft war. Konnten die weißen Interessenverbände ihre starke lobbyistische Einflußsphäre auch in Zimbabwe beibehalten und sogar ausbauen88, so
gelang dies den afrikanischen nie89. Die Z A N U hat nach 1980 die wenigen unab­
hängigen gesellschaftlichen Gruppen, die eine kritische Öffentlichkeit hätten her­
steilen können, unterworfen90. In ähnlicher Weise wurden die Guerillas nach 1980
aus dem politischen Leben weitgehend verdrängt91. Damit einher ging ein Ver­
such, alle Erinnerungen an den Befreiungskrieg zu unterdrücken, die dem offiziel­
len heroischen Selbstverständnis der Befreier widersprachen92. Gedeckt durch die
(H a r a r e 1989) 3 3 6 - 3 5 9 , hier 34 7 u. 359. D ie zentralistis ch en S tru k tu ren m itsam t ZK und
Po litb üro sind auch nach d er P a r ty C o n s t it u t io n von 1996 noch intakt: A rticles 6, 7 u. 10.
Z A N U PF Election M an ifesto 1985, 7.
85 Weitzer, T ra n sfo rm in g 140 ff.; S tonem an , Cliffe, Z im b a b w e 79 f.; H erbst, State Politics 173.
“ Herbst, State Po litics 109, 231 f., 240, 259 f. '
87 Dieses M in is te r iu m w u r d e 1992 nach z u n e h m e n d e r K ritik abgeschafft: N ordlund, O r g a ­
n isin g 181. A ngesich ts d er V orgänge in O s teu ro p a ließen sich die se Pläne selbst in nerhalb des
Z A N U - P o lit b iir o s nicht m eh r durc h se tz en u n d M u g a b e fand sich in d er M in d erh eit; zu der
H a lt u n g der B e v ö lk e r u n g z u m Einparteie nstaat s. J o n a th a n M oy o, Voting for D e m o c r a c y A S t u d y of Electoral Politics in Z im b a b w e (H a ra r e 1992) 129ff. u. 144ff.; im fo lg enden z i ­
tiert: M oyo, Voting. D en no ch sieht sich die Z A N U P F auch in ih rer P a r t y C o n s titu tio n von
1996 noch als V ertreterin des gesam ten Volkes von Z im b a b w e . In der P räam bel h eiß t es:
„ N o w therefore w e the repre sentatives of the p eople of Z im b a b w e in C o n g res s assemble d
and now- united and reco nstituted un d er the n am e of Z A N U P F .. . “
88 Herbst., State Politics 3 7 ff. et passim . D er R e g ie r u n g , die aut die Z u s tim m u n g der B e v ö l­
k e r u n g s m e h rh e it ang ew ie sen war, w a r die Fo rm des V erhandeln s mit den w eiß en Interessen­
verbän d en hin ter verschlossenen T ü re n offensic htlich nicht unrecht. M oy o, Votin g 22.
89 D ie w eißen In teressen verbän de hatten sich mit den s ch w a rzen w e n ig e r aus R assism us
nicht zu sam m e n gesch lo sse n, s on d ern w e il die Interessen etw a d er G r o ß fa rm e r und der
K le in bau ern viel zu sta rk d iv ergierten , um eine einheitlic he Lin ie e n t w ic k eln zu können:
Jenk ins, E o n om ic P o li c y -M a k in g 588.
90 Jon ath an M oyo, C iv il S o c ie ty in Z im b a b w e , in: Z a m b ezia 20, 1 (1993) 1-13, hier 7; im fo l­
genden zitiert: M oyo, C iv il Society. M oyo, V otin g for D e m o c r a c y 23.
91 Teresa A Barnes, the H e r o e s ’ Struggle: Life after the L ib eratio n W a r for F o ur E x -c o m b a ­
tants in Z im b a b w e , in: Soldie rs in Z i m b a b w e ’s L ib eratio n War, Bd. 1, hrsg. von N g w a b i
B h e b e und T eren ce R a n g er ( H a ra re, L o n d o n , P o rtsm o uth , N H 1995) 118-138.
92 Ein privates Proje kt, Z im b a b w e r z u m A ufschreib en ih rer Erinn eru ng en zu b ew eg en , was
einen R ie se n z u la u f erfuhr, w u r d e nach w e n ig en Tagen vom zim b a b w is c h e n Staat u n terb un -
Z im b a b w e: Von d er Sied lerh errsch aft z u m N a tio n als ta a t
293
sozialistische M odernisierungsideologie wurden nun auch die spirit rn ed iu m s an
die staatliche Leine gelegt, zumal etliche von ihnen sich zu Sprechern der bäuerli­
chen Interessen gegen den Staat auf%varten 93.
Die civ il s o c i e t y Zimbabwes beschränkte sich im wesentlichen auf diejenigen
Organisationen, die ihre Legitimation in ähnlicher Weise wie die Regierung aus
der Opposition gegen den Siedlerstaat bezogen und darum vor dem Zugriff der
neuen Regierung relativ sicher waren. Dies gilt in erster Linie für die Kirchen - be­
sonders für die katholische94 - , in deutlich abgeschwächtem M aß für die Studen­
ten. Unabhängige Intellektuelle wurden toleriert, doch w urd e den kritischen
unter ihnen wie dem Schriftsteller D am budzo M arechera wiederholt mangelnde
Volksnahe vorgeworfen95. D emgegenüber sind die G ewerkschaften und Bauern­
verbände in einer ausgesprochen abhängigen Position, aus der sich die G ew erk­
schaften seit Anfang der 90er Jahre mit einigem Erfolg zu befreien versuchten96.
Gründe für die Schwächung des Staates
Schon wenige Jahre nach der U nabhängigkeit geriet der zim babwische Staat mehr
und mehr in eine Schieflage. Zwischen dem überdim ensionierten Sicherheitsappa­
rat und der sozialstaatlichen Leistungsfähigkeit öffnete sich eine im m er größere
den: Flora Veit-Wild , D a m b u d z o M a rechera. A S ou rce B o o k on his Lif e and W o r k (H a ra re,
L o n d o n 1993) 3 2 7 1.; im folg enden zitiert: Veit-Wild, M arec h e ra . D ie A u t o n o m ie b e s tr e b u n ­
gen der G e w e rk s ch a ften in den 90er Ja h r e n sch lu gen sich auch d a rin nieder, d a ß m an sich u m
die eigene V ergan gen he it b em üh te: Ein O ral H is t o r y P ro je k t versuch t, neben d e r h e ro is ier­
ten G esch ic hte des B efreiun gskam pfes eine eigen stän dige G esch ichte d e r z im b a b w is c h e n
A rb e ite r b e w e g u n g zu rekon stru ie ren : J u li e Brittain, A note on the Z C T U O r a l H is t o r y P r o ­
ject, in: Keep O n K n o c k in g - A H is t o r y of the L a b o u r M o v e m e n t in Z i m b a b w e 1900-97,
hrsg. von Brian R a ftop ou los und Lm P h im ister ( H a r a r e 1997) 133 ft".
w T erence Ranger, R eligio n and W it ch cra ft in E v e r y d a y Life in C o n t e m p o r a r y Z im b a b w e ,
in: C u lt u r a l S tru g g le and D e v e lo p m en t in S ou thern A fric a, hrsg. von P r e b e n K a a rsh olm ( H a ­
rare, L o n d o n , P o r tsm o u th , N H 1991) 149-165, hier 159 f. S ylvester, Z i m b a b w e 75 u. 15 4f.
A uch die O r g a n is a tio n traditio neller Heiler, Z I N A T H A , die nte d e r K o n tro lle d er spirit
rn ediu m s ; zu Z I N A T H A s. auch G o rd on L. C h a v u n d u k a , T ra d itio n a l M e d ic in e in M o d ern
Z im b a b w e ( H a r a r e 1994) 23 ff. D ie s verhinderte je doc h k e in es w eg s , d a ß einze ln e, auch a u s ­
gesprochen lin k e Exp on en ten d er R egieru n gsp a rte i w ie H e r b e r t U s h e w o k u n z e , im m e r w i e ­
der den K o n ta kt z u spirit m e d i u m s suchten. Erst ab Ende d er 80er J a h r e zeigte die R e g ie r u n g
w ie d er eine A n n ä h e r u n g an spirit m e d iu m s, z u m a l der en M iß a c h t u n g zu U n z u f rie d e n h e it
unter der L a n d b e v ö lk e ru n g geführt hatte: s. z .B . Sonja M o lg ä r d J e n s e n , O u r Fo refa th e rs’
Blood - In te rview s from Z im b a b w e (o.O . 1992) 31.
94 ¡a n Linden, C h u r c h and State in R h o d es ia 1959-1979 ( E n tw i c k lu n g u n d F ried e n - W is ­
senschaftliche R eih e 21, M ü n c h e n , M a in z 1979) 19 0ff. M u g a b e ist selbst K atho lik .
<b D er b edeu ten dste u n a b h ä n g ige In tellektu elle in den frühen J a h r e n nach d e r U n a b h ä n g i g ­
keit w a r der (1987 verstorbene) Schrif tstelle r D a m b u d z o M a re c h e r a , d e r m eh rfa c h in K o n ­
flikt mit d er Staatsm acht geriet: D a v id C aute, M a rec h e ra in B la ck and W h ite , in: C u lt u r a l
S truggle and D e v e lo p m en t in So u th e rn A fric a, hrsg. von P r e b e n K a a rs h o lm ( H a r a r e , L o n ­
don, P o rtsm o u th , N H 1991) 9 5 -1 1 0 , hier 100f.
96 Sachikonye, T rade U n io n 119 ff.
294
C h risto p h M arx
Kluft. Der N iedergang des Sozialstaats resultierte weniger aus der sich rasch aus­
breitenden Korruption in den oberen Führungszirkeln, sondern vielmehr aus
strukturellen Widersprüchen zwischen den gleichzeitigen Ansprüchen, N ational­
staat und Sozialstaat zu sein.
Denn der Antagonismus gegen das internationale Kapital und das damit ver­
knüpfte Beharren auf nationaler Souveränität97 auch und gerade im ökonom i­
schen Bereich gruben die Ressourcen ab, die Zimbabwe zur Einlösung der sozial­
staatlichen Versprechungen benötigt hätte. Durch die strategische Entscheidung,
Zimbabwe von ausländischen Investoren weitgehend abzuschirmen, begab sich
die Regierung der unwiederholbaren Chance, die Wirtschaft des Landes aus der
Abhängigkeit von Rohstoffproduktion und Landwirtschaft und damit der struk­
turellen W eltmarktabhängigkeit zu entziehen, der sie ja in der Tat entkommen
wollte98.
M it dem Foreign Investment Com m ittee w urde eine Planungsinstitution auf
Kabinettsebene geschaffen, die bewußt überbürokratisiert war und mit endlosen
Entscheidungsvorgängen mögliche Investoren v erprellte". Der Triumph des star­
ken Staates gegenüber dem ausländischen Kapital konnte freilich nur von kurzer
Dauer sein, da Zimbabwe sich auf diese Weise der vielversprechenden M öglich­
keiten begab, die Autarkieleistungen des isolierten Rhodesien im Bereich der
industriellen Fertigung zur Ausgangsbasis eines t a k e - o f f zu machen, und im w e ­
sentlichen auf die Landwirtschaft als Grundlage der Nationalökonom ie zurück­
geworfen w u rd e 100. In einer realitätsfernen Weise wurde gleichzeitig dem Enteig­
nungsverbot der Großfarmen, w ie es im Lancaster H ouse-A bkom m en vorgese­
hen war, Rechnung getragen, die staatlichen Planungen aber dessen ungeachtet auf
Umsiedlungen und Expansion des kleinbäuerlichen Agrarsektors ausgerichtet.
N achdem den ersten fetten Jahren einige dürre folgten und die für die Landw irt­
schaft lebensnotwendigen Niederschläge während der Jahre 1982—85 weitgehend
ausblieben, hatte sich der zim babwische Staat die eigenen M achtgrundlagen ent­
zogen. Gegen Ende der 80er Jahre geriet er aufgrund seiner wachsenden A u s­
97 J ü r g e n R einhardt, O m a r Sham leh, Christian Uhlig, D er D ien s tleistu n gs s ek to r a u s g e w ä h l­
ter E n tw ic k lu n g s lä n d er: E n t w ic k lu n g s - un d han delspo litische A sp ek te - F alls tu d ie n M a l a y ­
sia, Jo r d a n ie n , Z im b a b w e (Fo rsc h u n g sb erich te des B u n d e sm in is teriu m s fü r w irtsch aftli ch e
Z u s a m m en a rb e it 94, M ü n c h e n , Köln, L o n d o n 1989) 163, 221 f. u. 240.
98 R h e to r ik un d politisches H a n d e ln d iv ergierten oft w eit. So w a r b die z im b a b w is c h e R e g ie ­
run g nach a ußen u m In vestoren, w ä h r e n d sie gleic hze itig deren E n ga ge m e n t zu verhindern
suchte; in ä hn lich er W eise w u r d e an einer sozialistisch en R h e to r ik festgehalten, selbst w en n
die R e g ie r u n g e in d e u tig die Interessen d er P riva tw irtsch aft förderte.
99 H erbst, State Po litics 113 ff. u. bes. 123 ff.; zu r in dustrie llen Basis zu r Zeit d er U n a b h ä n ­
gigkeit s. Pierre d u Toit, State B u ild in g and D c m o c r a c y in Sou thern A fric a - B o tsw a n a , Z im ­
bab w e, and S ou th A fric a (W ash in gto n , D .C . 1995) 117; d em g e g e n ü b e r b eh au ptet Astrow,
R ev o lu tio n 163 f., die R e g ie r u n g sei an Investitio nen w ir k lic h interessie rt g ew esen , ana lysie rt
aber nicht die E n tsc h e id u n gsvo rgä n ge, ebenso w ie er n ur die Investitionsi*te'c/?ie/z a u s lä n d i­
scher Interessenten vorstellt.
100 Vgl. auch S ylvester, Z im b a b w e 112 ff. u. H erbst, State Politics 113. Im Bereich der in d u ­
striellen F e r t ig u n g w u r d e d e r Staatsanteil w e ite r a usgebau t: Stonem an , Cliffe, Z im b a b w e
137 ff.
Z i m b a b w e : V on d e r S i e d l e r h e r r s c h a f t z u m N a t i o n a l s t a a t
295
landsverschuldung in die Abhängigkeit des Internationalen Währungsfonds, der
von seinen Strukturanpassungsprogrammen (seit 1990) bis hin zum Enteignungs­
verbot der weißen Großfarmen im Jah r 1997 viel massiver in die Souveränität tfes
zimbabwischen Staates eingriff als die M inenkonzerne das vermocht hätten101.
Die Folge w ar ein rascher Abbau des Interventionsstaates, indem z.B . die M ark e­
ting Boards entmonopolisiert und teilweise privatisiert, Handelsschranken ge­
lockert w u rd en 102. Auch der zim babwische Sozialstaat w urde demontiert, als er
seine Kompetenz zur Festlegung von Mindestlöhnen aufgeben mußte und 1991
sogar eine seiner größten Errungenschaften, den gebührenfreien Schulbesuch,
opferte103. Es spricht für die bis dahin noch vorhandene Stärke des Staates, daß er
eine solche Kehrtwende durchführen konnte.
Der zim babwische Staat führte die mehrfach angekündigten Enteignungen der
weißen Großfarmer nie aus, weil er von ihnen abhängig war, denn sie erwirtschaf­
teten mit ihren cash crop s die Devisen, die der Sozialstaat Zimbabwe dringend be­
nötigte. Die kleinbäuerliche Produktionserweiterung der frühen 80er Jahre w ar
von kurzer Dauer, da sie in ökologischen R andzonen erfolgte und der Boden dort
nach kurzer Zeit ausgelaugt war oder massive Erosionserscheinungen zeigte. Der
zimbabwische Staat setzte im wesentlichen die koloniale Landwirtschaftspolitik
fort. Im Gegensatz etwa zu Zambia ist die zimbabwische Bevölkerung bis heute
viel stärker ländlich geprägt - etwa 80% der Bevölkerung leben auf dem Land
so daß der Bevölkerungszuwachs einerseits, der ökologische Niedergang anderer­
seits, verschärft durch die U nwägbarkeiten der Niederschläge zu einer ökonom i­
schen Dauerkrise führten, die sich ständig vertieft. Dem Bevölkerungsdruck in
den C om m unal Areas, den ehemaligen Reservaten, konnte die Regierung wegen
der Vorgaben des Lancaster H ouse-A bkom m ens nicht mit Landenteignungen
weißer Farmer begegnen104. Industrie- und Dienstleistungssektor wuchsen zu
langsam, um die ständig zunehmende Zahl von Schul- und Hochschulabgängern
aufnehmen zu können, von denen nur ein Zehntel pro Jahr Arbeitsplätze finden
konnte105.
101 M it der E in r ich tu n g einer M in erals M a r k e t in g C o rp o r a t io n im J a h r 1982 k o n n te d er z im ­
b ab w ische Staat s o ga r seine K o ntrolle üb er die M in e n k o n z e r n e a usbauen: H erbst, State
Politics 153 f. Z u m n