schmerztherapie - Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin eV

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schmerztherapie - Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin eV
SCHMERZTHERAPIE
Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e. V. – DGS
23. Jahrgang 2007
3I2007
Ehemals StK
Inhalt
Editorial
Verunsicherung, Einschüchterung,
Missbrauch..................................... 2
Zertifizierte Fortbildung
Opioide – differenzierte Therapie ist
Goldstandard.................................. 4
Fragen zur Zertifizierung.............. 9
Schmerzkonsil
Teilbarkeit von oralen
Stufe-III-Opioiden......................... 11
Originalie
Erstes bundesweites Kopfschmerzbehandlungsnetz.......................... 12
DGS-Veranstaltungen/Interna... 15
Interdisziplinäre Fortbildung
Schmerzkonferenzen –
Palaver oder Chance?.................. 16
Onkologie
Moderne Chemotherapie nach
Maß.............................................. 18
Palliativmedizin
Optimale Palliativversorgung –
Wie ist das möglich?.................... 20
Medizin und Recht
Wie wird das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz umgesetzt?...... 22
Schmerz im Krankenhaus
Funktion des Akutschmerzdienstes........................................ 24
Internationale Presse ................ 25
Bücherecke................................. 26
Kasuistik
Rückenschmerzen........................ 27
Opioide – differenzierte Therapie
nach der inneren Uhr
www.dgschmerztherapie.de
ISSN 1613-9968
Editorial
Verunsicherung – Einschüchterung –
Missbrauch
Gerhard Müller-Schwefe,
Göppingen
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Verunsicherung, Einschüchterung und Missbrauch – typische Machtinstrumente
einer Diktatur – finden zunehmend Eingang in das bundesdeutsche Gesundheitswesen. Gerade in der schon defizitären schmerztherapeutischen Versorgung
hat dies fatale Konsequenzen.
Verunsicherung
Diejenigen von Ihnen, die eine nennenswerte
Zahl oder gar überwiegend Schmerzpatienten
betreuen, werden in den letzten Tagen und
Wochen „Prüfungen der wirtschaftlichen Verordnungsweise von Arznei- und Verbandsmitteln aufgrund von Überschreitungen ihres individuellen Richtgrößenvolumens für das Jahr
2005“ erhalten haben.
Nach § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 106
Abs. 5 a SGB V sowie § 84 Abs. 6 SGB V ist
bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens von mehr als 15% eine Wirtschaftlichkeitsprüfung durchzuführen.
Selbst wenn bei Ihnen Schmerztherapie
jahrelang als Praxisbesonderheit anerkannt
war, geraten Sie jetzt aufgrund der Gesund-
heitsreform in die Mühlen der Wirtschaftlichkeitsprüfung. Zwar werden im Vorfeld bereits
– je nach KV – Substanzen wie stark wirksame Opioide (WHO-Stufe III) und Gabapentin als Besonderheit herausgerechnet.
Zahlreiche andere Substanzen, die im Rahmen der Schmerztherapie essenziell sind wie
beispielsweise Stufe-II-Opioide, Antikonvulsiva wie z.B. Pregabalin, Antidepressiva, Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
oder auch antichronifizierende Substanzen
wie Flupirtin sowie Lokalanästhetika wie auch
Triptane oder Rezepturen zur intrathekalen
Opioidtherapie zur Pumpenbefüllung finden
zunächst keine Berücksichtigung, obwohl sie
seit Jahren unstrittig Bestandteil qualifizierter
Schmerztherapie sind.
Immer mehr Verunsicherung durch Wirtschaftlichkeitsprüfungen.
Natürlich können Sie jede einzelne dieser Verordnungen begründen und ihre Notwendigkeit
in der Summe auch darstellen – dies allerdings auf Kosten Ihrer eigenen Lebens- und
Arbeitszeit: Leicht ist hier einmal eine ganze
Arbeitswoche mit 50 Arbeitsstunden mit Statistik und Begründungsorgien zugebracht,
ohne dass ein einziger Patient besser versorgt wäre. Schlimmer noch wiegt, dass viele
Kollegen verunsichert sind und nicht nur ihr
Verordnungsverhalten ändern, sondern auch
keine Neigung mehr verspüren, sich der Probleme chronisch schmerzkranker Patienten
anzunehmen, bei denen auch die ärztliche
Arbeit ohnedies dem Rasiermesser der Leistungsbegrenzung zum Opfer fällt.
Einschüchterung
Einschüchterung ist auch das Prinzip, wenn
die Bundesregierung im Arzneimittelverordnungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz DDDs (Defined Daily Doses = angenommene tägliche
Dosierung) als Steuerungsgröße zur Verordnung von Medikamenten und insbesondere
auch von stark wirksamen Schmerzmitteln
einsetzt. Auf seiner Homepage definiert das
Bundesgesundheitsministerium in seinem
„Glossar zur Gesundheitsreform“ (www.diegesundheitsreform.de/glossar/durchschnittskosten_tagesdosis.html): „Für den Preisvergleich bieten die Angaben zur ‚Defined Daily
Dose’ (DDD, deutsch: durchschnittliche Tagesdosis) dem Arzt eine konkrete Orientierung. Die DDD ist eine Tablette mit normierter Wirkstärke oder Wirkstoffmenge. Sie
entspricht der Dosis, die bei einer bestimmten
Indikation im Durchschnitt und pro Tag erforderlich ist.“ Und weiter: „Die Regelung ist Teil
des Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz (AVWG). Es ist die Aufgabe der
Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen, die Durchschnittskosten vertraglich
festzulegen.“ Hier wird suggeriert, DDDs eigneten sich zum Vergleich verschiedener
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Editorial
Substanzen und verschiedener Arzneigruppen und ermöglichten es, die günstigste wirksame Therapie auszusuchen.
DDDs beschreiben Mangelversorgung
und nicht Therapienotwendigkeit
Um hier den Gesundheitsstrategen nicht erneut auf den Leim zu gehen, ist es wichtig,
Definitionen und Inhalte exakt zu kennen.
DDDs wurden explizit zum Vergleich des Verordnungsverhaltens in verschiedenen Ländern und Populationen definiert, um in Studien Versorgungsrealität vergleichbar abbilden zu können. In Anbetracht der bestehenden Mangelversorgung von Schmerzpatienten
sowohl was die ärztliche Versorgung als auch
was die pharmakotherapeutische Versorgung
angeht, wird verständlich, dass DDDs die die
aktuelle oder zurückliegende Verordnungsrealität widerspiegeln, immer eine Mangelversorgung beschreiben.
DDDs: keine Verordnungsrichtlinie
Die DDDs werden im Rahmen der anatomisch-therapeutisch-chemischen Klassifikation von Medikamenten (sog. ATC-Klassifikation, in der Wirkstoffe entsprechend dem Organ oder Organsystem, auf das sie einwirken,
und nach ihren chemischen, pharmakologischen und therapeutischen Eigenschaften
in verschiedene Gruppen eingeteilt werden)
vom WHO-Zentrum für die Erarbeitung der
Methodik der Arzneimittelstatistik (WHO Collaborative Centre for Drug Statistics Methodology) in Oslo jährlich neu beschrieben.
Ausdrücklich weist diese Arbeitsgruppe
darauf hin, dass DDDs (Defined Daily Doses)
und PDD (Prescribed Daily Dose = verordnete tägliche Dosierung) weit voneinander
abweichen können und mithin DDDs auf keinen Fall als Richtlinien für Verordnungsnotwendigkeiten herangezogen werden können.
Insbesondere im Bereich der stark wirksamen
Schmerzmittel vom Opioidtyp würde eine derartige Berechnung die bestehende Mangelversorgung festschreiben, was dem erklärten
Ziel der WHO explizit entgegenlaufen würde.
Darüber hinaus schreibt die für die Festlegung verantwortliche Arbeitsgruppe explizit
vor, dass DDDs nach Möglichkeit nicht verändert werden sollten, selbst wenn das Verordnungsverhalten in einem betroffenen Land
oder einer betroffenen Population sich massiv
verändert hat, da diese Größe ausschließlich
zur Anwendung in Vergleichsstudien kreiert
wurde und deshalb bei einer Veränderung der
Definition Langzeit- und Querschnittsuntersuchungen in Studien nicht mehr möglich sind.
Deshalb werden DDDs auch nicht den tatsächlichen Verordnungsrealitäten angepasst,
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Tabelle 1: DDDs verändern sich im Lauf der Zeit, Beispiele aus den USA
Hydromorphon
4 mg oral
Y20 mg oral (2004)
Morphin30 mg oral
Y
100 mg oral (1987)
Oxycodon30 mg oral
Y
75 mg oral (2004)
oder wenn, dann allenfalls in großen Zeitabständen. Im Bereich der stark wirksamen
Opioide wurden zwischen 1982 und 2007 Veränderungen der DDDs bei folgenden Substanzen in den folgenden Größenordnungen
vorgenommen, basierend auf Verbrauchsdaten aus den USA (Tab. 1).
Diese wenigen Beispiele zeigen bereits,
dass DDDs keine festgeschriebenen Größen
sind.
Missbrauch
Darüber hinaus stellt die WHO-Arbeitsgruppe
fest, dass auf ATC- und DDD-Zuordnung basierende Erstattungsregelungen, Preisvergleiche therapeutischer Gruppen oder Preisentscheidungen einen Missbrauch des Systems darstellen. Weiterhin stellt sie fest:
„DDDs spiegeln nicht notwendigerweise therapeutisch gleichwertige Dosen verschiedener Medikamente wider, und deshalb kann
nicht davon ausgegangen werden, dass sie
Tagesdosen darstellen, die gleiche Behandlungsergebnisse für alle Produkte innerhalb
einer ATC-Kategorie bringen … Es ist deshalb
nicht zulässig, dieses Maß zum Vergleich verschiedener Medikamente oder Medikamentengruppen zu verwenden.“
Opioide sind nicht beliebig
austauschbar
Die Aufforderung mancher Gesundheitspolitiker, Krankenkassen und Kassenärztlicher
Vereinigungen, Patienten, die stark wirksame
Schmerzmittel vom Opioidtyp benötigen,
seien mit einer bestimmten Mindestquote auf
das billigste generische Morphin umzustellen,
entbehrt damit jeder Grundlage, der Hinweis
im AVWG auf DDDs stellt eindeutig einen
Missbrauch dar.
Bereits in früheren Ausgaben von
SCHMERZTHERAPIE wurde ausführlich auf
die unterschiedliche Wirkweise wie auch Metabolisierung und Kinetik der verschiedenen
Opioide hingewiesen.
Das Märchen vom Arzt als
Arzneimittelverschwender
Wie der neu erschienene Arzneimittel-Atlas
des IGES-Institutes (http://www.iges.de/) aufzeigt, geht der 2006 nominal um 2% gestiege-
ne Arzneiverbrauch auf die zusätzliche Neueinstellung von rund 2,5 Millionen mehr Patienten mit Antihypertensiva (+ 1,18 Mio. Patienten), Lipidsenkern (+ 0,88 Mio. Patienten),
Säurehemmern (+ 0,4 Mio. Patienten) sowie
Antidiabetika (+ 0,14 Mio. Patienten) zurück
und nicht auf eine ausufernde Verordnung
sinnloser Analgetika.
Demotivation
Demotivation ist für viele Kollegen die Konsequenz aus dieser anhaltenden Verunsicherung, Einschüchterung und missbräuchlichen
Anwendung von Definitionen mit der Androhung wirtschaftlicher Konsequenzen in einem
System, das ohnedies nur durch die permanente Selbstausbeutung von Ärzten vor dem
Kollaps bewahrt wird. Von paritätischen Entscheidungen oder Sachverstand ist hier nur
wenig zu spüren.
„Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt …“
war das Motto der 68iger-Generation.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
heute ist es wieder an der Zeit, sich zu wehren und nicht unhinterfragt jeden Unfug, egal
ob er in Gesetzen oder Missinterpretationen
festgelegt ist, über sich ergehen zu lassen.
Kein Mensch kann vernünftigerweise erwarten, dass Ärzte die Verordnung der Medikamente ihrer Patienten aus der eigenen Tasche
bezahlen, nachdem sie ohnedies schon ihre
eigene Arbeit oft zu mehr als der Hälfte kostenlos zur Verfügung stellen. Die Definitionen
und rechtlichen Grundlagen sind klar und eindeutig. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir
uns wieder gemeinsam wehren und sinnlosen
Begründungsorgien wie auch dem bewussten
Missbrauch von Begriffen Einhalt gebieten.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, dass
Sie in Ihrem Urlaub viel Erholung und Energie
tanken, um sich gegen unsinnige Einschränkungen und Verdächtigungen effektiv wehren
zu können und grüße Sie herzlich.
❏
Ihr
Dr. med. Gerhard Müller-Schwefe, Präsident
Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e. V.
Zertifizierte Fortbildung
Opioide – differenzierte
Therapie ist Goldstandard
DGS
Aufgrund fehlender spezifischer organtoxischer Wirkungen spielen Opioide
im Rahmen schmerztherapeutischer Konzepte heute sowohl bei tumorals auch bei nicht tumorbedingten Schmerzen eine zentrale Rolle. Inzwischen
steht eine große Palette moderner Retardopioide zur Verfügung. Die
folgende Arbeit von Dr. med. Uwe Junker, DGS-Vizepräsident, und Hanna
Ludwig, beide Sanaklinikum Remscheid, versucht, auf der Grundlage der
bis heute vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse Möglichkeiten und
Grenzen der Schmerztherapie mit Opioiden im allgemeinen ebenso
zusammenzufassen wie deren mögliche patientenbezogene Differenzialindikation bei chronischen Schmerzen.
Indikationen für Opioide
Nicht retardierte und retardierte Opioide werden bei sehr unterschiedlichen Schmerzsyndromen eingesetzt. Gut dokumentiert ist der
Nutzen einer Opioidtherapie bei Tumorschmerzen, aber auch bei nicht tumorbedingten Schmerzen können Opioide wirksam
sein. Opioidsensitive Schmerzen lassen sich
mit Opioiden ausreichend lindern, ohne dass
limitierende unerwünschte Wirkungen auftreten. Opioidpflichtige Schmerzen sind jene
opioidsensitiven Schmerzen, bei denen Nichtopioide wegen ihren Nebenwirkungen unzumutbar sind, allein unzureichend wirken oder
für die eine Kontraindikation besteht [1].
Tumorschmerzen
Wie häufig behandlungsbedürftige Schmerzen
im Rahmen von Krebserkrankungen auftreten,
hängt von der Lokalisation und Pathophysiologie des Tumors ab. Tumoren, die ins Skelett
metastasieren, führen bei mehr als 85% der
Patienten zu Schmerzen. Dagegen geben nur
25–45% der Patienten mit Lymphomen und
Leukämien Schmerzen an. Tumorschmerzen
sind heutzutage zu 90% durch medikamentöse Konzepte mit Opioiden, Koanalgetika und
Adjuvanzien beherrschbar [2].
Nicht tumorbedingte Schmerzen
Im Hinblick auf nicht tumorbedingte Schmerzen ist die Wirksamkeit von Opioiden nur für
einige chronische Schmerzsyndrome in placebokontrollierten Studien nachgewiesen
worden, die sich außerdem nur auf wenige
Wochen erstreckten und teilweise beträchtliche Abbruchquoten nach der Titrationsphase
aufwiesen.
Zwar kann eine klare Indikation zur Langzeittherapie aus den bisherigen klinischen
Daten nicht abgeleitet werden, doch lassen
klinische Anwendungsberichte vermuten,
Abbildung 1: Wer ist opioidsensitiv?
Fall 1: Sensitiv,
zweite Dosis zu spät
Fraglich sensitiv,
evtl. Dosis erhöhen
Körperliche Folge einer längeren Zufuhr
Abhängigkeit einer Substanz
Nicht sensitiv
Schmerzintensität
8
6
4
Nach Junker
2
dass Opioide auch langfristig chronische nicht
tumorbedingte Schmerzen lindern können.
Eine Befragung von 121 Patienten mit chronischen, nicht durch eine maligne Erkrankung
verursachten Schmerzen und einer mindestens über drei Jahre andauernden Therapie
zeigte eine gleichbleibend gute Wirksamkeit
der Opioide bei initialen Therapierespondern
ohne Hinweise auf Toleranzentwicklung und
belegte darüber hinaus die Vorteile regelmäßiger Kontrolle in qualifizierten schmerztherapeutischen Einrichtungen [3, 4].
Für die Wirksamkeit von Opioiden ist dabei
der Pathomechanismus nicht primär entscheidend. Opioide können also sowohl bei Nozizeptorschmerzen als auch bei neuropathischen
Schmerzen wirksam sein. Wirksamkeit muss
individuell mittels Verlaufsdokumentation, z. B.
in Form eines Schmerztagebuches, ermittelt
werden (Abb. 1). Der früher propagierte „i.v.Morphintest“ gilt heute als obsolet [1].
Tabelle 1: Kriterien [5]
10
0
Hanna Ludwig und Uwe Junker, Remscheid
7
10
14
18
Uhrzeit
22
7
10
14
18
22
7
10
14
18
22
Retardopioid
Entzugssymptomatik nach
Absetzen oder nach Applikation eines Antagonisten
(sehr variabel)
Substanz kann daher nicht
abrupt abgesetzt werden
Psychische Verlangen nach angenehmen
Abhängigkeit oder Vermeidung unange
nehmer psychotroper Wir
kungen stehen für den Pati
enten im Vordergrund
Tendenz zur Selbstschädigung/zum sozialen Rückzug
in Einzelfällen
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Zertifizierte Fortbildung
Keine Indikationen [1, 2]
Nach dem derzeitigen Wissensstand ist von
einer Langzeitanwendung von Opioiden bei
folgenden Schmerzsyndromen und Störungen
dringend abzuraten:
■ primäre Kopfschmerzen,
■ funktionelle kardiale, gastrointestinale,
urologische oder gynäkologische Störungen,
■ somatoforme und andere psychisch mitbedingte Schmerzformen,
■ Schmerzattacken mit schmerzfreien Intervallen, z. B. bei Trigeminusneuralgie.
Bei unklarer Indikation und/oder Hinweisen
auf psychische Begleit- oder Grunderkrankungen oder auf eine ungünstige Krankheitsverarbeitung sollten die Patienten vor einem
Therapieversuch mit Opioiden in einer interdisziplinären Schmerzkonferenz oder
Schmerzklinik vorgestellt werden (siehe dazu
Beitrag S. 16–17).
Abhängigkeit [5, 6]
Als Abhängigkeit ist ein Zustand definiert,
der durch die Entwicklung einer psychischen
(seelischen) und/oder physischen (körperlichen) Abhängigkeit und/oder durch die Entwicklung einer Toleranz gekennzeichnet ist
(Tab. 1). Dabei besteht der Zwang, ein Arzneimittel immer wieder einzunehmen und die
Dosis zu erhöhen. Das Abhängigkeitsrisiko
wird von der Substanz, der Dosis, der Applikationsart, der Dauer der Anwendung und
der Persönlichkeit des Anwenders mitbestimmt.
Nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ist bei korrekter Anwendung und
Indikation die Gefahr einer psychischen Abhängigkeit durch moderne Retardopioide
sehr gering [6]. Dennoch ist die prinzipielle
Gefahr nicht von der Hand zu weisen. Nach
einer aktuellen Übersichtsarbeit stellen Verhaltensauffälligkeiten im Sinne psychischer
Abhängigkeit durch Opioideinnahme bei nicht
tumorbedingten Rückenschmerzen mit einer
Häufigkeit von 24% keine Seltenheit dar [7].
Eine iatrogene Opioidabhängigkeit tritt am
ehesten bei chronischen Schmerzen auf, die
unzureichend auf ihre Opioidsensitivität geprüft wurden oder wenn Begleiterkrankungen
in ihrer Bedeutung für die spätere Therapie
unterschätzt wurden.
Opioide nehmen unter den psychotropen
Substanzen jedoch keine Sonderstellung
ein. Die psychische Abhängigkeit ist beispielsweise bei Benzodiazepinen sehr viel
häufiger.
Die nachfolgend genannten wichtigsten
Prinzipien einer rationalen Therapie mit Opioiden sind unbedingt zu beachten:
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Tabelle 2: Basisanalgetikum Opioid und sinnvolle Kombinationen
Schmerzform
Mittel der 1. Wahl
Alternativen
Knochen- und Gelenkschmerz
Cox-2-Hemmer, NSAR
z.B. Bisphosphonate
Muskelschmerz
Flupirtin
Metamizol
Viszeraler Schmerz
Metamizol
Butylscopolamin
Phantomschmerz
Gabapentin, Pregabalin
Trizyklische Antidepressiva
Calcitonin
Sonstige neuropathische
Schmerzen
Gabapentin, Pregabalin
Trizyklische Antidepressiva
Carbamazepin
+ invasive/nicht invasive Therapieoptionen
■ Vor
Beginn einer Opioidtherapie müssen
eine exakte Schmerzanamnese durchgeführt, die Indikation möglichst interdisziplinär überprüft und die Therapie individuell geplant werden.
■ Wichtig ist eine gewissenhafte Aufklärung
des Patienten, die eine realistische Zielsetzung beinhaltet, d. h. vor allem keine
Schmerzfreiheit verspricht.
■ Bei der Langzeitanwendung von Opioiden sind von Anfang an Präparate mit retardierter Galenik oder langer Wirkungsdauer zu bevorzugen. Schnelle Anflutung
fördert die Entwicklung von psychischer
Abhängigkeit.
■ Immer die niedrigstmögliche, wirksame
Opioiddosis anstreben, keine Opioidmonotherapie durchführen, sondern orientiert am Schmerzmechanismus passende
Nichtopioid- und/oder Koanalgetika kombinieren (Tab. 2)
■ Dosisanpassung, Schmerzprophylaxe
und regelmäßige Dosierung entsprechend der Wirkdauer des Opioids müssen individuell erfolgen. Arzt und Patient
kontrollieren den Erfolg der Behandlung.
■ Bei Unwirksamkeit eines Opioids oder
Dosiseskalation muss die Indikation erneut geprüft und evtl. ein Opioidwechsel
erwogen werden.
■ Bei Erfolg der Therapie mit Opioid: Patientenaktivierung durch multimodale Therapiekonzepte.
Was heißt „Erfolg”?
Eine erfolgreiche Therapie muss keine
Schmerzfreiheit erzielen wollen, sondern vor
allem ein erträgliches Schmerzniveau (VAS
3–5). Zudem soll der Nachtschlaf sichergestellt und ggf. die Zeit bis zum Beginn einer
Kausaltherapie überbrückt werden.
Für Patienten mit chronischen Schmerzen
stehen oft die Wiederherstellung bzw. Erhaltung der Mobilität und weitere funktionelle
Aspekte des alltäglichen Lebens im Vor-
dergrund. Nicht zuletzt ist im Rahmen einer
Langzeittherapie die nachhaltige Verträglichkeit ein wichtiger Faktor.
Das WHO-Stufenschema und
aktuelle Empfehlungen [8–10]
1986 verabschiedete die WHO in Genf ein
Stufenschema zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten, um der seinerzeit dramatischen Unterversorgung dieser Patienten
mit potenten Analgetika entgegenzuwirken.
In den folgenden Jahrzehnten wurde dieses
Konzept als didaktisches Leitgerüst auch für
die Therapie von Nicht-Tumorschmerzen
mehr und mehr akzeptiert.
Im Jahr 2005 hat die internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes
(IASP) das Stufenschema hinsichtlich seiner Effizienz retrospektiv evaluiert und daraus Konsequenzen hinsichtlich zukünftiger
Empfehlungen für die Behandlung von Tumorschmerzpatienten abgeleitet. Diese Erkenntnisse sind auch in die aktuellen Empfehlungen der Arzneimittelkommission der
deutschen Ärzteschaft zur Behandlung von
Tumorschmerzen eingeflossen. Diese befürworten, das traditionelle Stufenschema nicht
dogmatisch-starr zu befolgen, sondern individuell für jeden Patienten zu interpretieren
und am zu erwartenden Analgetikabedarf zu
orientieren.
So macht es beispielsweise auch beim
opioidnaiven Tumorpatienten Sinn, bei zu
erwartender Progredienz des Leidens gleich
mit einem starken Opioid der WHO-Stufe III
in niedriger Dosis zu beginnen, um dem Patienten unangenehme Situationen wie z. B.
Schmerzdurchbrüche oder Überdosierung
mit zentralen Nebenwirkungen im Rahmen
eines Opioidwechsels zu ersparen. Abbildung 2 zeigt, wie das WHO-Stufenschema
der Zukunft aussehen könnte. Ebenso wie
das ursprüngliche Stufenkonzept, gelten
auch diese Empfehlungen primär für die Indikation „Tumorschmerz“.
Zertifizierte Fortbildung
Abbildung 2: Stufenschema der Zukunft?
Mod. n. Pain, Clinical Updates, Vol. XIII, 5, 2005
WHO III
Stark wirksame Opioide in mittlerer
und hoher Dosierung
WHO II
Stark wirksame Opioide
in niedriger Dosierung
WHO I
Peripher wirksame Analgetika
Ausgewählte Opioidanalgetika und
ihre möglichen Differenzialindikationen [11, 12, 13]
Tramadol und Tilidin/Naloxon
Die Bedeutung dieser schwachen (Tramadol)
bzw. mittelstarken (Tilidin/Naloxon) Opioide
der WHO-Stufe II nimmt im Indikationsbereich
Tumorschmerz gegenwärtig ab. Tilidin/Naloxon zeichnet sich gegenüber Tramadol nicht
nur durch seine höhere analgetische Potenz
aus, sondern auch dadurch, dass bei Niereninsuffizienz keine Kumulation auftritt. Außerdem wirkt die Substanz weniger obstipierend
als Tramadol, was sich auf eine periphere,
prähepatische Wirkung des Opioidantagonisten Naloxon auf Opioidrezeptoren im Darm
während des First-Pass-Effekts zurückführen
lässt.
Bei manifester Leberinsuffizienz ist Tilidin/
Naloxon kontraindiziert, da die Aktivierung
der Pro-Drug Tilidin zum analgetisch wirksamen Nortilidin einer intakten hepatischen
Metabolisierung bedarf. Unter Tramadol treten
infolge serotoninerger Begleiteffekte deutlich
häufiger Übelkeit und Erbrechen sowie insbesondere bei älteren Patienten kognitive
Beeinträchtigungen auf.
Während Tilidin/Naloxon Vorteile bei Patienten mit Obstipationsanamnese und Niereninsuffizienz aufweist, fällt es schwer, für Tramadol bei chronischen Schmerzen noch ein
spezifisches Indikationsprofil zu definieren.
Opioide der WHO-Stufe III
Morphin
Morphinsulfat wird bedauerlicherweise auch
heute noch in den Empfehlungen der WHO
und der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft als Opioid-Goldstandard
genannt. Dies obwohl inzwischen moderne
Retardopioide existieren, die analgetisch po-
tenter sind, ein günstigeres Nebenwirkungsprofil haben und die nicht zuletzt eine deutlich
bessere Retardgalenik aufweisen. In letzter
Zeit mehren sich zudem die Hinweise auf eine
immunsuppressive Wirkung von Morphinsulfat. Besser wäre es daher, traditionelles Morphin zukünftig als „Referenzsubstanz“ zu bezeichnen.
Morphin ist in zahlreichen retardierten
Zubereitungen einsetzbar, für Durchbruchsschmerzen stehen sowohl schnell freisetzende Morphinsulfattabletten als auch eine
Morphinlösung zur Verfügung.
Statt bei starkem Schmerz grundsätzlich
eine Opioidtherapie mit Standardmorphin zu
beginnen, sollten heute eher individuelle Faktoren wie Schmerzcharakter und -rhythmus
sowie Morbidität des einzelnen Patienten in
den Fokus gerückt werden, bevor man sich
für das eine oder andere starke Opioidanalgetikum entscheidet.
Oxycodon und Oxycodon/Naloxon
Oxycodon ist doppelt so stark wirksam wie
Morphin. Aufgrund einer biphasischen Resorptionsgalenik kommt es zu einem raschen
Wirkeintritt bei zugleich langer Wirkdauer von
bis zu zwölf Stunden. Neuere Arbeiten zeigen,
dass Oxycodon anderen Opioiden bei viszeralen und neuropathischen Schmerzen überlegen zu sein scheint. Bei beiden Schmerzarten kommt es zu einer Hochregulation von
κ-Opioidrezeptoren, zu denen Oxycodon eine
hohe Affinität besitzt. Schnelle Anflutung bei
zugleich langer Wirkdauer ist vorteilhaft im
Bereich der perioperativen Schmerztherapie.
In diesem Zusammenhang stellt die jetzt
ebenfalls verfügbare intravenöse Applikationsform eine ideale Ergänzung dar.
Der Wirkstoff Oxycodon wird inzwischen
auch von diversen Generika-Herstellern an-
geboten. Das BfArm hat darauf hingewiesen,
dass es im Gegensatz zum Originalpräparat
bei gleichzeitigem Genuss von höherprozentigen Alkoholika zu einer beschleunigten Freisetzung des Wirkstoffes mit entsprechenden
zentralnervösen Nebenwirkungen kommen
kann.
Oxycodon-Retardtabletten sind in zahlreichen Wirkstärken verfügbar, neuerdings
in der 10- und 20-mg-Dosierung auch in der
Kombination mit dem Opioidantagonisten
Naloxon, der peripher-prähepatisch an Opioidrezeptoren im Darm wirkt. Erste Studienergebnisse zeigen unter dem Kombinationspräparat eine signifikant geringere Obstipationstendenz bei gleichbleibender analgetischer
Wirkung.
Hydromorphon
Hydromorphon zeichnet sich wie Oxycodon
durch eine hohe orale Bioverfügbarkeit aus.
Es ist etwa achtmal so stark wirksam wie Morphin. Hydromorphon hat bei multimorbiden
Patienten unter Polymedikation entscheidende Vorteile, die auch im Hochdosisbereich
erhalten bleiben: Die Metabolisierung erfolgt
weitestgehend unabhängig vom CytochromP450-Enzymsytem, dem Hauptkatalysator
des Arzneistoffwechsels. Darüber hinaus trägt
auch die sehr geringe Plasmaeiweißbindung
dazu bei, Kumulation und Interaktion mit anderen Arzneistoffen zu vermeiden.
Aktuelle Arbeiten deuten darauf hin, dass
diese Vorteile insbesondere bei alten, multimorbiden Patienten zum Tragen kommen.
Hydromorphon ist in verschiedenen Wirkstärken verfügbar, sowohl als zweimal täglich zu
applizierende Retardkapsel als neuerdings
auch in Form einer Langzeit-Retardtablette,
die den Wirkstoff mittels eines osmotischen
Systems gleichmäßig über 24 Stunden freisetzt. Vorteile der zweimal zu applizierenden
Retardkapsel sind einerseits, dass man die
erforderliche Dosis dem individuellen Bedarf
des Patienten im Tagesverlauf anpassen
und andererseits die Kapsel bei schluckunfähigen Patienten aufbrechen und die darin
enthaltenen Pellets ohne Verlust von Wirkung
und Retardierung über eine Sonde verabreichen kann. Für Durchbruchschmerzen steht
schnell freisetzendes Hydromorphon in zwei
verschiedenen Wirkstärken zur Verfügung.
Wie Oxycodon ist nun auch Hydromorphon
als intravenöse Applikation verfügbar, eine
sinnvolle Bereicherung des therapeutischen
Spektrums, z. B. wenn in der Finalphase eines
Tumorleidens die Applikationsform geändert
werden muss.
Aufgrund seiner auch im Hochdosisbereich
sehr günstigen pharmokologischen und -kine-
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Zertifizierte Fortbildung
Transdermale Systeme: Fentanyl und
Buprenorphin
Fentanyl ist ca. 200-mal stärker analgetisch
wirksam als Morphin. Mittels einer PolymerMatrix wird der Wirkstoff gleichmäßig über 72
Stunden freigesetzt. Stabile Plasmaspiegel
werden wie beim transdermalen Buprenorphinsystem nach ca. zwölf Stunden erreicht.
Letzteres zeichnet sich durch eine noch effektivere Retardierung aus und muss nur alle vier
Tage gewechselt werden.
Seit Kurzem ist ein neues Pflaster für
den Niedrigdosisbereich im Handel, das
nur einmal in der Woche gewechselt werden
muss. Beide Systeme – insbesondere aber
Buprenorphin als partieller Opio­idantagonist
– führen in etwas geringerem Ausmaß zur
Obstipation als die starken oralen Opioide.
Statistisch signifikant sind diese Unterschiede allerdings nicht. Eine aktuelle Untersuchung bei 12 000 Palliativpatienten zeigt
hinsichtlich Obstipation keinerlei Vorteile
für transdermales Fentanyl im Vergleich zu
oralen Retardopioiden [13].
Im Gegensatz zu Fentanyl kumuliert
Buprenorphin nicht bei Niereninsuffizienz und
bindet nicht wie die meisten Pharmaka an Serumalbumin, sondern ganz überwiegend an
α- oder γ-Globuline, wodurch das Arzneimittelinteraktionsrisiko minimiert wird. Wie Oxycodon verfügt auch Buprenorphin über eine
hohe Affinität zu κ-Opioidrezeptoren, die bei
chronischen viszeralen und neuropathischen
Schmerzen eine wesentliche Rolle spielen.
Fentanyl ist vorteilhaft bei Patienten mit Leberschäden, da es bei Leberinsuffizienz nicht
kumuliert.
Als wirkstoffgleiche Medikation für Durchbruchschmerzen stehen transmukosales
Fentanyl als Lutschtablette und Buprenorphin
als Sublingualtabletten zur Verfügung.
Beide Pflastersysteme stellen wertvolle
Bereicherungen unseres therapeutischen
Arsenals dar. Bedingt durch ihre träge Kinetik sind sie allerdings weniger geeignet für die
Therapie von Schmerzen mit hohem Opioidbedarf und häufigen Durchbruchschmerzen.
Mit über 70% Verordnungen war transdermales Fentanyl im Kollektiv der starken
Opioide in den letzten Jahren die am häufigsten eingesetzte Substanz – Folge eines
geschickten Marketings und nicht Ergebnis
klinischer Studien, wie auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in
ihren aktuellen Empfehlungen zur Therapie
von Tumorschmerzen feststellt.
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Tabelle 3: Potenzielle Differenzialindikationen der genannten Opioide
Symptom/Erkrankung
Mittel der Wahl
Obstipation
1. Wahl: Tilidin/Naloxon, Oxycodon/Naloxon
2. Wahl: (Fentanyl TTS), Buprenorphin TTS
Übelkeit, Erbrechen
Methadon, Fentanyl TTS, Morphinpumpe
Dysphagie
Transdermale Systeme/Morphingranulate (sondengängig)
Juckreiz
„Trial and Error“ nach analgetischer Wirksamkeit,
Methadon
Verwirrtheit, Schwindel
Neuropathie ± Viszeralschmerz
Oxycodon ± Naloxon,
Buprenorphin
Histaminliberation, Methadon
Analgetikaasthma, morphininduzierte Hyperalgesie Dosisreduktion, Kombination mit Methadon
Polymedikation
Hochdosisbereich
Hydromorphon, Buprenorphin TTS
Hydromorphon
Niereninsuffizienz
Buprenorphin, (Hydromorphon)
Leberfunktionsstörung
Fentanyl TTS, (Hydromorphon)
Levomethadon
Levomethadon ist als Reservesubstanz bei
therapieresistenten Opioidnebenwirkungen
wie z. B. Juckreiz oder – selten – Morphinasthma oder opioidbedingter Hyperalgesie
oder ansonsten nicht zu beherrschenden
neuropathischen Schmerzsyndromen einzustufen. Sie bietet einige Besonderheiten, die
sie in der Hand des schmerztherapeutisch
Unerfahrenen gefährlich machen: Die Eliminationshalbwertszeit von etwa 72 Stunden
überdauert die zwischen sechs und zwölf
Stunden variierende analgetische Wirksamkeit deutlich. Interindividuell stark unterschiedliche Plasmaspiegel aktiver Metabolite
bergen das Risiko einer Kumulation, sodass
nach drei bis sieben Tagen eine Dosisreduktion um 20–30% versucht werden sollte. Eine
kontrolliert-retardierte Zubereitung von Levomethadon existiert nicht.
Tab. 3 fasst die Differenzialindikationen aller besprochenen Opioide zusammen.
Bildarchiv B. Lemmer
tischen Eigenschaften könnte Hydromorphon
zukünftig den Goldstandard der Opioidtherapie bei Tumorschmerzen darstellen.
Abb. 3: Schon der Botaniker von Linné beschäftigte sich mit biologischen Rhythmen.
Zertifizierte Fortbildung
Chronopharmakologische
Aspekte [14]
Lange und ultralange Retardierungen von
Opioidpräparaten waren wesentliche Neuentwicklungen der letzten Jahre. Trotz aller
nicht wegzudiskutierenden Vorteile wie z. B.
Schmerztherapie im Sinne einer Schmerzprophylaxe, sehr langsame Anflutung und
damit geringe Suchtgefahr entlässt uns auch
die beste Retardierung nicht aus der Pflicht,
den individuellen „Schmerzrhythmus“ eines
jeden Patienten im jeweiligen Therapiekonzept zu berücksichtigen (Abb. 3). Erfahrungsgemäß erfordern unterschiedliche Schmerzentitäten auch entsprechend variable Konzepte: So hat beispielsweise der Tumorpa­
tient zwischen 10 und 18 Uhr den höchsten
Analgetikabedarf, der Patient mit rheumatoider Arthritis in den frühen Morgenstunden
(Abb. 4 und 5). Für die individuelle Therapie
mit Opioiden bedeutet dies in der Praxis:
Orale Retardpräparate mit zwölfstündiger
Wirkung können je nach Bedarf morgens
oder abends in unterschiedlicher Dosis verabreicht werden. Bei Verwendung ultraretardierter oraler Zubereitungen oder transdermaler Systeme müssen häufig Opioide
schnell anflutender und kurz wirksamer Galenik ergänzt werden.
Zusammenfassung
Die heute zur Verfügung stehende Palette
von Retardopioiden erlaubt eine differenzierte Therapie, orientiert am Schmerzmechanismus und an der individuellen Morbidität des
einzelnen Patienten. Entscheidende Voraussetzungen für den Therapieerfolg sind insbesondere sorgfältige Anamnese, Schmerzdiagnose und Indikationsstellung vor Einsatz
eines Opioids sowie die Einbindung der medikamentösen Therapie in multimodale Therapiekonzepte. Hinsichtlich der Aspekte
Langzeittherapie mit und ohne Differenzialindikation von Opioiden sollten weitere Studien
folgen.
❏
Abbildung 4: Patientengesteuerter Bedarf an Hydromorphon zu verschiedenen
Tageszeiten bei acht Karzinompatienten [14].
Bedarf in 4 Std. [Mittelwert ± SD]
4
3
2
Mod. n. B. Lemmer [14]
1
0
02.00
06.00
10.00
14.00
18.00
22.00
Tageszeit
Abbildung 5: Patienten mit rheumatoider Arthritis: Zirkadiane Zytokinspiegel und
klinische Symptome.
300
IL-6
200
IL-10
pg/ml
Mod. n. Cutolo et al. 2005, zit. n. B. Lemmer
IFN-γ
TNF-α
150
sTNF-R75
100
Literatur
1.Junker U, Kniesel I. Opioide und Cannabinoide in
Junker U, Nolte T (Herausgeber), Grundlagen der
Speziellen Schmerztherapie. München, Urban &
Vogel, 2005.
2.Zenz M, Donner B. Schmerz bei Tumorerkrankungen, Interdisziplinäre Diagnostik und Therapie. Stuttgart, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2002.
3.Won A, Lapane KL, Vallow S, Schein J, Morris JN,
Lipsitz LA. Long-term effects of analgesics in a
population of elderly nursing home residents
with persistant non-malignant pain. J Gerontol A
Biol Sci Med Sci 2006;61:165–169.
4.Maier C, Schaub C, Willweber-Strumpf A, Zenz M.
Langfristige Effekte von Opioiden bei Patienten
mit chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen. Ergebnisse einer Nachuntersuchung 5 Jahre
nach Ersteinstellung. Der Schmerz 2005;19:410–
417.
5.Dertwinkel R, Wiebalck A, Zenz M, Strumpf M.
Orale Opioide zur Therapie chronischer Nicht-Tumorschmerzen. Anästhesist 1996;45:495–505.
6.Aronoff GM. Opioids in chronic pain management: Is there a significant risk of addiction? Curr
Rev Pain 2000;4:112–121.
7.Martell BA, O´Connor PG, Kerns RD et al. Systematic review: opioid treatment for chronic back
pain: prevalence, efficacy and association with
addiction. Ann Intern Med 2007;146:116–127.
8.World Health Organisation. Cancer pain relief.
Genf: World Health Organisation, 1986.
9.World Health Organisation. Cancer pain relief:
with a guide to opioid availability. Genf: World
Health Organisation, 1990.
10 . Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Tumorschmerzen. AVP-Sonderheft Therapieempfehlungen, 2007.
11.Junker U, Schmitz A, Busche P, Freynhagen R.
Schmerz- und Symptomtherapie bei Tumorpatienten. Klinische Onkologie 2007/2008 (im
Druck).
12.Freynhagen R, Schmitz A, Busche P, Junker U.
Leitthema: Schmerztherapie und Symptomkontrolle in der Palliativmedizin. Der Gynäkologe
2007;40:168–177.
13.Weschules DJ, Bain KT, Reifsnyder J, MaMath
JA, Kuppermann DE, Gallagher RM, Hauck WW,
Knowlton CH. Toward evidence-based prescribing at end of life: a comparative analysis of sustained-release morphine, oxycodone and transdermal fentanyl with pain, constipation and caregiver interaction outcomes in hospice patients.
Pain Med 2006;7(4):320–9.
14.Lemmer B. Chronopharmakologie: Tagesrhythmen und Arzneimittelwirkung. Stuttgart, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 3. Auflage, 2004.
Weitere Literatur bei den Verfassern und im
Internet unter www.cme-punkt.de
50
Uhrzeit
17.00
21.00
01.00
05.00
09.00
13.00
17.00
Uwe Junker und Hanna Ludwig, Remscheid
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
CME-Herausgeber- und Review-Board:
Dr. Gerhard Müller-Schwefe, Göppingen; Dr. Thomas Nolte,
Wiesbaden; Priv.- Doz. Dr. Michael Überall, Nürnberg
DGS
Zertifizierte Fortbildung
In Zusammenarbeit mit der Bayerischen Landesärztekammer
und der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie e.V. – DGS
Fragen zum Thema: „Opioide – differenzierte
Therapie ist Goldstandard“
Hier können Sie CME-Punkte sammeln a) für die Pflichtfortbildung aller
Vertragsärzte und b) für freiwillige Fortbildungszertifikate, die viele Landesärzte­
kammern anbieten. Die Multiple-Choice-Fragen beziehen sich auf den vorangegangenen Fortbildungsbeitrag (S. 4–8). Die Antworten ergeben sich aus dem Text.
Wenn Sie 70% der Fragen richtig beantworten, erhalten Sie 2, bei 100% 3 CMEPunkte. Es wird jeweils nur eine richtige Antwort gesucht. Teilnehmen können Sie
nur via Internet über www.cme-punkt.de (Einzelheiten siehe nächste Seite).
Unter www.cme-punkt.de finden Sie alle
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des Zeitschriftentitels „Schmerztherapie“ finden Sie die derzeit aktive zertifizierte Fortbildung und die entsprechenden Fragen. Unmittelbar nach Ausfüllen des Fragebogens sehen Sie, ob Sie
bestanden haben.
Einsendeschluss ist der 20. Februar 2008.
1. Welche Aussage ist richtig?
A Die Wirksamkeit von Opioiden zur Behandlung chronischer nicht maligner
Schmerzen ist nicht nachgewiesen.
BOpioide sind ausschließlich zur Therapie
von Tumorschmerzen indiziert.
C Opioide können sowohl bei Nozizeptorschmerzen als auch bei neuropathischen
Schmerzen wirksam sein.
DPatienten mit somatoformen oder psychisch bedingten Schmerzformen sollten
unbedingt einer Langzeittherapie mit
Opioiden zugeführt werden.
EOsteoporose ist eine Kontraindikation für
den Einsatz von Opioiden.
2. Welche Aussage im Rahmen der Patientenaufklärung vor Beginn einer
Therapie chronischer Schmerzen mit
Opioiden ist nicht richtig?
A Unter einer Therapie mit Opioiden besteht grundsätzlich kein Risiko einer körperlichen oder psychischen Abhängigkeit.
BEin realistisches Therapieziel ist z. B.
eine Reduktion der Schmerzintensität um
bis zu 50%.
CBesonders zu Beginn der Therapie, im
Rahmen von Dosisänderungen und bei
Substanzwechsel können Fahrtüchtigkeit
und Kognition eingeschränkt sein.
DVorsicht ist bei Einnahme anderer zentral
wirksamer Substanzen wie etwa Alkohol
angebracht, da sich hier Nebenwirkungen
verstärken können.
EIm Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie kann die Kombination mit physi-
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
kalischen und/oder psychotherapeutischen Maßnahmen notwendig sein.
3. Welches der folgenden Medikamente
lässt sich je nach Schmerzentität gezielt mit einem Opioid kombinieren?
1.
2.
3.
4.
5.
Trizyklische Antidepressiva
Cox-2-Hemmer
Bisphosphonate
Antikonvulsiva
Orale Antidiabetika
A
B
C
D
E
Nur Antwort 1 ist richtig.
Nur Antworten 1 und 2 sind richtig.
Nur Antworten 1, 2 und 3 sind richtig.
Nur Antworten 1, 2, und 4 sind richtig.
Alle Antworten sind richtig.
4. Welche Vorteile bietet die retardierte
Formulierung von Opioiden in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen?
1.Analgesie über 24 Stunden ohne Phasen
der Über- oder Unterdosierung
2. Gewährleistung der Nachtruhe
3. Verbesserung der Patientencompliance
4.Euphorisierender „Kick“ durch schnelle
Anflutung
A
B
C
D
E
Nur Antwort 1 ist richtig.
Nur Antworten 1 und 2 sind richtig.
Nur Antworten 1 und 3 sind richtig.
Nur Antworten 1, 2 und 3 sind richtig.
Alle Antworten sind richtig.
5. Welche Aussage zur Therapie von
Durchbruchschmerzen ist richtig?
AZur Therapie von Durchbruchschmerzen
sollte ein Stufe-III-Opioid möglichst rasch
transdermal appliziert werden.
B Durchbruchschmerzen erfordern oft die
zusätzliche Gabe unretardierter, schnell
wirksamer Opioide.
CDurchbruchschmerzen sollten grundsätzlich intravenös mit einem rasch anflutenden Opioid behandelt werden.
DUm eine Überdosierung zu vermeiden,
sollten retardierte Opioide nach der Verabreichung eines Opioids wegen Durchbruchschmerzen vorübergehend abgesetzt werden.
EIst eine adäquate Dauermedikation chronischer Schmerzen gewährleistet, können keine Schmerzspitzen auftreten.
6. Welche Aussage zur Therapie mit
einem Stufe-II-Opioid nach dem traditionellen WHO-Stufenschema trifft zu?
1.Ein Stufe-II-Opioid wird eingesetzt, wenn
sich die Schmerzen durch die erste Therapiestufe nicht oder nicht ausreichend
beherrschen lassen.
2. Stufe-II-Opioide sind mittelstarke Opioide.
3.Der klinische Nutzen der WHO-II-Opioide
im Indikationsbereich „Tumorschmerz“ ist
Gegenstand aktueller Diskussionen.
A Nur Antwort 1 ist richtig.
B Nur Antworten 1 und 2 sind richtig.
Zertifizierte Fortbildung
C Nur Antworten 1 und 3 sind richtig.
D Nur Antworten 2 und 3 sind richtig.
E Alle Antworten sind richtig.
7. Welche Aussage zur Behandlung
chronischer Schmerzsyndrome nach
dem WHO-Stufenschema ist aus heutiger Sicht richtig?
1.Das WHO-Stufenschema ist grundsätzlich strikt zu befolgen.
2.Je nach Schmerzursache und Intensität
kann zunächst ein Versuch mit einem
Nichtopioidanalgetikum als Monotherapeutikum unternommen werden (WHOStufe I).
3.Beim Wechsel von WHO-Stufe I auf Stufe
II sollten Nichtopioidanalgetika der Stufe I
möglichst rasch abgesetzt werden.
4.Stufe-III-Opioide in niedriger Dosierung
können unter Umgehung mittelstarker
Opioide bei Tumorschmerzen bereits bei
Behandlungsbeginn eingesetzt werden.
5.Nach den Grundregeln der Schmerztherapie der WHO sollten Analgetika, falls irgend möglich, intravenös verabreicht
werden.
A Nur Antwort 1 ist richtig.
B Nur Antworten 1 und 2 sind richtig.
C Nur Antworten 2 und 4 sind richtig.
D Nur Antworten 2 und 3 sind richtig.
E Antworten 1, 2 und 3 sind richtig.
8. Welche der folgenden Aussagen trifft
nicht zu?
AOxycodon kann auch in der perioperativen Schmerztherapie eingesetzt werden.
BTilidin/Naloxon und Buprenorphin kumulieren nicht bei Niereninsuffizienz.
CHydromorphon hat Vorteile bei Patienten
unter Multimedikation.
DGegen Obstipation unter Opioiden entwickeln Patienten keine Toleranz.
ETransdermales Fentanyl ist das Opioid
der Wahl für Patienten mit hohem Opioidbedarf und häufigen Durchbruchschmerzen.
9. Welche Aussage trifft zu?
1.Die fixe Kombination von Oxycodon mit
dem Opioidantagonisten Naloxon verursacht deutlich seltener Obstipation als
andere starke Opioide.
2.Transdermales Fentanyl kumuliert nicht
bei Leberinsuffizienz.
3.Bei Hydromorphon spielt der Abbauweg
über das Enzymsystem Cytochrom P 450
keine entscheidende Rolle.
A Nur Antwort 1 ist richtig.
B Nur Antworten 1 und 2 sind richtig.
C Nur Antworten 1 und 3 sind richtig.
D Nur Antworten 2 und 3 sind richtig.
E Antworten 1, 2 und 3 sind richtig.
10. Welche Aussage trifft nicht zu?
ABei gleich bleibendem Schmerzniveau
und mittlerem Opioidbedarf sind transdermale Systeme gut geeignet.
B Chronopharmakologische Aspekte spielen in der Schmerztherapie keine Rolle.
CTumorpatienten haben in der Regel tagsüber den höchsten Analgetikabedarf.
DOrale Retardopioide können zweimal täglich in unterschiedlicher Dosis verabreicht
werden.
EOxycodon und Hydromorphon können
auch intravenös appliziert werden.
So kommen Sie zu Ihren Punkten:
Die Teilnahme ist nur möglich via Internet unter www.cme-punkt.de.
Dort melden Sie sich als Arzt an und
finden unter dem Kopf der Zeitschrift
SCHMERZTHERAPIE die derzeit aktive
zertifizierte Fortbildung.
Damit der Fragebogen für die Zertifizierung ausgewertet werden kann, benötigen wir von Ihnen die Einheitliche Fortbildungsnummer EFN.
Sie erhalten via Internet unmittelbar
Rückmeldung darüber, ob Sie die Fragen
richtig beantwortet haben oder nicht,
und können die Bescheinigung sofort
ausdrucken. Wir empfehlen, die Bescheinigungen gesammelt bei Ihrer Landesärztekammer einzureichen.
Wir führen auf dieser Seite auch ein
elektronisches Punktekonto für Sie. Bei
erfolgreicher Teilnahme werden Ihre Daten an den Einheitlichen Informationsverteiler (EIV) der Ärztekammern weitergegeben.
Nähere Hinweise hierzu unter:
www.cme-punkt.de/faq.html
Teilnahmeschluss ist der 20.2.2008
Viel Glück beim Punktesammeln!
Kopf- und Gesichtsschmerzen in der Praxis
 In diesem aktuellen Leitfaden werden erstmals die Neuerungen der IHS (International
Headache Society) berücksichtigt. Praxisnah schildert Priv.-Doz. Dr. med. Volker Limmroth,
Köln, die Kopfschmerzdiagnostik und -therapie auf der Grundlage aktuellster wissenschaftlicher Erkenntnisse. Didaktisch neu ist, dass die Krankheiten nach der Dauer ihrer klinischen
Symptomatik gegliedert werden. Durch den ersten Abschnitt der primären Kopfschmerzerkrankungen zieht sich die Zeitachse wie ein roter Faden. Im zweiten Abschnitt werden die sekundären symptomatischen Kopfschmerzen abgehandelt. Diese sekundären Kopfschmerzen
sind zwar weit seltener, aber in der Regel klinisch deutlich gefährlicher und dürfen bei der
Ausschlussdiagnose nicht übersehen werden. Der handliche Praxisleitfaden ist für Allgemeinmediziner, Neurologen, Internisten und Psychiater sowie alle Fachgruppen, die sich mit Kopfschmerzen differenzialdiagnostisch beschäftigen, empfehlenswert. Er gewährt eine rasche
StK
und gut erfassbare Übersicht. Volker Limmroth: Kopf- und Gesichtsschmerzen. Diagnostik und Therapie auf der Basis der 2. IHS-Klassifikation und der Therapie-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. 192 S., 30 Abb., 65
Tab., kart., 26,95 €, ISBN-Nr. 978-3-7945-2319-1, 2006, Schattauer Verlag, Stuttgart.
10
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Schmerzkonsil
Teilbarkeit von oralen Stufe-III-Opioiden
Knapp ein Drittel aller verordneten Tabletten werden vor der Einnahme von
ambulanten Patienten geteilt (Rodenhuis et al., 2004). Diese gängige Praxis
hat allerdings nicht nur Vorteile, sondern birgt auch einige Risiken für die
Arzneimitteltherapie und ist speziell bei den modernen retardierten Opioiden
der Stufe III zum Teil völlig unsinnig, warnt Dr. Ingrid Spohr, Limburg /Lahn.
Gründe
Die Gründe für das Teilen von Tabletten sind
vielfältig. Oft ist es zu Therapiebeginn die
Angst, den Patienten überzudosieren. „Jetzt
nehmen Sie erst einmal eine halbe Tablette,
und dann schauen wir weiter“, ist ein Ratschlag, der jedoch bei den meisten starken
oralen Opioiden risikobehaftet und durch kleine Wirkstärken (z.B. Oxygesic® 5 mg) mittlerweile auch nicht mehr notwendig ist.
Manchen Patienten fällt auch das Schlucken besonders großer Tabletten schwer. Dort
könnten Darreichungsformen wie Palladon®
retard von Vorteil sein, wo die Kapseln geöffnet und die retardierten Granula über weiche
Nahrung gestreut und eingenommen werden
können. Nicht zu unterschätzen sind auch
rein wirtschaftliche Gründe für das Teilen von
Tabletten. Durch das Verordnen von höheren
Wirkstärken und deren anschließende Teilung
sollen die Arzneimittelkosten gesenkt werden.
Risiken
Demgegenüber sollten allerdings auch die
Risiken des Teilens von Tabletten nicht außer
Acht gelassen werden. Das Teilen von Tabletten ist aufwendig, erfordert von den Patienten
eine gewisse Geschicklichkeit und kann von
Patienten mit vermindertem Sehvermögen,
eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten oder
eingeschränkter Fingerfertigkeit nicht ohne
Weiteres durchgeführt werden. Außerdem
sind nicht alle Patienten bereit, ihre Tabletten
zu teilen, was zu einer Abnahme der Compliance führen kann. Interessanterweise sind
über drei Viertel der Patienten bereit, mehr für
ihre Medikamente auszugeben, wenn sie eine
geringere Wirkstärke verordnet bekommen
und die Tabletten nicht teilen müssen (Quinzler & Häfeli 2006).
Ein überaus wichtiger Punkt beim Teilen
oraler Stufe-III-Opioide ist der Sicherheitsaspekt. Sind die Tabletten erst einmal aus dem
kindergesicherten Blister entfernt, sind die
geteilten Hälften unter Umständen für Kinder
frei zugänglich.
Nicht teilbare Stufe-III-Opioide
So handelt es sich bei Targin® (10/5, 20/10
mg) um retardierte Matrixtabletten, die nicht
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
geteilt werden dürfen. Die Matrix besteht aus
einem hydrophoben Zellulosepolymer und
einem langkettigen aliphatischen Alkohol. Das
Verhältnis von Polymer und aliphatischem
Fettalkohol zueinander stellt die gleichmäßige
Freisetzung der aktiven Substanzen sicher.
Die Freisetzung von Oxycodon und Naloxon
beginnt an der Tablettenoberfläche (kurze Diffusionswege mit rascher Freisetzung) und
setzt sich durch Lösung und Diffusion in der
Tablettenmatrix fort (lange Diffusionswege mit
verzögerter Freisetzung).Diese biphasische
Freisetzung und Resorption der Wirkstoffe
führt zu einem Beginn der analgetischen Wirkung innerhalb von einer Stunde. Danach
verursachen die retardierte Freisetzung und
Resorption der Wirkstoffe einen analgetisch
effektiven und konstanten Blutspiegel über
ein 12-Stunden-Dosierungsintervall.
Bei einer Teilung der Tablette wird dieses
Matrix-System zerstört und der Wirkstoff wird
zu schnell und unkontrolliert freigesetzt.
Auch bei Oxygesic® (5–80 mg) handelt es
sich um retardierte Matrixtabletten, die ebenfalls nicht geteilt werden dürfen.
Das bei Oxygesic® verwendete Matrixsystem (Acrocontin®-System) enthält das hydrophobe Acrylpolymer Eudragit® RS. Nachdem
ein geringer Teil des Wirkstoffs Oxycodon aus
der äußersten Tablettenschicht freigesetzt ist,
was aufgrund der kurzen Diffusionsstrecke innerhalb von ca. 30 Minuten erfolgt, quillt das
Eudragit® RS. Dadurch kommt es zu einer
Erniedrigung des Diffusionskoeffizienten und
damit zu einer langsameren, retardierten Freisetzung des Wirkstoffs aus der Matrix über
einen Zeitraum von zwölf Stunden.
Bei einer Teilung der Tablette wird dieses
Matrixsystem zerstört und der Wirkstoff zu
schnell und unkontrolliert freigesetzt. Es kann
zu relativen Überdosierungen bei nicht ausreichender Wirkdauer kommen.
Ingrid Spohr,
Limburg /Lahn
zug kontrolliert. Der Filmüberzug ist teilweise
wasserlöslich, wodurch nach der Einnahme
feinste Poren gebildet werden, durch die das
Hydromorphon freigesetzt wird. Durch die unterschiedliche Größe dieser Granula wird die
Wirkdauer gesteuert.
Die Hartgelatinekapsel dient nur als „Transportmedium“, hat selbst keine Retardfunktion
und löst sich innerhalb weniger Minuten im Magen auf. Sie kann daher auch geöffnet und der
Inhalt auf weiche Nahrung gestreut werden.
Die Granula dürfen allerdings nicht weiter
zerkleinert werden (nicht zerkauen!). Auch
eine Teilung des Kapselinhalts in gleich große
Portionen ist schwierig. Aufgrund der unterschiedlichen Größe der Granula müssten von
jeder Granulagröße die gleichen Mengen in
den verschiedenen Portionen sein. Das ist
technisch fast unmöglich.
Bei Palladon ® 1,3/2,6 mg Hartkapseln
(unretardiert) ist das Hydromorphon-Hydrochlorid dagegen in Granula ohne Filmüberzug eingebettet. Die unretardierten Granula
können daher aus pharmazeutischer Sicht
unbedenklich zerkleinert oder in Wasser suspendiert werden.
In der Regel genügt ein Blick in die Fachoder Gebrauchsinformation der jeweiligen
Präparate, in der genau beschrieben ist, ob
Tabletten teilbar sind oder nicht.
❏
Ingrid Spohr, Limburg /Lahn
Fragen, Kritik, Anregungen
Schreiben Sie an die Redaktion
E-Mail: [email protected]
Was darf geteilt werden?
Bei Palladon® retard (4–24mg) handelt es sich
um Hartgelatinekapseln, die mit filmüberzogenen Granula gefüllt sind, aus denen der
Wirkstoff Hydromorphon retardiert freigesetzt
wird. Die Freisetzungsrate des Wirkstoffs aus
diesen Granula wird durch diesen Filmüber-
11
Integrierte Versorgung
Erstes bundesweites
Kopfschmerzbehandlungsnetz
Das neue koordinierte Versorgungskonzept der Techniker Krankenkasse
bedeutet für Kopfschmerzpatienten einen Meilenstein. Es ermöglicht eine
bundesweite sektorenübergreifende Vernetzung der ambulanten und
stationären Therapie. Die Versorgung Hand in Hand, ein Mehr an Wissen,
ein besserer Informationsaustausch zwischen allen Beteiligten und die
gemeinsame Arbeit mittels klar definierter Behandlungspfade sind die Basis
für zeitgemäße und effiziente Behandlungsergebnisse, die Prof. Dr. med.
Dipl.-Psych. Hartmut Göbel, Neurologisch-verhaltensmedizinische Schmerzklinik und DGS-Leiter Kiel, beschreibt.
D
ie Regelversorgung von Kopfschmerzpatienten erfolgt in abgegrenzten Sektoren des Gesundheitssystems. Viele Betroffene mit chronischen Kopfschmerzen behandeln sich aufgrund mangelnder Effizienz außerhalb des professionellen Bereichs. Sie informieren sich im Bekanntenkreis, über die
Publikumspresse und in der Apotheke über
die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten
bei Kopfschmerzen. Durch die nicht zufriedenstellende Behandlung brechen sie oft eine
professionelle Therapie ab und weichen frustriert auf Außenseitermethoden aus.
Systembedingte Chronifizierung
von Schmerzen
Über Monate und Jahre entwickelt sich dann
eine weitere Chronifizierung der Kopfschmerzerkrankung, schwerwiegende Organkomplikationen und schwerwiegende psychische Konsequenzen führen die Patienten
dann wieder in die medizinische Behandlung
zurück. Dabei entstehen jedoch sehr hohe
direkte und indirekte Kosten, die zu diesem
Zeitpunkt dann oft nicht mehr mit der primären
zugrunde liegenden Kopfschmerzerkrankung
in Verbindung gebracht werden. Bei Entstehung eines Kopfschmerzes bei Medikamentenübergebrauch werden parallel zur kontinuierlichen Einnahme von Akutmedikamenten
über Jahre und Jahrzehnte vielfältigste diagnostische und therapeutische Maßnahmen
durchgeführt. Diese schließen wiederholte
bildgebende Diagnostik sowie umfangreiche
unspezifische ambulante Maßnahmen, wiederholte stationäre Behandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen ohne sektorenübergreifende Interaktion ein.
Eine sektorenübergreifende koordinierte
stationäre Behandlung bei Kopfschmerz durch
Medikamentenübergebrauch zur Durchführung einer Medikamentenpause oder zur
12
Durchführung eines Medikamentenentzugs
erfolgt in Deutschland nur an wenigen Kliniken. Insbesondere wird in der Regel keine
längerfristige präventive Behandlung nach
Abschluss der stationären Phase eines Medikamentenentzugs angeboten, sodass nach
kurzer Zeit wieder ein Rückfall in den Medikamentenübergebrauch ohne therapeutischen
Langzeiteffekt folgt. Eine strategische Weiterbehandlung fehlt, das spezielle schmerztherapeutische Wissen zur Klassifikation und
Diagnostik der oft multiplen zugrunde liegenden Kopfschmerzerkrankungen steht für die
Versorgung nur eingeschränkt zur Verfügung.
Der Rückfall und die erneute Chronifizierung sind so vorprogrammiert. Außerhalb
spezialisierter Versorgungseinrichtungen ist
zudem eine intensive verhaltensmedizinische
Therapie von schwer betroffenen Patienten in
Form von speziellen verhaltensmedizinischen
Therapien, Entspannungsverfahren, edukativen Verfahren, Biofeedback, kognitiven
Verfahren und Stressbewältigungstrainings
etc. kaum verfügbar, obwohl gerade diese
Verfahren eine hohe Effizienz für die Rückfallprophylaxe und einen entscheidenden gegenwirkenden Effekt auf die Chronifizierung
haben.
Folgen
Patienten mit chronischen Kopfschmerzerkrankungen werden nach aktuellen Analysen
im derzeit sektoral aufgesplitterten Gesundheitssystem in Deutschland nicht ausreichend
versorgt. Resultat dieser sektoralen Versorgung ist, dass Patienten mit chronischen
Kopfschmerzen überproportional häufig am
Arbeitsplatz fehlen und vorzeitig nach langen
Arbeitsunfähigkeitszeiten berentet werden
müssen. Hohe Folgekosten entstehen auch
durch die Behandlung von Spätkonsequenzen
in Form von psychischen Erkrankungen, Nie-
Hartmut Göbel,
Kiel
renversagen, Leberschäden, gastrointestinalen Komplikationen sowie zerebrovaskulären Schäden [1–5].
Mit dem wissenschaftlichen Konzept
zur neurologisch-verhaltensmedizinischen
Schmerzklinik Kiel wurde eine integrierte Versorgung bereits im Jahr 1995 vorgeschlagen
und umgesetzt. Ziel war es dabei, eine sektorenübergreifende Behandlung von Patienten
mit chronischen Schmerzerkrankungen zu
erreichen, wobei die Behandlung durch niedergelassene Ärzte, die Behandlung in einer
vollstationären Akutklinik sowie rehabilitative
Konzepte unmittelbar sektorenübergreifend
verzahnt wurden.
Integrierte Versorgung wirkt
Eine externe wissenschaftliche Begleitung
des Modellprojektes nach §§ 63 ff SGB V
durch die Gesellschaft für Systemberatung im
Gesundheitswesen und der AOK SchleswigHolstein dokumentierte die Patientenkarrieren
und analysierte die Wirkungen der modellhaften integrierten Intervention auf Leistungsinanspruchnahme, Kosten, Arbeits- und soziale Situation sowie auf die Lebensqualität
chronisch schmerzkranker Patienten [1]. Die
Datenerfassung der Patientenkarrieren umfasste fünf Jahre. Grundlage waren patientenbezogene anonymisierte Leistungsdaten über
alle Sektoren (Krankenhaus akutstationär und
rehabilitativ mit 500 000 Daten, Vertragsärzte
mit fünf Millionen Daten, Arzneimittel mit
sechs Millionen Daten, Sach- und Pflegeleistungen mit 800 000 Daten) sowie beitragsrelevante Sozialdaten (mit 700 000 Daten). Die
sektorenübergreifende Leistungsinanspruchnahme wurde im Zeitverlauf analysiert, die
verursachten Kosten über komplexe Kostenkalkulationen aufgezeigt. Zur Kontrolle der
Modellintervention wurden Patienten mit Behandlungen in anderen Akutkrankenhäusern
mit gleicher Diagnose, gleichem Alter und
gleichem Geschlecht identifiziert und als Kontrollperson herangezogen.
Als Ergebnis zeigte die umfangreiche
Analyse, dass das koordinierte Versorgungskonzept alle aufgestellten und vereinbarten
Ziele für die Versorgung schwer chronisch
schmerzkranker Patienten erreichte: langfristige Schmerzreduktion, Verbesserung der
Arbeitsfähigkeit, Strukturierung der Patientenkarriere bei gleichzeitiger Kostengünstigkeit.
Es zeigte sich im Vergleich zur traditionellen
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Integrierte Versorgung
■ symptomatische
sektoralen Behandlung, dass sektorenübergreifend eine signifikant effizientere und
nachhaltigere Therapie von Patienten mit
chronischen Schmerzerkrankungen erfolgt
[1]. Das Behandlungskonzept wurde von Betroffenen und Vertragsärzten aus allen Bundesländern genutzt. Rund 70% der nach dem
genannten Konzept behandelten Patienten
wurden bundesweit zugewiesen.
■ Kopfschmerzen
mit komplexen Begleiterkrankungen,
■ seltene Kopfschmerzformen mit
schwerem Leidensdruck etc.
Der koordinierte Therapieablauf
Die integrierte Versorgung umfasst drei Phasen, die eng koordiniert sind:
■ Phase I: Spezialisierte Diagnostik, professionelles Screening, Auswahl der sektorenübergreifenden Behandlungspfade,
Behandlung vor Ort
■ Phase II: Sektorenübergreifende neurologisch-verhaltensmedizinische Behandlung
■ Phase III: Ambulante Verlaufs- und Erfolgskontrolle, sektorenübergreifendes
Monitoring des Therapieverlaufs.
Der generelle therapeutische Grundsatz der
Konzeption ist, eine hohe Versorgungsqualität
zu gewährleisten. Schwer betroffene Patienten
sollen schnell und ohne Zeitverzug mit einer
zeitgemäßen klinischen Diagnostik und einer
effizienten Therapie versorgt werden. Aufgrund
strukturierter Behandlungspfade, die auf evidenzbasierten wissenschaftlichen Therapieleitlinien basieren, soll eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung erzielt werden
und Komplikationen sowie Chronifizierungen
der Erkrankungen mit langfristigen und hohen
Folgekosten vermieden werden.
Zum Eintritt in die integrierte Versorgung
sind operationalisierte Ein- und Ausschlusskriterien definiert, die sektorenübergreifende
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Schnittstellen im Rahmen der integrierten
Versorgung beschreiben und die jeweiligen
Aufgaben der verschiedenen Beteiligten festlegen. Patienten sollen einerseits nicht zu früh
aus dem ambulanten Bereich in die stationäre
Versorgung übergeführt werden. Um dies zu
ermöglichen, wird eine Interaktion zwischen
der stationären Behandlung und dem ambulanten Sektor geschaffen. Individuelle Beratung von niedergelassenen Vertragsärzten
durch Ärzte des akutstationären Bereiches sowie ambulante Voruntersuchungen zur Überprüfung der Aufnahmeindikation und ggf. zur
Vermeidung einer stationären Behandlung mit
Aufstellung eines Therapieplans gemeinsam
mit dem niedergelassenen Vertragsarzt sollen
dies ermöglichen. Andererseits soll jedoch
erforderlichenfalls eine schnelle stationäre
Aufnahme die weitere Chronifizierung und die
Entstehung von Komplikationen vermeiden.
Die sektorenübergreifende Integration von
rehabilitativen und vollstationären Behandlungsmaßnahmen ermöglicht die nachhaltige
Aufrechterhaltung des Therapieerfolges.
Kontinuierliche Fortbildung und
Interaktion
Im gesamten Behandlungsverlauf wird eine
hohe fachliche Qualifikation der Behandler
realisiert. Eine kontinuierliche Fortbildung der
Teilnehmer an der integrierten Versorgung in
regelmäßigen Abständen sowie die kontinuierliche Interaktion und Spezialisierung im Behandlungsbereich sollen dies gewährleisten.
In speziellen Fällen kann zudem die Expertise
Bildarchiv Göbel
Umsetzung eines bundesweiten
Kopfschmerznetzes
Aufbauend auf diesen Ergebnissen wurde in
Kooperation mit der Techniker Krankenkasse
ein bundesweites Konzept einer koordinierten
Kopfschmerzversorgung bei hoher Qualität erarbeitet. Die Belange der Versicherten, ihre
Betreuung und ihre Behandlung, stehen dabei
im Mittelpunkt. Ein nationaler Verbund von
Hausärzten, ambulant und stationär tätigen
Schmerztherapeuten in Praxen und Kliniken
wirkt dabei Hand in Hand zusammen, um
Schmerzen fach- und sektorenübergreifend mit
zeitgemäßen Methoden optimal zu lindern.
Die beteiligten Berufsgruppen behandeln
dabei nach aktuellen Leitlinien und auf modernstem wissenschaftlichem Stand. Ambulante, rehabilitative und stationäre Therapien
sind eng aufeinander abgestimmt und im zeitlichen Ablauf miteinander verzahnt. Das Konzept bietet eine überregionale koordinierte
Behandlung zwischen der Schmerzklinik Kiel,
dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
und niedergelassenen Schmerztherapeuten,
Neurologen und Hausärzten für chronisch
kranke Kopfschmerzpatienten ohne Beschränkung durch Fachgrenzen und Vergütungssektoren nach §§ 140 ff SGB V an.
Dieses Versorgungsangebot für Kopfschmerzpatienten ermöglicht es, die Entstehungsmechanismen von Kopfschmerzen
umfassend zu identifizieren und gezielt daran
anzusetzen. Dabei sind die Patienten aktiv
eingebunden, entwickeln ein besseres Verständnis für ihre Krankheit und können so den
Therapieerfolg ebenfalls positiv beeinflussen.
IV-Kopfschmerz: Indikationen
Das Behandlungsnetz ist ausgerichtet auf die
spezialisierte, sektorenübergreifende Versorgung von schwer betroffenen Patientinnen
und Patienten mit chronischen Kopfschmerzerkrankungen wie z.B.
■ schwere und häufige Migräne,
■ chronische Kopfschmerzen vom Spannungstyp,
■ Clusterkopfschmerzen,
■ Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch,
■ posttraumatische Kopfschmerzen
Kopfschmerzen,
■ Neuralgien,
Von links nach rechts, Dr. Johann Brunkhorst, Leiter der TK-Landesvertretung SchleswigHolstein, Dr. Dietrich Jungck, Schmerzzentrum Hamburg, Präsident des Verbandes für Algesiologie – Berufsverband Deutscher Schmerztherapeuten, Prof. Dr. Hartmut Göbel, Direktor der Schmerzklinik Kiel, Dr. Christoph Straub, stlv. Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse, stellen das bundesweite Kopfschmerz-Netzwerk vor.
13
Integrierte Versorgung
spezialisierter Netzpartner in Anspruch genommen werden. So ist u.a. im Bereich der
neuroradiologischen Diagnostik die Sektion
Neuroradiologie und im Bereich der spezialisierten neurochirurgischen Therapie die Klinik
für Neurochirurgie des Universitätsklinikums
Schleswig-Holstein Netzpartner.
Nutzen
Die Versicherten nehmen die zentrale Stelle
im Versorgungsprozess ein und ihr Nutzen
steht im Vordergrund. Aus der integrierten
Versorgung ergeben sich für die Patienten
folgende Vorteile:
■ optimierte Behandlung auf aktuellem wissenschaftlichem Stand,
■ sektorenübergreifende spezialisierte Behandlungspfade,
■ integrierte Screening- und Nachsorgeuntersuchung,
■ organisierte Behandlungskette,
■ koordinierter und integrierter Übergang
ambulant, stationär, rehabilitativ,
■ fortlaufende Evaluation.
Für den Kostenträger steht die effizientere
Versorgung und Erhöhung der Zufriedenheit
des Versicherten durch innovative Zusatzleistungen im Vordergrund. Die Versichertengemeinschaft profitiert zudem von der Kostenreduktion. Der Nutzen schließt ein:
■ evaluierte Therapie mit hoher Wirksamkeit
und effizientere Versorgung,
■ Erhöhung der Zufriedenheit der Versicherten,
■ Verringerung
der Wartezeiten, Verkürzung
der Arbeitsunfähigkeit,
■ Kostenreduktion,
■ Angebot über die regionale Regelversorgung hinaus (Prinzip: „Leistung und mehr“).
Für die beteiligten Vertragsärzte stehen die
sektorenübergreifende Kooperation mit der
Reduktion organisatorischer Defizite und die
Optimierung der Professionalität im Vordergrund. Administrative Aufgaben werden reduziert und eine verbesserte Wirtschaftlichkeit
der Behandlungsprozesse wird durch hohe
Spezialisierung erreicht. Die Vorteile sind:
■ sektorenübergreifende Kooperation,
■ Erweiterung des regionalen Therapiespektrums,
■ erhöhte Effizienz durch evaluierte Behandlungspfade, Spezialisierung und kontinuierliche Fortbildung,
■ Optimierung der Professionalität,
■ Wettbewerbsvorteil durch höhere Spezialisierung,
■ zusätzliche Vergütung der speziellen Leistungen zur Regelversorgung.
Leistungen über die Regelversorgung hinaus
Die regionale Regelversorgung wird durch
das IV-Konzept nicht verändert oder gar ersetzt, sie kann selbstverständlich weiter wie
bisher genutzt werden. Ziel ist vielmehr u.a.
die weitere Professionalisierung der ambulanten Therapie durch Spezialisierung vor Ort.
Tabelle 1: Teilnahme als Netzpartner
Seit Start des Konzeptes nehmen mittlerweile bundesweit rund 190 spezialisierte
Praxen am Behandlungsnetz teil. Die Teilnahme weiterer interessierter Ärztinnen
und Ärzte ist möglich. Bei Interesse bitte
E-Mail an: [email protected]
Weitere Informationen zum Behandlungsnetz finden sich im Internet unter
www.schmerzklinik.de und
www.tk-online.de
Die Techniker Krankenkasse vergütet den besonderen Zeitaufwand für die ambulante Therapie. Das Konzept zielt insbesondere auch
auf die Behandlung aller Versicherten ab, die
bei den ambulanten Leistungserbringern verbleiben und die keiner Behandlung in einem
überregionalen Zentrum bedürfen.
Fazit: Leistung und mehr
Für alle Beteiligten eröffnet das Konzept zusätzliche Optionen in der innovativen Versorgung von Kopfschmerzen mit vielfältigen Vorteilen für Patienten, Krankenkasse und
Leistungserbringer.
❏
Hartmut Göbel, Kiel
Literatur beim Verfasser
Deutscher Schmerzpreis 2008 ausgeschrieben
Deutscher Förderpreis für Schmerzforschung und Schmerztherapie 2008 –
(Oberursel) Die Deutsche Gesellschaft
für Schmerztherapie e.V., Trägerin des
Deutschen Schmerzpreises, verleiht seit
1986 in regelmäßiger Folge zusammen
mit der Deutschen Schmerzliga e. V.
jährlich den DEUTSCHEN SCHMERZPREIS
– Deutscher Förderpreis für Schmerzforschung und Schmerztherapie –. Mit ihm
werden Persönlichkeiten ausgezeichnet,
die sich durch wissenschaftliche Arbeiten über Diagnostik und Therapie akuter und chronischer Schmerzzustände
verdient gemacht oder die durch ihre
Arbeit oder ihr öffentliches Wirken entscheidend zum Verständnis des Problemkreises Schmerz und der davon betroffenen Patienten beigetragen haben.
14
Verliehen wird der Deutsche Schmerzpreis
im Rahmen des Deutschen Schmerztages
2008 in Frankfurt/Main. Er wird von der Firma Mundipharma Vertriebsgesellschaft mbH
u. Co. KG, Limburg, gestiftet und ist mit
10 000 Euro dotiert. Nominierungen und Bewerbungen müssen
bis zum 31. Oktober
2007 bei der Geschäftsstelle eingereicht werden: Deutsche Gesellschaft für
Schmerztherapie e.V.,
Adenauerallee 18,
61440 Oberursel.
Die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e. V. ist die
größte europäische
Schmerzfachgesellschaft. Ihr Ziel ist die Förderung der Algesiologie als der Wissenschaft vom Schmerz, die Verbesserung der
schmerztherapeutischen Versorgung, die
Fort- und Weiterbildung sowie die Gründung interdisziplinärer schmerztherapeutischer Kolloquien.
Die Deutsche Schmerzliga e. V. ist die Interessenvertretung der Schmerzpatienten. Ihr
Ziel ist eine bessere Lebensqualität für Menschen mit chronischem Schmerz durch eine
qualifizierte schmerztherapeutische Versorgung. Die Deutsche Schmerzliga vermittelt
Informationen über den chronischen
Schmerz sowie über dessen Diagnostik und
Therapie und unterstützt die Bildung von
Selbsthilfegruppen. In der Öffentlichkeit
setzt sich die Deutsche Schmerzliga für die
Anliegen der Schmerzpatienten ein.
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
DGS-Veranstaltungen
Weitere Informationen zu den Seminaren erhalten Sie über die
Geschäftsstelle des DGS Oberursel: Tel.: 06171/ 286060
Fax: 06171/ 286069 · E-Mail: [email protected]
Die aktuellsten Informationen zu den ­Veranstaltungen und den
Details finden Sie im Internet unter www.dgschmerztherapie.de
mit der Möglichkeit der Onlineanmeldung.
September 2007
Diagnostik und Therapie bei Störungen der
Lumbalregion
Schmerztherapie bei Sportlern
22.09.2007 in Berlin; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Berlin Prenzlauer Berg
02.09.–08.09.2007 in Riva (Gardasee)/Italien; Regionales Schmerzzentrum DGS-München
40-Stunden-Aufbaukurs Palliativmedizin (Modul 2)
05.09.-09.09.2007 in Celle; Regionales Schmerzzentrum DGS-Celle
4. Wiesbadener Schmerzabend
Curriculum Spezielle Schmerztherapie, Teil 1
22.–23.09.2007 und 29.–30.09.2007 in Stuttgart; Geschäftsstelle DGS
DGS Schmerztherapeutische Ansätze bei Somatisierungsstörungen
05.09.2007 in Wiesbaden; Regionales Schmerzzentrum DGS-Wiesbaden
26.09.2007 in Bad Salzungen; Regionales Schmerzzentrum DGS-Bad Salzungen
Reanimation Refresherkurs
Praxisseminar – Der Stellenwert verschiedener
bildgebender Verfahren in Medizinischen Versorgungszentren – Mogelpackung oder Chance?
05.09.2007 in Frankfurt am Main; Regionales Schmerzzentrum DGS-Frankfurt/Main
Was kann Neurostimulation in der Behandlung
chronischer Schmerzen leisten?
12.09.2007 in Chemnitz-Rabenstein;Regionales
Schmerzzentrum DGS-Chemnitz
Invasive Schmerztherapie
12.09.2007 in Leer; Regionales Schmerzzentrum DGSLeer
Neuraltherapie – LWS und untere Extremitäten
14.09.–5.09.2007 in Dresden; Regionales Schmerzzentrum DGS-Dresden
TAOYOGA und Akupunktur/Akupressur
15.09.2007 in Köln; Regionales Schmerzzentrum DGSKöln
Posttraumatische Belastungsstörung und
Schmerztherapie
18.09.2007 in Siegen; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Siegen
Differenzialdiagnostik verschiedener Schmerzerkrankungen
19.09.2007 in Leipzig; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Leipzig
26.09.2007 in Bielefeld; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Herford
Sympathische Reflexdystrophie – Grundlagen und
Therapie mit Fallvorstellung
26.09.2007 in Gießen; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Gießen
Spannungskopfschmerz – Differenzierung –
Diagnose – Therapie, Schmerzen am Kopf – alles
Kopfschmerzen? – Intern. Kopfschmerz, CMD
(TMD); HWS- u. Beckenerkrankungen
26.09.2007 in Mühlhausen; Regionales Schmerzzentrum DGS-Mühlhausen
Patientenvorstellung
26.09.2007 in Halle/Saale; Regionales Schmerzzentrum DGS-Halle
Arzthaftungsrecht mit besonderem Bezug auf die
Schmerztherapie (Aufklärung, AVWG etc.)
29.09.2007 in Mainz; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Mainz
5. Wiesbadener Palliativtag – Patientenforum
29.09.2007 in Wiesbaden; Regionales Schmerzzentrum DGS-Wiesbaden
40-Stunden-Basiskurs Palliativmedizin
19.09.–23.09.2007 in Bremen; Regionales Schmerzzentrum DGS-Bremen
Oktober 2007
Curriculum Palliativmedizin – Basiskurs für Ärzte
40-Stunden-Aufbaukurs Palliativmedizin (Modul 3)
19.09.-23.09.2007 in Wiesbaden; Regionales
Schmerzzentrum DGS-Wiesbaden
03.10.–07.10.2007 in Hamburg; Regionales Schmerzzentrum DGS - Bremen
Biofeedback II
Curriculum Algesiologische Fachassistenz – Kursteil 3 – 3. Wochenende (Veranstaltungsreihe über
drei Termine)
20.09.2007 in Bad Säckingen; Regionales Schmerzzentrum DGS-Bad Säckingen
Curriculum Algesiologische Fachassistenz – Kursteil 3 – 2. Wochenende (Veranstaltungsreihe über
drei Termine)
21.09.–23.09.2007 in Mülheim/Ruhr, Geschäftsstelle
DGS
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
8. Stuttgarter Schmerztag
06.10.2007 in Stuttgart; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Stuttgart
Zehn Jahre Schmerzpraxis in Erkelenz
08.10.2007 in Erkelenz; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Erkelenz
Schmerz- und Palliativkongress NRW
12.10.-13.10.2007 in Sankt Josef/Wuppertal; Regionales Schmerzzentrum DGS-Wuppertal
Systematik der Injektionstechniken – Refresherseminar
13.10.–4.10.2007 in Randersacker; Regionales
Schmerzzentrum DGS- Würzburg
10. Südwestdeutsche Schmerztage
12.10.–13.10.2007 in Göppingen; Regionales
Schmerzzentrum DGS-Göppingen
Praxisseminar
17.10.2007 in Leipzig; Regionales Schmerzzentrum
DGS-Leipzig
DGS-Zentrum Mönchengladbach
Wir begrüßen Dr. med. Henning Krolle,
Facharzt für Orthopädie und Physikalische
und Reha-Medizin, Zusatzbezeichnungen
Spezielle Schmerztherapie, Chirotherapie,
Naturheilverfahren, Sport- und Tauchmedizin, Algesiologe DGS/DgfA, Lehrbeauftragter der Hochschule Niederrhein, Osteologe (DVO) niedergelassen in Gemeinschaftspraxis mit Dr. med. Ansgar Ehses
im Medicentrum (www.medicentrum.de)
Mönchengladbach als Leiter des DGS-Zentrum Mönchengladbach.
Schwerpunkt muskuloskelettale und
Kopfschmerzen
Angewandte therapeutische Verfahren der
Praxis: Therapeutische Lokalanästhesie,
Sympathikusblockaden, Plexus- und rückenmarksnahe Anästhesien; PRIT, psychosomatische Grundversorgung, Pharmakotherapie, Naturheilverfahren, Chirotherapie, Tens, Akupunktur
05.10.–07.10.2007 in Mülheim/Ruhr; Geschäftsstelle
DGS
13. Ahrenshooper Schmerzsymposium - Vernachlässigen wir unsere Füße?
06.10.2007 in Ahrenshoop; Regionales Schmerzzentrum DGS- Bielefeld
Henning Krolle,
Mönchengladbach
15
Interdisziplinäre Fortbildung
Schmerzkonferenzen – Palaver oder Chance?
Schmerzkonferenzen finden sowohl im ambulanten Bereich wie auch an
Krankenhäusern in ganz Deutschland statt. Wer wenig in der Materie
ist, könnte diese für nette Zusammenkünfte schmerzinteressierter Ärzte
mit mehr oder weniger „gemeinsamem Palaver“ zu sowieso nicht richtig
lösbaren Schmerzproblemen betrachten. Dies geht jedoch völlig an der
Realität und dem medizinischen Kenntnisstand vorbei, nach dem die interdisziplinäre Analyse und Therapie chronischer Schmerzprobleme „Goldstandard“ ist. Den Stellenwert der interdisziplinären Schmerzkonferenzen
beschreibt Dr. med. Kai-Uwe Kern, Schmerz- und Palliativzentrum, DGSWiesbaden.
Historie
Bereits im Jahr 2001 führte die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e.V. (DGS)
bundesweit in den regionalen Schmerzzentren
nahezu 1000 Schmerzkonferenzen durch, bei
denen in der Regel drei Patienten vorgestellt
werden. Durch eine Initiative der DGS und
mehrerer Krankenkassen (Tab. 1) konnte im
Jahr 2003 ein Vertrag zur Kostenerstattung
der Schmerzkonferenzen erarbeitet werden.
Dies war ein Meilenstein in der interdisziplinären Therapie chronischer Schmerzpatienten, für die die notwendigen medizinischen
Maßnahmen nicht im EBM abgebildet sind.
Möglich geworden waren diese Regelungen
damals u.a. durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz und die Anrechnungen der
Aufwendungen für die Krankenkassen auf das
Vergütungsvolumen gemäß § 140 d SGB V.
Durch gemeinsame Bemühungen konnte zum
01.01.2007 die Vergütung der aktuellen Entwicklung angepasst werden und somit der
Fortbestand interdisziplinärer Schmerzkonferenzen gesichert werden. Aus den anfänglichen „Feierabend-Veranstaltungen“ wurden
hiermit angemessen honorierte, fachlich hoch
qualifizierte und mit umfangreicher Dokumen-
tation qualitätsgesicherte, medizinische Instrumente zur Behandlung chronischer
Schmerzpatienten.
Grundprinzipien
Von den meisten Anbietern werden Schmerzkonferenzen ca. einmal im Monat organisiert,
die Teilnahme ist kostenlos. Teilnehmer sind
Ärzte und Angehörige nicht ärztlicher Disziplinen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, interdisziplinär und sektorenübergreifend die Lebensqualität chronisch Schmerzkranker zu
verbessern.
Der vorstellende Arzt berichtet kurz über
die grundsätzliche Problematik und Ausgangssituation, bevor der Patient aus seiner
Sicht ausführlich Anamnese und aktuelle Beschwerden beschreibt. Sofern medizinische
Unterlagen (Bilder, Briefe usw.) vorliegen,
werden diese allen Teilnehmern zugänglich
gemacht. Meist ist es hilfreich, wenn der
vorstellende Arzt unternommene Therapieversuche und deren Effektivität darstellt und
andere, ergänzende Informationen liefert. Im
Anschluss an den Patientenbericht haben alle
Teilnehmer die Möglichkeit zur Befragung und
im Idealfall auch gemeinschaftlichen Unter-
Tabelle 1: ISK-Vereinbarung – teilnehmende Krankenkassen
Techniker Krankenkasse (TK), Hamburg
Gmünder Ersatzkasse (GEK), Schwäbisch-Gmünd
Krankenkasse für Bau- und Holzberufe (HZK), Krankenkasse Eintracht Heusenstamm Ersatzkasse
Hamburg (KEH), Heusenstamm
suchung des Patienten. Zum Abschluss wird
der Patient verabschiedet, und es wird ihm
erläutert, dass nun die interne Fachdiskussion beginnt und er das Ergebnis von seinem
behandelnden Arzt in Kürze in der Sprechstunde mitgeteilt bekommt. Entscheidend
ist, dass die anschließende Diskussion ohne
jede „Besserwisserei“, „Schuldzuweisung“
oder „Schuldgefühle“ erfolgt, da sonst kein
konstruktiver Dialog im Sinne des Patienten
möglich ist. Es geht einzig und allein darum,
ein interdisziplinäres Ergebnis im Sinne des
betroffenen Schmerzkranken zu erzielen, welches durch die Einzelleistung jeder Fachrichtung nicht möglich wäre.
Multiprofessionalität nötig
Um eine interdisziplinäre Schmerzkonferenz
nicht ausschließlich zum ärztlichen Disput zu
machen, ist es besonders wichtig, auch nicht
ärztliche Disziplinen zu integrieren. Häufig
sind die Beiträge von Physiotherapeuten,
Psychologen oder Ergotherapeuten besonders wertvoll. In der gemeinschaftlichen Diskussion erarbeiten alle Teilnehmer ein multimodales Therapiekonzept und konkrete Empfehlungen zu weiteren Maßnahmen (medizinische Maßnahmen, psychotherapeutische
Therapien, Gruppenprogramme, ambulante
oder stationäre Versorgungsmodelle u.a.).
Ziel muss neben der Schmerzreduktion bzw.
Verringerung von Schmerzhäufigkeit oder
-dauer eine Verbesserung der allgemeinen
Lebensqualität, das Erreichen des individuellen Behandlungsziels des Patienten und
besonders die Beeinflussung des Chronifizierungsprozesses sein, der neben persönlichem
Leid auch sozioökonomische Dauerkosten
verursacht.
Grundsätzlich gilt: Je mehr Disziplinen
Ansprechpartner für Schmerzkonferenzen in Ihrer Umgebung:
Deutsche Gesellschaft für
Schmerztherapie e.V., Geschäftsstelle
Nord- und Mitteldeutsche IKK, Celle
Siemens Betriebskrankenkasse (SBK), Münschen
BKK Gesundheit, ehemals: BKK Zollern-Alb, Dresden
Ford-Betriebskrankenkasse, Köln
Bosch BKK, Stuttgart
BKK Deutsche Bank
BKK Allianz
BKK Daimler-Chrysler
Adenauerallee 18
61440 Oberursel
Tel. (0 61 71) 28 60 60
Fax (0 61 71) 28 60 69
www.dgschmerztherapie.de
Mhplau BKK
BKK Conzelmann
Kai-Uwe Kern, DGS-Wiesbaden
BKK der E.ON Ruhrgas AG
BKK der VICTORIA D.A.S.
E-Mail:
[email protected]
BKK-Bundesverband, Essen (ohne Mitglieder)
16
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Interdisziplinäre Fortbildung
Kai-Uwe Kern,
Wiesbaden
vertreten sind und je interessierter und entspannter die Fachdiskussion, desto besser ist
das Ergebnis !
Juristische Rahmenbedingungen
Der genannte Honorarvertrag betrifft nur die
Schmerzkonferenzen niedergelassener Ärzte
und Fachrichtungen. Viele Schmerzkonferenzen werden zusätzlich von Krankenhäusern veranstaltet. Hier gibt es leider noch
keine Vertragsmodelle. Vorgestellt werden
können Patienten aller beteiligten Krankenkassen ohne gesonderten Kostenantrag. Dem
Mainzer Chronifizierungsstadium entsprechend muss der Patient bezüglich seines
Scores in das Chronifizierungsstadium II oder
III einzugruppieren sein. Die persönliche Anwesenheit des anspruchsberechtigten Versicherten und des vorstellenden Arztes ist Voraussetzung für die Abrechnungsfähigkeit der
Vergütungen.
Schmerzkonferenzen werden von
schmerztherapeutisch speziell qualifizierten
Moderatoren geleitet, eine schmerztherapeutische Ausbildung der anderen Teilnehmer ist zwar häufig vorhanden, jedoch nicht
zwingend. Eine vertragsärztliche Zulassung
oder Ermächtigung (bzw. eine Zulassung zur
Behandlung gesetzlich versicherter Patienten
für die nicht ärztlichen Fachrichtungen) ist
Voraussetzung für die Abrechnung der Konsiliarpauschale.
Fortbildungsnachweise
Neben dem Versorgungsauftrag einer
Schmerzkonferenz erfüllt diese auch Voraussetzungen als Fortbildungsnachweis für die
Teilnehmer. So setzt die Teilnahme an der
Qualitätssicherungsvereinbarung „Schmerztherapie“ eine regelmäßige Teilnahme an
Schmerzkonferenzen für die Erteilung der Abrechnungsberechtigung voraus.
Darüber hinaus setzen viele Fachverbände wie die Deutsche Gesellschaft für psychologische Schmerztherapie und -forschung
(DGPSF), die Deutsche Gesellschaft zum
Studium des Schmerzes (DGSS) und die
Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie
(DGS) die Teilnahme an Schmerzkonferenzen
für die Anerkennung der verbandsinternen
Qualifikationen voraus. Bei den jüngsten
Entwicklungen im Bereich „Akupunktur“ wird
auch hier durch die Teilnahme an Schmerzkonferenzen eine Erweiterung der bio-psycho-sozialen Betrachtungsweise chronischer
Schmerzpatienten erwartet.
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Dokumentation
Die ehrgeizigen Ziele einer interdisziplinären
Schmerzkonferenz (ISK) setzen eine hoch
angesiedelte Qualitätssicherung und Dokumentation voraus. Der Patient verpflichtet sich
zum Ausfüllen eines standardisierten
Schmerzfragebogens der Fachgesellschaften
sowie zu den Angaben zur Erfassung des
Chronifizierungsstadiums, welches in einem
standardisierten Bogen dokumentiert wird.
Die Teilnahmebereitschaft des Patienten
wird mit einer Einverständniserklärung schriftlich festgehalten, das Ergebnis der Diskussion und die veranlassten Maßnahmen werden in vorgefertigten Dokumentationsblättern
erfasst. Abrechnungsbögen dokumentieren
Moderator, vorstellenden Arzt und konsiliarisch hinzugezogene Teilnehmer mit Name,
Ausbildung, Zulassungsstatus und Kontodaten sowie den Unterschriften. Der Moderator übernimmt ferner die Verpflichtung, in
einem ISK-Nachbesprechungsbogen innerhalb eines Zeitraumes von neun Monaten
den Behandlungsverlauf und -erfolg des vorgestellten Patienten zu dokumentieren.
Vergütung
Hochqualifizierte medizinische Leistung ist
selbstverständlich nicht kostenfrei zu erhalten. Die Vertragspartner waren sich daher einig, dem moderierenden Schmerztherapeuten, dem vorstellenden Arzt und mehreren
Konsiliarteilnehmern ein angemessenes Honorar zu erstatten. Das Moderatorenhonorar
(jetzt neu festgelegt auf 120 Euro) umfasst
den Aufwand der Einladung, die Feststellung
der Anspruchsberechtigung, der gesamten
Dokumentation, Organisation, Koordination
der Abläufe, Raumkosten und Moderation der
Veranstaltung. Die ISK-Pauschale für den vorstellenden Arzt (60 Euro) deckt die Vorbereitung der Patientenvorstellung, das Aufarbeiten der Krankengeschichte und das Anfordern
evtl. relevanter Befunde. Konsiliarteilnehmer erhalten für ihre Teilnahme und
Diskussionsbeiträge/Untersuchung eine Vergütung vom 45
Euro je Fall, ein Honorar für
sonstige Teilnehmer ist
nicht vorgesehen.
Um dies mit Leben zu erfüllen, kommt es auf
die Teilnahme von genügend Ärzten möglichst
vieler Fachrichtungen an. Dies gilt vor allem
aber auch für Hausärzte, denen eine Schmerzkonferenz die Möglichkeit bietet, Problempatienten „niedrigschwellig“ vorzustellen und mit
anderen Fachdisziplinen zu diskutieren.
Schmerzkonferenzen bieten nicht nur eine
große Chance für die betroffenen Schmerzkranken, sondern sind gleichzeitig eine Bereicherung für unser Berufsleben. Hier können
Patienten „ganzheitlich“ begriffen werden,
ganz so, wie es unser ärztliches Ethos es eigentlich von uns verlangt und wir es – sind wir
ehrlich – eigentlich am liebsten auch wollen.
Wenn man Patienten optimal hilft und sich
dabei gleichzeitig wieder „als Arzt fühlt“, dann
hat sich die Frage „Palaver oder Chance?“
von selbst beantwortet.
Zusammenfassung
Schmerzkonferenzen sind interdisziplinäre
Treffen schmerztherapeutisch interessierter
Ärzte und Angehöriger nicht ärztlicher Disziplinen. Durch die Diskussion chronischer
Schmerzprobleme aus der Sicht verschiedenster Fachrichtungen kann die beste Therapie für den vorgestellten Patienten gefunden
werden. Biologische, soziale and psychologische Faktoren sind bedeutsam bzgl. einer
Schmerzchronifizierung und werden in
Schmerzkonferenzen beleuchtet. Seit 2004
vergüten einige Krankenkassen die Teilnahme
an Schmerzkonferenzen wegen des gezeigten
Vorteils für ihre Versicherten und einer langfristigen Kostenersparnis. Schmerzkonferenzen sind weltweit üblich und gelten als
anerkannte Instrumente moderner Schmerztherapie. ❏
Kai-Uwe Kern, Wiesbaden
Ausblick
Schmerzkonferenzen sind ein Instrument der medizinischen Spitzenversorgung und
keine Routine für
alle Schmerzpatienten.
17
Onkologie
Moderne Chemotherapie nach Maß
Nach jahrzehntelanger zytostatischer „Schrotschusstherapie“ in der
Onkologie zeichnet sich durch die Fortschritte in der Genom- und Proteomtechnologie ein Paradigmenwechsel hin zu einer individualisierten Krebstherapie ab. Die gesamte Hämatologie und Onkologie befinden sich in
einer hoffnungsvollen Umbruchphase. Neue Methoden aus der Genetik
und Molekularbiologie ermöglichen neue Erkenntnisse für die Diagnostik
und Prognose bösartiger Erkrankungen. Die Möglichkeiten einer
individualisierten Krebstherapie, die sog. Targeted Therapy, beschreibt
Dr. rer. nat. Annette Junker, Apothekerin für klinische und onkologische
Pharmazie am Sanaklinikum Remscheid.
W
ährend die über Jahrzehnte etablierten Zytostatika auch normales Gewebe in nicht unbeträchtlichem Ausmaß angriffen und zu entsprechenden unerwünschten
Wirkungen führten, wirken die neuen Therapieformen vorwiegend auf die Krebszellen.
Bei Betrachtung der molekularen Mechanismen der Tumorentstehung und -progression ist bemerkenswert, dass viele Schlüsselstellen bzw. Targets dieser Prozesse über eine
Aktivierung bestimmter Rezeptoren erfolgt,
was zu einer Stimulierung von Proteinkinasen im Zellinnern führt. Durch diese Stimulierung kommt es in der Tumorzelle zu einer
molekularen Kaskade, die zu einer Angiogenese, Metastasierung, weiterer Zellteilung
und Verhinderung der Apoptose führt. Sowohl
die Rezeptoren als auch die Tyrosinkinasen
kommen damit potenziell für einen therapeu-
tischen Angriff infrage. Durch die Fortschritte
in der molekularen Diagnostik ist es möglich
geworden, bei jedem Patienten die jeweiligen
Targets zu bestimmen und ihn dann auch
ganz individuell behandeln zu können, da
bereits viele Präparate für diese molekularen
Targets zur Verfügung stehen. Einer der bekanntesten dieser Targets ist der epidermale
Wachstumsfaktorrezeptor, der bei sehr vielen
Tumorzellen überexprimiert wird, was zu verstärktem Wachstum des Tumors führt. In Abbildung 1 ist die zelluläre Signaltransduktion in
der Tumorzelle dargestellt. Bei einer Bindung
eines Liganden an den EGF-Rezeptor kommt
es innerhalb der Zelle zu einer Aktivierung
der Tyrosinkinasen. Diese wiederum löst eine
Angiogenese zum Tumor und eine Metastasierung aus, und fördert darüber hinaus das
Überleben der Tumorzelle und die vermehrte
Abbildung 1: Zelluläre Signaltransduktion in der Tumorzelle.
Annette Junker,
Remscheid
Zellteilung. Damit ergeben sich verschiedene
Möglichkeiten, in diese Signalkaskade in der
Tumorzelle zielgerichtet einzugreifen:
■ Die
monoklonalen Antikörper (Mabs = Monoclonal Antibodies) blockieren extrazellulär
die Rezeptoren, wodurch die intrazelluläre
Kaskade verhindert wird. Solche monoklonalen Antikörper gibt es außer für den EGFRezeptor auch für weitere Rezeptortypen
wie z. B. den VEGF-Rezeptor (Vascular Endothelial Growth Factor Receptor), über
dessen Aktivierung es ganz besonders zu
einer Angiogenese zur Tumorzelle kommt.
■ Die
Tyrosinkinaseinhibitoren (-Tinibs) werden auch als kleine Moleküle bezeichnet
und hemmen intrazellulär die
Tyrosinkinasedomäne.
Abbildung 2: Angriffspunkt von Forodesine.
Rezeptorenblocker
2. Rezeptorbindung
NH
N
EGFR
Forodesine
R
1. Ligand (EGF)
R
HO
PNP
Zellmembran
K
Inhibierung durch
K
a) Rezeptorenblocker oder
b) Inhibierung der Tyrosinkinasen
R = extrazelluläre Liganden bindende
Domäne,
K = intrazelluläre Tyrosinkinasedomäne
O
NH HCI
HO OH
3. Aktivierung der
Tyrosinkinasen
Ribosephosphat
+ Guanin
dGuo
4. Signalkaskade
Phosphatasen
dGMP
Apoptose
NUCLEUS
dGDP
dGTP
Angiogenese
Zellteilung
Metastase
18
H
N
Zellüberleben
DNA-Synthese
Ungleichgewicht
des dNTP-Pools
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Onkologie
In Tabelle 1 sind einige monoklonale Antikörper dargestellt. Einer der ersten Vertreter war
das Rituximab, das zur Behandlung von NonHodgkin-Lymphomen eingesetzt wird. Bekannter, weil es durch Patienten und über die
Presse oft erwähnt und gefordert wird, ist das
Trastuzumab (Herceptin®), dessen Wirksamkeit nicht nur für den palliativen, sondern auch
für den adjuvanten Einsatz in der Brustkrebstherapie gezeigt werden konnte. Das Cetuximab ist der erste zugelassene EGF-Rezeptorenblocker und wird wie das Bevacizumab als
erster zugelassener VEGF-Rezeptorenblocker bisher überwiegend zur Behandlung kolorektaler Karzinome eingesetzt.
Einige Kinaseinhibitoren sind in Tabelle 2
dargestellt. Einer der Ersten war das Imatinib,
das einen sehr großen Erfolg bei der Behandlung der CML aufzuweisen hat. Positiv waren
die 5-Jahres-Überlebensdaten, die im vergangenen Jahr vorgestellt werden konnten: Nach
fünf Jahren lebten immer noch 90% der Patienten. Gefitinib und Erlotinib sind Inhibitoren
der Tyrosinkinasen von EGF-Rezeptoren.
Noch umstritten
Iressa® wurde zuerst in Japan bereits 2002
beim inoperablen oder rezidivierten NSCLC
(sog. nicht kleinzellige Bronchialkarzinome,
Non Small Cell Lung Cancer) zugelassen,
später als Zweitlinientherapie beim NSCLC in
den USA. Bestimmte Subgruppen profitieren
besonders wie Japaner (Japaner 27% vs. USAmerikaner 10%), Nie-Raucher, Frauen (Asiatinnen) und bestimmte EGFR-Mutationen.
Deutliche Vorteile bei europäischen Patienten
konnten nicht nachgewiesen werden, deshalb
fehlt noch die EMEA-Zulassung.
Hoffnung bei Leberkrebs und
Nierenzellkarzinomen
Sunitinib und Sorafenib hemmen gleichzeitig
die Tyrosinkinasen mehrerer Rezeptortypen
und werden bei Nierenzellkarzinomen eingesetzt. Darüber hinaus wurden soeben beim
amerikanischen Krebskongress (ASCO) vielversprechende Daten zum Einsatz von Sorafenib bei Leberkrebs vorgestellt. Die therapiebedingten unerwünschten Wirkungen sind im
Allgemeinen mild. Übelkeit, Diarrhö und Fatigue gehören dazu. Besonders bei den EGFRezeptorenblockern kommt es häufig zu akneähnlichen Hautveränderungen (Rush). Bei
einigen Tyrosinkinasehemmern kann es auch
zu ausgeprägten Hand-Fuß-Syndromen kommen.
Die Reise geht weiter
Nachdem diese Mechanismen der Tumorentstehung und der Signalkaskade innerhalb der
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Tumorzelle ganz besonders bei den erwähnten Rezeptortypen sehr genau erforscht
worden sind und auch bereits viele Inhibitoren
bei den verschiedenen onkologischen und
hämatologischen Erkrankungen mit größtem
Erfolg eingesetzt werden, gewinnt man als
Beobachter den Eindruck, dass die Möglichkeiten dieser molekularen Therapien noch
nicht ausgeschöpft sind. So gibt es außer den
erwähnten rezeptorvermittelten Targets weitaus mehr Angriffspunkte für zielgerichtete
Therapien.
Aus der immer größer werdenden Palette
der Targeted Therapies sei hier ein Beispiel
genannt, das zu großen Hoffnungen speziell
in der Hämatologie Anlass gibt.
Zielgerichtete Lymphozytentherapie
Der Wirkmechanismus von Forodesine ist
eine neue Annäherung, um maligne hämatologische Erkrankungen zu bekämpfen.
Forodesine inhibiert die Purinnukleosidphosphatase (PNP), ein Enzym, das die
Lyse von Ribonukleosiden zur freien Base
und dem Ribosephosphat katalysiert. Dieses
Enzym kommt in sehr hohen Konzentrationen
in Lymphozyten vor. Bei Anwesenheit von
Desoxyguanosin (dGuo) kommt es bei einer
Hemmung von PNP zu einer Akkumulation
von Desoxyguanosintriphosphat (dGTP), was
letztlich durch Hemmung der DNA-Synthese
zytotoxisch wirkt und eine Apoptose der Zelle auslöst (siehe Abb. 2). Da T-Lymphozyten
und B-Lymphozyten eine sehr hohe Aktivität
der Desoxycytidinkinasen aufweisen, setzt
man für die Zukunft in diese Substanz große
Hoffnungen bei vielen hämatologischen Erkrankungen. Aufgrund seines überzeugenden
therapeutischen Potenzials in Phase-II-Studien wurde Forodesine von der EMEA bereits
im November 2006 für die Behandlung von
akuter T-Zell-lymphoblastischer Leukämie
(T-Zell-ALL) der Status eines „Orphan Drug“Arzneimittel zur Behandlung seltener Krankheiten (engl. Orphan = Waise) verliehen. ❏
Annette Junker, Remscheid
Tabelle 1: Monoklonale Antikörper in der Onkologie/Hämatologie
Antikörper
Target
Zelltyp
Einsatz/Zulassung
Rituximab
CD20
B-Lymphozyten
B-Zell-Neoplasien
(Mabthera®)
NHL, Mono o. Kombi mit CT
ÜV gesichert/ E, USA
Trastuzumab
(Herceptin®)
ErbB2
(Her2neu)
Ca. 1/3 der
Mamma-Ca
Met. + adj. BC, Mono o. CTKombi, ÜV gesichert/ E, USA
Cetuximab
(Erbitux®)
EGFR
(Her1)
Großteil aller Karzinom- Met. CRC in Kombi,
typen Kopf-Hals-Tumoren/ E, USA
Bevacizumab
VEGF
(Avastin®)
Tumoraktivierte
Endothelzellen
CRC/ E, USA
Tabelle 2: Tyrosinkinaseinhibitoren
TK-Hemmer
Target:
Kinasen von:
Zelltyp/
Tumorentität
Status/Zulassung
Imatinib
(Glivec®)
BCR-ABL,
C-Kit, PDGF-R
CML, GIST
E, USA u.a.
Gefitinib*
EGF-R
(Iressa®)
Großteil aller
Karzinomtypen
NSCLC/
Japan, USA, u.a.*
Erlotinib
EGF-R
(Tarceva®)
Großteil aller
Karzinomtypen
NSCLC, 2. Linie; Pankr. Ca
mit Gemc./ E, USA
Sunitinib
(Sutent®)
VEGF-R, PDGF-R, c-Kit, FLT-3
Diverse solide
Tumoren MRCC (1. Linie), GIST
(2. Linie) / E, USA
Sorafenib
(Nexavar®)
Raf,
VEGF-R, c-Kit ... Diverse solide Tumoren
MRCC (2. Linie) /
E, USA
Dasatinib
(Sprycel®)
BCR-ABL
CML, Ph+ - ALL
2. Linie / E, USA
* keine europäische und keine deutsche Zulassung
19
Palliativmedizin
Optimale Palliativversorgung –
wie ist das möglich?
Versorgung des unheilbar Kranken am Lebensende so weit wie möglich und von ihm
gewünscht in seiner gewohnten Umgebung
wie auch die Unterstützung der Angehörigen.
ie Überreglementierung der sektoralisierten, längst überholten Standardversorgung verhindert die notwendigen Anpassungen an die stark veränderten Anforderungen in der Gesundheitsversorgung. Benötigt werden flexible Versorgungskonzepte als
Antwort auf die komplexen Aufgabenstellungen, die sich nicht nur als Zusatzmodule zur
„Symptomlinderung“ in der maroden Regelversorgung verstehen.
■
Wirtschaftlichkeit und Kosteneffizienz,
Autonomie und Selbstverwaltung der
Leistungserbringer,
■ Z
ielorientierung –
realistisch verwirklicht werden und sich bestmöglich entfalten. Nicht die Zugehörigkeit zu
einer bestimmten Struktur prädestiniert deshalb zur Erfüllung der gestellten Aufgaben,
sondern insbesondere die Anforderungen
durch die zu lösende Aufgabe.
2. Interdisziplinäre Zusammenarbeit mit
zentralen Steuerungselementen
Steuerungsstruktur ist das Zentrum für ambulante Palliativversorgung (ZAPV), das die Abläufe organisatorisch auf allen Ebenen mit
einander abstimmt. Dabei ist die Grundidee
der Aufbau einer mehrschaligen Hülle, mit
dem Patienten und seiner Bezugspersonen im
Mittelpunkt, die die bereits vor Ort Agierenden
(Hausarzt und Pflege) komplementär palliativpflegerisch, -beratend und -medizinisch unterstützt: Es entsteht aus der Kontinuität der bestehenden Versorgung ein erweitertes lokales
Palliative-Care-Team mit einem umfassenden
Versorgungsauftrag inklusive Ruf- und Einsatzbereitschaft zu allen Zeiten.
Ausgeklügeltes Konzept
Die neun Elemente einer durchdachten und
zukunftsfähigen Konzeption werden im folgenden mit ihren ausgezeichneten Ergebnissen vorgestellt. Bei Vorliegen dieser Merkmale
können die Grundlagen erfolgreicher Zusammenarbeit –
■ Qualifikation,
■ Motivation,
Mehr als ein Hirngespinst
Bis heute sind diese Vorstellungen Visionen,
die als versponnen und unrealistisch abgetan
werden. Diejenigen allerdings, die die Möglichkeit haben, nach diesen Kriterien zu arbeiten, und die, die in dieses Konzept als Patienten und Angehörige eingebunden sind und
waren, bezeichnen es als die Versorgungskultur der Zukunft. Ich spreche von dem integrierten Versorgungskonzept für Schwerstkranke am Lebensende (IVP), abgeschlossen
in Fulda und Wiesbaden, für Versicherte der
TK, einzelner BKKen und der Knappschaft.
3. Motivation zu aktiver Mitwirkung, zur Konzeptausweitung und Weiterqualifikation
Das PalliativNetz unterstützt die lokalen Ressourcen und fördert damit auch eine Kultur
der gelebten Kooperation mit Nachahmungseffekt. Am Patientenbeispiel werden in der
engen Verzahnung mit dem Hausarzt palliativmedizinische Inhalte vermittelt, Grundlagen
für eine vertiefende Zusammenarbeit wie
auch Motivation zur Weiterqualifikation vermittelt. Hilfreich ist dabei auch, dass alle Maßnahmen mit einem adäquaten Honorar hinterlegt sind (siehe dort!).
Damit ist es das einzige bisher realisierte
bundesweite Konzept, das sowohl die allgemeinen wie auch spezialisierten Anteile der
ambulanten Palliativversorgung miteinander
vereint und durch die Anreize der basisnahen
Zusammenarbeit zu seiner Weiterverbreitung
hin zu einer flächendeckenden Palliativversorgung beiträgt!
Die medizinische Versorgungslandschaft befindet sich – nicht zuletzt durch
die politisch unterstützten erweiterten Möglichkeiten der Vertragsgestaltung
– in beständigem Wandel hin zu neuen Versorgungsformen! Gerade die
Aussichten auf eine bald umzusetzende Finanzierung der Palliativversorgung bietet die Möglichkeit, überholte Strukturen zu überwinden und neue
Konzepte der komplexen Leistungserbringung durch Managed-Care-Strukturen und mit Budgetverantwortung zu realisieren. Wie diese integrierten
Versorgungsnetze in der Palliativmedizin aussehen und auch funktionieren,
schildert Dr. med. Thomas Nolte, DGS-Vizepräsident vom Palliativzentrum
Wiesbaden.
Bildarchiv Nolte
D
Sterben in Würde
20
■
Die neun Elemente und ihre
Ausgestaltung im Konzept
1. Multidisziplinäre sektorenübergreifende
Versorgungsstruktur vor Ort
Ein dichtes Versorgungsnetz mit allen am Lebensende wichtigen Berufsgruppen, im RheinMain-Gebiet das PalliativNetz WiesbadenTaunus-Rheingau, in Osthessen das PalliativNetz Osthessen, arbeiten hier seit Jahren zusammen. Dabei ist von unschätzbarem Wert,
dass die Leistungserbringer ihre Erfahrungen
besonders auch in der ambulanten Versorgung
gesammelt haben, damit sie die Anforderungen und Besonderheiten im häuslichen
Bereich vor Ort gut einschätzen können. Gemeinsame Zielorientierung: die bestmögliche
4. Berücksichtigung gewachsener
Strukturen
Die Einbindung der hausärztlichen Versorgungsebene unterstützt die gewachsene Patienten-Hausarzt-Beziehung, berücksichtigt
die bereits gewachsenen Versorgungspfade
und bindet die vor Ort agierenden Hospizstrukturen mit ein. Dies ermöglicht einen dezentralen wohnortnahen Ablauf, der auch in
ländlichen Strukturen eine ausreichende Versorgungsdichte garantiert.
5. Kontinuierliche patientenzentrierte
Managed-Care-Versorgung
Eine bestmögliche Versorgung für unheilbar
Kranke am Lebensende erfordert eine Konti-
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Palliativmedizin
nuität in der Betreuung, die vorausschauend
und umfassend alle Bereiche erfasst. Rein
interventionelle Konzepte werden den Besonderheiten gerade in der Palliativversorgung
nicht gerecht, da bereits eingetretene Komplikationen und schwierige Umstände dann relativ schwierig zu Hause zu lösen sind und zu
unnötigen Krankenhauseinweisungen führen,
auch wenn ein kompetentes Team vor Ort ist.
Case-Management ist dabei ein Prozess der
konstanten Zusammenarbeit, der komplexen
Strukturierung aller Abläufe und stellt die Bedürfnisse der Patienten und seiner begleitenden Angehörigen in den Mittelpunkt. Nirgendwo mehr als am Lebensende sind diese
Elemente in der Versorgung notwendig und
unverzichtbar!
6. Regelmäßige, für alle offene Team­
besprechungen, Schulungen und Fall­
konferenzen
Gerade in einem so sensiblen Bereich wie in
der Versorgung von Schwerstkranken und
Sterbenden ist absolute Transparenz nach
innen wie auch außen notwendig! Hierzu gehört der ständige Austausch aller Beteiligten
in fachlicher Hinsicht (etablierte Qualitätszirkel) wie auch in patientenindividueller Hinsicht durch ethisch-palliative Fallkonferenzen
(Palliativkonferenz). Komplette PalliativeCare-Teams in einer Trägerschaft, zumal mit
nicht tagessatzbasierten Honorarstrukturen,
sind wegen mangelnder Transparenz und
möglicher wirtschaftlicher Zwänge abzulehnen.
7. Transparente, durch Dokumentation
hinterlegte Abläufe
Eine standardisierte kontinuierliche Evaluation innerhalb des Versorgungskonzeptes wie
auch unter den regional verschiedenen Konzepten ist unerlässlich. Hier sollten die Ergebnisse regelmäßig erfasst und bundesweit
ausgewertet werden. Grundlagen dafür sind
die Vorgaben der HOPE-Dokumentation durch
die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin.
8. Tagessatzbasiertes Globalbudget mit
wirtschaftlicher Verantwortung
Voraussetzung für eine hocheffiziente Versorgung ist eine Leistungserbringung, die Qualität belohnt und schlechte Versorgung sanktioniert. Alle seit den verschiedenen Gesundheitsreformen neu eingeführten Konzepte in
der Gesundheitsversorgung orientieren sich
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
an diesem Prinzip. Auch die Versorgung am
Lebensende macht hier keine Ausnahme!
Wirtschaftliche Anreize müssen die Erfüllung
der Ziele der spezialisierten Palliativversorgung (bestmögliche Versorgung zu Hause)
honorieren, die Entstehung vermeidbarer Kosten durch Krankenhauseinweisungen (Nichterreichbarkeit, lange Anfahrtswege, mangelnde Qualifikation) zu Honorarkürzungen führen.
Allein ein tagesbasiertes Globalbudget für
alle nach Einschluss des Patienten anfallenden
Maßnahmen verpflichtet alle Leistungserbringer sowohl auf höchste Qualität, bestmögliche Patientenzufriedenheit wie auch auf die
Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung
zu achten. Unzureichende Versorgung global
oder von einzelnen Mitwirkenden im Versorgungsnetz führt zu finanziellen Nachteilen für
das gesamte Versorgungsnetz! Dies sind an
sich allgemein akzeptierte Elemente moderner Versorgungsstrukturen, in Deutschland
bisher in dieser Form aber absolut neu und
hier als (noch!) revolutionär einzustufen! Auch
für die Krankenkassen besteht mit Einschluss
des Patienten in das Versorgungsnetz völlige
Kostentransparenz!
9. Wissenschaftlich verwertbare
Versorgungsdaten
Gerade die Intransparenz der sektoralisierten
Versorgungslandschaft mit ihren unterschiedlichen Budgets hat bis heute neue Konzepte
deshalb vereitelt, weil aus der Regelversorgung keine Vergleichsdaten vorliegen und
auch nicht extrahiert werden können.
Ein weiteres wesentliches Merkmal intelligenter Versorgungskonzepte ist deshalb
neben einer optimalen und gleichzeitig wirtschaftlichen Versorgung der Erwerb von
ökonomischen Daten für die Versorgungsforschung. Erst durch die komplette Budgetverantwortung mit einer zentralen Erfassung aller Versorgungsdaten und -kosten besteht die
Möglichkeit, die Kosten nach den Leistungserbringern (Ärzte, Pflege, Palliative-Care),
Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln bis hin
zu den stationären Kosten (Palliativstation,
stationäres Hospiz) aufzuschlüsseln. Aus der
Analyse lassen sich weitere Schritte für die
Zukunft der allgemeinen und spezialisierten
ambulanten Palliativversorgung ableiten.
Ausgezeichnete Ergebnisse
Nach über einem Jahr der Realisation des
Konzeptes in der Praxis liegen die ersten Versorgungsdaten vor. Insgesamt sind in Fulda
und Wiesbaden 50 Patienten in das palliative
Versorgungsnetz eingeschlossen worden. Davon sind bis Mitte Juli 46 verstorben, vier wer-
den aktuell in beiden Netzen versorgt. 46 Patienten haben eine Karzinomdiagnose, drei
starben an amyotropher Lateralsklerose, ein
Patient an einer internistischen Erkrankung.
Die mittlere Behandlungsdauer der verstorbenen Patienten betrug an beiden Orten 30
Tage. Alle eingeschlossenen Patienten wollten oder wollen zu Hause sterben, kein Patient hat sich einen anderen Sterbeort gewünscht. In Fulda sind von 15 verstorbenen
Patienten 14 zu Hause verstorben, ein Patient
im stationären Hospiz. Die Situation in Wiesbaden ist vergleichbar, 29 zu Hause, zwei
Patienten im Hospiz. Diese Zahlen belegen,
dass das gesteckte Ziel, bestmögliche Versorgung des unheilbar Kranken, bei mehr als
90% der versorgten unheilbar Kranken erreicht wird, vermutlich besser als in anderen
bisher bekannten Palliativprojekten! Mit großer Sicherheit wird auch die von uns nach
drei Monaten regelhaft erhobene Befragung
der Angehörigen ebenfalls eine große Zufriedenheit bei den Hinterbliebenen bestätigen.
Zusammenfassung
Wie kein anderes vom Gesetzgeber vorgegebenes bundesweites Projekt bietet das GKVWSG mit dem § 32 b die Chance, völlig neue
Wege in der Palliativversorgung zu gehen.
Das integrierte Versorgungskonzept IVP ist
hierfür ein Beispiel und eröffnet für alle qualifizierten palliativen Versorgungsnetze die
Möglichkeit, unabhängig von den Ausgangsstrukturen unter bundesweit vergleichbaren
Bedingungen eine flächendeckende allgemeine und spezialisierte ambulante Palliativversorgung nach den regionalen Besonderheiten
aufzubauen. ❏
Thomas Nolte, Wiesbaden
Bildarchiv Nolte
Thomas Nolte,
Wiesbaden
Palliativversorgung verlangt Teamgeist.
21
Medizin und Recht
Wie wird das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz auf Bundesebene umgesetzt?
Zum 01.07.2007 ist der neue Bundesmantelvertrag für Ärzte (BMV-Ä)
und der Ersatzkassenvertrag für Ärzte (EKV-Ä) in Kraft getreten. Nachdem
die Neuerungen des zum 01.01.2007 in Kraft getretenen Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes (VÄndG) bereits in Heft 1/07 (S. 20f.) dargestellt
wurden, erläutert Rechtsanwältin Heike Müller, Sindelfingen, die wichtigsten bundesmantelvertraglichen Änderungen zur Umsetzung des VÄndG.
Ausweitung des Leistungsspektrums
durch Anstellung von Ärzten
Durch das VÄndG besteht seit dem 01.01.2007
– unter Berücksichtigung der Bedarfsplanung
– auch die Möglichkeit, fachfremde Ärzte anzustellen und damit das Leistungsspektrum
der Praxis zu erweitern. Während früher
Leistungen, für die besondere Qualifikationsanforderungen (vgl. die Qualitätssicherungsvereinbarung Schmerztherapie) nachgewiesen werden mussten, in der vertragsärztlichen
Versorgung nur dann ausgeführt und abgerechnet werden durften, wenn der Praxisinhaber und zugelassene Arzt diese Anforderungen erfüllte, genügt es jetzt nach dem
neuen § 11 BMV-Ä auch, wenn nur der in einer Vertragsarztpraxis oder einem Medizinischen Versorgungszentrum angestellte Arzt
diese Voraussetzungen erfüllt. Bestimmte apparative oder räumliche Kriterien sind allerdings nach wie vor betriebsstättenbezogen zu
erfüllen. In diesen Fällen wird die erforderliche Genehmigung zur Erbringung der speziellen Leistungen dem jeweiligen Arbeitgeber,
d.h. dem Ver-
22
tragsarzt oder dem Medizinischen Versorgungszentrum mit der Maßgabe erteilt, dass
diese Leistungen nur durch die entsprechend
qualifizierten angestellten Ärzte erbracht werden dürfen. Wechselt der angestellte Vertragsarzt innerhalb des Bezirks einer KV den
Arbeitgeber, kann dieser vereinfacht eine Abrechnungsgenehmigung unter Bezugnahme
auf die zuletzt erteilte erhalten. Darüber hinaus ist durch die Anstellung von Vertragsärzten auch die gleichzeitige Teilnahme an
der hausärztlichen und der fachärztlichen
Versorgung zulässig, § 14a Abs. 2 BMV-Ä.
Steuerlich ist die Anstellung eines fachfremden Kollegen jedoch riskant, da die
Gefahr besteht, dass die Finanzämter die
Praxiseinkünfte als gewerbesteuerpflichtig
einstufen. Insoweit ist dringend die Beratung
durch einen Steuerberater zu empfehlen.
Persönliche Leitung der Vertragsarztpraxis
Für den Fall der Anstellung von Ärzten muss
der Vertragsarzt sicherstellen, dass die persönliche Leitung der Praxis durch ihn nach
wie vor gewährleistet ist. Unter dem Begriff
der „Persönlichen Leitung der Vertragsarztpraxis“ versteht der BMV-Ä die Voraussetzungen, nach denen bei in der Praxis angestellten Ärzten im Hinblick auf deren Zahl,
Tätigkeitsumfang und Tätigkeitsinhalt sichergestellt ist, dass der Praxisinhaber
den Versorgungsauftrag im notwendigen Umfang auch persönlich erfüllt
und dafür die Verantwortung übernehmen kann. Diese persönliche
Leitung ist nach der Neuregelung
in § 14a BMV-Ä dann anzunehmen, wenn je Vertragsarzt nicht
mehr als drei vollzeitbeschäftigte
oder teilzeitbeschäftigte Ärzte in
einem höchstens drei vollzeitbeschäftigten Ärzten entsprechenden Umfang angestellt sind.
Bei Ärzten, die überwiegend medi-
zinisch-technische Leistungen erbringen, wird
die persönliche Leitung auch bei der Beschäftigung von bis zu vier vollzeitbeschäftigten
Ärzten vermutet. Bei Vertragsärzten mit einer
Teilzulassung vermindert sich die Zahl der
zulässigen Anstellungen auf einen Vollzeitoder zwei teilzeitbeschäftigte Ärzte. Weiterbildungsassistenten werden hierbei nicht mitgerechnet. Ausnahmen von dieser Begrenzung
sind möglich, wenn gegenüber dem Zulassungsausschuss besondere Vorkehrungen für
die persönliche Leitung der Praxis nachgewiesen werden können. Einschränkungen
bestehen darüber hinaus bei Fachärzten, die
lediglich auf Überweisung tätig werden dürfen
(z. B. Radiologen, Pathologen, Laborärzte).
Vertragsärztliche Tätigkeit an
weiteren Orten
Der neue BMV-Ä unterscheidet nun zwischen
Betriebsstätte und Nebenbetriebsstätte(n).
Betriebsstätte des Vertragsarztes oder des
Medizinischen Versorgungszentrums ist der
Vertragsarztsitz. Betriebsstätte einer Berufsausübungsgemeinschaft sind die örtlich übereinstimmenden Vertragsarztsitze der Mitglieder, bei örtlich unterschiedlichen Vertragsarztsitzen der Mitglieder ist Betriebsstätte der
zu wählende Hauptsitz. Nebenbetriebsstätte(n)
sind in Bezug auf die Betriebsstätten zulässige weitere Tätigkeitsorte, an denen der Vertragsarzt, der angestellte Arzt, die Berufsausübungsgemeinschaft oder das Medizinische
Versorgungszentrum neben ihrem Hauptsitz
an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen. Für die Nebenbetriebsstätte(n) ist eine
Genehmigung durch die Kassenärztliche Vereinigung einzuholen.
Speziell bei schmerztherapeutisch tätigen
Vertragsärzten ist zu berücksichtigen, dass
lediglich die Erbringung „typisch“ anästhesiologischer Leistungen an Nebenbetriebsstätten gemäß § 15a Abs. 2 BMV-Ä insoweit privilegiert ist, als die Genehmigung bereits dann
zu erteilen ist, wenn die Versorgung durch
die Anzahl der Nebenbetriebsstätten nicht
gefährdet ist. Bei schmerztherapeutischen
Leistungen bleibt es indes bei der Voraussetzung des § 24 Abs. 3 Ärzte-ZV, wonach durch
die Nebenbetriebsstätte die Versorgung der
Versicherten an den weiteren Orten verbessert werden muss und die ordnungsgemäße
Versorgung am Ort des Vertragsarztsitzes
nicht beeinträchtigt werden darf.
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Medizin und Recht
Heike Müller,
Sindelfingen
Bei Berufsausübungsgemeinschaften mit unterschiedlichen Vertragsarztsitzen können die
Mitglieder gemäß § 15a Abs. 4 BMV-Ä auch
wechselseitig an diesen Sitzen tätig werden,
wenn insoweit ihre Präsenzpflicht gewährleistet ist und die Tätigkeit am jeweils anderen
Vertragsarztsitz nur in begrenztem Umfang
ausgeübt wird. In diesem Fall bedarf eine solche „Nebenbetriebsstätte“ der Mitglieder der
Berufsausübungsgemeinschaft keiner Genehmigung durch die KV. Schließlich ist es
auch erlaubt, einen angestellten Arzt allein
zur Durchführung von Behandlungen an der
Nebenbetriebsstätte einer Praxis/eines Medizinischen Versorgungszentrums anzustellen,
§ 15a Abs. 6 BMV-Ä.
Ausgelagerte Praxisräume, d.h. die Erbringung spezieller Untersuchungs- und Behandlungsleistungen an weiteren Orten in räumlicher Nähe zum Vertragsarztsitz sind nach
wie vor lediglich anzeigepflichtig.
Teilberufsausübungsgemeinschaften
Grundsätzlich kann sich die gemeinsame Berufsausübung von Vertragsärzten nach dem
VÄndG auch auf die Erbringung einzelner
Leistungen beschränken. Eine solche Teilberufsausübungsgemeinschaft ist allerdings nur
dann zulässig, wenn das zeitlich begrenzte
Zusammenwirken der Ärzte erforderlich ist,
um Patienten zu versorgen, die einer gemeinschaftlichen Versorgung der der Gemeinschaft
angehörenden Ärzte bedürfen, § 15a Abs. 5
BMV-Ä. Hiermit soll einer Umgehung des berufsrechtlichen Verbots der „Zuweisung gegen
Entgelt“ entgegengewirkt werden. Zu beachten sind insoweit ferner weitergehende berufsrechtliche Regelungen. So sind Teilberufsausübungsgemeinschaften z.B. im Bereich
der Ärztekammer Hamburg nur dann zulässig, wenn die Mitglieder am Gewinn der Gemeinschaft nur in dem ihrer persönlichen
Leistung entsprechenden Anteil beteiligt sind,
§ 18 Abs. 1a BO.
mindestens 20 Stunden wöchentlich in Form
von Sprechstunden zur Verfügung zu stehen.
Für einen Vertragsarzt mit hälftigem Versorgungsauftrag besteht eine entsprechende
Verpflichtung von 10 h/Woche. In den Fällen,
in denen der Vertragsarzt seine Tätigkeit an
weiteren Orten außerhalb seines Vertragsarztsitzes ausübt, gilt, dass die Tätigkeit am
Vertragsarztsitz alle Tätigkeiten außerhalb
des Vertragsarztsitzes zeitlich insgesamt
überwiegen muss. Ein bestimmtes zeitliches
Verhältnis ist hierzu jedoch nicht angegeben.
Die Bestimmungen gelten nicht für Anästhesisten und Belegärzte, eine Einschränkung,
die jedoch nicht für ausschließlich schmerztherapeutisch tätige Anästhesisten gelten
dürfte, auch wenn dies so nicht explizit geregelt ist.
Abrechnungsvorschriften
Die Abrechnungen der vertragsärztlichen
Leistungen sind ab dem 01.01.2008 unter Angabe der Arztnummer sowie aufgeschlüsselt
nach Betriebsstätten und Nebenbetriebsstätten zu kennzeichnen, § 44 Abs. 6 BMV-Ä. Für
Einzelpraxen ohne angestellte Ärzte und
Ärzte einer versorgungsbereichs- und fachgruppengleichen Berufsausübungsgemeinschaft, die nur an einer Betriebsstätte tätig
sind, kann eine Freistellung durch die KV erteilt werden. Durch diese neuen Abrechnungsvorgaben können die KVen überprüfen, ob die
jeweiligen Fachgebietsgrenzen oder
Qualitätsanforderungen eingehalten werden. Darüber hinaus kann der Umfang der
ärztlichen Tätigkeit genau
überprüft werden. Der
bisherigen Praxis der
KVen, bei der Plausibili-
tätsprüfung die Zeitprofile zu saldieren, sodass ein Mitglied einer Berufsausübungsgemeinschaft, das die zulässigen Zeiten überschritt, durch das Unterschreiten eines anderen Mitglieds profitieren konnte, wurde damit
eine Absage erteilt. Über die Angabe der Betriebsstätten- und Nebenbetriebsstättennummern kann die jeweilige KV genau nachvollziehen, welche Leistungen an welchen Orten
erbracht worden sind. Bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung ist hierzu vorgesehen, dass die
Behandlungs- und Verordnungsweise eines
Arztes nicht bezogen auf die jeweilige Betriebsstätte, sondern das gesamte Spektrum
bewertet wird, § 47 BMV-Ä.
Ausblick
Auch wenn der neue Bundesmantelvertrag
etwas „Licht in das Dunkel“ des VÄndG gebracht hat, sind zahlreiche Fragen noch offengeblieben und werden leider erst aus der Erfahrung der täglichen Praxis oder durch Inanspruchnahme der Gerichte geklärt werden
können. Trotz der durch das VÄndG eröffneten
Chancen des erweiterten Wettbewerbs ist es
für den Arzt leider erneut unabdingbar, sich
durch das „Dickicht“ von mitunter erst auf den
zweiten Blick verständlichen gesetzlichen Regelungen zu arbeiten. Die Frage, ob und inwieweit die Anstellung von Ärzten erweiterte
Budgets nach sich ziehen wird, ist den Regelungen der jeweiligen HVVs vorbehalten, die
derzeit in Arbeit sind. Bedauerlich ist zudem,
dass nach wie vor ein Umsetzungsdefizit bei den Bedarfsplanungsrichtlinien für Ärzte, die seit dem
01.04.2007 auch die ehemaligen Angestellte-Ärzte-Richtlinien umfassen, festzustellen
ist. ❏
Heike Müller, Sindelfingen
Präsenzpflicht
Während sich das Bundessozialgericht in seiner ständigen Rechtsprechung zur zulässigen
Höchstdauer einer Nebenbeschäftigung noch
scheute, eine Mindestdauer der vertragsärztlichen Tätigkeit bzw. eine Mindestzahl von
Sprechstunden festzulegen, wurde nun in
§ 17 BMV-Ä festgelegt, dass der Vertragsarzt
verpflichtet ist, an seinem Vertragsarztsitz
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
23
Schmerz im Krankenhaus
Funktion des Akutschmerzdienstes
Ein Akutschmerzdienst ist für die Qualität der postoperativen Patientenbetreuung ein wichtiges Instrument, um perioperative Schmerzen effektiv
zu behandeln. Wie dieser Dienst aussehen sollte, und welches Stufenkonzept für perioperative Schmerzen sinnvoll ist, schildert Dr. med. Thomas
Cegla, DGS-Leiter Wuppertal.
J
eder zweite Patient, der sich einem operativen Eingriff unterziehen muss, hat
Angst, Schmerzen zu erleiden. Dies unterstreicht die Bedeutung, perioperative
schmerztherapeutische Konzepte anzubieten
und darzustellen. Bei der Auswahl der Klinik
für eine elektive Operation wird und soll sich
der mündige Patient nicht nur über das Operationsverfahren, sondern auch über die perioperative Betreuung informieren. Dieses
Informationsangebot kann durch Eigendarstellung der Kliniken über die Internetseiten
der Krankenhäuser erfolgen. Unterschiedlichste Zertifizierungsmaßnahmen können in
Zukunft eine weitere Orientierungsmöglichkeit zur Einschätzung der schmerztherapeutischen Qualität einer Klinik bieten. Im Rahmen solcher Zertifizierungen, wie sie auch
von der DGS angeboten werden, findet die
externe Überprüfung der schmerztherapeutischen Strukturen eines Krankenhauses
statt. Wichtig ist, die Qualität der Schmerztherapie zu zertifizieren und nicht eine
Schmerzfreiheit zu attestieren. Der plakative,
sehr öffentlichkeitswirksame Begriff
„Schmerzfreies Krankenhaus“ ruft bei vielen
Patienten eine falsche und unrealistische Erwartungshaltung hervor.
Akutschmerzdienste bislang nur
bei 36%
Ein Hilfsmittel zur Entscheidung, ob an einem
Krankenhaus Schmerztherapie eine besondere Bedeutung hat, ist die Organisation
eines Akutschmerzdienstes. Ca. 70% aller
Universitätskliniken geben an, einen
Akutschmerzdienst zu haben. Bei der Zusammenfassung aller Kliniken sind es 36%. Dabei bestehen besondere organisatorische
Schwierigkeiten, abhängig von der Größe des
Krankenhauses oder der Klinik. Bei kleinen
Häusern ist die Personalkapazität häufig gering, an größeren Kliniken bestehen viele,
häufig lokal voneinander getrennte, zu versorgende Teilbereiche.
DRG-Code nutzen
Die Leistungen des Akutschmerzdienstes
sind im DRG-Katalog unter der Akutschmerzbehandlung in Kap. 8 des OPS beschrieben.
Dieser Code umfasst die Einleitung, Durchführung und Überwachung einer speziellen
Schmerztherapie oder Symptomkontrolle bei
Patienten mit schweren akuten Schmerzzuständen, z. B. nach Operation, Unfällen und
schweren exazerbierten Tumorschmerzen, ist
jedoch nicht direkt am Operationstag anwend-
Abbildung 1: Stufenkonzept für den Akutschmerzdienst zur Therapie postoperativer oder tumorbedingter Schmerzen.
Postoperative oder tumorbedingte Schmerzen
Schmerzproblem
Station
Schmerzdienst − Stufe 1
Schmerzspezialist des eigenen Fachbereichs
Schmerzdienst − Stufe 2
24
Thomas Cegla,
Wuppertal
bar. Er erfordert des Weiteren kontinuierliche
Regionalanästhesieverfahren oder eine patientenkontrollierte Analgesie. Zweimalige Visiten durch den Akutschmerzdienst sind
durchzuführen und mindestens drei Aspekte
der Effektivität der Therapie sind zu dokumentieren. Die Visite kann vom speziell ausgebildeten Pflegepersonal oder vom ärztlichen
Personal durchgeführt werden.
Macht es Sinn, eine zur Zeit nicht finanziell sondervergütete Leistung zu erbringen und
zu dokumentieren? Die Leistungsdarstellung
eines erhöhten schmerztherapeutischen Aufwandes kann bei internen Vergleichen von
Instituten und Kliniken Berücksichtigung finden. Ein externer Vergleich mit Konkurrenzhäusern wird möglich. Den Kostenträgern
werden in der Zukunft Daten zur Verfügung
stehen, auch diesen Teilbereich als Teil der
gesamten perioperativen Betreuung des Patienten zu beurteilen. Hierfür ist jedoch eine
Kodierung erforderlich.
Weniger Komplikationen
Dass Schmerzen eine beschleunigte Rekonvaleszenz behindern, ist allgemein erkannt.
Aus diesem Grund werden perioperative Absprachen zur Schmerztherapie und der Einsatz patientenkontrollierter Analgesie und
insbesondere von regionalanästhesiologischen Verfahren immer wieder gefordert.
Nur so kann der Patient durch frühe Mobilisation während eines möglichst kurzfristigen
Krankenhausaufenthalts bei guter Patientenzufriedenheit und gutem Outcome betreut
werden. Bei einer qualitativ hochwertigen
Schmerztherapie sind die pulmonalen und
kardiovaskulären Komplikationen geringer.
Dabei reicht die Einrichtung eines Schmerzdienstes allein nicht aus. Standardisierte
Verfahrensprotokolle und schmerztherapeutische Algorithmen sind notwendig. Schmerztherapeutische Aufgaben können von speziell
ausgebildeten Pflegekräften (algesiologische
Fachassistenten) übernommen werden. Für
die Überwachung und Dokumentation, aber
auch für die Therapie sind hier verbindliche
Leitlinien und Algorithmen mit genauen Dosisangaben und Zeitintervallen notwendig. Eine
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Schmerz im Krankenhaus
Opiatgabe kann nach diesen Vorgaben auch
vom Pflegepersonal intramuskulär oder per
Kurzinfusion vorgenommen werden. Wenn
möglich sollte neben der pflegerischen auch
eine ärztliche Visite stattfinden. Dies hängt jedoch von den organisatorischen Möglichkeiten
ab. Wichtig ist die fachgruppenübergreifende
Kommunikation und die regelmäßige Überprüfung der festgelegten schmerztherapeutischen Konzepte.
24-Stunden-Konzepte nötig
Abhängig von der Struktur und Größe einer
Klinik kann die Organisation eines fachübergreifenden Akutschmerzdienstes über 24 h
schwierig sein. Aus diesem Grund sollten einzelne Kliniken und Abteilungen über den Pflegedienst und zumindest einen schmerztherapeutisch weitergebildeten Facharzt einen eigenen Schmerzdienst als Teilbereich des
fachübergreifenden Schmerzdienstes organisieren (Abb. 1).
Werden patientenkontrollierte Analgesieverfahren durch den Fachbereichsschmerzdienst angewandt, kann auch hier der Code für
die spezielle Akutschmerztherapie eingesetzt
werden. Führen die perioperativen Konzepte
bei einem Patienten nicht zu einer deutlichen
Schmerzreduktion, ist erst dann der übergeordnete Akutschmerzdienst zu informieren.
Algorithmen können abhängig vom operativen Eingriff, aber auch von der Schmerzstärke erstellt werden.
Algorithmen müssen sich aber auch an der
Schmerzstärke orientieren. Starke Schmer-
Tabelle 1: Auf den Eingriff bezogen
■
Kleinere Eingriffe =
Medikamente der WHO-Stufe I
■ Mittlerer Eingriff
=
Opiat der Stufe II zusätzlich kombiniert;
feste Zeitregelung der Einnahme,
evtl. auch schon patientenkontrollierte
Analgesieverfahren
■ Größerer Eingriff =
Verwendung von regionalanästhesiologischen
Maßnahmen, patientenkontrollierte
Analgesieverfahren
zen können auch nach kleineren Eingriffen
auftreten und bedürfen dann einer speziellen
Schmerztherapie unter Einsatz potenter
Schmerzmittel. Dies sind auch Opiate der
Stufe III.
Eine patientenkontrollierte Analgesie über
Injektionspumpen, intravenös oder über regionalanästhesiologische Katheter ist als
Goldstandard zu bevorzugen. Ist dies nicht
möglich, kann alternativ eine orale patientenkontrollierte Analgesie durchgeführt werden.
Hierzu bietet sich z.B. ein Kombination aus
Oxycodon, abhängig vom Körpergewicht und
von der Eingriffsart 10–20 mg zweimal tägl.
gegeben, und der Zusatz von Hydromorphon
1,3 mg bei Bedarf an.
Um den Charakter einer patientenkontrollierten Analgesie zu gewährleisten, sollte der
Patient das Hydromorphon griffbereit haben
und es ohne Zeitverzögerung einnehmen können. Erst nach Einnahme meldet sich der Patient, sodass dokumentiert werden kann und
er die nächste Dosis bereit gestellt bekommt.
Die Änderungen im Gesundheitswesen
machen auch vor den Krankenhäusern nicht
halt. Gerade das pauschalierte fallbezogene
Abrechnungssystem hat vielfach zu organisatorischen Änderungen geführt. Die ökonomische Leistungsfähigkeit von Abteilungen
wird transparenter. Eine interne Darstellung
und Erfassung schmerztherapeutischer Leistungen und eines schmerztherapeutischen
Personalaufwandes ist umso wichtiger. ❏
Thomas Cegla, Wuppertal
I n f otelegramm
Bilateraler ilioinguinaler Nervenblock
nach Hysterektomie
Kognitive Verhaltenstherapie statt
Bandscheibenoperation?
Oberflächen-EMG zur Schmerz- und
Therapiediagnose
Der Einsatz des bilateralen ilioinguinalen Nervenblocks nach Hysterektomie halbierte den Morphingebrauch in den folgenden zwei postoperativen Tagen (21 versus 41 mg, p < 0,0001),
zeigte eine prospektive randomisierte Doppelblindstudie an 70 Patienten (Anesth. Analg.
2007;104:731–734).
In einer systematischen Übersicht über die randomisierten Studien, die Bandscheibenfusionen
im Vergleich zu nicht operativen Verfahren untersuchte, zeigte sich, dass der Nutzen der Bandscheibenoperationen zwar besser war als eine
unkontrollierte allgemeine Therapie, aber sie war
gleichwertig mit der kognitiven Verhaltenstherapie (Spine 2007;32: 816–823).
Chronische Nackenschmerzen ohne zervikale Radikulopathie lassen sich mit einem oberflächlichen Elektromyogramm durch ein signifikant
größeres Spitzen-EMG von gesunden Probanden
unterscheiden, ergab eine Studie von S. Kumar
et al. an 34 Patienten im Vergleich zu 66 gesunden Probanden (Spine 2007;32:246–253).
Dupuytren-Kontraktur
Die typische Dupuytren-Kontraktur, eine fibroproliferative Erkrankung der Palmarfaszie, tritt
vor allem bei Patienten mit Diabetes, positiver
Familienanamnese, Alkoholmissbrauch und bei
beruflicher Exposition zu Vibrationsmaschinen
auf, erklärt Calif and Stahl anhand der Kasuistik
eines 57-jährigen Mannes, der mit einer bilateralen partiellen Fasziektomie erfolgreich behandelt wurde (New Engl. J.Med. März 2007).
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Rückenschmerzen genetisch determiniert
In einer großen Zwillingspaarstudie an 147 monozygoten Zwillingspaaren und 153 dizygoten
Zwillingspaaren (600 Teilnehmer) konnte die kanadische Arbeitsgruppe von M.C. Battie nachweisen, dass die Diskusdegeneration einer der Wege
ist, über die sich die genetische Komponente von
Kreuzschmerzen bemerkbar macht (Pain 2007,
Epub ahead of print).
Mit elektrischer Nervenstimulation
gegen muskuloskelettale Schmerzen
Nach einer Metaanalyse von M. Johnson,
in der insgesamt 335 Placebo-, 474 ElektrischeNervenstimulation (EN)- und 418 Crossover-Patienten ausgewertet wurden, ergab, dass die elektrische Nervenstimulation eine effektive Behandlung für chronischen muskuloskelettalen Schmerz
darstellt (Pain 2007, Epub ahead of print).
25
Bücherecke
Opiatabhängigkeit – eine Pflichtlektüre!
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In den letzten Jahren sind Opioide auch zur Behandlung von
Nicht-Tumor-Schmerzen zunehmend in den Mittelpunkt moderner
Schmerztherapie gerückt. Das Stigma vom „Morphin als letztem Mittel“
wurde abgelöst von einer rationalen Denkweise, die retardierten Opioiden in oraler oder transdermaler Galenik gerade aufgrund ihrer fehlenden spezifischen Organtoxizität einen festen Stellenwert einräumt.
Nicht zuletzt der „Vioxx-Skandal“ und die in dessen Folge gemachten
retrospektiven und prospektiven Untersuchungen über renale und kardiovaskuläre Nebenwirkungen haben dazu wesentlich beigetragen,
konnten sie doch eindrucksvoll zeigen, dass weder die traditionellen
nicht steroidalen Antirheumatika (tNSAR) noch die selektiveren Cox2-Hemmer (Coxibe) für eine Langzeittherapie geeignet sind.
Rationale Therapie mit Opioiden darf aber nicht zu „Opioideuphorie“, d. h. zu einem unkritischen Einsatz dieser potenten Analgetika
mit dem Potenzial zentraler Nebenwirkungen führen. Nicht jeder
Schmerz ist opioidsensitiv, nicht jeder Patient ist für eine Therapie
mit Opioiden geeignet. Wer die segensreichen Wirkungen dieser Substanzgruppe nutzen will,
sollte daher auch deren Grenzen kennen bzw. wissen, wie mit dem Problem einer vorbestehenden oder iatrogenen Opioidabhängigkeit umzugehen ist.
In diesem Zusammenhang ist das soeben in zweiter Auflage erschienene Buch „Opiatabhängigkeit“ ein exzellenter Ratgeber. Das Werk bietet einen fundierten, gleichermaßen
aktuellen wie praxisrelevanten Überblick zu den pharmakologischen, medizinischen, psychotherapeutischen und nicht zuletzt juristischen Aspekten dieses Krankheitsbildes.
Die zweite Auflage wurde sinnvoll erweitert durch neue Beiträge zu relevanten chirurgischen, dermatologischen und gynäkologischen Essentials im Rahmen einer Opiatabhängigkeit sowie ein Kapitel zur Schmerztherapie.
Relevant für die tägliche Praxis sind auch die Ergänzungen zur Begutachtung hinsichtlich
Suchtgefährdung und Suchtkrankheit, zur Fahrtauglichkeit, zur psychosozialen Betreuung und
– ein mit vielen Vorurteilen besetztes Thema – zur Substitutionsbehandlung mit Heroin.
Fazit: Eine praxisrelevante Pflichtlektüre für jeden schmerztherapeutisch Tätigen, ein sehr
gutes Nachschlagewerk für alle, die Opioide einsetzen, und/oder alle diejenigen, für die der
Dr. Uwe Junker
Umgang mit Abhängigen zur täglichen Arbeit gehört.
Eckhard Beubler, Hans Haltmayer, Alfred Springer (Herausgeber):Opiatabhängigkeit. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage, 2007. XIV, 340 Seiten. 33 Abbildungen. Broschiert. Eur 49,90, Springer
Verlag, Heidelberg, New York. ISBN 978-3-211-29116-0
Einstieg und/oder Repetitorium
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Das Buch vermittelt die wesentlichen Informationen praxisnah,
die man vor Beginn einer medikamentösen Therapie braucht, um ein
effektives Konzept zu erarbeiten. Einleitend werden die gängigen
Definitionen und die Abgrenzungen von akutem und chronischen
Schmerz dargestellt, bevor der wichtigen Frage nachgegangen wird,
wie der Hausarzt Chronifizierungsprozesse frühzeitig erkennen
kann. Ebenso prägnant wie didaktisch gelungen ist die Beschreibung
von Schmerzwahrnehmung und der unterschiedlichen Schmerztypen
wie Nozizeptor- und neuropathischem Schmerz mit einer sinnvollen
Abgrenzung der chronischen Kopfschmerzen als Sonderfall. Getreu
dem schmerztherapeutischen Credo „Ohne Schmerzmessung keine
Therapie“ wird das Kapitel „Schmerzerfassung in der Hausarztpraxis“ der aktuellen Schilderung aller gängigen Analgetika und Koanalgetika vorangestellt. Insgesamt ein rundum gelungenes Buch für
den schmerztherapeutisch interessierten Hausarzt. Dr. Uwe Junker
Oliver Emrich – News, Aktuelle Schmerztherapie mit Analgetika, 64 S., 5 Abbildungen, 12 Tabellen, Eur 11,99,
CHF 18,90, ComMed Update, 2005, ISBN 3-905320-81-9, ComMed Verlag, Basel.
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Impressum
Organ der Deutschen Gesellschaft für
Schmerztherapie
Herausgeber
Gerhard Müller-Schwefe,
Schillerplatz 8/1, D-73033 Göppingen
Tel. 07161/976476 · Fax 07161/976477
E-Mail: [email protected]
Schriftleitung
Thomas ­Flöter, Frankfurt; Olaf Günther, Magdeburg;
Winfried Hoerster, Gießen; Dietrich Jungck, Hamburg;
Uwe Junker, Remscheid; Stephanie Kraus (verantw.),
­Stephans­kirchen, Tel.: 08036/1031;
Thomas Nolte, Wiesbaden; Reinhard Thoma, Tutzing;
Michael ­Überall, Nürnberg
Beirat
Joachim Barthels, Bad Salzungen; Christoph Baerwald,
Leipzig; Wolfgang Bartel, Halber- stadt; Heinz-Dieter
­Basler, Marburg; Günter Baust, Halle/ Saale; Klaus
Borchert, Greifswald; Burkhard Bromm, Hamburg; Kay
­Brune, Erlangen; ­Mathias ­Dunkel, Wiesbaden; Oliver
Emrich, Ludwigs­hafen; Gerd Geiss­linger, Frankfurt; Hartmut Göbel, Kiel; Henning Harke, Krefeld; Ulrich Hankemeier, Bielefeld; Stein Husebø, Bergen; Klaus Jork,
Frankfurt; Edwin Klaus, ­Würzburg; Eberhard Klaschik,
Bonn; Lothar ­Klimpel, Ludwigs­hafen; Bruno Kniesel,
Hamburg; Marianne Koch, Tutzing; Bernd Koßmann,
Wangen; Peter Lotz, Bad Lippspringe; Christoph Müller-Busch, Berlin; Robert ­Reining, Passau; Robert F.
Schmidt, Würzburg; Günter ­Schütze, Iserlohn; Hanne
­Seemann, ­Heidelberg; Ralph Spintge, Lüdenscheid;
Birgit Steinhauer, Limburg; ­Georgi ­Tontschev, Bernau;
Roland Wörz, Bad Schönborn; ­Henning ­Zeidler, Hannover; Walter Zieglgäns­berger, ­München; Manfred
Zimmermann, ­Heidelberg
In Zusammenarbeit mit dem Fach­verband Schmerz,
Verband ­Deutscher Ärzte für Algesiologie e.V.,
Deutsche Gesellschaft für Algesio­logie e.V., Deutsche
Gesellschaft für Algesiologische Fachassistenz e. V.,
­Deutsche Akademie für ­Algesiologie, GAF Gesellschaft für ­algesiologische Fortbildung mbH, Deutsche
Schmerz­liga e.V., Verband ambulant tätiger Anästhesisten e.V., Gesamtdeutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin e.V., Deutsche Gesellschaft zum Studium
des Schmerzes e.V. und Deutsche Gesellschaft für
Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie.
Mit der Annahme eines Beitrags zur Veröffent­lichung
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Der Mitgliedsbeitrag des DGS schließt den Bezugspreis der Zeitschrift mit ein. Die Zeitschrift erscheint
im 23. Jahrgang.
Verlag
© ­URBAN & VOGEL GmbH, München,
Januar 2007
Leitung Medical Communication:
Ulrich Huber (verantw.)
Schlussredaktion: Dr. Brigitte Schalhorn
Herstellung/Layout: Maren Krapp
Druck: Vogel Druck und Medienservice
GmbH & Co. KG, Höchberg
Titelbild: Marcus Gruber, Illustration: Z. Curulija
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Kasuistik
Rückenschmerzen
Rückenschmerzen sind eine der häufigsten und teuersten Schmerzerkrankungen unter der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland. Eine möglichst
frühzeitige und effektive pharmakologische Schmerztherapie scheiterte
bisher häufig an den schwer beherrschbaren gastrointestinalen Nebenwirkungen der Opioide, gegen die auch in aller Regel keine Toleranzentwicklung zu erwarten ist. Die Kombination von Oxycodon mit Naloxon
bietet hier bereits für die Initialeinstellung zahlreiche Vorteile, schildert
Dr. med. Gerhard Müller-Schwefe, Göppingen.
Die 36-jährige Patientin stellt sich im Frühjahr
2007 im Schmerzzentrum vor mit anhaltenden
Rückenschmerzen bei Zustand nach zweimaliger Nukleotomie L4/L5 1999 und L3/L4, L4/
L5 2000 sowie bei zunehmender Instabilität
Spondylodese L3/L4/L5 im Jahr 2001. Die
postoperative Rehabilitationsbehandlung war
bereits wegen massiver Schmerzen nur
schwer durchführbar gewesen. Auf alle Versuche, die Schmerzen mit entzündungshemmenden Substanzen zu beherrschen, hatte
die Patientin mit massiven Magenproblemen
reagiert, trotz gleichzeitiger Gabe von Protonenpumpenhemmern. Auf Stufe-II-Opioide
hatte sie keine ausreichende Schmerzlinderung erfahren, sodass schließlich zunächst
Morphin, dann Oxycodon gegeben wurde.
Mit einer Dosierung von zwölfstündlich
10 mg Oxycodon war jedoch bereits eine
derart ausgeprägte Obstipation aufgetreten,
dass die Patientin höchstens alle sieben bis
acht Tage Stuhlgang hatte, ohne dass die
Schmerzlinderung ausreichend war. Ein Versuch, diese Nebenwirkungen mit transdermaler Gabe von Fentanyl oder Buprenorphin zu
umgehen, scheiterte, deshalb wurde nochmals die orale Gabe von Oxycodon versucht.
Die zusätzliche Gabe von Lactulose und Bisacodyl führte zu massiven Blähungen und
Erbrechen, sodass eine Dosissteigerung von
Oxycodon unmöglich schien. Weitere Therapieversuche mit Macrogol, Natriumpicosulfat
und diätetischer Umstellung blieben ebenfalls ohne Erfolg. Die Patientin klagte über
einen aufgetriebenen Bauch mit massiven
Spannungen und Gurgeln, Unfähigkeit der
Stuhlentleerung oft über Tage hinweg, dann
wieder massive Durchfälle mit nachfolgender
Obstipation für erneut mehrere Tage.
Der Nachtschlaf der Patientin war sowohl
schmerzbedingt als auch obstipationsbedingt
massiv gestört, sie schilderte Albträume und
häufiges Aufwachen. Die Schmerzintensität
der Rückenschmerzen wurde in der visuellen
Analogskala (VAS 100) mit 40 angegeben.
SCHMERZTHERAPIE Nr. 3/2007 (23. Jg.)
Bildarchiv Urban & Vogel
Der Praxisfall
Opioide können zu dramatisch aufgeblähtem Abdomen mit Zwerchfellhochstand
führen.
In der verbalen Beurteilung gab die Patientin dieses Schmerzniveau als extrem starke
Schmerzen an.
Untersuchungsbefund
Es zeigte sich eine äußerlich reizlose Narbe
über den Segmenten L2 bis L5 bei Zustand
nach Spondylodese. Im Bereich der gesamten körperaufrichtenden Muskulatur massiv
verkürzte Rückenstrecker und aktivierte Triggerpunkte, Seitneigung und Inklination massiv eingeschränkt, Patellarsehnenreflex und
Achillessehnenreflex beidseits abgeschwächt,
Hyposensibilität in den Segmenten L4 und L5
rechts als Ausdruck einer chronischen Wurzelschädigung. Ein MRT bestätigte den Verdacht ausgeprägter Narbenbildung im Spinalkanal. Eine operative Revision wurde von der
Patientin ebenso wie von den Wirbelsäulenchirurgen und Neurochirurgen abgelehnt.
Diagnose
Die Patientin litt an einem chronifizierten
Schmerzsyndrom, Chronifizierungsstadium III
bei Zustand nach Spondylodese L3–L5 bei
Instabilität, postoperativen Schmerzen bei
Narbenschmerzen sowie unzureichender
Analgesie bei massivster opioidinduzierter
gastrointestinaler Symptomatik und hierdurch limitierter Opioiddosis.
Therapie und Verlauf
Die Patientin wurde sofort auf Oxycodon und
Naloxon zwölfstündlich 10 mg umgestellt (Targin® 10/5). Hierunter entwickelte sie innerhalb
einer Woche massive Durchfälle. Auf Rückfrage stellte sich heraus, dass sie trotz gegenteiliger Anweisung weiterhin die gewohnten Laxanzien eingenommen hatte. Nach Absetzen
der Laxanzien erfolgte die Normalisierung
des Stuhlverhaltens innerhalb einer weiteren
Woche mit geformten Stuhlgängen etwa alle
ein bis zwei Tage.
Es erfolgte eine Titration der Targindosis
bis zur analgetisch ausreichenden Dosierung,
überprüft anhand von Schmerztagebüchern,
mit einer Enddosis von Targin® zwölfstündlich
20 mg. Hierunter Reduktion der Schmerzintensität in der VAS 100 auf 5 bis 7, Erträglichkeitsniveau 5.
Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass die
Patientin ohne weitere Laxanzien durch diese Medikation so schmerzarm war, dass sie
ohne weitere Zusatzmedikation mit einem
intensiven Übungs- und Aufbauprogramm
beginnen konnte. Auch vier Monate nach der
Umstellung von Oxycodon auf Targin® gleichbleibend gute Analgesie und Übungsfähigkeit,
sodass die Patientin jetzt im Rahmen einer
stufenweisen Wiedereingliederung an ihren
früheren Arbeitsplatz zurückkehren kann.
Diskussion
Unter den opioidbedingten Nebenwirkungen
sind die vielfältigen gastrointestinalen Beschwerden, unter denen Obstipation nur ein
Problem darstellt, am schwierigsten zu therapieren. Durch die Umstellung von Oxycodon
auf Targin® (Oxycodon und Naloxon) konnte
die massive gastrointestinale Problematik unserer Patientin vollständig beseitigt werden.
In der Umstellungsphase ist zu beachten,
dass Patienten häufig weiterhin unnötigerweise Laxanzien einnehmen und damit eine
beschleunigte Darmpassage provozieren. Der
periphere, prähepatisch wirksame Opiatantagonist Naloxon blockiert ausschließlich im
Magen-Darm-Trakt vor der Leberpassage die
obstipierende Wirkung von Opioiden. Gleichzeitige Laxanziengabe führt zu beschleunigter
Darmpassage. Hierbei ist zu beachten, dass
es sich bei verringerter Analgesie dann nicht
um eine Antagonisierung der Opiatwirkung
durch Naloxon handelt, sondern um eine verringerte Aufnahme des Opioids. ❏
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