Joachim Linder

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Joachim Linder
Linder: Feinde im Inneren, S. 1
Joachim Linder
Feinde im Inneren.
Mehrfachtäter in deutschen Kriminalromanen der Jahre 1943/44 und der 'Mythos Serienkiller'
(Druckvorlage für Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28, 2. Heft
(2003), S. 190-227; entspricht nicht vollständig dem gedruckten Text.)
Im Mittelpunkt des Beitrages stehen Texte aus der Reihe "Neuzeitliche Kriminalromane", die kurz
vor dem Untergang des 'Dritten Reiches' auf Anregung des Propagandaministeriums und unter der
Aegide der Leitungsebene des Reichssicherheitshauptamtes produziert und publiziert wurden. Es sind
literarische Texte, in denen die Polizei des 'Dritten Reiches' als wohlwollende und fürsorgliche
Ordnungsinstanz dargestellt wird, deren einzelne Angehörige keineswegs Angst und Schrecken
verbreiten, sondern streng nach dem im 'Dritten Reich' längst obsolet gewordenen Prozeß- und
Beamtenrecht ihre erfolgreiche Ermittlungstätigkeit durchführen. In der Wechselwirkung mit diesem
Bild einer rechtsstaatlichen Polizei wird das Feindbild des gemeinschaftsschädlichen Psychopathen
konzipiert, dessen kriminelles Tun, das einem unveränderlichen inneren Antrieb folgt, sich vor allem
gegen die Schwachen der Gesellschaft richtet. Die literarische Feindbildkonstruktion nimmt zwar
traditionelle Vorstellungen über den Zusammenhang von Genie, Kunst und Verbrechen auf,
transformiert sie aber so, daß der Nimbus der Größe von den Verbrecher- auf die Polizeifiguren
übergehen kann. In diachroner Hinsicht werden, wenn auch nur kursorisch, zwei Aspekte diskutiert:
In der Kriminalliteratur, die während des 'Dritten Reiches' produziert und gefördert wurde, bilden sich
Darstellungs- und Erzählschemata aus, die für die Genreentwicklung in der Zeit der Bundesrepublik
fruchtbar wurden. Und gleichzeitig kann gezeigt werden, daß die Personenkonstellationen und
Konfliktkonstruktionen Definitions- und Strukturmerkmale der Serienkillerdarstellungen
vorwegnehmen, die seit der Zeit um 1980 einen wesentlichen Anteil an der 'Kriminalitätsproduktion'
der internationalen Unterhaltungsindustrie haben.
Vorbemerkung im Hinblick auf den 'Serienkiller-Diskurs'
"Using Murder" überschrieb Philip Jenkins 1994 seine Studie über "[t]he Social Construction of
Serial Homicide",1 in der er in bahnbrechender Weise die Teilnehmer, die Medien und die Funktionen
des 'Serienkiller-Diskurses' der 1980er und 1990er Jahre rekonstruierte. In den seitdem vergangenen
zehn Jahren hat sich die Bedeutung von Serienmord und Serienmördern als Commodities am
Medienmarkt und vor dem Hintergrund immer ausgefeilterer elektronischer Speichungs- und
Zugriffsmöglichkeiten für Texte, Bilder und Filme noch verstärkt. Die Darstellungen von Männern,
aber auch Frauen, die für 'multiple illegale Tötungen' verantwortlich gemacht werden, sind
allgegenwärtig und nähren Vorstellungen, nach denen das Alltagsleben stets von unmotivierter und
unvorhersehbarer Gewalt gefährdet sei. Jeder neue Falldarstellung wird als Teil einer Serie begriffen
----------------------------------1.
Philip Jenkins: Using murder: The Social Construction of Serial Homicide, New York: A. de
Gruyter 1994.
Linder: Feinde im Inneren, S. 2
und in den Horizont des medienvermittelten Populär-Wissens über Gewaltkriminalität integriert.
'Authentische Geschichten' einzelner Täter oder Fallsammlungen zu bestimmten Gewaltdelikten
werden kontinuierlich für einen florierenden Markt produziert, so daß jeder Täter erfaßt wird, der
auch nur entfernt den Definitionen für Serien- und Massenmörder entspricht.2 Inzwischen wird 'Jack
the Ripper', dessen Identität im Dunkeln bleibt, als paradigmatische Figur des (sexuell motivierten)
Serial Killing regelmäßiger Wiederbelebungsversuche unterzogen, an denen stets alle Formen und
Genres der populär-medialen Verständigung über Kriminalität beteiligt sind.3 Jenkins' Studie hat
weitere diskurs- und mediengeschichtliche Arbeiten angeregt;4 in Sammelbänden werden Beiträge
zum Serienmord aus kulturhistorischen, kriminalistischen und kriminologischen Perspektiven
publiziert, die transdisziplinäre Einsichten vermitteln wollen, um das 'Nebeneinander' der
Wahrnehmung von 'krimineller Wirklichkeit' und 'medialer Verarbeitung' zu überwinden.5 In
literarhistorischer Perspektive wird der Serienkiller als weitere Extremfigur in der Tradition der
Vampire, Monster,6 der Lustmörder,7 der Don-Juan- und Blaubartfiguren diskutiert.8
----------------------------------2.
Exemplarisch die enzyklopädischen Sammlungen aus deutscher Produktion: Peter und Julia
Murakami: Lexikon der Serienmörder. 450 Fallstudien einer pathologischen Tötungsart.
(Ullstein Taschenbuch) München: Ullstein 2000; Stephan Harbort: Das Hannibal-Syndrom.
Phänomen Serienmord, Leipzig: Militzke 2001. Auch Täterinnen werden mittlerweile
berücksichtigt: Michael D. Kelleher and C. L. Kelleher: Murder Most Rare. The Female
Serial Killer. Westport, CT, and London: Praeger 1998; Kerry Segrave: Women Serial and
Mass Murderers. A Worldwide Reference, 1580 through 1990. Jefferson, NC, and London:
McFarland & Company 1992.
3.
Vgl. jüngst Patricia Daniels Cornwell: Portrait of a Killer: Jack the Ripper - Case Closed.
New York: Putnam's 2002, sowie die weltweiten Diskussionen, die das Buch auslöste; s. die
Rezension von Klaus Bartels in IASLonline (URL: http://www.iasl.unimuenchen.de/rezensio/liste/bartels3.html, ins Netz gestellt am 22.01.2003.
4.
Richard Tithecott: Of Men and Monsters: Jeffrey Dahmer and the Construction of the Serial
Killer. Foreword by James R. Kincaid. Madison: University of Wisconsin Press 1997, Mark
Seltzer: Serial Killers. Death and Life in America's Wound Culture. New York and London:
Routledge 1998; Philip L. Simpson: Psycho Paths: Tracking the Serial Killer Through
Contemporary American Film and Fiction. Carbondale and Edwardsville: Southern Illinois
University Press 2000. Filmhistorisch: Karl Juhnke: Das Erzählmotiv des Serienmörders im
Spielfilm. Eine filmwissenschaftliche Untersuchung. Bonn: Deutscher Universitäts-Verlag
2001; Angelica Schwab: Serienkiller in Wirklichkeit und Film. Störenfried oder Stabilisator?
Eine sozioästhetische Untersuchung. (Nordamerikastudien. Münchner Beiträge zur Kultur
und Gesellschaft der USA, Kanadas und der Karibik, Bd. 1) Hamburg: LIT 2001.
5.
Vgl. Cornelia Musolff und Jens Hoffmann (Hg): Täterprofile bei Gewaltverbrechen. Mythos,
Theorie und Praxis des Profilings. Berlin, Heidelberg und New York: Springer 2001; Frank
Robertz und Alexandra Thomas (Hg.): Serienmord. Kriminologische und
kulturwissenschaftliche Skizzierungen eines ungeheuerlichen Phänomens. München:
Belleville 2003 [i. Ersch.].
6.
Vgl. Edward J. Ingebretsen: At Stake: Monsters and the Rhetoric of Fear in Public Culture.
Chicago: Chicago University Press 2001.
7.
Martin Lindner: Der Mythos 'Lustmord.' Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film
und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932. In: Verbrechen - Justiz - Medien.
Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Hg. von Joachim Linder und
Claus-Michael Ort in Zusammenarbeit mit Jörg Schönert und Marianne Wünsch. (Studien
Linder: Feinde im Inneren, S. 3
Derartige Traditionsbildungen tendieren dazu, eine wesentliche Differenz zu unterschätzen: Anders
als ihre 'Vorgänger' tritt die Serienkiller-Figur seit den 1980er Jahren stets im Kontext von
Strafverfolgung auf; Serienmord wird in den medialen Repräsentationen regelmäßig unter dem
Aspekt des extremen Kapitaldelikts gesehen, für dessen Aufklärung und Verfolgung die Institutionen
der Justiz zuständig sind; Serienkiller werden gemeinsam mit den Vertretern der Ordnungsinstanzen
dargestellt. Ermittlung wird zu einem Wettbewerb zwischen Mörder und Fahnder, in dem jeder neue
Mord als Rückschlag für die Polizei gewertet wird, die sich aber mit der Festnahme des Widerparts
als siegreiche Ordnungsinstanz in Szene setzt. Die Geschichte der Repräsentation des Serienmords ist
damit auch Geschichte der Repräsentation der Polizei, der medialen Verständigung über mögliche,
erfolgversprechende, zulässige Polizeiarbeit; die mediale 'Verarbeitung' des Extremdelikts verbindet
sich regelmäßig mit der Konstitution eines Polizeiprofils.
Die Definitionen des Serienmords, die in den 1970/1980er Jahren entwickelt und zunächst vor allen in
kriminalistischen Kontexten und im Bereich der Forensic Sciences diskutiert wurden,9 umfassen im
wesentlichen drei Aspekte, die gleichsam stufenförmig aufeinander bezogen sind: (a) Auf der
Sachverhalts-Ebene werden in der Regel mindestens drei (erfolgreiche) Tötungshandlungen
vorausgesetzt, die als in sich abgeschlossen erscheinen, was auch im zeitlichen Verlauf zum Ausdruck
kommt (cooling off period).10 (b) Auf der motivationalen Ebene (des 'Täterinneren') wird unterstellt,
und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 70) Tübingen: Niemeyer 1999, S. 273–305;
Martin Büsser: Lustmord - Mordlust. Das Sexualverbrechen als ästhetisches Sujet im 20.
Jahrhundert. Mainz: Ventil 2000.
8.
Vgl. den Essay von Jürgen Wertheimer: Don Juan und Blaubart. Erotische Serientäter in der
Literatur. (Beck'sche Reihe 1316) München: Beck 1999. Perspektiven der klassischen
Ästhetik entfaltet Klaus Bartels: Serial Killers: Erhabenheit in Fortsetzung.
Kriminalhistorische Aspekte der Ästhetik. In: Kriminologisches Journal, Beiheft 6,
Weinheim: Juventa, 1997, S. 160–181.
9.
Vgl. (jeweils die Diskussionen zusammenfassend): Philip Jenkins: Using Murder (Anm. 1);
Steven A. Egger: Serial Murder: An Elusive Phenomenon. With contributions from Richard
H. Doney [et al.]. New York, NY, Westport, CT, and London: Praeger 1990; Ronald M.
Holmes and Stephen T. Holmes (eds): Contemporary Perspectives on Serial Murder.
Thousand Oaks, London, and New Dehli: Sage 1998; Steven A. Egger: The Killers Among
Us: An Examination of Serial Murder and Its Investigation. Upper Saddle River, NJ: Prentice
Hall 1998. Folgt man den zahlreichen Beschreibungen aus den kriminalistischen und
kriminalpolitischen Bereichen, dann wurden zunächst vor allem Tötungsdelikte
wahrgenommen, in denen Hinweise auf vorgängige Konflikte (Konfliktgeschichten) zwischen
den Tätern bzw. Täterinnen und den Opfern fehlten oder zu fehlen schienen, und dies bei
einer steigenden Zahl von ungelösten Fällen.
10.
Dieser Definitionsteil läßt in substantialistischen Diskussionen die Frage aufkommen, ob auch
Serientaten denkbar sind, die durch die Festnahme des Täters/der Täterin nach der ersten Tat
abgebrochen werden (vgl. dazu jetzt Alexandra Thomas: Der Täter als Erzähler. Serienmord
als semiotisches Konstrukt. (Hamburger Studien zur Kriminologie und Kriminalpolitik, Bd.
28) Münster, Hamburg u. London: LIT 2003, S. 52 f): diese Frage ist schon im 19.
Jahrhundert für Giftmörderinnen diskutiert worden, vgl. dazu A. Krauss: Psychologie des
Verbrechens. Ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde. Tübingen: Verlag der H. Laupp'schen
Buchhandlung 1884 - wer sie stellt, läßt erkennen, daß er/sie nach dem 'Wesen' des
Serienmörders sucht.
Linder: Feinde im Inneren, S. 4
daß für Ermittler und Zuschauer keine der Tat vorausliegende Konfliktbeziehung zwischen
Täter/Täterin und den jeweiligen Opfern erkennbar wird (stranger to stranger) und das Tatmotiv
demnach 'intrinsisch' sein müsse (wobei häufig sexuelle Aberration angenommen wird), und daß mit
der Tat beispielsweise keine materiellen Ziele verfolgt würden. (c) Auf einer dritten, ästhetischen
Ebene wird zwischen den einzelnen Tötungshandlungen eine Abbildungsbeziehung postuliert, die den
Seriencharakter erst konstituiert, indem sie den Perfektionierungswillen des Täters sichtbar werden
läßt: Jede neue Tat bildet zwar die vorhergehende ab, vervollkommnet sie aber auch. Dies kann
beispielsweise im Ablauf der Tötungshandlungen zum Ausdruck kommen, aber auch in der
Organisation der Tatorte und/oder der Orte, an denen die Leichen versteckt oder ausgestellt werden
(charakteristischerweise ist in diesem Zusammenhang wiederholt von staging die Rede).
Insbesondere im Hinblick auf den zweiten und den dritten Definitionsteil wurden Beziehungen
hergestellt zwischen der scheinbar neuen Deliktsform und gesellschaftlichen, industriellen und
medialen Entwicklungen in den USA seit den 1970er Jahren: erhöhte allgemeine Mobilität im Raum
der USA, Wandel der Rolle der Frau (Frauen 'bieten' sich demnach zunehmend im öffentlichen Raum
als Opfer 'an'), die Rolle der Serialität in den Bereichen industrieller, medialer und künstlerischer
Produktion, der Einfluß der audiovisuellen Medien auf kollektive und individuelle Phantasietätigkeit,
Wertewandel, der sich in zunehmendem Individualismus und abnehmender Bindungsfähigkeit von
Institutionen wie Religionsgemeinschaften, von Quartieren etc. ausdrückt. So wurde ein 'neuartiges'
Kapitaldelikt erzeugt, das auf den gesellschaftlichen Wandel verweist und gleichzeitig die Rolle der
Polizei, die dieses Delikt zuerst wahrnimmt, als Schutz- und Ordnungsinstanz v. a. gegenüber dem
'Unbekannten' betont: Sie ist es, die den Blick entwickeln muß, dem sich der Seriencharakter erst
erschließt.11 Im Auge der polizeilichen Beobachter entstehen Serienmord und Serienmörder. Deren
Aktivität besteht nicht bloß darin, möglichst viele Opfer zu produzieren, sondern Tatorte, die als
Werke12 auf ihrer Urheber verweisen und sich den spezialisierten Betrachtern zur Interpretation
darbieten.13
----------------------------------11.
Vgl. die Charakterisierung, die im Titel von Steven A. Egger: Linkage Blindness: A Systemic
Myopia. In S. A. E.: Serial Murder (Anm. 9), S. 163–176, zum Ausdruck kommt.
12.
Der Tatort als Kunstwerk ist inzwischen gängiges Thema vieler Serienkiller-Filme,
exemplarisch David Finchers Se7en (1995). Dabei sollte aber nicht übersehen werden, daß es
zunächst vor allem populäre Darstellungen aus dem Polizeibereich waren, die den Serienkiller
als Kunstproduzenten konzipierten, s. dazu ausführlicher: Joachim Linder: Der Serienkiller
als Kunstproduzent. Zu den populären Repräsentationen multipler Tötungen. In: Serienmord
(Anm. 5), S. 445-475.
13.
Prinzipiell kritisch dazu: J[o] Reichertz: 'Meine Mutter war eine Holmes.' Über
Mythenbildung und die tägliche Arbeit der Crime-Profiler. In Täterprofile bei
Gewaltverbrechen (Anm. 5), S. 37–69: "Spuren werden entgegen tiefsitzender (auf die
poetische Kriminalliteratur zurückgehende) Missverständnisse nicht einfach gelesen, sondern
sie werden konstruiert. Es ist der Spurensicherungsmann, der am Tatort alle wahrnehmbaren
Phänomene mustert und nur mithilfe einer ausgeprägten Vorstellungskraft verzaubert er dann
einige dieser Phänomene in Spuren. Die oft auftauchende Metapher,[...] nach der Spuren eine
Geheimbotschaft in sich bergen, welche mithilfe des richtigen Schlüsssels entziffert werden
könnten [sic!], führt grundsätzlich in die Irre" (S. 59, Kursiv. i. O.).
Linder: Feinde im Inneren, S. 5
Serienmord galt zunächst als genuin US-amerikanisches Delikt, das keine Geschichte hatte und in
anderen Ländern kaum oder gar nicht vorzukommen schien:14 so wurde es durch die populären
Medien 'über die Grenzen' transportiert. Erst in einem zweiten Schritt wurde die Konzeption auf die
Kriminalitätsgeschichten anderer Regionen projiziert, so daß - wenig überraschend - auch hier ein
reicher Fundus an Serienkillern zutage trat. Der Serienkiller-Diskurs produzierte mit diesem Wandel
eine Unzahl von Tätern und die Geschichte eines Delikts, die nun spätestens mit Jack the Ripper
(1888)15 - und R. L. Stevensons Doppelfigur Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886) - ihren Anfang nahm.
Die Ausweitung des zeitlichen Horizonts, innerhalb dessen Serienmörder gesucht und gefunden
wurden, unterstellt eine 'wesenhafte' Konstanz, die auf den 'verbrecherischen Menschen' zielt,
während sie Geschichte und Wandel der Kriminalitäts-Konzeptionen, die im Zusammenwirken
zwischen Kriminalpolitik, Justiz, Verfolgungs- und Definitionsinstanzen und Medien entstehen und
transportiert werden, übersieht.
Der Hamburger Kriminologe Sebastian Scheerer nimmt den "Mythos des Serienkillers" vor allem als
Produkt Hollywoods wahr, beklagt deren "Geschichtslosigkeit"16 und blendet wesentliche Teile der
populär-medialen Vermittlung und Verständigung aus. Scheerers Vorstellung, daß es Serienkiller
"womöglich avant la lettre" gegeben habe, soll nicht kriminalitätsgeschichtlich gefolgt werden,
sondern mit Blick auf die Literaturgeschichte: Die Konzeption des Serienkillers entsteht in den 1980er
Jahren als Ergebnis der Darstellungen von Interaktionen zwischen herausragenden Polizeifiguren,
einem kriminalistisch-politischen Apparat, der bereit ist, die Exzellenz dieser Spezialisten
anzuerkennen, und einer Öffentlichkeit, die für die Besorgnisse ein offenes Ohr hatte, daß von einer
----------------------------------14.
Vgl. etwa Robert K. Ressler and Tom Shachtman: Whoever fights monsters. My Twenty Years
Tracking Serial Killers for the FBI. New York: St. Martin's Press 1992, dessen Titel in der
deutschen Übersetzung den Zusammenhang zwischen Polizei und Populärkultur herstellt:
Robert K. Ressler und Tom Shachtman: Ich jagte Hannibal Lecter. Die Geschichte des
Agenten, der 20 Jahre lang Serienmörder zur Strecke brachte [1992]. Aus dem Englischen
von Peter Pfaffinger. (Heyne Taschenbuch 8564 [Wahre Verbrechen]) München: Heyne
1993, während im englischen Titel Nietzsche zitiert wird.
15.
Vgl. John Douglas and Mark Olshaker: The Anatomy of Motive. [1999] New York u. a.:
Pocket Books 2000, p. 2.
16.
S[ebastian] Scheerer: Mythos und Mythode. Zur sozialen Symbolik von Serienkillern und
Profilern. In: Täterprofile bei Gewaltverbrechen (Anm. 5), S. 71. Der Mythos-Begriff wird im
Hinblick auf die populäre Kultur inflationär gebraucht. Auch Scheerer definiert ihn nicht
weiter, konzipiert aber die 'Mythode' des Profiling im Anschluß an Peirces logische
Schlußformen ("Abduktion", S. 82 f.). Im weiteren Hintergrund sind die Konzeptionen von
Roland Barthes: Elemente der Semiologie. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
[1964] Frankfurt/M.: Syndikat 1979, und Roland Barthes: Mythen des Alltags. Deutsch von
Helmut Scheffel. 5. Aufl. [1957] (edition suhrkamp 92) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980 zu
vermuten, vgl. zur Semiotik von Übertretung, Verbrechen und Kriminalität Joachim Linder
and Claus-Michael Ort: "Zur sozialen Konstruktion der Übertretung und zu ihrer
Repräsentation im 20. Jahrhundert. In: Verbrechen - Justiz - Medien. Konstellationen in
Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Hg. von Joachim Linder und Claus-Michael Ort in
Zusammenarbeit mit Jörg Schönert und Marianne Wünsch (Studien und Texte zur
Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 70) Tübingen: Niemeyer 1999, S.. 26-35..
Linder: Feinde im Inneren, S. 6
bestimmten Täterpopulation eine (bislang unerkannte oder unterschätzte) Gefahr ausgehe.17 In diesem
Viereck gedeihen nicht nur die Verbrechensdefinitionen (einschl. der Vorstellungen über den Verlauf
multipler Tötungen), sondern auch die Darstellungen und Selbstdarstellungen einer (effizienten oder
versagenden) Polizei. Die so eingestellte Suchoptik kann auf den Begriff des Serienkillers verzichten
und sich auf Prä-Figurationen konzentrieren. Dabei muß die Doppelgesichtigkeit der 'Mythenbildung'
in Rechnung gestellt werden: Täterbild und Polizeibild bedingen sich gegenseitig. Diese Heuristik
nimmt sich die romanhafte Darstellung einer Polizeiermittlung im Jahre 1941 zum Vorbild, in der die
Verbindung her zwischen dem 'Serienkiller-Diskurs' des späten 20. Jahrhunderts und einer Polizei
hergestellt wird, die sich - mitten in Krieg und Terror - als wohlwollende Schutzmacht im Inneren zu
profilieren weiß.
Ein Kriminalfall des Jahres 1941
Im Juli 1941 verhaftete die Berliner Polizei den 'S-Bahn-Mörder', nach dem sie länger als ein halbes
Jahr gefahndet hatte. Innerhalb von knapp zwei Wochen machte die Justiz dem Eisenbahner, NSDAPund SA-Mitglied Paul Ogorzow den Prozeß; ein Sondergericht verurteilte ihn als Gewaltverbrecher
und Volksschädling zum Tode und ließ ihn in Plötzensee hinrichten. Arthur Nebe und seine Kripo
hatten den Fahndungserfolg, für den sie schwer gearbeitet - und um den sie lange gefürchtet hatten.
Der 'S-Bahn-Mörder' ist seitdem Teil der Berliner Kriminalgeschichte. Mindestens zwei romanhafte
Verarbeitungen des Falles sowie eine Verfilmung18 setzen der Kripo-Arbeit ein Denkmal: Der Tod
fuhr im Zug. Den Akten der Kriminalpolizei nacherzählt wurde 1942/43 unter dem Pseudonym Axel
Alt zunächst in der Berliner Illustrierten als Fortsetzungsroman publiziert, dann 1944 - in der Zeit
größter Papierknappheit - als Buchausgabe in einer Auflage von angeblich 500.000 Exemplaren auf
den Markt gebracht. 1995 veröffentlichte Horst Bosetzky Wie ein Tier. Der S-Bahn-Mörder.
Dokumentarischer Roman .19 In der Unterzeichnung des Nachworts mit "ky, Prof. Dr. Horst
Bosetzky" (S. 324) kommt die Doppelrolle des Autors als Soziologieprofessor und als führender
Vertreter des 'neuen deutschen Kriminalromans' zum Ausdruck. Bosetzky will seinen Text keinesfalls
als "True crime quickie" (S. 323) verstanden wissen,20 als "Archäologe" habe er mit einem "kleinen
Forschungsteam" (S. 319 f.) die überlieferten Akten und Zeitzeugenberichte ausgewertet sowie die
wissenschaftliche Literatur konsultiert, die in einem Verzeichnis am Ende nachgewiesen wird (S. 333336). Und er fügt hinzu:
----------------------------------17.
Zum 'Entstehen neuer Delikte' vgl. Joel Best: Random Violence. How We Talk about New
Crimes and New Victims. Berkeley, Los Angeles, and London: University of California Press
1999.
18.
Verdunkelung, für die Mitteilung der Stabdaten danke ich dem Publikumsservice des ZDF:
Erstausstrahlung 31.5.1976, Regie: Peter Schulz-Rohr, Buch: Johannes Hendrich.
19.
Im folgenden zitiert nach der Taschenbuchausgabe: Horst Bosetzky: Wie ein Tier. Der SBahn-Mörder. Dokumentarischer Roman. [1995] (dtv 20021) 6. Aufl. München: dtv 2002;
Zitate werden wenn möglich im fortlaufenden Text in Klammern nachgewiesen.
20.
Hier irrt Bosetzky in der Textsorte: "quickie" würde sich (wenn überhaupt gebraucht) vor
allem auf den geringen zeitlichen Abstand zwischen Verbrechen, Verfahren und
Textproduktion beziehen - also nie einen 'historischen' Roman bezeichnen.
Linder: Feinde im Inneren, S. 7
Um absolut authentisch zu sein und die Sprache wie den Geist der deutschen Kriminalpolizei der Jahre
1940/41 wiederzugeben, habe ich einige Passagen meines Buches nahezu wörtlich aus dem ersten
Roman über den Berliner S-Bahn-Mörder entnommen, aus Axel Alts Der Tod fuhr im Zug, Berlin 1944
[...] (S. 321 f.).
Der Text, auf den sich Bosetzky bezieht, ist das Produkt der Zusammenarbeit nationalsozialistischer
Literatur- und Medienpolitik mit den Öffentlichkeitsarbeitern der Zentrale der Kriminalpolizei im
Reichssicherheitshauptamt; er ist, wenn man den späteren Berichten glauben darf, von Reinhard
Heydrich 'abgenommen' worden (s. u. S. 12) und stellt - insofern authentische Öffentlichkeitsarbeit das Selbstverständnis der Polizei im Krieg dar. Bosetzky reproduziert das Bild einer Kriminalpolizei,
die wenigstens 'im Inneren' des 'Dritten Reiches' nichts als ihre Pflicht getan und einen schrecklichen
Verbrecher unschädlich gemacht hat. Dabei verschweigt Bosetzky keineswegs, daß die
Kriminalpolizei integraler Bestandteil des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates war, er
thematisiert ihre Beteiligung am Vernichtungsfeldzug, er erweitert das vorgefundene Material um
fiktionale Reflexionsfiguren, die sinnfällig machen, daß die Beteiligung der Polizei am Terror für die
einzelnen Beamten erkennbar war. Er verweist auch darauf, daß im Fall des 'Massenmörders Bruno
Lüdke' die monströsen Geständnisse vermutlich unter Folter gemacht wurden. Und schließlich
erscheint in seinem Text der Triebtäter als äußerste Konsequenz der deutschen Männlichkeit:21
Ein Mensch mit einer bestimmten genetischen und sozialisationsbedingten 'Programmierung' gerät in
ein Milieu und eine Zeit, den nationalsozialistischen Mörderstaat und die Verdunkelung Berlins, die
seine Taten in ihrer einmaligen Konstellation nicht nur ermöglichten, sondern regelrecht provozierten
(S. 321).
So verweisen sie aufeinander und sind untrennbar verbunden - der Täter, der jenseits aller
Erklärungen und Deutungen als 'das Tier' bezeichnet wird, und die Polizei, die unverzichtbar ist und
Vertrauen verdient, sollen die Menschen vor der Gefahr geschützt werden, die vom Menschen-Tier
ausgeht. Indem er ihr Täterbild übernimmt, kann Bosetzkys Roman den unkorrumpierten und
unkorrumpierbaren Kern einer Polizei darstellen, die in jeder Gesellschaft für den Schutz vor den
Risiken sorgt, die von dieser Gesellschaft selbst produziert werden. In dem Gefahrenzentrum, das mit
dem Triebtäter besetzt ist, richtet sich die Polizeiarbeit gegen eine 'naturwüchsige' Kriminalität
gerichtet. Zwar soll der Leser erkennen, daß der 'S-Bahn-Mörder' im Milieu der NS-Gesellschaft
gedeiht, doch bleibt kein Zweifel daran, daß er der 'Andere' ist, der unschädlich gemacht werden muß.
Jede Kritik am Sondergerichtsverfahren und am schnell vollzogenen Todesurteil unterbleibt, von
Terrorjustiz ist im Hinblick auf das Verfahren gegen diesen Täter keine Rede. Die in großen Teilen
fiktionale Täterbiographie ist zwar als Geschichte der 'inneren Entwicklung' eines deutschen Mannes
aus dem Milieu des östlichen Landarbeiterproletariats gestaltet, sie wird aber mit den Kommentaren
der Figur der Kriminalassistentin Grete Behrens an die Versatzstücke einer (Kriminal–)Psychologie
angeschlossen wird, die sich heute in den populären Serienkiller-Darstellungen finden.22 So erscheint
----------------------------------21.
Vgl. Peter Nusser: Der Kriminalroman. (Sammlung Metzler 191) 3., aktualisierte und
erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler, 2003, S. 138: -ky schildere die "Psyche" des
"Frauenmörders so [...] daß dieser in seiner Selbstsicherheit und Kaltblütigkeit fast wie ein
Vollstrecker des faschistischen Zeitgeistes erscheint". Nusser bleibt gänzlich unsensibel für
das apologetische Bild der Kriminalpolizei des 'Dritten Reiches', das Bosetzkys Roman
transportiert.
22.
Vgl. Seltzer: Serial Killers, und Simpson: Psycho Paths (beide Anm. 4).
Linder: Feinde im Inneren, S. 8
Bosetzkys Literarisierung des Falles des 'S-Bahn-Mörders' widersprüchlich: Sie läßt ein
gesellschaftskritisches Deutungsangebot an den Leser entstehen,23 von dem die traditionelle (und auch
für die nationalsozialistische Verbrechensdeutung konstitutive) Verortung des 'Bösen' im Inneren des
Täters aber nicht prinzipiell angetastet wird. Literarhistorisch gesehen erweist sich der Text als nur
mäßig 'modernisierte' Variante von Darstellungsformen der deutschsprachigen Kriminalliteratur, die
sich wesentlich in der Zeit des 'Dritten Reiches' ausbildeten:24 Er stilisiert den triebgesteuerten
Serientäter als ultimative Herausforderung, der sich die Polizei gewachsen zeigt, so daß sie sich als
Schutz- und Ordnungsmacht profilieren kann, auf die vor allem die Schwachen - die Frauen angewiesen sind.
Exkurs: Kriminalliteratur des 'Dritten Reiches'
-ky/Bosetzky gilt als wichtiger Exponent des 'neuen deutschen Kriminalromans'. Seine Literarisierung
des S-Bahn-Falles übernimmt zu großen Teilen das Polizeibild, das er im Text von 1944 vorfindet.
Der Roman kann als Indiz dafür gelten, daß die literarischen Verbrechens- und Polizeidarstellungen,
die als deutsche Kriminalromane seit den 1960er Jahren Erfolg hatten, zu einem wesentlichen Teil in
der 'Nationalisierung' der Kriminalliteratur durch die Literaturpolitik des 'Dritten Reiches' wurzelten.
Ich widerspreche damit einem gängigen 'Thesenverbund' zur Geschichte der deutschen
Kriminalliteratur (bzw. des deutschen Kriminalromans), der seine Plausibilität aus einer
Apperzeptionsverweigerung bezieht: Deutsche Kriminalliteratur, die in der Zeit zwischen etwa 1900
und 1950 produziert, distribuiert und rezipiert wurde, wird prinzipiell nicht zur Kenntnis genommen.
Kriminalliteratur (als Detektivliteratur oder Thriller) gilt als ein 'internationales Genre', das die 'Idee
der durchrationalisierten zivilisierten Gesellschaft' erfasse und repräsentiere (so schon Siegfried
Kracauer 192525), demgegenüber werden nationalliterarische Besonderheiten ausgeklammert. Auf
jeden Fall aber sei der Kriminalroman kein 'deutsches Genre',26 erst in den 1950er Jahren habe sich
----------------------------------23.
Vgl. zu -ky und den sozialkritischen Intentionen, die dieser Autor vor allem durch die
Täterdarstellung realisiere: Peter Nusser: Der Kriminalroman. (Sammlung Metzler) Stuttgart:
Metzler 1980, S. 150 f.; so auch im wesentlichen unverändert in der 3. Aufl. (Anm. 21) jeweils mit weiteren Literaturhinweisen; vgl. Irene Bayer: Juristen und Kriminalbeamte als
Autoren des neuen deutschen Kriminalromans: Berufserfahrungen ohne Folgen? Ein
Vergleich der Kriminalromane des Juristen Fred Breinersdorfer, des Juristen Stefan Murr
und des Kriminalbeamten Dieter Schenk mit den Kriminalromanen der Autoren Richard Hey,
Felix Huby, -ky und Friedhelm Werremeier. (Hamburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 9)
Frankfurt/M. u. a.: Lang 1989, S. 158 f. und passim.
24.
In diesem Zusammenhang fällt auch auf, daß die Reflexionen der literarischen Darstellung
von Krankheit, Kriminalität und Abweichung, die ein Charakteristikum der deutschen
Literatur der 'klassischen Moderne' im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bildeten, in
Bosetzkys Text keinerlei Spuren hinterlassen haben.
25.
Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat. (Suhrkamp
Taschenbuch Wissenschaft 297) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979.
26.
Wolf-Dieter Lützen: Der Krimi ist kein deutsches Genre. In: Der neue deutsche
Kriminalroman. Hg. von Karl Ermert und Wolfgang Gast. (Loccumer Kolloquien, Bd. 5)
Rehberg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum 1985, S. 162–182.
Linder: Feinde im Inneren, S. 9
eine deutschsprachige Produktion auf dem deutschen Markt (gegen Übersetzungen und
Anverwandlungen) durchsetzen können,27 und erst in den späten 1960er Jahren sei es zur mehr oder
minder eigenständigen Linie des 'neuen deutschen Kriminalromans' gekommen.28 Anstatt "ein
bekanntes Textmaterial auf seine disparaten und mehrdeutigen Spuren hin neu zu sichten",29 scheint
es an der Zeit, den Bereich des bislang Unbekannten auszumessen. Alle Überlegungen zur
Genreentwicklung in der deutschsprachigen Kriminalliteratur bleiben Spekulation, so lange die
Produktion, aber auch Rezeption und Literaturkritik der Zeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis
auf wenige punktuelle Aufhellungen ausgeblendet bleiben. Dies um so mehr, als während der Zeit des
'Dritten Reiches' ganz offenkundig ein Wandel stattgefunden hat, der sich bis weit in die zweite Hälfte
des 20. Jahrhunderts und eben bis zur Formierung des 'neuen deutschen Kriminalromans' auswirkte.
Literaturpolitik und Literaturkritik des 'Dritten Reiches' hatten erhebliche Schwierigkeiten mit der
Darstellung von Kriminalität und Strafverfolgung in den Unterhaltungsmedien.30 Der Bedarf der
Leser bzw. Medienkonsumenten an Kriminalliteratur und Kriminalfilmen war bekannt, hinzu kam das
Interesse der Machthaber an allen Formen der populären Darstellung und öffentlichkeitswirksamen
Inszenierung der Polizei(arbeit).31 Doch die Argumente, die schon im 19. Jahrhundert gegen die
----------------------------------27.
Ulrike Götting: Der deutsche Kriminalroman zwischen 1945 und 1970. Formen und
Tendenzen. Wetzlar: Kletsmeier 1998. Schon im Titel dieser Arbeit kommt die
Apperzeptionsverweigerung zum Ausdruck, die angesichts der behandelten Autoren, die zu
einem nicht geringen Teil schon vor 1945 publiziert hatten, irritiert. Entsprechend gering ist
der Ertrag des Kapitels "4. Exkurs: Der Kriminalroman im Dritten Reich".
28.
Repräsentativ: Nusser: Kriminalroman - in der ersten wie in der dritten Auflage (s. Anm. 21
und 23).
29.
Gabriela Holzmann: Geschichte des Krimis als Mediengeschichte (1850 - 1950). Stuttgart und
Weimar: Metzler 2001, S. 1.
30.
Vgl. Carsten Würmann: Deutsche Kommissare ermitteln. Der Kriminalroman im 'Dritten
Reich'. In: Banalität mit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im
Nationalsozialismus. Hg. von Walter Delabar, Horst Denkler und Erhard Schütz. (Zeitschrift
für Germanistik. Neue Folge. Beiheft 1), Bern u. a.: Lang 1999, S. 217–240; Würmann betritt
mit seiner Untersuchung Neuland und stellt für den Kriminalroman des 'Dritten Reiches' den
Zusammenhang zwischen Literaturpolitik, Literaturkritik und Textproduktion her. Die
seltenen früheren Ansätze zur Untersuchung der Kriminalliteratur des 'Dritten Reiches'
werden repräsentiert von W. T. R. [d. i. Walter T. Rix]: Wesen und Wandel des
Detektivromans im totalitären Staat. In: Paul G. Buchloh und Jens P. Becker: Der
Detektivroman. Studien zur Geschichte und Form der englischen und amerikanischen
Detektivliteratur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1973, S. 121–133. Meine
eigenen Vorarbeiten in: Joachim Linder: Polizei und Strafverfolgung in deutschen
Kriminalromanen der dreißiger und vierziger Jahre. In: Alltagsvorstellungen zur Kriminalität.
Individuelle und gesellschaftliche Bedeutung der Kriminalitätsbilder für die
Lebensgestaltung. Hg. von Michael Walter, Harald Kania und Hans-Jörg Albrecht. (Kölner
Schriften zur Kriminologie und Kriminalpolitik, Bd. 5) Münster, Hamburg und London: LIT
2003 [im Ersch.].
31.
Das zeigt u. a.: Robert Gellately: Backing Hitler. Consent and Coercion in Nazi Germany.
Oxford u. a.: Oxford University Press 2001. Exemplarisch: die aufwendig inszenierten
Verhaftungsaktionen und Razzien in der 'Unterwelt', sorgfältig gesteuerte und überwachte
Berichterstattung in der Presse, wiederkehrende 'Tage der Polizei' etc.
Linder: Feinde im Inneren, S. 10
Darstellung von Kriminalität und Kriminellen in der 'schönen Literatur', vor allem im Bereich der
'Unterhaltung', vorgebracht wurden,32 erhielten ebenfalls neuen Auftrieb: Die auf
Sensationsbedürfnisse ausgerichtete Darstellung von Kriminalität laufe immer Gefahr, den
Verbrecher als Helden zu profilieren, mit dem der Ermittler/Verfolger aus dramaturgischen Gründen
gleichsam auf Augenhöhe konkurrieren müsse. Dieser Konflikt spitzte sich noch zu, wenn in der
Kriminalliteratur Privatdetektive als Ermittler auftraten, die im Alleingang das (organisierte)
Verbrechen besiegten und sich der staatlichen Instanzen allenfalls als Helfer bedienten. Doch da die
Nachfrage nach unterhaltsamer Kriminalliteratur nicht unterdrückt werden konnte, sollte diese
wenigstens das Interesse an der Inszenierung der Polizei als wohlwollender Instanz und wichtigster
Repräsentantin des Ordnungsstaates bedienen, so daß Lenkung statt Unterdrückung Strategie der
Literatur- und Medienpolitik wurde.33 Die Verarbeitung von Kriminal-Stoffen wurde als 'OrdnungsLiteratur' gefördert, noch in den Zeiten quälendster Ressourcenknappheit wurde die Versorgung mit
Kriminalliteratur für den allgemeinen Buchhandel sowie die Front- und Wehrmachtsbüchereien
aufrechterhalten.34 Allem Anschein nach wurde ein produktionsästhetischer Regelkanon durchgesetzt,
der dafür sorgte, daß Kriminalität und Unterwelt in deutschen Zusammenhängen gezeigt und vor
allem die Erfolge deutscher Polizisten in deutschen Städten und Provinzen literarisch gefeiert werden
konnten.35 Die deutsche Tradition der Darstellung von Kriminalität und Strafverfolgung kam zu neuen
----------------------------------32.
Vgl. Joachim Linder und Jörg Schönert: Verständigung über 'Kriminalität' in der deutschen
Literatur 1850–1880. Vermittelnde Medien, leitende Normen, exemplarische Fälle. In:
Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und
Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850–
1880. Hg. von Jörg Schönert. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 8)
Tübingen: Niemeyer, 1983, S. 184–238.
33.
Gabriele Lange: Das Kino als moralische Anstalt. Soziale Leitbilder und die Darstellung
gesellschaftlicher Realität im Spielfilm des Dritten Reichs. (Münchner Studien zur neueren
und neuesten Geschichte, Bd. 7) Frankfurt/M. u. a.: Lang, 1994, S. 94–113, zeigt dies
ausführlich für die Produktion von Kriminalfilmen. Danach galt die justizkritische Literatur–
und Film-Produktion der Weimarer Republik als Ursache für die (von den Nazis ausgerufene,
aus ihrer Sicht nicht etwa herbeigeführte) 'Justizkrise' und folgerichtig sollte der Film
eingesetzt werden, um das ramponierte Image der Justiz zu rehabilitieren. Justizpressestellen
und Polizisten wurden frühzeitig als Konsultanten für Filmproduktionen eingesetzt. Zur
Lenkung der Produktion von Kriminalliteratur s. exemplarisch insbes. die Kapitel über den
Autor Edmund Finke in Murray G. Hall: Der Paul Zsolnay Verlag. Von der Gründung bis zur
Rückkehr aus dem Exil. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 45)
Tübingen: Niemeyer 1994.
34.
Vgl. Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im 'Dritten Reich.' Institutionen, Kompetenzen,
Betätigungsfelder. Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe. (dtv 4668) München: Deutscher
Taschenbuch Verlag 1995, S. 703–722: Das Reichspropagandaministerium wußte, daß "von
den Soldaten vor allem leichte Bücher - wie Kriminalromane, die Romane Karl Mays und
sonstige Abenteuer-Geschichten, Liebesormane u. ä. - bevorzugt wurden - und empfahl,
Frontsendungen zu 95% mit solcher Literatur auszustatten" (S. 720).
35.
Ausnahmen wie Hans Boetticher: Das dritte Gesicht. Kriminalroman. Berlin: Limpert 1944,
oder Hermann Freyberg: "Unaufgefordert erscheint.." Kriminalroman. (Turmbücher)
Nürnberg: Schrag 1944, bestätigen die Regel, wenn sie dänische oder schwedische Polizisten
ohne jeden Verweis auf skandinavische Besonderheiten darstellen.
Linder: Feinde im Inneren, S. 11
Ehren: Nicht nur die Kritik der Nationalsozialisten, auch die Remedur ist im 19. Jahrhundert
verankert, nämlich da, wo die 'schöne Literatur' Kriminalitätsdarstellung prinzipiell mit staatlichen
Verfolgungsinstanzen verbindet, mit Untersuchungsrichtern, Staatsanwälten, Polizisten, aber auch mit
Strafprozeß– und Beamtenrecht.36 So ist es kein Wunder, daß sich die Autoren auf die Anforderungen
der nationalsozialistischen Literaturpolitik schnell einstellen konnten - und zwar in aller Regel nur mit
geringen Rückgriffen auf spezifisch nationalsozialistische Ideologeme und Propaganda-Versatzstücke
(wie z. B. die Verbindung von Kriminalität mit nationalsozialistischen Definitionen von 'Asozialität'
oder 'rassischer Minderwertigkeit'). Die Terrorpraxis blieb gänzlich ausgespart, aber auch der
Antisemitismus wird nur in Ausnahmefällen thematisiert.37 Die Zuständigkeitsverschiebungen
zwischen Polizei und Justiz, die Reorganisation der Polizei, die Integration von SD und Gestapo, die
Überwachung der Bevölkerung, die Ermutigung der Denunziation: all dies ist in der Kriminalliteratur
kein Thema. Insgesamt präsentiert sich eine Polizei, die sich streng an die Regeln des
untergegangenen Rechtsstaates hält, auch wenn sie diese Regeln als Hemmnisse für eine noch
effizientere Arbeit thematisiert.38
Meine bisherige Lektüre von Kriminalromanen aus der Zeit zwischen 1933 und 194539 legt die These
nahe, daß die nationalsozialistische Literaturpolitik - die man mit zunehmender Dauer des 'Dritten
Reiches' als 'Autarkie-Politik' im Hinblick auf Autoren, Stoffe und Schauplätze, aber auch im
----------------------------------36.
S. vor allem das Material bei Hans-Otto Hügel: Untersuchungsrichter, Diebsfänger,
Detektive. Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert.
Stuttgart: Metzler 1978. Im übrigen favorisiert die deutsche Ermittlungsdarstellung bis heute
den beamteten Ermittler.
Insgesamt entsprechen literarische Darstellungen der Polizeiarbeit und die Vorstellungen von
'Verbrechern' und 'Verbrechertypen' weitgehend dem traditionellen Konsens, der über die Zeit
vor 1933 hinausreicht und diskurshistorisch z. B. bei Patrick Wagner: Volksgemeinschaft
ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer
Republik und des Nationalsozialismus. (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte.
Herausgegeben von der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in
Hamburg, Bd. 34) Hamburg: Christians 1996, oder - aus kriminalpolitischer und
gesetzgeberischer Perspektive - bei Christian Müller: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom
24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpolitik. (Beiträge zur modernen deutschen
Strafgesetzgebung. Materialien zu einem historischen Kommentar, Bd. 2) Baden-Baden:
Nomos 1997, dargestellt wird.
37.
Gegenbeispiel: Pieter Coll (d. i. Hans-Walter Gäbert): Die Menschenfracht der "Ano Wati."
Kriminalroman. Berlin: Osmer 1939.
38.
Die streng rechtsstaatliche Orientierung der dargestellten Polizeiarbeit fällt besonders auf,
wenn man punktuelle Vergleiche mit Kriminalromanen aus der Zeit vor 1933 oder nach 1945
anstellt: In Kurt Martin: Sanatorium Dr. Bräuser. Roman eines deutschen Detektivs. Mit 10
Zeichnungen von Peter Trumm. München: Verlag der Münchner Illustrierten. Knorr & Hirth
GmbH 1927, wird beispielsweise ein Kommissar dargestellt, für den keinerlei Ermittlungsund Zugriffsregeln zu gelten scheinen, während in der Nachkriegszeit Frank Arnau: Pekari
Nr. 7. Kriminalroman. (Ullstein Bücher 104 K) o. O.: Ullstein, o. J. [1956], mit
unübersehbarer Zustimmung eine New Yorker Polizei darstellt, die der 'Unterwelt' mit
'Verhören dritten Grades' beizukommen sucht.
39.
In der Regel wurde die Hardcover-Produktion berücksichtigt, die auch von der
zeitgenössischen Literaturkritik wahrgenommen wurde.
Linder: Feinde im Inneren, S. 12
Hinblick auf Erzähl- und Deutungsschemata verstehen kann - einen spezifisch 'deutschen' Krimi
wesentlich früher marktgängig machte, als die literarhistorische Forschung bislang annimmt. Vor
allem die 'Krimi'-Produktion der späten 1930er und frühen 1940er Jahren hat aus meiner Sicht dem
'neuen deutschen Kriminalroman' den Boden bereitet, in dem die realistisch anmutende Darstellung
von Polizeiarbeit und 'lebensnahe' Polizeifiguren hochgewertet werden. Dabei führt die Darstellung
der Polizeiarbeit, die vor allem die Ressourcen einer hochentwickelten 'Zentrale' betont (die jeweils
unschwer als Berliner Polizeipräsidium oder - wie in Christian Halligs Roman zum Film
Kriminalkommissar Eyck 40 - als Reichssicherheitshauptamt zu identifizieren ist), gleichsam logisch
dazu, jene Mehrfach-, Intensiv- und Serienstraftäter als die wahre Herausforderung auch für die
literarischen Polizisten zu profilieren, die von der 'realen' Polizei schon seit Jahrzehnten als
Hauptverantwortliche für die Kriminalitätsbelastung identifiziert worden waren.
Textbeispiele: Fünf Kriminalromane aus den Jahren 1943 und 1944
Die fünf Texte, von denen im folgenden die Rede sein wird, sind in den Jahren 1943 und 1944 als
Buchausgaben in der Hillger-Reihe "Neuzeitliche Kriminalromane" erschienen. Vier der Texte ((1)(4)) stellen Polizeiermittlungen dar, die sich gegen 'Mehrfachtäter' richten, im fünften agiert ein
'Psychopath', der, wie die Mehrfachtäter, zum Feind stilisiert wird:
(1)
Rudolf von Lossow:41 Das Licht am Styx. (Neuzeitliche Kriminalromane) Berlin und Leipzig:
Hillger 1943.
Sachverhalte: Kunstfälschung, Handel mit gefälschten Kunstwerken, Vergewaltigung, Tötung. Zeit und
Ort der Handlung: 1938, Berlin und Mecklenburg. Ermittelnde Behörde: Berliner Polizeizentrale,
örtliche Polizeidienststellen. Juristische Verarbeitung: Zuchthaus für den Fälscher und für die
'Giftmörderin'.
(2)
Hans Rudolf Berndorff:42 Shiva und die Galgenblume. (Neuzeitliche Kriminalromane) Berlin
und Leipzig: Hillger 1943.
Sachverhalte: Geldfälschung, Tötungsdelikte. Zeit und Ort der Handlung: 1938, Berlin, Köln, Eifel.
Ermittelnde Behörde: Berliner Polizeizentrale, örtliche Polizeidienststellen. Juristische Verarbeitung:
Todesstrafe.
(3)
Felicitas von Reznicek:43 Shiva und die Nacht der 12 (Neuzeitliche Kriminalroman) Berlin
und Leipzig: Hillger 1943.
Sachverhalte: Betrug (Heiratsschwindel), Mord. Zeit und Ort der Handlung: 1938, Berlin. Ermittelnde
Behörde: Berliner Polizeizentrale. Juristische Verarbeitung: Todesstrafe.
----------------------------------40.
Christian Hallig: Kriminalkommissar Eyck. Roman. Mit 10 Bildern aus dem gleichnamigen
Ufafilm. Berlin: Ufa-Buchverlag 1940.
41.
1882-1945; Deutsches Biographisches Archiv, Fiche: II 832,59. Sigle im fortlaufenden Text:
Lossow 1943.
42.
1895-1963; Pseud.: Rudolf van Werth; Deutsches Biographisches Archiv, Fiche: II 107, 288291. Sigle: Berndorff 1943.
43.
1904-?; Deutsches Biographisches Archiv, Fiche: II 1067, 213-215. Sigle: Reznicek 1943.
Linder: Feinde im Inneren, S. 13
(4)
Axel Alt (d. i. Wilhelm Ihde):44 Der Tod fuhr im Zug. Den Akten der Kriminalpolizei
nacherzählt. (Neuzeitliche Kriminalromane) Berlin und Leipzig: Hillger 1944.
Sachverhalte: Sexualdelikte (Belästigung, Vergewaltigung, Mord). Zeit und Ort der Handlung:
1940/41, Berlin. Ermittelnde Behörde: Berliner Polizeizentrale. Juristische Verarbeitung: Todesstrafe.
(5)
Fred Andreas:45 Das vollkommene Verbrechen. (Neuzeitliche Kriminalromane) Berlin:
Hillger 1944.
Sachverhalte: Erpressung, Mord. Zeit und Ort der Handlung: 1937/38, Berlin. Ermittelnde Behörde:
Berliner Polizeizentrale. Juristische Verarbeitung: Todesstrafe.
Vier der fünf Romane ((2) bis (5)) sind in Zusammenarbeit mit dem Reichskriminalpolizeiamt
entstanden: Bernd Wehner resümiert diese Zusammenarbeit in einem ausführlichen anekdotischen
Bericht im Rahmen seiner anonym erschienenen Artikelfolge im Spiegel:46 Danach wurde die Roman"Serie" auf einen Vorschlag von Goebbels hin entwickelt, um die Versorgung der Wehrmacht mit
Unterhaltungsliteratur sicherzustellen. Himmler und vor allem Nebe hätten im Interesse einer
vorteilhaften Darstellung der Polizei zugestimmt, so daß eine ganze Reihe von Autoren47 unter die
----------------------------------44.
S. Barbian: Literaturpolitik (Anm. 34), S. 207, Anm. 84: 1899-1986, bis 1926 Bankbeamter in
Schwerin, 1927-1931 Studium in Köln, WS 1930/31 Hochschulgruppenführer des NSDStB,
ab Herbst 1930 Wirtschaftsjournalist diverser Zeitungen. 1935-1937 Hauptgeschäftsführer
des Reichsverbandes der Deutschen Presse; 1937-1945 1937 Geschäftsführer der
Reichsschrifttumskammer. Nach Ende des Krieges hat Ihde unter dem Pseudonym Thomas
Trent zahlreiche Bearbeitungen von 'Abenteuerklassikern' u. dgl. (Gerstäcker, Cooper,
Beecher-Stowe) ad usum delphini vorgelegt. Sigle: Alt/Ihde 1944.
45.
1898-? ; der Eintrag in Walther Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Gütersloh und München:
Bertelsmann Lexikon Verlag 1992, Bd. 1, S. 173 f., kennt nur die Titel aus der Zeit vor 1933.
S. a. URL. http://ourworld.compuserve.com/homepages/karr_wehner/andreas.htm
(19.5.2003). Sigle: Andreas 1944.
46.
Anonym [d. i. Bernd Wehner]: Das Spiel ist aus - Arthur Nebe. Glanz und Elend der
deutschen Kriminalpolizei. In: Der Spiegel, No. 40 (1949) - 16 (1950), hier Nr. 5 vom
2.2.1950, S. 23-25. Vgl. die Hinweise von Patrick Wagner (Volksgemeinschaft, Anm. 36),
der auf das Jahrbuch Amt V (Reichskriminalpolizeiamt) 1939/40 (o. O.: o. J. [Berlin 1941])
verweist sowie auf den Spiegeltext; vgl. auch Ronald Rathert: Verbrechen und
Verschwörung: Arthur Nebe. Der Kripochef des Dritten Reiches. (Anpassung Selbstbehauptung - Widerstand, Bd. 17) Münster: LIT 2002, S. 85–87, der sich ebenfalls auf
Wehner stützt, dabei aber zahlreiche Flüchtigkeitsfehler stehen läßt. Über die Zuverlässigkeit
des Wehnerschen Berichts kann hier nicht geurteilt werden.
Dr. Bernd Wehner, Jg. 1902, war im Reichskriminalpolizeiamt Leiter der "Reichszentrale zur
Bekämpfung von Kapitalverbrechen"; von 1954 bis 1970 war er Leiter der Kripo Düsseldorf
und Redakteur der Polizeizeitschrift "Kriminalistik." Dieter Schenk: Auf dem rechten Auge
blind. Die braunen Wurzeln des BKA. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001, charakterisiert ihn
als einen der wichtigsten Verbreiter der 'Legende von der unpolitischen Kriminalpolizei im
Dritten Reich'. Wehner argumentiert generell mit Serienverbrechen für die Zentralisierung der
Kriminalpolizei (vgl. Bernd Wehner: Dem Täter auf der Spur. Die Geschichte der deutschen
Kriminalpolizei. Mit einem Geleitwort von Dr. Horst Herold, Bergisch-Gladbach: Lübbe
1983).
47.
Reznicek, Berndorff, Ihde, Andreas (im Spiegel abgebildet) sowie Hermann Freiberg (recte
wohl Hermann Freyberg).
Linder: Feinde im Inneren, S. 14
Fittiche Nebes bzw. dessen Adjutanten genommen worden seien und der Hillger-Verlag48 bevorzugt
mit Papier bedient worden sei. Alt/Ihdes Roman sei auch Heydrich vorgelegt worden, der dem ganzen
Projekt zunächst ablehnend gegenübergestanden habe, aber vom Vorabdruck in der Berliner
Illustrierten überzeugt worden sei (ein "Bombenerfolg", beginnend in der letzten Ausgabe des Jahres
1942). Wehner betont die großzügige materielle Ausstattung der Autoren; so sei Fred Andreas, der bis
dahin für die Darstellung von cleveren Privatdetektiven und einer eher unbeholfenen Polizei bekannt
gewesen sei, für seine Polizei-Eloge dadurch gewonnen worden, daß er sich für sechs Wochen auf
Kosten der Polizei zum Schreiben in Venedig einquartieren durfte.
Wie immer man den Inhalt und den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte bewerten mag - sie reflektiert
das Interesse der Polizeiführung im Reichskriminalpolizeiamt bzw. Reichssicherheitshauptamt an der
literarischen Inszenierung von Polizeiarbeit und schmückt sich nach 1945 mit den Texten, die das
Bild einer unpolitischen, aber effizienten und erfolgreichen Kriminalpolizei aus der Zeit des 'Dritten
Reiches' in die BRD transportieren sollen.
Dabei kommt Alt/Ihdes Der Tod fuhr im Zug. Den Akten der Kriminalpolizei nacherzählt dem
modernen Serienkiller-Roman am nächsten; er stellt als einziger der fünf Texte die Fahndung nach
einem Täter dar, der für eine Mehrzahl von Belästigungs–, Verletzungs– und Tötungsdelikte
verantwortlich gemacht wird, die er 'in Serie' begangen haben soll. Ihde ist zudem der einzige Autor
der Gruppe, der unter Pseudonym schreibt und der vorher nicht als Kriminalschriftsteller
hervorgetreten ist. Er versieht den Titel mit einem Authentizitätssignal, das an die Betonung der
polizeilichen Dominanz bei der Deutung der Kriminalität anschließt, die ein Charakteristikum der
Krimi-Produktion im 'Dritten Reich' ist. Er eröffnet den Text mit einem Reflexionskapitel,49 das unter
der Überschrift "Gemeinsamer Gang in die Handlung" (Alt/Ihde 1944, S. 5) betont, daß die
'Wirklichkeit der Kriminalität' nicht durch "Kulissenverschiebung" verdeckt werden soll: "Was auf
den folgenden Seiten dargestellt wird, trägt so sehr das Gepräge einer modernen Großstadt, daß jeder
andere erfundene Tatort die wahren Grundlagen zerstört haben würde" (ebd.). Mitten im Krieg (und
für die Leser der Buchausgabe angesichts zerstörter Städte und eines absehbaren Kriegsendes) wird
die Polizei im Kampf gegen einen inneren Feind gezeigt, der die Frauen gefährdet, auf denen - wie
mehrfach thematisiert wird - neue Verantwortung für das Funktionieren von Wirtschaft und
öffentlichem Leben lastet. In diesem Kontext kann das Verbrechen als "asoziale Erscheinung"
wahrgenommen werden, "die von Menschen in einer ganz bestimmten Umwelt begangen werden und
nicht beziehungslos erdacht werden können" (ebd.). Aus dem berufenen Munde des
Literaturfunktionärs Ihde wird eine bestimmte Form der Kriminalitätsdarstellung legitimiert und so
das Ende der prinzipiellen Kritik am Kriminalroman markiert:
Es kann also in diesem Sinne nicht auf ein Zurückgreifen auf die Wirklichkeit verzichtet werden. Seien
wir uns darüber klar, daß es innerhalb einer mit soviel Freudigkeit, aber auch mit so vielem Leid
----------------------------------48.
Die Hillger-Produktion aus den frühen vierziger Jahren läßt anhaltende Beziehungen zur SS
vermuten.
49.
Auch dies ist ein Kennzeichen der Krimi-Produktion in der Zeit des 'Dritten Reiches'; sie
enthält fast durchgängig selbstreflexive Passagen zur literarischen Darstellung von
Kriminalität.
Linder: Feinde im Inneren, S. 15
entstandenen Volksgemeinschaft kein Ding an sich, also auch kein Verbrechen an sich gibt, sondern
nur Vorgänge, die sozial gesehen werden müssen (ebd.).
Hier zeichnet sich eine Verbrechensvorstellung ab, die Anlage und Umwelt derart in Beziehung setzt,
daß dem Täter zusätzlich Schuld aufgebürdet wird, wenn er sich die besonderen Bedingungen der
Kriegs-Gesellschaft zunutze macht. Das entspricht der Gesetzeslages des 'Dritten Reiches', die in der
Anwendung der "Volksschädlingsverordnung" und der "Gewaltverbrecherverordnung" im
Sondergerichtsurteil gegen Orgonzow zum Ausdruck kam.50 Aber angesichts der
verabscheuungswürdigen Verbrechen, die Alt/Ihdes Text dem Täter vorwirft, kann er auf eine
Reflexion von Verbrecher- und Verbrechenstypen verzichten, er braucht nicht den
nationalsozialistischen Gesetzgeber herauszustellen, sondern kann auf den Konsens der leidenden
Gesellschaft vertrauen: die Figur des triebhaften Mörders (s. u.) spricht gegen sich selbst. Vor diesem
Hintergrund kann auf biographische Deutung, auf Integration des singulären Vorgangs in einen
weiteren Wissenshorizont verzichtet werden: für Tat und Täter kann es weder Verständnis noch - wie
bei Bosetzky - gesellschaftlichen Hintergrund geben. Darstellungswürdig ist also allein die Abwehr
der Gefahr, die vom Verbrecher ausgeht - die Ausmerzung des im Inneren identifizierten Feindes.
Dabei kann in Kriminalromanen im Kontext der Polizeidarstellung auch deshalb über Verbrecher und
Verbrechen 'von und unter den Deutschen' gehandelt werden, weil in ihr die
'Verbrechensbekämpfung' ideal vergemeinschaftet wird:
So wie wir den Kriminalroman sehen, ist uns nichts gelegen an der Person des Verbrechers, wohl aber
wollen wir wissen von der Gemeingefährlichkeit seiner Taten, und wir wollen erfahren, was die tun,
die solche verbrecherischen Angriffe auf die Gemeinschaft von Berufs wegen zu verhüten und
aufzuklären haben. In einer Zeit, in der Mensch und Staat das Äußerste leisten, um das Leben der
Volksgemeinschaft auf Jahrhunderte hinaus zu sichern, ist es uns nicht möglich, eine gedankenlose
Neugier nach Sensationen zu füttern oder für erschlaffte Nerven kriminalistische Kreuzworträtsel zu
konstruieren; uns interessiert auch nicht der Verbrecher 'psychologisch', sondern — wenn es nicht zu
vermessen erscheint für ein literarisches Ziel — wir wollen den Sinn wecken für den Kampf gegen den
Verbrecher (S. 7).
Die Ordnung der Volksgemeinschaft konstituiert sich in der Verbrechensbekämpfung, von der sich in der Zusammenarbeit mit der Polizei - niemand ausschließen darf.
Ähnlich wie in Alt/Ihdes Einleitung wird in Berndorffs Shiva und die Galgenblume aus
Figurenperspektive argumentiert: Ein älterer Kunsthistoriker, ein Professor, der bislang allein seiner
Arbeit gelebt hatte (deren gesellschaftliche Relevanz bekanntlich nicht unmittelbar einsichtig ist),
wird in den Fall der Geldfälschung verwickelt. Er wird fast zum Opfer eines Mordanschlags und er
erkennt: "Man muß Anteil nehmen an diesem Kampf, und sei es nur theoretisch. Man muß auf Seiten
dieser Leute stehen, dieser Kriminalisten", da "des Bürgers gemeinschaftliche Welt [...] dauernd
attackiert" wird: "Es mußte sich wohl um einen gewohnheitsmäßigen Kampf dieser Beamten gegen
das Verbrechen handeln, denn sonst gäbe es nicht diese große Organisation" (Berndorff 1943, S. 159).
Die Perspektive der Polizeiorganisation blendet die Propaganda aus, die vom Verschwinden des
Verbrechens, vom Sieg der Ordnung redet(e). Die 'Volksgemeinschaft', der das Lippenbekenntnis gilt,
ist bei Berndorff wie bei Alt/Ihde eine Gesellschaft wesentlich ohne die Kennzeichen einer
'nationalsozialistischen Ordnung'; Polizeipropaganda ist darauf reduziert, daß Verbrechen bekämpft
----------------------------------50.
S. die Dokumentation des Urteils bei Bosetzky: Wie ein Tier (Anm. 19), S. 306 f.
Linder: Feinde im Inneren, S. 16
werden muß, auch wenn nicht damit zu rechnen ist, daß die 'Kriminalität ausgerottet' werden kann.
Die zitierten Texte geben sich als Öffentlichkeitsarbeit für eine Polizei zu erkennen, die, eben weil sie
unpolitisch ist, sich als Ordnungsmacht darstellt, die von ihrer Zentrale aus Verbrechensbekämpfung
im gesamten Raum des Reiches organisiert. Dieses Bild einer großen, schlagkräftigen und
zentralisierten Polizeiorganisation hat noch in der Nachkriegszeit die Erinnerung an das 'Dritte Reich'
als einer Ordnung bestimmt, in der 'man nachts noch gefahrlos auf die Straße gehen konnte'. 51 Der
Zusammenhang mit den 'Feindbildern', die in diesem Kontext entstehen, soll im folgenden kurz
skizziert werden.
Hier weiter übernehmen
Der S-Bahn-Mörder als Triebtäter
Alt/Ihdes Darstellungen der 'Serien'-Sachverhalte und ihrer Ermittlung in Der Tod fuhr im Zug
stimmen im wesentlichen mit denen von Bosetzky und Wehner überein:52 Im zweiten Kriegswinter
1940/4153 wurden in Berliner S-Bahnen (jeweils im überschaubaren Areal des Bahnhofs
Rummelsburg) Frauen von hinten niedergeschlagen und aus den fahrenden Zügen geworfen. Neben
mehreren Todesfällen gab es auch schwer verletzte Frauen, aus deren Aussagen geschlossen wurde,
daß es sich immer um denselben Täter gehandelt haben mußte, der in Bahnuniform und womöglich
als Fahrscheinkontrolleur aufgetreten war. Diese Vermutung führte die ermittelnden Beamten auf eine
allzu große Zahl von mehreren tausend verdächtigen Männern sowie zu einer ganzen Reihe von
unhaltbaren Festnahmen. Dabei unterstellten die Ermittler frühzeitig, daß der S-Bahn-Täter auch für
Belästigungung von Frauen, tätliche Übergriffe und Tötungen im Bereich der dem Bahngelände
benachbarten Laubenkolonie verantwortlich gewesen sein mußte: Sie nahmen einen
Abbildungszusammenhang zwischen unterschiedlichen, zeitlich auseinanderliegenden Vorfällen wahr
- in ihren Augen konstituierte sich so eine 'Serie' aus mehreren Serien (das 4. Kapitel ist mit "Die SBahn-Serie beginnt" überschrieben, Alt/Ihde 1944, S. 35). Die Vorgänge reichten bis in das Jahr 1938
zurück und wiesen - wenn man einen einzigen Täter unterstellte - einen 'Steigerungseffekt' auf. Der
'Triebtäter' wurde als 'Serientäter' chrakterisiert durch die "Art und Weise, wie die einzelnen Fälle sich
gesteigert hatten, das heißt von anfänglichen einfachen Belästigungen über vollendete
Sittlichkeitsverbrechen zum Mord" (S. 64, s. auch S. 27).
----------------------------------51.
Vgl. dazu Gudrun Brockhaus: Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot.
München: Kunstmann 1997; Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde.
Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln: Bund Verlag
1982.
52.
Wehner: Dem Täter auf der Spur (Anm. 46), S. 218-223. - Alt/Ihde ändert den - im Klang
ohnehin nach 'Osten' weisenden - Namen des Täters von Ogorzow in Omanzow.
53.
Das Kriegsgeschehen wird in den mir sonst bekannten Kriminalromanen der Zeit zwischen
1940 und 1945 nur gelegentlich und dann auch nur als entferntes Geschehen thematisiert, das
die Bürger beispielsweise durch Benzinrationierung tangiert. Insofern stellt Alt/Ihdes Text
eine Ausnahme dar.
Linder: Feinde im Inneren, S. 17
Der Einzeltäter54 bleibt lange unbekannt, er stellt sich als gesichtslose Gefahr dar und hält ganz allein
die Apparate der Kriminal- und Schutzpolizei und die Hilfstruppen der Parteiorganisationen in Atem.
So repräsentiert er den 'inneren Feind': Er gefährdet das Funktionieren der Kriegsgesellschaft von
innen heraus, und er tut dies aus einem Grund, der aus seinem 'Inneren' kommt - das 'Böse' kommt als
Schicksal über ihn wie über die Gesellschaft.
Die Polizeiarbeit in Alt/Ihdes Text erweist sich als 'modern', 'wissenschaftlich' und - literarhistorisch
gesehen - als zukunftsträchtig: Die Ermittler definieren zunächst eine (über–)große
Verdächtigengruppe (alle Männer eines bestimmten Raumes), die peu à peu verkleinert wird, indem
Erfahrung, archivierte Fälle und bloße Vermutungen auf die vorhandenen Indizien projiziert werden,55
so daß schließlich ein (fiktives) Täterbild (Alter, Wohnort, soziales Umfeld, Arbeitsplatz usw.)
entsteht, das wesentlich auf Phantasie und Intuition des leitenden Ermittlers beruht: Kein Wunder, daß
Aussehen und Auftreten von Kommissar Überfeld (das markante Gesicht, die Kleidung, Sprache und
Gestik) an das "Bild eines Künstlers" erinnern, "wie ihn der Laie sich allgemein vorstellt" (S. 111).56
Der Verbrecher, der Polizist und sein Apparat sowie die Gesellschaft, in denen sie agieren, bilden,
aufeinander abgestimmt, den Hintergrund der True-Crime-Handlung, die den Polizeierfolg ex post
darstellt: Sie läßt den Verbrecher für eine gewisse Zeit als fast unüberwindlichen Gegner des
Polizeiapparates erscheinen, so daß der Spannungsbogen entsteht, an dessen Ende der Erfolg um so
größer wirken kann.
Der Erzählerkommentar verleiht dem Vorgehen des Kommissars wissenschaftliche Dignität:
----------------------------------54.
Auch Wehner: Dem Täter auf der Spur (Anm. 46) betont, daß sich die Ermittler schnell auf
einen Einzeltäter für alle Vorfälle geeinigt hätten. Die Vermutung, daß die Berliner Polizei
mit dem Fall des S-Bahn-Mörders auch die Gelegenheit wahrnahm, 'offene Fälle'
aufzuräumen, läßt sich nicht von der Hand weisen, zumal im Strafverfahren vor dem
Sondergericht summarisch nur die Tötungsdelikte verhandelt wurden (vgl. die
Aktenausschnitte bei Bosetzky: Wie ein Tier (Anm. 19), S. 299-307). Zu verweisen ist in
diesem Zusammenhang auf den 'Massenmörder' Bruno Lüdke, dessen Geständnisse
inzwischen mit einiger Plausibilität angezweifelt werden (vgl. J. A. Blaauw: Kriminalistische
Scharlatanerien. Bruno Lüdke - Deutschlands größter Massenmörder? In: Kriminalistik 48
(1994), S. 705–712; Ders.: Seriemoordenaar: De werkelijkheid achter de bekentenissen van
'de grootste seriemoordenaar' uit de Duitse criminele geschiedenis: Baarn: de Fontein 1994).
55.
Fritz Langs Film M - Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) hat schon in ähnlicher Weise
Polizeiarbeit 'modernisiert', um den für die Ermittler zunächst gesichtslosen Täter
'einzukreisen'; erfolgreich ist die Polizei, wenn sie sich auf ihre spezifischen Mittel - die
Produktion von Fällen, die in Akten gespeichert sind - verläßt.
56.
Was den 'Laien' als physiognomische Beobachtung überraschen muß, erkennt der 'Fachmann'
als den 'tieferen' Zusammenhang zwischen Verbrechen, Kunst und Polizeiarbeit. - Auch in der
Organisation der 'Betreuung' und Überwachung der 'Volksgenossen' setzte die NSDAP auf
Einfühlungsvermögen und Intuition der damit betrauten 'Hoheitsträger' der Parteibasis in den
Ortsgruppen, vgl.dazu Carl-Wilhelm Reibel: Das Fundament der Diktatur. Die NSDAPOrtsgruppen 1932–1945. (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart) Paderborn
u. a.: Schöningh 2002, und Dieter Rebentisch und Karl Teppe: Einleitung. In: Verwaltung
contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System. Hg.
von D. R. und K. T. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1986, S. 7-32, hier S. 24 f. zum
Begriffsinhalt von "Menschenführung".
Linder: Feinde im Inneren, S. 18
[Der Kommissar machte sich] an die methodische Auswertung der sechsundzwanzig Fälle. Er bedeckte
viele Bogen kleinkarierten Papiers mit Notizen, die von Zahlenspalten begleitet waren. Eine Arbeit,
deren lückenlose vergleichende Methode zweifellos wissenschaftlichen Wert besitzt und ein System
darstellt, aus dem der geschulte Blick sofort die zwingenden Schlüsse ziehen kann. Gewiß, die
verschiedenen Folgerungen und Kombinationen führten nicht geradenwegs auf den Täter, denn in
diesem klugen, luftigen Gedankengebilde fehlte eine irdische Realität: die Spuren (Alt/Ihde 1944, S.
64).
Wissenschaftliches Denken und tatkräftige Spurensuche verbürgen im geduldigen Zusammenwirken
den Erfolg. Kaum ist der Täter gefaßt und in Haft, so daß sein Trieb sich nicht mehr entäußern kann,
erweist er sich als kleiner, hilfsbedürftiger Mensch: "Sie müssen mir helfen", sagt er nach seiner
Festnahme zum verhörenden Kommissar (S. 206), ohne daß explizit würde, wofür, wobei er Hilfe
erwartet oder erwarten könnte. Aber schließlich geht es dem Text um das Profil des Polizisten und
den Nimbus einer gegen alle Widrigkeiten erfolgreichen Polizei. Der leere Hilferuf kann nur durch
das Polizeihandeln, das zur Ausmerzung des Täters führt, erfüllt werden. So lange der Täter aus dem
Verborgenen agierte, übte er Macht aus, die nun ganz auf den Polizisten übergeht, der Täter scheint
sie zu übertragen und genehmigt gleichsam alles, was mit ihm geschehen muß, damit die Gesellschaft
und er selbst vor dem Trieb geschützt werden können. Nun erkennt der Kommissar im gefangenen
Gegenüber auch die Reste einer 'Gefühlswelt':
Bisher hatte sein Gesicht noch nicht den Ausdruck gezeigt wie jetzt; ein dumpfes, triebhaftes, gemeines
Wesen kam zur Schau. Überfeld war diese Veränderung der Physiognomie Omanzows nicht
entgangen, und es schien ihm, als ob in den Gesichtszügen des Mannes sich gewaltsam die Äußerungen
einer Gefühlswelt ausbreiteten, die bisher verborgen war, nun aber offenbar wurde, weil der Verhaftete
sich unaufhörlich mit der Menge der Verbrechen beschäftigte (S. 201).
Dies Projektion, mit der die Verhörsituation charakterisiert wird, wirkt auf den Leser so, als sperrte
der Polizist den entwichenen Geist wieder in die Flasche - der Trieb wird zurückprojiziert und endlich
mit dem Täter identisch. Er wird gebannt, aber er bleibt unbenannt; Alt/Ihdes Text macht geradezu
eine Tugend daraus, sich dem "Wühlen in den Abgründen der menschlichen Seele" zu verweigern (S.
217). Die Persönlichkeit des Täters, seine Geschichte und seine Herkunft bleiben gleichgültig und
beliebig aufzufüllende Leerstelle: "Der macht sich überhaupt keine Gedanken, sondern geht seinem
dumpfen Trieb nach" (S. 142 f.). Mehr ist über diesen Täter nicht zu erfahren: Der Text verschließt
sich dem traditionellen Darstellungsschema, nach dem die Literatur dort deutend 'einspringt', wo die
(vorgängigen) Deutungsinstanzen - Justiz, Wissenschaft - zu versagen scheinen, indem sie das
Bedürfnis nach Re-Integration und 'Heilung' der rechtlichen wie der moralischen Ordnung
unbefriedigt lassen:57 Unterdrückt wird auch jede weitergehende 'Lehre' aus dem (aufgeklärten)
Verbrechen, wobei er ausdrücklich auf die Tendenz zur 'Medikalisierung' von Straftätern in der
"Systemzeit" eingeht, die als "Schweinerei" bezeichnet wird, der gegenüber die "neue Zeit" mit
Sexualstraftätern "kurzen Prozeß" mache (S. 138 f.). So bringt sich der Text auf die 'politische Linie'
nationalsozialistischer Kriminalpolitik,58 und erweist sich doch gleichzeitig als Teil einer 'Moderne',
----------------------------------57.
Joachim Linder und Claus-Michael Ort: Zur sozialen Konstruktion der Übertretung (Anm.
16), S. 33–37.
58.
In Edmund Finke: Der Mörder verliert den Robber. Kriminalroman. Berlin, Wien und
Leipzig: Zsolnay 1935, der in England spielt und Scotland Yard feiert, wird die
Deutungskonkurrenz deutlich ausgesprochen, wenn ein Polizist sagt: "Archäologie ist mir so
Linder: Feinde im Inneren, S. 19
die dem herkömmlichen Deutungsanspruch der 'schönen Literatur' mißtrauisch gegenübersteht, auch
und gerade wenn es um Kriminalität geht. Doch aus diesem Mißtrauen erwächst nun die Darstellung
des 'inneren Feindes', dessen Trieb namenlos bleiben kann, so lange er nur unschädlich gemacht wird.
(Bosetzkys Text füllt diese Lücke mit den Versatzstücken der Pop-Psychologie.)
Ehe er gefaßt wurde, hatte der Serientäter nicht nur den gesamten Polizeiapparat Berlins, sondern
auch noch die örtlichen Gliederungen der NSDAP auf Trab gebracht; vor allem aber hatte er dem
Fahndungsgenie der besten Kommissare ein rundes halbes Jahr widerstanden. Er hatte die
Verwundbarkeit der Kriegsgesellschaft sichtbar gemacht sowie den konflikthaltigen Wandel der
Geschlechterverhältnisse, der mit dem Krieg einhergehen mußte. Wenn Frauen, die sich in
risikoreiche Situationen begeben hatten, die 'logischen' Opfer von (Lust–)Mördern waren, so zeigt
Alt/Ihdes Text nun, daß diejenigen Frauen in Gefahr kommen, auf denen das Funktionieren der
Kriegsgesellschaft wesentlich beruht: als Opfer sind sie gänzlich ohne Schuld. Der Feind, den der
Text schildert, kann nicht groß und gefährlich genug gedacht werden - und entsprechend dezidiert ist
am Ende seine Verabschiedung, er muß nicht nur unschädlich, sondern auch 'klein' gemacht werden:
Es zeigte sich, daß man es mit einem ausgesprochen feigen Burschen zu tun hatte, denn nach seinen
eigenen Aussagen hatte er es nur auf kleinere Frauen abgesehen, nachdem er durch kräftiger gebaute
größere Frauen derbe handgreifliche Abfuhren erteilt bekommen hatte (S. 216).
Diese Pointe wird zum Charakteristikum der späteren Serientäter– bzw. Serienkiller-Darstellung, die
darauf setzt, daß in der Auseinandersetzung mit dem übergroßen Täter die Fähigkeiten der Polizei am
nachdrücklichsten zum Ausdruck gebracht werden können. Sie kombiniert die wissenschaftliche
Orientierung der Polizeiarbeit, die ihre Definitionsmacht legitimiert, mit einem Täterbild, das den
Machtzuwachs auf Seiten der Polizei repräsentiert: In der Annäherung an den Täter scheint dessen
Macht stets zuzunehmen, um dann in der Begegnung, die mit der Verhaftung zusammenfällt, rapide
zu schrumpfen, so daß die 'Größenverhältnisse' wieder zurechtgerückt sind. Mit jeder Festnahme wird
Polizeimacht erneut begründet, nachdem deren Träger sich einer ultimativen Prüfung auszusetzen
hatten. Der Anschluß der neueren Serienkiller-Literatur an dieses Schema kann nur exemplifiziert
werden; die folgende Passage stammt aus einem True-Crime-Buch, in dem Robert Keppel, Polizist
aus Seattle und einer der Begründer des Profiler-Mythos, über seine Begegnungen mit dem
Serienmörder Ted Bundy berichtet:
Bundy did all his convincing from the business end of a crowbar while his victim's back was turned.
He was not the phantom prince that crime writers and reporters had portrayed him to be for over 10
years, but a creep, a spineless, chicken-shit killer.59
'Entmächtigung' des Killers und 'Ermächtigung' des Polizisten: dies gilt für Keppel selbst dann noch,
wenn er darstellen muß, daß seine aufwendigen Fahndungen erfolglos geblieben sind. True-CrimeTexte produzieren Abhängigkeiten zwischen den Polizei- und den Verbrecherfiguren, die am Ende
zugunsten der Gut-Böse-Ordnung aufgelöst werden müssen. Und diese Auflösung funktioniert im
US-amerikanischen Text von 1995 noch nach demselben Muster wie im deutschen Text aus dem Jahr
unympathisch, wie die Psychiatrie. Beide Wissenschaften tasten hilflos in unbekannten Zeiten
und Räumen umher" (S. 91).
59.
Robert D. Keppel and William J. Birnes: The Riverman: Ted Bundy and I Hunt for the Green
River Killer. Foreword by Ann Rule, Pocket Books: New York e. a. 1995, p. 416.
Linder: Feinde im Inneren, S. 20
1944. Dabei ist die Triebhaftigkeit jeweils das konstitutive Element der literarischen Konstruktion des
Verhältnisses zwischen Serientäter und Polizei; der Trieb repräsentiert die Macht, gegen die sich die
Polizei bewähren muß.60
Manipulateure und 'Con Men', Kunst und Verbrechen
Felicitas von Rezniceks Roman Shiva und die Nacht der 12 endet zwar mit der Aufklärung eines
Mordes, doch zu Beginn der Handlung ist der Täter bereits unter dem Vorwurf verhaftet, zwölf
Frauen betrügerisch um Geld gebracht zu haben - ein Heiratsschwindler und Hochstapler, der darauf
vertraut, mit Leugnen durchzukommen. Die Frauen haben sich bereit erklärt, in der Nacht vom 19. auf
den 20. Oktober 1938 im Berliner Polizeipräsidium ihre Aussagen zu machen. Die Polizeirollen sind
mit Polizeirat Dongen (der mit dem Spitznamen 'Shiva' - in Anspielung auf die kleine indische
Götterfigur, die er immer bei sich trägt61 - zum 'Markenzeichen' einer Romanfolge stilisiert werden
sollte), einem Kommissar sowie einer weiblichen Kriminalbeamtin als Protokollführerin besetzt.
Normalerweise hält sich der Kriminalrat im (abgedunkelten) Hintergrund, während der Kommissar
die Verhöre durchführt. Die Protokollführerin hat den Auftrag, nicht bloß das Gehörte
mitzuschreiben, sondern auch eigene Ideen, Gedanken, Assoziationen und Bewertungen in den Text
einzufügen. Während Alt/Ihdes Text sich am Texttyp der 'Fallgeschichte' orientiert und Aktenmaterial
'dramatisiert', macht Reznicek den Versuch, Authentizität durch Umsetzung der Verhörsituation
herzustellen. Die erzählerische Organisation profiliert, indem sie den Blick auf die Opfer lenkt, den
Täter, sie betont aus Opferperspektive die 'Serialität' seines Vorgehens. Gleichzeitig werden die
Anforderungen an die Polizeiarbeit betont und deren Nähe zur Produktion eines Kunstwerks
assoziativ hergestellt (Inszenierung der Situation, in der ein Text entsteht, durch den der Täter
überführt wird). So werden in einer Nacht die bisherigen Ermittlungen zusammengefaßt und der 'Fall'
ästhetisch befriedigend gelöst.
Eine nach der anderen werden die Frauen hereingerufen, taxiert, vernommen, wieder verabschiedet;
nach jedem Verhör wird der Verhaftete vorgeführt und zu Einzelheiten befragt. Im Verlauf der Nacht
treten zwölf sehr unterschiedliche Opfer auf, die querschnittsgleich die Gefährdung von Frauen durch
die böswilligen Manipulationen eines Mannes repräsentieren - von der verwöhnten Tochter reicher
Eltern bis hin zur selbständigen und selbstbewußten Leiterin einer Baumschule. Die Polizeifiguren
und die Erählinstanz ordnen nach einem einfachen Schema: Während den arbeitenden Frauen
Mitgefühl und Verständnis gilt, werden Opfer, die parasitär leben, ausgehalten werden, ohne
verheiratet und familiär gebunden zu sein, als abweichend, unsympathisch und als unfraulich
abgewertet; die Sexualnormen entscheiden darüber, welche Opfer mitschuldig sind, und welche
----------------------------------60.
Diskursgeschichtlich anregend: Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de
France (1974–1975). [1999] Aus dem Französischen von Michaela Ott. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 2003, v. a. 5. Vorlesung, S. 143–177.
61.
Die Figur Dongen/Shiva gilt als verdeckte Hommage an den Kriminalkommissar Gennat, der
ob seiner Leibesfülle und seines Habitus den Spitznamen 'Buddha' trug, sich schon vor 1933
einen Ruf als Fahnder erarbeitet hatte, aber dem SS-Profil des 'neuen Polizisten' wenig
entsprochen habe (vgl. Anonym/Wehner, Anm. 46, Spiegel 1949, Nr. 40). Dongen/Shiva war
auf auf weitere Roman-Folgen und Verfilmungen angelegt (s. Anm. 71).
Linder: Feinde im Inneren, S. 21
gänzlich schuldlos verstrickt wurden. Die einzige Ausnahme dieser einfachen Typisierung ist eine
ältere Witwe, die als Zimmervermieterin Mutterersatz spielen wollte. Hätte sie damit Erfolg gehabt,
hätte sie womöglich den ganzen Polizeieinsatz verhindert; auch so wird der Täter als unverbesserlich
charakterisiert: er ist noch der Güte unzugänglich. Der Kriminalrat - wie gewöhnlich in der
Kriminalliteratur des 'Dritten Reiches' die höchste Norminstanz - definiert die Normalität der Frau
(und ordnet den Text dem großen Korpus an Kriminalromanen des 'Dritten Reiches' zu, in denen es
um die 'Normalisierung' von Frauen geht62): "Anstand, soziale und menschliche Sicherheit und
Sauberkeit, Naturverbundenheit und selbstverständliche Ehrlichkeit, Ungeschminktheit des Gefühls
und in der Lebensführung" (Reznicek 1943, S. 189 f.). Die Leiterin der Baumschule wäre sofort
bereit, ihre Selbständigkeit in der Ehe aufzugeben, wenn die Verhältnisse zwischen Mann und Frau
'stimmen': "Ich bin nicht geizig, aber ein Mann hat derjenige zu sein, der für die Frau sorgt, ihr ein
Heim schafft; zu einem Mann will ich aufsehen. Ist das klar?" (S. 183). Diese Einstellung hat sie
davor geschützt, auf den Heiratsschwindler hereinzufallen; doch sie ist Ausnahme geblieben, und dies
hängt mit einer 'Wirklichkeit' zusammen, die von der Protokollführerin mehrfach thematisiert wird:
Sie verweist auf den 'Männermangel' als das gesellschaftliche Problem, das den Betrüger erst möglich
macht: "Aber was nutzt Klugheit - bei dem Männermangel. Schade, daß man keine seelischen
Betreuer von Staats wegen für alleinstehende Frauen einsetzen kann" (S. 88, vgl. auch S. 64). Da es
noch nicht der der Krieg sein kann, der für den Männermangel sorgt, gibt der Kriminalrat einen
anderen Hinweis: "Wir Männer der Arbeit sollten uns schon manchmal Zeit nehmen, an so etwas zu
denken" (S. 65). Beide Abweichungen von der 'normalen' Frauenrolle, sowohl die positive von
Berufstätigkeit und Selbständigkeit als auch die negative der unverheiratet ausgehaltenen Frau,
eröffnen dem Verbrecher Möglichkeiten: Wieder erweist sich dessen besondere Gefährlichkeit und
Verwerflichkeit als Ausnutzen von Gelegenheiten, die sich durch den gesellschaftlichen Wandel
ergeben - und wiederum wird er vor diesem Hintergrund zum Feind schlechthin. Der Täter rechnet wie die Kriminalbeamtin - damit, daß Frauen in dieser Zeit "größtenteils mehr seelische Betreuung"
benötigen: "Bei diesen Worten grinste Geßner dreckig" (S. 93).63
Im Kommentar der Beamtin zeigt sich, daß dieser Täter Schaden verursacht, der über betrügerische
Transfers hinausgeht und Konflikte im Geschlechterverhältnis auslöst: "Ihr [d. i. der betrogenen
Frauen] Urteil über die Männer kann dann nur schlecht ausfallen, denn milde und weise werden
Frauen gar nicht oder spät, auf keinen Fall aber nach einem negativ ausgefallenen Liebesroman" (S.
139). Das klingt grotesk, enthält aber Modernisierungsängste, die keineswegs auf Literatur bzw.
Gesellschaft des 'Dritten Reiches' beschränkt geblieben sind. Indem sie diesen Täter - dem sie zu
allem Überfluß auch noch den Mord am 13. Betrugsopfer nachweisen kann - dingfest macht und dem
Todesurteil zuführt, erweist sich auch bei Reznicek die Polizei als Instanz, die notwendige
----------------------------------62.
Vgl. dazu ausführlich Linder: Polizei und Strafverfolgung (Anm. 30).
63.
Er kennt die Gefahr, aus der er sich durch Leugnen und Verstellen zu retten hofft (und sich
damit wieder verrät): "'Entschuldigen, Herr Kriminalrat, ich hatte nur große Angst, Herr
Kriminalrat könnten glauben, ich sei vielleicht morphiumsüchtig oder sonst irgendwie
erbkrank. Und da hatte ich Angst. Man sagt doch, man wird als Erbkranker ...'" (S. 94).
Zu 'Betreuung/betreuen' im NS Sprachgebrauch s. Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des
Nationalsozialismus. Berlin und New York: de Guyter 1998, S. 89–94.
Linder: Feinde im Inneren, S. 22
Modernisierungs- und Veränderungrisiken auffängt. Sie läßt es nicht zu, daß diejenigen, die Lasten
tragen müssen, auch noch gefährdet werden. Und im eigenen Haus ist sie Vorbild für die Gesellschaft:
Am Ende des Textes verloben sich - unter den wohlwollenden Blicken des (unverheirateten)
Kriminalrats - der Kommissar und die Kriminalbeamtin.
Die Selbsteinschätzung des Mannes, der die gesellschaftliche Konfliktlage zwischen den
Geschlechtern für seine Ziele ausnutzen konnte, wird vom Erzähler so dargestellt:
In den Jahren, seit er sich darauf verlegt hat, alleinstehende Frauen um ihr Geld zu prellen, kam er sich
immer vor, als sei er Herr und Gebieter über ein Marionettentheater und könne die Mädchen tanzen
lassen, wie es ihm beliebt. Das ist ja so einfach. Man muß sich eine Frau nur ansehen auf das, was bei
ihr das Richtige ist. Und dann zieht man ihnen das Geld heraus wie einem Spielautomaten (S. 91).
Er übt seine Macht über die Frauen ohne Skrupel aus, er ist so unfähig wie unwillig, mit denen zu
fühlen, die er schädigt: Die Maschinenvergleich verweist auf diese Fühllosigkeit, mit der er seine
Opfer zu manipulieren weiß (und Geld an die Stelle von Gefühl setzt), er repräsentiert die Unfähigkeit
zur Empathie und zur Reue, die auch heutigentags psychopathischen Serienkillern zugeschrieben
wird.64 Was die 'Männer der Arbeit' - also die Polizeibeamten - als Fehlentwicklung einsehen können,
wird für den psychopathischen Hochstapler zur Basis des Geschäfts. Im übrigen erfahren wir auch
über diesen Verbrecher (der seinem speziellen Trieb folgt) nur wenig; es gibt einen Hinweis auf
familiäre Belastung,65 aber ansonsten gilt er - wie der 'dumpfe' Triebtäter Alt/Ihdes - als 'geborener
Verbrecher', über den es sich nicht lohnen kann, viele Worte zu verlieren:
Obwohl ich als Kriminalist sagen muß, daß ein Verbrecher sein Verbrechen eines Tages begehen wird,
ganz gleich, ob man ihm Gelegenheit dazu gibt oder nicht. Einmal bricht seine Veranlagung durch (der
Kriminalrat, S. 203).
Die Kriminalität des 'Berufsverbrechers' und Serientäters, die sich gegen Frauen richtet, muß, das
zeigt sich in Rezniceks Roman, nicht immer auf aberrante Sexualität zurückgeführt werden, Macht–
und Gewinnstreben äußern sich nicht weniger triebhaft und nicht weniger gefährlich. An die Stelle
des Sexualtäters tritt der Con Man66 und Manipulateur - derjenige, der eine Rolle spielt, sich dabei
----------------------------------64.
Ted Bundy ist der Inbegriff des psychopathischen Serienkillers, der sich den Wandel der
Geschlechterverhältnisse zunutze gemacht hat, vgl. Stephen G. Michaud and Hugh
Aynesworth: Ted Bundy: Conversations with a Killer. The Death Row Interviews. Updated
Edition of the New York Times Bestseller with foreword by Robert H. Keppel, Ph. D.
President, Institute of Forensics. Irving, TX: Authorlink Press 2000; Ann Rule: The Stranger
Beside Me. Revised and Updated Edition. (Signet) New York e. a.: Penguin 1989.
65.
"Er war ein schwacher, haltloser Charakter. Er hatte eine schlechte, sagen wir besser, gar
keine Erziehung genossen, denn sein Vater, ein notorischer Säufer, hat sich um die Kinder nie
gekümmert. Und die Mutter hat nicht lang danach gesehen, woher das Geld kam, das sie
verdiente und das die Kinder ihr nach Hause brachten. So ist Schreiber aufgewachsen. Ohne
Sinn für Recht und Unrecht, Gut und Böse" (S. 209): Auch in diesem Kommentar ist die
Distanzierung vom Täter, mit dem sich der Polizist nachhaltig beschäftigen mußte, enthalten.
66.
"For the last few months a man has been travelling about the city, known as the 'Confidence
Man;' that is, he would go up to a perfect stranger in the street, and being a man of genteel
appearance, would easily command an interview. Upon this interview he would say, after
some little conversation, 'have you confidence in me to trust me with your watch until tomorrow;' [...]. Aus: The New York Herald, 8. Juli 1849, abgedr. im Anhang zu Hermann
Melville: The Confidence Man: His Masquerade. [...] Ed. by Hershel Parker. New York and
London: W. W. Norton & Company 1971, p. 227.
Linder: Feinde im Inneren, S. 23
seiner Umgebung perfekt anzupassen weiß, der Vertrauen erschleicht und mißbraucht. Der
Heiratsschwindler ist die Variante des Hochstaplerfigur, die Peter Sloterdijk67 als 'Leitfigur' der
Weimarer Republik wahrgenommen hat und sich dabei auf Erich Wulffen bezieht, für den
Hochstapelei als 'praktiziertes Kunstwerk' die Kunst mit dem Verbrechen verbindet.68 Doch in
Rezniceks Roman wird diese Figur ihres Nimbus entkleidet und repräsentiert als Heiratsschwindler
eine 'Angstfigur': Er ist derjenige, der Zugehörigkeit zur 'Normalität' nur vorgibt, sie spielt, ohne sie
zu verkörpern.69 Man kann diese Figur einerseits auf die 'Paranoia' der Nationalsozialisten beziehen,
die, soweit ihre 'Normalitätsdefinitionen' arbiträr sind, sich der Zugehörigkeit einzelner zur Normalität
niemals sicher sein können, wenn diese nicht das Zeichen, das ihnen zugeteilt wurde, für alle sichtbar
tragen. Man kann Rezniceks Verbrecherdarstellung insofern als Legitimation einer Kontrolle lesen,
die unablässig auf der Suche nach dem 'versteckten Anderen' ist, der bezeichnet werden muß, wenn
die Gefahr, die von ihm ausgeht, gebannt werden soll.70 Wenn nun die Aufklärung des Falles und die
Demaskierung des Rollenspielers selbst als Kunstwerk und weniger als Polizeiarbeit inszeniert wird,
dann steckt darin wiederum die Übertragung von Macht vom Täter auf die Verfolgungsinstanz, die
nun dessen weitere Rolle definieren wird.
Doch schreibt sich der Text auch in die literarische Tradition ein, die ein vorhandenes kollektives
Angstbild aufnimmt und weiterträgt, und zwar unabhängig vom nationalsozialistischen
Bezeichnungswahn: Es geht dann ganz allgemein um die Schwierigkeit oder gar die Unmöglichkeit,
Echt von Unecht und Schein von Sein zu unterscheiden. Dies wird in Shiva und die Galgenblume
(Berndorff 1943)71 und in Das Licht am Styx (Lossow 1943) im Hinblick auf Kunst, Kunstproduktion
und Künstlerpersönlichkeiten thematisiert: Die 'Verschiebung' der Kriminalität in einen Bereich, dem
----------------------------------67.
Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bde. (edition suhrkamp 1099) Frankfurt/M.:
Suhrkamp 1983, S. 850–855.
68.
Erich Wulffen: Die Psychologie des Hochstaplers. Leipzig: Dürr und Weber 1923. Vgl. dazu
jetzt: Claus-Michael Ort: 'Du bist ein Schelm geworden - ich Poet!' Zur Konstruktion
literarischen und kriminologischen Wissens über 'Verbrechen' und 'Kunst' in der Frühen
Moderne. In; Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch. Hg. von Hans Krah und C.-M.
O. Kiel: Ludwig 2002, S. 211–234.
69.
Es scheint im übrigen erst im 20. Jahrhundert 'Normalität' geworden zu sein, daß Frauen
zumeist als Opfer geschildert werden, und zwar von Serientätern, deren Vorgehen mit allen
Merkmalen der Heimtücke ausgestattet sind: so hat das 19. Jahrhundert noch die
Giftmörderinnen wahrgenommen, die in der Geschichte des Serienmordes bislang übersehen
wurden.
70.
In diesen Zusammenhang gehören die rekurrenten Schilderungen von Zwangshandlungen
(etwa der Griff nach der Krawatte) und die Betonung von Körperzeichen, die auf
Abweichung hindeuten ("ein hübsches, wenn auch zu hübsches Gesicht [...]. Das einzig
Häßliche an ihm sind seine Hände, die für den Kenner so manche Rückschlüsse auf seinen
Charakter ermöglichen", S. 20).
71.
Unter diesem Titel wurde noch vor Kriegsende ein unter der Regie von Hans Steinhoff ein
Filmprojekt begonnen, das als der 'letzte Film des Dritten Reiches' gilt (Darsteller u. a. Hans
Albers, O. W. Fischer, Elisabeth Flickenschildt). Vgl. das TV-Projekt von Michaela Krützen,
in dem Originalmaterial mit neuen Spielszenen verbunden wurden (EA: 27.11.1993 in arte).
Linder: Feinde im Inneren, S. 24
im Alltag Zugangsschwierigkeiten nachgesagt werden und dessen Akteure als unbürgerlich gelten, ist
in Kriminalromanen des 'Dritten Reiches' nicht selten; das 'Kunstmilieu' wird in zahlreichen Texten
mit Kriminalität und bzw. oder Abweichung verbunden; wenn Abweichung noch nicht manifest
geworden ist, ist es oft ein Ermittlungsverfahren - und damit die Polizei -, für den Bereich des
Normalen und Alltäglichen 'zurückgewinnen'.
In Shiva und die Galgenblume wird ein exilierter russischer Porträtmaler für Geldfälschungen
verantwortlich gemacht. Die Fälschungen des Russen sind so gelungen, daß sie sogar dem Kriminalrat
Dongen angedreht werden können, der von ahnungslosen Kollegen verhaftet wird (Berndorff 1943, S.
104-120): So wird sinnfällig, daß Falschgeld die staatlich-gesellschaftliche Organisation insgesamt
unterminiert. Wenn Banknoten und Münzen von Künstlern entworfen werden, steckt in jedem Maler,
Zeichner oder Graphiker ein potentieller Fälscher, dessen Werke unabhängig vom Urheber kursieren
können und so anonym bleiben wie echte Scheine, wenn ihnen keine 'Signatur'72 mitgegeben wird.
Der Geldfälscher ist eine weitere Variante der literarischen Feindproduktion, die wie beim Sexualtäter
und beim Hochstapler auf Wiederholungs- und Abbildungszusammenhänge der einzelnen
Handlungen setzt. 'Serialität' bedeutet nicht nur Dauer, sondern auch Steigerung der kriminellen
Intensität - im Zuge der organisierten Verteilung der Mark-Blüten wird ein Polizeibeamter ermordet,
der zufällig Fälschungen und Verteiler entdeckt. Der Mord intensiviert aber auch die Ermittlungen;
das Kontroll-Netz, das sich über den Raum des gesamten Reiches erstreckt, wird von Berlin aus
aktiviert.
Berndorffs Text konzipiert eine Täterhierarchie, an deren Spitze der Künstler und Fälscher steht,
während am unteren Ende 'Berufsverbrecher' agieren. Von beiden geht, mindestens aus der Sicht der
Polizei, eine Gefahr aus, die endgültig gebannt werden muß - sei es durch die Todesstrafe, die am
Anführer der Organisation vollstreckt werden wird, oder durch Einweisung in ein
Konzentrationslager, von der die unteren Chargen bedroht sind.73 Für 'Berufsverbrecher' gibt es nach
wie vor die Strukturen der 'Unterwelt',74 die das Kommunikationsnetz für Möglichkeiten und Aufträge
bereitstellt, die aber auch der Polizei bekannt und zugänglich sind. Zwischen beiden Verbrechertypen
----------------------------------72.
Das Zeichen für den Urheber, das mittlerweile ganz explizit für Serienmörder in Anspruch
genommen wird, vgl. Robert D. Keppel and William J. Birnes: Signature Killers. Interpreting
the Calling Card of the Serial Murderer. Foreword by Ann Rule, Pocket Books: New York e.
a. 1997.
73.
Der einzige mir bekannte Kriminalroman, in dem das Schicksal sogenannter Berufsverbrecher
explizit zur Sprache kommt, und zwar in einem Dialog, den zwei in diesem Sinne gefährdete
Unterweltler führen: "'Verloren, sagste?? Wat kann det jeben? Zwei Jahre Zet [= Zuchthaus]?
Die mach ick im Stehen ab, dazu brauch ich keine Zelle.' / 'Machste', sagte der Ältere,
'machste im Stehen ab. Det is wahr und nachher im Kazet [= Konzentrationslager] verreckste.
Du hast wohl nicht dran jedacht, daß unser Kerbholz voll ist. Meinste, die lassen uns nach
dem Zet raus?' / 'Is dir immer noch nich ufjejangen, Paule, det wir zu den jehören, die die von
der Polizei 'Berufsverbrecher' nennen?'" (S. 54). Die Unverbesserlichkeit dieser
Berufsverbrecher wird in einem Resozialisierungsexperiment bestätigt, dessen Scheitern der
Polizeirat vorhersagt: die liberal-bürgerliche Vorstellung des 'guten Kerns', der in jedem
Menschen steckt, erweist sich als naiv.
74.
Die beispielsweise in Halligs Roman (Kriminalkommissar Eyck, Anm. 40, S. 75) schon mit
"eisernem Besen" ausgekehrt und 'endgültig' zerstört sind.
Linder: Feinde im Inneren, S. 25
agiert der 'Sohn aus gutem Hause', der orientierungslos in die Kriminalität gleichsam schlittert und
unwillentlich-logisch den Mord am Kriminalbeamten begeht, durch den der gesamte
Verfolgungsapparat in Gang gesetzt wird.
Das gute Leben bildet - nach dem Verlust der sozialen Position im nachrevolutionären Russland und
der Flucht in den Westen - zwar das vordergründige Motiv für die Verbrechen des Künstlers, doch ist
der Äußerungszwang der 'eigentliche' (innere, tiefsitzende) Antrieb für die Produktion falscher
Geldscheine. Sie werden ihm - unter der Hand, deshalb um so mehr den 'Trieb' anzeigend - zu
individuellen Werken, die auf ihn als Urheber verweisen: Er bingt eine 'Signatur' an, indem er
unwillentlich ein Motiv aus seinem Œuvre in die Druckvorlage integriert: Die "Galgenblume"
entstammt der Darstellung eines Erhenkten am Galgen, deren Blüte als Gesicht ausgebildet ist, das
sich in Entsetzen und Trauer dem Hingerichteten zuwendet. Die Austauschbarkeit der Banknoten wird
dadurch aufgehoben, die Fälschungen verlieren ihren Wert (werden aber wieder zu Kunst im
eigentlichen Sinne), doch sie zeigen an, worin die latente Gefährlichkeit (und Gefährdung) des
Künstlers besteht: Er produziert Zeichen, die gleichermaßen Ordnung wie Unordnung stiften können.
Letztere entsteht, wo die Kunstproduktion allein auf den Künstler bezogen bleibt. Der Versuch, den
Fehler nachträglich zu kaschieren, mißlingt, so daß der kunsthistorisch informierte Polizist auf seine
Spur kommen kann. Der egomanische Künstler macht selbst auf sich als Gemeinschaftsunfähigen
aufmerksam. Das Bildmotiv, das er in Umlauf gebracht hat, hängt mit seiner Biographie zusammen:
Indem er den Geldschein zur Kunst macht, verewigt er seine Familiengeschichte, trägt die Anklage
gegen die despotische Zarenherrschaft in den Westen und gibt sich gleichzeitig als Fälscher zu
erkennen, dessen Entwicklung zur Kriminalität auf seine 'Entwurzelung' zurückzuführen ist.
Auch in Lossows Das Licht am Styx75 gruppieren sich um den Künstler und Fälscher weitere
Verbrecherfiguren: Da ist der Kunsthändler, der sich gegen den Willen des Fälschers an den
Fälschungen bereichert (so im übrigen bestätigt, daß die Fälschung ein Problem ist, das unmittelbar
und immer mit der Kunstproduktion und –handel zusammenhängt). Darüber hinaus erweist er sich als
ganz banaler Vergewaltiger einer Angestellten, deren Schwester, die als Prokuristin in seinem Betrieb
arbeitet, ihn aus Rache ermordet (mit Gift, der traditionellen 'Waffe der Frau'). Doch im Zentrum steht
Michael Spranger alias Michael Wendhausen: Der Namenswechsel ist legal und verweist um so
plakativer auf die problematische Künstlerfigur, auf Scheinhaftigkeit und latente Unwahrhaftigkeit
der Kunstproduktion. Spranger/Wendhausen betätigt sich als Schriftsteller und Maler. Wie bei
Berndorff der Kunsthistoriker Professor Schmitz ist bei Lossow die Kunsthistorikerin Dr. Gefion
Dankwart an der Aufklärung beteiligt:76 Sie muß erkennen,77 daß alle Produktion
----------------------------------75.
Zu Lossow vgl. Bo Andersson: Rudolf von Lossow: Das Licht am Styx. Ein deutscher
Kriminalroman aus dem Jahre 1943. In: Text & Kontext 17 (1989), S. 206–224.
76.
Kunsthistoriker treten in einer Reihe von Kriminalromanen der Zeit als 'Unterstützerfiguren'
für die Ermittlung auf. Für Gefion Dankwart fällt im übrigen ein Stück 'Normalisierung' ab:
Sie löst ihre Verbindung zu Spranger/Wendhausen, nachdem sie seine Verwicklung in die
Fälschungen zur Kenntnis nehmen muß, und geht eine ganz bürgerliche Verbindung zu einem
Kollegen und etablierten Privatdozenten ein, so daß ihre freiberufliche Tätigkeit durch Ehe
und Mutterschaft erledigt werden kann.
Linder: Feinde im Inneren, S. 26
Spranger/Wendhausens plagiatorisch ist: Seine Erzählung, die er für ein schriftstellerisches
Meisterwerk hält, ist in Wahrheit sentimentaler Kitsch im 'abgestandenen' Stil des Barock (Lossow
1943, S. 80, 127). Seine Bilder reproduzieren 'meisterlich' den Stil der alten Meister ohne deren
Originalität (und werden vom Kunsthändler entsprechend signiert, daß sie auch vom Kunstmarkt
aufgenommen werden). Und noch die Familiengeschichte, mit der er sich schmückt, ist 'erkünstelt': Er
wird von einem Onkel adoptiert, dem er eine 'Ahnengalerie' produziert, an deren 'Schluß' der Onkel in
einer Phantasieuniform paradiert.78
Spranger/Wendhausen kann im Zuchthaus 'geheilt' werden: die Rolle des erfolgreichen Künstlers ist
ausgespielt. Er wird gemeinschaftsfähig - das ist das Ende seiner Kunst und die Einlösung einer
Erkenntnis, die er selbst - als bloßes Lippenbekenntnis - früh ausgesprochen hatte:
Ebenso tiefgreifend [wie 2000 Jahre zuvor! - JL] ändert sich auch in unsern Tagen das innere Weltbild,
die äußere Schau und der ganze Mensch. [...] In unsern Tagen steigt ein neues Zeitalter herauf, das
Träger der großen Harmonie und des Ausgleichs ist. Volksgemeinschaft statt Klassenhaß, Ausgleich
statt Überheblichkeit der Herrenschicht und Murren der Leibeigenen. Eine Weltenwende, die große
Kämpfe herbeiführen muß, denn das Alte stirbt nicht von selbst, Stürme müssen es brechen (S. 87 f.).
Kunst und Gemeinschaft, 'Künstlertum' und 'Gemeinschaftsfähigkeit' stehen in einem
Spannungsverhältnis, der gemeinschaftsunfähige Künstler (der dem 'traditionellen' Künstler- und
Geniebild entspricht) wird zum Feind der Gesellschaft, der als 'Serienstraftäter' fortlaufend
Fälschungen produziert: Der Kriminalroman, plädiert für eine Kunst, die gemeinschaftsverträglich
und gemeinschaftsdienlich sein soll. Alles andere wird als triebhafte und gefährliche Entäußerung
denunziert und abgewertet. Die Kunst wird polizeipflichtig: Auf diese Weise werden die Debatten um
'Genie und Wahnsinn' (Lombroso und die sich anschließenden Diskussionen) und um die
psychopathologischen Grundlagen der Kunstproduktion (aus unterschiedlichen Perspektiven z. B.
Max Nordau, Karl Birnbaum, Hans Kurella oder Erich Wulffen) in den Kriminalromanen integriert
und so transformiert, daß dem Verbrecher auf jeden Fall der Nimbus des Genies entzogen wird.79 Der
Polizist partizipiert nicht mehr bloß am Nimbus des Gegners, er übernimmt ihn. Es gibt keine
77.
Während dies für Dankwart Ergebnis eines schmerzhaften Prozesses der Ablösung und
Integration in die Normalität ist, durchschaut das 'unverbildete Volk' Spranger/Wendhausens
Auftritte ohne weiteres als Anbiederei und Rollenspiel (vgl. S. 82). - Der Leser kann die
Einschätzung Dankwarts nicht überprüfen, er muß ihr und der Erzählinstanz vertrauen und
erhält vor allem eine Lektion über zeitgemäße/zeitgenössische Kunst.
78.
Nicht überraschend entdeckt die Polizei - bzw. deren erbbiologisches Amt - auch erbliche
Belastungen bei Spranger/Wendhausen: Genie und Kriminalität werden hereditär vermittelt.
79.
Max Nordau stellte seinem Buch Entartung (1892 f.) eine Widmung an Cesare Lombroso
voran, in der es heißt: "Die Entarteten sind nicht immer Verbrecher, Prostituierte, Anarchisten
und erklärte Wahnsinnige. Sie sind manchmal Schriftsteller und Künstler" (Max Nordau:
Entartung. (2 Bde. ). Billige Ausgabe. Berlin: Duncker 1902, o. p.
Auf den Nachweis der Diskussionsverläufe muß hier verzichtet werden; Hinweise aus Sicht
der kriminalanthropologischen und medico-kriminologischen Diskurse u. a. bei MarieChristine Leps: Apprehending the Criminal: The Production of Deviance in NineteenthCentury Discourse (Post-Contemporary Interventions) Durham, NC, and London: Duke
University Press 1992; Richard F. Wetzell, Inventing the criminal. A History of German
Criminology; 1880 - 1945. Chapel Hill NC e. a.: University of North Carolina Press 2000.
Linder: Feinde im Inneren, S. 27
'Sondermoral' für Künstler.80 Nur scheinbar folgerichtig ist es aber auch, daß einem Polizeioffizier die
Re-Sozialisierung des das Pseudo-Genies Spranger/Wendhaus gelingt. Der erliegt trotzdem am Ende
seiner Haftzeit der Krankheit, die schon in ihm steckte. Auch eine Polizeikonzeption, die nicht nur auf
Verfolgung und Verhaftung, sondern auch auf (paternalistische) Erziehung setzt, erweist sich als
obsolet.
Der gemeinschaftsunfähige Psychopath
Fred Andreas Roman Das vollkommene Verbrechen inszeniert die 'perverse' Variante schädlicher
Kunstproduktion: Der Mörder fühlt sich angesichts seines (antizipierten) 'vollkommenen Verbrechens'
als Künstler, bei dem sich Virtuosität der Planung (also die Imagination) mit dem Bedürfnis nach
Anerkennung verbinden:
Einer seiner letzten Gedanken war die Entdeckung, daß er den 'Mord als Kunstwerk' betrieb und über
sein schnelles Reifen zur Virtuosität die glückähnliche Befriedigung eines Künstlers empfand, eine Art
Schaffensrausch, wie er in sentimentalen Büchern nur Dichtern, Komponisten, und Malern nachgesagt
wurde. Leider würde kein Beifall, kein Applaus ihn je erfreuen ... (Andreas 1944, S. 55).
Die gemeinschaftsunfähige Selbstüberhebung dessen, der sich selbst als Mörder-Genie geriert, aber
auch dessen, der das Verbrechen unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet: beides kommt im
Verweis auf Thomas de Quinceys Essay On Murder considered as one of the Fine Arts (1837-39)
zum Ausdruck. Die Reflexion der latenten Kriminogenität literarischer Kriminalitätsdarstellung ist
auch bei Andreas nicht zu übersehen. In der Überhebung des Künstler-Verbrechers steckt aber schon
der Ansatz, der zur Aufklärung des vermeintlich 'vollkommenen Verbrechens' führen muß. Das Werk
verweist auf seinen Urheber, das Arrangement des Getöteten in einer scheinbaren Suizidsituation
führt die Polizei letztlich zum Täter (S. 110 f.) - insofern ist Andreas' Konzeption der Mörderfigur so
zukunftsträchtig wie die Polizeifiguren der Reihe "Neuzeitliche Kriminalromane": Der Täter
produziert das Werk, das den Ermittler zum Urheber weist, wenn er es denn zu 'lesen' und zu
interpretieren versteht. Auch Andreas inszeniert die Ablösung des Verbrecher-Künstlers durch den
Ermittlungs-Künstler.
Das 'vollkommene Verbrechen' setzt die 'vollkommene Ermittlung' in Gang (so die Titel der beiden
Teile des Romans): Der mächtige und machtbewußte Industrielle Krug wird vom Buchhalter
Schniersam erpreßt. Schniersam weiß, daß Krug lange vor seiner Industriellenkarriere als Buchhalter
wegen einer Bücherfälschung verurteilt worden war - und er droht, ihn mit diesem Wissen
gesellschaftlich unmöglich zu machen. Krug ist 'Revolutionsgewinnler', da "alles Schriftliche, das
einer bürgerlichen Ordnung diente", im Verlauf der Münchner Revolution verloren gegangen war (S.
133). Am Anfang der Abweichung steht schon eine doppelte Fälschung, nämlich die der Bücher und
der Lebensgeschichte, eine künstliche Wirklichkeit, deren Ursprung Krug zu allem Überfluß auch
noch Schniersam anlasten wollte. Künstlichkeit, falscher Anschein und Gemeinschaftsfeindlichkeit
kommen unmittelbar zusammen. Krug will sich nicht bloß die regelmäßigen Zuwendungen und die
drohende Nähe Schniersams im eigenen Betrieb ersparen, er fühlt sich vor allem in seinem Selbstbild
----------------------------------80.
Ausführlich diskutiert in dem Roman von Hans Simon: Der Angeklagte schweigt. Kriminal-
Roman (Der Aufwärts-Kriminal-Roman, Bd. 13) Berlin: Aufwärts-Verlag Maxim Klieber
1942.
Linder: Feinde im Inneren, S. 28
als Machtmensch, in seiner Vorstellung von Autonomie angegriffen. Dabei ist Schniersam auf den
ersten Blick das genaue Gegenteil Krugs: Ohne nennenswerte berufliche Erfolge, mit Einkünften, die
bescheiden zu nennen, Euphemismus wäre, ohne Sozialprestige und noch von den Kollegen, die auf
einer Stufe mit ihm stehen, mißachtet wegen seiner dürftigen Erscheinung. Er ergreift die Chance, den
Mächtigen eine Gegenmacht spüren zu lassen; er büßt dies mit dem Leben - und doch gibt er den
Anlaß dafür, daß auch der Mächtige untergeht. Er ist - in den Augen der Polizei - ein "subalterner,
unwichtiger Mann ohne Eigenschaften".81 In dieser Eigenschaftslosigkeit erkennt der Polizist das
Indiz, das ihn zum Mörder führt, denn "man konnte sich schwer vorstellen, woher [Schniersam] die
Energie genommen hatte, sich umzubringen, und noch weniger, warum er es getan hatte" (S. 111).
Der Leser erfährt, wie Krug den Mord vor sich selbst begründet. Schniersam erscheint ihm als
"Wicht" und als "Wanze", der ihm nicht im Weg stehen darf:
Es war das Gefühl, diesem Wicht Schniersam ausgeliefert, von ihm abhängig zu sein. Er empfand das
als naturwidrig. Umgekehrt schien es ihm richtig: er war der Machtmensch, von i h m hatte man
abhängig zu sein, vor i h m hatte man zu zittern. So nur kannte er es, und anders war es einfach albern
und mußte ein für allemal abgestellt werden. Er sah, wie er sich auch bemühte, keinen anderen Weg,
als Otto Schniersam zu 'beseitigen'. Man konnte es kaum Mord nennen. In seinen Augen war es
Notwehr (S. 7 f., Sperrungen i. O.).
Hier wird in der Sprache der Diskussionen über das 'lebensunwerte Leben' derjenige charakterisiert,
der in den Augen seines mächtigen Mörders kein Recht hat, ihn zu inkommodieren. Und gleichzeitig
verkörpert Krug den gemeinschaftsunfähigen Typus, das Gegenbild zum 'Volksgenossen' und
'Betriebsführer':82 Er lebt ohne soziale Beziehungen in einer brandenburgischen Kleinstadt, seine Frau
ist tot, er will aus Prestigegründen in die Familie des örtlichen Gerichtsdirektors einheiraten, seine
Tochter besucht ein Internat in der Schweiz, während ihrer gelegentlichen Besuche wird keine VaterTochter-Beziehung aufgebaut. Er wird von allen, die mit ihm arbeiten müssen, abgelehnt, seine
Werksdirektoren fürchten ihn, auch zu Hausdame und Chauffeur hält er Distanz, was als verletzend
empfunden wird. Die junge Frau aus der Halbwelt, der er sich nähert, um seine Machenschaften in
Berlin (die zum perfekten Mord führen sollen) zu kaschieren, empfindet ihn als fremdartig, kalt und
aberrant, auch in den wenigen sexuellen Begegnungen, die zwischen beiden stattfinden. Kurzum: Eine
völlig sich selbst genügen wollende Machtposition, die auch zum Staat nur geschäftliche Beziehungen
unterhält, der jede(r) 'Volksgemeinschaft' fremd bleiben muß. Der heutige Leser kann sich schwer
vorstellen, daß diese literarisch konstruierte Machtfigur nicht auf die Machthaber des untergehenden
'Dritten Reiches' projiziert werden sollte. Doch die Darstellung des Psychopathen Krug nimmt die
Konzeption des Gemeinschaftsunfähigen auf, die beispielsweise Kurt Gauger 1934 in einem Vortrag
unter dem Titel "Grundriß einer Deutschen Psychotherapie" einem internationalen
Psychotherapeutenkongress vorstellte:
----------------------------------81.
'Bildungszitate' sind charakteristisch für die Kriminalliteratur aus der Zeit des 'Dritten
Reiches'; meist gehören sie in den Zusammenhang der Genre-Reflexion und sollen
offenkundig dazu beitragen, die traditionelle Abwertung des Genres zu überwinden. Nur
selten sind sie so signifikant wie im Text von Andreas: Das Musil-Zitat etwa verweist - ob
absichtlich oder nicht, bleibt ungeklärt - auf den 'Fall' des Mehrfachtäters Moosbrugger im
Mann ohne Eigenschaften, und u. a. auch darauf, daß es die Kunst ist, die den Fall des
Triebverbrechers produziert und kommuniziert.
82.
Vgl. den entsprechenden Eintrag bei Schmitz-Berning: Vokabular (Anm. 63), S. 95 f.
Linder: Feinde im Inneren, S. 29
Psychopathen sind im Gegensatz zu den Schizophrenen und Schwachsinnigen oft sehr gut imstande,
die reale Welt - Personen und Situationen - wahrzunehmen. Am Intellekt fehlt es bei Psychopathischen
häufig nicht. Auch der körperliche Befund ist nicht entscheidend. Es gibt körperlich kräftige und
körperlich kümmerliche Psychopathen. / Entscheidend und soziologisch allein bedeutungsvoll ist
wiederum die seelische Beziehungslosigkeit als Krankheitszeichen. Der Psychopath ist der geborene
Egoist. Er steht daher trotz aller intellektuellen Begabung dem Schweregrad der Krankheit nach dem
Schizophrenen näher als etwa ein gutartiger Schwachsinniger. Der Psychopath ist nur in sehr
unzulänglichem Maße einer wirklichen Liebesbeziehung, einer echten Leidenschaft, einer echten
Hingabe fähig. Der begabte Psychopath ist, volksbiologisch betrachtet, unendlich gefährlicher als der
offensichtlich seelisch Schwerkranke, der Schwachsinnige oder der Psychotiker. Der begabte
Psychopath ist einer echten Bindung an ein Symbol, eines vitalen Vorganges also, nicht fähig. Seine
Begabung kann ihn aber veranlassen, anderen eine solche Bindung vorzutäuschen. 83
Andreas' Text vergibt die Etikettierung 'Psychopath' nicht; wie bei Alt/Ihde wird dem Leser jede
explizite Psychologisierung und/oder Medikalisierung erspart, am Todesurteil, das über den Mörder
verhängt wird, kommt kein Zweifel auf. Aber die Anlagerung der Verbrecherfigur an das
Psychopathen-Modell einer 'deutschen Psychotherapie' ist nicht weniger offenkundig. Diese Modell
verbindet alle kriminellen Figuren der Romanreihe, die das Reichskriminalpolizeiamt zusammen mit
dem Hillger-Verlag realisierte; es verleiht den Konstruktionen der gemeinschaftsfremden Feinde
zusätzliche Plausibilität. Vor allem aber gewinnt durch das Gegenüber dieses Feindes die Polizeifigur
zusätzliches Profil: an ihr ist alles 'echt', ihre Absichten sind stets nachvollziehbar und im Dienste der
Gemeinschaft, deren Gesetze sie nicht nur verteidigt, sondern auch peinlich genau einhält.
Erzählerische Konfrontationen von Polizisten und Mehrfachtätern
Auf den ersten Blick scheint ein Mißverhältnis zu bestehen zwischen dem Polizeiapparat, der das
ganze Land so überzieht, daß es von Berlin aus überwacht werden kann, und den kriminellen
Sachverhalten, von denen dieser Apparat herausgefordert wird: Kunst- und Geldfälschungen, die
jeweils auf einen kleinen Kreis von Beteiligten und Geschädigten begrenzt bleiben und zudem die
Indizien zu ihrer Entlarvung mit sich tragen, die Betrügereien des Heiratsschwindlers, die nicht
einmal für die Opfer unmittelbar existenzbedrohend sind. Noch der Sexualtäter und Mörder Alt/Ihdes
bewegt sich in einem überschaubaren Raum und überschreitet nie die Grenzen seines eigenen sozialen
Umfeldes. Aber es sind nicht die einzelnen Taten, die 'vollkommene Ermittlungen' (Andreas 1944)
erforderlich machen, es ist vielmehr das Risikopotential, das von den Taten auf den Täter verweist,
der, würde er nicht von der Polizei gestoppt, mit seinem kriminellen Tun fortfahren würde, so daß die
Ordnungsinstanzen als ineffizient erscheinen müßten. Die Gemeinschaftsfeindlichkeit ist der
Wesenszug, der die Gefährlichkeit aller dargestellten (Serien–)Täter ausmacht; unmittelbare
----------------------------------83.
Kurt Gauger: Grundriß einer Deutschen Psychotherapie. Hamburg: Hanseatische
Verlagsanstalt 1934, S. 26. Zu Kurt Gauger vgl.
http://www.kent.ac.uk/history/staff/material/schmidt/medizinische.html#text18 (21.5.2003).
Zum Konzept des Psychopathen im 'Dritten Reich' vgl. Wolfgang Fritz Haug: Die
Faschisierung des bürgerlichen Subjekts. Die Ideologie der gesunden Normalität und die
Ausrottungspraktiken im deutschen Faschismus. Materialanalysen. Berlin: Argument Verlag
1986, S. 76–80. In diesem Zusammenhang ist auch auf Jürgen Links "Bemerkungen über den
NS-Faschismus als durchgedrehten Protonormalismus" hinzuweisen (Versuch über den
Normalismus. Wie Normalität produziert wird. (Historische Diskursanalysen der Literatur)
Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 309–312.
Linder: Feinde im Inneren, S. 30
Tatmotive sind demgegenüber zweitrangig und zufällig. Die dargestellten kriminellen Handlungen
sind als Zeichen zu verstehen, als Symptome, die auf die kriminelle Anlage der Person verweisen. Die
Kriminalliteratur des 'Dritten Reiches', dies zeigen die Beispiele, bewegt sich mit ihren Tat– und
Täterkonstruktionen auf der Linie nationalsozialistischer Inszenierungsstrategien, die auf den Konsens
setzen, daß nicht Taten rechtswidrig, sondern Täter gefährlich seien: "Die Presse wird angehalten, den
Übergang zum Täterstrafrecht publik zu machen und damit einer strafrechtlichen Theorie [...] zur
praktischen Durchsetzung in der Gesellschaft zu verhelfen. Den Bürgern soll demonstriert werden,
daß Strafe nicht in erster Linie auf Taten reagiert, sondern minderwertige kriminelle Personen,
Mörder, Brandstifter usw. aussondert."84
Die literarischen Darstellungen der Polizeiarbeit sind Teil der Ordnungsinszenierungen des 'Dritten
Reiches', mit denen die Polizei so ins Licht gerückt wird, daß 'gute Kontinuitäten' erkennbar werden
sollen:85 Die Fahndungen werden von Beamten einer intermediären Hierarchieebene geleitet, die
weithin selbständig über die Fahndungsstrategien und über den Einsatz von Personal entscheiden.
Auch wenn Taten außerhalb Berlins begangen wurden, bleibt doch die 'Berliner Zentrale' zuständig.
In der Zusammenarbeit mit den Kollegen vor Ort entfaltet sich eine rege Reisetätigkeit (mit Auto,
Bahn und Flugzeug), so daß die Beamten den ganzen Raum, der ihrer Überwachung anvertraut ist,
überblicken können. Die Kommissare und Polizeiräte verkehren freundschaftlich-kollegial
untereinander, auch Untergebenen gegenüber wird ein diskursiver Stil und nicht etwa ein KommandoTon geübt. Selbst wenn, wie in Der Tod fuhr im Zug, die Ermittlungen lange erfolglos bleiben und der
Täter sich mit immer neuen Bluttaten in Erinnerung bringt, kommt es nicht zu ernsthaften Konflikten
im Polizeiapparat, auch die Vorgesetzten bleiben geduldig und vertrauensvoll. Die Öffentlichkeit
registriert die Polizeitätigkeit; Zeitungen berichten kontinuierlich über die Fahndungen, auch über
Mißerfolge. Dies kann von den Polizeiprotagonisten als 'Druck' empfunden werden, zumal bei ihnen
die Meinung vorherrscht, daß Journalisten nur selten über die Schwierigkeiten der Polizeiarbeit
informiert sind.86 Über die Zeitungsberichterstattung wird auch die Mithilfe der Bevölkerung
organisiert - in der Regel mit wenig Erfolg. Für die Polizeidarstellung aller Romane gilt das Fazit aus
Der Tod fuhr im Zug (mit dem sich Alt/Ihdes Text einmal mehr als vorbildhaft für die gesamte vom
Reichssicherheitshauptamt initiierte Reihe erweist): "die deutsche Kriminalpolizei ist dank ihrer
----------------------------------84.
Klaus Marxen: Strafjustiz im Nationalsozialismus. Vorschläge für eine Erweiterung der
historischen Perspektive. In: Justizalltag im Dritten Reich. Hg. von Bernhard Diestelkamp
und Michael Stolleis. (Fischer Taschenbuch) Frankfurt/M.: Fischer 1988, S. 101- 111, hier
S. 106.
85.
In einem Vortrag beim 14. Kolloquium Polizeigeschichte hat Alf Lüdtke unter dem Titel
"Zurück zur Policey" die "Entwicklung des Bildes der Polizei vom späten 18. Jahrhundert bis zur
unmittelbaren Gegenwart zwischen den beiden Polen 'sorgend - edukativ' und 'korrigierend - repressiv'"
rekonstruiert (vgl. Tagungsbericht URL: http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/type=tagungsberichte&id=294, 27.9.2003). Damit könnte ein Rahmen
vorgegeben sein. in dem auch die literarischen Polizeibilder verortet werden können.(Ich danke Alf
Lüdtke für die Überlassung des Vortragsmanuskripts.)
86.
Exemplarisch: In Alt/Ihde 1944 erhält der Kommissar Gelegenheit, eine junge Journalistin
(die im Krieg an die Stelle des männlichen Reporters gerückt ist) über seine Arbeit
aufzuklären und dabei zu betonen, daß ihre Zeitung dabei nur wenig hilfreich sein kann (S. 57
f.).
Linder: Feinde im Inneren, S. 31
vorzüglichen Organisation und technischen Ausstattung seit dem Jahre 1933 jeder größeren
Beanspruchung gewachsen" (Alt/Ihde 1944, S. 49).
Bei aller Team-Arbeit liegt die Hauptlast der Fahndungsarbeit auf den leitenden Beamten, die dafür
nicht nur Ausbildung, Erfahrung und intellektuelle Fähigkeiten mitbringen, sondern auch
Charakterfestigkeit und Wertebewußtsein. Sie verstehen sich - rekurrent - als 'Ärzte am Volkskörper'
und stellen sich als Normvertreter dar, die 'das Böse', ehe sie es unschädlich machen, erkennen
müssen. Sie repräsentieren die Polizei als Ordnungsmacht, die sich peinlich genau an Gesetze und
Grenzen hält. Ihre Vertreter können sehr wohl unterscheiden zwischen der Gefahr, die von den
'Feinden' des Volkskörpers ausgeht, und gelegentlichen Fehltritten, die zwar benannt, aber nicht mit
hoher Intensität verfolgt werden müssen. Mit ihrem hochentwickelten Einfühlungsvermögen, ihrer
Intuition und der Fähigkeit, mögliche Handlungsabläufe und Täterpersönlichkeiten zu imaginieren,
werden sie in allen vorliegenden Texten mit Kunst - ihrer Produktion oder Rezeption - in Verbindung
gebracht. Das Profil dieser Vorzeigepolizisten entsteht in der erzählerischen Konfrontation mit den
psychopathischen Virtuosen der Künstlichkeit, der Scheinhaftigkeit und der rücksichtslosen
Selbstermächtigung.
Schlußbemerkung zur Mediengeschichte des Serienkillers
Die Nationalsozialisten haben das täterorientierte Strafrecht, das in die Praxis umgesetzt werden
sollte, nicht erfunden, noch weniger die Täterbilder, durch die es sich legitimierte: die Gewohnheitsund Berufsverbrecher, die Massenmörder, die 'Bestien', "Werwölfe, Triebtäter, minderwertige
Psychopathen", die in den Grenzbereichen zwischen Wissenschaft, Kriminalpolitik, Justizpraxis und
(Massen–)Medien diskutiert wurden und werden.87 Alle diese - emotional hochbesetzten - Begriffe
werden vermieden, wenn in den Verbrecherdarstellungen der Kriminalromane des 'Dritten Reiches'
die Mehrfachstraftäter als gemeinschaftsunfähige Psychopathen identifiziert werden. Die populäre
Verbindung zwischen extremer krimineller Gewalt und psychopathischer Persönlichkeit erweist sich
aber als die Tradition, in der zu einem guten Teil auch die 'Geschichtlichkeit' des Serial Killing (bzw.
seiner erfolgreichen Darstellungen) steckt, deren Fehlen Sebastian Scheerer beklagt.88
Kurt Schneider hat jeder einzelnen Position seines Kataloges der psychopathischen Persönlichkeiten
(EA 1923)89 einen Abschnitt über deren 'soziale Bedeutung und Behandlung' hinzugefügt; darin geht
----------------------------------87.
Vgl. z. B. Thomas Kailer: Werwölfe, Triebtäter, minderwertige Psychopathen. In:
Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Hg. von Carsten
Kretschmann. (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 4) Berlin: Akademie Verlag
2003, S. 323–359.
88.
Sebastian Scheerer: Mythos und Mythode (Anm. 16), S. 72 .
89.
Kurt Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten. Siebente, unveränderte Auflage.
Wien: Deuticke 1944; wie vor ihm Emil Kraepelin und Karl Birnbaum (Grundzüge der
Kulturpsychopathologie. (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Begründet von L.
Löwenfeld und H. Kurella. Hg. von Prof. Dr. Kretschmer, H. 116) München: Bergmann
1924) stellt auch Schneider die Verbindung zwischen Künstler und Psychopathen her, s. Kurt
Schneider: Der Dichter und der Psychopathologe. Köln: Rheinland Verlag 1922. Zu Kurt
Schneiders Psychopathen-Katalog vgl. Link: Versuch über den Normalismus (Anm. 83), S.
87-91.
Linder: Feinde im Inneren, S. 32
es vor allem um die Kriminalitätsgefahr, die er von den einzelnen Persönlichkeitstypen ausgehen
sieht. Zumeist schätzt er diese Gefahr gering ein, doch beim Typus des 'explosiblen Psychopathen' (S.
97-99) sieht er "Affektverbrechen aller Art" (S. 99), die freilich durch eine Behandlung, die auf
"Selbsterziehung" hinwirke, verhindert werden könnten. Gänzlich unverbesserlich, dabei in aller
Regel zurechnungsfähig, erscheinen ihm dagegen "Gemütlose Psychopathen" (S. 99-104), von denen
insgesamt eine erhebliche Kriminalitätsgefahr ausgehe, die aber auch "an Stellen jeder Art oft
Erstaunliches" zu leisten in der Lage wären. Dieser gemütlose Psychopath, der sich zudem noch der
jeweiligen Situation anzupassen weiß, hat in die Kriminalliteratur des 'Dritten Reiches' als Feindbild
Eingang gefunden. Aber seiner Re-Vitalisierung und Popularisierung durch Polizei-Experten und in
allgemein verständlichen Psychiatriebüchern verdankt sich wiederum zu einem guten Teil die
Karriere des Serienkillers seit den 1980er Jahren. Als Beispiel sei lediglich die Darstellung des
kanadischen Psychiaters Robert D. Hare aus dem Jahre 1993 angeführt:
Psychopaths make up a significant portion of the people the media describe - serial killers, rapists,
thieves, swindlers, con men, wife beaters, white collar criminals, hype-prone stock promotors and
'boiler-room' operators, child abusers, gang members, disbarred lawyers, drug barons, professional
gamblers, members of organized crime, doctors who've lost their licenses, terrorists, cult leaders,
mercenaries, and unscrupulous businesspeople.90
Der Gemütlose treibt in allen Bereichen der Gesellschaft sein Unwesen - ohne Reue, manipulierend,
Normtreue und Normalität stets nur vorspielend, ein Künstler, der nichts anderes als sich selbst
erschafft. Und wie der Serienkiller als Extremform die psychopathische Population repräsentiert, so
ist diese als Zeichen für die Fehlentwicklung der Gesellschaft zu verstehen. Es ist wiederum die
Verbindung mit der psychopathischen Persönlichkeit, die dem Polizeikonzept des Serientäters die
wissenschaftliche Dignität verschafft.91 Insofern erscheint der Serienkiller der 1980er Jahre als ein
Wiedergänger, mit dem die Bilder aufgerufen werden, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts
verwendet werden, wenn 'Intensivtäter' zum wichtigsten Ziel der Polizeiarbeit erklärt werden, die
immer herhalten müssen, wenn Aufrüstung und Zentralisierung der Polizei gefordert wird.
Die 'Geschichtlichkeit' des (psychopathischen) Serienkillers wäre als Mediengeschichte zu
konzipieren, in der die 'schöne Literatur' allgemein, die 'Kriminalliteratur' im engeren Sinne einen
einen prominente Stelle einzunehmen hätte. Und sie ist auch eine Geschichte des 'medialen
Austausches' von Konzepten und Vorstellungen, die über nationalkulturelle Grenzen hinweggeht. (In
Jim Thompsons 'Psychopathen-Roman' The Killer Inside Me (1952) ist der Mehrfach-Mörder und
----------------------------------90.
Robert D. Hare: Without Conscience. The Disturbing World of the Psychopaths among us.
New York and London: The Guilford Press 1999, S. 2 f.
91.
"As the FBI seeks to give its discourses an aura of scientific truthfulness, psychiatry loses the
public's confidence in its scientific credentials" (Tithecott: Of Men and Monsters, Anm. 4) p.
23). Gegen diese Art der 'Ermächtigung' argumentiert der britische Psychiater David Canter
(Criminal Shadows. The Inner Narratives of Evil. (1994), Irvin, TX: Authorlink 2000, p. 264:
"Both [sociopath und psychopath] are curious terms that imply a medical, pathogenic origin
yet in fact describe someonefor whom no obvious organic or psychotic dignosis can be made.
The seemingly informed technical term is therefor more an admission of ignorance than an
effective description. It is also confusing that the smooth manipulator of others is as likely to
be called a psychopath as the man who carries out forced abductions and violent assaults with
no attempt to 'con' his victims".
Linder: Feinde im Inneren, S. 33
Ich-Erzähler nicht nur selbst Mitglied der Polizei, die 'seinen' Fall aufzuklären hat, der virtuose
Rollenspieler verfügt auch über eine Bibliothek, in der sich zahlreiche Werke aus den Bereichen der
deutschen Psychopathologie-Diskussion finden (Kraepelin, Krafft-Ebing, Freud, Jung etc.).)92 Die
Konzeption, die dem FBI zugeschrieben wird, partizipiert an den 'Kollektivphantasien',93 die sie
aufnimmt und rekombiniert der medialen Verarbeitung wieder zuführt. Nicht etwa, weil plötzlich
allenthalben und gleichsam aus dem Nichts Serienmörder in der Wirklichkeit der USA aufgetreten
wären, ist die Figur zu einem populären Erfolg geworden, sondern weil das 'Alte' im 'Neuen' immer
noch erkennbar war. Dazu sind nun nicht mehr nur die (literarischen) Figuren des 19. Jahrhunderts zu
zählen, die eingangs erwähnt wurden, sondern auch die Serientäter, die relativ früh in der deutschen
Kriminalliteratur auftauchen. So konnte auch hier nicht nur Serienmord auf Serienmord, Serienmörder
auf Serienmörder, sondern auch der Serienmörder auf den Lustmörder so bezogen werden, daß die
'Neuigkeit' jeweils in den Horizont des Tradierten integriert werden konnte. Wie seine Vorgänger
weicht der Serial Killer der 1980er Jahre nicht nur von der 'Normalität' der jeweiligen Ordnung ab,
sondern überschreitet auch noch die Grenze, innerhalb derer Abweichung selbst als 'normal' und
'nachvollziehbar' verstanden werden kann. Diese doppelte Überschreitung, die in der angeblichen
'Motivlosigkeit' seiner Taten und dem angeblichen 'Nicht-Aufhören-Können' erkannt wird,
verschafften ihm seine spezifische Qualität als Verbrechermensch und Psychopath, der sich in die
Wissensökonomien der 'Kulturindustrie'94 einpaßt.
Die seit gut zwanzig Jahren anhaltende Konjunktur der Serienkiller-Darstellungen, die sowohl in den
audiovisuellen Medien als auch im Print- Bereich zu beobachten ist wird als Teil eines
Medienwandels gesehen, durch den Strafverfolgung und Strafjustiz endgültig zu Commodities des
----------------------------------92.
Jim Thompson: The Killer Inside Me. [1952} (First Vintage Crime/Black Lizard Edition)
New York: Vintage 1991.
93.
Vgl. z. B. Wertheimer: Don Juan und Blaubart (Anm. 12) unter dem Aspekt "Vom Verführer
zum Vernichter" (S. 11). Zum "sozialpsychologischen Unheil" werde der "Serienverführer"
nicht bei Mozart/Da Ponte, sondern in E. T. A. Hoffmanns Erzählung "Don Juan" (S. 11),
nämlich in der Umdeutung des Don-Juanschen "Serien- und Additionsprinzip[s]" der
"anonymen Aneinanderreihung" in "eine auf ein ideales Ziel ausgerichtete unendliche
Suchbewegung", die auf "Perfektion" zielt und über "Ordnungsstrukturen und Wertmaßstäbe"
triumphiere (S. 34 f.): die Kompatibilität dieser Formulierungen mit der SerienkillerDefinition unserer Tage ist offenkundig. Daß, wie der Klappentext meint, Don Juan und
Blaubart zu "Stellvertreterfiguren verklärt" würden, weil die "serielle Tötung und serielle
sexuelle Befriedigung" in der "gesellschaftlichen Wirklichkeit tabuisiert" würden, positioniert
den Serienkiller in dieser Reihe, doch so, daß Tabu und Stellvertreterfigur zusammenfallen.
94.
Zu Kulturindustrie und kriminalistischem Wissen vgl. Heinz Steinert: Kulturindustrie und die
Zivilisierung der Gewalt. In: Gewaltkriminalität zwischen Mythos und Realität. Hg. von
Günter Albrecht, Otto Backes und Wolfgang Kühnel. (Kultur und Konflikt. edition suhrkamp
2222) Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001, S. 101–122; zur Übertretung als Ereignis, das durch
den semiotischen Prozeß konstituiert wird vgl. Martin Lindner: Der Mythos 'Lustmord' (Anm.
); Bernhard Greiner: Crimen - Diskriminierung - Literatur der Übertretung. Musil: Die
Verwirrungen des Zöglings Törleß, Muschg: Der Zusenn oder das Heimat, Kluge: Warten auf
bessere Zeiten. In: Verbrechen - Justiz - Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis
zur Gegenwart, Hg. von Joachim Linder und Claus-Michael Ort in Zusammenarbeit mit Jörg
Schönert und Marianne Wünsch. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd.
70) Tübingen: Niemeyer 1999, S. 307–323.
Linder: Feinde im Inneren, S. 34
populären Unterhaltungsbedürfnisses geworden seien, das inzwischen von allen Mediengattungen
bedient werde.95 In diesem Rahmen liefern Serienkiller-Darstellungen die 'großen' Verbrecherfiguren,
denen die 'ästhetisierende Entübelung der Negativwerte' angelastet wird: die - aus Sicht solcher Kritik
- postmoderne Darstellungsweise feiere mit ihren Mördern die "Figur des radikalen Egoisten, der
seine Wunschfantasien zugleich bewundernswert kunstvoll und atemberaubend frei von jeglicher
ängstlichen Antizipation innerer oder äußerer Widerstände in Szene setzt". So inszenierten
Serienkiller-Filme das gewandelte Staatsverständnis im Wettbewerb zwischen Täter und Ermittler der Staat und seine Institutionen hätten in den 'populären Mythen' ihre Rollen als 'fürsorgliche
Instanzen' für das Allgemeinwohl verloren.96 Man erkennt freilich noch in der Beschreibung der
glamourösen Inszenierungen Hollywoods, die dieser Diagnose zugrundeliegt, den Killer als
psychopathischen Kunstproduzenten, der nicht bloß seine Opfer quält und tötet, sondern auch die
Öffentlichkeit in Angst und Schrecken versetzt: Wohin man schaut - in den allermeisten populären
Darstellungen der Serienkriminalität sind drei der vier oben (S. 5) erwähnten Positionen ganz
traditionell besetzt.97 Bleibt also zu fragen, ob sich tatsächlich das Polizeibild so dramatisch geändert
hat, wie es bei Sebastian Scheerer zum Ausdruck kommt. In dieser Hinsicht muß wohl differenziert
werden: Die Masse der True-Crime-Produktionen, die sowohl für den Buchmarkt als auch für den
TV-Markt produziert werden, sowie die zahlreichen Selbstdarstellungen von erfolgreichen Fahndern
und Profilern bleibt ganz auf der Linie, die ich versucht habe zu skizzieren. Das soll nicht als
Faschismusverdacht mißverstanden werden: Heute wie damals wird Polizeihandeln dargestellt, das
sich für eine angstfreie bürgerliche Ordnung gegen deren erklärte und unverbesserliche Feinde richtet,
das Gesetzlichkeit gewährleistet und Terror unterdrückt.
Es ist aber ganz und gar nicht verwunderlich, daß Abweichungen zu diesem Mainstream auffallen, in
dem nach wie vor siegreiche Polizeiheroen und ihre Erfolge (die keineswegs immer ganz nach den
Regeln von Polizeiaufgabengesetzen zustande kommen) abgefeiert werden: Solche Abweichungen
zeigen das Scheitern männerbündischer Polizeiteams (etwa in Thomas Harris' Hannibal-LecterRomanen und deren Verfilmungen), sie zeigen - wie in Michael Connellys Roman The Poet (1996) als recht unbeholfene Interpreten, wenn sie Tatorte 'interpretieren' müssen, an denen der Täter Spuren
hinterlassen hat, die tatsächlich auf Kunst, nämlich Texte von E. A. Poe, verweisen. Die Frage, ob
man solche und vergleichbare Produkte schon als Hinweis auf die drohende Entfernung der Polizei als
wohltätiger Institution aus der populären Mythenproduktion verstehen will, muß offen bleiben, auch
wenn man sie als Reflexion einer hartnäckigen Tradition des 'gigantisch überdrehten Funktionierens'98
versteht.
----------------------------------95.
Vgl. dazu Sheila Brown: Crime, Law and Media Culture. London: Open University Press
2003.
96.
Scheerer: Mythos und Mythode (Anm 16), S. 78-80; mit dem Stichwort 'Entübelung' bezieht
sich Scheerer auf Norbert Bolz: Der Megatrend zum Bösen. In: TopTrends: Die wichtigsten
Trends für die nächsten Jahre. Hg. von U. Becker. Düsseldorf: Metropolitan 1995.
97.
Ausführlicher in Linder: Serienkiller als Kunstproduzent (Anm. 12).
98.
Foucault: Die Anormalen (Anm. 60), S. 30.