Leseprobe und Inhalt Filmjahr 2005

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Leseprobe und Inhalt Filmjahr 2005
Lexikon des Internationalen Films
Das komplette Angebot in Kino, Fernsehen,
auf Video und DVD
Redaktion
Horst Peter Koll und Hans Messias
Mitarbeit DVD
Jörg Gerle
Herausgegeben von der Zeitschrift «film-dienst»
und der Katholischen Filmkommission für Deutschland
Mit einen Kino-Brevier des Verbands der deutschen Filmkritik e.V.
Vorwort «Filmjahr 2005»
Chronik des Filmjahres 2005
Notizen zum Kino # 02
Brevier des «Verband der deutschen
Filmkritik e.V.» (Deutsche Sektion der
FIPRESCI)
Frühstück mit Hitler – eine Gesprächsrunde
eingerichtet von Josef Schnelle
51
7
Spieglein, Spieglein an der Lein-Wand
Bruchstücke, Fragmente und Reflektionen zum
Motiv des «Spiegels» im Kino
Von Günter H. Jekubzik
54
Der Preis der deutschen Filmkritik
58
FIPRESCI-Preise 2005
60
6
Einleitung
Filmkritik unter Beobachtung oder Das Kino blickt
zurück: Zwischen Piraten und Verleihern um eine
Geliebte werbend – Seh-Erfahrungen 2005
Von Rüdiger Suchsland und Josef Schnelle
27
«Even on this dark side – romance»
Zum diesjährigen Themen-Schwerpunkt
«Piraterie»
Von Rüdiger Suchsland und Josef Schnelle
29
Deutsche Filmkritiker ziehen in den Krieg
Der Fall «Krieg der Welten«
Von Andrea Dittgen
30
«Alles erlaubt?»
Fred Breinersdorfer über Rechte-Piraterie, die
Praxis der Filmverleiher und die Rechte von
Journalisten – Bemerkungen zur Rechtslag
33
Das Filmkunstwerk im Zeitalter seiner
digitalen Vervielfältigung
Zum Problem der «Raubkopierer»
Von Achim Hackenberg und Michael Viertel
35
«Bett oder Knast» – Hitler tanzt mit dem Zaren
Kreativer Bilderklau in der Filmgeschichte
Von Wolfgang Hamdorf
37
Science Fiction: Piratenfreie schöne neue Welt
Von Josef Schnelle
40
«Man muss doch sehen, wie man
durchkommt…»
Eine Tagung zur Kultur der Kritik zwischen
unterschiedlichen Zwängen
Von Rüdiger Suchsland
43
Der gute DJ
Von Engin Ertan (Istanbul
44
Asiatische Ästhetik
Tendenzen zwischen Aufbruch und Radikalität:
Die neueste «Nouvelle Vague» kommt aus Asien
Von Rüdiger Suchsland
45
Lexikon der Filme 2005
67
Die besten Kinofilme des Jahres 2005
537
«Sehenswert» 2005
554
Kinotipp der katholischen Filmkritik
556
Die herausragenden DVD-Editionen 2005
560
Preise
Festivalpreise 2004 der Internationalen
katholischen Organisation SIGNIS
Deutscher Filmpreis 2005
Bayerischer Filmpreis 2005
Die internationalen Filmfestspiele Berlin
Die internationalen Filmfestspiele in Cannes
Die internationalen Filmfestspiele in Locarno
Die internationalen Filmfestspiele in
San Sebastián
Die internationalen Filmfestspiele in Venedig
Internationales Filmfestival MannheimHeidelberg
Europäischer Filmpreis 2005
Amerikanische Akademiepreise 2005
(«Oscars»)
Weitere Preise 2005
591
602
603
604
606
607
608
609
610
611
612
613
Anschriften aus Film und Fernsehen
615
Lexikon der Regisseure 2005
624
Lexikon der Originaltitel 2005
647
DVD: HERZ AUS GLAS von Werner Herzog
671
«Auch King Kong rettet das Kinojahr nicht mehr!» So klagte die
Branche über ein Jahr, in dem die
deutschen Kinobetreiber mit
rund 20 Prozent Verlusten bei den
Besucherzahlen wie bei den Einnahmen eine enttäuschende Bilanz verzeichneten. Vielfältige Vermutungen und Mutmaßungen über die Ursachen kursierten: die Kino-Piraterie, die boomende DVD-Branche,
vor allem aber zu wenig attraktive Exportware aus Hollywood sollen die Schuld an dem
Desaster tragen; doch man mag es glauben
oder nicht: Nach Dekaden, in denen die Zuschauer deutsche Kinofilme – gleich, ob kommerzieller oder künstlerischer Akzentuierung – Nase rümpfend ignorierten, fehlten im
Jahr 2005 ausgerechnet die großen einheimischen Kinohits, die das Vorjahr noch prägten,
als allein Der Untergang, (T)raumschiff
Surprise und 7 Zwerge rund 20 Mio. Besucher vor die Leinwände lockten. Von solchen
kommerziellen Erfolgen war man nun weit
entfernt – der mit Abstand erfolgreichste
deutsche Film des Jahres 2005 war die Bestsellerverfilmung Die weiße Massai, und die
mobilisierte «nur» 2,2 Mio. Besucher. Nach
Wochen und Monaten der Panik war die ökonomisch schlechte Jahresbilanz am Ende
leidlich geschönt durch wenige internationale
Hits wie den vierten «Harry Potter»-Film (7,6
Mio. Besucher), den Trickfilm Madagascar
(6,6 Mio.) sowie Star Wars: Episode III –
Die Rache der Sith (5,6 Mio.) – Peter Jacksons King Kong dagegen war wohl vielen
doch entweder zu lang, zu ambitioniert oder
thematisch schlicht zu wenig verlockend.
Deutschen Ambitionen versandeten ganz:
Wim Wenders bekam für Don’t Come Knocking gerade mal 190.000 Besucher, Doris
Dörrie für Der Fischer und seine Frau
225.000, Helmut Dietl für Vom Suchen und
Finden der Liebe knapp 600.000 Zuschauer.
Allenfalls Sophie Scholl – Die letzten Tage
und Alles auf Zucker! gelang der Spagat
zwischen Ambition und Resonanz; sie fanden
etwas mehr als eine Mio. Besucher.
Januar
Kein Mitnahmeeffekt aus dem Geschäftsjahr
2004 sorgt für eine finanziell positive Bilanz
aus dem Stand. Harry Potter und der Gefangene von Askaban hat die Fans im letzten Sommer verzaubert (und zur Kasse gebeten), und die Schlachten um Mittelerde sind
endgültig geschlagen. Die Helden dürfen nun
ihre Wunden pflegen und können elf «Oscars» als Preis für ihre Mühen in Empfang
nehmen. Peter Jackson, der cineastische Sänger der «Herr der Ringe»-Balladen, legt derweil letzte Hand an sein lang gehegtes Hätschelkind, die Neugeburt von King Kong,
wofür er nun freie Hände hat. Das – im
wahrsten Wortsinn – Großereignis wird im
Dezember in die Kinos kommen und soll genau das bieten, was im Jahr zuvor noch vermieden wurde: ein Wettrennen mit Harry
Potter, der sich ab Ende November um den
Feuerkelch bemühen wird.
Zum Jahresbeginn gestaltet sich das Erscheinungsbild in den Kinos noch ausgeglichen. Besonders deutsche Filme zeigen Flagge, allen voran Dani Levys Komödie Alles
auf Zucker! (Start: 6.1.), von Haus aus eine
Fernsehproduktion, die quasi auf den letzten
Drücker ins Kino gehievt wird. BoulevardTheater auf gehobenem Niveau, dem es immerhin gelingt, jüdische Traditionen ins deutsche Bewusstsein zu rufen. Im Sommer wird
Das Filmjahr 2005
Hollywood-Legende
Paul Newman feiert
am 26.1. seinen 80.
Geburtstag. Der blauäugige Frauenschwarm
mit dem Hang zu kantigen Außenseiterrollen brillierte nicht nur
in der Tennessee-Williams-Verfilmung DIE
KATZE AUF DEM HEISSEN
BLECHDACH (1958) und
überzeugte nicht nur als DER WILDESTE UNTER TAUSEND (1962), sondern prägte mit Filmen wie ZWEI
BANDITEN und DER CLOU maßgeblich die kommerziellere Spielart des (endenden) «New Hollywood». Obwohl bereits 1958 für einen «Oscar»
nominiert, musste er noch 19 Jahre auf die begehrte Trophäe warten. Er erhielt sie für die Verkörperung des windigen Pool-Billard-Impresarios in Martin Scorseses DIE FARBE DES GELDES, in
der sein Charakter aus HAIE DER GROSSSTADT (1961)
eine Fortschreibung fand.
der Film noch einmal für Furore (resp. Entrüstung) sorgen und bei der Verleihung des
Deutschen Filmpreises das Filmband in Gold
erhalten. Hauptdarsteller Henry Hübchen
wird als bester Hauptdarsteller geehrt, Preise
gehen auch an Regie, Drehbuch, Kostümbild
und Musik. Zuviel des Guten? Oder Besinnung auf den größten unterhaltsamen Nenner? Weit weniger Erfolg hat Dennis Gansels
Napola (Start: 13.1.), ein Internatsfilm vor
der Hintergrund einer NS-Elite-Schule, in
dem ein Berliner Arbeiter-Junge mit
Box-Ambitionen den Verführungen des Regimes ausgesetzt wird. Napola spiegelt eine
Tendenz im deutschen Film: die wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit dem
NS-Regime, die schon im Vorjahr mit Der
Untergang die Gemüter erregte, setzt sich
im Lauf des Jahres fort.
Auf scheinbar unverfänglichem, weil vertrautem Terrain bewegen sich Hans W.
Geissendörfer und Helmut Dietl. Geissendörfer, Erfinder der Lindenstraße, begibt
sich in die schwedische Winterlandschaft
und erzählt in Schneeland (Start: 20.1.) in
grandiosen Bildern eine Geschichte von Lie-
8
be und Tod, die von den schicksalhaften
Triebkräften des Lebens determiniert ist.
Dietls Vom Suchen und Finden der Liebe
(Start: 27.1.) über den Tod hinaus weisende
Tragikomödie, eine Adaption des «Orpheus»-Stoffs verlegt in die Berliner Bohème unserer Tage, ist als facettenreiches Spiel
über Liebesmythen gestaltet, doch die triefende (Selbst-) Ironie der Inszenierung, das
zu dicke Auftragen und die Umkehrung der
Geschichte bringen dem Film nur wenige
Freunde ein.
Natürlich melden sich auch internationale
Filme zu Wort: Mit Ray (Regie: Taylor Hackford, Start: 6.1.), einer eindrucksvollen Biografie über die frühen Jahre des blinden Soulsängers Ray Charles, und Martin Scorseses
Aviator (Start: 20.1.), einer weiteren Biografie, diesmal über den Tycoon, Filmproduzenten, Flugzeughersteller, Flieger und Frauenliebhaber Howard Hughes in Starbesetzung
(Leonardo DiCaprio, Cate Blanchett, Kate
Beckinsale), sind gleich zwei «Oscar»-Anwärter zu sehen. Zumindest Ray, so viel sei
bereits verraten, wird mit dem Preis für
Hauptdarsteller Jamie Foxx sein Klassenziel
erreichen. Der Brite Michael Winterbottom
verstört derweil mit 9 Songs (Start: 20.1.).
Das Filmexperiment, das die heftige Affäre
eines Paares zelebriert und seziert, gerät wegen seiner Freimütigkeit vorschnell in Pornografie-Verdacht,
wobei
Winterbottoms
durchaus kritisches Gedankenkonstrukt,
dass Sex ohne Liebe etwas Pornografisches
hat, leicht übersehen wird und sich in diesem
Fall gegen den Film richtet.
Einer solchen Kritik haben sich die beiden
bildgewaltigsten Filme des Monats nicht zu
stellen. Zhang Yimous House of Flying
Daggers (Start: 6.1.) erzählt eine künstlerisch überhöhte Martial-Arts-Geschichte aus
der Zeit der Tang-Dynastie um 859: Eine
Tänzerin muss sich in Zeiten kriegerischer
Auseinandersetzungen zwischen zwei Männern aus unterschiedlichen Lagern entscheiden, doch alle Glückshoffnungen werden
durch die unerbittliche Macht der Geschichte
9
zerstört. Ein fulminanter Film, reich an
künstlerischen Bezügen, faszinierend durch
seine Farbdramaturgie. Auch Wong Kar-wai
setzt in 2046 Farben ganz gezielt ein. 2046 ist
das Jahr, in dem der 50-jährige Sonderstatus
Hongkongs endet und die ehemalige Kronkolonie endgültig heim ans chinesische Reich
fällt; dies wird zum Hintergrund für eine vielfach verschachtelte melancholische ScienceFiction-Zeitreise-Liebesgeschichte – Gefühlskino, das sich allen Beschreibungsversuchen verweigert.
Im Januar kann der Bundesverband kommunale Filmarbeit auf sein 30-jähriges Bestehen und eine wertvolle Arbeit im Sinne qualitativ hochwertiger Kino-Kunst und Medienpädagogik zurückblicken. Das Kuratorium
Junger Deutscher Film feiert im Rahmen des
Festivals «Max Ophüls Preis» in Saarbrücken
sein 40-jähriges Jubiläum. Konzipiert als Einrichtungen, um Förderung, Abspiel und
Filmpflege auf eine breite, demokratische
Basis zu stellen, haben sich beide Institutionen auf jeweils eigene Weise als wichtige medienpolitische und -pädagogische Instrumente etabliert. Doch das Kuratorium leidet nach
wie vor an notorischer Unterfinanzierung
und wird auf den Prüfstand seiner Existenz
gestellt. Die kommunale Filmarbeit bangt
derweil der Schließung des Berliner Kinos
«Babylon» entgegen, dem einzigen kommunalen Kino der Hauptstadt. Im Sommer wird
nach langem Disput zwar eine Zwitterlösung
für den Erhalt des Kinos gefunden sein, doch
freuen über den neuen Mix aus FilmkulturTempel und Popcorn-Hochburg kann sich
niemand so recht.
Februar
Der Februar ist der traditionell nass-kalte
Monat der «Internationalen Filmfestspiele
Berlin», die zum 55. Mal stattfinden (10.–
20.2.). Orientiert man sich an den Kritikerspiegeln, hält sich in diesem Jahr die Begeisterung in Grenzen: kaum Höchstnoten, dafür
aber mehrere gelbe Karten – ein maues, ma-
Das Filmjahr 2005
geres, wenn nicht sogar schlechtes Festivaljahr. Auffällig ist allerdings, dass nationale
Meinungsbilder positiver ausfallen (insbesondere bei deutschen Wettbewerbsbeiträgen) als die Übersicht im englischsprachigen
Festival-Daily von «Screen». Hört man sich
dagegen beim European Market oder auf
dem German Boulevard um, ist emsige Geschäftigkeit zu vernehmen, sogar ein Anflug
von Zufriedenheit. Auch das Berliner Publikum lässt sich die Stimmung nicht verdrießen
und harrt allabendlich vor dem «Berlinale»Palast aus, selbst wenn die ganz großen Stars
aus Hollywood fehlen. Das kann so nicht weitergehen, unken flugs Kollegen von seriösen
Blättern, weshalb die Terminverschiebung in
den Januar – dem «Oscar» sei’s gedankt – für
viele bereits eine ausgemachte Sache ist. Der
Party-Fraktion käme das zupass, weil sich die
Amerikaner noch immer am besten auf spektakuläre Feiern verstehen; die übrige Festivallandschaft aber stöhnt bei der Vorstellung, welche Verschiebungen dies nach sich
zöge. Auch die Berichterstattung würde eine
Januar-«Berlinale» neuerlich beflügeln, da
die öffentliche Aufmerksamkeit längst dort
wieder angekommen ist, wo sie vor Kosslick
rangierte: auf den zweiten Seiten des Feuilletons, vom obligatorischen Aufmacher einmal
abgesehen. Business as usual also. Das ist
nicht schlecht, hat sich aber noch nicht so
richtig herumgesprochen. Denn entgegen der
landläufigen Meinung sind Filmfestivals keine «Hype»-Lieferanten, auch wenn sich diese
Erwartung inzwischen eingebürgert hat.
Zu den Entdeckungen der «Berlinale»
zählt Sophie Scholl – Die letzten Tage
(Start: 24.2.), ein Film, der nicht nur sein Kinopublikum findet, sondern auch zahlreiche
Preise einheimst. «Eigentlich gibt es diesen
Film schon, sogar zweifach. Der Bekanntere
heißt Die weiße Rose und stammt von Michael Verhoeven. Allerdings erzählte Verhoeven 1982 nicht aus der Perspektive von
Sophie Scholl, sondern aus der der überwiegend männlich besetzten studentischen Widerstandsgruppe ‹Weiße Rose›. Der zweite
Brevier des Verbands der deutschen Filmkritik e.V.
(Deutsche Sektion der FIPRESCI)
Einleitung
Filmkritik unter Beobachtung
oder
Das Kino blickt zurück: Zwischen Piraten und Verleihern um eine Geliebte werbend –
Seh-Erfahrungen 2005
Von Rüdiger Suchsland und Josef Schnelle
«Peirates: von peiráomai: versuchen, sich daranmachen, sich bemühen, streben, unternehmen, wagen; etwas versuchen oder erproben, prüfen, untersuchen oder ausforschen; sich oder sein Glück in
etwas versuchen; einen Angriff wagen, den
Kampf mit jemandem aufnehmen; in Versuchung führen; sich um die Gunst von jemandem bemühen; um eine Geliebte werben; aus
Erfahrung lernen.»
Mit den Typen, die in dieser Wortstammerklärung aus einem Lexikon indirekt beschrieben werden, kann man sich auch als
Filmkritiker ganz gut identifizieren. In ihr
wie im Kino, wo Piraten derzeit neu in Mode
kommen, erscheint der Pirat nicht primär als
Seeräuber, sondern als Freibeuter und «Rebel with a cause», der ein Dasein als Grenzgänger zwischen Norm und Übertretung gewählt hat.
Piraten und unterschiedliche Aspekte des
problematischen, vielfältigen Feldes der
Rechte-Piraterie bilden den Schwerpunkt
des diesjährigen Breviers des Verband der
deutschen Filmkritik (VdFk). Wir haben das
Thema nicht ganz freiwillig gewählt, eher
wurde es uns aufgezwungen durch eine Debatte, die seit Jahren im Hintergrund schwelt
und 2005 plötzlich eskaliert ist. Schuld daran
trug vor allem das Verhalten des Filmverleihs
UIP. Der Verleih versuchte, die Deutschland-Premiere des Spielberg-Films «Krieg
der Welten« zu einer hysterischen, in dieser
Form noch nie da gewesenen Verschärfung
der so genannten Sicherheitskontrollen bei
Pressevorführungen zu nutzen. Dazu gehörte
nicht nur eine absurde Sperrfristregelung –
Kritiker sollten sich verpflichten, nicht vor
dem Zeitpunkt des Starts über den Film zu
berichten -, die Abriegelung des Kinos wie
ein Hochsicherheitstrakt, die Mehrfachkontrolle von Kritikern, als handle es sich um
Schwerverbrecher, sondern auch die Infrarot-Aufzeichnung von Journalisten während
des Films. Dies ist nicht nur – Was passiert
mit den Bildern? Werden sie ausgewertet?
Gespeichert? Wer kontrolliert das alles eigentlich? – datenschutzrechtlich problematisch. Es verändert vor allem die Sehbedingungen. «Das Kino blickt zurück», beschrieb
Michael Althen in der FAZ sein Empfinden
und warnte vor dem «Ende des Kinos, wie wir
es kennen».
Die Leiden der Filmkritik sind eigentlich
nicht besonders wichtig. In diesem Fall aber
geht es um etwas anderes: darum, unter welchen Bedingungen überhaupt Filmkritik in
Zukunft möglich ist; darum, wie eine Filmkritik aussehen wird, die derartig unter Beob-
NOTIZEN ZUM KINO # 02
achtung steht und stattfindet. Das berührt die
Zuschauer und auch die Filmemacher, das
ganze filminteressierte Publikum, das unabhängig informiert werden möchte, nicht von
Kritikern, die vor den Karren eines Marketingkonzepts gespannt werden.
Darum veröffentlichte der VdFk einen
Protest gegen die Vorgehensweise der UIP,
der auf ungemein breite Resonanz stieß und
in allen führenden und vielen anderen Presseorganen nachgedruckt und/oder kommentiert wurde. Ein erfreuliches Ergebnis: Filmkritik kann etwas bewirken. Die Reaktionen
der Kinobetreiber, der UIP und anderer Verleiher lassen hoffen, dass sich Ähnliches nicht
wiederholen wird.
Weil der zumindest vorgeschobene Grund
– tatsächlich ging es vielleicht eher um ein
«Event» oder um den Versuch, Filmkritiker
noch besser zu kontrollieren und damit zu
manipulieren – für die erwähnten «Sicherheitskontrollen» die angebliche Gefahr illegaler Kopien war, haben wir verschiedene
Aspekte dieser Debatte auf einer Tagung mit
dem Titel «Unter schwarzer Flagge. Filmund Rechtepiraterie in der Diskussion» mit
Experten diskutiert. Auf einer zweiten Tagung ging es um das «Ethos der Filmkritik»,
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um ihre Unabgängigkeit gegenüber kommerziellen Zwängen und Versuchungen.
Diese beiden Tagungen und der erwähnte
Protest waren erste Schritte eines längeren
Weges. Unter seinem neuen, seit Ende 2004
amtierenden Vorstand löst sich der VdFk aus
seiner langjährigen, selbstverschuldeten Erstarrung. Filmkritik muss sich auch zu filmpolitischen Themen und in Fragen, die die eigenen
Arbeitsbedingungen betreffen, wieder stärker
zu Wort melden. Wir brauchen, anders gesagt,
mehr Selbstbewusstsein, mehr Mut auch zur
eigenen Unabhängigkeit und dazu, Versuchungen zu widerstehen. Filmkritiker sollten
keine verkappten Pressesprecher sein, und
keine «Durchlauferhitzer» (Claudia Lenssen
im Filmjahr 2004) fürs Marketing. In der Praxis vermischt sich das Thema «Piraterie» daher mit dem Versuch, von manchen Seiten aus
die Berichterstattung zu manipulieren bzw.
«gleichzutakten» (Hans-Georg Rodek in der
Welt zum Fall UIP).
Dieser Themenkomplex wird im vorliegenden Brevier umfangreich dargestellt und
kommentiert sowie um einige Beiträge zu anderen Themen ergänzt. Wir freuen uns, dass
es damit zum zweiten Mal die Möglichkeit
gibt, die Aktivitäten der Filmkritik und des
Verbandes in einer eigenständigen Beilage
darzustellen. Auch in diesem Jahr handelt es
sich nicht um Verlautbarungen, sondern um
Momentaufnahmen, Zwischenbilanzen. Die
Aufgabe der Filmkritik ist es, das Kino zu beobachten, Tendenzen des Weltkinos und deren medienpolitischen Rahmen aufzuzeichnen und zu kommentieren. Durchaus mit den
oben so charmant beschrieben Mitteln der Piraten: frei, niemandem verpflichtet außer
dem Kino selbst, um diese Geliebte werbend;
aus Erfahrung lernend. Und manchmal muss
man dann eben «sein Glück versuchen, einen
Angriff wagen, den Kampf mit jemandem
aufnehmen». Schon weil sie auch umgekehrt
unter Beobachtung durch Freunde wie Gegner steht, sollte Filmkritik auch immer wieder sich selbst beobachten. Filmkritik ist
schließlich Kultur des Sehens.