Schweigen, schauen und staunen auf dem Jakobsweg

Transcription

Schweigen, schauen und staunen auf dem Jakobsweg
Bildlegende
Schweigen, schauen und
staunen auf dem Jakobsweg
Auf dem Jakobsweg zwischen St. Peterzell und Wattwil
lässt sich kleinräumig alles erfahren, was Menschen auf
die lange Pilgerreise bis nach Santiago de Compostela
treibt. Den pensionierten Wattwiler Pfarrer Walter Hehli
hat der Jakobsweg nachhaltig geprägt. Nicht nur ihn.
Text und Bilder: Katja Nideröst
8
«Ist es in Ordnung, wenn wir die erste Stunde gehen
ohne zu reden?» Es ist mehr eine Information als eine
Frage von Walter Hehli, nachdem er sich mit geübten
Handgriffen den wasserdichten roten Poncho über
Kopf und Rucksack gezogen hat. Heute regnet es nur
einmal im Toggenburg. Ähnlich schöne Landschaften mit verschneiten Bergketten im Hintergrund hat
er auf dem Jakobsweg nur noch vor den Pyrenäen
und in Galizien gesehen. Aber heute verdecken
Graupel und Wolken die Sicht auf Speer und Churfirsten. Weit und breit sind keine anderen Pilger in
Sicht. Von Rorschach kommend wechselt dieser
Zweig des Jakobswegs bei der Landscheide in
Schwellbrunn von Appenzell Ausserhoden in den
Kanton St. Gallen. Walter Hehli hat nicht zu viel versprochen. Das Schweigen öffnet alle Sinne. Selten
leuchteten die Wiesen in so satten und so verschiedenen Grüntönen. Frische Kuhfladen verflüssigen sich
im Regen zu einem braunen Brei. Jedes Detail am
Wegrand sticht ins Auge. Und hinter jedem Bauernhof springt ein vorwitziger Bless hervor. Zuerst bellen sie, dann schütteln sie das triefend nasse Fell.
Düfte steigen in die Nase. In der Wohngemeinschaft
Aemisegg ob St. Peterzell riecht es verführerisch
nach Kaffee. Margrit Knaus leitet das Haus. Sie erklärt das Sozialprojekt, in dessen Rahmen Pilger
über Nacht aufgenommen werden. Pflästerli sind im
Haus immer griffbereit. «Blasen haben vor allem die
9
Margrit Knaus, Leiterin
der Wohngemeinschaft
Aemisegg, empfängt verregnete Pilgerer herzlich
in ihrer Herberge.
ungeübten Pilger, die noch nicht sehr lange unterwegs sind», sagt Margrit Knaus.
Beim Schnupper-Pilgern bis St. Peterzell kleben nach
zwei Stunden Marsch die feuchten Kleider am Körper. Gottseidank drückt kein schwerer Rucksack auf
Rücken und Moral und es ist angenehm warm. Nur
8,5 Kilogramm Gepäck trug Walter Hehli auf den
1400 Kilometern seines Jakobswegs. So wenig Gewicht wie möglich mittragen, gute Wanderschuhe
und das eigene Tempo einhalten, lauten seine praktischen Ratschläge. Er startete seine Pilgerreise nach
der Pensionierung, verteilt auf drei Jahre und drei
Etappen. Schon lange hegte er den Traum, den ganzen Jakobsweg zu gehen, seit er vor 15 Jahren, völlig
unerwartet, einen Herzinfarkt mit Herzstillstand erlitten hat. Zu seinem Glück geschah das Unglück im
Spital Wattwil während eines Besuches am Bett eines
Gemeindemitglieds. Der damals 60-Jährige konnte
noch knapp um Hilfe rufen, bevor es dunkel wurde.
Als er zu sich kam, entschuldigte sich der Arzt, ihn so
stark auf die Brust geschlagen zu haben. Und über
ihn gebeugt sagte er: «Das war wohl Fügung.» An
diesem Tag entschloss er sich, seinen Traum vom Jakobsweg so bald wie möglich in die Tat umzusetzen.
Möglichst unvoreingenommen wollte er starten und
las darum weder Bücher noch Erlebnisberichte über
den Jakobsweg. Ein Reisetagebuch freilich hat er
nach Abschluss selbst geschrieben. Es erschien im
Toggenburger Verlag unter dem Titel «Man muss wie
Pilger wandeln» und erzählt von Walter Hehlis Erfahrungen. Das Buch, das auch historische und religiöse Bezüge schafft, ist vergriffen.
Warum zieht der Jakobsweg seit einigen Jahren so
viele, ganz unterschiedliche Menschen an?
Ich vermute, das liegt in der Verunsicherung der heutigen Zeit. Die modernen Menschen können auf einer
Pilgerreise ihre Fragen, ihre Sinnsuche und ihre Sehnsüchte ausdrücken. Es ist so vieles unklar geworden,
die Menschen suchen nach einem Halt, nach einem
Sinn und nach Geborgenheit. Leider kann die Kirche
das heute vielen Leuten nicht mehr geben. Es sind zahlreiche kritische, suchende und fragende Katholiken
und Protestanten unterwegs.
Was unterscheidet Pilgern von normalem Wandern?
Walter Hehli: Pilgern hat für mich mit einer anderen
Einstellung und einer anderen Dimension zu tun. Es
geht ums Aufbrechen und Ausziehen aus dem Alltag
zu etwas Neuem. Die innere Wirkung des Jakobswegs
kann sich bereits auf der kurzen Distanz durchs Toggenburg entfalten. Aber natürlich ist das Erlebnis intensiver, wenn man ein Vierteljahr lang unterwegs ist
und eintaucht in eine grosse Stille und Einsamkeit, die
einen auf sich selbst zurückwirft. Man muss sich selber
fremd werden und Unsicherheit aushalten können.
Distanz zum Gewöhnlichen gewinnen hilft, zu sich selber zu kommen.
10
Sportlicher Ehrgeiz, eine Lebenskrise verarbeiten
oder den Glauben vertiefen: Spielt es eine Rolle, aus
welchem Motiv jemand auf den Jakobsweg geht?
Der Grund ist mir völlig egal. Hauptsache jemand
geht und bricht auf, geht vorwärts, zieht aus, geht in
sich hinein und aus sich heraus. Die verschiedenen
Motive finde ich höchst interessant und spannend.
Menschen sind auf der Suche nach Erfüllung, nach Leben. Ein Ingenieur aus Finnland wandert jedes Jahr
drei Wochen lang auf dem Jakobsweg, weil er seinen
Kopf auslüften will, um innerlich frei zu werden. Ich
sprach mit einem slowakischen Psychiater, der wort-
wörtlich sagte: «Ich bin auf der Suche nach mir selbst.»
Ein 70-jähriger Franzose versuchte auf dem Jakobsweg den Tod seiner Frau zu verarbeiten, die drei Monate zuvor an Krebs gestorben war. Andere marschieren einfach los und sind neugierig, was dieser Weg mit
ihnen macht.
Was bedeutet pilgern auf dem Jakobsweg für Sie
persönlich?
Pilgern ist für mich die Zusammenfassung des christlichen Lebens. Man kann die Kirche auch definieren als
das wandernde Gottesvolk. Wer mit offenen Sinnen
auf den Jakobsweg geht, müsste ein Stock sein, wenn
ihm dabei nicht etwas vom Geheimnis und Wunder
des Lebens aufginge. Für mich ist der Jakobsweg auch
eine Art Lebensabrundung. Ganz persönlich brauche
ich die Worte religiös oder spirituell nicht gerne, weil
sie unklar und missverständlich sind. Lieber sind mir
die alten biblischen Worte Vertrauen, Hoffnung, Liebe,
Frieden und Freude.
Bei der Propstei St. Peterzell angekommen, servieren
die beiden Menzinger Schwestern Vreni Büchel und
Paula Gasser einen zweiten wärmenden Kaffee. In der
Sommersaison klopfen bei ihnen im Haus der Stille
fast täglich Pilger an die Eingangspforte. Oft sind alle
vier Gästebetten bereits besetzt. Es sind Gäste, die in
der klösterlichen Atmosphäre einige Tage durchatmen
wollen und innere Ruhe suchen. Spontan eintreffende
Pilger möchten manchmal gemeinsam mit den anderen Besuchern meditieren. Ein Wunsch, der hier gerne
erfüllt wird. Im schlicht eingerichteten Meditationsraum drehen die Schwestern die Sanduhr und das
halbstündige Schweigen beginnt. Dass im Haus der
Stille nur zu bestimmten Zeiten geredet wird, sei für
manche der temporären Mitbewohner eine grosse Herausforderung. «Vor allem anfangs beim Essen ist es
für viele schwierig», erklärt Schwester Vreni Büchel.
Aber schon am zweiten Tag seien sie froh, einmal
nichts Gescheites sagen zu müssen.
Von der Aemisegg führt der
Jakobsweg steil hinab Richtung St.Peterzell zum Haus
der Stille in der Propstei.
Was halten die Menschen nicht aus, wenn sie lange
schweigen sollen?
Paula Gasser und Vreni Büchel: Sich selber. Sie halten
nicht aus, was da von unten hinaufkommt. Die Menschen besuchen dieses Haus, weil sie wieder einmal bei
sich selber aufräumen wollen. Sie fragen sich: Wo stehe
ich eigentlich im Leben ?
11
Schwester Vreni Büchel
(Mitte) und Schwester
Paula Gasser zeigen Walter
Hehli die Sanduhr für die
30-Minuten-Meditation.
Vreni Büchel: Wir sind uns nicht mehr gewohnt, einfach loszulassen und nichts zu tun. Aber am zweiten
oder dritten Tag müssen die Leute nicht mehr auf die
Sanduhr schauen, weil sie die Ruhe plötzlich aushalten. Und die Stille tut ihnen gut.
Paula Gasser: Ob sie denn viel beten müssten, werden
wir von Eintreffenden immer wieder gefragt. Und ob
sie gehen dürfen, wenn sie die Stille nicht aushalten.
Natürlich dürfen sie jederzeit gehen. Aber gegangen ist
noch niemand. Viel eher kommen sie jedes Jahr wieder.
Das Schweigen verwandelt die Menschen.
Wenn die Schwestern kein freies Zimmer für Pilger
haben, schlagen sie eine Reihe alternativer Herbergen in St. Peterzell vor. Sie informieren über Bedingungen und Preise oder verarzten Erschöpfte mit
Blasenpflastern. Einmal kamen zwei junge Männer
mit Blasen am Rücken. Sie trugen Konservenbüchsen im Rucksack mit, weil in der Schweiz alles so
teuer sei, erinnert sich Vreni Büchel lebhaft. Keine
einzige Blase hatte sie selbst, als sie den ganzen Jakobsweg bis nach Santiago de Compostela ging –
und auch zu Fuss über die Pyrenäen zurückkehrte.
Die etwas über zehn Jahre zurückliegenden Erinne12
rungen kann Vreni Büchel abrufen, als wär es gestern gewesen. Auch bei Walter Hehli haben sich
Reisebilder und manches Gefühl ins Gedächtnis
gebrannt.
Walter Hehli: Dieser Weg ist hart und wundervoll. Er
macht dich kaputt und leer. Er nimmt dir alle Kraft und
gibt sie dir dreifach zurück. Die letzten fünf Kilometer
einer Tagesetappe fühlten sich immer an wie fünfzehn
Kilometer. Erschöpft habe ich mich fast jeden Tag gegen
Abend gefragt, warum ich mir diese Strapazen antue.
Und dann stand ich am nächsten Morgen auf und fühlte mich glücklich, wieder losziehen zu dürfen.
Zu Besuch bei den katholischen Schwestern in St. Peterzell staunt der reformierte Pfarrer, wie genau sich
deren Gedanken über die Stille und das Pilgern mit
seinen eigenen Erfahrungen decken. In der unweit
gelegenen evangelischen Kirche St. Peterzell erwartet
ihn sein Freund, der Musiker Peter Roth. Dieser
schreibt gerade an einer Komposition mit dem Titel
«Silence». Die minutenlange Stille in der Kirche wird
erst unterbrochen, als Peter Roth zum Naturjodel
ansetzt.
13
Komponist Peter Roth
und Walter Hehli reden in
der evangelischen Kirche
St. Peterzell über den Wert
der Stille.
Der Jakobsweg führt im
Weiler Hofstetten vorbei
an historisch bedeutenden
Bauernhäusern.
Musik, das sind doch Töne. Warum widmet sich ein
Komponist dem Thema Stille?
Peter Roth: Wir sind auf der Flucht vor der Stille, aber
sie wird uns einholen und dann werden wir entdecken,
dass sie nicht Mangel, sondern Fülle bedeutet. In der
Stille ist die Musik schon enthalten, so wie in einem
Ton alle Töne enthalten sind. Die beste Möglichkeit das
zu erklären, ist der Atem. Der Atem hat einen DreierRhythmus: Ein Einatmen, ein Ausatmen und eine
Atemstille – dort liegt das Potenzial.
Walter Hehli: Beim Laufen in der Stille geht es darum,
sich wirklich leerzulaufen. So wie der Tanz der Derwische, der mich mit seinen schnellen Drehungen um die
eigene Mitte tief beeindruckt hat. Jede Meditation
sucht eigentlich den Ausstieg aus den Vorstellungen
und den Gedanken.
14
Peter Roth: Die Sicht nach innen heisst, aus den Gedanken hinauszugehen und zu erleben, was ist. Es geht
auch um eine spirituelle Suche. Alle Auseinandersetzungen mit Religion haben mit der Definition von
Wörtern zu tun. Mit Sprache werden Standpunkte diskutiert. Aber das Wesentliche lässt sich nicht formulieren. Darum sucht die Musik einen anderen Weg, der
nicht mehr unterscheidet, sondern Gemeinsames spürbar macht.
Walter Hehli: Der Theologe Dietrich Bonhoeffer formuliert Stille als Raum der Geborgenheit und Freiheit.
Pilgern ist auch etwas Subversives. Glaubende und
Nicht-Glaubende unterlaufen auf dem Jakobsweg die
festen Strukturen der Kirche und der Dogmatik.
Peter Roth: … und von Konsum und Gesellschaft.
Wenn ich vor ein paar Jahren meinem Chor gesagt hät-
te: Jetzt realisieren wir ein Projekt zum Thema Stille,
da hätten mich alle nur verständnislos angeschaut.
Aber jetzt war mein Vorschlag wie Wasser in der Dürre. Die Leute merken: Die Welt von heute, in der man
nur noch mit Plänen durchs Leben rennt, ist krank.
Beim Aufbruch von St. Peterzell in Richtung Wattwil
regnet es noch immer. Walter Hehlis roter Regenponcho hält dicht. Als Pfarrer von Brunnadern war
er viele Jahre in dieser Region tätig. Fast jedes Haus
erinnert ihn an eine Geschichte mit den Bewohnern.
Über die Neckerbrücke geht es steil aufwärts zum
Weiler Hofstetten. Die Gruppe stattlicher Bauernhäuser aus dem frühen 17. Jahrhundert beurteilt der
Pilger als die Allerschönsten vom Bodensee bis zum
Atlantik. In Reitenberg Richtung Heiterswil wird der
Regen immer stärker und trübt die Sicht auf die sanften Toggenburger Hügel. Wenn bis zum Etappenziel
Wattwil bloss kein Wasser durch die Kameratasche
drückt !
Der nächste Halt heisst Yburg; jene Ruine über Wattwil, die jede Nacht hell erleuchtet ist. Bei diesem örtlichen Wahrzeichen führt der Jakobsweg vorbei. Unmittelbar unter der Burg wuchs Filmproduzent Jonas
Frei mit vielen Geschwistern auf. Für das Treffen mit
Walter Hehli trägt er ein gelbes T-Shirt mit einem
blau aufgedruckten Muschelsymbol. Es ist dasselbe
Zeichen wie auf den Jakobswegweisern. Bei der Kinopremiere von «Camino de Santiago» im Passerelle
Wattwil Ende März dieses Jahres übernahm Walter
Hehli die Einführung. Er schwärmt von Freis Film,
weil dieser die Atmosphäre der Pilgergemeinschaft
15
Filmemacher Jonas Frei
wuchs direkt bei der Yburg
in Wattwil auf. Sein aktueller Dokumentarfilm «Camino» lockte das Publikum zu
Tausenden ins Kino.
Walter Hehli ist inspiriert
von Ulrich Bräker. «Der
arme Mann vom Toggenburg» verstand sein ganzes
Leben als Pilgerreise.
auf dem Jakobsweg treffend einfange. Inzwischen
führt «Camino» mit über 13 000 Kinoeintritten die
Liste der erfolgreichsten Schweizer Dokumentarfilme 2015 an. Jonas Frei kann es kaum glauben, dass
erstmals einer seiner Filme auch in deutschen Kinos
gezeigt wird. Er musste nicht fragen, denn der Anruf
kam von deutscher Seite. Dabei realisierte Jonas Frei
das Projekt mit einem kleinen Team innerhalb von
nur einem Monat. Ohne Drehbuch fuhr er mit seinen Kollegen Ivan Hernandez, Manuel Schweizer
und Alan Sahin mit dem Velo entlang des Jakobswegs nach Santiago de Compostela. Sie liessen sich
bei der Arbeit vom Zufall leiten und sammelten Aussagen von Pilgern. Bei besonders attraktiven Landschaften und Orten filmten sie mit einer kleinen
Drohne von oben.
Sie sind am Jakobsweg aufgewachsen. Gibt es hier
einen Zusammenhang mit Ihrem Film entlang der
Pilgerroute?
Jonas Frei: Eine direkte Verbindung gibt es eigentlich
nicht. Aber meine Mutter hat uns das mehrmals erklärt. Als Kinder gingen wir jeden Tag die 500 Meter
auf dem Jakobsweg hinauf, um abends die Burg abzuschliessen. Das tut meine Mutter heute noch. Bis zum
Film habe ich mich aber nicht mit dem Thema beschäftigt.
16
Wieso haben Sie den Film realisiert?
Jonas Frei: Die Idee kam von meinem Kollegen Ivan
Hernandez. Ich erinnerte mich, dass vor zehn Jahren
schon einmal ein Film über den Jakobsweg in Wattwil
gezeigt wurde. Dieser war technisch eher lausig gemacht und spielte trotzdem gute Zahlen ein. Weil das
Thema Jakobsweg immer populärer wird, fand ich
schnell Leute und habe die Arbeiten für den Film im
Team verteilt. Ich selber bin ja nicht unbedingt der
Filmemacher und meine persönliche Motivation war
vor allem eine sportliche: 2000 Kilometer mit dem
Fahrrad unterwegs zu sein und mich für ein paar
Wochen von der alltäglichen Arbeit zu lösen, das war
ideal.
Walter Hehli: Wie ihr die Feinheiten der Landschaften
und der Natur und die Erfahrungen der Pilger aufgenommen habt, da kann ich nur sagen: «Genau so ist
es.» Was mir auch gefällt ist, dass ihr nicht gewertet
oder kommentiert habt. Wie ihr zum Beispiel am
Schluss diesen Rummel in Santiago zeigt, das sind Bilder, die für sich sprechen. So wie auch die Szene von
dem Mann, der stundenlang Fetzli und Flaschen vom
Boden aufnimmt. Man sieht all den Dreck, den die
Leute dort einfach liegenlassen.
Jonas Frei: In Santiago ist nur Tourismus und Rummel. Aber wir wollten nicht kritisieren, nur einfach zeigen, was ist. All die Begegnungen mit den Menschen
17
Bildlegende
Esther und Rudolf Bruderer
beherbergen in Wattwil
sehr gerne Pilger: «Sie bereichern unseren Alltag.»
haben wir dem Zufall überlassen. Speziell war, dass in
der Kirche in Santiago alle mit ihren Handys filmten,
obwohl das ausdrücklich verboten ist. Mit einer kleinen Kamera machten also auch wir unauffällig Aufnahmen ohne Bewilligung. Gern möchte ich den
Schlussteil von Santiago nach Finisterre, wo es nur
noch wenig Leute hat, selber einmal zu Fuss gehen.
Während dem Filmen fehlte mir einfach die Zeit abzuschalten.
Nach Wattwil in der Laad verlässt der Jakobsweg das
Toggenburg in Richtung Rapperswil. Zuvor hat sich
Walter Hehli bei Esther Bruderer in Wattwil angemeldet, die zusammen mit ihrem Mann Rudolf seit
Jahren regelmässig Pilger beherbergt. Sie empfängt
die durchnässten Wanderer im Einfamilienhaus im
Quartier Brendi. Auf dem Stubentisch liegt ein farbiges Ringbuch, in dem sich Pilger mit herzlichen Worten und liebevollen Zeichnungen für die Gastfreundschaft bedankt haben. «Manchmal kommen die Leute so erschöpft bei uns an, dass sie kaum mehr Ener18
gie für die letzten paar Treppenstufen bis ins Zimmer
haben», erzählt Esther Bruderer und lacht. Sie serviert frischen, warmen Rhabarberkuchen und erinnert sich an die allerersten Pilgergäste: zwei durchnässte Frauen, die sich nach einer Herberge und einem währschaften Abendessen sehnten. «Zuerst war
mein Mann skeptisch. Er wollte lieber keine fremden
Leute bei uns im Haus. Aber nach den durchwegs
positiven Erfahrungen mit den ersten Gästen wichen
alle Bedenken.» Und wenn die müden Pilger nicht
sofort erschöpft ins Bett gefallen sind, gab es manch
tiefschürfendes Gespräch und auch schon einen
gemütlichen Spielabend.
Das pensionierte Ehepaar schwärmt von dieser Bereicherung seines Alltags. Rudolf Bruderer nimmt
einen selbstgebastelten Pilgerstempel in die Hand
und drückt in blauer Farbe die Konturen der Churfirsten mit Absender Wattwil aufs Papier. Die Stempel sammeln Pilger über kurze oder lange Strecken
auf dem Jakobsweg, die Durchhaltewilligen bis nach
Santiago de Compostela.
19