Lottmann_Borderlinebuch - taz-BLOG

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Lottmann_Borderlinebuch - taz-BLOG
23. September 2007
Joachim Lottmann
Auf der Borderline nachts um halb eins.
Mein Leben als Deutschlandreporter
„…oder eines Borderline-Journalisten wie Joachim Lottmann, bei dem Dichtung und
Wahrheit nicht immer sorgfältig getrennt werden können.“
Daniel Bax, die tageszeitung 31.10.2006
„Dass man tief in den Fiktionen steckt, merkt man beim Lesen immer dann, wenn man es
sich in der Reportage gerade bequem gemacht hat. Gerade sind die Sätze Lottmanns
noch durch ein Schwabing spazieren gegangen, das man zu kennen glaubt, und dann
geht Jolo durch eine Tür, und das stinknormale Wirtshaus Leopold hat sich in eine Art
Hölle verwandelt, und in empirisch nachweisbaren Berliner Clubs tun sich Türen auf, die
es dort erwiesenermaßen nicht gibt, und der Schlüssel, der sie aufsperrt, ist Lottmanns
Prosa, die alles, was sie anfasst, in Fiktion verwandelt...Lottmanns Reportergestus ist
natürlich reine Tarnung, Lottmann hält sich die Welt mit seiner Sprache vom Leib,
Lottmann ist Ironiker aus Notwehr und absurd aus Realismus. Man darf ihm kein Wort
glauben und muß es doch.“
Claudius Seidel, FAS, 18.10.2004 über „Die Jugend von heute“
Kapitelübersicht:
Am Anfang - ein Abschied
1. Die letzte lange Nacht der Popliteratur
Die Verwandlung:
2. Vom Pop-Schriftsteller zum Deutschlandreporter oder Mein Leben mit
Stuckrad-Barre
3. Karlsbader Wallraffiade: Graf Lottmann „ganz oben“
Im Porträt: Frauen in Freiheit
4. Kerstin Grether
5. Nina Hagen
6. Ariane Sommer
7. Sophie Dannenberg
8. Sarah Wagenknecht
9. Kathrin Passig
10. Anke Engelke
11. 24 Stunden mit Alexa Hennig von Lange
Reise ans Ende des Kulturbetriebs
11. Berlin - Bob Geldof und der Charity-Schwindel
12. Hannover - Film Festival Schwachsinn
13. Standort-Kino: Wim Wenders
14. Fräulein Schwermut aus Bozen - Bettina Galvani
15. Ferien in Klagenfurt - Bachmannwettbewerb
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Frankfurter Buchmesse - Marcel Reich-Ranicki
Kölner Kinderoper - Elke Heidenreich
Ovid in Kreuzberg – Thomas Kapielski
Der Professor aus Wuppertal - Bazon Brock
Odysee durch das deutsche Regietheater
Liebe heute – Maxim Biller
Christian Klar und ich: zweimal R.A.F.
Berlin Augustraße 2007 – Jonathan Meese
Cruisen mit Oliver Pocher
Musiklandschaften
23. Berlin - Die Echo Verleihung
24. Dortmund - Philip Boa
25. Maria am Ostbahnhof/Berlin - The Strokes
26. Out of Mageburg - Tokio Hotel
27. Palast der Republik - Einstürzende Neubauten
28. Popstar aus Lüdenscheid - Jens Friebe
Ohne Schröder ins Merkelland
29. AVUS - Deutschlands erste Autobahn
30. Die Grünen werden grau (Fußnote: Dutschkes Pullover)
31. Kanzlerdämmerung – Berliner Sommerfeste
32. Politiker-Bashing und seine Folgen
33. Der Papst in Köln - Gott führt uns zusammen
34. Schlitz - Florian Illies
35. München - allein auf dem Oktoberfest
36. Berlin-Neukölln - Rächer der Rütli-Jugend (Netzeitung-Interview)
37. Wann Männer heute Kinder wollen: Desperate Housewives und
Superman
37. KaDeWe - Weihnachten mit meinem Bruder
38. Sylvester mit Tom Kummer
39. Geburtstag mit Günter Wallraff
39. Die Reportage als „Gegendarstellung“: Eine Nacht mit Joachim
Lottmann
40. viva la revolution Kuba: Mit Ariadne von Schirach im Land Fidel
Castros
41. Mit Thomas Brussig im Olympiastadion
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Am Anfang – ein Abschied
1. DIE LETZTE LANGE NACHT DER POPLITERATUR
Meine lieben Freunde,
ich freue mich, dass Ihr alle gekommen seid. Wie Ihr wisst, wollen wir
heute meinen Abschied von der Popliteratur, der sogenannten, feiern. Wir
befinden uns in der letzten langen Nacht der Popliteratur. Viele
Journalisten sind erschienen, ich kann sie nicht im einzelnen begrüßen.
Auch von den Gästen mag ich niemanden besonders hervorheben, will
aber sagen, dass ich mich über den Auftritt des großen Wolfgang
Herrndorf, den nach mir letzten großen Vertreter der –
dann toten – Popliteratur – besonders freue. Er hat das Buch ‚In
Plüschgewittern’ geschrieben, das bis auf den Titel sehr gut ist. Wolfgang
Herrndorf war auch gestern nacht in dem Lokal ‚White Trash’ zugegen –
Tex Rubinowitz hat es einstmals kurz nach Wende gegründet, als
bewussten Affront gegen die Wiedervereinigung. Herrndorf saß
rechterhand neben mir gestern, und das war mir eine Ehre. Rubinowitz
wiederum saß linkerhand neben mir. Auch er ist heute anwesend
und ich möchte ihn willkommen heißen. Ich freue mich auch über Bettina
Semmer und ihr Kind Babettchen Semmer, die ihren Indien-Urlaub
abgebrochen haben, um hier bei uns sein zu können. Bettina Semmer
hatte Anfang der 80er Jahre die Gemälde der Neuen Wilden Malerei
gemalt, die umgebrehten Kühe, die bei mir in der
Wohnung hier im denkmalsgeschützten Kurvenstarhaus in der kleinen
Präsidentenstraße 3 im dritten Stock im Wohnzimmer hängen. Ich werde
diese Wohnung binnen Jahresfrist aufgeben, spätestens dann, wenn mein
neues Buch mit dem Titel ‚Frauen in Freiheit’ herausgekommen ist. Und
seinen Mann ernährt. Man muß als Schriftsteller, wenn man ein Buch
zuende geschrieben hat, die Wohnung wechseln.
Ich werde dann Berlin und das Thema wechseln. Immerhin ist ‚Frauen in
Freiheit, in dem es um die Frauen rund um den Hackeschen Markt geht,
nach ‚Deutsche Einheit’ schon mein zweites Berlin-Buch. Es wird nun Zeit,
sich von den jungen Leuten, den Frauen rund um den Kurvenstar, ab- und
den übrigen Menschen in Deutschland, den Alten, den Arbeitslosen, den
Angestellten, den Seefahrern, den Bäckerburschen, den
Computerfachhändlern undsoweiter zuzuwenden. In diesem
Zusammenhang freue ich mich, dass schon heute ein Vertreter der älteren
Generation gekommen ist, nämlich Diedrich Diederichsen, Professor für
audiovisuelle Kommunikation in der Märzakademie Stuttgart und
pensionierter Dozent literarischer Musikdesignkonzepte in Ohio, USA.
Guten Abend, lieber Diedrich, schön, dass Du es noch geschafft hast.
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Ich will zu meinem Thema kommen, also für die anwesenden Redakteure
und Medienberufler. Wie habe ich so alt werden können, wohin geht die
Literatur, was passiert nach dem Urteil im Fall Maxim Billers und seines
verbotenen Romans ‚ESRA’ mir der manchmal Popliteratur genannten
Schreibweise? Wie wir alle wissen, habe ich immer das geschrieben, was
ich direkt erlebt habe. Da das alle Schreibenden mehr oder weniger so
tun, lag es bei mir an dem mehr. Oder lag es daran, dass ich mehr erlebte
als andere? Wie man in der heutigen Ausgabe der Berliner Zeitung
nachlesen kann, bin ich der Meinung, dass alte Leute nichts mehr
erleben und daher auch nichts aufzuschreiben haben. Schon deshalb ist es
bei mir mit der Popliteratur vorbei. An ihre Stelle tritt nun die sogenannte
neue ernsthafte Literatur, von mir auch Die Neue Ernsthaftigkeit genannt.
In meinem ersten Roman nach dem Tag X, also nach dem 20. Juli 2003,
werde ich mich in einer unbekannten oder zumindest absolut
bedeutungslosen ostdeutschen Hafenstadt, nämlich Rostock, um all jene
kümmern, die in ihrem Leben das Wort Rainald Goetz oder Christian
Kracht noch nie gehört haben. Apropo diese beiden Namen:
Mein Abschied von der Popliteratur ist natürlich auch ein ganz spezifischer
Abschied von den Popliteraten, den prominenten Popautoren der letzten
beiden Dekaden,. Um die Popliteratur zu verteidigen, habe ich
gebetsmühlenartig gerade in den letzten Jahren ihre angegriffenen
Vertreter verteidigt. Da es niemanden gab, in den vielen Gesprächsrunden
auf Partys, bei Freunden, in den Zeitungen, die diesen Job ausführten,
habe ich es getan. Tex Rubinowitz meinte gestern in diesem seinen Lokal
‚White trash’ in der Torstraße, linkerhand neben mir sitzend, Herta Feiler
die Hand haltend, meine Lobrede auf Maxim Biller in der taz
letzte Woche sei ein Kotau gewesen. Das stimmt und stimmt nicht. Denn
inhaltlich meinte ich alles so, wie es da stand. Also dass Menschen über
das schreiben dürfen sollen, was sie wirklich umtreibt. Und wenn das eine
furchtbare, unerfüllte, gemeine, gemein machende Liebe ist, ein
Liebeskrieg, muss es eben das sein, worüber er schreibt. Das soll ihm
dann nicht aus Persönlichkeitsschutzgründen untersagt sein. Wir stehen
gesellschaftlich-kulturell gerade vor einer drohenden Zäsur auf diesem
Gebiet. Es macht sich in breitesten Kreisen, selbst gerade bei Bild Lesern
und Leuten, die sogenannte Spieler-Interviews in Sportsendungen sehen,
die Meinung breit, alle Menschen sollten ihr Recht auf die
Privatsphäre härter – also mit neuen Gesetzen – durchsetzen können.
Auch und sogar ein x-beliebiger Fußballspieler, zum Beispiel Manuel Frings
vom SV Werder Bremen, soll einen Reporter, der sein Kind fotografiert,
belangen dürfen. Denn das Kind kann ja entführt werden, wenn es erstmal
in der Zeitung steht oder so, und überhaupt geht die Privastsphäre ja
niemanden was an. Und Dieter Bohlen soll nicht mehr schreiben dürfen,
dass Naddel morgens die Zähne nicht putzt. Und Effenberg erst und so
weiter. Schluß mit Gossip! Und Schriftsteller sollen nicht mehr über real
existierende Nachbarinnen schreiben und was die anhaben und
wie der Sex mit denen ist, sondern das soll jetzt endlich anständig
untersagt werden dürfen. Die Schriftsteller sollen sich jetzt alles wieder
vollkommen ausdenken und ihre Geschichten im traumlosen
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Niemandsland spielen lassen, in fernen Welten, im zeitlosen Raum ewiger
richtig guter Literatur. Je weiter weg von unserer Wirklichkeit, umso
besser. Siehe Klagenfurt jetzt Anfang des Monats. Elf von zwölf
Gescichten spielten irgendwo im ackerzerfurchten Bergland von
Anatolien oder im wilden Kurdistan, oder ein sterbender alter Mann
bewegte sich ‚minituös’ und "herrlich genau beschrieben" die Treppe hinab
zum Keller, wobei sein Gehirn bereits tot war. Alles bullshit. Oder im
Märchenland. Oder in einem Land, wo altertümelnd gesprochen wird wie
im Mittelalter und weise Feen sich versponnen ihre Öko-Träume
gegenseitig erzählen, freilich ohne Sinn und Verstand. Auch 15 Jahre nach
Beginn der Popliteratur, nach dem Roman ‚Mai, Juni, Juli’ und jetzt nach
dem 11. September 2001 und dem Tod dieser Schreibweise
am heutigen Tag – denn wer würde es jetzt noch wagen, das Schimpfwort
Popliteratur auf sich zu beziehen – steht die deutsche Literatur schlechter
und erbärmlicher denn je da. Was aber für mich kein Grund mehr sein
soll, meine Mitstreiter von einst weiter blind zu verteidigen. Nein, ich
werde sie alle vergessen, die Krachts, Stuckrad-Barres, Alexa Hennig von
Langes, Joachim Bessings, Jana Hensels und so weiter. Vergessen und
vorher noch mal justieren, für die Archive. Das Bild, das ich von meinen
schreibenden Pop-Kollegen zeichnete, war einfach nicht richtig. Ich hatte
nur keine Lust, diese Leute, die von aller Welt auf so widerwärtige,
banausenhafte Weise attackiert wurden, nun meinerseits
auch noch unter Feuer zu nehmen. Natürlich war es mir lieber, Jana
Hensels schnörkellose, aufrichtige Beschreibung der Zerstörung ihrer DDR
zu lesen, als mir komplett ausgedachte, sprachlich dezidiert und minituös
ausformulierte
Parabeln blutleerer amerikanisch-deutscher... ich kriege den Satz gar
nicht zuende, so langweilig ist das zu Beschreibende, diese Kunstprosa
unserer geförderten Autoren ohne Leser. Ja, wie gesagt, immer für Jana
Hensel, und immer gegen Gregor Hens und Konsorten. Und dennoch muß
ich irgendwann auch einmal sagen, dass Jana Hensel verdammt humorlos
ist. Oder dass Rainald Goetz mit dem Buch ‚Rave’ sich ewige Verdienste
erworben hat in meinen Augen, ebenso mit dem Erstling ‚Irre’ und mit
seiner Internetrevolution ‚Abfall für alle’. Das ist schon sehr viel. Aber
wirklich genug für einen Zeitraum von 15 Jahren? Wieviel Mist hat
er auch geschrieben, und WAS für ein Mist war das eigentlich, inhaltlich?
Hat ihm da je einer auf die Finger geklopft? Diese RAF-Phantasien in
‚kontrolliert’ haben mich komplett angeekelt, denn sie waren nicht nur
bemerkenswert doof, sondern kamen auch noch als irgendwie cool daher,
dabei war das ganze Buch vermurkst. Schwachsinnig, künstlich,
ausgedacht, genauso ausgedacht wie die Hinterstübchen-Ergüsse ganz
normaler lebensferner Graubärte, die immer den Petrarca-Preis kriegen.
Hat das je einer gesagt? Dass 90 Prozent des Goetz-Outputs
genau solch ein Schmarrn war, wertlos wie Peter Handkes 1000 Seiten
über die ‚Niemandsbucht’? Oder dass unsere Pop-Ikone Rainald trotz aller
RAF-Rabulistik unpolitisch ist, undemokratisch, unsympathisch, niemals
offen, niemals engagiert, immer dünkelhaft verharrend im eigenen Status
und Besitzstand,wie ein Junker vor 100 Jahren? Undenkbar, dass ein
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Bismarck oder Goetz einen öffentlichen Streit führte, erfüllt vom Feuer der
Gedanken und der Menschenliebe. Ein Dumpfmeister ist er, unser
strahlender Fürst Rainald, mit Verlaub: ein Arschloch. Ich
persönlich bin froh, wenn ich nach meinem Rollenwechsel ins gegnerische
Lager nie wieder an ihn denken muß.
Oder auch Diederichsen, dieser andere so furchtbar alte Name, ich weiß,
er ist heute bei uns, und ich werde nichts Böses über ihn sagen, so wie ich
noch nie von Kindesbeinen an – wir gingen zusammen zur Schule – etwas
Unsolidarisches gegen ihn unternommen habe. Aber muss man bei all
seinen Verdiensten, bei all seiner geradezu blendenden Klugheit, nicht
auch einmal zu Protokoll geben, dass dieser Mann keine der Kriterien
erfüllt, die man an einen Vertreter der Aufklärung, des Wortes, des
Humanismus... na, ich will mich hier nicht vergalloppieren. Wenn ich sage,
Voltaire hätte Diedrich nicht gemocht, denkt ja jeder sofort: gut so,
Voltaire ist ja auch schon lange tot. Wenn ich sage, Diedrich lebt wie
Goethe in Weimar, denkt jeder: na ja doch, ist doch cool. Nur:
Popliteratur, zu der dieser Mann immer gezählt wird, ist eben gerade
NICHT Goethe in Weimar, sondern eine Epoche davor. Die wilde Etappe
Diederichsens dauerte gerade einmal drei Jahre. Seitdem, und das heißt
bei ihm: seit seinem 22. Lebensjahr, zehrt er von dieser kurzen Zeit der
Kreativität und der Genialität. Seit Jahrzehnten produziert der Mann einen
dermaßen scheußlichen weil vollständig uninspirierten Scheiß – exaktes
Spiegelbild eines vollkommen abenteuerlosen Lebens – dass man sich an
den Kopf fasst, wie das deutsche Feuilleton das niemals merken konnte.
Und so weiter. Über jeden der Top Ten der Popliteratur könnte
man derartig Desillusionierendes berichten. Eine kurze Phase der Wildheit,
des echten Lebens, der guten Texte, und eine entsatzlich lange Folgezeit
der Saturiertheit, der Ehrungen, der gegenseitigen Hype-Bildung, des
Sich-Abschottens, der Arroganz und der wahnsinnig wertlosen Texte. Nur
Stuckrad-Barre hat bis zuletzt einen äußerst heißen Reifen gefahren. Das
ist auch der Grund, warum er heute in einer Drogen Entzugsklinik einsitzt
und jetzt nicht bei uns sein kann. Von dieser Stelle aus daher einen
herzlichen Gruß der Solidarität und den Wunsch, er möge bald wieder
gesund werden. Alles Gute, lieber Stucki, wir denken
an Dich! Halt durch und wende Dich anschließend ebenfalls von diesem
Zirkel schweigender Pop-Päpste ab, die Dich in diese Sackgasse geschickt
haben! Heuere wieder bei Harald Schmidt an, von dem Du einmal zu recht
gesagt hast, an ihm imponiere Dir die moralische Dimension in seinem
Denken und Handeln. Wende Dich
ab vom falschen Christian Kracht, der sich seit seinem Durchbruch mit
dem brillianten Roman Faserland ins Nirgendwo zwischen Kambodscha
und Singapur zurückgezogen hat. Wobei auch für Kracht gilt: Ich habe ihn
gelobt bis zum körperlichen und nervlichen Zusammenbruch. Weil
Faserland ein so guter Text war. Weil seine Idee, Globalisierung ernst zu
nehmen und in Asien zu leben, mir zunächst äußerst gut gefallen hat. Weil
ich es auch mochte, dass er als Popautor konsequenterweise für H&M
Reklame gemacht hat. Weil ich es nun einmal nicht leiden
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konnte, wenn weibliche Angestellte in Medienberufen gegen Kracht
wetterten und stattdessen ‚rudernde Hunde’ von Elke Heidenreich oder
‚Asche aufs Haupt meiner toten Mutter’ kauften. Aber muß ich nicht
wenigstens zum Abschied einmal ausrufen dürfen: Faserland war gut, es
war ein wundervoller Text, ich habe mich wahnsinnig darüber gefreut,
aber es war natürlich NICHT so gut wie ‚Mai, Juni, Juli’. Es fehlte, bei aller
Lustigkeit, doch diese eine halbe weitere Dimension, die das andere Buch
eben doch auch noch hat, als kleine Dreingabe.
Natürlich ist ‚Faserland’ ein herzensgutes Buch, anerkennenswert schon
deshalb, weil es der einzige konsequente Nichtentwicklungsroman ist, den
ich kenne. Aber genial ist es natürlich NICHT. Das ist das andere Buch,
und Kracht weiß das und er verhält sich kindisch deswegen. Seit zehn
Jahren verhält er sich einfach nur kindisch. Ein echter großer Autor hätte
sich niemals so kindisch und abwehrend verhalten. Ein wirklicher großer
Autor hätte sich über einen genialen Text immer und vorbehaltlos gefreut,
ohne ängstlich zu überlegen, ob der eigene Text wohl schlechter sein
könne. Auch Kracht ist somit nur ein kleiner Arsch, und das muß eben
auch einmal gesagt werden, was ich hiermit tue. Aber damit will
ich es auch erstmal bewenden lassen. Ich glaube, die Botschaft ist
verstanden worden. Popliteratur war für eine kleine, feine Riege das
Sprungbrett zu hohen Auflagen und Wohlstand. Aber jeder von denen hat
sich postwendend von dem zum Schimpfwort gewandelten Begriff
Popliteratur distanziert und hat hat ehrenhafter deutscher
Großschriftsteller gemacht, auf Peter Handke, auf Freund der
Feuilletons. Ein guter Autor muss aber immer der größte Feind der
Feuilletons sein. Wenn man das aber ist, bekommt man eine Biographie
wie Joachim Lottmann.
Das ist natürlich nicht zumutbar, oder wie man heute nachsetzen würde:
nicht wirklich. Ich verstehe sie also, die kleinen Arschlöcher, die
Geistzwerge, die jahrzehntelangen Etikettenschwindler, will mich aber
gerade von ihnen nun mit Nachdruck verabschieden. Übrigens auch von
Alexa, die ich gerade im vorderen Bereich gesichtet habe, Alexa Hennig
von Lange, die Autorin des phasenweise großartigen Romans ‚Relax’. Also
die erste Hälfte des Romans ist so gut, weil Alexa da in Ich-Form von
ihren sexuellen und anderen Exzessen aus ihrer Teenagerzeit berichtet,
eins zu eins, so wie es wirklich war, ohne jede Distanz, oder wie ein
Feuilletonist es ausdrücken würde: atemlos. Im zweiten Teil des Buches
schreibt sie aus einer notgedrungen ausgedachten Perspektive eines
Mannes:
dieser Teil des Buches ist so tot wie eine Bleiente. Was aber niemand der
Autorin gesagt hatte. ‚Relax’ verkaufte sich 250.000 mal, und Alexa
schrieb noch vier weitere Romane aus der Perspektive eines Mannes,
eines so tot wie das andere. Den Kritikern gefiels, die bekamen ja auch
Geld fürs Lesen, und Alexa weiss bis heute nicht, welchen Mist sie seit
Jahren herstellt. So, aber jetzt weißt Du es, Alexa! Komm nachher rüber,
kannst bei der Podiumsdiskussion mitmachen...
Ich will auch gar nicht länger meckern. Es ist ja auch so, dass es
wesentlich mehr gute neue Autoren gibt als schlechtgewordene alte. Auf
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eine Rebecca Casati kommen fünf unentdeckte Katha Schultes, auf einen
heruntergekommenen Moritz von Uslar zehn neue Stefan Beuses, die sich
NICHT auf Augenhöhe mit MTV-Stars fühlen, und selbst wenn, so
schreiben sie so gut wie Charlotte Roche in NEON.
Ich begrüße daher ganz herzlich die vielen neuen und zu entdeckenden
Nachwuchsstars, die heute hier sind und besonders die sieben, die diese
Nacht lesen.
Mit dem grossen Herrndorf fangen wir an, beziehungsweise nach der
Ouvertüre meiner Nichte Hase fängt er an. Sarah Hase und ihre Freundin
Mirna werden Gedichte vortragen, Herrndorf aus seinem Roman vorlesen,
den Gerd Haffmans aus Zürich, den ich ebenfalls von hier aus grüße, ins
Deutsche übersetzt hat. Ich grüße Julia Mantel aus Frankfurt, die zwei
Geschichten aus dem Forum der höflichen Paparazzi im Gepäck hat. Julia
war 1998 oder so das ‚Gesicht des Jahres’ und schreibt ziemlich genau auf
dem Niveau, das ich persönlich am liebsten lese.
Ich freue mich auf Kristof Schreuf, dem einziger guten Teilnehmer der
diesjährigen Bachmann-Lesung in Klagenfurt. Es ist nur logisch, das er
den letzten Platz belegte. Ich schätze diesen Autor wirklich
außerordentlich, ebenso die Gruppe Blumfeld, deren Texte Schreuf
schreibt. Herzlich willkommen auch all die anderen, die ich jetzt aus
Zeitgründen nicht mehr erwähne, vor allem aber die Autorinnen Anja
Fröhlich aus Köln am Rhein und Marlin Schwertfeger aus Berlin...
Ich will also zum Schluß dieser kleinen Begrüssung kommen. Ich hoffe,
meine Haltung für die zweite Lebenshälfte klargelegt zu haben. Für die
Journalisten, die nicht schnell genug mitschreiben konnten, gibt es dieses
Statement als vierseitige Fotokopie mit auf den Nachhauseweg. Ich heiße
also hiermit und nochmals alle Besucher der Letzten Langen Nacht der
Popliteratur herzlich willkommen. Ich werde nun aus dem Stegreif ein
paar Worte zum zeitlichen Ablauf der Gesamtveranstaltung sagen…
Fußnote zu
Die letzte lange Nacht der Popliteratur
Dieses Kompendium des Popjournalismus ist mehr als ein Buch. So wie jeder, der
‚Jugend von heute’ und ‚Zombie Nation' gelesen hat, alles über Popliteratur weiss (und
nie mehr und etwas darüber lesen oder sagen muß), kann jeder deutsche Student für
wenig Geld dieses 'Borderline'-Taschenbuch erwerben und sich diesen historischen
Ableger des englischsprachigen NEW JOURNALISM aneignen. Er kann es neben die ‚20
Jahre TEMPO’-Jubiläumsausgabe stellen oder neben die neuen Hefte von Vanity Fair. Er
ist dann klüger.
Klüger als die, die heute noch schreiben. Vor allem kann er dann selber Artikel verfassen,
wenn das Bafög mal knapp wird. Es ist nämlich ganz einfach, wie ich gesehen habe.
Bekanntlich bin ich selbst erst im hohen Alter Deutschlandreporter geworden. Wie wir in
vorangegangener Rede lesen konnten, schloß ich erst mit der Popliteratur ab, nach 32
Romanen für die Schublade, an meinem 45. Geburtstag am 14. April 2003, während
einer tumultuarischen Veranstaltung im 'Kurvenstar' am Hackeschen Markt in Berlin
Mitte. Und danach erst wurde ich Journalist.
Die Veranstaltung hieß "Nie wieder 44, nie wieder Popautor" und zog die Medien an, das
muß man wirklich sagen. Zwei Dinge hatte es vorher nicht gegeben: Dass Reporter sich
für mich interessierten, und dass ich meine Geschichten Popliteratur nannte. Popliteratur
war ein Schimpfwort und ist es noch. Aber man zieht damit Leute. Und ebenso ist es mit
dem Wort Borderline-Journalismus.
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Niemand, nicht einmal Tom Kummer, würde es wagen, dieses Schimpfwort auf seine
eigenen Texte zu beziehen. Es ist, als würde eine attraktive Fernsehmoderatorin, zum
Beispiel Brigitte Slomka, topless die Ansagen sprechen. Der Ruf wäre ruiniert, aber alle
würden die Sendung anschalten. Deshalb weiß ich mit Sicherheit, dass mich dieses Buch
reich machen wird, wie auch schon die Romane, seitdem sie unter der falschen Flagge
der Popliteratur segeln. Natürlich wird keine Zeitung mehr einen Beitrag von mir drucken.
So wie kein seriöses Feuilleton mehr meine Romane bespricht. Aber ich bin auch schon
längst im Internet. Ich bin, während Sie diese Zeilen lesen, bereits Blogger geworden.
Die Frage, die dieses eingeschobene Vorwort zu behandeln hat, ist die der Genese. Wie
wurde ich Deutschlandreporter und warum? Nun, es lag ein bißchen an besagter
Veranstaltung, und ein bißchen an Stuckrad-Barre. Er war ja nicht erschienen, weil er in
einer Entzugsklinik lag und versuchte, die berufsbedingte Kokainsucht loszuwerden. Ich
hatte ihn - Sie erinnern sich - von der Bühne aus herzlich gegrüßt und gute Besserung
gewünscht. Die Reaktion des Publikums, fast alles Medienvertreter, war seltsam
gewesen. Sie alle lachten! Und zwar häßlich und höhnisch und schadenfroh. Sie
verstanden mich also völlig falsch. Ich hörte, wie sie "Ha ha ha, genau! Richtig so, gib's
ihm!" und dergleichen riefen. Dem armen Stucki in der Intensivstation wurde
ausgerichtet, ich hätte ihn fertiggemacht, hätte ihn in aller Öffentlichkeit "verarscht".
Nun überlegte ich. War Benjamin nicht der einzige, der immer getan hatte, was ich
forderte? Und warum tat ich es dann nicht selbst? Wichtig war zunächst, dass ich den
Eindruck gerade rückte, der entstanden war. Ich schrieb meinerseits einen Artikel für die
Zeitung, den ich 'Mein Leben mit Stuckrad-Barre' nannte. Es war mein erster Artikel für
eine Zeitung, und er war gar nicht einmal so schlecht geworden. Vor allem bemerkte ich,
dass vor allem im ersten Teil ein Ton angeschlagen war, den es in den deutschen
Zeitungen bis dahin nicht gab.
Über mehrere Seiten beschrieb ich so redundant wie eindringlich die Mode des StuckradDissens auf Avantgarde-Parties. Erst durch die Wiederholung entstand dieses Gefühl, wie
bohrend schmerzhaft und gnadenlos die Ablehnung war, die der drogengeschwächte
junge Mann über Jahre hatte aushalten müssen. Es war also mehr als nur ein
nachrichtlicher Text; er enthielt literarische Elemente. Das fehlte bisher, und diese Lücke
wollte ich mit weiteren Texten ausfüllen.
Ich heuerte beim SPIEGEL an, unterschrieb einen Einjahres-Vertrag („Mein Jahr beim
Spiegel“ erzähle ich übrigens in fortlaufenden Fußnoten), und nahm Deutschland ins
Visier. Eine meiner ersten Stationen war ein Adelstreffen in Karlsbad. Ich sollte als QuasiGünter-Wallraff die Sitten und Gebräuche des europäischen Hochadels für das
Hamburger Nachrichtenmagazin auskundschaften. Ich blieb 72 Stunden in dem Kurort
und schrieb anschließend in einem kleinen Redaktionszimmer in der Brandstwiete
darüber. Dabei merkte ich, dass diese Geschichte, anders als die davor über Stuckrad,
von mir unbewußt vorzensiert wurde. Bei 'Stuckrad' hatte ich noch nicht gewußt, für
welche Zeitung ich schrieb. Jetzt wußte ich es. Und ich schrieb irgendwie spiegellike. Die
Sätze wurden kürzer, Nebensätze kamen gar nicht mehr vor, alles ratterte im SubjektPrädikat-Objekt-Stil daher. Das war anders, aber war es schlecht? War es vielleicht sogar
besser? Mir war es unheimlich, und ich wollte sehen, ob dieser Stil wieder wegging,
indem ich auch für die Frankfurter Allgemeine und die Süddeutsche schrieb.
Dazu später mehr. Am Ende schrieb ich neben dem SPIEGEL auch noch für die linke 'taz',
die linksradikale 'jungle world', die rechte 'Welt am Sonntag' und viele andere Zeitungen.
Wir werden das noch sehen. Und vereinzelt, wo es nötig wird, kommentieren.
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Die Verwandlung
2. Vom Pop-Schriftsteller zum Deutschlandreporter oder MEIN LEBEN
MIT STUCKRAD-BARRE
Es war wohl fast fünf Jahre her, noch tief im letzten Jahrhundert, als ich in
einem heruntergekommenen Eimsbütteler Lokal - ich glaube, es hieß 'Beach
Star' - die wohl klügste Frau ihrer Epoche, die Foucault-Expertin Nicola
Reidenbach traf, um ihr meine Verlobte vorzustellen. Das Gespräch raste auf
hohem Niveau dahin, man verstand sich 'blendend', schließlich war auch die
Verlobte, Chefin des Literaturhauses Hamburg, nicht blöd. Doch dann kam
die Rede auf Stuckrad-Barre. Die Ablehnung dieses Autors durch die beiden
female intellectuals übertraf alle Brandreden der Menschheitsgeschichte.
Selbst ein Ajatollah Khomeini hätte einen Salman Rushdi nicht so hassen
können wie diese Ikonen der Frauenkultur den kleinen Popautor. Das Dumme
war nur: alle ihre Argumente hatte ich schon gehört. Eitelkeit, Narzismus, der
hat kein Thema, der kann nicht schreiben, der kann nicht lieben, der ist ein
kleines Arschloch, der ist soll erstmal richtig arbeiten, der verhöhnt die
kleinen Leute, der schreibt nur ab, der schreibt nur was alle schreiben, der ist
totaler Mainstream, der sieht scheiße aus, und so weiter. Das alles hatte ich
schon mehrmals gehört - von den beiden Damen selbst. Ich rief also aus:
"Wie oft haben wir bereits über Stucki gestritten! Eure Wut muß sich doch
allmählich gelegt haben!"
Sie sahen mich zwei Sekunden lang erregt an, der Schaum tropfte von ihren
Lippen. Dann machten sie weiter. Sie höhnten, kreischten und berserkerten,
daß sich die Tische bogen, und noch von draußen hörte ich ihre sich
gegenseitig anfeuernden Injurien gegen den Mann. Das ist heute, ein halbes
Jahrzehnt danach, nicht anders. Wir haben eine Vereinbarung, das Thema zu
meiden, aber irgendwann zu später Partystunde kommt es doch immer auf.
Und zwar auch auf Partys, wo die beiden Hyänen gar nicht erscheinen. Kurz
gesagt: auf ALLEN Partys. Irgendwann kommt immer die Stuckrad-Stunde,
meistens in der Küche um halb drei Uhr nachts, wo sich der Rest der Gäste
schmatzend und gut gelaunt eingefunden hat. Und alle vertreten dieselbe
Meinung. Alle kotzen sich aus, übergangslos, auf Knopfdruck, als hätten sie
seit Stunden darauf gewartet. Dieser Mistkerl, dieses Brechmittel, dieser
Hochstapler, der kann nichts, der kommt mir schon aus den Ohren raus, das
ist keine Literatur, der glaubt wohl nur weil er gut aussieht sei er schon wer,
der ist doch nur mit Anke Engelke zusammen, was die an dem findet möchte'
ich mal wissen, dieser Pisser, dieser Idiot, wo ist denn da eigentlich die
Lebensleistung, für mich hat der keine Existenzberechtigung, der kennt die
normalen Menschen doch gar nicht, der ist doch nur angesagt weil alle
denken er sei angesagt, der ist nur ein Produkt der Medien, der kriegt NIE
den Literaturnobelpreis, der sieht scheiße aus und so weiter. Man hat das
Gefühl: Wäre der schmächtige kleine Gescholtene zufällig unter den Gästen,
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würden sie ihn johlend hochzerren und ohne Umwege am Fensterkreuz
aufhängen. Sie würden nicht eine Sekunde zögern.
Ich habe mich immer gefragt, warum das so ist. Warum wird Benjamin von
Stuckrad-Barre so gehaßt? Warum erkennt man nicht, daß 'Soloalbum' einer
der zehn besten Romane der Bundesrepublik ist und 'Deutsches Theater' das
klügste Buch, das zur Zeit auf den Sondertischen der Buchläden liegt? Sein
Ritt durch die Medien war gut durchdacht und genau so, wie ich es mir von
einem politisch bewußten Menschen, ja einem Marxisten immer gewünscht
hatte. Er war nicht ein Opfer der Medien, also der Umstände, des Systems,
des Kapitalismus et cetera, sondern ein Benutzer und bewußtseinsstiftender
Entlarver desselben. Wo er hinkam, kannte er die ungeschriebenen Gesetze
und setzte sie gnadenlos um. Woher er sie kannte? Durchs Hinschauen! Der
Mann hat eben mit seinem Fernseher wirklich gearbeitet, anstatt sich
berieseln zu lassen. Seine Mittel: Übertreibung, Beschleunigung,
Ästhetisierung. Seine Lehrer: Schlingensief, Harald Schmidt, J.D. Salinger.
Natürlich auch Kracht und Lottmann. Sein Busenfreund Rainald ("Irre") hat
ihn dagegen ästhetisch eher behindert.
'Soloalbum' ist das eine und einzige Buch, das jeder Mensch schreiben kann
und meiner Ansicht nach auch sollte (nach Baum und Kind). Jeder trägt eben
EIN gutes Buch in sich, das ist sein Stoff. Danach erst beginnen die second
order Erfahrungen, das Ausgedachte, die Literatur, also der Krampf.
Benjamin wußte das und hielt sich daran. Er wußte: einen weiteren Roman
wird es nicht geben, allenfalls Bluff. Also ging er mit 'Soloalbum' auf eine
deutschlandweite Lesereise und schrieb darüber sein nächstes Buch: 'Live
Album'. Danach hatte er den Status, um in jeder Zeitschrift schreiben zu
dürfen. Er testete den Print-Bereich komplett durch und veröffentlichte seine
Erfahrungen darin in dem dritten Buch 'Remix'. Jeder Leser kann seine
Erkenntnisreise für wenig Geld nachvollziehen und mit ihm profitieren:
Medien, was ist das, wie geht das, tut das weh, was geschieht da? Medien,
für oder gegen die Arbeiterklasse? Wer schafft an, wer blutet, wer wird
betrogen?
Als nächstes warf er sich auf die Musiksender VIVA und MTV. Nicht, weil er
DIESEN Teil der Medien auch noch im Selbstversuch durchleuchten und
analysieren wollte. Das auch. Aber vor allem, weil dort und nur dort seine
sexuellen Bedürfnisse zu stillen waren. Hätte Nora Tschirner die Tagesthemen
moderiert, wäre er dorthin gegangen. Sogar wenn er dann Angela Merkel
hätte interviewen müssen. Aber sie war bei MTV. Und so machte er da eine
Show, die noch rasanter war als Schlingensiefs 3000er Sendung an gleicher
Stelle. Schon auf seiner legendären Lesereise hatte er vorgemacht, wie man
eine Auftrittsform in die Luft sprengt. Seine eigenen Texte las er valentinesk
und total gaga vor, als hätte ihn der Stechapfel gestochen. Er brüllte auf der
Bühne, als wolle er Hartmann den Job beim Schauspielhaus abluchsen. Sah
er hübsche Mädchen in der ersten Reihe, fegte er die Manuskripte vom Tisch
und unterhielt sich nur mit ihnen. Ältliche Buchhändlerinnen ließ er vom
Saaldienst abführen, wegen angeblichem Bombenalarm. Und so fort. Nie ließ
er es zu, eine Sache zweimal zu machen. Deswegen stellte er Sylvester 2001
alle Lesungen ein und ward nicht mehr gesehen. Nur am 19. Juli wird er in
'Die letzte lange Nacht der Popliteratur' auf die Rampe steigen, aber nur um
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einer Kunstform Ade zu sagen, die er für sich nur sehr kurz und konsequent
benutzt hatte.
Die Frage, warum Stuckrad so gehaßt wird, ist damit noch immer nicht
beantwortet.Verzeiht man ihm nicht, die Britpop-Band 'Oasis' obsessiv
verehrt und zum heimlichen Thema von 'Soloalbum' gemacht zu haben? Ich
verstand das sehr gut, erinnerte es mich doch an meine Bret-Easton-EllisVerehrung in 'Deutsche Einheit'. Es GIBT Obsessionen dieser Art, und sie
kommen in der Literatur viel zu kurz. Zudem mag ich 'Oasis'. Aber als
Intellektueler hatte er damit natürlich ausgespielt, 'SPEX' kündigte ihm das
Abo und so weiter. Doch der Stuckrad-Haß hat andere Gründe. Sein
Privatleben? Vier Gruppen von Menschen umgeben ihn: Die Leser, die ihn
natürlich lieben und kaufen, ungefähr 100.000 Leute. Die sogenannte
'Szene', die ihn wie beschrieben haßt und lynchen möchte, circa 2.000.000
Leute. Die Pop-Autoren, die ihn durch die Bank innigst mögen und verdammt
gut leiden können, das ist eine einstellige Zahl von Leuten. Und schließlich
ich, der Autor dieser didaktischen Abhandlung: natürlich verehre ich ihn. Er
fiel mir 1997 auf, lange vor seinem Romandebut, als er recht scharfsinnig
über Alexa Hennig von Lange schrieb. Ich nahm sofort Kontakt auf, wir trafen
uns. Eine Freundschaft entwickelte sich, wir gingen gern spazieren, am
liebsten die Biller-Route Hofgarten, Leopoldstraße, Hohenzollernstraße,
Habsburgerstraße. Er war knapp über 20 Jahre alt, hätte fast mein Sohn sein
können und war entsprechend klüger und schneller als ich. Ich bekam immer
schon nach fünfundzwanzig Minuten Kopfschmerzen, weil mich das schnelle
Sprechen extrem anstrengte. Die Erfahrung, so schnell denken und reagieren
zu müssen, hatte ich nie vorher gemacht. Das war wirklich ein heller Geist,
zu hell sogar, ich machte mir Sorgen. So einer, dachte ich, stirbt früh.
Damals wußte ich noch nicht, daß er alles richtig machen würde in den
folgenden Jahren. Dass er nicht verbrennen würde in den Medien, sondern
den Strahl umkehrte. Auch hatte er damals Pech bei den Mädchen. Ich
vermutete damals, das würde so bleiben. Zumal sich das Pech während der
Anke-Zeit in lebensbedrohliche Verzweiflung steigerte. Ich machte mir Ende
der 90er wirklich große Sorgen. In aufrüttelnden Faxen beschwor ich ihn, sich
nicht das Leben zu nehmen. Er zweifelte erstmals fast an sich selbst. Helge
Malchow hatte ihm 'Mai, Juni, Juli' zugesteckt, und Benjamin bekannte
plötzlich, er hätte 'Soloalbum' niemals schreiben können, wenn er das Buch
zufällig vorher schon gelesen hätte. Dann hätte er sich nach dem
Drittstudium vom sagenhaften Reichtum seiner Vorfahren, der von Stuckrads
und von Barrés, ernähren müssen und wäre nutzlos gestorben. Einmal rief
ich ihn Mitte 1999 an und hatte Anke am Apparat. Zu meiner freudigen
Überraschung plapperte sie in derselben halsbrecherisch schnellen Diktion
wie Freund Stuckrad, unzähmbar, glutvoll, über Stock und Stein, von
unbeschreiblicher Komik dabei und nicht endend und nicht beeinflußbar: irre!
Ich dachte, daß sich da zwei gefunden hatten, die eine Liebe vom anderen
Stern zelebrierten und freute mich für Stucki. Ich habe mir nie wieder Sorgen
um ihn gemacht, obwohl ich mitbekam, daß er Anke erst nach Jahren ganz
und gar erobern und bezwingen konnte. Er hat es getan, er hat es geschafft,
und als ich zuletzt heimlich in der Bild Zeitung las, 'Deutschlands großer
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Dichter von Stuckrad-Barre' habe Anke Engelke 'aus seinem Leben geworfen',
konnte ich das so deuten: Das Problem ist bewältigt, und zwar positiv.
Was ist heute mit ihm, am Vorabend der Abschieds-Gala? Was macht er noch
in Zürich, was wurde aus der Anke-Nachfolgerin, die ihn verließ, und warum
floppte der Film? Zunächst zu letzterem: Natürlich wußte Stuckrad, was
deutsche Filmer aus einem Stoff wie 'Soloalbum' machen würden, nämlich
eine Teenie-Komödie, sozusagen 'Eis am Stiel, Teil 14', mit dem Höhepunkt,
daß der Held sich den Schwanz im Autofenster einklemmt und eine ganze
Nacht nicht freibekommt. Sie würden aus Gold Scheiße machen, das war ihm
VORHER klar. Aber er wußte auch: Er konnte in seinem Leben nur diesen
einen großen Kinofilm machen, weil er nur diesen einen großen Roman hatte
schreiben können. Und so machte er es. Weil er auch dieses Medium testen
wollte. Weil sein Erkenntnisinteresse größer war als sein Stolz. Weil Weisheit
ihm wichtiger war als Ehre. Und weil er Nora Tschirner bekam (Hauptrolle).
Er will soviel wissen wie möglich. Dafür bleibt er gern der Stachel im Fleisch
des deutschen Kulturkörpers. Denn das ist ohnehin die Funktion der
Popliteratur gewesen.
3. Karlsbader Wallraffiade: Graf Lottmann „ganz oben“
Ich werde angekleidet. Ich, heute Joachim Graf Lottmann. Daß die Schuhe
so passen, wie eine Haut, hätten wir nicht gedacht. Und auch der
maßgeschneiderte Frack, das weite Frackhemd, die massiv goldenen
Manschettenknöpfe, die Schärpe, die Fliege - gigantisch. Wie angegossen.
Völlige Stille umgibt mich im Grand Hotel. Es gibt nur mich und die feinen
Kleidungsstücke. Und zwei dienstbare Schneiderinnen, die ich aber kaum
wahrnehme. Viele hundert Euro kostet das Leihen, jeden Tag. Allein der
Zylinder 40 Euro für die wenigen Minuten, in denen man ihn aufhat. Es
gibt ein Video von Madonna, das einen Stierkämpfer in den einsamen
Momenten vor dem Auftritt zeigt. So fühle ich mich jetzt.
Keine großen Taschen. Das Handy muß der Diener hinterhertragen. Der ist
zugleich SPIEGEL-Fotograf und heißt Paul Schirnhofer, heute nur 'Paul'.
Daß er fotografiert, fällt nicht auf, denn von den 300 hochwohlgeborenen
Gästen halten ungefähr 299 eine Digitalcamera in die Luft und blitzen.
Man gewöhnt sich daran, so ist die Zeit. Außer Benedikt XVI und
Schirmherr S. k. und k. M. Otto II von Habsburg - und eben mir - knipst
jeder. Der Schirmherr, er wäre heute Kaiser, würde die Monarchie endlich
wieder eingeführt, ließ sich vertreten, und Benedetto scheut Reisen.
Karlsbad war auch nie etwas für Päpste. Goethe, Schiller, Marx, vielleicht
sogar Gysi haben hier gekurt, die Liste hat kein Ende. Es gibt praktisch
keinen Namen aus den letzten 250 Jahren, den man hier nicht fände. Und
für alle hat der Ort eine besondere Bedeutung gehabt. Goethe sagte, er
könne nur in drei Städten wohnen, Weimar, Rom und Karlsbad. Er
verliebte sich regelmäßig dabei in junge heiratsfähige Mädel niederen
Adels, was ihm woanders nicht gelang.
Kleider machen Leute. Also echt jetzt. Von Anfang an fühlte ich mich edel,
wichtig, huldvoll, gravitätisch, wie soll ich es zusammenfassen: groß. Drei
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Köpfe größer als 'Paul'. Der hatte nämlich die Kleiderordnung nicht
eingehalten. "I gäh hoit ois Fotograaf" hatte er gewitzelt und sich in
seinen üblichen, leicht welligen C & A Nadelstreifenanzug gezwängt. Ein
Fehler.
Noch nie war ich so verhaltenssicher. Der Handkuß kam mir wie von selbst
über die Lippen und ebenso die Konversation und das selbstgefällige 'Wir'.
Kein Wunder bei 150 herausgeputzt schönen Damen, 60 Prozent davon "in
keiner Weise partnerschaftlich gebunden" (Mitveranstalter Michael
Kahlberg). So ganz nach Etikette klang das nicht. Aber anregend. Ich sage
dem Mann, der die Medien betreut, er möge mich bittschön nur mit genau
solchen Damen bekanntmachen: "Ich recherchiere auch ein wenig in
eigener Sache, wissen Sie."
Adlige stellt man sich SOUVERÄN vor. Beim Karlsbader Adelstreffen, und
das ist der kleine Schönheitsfehler, mischen leider auch Bürgerliche mit.
Man erkennt sie sofort. Nicht am übertriebenen Posieren, sondern an der
Unsicherheit. Am durchgedrückten Kreuz, am nervösen Hin- und
Hergucken, an den gewöhnlichen Gesichtern. Frauen sieht man nie in
Hosen, das ist schon mal gut. Und es scheint - nur für Frauen - eine
bestimmte Altersgrenze zu geben, und zwar sobald Großmütterliches, ja
graues Haar aufzuscheinen beginnt. Das soll nicht sein. Die Illusion der
Heirat incl. Familiengründung darf nicht schon im Vorfeld optisch
behindert werden. Denk' ich mal.
Am ersten Abend fällt mir ein Flavio-Briatore-Typ auf, über 50, bestimmt
bürgerlich weil unsicher. Weißhaarig, braungebrannt, mit rotseidenem
Halstuch und Angstaugen. Alleinstehend. Er ist der erste, der zum Ball
kommt, und der erste, der mit der Frauenjagd beginnt. Ein verzweifelt
Suchender. Obwohl ich ihn dreist beobachte, sieht er mich nicht, weil er
nur Frauen sieht.
Schnell füllt sich der große Saal im Hotel Imperial, ein Ding, das auf dem
Berg thront wie Manderley auf dem Himalaya. Eine Geraldine Chaplin in
jung fällt mir sofort auf, weil ihre Schönheit stärker strahlt als der Reaktor
von Tschernobyl am Tag des Unfalls. Sie ist sehr selbstsicher, was man an
einer ziemlichen Genervtheit erkennt. Kein Zweifel: diese Kostüme sind
einfach ein enormer Verstärkungsfaktor. Wer gut aussieht, wird nun gleich
zur Prinzessin. Oder, in meinem Fall, zum Erbprinz von Burma. Flavio
Briatore startet hier nicht in der Pole Position.
Aber er kämpft sich heran. Nach einem Glas Champagner steht er schon
etwas ungelenk, das heißt aufdringlich, halb stehend und halb sitzend, am
Tisch zweier alleinstehender Damen - und bringt sie alle fünf Sekunden
zum Lachen. Nicht schlecht. Sein Angstblick ist schon weg. Ich halte den
Daumen hoch und mache ihm ein 'respect!'-Zeichen. Er sieht es nicht.
Später setzt sich ein 'echter' Adliger dazu, mit goldenen Blazerknöpfen,
roten Haaren und inzuchtbedingter Blässe, ein junger Mann noch, den
seine Eltern wahrscheinlich hierhin abkommandiert haben wie früher ins
Internat. Altersmäßig und vom Stand her paßt er besser zu den Damen.
Aber Flavio gibt Gas. Die Damen sehen nur ihn. Er macht sie an diesem
Abend glücklich. Der Windsor-Sprößling schmiert ab.
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Limousinen fahren vor, aber nie ein Mercedes mit Fahrer, immer nur Opel
Zafira, Skóda Tristessa und so weiter. Das liegt wohl am Land. In
Tschechien fährt man nur häßliche Autos. Sie passen zu den häßlichen
Menschen draußen, die grundsätzlich im Jogging Anzug auf die Straße
gehen. Schon im Fremdenführer wird man gewarnt, diese Proleten im
Adidas-Outfit nicht zu unterschätzen. Die meisten seien Russen und so
unermeßlich reich wie kriminell. Wenn das kein Gefahrenpotential für Graf
Lottmann ist! Wenn mir die Hand ausrutscht ob des ungebührlichen
Betragens eines Plebs, stecken gleich sieben Kugeln in der Lunge. Ich
versuche aufzupassen und gehe in den Ballsaal zurück.
Und jetzt hab' ichs: die Tanzschule! Diese seltsamen Institute, die es bis
in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gab, wo es ebenfalls
diese elendig verunsicherten loserhaften Typen gab. Die Zeit war an ihnen
vorbei gegangen. Jeder spürte unbewußt den schleichenden Untergang
ihrer Kultur, ihrer Art. Die Musik, die Sexiness spielte woanders. Es war
die Nachhut einer Gesellschaft; und wir wissen doch, daß der Spaß
grundsätzlich immer ganz vorne im Zug ist, in der Avantgarde. Und sie
schlichen übers Parkett und hatten Pickel. Sie sprachen sich hölzern und
ahnungslos gegen Drogen aus und waren doch so unglücklich weil arm im
Geiste, daß viele von ihnen schon vor der Zeit starben. War es jetzt
wieder so?
Zum Glück nicht ganz. Manchmal sicher. Aber dann kamen immer wieder
diese Momente, in denen alles paßte. Wenn die Lichter ausgehen, nur die
Kerzen brennen, tausende von Lilien extrem betörenden Duft verströmen,
und die Musik - also das echte Orchester - leise spielt, einen leichten
Walzer vielleicht, und man von den Frauen nur die herrlichen Kleider und
nicht die verkorksten Gesichter sieht, und alle schon milde und glücklich
gestimmt sind von den raffinierten Getränken und dem teuren Essen, und
einfach jedes Gespräch als liebenswürdig und keines mehr als
grottenlangweilig empfunden wird, dann ist es die perfekte Illusion. Oder
auch, ich wage es zu sagen, das Glück.
Doch anstatt dabei selig zu bleiben, weiterzuschweben auf der Wolke, wird
der schöne Schein regelmäßig nach nur wenigen Minuten brutal
gebrochen. Das Orchester verstummt - sind die alle so alt, daß sie nicht
länger als zehn Minuten spielen können? - und vom Band kommt 'Feel'
von Robbie Williams, und zwar in der weichgespülten Instrumentalfassung
für Supermärkte amerikanischer Kleinstädte. Vorbei ist es mit Habsburg,
der Schlagergeschmack von Friseusen, Putzfrauen und Aldi-Angestellten
triumphiert. Und es gibt tatsächlich einen DJ, der dafür echtes Geld
bekommt, daß er 'Let's get loud' oder 'It's raining men' auflegt, oder noch
schlimmeres Zeug, etwa Mainstream-Soul aus den 70ern. Oder Let's twist
again von Cubby Checker. Wobei man sagen muß, daß letzteres schon
wieder eine Leistung ist. Also ICH wäre nicht darauf gekommen, daß
ausgerechnet dieses Gekrächze in die morschen Knochen der Adligen
einfahren würde wie ein Blitz, wie die Fanfare zum letzten Balz-Gefecht.
Man möchte dem DJ (junger Mann, Gel im Haar, Frack, Fliege) auf die
Schulter tippen und sagen: "Mein Bester, Twist ist nicht mehr angesagt
heute. ABBA haben sich getrennt. Soul ist auch nicht mehr das, was es
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noch vor 35 Jahren war. Wollen Exzellenz nicht einmal die Hitparade
DIESES Jahrhunderts berücksichtigen, wenn es schon kein Walzer sein
darf?" Er würde kein Wort verstehen und einen dieser Robotersätze sagen,
die an jeder Ecke fallen: "Schaun'S, wir sahn net fixiert aufs Klassische,
wir spuin aa moderne Sochn, wie Beatles und Bill Haley. Koane Vorurteile
- für uns zählt nur die Qualität!" Ein schmieriges Lächeln, eine
Verbeugung, und weiter gehts mit 'Angie'.
Da braucht man natürlich eiserne Nerven. Nur ein beherzter Angriff auf
die Königin des Abends kann mich zerstreuen. Ich habe mit Hilfe des
Presse-Attachés und der offiziellen Gästeliste ihren Namen, ihre Stellung
und ihre Begleiter recherchiert. Also die junge Geraldine Chaplin heißt in
Wirklichkeit Edle Loredana von Carnap-Quernheimp, und die beiden
ritterlichen Figuren links und rechts von ihr sind ihre Eltern. Schwer
auszumachen, wer Vater und wer Mutter ist. Beide haben ein Profil wie der
späte Mitterrand und leiten mindestens eine europäische Mittelmacht wie
Frankreich. Ich stelle Loredana am Buffet, gehe 'erfreut' auf sie zu, den
rechten Arm leicht erhoben. Auch sie zeigt sich erfreut, es kommt spontan
zum Handkuß, und da mir nichts einfällt, sagt sie ganz natürlich:
"Wie schön Sie wiederzusehen. Vor zwei Jahren war das, nicht wahr?"
"Oh... ja ja, gewiß, gnädiges Fräulein... wir sahen uns flüchtig."
"Ihr Name war..." Sie runzelt die schöne Stirn, was kurios aussieht, als
würde Nofretete Falten bekommen können. Ich nehme Haltung an, neige
den Oberkörper leicht vor.
"Graf Lottmann."
"Ach!"
"Und gnädiges Fräulein ist wieder mit den lieben Eltern in Karlsbad, wie
ich hörte?"
Schnell kommen wir ins Gespräch. Als sie über eine Bemerkung von mir
lacht, bekommen meine Worte Flügel. Ich erkenne mich selbst nicht
wieder. Was immer ich sage: es scheint durch einen unsichtbaren
Transformator elegant, geistreich und 'amüsant' zu werden. Loredana
wirft den Kopf nach hinten und lacht. Und auch ich finde alles, was sie
äußerst und wie sie es tut, hinreißend. Trotzdem schickt es sich nicht,
diese erste Konversation in die Länge zu ziehen. Ich spüre das. Aber es ist
so schön. Ich schaffe es nicht, mir diesen Ruck zu geben. Wir reden über
NICHTS, aber es ist wie Engelsgeflüster. In dem Moment schnauft der
Fotograf mit seiner umfangreichen Fotoausrüstung heran, macht mir
kumpelhaft irgendwelche Zeichen. Gleich wird er mich wieder ärgern und
lautstark mit 'Na, Reporter Lottmann, schon fündig geworden, ha ha'
ansprechen. Er ist so unsensibel. Und macht immer diese gestellten
Grinsefotos. Dem muß ich zuvorkommen, indem ich mich fürs Erste von
Loredana trenne: Ich verweise darauf, meine Tischdame nicht warten
lassen zu wollen, nicke martialisch, mache kehrt.
Später falte ich den Kollegen zusammen. Er solle mir nicht die Recherche
verderben. Und nicht werlose, weil gestellte Fotos machen:
"Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Die Leute dürfen nicht merken, daß sie
fotografiert werden. Nehmen Sie einen Zoom. Einen 3000 ASA Film,
keinen Blitz. Wir brauchen poetische, atmosphärische Bilder."
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"Jo, nocha nähmen da Herr dö Kamera doch gleich sölbst indde Hond."
"Genau das werde ich tun, Paul, verdammter Halunke."
Er machte weiter seine Knipsfotos, baute sich direkt vor die Leute auf und
wartete, bis sie sich in Pose warfen. Und rief mir von weitem "Hallo Herr
Kollege!" zu. Seit 20 Jahren fotografierte er die gekrönten Häupter
Europas.
Gegen Ende des ersten Abends hatte sich 'Flavio Briatore' zu Loredana
vorgearbeitet. Er eroberte sie. Stundenlang standen sie zusammen und
lachten. Und dann tanzten sie, und auch beim Tanzen redeten, flirteten,
lachten sie und unterhielten sich im wahrsten Sinne des Wortes königlich.
Ein Filou, dieser Typ. Knapp 30 Jahre älter als sie. Was wohl die
Mitterrand-Eltern dazu sagten? Mit durchgedrücktem Kreuz stolzierten sie
weg, wie Erpel.
Der zweite Tag begann auf der Rennbahn. Wieder neues Outfit, neue
Hüte, hellgrau für die Herren, explodierend bunt für die Damen. Der PRMensch macht mich mit einer Dame bekannt, die ganz besonders 'auf der
Suche' sei. Ich bedanke mich, ich hatte ihn ja darum gebeten. Die Frau
entspricht genau dem Anforderungsprofil, das ich ihm beschrieben hatte:
um die 40, schlank, kinderlieb, anlehnungsbedürftig. Und vor mir steht
tatsächlich: Marisa Berenson aus 'Barry Lyndon', zwanzig Jahre nach
ihrem tiefen Fall. Sie hatte sicher viel Pech gehabt im Leben, damals mit
Mr. Lyndon, alias Ryan O'Neil. Ich verstehe das. Ich reiche ihr meinen
Arm, wir gehen zu den Pferden, und der verschmitzte PR-Mensch, ein
lustiger Niederbayer ohne Titel, macht sich händereibend davon.
"Leben Sie in einer Beziehung?" fragt mich die Unglückliche als erstes.
Darauf bin ich so unvorbereitet, daß ich mich in geheimnisvolles
Schweigen flüchte. In mir rasen die Gedanken. Was sagt man da?
Schweigend gehen wir durch den Torf. Die Gesellschaft sieht prächtiger
denn je aus. Ich sehe 'Flavio', und er steht mit seinem 'Schwiegervater'
eng zusammen, der euphorisch auf ihn einredet. Loredana sehe ich nicht.
Flavio wirkt weniger euphorisch als der alte Herr; er steht gebückt vor
dem, also vor Mitterrand, und der sitzt und redet unaufhörlich. Da muß in
der Nacht etwas geschehen sein.
Nun überschlagen sich die Ereignisse. Ich komme richtig rein in den
Laden, lerne in schneller Folge Dutzende von Blaublütlern gut kennen. Ein
Wort gibt das andere, ein Freund winkt den nächsten heran. Mrs. Lyndon
wird in den nächsten Ballnächten meine Begleitung, aber eine Hand voll
weiterer Bewerberinnen sind im Rennen. Loredana ignorierte Flavio auf
der Rennbahn, begrüßte ihren Vater, den neben ihm gebückt
Verharrenden keinesfalls. Daraufhin schnappte ich mir den Mann. Ich
wollte wissen, was passiert war.
Er gab mir seine Visitenkarte. Auf geschöpften Büttenpapier stand da
etwas von Professor, Direktor, Doktor, und noch irgendwas
Wohlklingendes, auch der Name klang wie ausgedacht, 'Burgherrenschloß'
oder so, aber er war bürgerlich. Scheiße, dachte ich. Er erriet meinen
Gedanken sofort:
"Wilhelm Zwo hatte die Erhebungsurkunde schon auf dem Schreibtisch,
als er abdankte."
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"Ja, dumm gelaufen."
"Und selbst? Aus der baltischen Linie, Graf Lottmann?"
"Ja! Woran haben Sie das erkannt, mein Lieber?"
Er strahlte. Es tat ihm gut, daß ich ihn, den Bürger, 'mein Lieber' genannt
hatte.
Ich sprach ihn nun in plumper Vertraulichkeit auf Loredana an. Ach, sie sei
noch so jung, noch nicht einmal 30 wahrscheinlich, seufzte er ein bißchen
verlogen. Sie ist 20 und genau das hat dir doch so gefallen, dachte ich
gehässig. Wir blieben auf der verlogenen Ebene:
"Ist es nicht traurig, eine so anmutige Frauensperson kennenzulernen,
und dann womöglich doch alleine wieder zurückfahren zu müssen?" fragte
ich mitfühlend. Ein kleines verdächtiges 'he he he' kam aus seinem
schmächtigen Brustkorb, direkt über dem rotseidenen Halstuch, und dann
trat er näher an mich heran und wurde wirklich ehrlich:
"Am ersten Abend lernt man sich kennen. Am zweiten flirtet man. Am
dritten streitet und trennt man sich. Und am vierten gibts den
Heiratsantrag."
"Aber Sie haben sich doch schon jetzt gestritten?"
"Warten Sie's nur ab. Man exponiert sich nicht in Karlsbad. Vor allen
Leuten. Man sammelt Visitenkarten. Jeder fährt mit fünf, sechs
Visitenkarten nach Hause, und dann, nach einer Schamfrist, baut man die
Beziehung in aller Ruhe auf."
Ich hatte verstanden. Flavio hatte sich am ersten Abend 'exponiert', und
deshalb mußte er jetzt kürzertreten. Er hatte vierzehn Kliniken in
Süddeutschland und Osteuropa. Wenn er könnte, würde er wahrscheinlich
wirklich gern mithelfen, das womöglich überschuldete Gut der von
Carnap-Quernheimps zu retten. Aus Passion für schöne Dinge, für die
Vergangenheit, für Werte an sich. Er war alt genug, um sich für sowas zu
engagieren. Das Leben lag ja im Großen und Ganzen schon hinter ihm.
Am zweiten Abend fand der Frühjahrsball statt, im legendären 'Grand
Hotel Pupp', das seit 1701 Adlige von Welt aufnimmt. Ich hatte mich
darauf verlegt, grundsätzlich jede Frau anzulächeln und möglichst schnell
zur Sache zu kommen. War ich betrunken, konnte mir schon mal der Satz
"Gnädigste, darf ich um Ihre Handynummer bitten?" rausrutschen. Oder,
und das war wohl der Gipfel an Trunkenheit:
"Verehrteste, gnädigste Frau, ich beobachte Sie seit einer Viertelstunde.
Ich möchte mit Ihnen leben!"
Kicher, kicher. Comme amusant! Quel trefflich Witz... die Stimmung war
eben danach. Sie schlug immer wieder in die eine und in die andere
Richtung. Mal strengste Intensität der Form, der Schönheit, der Gefühle,
und dann doch wieder nur Mensa-Fete. Was das ist? Mensa-Feten gab es
früher in der Uni, und sie waren der definitive Abgrund der menschlichen
Möglichkeiten, und diese völlig unbefriedigten Studentinnen gingen da hin.
Die dann wohl ganz am Ende mit dem Chilenen abzogen, solange hab ichs
nie ausgehalten. Heute MUSS ich aushalten, ich werde dafür bezahlt.
Und es ist ja auch viel schöner. In einem Seitenflügel singen fünfzig
Herren plötzlich sudetendeutsche Lieder, erschreckend laut, überstimmen
das Orchester. Der Kronprinz von Burma zieht mit Gefolge vorbei. Der
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späte Knut Hamsun alias Max von Kienling gibt eine imposante
Erscheinung ab, sodaß bei seinem Anblick Leute unwillkürlich "Ah" und
"Oh" sagen, wie im Hörspiel. Er wirkt so sensationell, weil er inmitten der
Frack-Gesellschaft im Räuberzivil gekommen ist, in einer alten
Gartenjacke und einer rußgeschwärzten Streifenhose aus dem
amerikanischen Sezessionskrieg. Er ist ein sogenanntes Original, und er
ist von allerhöchstem Stand. Gäbe man ihm zwanzig Kartäschen und
genügend Pferde, würde er noch in dieser Nacht die gottlosen
Postkommunisten in Prag festsetzen lassen und die Macht den
Habsburgern zurückgeben.
Doch dann lande ich wieder an einem Tisch, an dem ein Kassenarzt mit
Goldrandbrille darüber doziert, daß unter den 68ern die guten Sitten
abhanden gekommen seien. Und seine 14jährige Tochter sagt
pflichtgemäß, es sei gut, daß sie hier "die Sitten lernen" könne, denn
woanders gäbe es sie ja nicht mehr. "Welche Sitten?" frage ich, und sie
sagt, naja, daß man keine Jeans anzieht.
Sowas will man nicht wirklich länger als zehn Minuten ertragen, zumal die
Mutter auch noch wie die ehemalige FDP-Generalsekretärin Pieper
aussieht (was hier viele tun); also nächster Tisch, nächster Versuch.
Endlich einer, der dem Klischee des Reaktionärs entspricht. Die Tschechin
sei "beste Frau von Welt", mit der laufe immer was, und das liege an den
'Heloten'-Männern der Tschechen. Mit denen sei nichts los. Karlsbad
gehöre jetzt dem Russen, und das sei perfide, denn die hätten bei
Kriegsende 260.000 Deutsche totgeschlagen. Der Weltkrieg sei ein Kampf
der Kulturen gewesen, Abendland gegen Asien, und die Proleten hätten
gewonnen. Und so weiter. Schließlich stürze ich mich geradezu auf
Loredana.
Die Wahrheit dieses Adelstreffens ist, daß wir dasselbe tun wie die 298
anderen auch: Wir erzählen uns unsere Leben (vulgo: wir lernen uns
kennen). Alle reden, und alle reden über sich. Zwar gibt es auch die Form
des gepflegten Tischgesprächs, wo dann tatsächlich über die EUErweiterung oder die Pisa-Studie oder die Wirtschaft der Tiger-Staaten
konversiert wird. Aber das ist die Ausnahme. Und so erzählt mir die
Königin der Nacht alles über ihr ungeliebtes Studium, ihre beruflichen
Träume als Kind, die drei großen Lieben, die sie gehabt habe, die
unmenschlichen Eingriffe des Mitterrrand-Vaters in ihr Leben in der
Teenagerphase, die Bücher, die Vorlieben, die Zukunftsvorstellungen. Im
Vergleich dazu berichtet die angediente 40jährige Heiratswillige von ihrem
mittelständischen Betrieb (Großgärtnerei), ihrer Scheidung, ihren drei
Kindern, ihren Erziehungsprinzipien, ihrem Mann, einem Bankrotteur
(leider). Eigentlich habe ich keine Lust, erst die ganzen Visitenkarten
einzusammeln. Es soll schneller gehen. Madame hat ein Zimmer im 'Pupp',
ganz prachtvoll und herrlich, aber mit einer Freundin zusammen. Vom
Ballsaal zum Zimmer sind es nur ein paar Schritte, und wir köpfen bei
offenem Fenster und lauer Frühlingsnacht eine Flasche Champagner.
Mitternacht ist gerade gekommen, in der Nacht zum 1. Mai, und ich habe
für diesen Moment extra ein paar Zeilen auswendig gelernt, die ich nun
mit samtener Stimme murmele:
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"Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Knospen sprangen,
Da ist in meinem Herzen,
Die Liebe aufgegangen."
Wir kommen nicht weit, weil die Freundin ebenfalls mit einem Galan in
den Rokoko-Raum poltert. Wir waren noch beim ersten Glas. Ich hätte es
auch zu viert ausgehalten, aber die Leute waren pikiert oder so. Eben
enttäuscht, daß sie nicht allein waren. Also ging ich wieder, zumal mir die
Biographie Loredanas ungefähr dreißigmal besser gefallen hatte als die
der bankrotten Blumenfrau. So ist das eben. Man vergleicht. Jeder zeigt
seine Waren in Karlsbad, und jeder kann kaufen oder weitergehen. Alles
ganz menschlich. We're livin' in a free world, yeah! Gegen die Börse sagt
ja auch keiner ein Wort, und zwar zu recht.
Dann lerne ich Katharina Wosch kennen. Sie behauptet, nur zum Spaß da
zu sein. Ihre Schwester habe hier jemanden gefunden und geheiratet.
Aber sie, Katharina, denke nicht daran. Ihr gehe es um, ja, wie gesagt,
um 'Spaß'.
"Welchen 'Spaß' denn?"
Na, Spaß eben. Sie ist geschätzte 39,9 Jahre alt und alleinstehend. Sie
steht einsam am Geländer, guckt nichtssagend ins Nichts. Ich glaube ihr
kein Wort.
"Nehmen Sie das hier nicht auf die leichte Schulter", sage ich warnend
und gehe weiter. Das Fest hat Millionen gekostet. Da kann man nicht so
ignorant sein.
Der dritte Abend ist ein Kostümball. Ich gehe als 'Danton'. Leider sehe ich
eher wie der selige Franz-Josef Strauß unmittelbar vor seinem Jagdunfall
aus. Das Kostüm und die weiße bauschige Perücke machen mich feist,
böse und undemokratisch. Und immer noch ist der Fotograf in der Nähe,
der mich mit 'Herr Kollege' anredet und alle Camouflage sinnlos macht. Er
knipst weiter ungerührt seine grellen, farbverzerrenden Blitzbilder aus
nächster Nähe:
"Ja! Baby, zeig's mir! Ja! Sehr gut! Lächeln! Cheeese!"
Ich nehme ihn beiseite:
"Paul, kommen Sie mal. Sehen Sie die Leute da, die sich gerade
gegenseitig mit ihren IXUS-40-Kameras ablichten? Das sind genau die
Fotos, die der Spiegel NICHT drucken wird."
"Hörn'S, Herr Graf! I hob letzte Woche die Königin Sylvia von Schweden
fotographiert. Wollen Sie mir allen Eanstes sogn, wie i orbeiten muaß?!"
Ich kapitulierte.
"Aber, bittschön, Paul, sagen'S wenigstens net immer 'Herr Kollege' zu
mir. Vor allem, wenn i mit dem gnädigen Fräulein beisammen steh, der
Loredana, Sie wissen schon..."
Loredana ging nämlich als 'Mozarts Muse' und sah bezaubernd aus. Sie
gestand mir nun, daß sie Goethe im Original gelesen habe und sogar
selber eine Ader zum Schreiben habe. Ja, ein ganzes Buch habe sie
verfaßt, und sogar veröffentlicht. Einen Roman.
"Wo ist das Werk denn erschienen?" fragte ich höflich. Sie nannte den
größten deutschen Verlag.
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"Wissen Ihre lieben Eltern schon davon?"
Oh ja, natürlich. Der alte Freiherr hatte getobt, aber sie hatte ihm
versprochen, daß es nur ein Steckenpferd sei und bleibe. Ich interessierte
mich für das Buch, dessen Titel ich schon einmal gehört hatte, oder so
ähnlich. Hatte Francoise Sagan nicht solche Romane geschrieben, 'Traurig
im Regen'? 'Leichtes Herz im Juni'? 'Gripsholm, melancholisch'? Loredana
sagte, im 'Pupp' gebe es neben dem Billiard Room einen InternetAnschluß, und da könnten wir ihren Bestseller abrufen, der auszugsweise
auf ihrer Website stehe. Ich wollte zustimmen, aber Paul kam dazwischen.
Er haßte mich.
"Aber Hallo, der Herr Kollege!"
Ich erklärte Loredana die Situation: dies sei mein Diener Paul, der sich
nebenher noch ein Taschengeld dazu verdiene, indem er anspruchslose
Fotos für ein Hamburger Nachrichtenmagazin herstelle. Ich scheuchte ihn
weg. Aber wir blieben im 'Kaiserbad', in dem ohne Vorwarnung deutsche
Kunstlieder von Schubert, Schumann und auch Mozart zum besten
gegeben wurden.
Der Raum war ideal dafür. Wunderbar unrenoviert, aus den tiefsten Tiefen
des vorvorigen Jahrhunderts, dunkelbraun gebeiztes Holz, der schiere
Wilhelminismus ohne jeden Neuanstrich seit 1875. Die Adligen standen
alle da und taten andächtig. Wahrscheinlich war es immer schon so
gewesen. Auch vor 100 Jahren haben diese ekligen deutschen Kunstlieder
niemandem gefallen, diese falschen Opernstimmen, bei denen man kein
Wort versteht, und alle haben 'andächtig' dagestanden und so getan, als
wäre es was. Und haben 'Kultur' dazu gesagt, als Entschuldigung.
Die vielen weißen Perücken stehen vor allem den jungen Frauen gut.
Später wird ein Singspiel von Mozart aufgeführt, und dabei passiert etwas
Wahnsinniges, bei dem dieses ganze Adelstreffen implodiert. Denn
draußen im Garten startet plötzlich ein ohrenbetäubendes Feuerwerk.
Jemand hat die Zeit wohl verwechselt. Das Mozart-Singspiel wird aber
fortgesetzt. So hat man Zauberflöte und Feuerwerk gleichzeitig, quasi im
selben Raum, und die Folge ist, daß die Adligen, einem fehlgeleiteten
Pavlow'schen Reflex folgend, alle gleichzeitig auf ihre Digitalcameras
drücken und knipsen, knipsen, ohne Ende knipsen. Auch Paul rennt wie
Lumpi im Kreis herum und knipst und knipst, während es kracht, als
würden die Bomben einschlagen, und es jodelt, als wäre der Klassik-Kanal
zu Stuhle gekommen und verrückt geworden.
Wo bin ich? Was ist die Situation? Bin ich gaga, oder sinds die anderen?
Ich renne nach draußen ins nächste Taxi. Aber was ist das auch für ein
Land, in dem in allen Taxis Tag und Nacht 'Were are the Champions' von
Queen gespielt wird? Was kann man da anderes verlangen?
Am vierten Tag habe ich keinen Heiratsantrag gemacht. Ich habe mich
vorzeitig von Paul zum Flughafen fahren lassen. Er wollte meine
Visitenkarten sehen. Ich zeigte sie ihm. Neun Stück.
"Reschpeckt, Herr Graf!"
"Und selbst, Paul?"
Er haut mir ein ganzes Kartenpaket in die Hand, wie einen Satz kleiner
Spielkarten.
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"Aber Paul, da werden Sie ja bald zu uns gehören!"
"Da sehn'S amal, wos Sie von einem kleinen Photographen noch lernen
können."
Ich ließ ihn in dem Glauben. Loredanas E-Mail-Adresse bekam er nicht zu
sehen. Die hatte ich mir so gemerkt.
IM PORTRÄT: FRAUEN IN FREIHEIT
4. MIT KERSTIN GRETHER IN DER KASTANIENALLEE
Wir drehen uns nach oben, zum Balkon, wo die Pet Shop Boys dröhnen.
"Da! Unsere Party. Eben waren wir noch drin."
Unfaßbar, daß man sich eben noch diesem Lärmbrei ausgesetzt hat. Jetzt
wölbt sich ein dichter, stiller Romantikhimmel über das sommerliche,
nächtliche Berlin, über den Park und die Kastanienallee. Ein Uhr dreißig Zeit für einen Spaziergang. Neben mir: Kerstin Grether, 27, blond,
Knabenfigur, Autorin des neuen Kultbuches über Magersucht und PopLifestyle-Feminismus "Zuckerbabies".
"Ich muß um halb elf Uhr morgens aufstehen, was sehr früh für mich
ist..." Sie macht jetzt nämlich jeden Tag diese MTV-Sendung, deshalb.
Aber sie freut sich, mal am frühen Morgen all die anderen Menschen
mitzubekommen, die normalen, die zur Arbeit müssen wie sie. Sehr
aufregend. Kerstin Grether wohnt in dieser Straße, der Kastanienallee, die
sie Castingallee nennt.
"Das ist allgemein der Spitzname hier. Castingallee. Das finde ich gut, weil
mein Roman doch auch vom Casting-Unwesen handelt."
Sie fragt, von was "Deutsche Einheit", ein alter Roman von mir, handelt,
und ich sage, vom Unwesen der Subventionsliteratur. Sie sieht mich
durchdringend an.
"Ja, ich habe noch NIE einen Preis bekommen. Andere wie Juli Zeh werden
mit Fördermitteln überschüttet."
Kerstin murkst sich auch keine kunsthandwerklichen Fleißarbeiten ab,
sondern beschreibt die Welt, in der wir leben, und das ist die Pop-Welt.
Dafür gibts nur Hiebe. Das hat natürlich auch eine schöne Tradition und ist
seit 20 Jahren so. Schon erstaunlich, wie es eine doch so wichtige
Richtung wie die Popliteratur geschafft hat, bis zum heutigen Tage
verfemt zu bleiben. Wir laufen an fünf neuen Internetcafés vorbei, alle
offen. Die Kastanienallee wirkt wie geflutet von Leuten, und alle sehen
jung aus, auch wenn sie es nicht sind. In die Stadt strömen jeden Monat
zehntausend neue, lebenshungrige Menschen, getrieben einzig von dem
Verlangen, sich nicht länger zu langweilen in einem Land, in dem einzig
über Rente, Steuersatz und Hartz IV gestritten wird anstatt über große
Utopien, Liebe, das Geschehen auf dem Planeten Erde...
"Die Journalisten können noch so oft schreiben, der Berlin Hype sei vorbei
- gegen diese Menschenmassen kommen sie nicht an. Sie sind die wahre
Realität."
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Berlins geistiges Potential wächst immer noch, die Provinz stirbt weiter ab.
Heißt: Die Popliteratur ist nicht totzukriegen, auch wenn in Klagenfurt ein
weltfremder Ossi mit einem Dresdenroman aus dem vorletzten
Jahrhundert mit Geld und Preisen überschüttet wird. Der Mann wird weiter
in seinem Keller schreiben, 13 Stunden am Tag, und das Essen von seiner
Frau hinabgereicht bekommen. Aber Kerstin Grether lebt! Wolfgang
Herrndorf lebt! Hier in der Kastanienallee, in der schon Nina Hagen
aufwuchs. Wir sind das Volk!
Wir kommen am Café Kani Mani vorbei. Hier hat Grether, einst
Wunderkind bei "SPEX", die Band Wir sind Helden interviewt, besser
gesagt, deren Sängerin und Songschreiberin Judith Holofernes.
"Schau, hier hat sie gesessen! Hat ein Eis geschlotzt. Und da habe ich
gesessen."
"Hast Du über die Jungs auch geschrieben?"
"Kein Wort. Die Band ist Judith. Die Presse sieht das natürlich immer
umgekehrt: die Jungs sind das ernste Fundament, das Girl nur der
Blickfang."
Kerstin schrieb schon mit 13 für Fanzines, mit 15 dann für SPEX. Relativ
früh setzte sie sich von dem altehrwürdigen, jungsgesteuerten
Avantgardeblatt wieder ab, jedenfalls ein bißchen:
"Diese bebrillten Nerds mit ihren Plattensammlungen. Für die ist
Popliteratur, wenn jemand über seine Plattensammlung und seine Jugend
aus den 80er Jahren schreibt. So Sätze, daß einer schon mit 17 Throbbing
Grizzle gehört hat und seine Freundin das gar nicht verstanden hat."
Dabei hat sie selbst 4000 Platten gesammelt. Aber sie schreibt nicht
darüber, keine Angst. Ihre These ist folgende: Die männliche Sozialisation
zum Pop geht über die Plattensammlung, die weibliche über die
Magersucht. Sie kann das wortreich erklären. Jedes Mädchen in der
westlichen Welt, das den popkulturellen Zeichensystemen ausgesetzt ist
(also alle), muß auf diese Schönheitsgebote irgendwie reagieren. Weder
ist ´Zuckerbabys´ ein Roman gegen den Schönheitwahn, noch gar für ihn,
sondern ganz realistisch über ihn. Genauer gesagt: über den
fortgeschrittenen Medienkapitalismus, der bei ihr der Einfachheit halber
schlicht Jugendkultur heißt...
Natürlich hat Kerstin auch eine Band. Sie muß oft über die
Wechselwirkung von Musikmachen und Romanschreiben extemporieren.
Das interessiert mich aber nicht. Was soll das sein, eine Band zu haben?
Mit 27? Einen Satz kriegt sie dennoch unter:
"In Hamburg ist das Paarbeziehungsmodell ein ganz anderes. Dort stehen
die Jungs auf der Bühne, und die Mädchen sind Groupies. Da bin ich lieber
nach Berlin gegangen!"
Klar. Die Hamburger Jungs sind ja nun auch schon alle über 40, da wächst
nichts mehr nach. Was ist denn nun mit dem Diät-Ding?
"Durch dieses ewige Hungern wird den Frauen systematisch Energie
geraubt."
Ist sie denn selbst magersüchtig?
"Nie gewesen. Nicht, als ich das Buch schrieb. Das habe ich ja immer
abgelehnt. Ich war vielleicht eher der fette Typ. Schließlich war ich ja
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recht politisch, und es machte mir nicht mal viel aus, wenn sie mich im
Haus Specki nannten. Nein, erst jetzt bin ich es."
"Was?"
"Ja, das war eine Reaktion darauf. Ich wollte nicht immer dasselbe sagen
und tun."
"Wie ist es denn so, als Magersüchtige?"
"Lies das Buch."
Sie strubbelt ihre Debbie-Harry-Haare zurecht. Sie hat sie extra mit Seife
gewaschen, weil sie dann besser strubbeln. Auf dem Tisch liegt das neue
"I-D" mit einer langen Fotostrecke über die neue Insider-Autorin Kerstin
Grether. Man kann sie jetzt perfekt fotografieren. Im Heft davor war
Stuckrad-Barre dran.
"Ich mag Stuckrad. Er hat für sich diesen kultur-industriellen Rahmen
gewählt, das finde ich gut."
"Genau. Er forscht für uns in diesen Bereichen, in die nicht jeder rein
kann. Sehr verdienstvoll."
"Ein Michael Moore im Mediensumpf."
"Deshalb hassen ihn die Medien."
"Logo. Alles Schweine da."
"Halt! Journalisten sind eigentlich tolle Menschen. Was die alles machen,
ehe sie einen Künstler interviewen. Wie die sich interessieren für einen.
Und der Künstler ist dann meistens ignorant und arrogant!"
Oft hat sie unbekannten Bands mit ihren genialischen Berichten den Weg
geebnet, zum Beispiel Tocotronic, die sie zur Platte des Monats machte:
"Danach konnten die überall spielen. Ich selbst habe für meinen Artikel 10
Mark bekommen."
Fünf Euro. Nicht viel, wenn die Leute sich dann auch noch beim
Chefredakteur beschweren, weil Kerstin einen Interviewsatz gekürzt hat.
Gerade bei Newcomern passiert es oft, daß sie Journalisten von oben
herab behandeln. Bei jedem eigenen Satz des Schreibenden wittern sie
Manipulation. Denn: Journalisten stehen in der sozialen Rangordnung ganz
unten, bei den Politikern.
"Da fragt man sich unwillkürlich, ob nicht auch Politiker ganz nette
Menschen sind."
"Hey! Gestern sah ich Renate Schmidt im Fernsehen, wie sie sagte: ´Was
haben Sie immer gegen die Politiker? Die sind doch die einzigen, die sich
den ganzen Tag mit den Kleinen Leuten beschäftigen´."
"Ich verstehe, daß sie alle Alkoholiker werden."
"Die Politiker?"
"Die Journalisten."
Wir passieren ein paar Teenie-Boutiquen. Kerstin kauft da gern ein. Sie
lebt zwar seit ihrem 13. Lebensjahr in der (wirtschaftlichen) Krise, wie sie
gerade im Kursbuch schrieb, shoppt aber trotzdem gern.
"Teenie-Boutiquen sind einfach billiger. Wenn man den Körper dazu hat,
wenn man das Gesicht dazu hat - warum nicht."
Sie sagt aber auch den bedenklichen Satz:
"Nachdem ich den Distinktionsterror 300 Seiten lang gebrandmarkt habe,
übe ich einen noch schlimmeren Schönheitsterror aus als andere..."
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Alles, was sie im Buch anprangerte, macht sie nun selber: das ist die
Dialektik der Aufklärung, wie Adorno sie wohl übersehen hat. PopLiteratur war ihre Art zu leben, zu denken und zu fühlen: "Ich wollte
einfach die populäre Kultur beschreiben, die uns alle umgibt."
Doch auf einmal findet sie sich stundenweise in einem besinnungslosen
Konsumismus wieder. Seit wann genau? Als der Verlag nach wenigen
Tagen meldete, die erste Auflage sei verkauft. Laut grölend schlägt sie
Einkaufsschneisen in die westdeutschen Innenstädte. Dabei besteht sie
darauf, daß Pop nicht bunt und schrill sei, sondern ernst und politisch.
Wir kommen an der Teenieboutique ´crème fraiche´ vorbei. Kerstin zeigt
auf einen Pucca-Rucksack, den sie gerne hätte. Es folgt das Café Naan, in
dem sie mit ihrer Schwestern manchmal Kaffee trinkt. Im Pop-Kaufhaus
´Uranus´ liegt ein hellblauer Blechwecker im Schaufenster, den sie sich
holen wird, nach der dritten Auflage von ´Zuckerbabies´. Am Ende
unseres Spazierganges erreichen wir das legendäre John Lennon
Gymnasium.
"Wie gern wäre ich auf dieses Gymnasium gegangen! All die Graffittis...
die Schüler durften selbst bestimmen, wie die Schule heißt!"
"Ist die Jugend von heute denn jetzt wieder politisiert?"
"Ja. Definitiv."
Sie reicht die Wange zum Kuß. Kerstin Grether wohnt im Gymnasium, in
einem leerstehenden Nebentrakt. Sie tänzelt weg, leichtfüßig,
mädchenhaft, magersüchtig, wird schnell verschluckt vom Dunkel des
Schulhofes. Möge ihr Roman noch viele Auflagen erleben!
5. Mit NINA HAGEN im BKA-Zelt
Draußen dieses blaue Zelt, jeder kennt es, man fährt dran vorbei, auf dem
Schloßplatz, dieses seltsame Gebilde aus Kinderlampen und blauem Neon:
das BKA-Zelt. "Wir alten Hippies sind immer noch da, neben Gerhard
Schröders Schreibtisch", sagt Nina Hagen dazu. Es ist ihr erster Satz an
diesem Abend, beiläufig, fahrig, lustlos. Stimmt: der Kanzler arbeitet nur
einen Pflastersteinwurf entfernt und soll, laut Nina, Kontakte mit ihr
pflegen. Der Wahnsinn nimmt seinen Lauf: Mißgestimmt und bockig
absolviert sie die ersten Nummern, produziert Fehler über Fehler, trifft
den Ton nicht, ärgert sich über das Publikum, das sich nicht provozieren
läßt. Unbändiger Jähzorn packt sie. Minutenlang bricht sie ab, dann ist sie
wieder lieb und säuselt, dann brüllt sie ohne Kontrolle wie ein BSEverseuchter Nachwuchs-Hitler. Die armen Leute denken betrübt: da
schüttelt sich des Wahnsinns fette Beute. Andererseits war sie nie anders.
Ein Pflegefall. Nina-Hagen-Fans sind es aus einem Helfersyndrom heraus.
Sie wissen: sie müssen ihr helfen, das durchzustehen, da auf der Bühne.
Vor allem in dem Alter, da muß man schon ein bißchen aufpassen, denken
die. Und spüren gleichzeitig, daß sie diese Furie im Ernstfall niemals
stoppen könnten. Daß sie selbst in ihren besten, präsentesten Momenten
nur fünf Prozent gibt; 95 Prozent lauern in der Reserve: böse, anarchisch,
balla-balla. Was ist der Störfall von Tschernobyl gegen ein cholerisches
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Liebeslied der Hagen? Nichts! Deswegen die vielen Sicherheitskräfte. Das
ganze Zelt ein Krankenhaus. Viele hundert Ärzte und ein Patient. Aber die
Lämmer schweigen alle, selten nur regt sich eine Hand zum Beifall,
warum? Als externer Gast hat man das leicht peinliche Gefühl, einer doch
recht intimen Party heruntergekommener enger Spinnerfreunde
beizuwohnen. Wie die Bundeshauptversammlung der
Briefmarkensammler, da wird doch auch mehr geklatscht. Aber NinaHagen-Fans sind stille, stumme Wesen, altgewordene Ossis, vom Leben
Besiegte. Natürlich nicht nur. Es sind auch Leute versteckt im alten
Kinder-Zirkus-Zelt, wenige nur, die wissen: hier erleben sie die größte
Rocksängerin, die Deutschland nach dem Krieg hatte, vielleicht sogar die
einzige. Die größte Zerstörerin, eine echte Künstlerin. Leichtfüßig
explodierend macht sie das gesamte Spektrum alternativer Kultur nieder:
subkulturell Versprengte aus drei Dekaden, frauenbewegte Linke,
Sexualkämpfer jeglicher Schattierung, Transen, Glatzenfrauen, Esoteriker,
Ost-Nostalgiker, Kinderselige, Hippies, Radikalökos, Indienfahrer,
Altrocker, Verschwörungstheoretiker, UFO-Gläubige, AIDS-Theoretiker
und Zeugen von Sebnitz - nur Nina Hagen selbst ragt aus allem hervor
wie Jesus mit der Peitsche im Tempel, der die Geldwechsler vertreibt. Sie
ist der permanente Gegenimpuls zu allem, was sie präsentiert. Sie bedient
die Minderheiten - und verbrennt sie genüßlich. Sie säuselt mit verdrehter
Piepsstimme irgendwelche Indienkitsch-Weisheiten und schmeichelt damit
den im Publikum ausharrenden Esoterikern, aber die wissen bald nicht
mehr, ob sie Männlein oder Weiblein ist. Dann wieder "fetzt" die Band,
und die Puhdys- und Peter-Maffay-Fans beginnen mit den grauen Matten
zu wippen, doch selbst dieses widerliche Fetzen wird von Nina schon nach
sechzig Sekunden durch ausbrechende Zerstörungswut, durch
Grimassieren, Übertreiben, anarchisches Grölen zum Einsturz gebracht. Es
ist, als schriee sie gegen die Dummheit an, und wenn Nina schreit,
schweigt bald der Rest. Und die Band, eben noch "echt tierisch geile
Rock'n'Roller", stehen als Mainstream-Schweinerock-Langweiler da, die
auch für Udo Jürgens 'fetzige' Stimmung machen würden. Zur Strafe
müssen sie nun Zarah-Leander-Lieder spielen, erst süßlich (Freude bei der
Lesbenfraktion), dann als Stuka-Angriff. Ein Hurrican tobt hernieder,
graue Panther fallen in Ohnmacht. "Der Wind hat mir ein Lied erzählt",
wer ahnt schon, daß Stalingrad daraus wird. Anders als der ewige Casdorf
bricht sie auch das nach Belieben und schlechter Laune wieder ab; über
den deutschen Kulturscharmützeln steht eine, die selbst Englisch besser
singt als Jennifer Lopez und besser kompiliert als Frank Zappa, weit
drüber. Da wird auch sekundenweise Sabrina Setlur abgehängt, die arme
doofe Maus. Wehe, wenn Nina Hagen rappt, das tat sie nämlich schon, als
das Frankfurter p.c.-Äffchen noch die Brust bekam, da wird dann alles
nochmal eine Dimension gewalttätiger, kraftvoller, härter, potenter anschließend ist der aktuelle deutsche Hiphop als folgenlose
Gesinnungssingerei enttarnt.
Man hat in jeder Sekunde das Gefühl, daß sie nicht weiß, was sie im
nächsten Moment sagen wird. Was sie sich gleich einfallen läßt. Welche
Laune sie gleich reiten wird. Und immer wieder wird Berlin thematisiert,
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Schröders herrliche neue Hauptstadt. Und sie ist immer am besten, wenn
sie Großdeutsches intoniert. Wenn sie eine Hitlerrede imitiert, kriegte
selbst der Führer Angst. Oder wenn sie von Honecker erzählt. Oder von
Menschenliebe, Tantra, den Pyramiden, den UFOS, der ewigen Sonne in
idischen Tempeln: alles bullshit, unterm Strich. Subkultureller Brei zum
Gehirnverkleben. Die ständigen "Ich liebe Euch alle!"-Appelle ans
Publikum haben soviel Gewicht wie dieselben von Yoko Ono dereinst. Sie
hat nicht das geringste Lampenfieber, würde auch ohne Skrupel auf der
Bühne zwei Stunden lang den SPIEGEL lesen können, so egal ist ihr das
Publikum, und die Presse erst recht. Sie ist nunmal keine Dienstleisterin,
sondern hat etwas zu sagen. Aber nicht diesen Idioten hier.
Tja, so paradox kanns zugehen. Das Leben ist es sowieso, und bei großen
Künstlern spielen die Paradoxien dann oft ganz verrückt. Warum es nicht
zugeben? Warum nicht gleich mit der Stimme einer Dreijährigen plappern?
Nina ist so frei. Mitten in der Show wirft sie dann noch ein ambitioniertes
Benefizprojekt an: 'Kinder zurück'. Da soll man spenden, kann
Gegenstände ersteigern, es geht um einen 'guten' Zweck, und wem dabei
nicht schlecht wird, dem ist die ganze Spenden- und Charityverlogenheit
der enthirnten Warengesellschaft noch nicht aufgegangen. Für die ganz
Langsamen quakt Nina, nun Daisy Duck im Zeichentrickfilm, die
Spendenaufrufe gleich mehrmals: für die von Schändern entführten
Kinder, damit sie nicht mehr von Nazis im Freibad ertränkt werden, oder
so ähnlich. Das Ganze wäre Comedy, wenn es nicht Nina Hagen wäre.
Aber so ist es Schlingensief, der in seinem zweiten Leben als Andreas
Baader auf die Welt kommt, oder besser umgekehrt.
Nina, Tochter des Verräters Hagen (Hans Hagen, Brechtassistent, von der
Stasi lange Jahre verhaftet, seine Stelle nahm Wolf Biermann ein), ist ein
moderner Dekonstruktivist. All die herrschenden Verabredungen,
Meinungen, Wahrheiten werden als gemacht entlarvt und hübsch zerlegt
in ihre Einzelteile. Vor allem wird das sogenannte Authentische nachhaltig
zugrunde gerichtet. Nina benutzt ihren früheren Ruhm als Treibstoff für ihr
bitterböses, lichtbringendes Tun in der Gegenwart des vereinigten
Deutschlands. Johann Wolfgang von Goethe wird ebenso verbrannt wie
Transenkitsch, Opernpathos, Mutter Theresa, Gutböse-Nazischelte,
Minderheitenfolklore, ja sogar der Medienkanzler und Große
Kommunikator: Nina flüstert aufgeregt von heimlichen Treffen, die sie mit
Gerhard Schröder habe, von "gigantischen Thesen und Hypothesen", die
sie mit ihm tausche, und daß diese Gespräche so bedeutsam seien, daß
sie demnächst die Öffentlichkeit davon unterrichten werde (vom
Bundeskanzleramt war dazu bis Redaktionsschluß keine Stellungnahme zu
erhalten). Daß hinter einer restlos abgewirtschafteten 'Kultur' nur eine
ebenso tote Alternativ- und Subkultur steht und daß dieses Deutschland
nach der Vereinigung nur noch eine Pappkulisse mit Kasperlefiguren ist,
würde selbst den Kasperlefiguren selbst deutlich - wenn die Nina Hagen
Show (bisher nur im Internet live zu verfolgen unter www.kanal.web.tv)
endlich einen guten Sendeplatz im Fernsehen bekäme. Aber dann wäre
dies Land nicht das, was es ist.
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6. Mit Ariane Sommer im „90 Grad“
Natürlich fand ich Ariane Sommer immer schon klasse. Aber als sie dann
vor mir stand, im Café des Literaturhauses in der Fasanenstraße... doch
ich will der Reihe nach berichten. Jede Geschichte hat ihre ganz
besondere Vorgeschichte, wußte schon Lukrez, und die von Ariane
Sommer ist nicht nur besonders lang, sondern besonders einzigartig, ja
verblüffend.
Als Pubertierender sah ich einmal nachts im Fernseher unter dem Bett
den Film "Ekel" von Roman Polanski, in dem die blutjunge Cathérine
Deneuve eine verhaltensgestörte, autistische Blondine spielt, in
Schwarzweiß. Ich komme noch darauf zurück.
Am 19. Januar 1982, ich war nun schon ausgewachsen, erlebte ich den
ersten und ganz sicher auch letzten epileptischen Anfall meines Lebens.
Ich hatte mit einer jungen Frau, mit der ich einst die Schulbank
"gedrückt" hatte, wie es so sinnig heißt (natürlich drückt man etwas ganz
anderes), eine Woche lang nichtsexuellen Verkehr gehabt. Ich hatte sie
immer schon morgens getroffen, in dieser Woche, dann waren wir
spazieren gegangen, dann in die Museen (sie war kunstinteressiert, als
Tochter eines großen deutschen Nachkriegsmalers), dann in die Cafés,
dann wieder die Boulevards entlang (d.h. die Leopoldstraße in München
herauf und herunter und wieder herauf), dann nach Hause, wo wir
Alkohol tranken. Mein Ziel war es natürlich, mit der jungen Künstlerin zu
schlafen. Wir hatten das nämlich schon auf dem Schulhof verabredet. Ich
hatte sie damals gefragt: "Wenn ich keine Freundin hätt', gell, und Du
amal keinen Freund... dann..." Sie nickte: "Dann gehn wir miteinander."
Und so war es gekommen. Meine Freundin Kirstin Ruge hatte mit mir
Schluß gemacht, und der Maler Jan Philipp v. Bertheaux hatte mit ihr aus
Standesgründen die Trennung vollziehen müssen, was ihm gewiß nicht
leicht gefallen war. Wir waren beide solo. Ich löste das alte Gelöbnis ein
und fuhr von Hamburg, wo ich geboren war, nach München, wo ich zur
Schule gegangen war mit besagter Dame. Sie empfing mich mit offenen
Armen, wie sich denken läßt. In ihrem kleinen Zimmer in der Maxvorstadt
tranken wir immer mehr Alkohol. Sie war wirklich ein schönes Mädchen
geworden, fast schon eine richtige kleine Frau und wahrlich gut
entwickelt. Sie hatte herrliche Brüste, eine sehr helle Haut und fast
weiße, langsträhnige, glatte und dichte Blondhaare, die ihr nervös ins
Gesicht hingen und die sie immer wieder ebenso nervös wegpustete. Die
Haare waren gefärbt, aber das waren die von Cathérine Deneuve auch. In
der Schule, auf den Innentüren der Knabentoiletten, hatten einst
eingekratzte Botschaften auf Eva Maria, so hieß die Schöne, aufmerksam
gemacht: "Try Eva fast hand Maria", "Eva fast hand Maria rides best",
und so weiter. Es gab an der Schule mehrere Mädchen mit diesen in
Bayern häufigen Vornamen, aber ich glaubte, es könne nur meine
hübsche Banknachbarin sein, mein Deneuve-Lookalike. Ein Fehler? Ich
war jedenfalls nervlich beschädigt ins Bett gegangen, als mich Eva Maria
am ersten Abend nicht angefaßt hatte. Auch ich hatte sie natürlich nicht
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angefaßt, so etwas muß in unserem Kulturkreis stets die Frau machen;
das ist ihr kulturhistorisch verbrieftes Recht, alles andere zählt als
Vergewaltigung. Nun, die vielen Stunden des Redens, Lachens und
Scherzens hatten mein Nervenkostüm wundgescheuert. Ich bin
normalerweise ein nervlich sehr stabiler Mensch. Ich könnte Jahre auf
einer einsamen Insel durchhalten, ohne depressiv zu werden. Aber das
Soziale strengt mich an. Etwas in mir fordert anschließend eine
Kompensation in Form von körperlicher Wärme. Das muß gar nicht Sex
sein, da Sex ebenfalls etwas Soziales ist und anstrengt. Nein, ich muß
meinen armen, vom Kommunizieren wirr gewordenen und heißgelaufenes
Kopf auf eine wohlwollende, üppige, noch stramme weil junge Brust
betten. Am liebsten ist es mir, die Frau schläft schon, und ich höre ihren
ruhigen, gleichmäßigen Herzschlag. Das, nur das, zusammen mit der
warmen, gut durchbluteten Haut, dem nachtwarmen Körper unter der
gemeinsamen Decke, beruhigt mich und macht das grelle, sinnlose,
uferlose Geplapper und Geschnatter des Tages vergessen. Die vielen
"Meinungen", die keine sind, die ganze Verirrung und Fehlsteuerung eines
jungen Menschen im Hoch- oder Spät- oder Postkapitalismus, diese
ahnungslose Verzweiflung eines Gehirns ohne Bewußtsein. Welch ein
Segen, wenn solch ein Geist endlich ruht und alles seinem
gewissenhaften, unbeschädigten, ja blühenden Frauenkörper überläßt...
Jedoch, es kam ja nicht dazu. Ich wurde am ersten Abend nach 14 1/2
Stunden der charmantesten Konversation nervlich erschöpft und mental
zugrundegerichtet abgeschoben, und am zweiten Tag wiederholte sich der
Ablauf. Auch am dritten. Ich zitterte schon, konnte keine Zigarette mehr
halten, hatte brüllende Kopfschmerzen. Und wie das so ist, jeder kennt
das ja: Je länger das "reizende Verhältnis" körperloser Zugeneigtheit
andauerte, desto unmöglicher wurde es, die aufgebaute physische
Sperrmauer zu durchbrechen. Am Ende des siebenten Tages rief ich
verzweifelt, nein, ich konnte es nur noch flüstern, nein, nur röcheln:
"Wollen wir jetzt nicht zusammen ins Bett gehen?"
Sie verstand nicht, was ich gesagt hatte. Ich glaube wirklich, sie zwang
mich, den Satz zu wiederholen. Sie wich dann ruckartig einen halben
Meter zurück und drehte dabei ihr Gesicht weg, stand dann auf, stand
dann da im Raum auf ihren zwei strammen Beinen, irgendwie recht
selbstbewußt. Sie sagte noch, obwohl sie gewiß fassungslos war: "Du...
du meinst... ob ich dich als Mann will?!" Sie sprach das Wort Mann so
seltsam aus, wie Martin Luther es getan hätte, wenn er über Mann und
Waib gepredigt hätte. Als ich "Ja" sagte, geschah das Schrecklichste, was
ich je erlebt habe. Eva Maria bekam einen hysterischen Lachkrampf. Das
schreibt sich so einfach dahin, aber in echt ist es furchtbar. Noch heute
höre ich manchmal dieses gekreischte Lachen, nachts, wenn ich alleine
wach liege... Damals, in dieser Nacht vom 19. Auf den 20. Jänner 1982,
vor über 20 Jahren also, bewegte ich mich rückwärts und
angstgeschüttelt aus dem Zimmer, der dunklen Treppe entgegen, die ich
Etage für Etage nach unten stürzte, ohne Jacke und Mantel. Auf der
Plattform der ersten Etage erlitt ich den besagten Ausbruch von Epilepsie,
den ich nicht weiter schildern will, um den Leser nicht zu verschrecken.
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Hannelore Kohl ist bekanntlich an einer Krankheit namens Lichtallergie
gestorben. Sie hat sich nicht gekillt, weil der Alte sie schlecht behandelte,
wie der stern behauptete, nein. Sie ertrug das Licht nicht, und eines
Tages wurde sie immun gegen das Gegenmittel (Aluminiumhydroxid),
mußte immer im Keller bleiben, was auf die Dauer doof war. Die Parallele
zu mir liegt auf der Hand: Das Soziale war für mich das Licht, gegen das
ich allergisch war, und der ruhende, mir nichts Böses wollende junge
Frauenkörper das Gegenmittel. Ein alter Frauenkörper oder auch ein Tier
wirkten nicht, da ich mich vor beidem fürchtete. Alte Frauen gemahnten
mich an meine Mutter, die den armen Vater so gequält hatte, und Tiere
waren geistesgestört und übertrugen Krankheiten. Nur überirdisch
blonde, kratzerfreie Engel brachten die optimale Wirkung, Wesen wie die
somnambule Cathérine Deneuve von 1964 oder die zugekokste Ariane
Sommer ohne Slip auf der Stretchlimo-Rückbank von 2002. Frauen auf
Drogen waren sowieso gut. Wenn sie in die tiefen Kissen versanken und
in die endlose Ferne des Dämmers... aber greifen wir nicht vor, bleiben
wir bei Hannelore Kohl und meiner Lichtallergie. Diese Eva fast hand
Maria hatte also einen Nervenzusammenbruch bei mir herbei geführt.
Was bedeutete das? Ich konnte fortan anderthalb Jahre lang nicht allein
sein, nachts nicht schlafen, nicht schreiben, nicht Geld verdienen, und ich
befand mich die ganze Zeit in einem Zustand der Angst. Das war wirklich
nicht schön. Meine Freunde halfen mir, doch tatsächlich wußte niemand,
wie es wieder aufwärts gehen solle mit mir, am wenigsten ich. Damals
war es noch nicht üblich, junge Leute zum Psychiater zu schicken. Man
hielt Zustände wie meine für normale Erscheinungen einer
Selbstfindungsphase. Da ich so kaputt war, gelang es mir nicht, Frauen
für die Nacht aufzutreiben, schon gar keine blonden und auch keine mit
mächtigen, straffen Brüsten. Wenn ich es versuchte, dachten sie, ich
wolle bloß mit ihnen ins Bett und wandten sich angeekelt ab (genau wie
dieDeneuve in Ekel, daher der Titel). Also, sie dachten, ich wolle sie
penetrieren. Sie waren besessen von dem Gedanken. Hätte ich gesagt,
ich wolle bloß neben ihnen liegen während sie schlafen und das blöde
Penetrieren mache ich bloß so nebenbei, hätten sie wieder hysterisch
gelacht wie Eva Fasthand und mich in die nächste Bedrouille getrieben.
Ich hatte also kein "Gegenmittel" mehr. Meine ratlosen Freunde nahmen
mich auf Partys mit. Diedrich Diederichsen nahm mich JEDEN ABEND mit
in eine Bar mit vielen Menschen. Mit anderen Worten: Obwohl ohne
Gegenmittel, war ich mehr denn je dem ausgesetzt, was mir so zusetzte
wie Hannelore Kohl das Licht: dem Sozialen. Die Folge war, daß ich fast
ein Jahr lang immer kurz vor der Epilepsie und auch dem Selbstmord
stand. Ich hatte mir selbst das Versprechen gegeben, genau ein Jahr lang
durchzuhalten. Erst am 20. Januar 1983 wollte ich das Gift nehmen.
Diese Überlegungen wurden irgendwie publik, und meine Freunde
beschworen irgendein Mädchen, sich doch um Gottes Willen mit mir
einzulassen. Na, so "irgendeins" war es nicht, es war schon blond, sehr
blond sogar und gut bestückt. Vom 14. Dezember 1982 an hatte ich
wieder mein "Gegenmittel". Aber es dauerte bis in den Sommer 83
hinein, bis ich wieder ein Gleichgewicht zwischen Geselligkeit und Ruhe
30
fand, und bis ins Jahr 1986 hinein, bis ich wieder schreiben konnte. Mein
zerfetztes Nervenkostüm mußte erst wieder zusammenwachsen, und das
brauchte, wie man sieht, viele Jahre. Ich wurde auch nie wieder so nett
und naiv wie vordem. Ich bedaure das sehr. Meine ungewöhnliche Art
hatte man früher für kindsköpfig gehalten und "verrückt" (das Wort, das
die einfachen Leute gebrauchen, wenn sie lustig meinen), nun jedoch
hielten mich manche für "böse", womit sie meinten, daß sie mich nicht
verstanden. Und da sie mich nicht verstanden, hatten sie Angst vor mir.
Nicht nur Rainald Goetz, auch viele junge Frauen empfanden so, was es
mir schwer machte, sie zu erobern. Ich fand das schade.
Ich will hier eines klarstellen: Es ist mir nie um Sex gegangen. Den
Geschlechtsverkehr selbst finde ich oft langweilig. Also dann, wenn die
Frau über dreißig ist, Frauenzeitschriften liest und "gut im Bett" sein will
(und womöglich noch Glatze trägt und ein Tattoo am Oberschenkel, das
mann "witzig" finden soll). Ich gebe zwar zu, daß mir nichts soviel Spaß
gemacht hat wie das Vögeln mit der Superblondine Kirstin Ruge, woran
ich heute noch seligen Auges und zu Tränen gerührt zurückdenke. Ja, ich
kann mich an jedes einzelne Mal erinnern, an jede Sekunde, und es ist
das einzige, weswegen mein Leben einen Sinn gehabt hat. Gut, das gebe
ich ja alles zu. Aber was meine Nervenkrankheit anbelangt, so zählte der
Sex überhaupt rein gar nicht. Es ging um die Nähe. Meine Mutter war
überraschend gestorben, als ich sechs Monate alt war, und mein armer
Vater hatte vergessen, einen Ersatz zu beschaffen. So erklärt sich das,
um nur das Wichtigste zu nennen. Auch mein Vater mochte übrigens
junge Blondinen gern, weswegen er nach Bayern zog und dort ein
Internat für Mädchen leitete. Zur Nachhilfe bei uns zu Hause erschienen
ausschließlich wahre Busenwunder, sodaß meinem Bruder und mir die
Ohren glühten, sobald wir nur die Tür aufgemacht hatten oder den Tee
servierten. Papi hatte wirklich Geschmack, und die zweite Frau, die ihn
später so tyrannisierte, bemerkte von allem nichts.
Doch was ist nun mit Ariane Sommer? Vielleicht war schon ihr Nachname
ein Wink des nahenden Schicksals. Denn im Sommer des Jahres 2002
"überschlugen" sich die Ereignisse, wie es im schlechten Deutsch heißt.
Da war zunächst eine Frau, die hieß, äh, das sagen wir jetzt mal nicht,
aber mit der war ich seit dem Mauerbau oder länger liiert, bis sie sich
von mir trennte. Der Leser ahnt es: da bahnt sich eine Wiederholung an!
Und in der Tat, ich schlief nachts wieder allein, und das gesellige Trinken
mit Fremden brachte mich um. Gewitzt wie ich war, sah ich mich nach
etwas Neuem um. Ich war nun aber keine 28 mehr wie Victor Ward. Die
jungen Mädchen liefen nun schon vor mir weg, bevor ich überhaupt etwas
Unsittliches gesagt hatte. Seltsam war das. Die starke nervliche
Anspannung ließ mich nun sehr schnell altern. Nach nur vier Wochen
ohne "Gegenmittel" sah ich bereits zehn Jahre älter aus. Da ich beruflich
erfolgreich war, gab es durchaus Frauen, die mit mir schlafen wollten.
Und keine üblen Weiber, mein lieber Scholli! Starke Frauen, die tough
waren, etwas geleistet hatten im Leben! Die Kinder waren aus dem Haus
und das Tattoo am Oberschenkel war keineswegs weniger witzig als sonst
immer! Da war jemang jung geblieben, wow! Und ich konnte nicht
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mithalten. Der Sex strengte mich an, brachte meinen Kreislauf
durcheinander. Es war nicht direkt schlecht, aber ich bekam einfach
Depressionen davon. Wegen der widerwärtigen Worte, die dabei
gesprochen wurden? Oder weil dabei geschwiegen wurde? Oder beides,
weil meistens geschwiegen wurde und wenn nicht, man Worte hörte wie
"... weil, weißt du, du mußt dich selbst lieben, dann werden dich auch alle
anderen lieben, denn es ist ja so, daß..." und das Herz einen jähen
Ausfallschritt hin zum Herzinfarkt machte, weil man gar nicht mehr
wußte, was man und in welcher Schärfe... ach, es lohnt nicht, darüber zu
schreiben, es ginge auch am Thema vorbei. Das Thema heißt ja: Wie
begegnete ich meiner Traumfrau Ariane Sommer! Und wir waren gerade
im Frühsommer 2002, beim Durchlaufen diverser Kandidatinnen,
sozusagen im Vorlauf. Um nicht zu langweilen, mache ich es kurz: Eine
junge Ossi-Frau wurde mir von einem Schriftstellerkollegen empfohlen.
Sie sei sehr sauber, meinte er, sehr reinlich, außerdem könne er sich für
sie verbürgen. Im Osten heiratete man ja früher jung; er war mit ihr von
1988 bis 1999 verheiratet gewesen, dennoch zählte sie kaum 30 Jahre.
Mit ihr hatte er seine größten Erfolge als DDR-Underground-Geheimtip
gehabt, mit ihr war er einst aufgestiegen: das sprach doch, glaube ich
wirklich, total für das Girl (Thomas Meinecke, ein anderer Kollege, sagt zu
allen Schriftstellerfrauen immer "girl", wohl weil er aus Amerika kommt).
Sie war auch sofort bereit, mich zum Freunde zu nehmen. Leider war sie
von Natur aus unsicher. Sehr unsicher. Diese Eigenschaft definierte sie.
Der Kollege und Ex-Mann sagte es mir gleich. Es sei schon immer ihr alles
überschattendes Problem gewesen. Man habe jahrelang daran gearbeitet.
Doch umsonst. Mehrere Therapien habe sie abgebrochen. Und in der Tat:
das Mädchen sagte nichts vor lauter Unsicherheit. Ich mußte für zwei
reden. Umso anstrengender war das sogenannte Soziale für mich in
diesem Fall. Es war, als müsse Hannelore Kohl ihre Schwiegertochter im
Hochsommer in die Türkei begleiten. Ich brannte schon am ersten Abend
vollkommen aus. Als ich mich dann zu ihr legte, schlief sie nicht ein,
sondern war immer noch unsicher. Sie weinte dabei. Sagte aber nicht,
warum. Es war entsetzlich. Die ganze Nacht lag sie wach und weinte,
während ich aus schierer Nervenüberreizung und Totalerschöpfung
einschlief. Wir trafen uns noch fünf weitere Nächte, immer geschah
dasselbe, ich mußte reden bis kurz vorm epileptischen Anfall. Da floh ich
aus der Stadt und erholte mich bei meiner Ex-Frau. Gott sei Dank ging
das noch. Aber sie kannte mich ja und wußte, was ich brauchte und wie
arg es um mich stand.
Als nächstes kam, im Mai 2002, eine junge Musikerin in mein Leben, die
ich wählte, da offenbar sie mich gewählt hatte. Sie spielte die Erste Geige
bei den Berliner Philharmonikern, war Anfang 30 und verrückt nach mir,
wie es zunächst schien. Seit dem dritten Lebensjahr übte sie täglich
vierzehn Stunden auf der kostbaren (sehr teuren) Violine. Aufgewachsen
war sie in einem Barockschloß. Sie war ein durch und durch prämoderner Charakter, in dem extremen Maße, wie ich ein postmoderner
Charakter war. Wir hatten ideengeschichtlich keinerlei gemeinsame
Schnittmenge und konnten uns, wenn kein Dritter im Raume war, nicht
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verständigen. Sie war sehr blond, hatte große, kobalt-, nein preußischblaue Augen, und als ich sie fragte, ob wir nicht heiraten wollten, hatte
sie ja gesagt. Sicherlich war es halb im Scherz gewesen, aber eben auch
halb im Ernst. Das reichte mir. Sie hielt mich für einen großen Dichter, für
einen heutigen Hugo von Hoffmannthal wahrscheinlich, einen göttlichen
Verseschmied. Sie war noch Jungfrau. Der einzige Freund, den sie einmal
gehabt hatte, war von ihr fortgeschickt worden. Hatte er sie geschlagen?
Betrogen? Beides? War er Trinker gewesen? Homosexuell? Gemein?
Unsensibel? Blöd? Nein, er hatte gegen irgendeine juristische Petitesse
verstoßen, irgendeine Prinzipienreiterei war das gewesen von ihrer Seite
aus, niemand hatte einen Schaden gehabt, ganz im Gegenteil: der Mann
hatte ein Foto von ihr mit Geige, das er gemacht hatte, sie züchtig
angezogen und ernst blickend, einem Freund mit Galerie überlassen,
ohne sie zu fragen. Das war der Trennungsgrund. Daß er nicht vorher
gefragt habe. Natürlich hätte sie ja gesagt, aber er habe nicht gefragt.
Das regte sie noch Jahre später auf, diese Verletzung eines Prinzips. Fast
täglich fing sie davon an, und jedem neuen Bekannten erzählte sie den
"Skandal". Man kann sich gut vorstellen, wie solch eine Frau tot umfiele,
erführe sie auch nur von einem Promille meiner Tabu- und
Prinzipienverletzungen, die ich täglich und vorsätzlich beging!
In Gesellschaft hatten wir wundervolle Erlebnisse, auch wenn es mich
natürlich nervlich über alle Maßen und jede Vorstellung, die sich ein
normaler Mensch davon machen könnte anstrengte. Wir begannen den
Tag manchmal mit einer Wohltätigkeits-Matinée am Vormittag (sie spielte
Geige), schüttelten Hände, machten small talk, wechselten dann zu
einem Brunch bei befreundeten Musikern (sie spielte Geige), oder einer
Geburtstags-Party in der ehemaligen Ossi-Theaterszene (sie spielte...),
oder einem richtigen Konzertabend in der Staatsoper (sie...), der mit
Kollegen, Librettisten und Verwandten in der Kantine ausklang. Danach
fuhr ich sie nach Hause, nervlich schon das World Trade Center nach dem
Anschlag. Ich fieberte der Nacht entgegen. Doch jedesmal, wenn ich die
Treppen hochsprang, fragte sie befremdet, wieso ich mitginge. Ob ich
vielleicht eine Intimität erzwingen wolle, die normalerweise niemals
stattfände? Es kam stets zu äußerst häßlichen Szenen. Und immer wurde
ich ungetröstet nach Hause geschickt, wo mich nur viele Valium
ruhigstellen konnten.
Für sie war der Fall klar. Ich konnte mich sogar in sie hineinversetzen: Es
war ein sogenannter großartiger Abend gewesen, war das nicht genug im
aktuellen Stadium der Verlobung? Was wollte er denn noch, der
unersättliche Herr Dichter? Einen Kuß? Nun, dann zeige er wenigstens
Mut und raube einen! Das trüge ihm eine saftige Ohrfeige ein, würde aber
als Pluspunkt gewertet werden. Ja, das Burgfräulein hätte ihn nur noch
lieber nach solch einer schneidigen Tat... aber sein Ohr auf ihre
unberührte Brust legen, zum schieren Pennen, oh mein Gott! Der Mann
war ja unmöglich!!
Und so verlor ich sie wieder. Sie begriff, dass einer, der sowas von ihr
wollte, nicht v. Hoffmannsthal war, sondern ein niederträchtiger Schurke,
der sich ins Schloß geschlichen hatte. Von einem Tag auf den anderen
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sprach sie kein Wort mehr mit mir, ohne sich zu erklären. Das war am 21.
Juni des Jahres 2002, einem Freitag. Ich war schon wieder allein. Die
Valium gingen mir aus, das Nervenkostüm war nach sieben Wochen
Konversation über Mozart, Bach und Brahms bis auf den Stumpf
niedergebrannt. Ich konnte nicht mehr schreiben. Meinen Freunden
begann ich wieder leid zu tun, und sie nahmen mich zu Partys mit, wo ich
weiter abfackelte. Es war ja die Zeit der Fußball Weltmeisterschaft, und
die Freunde "kümmerten sich rührend" um mich. In großer Runde wurden
die Spiele geguckt, mit viel Bier und Gelächter, immer auf niedrigstem
Niveau, immer krachend lustig und derb, bis mir schwindlig wurde und ich
vom Stuhl sank ins bewußtose Nichts. Lange konnte es nicht mehr
gutgehen mit mir. Denn ein weiteres Mal half mir die Ex-Frau nicht mehr.
Ich schaffte mir zwei Haustiere an, wirklich intelligente Tiere, die mich gut
verstanden, aber auch sie schliefen nachts lieber ohne mich. Es war
zudem ein Paar, das sich sehr mochte. Bald würden sie Kinder haben.
Als nächstes kam eine Frau, über die ich nicht schreiben darf. Dieses
Versprechen hatte ich ihr ziemlich am Anfang gegeben. Sie hatte nämlich
vermutet, die Violinistin habe sich zurückgezogen, damit ich nicht über
sie schreiben könne (ohne sie vorher gefragt zu haben!). Daraufhin wollte
ich von der neuen Frau wissen, ob sie denn Angst vor so etwas habe. Als
sie lachend bejahte, gab ich ihr das Versprechen. Ich kann daher über
diesen Teil des Sommers nichts sagen und muß direkt zum Ariane-Teil
übergehen, der damit begann, daß ich in einem alten Männermagazin
Nacktfotos von ihr entdeckte, zufällig, beim Zahnarzt. Ich hatte noch
niemals vorher eine solch geile Frau gesehen, nicht in Wirklichkeit, nicht
im Film, nicht auf Fotos. Ich wußte: Diese geniale Schlampe mußte ich
treffen!
Es war natürlich sehr einfach, sie zu treffen. Ich rief bei n-tv an, wo sie
einmal beschäftigt gewesen war, wie mir ein Freund für solche Fälle,
Christian Y Schmidt, gesteckt hatte. Ich ließ mir ein Video schicken,
"Lebens Art" hieß die Sendung, die Ariane moderiert hatte. Das war zum
Lachen schlecht. Ariane konnte überhaupt nicht moderieren. Es war, als
würde der Fußballspieler Ballack versuchen, die Thomas Gottschalk Show
zu machen. Im Abspann erfuhr ich den Namen ihres Managements, rief
dort an. Der Manager nahm meine Nummer auf, und Ariane rief mich an.
Ihre Stimme war viel netter, authentischer und somit erotischer als auf
dem Video. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Ich fand, daß sie
nicht hübsch lief, als sie mir im Literaturhaus entgegentrippelte, und daß
sie überschminkt war, als sie vor mir stand. Ich bat sie, die fetten Crèmes
auf der Toilette abzuwaschen, und danach gefiel sie mir besser.
Sozusagen noch besser. Ich mußte ihr vorspielen, ein Interview mit ihr zu
machen, und damit es mir leichter fiel, machte ich das dann wirklich. In
der Süddeutschen Zeitung erschien tags darauf - es war zufällig die
allerletzte Ausgabe der Berliner Seite, für die ich regelmäßig schrieb folgendes kleine und gewöhnliche Feuilleton:
"Joachim Lottmanns Tagebuch. Über Ariane Sommer.
Man sagt, sie habe eine Männerstimme, die das Aufreizende ihres Körpers
konterkariere. Man sagt, die Mädels aus 'baise-moi' seien harmlose
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Kaugummi-Kids, verglichen mit ihr. Und es heißt zum Beispiel über ihre
morbiden Halbweltfotos in der 'GQ' (brutales junges Weib wartet schlecht
gelaunt und ziemlich nackt und breitbeinig/langbeinig im Fond eines
Maybach auf die nächste Line), sie wirke wie Zuhälter und Hure in einem.
Falsch! Richtig dagegen: Ariane Sommer ist im Moment die erotischte
Frau in Deutschland. Und: Zumindest ihr Lachen ist das eines Mannes.
Deswegen versucht sie, es möglichst selten zu tun. Aber es gelingt ihr
nicht. Es überkommt sie immer wieder, von tief unten her rollt es heran,
ist nicht mehr zu unterdrücken, donnert los, und es wackeln die Wände
im ganzen Lokal. Leute drehen sich um, Kellner kommen aus dem Tritt,
Media-Agenten werden aufmerksam. Ganz klar: diese Frau will jeder
kennenlernen. Und, nota bene: diese Frau ist der Magnet, um den weite
Teile des Berliner Nachtlebens sich formieren. Sie hat als PR-Chefin den
Club '90 Grad' zur skandalumwitterten Muß-Disco gemacht, an die selbst
Edmund Stoiber nicht vorbei kommt, wenn er auf Jungwähler magnetisch
wirken will wie ein charismatisch-jugendlicher Führer. Oder die Sache mit
der Schießerei. Berliner Zeitungsleser rieben sich monatelang die Augen:
waren Puff Daddy und Jennifer Lopez in der Stadt, mit Colt und Ballerei?
Ging es so heiß her inzwischen, war man so sehr Metropole geworden?
Im '90 Grad' wohl schon. Und plötzlich wollten alle dieses blonde Model
haben: Harald Schmidt, die Bunte, ntv, die ZEIT, der Playboy. Und überall
machte sie mit. Sie schreibt, dreht, moderiert, modelt und so weiter, hat
ihre Kolumne, irgendwo immer ihren Sendeplatz (egal ob bei n-tv oder
ONYX), bringt jetzt ihr Buch heraus und so weiter. Das wäre alles noch
nichts Besonderes. Nein, sie bleibt weiter der Star im Nachtleben. Sie
tanzt auf den Tischen, lacht dieses herausplatzende Männerlachen, bringt
in Kuhfell-Hotpants und Over-knee-Stiefeln die Media-Manager um den
kleinen Verstand. Keiner kennt so viele Partys, kennt so viele Hip People
wie Ariane. Mit ihrem Adressbuch allein könnte Schröder die nächste Wahl
doch noch gewinnen. Wer ist dieses Mädchen, das alle so mögen? Diese
Kreuzung aus Sharon Stone, Brigitte Nielson und Charlize Theron? Sie ist,
natürlich, eine Verbündete der Männer ("Den Barbiepuppen rasierte ich
die Haare ab, spielte lieber mit Autos"), mit dem Körper einer
Männerphantasie, nicht von dieser Welt, zu schön um wahr zu sein: groß,
blond, schlank, gut gebaut. Ihr Blick sagt: Laß uns Pferde stehlen gehen,
oder noch was Heißeres machen! Die Frauen verharren in ohnmächtiger
Wut. Den Menschenkenner wird nicht verwundern, daß dieses enfant
terrible, das vor Friede Springers Augen Matthias Döpfner den Kopf
verdrehte, vor allem eines ist, of course: intelligent. Mit sechs Jahren
lebte die Tochter eines deutschen Generalkonsuls in Indien, später in
Sierra Leone / Afrika, dann auf Madagaskar. Onkel Theo, damals der
große ZEIT-mastermind, hielt Verbindung zu ihr. Mit 15 kam sie ins
Internat in den USA und erlebte, wie alle männlichen Mitschüler sie
triezen, pieksen und ärgern wollten. Das Prinzip "Was sich liebt, das neckt
sich" kannte sie nicht aus Afrika. Prompt schlug sie immer zurück, mit
aller Kraft. "Ich habe immer alle Jungen verdroschen. Und ich hatte einen
sehr festen Schlag", lacht sie. Seltsam: die Geschlagenen trugen ihre
blauen Flecken wie Trophäen herum, machten weiter. Mit 16 der erste
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Apfelkorn. Als Model entdeckt wurde sie schon vorher. Die ersten
Aufträge hatte sie mit 13. Sie wußte somit immer, was sie wert war,
hatte es nie nötig, sich Cliquen anzuschließen. Selbst als 'Neue' im
Internat blieb sie so lange um sich schlagender Außenseiter, bis die
tonangebenden Cliquen ("die Coolness-Clique und die Computer-Clique")
Arianes dress code übernahmen... Dann übersprang sie eine Klasse ("weil
ich einfach in allen Belangen überlegen war"), machte bald Abitur und
studierte Politologie. Nur noch ab und zu ein Modeljob, um die nächsten
zehn Riesen fürs geliebte Studium abzugreifen. Klar hätte sie Supermodel
werden können, doch bevorzugte sie es bei weitem, über Montesquieu
und Proudhon zu debattieren ("Wozu die Fleischbeschau?"). Ihr neues
Buch handelt denn auch von der 'Tugend'. All die vielen Ideen, die jetzt in
"Mitte" geboren und umgesetzt werden, sind ja nichts wert, meint Ariane
Sommer, wenn sie nicht Neben- oder Folgeprodukte der Tugend sind. Sie
hält Berlin immer noch für the place to be, gleichwohl: Herzensbildung ist
der Schlüssel zum Glück. Und Zivilcourage. Man mag das nicht glauben,
wenn man in den Gazetten liest, was sie wieder angestellt hat (wieder
mal bei Minus drei Grad nackt in eine Badewanne voller Mousse au
chocolate gestiegen etc.), aber es macht Sinn: Solange du keinen
Mitmenschen in seinen Gefühlen oder seiner Würde verletzt, darfst du
alles. Jedenfalls wenn du es dir selbst ausgedacht hast und es wirklich
willst. Deswegen kommt ihr bei Reality TV das Kotzen, und deswegen ist
es o.k., wenn sie Brücken baut im Nachtleben, wenn sie Politik und Show
Biz, Medien und Literatur, Cem Özdemir und Mister Hunziger zusammen
führt. Zuletzt stürmte ein Lyriker mit Gedichten (Thema: "Schöne
Ariane") auf sie zu, auf der Käfer-Terrasse im Reichstag. Sie hat ihn
prompt zum Lady's Lunch mitgenommen und später ins rive gauche.
"Berlin ist kreativ und boomt, egal zu welcher Weltwirtschaftskrise. Der
Tanz auf dem Vulkan, darin haben wir Übung. Hier haben alle Hummeln
im Hintern. Sehr viele Ideen wurden umgesetzt, weil es keine
geschlossenen Kreise à la Hamburg oder München gab."
Ja, die Newcomer hatten es hier leicht, im Schröderstaat. Es war ihr
Staat, ihre Stadt, ihre Dekade. Es war die Zeit der Ariane Sommer. Und
wir alle können dereinst sagen: Kinder, wir sind dabei gewesen!"
Soweit mein kleiner Aufsatz, den ich natürlich nur für sie und ihre
Handynummer geschrieben hatte, die sie mir nun endlich gab. Wir sahen
uns nun häufiger. Eines Tages, als ich mit meiner Nichte Hase vor einem
Premierenkino auf Ariane wartete, die uns auf die VIP-Liste wuchten
wollte, dachte ich, es wäre allmählich Zeit, sich das nervenaufreibende
Eventgetue zu ersparen und lieber gleich den epileptischen Anfall
hinzulegen. Ich sagte zu Hase, es gehe mir schlecht, ich müsse nach
Hause.
"Zuviel Trubel hier, was?" sagte Hase mitfühlend. Da stand plötzlich
Ariane hinter ihr. Hase jaulte:
"Jolo will schon wieder los, dem isses hier zu voll!"
Ariane fragte, was ich denn lieber wolle. Ich sagte, ich wolle nach Hause
gehen und dort auf sie warten.
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"Okay" sagte sie und drückte, nein schlug mir ihren Schlüssel in die Hand.
Sie sagte dieses berlinerische Jugendlichen-Okay, bei dem das y so
dämlich überdehnt und irgendwie fragend stehengelassen wird, also
okäiiii... und ich stand verblüfft da, in der Hand den Wohnungsschlüssel
von Ariane Sommer, der geilsten Frau der Welt! Wie gesagt, sie war ein
Kumpeltyp, eine Verbündete der Männer, sie zickte nicht lange rum.
Sie kam, glaube ich, um zwei Uhr nachts. Am nächsten Tag wurde es
drei, am dritten vier Uhr. Danach und seitdem pendelte es sich auf halb
zwei Uhr ein. Sie legt sich neben mich, und da sie eine Frau ist, die
schnarcht, merke ich meistens sehr schnell, daß sie schläft. Frauen, die
schnarchen, sind nicht so fürchterlich und ekelerregend wie schnarchende
Männer. Im Falle von Ariane kann ich sogar sagen: ich höre es gern.
Fußnote
Ariane Sommer:
Spätestens hier wird deutlich, dass ich nicht über mein journalistisches Thema, also
Ariane Sommer, schreiben wollte, sondern über mich. Das allein wäre nichts Neues.
Nichts anderes erwartete man inzwischen von einem Lottmanntext. Das Besondere hier
liegt in der geradezu gnadenlosen Übertreibung des eigenen Prinzips. Erstmals hatte ich
ein Medium, das keine Längenvorgabe mehr kannte, nämlich das Internet, und das
nutzte ich sofort aus. Der Artikel erschien in dem Blog "Wir höflichen Paparazzi" (und in
einer
stark
abgespeckten
Form
in
der
SZ).
7. Mit Sophie Dannenberg im Tiergarten
Tiere sind blöde. Es gibt nichts Langweiligeres als Tierparks.
Langweiliger sind nur Wälder (weil sogar ohne Tiere). Noch
langweiliger als Wälder sind nur Steppen, Tundren, Wiesen, Seen,
weil sogar ohne Bäume. Langweiliger als das ist nur der Mond. Da
war ich noch nie. Sophie Dannenberg hat mich in den Berliner
Tierpark geschleppt.
Das war ihr Wunsch. Dort wollte sie mir dieses seltsame Buch mit
dem Schauerromantitel "Das bleiche Herz der Revolution" erklären,
bei einem gepfegten Spaziergang zwischen Riesenreihern und
"katzenähnlichen Kleinbären mit auffälliger Gesichtszeichnung",
vulgo Pandas. Nun sieht die Frau, die behauptet, Sophie
Dannenberg zu heißen, phantastisch aus, Mitte 20, sehr blond, aber
Fakt ist: sie heißt ganz anders. Nämlich Charlize Theron. Da wette
ich. Jedenfalls eher als Dannenberg. Sie gibt zu, sich den Namen
nur ausgedacht zu haben. Um ihre Familie zu schützen. Seitdem
rätselt die 68er Fachpresse, welche Familie das denn sei. Die der
Dutschkes? Manche behaupten, K.D. Wolff sei ihr Vater. Ich bringe
Bernd Rabehl ins Spiel. Sie braucht ein paar schwer geseufzte
Sekunden, um das mit letzter Kraft zu dementieren. Vielleicht war
ich nahe dran.
Ich will mich berichtigen: Es gibt noch etwas Langweiligeres als
Tiere, Steppen oder Mond, nämlich das Thema "68", oder "68 und
die Folgen", oder all die Synonyme wie "Der heiße Sommer der
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Liebe", oder "Die verdammt geilen Monate der Anarchie" und so
weiter, oder eben jetzt "Das fahle Gesicht der Revolte". Es gibt
absolut keine Möglichkeit, sich auf diesem Terrain zu bewegen ohne
alle zu langweilen. Bei Adolf Hitler und seine wilden Jahre ist das
sonderbar anders. Obwohl auch hier alles gesagt ist, interessiert es
jeden. Ich merkte es bei meiner Recherche. Freunde, die ich anrief,
um ein bißchen übers Thema zu reden, um irgend eine Anregung
zu erzwingen, legten auf, manche Entschuldigungen gähnend,
andere selbst ohne dem. Meine Frau, die nie lügt, stammelte
plötzlich etwas von der Verbindung, die so schlecht sei, der
Funkkontakt reiße ab. Dabei war es Festnetz. Der arme tazRedakteur, der das Buch der schönen Oskar-Gewinnerin schon
letzte Woche rezensieren mußte (s. taz v. 8.8.2004: "Fahl bleibt
unser Herz zurück"), reichte danach Urlaub ein.
Ich hatte es besser. Der Berliner Zoo ist wie eine Farm in Afrika.
Gleich bricht Meryl Streep aus dem Gehölz bzw. Gebüsch, gefolgt
von Klaus Maria Brandauer. Die Sehnsucht aller Spießer nach
Tieren (weil die nicht denken und Denken was Schlechtes ist)... der
Deutsche fühlt. "Letztendlich sind alle Gefühle faschistisch", zitierte
der junge Diederichsen einmal Gottfried Benn. Ein kleines Pillhuhn
schwimmt in dem mächtigen Wassergraben, der die Löwen daran
hindert, die zuguckenden Menschenkinder bestialisch zu
zerfleischen. Verglichen damit, wären die Geiselnehmen von Beslan
sogar noch Humanisten. Oben dreht schon der Riesengeier seine
Runden. Die puppenhafte Autorin spricht über Nashörner, die
Säugetiere seien oder so, wie die Schweine. Es gebe aber auch
menschliche Schweine, die säßen in den Zeitungen. Vielen Dank.
Da reden wir dann doch lieber über die Alt-68er:
"Gnädiges Fräulein, was halten Sie von Adorno?"
"Er war radikal, depressiv, brilliant. Es hätte mich interessiert, was
er geschrieben hätte, wenn er noch zehn Jahre länger gelebt
hätte."
"Depressiv und radikal, sagen Sie..."
"Nein, ich sagte radikal, depressiv und brilliant."
"Ach gewiß. Also wenn es so ist, dann hat ihn wohl die
Studentenbewegung auf dem Gewissen?"
"Das hat ihn alles sehr mitgenommen. Die Institutsbesetzung, das
Busenattentat und so weiter. Kennen Sie das Busenattentat?"
"Nein. Klingt interessant."
Sie erzählt, daß drei blutjunge Kommilitoninnen mit ziemlich festem
Bindegewebe nackt vor Adorno am Katheder getanzt hätten, um zu
zeigen, wie verklemmt er war. Kurze Zeit später kriegte er einen
Herzinfarkt.
"Beweis gelungen, sozusagen. Haben sich die jungen Dinger denn
je entschuldigt?"
Natürlich nicht. Die ganze Bewegung sei autoritär und faschistoid
gewesen, lautet Sophie Dannenbergs These. Ihr Roman ist eine
zutiefst haßerfüllte Abrechnung mit den Sauereien und Ferkeleien
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der Alt-68er, die zudem heute an der Macht seien. Und da sie das
seien, sei eine Aufarbeitung dieser Zeit so schwer. Adolf Hitler
konnte man irgendwann aufarbeiten, aber der war ja auch nicht
mehr an der Macht, seit dem 30. April 1945.
Die Affen sind wirklich niedlich, auch weil sie sich manchmal in den
Arm nehmen und liebhaben. Das tut kein anderes Tier. Die Jungen
jagen sich die hohen künstlichen Felsen rauf und runter; das sind
Verfolgungsjagden wie im Actionfilm, halsbrecherisch. Aber keiner
zerschmettert dabei, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Ich sehe auf
die vielen, vielen Affen, höre aber natürlich weiter konzentriert zu,
das gebietet die Berufsehre des guten Journalisten. Vom
handkleinen Baby bis zum lebensgroßen Langhanspavian ist alles
vertreten, die vermehren sich wohl viel und haben Spaß in der
Gefangenschaft. Ein bißchen irre ist diese Sophie Dannenberg
natürlich schon, das muß man einfach sagen dürfen, also so
starrblickig und ausgestopft, mit Dauerwelle und zugeknöpftem
50er-Jahre-Damenmantel, aber ich höre ihr tatsächlich gern zu:
"Mein Vorwurf an Adorno ist, daß er das Konzept Familie zerstört
hat und als Brutstätte des Autoritären verunglimpft hat..."
Wir gehen weiter. Sie erzählt von den Millionen Heranwachsenden
seitdem, die in ihren Eltern keine Autorität mehr finden, keinen
Halt. Kinder, die in Erfurter Gymnasien Lehrer exekutieren, um sich
dafür zu rächen. Schon die ganze antiautoritäre Bewegung damals
erzählte in einer Art Wiederholungstrauma den Schmerz über den
Verlust elterlicher Autorität. Denn die Kriegsgeneration der Väter
hatte jede echte Autorität verloren oder abgelegt. Wo es noch
Autorität gab, war es eine angemaßte und behauptete.
Schöne These. 1945 keine Autoriät mehr, 1968 nicht mehr, heute
auch nicht mehr. Deswegen sehen wir den Oliver-Hirschbiegel-Film
so gern. Adolf Hitler und die letzten zwölf Tage unserer finalen
Autorität. Und danach mit der Kalashnikov ins Gymnasium! Ein
Gorillaweibchen steht jetzt da, nur einen Meter vor mir, nett, groß,
freundlich, direkt. Ich lese: "Weibliche Gorillas (100 bis 300
Kilogramm) verlassen mit der Pubertät ihre Geburtsgruppe. So sind
die sozialen Bindungen zwischen Weibchen einer Gruppe mangels
Verwandtschaft nur schwach." Mutiges Weibchen! Mir gefällt sie,
wenn auch nicht so gut wie das alarmblonde Menschenweibchen,
das sich bei mir untergehakt hat und weiter ihr Lied singt:
"Adorno war natürlich auch ein Frauenheld. Aber er hatte etwas
enorm Unschuldiges, ja Teddyhaftes. Bis fast zuletzt blieb er
unschuldig. Als er dann am Ende merkte, daß er sich schuldig
gemacht hatte, war es zu spät..."
"Armer Adorno. Aber in Ihrem Roman lebt er doch weiter?"
"Meine Romanfigur hat noch andere Züge, trägt bessere Anzüge
und so weiter. Adorno wurde indirekt umgebracht, bei meiner Figur
läuft das Leben noch etwas anders."
"Waren seine Gegner wirklich so scheußlich?"
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"Ja. Ausgerechnet bei einem Vortrag über Iphigenie, eine der
schönsten Figuren der Literatur, wurde er auf so derbe Weise
lächerlich gemacht. Die 68er waren völlig unfähig, so etwas wie
Unschuld und Reinheit wahrzunehmen. Sie hatten nur primitive
Arroganz. Sie haben die Aufklärung verraten!"
"Aber geschadet hat es doch nicht wirklich, oder? Laufen hier
irgendwo Leute rum, die in Lagern gesessen haben, wie in China?
Es war doch alles nur Spaß! Bonnie and Clyde, Spaßguerilla,
Haschrebellen, Sommer der Liebe! Kinder, was ham wa jelacht!"
Sie sieht mich so gnadenlos wütend an, daß mir das Blut gefriert.
Kein Zweifel, sie hat in so einem Lager ihre Kindheit verloren, in so
einem antiautoritären Kinderladen, der autoritärer war als jede
Mao-Kindermiliz:
"All die sexuellen Schweinereien in den Kinderläden..." Sie bringt
den Satz nicht zuende, weicht aus auf Wilhelm Reich. Der habe die
forcierte Pädophilie zum unbedingten Muß einer jeden
emanzipierten Erziehung gemacht. Die nie angezweifelte These sei
gewesen, daß Kinder eine genauso starke Sexualität hätten wie
Erwachsene und daß diese nur unterdrückt sei und befreit werden
müsse. Mit aller Gewalt wurden die Kleinen sexualisiert. Sie
schüttelt sich.
"Aber es war doch nur, wie das Wort schon sagt, ein einziger
Sommer! Vielleicht auch drei, aber keine Zeitspanne, um Menschen
zu zerstören."
"Das ging rein bis in die späten Siebziger, und danach kamen die
Leute selbst an die Macht, rein in die Institutionen, und blieben da
bis heute."
Horror! Schrecklich! Der Pädophilenstaat hatte uns seit 36 Jahren
fest im Griff. Aber Moment mal: die Kleine konnte doch unmöglich
noch einen Kinderladen selbst erlebt haben?! Das waren doch alles
Phantasien! Mußte man auch haben als gute Schriftstellerin.
"Wie alt bist Du?"
"Alt genug!"
"Welches Geburtsjahr?"
"1971."
"Gut gehalten... hätte Sie deutlich jünger geschätzt... da haben Sie
natürlich einiges durchgemacht!"
"Diese Flugblätter müssen Sie sich durchlesen von damals. Alle
trieften vor Haß, wirklich alle! Die Brutalität war riesengroß, gerade
in der Erziehung. Das ist ja alles dokumentiert. Kinder sollten
möglichst früh politisiert werden. Sie sollten möglichst früh das
Elend der Welt kennenlernen. Sie sollten keinen Schutzraum haben
und so weiter."
Löwen brauchen endskrass lange Gehegeflächen und sind trotzdem
immer schlecht drauf. Ich kann diese müden Viecher nicht leiden.
Sie erinnern mich an unsere bayerischen Mitbürger, vielleicht
wegen der Löwenbräu-Werbung früher. Warum wollte Sophie bloß
40
hierher? Sie redete rhythmisch weiter, nicht unähnlich den
verhaßten früheren Intellektuellen.
"Alles was sie taten, war auf Zerstörung ausgerichtet. Auch auf die
Zerstörung persönlicher Bindungen. Idealbild war die Gruppe. Alle
persönlichen Differenzierungen wurden unterdrückt. Identität aber
ist nichts anderes als Differenzierung. So waren die Alt-68er gegen
jegliche Identität an sich! Das Ideal war der egalisierte,
gleichgeschaltete Mensch, der nicht mehr denkt! Pflichtlektüre
damals war Horst Eberhasrd Richters Buch DIE GRUPPE. Bis heute
ist dieser Mensch dafür nicht zur Rechenschaft gezogen worden! Er
läuft noch immer frei herum, mitten unter uns, wie ein ganz
normaler ehrenwerter Mitbürger!"
Ihr Zeigefinger war bei jeder Silbe in die Luft gezuckt, wo er nun
zitternd ein paar Sekunden verweilte und nachbebte.
"Würde es etwas nützen, wenn ich dem Mann einmal auflauerte
und ihm eine Watschn verpaßte?" wollte ich wissen, ganz devot und
hilfsbereit. Man tut ja gern mal was Gutes, wenns denn hilft. Man
war bei den Elefanten angekommen, Sophie lief immer schneller,
hatte auch gar kein Auge für die Tiere. Ein Leierkasten verdarb ein
bißchen die temperamentvolle Stimmung. Ich hätte die nervöse
Frau jetzt beruhigend in den Arm nehmen können, aber dazu war
ich zu sehr Profi. Mir ging es nur um die Quotes, um den Artikel.
Danach würden wir uns nie wiedersehen, und ihren pädophilen Alt68er-Verführer konnte sie selbst kaltmachen. Ich mischte mich nie
in anderer Leute Angelegenheiten. Ich räusperte mich und sagte
förmlich:
"Letzte Frage: Ist der Marxismus als Methode des Denkens und
Analysierens für Sie gleich mitgestorben?"
"Ja."
"Und wie sollen sich die neuen EU-Mitgliedsländer dann ihr
kommendes Elend erklären? Sie werden Wanderarbeiter und
müssen ihr im Westen verdientes Geld in neuen polnischen Lidl-,
Aldi- und Pennymärkten abliefern."
"Ich verstehe die Frage nicht."
Egal. Ich schaltete das Tonband aus und blickte auf die Elefanten.
Eine Horde Grundschulzwerge stand quietschend und piepsend um
sie herum, vor allem Mädchen, ganz zutraulich. Die Jungen legten
Brotreste in die Rüsselöffnungen, das sah wirklich nett aus. Ich
glaubte schon, daß die Elefanten uns Menschen freundlich
gesonnen waren. Und im Tierreich waren das echte Autoritäten!
Fußnote
Sophie Dannenberg:
Wie fast alle Reportagen machte auch diese einen mächtigen Wirbel, der über das
Journalistische weit hinausging. Es kam zu juristischen Scharmützeln zwischen Sophie
Dannenberg und der Zeitung, das war die linke "taz", aber zum Glück wurde ich nicht
involviert, was ich einzig dem äusserst umsichtigen und verantwortungsbewußten VizeChef Peter Unfried zu verdanken hatte. Ich verstand auch den Konflikt nicht. Die andere
Seite fühlte sich wohl falsch dargestellt, hatte aber schlechte Karten, da es die Person
41
Sophie Dannenberg gar nicht gab; es war ein Pseudonym. Ich und die taz wurden also
von einem Pseudonym verklagt. Während ich dies hier nachträglich schreibe, spüre ich,
wie irgendwelche Anwälte schon wieder prüfen, ob man nicht auch diese kleine
Fußnote zum Anlaß für großangelegte Prozesse und Schadensersatzklagen machen
kann. Auch die anderen Zeitungen berichteten über den Streit zwischen "taz" und
Dannenberg, was mir schon unheimlich war. Noch ein halbes Jahr danach
berichtete Hubert Spiegel in der FAZ, das Geheimnis um Sophie Dannenberg sei nun
gelüftet, es handele sich um meine Nichte Hase, und der Roman sei von ihr, Nichte
Hase, geschrieben worden. Er belegte diese These mit zahllosen Stellen aus
meinem Buch "Die Jugend von heute". ER wurde nicht mit einer Klage konfrontiert,
soweit ich weiß. Vielleicht hatte die eigene Prozeßwut die Dame inzwischen
zermürbt. Noch heute werde ich manchmal gefragt, ob es Sophie Dannenberg wirklich
gegeben habe. Das Thema macht mich immer etwas unsicher. Denn das Buch, das sie
geschrieben hat, ist wirklich einzigartig und wertvoll.
8. Mit Sarah Wagenknecht im Wahlkampf
Sie ist die einzige namhafte Marxistin Deutschlands und trotzdem noch ein
Twenty-Something. Sie ist die mit weitem Abstand schönste Frau der
Politik, betörender als Benazir Bhutto je war oder diese arretierte
Oppositionsführerin in Burma. Andauernd wird sie mit Rosa Luxemburg
verglichen; dabei ist sie viel attraktiver als diese, und mutiger: Rosa
befand sich mit Millionen im gleichen Trend, Sahra steht allein. Wer sonst
möchte heute noch als kompromißloser Stalinist gelten? Selbst Gregor
Gysi drohte, die PDS zu verlassen, sollte der eiskalte Engel der
"Kommunistischen Plattform" weiter im Politbüro der Partei sitzen. Das
war vor drei Jahren, und seitdem ist sie bundesweit bekannt. Damals,
1995, wirkte sie noch härter und gnadenloser als heute. Eine
Masochismusphantasie, die man nicht ernstnehmen konnte: in den
Illustrierten das frontale Schwarzweiß-Foto von der jungen, viel zu
schönen Frau mit dem streng zurückgekämmten Haar, ein Fahndungsfoto,
dazu immer das Wort: Stalin. Man stellte sich einen Gulag vor,
eingesperrte Skinheads zu Hunderten in Sträflingsanzügen, gefolterte
Deutsche von der DVU und den Republikanern, und die
Lagerkommandantin Wagenknecht mit der großen Peitsche dazwischen.
Und abends immer Schauprozesse.
Heute sieht sie etwas milder aus. Sie hat sogar geheiratet. Nicht einen
CDU-Banker aus Hollywood, wie zu lesen war, sondern einen rheinischen
Luftikus, der schon einen Teil seines Lebens in U-Haft verbrachte, aber
immer wieder auf die Beine fällt. Zu seiner Jung-Baron Münchhausen Vita
zählt zum Beispiel, daß er mit 13 Jahren Altkanzler Helmut Schmidt
interviewte, oder daß der Verfasungsschutz ihn schon mal für einen RAFTerroristen hielt, ihn mitsamt Sahra observierte und heimlich
anschwärzte. Eine ekelhafte Geschichte.
Die schöne Querulantin kandidiert in Dortmund für den Bundestag. Könnte
sie jedem Wähler einen flüchtigen Kuß auf die Lippen setzen, wäre ihr der
Sieg sicher, zumal gegen einen mediokren SPD-Hinterbänkler, der den
Wahlkreis seit 28 Jahren hält, ohne daß ihn jemand kennt. Der Mann heißt
"Urbaniak" oder so, klingt wie ein sowjetisches Ulkwort, und weil Sahra
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nie von ihm gehört hatte, besuchte sie eine SPD- Versammlung. "13
Hanseln saßen da rum, alle oberhalb des Rentenalters. Entsetzlich."
Zu Sahra Wagenknecht kommen jeden Abend hunderte, vor allem aber
junge Leute.
"Wenn ich mit denen die halbe Nacht diskutiere und dann merke, wie eine
Mauer fällt, ist das für mich der glücklichste Moment politischer Arbeit."
Nicht nur für sie. Mit der Rosa-Luxemburg-Wiedergängerin, mit deren
frappierend erotischer Ausstrahlung ja keiner rechnet, diskutiert jeder
gern, der sich einen Rest Geschichtsbewußtsein bewahrt hat. Was aber die
fallende Mauer anbetrifft:
als in Berlin die Mauer fiel, blieb Sahra zu Hause und las Kant. Solange,
bis sie die Buchstaben nicht mehr erkennen konnte, vor Tränen.
Sie liebt die DDR bis heute. In ihrem Zimmer hängt angeblich ein UlbrichtPoster, wie sie kürzlich in einem Interview bestätigte, und es hing da
schon, als bei anderen ihres Jahrgangs noch Michael Jackson über dem
Mädchenbett prangte. Als damals die Nachbarn mit schweren Tüten voller
Apfelsinen und Bananen aus dem Westen die Treppen hochkamen und
sich abschleppten bis zum Herzinfarkt, blieb sie konsequent im Ostteil der
Stadt. Wozu den siegreichen Klassenfeind auch noch besuchen? Erst in
den 90er Jahren schaute sie mal rein, bereits als politische Aktivistin.
Aufgewachsen war sie übrigens bei den Großeltern in Jena:
"Eine mehr dörfliche Atmosphäre, wo man als Kind besser allein sein
konnte als in der Stadt." Zwei Jahre vor der Einschulung lernt sie Lesen
und Schreiben.
Seitdem liest sie und ist noch lieber allein. Mit 15 lernt sie Goethes Faust I
und II auswendig. Geht man mit ihr heute durch die Straßen, merkt man,
daß sie nichts um sich herum wahrnimmt: nicht die Menschen, nicht die
Häuser, nicht die Landschaft. In Gedanken ist sie eben bei Goethe. Und
natürlich bei allem, was ihm folgte, Marx, Engels, Lenin und Stalin. Sie
lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in den Büchern. Von der Welt sieht sie
die Idee, die sie verkörpert, nicht die Welt selbst. Das ist faszinierend.
Woran man es merkt? An ihrer vollkommen unnatürlichen
Unbeweglichkeit. Sie gleitet durch die Massen wie eine hölzerne
Madonnenfigur. Sie reagiert auf kein Lachen, wie Kinder, die die Witze der
Erwachsenen nicht verstehen. Man fährt im Aussichtswaggon durch die
nun wortwörtlich blühenden Landschaften Oberbayerns - sie spricht in
München und Ingolstadt - und sie redet von Armut, Zinsknechtschaft und
der Kluft zwischen den Klassen. Stundenlang herrliche Wälder, frisch
verputzte Häuser, saftig-satte Almhütten, kristallklare Seen, azurblauer
Himmel, fröhliche Menschen, gesundes Vieh. "Wir fahren durch wahrhaft
blühende Landschaften, Frau Wagenknecht.
Sehen Sie das nicht?" Nein, sie schaut nicht aus dem Fenster, reagiert
nicht darauf, spricht weiter vom Arbeitsamt, von Lohndumping, von der
Profitrate. "Die Menschen werden entlassen und zu schlechteren
Bedingungen wiedereingestellt."
Das Vieh auch? "Da ist die sozial Schwächere, die putzen geht und glaubt,
der Ausländer verdirbt ihr den Preis." Was, hier im Wald?
43
Nein, in Dortmund natürlich. Das ist ihr Wahlkreis. Länger als drei Wochen
hat sie da aber noch nicht gewohnt. Das Nachtleben dort kennt sie nicht
und die Bürger auch nicht. In Lokale geht sie nur, um dort Termine
wahrzunehmen. Der ganze Freizeitbereich ist ihr unbekannt. Tanzen,
Spaß, Drogen, Sex? Schon die Frage läßt mann lieber. Eigentlich ist das
doch recht sympathisch: auch Rosa Luxemburg hätte die Disco gemieden.
Marx hätte den Joint dankend abgelehnt.
Goethe hatte bekanntlich seinen ersten One-Night-Stand erst im 40.
Lebensjahre, sicher wußte er, warum erst so spät. Wozu doof
herumficken, wo er doch so hübsch dichten konnte? Dennoch: Daß Sahra
nicht wenigstens zu ihren neuen Nachbarn gute Beziehungen aufbaut,
erklärt nur eine ungeotheanische West-Phobie.
"Deutschland war für mich die DDR. Was sollte ich mit dem Westen... ich
hatte ja auch nichts in Frankreich oder so zu suchen... Zum Glück war
Goethe ja in Weimar und so." Sie lacht. Geboren war er in Frankfurt am
Main. Scheiße. Na, egal.
Mit der Ingolstädter PDS-Bundestagsabgeordneten Eva Bulling-Schroeter
wird an diesem Tag des Endwahlkampfs "über Straßen und Plätze
gezogen" (so das Kohl-Wort). Aber während die MdB Hände schüttelt und
flapsige Bemerkungen in die Menge wirft wie Kußhände, gleitet die
kommunistische Ikone wie auf Schienen an den diversen Schauplätzen
und Wessi-Wählern vorbei. "Die Bullinger" ist Profi-Politiker und
Bürgerschreck zugleich: vom Outfit her könnte sie beim Revival-Konzert
der Ramones mitspielen, als späte Suzi Quatro und Punk-Oma, aber
leutselig und "spontan" ist sie wie Gerhard Schröder. Die unnahbar schöne
Wagenknecht dagegen trägt ein perfektes, akkurates, steingraustählernes Kostüm mit mattsilbernen Knöpfen, als wäre sie die Alibifrau im
Vorstand der Deutschen Bank.
Passend dazu die ebenfalls steingrauen Nylons, von denen der linke eine
verräterisch wirkende Laufmasche aufweist, die man einfach verfolgen
muß bis in den hochsitzenden Rock hinein: was für herrlich schlanke Beine
sie doch hat und wie knapp der Rock sitzt - ohne Laufmasche wäre einem
das gar nicht aufgefallen.
Und die makellosen Knie. Aber das Inhaltliche ist wichtiger, vor allem ihr.
Wie wird sich die Welt ohne ein sozialistisches Gegengewicht entwickeln?
Wie kann der Planet überleben, ohne Ulbricht? Doch Spaß beiseite, denn
ist es spaßig, wenn das SPD-geführte Arbeitsamt die Bezüge kürzt? Darum
geht es ihr und darüber spricht sie auch mit den Menschen. Sagt sie. Wen
interssiert schon, daß sie besser aussieht als Cathérine Deneuve in ihren
coolsten Filmen? Daß ihre Haut bronzefarbener, reiner und samtiger ist als
die von Verona Feldbusch? Daß ihre Augen größer, dunkler und
grasgrüner sind und weiter auseinanderstehen als die von... lassen wir
das! Schnell eine Frage: welchen lebenden Politiker mag sie am meisten?
"Fidel Castro!"
Über ihren Vater spricht sie nicht. Der kommt in ihrer Biographie nicht
vor. Der Großvater war Proletarier bei Zeiss. Lothar Späth hat dann 90
Prozent der Leute entlassen und wird dröhnend auf CDU-Jubelfeiern
beklatscht, wenn er sagt: "Bey unsch kennma sähn, was shareholder
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value bedeutet, weil unsere Arbeiter se meistensch scho han!" Da
schüttelt es die Kommunistin. Ihr Blick wird finster, als sähe sie den Späth
im verdienten KGB-Folterkeller, Elektroden an den Händen, Berija mit
schneidender Stimme vor sich. Aber, ach!, ist´s doch nur Phantasie... Als
Kind lebt sie nicht immer dort, sondern wird zurück zur Mutter gegeben,
Prenzlauer Berg, Altbauwohnung mit Außentoilette. Sie geht in die zweite
Grundschulklasse, als man eine nagelneue Wohnung im sozialistischen
Utopia erhält: Mahrzahn, Plattenbau! Eine Großsiedlung vom Feinsten.
Sahra empfindet es nicht als Ghetto, liebt die Grünflächen, hält sich aber
weiter abseits, meidet alles Gesellige. Kerzengerade und unbeweglich
steht sie inmitten der Grünfläche und liest `Lohn, Preis und Profit´, ließe
sich zumindest mutmaßen.
Eigentlich ist so ein Mensch wie Sahra Wagenknecht sehr gefährdet. Ihre
Schultern sind stolz - zu stolz. Gegen den Angriff eines noch nicht einmal
ausgewachsenen Schäferhundes könnte sie sich in ihrer Steifheit und
Körperlosigkeit keine fünf Sekunden lang verteidigen. Ein Vergewaltiger
und brauner Schläger hätte leichtes Spiel. Umgekehrt kann man sich alte
Kintopp-Filme vorstellen, in der Sarah die Rolle des Diktators übernimmt,
der mit tiefgefrorenem Lächeln den Einsatz der Atombombe befiehlt und
mit Glacéhandschuhen den roten Knopf dazu bedient: absolut beherrscht,
minimalistisch und unspontan. Aber konsequent.
Nun gut, das sind Tagträume. Die reale PDS-Führerin hält abends eine
insgesamt doch flammende Rede. Erst sitzt sie wieder autistisch wie ein
Marsmännchen am Vortsandstisch, aber als sie dran ist, merkt man doch,
daß sie schon drei Bücher über Wirtschaftstheorien geschrieben hat und
täglich die F.A.Z. akribisch von vorn bis hinten durchliest. Und sie hat
Faust I/II ja WIRKLICH ganz und gar auswendig gelernt, alle
zwanzigtausend Verse, das ist ja kein PR-Gag, läßt also zwingend auf
"Genie" schließen. Da bekreuzigt sich selbst Gysi, und Kohl guckt
besonders doof. Sie spricht davon, daß die Wirtschaft soviel Geld macht
wie noch nie und die Leute trotzdem immer ärmer werden. Daß die
Volksökonomie so gut in Schuß ist wie nie zuvor, blendend dasteht, seit
Jahren schon, immer mehr verdient, unverschämt viel und schnell und
immer mehr und immer schneller, und trotzdem die Einkommen
pausenlos gekürzt werden. Daß 0,8 Prozent der Bevölkerung die Mehrheit
der 5400 Milliarden Mark Vermögen besitzen und inzwischen alles steuern,
weil es keine sozialistische Gegenmacht mehr gibt. Und daß Schröder
diesen Mächten längst verpflichtet ist, weil er sonst gar nicht soweit nach
oben gelassen worden wäre.
Stille im Saal. Die Autonomen, die Halstuchträger, Schmuddelkinder,
grauen Panther, Spastiker, Kiffer, Salonbolschewiken, Arbeitslose,
Journalisten, Neo-Punks, Altstudenten, Neugierige, Nachbarn und Bürger
und Penner: sie reiben sich die Augen. Der Geist eines Verstorbenen steht
da vor ihnen. Der Sozialismus in Engelsgestalt. Als Wahrheit sozusagen.
9. Mit KATHRIN PASSIG in der ZIA
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Kathrin Passig hat ein Buch über Sadismus geschrieben. Deswegen wird
sie hier portraitiert. Die attraktive 28-jährige ist, obschon lange ein
Paparazzi, nun selbst berühmt geworden oder dabei, es zu werden. Man
darf sie beobachten.
Wer sich für Kathrin Passig mehr interessiert als für Joachim Lottmann,
also alle, überspringe die Passagen, in denen das Wort "Ich" auftaucht und
klicke direkt auf das nächste Wort "Kathrin Passig": Hausmeister Anko
Ankowitsch hat sich bereit erklärt, dieses Wort immer fett zu drucken. Das
macht es uns allen leicht und der Autor fühlt sich wohl.
Der Leser, der sich trotzdem durch die nun folgenden endlosen Episteln
quält, wird wissen wollen, was all das persönliche Gedröhn mit der
bekennenden Sadistin hier zu tun haben soll. Aber es ist ja nicht für den
SPIEGEL. Wir werden sehen. Die Freiheit nehm' ich mir.
Angefangen hat alles mit dem berühmten Max-Goldt-Abend, beschrieben
bereits in den 'Hoeflichen Paparazzi' (bisher 188 Zuschriften). Es war der
Abend, an dem Goldt ein erstes- und letztesmal mit seinem alten Lektor
vom Haffmans Verlag und seinem neuen Lektor von seinem neuen Verlag
zusammensaß und trank. Ich kann mir vorstellen, daß ihm das
unbehaglich war - vielleicht. Da spekuliere ich nur. An seiner Stelle wäre
mir es mir gewesen. Dazu saß ihm gegenüber dieser ungewöhnliche
Mensch, ich also, und das komplizierte die Sache sicher noch.
Goldt ist ein wundervoller Mann, und hätten wir mehr davon, wäre
Deutschland zivilisiert. Aber ungewöhnlich ist er nicht. Ich merkte es
daran, daß er mit mir nichts anfangen konnte. Ich kenne nämlich
durchaus das Erlebnis, auf einen gleichgesinnten Fremden zu treffen und
sich von der ersten Sekunde an innig zu lieben und zu erkennen. Ich war
nur mitgegangen, weil mein eigener Lektor, in Personalunion halt Max'
alter Haffmanslektor, mich dazu gezwungen hatte. Heiko Arntz. Ich würde
für den alles tun, denn ein Autor ist ja immer ganz verschossen in seinen
Lektor, sonst könnte er gar nicht schreiben. Ich ging also mit und
unterstützte Herrn Arntz bei seinem schweren Gang. Tatsächlich stellte
sich heraus, daß Goldts neuer Lektor (das Wort nun zum letztenmal) nicht
ohne war.
Ich konnte Goldt verstehen, daß er rübergemacht hatte auf die andere
Seite.
Bei dem, Alexander Fest hieß der, hatte ich nämlich das eben genannte
Gefühl, auf einen gleichgesinnten Fremden zu treffen. Die gesamte
Debatte zwischen Goldt und mir wurde nur von einem verstandem,
diesem Fest nämlich. Jedenfalls politisch. Nun kommen wir auch aus
vergleichbaren Familien. Unsere Ahnen hatten sich schon in Rahels Salon
getroffen. Trotzdem - man verriet Gerd Haffmans nicht, diesen besten
Menschen der Zunft. Ich hatte mehr als einmal in tiefster finanzieller Not
seinen Beistand gefunden,. einmal hatte er mir einen hohen vierstelligen
Betrag einfach GESCHENKT, weil er eben anders tickt als ein Buchhalter
von Gruner + Jahr...
Doch zurück zum Thema. Das Leben ist vielschichtig. Nicht alle
gleichgesinnten Fremden mögen mich. Viele, die mich gar nicht verstehen,
mögen mich trotzdem. Tragisch aber wird es, wenn Leute, die ich
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WIRKLICH bewundere, mich verachten. Diese Erfahrung habe ich in
meiner zweiten Lebensphase auf das schmerzlichste fast durchgehend
machen müssen. Als ich jung war und mit dem Schreiben begann, hatte
ich drei Vorbilder: Maxim Biller, Rainald Goetz und Matthias Matussek. Die
ersten beiden haben mich gehaßt. Und zwar nur aus dem einen Grund,
daß ich sie so bewunderte. Nun wäre das ja nicht schlimm. Nur: ich
konnte nicht aufhören, sie zu bewundern. Und ich wußte: solange sie nicht
schlecht wurden (im Schreiben) konnte ich nichts gegen meine Zuneigung
tun. Ich kaufte an jedem Monatsende das neue TEMPO-Heft, hoffend,
Biller hätte endlich eine schlechte Kolumne geschrieben. Umsonst. Ich
konnte nur "richtig!" brüllen bei jedem Satz.
Später in Talkshows dasselbe Bild: immer sagte Biller genau das, was
gesagt werden mußte. Als einziger. Das Fernsehen war arm ohne ihn. Nun
sind Biller, Goetz und ich (und Matussek) ja eine Generation, und wir
begegneten uns unfreiwillig immer wieder. Rainald übernachtete bei mir,
wenn er in Hamburg war, manchmal gingen wir in München spazieren. Wir
trafen uns auf Buchmessen, Partys, im Schumann's, gefielen uns als
under-cover-Agenten bei Burda. Wir hatten, auch mit Biller, so viele
gemeinsame Freunde, daß wir uns vertragen mußten. Aber meine
Zuneigung war immer schwerer zu verbergen und die Verachtung, die sie
hervorrief, ebenso. Das alles hat natürlich viel mit dem neuen Buch von
Kathrin Passig zu tun. Mit Sadismus also. Ich will nicht sagen "auch mit
Masochismus, denn dazu gehören immer zwei", denn meine
Hochschätzung hing nachweisbar mit dem zusammen, was sie schrieben
und nicht mit ihrer Behandlung meiner Person. Als dann - zehn Jahre
hatte ich auf diesen Tag warten müssen - Biller endlich literarisch
komplett versagte, war der Spuk vorbei. Ich spreche von seinem
unsäglichen Roman von vor einem Jahr. Als ich ihn kürzlich auf der Straße
traf, bin ich durch ihn hindurch gegangen als wäre er nicht da. Als wäre er
Luft. Ich habe es selbst nicht bemerkt. Vielleicht hat er es bemerkt.
Vielleicht läßt sein Haß nach. Ein Haß, der irrational und gefährlich war,
nebenbei bemerkt. Für Maxim stand fest, daß ich ein "Antisemit" sei. Das
war exakt so absurd, als würde man ihn selbst so nennen. Mir brachte das
furchtbare Nachteile ein. Und was Rainald alles über mich in Umlauf
bringt, wissen ja die meisten von Euch, wie ich gehört habe. Da mir aber
das letzte Buch "Rave" von ihm besser gefallen hat als all seine
vorangegangenen, kann ich nicht umhin, ihn zu mögen. Wenn ich Pech
habe, wird er NIE schlecht! Und er wird mich auch in zwanzig Jahren noch
als Raspe beschreiben, jenes Alter Ego (oder auch nur Ego) aus seinem
Erstling "Irre". Er muß auch keine Rücksicht mehr auf gemeinsame
Freunde nehmen. Die sind uns ausgegangen. Zuletzt hat Joseph von
Westphalen nochmal für mich Partei ergriffen ("Jetzt laß doch endlich den
Scheiß mit dem lottman-bashing"). Bei Biller war es seine Freundin. Ich
hatte sie doch tatsächlich - soweit kann man als Fan sinken - um eine
"Zweite Chance" angefleht. Ist aber schon länger her. Und war natürlich
kontraproduktiv: die Leute können ja nicht raus aus ihrer Veranlagung.
Aber bevor ich jetzt als hardcore-Masochist verdächtigt werde, noch kurz
der Gegenbeweis: Der Dritte im Bunde meiner Vorbilder, Matthias
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Matussek, hat auf meine hemmungslose und objektiv unverschämte
Verehrung mit einer gleichstarken Gegenverehrung reagiert. Ich war
gerade sechs Wochen sein Gast (er leitet das SPIEGEL Büro in Rio de
Janeiro) und nach wie vor besorgt er sich jede Zeile, die ich schreibe. In
der mail box fast täglich irgendein heißes Lob von ihm. Was ich mal
mache, wenn ER nicht mehr gut schreibt, weiß ich noch nicht. Aber ich
weiß, was er mit einer Frau wie Kathrin Passig machen würde.
Die schreibt nun allerdings auch hervorragend. Ich könnte glatt ihr Fan
werden. Ich tippe mal, sie würde nicht wie Matussek darauf reagieren.
Aber anders als Goetz und Biller hätte sie die Peitsche schon im Schrank sie würde nicht blind und irrational handeln. Das war der interessante
Punkt daran. Kathrin Passig und der etwas andere Sadismus. Ich will nun,
da ich hier als Paparazzi schreibe und nicht als Autor, nichts über eigene
sexuelle Dinge sagen. Dafür sind Worte nun wirklich nicht da. Das wird
jeder verstehen, der schon einmal glücklich war und nicht allein. Ich will
auch nicht auf die sexuellen "Praktiken" eingehen, die in Kathrins Buch
beschrieben werden. Ich bin Paparazzi und sage Euch, wie Kathrin ist, wie
sie aussieht, wie sie guckt, was sie sagt und was sie anhat! Ob sie ein
burner ist, ob sie sozusagen cool ist, oder wieder nur so ein Produkt wie
wir selbst, eine schlotternde Maulheldin.
Um an sie heranzukommen, mußte ich mich mit ihrer Busenfreundin
Lacoste befreunden. Die rief mich sowieso andauernd an. Ich mag es,
wenn jemand sich so um mich bemüht. Ihre mannigfachen
Kontaktaufnahmeversuche mit mir waren ja im Forum nachzulesen. Der
Anrufbeantworter quoll über, die Stimme klang nett, und als ich hörte, sie
sei der Schlüssel zu Kathrins Herz, griff ich männlich entschlossen wie
selten zum Hörer. Minuten später war sie schon in meiner Wohnung.
Das war erstaunlich und in meinen Augen anerkennenswert. Ich weihte sie
sogleich ein. Lacoste nahm mich mit zu einem romantischen LampionAbend am Ufer eines Flusses, der seit Jahrhunderten durch die Stadt
Berlin fließt - dort sollte ich Kathrin Passig treffen, an den Auen des
Landwehrkanals. Gesagt, getan. Es saßen dort in stockdunkler Nacht:
Kathrin (direkt neben mir, unsere Knie berührten sich fast) sowie die
beliebten Paparazzi Holm Friebe, Christian Y. Schmidt und Benjamin
Schiffner. Und noch zehn andere, vor allem Herrndörfer, der mir gut
gefiel, da er so gebildet war. Herrndörfer, Kathrin, Lacoste und ich
bildeten eine Vierergruppe. Kathrin machte diese spezifischen
semantischen Verrenkungen (sollte man netter ausdrücken, ich zitiere
nur), für die sie im Netz bekannt ist. Man muß wissen: die Netz-User
kennen Kathrin nur durch ihre Mails.
Sie schreibt jedoch auch in den Printmedien, vor allem in der
"tageszeitung" (taz), wo sie natürlich viel besser ist. Ich möchte sagen:
sie schreibt absolut sauber, die Rhythmen stimmen, es ist perfekt, also
sensationell gut für eine Frau. Thematisch wird es bei ihr eng, also sie
entblödet sich, ausschließlich "Frauenthemen" zu behandeln, wofür sie
sicher nichts kann. Das ist die wahre, die harte, die einzige
Frauendiskriminierung, daß junge Frauen geschlechtsspezifische Inhalte
aufgebrummt bekommen. Das ist, als müßte ein junger Mann, nur um
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ÜBERHAUPT reinzukommen in den Betrieb, pausenlos über Beschneidung,
Fußball, Wettpinkeln und Ralf Schumacher schreiben. Anstatt über Mode,
Politik, Leni Riefenstahl, Drogen, whatever. Aber gut, wenn jemand so gut
ist wie Kathrin, löst sich das Genre auf. All die Frauenthemen sind,
nachdem Kathrin sich ihrer angenommen hat, erledigt. So muß es sein.
Das ist der Sinn des Schreibens.
Zwischen den Zeilen findet "Aufklärung" statt, unser aller großes altes
europäisches Projekt, weswegen wir uns hier versammelt haben.
Aufklärung an sich ist schon gut, wenn sie heimlich funktioniert wie bei
Kathrin, noch besser. Ich war also dann doch überrascht, in ihr eine
erstaunlich gutaussehende Frau zu entdecken, die schon rein äußerlich
dem Schönheitsideal der Antike entsprach: Sie hatte eine perfekte Nase,
mit dem Lineal gezogen, ebenmäßige Gesichtszüge, große, ruhende,
ernste blaue Augen, denen man den Wunsch und wohlüberlegten
Entschluß zur grundlegenden Bestrafung des anderen Geschlechts wohl
ansah. Freilich trug sie kein Kleid, keinen Rock, keine langen Haare, keine
roten Lippen, kein Parfum, kein Lachen. Nachlässig sah sie aus, wie ein
verbummelter Student aus Münster / Westf., und sie sah einem auch
niemals, außer beim Abschied (daher habe ich den eben beschriebenen
Eindruck) in die Augen; mir nicht, allen anderen nicht, nicht einmal ihrer
Busenfreundin. Sie sah immer leicht lächelnd ins Leere; kein gutes Omen,
lieber Leser! Vor Leuten, die einem nicht gerade ins Gesicht sehen, soll
man sich als wackerer deutscher Mann hüten. Ihre Busenfreundin war
übrigens genauso. Immer dieser feige wegrutschende Blick, dieses
schlechte Gewissen die ganze Zeit. Was mochte es schon sein, was die
Schwestern da im Schilde führten, was war denn nun so furchtbar schlecht
und böse, das sie planten? Sicher hatten sie einander versprochen,
irgendwas Lächerliches über mich dann später mal ins Netz zu stellen. Sie
wußten ja nicht, für wieviele andere ich in meinem Leben schon als
Feindbild Modell gestanden hatte. Alle drei Jahre eine neue Empörung, ich
war immer dabei. Das verlange ich auch von jedermann, der etwas auf
sich hält: dem jeweils herrschenden Bewußtsein darf man nicht
entsprechen. Also gut - wir saßen da in der Wiese, und Kathrin gefiel mir
natürlich bestens. Wer hätte das gedacht! So eine hübsche Frau. Ein
ungeschliffener Diamant. Eine antike Figur, die man in den eigenen Garten
stellen konnte.
Sie war etwa 1.80 Meter groß, gut gebaut, schlank und doch kräftig,
vielleicht ein wenig maskulin, aber nicht schlecht. Sehr anziehend. Ich
hätte ihr Großvater sein können und habe sie daher nicht betatscht.
Außerdem bin ich körperlich ungefähr so anziehend wie Rudolf Augstein.
Wenn ICH Frauen dennoch anfasse, dann nur als politische Geste, als
verzweifelte, existentialistische "Dennoch!"-Handlung, als Akt gegen
Altersdiskriminierung, Äußerlichkeitswahn und natürliche Ungerechtigkeit.
Ich kann nichts dafür, daß ich häßlich auf die Welt gekommen bin, und es
ist nicht Kathrins Verdienst, die perfekte Nase zu besitzen.
Trotzdem faßte ich Kathrin nicht an! Ja, ich kann auch richtig feinfühlig
sein.
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Sogar Männer können sich also manchmal wie vernünftige Wesen
benehmen! Naja, ich wollte ja auch etwas von ihr. Ich wollte nicht, daß sie
SOFORT loslegt mit der Bestrafung (sie hatte ihr Equipment auch gar nicht
mit). Erst wollte ich ein bißchen reden.
Das aber ging nicht. Welches Thema ich auch anschlug - sie reagierte
schwach oder gar nicht. Ein Kompliment - sie starrte nur auf die Wiese.
Eine Bosheit - sie sagte nichts dazu (stattdessen antwortete Herrndörfer
sehr kundig). Ein Vorschlag - keine Antwort. Eine These zu einem Film keine Antwort. Eine Einladung zu einem Event - Schweigen. Eine
Erlebnisschilderung aus dem eigenen Leben - keine Reaktion, später eine
kleine, bemühte, semantisch verrenkte Gegenrede, die mitten im Satz
abbricht. Wieder ein Kompliment, diesmal maßlos übertrieben - unsicheres
Abwarten. Ein Kuß - sie erstarrt nur. Ein Vorwurf - sie versteht nur
Bahnhof. Ein Gesprächsversuch über Religion - sie sagt ein paar Sätze,
äußert mattes Verständnis. Ein Gesprächsversuch über Else Buschheuer kennt sie gar nicht (dafür aber Herrndörfer, der begeistert zu diskutieren
beginnt).
Ein Gesprächsversuch über den Film 'Almost Famous' - kennt sie nicht
(wohl aber Herrndörfer, der begeistert gegenhält). Und so weiter. Immer
Herrndörfer.
Nie Passig. Die schien so sehr vieles gar nicht zu KENNEN, was mich
nachdenklich machte. War es wirklich so? Oder waren es nur verschiedene
Welten? Hätte ich ebenso nichts von dem gewußt, was sie vielleicht
gefragt hätte? Aber wieso wußte der junge Herrndörfer dann alles? Der
kam doch aus IHRER Welt. Und wieso schrieb sie dann so gut, wenn sie
doch nichts wußte? Konnte man ungebildet UND ein Schreibgenie sein?
Das hatte ich ja noch nie gehört. Sicher irrte ich mich. Mit äußerster Kraft
widerstand ich dem Wunsch, immer weiter mit Herrndörfer zu disputieren,
zuletzt über Karen Duve, einer alten Freundin, deren Partei gleichwohl er
leidenschaftlich und nicht ich ergriff, sodaß wir aufsprangen und die Arme
in die Luft warfen wie Franzosen. Mit zusammengepreßten Lippen setzte
ich mich wieder und stellte Kathrin die nächste Frage. Nun muß man
wissen, daß die Stimmung dort eigentlich sehr locker war. Es wurde viel
gelacht, alle fühlten sich wohl, keiner merkte, daß vielleicht irgendwas
nicht so lief, wie es sollte. Und auch ich ließ mich nun gehen und trank ein
Clausthaler. Die Leute mochten und kannten sich. Lacoste und Kathrin
waren halt (und wenn ich das sage, meine ichs nett!) typisch deutsche
Frauen, in dem Sinne: nirgends auf der Welt außer in deutschen
Großstädten gab es diesen bestimmten Typ maskuliner und zugleich
männerhassenden Frau, die zu Männern ungefähr das Gefühlsverhältnis
hat wie homophobe heterosexuelle Männer zu Schwulen. Nun können
homophobe heterosexuelle Männer die besten Kumpels, zuverlässigsten
Kameraden, treuesten Charaktere sein, echte, authentische Helden, Stolz
einer Gemeinde, Vorbild für die Jugend. Und das gilt natürlich auch für
Kathrin und Lacoste. Ich bin mir sicher, daß man sich auf deren Wort
verlassen kann, daß sie gerecht, demokratisch und in jeder Hinsicht
anständig sind. Und selbstverständlich achte und verehre ich das. So wie
ich früher John Wayne verehrt habe und Gary Cooper. Solche Charaktere
50
brauchen wir, und ich bin traurig, daß ich selbst nicht solch ein Charakter
bin. Ich bin nicht cool. Ich bin neugierig. Aber muß man, als Paparazzi,
nicht auch sagen dürfen, daß Haß und Sadismus auch im Kleid der
Wortgewandtheit keine gute Sache werden? Nicht bei Goetz und nicht bei
Passig? Und daß ein großes Talent, das keine andere Orientierung besitzt
als eine sexistische, in die Irre geht? Schließlich ist ein sexuelles
Ressentiment kein Deut besser als ein religiöses oder rassistisches, nicht
wahr? Wir streben doch, wie Faust, nach Erkenntnis des Ganzen und nicht
nach Feindschaft. Aber ich will mich nicht dicke tun. Sondern getreulich
erzählen, wie es zuende ging:
Die beiden Leichtgewichte verschwanden dann doch allmählich aus
meinem Blickfeld. Das Clausthaler fing mit ungeheurer Wucht zu wirken
an, ich ging mit Benjamin Schiffner spazieren, der mindestens so gebildet
und noch netter als Herrndörfer war. Kinder, DAS war ein Vergnügen! Ich
wußte endlich wieder, wo ich hingehörte. Am nächsten Tag traf ich mich
erneut mit Lacoste, die ich fortan als solidarische Mitbürgerin zu schätzen
lernte. Man sollte eigentlich niemals etwas über oder gegen solche netten
HauptstädterInnen sagen, nicht wahr?
Freilich wären wir dann irgendwie in der Zwickmühle. Entweder man hält
als Paparazzi beide Richtungen aus, oder man muß im Dunkeln bleiben.
Doch die im Dunkeln sieht man nicht!
Fußnote
Kathrin Passig:
Kathrin Passig kannte damals kein Mensch, jedenfalls nicht
außerhalb der linken Szene. Ihr Sadismusbuch war nichts anderes als ein
Service-Heft für eine kleine Zielgruppe, vergleichbar dem Michelin-Führer für Gourmets
und Hotelfreunde. Frauen, die unbedingt ihren Mann verprügeln wollten,
kauften das Ding, und fuhren dann zum Baumarkt, um die angegebenen Instrumente zu
holen. Das alles hatte keinen intellektuellen Hintergrund. Der Blog, der damals
schon einer der erfolgreichsten mit vielen Hunderttausend Einträgen war,
machte sie ein bißchen bekannter, jedenfalls mein Text, der monatelang an der
Spitze stand und sogar heute noch von irgendwelchen Leuten heruntergeladen wird.
Trotzdem hätte damals keiner gedacht, dass Kathrin Passig den Bachmann Preis
gewinnen würde. Heute gehört sie unangefochten zu den Top Ten der schreibenden
Frauen in Deutschland.
10. Anke Engelke oder DIE DEUTSCHE FRAU ALS EWIGER
LAUSBUB
An der Zeitschrift DER SPIEGEL war doch immer so schön, daß man
sich auf sie verlassen konnte. So wie auf Harald Schmidt. Diese
beiden, SPIEGEL und Schmidt, machten den Unterschied. Durch sie
lebten wir nicht in Österreich. Wir waren nicht Belgien oder die
USA, sondern Deutschland. Wir waren nicht fremd im eigenen
Land, wir Intellektuellen. Wir, die wir nicht Focus lasen und die von
Kai Pflaume moderierte Wok-Weltmeisterschaft gnädig ertrugen
und "Star Search II" ebenso. Der Medienfaschismus hatte zwei
Burgen nicht schleifen können, Schmidt und Spiegel, und das
51
reichte uns. Leute mit Geld konnten zudem noch die taz kaufen
oder jungle world.
Bis Harald Schmidt schlappmachte. Ersetzt wurde er durch Anke
Engelke. Seitdem fragen wir uns: was mochten wir an Harald
Schmidt, was machte ihn so großartig? Und warum ist seine
Nachfolgerin so scheußlich? Warum können wir über Ankes
männerfeindlichen Sexismus nicht lachen? Weil alle ihre Witze aus
demselben Frau-Mann-Ding schöpfen? Weil ihr Menschenbild das
einer achtjährigen Göre ist? Oder doch, ganz inhaltlich begründbar,
weil ihre Witze ausnahmslos umgedrehter männerverachtender
Latrinenhumor sind? Die Antwort erhält, wer probeweise in den
Witzen die Geschlechter tauscht. Dann sind die saufenden,
gemeinsam in Bordellen fremdfickenden Väter am Vatertag also
Frauen. Ganz bestimmte Frauen: Schlampen. Saufende, manisch
fremdfickende kollektive Schlampen, die alles bohnern, was nicht
bis vier auf dem Autodach ist. Lustig, nicht? Aber nur ab und zu,
nicht eine ganze Sendung lang und die jeden Abend und jedes Jahr.
Trotzdem mögen viele Frauen Anke, gerade die, die so alt sind wie
sie, also 38. Warum? Weil man kleine infantile Mädchen mag, die
"frech" sind? Weil Anke so eine schnuckelige Teeniefigur hat und
viele 38jährige sich wünschen, ebenfalls wie 18 auszusehen und
niemals zu altern? Weil es immer schön ist, gerade über das zu
lachen, auf dem seit zehn Jahren "Hier darf gelacht werden"
draufsteht? So sind langatmige Witze über den Papst schon seit 30
Jahren erlaubt und absolut risikofrei. Da nur noch einer von 100
Leuten an die Jungfrauengeburt glaubt, dürfen die anderen 99
immer schön auf diesen einen einschlagen. Jungfrauengeburt, ha
ha ha! Der Papst, der olle Klemmi, hö hö hö! Möcht´s am liebsten
selbst mal machen, hi hi hi, aber er hat halt nur ´n ganz Kleinen,
kreisch, lach, polter! Wer Witze über "den alten Macho im
Petersdom" macht, gilt journalistisch als mutig. Warum, weiß ich
nicht. Ich weiß auch nicht, warum diese "Wir Mädels"-Soße nun
schon seit Jahren quer durch alle Schichten so schmunzelnd
wohlwollend aufgenommen wird, von Sex abd the City bis Elke
Heidenreich. Oder darfs ein bißchen Soziologie sein? Voilà: Keine
Gesellschaft ist so vaterlos wie unsere. Die meisten kleinen Jungen
- die deutschen - wachsen bei alleinerziehenden Müttern auf.
Entsprechend krank und doof werden und bleiben sie. Mangels
Vatervorbild können sie nie erwachsen werden. Umgekehrt werden
ihre Schwestern natürlich "starke Frauen". Sie werden kleine Anke
Engelkes und bleiben es bis ins hohe Alter, weil da nie etwas ist,
das ihr Paroli bietet. Seltsamerweise finden nun die doofen
knochenlosen Männer genauso wie die widerwärtig "starken"
Frauen eine Figur wie Anke Engelke toll. Eigentlich müßten sie sich
selbst erkennen und laut zu schluchzen beginnen.
Nun sagen meine besten Freunde: Anke ist gut, nur die blöden
Gagschreiber sind schlecht. Stimmt nicht, sage ich: Harald Schmidt
hatte auch schlechte Autoren, konnte aber jeden Satz durch einen
52
Brecht`schen Entfremdungseffekt in sein Gegenteil drehen, konnte
eine distanzierende Schwebe herstellen, ein zeit- und raumloses
Zwischenreich, in dem Bewußtsein entstand. Harald Schmidt
konnte dekonstruieren, Anke Engelke bloß Kalauer ablesen. Anke
ist deutsche Comedy von 1995, Harald ist Beckett von 1948. Anke
ist das Wirtshaus für Frauen, Harald das Theater am
Schiffbauerdamm. Anke verhält sich zu Harald wie Juhnke zu
Brecht. Und eben wie Focus zum Spiegel, um es nochmal
abzurunden. So macht sie am Tag, als die Amis im Irak eine
Hochzeitsgesellschaft mit Granaten beschießen - 41 Tote, die
meisten Frauen und Kinder - und die Israelis einen
Demonstrationszug - 21 Tote, dito - ihre Sendung über das
Schuheputzen von Kai Pflaume. Klar, daß der Spiegel die Story auf
den Titel bringt, während Focus ungerührt aufmacht mit
"Faszination Radfahren - ein Trend, der immer mehr Freunde
findet". Harald Schmidt wiederum, das Genie, hätte wie immer
beides miteinander verbunden. Er hätte Kai Pflaume den Stiefel
eines GI aus dem Foltergefängnis putzen lassen.
Anke Engelke findet es wahrscheinlich wirklich lustig, wenn sie den
"sympathischen" Pflaume - wahrlich eine Pflaume, dieser
Obersympath - die halbe Sendezeit dergestalt putzen läßt. Sie hält
es für Humor. Für Harald-Schmidt-Humor. Sie denkt, das sei so
schön schräg. Wie damals, als Harald die gesamte Französische
Revolution mit Playmobilfiguren nachstellte. Sie ahnt nicht, daß es
Harald damals ernst war. Dem war es wichtig, was er da
vermittelte: Danton, Robespierre, Wohlfahrtsausschuß, Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit. Sie kennt den Unterschied nicht zwischen
Aufklärung und Schuheputzen. Sie kann sich gar nicht vorstellen,
daß jemandem etwas wichtig ist. Das klänge für sie wie "sich
wichtig nehmen". Und da muß man gegen angehen, als Mädel!
Immer vor´s Schienbein treten, wenn die Jungs angeben wollen,
was? Allez, Achtjährige voran!
Aber ist sie wenigstens anarchisch? So zeitlos komisch wie die Marx
Brothers? Sie muß ja nicht gleich Charlie Chaplin sein, Dick & Doof
täten es ja auch schon. Doch weit gefehlt. Beispiel: Das
ausgelaugte Autorenteam von Brainpool hat in der
Redaktionssitzung herausgekriegt, daß am Tag der Sendung vor
209 Jahren das Metermaß eingeführt wurde. "Super", ruft einer,
"da machen wir was draus." Die Aufgabenstellung versteht sich von
selbst: irgend einen witzigen Zusammenhang von dem genormten
Meter und der Schwanzlänge eines Typen zu finden. Nach
wochenlangem Brüten kommt folgendes heraus: "Also Mädels,
wenn DAS ein Meter sein soll, dann muß mein Freund aber sooo
klein sein!" Eingeblendetes Lachen, Klatschen, Johlen. Auch das
Publikum ist zu seinem Gegenteil mutiert: War es unter Schmidt
der menschliche Querschnitt unseres zutiefst demokratischen und
demokratisch gewachsenen rotgrünen Deutschlands, ist es unter
Anke die vertierte, rohe, gesichtslose Klatschmaschine des
53
Medienzeitalters. Ebenso die Band: Aus den verunglückten ZerlettHeinis, diesen ängstlichen, deplatzierten armen Schweinen, denen
man jeden Schweißausbruch ansah, ist eine im dunklen Violett
verschwindendende Computerband geworden, ins Bild geholt wie
per Trickanimation, gesichtslos auch sie. Einer der Musiker soll
Ankes derzeitiger Lebensgefährte sein. Das paßt ja. Für eine Frau,
die vier Jahre lang Benjamin von Stuckrad-Barre geliebt hat, ist das
dieselbe Fallhöhe wie von Schmidt herunter zur jetzigen Sendung.
Natürlich wird in der Sendung auch pausenlos Reklame für all die
anderen SAT1 Shows gemacht. Das war auch früher schon so. Aber
während Harald diese Star-Search- und family-date- und nur-dieLiebe-zählt-Tips wie mit der Pinzette weitergereicht wurden,
spürbar angeekelt, merkt man nun: da ist kein Unterschied zu
Ankes Late Night. Das sind flaue Witze gegen Männer und sonst gar
nichts. Da wird ein Politiker wie Klaus Wowereit eingeladen, der mit
süßlichem Lächeln den Dauerton der Anzüglichkeiten mitanhört und
dann über Männerstrip reden bzw. lachen soll. Zwischendurch gibt
es Straßenbefragungen, wo durch gezielt irreführende Fragen
harmlose Bürger als Vollidioten denunziert werden. Ha ha.
Wowereit ist immer noch da. "Sind Sie Schuhfetischist?" Was für
eine freche, freche Frage wieder von der frechen kleinen Maus.
Ach, alle sind noch da, auch das Brechmittel mit dem
"sympathischen" Golden-Retriever-Face, Kai Pflaume. Der erzählt,
unser Bundespräsident habe in seiner Wohnung zu Anke gesagt, er
fände sie "geil". Und in der Tat, geil sieht sie schon aus. In der
Sendung wird der Ausrutscher dann auch als Indiz für Raus
"Lockerheit" genommen. Denn darum - nur darum - geht es im
verbindlichen Weltbild des Privatfernsehens. Locker sollst du sein,
und niemals darf es dir um etwas gehen. Sei locker, sei das Nichts!
Gehe ins Nirwana ein als entmenschte Klatschmaschine - und alles
wird gut. Wenn du ein Mädel bist.
Fußnote
Anke Engelke:
Dieser Text greift frühzeitig ein Thema auf, dass mich danach
immer intensiver beschäftigen sollte, nämlich die Benachteiligung von Jungen
gegenüber Mädchen. Am 18. März 2007 schrieb ich in der Welt am Sonntag, die
Schüler würden in ihren Leistungen um fast ein Drittel gegenüber den Schülerinnen
zurückbleiben. Und zwar keineswegs, weil sie kleinere Gehirne hätten.
Vergleiche auch Ariadne von Schirachs Buch darüber, "Der Tanz um die Lust".
Schirach zeigt darin, wie Frauen den männlichen Chauvinismus adaptiert hätten,
und zwar eins zu eins. Frauen redeten über andere Frauen inzwischen so
unmenschlich, wie bestimmte Männer - die Proleten - es immer getan hätten (und nicht
mehr tun). Und auch über Männer redeten sie so. Das klingt anfangs lustig,
eben wie Anke Engelke. Später nicht mehr.
54
11 24 Stunden mit Alexa Hennig von Lange
Kastanienallee, Kastanien, Herbst, Blätter, ein schöner, funkelnder
Abend, ein goldener Oktober in Berlin – einer von diesen Tagen, an
denen man gerne lebt. Ich warte vor der Wohnung von Alexa
Hennig von Lange, der grossen deutschen Schriftstellerin, die
gerade auf der Frankfurter Buchmesse ihren neuen Roman ´Risiko´
vorgestellt hat. Ein gutes Buch. Holm Friebe und ich haben es uns
gegenseitig vorgelesen auf der langen Fahrt nach Kassel zur
Documenta. Und kontrovers diskutiert natürlich.
Alexa kommt herunter, und wir begrüssen uns herzlich. Eine
schöne Frau.
„Du siehst phantastisch aus“, sagt sie.
„Dir muß ich es ja nicht sagen, es sagen ja schon alle anderen“,
sage ich.
Ein geungener Beginn. Doch dann taucht eine bekannte Malerin
von schräg hinten auf, umarmt mich, stellt sich als meine Freundin
vor. Und es stimmt: ich kenne sie seit über 20 Jahren, wir gingen
zusammen zur Schule, sie erst zwei Klassen über mir, später meine
Banknachbarin.
„Potzblitz, die olle Bartel!“ entfährt es mir im alten
Feuerzangenbowle-Jargon. Zweieinhalb Jahre Altersunterschied
können sehr viel sein für einen Teenager. Aber wir kommen gleich
wieder relativ nett ins Gespräch.
Schließlich steigen wir zu dritt in den Wartburg. Ich erkläre die
Situation:
„Ich mache gerade eine Geschichte für eine renommierte deutsche
Sonntagszeitung mit dem Titel ´24 Stunden mit Alexa Hennig von
Lange´.“
Die Bartel – Vorname Bettina, damals ´Betzi´ gerufen - lacht
häßlich, wie früher, und meint, das klänge wie ´twenty-four hours
in bed with my favourite star´. Ich nicke. Ja, so fühle es sich auch
an. Subjektiv gefühlte Intimität sozusagen.
Judith ist krank, und ich will noch kurz nach ihr sehen. Sie wohnt
nicht weit entfernt. Vor zehn Minuten habe ich erst erfahren, dass
sie krank ist. Sie klang schrecklich am Telefon, als würde sie gleich
sterben. Ich parke den großen Wagen neben dem Haus in der
55
Wolliner Straße. Die Schriftstellerin und ´Betzi´ bleiben im Auto.
Und das ist gut so. Sie können sich auf diese Weise über Eva
Herrmann unterhalten.
In Judiths Krankenzimmer sieht es entsetzlich aus. Überall
Taschentücher, Kissen, verwirrte kastrierte Katzen, zerlesene
Bücher, Bonbons, Stofftiere, dreckiges Geschirr. Judith hat hohes
Fieber, eigentlich müßte man einen Arzt rufen. Ich bringe einen
Korb mit Äpfeln, Donald Duck Heften, Keksen und Tabletten.
Judith sieht süß und hilflos aus. Aus der germanischen Domina ist
ein kleines, ängstliches Kind geworden. Ich gebe gute Ratschläge
und muß wieder los. Sie streckt mir ihre Ärmchen entgegen:
„Geh nicht!“
„Tut mir leid, Kleines. Aber ich muß 24 Stunden mit Alexa Hennig
von Lange verbringen.“
„Henning von wer? Von was?“
„Das verstehst du nicht. Das ist mein Beruf.“
Ich gehe zum Auto. Betzi und Alexa sehen mich fragend an.
„Tja, so schlimm ist es wohl nicht. Oder soll ich doch lieber einen
Arzt anrufen? Was meinst du, Betzi?“
„Nenn mich nicht BETZI! Ich heiße jetzt Bettina Silvana. Es wird
sicher nur die übliche Bronchitis sein.“
„Nicht mehr Betzi? Betzi Bartel?“
„Bettina Silvana Smirnow-Bartel.“
„Smirnow? Du hast geheiratet?“
„Ich WAR verheiratet. Mit einem Russen.“
„Also... dann heißt du Smirnow-Bartelova?“
„Wie gesagt, Bettina Silvana Smirnow-Bartel.“
„Nein: Bettina Silvana Smirnow-Bartelova!“
„Endlich hast du´s.“
„Quatsch, Betzi!“
„Sag das NIE wieder.“
Wir fahren zum Atelier des romantischen Malers Armin Boehm. Das
ist der neue hot shot der deutschen zeitgenössischen Kunstszene,
also, wenn man ihn zusammendenkt mit seinem Kollegen und
Konkurrenten Dennis Rudolph, der ebenfalls romantisch malt,
freilich ohne den spektakulären Erfolg seines Freundes. Das ist
bitter, und deswegen darf er heute auch nicht mit dabei sein. Für
56
Alexa Henning von und zu Lange darf es nur das Feinste und
Anerkannteste geben.
Im Atelier finde ich neben Armin noch den Galeristen Oliver von M.K., einen älteren Herrn von über 40, der einen sympathischen
Eindruck macht. Ich stütze ihn ein wenig, als wir die beschwerliche
Treppe hinabsteigen. Insgeheim mache ich mir Sorgen, er könne
die laute Berlin Mitte Nacht nicht ganz durchstehen. Er hat schon
überall graue Haare und stöhnt ein wenig beim Gehen. Sicher ist er
schon fast Mitte 40. Später raunt mir Armin zu, der bessere Herr
werde nächsten Donnerstag 46, ich solle es aber für mich
behalten.
„Aber er ist nicht dein Vater oder sowas?“
„Nein, nein... das nicht.“
„Werden ihn die anderen nicht auslachen, im Bonfini?“
„Wer soll das denn sein..?“
„Na, die Gäste da, die übrigen Gäste.“
„Nee, ich kenne doch die meisten im Bonfini. Kürzlich hat sich mal
einer so´n bisschen aufgeregt, dabei war der selber schon 38.“
„Echt?“
„Ja, der hatte selbst ein Problem mit dem Alter.“
„Wieso hat Bruno den überhaupt reingelassen?“
„Tja... shit happens.“
Alexa und Betzi Bartel sind im Auto geblieben und haben
angefangen, sich zu streiten. Aber in dem Moment kommt Gesine
Borchardt, die attraktive blonde ´Monopol´-Chefressortleiterin und
Freundin des Erfolgsmalers. Da auch sie Betzi kennt, kommt es zu
einem euphorischen Empfang seitens der Malerin. Eine Doppelseite
mit Umbruch und Bild in ´Monopol´ - und die Karriere bekommt
Flügel! Ich gebe Gas.
Wir sind nun sechs Leute im Wartburg. Die Nacht hat gerade erst
begonnen, und die Stimmung ist dermaßen erwartungsvoll, dass
alle anfangen würden zu singen, wenn das nicht so peinlich wäre.
Die wirklich mehr als blonde Gesine sitzt auf dem Schoß von
Arnim, und da der Wartburg praktisch über keine Stoßdämpfer
verfügt, kommt es zu immer härteren Stössen, je schneller ich
fahre. Arnim gerät in immer schlimmere Zustände, und auch die
junge Frau weiß nicht mehr ein noch aus. Ob das wirklich
romantisch ist? Ich finde schon. Romantisch, aber auf eine heutige
57
Art, wenn man so will: contemporary romantic, und genau so hat
es ja auch Matthias Matussek gesehen, vom Ansatz her, bei seiner
Arbeit über Romantik. Letzterer tritt zur selben Stunde im ´Pathos
Kongress´ in der Deutschen Oper auf, mit Peter Sloeterdejk. Man
überlegt, dort noch vorbeizuschauen, später. Aber das Programm
ist reichhaltig, mit mehreren Optionen für jede Stunde der Nacht.
Es ist gewissermaßen ´Die lange Nacht der Alexa Hennig von
Lange´, wie man heute sagen würde. Zum Beispiel ruft Thomas
Lindemann an, der gerade im ´Fuchsbau´ in Kreuzberg derLesung
einer norwegischen Schriftstellerin beiwohnt und dringend zum
Kommen rät. Diese Frau namens Ragnhild Moe wurde von ihrem
deutschen Verlag aufs Kreuz gelegt, also vom Goldmann Verlag,
der ihren international erfolgreichen Roman ´Anatomie.
Monotonie´ als Erotic thriller verkauft, mit nackten Titten auf dem
Cover und dem anzüglichen Titel ´Die lüsternen Hände des
Cellisten´. Wahrscheinlich ist den Goldmann-Lektoren der Triumph
des Ariadne-von-Schirach-Klassikers ´Tanz um den Sex´ zu Kopf
gestiegen (auch bei Goldmann erschienen). Aber dann haben sie
schon das nicht richtig verstanden, denn Ari hat nicht über Sex
geschrieben, sondern über das Übel der Pornographisierung auf
allen Ebenen unserer Gesellschaft. Vielleicht arbeitet ja Herrndorf
heimlich bei Goldmann, in Marketing und Vertrieb. Es gibt viele
Schriftsteller, die so etwas tun. Nicht alle arbeiten anständig bei
Lidl an der Kasse. Ich kenne sogar einen Schriftsteller, der stand
ein ganzes Jahr beim SPIEGEL auf der pay list, und hat sich damit
bis an sein Lebensende saniert. Aber das steht ja alles in dem
Buch, das so heißt wie dieser Blog.
Wir fahren nun erstmal zum neuen Bonfini. Ich will noch Philipp
Albers abholen, aber der winkt ab: er ist beim neuen Baby der
Friebes, das während der Rowohltparty am Mittwoch geboren
wurde und Luke Volten Friebe heißt. Der Name ist den Eltern erst
im Laufe des Freitag eingefallen, was erklären mag, dass es nun
doch nicht Hans-Herrmann heißt, wie ich vorgeschlagen hatte,
oder wenigstens Herbert. Die Friebes hatten mit ´Hans-Herrmann´
aus unerfindlichen Gründen nicht wirklich warm werden können,
glaube ich, und hatten immer wieder den Namen ´Park´ (?) ins
Spiel gebracht, den wiederum ICH nicht mochte. Warum Park,
verdammt nochmal? Angeblich, so log sich Holm das zurecht, weil
58
die Koreaner und Asiaten sowieso bald vor der Tür stünden, und
dann sei es günstig, wenn ein ´Park´ öffnete. Cornelius Reiber
nannte mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit den wahren
Grund: Die Friebes wohnen ja im Bötzowviertel, mit Sicht zum Park
Am Friedrichshain. Unter den zahlreichen Freaks der digitalen
Bohème heißt der seit Jahren schon ´Park am Friebe-Heim´. Nach
seinem Tod, ist Holm überzeugt, wird der Park auch offiziell nach
ihm benannt werden. Da er es bis dahin nicht mehr aushalten und
abwarten könne, habe er seinen Sohn schon mal vorausgreifend
´Park´ nennen wollen. Das war mir zu kompliziert. Hans-Herrmann
fand ich einfach lautlich schöner. Aber nun: Luke Volten. Warum?
Nicht einmal Cornelius wußte es.
Wir rattern über Pflastersteine und offene Straßenbahnschienen.
Alexa und Betzi reden über Künstlerbiographien und Künstlerehen.
Ich höre tatsächlich Worte wie ´hedonistischer Lebensentwurf´,
männliche und weibliche Rolle, Haltung des Asketen und so weiter,
dazwischen das virile Stöhnen des romantischen Malers Arnim
Boehm unter seiner bezaubernden Frau. Oliver von M—K. brüllt in
irgendein Handy, wohl nicht seins, nimmt die
Wasserstandsmeldungen der Event-Schauplätze entgegen. Wir
sind in einer Arme-Leute-Gegend, überholen liegengebliebene
Dreier-BMW von 1984, ich höre das Wort ´Andreas Hofer´, und
Alexas Stimme, die zu Betzi sagt:
„Ich habe in meinem Leben von Anfang an viele KünstlerBiographien gelesen, und das hat mich geprägt, sodaß ich...“
Dann übertönt wieder das verzweifelte Dröhnen des aufheulenden
Zweitaktmotors jedes menschliche Geräusch. Schließlich parken wir
in der Münzstraße, direkt vor Michael Krome´s Münzclub, und
gehen zu Fuß weiter, gehen zu sechst und in Zweiergruppen
spazieren, durch die herrliche Nacht, bis zum neuen Bonfini. Neben
mir läuft Alexa. Auch im Lokal sitzt sie neben mir. Sie ist 1,73
Meter groß, wirkt aber grösser, da sie recht dünn ist.
Im Lokal sieht sie noch besser aus, weil dort bis auf die Kerzen auf
den Tischen alles rötlich dunkel bleibt. Eigentlich ist sie sowieso
eine echte Schönheit. Aber die Haare versteckt sie äusserst
ungeschickt in einem häßlichen Knäuel direkt über dem Nacken,
wie ein Fahrradhippie, der seinen Grass-Vorrat im Haar aufbewahrt
und ansonsten den Frauenversteher gibt, ohne den Pferdeschwanz
59
zu lockern. Eigentlich sind ihre Gesichtszüge makellos und wie mit
dem Bleistift gezeichnet, auch ihr Mund, doch ihre nordisch
schmalen Lippen zieht sie noch weiter in den Mund hinein, oder
preßt sie streng aufeinander, sodaß sie ganz zu verschwinden
scheinen in diesem freudlosen, ungeschminkten, blassen
Schnappverschluß, in den das Bonfini-Essen wandert. Es ist
trotzdem ein manchmal eindrucksvolles Gesicht, und zwar immer
dann, wenn Alexa programmatisch über die Familie spricht. Die
Familie als Lebensentwurf und Weltanschauung. Dann kommt Stahl
in ihre Stimme, und die Sätze werden präzise, elegant,
durchdringend, bekommen die Kraft des Manischen. Es sind diese
Momente, an denen der Abend über sich hinauswächst, nicht nur
schön ist, sondern historisch schön. Denn es ist ja keineswegs nur
manisch, wenn Alexa zum Höhenflug ansetzt, sondern zugleich
gelebte Realität, auf allen Ebenen, zu hundert Prozent. Mit einer
beispiellosen Konsequenz zieht sie ihr Leben durch, eine geglückt
amalgierte Doppelexistenz aus Künstlerbiographie und perfekter
Kleinfamilie. Darin ist sie ihrer Zeit voraus, das macht sie modern.
Soviel Familie war seit den Manns nicht mehr, aber genau soviel
Familie werden wir bald überall bekommen.
Auch ihr neuer Roman ´Risiko´ drückt diese Familienbesessenheit
kongenial aus. Man wird dort auf hunderten und aber hunderten
von Seiten keinen Satz finden, keinen Gedanken, der nicht
durchdrungen ist davon. In gewisser Weise ist es eine
Kampfansage an jede Art von Intellektualismus, was aber nicht zu
verwechseln ist mit der Haltung der Autorin. Die handelnden
Personen sind von einer intellektuellen Armut, dass man als Leser
schreien möchte. Und doch spürt man: so ist es eben. Jetzt haben
wir es, was wir immer gewollt haben. Unsere Schuld, dass wir von
der Leyen so zugejubelt haben. Und es ist spannend, dieses Buch.
´Spannend´ nicht im neudeutschen Sinne, sondern im guten alten:
es hält einen in Atem. Man will es zuende lesen. Man glaubt ihm
jedes dumme Wort.
Alexa, die schon von Anfang an, von ihrem Erstling ´Relax´ an,
bewiesen hat, dass sie schreiben kann, sogar packend schreiben
kann, wird nicht in den Verdacht geraten, sie sei so dumm wie ihre
Romanfiguren. Der Zusammenhang von echter Literatur und
echtem Leben ist ja viel verwirrender. Erklären kann man das
60
letztlich nicht. Denn auf der platt ideologischen Schiene besteht
gar keine Differenz zwischen ihr und dem Personal ihrer Bücher. So
wie Ernst Jünger scheinbar dieselben Ideen vertrat wie sein
Frontsoldat aus ´Stahlgewittern´. Und doch konnte es keinen
grösseren Unterschied geben: hier der verheizte kleine Mann,
bewußtloses Frontschwein, dort der Dégeneré und Freigeist Ernst
Jünger, umjubelter Autor. Ähnlich groß ist die Fallhöhe zwischen
der beschriebenen Kleinfamilie in einer Vorstadt von Hannover,
dessen Kinder von der Ex-Frau des Mannes (ein Art eifersüchtiger
Schatten aus libertären Szene-Tagen) entführt werden, und Alexas
Existenz in Berlin Mitte.
Die Geschichte, das Buch, ist vollkommen rund, rund wie ein
Kieselstein. Fehlerlos. Unangestrengt. Fast möchte man sich auf
die Seite der mutigen Entführerin schlagen, die immerhin versucht,
ihren geliebten Ex aus der faschistoiden neuen Kleinfamilien-Hölle
herauszubrechen. Aber man erliegt natürlich den großen Gefühlen,
die die wahre Familie zu erzeugen vermag. Schirrmacher @ work,
hat Holm Friebe dazu gesagt, bei der Fahrt nach Kassel. Doch
zurück zu Alexas eigener Realität. Ein besseres, hipperes Leben
kann man im Jahre 2007 nirgendwo haben. Heute schwärmen ja
selbst die New Yorker Autoren von Berlin und ziehen nach Mitte,
die Norweger und Franzosen und Schotten erst recht. Thomas
Lindemann berichtet später, als er von der Lesung von Ragnhild
Moe zurückkommt, die hübsche Autorin, Model in Oslo, wohne
längst in Friedrichshain. Obwohl ihr Roman überall besser läuft als
in Deutschland, ist sie verknallt in Berlin. Kein Vergleich zu irgend
einem anderen Ort der Welt, sagt sie. Wer Paris kennt und Los
Angeles, oder das heruntergekommene London, oder die
geistlosen Metropolen Asiens, oder HANNOVER, wird ihr sofort
recht geben.
Alexa wohnt nicht nur in Mitte, sondern in der Kastanienallee, was
die Mitte von Mitte ist, und dort wiederum in der Nummer 24, was
das schönste und zentralste Gebäude der Kastanienallee ist. Sie
wohnt mit Mann und Kindern unter dem Dach, was wiederum die
schönste Wohnung des Hauses ist, und in dieser im schönsten
Zimmer. Und sie sitzt dort am liebsten am Schreibtisch, der genau
in der Mitte des Zimmers angebracht ist. Alexa ist der Mittelpunkt
der Welt, und macht aber keinen Hehl daraus. Sie versteckt das.
61
Sie will nicht hip sein. Es ist ihr Nährboden, aber niemals ihr Thema.
Sie lebt in der Hipness, interessiert sich aber nicht dafür. Und als
wir weiterziehen, zum nächsten Lokal, zur nächsten Party, merkt
sie es nicht einmal.
Sie ist freundlich und aufmerksam zu den Leuten um uns, wobei
sie keine Hierarchien kennt. Der komplett unangesagte Galerist
interessiert sie am meisten, während ein hoher Funktionär der
Z.I.A., normalerweise der Platzhirsch an jedem Szene-Tisch, von ihr
eher zurückgestellt wird. Sie weiß gar nicht, was Z.I.A. bedeutet.
Sie hat das White Trash noch nie von innen gesehen, ja, sie hat
auch das Wort noch nie gehört. Ebenso ist es mit allen anderen
Kürzeln der Underground-Bohème-Kultur. Ich stelle mir vor, sie
hätte im Paris Jean-Paul Sartres und Albert Camus gelebt und
geschrieben. Sie hätte wahrscheinlich jeden Nachmittag im Café
des Flores gesessen und sich für die Passanten interessiert.
Simone de Beauvoir wäre ihr niemals aufgefallen. Zu recht, sage
ich mal.
Wir fahren zur Bar 103 und sollen da Maxim Biller treffen. Sein
Buch ´Esra´ ist gerade vom Bundesverfassungsgericht endgültig
verboten worden. Was für ein Schlag! Nur der Tod eines eigenen
Kindes kann schlimmer sein. Jedenfalls, wenn das Kind so
wohlgeraten ist wie dieser Roman. In meinen Augen das beste
Buch der letzten zehn Jahre. Gerade die ungeheure Nähe des
Autors zu seiner inbrünstig gehaßten Hauptfigur - eben Esra –
macht es so glaubwürdig und intensiv. Doch Biller ist zu fertig, um
zu kommen. Er sagt, in einer halben Stunde, vielleicht. Aber er
kommt nicht. Lindemann und ich gehen zu seinem Haus rüber,
gleich neben der Bar. Es brennt helles Licht, heller als in den
anderen Wohnungen, hell und panisch in dieser sternenklaren
Nacht, wie das Zimmerfenster des sterbenden Papstes einst im
April 2006. Man sieht niemanden, nur dieses nicht gelöschte Licht
des verzweifelt nach Schlaf dürstenden Autors.
„Armer Maxim“, sagt Lindemann, „eine Party würde ihm jetzt
sicher guttun.“
Er schreibt noch eine SMS. Als keine Antwort kommt, fahren wir
weiter zur Eberswalder Straße 26, wo eine Party im Gange ist, die
bemerkenswert sein muß, wie alle eingehenden SMS zuverlässig
und übereinstimmend berichten. Betzi Bartel, die lieber ein Event62
Dinner der In-Galerie ´Nagel´ aufsuchen möchte – man raunt, auch
Caroline von Nathusius sei da – ist zu betrunken, um sich allein auf
den Weg zu machen. Sie bleibt im Wagen, zusammengerollt auf
der Ladefläche hinter der Rückbank, wodurch ihr schickes
Chefetagen-Kostümchen verrutscht. Durch weitere Fahrgäste aus
der Bar 103 fährt der Wartburg Tourist nun schon mit sieben
Personen. Der Star ist inzwischen Ragnhild Moe, die der Jugend
natürlich näher steht als die vielfache Mutter Alexa. Die Leute
erzählen, wie Moe auf ihrer Lesung in einer ersten HappeningAktion alle Besucher zwang, ihr Buch mit dem pornographischen
Umschlag in braunes Packpapier einzuwickeln. Wer das getan
hatte, bekam eine Widmung und einen Kuß. Manche haben gleich
mehrere Bücher eingewickelt. Ich hätte bestimmt die ganze
Lesung über die Dinger in Packpapier gewickelt und meterhoch
aufgeschichtet, aber ich war ja nicht da. Küsse von Alexa kann
man sich dagegen nicht vorstellen, weder seelisch noch
anatomisch. Und das ist ja auch in ihrem Interesse. Sie will niemals
Sexualobjekt sein. Leicht war es nicht, aber es ist ihr gelungen. Als
sie ´Relax´ rausbrachte, mit 20, und aussah wie ein
Rauschgoldengel, brachte sie Fotos in Umlauf, die so häßlich
waren, dass man von medialer Selbstverstümmelung hätte
sprechen können, ja müssen.
Auf der Party ist nun wirklich was los. Sie findet in einer normalen
Wohnung statt, wie alle guten Partys, und die Wohnung ist für
diesen Anlaß kein bißchen verändert worden. Man sitzt auf dem
Boden neben Krimskrams, alten Platten, Büchern, komischen
Sperrmüll-Gegenständen, krummen Lampen, leeren Flaschen. Ein
Gast ist gefürchtet, weil er immer aus Versehen Flaschen umstößt
oder volle Gläser fallenläßt. Man kennt das von ihm schon, die
ganze Stadt weiß das, und dass er es wirklich nicht absichtlich tut.
Es ist halb zwei Uhr nachts, und er hat schon zahlreiche Bier-,
Gintonic- und Martiniflaschen und –Gläser zu Fall gebracht. Überall
ist der Boden naß deswegen, aber man hat sich damit abgefunden
und es passiert immer wieder. Gleichmütig wird es von Gästen und
Gastgeber registriert. Die Musik ist mal halblaut, mal leise,
meistens eher leise, immer sporadisch, weil jeder, der will, selber
was auflegt. Die Musikanlage ist wirklich charmant, stammt aus
den Tagen, als Grundig noch der letzte Schrei war. So sporadisch
63
wie die Musik ist auch das Tanzverhalten. Immer wieder tanzen
Leute, können gar nicht anders, aber aus Übermut und gänzlich
unpornographisch. Sieht man diese Party, würde man nicht
glauben, was Ariadne von Schirach über die unaufhaltsame
Pornographisierung von Staat & Gesellschaft zusammengetragen
hat. Und Alexa sagt dann auch, dass Porno total ´over´ sei. Sie
drückt das ungewöhnlich aus:
„Das macht doch kein Mensch mehr. Wie soll das noch gehen, im
Bett? So komische Bewegungen, an den Haaren ziehen, Brust nach
vorn werfen, künstlich stöhnen? Baby, ja Baby, du machst es mir
Baby, uh, uh?“
Alle lachen, und Ragnhild ergänzt:
„Sex wird total überschätzt, meiner Meinung nach.“
Kann schon sein, dass ganz China auf dem Weg zur WichsGesellschaft ist, und das komplette Internet-Gedaddel darauf
hinausläuft, aber ist das relevant? Relevant ist diese Party in der
Eberswalder Straße! Alle reden, alle diskutieren, alle haben
studiert, alle haben Festanstellungen. Nicole schreibt ihre
Doktorarbeit über ´Initiationserlebnisse in der Popliteratur 2.0´,
und legt gleich los, als sie mir vorgestellt wird. Viktoria hat
Volkswirtschaft studiert, ist Redakteurin in einem als rechtslastig
verschrieenem deutschen Großverlag und leitet eine private
Marxismusgruppe, in der ´Das Kapital´ gelesen wird. Im Laufe des
weiteren Abends stellt sich heraus, dass fast alle Partygäste dieser
Marxismus-Lesegruppe angehören, dass aber kein einziger links ist.
Was für eine Revolution! Wacher kann man wohl kaum rumlaufen
heutzutage. Endlich ein Bewußtsein jenseits von Bsirske und...
sagen wir FOCUS. Oder gleich Gala.
Irgendwann muß ich Alexa nach Hause fahren, leider. Gerade hat
die Eva-Herrmann-Stunde angefangen, das heißt, alle reden
plötzlich über den Kerner-Auftritt. Aber Alexa sehnt sich nach
Mann und Kindern. Sie fragt vorsichtig:
„Tja, Eva Herrmann. MÜSSEN wir darüber reden?“
„Nein. Wirklich nicht!“
Das wird mir plötzlich klar. Ich kann es gar nicht erklären. Aber wer
Alexa Hennig von Lange gelesen hat, muß über Eva Herrmann nicht
mehr reden.
64
REISE ANS ENDE DES KULTURBETRIEBS
11. Berlin - CINEMA FOR PEACE AWARD: Bob Geldorf und der
Charity-Schwindel
Als ich zurückfuhr, spät um halb zwei, hatte ich zwei Galgenvögel im
Wartburg, die Crack geraucht hatten. Erst überredeten sie mich, noch ins
'Kitkat' zu fahren, einem Sado-Maso-Club am Ende der Stadt. Das wirre,
aggressive Geschnatter des einen, und vor allem sein häßliches,
stoßweises Lachen setzte mir so zu, daß ich anhielt und die beiden
Verbrecher aus dem Auto zerrte. Sie ließen es geschehen, waren
überrascht. Die Ampel schlug um auf Rot, ich trat das Gas durch, der
Blechhaufen schoß nach vorn. Hinter mir war ein Polizeiauto, das mich
sofort an den Rand drängte und mir den Führerschein abnahm.
So endete der Abend. Er begann mit dem Brüllen der Fotografen beim
Eintreffen der 'Prominenten'. Für mich war das alles neu, denn eine
Charity Gala zu besuchen paßte zu meiner linken Sozialisation so wenig
wie Swinger Fuck und Houellebecq-Lesen zum bayerischen
Ministerpräsidenten. Dachte ich. Aber längst haben sich alle Fronten
verdreht. Das Klischee sei trotzdem nochmal skizziert: der Feind, das war
für mich, als ich 17 war, Ute Ohoven, die 'Queen of Charity'. Das war für
mich Amerika, dieses Land, das den Planeten ruinierte und von einer
Schicht skrupelloser Fettsäcke regiert wurde, die sich auf WohltätigkeitsGalas selbst feierten, mitsamt ihren alten, faltigen, schrecklichen
Ehefrauen in Abendkleidern. Ich war definitiv Europäer und setzte auf das
Potential des Geistes, der zum Widerstand, zur Tat drängte. Nicht die
Almosen der Reichen, die sich als Gutmenschen inszenierten, könne die
Welt retten. Dachte ich.
Der Cinema for Peace Award versammelte nun nicht nur Reiche und Alte
samt Gattinnen. Alt waren sie zwar, und reich auch, und ohne Gattin kam
niemand. Aber das alles sagte nichts. Wie werden solche Worte dürr,
wenn Bob Geldorf vor einem steht und sagt:
"Where is Stefan?"
Seine Haare sind silbern und fein geschnitten, die Haut wirkt gesund und
von südafrikanischer Sonne gebräunt, und der teure dunkle Abendanzug
glitzert geheimnisvoll.
"Stefan who?"
65
Er fixiert mich. Bin ich blöd? Stefan Aust natürlich. Bevor ich antworten
kann, kommt dieser Mensch von den 'Skorpions' dazwischen und textet
ihn zu. Dann geht Geldorf weg, und ich stehe mit dem Geschmacks-Satan
alleine da. Ich kenne Leute, die hätten sich vor zehn, zwanzig Jahren eher
die Hand abgehackt, als ein Skorpions-Konzert zu besuchen. Und ich häte
sie verstanden und im Krankenhaus besucht. Nun erzählt mir der Mann
(Krokoleder-Jackett, gelbe Haare, Snoopy-Rennfahrerbrille) über ihr
Konzert bei Gorbatschow im Kreml.
"Gorbatschow sagte uns damals, der Rock hat den Kommunismus
aufgeweicht und so weiter, und so ist das auch heute, also wenn steter
Tropfen den Stein höhlt..."
Er meint wohl, wenn jeder jeden Tag ein kleines bißchen mehr Gutes tut,
indem er spendet, ließe sich die Zerstörung und Ausbeutung der Erde
rückgängig machen. Zum Glück kommt Helmuth Karasek vorbei, einer der
zehn Gerechten in dieser Ansammlung. Ich mache einen Satz auf ihn zu.
"Herr Karasek, wie kommen denn SIE hierher?"
"Wieso, ist doch eine gute Sache?"
"Letzte Woche noch diese schöne Sendung mit Reich-Ranicki im
Literarischen Quartett über Heinrich Heine, und jetzt erwische ich Sie hier
neben der Busenwitwe Tatjana Gsell und BILD-Luder Jenny Elvers, und
auf der Bühne singt Berufs-Pornograph Rolf Eden 'Imagine' von John
Lennon!"
"Na, wenn's für einen guten Zweck ist?"
"Sie halten 'Charity' also für eine sinnvolle Idee..."
Ich erzählte von dem Spekulanten George Soros, der ganze
Volkswirtschaften ruinierte, und dennoch als Gutmensch und Wohltäter
durch die Medien spazierte, da er ab und zu ein Waisenhaus finanzierte.
Karasek wurde verlegen:
"Jetzt haben Sie mich doch in eine ziemliche Zwickmühle gebracht."
"Sehen Sie! Und die 200 Milliarden Dollar für zusätzliche Kampfjets, die
niemand braucht im Zeitalter von Al Kaida, die sind - "
"Moment! Das ist ein gutes Beispiel. Kein einziger Kampfjet weniger würde
gebaut, wenn die Rüstungsindustrie KEINE Dollar auf
Wohltätigkeitsveranstaltungen spendete."
Ich sagte, da gebe es sehr wohl einen Zusammenhang. Seit
Jahrhunderten sei der kritische Geist die einzige Waffe gegen
Machtmißbrauch und Kriegstreiberei. Spätestens seit dem TsunamiSpendenwahnsinn sei das kritische und kreative Potential der Menschheit
aber in der trüben Suppe des Gutmenschentums versunken. Die Folgen
seien verheerend, vor allem für Künstler, die diese Bezeichnung noch
verdienten...
Wir diskutierten lebhaft. Schließlich sah Karasek sich um, nickte mir
beschämt zu. Minuten später war er gegangen.
Die Tafel war vom Feinsten. Soviel Prunk und fünf-Sterne-Küche war
selbst für eine europäische Hauptstadt außergewöhnlich. Unter 14
haushohen Kronleuchtern mit je 100 Kerzen verspeisten die Parvenues
und 'Neuen Bürgerlichen' des Landes einen Großteil der Spendengelder,
die doch angeblich Millionen Kinder vor dem Hungertod retten sollten. Es
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waren gar nicht einmal alte Leute, die hier den feinen Herr mit Begleitung
gaben, gar nicht diese Grosz-Karikaturen und Klischee-Bonzen alter EliteHerrlichkeit, sondern eine Art Pop-sozialisierter Mittelbau. Leute, die 'Rock'
oder auch 'Rock-Kultur' im Kopf hatten und sich für jung hielten, für
unspießig, für 'locker'. Und natürlich für revolutionär, weil sie das Gutsein
zur "größten Bürgerrechtsbewegung aller Zeiten" gemacht hatten, wie ein
Filmchen zwischen den Performances behauptete. Sie glaubten allen
Ernstes, Bob Geldorf sei ein Popstar.
Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich spaßeshalber die zur Zeit besten 20
Popgruppen auflistete und mir überlegte, ob auch nur ein einziger Musiker
davon hier auftauchen könne. Pete Doherty und Baby Shambles? Maximo
Park? Kaiser Thief? The Strokes? Arctic Monkees? Block Party, Razorlight,
Al Green? Niemand! Selbst von den deutschen Stars mied jeder, der noch
nicht völlig out war, den Benefiz-Schwindel. Tokio Hotel neben Marie Luise
Marjahn beim candle light dinner - niemals! Auch nicht Harald Schmidt im
intimen Plausch mit Bärbel Schäfer. DIE moderierte nämlich den Abend.
Und die angekündigten Superstars, die all die betuchten Spießer anlocken
mußten - kamen natürlich nicht. Wie immer. Richard Gere - kam nicht.
George Clooney - kam nicht. Das alte Spiel. Wer fiel darauf nur noch rein?
Und dann die immer und ewig gleiche peinliche Oscar-VerleihungImitation, mit George-Lucas-Fanfaren und Star-Wars-Gedröhn. Mit
englischen Ansagen vom Tonband. Mit zu Tränen gerührten Preisträgern,
die ihren Managern, Produzenten, dem Team, den Eltern und so weiter
danken. Und deren Stimme dann plötzlich fest und männlich wird, wenn
es ums Thema 'Gutes tun' geht: mit Tremolo-Stimme und von sich selbst
überwältigt, dabei dunkel ahnungsvoll wie Joacqin Phoenix in 'Walk the
Line' spricht Preisträger Richard Curtis Worte wie crying children... social
responsibility... deeply thankful... great honour... do something for
others... et cetera. Wer ist dieser Mann? Ein Verwandter von Tony Curtis?
Wofür wird er geehrt? Egal.
Eine Tibeterin im Himalaya-Trachtenkleid singt Folklore, wahrscheinlich
irgend ein Friedenslied aus dem alten Tibet. Dagegen wäre nichts zu
sagen, wenn auch mal Hansi Hinterseer im Gegenzug auf der
Veranstaltung in Los Angeles deutsches Liedgut für den Frieden
schmachten dürfte, in Sepplhosen wie alle Deutschen. Da wäre das
Ausland doch sicher auch gerührt.
Ich renne wieder in den umtriebigen Bob Geldorf hinein, der mich sogar
wiedererkennt und wenig freundlich ansieht, fragend. Was soll ich sagen?
"Don't know where 'Stefan' is tonight!" sage ich schließlich.
"Tell him: Cinema for Peace is 'Oscar with brain'."
"Oh! How nice, I'll do so. Something else... for him?"
Er guckt eine Sekunde sehr nachdrücklich und geht dann an mir vorbei,
einfach weg. Ein wichtiger Popstar, der macht das so. Ich verstehe das.
Würde ich auch so machen, wenn ich einen Hit in 20 Jahren geschafft
hätte.
Und das alles im schönsten Gebäude Berlins, dem prachtvoll weil römisch
anmutenden Konzerthaus am Gendarmenmarkt, klassizistisch, gigantisch,
schön, zeitlos alt. Furtwängler und Toscanini haben hier gespielt, und alle
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anderen Genies erst recht. Alles ist hell, quadratisch, im Ebenmaß, von
einer Schönheit, die auf Vernunft fußt, rational, anständig, im Preußen der
Aufklärung errichtet. Nun sitzen hier laut offizieller Gäseliste Dr. Regina
Burda, der Frisör Udo Walz, der unvermeidliche Moritz Bleibtreu, Wim
Wenders, Prinzessin Maria Theresia von Thurn und Taxis und der
Regierende Partymeister von Berlin Klaus Wowereit. DER ist nun als
einziger wirklich locker. Wowi ist Pop. Er wirft sich weg vor Lachen,
besonders bei Frauen, und wenn er geht, schäkert und schlenkert er wie
Harald Juhnke selig, nach beiden Seiten grüßend, oft eingerahmt von
Männern, die seine Nähe suchen. Er trägt auch keinen Smoking und keine
Fliege (wie vorgeschrieben), sondern den bekannten Politiker-Anzug aus
dem Rathaus. Wenn die 'Stars' ihr Bühnenprogramm machen, mit RührAnsagen, Gutmensch-Reden, Filmchen, Pianogeklimper und einer
Versteigerung, liest er völlig ungerührt in mitgebrachten Akten, wie im
Plenum während einer Rede der gegnerischen Partei. Am schlimmsten ist
der Pianist, ein Chinese, der in die Tasten schlägt wie ein RummelplatzAnimateur. Zwischendurch soll es sogar Schumann gewesen sein, zarte
deutsche Töne, die vom Geklirr des Bestecks der hemmunglos Hungrigen
verschluckt wurden. Anschließend klatschen und johlen sie wie Berserker,
werfen Messer und Gabel weg und schlagen die groben breiten Hände
aufeinander, daß der Lärm wehtut.
Es ist noch immer nicht vorbei, um 23 Uhr. Im Gegenteil. Die After-ShowParty beginnt. Jeder Zweite juckt sich nun an der Nase, die Toiletten sind
überfüllt, die Augen sind starr, aufgerissen, euphorisch, und doch
abgeschnitten von jedem echten Gefühl. Gruselig, mit einem Wort. Die
Leute fühlen sich großartig. Jede Art von schlechtem Gewissen hat
aufgehört zu existieren. Auch jedes Schamgefühl. Alles, was immer
peinlich an ihnen war, was sie zu kleinen Menschen gemacht hatte. All
ihre Laster und schlechten Gefühle, alles wird zu einem durchgehenden
weißen Streifen, den sie sich durch die Nase ziehen. LambadaStimmungsmusik schallt durch die Säle. Frauen tanzen 'sexy' zu
Schmierenhits wie 'It's raining men' oder Michael Jacksons 'Thriller', es
sieht aus wie verunglückter Bauchtanz, und die Männer, wie alle Männer
in Anzügen, gefallen sich in Abarten von Sirtaki-Bewegungen. Die
Gesichter sind aufgerissen und häßlich, die Zunge oft rausgestreckt, und
ab und zu erkennt man einen ECHTEN Menschen, und das ist immer eine
Angestellte. Man denkt: Richtig, so sehen Menschen aus, die NICHT böse
sind. Anti-Gutmenschen im Grunde.
Wie der Abend ausging, erzähte ich ja schon.
Fußnote
Bob Geldorf / Der Charity Schwindel:
Diesen Bericht schrieb ich für den SPIEGEL, von dem Idee und Auftrag kamen. Auch ein
SPIEGEL-Fotograf war zur Stelle. Mir war gleich klar, dass ich das neue Spendenunwesen
in die Pfanne hauen wollte, das, aus Amerika kommend, politisches Engagement
verdrängte. Vor Ort wurde es dann schwierig. Die Journalisten wurden von den
Teilnehmern getrennt. Ich brauchte vier Anläufe, um doch noch in den Festsaal zu
schlüpfen. Der Fotograf schaffte es nicht. Als ich dann mit Bob Geldorf redete, knipste
uns ein Kellner, dem ich meine kleine Digitalkamera in die Hand gedrückt hatte. Ich war
insgesamt stolz auf meine Leistung, und das konnte ich auch. Der Bericht war
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perfekt. Ich schrieb ihn am nächsten Tag und mailte ihn an die Redaktion. Doch nun
kam, was immer kam beim SPIEGEL: man verlangte Änderungen. In diesem Fall
fiel mir das besonders schwer, weil der Artikel perfekt war. Auch die kleinste
Veränderung wäre eine Verschlechterung gewesen. Und selbst, wenn es nicht so
gewesen wäre: ich konnte grundsätzlich meine eigenen Texte nicht bearbeiten, ja
nicht einmal lesen. Das war so eine Art Geburtsfehler, eine Deformation, eine
bestimmte Art, für die ich nichts konnte, die ich aber auch nicht schlimm fand.
Warum etwas verändern, was gut war? Sollten andere es umschreiben, für ihre
Zwecke, wenn es ihnen so besser gefiel. Das hatte ich meinen Vorgesetzten bei
der Einstellung eindringlich gesagt - aber sie hatten es ganz offensichtlich
nicht geglaubt. Nun verlangten sie, aus Prinzip, regelmäßig ein komplettes
mehrmaliges Umschreiben. Das war da so üblich, alle Redakteure und Autoren taten
das, morgens, mittags und abends. Es war irgendwie das Prinzip des SPIEGEL.
Alles grundsätzlich 37 mal umschreiben, damit es rund und sauber wird. Ich konnte
damit nicht dienen. Bei jedem Umschreiben wurde es unrunder und unsauberer.
Das konnte nicht verwundern, wurden die neuen Fassungen ja auch nicht vom
Meister selbst vorgenommen. Anfangs versuchte ich, andere SPIEGEL Kollegen für diese
Arbeit zu gewinnen, und tatsächlich halfen sie mir. Die Sache war mir
natürlich peinlich. Ich mußte nachts so bewunderte Leute wie Wolfgang Höbel oder
Verana Araghi aus dem Bett klingeln und sie anbetteln, meine Arbeit zu tun. Und es
war umsonst. Auch deren Fassungen wanderten umgehend zum Umschreiben wieder
auf meinem Schreibtisch, eben aus Prinzip. Ich beschwor meine Vorgesetzten, es
nun gut sein zu lassen; ich könne doch gar nicht umschreiben, wie gesagt. Sie
hörten das gar nicht, noch weniger glaubten sie es. Die nächsten Fassungen
schrieben Kollegen von der "taz" für mich, und wieder kamen sie zurück. Dann
stellte ich meine Frau ein, dann meinen Neffen und Ziehsohn Elias, schließlich
Nichte Hase. Der Originaltext war natürlich inzwischen vollkommen verhunzt und
unbrauchbar geworden. In dieser Form wurde er vom Ressortleiter der
Chefredaktion vorgelegt, die ihn natürlich ablehnte. So war das nun bereits mehrmals
gegangen, als ich DIESEN Text vorlegte, über den großen Charity Schwindel. Diesmal
wollte ich, dass die Chefredaktion wenigstens im Nachhinein erfuhr, was ihr
entgangen war. Die ganze Woche verging mit immer neuen Fassungen und
Verschlechterungen, und am Freitagvormittag um elf Uhr kam das Aus. Ich rief
umgehend die "taz" an und bat sie, "Charity Schwindel" in der Originalversion
abzudrucken, was sie auch taten. Sechs Stunden später hielt ich die ersten Exemplare in
der Hand. Die Redakteure hatten somit offenbar nur 90 Minuten gebraucht, von
dem Thema zu hören, den Text zu lesen, eine ganze Seite freizuräumen, sie
aufregend zu gestalten und sogar noch das Knipsfoto von dem Kellner optimal
einzubauen. Und das war noch nicht einmal eine besondere Leistung. Es war das, was
ordentliche Redakteure zu tun hatten. Es war ihr Beruf. Nur beim SPIEGEL wußte
man das nicht.
12. Internationales Filmfestival Hannover
Die meisten Menschen sind in ihrem ganzen Leben nie in einer Jury, wie
ich. Doch dann kommt plötzlich der Anruf eines Fremden, man wird
bedrängt, beschenkt, gelockt, und alle Symbole der Medien-Importance
blinken im Dauertakt. Limousine, Fahrer, Hotel, Hubschrauber, TVKameras, Blitzlicht-'Gewitter', Schauspielerinnen, Boxenluder, sogar die
obligatorische VIVA-Moderatorin fehlt nicht. Wow! Ist man jetzt wirklich in
Cannes? Nein, es ist nur irgendein Filmfestival, von denen es sicher viele
69
gibt, so wie es ja auch über tausend deutschsprachige Literaturpreise pro
Jahr gibt, von denen jeder einzelne eine Jury hat mit Prominenten. In
meinem Fall war es das Internationale Filmfestival Hannover UP AND
COMING, das den deutschen Nachwuchsfilmpreis verlieh. Und ich erlebte
endlich die wirkliche Kultur unseres Landes, die Kultur der Kulturminister,
der Steuergelder, der Sponsoren, der Fonds, der Kreissparkassen und
Reiffeisenbanken, der kleinen Michael Naumanns überall im Lande, der
ZEIT-Redakteure und der öffentlich-rechtlichen Sender. Viele Milliarden
Euro aus tausenden von institutionellen Töpfen kommen da zusammen
und verteilen sich giesskannenmäßig auf die Kommunen, Tag für Tag und
Jahr für Jahr. Die Bürger merken es nur nicht. Für sie ist Kultur immer
noch der neue Amerika-Roman von Philip Roth, den sie unter dem
Weihnachtsbaum verschlingen, der letzte Lars van Trier Film im Kino, der
sie nicht losläßt, die gut gemachte Dokumentation über John Lennons Tod
im Fernsehen vor kurzem. Sie ahnen nicht, daß in ihrer toten Stadt gerade
'Cannes' oder 'Oslo' gespielt wird. Wobei gar nicht sicher ist, dass 'Cannes'
besser läuft als 'Hannover'. Zur Berlinale etwa mit ihren hunderten von
Filmen kommen trotz Super-Glamourfaktor und 'Regierendem
Partymeister' Wowereit weniger Zuschauer als zu einem einzigen HarryPotter-Film. Festivals und kulturelle Wettbewerbe werden nicht für die
Bürger, sondern die Macher gemacht. Und ich war jetzt dabei. Teil der
Internationalen Jury. Mit einem bekennenden Schwulen aus England, der
in New York lebte, einem politisch correcten Holländer, einem in
Deutschland lebenden Iraner, und natürlich einer VIVA-Moderatorin, die
aus Indien kam. Ich war der Deutsche unter ihnen. Und als solcher auch
eingeordnet und angefeindet, in den Pausen zwischen den 102 Filmen aus
51 Ländern.
Vier Tage und Nächte also Kino und Diskussion. Was für ein Rave! Noch
etwas Extasy, und man wäre voll draufgekommen. Natürlich wurde die
Jury schnell eine verschworene Gemeinschaft, wie bei jeder
Gruppentherapie. Man lachte, kicherte, konnte sich nur schwer auf die
Filme konzentrieren. Ich freundete mich als erstes mit dem Iraner an,
den ich auf Anhieb sympathisch fand. Am nächsten Tag verliebte ich mich
in die Inderin. Am dritten Tag verliebten sich auch alle anderen in die
Inderin, nur der bekennende Schwule nicht. Der warf mir die Zerstörung
der Twin Towers vor - die Täter kamen aus einer Gegend nahe Hannover und ich ihm die Bombardierung der Stadt durch seine Royal Air Force. 80
Prozent der Gebäude und 25 Prozent der Menschen waren damals
vernichtet worden. Man sah es, wenn man aus dem Hotelfenster sah:
Hannover heute ist die häßlichste Stadt der Welt.
Wirklich? Schon nach dem ersten Film-Block dachte ich anders. Draußen
in den anderen Kontinenten schien es nur Schrott, brennende Autoreifen,
Breakdancer, Rapper und Hooligans zu geben. Lag es an der Auswahl
durch die Festival-Leitung? 2.452 Filme waren eingereicht, weit über 90
Prozent somit abgewiesen worden. Vielleicht gab es unter denen noch
Filme mit Städten, in denen die Müllabfuhr noch funktionierte? Es war
jedenfalls seltsam, daß auch die Filme aus Großbritannien, Europa, dem
Westen so aussahen, als würden jede Nacht die Autos angezündet.
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Rutschte doch mal ein Beitrag mit bürgerlichen Lebensformen, gut
erzogenen Kindern, Fenstern mit sauberen Gardinen in den Wettbewerb,
konnte man sicher sein, daß es um Gewalt in der Ehe oder noch
Schlimmeres ging. Das nahm ich gern in Kauf. Lieber eine penetrant
männerfeindliche Darstellung, als immer nur Ghetto, Ghetto, Ghetto. Doch
dann fauchten die anderen sofort: "Du mit deinem Scheiß-HollywoodGeschmack! Geh doch rüber in die Daily Soap, wenns dir hier nicht
gefällt!" Und das von Leuten, die mir vorwarfen, den Krieg im Irak nur
deshalb nicht gewonnen zu haben, weil "ihr Nazis nicht mitgemacht habt".
Paradox!
Aber ging es in der WG vor vielen Jahrzehnten nicht genauso hitzig zu?
Berufskulturelle bleiben eben jung. Die Filme selbst führten immer direkt
in die Plattenbau-Steinzeit-Probleme Essen, Ficken, und Arbeitslosigkeit.
Das Leben war schon ein Elend. Wirklich finster ging es in den vielen
Beiträgen aus den GUS-Staaten zu. Die wurden immer gern genommen.
Da lachte nie jemand, und nie schien die Sonne. In dem Film aus Rio de
Janeiro auch nicht, was mich stutzig machte. Ich kannte die Stadt, und die
Sonne hatte DOCH geschienen. Ein beliebtes Thema waren kranke Tiere
und traurige alte Leute. Die Filmemacher - es war ein Nachwuchsfestival durften nicht älter als 27 sein. Aber dieser Nachwuchs zeigte sich nie
selbst. Keine Filme über reale junge westlich zivilisierte Leute. Stattdessen
Monsterkinder, Minderheiten, mißhandelte Frauen, verfolgte GraffittiSprayer. Am schlimmsten die Kinder: entweder waren es brüllende
Rabauken-Ungeheuer (im Westen), oder aus Not geborene Kriminelle (im
Osten), oder Kindersoldaten (im Süden). Und die netten bergmanesken
Kinder in Skandinavien mußten immer zusehen, wie der Papi die Mami
penetrierte und grün und blau schlug. Mein Einwand "Da leben doch nur
Weicheier, dort oben, keine Zuhälter" wurde allseits mit einem fanatischen
"Gerade die Weicheier kompensieren das mit Gewalt!" gekontert.
Weicheier waren die Filmemacher meist selbst. Ungezählt die Filme, in
denen so ein häßlicher Hippie-Loser aus Holland oder der Schweiz seinen
Film nur macht, um einem angebeteten und abgefilmten Mädchen auf den
Pelz zu rücken, das er sich sonst nie trauen würde anzufassen. Mein lieber
Gott!
Dämlich auch dieser Religionskonflikt in Nordirland, dieses mitgeschleppte
Mittelalter. Das war so ermüdend. Und sie reden natürlich alle Gälisch
oder solche Dialekte, und sind glühend vor Ernst, heiliger Tristesse und
Humorlosigkeit. Große Kunst! Erster Preis! Da brennt der Autoreifen,
Bruder! Da ringt der Direktor der Stadtsparkasse um Fassung!
Aber natürlich gibt es auch Anregendes. Auffällig viele türkische Filme
geben unfreiwillig ein bißchen Enblick in die Mentalität der Familien dort.
Asien rückt einem näher mit dieser faszinierenden Art, absolut nichts zu
sagen zu haben. Araber, die in einstürzenden Hütten leben und sich
stundenlang über die UN beschweren, dass die die Hütten nicht repariere
(anstatt mal selbst Hand anzulegen) zeigen einem die Differenz zum
Mitteleuropäer. Und dass es überall im Mittleren Osten so aussieht wie in
Berlin am Herrmannsplatz, mit dieser scheulichen Männergesellschaft,
diesen freudlosen, selbstgerechten Paschagesichtern, wird für
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Feministinnen interessant sein. Schön und lehrreich auch die Filme aus
Israel. Es waren die einzigen, in denen liebende und werktätige
Erwachsene vorkamen. Keine siebenjährigen Kinder, die als
Grabsteinschleifer in armenischen Bürgerkriegs-Friedhöfen mißbraucht
werden.
Hannover wurde jeden Tag schöner. Als ich am Montag in der aller Frühe
das Hotel verließ, leerten gerade Männer der Stadtreinigung ruhig und
professionell die Mülltonnen. Sie natten neue, orangefarbene Kittel an. Ich
hätte sie umarmen können.
13. Standort-Kino: Wim Wenders
Wim Wenders ist ein Darling. Wer ein Herz hat, muß ihn mögen. Nun wird
er 60, sieht aber aus wie ewige 43. Glückwunsch!
Soweit die guten Nachrichten. Von den Jungen kennt ihn niemand, aber
das macht nichts, die Alten der staatstragenden Generation Sechzig Plus
kennen ihn alle. Sie lieben seine Filme. Sie fördern ihn. Allein die Gremien
aufzuzählen, die seinen neuen Film 'Don't stop knocking' gefördert haben,
würde den Text dieses Artikels ausfüllen. Sie fördern ihn seit 30 Jahren.
Alle Mittel akkumuliert könnten 'Live Aid' ersetzen und halb Afrika wieder
aufbauen. Kein anderer verkörpert wie er dieses semi-korrupte System
staatlicher Gelder, die unansehnliche Filme schmieren; seine Leute, seine
Generation, sein schlechter Geschmack bestimmen seit Ewigkeiten, wer
drehen kann und wer nicht. Junge Realisten werden gedeckelt, die
Zombies drehen weiter deutsche 'Poesie'. Aber was sind das eigentlich für
Filme?
Wir wissen, Wenders hat ein seltsames Faible für knorrige, knarzige
amerikanische Männer. Auch seine Frauen erkennen wir sofort: unendlich
ernste, humorlose, ungeschminkte Schönheiten, die aus allen
gesellschaftlichen Bezügen herausfallen. Sie schweben über der Erde, sind
Heilige. Das kann man mögen, man kann es Edelkitsch nennen und
trotzdem mögen, oder gerade deswegen mögen; ich mag diese Figuren
nicht. Sie sind mir unsympathisch, ich erkenne die Vorlagen. Mißgünstige
deutsche Single-Frauen, antriebslos, frustriert. Die Vorlage der Männer
sind verbitterte Kriegsheimkehrer. Ein Autorenfilmer darf das. Also seine
Traumata plündern, bzw. ausstellen.
Scheußlich, weil so krank, wird es, wenn er seine Kindheit immer wieder ausgerechnet - auf die heutige USA projiziert. Auch im neuen, am
kommenden Donnerstag anlaufenden, Film hat man nach zehn Sekunden
schon alles beisammen, was ödet: alte Männer, Wüste, Amerika, blöde
Klampf-Musik. Und natürlich Film im Film. Das soll wohl ein Hauch
Avantgarde werden, ist aber eben die von 1959, somit Après-Garde. Wen
interessiert sowas noch? Dann brechen die 50er Jahre auch auf Schildern,
Schriftzügen, schrillen locations in den Film ein, der doch heute spielen
soll. Wenders ist wieder in seiner Puppenstube, er kann's nicht lassen.
Eine engelhafte Blonde (Sarah Polley) tritt auf, die mit der Urne ihrer
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toten Mutter spricht. Botschaft: alle Menschen sind allein. Nächste
Einstellung: Friedhof, mitten in der Wüste. Unklar, was das soll. Dann der
Filmset, es wird ja im Film ein Film gedreht. Alle Leute dort sind viel zu
alt. Irgendein alter Darsteller aus der Ur-Soap 'Dallas' mimt den Regisseur
und befehligt 70jährige Scriptgirls. Auch der Hauptdarsteller Sam
Shephard spielt einen über 60jährigen, der bei seiner über 80jährigen
Mutter wohnt (Eve Marie Saint, zuletzt 1957 in 'Der Fremde im Zug'
aufgefallen). Ja, das liebt Wim: Schauspielerinnen, die er mit zehn
bewunderte, in seine Filme zu holen. Und in Autos zu setzen, die er als
Wiking Modelle damals sammelte. Und es gibt befreundete Journalisten,
die diese ausgrabenen Frauen dann auf vier Heftseiten interviewen, mit
nachrichtlich so wertvollen Informationen wie "früher war alles anders".
Journalisten, die mit Wenders nicht befreundet sind, gibt es nicht.
Diese Filme haben immer Überlänge. Das soll beweisen, daß sie sich nicht
der Norm beugen. 'Im Laufe der Zeit' brachte es auf 187 Minuten,
subjektiv gefühlte Überstunden sind es auch diesmal. Ray Cooder oder
wer das ist zupft weiter seine Schnarchmusik wie anno dazumal. Der Held
kehrt in sein Kinderzimmer zurück, das seine Mutter 40 Jahre lang nicht
um einen Millimeter verrückt hat. Und wo das alles ist? Natürlich in Las
Vegas!
Nun geht's los. Glückspiel, Saufen, Cowboyhut - er läßt den Proleten raus.
Aber immer noch absolut wortkarg, verbittert, eben der GuLagHeimkehrer im hessischen Dorf. Er spielt mit den Automaten wie ein
vernachlässigtes Schlüsselkind, und genau dieses Niveau hat er auch.
Schon nach dem ersten Bier wird er voll doof, randaliert, krakeelt, wird
von der Polizei festgenommen. Die hundertjährige Mama holt ihn raus.
Zeigt uns Wenders ungewollt aber verdienstvoll die kommende 'zombie
nation'? Wo Leute im Rentenalter sich wie Kinder gebärden? Und Eltern
haben, die einfach nicht mehr sterben, sondern ihre Rolle weiter
durchziehen wie resolute Mittdreißiger?
Als nächstes und unvermeidlich zur Zeit: das Rührstück vom
wiedergefundenen Kind. Sam Shepards Mom erzählt ihm, daß er einen
erwachsenen Sohn hat. Den sucht er nun, den findet er nun. Produkt
eines Boris-Becker-Quickies in der Wäschekammer. Der Sohn dreht durch,
warum, wird nicht begreiflich. Vor allem: warum er SO LANGE durchdreht.
Gute 60 Filmminuten lang. Und seine Wäschekammer-Mutti gleich mit. Als
Shepard ihr einen nachträglichen Heiratsantrag macht, legt sie eine
viertelstündige Schrei-Arie hin, die zum Widerlichsten und Unsinnigsten
der Filmgeschichte gehört, und für den sie sicher eine Oskar-Nominierung
erhalten wird. Journalisten mögen Wim Wenders.
Doch der Gerontokratenfilm ist immer noch nicht zuende. Shepard tuckert
mit einem 1951er Chevrolet ohne alle Gebrauchsspuren durch ein
Amerika, das nichts weiß von der enormen Dynamik, in der es steckt.
Nicht Angelina Jolie becirct den Helden, sondern ein verspäteter
Seventies-Punk-Klon aus Herne in Westfalen. Nicht Jonathan Franzen
inspiriert ihn, eher Wolfgang Borchert. Und natürlich ist der
wiedergefundene Sohn Rock-Sänger und spielt die Musik von Bill Haley.
Zwischendurch schläft Shepard - richtig, der Alte - mit drei Teenage Girls
73
gleichzeitig. Wohl fürs Protokoll, Sex macht nicht glücklich. Auch sein
Sohn zitiert ein paar Nebenszenen lang das Elend von 'Sex, drugs and
rock'n'roll'. Das fördert dann immer dieses Kifferbewußtsein zutage. Die
Wortkargen lachen dann so schräge, und die 60jährigen Zuschauer sollen
schmunzeln. Die Hintergrundgeräusche werden hochgedreht. Wieder
gelingen dem Kameramann (Franz Lustig) 'schöne' Aufnahmen.
Bäh! Was für ein Dreck. Wer stellt das endlich ab? Wenn es keiner tut,
geht das auch die nächsten 30 Jahre so weiter. Denn Wim Wenders ist
smart. Der wird über 100. In seiner Weise ist er moderner als wir alle.
Fußnote
Wim Wenders:
Jeder Schriftsteller schreibt auch ab und zu für die Presse, und die Erfahrungen, die ICH
in meinem langen Leben mit diesem Bereich gemacht hatte, waren eigentlich immer
positiv gewesen. Die Leute bekamen meinen Text, riefen auf der Stelle zurück, freuten
sich wie Kinder. Noch mehr aber freute ich mich, wenn ich ihn wenig später in der
Zeitung las. Er war noch besser geworden. Sie hatten ihn fein gekürzt, prägnanter
gemacht, schön bebildert, aufreizend präsentiert, dazu ein Foto von mir, ein Kasten mit
Lebenslauf, Hinweis auf das neue Buch, prima. Was für tolle Kerle, diese Zeitungsleute!
Die verstanden ihren Job. Auch die Themenvorschläge kamen von ihnen. Man mußte
wirklich nichts tun, außer einmal schreiben. Und der Herr Redaktör rief immer an und
entschuldigte sich, dass er habe kürzen müssen. "Aber mein Lieber, das ist doch Ihr
Beruf!" antwortete ich dann immer. Niemand gab mir soviel Selbstwertgefühl wie
diese Redakteure, denn sie liebten meine Texte. Der Beweis dafür schien mir
dieses schnelle Antworten zu sein, und dabei diese Euphorie in der Stimme. Aus
eigener Erfahrung wußte ich, dass man Texte, die einen nicht begeistern, lange
auf dem Schreibtisch liegen läßt. Ich war nämlich einmal als junger Student
Volontär bei einer Zeitung gewesen, der damals noch liberalen DIE WELT.
Irgendeiner der älteren Granden des Großverlages, dem die Zeitung gehörte, ich
glaube, es war der damals schon legendäre Hans-Herrmann Tiedje, hatte mich zum
Edelstein erklärt, der geschliffen werden sollte. Ich bekam einen Vorgesetzten, der
das Schleifen übernahm, ein sogenannter CvD, also Chef vom Dienst. Dieser
Mann war bis zu meinem Antritt beim SPIEGEL der einzige Mensch, der mich dazu
bringen wollte, meine eigenen Texte umzuschreiben. Für mich war das ein perverser
Vorgang, schwer zu beschreiben, so als sollte ich Eigenurin trinken und dabei
gesund werden, obwohl mir nichts fehlte. Damals bekam ich jeden Mittag ein
Thema und die Zeilenzahl, lieferte ein paar Stunden später ab, und es wurde zur
großen Freude aller Vorgesetzten gedruckt. Man munkelte Gutes über mich. Axel
Springer fuhr mit mir einmal Paternoster - ich hatte ihn abgepaßt - und sagte
zu mir, nachdem ich schnell und überdeutlich meinen Namen gesagt hatte: "Es
klingt für Sie wahrscheinlich nur so dahingesagt, aber bitte glauben Sie mir,
dasss es mich sehr bewegt, wenn ich junge Leute wie Sie sehe... ich freue mich
so... machen Sie so weiter!" Das war 1983 gewesen, und leider war es der Anfang
vom Ende meines Aufstiegs da gewesen. Denn dieser "Schleifer", den ich jetzt
bekam, gab mir jeden Artikel wieder zurück. Aus Prinzip. Ich konnte nichts
anderes tun, als zum selben Thema einen ZWEITEN Artikel zu schreiben. Ich achtete
darauf, dass der zweite Artikel nichts mit dem ersten zu tun hatte. Während
mir der erste noch Spaß gemacht hatte - ich schreibe für mein Leben gern, es
ist für mich die Belohnung fürs Ertragen des schrecklichen Lebens - war der
zweite fast schon Arbeit. Der Schleifer liess auch den zweiten zurückgehen. Auch
den dritten. Ein Krieg entbrannte. Natürlich dachte der Schleifer, ich hätte
psychologische Motive. Wolle ihn ärgern. Wolle irgendeinen absurden Machtkampf
führen. Sei in der Pubertät. Sei größenwahnsinnig. Wolle seinen Posten haben.
Wie dämlich. Selten war mir ein Mensch so gleichgültig wie dieser gesichtsund geschichtslose CvD. Ich konnte mir noch nicht einmal seinen Namen merken.
74
Ich wollte lediglich nicht rausfliegen, da mir das Leben in DER WELT ungemein
gefiel. All die netten, verzweifelten Trinker in den Holzverschlägen, die seit
Kriegsende ihre Stellung verteidigten und die Märchen ihres Verlegers in Reime
faßten. Draußen kämpften Meinesgleichen gegen Castortransporte, aber hier
drinnen wurde die Oder-Neiße-Linie verteidigt oder wie die hieß. Viel besser. Wo
war eigentlich die Neiße? Egal. Jedenfalls schrieb ich nicht 37, aber bestimmt
20 völlig verschiedene Artikel zum selben Thema für diesen Chef vom Dienst,
der mir jeden neuen mit einem "Dich kriege ich schon noch
klein"-Gesichtsausdruck zum "Verbessern" zurückgab. Natürlich gab er mir auch
Anleitungen zum Umschreiben. "Setzen Sie den Schluß nach vorn, gehen Sie weg von
der dreistufigen Struktur, nennen Sie nicht den Namen der Konkurrenzzeitung..." und so
weiter. Ich versuchte, nicht hinzuhören. Dieser nobody durfte mir nicht meinen Stil
verhunzen.
Durch Zufall lernte ich seine minderjährige Tochter kennen. Die verkehrte in
der damaligen Neue Deutsche Welle Szene, zu der ich auch gehörte, auch wenn
ich mich nicht dafür interessierte. Musik hatte mich noch nie interessiert. Doch
nun hatte ich ein Anliegen. Ich liess mich also mit der Tochter ein und
sorgte dafür, dass der Schleifer es erfuhr. Der erschien dann ein halbes Jahr nicht
mehr im Dienst. Das wunderte niemanden, denn er war auch vor meiner Zeit
schon der typische freudlose Bluthochdruck-Choleriker gewesen, aschgrau der Kopf,
die blutleeren Lippen zusammengepreßt, stechend der Blick, Schnauzbart,
Glatze, Gauloises: so ein Arschgesicht konnte nur bei der Army glücklich werden.
Alles andere war nicht von Dauer. So war er dann weg, und ich konnte wieder
normal schreiben. Ich hatte keinerlei Ärger mehr, niemals mehr, bis, ich sagte es
schon, der SPIEGEL kam. Nehmen wir das gerade vorliegende Beispiel, Wim
Wenders. Ich schrieb meinen Text, schickte ihn ab, und hörte nichts mehr. Kein
euphorischer Anruf. Ein deutliches Schweigen, immer deutlicher, fast schon dröhnend.
Wochenlang nur dieses mißmutige, beleidigte, verachtende Schweigen. So geht
es allen Mitarbeitern, mit allen Texten, guten wie schlechten. Schließlich ruft
einen irgendeine Subordonnanz an, ein Chef vom Dienst, ein Praktikant aus der
Dokumentation, der dann eine Kunstpause macht und endlich unwirsch mitteilt:
"Na, das wissen Sie selbst, dass das nicht so geht, das muß ich Ihnen ja nicht
sagen, mit diesem Text da, diesem, äh, über..." - "Wim Wenders!" - "ja,
richtig. Also da nehmen Se mal den Schluß nach vorn, verzichten auf die dreistufige
Struktur, die Sätze viel kürzer und einheitlicher, der Name des
Chefredakteurs darf nicht fallen, das Wörtchen ´ich´ hat in einem SPIEGEL Text nichts zu
suchen..." und so weiter. Diese Leute hat man dann 45 Minuten an der Backe, oder
90. Und die 37 neuen Fassungen beginnen. Habe ich ja alles schon erzählt. In
diesem Fall kam noch hinzu, dass man mir sagte, der Text sei noch nicht rund,
ich solle noch etwas über den Papst schreiben, am Schluß. Über den Papst, in
einem Wim Wenders Artikel? Mir standen die Haare zu Berge. Ich machte es. Mein
Artikel lag nun schon eine Ewigkeit herum, und zwischen der Originalfassung
und dem Papstbesuch in Deutschland bestand ein beträchtlicher zeitlicher
Abstand. Nun gut, das war für einen guten Journalisten machbar. Aber inhaltlich war
der Abgrund zwischen Wenders und Benedikt XVI wirklich nicht zu schliessen. Ich
stand, völlig ironiefrei, wie ein Verrückter da, der SPIEGEL Leser zum
Katholizismus überreden will. Um mein Image zu retten, schrieb ich noch in der
Nacht, bevor der SPIEGEL andruckte, eine Papstgeschichte für "taz", und die war
dann umso frecher und ironischer. Damit man beim SPIEGEL auch erfuhr, wie ich
wirklich zum Papst stand, verwendete ich einen Satz wortgleich in beiden
Artikeln. Prompt kam es zu einem Protest in der Großen Redaktionskonferenz, und
daraufhin liefen alle Kollegen zu ihrem Computer und klickten die "taz" an. Sie
hielten mich nun für einen, der auch für die Konkurrenz arbeitet, also für keinen
reinrassigen SPIEGEL Mann, und wenn ich in die 70er Jahre Caféteria ging,
hörten sie zu reden auf. Die Gesichter, in die ich dann sah, waren so steinern und
herzlos und... ja, es fallen mir wirklich keine passenden Adjektiva ein.
"Traurig" trifft es nicht, "tot" schon eher, ist aber so nichtssagend, aber gerade
nichtssagend waren diese typischen altgedienten SPIEGEL Gesichter eben NICHT.
75
Sie schienen so viel zu sagen, nein sagen zu WOLLEN, aber ein ganzes Leben
lang war ihnen der Mund zugehalten worden. Also nicht wirklich. Ich meine nur,
so sahen sie aus. Und sie mochten mich nicht. Das stand fest. Andererseits wäre
es völlig dumm, so etwas zu sagen, ungefähr so dumm wie der Satz: "Amerika
mag mich nicht". Amerika ist so riesig, so riesig an Proletentum, Idiotie,
schlechter Rockmusik und blöder Wüste, aber von allem hat es auch sein Gegenteil.
Auch der SPIEGEL hat in jeder Hinsicht MEHR als alle anderen Zeitungen, im
Guten wie im Schlechten. Also auch mehr Hilfsbereitschaft, Freundschaft unter
Kollegen, vor allem hohes Verständnis durch hohe Intelligenz. Da sitzen einfach
die klügsten Leute der Welt. Und mit Verena Araghi die klügste UND erotischte
Frau der Welt. Und mit Rebecca Casati die klügste UND erotischte UND
hilfsbereiteste... nein, man kann es nicht auflisten, es würde ein Buch füllen. Das alles
gibt es AUCH. Es ist ja eine ganze Welt. Es ist Preußen vor den Weltkriegen.
Dennoch ist es erlaubt, zu verallgemeinern. Grobschlächtig zu verallgemeinern.
Denn wir sind ein freies Land. Man darf sagen, Italiener seien
temperamentvoll. Man darf sagen, die Bayern wählen immer CSU. Und man darf sagen,
die SPIEGEL Leute mochten mich nicht.
Wim Wenders schrieb dann einen geharnischten Brief an Stefan Aust und
beschwerte sich über den Artikel. Es spricht für diesen Aust, dass er sich davon
offenbar nicht beeindrucken liess, und auch nicht von den anderen Briefen, die er
noch erhielt. Im Laufe der Zeit merkte ich, dass die Leute, die ich im SPIEGEL
portraitierte, anschliessend immer einen Brief an Stefan Aust schrieben. Bei
Bazon Brock hatte ich noch nichts anderes erwartet. Ein Mann wie Professor
Brock, der so brilliant war von Anfang an, schon vor 40 Jahren, so gut aussah, so
bewundert wurde, so sexy war und kult, und der trotzdem, am Ende seines
Lebens, nur Feinde besaß, wie ich gesehen hatte, der schrieb natürlich
Beschwerdebriefe. Selbst dann, wenn man liebevoll über ihn berichtet hatte. Das war
sein Charakter. Er tat mir deswegen leid, es minderte aber nicht meine Bewunderung.
Da er es sich mit allen verdarb, würde er auch mich enttäuschen wollen, das
wußte ich vorher. Aber mit Wim Wenders war es genau umgekehrt. Er war der
beliebteste Kulturkopf des ganzen deutschen Sprachraums. Jeder Journalist mochte
ihn, auch jeder Kulturfunktionär, jeder Politiker, der mit Kultur zu tun hatte,
auch jeder Kollege aus dem Filmfach. Tja. So etwas kommt nicht von selbst. Der
Grund war natürlich, dass Wenders TATSÄCHLICH nett war. Ich kannte sogar
Leute, nicht wenige, denen er uneigennützig und unkompliziert geholfen hatte. Ich
wußte von einem Jungen - mein Neffe Elias - der Wim am Flughafen als völlig
Fremder angesprochen und um ein Flugticket gebeten hatte. Er bekam es und eine
Einladung nach Cannes dazu. Elias erlebte dank Wim Wenders die dortigen
Filmfestspiele samt Parties und leuchtet noch heute, wenn er davon spricht. Und das
ist nur EIN Beispiel. Ich wußte also, dass Wenders mir wegen des Textes keine
Schwierigkeiten machen würde. In der Originalfassung stand noch nicht das
furchtbare Wort vom "alten Sack", für das ich mich unendlich schäme, und nichts vom
Papst, aber sie war hart genug. Ich glaubte es den Lesern und der Sache
schuldig zu sein. Wenders war zwar extrem nett, aber seine Filme waren nun einmal
die Pest und richteten großen Schaden an, dachte ich. Wenders hat dann also
doch, trotz seiner Nettigkeit, gegen mich gearbeitet. Sein Brief soll richtig übel
gewesen sein. Aber schon wenige Wochen später sah ich ihn zufällig bei der
Verleihung des Cinema for Peace Awards im großen Konzerthaus am Gendarmenmarkt.
Er saß unten an der gedeckten Tafel mit Wowereit und anderen Bonzen. Ich saß
in der dritten Empore und hing gelangweilt über dem Geländer. Alle plapperten,
hunderte von Smokingträgern, alle essend, redend, beschäftigt - nur Wim
Wenders liess seinen Blick gedankenverloren, mit dem bekannten Wendersphlegma, an
den Emporen entlang gleiten. Als er mich sah, erhob er seine Hand und winkte
nett.
14. Fräulein Schwermut aus Bozen- Bettina Galvani
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15. Ferien in Klagenfurt - Bachmannwettbewerb
16. Frankfurter Buchmesse - Marcel Reich-Ranicki
Es geschah auf der Frankfurter Buchmesse. Es war das Krisenjahr 2002. Der
ICE 3, wirklich ein schneller Zug, viel schneller als der normale ICE, dazu
noch leiser, 'flog' mit 320 km/h auf Frankfurt zu. Die Melba und ich saßen
angeschnallt in den 'Sprinter'-Fauteuils, vor uns die Computer und die
Bordgetränke, links die nahenden Wolkenkratzer der Messegesellschaft.
Wehe wenn dieser Zug jemals in die Hände fanatischer Islamisten geriet,
dachte ich und lächelte der Stewardess zu. In Deutschland schlossen die
Buchhandlungen. Die Branche lag in Agonie. Aber die junge Stewardess
würde bald weggeheiratet sein, von einem reichen Fahrgast gehobenen
Alters, die war krisensicher. Die Melba dagegen... ich sah sie an.
Die Melba war eine Legende. Milliarden von Männern hatten mit ihr schlafen
wollen. Dachte die Melba zumindest. Das war natürlich überhaupt nicht so.
Oder doch? Was wußte ich von den Männern? Ich war ein Literat. Ich
beschäftigte mich mit Büchern und Kritikern.
Da war zum einen der Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Marcel
Reich-Ranicki. Seit Urzeiten diente er mir schon als Vaterersatz, da ich
meinen leiblichen Vater aus Kriegsgründen nicht kennengelernt hatte; schon
kurz nach der Rückkehr aus sowjetischen Kriegsgefangenenlagern war er an
den Folgen einer Kriegsverletzung gestorben. Die prunkvolle Beerdigung ist
heute noch die erste Lebenserinnerung meines älteren Bruders Ekkehart, der
am 12.Oktober 1954 zur Welt kam, auf den Tag genau vor 48 Jahren. Aber
Reich lebte! Er hatte die Lager überstanden. Deshalb wandte ich mich immer
wieder an ihn. Schon mein erstes Schulgedicht (über Peter Handke) hatte ich
ihm geschickt, in die Gustav-Freytag-Straße nach Frankfurt. In meiner
Doktorarbeit Jahrzehnte später (wieder über Peter Handke) erwähnte ich ihn
als großen Einfluß und gab ihm einen credit in meinen endlosen
Danksagungs-Episteln, in der Hoffnung, er würde es erfahren. Das war
natürlich der typisch weltfremde Unsinn des Studenten, der ich damals war,
noch keine 32 Jahre alt. 15 Schuljahre und 19 Semester hatte ich bis zur
Schlußsentenz meiner Handkeforschung verbraten - na, egal. Ich sah auf die
Melba. Die hatte dafür vielleicht zu viele Marylin-Monroe-Filme gesehen? In
Deutschland hatte eben jeder seine Macke.
Die Reich-Ranicki-Macke hatten viele, also viele Autoren. Jedenfalls die
älteren. Die bedeutendsten Vertreter seiner eigenen Generation, Martin
Walser, und der Söhne-Generation, Bodo Kirchhoff, hatten gerade große
Romane darüber in den Markt geschoben. Reich-Ranicki wurde darin immer
getötet, was aus psychologischer Sicht angeblich notwendig war, ich jedoch
ablehnte. In meinem Reich-Ranicki-Roman dürfte er weiterleben, schriebe ich
einen. Aus psychologischer Sicht war das notwendig, das Schreiben, wegen
des Vaterkonflikts und so weiter.
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Vaterkonflikte hatten ja viele, auch die Melba. Sie sah von ihrem Buch auf,
ein Buch über starke Männer, das sie selbst geschrieben hatte und das auf
der Buchmesse vorgestellt werden sollte. Sie sah mich mit einem Ausdruck
künstlicher Naivität an, der sagen sollte: Ich bin doch nur ein kleines,
dummes, dummes, dummes Mädchen, warum willst du mit mir schlafen? Die
hellblonden Locken fielen ihr ins verwirrte Gesicht, ein Blusenknopf hatte sich
gelöst. Ihr Vater heiratete an dem Tag, an dem mein älterer Bruder (er hieß
übrigens Ekkehart, sagte ich es schon?) Geburtstag hatte, also heute, was
bedeutete: die Melba war nicht zur Hochzeit ihres Vaters gegangen. Hatte
also einen Vaterkonflikt. Der Vater heiratete eine 25jährige Chinesin. Geil,
dachte ich, da wäre ich aber gern zugegen gewesen, als Sohn. Auch die
Melba hatte nichts gegen die junge Frau, aber nur, weil die den 76jährigen
offensichtlich binnen zwei Jahren unter die Erde vögelte. Morgens und abends
mußte er ran, das waren schon 700 Orgasmen im ersten Jahr, und
spätestens wenn die Zahl vierstellig wurde, machte das Herz nicht mehr mit.
Das Testament wurde gerade erst geändert...
"Würdest du jemals so etwas machen, wenn du so alt wärest?" fragte mich
die Melba und behielt den Mund danach offen, ganz wie Marylin. Ich lachte
gequält auf.
"Ich habe es schon gemacht!" Und dachte an die 19jährige Freundin, die ich
als 38jähriger einmal gehabt hatte. Zehnmal am Tag... nach einem halben
Jahr war ich um zehn Jahre gealtert. Nein, ich mußte diese Erfahrung nicht
nochmal machen, und ich war auch noch nicht 76, auch wenn ich vielleicht
bald so aussah. Jedenfalls mochte die Melba ihren Vater nicht und
boykottierte sein Leben samt Hochzeit. Sie nannte ihn Nazi. Im Krieg war er
schnell aufgestiegen in der Wehrmacht, hatte in jungen Jahren schon
Verantwortung übernommen. Schön für ihn, schlecht für Deutschland. Bei der
Bundestagswahl am 22. September kandidierte er für die Republikaner. Ich
erzähle nicht was vom Pferd, Freunde, es war so.
In meinem Roman 'Deutsche Einheit' ließ ich dann Reich-Ranicki DOCH schon
mal ein bißchen auftauchen. Es war noch nicht der große Reich-RanickiRoman, aber wenigstens schon ein Anfang. Reich spielte da einen vom IchErzähler bewunderten Großkritiker, der in einer großen, leider geistig
verwahrlosten Universität einen Vortrag hält. Der Ich-Erzähler, mit einer
jungen, gerade erblühten Frau im Schlepptau, rettet den Kritiker vor einer
bornierten, aggressiven Studentenhorde. Bevor ich das Manuskript abgab,
bekam ich Zweifel und schickte es Reich zu. Der schrieb nett zurück. Er habe
nichts gegen die Geschichte, bis auf das Ende. Ihm gefiel nicht, daß er vor
Dankbarkeit geweint haben soll. Das würde nicht zu ihm passen. Er habe
noch nie in solchen Zusammenhängen geweint.
Das Buch erschien und wurde für mich - gewiß wegen dieser Nebenthematik
- der größte Verkaufserfolg seit zwölf Jahren. So wie 'Tod eines Kritikers' die
erste Nr.-1-Platzierung Martin Walsers nach 50 Jahren des Schaffens wurde
und 'Schundroman' mehr verkaufte als 'Intifada', pardon, 'Infanta' von Bodo
Kirchhoff. Dankbar griff ich zum Telefonhörer und leistete mir von dem neuen
Geld als erstes ein Ferngespräch nach Frankfurt. Seine Nummer hatte ich
parat, die stand auf dem Brief, den er mir geschrieben hatte. Nur - er
erinnerte sich an nichts mehr. Der Vorgang muß für ihn unvorstellbar klein
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und unbedeutend gewesen sein. Oder seine Sekretärin hatte das gemacht. Er
war jedenfalls ungehalten und sagte nur:
"Was wollen Sie?!"
Ich erklärte es und fragte:
"Erinnern Sie sich denn gar nicht mehr an mich?"
"Nein. Ich habe dazu auch keine ZEIT. Was wollen Sie?"
"Ich habe Ihnen ein Buch zugeschickt, darauf haben Sie geantwortet, und
jetzt ist es herausgekommen und ein Riesenerfolg. Und in großen Teilen
handelt es ja von Ihnen, und da - "
"Von MIR?!"
"Ja..." Ich lachte unsicher.
"Was ist das für 'n Buch?"
"Ist ein Roman, deutsche Gegenwartsliteratur, heißt 'Deutsche Einheit', ist
vor drei, vier Wochen herausgekommen bei Kiepenheuer & Witsch..."
Er unterbrach mich schlechtgelaunt, offenbar davon ausgehend, einen
Bittsteller vor sich zu haben, der ihm ein Buch schmackhaft machen will.
"Was wollen Sie bitte von mir? Ich bin MITTEN in der Arbeit. Was ist DAS für
eine Frage. Täglich bekomme ich dutzende von Büchern. Wenn mich jeder
vorher auch noch FRAGEN würde..."
"Ja, eben, weil es so viele sind, denke ich, daß es Sie es gar nicht angucken,
gar nicht lesen..."
"Werde es interessiert angucken, ABER BITTE: Ist das alles? Haben Sie noch
etwas?"
"Es sind immerhin 120 Seiten, die nur über Sie handeln; das ist doch eine
ganze Menge Holz."
"Ja. Mein Lieber, haben Sie noch was zu klären?"
Er nannte mich 'mein Lieber', nicht ironisch, sondern durchaus zärtlich! Mein
Vaterersatz nannte mich so! Irre. Aber das Gespräch blieb restriktiv.
"Ja, hm, äh, natürlich, von meiner Seite aus noch sehr viel!"
"Ich habs eilig."
"Sie haben es eilig."
"Ich bin mitten in der Arbeit."
"Ich wollte noch sagen, daß Sie viele Bewunderer haben. Vor allem von
jüngeren Leuten."
"Aha."
Noch nie hatte ich so ein mißtrauisches, ja übellauniges 'Aha' gehört.
Offenbar empfand er es als Beleidigung, daß ausgerechnet die jungen also
ungebildeten Leute ihn bewundern sollten.
"Ja."
Nach einem Augenblick des mißmutigen Schweigens sagte er endlich:
"Das freut mich sehr. Ich danke Ihnen."
"Es geht da um die STREITKULTUR."
Dieses Wort sprach ich besonders nachdrücklich aus. Ich wußte, daß es das
letzte Substantiv war, das in diesem Gespräch noch Platz hatte. Es mußte
wirken.
"Ja. Ja, Lieber, ich muß weiterarbeiten. Ich KANN mich jetzt nicht
unterhalten."
79
"Nein, nein, ich hör jetzt auch auf. Ich habe Ihnen auch gar nichts weiter zu
sagen im Moment."
"Ja."
"Tschüß!"
"Tschüß!" Sein Abschiedstschüß war nett, also in einem erhöhten,
verbindlichen Ton gesagt, sodaß ich davon ausgehen konnte, Reich-Ranicki
stecke wirklich in Arbeit. Ich hatte ihn gestört, aber nicht belästigt. Bei einer
nächsten Begegnung würde er mir nichts vorwerfen.
Diese Begegnung erfolgte also am heutigen 12. Oktober 2002, mehr als volle
drei Jahre nach diesem Gespräch. Vielleicht würde er sich ja sogar an das
Wort STREITKULTUR erinnern und ich konnte daran anknüpfen. Oder er
würde an der Melba hängenbleiben, das käme auf dasselbe hinaus. Wenn die
Melba doch bloß nicht so übertreiben würde mit ihrer Frau-Frau-Macke. Sie
war fast 40 und wurde immer dummchenhafter. Sie spielte die verwirrte
Zwölfjährige und redete allmählich Tag und Nacht über 'Das Eine', also die
Liebe. Doch in Wirklichkeit war sie die erfolgreichste Frau Deutschlands. Sie
hatte eine Prominentenagentur gegründet, die inzwischen den Markt
beherrschte wie die Bild Zeitung die Medienlandschaft. Und sie hatte das
ohne Tricks und Aggressivität geschafft, allein durch ihre Intelligenz. Umso
dämlicher, ja unerträglicher wirkte auf mich das Dummchengetue. Hoffentlich
nicht auch auf Reich-Ranicki. Sie war in der Lage, auf der heutigen Party
einen Schuh zu verlieren, tränenüberströmt das zu beklagen und alle Herren
über 55 danach suchen zu lassen...
Und das war nicht naiv, sondern krank. Um einmal eine Position zu beziehen.
Und ich sage sogar: Bei Marylin war es NICHT krank, auch wenn sie daran
starb. Aber jeder Mensch in unseren Kreisen hat so einen Bereich, der krank
und verrückt ist, weil wir halt im postfaschistischen Deutschland leben.
Zudem ist es möglich, daß wenigstens die Generation der Urenkel wieder
ganz normal ist. Also die Leute unter 22. Das ist mein Befund bisher. Ich
kenne viele Leute um die 20 und mag sie sehr.
"J-Lo, warum sind die Männer so? Und warum sind Frauen so anders?" fragte
die Melba, besann sich aber wieder und organisierte unsere Fahrt zum Stand
unseres Verlages auf der Buchmesse. In nur zehn Minuten waren wir da.
Früher hatte ich dafür immer eine Stunde gebraucht. Eine Stunde extremer
Stress. Aber früher war die Buchmesse auch eine andere. Der Höhepunkt
ihrer Bedeutung war Ende der 90er Jahre, ziemlich genau zur
Jahrtausendwende, als Grass seinen Nobelpreis erhielt und die Popkultur
zwar verrissen, aber gekauft wurde wie nie zuvor. Allein 'Crazy' verkaufte
mehr als alle Titel der 80er Jahre zusammen. Christian Kracht wurde als
neuer Messias gefeiert und Rainald Goetz als Gottvater. Elke Naters als
Maria. Stuckrad-Barre als Paulus. Ich selbst als neuer Judas. Jeder, der unter
der Hand dem bräsigen Poetismus früherer Generationen abschwor und
stattdessen versprach über den Alltag zu schreiben, bekam einen Vertrag.
Wunderbar! Das hatte ich immer gewollt. Das Buch war wieder zum
Leitmedium geworden, die Buchmesse platzte vor Menschen und
Sensationen. Um ein Taxi zu kriegen, wartete man in Schlangen von hundert
Metern. Das war einmal.
80
Die Stadt war leer. Die Messe kaum besucht. Die Taxis ohne Kundschaft. Die
Verlage brachten Bücher heraus, die vom Ghetto in Amsterdam handelten
und wo altgewordene Dauergermanistikstudenten aus Karlsruhe über Freud'
und Leid verfolgter Juden während der deutschen Besatzung herumpuzzelten.
Alles handwerklich sehr anerkennenswert und Satz für Satz staatlich geprüft
'literarisch'. Alle Fernsehsender berichteten in ihren Kultursondersendungen
pflichtschuldigst darüber. Der Absatz brach ein, die Geschäfte gingen
reihenweise pleite. Fünfzehn Jahre lang hatte man den 'Tod der Popliteratur'
gefeiert, jedes Jahr aufs Neue, nun nicht mehr. Nun war sie nämlich wirklich
tot. Der einzige Titel dieses Jahr: Zoe Jennys 'Ein schnelles Leben'. Nur sie
konnte man noch nach Herzenslust verreißen. Nur sie war sicher, keinen
Preis mehr zu bekommen und die bisherigen sogar zurückgeben zu müssen.
Ansonsten waren alle Popliteraten aus dem Programm geflogen, Stichtag 11.
September 2001. Seitdem wurde wieder "ernsthaft erzählt", also über Väter
in Albanien mit elf Söhnen, die die Schafe hüten in zeitloser literarischer
Pracht. Über Mütter in irischen Dörfern, die klaglos die Jahrzehnte
überdauern und über ihre pittoresk saufenden Männer. Gähn.
Die Melba und ich erreichten den Stand unseres Verlages, wo der Verleger
schon wartete. Er stand mit Wolf Biermann zusammen, einem ehemaligen
DDR-Schriftsteller, der später auch im Westen durch ein legendäres
Rockkonzert (oder war es eine Lesung?) in Köln bekannt wurde. Das war
aber lange her, ich glaube sogar noch vor dem Fall der berüchtigten 'Mauer'.
Wolf Biermann war später persönlich eng befreundet mit Rudolf Augstein, das
wußte ich noch. Mehr aber nicht. Nun stand er da. Mit dem Verleger Seite an
Seite! Ein Come-back bahnte sich an. Denn wer neben dem Verleger stand,
hatte es gut. "Wenn die Sonne des Verlegers auf dich fällt, frohlocke"
dichtete schon Wolfram von Eschenbach.
Ich wartete, damit die Melba den Verleger begrüßte. Tat sie aber nicht.
Vollkommen verwirrt stand sie vor ihm, unfähig einen Ton zu sagen. Ihre
Augen irrten durch die Gegend, schienen ausdrücken zu wollen: "Ich bin ja so
durcheinander, aber letztenendes bin ich auch EINE FRAU und nichts als
das!", was leider nicht die Wahrheit war. Die Melba war die Chefin einer
überaus wichtigen Medieninstitution, und so gab der Verleger ihr förmlich die
Hand. Mich dagegen umarmte er herzlich.
Wir verabredeten uns für die Rowohltparty. Dann entdeckte ich den Mann,
der mir seinen Computer geschenkt hatte, einen Schriftsteller. Wir sprachen
lange. Natürlich nur über den Computer. Der Mann war nämlich selbst
Schriftsteller. Er hieß Müller oder so ähnlich. Nein... Wagner? Thorsten
Becker? Nee... ich muß nachsehen. Für wichtige Computerfragen habe ich
immer seine Nummer bei mir. Er heißt... und einen guten Frauengeschmack
hat er... Thomas Palzer! Ja, ein guter Typ. Und da stand schon wieder so ein
unverbrauchtes Stück Frau neben ihm, wie frisch aus dem Ofen, guten
Appetit! Noch duftend und dampfend... der Mann wußte zu leben. Er hatte
graue Haare, aber die Kraft der zwei Herzen - ich verehrte ihn wirklich. Der
punktete und punktete, wann immer ich ihn traf, später erzählten mir die
Verlagssekretärinnen, wie gut er war. Ich dagegen verlor meistens. Sogar
und gerade auf der Frankfurter Buchmesse. Wie blöde!
81
Ich konnte also freenet einfach installieren, indem ich es auf AOL eingab und
danach bei AOL kündigte. Logisch! Ich drückte ihm warm die Hand und
wünschte ihm vielsagend "viel Glück". Er grinste voller Vorfreude. Dann
sprach ich mit diversen LektorInnen meines Verlages. Die Melba war wieder
ganz Frau und taumelte wie ein steuerloser Schmetterling durch die
Messehalle. Die Knöpfe ihrer Bluse hatten sich geöffnet, dafür konnte sie
nichts, sie war schließlich auch eine Frau. Sie konnte lieben nur und soonst
gaar nichts... Ich wandte mich ab mit Grausen. Ich mochte sie sehr, aber
nicht wegen dieser Show, sondern TROTZ dieser Show. Und weil mich dieses
partielle Irresein an mich selbst erinnerte.
Sie fand ihr (eigenes) Buch und begann (sich selbst) zu lesen. Alle anderen
Bücher interessierten sie nicht. Als ich wenigstens die Neuerscheinungen
meines Verlages durchsehen wollte, wurde sie ganz unruhig. Sie zwang mich,
zum Hotel zu fahren und dort die Zeit bis zu den Parties zu verbringen. Das
taten wir. Ich las Sven Lagers 'Im Gras', das äußerst gut war und eben DOCH
echter Pop, sozusagen der zweite Titel neben Zoe Jenny, und die Melba las
konzentriert ihr eigenes Buch, schon zum wiederholten Mal heute, sie hatte
es im Zug schon zuende gelesen. Auch Melbas Buch war übrigens nicht
schlecht. Sie schrieb, daß sie Männer mit Waschbrettbauch verachte und nur
solche begehre, die alt und verzweifelt seien. Da konnte ich nur rufen
'respect!', so eine Position mußte man erstmal einnehmen! Das war mutiger
als das Unterhosengestrampel von (der etwa gleichaltrigen) Madonna.
Zwischen dem öden Konsumismus von Madonna und der Kaputtheit Melbas
lag der Kulturgraben, der die USA und Deutschland trennte. Ich war natürlich
für uns. Ich war ja auch Wahlhelfer bei Schröder.
Kurz vor acht fuhren wir zu Bernd Lunkewitzens Aufbau-Verlags-Party. Dort
trafen sich die Spitzen aus Politik und Wirtschaft, der Kanzler wurde
zumindest 'erwartet'. Er kam nicht, aber beinahe doch. Der Aufbau Verlag
hatte einen einzigen Star, nämlich besagte Joe Jenny; deswegen ging ich hin.
Ansonsten sah ich nur Männer über 50 in diesen schrecklichen
Politikeranzügen. Alle sahen gleich aus, also gleich uninteressant. Und das,
obwohl man jede zweite Nase wiedererkannte. Typen aus dem Fernsehen, die
man hundertmal gesehen aber niemals identifiziert hatte: Intendanten,
Wirtschaftsführer, pensionierte Chefkommentatoren der öffentlich-rechtlichen
Sender, ehrwürdige Altautoren ohne jede Bedeutung, Hofschranzen des
Systems, Geldsäcke und sonstige Bänker: furchterregend. Ein Totentanz der
Geistlosigkeit. Hatte von denen einer überhaupt gelesen? Mal eine Idee
vertreten, eine eigene? Mal diskutiert? Abitur gemacht? Und, wie gesagt,
alles auf den schmalen Schultern einer einzigen echten Autorin, der kleinen
19-jährigen Zoe Jenny. Die arme Maus mußte 300 fette Bänker und Politiker
durch den langweiligen Abend tragen. Ich dachte natürlich, es würden
irgendwann spontan noch andere Autoren dazustoßen, aber das ging nicht,
da nur diejenigen eingelassen wurden, die eine offizielle Einladungsoption
handschriftlich zurückgeschickt und gegen eine offizielle zweite Einladung
getauscht hatten, die wiederum nur für eine Person gelten durfte und zwar
streng.
Nach einer Stunde wurde mir übel. Die Spitzen aus Politik und Wirtschaft
nahmen mir allmählich die Luft zum Atmen. Seltsamerweise gelang es mir
82
auch nicht, mit Zoe zu sprechen. Und das, obwohl sie völlig hilfsbedürftig und
alleingelassen aussah. Irgendein fetter Bänker mit Glatze stand neben ihr,
und sie wirkte wie die junge Ingrid Bergmann, die weiß, daß ihr Mann gerade
von der Gestapo hingerichtet wird und sie sich nichts anmerken lassen darf,
weil sie sonst auch sofort verhaftet wird. In ihren Augen war nichts als
namenlose, maßlose Angst, und deswegen war auch ich paralysiert. Die
Melba war mir auch keine Hilfe. Anstatt zu mir zu stehen, verleugnete sie
mich und flatterte im Raum herum wie eh und je. Sie war eine Frau und
verwirrt und verlor immer irgendwas und sprach alte Männer mit den Worten
an:
"Ich kenne hier absolut NIEMANDEN, bin vollkommen hilflos! Sie müssen mir
jetzt alles zeigen und jeden einzelnen erklären!"
Das klappte offenbar nicht, und so setzte sie sich ans Feuer des großen
Kamins und legte den Rücken vollkommen frei. Wenn ich sie ansah, sah sie
schnell und ziemlich genervt weg. So wanderte mein Blick immer zwischen
der Angstmaus Zoe und der genervten femme fatale hin und her. Bis ein
neuer Gast kam: Marcel Reich-Ranicki!
Natürlich wurde er schnell von anderen umringt, und das waren Leute, die
auch so aussahen wie er. Also alt waren und weiße Haare hatten. Da wollte
ich nicht dazutreten. Ich traute mich gerade noch, ihm kurz die Hand zu
geben und ihn so anzugucken, als kennten wir uns noch aus dem Ghetto. So
etwas funktioniert eigentlich immer. Kein Mensch kann so schnell sein
gesamtes Personengedächtnis durchchecken. Er sieht das unbekannte
Gesicht und erwidert das deutlich hervorgebrachte Vertrautheitszeichen.
Sogar Reich-Ranicki tat das. Und der kann bestimmt SEHR schnell denken.
Danach zog er sich mit seiner Gang in dicke Sessel zurück.
Ich durchstreifte die Lunkewitz'sche Villa, einen Neubau im römischen Stil.
Der römische Stil war keineswegs nur angedeutet, sondern bis ins kleinste
und letzte Détail durchgehalten. Es handelte sich um nichts weniger als die
vollständige Rekonstruktion eines Denkmals der Antike, und das Haus mußte
zwanzigmal so viel gekostet haben wie ein normaler Villenneubau. So etwas
konnte sich nur der Staat leisten - und Bernd Lunkewitz, der Milliardär. Es
war bekannt, daß er den Kauf des Aufbau Verlags vor einigen Jahren aus der
Portokasse bezahlt hatte, als süßes kleines Hobby.
Nun hielt Lunkewitz eine Rede - auf Englisch! Das war mutig, denn er sprach
einen extrem deutschen Akzent. Dennoch gefiel mir die Rede, da sie klug war
und mich anregte. Er sprach über die Literatur, die Wirtschaftslage, den
kommenden Krieg im Nahen Osten, auf den Verkaufserfolg des neuen Roman
von Zoe Jenny 'Ein schnelles Leben', der oder die eine bahnbrechende
'Outperformance' geliefert habe, und alles verband er auf so vernünftige und
aufrichtige Weise, daß ich darüber sofort mit jemandem streiten wollte. Mit
der Melba würde das nicht gehen, denn die wollte nur, mit Schlafzimmerblick
und brechender Stimme, über die fatale Verstrickung von Mann und Fraufrau
sprechen. Nach einigen Jahren nervte das. Die Verstrickung hing mir zum
Hals raus. Lieber wollte ich schwul werden oder ins Kloster gehen, als diesen
Schmarrn noch länger mitzumachen. Aber wozu war der große Förderer der
Streitkultur im Haus, Marcel Reich-Ranicki? Ich pirschte mich wieder an ihn
ran.
83
Ich wartete, bis er aufstand und ins Kaminzimmer ging, um Melbas nackten
Oberkörper aus der Nähe zu betrachten. Alle Männer taten das irgendwann.
Sie waren schließlich AUCH Männer, und die Melba war nichts anderes als
eine Frau, nicht war, schließlich und endlich. Machen wir uns doch nichts vor.
Seien wir für einen Moment mal ehrlich, Himmelherrgott. Sie hatte eine gute
Haut, die Melba, und einen verdammt guten Oberkörper, hehe... ja, und so
kam dann auch der Literaturpapst näher. Aber nicht weit kam er. Ich paßte
ihn ab, als er gerade durch die offene Tür gekommen und die leerstehende
Mitte des Raumes erreicht hatte. Im Radius von gut drei Metern war, in
dieser einen Sekunde, niemand sonst als er. Und ich, der ich ihm freundlich
und arglos die Hand schüttelte, ein zweitesmal an diesem Abend. In dieser
kurzen, aufblitzenden Begegnung, als er erneut nicht wußte, ob er mich nicht
doch gut kannte und das Beste von mir zu halten hatte, sah er gut aus: jung,
nett, naiv, freundlich. Zeitlos. Er hätte auch 56 oder 16 sein können. Der
große Augenabstand gefiel mir, die nicht humorlosen Gesichtszüge, die
frische Gesichtsfarbe. Der Mensch hatte gute Laune, und bescheiden und
höflich war er auch. Fast devot sah er zu Boden, da es ihm peinlich war, sich
nicht an meinen Namen zu erinnern. Womöglich gehörte ich ja auch zu den
'Spitzen aus Politik und Wirtschaft'. Ich fragte dann, ob er sich noch an mich
erinnere, an Joachim Lottmann. Ich sprach meinen Namen ganz
selbstverständlich und doch deutlich aus. Er schüttelte den Kopf. Ich wußte,
er würde gleich unfreundlich werden und rasselnd "was wollen Sie?!" fragen.
Ich erklärte schnell:
"Ich habe mich so sehr über Ihre liebe... Dankesschrift... an mich gefreut,
Herr Professor!"
Er sah zu Boden, schüttelte den Kopf, sagte:
"Was wollen Sie von mir?!"
"Ich bin, äh, dieser Autor, der Ihnen immer geschrieben hat... daß er nur
Ihretwegen noch schreiben kann in diesem Land!"
Er sah nicht mehr zu Boden, sondern ging blitzschnell weiter, wirklich
erstaunlich schnell für einen 82jährigen, und machte dabei in
unnachahmlicher Weise eine wegwerfende Handbewegung. Das war schon
klasse, und ich mußte anerkennend schmunzeln, fast lachen. Wie konnte
man so sehr über den Dingen stehen? Das ging nur, wenn man eine echte
Vaterfigur war. John Wayne schickte mit solch einer Handbewegung kleine
Schurken weg. Und die Brüder von Oasis,Väter des Britpop, zeigten
irgendwelchen minderjährigen Fans mit dieser Geste den Ausgang. Ich pfiff
leise durch die Zähne und wollte es gut sein lassen. Mehr Reich-Ranicki war
gar nicht nötig.
Zoe Jenny war gegangen. Ja, sie hatte es keine Sekunde länger ausgehalten.
Das war schade, denn sie war die einzige, an die ich mich wenigstens
theoretisch noch hätte wenden können. Die Melba saß am Feuer. Ohne Zoe
fühlte ich mich völlig verlassen in der Altherrenrunde.
Noch einmal durchstreifte ich die Villa. Am Büffett nahm ich nochmal Speisen
auf einen Teller, aß sie aber nicht mehr. Die Bücher an den Wänden, sicher
Hunderttausende und alles Werkausgaben, waren echt. Von Maupassant
fehlten die Romane. Ich redete nochmal mit der Melba, aber die hatte nur
noch die fremden Männer im Kopf, deren armes Opfer sie noch in dieser
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furchtbaren Nacht werden würde. Weil sie sehr vieles war, ja die ganze WELT
war, aber eben auch, nicht wahr, ganz ganz am Ende, auch eine Frau... Ich
ließ mir von der Garderobe meinen Mantel geben.
In dem steckte das neue Buch, das von mir im Januar herauskam, also der
neue Schutzumschlag, den Ulrike Henneke von KiWi mir vorhin zugesteckt
hatte. Ich hatte nun so eine vage Idee. Es war klar, daß der große Kritiker
meinen Namen SCHON WIEDER vergessen hatte. Ich hätte noch achtmal im
Laufe des Abends zu ihm treten und meinen Namen schmettern können - er
hätte ihn dennoch gleich wieder vergessen. Mit dem neuen Schutzumschlag
war das schwieriger. Ich schrieb seinen Namen darauf und versuchte dabei,
seine Schrift, die ich kannte, nachzumachen. Dann ging ich wieder ins
Innere. Auf seinen Platz direkt neben seiner Frau traute sich natürlich
niemand hinzusetzen. Der war als einziger auf der ganzen Party frei. Ich
schlenderte hin und legte den Schutzumschlag darauf. Seine Frau und auch
sonst niemand achtete darauf. Dann begann ich seelenruhig mit dem Handy
zu telefonieren. Nach einigen Minuten entfernte ich mich, behielt aber den
Platz im Auge. Ich blätterte in den Novellen Guy de Maupassants. Ein Herr
sprach mich an, ein Mann unter 40, der sich deswegen fremd fühlte und
Anschluß suchte. Während ich mit ihm über die Villa und die Bücher
plauderte, sah ich, wie zwanzig Meter weiter der Literaturpapst zurückkam,
meinen neuen Roman fand und sich kopfschüttelnd darüberbeugte. Er starrte
minutenlang auf den Schutzumschlag, auf seine eigene Schrift darauf, und
sicher immer wieder auf die völlig unbekannten Worte JOACHIM LOTTMANN.
Nun konnte ich beruhigt gehen und tat es auch. Ich trat in den Vorraum.
Diener sprangen auf mich zu. Ich gab zu Protokoll, ein Taxi zu benötigen.
Sicherheitsbeamte und Bundesgrenzschützer sprachen gepreßt leise Befehle
in ihre ans Kinn gebundenen Mikrophone. Der Kanzler war nicht gekommen.
Der vergnügte sich bei Rowohlt, wo es sogar Autoren gab. Und da fuhr ich
jetzt auch hin.
Ich stellte mir vor, wie nun die Spitzen aus Politik und Wirtschaft über die
arme, unschuldige Melba, im Geiste immer noch 14, herfielen. Diese
Schweine. Sahen die denn nicht, daß sie noch Jungfrau war, in gewisser
Weise? Hatten die denn nichts gelernt seit Stalingrad? Plötzlich lief eine Frau
vors Auto, die wollte auch zu Rowohlt wollte. Verena Kosglut oder so, ich
versuchte mir sofort den Namen zu merken, weil sie so gut aussah und einen
WEISSEN Cordanzug trug. Sie sagte, sie übersetze große deutsche
Gegenwartsromane ins Italienische.
Vor dem Rowohltpartygebäude spielten sich schreckliche Szenen ab, wie vor
der deutschen Botschaft in Peking, wo immer Nordkoreaner reinwollen. Es
gab eine Liste, und ich stand zwar drauf, nicht aber Verena Kosgluth. Wir
verhandelten zäh bis in die Nacht hinein, wie einst Genscher vor der
deutschen Botschaft (Prag war das in dem Fall). Später kam eine Gruppe
Fans dazu, die ich selbst eingeladen hatte. Junge Leute, knapp über 30,
denen ich gesagt hatte: 'hey, ich bring euch da rein'. Nun standen sie da und
guckten fast so verwirrt wie die Melba.
Nein, nicht so wie die Melba. Niemand konnte so heillos verwirrt gucken wie
sie ("Mein Herr, ich verstehe nicht... Ihnen etwas blasen... ich kann doch gar
keine Noten lesen?"). Die jungen Fans sahen ganz normal aus. Nur ihre
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Kleidung war etwas unpassend. Sie sahen aus wie Bundeswehrsoldaten.
Hiphop kannte man aber bei Rowohlt noch nicht oder nicht mehr. Und so liess
man sie nicht hinein. Feridun Zaimoglu kam, und ich bat ihn, sich für meine
jungen Fans zu verwenden. Er tat's, es nützte nichts. Rowohlt hatte als
Türsteher radebrechende Turkos angestellt, die noch nicht mal die Situation
rafften, als Feridun sie ihnen in Kanak Sprak erklärte. Karin Graf, die danach
kam, schaffte es erst recht nicht, und selbst Springer-Obergangster Matthias
Döpfner verstand nur Bahnhof. Nun entdeckte mich Birgit Schmitz von K & W
und winkte uns alle rein. Vor allem Döpfner, der bereits einen Kopf kleiner
geworden war, atmete auf. Er war ohne Frau gekommen und ohne Friede;
ein Fehler, wie er insgeheim feststellte.
Ich dachte wirklich, als ich nun in der Halle stand, mit all den echten Autoren
und Lektoren, Stadtluft mache frei, oder sowas. Also 'Nieder mit den
Ständen! Den Pfaffen und den Fürsten! Den Spitzen aus Politik und
Wirtschaft!'. Oder einfach nur "Stürmt die Bastille, Kinder des Vaterlandes!"
Es war so scheußlich gewesen bei dem milliardenschweren Spekulanten, der
wahrscheinlich gerade den Real und die brasilianische Volkswirtschaft zu Fall
brachte, SO BÖSE, und es war so frei und voller menschlicher Möglichkeiten
bei den Künstlern, jungen Frauen und leidenschaftlichen Lesern hier. Gewiß
tat mir die arme Melba leid; aber hatte sie nicht auch einen kleinen Anteil an
ihrem Verhängnis der heutigen Nacht? Ich weiß, diese Ansicht ist politisch
nicht ganz korrekt, aber trotzdem. Ich weiß auch, daß die Lunkewitz-Rede
hochinteressant und richtig war. Selten hatte mir jemand den Nahostkonflikt
so gut erklärt. Und immerhin brachte der Verlag mit Zoe Jenny das einzig
interessante Buch (neben Sven Lagers 'Im Gras') heraus. Auch wollte ich
keine Party verurteilen, die von meinem Vorbild Reich-Ranicki besucht wurde.
So blieben die Dinge, wie alles im Leben, zwiespältig. Ich sah es schon wenig
später. Meine Fans entpuppten sich, als sie erst getrunken hatten, als wenig
fahnentreu. Hätten nicht auch sie die arme Melba geschwägert, wenn sie nur
hier gewesen wäre? Die plumpen Bundeswehrklamotten kaum abgestreift
dabei? Ich wußte es plötzlich nicht mehr. Die gute Melba war doch nur eine
hilflose Frau, man mußte sie doch beschützen! Ich bekam es mit der Angst zu
tun und rief sie an. Aber das Handy antwortete nicht. Es war wohl schon zu
spät.
Nun begann ich selbst zu trinken. Die Stunden vergingen jetzt recht schnell.
Ich geriet in eine seltsame Schieflage. Irgendetwas hinderte mich daran,
nochmal bei der Melba anzurufen; es wäre wohl auch vergeblich gewesen.
Aber ohne sie traute ich mich nicht mehr ins Hotel. Es war ihr Zimmer und
ich wollte da nicht rein. Womöglich machte mir irgend so ein Spitzentyp aus
Politik und Wirtschaft auf. Ich bat meine Fans, mich bei sich unterzubringen,
aber die dachten gar nicht daran. Schließlich traf ich um vier Uhr morgens
meinen alten Haffmans-Lektor Heiko Arntz, der ebenfalls kein Zimmer
gefunden hatte. Genau gesagt: Man hatte ihm um halb drei Uhr nicht mehr
geöffnet, in der kleinen Pension.
Ich rief bei Christian Y Schmidt an und schilderte ihm die Lage. Er war mein
ältester Freund, und er wohnte in Frankfurt. Ich nannte ihn manchmal, in fast
zärtlichen Anwandlungen, Ypsilon. Das tat ich auch jetzt.
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"Ypsilon, du darfst mich nicht hängen lassen. Wir haben Minusgrade, es
herrscht ein scharfer Wind, ich habe nicht mal Winterkleidung an. Ebenso
ergeht es Heiko Arntz, den Du nicht kennst, der aber ein guter Lektor ist. Du
MUSST mir einfach helfen."
Er wollte, aber er durfte nicht wollen. Er hatte seit wenigen Wochen eine
Freundin. Eine junge Chinesin. Er weinte fast.
"Es ist... nicht meine... Wohnung... Es ist auch IHRE... "
"Ja, Ypsilon, aber es geht nicht anders. Das wäre auch keine Beziehung mit
Zukunft, wenn Deine Freundin es anders sähe."
Seine Stimme begann zu zittern. Er sagte keine ganzen Sätze mehr, sondern
immer nur ein Wort, als müsse er vor jedem Wort Anlauf nehmen.
"Wir... sind... erst... kurz... zusammen..."
Er tat mir furchtbar leid, ich erschrak richtig. Der arme Ypsilon. Es war nicht
mehr seine eigene Wohnung, er hatte sie schon überschreiben lassen. Bald
würde er auch sein Testament ändern lassen. Ich dagegen hatte nur eine
lumpige Nacht zu überstehen. Und das würde ich schaffen, ganz egal was
passierte.
Und danach stand mir das ganze Leben offen.
17. Kölner Kinderoper - Elke Heidenreich
Ihre Ahnen müssen Missionare in Afrika gewesen sein, die den Kindern im
Busch Lesen und Schreiben beibrachten. Damit sie die Bibel lesen
konnten. Elke Heidenreich missioniert die Deutschen seit 19 Folgen zum
'Lesen!', und aus den Büchern strömt das Heil. Sie ist vielleicht (nach
Ratzinger) die letzte Deutsche, die noch etwas WILL. Die Merkel wollte nur
dienen, doch Elke will die Revolution: Bücher an die Macht!
Sie sitzt in der Maske und wird für den Auftritt geschminkt. Die schöne
brokatgoldene Kostümjacke tauscht sie gegen ein sehr einfaches T-Shirt,
die vollen Haare werden verwüstet und ausgedünnt. Am Ende sieht sie
wieder aus wie die Hausfrau aus Wanne-Eickel. Die Menschen mögen sie
so. Die desperate Housewife von nebenan, die kein Fremdwort benutzt
und trotzdem Robert Musil erklären kann.
In dieser Sendung erklärt sie ein Meisterwerk von Lampedusa, 'Il
Gattopardo', prächtiger und überwältigender als jeder Thomas Mann, und
wenn es stimmt, daß Millionen Frauen Elkes Sendung zum sofortigen Kauf
und Konsum ihrer Empfehlungen nutzen, müßte das Land schlagartig um
zehn Prozent klüger werden, jedesmal.
Ein alter Zausel, Typ Colonel Kuster kurz nach Little big horn, steckt
seinen Kopf in die Kabine, ruft mit erstickender Stimme: "Erzähl dem nix!"
"Warum denn nicht?" fragt die Heidenreich und winkt ihn weg. Seine
Augen flackern vor Angst. Dann schließt er die Tür.
"Das war mein Ex-Mann", sagt sie stolz.
Ein bißchen ALT ist die Sendung vielleicht. Legionen von graubärtigen,
schwarze ausgeleierte Cordhosen tragenden Kabel-, Skript- und
Tonträgern schleichen auf leisen Sohlen umher. Nie sieht man auch nur
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ein Fitzelchen von Jugend, und wenn doch, dann haben die 'Kids'
überlange base caps auf und tragen diesen ängstlich-pflichtschuldigen
"Wir machen Euch die Jugend, wir tun alles für Euch, genau wie Ihr es
wollt"-Gesichtsausdruck. Da tut es gut, als plötzlich ein ECHTER junger
Mann backstage auftaucht: Giovanni di Lorenzo.
"Danke, Don Giovanni!" sagt die Moderatorin beglückt. Es ist ein
lupenreiner Freud'scher Versprecher. Sie wollte sagen: "Hi, Giovanni di
Lorenzo." Und sie gesteht: Er sei ein so wunderschöner, so kluger, so
gebildeter Mann! Der sieht den Reporter, gibt ihm freudig die Hand, glaubt
ihn zu erkennen:
"Ah, Wim Wenders!"
Auch das nicht ganz richtig. Lorenzo ist Ehrengast der Sendung und
wirklich so wahnsinnig nett und wunderbar glatt wie im Fernsehen. Elkes
Komplimente erträgt er mit engelhaftem Lächeln, bis alle in ihn verliebt
sind. Leise sagt er, es sei schwer für ihn gewesen zu kommen, da gerade
Produktionstag sei. Er ist 'Alleiniger Chefredakteur' der ZEIT. Viele Jahre
wurde ihm dieser Posten angeboten, meldet der Munziger Report. Man
ahnt, wie glücklich alle waren, als er dem jahrelangen Drängen endlich
seufzend nachgab. Die Visagistin versucht gar nicht erst, ihn zu
schminken - man kann ihn nicht verschönern. Die tolle Figur, der perfekt
sitzende teure Anzug, das volle, gekonnt geölte Lockenhaar: er kann
direkt vor die Kamera. Und da, im gleißenden Licht, vor der
Märchendekoration der Kölner Kinderoper, unter goldenen Sternen auf
nachtblauem Stoff, sagt er auf Anhieb und ohne ein einziges "äh" sofort so
erstaunlich kluge Sachen auf so feine, anstrengungslose Weise, so soft, so
hingestreut, daß einem heiß und kalt wird. Es sind keine wirklich neuen
Gedanken, es sind nicht seine eigenen, aber wie gebildet muß dieser
wunderbare Mann sein! Die Zuschauer, alle hübsch im Rentenalter, unter
größten Schmerzen auf den Kinderbänken sitzend, danken es ihm später
mit ehrlichem Geklatsche.
Die Stoppuhr läuft. Nur 30 Minuten gibt das ZDF der Sendung, und die zu
nachtschlafender Zeit, der Mitternacht entgegen hetzend und hechelnd,
und das nur alle zehn Wochen. Für neue Tele Novelas werden Millionen
lockergemacht und täglich zig neue Sendeplätze. 'Lesen!' ist die einzige,
die letzte Sendung für Bücher. Außer ihr treibt nur noch ein Guerillero
namens Dennis Scheck irgendwo in noch tieferer Nacht sein Unwesen.
Seine Quote soll aber so niedrig sein, daß sie selbst mit allerneuesten
Geräten nicht mehr meßbar ist. Bleibt also nur die Heidenreich. Prompt
muß sie mit dem Vorwurf leben, ein Monopol in Sachen
Literaturvermarktung zu besitzen. Also Macht. Viel zuviel Macht. Fast
jedes Buch, das sie empfiehlt, wird ein Bestseller. Ein langweiliger,
nerviger Vorwurf, mit dem schon die Vorgängersendung 'Das literarische
Quartett' leben mußte.
Tatsächlich haben aber weder Elke Heidenreich noch Reich-Ranicki viel
Medienmacht. Beides sind Einzelkämpfer, die sich nirgendwo angedockt
haben, die immer schlecht waren im Kungeln, im 'miteinander Können', im
Weißweinsaufen mit Kollegen und Trägern der Macht. Reich schreibt es
selbst in seiner Biographie, und es ist nur zu wahr: Er ist ein Außenseiter.
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Auf Elke Heidenreich trifft es strukturell noch mehr zu. Und so ist auch der
häufigste Vorwurf, den man ihr macht, das ausschließliche Beharren auf
den eigenen Geschmack. Kein Einflüsterer hätte bei ihr eine Chance, sein
Buch gewürdigt zu kriegen. Außer di Lorenzo vie lleicht, was aber jeder
verstehen würde.
Als letzte bekennende 68er-Frau weiß sie, daß es 'Macht an sich' nicht
gibt, nur "Macht für oder gegen die Arbeiterklasse". Für wen also hat sie
ihre Macht?
"Für die Bücher!" ruft sie todernst. Man muß sie lieben.
Auch weil sie etwas Zartes und Mädchenhaftes hat in ihrer antiautoritären
Haltung. Die Leute denken, da sitzt Else Stratmann, und auf den ersten
Blick stimmt das womöglich. Die rabulistische, rotzfreche Nachbarin aus
der Vorstadt.
Ihre innere Wahrheit vermittelt sich aber viel deutlicher. Da sitzt ein
zartes, verletzliches, unendlich auf die Erwachsenen neugieriges Kind, das
über den Umweg 'Bücher' alle noch viel besser kennenlernen möchte. Ein
Pumuckl mit lustiger Lesebrille. Was das für eine ist, die Elke Heidenreich,
beweist sich in den langen Pausen, als sie das völlig 'unbedeutende'
Publikum mit aktuellen Anekdoten aus ihrem Alltag unterhält. Sie ist da
(noch) besser, verbindlicher und geduldiger als in der Sendung.
Oder wenn es ihr auf die Frage, warum sie jedes Fremdwort auf der Stelle
erkärt, rausrutscht:
"Alles andere wäre Hochmut!"
Elkes Antwort auf den ewigen Machtmißbrauchsvorwurf ist die
Verbreiterung des Angebots. Sie empfiehlt nicht vier Bücher, sondern
acht, manchmal sogar bis zu zwölf. Diesmal vor allem den neuen Uwe
Timm 'Der Freund und der Fremde', über die Freundschaft Uwe Timms mit
Benno Ohnesorg, sowie Daniel Kehlmann, Cees Nooteboom, Ulrich Greiner
und noch zig andere. Sie schafft das, indem sie die Sendung so schnell
macht wie einst Hänschen Rosenthal sein 'Dalli-dalli'-Ratespiel. Schnell,
aber nie hektisch. Sie schafft das, indem sie sehr persönlich spricht. Es
geht um Weltliteratur, aber man hört eine intime Freundin sprechen.
Jedes Buch, und sei es noch so abgehoben, bezieht sie auf sich und ihr
Leben, und auf seltsame Weise spricht sie dadurch vom Zuschauer selbst.
Wenn es ihr gefällt, wird es auch ihm gefallen.
Die Sendung ist ganz gut für Leute, die arbeiten und keine Zeit haben,
stundenlang im Buchgeschäft zu stehen. Ihre Empfehlungen sind
subjektiv, aber nicht verschroben. So ziemlich alle großen, wichtigen
Neuheiten werden ihr nicht entgehen, darauf kann man sich verlassen.
Nach 19 Sendungen ist sie selbstverständlich etwas mainstreamig
geworden. Das 'hallo Mädels, das ist was für Euch!'
kommt ihr nicht mehr über die Lippen. Kaum noch Umarmungen vor
laufender Kamera mit Gesinnungsschwestern, überhaupt: der ganze
ausgestellte Feminismus steht heute da wie ein Mißverständnis. Zur
Merkel-Kanzlerschaft nur ein Zornausbruch: "Lieber weiter noch 100 Jahre
Männer als DIE DA." Nein, es ging ihr einzig um Bücher, um das
massenweise Lesen derselben. Aber das herzliche "Ihr Lieben!"
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sagt sie weiterhin. Und fürs Verschrobene gibt es auch immer noch diesen
anderen, den man immer verpaßt, Dennis Scheck.
Der ist natürlich nicht dabei, als nach der Sendung für den engeren Kreis
Sekt gereicht wird. Die beiden sind verkracht, leider. Eigentlich mögen sie
sich, und sie lieben den guten Streit unter Freunden. Einmal stritten sie
sich eine halbe Nacht lang über ein Buch und wurden sich nicht einig.
Daraufhin hypte es Elke in 'Lesen!', und Scheck warf es in seiner eigenen
Sendung demonstrativ in eine vor die Kamera gestellte Mülltonne. Ob sie
ihm vergäbe, wenn er sich entschuldigte?
"Vergeben, das?! Ein Buch in die Mülltonne zu werfen ist unverzeihlich."
Fußnote
Elke Heidenreich
Es war schwierig, über exakt die eine und einzige Person zu schreiben, die es in der Hand
hatte, mein aktuelles Buch ´Zombie Nation´ zum Bestseller oder zum Flop zu machen.
Mein Buch lag ihr vor, es hieß, sie wolle es wohlwollend lesen. Schrieb ich kritisch über
sie oder SPIEGEL-typisch, würde ich mir eine lebenslange Feindschaft zuziehen.
Nicht nur dieses, auch jedes weitere Buch würde sie ignorieren. Da ich beim SPIEGEL
unter Vertrag stand, konnte auch diese andere große Instanz nichts mehr für mich tun.
Der SPIEGEL und die Heidenreich Sendung "Lesen!" waren die einzigen Faktoren, die das
Kaufverhalten der Deutschen bestimmten. Wenn ich nun aber sehr gut über Elke
Heidenreich schrieb, konnte sie mein Buch ebenfalls nicht loben, weil sonst alle dachten,
sie sei durch Lob korrumpierbar. Ich entschied mich dennoch fürs Loben, weil dort die
Gefahren kleiner waren. Bei einem Verriß hätte das ganze Verhältnis zum Verlag leiden
können, und dann hätte mein Verleger mich mit der alten Schrotflinte seines Großvaters
eigenhändig erschossen, und zwar zu recht.
Ich besuchte also diese Sendung, und zwar an dem Tag, an dem sie produziert wurde.
Ich beobachte die Moderatorin erst ein paar Stunden vom Zuschauerraum aus, anonym,
weil ich dabei unbefangen war. Dann erst wurde ich ihr vorgestellt. Ich war tatsächlich
überrascht, wie jugendlich, ja kindlich sie wirkte, und sagte ihr das auch gleich.
Komplimente muß man immer in dem Moment machen, wo sie einem in den Sinn
kommen, sonst sind sie nicht echt. Frau Heidenreich war sofort gerührt.
Ich schrieb dann am nächsten Tag meinen Bericht und mailte ihn an die Redaktion.
Gewissensbisse quälten mich. Hatte ich wirklich positiv geschrieben? Hatten sich nicht
doch wieder, wie so oft bei mir, unbewußt hämische Spitzen eingeschlichen? Würden die
Kollegen womöglich DOCH einmal redigieren, zum erstenmal, und zwar spiegelmäßig
spöttisch?
Und würde ich deswegen gleichzeitig meine journalistische UND meine literarische
Existenz verlieren, nachdem bei Stefan Aust der übliche Brief eingegangen war? Stefan
Aust war ein Alt-68er, genau wie Elke Heidenreich!
Um das alles ein bißchen unter Kontrolle zu behalten, blieb ich mit ihr in Kontakt. Ich
schrieb ihr sehr persönlich, und sie schrieb sehr persönlich zurück. Ich merkte, dass sie
tatsächlich so nett war, wie ich sie geschildert hatte. Wir schrieben uns bald lang und
regelmäßig.
Als der SPIEGEL Artikel immer wieder zurück, und ich hatte die Gelegenheit, ihn von
Fassung zu Fassung positiver zu machen. In Fassung
37 war Elke Heidenreich zu einer Mischung aus Evita Péron, Rosa Luxemburg und der
Jungfrau Maria verkommen. Trotzdem, oder gerade deswegen, rief mich der Fahrdienst
auf dem Handy an, ein junger Kosovo Albaner, und forderte Nachbesserungen: "Du
Artikel nix gut, Du neu macken, Arschloch!" Ich sagte, eine weitere Fassung würde nicht
mehr schaffen. Er machte mich fertig: "Bist Du schwul oder was! Der SPIEGELis nix
Hamburger Abendblatt, Mann! Du besser werden, okeee?" Ich machte weiter. Und eines
Tages war das Thema im Blatt.
90
Wieder hatte die unbekannte Geisterhand in letzter Minute alles umgeschrieben. Und ich
hatte wahnsinniges Glück: der Text war nun besser, positiver, länger und zugleich klüger
als mein Originaltext.
Elke Heidenreich mußte er gefallen haben.
Doch nun trat die Befürchtung Nr. 2 ein: Das Lob war so deutlich, dass mein Buch nicht
mehr in die Sendung konnte. Alle hätten ein Pingpong-Spiel vermutet. ´Zombie Nation´
erschien, verkaufte sich in der ersten Woche besser als ´Die Jugend von heute´, und
blieb dann auf der Strecke. Der fette SPIEGEL Artikel, der das Vorgängerbuch fast im
Alleingang zum Bestseller gemacht hatte, blieb aus. Das Fernsehen brachte auch nichts.
Das Buch blieb wie Blei in den Regalen.
Nun war ich aber weiter im persönlichen Kontakt mit Elke Heidenreich.
Wir schrieben uns ja ständig. Aber ich traute mich nicht, ihr dieses Problem aufrichtig zu
schildern. Das war mein großer Fehler.
Stattdessen schickte ich ihr das neue Buch persönlich zu, also ein zweites Exemplar.
Dann ein drittes an ihre Redaktion. Dann eines in ihre Privatwohnung in Marienburg.
Dann legte ich ihr eines direkt vor die Haustür. Dann eines auf ihr Auto. Inzwischen war
ich längst desillusioniert und wollte nur noch zynisch sein. Sie ließ mich hängen, nur weil
ich nett über sie geschrieben hatte! So verständlich, ja selbstverständlich ihre Haltung
war, so fand ich sie dennoch gemein und schrecklich ungerecht. Mein Leben hing
sozusagen von ihr ab, und das interessierte die Frau überhaupt nicht! Dabei schrieb sie
weiter diese sehr persönlichen Briefe. Ich hörte dann auf, ihr zu schreiben, und war zum
erstenmal in meinem Leben vollkommen ratlos. Mehr als sonst schon machte ich diese
typischte aller SPIEGEL Erfahrungen: Durch einen Artikel in dieser Zeitschrift erfahren die
Beschriebenen einen ungeheuren Aufwind, sie bekommen ein neues Leben, während der
Autor im Dunkel bleibt und überhaupt nichts davon hat. Ich sah noch, wie Elke
Heidenreich ein paar Monate lang wie ein funkelnder Komet durch die Medien zischte, als
hätte sie nun die zweite Luft gekriegt, und sie sah plötzlich zehn Jahre jünger aus.
Dann verlor ich das Interesse.
18. Ovid in Kreuzberg – Thomas Kapielski
19. der Professor aus Wuppertal – Bazon Brock
War Goethe der erste GENERALIST der Deutschen - und Helmut Kohl in
seinen guten Jahren der bekannteste - so ist der Wuppertaler Professor
Bazon Brock der letzte. In einem Atemzug switcht Brock von der
Molekularbiologie zur Kunstgeschichte, zu Poptheorien, zu Mode und
Eßkultur und wieder zurück. Echte Popstarqualität braucht zwingend auch
eine Phase des Out-Seins: der politisch unkorrekte Bazon Brock hat sie
nach mehreren Mobbing-Jahrzehnten hinter sich, sein Stern in der
akademischen Welt strahlt nun nachhaltig.
Der Professor sieht vital aus, wirkt lebendig, gesund. Er trägt einen
rustikalen Janker-Anzug aus Loden, mit Enzian und Edelweiß-Emblemen
am Revers. Die Haare sind dicht und lang, kaum zu bändigen. Am 2. Juni
wird er 70 Jahre alt. Wir stehen in der Frankfurter Schirn, und darin stellt
Bazon Brock eigene und fremde Kunstwerke aus. Die sind völlig unwichtig.
ER ist das Kunstwerk.
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Ich kann mich nicht darauf konzentrieren, was er sagt. Er spricht zu
schnell und immer abstrakt. Seltsam, denn früher hatte ich ihn
verstanden. Er war der Mensch, der so schön vermitteln konnte, zwischen
Publikum und Kunst, zum Beispiel 1982, in der 'Besucherschule' der
documenta. Nun rauscht es nur noch. Kluge Sätze branden an mein Ohr,
schon nach wenigen Minuten kann ich nicht mehr zuhören. Zuviel, zu
schnell, zu monoton. Er will mir diese Kunstwerke erklären, aber ich
verstehe nur Bahnhof. Ich bin blöd.
Zwischendurch scheint er selbst von seiner Vortragsweise gelangweilt zu
sein. Er beginnt seine Sätze zu modulieren, zu plärren, zu flüstern. Es sind
Sätze aus über vier Jahrzehnten Lehrtätigkeit. Fragen sind nicht
zugelassen. Ich habe mir 53 aufgeschrieben, bin aber zu erschlagen, um
sie stellen. Der Mann ist einfach zu vital für mich.
Er ist auch zu angeberisch. Wahrscheinlich denkt er, wenn er es so direkt
anspricht, hätte es Charme. Alles habe er schon vor zehn, 20, 30 oder 40
Jahren vorgeführt, was heute erst in Mode komme. So habe er Frank
Schirrmachers Methusalem-Komplott schon vor 15 Jahren aufgetan und
dem damals blutjungen FAZ-Herausgeber in den Block diktiert. Der aber
habe sich niemals bedankt.
Das ist erstaunlich. Dank kam eigentlich selten auf bei jenen BrockSchülern, die durch ihn Trendsetter, Heroen des Kunst- und des
Theoriebetriebs wurden, etwa Kippenberger und die Neuen Wilden der
Malerei, Diedrich Diederichsen, Gerhard Merz, Neo Rauch, Christian Boros
– die Liste ist endlos, denn B.B. lehrt ja immer noch. Seine Wirkung auf
die heutigen Entscheider der Medienwelt ist beispiellos. Trotzdem war der
Superstar der 60er und 70er Jahre vom öffentlichen Radar verschwunden.
Warum? Irgendwann, wenn er einmal Atem holt, werde ich ihn fragen!
Brock redet und redet und langweilt sich dabei. Über Navigatoren,
Radikatoren, Moderatoren, die Installation eines Theoriegeländes, die
Geschichte von Steuerungstechniken, die Ästhetik des Unterlassens, die
Kritik der Wahrheit, den Ausblick des Läuterungsbergs, die Anmerkungen
eines Unpolitischen, also über Thomas Mann und Sloterdjik und Berlusconi
und Sophokles und die Mainzelmännchen und so weiter. Mal spricht er
griechisch, mal Latein, mal aramäisch, meistens aber kommt er aufs
Deutsche zurück.
Mir klingeln die Ohren. Er spricht in Wortschöpfungs-Ketten. Fällt es schon
schwer, Reihen von Abstrakta blitzschnell aufzunehmen, wird es zur
Tortur, wenn es sich dabei um NEUSCHÖPFUNGEN handelt. Es wird zu
einer Fremdsprache, die man nur als Brock-Schüler in acht harten
Semestern lernt. Aber ich bin kunstresistent, immer schon. Und ich hatte
Brock gemocht, gerade deswegen. Doch nun steht er da und ist für mich
nicht mehr Bazon Brock, das lebende Kunstwerk, der geniale Schwätzer,
der Mittler zwischen den Welten, sondern Minher Peeperkorn aus dem
'Zauberberg'. Also einer, der neben einem Wasserfall steht und dessen
Worte vom Rauschen verschluckt werden. Es rauscht und rauscht, mir
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werden die Füße bleiern schwer. Egal, ob er ein Bild erklärt, den
Wasserhahn neben Löschwassereinspeisung, das Universitätsunwesen
oder die Große Koalition in Bonn, pardon, in Berlin, wir sind ja nicht mehr
in den 60ern, oder doch? Wo sind wir? Im Nirgendwo. Im
selbstreferentiellen Reich des Bazon Brock. Hier braucht's keine Frage,
nicht einmal ein Stichwort, es sprudelt immer aus sich selbst heraus. Es
lappt hinüber in ein umgekehrtes Schwarzes Loch, aus dem heraus es
unentwegt unerklärliche Energie bezieht.
Nach Stunden wechseln wir über in ein Café. Ist es das Museumscafé der
Schirn? Oder ein anderes, Straßenzüge weiter? Ich weiß es nicht, meine
Birne ist dicht. Nichts nehme ich mehr auf. Aber der Professor kommt nun,
da der private und somit gemütliche Teil des Tages beginnt, so richtig in
Fahrt. Genau wie vorher. Sein Tempo läßt nicht nach. Die Sprache bleibt
dieselbe, hochgestochen, brillant-witzig, mitreißend, absolut
unverständlich und gaga. Zitternd rühre ich in meinem Kaffee. Der Barbar
sei ein Kulturheld, die Heiligung der Filzpantoffel sei kein Nichtstun,
sondern ein Nicht-Tun, wes Brot ich eß', dem versprech ich, daß ich ihn
vergesse, Tourismus und Geschichte, der Malkasten wird extemporale
Zone, die Selbstergänzung des Regenwurms, der Hase im Staatswappen,
Kultur und Strategie, die Spiritualität der Kelten im Kampf mit der
zivilisatorischen Intelligenz der Römer und der... ich kann es mir nicht
merken. Es ist schon alles sehr klug, und jeder einzelne Sachverhalt für
sich durchaus erhellend, wenn man sich darauf konzentrierte. Wenn man
nur hinhörte. Ja, wenn!
Aber so - Abschied gegen Mitternacht. Das Lokal schließt. Ich habe seit
Stunden nichts mehr gesagt. Die Bedienung blinzelt ihn frivol an beim
Gehen. Brock sagt den unfaßbaren Satz: "Sie hat mir schon alle ihre
Tattoos gezeigt, bis auf eines. Aber das zeigt sie mir auch noch."
Bestimmt träume ich das nur. Ich bin einfach mit den Nerven am Ende.
Aber Brock hält mich für einen eloquenten Gesprächspartner und lädt
mich zu ihm nach Hause ein. Jetzt, wo wir uns so gut verstehen, wollen
wir diese wunderbare Freundschaft nicht mehr abreißen lassen.
Wuppertal, das Taxi steht vor seiner Tür. Der Taxifahrer sagt: "Hier
wohnet di reiche Leit, hi hi!" Und macht eine Bewegung mit den Fingern,
die Geld bedeuten soll. Ich gebe kein Trinkgeld. Brock kommt mir auf der
Freitreppe entgegen, schreitet den Kiesweg ab, breitet die Arme aus.
"Willkommen!" Diesmal habe ich bessere Laune mitgebracht. Und eine
halbe Schachtel Johanniskraut-Tabletten, einen kleinen Obstler und vier
Ibuprofen 400, die mich gegen den Wörtersturm immun machen sollen.
Ich sage mit ungekünsteltem Pathos, man sehe sich immer zweimal im
Leben, und hier, voilà, sei ich nun! Wir umarmen uns. Er bittet mich
sofort, Platz zu nehmen. "Danke, ich stehe lieber." Ich habe mir fest
vorgenommen, mich nicht mehr einkesseln zu lassen. Brock denkt, ich
wolle wohl erstmal das Haus sehen, und gibt mir eine Führung. In den
Katakomben des Kellergeschosses lagern Millionen von Schriften, mal
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geordnet, oft ungeordnet, und ich sehe plötzlich Dr. Mabuse vor mir, nach
seiner Verhaftung, im Irrenhaus, wie er in diesen Bergen von Papier sitzt
und unentzifferbare Rätselschriften verfaßt... Aber Brock taugt nicht für
den Stummfilm. Ihn kann man sich nur mit dem Megaphon in der Hand
vorstellen, laut, unbeirrbar und nicht von dieser Welt:
"Fishing for complications - der Kampf um CD-Rom!"
So heißt, glaube ich, eines seiner ungefähr 122 Bücher.
"Na, nun setzen Sie sich. Der Kaffee kommt bereits."
"Nein, ich setze mich nicht. Ich bestehe auf einen Spaziergang!"
"Nein, trinken Sie erst den Kaffee."
Es geht wieder los. Nach wenigen Minuten reißt bei mir der Film.
Zumindest die Tonspur. Ich bin Platzeck und habe den Hörsturz. Ich sehe,
wie Brocks Mund auf und zugeht, höre die Worte aber nicht mehr.
Irgendwann merkt er es, wohl, weil ich das Köpfchen sinken lasse und
apathisch auf meine Hände und die Mokkatasse blicke. Wir gehen nach
draußen. Herrliches Wetter. Einen Stock habe ich auch dabei, und
besagten Flachmann. Man befindet sich im 'Bergischen Land' nahe
Wuppertal.
Überall geht's rauf und runter, man glaubt sich in den Alpen, mindestens
Norditalien, alles sehr dreidimensional und schön. Wuppertal hat mir
immer schon sehr gefallen. Die Stadt Gustav Heinemanns. Die Stadt
Johannes Raus. Und die Stadt Bazon Brocks. Nun laufen wir einen
unspektakulären Feldweg entlang, schwach asphaltiert, eine schmale
Straße ohne Autos. Alles dampft und suppt so urig vor sich hin.
Der Professor behauptet, genau diesen Feldweg seien die Nibelungen
entlang gegangen, 18 Leute mitsamt Schatz, Hagen, Treue, Ehre, Verrat,
genau hier, Schritt für Schritt, bis nach Soest hinein, zu dem Grundstück,
auf dem heute die Sparkasse stünde. Dort hätten sie innegehalten, hätten
den Schatz kurz abgesetzt und seien niedergemetzelt worden. Es sei alles
bewiesen. Er, Brock, habe die Dokumente gefunden, und die Wissenschaft
habe erst jetzt, nach Jahrzehnten des Kampfes, endlich erklärt, daß sie
stimmen, jetzt, 2006.
Das Besondere an der Geschichte: sie ist so unwahrscheinlich wie wahr.
Bazon Brock hat recht. Es ist genauso, wie er es sagt. Aber es ist zu
ungeheuerlich, als daß man länger als ein paar Sekunden darüber
nachdenken möchte. Die Nibelungen, vor Bazons Buntglastür... Er merkt,
wie beeindruckt ich bin, und nutzt das zu einem kleinen Vorstoß in eigener
Sache:
"Wissen Sie, junger Mann, das einzige, was ich mir in meinem ganzen
Leben immer gewünscht habe, ist EINMAL eine Darstellung meiner
Persönlichkeit zu erleben, wie sie wirklich ist.“ Er möchte also endlich so
gesehen werden, wie er sich selbst sieht. Ich antworte, daß nicht einmal
Gott so gesehen werde, wie dieser sich selbst sehe; es sei a priori nicht
möglich. Aber der Professor besteht darauf. Er verlange nicht viel, er
mache alles mit, er vertrage jeden Tadel, aber DIESEN Gefallen möge
man ihm bitteschön tun. Ich sage es ihm zu. Soviel Höflichkeit muß sein.
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Er redet über die Spätantike, über die Zeit um 650. Alles Wichtige habe
sich hier in dieser Gegend zwischen Wuppertal und dem heutigen
Leverkusen abgespielt. Ich kann nun besser zuhören. Alle zwei Schritte
bleibt er stehen, weil es so steil bergauf geht, und redet im Stehen weiter.
Mein Blick geht über das weite Land, die Berge, Täler, ferne Kirchtürme,
Schafe, Kühe, Bäche. "Schön haben Sie's hier, Herr Professor."
Doch er wirkt bezugslos zur Welt. Ob jetzt dieses märchenhafte, zeitlose
Panorama vor ihm ist oder die leere Museumswand der Schirn nach
Abhängen der letzten Bilder - es ist ihm dasselbe. Ob ihm die attraktive
Lieblingsstudentin einen frechen Blick zuwirft oder ein toter leerer
Blumentopf nur dumm rumsteht und schweigt - Brock sieht beides nicht.
Er könnte auch als Stevie Wonder der Pop-Philosophie auftreten, oder, in
den ernsteren Auseinandersetzungen von heute, als westlicher Gegenpol
zum blinden Hamas-Haßprediger von Gaza-Stadt.
Wir erreichen die Sparkasse von Soest. Brock macht mit meinem Stock
ein Kreuz in den Boden: "Hier genau hat man dem ersten von den 18 den
Kopf abgeschlagen." Das ist traurig. Wir teilen uns den Flachmann.
Dann machen wir kehrt. Die Geschichte der Spätantike ist wirklich
spannend, ich vergesse die Zeit. Bazon redet wie im Rausch. Langsam
verstehe ich den Wortbombast. Und komme sogar zu einer Frage:
„Dr. Brock, viele Ihrer Schüler nutzten und nutzen Ihre ungeheure
theoretische Potenz und missionarische Kraft, die ständig neue
Gedankenverbindungen ausstößt, und viele sind erst durch Ihre Fähigkeit
zur historischen Kontextualisierung in den Olymp der Künste gelangt, von
Albert Oehlen bis Christian Boros. Warum dankt man Ihnen das nicht?“
„Oh, Boros tut es!“
Er sieht mich zum erstenmal direkt an, wirkt glücklich. Und redet weiter!
Er habe immer alles schon vorher gewußt, sei seiner Zeit immer voraus
gewesen und so weiter, das könne niemand ertragen, kein Politiker und
auch sonst niemand. Er referiert über Augstein, Burda, Handke...
Wieder in der Villa, müssen wir uns beeilen. Wir müssen zu Brocks
Geburtstagsparty, die in Köln stattfindet. Er wird zwar erst am 2. Juni 70,
aber er feiert schon jetzt solche Partys. Ich bin gerührt. Es erinnert mich
an diese sympathischen jungen Frauen auf der Reeperbahn, die mehrmals
im Monat Geburtstag haben. Man darf das alles nicht so ernst nehmen.
Bazon setzt seine Frau und mich in einen nagelneuen 50.000 Euro BMW
Jeep und fährt los, immer schön über alle Berge. Es ist wirklich ein Spaß.
"Interessieren Sie sich für Autos?" frage ich, plötzlich in der irrwitzigen
Hoffnung, ihn zu einer banalen Aussage bewegen zu können. Aber er
schüttelt nur den Kopf. Der fette BMW macht echt was her. In Köln
gucken die Bräute ganz schön, als wir den Ring entlang cruisen. Ich
erzähle, was mir ein junger Mann über die 'Ringe' gesagt hat: Angeblich
würden diese zu bestimmten Tagesstunden zu 85 Prozent von 'Pimps'
beherrscht werden, also sogenannten Armani-Türken.
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"Aber das habe ich doch schon vor 20 Jahren behauptet."
Es störte ihn offenbar nicht sonderlich. Ich setzte nach:
„Wer noch als deutscher Jugendlicher dort auftaucht, hab‘ ich gehört, muß
definitiv mit 'Stress' rechnen, also mit Schlägen!“
Den Professor schockte das nicht. Er sah auf die lächelnden, in weißen
Jeans und weißen T-Shirts stolzierenden, schwarzhaarigen
Türkenmädchen. Ich geiferte aber weiter. Deutsche Jungs hätten keine
Chance, da sie nicht mehr im Patriarchat lebten. In der Zeitung stand
gerade ein Fall, da hatten vier sogenannte deutsch-Türken im Alter von 13
bis 15 Jahren eine 16jährige Deutsche vergewaltigt. Brock sagte tonlos:
„Blöde gibt es viele, am Rhein wie auch am Nile.“
Das war der Satz, der alles änderte. Plötzlich verstand ich den Professor.
Er stand über den Dingen. Er hatte 4000 Jahre Geschichte im Kopf, ja im
Blut. Er war wirklich cool. Ihm machte keiner Angst, schon gar nicht die
Bild Zeitung. So einen Mann brauchen wir. Heute.
Bazon Brock, alles Gute zum Geburtstag!
Fußnote
Bazon Brock:
Brock lag mir etwas am Herzen, da ich ihn als junger Student gemocht hatte. Ich riß
mich daher um den Auftrag, der eigentlich schon an einen Kollegen vergeben war. Die
Begegnung war dann sachlich enttäuschend, persönlich aber das Gegenteil. Die
Selbstpräsentation des Professors war niederschmetternd, fast schon traurig. Wie
beschrieben redete er soviel, dass beim Zuhörer nur weißes Rauschen entstand. Das war
insofern traurig, als er wahrscheinlich unendlich viel Interessantes zu sagen hatte, das
nur alles in dem Niagarafall seiner Worte ersoff. Ich versuchte nun genau das zum
Thema zu machen, was sonst: Bazon Brock als Minher Peeperkorn. Es war natürlich ein
bißchen wenig. Nach dem ersten Treffen hatte ich achteinhalb Stunden Monolog auf
Band, aber keine Erlebnisse. Und den schlimmsten Brummschädel meines Lebens. Meine
Kopfschmerzen waren in der folgenden Nacht so stark, dass ich dagegen Extacy nahm eine Droge, mit der ich im Grunde keine Erfahrungen habe, es war nur nichts anderes
da. Ich hatte wirklich das Gefühl, der Mann habe mich nicht nur um meinen
Verstand geredet, sondern um mein ganzes Gehirn. Jedenfalls ersuchte ich um eine
zweite, diesmal persönliche Begegnung, in seinem Privathaus. Es folgten dann
alle möglichen privaten Treffen, das steht ja in dem Artikel drin, und noch heute
sehen wir uns manchmal. Brock war unfaßbar nett, wurde mein Hausarzt,
überhäufte mich und meine Frau Barbi mit Geschenken, und wir schenkten zurück, was
das Zeug hielt. Der Artikel mußte natürlich wieder 37 Mal umgeschrieben werden,
aber diesmal sah ich jede weitere Verzögerung gern, denn ich hatte Angst vor
der Veröffentlichung, also davor, dass der Professor verletzt sein könne. Denn
einer, der sich so monomanisch darstellt, kann keinen Text über sich
akzeptieren, an dem ein anderer mitgewirkt hat. Leider fehlte noch immer der Kick für
die Geschichte. Ein Mann, der viel redet - das reichte nicht für eine große
SPIEGEL Story. Ich bat daher Bazon, mit mir noch einen tollen Schluß zu
verfassen. Etwas Überraschendes, nämlich Zeitgemäßes. Bisher hatte er mehr oder
weniger über Dinge theoretisiert, die in den 70er Jahren passiert waren, allenfalls
noch 80ern. Er wußte offenbar nicht, was ich meinte. So legte ich ihm 30 Fragen
zum Hier und Heute vor. Diesmal schriftlich, denn er ließ mich ja nie zu Wort
kommen. Er antwortete nicht. Wir telefonierten. Wir kamen nicht recht vom
Fleck. Sein Assistent wurde eingeschaltet. Ich bot an, die Fragen selbst zu
beantworten, und Brock sollte sich die ihm liebste Antwort aussuchen, die ich dann
für den geplanten Schluß verwenden würde. So machten wir es schliesslich.
Brock wurde allmählich unsichtbar, die ganze Entwicklung gefiel ihm natürlich
nicht. Der Assistent erklärte schließlich, Brock würde der neue Schluß nicht
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gefallen, aber er würde damit leben. Der Artikel erschien. Es war ganz
offensichtlich eine Liebeserklärung. Jeder sah das so. Nur Brock selbst nicht, der Stefan
Aust anrief und Dinge über den Text und mich sagte, die normalerweise zu
meiner Entlassung geführt hätten. Nur hatte Aust den Text ja auch gelesen. So
euphorisch war noch nie über Brock berichtet worden. Sich trotzdem darüber zu
beschweren, sprach gegen den, der das tat. Ich durfte also bleiben.
20. Odyssee durch das moderne Regietheater
Draußen lungern diese seltsamen jungen Schüler herum, diese Art
mit der Leseschwäche, aus der "die Milch macht's"-Werbung. Sie
kicken mit Bierdosen, spielen sich Handytöne vor, gucken unsicher
und kalbsköpfig. Innen dann aber wieder zu hunderten jene Frauen,
die ich zuletzt vor 20 Jahren in Hamburg als Helga Schuchardt
identifizierte. Bloß gut, daß ich zwei Sitze habe. Zwei erstaunlich
unbequeme Holzsitze, dünn überspannt mit Samt. Jemand von
links liest alles mit, was ich in meinen gefährlichen StadelmaierSpiralblock schreibe. Genau so einen hat er gehabt, von der
hochpreisigen Markenfirma 'Comfort', ich habe ihn mir zeigen
lassen. Lappig, biegsam, trotzdem unhandlich, und an der Seite die
berüchtigte geringelte Stahlfeder, mit der man sich so leicht
verletzen kann (wenn man um das Blöckchen kämpft). Eine gute
Woche schon ist der Zwischenfall her, und noch immer bebt die
Theaterwelt, ja das Beben nimmt noch zu. Wie bei den
Mohammed-Karikaturen braucht die Empörung ihre Zeit, bis sie
zum vernichtenden Sturm wird.
Was ist das für ein Theater, das unseren letzten lebenden
Großkritiker Dr. Gerhard Stadelmaier körperlich angegriffen hat und
das von der Bild Zeitung als versaut bezeichnet wird? Da das Wort
'Schmuddeltheater' von derselben Zeitung schon vor zehn, 20, 30
Jahren verwendet wurde und somit nicht mehr trennscharf ist,
mußte ich mir selbst ein Bild vor Ort machen. Als erstes
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Shakespeares 'McBeth' in Düsseldorf, von Gosch.
Es ist Ekeltheater von Anfang an. Die minderjährigen Kalbsköpfe
haben sich noch nicht richtig hingesetzt, als ihnen schon
meterhoch die Scheiße entgegenspritzt. Was mag in ihnen nun
vorgehen? Der Lehrer hat ihnen etwas anderes versprochen. Auch
die Mädchen hatten eigentlich Shakespeare erwartet. Nun sehen
sie Blut und Sperma. Aber sie kotzen nicht, das tun ja schon die
Schauspieler.
Von der ersten Sekunde an stehen alle Schauspieler nackt auf der
Bühne. Nur der König trägt etwas, nämlich eine verrutschte
Papierkrone auf dem Kopf, damit man ihn erkennen kann. Der
Zuschauerraum ist hell ausgeleuchtet, damit niemand unbemerkt
fliehen kann. Die Pause fällt aus, aus demselben Grund. Gäbe es
eine, wäre anschließend das Haus leer - bestimmt hat man das
schon oft ausprobiert. Bei einem Stück von über drei Stunden
Länge ist das mehr als nur eine Frechheit. Um das dem
mehrheitlich uralten und blasenschwachen Publikum aufzuzwingen,
braucht man kriminelle Energie. Von da aus ist es nicht mehr weit,
dem letzten namhaften Kritiker mitten in der Vorstellung das
Blöckchen zu entreißen und mit derben Worten wie "Verpiß dich,
du Arsch!" einzuschüchtern.
Aber der westliche Mensch ist liberal. Gott sei Dank. Er relativiert
gern. Könnte nicht auch die andere Seite recht haben? Mußte
Stadelmaier unbedingt ein Blöckchen mitbringen? Hätte er seine
Eindrücke nicht auch nach der Vorstellung aufschreiben können?
Hätte er nicht weiter hinten und unbemerkt sitzen können? Und
überhaupt: Warum kritisierte er soviel? Und tat er es zu recht?
Während ich darüber meditiere, wird minutenlang auf der Bühne
gepinkelt. Erst der eine, dann der andere, dann noch einer, dann
furzen sie (Tonband aus dem Off), dann scheißen sie einen halben
Akt lang, und so weiter. Im Publikum ist nun echtes Unbehagen.
Kopfschütteln, Frauen verziehen das Gesicht. Einer Schülerin ist
schlecht, sie will raus. Auch andere wollen raus, trotz der
gnadenlosen Scheinwerfer. Ein Rinnsal von Flüchtenden bildet sich,
Vertriebene aus dem Theaterland, Alte, Gebrechliche, Enttäuschte,
manche weinen. Etwa ein Drittel des zahlenden Publikums verläßt
das Haus in den ersten zwei Stunden, trotz der Schikane. Der
Regisseur sieht es mit sardonischem Lächeln. Für ihn ist das
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Publikum Verfügungsmasse,Teil seiner Inszenierung, Teil seiner
Pläne. Das Publikum hat zu parieren, hat entsetzt zu sein, hat den
Schock zu dokumentieren. Und den letzten Kritiker beißen die
Hunde, so soll es sein.
Der heutige Theaterregisseur verachtet zudem den Text, ja sogar
seine Schauspieler. Sie sollen nichts mehr 'können', sondern
biegsam sein. Das sagt jedenfalls Gerhard Stadelmaier, als ich ihn
in seinem Büro bei der F.A.Z. in Frankfurt treffe.
"Herr Stadelmaier, ich will mir nun selbst ein Bild über das moderne
Regietheater machen. Wie konnte dieser lächerliche Happening-Stil
aus den 70ern so lange überleben?"
"Dieses Phänomen gibt es nur in Deutschland, wegen der
Subventionen, und es wird auch verschwinden. Das Publikum wird
wegbleiben."
Wird? Es ist längst weg. Wer geht heute noch ins Theater? Ich
nicht. Es gibt kein Theater mehr. Stadelmaier spricht vom
'Rübenrauschtheater: Alles, was dem Regisseur während der
Proben durch die Rübe rauscht, wird umgesetzt. Ohne daß es
durch den Text überprüft werden könnte. Es handelt sich folglich
um völlige Beliebigkeit. So beliebig wie das Zeug, daß Menschen
normalerweise nachts träumen.
"Genau, deswegen langweilt es immer so, wenn einem die Freundin
ihre Träume erzählt beim Frühstück!"
Nächster Versuch: Goethes 'Egmont' in der Goethestadt Frankfurt.
Das dortige Theater hat die Sprachverhunzung schon im Namen,
wie ein Programm: 'schauspielfrankfurt', kleingeschrieben und
zusammen. Da ahnt man die offene Bühne, das Weglassen der
Pause, den Verzicht auf Kostüme und Bühnenbild schon beim Kauf
der Karte. Tradition? Bäh! Vergangenheit? Niemals! Historisches
Bewußtsein? Verpiß dich, du Arsch!
Und wieder sehe ich diese ganz und gar selbstgeschnitzten
Blödmannszenen, dieses Punk- und Rock-Zeug, alles vom Regisseur
geschrieben, von Goethe nur die Stichworte, das sogenannte
'Material'. Jeder blöde Regie- und Probeneinfall wird intuitiv und
nicht überprüfbar umgesetzt, genau wie Stadelmaier es gesagt
hatte. Männer- und Frauenrollen werden zusammengefaßt, oder
Männer von Frauen gespielt oder Frauen von Tunten, oder das
Klärchen von von einer Hure in Sex-Pistols-Klamotten, oder der
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Egmont von einem, der wie Campino aussieht. IST es Campino? Er
soll ja inzwischen Theater spielen. IST es Egmont, oder ist das der
andere Schauspieler, der Penner mit den Plastiktüten, der Minuten
später als spanischer Konquistador hereinstelzt? Nein, nichts von
alledem, denn der Regisseur hat das Wort 'Vaterland' im GoetheText entdeckt. Und das heißt natürlich: Pflichtprogramm. Nämlich
35 Minuten lang 'patriotische' Stellen von allen deutschen
Klassikern und Nichtklassikern ins Publikum schreien. Die circa 40
Schauspieler bilden einen Chor und brüllen los. Am deutschen
Wesen soll die Welt genesen! Deutsch sein heißt eine Sache um
ihrer selbst Willen zu tun! Dem Deutschen gehört der Endsieg!
Deutschland, Deutschland über alles!! und so weiter. Brüll! Kreisch!
Donner und Doria! Da hat der Regisseur den verlogenen Goethe
mal wieder so richtig schön dekonstruiert...
Daß auch wieder 'die Sau rausgelassen' wird, interessiert mich nun
kaum noch. Ich nehme es, ehrlich gesagt, gar nicht mehr wahr. Der
Schock hat sich durch den McBeth am Vorabend verbraucht.
Nachdem ich sechs alten nackten Männern beim Kacken auf dem
Donnerbalken zugeschaut habe, endlos lange und im Dienste
Shakespeares, kann mich jetzt das wilde Ficken des CampinoLookalikes mit dem Punk-Klärchen im nassen Schlamm nicht mehr
erreichen. Ich langweile mich. Ich spüre meine Wirbelsäule, vor
allem die mittleren Wirbel. Das Klärchen zieht sich aus, der Egmont
zieht sich aus, aber Klärchen ist häßlich und Egmont ein Mann.
Einmal las ich, daß sich im Theater immer die Falsche auszieht. Und
tatsächlich: die wunderbare Georgia Stahl, phantastisch gebaut
und einziger Lichtblick der Aufführung, zieht sich NICHT aus. Als
wenn ich es nicht geahnt hätte! Maßlose Wut steigt in mir auf. Ich
möchte lauthals "Schiebung!" rufen, wie beim nicht gegebenen
Elfmeter im Fußballstadion. Aber würde die Masse miteinstimmen,
diese armen Kreaturen hier, diese Marginalisierten, Entrechteten,
Eingeschüchterten? So wenig wie die Sklaven in Onkel Toms Hütte.
Mich wundert, daß auch andere Schauspieler angezogen bleiben.
Und warum ißt Wilhelm von Oranien einen Yoghurt von Ehrmanns?
Und wozu die ewigen laut-leise-Kontraste? Wieso wird immer nur
geflüstert oder geschrien? Warum stecken die Beine vom Prinz
von Gaure in einem Teddysack? Er köpft ein Beck's Bier und liest
die Produktangaben; gut, das verstehe ich noch, das hätte Goethe
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auch so gemacht, lebte er noch. Aber wozu muß er Philipp II mit
einem Klebeband vom Baumarkt zutapen, und die Kalashnikov fällt
aus dem Koffer, und Pink Floyd spielt dazu, und die Mutter ist
jünger als die Tochter, und ein Eimer fällt von der Bühne und ein
gewaltiger Knallkörper explodiert dabei in seinem Innern, und einer
brüllt "Halt doch endlich einmal dein Maul!" - oder war das schon in
der nächsten Aufführung am Tag danach, in Hamburg? Sicher in
beiden, denn der Satz "Halt doch endlich einmal dein Maul!" fällt
heute in jedem Stück, wie das Amen in der Kirche. Was übrigens
der Unterschied zum Schmuddeltheater früherer Jahrzehnte wäre:
Damals wurde auf der Bühne gevögelt und so weiter, aber der Text
war sakrosankt. Der wurde nicht verändert.
Ich schreibe diesen entscheidenden Gedanken gerade in mein
Blöckchen, als eine Schauspielerin auf mich zutritt und mich ins
Stück miteinbeziehen will. Natürlich, jetzt fällt es mir ein: ich sitze
ja absichtlich genau auf dem Platz und in dem Haus, in dem
Stadelmaier, der mit Abstand größte und letzte deutsche
Theaterkritiker, körperlich angegriffen wurde, ich erzählte es
schon. Was wird sie jetzt tun? Wie in einem Reflex halten meine
beiden Hände mit größter möglicher Kraftentfaltung das geliebte
Blöckchen fest. Wenn die Frau jetzt trotzdem STÄRKER ist, reißt
sie mir die Innenhaut der Hand auf! Also, wenn sie zugreift. Aber
sie tut es nicht, sondern hält mir einen Luftballon hin. Ich ergreife
ihn. Dann fordert sie mich und die Zuschauer auf, in der Pause mit
den Schauspielern zu diskutieren. Über Stadelmaier, denke ich
sofort. Aber dann höre ich, es solle über das Stück gehen, über die
Möglichkeit einer Revolution im heutigen Deutschland.
Daraus wird dann nichts, denn die Zuschauer denken nicht daran.
Ich halte mich aber strikt an meine Schauspielerin, wir lernen uns
kennen und treffen uns nach dem Stück in der Theaterkantine.
Hier geht es natürlich gemütlich zu, in so einer typischen Kantine
eines deutschen Subventionstheaters. Hier sind die Theaterleute
unter sich, und auch sonst sind sie ja immer unter sich. Sie haben
den schönsten Beruf der Welt. Sie sind sich selbst eine große
Familie. Sie agieren sich aus, bei den Proben, auf der Bühne, aber
auch sonst, und paaren sich untereinander und trennen sich
untereinander und haben ganz, ganz viele ganz, ganz liebe
Freunde überall untereinander, auch Seilschaften genannt.
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Außerhalb des Theaters kennen sie niemanden, aber dafür geht ihr
Guru und Regie-Star in den Privathäusern der zuständigen Politiker
ein und aus.
Eine Unterschriftenliste wird von Tisch zu Tisch gereicht. Genervt
unterschreiben die Leute. Irgendeine Petition. Sicher wichtig,
denke ich, und frage die Frau, die damit herumläuft. Sicher eine
politische Resolution gegen Stadelmaier. Immerhin soll am
nächsten Abend ein öffentliches Tribunal im Großen Haus gegen
ihn stattfinden, direkt nach der Vorstellung jenes Stückes, in dem
er angegriffen wurde. Er ist jetzt der große Feind. Er bedroht
irgendwie durch seinen 'Fall' das ganze staatlich geschütztes
Biotop, und das 'wehrt' sich jetzt bestimmt. Ich frage:
"Politische Sache, wie?"
"Ja, es geht um die neue Raucherordnung."
Nichtraucher und Raucher sollen besser oder anders voneinander
getrennt werden. Die Intendantin, denn das ist die Frau, fordert
irgend einen besseren Schutz vor Rauchern oder so, auch im
Namen... ich lese den Zettel:
"...seither in Gesprächen mit dem Betriebsrat, der
Frauenbeauftragten, der Schwerbehindertenvertretung sowie auch
im Arbeitskreis Betriebliche Gesundheitsförderung immer wieder
nach Wegen gesucht wurde..."
Gesundheitsförderung? Die Leute werden doch alle über 100. Die
tanzen, lachen, spielen, springen und singen doch jeden Tag, keine
Sorge bleibt zurück! Dagegen war Bhagwans Poona ein
Siechenhaus.
So sieht Sektentum aus, wird mir klar.
Später kommt sie wütend an meinen Tisch und fragt, was ich in
der Kantine zu suchen hätte. Hier kämen grundsätzlich keine
theaterfremden Leute rein!
"Kann ich mir denken..." murmele ich. Zum Glück bin ich auf
ausdrücklicher Einladung meiner kleinen Schauspielerin da. Die
bekommt natürlich jetzt Angst und verzieht sich. Ich denke: wenn
ich das später alles schreibe, hagelt es Gerichtstermine. Solche
Leute schießen immer mit Kanonen auf jegliche Art von Spatzen.
Im Namen der Raucherordnung.
Bloß schnell weg. Auf nach Hamburg, zum nächsten Blut- und
Hoden-Gig, dem Horvath-Klassiker "Zur schönen Aussicht".
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Horvath war ja nun wirklich ein ganz besonders lieber, klarer,
einfacher Mensch, ein kindliches Genie - dem wird man keine
Ferkeleien andichten können!
Man kann. Ein dicker Mann zieht sich aus, stellt sich nackt und
breitbeinig mit gezogenem Glieg vor den Kopf einer liegenden
jungen Frau, schreit sie an, sie solle seinen Pimmel in den Mund
nehmen und so weiter, steigert sich dabei in einen Schreikrampf,
das als 'verklemmt' bekannte Hamburger Publikum buht. Skandal,
Skandal. Pfui, pfui. Gewagt, gewagt. Theater muß gewagt sein.
Grenzen überschreiten, bla bla. Leider ist dieses Stück noch viel
schlechter als die anderen beiden. Die Schauspieler berserkern.
Wieder stelle ich mir den letzten deutschen Kritiker von Rang vor,
Stadelmaier, einsam gewordener Erbe von Hensel, Henrichs,
Karasek, Lessing und Ihering, wie er in seinem unbequemen
Stühlchen sitzt, und der Schauspieler ihn triumphal gönnerhaft
angeht: "Na, Sie sehen doch noch ganz intelligent aus!" Und der
Angesprochene leise, mit gesenktem Kopf, mehr für sich, wie ein
Angeklagter Freislers, murmelt: "Sie leider nicht." Woraufhin der
Mime ausrastete. Denn so war es gewesen. Die kleine
Schauspielerin hat es mir in der Kantine erzählt. Sie war dabei
gewesen.
Manchmal denke ich, es müßte bestürzend, oder komisch sein,
wenn man plötzlich keine Popmusik mehr hören könnte. Wenn sie
einfach nie mehr gespielt würde. Und alle lebenden Berufsmusiker
so täten, als habe sie es nie gegeben. Und als sei es peinlich, sie je
wieder im Radio zu bringen. Oder in einem Rockkonzert. Und
stattdessen gäbe es nur noch falsch imitierte Zwölftonmusik. Nicht
die echte von Hindemuth und so weiter, sondern beliebiges,
selbstgebasteltes Dröhnen, Ächzen und Klingeln. Und man würde
zehn, 20, 30 Jahre nur noch diesen kranken Lärm hören. Und wer
sich noch an die Strokes, die Beatles oder Tokio Hotel erinnerte,
wäre ein Spießer, ja der Feind! Und Joachim Kaiser würden sie das
Blöckchen zerreißen...
Ich wachte auf. Immer noch war ich in dem so häßlichen wie faden
Stück. Wie schön es wäre, die von Horvath angelegten Konflikte
nicht von völlig verrohten, entstellten, karikierten Menschen
ausgetragen zu sehen, sondern von echten! Wenn nicht alle
Männer Schweine und Proleten, nicht alle Frauen Schlampen wären.
103
Überhaupt diese doppelte Lüge: moderne Regisseure 'arbeiten' aus
den männlichen Rollenvorgaben immer das spezifisch deutsche und
das spezifisch männlich-gewalttätige 'heraus' und gerieren sich
dadurch als aktuell. In Wirklichkeit sind die aktuellen deutschen
Männer so weich, weibisch und unbrutal wie nie zuvor und wie kein
anderer Menschenschlag auf der Welt. Nazi-Landser mögen noch
so gewesen sein - nicht mal das glaube ich - heutige
alleinerzogene Weichei-Kids passen eher in ein Mädchenpensionat
als in eine Vergewaltigungsorgie. Somit ist nichts so weit von der
Wahrheit und der Realität entfernt wie das aktuelle moderne
Theater. Mit den letzten Weißhaar-Mumien, die das Publikum der
Häuser inzwischen bilden, kann man diesen Schindluder treiben; sie
wissen es halt nicht besser. Alle Jüngeren gehen da wie
selbstverständlich nicht hin.
Doch dann kam Armin Holz. Das Wunderkind. Er inszenierte 'Ein
idealer Gatte' von Oscar Wilde im Bochumer Schauspielhaus. Er
inszenierte es nicht als das Gleichheitszeichentheater wie alle
anderen, also nicht als plumpe Übertragung in die Gegenwart, nach
dem Motto Faust = Gerd Schröder, McBeth = Angela Merkel als
Mann, Wallenstein = Boris Becker (gespielt von einem
transsexuellen Zwillingspärchen). Sondern werktreu im Jahr 1895,
mit entsprechenden Dandy-Kostümen. Er brachte das Haus dazu,
einen VORHANG anzuschaffen und lernte sogar, wie man ihn aufund zuzieht. Es gibt bei ihm eine große Pause sowie vier Akte. Die
Schauspieler sprechen den Text von Oskar Wilde, und zwar nicht in
einer verballhornten Übersetzung Elfriede Jelineks, sondern einer
echten. Die Paradoxa werden in ihrer ausdrucksstarken Schwebe
gelassen und nicht in sexuelle Eindeutigkeiten überführt (was die
Jelinek tut). Die Schauspieler können noch sprechen, und obwohl
sie nicht nur Flüstern und Schreien, versteht man in der letzten
Reihe jedes Wort. Die Zuschauer lachen oft und freundlich, nicht
häßlich und selten wie bei den clownesken Bearbeitungen der auf
Linie gebrachten Mode-Regisseure.
Armin Holz! Er braucht keine Video-Einspielung und nicht einmal
verschnarchte 'moderne' Pink Floyd Musik. Nicht einmal das Kino.
Nicht einmal die Kunstkataloge der letzten Biennale. Ihm reicht der
Text, und er bewundert seine Schauspieler. Und die spielen so
glänzend, daß einem der Atem stockt. Sebastian Koch, bekannt
104
aus 'Speer und Er', gibt einen wunderbar verkommenen,
liebenswerten, aufregend präsenten und doch immer leisen Lord
Goring - endlich einmal Zwischentöne! - und erzwingt gerade mit
einer inneren Körperspannung (das eine Knie leicht eingezogen,
der Kopf leicht geneigt, die Schultern fallend) höchste
Aufmerksamkeit. Er macht das blendend, unser schönster TVSchauspieler, von den Frauen angeschmachtet, und wird doch von
Markus Boysen noch weit übertroffen. Boysen ist viril, unfaßbar
viril, und man hat schon ganz vergessen, dass Männlichkeit SO
aussieht, etwa wie Marcello Mastroianni in seinen ersten Filmen.
Margit Carstensen ist von einer Süßigkeit, die einen
dahinschmelzen läßt, und präsenter als Marianne Hoppe es je
werden wollte. Die größte Überraschung ist jedoch die 23jährige
Lina de Demo, die es der Carstensen gleichtut, mit 70 Jahren
weniger Bühnenerfahrung. Der Beifall brandet 13 Minuten gegen
die Bühne. Viele Zuschauer klatschen und kämpfen dabei mit den
Tränen. Wie anders dagegen das sekundenkurze Tröpfeln nach
dem Ende der Horvath-Aufführung, angezettelt von einem
semiprofessionellen Anklatscher!
Wer heute als Schauspieler noch eine Figur richtig SPIELEN will und
nicht 'dekonstruieren', muß zum Film gehen, in der Regel.
Ausnahmen wie Ostermeier und seine Berliner Schaubühne gibt es,
sind aber rar. Und kommen auch nicht ohne Kompromisse aus.
Armin Holz schon.
Seine Welt verzichtet tatsächlich auf Schweinereien? Ja ist der
Mann denn ein Tor? Ein Kitsch-Brocken? Im Gegenteil. Bei ihm
passieren die bösen Dinge da, wo sie hingehören und wo auch
Oscar Wilde sie sah, in der Börse. Die Titelfigur hat sich sein
Vermögen auf dieselbe Weise verschafft wie Esser, Zwickel und
andere Mannesmann-Vorstände, durch verbotene InsiderInformationen, und wird nun erpreßt. So gesehen ist er ein
Schwein. Aber bei Armin Holz bleiben die Figuren Menschen, und
man kann nicht anders als sie zu mögen. Und wen man mag, mit
dem zittert man mit. Eine Wendung fällt mir dazu ein, die ich seit
meiner Gymnasialzeit nicht mehr verwenden wollte oder konnte:
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so gebannt folgten
800 Menschen dem Bühnengeschehen.
Ach, hätte Stadelmaier das noch miterleben können! Der 56jährige
105
wäre zurückgeführt worden an seine Anfänge, als Theater noch
Kortner bedeutete und Cornelia Froboess als Minna von Barnhelm
in den Münchener Kammerspielen. Aber er verbarrikadiert sich
wohl besser in seiner Frankfurter Redaktionsstube. Denn die
bitterböse Raucherordnungs-Intendantin Elisabeth Schweeger hat
nun zur großen Gegenattacke geblasen. Die Süddeutsche Zeitung
schreibt unter der Überschrift 'schauspielfrankfurt wehrt sich':
"Der Skandal... geht in eine neue Runde. Nun hat sich das Theater
zur Wehr gesetzt. Man werde es 'nicht hinnehmen, dass ein
solcher bedauerlicher Vorfall wie dieser dazu genutzt wird, den
Kunstraum Theater und die künstlerische Freiheit der dort tätigen
Künstler einzuschränken' heißt es in einer Erklärung." Nun wird es
sicher noch zu vielen Solidaritätsaktionen kommen, zu
Podiumsdiskussionen, Talkshows im Fernsehen, Lichterketten und
umgedichteten Singspielen an der Berliner Volksbühne. Peymann
ist schon als erster ins Boot gesprungen, die anderen üblichen
Verdächtigen werden sich nicht lumpen lassen. Schlingensieff, so
ein Gerücht rund um den Rosa-Luxemburg-Platz, plant schon ein
cross over von Stadelmaier, Bayreuth und Vogelgrippe. Der letzte
namhafte Theaterkritiker soll dabei zum Mitspielen animiert
werden.
Es wäre der letzte Tag von 250 Jahren deutscher
Theatergeschichte.
Fußnote
Odyssee durchs Regietheater:
Diese Geschichte über das deutsche Regietheater brachte mir einen neuen Beruf ein.
Wenn ich wollte, könnte ich meinen Lebensunterhalt nun als Spezialist für Angriffe gegen
das Regietheater in Talkshows verdienen, auf Jahrzehnte. Also so lange, wie es das
Regietheater noch gibt. Sagen wir, bis zum Jahr 2030.
Ständig flattern Einladungen ins Haus, ich solle an Diskussionen über das Regietheater
teilnehmen. Denn es gibt Tausende von Vertretern des 'Betriebs', aber nur mich als
Gegner desselben. Bis auf einmal habe ich mir das natürlich erspart. Sollen die doch
weiter ihre Suppe kochen, ich habe nichts damit zu tun. Ich hatte lediglich den Auftrag,
für den SPIEGEL eine Woche lang jeden Abend ein Theaterstück zu sehen und meine
Eindrücke aufzuschreiben. Das habe ich getan, und es hat mächtig viel Spaß gemacht.
Also das Aufschreiben. Ich schreibe ja ohnehin gern. Aber hier hatte ich besonders viel
loszuwerden. Die Texte schrieben sich von selbst, so scheußlich war das Gesehene. Jeder
Satz eine Befreiung von diesem Scheiß, dieser Frechheit. Ich war einmal in der Lage,
stärker als je zuvor, Anwalt von mißhandelten Menschen zu werden. Menschen, die
einfach nur enttäuscht wurden. Nicht gefoltert, nicht vergewaltigt, nicht diskriminiert,
nicht ausgebeutet, sondern: enttäuscht. Sie waren freudig ins Theater gegangen, wie
Kinder, hatten auf den Weihnachtsmann gewartet, und stattdessen kam dann der
perverse Spanner vom zweiten Stock oder so. Statt Stoffteddys und Eisenbahnwagen
106
präsentierte er sein Glied und schrie: "Da lernt ihr mal was!". Derart belehrt und
bedröppelt schlichen sie dann raus, die armen naiven Theaterbesucher. Ich habe es
gesehen, ich war dabei. Und niemand sprach für sie. Sie waren peinlich, die Deppen,
denen man das Geld aus der Tasche gezogen hatte, 68 Euro für zwei Karten. Na, das
alles wissen wir nun, der Artikel hat ja seinen Weg gemacht. Für mich begannen die
Schwierigkeiten ganz woanders. Die Stücke auszuhalten, also als Zuschauer, hatte ja
noch einen sportlichen Reiz für mich.
Ich schaffte es tatsächlich dreimal hintereinander, das Haus nicht während der großen
Pause zu fliehen. Beim viertenmal nahm ich meinen Ressortleiter mit, um mich
abzusichern. Der Mann, den ich persönlich und inhaltlich schätzte, sollte selbst sehen,
was da passierte. Es war ein Horvath-Stück im Hamburger Deutschen Schauspielhaus,
und die Zuschauer stürzten in der Pause geradezu panikartig aus dem Theater, um nie
wiederzukommen. "Was, schon zuende?" fragte der Ressortleiter, und ich war zu kaputt,
um die Chance nicht zu nutzen. "Ja, schon zuende." Wir nahmen unsere Mäntel und
schlenderten nach draußen, der Freiheit entgegen. Dann das Sammeln der vielen
Eindrücke, es waren ja gleich mehrere Stücke in vier Städten, da durfte ich nicht
durcheinanderkommen. Und dann das Schreiben, in maximaler Länge, 25.000 Zeichen alles prima. Nicht das geringste Hindernis. Nein, das Schlimme war diesmal, dass mein
Text zu gut und zu wichtig war, um ihn wieder durch 37 neue Versionen zerstören zu
lassen. Er kam natürlich postwendend zurück. Meine Frau Barbi mußte mich trösten, was
sie aufopfernd tat. Da ich meine eigenen Texte nicht bearbeiten konnte, wollte ich
diesmal, dass wenigstens ein absoluter Top Journalist am Göttlichen kratzte. Ich rief
Wolfgang Höbel an, ein phantastischer Stilist und wunderbarer Mensch. Obwohl ich ihn
gar nicht kannte und um 23 Uhr aus dem Bett klingelte, sagte er zu und verfertigte über
Nacht die nächste Version. Morgens weckte mich irgendein Azubi aus der
Leserbriefredaktion, vielleicht war es auch meine eigene Redaktion, ich war noch zu
müde, um es genau zu erfassen, vom Dialekt her könnte es auch der Pförtner gewesen
sein: "Herräh, Herräh Lottmeier, ich hev hier dat Stück über... also die redigierte
Fassung, von de, von de... Theaterstücke un so." Ich war erfreut. Höbel hatte es
tatsächlich geschafft! Der Gute! Ein echter Star.
25.000 fremde Zeichen, einfach mal so nebenbei satzfertig gemacht. Ich sagte mit tiefer
Stimme: "Ja, es war mir ein Vergnügen. Kann ich jetzt die Fahne bekommen?" Der Typ
am anderen Ende lachte krächzend, wahrscheinlich ein starker Raucher. "Nee, junger
Mann, so geit dat nich, da müssense schon noch ma ran, nech! Da will ick ne neue
Fassung sehen bis heut mittag!" Die Mühle ging von vorne los. Ich rief wieder reihum alle
üblichen Helfen an, bis hin zu Nichte Hase. Jeder wurde involviert. Aber diesmal achtete
ich (noch) mehr als sonst auf Qualität. Mein Honorar ging vollständig dafür drauf, all die
Helfer zu bezahlen. Damals war ich noch nicht auf die rettende Idee verfallen, meinen
Verlag Kiepenheuer & Witsch mit seiner gesamten manpower für diese sinnlose Mühle
einzuspannen. Nicht zwölf Beruflektoren, sondern Teile des linken Journalismus und
fortschrittliche junge Deutsche wurden hier verheizt. Trotzdem war ich nicht verzweifelt.
Dass ein so verehrungswürdiger Mann wie Dr. Wolfgang Höbel so dreist vom Tisch
gewischt wurde, also seine Arbeit, liess in mir zwar eine Alarmglocke klingeln. Aber ich
war, ich bitte mir das zu glauben, sehr vorbereitet auf die Lage beim SPIEGEL.
Selbstverständlich kannte ich alle Vorurteile über das berühmte deutsche
Nachrichtenmagazin. Ich kannte Frauen, die einem mit aufgerissenen Angstaugen
erzählten, die 32-Stunden-Problemgeburt ihres Kindes mit Schieflage, würgender
Nabelschnur, Herzstillstand und Not-Kaiserschnitt sei angenehmer gewesen als die
Platzierung einer 20-Zeilen-Meldung in irgendeiner SPIEGEL-Rubrik. Schikane war hier
Methode, und die Methode hatte immerhin das beste Magazin der Welt hervorgebracht.
Ein paar hundert Mitarbeiter mußten leiden, aber fünf Millionen Leser wurden klüger. Ich
fand das gut, dieses Verhältnis.
Ich selbst hatte davon profitiert, vielleicht mehr als jeder andere. Meine Eltern hatten den
SPIEGEL abonniert, damals in Belgisch-Kongo, es war die Verbindung zur Heimat. Als ich
fünf Jahre alt war, betrachtete ich schon diese glänzenden Titel, ich erinnere mich genau!
Im selben Jahr gründete ich eine Zeitung, die ich meinem Bruder, der schon schreiben
konnte, diktierte. Ich malte die P olitiker-Köpfe dazu. Mit sieben schrieb ich dann auch
die Texte selbst. Bis ich zwölf wurde, kamen 275 Ausgaben zusammen. Ich wollte später
107
nie Journalist werden, wobei mein Gedankengang so aussah: Ich gehe in den
Journalismus, weil es die ökonomischte Weise ist, ins Leben vorzustoßen, aber nicht, um
Journalist zu werden - denn solange ich nicht zum SPIEGEL kann, ist Journalismus
sinnlos. Nun also war ich angelangt am Ziel. Und war ich glücklich? Raten Sie einmal. Ja,
natürlich war ich das! Ich wachte jeden Tag mit ungefähr folgendem Gedanken auf:
"Zwei Dinge habe ich gewollt im Leben, meine Frau Barbi und zum SPIEGEL zu gehen;
beides habe ich geschafft!" Dabei erfaßte mich ein kleiner Taumel, so ungeheuerlich fand
ich das, so unfaßbar kam mir dieses Glück vor. Die nun auftretenden Probleme waren
eben genau jene großen Aufgaben, die mit einem so großen Ziel verbunden waren. Sonst
könnte ja jeder zum SPIEGEL gehen. Ich mußte mir einfach Lösungen ausdenken. Eine
davon war, dass ich mich ganz offiziell mit dem Ressortleiter zum Essen traf, um ihm
mitzuteilen, daß ich eigene Texte nicht umschreiben konnte. Ich hatte ihm das immer
wieder gesagt, aber vielleicht hatte er es nie so ernst genommen, wie er es sollte.
Gesagt, getan. Wir aßen in einem schönen Fischrestaurant direkt an der Binnenalster, im
Freien.
Es war herrliches Wetter, und ich brachte äußerst gewichtig und in künstlich langsamer
Sprechweise mein Anliegen vor. Der Ressortleiter hörte es sich aufmerksam an und
schwieg. Er aß nicht mehr weiter. Eine Pause entstand. Ich hütete mich,
weiterzusprechen. Aber er sagte nichts. Er schien auch nichts Besonderes zu denken. Ich
konnte keinerlei Reaktion entdecken, sodaß ich schließlich sagte, ein Redakteur müsse
meine Texte redigieren, wie bei anderen Zeitungen. Der Ressortleiter sagte, alle seine
Redakteure seien beschäftigt, und zwar mit ihren eigenen Texten. "Dann müssen wir
sofort Peter Unfried einstellen!" schoß es aus mir hervor. Der Ressortchef sagte genauso
schnell, hocherfreut: "Schreibt der denn gut?" Ich sagte, nein, das heißt doch, aber
darum gehe es nicht, er sei eben ein REDAKTEUR, und zwar der beste, kein Autor. Der
Ressortleiter fiel in seine alte Starre zurück. Das Essen schmeckte ihm nicht mehr. Die
Tafel war aufgehoben. Wir gingen nach draußen, schnippten ein Taxi herbei und fuhren
durch Hamburg. Im Taxi hatte der Ressortleiter noch zwei Ideen. Die eine war, dass ich
doch einfach meine Texte SELBER umschreiben solle. Die zweite, ob ich nicht Lust hätte,
noch ein Video mit ihm zu sehen, in seiner Wohnung in der Armgardtstraße, mit seiner
bezaubernden Grace-Kelly-Frau. Ich glaube, er hatte bereits die Originalfassung von
"300" oder sowas. Für mich bedeutete diese
Doppelbotschaft: weiter machen, weiter leiden. Die guten und die schlechten Seiten des
SPIEGEL weiter auskosten, die entwürdigende Selbstzerstörung einerseits, auf dem Sofa
mit Grace Kelly andererseits. Ich mußte nicht darüber nachdenken.
Ich bereue nichts.
Die nächste Fassung schrieb ein hoher Funktionär der Z.I.A., was dem Leser nichts sagen
mag, sodaß ich es umständlich erklären müßte, was ich nicht will.
Die Z.I.A. (Zentrale Intelligenz Agentur) hat jedenfalls ganz hervorragende Leute, und es
war nicht billig. Dann kam wieder einer von der "taz", nicht Gerrit Bartels, denn der hatte
bereits einen anderen SPIEGEL Text umgeschrieben, und mehr als einmal konnte ich
selbst altgediente befreundete Kollegen nicht bitten, also ich weiß nicht mehr, wer. Und
so weiter. Das Seltsamste bei diesem immer gleichen Spiel war stets das Ende: Wenn die
letzte, die allerletzte Fahne, die definitiv aller-allerletzte Korrektur getan worden war,
wenn die Seite feststand, die Fotos, die Graphik, die verschiebenen Über- und
Unterschriften, wenn die Druckmaschinen bereits liefen und alle Kollegen ins
wohlverdiente Wochenende gefahren waren; wenn ich also auf der Bettkante meines
Bettes saß und still weinte über den vollständig zermatschten, totgeprügelten Text, unter
dem mein Name stehen würde, DANN ereignete sich regelmäßig ein Wunder.
Ausnahmslos jedesmal. Jemand griff ein. Es mußte einen heimlichen Redakteur beim
SPIEGEL geben. Einen, den keiner kannte, der selbst nicht schrieb, der nur für die
Autoren da war. Rudolf Augstein? War das SO unvorstellbar? Auch wenn man kein
bißchen an Geister glaubte, so war es nicht völlig abwegig anzunehmen, dass ein
kraftvoller intellektueller Geist wie der Rudolf Augsteins auch nach seinem Tod noch ein
bißchen im Haus weiterwirkte. Solche Phänomene GAB ES. Die Wissenschaft hatte solche
Fälle durchaus bestätigt. Außerdem lag der Tod noch nicht lange zurück, und ich selbst
war bei der Beerdigung dabei gewesen. Ich stand wenige Meter neben dem Sarg, als
Franziska ihre Rede über den Löwen hielt, und ich hatte geweint. Alles Dinge, die
108
womöglich einen Einfluß hatten, später, also jetzt. Zum anderen wußte ich zu wenig über
die Vorgänge in der Chefredaktion.
Wahrscheinlich gab es noch eine weitere letzte Instanz, die zwischen Redaktionsspitze
und Printbefehl lag, von der weder ich noch mein ganzes Ressort wußte.
Irgendein letzter Über-Chef, der das fertige Heft in die Hand nahm, meinen verkorksten
Artikel las, und blitzschnell korrigierte. Und zwar in allen Punkten. Kein Buchstabe blieb
auf dem anderen. Es entstand ein Text, der mit meinem Schlußtext absolut gar nichts zu
tun hatte, der aber ungefähr so gut war wie die Originalfassung. Sogar die Musikalität
meiner Sprache war wieder ein bißchen da, so als hätte der große unbekannte Retter
(Stefan Aust?) ein bißchen "Mai, Juni, Juli" gelesen, um sich zu inspirieren. Franz Kafka
hätte, wäre er beim SPIEGEL gewesen, nicht mehr weitergeschrieben; alle seine
Phantasien waren bereits verwirklicht.
Der Artikel erschien und löste innerhalb wie außerhalb des SPIEGEL ein Beben aus. In der
Redaktionskonferenz erhoben sich nun endlich alle meine Gegner ganz offen. Lothar
Gorris nannte mich vor versammelter Mannschaft und im Tonfall alter Schauprozesse
einen "Reaktionär". Das war natürlich schön, dass ich nun im Haus so bekannt wurde.
Offenbar hatte ich "in ein Wespennest gestochen"
(Johannes Erasmus), als ich die Theaterszene als einen Staat im Staate beschrieb, ein
von der Gesellschaft isoliertes Biotop. Natürlich dachte wieder alle Welt, ich sei ein
Provokateur. Das Theaterpublikum dachte das nicht. Ich bekam tonnenweise Post von
dankbaren ehemaligen Theaterfreunden, denen man ihr Liebstes genommen hatte. Und
ich hatte auch wirklich ein eigenes Anliegen. Ich war nämlich selbst ein ehemaliger
Theaterfreund. Als Student hatte ich keine Inszenierung versäumt, war süchtig gewesen
nach Strindberg, Ibsen, Tschechov, Goethe, Lessing und so weiter. Minna von Barnhelm
hatte ich im Laufe der Jahre in acht Inszenierungen gesehen, ich konnte die Dialoge
mitsummen wie die Fans von Tokio Hotel deren Refrains. Die Minna als Death Metal
Schlampe, die auf der Bühne ihre Tage bekommt und von einer Jopi Heesters Puppe von
hinten genommen wird, während Wagnermusik aus Stukas ertönt, hat mir übrigens
AUCH gefallen. Ich geniesse Schlingensieff wie kein zweites Kulturprodukt. In der
Zerstörung liegt durchaus viel Schönes. Deshalb kam es mir in meinem Artikel vor allem
darauf an, den fehlenden Ausdruck des Regietheaters zu zeigen. Ausduck heißt, dass
ETWAS ausgedrückt wird. Solange eine Inszenierung den Stoff des Autors ausdrückt, ist
sie legitim. Und sogar, wenn sie, wie bei Schlingensieff, die Visionen des Regisseurs
ausdrückt. Und jedes Mittel ist da recht. Nur tat das moderne Regietheater genau das
nicht. Die Mittel hatten keinen Bezug, zu nichts und niemand. Die Mittel drückten sich
selbst aus. Herabregnende Luftballons standen für herabregnende Luftballons. Die Stücke
waren eine sinnlose Nummernrevue von 'originellen' Effekten. Als ich im Fernsehen
gefragt wurde, was ich denn gegen das Theater hätte, sagte ich: "Das ist kein Theater."
Im Artikel kam mein Anliegen nur begrenzt rüber. Man hatte mir die schöne Klarheit
meiner Absicht natürlich weggestrichen. Dafür galt ich nun wieder als 'bad guy', der sich
einen zynischen Spaß daraus macht, den ollen Ritter mit dem Pappschwert
zurückzufordern. Zumindest im SPIEGEL selbst schlug mir nun blanker Haß entgegen. In
vielen Gesichtern stand der Gedanke geschrieben: "Du bist böse! Du stehst für das große
roll back! Du willst uns in die 50er Jahre zurückschreiben, und zwar aus reiner,
irrationaler Perfidie!" Es war daher nicht schlecht, dass der Ressortleiter mir jeden
Morgen ungefragt mitteilte, der gesamten Chefredaktion habe mein Text sehr gefallen. Er
wiederholte das wie ein Mantra. Er sagte manchmal auch noch, ich gehörte nun dazu. Es
kam mir vor, als hätte ich eine Mutprobe bestanden. War es möglich, dass die
Chefredaktion einen großen Teil ihrer Redakteure als Ideologen mit Brett vor dem Kopf
erachtete?
Dass ihr angst und bange war vor diesen Kultur-Mullahs, die sich von den Lesern und
deren Leben entfernt hatten? Oder wollte mich nur der Ressortleiter trösten?
Zwei Wochen später stand ein weiterer Artikel über das moderne Regietheater im Blatt.
Noch länger als meiner, und mit genau der gegenteiligen Tendenz.
Dieser Schritt sollte demonstrieren, dass der SPIEGEL nicht 'reaktionär' geworden war.
Die Idee fand ich gut, denn ich war immer für die Streitkultur. Es sollte viele, möglichst
radikale Meinungen in einer Zeitung geben, wie in den Zeitungen in Israel. Das säuselnde
Konsensgelaber der ZEIT war mir schon als Gymnasiast auf die Nerven gegangen.
109
Jedenfalls kochte daraufhin das Thema erneut hoch. Es kam wochenlang zu endlosen
Leserbriefseiten im SPIEGEL. Das ZDF rief an, der WDR, andere Zeitschriften zogen nach.
Ich hätte, wie gesagt, jeden zweiten Abend für 500 Euro Tagesgabe in Veranstaltungen
zum Thema auftreten können.
Aber ich hatte anderes im Sinn; der nächste SPIEGEL Artikel mußte geschrieben werden.
Denn plötzlich wollte die Chefredaktion - so sagte man mir - große
Aufgaben an mich herantragen.
21. Singlekultur Berlin-Mitte oder das Buch „Liebe heute“ von
Maxim Biller
Maxim Biller, den immer noch so viele mit seiner legendären Kolumne
“Hundert Zeilen Hass” verbinden, also mit Hass, hat ein Buch über die
Liebe geschrieben. Es macht ihm übrigens nichts aus, das alte, über 20
Jahre alte Hass-Image: “Man kann von den Menschen nicht verlangen,
sich von einem Autor mehr zu merken als ein einziges Buch. Das ist schon
sehr viel. Bei mir ist es halt das Destruktive geworden. Nichts ist dümmer,
als ein Schauspieler, der sagt ‘Ich will mein Image ändern’. Soll er doch
froh sein, dass er eins hat!”
Wir stehen unten vor seiner Tür in Berlin Mitte, ich, er, dazu ein Mädchen
mit einem Kinderhandy vorm Gesicht, mit dem sie uns filmt. Er bohrt mit
dem nackten Zeigefinger in ihre Richtung:
“Was soll das? Was macht die Frau da? Das ist gegen die Absprache!”
“Ach, das ist nichts. Sie macht was für meinen Blog in der Netzeitung.”
Er geht kurz in die Wohnung zurück, kommt gleich wieder, wütend:
“Du hast keinen Blog in der Netzeitung!”
Er muß blitzschnell beim Computer gewesen sein. Richtig, der Blog wird
erst eingerichtet. Aber warum bringt er mich in Verlegenheit? Das
Mädchen ist ein Traum. Jeder, der Frauen nicht gerade hasst, wäre froh,
von ihr gefilmt zu werden. Ist er also doch der alte Hassbolzen geblieben?
Was ist denn nun mit dem Buch über die Liebe? Schon wieder vergessen?
Übrigens hatte ich sie spontan mitgenommen. Minuten vorher, in der Bar
103, hatte sie mich angesprochen. Sie hatte mich interviewen wollen. Das
Leben konnte ja so spontan sein. Ich sagte also:
“Sei doch mal spontan, Maxim.”
“Spontan?! Das geht nicht. Das muß genehmigt werden. Und zwar vorher.
Schriftlich!”
“Ganz professionell.”
“Genau! Dafür gibt es zuständige Stellen.”
“Lange im voraus. In dreifacher Ausfertigung.”
“Was?”
“Alles muß seine Ordnung haben!”
“Ja, natürlich!”
“Mein Gott, bist du deutsch, Maxim!”
Er hielt kurz inne, besann sich, und liess sie weiterfilmen. Man konnte ihn
zu ALLEM bringen, wenn man sagte, das Gegenteil sei deutsch. Wir
stiegen in das Auto, ein wenig gefahrener Wartburg Tourist, praktisch
110
neuwertig. Biller sah endlich die Frau an. Sein Gesicht riß auf. Die Sonne
brach durch die Wolkendecke. Der Wagen schoß nach vorn, Richtung
Westen. Wir wollten in einem alten jüdischen Spezialgeschäft in
Charlottenburg Handschuhe für ihn kaufen. Der linke Handschuh wurde
vom Ladenbesitzer, der rechte von seiner Frau genäht - so machten sie
das seit 1927 und in der dritten Generation. Sie hatten nur sieben
Kunden, aber aus fünf Kontinenten.
Als typischer Mitte-Bewohner kam man praktisch nie ins alte, muffige
Westberlin. Da gingen die Uhren anders, die Leute hingen noch an
Diepgen, trauerten dem Kalten Krieg nach, waren hoffnungslos veraltet es war nicht schön. Biller war sicher froh, geschützt im schicken Ostauto
durch dieses Elend schlüpfen zu dürfen, unbehelligt und geräuschlos. Am
Savignyplatz entdeckte er die “Autorenbuchhandlung” und befahl zu
halten:
“Das ist die berühmteste Buchhandlung Deutschlands… das ist
Shakespeare and Company in Berlin!”
Zwei etwas ältere Mädchen öffneten uns und verstanden sich sofort ganz
gut mit dem etwas jüngeren Mädchen aus unserer Mitte. Fräulein von
Kieseritzky und ihre liebenswerte Nichte leiteten den Laden seit der ersten
Ligislaturperiode Willy Brandts. Für sie war er immer noch Regierender
Bürgermeister. Wir bekamen Tee und köstliche selbstgebackene Kekse,
setzten uns und begannen zu diskutieren. Über diverse notwendige
Umwege - Philipp Roth, Rainald Goetz, Henryk M. Broder - kamen wir auf
Maxims neues Buch.
“Philipp Roth hat mich nie berührt. Rainald Goetz gilt ja als neuer Hölderlin
und wird oft mit mir verglichen. Da sagen die Leute, wir schrieben beide
so hart. Ich finde das gar nicht. Goetz schreibt, man solle der
Familienministerin ins Gesicht kotzen. So einen scheußlichen Satz würde
ich nie schreiben. Er macht das seit Urzeiten so. Man solle Reagan ins
Gesicht schießen…”
“…man solle Joachim Lottmanns Schriften verbrennen…”
“…ja, burn, Berlin, burn…”
“Stimmt, er ist der deutscheste aller Schriftsteller, deutscher als Nietzsche
und Hölderlin zusammen.”
Sein neuer Blog in ‘Vanity Fair’ war tatsächlich nicht von Pappe. Auf jeden
Fall völlig humorfrei. Biller rollte die Augen:
“Und immer mit dieser militärischen Sprache, mit Granaten, Offizieren und
so weiter. Die Leute, die das nicht selbst trifft, finden das toll. Ich nenne
das linksnational. Henryk M. Broder dagegen, der Spaß versteht, der nie
so gewalttriefend-dumpf und deutschromantisch daherkommt wie Goetz,
gilt den Linksnationalen als ‘Reaktionär’…”
“A propos, wir wollten doch über die Liebe sprechen!”
Sein Blick huschte flackernd über die 22jährige Kamerafrau. Dann sah er
mich an:
“Ja?”
“Ein kluger Kopf hat kürzlich geschrieben - ich glaube, es war in dem
Roman ‘Zombie Nation’ - der Kampf zwischen Mann und Frau sei der
wahre Irakkrieg unserer Epoche. Siehst Du das auch so in ‘Liebe heute’?”
111
“Das genaue Zitat mit dem Irakkrieg lautet übrigens anders, nämlich ‘Was
Frauen den Männern antun, ist der eigentliche Irakkrieg’ und so weiter.
Und natürlich ist das so. 95 Prozent der Männer in meinem Freundeskreis
sagen, dass sie von ihrer Frau kontrolliert werden.”
“Furchtbar.”
“Ich erlebe es doch selbst, dass ein Mann abends von seiner Frau fünfmal
angerufen wird, wo er gerade sei und was er mache.”
“Sowas kann ja auch liebevoll sein.”
“Unsinn. Unterdrücken tun die Frauen sowieso. Das wäre aber nichts
Neues. Schon das Patriarchat war doch nichts anderes als die permanente
und aussichtslose Revolution gegen das Matriarchat, das immer schon da
war und auch dann noch da sein wird, wenn der letzte Tag gekommen
ist.”
“Frauen sind omnipotent?”
“Ich hasse das ganze Mann-Frau-Thema. Natürlich haben Frauen auch
Angst, nämlich Verlustangst. Ihre Angst, den Partner zu verlieren, ist
geradezu allesbestimmend.”
“Warum dann das promiske Verhalten, das…”
“Bitte! Das Thema ist unter meinem Niveau.
“Entschuldige. Das verstehe ich. Manchmal träume ich selbst davon, eines
morgens aufzuwachen, und das leidige Mann-Frau-Thema sei nicht mehr
da. Der Herrgott selbst hätte ein Einsehen gehabt und es aus der Welt
genommen.”
Biller atmete auf. Es sei viel besser, sich mit der Liebe zu beschäftigen.
Über die könne man bekanntlich nicht reden. Aber man könne sie poetisch
ausdrücken, in einem Buch wie ‘Liebe heute’.
Wir liessen uns unsere eigenen Romane kommen und signierten sie. Von
ihm gab es fünf, von mir einen. Die ältlichen Mädchen waren gerührt, das
junge filmte und filmte, immer mit dem Kinderhandy. Zwölf Millionen
Pixel, das ergab später einen Film in Cinemascope und Superbreitwand.
Wir schmökerten durch die Bücherwände.
“Was ist Dein Lieblingsroman?”
“‘Mein Leben als Sohn’ von Philipp Roth”, sagte Maxim Biller, der vorhin
gesagt hatte, Philipp Roth berühre ihn nicht.
Ich votierte für ‘Senilità’ von Italo Svevo. Das Mädchen kaufte ‘Die Gärten
der Finzi-Contini’ von Giorgio Bassani, schrieb etwas hinein und schenkte
es mir. Ihr Vater hatte das Buch ins Deutsche übersetzt. Sie war in
Bergamo aufgewachsen. Das ist eine Stadt 50 Kilometer nordöstlich von
Mailand, die früher sehr schön gewesen war, bis sie 452 von Attila
eingenommen und geplündert wurde. Ich sah nach dem Namen des
Übersetzers. Diese junge Frau war also ein Vatertöchterchen, was eine
Entsprechung für die Milliarden von Muttersöhnchen war, die die westliche
Welt neuerdings überschwemmten. Überall wurde alleinerzogen, aber
nicht alle Erzieher waren Frauen. Billers Buch reagierte auf diese neue
Welt(un)ordnung, aber auf recht eigene Weise.
Vielleicht kann man es so ausdrücken: Die quasifeministische Sicht der
Dinge war Gemeingut geworden, und zwar in einer natürlichen,
authentischen, nicht mehr bewußten Weise. Männliche und weibliche
112
Autoren schrieben feministisch, ohne zu ahnen, dass sie es taten. Für sie
war das, was sie schrieben, ganz einfach Realismus. Frauen, die noch
bewußt feministisch schrieben, und ebenso die paar Männer, die sich
bewußt dagegen wehrten, waren verkrampft und somit unbeliebt. Ganz zu
recht! Denn wahre Posie muß ganz und gar aus dem Unbewußten
kommen. Doch nun zu Biller: Er ist der einzige Mann, der unbewußt
antifeministisch schreibt. Also wunderschön.
Bei ihm ist der Mann noch ganz selbstverständlich der Herr der
Schöpfung. In epischer Ruhe liegt die Welt vor ihm, und die Frau dazu.
Frauen sind Teil dieser Natur, die er sich Untertan zu machen hat, Gottes
Auftrag gemäß. Elegische, fremde, schöne Dinge sind das, ein wenig
versaut, aber so hat er es gern. Nichts verbindet ihn wirklich mit ihnen,
nichts Persönliches jedenfalls. Undenkbar, dass ihm einmal ein nettes
Wort entschlüpfte. Aber umgekehrt kommt ja auch keines. Der Sex ist
immer stumm, wie der von anderen Säugetieren. Und zwischen den
Orgasmen hat man sich auch bestenfalls Lakonisches zu sagen. So habe
ich mir früher die Liebesspiele zwischen Humphrey Bogart und Lauren
Bacall vorgestellt.
Das soll bitte nicht ironisch klingen. Ich meine es ernst, wenn ich seine
Prosa schön nenne. Es ist ein Wunder, dass heute jemand so schreiben
kann. Billers Sprache ist eine Melodie, die einen anweht, als lebte Albert
Camus noch, als schriebe Gottfried Benn plötzlich short stories, als klopfte
der Existentialismus aus seinem Grab zu uns herüber. Ich sehe Marcello
Mastroianni in Algerien, wie er sich bei Dreharbeiten zu ‘Der Fremde’ eine
schwarze französische Zigarette anzündet. Zudem, das muß auch noch
gesagt werden (soviel Germanistik muß sein): Biller ist ein großer
Erzähler. In Sachen Erzähltechnik spielt er alle an die Wand. Oft beginnen
seine Geschichten klein, bleiben klein, kommen nicht vom Fleck, ganze
Jahre vergehen, halbe Leben, bis plötzlich etwas explodiert und die Story
ausbricht wie ein Weltkrieg. Wie im wirklichen Leben. Oder wie in einem
Champions League Spiel des FC Bayern München. Deswegen kommen
einem auch nie Zweifel an dem Autor. Seine Wirkung auf den Leser ist
beträchtlich.
Er denkt, er schriebe ganz simpel und realistisch von der Wahrheit. Er
denkt, die Frauen seien eben so, wie er sie erlebt und beschreibt. Und sie
seien immer schon so gewesen. Und das wisse ja auch jeder, und dagegen
habe doch niemand etwas. Eherne Gesetze! Der Apfel fällt von oben nach
unten. Im Winter ist es draußen kälter als drinnen. Frauen sind
durchtrieben und bösartig. Männer sind die besseren Menschen. Frauen
sind mehr oder weniger triebgesteuerte Teufel. Pardon, das sagt der Autor
natürlich nicht direkt, noch weniger DENKT er es. Er fühlt es nur. Genau
so, wie das Heer unserer quasifeministischen Mainstream AutorInnen das
Gegenteil fühlt. Man schlage auf, wo man wolle, von mir aus sogar bei den
großen Meistern, bei Judith Hermann etwa: alle männlichen Figuren
erscheinen (oder versumpfen) im Kontext der Niedertracht, des
Negativen, des Charakterlosen, während alle Frauenspersonen bis hin zur
letzten Nebenfigur eingesponnen sind in Adjektiva des Schönen,
Geheimnisvollen, Lichthaften, Kernig-Solidarischen und Humanen. Die
113
Frauen sind ganz Mensch, die Männer nur Ochsen. Bei Biller sind wir
Männer von unfaßbarer Humanität und Humorkraft, die Frau ist DIE
BITCH.
Das könnte ich nun verurteilen, aber mir gefällt es, das nicht zu tun.
Solange es die Monströsität des quasifeministischen Mainstreams gibt,
finde ich es klasse, dass diese Schweinerei einmal von der anderen Seite
gespiegelt wird, und zwar genauso naiv und unschuldig. Ja, und ich denke
dabei an unsere armen männlichen Mitbürger im Kindesalter, die bereits
heute um ein Drittel schlechter in der Schule sind als ihre Mitschülerinnen.
Die auf allen Feldern hinterher hinken, selbst in Mathe und Physik, Sport
und Lesen. Die sich schlechter konzentrieren können und öfter bettnässen.
Die ausschliesslich in Frauenwelten und mit Frauenweltbildern
aufwachsen. Die, mit einem Wort, benachteiligt sind.
Nicht für sie, aber für ihre ausgesperrten Väter, ist ‘Liebe heute’ ein gutes
Buch. Wenn es nur leichter wäre, mit Maxim darüber zu sprechen! Wir
verlassen die Buchhandlung und suchen das Auto. An der
Winschutzscheibe klebt ein Strafmandat. Aus Billers schönem Larry David
Gesicht weicht jede Farbe. Ich spüre, wie er einige Sekunden bebt, ehe er
Worte findet:
“Warum hast du nicht die ordnungsgemäße Parkgebühr entrichtet?! Nun
sind wir straffällig geworden! Ich finde das unmöglich!”
“Aber ich HABE doch ein Ticket gezogen, da beim Ticketautomaten.”
“Aber Du hast die Zeit überschritten!”
“Um ZWEI Minuten.”
“Na und?! Da gehts ums Prinzip!”
Er war außer sich. Der verdrängte Deutsche brach wieder durch. Ich hielt
lieber den Mund und trat aufs Gaspedal. Ich überlegte. ‘Liebe heute’
begann schon auf der ersten Seite, die ich aufschlug, praktisch mit dem
ersten Satz, mit einer Fünfjährigen, die einen Vierjährigen bei der Lehrerin
verpetzt und grausam bestrafen läßt. Für einen Marmeladenklau, den
nicht er, sondern sie begangen hat. Einen Absatz später zwingt die
inzwischen Neunjährige den Achtjährigen gewaltsam zum Voyeurismus in
der Umkleidekabine der Badeanstalt. Mit zwölf und dreizehn kommt es
dann knüppeldick… das Stichwort Pornogaphie fällt mir reflexhaft ein.
“Maxim, wie steht Dein Buch eigentlich zur allgemeinen
Pornographisierung aller Lebensbereiche, wie sie in Ariadne von Schirachs
Schocker ‘Tanz um die Lust’ geschildert wird?”
“Mich interessiert das alles nicht.”
Das alles. Nicht. Überhaupt nicht. Niemals. Maxims Frauenbild kommt aus
einer anderen Welt. Wir fahren zum KaDeWe, und diesmal zwingt uns
Maxim Biller mit harter Hand, ein offizielles öffentliches Parkhaus
anzusteuern. Damit das Kraftfahrzeug ordnungsgerecht verbracht werden
kann. Ich löse eine komplizierte Chipkarte, gebe ein Passwort ein und eine
sechsstellige PIN-Zahl, lasse Kfz-Schein und Personalausweis scannen. Wir
fahren in den siebenten Stock des KaDeWe und setzen uns ins gemütliche
‘le buffet’ im Wintergarten. Nun reden wir über deutsch-jüdische Themen,
also vor allem über seine Emigration nach Israel. In ‘Tempo’ hatte er diese
bekannt gegeben und begründet. Er erträgt es nicht länger, dieses unser
114
Land, wo Grönemeyers ‘Zwölf’ aus alles Ritzen knödelt wie deutsche
Gemüts-Ursuppe, und wo selbst der früher so talentierte Kracht sein
neues Buch mit germanischen Runen bedrucken läßt. Und Götz eben. Wir
nicken betroffen. Die Beispiele nehmen kein Ende. Wir sprechen über den
neuen Blog von Matthias Matussek auf Spiegel Online, sogar positiv. Dabei
kriegt er endlich die Kurve:
“Trotz alledem, meine Freunde: Die Bilder sind das eine, die Welt das
andere. Das war immer so. In der Vorstellung der Menschen ist Israel ein
Land, in dem man alle drei Stunden eine Bombenexplosion erlebt. Wenn
man dann aber WIRKLICH da ist, ist es das schönste Urlaubsland der
Welt. Oder damals die Sache im August 1914: Alle Menschen hatten
großartige Kriegsbilder im Kopf und jubelten. Drei Monate später, im
Schützengraben, war sie dann ganz anders, die Wirklichkeit. Und so ist es
auch mit der Pornographie und der Liebe. ALLE haben diese Sexbilder im
Kopf und reden darüber, schreiben diese unsäglichen Bücher über
Pornographie und so weiter. Wenn sie dann aber mit einer Frau im Bett
liegen, ist es vollkommen anders. Dann ist es plötzlich Liebe.”
Liebe heute sozusagen.
22 Christian Klar und ich: zweimal R.A.F.
Henryk M. Broder schrieb unlängst hier im SPIEGEL, den Deutschen
sei Adolf Hitler inzwischen unsagbar peinlich. Deswegen reagierten
sie auf den Hitler-Film mit Helge Schneider verhalten bis gar nicht.
Der Film floppte an der Kinokasse. Wie kann man über etwas
lachen, das einfach nur daneben ist? Wie konnten unsere
Vorfahren auf so einen lächerlichen Mann stehen? Und mit den
anderen beiden deutschen Grusel-Evergreens, Stasi und RAF, ist es
ähnlich. Dass die ganze DDR heute nur noch kopfschüttelnd als
großes Absurdistan abgetan wird, versteht sich von selbst. Aber
wie ist es mit der Baader-Meinhof-Bande? In einer Zeit, in der
täglich tausende von Selbstmordattentätern, Schläfern, Heiligen
Kriegern und so weiter für ihren kurzen öffentlichen Auftritt
trainieren, schrumpfen unsere paar Hanseln von der Roten Armee
Fraktion zu einer nicht mehr kulttauglichen Mini-Gefahr.
Natürlich haben das all die Filmproduzenten und Medienleute noch
nicht begriffen. Sie glauben weiter an den Kultfaktor von Andreas
Baader, denken dabei an Che Guevara, machen Filme, drucken TShirts, das Fernsehen lässt Doku-Serien drehen, Guido Knopp hofft
wahrscheinlich auf neuen Stoff nach dem Ende des Hitler-Themas:
"Baaders Frauen - deutsche Terroristinnen im Schatten des
115
Bösen", oder "Helfer des Terrors - deutsche Männer im Banne
Ulrike Meinhofs". Aber das wird nichts werden.
Von den drei Terrorphänomenen ist der RAF-Spuk das einzige, das
die meisten heute lebenden Westdeutschen selbst miterlebt - oder
irgendwie mitgekriegt - haben. Es gibt hierfür ein nicht nur
kollektives, sondern auch eigenes Gedächtnis. Man kann einem das
nicht andrehen wie die Kaiserkrönung Karls des Großen oder das
Bauernlegen Stalins. Wir waren dabei. Ich zumindest. Und es ist mir
peinlich. Es war mir IMMER peinlich. Räuber und Gendarm spielen im
Erwachsenenalter!
Auch die hirnverbranntesten Durchhalteparolen der Nazis kurz vor
Kriegsende ("Die Wunderwaffen bringen die Wende! Der Führer hat
den Glauben noch immer nicht verloren!") hatten objektiv mehr
Realitätsgehalt als der Kampf "der Sechs gegen die 60 Millionen".
Wir hatten alle den Film "Bonnie and Clyde" gesehen und wußten,
wie das endet. Ich mochte übrigens auch den Film schon nicht. So
wenig wie all die Remakes, bis hin zur feministischen Variante mit
Susan Sarandon und Gena Davies. Was soll immer dieser Irrsinn?
Mit einer Handvoll Leute gegen Millionen von Staatsdienern
anrennen - nein Danke. Außerdem mochte ich unseren Staat. Ich
mochte Deutschland. Ich fand es toll, wie alles funktionierte. Und
wie klug und gebildet alle waren. Auf meinen Tramp- und
Interrailreisen durch die Welt hatte ich als Teenager auch anderes
gesehen. Ich liebte Werner Höfers Frühschoppen und die
Bundestagsübertragungen im Fernsehen. Natürlich war ich Linker,
aber nur, weil der Geist nun einmal links stand. Bei den Rechten
gab es keinen Geist. Das war so. Ich war in die CDU Hamburg
eingetreten und noch während der ersten Versammlung
luftschnappend wieder rausgelaufen. Was für ein Pack! Mit denen
konnte man sich nicht an einen Tisch setzen, als edler Mensch. Die
Genossen in der Basisgruppe waren da wahrlich feiner. Von der
Basisgruppe ging ich zum marxistischen Studentenbund und von
da zu einer Jugendgruppe, die einer K-Gruppe angeschlossen war.
Irgendwann war die Jugend zuende und ich trat in die SPD ein. Ich
hatte aber, noch minderjährig, geheiratet. Und meine Frau, bei der
Hochzeit 16, nun 20 Jahre alt, war noch nicht soweit. Sie war
noch nicht bei der SPD. Sondern gerade in der Anarcho-Phase, als
der sogenannte Deutsche Herbst losbrach.
116
Und, ich muß es gestehen, es gab Gleichaltrige, die immerhin
fasziniert waren von dem Thema. Leute, die heutzutage bei
ATTAC wären. Der Grund, warum junge Leute marxistischökonomisch und international denken, ist immer der gleiche: der
Marxismus erklärt, wie die Welt funktioniert. Das will man einfach
wissen, wenn man ein Gehirn hat. Danach kann man Rechtsanwalt,
Politiker, Zahnarzt werden, oder Autor. Man muß danach nicht
Selbstmord machen, mit einer Bombe im Rucksack. Das hat Marx
nicht gewollt.
Doch zum Thema. Diese jungen Leute trafen sich immer im
Hinterzimmer eines Lokals mit meiner Frau und steckten die Köpfe
zusammen. Ganz erhitzt kam sie immer zurück. Ihr großes Wort
war damals "Anarchismus". Wir lebten in einer zeittypischen
Doppel-Wohngemeinschaft mit Diedrich Diederichsen und seiner
Frau. Die aber, die stadtbekannt kluge Nicola ("Nici") Diederichsen,
war älter als er und stand bereits turmhoch über den R.A.F.Kindereien. Sie interessierte sich für Literatur und arbeitete für
Uwe Nettelbecks Zeitung 'Die Republik'.
Im Fernsehen verfolgten wir die Schleyer-Entführung. Wir sahen
damals viel fern, waren ohnehin mediensüchtig, und besprachen
immer alles. Da wir in zwei Wohnungen lebten, telefonierten wir
auch viel. Das Ortsgespräch (*) war nach der ersten Einheit
kostenlos. Diederichsen und ich sprachen geschätzt vier Stunden
pro Tag, die meisten davon am Telefon. Ich war dazu
übergegangen, mir den Hörer mit einer speziellen Apparatur an
den Kopf zu binden. Natürlich fanden wir den deutschen Herbst
ganz besonders aufregend. Dennoch interessierte uns schon
damals Literatur mehr: Benn, Jünger, Hamsun, Céline, Pound waren
unsere Helden, und Thomas Mann aus "Ansichten eines
Unpolitischen". Wir erwogen, Reitunterricht zu nehmen und
nachträglich der Bundeswehr beizutreten. Ich sprach mit meiner
Frau nicht ein einzigesmal über ihren Anarchismus und hoffte
inständig, diese pubertäre Phase möge sich bald in Nichts
auflösen, so wie die blöden MAD- und Titanic-Hefte auf dem
Gemeinschaftsklo.
Doch - weit gefehlt. Eines Tages klingelte die Polizei und führte
meine Frau ab. Sechs Beamte durchsuchten die Wohnung nach
weiteren Frauen. Ich hatte aber nur die eine (damals). Dann wurde
117
sie eingesperrt. Im Fernsehen fiel zum erstenmal mein Name. Die
Kamera zoomte auf ein Klingelschild, und auf dem stand dieser
mein guter Name! Es war das sogenannte Volksgefängnis, in dem
Hanns-Martin Schleyer gefangen gehalten worden war. Ich war nur
froh, dass sie ihn nicht auch mit meinem Volkswagen Käfer
herumgefahren hatten. Seltsam, dass sie nicht mich, sondern
meine Frau verhaftet hatten. Die Beamten kamen noch ein
zweitesmal, und sie waren wieder sehr höflich, durchsuchten
nochmal alles, aber immer mit "bitte" und "danke" und ganz
unsicher. Ich hatte nicht eine Sekunde Angst, sie könnten
naheliegenderweise MICH suchen. Nein, das war unser Staat. Mein
Staat. Dieselben Leute, die mir immer den Weg gezeigt hatten,
wenn ich mich als Kind verlaufen hatte (ich habe eine
Orientierungsstörung). Meine Frau wurde bald wieder entlassen, ich
glaube schon nach einer Nacht, und wirkte nicht wirklich
traumatisiert. Sie empörte sich abstrakt darüber, DASS sie
verhaftet wurde, aber nicht über das Erlebte selbst. Das muß wohl
halbwegs überlebbar, wenn nicht sogar moderat gewesen sein.
Wahrscheinlich wieder mit "Bitte" und "Danke" und Einzelkabine
und Fernseher und "Es tut uns so leid, gnädige Frau". Ich wußte
doch, wie sie einmal ausgetickt war, als wir in einer häßlichen
Jugendherberge übernachten mußten.
Wir lebten alle weiter wie zuvor. Immer häufiger wurde das
Klingelschild mit meinem Namen gezeigt. So häufig wie der Audi
mit dem offenen Kofferraum, der dicke Mann mit den Schmissen
im Gesicht und dem R.A.F.-Pappschild hinter ihm, die
Fahndungsfotos von Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Es
fehlte bei keiner Berichterstattung über Terrorismus in
Deutschland. Endlich kam die Aufklärung. Wieder kam die Polizei,
zwei unsichere Endvierziger, Mütze in der Hand, die andere an der
Hosennaht. Ja, pardon, räusper, also wir seien fünf Wochen lang
abgehört worden. Das würde uns aber noch schriftlich mitgeteilt
werden. Und natürlich stehe uns Schadensersatz zu.
Schadensersatz?!
Ja, natürlich, und das Formular hätten sie gleich mitgebracht. Für
den Antrag dazu.
Wir verzichteten dankend. Sie hatten also fünf Wochen lang
täglich geschätzte vier Stunden die überkandidelten Gespräche
118
zwischen Diederichsen und dem jungen Lottmann mitgeschnitten,
sauber abgetippt und analysiert. Deswegen wußten sie auch
tausendprozentig, dass die ganze WG nichts mit dem Terrorismus
zu tun hatte. Die RAF hatte diese 'Volksgefängnis' genannte
Wohnung zwar auf den Namen meiner Frau angemeldet - daher
das 'Lottmann' - aber nur mit Hilfe ihres gestohlenen
Personalausweises. Den hatten ihr brutalere Anhänger der
Bewegung bei einer der vielen bierseligen Anarcho-Féten wohl
stiebitzt.
Mir fuhr nicht einmal nachträglich der Schreck in die Glieder. Ein
Staat ohne diese peniblen Geheimdienste hätte uns bis an unser
Lebensende verdächtigt, sozusagen zu recht. Denn sprach nicht
sehr viel gegen uns? Ein Staat wie die USA hätte uns jahrelang
eingesperrt, wie Kurnaz, und ich könnte noch heute kein Flugzeug
besteigen, nicht einmal nach Rimini oder zurück nach Hamburg.
Aber so erfuhr ich im Wortsinne hautnah, dass der Rechtsstaat vor
allem für die Unschuldigen da ist. Nur eine Nacht lag meine liebe
Frau nicht neben mir, die, es soll nicht unerwähnt bleiben, nie in
die SPD eintrat. Sondern in die CDU.
Es kamen die 80er Jahre, dann die Wiedervereinigung, und das
Thema Baader-Meinhof verschwand aus dem Blickfeld wie jedes
andere 70er Jahre Thema, etwa der Neue-Heimat-Skandal. Es war
tiefste, muffigste Vergangenheit. Rainald Goetz war der erste, der
den Kult-Faktor ausgrub, oder es versuchte. Er schrieb den Roman
'Kontrolliert'. Es wurde sein einziges schlechtes Buch. Im neuen
Jahrtausend häuften sich dann die Filme, es wurde Mode. Die 'Lola
rennt' Generation hatte da irgendwas mißverstanden. Diese
harmlosen Filmchen (zuletzt Julia Jentsch in "Die fetten Jahre sind
vorbei") zeigen junge Rebellen, die "sich alles nehmen und zwar
sofort", geistige Brüder von Belmondo in 'Außer Atem'. Komplett
dämlich. Peinlich eben, wie ich anfangs sagte.
Die Mode hörte auf, als ECHTE Terroristen zum globalen
Großangriff antraten. Und das Fanal dazu war entgegen der
landläufigen Meinung nicht das Olympia-Attentat in München,
historisch gesehen, sondern der Ausgang des zweiten Irak Krieges.
Erst seitdem, also erst seit ein, zwei Jahren, sind Attentate keine
Ereignisse mehr, sondern Alltag. Und Alltag kann niemals Kult sein.
119
Logisch also, dass jetzt, wo die RAF endlich semiotisch tot ist, der
Schlußstrich gezogen wird. Christian Klar ist kein böser Geist mehr.
Er ist nicht einmal der späte Rudolf Heß in Spandau. Er ist ohne
jede geistige oder spirituelle Aufladung herabgesunken zu bloßer
banaler Körperlichkeit. Ein armes Schwein sozusagen. Er weiß es
noch nicht, wird es aber binnen Wochen merken, wenn Köhler ihn
hat laufen lassen.
Was er unbedingt tun muß. Gerade arme Schweine bedürfen
der Gnade.
22. Berlin, Augustrasse 2007
Der deutsche Mensch hat sein letztes großes, alleiniges Thema gefunden:
das Klima. Und der Schutz desselben. Es dröhnt einem um die Ohren, es
hört nicht mehr auf, man kann ihm nie mehr entrinnen? Doch, im
Paralleluniversum der Kunst wird noch mehr verhandelt als der Auspuff
meines Autos. Es ist eine Welt, in die man flüchten könnte. Man müßte
nur in die Auguststraße in Berlin Mitte ziehen. Und eine der dortigen
63 Galerien übernehmen (Wohnraum dürfte kaum noch zu finden sein).
"So sehen Künstler aus", denkt man kopfschüttelnd und zwängt sich an
den Gartenstühlen vorbei, die auf dem schmalen Bürgersteig neben der
ebenso schmalen Fahrrinne mit dem Kopfsteinpflaster von 1820 stehen.
Überall Galerien, überall Cafés, überall US-amerikanische Alltagssprache,
überall Gartenstühle. Nur das Kopfsteinplaster hört nach der
Joachimstraße auf und weicht einer frischen, fast noch dampfenden
Asphaltdecke, wahrscheinlich auf Wunsch der Anwohner angelegt, die ihre
Smarts, Auris und Jeeps nicht mehr achsbruchmäßig gefährden wollten.
Im ersten Teil der Augustrastraße gibt es sogar noch Plattenbauten, in
denen dann theoretisch sogar noch "Ossis" wohnen könnten, aber eine
Kollegin vom Tagesspiegel, die das vor vier Jahren recherchiert hat, winkt
ab: Schon damals hätte sie nur einen einzigen Vorzeige-Ossi gefunden,
120
eine 90jährige Frau. Den Anteil der im Scheunenviertel verbliebenen
Urbevölkerung taxiert sie auf ein Prozent.
Ein Drittel des Völkchens im Galerienviertel bestehe aus den berühmten
jungen Familien mit Kindern, über die ja schon so viel berichtet wurde.
"Kinder kriegen" war ja das Vorläufer-Mediending, bevor "Klima" kam.
Zwei Drittel haben immer noch keine Kinder, aber dafür die Kunst.
Ganz viel Kunst, ja am meisten davon, gibt es während der Galerientage,
die gerade stattgefunden haben (27. bis 30. April). Unbemerkt von der
großen Öffentlichkeit hat sich hier eine Messe entwickelt, die längst
bedeutender ist als die Messen in Köln, Düsseldorf und Frankfurt.
Dieses Jahr war es besonders heftig, was an dem "Sahara-Sommer im
April" (Bild Zeitung) lag. Es war heiß, die Nächte waren toll, die Menschen
außer Rand und Band, und was anderso postwendend als
Klimakatastrophe denunziert wurde, genossen die Kreativen & ihre
Vermarkter in Mitte als Jahrhundertfrühling.
Begonnen hatte alles mit Dash Snow. Seine furchteinflößenden Plakate
waren an jede freie Fläche an jedem Bauzaun - und Bauzäune gibt es
immer viele dort - geklebt, Plakate, die einen schlimmen Yankee aus dem
amerikanischen Sezessionskrieg zeigten, der offenbar wegen Mordes
gesucht wurde. Ein Mann mit langen Haaren, manischen, bohrenden
Augen, extrem willensstark wahrscheinlich, fähig, die Leadguitarre bei
"Motörhead" zu halten, oder einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg
durchzuziehen, gnadenlos. Dieser Mann war Dash Snow. In der Galerie
Contemporary Fine Arts stellte er mehrere hundert Arbeiten aus, die er
allesamt im letzten Halbjahr angefertigt hatte. Er war befreundet mit
Jonathan Meese, ja, er war sogar noch viel mehr als nur befreundet mit
ihm. Was er genau war, wollte sich niemand, der seine Arbeiten gesehen
hatte, vorstellen. Abends feierten sie gemeinsam im Berliner Nachtleben,
tanzten auf den Tischen, aßen im "Bonfini", provozierten die Leute,
machten sich über die Angst der Deutschen vor Symbolen der NaziDiktatur lustig, machten aus Restaurants russische Polka-Stuben und aus
dem ehrwürdigen "Grünen Salon" in der Volksbühne eine durchgeknallte
Bauernhochzeit. Jonathan Meese! Dash Snow! Die Augen der
Kunstfreunde glänzten. Daniel Richter! Da glänzten sie noch mehr. Es gab
für alles Steigerungen.
Daniel Richter trat spätabends im "nbi" auf, in der nahen Schönhauser
Allee. Holm Friebes Zentrale Intelligenz Agentur hatte ihn dorthin
eingeladen, und vor kreischendem Intellektuellen-Publikum wurde der
junge Richter zum Löwenbändiger, der die Fragen von gleich einem halben
Dutzend fittester, bestens vorbereiteter Power-Emanzen zurückschlug und
den Abend brachial an sich riß. Martin Kippenberger hätte es nicht besser
hingekriegt; eher wäre er da untergegangen. Ach ja, und das Wichtigste
zuletzt: auch Richter zeigte Arbeiten in der C.F.A., die ihren Sitz in der
Sophienstraße 21 hat, quasi ein Seitenarm der Auguststraße.
Richter, Aushängeschild und Nummer Eins der international angesagten
Leipziger Schule, erzielt zur Zeit jeden Preis, den er will. Man muß schon
ein sehr konservativer und langweiliger Galerist sein, wenn man heute
Gerhard Richter kauft und nicht Daniel. Solche Galeristen gibt es natürlich
121
trotzdem, und zwar zu Hauf. Sie kommen aus New York, Amsterdam, Tel
Aviv, und sie entdecken Berlin. Noch immer geblendet von den hohen
Preisen, die die Vorgänger-Generation erzielt, Baselitz, Lüppertz, Polke,
Immendorff, betrachten sie die neuen Deutschen, Tim Eitel, Neo Rauch,
Andreas Gurski, Thomas Demand, vor allem aber Meese, Meese, und
immer wieder Meese. Der malt so schön deutsch! Während Kippenberger
noch titelte "Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen", fällt
es bei Meeses Arbeiten verteufelt schwer, an etwas anderes zu denken als
an den braunen Abgrund. Den der Künstler deswegen ja nicht gutheißt, im
Gegenteil.
Galerien sind weißgestrichene Räume, in denen keine Möbel stehen und
auch sonst keinerlei Gegenstände, die ein Interesse wecken könnten, und
in denen Bilder an den Wänden hängen. Manchmal stehen auch
Skulpturen auf dem teppichlosen, neutral in Grau lackierten Boden. Die
Wand zur (August-)Straße hin ist meist durchsichtig, also ein großes
Schaufenster. Galerien verkörpern das Prinzip der Höflichkeit: "Après
vouz, madam". Sie fühlen sich ganz im Dienste der Kunstwerke, wollen
selbst ganz in den Hintergrund treten. Das macht alle dennoch im Raum
befindlichen galerie-eigenen Details so sympathisch, etwa den weiß
gestrichenen Stromzähler, den weiß abgedeckten Kinderschreibtisch der
diensttuenden Angestellten, oder die Angestellte selber, im weißen
Hosenanzug, ohne Schmuck.
Wieder draußen, ein paar Meter weiter im Auto zur nächsten Galerie,
"Eigen + Art", Auguststraße 26. Fünf mitgenommene Kunstfreunde
steigen lärmend aus, der Motor läuft noch, was nicht nötig wäre, also noch
ein paar Sekunden länger, obwohl der Wagen schon eingeparkt ist, sauber
auf dem Behindertenparkplatz. Ein Anwohner humpelt schmerzverzerrt
heran, einer von diesem letzten Prozent wohl, ein Ureinwohner oder UrAnwohner? Ein Behinderter, der seinen Parkplatz verteidigt? Ein
Wiedergänger Herbert Wehners? Er brüllt, der Motor solle gefälligst sofort
abgestellt werden, man wolle wohl mit dem Scheiß-CO2 das ganze Viertel
verpesten. Er meinte: das ganze Welt-Klima.
Man gehorcht. Aber lange wohnt der nicht mehr da. Räumungsklage läuft.
Der neue Besitzer, eine Kult-Galerie aus München, hat Eigenbedarf
angemeldet. "Eigen + Art" vertritt Tim Eitel, Neo Rauch, Martin Eder,
Birgit Brenner, Ricarda Roggan und zehn weitere Stars der Leipziger
Schule. Sie haben sogar eine Verkaufsstelle in Leipzig. Die ganze
Kunstwelt blickt auf diese Galerie, die aus dem Nichts heraus entstand.
Lebenswerte Welten sind immer auch solche, in denen voraussetzungslose
Aufstiege möglich, ja üblich sind. Johanna Neuschäffer diskutiert geduldig
die Motive ihrer Künstlerin, mit leiser Stimme, eher still als beredt, damit
die Arbeiten nicht bevormundet werden. Die junge Frau hat das naturrote
Haar zurückgebunden. Das schöne Gesicht ist unbehandelt wie das auf
einem altflämischen Gemälde. Ein weites, unscheinbares Kleid verhüllt den
grazilen Körper. So entsteht der Wunsch, jemanden zu malen; nicht der,
einen Drink auszugeben. Und so ist es wohl immer schon gewesen.
Und abends wieder Party. Das machen nicht alle Galeristen mit. Auch
nicht alle, die beruflich in Sachen Kunst in Berlin sind. Es ist ein Beruf,
122
zuweilen hart, wenn die Messetermine sich häufen, wie gerade in diesen
Monaten. Basel, Kassel, Venedig - alles drängt sich jetzt. Da muß man
seine fünf Sinne zusammenhalten, an Frau und Kind denken. Aber die
Künstler selbst MÜSSEN natürlich ausgehen. Und sie feiern härter als die
sonstige Berliner Club-Szene, was auch sofort honoriert wird.
Man hängt sich dran. Man unterstützt das. An den Galerientagen ist
Ausgehen die erste Bürgerspflicht, wie Wilhelm Zwo es wohl formuliert
hätte. Aber Galeristen und Sammler gehen gern essen. Am liebsten mit
Künstlern, doch ohne sie gehts auch. Am liebsten in der Friedrichstraße im
"Grill Royal", am Flußufer, oder in einem der vielen Lokale daneben, etwa
dem "San Ricci".
Es sind Lokale für das große Geld. Aber wie alles in Neu-Berlin bleibt es so
erstaunlich menschlich. Keine Routine bisher, keine versnobten Kellner,
elitären Gesten, ausschließende dress codes. Eine tolle, hochgewachsene
Blondine im schwarzen Abendkleid weist einen ein, führt einen zum Tisch,
kann aber dabei kaum gehen: das Kleid zwickt, die Schuhe sind zu groß,
und eigentlich studiert sie Bühnenbild, Medienwissenschaften und
Umweltästhetik an der Humboldt Uni. Dazu als Hobby wissenschaftlichen
Buddhismus an der Fernuniversität von Lhasa.
So eine würde an der Düsseldorfer Edelmeile "Kö" nicht Empfangsdame
eines Fünf-Sterne-Restaurants werden können. In Berlin Mitte gerade.
Wer würde sie hier nicht lieben?
An den langen, mit doppelten Tischtüchern aus Damast bedeckten
Tischen, sitzen wirklich attraktive und gebildete Frauen. Die Männer sehen
teilweise häßlich aus, teilweise wie Models, aber die Frauen - ausnahmslos
schön. Eine neue Kategorie von Mensch, international, selbstbewußt,
natürlich. Die Top Partien dieser herrlichen Bel Etage müssen eben ALLES
haben: Geschmack, Kapital, alten familiären Hintergrund - und gutes
Aussehen. Die Männer müssen dazu noch erfolgreich sein. Die
Mittdreißiger Erfolgsmänner tragen Britpopfrisuren und Maßanzüge, die
eher spärlich eingestreuten Künstler erkennt man an den schulterlangen
Haaren und dem Bemühen, wie der schon geschilderte abgehalfterte
Südstaaten-General Dash Snow auszusehen:
verroht und dem Wahnsinn nahe. Das gelingt leider nicht jedem. Ist auch
nicht leicht in diesem blitzsauberen 60er Jahre-Retro-Lokal, in dem der
spirit aus Leichtigkeit, Freiheit und absolut perfektem Stil einen anweht.
Alle Frauen rauchen, was ihnen gut steht, und nichts ist verraucht, da
Klimaanlage. Durch Panoramafenster sieht man draußen die Spree fließen.
Rote 60er Jahre Lampen neben den Tischen machen das Licht gemütlich.
Das ungekünstelte Lachen der Frauen, die sonoren Stimmen der
mächtigen Männer, natürlich keinerlei Musik, und machmal Satzfetzen, in
denen Worte vorkommen wie Barbara Gladstone... Larry Googosian...
David Zwirner... Anton Kern... et cetera... a nice place to be!
Will man mit den Bildern und der Kunst allein sein, muß man mittags
kommen. Erst um elf Uhr öffnen die Galerien, vorher erholen sich ja die
Nachtschwärmer noch vom Ausgehen. Es ist wichtig, mit der Kunst allein
zu sein, denn sie gibt einem unendlich viel. Und es ist anregend, mehrere
Galerien hintereinander zu sehen. Zum Beispiel C.F.A., Hetzler, Arndt und
123
Partner. Drei Galerien in drei Stunden. Bei C.F.A. wird man nur Snow
schaffen, weil er so erschlagend ist. Eng gehängt, wunderbar gerahmt,
hunderte und aberhunderte von Arbeiten, jede anders und dennoch als
von ihm gemacht erkennbar. Dazu hat der Typ seine Jugendbibliothek
ausgestellt: tausende von crime-, sex- und blutrünstigen Esoteriktiteln,
wie sie für US-Provinzkiffer typisch sind, und zwar zu allen Zeiten. Return
of the body snatchers, Why the Germans are doing it again, Life of Charles
Manson, Tarot and Future.
Hier sehen wir ihn, den Bodensatz der amerikanischen Kultur, und unser
langhaariger Großkünstler gibt ihm genialen Ausdruck. Das überzeugt,
und er sieht ja auch aus wie das, worüber er arbeitet. Hier bietet sich der
Vergleich zu Thomas Hirschhorn an, der dieselben Intentionen hat, der
ebenfalls seine Jugendbibliothek ausstellt, nämlich bei Arndt & Partner,
und der mit einer Unmenge von Leichenbildern aus der Gerichtsmedizin
aufwartet, zerfetzte, blutüberströmte Körper allesamt.
Aber bei Hirschhorn ist es nicht Satanismus- und Billignazi-Junk, den er in
sein drogenzerfressenes Trashkultur-Hirn gepreßt hat, sondern Derrida,
Alexander Kluge, Diedrich Diederichsen und Nietzsche. Und prompt wirken
seine Leichenbilder nicht. Die ganze Installation wirkt entsetzlich
ausgedacht, kalkuliert, und somit peinlich. Auch fehlt der Sex, den Dash
Snow so im Übermaße ausschüttet, dass einem graust. Ein Grausen ohne
Sex aber kann es nicht geben; das zumindest lehrt das Projekt
Hirschhorns.
Dieser Künstler bleibt daher ein Geheimtipp unter den deutschen
Kunstbetrieblern. Die Amerikaner interessieren sich nicht dafür. Sie
machen ihre Geschäfte, und sie verlieben sich in Berlin. Eben weil ihre
Geschäfte hier so gut laufen. "Ich habe zwei Jonathan Meese gekauft!"
strahlt Doron Sebbag aus Tel Aviv, seit 22 Jahren einer der großen
Sammler weltweit. Er hatte schon fast alle Deutschen, die jemals die
Millionengrenze durchbrachen: Gerhard Richter, Anselm Kiefer, Georg
Baselitz, Andreas Gurski, Polke vor allem. Er geht mit seiner neuen Frau
beschwingt nach Hause, Richtung Hotel. Er braucht heute kein clubbing
mehr. Die gelben, kleinen, harmlosen Straßenlaternen der Auguststraße
leuchten ihm, kein Retro-Look, sondern einfach übriggeblieben aus der
Honecker-Zeit. Er kommt an nicht weniger als drei neu errichteten
Kinderspielplätzen vorbei. Das hat die besondere Atmosphäre der
Auguststraße, ihren eigentümlichen Zauber, nicht vernichten können. Die
niedrigen, fast mittelalterlich kleinen Häuser stehen links und rechts
Spalier, im Dunkel wartend, also kaum beleuchtet, wie die alte
Sophienkirche, die Familienkirche des letzten deutschen Kaisers. Dort ging
Wilhelm II, vom nahen Stadtschloß aus (richtig, das nun wiedererrichtet
wird), mit seiner Familie zu Fuß zum Gottesdienst, am Sonntag Morgen,
also, wenn Kaiserwetter war. So ähnlich fühlt sich jetzt wahrscheinlich
auch Doron Sebbag, denn:
Er hat zwei Jonathan Meese gekauft. Und die wird er noch haben, wenn
alles zum Teufel gegangen ist. Das Klima zum Beispiel.
124
23 Cruisen mit Oliver Pocher
Oliver Pocher stellt seinen neuen DVD-Film „It´s my life“ vor, der
in zwei Teilen morgen und am Montag darauf (1. Und 8. Oktober
2007) jeweils um 20.15 Uhr auf Pro Sieben gezeigt wird. Für
diesen Zweck ist man zum Interview verabredet. Aber eigentlich
ist der Tag viel zu schön für einen langweilen PR-Termin. Vor
einem Straßenrestaurant in Berlin Charlottenburg steigt Oliver
Pocher in einen neuen Mercedes-Benz 320 CLK AGRESSOR,
Mietwagen, erst 1728 Kilometer gefahren, und fährt damit einmal
quer durch Berlin bis zum Bötzowviertel. Er gibt eine Adresse in
den Autopiloten ein und fährt dann traumhaft sicher zum Ziel, als
würde der schwere offene Wagen selbst steuern. Das Wetter ist
wunderbar, spätsommerlich, fast noch hochsommerlich, die
Tageszeit von 12 Uhr mittags ideal zum Cruisen. Die teure MusikAnlage pumpt Hiphop auf die Strasse, die Bräute draussen an den
Ampeln erkennen ihn manchmal und machen Angebote. Pocher
kennt jeder. Seit ´Vollidiot´ ist er ein grösserer Star als Harald
Schmidt, dessen Spielfilmversuche stets an der Kinokasse
floppten.
Das Interview führt der Star lässig über die Schulter. Die Fragen
interessieren ihn nicht. Was soll dabei schon rauskommen? Einmal
hält er vor dem Hotel Rom am Bebelplatz, springt aus dem Boliden
ohne die Seitentür zu öffnen, spricht mit dem Pförtner, einem
Zwei-Meter-Mann in Phantasie-Uniform. Ein Smoking wird
herausgetragen. Pocher braucht ihn für eine Veranstaltung
abends. Dann gibt er wieder Gas, der Benz gleitet am
Brandenburger Tor entlang. Eigentlich verboten, aber für Stars
125
seiner Größenordnung gelten stillschweigend andere Regeln. Auch
Tom Cruise darf ja plötzlich in den Bendlerblock, gibt Pocher zu
bedenken. Den guckt man sich daraufhin gleich einmal an, den
alten Nazi-Kasten.
Ein Kind mit Ranzen läuft über die Straße. Pocher erkennt: kein
Ranzen der Firma ´Scout´, sondern nur von ´Herlitz´, was ihn
betroffen ausrufen läßt: „Ein Loser-Kind! Mit dem Herlitz-Ranzen
kriegt es kein Bein auf die Erde.“ Er winkt die Mutter heran, gibt ihr
40 Euro, nimmt ihr das Versprechen ab, dem Kind schnellstens den
unverzichtbaren Status-Ranzen zu kaufen.
Die Firma Adidas ruft auf dem Handy an und fragt, ob Pocher am
kommenden Abend ein Champions-League-Spiel im Stadion sehen
möchte. Pocher sieht gern Spiele live, natürlich nur die großen.
Während der WM hat er elf Spiele besucht. Bezahlen muß er
inzwischen nicht mehr. Das Interview:
WamS: War VIVA Ihre erste Station als Entertainer?
Pocher: Ich stand schon mit 18, 19 auf der Bühne. Aber gleich
danach kam VIVA. Ich gehörte zur zweiten Generation, mit Jessica
Schwarz, Nils Ruf. Heike Makatsch war schon weg, Collien
Fernandez noch nicht geboren. VIVA war damals die einzige
Möglichkeit, sich als Neuling zu profilieren.
WamS: Schon ab 2000 wurden Sie immer wieder bei Harald
Schmidt als Gast eingeladen. War das nur Sympathie, oder steckte
mehr dahinter?
Pocher. Eher Empathie. Harald Schmidt war nie mein Idol, denn ich
habe keine. Wir machen auch heute nichts privat miteinander,
obwohl wir beide in Köln wohnen. Ich kenne noch nicht einmal
seine Kinder.
Wams: Kann sich das nicht ändern, wenn Sie demnächst
zusammen die Show ´Schmidt & Pocher´ machen?
Pocher: Dass ich bei ihm zuhause auftauche und seinen Kindern
Spielsachen mitbringe? Das kann er vergessen. Ich schätze ihn
beruflich, aber das ist es dann auch schon.
WamS: Vor der Kamera sieht das anders aus. Man denkt, da sind
zwei Menschen, die sich wirklich mögen.
Pocher: Tja. Ganz Deutschland will jetzt immer Kommentare von
mir zum Verhältnis zu Harald Schmidt, also der gemeinsamen
Show.
126
Wams: Das ist doch auch verständlich. Es handelt sich um die
beiden einzigen Entertainer mit Kultstatus. Es ist, als würden
Bayern München und Schalke fusionieren.
Pocher: Und Thomas Gottschalk?
WamS: Thomas wer?
Pocher: Thomas Gottschalk. Der war einmal richtig bekannt. Also
meine Eltern haben den noch gekannt.
WamS: Aber die sind ja auch Zeugen Jehovas. Haben Sie von Ihren
Eltern diesen Schutz gegen jede Art von Ideologie?
Pocher: Ja, das hat mich ziemlich abgehärtet. Ich glaube jetzt
kaum noch was, auch nichts Politisches. Welche Partei an der
Macht ist – völlig egal.
WamS: Aber wenn eine Partei mit verfassungsrechtlich
fragwürdigem Hintergrund...
Pocher: Klar. Immer dagegen. Unterschreib ich Ihnen sofort,
wenn´s sein muß.
WamS: Welche Partei wählen Sie denn?
Pocher: Ich habe noch nie gewählt.
WamS: Wen finden Sie denn gut? Wer ist Ihr Vorbild? Was ist Ihre
Lieblingsminderheit? Wen beneiden Sie am meisten? Guido
Westerwelle? Katrin Bauerfeind? Anne Will?
Pocher: Weiß nicht. Katrin Bauerfeind telepromtet nur. Anne Will
macht es auch nicht anders als ihre Vorgängerin. Neues Studio,
alte Gesichter. Kurt Beck und solche Visagen, nee!
WamS: Im Gegensatz zu den ´Scheibenwischer´-Leuten machen
Sie kaum Witze über Politiker. Nicht einmal über Edmund Stoiber.
Pocher: Stoiber ist ein Mann, der nur noch fällt und fällt und fällt.
Der tut mir leid. Den ruft keiner mehr an, wenn er nächste Woche
in Pension geht. Warum sollte ich über den Witze machen? Die
Sendung ´Scheibenwischer´ läßt mich kalt.
WamS: Sie selbst haben ja auch mit einer Behinderung zu kämpfen:
Sie kommen aus Hannover.
Pocher: Hannover hat nur innerhalb Deutschlands diesen
Schrecken. Aber es ist auch nicht schlechter als Teheran,
beispielsweise. Man muß das relativieren.
WamS: Welche Gäste hätten Sie denn gern in der neuen Sendung?
Pocher: Da bin ich völlig schmerzfrei. Alle dürfen kommen. Ich habe
keine Lieblingsgäste.
127
WamS: Klingt wie von einem großen Führer. Wie Jesus, der sagt,
lasset die Kindlein zu mir kommen.
Pocher: Echt? Das freut mich.
WamS: Ein grosser Führer schließt keinen aus. Fidel Castro zum
Beispiel liebt das ganze Volk, von den Schwulen einmal abgesehen,
da ist er noch beim alten Denken.
Pocher: Anders geht es auch gar nicht. Es gibt in allen Schichten
nette Leute und nervige. Man muß vorurteilslos seinen Job tun.
WamS: Wie ist Ihr Verhältnis zu den Frauen?
Pocher: Bin seit drei Jahren, sechs Monaten und zwölf Tagen in
festen Händen.
WamS: Wieviel haben Sie denn noch, bis Sie rauskommen?
Pocher: Bin ganz zufrieden soweit, mit der Monika.
WamS: Was bringt Sie dazu, morgens freudig aufzustehen und zu
arbeiten? Worauf freuen Sie sich im Leben?
Pocher: Dass wir Europameister werden, und dass 96 international
spielt 2008.
WamS: Noch einmal zu Harald Schmidt: Sie hatten letzte Woche
den ersten gemeinsamen Pressetermin. Es hieß, die Stimmung sei
prächtig. Schmidt sah man an, dass er glänzend drauf war. Auch
Sie äusserten sich sehr optimistisch. Worauf gründet sich das?
Pocher: Bewußt oder unbewußt gibt es da viele Gemeinsamkeiten.
Wir haben die gleiche Art, medial mit den Sachen umzugehen.
WamS: Etwa mit den wenigen global-interest-stories, die jeden Tag
von allen Medien hochgekocht werden, Paris Hilton, Lindsey Lohan,
Britney Spears, Pete Doherty, die entführte Madelaine?
Pocher: Das ist schon ein Ding, wie die Eltern sich da vor jede
Kamera gedrängt haben. Das hat sich echt gelohnt: eine Million
Pfund Spendengelder, den Papst getroffen, David Beckham
getroffen...
WamS: Macht es wirklich Spaß, auf diesen Zug aufzuspringen?
Immer dieselbe Handvoll blöder Idioten?
Pocher: Die Medien sind so. Die ganze Welt ist eine mediale
Verschwörung.
WamS: Es wird niemals wieder besser? Auch nicht, wenn Bush
abgewählt wird?
Pocher: Dann kommt vier oder acht Jahre später wieder einer, der
genauso am Rad dreht wie Bush.
128
WamS: Wie hoffnungslos.
Pocher: Ich glaube an jede Verschwörung. Dass sie Bin Laden in
sechs Jahren nicht finden, ist völlig unsinnig. Wo ich mit Google
Earth schon meinen Eltern aufs Dach schauen kann. Amerika
braucht diesen Feind, hat ihn erfunden. Es ist alles manipuliert,
alles, alles! Und zwar mit Hilfe des Fernsehens. Das Fernsehen ist
die allesentscheidende Macht geworden. Eine Islamgefahr gibt es
nicht, ist schwerer Blödsinn. Es geht null um den Islam, sondern
immer ums Geld. Geschäfte müssen gemacht werden, und das
klappt ja auch immer besser.
Musiklandschaften
23. Echo Verleihung in Berlin
Diese alten Menschen mitten im Terrain der Jugend, diese Perversen, das
hat mich immer schon abgestoßen. Diese ewigen Ralph Siegels und Katja
Epsteins: brrr! Das war schon vor zehn Jahren, vor zwanzig, vor - ja,
wann hat es eigentlich angefangen? Daß solche fetten Hausmeister-Typen
wie Grönemeyer in Jugendsendungen auftraten und verlogener charity das
Wort redeten? Bleiben wir einfach beim Samstag, dem Tag also, als der
Papst starb. Genau zu der Zeit wurde der sogenannte 'Echo' verliehen,
angeblich der zweitwichtigste Musikpreis der Welt. Nach dem 'Grammy',
der sicherlich kaum besser ist. Dieselbe verlogene Scheiße, wenn Sie mich
fragen. Industrie-Dreck von alten Säcken, gemacht für sie selber, aber
falsch etikettiert als 'angesagte Musik'.
Zur Realität: Das abgelaufene Jahr war das Jahr der jungen
deutschsprachigen Musik. Es war phänomenal. Nie zuvor hatte es das
gegeben: dass deutsche Gruppen mehr verkauften als englische.
Stichwort Silbermond, Juli, Wir sind Helden, Dresden Dolls, all die
anderen. Würden trotzdem wieder Ladenhüter wie Peter Maffay, Udo
Jürgens oder gar noch ältere die Preise 'abräumen'? Erneut Katja Epstein?
Immer noch Rex Gildo, posthum? Oder so ein Depp wie Gildo Horn? Oder
Schnappi das Nilpferd? Ich ließ mich gern überraschen, was die alten
Kulturbetriebler diesmal für zeitgemäß hielten.
129
Als erstes wird Antja Vollmer, die Alterspräsidentin des Bundestages,
begrüßt. Der Papst lebt zu dem Zeitpunkt noch, warum nicht auch sie.
Dann Klaus Wowereit, der Bürgermeister. Der Saal ist übrigens riesig, faßt
tausende von Krawatten- und Anzugträgern, weißhaarige Burschen
zumeist wie im Parlament. Selbst die 'jungen' unter ihnen sind über 30
und stecken in speckigen schwarzen Kombinationen wie Blutwürste in der
Pelle. Nirgendwo Farbe. Als einer in einem bordeauroten Anzug auftaucht,
lachen die Fotografen. Überhaupt die Fotografen: Sie ersetzen die Jugend
komplett. Sie kreischen bei jedem Promi wie früher die Mädchen bei
Robbie Williams.
Die einzige authentische junge Person ist Yvonne Catterfeld. Diese
Augenstellung! Sie ist wirklich nett. Doch wenige Sekunden später taucht
schon Thomas Gottschalk in Ledermontur auf. Lange Haare, jung
geblieben wie 1972. Avril Lavigne, 22, die letzte Pubertierende des
Erdballs, ist zwar nominiert, wird aber mit keinem Wort mehr erwähnt (fix
rausgewürfelt). Millionen Fans unter Schülerinnen? Unwichtig! Kein
Argument gegen Peter Maffay! Die Kamera fängt sein stoisches
Indianergesicht immer wieder ein, als wäre er als Konrad Adenauer
wiederauferstanden.
Natürlich gewinnt den ersten 'Echo' die mit Abstand scheußlichste Person
aller Zeiten, 'Anastacia', sprich: anästeyischia. Ein blutleerer Brüllelefant
ohne Hirn. Röhrt wie ein Hirsch, kann aber eine Zeitung weder von vorne
noch von hinten lesen. Die abgefuckte Alte sieht aus wie 45, wie die
dominante Mutter vom Wowereit, der wiederum wie 25 aussieht. Gott,
was für ein Haufen! Was hat das alles mit Jugendkultur zu tun? Na alles,
aber mit Jungsein nichts.
'Live act' bedeutet hier peinlichstes play back. Nena singt ihren neuesten
Song, im Zebra-Minikleid, bewegt sich wie eine 17jährige. Das macht sie
aber so umwerfend komisch und raffiniert, daß ich sie zu den drei
Pluspunkten des Abends rechne. Die anderen beiden: der Auftritt Ulf
Pochers und der des Kabarettisten Mittermeier. Tatsächlich ist ja das
Potential so groß wie nie. Man läßt sie nur nicht ran, die Jungen. Als
'Silbermond' am Ende einmal danke sagen dürfen, spürt man, welcher
Stromschlag augenblicklich in die toten Fernsehkästen rast. Es ist, als
reiße der Schleier der Gerontokraten für Minuten auf, als verbrennten sich
die
Reinhard Mays (nominiert), Westernhagens (spielte seine neue Single),
Phil Collins (nominiert), Marianne Rosenbergs und so weiter die gierigen
Finger. Elende Krämerseelen! Von denen hat keiner eine Idee, eine Aura,
ein Herz - und schon gar keine Bedeutung. Da steht keiner für etwas,
außer natürlich für das Alter, also Beharrung, Stillstand, Denkverbot,
Repression. Es ist Mist, was sie uns hinhalten! Warum sagt das keiner?
Seit 35 Jahren dürfen sie dröhnend auf der Stelle treten, und niemand ist
da, der mit dem Finger auf sie zeigt und "Aufhören!" ruft.
Das Publikum ist stattdessen total mau. Keinerlei Resonanz. Tödlich! Der
Moderator Oliver Geissen ist freilich keiner, der das Eis zum Schmelzen
bringt. Ein KFZ-Verkäufer, keine Spur jugendlich oder gar charmant, nur
130
abgewichst und unsympathisch. Einfach ein weiterer korrupter, schlechter
Mensch, wie fast alle im Saal. Außer Barbara Schöneberger natürlich.
Echo für Echo wird verliehen. Andrea Berg, 45, gewinnt einen. Sie tritt
halbnackt auf, ein handbreiter Minirock und ein offenes Top, schmettert
maskulin ins Mikro: "Ich widme diesen Echo einem ganz besonderen
Menschen: meinem Produzenten!" Das haben vor ihr schon andere getan
und tun nach ihr einmütig alle: Sie danken ihrem Produzenten, ihrer
Produktionsfirma, ihrem Management und ihrer PR-Abteilung. Klar, weil es
schließlich alles ein Werk dieser Spießer ist, was sie da vortragen. Ein
schriller Zynismus eigentlich, daß all diese Marionetten immer wieder als
'Künstler' tituliert werden an diesem Abend, meist mit dem Adjektiv
'wunderbarer Künstler'. Das Wort 'wunderbar' wird inflationär oft
gebraucht. Ein zweites Adjektiv fällt den Moderatoren wohl partout nicht
ein zu den Zombies. Muß man verstehen.
Peter Maffay hat den längsten Act. Lederhose, offenes Hemd, 60 Jahre.
Auch die Mitstreiter sind kaum jünger. Tattoos überall, Ketten, esoterische
Zeichen, Schwarzhemden - der Geschmacksfaschismus der Ewiggestrigen
sozusagen. Die immer gleichen Riffs, in 30 Jahren nicht einen Ton
dazugelernt. Wer soll da klatschen, wer soll da kreischen? Wieder nur die
Fotografen, später, wenn sie ihr Bild brauchen. Es sind Hunderte da,
Hunderte auch von schreibenden Journalisten, aber wieder wird nicht
einer einen einzigen Satz schreiben, der lesenswert wäre. Verkommene
Gesellschaft!
Dann Aneet Louisan, Großväterchens Liebling. Wenn die 45jährigen heute
wie 35 daherkommen, so die 17jährigen wie 7jährige: "Ich will doch nur
spieln, ich tu doch nichts...". Schwamm drüber (sie gewinnt gleich
mehrere Echos). Hansi Hinterseer ist nominiert, die Höhner auch. Das sind
die Jecken, die an Karneval diese Sendungen "Höhner - die ersten 30
Jahre" bestreiten. Hansi Hinterseer ist jünger, ein kraftstrotzender Bergfex
von höchstens 50. Dann die Kastelruther Spatzen, dann die Randfichten.
Und die Beastie Boys, direkt aus der Familiengruft geholt. Die sollen
gerade erst in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hip gewesen
sein. Auch Rammstein wird nun entdeckt, zehn Jahre zu spät, und die
Boehsen Onkelz, 15 Jahre zu spät. Doch nun kommt das Irrste: Al Green
ist doch tatsächlich angereist. Ja, genau, der 20jährige Superstar aus
USA! Die heißeste Sache weltweit - aber er wird nicht erkannt, nicht
beachtet. Kein Fotograf schreit. Und als dann doch alle schreien wie am
Spieß, dreht sich Al Green lächelnd zu der Meute und sieht, daß sie nicht
ihn, sondern Jenny Elvers meinen, die zufällig hinter ihm steht.
Das ist der Echo, besser kann man es nicht zeigen. Die Ärzte sind
natürlich wieder nominiert, sodaß irgendwann nur noch die Toten Hosen
fehlen. Udo Jürgens quakt wieder am Klavier und danach noch lange ins
Mikro. Schade, der Mann hat eigentlich ein gutes Gespür für die Jugend.
Insgeheim findet er sich und seine Rolle hochnotpeinlich. Als er einmal mit
der russischen Lesbengruppe tATu in eine Talkshow gesperrt wurde, war
er als einziger von den originären 19jährigen angetan. Es tat ihm
ersichtlich weh, wie Gottschalk den üblichen grienenden Altersspott über
sie ergoß. Aber jetzt ist wohl eh alles egal, die Pferde gehen mit ihm
131
durch, mit Udo Jürgens, und er hält eine endskrass ödende Laudatio auf
irgendeinen Musikindustrie-Knecht, der Musicals von Anrew Lloyd Webber
ins Deutsche übersetzte. Einen Knilch von mindestens 70, schlohweiß das
Haar, unsexy die Goldrandbrille. Der absolute Tiefpunkt ist erreicht.
Schlimmer gehts nun nimmer. Genau in dem Moment stirbt der Papst. Die
Erlösung.
Das Fernsehen bricht die unmuntere Sendung augenblicklich ab. Doch
hoppla - eine After-Party ist ja noch auf dem Programm. Die müßte nach
dieser Logik natürlich erst recht abgesagt werden. Aber nein, die Party ist
wohl unverzichtbar. Ich merke schnell, warum. Weitere Heerscharen von
Senioren strömen nämlich herbei. Es müssen auf jeden Fall mehrere
Tausend sein. Vielleicht Leute, die für die Verleihung keine Karten oder
VIP-Ticket kriegten und nun erst recht die Prominenten sehen wollen.
Aber die Prominenten sind natürlich längst weg, jedenfalls die halbwegs
guten. Geblieben ist wieder nur Ralph Siegel, Katja Epstein, Jenny Elvers
und so weiter. Siegel ist kein schlechter Mann. Einer der wenigen über 60,
bei denen ich gern einmal Gast beim Abendessen wäre. Auch daß er ein
viel zu junges weibliches Sexualobjekt vor sich herschiebt, sozusagen
Hand an die sexuellen Ressourcen des Landes legt, die Jugend beklaut,
der alte Schlawiner, finde ich besser als die unfitte Art der anderen
Bonzen. Nur meine ich, daß er für jede andere Führungsaufgabe im Lande
besser geeignet wäre.
Die Party ist natürlich furchtbar. Den Tod des Papstes stört keinen - genau
das ist so furchtbar. Sie finden den Gestorbenen nur lächerlich, nicht der
Rede wert. Weil er das hat, was sie am meisten verabscheuen:
Meinungen, eine geistige Haltung, einen Widerstand zum totalen
Konsumismus. Für sie ist das 'alt'. Dabei ist es jung, und sie, die jetzt mit
viel Appetit in die Lachscroissants beißen, sind viel älter als der Papst.
Keinerlei Jugend ist noch anwesend, das versteht sich ja von selbst.
Buchhalter, angegraute Agenturleute, Werber, die Vertriebsmanager der
Phono-Branche und so weiter. Wohl gut zehn erlesene Buffetts vom
Feinsten künden von der Protzsucht der Veranstalter (u.a. RTL), allein das
Catering muß Millionen verschlungen haben. Auf wessen Kosten schlagen
sich eigentlich all diese verbiesterten Büro-Gesichter die Bäuche voll?
Etwa auf Kosten der Jugendlichen, die die CDs kaufen sollen? Brennt bloß
schwarz weiter, Kinder!
Wenigstens wird keine Musik gespielt. Was das wohl für eine gewesen
wäre! Auf jeden Fall Rammsteins gerade mehrfach echogekröntes Lied.
Das geht so: "Ich habe keine Lust... ich habe keine Lust... es ist so kalt...
es ist so kalt!"
Das ist Deutschland. Das alte.
23. Dortmund - Phillip Boa
Das große "U" von der Dortmunder Union Brauerei prangt auf einer 1945
zerschossenen Ruine, das ist Dortmund, so sieht es jedenfalls aus, wenn
132
man bisher nur im ICE daran vorbeigefahren ist. In dieser Stadt wohnt
Philipp Boa, der große Dandy und Musik-Avantgardist aus den 80er
Jahren, Gegenspieler von Blixa Bargeld damals. Das ist schon
ungewöhnlich. Warum tut er das, ich meine dort wohnen, in diesem
Stalingrad der Nachkriegshoffnungen, diesem Ghetto? Warum gerade er?
Der Bryan Ferry Deutschlands? Der "german lord of Indie"? Nun hat er
nach vielen Jahren erstmals wieder eine CD herausgebracht, und die ist
ernst, angenehm, superpräzise, sagen wir mal so drauflos: dermaßen
gelungen, daß wir uns den alten Knaben einmal anschauen wollten.
Dazu mußte ich also erstmals in meinem Leben WIRKLICH nach
Dortmund. Denn obwohl im nahen Köln der Papst los war, weigerte sich
der Ex-Superstar, seine home town für "ein blödes Interview" zu
verlassen. Er war der Presse nie hinterher gerannt, das wußte ich. Wieso,
wußte ich nicht. Es liegt an seiner street credibility, die er sich in 20
Jahren aufgebaut hat, oder die ihm zugewachsen ist, und die er niemals
verraten würde. In Dortmund kennt ihn jeder, das ist ihm wichtiger.
Wir treffen uns im Café Strickmann, einem Kuchen-Restaurant für
Senioren in der Innenstadt. Mehrmals erschrecke ich, weil ich meine, ihn
in einem der Rentner wiederzuerkennen. Man hat mir ja nur gesagt, daß
er vor 20 Jahren eine schwere 80er Jahre Haartolle trug, die inzwischen
grau sein sollte, sowie dunkle Herrenanzüge, und daß er fast zwei Meter
groß sei.
Dann ist es aber gar nicht so schlimm, er ist wohl erst in den frühen
Vierzigern und hat sogar seine junge Freundin dabei, eine Amerikanerin
mit einem unfaßbar lieben Gesicht.
"Hey, mir gefällt deine neue CD, aber müssen wir uns HIER treffen? Laß
uns einen schönen Tag machen und nach Köln rübercruisen! Der Papst ist
da und so weiter."
"Nope. Cruisen können wir auch hier."
Wir steigen in seinen dunkelblauen 244er Stahlpanzer-Volvo, Boa gibt
Stoff. Er zeigt mir seine Welt. Ich sage:
"Cool, daß du mich treffen willst, obwohl du weißt, daß ich manchmal
verletzend schreibe!"
"Die Süddeutsche, die Süddeutsche!"
Ach so. Die Leute winken ihm manchmal zu. Es ist seine Stadt. Als erstes
fährt er zum BVB Stadion. Aber schon vorher sehen wir andauernd
Mitbürger in BVB-Kostümen, obwohl gar kein Spieltag ist. Boa erklärt, die
Leute liefen hier so herum, die fänden das normal. Zudem:
"Dortmund ist WM-Stadt. Das ist natürlich die einzige Hoffnung für die
ganze Region."
"Was?" Was wäre daran denn Hoffnung? Er schiebt ein Tape mit der neuen
CD 'Decadence & Isolation' in den Volvo-Cassettenrecorder. So entsetzlich
der Name, so gut ist das Produkt. Hat auch Gordon Raphael produziert,
der die ersten beiden 'strokes'-Alben gemacht hat. Man versteht sofort
warum. Philipp Boa ist wie die Strokes, nur besser. Das Original, nicht der
Nachklapp auf der Retroschiene. Und dazu gehört auch der deutsche
Akzent von Boa, so paradox das klingt: dadurch wird es globale Musik.
Gerade das feine Ur-englisch der Strokes läßt die Kunsthochschüler
133
provinziell klingen, örtlich begrenzt, denn 90 Prozent der Erdenbürger
spricht Englisch NICHT akzentfrei. Die lakonische Pia Lund ist wieder
dabei, allerdings noch uneitler, noch zurückgenommener, noch
anziehender als im letzten Jahrhundert. Die Songs sind bis auf einen sehr
schnell, sehr intelligent, unbeschreiblich rhythmisch, lassen sofort die
Knochen wippen. Man kann nicht anders, als "gut drauf" zu kommen,
inspiriert zu sein plötzlich, und so frage ich frech:
"Warum ziehst Du nicht in eine Gegend OHNE Elend? Du kannst es Dir
doch leisten. Nach Köln zum Beispiel, wo alle jung und fröhlich sind?"
"Ich mag diese 'Fröhlichen' nicht. Ich mag ehrliche Leute." Er streicht sich
die Haartolle zurück wie ein Handwerker, der gerade für ehrlichen Lohn
Steckdosen verlegt hat.
Stimmt. Hier sind alle offensichtlich ehrlich. Aber was ist das genau,
Ehrlichkeit? Wie geht das, wie macht man das, tut das weh? Ich sehe nach
draußen. Kanzler Schröder wirbt auf großen Plakaten mit dem schwer
verständlichen, zumindest schwer auswendig zu lernenden Satz "Wer
Gerechtigkeit will, muß das Soziale sichern". Drei Abstrakta in wenigen
Silben, respect. Er im Oberhemd, Ärmel halbhoch aufgekrempelt, die
Faust geballt, der Blick zum Himmel. Ich mag ihn. Für mich verkörpert er
Ehrlichkeit. Nur deswegen lieben ihn die Deutschen immer noch um soviel
mehr als die Merkel.
Wie im Osten sind die Verkehrsmittel perfekt ausgebaut. Straßenbahnen,
zentrale U-Bahnhöfe, Busse im Minutentakt, alles toll. Aber wozu? Es
lungern ja doch nur untätige Penner-Punks mit ihren fetten Hunden auf
den Haltestationen. Die Bevölkerung ist gut zwei Generationen älter als
die von Köln.
"Findest du es besonders 'ehrlich', nicht zu arbeiten? Ich meine, macht es
die Sache ehrlicher, weil man unfreiwillig nicht arbeitet?"
"Diese Leute gibt es. Sie sind da. Einer muß sich um sie kümmern!"
Er streicht die dichten grauen Haare nach hinten. Er hat das nächste
Kuchenrestaurant für Senioren angesteuert. Wir nahmen Windbeutel aus
selbstgerührter Schlagsahne und aufgewärmten Himbeeren, dazu ein
Kännchen Kaffee Hag. Die liebe Freundin kümmert sich um ihn, das sieht
man. Sie bedient ihn nicht, aber sie ist mit Leib und Seele an seinem
Wohlergehen interessiert. Sie will doch nur, daß es ihm gut geht. Mich
beeindruckt das sehr. So eine hätte auch der Papst gern unter seinen
Kids, hat sie aber nicht. Ich war ein paar Tage mit diesen Pilgermassen
unterwegs; die sind laut und rüde, sowie permanent auf Partnersuche. Ich
spreche das an, sage, Boa stehe in künstlerischer, weltanschaulicher
Konkurrenz zum Papst. Seine Songtexte auf der neuen CD kulminierten in
der Zeile, er wolle immer noch die Welt verändern, und zwar mehr denn
je. Deshalb:
"Auf zum Ratzinger, Alter! Das schauen wir uns doch an!"
Er grunzt nur. Genauso könnte man versuchen, Helge Schneider zum
Wellness-Kurs in die Schweiz zu überreden. Er zahlt und zeigt mir weiter
seinen Kiez. Wir fahren an einem an sich schönen, modernen RWEGebäude vorbei, sehr hoch, komplett aus schwarzem Marmor und
kreisrund, aber unten ist die Straße aufgerissen, liegt Gerümpel herum,
134
Müll, öden geschlossene türkische Reisebüros und seltsame
Wirtschaftszweige vor sich hin: "Gamblers Inn", "Wasserbetten
Discounter", "Spielstudio", "Game Center" und so weiter. Da wirkt der
schöne schwarze Wolkenkratzer wie eine traurige Blume auf dem
Misthaufen. Soweit das Auge reicht nur tote Häuser, Leerstand, sogar ein
geschlossenes "Museum für Kunst und Kulturgeschichte". Unbenutzt - ein
Blick nach draußen sagt wohl schon alles. Boas Musik hält all dem stand.
Sie ist ohne Pathos, ohne jene New Wave Dunkelheit früherer Kulttage,
und trotzdem ernst. Boas Stimme ist dafür wohl kongenial, so samtig,
erwachsen, unpeinlich. Warum sollte ein Mann zwischen seinem 22. und
42. Lebensjahr nicht reifer und besser werden? Hier sehen wir das mal. In
Deutschland wird eben auch die Popmusik nicht auf die leichte Schulter
genommen. Hier wird gründlich gearbeitet, pardon, "ehrlich" gearbeitet,
und so kommt am Ende ein Werkstück heraus, das anders klingt als die
Versuche der Jugendzeit. Bei uns hat auch der Dandy keinen Humor.
Jedenfalls nicht bei fünf Millionen Arbeitslosen.
Trotzdem machen mich die Eindrücke da draußen langsam mürbe, also die
Trostlosigkeit. Diese Ossi-Frisuren immer. 50jährige Männer mit
Wolfgang-Petry-Schnurrbart und langen Haaren, Rentner in JeansAnzügen, Frauen mit nach oben gegeelten Haaren, als seien sie auf dem
Weg zu Bärbel Schäfer. Furchtbar. Benedetto tanzt zur gleichen Zeit mit
einer Million Extase-Kids auf dem Marienfeld, macht sein Ding, sein
Woodstock, und wir hocken hier in Dortmund rum! Eine Frau mit einer
dunkelgrün-weiß-hellgrün gestreiften Polyesterbluse läßt den Kopf hängen
und weint, auf der Bank einer Bushaltestelle. Sie ist nicht betrunken, nicht
verwahrlost, nicht einmal ALT. Sondern nur traurig. Boa sieht es gar nicht
mehr, es ist sein Alltag.
Wir fahren den Körner Hellweg entlang, Ortsteil Wambel, an diesen
Kaufland und so weiter Billigkaufhäusern vorbei, wo den Arbeitslosen der
Ramsch aus China verkauft wird. Dort, wo die Arbeitsplätze hingewandert
sind, wird das Gerümpel hergestellt, was die global loser dann kaufen.
Noch ein dichtgemachter P & C, ein Hülyam Grill, zwei Pizza Döner, ein
paar Plakate "CDU - Besser für die Menschen", ein paar rührende HeinzEhrhard-Villen mit Jägerzäunen davor, dann erreicht Boa ein Brachland,
das er mir zeigen will:
"Hier stand noch vor fünf Jahren das modernste Stahlwerk der Welt. Bis
die Chinesen es abmontiert haben."
Nun wird das ganze Gelände geflutet. Zusammen mit weiten Teilen
Dortmunds soll hier der größte Stadtsee Deutschlands entstehen, achtmal
größer als die Alster in Hamburg.
"Sie wollen ihre unglückliche Stadt fluten? Wie Atlantis?"
Er nickt ernst und streicht sich die Popper-Strähne nach hinten, sein
Markenzeichen. Aus dem Cassetten-Deck dröhnt "Have you ever been
afraid". Er trägt noch immer das schwarze Jackett, das ihm einmal
Benjamin von Stuckrad-Barre geschenkt hat, damals ein Fan von ihm. Der
wollte auch Dandy werden. Und zu ihm aufblicken. Boa sagt, daß ihn seine
Fans wie einen Guru verehrt hätten und von ihm Orientierung abrufen
wollten.
135
"Wie ich schon sagte, Mann. Da stehst Du in Konkurrenz zu Benedikt. Nun
steh' doch dazu!"
Er dreht die Musik lauter, "Burn all the flags". Wir kommen nicht weiter
mit dem Auto, Siel-Bauarbeiten, diese Pseudo-Arbeiten, die Jahre die
Straße zum Buddelfeld machen und grundsätzlich nie fertig werden. Auf
den Bürgersteigen kaum Menschen. Wo sind sie bloß? Es gibt auch keine
Kioske und kaum Currywurst-Buden, und wenn man einmal Leute sieht,
rauchen sie und trinken sie, was ja an sich nicht schlecht wäre, aber
hier... es fehlt die Freude dabei, wie sie die Kölner haben, diese
Lebenslust. Nein, hier könnte Ratzinger nichts reißen. Immer wieder
rußiger Backsteinbau, und nur ganz selten ein würdevolles
Hauptverwaltungsgebäude aus der Vorkriegszeit. Schließlich ein
postmodernes West LB Hochhaus mit scheußlicher Kunst am Bau
Skulptur, Boa zeigt es stolz. Ist natürlich schon schmutzig weiß besprüht,
wie mit Taubenkacke. Die Graffittis geben der Stadt den Rest. Aber vor
der Skulptur - zwei aufeinander stehende mannshohe Eiseneier,
verbunden mit einem disproportionalen Eisendreieck - stehen vier lustige
Gesellen! Alle dick, alle Anfang 30, sie reden und feixen, mixen sich
Wodka mit Red Bull. Ich sehe interessiert hinüber. Schwarze T-Shirts,
Jeans, Turnschuhe, eine Aufschrift "Wir weichen nur zurück, um Anlauf zu
nehmen". Aber dann sehe ich den Haken. Besser gesagt die Hakenkreuze.
"Gas geben!"
Ich schreie Boa an, merke selbst, wie hysterisch meine Stimme dabei
wird. "Das sind Nazis!"
"Oh, Scheiße!"
Er hatte gerade die Musik lauter gedreht. Er gibt Stoff, der altersschwache
Sechszylinder eiert quietschend los. "Das hat uns gerade noch gefehlt!"
"Und ich dachte schon, die kennen dich, Mann."
"Nee, nie gesehen. Glaub mir, ich kenne hier jeden."
"Ist wohl doch nicht so toll, Dein tolles Dortmund."
Ich bin richtig verschnupft. Das wäre uns in Köln nicht passiert. Schon gar
nicht beim Papst!
"Ey, Alter, es tut mir leid. Weißt du, es ist nicht so, wie es aussieht.
Vielleicht... wollten die das Nazi-Ding nur verspotten oder so."
Es folgen wieder sehr eingängige Melodien. Boa hätte auch als
Mainstreamer Millionen copies verkaufen können. Wenn er gewollt hätte.
Aber er will nicht. Lieber noch ein Kuchen-Café, "Kaffeehaus zur
Postkutsche". Wir sitzen ernst beieinander, er, die liebe Freundin aus
Michigan und ich, trinken Eierlikör und bearbeiten eine Zitronenschnitte
und zwei Marzipan Nußsahnetorten. Dann fährt er mich zum Bahnhof. Ich
lasse ihn ungern zurück. Hier, in diesem eingeschlossenen Kessel. Er
winkt dem Zug noch lange nach, so treu und ohne zu lächeln, und ich
denke, daß es okay ist so.
Denn einer muß den Job eben machen.
Fußnote
Dortmund/Philip Boa
Nach diesen Erfahrungen, guten wie schlechten, hatte ich etwas Luft, mal einen Artikel
aus schierer Lust und Laune zu schreiben. Die Süddeutsche Zeitung betreute mich mit
136
einem Bericht über einen ehemaligen Popstar der Neuen Deutschen Welle mit dem
Namen Philip Boa. Ich glaube wenigstens, es war diese Musikrichtung. Da ich schon über
40 war, dachte man wohl, dieser Mann sei mir aus meiner Jugend bekannt.
Das stimmte sogar, aber alle Erinnerung an diese Zeit war
verständlicherweise von mir in einem bewußten Akt längst gelöscht
worden. Ich war womöglich in den mittleren 80er Jahren als
SPEX-Mitarbeiter auf ihn gestoßen, wußte es aber nicht mehr. Über seine
Musik dachte ich weder Gutes noch Schlechtes. Warum die SZ ein
seitenfüllendes Großportrait über ihn wollte, war mir so schleierhaft,
dass ich gar nicht erst begann, darüber nachzudenken. Mein Auftraggeber
dort war ein landesweit geschätzter Journalist namens Alexander Gorkow.
Ich hörte viel Anerkennendes über ihn, er schien eine Art Legende des
jungen deutschen Magazinjournalismus zu sein, zudem unberechenbar und
geistesgestört. Bestimmt ein Genie, dachte ich, und sollte Recht
behalten. Ein angenehmer Aspekt meines Jahres als Deutschlandreporter
begann.
Dieser "Philip Boa" wohnte in Dortmund, und das kannte ich natürlich
noch nicht. Was hätte ich jemals, als Schalkefan, in Dortmund zu suchen
gehabt? Ich ärgerte mich einmal die Woche, wenn der BVB gewann, oder
freute mich, wenn er verlor - und das war´s dann auch. NIE wäre ich
freiwillig zum Feind gefahren. Aber nun mußte es ja sein, diesem
seltsamen Gorkow zuliebe, der mir per Fleurop immer Blumen schicken
ließ. Ich lief, wie im Artikel nachlesbar, mit dem Ex-Popstar durch die
heruntergekommene Stadt. Abends fuhr ich nach Köln, weil ich auf gar
keinen Fall in Dortmund übernachten wollte. Am nächsten Morgen fuhr ich
erneut nach Dortmund und lief exakt den Weg, den ich mit Boa gegangen
war, noch einmal allein ab. Ich hatte ja, als ich zu zweit lief, keine
Notizen machen können. Ich hatte bis dahin nur das Tonband mit Boas
Stimme und keine fixierten Eindrücke von Dortmund. Nun holte ich das
nach. Ich war in einer echten hochgefährlichen Volldepression, als ich
die Stadt wieder verließ. In Berlin vernähte ich dann alles, mailte es
an Gorkow, und erntete weitere Blumen von Fleurop. Ich mußte nichts
redigieren, das machte alles ein kleiner Hiwi von Gorkow. Es gab ja
auch nichts zu redigieren. Es war perfekt, wie jeder Text von mir. Ich
meine nur, ich hätte überhaupt nichts dagegen gehabt, wenn er
redigiert, gekürzt, verlängert, verfälscht worden wäre. Überhaupt
nicht. Aber sie taten es nicht. Und Gorkow kabelte nachts um halb vier:
"Sie sind ein Gott, Lottmann! Lassen Sie uns einen Drink nehmen!" Das
ging nicht, weil wir gerade in verschiedenen Städten waren, aber: nett
gemeint. Ich bedankte mich artig.
Der Text erschien, das Foto dazu war großartig, überhaupt war die ganze
Seite super anzusehen: geräumig, ästhetisch, seriös, und gerade
deswegen knallig und unübersehbar. Doch nun begann das Nachspiel. In
Dortmund standen die Journalisten Kopf. All diese Zeitungen dort, von
denen man nur die komischen Namen kennt, brachten Gegenartikel.
Angeblich hatte ein Reporter der SZ - ich also - die ganze Region in
den Dreck gezogen. Man lauerte Philip Boa auf, und der distanzierte
sich prompt von dem Artikel. Ich rief ihn an, und stieß auf einen
verstörten, unglücklichen Menschen, der sich wiederum von seiner
Distanzierung distanzierte, Gott sei Dank. Wochenlang blieb das Thema
in der Region. Man warf mir zum Beispiel vor, ich hätte Dortmund das
Stalingrad der deutschen Nachkriegshoffnungen genannt. Als einige Zeit
später der Karneval begann, wurde ich darüber unterrichtet, dass mir
der höchste Dortmunder Karnevalsorden verliehen werden sollte, nämlich
"Der Olle Blödkopp" oder so ähnlich, ich weiß es nicht mehr genau, es
klang wie "Dat Arschgesicht des Jahres", und so wußte ich nicht, ob ich
ihn annehmen sollte. Es waren 5.000 Euro damit verbunden, wobei aber
wohl stillschweigend erwartet wurde, dass man den Betrag einer
137
Dortmunder Einrichtung für Downsyndromkranke oder so spenden sollte.
Ich überlegte, den Orden anzunehmen und das Geld für mich zu behalten.
Aber dafür hätte ich an einer Veranstaltung in der Westfalenhalle mit
tausenden von Karnevalisten teilnehmen müssen. Ich schrieb einen netten
Absage-Brief und rührte mich nicht mehr. Die Süddeutsche Zeitung wurde
noch einige Zeit von der Provinzpresse unter Feuer genommen, dass sie
solch einen ehrvergessenen Feind des Ruhrgebiets bei sich arbeiten
lasse. Ich weiß nicht, ob das eine Wirkung hatte. Jedenfalls schickte
Alexander Gorkow eines Tages, aber das war Monate und diverse Aufträge
später, keine Blumen mehr. Und auch sonst nichts mehr. Er tauchte
völlig ab. Wie ich manchmal.
25. Maria am Ostbahnhof - The Strokes
The Strokes waren das erste große neue Ding nach Britpop. Sie haben in
der heutigen globalisierten Vermarktung mehr Produkte verkauft als David
Beckham seine T-Shirts, was doch etwas heißt. Kulturell gesehen haben
sie den Rock aus seiner ewigen Anbindung an die Unterschicht befreit, soll
heißen: statt rülpsender toter Hosen, die nackig ihre Tattoos zeigen und
auf der Bühne Bier verschütten, spielen The Strokes vor New Yorker
Intellektuelen. Also präzise und intelligent. In diesem Fall, vorgestern, in
Berlin. Im Rahmen ihrer 'secret gigs tour' spielten sie ihr komplettes
neues Album 'First Impressions' durch, das freilich noch nirgendwo zu
kaufen ist.
'Secret gigs tour'? Was ist das, wie geht das, tut das weh?
Folgendermaßen: Alle drei Tage findet in in einer Stadt in Europa ein
geheimes Strokes-Konzert statt. Erst eine Woche vorher wird bekannt
gegeben wo und wann. Erst einen Tag vorher werden an zwei
ausgesuchten Kartenhäuschen die Karten verkauft. Wer eine ergattern
will, muß die Nacht über vor dem Kartenhäuschen campieren. Ich war um
fünf Uhr morgens da und damit zu spät. Ich kam nur rein, weil ich Al
Green kenne, der auch da war und ein Freund von Fat Moretti ist, Bassist
der Band und Dostojewski-Experte wie Green selbst. Die lesen 'Der Idiot'
im Original und sehen in Berlin nicht die WM-Stadt 2006, sondern den
Schauplatz von Döblins 'Alexanderplatz'. Es geht darum, vor kleinem
Publikum der Musikfachpresse das neue Album zu zeigen. Ins 'Maria' am
Ostbahnhof wurden 600 Leute geladen, also 250 Journalisten und 350
Fans.
Die Fans kennen bereits seit einem Monat die Songs, via Internet. Die
Presse tut sich da schwerer, denn man braucht komplizierteste
Programme, um das wertvolle Liedgut downzuloaden - das schaffen nur
Minderjährige. Es ist erst die dritte Platte der Mittzwanziger, aber ihre
beste. Ein metallischer, kontrolliert leidenschaftlicher Sound...
Schon seltsam, daß es nach 100 Jahren in der Musikszene immer noch
diese vorgeschriebene Anti-Ästethik zur herrschenden Werbeästhetik gibt.
In dem ehrenwerten Club ist alles abgeranzt, dunkel, schwiemelig und
komplett trostlos. Ein monströser Keller einer Fabrik aus dem
Industriezeitalter, eiskalt und gruselig, und The Strokes passen hier rein
wie Disney-Besucher in eine Kinder-Gespensterbahn. Was hier wohl früher
138
mal hergestellt wurde? Reaktorbrennstäbe? Die Ordner haben sie direkt
vom letzten Nazifilm übernommen, oder vom Rammstein-Konzert: riesige,
fette Fleischmassenkörper, schwarze T-Shirts mit Runen-Aufschrift,
glänzende Glatzen. Die Roadies von den Strokes sehen allerdings kaum
anders aus, haben nur schwarze Hautfarbe. Inmitten dieser Hölle ein mit
Absperrgitter isolierter Bereich für die Band, gewissermaßen die Bühne.
Hier steht die Technik der globalen Superband, selbst im Dunklen
funkelnd, wirklich vom Feinsten, wie die Ausstellungshalle eines edlen
Oldie Autosalons: Fahrbare Metallschränke, verchromte Verstärker,
Kabelkaskaden, Raumschiff-Mischpulte, E-Gitarren, Zubehör aus Silber
und Platin. Ab und zu blitzt eine Taschenlampe auf, weil ein Techniker
noch etwas nachjustiert. Die Fans sehen nett aus. Auch bei ihnen herrscht
erkennbar ein gänzlich anderer dress code als im MTV-Bereich. Undenkbar
dass ein Mädchen bauchfrei daherkäme oder sonstwie auf Schlampe
machte. Gedeckte Farben, man raucht nicht, man trinkt Kaffee. Velvet
Underground spielt auf bei der Jungen Union, sozusagen. Also hätte man
früher gesagt. Aber heute ist nicht früher. Hier steht nicht die
Schülermitverwaltung seliger westdeutscher Zeiten, sondern die
neoliberale Avantgarde. Spießer sind jetzt die anderen, die Linken. Wer
rechts ist, ist cool und hört The Strokes.
Das Auffallendste, nein das Wichtigste an der Band ist das Jungenhafte,
Nichtmännliche, sind die dünnen femininen Körper der fünf Knaben. Wehe,
einer würde plötzlich dick! Aber davor schützen ja gottlob schon die
Drogen, dafür sind sie ja da. "Dasselbe Outfit hat Julian schon in
Australien getragen!" sagt ein Fan neben mir, eine Schülerin, offenbar
wohlhabend. Ja, da sind sie, die Hübschen: dunkelgrüne sixties
Cordjacketts, Streifenpullis, der Leadsänger und Stückeschreiber Julien
Casablanca in selbstgenähter Kapitänsuniform. Ihre Bewegungen sind von
der ersten Sekunde an sexy, weil minimalistisch, androgyn und vor allem
unendlich selbstsicher. So lässig eben. Denen macht keiner was vor. Die
müssen niemandem etwas beweisen. Die Presse ist ihnen egal. Die Fans
auch. Al Green auch, der keinen back stage Pass bekommen hat und
direkt neben uns am Gitter klebt und die Arme hochreißt. Vielleicht spielen
sie für Kate Moss, für Pete Doherty, für das seltsam große, ernste
Francoise-Hardy-Mädchen innerhalb der Absperrung, dieses deutlich
priviligierte Groupie, sicher die Ehefrau des Bandchefs, vielleicht auch nur
für Dostojewski. Wer weiß. Die Musik reißt jedenfalls total mit. "Besser als
die ersten beiden Alben", weiß besagter weiblicher Fan neben mir. Sie liest
INTRO, den NME, hat Musik Express und VISIONS im Abo, liest Spex und
andere Fachzeitschriften in der Bibliothek. Sie kennt sich aus. Sie weiß,
welche Bands gerade gehypt werden und welche davon wirklich gut sind,
nämlich Arctic Monkees, Kaiser Chief, Block Party, Maximo Park und
Razorlight. Alle haben ein bißchen die Strokes nachgemacht, aber nicht
erreicht. Nicht dieses neue dritte Album!
Es ist tatsächlich gute Laune im Publikum. Berlin ist schon die richtige
Stadt für diese Knaben aus New York. Es macht diesen Jurastudenten
nichts aus, einfach Pogo zu tanzen, einst Ritual des Klassenfeindes. Und
auch die Lieder klingen nun so, wie Schlachtgesänge, wie ausgelassen vor
139
Überschwang, wie maßlos verliebt. Alles macht dieser Sänger, offenbar
Kopf der Gruppe und ein bißchen zu selbstbezogen. Er ist theatralisch und
aufwühlend, stemmt sich mit aller Kraft gegen den Mikrophonständer,
geht dabei erschöpft in die Knie. Er macht alles richtig, wirkt ungeheuer
intensiv. Selbst wenn er sich eine Strähne aus der Stirn streicht, wirkt es
zum Zerreißen intensiv. Aber er singt zu laut. Er galoppiert davon, bricht
aus, verliert die Band, die weiter diesen perfekten, dichten, großartigen
Soundteppich liefert. Vielleicht trägt ihn die Stimmung im Saal davon, und
die Technik war nicht darauf vorbereitet. Die Lautsprecher übersteuern.
Seine schöne, oszillierende, varietéhaft schaukelnde Stimme wird zum
ohnmächtigen Gebell.
Aber die Leute kennen die Lieder ja schon, wissen, wie sie klingen
SOLLEN. Trotzdem sinkt die Stimmung, da Casablanca immer weitermacht
mit dieser Art. Der Act ist auch zu lang. Nachdem alle 17 Songs
runtergehauen sind, kommen die Zugaben, und da geht die Platte von
vorne los. Das Pogotanzen hört auf. Al Green klettert über die Balustrade,
verheddert sich aber (er ist nur 1,55 Meter klein). Francoise Hardy
begrüßt deutsche Freundinnen und verläßt freiwillig die VIP Zone. Endlich
kehren sie zu ihrem eigentlichen Sound zurück, spielen neben drei alten
Liedern die kommende Hitsingle 'Juice Box'. Casablanca, völlig
verschwitzt, taumelt nach hinten und flößt sich etwas aus einem weißen
Becher ein.
"Sie haben für uns gespielt, für die Fans, nicht für die Presse. Sonst
hätten sie nicht die alten Lieder in den Zugaben gespielt!" frohlockt das
Fan Girl, und: "Sie wollen sich nicht abgrenzen, wie Oasis früher. Das
neue an den Strokes ist ihr integrales Bewußtsein. Sie sind nicht abfällig
über andere, sondern offen!"
Zumindest die Fans haben sich (doch) nicht geändert.
26. Out of Mageburg – Warum Tokio Hotel die neuen Beatles sind
Am Anfang standen die Vorurteile. Sie malen ihre Augen mit Kajal aus und
sehen aus wie japanische Comicfiguren (Tokio Hotel). Sie bestehen nur
aus blöden Pilzfrisuren und den Worten 'Yeah, yeah, yeah' (Beatles). Sie
sind nur gemacht, von cleveren Managern (beide). Inzwischen wissen wir:
Blöder kann man über solche Phänomene der Musikgeschichte nicht
reden.
Bill Kaulitz, 16, der überaus hübsche Sänger und Songschreiber der
Gruppe, hat das perfekte Gesicht - um es als Medium für seine Zwecke
einzusetzen. Und die sind ganz offenbar, Massen zu hypnotisieren,
Menschen mitzureißen. Wie alle echten Superstars hat er - und die
aufgerissenen Augen, die eigene Begeisterung, das Entrücktsein drückt es
aus - etwas vollkommen Durchgeknalltes. Er ist Manie pur. Ihn hat
niemand gemacht. Er ist so, wie er vor uns steht, schon mit neun Jahren
gewesen. Es gibt Fotos, die das beweisen. Da stehen die beiden
140
neunjährigen Brüder wie Miniaturausgaben der heutigen Tokio Hotel auf
einer Holzbühne in Magdeburg, dieselben Frisuren, blaugeschwärzt die
Haare, mit Kindergitarren und großen kajalgeschwärzten Augen der eine,
mit Ballonmütze und blond der andere. Kein Manager weit und breit.
Sein eineiiger Zwillingsbruder Tom Kaulitz sieht an sich nicht schlechter
aus. Rein genetisch ist er ihm natürlich wie aus dem Gesicht geschnitten.
Aber wie oft bei Zwillingen sind sie gleich und extrem konträr zugleich. Bei
den Oasis Brüdern ranken sich ja Legenden übelster Streiereien darüber.
Tom zieht sich vollkommen anders an, hat nichts Manisches, wirkt im
Gegenteil äußerst vernünftig. Auf der Bühne sorgt er für den soliden
Sound-Teppich, auf dem Bruder Bill, exzentrischer Frontmann und
Blickfang, turnt wie ein ukrainisches Olympiamädchen. Die öffentliche
Meinung ist den Brüdern völlig egal. Sie sind zwar jung, aber alles andere
als unerfahren. Zumindest Bill ist ein klassisches Wunderkind gewesen,
und er wußte das. Wie Mozart hat er mit sieben seine ersten Songs
geschrieben. Er ist ein wirkliches lyrisches Talent. In zehn Jahren wird er
als große Songschreiber-Persönlichkeit dastehen.
Wie ist es nur möglich, daß die Medien immer noch so tun, als sei Tokio
Hotel eine von diesen unsäglichen Casting Bands, die von alten Männern
wie Dieter Bohlen entworfen werden? Merken sie nicht, daß hier eine
Massenbewegung entsteht? Dass Mädchen zu tausenden in Ohnmacht
fallen - wie bei den Beatles - während bei Casting Bands nur Playback
läuft? Tokio Hotel hat die erste authentische Jugendbewegung seit zehn
Jahren geschaffen. Immerhin, eines merken die Zeitungen schon jetzt: die
junge Truppe zieht Leser. Die Bild Zeitung berichtete kürzlich in großer
Aufmachung, Tokio Hotel sei beim Konzert von Robbie Williams gewesen.
Als Zuschauer. Und sie hätten sich gelangweilt. Dazu ein großes VierfarbFoto mit den natürlich äußerst gelangweilten Kaulitz-Brüdern. Vom fetten
Robbie nur ein kleines Foto am Rande. Längst interessiert sich kein
vernünftiger, sagen wir: wacher Mensch mehr für die seelenlosen
Dauerentertainer wie Williams, Britney Spears & Co, über die Tom ganz zu
recht urteilt, wer seine Songs nicht selbst schreibe, sei kein Star, sondern
ein Star-Darsteller. Wer die alte Dampfnudel Williams zuletzt in Berlin auf
der Rampe sah, wünschte sich den späten Elvis zurück. Der war auch kurz
davor, Frank Sinatras 'I did it my way' zu knödeln - von jeher die
Bankrotterklärung eines jeden Interpreten vor der Jugend.
Keine andere Band seit Erfindung der Tonträger hat jemals so viele
Konzertkarten in Deutschland verkauft wie sie. Kritiker sagen, das liege
am Management, das möglichst viel Geld aus dem Tokio Hype schlagen
wolle; und im Zeitalter der Raubkopien gehe das nur noch über den
Kartenverkauf. Falsch! Die Jungs sind tatsächlich süchtig nach Auftritten.
Sie können nicht genug davon kriegen. Weil sie im Kontakt mit ihren Fans
zu ihrem eigentlichen Leben finden.
Wer sie je auf der Bühne erlebt hat, hat dazu keine Fragen mehr. Bill
redet nach jedem Lied mit den Fans. Er fragt sie aus, er berichtet von
sich, er holt sie auf die Bühne, er läßt einzelne oder alle mitsingen, er ist
der glücklichste Mensch der Welt. Und immer redet er in so einem
künstlich atemlosen, euphorischen Tonfall, einer Art selbstgebastelten
141
Jugenddialekt, bei dem die Endsilben geschleift, die Worte wie in
Kindersprache verkürzt werden. Und so singt er auch. Das Wort 'anders'
singt er wie 'andaas', aus 'nicht' wird immer 'nich', aus 'beschissen' wird
'beschissn' und so weiter. Und auch die Töne singt er nicht aus, sondern
schleift sie, biegt sie rauf und runter wie ein heulendes Kind. Kann mir
keiner sagen, daß sich das ein Manager ausgedacht hat! Günstig dabei:
Ihre erste und bis letzten Freitag einzige Platte sang Bill mit 13 ein - noch
vor dem Stimmbruch! Es handelte sich somit um die erste echte Pop-CD,
die von Kindern gesungen wurde. Das erklärt die Affinität der großenteils
vorpubertären Fangemeinde zu ihren Idolen.
Natürlich nicht nur. Die Texte sind nicht Gefühls-Bla-bla auf fantasyEnglisch, sondern knallhart, ernst und von den großen WeltschmerzAttacken dieses Alters geprägt, bis hin zu suizidären Sehnsüchten: "Wenn
nichts mehr geht, werd' ich dein Engel sein...". Der schlimmste Tag im
Leben ist nicht, wenn "meine Braut einen anderen fickt, Mann", sondern
wenn die Eltern sich trennen. Das wird herausgeschrien, und der CastingRapper bei 'Star Search' sieht dagegen nur noch wie ein Idiot aus. Der er
ja auch ist. Ich darf das übrigens alles sagen, weil ich geschätzte
siebeneinhalb Stunden lang, gestreckt über sechs Wochen, mit der Gruppe
gesprochen, später telefoniert habe, sie aus nächster Nähe beobachtet,
nachgedacht, ihre unfaßbar langbeinigen, wunderschönen, von ihnen
selbst selektierten Groupies kennengelernt, und am Ende sogar ein
Konzert in der Schalker Glückauf-Kampfbahn mit 18.000 Fans, einer
davon meine Nichte Hase, erlebt habe. Hase hat mich da reingezogen. Es
war hart, vor allem der durchdringende Schrei der Fans, also dieses
zigtausendfache Gekreisch fliegender Möwenschwärme anfangs, der
gleichmäßige, ferne, fast beruhigende Schrei-Dauerton vor dem
Konzertbeginn, der beim ersten Auftreten von Bill Kaulitz zu einem ganz
anderen Geräusch wird, für das es keine Worte gibt. Frauen in
Gruselfilmen schreien so, wenn King Kong auf sie zuwankt. Oder
bestimmte Nagetiere, ich weiß nicht, welche...
Bill ist glühender Nena-Fan. Wer von den etablierten Rockstars der
sogenannten Zweiten Neuen Deutschen Welle, 'Juli', 'Silbermond', 'Wir
sind Helden', würde sich trauen das zu sagen? Höchstens noch Judith
Holofernes, das andere große Songschreiber-Talent. Mit ihr ist Bill
offenbar freundschaftlich verbunden. Tom im SPIEGEL-Gespräch: "Wenn
Bill und Judith sich irgendwo zufällig treffen, etwa bei diesen
Medienpreisen wie dem 'Echo', albern sie stundenlang rum." Bill mag
Judith, aber verehrt Nena. Und zwar so sehr, daß er Nenas Frisur, ihr
Outfit, ihren Gang imitiert. Aber er traut sich nicht, sie anzurufen. Ist Bill
bulimisch? Zögerte er die Geschlechtsreife durch Magersucht hinaus, um
seinen Fans nahe zu bleiben? Nein, nein, alles Quatsch. Die Jungs essen
mit Appetit alles, was man ihnen aufs Büffet stellt. Der SPIEGEL konnte
beobachten, wie sie ihre Taschen in die Ecke schmissen und wie die
Heuschrecken auf schokoladigen Süßkram, herzhafte Happen und Obst
losgingen. Aber warum haben sie keine Freundin? "Wir haben keine
Freundin!" rufen sie unisono aus, mehrmals am Tag, wenn die Presse
anklingelt. Ja, warum? Ist das nicht seltsam? Darf das sein? Steckt da
142
nicht böse PR dahinter? Die Bild Zeitung schreibt doch "Versext Tokio
Hotel unsere Töchter?" Und das geht vielleicht nur, wenn man so tut, als
seien die Jungs noch zu haben. Wahr ist zweierlei. Erstens: die weiblichen
Fans, obwohl erst an der Schwelle zur Pubertät oder mittendrin, werfen
immer ihre BHs auf die Bühne. Zu tausenden rufen sie "Wir wollen eure
Schwänze sehn!" Und singen dann umso lauter die Songs mit, was
ungefähr so klingt, als würden zehntausend Kinder aus voller unschuldiger
Kehle 'Alle Vögel sind schon da' singen. Alles irgendwie paradox, vor
allem, wenn man bedenkt, daß die meisten Fans ihre Eltern dabei haben!
Deutschland ist eben das Land der lieben Eltern geworden. Also der
alleinerziehenden lieben Elternteile. Die Single-Väter gucken dann eher
auf die scharfen Mütter der anderen Kids, als auf die Bühne. Aber
zweitens: die Kaulitzbrüder sind wirklich gerade solo, aber das ist Zufall.
Bill hatte bereits feste Freundinnen, und Tom liebt 'Abenteuer', wie er
One-night-stands (hier würde das Wort sogar passen) umschreibt. Bill, der
Charismatiker, glaubt felsenfest an die ewige Liebe, an die eine Frau, die
das Schicksal ihm zuführen wird. Bis dahin redet er zwar gern mit Fans,
schließlich hat er das Messias-Gen und liebt die Menschen, aber läßt sich
nicht auf Sex ein. Die übrigen beiden Jungs, Gustav und Georg, haben
ganz normalen Groupie-Sex. Aber sie, diese so normalen Jungs, spielen ja
nur die Rollen von Ringo Starr und Gerge Harrison. Sie waren von Anfang
an dabei und werden deshalb auch bis zum Ende mitmachen. Die vier sind
eben echte Freunde, das werden die Manager nie verstehen. Wer schon im
letzten Jahrhundert in Magdeburg gemeinsam Glasmurmeln gespielt hat,
wird sich keinen gecasteten Afro-, Indo- oder Asien-Deutschen aufs Auge
drücken lassen, nur weil das im "Fernsehen besser rüberkommt".
Sind sie die neuen Beatles? Ist das wirklich möglich, nach über 40 Jahren?
Musikwissenschaftler bestätigen die These. Auf der am Freitag
veröffentlichten CD 'Der letzte Tag' geht es im gleichnamigen Lied um
Halbtonschritte einer kleinen Sekunde beim Gitarren-Riff im Hintergrund
und um Mehrstimmigkeit, beides beliebte Stilmittel der Beatles. Ihr
bekannter Hit 'Jung und nicht mehr jugendfrei' bringt die Harmonien Es-BC-As, genau wie bei 'Let it be', dem letzten Nr.1-Treffer der fab four. Bei
der vorletzten Hitsingle 'Schrei' (Platz Eins auch sie) erinnert das Intro
zunächst an Linkin Park oder Nu Metal. Aber dann gehts los: Wie in 'Help'
von Lennon/McCartney wechselt d-B-F-G auf G-F-d und endet voller
musikalischer Überraschungen auf d-B-d-C-G-A. Der expressive Gesang
hat einen geradezu waghalsigen Mut zur Dissonanz, wobei der
Beatleskenner 'I've just seen a face' wiedererkennen mag. Und der
absolute Superhit 'Durch den Monsun' besticht durch eine verhältnismäßig
gehobene Harmonieführung, also E-E4-C-C4-D-D, was musikalisch sehr
interessant ist und nicht standardisiert, und einer Einstiegsterz (E-C) wie
bei 'Tell me why' von den Beatles. 'Ich bin nich ich' setzt den Bass auf
jeden vollen Schlag, genau wie bei - nein, nicht den Beatles, wie bei Nena!
Das alles mag die Klasse bestätigen, das Niveau, auf dem Tokio Hotel
spielt - ein Plagiatsvorwurf wird nie daraus. Die smarten Jungs würden das
mühelos mit einem frechen Spruch kontern. Etwa "Auf alten Schiffen lernt
143
man segeln" (Gustav, der Drummer). Das war zwar auf die Frage, wie er
zu Sex mit Erwachsenen stehe, würde aber auch auf die andere passen.
>>>>ORIGINALTEXT
Glückaufkampfbahn Gelsenkirchen, am Tag drei nach dem Ende des WMFiebers, dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft. Woanders sind die
Leute wieder so muffig wie vorher, rollen die Fahnen ein, schimpfen auf
die Politiker. Hier auf Schalke aber ist das ganze Jahr Fußball. Die
deutsche Fußballreligion entstand in diesem Stadion, in dem heute Tokio
Hotel spielt, eine ganz ähnliche Religion übrigens. Gemeinsam ist das
Schreien. Nur schreit der Fußballfan nur beim Tor, etwa beim legendären
1:0 Kloses in der Nachspielzeit, als selbst die Kanzlerin jede Hemmung
vergaß und wieder zum kleinen Mädchen wurde. Die Fans von Bill Kaulitz,
dem charismatischen Sänger der Band, schreien immer. Viele Stunden vor
dem Konzert, während dessen, und auch noch, wenn die Jungs längst im
Bett liegen. Und in höchster Lautstärke. Für sie ist immer Tor. Immer die
91.
Minute, Odonkor flankt, Klose rutscht heran, Tor, Tor, Tor. Das Geräusch
ist auch anders. Das Schreien der Fans ist unmoduliert, weder weiblich
noch männlich codiert, es kommt aus keinen geschlechtsspezifischen,
humanen Körpern, sondern direkt aus dem Wahnsinn. Frauen schreien so,
wenn sie vor King Kong stehen. Oder bestimmte Nagetiere, wenn der
Tsunami kommt.
Die Tsunami heißt hier Tokio Hotel, und der Anmarschweg zum Stadion
sieht auch wirklich so aus. Hunderte von Metern nur Verwüstung,
liegengebliebene Rucksäcke, Decken, tausende Stofftiere, letzte
Habseligkeiten von Menschen, die die ganze Nacht ausgeharrt haben, um
beim Einlaß möglichst nahe an die Band zu kommen. 38.000 Menschen
faßt die legendäre alte Spielstätte des FC Schalke 04, ein dunkles
Ungetüm mit Stahlträgern aus der Zeit der industriellen Revolution.
Das Konzert ist restlos ausverkauft, selbst Schwerbehinderte werden nicht
mehr hereingelassen. Nie zuvor hat Tokio Hotel vor so vielen Menschen
gespielt.
Erstaunlich, denn die Jungs haben praktisch erst eine CD aufgenommen,
und das ist fast ein Jahr her. Seitdem koppeln sie die einzelnen Songs im
Quartalstakt aus, jeder schafft die Chartspitze. Erst Mitte August soll
wirklich neues Material kommen. Dann gnade uns Gott.
Daß die Konzerte so gut laufen, haben sich die Jungs hart erkämpft. Sie
haben Deutschland mit einer beispiellosen Tournee überzeugt. Selbst wer
die Musik nicht mag, muß heute zugeben, daß die Bühnenshow alles in
den Schatten stellt, was seit den Beatles 1964 geboten wurde. Es ist das
Gegenteil von dem, was sogenannte Casting Bands bieten. Das sind
zusammengewürfelte Schauspieler-Combos, die auf Befehl Dieter Bohlens
zu belangloser lalala-Musik die Lippen bewegen.
Tokio Hotel ist die Antwort auf eine gewissenlose Jugendkultur-Industrie,
die von alten Männern und Frauen gemacht wird und mit der Realität von
Jugendlichen nur eines zu tun hat: dass die Eltern zahlen. Für Handy144
Klingeltöne, Diddelmäuse, Madonna-CDs, Casting-Shows, Spielekonsolen,
Plastik-Stars wie la Fee, Deutschland-sucht-den-Superstar-Verwertungen
und andere Merchandising-Produkte geben deutsche Haushalte Milliarden
aus. Aber geschrien wird nur bei Tokio Hotel.
Die visual Key Klamotten - zu erkennen an japanischen Schriftzeichen machen sich die Kinder selber. So wie sich Kaulitz und Co. ihre Hits selber
schreiben. Diese Musik machen sie seit ihrem 7. Lebensjahr. Auslöser war
die Trennung der Eltern. Die ganze Geschichte klingt wie ein Märchen,
besser: wie ein modifizierter Stoff aus der Bibel, ist aber bis ins Detail
belegt. Es gibt Fotos der Gruppe als 9jährige, wo sie auf der Bühne
stehen, unverwechselbar die Frisuren, J-Pop-Klamotten, Bewegungen. Sie
müssen vom Himmel gefallen sein. Die Eltern stecken nicht dahinter. Mit
dem Scheidungsvater keinen Kontakt, die rührende Mutter eher
ahnungslos. Auf J-Pop, also Japan-Pop, werden mitten auf dem Land in
der ehemaligen DDR auch keine Manager verfallen sein: die kriegen das ja
selbst in westlichen Großstädten erst ab 2008 mit. Und der SPIEGEL
Kulturteil ab 2010. Und DIE ZEIT ab 2015. Wir leben ja im Land der
Kultur-Zombies...
Der Haß der etablierten Unterhaltungsindustrie auf die Seiteneinsteiger ist
natürlich riesig. Hastig werden neue Instant-Bands auf den Markt
geworfen, die etwas von dem Erfolg abkriegen sollen. Aber die können
nicht auftreten. Und wenn doch, brauchen sie Vorgruppen, Animateure,
Anheizer, Playback-Maschinen, eingespielte Softporno-Filmchen auf VideoGroßleinwänden und so weiter. Was gibt es bei Tokio Hotel in den Stunden
vor dem Auftritt? Nirvana. Sie lassen superhart Nirvana vom Band laufen.
Das ist ihre Ansage. Damit messen sie sich.
Davor haben sie keine Angst.
Deutschland ist das Land der lieben Eltern (geworden). Die meisten
Besucher sind noch zu klein für 22 Uhr, und so gehen neue deutsche Väter
gut gelaunt mit und schauen sich die vielen scharfen Mütter der anderen
Scheidungskinder an.
Den vielbeschworenen Generationenkonflikt gibt es schon seit Ewigkeiten
nicht mehr, genau gesagt, seit Familien nicht mehr zusammen bleiben.
Und die gelegentlichen Haschischschwaden im Stadion kommen nicht von
den Kleinen. Auch nicht der Ausruf "Mann, das ist ja Woodstock!", als es
anfängt zu regnen. Der große deutsche Fußballsommer endet in
Kalifornien.
Das Konzert wird live im WDR übertragen, das ist natürlich nochmal ein
besonderer Kick. Die Stimmung ist großartig. Als würden Reste der noch
immer überschießenden WM-Stimmung sich mit infantiler ad-hoc-Euphorie
verbinden. Das Gekreische - und das ist wirklich verblüffend, also das das
noch geht - verzehnfacht sich, als Bill Kaulitz erscheint. Dieser neue
Schrei erfaßt alle Hysterienerven, fährt auch dem Hartgesottenen in Mark
und Bein. Ein Meer von Menschen, gereckten Armen, ein wogendes
Kornfeld im Sommer, erfaßt von der tiefstehenden Sonne, nein von
geschickten Scheinwerfern. Die ganze Show ist total interaktiv.
So wie die Scheinwerfer immer wieder das Publikum erfassen, und
natürlich die Kameras, und das auf eine Leinwand werfen, so spricht
145
Kaulitz nach jedem Song mit den Leuten, geht zu ihnen, holt sie auf die
Bühne, läßt wahlweise einzelne oder zehntausende mitsingen. Wobei zu
sagen ist, dass ohnehin alle Songs mitgesungen werden. Nach einem Jahr
Dauerfeuer kennt zumindest die Refrains jedes Kind. Mit Schrecken
erinnert sich mancher des verklemmten Schweigens oder Nuschelns
vermeintlich großer Rockstars, etwa Bob Dylans, der zwischen den Liedern
kaum eine Silbe herausbringt. Kaulitz:
"Wenn Ihr denkt, dass dies hier nichts Besonderes für uns ist, irrt Ihr
Euch!
Wir haben noch nie vor so vielen Leuten gespielt!"
Später relativiert er: in Magdeburg seien es bereits 75.000 gewesen, aber
das sei ja auch quasi ihre Heimatstadt. Den nächsten Song kündigt er so
an:
"Es geht einem nicht immer gut, vor allem, wenn man dann keinen um
sich hat, mit dem man reden kann. Aber es gibt noch Schlimmeres. Etwa
wenn die Eltern sich trennen. Uns ist es so gegangen jedenfalls. Den
folgenden Song haben wir geschrieben darüber, da waren wir neun Jahre
alt..."
Zum Vergleich: Selbst 50 Cent hätte hier nur "Next song... ahm... ahm...
its called... ahm... Against my will... ahm" herausgestottert. Und sich
ersatzweise in den Schritt gefaßt.
Oder Bon Jovi! Wer erinnert sich noch an Bon Jovi? Oder Guns´n´Roses?!
Das war doch Standfußball à la Günter Netzer dagegen. Sogar Mick Jagger
wäre hier nur rumgehampelt, die Bühne rauf- und runtergerannt und
hätte dabei doch wie ein angeschossener Elch gewirkt, im Vergleich zu
dem Luftwesen Bill Kaulitz, der keinerlei Körpergewicht zu haben scheint.
Der sich nicht schämt, Nena als Vorbild zu nennen. Die verehrt er, seit er
mit Sieben "Nur geträumt" hörte.
Zwillingsbruder Tom hört seit sechs Jahren nur Hip hop, was ihn nicht
daran hindert, Bills Affenliebe für Nena zu akzeptieren. Ja gut zu finden.
Die Songs werden sowieso anders. Georg zum Beispiel_ist ganz ein Kind
der Beatles. Sein Vater hatte ihn damit vollgemüllt. Und er liebt seinen
Vater.
Aber Bill liebt Nena. Er versucht, genauso auszusehen wie sie. Ihre Frisur
hat er schon vollständig adaptiert. Und auch das Gesicht wirkt inzwischend
ähnlich. Mit einem Unterschied: Bill hat das perfekte Gesicht. Jede
angehende Hollywood-Schauspielerin wäre glücklich, wenn sie dieses
Gesicht hätte. Keira Knightley wirkt dagegen schrumpelig. Cameron Diaz
wie eine Boxerin nach einem verlorenen Kampf. Nur die ganz frühe Liz
Taylor hatte ein Gesicht dieser Perfektion, dieser Ausdruckskraft. Und mit
diesem Gesicht kann Kaulitz im Zeitalter der Großleinwände eine Aura
kommunizieren und verbreiten, die es vorher noch nicht gab.
Der Spießer wird an dieser Stelle wieder fragen: ja, ist er denn schwul,
der feine Herr Sänger? Nein, so wenig wie es alle geborenen Superstars
der Popgeschichte vor ihm waren, so wenig wie David Bowie vor 20, Marc
Bolan vor 30, Mick Jagger vor 40 Jahren. Aber damit hört es bei Kaulitz
nicht auf. Denn er ist auch nicht das andere. Und auch nichts drittes. Er
ist, geschlechtlich gesehen, das Neue. Er hat das Geschlecht der Millionen
146
alleinerzogener Kinder. Spätere Soziologengenerationen werden uns
sagen, was das bedeutet.
Zunächst einmal: alle vier Jungens von Tokio Hotel haben keine Freundin.
Ihre Freundin ist die Guitarre. Den ganzen Tag hocken sie im Studio
herum und da ddeln an neuen Songs. Nach dem Konzert werden trotzdem
zwei wunderschöne minderjährige Groupies ins Zelt geführt. Häßliche fette
Security Bullen führen die hochbeinigen Starlets ab, bringen sie wie
Gefangene über die harte Grenze zum innersten VIP-Bereich, die alle
anderen nur mit drei (!) Pässen überwinden. Was die Bill und Tom mit
ihnen machen werden, wird die Presse nie erfahren; sicher ist nur, dass
sie nicht zum Frühstück bleiben dürfen.
Das Konzert tobt. Wo die Beatles nach 40 Minuten stoppten (auch, weil
die meisten der Fans schon der Ohnmacht nahe waren), legen Tokio Hotel
noch zu. Die Sanitäter sind nun pausenlos im Einsatz. Es gibt gar nicht
soviele Tragen, um all die Ohnmächtigen sofort wegzubrinden.
Normalerweise sind es schon mehrere Hundert in der ersten Stunde. Aber
hier ist alles nochmal eine Dimension größer, greller, ergreifender. Eine
kultische Veranstaltung, bei die alten Inkas blass werden würden. Und
nicht nur die. Michael Jackson erst, der plötzlich merkte, dass er ein
trotteliger Braunbär war, ein peinlicher Hampelmann, im Vergleich zu
diesem Magier. Wie der die Massen tanzen läßt, wie Marionetten, wie sie
seinem Wort gehorchen! In Sachen Massenhysterie setzt er neue
Standards. Das aufgerissene, euphorische Gesicht beherrscht die
Situation. Dagegen sähe selbst Hitler alt aus.
Die Medien reagieren hilflos. Berichten über die Bulimie des Sängers, mit
der er die Geschlechtsreife hinauszögere, um seinen kindlichen Fans nahe
zu sein.
Oder verweisen auf irgendeinen Manager, oder PR-Mann, oder
Produzenten, oder Geheimniskrämer, der "in Wirklichkeit" Tokio Hotel
"gemacht" habe. Alles Blödsinn. Seit Adam und Eva ist alles von Menschen
gemacht. Der Erfolg von Genies erklärt sich immer aus ihrer Genialität
heraus. Der Mißerfolg von Casting Bands ja ebenso: wo nichts drin ist,
kann auch nichts rauskommen. "La Fee", das neueste synthetische StarProdukt, wird ein temporärer, rein kommerzieller Verkaufserfolg bleiben,
wie "du darst"-Käse, den heute auch keiner mehr will. Tokio Hotel
dagegen sind echte deutsche Helden und werden dereinst in der Walhalla
stehen.
Oft rühren die Texte eine juvenile Todessehnsucht auf. Bloß gut, daß die
Eltern nicht so genau hinhören. Lieder wie "Wenn nichts mehr geht, werd
ich ein Engel sein, nur für Dich allein" spielen mit der Lust am Hinwerfen
nach der ersten, oft traumatischen Liebesenttäuschung. Jugendliche
Suizidverklärung ("Die Unendlichkeit ist nicht mehr weit") bewegt
seltsamerweise oft die jüngsten der Fans. Sie sehen dann aus wie
ergriffene Erwachsene. Am meisten bewegt sie das Lied "Leb die
Sekunde", das zu einem ekstatischen Genuß in der Gegenwart auffordert.
Bleibt den Kleinen nur noch so wenig Zeit? Wenn die wüßten, dass sie in
der schlimmsten Elendsregion des Landes sich befinden, wo die
Arbeitslosigkeit Generationen vorher Einzug hielt, also bevor sie in ganz
147
Deutschland ausbrach. Auf Schalke! Wo die Menschen nichts haben außer
einem bankrotten Verein, der nie Meister wird. Na, vielleicht genau DER
magische Ort für einen Visionär ("Rette mich!", der letzte Chart-Renner).
Kaulitz hat ohne Zweifel das Messias-Gen. Wo es anderen (Hiphop-) Stars
um Kohle, fette Limousinen, geile Bräute und noch geilere Plattenverträge
geht, geht es ihm um die Massen. Er will sie beglücken. Sie und Nena.
Sie spielen acht Zugaben. Ihre dreizehn Songs der CD haben sie längst
alle gespielt, machen es einfach nochmal, ein zweitesmal, das ganze
Konzert. Sie schwitzen nicht, krepieren nicht wie Joe Cocker auf der
Bühne, das Mikro im Sterben umklammert. Sie haben Kraft für zwei, drei,
viele Konzerte. Und nicht nur dafür. Der Regen stoppt sie, das
versprochene Sommergewitter. Die perfekte Gelegenheit, nochmal "Durch
den Monsun" zu spielen, zum drittenmal, durch Blitz und Donner, diesmal
locker eine zehn-Minuten-Fassung. Und danach das Ende im Fanal
nichtendenden Jubels.
Eine deutsche Band, kein Zweifel. Danach der Abmarsch. Zehntausende
bewegen sich in einer gelenkten Kreisbewegung - wie die Pilgermassen
beim Gang um die Kabaa - nach draußen. Die Mädchen schreien weiter. Es
bleibt laut. Und wird immer unwirtlicher und nasser. Aber das ist die openair-Situation, an die sich die Tokio Hotel Fans nun gewöhnen müssen.
Konzerte in geschlossenen Räumen wird es in Zukunft wohl nicht mehr
geben. Das Schreien überschreitet inzwischen die gesetzlich zulässige
(eigentlich für die Verstärker gedachte) Dezibel-Obergrenze.
Interview mit TOKIO HOTEL/ Vögelsen bei Lüneburg, August 2006
SPIEGEL: Am Freitag Morgen um 9 Uhr kommt „Der letzte Tag“ in die
Musikgeschäfte. Wird es wieder die Nummer Eins werden?
Tom: Das wissen wir ab etwa Dienstag. Aber in der zweiten Woche sollten
wir es geschafft haben.
SPIEGEL: Was bedeutet Euch diese CD?
Tom: Wir reflektieren über das letzte Jahr. Über das Songschreiben, den
Medienhype, das Alleinsein, in das man sich dann flüchtet.
SPIEGEL: Wie ist denn die Musik diesmal?
Tom: Melancholisch, gitarrenlastig... ein bißchen wie Nirvana vielleicht.
Aber das darf man natürlich nicht sagen, das sind ja Heilige. Es sind
Momentaufnahmen.
SPIEGEL: Ist Tokio Hotel die erste authentische Jugendbewegung seit
zehn Jahren, also die Antwort auf die sogenannten Casting-Bands?
Bill: Wir sind auch keine Fans von Casting-Bands. Uns war es schon immer
wichtig dass wir genau in der Formation bleiben und das machen worauf
wir Lust haben.
SPIEGEL: Die letzten Jahre bescherten uns künstliche Bands. Alte
Personen wie Dieter Bohlen schreiben die Texte, ältere komponieren, noch
ältere erfinden „Deutschland sucht den Superstar“ und andere sogenannte
Casting Shows. Verachtet Ihr das?
Bill: Also eigentlich finde ich traurig was da passiert. Heutzutage ist es
sehr schwer die richtigen Leute zu finden und da gibt es bei Castings
148
bestimmt ganz viele Künstler die eigentlich authentisch arbeiten oder die
vielleicht sogar eine Band haben oder sehr talentiert sind, die aber
vielleicht keine andere Möglichkeit mehr sehen, als bei einem Casting
mitzumachen. Wir waren eine Band in Magdeburg, wir wussten auch nicht
wie das gehen sollte, aber wir waren irgendwann zur richtigen Zeit am
richtigen Ort und haben unseren Produzenten getroffen. Aber diese
Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, ist ja mehr als gering.
TOM: Ich meine, man kann schon so vorgehen und Tapes an
Plattenfirmen verschicken, aber es nützt eben nichts. Sie gelangen nie an
die richtigen Personen, sie werden abgefangen und nach ein paar Wochen
wahrscheinlich weggeworfen,
SPIEGEL: Die Musikszene in Deutschland ist doch eigentlich recht
lebendig zur Zeit... wir sind Helden, Silbermond, Juli und so weiter. Man
hat das Gefühl es wäre doch eine funktionierende Szene, ein Markt,
Mechanismen die das irgendwie regeln, dass da unten in der Mitte und
ganz oben die Leute hinkommen, die das Talent dazu haben. Das hättet
ihr doch auch schaffen können oder nicht? Also ohne den großen Zufall
des ‚Entdecktwerdens‘?
Bill:: Viele deutsche Bands haben jetzt wieder die Möglichkeit auf sich
aufmerksam zu machen, die Zeit ist günstig, weil das natürlich jetzt
gerade angesagt ist. Ist ja klar, wenn eine Band gut funktioniert, dann
suchen die Plattenfirmen natürlich nach anderen Bands, das heißt dann
gibt es für viele wieder eine Möglichkeit den richtigen Kontakt zu
knüpfen. Wir spielen seit 6 Jahren zusammen und als wir anfingen, da
hatten wir auch schon die ersten Auftritte in vielen kleinen Clubs. Da
steht aber nicht einfach ein Produzent herum oder jemand von einer
Schallplattenfirma und sagt:“ Ich will dich haben!“. Das war ein
Glücksfall, dass genau dieser Produzent an diesem Abend da war. Und wir
sind sehr dankbar dafür, dass das passiert ist. Das war mehr als
unwahrscheinlich und wir hätten nie damit gerechnet.
SPIEGEL: Wie wäre das gewesen, wenn ihr nach Berlin gegangen wärt,
etwa ein Jahr später?
Georg: Das wäre schwer gewesen. Wir waren ja alle noch ziemlich jung
und wir fanden es bereits cool, dass unsre Eltern uns in Magdeburg herum
fuhren, das ist ja auch nicht selbstverständlich.Es ist schon unglaublich
schwer einen ersten Auftritt in Berlin zu bekommen.
Bill:: Ja, ohne Kontakt ist das echt schwer. Es gibt so unfassbar viele
Bands. Allein wenn ich daran denke, mit wie vielen Musikern wir in
Magdeburg aufgetreten sind, die alle nach uns und vor uns spielten, Da
waren auch ganz viele talentierte Leute mit dabei, die Songs schreiben,
die schon jahrelang auftreten, die aber einfach den Kontakt nicht haben.
SPIEGEL: Aber ihr seid doch was besonderes...
Tom: Ja vielleicht. Der Produzent wollte ja auch was mit uns machen und
nicht mit den 30 andern Bands die da mit uns aufgetreten sind.
SPIEGEL: Kann es auch sein, dass euer Profil oder euer Programm,
dieses Japanhafte eben doch sehr neu und ungewöhnlich ist immer noch
und dass die normale eingefahrene Indiszene damit gar nicht
zurechtgekommen wäre?
149
BILL: Das ist auf jeden Fall so. Wir waren immer anders als die andern
Bands. Wir sind immer heraus gestochen. Das ist vielleicht auch der
Grund, warum es dann funktioniert hat.
SPIEGEL: Habt Ihr persönlich Kontakt zu den Stars der deutschen Welle
wie Judith Holofernes, Jochen Diestelmeier, Bernd Begemann?
Tom: Bill versteht sich sehr mit Judith. Wenn die sich irgendwo treffen,
beim ‚Echo‘ oder so, stehen sie stundenlang zusammen und albern rum
und lachen und so weiter.
SPIEGEL: Und wie geht es euch jetzt, wenn ihr in Zeitschriften immer mit
diesen widerwärtigen Bands „us five“ verglichen werdet?
TOM:: DerVergleich betrifft wohl eher den Erfolg als die Musik.
SPIEGEL: Wie ist euer Verhältnis zu den Casting-Bands ganz persönlich?
Sind das für Euch auch Musiker? Oder habt Ihr ein gewisses
Überlegenheitsgefühl?
Georg: Musiker würde ich nicht sagen. Es sind Interpreten.
TOM:Ja, eher Interpreten... Die sind ein Produkt sozusagen, die sind
gemacht worden. Sie bekommen alles vorgeschrieben, stehen auf der
Bühne und müssen das präsentieren.
SPIEGEL: Gibt es in der Musik für Euch eine Untergrenze, wo selbst Ihr
sagt: das ist mir zu schrecklich, das kann ich nicht hören?
BILL: Also was ich zum Beispiel privat gar nicht höre und wo mit ich
nichts anfangen kann, ist Techno und Schlager. Das hat null Emotionen
und ist nicht echt. Also mir geht das so, ich spreche da nur für mich.
TOM: Ja, mit Techno geht es mir ebenso, da können wir uns alle
anschließen.
SPIEGEL: Was war das erste Lied, was euch mal als Kind geprägt hat
oder Euch aufgefallen ist?
BILL: Bei mir war das „99 Luftballons“ von Nena. Ich bin ja immer noch
Nena-Fan und das seit ich sechs bin. Da hab ich sie zum ersten mal
gesehen und kurze Zeit später hab ich ja mit Tom bereits angefangen
Songs zu schreiben und Gitarre zu spielen. Ihre deutschen Texte und
Kompositionen waren einfach gut und ich mag sie auch einfach als Typ.
TOM: Nena höre ich eher nicht. Seit vielen Jahren höre ich privat nur
noch Hip-Hop, deutschen Hip-Hop, z.B. Samy Deluxe. Ich mag es
natürlich nicht, wenn es dann nur darum geht zu zeigen, wieviel Geld man
hat und wieviele Frauen, das finde ich eher primitiv. Aber Samy Deluxe
ist jemand, mit dessen Texten ich mich sehr identifizieren kann.
Georg: Ich bin mit den Beatles, den Rolling Stones aufgewachsen. Da bin
ich wohl der letzte, der das noch von sich behaupten kann (lacht). Ich
war noch ich ziemlich klein bei der „Bridges to Babylon-Tour“ von den
Rolling Stones. Da war ich in Leipzig auf dem Konzert und kann ich mich
noch genau erinnern wie sie mit dem Hubschrauber erst über die Leute
flogen und dann hinter der Bühne landeten. Das war eine coole Show.
SPIEGEL: Wie verbindet sich bei euch der Input und der Output? Gibt es
zwischen der Musik die Ihr hört und der Musik die Ihr schreibt einen
Zusammenhang?
BILL:Ich glaube das kommt automatisch. Dadurch dass wir alle komplett
verschiedene Musik hören und dadurch dass wir alle so unterschiedlich
150
sind , vermischt sich das automatisch und unbewusst. Wir wissen jedoch
immer alle ganz genau was wir machen wollen.
SPIEGEL: Wie schreibt Ihr Eure Songs? Zuerst den Text oder zuerst die
Musik?
BILL: Das ist auch unterschiedlich. Die Jungens schreiben immer die Musik
und ich mach die texte und manchmal wenn sie schon ein Riff gefunden
haben schreib ich dann einen Text der mir grade dazu einfällt. oder aber
ich hab schon einen Text geschrieben,und habe eine Melodie in meinem
Kopf, dann schreiben die Jungens dafür die Musik.
SPIEGEL: Ihr habt ja einen Auftritt nach dem anderen. Gibt es da nicht
auch eine Sättigungsgrenze, so dass ihr keine Lust mehr habt?
G: Bei Live-Auftritten gibt es keine Sättigungsgrenze.
BILL: Wir haben demnächst unser größtes Konzert und spielen in
Gelsenkirchen vor 18.000 Leuten. Das wird richtig gut, das finden wir
schon sehr sehr cool!
SPIEGEL: Mögt ihr Deutschland?
TOM:. Wir sind hier aufgewachsen, das ist unsere Heimat und natürlich
fühlen wir da eine Verbindung.
SPIEGEL: Was sagt ihr zum Ost-West-Gegensatz zum Beispiel?
G: Das ist für uns überhaupt kein Thema
BILL: Wir sind ja auch nicht in der DDR aufgewachsen.
G: Das war alles vor unserer zeit.
Gu: Vielleicht hatten wir nicht immer so viele Bananen wie die
Westdeutschen...
SPIEGEL: Spricht man Euch nicht drauf an, dass ihr aus Magdeburg
kommt?
G: Die meisten wissen nicht einmal wo Magdeburg liegt
SPIEGEL:Lest ihr Zeitung? Tageszeitungen oder so?
TOM: Ja, morgens zum Frühstück liest man schon mal die Zeitung.
SPIEGEL: Deine Einstellung zu Angela Merkel?
G: Also wenn schon unsere Bundeskanzlerin aus Ostdeutschland kommt,
dann können wir ja wohl auch nicht so weit hinterher sein.
SPIEGEL: Woran denkt Ihr bei dem Stichwort Neonazis?
TOM: Wir als Jugendliche beschäftigen uns auf jeden Fall damit. Das
begann schon in der Schule, da war Rechts/Links schon auch ein Thema.
Natürlich finden wir ‚Rechts’ nicht gut,
BILL:: Also es ist erstaunlich und auch traurig wie viele Leute quasi noch
hinterm Mond leben und eine Meinung haben, die erschreckend ist.
TOM.: Vielleicht liegt es an der falschen Erziehung der Eltern, vielleicht
auch am Umgang mit den falschen Leuten. Jugendliche sind ja auch
extrem beeinflussbar und wenn man jung ist und nicht genügend
Aufmerksamkeit bekommt, dann rutscht man vielleicht schnell in falsche
Kreise ab.
G: Ja aber das muss man doch aber irgendwann mal begreifen. Man liest
ja Zeitung und man schaut fern. Da muss man doch irgendwann
reflektieren.
151
BILL:Jedenfalls hab ich keinerlei Verständnis für diese Leute. Ich habe
kein Mitgefühl und kein Verständnis. Na, vielleicht doch Mitgefühl, weil ich
das mit JEDEM Menschen hab, aber kein Verständnis.
SPIEGEL:Die Videokultur ist ja auch im Untergang begriffen, stimmt Euch
das nachdenklich?
BILL: Ich könnt heulen wenn ich daran denke! Überall laufen nur
Klingeltonwerbung und diese „Dismissed“- Sendungen. Die sollten auch
nicht auf MTV laufen, das passt zu RTL, aber nicht zu MTV.
Ich finde, es sollte mal wieder einen Sender geben, wo ausschließlich
Musik läuft. Und diese Klingeltonwerbung, die finde ich echt so
unerträglich, die sollte verboten werden, ganz im Ernst.
SPIEGEL:Das Geld ist einfach nicht mehr da, um diese aufwendigen Filme
herzustellen. Wie läuft das mit der Plattenfirma?
BILL: Wir wissen dass das Geld knapp ist für Videos und so weiter, wir
klemmen uns auch immer persönlich dahinter zusammen mit unserer
Plattenfirma. Wir werden immer versuchen um jeden Preis ein Video zu
machen.
SPIEGEL:: Der Spiegel will natürlich wissen, was Ihr als Band soziologisch
bedeutet, welcher Teil der Jugend sich aus welchen Gründen mit Euch
identifiziert. Warum gibt es jetzt Tokio Hotel Fans die so ganz anders sind
als zum Beispiel Fans der Kelly Family? Was bedeutet es, was auf deinem
T-Shirt steht, der Schmuck, das ganze Äußere?
BILL: Solange ich mich erinnern kann, habe ich immer Dinge getan mit
denen ich auffalle und die provozieren. Die Art, wie ich meine Haare trage
oder wie ich mich anziehe, bringen meine Persönlichkeit zum Ausdruck
Das hängt davon ab, wie ich morgens gelaunt bin,Ich kann nie
vorhersagen, was ich tragen werde oder ob ich zum Beispiel morgen eine
Glatze schneiden werde.
SPIEGEL: Passt Ihr bei diesen ganzen jugendlichen Fans, die knapp über
zehn Jahre alt sind nicht ein bisschen mehr darauf, was ihr sagt und tut?
BILL:Also wir wissen, dass wir mit unserem Beruf Vorbilder sind für viele
Menschen, dass sich viele Jugendliche an uns orientieren und sich mit
unseren Texten identifizieren, wir haben jedoch nicht den Eindruck, dass
wir ein schlechtes Vorbild sind und dass sich irgendwer sein Leben damit
verbauen würde.
SPIEGEL: Ich glaube, dass eure Jugend, die die auf Euch schaut,sich auch
irgendwie unterscheidet von der Jugend, die es vorher gab, z.B. zur Zeit
der Beatles. Fragt sich nur, in welcher Hinsicht unterscheidet sie sich?
G: Die nehmen keine Drogen
BILL: Also wenn wir Texte machen wie „Schrei“, dann beabsichtigen wir
etwas und dann wollen wir, dass unsere Fans das verkörpern. Wir hatten
schon so viele Briefe, von dankbaren Fans, die, seit sie den Song kennen,
mit noch mehr Selbstbewusstsein durch's Leben gehen. Vielleicht sind wir
insofern dann ein Vorbild, dass wir etwas bewegen und dass die Leute sich
anders fühlen, wenn sie uns hören.
TOM: Das ist eine Jugend, die nicht macht, was sie gesagt bekommt, die
sich nicht unterbuttern lässt, sondern die lernt ihren eigenen Weg zu
gehen.
152
SPIEGEL:Also vielleicht auch eine Jugend, die von allein erziehenden
Müttern großgezogen wurde, aus Scheidungsfamilien kommt und sich
dann auch verstanden fühlt, wenn sie Tokio Hotel hört?
Bill (wesentlich ruhiger, bedächtig): Das ist ja mit ein Thema, was wir
angesprochen haben auf dem letzten Album. Der Song heisst „Gegen
meinen Willen“.
TOM: Das ist bei vielen Fans ein Thema, die hören das Lied und das hilft
ihnen.
SPIEGEL: Was war der schwärzeste Tag in eurem leben? Die größte
Gemeinheit?
BILL: Nicht unbedingt der schlimmste Tag, aber ein schlimmer Tag war,
als meine Eltern sich getrennt haben. Es ist schwer das zu verstehen,
wenn man so jung ist, mit sechs,
TOM: Ja das ging mir ebenso, aber bei mir gab es dann auch so Zeiten,
wo ich mich in der Schule nicht verstanden gefühlt habe, wo ich aneckte
bei den Lehrern. Und das war schon schlimm.Bill und ich wir hatten
immer viele Freiheiten, wurden sehr offen erzogen, konnten sagen, was
wir dachten und da sind wir natürlich viel auf Widerstand gestossen.
Bill: Wir hatten immer unseren Freiraum, ich lief herum wie ich wollte,
schon mit etwa zehn Jahren durfte ich mir meine haare färben Unsere
Mutter liess uns immer diesen Freiraum.
TOM: Warum sollte sich ein junger Mensch nicht die Haare blau färben
dürfen, wenn er Lust dazu hat?Das kann man immer wieder ändern,
wenn das irgendwann nicht mehr gehen sollte wegen des Jobs z.B., Aber
es ist auch wichtig, dass die Eltern ihrem Kind den Weg zeigen und auf es
aufpassen. Und wenn sie merken, dass das Kind das schon irgendwie
hinkriegt und seine Sache schon macht, dann sollte man ruhig auch den
nötigen Freiraum schaffen.
G: Ich denke die Eltern müssen Freiräume vor allem für Fehler lassen,
weil man nur aus Fehlern lernt.
SPIEGEL: Bill:, du hast doch bei Starsearch mitgemacht, wie kams dann
dazu?
TOM:Wir saßen auf der Couch und in diesem Moment lief die Werbung im
Fernsehen für diese Casting-show bei der sich junge Leute bewerben
konnten, die unter 16 waren. Zwischen Tom und mir lief damals eine
Wette und wir beschlossen: wer verliert, der muss sich da bewerben
BILL: Jedenfalls hatten wir gewettet und ich verlor wie man nun weiss. Ich
musste den Auftritt also durchziehen und das war mir schon sehr peinlich.
Bis heute habe ich das nie wieder angeschaut und die Teilnahme hat mir
im Nachhinein auch nichts genützt. Keiner hat mich entdeckt, niemand hat
sich daraufhin gemeldet. .
Auch der Versuch die Jungens mit einzubauen, hat nicht funktioniert
SPIEGEL:Jetzt muss ich doch mal eine Bravo-Frage stellen...
G: ...wir haben keine Freundin!
SPIEGEL:Also Mädchen müssen ja doch irgendeine Rolle im Laufe der
Bandgeschichte gespielt haben
BILL:Da die Band an allererster Stelle steht, haben wir natürlich nur
wenig Zeit. Das war bei mir schon immer so. Für mich stand immer fest,
153
dass ich Musik machen möchte, und dahin wendet sich meine ganze
Konzentration. Dafür investiere ich alles, meine ganze Zeit und meine
Energie. Und natürlich hatten wir Freundinnen und das war auch alles gut
und schön und aber das wurde eben irgendwann immer ein Problem. Wir
hatten und haben immer weniger Zeit.
TOM: Wir waren eine Männer-Runde.
Georg: Das war unsere eigene Welt...
BILL: ...zu der niemand Zutritt hat.
SPIEGEL: Aber Ihr interessiert Euch doch für Mädchen?
Tom: Das versteht sich doch von selbst. Bill hatte auch schon feste
Freundinnen. Aber wir unterscheiden uns in unserer Einstellung extrem.
Ich bin nicht abgeneigt auf ein Abenteuer, während Bill sowas niemals
machen würde.
Bill: Ich warte auf die große Liebe.
Tom: Bill ist da so extrem, das kann man sich gar nicht vorstellen.
SPIEGEL: Der spricht lieber mit dem Tourbus-Fahrer als mit einem
hübschen Groupie?
Bill: Oh nein, nein! Natürlich spreche ich mit dem Mädchen! Aber es muß
schon eine schicksalshafte Begegnung sein, wenn mehr daraus werden
soll.
SPIEGEL: Und Drogen?
Tom: Da sind wir noch extremer. Das ist für uns außerhalb jeder
Vorstellungsmöglichkeit.
SPIEGEL: Aber Popstars nehmen doch Drogen.
Tom: Mag sein, sollen sie. Vielleicht kommen wir ja später mal auf den
Geschmack. Aber jetzt ist es echt das Allerletzte, woran wir denken
würden. Dieser Scheiß!
SPIEGEL: Apropos später: Was müsste passieren in den nächsten fünf
Jahren, damit ihr denkt: so ist es am allerbesten?
TOM: Weitere Alben, weitere Konzerte und .wenn sich alles so gut
weiterentwickelt wie bisher, dann kann es perfekter nicht sein. Wir haben
Schallplatten auf dem Markt, sie verkaufen sich gut, die Menschen
interessieren sich für uns, viele Zeitungen schreiben über uns, wir haben
viele Fans und wir sind in der Lage riesige Konzerte zu geben.
SPIEGEL: Habt ihr auch schon einmal überlegt das Projekt mit Eurer Band
zu stoppen ?
Bill, Georg: Niemals!
TOM: Nein, niemals. Also wir könnten es jederzeit. Wir könnten sagen ich
mag nicht mehr...
BILL: ...aber das kommt für uns gar nicht in frage, das ist das letzte
woran wir denken. Wir haben noch viel vor. Wir möchten schreiben viel
erleben und es macht uns Spass in der Welt herum zu kommen.
Gustav: Schliesslich müssen wir noch nach Tokio.
TOM: Vielleicht fragen Sie uns in fünf Jahren noch einmal.
Fußnote
Tokio Hotel
154
Zum ersten Mal schlug ich das Thema dem SPIEGEL vor, als die Gruppe "Durch den
Monsun" herausbrachte. Ich sah das Video zufällig auf dem Musikkanal VIVA. Ich drehte
lauter. Als ich in die Küche zu meiner Frau Barbi ging, hörte ich, dass sie mitsang. Aber
nicht richtig, sie äffte es eher nach. Sie kannte das Lied schon und hasste es. Ich dachte
spontan: "Ich sollte einen Artikel schreiben, der müßte die Überschrift tragen: `Sind
Tokio Hotel die neuen Beatles?`" Warum ich das dachte, weiss ich nicht. Vielleicht weil
meine Mutter, als ich sieben war und zum erstenmal die Beatles hörte, ebenso reagierte.
Erwachsene mögen keine Kindermusik. Ich mußte nicht darüber nachdenken, wie die
Redakteure des SPIEGEL Tokio Hotel fanden. Natürlich unter aller Sau.
Indiskutabel. Das absolut letzte. Das sagten sie nicht. Das dachten sie nicht einmal.
Aber ich wußte es. Wenn ich meinen Artikel so nannte, war das die größte denkbare
Provokation für sie, diese Riege alter Babyboomer und Beatlesfans. Als würde man einen
gläubigen Moslem fragen: `War Mohammed Britney Spears?`. Ich schrieb mehrere EMails an den Ressortchef, das Thema immer weiter ausschmückend, bekam aber keine
Antwort. Dann schlug ich es in der Redaktionssitzung vor.
Meine Angst war insgeheim, man würde mir sexuelle Neigungen zu den kleinen Jungs
unterstellen, da jedes andere Motiv ausgeschlossen war. Die Reaktion darf ich nicht
schildern, da ich Redaktionsgeheimnisse nicht verbreiten darf. Nur
soviel: Es geschah nichts. Ein halbes Jahr verging. Die Gruppe wurde immer bekannter,
mein Interesse immer geringer. Nach ihrem dritten Nummer Eins Hit schlug ich das
Thema nochmal vor, und diesmal bekam ich ein mattes Okay. Ich konnte jetzt
wenigstens mal auf eigene Faust recherchieren, ohne ein Dementi der Redaktion
befürchten zu müssen. Inzwischen hatte der `stern` die übliche Alles-nur-gemacht
Entlarvungsgeschichte gedruckt, wie sie es bei jeder echten Neuheit seit
35 Jahren tun. Das beruhigte die Kollegen, die nun wohl auch von mir eine
spotttriefende, hämische Hinrichtung von Tokio Hotel erwarteten. Es kam zu einem
Treffen mit den vier Jungen in einem norddeutschen Bauernhof, wo sie irgendwie
trainierten, Butterbrote aßen, den Hühnern zusahen oder sonstwie abtauchten.
Es war nicht ihr Elternhaus, aber so etwas ähnliches. Völlige Ruhe umgab das irgendwie
gottverlassene Anwesen. Ich machte mein Interview, und da die Kinder nichts
Brauchbares antworteten, dauerte es ewig. Es ist nämlich so: Ich kann kein Interview
beenden, bevor nicht etwas Sinnvolles und somit Druckwürdiges gesagt wurde. Als die
üblichen 20 Minuten vorbei waren, hatte ich noch keinen einzigen Gedanken auf dem
Zettel. So machte ich weiter. Nach vier Stunden hatte ich endlich soviel Material, dass ich
mir zutraute, durch geschickte Verdichtung, Collagetechnik, mit dem Management
abgesprochene Manipulation, eigene Inspiration sowie weitere Schnipsel in privaten
Gesprächen "off the record", mein Interview fertig zu kriegen. Dabei ist zu sagen, dass
die Antworten von Bill und Tom Kaulitz keineswegs dumm waren, im Gegenteil: sie
waren zu klug. Oder zu richtig, zu realistisch, zu professionell. Es waren
Roboterantworten, die aber nicht von Robotern gesprochen wurden, sondern von höchst
leidenschaftlichen, liebenswerten Jugendlichen. Man hat diesen Eindruck (ganz selten)
einmal, wenn einem ein neues Politikergesicht ausnahmsweise sympathisch ist, etwa
Katja Kipping, bevor es schon beim zweiten oder dritten Talkshowauftritt für immer in
der eigenen Wahrnehmung erstarrt. Die anderen beiden Jungs waren nett und normal.
Sie sprachen nicht wie Roboter. Es waren Menschen. Aber es ging auch keine Faszination
von ihnen aus. Faszinierend waren Tom und Bill, wobei Bills Faszination deutlich größer
war als Toms. Ohne im mindestens schwul zu wirken oder zu sein, wahrscheinlich gerade
deshalb, verwirrte er die Sinne aller Menschen, Tiere und Gegenstände beträchtlich. Der
Mann war nicht einzuordnen, von niemandem, und selbst Jesus Christus hätte Mühe
gehabt, ihm den Bruderkuss zu geben ohne Herzklopfen.
Wir waren uns sympathisch und verabredeten ein weiteres Treffen. Ich wollte mir die
Gruppe live beim Auftritt ansehen, und zwar in der Glückauf Kampfbahn in
Gelsenkirchen. Mein Interview löste beim SPIEGEL verheerende Reaktionen aus.
Es würde zu lange dauern, all die verschiedenen Versuche meinerseits, das Interview zu
retten, umzuschreiben, zu kürzen und so weiter, und die Reaktionen der Redaktion
darauf zu schildern. Wahrscheinlich ist der ganze Prozeß gar nicht mehr rekonstruierbar.
Wozu auch, die Interviewform war ohnehin nicht typisch für mich und die Arbeit beim
SPIEGEL. Interviews müssen immer geändert werden, haben mit Kreativität und
155
Sprachschönheit nichts zu tun. Diesen Konflikt hatte ich dagegen wieder bei meiner
Reportage über das Tokio Hotel Konzert, die ich nun schrieb. Wie alle meine Texte war
sie rundum gelungen und unverbesserbar wie eine Fuge von Bach. Das Ritual des
Umschreibens und Verschlechterns begann. Nach dem 37. Umschreiben - zuletzt nur
noch von meiner Frau Barbi vorgenommen - war der Text komplett ruiniert. Es gab nun
zum Thema Tokio Hotel bereits zwei zerstörte Lottmanntexte, beide aufwendig
recherchiert und teuer finanziert. Das war wohl der Grund, warum über viele weitere
Zwischenstufen es dann plötzlich DOCH zu einer Veröffentlichung kam. So kommt es
nämlich auch bei dem normalen Mitarbeiter zum Erfolgserlebnis: er wird gedruckt, weil er
sich solange bemüht hat, so lange rumgekrebst hat in der Warteschleife mit den 300
anderen unglücklichen Mitarbeitern, weil er "dran ist". Es kam nun zu einer Fassung, die
alle möglichen Elemente der 37 umgeschriebenen Versuche enthielt, zum Beispiel diesen
Musikwissenschaftler, der die musiktechnischen Gemeinsamkeiten von Tokio Hotel und
den Beatles erklärte. Von meinem ersten Themenvorschlag bis zur Realisierung war
genau ein Jahr vergangen. Das Provokationpotential war fast schon verflogen; die Band
stand kurz davor, auch von den seriösen Medien anerkannt zu werden. Vielleicht auch
nicht, vielleicht lag es nur an meinem SPIEGEL Artikel, der dazu führte, dass Tom und Bill
Kaulitz in die nächste Beckmannsendung durften. Der `stern` schwenkte um, brachte
den ersten "sie sind wirklich neu"-Bericht seit Menschengedenken. Mein Anliegen, eine
Band zu fördern, die keine Casting Band ist, und dabei das Casting Unwesen als Teil einer
großen Generationenungerechtigkeit zu zeigen, hatte ich durchgesetzt. Es war dasselbe
Anliegen, dass mich auch meinen letzten Roman `Zombie Nation` schreiben liess. Beim
SPIEGEL blieb das Entsetzen. Tokio Hotel gut? Quel blasphémie! Es war so, und das ist
natürlich auch wieder ein bißchen ärgerlich und albern, als hätte ich mir durch diesen
Artikel selbst beweisen wollen, wie recht ich doch in "Zombie Nation" gehabt hatte: die
Generation der deutschen Feuilletons, diese von-Neill-Young-bis-Madonna-Generation,
objektiv und subjektiv ja längst "Zombies" (daher der Titel) verhielt sich gegenüber
allem, was nicht in ihren 1981-er Kanon paßte, arrogant und ignorant.
27. Palast der Republik - DER KIRCHENTAG DER NEUBAUTEN
Es war ganz schön scheußlich. Wirklich. Es war so, wie man sich es
vorstellt: altgewordene Wendeverlierer aus dem Westen verkrümeln sich
in den Weiten der galaktisch großen Tiefkühltruhe 'Palast der Republik'.
Nun sind diese beiden Worte "Einstürzende Neubauten" und "Palast der
Republik" allein schon einen Artikel wert. Weil ja diese Band so alt und
eingestürzt ist wie der Palast selbst. Weil da zwei Deutschlands
zusammenfinden, die beide etwas Haarsträubendes haben: Die GruftiSzene aus seligen Kohl-Tagen und die tote Welt der Inka-Monumente
Erich Honeckers. Das müßte eigentlich was geben. Und der Artikel wird ja
auch geschrieben.
'Ideal' piept und säuselt aus dem Tour-Bus. Berlin leuchtet. Der Dom, von
Willem Zwo höchstselbst bezahlt, funkelt neben den ganzen anderen
evergreens der Berliner Republik, Schinkels Neue Wache, Schröders Alte
Kommandatur, Schadows Zeughaus und so weiter. Doch dann der 'Palast'!
Wie eine US-amerikanische 'gothic'-Comicphantasie ragt das braune
Rostgebirge in den schwarznassen Nachthimmel. Hier können sie, mal
wieder, 'blade runner II' drehen. Eine lange Schlange wie vor dem Moma
kriecht von der Straße her an das gestürzte Megasymbol unbarmherziger
Diktatur heran, wohl am Brandenburger Tor beginnend. Keine Autos. No
games, just sport. Die Leute sehen alle aus wie Michael Stipes oder wie
156
der heißt, von R.E.M. (um mal eine nichtdeutsche Spur zu legen, denn von
nun an wirds fürchterlich teutonisch).
Es ist eiskalt. Was für ein Bau! Wie allesverschlingend, allesvernichtend
riesig. Man ahnt das von außen ja gar nicht. Es sind halt die Ausmaße des
Alten Stadtschlosses, ob von Schinkel oder Schadow ist da ganz egal.
Gewaltige meterdicke, 140-Meter-lange Stahlträger halten oben eine
bedrohlich schwere Betondecke davon ab, herunterzustürzen auf diesen
namenlosen Reichsparteitag wabernder deutscher New Wave Gefühle.
Eine Kulisse wie für ein George-Orwell-Video, oder lassen wirs gleich raus,
wie von Leni Riefenstahl geträumt. Hier haben die Matrosenräte von
Petrograd getagt, 1917 oder wann, im Beisein Eisensteins! Das spüre ich
doch! Da kann mir keiner was erzählen! Heraus zum Ersten Mai, jawoll,
weil der Prolet ein Prolet ist! Man hört die schwere Kirchenorgel und
dazwischen deutsche Worte wie "Fahrstuhl", "Taxi", "Minibar" - der Blixa
Bargeld singt schon. Die Veranstaltung hat auf die Minute pünktlich
angefangen, und ohne Vorgruppe...
Ich schaue nach oben, immer wieder, zur Betondecke. Ein KamikazeDüsenjet würde an ihr zerschellen. Aber angsterregender noch sind die
vielen funzeligen Neben-, Tief- und Hinterebenen, die sich im Dunkel
verlieren und ahnen lassen, daß der Schrecken dieses Ortes keinesfalls
schon abgeschlossen, ausgegrenzt ist. Die hysterische WeibsmannStimme des Sängers erreicht jeden Winkel. Das ist ein Typ, hilf Himmel,
zuckend, ekstatisch, der ewige Kinski natürlich, 'ausdrucksstark'. Blixa
Bargeld. Nimmt sich entsetzlich wichtig, ist so humorlos. Es gibt keine
Ansagen, kein einziges Wort fürs Mikrofon, keine Auflockerung. Der
Hohepriester will seine Messe zelebrieren. Dabei ist die Hütte voll und
jeder könnte etwas Stimmung gebrauchen. Denn im 'Palast' wirkt jede
Volksmasse verloren. Die Leute frieren wie wahnsinnig. Viele werden sich
erkälten, einige sterben. Arme harmlose 30- bis 40jährige West-Loser, alle
so nett... sie tun mir leid, ich mag sie. Sie tragen dunkle, zerbeulte
Alltagshosen, Thermojacken von Tschibo, oder nur einen angejahrten VPullover. Die 'Neubauten' treten in Wave-Anzügen auf, Blixa im
dunkelgrauen Dreiteiler mit Weste. Ein Bäuchlein schützt ihn davor, den
späten Jagger zu geben und auf 'Sexsymbol' zu machen. Nein, er hat als
'Aguirre der Zorn Gottes' die Rolle seines Lebens gefunden. Immer schön
tiefsinnig hinter Nebelwänden und vor 'hypnotisierten' Menschenmassen,
die in Trance die Köpfe nicken auf Befehl, grusel-grusel. Dumpfe
Trommelschläge nehmen ihnen den letzten freien Willen, diesen UrGermanen, die ihrem apokalyptischen commander in chief hörig folgen, ja
ja ja, das ist der Kick für die Ausländer, die auch Rammstein schon
entdeckt haben, als 'typical kraut art'. Dann bricht es doch wieder aus,
bricht die feierliche Stimmung weg, als der Zeremonienmeister seine
Kompetenz überdehnt und zu jodeln anfängt wie Hubert von Goisern und
seine Almkatzerln. Da nutzt ihm auch die exzentrisch lange Hitler-Tolle
nichts mehr, die er wütend nach vorn ins Gesicht wirft: das zahlende
Publikum will nun partout nicht mehr heilig gestimmt sein! Es beginnt zu
lachen, sich zu unterhalten, Handygespräche anzunehmen. Also die, die
ein Handy besitzen. Die meisten der schmächtigen, redlichen West-Loser157
Senioren können sich ja keins leisten, oder sind mit der Technik noch
nicht vertraut...
Blixa will nun das Konzert tatsächlich abbrechen. Und tut es auch erstmal.
Er sagt, es sei ihm zu laut. Minutenlang tut sich nicht mehr viel. Die Leute
werden nicht leiser. Blixa will die sakrale Stille für seine Botschaften.
Welche Botschaften? Was hat er uns zu sagen? Was WILL dieser Mann?
Seit wann gibt es ein Schweigegebot bei Kitsch? Das sieht niemand ein.
Bei 'Human League' hätten sie vielleicht mehr Respekt gehabt, weil man
außer "She was a waitress in the cocktail bar" nicht viel versteht, als
jemand, den das Leben bestraft hat, weil er zu spät gekommen ist. Aber
hier? Dieser weihevolle Trübsinn? Man versteht doch jedes Wort! Die Band
macht trotzdem weiter - düster, dräuend, ahnungsvoll, und dann sagt
dieser Frontmann doch noch etwas: daß die Band jetzt die greatest Hits
aus 25 Jahren Einstürzende Neubauten spielen werde.
Ich gehe die Treppe hinunter, entferne mich. Ich erinnere mich daran, wie
alt mir die Rolling Stones vorkamen, als sie ihr zehnjähriges
Bühnenjubiläum feierten. Da war ich noch ein Kind. Alte Menschen, dachte
ich damals, sollten nicht mehr auf der Bühne rumhampeln.
Schicksalsschwer zittert ein dunkles Cello. Dann wieder Hardrock-Griffe,
maßlos laut, die Toten Hosen sozusagen brettern mit ihrer Bier-Musik
durch den Palast der Republik. Schon seltsam, daß dieser Ort, genau hier
und nirgendwo anders, das Allerheiligste des Sozialismus war, die
kommunistische Kabaa. Und heute: Quatsch und Kitsch; deutsche
Schauerromane, tödlich ernst aufgetischt.
Nur hat keiner mitgemacht. Die Band verzog sich reichlich beleidigt nach
zwei Stunden hinter die Bühne und wartete darauf, für mindestens vier
Zugaben rausgeklatscht zu werden. Als keiner klatschte, kamen sie auch
so. Für eine.
28. Popstar aus Lüdenscheid - Jens Friebe
„Wie findest du eigentlich meine Platte?“
Jens Friebe will geliebt werden – als Popstar. Halb hat der Berliner Sänger
das mit seiner Debüt-CD schon geschafft. Eine Begegnung
„I don't know what it is
It makes me feel like this,
I don't know where you are
But you must be a kind of superstar..."
(Kelly)
Es nieselt leicht, aber man kann ohne Regenschirm den dürren
Grünstreifen auf der Stalinallee entlangschleichen, dem Osten entgegen.
Kein Auto zeigt sich, es ist Sonntag, es sind sogar Ferien. Jens Friebe ist
noch fertig vom letzten Auftritt. Er musste plötzlich Blumfeld ersetzen,
eine Band, die nun keiner mehr hören will. Nicht mehr, seit vor kurzem
158
Friebes CD „Vorher Nachher Bilder“ (ZickZack) erschienen ist. Dabei ist
Friebe nicht gerade schön, aber dreist angeschwult und undefinierbar
daneben. Irgendwas ist da, das es bisher nicht gab. Die Mädchen sind
verrückt nach ihm, auf Konzerten sieht man sie, rot angelaufen, verheult,
erregt. Die Manager registrieren diesen „Groupiefaktor“ sehr genau.
Wann hatte es zuletzt einen deutschen Star mit diesem Faktor gegeben?
Selbst der frauenfixierte Bernd Begemann zog in demselben Alter nur
männliche Fans an, vor 15 Jahren. Doch nun: Jens Friebe. Ein Name wie
eine Autowerkstatt. Wie für eine schlechte Comedysendung ausgedacht.
So könnte ein Busfahrer heißen. Aber einer, der MTV-Mädchen in den
Orgasmus treibt? Wie ist das überhaupt, mit so vielen Groupies zu
schlafen? Was machen da seine metrosexuellen Persönlichkeitsanteile?
„Ich kann’s dir nicht sagen, Mann, selbst wenn ich es könnte“, stöhnt er.
Zur Metrosexualität gehört auch, nicht mehr über Sex zu reden: „Das ist
einfach over.“ Eine gute Kombi sei, verrät er immerhin, die mittelalte Frau
mit Kind. Da verbinde sich die reale Lebenserfahrung der Frau mit der
unterstellten Medien-, also Welterfahrung des nur halb so alten Jungstars.
Aber am liebsten schläft er immer noch mit seiner Freundin Doreen aus
Hellersdorf, weil da „Spiritualität“ hinzukomme.
Anyway: Er will dafür geliebt werden, ein Star zu sein. Nur als Star fühlt
er sich gemeint. Alles andere wäre austauschbar. „Andere Jungs haben
alles, was ich auch habe. Aber den Starstatus haben sie nicht.“ Bei
Frauen, die ihn deswegen lieben, muss er keine Konkurrenz fürchten.
„Wer sollte da kommen? Die Jungs von Echt vielleicht? Das sind doch
Schüler!“ Schlecht gelaunt stolpert er weiter. Der Sozialismus hat
Grünflächen nie in den Griff bekommen. Die wilden Grasbüschel im
Mittelstreifen machen, was sie wollen. Na ja, Honecker ist tot, da tanzen
die Mäuse auf den Tischen.
„Wie findest du eigentlich meine Platte?!“, fragt Friebe ungeduldig. Ich
erkläre es: „Sehr dynamisch! Die Musik hängt mich immer nach zehn
Sekunden ab. Von da an kann ich nicht mehr auf den Text achten,
sondern werde von dieser sich ständig steigernden Dynamik ergriffen. Das
ist bei allen Stücken so. Sie beginnen intellektuell und enden dramatisch.“
Jens nickt befriedigt. Er gilt nämlich als politisch und engagiert. Aber
lieber wäre er ein guter Musiker.
Die Stalinallee, die heute wieder Frankfurter heißt, nimmt kein Ende.
Friebe schaltet auf Konversation um, also Städtevergleiche, Horoskope,
Weltreligionen und so weiter. Köln sei die Stadt mit dem schlimmsten
Regionalismus. An Berlin komme natürlich nichts heran: „Und man denkt:
Warum bin ich nicht gleich hierher gezogen?“ Wir stolpern nach vorn,
unseren Füßen hinterher. Friebe hat den totalen hangover. Die lassen so
einen hübschen jungen Popstar ja nicht einfach wieder in den Tourbus
steigen, die weiblichen Fans. Eine Gruppe Ostjugendlicher überholt uns.
159
Gelbe Haare, wie sie Die Ärzte haben, schwarze Klamotten, Jeans mit
Löchern, die eine Hand am Arsch der Freundin, in der anderen baumelt
eine offene Flasche Rotkäppchensekt. Eine Blonde schlägt im Gehen auf
ihren Freund ein, immer wieder, ritsch-ratsch.
Das beste Lied auf Friebes CD heißt „Das deutsche Kino ist das
schlechteste von der Welt“. Damit meint Friebe die Moritz-Bleibtreu- und
Franka-Potente- Filme ebenso wie „Gegen die Wand“. „Da wird immer
gebrüllt und geschrien wie im modernen Theater. Je mehr Kotze und
Schleim, desto echter, denkt die Kritik und jubelt. Für mich sieht
Realismus anders aus.“ Für den Song wird er oft unbegreiflich hart
angegriffen und versteht es nicht. Friebe liebt Robert Stadelober, dem er
übrigens ziemlich ähnlich sieht. Auch der hat dieses nachlässig
Angeschwulte, ohne schwul oder wenigstens schön zu sein. Prompt zieht
auch Stadelober megaschwere Aggressionen auf sich. Er werde auf der
Straße manchmal sogar angespuckt, habe der ihm gestanden. Kein
Wunder, dass der Schauspieler („Crazy“) seinen Beruf nicht achtet und
lieber Musiker sein möchte. Leider ist seine Band zu schlecht.
Friebe hält kurz inne, der 22-jährige Blondschopf atmet schwer. Soweit
das Auge reicht diese pfeilgeraden fortgesetzten Germania-Fantasien,
Hitlers letztes Spielzeug. Umgesetzt natürlich von anderen. Der Senat hat
nach der Wende ein paar Kastanien gepflanzt, sieht aber immer noch
unmenschlich aus. Jens umklammert eine Straßenlaterne mit römischer
Standarte obendrauf. Heil dir, mein Sportsfreund, heil Weltfestspiele der
Jugend, heil Honecker! Er geht weiter. Es geht wohl wieder mit der
Pumpe.
Das Gute am Popstarberuf ist, dass man nicht in Euro, sondern in
Mädchen bezahlt wird. So ist das gesellschaftlich verabredet. Aber zu
diesem Regelwerk gehört auch, dass man darüber schweigt. Rio Reiser
hat die Namen seiner 375 Groupies mit ins Grab genommen. Auch Jens
seufzt, sieht auf seine zitternden Hände und lächelt nur. Popstar zu
werden, ist kein Weg, sondern eine Entscheidung. Er war es schon mit 17.
Ein echtes Glück bei seinem Aussehen. Er sieht weiß Gott nicht süß aus,
hätte in keiner boy group eine Chance. Aber gerade die Dämlichkeit der
boy groups sowie die feminine Allergie gegen HipHop waren seine Chance.
In Deutschland kann ein Junge, der seine Beobachtungen in Lieder packt,
noch immer etwas werden. Bei Frauen. Nicht bei Männern: „Oft werden
wir gerade bei linksalternativen Hip-Festivals entbucht, also trotz Buchung
wieder ausgeladen. Die Typen da hassen mich einfach.“
Wäre nicht schlecht, jetzt den Bus zurück zu nehmen. Aber die Linie ist
eingestellt. Eigentlich weiß Friebe nicht, welches Lied er als nächstes
schreiben soll. Beim vorletzten dachte er bereits, es käme nun keins
mehr. Einmal Popstar sein und danach das richtige Leben beginnen, das
war sein Plan. Vielleicht macht er es aber doch anders. Übernimmt die
Galerie seiner Mutter nicht. Landet noch ein paar Hits, lernt Mädchen
160
kennen. Er reckt den Kopf, blickt mutig in den Himmel. Die blonden Haare
flattern nach hinten, an den Ohren vorbei. Der Mund selbstgerecht und
hart, die Lippen scharf geschnitten, unfähig zur Zärtlichkeit. Ein deutscher
Kurt Cobain? Ein David Beckham der Popmusik?
Unrasiert ist er ja. Die senfgelbe Fliegerjacke aus feinstem Leder
kontrastiert angenehm zu einem bis zum vierten Knopf aufgeknöpften
Cote-d'Azur- Hemd mit breiten violetten und schwarzen Streifen. HeidiKlum-Lover Enio Flaviatore könnte ihm das geschenkt haben, als der
Bauch zu sehr anquoll. Ich bringe meine Assoziationen zur Sprache, Friebe
pariert: „Ja, Beckham. Leider ist dieses durchaus neue, fortschrittlichweibliche role model eines Mannes bei der EM zerstört worden. Durch
diesen Rooney, dieses Tier, dieser Bierpöbeltyp alten Schlages. Kurt
Cobain dagegen war keineswegs antimaskulin, nicht seine Musik.“
Die Stalin-jetzt-wieder-Frankfurter-Allee ist zu Ende. Wir biegen links ab
nach Friedrichshain, besuchen ein Steh-Inder- Restaurant, zu dem wir
schon die ganze Zeit wollen. Zwei Tische, drei Gerichte. „Seltsam“, meint
Jens, „vor einem Jahr war der Laden doppelt so groß. Die müssen etwas
zugemauert haben.“ Eine bahnbrechend reizende junge Frau bedient,
keine Inderin, eher eine schwarzarbeitende Schülerin. Kräftige, selbst
geschnittene Haare, grünes Unterhemd, darüber ein marmeladenrotes TShirt, das sie auszieht, als sie meinen Begleiter als Jens Friebe
identifiziert. Er mustert ihre Figur mit einem langen, müden Blick von
oben bis unten. Aber sie kommt nicht mehr dazu, ihn anzumachen, da
zwei andere Kunden zahlen wollen.
Er isst im Weiterlaufen ein Süppchen mit weißen Pilzimitaten, ich trinke
aus einer schmalen Blechdose Litschi-Saft. Der Himmel ist so grau,
weißlich-grau und gräulich-grau, wie bei einer Kap- Hoorn-Umsegelung.
Das sieht so trostlos aus, dass ich ihn bitte, etwas zu singen. Er stützt die
linke Hand in die Hüfte, atmet einmal tief durch, überlegt kurz, behält das
gerade klingelnde Handy in der rechten Hand. Ohne sich zu genieren – es
geht ihm jetzt auch besser, nach der Suppe, und ich merke, dass er eine
großartige Stimme hat –, intoniert er seinen aktuellen Hit „Weil ich ein
Star bin“: „Dass ich dich hab/ Reicht mir einfach nicht/ Ich will nicht/ Dass
du mich trotz meiner Schwächen liebst/ Oder weil man mit mir über alles
sprechen kann/ Oder weil ich für dich da bin/ Ich will/ Dass du mich willst/
Weil ich ein Star bin!“
„Was machen wir jetzt?“, fragt der Star und sieht mich aus
blutunterlaufenen, nicht gerade dezent geschminkten Augen an. „Ich
muss meine Freundin anrufen, wir haben uns gestritten.“
„Ach!“
[Politik: Ohne Schröder im Merkelland]
161
29. DIE AVUS - Deutschlands erste Autobahn
Vielleicht ging es den Testern, die die AVUS Raststätte so schlecht
bewertet hatten, ja so wie mir: eigentlich wollten sie auch alles mögliche
loben, aber am Ende waren sie so fix und fertig, so vernichtet, daß überall
der Daumen nach unten ging. Ich würde die übrigens gern einmal
kennenlernen, die Tester. Wie hatten die das überlebt? Konnten sie ihren
Beruf danach fortsetzen? Allein das Ding zu finden - noch eine eher
leichtere Übung - erwies sich als schier unmöglich. Ich versuchte es
dreimal.
Annäherung 1: mit dem Auto (vielleicht sollte man es im ältlichen AVUSDeutsch von 1913 ausdrücken: mit dem eigenen Automobil). Man fährt so
gut wie sämtliche Berliner Stadtautobahnen rauf und runter, die bündeln
sich irgendwie an dieser Stelle. Man sieht immer wieder den Funkturm,
denn da soll es doch sein.
Es gibt sogar ein verblättertes blaues Hinweisschildchen mit diesen
schwarzen Signets auf weißem Grund, so ein Bett, Messer und Gabel, ein
Zapfhahn. Es ist aber schon so ganz und gar nicht neu, daß man ihm nicht
mehr glaubt.
Autobahnhinweisschilder müssen neu und makellos sein. Und wirklich: da
kommt dann nichts. Man fährt in die Irre. Mal Richtung Hamburg,
Magdeburg, Hannover, Potsdam, oder plötzlich wieder Leipzig, München,
Kassel, Wannsee, Cottbus, Dresden, oder wieder Rostock, Spandau,
Magdeburg und so weiter. Ganz Deutschland dreht sich um diese Achse.
Funkturm ja, AVUS-Gebäude ja (man kennt es noch aus besseren Tagen
und man SIEHT es zwischen den Bäumen schimmern, bei Tempo 130),
aber Einfahrt nein. Es gibt nur einen kleinen Einlaß, eine plötzliche
Öffnung ohne Zubringer, die muß man kennen. Ich erwische sie im dritten
Anlauf. Schwer atmend bzw. rasselnd rollt das Automobil, ein
wehrmachtsgrauer Volkswagen aus der frühen Adenauerzeit, auf die
holprige Piste. Das passende Auto zum nostalgischen, nein
hochgefährlichen Einsatz. Ich bin Tom Cruise. Die unmögliche Mission:
Essen Sie in der Raststätte mit den schlechtesten Noten Deutschlands.
Ich will vorsichtig vorgehen, in mehreren Stufen der Annäherung. Ich sehe
mich um. Brachland. Eine offizielle Autobahntankstelle gibt es auch, eine
sehr an die DDR erinnernde Baracke mit einigen Zapfsäulen davor. In dem
kleinen Kabuff kaum Platz für das Nötigste: Pornohefte, Taschenlampen,
Schweizer Mehrzweckmesser, Pornohefte für die Brummifahrer, Coca Cola,
Underberg und Sex-Magazine, also Pornohefte. Ich schleiche daran vorbei.
Vierzig Meter weiter die Raststätte. Dazwischen Campingwagen, vielleicht
von Asylanten oder so bewohnt. Hinter mir raschelt etwas. Winkt da der
Tankwart mit einem Pornoheft? War das ein Asylantenkind aus Albanien,
das von der Mutter an den Haaren in den Bus zurückgerissen wurde? Ich
sehe Container, die wirken aber unbewohnt. Gut zwanzig große LKW
stehen da noch rum. Aber eher wie tot. Es ist wohl sowas wie ein
Dauerparkplatz.
162
Ich finde den Hintereingang zur Raststätte. Ist natürlich der einzige
Eingang. Ein junger Mann mit freiem Oberkörper und kahlrasiertem
Schädel kommt heraus, geht wie in Trance an mir vorbei, muskelbepackt.
Der hat mich wahrscheinlich nicht gesehen, und dann auch nicht
zugeschlagen. Ich sehe die alten, vertrauten Raststättensymbole:
Wickelraum für Babys, Dusche, Toiletten. Nur Behinderte gab es damals
noch nicht, also keine Klos für die. Freilich, man muß es einfach sagen, es
geht nicht anders: die Wand- und Bodenfarben braun und blau sind
wirklich superscheußlich. Siebziger style, gewiß, aber muß es gleich so
kraß sein? Hätte nicht auch orange und hellblau gereicht?
Ich drehe mich nochmal rasch um. Alles menschenleer. Keine Geräusche.
In der Ferne nur das feine Meeresrauschen des ewigen Autobahnverkehrs.
Im Hotel selbst nur das Surren der Belüftungsanlage. Ich lese ein Schild,
der alte Kommandoton aus dem Kalten Krieg: "SIE BEFINDEN SICH IN
EINEM BETRIEB DER TANK UND RAST AG!" Die Sonne brennt. Ich bin
Dennis Hopper in ´Paris, Taxas´. Gleich kommt Nastassja Kinski. Es ist
Mitte August. Die Stadt ist leer. Der alte Bau ist von der Sonne aufgeheizt.
Die braunen Kacheln am Fußboden sind vielleicht nicht gar keine braunen
Kacheln. Die Blumen sind jedenfalls auch keine. Aus Stoff.
Nein, aus Stoff-Imitat. Ich setze mich und bestelle schließlich Rührei mit
Schinken.
Ich kann es nicht aufessen, weil es so VIEL ist. Das sind noch die
Portionen für die ausgehungerten Flüchtlinge aus der Zone, die sich 33
Tage lang unter der Mauer einen Tunnel gegraben hatten. Das ist natürlich
nett, eigentlich, also wirklich rührend, und ich will schon den ersten
Pluspunkt notieren, jedoch:
das ganze Zeugs ist so maßlos FETT, alles trieft und schwimmt im Fett,
alles schliert und glibbert und tunkt in einer undefinierbaren Soße aus
ranzigwirkendem, schmalzartigen Irgendwas, daß mein Magen rebelliert.
Er schwillt an aud Medizinballgröße, ich muß ständig aufstoßen, und als
ich die Innenfläche meiner rechten Hand behutsam auf die Bauchdecke
senke, unbeobachtet, ja, was passiert da? Da muß ich doch wirklich einen
Kampf gegen den Brechreiz ausfechten!
Dabei habe ich einen Magen wie einen Panzer. Mir wird eigentlich niemals
schlecht.
Also, das ist schon bedenklich. Ich versuche, mich auf die Aussicht zu
konzentrieren, mich abzulenken, auf die Fotos zu starren, die zu
hunderten im Raum angebracht sind. AVUS-Fotos aus besseren Zeiten.
Bernd Rosemeyer, ´Hänschen´ Stuck, Ernst Henne, Rudolf Carrachiola.
Fotos mit Hakenkreuzen und Standarten, Siegerehrungen und jubelnden
Massen, Silberpfeilen und Fortschritten beim Reichsautobahnbau. Die
AVUS, Mann! Hier war was los. Auf jeden. Hier haben die Nazis
Geschwindigkeitsweltrekorde aufgestellt, die heute noch gelten. Also fast.
Hier ist Ernst Henne am 30. Mai 1933 über 219 km/h schnell gefahren,
zum Beispiel.
Drei Stunden lang sitze ich da und kämpfe mit meinem Magen, immer
regungsloser, den Blick auf die vorbeiführende Autobahn geheftet, wo
breitbeinige deutsche Mannen auf ihren sogenannten ´Chopper´163
Motorrädern entlangbrettern, das Glied erigiert, auf dem Kopf der
nachttopfrunde Weltkrieg-I-Helm, alles Blut ist aus meinem Kopf
gewichen, dann muß ich das Handtuch werfen. Bloß weg nach Hause,
morgen ist auch noch ein Tag. Ich notiere noch in meinen Rechercheblock,
daß ich in den drei Stunden der einzige Gast war.
2. Annäherung: mit der S-Bahn. Tags darauf, mit frischer Kraft, bestens
vorbereitet, mit ´Rennie´-Magentabletten, der zweite Versuch. Ich bin
guter Dinge; wie ich heute weiß, mache ich mir etwas vor. Der Magen hat
sich über nacht nicht wirklich beruhigt... Ich steige am S-Bahnhof
Westkreuz aus. Der ist aber auch schon wieder so seltsam zugemauert. Es
gibt eigentlich keinen Ausgang. Der Bahnhof dient praktisch nur dem
Umsteigen zwischen den Linien nach Spandau, Potsdam, Dahlem, Moabit,
Ostkreuz und Flughafen Schönefeld. Also auch wieder alles und nichts.
Nichts konkretes. Westkreuz als realen Ort gab es nicht. Ich wußte aber,
daß die Raststätte in Sichtweite war - ich mußte nur über Gleise und/oder
Autobahnen klettern. Das mit den Gleisen war dann nicht nötig, ich fand
eine überwachsene dead end street, die die hundert Meter zwischen
Bahnhof und Autobahnkreuz überbrückte. Dann aber wurde es
schrecklich. Ich überquerte vier Spuren, kletterte einen Abhang hoch,
sprintete zwischen den Autos über die zweite Autobahn, kraxelte noch
höher, immer die AVUS schon zum Greifen nahe, lief in 18 Meter Höhe
eine dritte Autobahn entlang, unter mir die anderen Autobahnen - und
ohne Seitenstreifen. Der wurde nämlich immer dünner und hörte dann
ganz auf. Die Motorradfahrer - für sie ist die AVUS noch immer eine reine
Rennstrecke und die Überführung dort die alte legendäre Nordkurve überboten rudelweise den Rekord Ernst Hennes, aber das war mir egal.
Die 25-Tonner, die mit 120 Sachen auf mich zukamen und dadurch Wirbel
entfachten, die mich wegpusteten, waren die Gefahr. Ich rannte zurück,
über verkohlte Reifenfetzen. Ein Taxi nahm mich zufällig auf und fuhr mich
zur Raststätte. Ich sagte ihm den Trick, also den Weg. Der Mann konnte
nicht fassen, was ich gewagt hatte. "Wofür?"
fragte er immer wieder, "wofür?". Für das SZ Magazin, antwortete ich
höflich.
Staunend stand er vor der unheimlichen Raststätte mit den zugemauerten
Fenstern.
"Hier du wollen übernachten?"
Ich nickte. Ich mietete sofort ein Zimmer. Im Fernseher ging nur ein
Programm, Eurosport mit der Internationalen FIA GT Meisterschaft 2000.
Ich verstand den Receiver noch nicht. In Wirklichkeit gingen 199
Programme, per Satellit.
Endlos viele, wahrscheinlich leere Zimmer. Ich ging in meinem auf und ab.
Gar nicht mal übel. Ob sie hier ein Zimmermädchen hatten? Irgendwo
mußte es stecken.
Ich lief durch die Flure. Eine 60jährige Frau mit ausfallenden Haaren
machte die Betten. Kein Mädchen.
"Was macht man, wenn man sozialen Anschluß sucht, wieviel muß man
investieren?" fragte ich die diensttuende Frau in der Raststätte. Ich saß an
der Bar. Sie war Mitte 40, ihr Unterbau steckte in aufquellenden, monströs
164
dicken Cordhosen, dafür hatte sie oben keinen Busen und keine Haare,
also sehr kurze Haare, wahrscheinlich mit der Gartenschere selbst
abgeschnitten. Sie zuckte immer so übernervös, und ich hatte sie schon
von weitem übertrieben laut lachen gehört, und ich merkte nun, daß ich
mit ihr nicht reden konnte. Sie zuckte und brüllte mehr als daß sie fragte,
was ich hätte wissen wollen. Es war diesmal noch ein weiterer Gast da.
Ich fragte nicht noch einmal. Und selbst wenn ich gesagt
hätte: Bitte eine junge Frau, über 18, aber nicht viel älter als 20, dann
hätte sie mir keine 31jährige geschickt, was normal gewesen wäre,
sondern eine ´fabelhaft guterhaltene´ Mittvierzigerin, wie sie selbst. Oder,
der Endhorror, eine gutaussehende Mittvierzigerin, die in Wirklichkeit
schon 60 war. Nee, nee.
Ich sah in ihr nervöses, lärmend aufgerissenes Gesicht und sagte nur:
"Ich hätte gerne einen Apfelsaft."
"Einen Apfelsaft oder eine Apfelschorle?"
"Einen großen, kalten Apfelsaft."
"Groß und kalt... aber lieber eine Apfelschorle, nicht."
"Nein, bitte klaren Apfelsaft!"
Es kommt die Schorle, mangels Alternative. Der andere Gast kommt aus
Bonn.
Ein Wende-Verlierer, wie die Frau, die ohne lange Umwege erklärt, in der
DDR sei vieles besser gewesen, zum Beispiel der Staatszirkus. Der Bonner
schimpft übe r die faule Jugend, das zu teure Berlin und so weiter. Er ist
sicher über 50, trägt Jeans, Sandalen, weißliche Joggingsocken, ein rotes
Baumwollhemd und natürlich Bart. Goldrandbrille, Topfschnitt: ein Muß. Er
pöbelt gegen die Schröderleute und daß er "nur vier-zwei" nach Hause
bringt, nach Bonn. Mir wird schlecht, noch bevor ich was bestellt habe.
Nun ist es eh egal: Ich bestelle ein Bauernomelett. Es kommt ein zehn cm
hohes und wohl 30 cm langes Stück Fraß, daß mir der Unterkiefer
runterfällt. Ich esse ein Drittel davon, ganz vorsichtig, spüle immer gut
nach mit der Apfelschorle. Dann taste ich mich zurück ins Treppenhaus
mit den falschen Terrakottafliesen, zurück ins Zimmer. Dort vergehen die
Stunden ohne Gedanken.
Es ist der stille, heroische Kampf des Körpers gegen die ungünstige
Nahrung, und er braucht dafür alle Kraft und alle Liebe - ich gebe sie ihm.
Und viel Zeit. Als ich wieder denken kann, dunkelt es schon. Ich schleppe
mich zum Tankstellen-Häuschen und decke mich mit ablenkender Lektüre
für die hereinbrechende Nacht ein. SPIEGEL und ZEIT finde ich nicht,
bleiben also nur Playboy, Penthouse, Coupé, das neue Wochenend, Geile
Nummer, Spaß am Sex und Dynamit. Spaß am Sex macht mit dem Thema
auf "Bauern-Mädchen Kirsten: Hilfe! Ich kann nur in Strumpfhosen
bumsen!" Geile Nummer powert mit dem Service-Thema ´FKK und
Gruppensex auf dem Campingplatz´. Da konnte ich mich einfach nicht
entscheiden.
Ich schlurfe durch die endlosen, laborartigen, niedrigen, fensterlosen,
grünlackierten und grünlich beleuchteten Flure. Das einzige Licht kommt
nämlich von einer grünen Notausgangsleuchte ganz am Ende des Ganges.
165
Dort stehen dann auch die Zwillinge aus ´Shining´, vermute ich,
weswegen ich nie bis dahin gehe.
Die Nacht über pendle ich zwischen Raststätte, Hotel und Tankstelle, auf
dieser Insel zwischen den Autobahnen. Oft bleibe ich vor den
Heldenpostern vergangener, nein besserer Tage stehen. Der strahlende
Rudolf Caracciola am 11. Juli
1926 um 14 Uhr beim Großen Preis von Deutschland, hier, genau hier, wo
ich Nach geborener nun stehe. An der Kasse verkauft man immer noch die
Berlinpostkarten mit der Mauer. Einmal gerate ich sogar kurz in den
Schlaf. Aber durch eine fahrige, unbewußte Bewegung beim Einschlafen
fliegt die papierleichte Nachttischlampe durch die Luft, landet Meter weiter
klirrend am Boden, und ich bin wieder hellwach. Das Bett hat sich ohne
mein Wissen um 45 Grad verschoben, also jener Teil, auf dem ich liege,
hat sich von der anderen Hälfte weit entfernt. Es sind wohl Gleitrollen an
den Bettfüßen. Auf der Matratze versinkt man wie auf einem Wasserbett,
man sinkt auf jeder Stelle, die man berührt, gleichermaßen ein, bis auf
den Grund, da gibt es kein Halten mehr. Die Weichgummi-SchaumstoffFüllung macht diesen ungewollten, aber irgendwie auch reizvollen Effekt
möglich. Nicht alles muß man negativ sehen. Ich entdecke, daß die Anlage
auch einen gewissen Charme hat. Die blaue Zierleiste etwa, die sich von
der Holztäfelung löst, könnte einem die Haut aufreißen, im Dunkeln, beim
Geschlechtsakt, mit der 60jährigen, und so weiter. Aber es passiert ja
nicht. Ist ja alles Einbildung. In Wirklichkeit ist die Zierleiste eigentlich
ganz hübsch. Und die Holztäfelungen an den Wänden. Auch gut. Oder die
Bastmöbel. Bequem. Der Claude Monet im Wechselrahmen, ich meine:
Was sonst? Hatte ich Joseph Beuys erwartet? Nein, nur Monet oder oder
Dégas kamen in Frage, da gab es sicher ein altes Tank-und-Rast-Gesetz.
Ich liege im Bett, höre das Luftdruckbremsenschnaufen der Laster, das
unheilschwere Röhren der unwuchtig gewordenen dicken Lasterreifen, ein
ganz eigentümliches Geräusch übrigens, das eine herannahende
Katastrophe anzukündigen scheint. Nie vorher habe ich darauf so intensiv
geachtet wie jetzt. Es sensibilisiert ganz ungemein, dieses Hotel, und das
ist doch auch schon wieder etwas Gutes. Tanklaster rast in Hotel,
Tagesschau, größte Explosion seit 1945, Feuer noch immer nicht unter
Kontrolle, wir schalten um zur AVUS... ich stehe auf, sehe aus dem
Fenster. Die Beton-Absperrung der alten Nordkurve (oder was das ist)
sieht von hier wirklich aus wie ´die Mauer´. Verbotsschilder,
Maschendraht, sehr hohe Lager-Lampen, ein erschöpfter Lada-Fahrer,
froh, die DDR verlassen zu haben. Seine Lichtkegel tasten die unebene
Fahrbahndecke ab, beleuchten langgezogene Pfützen, die nicht trocknen,
obwohl es seit langem nicht geregnet hat. Ich höre Geräusche aus dem
Nebenraum. Der Nebenraum ist mit meinem Zimmer durch eine bloße
Holztür verbunden. Wer hat den Schlüssel? Ich bin versichert gegen alles,
Diebstahl, Überfall, Körperletzung, das hat mir die Redaktion versichert,
es ist eine offizielle Dienstreise.
Ich rufe die Rezeption an. Das ist wieder die Frau von vorhin.
"Bitte geben Sie mir den Zimmerservice!"
"Haben wir nicht."
166
"Dann jemanden von der Reinigung! Ich... will mein Hemd bügeln lassen!"
Ich werde richtig verrückt.
"Ham wa nich."
"Aber das Zimmer kostet 145 Mark! Westmark! Ich will, daß sofort jemand
kommt!"
Schweigen. Ich höre, daß jetzt noch mehr Leute unten sind. Na gut, dann
laufe ich eben runter. Die Geräusche im Zwillingsraum werden lauter,
zugleich undeutlicher. Ich kann nicht sagen, ob es ein Mann und eine Frau
ist oder mehrere Männer.
An der Bar sitzen tatsächlich ein paar Gestalten. Ein Mittfünfziger, grauer
Walroßschnurrbart, Latzhose. Und ein älterer Basecap-Zoni mit einem
neunjährigen Mädchen. Eine alte Stereo-Anlage spielt ´Tell me the
meaning of being lonely´. Neben mir hängt der gute alte Patronengurt mit
den Underberg-Fläschchen.
Als Kind hatte ich einmal daran gerochen. Nie wieder. Also an dieser
braunen Flüssigkeit. Auf einem Schild steht: "Unser Hit: Rühreier mit
Schinken, 2 Brötchen, 1 Pott Kaffee, 10,50 Mark". Ob ich das jetzt
bestellen soll? Mir ist plötzlich, als habe mir jemand in den Magen
geschlagen. Ich greife hastig zur AVUS-Broschüre und lenke mich ab. Nur
nicht an Essen denken! Die
Automobil-Verkehrs- und Übungsstraßen GmbH (AVUS) wurde 1909
gegründet... 1913 erste Autobahn Deutschlands und damit der Welt...
1935 Umbau der Rennstrecke... Bernd Rosemeyer und so weiter... nach
dem Krieg nur noch Touring-Rennen, das letzte vor zwei Jahren, dann gar
nichts mehr. Aus, Ende, Schluß, vorbei. Aus den Augenwinkeln beobachte
ich den Basecap-Schnurrbart und das neunjährige Mädchen.
"Was möchten Se?" fragt die Frau zum wiederholten Mal. Klar, man muß
etwas bestellen. Sonst darf man nicht bleiben. Vielleicht heißer
Apfelstrudel mit Vanilleeis und künstlicher Schlagsahne aus der
Spraydose? Dazu einen Satz Underberg? Nein, ich kriege nichts runter,
gehe weg.
"Wie lange haben Sie geöffnet?" frage ich noch.
"Bis Weihnachten 16 Uhr!"
Ich erschrecke. Machen die dann pleite? Ende des Jahres? Nein, es war
´pfiffig´ gemeint. Soll heißen: 24-Stunden-Betrieb Tag und Nacht.
Am nächsten Morgen war dann auch wirklich so etwas wie normaler
Betrieb.
Sechs, sieben Leute waren da, normale Deutsche, Leute, die den
Treffpunkt noch von früher kannten. Es gab ein Frühstücksbüffet und die
Bild Zeitung. Ein gewisser Stuck ("Stuck schreibt in BILD") überlegte, ob
Schumi die erste Runde beim nächsten Rennen ohne Crash durchfahren
könne. Da wurden angeblich Wetten angenommen. Auf den ersten Seiten
das Nazi-Thema. Brauner Terror, Bomben, Heil-Hitler-Websites. Kein
Zweifel, wir lebten immer noch in Deutschland. Aber wer war "Stuck"? Der
Sohn von ´Hänschen´? Der Enkel? Er selbst? Bernd Rosemeyer konnte
nicht mehr für BILD schreiben. Er starb für Führer und Vaterland beim
Rekordversuch mit seinem Auto Union 16 Zylinder Boliden auf der
Steilgeraden der AVUS zwischen Funkturm und Nikolassee. Ich stand
167
später an der Stelle und schwieg betroffen. So betroffen wie vorher das
Pärchen im Frühstücksraum. Schweigend, rauchend, ruhig. In der Ruhe
liegt die Kraft. Er: Mitte 40, Jeans, Schnurrbart, stierer Blick. Sie:
eigentlich noch ganz passabel, blonde Hausfrauendauerwelle, weiße Bluse,
Jeans. Sie sitzen sich gegenüber, Auge in Auge, rauchen ein Päckchen leer
und sagen nicht ein Wort. Seit 22 Jahren verheiratet. In diesem Lokal
kennengelernt, I suppose...
Ich ließ mir ein Taxi kommen und fuhr wieder rein nach Berlin, am
Fernsehturm vorbei, dem kleinen Bruder vom Tour d´Eiffel, so klein und
zwergenhaft sieht der doch inzwischen aus, nur noch traurig in seiner
Winzigkeit. Das war einmal ein Wahrzeichen der Stadt, Symbol des
Technikrausches, wie auch die AVUS. Das ist nun alles vorbei. Die
Autobahn-Tank- und Raststätte aber gibt es noch, das ist historisch
verdienstvoll. Ich habe es überlebt, und es tut mir leid, daß ich über so
viele negative Dinge berichtet habe. Ich war am fernsten und einsamsten
Ort der Welt, mit den einsamsten und ärmsten Menschen. Ihr solltet alle
dort hinfahren und Euch das angucken. Mit neuen Autos und neuen
Zeitungen.
Und mit den Leuten da reden. Sicher habe ich ihnen unrecht getan - Angst
ist ein schlechtes Antriebsmittel für objektive Bericherstattung. Gewiß war
alles gar nicht so mies. Wie gesagt, die blauen Zierleisten. Das Frühstück
war NICHT WIRKLICH schlecht, die Bedienung rundum freundlich.
Natürlich konnte man nicht nur Sexmagazine kaufen in der Tankbaracke.
Ich habe mich einfach nur gefürchtet.
30. DIE GRÜNEN werden grau
Darf man über alte Leute Witze machen? Darf man sie scheußlich finden?
Sie singen "Mit 66 Jahren" von Udo Jürgens, normalerweise, und tun ganz
harmlos, sind aber in Wirklichkeit schon 77 und haben an
Vernichtungsfeldzügen der deutschen Wehrmacht gegen artfremde
Untermenschen teilgenommen. Die Alten an sich sind böse in
Deutschland, von dem Bild kommt man nicht los. Normalerweise. Doch
seit gestern muß ich umdenken. Ich habe die Juiläumsveranstaltung "25
Jahre Grüne" besucht. Was für nette Senioren! Ein Streicherquartett
fidelte Procul Harums 'A whiter shade of pale' und die weicheren
Zumutungen von Led Zeppelin (wie gesagt, kein Witz) in die Hörrohre der
grauen Panther, äh, der grauhaarigen Grünen. Irre, wie man in einem
Vierteljahrhundert vergreisen kann! Das sind doch nur 25 Jahre. Da
können andere noch Radfahren oder sogar einen Beruf ausüben. Zum
Beispiel Otto Schily. Aber der ist ja zur SPD gewechselt.
Oder auch Joschka Fischer. Am Vortag im VolmerUntersuchungsausschuß, am Tag darauf in Davos beim Kamingespräch
der Superreichen, da hätte er eigentlich, an diesem freien Tag
dazwischen, kommen können. Ja müssen. Eine Gründungsomi schüttelt
störrisch ihre weiße Beatlesfrisur: "Da hätte er sich echt mal blicken
lassen können!" Sie ist stolz darauf, alles mitgemacht zu haben.
"Brokdorf, Gorleben, Dünnsäureverklappung, Hofgarten... eben das ganze
168
Programm." Mit Hofgarten meint sie Willy Brandts Friedensrede in Bonn
gegen den Nato-Doppel... ach, wissen Sie schon. Man weiß irgendwie
alles. Auch daß die Grünen immer 'gestalten' wollen. Das Wort fällt
andauernd, auf einer Podiumsdiskussion mit Schäuble, Marie-Louise Beck,
Ralf Fücks und so weiter. Nur die Tochter von Marie-Louise Beck sieht gut
aus. Cool. Die einzige Frau unter 50. Leider interessiert sie sich nicht für
die Grünen. Nicht für Ralf Fücks zum Beispiel, geschätzte 59, mit Piercing
im Ohr und Hiphop-Glatze. Obwohl er noch so fresh rüberkommt,
favorisiert die 17jährige Eminem.
Gleich mehrere Hallen der weitläufig totsanierten Kulturbrauerei sind von
den Grünen zwei Tage lang gemietet worden. Man quält sich durch die
dunklen Backsteingemäuer von Halle zu Halle. Hier wird diskutiert, dort
getrunken, woanders ein Film gezeigt. Jede Halle hat auch eine Bar, und
dort wird geredet, geredet, geredet. Eigentlich keine schlechte Sache.
Spät in der Nacht taucht auch eine Prominente auf, Christa Müller,
Staatministerin. Sie guckt mir über die Schulter, liest meine Notizen.
"Hallo Kleines!" sage ich spontan. Sie dreht sich weg. Die Süße ist noch
keine 60, muß die Haare kaum nachfärben. Sie ist meine zweitliebste
Politikerin. An erster Stelle steht Krista Sager. Auch sie kommt, ich sage:
"Sie haben das so fein gemacht in Hamburg mit Ortwin Runde. Damals lag
das Schicksal der Stadt noch in den Händen redlicher Menschen. Herr
Runde war sicher auch ein sehr partnerschaftlicher und fairer Mann!" Bei
dem Wort verschluckt sie sich fast. "Partnerschaftlich?!" Sie hustet,
überlegt lange. "Na, fair, von mir aus."
Je länger der Abend, desto netter die Gäste. Konrad Weiß, Werner Schulz,
Andrea Fischer, Minu Barati sind da, zumindest eine blutjunge Muslimin,
die sie sein könnte. Ich spreche sie an. "Wo ist Josef? Josef Fischer?
Joschka??" Sie hat in Ankara Abitur gemacht und studiert an der
Humboldt Universität Internationale Politik und Europäische Studien oder
sowas. Seit drei Wochen ist sie erst in Deutschland. Seit einer Woche ist
sie Mitglied der Grünen. Keiner hat ihr gesagt, daß es keine jungen
Grünen gibt. Sie sitzt da wie in der Tanzschule und wartet darauf,
aufgefordert zu werden. Aber kein feuriger junger Tänzer kommt. Das
Methusalem Komplott hält sie umfangen. Röchelnd kommen Hans-Jürgen
Wussow Typen auf sie zugetorkelt. "Oh my god! They're so OLD!" Ich
erkläre es ihr. Weiß ich doch, daß unter den jungen Ausländern
('Deutschländer' nennen sie sich) Rentner und Nazis synonyme Begriffe
sind. "They are old, but good people. In former times, they have been
lions! They fought for the right thing..." Blumig sprach ich von ihren
Taten, wie sie mit friedlichen Mitteln und pazifistischer Absicht Züge
entgleisen ließen, Strommasten kippten und mit Säurefarbbeuteln das
Trommelfell des Außenministers zum Platzen gebracht hatten. Doch halt,
das war ja Fischer... aber sie nicht seine Minu. Von der Optik her hätte es
sein können ("Die Physik muß stimmen", dj rezzo schlauch
zugeschriebenes Motto), aber sie wars trotzdem nicht.
Und dann ein Mann im Dreiteiler. Ein Fremder. Ein CDU-Typ: Reinhard
Bütikofer vom Bundesvorstand. Alles an ihm schien zu schreien: 'ICH BIN
ANDERS! Ich bin kein Fusselbart! Ich bin nicht grün! Led Zeppelin gehen
169
mir am Arsch vorbei!!' Dabei hat seine Hippiephobie überhaupt keine
Grundlage. Echte Hippies gibt es nirgendwo mehr. Keine stillenden Mütter
mehr im Bundestag (aus dem Alter sind sie raus). Keine strickenden ÖkoGreteln mehr, die die Kamera einfangen könnte. Schon gar keine
zerrissenen Turnschuhe, mitgebrachte Tiere und absurde Sonnenblumen
mehr. Keine spontanen Zwischenrufe, kein antiautoritäres Aufmucken.
Ganz, ganz, ganz im Gegenteil. Ein bleischweres Spießertum liegt wie
Mehltau über allen Veranstaltungen. Diese Leute, die aussehen wie Helge
Schneider, oder wie Reinhard May 1977 in alt, verhalten sich töter und
unvitaler als jeder Sparkassenleiter zur Adenauerzeit. Von wegen
Hardrock: hier tut sich rein gar nichts mehr. Und die Promis auf der Bühne
reden so, als wollten sie den Preis für kleinbürgerliches Berufspolitikertum
gewinnen: "Akzeptanz neu austarieren müssen... Thema am Wickel
haben... demographischen Wandel gestalten... was Ansätze zur Teilhabe
leisten können... diesen Gestus durchzubuchstabieren... Agenda neu
verorten, bis wir wieder optimal aufgestellt sind." Aufgestellt! Brrr! Bäh!
Hier redet inzwischen JEDER so wie Guido Westerwelle, und die Grufties
unten nicken nicht einmal. Kein Mensch käme noch auf die Idee, das Mikro
an sich zu reißen und zu rufen: "Was macht Euch Spaß? Was langweilt
Euch? Soll der Arsch im Nadelstreifen hier uns wirklich zulabern dürfen?!"
Es sind auch jede Menge body guards im Raum, die das verhindern
würden. Sie symbolisieren sozusagen die "neue Sicherheitslage" in
Deutschland, die wir seit "dem 11. September, nicht wahr" haben und
weswegen ein Bürgerrecht nach dem anderen abgeschafft werden darf.
Unter grüner Verantwortung.
Aber man soll nicht ungerecht sein. Ich gebe zu, auf keine der vielen
Foren, Rückblicke, Debatten, Empfänge und Partys gab es etwas
Unerwartetes und Spontanes oder gar Lebendiges. Nicht einmal als eine
Rednerin (Manuela Rottmann) etwas ungeschickt fragte: "Sollen wir etwa
Politik für die neuen Familien am Kollwitzplatz machen, die Bio-Produkte
kaufen und ihre Kinder in die Waldorfschule schicken?!" gab es kein
lautes, kräftiges, vielstimmiges "Jaaa!" Und doch ist es so: Für genau
diese Leute sitzen die Grünen in der Regierung. Und das ist gut so. Denn,
wenn Sie mich fragen: Es gibt keine besseren Menschen als die jungen
Familien am Kollwitzplatz, die Bio-Produkte kaufen und ihre Kinder in die
Waldorfschule schicken!
Fußnote zu den GRÜNEN
DUTSCHKES PULLOVER
Rudi Dutschkes Frau Gretchen schenkte dem Revolutionsführer auf dem Höhepunkt der
politischen und soziokulturellen Auseinandersetzungen Mitte der sechziger Jahre des
letzten Jahrhunderts einen Pullover, den ihre eigene Mutter, somit Rudis
Schwiegermutter, selbst gestrickt hatte. Dies ist insofern verblüffend - also die
Abstammung von der Schwiegermutter - als dieser bald legendäre "Rudi-DutschkePullover" bis heute mächtigstes Indiz für Rudis Tauglichkeit als Pop-Star sein soll. Wer so
einen Pullover trägt, so die Argumentationslinie vieler Theoretiker der Popkultur, habe
das "Zeug zu jugendidolmäßigen Ikonographisierung" (Professor Dr. Diedrich
Diederichsen, Hamburg und Berlin). Es ist, als erführe man, James Deans Jeans aus
"Rebel without a cause" habe dessen fränkische Großmutter in Nürnberg nach eigenen
Mustern in den 20er Jahren zusammengenäht. Andererseits erklärt sich nur so die
mythische Kraft des Pullovers, in den hanfhaltige sowie feine silberhaltige Heilfäden aus
170
China eingewebt wurden. Maschinell wäre das gar nicht möglich gewesen. Nur so ist die
Tatsache zu rationalisieren, daß der SDS-Führer in allen Straßenschlachten, in denen er
den magischen Pop-Pullover weit sichtbar für Freund und Feind trug, unverletzt blieb. Um
die herrliche Textilie - heute eine Reliquie im Museum für moderne Gegenwartsgeschichte
in Luckenwalde - bildete sich ein unsichtbarer, magischer Raum, der unbetretbar war,
auch und gerade den waffenstarrenden Mordsöldnern vom Schlage Kurras´. Die große
Textilienforscherin Rebekka Casati schrieb in ihrer Magisterarbeit "Von Außen nach
Innen: Der Dutschkepullover und die Revolution" von der enormen Sogwirkung, die von
der Farbgebung des Stoffes ausging. Keinesfalls die erwarteten Popfarben, schon gar
nicht Kinderfarben machten den Reiz aus, sondern braune, handtellerbreite Streifen, die
sich mit schlecht ausgeführten, unregelmäßigen weißen, grünen und magentafarbenen
Streifen abwechselten. Frauen waren besonders davon angezogen. Eines Tages, erzählt
Marek Dutschke, heute Sohn des Verstorbenen, kam Rudi völlig verstört nach Hause,
streifte den Pulli ab und sagte zu Gretchen: "Du kannst dir nicht vorstellen, was mir eben
mit einer fremden Frau passiert ist. Sie wollte, daß ich dich verlasse und mit ihr
zusammenziehe!" Vorher hatte sie den Pullover bewundert, die eingewebten Fäden
berührt...
Auch heute ist er noch wichtig. Dutschkes Pullover ist weiße Magie und damit das
natürliche Gegenstück zum schwarzmagischen "Speer des Bösen", den Hitler verehrte. Es
versteht sich von selbst, dass immer wieder hochrangige Gutmenschen versuchten, in
den Besitz des charismatischen Pullovers zu gelangen. In ihm transzendiert sich viel
mehr von Rudis wahrer Macht als nur vordergründige Fragen wie "Mache ich jetzt eine
Räterepublik? Oder später? Oder erst die Wiedervereinigung? Und kommen die Nazis
wieder an die Macht und wie verhindere ich das? Und was sagt uns Faust II dazu, und so
weiter..." Es ist eher etwas von der Absolutheit der Liebe, die in den geheimnisvollen
Streifen steckt, aber auch von der Verschränktheit vom Glauben an sich selbst und der
Universalität der Gesellschaft: nur wer seinen Pullover selbst strickt, für sich oder für
einen geliebten Menschen, wird die befreite Menschheit in den Blick bekommen können.
31. Kanzlerdämmerung - Berliner Sommerfeste
Nachdem zu Hause endlich wieder alles in Ordnung gekommen war,
konnte ich mich vor dem Urlaub noch ein bißchen der großen Politik
widmen. Schröder war noch immer im Amt, das war meine Chance. Ich
mochte ja den Gerd. Solange er die Fäden zog in der Hauptstadt, konnte
ich mich überall umtun. Längst war es Sommer geworden, nicht nur in
Köln, auch in Berlin, und hätte es auch dort Ring-Prolls gegeben, so
hätten sie nach Herzenslust gebechert und Krach geschlagen. Es gab aber
keine. Die Kommune glich einer Totenstadt. Dabei hatten die Ferien noch
gar nicht begonnen. Traurig schlich ich durch das verwüstete Brachland.
’Dies ist einmal die 'Berliner Republik' gewesen!’, sagte ich zu mir selbst.
Dann kam aber die Woche der großen Sommerfeste. Es begann am
Montag mit dem 'Bild Sommerfest'. Eine große überregionale Tageszeitung
richtete es aus. Am nächsten Tag las man in der Bild Zeitung, wer alles da
war. Die Feste hießen meistens 'Gala', also Benefiz-Gala der Aids-Stiftung,
oder 50-Jahre-BamS-Geburtstags-Gala, oder Bundespresseball, oder eben
Sommerfest, diesmal. Man sah dann hundert kleine Farbbildchen, und auf
jedem war ein sogenannter Bild-Prominenter, also einer, der innerhalb des
Bild-Kosmos prominent war, Leute, die sonst keinerlei Bedeutung hatten,
wie Babs Becker oder Udo Walz. Ich fuhr also zum Axel-Springer-Haus in
der Axel-Springer-Straße, direkt an der Mauer.
171
Eine seltsame Mondlandschaft war das da. Keine Menschen, keine
Limousinen, gar kein Auftrieb. Die Gegend war besonders trostlos, weder
Wohngegend noch Geschäftsgegend. Überall nur Brandmauern und
dazwischen unbebaute Plätze, oder Tiefgaragen, die unbelegt waren. Dann
ein mehrere hundert Meter langer roter Teppich, der zig Kurven nahm und
vom Haupteingang zu dem Gebäude führte, auf dessen Dachterrasse die
große Sause stattfinden sollte. Ich trabte von Kurve zu Kurve. Alle zehn
Meter stand eine junge Hostess stramm und lächelte verheißungsvoll wahrscheinlich, weil ich, soweit ich sehen konnte, der einzige Gast war.
Wenn man aus Köln kam, fiel einem immer sofort auf, wie leer und
unbewohnt Berlin war. Aber warum kamen selbst zum Großen Bild
Sommerfest weniger Menschen als zu jeder Pittermännchen-Kneipe in
Kölns Außenbezirken? Mindestens hundert Pseudo-Prominente mußten
dann doch da gewesen sein, ihr Fotochen am folgenden Morgen bewies es.
Endlich erreichte ich den Tresen, an dem man seine Einladungskarte,
unterschrieben von Friede Springer, vorzeigen mußte. Ich hatte keine und
sagte das auch, wurde jedoch geradezu hektisch weitergewunken. Auf
jeden Gast kamen ungefähr zwei Kellner. Ich schritt den Kies auf der
Dachterrasse ab, kam an einer Gruppe älterer grauhaariger Herren aus
dem Vertrieb vorbei. Ich hörte, wie einer sagte: "Hast Du Udo Walz
gesehen?"
Der andere konterte wie aus der Pistole geschossen:
"Ja und der Scharping ist da!"
Wow! Der Herr Bundesverteidigungsminister von vor vielen Jahren! Mit
Gräfin Pilati wahrscheinlich. Tatsächlich konnte man am nächsten Tag
ihren ganzen Namen lesen, die Buchstaben größer als das Foto: ‚ExMinister Rudolf Scharping (57) verliebt mit Partnerin Kristina Gräfin PilatiBorggreve (57)!’
Da auf einen Kellner etwa zwei Fotografen kamen, wurde auch ich
fotografiert. Aber als was würden sie mich bezeichnen? Welche Frau
konnten sie mir zuordnen? Tatsächlich kam der männliche Gast
grundsätzlich mit Frau. Allmählich erkannte ich vage die ersten Gesichter.
Das heißt, ich 'erkannte' die jeweiligen Fake-Promis immer nur zu zehn
Prozent und rätselte dann minutenlang weiter: ‚War das nicht... äh... äh...
äh... der Typ, der mal mit Boris Becker befreundet gewesen war, dieser
Hochspringer... Bernd Herzsprung, nein, Bernd, nein Carlo Tränhart! Oder
doch nicht?’
Die meisten Gesichter kamen mir bekannt vor, weil sie Kolumnen in der
Bild Zeitung schrieben und ihr Portrait daneben abgedruckt war. Oder weil
sie bei der Berichterstattung über eigene Galas, Feste, Bälle und Jubiläen
im Foto neben Halbprominenten gestanden hatten. Claus Jacobi erkannte
ich, weil der mal bei der WELT Senior-Chef gewesen war, als ich dort als
Volontär anfing, nach dem Abitur. Nun stand er wieder vor mir, rüstige
110, offenes Hemd, braun gegerbte Haut. Mir war's zu unheimlich, und ich
schlenderte grußlos weiter. Noch immer schrieb er täglich eine endlos
lange Moral-Kolumne auf der zweiten Seite, direkt unter 'Post für Wagner'.
Sein Gehirn hatten sie für immer dichtgemacht und plastikverschweißt, als
Adenauer zum Kanzler gewählt wurde.
172
Ich nahm die Musik wahr, so sehr ich mich auch dagegen sträubte.
Altherren-Disco. So ein pumpender, automatisch eingestellter Boney-MRhythmus, zu dem zuletzt meine Eltern auf Ibiza tanzten, als Dieter
Bohlen noch ein richtig heißer Tip war.
Schon wieder ein widerwärtiges Gesicht: Klaus Uwe Benneter. Angeblich
Generalsekretär der SPD, in Wirklichkeit StamoKap-Führer aus der ApoZeit. Was machte der beim Klassenfeind? Was wollte der hier? Warum
verteilte er nicht Flugblätter gegen Vietnam?
Dann natürlich Wowereit, Berlins Regierender Partymeister. Und Béla
Anda, „früher bei BILD, heute Regierungssprecher". Und Vicky Leandross.
Früher Schlagerstar, seit 40 Jahren nicht mehr, dafür von Beruf
„Prominente“, wie auch viele andere, bis hin zu Laurenz Meyer: „Der ExCDU-General (57) und Freundin Sonja (32) gut gelaunt: 'Uns geht's richtig
gut!'" Und so weiter, Ex, Ex, Ex.
Immer wieder beschleunigte ich meinen Schritt, weil irgendjemand häßlich
lachte. Dieses häßliche Altmännerlachen, dagegen bin ich nämlich
allergisch. Endlich ein noch amtierender „Prominenter“: Kai Diekmann!
Und erst (41)! Der Jüngste auf der Party. Ich blieb in seiner Nähe stehen,
und wirklich kam Holger Pfahls hinzu, nein, äh... äh... Friedberg Pflüger,
der außenpolitische Sprecher der CDU, glaube ich, (51), und der hatte
eine echte Status-Frau dabei! Eine attraktive Blondine, märchenhaft
schön, im weißen Kleid, winziger Popo, mit breitem Lachen, das sie
jederzeit einsetzen konnte. Ich hatte Pflüger immer für schwul gehalten,
oder für einen Waffenhändler. Wie man sich doch in den Menschen
täuschen konnte, bis man sie persönlich traf!
Aber gerade, als ich mir ein Getränk geholt hatte, um mir Mut
anzutrinken, und die anziehende Status-Frau (27) ansprechen wollte,
waren die Pflügers wieder gegangen. Das kalte Buffet mit tausenden von
Crèmes, Puddings, Eis und Petit Fours blieb fast völlig unberührt. Es waren
einfach zu wenig Leute da. Und wenn Pflüger schon ging, wollte ich nicht
der Lückenfüller sein und ging auch.
Diese Enttäuschung hätte mir fortan das Vorurteil eingeben können, dass
Medienfeste scheiße sind. Aber ich war nicht so. Alles bekam bei mir eine
zweite Chance, Vorurteile waren mir vollkommen unbekannt. Tags darauf
gab es das große ZDF-Sommerfest.
‚Nichts wie hin!’ dachte ich mir. Sicher konnte man umsonst essen und
endlich andere Nasen sehen als die von Babs Becker und FDP-Gerhardt
(61). Ich ahnte noch nicht, wie sehr ich recht haben sollte! Da waren
tausend Mal mehr Leute als beim Schmuddelblatt. Alle, die Angst hatten,
neben Vicky Leandros als neues Mitglied des Loser-Clubs abgelichtet zu
werden, strömten zum ZDF-Fest. Ich merkte plötzlich, wo die wahre
Macht im Lande lag. Weiß Gott nicht bei der Groschen-Postille, wie ich so
lange gedacht hatte, sondern bei der großen öffentlich-rechtlichen
Riesenkrake, die strukturell links war, weil Teil des Sozialstaates.
Zehntausende von gut ausgebildeten, lebenslang korrumpierten, bestens
versorgten Leuten organisierten das kollektive Bewußtsein und
verwalteten es, gewissenhaft und mit tödlicher Langeweile. An ihrem
lethargischen Klammergriff war inzwischen unser ganzes Gemeinwesen
173
abgestorben. Das waren die Assoziationen, die ich in dem Moment hatte
und die natürlich komplett blöde sein konnten.
Ich ging hin. Schon wieder hatte ich keine Einladung. Aber diesmal wurde
ich nicht durchgewunken. Hunderte von fabrikneuen BMW-Siebener-LLimousinen standen vor dem Lustgarten und dem Berliner Dom. Ich sah,
wie vor mir Leute abgewiesen wurden und verzweifelt-unschlüssig vor den
hohen Stahlgittern verharrten, die die Polizei errichtet hatte. Ich erkannte
sogar Leute, die in gewisser Weise fast prominent waren, etwa Mathias
Döpfner, Michael Mronz, Peter Limbourg und Vicky Leandros. Wenn DIE
schon nicht reindurften, dann durfte ich es erst recht nicht. Zumal genau
an dem Morgen Bild ein briefmarkengroßes Portrait von mir veröffentlicht
hatte, mit den Worten ‚Schreibt ein neues Buch: Kult-Dichter Johannes
Lohmer (45) mit BILD-Hostess Julia Vetter (21)’. Da hatte ich wohl zufällig
neben einem der Zigaretten-Mädchen gestanden und mich festgequatscht.
Weil das die einzigen Nicht-Geronots da waren. Ich konnte nur beten,
dass die Naomi es nicht entdeckte. Na, die würde eher Harakiri begehen
als die verhaßte BILD Zeitung auch nur anzufassen...
Was also tun? Der Trubel und der Polizeischutz waren größer als beim
Clinton-Besuch vor einigen Jahren. Gut, da war Clinton bereits
Privatmann. Es war leichter, als Terrorist mit zwei Kilo Sprengstoff in eine
Lufthansa-Maschine zu kommen, als hier ohne Einladung ins Sommerfest.
Schließlich sprach ich einen Gast an, der das Sommerfest bereits verließ,
ob er mir nicht seinen festgetuckerten Armreifen überließ. Er tat es. Mit
dem Ding am Handgelenk konnte ich im Prinzip lässig durch die Kontrollen
laufen. Ich sah aber, dass vor mir jemand, der genau das tun wollte,
festgehalten wurde. Er mußte erneut nicht nur seine schriftliche Einladung
zeigen, sondern auch seinen Personalausweis und seine Tasche, die nach
Waffen untersucht wurde. Ich verzichtete daher auf komplizierte Manöver
und wartete lieber, wie im Fußball, auf die Sekunde für den tödlichen
Pass, für die geniale, imaginierte Vorlage. Als die Pitbulls am weitesten
auseinanderstanden, lief ich los, erst gegen die Laufrichtung des einen,
dann gegen die des nächsten, immer so weiter, und immer das linke
Handgelenk mit dem ZDF-Bändchen locker halbhoch in Gesichtshöhe
haltend. Sie koordinierten sich falsch, die Ordner, und niemand wußte,
wer von ihnen nun für mich zuständig sein sollte. So kam ich hinein.
Diese Leute hatten wirklich Geschmack. Das schönste Areal der Stadt
hatten sie sich gesichert. Die Spree floß ruhig an den alten Arkaden
vorbei. Hier hatte schon der Ur-Lohmer seine schönsten Stunden
verbracht, in den Wandelgängen der Museumsinsel, wacker diskutierend
mit dem jungen Fichte und dem unschicklich heterosexuellen Jacobi. Doch
statt erbaulicher Kammermusik gewahrte ich nun eine Musik, die noch
scheußlicher war als die der Bild-Fuzzis, nämlich live gespielten Swing
Jazz. Es handelte sich natürlich nicht um eine Big Band - soviel Stil konnte
das ZDF nicht haben - sondern um eine Combo, die einfach nur
abgegriffene Assoziationen aus schlechten Woody-Allen-Filmen hervorrief.
Mit dieser Musik konnten noch nicht einmal schlechte Art-Direktoren
schlechte Kino-Eiswerbung machen - um das Grauen in höchster Potenz
gleich einmal anzuführen. Nicht 'In the Mood' wurde versucht, was auch
174
schon schmerzhaft gewesen wäre, sondern Dixieland-Swing wie bei FDPFrühschoppen-Veranstaltungen am Sonntagvormittag. Gerd Schröder war
da eine volle Epoche weiter, wenn er sich auf Wahlpartys die frühen
Stones wünschte.
Meine Euphorie wurde durch die vielen alten Leute etwas gedämpft. Schon
wieder dieses dominierende Grau auf allen Köpfen. Die Leute waren
deutlich älter als die Ganoven von Springer. Mich hätte es nicht
gewundert, wenn sie sogar die Zigarettenmädchen aus dem Seniorenstift
geholt hätten. Und überall hörte ich Dialekte, die ich nicht zuordnen
konnte. Schließlich fragte ich entnervt zwei Omis in Walla-Walla-Kleidern,
die wohl 'Sommerkleider' darstellen sollten:
"Wo kommen Sie her?"
Die Antwort war Mainz. Das ganze ZDF kam aus der Gegend. In
Sonderbussen war diese Ethnie nach Preussen gefahren. Ich sah nun viele
Notarzt-Teams emsig herumlaufen, hörte aber keine Sirenen. Ein Attentat,
kein Attentat, ein Probealarm? Nein, es waren nur einige ältere Gäste mit
Kreislaufproblemen zu behandeln. Bis zu zwei Dutzend Schlaganfälle
gleichzeitig hätte man versorgen können, soviel Personal stand
ärztlicherseits zur Verfügung. Ich fühlte nach, ob ein Schlaganfall bei mir
bevorstand, fand aber nichts. Die Pumpe schlug in aller Ruhe vor sich hin.
Ich war zu jung für diese Gesellschaft. "Trau keinem unter 50" schien das
Motto der ZDF-Gewaltigen zu sein. Das hübscheste Mädchen war Gräfin
Pilati, die über eine Notleiter vom Dom aus eingestiegen war. Mit ihren
(57) war sie für mich aber zu alt. Ich bevorzugte die ewigen 35jährigen,
die Claudius Seidl in seinem Buch 'Schöne junge Welt' erfunden hatte. Und
überhaupt war ich in festen Händen und treu wie Gold.
Ich blickte auf die bewegte Menge und mir fiel auf, dass dieses Publikum
besser gekleidet war als bei Bild. Ja, diese öffentlich-rechtlichen
Gerontokraten aus Mainz. Arrogante Gutmenschen oder sogar
Herrenmenschen, elitär und trotzdem reinsten Gewissens. Aber
verdammt, wo waren jetzt die Prominenten, nein, die Politiker? Ich wollte
über die Neuwahlen sprechen und über Schröders Vertrauensfrage, die
unmittelbar bevorstand. Ich blickte angestrengt um mich. Überall essende
Alte. Als wäre hier die Massenspeisung im Lande Kanaan oder sowas.
Kilometerweit Büffetts, mal heiß, mal kalt, mal wieder heiß.
Endlich sah ich Scharping, aber der war ja nicht mehr gut informiert. Dann
Udo Walz, aber der war nun gar kein Politiker. Da, Müntefering, aber der
ging gerade. Und Otto Schily. Den traute ich mich nicht anzusprechen.
Manfred Stolpe. Zu glatt - was sollte DABEI schon herauskommen? Peter
Limbourg, dieser N24-Chef. Sicher mit dem Ohr an der Macht, aber er
guckte immer so seltsam zu mir herüber, als hätte er etwas gegen mich.
Außerdem war er so hochgewachsen, dass ich zu ihm hätte hochbrüllen
müssen. Ich sah ein paar befreundete Journalisten. Gut, besser als nichts.
Ich sprach dann lange mit politischen Redakteuren vom SPIEGEL, merkte
aber, dass sie schlechter informiert waren als ich. Anschließend waren alle
Politiker verschwunden. Die kamen und gingen wohl alle binnen einer
Viertelstunde. So hatte ich die Merkel und den alten Kohl mit seiner neuen
175
Lebensgefährtin verpaßt. Ich nahm mir vor, beim nächsten Sommerfest
früher zu kommen und besser aufzupassen.
Das war am nächsten Tag, beim großen Stern-Sommerfest. Nun waren es
nur noch Stunden bis zum historischen Mißtrauensvotum. Ich hatte mir
diesmal eine Einladung besorgt. Das war problemlos, da ich mit der
gastgebenden Zeitschrift befreundet war. Um Punkt Acht betrat ich das
Spree-Palais, in dem der Stern residierte. Erneut galt: Die Linken hatten
sich Berlins Filetstücke gesichert. Nobler und feiner konnte man nicht
residieren. Die Leute badeten in Prunk und Protz, schienen Geld ohne
Ende zu haben. Alles war noch eine Dimension großartiger und feiner als
am Abend zuvor. Man hörte auch keinen verschollenen Dialekt mehr. Die
meisten Herren trugen schwarze Anzüge, und einige hatten sogar noch
ihre natürliche Haarfarbe. Natürlich gab es trotzdem erneut keine einzige
35jährige, aber ich blieb, denn ich war glücklich verheiratet und brauchte
keine schönen Frauen zu meiner Erbauung. Sondern waschechte Politiker!
Und ich bekam sie. Sie waren alle da. Hier beim Stern, bei den Linken.
Nicht beim FOCUS, nicht beim CDU-Sommerfest, nicht beim BDI. Der
Staat gehörte einfach den Linken, denn die Linken waren die Medien, und
das würde sich beim Regierungswechsel nicht ändern. Hans-Ulrich Jörges
war da und auch die Merkel. Sie ging nicht nach zehn Minuten, sondern
blieb den ganzen Abend. Andauernd rannte sie zum Büffett, bestimmt vier
Mal, immer selbst und ohne Diener, was ich sympathisch fand, mit
unzügelbaren Appetit.
Die Schultern hatte sie leicht eingezogen, und anders als ihr Vorgänger
Schröder, strahlte sie nichts Präsidiales aus. Immer guckte sie so unsicher
seitlich und stand überbetont breitbeinig da, was auch eher unsicher
wirkte. Die Sachen, die sie anhatte, sahen übel aus. Unpassend,
unelegant, abgetragen, wie bei Woolworth gekauft. Ein eher helles
Sommerjackett, das ihr nicht stand, kurze Haare, die aber hochtoupiert
waren, eine dunkle Männerhose und absatzlose Latschen. Sie sah
außerdem überarbeitet und deutlich älter aus, als sie war. Ein Wrack also,
noch ehe sie mit der Regierungsarbeit begonnen hatte. Das konnte nichts
werden. Irgendwie sah sie aber auch nett aus und mütterlich, so wie diese
Berliner Frauen mit Mutterwitz. Sie wirkte dadurch unernst und wie ein
Leichtgewicht. Jemand wie sie konnte unmöglich den Posten vom Gerd
übernehmen. Das war es, was Stoiber gemeint hatte, als er von ihr und
Westerwelle als „Leichtmatrosen“ gesprochen hatte. Die ganze Zeit hatte
sich dieser N24 Chefredakteur neben sie aufgebaut, Peter Limbourg, der
dafür viel zu groß war und der auch nichts sagte. Merkel und Limbourg
sprachen nicht miteinander, warum also wich er nicht von ihrer Seite?
Suchte er verzweifelt die Nähe zur Macht? Es sah schon absurd aus,
dieses ungleiche Paar, und dass die Merkel den Tölpel nicht loswurde,
sprach gegen sie. Schröder hätte den mit einem einzigen Haifischlächeln
verscheucht.
Maynhard Graf Nayhauss schlich herum, endlich einmal ein echter
Prominenter, eine hochgradige Persönlichkeit erster Kajüte.
"Na, alles in Dortmund, Herr Graf?" fragte ich beflissen. Er ging nervös
zuckend weiter. Hier war Geld, hier war Luxus und Überfluss. Die
176
Hostessen trugen dunkelrote Goldbrokatkleider und waren natürlich alle
Models. Man hätte sie an sich reißen mögen. Aber alle im Areal waren
bestens verheiratet und hatten keinerlei Sinn für solchen Erotik-Schmarrn.
Wozu eine Frau dieser Art auch nur beachten, wenn man einen AngelaMerkel-Typ zu Hause hatte, oder sogar neben sich? Wieder waren alle
Männer mit weiblicher Begleitung gekommen. Wer das nicht tat, galt
heutzutage als stockschwul. Deshalb kamen selbst die Halbschwulen in
weiblicher Begleitung, um nicht als stockschwul zu gelten.
Als Kampa-Chef Machnig einmal zufällig neben mir stand, fragte ich ihn,
ob er auch glaube, dass es keine Neuwahlen gebe. "Klar gibt es die!"
"Naja, Köhler prüft das und sagt dann nein. Basta!"
"Kann er nicht, weil schon Kohl das so gemacht hat."
"Dann geht die Klage nach Karlsruhe und die Sache scheitert da."
"Ja, aber erst lange NACH den Wahlen. Bis dahin kräht kein Hahn mehr
danach."
Lächelnd ging er weiter. Hatte er recht? Kohl hatte den Bundestag
aufgelöst, um sich durch Neuwahlen einen fetten Sieg zu bescheren; eine
grobe Manipulation zu seinen Gunsten. Genau DAS hatte das Grundgesetz
verhindern wollen. Und es war trotzdem durchgekommen. Dann mußte es
jetzt erst recht durchgehen. Verschüchtert fragte ich Wolf von Lojewski.
Der machte mir wieder Mut:
"Köhler ist anders. Ein weltfremder Technokrat, ein Außenseiter. Er wird
sturköpfig das entscheiden, was er zufällig für richtig hält. Und da ist
beides gleichermaßen möglich. Die Wahrscheinlichkeit, dass er ’nein’ sagt,
beträgt genau 50 Prozent. Ich kenne ihn gut, habe ihn oft getroffen."
Innerlich jubelte ich. Doch keine Neuwahlen, vielleicht! Und der Kanzler
hatte bereits definitiv gesagt, dass er weitermachen werde, wenn Köhler
nein sagte. Mit anderen Worten: Schröder wäre dann ein Kanzler, der
bewiesen hätte, dass er nicht an seinem Stuhl klebte. Ein Politiker, dem es
nicht um Macht, sondern um Verantwortung ginge, um Gestaltung, um
des Volkes Willen. Ein Regierungschef, der nicht nur vom Volk gewählt
war, sondern nun auch noch zusätzlich die Legitimation durch den
Bundespräsidenten besaß. Und Köhler mußte sich volle 21 Tage Zeit
lassen mit seiner Entscheidung, das war so vorgeschrieben. Genug Zeit
also für Schröder, mit dem Mann ein paarmal Essen zu gehen und ihn zum
Freunde zu gewinnen. Das schaffte der Gerd mit links. Eine kleine
Charme-Offensive, und der spröde Technokrat war Feuer und Flamme für
unseren herrlichen jungen Kanzler! Erst beim zweiten oder dritten Essen
mitsamt Frauen würde Schröder einfliessen lassen, wie leicht die
Staatskrise in ihr Gegenteil zu wenden wäre, wenn das Staatsoberhaupt
persönlich für die mühsam angestrebte, aber nur auf diesem etwas
fragwürdigen Weg zu erreichende Legitimation durch ein 'Weitermachen!'Machtwort sorgte...
Solchermaßen beflügelt wandte ich mich an Laurenz Meyer, den Ex-CDUGeneral:
"Köhler sagt nein. Wissen Sie es schon?" Er sah mich dunkel an, mit fast
brutalen Augen.
"Zunächst einmal: Für wen arbeiten Sie?"
177
Die Frage hatte ich durchaus erwartet. Und ich wußte, dass er sich wortlos
wegdrehen würde, wenn ich gestand, nur ein Privatmann zu sein. So
antwortete ich:
„Für die 'taz'.“
Sofort tanzte ein Lächeln auf seinem vorher so mürrischen Gesicht. Er
sagte:
"Köhler sagt ja. Und tut damit etwas Gutes für Deutschland. Jeder Tag
ohne Rot-Grün ist ein guter Tag für Deutschland." "Aber es wäre
verfassungswidrig. Deshalb sagt er nein. Warum sollte er einen
Verfassungsbruch begehen? Welches Motiv sollte er dafür haben? So ein
ehrenwerter Mann, Sie kennen ihn doch?" "Nein, ich kenne ihn nicht. Und
er wird es tun, weil es gut ist für Deutschland, für unser Vaterland. Weil er
damit unserem Volk einen sehr großen Dienst erweist! Weil nämlich jeder
weitere Tag, an dem das rot-grüne Regierungschaos NICHT mehr besteht,
ein wundervoller und guter Tag für unser gesamtes deutsches Vaterland
sein wird!"
"Ich danke Ihnen!"
Ich schlug im Geiste die Hacken zusammen und war froh, Herrn Meyer
wieder los zu sein. Den hatte die Merkel also abserviert. Sauber, Angie!
Nun spielte die Musik auf, der gemütliche Teil sollte wohl starten. Stevie
Wonder von 1972 wurde von einer Kapelle intoniert, also die
meistgespielte Platte zwischen Caruso 1904 und 'Thriller' 1985. Selbst
'Street Life' und 'Its raining Men' hatte man im Vergleich dazu seltener als
Stimmungsmittel geriatrischer Schwachsinnsfeste eingesetzt. Ich machte
förmlich einen Satz Richtung Ausgang. Auch der 'Stern' war kulturell also
1972 stehengeblieben, wie die ganze Gesellschaft. Ob ich es innerhalb der
mir vergönnten Gesamtlebensspanne noch einmal anders erlebte? Würde
diese Zeit jemals aufhören? Würde jemals, und sei es in 25 Jahren, also
2030, etwas anderes auf Stern-Sommerfesten gespielt werden als Stevie
Wonder von 1972? Nein, diese Hoffnung bestand nicht. Denn es war ja
nichts nachgewachsen, schon biologisch nicht. Also konnte ich auch
bleiben, auf dem Fest.
Neben mir mampfte Dagmar Berghoff ein Lachsbrötchen. Mit lag die
zynische Frage auf der Zunge, warum sie die Tagesschau nicht mehr
moderiere, in ihrem Alter, mit noch nicht einmal 75 Jahren? Aber ich ließ
es. Immerhin hatte SIE sich zurückgezogen, mit noch frischen 65 Lenzen.
Dann waren da immer wieder so seltsame 40jährige Stern-Reporter, die
schulterlange Curt-Kobain-Matten trugen, Vier-Tage-Bärte und auffallend
helle Sommerjacketts. Oder waren sie doch schon 50? Oder FAST 50,
somit noch jung und rebellisch? Wie sah ihre Rebellion textlich aus?
Schrieben sie wüsten, anarchischen Scheiß, halb Bukowski, halb Fifty
Cent? Böse Zuhältertexte über Einbrüche im Penny-Markt und heiße
Bräute, die für sie anschafften... nein, das ging bei uns nicht. Ich hätte
gerne noch herausgefunden warum, aber immer mehr waschechte
Politiker liefen an mir vorbei, und ich wollte noch ein paar abfischen.
Bütikofer! Ich kannte ihn schon vom Grünen-Sommerfest her, das bereits
vor Unzeiten stattgefunden hatte. Ich sagte:
"Wissen Sie es schon? Es gibt keine Neuwahlen."
178
"So? Dann warten Sie den morgigen Tag einmal ab."
"Die SPD rettet sich in die Große Koalition, darum geht es. Dafür das
ganze Theater. Statt Neuwahlen gibt es einen Koalitionswechsel."
"Wer sagt das? Wer will das?"
"Das haben sich Schröder, Müntefering, Kurt Beck und Fischer Mitte Mai
ausgedacht. Wußten Sie nichts davon?"
Er stand mit offenem Mund da:
"Nein."
"Dann sage ich es Ihnen hiermit."
"Das ist ja eine Verschwörung."
"Genau. Was werden Sie jetzt dagegen tun?"
"Wie ich schon sagte: Erstmal die Rede des Kanzlers morgen anhören."
Ich dankte, er ging weiter.
War er nicht ganz vernünftig? Plötzlich wollte auch ich diese Rede hören.
Die mußte ja total brisant sein. So ging ich früh ins Bett und stellte den
Wecker. Um acht Uhr informierte der Kanzler seine Fraktion. Um 8 Uhr 30
die Fraktion der Grünen. Von da an begann die Sonderberichterstattung
von N24. Peter Limbourg berichtete nahezu nonstop aus dem Reichstag.
Um zehn Uhr sprach der Kanzler. Die Rede war sehr gut, aber alles andere
als brisant. Dann sprach die Merkel. Wieder wirkte sie so fiepsig und
leichtmatrosenhaft, wie auf der Party. Sie hatte außerdem einen
Schluckauf, der sie ziemlich außer Gefecht setzte. Kein gutes Zeichen für
sie und ihre schwere Aufgabe. Bei der Rede verschluckte und versprach
sie sich andauernd, und es schien ihr gar nichts auszumachen. So
unbekümmert und unernst hatte ich zuletzt Mitschüler erlebt, die vor der
mündlichen Prüfung gekifft hatten.
Die Strafe folgte auf dem Fuß, in Gestalt von Joschka Fischer, der eine
mitreissende, geniale Wahlrede hielt und die Merkel glatt abschoß.
Hustend, schluckend und augenblinzelnd saß sie auf ihrem Sesselchen und
war alles andere als die neue Regierungschefin. Schließlich kam noch ein
Abgeordneter namens Werner Schulz, der genau begründete, warum die
Neuwahl ein Verfassungsbruch wäre. Später sagten alle Kommentatoren,
dass diese Rede die beste gewesen wäre. Ich dachte: Wenn der Köhler
diese Rede auch gehört hat, ist es vorbei mit dem ganzen Theater. Was
natürlich toll wäre. Schröder wurde dann erwartungsgemäß das Mißtrauen
ausgesprochen, und noch während die Typen von der CDU hämisch
klatschten, lief der alte und neue Kanzler im Geschwindschritt zum
Ausgang, um zum Schloß Bellevue zu fahren, zum Bundespräsidenten, um
mit ihm den Beginn einer wunderbaren Männerfreundschaft einzuleiten.
32. Politiker Bashing …
Als der noch amtierende deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder
vorgestern seine Abschiedsrede auf dem SPD Parteitag hielt, fielen allen
die Tränen auf und die Emotionen der 18 Minuten lang klatschenden
Delegierten - aber der Kern seiner Rede ging unter. Nur wenige, schon gar
179
nicht die Medien, haben mitgekriegt, daß es sich um die bisher schärfte
Medienschelte eines führenden Politikers handelte. Schröder führte den
Begriff des 'Politiker Bashings' ein. Sinngemäß sagte er, das in
Deutschland zunehmend beliebte 'Politiker Bashing', also das blinde
Einschlagen der Medien auf die Politiker, werde die Demokratie ruinieren.
Wörtlich: "Solche, die es angeht, müssen wissen, daß am Ende dieses
Weges nicht mehr Demokratie steht, sondern deutlich weniger." Er bezog
sich also nicht ausdrücklich auf die Medien - das Wort fiel nicht - und
verließ sich darauf, dass "solche, die es angeht" schon richtig verstanden
würde. In der 'Tagesschau' wurde dann prompt berichtet, irgendwelche
parteiinternen Kritiker seien gemeint gewesen. In der 'Tagesschau' liest
man wohl keine Zeitungen.
Jeder, der morgens die Bild Zeitung aufschlägt, findet die ersten drei
Seiten vollgekleistert mit wüster Pöbelei gegen 'die Politiker'. Es ist
offenbar die neue (alte?) Volksreligion, denn das Blatt handelt nicht finster
verschwörerisch, sondern macht damit Auflage, trifft die Seele des Volkes.
Bis zur Wahl am 18. September waren natürlicherweise die regierenden
Rotgrünen 'die Politiker', die als Lügner, Betrüger, Abzocker, Abkassierer,
Egoisten, Schwätzer, Faulenzer, Falschmünzer, Schmarotzer und so weiter
an den Pranger gestellt wurden, immer nach der Leier 'Sie predigen
Wasser und trinken Wein'. Es handelte sich ganz offensichtlich um DAS
Feindbild der Deutschen, und die Monomanie und Häufigkeit, mit der diese
kleine Gruppe der Gesellschaft attackiert wurde, erinnerte zumindest mich
durchaus an die bekloppte Besessenheit, mit der etwa die Zeitschrift 'Der
Stürmer' das damalige Feindbild 'Die Juden' immer und immer wieder zum
nicht vorhandenen Thema machte. Nun soll man in Deutschland ja solche
Vergleiche nicht anstellen, und ich nehme ihn auch sofort zurück. Ich
sagte nur, es 'erinnerte' mich daran. Und wenn die Erinnerung erst einmal
anfängt, ist sie nicht zu stoppen: Ist der Haß auf die demokratisch
gewählten Politiker, auf die Demokratie, auf das Parlament und den
Meinungsstreit nicht überhaupt das konstituierende Element des
deutschen Wesens? Beispiele dafür gäbe es ohne Ende, drei kurze seien
genannt: Kaiser Wilhelms "Ich kenne keine Parteien mehr" löste schon
1914 grenzenlosen Jubel aus. Hitlers Siegeszug verdankte sich einer
täglichen Hetze gegen 'die Schwatzbude', die er 'dichtmachen' wollte, das
Parlament. Die 68er polemisierten eine Generation später vor allem gegen
'das System' und übernahmen damit denselben Begriff, der auch den
Nazis schon alles bezeichnete, was mit Demokratie zu tun hatte, von
'Novemberverbrecher' bis 'Handlanger des Kapitals'. Als ich gestern abend
den Taxifahrer in Köln auf dem Weg zum Hauptbahnhof fragte, was er von
der Großen Koalition hielte, sah ich in seiner prompten Antwort, daß
dieses Volk nie unpolitisch ist, aber immer demokratiefeindlich. Seine
leicht kölschhaltigen, versoffenen Sätze waren für mich wie akustische
Bild Zeitung, wie rheinische 'Post von Wagner': "Die reden ja viel, aber
solange das Grundproblem des deutschen Volkes nicht angesprochen wird,
ändert sich da gar nichts." Ich fragte, was das sei. Er drehte sich
verwundert um, sein langer Schnauzbart wippte: "Das ist, dass die
Politiker die ganzen Milliarden in die eigene Tasche umleiten!"
180
Zurück zum Thema. Mit dem 18. September nun, der Großen Koalition,
hat das 'Politiker Bashing' nicht aufgehört. Das Einschlagen auf das linke
Lager, das man der Rechtspresse unterstellt, und zwar als gutes Recht
und als ehrwürdige Tradition, war mitnichten die Ursache. Denn zu meiner
ziemlichen Überraschung ging es nun erst richtig los. Die "Da grinsen sie
frech, die Abzocker-Politiker"-Artikel der Yellow Press gehen munter weiter
und treffen nun alle Parteien. Und keiner wird behaupten können,
irgendein Medium, ob ZEIT, Stern, Coupé, Spex oder auch taz hätte eine
grundsätzlich andere Einstellung. Politiker sind einfach das Letzte,
ungefragt, unüberprüft, das versteht sich von selbst, da sind sich alle
einig. In keinem anderen Punkt sind sich alle Deutschen so beängstgend
einig wie in diesem. Eine Gegenrede hat noch keiner gehalten. Ich blickte
dann im Zug auf die Zeitungen, die die Fahrgäste vor der Nase hatten:
'Große Koalition bittet ALLE zur Kasse - nur DIE POLITIKER verzichten auf
nichts!' (Bild), 'Die Akte der Ungerechtigkeit. Unsere Politiker sparen
überall, nur bei sich selbst nicht' (Bild Innenteil, ganzseitige Auflistung
aller 'Privilegien' der Politiker wie "Anspruch auf eine Büroausstattung",
"Netzkarte der Deutschen Bahn", "Mitglieder der Fraktionsspitze
bekommen sogar persönliche Dienstwagen!"), 'Enttäuschung über Merkels
Regierungsprogramm. Große Koalition startet mit Verfassungsbruch'
(WELT), 'Verheerende Rezepte' (WELT Leitkommentar), 'Man wurstelt sich
so durch' (WELT Innenteil), 'Koalition im Kreuzfeuer' (Kölner StadtAnzeiger), 'Mit Steuererhöhungen und Sparaktionen verärgert SchwarzRot das Wahlvolk' (DER SPIEGEL), 'Postengeschacher vor der Kanzlerwahl'
(DER SPIEGEL)... Ein Fahrgast hatte bereits die Bild Ausgabe des
kommenden Tages ('Die Große Koalition der Diebe'), ein anderer eine
etwas ältere Ausgabe vor Augen ('Ihr Steuer-Lügner!'), auf der Merkel,
Stoiber und Münte mit langen Lügen-Nasen abgebildet waren: "So
schamlos wurden wir Wähler wohl noch nie belogen! Die peinlichen Lügen
unserer Politiker, wie der Griff in unsere Kassen geplant wird - Seite 2!"
Ich wartete, bis der Fahrgast auf Seite 2 blätterte, und dann ging das
Inferno von vorne los: 'Faul, feige, fantasielos' (Kommentar von Hans-Olaf
Henkel). 'Sie brechen alle Wahl-Versprechen' (Headline), 'So schamlos
haben uns DIE POLITIKER betrogen! (6 Zentimeter hohe Lettern), 'Liebe
Lügner von Berlin (Post von Wagner). 'Fantasielos' waren vor allem die
Lauftexte: "...Das Blaue vom Himmel versprochen... greifen wie gemeine
Diebe in die Taschen... schamlos... belogen... alles Lüge!... Faul sind sie...
Glaubwürdigkeit beerdigt... Lügenland... Mehrwertsteuer-Lüge... lügt die
SPD immer noch... Steuerreform-Lüge..." und sicher noch ein weiteres
Dutzend Mal das blöde Wort.
Was war nun eigentlich die Lage an diesem Montag, dem 14. November
2005? Wer hatte wen verraten? Wer hatte einen völkerrrechtswidrigen
Angriffskrieg inklusive Völkermord begonnen oder was? Wer hatte um
Posten geschachert, in fremde Taschen gegriffen, intrigiert, gelogen, sich
persönliche Vorteile verschafft, war dabei faul, feige und fantasielos
gewesen? Wer hatte die Milliarden am Volk vorbei in die eigene Tasche
geleitet? Ja ja, ich weiß, die Politiker. Aber was war WIRKLICH geschehen?
Folgendes: In geradezu unfaßbar disziplinierter Weise haben 605
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Parlamentarier in 18 Arbeitsgruppen, Unter- und Obergliederungen,
geräuschlos und sachlich eine Verzahnung des Managements des Landes
(eine Firma mit über 30 Millionen Arbeitsplätzen) hingekriegt. Vom ersten
Tag nach der Wahl an haben sie - von Stoiber abgesehen - zielgerichtet
und sachbesessen gearbeitet. Keiner hat sich profiliert - vergessen wir
Andrea Nahles, Ausnahmen bestätigen die Regel - keiner wurde
ideologisch, keiner nervte mit langen Reden. Sie haben gearbeitet wie die
Bienen. Wie Krankenhausärzte in den 50er Jahren, 18 Stunden am Tag,
und am Wochenende ebenso. Wofür DaimlerChrysler Jahre brauchte und
es nicht schaffte, nämlich die Fusion zweier großer gesellschaftlicher
Gebilde, benötigten Union und SPD drei Wochen. Allen in 36 Jahren
Gegnerschaft gewachsenen Feindschaften, Unterschieden, auch
landsmannschaftlichen und kulturellen Unterschieden zum Trotz wuchsen
sie in dieser vollkommen sachbezogenen Mammutarbeit so sehr
zusammen, dass alle Reporter insgeheim den Eindruck hatten, die beiden
Lager seien ineinander verliebt. Nirgends war es zu sehen, das immer
behauptete 'Hauen und Stechen' der schamlosen Egoisten, denen es
einzig um den Posten, die Macht, die Eitelkeit, das Niederstechen des
Mitbewerbers geht. Und nun zum Ergebnis. Wurde der Staat
kaputtgespart? Wurde die Kaufkraft abgeschöpft? Wurde das Geld den
Bürgern aus der Tasche gezogen? Nein, die Schuldenaufnahme wurde
sogar noch drastisch ausgedehnt, um die Wirtschaft wenigstens im ersten
Jahr NICHT abzuwürgen. Erst wenn die Konjunktur richtig angesprungen
ist, will man den Haushalt in den Griff kriegen, vorsichtig, aber dann mit
heiligem Ernst und kompromißlos.
Hat es jemals etwas derartig Vernünftiges in der Politik gegeben? Es ist,
als hätten sich alle Erkenntniss der letzten zehn Jahre zu einer
einzigartigen Gemeinschaftsleistung verdichtet. Und wer handelt
verantwortungslos? Die Politiker?
… und seine Folgen
Schröder und Doris sind weg, die Merkel sitzt allein im schönen
Kanzleramt, ohne Mann und ungeliebt von den Medien wie ihr Vorgänger.
Die Regierung hat gewechselt - aber das 'Politiker Bashing' geht munter
weiter.
Wenn Hans Jürgen Jörges auch weiterhin im 'Stern' allwöchentlich gegen
Müntefering ("Du bist Münte!"), Stoiber, Wulff, Merkel, Platzek und so
weiter mit alttestamentarischer Wucht wettert, erbleichen die Kollegen der
Bild Zeitung. Sie besorgen das Geschäft mit gleichem Eifer und geraten
doch in ihrer ohnmächtigen Knast- und NPD-Sprache immer mehr auf
unterstes Pöbel-Niveau. Die Buchstaben werden immer größer, die
Aussagen immer kleiner, sinngemäß dass die Große Koalition schon jetzt
"am Arsch" sei, auch die jetzt gewählten Politiker Abzocker seien, Lügner,
Betrüger, Abkassierer, faule Hunde, Schwätzer und so weiter. Die NPD
plakatierte jüngst im Bundestagswahlkampf "Schnauze voll? ZockerPolitiker abstrafen! NPD". Das war plump, aber vom Tenor her das, was
182
auch alle anderen Medien dem Volk zunehmend heftig suggerieren. Das
geht bis hin zum SPIEGEL, bis hin zur 'taz', und ein Spiegel-Redakteur
sagt treuherzig: "Das zeigt doch gerade unsere Freiheit, dass wir beide
Seiten kritisieren, SPD und CDU." Das stimmt. Die Freiheit, einen
demokratisch gewählten Politiker einmal zu loben, kann sich keine Zeitung
mehr herausnehmen. Zu hermetisch, zu konsensual ist inzwischen der
geschürte Haß gegen diese Leute. Es handelt sich dabei um echte Hetze.
Allein die in der letzten Woche erschienenen Berichte über die neuen
'Abzocker-Politiker' würde diese heutige taz um ein Vielfaches sprengen.
Am beliebtesten dabei sind endlose Tabellen, in denen die einzelnen
Bezüge der Abgeordneten bis zum allerletzten bezuschußten Bürobleistift
aufgelistet werden. Immer wieder einen Schrei der Empörung wert: die
7.037 Euro Grundgehalt der "Unersättlichen"! Wo doch ein einfacher
ungelernter Arbeiter mit zwei geschiedenen Frauen und einer Vorstrafe
viel weniger erhält! Diese Schweinerei! Die verarschen uns doch! Die sollte
man doch alle zum Mond schießen! ÜBER SIEBEN TAUSEND! Hängt sie alle
auf, die eitlen Schwätzer!
So Volkes Stimme. Der 'Stern' beschreibt die Mehrwertsteuererhöhung im
übernächsten Jahr als einen auf unsere Wirtschaft zurasenden Kometen,
der sie zerschmettern wird: "Noch 410 Tage bis zum Einschlag!" Danach
wird auf 21 Heftseiten haarklein bewiesen und vorgerechnet, daß alles,
alles, alles schlecht sei am neuen Koalitionsvertrag. Ein unfaßbares, zum
Lachen kleinliches und kleinkariertes Gejammer, dass sich wie Realsatire
liest. Furchteinflößende Headlines: "Wer verliert 2007 am meisten?"
(S.28), "Über Nacht werden unsere Lagerbestände drei Prozent weniger
wert" (S.29), "Die Letzten beißen die Hunde" (S.34), "Ein bißchen
schwanger / Die neue Regierung startet ohne Vision" (S.36), "Wir
verlieren nochmal fast 160.000 Jobs" (S.42), "Pascha-Paare sollen mehr
bezahlen" (S.44), "Unersättlich / Die Bürger werden abkassiert, die
Politiker bedienen sich ungeniert" (S.46) und so weiter. Daß 'FOCUS' und
andere Spießerblätter dem nicht nachstehen, versteht sich von selbst.
DEREN Headlines sind dann aber wackeren taz-Lesern nicht mehr
zumutbar. Wenn selbst der ehemals konsumkritische 'Stern' mit Schaum
vor dem Mund die Erhöhung einer elektrischen Zahnbürste bei Tschibo
von 6,99 Euro auf 7,12 Euro im Jahr 2007 anprangert (natürlich käme
niemand auf die Idee, per reality check kurz festzuhalten, dass die
Zahnbürste vor einigen Jahren das Zehnfache kostete und alle ElektronikGüter ständig billiger werden), so kann man sich die Veitstänze der
konsumfreudigen und wirtschaftsnahen Blätter lieber gleich ersparen. Im
Zentrum der Dauerhetze steht aber auch diese Woche eine Marginalie: die
Erhöhung der Vizepräsidentensitze im Bundestag von fünf auf sieben. Es
gab dafür zwingende Gründe, zum Beispiel den Einzug einer weiteren
Partei ins Parlament. Doch nun geht das Geschrei los. Was die uns wieder
kosten. Was der kleine Mann davon hat, nämlich nichts. Was die
überhaupt zu tun haben, nur blödes Repräsentieren. Dass die umsonst
Autofahren dürfen, diese Abzocker, und Bundesbahnfahren auch. Selbst
bei der Straßenbahn in Aachen kriegen sie einen Zuschuß, und zwei
Zeitungen täglich geschenkt durch ein Geschenk-Abo. Denen fliegen die
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gebratenen Tauben zu, oder Würste und Wein, wie heißt es doch gleich,
ach ja, sie predigen Wasser und trinken Wein, diese 'Damen' und 'Herren'
Parlamentarier. Weg mit ihnen! Dichtmachen die Schwatzbude! Die
grinsenden Volksabkassierer in den Steinbruch schicken zum Arbeiten,
jawoll! Letzteres steht nicht in den Zeitungen, hört man aber von jedem
Taxifahrer, den man auf das Thema anspricht. Möge der taz-Leser einmal
selbst den Taxifahrertest machen, so wie ich gestern abend vor dem
Kölner Hauptbahnhof.
Die leicht kölschhaltigen, versoffenen Sätze waren für mich wie akustische
Bild Zeitung, wie rheinische 'Post von Wagner'. Wie er denn die neue
Große Koalition fände?: "Die reden ja ville, aber solange dat
Grundproblem des deutschen Volkes nit anjesprochen wird, ändert sich da
gar nichts." Ich fragte, was das sei. Er drehte sich verwundert um, sein
langer Schnauzbart wippte, die Kölschfahne wehte mir ins Gesicht: "Dat
is, dat die Politiker die janzen Milliarden in die eigene Tasche umleiten!"
Politiker sind ganz offensichtlich um DAS Feindbild der Deutschen, und die
Monomanie und Häufigkeit, mit der diese kleine Gruppe attackiert wird,
erinnert durchaus an die bekloppte Besessenheit, mit der etwa die
Zeitschrift 'Der Stürmer' das damalige Feindbild 'Die Juden' immer und
immer wieder... Entschuldigung, sowas sagt man ja nicht mehr. Ich
nehme es auch sofort zurück. Ich sagte nur, es 'erinnerte' mich daran.
Und wenn die Erinnerung erst einmal anfängt, denkt man unwillkürlich
noch weiter zurück: Ist der Haß auf die demokratisch gewählten Politiker,
auf die Demokratie, auf das Parlament und den Meinungsstreit nicht
überhaupt das konstituierende 'deutsche' Element der letzten hundert
Jahre? Beispiele dafür gäbe es ohne Ende, drei seien kurz angerissen:
Kaiser Wilhelms "Ich kenne keine Parteien mehr" löste schon 1914
grenzenlosen Jubel aus. Krieg statt Demokratie, super! Auch Hitlers
Siegeszug verdankte sich einer täglichen Hetze gegen 'die Schwatzbude',
die er 'dichtmachen' wollte, das Parlament. Die 68er polemisierten eine
Generation später vor allem gegen 'das System' und übernahmen damit
denselben Begriff, der auch den Nazis schon alles bezeichnete, was mit
Demokratie zu tun hatte, von 'Novemberverbrecher' bis 'Handlanger der
Wallstreet-Juden'. Die 68er nannten es 'Das Kapital' und 'die
Scheißliberalen'...
Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum, entgegen der Wilhelm-IILogik, der Schulterschluß von SPD und Union NICHT zum Ende der
Medienhetze führte. Dieses "Wir kennen keine politischen Lager mehr, wir
sind Deutschland!" zieht nicht. Alle machen sich über die Du-bist-MerkelKampagne lustig. Warum? Weil die Große Koalition immer noch ein
Produkt der Politik ist und nicht deren Ersatz. Aber genau darum geht es
der antiparlamentarischen Hetze: der Primat der Politik soll zerstört
werden. Die Wirtschaft allein soll das Sagen haben. Politiker sollen durch
Manager ersetzt werden. 'Politik', also das Verhandeln der Interessen
ALLER Bürger, soll als zutiefst schäbiges, verlogenes Tun diskreditiert
werden, das dem Wirtschaftsaufschwung im Wege steht. Und das einzig
wahre Interesse aller Bürger soll der Wrtschaftsaufschwung sein. Immer
184
nach dem Lied: "Lieber Geld in der Tasche als ein
Antidiskriminierungsgesetz."
Der Gedanke ist jedoch falsch. Überläßt man den Staat ganz der
Wirtschaft, kommt es zu Gewinnexplosionen und kurz darauf zu einer
Zerrüttung der Wirtschaft. Das Kapital nimmt mit, was geht, und wandert
weiter. 'Die Wirtschaft' ist an der Wirtschaft gar nicht interessiert. Man
sieht das überall auf der Welt, wo 'die Wirtschaft' den Staat übernahm,
zum Beispiel in Argentienien unter Menem. Der Neoliberalismus zerstörte
in drei Jahren die Industrie und die Infrastruktur. Das Staatseigentum
wurde privatisiert, ausgeschlachtet, und stillgelegt. Von 30.000
Eisenbahnkilometern waren plötzlich nur noch 3.000 übrig.
Hunderttausende Kinder starben und sterben an Unterernährung. Das
einmal schwerreiche Schwellen-Land fiel auf den Stand eines afrikanischen
Drittwelt-Problemgebiets ab.
Dieses alles und noch viel mehr wissen natürlich verantwortliche
Journalisten. Dass Burda-Schreiberlinge das NICHT wissen, rettet sie als
Menschen, nicht aber als Demokraten. Deswegen ist es so schlimm, was
mit dem SPIEGEL in letzter Zeit passiert ist. Ich kenne Franziska Augstein
gut genug, um zu wissen, daß sie ihre Kritik an dem "geschwätzigen Blatt
unter anderen (geschwätzigen Blättern)" politisch meinte und nicht
verlegerisch. Als Zeitschrift ist der SPIEGEL, inhaltlich wie formal, im
letzten Jahr sogar besser geworden. Also keinesfalls 'geschwätziger',
sondern interessanter und anregender, vor allem das Feuilleton. Hier
kämpfen uralte, fruchtbare Antagonismen, die es immer wieder in der
Geschichte der Pressefreiheit gab. Während im Politikteil prinzipienlos auf
alles eingeschlagen wird, was ins Parlament gewählt wurde, führt die
Lektüre von exquisit langen Enzensberger-Essays und ähnlichem im
Kulturteil zu neuem Denken und zur Emanzipation im besten Sinne.
Während vorne erst Rotgrün und nun Schwarzrot von beiden Seiten
populistisch angegriffen wird - agieren sie sozialdemokratisch, sind sie die
Pleitegeier, agieren sie neoliberal, sind sie Abkassierer - weitet sich der
Geist wieder, je weiter hinten man in der noch immer besten Publikation
der Welt blättert. Diesen Luxus gibt es in vergleichbaren Massenmedien
nicht. Da stinkt der 'Stern' von beiden Seiten, und der ist noch der beste...
Es bleibt somit Hoffnung. "WO WAR IHR MANN?" ist immer noch die Frage
des Tages. Und solange wir uns die vom Parlament gewählte Kanzlerin als
alleingelassenes, aufrichtiges Mädchen vorstellen und nicht als widerliche
'Polit-Abzockerin', hat die rechte Propaganda sowieso keine Chance!
33. Köln -Gott führt uns zusammen: Der Papst kütt
Die Mädchen auf dem Weltjugendtag sehen atemberaubend aus. Sie
wirken wie befreit von der allgemeinen Pornografisierung. Sie sind unter
das schützende Dach der Kirche geflüchtet. Der Papst war übrigens auch
da
Der Kern einer jeden Bewegung (im weltanschaulichen Sinn) ist die
tatsächliche körperliche Bewegung. Keiner bleibt stehen, alle sind IMMER
185
auf Achse. Alle sind unentwegt geleitet, durch Unterführer,
Gruppenführer, Fähnleinführer oder wie sie heißen mögen. Wie im
Ameisenhaufen weiß jeder Trupp inmitten der Myriaden von anderen
Zügen immer ganz genau, wo er hinwill, zögert nicht eine Sekunde,
verharrt nicht, es sei denn zum Zählappell. Militärische Rituale machen
Jugendbewegungen groß, das kennt der neue Papst noch von der
Hitlerjugend her. Aber natürlich ist der WJT nicht der Reichsparteitag der
HJ, im Gegenteil. Hitler war böse, der Papst ist gut.
Wir dürfen uns diese herrlichen Fahnenspektakel nicht durch die
lächerlichen zwölf Jahre kaputtmachen lassen. Ist doch toll, wenn
Millionen starker, junger, kräftiger, entschlossener junger Menschen
wieder voranmarschieren, in endlosen Kolonnen, positiv denken, Gutes
tun und zur Holzgitarre Lieder singen, am liebsten sogar das
Deutschlandlied: "Ei-nig-keit und Recht und Frei-i-heit …" Ich habe sie
gehört, die jungen Deutschen, und sie waren kein bisschen
nationalistischer als ihre bayerischen oder italienischen Kumpel. Andere
Nationen singen sogar lauter und haben noch viel bessere Lieder als nur
ihre Nationalhymne, zum Beispiel "la bamba" oder die La-Ola-Welle.
Zudem: Käme jemand auf die Idee, lustig grölende Fußballfans als
bescheuert abzutun, ihnen die politische Reife abzusprechen? Nein, wir
alle sind gern mal beim FC (Hertha, HSV, etc.) und haben Spaß. Also:
keine Vorurteile! Irony is over. Den säuselnd-unterschwelligen Spott
überlassen wir den Mainstream-Medien. Wir gucken einfach ganz genau
hin.
Was kommt da auf uns zu? Zunächst einmal schöne Menschen. Nicht
mehr die armen Wesen der früheren evangelischen Kirchentage. Diese
Schlusslichter der Gesellschaft, Behinderte, zu kurz Gekommene. Leute,
die auf dem erotischen Markt nur Ladenhüter waren, wie Houellebecq
richtig bemerkte. Nein, zumindest die jungen Frauen sehen
atemberaubend aus. Und sie sind auch keineswegs verklemmt. Sondern
wirken wie befreit, so, als hätten sie einen Weg gefunden, der allgemeinen
Pornografisierung der Gesellschaft zu entgehen. Indem sie unter das
schützende Dach der Kirche flüchten konnten.
Zum ersten Mal ohne die Eltern
Dann ist da das kindliche Element. Es sind eben 16-Jährige, die zum
ersten Mal ohne die Eltern wegdürfen. Das ist aufregend für sie. Jugend
führt Jugend, man sieht fast überhaupt keine Erwachsenen. Nerven tut es
trotzdem, dieses Kindische, und zwar, weil es übertrieben wird. Schließlich
waren wir alle einmal selbst jung und wissen, dass wir damals nicht sieben
Tage lang Ringelreihen, Abklatschen und "Die Reise nach Jerusalem"
gespielt haben. Wir haben auch nicht pausenlos gute Laune gehabt, haben
nicht unsere ganze Jugend lang "Oh du lieber Augustin" auf der
Wandergitarre gegeben oder "Frère Jacques' oder gar "Knock-knockknockin' on heaven's do-o-or". Wir haben nicht die Arme im Gleichschritt
geschwenkt, mit den Gänsepopos im Refrain gewackelt und schon
morgens vor dem ersten Nesquick "Juppijeh!" gerufen. Alle umarmt und
186
geliebt haben wir nur auf Pille. Eine Extasy, die uns drei Jahre lang zu
Spaßmonstern gemacht hätte, hätten wir nicht genommen. Aber egal. Der
Punkt ist mir nicht wichtig. Nur das dämliche Bischofsgerede stört mich,
wonach nunmehr bewiesen werde, dass "junge Gläubige auch Spaß haben
könnten". Wieso "auch"? Ihr Problem ist, dass sie nichts anderes können.
Sie nerven, die kleinen Idis.
Na, schnell vergessen. Angesichts der wehenden Fahnen, der deutschen
Adler, vereint mit den Wappenflaggen des Vatikans, wunderbar. "D'r Papst
kütt!", der Papst kommt, die Stadt ist in Aufruhr. Ist schon eine prächtige
Sache, das. Ich bin bester Stimmung. Und die herrlichen jungen Frauen,
diese fantastischen Körper, zu hunderttausenden, das macht einen ja ganz
verrückt - und bestimmt auch IHN, den Papa himself, Ratzinger. Seltsam
ist es schon, dass das Körperliche so ausgestellt wird, diese Sexiness, wo
es doch angeblich um innere Werte geht, um das Himmelreich, um die
Keuschheit. Drei Handbreit bauchfrei ist die Regel, bei fast 30 Grad Celsius
und Hochsommerwetter. Aber die Antwort kriege ich schnell heraus. Im
Katechismus, gerade neu herausgegeben, lese ich die Erläuterungen zum
Siebten Gebot "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib". Demnach
würden durch ein gezielt keusches Leben auch die Gedanken keusch
werden, und die Augen würden sich nicht mehr "verirren". Ja, das wäre
das Richtige für mich! Ich kaufe das Büchlein sofort. Und als mich wieder
so eine junge Bitch anspricht, starre ich ihr manisch auf die Nasenwurzel
und nur dahin. Ziemlich scheußlich sind allerdings auch die Liederabende.
Über 400 Veranstaltungen hat der WJT, und meistens wird dasselbe
Liedgut verwendet, und das ist doch ein - 'tschuldigung, das muss jetzt
raus - 50er-Jahre Matsch aus verpopten Gospels und umgedichteten
Schunkelliedern aus der Nachkriegszeit. Also "Cotton Fields" von Udo
Jürgens bis "Yellow Submarine" von den Beatles. Gut, geschenkt,
verziehen. Das "Horst-Wessel-Lied" war ja auch nicht von Mozart.
Der Papst, der Papst! Verlieren wir nicht das Wichtige aus dem Blick.
Trillerpfeifen, Zirkustrompeten, maßlose Freude. Die größte Party aller
Zeiten, viermal größer als die Berliner Love Parade in ihren besten Jahren.
Fremde fallen sich schluchzend in die Arme: ER kommt, der Heilige Vater,
der Stellvertreter Gottes auf Erden, il papa! "Be-ne-det-to! Be-ne-det-to!!"
Die Massen geraten in Ekstase. Auf einer Großleinwand vor dem Dom
sieht man das riesige weiße Flugzeug majestätisch im Anflug, ohne Ton,
sieht, wie es langsam um den Dom kreist. Köln ist das Rom des Nordens.
Alle Schranzen sind schon versammelt. Der erste deutsche Papst seit 487
Jahren. Nun wird, ebenfalls zum ersten Mal seit 487 Jahren, die große
deutsche Papstglocke geläutet. Die Stalinorgeln waren nichts dagegen.
"Bomm, bomm, bomm …!" Was für eine ergreifende Stimmung! Und das
Fahnenmeer wird nicht ruhig. Unbeschreiblicher Jubel brandet auf, als der
Papst zum ersten Mal auf der Großleinwand zu sehen ist (die ist fast
größer als der Dom selbst). Jetzt fallen auch alle anderen Glocken ein. Gut
500.000 Gläubige sind bereits auf dem Platz. Köhler hält eine Rede, aber
man hört nichts, wegen dem Glockengedröhn und den ekstatischen
187
Schreien der Massen. Ein Blinder kann wieder sehen, erste Wunder
kündigen sich an.
Das Auto des Antichristen
Alles wird übertragen. Warum fahren die alle Audi? Da muss doch der
Stern her! Ratzinger fährt doch sonst einen 95er 600 SEL Cabrio, das
schönste und größte Auto der Neuzeit, so groß wie die Dinger, mit denen
der Antichrist zum Berghof hochgefahren ist, also Hitler, der womöglich
heimliche Gegenspieler in Benedikts Leben. Mit diesem Papst begeben wir
uns ein allerletztes Mal in den Zeitkreis der Hitlerei. Nach ihm wird es
endgültig Geschichte sein, tote Daten. Und die britischen Bomber, die
Benedetto vom Himmel geholt hat mit seiner Flak, damit sie nicht noch
mehr Frauen und Kinder töteten, werden ungeheuerliche Legende sein,
nicht zu glauben, nicht zu beweisen, wie die Blutträne der Schwarzen
Madonna von Perpignan.
Immer mehr Menschen strömen auf den Domplatz. Die hübsche
Brasilianerin mit der goldenen Haut und den umflorten kritischen Augen,
der ich vorhin auf die Nase gestarrt hatte, ist nun - ein Wunder? - direkt
hinter mir und wird an mich gepresst. Ich kann nichts dagegen tun, es ist
die Wucht der Nachdrängenden. Sie hat nur ein petrolgrünes T-Shirt und
eine einfache Jeans an, sonst nichts. Dann wird sie an mir
vorbeigequetscht und ist plötzlich direkt vor mir. Gott führt uns
zusammen, das ist objektiv keine Lüge! Ihr Körper ist selbst wie eine
Kathedrale, schlank, groß, nicht ein Gramm Fett, alles wohlgestaltet und
edel. Finger- und Fußnägel hat sie silbern lackiert, die Augenbrauen sehen
nicht nur wie gemalt aus, und der Eye Liner ist auch recht pompös
aufgetragen. Sie dreht sich um, weil sie denkt, ich würde drängeln, und
diesmal versenkt sie gekonnt ihren ernsten Blick in meine Augen. Sie war
so nahe dran, ich fand die Nasenwurzel nicht mehr.
Der Papst wie Peter Sellers
Pech gehabt. Aber der Papst! Die Rheinfahrt. Das ganze Programm. Und
immer ER als Einziger ganz in Weiß. Die Ikonografie leicht verändert,
schon jetzt unverwechselbar: die beiden Hände immer erhoben und
gespreizt. Die Handteller erst nach innen, dann nach außen gedreht. Und
eine neuartige Spannung aus sehr fortgeschrittener Hölzernheit und
befreiend ausbrechenden, ruckartigen Bewegungen. Schon jetzt erkennt
man ihn auf hundert Meter Entfernung an seiner ganz eigenen,
einzigartigen Körpersprache. Wenn er plötzlich den Arm hochreißt wie
Peter Sellers in "Wie ich lernte die Bombe zu lieben", dann mutet das wie
ein Jesus-Wunder an, als wenn ein bis dahin Lahmer auf einmal laufen
kann! Und dann war er selbst da. Auf der Domplatte. Direkt vor mir,
lebend! Seit der totalen Sonnenfinsternis vor sechs Jahren habe ich nicht
mehr etwas so Beeindruckendes erlebt! Natürlich war Kaiserwetter. Wie
ein Gebirge Gottes ragte der Dom in den Himmel, bis ganz nach oben, nur
die grelle Augustsonne war noch geringfügig höher. In früheren
188
Jahrhunderten, als es die hohen Häuser noch nicht gab, mussten die Leute
wirklich gedacht haben, die Domspitze erreiche den Bereich der Engel.
Leider sind jetzt wieder die Schranzen dran, die Würdenträger, die feisten
purpurnen Bischöfe mit den dicken Bäuchen und dem falschen Lächeln,
der Bürgermeister mit der Karnevalskette, der wahlkämpfende Köhler,
Angeber und Wichtigtuer aller Art und Provenienz, am schlimmsten
natürlich wieder Lehmann. Der hatte Tags zuvor die Hirnverbranntheit
besessen, die katholische Sexualmoral hinterfragen zu wollen. Woraufhin
ihn die geistlosen Mainstream-Medien postwendend zum "liberalen
Hoffnungsträger" ausriefen. Was für eine Idiotie! Die katholische
Sexualmoral ist die einzige Trumpfkarte der Kirche, der einzige
Widerstand gegen die vom Turbokapitalismus gewollte Pornografisierung
unserer Gesellschaft, besser gesagt seelenlose Warenwelt. Doch dann riss
der Papst wieder alles raus.
Er schritt ins Innere des Domes, langsam und doch kräftig, bis hin zum
großen Hauptaltar, und fiel dort nach einer Kunstpause auf die Knie. Man
sah die weiße Gestalt beten, ja im Gebet verharren, minutenlang, völlig
unbeweglich, wie tot. Auf dem Domplatz wurde es auf einmal ganz ruhig.
Keiner wagte mehr zu atmen. 1,2 Millionen Menschen schlossen die
Augen, vergaßen Köhler, Merkel und Bischof Lehmanns Karrierepläne und
beteten. Ein vielhundertstimmiger Frauenchoral setzte ein. Ich bekam eine
Gänsehaut. Es war, als würde ein Geist durch alle Versammelten
hindurchgehen.
Der Papst erhob sich. Würdevoll, ohne den blöden Stab, an den sich sein
siecher Vorgänger immer klammern musste, ging er wieder zu den
Gläubigen und hielt seine Predigt. Eine frohe Botschaft. Wir sollten IHN
anbeten, sagte er, und meinte damit nicht einmal sich selbst. Er begrüßte
die Jugend aus 193 Nationen. Die Jugend sei nicht verunsichert und
ängstlich, erklärte er lachend und zur Verblüffung der 6.500 ebenfalls
angereisten Journalisten.
"Die Jugend", erklärte er ihnen, "will das Große."
34. Die hessische Stadt Schlitz - Schauplatz des neuen Buches von
Florian Illies
Nun wird auch die Natur neu entdeckt. Was die WM fürs Nationale, könnte
dies Buch für die verlorene Naturbegeisterung der Deutschen werden. Für
ihre Romantik. Ihr Heimatgefühl. Endlich darf man es wieder sagen, denn
Illies hat den Mut dazu aufgebracht, und der muß beträchtlich gewesen
sein: "Peitscht der Regen übers Land, dann drätschds; fallen sehr dicke
Tropfen aus dunklen Wolken, dann draddelds; kommen die Tropfen nur
vereinzelt und kleiner von oben, dann drebbelds." Über die Schlitzer,
Einwohner seiner Geburts- und Heimatstadt, schreibt er, weit ausholend,
189
mit dem langen Atem Marcel Prousts: "Über Jahrhunderte hinweg, in
denen sie an verregneten Maitagen hinter ihren Fenstern saßen und
zusahen, wie sich die Tropfen auf ihren Scheiben sammelten, um dann
gemeinsam in die Tiefe hinabzugleiten..." hätten sie der Deutschen
Sprache bereichert.
Wohl dem Volk, das solch einen Dichter sein eigen nennen darf, den Autor
von 'Generation Golf' und 'Generation Golf II'! Und Schlitz gibt es wirklich.
"Wo immer Onkel Hägar konnte, nahm er seinen mittelalterlichen Pflug
zur Hand, wälzte die Erde um und pflanzte neue Nadelbäume." Zum
Beispiel bei Illies Eltern, die bei Onkel Hägar eine Buchenhecke bestellten.
Die Hecke steht da immer noch, ebenso das Haus in der Parkstraße 85,
und die beiden Golfs stehen davor, ein schwarzer und ein weißer. Der
Taxifahrer kennt "den Florian" natürlich, den kennen alle dort. Weil
nämlich alle Schlitzer sich gegenseitig kennen. Das steht ja auch schon so
schön im Buch. Im Buch ist übrigens ALLES schön. Alle lieben sich. Alle
sind rührend einfältig, ein bißchen doof, aber rechtschaffen, redlich, der
Zeit trotzend, bauernschlau. Eine Idylle dort. Früher hätte man es als
Kitsch abgewehrt, aber das wird diesmal nicht gehen; dazu ist es zu gut
geschrieben. Dies kleine, aber feine Büchlein erzähle von den kleinen
Wundern, werden die Feuilletons schon bald wispern. Die
Naturbeschreibungen seien von rembrandt'scher Größe und so weiter. Und
auch die Golf-Fans kämen auf ihre Kosten, da auch immer wieder Autos
eine Rolle spielten, etwa der gelbe Daf von Tante Do oder die vielen
verschiedenen Traktoren der Schlitzer Bauern. Nun sagt der Taxifahrer
aber: "Der Florian war ein Jahr jünger als ich. Wir waren immer bei Illies
zum Fußballspielen. Zu acht waren wir, immer acht Jungen. Wegen dem
Fußballspielen. Jeden Nachmittag." Er zeigt den Garten der Illies, ein
extrem abschüssiges Gelände. Wer den Ball verschoß, mußte
kilometerweit nach unten laufen. Befreundet seien sie alle nicht gewesen
mit dem 'rich kid', nein, es sei nur wegen dem Fußballspielen gewesen. Er
betont es immer wieder, wie ein nervöser Zeuge im Tatort-Verhör.
Illies galt im Dorf als schnöselig, mal als arrogant, mal als versponnen;
gemocht hat ihn wohl keiner. Was für eine Hölle für ein waches,
neugieriges, phantasiebegabtes Kind: da kommen jeden Nachmittag
sieben Gleichaltrige in die Wohnung, und alles was sie wollen, ist blödes,
dumpfes Rumgebolze mit einem Ball, der ständig in Richtung Abgrund
verschwindet. Grund genug eigentlich für ein Genie, mit diesem Ort des
Stumpfsinns abzurechnen, ihn qua Literaturgeschichte auf ewig zu
schwärzen. Doch nein, Illies schreibt eine Schmonzette darüber, im "So
zärtlich war Suleiken"-Stil von Siegfried Lenz. Was ist da passiert?
Nun, die Leute wissen es natürlich: der Vater, von außen kommend und
schon alt, fiel eines Tages tot um, ließ die junge Mutter, Tochter des
Schlitzer Bürgermeisters, mit dem Kind Florian zurück. Der wurde dann
ein Mutter-Sohn, und mit dem Buch ehrt und verklärt er heute ihre Welt.
So würde es zumindest Volker Weidermann sehen. Nichts dagegen! Aber
wie ist Schlitz wirklich?
Knarzen die Treppenstufen Nummer 27 und 29 von Tante Dos Stiege in
der Straße Im Grund 17 immer noch? Nein, das Haus wurde luxussaniert,
190
zumindest renoviert. Liegen die Häkeldeckchen mit den eingenähten
Bleikügelchen immer noch auf dem Tisch von Oma Soundso? Sind die
Ureinwohner immer noch so liebenswerte Tierchen mit dem Verstand einer
Schnecke? Schrullig, kauzig, und auf dreistellige Alterszahlen zugehend?
Sitzt die Großmutter noch am Kachelofen? Waschen die Spießer in
karierten Holzfällerhemden noch immer ihre Opel Kadetts?
Die Antwort verblüfft: Sie tun es mehr als damals. Irgendwie und gewiß
unabsichtlich hat Illies das vielleicht modernste Buch der Saison
geschrieben, nämlich eins über die alte Gesellschaft. Die Perspektive ist
die eines dieser heute so typischen letzten Nachgeborenen inmitten einer
Fülle von Alten und Uralten. Der Enkel, der im Altersheim aufwächst.
Der Opa reißt die Dachluke auf, weil ein Zeppelin vorbeischwebt, und ruft
"Hurra! Hurra!". Na prima. Da schmunzeln einem die Seiten entgegen,
aber eigentlich ist das alles nur gruselig. Das reale Schlitz ist's nicht
minder. Die Hauptstraße quält sich gewunden und tempodrosselnd durch
den Ort. Ein anthrazitgrüner Golf V kommt herangeschlichen, weiß nicht,
was er tun soll, mit einer alten Frau drin, die eine noch ältere Frau im
Fond herumfährt. Provinz scheint zu sein, wenn immer Autos hin- und
herfahren, die lackglänzend und grün und fabrikneu sind und in denen alte
weißhaarige Leute sitzen, die rüstig sind und freundlich, aber mit denen
man kein Wort wechseln möchte. Früher, das sagen alle Schlitzer, war
Leben auf den Straßen. Wo ist das Leben bloß hingegangen? Schlitz wirkt
wie eine Westernstadt, in der Mittagsglut, in New Mexico.
Man sieht kaum einen. Ab und zu ein paar Alte. Die sich immer etwas über
die Straße hinweg zurufen, was man aber nicht versteht, weil Hessisch.
Oder eine kahlrasierte Punkerin, fett, schiebt einen Kinderwagen vor sich
her, im Hintern eine lange Silberkette mit dem Schlüsselbund. Solches
Personal kennt man aus den Oliver-Geissen-Shows, und man weiß: das ist
Provinz, und genau deshalb zieht man in die Stadt, sobald man ein
Girokonto eröffnen kann.
Drei junge Leute lümmeln am stillgelegten Schlitzer Bahnhof. Ein Bus
fährt jetzt hier an manchen Tagen, aber auf den warten sie nicht. Sie
hängen einfach nur ab. Sie fluchen auf alles, was mit Schlitz zu tun hat.
"Die Gemeindepolitiker tun wirklich alles für die Menschen hier - wenn sie
nur alt sind! Für die Jugend wird absolut nichts getan." Das Jugendhaus
wurde geschlossen, weil Russen es demoliert hatten. "Die Russen haben
alles zerschlagen, die letzten Sachen mitgenommen, sogar den Computer
geklaut." Unter den Jugendlichen hätten Deutsche keine Chance mehr. In
Schlitz gibt es nur noch eine Schule - die Gesamtschule - und da herrsche
Gewalt und Drogen durch die Ausländer. "Wenn ich mal Kinder hab, geh
ich weg hier. Die kann ich nicht in diese Schule einschulen!" Fulda sei
besser. Da gebe es noch mehr deutsche Kinder und auch verschiedene
Schulformen.
"Ortsgespräch" wird in ganz Deutschland gelesen werden und zu einer
romantischen Rückbesinnung auf Natur und Heimat führen. In Schlitz
nicht.
Fußnote:
191
Schlitz/Florian Illies
Endlich bekam ich einen Auftrag, den ich mir nicht selbst ausdenken
mußte, sondern ein Chef, so wie sich das gehört. Ich sollte über ein
Buch von Florian Illies schreiben. Das war eine wirklich leichte
Aufgabe, abgesehen davon, dass für mich alle Aufgaben leicht waren, bis
auf die, den eigenen Text wieder zerstören zu müssen - und das würde
mir auch bei diesem so leichten Thema wieder blühen. Ich fuhr in einen
Ort in Süddeutschland namens "Schlitz", in dem das Buch spielte. Dort
lief ich zwei Tage lang rum, sprach Leute an, machte mir Notizen. Es
begann ganz gut, nämlich mit der Anreise, die absurd schwierig gewesen
war. Im Notfall konnte ich das schreiben, Stichwort "das Ende der
Welt". Dann erzählte mir der Taxifahrer, was für eine fiese Möp der
Autor gewesen war, über den ich berichten mußte. Also ich schloß das
deduktiv aus seinen Aussagen, seinem Gesicht dabei, seinem Befremden.
Er war angeblich mit Illies zur Schule gegangen, hatte jahrelang
regelmäßig die Nachmittage im Hause der Illies verbracht, legte aber
entschieden Wert darauf, ihm dabei menschlich und persönlich nicht
nahegekommen zu sein. Nun muß ich eines gestehen: mein Verhältnis zu
dem Autor war zu diesem Zeitpunkt schlecht. Aus vielerlei Gründen.
Zuallererst natürlich, weil ich diverse Male von ihm gekränkt worden
war. Objektiv hatte ich dabei selbst schuld gehabt. Normalerweise macht
mir so etwas nichts aus. Aber einmal hatte ich mich für meine Frau
verwendet, und erlebte dann, wie er mich noch mehr geringschätzte als
vorher. Mir vorzustellen, dass er womöglich auch meine Frau in diese
Geringschätzung miteinbezog, machte mich rasend. So ist es ja immer:
selbst angegriffen zu werden, macht einem souveränen Menschen nichts
aus, aber wehe, es trifft seine Freunde oder gar Familie. Deswegen
hatte ich jetzt zum Ressortleiter gesagt: "Ich hasse diesen Mann,
lassen Sie mich den Artikel schreiben." Er lächelte fein und freute
sich. Das würde sicher ein toller Lottmanntext werden.
Aber, seien wir ehrlich, Florian Illies war auch ohne dem eine
fragwürdige Gestalt. Ein geistiges Leichtgewicht par excellence.
Niemand verkörperte wie er diese fipsige, wertelose, infantil
gebliebene Zwischengeneration "Golf", über die er unfreiwillig
selbstentlarvend geschrieben hatte. Andererseits war aber gerade sein
neues Buch, über das ich schreiben sollte, richtig gut geworden. Ich
mußte also das gute Buch verreißen, um den Autor der vorangegangenen
schlechten Bücher zu treffen. Das war ein Manöver, das mich, ob man mir
das glaubt oder nicht, unglücklich machte. Ich schrieb meinen Bericht
vor Ort, in nur einer Stunde, und traf dann noch durch einen Zufall
Jugendliche, die mir entscheidendes neues Material lieferten. Sie
legten glaubhaft dar, dass alles, was in Illies Buch stand, komplett
überholt war und somit die reine Lüge. Indem ich diese Dinge noch
aufnahm, verpaßte ich meinen Zug, der mich zurück nach Hamburg bringen
sollte, wo ich die Pressevorführung von "Superman III" sehen sollte.
Das war äußerst wichtig. Ich sollte oder wollte nämlich ins Filmressort
wechseln, was seit Jahrzehnten mein eigentliches Ziel gewesen war. Es
war das einzige Gebiet, von dem ich etwas verstand. Also eine
SPIEGEL-übliche Kompetenz besaß. Ich war zehn Jahre lang jeden Abend
ins Kino gegangen, besaß in meiner Wohnung einen Vorführraum und ein
Filmarchiv mit beispielsweise 200 deutschen Filmen aus den 30er und
40er Jahren. Für DIE ZEIT hatte ich schon als Student in den 80er
Jahren geniale Filmkritiken geschrieben, über Blockbuster, was damals
noch als unmöglich galt. Ich behandelte die großen, das globale
Massenbewußtsein konstituierenden Hollywoodfilme wie andere
Kulturprodukte, etwa aus der Weltliteratur. Beim SPIEGEL lag das
Filmressort allerdings bei Lars Olav Beier in festen Händen. Wäre
dieser Kollege wie die anderen gewesen, hätte ich niemals eine Chance
192
bekommen. Aber Beier war nett. Schon lange, bevor ich beim SPIEGEL
anfing, hörte ich aus vielerlei Quellen, ich solle mich an Lars Olav
halten, denn der sei der einzige Nette dort. Und das stimmte auch
irgendwie. Ich fand ihn nicht nett, aber in extremer Weise integer, was
ja noch bessser ist. Deswegen gab er mir jetzt, an der Chefredaktion
und den anderen Hierarchien vorbei, diesen Auftrag. Bestimmt bezog er
deswegen Prügel, denn DER SPIEGEL liebt Sonderwege & Spontaneität wie
die alte DDR die Perestroika - gar nicht. Und nun VERPASSTE ich diesen
Termin. Es war mein Ende als Filmkritiker und wahrscheinlich der
Wendepunkt zum Schlechten in meiner SPIEGEL-Karriere insgesamt.
Mein Text war wie erwartet äußerst subtil und gemein, und diesmal mußte
ich ihn nicht 37mal umschreiben, sondern bekam zum erstenmal einen
Redakteur zur Seite gestellt, der mir die autorenfremde Tätigkeit des
Redigierens abnahm. Der Text wurde nur zwei- oder dreimal umgeschrieben
und dabei nur unwesentlich verschlechtert. Also weniger verschlechtert,
als wenn ich selbst das schändliche Geschäft hätte besorgen müssen. Aus
meinen zauberhaften, authentischen jungen Leuten, die auspackten, welch
bedrückendes Schrottleben einen in der Geisterstadt "Schlitz" erwartet,
wurden blöde "Halbstarke", die sowieso nichts rafften. So ist nun
einmal die Denke im Kulturbetrieb. Jung ist blöd ist Bierflasche ist
Pubertät. Das lernt ja jeder "Tatort"-Lohnschreiber auf der
Drehbuchschule. Aber egal. Ich war nur froh, nicht mehr umschreiben zu
müssen. Allerdings hatte ich nun in Florien Illies einen weiteren
mächtigen Feind im Leben, und der Preis, den ich für den Artikel zu
zahlen hatte, war natürlich viel zu groß. Und der Redakteur, der mir
hatte "helfen" müssen, erzählte überall herum, meine Texte seien unter
aller Sau, total dillettantisch, eigentlich vollkommen unbrauchbar, und
ich hätte im SPIEGEL nichts vorloren. Er half mir auch nie wieder, so
sehr ich auch darum bettelte.
34 Nahaufnahme:
Die Wies’n in den Zeiten der Paranoia
Die Welt zu Gast bei Leuten, die im Sommer noch Freunde waren.
Sechs Millionen Besucher erwartet das Oktoberfest, viele davon
Ausländer. Vielleicht kommen weniger, "wegen der Lage",
befürchtet eine Frau aus Shanghai.
Welche Lage? Deutsche Fahnen werden in Kaschmir verbrannt,
wegen Papst. Die rechtsradikale NPD erobert Tags zuvor
193
Parlamentssitze. Die Bombenfunde in deutschen Bahnhöfen waren
doch erst. Die Eingänge der Wiesn sind von Polizei umstellt logisch. Eine Familie mit schwarzer Hautfarbe wird gecheckt, als
wollte sie gerade von London nach Tel Aviv fliegen. Es ist gerade
"Familientag" auf der Wiesn, mit halben Preisen.
Security überall. Polizisten, private Sicherheitsleute, verdeckte
Ermittler, Leute, die wie U-Bahn-Kontrolleure aussehen.
Misstrauische Männer in Jeansanzügen, ohne Taschen, nur ein
Kitbag um den Bauch, die zu viert, zu fünft zusammenstehen und
nichts zu tun haben. Die Paranoia ist wechselseitig.
Ist das jetzt einer? Der Tunesier mit der grünen Lederjacke und
der verdächtigen Plastiktüte? Ein Terrorist, ein Schläfer, ein
"Einzelläufer"? Ein Einzelläufer ist einer, der ohne einzeln kommt.
Ohne Gruppe! Sehr verdächtig. Die Leute gehen immer
gruppenweise zur Wiesn. Mit der Firma, dem Verein, den Nachbarn.
Auf den ersten Blick stimmen die linken Vorurteile noch: Saufen,
Gemeinschaft, Marschmusik. Deutsche Trachten. Bertulucci könnte
hier sofort wieder einen Film über den Röhmputsch drehen. Aber
seltsam: Da sind Horden grölender Germanen, und keiner fürchtet
sich.
Auf den zweiten Blick sieht man es wieder, das lockere, neupatriotische Deutschland der WM. So betrunken die Männer auch
sind, sie werden einfach nicht aggressiv.
Und die Frauen trinken sie unter den Tisch. "Hier kommen schon
die ganz jungen Mädchen her und saufen sich so dermassen zu,
dass jede sofort was aufreisst", sinniert Johanna Werner, 22, und
denkt an früher, als sie es selbst so machte. Der Führer würde sich
im Grabe umdrehen, hätte er eins.
Johannas Cousine Philomena ist extra aus London gekommen, weil
man dort erzählt, das soll so toll sein. Manchmal dominiert das USamerikanische Idiom, mal das italienische, je nach Bierzelt und Tag.
Jede Ethnie hat hier ihr eigenes Ding, die Punker kommen
gemeinsam, die Schwulen haben ihren Tag im "Pröllrosel".
Verbrüderung wohin man blickt:
"Auf die Hessen!"
"Baßt scho!"
"Baßt!"
194
Sechs Millionen Biertrinker und kein einziger faschistischer
Übergriff. Dabei singen sie in den Zelten die WM-Hits vom Sommer.
Das besondere Wiesn-Bier wird nur beim Oktoberfest
ausgeschenkt und berauscht schon nach der ersten Maß.
Hunderttausende torkeln, haben mit der Schwerkraft zu kämpfen als hätte jemand Extacy in das städtische Trinkwasser gemischt.
Die laufen einen glatt um. Notarztwagensirenen heulen, gehen
aber im seltsamen Lärmbrei unter, werden Teil des Akustik-Orkans
aus "Du gehörst zu mir / Wie mein Name an der Tür", "Tainted
Love", 50er Jahre Schlager von Peter Kraus und Rita Pavone, UFA
Wochenschau Fanfaren, Blasmusik und Gekreische aus den
Karussells. Fern der Wiesn, ein paar Strassenzüge weiter, hört man
das Massengekreische noch als untergründigen Dauerton,
vergleichbar den Schlachtengesängen in englischen Stadien.
Bayern allerorten, oder verkleidete, mit Sepplhosen. Sie stehen an
den aufgestellten Geldautomaten und ziehen die hiesige Währung
aus den Schlitzen. Paul Breitner aus Minnesota. Basti
Schweinsteiger aus Calais, Nordfrankreich.
Ein feuerroter, nagelneuer ERSTE HILFE Automat zieht weniger
Publikum. Für jeden Notfall und je 1 Euro kann man ziehen: Pflaster
(Schlägerei), Verband (schwere Schlägerei), Kondome (drohender
Sex-Unfall) und "Tampons light". So ist das Vaterland heute.
Fürsorglich, überorganisiert, permissiv. Der globale Geheimtip im
Wirtschaftsfaktor Spaß.
Der neue deutsche Mann setzt sich mit anderen Männern acht
Stunden lang ins Zelt und trinkt dabei. Er wird dabei kein Fascho,
kein Macho, kein Schläger, kein Hunne. Er bleibt: ein Mensch. Dann
fährt er mit dem Taxi nach Hause. So sieht es auf den zweiten
Blick aus.
Auf den dritten aber sieht man den Wahnsinn. In jedem der
Monster-Zelte, groß wie Petersdome, spielen vielköpfige
Blasorchester, stehen die Leute zu Tausenden auf den Tischen und
bewegen sich wie Irrsinnige. Sie recken die Arme in die Luft,
krächzen "Deutschland!" oder "Vivat Colonia!“
"Yes Sir, I can boogie"... Mallorca letztes Jahr? Sylt vor 30 Jahren? Das uralte Riesenrad, der Flohzirkus, der Hippodrom: alles so irreal. Die
herzigen Herzerl mit den "Mausi, ich liebe Dich" und "I muas oiwei an di denken"-Sprüchen... müßte es nicht längst „Knackarsch“ und
„Geile Sau“ heißen? Wie in einer Zeitreise wird die Internetwelt einfach zurückgelassen. Als eine Art Engel, die das Elend des Irdischen
verlassen, finden sich die Wiesn-Besucher in einem Kosmos aus weissgepunkteten Röcken, dicken Strickjacken mit aufgenähten
Waldmotiven, Holzpferden im Dreh-Karussell, Traumsequenzen aus alten Fellini-Filmen und Ständen und Geschäften wieder, die ziemlich
crazy wirken würden, wenn sie nicht so real wären: Großmutter hat hier schon Suppe und Stulle gegessen, der Wurzelsepp macht immer
noch den besten Enzianschnaps, und im Illusionstheater beim "Schichtl" wird eine lebendige Frauensperson in zwei Teile zersägt...
195
Der Himmel ist nun schwarz. Saloon-Stimmung wie in alten 30er
Jahre Western. "Juchuuu!" Die Säufer purzeln aus den
Bierburgen... draußen peitscht der Regen ins Gesicht, niemanden
stört's. Loopings bei 100 km/h in der sich drehenden, in
den nassen Himmel schießenden "Top Spin" Rakete. Nach jedem
Bier ein Super Scooter, und zur Beruhigung wieder ein Bier.
Todesschreie in den Sitzen, oder Lustschreie.
Die Drehorgel mit dieser alten, zugleich roboterhaften Musik, die
Musik von Alpträumen... die achte Maß inzwischen. Eine
südamerikanische Sambamusik schwappt heran, diese Dean-MartinFilme aus Acapulco in den frühen 60ern, die Platte haben sie aber
gut aufgehoben. Schwarze Hiphopper lungern am Autoscooter
herum, warten auf Landeier... und die kriegen sie auch... da, die
küssen sich... jetzt schwankt ein Haus WIRKLICH, das ist ja ideal
für Betrunkene, es ist das "Hof Freu Haus"...
Das Volk marschiert. Es ist ja auch ein Volksfest. Alles bewegt
sich, ist aufgewühlt, feurig, durchgeknallt, drängt zur Bastille.
Jeden packt es. Die altertümlichen Glühbirnen überall, der
mächtige Winterhimmel darüber, es ist so wahnsinnig romantisch.
Man liebt sie alle. Die Bierkrüge schleppen sie nachlässig mit sich,
bei jedem Schritt schwappt mächtig was raus...
"Die Fußballweltmeisterschaft, da warns scho alle aus dem
Häuschen, dann der Papst, und jetzt des Oktoberfest..."
23 Uhr, die Wiesn schließt, die letzte Maß. Nur bei Feinkost Käfer
noch was los... nix wie hin... das Zelt ist systematisch mit Security
Leuten abgeriegelt... Einstieg durch ein Fenster... aber bei Käfer ist
ein ganz anderes Wiesn-Feeling. Das ist die Stoiber-und-UschiGlas-Welt. Leute, die VIP-Tische bestellen. Versteinerte GeorgeGrosz-Visagen, schrecklich. Das Böse lebt. Da muß man gar nicht
mehr in die "Horror-Schau" ("Lebendige Geister!"). Reaktionäre
Rockmusik, daran erkennt man immer die Schurken: "We will / we
will / rock you!" Die Welt der Türsteher, der geheimen Zeichen für
das Reindürfen oder Draußenbleibenmüssen. Nein, das bringt
nichts. Die Wiesn ist zuende.
Auf den letzten Blick ist alles wieder wie immer.
196
35. Berlin–Neukölln – 39 Fragen an den Rächer der Rütli-Schule
(Interview mit der Netzeitung)
Joachim Lottmann, 49, gilt als einer der Gründer der deutschen
Popliteratur. Jüngst ist sein neuer Roman „Zombie Nation“ erschienen, ein
launischer Feldforscherblick auf die Verhältnisse zwischen Männern und
Frauen, jung und alt, Kultur und Politik in Deutschland. Lottmann arbeitet
außerdem seit Jahren als Journalist, seit Oktober ist er Kulturredakteur
beim „Spiegel“. Er lebt in Berlin und Köln.
1. Wo sollen wir uns denn treffen? Ich wohne im Berliner Stadtteil
Neukölln, komme aber gerne überall hin. Schlagen Sie einfach was
vor…
! Sie sind in Neukölln? Bleiben Sie wo Sie sind, ich komme zu Ihnen. Das
muss jetzt einfach sein. Das ist ja total krass, Rütli-Schule, die ganzen
Prolls, die Gewalt. Da laufen doch überall nur so Mike-Tyson-Leute rum.
Alle mit Kapuze, die Frauen voll verschleiert, und darüber noch eine
Kapuze. Treffen wir uns doch am Hermannplatz und gehen dann
spazieren.
Eine halbe Stunde später am Hermannplatz beginnt das Interview.
Lottmanns Hunger auf eine Kartoffelsuppe führt uns anfangs ins KarstadtRestaurant, wo es zwar keine Kartoffel-, wohl aber eine Kohlrabi-Suppe
gibt. Der angekündigte Neukölln-Spaziergang muss erstmal warten.
2. Sie wollten unbedingt nach Neukölln kommen und jetzt sitzen wir
hier im Karstadt-Restaurant, abgeschottet, unter Rentnern. Sieht so
Ihre Feldforschung aus?
! Ich liebe diese Art von Restaurants, feinste Küche, sehr atmosphärisch,
international mehrfach ausgezeichnet.
Zum ersten Mal war ich hier am Hermannplatz im März 2000, da habe ich
für die Berlinseite der „Süddeutschen“ über dieses Türkenghetto
geschrieben, vor allem aber über die Ängste, die die Deutschen davor
haben. Tagelang habe ich nach etwas gesucht, was solche Ängste
auslösen könnte. Gefunden habe ich aber nur kleine Puzzleteilchen, von
denen es ganz schön viele braucht, damit daraus ein Gesamtbild der
Angst wird.
3. Was für eine Angst ist das? Wo kommt sie her?
! Aus Amerika. Gangster-Rap, Filme wie Eminems „Eight Mile“. Ich wollte
gar keinen Elendsbericht abgeben, sondern das Gegenteil: Jugend dieser
197
Welt, schau und komm nach Berlin-Neukölln. Hier geht’s zu wie im
allerfeinsten Hip-Hop-Ghetto in New York. Die Redakteure haben mir das
aus den Händen gerissen.
4. Also keine Sozialmilieustudie über Arbeitslosigkeit, Alkohol …
! Das läuft gar nicht. Arbeitslosigkeit ist das langweiligste Wort der Welt.
Arbeitslosigkeit – das ist ein Wort wie „Der Konsument“ oder so was.
Einfach saublöd.
5. Hat sich Neukölln seit dem Jahr 2000 geändert?
! Es ist sauberer, heiterer, Menschenfreundlicher, farbfroher, mehr Geld
ist da, mehr Wohlstand, mehr Zufriedenheit, die Menschen leben ihr selbst
bestimmtes Leben, sind erfüllter und freuen sich, dass es aufwärts geht.
6. Das steht in krassem Widerspruch zu „Zombie Nation“ und Ihrer
These vom totalen Stillstand in Deutschland.
! Ja, das stimmt. Für die Mehrheitsgesellschaft trifft das nicht zu. Aber
Neukölln steht ja nicht für Deutschland, das ist Klein-Istanbul, ein
türkisches Viertel, das nicht zu Berlin gehört. Völlig untypisch. Ganz
anders als im Prenzlauer Berg, wo ich wohne. Diese Mischung aus OstIntelligenz und West-Provinz gibt es nirgendwo sonst. Keine Ausländer,
keine Alten. Aber viele Kinder, die höchste Geburtenrate in der ganzen EU.
Vielleicht wird das in einer Generation mal ein richtig netter Ort. Wenn all
diese Kinder mal groß sind.
7. Wo Kinder sind, müssen Männer und Frauen ja zumindest eine
zeitlang ganz gut miteinander ausgekommen sein. In dem von
Ihnen selbst verfassten Klappentext zu „Zombie Nation“ aber heißt
es: „Was Frauen den Männern antun, ist der eigentliche Irakkrieg
unserer Epoche“.
! Kinder scheinen der letzte gemeinsame Nenner zu sein. Trotzdem danke
ich meinem Herrgott, dass ich das nicht mitmachen musste, diese Kriege
um die Kinder, die meine Brüder erlebt haben. Das ist so wie der
30jährige Krieg, danach bleibt nur noch grenzenloses Grauen. Ich bin seit
1988 verheiratet. Meine Frau gehört zur alten Schule und sagt, in diese
Welt kann man doch keine Kinder setzen.
8. In Ihren letzten beiden Büchern ist der Ich-Erzähler Johannes
Lohmer auch verheiratet; einmal mit „der April“, einmal mit „der
Barbara“. Erkennt sich Ihre Frau in einer dieser Figuren wieder?
! Sie hat beide Bücher nicht gelesen. Vielleicht hat sie mal reingeguckt
und irgendwas gefunden, was ihr nicht gefällt. Und bevor sie dann
schlechte Laune bekommt, liest sie halt nicht weiter.
9. Sind Sie und Ihre Frau lieber in Köln oder in Berlin?
! Am liebsten bin ich mit meiner Frau in Berlin. Das ist der beste Zustand.
Der zweitbeste ist, alleine in Berlin zu sein. Dann folgt, zusammen mit
meiner Frau in Köln Zeit zu verbringen. Und absolut horrorvoll ist es,
198
alleine in Köln zu sein. Man findet dort niemanden mehr, den man treffen
kann. Während man in Berlin stets alle Leute erreicht und niemals eine
Ablehnung bekommt, wenn man sich verabreden will. In allen anderen
Städten der Welt fangen die Leute erstmal an, in ihrem Terminkalender zu
blättern. Ich hasse Termine, die muss man die ganze Woche im Kopf
behalten, und am Ende wird man dann versetzt.
10.
Aber bald wird Berlin von Köln kaum noch zu unterscheiden
sein. Immer mehr Kölner Künstler und Medien ziehen nach Berlin:
Erst die Popkomm, dann die Verlage und jetzt hat auch noch das
Musikmagazin „Spex“ angekündigt, den Verlagssitz wechseln zu
wollen.
! Dann muss ich die mal besuchen und das neue Büro mit „Zombie
Nation“-Plakaten tapezieren. Ich habe ja bei der „Spex“ kurz nach der
Gründung gearbeitet, 1983. Bis ich durch mein erstes Buch berühmt
wurde, war ich dort gerne. Nun hassen sie mich. Martin Kippenberger
sprach irgendwann eine Fatwa gegen mich aus. Dann starb der
Kippenberger und konnte die Fatwa nicht mehr zurücknehmen. Die bleibt
nun lebenslang bestehen. Dabei mag ich die „Spex“..
11.
Vielleicht weil die „Spex“ wie Sie noch weiß, was Jugendkultur
ist und was sie sein könnte.
! Ich habe mit jungen Leuten nie was zu tun gehabt, auch nicht, als ich
selbst jung war. Ich war immer der einzige, der zu Klassen- und
Geburtstagspartys nicht eingeladen wurde - vielleicht kommt daher mein
lebenslanges Trauma, bei der Jugend nie dabei gewesen zu sein. Erst als
ich meinen vorletzten Roman „Die Jugend von heute“ geschrieben habe,
bin ich wirklich mit Jugendlichen zusammengekommen, mit meinem
Neffen, seinen Freunden und deren Welt. Ich habe alles aufgeschrieben,
was ich dort erlebt habe, und habe dabei endlich mal keine Angst vor
Menschen gehabt.
12.
Ein Journalist, der Angst vor Menschen hat?
! Ich bin hochgradig soziophob. Unter Menschen zu sein, strengt mich
furchtbar an. Mein Betriebssystem ist dafür nicht geeignet – OS 7.2, die
anderen sind aber schon bei VX 20. Ich kann das, was die anderen reden,
so schnell gar nicht begreifen. Davon bekomme ich Migräne und die
Schmerzen zwingen mich, die Sozialstation schnellstmöglich wieder zu
verlassen. Deswegen bin ich auch beim „Spiegel“ so gut aufgehoben, dem
letzten Magazin der Welt, wo man noch seinen eigenen kleinen Bunker
hat. Alle „Spiegel“-Leute sitzen den ganzen Tag in ihrem Kabuff, brüten
vor sich hin, hassen die anderen und vermeiden jedes Gespräch.
13.
Sollen wir jetzt mal langsam mal zur Rütli-Schule spazieren?
! Ja. Ich bin jetzt satt.
199
14. Gehen wir also zur Rütli-Schule. Aber erwarten Sie nicht zu viel, die
Fernsehsender sind längst wieder abgezogen, es geht dort jetzt sehr ruhig
zu.
! Ja, das Fernsehen, da will ich unbedingt rein. Bei meinem letzten Buch
wollten alle Printmedien was mit mir machen, hier ein Interview, da ein
Porträt, dort ein Beitrag. Und hinterher musste ich für alle was schreiben.
Das will ich nicht mehr, ich will jetzt nur noch ins Fernsehen. Ich möchte
es zu einer lieben Gewohnheit machen, dass ich abends nicht vor dem
Fernseher, sondern in einer Talkshow sitze. Also mit der Nation von der
anderen Seite her in Kontakt trete. Die ganzen Auftritte koordiniert mein
Lektor.
15. Der auch in Ihrem Roman mitspielt. Wie viele echte Personen passen
eigentlich in einen Roman? Benjamin von Stuckrad-Barre hat mal gesagt,
er versuche 50000 Namen in einem Buch zu platzieren. Denn dann gebe
es auch 50000 Leute, die es kaufen.
! 80 Namen passen auf jeden Fall rein und den meisten Leuten gefällt es
gut, genannt zu werden. Zur realistischen Beschreibung der Wirklichkeit
gehören Namen einfach dazu. Stuckrad-Barre hat das auch gemacht, gut
gemacht, und das im wichtigen Bereich Medien. Das war keine
Berufsstrategie. Er hat trotzdem keine Verbündeten gefunden, keine
Bunnys, die es auch so machen. Ist das nicht total ungerecht? Er zeigt uns
allen diese finsteren Medienstrukturen, diesen Medienfaschismus, und am
Ende ist er völlig verbrannt und alle sehen nur seine finsteren Absichten
am Werk.
16. In was für eine Schule sind Sie gegangen?
Zuerst in eine Konfessionsschule in Belgisch-Kongo. Erst als ich 13 war
sind wir nach Hamburg gezogen. Die Grundschule war toll, weil da auch
andere christliche Kinder waren, die eine ähnliche Hautfarbe hatten wie
ich. Vorher wäre ich vor Einsamkeit fast gestorben. Es war eine Explosion
von Lebensglück, als ich in die Schule kam.
In Hamburg hingegen war Schule für mich ohne jede Bedeutung. Anfangs
habe ich so einen Fleiß-Flash bekommen, um meine pubertären Probleme
zu kompensieren. Später bin ich kaum noch hingegangen. Die frühe
Fleißphase hat gereicht, um später, als der Leistungspegel immer mehr
gegen Null ging, trotzdem das Abitur machen zu können.
17. Ihre literarischen und journalistischen Jugendbeobachtungen kommen
völlig ohne den Bereich Schule aus.
! Ja, das hat mich nach der Schulzeit nie wieder interessiert. Für einen
jungen Menschen ist Schule doch das Uninteressanteste überhaupt. Allein
diese absurden Fächer: Mathematik, Chemie, Physik, Erdkunde – eines
unwichtiger als das andere, keins davon hat irgendeinen Wert.
18. Wenn man das hört, dann wundert man sich, dass es nicht in jeder
Schule zu Krawall kommt. Oder zu einer hohen Anzahl an Selbstmorden.
200
! Schüler betrachten ihre Schule als Club. Da geht man halt hin. Da sind
die Chicks, die Bräute, das Clubleben, die gute Musik, die Homies, da wird
was aufgestellt, da haben sie eine gute Zeit…
19. …aber die Lehrer verstehen das nicht und servieren keine Cola,
sondern wollen unterrichten?
! Lehrer, das sind doch die letzten, die man dort braucht. Es muss
furchtbar sein, dass diese Typen da herumsitzen. Stellen Sie sich das doch
mal vor: Du bist 16, gehst in deinen Lieblingsclub und plötzlich hockt da
so ein alter, schwabbliger, völlig verunsicherter Typ, der dir was von
Molekularstrukturen erzählen will. Und der einfach nicht begreift, dass er
den Mund halten muss. Ist doch klar, dass der solange auf die Fresse
kriegt, bis er es begriffen hat.
20. Und daran liegt es, dass die Probleme in den Schulen anwachsen?
! Die „Bild“ schreibt ja immer, dass die Schüler frustriert sind und zu
Recht böse werden, weil sie keine Lehrstelle bekommen. Ich glaube das
nicht. Als ich in der Schule war, habe ich niemals an eine Lehrstelle oder
auch nur an den nächsten Tag gedacht. So etwas macht man in dem Alter
einfach nicht. Auch die Fernsehbilder von der Rütli-Schule drücken was
ganz anderes aus. Lachende, fröhliche Kinder, fantastisch aussehende
Mädchen, Jungs, die Spaß haben. Man müsste die Kinder mal selbst
fragen. Wenn die dann aber sagen, dass sie mehr über Chemie erfahren
wollen, dann müsste hier wirklich kasernenhart durchgegriffen werden.
Wenn etwas konsequent gemacht wird, kann es ja auch Spaß machen.
War ja schon bei den Großeltern so.
21. Damit wären wir wieder bei „Zombie Nation“ und „Die Jugend von
heute“, wo Sie schreiben, dass die Jugend eigentlich gar keine Jugend ist,
sondern nur ein Abziehbild der Eltern- und Großelterngeneration.
! Ja, würd’ ich sagen.
22. Dann handelt es sich bei der Schulgewalt also um eine Rebellion der
An- und Überangepassten?
! Nein, um einen Kulturkampf. Die Lehrer bieten eben keine Kultur. In
einer ZDF-Reportage sehe ich, dass die Lehrer mit abgewetzten
Strickjacken, Baumwollhemden und Wackelhosen in den Unterricht
kommen, die Haare nicht gekämmt, die wollen da echt auf cool machen:
„Ey, hört mal Kinder, mit mir könnt ihr doch reden. Ich bin doch kein
autoritärer Arsch.“ Zu Hause lernen die Kinder, was Vorschriften sind, wie
man Regeln einhält, und in der Schule hocken diese Typen. Einfach
unmöglich!
23. Was für ein Kulturkampf soll das denn sein? Ganz klassich Orient
gegen Okzident? Oder Unterschichtenfernsehen gegen die Relikte des
bürgerlichen Bildungsideals?
! Es muss der Kulturkampf sein, denn alles andere hat es ja schon immer
gegeben, das Jungsgepose, die Messerstecher- und Raufereien,
201
Hauptschule war immer schon der Abgrund. Neu ist nur die Verachtung
jugendlicher Moslems gegenüber der westlichen Kultur. Und das finde ich
sogar nachvollziehbar. Noch mal zu diesen Lehrern: keine Autorität, keine
Ordnung, keine Struktur. Wer würde die nicht verachten?
24. Mir wäre ein antiautoritärer Lehrer tausendmal lieber als ein
autoritärer. Was Sie sagen klingt sehr nach dem guten alten „FAZFeuilleton“ und der üblichen konservativen Abrechnung mit den Folgen
von 1968.
! Nein. Die wollen ja immer Werte vermitteln. Aber es sind ja gar keine
da, die sich vermitteln ließen. Sehen Sie sich doch die Feuilletondebatten
über Bildung, Familie oder neue Bürgerlichkeit mal an. Da wird doch alles
zerredet. Niemand sagt klar und deutlich, Bildung ist gut und Unbildung
ist schlecht. Immer wird sofort ein „aber“ nachgeschoben, wird noch mal
relativiert. Ich kann Ihnen genau sagen, was ich gut und was ich schlecht
finde.
25. Und das wäre?
! Das sag’ ich jetzt nicht, weil ich sonst aus unserem System rausfliege.
Aber ich könnte es jedenfalls.
26. Wenn sie es verrieten, entspräche es dann dem, was Ihr Verleger
neulich bei einer Lesung über Sie gesagt hat? Dass Sie ein durch und
durch konservativer und romantischer Mensch sind?
! Ja, genau.
27. Wenn wir jetzt geradeaus gehen, kommen wir nach Kreuzberg: mehr
Cafés, weniger Prolls, was einem soziophoben konservativen Romantiker
wie Ihnen vielleicht mehr behagt als dieses dreckige Neukölln mit seinem
Gemisch aus türkischen oder arabischen Jugendgangs, die, wie sie sagten,
auch noch den Westen verachten. Gehen wir aber rechts oder links,
bleiben wir in Neukölln. Entscheiden Sie.
! Wir bleiben. Das hier ist besser als jedes Honorar. Da, schauen Sie sich
diese Typen an, immer zu dreien oder vieren geballt, und wie sie sich und
ihre Umgebung anstieren. Zum Glück habe ich das Geld aus meinem
Portemonnaie genommen und Zeitungspapier rein getan. Über was die
sich wohl gerade unterhalten?
28. Über Mädchen, Musik und all das, worüber auch ihre deutschen
Mitschüler reden.
! Ja, denn die deutschen und die nicht deutschen Jugendlichen haben ja
meistens das gleiche Wertesystem. Es ist das Regelwerk der Straße, das
von beiden Gruppen verinnerlicht wird. Aber einen Unterschied gibt es
doch: die Deutschen haben sexuelle Probleme und die Ausländer nicht.
Oder doch, aber es sind andere sexuelle Probleme.
29. Wie kommt man von einem Jugendromand zu einem Familienroman?
202
! Indem man die noch fehlenden Generationen berücksichtigt. Vor allem
die Mumien, also die mittlere Generation, die die Alten und die Jungen
gleichzeitig unterdrückt. Ihre kulturelle Hegemonie hat dazu geführt, dass
die übrigen Teile der Gesellschaft keine Ausdrucksmöglichkeiten mehr
haben, zumindest keine mediale.
30. Trotz oder wegen 68 und den Folgen?
! Ich habe 68 nie verstanden. Höchstens als Hereinbrechen des
Wahnsinns. Da komme ich mir vor wie Hölderlin oder Nietzsche, die
einfach irgendwann irre wurden. Nein, es geht um meine Generation, die
etwas später einsetzt, und deren eigenartige Unveränderbarkeit, was ihre
kulturellen Prägungen und Meinungen angeht. Gestern rief eine Freundin
an, hielt ein kreischendes Radio an den Telefonhörer und rief: „Hör mal,
sie spielen unsere Musik!“ Das war irgend so ein Getröte von Human
League. Die sind seit über 20 Jahren tot, das ist doch nicht meine Musik.
31. Sondern?
! Immer nur das Neueste. Meine Zeitung ist doch auch nicht die „Bild“ von
einem beliebigen Tag im Jahr 1982. Es ist die von heute.
32. Aber die heutige Regierungschefin Angela Merkel ist nicht ihre
Kanzlerin. Ihr Kanzler war Gerhard Schröder.
! Ein feiner Kerl. Ich habe ihn mal in einer Talkshow getroffen, da war er
noch Ministerpräsident von Niedersachsen. Nach dem Talk habe ich ihm
gesagt, er habe so abscheulich pastoral gesprochen. Dann hat er mir eine
Abreibung verpasst. Spät abends noch von der Seite angequatscht und
kritisiert zu werden, sei ja wohl das letzte. Sein Ton war gar plötzlich nicht
mehr pastoral, sondern der eines Bauarbeiters. Nach meiner
Entschuldigung hat er uns zwei Bier geholt und wir haben noch ein wenig
geklönt.
33. War er ein pastoraler Kanzler oder ein Bauarbeiterkanzler?
Beides. Aber wenn man es sich von den Ergebnissen her ansieht, wird
klar, was überwiegt. Heute ist Deutschland eine Baustelle. Außerdem war
Schröder ein Mann des Volkes, nein: er war das Volk selbst.
34. Hm. Von der Jugend erwarten Sie eine Revolte gegen die Mumien und
beim Kanzler geben sie sich mit so wenig zufrieden?
! Das war schon eine ganze Menge. Seine Nachfolgerin steht jedenfalls für
das, was dem „Spiegel“-Kulturteil unterstellt wird. Sie will eine
Revitalisierung des Bürgerlichen, und weil sie einen langen Atem hat, wird
sie das in 20 Jahren auch erreichen. Das wenige, was vom Bürgertum
noch übrig ist, wird sie stärken und dafür sorgen, dass es nach und nach
den Rest der Gesellschaft durchdringt. Nicht länger soll der Wendeverlierer
aus Frankfurt/Oder im Jogginganzug der Repräsentant des deutschen
Bürgertums sein, sondern einer, der Abitur hat und sich fein anzieht.
35. Egal ob jung oder alt?
203
! Ganz egal. Dieses ganze Gerede über Generationengerechtigkeit, Renten
und Kinder ist total verlogen. Als ob die Jungen die Renten der Alten
überhaupt bezahlen könnten. Die sind doch alle arbeitslos. Hätten wir
doppelt so viele junge Leute, hätten wir doppelt so viele Arbeitslose. Man
muss doch nicht mehr Menschen zeugen um mehr Leistung zu erhalten,
es reicht, das Leistungspotenzial der Alten abzurufen. Frank Schirrmacher
sagt ja, wenn erstmal die Mumien alle in Rente gehen, spätestens in acht
Jahren, dann gibt es hier wirklich eine Rentnerschwemme. 50 Millionen
Menschen, die nicht mehr arbeiten und nur noch essen wollen. Ich sage:
Lasst sie doch länger arbeiten, dann gibt es das Problem nicht.
36. Noch zehn Jahre länger Thomas Gottschalk, Pur und Wim Wenders,
die „Zombie Nation“ als Generation, die niemals abtritt – das kann doch
nicht Ihr Ernst sein.
! Stimmt auch wieder.
37. Also ein unauflösbarer Widerspruch?
! Der Umgang mit den Mumien, das ist das wahre Problem in unserem
Land, nicht Steuern, Kinder und Gesundheit. Wie sich jetzt die
Literaturkritik gegen Volker Wiedermann stellt, wie sich zusammenrotten
und zum allerletzten Schlag gegen einen 36Jährigen ausholen – das hat’s
noch nie zuvor gegeben. Wie in einem Romero-Film sind die Zombies
aufgestanden und gehen auf die Lebenden los. Ulrich Greiner in der
Hauptrolle. Und es sind viele Zombies, die ganzen Rezensenten, all die
Germanisten, die Verteidiger der Suhrkamp-Kultur. Das ist richtig
gruselig.
38. Jetzt sind wir bald wieder dort, wo wir den Spaziergang begonnen
haben: am Hermannplatz. Irgendwelche neuen Eindrücke von Neukölln?
! Es ist ruhiger geworden, bürgerlicher. Wie ein beschauliches
westdeutsches Städtchen in der Vorwendezeit. Ein Stadtteil ohne Gewalt.
Wo sind denn hier eigentlich die Bettler, Alkoholiker, Junkies? Weit und
breit keiner zu sehen.
39. Woran liegt das?
Das liegt bestimmt an Schröder, der hat das hier alles in Schuss gebracht.
36. Wann wollen Männer heute ein Kind? Von Desperate
Housewives und Superman
Die deutschen Sparkassen werben zurzeit auf grossen Plakaten mit einem
jungen Paar. Beide gucken auf das Stäbchen eines Schwangerschaftstests,
der «positiv» anzeigt. Die Frau ist schwanger. Sie gafft glückstrunken,
kann es kaum fassen. Er verzieht das Gesicht, als hätte er in eine
bittere Mandel gebissen.
204
An dieser Werbung kann man wieder schön sehen, wie lange es dauert,
bis sich eine gesellschaftliche Veränderung bis zu den Werbefuzzis
herumgesprochen hat. Diese Anzeige will lustig sein. Sie baut auf das alte
Vorurteil, Frauen liebten Kinder und Männer erlebten den Beginn einer
Schwangerschaft als grössten anzunehmenden Unfall. Jetzt muss der
arme Tropf, suggeriert das Plakat, den One Night Stand heiraten, dem
Kind seinen Namen geben, die Frau 60 Jahre lang bis zur diamantenen
Hochzeit durchfüttern.
Alles Quatsch. Wenn es heute jemanden gibt, der objektiv allen Grund
hat, keine Kinder zu wollen, dann ist es die Frau. Sie hätte nämlich
neunzig Prozent aller Belastungen zu tragen, die damit verbunden
sind. Ohne dafür das zu kriegen, was Frauen früher im Gegenzug
bekamen: die Heirat, die Versorgung, den Status, die soziale Absicherung,
die Befreiung von der Erwerbsarbeit. Und das wissen alle.
Umgekehrt wollen die Männer heute Nachwuchs. Sie haben nichts zu
bieten und nichts zu erwarten, haben keine richtige Arbeit und keine echte
berufliche Perspektive, ja sie haben überhaupt keine Perspektive, nicht in
Deutschland, kaum in der Schweiz – was nicht ihre Schuld ist. Da passt es
wunderbar, wenn sich plötzlich eine Familie als grosser Sinnersatz
gründen lässt. Und wieso «-ersatz»? Es ist der Sinn, auch das spricht sich
schnell herum bei den Neo-Slackern der digitalen Bohème, den
arbeitslosen Dauerstudenten, den nicht vermittelbaren Akademikern,
der ganzen «Generation Praktikum». Bevor ihr ganz verzweifelt, macht
Kinder!
In den Berliner Jugendbezirken Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain
– ältere Journalisten würden von «Szene» faseln – laufen so viele neue
Väter herum, dass ein Mann ohne Kinderwagen auffällt wie in Riad eine
Frau im Bikini.
Aber nicht nur die jüngeren Männer wollen Väter werden, bevor sie gar
nichts werden. Das Virus hat alle Altersgruppen erfasst. Frauen erzählen
einem, dass es heute kein erstes Date mehr gibt, an dem der Mann nicht
sehr rasch testend durchblicken lässt, wie wichtig ihm der Punkt sei und
wie es überhaupt damit stehe bei ihr? Eine Freundin empörte sich: «Noch
bevor man überhaupt Sex hatte! Bevor man die Eltern kennen gelernt und
Weihnachten hinter sich gebracht hat! Bevor überhaupt irgendetwas
gelaufen ist, soll man sagen: Ja, ich will Kinder mit Ihnen! Das ist doch
wohl das Letzte!»
Für Frauen sind Kinder das Letzte, für Männer inzwischen das Erste, woran
sie denken. Sie wollen alle Kinder, alle, alle. In Deutschland ist man
schnell masslos.
Entweder sind alle für das Vaterland oder keiner (jüngst bei der WM
wieder alle). Das Denken und Fühlen rauscht immer im Kollektiv durch die
Geschichte. Und jetzt hat die Grossgruppe das Wunder des Lebens
entdeckt und will «Verantwortung übernehmen». Zumal doch «wir»
gerade aussterben. Bei so vielen Embryos im Leib der Frauen wird die
Bevölkerung bald auf das Doppelte hochschnellen.
205
Gewiss, die Schweizer Uhren gehen anders. Dort wird das erst zehn Jahre
später geschehen. Aber es wird kommen. Die Frauen freuen sich nicht
mehr auf Babys, werden trotzdem dazu überredet.
Von Burschen, die früher lieber mit ihren Kumpels «War Craft» gespielt
hätten. Oder eine (weitere, nutzlose) Fortbildungsschulung absolviert
hätten. Oder im Club andere sexuelle Orientierungen ausprobiert hätten.
Sage keiner, Kinder seien zu teuer. Jeden Abend ausgehen ist teurer. Und
zahlen müssen ohnehin die Frauen. Und die Schwiegereltern, die eigenen
Scheidungseltern und viel verzweigten Neupartner, die ganze neue
kinderverrückte Gesellschaft. Gut so.
Doch so grundsätzlich die neuen Möchtegernväter auch Kinder wollen, es
gibt Unterschiede beim genauen Zeitpunkt. Wann passiert es wirklich?
Wenn die Zwischenprüfung wieder nicht bestanden wurde? Wenn der
elterliche Check ausbleibt? Wenn sie den Job verliert? Wenn die Liebe
bröckelt? Wenn alle anderen im Freundeskreis schon eins haben? Wenn
die nächste hippe Fertilisationsklinik im eigenen Viertel aufmacht?
Die Antwort lautet: Das Kind wird in dem Moment gezeugt, in dem die
Frau den Eindruck gewinnt, dass der Mann seinen Humor verliert. Also es
ernst meint. Bitterböse, heilig ernst, in dieser Frage.
Desperate Housewives und "Bis auf die Spitzen"
'Desperate Housewives', Nachfolgerin der Zeitgeist-Sendung 'Sex and the
City', läuft nun lange genug, um ein paar Fragen zu beantworten. Was
machen diese vier Vorstadt-Hausfrauen eigentlich in der Wysteria Lane?
Wie bringen sie den langen, nichtsnutzigen Tag herum? Was lesen sie,
was beschäftigt ihre kaum trainierten Gehirnzellen? Womit verdienen ihre
Männer das viele Geld? Warum hat eine von ihnen (Susan) keinen Mann
und trotzdem denselben Wohlstand? Was will uns diese Langzeitstudie
über ein Leben ohne Arbeit nun genau sagen?
'Sex and the City' war eine beliebte und lustige, aber im Kern todtraurige
Leidensbeschreibung des Krankheitsbildes 'Single'. Es ging um fünf
altgewordene Frauen jenseits der 40, die sich wie Teenager benahmen
und deswegen allein blieben. Je mehr sie sich anstrengten, doch noch ihr
Glück zu finden, je verrückter sie sich dabei aufführten, desto schroffer
gestaltete sich ihr Scheitern. Tragische Figuren! Aber es war das Leiden
von Millionen. Da lachte frau noch über sich selbst. Nur worüber lachen
die Millionen bei 'Desperate Housewives'?
Auch hier sind es Frauen über 40 (nur Gabrielle ist jünger), aber ihr SexAppeal ist höher, gerade weil es erwachsene Frauen sind und keine
aufgebrezelten späten Mädchen, die die letzte U-Bahn nach der Disco
verpaßt haben. Auch wenn sich Alice Schwartzer im Grabe umdreht, diese
arbeitsscheuen Berufsgattinnen und Mütter wirken natürlicher und
selbstverwirklichter als ihe hysterischen Schwestern aus den
Führungsetagen des New Yorker Business. Sie bewegen sich besser, sie
haben drei Dimensionen mehr Stil in ihrer Kleidungsauswahl, ja sie
206
scheinen so etwas wie natürliche Würde zu besitzen. Und sie beschäftigen
sich nicht in jeder freien Minute mit 'Beziehungsscheiß'.
Aber womit dann? Mit der bösen Nachbarin, dem Terror der Kinder, der
peinlich junggebliebenen Hippie-Großmutter, den wirtschaftskriminellen
Manipulationen des Ehemannes, der Versicherung für den Auto-Schaden,
den Erpressungsversuchen jugendlicher Liebhaber aus der Nachbarschaft,
den Dinnerparties... aber das alles reicht nicht. Es fehlt das Eigentliche,
die Story, das Schicksal. So beschreibt sich die strenge Brie gegenüber
ihrem Psychiater Dr. Goldfein zwar als weiße Protestantin, der Gott,
Familie und Nation etwas bedeuten, und ihr Leben hat tatsächlich die
entsprechenden schönen Konflikte zu bieten. Ihren zutiefst verklemmten
Mann muß sie mit der Nilpferdpeitsche zum Höhepunkt treiben, und den
Sohn kriegt sie nur mit der Einweisung in ein Elite-Internat von der
häßlichen Schwulen-Szene weg. Nein, um die Quote hoch zu halten,
hantiert die Sendung noch mit der zusätzlichen Stimulanz des KrimiGenres. Wie bei 'Twin Peaks', der alten Vorort-Kultserie von David Lynch,
wird dem vermeintlich banalen Tun der Hausfrauen ein rätselhafter
Ritualmord untergemischt, der nie aufgeklärt wird, aber mit 'unheimlicher'
Musik und ständigen vagen Hinweisen beschworen wird. Angeblich erhöht
das die Spannung. Und macht die Figuren interessanter, vor allem den
männlichen Hauptdarsteller, der ohne den pseudogeheimnisvollen Spuk
nur ein doofer Prolet im Holzfällerhemd wäre. Er macht den Klempner und
sieht auch so aus. Topfschnitt, dumme kleine Augen, Viertagebart,
niedrige Stirn, Muskeln satt. Ausgerechnet er ist der Liebhaber der extrem
reizenden supersexy Susan. Wünschen sich die weiblichen TV-Gucker so
einen Schrat im Bett? Offensichtlich. Damit es nicht auffällt, ist er im
Nebenberuf angeblich CIA-Agent. Und ich bin der Kaiser von China!
Auf Dauer wird das Konzept bei uns nicht aufgehen. In den USA schon.
Dort kann man die noch vorhandenen traditionellen Werte gegen die
Unwerte des Zeitgeistes ausspielen und Komik erzeugen. Das macht die
Figuren mehrdimensional, widersprüchlich, ja fast menschlich. Man kann
sie lieben. In Deutschland läuft das alles viel brutaler ab, wie die neue
Serie 'Bis in die Spitzen' zeigt. Sie ist höchst aufwendig hergestellt und
nicht nur ästhetisch ein Meisterwerk.
Hierzulande ist eine inszenierte Dialektik von Gut und Böse nicht mehr
möglich. Es geht auch ohne. Ist sogar angemessener für uns. Wo gibt es
seit dem Abgang Pfarrer Flieges noch gute Menschen? Claudia Roth, ich
weiß. Aber sonst - nada. Zumindest legt das 'Bis auf die Spitzen' nahe.
Dort sind alle gleichmäßig vulgär, sprich 'ehrlich', desillusioniert,
sexsüchtig, unfreundlich, unhöflich, eben deutsch. Jeder betrügt jeden,
sexuell gesehen. Bei circa einem Dutzend Figuren ergeben sich
mathematisch 144 Betrugsmöglichkeiten. Und die werden vom Drehbuch
auch komplett ausgeschöpft. Ist es schon bei den Housewives
unwahrscheinlich, daß eine die Zeitung, die ein Bike-Kid in den Vorgarten
wirft, tatsächlich LIEST, etwa beim zweiten Frühstück und unter dem Bild
Gerge W. Bushs, das Brie liebevoll aufgehängt hat, so ist derlei
Unsexuelles beim neuen SAT1-Schlager gänzlich ausgeschlossen. Hier liest
keiner, hier sieht keiner die Tagesschau, hier hat keiner einen einzigen
207
nichtsexuellen Gedanken im verrohten Germanenschädel.
Interessanterweise soll diese edel fotografierte und überaus
geschmackvolle Welt die der Unterschicht sein, nämlich die Friseurszene.
Das stimmt natürlich nicht. Historisch gesehen handelt es sich um die
erste virtuelle Weltkonstruktion aus der Sicht des
Unterschichtsfernsehens. So wie der Drehbuchknecht sich vorsellt daß ein
Friseur sich die (ganze) Gesellschaft vorstellt, so ist dieses interessante
Machwerk zu entschlüsseln. Klassen und Schichten werden völlig neu
durchdekliniert. Ober-, Unter- und Mittelschicht hören auf dieselben
Kommandos, und die sind pornografischer Natur. Gewandet sind diese
Arschlöcher in feinstem Zwirn, wie Grafen und Künstler aus den 20er
Jahren, sehr edel anzuschauen, gut ausgeleuchtet, der Tonmann hat die
Hintergrundstille perfekt hochgedreht, und die Schauspieler überzeugen
allesamt wie nie zuvor in einer deutschen Serie. Der Schnitt, die
Schwenks, die Fahrten, die gekonnte Ruhe: man kann gar nicht sagen,
wie toll und stimmig das alles ist! Jede Sekunde ein Genuß, ein perfekter
Werbeclip auf Ewigkeit verlängert und durchgehalten. Als Schriftsteller
mußte ich an Bret Easton Ellis denken, der schon vor 20 Jahren das
Thema sexuelle Verrottung zu phantastischen Büchern umgeschmolzen
hat ('The Rules of Attraction', 1985), ehe er blöde Anleihen beim KrimiGenre nahm. 'Bis in die Spitzen' kommt ohne Mord aus. Schon dafür
gebührt dieser Serie unsere Hochachtung. Nicht einmal eine Pistole
kommt vor!
Aber natürlich bleibt es Pornografie. Und das ist das Gegenteil von
Sexualität, wie schon SPIEGEL-Autorin Schirach jüngst erklärte. Der Erfolg
der Serie findet vor einem TV-Publikum statt, daß von AIDS-Phobien,
Minderwertigkeitsgefühlen, Impotenz und völliger Entfremdung geschüttelt
wird und körperliche Zweisamkeit nur noch vom Hörensagen kennt. Derlei
verunsichert halten die Leute womöglich den promisken Zirkus für das
ihnen entgangene Leben. Die armen Teufel! Analog der
Zigarettenwerbung sollte man auf die schädlichen Folgen des Konsums der
Serie hinweisen: "Vorsicht! Diese Sendung kann Krebs verursachen!"
Denn das kann sie, da bin ich mir sicher.
Superman
Lois Lane ist nie ohne Kind. Wie eine Schmerzensmutter, Mater Dolorosa,
humorfrei, unendlich stark, dominiert sie den Film zwar nicht, hat aber
etwas penetrant überlegenes. Der Zuschauer spürt auf bittere Weise: im
Grunde ist Lois Lane zur spießigen kleinen Medientante abgestiegen, aber
sie verkörpert inzwischen alle heimlichen Gesetze, nach denen wir
funktionieren. Sie lacht nie, zieht permanent das quakige,
verhaltensgestörte Kind hinter sich her, besser noch: trägt es auf dem
Arm wie der hl. Christopherus, verdient das Geld, paßt auf, steht ihren
Mann, verweigert jeden Flirt und jede Zärtlichkeit, stapft durch die Welt
wie Jutta Köter aus Bad Salzuflen. Maria und Kind, immer heilig, immer
ernst, immer doof. Die Königin der Sachzwänge. Hart und kompromißlos,
das einst schöne Gesicht zur beleidigten Fresse erstarrt. Wenn Supermann
208
mal wieder die Flatter macht, und dabei zart lächelt, wirkt er nicht
ebenbürtig, nicht wie Lois Lanes Mann und Vater ihres Kindes, sondern
wie ein Weichei. Nein, viel mehr, das Wort Weichei faßt es nicht mehr:
Gesellschaftlich gesehen markiert der Superman von 2006 den Tiefpunkt
des männlichen Niedergangs schlechthin. Tiefer kann es nun nicht mehr
gehen. Ausgerechnet Superman! Er ist Vater geworden und kastrierter
Kamerad zugleich. Obwohl er Zugang zu seinem Sohn hat, spricht er nicht
mit ihm. Verklemmt sitzt er am Fensterbrett des Kinderzimmers, nur noch
scheue Fledermaus, und sieht ihm beim Schlafen zu. Oder er liegt selbst
im Koma im Krankenhaus, und Sohn und alleinerziehende Mutter sehen
ihm zu. Meist fliegt er im Dunkel des Weltalls herum, was schrecklich
aussieht, auf jeden Fall nichtsnutziger, als wenn Lois dem kleinen Racker
Cornflakes aufschüttet und dabei einen engagierten Artikel für den 'Daily
Planet' in den Computer hackt. Zware hat Lane keine echte Ausstrahlung;
alles was sie sagt sind diese gesäuselten Mutter-Kind-Sätze "Alles ist gut,
ist ja alles gut, Schatz", "Danke mein Schatz", "Komm Schatz", "Hey, alles
wird doch gut!" - immer dann, wenn gerade die Welt untergeht. Mit dem
Teenager-Comic-Gesicht samt variationsarmer Jugend-TV-Mimik ist sie
auch zu jung für eine Mami alten Stils. Aber was ist Supermann? Am Bett
seines ihm völlig entrückten Sohnes murmelt er: "Aus dem Sohn wird der
Vater, und aus dem Vater wird der Sohn." Das soll die Botschaft des Films
sein, die der Sohn nicht mehr hört, aber wir, der zahlende Zuschauer. Ein
Satz so sinnlos wie die ganze Figur.
37. KaDeWe - Weihnachten mit meinem Bruder
Ich mag meinen Bruder. Ich lief die Treppe hinunter, durch das schöne
alte unsanierte DDR-Treppenhaus, und sah schon sein Auto. Ein schicker
Ford Mondeo, dunkelblau, ein Kombi, mit Servolenkung, Baujahr 1993.
Vorher hatte er ein rotes Modell gahabt, noch besser, keine acht Jahre alt,
aber das war in Polen leider gestohlen worden. Er saß am Steuer und
lächelte mich nett an. Mein Bruder. Gut sah er aus.
Die allerbeste Nachricht hatte ich erst eine Stunde vorher gekriegt: Er
konnte wieder laufen! Ein halbes Jahr lang war er Invalide gewesen. Nach
einem sogenannten Sportunfall beim Beachvolleyball hatte er sich falsch
operieren lassen und konnte seitdem das Bein nicht mehr bewegen.
Natürlich sollte man keinen 'Sport' betreiben, der für junge nackte Frauen
erfunden worden war. Mein Bruder war schon über 40, näherte sich der
magischen Zahl 50, die wir als Kinder immer als natürliches Lebensende
angesehen hatten. Offenbar zu recht, denn ich hatte Eckart, so heißt mein
Bruder, als Invaliden schon abgeschrieben. Nun ging es wieder. Zweite
Operation, Arztklage, neues Leben. Und wir konnten unseren traditionellen
Weihnachtsmarsch durchs feindliche Kaufhausviertel antreten. Das
machten wir jedes Jahr seit 40 Jahren. Wie die Katholiken durch die SinnFein-Viertel in Nordirland. Völlig unerschrocken. Denn wir waren ja von
Haus aus verschworene Antikonsumisten.
209
Wir fuhren erst mit dem Auto von der Kleinen Präsidentenstraße, wo ich
wohnte, zur Rosenthaler Straße und parkten es vor dem 'Sisal', unserem
Hausrestaurant. Jedes Jahr wurden im 'Sisal' neue Serviererinnen
angestellt, die alle eines gemeinsam hatten: sie waren vollkommen naiv.
Sie wirkten so, als kämen sie direkt vom Mars und begegneten zum
erstenmal Menschen. Aber sie waren total nett und gaben dem Raum eine
Stimmung des Neubeginns, der Euphorie, der Mitmenschlichkeit. Gelebter
Humanismus sozusagen. Das mochten mein Bruder und ich.
"Ich gehe immer noch ins Sisal, die Tradition habe ich weitergeführt",
sagte Eckart unschuldig.
"Ich auch", sagte ich und seufzte.
Wir schwiegen diskret. Das Wetter war wie immer bei unseren
Weihnachtsmärschen: dunkel, naß, trostlos, eben nordirisch. Wir gingen
zum Hackeschen Markt, am weißen Chamisso-Denkmal vorbei, durch den
Monbijou Park bis zur Spree, und dann an der Museumsinsel und dem
unruhigen Fluß entlang bis zum Bahnhof Friedrichstraße. Es blies ein
ordentlicher Wind, aber wir waren furchtlos. In der Gegend Friedrichstraße
kamen uns schon die ersten Konsumisten entgegen, manche sahen uns
frech ins Gesicht, aber wir ließen uns nicht provozieren.
Dann stiegen wir in die S-Bahn und fuhren zum Bahnhof Zoo. Dort war
natürlich 'die Hölle los', aber keinesfalls so extrem wie in früheren Jahren.
Der Konsum war zurückgegangen im ersten Weihnachten der Ära Merkel.
Und noch etwas fiel uns sofort auf: diese faschistoide Dauerberieselung
mit alten, leiernden, verfälschten oder weichgespülten Weihnachtsliedern
hatte aufgehört. Die Kaufhäuser verkauften ihr Zeug jetzt ohne "Stille
Nacht, heilige Nacht". Das tat dem Ganzen wahnsinnig gut. Aber, wie
gesagt, wir sahen nur wenige Kunden. Und das keine zehn Tage vor 'dem
Fest'!
Unser Ziel war natürlich das KaDeWe, angeblich das letzte Wahrzeichen
der ehemaligen Frontstadt, des alten untergehenden Westens. Wir kamen
an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vorbei, und ich machte ein Foto
davon. Zu Hause konnte ich später zeigen, daß ich wirklich da war, also
im spießigen Westberlin, das Leute wie ich ja nie betreten.
Wir waren recht durchgefroren, als wir in den Innenbereich des KaDeWe
gesogen wurden. Jeder wußte, daß es dort zuging wie in der Sauna, wie
eben in jedem Kaufhaus. Die Luft war verbraucht und künstlich
aufgeheizt. Eigentlich war es gar keine Luft, sondern... ein
stickstoffreiches Bakterienfeld. Aber sicher waren auch die Bakterien
schon alle umgekommen. Mein armer Bruder! Eben noch Invalide, mußte
sein gerade genesener Körper die nächste Belastungsprobe überstehen.
Aber das gehörte zum Spiel. Das war Teil unserer alljährlichen 'Großen
Mutprobe'.
Wir waren alte Marxisten, das verband uns. Am Montag wollten wir mit
Gretchen Dutschke und ihrem Sohn Marek eine antikapitalische
freilebende Weihnachtsgans essen. Aber vorher noch 'der Marsch', wie wir
ihn nannten. Das mußte sein. Das machten wir schon als Kinder. Das
quälte uns.
210
Schon unsere Eltern hielten nichts von Weihnachten. Sie stritten sich
morgens, mittags und abends, das war schon schlimm genug. Aber an
Weihnachten potenzierte sich alles noch. Unsere Mutter, die nicht kochen
konnte, probierte es ausgerechnet an "Heilig' Abendt" immer wieder. Die
ganze Familie kam fast dabei um. Also es kam wirklich zu
Magenkrämpfen. Ich sage WIRKLICH. Für mich ist das kein Witz. Für
meinen Bruder ist es etwas anders, weil er unsere Kindheit regelrecht
verdrängt hat. Er weiß nicht mehr, daß wir schon 1968 in den
Spielwarenabteilungen der Kaufhäuser standen und uns nichts kaufen
konnten. Überteuertes und kindungerechtes Spielzeug nannten sie es; das
sollten wir lieber selber basteln. Sie schickten uns immer weg, am
Weihnachtstag. Noch auf der Straße hörten wir sie schreien.
Nun standen wir wieder da, in der Stofftierabteilung des KaDeWe.
"Du willst hier etwas KAUFEN?" fragte Eckart ungläubig und erstaunt.
"Ja, ich muß zwei Geschenke hier besorgen."
"Kannst Du es denn auch BEZAHLEN?"
"Hör mal, ich bin doch nicht mehr neun Jahre alt!"
"Ach... ach so."
Ich ging sehr bestimmt auf eine Verkäuferin zu und verlangte die Affen zu
sehen. Sie bediente zwar gerade einen Kunden, ließ ihn aber stehen und
führte mich zu einigen Stoffaffen, die mir durchaus gefielen. Nicht sehr,
aber ich hätte wohl einen genommen. Er war von Steiff und hieß angeblich
'Jocko'. Der Name stand auf einer Halskrause aus Papier. Ich wußte das
schon. Also dass er Jocko hieß. Dieser Affe wurde von Steiff seit 1903
unverändert hergestellt und hieß erst Jimmy, seit 1944 dann Jocko. Die
damals herrschenden Nationalsozialisten wollten keine amerikanisch
klingenden Kosenamen für die Stofftiere ihrer arischen Kinder. Schon
1965 hätte ich gern Jocko gehabt. Ich hätte ihn ja Jimmy nennen können.
"Was kostet das Tier?"
"89,95 Euro."
"Ich brauche zwei davon."
"Gern."
Mein Bruder stand daneben und hatte einen vor Freude roten Kopf
bekommen. Ich sah aus den Augenwinkeln, daß ihm die Stoffaffen
gefielen.
"Für wen sind die denn, die Tierchen?"
"Ach... Hast Du etwas dagegen, wenn ich sie noch einpacken lasse? Es
gibt hier einen Einpack-Service, sagt das Mädchen."
"Naja, eigentlich..."
"Komm, sieh es einfach als einen Teil des Shopping. Das wollten wir doch
machen, oder? Das ist doch 'der Marsch', nicht wahr?"
"Ja."
Wir gingen in den dritten Stock, und von da zum 'Parkdeck Eins', und von
da zum Einpack-Service. Zwei wundervolle, engelhafte Einpackfräulein
erwarteten uns. Sie strahlten, als seien sie direkt vom lüsternen 'Sisal'Chef abkommandiert worden. Als hätten sie vom Beginn des schleppenden
Weihnachtsgeschäfts an nur auf mich gewartet. Die eine, die NOCH
Hübschere, fragte:
211
"Mädchen und Junge? Wie alt sind sie denn?"
"Äh, fünf Jahre."
"Oh!"
"Also, ein fünfjähriger Junge und ein siebenjähriger Junge."
"Ja! Ich dachte schon... wenn sie beide fünf wären, wären es ja..."
"Hm... Zwillinge!" Gut, daß es mir noch einfiel.
Ich hatte ein Geschenkpapier gewählt, das ungewöhnlich geschmackvoll
war, mit Teddys drauf wie von Immendorff gemalt, leuchtend bunt wie
sein berühmtes Bild 'Café Deutschland'. Und die engelhafte Angestellte
sagte prompt:
"Ja, das ist das schönste Geschenkpapier, das wir haben, solange ich mich
erinnern kann!"
Ich ließ die Stofftiere getrennt einpacken. Einmal dabei, holten sie noch
besonders prächtige und passende Schleifen in Gold, Silber, Rot, Blau,
Gelb und Weiß hervor. Mein Bruder bat mich derweil, ihm meinen
Kassenbon zu überlassen. Damit wollte er zur Kasse gehen und sich
angeblich "Punkte für eine KaDeWe-Kundenkarte gutschreiben" lassen.
"Übertreibst Du es nicht ein wenig?"
"Entweder, oder. Das gehört alles zum 'Marsch'!"
"Na schön."
Um zu testen, ob es wirklich 'Sisal'-Mädchen waren, wollte ich nach der
Handynummer von der einen fragen, bis mir einfiel, dass das nicht zur
Nummer paßte, die ich gerade abzog. Und sie gaben sich wirklich Mühe
beim Einpacken, das mußte ich sagen. So machte ich lieber ein Foto von
ihnen.
Der Bruder kam zurück, glücklich und rotbäckig über seine virtuellen
Punkte im Kundenpaß. Unsere Eltern drehten sich im Grabe um, wenn sie
das sähen...
Wir bewegten uns wieder durchs KaDeWe. An die Nichtluft hatten wir uns
fast gewöhnt. Trotzdem geriet ich durch die aufgebackene Atmosphäre in
einen Zustand verschwitzter Ohnmacht, bis wir endlich das
Kundenrestaurant im sechsten Stock erreichten, unseren Stammplatz. Von
hier aus konnte man das ganze Einkaufsviertel sehen. Erschöpft fiel ich in
einen häßlichen Holzstuhl, pellte mich aus meinen ärmlichen Sachen.
Eckart holte ein Stück Kuchen und eine kleine Tasse Wasserkaffee für
mich.
Kaum saßen wir etwas gemütlicher, als ein Proletenpärchen neben uns
Platz nahm:
"Se jestatten doch wohl, wa."
Da war nun schlecht kommunizieren. Eigentlich stand nun 'Das Gute
Gespräch' an, dass mein Bruder und ich traditionellerweise hier führten,
als geistiger und geistlicher Höhepunkt des 'Marsches'. Wir sprachen dann
normalerweise über Berufliches, über sexuelle Entwicklungen, über Politik
und Philosophie. Als Altlinke gehörte Privates und Öffentliches für uns
zusammen. Doch nun dröhnten die Prolls unsere Ohren zu:
"Un da ha ick zu ihr jesacht, dat is dat ALLERLETZTE Weihnachtn, dassdu
hier bei mir..."
212
Wir verdrehten pikiert unsere Augen. Diese unmöglichen Leute!
Indiskutabel, also echt.
"Is doch jut, wennet ma jemandt zu dir sacht, wa, is doch bessa wennde
et endlich hörst, ha ick zu ihr jesacht..."
Wir mußten hier wieder weg, es hatte keinen Sinn. Wir schwiegen noch
betreten fünf Minuten, wobei wir merkten, dass unsere sexuellen und
philosophischen Tagesordnungspunkte nicht für die Ohren der
Lumpenproletarier bestimmt waren. Ich versuchte es matt:
"Schön, daß Schröderchen jetzt ordentlich Geld verdient, bei Gazprom.
Er... geht einfach in die Offensive, denke ich mir..."
"Was?!"
"Na, die Depression, in die Du als Politiker fällst, nach dem Job-Ende, ist
normalerweise schlimmer als jeder Heroin-Entzug... und dann will ich mir
nicht die Doris vorstellen..."
Das Gute Gespräch fiel dieses Jahr aus. Den Prolls war fast der Löffel in
die Suppe gefallen. Es drohte der Ausbruch einer Gruppendiskussion!
Deshalb aßen wir finster und still den Kantinenkuchen auf und traten den
geordneten Rückzug an. Erst durchs Haus, dann durchs feindliche Viertel,
dann mit der ollen S-Bahn Richtung Osten, zurück zum Hackeschen Markt.
Die Heizung war ausgefallen, und als ich einmal nicht hinsah, hatte mein
Bruder mit seinem Finger "X-MAS SUCKS" in die beschlagene S-BahnScheibe gemalt. Mit dem Auto wieder zur Kleinen Präsidentenstraße.
Ich stieg aus und gab Eckart eines der beiden Päckchen. Ich sagte, es sei
für ihn, und das andere würde ich mir selbst schenken. Er umarmte mich
und sagte, ich sei ein guter Mensch. Das hatte er noch nie zu mir gesagt.
Ich erwiderte:
"Wenn Du mal Kummer hast und mein Handy ist abgeschaltet, mußt Du
es dem Affen erzählen. Der erzählt es dann meinem Affen, und der dann
mir. So bleiben wir kharmisch verbunden. Wie früher."
"So so... wie heißt er denn?"
"Mumin. Und meiner heißt Miko."
"Deiner heißt Mumin?"
"Nein, DEINER."
"Hm..."
"MEINER heißt doch Miko."
So hießen schon die beiden Äffchen, die wir als Kinder hatten. Keine
teuren Jockos. Die hatten wir uns selbst geschnitzt, aus
Schaumstoffschwämmen. Aber die Kindheit, jetzt wurde es wieder
deutlich, hatte Eckart ja verdrängt.
Vielleicht ganz gut so!
213
38 USA – Sylvester mit Tom Kummer
Weihnachten hatte ich nun im Grunde abgehakt – also das
Weihnachten mit meinem Bruder. Der Tradition war genüge getan.
Am Anfang meiner nun folgenden Reise in die USA stand der
Borderline Journalist Tom Kummer. Ihn wollte ich in Amerika
treffen, für mein neues Buch, das „Auf der Borderline nachts um
halb eins“ heißen und im Spätherbst 2007 herauskommen sollte.
Da war eine Reportage über den Erfinder des Borderline
Journalismus genau der richtige Einstieg, dachte ich damals.
Ich wusste natürlich, dass Tom Kummer paranoid war. Also ein
Mensch, der jedem Kontakt auswich. Schon in Deutschland hatte
ich versucht, ihn zu treffen. Ich besaß seine Telefonnummer, ich
redete mit ihm, er sagte zu, er sagte ab. So war das mit diesen
Leuten. Er erkundigte sich über mich. Ich weiß nicht, was sie ihm
über mich erzählten. Wäre ich selbst paranoid, würde mir etwas
einfallen. Aber ich bin nüchtern. Was ich nicht gehört habe, zählt
nicht.
Mein Verhältnis zu Judith Bröhl war am 23. Dezember des Jahres
2006 so gut wie nie zuvor. Das heisst nicht, dass es einmal
weniger gut gewesen wäre. Sie war meine Bezugsperson, und ich
war ihre. Sie war der reinste, unverdorbendste, naivste Mensch,
den ich kannte – und dennoch kam sie direkt aus der Hölle. Dichter
nennen das Phänomen „Die Rose, die auf dem Misthaufen blüht“.
Ich werde das noch näher erklären, später.
Wir kannten uns nun schon seit vielen Monaten, genau gesagt seit
dem 15. September 2006. Sogar ihre Schwester hatte ich schon
kennengelernt. Die hieß Janine Bröhl, war 23 Jahre alt und
214
studierte BWL in Leipzig. JUDITH Bröhl war zweieinhalb Jahre älter
und hatte ihr Studium schon abgeschlossen. Sie war am 19.
Dezember 2006 – vier Tage vorher also – nach Los Angeles
geflogen und mailte mir nun, ich müsse unbedingt auch kommen.
Ich hatte ihr gesagt, dass bis zum 24. Dezember, dem
Weihnachtstag, die Möglichkeit dazu bestünde. Denn an Heilig
Abend – Betonung auf Abend – seien die Flugzeuge leer. Man
bekomme immer ein Ticket, und das billigste dazu. Man ist dann
meist der einzige Passagier. Legte man es darauf an, würden sie
einen sogar umsonst mitfliegen lassen, bloß um etwas Gesellschaft
zu haben zur Bescherungszeit. Ich entschloß mich also spontan
und kaufte ein Ticket Tegel – LAX für 275 Euro. Wie gesagt, ich
tat es, weil Judith Bröhl mich dazu drängte. Es ginge ihr schlecht,
sie sei krank, ihr ehemaliger Liebhaber habe eine neue Geliebte und
die sei im Haus, dazu seine erwachsenen Kinder und seine Ex-Frau.
Es klang, als wäre alles furchtbar peinlich. Mit dem Ex-Liebhaber
hatte sie in aller Regel Kokain in hohen Dosierungen geschnupft
und dabei Extremsex gehabt. Das ging nun sicher nicht, vor den
Augen der neuen Geliebten, der Ehefrau, der erwachsenen Kinder,
dem Weihnachtsmann, den Geschenke bringenden Nachbarn.
Prompt meinte sie nun etwas weinerlich, der Ex-Geliebte sei
„irgendwie langweilig“ geworden. Ich müsse unbedingt kommen.
Auch seien die anderen Deutschen, mit denen sie manchmal zu tun
habe, blöd und deprimierend. Sie kalauerten bloß herum, während
mit mir jeder Supermarketbesuch eine soziokulturelle Lehrstunde
sei. Was für ein Lob! Nun gab es kein Halten mehr. Ich konnte mir
richtig vorstellen, wie diese jungen Comedy-Deutschen keinen Blick
mehr hatten für die geradezu tragischen Unterschiede zwischen
den Kulturen, hier zwischen der ewigen Proletenkultur der
Westcoast-Amerikaner und unserer aristokratischen in
Kerneuropa... na, ich würde das wieder geraderücken.
Der Flug ging dann in aller Früh los, so um halb sieben, sodaß ich
um vier Uhr am Flughafen sein mußte und um halb drei Uhr
aufstehen. Schlaf gab es also nicht. Dafür ging es umstandslos und
ohne Zwischenstop um den halben Planeten, gegen die
Erdumdrehung und somit gegen die Zeit. Als die Deutschen ihre
Geschenke auspackten, war ich über Labrador, und als sie
rotweinselig langsam das Bewußtsein verloren, schwebte ich
215
11.034 Meter über Winnipeg. Die Crew erfüllte mir jeden Wunsch.
Die 20 Mann Rumpfbesatzung des altersschwachen 70er Jahre
Jumbos waren dankbar für jeden Impuls, der von ihrem einzigen
Passagier kam. Die Stewards waren in der Regel schwul, und die
Stewardessen reizlos und verblüht, Enddreißiger-Muttis und biracenal, um nicht zu sagen: sie kamen aus Mexiko. Jedenfalls
hatten sie nichts von jener Coolness, die britische Stewardessen
jeden Alters und jeder Schönheitsstufe selbst bei
Kurzstreckenflügen zwischen Hamburg und Liverpool an den Tag
legten. Sie standen mit ihren Endlos-Beinen vor einem, in ihren
dunkelblauen maßgeschneiderten Kostümen, ach ihren blonden
Haaren, schoben das schmale Becken vor und fragten drohend
nach speziellen Wünschen, die man an sie hätte. Heute wäre der
Tag gewesen, an dem ich meinen speziellen Wunsch gesagt und
sogar erfüllt bekommen hätte. Aber mit dem schwulen Mister Kidd
wollte ich nicht in die Kabine, und auch nicht mit der illegalen
Putzhilfe aus San Fernando, die ihre sieben kraushaarigen
Banditenkinder durchbringen mußte.
Ich landete und wurde von meinem Neffen Elias und seiner
Freundin abgeholt. Wo war die hochgewachsene Judith Bröhl? Ich
reckte meinen Kof nach ihr, sah sie nicht. Ihretwegen war ich
gekommen. Elias hatte sich geweigert, sie im Auto mitzunehmen.
„Was willst Du denn mit der?“ fragte, nein erklärte er mißmutig.
Für ihn war sie eine Person, die nicht zu mir paßte. Ich war zu
feige, ihn zurechtzuweisen. Nicht jetzt. Außerdem hatte ich es
schon ausgiebig getan. Von Berlin aus hatte ich ihm am Telefon
vorgeschwärmt, wie gut Judith Bröhl gerade in konservativen
Kreisen auftrete. Wie sie der party crusher war. Wie sie selbst die
verklemmtesten Intellektuellen zum Lachen brachte. Sie sei die
ideale Begleitung für jedes seriöse Event, um es etwas
unterhaltsamer und weniger seriös zu machen. Die Menschen
würden mich lieben, wenn ich mit Judith Bröhl auftauchte, auch
und gerade die, die Vorbehalte gegen Frauen ohne Abitur hätten.
Ich verzichtete auf den Zusatz, Judith habe sogar Abitur plus eine
abgeschlossene Hochschulausbildung. Ich wollte nur, daß Elias
mich verstand. Er reagierte nicht. Für ihn hatte Judith Bröhl nur
Hauptschulabschluß. Weil sie so redete, als sei sie im Kohlenkeller
der Rütli Schule zur Welt gekommen.
216
Wir fuhren zu dritt in einem neuen Bentley Arnage R den Sunset
Boulevrd entlang in die Hollywood Hills hinein. Der Weg beträgt
ungefähr 20 Kilometer, aber man merkt es nicht in solch einem
Auto. Von außen sieht es nur elegant, aber nicht monströs aus,
ganz anders als der neue, von BMW gestaltete Rolls Royce. Aber
von innen hat man die Geräumigkeit eines Wohnzimmers. Judith
Bröhl hätte hier zehnmal reingepaßt. Aber Elias hatte zu ihr
gesagt, das Auto sei zu klein für uns alle. Wir erreichten Crescent
Heights, bogen in den Laurel Canyon und fuhren zum Haus, in dem
ich untergebracht wurde. Nach 13 Stunden Flug und 24 Stunden
Schlaflosigkeit fiel ich kopfüber ins nächste Bett und vergaß alles
um mich herum.
Als ich aufwachte, war es nachts und zeitlos. Mir fiel ein, daß ich
Judith Bröhl nicht angerufen hatte. Wo war ein Telefon, wo ein
Lichtschalter? Ich fand beides nicht. War Weihnachten vorbei,
auch in Kalifornien? Wo war Tom Kummer, wo Judith? Ich
ertastete meinen kleinen Reisekoffer, holte die Flasche mit
selbstgebrühten Kaffee heraus und lehnte meinen Rücken an eine
Wand. Erstmal trinken und wach werden. Ein schönes Gefühl. So
ruhig. Die Uhr meiner 1958er Rolex hatte Leuchtziffern, aber die
angezeigte Zeit konnte ich nicht mehr zuordnen.
Eine halbe Stunde später kamen Elias und seine sogenannte
Freundin. Er hatte er mir gesagt, sie sei die Frau, die für ihn
bestimmt sei. Er werde sie bis in den Tod und darüber hinaus
behalten. Ich hatte mich leicht geduckt wie unter einem Schlag. Es
war nie schön, Verrückte in der Familie zu haben.
Elias war 18. Eigentlich war er sogar volle zehn Jahre älter, laut
Personalausweis 28 Jahre alt. Geboren in den 70er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts, wie alle Getty Kinder der
Enkelgeneration. Aber wenn er eine seiner berühmten Kifferphasen
hatte, war er 18, immer 18, auch mit 14 schon, als er anfing. Ich
war dabei, ich muß es wissen, ich hatte ihn angestiftet. Natürlich
wußte ich nicht, daß er gerade wieder eine Kifferphase hatte. Ich
wäre sonst schön in Deutschland geblieben.
Elias und seine Freundin kamen von der X-mas Party der Gettys.
„Du hättest Dich ends gequält, es war absolut nichts los. Alle
saßen auf den Sofas, ich wäre fast eingeschlafen.“
„Du BIST eingeschlafen!“ sagte die angebliche Freundin.
217
„Bin ich NICHT.“
„Bist Du DOCH!“
„Bin ich NICHT!“
„BIST DU DOCH!“
„BIN ICH NICHT!“
Und so weiter. So war ihre Art miteinander zu reden. Ich kannte
das schon. So hatte Elias auch mit den früheren angeblichen
Freundinnen geredet. Die jetzige hieß Karolin und war 22 Jahre alt.
Ein ganz besonders hübsches Mädchen, natürlich Fotomodell. Es
bedeutete ihr aber nichts, Model zu sein, sie sah über die
Angebote hinweg wie über Werbeprospekte im Briefkasten. Blöd
war sie bestimmt nicht. Dass dieser Model Beruf der ödeste von
allen war, war ihr nicht mal eine Bemerkung wert. Wie anders
waren da doch die Mädchen von heute, Judith Bröhl
eingeschlossen, die diesen Quatsch „hot“ fanden! Sie, also diese
Karolin, konzentrierte sich auf ihre Hobbies Hebräisch, Geschichte
des 15. Jahrhunderts und Amerikanische Gegenwartsliteratur des
21. Jahrhunderts, und von ihrem angeblichen Freund Elias, für den
sie laut Vorsehung bestimmt war, hielt sie soviel wie vom Model
Beruf. Sie war nur mitgekommen, weil er ihr verschwiegen hatte,
sie bald heiraten zu wollen. Den brilliantenbesetzten
Verlobungsring, ein altes Getty Erbstück, hatte er schon in der
Hosentasche. Am ersten Weihnachtsfeiertag, in Amerika das
eigentliche „Weihnachten“, wollte er ihn ihr feierlich vor
versammelter Getty Familie und mir überreichen. Ich beschwor ihn,
es nicht zu tun.
„Warum nicht?“
„Weil... Du sie damit unter Druck setzt“, flüsterte ich.
„Na und?“ Er baute sich seelenruhig einen Joint.
„Weil sie dann nicht mit Dir schläft.“
„Ist doch gut, dann baut sich eine erotische Spannung auf, und der
Orgasmus ist dann umso größer.“
„Nein, Du willst doch, dass sie JETZT mit Dir schläft, an
Weihnachten, das ist doch wichtig, so symbolmäßig! Nicht an
irgendeinem normalen blöden Tag. Dafür ist Eure Liebe zu wichtig,
da darf man keine Formfehler machen!“
Er riß die Augen auf. Ich wußte, ich hatte die richtigen Worte
gefunden. Liebe, Bestimmung, Rituale, Ewigkeit: das mußte alles
218
passen. Das war seine Begriffswelt. Er nickte bedächtig. Erstmal
einen tiefen Zug aus dem Joint. Ein guter Moment für mich, auf
meine eigene Freundin zu sprechen zu kommen:
„Und jetzt sollten wir doch mal Judith Bröhl anrufen, nicht?“
Er reagierte nicht. Für ihn war Judith Bröhl nicht existent. Eine
Unperson. Ein Wesen, welches in jedem Satz die Worte ‚verfickt‘,
‚verpisst‘, ‚verkackt‘ und ‚am Arsch vorbei‘ unterbrachte. Die
wollte er nicht bei den Gettys unterbringen, der reichsten Familie
Amerikas. Er schwieg, als hätte er nichts gehört.
Ich verstand ihn ja. Amerika war das Land der Übergewichtigen,
der Proleten, der Tatoo-Piercing-Trucker-Machos, der Leute, die
‚Dismissed‘ erfunden hatten und unser Unterschichten-TV bis hin
zu RTL und Stefan Raab erst möglich gemacht hatten. So eine
feine Familie wie die Gettys sehnte sich nach Europa, nach dem
Gegenteil von Amerika, nach Vornehmheit und elaborierter
Sprache. So eine vermeintliche Arsch-und-Titten-Karikatur wie
meine Freundin konnten sie leicht als Ausrutscher mißverstehen.
Als hätte da jemand beim Ausflug ins Rotlichtmilieu etwas
falschverstanden. Oder das christlichen Gebot, am Heiligen Abend
etwas für die Armen und Gefallenen zu tun, zu ernst genommen.
Das war fatal. Denn Judith Bröhl war keine Prostituierte. Sie war
Marylin Monroe. Vermutlich mit denselben Problemen.
Aber, um ehrlich zu sein, berührte es mich nicht. Ich war kein guter
Freund. Das Schicksal meiner Freundin interessierte mich in dieser
Stunde kaum, oder um es in ihrer Sprache zu sagen: ging mir am
Arsch vorbei. Und DAS wurde mir in den folgenden Tagen zum
Verhängnis. Aber ich will nicht vorgreifen. Nein, ich dachte in
diesem Moment wieder nur an Tom Kummer und meine Reportage
über den Borderline Journalismus. Ich ließ Elias bei ihm anrufen und
auf die Mailbox sprechen. Ich stellte mir vor, wie Kummer neben
seinem Anrufbeantworter sass und wie ich hörte, was Elias gerade
sagte. Natürlich nahm er nicht ab, sondern starrte mit Angstaugen
auf das Gerät und überlegte fieberhaft, wer ihm da an den Kragen
wollte. Und irgendwie hatte er ja recht. Würde ich ihn endlich
kriegen, würde ich ihn in Grund und Boden schreiben, diesen
unredlichen Kerl, oder wie Judith Bröhl viel treffender sagen würde:
diesen Wichser. Wobei ich allerdings zuerst auf seine Verdienste
zu sprechen kommen müßte. Die hatte er ja zweifellos. Er hatte
219
den Borderline Journalismus erfunden. Das ging so: Tom Kummer
war einst ein angesehener Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung
gewesen. Nicht direkt der Zeitung selbst, aber der Beilage „SZ
Magazin“, soviel ich weiß. Er war dafür bekannt, große Filmstars
aus Hollywood zu interviewen und das sehr gut zu machen.
Bekanntlich reden diese Mega-Stars immer so aufregend wie große
Fußballstars, zum Beispiel wie Michael Ballack. Wer könnte sich
jemals an einen Gedanken erinnern, den Michael Ballack in einem
Interview sagte? Selbst dann, wenn das Interview gerade zehn
Minuten zuvor ausgestrahlt wurde? Natürlich niemand. Weil es gar
keine Gedanken gibt, die man sich hätte merken können. Michael
Ballack hat keine Gedanken. Und die etablierten Mega-Stars aus
Film und Rockmusik in Hollywood haben erst recht keine. Im
Vergleich zu ihnen ist Ballack so gedankenvoll wie Heidegger. Und
gerade deswegen waren die deutschen Medien so dankbar, in den
Tom-Kummer-Interviews manchmal den einen oder anderen
brauchbaren Satz zu finden. Natürlich war immer noch das meiste
der übliche Schrott („Madonna ist eine erfolgreiche Frau, aber sie
ist auf dem Boden geblieben“), aber hey, plötzlich glitzerte etwas,
war da ein Wort, das man nicht erwartete, das man noch nicht in
120 anderen Madonna-Portraits gelesen hatte, ein winziger
Moment, der Bruchteil einer Sekunde, in der so etwas wie
Menschlichkeit zu ahnen war. War Madonna (Prince, Whitney
Houston, Angelina Jolie etc.) vielleicht DOCH mehr als nur...
vergessen Sie’s. Die Texte waren getürkt. Die kleinen
Abweichungen hatte Tom Kummer erfunden. Eines Tages kam
zufällig heraus, daß in einem Interview mit Judith Roberts ganze
Absätze aus einem Interviewbuch von Andy Warhol eingeschoben
worden waren. Kummer redete sich heraus, es sei ein
Computerfehler gewesen, und man glaubte ihm natürlich. Er lebte
in der Wüste irgendwo zwischen Los Angeles und Arizona, mit Frau
und Kindern, und er verdiente eine Menge Geld mit seinen Texten,
die manchmal auch recht seltsam waren. Er schrieb nämlich auch
über geheime Weltraumexperimente der NASA, die bei ihm in der
Wüste stattfanden, und über neue Wunderwaffen, und über den
Umgang amerikanischer Wissenschaftler mit einem in der Wüste im
Jahre 1946 gelandeten echten UFO. Tom Kummer war also dieser
typische deutsche 70er Jahre Freak, der mit Haschisch, Fritz the
220
cat, Verschwörungstheorien und Janis Joplin aufgewachsen war.
Solche Leute konnte ich nicht leiden. Aber es half ja nichts: der
Mann mußte ausfindig gemacht werden.
Später löcherte mich Judith Bröhl, als ich sie endlich sehen durfte,
mit weiteren Fragen nach Tom Kummer. Sie verstand nämlich den
ganzen Fall nicht.
„WARUM mußt Du über den Arsch überhaupt schreiben?“
„Weil er jetzt seine Biografie herausbringt.“
„Ach! Tun das nicht alle? Warum schreibst Du nicht über die
beschissene Biografie von jemand anderm, den man anrufen und
treffen kann, irgendeinem verfickten Hiphopper vielleicht? Da
laufen doch genug rum, und ich fänd’s geil.“
Ich erklärte ihr das Wesen des Borderline Journalismus. Einige
Dinge stimmten, andere waren dazuerfunden. Als man anfing, alle
Kummertexte zu überprüfen, fand man heraus, dass er fast immer
eine Mischung aus wahr und erfunden zusammengerührt hatte. Die
Süddeutsche Zeitung dachte ernsthaft über Schritte gegen ihn
nach. Als DER SPIEGEL ihn nun interviewte, sagte er, er habe die
Intelligenz der Leser nicht beleidigen wollen. Er habe es einfach
nicht über sich gebracht, Millionen unbescholtene deutsche Leser
mit diesen Blabla-Aussagen der US-Stars zu langweilen. Und so
erfand er Antwortsätze, die die Stars hätten sagen KÖNNEN, wenn
sie die Intelligenz dazu gehabt hätten. Es war, als würde Michael
Ballack erst sagen:
„Nun gut. Sicher. Wir haben das Tor gemacht, aber am Ende ist es
die Mannchaft, was zählt. Das ist jedenfalls meine Meinung.“
Und Kummer würde dann anfügen:
„Oder lassen Sie es mich einmal anders sagen: Der forcierte
Individualismus hat im deutschen Fußball der 70er Jahre viel Gutes
hervorgebracht, wird aber der zunehmenden Komplexität des
heutigen Spielaufbaus – Sie können ruhig das Modewort
‚Vernetzung‘ an dieser Stelle verwenden - nicht mehr gerecht.“
Kummer hätte nicht gelogen. Genau DAS hatte Ballack sagen
wollen, konnte es nur nicht, da seine Eltern aus der DDR kamen
und er selbst auch. Es war nicht seine Schuld. Und Tom Kummer
korrigierte nur eine Ungerechtigkeit, die aus dem System kam. Man
hätte ihn dafür lieben können. Stattdessen beschloß die
Süddeutsche Zeitung schließlich, ihn nicht weiter zu beschäftigen.
221
Das war schwer zu verstehen, und noch weniger, dass auch alle
anderen deutschen Zeitungen ihn nicht haben wollten. Der
allgemeine Vorwurf gegen ihn war, er würde nicht die Wahrheit
schreiben. Ausgerechnet er! Der einzige, der – in einem höheren
Sinne – wirklich die Wahrheit schrieb. Da man nicht soweit gehen
konnte, ihn einen ‚Lügner‘ zu nennen, einigte man sich auf den
neugeschaffenen Terminus ‚Borderline Journalist‘. Im ganzen Land
unterschrieben Journalisten aller Zeitungen und Gattungen nun
eifrig Erklärungen, wonach sie zu Tom Kummer keinerlei Kontakt
mehr hätten, frühere Kontakte abgebrochen hätten, ihn auf Partys
nicht mehr grüßen würden und dass sie ihre Kinder, wenn sie
einmal welche hätten, niemals in dieselbe Kita stecken würden wie
Tom Kummers Kinder.
Natürlich gab es in der Wüste gar keine Kita. Aber der Deutsche an
sich hat ja immer diesen sogenannten vorauseilenden Gehorsam.
Da bin ich nicht anders, ich bin ja selbst ein guter Deutscher. Ich
hatte in meiner Eigenschaft als Mitglied des Kulturressorts des
SPIEGEL vor versammelter Mannschaft schneidig erklärt, Kummer
sei ein „ehrvergessener Künstler“, den man auf „auf dem
schnellsten Wege in die Wüste schicken“ solle. Die Kollegen
klopften mit den Fingerknöcheln auf die Holztische. In der Wüste
war er ja schon, sodaß meine Forderung gar nicht scheitern
konnte...
Zurück zum Ablauf meiner Reise. Rein theoretisch war nun immer
noch ‚Heilig Abend‘, denn es war immer noch der 24. Dezember in
diesem Teil der Welt. Auch wenn Mitternacht lange vorbei war,
konnte man nicht einfach sagen, nun sei es plötzlich NICHT mehr
heilig und abends, sondern profan und morgens, denn der nächste
Tag war noch weit weg. Erstmal legten wir uns zu dritt auf das
Bett in der Getty Wohnung, in der Elias und seine angebliche
Freundin übernachteten. Elias war in glücklicher, gelöster
Stimmung, was an seiner Freundin lag, die er „über alles“ liebte
und die nun bei ihm war. Er hatte ihr den Flug geschenkt und bot
ihr nun die Welt der Milliardäre. Als Gegenleistung ertrug sie seine
körperliche Gegenwart in den Stunden des Schlafes, aber es fiel ihr
nicht leicht. Sie kam sogar zu dem Schluß, dass selbst dieser Preis
zu hoch war.
222
Ich will nicht soweit gehen zu sagen, dass sie sich masslos vor
seinen tapsigen Zärtlichkeiten ekelte. Sie hatte Nerven wie
Drahtseile. Aber selbst die gaben eines Tages nach; und das
Mädchen wurde ernsthaft, ja lebensgefährlich krank. Aber dazu
später.
Wir sassen auf dem Bett und unterhielten uns. Es ging sehr ruhig
zu, und nach ungefähr einer halben Stunde war ich in Elias‘ tapfere
Begleiterin verliebt. Ich gestattete es mir natürlich nicht. Ich
merkte aber, dass meine Reise nun etwas Angenehmes bekam. Es
war, als würde Gewicht abfallen. Natürlich nur ein bißchen und
nicht der Rede wert. Es war einfach schön zu wissen, dass ich
nicht der einzige war, der hier einen schweren Stand hatte. Ich
meinte meinen Tom-Kummer-Auftrag, fast eine Art
Himmelfahrtskommando, Judith Bröhl hätte wohl sehr zu recht von
einem beschissenen Scheißjob mitten im verfickten Weihnachten
gesprochen. Man muß wissen, dass sie stark lispelte, was ihren
Injurien nochmal etwas besonders Prolliges, ja unfreiwillig
Komödiantisches verlieh...
Elias schaltete seinen Laptop an, und Karolyn tat es ihm nach. Sie
checkte die E-Mails, die sie in den letzten Stunden bekommen
hatte, und Elias lud eine Folge „Curb your enthusiasm“ auf den
Bildschirm. Karolyn zeigte uns ein Foto, das sie als Soldatin der
israelischen Armee zeigte, mit mannsgroßem Maschinengewehr.
Damit war sie jahrelang rumgelaufen? Sie war äußerst schlank,
eben ein Fotomodell, wie konnte das gehen? Kam daher ihre
psychische Kraft, Elias zu ertragen? Immerhin war er kein
Selbstmordattentäter.
Ich fand das Foto so toll, dass ich es sofort meinem einzigen
echten Freund Maxim Biller nach Tel Aviv schickte. Bei der
Gelegenheit checkte ich auch meine E-Mails. Es hatte mir aber
niemand geschrieben, nicht einmal Ariadne von Schirach. Aber die
nur deshalb nicht, weil sie mir noch am Tag zuvor ein Geschenk in
den Briefkasten meiner Geheimwohnung gesteckt hatte. Ich fand
das besonders bemerkenswert, denn niemand außer der Barbi
sowie Judith Bröhl kannte die Adresse meiner Geheimwohnung.
Wie hatte sie sie herausgekriegt? Es war eine echte Leistung, fast
noch höher zu bewerten als das Geschenk. Ich hatte es noch nicht
ausgepackt. Das sollte am nächsten Tag geschehen, anläßlich des
223
amerikanischen Weihnachtsfestes. Elias und Karolyn brachten mich
in das Haupthaus der Gettys – sie selbst wohnten nur im
Gästehaus – und wiesen mich ein. Das Haupthaus war völlig leer.
Die Gettys hatten noch viele weitere Haupthäuser in den
Hollywood Hills, so wie einst Saddam Hussein viele Paläste im Irak
hatte und sich immer nur in einem aufhalten konnte. Die Praxis mit
den Doppelgängern wurde von den Gettys schon lange
aufgegeben. Wir sagten uns gute Nacht und umarmten uns. Eine
schöne Gelegenheit, Karolyn Wange an Wange zu spüren, extra ein
bißchen länger als erlaubt, so eine lange Sekunde des Ausatmens,
das tat gut. An der Tür führte sie ihre schöne Hand zum Mund und
warf mir einen Kuß zu, wieder ein bißchen zu langsam für eine
bloße Geste. Das machte sie von nun an immer zum Abschied, es
war ihre Art. Kein Zweifel, ich mochte dieses Mädchen. Alle
mochten sie. Die Gettys waren schon verrückt nach ihr, vor allem
die Kinder. Das hatte sie in den drei, vier Tagen geschafft, in
denen sie schon vor mir da war.
Karolin. Was für ein wunderbarer Name. Ich schlief sofort ein.
Und ich schlief gut und lange. Die kalifornische Sonne weckte mich.
In den Hills ist sie so stark, jetzt noch, wie in Italien im
Hochsommer zur Zeit der Weltmeisterschaft. Ja, es ist einfach
Sommer! Ohne Einschränkung. Man zieht am besten die Badehose
an und springt in den Pool. Jede der Saddam-Villen, pardon, jeder
der Getty-Paläste, hat natürlich einen hellblauen, glitzernden Pool.
Doch schlagartig fiel mir, Sekunden nach dem Aufwachen, Judith
Bröhl ein. Die hatten wir ja ganz vergessen! Die saß wahrscheinlich
immer noch bei dem abgehalfterten selbsternannten
Filmproduzenten herum, ohne Kokain, dafür mit allerlei feindseligen
Menschen um sich. Bestimmt hatte sie sich auf der Toilette
(„Scheißhaus“) eingeschlossen („verbunkert“), um von der
geschiedenen Ehefrau des Mannes („Scheiß-Ex von dem Arsch“)
nicht gelyncht („gefickt“) zu werden. Ich lief also zu Elias in das
Gästehaus und bat ihn, bei Judith anrufen zu dürfen. Mein eigenes
Handy funktionierte in Amerika nicht. Elias tat, als hätte ich nichts
gesagt. Verlegen ging ich wieder weg.
Wer nicht versteht, warum ich überhaupt mit Judith Bröhl reden
wollte, muß folgendes wissen: Ihre proletenhafte Ausdrucksweise –
dazu gehörte auch das Lispeln und eine raumfüllende Lautstärke
224
sowie ein Poltern mit den Füßen, das Holzhäuser in Amerika
durchaus gefährden konnte – war nur der äußere Teil ihrer
Persönlichkeit. Wenn man es kitschig sagen will, ihre Schale. Ihr
Inneres war weich, gutherzig, edel, voller Freude und endloser,
variantenreicher Menschenliebe. Sie fickte wie ein Weltmeister und
betrieb jede Art von Extremsex, und so sportlich, wie das klingt,
war es auch. In Wirklichkeit hatte sie Arme wie Prothesen.
Verglichen mit ihr muß Pinocchio im Bett ein zärtlicher
Schmusekater gewesen sein, trotz all dem Holz. Sie sprach von
morgens bis abends über Sex, und wie alle, die das tun, verstand
sie nichts davon. Sie hielt mich für verklemmt, weil ich mich
weigerte, Silikonbrüste nicht erotisch zu finden. Wann immer es
ging, sagte ich nichts zu dem Thema, hörte einfach weg, drehte
mich in die andere Richtung, las demonstrativ Zeitung, spielte mit
Hunden (was ich sonst NIE tue), aber Judith Bröhl redete weiter
über Sex, war besessen davon. Eine Art Tourette-Syndrom auf
erotischem Gebiet. Eben eine Krankheit. Man durfte sie deswegen
nicht fallenlassen. Schlimmer war schon, dass sie sich wie eine
Nutte kleidete, sich so benahm, so auftrat, so provozierte. Auf
jeder Straße pfiffen ihr die Männer nach, machten
Scnalzgeräusche, als wollten sie eine Katze anlocken. Ich fand das
entsetzlich, und eines Tages, als ich es nicht mehr aushielt, zog
ich sogar Elias ins Vertrauen. Ich wollte einfach meinem Ärger Luft
machen, und bei ihm war ich dabei genau am Richtigen, dachte er.
Er aber sagte nur:
„Eine Nutte, echt? Find ich nicht. Das ist allein Dein Problem. Sie
kann nichts dafür, dass sie so große Busen hat.“
Ich starrte ihn an. Hatte er recht? Und das Aufbrezeln, das
Tennisröckchen, die hochhackigen Schuhe, die aus ihr eine ZweiMeter-Frau machten... hm. Alles im Rahmen heutiger TeenageMode. So waren sie, die Girlies. Deswegen wurde niemand zur
Hure, auch nicht Christina Agileiras oder Paris Hilten, Judith Bröhls
erklärtes Vorbild übrigens. Nun nahm ich mir vor, erst recht für
Judith einzutreten.
Ich fragte also Elias erneut, ob wir sie jetzt holen könnten. Er hörte
vornehm weg. Er war nicht der Mann, der häßliche Konflikte
austrug. Schweigend kam man aus jeder brenzligen Lage.
225
Wir fuhren zum „Country Store“ im Laurel Canyon, frühstücken.
Dort hatte ich ein Vierteljahrhundert vorher schon mit seiner
Mutter gesessen. Das alte Hippie Restaurant hatte sich nicht
verändert. Auch Stephan T. Ohrt hatte damals, solange er noch
lebte, seinen Kaffee hier getrunken. Er war in die
Zwillingsschwester von Eliass Mutter etwas zu stark verliebt
gewesen – und starb wenig später. Der Mann dieser
Zwillingsschwester hatte auch kein Glück mit ihr. Rasend vor
Eifersucht setzte er sich den goldenen Schuß, fiel ins Koma, wurde
ins Leben zurückgeholt, nur leider praktisch ohne Gehirn. Mit fünf
Prozent übriggebliebener Gehirnmasse mußte er fortan sein Leben
steuern, blind, stumm, und bis auf einen Schluckmuskel vollständig
gelähmt. Ein totaler Krüppel. Dagegen war Stephen Hawkins
Tarzan. Nur: Es handelte sich um Paul Getty III, den Erben der
Dynastie. Natürlich schafften sie es, den Mann wieder irgendwie
nach oben zu bringen. Eine Geschichte für sich. Ich habe sie oft
erzählen müssen. Bitte nicht noch einmal.
Elias baute sich sehr ruhig und gedankenvoll einen Joint. Dazu
holte er durchsichtige Blättchen hervor und einen Beutel mit RohHaschisch, der so gut gefüllt war, dass jeder Polizist geglaubt
hätte, einen der ganz großen Dealer der Westküste vor sich zu
haben. Einen der Rap Könige. Der Mann hinter Snoop Dogg und
wahre Boß. Mit hot chicks, die auf dem Wagendach tanzten. Bei
dem Wort mußte ich immer an Judith Bröhl denken, die sich
nämlich als solches bezeichnete, als „hot chick, das auf jeder Liste
steht“. Ihr stehender Ausdruck. Schon mit 16 sei sie das hot chick
gewesen und auf der Liste gestanden. Das hotteste event in ihrer
kleinen Stadt – sie stand auf der Liste. Denn sie war das hot chick.
Busen raus, Lippen geschürzt, Augen zu und durch. Durch die
Kontrolle. Der obligatorische Schwarze an der Tür pfiff kennerhaft
durch die Zähne. Später am Abend dann der „richtig gute Sex“. Mit
dem Mann an der Tür. Oder dem DJ. Wenn er hot war, also auch
schwarz.
Solche Geschichten sind eher etwas für jüngere Leute. Es tut mir
leid, dass sie ausgerechnet mir erzählt wurden. Wie gerne würde
ich sie einfach vergessen. Und an diese rührende Frau Mumin mit
der Handtasche denken, denn das war Judith Bröhl in Wirklichkeit,
und in einem anderen Leben wäre sie als Trude Herr auf die Welt
226
gekommen, jung, rheinisch, ein wenig füllig, ein wenig zu redselig,
und mit einem goldenen Herzen ausgestattet. Vielleicht hat auch
Trude Herr in acht Wochen mit mehr Männern geschlafen als eine
anständige Hamburgerin in achtzig Jahren. Aber es war wenigstens
nicht das Zeitalter der Pornografie. Es blieb unter dem Teppich.
Judith Bröhl kehrte immer alles hervor. Der Schmutz wirbelte
ständig durch alle Ecken und Räume, landete auf dem Teller, in der
Kaffeetasse, auf Hemd und Mantel, auf Kragen und Taschentuch.
Man konnte gar nicht soviel Niesen und Kotzen, wie neuer
Schmutz nachgewirbelt wurde. Ein aussichtsloser Kampf. Und
natürlich auch jetzt wieder. Als ich Judith irgendwann endlich an
den Apparat kriegte, konnte sie nicht sprechen, weil sie bis sieben
Uhr morgens Überdosen von Koks geschnupft hatte, mit einer
fremden Dumpfbacke von Amerikaner, den sie gerade
kennengelernt hatte. Sie war so voll, dass sie noch nicht einmal
sagen konnte, wie gut ihr „wirklich guter Sex“ gewesen war. Es
gelang mir nicht, wenigstens ihre Adresse rauszukriegen. Hatte sie
keine mehr? Deswegen war ich doch gekommen.
Ich mußte zum Weihnachtsfest der Gettys und Judith ihrem
Schicksal überlassen. Das tat mir leid, denn es gibt doch nichts
Schöneres, als einen Menschen zu „retten“, noch dazu einen
jungen Menschen, eine schöne Frau sogar. Denn Judith war, was
man bei ihren vielen extremen Eigenschaften schnell
vernachlässigte, gut gebaut und hatte ein schönes Gesicht. Und
auch wenn sie einen vulgären Sprachschatz hatte, war sie der
eloquenteste Mensch, mit dem ich verkehrte. Sie war eine
begnadete Geschichtenerzählerin, was daran lag, dass sie beim
Erzählen DACHTE. Es war, als hätte sie jedes zu berichtende Detail
bereits klar vor Augen, während sie über die optimale
Ausdrucksform und Erzählweise nachdachte. Sie rief keine
Erinnerungssätze ab, wie das andere Geschichtenerzähler tun,
sondern Roh-Informationen, und die kleidete sie neu ein, in immer
bessere, passendere, plausiblere, hörerfreundlichere Sätze und
Diskurse. Auch baute sie stets Spannungsbögen auf, mittlere und
größere, und immer bezogen sich spätere Sätze auf solche, mit
denen sie Minuten vorher den Spannungsaufbau begonnen hatte.
Es ist schwer zu vermitteln, aber Judith Bröhl war ein grosses
Naturtalent im Erzählen und wußte es nicht. Es wußte auch sonst
227
keiner, weil sie mit ihrer Rabulistik auch den Wohlmeinendsten
verschreckte.
Elias fuhr uns mit seinem geliehenen Getty-Bentley die Serpentinen
hoch. Obwohl das Auto den größten Komfort bietet und gut für
die Krönungsmesse der Queen passen würde, fuhr Elias so schnell,
dass mir schlecht wurde. Ich mußte an meinen Bruder denken, der
als Kind die „Autokrankheit“ hatte und sich oft übergeben mußte.
Ich hatte ihn dafür verachtet. Späte Reue überkam mich jetzt, da
es mir ebenso erging. Elias fuhr natürlich nur deshalb so schnell,
weil er bekifft war und dadurch so infantil, dass er seiner Freundin
einen Schreck einjagen wollte. Das fand er in seinem Zustand
lustig. Und er wäre ja auch nicht der erste Getty gewesen, der sich
auf diese Weise das Genick brach. Aber ob er damit wirklich das
Herz seiner Angebetenen gewann? Die wollte nicht sterben,
jedenfalls nicht ohne einen Haufen islamistischer Terroristen mit in
den Tod zu reißen. Wenn schon sterben, dann bitte sinnvoll. Und
dieser bekiffte Affe wollte ihr heute einen unendlich teuren Ring
schenken... mir graute schon vor der Szene! Außerdem hatte ich
Angst vor dem ganzen Tag. Nicht daß ich Angst vor den Gettys
gehabt hätte, den reichsten Menschen des Universums, denn das
war ja Familie. Aber ich hatte Angst vor Weihnachten an sich.
Doch bevor ich darüber weiter nachdenken konnte, passierte
etwas, das mir WIRKLICH Angst machte. Mein Chef rief an. Auf
Eliass Handy. Keine Ahnung, wie er DIE Nummer recherchiert hatte.
Naja, das war eben DER SPIEGEL. Sie kriegten alles raus. Die letzte
verbliebene Geheimmacht, seitdem es den KGB nicht mehr gab.
„Was macht die Kummer Geschichte?!“ hörte ich den Alten
schreien. Matthias Matussek. Wir waren zusammen zur Schule
gegangen, er erst zwei Klassen über mir, am Ende machten wir
zusammen Abitur. Jetzt war er wieder zwei Klassen über mir. Das
Leben war kurz, ich mußte mich beeilen, ihn wieder einzuholen.
„Alles in Butter, Matthias! Habe dem verdammten Borderliner
schon... äh, auf die Mailbox gesprochen...“
„Auf die MAILBOX?! Bist Du nuts?! Du hast ihn NICHT getroffen?“
„Doch! Nein, noch nicht! Aber bald! Ich weiß, wo er wohnt. Er hat
meine Nachricht erhalten.“
Elias nestelte an dem Handy herum. Er wollte es mir wegnehmen.
Das sei doch viel zu teuer, fluchte er, diese Gespräche aus
228
Deutschland würden von seiner Rechnung abgezogen. Ich
umklammerte das Handy, konnte mich nicht konzentrieren. Der
bekiffte Neffe fuhr ungebremst weiter seine Vollgas-Schleifen.
Matussek hatte aufgelegt. Wir erreichten das Getty Anwesen.
Überall hatten sich private Security Typen mit Sturmgewehren in
die Hills eingegraben. Sie hatten ihre Laufgräben und allerlei
Hilfsmittel, zum Beispiel Hunde, Kameras, Elektrozäune, Mauern,
aber ich wußte, dass Karolyn mit ihrem mannshohen
Maschinengewehr alle Hindernisse weggeblasen hätte wie im
schlechten James-Bond-Film, wenn sie es gewollt hätte. Ich mußte
Maxim Biller fragen, was er von dem Foto hielt.
Wir gingen hinein. Ein Plastik-Weihnachtsbaum mit blauen Kugeln
und kleinen bläulichen Elektrokerzen stand nahe der Eingangstür.
Ein paar Typen in alten T-Shirts und schmutzigen Arbeitshosen,
also so verbeulte Jeans aus dem Bootsschuppen, schlurften
herum. Das waren die Gettys. Ich merkte bald, dass sie sich ALLE
auf „arm“ verkleidet hatten. Sie litten ja ihr ganzes Leben lang
darunter, so unverdient reich zu sein. Uncle Scrooge alias
Dagobert Duck alias Paul Getty I hatte die Ölmilliarden gemacht,
und seitdem nahm der Geldfluß kein Ende. Bekanntlich hatte der
Disney Zeichner Carl Barx tatsächlich den geizigen wie schrulligen
Öl-Tycoon als Vorlage für seine Comic-Ente genommen. Diese
Information finde ich wirklich nett, ja großartig, aber die Gettys
werden dabei einsilbig. Ihnen paßt das nicht. Humor ist nicht ihre
Sache, sie sind ja auch keine Juden, sondern das ziemliche
Gegenteil.
Die Bescherung begann nicht, sondern war den ganzen Tag im
Gang. Sie fand schon statt, als wir kamen, und dauerte noch an,
als wir neun Stunden später gingen. Es gab einfach zu viele Kinder
und zu viele Geschenke. Irgendwie hatte sich das Geld einfach
Bahn gebrochen. Die Dollars waren wohl landesweit in die
Spielzeugabteilungen der Kaufhäuser geflossen, und nun hörte der
Segen partout nicht auf.
Ich fühlte mich lange Zeit durchaus wohl. Aber dann verschwand
Elias, weil er den nächsten Joint brauchte und bei den Gettys nicht
rauchen durfte. Er fuhr mit dem Bentley Arnage R weg. Karolyn
und ich saßen fest. Ich fragte sicherheitshalber nach, ob er ihr den
Verlobungsring gegeben hätte. Sie bejahte und warf dabei voller
229
Widerwillen den Kopf zur Seite. Ich dachte nun, es habe eine
schlimme Szene gegeben, und Elias sei geflüchtet. Um allein zu
sein, um noch mehr Drogen oder gar sich das Leben zu nehmen.
Auch Karolyn machte sich Sorgen. Ich hatte sie angesteckt. Beide
begannen wir ihn zu suchen.
Als wir ihn nicht fanden, auch nicht mit dem Fernglas, auch nicht
bei anderen, redeten wir über ihn. Wir führten unser erstes
ernsthaftes Gespräch. Sie packte schonungslos alles aus. Er würde
nicht respektieren, dass sie von ihm nicht angefaßt werden wolle.
Er würde sie ständig weiter betatschen. Andauernd stehe er hinter
ihr und drücke schmatzend Küsse auf ihren Rücken. Schon der
Gedanke daran mache sie rasend. Sie habe keinerlei erotische
Gefühle ihm gegenüber und werde sie auch nie haben. Sie
schüttelte sich wirklich, als sie das sagte.
„Aber heute ist Weihnachten. Ich bitte Dich darum, nur dieses eine
Mal Gnade vor Recht ergehen zu lassen.“
„Was?“
„Laß es heute nicht häßlich werden. Nur heute. Morgen gern, aber
heute nicht. Nur dies eine Mal. Ich BITTE Dich.“
„Ich... äh, was?!“
„Weißt Du, ich kenne Elias seit er auf der Welt ist. Ich war bei der
Geburt dabei. Was er mit Dir hat, hat er hundertmal mit anderen
gemacht und erlebt und erlitten. Alles, was ich einmal erleben will,
ist, dass es einmal, wirklich EINMAL, zu etwas kommt, was ich
„Wunscherfüllung“ nennen würde.“
„Häh? Du willst doch nicht... ich bin doch nicht sein
Kindermädchen!“
„Kindermädchen? Wie kommt Du darauf... nein. Ich meine, Du
könntest einfach EINMAL über Deinen Schatten springen. Das hat
noch keine vorher geschafft. Nur für diesen einen Tag. Einmal nett
sein, obwohl Dir nicht danach zumute ist.“
„Ich will aber nicht!“
„Das meine ich doch. Du willst nicht – und tust es doch. Das wäre
einfach das Wunder schlechthin. Das Weihnachtswunder.“
„Ich will das nicht!“
Ich sah, das Balthazar Getty auf uns zuging. Es war ihm nicht
entgangen, dass ich mit der Verlobten seines Cousins so lange und
intim geredet hatte. Das gefiel ihm nicht. Die Gettys waren
230
archaische Typen. Ich hatte nur noch wenige Sekunden und
flüsterte rasch:
„Schlaf mit ihm, machs einfach, vertrau mir.“
Sie starrte mich an, als hätte sie das Maschinengewehr gerade für
neue Zwecke bereitstellen wollen. Bevor sie losschreien konnte,
war Balthy bei uns und sprach sie an. Ich entfernte mich lautlos.
Ich brachte bald in Erfahrung, daß Elias auf dem Handy erreicht
worden war und auf dem Weg zurück war. Ich atmete auf. Wenig
später sah ich ihn schlafend auf einem Sofa neben dem Pool. Er
wachte halb auf und sagte, er habe einen Joint geraucht. Es war
wohl sein zehnter an diesem noch jungen Tag. Aber so waren sie,
die jungen Leute. Irgendwann kommt jeder mal in die Pubertät.
Das Geschenke Auspacken war nicht die Hauptbeschäftigung der
Leute. Meistens saßen sie zu dritt, zu viert herum und plauderten
unaufgeregt ein paar Minuten, oder schwiegen. Der Ausblick war
so schön, dass man gut schweigen konnte, und die Luft erschien
an dem Tag so klar, daß man halb Kalifornien und weite Teile des
Pazifik sehen konnte, bis weit an den Meerespiegel am Horizont,
hier vom höchsten Punkt der Hollywood Hills aus. Man sah im
Prinzip jedes Haus, jeden der verschiedenen Stadtteile von Los
Angeles, man sah startende Flugzeuge und sogar Schiffe auf dem
Ozean, jedes einzelne kristallin klar und deutlich.
Dann dunkelte es, und die Myriaden von Lichtern gingen an, alle
seltsam funkelnd, als bewegten sie sich. Dieses Bild kennt man
freilich aus unzähligen Hollywoodfilmen, sodaß ich davon weniger
fasziniert war. Mit den meisten Gettys hatte ich inzwischen
konversiert, und ich wollte gehen. Auch Karolyn, die die meiste
Zeit mit den zahllosen Kindern gespielt hatte, wollte gehen. Aber
Elias bestand darauf zu bleiben. Erst müsse man das Ende der
Bescherung abwarten.
Nach und nach gingen die Leute. Irgendwann wurde aus Versehen
ein Weihnachtslied gespielt, aber nur, weil der Hausherr – nämlich
Balthazar – ein Stück von Depeche Mode mit einem Weihnachtslied
verwechselt hatte. Alle Speisen wurden von Bediensteten gebracht
und wieder abgeräumt. Jeder konnte essen, was und wann er
wollte. Nie saßen alle an einem Tisch. Man verkrümelte sich auf
dem großen Anwesen, zu dem vier Häuser, eine Terrasse mit
Aussicht wie auf dem Berghof, ein Pool, ein langgestreckter
231
Garten, kleine Plätze, Garagen, Pingpong-Platten, Basketballkörbe
und stille verträumte Ecken für Liebespaare gehörten. Und die
Sonne brannte ohne Ozonschicht auf die ungeschützte Haut. Ich
war schon seit dem Frühstück im Country Store so braun wie Louis
Trenker nach neunzig Drehtagen von „Der Berg ruft“.
Aber allmählich wurde es ungemütlich, weil alle gingen, nur wir
nicht. Elias hatte nun doch einen Joint im Gartenhaus geraucht und
legte sich wieder zum Schlafen mitten ins Wohnzimmer, direkt
neben den Plastik-Weihnachtsbaum. Ich bemühte mich verzweifelt,
weiter die Konversation am Laufen zu halten. Worüber sollte ich
palavern, wenn nicht über Weihnachten?
„German Christmas, you know, is quite different to yours. It is
much more beautiful, or shall I say, more soulful. Yes, that is it: we
have more SOUL in our Christmas.“
„You call it christmas too in Germany?“
„Oh no! Wie say DEUTSCHE WEIHNACHT. We don’t have plastik
trees. We habe more taste in all that.“
Mein Englisch war zu schlecht, um das Thema vertiefen zu können.
Aber natürlich hatte ich recht. Als Kulturvolk waren wir diesen
Banausen überlegen. Selbst ein einfacher deutscher Beamter
zelebrierte ein stimmungsvolleres Weihnachtsfest in seinem
bescheidenen Haus als diese Elite der US-Bevölkerung. Das mußte
ich dem Chef sagen, wenn er wieder mitten im Festtagsgeschehen
anrief. Das mochte er. Also wenn ich sagte, dass ich an Heilig‘
Abend an die Heimat denken mußte. Und zwar wehmütig. Ich
überlegte, wie ich es am besten formulierte. Es mußte natürlich
spontan klingen, wie ein ungewollter Ausbruch:
„Matthias, Heinrich Heine hatte ja so recht. Wie schön wir es in
unserem Vaterlande haben – um ganz bewußt seine Worte zu
gebrauchen – merkt man erst, wenn man es nicht mehr hat: die
deutsche Tanne, die Kerzen, das Lametta...“
Klang das authentisch? Nein, ich mußte eine zeitgemäße,
unverdächtig poppige Form finden.
„Alter, Germany rules okay! Du weißt, ich sag sowas sonst nich,
aber hier Weihnachten zu feiern, das is ja SOWAS von ätzend,
weißt Du, mit diesem Ami-Pack...“
Es stimmte ja, die Amerikaner lasen keine Bücher. Das Fernsehen
war grauenvoll. Als wir später ins Hotel zogen und Fernsehen
232
guckten, erschrak ich über – kein Scherz – hundert Programme, die
alle das gleiche zeigten. Wetterberichte, Kochsendungen,
unterirdisch schlechte fünftklassige Soaps, Autowerbung mit
überdrehten Stimmen.
Ich hatte mein Thema gefunden und nervte die verbliebenen
Gastgeber damit. Irgendwann riß Balthazar Getty der
Geduldsfaden.
„Where is Sevi?“ fragte er.
„Oh, he is sleeping near the tannenbaum, I guess.“
Dem Mann schoß der Zorn ins Gesicht. Er stapfte unverhohlen
wütend ins andere Zimmer und schüttelte den schlafenden Jungen.
Wir flogen hochkantig raus. Peinlich, aber wahr.
Wieder in unserem Gäste-Domizil, setzte ich durch, dass endlich
Judith Bröhl angerufen wurde. Ich erwartete, dass Karolyn endlich
Sevi entjungferte, und dazu war es notwendig oder dienlich, dass
ich selbst nicht störte, sondern in ähnlicher Weise beschäftigt war.
Außerdem wollte ich endlich wieder reden, wie mir der Schnabel
gewachsen war. Und nicht mehr alleine sein nachts. Und
überhaupt. Schluß mit dem Getty Spuk! Nicht mehr diesen
Haschischgeruch in der Nase haben!
Ich sprach mit Judith. Aber sie war bei ihrem Ex-Liebhaber wieder
eingezogen, und die neue Geliebte war irgendwie nicht mehr so
richtig aktuell, und der Geliebte sei so total fix und fertig, er wolle
sich jetzt ändern, und er habe gerade eine Überdosis Kokain
genommen und Judith müsse auf ihn aufpassen, er sei ja auch
schon über 50 und habe es mit dem Herzen...
„Dann reden wir morgen weiter.“ Ich legte auf.
Das waren ja schöne Nachrichten. Aber zum Glück war ich so
erschöpft von der Endlos-Bescherung, daß ich keine Mühe hatte,
einfach den Tag zu beenden und mich nicht mehr zu ärgern. Elias
baute noch einen Joint, aber das wartete ich gar nicht mehr ab.
Karolyn warf mir wieder diesen viel zu langsamen Handkuß zu, ich
zwinkerte ihr verschwörerisch zu („tu es!“), und das war es dann.
„Schönen Beischlaf noch!“ wollte ich sagen, vermied es aber. Ich
kann manchmal so richtig verantwortungsvoll sein...
So kam der 26. Dezember des Jahres 2006. Es war der Tag, an
dem endlich Judith zu mir stieß – und natürlich blieb. Wenigstens
dieser Teil des Reisezieles wurde erreicht. Aber wie! Wir mußten
233
sechsmal Judith anrufen, und immer war sie meschugge,
eingeschlafen, ausnüchternd, womöglich mit Extremsex
beschäftigt, wieder koksend, beleidigt, wieder eingeschlafen, im
Streit mit dem Ex- und Neu-Liebhaber, wer wußte es schon. Wir
fuhren zu der Adresse, die wir mühsam herausgekriegt hatten.
Dort warteten wir einen halben Tag, weil Judith nicht in die
Puschen kam, immer wieder einschlief, plötzlich beleidigt war, oder
unsere Klingel nicht hörte.
Endlich kam sie herausgestolpert, mit drei Tonnen Koffern voller
Dinge, die FRAUEN immer mit sich führen auf Reisen. Ich packte
den ganzen Krempel in den Bentley und stopfte Judith hinterher.
Elias drehte noch einen Joint und fuhr dann ab. Judith war in
wahnsinnig schlechter Verfassung, richtig abgefuckt und mental
zerstört. Pausenlos startete sie Angriffswellen gegen mich, der ich
sie so lange hätte sitzenlassen.
Leider stimmte das sogar zu einem hohen Grad. Zu den Gettys
hätte ich sie wirklich nicht mitnehmen wollen. Und Eliass
wiederholte Weigerung, Judith Bröhl zu kontaktieren, hatte ich
feige geschehen lassen. Das war MEINE Verantwortung. Ich wußte
es und liess die Angriffe laufen. Ich verzichtete darauf, mich zu
verteidigen. Judiths Sprache war allerdings so derbe und verroht
wie schon lange nicht mehr. Was wohl die junge Israelitin von
dieser Vorstellung hielt? Aber ich hatte sie vorgewarnt. Auch Elias
dürfte angedeutet haben, dass es gleich zugehen würde wie bei
Hempels unterm Sofa. Vor allem das Lispeln war stärker geworden.
Wir sahen eine dieser unsäglich schlechten Comedy-Sendungen auf
RTL2, so kam es uns vor. Am schlimmsten war es, wenn sie das
Wort „verpisst“ sagte, und es gab nicht einen einzigen Satz, der
ohne dieses Wort auskam...
Judith stammte übrigens gar nicht aus einer Unterschichtsfamilie.
Die Erklärung war viel grauenvoller. Sie hielt sich seit ihrem 13.
Lebensjahr in Hiphop Kreisen auf. Das hatte sie geprägt. Sie
konnte wohl immer schon ziemlich gut Englisch – ohne Zweifel ist
sie sehr sprachbegabt – und hatte das Geschimpfe der schwarzen
Verbrecher etwas zu wörtlich genommen und sogleich
eingedeutscht. Die Eltern hatten frühzeitig aufgegeben. Aber diese
Geschichte sollen andere erzählen.
234
Ich war froh, das Haus des angeblichen Filmproduzenten weit
hinter uns zu lassen. Die Bruchbude in der Ungegend war so wenig
die Villa eines Filmproduzenten wie der Bewohner selbst ein
Filmproduzent sein konnte. Ich wußte, dass Judith nie wieder diese
Hütte betreten würde. Und auch das Kokain wollte ich ihr nun
austreiben, und zwar gnadenlos. Nur den Extremsex durfte sie
behalten, weil ich mir sowieso nichts darunter vorstellen konnte.
Wenn Judith Extremsex betrieb, dann machte meine Zahnbürste
nachts heimlich Teak won do. Das konnte ich jedenfalls genauso
behaupten. Es gab für nichts Beweise.
Wir fuhren mit dem zwei Tonnen schweren fabrikneuen
goldfarbenen Bentley Arnage R zurück nach Hollywood, wozu wir
mehr als eine Stunde brauchten. Das Auto war gepanzert, selbst
die Scheiben bestanden aus zentimeterdicken Panzerglas. Das war
nicht unwichtig. Wann immer Gangster in Kapuzenanoraks unser
Auto stoppen und die Scheiben putzen wollten, gaben wir einfach
Gas. Was sollten die armen Kerle tun? Die Kugeln ihrer
Feuerwaffen, auf die sie so stolz waren, wären abgeprallt wie
Wattekügelchen. Manchmal wurde es gefährlich, wenn Elias
stoppen mußte, um einen Joint herzustellen. Aber wir hatten Glück
und kamen durch.
Judith sah schrecklich aus, um mindestens 15 Jahre gealtert. Und
sie schimpfte weiter wie ein Rohrspatz. Aber eigentlich war sie
erschöpft. Deswegen war ihre Sprache auch so
heruntergekommen. Deshalb mußten wir nur abwarten, bis sie von
selbst ruhiger wurde und einschlief.
Wir brachten sie in ein neues Haus, in dem wir fortan wohnen
sollten. Elias mit seinem feinen Gespür für Stil und Hierarchien,
hatte beschlossen, dass eine Judith Bröhl nicht im Haus von Eileen
Getty wohnen dürfe. Eileen, die Schwester von Paul Getty III, war
viele hundert Millionen Dollar schwer. Wir wurden nun in einem
Nebenhaus von Andrew Getty untergebracht. Das war ein Sohn
von Marc Getty. Marc Getty, Erfinder und Leiter von Getty Images,
inzwischen auch ein Milliardenkonzern, war zwar de facto der
Clanchef geworden - nach dem Unfall seines älteren Bruders Paul
Getty III – aber hatte zu Andrew kein herzliches Verhältnis. Er
liebte Alexander, seinen jüngeren Sohn, und zwar deswegen, weil
der auch viel netter war. Auch ich liebte Alexander viel mehr und
235
mißtraute Andrew. Am meisten liebte Karolyn Alexander viel mehr,
und als es mit Eliass Aufdringlichkeiten zu unerträglich wurde,
schlief sie bei ihm. Er nutzte das nicht aus. Dies wird niemand
verstehen können, der ihn nicht kennengelernt hat. Er war einfach
dermaßen nett, dass er sich in die nackte, duschende, badende,
sich schminkende, fotomodellschlanke Karloyn NICHT verliebt hat,
nicht in ihren langsamen Handkuß, nicht in ihr Stöhnen beim
Einschlafen. Denn: er war doch Elias’ Freund.
Nun also schliefen wir bei Andrew. Das Haus hatte er selbst nie
betreten. Er hatte es für sich und seine Freundin gebaut, aber vor
dem Einzug wechselte er die Freundin und baute für die ein
anderes Haus. Dort wohnt er jetzt, bereitet sich aber innerlich
schon auf die nächste Freundin und das nächste Haus vor. Andrew
war in der Hierarchie deshalb ziemlich weit unten, und so
bedeutete unser Wohnungswechsel ein downgrading. Elias und
seine Geliebte blieben bei Eileen.
Ich tat nun etwas erstaunlich Vernünftiges. Vielleicht muß man
mein Alter erreichen, um so vernünftig handeln zu können. Ich
steckte Judith nämlich direkt ins Bett. Wir sahen eine Folge „Curb
your enthusiasm“, wobei Judith selig einschlief. Wie könnte man
friedlicher gestimmt werden als durch Larry David? Und sie schlief
20 Stunden lang durch.
Danach ging es ihr schon besser. Wir hatten einen schönen Tag.
Judith schimpfte zwar acht Stunden lang über Elias, der sie
„verarscht“ hatte, aber ich hielt immer phantasievoll dagen, und
allmählich wurde das Geschimpfe eloquenter, humorvoller,
geistreicher, und schlug um in Verständnis. Sie mochte nun Elias
wieder, und mich auch. Wir hatten viel Spaß. Zum Glück hatten wir
keinen Extremsex, da mir normaler Sex viel besser gefällt. Wir
blieben den ganzen Tag zu Hause. Nur abends gingen wir ins Kino
und sahen „Little Children“.
Die nächsten Tage hätten phantastisch werden können, ja müssen
– wenn mein Auftrag bezüglich Tom Kummer nicht gewesen wäre.
Aber so ritt „ich mich immer mehr in die Scheiße“ (Judith), will
sagen: verzweifelte ich bei der Suche nach dem Maniak. Einmal
fuhr ich mit Elias einen vollen Nachmittag lang in die Wüste zu
seinem Haus und wieder zurück. Wir klingelten Sturm, hörten
Geräusche im Inneren, aber der „Arsch“ (Judith) machte einfach
236
nicht auf. Dann wieder schalteten wir den Deutschen Holm Friebe
ein, ein Genie aus Berlin, das im Ruf steht, JEDES Problem, das mit
Medien zu tun hat, lösen zu können. Er sprach auch wirklich mit
Kummer, brachte als Ausbeute aber per Saldo nur verschiedene
Formen nervösen Freak-Gekichers mit, sauber aufgenommen auf
einem MP3 Recorder. Mein Chef tobte. Ich hatte keine andere
Wahl, als ihm unaufgefordert aber bewegt einen Text über das
Heimatgefühl eines Deutschen in der Fremdheit Amerikas zu
mailen. Ich war erschüttert über die Geistlosigkeit eines
vermeintlichen Kulturvolkes, das das unsere in zwei Weltkriegen
ungerechterweise geschlagen hatte!
Während ich mit Elias Tom Kummer suchte, freundeten sich Judith
und Karolyn ein bißchen an. Judith horchte Karolyn aus, was die
Jungs über sie gesagt hatten, also Elias und ich. Karolyn,
inzwischen mit dem Kiffmeister körperlich verbunden, schützte
denselben natürlicherweise. Dagegen sagte sie über mich, ich
hätte mich in gewisser Weise nicht nur positiv über Judiths
Verhältnis zu Kokain und Extremsex geäußert.
Judith tickte vollkommen aus.
„Dieser Arsch! Erzählt den Gettys, ich sei eine koksende Schlampe!
Das soll mir der verfickte Hurensohn büßen!“
Als ich sie abends wiedersah, sprach sie nicht mehr mit mir. Sie
erklärte lediglich, ich hätte sie bei den Gettys als Koks-Schlampe
miesgemacht, und deshalb werde sie nie wieder mit mir reden. Das
war insofern ungerecht, als Elias tatsächlich die Geschichte mit
dem koksenden Filmproduzenten weitererzählt hatte, nicht aber
ich. Doch nun wurde Elias ihr Liebling, und der hatte plötzlich gar
nichts dagegen. Auch Karolyn blieb wohlgelitten, ja avancierte zur
besten Freundin. Zu dritt unternahmen sie nun viel und hatten
endlich RICHTIG Spaß, während ich ausgestoßen wurde und ins
Hotel wechselte. Ich erkannte sofort, dass dies überhaupt nichts
mit Ungerechtigkeit zu tun hatte, sondern mit Vernunft. Die
Interessen der drei paßten perfekt zueinander.
Karolyn konnte es ertragen, dass Elias „sie fickte“ (Judith), wenn
er dabei nicht so hündisch und stalkermäßig auf sie fixiert war.
Sogar den Brilliantenring der Gettys konnte sie so annehmen. Elias
gefiel es, dass Judith ihn anschwärmte und mit Extremsex bekannt
machte. Judith war froh, mit Hilfe Elias in Los Angeles
237
Fuß zu fassen, der Welthauptstadt der Proletenkultur, also IHRER
Kultur. Karolyn hatte eine Freundin gefunden, die ihr ermüdungslos
lustige derbe Geschichten erzählte, was besser war, als Tag und
Nacht Klein-Elias sexuelles Gebettel anhören zu müssen. Elias
konnte kiffen, ohne sich schlecht zu fühlen, denn kiffen war
moralisch höherwertiger als koksen. Und Judith konnte koksen,
ohne sich schlecht zu fühlen, denn koksen war deutlich weniger
gaga als das endlose Gedampfe von Elias.
Soweit, so schlecht, für mich. Und Kummer traf ich natürlich nun
erst recht nicht mehr. Die Hotelrechnung ruinierte mich binnen
Tagen. Sylvester kam, und ich verbrachte es allein in einem
schäbigen Schwulenhotel. Es war das billigste in Hollywood, und
woanders wollte ich nicht hin. Nun war guter Rat teuer. Ich hoffte
plötzlich etwas, was ich noch nie erhofft hatte, nämlich, dass MEIN
CHEF mich endlich anriefe. Vielleicht konnte er mir weiterhelfen.
Mich von dem „verfickten“ (Judith) Tom-Kummer-Auftrag
befreien. Mir ein Rückflugticket klarmachen. Mich beim SPIEGEL
zum Leiter der Dokumentation befördern. Irgendwas. Oder nur
nett mit mir reden. Oder mich anschreien. Was auch immer.
Und so ging ich mit meinem letzten Geld in ein Internet Café und
schrieb eine weitere Folge meiner Rührstory über das tolle
Heimatgefühl und wie sentimental man als Deutscher im
seelenlosen Kalifornien werde.
Und es klappte wirklich. Unglaublich, aber er rief tatsächlich an.
Der Chef! Matthias Matussek! Der kleine Spargeltyp, der mit seiner
Brille keinen Ball richtig stoppen konnte. Er brüllte:
„Das ist PHAN-TAS-TISCH, mein Lieber, was Du über Amerika
schreibst! Weißt Du, was das ist?“
„Nein?“
„Patriotismus! Das ist deutscher Patriotismus, aber einer, den man
sagen darf! Zum ersten Mal! Weil er über einen Umweg kommt!
Weißt Du? Weil er nicht direkt losgeht, was ja verboten ist bei uns,
weil das die Deppen ja für poltisch unkorrekt halten, sondern, ja,
und das ist eben GENIAL!, weil er gegen Amerika geht und das
gute Deutsche nur unsichtbar zwischen den Zeilen steht!“
„Ah... ja, stimmt. Danke, Matthias. So hatte ich es auch gemeint.“
„Siehst Du! Wir machen da was draus! Das ist genial!“
„Ja, ja!“
238
„Du mußt da unbedingt bleiben!“
„Was?!“
„Du mußt da DEIN Patriotismusbuch schreiben! So wie WIR
DEUTSCHEN, mein Buch, Du weißt. Nur noch besser eigentlich, weil
raffinierter. Das haut dann RICHTIG rein. Du schreibst NICHT EIN
WORT über Deutschland, und trotzdem denkt jeder: hurra, den
nächsten Krieg gewinnen WIR! Haha... und ich sorg dafür, dass der
SPIEGEL das in die richtige Richtung drückt.“
„Danke. Das ist... klasse.“
„Hör zu, Jolo. Du bleibst ab sofort drüben. Den Vertrag mit dem
SPIEGEL lösen wir zum 1.1.2007 auf. Und Du schreibst Dein Buch,
das wird DEIN BABY, sage ich Dir.“
„Ja.“
„Also machs gut. Ich muß weitermachen, Sloterdejik wartet in der
Lobby auf mich. Ich freue mich, Jolo! Ich freue mich!“
Er legte auf. Ich war gefeuert.
In die Wüste bin ich dann doch noch gekommen, zu Tom Kummer.
Aber nicht als Reporter. Eher so als eine Art Gast, was aber
übertrieben ausgedrückt ist. Eher helfe ich ihm ein bißchen. Die
Kinder brauchen Nachhilfe, es gibt da ja nichts.
Und ich brauche ab und eine Büchse Bohnen.
Fußnote
USA – Sylvester mit Tom Kummer:
Diese Geschichte war die einzige in der ganzen SPIEGEL-Zeit, in der ich meinen Freund
Matthias Matussek vorkommen liess. Ich hatte das sonst immer vermieden, weil
Matussek der letzte war, dem ich hätte schaden wollen. Allein der Terminus ‚Borderline’
war bekanntlich pures Gift in jeder journalistischen Laufbahn, und ich wusste damals
schon, dass mein Buch ‚Auf der Borderline nachts um halb eins’ heissen würde. Mir
schadete das nicht, denn ich war sowieso Schriftsteller. Aber Matthias war lupenreiner
Faktenjournalist, übrigens auch ein mitreissender Kulturchef („der beste, den
Deutschland seit Heinrich Heine hatte“). Er kämpfte für jeden einzelnen Artikel von mir –
immer gegen die ganze Fraktion der Orthodoxen. Aber ich wollte das alles nicht schildern
und tat es auch nicht; zu oft hatte ich schon erlebt, dass Lob von mir als ironisch
missverstanden wurde. Ich sparte die Figur Matussek aus, nur hier machte ich eine
Ausnahme, und zwar gerade deswegen, weil diese Stelle NICHT wahr ist, und auch klar
als ausgedacht zu erkennen ist. Oder zumindest als eindeutig NICHT GANZ wahr. Ich
habe nicht auf der Farm von Tom Kummer als Erntehelfer gearbeitet, und Matthias
Matussek hat mir nicht zu einem patriotischen Buch geraten, jedenfalls NICHT SO. Die
Darstellung der Figur Judith Bröhls war auch mehr Literatur als Leben. Ich bin zwar mit
239
einem trash girl (das anders hieß) durch Hollywood gezogen, erkannte den Menschen
hinter der zeitgemäßen Rolle aber erst nach dem ganzen (Horror-)Trip. Hinter der
brutalen fuckya!-Fassade steckte eine völlig unberührte, reine Seele, und ich musste an
das alte Martin-Walser-Wort denken: ‚Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr’. Deswegen ist
die Geschichte weder Literatur – denn die hätte beide Seiten zeigen müssen – noch
Journalismus, denn dann hätten die Fakten stimmen müssen. Es ist Borderline. Die
einzige echte Borderlinegeschichte, dem Gegenstand angemessen: Tom Kummer.
Gänzlich wahr ist jedoch die beschriebene Suche nach ihm, Kummer, und mein Scheitern
dabei über Wochen und Monate. Ich sah ihn erst im Sommer 2007 – und zwar in Berlin.
Er war ausserordentlich nett, und wir mochten uns. Ich merkte dabei, dass zu einem
echten Borderliner mehr gehört, als das, was ich machte. Im Vergleich zu Tom Kummer
war ich ein ehrpusseliger Spiesser.
39 Geburtstag mit Günter Wallraff
Wallraff gehört zu den wenigen glücklichen Menschen, die früh
berühmt waren und es dann gut sein liessen. Die aufhörten, als es
am schönsten war. Die nochmal heirateten, nochmal eine Familie
gründeten, und sich zehn oder gar 20 gute Jahre gönnten,
unbehelligt, privat, reich. Die Jüngeren wissen gar nicht mehr, dass
Wallraff eine ganze Generation lang den Status hatte, den Michael
Moore später für wenige Jahre erobern konnte. Der aufrechte
Enthüllungsjournalist, der sich verkleidet unter die Mächtigen,
Bösen, Nazis und BILD-Macher mischte und ihr Unwesen beschrieb,
ihre Schweinereien aufdeckte – und dafür gnadenlos verfolgt und
geprügelt wurde. Indem er damit aufhörte, zeigte er nur, dass er
kein Masochist ist. Es ging ihm um die Sache, und es war nur
gerecht, dass irgendwann andere seine Arbeit übernehmen mußten
(was in Deutschland niemand tat). Er blieb ein singuläres
Phänomen, aber er hat dieses Land verändert. Jetzt, zum 65.
Geburtstag, kommt er nochmal zurück. Er schlüpft wieder in
Rollen, deckt auf, schreibt. Und gibt sogar ein Interview:
240
FAS: Beginnen wir mit der Klischeefrage Nummer eins – wie halten
Sie es mit George W. Bush?
Wallraff: Das war ein fanatischer, kriegslüsterner, gefährlicher
Mensch. Aber der würde den Krieg nicht nochmal führen.
FAS: Er hat sich die Finger verbrannt?
Wallraff: Um Präsident Bush zu verstehen, muß man „Der
Untergang des römischen Reiches“ von Montesquieu aus dem
Jahre 1732 lesen.
FAS: Man spürt Ihre katholische Bildung. Sie sind im klerikalen Köln
zur Schule gegangen?
Wallraff: Ja, so war es wohl. Ich war armer Leute Kind und ein
schlechter Schüler. Trotzdem bin ich im Gymnasium niemals
ausgegrenzt, diskriminiert oder gar von Mitschülern geschlagen
worden. Nicht eine Sekunde. Das ist heute ganz anders. In Schulen,
in denen der Ausländeranteil über 50 Prozent beträgt, werden
deutsche Schüler gemobbt und gezwungen, sich bis zur
Selbstverleugnung anzupassen.
FAS: Rohe Gewalt herrscht sogar in der Grundschule. Eine
befreundete Lehrerin berichtet, sobald sie sich umdrehe, bissen
sich Achtjährige hinter ihr blutig. Wie Kampfhunde.
Wallraff: Ich sehe das zeitversetzt. Auch bei uns war Gewalt vor
wenigen Generationen noch normal. Der Vater schlug den Sohn,
nach dem Motto: ´Was mir nicht geschadet hat, wird auch dem
Kleinen gut tun´.
FAS: Warum gab es dann keine dieser Exzesse in den Schulen?
Man hat doch fast den Eindruck, dort ist inzwischen der Irak-Krieg
ausgebrochen. Früher herrschte dort Ruhe.
Wallraff: Die Ruhe vor dem Sturm. Die Weltkriege liessen nicht
lange auf sich warten.
FAS: Wegen der legendären ´einen Ohrfeige zur rechten Zeit, die
noch keinem geschadet´ habe?
Wallraff: Auch in der Lektüre sehe ich Parallelen. Als ich jetzt in
der Ehrenfelder Moschee-Bücherei nur diese islamischen
Traktätchen gefunden habe, mußte ich an meine katholische PfarrBibliothek denken, wo es auch nur Heiligengeschichten gab. Und
Karl May.
FAS: Immerhin Karl May. Ein großer Pazifist.
241
Wallraff: Ja, ich habe mich gleich mit den Indianern identifiziert.
FAS: Zurück zur Politik. Wie stehen Sie zu Hillary Clinton?
Wallraff: Der Rushdie kennt die ganz gut und hält grosse Stücke
auf sie. Die war früher auch für den Krieg, aber sie hat mächtig
dazugelernt.
FAS: Wird sich das auf Deutschland auswirken?
Wallraff: Noch haben wir eine Demokratie. Auch unsere
Geheimdienste sind inzwischen demokratisch strukturiert. Ich
erfahre es am eigenen Leib! Früher wurde ich verfolgt, abgehört,
bespitzelt. Seitdem ich auf der Al-Kaida-Todesliste stehe, werde
ich von denselben Typen beschützt. Nein, eigentlich nicht. Das
sind ja nicht mehr die Schlapphüte von damals. Ganz andere
Persönlichkeitsstrukturen. Mit denen kann man sogar reden. Die
haben richtig eine eigene Meinung manchmal. Doch, ich mag die
inzwischen!
FAS: Und Schäuble?
Wallraff: Ja, unsere Dienste sind jetzt demokratisch – aber muß
das denn so bleiben? Was wissen wir denn, wie die Gesellschaft
später sein wird? Die Gesetze haben wir dann alle schon
vorbereitet. Der Datenschutz gilt schon lange nichts mehr. Und
dann haben wir die science-fiction-Situation à la „1984“. Und
´FOCUS´ ist so ein Organ, das dann sowas spielt, Leute zur
Strecke bringt, und Springer vielleicht dann wieder...
FAS: Schily hat damit angefangen...
Wallraff: ...oh Gott, ja, Schily! Ich war vor kurzem mit Klaus Steack
im Einstein verabredet, da sitzt mir plötzlich der Schily gegenüber.
Ich hatte Hunger, wollte es mir schmecken lassen. Ich sagte zu
Steack, ich muß mich umsetzen, mir verdirbt das den Appetit, ich
kann den Menschen nicht beim Essen sehen.
FAS: Und hat es dann noch geschmeckt?
Wallraff: Nicht wirklich. Hab das Zeug nur zur Hälfte runtergekriegt
(schüttelt sich).
FAS: Aber Schäuble ist noch schlimmer.
Wallraff: Ja! Bei dem könnte ich mir typenmäßig gut vorstellen, wie
er sich genüßlich die Lippen leckt, und die Augen dabei so
durchgeknallt strahlen, felsenfest davon überzeugt, den göttlichen
Willen zu vollstrecken: das gab es zuletzt in der Inquisition. Nur die
Kutte fehlt noch.
242
FAS: Schäuble will angeblich Flugzeuge abschiessen, die außer
Kontrolle geraten sind.
Wallraff: Davon gibt es 250 pro Jahr. Oder denken sie an den
armen Motorsegler in Frankfurt. Den hätten sie dann abgeknallt
wie eine Tontaube.
FAS: Und sich feiern lassen: seht her, der hätte ja auch in ein
Atomkraftwerk fliegen können.
Wallraff: Dabei ist er ganz friedlich gelandet.
FAS: Auch Matthias Rust wäre wohl kaum bis zum Roten Platz
gekommen.
Wallraff: Wer war das doch gleich?
FAS: Dieser Friedensaktivist, der Gorbatschov sprechen wollte. Wo
werden Sie beschützt von den Anti-Terror-Kräften?
Wallraff: Na, als erstes unterschrieb ich ein Papier, wonach ich
niemals vom Staat oder von Privaten ein Lösegeld bezahlt
bekommen möchte, im Entführungsfall. Dann fragten die nach
meinen Gewohnheiten. Ich sagte, ich hätte keine. Ich habe keinen
Stammtisch, gehe nicht zum Fußball...
FAS: Nicht zum FC?
Wallraff: Ich war da nur einmal, einem ausländischen Kollegen
zuliebe, der wollte das sehen. Ich habe das ganze Spiel über die
Mannschaften verwechselt.
FAS: Sie wußten nicht, dass der FC in Weiss spielt?
Wallraff: Nein.
FAS: Und dass der Trainer Christoph Daum heißt?
Wallraff: Wie heißt der?
FAS: Und dass das Maskottchen ein Geißbock ist?!
Wallraff: Doch, das weiß ich natürlich. Der kleine Geißbock, klar.
Den fand ich gut, der hat sich für das Spiel ungefähr genauso
interessiert wie ich.
FAS: Wurden Sie wegen dieser Fußballfeindlichkeit niemals als
schwul diskriminiert?
Wallraff: Nein, ich bin ja nicht homosexuell. Nur mit Lesbierinnen
habe ich manchmal ganz gern geschlafen. Die haben bei mir
wirklich eine Ausnahme gemacht.
FAS (ehrlich bewundernd): Oh, respect, man...
Wallraff: Schreiben Sie das bloß nicht.
FAS: Und was sagt der Verfassungsschutz dazu?
243
Wallraff: Man kriegt die Akten ja immer erst nach Ewigkeiten,
nehme ich mal an. Einmal schlief ich mit einer Lesbierin in der
Nacht vor meiner ersten Begegnung mit Strauß. Da gab es aber
keinen Zusammenhang. Obwohl ich manchmal glaubte, auch die
westlichen Dienste hätten ´Romeos´ und ´Julias´ so wie die Stasi.
Diese letzte Brandt-Frau, diese entsetzliche Brigitte Seebacher,
hat den Mann ja regelrecht aus dem Verkehr gezogen.
FAS: Mochten Sie Brandt?
Wallraff: Ja, ich fand ihn menschlich. Ein großer, sehr menschlicher
Mann – bis diese Frau ihn abschirmte und einsperrte.
FAS: Sie meinen, die handelte im Auftrag der Deutschen Bank oder
sowas?
Wallraff: Später hat sie den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen
Bank geheiratet – als Willy unter der Erde war.
FAS: Also Sie hätten gern öfter mit Herrn Brandt Parties gefeiert?
Wallraff: Nein, ich bin allergisch gegen Parties. Die ideale
Gruppenstärke ist drei bis sechs Leute. Sind mehr im Raum, fühle
ich mich extrem unwohl. Ich fühle mich dann total verloren.
FAS: Wie finden sie eigentlich diese vielen neokonservativen
Erfolgsautoren wie Peter Hahne, Herrn Bueb aus Salem, Matthias
Matussek vom SPIEGEL, Eva Hermann und so weiter?
Wallraff: Bei Bueb denke ich, mit seinen Forderungen nach mehr
Disziplin: der war als Kind bestimmt selbst Opfer von zuviel
Strenge, Härte und Gewalt. Man kennt das ja von
Mißbrauchsopfern, dass die dann selbst Mißbrauch an der nächsten
Generation begehen. Bei Matussek fällt mir das Italien-Spiel ein. Die
hatten ja solche Angst, Deutschland könne verlieren. Und taten es
dann auch. Ich habe an dem Abend in einer Live-Sendung ganz
ernst gesagt, die katholische Seelsorge habe eine Hotline
eingerichtet, für Leute, die mit der Niederlage nicht fertig würden
und womöglich sogar dadurch suizidgefährdet seien. Daraufhin
haben da wirklich ganz viele angerufen.
FAS: Was hat das mit Matussek zu tun?
Wallraff: Ach, die Sache mit den Fahnen. Ich sagte im Fernsehen,
da gebe es jetzt ein Problem, nach der WM, wohin mit den
Fahnen? Man könne die ja nicht lagern, das sei ja alles keine
deutsche Wertarbeit, made in China, das zerbröselt ja. Aber da
hätten sich jetzt zum Glück zwei Bannerträger der Nation bereit
244
erklärt, nämlich Herr Professor Baring und Herr Matussek, an
bevorzugten Plätzen der Nation mit ihrem Banner zu stehen; da
könnten sich alle dahinter aufbauen und mit ihnen durch die Stadt
ziehen. Wieder haben das Tausende ernst genommen.
FAS: Sind Sie gar nicht stolz auf den neuen friedlichen
Patriotismus?
Wallraff: Ich höre im Ausland ja immer, wir hätten keinen
Nationalstolz. Ich sage denen dann manchmal: da haben wir euch
etwas voraus! Wir brauchen sowas gar nicht mehr. Wir haben den
neuen Infantilismus. Das ist etwas Schönes, etwas Heiteres, dieses
Fähnchenschwenken und so, prima! Das soll man bestärken. Sollen
doch alle ihre Hütchen damit bestücken und so weiter.
FAS: Wie sehen Sie die Entwicklung im Osten Deutschlands?
Wallraff: Das wird ganz düster. Die jungen Frauen wandern alle aus.
Vergreisung tritt ein, es werden noch weniger Kinder geboren. In
20 Jahren ist das da Steppe, von einigen ´Leuchtturm´-Gebieten
einmal abgesehen.
FAS: Ist die Finanzkrise eine Gefahr?
Wallraff: Sehr sogar. So, wie die Soziologie nicht den
Zusammenbruch des Sozialismus vorausgesagen konnte, wird uns
auch niemand vorher warnen können, wenn der Kapitalismus eines
Tages kracht. Und das wird kommen. Sowas wie der Crash von
1929 wird, zehnmal schlimmer, irgendwann da sein, leider.
FAS: Sind Sie im Laufe dieser 65 Jahre klug geworden?
Wallraff: Ich bin nicht klug geworden, sondern spontan geblieben.
Ich mache alles aus der Situation heraus. Nur wenn ich spontan
bin, bin ich gut. Ich glaube, ich habe kein Zeitgefühl.
FAS: Haben Sie deswegen auch Auszeiten genommen?
Wallraff: Na, ich war am Ende, in jeder Hinsicht, psychisch,
physisch...
FAS: All die schrecklichen Prozesse, mit denen der Springer Verlag
Sie überzog...
Wallraff: Nee, das war vor allem körperlich. Die Knochen, alles war
kaputt. Ich dachte schon, ich bin in meiner letzten Rolle, in der
Pflegeanstalt.
FAS: Also hat das Imperium des Bösen, die BILD Zeitung, Sie nicht
geschafft?
245
Wallraff: Im Gegenteil. Als ich vor kurzem in der WELT zum
erstenmal gelobt wurde, ist für mich fast eine (sic!) Welt
zusammengebrochen. Zum Glück – das meine ich nicht ironisch –
hat dann zwei Tage später der delirierende F.-J. Wagner in der
BILD Zeitung wieder solch einen Hammer gegen mich losgelassen,
dass ich unerhört erleichtert war. Ehrlich! Es gibt Gegner, die will
ich mir nicht nehmen lassen, um keinen Preis! Jedenfalls, solange
sich da nichts Grundlegendes geändert hat.
FAS: Aber das Imperium des Bösen hat doch...
Wallraff: Ich nenne es übrigens nicht so. Das sind Menschen. Es
gibt da gute und böse, wie überall.
FAS: Gute Menschen bei BILD?
Wallraff: Theoretisch ja.
FAS: Hans-Herrmann Tiedje zum Beispiel?
Wallraff: Ein befreundeter Kollege von mir, der psychisch sehr
krank war, wurde von Tiedje einmal ein ganzes Jahr lang bekocht,
betreut, aufgepäppelt – bis er wieder laufen konnte. Heute ist er
erfolgreicher als Tiedje selbst.
FAS: Wie wurden Sie selbst wieder gesund? Doch nicht durch
Herrn Tiedje?
Wallraff (lacht): Ich hatte Glück. Ich lernte im richtigen Augenblick
den richtigen Menschen kennen.
FAS: Ihre dritte Frau Barbara?
Wallraff: Nein, einen Arzt. Er operierte mich, behandelte mich mit
völlig neuen Methoden. Für mich war es eine Wiedergeburt.
FAS: Nun, so alt sind Sie ja gar nicht. Ihr jüngstes Kind geht noch
in die Grundschule, Sie sind eher Papa als Opa.
Wallraff: Eines ist seltsam – ich fühle mich jünger als manche
meiner Kinder. Da stimmt etwas mit der Rolle nicht. Wir haben
schon einen Kindertherapeuten eingeschaltet. Da muß man
aufpassen.
FAS: Freuen Sie sich auf die nächsten 20 Jahre? Auf den Aufstieg
Chinas zur alleinigen Supermacht? Auf die Klimakatastrophe? Die
explodierende Gewalt auch in deutschen Vorstädten?
Wallraff: Ich kann mir immer nur höchstens die nächsten zwei
Jahre vorstellen. Ich konnte mir noch vor einem Monat nicht
vorstellen, dass ich meinen 65. erlebe – nun stehe ich kurz davor.
Übrigens machen mir diese Eckdaten immer sehr zu schaffen.
246
Schon mein 50. war unüberwindlich. Ich konnte mir nie vorstellen,
50 zu werden, so dermassen ALT! Da bin ich zu den Dritte-WeltAsylbewerbern nach Rostock geflüchtet, habe mit denen mein
Überleben gefeiert. Die wußten nichts davon, dass ich Geburtstag
hatte.
FAS: Sie feierten auf Suaheli?
Wallraff: Kann sein. Diesmal habe ich mir vorgenommen, gerade
noch rechtzeitig in die Rolle abzutauchen!
FAS: Schade, dass Sie nicht verraten dürfen, welche geheime Rolle
das diesmal ist.
Wallraff: So ist es wohl. Aber den 66. will ich feiern, mit Menschen,
die mir nahe sind und die ich liebe. Wer bestimmt eigentlich, dass
wir immer die runden Zahlen feiern müssen. Eine ganze
Gedenktage- und Erinnerungskultur speist sich daraus, das ganze
Feuilleton ernährt sich davon – scheußlich!
FAS: Diesmal sogar das Feuilleton der FAS... Glauben Sie an den
Klimawandel?
Wallraff: Es wachsen auch die rettenden Kräfte. Wir kommen durch
das Internet in eine Weltgesellschaft hinein, in der alle alles wissen.
Das Umweltbewußtsein steigt enorm, auch in den USA. Der
Verbraucherschutz spielt dort schon eine größere Rolle als bei uns.
Ich sehe große Chancen.
FAS: Was wird aus dem Heiligen Krieg des Islam?
Wallraff: Der Islam? (lacht) Ich sehe da nur ein letztes Aufbäumen.
Ich glaube, in zwei Generationen ist der Spuk vorbei. Ich sehe in
den islamischen Ländern keinerlei zukunftsweisende Ideen. Weder
kulturell noch wirtschaftlich. Noch ist der politische Islam
selbstverständlich ein riesiges Bedrohungspotential. Auch in der
Türkei. So sehr ich für den Moschee-Bau hier in Ehrenfeld bin,
schon aus touristischen Gründen, also wenn die den Kölner Dom
besuchen, können sie ruhig mal einen Abstecher nach Ehrenfeld
machen, so bin ich doch gegen den inflationären Moschee-Bau in
der Türkei selbst. Jeder, der da ein Pöstchen anstrebt, spendet
erstmal eine Moschee, häßlichster Bauart, obwohl es schon so viele
gibt. Ich sehe die Türkei als Gefahrenherd für Europa, auch
militärisch, denn wenn sie nicht in die EU dürfen, wird die
Islamisierung dramatisch fortschreiten. Die Bildungseliten werden
schon jetzt weggefegt. Das Kopftuchverbot wurde aufgehoben,
247
und wer jetzt kein Kopftuch trägt, kriegt Probleme mit den
Studienplätzen und so weiter. Schon jetzt ist es so, dass Selektion
in den Verwaltungsämtern stattfindet, wo dann die Islamisten
reinkommen. Da ist schon schwer was im Gange.
FAS: Was wird aus China?
Wallraff: Wenn die USA als Weltmacht durch China abgelöst wird,
was ja jetzt ersichtlich ist, ist das für die Menschheit nicht gerade
von Vorteil. Dann gibt es eine Entindividualisierung, eine noch
erbarmungslosere wirtschaftliche Kommerzialisierung.
FAS: Alles in allem, wenn Sie zurückblicken: war es früher schöner?
Wallraff: Es ist zu allen Zeiten schöner und schlechter zugleich als
´früher´.
FAS: Anders gefragt: Wären Sie heute gern 20 Jahre alt? Also
lieber heute jung als damals, im verhaßten Adenauerstaat?
Wallraff (sehr leise): Lieber damals jung.
FAS: War doch gar nicht sooo übel, der Alte?
Wallraff: Die fünfziger Jahre?
FAS: Nein, der Alte aus Rhöndorf, Kanzler Adenauer.
Wallraff: Jedenfalls nicht so übel wie Ahmedineschad!
Fußnote:
Günter Wallraff
Dieses Interview machte ich für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung im Oktober
2007. Dabei stellte sich heraus, dass Wallraff und ich nicht nur fast am selben Tag
Geburtstag hatten, sondern beide ein Geburtstagstrauma mit uns herumschleppten. Wir
hielten diesen Tag nicht aus. Wallraff hatte seinen letzten Geburtstag anonym bei
Emigranten im Abschiebelager verbracht – wenn ich ihn richtig verstanden hatte – und
ich hatte mich ebenfalls vor aller Welt versteckt, in einem Hotelzimmer in Südnorwegen.
Wir sprachen über drei Stunden miteinander, fanden das ausgedruckte (hier vorliegende)
Ergebnis aber nicht so toll. Wir wollten uns lieber noch einmal in Köln treffen und es
besser machen. So zog ich den Text zurück, obwohl er bereits unwiderruflich auf der
Titelseite in grossen gelben (!) Lettern angekündigt wurde. Volker Weidermann hat mir
das nie verziehen. Aber mir war die beginnende Freundschaft mit dem netten Wallraff,
natürlich prägendes Idol meiner Jugend, sehr wichtig.
248
39 Die Reportage als Gegendarstellung: Eine Nacht mit Joachim
Lottmann
Er war der nette Hamburger. Schon am Telefon. Die Reportage - das
"Feature" - sollte eine Ausgehnacht mit mir beschreiben, Titel: "Eine
Nacht mit Joachim Lottmann". Wir trafen uns im Club Kurvenstar am
Hackeschen Markt, wo ich ja auch wohnte.
"Sie wohnen doch im Kurvenstar-.Haus, da müssen Sie nur die Treppe
runterlaufen." Er hatte gut recherchiert, dieser Reporter. Nicht
gut genug. Ich wohne inzwischen in Friedrichshain, für 99 Euro im Monat,
und fahre gegebenenfalls mit dem Wartburg Tourist 353 Super nach Mitte.
Ich erklärte es ihm und gab ihm den Tip, auf das Zweitaktgeräusch zu
achten.
Wenn er das höre, sei ich da. So war es auch. Er hörte das Geknatter und
reckte den Kopf nach draußen. Ich ging kurz mit rein,schlug dann aber
mvor, eine Runde zu cruisen. Es war erst 18 Uhr und noch nichts los im
Club.
"Mit dem Wartburg?!"
"Ein fetter Schlitten, Mann. Die Bräute stehen drauf, du wirst sehen."
In Wirklichkeit mußte ich einfach noch was erledigen, hatte zudem keine
Lust auf ein Interview. Ich hasse Reporterfragen. Ich hasse mich, wenn
ich darauf antworte. Ich erklärte es ihm:
"Du kannst mich was fragen, aber keine Reporterfragen. Okeeh? Auf
Reporterfragen antworte ich nicht. Das hat nichts mit dir zu tun.
So habe ich das schon gemacht, bevor ich Dich kennenlernte."
Ich kannte ihn erst seit zwei Minuten. Es wurde Zeit, daß ich ihm ein paar
Fragen stellte. Er musste noch zahlen.
"Wo bist du geboren?"
"In Rellingen bei Pinneberg."
"Hast du Geschwister?"
"Einen jüngeren Bruder."
"Was machen deine Eltern, während du dich hier herumtreibst?"
"Beides Kaufleute."
"Auf welche Schule bist du gegangen?"
"Gymnasium Halstenbek."
"Welche Musik hörst du?"
249
"Jazz. Ich spiele Klavier. Ich spiele Jazz auf dem Klavier, hab auch schon
mal..."
Ich winkte ab. Die Rechnung kam, wir mußten los. Ich fotografierte ihn
noch schnell im Lokal. Dazu preßte ich die Kamera gegen eine Wand im
Kurvenstar und betätigte den Selbstauslöser. Die Belichtungszeit war zwei
Sekunden, der Junge mußte starr in die Kamera gucken.
Es ging erstmal nach Friedrichshain, wo ich die Limousine in meiner
Garage abstellte.
"Hast du schon eine Freundin?" fragte ich. Er wurde rot.
"Na, heute kriegst du eine."
Die jungen Volontäre, die die Zeitungen heutzutage schickten, kannten
den Geschlechtsverkehr ja nur noch vom Hörensagen.
Bei Thomas Lindemann war es womöglich anders. Er erzählte von einem
Freund namens Lars, der noch Jungfrau sei und das leidenschaftlich. Er
schüttelte den Kopf.
"Ich verdanke dem Roman ´Die Jugend von heute´, daß ich Lars endlich
verstehe. Er redet immer nur vom Kuscheln und Schmusen, wie in Ihrem
Buch!"
"Danke. Ja, so sind sie heute alle."
"Wirklich ALLE?"
Ich nickte. Die zweite Generation der alleinerzogenen Kinder. Vaterlos und
vaterlandslos, ohne Identität und absolut bindungsunfähig. Ich hätte viel
sagen können.Aber dann wäre es ein Reportergespräch geworden. Er
pusselte bereits an seinem kleinen Digitalaufnahmegerät herum. Vielleicht
siezte ich ihn lieber.
"Lindemann, Sie müssen Ihren Bericht wie ein Popautor schreiben, nicht
wie ein Journalist."
"Gute Idee."
"Hauptsache: keine blöden Tonbandaufnahmen!"
"Und das Interview?"
"Wenn Sie sich Sätze nicht merken können, sind sie auch nichts wert
gewesen."
Zu Fuß gingen wir zur Straßenbahnhaltestelle und fuhren mit der Linie 20
bis zur Schönhauser Allee. Ich merkte, daß der Junge keine Augen für
die Stadt hatte. Ich zeigte ihm die ganze Schönheit dieser anonymen,
zeitlosen, großzügigen Metropole, aber er starrte nur auf mich.
"Da! Sehen Sie! Sechs sich kreuzende Tram-Linien! So sieht es auch in
Buenos Aires aus!"
Er fragte nach Auflagen, Honoraren, Freunden und Feinden im
Kulturbetrieb. Immer wollten die Reporter wissen, wie man zu Walser, zu
Rainald Goetz oder zu Stuckrad-Barre stand.
"Kann ich nicht sagen, sind Reporterfragen."
"Und zu Christian Kracht und seiner neuen Zeitschrift ´Der Freund´?"
"Mach doch deinen Daten-Abgleich mit wem anderes. Schau lieber nach
draußen, mach mal die Augen auf!"
Er wußte nicht, was ich meinte. Er war Journalist, er mußte Fragen stellen,
in seinem Hirn hämmerte das ´Fakten, Fakten, Fakten!´-Geschrei
250
des Helmut Markwort. Bloß keine Eindrücke, bloß kein Leben! Er bettelte
geradezu nach einer Stellungnahme zu Rainald Goetz. Ich solle mich zu
dessen Angriffen gegen mich äußern. Ich beschleunigte meinen Schritt.
Noch immer hundert Meter bis zum Club ´nbi´. Zum Glück klingelte das
Handy. Ich riß das pfundschwere 1995er Motorola ans Ohr. Der Verleger.
"Helge! Was läuft?"
"Ich sitze bei Wolf Biermann fest. Endskrass öde. Was machst du?"
"Ein Zeitungsmann von der Welt am Sonntag stellt
mir Meinungsfragen."
Der Typ zuckte zusammen. Ich merkte, wie er sich vornahm, seine
Fragetechnik zu ändern. Mit Helge verabredete ich mich für später.
"Wir hätten mit dem Wartburg auch bis zum ´nbi´ fahren können. Aber
dort sind mein Neffe Elias und seine Homies, die haben einen fetten 7er
BMW, mit dem cruisen wir nachher durch Mitte!"
So war es auch. Um es vorweg zu nehmen: Wir alle, selbst der Verleger,
heizten mit dem Münchner Nobelschlitten durch die Nacht, die lachenden
Bräute auf dem Schoß. Generation Jungbrunnen. Für die Jugend von
heute gab es kein Alter mehr. Keine Grenze. Keine Nation. Dabei
war, wer dabei war...
Wir betraten den Club, ich begrüßte Wolfgang Herrndorf, den Altmeister
der Popliteratur. Er war in diesem Sommer mit dem Klagenfurter Ingeborg
Bachmann Preis für sein Lebenswerk geehrt worden. Wahnsinn, daß er
nun mir seinen´respect´ zollte!
Ich brachte die Lesung hinter mich. Dank der guten Bühnenshow mit
Ulrike Sterblich und Kerstin Grether wars äußerst kurzweilig und sofort
vorbei, nach (subjektiv gefühlten) drei Minuten. Objektiv dauerte es bis 23
Uhr. Elias und seine Leute platzten mittendrin rein. Ich las gerade eine
Stelle über sie. "Waren wir schon dran?" rief Jonas Richtung
Bühne. Ich lachte. Sie waren doch immer dran. Das ganze Buch ging über
sie.
Danach traf ich wieder auf meinen Reporter. Der hatte inzwischen
gemerkt, daß 90 Prozent der Fragen, die er sich überlegt hatte, noch
immer unbeantwortet waren, nach über fünf Stunden Recherche am
lebenden Objekt! Aber bevor er loslegen konnte, hatte ich mein eigenen
Blöckchen gezückt und fragte ihn weiter aus.
"Was haben Sie als erstes gelesen, welche Literatur, welche Titel waren
prägend?"
"Jugenddetektivgeschichten... Simmel... äh... naja, ich habe auch viel
Computer gespielt."
Schluck. Er war trotzdem der nette Hamburger. Sehr gut erzogen, dabei
keineswegs devot, sondern von natürlicher Güte beseelt. Absolut uneitel.
Mit dem schütteren Barthaar und den ungeschnittenen Locken konnte er
auch Einsiedler in einem der späten Hamsun-Romane sein. Ich stellte ihn
einem der besonders scharfen Mädchen vor, aber die sagte mir, daß sie
ihn langweilig fände. Sehr, sehr nett, aber langweilig. Eine Beurteilung,
die mir unlogisch erschien. So hatte ich ihn weiter an der Backe. Erst die
Kids erlösten mich, wie immer. In der radikal durchhomosexualisierten
Jugend fand er sogleich seinen Platz. Die Homies mochten ihn total. Elias
251
strahlte mich an:
"Jolo, dieser Thomas, dieser Journalist, ist ja VOLL NETT! Der schreibt
garantiert gut über dich! Der kommt noch mit zur Universal-Party..."
Und so kam es. Wir dampften durch die Hauptstadt, von Party zu Party.
Der Typ trank immer noch Coca Cola. Er hatte Angst, die Fakten, Fakten,
Fakten für sein sogenanntes Feature wieder zu vergessen. Manchmal
schaffte er es, neben mir zu stehen und den Sekretärinnen und Nutten auf
dem dancefloor (nicht) zuzusehen. Er bemerkte nicht, daß ich gerade für
mein nächstes Buch "Elend im Kapitalismus" recherchierte. Gleich kamen
wieder die Fragen.
"Warum hat Kiepenheuer & Witsch zehn Jahre lang Ihre Romane
unterdrückt?"
"Reporterfrage, gestrichen!!"
"Ach ja, Entschuldigung... schöne Frauen hier..."
"Keineswegs."
"Nanu - plötzlich kein Interesse mehr an fetten Bräuten?"
"Es gibt nichts, was mich weniger interessiert als fette Bräute. Ich bin seit
16 Jahren mit derselben Frau zusammen, und sie gefällt mir jeden Tag
besser."
"Jonas und Angelus stellen noch was auf hier, haben sie gesagt."
"Ja, das ist das Gute an solchen Partys: da sich
ALLE Frauen langweilen, kann man sofort welche aufstellen, vor allem
Jonas und Angelus, die ja schwarz sind."
"Stimmt... Sagen Sie mal, warum sind Sie eigentlich das Schwarze Schaf
im Literaturbetrieb?"
Jede Assoziation trieb ihn wieder zurück zu seinen Was-ist-denn-nun-dieWahrheit-Fragen. Ich kannte das natürlich schon. Deswegen hatte ich
den jungen Mann ja mitgenommen. Älteren Leuten gab ich schon gar
keine Interviews mehr, die kamen ihr Lebtag nicht mehr aus ihrer
Entweder-Oder-Haltung heraus. Letzte Woche war ein Opa von der Neuen
Zürchicher Zeitung da, dem hatte ich ins Ohr geschrieen, es gebe hundert
Wahrheiten gleichzeitig. Tags darauf lagen meinem Verlag schriftliche
Anfragen über mich vor. All die buchhälterischen Infos über mich mußte
dann der arme Helge Malchow zu Papier bringen: Auflage, familiärer
Hintergrund, Sternzeichen, literarische Präferenzen, literaturpolitische
Positionierung und so weiter. Später hatte der Mann dann diese Angaben
gegen meine gestellt und die Differenz als große verdienstvolle
Enthüllungsgeschichte verkauft, und zwar an mehrere Zeitungen auf
einmal. Was für ein wunderbarer, großer Journalist er doch war! Er
hatte seinen Beruf ganz und gar ausgefüllt! Sein vertrocknetes
Spatzenhirn blähte sich vor Stolz...
Da war Thomas Lindemann schon anders. Ich machte noch ein paar Fotos
von ihm und der Umgebung. Als es hell wurde, gingen wir die Spree
entlang, zum Beispiel, und das war sehr schön. Die Homies sangen alte
Chart-Hits vom letzten Sommer. Blind lief der Schreiberling neben ihnen
her und sah nichts, aber ich mailte ihm die Fotos umgehend auf seinen
Computer, sodaß er sie als Erinnerungsstütze beim Schreiben verwenden
252
konnte. So wurde sein ´Feature´ auch gar nicht schlecht. Natürlich konnte
es die Zeitung in dieser Form nicht drucken, aber ich bekam es als Datei
und schickte es meinem Neffen und seinen Leuten. Die behandeln ihn als
Freund, was für einen echten netten Hamburger stets mehr zählt als die
öffentliche Meinung.
40 viva la revolucion Cuba: Mit Ariadne von Schirach im Land Fidel
Castros
Die beiden großen Gedanken unserer jetzigen Zivilisation sind –
läßt man einmal die der-Baum-stirbt und das-Klima-kommt
Debatten als zeitlose Folklore durchgehen – der wirtschaftliche
Aufstieg Chinas und der wirtschaftliche Aufstieg der Frauen. Das
sind die beiden Angstmacher. Hier hört der Text auf und das
wahre Interesse beginnt. Ob der Baum stirbt oder nicht: jeder
weiß, dass das wurscht ist. Ob die Sonne bald auch in Hamburg
scheint oder es dort weiter regnet: egal. Das tangiert nichts und
niemanden, nicht den Job, nicht die Liebe. Aber die fleißigen
Asiaten. Wir hören es seit 50 Jahren. Ludwig Erhard gab den Takt
vor: „Ich sage nur China, China, China!“ Und: „Die Frauen kommen“
(stern, 1964). Auch das ein Dauerbrenner. Ihnen gehört die
Zukunft, sie werden bald alles übernehmen: die starken Frauen, die
starken Chinesen. DER SPIEGEL titelt immer hübsch abwechselnd
im 4-Wochen-Takt: „Die neuen Frauen kommen“ und „Die Chinesen
kommen“.
Wie aber lebt es sich in einem Land, das diese beiden Gedanken
gar nicht kennt, nämlich Kuba? Wie ticken Leute, die mehr als nur
diese beiden Gedanken im Kopf haben? Deren Weltbild seit 40
Jahren OHNE diesen Schmarrn auskommt, ohne das immer gleiche
Bild von der Skyline Shanghais in den Zeitungen, ohne Frauen in
Talkshows, die sieben Kinder haben, drei Doktorentitel und einen
Ministerposten? Anders gefragt: gibt es ein Leben jenseits der
253
Leistungsangst? Eine Philosophie, die noch andere Wünsche kennt
als „Ich will nicht versagen“? Kuba ist das vielleicht einzige Land,
das darauf eine Antwort gibt.
Würde man den Kubanern das unfaßbar armselige Sklavendasein
der Chinesen zeigen – es besteht nur aus Maloche und Glotze, als
hätten Ton, Steine, Scherben nie die passenden Songs darüber
geschrieben, über ihre „Alten“, die sinnlos vegetierenden Säcke –
so würden sie nicht verstehen, was da bedrohlich sein soll. Und
diese entsetzlich unmenschlichen Städte – gemeint ist wieder die
„beeindruckende“ Skyline Shanghais – würden sie nicht reizen.
Ebenso nicht der Workoholismus jedweden Geschlechts. „Frauen
jetzt noch kränker als Männer!“ würde ihnen kein Hurra entlocken.
Was gäbe es, was man ihnen wegnehmen könnte? Ihr
Bruttoszialprodukt ist nach westlichen Maßstäben so niedrig, dass
man es gar nicht mehr messen kann. Trotzdem hat jeder Arbeit.
Und Essen. Die Leute sind wohlgenährt, die Kinder rundlich, alle
sind gesund und haben gute Zähne, keiner bettelt, nirgendwo liegt
irgendeine ehemals menschliche Kreatur auf der Straße, wie in
Berlin überall. Es kommt auch nicht in JEDER U-Bahnfahrt ein
Geistesgestörter auf einen zu und will einem die Armenzeitung
verkaufen.
Wer jetzt denkt, ha ha, die haben ja gar keine U-Bahn, der irrt. Die
Kubaner haben alles. Allein 5.000 Bahnkilometer Fernbahn, was für
eine Fläche von der Größe der ehemaligen DDR gewaltig ist. Sie
haben Busse, Fluglinien, kostenlose medizinische Betreung und all
die Dinge, die aufzuzählen den Leser langweilen würden. Stichwort
Propaganda. Auch die „DDR“ brüstete sich immer mit diesen
sozialen Errungenschaften, und war doch ein Scheiß-System.
Weswegen unsereins ja auch immer noch denkt, in Kuba gehe es
bestimmt ähnlich zu.
Dabei vergißt man: In der „DDR“ gab es keine Revoltion, sondern
eine feindliche Besatzung. In Kuba dagegen siegte eine völlig
eigenständige Volksbewegung, die dafür fast 100 Jahre lang
gekämpft hatte. Castro war nur der Endpunkt dieser Bewegung,
der Schlußstein, der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte.
Schon 1871 hatten die Herrschenden 200.000 Revolutionäre
einfach abgeknallt. Und die Amerikaner machten aus Kuba
anschließend ein einziges riesiges Bordell. Wer die kubanischen
254
Männer nur ein bißchen kennt, ahnt, dass es ihnen nicht gefallen
haben konnte, wie ihre Frauen und Töchter von besoffenen
Gringos Tag und Nacht gefickt wurden.
Ha ha, sagt jetzt wieder der schlaue Westler, die Frauen dort
treiben es doch heute schon wieder mit den Weißen, den
Europäern, den Dollar-Touristen. Dieses Bild muß präzisiert werden.
Man hörte Mitte und Ende der 90er Jahre von diesem Phänomen.
Das war auch die Zeit, als Kuba vom Zusammenbruch des
Sozialismus miterfaßt wurde. Als Castro die Dinge wieder in den
Griff bekam, was alle überraschte, wurde auch die Prostitution
wieder ausgemerzt. Castros erste Amtshandlung nach dem Sieg
1959 war bekanntlich die sofortige Abschaffung der Prostitution
gewesen, sehr zur Freude von Alice Schwarzer, nehme ich an. Das
wiederholte er nun. Was aber nicht heißt, dass es auch diesmal
funktionierte.
Natürlich werden Leute, die wie Touristen aussehen, von allen
möglichen Leuten angesprochen, und es wird ihnen so gut wie jede
Dienstleistung, jeder Spaß, jede verrückte Idee angeboten. Die
Kubaner langweilen sich manchmal ein bißchen und sind froh über
jedes neue Gesicht, mit dem sie reden, das sie ein bißchen nerven
können. Aber niemals würde ein Mann so pentrant angemacht
werden wie in der Oranienstraße in Berlin, oder wie auf der
Reeperbahn in Hamburg. Wer mit einer Kubanerin etwas anfängt,
hat es mit 99%iger Wahrscheinlichkeit nicht mit einer Nutte zu
tun, sondern einem Menschen, der neugierig ist, viel Zeit hat und
nie ins Ausland kann. Und sich über ein kleines Geschenk freut.
Die zweite ideologische Keule ist natürlich die Sache mit dem
Polizeistaat. Überall laufen Uniformen herum, es ist wie unter
Wilhelm II in Deutschland. Ständig wird man Zeuge, wie Leute
festgenommen werden. In den berüchtigten Folterkellern in den
rattendurchseuchten Gefängniskatakomben schmachten angeblich
die Regimegegner: aufrechte Homosexuelle, die ihr demokratisches
Menschenrecht auf gleichgeschlechtlichen Sex ausüben wollten.
Nach meinen Erfahrungen wird die Suppe weniger heiß gegessen,
als sie gekocht wird. Einmal wurde ich Zeuge, wie ein junger Mann,
als Transvestit verkleidet, mit einem Polizisten in Streit geriet. Die
so genannte Schwuchtel – ich würde sie nicht so nennen – hatte
überhaupt keine Angst vor einer Verhaftung. Sie schrie sogar:
255
„Dann verhafte mich doch, du Arsch!“ Der Polizist verwarnte die
Figur zweimal streng, und ich mußte an eine Fußballübertragung
denken. Schließlich die rote Karte: Er holte die Handschellen hervor
und verhaftete die Transe, oder den Homosexuellen oder was das
war. Dann ging der Polizist weg, und der Homo stand mit den
Handschellen auf der Straße und quakte herum. Der Polizist war
einfach ein Bier trinken gegangen. Zwei Stunden später sah ich den
Verhafteten wieder gelöst im Nachtleben, ohne Handschellen.
Solche Erlebnisse hatte ich durchgehend, und ich halte die rattigen
Folterkeller für eine dieser Infos, die sich Bush und Condi Rice am
Handy ausdenken. Vielleicht klingt es auch alles schlimmer, wenn
man die Sprache nicht versteht. Aber meine Freundin kann
Spanisch perfekt, stellte sich genau daneben und wußte, dass es
um Banalitäten ging, Menschlich-Allzumenschliches. Er sei gar nicht
schwul, sondern Ballett-Tänzer, daher die Strumpfhose, und er
probe halt ein bißchen, auf der Straße, vor den Kindern, warum
denn nicht, und so weiter. Keine Spur von diesem hochgefährlichen
Paragraphensprech, wie bayerische Feldjäger ihn anwenden, bevor
sie in putativer Notwehr den vermeintlichen Kriminellen
kaltmachen („bestand der Anfangstatverdacht eines Führens von
Kfz ohne Papiere“). Auch sieht man niemals brutale Hubschrauber
mit Suchscheinwerfern armselige Schwarzen-Hütten terrorisieren,
oder dauernd Sirenen heulen wie in den USA. In dreieinhalb Wochen
habe ich keine einzige Polizeisirene gehört.
Will sagen: Kuba ist ein glückliches Land. Wahrscheinlich gibt es
keinen größeren Unterschied als den zwischen einem
sozialistischen und einem kapitalistischen Dritte-Welt-Land. Wobei
es auch wirklich sozialistisch sein muß und sich nicht nur so
nennen darf. Wirklicher Sozialismus ist konsequent umgesetzter
Marxismus. Vergleicht man Kuba mit seinen kapitalistischen
Brüdern, z.B. Haiti, oder noch krasser: mit kapitalistischen DritteWelt-Staaten in Afrika, wird der Unterschied schnell augenfällig.
Nämlich wenige Meter außerhalb der security zone des FünfSterne-Hotels. Spätestens da ist es vorbei mit dem Glück, und man
muß aufpassen, dass einem nicht der Kopf abgeschlagen wird.
Kuba dagegen ist absolut „save“. Man braucht keinen Schutz,
keine Laterne, kein Reizgas. In Sichtweite steht überall ein
Schutzmann, die ganze Nacht hindurch. Er ersetzt sozusagen die
256
Straßenbeleuchtung, die ja in Kuba so gut wie nicht besteht,
wegen Energieknappheit.
Unangenehm ist einzig die Aufdringlichkeit der Kubaner. Aber die
läßt vollkommen nach, sobald man die touristischen Viertel
überwunden hat und meidet, oder aber auch, wenn man sich nicht
mehr als Tourist FÜHLT. Wenn man die Körpersprache der
Eingeborenen angenommen hat. Dann wird man auch noch oft
angesprochen, aber nur, wenn man es auch will, und auch auf
andere Art. Die Leute wollen einem dann nichts mehr verkaufen,
sondern ihren neuen Club zeigen, eine Disco, in der die neuesten
Hits von Harry Belafonte gespielt werden. Popmusik kennt man in
diesem Land nicht und würde es auch nicht verstehen. Fidel Castro
hatte sich bereits gewundert, warum die Beatles lange Haare
trugen; war das nicht den Mädchen vorbehalten? Seitdem bleibt
man lieber bei Harry Belafonte. Und das ist gut so.
Kommen wir zu ´Fidel´. Niemand im Land spricht von Castro, alle
nennen nur seinen Vornamen. Es gibt Leute, die sich gegen den
Sozialismus, aber für den Fidelismus aussprechen. Wenn Fidel tot
ist, so das verbreitete Urteil, ist über nacht alles vorbei. Wie
damals in der „DDR“. Dann kommen die japanischen Autos, die
Wirtschaft bricht zusammen, die Millionen Straßenkreuzer aus den
30er bis 50er Jahren, die die Hauptbeförderungsmittel für
kinderreiche Familien sind, werden binnen Stunden verschrottet, in
der Karibik versenkt, johlend und tanzend gegen scheinbar
wertvollere Corollas I und Golf II eingetauscht. Durchs Land ziehen
Halunken, die Versicherungspolicen verkaufen. All diese
Schreckensbilder. Castro ist tot, und Kuba ist Albanien. Und ist
Castro nicht schon so gut wie tot? Seit einem Jahr schon? Hat
man es dem Volk nur noch nicht gesagt?
Mein Eindruck ist: Fidel Castro Ruz lebt. Er hat den Gift-Anschlag
des CIA vom letzten Sommer ebenso überlebt wie Juschtschenko
den des KGB in der Ukraine. Es gibt heute offenbar wirksamere
Methoden des Giftanschlags als zu Edgar Hoovers Zeiten, wie die
gelungenen Anschläge auf Putingegner zeigen. Aber es gibt für die
Mächtigen auch eine bessere medizinische Hilfe als früher. Wäre
Castro ein einfacher Journalist gewesen wie Liwinko, wäre er
gestorben. Aber er hatte die besten Spezialisten der Welt an
seiner Seite. Schließlich rechnete man seit langem mit diesem
257
Versuch. Es war nicht der erste, sondern, so Castro in einer
Erklärung am Dienstag, einer von knapp 100 Mordversuchen seit
1960. Die CIA hat diese Woche diese Aussage teilweise bestätigt
(siehe SPIEGEL online am 26. Juni).
Nur: Castros Tod wäre gar nicht das Ende. Diese fixe Idee der
amerikanischen Präsidenten ist wahrscheinlich falsch. Den
Kubanern geht es nämlich gut. Die Frauen wollen auch nicht –
Überraschung! – weggeheiratet werden. Allen, denen ich das
angeboten habe, haben sich geziert und ziemlich genau folgendes
gesagt: heiraten ja, Liebe ja, reich werden ja, aber aus Kuba
wegziehen: niemals!
Jedes Dorf hat seine kleine Schule, seinen HO-Laden, seinen Arzt,
sein kleines Resaurant mit Getränkeausschank, seinen Dorfplatz.
Die Kinder gehen ALLE neun Jahre zur Schule und tragen dabei
hübsche Schuluniformen, die so aussehen, als habe Coco Chanel
die Tracht der Thälmann Pioniere nochmal überarbeitet. Alle
Menschen können Lesen und tun das auch. Nicht das Fernsehen
mit dem Staatssender ist das Leitmedium dieses Volkes, sondern
das Buch und die Zeitung. Das Fernsehen zeigt täglich mindestens
eine Sendung über Ché Guevara, der überdeutlich als Jesusfigur
aufgebaut wurde. Es ist, als gäbe es von Christus kleine, unscharfe
Schwarz-Weiß-Filme. Und so, wie die Taten des Mannes aus
Bethlehem an zwei Händen abzuzählen sind, gibt es auch über Ché
nur immer dasselbe zu berichten. Eine Ikonographie der wenigen
überlieferten Heldentaten in Sachen Revolution. Wem diese
tägliche Messe nicht reicht, greift zum guten Buch. In meinem
ersten Hotel lag im Nachttischkästchen ein schwarzer Schmöker.
Nicht die Bibel, sondern Goethes „Dichtund und Wahrheit“ auf
Spanisch.
Das Auffälligste an Kuba ist das völlige Fehlen von Werbung. Wer
das erlebt hat, will nie wieder zurück in den Medienfaschismus
westlicher Prägung, der ja von der Werbung gesteuert wird. Und
mit der Werbung fehlt natürlich auch die Pornografie. Wenn man
nicht pausenlos mit pornographischen Reizen bombardiert wird,
beginnt man die Mitbürger wieder als Menschen zu sehen. Nicht
mehr das geile Tier hüpft einem entgegen, sondern die nette
Kassiererin vom HO-Laden. Sex ist nicht mehr von der Liebe
abgespalten, mit dem Ergebnis, dass beides wieder möglich wird.
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Freilich muß man gut Spanisch können. Denn wo die entfremdete
West-Pussy künstlich stöhnt, plaudert die Kubanerin lieber. Man
hat ja alle Zeit der Welt, davor, danach, immer.
Um im Bild zu bleiben: Die Kinder rollen sich abends wohlgenährt
ins Bett, die Eltern liegen händchenhaltend im Liegestuhl auf der
knirschenden Holzveranda. Es ist offiziell gerade die Regenzeit,
was nur bedeutet, dass man den täglichen Besuch im Schwimmbad
schon zu Hause absolvieren kann. Denn es schüttet kurz,
sintflutartig und angenehmst warm. Danach scheint wieder die
Sonne. Mittags steht sie exakt im 90 Grad Winkel zur Erde, denn
der nördliche Wendekreis geht durch Kuba, und auf dem bewegt
sich die Sonne gerade. Fidel geht es jeden Tag besser, und Bush
jeden Tag schlechter. Papa liest „Granma“, die tägliche
Parteizeitung, eine Art „Bild Zeitung“ des Kommunismus, und
vielleicht sieht er irgendwann einmal ein unscharfes Bild der Skyline
von Shanghai. Nicht der Skyline von Detroit, Sao Paulo, Madrid,
Sidney, Kairo oder der anderen 100 Millionenstädte des Westens,
nein, es müssen immer die paar Häuser des Agrarstaates China
sein. Dann fragt ihn der Gast aus Berlin, ob er denn keine Angst
habe, dass die Chinesen kämen. Also wirtschaftlich. Die seien doch
so auf dem Vormarsch. Da müsse man sich doch nur einmal die
Skyline von Shanghai anschauen. Und im neuen SPIEGEL stünde es
auch, den habe er, der informierte Gast aus Deutschland, extra
mitgebracht. Und außerdem, davon einmal ganz abgesehen: was
halte er, Gimenez, denn von dem Vormarsch der Frauen? Die seien
STARK im kommen, nicht wahr? Das seien Realitäten der Zukunft,
an denen die armen Männer nicht vorbeikämen, was?
Die Kubaner machen weiter ihre Witze, bleiben prächtig gelaunte
Gastgeber.
Der Rum ist umsonst, die Liebe danach auch.
259
41 Mit Thomas Brussig im Olympiastadion
Samstag Mittag, Prenzlauer Berg in Berlin, strahlender
Sonnenschein, ideales Fußballwetter. Thomas Brussig,
ostdeutschlands erfolgreichster Schriftsteller, stürmt aus der
Haustür. Olé, olé, olé, Hertha BSC! Die Verkleidung ist mehr als
echt: alte gelbliche Jogginghose, aufgetragenes Metzgerhemd, bei
dem die Nähte platzen, weisse Plastiktüte, wie sie sonst nur
Penner tragen, durchgelatschte Turnschuhe. So stellt sich Roger
Willemsen den typischen Wende-Verlierer aus Frankfurt/Oder vor.
Brussig schwitzt, ist nervös. Hertha kann an diesem Nachmittag
Tabellenführer werden!
Und er schimpft. Bestimmt würden die Herthaner ein
grottenschlechtes Spiel abliefern. Die hätten ein Gen in sich,
gerade dann zu versagen, wenn es darauf ankomme. Wenn eine
Chance da sei, ganz groß rauszukommen. Immer dann. Die würden
schon zur Pause 0:1 hintenliegen. Er stapft griesgrämig zum Auto,
ist blind für das herrliche Wetter, freut sich nicht auf das Spiel,
nörgelt und jammert weiter. Wie das eben Ossis so tun.
Aber nichts gegen Ossis - Thomas Brussig ist mit Sicherheit ein
Fünf-Sterne-Exemplar, sympathisch, geerdet, eine Seele von
Mensch; man muß ihn sofort mögen. Gerade hat er ein Buch über
den Fußball geschrieben. Genau gesagt über einen Schiedsrichter.
Der Leser spürt sofort: dieser Schiedsrichter, er heißt Uwe Fertig,
ist der Autor selbst. Quälend eindringlich beschreibt er, wie er die
ganze Kindheit hindurch von seinem Hausmeister, einem Herrn
Frigewski, geschurigelt wurde - um dann als Erwachsener ebenso
zu werden wie dieser. Deswegen wurde er Schiedsrichter: um seine
sadistischen Ordnungsimpulse legal ausleben zu können. Auf dem
Platz ist er der Gott, der Diktator, die spielentscheidende
Ordnungsmacht. Im übrigen Leben ein kleiner nörgelnder Ossi...
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Man fährt durch das in diesen Momenten lichtdurchflutete Berlin,
erreicht das herrliche Olympiastadion. Noch immer ist es, trotz
Renovierung (oder gerade deshalb?) das schönste Stadion des
Landes. Brussig schimpft nur:
„...Die spielen dann nicht nur selber schlechten Fußball, sondern
verführen auch noch die anderen dazu, grottenschlecht zu
spielen... Ick bin für Hertha, aber kann mir dit eijentlich gar nich
ansehen...“
Das Auto ist abgestellt, umsonst, der Parkplatz ist Teil des VIPService. Nun geht man das endlose, schier kilometerlange, plane,
quadratische Vorfeld entlang, noch immer ein idealer
Aufmarschplatz für jeden neuen Diktator (Lafontaine? Sarah
Wagenknecht? Oliver Pocher?). An den Seiten hunderte von
weißen Fahnenmasten in präziser Formation. Vor einem in der
Ferne erhebt sich das gigantische Stadion. Dadurch, das nur der
oberste Teil aus der Erde ragt, wirkt es viel breiter und damit auch
grösser, als es ist. Man denkt, dort hinten kommt eine RiesenFestung, gegen die das Colosseum in Rom nur eine kleine
Dönerbude sein kann. Die übrige Stadt Berlin ist hinter üppigem
Grün versteckt. Es gibt keine andere Zivilisation mehr, nur das
Stadion und den dramatischen Weg auf das Stadio zu, in
gleissender Sonne. Man sieht schon das Marathontor, die
olympischen Ringe, die Menschenmassen, klein wie Stecknadeln,
wie Staubkörner. Ein erhebendes Gefühl. Ausser dem fernen, fein
sirrenden Brüllen der Masse kein Geräusch. Nur Brussig mosert
ständig weiter, wobei sein Jargon stärker wird.
„Letztes Jahr hab ick fast alle Spiele jesehn, wa. Wie der Zidane
seen Kopp in den Bauch vom Maseratti jerammt hat, dit war schon
widerlich...“
Stimmt, es ist nicht nur der Ort der Olympiade, sonder auch der
grossen, friedlichen Fußball-WM. Hier hat größte Fußballer seiner
Zeit, Zinedine Zidane, vor erst einem Jahr gespielt. Hier wurde der
neue Patriotismus geboren und damit der alte endgültig ad acta
gelegt.
Auch Karten und Lounge und Verpflegung sind kostenlos, überall
wird Brussig durchgelächelt. Er sieht es nicht, schimpft weiter,
genau wie der Hausmeister in seinem neuen Buch. Vielleicht will er
den Reportern auch nur zeigen, wie uneitel er ist, wie ´Mensch
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geblieben´, Teil des Volkes beziehungsweise ´Volkes Stimme´.
Ihm ist der Ruhm nicht zu Kopf gestiegen, wa.
Nun muß man sagen, dass sein Buch trotzdem richtig gut ist.
Brussig kotzt sich so richtig aus. Er scheint endgültig alle
Hemmungen über Bord geworfen zu haben – und literarisch wird
das zu einem Gewinn. Der Leser ahnt ja nicht, dass der Autor
wirklich so ist. Und selbst wenn, das ist ja egal. Dieser Furor ist so
echt, so maßlos, so unerschöpflich, dass Thomas Bernhard
dagegen ganz alt aussieht. Der war erschöpft nach 100 oder 250
Seiten Hadern und Mäkeln. Das blieb kraftloses Rumgeeiere.
Brussig aber fängt da erst an. 40 lange Jahre DDRDauerfrustration sind nicht mit einem Büchlein erledigt. Da will
weitergeschimpft werden! Will sagen: potent ist das schon, ob es
einem gefällt oder nicht.
Das Spiel beginnt. Wir sitzen direkt neben der alten Führertribüne,
inmitten der Reporter, haben die beste Sicht. Schräg links von uns
berichtet ein Kollege vom Rundfunk über das spannende Spiel.
Aufrecht steht er da, im blütenweissen Hemd, die Haare gegelt
und gescheitelt, spricht auf das Mikrophon ein, legt mit klarer
Stimme Zeugnis ab vom wechselvollen Tun der beiden deutschen
Mannschaften auf dem Sportplatz.
„Arne Friedrich erkämpft sich erneut das Leder, springt hoch,
springt höher! Weidenfeller kommt aus dem Kasten, eine herrliche
Parade, beide berühren den Ball! Weidenfeller hat ihn!“
52.237 Zuschauer erleben in der 32. Minute die Dortmunder
Führung. Aber Hertha bäumt sich auf, wird immer besser, erzwingt
mit dem Pausenpfiff den Ausgleich. Das Stadion tobt.
Brussig ist in Gedanken woanders. Nach dem Pausenpfiff blubbert
er Unverständliches vor sich hin, den Blick gesenkt:
„Die sind ja sowat von arrogant, diese kleenen Nummern, die sich
einbilden, im Fußball wat zu sagen zu haben. Ick hab mal mit einem
von der ZDF-Torwand telefoniert...“
Man hat ihn schlecht behandelt, so von oben herab, und nur
schleppend über die ZDF-Torwand Auskunft gegeben, haben sich
allet aus der Nase ziehen lassen, die blöden Funktionäre. Und
überhaupt, der Overath hat kein einziges Mal getroffen... Brussig
redet immer weiter, sieht nicht, wie schön es gerade ist in der
realen Fußballwelt.
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Trotzdem, in der Pause sehen wir uns das Stadion genauer an. Die
aufwendige Renovierung hat den Charakter kaum beeinflusst. Die
mächtigen, plumpen, viereckigen Säulen dominieren jede
Wahrnehmung. Auch die häßlichen Arno-Breker-Figuren sind noch
da. Beim näheren Hinsehen liest man, dass sie gar nicht von Breker
sind. Na, das interessiert ja auch gar nicht. Nicht Brussig. Dem ist
es völlig wurscht, was hier 1936 oder 1836 oder wann auch
immer stattgefunden haben mag. Die Antwort is auffm´ Platz, wa.
Aber eigentlich interessiert ihn nicht einmal das. Er ist apathisch
sitzengeblieben, als der Ausgleich fiel.
Doch man soll ihn nicht unterschätzen. In der zweiten Halbzeit
spielt sich Hertha in einen Rausch. Die Zuschauer gehen begeistert
mit. Würde jetzt ein Propagandaminister „Wollt Ihr den totalen
Sieg?“ rufen, würden 50.000 „Yeah, yeah, yeah!“ oder sowas
brüllen, je nach System. Und der Schiedsrichter tut der Masse und
Brussig auch noch den Gefallen, scheinbar gegen die
Heimmannschaft zu pfeifen. Nun steht sie auf, Volkes Stimme, und
bricht los, wie ein Sturm.
„Du Verbrecher!“
„Der Schiedsrichter ist schlimmer als die Cholera!“
„Na gib doch ne Karte du Penner!“
„Du alte Drecksau!“
„Wenn ick hier so gepfiffen hätte, wär ick nich lebendig vom Platz
gekommen!“
„Du alte DFB-Mafia!“
„Schiedsrichter du Schwein! Schlagt das Schwein tot!“
Nun weht er wieder durchs Stadion, der alte Geist des Terrors. Hier
fühlt er sich einfach zuhause. Lynchjustiz, losgelassener Pöbel,
aufschäumende Emotion. Die Druckwellen des Hasses wogen
akustisch hin und her wie gefühlte Tsunamiwogen, von
Stadionwand zu Stadionwand. Vom friedlichen neuen Patriotismus
ist nichts mehr übriggeblieben, es ist wieder der alte, der
Poltergeist von 1933 bis 45. Für Brussig ist das schön, denn
genau das hat er in seinem Buch genauestens beschrieben. Nur
glaubt man es nicht, bevor man es nicht hautnah erlebt hat.
Doch es geht vorbei. Wie ein déja-vu. Irritierend, aber kurz. Die
Trennlinie zwischen Jubel und Terror und umgekehrt ist dünn.
Hertha schiesst zwei weitere Tore, und alle liegen sich glücklich in
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den Armen. Auch Thomas Brussig erlebt nun seine Transformation.
Fast schluchzend liegt er in den Armen eines anderen Fans, ballt
die Fäuste, hebt den Blick, schöpft Hoffnung. Er jubelt, er verneint
nicht mehr, er schreit:
„Jaaaa!“
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