Chlorit und Chlorat - Dr. Nüsken Chemie GmbH

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Chlorit und Chlorat - Dr. Nüsken Chemie GmbH
Wasseraufbereitung · Bädertechnik | AB Archiv des Badewesens 03/2012 166
Chlorit und Chlorat
E i n n e u e r S u m m e n p a r a m e t e r d e r D I N 19 6 4 3 z u r Ü b e r w a c h u n g v o n S c h w i m m b e c k e n w a s s e r
Dr. Dirk P. Dygutsch, Dr. Nüsken Chemie GmbH, Kamen, und Dr. Meike Kramer, RheinEnergie AG, Köln, Mitglieder des Technischen Ausschusses
bzw. des Arbeitskreises Wasseraufbereitung der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen e. V., Essen, und Mitglieder des DIN-Ausschusses 19 643
Schon lange ist bekannt, dass Chlorate entstehen, wenn die zur Wasserdesinfektion verwendeten Hypochlorite
zerfallen. Das geschieht besonders
dann, wenn Natriumhypochlorit-Lösung („Chlorbleichlauge“) unter ungünstigen Bedingungen gelagert wird.
Weil Chlorat bei der Kreislaufaufbereitung nicht entfernt, sondern nur
durch Frischwasserzugabe verdünnt
werden kann, kommt es zudem mit
der Zeit zu einer Anreicherung im Beckenwasser.
Seit in ersten stichprobenartigen Messungen beim Landesgesundheitsamt
Baden-Württemberg Ende der 1990er
Jahre bis zu 140 mg/l Chlorat im Beckenwasser nachgewiesen wurde,1) 2)
steht die Frage im Raum, ab welchen
Konzentrationen des auch als Herbizid
eingesetzten Salzes nun eigentlich eine Gesundheitsgefährdung für den Badegast besteht. Dieser Fragestellung
hat sich das Fachgremium zur Überarbeitung der DIN 19 643 gemeinsam
mit Experten des Umweltbundesamtes (UBA) und der Schwimm- und Badebeckenwasserkommission gewidmet.
In diesem Zusammenhang wurde auch
eine Begrenzung für das toxische Desinfektionsnebenprodukt Chlorit angestrebt, das prinzipiell über mit Chlordioxid desinfiziertes Füllwasser ein-
getragen werden kann. Da sich Chlorit im Beckenwasser schnell zu Chlorat abbaut und einen toxikologisch vergleichbaren Wirkmechanismus aufweist, war es aus regulatorischer Sicht
angestrebt, die Summe beider Verbindungen gemeinsam zu bewerten.
Chlorat: ein bisher wenig beachtetes
Desinfektionsnebenprodukt
Als Chlorite werden die Salze der Chlorigen Säuren HClO2, als Chlorate die
Salze der Chlorsäure HClO3 bezeichnet.
Beide Verbindungen sind starke und
spontan reagierende Oxidationsmittel.
Im Wasser dissoziieren sie leicht und
Der folgende Artikel zeigt, nach wel- vollständig als starke Säure unter Bilchen Vorgaben ein toxikologisch be- dung ihrer Anionen.
gründeter Höchstwert ermittelt wird,
(1)
und welche Variablen bei entsprechen- HClO2 → H+ + ClO2(2)
der Begründung zu einer wissenschaft- HClO3 → H+ + ClO3lich abgesicherten Verschiebung eines
solchen Wertes führen können. Auf Die Desinfektion mit Chlor beruht auf
diese Weise war es möglich, den zu- der Bildung von desinfizierend wirkennächst vom UBA vorgeschlagenen Wert den Hypochloriten bzw. unterchloriger
von 10 mg/l für die Summe an Chlorit Säure, unabhängig davon, ob Chlorgas
und Chlorat im Beckenwasser im Rah- oder Natrium- bzw. Calciumhypochlomen eines Einspruchs der Deutschen rit zugegeben wurde. In wässriger LöGesellschaft für das Badewesen e. V. sung zerfallen Hypochlorite in Abhän(DGfdB), Essen, nachträglich auf 30 mg/l gigkeit von den Reaktionsbedingungen
in einer zweistufigen Reaktionsfolge geheraufzusetzen.
mäß Gleichung (1) und (2) zu Chloraten.
Mit der Aufnahme eines oberen Wer- Dieser Reaktionstyp wird als Disproportes für Chlorit und Chlorat in die Neu- tionierung bezeichnet, da das Chloratom
fassung der DIN 19 643 stehen die Be- nach der Reaktion formal zwei untertreiber von Schwimmbädern vor neu- schiedliche Oxidationszahlen aufweist.
en Herausforderungen. Etablierte und
bewährte Desinfektionsverfahren müs- In der ersten Stufe (3) wird zunächst
sen unter Umständen angepasst, An- Chlorit gebildet, das in Gegenwart von
sätze zur Füllwassereinsparung müs- weiterem Hypochlorit spontan zu Chlorat weiterreagiert (4). Da der zweite Resen ggf. neu überdacht werden.
aktionsschritt schneller abläuft als der
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(3)
(4)
3 ClO- → 2 Cl- + ClO3-
(5)
Die Disproportionierung von Hypochloriten zu Chlorit und Chlorat wird
begünstigt durch
■ hohe Hypochlorit-Konzentrationen3),
■ Wärme2) 4),
■ UV-Strahlung (Sonnenlicht)2) 4),
■ pH-Werte < 10,55),
■ Katalysatoren wie z. B. Schwermetallionen6).
Eine Ursache für den Anstieg der Chlorat-Konzentration im Beckenwasser ist
die Bildung und Anreicherung von Chloraten durch den Zerfall von unterchloriger Säure und Hypochlorit im Becken
selbst. Dieses gilt insbesondere, wenn
starke UV-Strahlung und ggf. hohe Temperaturen vorherrschen, wie z. B. an
heißen Sonnentagen in Freibecken. Ein
wesentlich größerer Eintrag ist jedoch
über die Dosierung von Chlordesinfektions-Lösungen möglich, in denen sich
bereits während der Lagerung Chlorat
gebildet hat.
Chlorat-Bildung während der Lagerung
chlorhaltiger Desinfektionsmittel
Natriumhypochlorit-Lösung (Gebinde)
In Abbildung 1 wird der Zerfall einer
handelsüblichen NatriumhypochloritAnzeige
g/l
ClO- + ClO- → Cl- + ClO2ClO- + ClO2- → Cl- + ClO3-
Bädertechnik
erste, kann bei sachgerechter Aufbereitung von Schwimm- und Badebeckenwasser üblicherweise kein Chlorit nachgewiesen werden. Die Gesamtreaktion
kann gemäß Gleichung (5) beschrieben
werden.
Monate
■ Abbildung 1: Abbau an wirksamem Chlor und Entstehung von Chlorat in einer Natriumhypochlorit-Lösung bei unterschiedlichen Lagerbedingungen4)
Lösung („Chlorbleichlauge“) bei unterschiedlichen Lager- und Aufbewahrungsbedingungen gezeigt.4) Höhere Temperaturen, Lichteinstrahlung und lange
Lagerzeiten beschleunigen den Abbau
des Aktivchlors und die Bildung von
Chlorat. Für den Schwimmbadbetreiber
bedeutet diese Erkenntnis, dass die Beschaffung von Natriumhypochlorit-Lösung sich an einem Bedarf von maximal zwei Monaten orientieren sollte.
Dabei sollte die beschaffte Ware über
den gesamten Zeitraum möglichst kühl
und dunkel aufbewahrt werden.
chlorit-Lösung bereits vergleichsweise
geringe Chlorat-Konzentrationen aufweist (z. B. 0,5 - 2 g/l bei 25 g/l Aktivchlor), ist sie nicht frei von Chlorat.
U. a. entsteht beim Herstellungsprozess
Wärme in der Elektrolysezelle, welche
die Chlorat-Bildung begünstigt (dieser
Effekt wird beispielsweise großtechnisch
genutzt, um bei höheren Temperaturen
gezielt Chlorate herzustellen). Darüber
hinaus ist eine Zunahme der ChloratKonzentration auch möglich, wenn die
nicht vollständig verbrauchte, mit Chlorat angereichte „Magersole“ zur erneuten Anreicherung in den Solebehälter
zurückgeführt wird.
Natriumhypochlorit-Lösung aus der
Salzelektrolyse
Obwohl die durch Kochsalz-Elektroly- Als wesentlicher Einflussfaktor ist jese vor Ort hergestellte Natriumhypo- doch zusätzlich die Tatsache zu berück-
Wasseraufbereitung · Bädertechnik | AB Archiv des Badewesens 03/2012 168
sichtigen, dass die vor Ort gebildete
Natriumhypochlorit-Lösung im Vorratsbehälter (Produkttank) ebenso altert wie
handelsübliche Chlorbleichlauge im Gebinde. Eine Möglichkeit zur Verminderung der Alterung der bevorrateten
Hypochlorit-Lösung könnte u. a. die Verwendung zweier Lagerbehälter sein,
die wechselseitig im Zuge der Dosierung geleert werden. Insgesamt wäre es
wünschenswert, durch geeignete technische Maßnahmen die Chlorat-Bildung
während des Herstellungs- und Lagerprozesses zu reduzieren.
Calciumhypochlorit-Lösung
Beim Einsatz von Festchlor, in der Regel
auf der Basis von Calciumhypochlorit,
ist nur dann mit einer Chlorat-Bildung
zu rechnen, wenn vor Ort hergestellte
Lösungen unter ungünstigen Bedingungen gelagert werden. Dieses kann durch
direkte und unmittelbare Dosierung des
Feststoffes nach kurzfristiger Auflösung
Anzeige
vermieden werden. Gängige Geräte hält Chlordioxids. Reduktionsmittel können
der Markt hierzu bereit.
dabei Wasserinhaltsstoffe wie Schmutz,
Huminsäuren etc. sein.7)
Chlorgas
Beim Einsatz von Chlorgas zur Desin- 2 ClO2- + Cl2 → 2 Cl- + 2 ClO2
(6)
fektion von Wasser ist die Gefahr der ClO2 + ClO → Cl + ClO3
(7)
Bildung von Chloraten nicht gegeben.
Hypochlorite bzw. unterchlorige Säure Toxikologischer Hintergrund
bilden sich unmittelbar bei der Zugabe Ebenso wie bei dem besser untersuchvon Chlorgas in den Aufbereitungs- ten Chlorit beruht der toxikologisch vorkreislauf, sodass keine Alterungspro- rangige Wirkmechanismus von Chlorat
blematik besteht.
auf einer Schädigung der roten Blutkörperchen.8) 9) Starke Oxidationsmittel wie
Chlordioxid
Chlorat und Chlorit überführen die EisenChlordioxid ist gemäß DIN 19 643 nicht Ionen im Hämoglobin (Blutfarbstoff),
zur Desinfektion von Beckenwasser vor- das für den Sauerstofftransport verantgesehen. Es kann aber über desinfizier- wortlich ist, in eine höhere Oxidationstes Füllwasser in den Aufbereitungs- stufe. Es entsteht Methämoglobin, das
kreislauf gelangen. Bei dem hierzu ein- keinen Sauerstoff mehr binden kann.
gesetzten Chlor-/Chlordioxid-Verfahren Ab Methämoglobin-Gehalten von 15 bis
kann es zur Bildung von Chlorit und 20 % können erste Anzeichen einer
Chlorat kommen, wobei die Reaktionen mangelnden Sauerstoffversorgung wie
nach Gleichung (6) und (7) möglich sind. z. B. Kopfschmerzen und BenommenChlorit entsteht durch Reduktion des heit auftreten, durch die Reaktion mit
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Tolerierbare Tagesdosis (Tolerable daily intake, TDI) für Chlorit und Chlorat
für die akute Wirkung
36 μg/kg Körpergewicht
für die chronische Wirkung
30 μg/kg Körpergewicht
Körpergewicht (Standard-Bezugsgröße
für die Berechnung)
70 kg
■ Tabelle 1: Tolerierbare Tagesdosis (TDI-Werte) für Chlorit und Chlorat nach Angaben der WHO 8)
Expositionsszenario 1
■ Aufnahme über Trinkwasser
(Annahme: maximal 0,7 mg/l Chlorit und Chlorat im Trinkwasser*)
Exposition:
365 Tage/Jahr lebenslang
Aufnahmemenge:
2 l täglich
■ Aufnahme über Badewasser
Exposition:
365 Tage/Jahr lebenslang
Aufnahmemenge:
100 ml pro Badbesuch
■ Tabelle 2: Expositionsszenario, das 2008 vom Umweltbundesamt zur Ableitung eines toxikologischen Grenzwertes für die Summe aus Chlorit und Chlorat im Schwimm- und Badebeckenwasser
herangezogen wurde 14)
* Trinkwassergrenzwerte der WHO8)
der Magenschleimhaut nach oraler Aufnahme auch Symptome wie Übelkeit, Magenschmerzen, Erbrechen und Durchfall.
Hohe Methämoglobin-Gehalte ab ca.40 %,
die beim Verschlucken von gechlortem
Badebeckenwasser allerdings nicht zu befürchten sind, können infolge einer fortschreitenden Hämolyse zu Atemnot,
Schock und Bewusstlosigkeit führen.
ren-schädigende Wirkung bekannt. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf ein
Allergie-auslösendes Potenzial10). Es liegen aber bisher keine toxikologischen
Daten vor, die eine Einstufung durch
die IARC (International Agency for Research on Cancer) hinsichtlich einer krebserzeugenden Wirkung beim Menschen
zulassen würden.8) Dies liegt zum einen
an der (vor allem für Chlorat) sehr lüBesonders empfindlich auf Methämo- ckenhaften Datenlage, zum anderen an
globin-bildende Substanzen reagieren nicht eindeutigen UntersuchungsergebMenschen mit einem genetisch beding- nissen, die keine klaren Hinweise geben.
ten Enzymdefekt, dem Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel (G6PDH- Die Frage nach dem Grenzwert
Mangel), der sich vor allem in Malaria- Die wissenschaftliche Ableitung gesundgefährdeten Regionen verbreiten konn- heitlich begründeter Grenzwerte richtet
te (z. B. Mittelmeerraum, tropisches Afri- sich nach international abgestimmten
ka, Südasien), weil er Malaria-Infizierten Vorgaben.
einen gewissen Überlebensschutz bietet. Obwohl der G6PDH-Mangel in Nord- Tolerierbare Tagesdosis (TDI)
westeuropa vergleichsweise selten vor- Die Basis für alle weiteren Berechnungen
kommt, muss er bei einer Risikobetrach- bildet die tolerierbare Tagesdosis (engl.:
tung für Chlorat und Chlorit zum Schutz Tolerable Daily Intake, TDI), definiert
aller Bevölkerungsgruppen vorsorglich als die Dosis einer Substanz, die bei levorausgesetzt werden, da er den Betrof- benslanger täglicher Aufnahme als medizinisch unbedenklich betrachtet wird.
fenen selbst oft nicht bekannt ist.
Der TDI-Wert wird experimentell an
Neben der Methämoglobin-Bildung ist Versuchsorganismen ermittelt. Die Dofür Chlorate und Chlorite u. a. eine nie- sis, bei der noch keine erkennbare Schä-
Wasseraufbereitung · Bädertechnik | AB Archiv des Badewesens 03/2012 170
digung auftritt (No Observable Adverse Effect Level, NOAEL),
dividiert durch einen Sicherheitsfaktor, ergibt den TDI-Wert.
Der Sicherheitsfaktor berücksichtigt die Übertragbarkeit des
Experiments auf andere Individuen der Testspezies und auf
den Menschen.
Hautresorption), ganz unterschiedliche Schädigungen beim
Menschen verursachen können, wird im nächsten Schritt ein
Expositionsszenario entwickelt. Das Expositionsszenario ist
spezifisch auf eine bestimmte Fragestellung abgestimmt (z. B.
definierte Personengruppen, Tätigkeiten, Nutzungsbereiche)
und hat den Anspruch, alle betroffenen Personen zu berückFür Chlorit und Chlorat existieren bereits TDI-Werte8), die sichtigen, auch solche, die möglicherweise besonders empzur Kalkulation herangezogen werden können (Tabelle 1). findlich sind oder besonders hoch exponiert sind.
Dabei ist zu beachten, dass der TDI-Wert für die akute Wirkung auf zwei Human-Studien beruht, in denen es nach täg- Das Expositionsszenario, das zunächst für die Bewertung von
licher Aufnahme von Chlorit- bzw. Chlorat-haltigem Trink- Chlorit und Chlorat im Schwimmbeckenwasser herangezowasser (höchste Konzentration: 36 μg/kg Körpergewicht) über gen wurde (Tabelle 2), setzt zunächst voraus, dass es unter
zwölf Wochen weder zu auffälligen Veränderungen der Blut- den betrachteten Umständen nur zu einer oralen Aufnahme
parameter noch zu anderen gesundheitlichen Beeinträchtigun- (durch Verschlucken von Badewasser) kommen kann, während
gen kam.11) Es kann aufgrund des Studiendesigns jedoch nicht von einem Einatmen der Zielsubstanzen über die Schwimmausgeschlossen werden, dass möglicherweise auch höhere badluft bzw. einer Aufnahme über die Haut abgesehen werKonzentrationen noch keine akut-toxische Wirkung erken- den kann. Zum einen sind Chlorite und Chlorate als Salze
kaum flüchtig, zum anderen werden sie nicht in nennensnen lassen würden.
wertem Maße über die Haut aufgenommen.
Expositionsszenario
Weil chemische Stoffe in Abhängigkeit von der Dosis, der Als durchschnittlich beim Schwimmen oder Baden verschluckHäufigkeit, der Dauer und dem Zeitpunkt der Exposition so- te Wassermenge wurden 100 ml (entsprechend einer Kalkuwie dem Weg (Expositionspfad), auf dem sie in den mensch- lationsangabe der WHO12)) angenommen und als maximalichen Körper gelangen (z. B. orale Aufnahme, Einatmen, le Exposition der tägliche Badbesuch.
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Da Chlorit und Chlorat auf demselben Expositionspfad (oral)
auch über gechlortes Trinkwasser aufgenommen werden können, darf folglich in 100 ml Badewasser nur so viel der tolerierbaren Tagesdosis enthalten sein, wie nicht bereits über
Trinkwasser konsumiert wurde. Die Menge an Trinkwasser,
die lebenslang getrunken werden können muss, ohne dass
es zu einer Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit
kommt, ist in der Trinkwasserverordnung auf 2 l täglich festgelegt.
Weil es für die Konzentrationen an Chlorit oder Chlorat im
Trinkwasser keinen deutschen Grenzwert gibt, wurde auf
eine internationale Empfehlung der WHO (0,7 mg/l) zurückgegriffen.8) Aus dem Expositionsszenario ergibt sich, dass
80 % der tolerierbaren Tagesdosis an Chlorit und Chlorat
bereits in 2 l Trinkwasser enthalten sein könnten, sodass mit
dem täglich verschluckten Badewasser nur 20 % des TDI aufgenommen werden dürfen. Diese Verteilung der tolerierbaren Tagesdosis auf die möglichen Expositionsquellen (Trinkwasser, Badewasser) bezeichnet man als Allokation.
Von toxikologischen Leit- und Maßnahmewerten zum
„oberen Wert“ der DIN 19 643
In der Fachsprache der Toxikologen gibt der gesundheitliche Leitwert (Besorgniswert) an, ab wann eine wissenschaftlich begründbare „Besorgnis“ für die Gesundheit der in Betracht gezogenen Zielgruppe beginnt. Bei Überschreitung des
Maßnahmewertes (Gefahrenwertes), der auch mit Hilfe eines
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Interpolationsfaktors aus dem Leitwert berechnet werden
kann, besteht dagegen sehr wahrscheinlich Anlass zu gesundheitlicher Besorgnis. Im Gegensatz dazu sind Grenzwerte politisch festgelegte Höchstkonzentrationen, die nicht
unbedingt allein auf toxikologischen Ableitungen beruhen,
sondern z. B. zusätzlich auch das Vorsorgeprinzip oder die
technischen Möglichkeiten zur Minimierung unerwünschter Stoffe berücksichtigen.13)
Auf der Grundlage der tolerierbaren Tagesdosis (TDI) für die
akute und die chronische Wirkung von Chlorit und Chlorat
(Tabelle 1) sowie des beschriebenen Expositionsszenarios
(Tabelle 2) wurden beim Umweltbundesamt die folgenden
Leit- und Maßnahmewerte berechnet:
■ Lebenslang gesundheitlich duldbarer BeckenwasserLeitwert BWLW (chronisch) = 4,2 mg/l
■ Beckenwasser-Maßnahmewert zum Schutz empfindlicher Personen vor akut-toxischer Wirkung BWMW
(e, akut) = 8,4 mg/l; gerundet 10 mg/l
■ Beckenwasser-Maßnahmewert zum Schutz durchschnittlich empfindlicher Personen vor akut-toxischer Wirkung BWMW (akut) = 58,8 mg/l; gerundet 60 mg/l
Aufgrund einer entsprechenden Empfehlung der Schwimmund Badebeckenwasserkommission wurden 10 mg/l als oberer Wert für Chlorit und Chlorat im Beckenwasser zunächst
in den Entwurf der DIN 19 643 aufgenommen, da auf diese
Weise auch Menschen mit einem genetisch bedingten G6PDHMangel ausreichend geschützt wären.14)
Anpassung an nationale Gegebenheiten
Die vom UBA zunächst vorgeschlagene Ableitung der Leitund Maßnahmewerte für Chlorit und Chlorat (siehe Abschnitt
„Die Frage nach dem Grenzwert“) berücksichtigt ein Expositionsszenario, das auch unter der unwahrscheinlichen
Voraussetzung Sicherheit gibt, dass ein Mensch mindestens
70 Jahre lang täglich schwimmen geht, dabei täglich 100 ml
Badewasser verschluckt und zusätzlich 2 l Trinkwasser trinkt.
Dabei wurde mit Chlorit- und Chlorat-Konzentrationen kalkuliert, die typisch für ein verhältnismäßig stark gechlortes
Trinkwasser sind (wie im internationalen Ausland häufig
üblich), jedoch nicht die Wirklichkeit in Deutschland widerspiegeln.
Um dem Expositionsszenario bei gleichbleibender Sicherheit einen realistischen Rahmen zu geben, hat eine Arbeitsgruppe der DGfdB versucht, spezifische, deutsche Gegebenheiten in die Berechnungen zu integrieren. In diesem Zusammenhang musste zunächst geklärt werden,
■ mit welchen Chlorit- und Chlorat-Konzentrationen im
deutschen Trinkwasser maximal zu rechnen ist und
■ von welchem lebenslangen Nutzungsverhalten im
Extremfall tatsächlich ausgegangen werden kann.
Wasseraufbereitung · Bädertechnik | AB Archiv des Badewesens 03/2012 172
Geringe Chlorit- und
Chlorat-Konzentrationen im
deutschen Trinkwasser
Da das Trinkwasser in Deutschland vielerorts nicht oder nur geringfügig gechlort wird und seitens der Trinkwasserverordnung keine Überwachung der
Chlorit- und Chlorat-Konzentration gefordert wird, war es nicht möglich, auf
repräsentative Messwerte zurückzugreifen. Aufgrund der Anforderungen an die
Chlorung (Trinkwasserverordnung) und
an die Beschaffenheit der chlorhaltigen
Desinfektionsmittel ist jedoch eine rechnerische Abschätzung der resultierenden Chlorit- und Chlorat-Konzentrationen möglich. Weil die oxidativen Bedingungen in desinfiziertem Wasser eine
schnelle Weiterreaktion von Chlorit zu
Chlorat begünstigen, beziehen sich die
zur weiteren Kalkulation gemachten Angaben im Folgenden auf die jeweils resultierenden Chlorat-Konzentrationen.
Anforderungen der
Trinkwasserverordnung an die
Chlorung gemäß der „Liste der
Aufbereitungsstoffe und
Desinfektionsverfahren zum
§ 11 TrinkwV“15)
Wenn zur Desinfektion von Trinkwasser Chlorgas, Calciumhypochlorit oder
Natriumhypochlorit eingesetzt wird, gilt
eine zulässige Zugabe von 1,2 mg/l freiem Chlor und eine Höchstkonzentration
Annahme
Nr.
Altersgruppe
Besuche/
Woche
Wochen/
Jahr
Jahre
Besuche/
Zeitraum
0 - 9 Jahre*
2,00
52
10
1040
10 - 19 Jahre
1,69
52
10
877
20 - 29 Jahre
1,28
52
10
668
30 - 39 Jahre
1,33
52
10
690
40 - 49 Jahre
1,38
52
10
716
50 - 59 Jahre
1,62
52
10
845
60 - 69 Jahre
1,75
52
10
910
0 - 70 Jahre (d. h. „lebenslang”)
5746
Jahresdurchschnittswert bei lebenslanger Exposition
82
■ Tabelle 3: Kalkulation der maximalen Anzahl an Schwimmbadbesuchen im lebenslangen
Durchschnitt auf der Basis von Angaben aus einer statistischen Untersuchung der Universität
Wuppertal zum Sportverhalten der Bevölkerung
* aus der Altersgruppe 10 - 19 übertragen
Expositionsszenario 2
■ Aufnahme über Trinkwasser
Annahme: ca. 0,25 mg/l Chlorit und Chlorat im deutschen Trinkwasser
(siehe Tabelle 5)
Exposition:
365 Tage/Jahr lebenslang
Aufnahmemenge:
2 l täglich
■ Aufnahme über Badewasser
Exposition:
260 Tage/Jahr
Aufnahmemenge:
100 ml pro Badbesuch
■ Tabelle 4: Expositionsszenario zur Ableitung eines toxikologischen Grenzwertes für die Summe
aus Chlorit und Chlorat im Schwimm- und Badebeckenwasser, das 2011 von der DGfdB im Rahmen eines Einspruchs zur Entwurfsfassung der DIN 19 643 vorgeschlagen wurde
Chorat
TW
[mg/l]
Allokation
TW
[%]
Allokation
BW
[%]
Besucher
[1/a]
BWLW
(chron.)
[mg/l]
BWMW*
(e., akut)
[mg/l]
BWMW
(akut)
[mg/l]
1
0,47
53
47
260
14
20
72
2
0,12
13
87
260
26
31
83
3
0,25
29
71
260
21
27
79
4
0,07
8
92
260
27
33
85
5
0,35
40
60
260
18
24
76
6
0,20
23
77
260
23
29
81
■ Tabelle 5: Berechnung von toxikologischen Leit- und Maßnahmewerten für die Summe an Chlorit und Chlorat im Schwimm- und Badebeckenwasser für die Gegebenheiten in Deutschland
Grundlage der Berechnung sind Allokationen für Trinkwasser (TW) und Badewasser (BW), die sich aus der Abschätzung von Höchstwerten für die
Chlorat-Konzentration im Trinkwasser ergeben, sowie die Annahme von max. 260 Schwimmbadbesuchen pro Jahr im lebenslangen Durchschnitt.
BWLW (chronisch): lebenslang gesundheitlich duldbarer Beckenwasser-Leitwert
BWMW (e, akut): Beckenwasser-Maßnahmewert zum Schutz empfindlicher Personen vor akut-toxischer Wirkung
BWMW (akut): Beckenwasser-Maßnahmewert zum Schutz durchschnittlich empfindlicher Personen vor akut-toxischer Wirkung
* Alle Werte nicht aufgerundet
Bei Verwendung von Chlordioxid wird
gefordert, dass der Höchstwert von
0,2 mg/l Chlorit nach Abschluss der Aufbereitung eingehalten werden muss.15)
Diese Konzentration entspricht 0,25 mg/l
Chlorat (Annahme 3).
Anforderungen an
Natriumhypochlorit-Lösung zur
Desinfektion von Trinkwasser
gemäß DIN EN 90116)
Um bei Chlorung von Trinkwasser den
Eintrag von Chlorat zu begrenzen, darf
die verwendete Natriumhypochlorit-Lösung maximal 5,4 % Chlorat bezogen
auf den Aktivchlor-Gehalt aufweisen,
d. h. ca. 8,1 g/l Chlorat in einer handelsüblichen Chlorbleichlauge mit ca.
150 g/l Aktivchlor. Wenn 1,2 mg/l freies Chlor dosiert wird, ergibt sich folglich eine Konzentration von 0,07 mg/l
Chlorat im Trinkwasser (Annahme 4).
Weil Messungen unter realen Bedingungen gezeigt haben, dass eine für einen
Monat gelagerte NatriumhypochloritLösung (hell, 22 °C) bereits einen Chlorat-Gehalt von 27 mg/l (bei 93 mg/l
Aktivchlor) aufweist, kann bei Zugabe
von 1,2 mg/l freiem Chlor maximal mit
einer Konzentration von 0,35 mg/l Chlorat im Trinkwasser (Annahme 5) gerechnet werden (längere Lagerzeiten sind
für ein Wasserversorgungsunternehmen
eher unwahrscheinlich).
Internationale Anforderungen an
Chlorat im Trinkwasser im Vergleich
International werden – abweichend von
den Vorgaben der WHO – von einigen
Ländern eigene Grenzwerte für Chlorat
im Trinkwasser festgelegt. Beispielswei-
Anzahl der Messwerte prozentual
(Gesamtauswertung; n = 383)
■ Abbildung 2: Chlorat-Konzentrationen im Beckenwasser öffentlicher Bäder aus Deutschland
und der Schweiz
Die Daten wurden stichprobenartig und unsystematisch im Rahmen von Sonderuntersuchungen im
Zeitraum 2001 - 2011 ermittelt.
Chlorat im Beckenwasser in mg/l
von 0,3 mg/l freiem Chlor nach Abschluss der Aufbereitung.15) Würde das
vorhandene, freie Chlor vollständig zu
Chlorat umgewandelt, so wäre maximal
mit 0,47 mg/l Chlorat nach Zugabe (Annahme 1) bzw. 0,12 mg/l Chlorat nach
Aufbereitung (Annahme 2) zu rechnen.
Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass unter den Bedingungen der
Trinkwasserdesinfektion keine messbare Chlorat-Bildung erfolgt.7)
Chlorat im Beckenwasser in mg/l
173 AB Archiv des Badewesens 03/2012 | Bädertechnik · Wasseraufbereitung
Anzahl der Messwerte prozentual
(berechnet für jede Kategorie)
■ Abbildung 3: Chlorat-Konzentrationen im Beckenwasser öffentlicher Bäder aus Deutschland
und der Schweiz in Abhängigkeit vom verwendeten Desinfektionsmittel
Die Daten wurden stichprobenartig und unsystematisch im Rahmen von Sonderuntersuchungen im
Zeitraum 2001 - 2011 ermittelt.
se strebt die USA einen Maximalwert
von 0,2 mg/l an.7) Auch in der Schweiz
gibt es eine entsprechende Vorgabe für
Chlorat im Trinkwasser von 0,2 mg/l17)
(Annahme 6).
Häufigkeit der Schwimmbadbesuche
Die Annahme eines lebenslang täglichen
Besuches eines Schwimmbades ist sicherlich kaum realistisch und wird selbst
von Leistungs- und Frühschwimmern
Dabei ist davon auszugehen, dass sich
auch diese Annahme nicht mit der realen Besuchshäufigkeit der meisten Menschen in Deutschland deckt. Pressemitteilungen gehen häufig von etwa 300 Mio.
Schwimmbadbesuchen pro Jahr aus, was
bei einer Bevölkerung von ca. 80 Mio.
rund vier Besuche pro Jahr ausmacht.
In Studien der Universität Wuppertal
über das Sportverhalten der Bevölkerung
befanden sich unter den insg. 48 000
Befragten 4014 Schwimmbadbesucher,
von denen wiederum lediglich etwa 6 %
fünfmal oder häufiger pro Woche schwimmen gingen, während etwa 60 % maximal einmal pro Woche das Schwimmbad aufsuchen. Das bedeutet, dass mit der
Annahme von maximal fünf Besuchen
pro Woche etwa 97 % aller Schwimmbadbesucher abgedeckt sind.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass es
sich nicht um Angaben zum bisher lebenslangen Nutzungsverhalten handelte. Auch Leistungsschwimmer trainieren nicht ein Leben lang auf demselben
hohen Niveau. Sie stellen somit eine
Sondergruppe dar, wie bei jeder Hochleistungssportart.
Versucht man auf Basis der o. g. Befragungen für Schwimmbadbesucher verschiedener Altersgruppen eine reale Besuchshäufigkeit abzuleiten und daraus
einen Durchschnittswert bis zum 70. Lebensjahr (d. h. per Definition „lebensAnzeige
■ Abbildung 4: Chlorat-Konzentrationen im Beckenwasser öffentlicher Bäder, die mit Chlorgas
desinfizieren. Gezeigt ist der Einfluss der Sonneneinstrahlung in Freibädern im Vergleich zu Hallen- und Kombibädern.
Die Daten wurden stichprobenartig und unsystematisch im Rahmen von Sonderuntersuchungen im
Zeitraum 2001 - 2011 in deutschen Bädern ermittelt.
Chlorat im Beckenwasser in mg/l
nicht erreicht. Um auch extreme Einzelfälle zu berücksichtigen, wurde im
hier vorgestellten Ansatz alternativ mit
lebenslänglich maximal fünf Schwimmbadbesuchen pro Woche gerechnet, d. h.
mit 260 Schwimmbadbesuchen pro Jahr.
Chlorat im Beckenwasser in mg/l
Wasseraufbereitung · Bädertechnik | AB Archiv des Badewesens 03/2012 174
■ Abbildung 5: Chlorat-Konzentrationen im Beckenwasser öffentlicher Bäder, die mit Natriumhypochlorit-Lösung aus der Sole-Elektrolyse desinfizieren. Gezeigt ist der Einfluss der Sonneneinstrahlung in Freibädern im Vergleich zu Hallen- und Kombibädern.
Die Daten wurden stichprobenartig und unsystematisch im Rahmen von Sonderuntersuchungen im
Zeitraum 2001 - 2011 in deutschen Bädern ermittelt.
175 AB Archiv des Badewesens 03/2012 | Bädertechnik · Wasseraufbereitung
Chlorat-Konzentration
lang“) zu berechnen, so ergeben sich auch
für Menschen, die gern ins Schwimmbad gehen, maximal 82 Besuche pro
Jahr und Person (siehe Tabelle 3).
Wochen
mg/l Chlorat
■ Abbildung 6: Beispielhafte Darstellung der Chlorat-Anreicherung im Beckenwasserkreislauf in
Abhängigkeit von der Füllwassernachspeisung
Für die rechnerische Abschätzung wurden folgende Bedingungen zugrunde gelegt: Nichtschwimmerbecken (16,66 x 25 m) mit einem Aufbereitungsvolumenstrom von 309 m3 und einer durchschnittlichen Chlordosierung von 0,2 g/m3 über einen Zeitraum von zwölf Stunden. Weiterhin wurde
eine Natriumhypochlorit-Lösung angenommen, die einen Aktivchlor-Gehalt von 90 g/l und einen
Chlorat-Gehalt von 28g/l aufweist. Diese Werte entsprechen der Charakteristik einer zwei Monate
alten handelsüblichen Natriumhypochlorit-Lösung4)
Heraufsetzung des „oberen Wertes“ nach
alternativer toxikologischer Ableitung
Auf der Basis eines zweiten Expositionszenarios (Tabelle 4) ergeben sich aus den
unterschiedlichen Annahmen für die
maximale Chlorat-Konzentration im
deutschen Trinkwasser neue Allokationen der tolerierbaren Tagesdosis an Chlorit und Chlorat (Tabelle 5). Unter Berücksichtigung von lebenslang 260 Schwimmbadbesuchen pro Jahr konnten alternative Leit- und Maßnahmewerte berechnet werden.
Um eine Gefährdung von Personen mit
G6PDH-Mangel auszuschließen, wurde
seitens der DGfdB ein alternativer Wert
von 30 mg/l als oberer Wert für die Summe aus Chlorit und Chlorat in der Neufassung der DIN 19 643 vorgeschlagen,
der sich aus den neu berechneten Beckenwasser-Maßnahmewerten zum Schutz
empfindlicher Personen vor akut-toxischer Wirkung BWMW (e, akut) ergibt
(Tabelle 5). Der zuständige Normenausschuss ist im Rahmen der Einspruchsbehandlungen der dargelegten Argumentation gefolgt und hat den Wert
von 30 mg/l bestätigt.
Mit welchen Konzentrationen ist in
öffentlichen Bädern zu rechnen?
Wochen
■ Abbildung 7: Theoretische Entwicklung der Chlorat-Konzentration im Beckenwasserkreislauf
bei Verwendung von handelsüblicher, zwei Monate alter Natriumhypochlorit-Lösung (Gebinde) in
Abhängigkeit von den Lagerbedingungen (a - d: hell gelagert bei 36 °C; e - h: dunkel gelagert
bei 22 °C) sowie der Art und Menge des Füllwasseraustauschs (FW: primäres Füllwasser, d. h.
100 % Trinkwasser; BW: Betriebswasser, d. h. 20% Trinkwasser, 80 % sekundäres Füllwasser
aus der Betriebswasseraufbereitung)
Für die Berechnung wurde eine Natriumhypochlorit-Lösung mit einem Aktivchlor-Gehalt von
90 g/l und einem Chlorat-Gehalt von 28 g/l angenommen.
Mit dem Ziel einer ersten Abschätzung,
welche Auswirkungen der neue obere
Wert für die Summe an Chlorit und
Chlorat von 30 mg/l für Schwimmbadbetreiber haben könnte, wurde bei Untersuchungslaboren und Badbetreibern
angefragt, ob Messdaten für Chlorat im
Beckenwasser vorliegen. Auf diese Weise konnten 383 Messwerte aus zumeist
großen öffentlichen Bädern in Deutschland und der Schweiz in anonymisierter
Form gesammelt werden (Abbildung 2).
Die Daten stammen aus dem Zeitraum
zwischen 2001 und 2011.
Weil sie nicht mit der Routineüberwachung, sondern im Rahmen stichprobenartiger Sonderuntersuchungen ermittelt
wurden, können sie lediglich einen Trend
wiedergeben. Trotzdem wird deutlich,
dass der Richtwert von 30 mg/l Chlorat
in den meisten Bädern eingehalten werden dürfte, da er in der vorliegenden
Auswertung nur in etwa 5 % der Fälle
überschritten wurde.
mg/l Chlorat
Wasseraufbereitung · Bädertechnik | AB Archiv des Badewesens 03/2012 176
Abhängigkeit vom verwendeten
Desinfektionsmittel
Wie Abbildung 3 zeigt, ist zunächst klar
erkennbar, dass die Chlorat-Werte aus
Bädern, die das Wasser mit Chlorgas
Wochen
desinfizieren (ca. 60 % der Daten), weit
un ter 30 mg/l liegen. Höhere Werte
(> 30 mg/l Chlorat) traten nur bei Verwendung von Natriumhypochlorit-Lö■ Abbildung 8: Theoretische Entwicklung der Chlorat-Konzentration im Beckenwasserkreislauf
sung auf. Während Messwerte aus Bä- beim Einsatz von Natriumhypochlorit-Lösung aus dem Produkttank einer Membranzellenelektrodern, die Natriumhypochlorit-Lösung lyse-Anlage (MZE) in Abhängigkeit vom Füllwasseraustausch (2 %, 10 %, 20 %) und von der Art
des Füllwassers (FW: primäres Füllwasser, d. h. 100 % Trinkwasser; BW: Betriebswasser, d. h.
aus Gebinden verwenden, nur einen 20 % Trinkwasser, 80 % sekundäres Füllwasser aus der Betriebswasseraufbereitung)
geringen Anteil der Gesamtdaten aus- Für die Berechnung wurde eine Natriumhypochlorit-Lösung mit einem Aktivchlor-Gehalt von
machen, stammen ca. 30 % der Mess- 25 g/l und einem Chlorat-Gehalt von 2 g/l angenommen, die im Produkttank bei 22 °C dunkel
gelagert wird.
werte aus Bädern, die Natriumhypochlorit-Lösungen elektrolytisch vor Ort gen ein erhöhtes Risiko, den Richtwert und umso später wird ein Plateau ervon 30 mg/l Chlorat zu überschreiten reicht, auf dem sich die Konzentration
herstellen.
(Abbildung 5).
nicht mehr ändert. Maßnahmen zur Wassereinsparung, z. B. die Verlängerung der
Auch beim Einsatz von HypochloritFilterlaufzeiten, die Reduzierung der
Lösungen aus Salzelektroyse-Anlagen Möglichkeiten der Minimierung
lagen mehr als 80 % der Messwerte Da Chlorate Salze bilden, die ausnahms- Spülwassermengen bei den Filterspüunterhalb von 30 mg/l. Welche betriebs- los eine sehr gute Wasserlöslichkeit auf- lungen oder der Einsatz von Betriebstechnischen Bedingungen vereinzelt zu weisen, gibt es keine Möglichkeit, diese wasser („sekundäres Füllwasser“) könhohen Werten (> 50 mg/l) geführt ha- durch die üblichen Aufbereitungsmaß- nen zu einer erhöhten Chlorat-Konzenben und wie sie langfristig vermieden nahmen (z. B. Fällungsreaktionen, Fil- tration führen.
werden können, muss im Rahmen von terung) dem Wasserkreislauf zu entzieEinzelfallbetrachtungen geklärt werden. hen. Die einzigen praktikablen Mög- Demgegenüber steht das Bestreben vielichkeiten zur Minimierung der Chlo- ler Badbetreiber, durch geeignete Maßratkonzentration sind daher
nahmen den Einsatz von Frischwasser
Einfluss der Sonnenbestrahlung im
■ die Verminderung des Eintrags
zu reduzieren. Schließlich kostet nicht
Freibad
über chlorathaltige Desinfektions- nur die Beschaffung von Wasser Geld,
Wie die weitere Analyse der Messdaten
Lösungen und
sondern vielmehr auch dessen Erwärzeigte, kann es aufgrund der Sonnenmung und die Beseitigung des Abwaseinstrahlung in Freibädern zu einer deut- ■ die Verdünnung durch einen entsprechenden Füllwasser-Zusatz.
sers. Es stellt sich also die Frage, wie
lichen Erhöhung der Chlorat-Konzentrahoch der Wasseraustausch sein muss,
tion kommen. Abbildung 4 macht deutlich, dass dies offensichtlich auch bei Abbildung 6 zeigt modellhaft den Ein- damit eine Anreicherung von Chlorat
Verwendung von Chlorgas eine wichtige fluss der Wasseraustauschrate auf die im Beckenwasser über das von der
Einflussgröße ist, wo Konzentrationen Entwicklung der Chlorat-Gehalte im Be- DIN 19 643 gegebene Maß hinaus vervon bis zu 22 mg/l gemessen wurden. ckenwasserkreislauf über ein Jahr. Je hö- mieden werden kann.
her der Chlorat-Eintrag und je geringer
Bei Verwendung von Natriumhypochlo- der Frischwasseraustausch ist, desto stei- Abbildung 7 zeigt modellhaft am Beirit-Lösung in Freibädern besteht dage- ler verläuft die Anreicherungs-Kurve spiel einer handelsüblichen Natrium-
177 AB Archiv des Badewesens 03/2012 | Bädertechnik · Wasseraufbereitung
hypochlorit-Lösung den Einfluss der
Lagerung und des Frischwasseraustauschs. Zusätzlich wurde die Verwendung von sekundärem Füllwasser berücksichtigt. Im Gegensatz zu primärem Füllwasser (Trinkwasser) handelt
es sich dabei um Spülabwasser, das
gemäß DIN 19 64518) zu Betriebswasser
(Typ 1) aufbereitet wurde und einen Chlorat-Gehalt von maximal 5 mg/l aufweisen darf. Dabei dürfen 80 % des
Füllwassers aus der Aufbereitung von
Spülabwasser stammen („sekundäres Füllwasser“, Betriebswasser, BW), während
20 % primäres Füllwasser (FW) zugegeben werden muss.
Wie Abbildung 7 veranschaulicht, hat
die Qualität der eingesetzten Natriumhypochlorit-Lösung, d. h. die auf die
Lagerbedingungen zurückzuführende
Alterung, den größten Einfluss auf die
Entwicklung der Chlorat-Konzentra-
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tion im Beckenwasser. Die zweite entscheidende Größe ist offensichtlich die
Wasseraustauschrate, wohingegen sich
die Verwendung von Füllwasser aus der
Betriebswasseraufbereitung vergleichsweise moderat auswirkt. Möglicherweise erfährt so die Aufbereitung von Betriebswässern eine Renaissance. Gilt es
doch, chemische Belastungsstoffe, die
auf anderem Wege nicht zu beseitigen
sind, durch ausreichenden Füllwasserzusatz soweit zu verdünnen, dass sie
keine Gefährdung mehr darstellen.
Wie der Einfluss des Frischwasseraustauschs und der Füllwasserqualität auf
die Chlorat-Konzentration einzuschätzen ist, wenn Natriumhypochlorit-Lösung verwendet wird, die mittels Membranzellenelektrolyse vor Ort erzeugt
wurde, zeigt Abbildung 8 am Beispiel
einer modellhaften Berechnung. Dabei
wird deutlich, dass auch bei Verwendung
von Natriumhypochlorit-Lösung aus der
Kochsalz-Elektrolyse der vorgegebene
Wert von 30 mg/l möglicherweise nicht
mehr sicher eingehalten werden kann,
wenn die Füllwasseraustauschrate stark
reduziert (≤ 2 %) und gleichzeitig noch
sekundäres Füllwasser verwendet wird,
insbesondere wenn noch weitere Wege
der Chlorat-Bildung, wie z. B. Sonneneinstrahlungen im Freibecken, zum Tragen kommen.
Zusammenfassend veranschaulichen die
modellhaften Berechnungen jedoch, dass
es durchaus möglich ist, auch bei Verwendung von Natriumhypochlorit-Lösung den vorgesehenen oberen Wert
von 30 mg/l Chlorit und Chlorat einzuhalten, wenn Lagerbedingungen, Aufbewahrungszeit und Wasseraustauschrate aufeinander abgestimmt sind. Die
aufgeführten Beispiele können allerdings nur eine Orientierung darstellen
und müssen auf die jeweiligen Gegebenheiten in einem Bad angepasst werden.
Wasseraufbereitung · Bädertechnik | AB Archiv des Badewesens 03/2012 178
Infokasten
Vortragsankündigung
Auf dem von der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen e. V., Essen,
organisierten Kongress für das Badewesen, der im Herbst in Stuttgart
stattfinden wird (siehe dazu auch den
Artikel ab Seite 142 in dieser Ausgabe), wird der Chlorat-Problematik
ein Vortragsblock gewidmet. Neben
Aspekten des Eintrags und der gesundheitlichen Relevanz sowie den
Möglichkeiten der Minimierung werden neue Erkenntnisse zur Optimierung von Membranzellenelektrolyse-Anlagen aus derzeit laufenden
Studien präsentiert. Dabei geht es
um technische Perspektiven der Herstellung einer möglichst Chloratarmen Natriumhypochlorit-Lösung
ebenso wie um Strategien zur Vermeidung der Chlorat-Bildung im Produkttank.
Ausblick
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Einführung des neuen Summenparameters Chlorit und Chlorat eine
Auseinandersetzung mit der vorhandenen Wasseraufbereitung und deren Rahmenbedingungen erforderlich macht. Eine
wichtige Rolle spielt dabei das zum Einsatz kommende Desinfektionsverfahren
und die dazu verwendeten Mittel. Letztendlich muss man bei sachgerechter Anwendung kein Verfahren ausschließen,
wenn auch unbestritten die Verfahren
Vorteile versprechen, die eine Lagerung
von Hypochlorit-Lösungen vermeiden.
Im Lichte dieser Betrachtungen muss sicherlich der Einsatz von Chlorgas, der
beim Neubau von Bädern derzeit nicht
im Trend zu liegen scheint, neu bewertet
werden. Dies gilt besonders für die Desinfektion von Freibädern, wo aufgrund
der Sonneneinstrahlung mit einer erhöhten Chlorat-Bildung zu rechnen ist.
die über einen Zeitraum von zwei Monaten hinausgehen, sollten weitestgehend vermieden werden. Die Lagerung
sollte möglichst kühl und dunkel erfolgen. Bei der Hypochlorit-Erzeugung durch
Kochsalz-Elektrolyse sollte seitens der
Hersteller über Möglichkeiten nachgedacht werden, die entstehende Reaktionswärme so abzuführen, dass die Begünstigung der Chlorat-Bildung während des Herstellungsvorganges verringert wird. Darüber hinaus sollte die
Lagerung der produzierten Desinfektionsmittel-Lösung so gesteuert werden,
dass eine Alterung der Lösung vermindert werden kann. Eine Möglichkeit dazu stellt der Wechsel zwischen zwei Vorratsbehältern dar.
Da andere Möglichkeiten zur Entfernung von Chlorat aus dem Beckenwasserkreislauf nicht bestehen, muss der
Wasseraustausch so hoch sein, dass eine ausreichende Verdünnung erreicht
wird. In diesem Zusammenhang müssen Maßnahmen zur Einsparung von
Wasser beleuchtet und ggf. neu abgestimmt werden. Hierbei sollte geprüft werden, ob das jährliche Entleeren von Becken nicht beibehalten werden sollte,
auch wenn die Neufassung der DIN 19 643
hier andere Möglichkeiten offen lässt.
Letztendlich hat das Zusammenspiel der
einzelnen Faktoren einen entscheidenden Einfluss auf die Bildung und Anreicherung von Chloraten im Beckenwasser, sodass keine allgemein gültigen
Lösungen präsentiert werden können,
sondern dass es immer auf eine Einzelfallbetrachtung unter Berücksichtigung
der gegebenen Rahmenbedingungen ankommt. Es gilt, das richtige Maß zwischen Wasserereinsparung und Beckenwasserqualität auszuloten. Auch MögKommen Hypochlorit-Lösungen zum lichkeiten, den Verbrauch an DesinfekEinsatz – unabhängig davon, ob sie im tionsmittel zu reduzieren, sollten in Bejh
Gebinde geliefert oder vor Ort herge- tracht gezogen werden.
stellt wurden –, so sollte ein besonderes Augenmerk auf die Lagerbedingun- Literatur
gen gelegt werden. Die Aufbewahrungs- ■ 1) Strähle, J. (1998): Entstehung anorganischer
Desinfektionsnebenprodukte bei der Aufbezeit sollte sich unbedingt am tatsächlireitung von Schwimmbeckenwasser. In: AB
Archiv des Badewesens 5/98, S. 224 - 229.
chen Bedarf orientieren. Bevorratungen,
■ 2) Strähle, J. (1999): Risikoabschätzung der gesundheitlichen Belastung von Schwimmern
durch die bei der Desinfektion von Schwimmbeckenwasser entstehenden Nebenreaktionsprodukte. Dissertationsarbeit an der Universität Heidelberg. 334 Seiten.
■ 3) Gordon, G., Adam, L., Bubnis, B. P., Hoyt, B.,
Gillette, S. J., & Wilczak, A. (1993): Controlling
the formation of chlorate ion in liquid hypochlorite feedstocks. In: Journal AWWA, p. 89 - 97.
■ 4) Gabrio, T., Bertsch, A., Karcher, C., Nordschild, S., & Sacré, C. (2004): Belastung von
Schwimmbeckenwasser mit anorganischen
Desinfektionsnebenprodukten. In: AB
Archiv des Badewesens 3/04, S. 158 - 163.
■ 5) Gordon, G., Adam, L., & Bubnis, B. P. (1995):
Minimizing chlorate ion formation. In:
Journal AWWA, p. 97 - 106.
■ 6) Holleman, A. F., & Wiberg, E. (1995):
Lehrbuch der anorganischen Chemie,
101. Auflage, Verlag de Gruyter.
■ 7) Schmidt, W., Böhme, U., Sacher, F., & Brauch,
H.-J. (1999): Bildung von Chlorat bei der
Desinfektion von Trinkwasser. In: Vom Wasser, S. 109 - 126.
■ 8) WHO (2004): Chlorite and chlorate in drinkingwater. Background document for preparation
of WHO Guidelines for drinking-water quality. Geneva, World Health Organization.
■ 9) WHO (2000): Environmental Health Criteria
216: Desinfectants and Desinfectant By-Products: Chapter 4: Toxicology of Disinfectant
By-products. Geneva, World Health Organization.
■ 10) Sasseville, D., Geoffrion, G., & Lowry, R. N.
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chlorinated swimming pool water. In: Contact Dermatitis, p. 347.
■ 11) Lubbers, J. R., Chauhan, S., & Biachine, J. R.
(1981): Controlled clinical evaluations of
chlorine dioxide, chlorite and chlorate in
man. In: Fundamental and Applied Toxicology, p. 334 - 338.
■ 12) WHO (2006): Guidelines for safe recreational
waters – Volume 2 – Swimming pools and
similar recreational-water environments.
Chapter 4: Chemical hazards. Geneva, World
Health Organization.
■ 13) Dieter, H. (2009): Grenzwerte, Leitwerte,
Orientierungswerte, Maßnahmewerte –
Aktuelle Definitionen und Höchstwerte. In:
Bundesgesundheitsblatt, S. 1202 - 1206.
■ 14) Dieter, H. (2008): Ableitung einiger gesundheitlicher Höchstwerte für [Chlorit und Chlorat] im Badebeckenwasser (BW). Vorlage des
Umweltbundesamtes für den Normenausschuss Wasserwesen NA 119-04-13 AA
„Schwimmbeckenwasser” vom 12./13. November 2008, zuletzt textlich überarbeitet
am 11. April 2011.
■ 15) Liste der Aufbereitungsstoffe und Desinfektionsverfahren gemäß § 11 Trinkwasserverordnung 2001, 15. Änderung, Stand Juni 2011.
■ 16) DIN EN 901 (2007): Produkte zur Aufbereitung von Wasser für den menschlichen
Gebrauch – Natriumhypochlorit; Deutsche
Fassung EN 901.
■ 17) Fremd- und Inhaltsstoff-Verordnung
(FIV) der Schweiz vom 26. Juni 1995
(Stand: 1. Juni 2011).
■ 18) DIN 19 645 (2006): Aufbereitung von Spülabwässern aus Anlagen zur Aufbereitung
von Schwimm- und Badebeckenwasser.