Ehe-und-Familie-im Kulturvergleich - Pen-Kurd

Transcription

Ehe-und-Familie-im Kulturvergleich - Pen-Kurd
1
Ehe und Familie im Kulturvergleich
Deutsche und Kurdische Frauen zwischen
Tradition und Moderne
Xunav Haco - Khonaf Hajo
2007
2
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ....................................................................................3
2. Ehe und Familie in Deutschland ...............................................8
2.1 Definition von Ehe ......................................................................8
2.1.1 Historische Entwicklung von Ehevorstellungen .............9
2.1.2 Heutige Vorstellungen von Ehe in Deutschland ...........11
2.2. Definition von Familie ..............................................................14
2.2.1 Historische Entwicklung von Familienformen ..............16
2.2.2 Heutige Formen von Familien in Deutschland .............23
3. Ehe und Familie in der kurdischen Gesellschaft ...................25
3.1 Kurdistan – ein historischer Überblick ......................................26
3.1.1 Historische Entwicklung von Familie in
Kurdistan ...............................................................................29
3.2 Ehe und Rolle der Frau im Islam ..............................................32
3.2.1 Rolle und gesellschaftliche Stellung der Frau in
der kurdischen Familie ..........................................................36
3.3 Drei Generationen von Frauen seit 1920 .................................41
3.3.1 Erste Generation ..........................................................42
3.3.2 Zweite Generation .......................................................47
3.3.3 Dritte Generation .........................................................50
3.4 Kurdische Familien in der Migration in Deutschland ................53
3.4.1 Rolle der kurdischen Frau in der
Migrationsfamilie ...................................................................58
4. Familienehre und Kulturkonflikt .............................................62
4.1 Vergleich von Ehrvorstellungen in der deutschen
und kurdischen Gesellschaft ..........................................................62
4.1.1 Ehre in der deutschen Kultur .......................................62
4.1.2 Ehre in der kurdischen Kultur ......................................64
4.2 Zwangsheirat: Mythos und Realität? ........................................68
3
4.2.1 Gewalt im Namen der Ehre: Ehrenmorde ....................75
4.2.2 Maßnahmen gegen Zwangsheirat und
Unterstützungsmaßnahmen für Betroffene ...........................75
4.3 Exkurs: Beitrag des Gendermainstreaming
zur Migrationsforschung .................................................................80
4.4 Warum Familie? .......................................................................82
5. Fazit: Ehe und Familie im Kulturvergleich .............................84
6. Literaturverzeichnis .................................................................89
7. Anhang ....................................................................................100
7.1 Biographien
7.1.1 Biographie Behya
7.1.2 Biographie Dilxwaz
7.1.3 Biographie Stêr
7.1.4 Biographie Assos
7.2 Fragebögen
7.2.1 Umfrage zum Thema Heirat und
Gleichberechtigung der Frauen
7.2.2 Umfrage zum Thema Heirat,
Gleichberechtigung und Emanzipation
7.3 Auswertung der Fragebögen
7.3.1 Auswertung des Fragebogens zum Thema
Heirat, und Gleichberechtigung der Frauen
7.3.1.1 Graphische Auswertung
7.3.1.2 Offene Fragen
7.3.2 Auswertung des Fragebogens zum Thema
Heirat, Gleichberechtigung und Emanzipation
4
1. Einleitung
Parallelgesellschaft, Kopftuch, Ehrenmord und Zwangsheirat sind
Schlagworte, die sich derzeit in aller Munde befinden, jedoch in den
Medien häufig reißerisch, unvollständig oder sogar falsch dargestellt
werden. Nicht selten hat man das Gefühl, Journalisten und Politiker
befassen sich auf eine erschreckend oberflächliche Art und Weise
mit fremdkulturellen Phänomenen. Im Gegensatz dazu finden
andere bedeutsame Fragen und Probleme, die bei der Integration
von Migranten auftreten, wie Bildung, Analphabetismus und
Arbeitslosigkeit, leider kaum Aufmerksamkeit. Das ist aus dem
Grund bedauerlich, da gerade hier großes Potential zur Entwicklung
konstruktiver Lösungsmöglichkeiten besteht.
Im Folgenden wird Kultur als „gesamte Palette der typischen
Lebensweisen einer Bevölkerung verstanden. Dazu gehört zum
Beispiel der Umgang miteinander oder auch, was und wie wir essen
und uns kleiden, welche Lebensziele wir entwickeln und wie wir sie
zu erreichen versuchen” (Hecht-El Minshawi, 1992, S. 223). Kultur
bezieht sich demnach auf alle Bereiche einer Gesellschaft, auf
soziale ebenso wie auf politische, ökonomische und geistige. Kultur
bildet ein Norm- und Struktur gebendes System, dessen Regeln die
Menschen im Sozialisationsprozess erwerben und im individuellen
Handeln umsetzen (vgl. Gomez Tutor, S.46). Wenn jemand gegen
die üblichen Regeln in einer Kultur verstößt, wird die soziale
Umgebung meist korrigierend darauf reagieren. Auf diese Weise
kommt es zu Interaktionen innerhalb einer Gemeinschaft (vgl. Roth,
S. 14).
Es existieren innerhalb einer Gesellschaft aber auch kulturelle
Differenzen
zum
Schichtzugehörigkeit.
Beispiel
Die
je
eine
nach
deutsche
Geschlecht-
und
beziehungsweise
kurdische Kultur gibt es demnach nicht.
All das zeigt, dass Kulturen nicht statisch sondern dynamisch sind
und sich innerhalb einer Kultur ständige Anpassungs- und
5
Wandlungsprozesse vollziehen. Zudem können in einer gemischten
Gesellschaft wie in Deutschland die verschiedenen aufeinander
treffenden
Kulturen
voneinander
lernen
und
bestimmte
Verhaltensweisen adaptieren. Auf diesen Aspekt wird im Verlauf
dieses Buches an verschiedenen Stellen eingegangen.
Persönlich fühle ich mich aufgrund meines eigenen Lebenslaufes,
der mich vor 32 Jahren von Kurdistan nach Deutschland führte,
migrationsbezogenen Inhalten, speziell kurdischen, sehr verbunden.
Zusätzlich gewährt mir die langjährige Arbeit im Bochumer Süden,
wo ich mich seit Anfang der 80er Jahre mit immigrierten Familien
beschäftige und mich mit Gender-Problematiken auseinander setze,
einen tiefgreifenden Einblick. Unter anderem soll dieses Buch einen
Beitrag dazu leisten, das gegenseitige Verständnis der sehr
unterschiedlichen deutschen und kurdischen Kultur zu fördern.
Im Verlauf dieses Buches möchte ich kurdische Familien in ihrer
Heimat, aber auch in der Migration darstellen, ihre Funktion,
Normen und Werte erörtern und mit denen der deutschen
vergleichen. Von besonderem Interesse ist für mich die Rolle der
kurdischen Frau in Familie und Gesellschaft. Ein Ziel der Arbeit ist
es somit, Differenzierungen in Bezug auf die unterschiedlichen
Lebenslagen von Kurdinnen in der Migration aufzuzeigen. Hier
spielen
folgende
Faktoren
eine
Rolle:
welcher
Einwanderungsgenerationen sie angehören, welche Herkunft sie
haben und wie sie Vertreibung und Krieg erlebt haben. Die
zentralen Fragestellungen hierzu lauten:
Welche Parallelen existieren zwischen dem kurdischen und
deutschen Verständnis von Gleichberechtigung, Emanzipation und
Ehre?
Warum haben Ehe und Familie bis heute einen so hohen
Stellenwert, sowohl in der kurdischen als auch in der deutschen
Tradition?
Welchen Einfluss hat die kurdische Tradition auf die Rolle der Frau
6
in der heutigen Gesellschaft – sowohl in der Migration als auch in
Kurdistan?
Diese Fragen werden unter verschiedenen Gesichtspunkten,
historischen sowie gegenwärtigen, untersucht. In der nachfolgenden
Beschreibung des Aufbaus des Buches werden die jeweiligen
Schwerpunkte der einzelnen Kapitel vorgestellt.
In Kapitel 2 stelle ich Ehe und Familie in ihrer heutigen Ausprägung
in Deutschland dar, gehe aber auch auf deren historische
Entwicklungen ein, um nachzuzeichnen, wie die vielen heute
nebeneinander existierenden Familienmodellen entstanden.
Im darauf folgenden dritten Kapitel konzentriere ich mich auf
kurdische Ehe- und Familientraditionen und gehe auf den Islam als
zentrales wertstiftendes Bezugssystem ein. Im Vergleich zum
christlichen Europa, gibt es im Nahen Osten eine wesentlich
stärkere Fixierung auf religiöse Aspekte. Obwohl die Türkei
beispielsweise ein säkularer Staat ist, sieht die Realität in den
Medien und im alltäglichen Leben anders aus. Die Mehrheit der
Bevölkerung richtet sich dort nach der Scharia, eine Sammlung
islamischer und rechtlicher Gebote und Verbote zur Lebensführung
im Diesseits (vgl. Kizilhan, S. 19).
Da das Verständnis der kurdischen Kultur die Kenntnis der von
Verfolgung und Unterdrückung gekennzeichnete Geschichte dieses
Volkes voraussetzt, wird in diesem Kapitel zunächst ein kurzer
historischer
Abriss
der
politischen
und
gesellschaftlichen
Veränderungen Kurdistans gegeben, um anschließend darauf
einzugehen, wie die Familienstrukturen im Verlauf des letzten
Jahrhunderts
gewachsen
sind.
Dazu
finden
verschiedene
Generationen von Frauen besondere Beachtung.
Desweiteren behandelt dieses Kapitel, welchen Einfluss die
Migration nach Deutschland auf kurdische Familien und ihre
Traditionen hat. Ob sie als Gastarbeiter, als Flüchtlinge oder durch
7
Familienzusammenführung immigriert sind, das Leben im Exil bringt
immer einen identitätsverändernden Einschnitt mit sich. Es wird
beschrieben,
wie
sich
die
Generationen
von
Einwanderern
unterschiedlich mit den Auswirkungen der Migration in eine
moderne
Gesellschaft
und
den
damit
zusammenhängenden
Problemen auseinandersetzen.
Kapitel 4 widmet sich ausführlich den Themen Ehre und
Zwangsheirat und den daraus entstehenden Kulturkonflikt zwischen
Deutschen und Kurden.
Das westliche Verständnis von Ehre hebt die individuelle Würde
eines Menschen hervor. Lange Zeit war der Ehrbegriff in
Deutschland mit dem christlichen Glauben verbunden und wurde
gleichgesetzt mit dem Respekt und Ansehen vor Gott. Dem
gegenübergestellt wird der Ehrbegriff in der kurdischen Kultur, der
die Basis für Normen und Werte in ihrer Gesellschaft bildet. Er
bestimmt maßgeblich die Verhaltensregeln bezüglich der Kleidung,
des Benehmens in der Öffentlichkeit und der Jungfräulichkeit.
Zudem bezieht sich die Ehre nicht auf das Verhalten einer Person,
sondern kann die Familie, die Dorfgemeinschaft, den Stamm oder
das ganze kurdische Volk betreffen (vgl. Skubsch, S. 243). Während
insbesondere bei Frauen auf ehrenhaftes Verhalten Wert gelegt
wird, fällt ehrloses Verhalten auf Väter, Söhne, Brüder und
Ehemänner zurück.
Zum Thema Zwangsheirat wird gezeigt, dass traditionell arrangierte
Ehen mitunter erzwungene Verbindungen sind. Innerhalb der
kurdischen
Gesellschaft
werden
generationsübergreifenden
die
dabei
Interessenskonflikte
auftretenden
innerfamiliär
ausgetragen und dringen nur selten nach außen. Erst wenn die
Situation eskaliert und im Extremfall ein Ehrenmord begangen wird,
werden
einzelne
Schicksale
in
den
Medien
bekannt
und
dramatisiert. Das hat zum einen zur Folge, dass die betroffene
Familie stigmatisiert wird und zum anderen in der westlichen Welt
das Bild entsteht, dass solche Szenarien alltäglich vorkommen.
8
Nicht zuletzt möchte ich in diesem Kapitel auch präventive
Maßnahmen vorstellen und Wege aufzeigen, die dazu beitragen
könnten, dass solche erzwungenen Ehen nicht geschlossen
werden.
In
diesem
Zusammenhang
werden
auch
aktuelle
ersten
fünf
Kapiteln
Hilfsangebote dargestellt.
Das
Buch
gründet
sich
in
den
schwerpunktmäßig auf eine ausgiebige Literaturrecherche. Hierbei
ist jedoch anzumerken, dass zu den Themengebieten “Historische
Entwicklung und Struktur der kurdischen Familie” und “Rolle der
Frau in der kurdische Gesellschaft” kaum wissenschaftliche
Dokumente vorhanden sind.
Um die theoretischen Aussagen zu ergänzen, wurde eine Befragung
von zwei Generationen kurdischer und deutscher Mitbürger in
Bochum
durchgeführt,
die
sich
inhaltlich
auf
die
Bereiche
“Vorstellungen von Ehe und Familie”, “Ehre”, “arrangierte Ehen” und
“Gleichberechtigung von Mann und Frau“ bzw. “Emanzipation der
Töchter” erstreckt. Zur Gewinnung der Daten wurden zahlreiche
Interviews mit deutschen und kurdischen Frauen und Männern
durchgeführt. Dazu wurden Fragebögen entwickelt, die sowohl
geschlossene
als
auch
offene
Antworten
enthielten.
Die
gewonnenen Daten können nicht als repräsentativ angesehen
werden, trotzdem ermöglicht diese kleinen Vorstudie einen Eindruck
über
die
verschiedenen
Vorstellungen
von
Mitgliedern
der
kurdischen und deutschen Gesellschaft in Bezug auf die oben
genannten Themen.
Die Interviews wurden durch Biographien von kurdischen Frauen
aus drei Generationen ergänzt. Deren Schilderungen, Erlebnisse
und
Einstellungen
werden
im
Verlauf
dieses
Buches
verschiedentlich zur Illustration herangezogen und geben eine
umfassende und authentische Darstellung der Lebenssituation von
kurdischen Familien. Die einzelnen Biographien sind in diesem
Buch nicht enthalten, sollen aber an anderer Stelle veröffentlicht
werden.
9
2. Ehe und Familie in Deutschland
Vorstellungen von Ehe und Familie hängen in hohem Maße vom
kulturellen und historischen Kontext ab. Im Folgenden werden beide
Konzepte einer genaueren Betrachtung unterzogen. Es wird gezeigt,
wie
im
Laufe
der
Zeit
Frauenrechte,
Fortpflanzung
und
Kindererziehung einen anderen Stellenwert bekommen haben,
Formen des Zusammenlebens vielfältiger geworden sind und sich
infolgedessen die Bedeutungen von Ehe und Familie verändert
haben. Nach einer Definition der Begriffe, werden die historische
Entwicklung
von
Ehevorstellungen
sowie
Familienformen
nachgezeichet und schließlich in ihrer heutige Ausprägung in
Deutschland dargestellt.
2.1 Definition von Ehe
Das Wort „Ehe" geht auf das althochdeutsche Wort „ewa" (Gesetz)
zurück und bezeichnet eine sozial anerkannte und durch (Rechts-)
Regeln
gefestigte
Lebensgemeinschaft
von
mindestens
zwei
Personen unterschiedlichen Geschlechts, welche ökonomische und
sexuelle Rechte und Pflichten zwischen den betroffenen Personen
beinhaltet und durch den Heiratsvollzug öffentliche Bestätigung
erfährt (vgl. Magnus-Hirschfeld-Archiv für Sexualwirtschaft).
Vergleicht man Vorstellungen von Ehe in verschiedenen Kulturen und
historischen Zeitabschnitten miteinander, stellt man fest, dass diese
erheblich variieren können. Neben der Monogamie, nämlich der Ehe
zwischen einem Mann und einer Frau, unterscheidet man polygame
Formen der Ehe. Hat ein Mann mehrere Frauen, spricht man von
10
Polygynie, hat eine Frau mehrere Männer, so bezeichnet man diese
Eheform als Polyandrie (vgl. Hirschberg, S. 108).
So unterschiedlich Vorstellungen von Ehe auch sein mögen, alle
Formen haben die Gemeinsamkeit, dass eine Ehe immer eine Art
öffentlichen und oft religiös anerkannten Vertrag umfasst. Die
Modalitäten des Vertrages sowie sein Zustandekommen wiederum
sind von der jeweiligen Kultur und deren Vorstellungen und
Bestimmungen geprägt. Die Ehe kann einer stillen Vereinbarung
entspringen oder bei einer Feierlichkeit öffentlich bekannt gegeben
werden. Sie kann sich auch über das Paar und seine Nachkommen
auf beide Familien, sogar auf die ganze Gemeinschaft erstrecken.
Sie
kann
als
dauerhaft
betrachtet
werden,
aber
auch
in
gemeinsamem Übereinkommen oder formloser Handlung beendet
werden (vgl. Magnus-Hirschfeld-Archiv für Sexualwirtschaft). Ein
Blick in die Geschichte verdeutlicht die Wandelbarkeit der Institution
Ehe.
2.1.1 Historische Entwicklung von Ehevorstellungen in
Deutschland
Die monogame Ehe war seit jeher die weitaus am häufisten
praktizierte Form der Ehe in Europa. Historisch betrachtet zeigt sich,
dass es sich bei den Vertragspartnern jedoch nicht immer um
Bräutigam
und
Braut
alleine
handelte,
sondern
weitere
Familienmitglieder und deren Interessen eine entscheidende Rolle
spielten, weshalb die meisten Ehen vorherbestimmt oder arrangiert
wurden. Im frühen Mittelalter konnten ganze Stämme oder Nationen
durch Eheverträge Bündnisse schließen. In der Regel ging dabei die
Machtbefugnis über eine Frau vom Vater auf den Ehemann über. Die
Braut
war
also
nicht
Vertragspartnerin,
sondern
eher
Vertragsgegenstand, wobei ihre Wünsche und Rechte weitgehend
unberücksichtig blieben.
Ihr Los wurde erst durch den Einfluss der Kirche gewendet, die der
Ehe einen religiösen Inhalt gab und sie zum Sakrament erhob. Nach
11
römischem Recht und dem christlichen Glauben konnte eine Ehe nur
auf dem freiwilligen Einverständnis beider Partner begründet werden.
Nachdem die Ehe den Charakter eines Sakraments bekommen
hatte, lag ihr wesentlicher Inhalt nicht in ihrer formellen Bedeutung,
sondern in der gemeinsamen Entscheidung beider Partner, durch sie
zu „einem Fleisch" zu werden. Mit der Begründung „Was denn Gott
zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden" (Markus 10, 9)
verbot die katholische Ehevorstellung die Scheidung. Eine Ehe
dauerte lebenslang und endete mit dem Tod eines Partners. Nur
unter konkreten Voraussetzungen konnte sie für nichtig erklärt
werden.
Diese Regelung stieß im Laufe der Zeit immer wieder auf Ablehnung.
Insbesondere die protestantische Reformation des 16. Jahrhunderts
wandte sich gegen die vorherrschende Auffassung, ebenso wie
gegen viele andere katholische Dogmen. Nach Martin Luther war die
Ehe „ein weltlich Ding", das in den Geltungsbereich der Regierung
gehörte. Damit kehrte die protestantische Reformation wieder zum
Konzept der Ehe als Zivilvertrag zurück und ermöglichte es auch
Christen, sich gegebenenfalls scheiden zu lassen.
Die Säkularisierung der Ehe wurde vor allem vom aufsteigenden
Bürgertum begrüßt. Der Bürger lebte zunehmend in einer Welt
rechtlicher und ökonomischer Beziehungen, die sich mit Verkauf,
Übereignung, Verträgen und Vorschriften befasste und daher immer
weniger Sympathie für mythische oder übernatürliche Gedanken
hegte. Im 18. Jahrhundert schließlich brachte Kant die Sache in
völliger Nüchternheit auf den Punkt und definierte die Ehe
schlichtweg
als
„die
Verbindung
zweier
Personen
zum
wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge" (vgl. Kant,
Grundlegungen zur Metaphysik der Sitten).
Die allmähliche Emanzipation der Ehe- und Scheidungsrechte und
die Loslösung von der Kontrolle der Kirche brachten größere
individuelle Freiheiten. Der Einfluss der Eltern auf die Partnerwahl
der Kinder ging zurück, und die romantische Liebe wurde zum
wichtigsten Faktor für die Heirat erklärt. Dennoch blieb die Ehe für die
12
meisten Paare bis weit ins 19. Jahrhundert im Kern eine
ökonomische Angelegenheit. In der Regel war es der Ehemann, der
daraus den größten Nutzen zog, denn er wurde das Oberhaupt der
Familie, kontrollierte den Besitz seiner Frau und genoss überdies
erhebliche sexuelle Freiheiten. Verständlicherweise wurden im Laufe
des folgenden Jahrhunderts die Forderungen von Frauen nach
Reformen
immer
lauter.
Sie
begannen
einen
Kampf
um
Gleichberechtigung und Selbstbestimmung, der bis in die heutige Zeit
andauert.
2.1.2 Heutige Vorstellungen von Ehe in Deutschland
Heute ist die Ehe von ihrem Beginn an bis zu ihrem Ende in allen
Detailfragen gesetzesrechtlichen Regelungen unterworfen. Dem
Gesetz nach müssen die Ehepartner volljährig sein, um eine Ehe
schließen zu können. Das Familiengericht kann dies auf Antrag
aussetzen, wenn ein Ehepartner volljährig ist und der andere das 16.
Lebensjahr vollendet hat (vgl. BGB §1303, in: Stascheit, 2006, S.
857). Die Ehe beginnt mit der Aushändigung einer Urkunde durch
eine staatlich beauftragte Institution (dem Standesamt), und nur von
einem Beauftragten dieser Institution (dem Standesbeamten) kann
eine gültige Ehe zwischen Deutschen geschlossen werden (vgl. ebd.,
2006, S. 857).
„Die Ehe wird auf Lebenszeit geschlossen. Die Ehegatten
sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft
verpflichtet; sie tragen füreinander Verantwortung“ (BGB
§1360, in: Stascheit, 2006, S.861).
Sie müssen durch ihre Arbeit und mit ihrem Vermögen die Familie
angemessen unterhalten (vgl. ebd., S. 863). „Die Ehe kann durch
familiengerichtliches Urteil auf Antrag eines oder beider Ehegatten
geschieden werden“ (vgl. BGB §§1564ff, in: Fachlexikon der sozialen
Arbeit, 2002, S. 236).
Die rechtliche Sicherheit und die Emanzipation der Frauen haben
13
grundlegende Veränderungen in der Bedeutung der Ehe bewirkt. In
der
Vergangenheit
war
es
Frauen
nicht
erlaubt,
Verträge
abzuschließen, und sie wurden gesetzlich daran gehindert, Besitz zu
verwalten, auch wenn sie ihn vor der Ehe erworben hatten.
Inzwischen haben Frauen, durch bessere Ausbildung und größere
ökonomische Selbständigkeit, ein höheres Maß an Unabhängigkeit
von ihren Männern erlangt. Dies hat zu einer Reihe von
Veränderungen in den traditionellen Geschlechtsrollen geführt. Viele
Frauen sind heute berufstätig, machen selbst Karriere und verdienen
nicht selten mehr Geld als ihre Ehemänner (vgl. Magnus-Hirschfeld).
Infolge dieser Entwicklungen hat die Ehe heute eine völlig andere
Bedeutung als noch vor einem Jahrhundert. Materielle Überlegungen
sind in den Hintergrund getreten. Es sind eher sexuelle Anziehung
und romantische Gründe, die Partner heute zur Eheschließung
veranlassen, wobei letztere von der Medien- und Konsumindustrie
intensiv bedient werden. Ebenso ist der Wunsch nach Nachwuchs
nicht mehr notwendige Voraussetzung für eine Eheschließung. Durch
die
Entwicklung
neuer
zuverlässiger
Verhütungsmethoden
ist
Fortpflanzung eine Angelegenheit freier Entscheidung geworden.
Heute heiraten Männer und Frauen auch wenn sie keine Kinder
haben wollen oder können. Sie suchen in der Ehe andere Werte, wie
Liebe,
Partnerschaft,
emotionale
Stabilität
oder
berufliche
Zusammenarbeit, und es werden dagegen von Seiten des Gesetzes
keinerlei
Einwände
erhoben.
Die
gleichen
Gründe
für
eine
Eheschließung sollten inzwischen auch von Partnern gleichen
Geschlechts
genannt
werden.
Wenn
man
unfruchtbaren
heterosexuellen Ehepaaren die Ehe gestattet, erscheint es nicht
länger gerechtfertigt, dieses Recht homosexuellen Paaren zu
versagen.
Romantischen Idealen zum Trotz, entscheiden sich dennoch viele
Paare dagegen, bis an ihr Lebensende zusammen zu leben. Vielen
erscheint die Forderung, über mehrere Jahrzehnte in strikter
Monogamie zu verbringen, als schwer erfüllbar. Liberalere sexuelle
Moralvorstellungen sowie die verhältnismäßige Einfachheit von
14
Scheidung und Wiederverheiratung haben zu einem Anstieg der so
genannten „seriellen Monogamie“ geführt. Scheidungsgesetze, die
eine
finanzielle
Absicherung
trotz
Auflösung
der
Beziehung
versprechen, mögen die Häufigkeit von Scheidungen zusätzlich
begünstigen. In Deutschland haben Scheidungsziffern in der
Vergangenheit ständig zugenommen. Sie geben Zeugnis davon,
dass Männer wie Frauen zunehmend den Wert individueller
Lebensplanung und persönlichen Glücks in ihrem privaten Leben
über die Aufrechterhaltung einer als traditionell empfundenen
Einrichtung stellen.
Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass viele Männer und
Frauen auf eine formelle Anerkennung von Anfang an verzichten.
Stattdessen entscheiden sie sich für ein Zusammenleben ohne
Trauschein in einer eheähnlichen Gemeinschaft oder gehen von
vorneherein Partnerschaften und Liebesbeziehungen mit geringerer
Verbindlichkeit ein (vgl. Statistisches Bundesamt, 2005, S.7). Sich
von einem (Ehe-)Partner zu trennen, um mit dem nächsten
„Lebensabschnittsgefährten“ zu leben, ist weit verbreitete Praxis
geworden. Prominente Personen aus dem Öffentlichkeitsleben (wie
z.B. der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder oder der
ehemalige
Außenminister
Joschka
Fischer)
haben
durch
wiederholten Partnerwechsel kaum Schaden für ihren Ruf zu
befürchten und sind damit ein Beleg für diese Trendwende.
Bei aller Freiheit ist die Ehe dennoch nicht komplett bedeutungslos
geworden. Sie verspricht Privilegien, die sie in vieler Hinsicht deutlich
von nichtehelichen Verbindungen unterscheidet. Insbesondere von
staatlicher Seite wird die Ehe nach wie vor als förderungswürdig und
schützenswert betrachtet, wie die im deutschen Grundgesetz
verankerte Bevorzugung und Subventionierung der Lebensform Ehe
auf allen Ebenen belegt (vgl. Grundgesetz, Artikel 6, Absatz 1). De
facto sind unverheiratete Paare nur in wenigen Ländern verheirateten
gleichgestellt, wie zum Beispiel in Skandinavien und in den
Niederlanden.
Paare,
die
in
Deutschland
ohne
Trauschein
zusammenleben, müssen mitunter erhebliche Nachteile hinnehmen,
15
so
beispielsweise
im
Bezug
auf
Steuer-,
Erb-
oder
Einwanderungsrecht. Die rechtliche Bevorzugung von ehelichen
Partnerschaften zeigt, dass die Ehe nicht nur privaten und
persönlichen Bedürfnissen dient, und dass sie nicht allein zum Wohl
der Eheleute besteht, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes ein
offenkundiges Interesse an ihr hat.
2.2 Definition von Familie in Deutschland
Es gibt keine einheitliche Definition von Familie, weder im
Alltagsverständnis noch in der Wissenschaft. Vorstellungen von
Familien unterliegen einem ständigen Wertewandel und sind vom
Zeitgeist ebenso wie von den kulturellen Rahmenbedingungen
geprägt.
Ursprünglich bezeichnete das Wort „Familie" (von lat. famulus:
Haussklave) eine Gruppe von Sklaven, die einem Mann gehörten. In
Erweiterung des Begriffs waren dann später alle Personen gemeint,
die
von
einem
Mann
abstammten
oder
abhängig
waren
beziehungsweise alle Personen, die im Haushalt eines Mannes
lebten, wie Sklaven, Frauen, Kinder, Eltern, Großeltern, andere nahe
und entfernter Verwandte, Freunde und Gäste. Diese Bedeutungen
waren lange Zeit noch sehr lebendig. Bis weit in die Renaissance
hinein benutzte man das Wort „Familie“ noch, um sowohl die
Dienerschaft oder das Gefolge eines Adligen als auch eine Gruppe
Blutsverwandter oder eine Gruppe zusammenlebender Menschen zu
bezeichnen. Erst im 16. und 17. Jahrhundert wurden die zwei
letztgenannten Bedeutungen zusammengefasst, um damit ein neues
soziales Phänomen zu beschreiben: eine geringe Anzahl naher
Verwandter, die zusammen unter einem Dach wohnt und die eine
enge
emotionale
Beziehung
zueinander
hat.
Im
frühen
19.
Jahrhundert hatte diese Bedeutung alle anderen verdrängt. Seither
bezieht sich der Begriff meist auf eine enge Hausgemeinschaft aus
Eltern
und
ihren
Kindern
(vgl.
Magnus-Hirschfeld-Archiv
für
Sexualwirtschaft). Eine solche semantische Verschiebung findet sich
sowohl beim deutschen Wort „Familie" als auch im romanischen
16
Sprachgebrauch in den Wörtern „famille“ oder „famiglia“.
Heute bezeichnet Familie, im soziologischen Sinne wie im Alltag,
unterschiedliche
Aspekte
und
Konstellationen
einer
sozialen
Lebensform, die mindestens Kinder und Eltern (bzw. einen Elternteil)
umfasst (also auf Verwandtschaft beruht) und einen dauerhaften und
im Innern durch Solidarität und persönliche Verbundenheit und nicht
durch einen Vertrag charakterisierten Zusammenhang aufweist (vgl.
Fuchs-Heinritz et al., 1995, S. 197). Eine kurze Definition von
“Familie” könnte lauten: Familie ist eine “Lebensgemeinschaft von
Menschen unterschiedlicher Generationen, die in einem (auch
biologisch,
rechtlich
oder
sozial)
begründeten
Nachkommenschaftsverhältnis zueinander stehen“ (Fachlexikon der
sozialen Arbeit, 2002, S. 312).
Viele andere Merkmale dessen, was gemeinhin als Familie gilt,
hingegen sind soziokulturell variabel, wie etwa die gemeinsame
Wohnform,
Zugehörigkeit
zu
einer
gemeinsamen
Verwandtschaftslinie, gemeinsame Produktion oder gemeinsame
Konsumtion (vgl. Fuchs-Heinritz et al, 1995, S. 197).
Um der Komplexität heutiger Lebensformen Rechnung zu Tragen
definiert das Statistische Bundesamt für den Mikrozensus 2005
„Familie“ wie folgt als:
„alle
Eltern-Kind-Gemeinschaften,
d.h.
Ehepaare,
nichteheliche
und
gleichgeschlechtliche
Lebensgemeinschaften sowie allein erziehende Mütter und
Väter mit ledigen Kindern im befragten Haushalt.
Einbezogen sind in diesen (statistischen) Familienbegriff –
neben leiblichen Kindern – auch Stief-, Pflege- und
Adoptivkinder” (Statistisches Bundesamt, 2005).
Diese Definition macht deutlich, dass die im deutschen Sprachraum
spontane Vorstellung von Familie als eine statische Wohneinheit,
bestehend aus Mutter, Vater und Kindern, von der Realität überholt
ist. Alle möglichen Personenkonstellationen – ehelich oder nicht,
gleichgeschlechtlich oder nicht, blutsverwandt oder nicht – können
unter dem Begriff „Familie“ zusammengefasst werden. Die Definition
17
zeigt auch, dass keine bestimmte Form, kein Ideal der Familie
vorausgesetzt werden kann, sondern mit vorliegenden Tatsachen ein
pragmatischer Umgang gefunden werden muss.
Der nachfolgende Blick in die Geschichte demonstriert, dass Familien
auch schon zu früheren Zeiten dynamische Systeme gewesen sind,
die sich durch Veränderung und Anpassung von innerfamiliären
Strukturen auf die sie umgebene Umwelt einstellten und somit
fortlaufenden Veränderungen unterworfen waren. Im Folgenden
werden die Merkmale der traditionellen Großfamilie und der
modernen Kleinfamilie detaillierter dargestellt.
2.2.1 Historische Entwicklung von Familienformen in
Deutschland
Historisch betrachtet gab es in Europa eine ganze Reihe von
Familienformen. Wenn man die geschichtliche Entwicklung der
Institution Familie zurückverfolgt, kann man Umbrüche feststellen, die
nicht nur die Familie als solche betrifft, sondern insbesondere den
gesellschaftlichen Rahmen, in den sie eingebettet ist. Das Modell
Familie als Lebensform ist zwar erhalten geblieben, jedoch haben
sich ihre Struktur und Funktionen innerhalb der Gesellschaftsordnung
verändert, ebenso wie sich die Rolle der Frau und ihre Rechte und
Pflichten gegenüber der Familie gewandelt haben. Verändert hat sich
im Laufe der Jahrhunderte auch die Familiengröße.
Der Begriff „traditionelle Familie“ wird häufig gleichgesetzt mit dem
Begriff
“Großfamilie“.
Die
Großfamilie
umfasste
mehrere
Generationen, bei der die Söhne jeweils mit ihren Frauen, Kindern
und Enkelkindern nicht nur zu Lebzeiten des Vaters unter dessen
Herrschaft blieben, sondern auch nach dessen Tod nicht auseinander
gingen (vgl. Hettlage, 1992, S. 49). In diesem Zusammenhang spricht
man häufig von der Sozialform „Ganzes Haus“ oder „Große
Haushaltsfamilie“, die vor der westlichen Industrialisierung in
ländlichen Gegenden am meisten verbreitet war (vgl. Rerrich, 1988,
S. 31). Diese Hausgemeinschaft hatte ihre Wurzeln in einem
18
wirtschaftlichen und sozialen Nutzungs- und Versorgungsnetz. Das
ganze Haus hatte viele gesellschaftliche Funktionen, wie Produktion,
Konsumtion, Gesundheits- und Altersvorsorge und Sozialisation.
Dem Hausvater des ganzen Hauses unterstanden nicht nur die
Familienmitglieder, sondern auch Knechte, Mägde, Gesellen und
Lehrlinge, die zum Hausverband dazugehörten.
Die Familie galt als Wirtschaftseinheit, die auf einem festen Gebäude
von Traditionen, Regeln, Rechten und Pflichten aufgebaut war. Sie
diente zur Stabilisierung des bestehenden Gesellschaftssystems und
war einer starken öffentlichen Kontrolle unterworfen. Je nach
Schichten- und Klassenzugehörigkeit, galten allgemeinverbindliche
Moralvorstellungen und Handlungszwänge, die von der Kirche, dem
Staat, den Zünften, den Lehnsherren und der Notwendigkeit der
Güterbeschaffung geprägt waren (vgl. Rerrich, S. 32ff).
Das Leben in einer solchen Familie hatte große Vorteile. Menschen
wussten, wo sie hingehörten und was man von ihnen erwartete. Sie
aßen, tranken, schliefen, lernten, arbeiteten und spielten gemeinsam
unter einem Dach. Von Geburt an bis zum Tod waren sie Teil eines
organischen Ganzen. Sie wuchsen unter vertrauten Personen auf
und wurden mit ihnen alt. Sie arbeiteten für ein gemeinsames Ziel,
teilten Freuden und Sorgen miteinander. Wenn die Kräfte nachließen,
wurde man unterstützt und versorgt. War man krank oder
hilfsbedürftig, fand man Fürsorge und Pflege. Die Mitglieder eines
solchen Haushalts waren demnach selten einsam, ihr Leben hatte
immer einen festen Bezugspunkt. Dieses Gefühl der Sicherheit ist es,
das heute die Großfamilie so erstrebenswert erscheinen lässt (vgl.
Magnus-Hirschfeld-Archiv für Sexualwirtschaft).
Historische Studien haben jedoch gezeigt, dass dieses „Miteinander"
nicht unbedingt zu wirklicher emotionaler Verbundenheit führte (vgl.
Peuckert, S. 20f). Die Hauptfunktion des großen Haushalts war
ökonomischer Art und ließ wenig Raum für Zärtlichkeit und
Sentimentalität. Individuellen Bedürfnissen und Interessen wurde
wenig Beachtung geschenkt. Schließlich hatten schon die Eltern nicht
aus Liebe geheiratet, sondern aus materiellen, praktischen Gründen.
19
Ob eine Familie zustande kam oder nicht, hing nicht in erster Linie
von Gefühlen ab, sondern von der Zweckmäßigkeit einer Verbindung.
Eine Ehe sollte standesgemäß und zur Fortführung und Erhaltung
der Familientradition förderlich sein. Der Partner wurde nach
ökonomischen Gesichtspunkten wie beispielsweise der Mitgift oder
der Arbeitskraft ausgewählt.
Darüber hinaus war der Status der Frau niedriger als der des
Ehemannes, dessen Wünsche und Interessen immer Vorrang hatten.
Eine gewisse Anzahl von Kindern wurde zur Mitarbeit im Geschäft für
wichtig erachtet, die Eltern widmeten ihnen jedoch wenig Zeit. Sie
wurden von Ammen oder Dienern großgezogen und früh als
Lehrlinge
aus
dem
Haus
gegeben.
Häufig
wurden
Kinder
vernachlässigt, und die Säuglings- und Kindersterblichkeit war hoch
(vgl. Magnus-Hirschfeld-Archiv für Sexualwirtschaft).
Wirklich
intime
und
emotionale
Nähe
zwischen
den
Familienmitgliedern entwickelte sich erst nach und nach mit der
Entstehung des bürgerlichen Mittelstandes und dem zunehmenden
Einfluss seiner Wertbegriffe. Das Bürgertum, das mit seinem
Rückzug in die Privatsphäre das neue Ideal des wärmenden,
idyllischen Heims geprägt hatte, lebte das vor, was im Zuge der
Industrialisierung immer mehr Verbreitung fand: den Übergang von
der Großfamilie zur modernen Kleinfamilie.
Für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutete die Ausbreitung der
kapitalistischen Produktion in zunehmendem Maße eine Trennung
von Arbeitsplatz
und
Wohnstätte. Aus
dem
ehemals
einen
Lebensbereich wurden zwei räumlich verschiedene. Auch die
Veränderung im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich
führte zu einer veränderten Lebenssituation der Menschen. Die
Familie
wurde
zu
einem
Ort,
von
dem
die
Öffentlichkeit
ausgeschlossen wurde, und entzog sich damit weitestgehend der
öffentlichen
Kontrolle.
Es
entstand
Raum
für
hohe
Gefühlsanbindungen, Zuflucht und Erholung. Die Familie erhielt
Privatsphäre.
Der Gewinn an Autonomie durch die Loslösung von der Institution
20
“Ganzes Haus” brachte eine Neuorientierung der Rollenverteilung
von Mann und Frau mit sich. Der Mann bekam die Rolle des
Ernährers
und
die
Frau
wurde
hauptverantwortlich
für
den
innerfamiliären Bereich (vgl. Peuckert, S. 22).
„Die drei großen K: Kirche-Küche-Kinder, die als
Lebenswelt der Bürgersfrau gepriesen und gescholten
werden, beginnen Anfang des 19. Jahrhunderts
ausschließliche Bedeutung zu erlangen” (WeberKellermann, 1978, S. 102).
Die umfangreichen Pflichten der ehemaligen Hausmutter reduzierten
sich auf die Aufgaben der “Nur-Hausfrauen”. Innerhalb des Hauses
jedoch hatten Frauen das Sagen. In diesem Sinne formulierte Goethe
den Rat:
„Dienen lerne beizeiten das Weib nach ihrer Bestimmung;
denn durch Dienen allein gelangt sie endlich zum
Herrschen, zu der verdienten Gewalt, die doch ihr im
Hause gehöret“ (Goethe, zitiert nach Weber-Kellermann,
1978, S. 103).
Mit dem Rückzug in das häusliche Leben veränderte sich auch die
Rolle der Mutter, der Erziehungsanspruch und die Beziehung zu den
Kindern. Während Erziehungsaufgaben zuvor an
Großmütter,
Kindermädchen, Ammen und Diener abgetreten werden konnten,
waren Mütter fortan die einzigen Bezugspersonen der Kinder. Kinder
galten
nicht
länger
als
potentielle
Arbeitskräfte
und
kleine
Erwachsene, sondern Kindheit wurde zu einer eigenständigen,
anerkannten Lebensphase.
Der Unterhalt der Familie wurde nicht mehr im Hause, sondern
draußen verdient. Die meiste Zeit des Tages verbrachten Männer von
ihren Familien getrennt als Lohnempfänger in Fabriken oder als
Angestellte in Läden und Büros. Die einzigen Männer aus der
Mittelschicht, die noch zu Hause arbeiteten, waren Ärzte oder
Rechtsanwälte mit privater Praxis. Auf diese Weise blieb die Arbeit
21
der Männer für die daheim gebliebenen Frauen und Kinder oft völlig
abstrakt.
Im 19. Jahrhundert, als der Kult der bürgerlichen Familie seinen
Höhepunkt erreichte, wurde auch die Kritik an dieser zunehmend
lauter. In der traditionellen Großfamilie hatten Kinder sich an
verschiedenen
männlichen
und
weiblichen
Erwachsenenrollen
orientieren können, nun hatten sie nur noch ihre Eltern als Vorbilder.
Der Vater stand dabei oft gar nicht mehr zur Verfügung. Da er nun
nicht mehr zu Hause arbeitete, wurde seine soziale Rolle den
Kindern nicht mehr deutlich. Er wurde schlicht zum „Ernährer" und
Ordnungshüter, blieb aber eine ferne Autoritätsfigur. Manchmal wurde
er geliebt, häufig gefürchtet, aber selten verstanden. Seine Ehefrau,
die Mutter, sah sich mehr denn je eingeschränkt. Zunehmende
mütterliche Verpflichtungen begrenzten sie immer mehr auf die
eigenen vier Wände. Nur zum Kirchgang oder zum Einkaufen konnte
sie sich ins Freie begeben. Ihre Welt wurde eng, ihre Funktionen
waren klar umschrieben. Sie hatte sich weiblich, mütterlich und
gefühlvoll zu geben und in allen wichtigen Angelegenheiten ihren
Mann zu fragen (vgl. Magnus-Hirschfeld-Archiv für Sexualwirtschaft).
So wird verständlich, dass Frauen im 19. Jahrhundert anfingen, sich
den mit der Kleinfamilie einhergehenden Beschränkungen zu
widersetzen. Sie begannen immer lauter Gleichberechtigung zu
fordern
und
kämpften
Scheidungsgesetze.
Sie
für
Wahlrecht
nahmen
und
auch
neue
Ehe-
und
zunehmend
am
Arbeitsprozess teil. Schließlich stellten sie im Ersten Weltkrieg ihre
Fähigkeiten unter Beweis, indem sie viele, bis dahin für sie
unzugängliche, Arbeiten übernahmen. Dadurch emanzipierten sie
sich zunehmend von ihrer bis dahin gültigen Rolle als Hausfrau.
Der
Nationalsozialismus
leitete
eine
neue
Epoche
der
Familienideologie ein. Er verordnete den Frauen „den totalen
Rückzug
hinter
die
Grenze
einer
mühsam
errungenen
Selbstständigkeit“ und erklärte sie zur „Gebärerin zahlreicher Kinder“
und als „Hüterin der Herdflamme“ (vgl. Weber-Kellermann, 1991, S.
35). Damit schienen alle Freiheiten zurückgenommen, die sich
22
Frauen mühsam erkämpft hatten. Die Mutter sollte als geistiger
Partner, als selbständige Bürgerin ausgeschaltet werden. Die
Rollenverteilung sah den Vater als politisch tätige und arbeitende
Autorität vor, während die Frau nur eine den Haushalt führende und
gebärende Mutter war. In dieses Schema wurden die Kinder
hineingeboren
und
erzogen
und
so
von
vornherein
einem
Autoritätsbegriff unterstellt, der auf das gesamte politische System
übertragbar war.
Der Krieg allerdings erzwang andere Konsequenzen und erforderte
die Berufstätigkeit der Frauen in einem quantitativ sehr hohen und
qualitativ sehr umfassenden Maße. Er erlegte den Frauen oftmals
unfreiwillig die Erprobung ihrer Fähigkeiten als verantwortlicher
Haushaltungsvorstand in schwierigsten Situationen auf. Damit wurde
das autoritäre Familienmodell der Nationalsozialisten weitgehend
zerstört, noch ehe es sich in allen Einzelheiten durchgesetzt hatte
(vgl. Weber-Kellermann, 1978, S. 185).
Durch
die grundlegende
Weltkrieg
und
der
Neuorientierung nach
damit
einhergehenden
dem Zweiten
Neuformulierung
gesellschaftlicher Normen und Werte wurden die herkömmlichen
Strukturen und traditionellen Geschlechterrollen in Frage gestellt und
neue Möglichkeiten eröffnet (vgl. Rerrich, S. 92). Der durch das
Wirtschaftswunder
hervorgerufenen
der
fünfziger
Wohlstand
und
und
sechziger
steigende
Jahre
Lebensstandard,
zusammen mit dem gleichzeitig abnehmenden Einfluss der Kirche,
schuf neue Möglichkeiten für eine Loslösung von alter Tradition hin
zu einer individualisierten Lebensgestaltung (vgl. ebd., S. 86). Die
Bildungsreform stellten traditionelle Leitbilder infrage und half der
nachwachsenden Generation bei der Formulierung neuer Ziele und
Werte, während zur gleichen Zeit die Medienrevolution das
reformerische Gedankengut einer breiten Öffentlichkeit zugänglich
machte. Sexuelle Aufklärung und neue Methoden der Verhütung
machten Frauen unabhängiger in ihrer Familienplanung und der
Sozialstaat
begünstigte
das
Bestreben
nach
Persönlichkeitsentwicklung und Selbstentfaltung seiner Bürger (vgl.
23
ebd., S. 94).
Eine grundlegende und umfassende Infragestellung von Ehe und
Familie initiierte die Studentenbewegung der sechziger Jahre. Mit der
Kritik am bürgerlichen Staat und am Kapitalismus, die die Arbeiter
und die Dritte Welt ausbeuten und Frauen in ihrer Selbstentfaltung
behindern, entwickelte sich eine zunehmend fundamentalistische
Kritik an der Institution Familie.
Die ersten in der Praxis gelebten alternativen Lebensformen waren
die Kommunen, in denen das Kleinstkollektiv Familie auf ein großes
Kollektiv erweitert wurde, das aus einer unterschiedlich großen
Anzahl von Personen bestand, die in unterschiedlichen Beziehungen
zueinander standen. Ihre gemeinsame Zielsetzung war die Befreiung
von der bürgerlichen Ideologie und ihren Lebensformen (vgl. Rerrich,
S. 94). Die Hausarbeit wurde nicht mehr allein von den Frauen
erledigt,
sondern
gleichermaßen
von
beiden
Geschlechtern.
Individuelle Bedürfnisse sollten nicht unterdrückt sondern ausgelebt
werden, auch wenn es sich um sexuelle Bedürfnisse hinsichtlich
mehrerer Partner oder Homosexualität handelt. Mit der sich
entwickelnden Frauenbewegung präsentieren Frauen nun öffentlich
eine neue Zärtlichkeit unter Frauen, die Lesbengruppen. Ebenso
entstanden Männergruppen, mit Hilfe derer die Männer sich von ihrer
ehemaligen Rolle in der traditionellen Familie zu emanzipieren
versuchten. Kinder, die in diesen Lebensformen geboren wurden,
sollten sich nicht, wie in der traditionellen Familie, ausschließlich auf
ihre Eltern fixieren, sondern ihre Sozialisation sollte von einer
Vielzahl von Zuwendungen geprägt werden. Die gesamte Erziehung
in der traditionellen Familie wurde als unterdrückerisch angesehen.
Auch bei einem kleinen Kind sollte der eigene Wille respektiert
werden, und die Strafe wurde als Erziehungsmittel abgelehnt. Eltern
und andere Sozialisationsinstanzen gaben ihre autoritäre Rolle auf
(Vgl. ebd., S. 11), die antiautoritäre Erziehung entwickelte sich zu
einem pädagogischen Konzept.
Viele dieser Ideen müssen im Kontext eines bestimmten Zeitgeistes
verstanden werden und haben im Laufe der Jahre an Radikalität
24
verloren. Die zentralen Themen der damaligen Debatten – Auslebung
sexueller Neigungen, Wahl der Lebens- und Wohnformen oder
Erziehungsmethoden – sorgen jedoch nach wie vor für reichlich
Diskussionsstoff und begleiten Männer wie Frauen auf der Suche
nach ihrem individuellen Lebensentwurf.
2.2.2 Heutige Formen von Familien in Deutschland
Seit mehr als einem Jahrhundert erleben wir, abhängig von der
Schichtzugehörigkeit,
in
einem
unterschiedlichen
Tempo
den
zunehmenden Übergang von einem normbestimmten zu einem
selbstbestimmten
Verhalten.
Der
voranschreitende
Individualisierungs- und soziale Differenzierungsprozess, eröffnet
dem Einzelnen eine immer größere Vielfalt an Auswahl- und
Entscheidungsmöglichkeiten
für
die
eigene
Lebensgestaltung.
Begünstigt wird dies durch den sozialen Wertewandel, durch den
traditionelle Pflicht- und Akzeptanzwerte immer mehr an Bedeutung
verlieren, während Selbstentfaltungswerte und die Planung eines
individuellen Lebensentwurfes immer höher eingestuft werden.
Waren traditionelle Familien und Kommunen einst konkurrierende
Modelle, so existieren heute mehrere Lebensformen nebeneinander.
Es gibt Familien verschiedener Größe und Zusammensetzung neben
Singlehaushalten
und
alternativen
Wohnformen,
wie
Wohngemeinschaften und gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
Viele Funktionen innerhalb der Familie haben sich verändert.
Während Familien früher meist Produktionseinheiten waren, wo jeder
zum gemeinsamen Handel oder Geschäft beitrug, sind sie heute in
der Regel nur noch Konsumtionseinheiten. Die Familienmitglieder
leben
und essen miteinander, kaufen
den
täglichen
Bedarf
gemeinsam ein, sie gehen jedoch ansonsten ihre eigenen Wege. In
vielen Familien sind beide Ehepartner berufstätig und die Kinder
verbringen täglich einen Großteil der Zeit außer Haus in Krippen,
Kindertagesstätten,
Kindergärten
und
Schulen.
Nach
diesen
Schulstunden sollte dafür gesorgt sein, dass sie ihre Freizeit in
25
Jugendclubs,
beim
Spielen
auf
der
Straße
oder
auf
Sportveranstaltungen zubringen können. Gleichzeitig wird Kindern in
der
Regel
mehr
Mitspracherecht
innerhalb
familiärer
Entscheidungsprozesse eingeräumt denn je zuvor. Großeltern,
kranke oder behinderte Verwandte dagegen leben nur noch selten
mit in der Familie. Sie sind in Alters- oder Pflegeheimen
untergebracht und beziehen Renten oder staatliche Unterstützungen.
Die finanziellen und moralischen Verpflichtungen der Familie ihnen
gegenüber sind also stark zurückgegangen.
Im Zuge dieser Entwicklungen haben die Begriffe „Vater“, „Mutter“
und „Kind“ ihre ursprünglich eindeutig festgelegte Bedeutung
verloren. Heute gibt es die biologische Mutter, die Leihmutter, die
neue Partnerin oder Lebensgefährtin des Vaters, die aber de facto
die Mutterrolle übernommen hat (vgl. Nave-Herz, 1994).
Daneben existiert eine große Anzahl von Familien, in denen die
Mutter oder der Vater die Kinder alleine erziehen, ebenso wie es
gleichgeschlechtliche
Kinderwunsch
Paare
verzichten.
Scheidungsrate
“Patchworkfamilien“
gibt,
Zudem
immer
mehr
genannt
die
nicht
mehr
auf
ihren
entstehen
durch
die
hohe
Stieffamilien,
werden,
und
in
die
auch
denen
Kinder
unterschiedlicher Herkunft leben.
Die Liberalisierung der Namensgebung unter anderem spiegelt das
Neudenken
familiärer
Beziehungen
wieder.
Während
in
der
traditionellen Familie auch per Gesetz die Frau den Namen des
Mannes annehmen musste, können heute beide Partner ihren
Namen behalten, sich einen gemeinsamen Familiennamen zulegen
oder eine Konstruktion von Doppelnamen wählen (vgl. §1355 BGB).
Neben dem Leben in Kleinfamilien, gibt es verschiedenste Versuche,
alternative Wohn- und Lebensformen zu verwirklichen und alternative
Familienmodelle zu erproben. Dabei ist die Bereitschaft zum
Experiment nicht neu, sie ist jedoch in der jüngeren Geschichte
deutlich verbreiteter und variantenreicher als je zuvor. Immer
größerer Beliebtheit erfreuen sich in Deutschland so genannte
Wohngemeinschaften, mit denen das freiwillige Zusammenleben
26
mehrere
unabhängiger
Personen
bezeichnet
wird,
die
sich
gemeinsam eine Wohnung teilen. Die Wahl für ein solches
Zusammenleben kann aus Kostengründen geschehen, oder aber
dem
Wunsch
entspringen,
seinen
Alltag
jenseits
familiärer
Hierarchien und Verpflichtungen mit Gleichberechtigten zu gestalten
und dennoch nicht alleine zu leben.
Für welches Lebenskonzept sich der Einzelne auch entscheiden
mag, im Prinzip sind heute den persönlichen Bedürfnissen und
Entfaltungsmöglichkeiten – mit oder ohne Familie – kaum noch
Grenzen gesetzt.
3. Ehe und Familie in der kurdischen
Gesellschaft
Zunächst wird in diesem Kapitel ein historischer Überblick über die
politischen
und
gesellschaftlichen
Entwicklungen
Kurdistans
gegeben. Dies ist an dieser Stelle notwendig, um darzustellen, unter
welchen Bedingungen die kurdische Bevölkerung gelebt hat und lebt.
Zu diesem Zweck wird auf gesellschaftliche, politische und religiöse
Dimensionen
eingegangen.
Daran
schließt sich eine
nähere
Betrachtung der traditionellen Ehe und des Familienlebens in der
islamischen Kultur an. Abschließend wird das familiäre Leben in der
Migration in Deutschland unter geschlechtsspezifischen Aspekten
dargestellt.
Heute leben etwa 35 bis 40 Millionen Kurden auf der Welt, in einem
relativ geschlossenen Siedlungsgebiet aber ohne eignen Staat (vgl.
Meyer-Ingwersen, 1995, S. 310). Anteilig davon leben circa 18 bis 20
Millionen Kurden in der Türkei und 8 bis 10 Millionen im Iran. Weitere
Länder,
in
denen
Kurden
leben,
sind
der
Irak,
Syrien,
westeuropäische Länder und andere. Die Grenzen zwischen den
Staaten Türkei, Irak, Iran und Syrien verlaufen mitten durch das
geographische Gebiet “Kurdistans“. Sie trennen Menschen gleicher
27
Sprache
und
Herkunft,
teilweise
zerschneiden
sie
willkürlich
historisch gewachsene Stammesgebiete. “Kurden in Kurdistan leben
als misstrauisch beobachtete Fremde im Hinterhof eines jeweiligen
Staates, der von ihnen strikte Loyalität verlangt, sie aber als Kurden
ausgrenzt”
(Meyer-Ingwersen).
Hierdurch
werden
Spannungen
ausgelöst, die häufig zu Militäreinsätzen, Aufständen, Vertreibung
und Zwangsumsiedlung führen. Das Verhältnis von Widerstand und
Unterdrückung bedingt diese Zustände (vgl. ebd.).
Der Journalist Frank Viviano erklärt hierzu:
“Auf meiner Reise treffe ich nicht eine einzige Familie, die
nicht irgendwann in den letzten 20 Jahren von ihrem Zuhause
fliehen musste; nicht einen Bauern, der nicht miterleben
musste, wo sein Dorf bombardiert oder mit Granaten
beschossen wurde; nicht einen Menschen, der keine
Geschichte über Angriffe mit Chemiewaffen, über Folter und
Hinrichtung unter Saddam Hussein erzählen konnte” (Viviano
in National Geographic, S. 36ff).
Die Kurden haben eine eigene Sprache, die zu den westiranischen
Sprachen zählt und zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehört. Sie
teilt sich auf in eine Vielzahl von Dialekten (vgl. Hennerbichler, 1988,
S. 30ff). Die Kurden nennen ihre Sprache Kurmancî (Kurmandji).
Hauptsächlich werden vier Dialekte (Nordkurmanci, Mittelkurmanci,
Südkurmanci und die Gorani-Zazayi-Gruppe) gesprochen (vgl. Hajo,
1994, S. 76).
3.1 Kurdistan – ein historischer Überblick
Über den Herkunftsursprung der Kurden ist wissenschaftlich wenig
erforscht. Das Land der Kurden ist ein uralter Heimatbegriff,
nachweisbar seit mehr als 4000 Jahren. Ein Land der Kurden war
lange schon populär, noch bevor Seldschuken im Mittelalter (ab dem
11. Jahrhundert) den heute noch gebräuchlichen Heimatbegriff
Kurdistan in Umlauf brachten (vgl. Hennebichler, S. 25). Kurden
hielten sich lange vor der Einwanderung der Türken in Kleinasien auf.
Sie lebten noch vor der Arabisierung von Syrien und dem Irak dort.
28
“Ab 641 n. Chr. sind die Kurden mit der gewaltsamen
Ausbreitung des Islam konfrontiert, die nach und nach
nahezu alle Kurden annehmen. Die Herrschaft des Islam ist
gleichzeitig mit Arabisierungstendenzen verbunden“ (Meyer Ingwersen, 1995, S. 310).
Weitere 500 bis 1000 Jahre später haben sie in Fürstentümern und
Erbdomänen gelebt. Sie waren zu der Zeit autonom, haben in
Frieden gelebt und eine eigene Zivilisation mit eigener Sprache und
eine reiche nationale Kultur in Kurdistan entwickelt (vgl. Kendal,
1994, S. 33ff).
Im Jahr 1555 kam es zum Frieden von Amasya, der die Grenzen
zwischen dem safavidischen Persien und dem osmanischen Reich
absteckte. Dies war die erste Teilung Kurdistans (vgl. MeyerIngwersen, S.311).
Kurden aus Mesopotamien und Anatolien wurden dem osmanischen
Reich zugesprochen und die, die weiter östlich davon leben, zählten
ab diesem Zeitpunkt zum Iran.
Im ersten Weltkrieg löste sich das osmanische Reich auf, und es
fand eine zweite Aufteilung Kurdistans auf die Mittelmächte
Frankreich, England und Italien statt (vgl. ebd., S. 312). Im Zuge
dessen entstanden die Staaten Irak, Syrien und Türkei.
Am 22.Januar 1946 wurde die Gründung der „Demokratischen
Republik Kurdistan“ in Mahabad unter Qazi Mohammad als
zukünftigen
Präsidenten
der
autonomen
Republik
im
Iran
durchgesetzt. Ein knappes Jahr haben die Kurden in der MahabadRegion eigenständig regiert. Die autonome Regierung stellte eine
zufrieden stellende Ordnung her, wodurch kriminelle Handlungen
deutlich abnahmen. Darüber hinaus verlief das politische Leben in
einer demokratischen Atmosphäre. In der relativ kurzen Zeit des
Bestehens dieser Republik (Januar – Dezember 1946), war der
Bevölkerung viel Freiraum in der politischen Willensbildung, in der
Auslebung der kurdischen Kultur und in Bezug auf gesellschaftliche
und soziale Verhältnisse gegeben. Für die Bevölkerung waren dies
Umstände, von denen sie jahrzehntelang geträumt hatten. Auch die
29
Situation
der
Frauen
verbesserte
sich,
z.B.
wurde
eine
Mädchenschule gegründet.
Nach knapp einem Jahr der „Mahabad-Republik“ wurde Qazi
Mohammad von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und am 31.
März 1947 hingerichtet. Mit diesem Ereignis ging das Ende der
Mahabad-Republik einher.
Die Mahabad-Republik ist für viele Kurden ein Symbol und Modell
kurdischer demokratischer Selbstverwaltung geworden. Zum anderen
bedeutete sie aber auch eine schmerzvolle Erfahrung in der
kurdischen Geschichte (vgl. Moradi, 1994, S. 110ff).
Im
20.
Jahrhundert
wurde
dem
kurdischen
Volk
von
unterschiedlichen Mächten mehrfach Autonomie für Kurdistan
versprochen. Der eigene Staat kam jedoch nie zustande und die
Kurden wurden zum Spielball der Großmächte. In Folge dessen
wurde die kurdische Sprache und Kultur unterdrückt (vgl. Skubsch, S.
117).
Immer wieder kam es zu Kurdenaufständen in den betroffenen
Gebieten, die mit wachsender Brutalität nieder geschlagen wurden.
Das führte zu einer weitgehenden Entrechtung und Ausgrenzung der
Kurden und zu enormen Menschenrechtsverletzungen (vgl. MönchBucak, S. 89).
“Die Umbrüche der vergangenen Zeit, bedingt durch Revolutionen,
Kriege und Terror, haben die kurdische Gesellschaft dramatisch
verändert und damit natürlich auch die Position der Frau“ (vgl. van
Bruinessen, S. 24.und 3.3.1).
Seit dem Golfkrieg 1991 genießen die 5 Millionen Kurden im Nordirak
fast völlige Autonomie. Seither können sie dort wählen und ein
feststehendes Gesetz wurde eingeführt. Sie haben einen Präsidenten
ernannt und sich politisch fast vollständig von Bagdad gelöst (vgl.
Viviano, 2006, S. 37ff).
Außerdem wurde ein kurdisches Bildungssystem eingeführt. Heute
sprechen kaum noch junge Kurden arabisch (vgl. ebd., S. 58), sie
30
würden sich auch nicht als Iraker bezeichnen.
Das Ziel der Kurden ist es, auf diplomatischem Weg eine
Unabhängigkeit in einem föderalen Irak zu erreichen. Dieses
Vorhaben wird allerdings von den Nachbarländern Türkei, Iran und
Syrien strikt abgelehnt. „Sie befürchten, dass Ihnen die Kontrolle über
die Kurden im eigenen Land entgleiten könnte” (Meyer-Ingwersen,
1995, S. 324). Die besondere Problematik dieser Ablehnung liegt
darin begründet, dass die Kurden auf die Kooperation dieser Staaten
bzgl. Sicherheit und Handel angewiesen sind.
3.1.1 Historische Entwicklung der Familie in Kurdistan
Die kurdische Bevölkerung gliedert sich, heute wie früher, in
Solidargruppen mit patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen.
Es gibt untereinander konkurrierender Stämme, die sich aus Sippen
zusammensetzen. Diese Sippen bestehen aus mehren Großfamilien,
die sich wiederum in mehre Kleinfamilien aufteilen (vgl. Kizilhan,
2006, S. 30ff).
Eltern, Kinder und Großfamilie, mit Großeltern, verheirateten Brüdern
und Schwestern und andere Verwandten, leben zusammen.
Das wichtigste Prinzip für die Bildung solcher Gesellschaften ist die
Annahme einer grundsätzlichen Ungleichheit des Menschen. Der
Status eines Menschen wird durch seine funktionale Zuordnung zu
anderen Menschen bestimmt, durch seine naturgegebene Unteroder Überordnung. Eine Familie ist geprägt von gesellschaftlich
definierten
Funktionen
und
Organisationsstrukturen,
die
kulturspezifische Sozialisationsziele, wie in etwa Respekt, Hierarchie,
Rollenkonformität, Einpassung in die (Familien-)Gemeinschaft und
Verdrängung des „Ich“ zum Wohle des „Wir“, beinhalten (vgl. ebd., S.
44).
Die wesentlichste Ungleichheit besteht in diesen Solidargruppen
zwischen Mann und Frau. Die Familie steht unter der Befehlsgewalt
des ältesten männlichen Erwachsenen. Das Prinzip der Ungleichheit
31
bestimmt alle sozialen Beziehungen innerhalb der Familie. Der Sohn
muss
dem
Vater
bedingungslos
gehorchen,
die
Frau
hat
eingeschränkte Rechte und ein älterer Bruder hat immer mehr zu
sagen als der Jüngere.
Das soziologische Zentrum der Solidargruppen ist die Eltern-KindFamilie. Oberhaupt ist der Vater, bei seiner Abwesenheit der älteste
Sohn. Die Macht des Oberhauptes ist für das gesellschaftliche Leben
ausschlaggebend, da sie sowohl das Handeln als auch das
Verhalten, bis hinein in die kleinste Familienangelegenheit, regelt
(vgl. Kizilhan, S. 17).
Geschichtlich
betrachtet
wirtschaftlich
noch
war
die
gesellschaftlich
Eltern-Kind-Familie
in
ihren
weder
Entscheidungen
selbstständig. Sie war Teil der Großfamilie oder mit der Sippe
verbunden.
Die Familie als erste Solidargemeinschaft bildete sich nicht in erster
Linie durch emotionale Bindungen, sondern als Produktions- und
Konsumgesellschaft. Dabei erfüllt die Institution Familie bis heute
gesellschaftliche Ordnungs- und Schutzfunktionen: Erstens wird
damit das Verhalten und die Unberührtheit junger Frauen bei der
Eheschließung kontrolliert. Zum anderen ist die Familie die Institution
zur Regelung von Geburten und Kindererziehung. An dritter Stelle ist
die Funktion von Ehe und Familie als wichtige Not- und
Solidargemeinschaft zu nennen. So führt die wirtschaftliche Not auch
zu lebenslangen Zwangsgemeinschaften, in der für Liebe kaum
Raum bleibt. Nicht zuletzt dient die Familie nicht nur der Sicherheit,
sondern ist auch Funktionsgemeinschaft, in der moralische und
religiöse Werte vermittelt wird.
Diese Strukturen werden durch den Lebensraum bedingt und sind in
den
Städten,
durch
Modernisierungsprozesse
wie
Bildungserweiterung, Arbeitsmöglichkeiten und beengten Wohnraum,
deutlich gemäßigter oder nur in Ansätzen zu finden.
Die verbreitete politische und wirtschaftliche Armut Kurdistans war
und ist ein bedeutsames Hindernis in der Entwicklung der
32
Selbstentfaltung der Familie. Die Familienbeziehung ist eines der
wichtigsten und traditionellen Gegebenheiten bei den Kurden. So ist
z.B. die Familienbeziehung auch zwischen Verwandten des zweiten
und dritten Grades sehr eng. Deren Wichtigkeit zeigt sich nicht nur in
Form von gegenseitigen Besuchen, sondern auch in gegenseitiger
Unterstützung und Hilfestellung jeglicher Art. Je harmonischer die
Beziehung zu der Verwandtschaft ist, desto höher ist das Ansehen in
der Gesellschaft. Zudem werden auch Ehepartner und -partnerinnen
ziemlich häufig aus der unmittelbaren oder weiten Verwandtschaft
ausgewählt. Am meisten angesehen ist es jedoch, eine Ehe mit der
Tochter des Onkels einzugehen (vgl. Meyer-Ingwersen, S. 320).
Unter dem Verwandtschaftsbegriff werden vielfältige Beziehungen
verstanden,
darunter
auch
Beziehungen
mit
angeheirateten
Personen und deren Bekannten und Verwandten (vgl. Kizilhan, S.32).
Die Ehrerbietung spielt in den kurdischen Sozialbeziehungen eine
große und äußerst wichtige Rolle. So haben die „Kleineren“ die
„Großen“ zu ehren. Unter „Groß“ ist hier das höhere Alter zu
verstehen. Der „Große des Hauses“ ist das Familienoberhaupt, der
„Große
des
Stammes“
ist
der
Stammesführer,
der
die
Angelegenheiten des Stammes gemeinsam mit den „Weißbärten“
(dem Ältestenrat) entscheidet (vgl. Meyer-Ingwersen, S. 320). Wenn
die „Großen“ ein Gespräch führen oder miteinander sprechen, haben
die „Kleinen“ zu schweigen. Sie dürfen die „Großen“ weder
unterbrechen noch ihnen widersprechen. Diese Erwartungshaltung
wird unter den Lebensbedingungen in Deutschland zunehmend
geringer. Dennoch ist diese Sitte zum erheblichen Teil noch
vorhanden.
Der Beschluss einer Ehe ist jungen Kurdinnen und Kurden nicht
allein überlassen, denn die Verheiratung eines jungen Menschen ist
nach kurdischer Tradition keine Privatangelegenheit, sondern eine
Familienangelegenheit.
Die
Eltern
tragen
hier
die
Hauptverantwortung, sie wählen den zukünftigen Partner aus. Die
Eltern des Jungen müssen dabei die Initiative ergreifen und nicht
33
umgekehrt. Der Druck liegt aber auch auf der Familie des Mädchens,
da es in der Tradition üblich ist, Mädchen möglichst früh, d.h. ab etwa
12
Jahren,
zu
verheiraten.
Die
Frau
wird
nach
gleicher
Schichtzugehörigkeit, Verwandtschaft, Dorfgemeinschaft und gleicher
Religion ausgesucht.
Am Ende des 20. Jahrhundert zerbrachen der Feudalismus und die
Stammesgesellschaft.
Die
meisten
Kurden
leben
heute
als
Kleinbauern von der Landwirtschaft, die nur langsam mechanisiert
wird. Die Bodenschätze wie Gold, Erdgas, Silber und Uran sind
allerdings wenig erschlossen. Auch der Straßenverkehr und das
Kommunikationsnetz sind wenig ausgebaut (vgl. Hennerbichler, S.
50f).
Diese Unterentwicklung Kurdistans ist durch den Bankrott der
Wirtschaftspolitik
unter
den
verschiedenen
Regierungen
noch
verstärkt worden. Dadurch ergibt sich für Kurdistan eine doppelte
Problematik, denn die Menschen, die in Ländern mit geringen
Bildungschancen und hoher Arbeitslosigkeit leben, werden aufgrund
ihrer kurdischen Abstammung zusätzlich benachteiligt (vgl. Vanly,
S.58ff).
3.2 Ehe und Rolle der Frau im Islam
Ab dem siebten Jahrhundert nach Christi wurden Teile Kurdistans
gewaltsam islamisiert und die christliche und zoroastrische1 Religion
zerstört (vgl. Kizilhan, S. 16). Die arabischen Besetzter verfolgten das
Ziel,
die
kurdischen
Stämme
zu
unterwerfen.
Der
ihnen
aufgezwungene Islam beeinflusste zwar nachhaltig die kurdische
Gesellschaft, jedoch anders als die türkische und die persische
Gesellschaft. Die Kurden waren nicht so streng gläubig wie die
Perser, die Türken und die Araber. Daraus ergab sich das Bild von
1
Diese Religion geht auf den Propheten Zarathustra bzw. Zoroaster zurück.
Sie ist ca. 600 vor Christus entstanden und geht davon aus, dass ein
34
,,schlechten Muslimen“ und schlechten Schülern Muhammads.
„Darüber hinaus dient der Islam den Kurden, die über
keine Zentralmacht verfügen, tatsächlich nicht als
Grundlage für eine soziale oder politische Institution; ihnen
hat der Islam als Verkörperung ihrer Identität genützt“
(Begikhani, 2000, S. 56).
Der Begriff „Islam“ bedeutet im eigentlichen Sinne „Unterwerfung
unter Gott“. Die „Unterwerfung“ des Gläubigen ist hier umfassend zu
verstehen und betrifft sowohl die innere Glaubensüberzeugung, als
auch die mit der Religion verbundenen Praxis. Die Lebensführung,
die sich aus diesem Glauben ergibt, richtet sich auf das Diesseits und
auf das Jenseits (vgl. Kizilhan, S. 19).
„Die Regeln des Islam sind für die gesamte menschliche
Lebensführung verbindlich und beanspruchen, dass ihr
Bestand an Geboten und Verboten die Bereiche Religion
und
Recht
umfasst.
In
seinem
umfassenden
Geltungsanspruch unterscheidet sich der Islam nicht vom
Christentum und von anderen Religionen“ (Kizilhan, S. 19).
Die Kurden sind im Allgemeinen gemäßigte Muslime. Viele kurdische
Frauen bedecken ihre Haare nicht und sind „freier“ als etwa türkische
oder arabische Frauen. Durch solche Vergleiche, die in erster Linie
durch das Fehlen des Schleiers bestimmt sind, entstand ein
bestimmtes Bild der kurdischen Frau in der westlichen Literatur.
Dieses Bild der „freieren“ Frau wurde durch reale Beobachtungen
von britischen Reisender und Beamten in Südkurdistan bestätigt (vgl.
van Bruinessen, S.59). Darüber hinaus reisen viele kurdische
Familien nicht zur Hadsch (Wallfahrt) nach Mekka, sehen sich selbst
jedoch als praktizierende Muslime an.
Die islamische Überlieferung über die Rechtsstellung der Frau ist ein
viel diskutiertes und komplexes Thema, zumal die Frau über weniger
Rechte verfügt als der Mann. Der Ehemann besitzt das Recht vier
Ehen zur gleichen Zeit einzugehen und die Ehe durch Verstoßung
System von Gut und Böse ist.
35
aufzulösen. Mehr Rechte erhält der Mann zudem in Bezug auf das
Sorgerecht für gemeinsame Kinder. Außerdem geht die Zuteilung des
doppelten Erbes an die Söhne (vgl. Kizilhan, S. 78).
Die familiär und erbrechtlich nicht „gleichberechtigte“ Stellung der
Frau lässt sich im Koran mit der Sure 4, Vers 34 belegen, in der es
heißt:
„Die Männer stehen in Verantwortung für die Frauen, wegen
dessen, womit Allah die einen vor ihnen vor den anderen
ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Besitz (für sie)
ausgeben. Darum sind die rechtschaffenden Frauen (Allah)
demütig ergeben und hüten das zu Verbergende, weil Allah
es hütet. Und diejenigen, deren Widersetzlichkeit ihr
befürchtet, ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt
sie. Wenn sie euch aber gehorchen, dann sucht kein Mittel
gegen sie.“
Begründet wird die Sonderstellung der Männer mit einer von ihnen zu
erfüllenden Unterhaltsleistung. Dadurch besteht eine funktionale
Überlegenheit
des
Mannes,
aber
keine
wesensmäßige
Minderwertigkeit der Frau. Des Weiteren wird dem Mann eine
Beschützerrolle zugeteilt, die als ein Argument für den höheren
Stellenwert des Mannes dient (vgl. Kizilhan, S. 78).
Jedoch wird auch im Koran betont, dass Gott beide Geschlechter als
seine Geschöpfe anerkennt. Beiden Geschlechtern wird im Islam die
gleiche Aufmerksamkeit und Beachtung geschenkt.
Hierzu steht im Koran in Sure 49, Vers 13: „Und die Gläubigen,
Männer und Frauen, sind einer des anderen Freunde(…)“. Allerdings
werden im Islam psychische und physische Unterschiede zwischen
beiden Geschlechtern gemacht. Der Islam geht deswegen davon
aus, dass Frau und Mann unterschiedliche Bedürfnisse und
Eigenschaften haben, und er teilt ihnen unterschiedliche Aufgaben
und Pflichten zu.
Jedoch wird an mehreren Stellen im Koran erwähnt, dass Männer
und Frauen die gleichen religiösen Pflichten haben. In einem
Ausspruch des Propheten Mohammed heißt es:
„Wahrlich
die
Frauen
sind
die
schaqa´iq
36
(Zwillingsschwestern oder Zwillingshälften) der Männer.“
Die Religion hat den Anspruch an beide Geschlechter,
dass sie sich sowohl im privaten Leben als auch innerhalb
der Gesellschaft ergänzen. Im Koran ist hierzu zu lesen:
„Sie sind euch ein Kleid, und ihr seid ihnen ein Kleid“ (Sure
2, Vers 187).
Beide
Geschlechter
haben
sich
gegenseitig
Schutz,
Liebe,
Geborgenheit und Wärme zu geben (vgl. Asim, 1999, S. 16).
Die größte Wertschätzung wird der muslimischen Frau in ihrer Rolle
als Mutter entgegengebracht. So heißt es in einem Hadith (Neben
dem Koran gibt es die Sunna des Propheten Muhammed. In der
Sunna ist der Koran in Hadithen erläutert und erklärt): „Das Paradies
liegt unter den Füssen der Mütter“.
Für die Muslime ist die Familie die Keimzelle der menschlichen
Gemeinschaft. Gott selber hat ihr diese zentrale Bedeutung in der
gesellschaftlichen und religiösen Ordnung gegeben.
Die Ehe gehört im Islam zur Aufgabe der Gläubigen. Sie soll die
Eheleute vor Sünde schützen und die Triebe zur Ruhe kommen
lassen (vgl. Sure 30 Vers 21). Der Prophet Mohammed sagte hierzu
in einem Hadith: „Wenn ein Diener Gottes heiratet, erfüllt er die Hälfte
seiner Religion."
Im Gegensatz zur christlichen Form ist die Ehe im Islam ein
Zivilvertrag, wobei deren Gültigkeit von keiner religiösen Zeremonie
abhängig gemacht wird. Beide Partner geben ihr Einverständnis für
die Eheschließung. Dieses Einverständnis ist im Beisein dreier
Zeugen zu vollziehen. Der Bräutigam wie auch die Braut dürfen sich
vor der Hochzeit sehen (vgl. Asim, S. 49ff.). Dies ist die Auffassung
aller islamischen Rechtsschulen. Bei der Eheschließung hat die Braut
ein Anrecht auf das so genannte Brautgeld, was sie von dem
Bräutigam bekommen soll. Die Höhe des Brautgeldes ist nicht
festgesetzt, jedoch gibt es hier eine Richtlinie. Die Höhe sollte
mindestens soviel betragen, dass sich die Frau bei einem späteren
Scheidungsfall für einen bestimmten Zeitraum versorgen kann (vgl.
37
Asim, S. 73).
Eine muslimische Ehe kommt meistens durch Bekanntschaften mit
Eltern, Verwandten und Bekannten zustande. Das Umfeld, das die
zwei geeigneten Personen einander vorstellt, hat die Aufgabe, die
Wünsche der jeweiligen Personen zu beachten. Wenn beide Partner
gegenseitige Sympathie empfinden, haben sie die Möglichkeit sich
näher kennen zu lernen, um möglicherweise eine Ehe einzugehen.
Diese Form der Eheschließung wird als „arrangierte Ehe“ bezeichnet.
Das Arrangieren einer Ehe hat im Islam einen hohen Stellenwert, da
es als Gottesdienst zählt, heiratswilligen Personen bei der Suche
nach einem geeignetem Partner behilflich zu sein.
Weiterhin ist bei einer islamischen Eheschließung zu beachten,
welche Personengruppen nicht geehelicht werden dürfen, dies wird in
der folgenden Sure des Korans geregelt:
„Verboten sind euch eure Mütter, Töchter, Schwestern,
Vaters
Schwestern,
Mutters
Schwestern,
die
Bruderstöchter, die Schwestertöchter, eure Nährmütter,
eure Milchschwestern, die Mütter eurer Frauen, eure
Stieftöchter, ferner die Frauen eurer Söhne, die von euren
Lenden sind; auch dass ihr zwei Schwestern gleichzeitig
habt...“ (Sure 4; Vers 23).
3.2.1 Rolle und gesellschaftliche Stellung der Frau in
der kurdischen Familie
Neben der Religion sind auch immer die Kultur und die Tradition der
jeweiligen Muslime zu berücksichtigen. Unter Tradition versteht man
im Allgemeinen die Weitergabe von Wertvorstellungen und Bräuchen
innerhalb verschiedener Generationen. Dies geschieht sowohl auf
persönlicher als auch auf religiöser und gesellschaftlicher Ebene.
Innerhalb der Gesellschaft bedeutet dies die Weitergabe von
anerkannten Lebensprinzipien, die etabliert sind und teilweise ohne
Widerspruch weitergegeben und nicht hinterfragt werden. In der
Familie und in den Familienverbänden beziehen sich diese
Wertevorstellungen auf Anstand, Moral und Zeremonien. Der Begriff
Tradition wird eher als wertneutral empfunden oder sogar positiv
38
besetzt,
da
er
ein
historisches
Denken
und
eine
gewisse
Wertebeständigkeit suggeriert.
In Bezug auf die Tradition ist anzumerken, dass es nicht den einen
Muslim gibt, da der Islam in vielen unterschiedlich kulturell geprägten
Gebieten verbreitet ist.
Teilweise wurde der Islam instrumentalisiert oder es wurden
kurdische Traditionen als islamische Vorschriften ausgegeben.
Folgende Definitionen sind in der kurdischen Tradition zu finden:
“Ne jina kenokî
û ne mêrê fihtokî.”
[Die Tradtion bevorzugt]...
“nicht die lachende Frau
und nicht den zurückhaltenden Mann”
“Bila pîrek here ber xencerê,
bila neçe ber xebrê.”
Die Frau soll zum Dolch gehen,
aber sie soll nicht ins Gerede kommen. (wörtlich übersetzt)
Die Frau soll lieber sterben,
als dass sie ins Gerede kommt. (frei übersetzt)
“Jina ji xwe fihêt hêja ye şehrekî,
jina ji xwe nefihêt hêja ye kehrekî.”
Die Frau, die sich schämt, ist eine Stadt wert.
Die Frau, die sich nicht schämt, ist ein Zicklein wert
(mündliche Überlieferung aus den Interviews mit den kurdischen
39
Frauen).
“Das Leben als Mensch ist schwierig.
Das Leben als kurdischer Mensch noch schwieriger” (vgl. Zaza, 1982).
Betrachtet man dieses Zitat Zazas im Kontext der Rolle der
kurdischen Frauen, so lässt sich diese vielleicht treffend beschreiben,
wenn man das Wort „Mensch“ durch „Frau“ ersetzt. Daraus könnte
sich Folgendes ergeben:
Das Leben als Frau ist schwierig.
Das Leben als kurdische Frau noch viel schwieriger.
Vor allem die Stellung der Frau in Kurdistan ist sehr widersprüchlich,
was besonders für die Frau eine große Herausforderung darstellt.
Zum einen muss sich die Frau den patriarchalischen Werten und
Normen der Gesellschaft unterwerfen, zum anderen „gibt es aus der
Vergangenheit viele Berichte darüber, dass Frauen in kurdischen
Stämmen eine wichtige Rolle gespielt haben“ (Meyer-Ingwersen,
1995, S. 321).
So ist zum ersten Punkt anzumerken, dass innerhalb des
Patriarchats eine eigenständige Entwicklung in der Regel unmöglich
war, da sich alle Familienmitglieder, insbesondere die Frauen, der
männlich
geprägten
Moralvorstellung
anpassen
mussten.
Die
hierarchische Beziehung zwischen Mann und Frau ergab eine
Unterordnung der Ehefrau unter den Ehemann und führte zu einer
sozialen Isolierung der Frau innerhalb der Kleinfamilie (vgl. Skubsch,
S. 226).
Allerdings hatten einige Frauen jedoch die Möglichkeit, durch das
Ansehen ihrer Familie innerhalb der Gesellschaft, durch Reichtum
und durch männliche Verwandtschaft, eine einflussreiche Position zu
erlangen. In Form eines Matriarchats haben sie ebenso konsequent
auf die Einhaltung von Tradition und Moral geachtet wie ein
40
männliches Familienoberhaupt. Diese Frauen waren intelligent und
durch Erfahrung selbstbewusst genug, ihre Rolle zu behaupten. Sie
stammten alle aus aristokratischen Kreisen, und zunächst verdankten
sie ihre Autorität ihrem Vater oder Ehemann.
Ein Beispiel ist Adela Khanum aus dem Stamm der Jaf. Nach dem
Tod ihres Mannes Usman Pascha blieb sie bis zu ihrem Tod an der
Macht (vgl. van Bruinessen, S.10). Weitere Frauen in mächtigen
Positionen ließen sich an einer Hand abzählen (Weitere bedeutende
Frauen waren hierzu Khanum Sultan (1620) und Kara Fatima
Khanum (1850). Sie war Oberhaupt eines kurdischen Stammes).
Es war möglich, dass der Vorname der Frauen zum Nachnamen der
Söhne wurde, um den Einfluss zu symbolisieren (Ebd., S. 10). Neben
den Söhnen der berühmten Frauen Perikhan Khatun und Shemsi
Khatun, die Amînê Perikhanê und Mihemedê Shemsê genannt
wurden, gab es noch zahlreiche weitere Beispiele (Cemlîlê Rexda,
Hasanê Mencê, Milhemedê Fatimê; hierbei sind Rexda, Mencê und
Fatimê die Vornamen der Mütter).
Einige kurdische Autoren sehen in der Existenz der oben genannten
Stammesführerinnen einen Beweis für die Gleichberechtigung der
kurdischen Frauen, wie beispielsweise der bekannte kurdische
Schriftsteller Musa Anter: “Aus alten Büchern erfahren wir, dass
Frauen in der kurdischen Gesellschaft Männern sozial gleichgestellt
waren” (Vgl. ebd., S. 16).
Solche Aussagen sind möglicherweise nur ein Versuch, darüber
hinwegtäuschen,
dass
diese
Männer
eine
Emanzipation
für
überflüssig halten (Ebd., S. 22).
In der Realität traf die Gleichberechtigung nur auf einige wenige
Frauen zu, die aufgrund ihrer aristokratischen Abstammung eine
gewisse Bewegungsfreiheit hatten. Für die restlichen Frauen
Kurdistans galt dies aber nicht. In weniger gut gestellten Familien auf
dem Land war die Bewegungsfreiheit zwar größer, aber die Frauen
waren trotzdem ihren Männern gegenüber alles andere als
gleichberechtigt.
Die kurdische Autorin F. Karahan vertritt eine Meinung, die der oben
41
dargestellten Ansicht über die
Position angesehener Frauen
entgegengesetzt ist. Ihrer Auffassung nach, werden in der kurdischen
Gesellschaft, wie in anderen traditionellen Gesellschaften, Frauen nur
als Mütter und Ehefrauen respektiert, nicht als eigenständige
Persönlichkeiten. Der Begriff der Ehre, der über allem steht, schränkt
die Frauen viel stärker ein als die Männer (vgl. van Bruinessen, S.
23). Die Anerkennung der kurdischen Frau steigt mit der Anzahl ihrer
Kinder.
Heutzutage sind die patriarchalischen Verhältnisse nicht mehr
unumstritten und auch die kurdischen Frauen – wie in allen Kulturen
– haben versucht, diese zu durchbrechen. So gibt es kurdische
Frauen, die in unterschiedlichen höheren Berufen tätig sind, wie z.B.
Anwältinnen, Ärztinnen, Journalistinnen, etc. Diese Frauengruppen
haben die klassische Frauenrolle durchbrochen und setzen sich
vermehrt für die Frauenemanzipation ein (vgl. Meyer-Ingwersen, S.
321f.). Auch gibt es einige Frauenorganisationen, die aber unter
durchaus schwierigen Umständen arbeiten; denn so ist „der Kampf
um die Rechte der Frauen von der nationalen Frage nicht zu trennen“
(Ebd., S. 321).
Insgesamt ist die Position der Frau in Kurdistan heute schwierig und
nicht eindeutig zu definieren. So gibt es einerseits immer noch das
traditionelle Bild der Frau, die unter den Zwängen des Patriarchats
lebt, andererseits kann die Frau in bestimmten Situationen die Rolle
des Familienoberhaupts einnehmen. Allerdings wird im politischen
Diskurs der Befreiungsbewegung der Versuch einer Neudefinition der
Rolle der Frau in der Gesellschaft unternommen. Dieser Ansatz
versucht, die bisherigen Extreme vom Bild der Frau – dem
Traditionalismus auf der einen Seite und dem Modernismus auf der
anderen Seite – zu vereinen (vgl. Yalçin-Heckmann / van Gelder,
2000, S. 100).
In Kapitel 3.3 werde ich verschiedene Generationen von kurdischen
Frauen beschreiben. Es erfolgt dabei eine Unterteilung in drei
42
Generationen.
3.3 Drei Generationen von Frauen seit 1920
Im Folgenden wird die Geschichte der kurdischen Frau ab 1920 bis
heute dargestellt. Die Erkenntnisse des folgenden Abschnitts wurden
durch eine selbst durchgeführte Studie gewonnen, im Rahmen derer
etwa 100 Interviews mit kurdischen Frauen aus drei Generationen
geführt wurden. Drei biografische Beispiele hierzu finden sich im
Anhang
(Vgl.
dazu
Anhang:
7.2.1.
Biographie
Behya,7.2.2.
Biographie Dilxwaz, 7.2.3. Biographie Stêr, 7.2.4. Biographie Assos).
Durch die dürftige Literatur über kurdische Frauen werden einige hier
gewonnene Erkenntnisse belegt. Hierzu sei Mojab (vgl. Mojab, 2001,
S. 53ff) angeführt. In ihrem Artikel beschreibt die Autorin die Situation
der
Frauen
in
Kurdistan,
die
sie
zunächst
unterschiedlich
kategorisiert. So führt sie zum einen die Seite des „externen Kriegs”
auf, den sie in einem späteren Teil gegen den „internen Krieg”
abgrenzt. Unter dem „externen Krieg” versteht Mojab „einen Krieg,
der allen Kurden – Männern, Frauen und Kindern – durch die vier
Nationalstaaten aufgezwungen wurde, die die Kurden gewaltsam in
ihre staatlichen Strukturen eingebunden haben” (Mojab, 2001, S. 53).
Demgegenüber steht der „interne Krieg”, der “gegen Frauen geführt
wird – nicht durch den Staat, sondern durch die männlichen
Mitglieder der kurdischen Nation” (Ebd., 2001, S.53). Trotz des
existierenden Mythos von der Sonderstellung kurdischer Frauen – es
wurde behauptet, dass sie gesellschaftlich mehr Freiheit genossen
als die Frauen der Nachbarnationen – ist rückblickend aus objektiver
Sicht festzustellen, dass auch Frauen in Kurdistan bewusst von
staatlicher Seite „dumm gehalten” wurden. „Dies begünstigte das
Weiterbestehen von Traditionen wie Agnatenehen, Brautpreis,
Frauentausch (berdêlî) und Zwangsverheiratung” (Wedel, 2000, S.
111f). Neben dieser psychischen „Gewalt” gab es des Weiteren eine
physische, die sich vor allem in Form von Ehrenmorden2 äußerte.3
2
3
Zum Thema Ehrenmorde vgl. Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit.
Neben den Ehrenmorden im „internen Krieg“ gibt es weitere Formen der
43
So zerstören sowohl der „externe“ als auch der „interne Krieg” vor
allem das Leben der kurdischen Frauen.
Seit den 1930er Jahren begannen gebildete, städtische und arme,
ländliche
kurdische
Frauen
sich
in
Frauenbewegungen
zusammenzuschließen, um gegen die patriarchalischen Strukturen
gemeinsam anzukämpfen und ihre Situationen zu verbessern. So
forderten sie „dass die Frau alle politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Rechte sowie das Recht auf Bildung nutzen kann und dafür
notwendige gesetzliche Grundlagen geschaffen werden” (Fischerahir, 2000, S. 164).
3.3.1 Erste Generation
In dieser ersten Generation kurdischer Frauen, zwischen 1920 und
1945, spielten ökonomische Faktoren und feudale Strukturen eine
große Rolle, welche die Tradition in den Mittelpunkt rückte. So war es
Usus, dass eine Heirat dazu diente, die Familie strategisch gut zu
vergrößern, um so Macht zu gewinnen und zu symbolisieren.
Teilweise gab es auch Heiraten zwischen verschiedenen Sippen,
damit Frieden und gute Beziehungen aufgebaut und gepflegt wurden.
Verwandtschaftliche Bindungen bilden in kurdischen Kulturen ein
wichtiges Grundgerüst des Zusammenlebens. Sie schützen und
kontrollieren Ihre Angehörigen gleichzeitig, da sie deren Rechte und
Pflichten
durch
alltägliche
Verhaltensregeln
und
moralische
Vorstellungen beeinflussen (Eisenrieder, S. 36). So haben verwandte
Großfamilien einander ungeborene Kinder im Sinne einer Verlobung
versprochen. Sofort wurde das ungeborene Mädchen zum Besitz der
Familie des ungeborenen Jungen. Selbst bei einer Totgeburt oder
dem Tod des Jungen änderte sich hieran nichts. Dieses Mädchen
wurde mit dem nächstgeborenen männlichen Nachkommen verlobt.
psychischen und physischen Gewalt gegen Frauen im Kurdistan. So
benutzt der Staat im „externen Krieg“ gezielt Frauen als Instrument im
Sinne ihrer Tradition, sie durch Vergewaltigung zu entehren, um so die
Ehre der Familie zu beschmutzen. Kurdische Aktivistinnen,
Familienangehörige und Dorfbewohnerinnen werden so aus der
Gemeinschaft ausgegrenzt, was oft mit tödlichen Folgen endet, um die
44
Hier wurde auf das Alter keine Rücksicht genommen. Der Tod des
Mädchens hatte jedoch keine Konsequenzen für die Familien des
Sohnes. Er ist war wieder frei.
Es wurde sehr viel Wert darauf gelegt, die Kinder innerhalb einer
Großfamilie zu verheiraten. Eine Heirat mit Cousinen und Cousins
ersten Grades war sehr gängig und wurde bevorzugt.
An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass es gesellschaftliche
Unterschiede gab, die sich auf die Heirat auswirkten. So gab es zum
Beispiel die „aristokratische” Frau, gleichzusetzen mit der deutschen
bürgerlichen Frau, die von der „Frau vom Land” zu unterscheiden.
Im Folgenden berichtet Behya, 70 Jahre alt, geboren in süd-westKurdistan/ Gebiet Botan.
„Wir Frauen aus den großen bekannten Familien durften nicht das
Haus verlassen. Im Unterschied zu anderen Frauen aus dem Dorf
gehörte es sich nicht für Mädchen aus diesen Familien, sich auf den
Straßen des Dorfes zu zeigen, Einkäufe zu erledigen oder auf den
Feldern zu arbeiten.
Frauen dieser Generation bekamen ihren zukünftigen Ehemann erst
in der Hochzeitsnacht zu sehen, wohingegen der Mann die
Möglichkeit hatte, sich seine zukünftige Frau aus der Ferne
anzuschauen. Die Nichte wollte mich ihrem Onkel unbemerkt zeigen.
Sie versuchte mich aus dem Haus zu locken damit sie von dem
angeworbenen Ehemann gesehen werden konnte. Oft behaupteten
die Männer damals, dass bei der Hochzeit eine falsche Frau
„geliefert” wurde. Ich hatte keine Ahnung wer mein Verlobter war. Ich
hätte jeden genommen, der mir vorgestellt worden wäre. Es gehörte
sich nicht einmal zu fragen. Man schämte sich auch zu fragen. Ein
Mädchen, dass fragt oder dass störrisch ist und seine Wünsche
äußern will, dass ist so gut wie tot. Man wird es töten. Was soll man
mit einem solchen Mädchen anfangen? Es gab damals nur (ja) „libê“
und „belê“ (ein herzliches oder ein wohlerzogenes „Ja“). “
Die Trauung vollzog sich ohne die Braut, da das Einverständnis des
„Schande“ der Familie aufrecht zu erhalten (Vgl. Mojab, 2000).
45
Vaters oder des Bruders genügte. Die Eheschließung wurde nicht
von zwei Menschen, sondern von zwei Familien vollzogen (vgl.
Atabay, 1998, S. 35f). Die Frauen erhielten kein Mitspracherecht und
hatten den Anweisungen ihres Vaters zu gehorchen. Sie dachten
wenig über ihre Rechte nach und fühlten sich durch ihre Familie
beschützt. Die Zeremonie gehörte zu den Aufgaben der Familie des
Bräutigams. Der Brautpreis bestand aus Geld, Gold, Tieren und
Waffen.
Dadurch
war
die
finanzielle
Sicherheit
der
Frau
gewährleistet. Der Brautpreis war umso höher, je höher das Ansehen
der Frau war (vgl. Mönch-Bucak, S. 90). Die Frau trat bei der
Eheschließung in die Familie des Mannes ein und hatte sich den dort
herrschenden Strukturen anzupassen und zu unterwerfen (MeyerIngwersen, S. 321). Verstieß sie gegen diese Regelung, brachte man
sie in Ihre Herkunftsfamilie zurück. Diese wiederum versuchte sie
dann in die angeheiratete Familie zurückzubringen. Dies geschah,
weil sonst die Ehre der Familie verletzt gewesen wäre. Das Gleiche
galt auch, wenn die Frau von selbst die Familie verließ.
Das Ziel einer Ehe war nicht das liebesbedingte Zusammenleben von
Mann und Frau, sondern es ging hauptsächlich darum, für
Nachkommen zu sorgen und somit die Familie zu vergrößern. Blieb
die Ehe kinderlos, war es nach traditionellem Verständnis die
Aufgabe der Familie eine neue Frau für den Mann zu finden. Das
gleiche Schicksal traf die Frau, wenn sie nur Mädchen zur Welt
brachte, da der Mann sonst keinen Erbnachfolger hatte. Das
Gebären von vielen Söhnen spielte eine wichtige Rolle und hob das
Ansehen einer Frau. Es sicherte den wirtschaftlichen Fortbestand der
Familie, da das Erbe nur an männliche Nachkommen weitergegeben
wurde. Dazu berichtet Leyla Zana, eine politische Abgeordnete in der
Türkei, aus der nahen Vergangenheit einer Verwandten ihres Vaters:
„Immer wenn meine Mutter ein Mädchen gebar, fluchte sie. Sie
betrachtete das Mädchen als Last. Fünfmal geflucht, dann kam
endlich ein Bruder, dessen dominante Rolle durch sein Geschlecht
vorbestimmt war“ (Leyla Zana in Savelsberg, 2000, S. 179f).
46
In einigen Teilen Kurdistans kam es in der Vergangenheit häufiger zu
„Entführungen“ von Geliebten. Nach der gemeinsamen Flucht suchte
das Paar oft Schutz bei einer einflussreichen Person (Allison, F. C.,
2000, S. 43ff). Es galten hohe moralische Ansprüche an das
männliche Verhalten: die Entführung einer Frau verschaffte ihm
hohes Ansehen und gehörte zur Normalität, genau wie der
Frauentausch und die Wiederverheiratung von Witwen innerhalb der
Familie (vgl. Rautenstrauch-Joest, S. 10). Entführte Frauen waren
gezwungen sich in die neue Familie einzubinden, da der Kontakt zur
Herkunftsfamilie unterbrochen und verhindert wurde. Es kam aber
auch zu Verfeindungen der Familien, wenn diese nicht für die Frauen
entlohnt
wurden.
Durch
finanziellen
Ausgleich
konnte
dies
geschlichtet werden (vgl. Wedel, 2000, S. 112).
Bei Witwenschaft war es üblich, dass die Frauen den Bruder des
Verstorbenen, oder auch in Einzelfällen ihre Stiefsöhne, heirateten,
um ihren Platz in der Familie zu behalten.
Der Mann machte Sympathieunterschiede zwischen den Frauen und
den Kindern in einer polygamen Ehe. Die Kinder der geliebten
Ehefrau galten in der damaligen Gesellschaft viel mehr als seine
anderen Frauen und deren Kinder. Diese schwierige Situation
bewirkte bei den Frauen, dass sie durch verschiedene Erfahrungen
selbstbewusst und umsichtig wurden. Ein Ausweichen war nicht
möglich, die Frauen mussten ihre Probleme eigenständig lösen, da
sie sich nirgends Rat holen konnten. Obwohl es in der Familie eine
spezielle Aufgabenverteilung bzw. Rangordnung gab, war es Frauen
immer wieder möglich sich zu solidarisieren und gegenseitig zu
achteten. Es herrschte aber nicht immer eine positive Atmosphäre
innerhalb der Großfamilie.
In dem Frauenverband hatte die jeweils älteste Frau die Autorität und
fällte Entscheidungen bezüglich des Haushaltes und auch in Hinblick
auf die Zukunft der Kinder und die wirtschaftlichen Verhältnisse.
Ein wichtiger Bestandteil dieser Zeit waren ungeschriebene Regeln
und Gesetzte, die sich im Laufe der Zeit gebildet hatten und
maßgeblich die Tradition beeinflussten. Zum Beispiel alles was im
47
Haushalt benötigt wurde, sollte dort von den Frauen hergestellt
werden. Besonders im ländlichen Raum fand dies aber kein Anklang,
hier war eine Arbeitsteilung zwingend erforderlich, in der die Frau
auch außerhalb des Hauses arbeitete (dies betraf z.B. das Melken
und die zugehörigen Tätigkeiten). Eine strenge Trennung der
Geschlechter wurde nicht vollzogen (Mönch-Bucak, 1991, S. 90).
(vgl. dazu Anhang: 7.1.3 Biographie Dilxwaz) Einige Frauen
berichteten, dass ihr Tag morgens im Stall anfing und abends nach
der Arbeit auf dem Feld mit der Hausarbeit endete. (Ebd. ff) Hier
haben nicht nur die Männer draußen gearbeitet, sondern bei Bedarf
auch die Frauen des Hauses. Somit waren die Frauen im Haushalt
und auch Draußen Beschäftigt.
Die fest verwurzelten Strukturen ließen eine Teilnahme der Frauen
am öffentlichen Leben nicht zu. Sie waren größtenteils vom
politischen
Geschehen
ausgeschlossen.
Ihre
Aktivitäten
beschränkten sich auf den Erhalt und Zusammenhalt der Familie.
Die Frauen lebten sehr bildungsfern und konnten keine Schule
besuchen. Es gab wenige Schulen in den Gebieten Kurdistans. Dies
war politisch so gewollt (vgl. 3.1). Die patriarchalischen Strukturen
führten sahen vor, dass sich Mädchen ausschließlich um den
Haushalt und die Familie kümmern sollten. Aus der Armut heraus
wurden bei kinderreichen Familien traditionell zunächst die Jungen
bevorzugt zur Schule geschickt.
Es herrschten im Wesentlichen zwei Familienmodelle vor. Zum einen
eine Art aristokratische Familie, und zum anderen die bäuerliche
Familie, die kein Land besaß und in Armut lebte. Die aristokratische
Familie kümmerte sich hauptsächlich um ihren Ruf und hatte gewisse
Privilegien. Frauen konnten ihre Freizeit selbst gestalten. In der
bäuerlichen Familie hingegen wurde von früh bis spät auf dem Feld
gearbeitet. Anschließend erfolgte die Arbeit im Haus und die Männer
gaben den Frauen so viel zu tun, dass diese keine Zeit und keine
Energie
mehr
aufbringen
konnten,
um
über
ihre
Situation
nachzudenken.
In einigen Gebieten Kurdistans war die Gleichberechtigung der Frau
48
auf dem Feld jedoch in so weit vorhanden, als dass sie die gleiche
Arbeit verrichten konnte wie ein Mann.
In Nordkurdistan gab es in den 20er Jahren viele Unruhen.
Deswegen sind viele Familien vor der türkischen Regierung nach
Südwestkurdistan geflüchtet. Teilweise verloren die Frauen dabei ihre
Familien. Sie empfanden sich als Kulturträgerin der künftigen
Generation und pflegten die verbotene Muttersprache und die
Traditionen (vgl. Wedel, S. 114).
Am Ende dieser Generation engagierten sich einige wenige Frauen
auch politisch in Parteien (Fischer-Tahir, 2000, S. 161).
Für
diese
Generation
hat
sich
durch
die
Migration
die
gesellschaftliche Isolierung verstärkt. In der Heimat waren sie in die
Familiengemeinschaft
integriert,
sie
pflegten
eine
innige
Familienbindung und rege Kommunikation mit den Frauen. In
Deutschland ist dieses Zusammensein aufgrund der räumlichen
Isolation kaum noch möglich. (vgl. Skubsch, S. 242) Was die Familie
und die Versorgung dieser Frauen betrifft gibt es kein Konzept, weder
in Kurdistan noch in Deutschland.
3.3.2 Zweite Generation
„[...]
1946
stand
nationalistischen
die
feministische
Bewegung
zurück:
Bewegung
Das
hinter
der
nationalistische
Bewusstsein war sehr viel älter und stärker verbreitet.“ (Mojab, S.,
2000, S. 151).
Wie in diesem Zitat deutlich wird, thematisierte der nationalistische
Diskurs zwar die Freiheit der Frauen und ihre Gleichberechtigung in
der Gesellschaft sowie ihre Teilnahme am Kampf, jedoch sollten die
Frauen außerdem ihren häuslichen Pflichten nachgehen. Diese
„traditionelle“ Rolle schränkte die Frauen bei der Arbeit in der
Öffentlichkeit stark ein, auch wenn Frauen zum ersten Mal die
Männer bei der Verfolgung nationalistischer Ziele unterstützen
konnten. Somit war „[die Republik [Mahabad] der erste kurdische
Staat mit einem modernen, demokratischen Anspruch, und die
49
Gründung der Frauenpartei unterstrich dieses Image.“ (Mojab, S.
151); allerdings ist einschränkend hinzuzufügen, dass es im Bezug
auf
das
Fällen
von
Entscheidungen
keine
wirkliche
Gleichberechtigung gab, da immer noch die Männer diese Position
inne hielten. Diese Art der „eingeschränkten“ Gleichberechtigung war
auch in den anderen Teilen Kurdistans zu finden.
Auch die Gesellschaft wendete sich ansatzweise gegen das
Patriarchat. Die Mütter wehrten sich gegen die herrschenden
Strukturen, beispielsweise bezüglich der Polygamie. Sie wollten ihren
Töchtern das Leben als Mitfrauen ersparen. Die Mütter und
Großmütter dieser Generation hatten viele Kämpfe gegen die
herrschenden Werte und Normen in der Großfamilie zu bestehen.
In der zweiten Generation von 1945 bis 1970 hat sich die Zahl der
Verlobungsversprechen für ungeborene Kindern nach und nach
dezimiert. Vorherrschend war diese Praxis eher in den Familien der
Großgrundbesitzer.
Die Zahl der polygamen Ehen war rückläufig. Aus der Befragung wird
deutlich, dass Polygamie von den Männern durchaus akzeptiert wird.
Dieses ist der Fall, wenn beispielsweise die Frau unfähig ist, Kinder
zu gebären oder wenn der Mann in der Lage ist für mehrere Frauen
gleichzeitig zu sorgen. Die Heirat innerhalb der Großfamilie ist
weiterhin existent und wird regelmäßig praktiziert, allerdings, wie
auch in den Biographien und Befragungen erkenntlich wird, haben
die Zahlen deutlich abgenommen im Vergleich zur ersten Generation.
Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass viele Familien aus politischen
und wirtschaftlichen Gründen in die Städte oder ins Ausland zogen
und somit die Großfamilie räumlich nicht mehr so eng zusammen
war. Die arrangierte Ehe wird immer noch praktiziert.
Es folgt ein Bericht von Dilxwaz, 55 Jahre alt, aus Nord-Kurdistan.
„Die Familien lernten sich gegenseitig kennen und verhandelten über
die Heirat. Die Tradition schrieb vor, dass die Kinder, vor allem die
Töchter, mit dem Vater nicht über eine Heirat sprechen durften.“
In einigen dicht besiedelten Gegenden, in denen Schulen vorhanden
waren, konnten auch Mädchen maximal sechs Jahre die Schule
50
besuchen, wobei sie zusätzlich die Familie unterstützten und ihre
alten Aufgaben im Haushalt weiterführen mussten. Einige Frauen
konnten etwas später sogar die Hochschulreife erlangen und noch
wenigere bekamen die Chance zu studieren. Der traditionelle Teil der
Bevölkerung konnte sich mit dieser Entwicklung nicht anfreunden und
die intellektuellen Frauen blieben ausgegrenzt. Die wenigen Frauen,
die
einen
Hochschulabschluss
erlangten,
hatten
auf
dem
„Heiratsmarkt“ Schwierigkeiten, da Männer sich dieser intellektuellen
Herausforderung nicht fähig sahen und sich eher ein Leben mit einer
weniger gebildeten Frau vorstellen konnten.
Trotz dieser schwierigen und zwiespältigen Situation, ist in den
Befragungen zu erkennen, dass der Wunsch nach Bildung sowohl für
Söhne und Töchter gleichermaßen gefordert ist.
Die Mädchen bzw. Frauen, die in dieser Generation geboren und
aufgewachsen sind, suchten eine Identität zwischen alter Tradition
oder neuen Werte. Zu den modernen Errungenschaften gehörte
beispielsweise
Einzelfällen
das
gab
Sehen
es
des
sogar
zukünftigen
Widerstand
Ehemannes,
gegen
in
versprochene
Verlobungen. Denn eine Zwangsehe wird sowohl von kurdischen
Männern als auch von kurdischen Frauen abgelehnt. Denn für eine
glückliche Ehe ist für beide Geschlechter der zweiten Generation –
ebenso
wie
für
die
deutschen
Befragten
–
Liebe
als
Ausgangsvoraussetzung wichtig. Auch wenn sich die Einstellungen in
Bezug auf die Ehe gegenüber der ersten Generation verändert
haben, so ist der Ehrbegriff besonders für kurdische Männer immer
noch
„das
wichtigste
und
wertvollste
im
Leben“.
Die
Bekleidungsvorschriften für Mädchen und Frauen veränderten sich
langsam. Sie legten Kopftücher und lange Kleider ab, ohne von der
Gesellschaft kritisiert zu werden. Sie entwickelten ein größeres
Selbstbewusstsein, obwohl sie weiterhin an alten Traditionen
festhielten. Obwohl sie nach wie vor wirtschaftlich vom Mann
abhängig waren, wurde eine aktive Teilnahme an Bildung und Politik
immer wichtiger für die Frauen.
51
3.3.3 Dritte Generation
In der dritten Generation ab 1970 ist ein politischer, sozialer und
gesellschaftlicher Wandel sowohl in Deutschland als auch in
Kurdistan zu erkennen. So wurden weiterhin Cousinen und Cousins
bevorzugt untereinander verheiratet. Ausnahmen hiervon wurden
jedoch auch akzeptiert. Die Töchter, die in eine fremde Familie
eingeheiratet haben, wurden nicht mehr so sehr als Verlust der
eigenen Familie betrachtet. In der Familie wurden die Kinder, die
innerhalb der Familie geheiratet hatten, jedoch anders bewertet als
diejenigen, die in eine fremde Familie eingeheiratet hatten.
Ein Eheversprechen von ungeborenen Kindern kam in dieser
Generation kaum noch vor. Auch Polygamie wurde seltener
praktiziert und stieß, sowohl bei Frauen als auch bei Männern, auf
große Ablehnung. Wirtschaftlich war die Polygamie außerdem kaum
noch aufrechtzuerhalten.
Bildung wurde in den Familien zunehmend als wichtiger angesehen.
Bestand eine wirtschaftliche Absicherung der Familie, durften auch
die Mädchen zur Schule gehen. Doch war es immer noch von der
Politik des jeweiligen Landes abhängig, inwiefern den Mädchen
ermöglicht wurde, auf weiterführende Schulen zu gehen oder eine
Ausbildung zu absolvieren. Beispielsweise wurden als Voraussetzung
zur Vergabe von Ausbildungs- und Studienplätzen besonders gute
Noten verlangt und es standen nur wenige Plätze zur Verfügung.
Viele Frauen haben aus dieser Generation Abitur gemacht und
studiert, was aus der gesamten Sammlung der Biographien
erkenntlich wird. Sie wohnten in Studentenwohnheimen und fühlten
sich „frei“ von der alten und einschränkenden Tradition. Sie
entwickelten ein Bewusstsein für ihre eigene Ehre, im Gegensatz zu
den Frauen aus der ersten Generation, die nur die Ehre des Mannes
und deren Erhalt kannten.
52
Durch eine Heirat wurden viele der Frauen jedoch wieder in die
traditionellen Rollenmuster zurückgedrängt. Gesellschaft und Familie
forderten von den verheirateten Frauen die Erfüllung der Hausfrauenund Mutterpflichten. So konnte sich bis heute keine „Frauenkultur“
entwickeln.
Es
gibt
inzwischen
bekannte
einige
kurdische
Künstlerinnen, aber in der Regel beschränkte sich die „Kunst“ auf die
Alltagsgestaltung im Haus. Allerdings wird in den Befragungen
deutlich, dass besonders im Bereich der Verlobung ein wesentlicher
Fortschritt erkennbar ist. Viele der Befragten äußern die Absicht
irgendwann zu heiraten, möglicherweise sogar eine Partner aus einer
anderen Nation. Eine Heirat innerhalb der Verwandtschaft ist in
dieser dritten Generation nicht mehr so relevant, wobei der Großteil
mit seiner Familie über alles offen diskutieren kann. Sie fordern das
Recht ein, sich den zukünftigen Partner selber auszusuchen, was
weitgehend von ihren Eltern akzeptiert wird.
Mittlerweile wurde die Schulpflicht in allen kurdischen Gebieten auch
für Mädchen eingeführt. Sie studieren, nehmen aktiv am öffentlichen
Leben teil, beteiligen sich an politischen Diskussionen und sind doch
nicht gleichberechtigt. Der Wunsch danach eine Beziehung anstatt
einer zu frühen Ehe zu führen, ist nicht nur bei den kurdischen
Männern, sondern auch bei den Frauen vorhanden. Allerdings nur
unter der Prämisse, dieses ihren Eltern nicht mitteilen zu müssen. Bei
der Befragung ist festzustellen, dass in der dritten Generation in
Deutschland lebenden kurdischen Mädchen und Jungen ein
Fortschrittsdenken in Richtung Gleichberechtigung und Emanzipation
stattfindet. Aber das Leben zwischen den beiden Kulturen erschwert
eine schnelle Entwicklung momentan noch.
Auch auf dem politischen Sektor veränderte sich die Situation für die
Frauen. Die Frauen wurden auch politisch als gleichberechtigt
angesehen – hier ist besonders das Wirken der Arbeiterpartei
Kurdistan
(PKK)
hervorzuheben
–
und
sie
wurden
in
die
Freiheitsbestrebungen mit einbezogen. Innerhalb der PKK wurde mit
53
der traditionellen Haltung gegenüber Frauen gebrochen (vgl. van
Bruinessen, 2000, S. 25). Der Eintritt in den Guerilla war für junge
Frauen eine Alternative zur Ehe und der traditionellen Rolle als
Dienende
und
Konfrontation
Unterdrückte,
mit
neuen
bedeutet
aber
Ungleichheiten
gleichzeitig
und
die
stereotypen
Rollenmustern (vgl. ebd.). Auch die PKK erkannte den als spezifisch
kurdisch verstandenen Ehrbegriff an. Unter Guerrillakämpferinnen
der Organisation ist sexuelle Enthaltsamkeit wichtig und unabdingbar.
Allerdings gelang es der PKK den Ehrbegriff in Ihrem Sinne
umzudefinieren. Auch die Teilnahme am Befreiungskampf wird als ein
Akt der Ehre verstanden. Dadurch ist für Frauen eine neue
Möglichkeit eröffnet, auf „ehrenhafte“ Weise am gesellschaftlichen
Leben teilzunehmen. Um sich der Guerilla anzuschließen, konnten
Sie in Übereinstimmung mit der Moral das Elternhaus verlassen,
auch ohne zu heiraten.
Die große Anzahl von Frauen in dem kurdischen Guerilla zeigt, dass
diese Neudefinition angenommen wurde. Die PKK konnte die
Akzeptanz von Frauen im öffentlichen politischen Leben durchsetzen.
Dieser Wandel ist jedoch von heftigen Auseinandersetzungen um
Begriffe wie „Authentizität“, „Tradition“ und die „neue Identität“
gekennzeichnet (vgl. Skubsch, S. 245).
Heutzutage werden Führungspositionen in Parteien selten von
Frauen besetzt. Nur einige Frauen haben es geschafft, sich
wirtschaftlich unabhängig zu machen. Die anderen, ebenfalls
beruflich emanzipiert, kehren mit der Gründung einer Familie in die
alten Strukturen zurück. Es gelingt ihnen nicht, Traditionen
abzuschaffen, die eindeutig das Ansehen der Frau schwächen. Für
die Frauen von heute ist es nach wie vor nicht leicht, zwischen
Tradition und „Moderne“ zu pendeln.
3.4 Kurdische Familien in der Migration in
Deutschland
Ein Wechsel von dem Herkunftsland in ein Aufnahmeland ist
54
wesentlich mehr als nur der Übertritt über eine Staatsgrenze. Die
Auswirkungen auf die einzelnen Menschen, auf die Strukturen
innerhalb
der
Familie
und
auf
das
Rollenverständnis
der
Geschlechter können einschneidend sein. Darüber hinaus ist der
Wechsel verbunden mit zwiespältigen Gefühlen. Zum einen erfährt
der Immigrant Verlustgefühle gegenüber seiner Heimatfamilie, seiner
ethnischen
Gruppenzugehörigkeit
und
der
Kultur
seines
Heimatlandes. Hinzu kommen Ängste, sich ein neues Leben in einem
fremden Aufnahmeland aufzubauen. Er weiß nicht, was ihn erwarten
wird. Er wird aber auch von Hoffnungen begleitet; Hoffnungen auf ein
Leben ohne Krieg, auf Erwerbsarbeit und somit auf eine gesicherte
Existenz.
Wer ein- und auswandert steht in einer sozial schwachen Position. Er
verlässt
seine
vertraute
Umgebung,
Sprache,
berufliche
Qualifizierung und damit verbunden einen gewissen Status und
politische Rechte.
In der Regel verschlechtern sich die Lebensbedingungen in der
Migration erheblich. In den letzten 30 Jahren ist eine Entwicklung von
der Arbeitsmigration zu einer Kettenmigration mit Familiennachzug
fest zu stellen. Diese trägt oft zur Bildung einer stabilen Gemeinschaft
bei, die sich auf einen bestimmten Wohnraum konzentriert. Diese
Tendenz
wird
stärker,
je
geringer
der
Kontakt
mit
der
Aufnahmegesellschaft ist.
Das Alter und das Geschlecht spielen bei der Migrationsbiographie
eine große Rolle. Entscheidend sind außerdem einerseits die
rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen im Aufnahmeland,
und anderseits ihre persönlichen und familiären Ressourcen.
Die
Erforschung
der
Hintergründe
von
kurdischen
Migrationsbewegungen gestaltet sich als schwierig, weil es wenig
gesammeltes Datenmaterial gibt. Politische und ökonomische
Ursachen sind nicht eindeutig von einander zu trennen. Kurdische
Migranten werden von den Aufnahmeländern nicht gesondert erfasst.
Politische Entscheidungen, Macht- und Territorialkämpfe führen in
55
verschiedenen Gebieten dazu, dass Kurden ins Ausland geflüchtet
sind. Ein Beispiel dafür ist die türkische Kurdenpolitik in den 60er und
70er Jahren (vgl. Skubsch, S. 221ff).
Neben der Flucht war ein weiterer Grund zu emigrieren die
Arbeitsmigration aufgrund der schlechten Wirtschaftslage im eigenen
Land. Viele sind mit der Gastarbeiterbewegung hierher gekommen,
um Geld zu verdienen. Ihr Ziel war es, bessere Lebensbedingungen
in ihrer Heimat zu schaffen. Ihr Plan, nach kurzer Zeit Deutschland
wieder zu verlassen, wurde nicht verwirklicht. Viele Kurden leben nun
schon 40 Jahre hier zusammen mit ihren nachgezogenen Familien.
Selbst die nächste Generation wächst mittlerweile hier auf.
„Die Arbeitsmigration verband die Flucht vor Diskriminierung und
politischer Verfolgung mit der Erwartung auf einen ökonomischen
Aufstieg in den so genannten Wirtschaftswunderländern Europas.
Studium und Arbeitsmigration machten für viele eine Erlangung des
Flüchtlingsstatus unnötig“ (vgl. ebd.).
Die Lage der Flüchtlinge unterscheidet sich deutlich von der der
Arbeitermigranten.
Sie
ist
gekennzeichnet
durch
existentielle
Unsicherheit, durch eine soziale Deklassierung und eine instabile
rechtliche Situation. Flüchtlingen stehen in Deutschland nicht die
gleichen Rechte zu wie anderen Migranten, und durch die
Residenzpflicht sind sie in ihrem Bewegungsraum eingeschränkt (vgl.
Skubsch, S. 227).
Erzwungene
Migration
im
Zeitalter
der
Globalisierung
ruft
Wechselwirkungen zwischen den Individuen und ihren Familien
einerseits und den sozialen Prozessen, in denen sie sich bewegen,
anderseits hervor.
Eine Vielzahl der kurdischen Arbeitsmigranten war vor ihrem Eintritt
in die Bundesrepublik Deutschland im Agrarbereich tätig bzw. übte
unregelmäßige Beschäftigungen aus (vgl. Skubsch, S. 226).
Viele junge Kurden wanderten in der Hoffnung auf bessere
Bildungschancen
und
eine
Möglichkeit
zum
Studium
nach
Deutschland aus.
Vom Wanderungsgrund ist der Aufenthalts- und soziale Status der
56
Familie im Aufnahmeland abhängig und nicht zuletzt der Zugang zu
Ressourcen staatlicher Förderung (Boos-Nünning, S. 25).
Die erste Generation der Kurden verfügte über ein niedriges
Bildungsniveau.
Dies
ist
eine
Ursache
für
verschlechterte
Aufstiegsmöglichkeiten. Anders als bei der ersten Generation, die
nach der Zuwanderung einen Arbeitsplatz erhalten hatte, ist die
berufliche Chance der zweiten Generation von kurdischen Migranten
schlechter
und
von
Arbeitslosigkeit
gekennzeichnet.
Die
nachfolgende zweite und dritte Generation, die in Deutschland
geboren wurde, weist soziale Differenzierungen auf. Sie absolvieren
Schul- und Berufsausbildungen. Zudem ist die Zugangschance zur
gesellschaftlichen Teilhabe größer als bei ihren Eltern (vgl. Skubsch,
S. 242). Dies führt zu einer Altersdifferenzierung sowie zu einer
zunehmenden Präsenz von Frauen im Gegensatz zu den 60er
Jahren, als eine zeitlich begrenzte „Männermigration“ herrschte (vgl.
ebd., S. 240).
Genaue Zahlen, wie viele Kurden in Deutschland leben, sind nicht
bekannt. Sie sind auch nicht als Volksgruppe statistisch erfasst.
Schätzungen zufolge kann davon ausgegangen werden, dass 1994
etwa 580.000 Kurden in der Bundesrepublik Deutschland lebten (vgl.
Meyer-Ingwersen, S. 319). Hauptsächlich kommen sie aus NordKurdistan /Türkei.
Die Kurden bilden die drittgrößte Migrantengruppe nach den Türken
und Italienern (Senol, 1994, S. 137). „Obwohl die Kurden eine so
große nationale Gruppe bilden, haben sie viele Rechte nicht, die für
andere nationale Gruppen, die über ein Staatsgebiet verfügen,
gelten” (Ebd., S. 137). Dies berührt besonders die nationale Identität
der kurdischen Minderheit. Sie gelten als zugehörig zur jeweiligen
Nationalität des Herkunftslandes und werden als Perser, Türken und
Araber definiert.
Ein zusätzliches Problem ist, dass die Kurden Fremde unter Fremden
sind. Dies gilt in doppelter Hinsicht. Einerseits besteht eine
„Sprachbarriere”. Ihre Muttersprache, die ein wichtiger Bestandteil
57
der frühkindlichen Sozialisation ist, durfte weder in ihrem jeweiligen
Heimatland in den Schulen gesprochen werden, noch ist sie in
Deutschland als solche anerkannt. Da Sprache auch kulturelle
Normen und Werte übermittelt, geht hierdurch ein Stück ihrer
nationalen Identität verloren. Ein negatives Beispiel hierfür ist die
Haltung deutscher Behörden, die eine kurdische Namensgebung für
ein Kind verweigern, wenn dieser nicht in einer Namensliste des
Herkunftslandes, beispielsweise der Türkei, steht.
Andererseits sind sie auch Fremde gegenüber anderen Migranten
nicht-kurdischer
Herkunft.
Die
kurdische
Sprache
ist
nicht
vergleichbar mit der türkischen oder arabischen Sprache.
Der Migrationszeitpunkt der Kurden spielt eine wichtige Rolle.
Entscheidend ist, ob zuerst die Frau oder der Mann oder ob sie
gemeinsam als Familie eingewandert sind. Ist der Mann zuerst
eingereist, zeigt er eine hohe Dominanz in der Entscheidungsmacht.
Das führt zu einer geringen Strukturflexibilität der Familie, so dass sie
sich den wechselnden Umweltbedingungen kaum anpassen kann.
Immigriert die Frau zuerst, erhält die Frau mehr Autonomie bei der
Aufgabenerfüllung in Bezug auf die Integration der Familie (7.
Familien-Bericht). Reist die Familie gemeinsam ein, findet sich
durchgängig eine hohe Anpassungsbereitschaft.
In der Migration trägt die Familie dazu bei, dass durch eine
emotionale Unterstützung ein „Sozialkapital“ entsteht. Sie übernimmt
in der Migration drei wichtige Funktionen. Erstens ist sie ein
Stabilitätsfaktor für die Familienmitglieder, zweitens hilft sie bei der
Überwindung von fragmentischen Erfahrungen und drittens ist sie ein
privilegierter Raum, um neue Verhaltensweise realistisch zu prüfen.
Oft
entstehen
innerfamiliäre
Konflikte,
wenn
einzelne
Familienmitglieder unterschiedlich auf die neue Umgebung reagieren.
Insgesamt stellt die Migration eine große Herausforderung an die
Flexibilität der Paarbeziehung und der Geschlechterrolle.
Bei der Immigration werden die Kurden/Innen nach einer kurzen
58
Reise
von
drei
zentralregierten
Stunden
Flugzeit
Gesellschaft
in
von
eine
einer
agrargeprägten
postmoderne
westliche
Gesellschaft katapultiert. Dieses bringt für viele Kurden/Innen einige
positive Aspekte, wie finanzielle Versorgung und Frieden, jedoch
auch einen Kulturschock. Sie müssen sich mit einer fremden
fortschrittlichen Kultur auseinandersetzen.
Doch bei all diesen Unwägbarkeiten stellt Skubsch fest,
„dass Kurden, die bereits in den Herkunftsstaaten
Migrationssituationen erlebt und Erfahrung mit kultureller
Marginalisierung gemacht haben, die Integration leichter fällt
als Zuwanderern, die über keine Migrationserfahrung
verfügen“ (Skubsch, S. 228).
Die kurdische Diaspora bewältigt die Immigration in westliche
Gesellschaften besonders gut. Den kurdischen Migranten steht ein
ganzes Bündel an Bewältigungsstrategien für den Migrationsalltag
zur Verfügung (vgl. ebd.). Sie haben meist schon Erfahrungen darin,
als Minderheit in einer Gesellschaft im Herkunftsland zu leben und
können somit die Chancen und Risiken besser abschätzen.
3.4.1 Rolle der kurdischen Frau in der
Migrationsfamilie
Die Rolle der Frau innerhalb der kurdischen Migrationsgesellschaft ist
geprägt durch eine patriarchalische Struktur. Gegensätzlich zu der
eher einheitlichen Lage der Frau in der traditionell geprägten
Dorfgemeinschaft
im
Herkunftsland,
ist
die
Migration
mit
Differenzierungen verbunden. Für einige Frauen hält die Migration
nach Europa die Chance zur Erwerbstätigkeit und Selbständigkeit
bereit (vgl. Skubsch, S. 242). Anderen fällt es wesentlich schwerer, in
Deutschland Fuß zu fassen. In den Herkunftsländern hatten die
Kurdinnen häufig qualifizierte Ausbildungen, eine Erwerbsarbeit und
konnten Familie und Beruf vereinbaren. Diese Möglichkeiten fallen in
59
der Migration in Deutschland oft weg. Ausbildungen werden nicht
anerkannt und es treten Probleme bei der Arbeitserlaubnis auf.
Besonders für die Kurdinnen der ersten Generation hat sich, bedingt
durch die Migration, eine gesellschaftliche Isolation ausgeprägt. Im
Gegensatz zu den Zeiten der traditionellen Dorfgesellschaft, wo sie
noch in die Frauengesellschaft integriert waren, ihre Pflichten
gemeinsam erfüllten und sich kommunikativ einbringen konnten (vgl.
3.3), ist das Zusammensein mit Frauen in Deutschland, bedingt
durch die räumliche Isolation, kaum möglich.
Migrantinnen der zweiten und mittlerweile der dritten Generation sind
junge Frauen und Mädchen, die entweder hier geboren wurden oder
in jungen Jahren nach Deutschland eingereist sind. Sie haben hier
ihren Lebensmittelpunkt gefunden und sind mit den Normen und
Werten des Aufnahmelandes sozialisiert worden sind. Sie haben sich
soziale Netzwerke aufgebaut und viele von ihnen haben qualifizierte
Schul- und Berufsausbildungen absolviert. Zudem werden sie
beeinflusst durch die patriarchalischen Traditionen ihrer Familien, in
denen Gehorsam und Autorität der Väter das Zusammenleben
bestimmt (vgl. Boos-Nünning, S. 96). Dadurch besteht, im Gegensatz
zu deutschen Mädchen, wo sich ein aufgeklärtes und selbst
bestimmtes Verhalten bzgl. Sexualität durchgesetzt hat, für Mädchen
aus orientalischen Gesellschaften noch ein traditionelles Bild. In
orientalischen Gesellschaften ist das Thema Sexualität tabuisiert.
Ehre, Achtung, Scham und Jungfräulichkeit sind in der Migration
entscheidende Werte, um soziale Anerkennung in der Gesellschaft zu
erhalten.
Noch immer herrschen in der westlichen Kultur bestimmte stereotype
Vorstellungen über die Migrantinnen und so auch über die Kurdinnen.
Hierzu zählen u.a., dass Migrantinnen bunte traditionelle Kleider
tragen und ein einfaches Leben gewohnt sind. Auch herrscht das
Vorurteil, dass sie unterdrückt und nicht gleichberechtigt in ihrer
Kultur leben. Diese Bilder werden durch die Massenmedien noch
verstärkt.
60
Mönch-Bucak beschreibt jedoch eine „widersprüchliche Vielfalt
kurdischer Frauen“. Zu den Frauentypen zählen:
−
die Kurdin, die aufgrund ihrer Erwerbslosigkeit und Sprachdefizite
isoliert und von ihrem Ehemann abhängig ist
−
die Kurdin, die einerseits außerhalb des Hauses selbständig
arbeitet, zuhause allerdings die traditionelle Rollenverteilung
annimmt
−
die selbstbewusste Kurdin, die es wagt eine Scheidung
einzureichen
−
die Kurdin, die sich darum bemüht einen qualifizierten Beruf
auszuüben
−
die Kurdin, die sich politisch einsetzt (Skubsch, S. 242)
Ergänzend hierzu nennt Gierull noch folgende Typen:
−
die Migrantin, die sich im Herkunftsland qualifiziert hat und
erwerbstätig war; im Aufnahmeland aber in den Familienbereich
zurückgedrängt wurde
−
die Migrantin, die mit den Werten ihres islamischen Kulturkreises,
gerade auch in Bezug auf die Ehe, sehr verbunden ist (vgl.
Gierull, 2002)
Daraus folgt, dass es weder die stereotype Kurdin noch eine
festgelegte Rolle der Frau in der kurdischen Migrantenfamilie gibt. Zu
beobachten ist eine langsam voranschreitende Entwicklung hin zu
einem veränderten Selbstverständnis. Beispielweise sind die Zahlen
der allein erziehenden Mütter und die Anzahl der Scheidungen
gestiegen. Sowohl die Bildung der Töchter als auch die Bildung der
Mütter und Väter der ersten Generation gewinnt an Bedeutung. Sie
besuchen Deutsch- und Alphabetisierungskurse, die sie u.a. dazu
nutzen, sich untereinander auszutauschen. Dadurch kommen gerade
die Mütter aus ihrer Isolation heraus und die Selbstbehauptung und
Selbstständigkeit nimmt zu.
61
4. Familienehre und Kulturkonflikt
4.1 Vergleich von Ehrvorstellungen in der
deutschen und kurdischen Gesellschaft
Ehre ist immer zu beschreiben in Relation zu einem bestimmten
Bereich wie der Religion, der Gemeinschaft oder den Menschen. Im
vorliegenden Kapitel werden deutsche und kurdische Vorstellungen
von Ehre miteinander verglichen.
4.1.1 Ehre in der deutschen Kultur
Im deutschsprachigen Raum ist in dem Wortstamm „Ehre“ folgendes
inbegriffen: Würde, Ruhm, guter Ruf, Reputation, Ansehen, Achtung
und Anerkennung. Das deutsche Wort „Ehre“ geht auf das
althochdeutsche Wort „era“ zurück. „Era“ meint die Ehrerbietung, die
der Mensch Gott entgegen zu bringen hat.
Ehre bedeutet das individuelle Ansehen eines Menschen, welche von
der Leistung und der sozialen Stellung dieser Person abhängig ist
und ihr von ihrer Umwelt entgegen gebracht wird. Bestimmte Normen
und Forderungen, die in der jeweiligen Gesellschaft herrschen,
bestimmen was als ehrenhaft gilt.
Kizilhan geht davon aus, „dass im westlichen Kulturkreis unter Ehre
die Achtung verstanden wird, die jedem Menschen allein auf Grund
seines Menschseins und der damit verbundenen Würde von Natur
aus zukommt und die ihm im Rahmen der Menschen- und
Grundrechte garantiert werden soll” (Kizilhan, 2006, S. 70). Schon in
Artikel 1 des Grundgesetztes heißt es: „Die Würde des Menschen ist
unantastbar.” Der Begriff Würde ist hier gleichbedeutend mit Ehre.
Zudem ist die Ehre in Deutschland ein Rechtsgut, dessen Verletzung
bestraft wird (Vgl. §§185 – 188 StGB). Beleidigungen, üble Nachrede
und Verleumdung können mit Freiheitsstrafen geahndet werden (vgl.
62
Stascheit, S. 1564).
In der christlichen Religion stellt der Ehrbegriff hauptsächlich die
Anerkennung Gottes dar und den Respekt vor ihm. Von Gott
wiederum erhält der Mensch Gnade und Ehre, wenn er ein ehrbares
gottgefälliges Leben führt.
Geschichtlich gesehen wurde die Ehre bis in die 20er Jahre des 20.
Jahrhunderts
durch
Duelle
verteidigt.
Dies
beruhte
auf
der
Vorstellung, dass eine verletzte Ehre nur durch das Vergießen von
Blut gereinigt und gewaschen werden kann. Ehre war eng verknüpft
mit der Menge an Besitz. Meist wurde die Ehre als ein Gut betrachtet,
dass es zu erlangen und zu verteidigen galt. Zudem war es nicht
selten, dies über das Gut des Lebens gestellt wurde (vgl. Ehre,
veraltetes Konzept oder Schlüsselbegriff…, 1996, S. 24). Unter
diesem „Gut” ist auch der gute Ruf zu verstehen. Der gute Ruf kann
durch
Tratsch,
Gerüchte
und
Unwahrheiten,
die
sich
unberechtigterweise über eine Person verbreiten, zerstört werden
(Kizilhan, 2006, S. 96).
Der Ehrverlust führte dazu, dass Männer vor allen Dingen wegen
mangelnder Tapferkeit und Frauen wegen mangelnder sexueller
Zurückhaltung aus der Gemeinschaft verstoßen wurden (vgl.
Kizilhan, S. 70).
Heute wird der Begriff der Ehre in der westlichen Kultur, im Gegenteil
zur kurdischen, nicht mehr so sehr sexualisiert und hat sich von den
Geschlechtsidentitäten losgelöst.
4.1.2 Ehre in der kurdischen Kultur
Ehre, kurdisch Namûs, betrifft in der kurdischen Gesellschaft ein zu
schützendes Inneres. Hier ist die Ehre ein Bereich der Familie. Das
Äußere wird durch die männliche Öffentlichkeit des Dorfes oder der
Stadt dargestellt. Dazwischen besteht eine klare Grenze, die
63
überschritten wird, wenn jemand von außen einen Angehörigen der
Familie, insbesondere die Frauen, belästigt. Die Ehre des Mannes ist
dann beschmutzt, wenn er die Angehörige nicht konsequent
verteidigt und beschützt (vgl. Atabay, S. 28). Er ist dann ehrloskurdisch: bênamûs.
Der Begriff Ehre (namûs) lässt sich in die zwei voneinander
untrennbare Werte „Ansehen“ (şeref) und „Respekt“ (rêz)” unterteilen
(vgl. Toprak, 2005, S. 149).
Der Begriff “Şeref” lässt sich folgendermaßen definieren: Die
Gewichtung des Serefs ist abhängig von guten und schlechten Taten.
Şeref kann durch das Erfüllen guter Taten erzielt werden, wobei Şeref
sowohl für Männer als auch für Frauen bedeutend ist, denn beide
Geschlechter haben gleichermaßen Şeref.
Auf der anderen Seite nimmt der Respekt bzw. die Achtung (rêz) in
der Familienhierarchie eine wichtige Rolle ein (vgl. ebd., S. 151).
Jedem kurdischen Mann weist das Ehrkonzept einen Bereich
persönlicher Integrität und Würde zu, der die eigene körperliche
Unversehrtheit wie die der Familienangehörigen umfasst.
Die Ehre des Mannes hängt von seiner Ehefrau und seinen
Schwestern ab. Der Mann muss im äußersten Fall seine Frau
verstoßen, um seine Ehre wieder herzustellen (vgl. Atabay, S. 28f).
Umgekehrt hat das Fehlverhalten der Männer nicht so gravierende
Auswirkungen. Jedoch können Männer, im Falle eines eigenen
Verschuldens, wie z.B. trotz einer bestehenden Ehe nach weiteren
Frauen Ausschau zu halten, ihre Ehre verlieren (vgl. Toprak, S. 151).
Die
kurdischen
Frauen
sind
einem
pflicht-
und
traditions-
übergreifendem Leben ausgesetzt, denn bereits in ihrem frühen
Lebensalter werden sie mit vielen Arbeitsbereichen konfrontiert –
sowohl innerhalb als auch außerhalb des Hauses (vgl. Kizilhan, S.
103).
Die kurdischen Frauen sind die eigentlichen Trägerinnen der Ehre,
des Rufes und der Familienstellung; ihr Verhalten ist gänzlich durch
die Ehre bestimmt. Die Frau zeigt ihre Ehrenhaftigkeit überwiegend
durch ihre Keuschheit. Eine Frau, die einen Ehebruch beginnt,
64
befleckt nicht nur ihre eigene Ehre, sondern auch die des Ehemanns
(vgl. Schiffauer, 1988, S. 74).
Um die Unannehmlichkeiten einer Ehrverletzung zu vermeiden, wird
die Frau ständig in ihr Handeln und Tun kontrolliert und überwacht.
Um die Ehre nicht zu verletzen sind bestimmte Regeln vorgegeben,
die Frauen strikt zu befolgen haben. Eine dieser Regeln ist zum
Beispiel, dass die Frau sich möglichst unauffällig und geschlechtslos
verhält, damit sie keine Männerblicke auf sich zieht. Zudem sollte die
Frau möglichst den kürzesten Weg nach Hause nehmen und nicht
auf den Straßen bummeln, nicht mit fremden Männern sprechen, in
der Öffentlichkeit in Begleitung auftreten und keine auffällige Kleidung
tragen. Frauen, die diese Regeln nicht einhalten, werden rasch mit
Unterstellungen konfrontiert. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie nach
Männerbekanntschaften suchen (vgl. König, 1990, S. 248f).
Wie bereits erwähnt, wird im Kontext von Ehre in der kurdischen
Gesellschaft der Jungfräulichkeit der Frau besondere Bedeutung
beigemessen.
Jungfräulichkeit bedeutet nicht nur die Enthaltsamkeit vor der Ehe,
sondern
beinhaltet
auch,
dass
die
Frau
ihre
Eltern,
die
Schwiegereltern und die Ältren in der Familie achtet und sich in
Sittsamkeit übt (vgl. Boos-Nünning, S. 285).
Die Frau ist ehrenhaft, wenn sie keusch und rein bleibt. Hierzu gibt es
drei Kategorien: Die Jungfrau /das Mädchen (keç), die Ehefrau (jin)
und im Gegensatz dazu die ehrlose und schmutzige Frau (jina
nebaş), die außerhalb der Ehe Beziehungen zu Männern eingeht.
Darüber hinaus bestimmt der Ehrbegriff das Verhältnis zwischen
Männern und Frauen. Wenn die Frau ihren Mann betrügt, befleckt sie
zu ihrer Ehre auch die des Mannes, denn der Mann gilt als schwach,
weil er seine Frau nicht vom Ehebruch abgehalten hat. Die Frau gilt
als schwaches Wesen, weil sie nicht selbst ihre Ehre verteidigen
kann. Bezüglich der Ehre ist bei den Frauen entscheidend, ob sie
rein oder unrein sind, bei den Männern jedoch ob sie als stark oder
schwach gelten. Da der Mann mit seiner Stärke dafür zu sorgen hat,
65
dass die Frauen seines Hauses rein bleiben und andernfalls seine
soziale Position ruiniert wäre, sind männliche und weibliche Ehre
aufeinander bezogen und voneinander abhängig. „Während die
persönliche Ehre des Mannes im nichtsexuellen Bereich von seinen
eigenen Taten und Handlungen abhängt, ist die Frau zum
Nichthandeln verurteilt“ (vgl. König, S. 248).
Die Beziehung zwischen Vater und Tochter nimmt auf Grund der Ehre
eine zwiespältige Rolle ein (vgl. Kizilhan, S. 100). Aus Furcht des
Vaters, dass die Tochter ihm Schande bereiten könnte, verändert sich
sein Verhalten ihr gegenüber mit zunehmendem Alter; je älter sie
wird, desto kühler und distanzierter wird das Verhältnis. Der Vater
lässt erst wieder vertrauenswürdige Gefühle zu, sobald sie
verheiratet ist. Denn durch die Verheiratung hat der Vater die
Verantwortung sozusagen seinem Schwiegersohn übertragen (vgl.
Schiffauer, S. 75).
Zudem wird der Begriff der Ehre nicht nur im familiären, sondern
auch im politischen und gesellschaftlichen Kontext verwendet.
Besonders im Mittleren und Nahen Osten ist beobachtbar, dass die
Ehre als ein bedeutendes Herrschaftsinstrument fungiert. Das auf
eine archaisch-patriarchalische Denkweise gegründete Gedankengut
soll den Menschen sowohl in seinem Denken als auch in seinem
Handeln lenken und bestimmen (vgl. Schiffauer, S. 75). Im
politischen und militärischen Bereich wird der Begriff „Ehre” zur
Motivation der Kämpfer verwendet. In diesem Sinne soll die
„Nationalehre” den Betroffenen dazu befähigen, in den Krieg zu
ziehen und im schlimmsten Fall sogar den Tod in Betracht ziehen.
Im Kontext der politischen und militärischen Position nimmt auch die
Frau eine wesentliche Rolle ein. Es gibt eine Vielzahl von Frauen, die
sich an ethnisch orientierten Kämpfen beteiligen.
In der Migration spielt die Ehre bei den Kurden eine entscheidende
Rolle. In Deutschland halten sie besonders intensiv an Traditionen
66
und Ehre fest, denn sie haben Angst vor Überfremdung und davor,
ihre Identität zu verlieren. Ebenso befürchten sie, dass ihre Kinder zu
sehr von der westlichen Welt beeinflusst werden. Deswegen kommt
es zu Frühverheiratungen und arrangierten Ehen, die in eine
Zwangsheirat münden können. Und so sind sie in einem ständigen
Konflikt zwischen zwei Wünschen, dem Wunsch nach Integration
ihrer Kinder im Bildungs- und Berufswesen und dem Wunsch, dass
die Kinder den kurdischen Ehrbegriff übernehmen und diesem
gerecht werden. Um letzteren zu realisieren, wird durch ein starkes
Mitspracherecht der Eltern Einfluss auf das Leben der Kinder
genommen. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung darüber, ob ein
Sohn oder eine Tochter ein Studium in einer anderen Stadt
aufnehmen darf. Die folgende Tabelle stellt die Ergebnisse der
Befragung in Bezug auf diese Fragestellung dar.
Tabelle: Dürfen Sie von Ihren Eltern aus zum Studieren in eine
andere Stadt ziehen?
Kurdisch
(weiblich)
Kurdisch
(männlich)
Deutsch
(weiblich)
Deutsch
(männlich)
2 (ja)
7 (ja)
8 (ja)
10 (ja)
8 (nein)
0 (nein)
2 (nein)
0 (nein)
(Quelle: Eigene Interviews, Bochum Januar-April 2007, siehe Anhang)
Es wird deutlich, dass dem Begriff der Ehre in der kurdischen
Gesellschaft eine stärkere Bedeutung zukommt als in der deutschen.
Das Verhalten der einzelnen Familienmitglieder, insbesondere das
der Frauen, hat in der kurdischen Gesellschaft einen Einfluss auf die
Ehre der gesamten Familie.
Anhand der nachfolgenden Tabelle wird dieses unterschiedliche
Verständnis von Ehre in der kurdischen und deutschen Gesellschaft
dargestellt. Die Ergebnisse wurden mittels der durchgeführten
Interviews gewonnen.
Tabelle: Sind die Töchter für die Ehre der Familie verantwortlich?
67
Antwort in %
deutsch
Kurdisch
Gesamt
Ja
0
55,6
35,7
Nein
100
44,4
64,3
100
100
100
(Quelle: Eigene Interviews, Bochum Januar-April 2007, siehe Anhang)
Tabelle: Sind die
verantwortlich?
Jugendlichen
für
die
Ehre
der
Familie
Kurden
(weiblich)
Kurden
(männlich)
Deutsch
(weiblich)
Deutsch
(männlich)
9 (ja)
10 (ja)
9 (nein)
10 (nein)
(Quelle: Eigene Interviews, Bochum Januar-April 2007, siehe Anhang)
Die Ergebnisse in Bezug auf die Frage nach dem Verständnis von
Ehre in den beiden unterschiedlichen Kulturen, machen deutlich,
dass der Begriff der Ehre in beiden Kulturen eine unterschiedliche
Bedeutung hat und mit unterschiedlichen Assoziationen verbunden
ist. Auch variiert die Vorstellung darüber, welches Verhalten der
Aufrechterhaltung der Ehre dienlich ist.
Im Folgenden werden die häufigsten Antworten auf die Frage nach
dem Verständnis von Ehre dargestellt, wobei die Aussagen der
Mitglieder beider Kulturen gegenübergestellt werden.
Tabelle: Verständnis von Ehre im deutsch-kurdischen Vergleich
kurdisch
Deutsch
Das Umfeld und die
Nichts
Gesellschaft sollen nicht
Aufrechterhaltung der
schlecht über einen reden
Familie
Ehrlichkeit, Vertrauen
Respekt den Eltern und der
Zusammenhalt
Verwandtschaft gegenüber
den gegebenen Traditionen
gerecht werden können
keine Schande über die
Familie bringen/
Verantwortlichkeit
nichts tun, was die Familie
nicht möchte
Respekt, Akzeptanz
(Quelle: Eigene Interviews, Bochum Januar-April 2007, siehe Anhang)
68
4.2 Zwangsheirat: Mythos oder Realität?
In der kurdischen Sprache existiert kein passendes Synonym zu dem
Wort „Zwangsheirat“. Es wird vergleichsweise harmlos davon
gesprochen, dass man die Töchter weggibt oder eine Frau für den
Sohn gefunden hat (Ma te keça xwe ne daye / Ma te ji kurê xwe re
yek ne dîtiye).
Der Begriff Zwangsheirat wird aber sehr wohl in Europa verwendet
und es wird in den Medien verbreitet, dass in den betroffenen
Ländern Zwangsheiraten tabuisiert werden. In der kurdischen Kultur
wird sich weder öffentlich noch innerfamiliär mit dem Thema
Zwangsheirat auseinandergesetzt. Selbst der Begriff „arrangierte
Ehen“ taucht nicht auf. Aus den erstellten Biographien und den
Ergebnissen der Befragung geht hervor, dass fast alle die
Zwangsheirat als sehr negativ bewerten. Dabei fällt jedoch auf, dass
auf Fragen, die auf eine arrangierte Ehe hindeuten, häufig mit „Ja“
geantwortet wurde. Boos-Nünning bestätigt dies: „Die Tradition der
arrangierten Ehe und der Zwangsheirat wird allgemein vor allem in
Hinblick auf islamische Kulturen als nach wie vor gültig betrachtet“
(Boos-Nünning, S. 225).
Es lässt sich jedoch nicht genau klären, wo die Übergänge zwischen
freiwilliger Heirat, arrangierter Ehe und Zwangsheirat sind. Deswegen
wird im Folgenden der Begriff „verheiratete Mädchen“ verwendet.
„Obwohl die meisten Staaten das Menschenrechtsabkommen der
Vereinten Nationen, in dem die freie Wahl des Ehegatten garantiert
ist, unterzeichnet haben, konnten Zwangsverheiratungen bis heute
nicht ausgemerzt werden“ (Lehnhoff, 2002, S. 11).
Häufig wird die Zwangsheirat religiös begründet. Dies entspricht
jedoch nicht den Lehren der Weltreligionen wie Christentum,
Judentum und Islam. Diese bestehen auf das Einverständnis beider
Ehegatten. Dies wird von den o.g. Religionen als die wichtigste
69
Voraussetzung für die Eheschließung verstanden (vgl. ebd.). Die
tatsächlichen Ursachen für Zwangsverheiratungen liegen in den
patriarchalischen Strukturen und Traditionen der Männer, Väter und
Söhne.
Bereits dem Artikel 16 Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte von 1948, der für alle Mitgliedstaaten der Vereinten
Nationen gilt, ist folgendes zu entnehmen: „Eine Ehe darf nur im
freien
und
vollem
Einverständnis
der
künftigen
Ehegatten
geschlossen werden“ (vgl. Art.16 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte
vom
10.
Dezember.
In:
Bundeszentrale
für
politische Bildung, 1995, S. 37f). Dem o.g. Artikel zufolge liegt eine
Zwangsverheiratung dann vor, wenn einer der beiden Ehegatten
keine eigenständige und freie Zustimmung zur Ehe gegeben hat.
Viele Mädchen werden besonders jung (zwangs-)verheiratet. Nach
Artikel 1 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes, sind alle
Menschen unter 18 Jahren noch Kinder, und somit nicht ehemündig
(vgl. Art.1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom
20.11.1989. In: Bundeszentrale für politische Bildung, 1995, S. 187ff).
Ergänzend steht im Artikel 16 der UN - Konvention, dass jede Form
von Diskriminierung der Frau zu beseitigen ist, und dass Verlobung
und Eheschließung eines Kindes keine Rechtswirkung haben (vgl.
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der
Frau vom 18.12.1979. In: Bundeszentrale für politische Bildung,
1995, S. 135ff). Das bedeutet, dass Personen, die eine Ehe eingehen
wollen, volljährig sein müssen und eine anderweitige Handlung
gegen dieses Gesetzt stößt.
„Bildung für Mädchen gilt in traditionellen, ländlichen
Regionen auch heute noch bei vielen Eltern als überflüssig.
Oft sind Mutter und Vater selbst Analphabeten: In der Türkei
kann jede vierte Frau nicht Lesen und Schreiben, bei den
Männern ist es jeder fünfzehnte. Jedes sechste Mädchen
wird vor seinem 19. Geburtstag verheiratet, die meisten
bekommen schnell mehrere Kinder“ (Zitat, UNICEF: Türkei:
Auf in die Schule, Mädchen!, www.unicef.de).
70
Wenn kurdische Eltern ihre Tochter sehr früh oder gegen ihren Willen
verheiraten, sind sie davon überzeugt, dass sie es zum Nutzen und
zum Wohl ihrer Tochter tun. Die Frühehe soll eine eventuelle
„Schande“ verhindern (vgl. 5.2). Zudem erleichtert eine frühzeitige
Heirat die Kontrolle der Eltern, denn „je jünger ein Mädchen ist, umso
geringer ist die Gefahr, dass sie keine Jungfrau mehr ist (vgl. TERRE
DES FEMMES e.V., 2002, S. 14). So ist auch das Risiko einer
unehelichen Schwangerschaft, das bei den Kurden als eine tief
greifende Schande und eine hochgradige Verschmutzung der
Familienehre bedeutet, sehr gering. Einige Eltern, die ansatzweise
versuchen, ihre Kinder in die Entscheidung mit einzubeziehen, sind
einem hohen Druck von der Verwandtschaft ausgesetzt und müssen
fest stellen, dass Traditionen und Bräuche als erheblich wichtiger
bewertet werden als eine frei gewählte Ehe.
Die Folgen einer Zwangsheirat sind vor allem negative sexuelle und
emotionale Erfahrungen, die sich nachteilig auf den Körper und die
Psyche auswirken und die Persönlichkeit negativ beeinträchtigen
können. Laut einer analytischen Forschung sind Frauen, die
zwangsverheiratet wurden, einem viel größerem Gewaltpotential
ausgesetzt, erfahren kaum emotionale Zugehörigkeit und haben
Minderwertigkeitskomplexe (vgl. TERRE DES FEMMES e.V., S. 19).
Ein Grossteil junger verheirateter Mädchen hat nicht einmal ein
Mitbestimmungsrecht
auf
Anzahl
und
Abstand
von
Schwangerschaften. Junge Mütter, die selber noch Kinder sind,
bekommen Kinder, eine Tatsache, die zu vielen medizinischen und
psychischen Schwierigkeiten während der Schwangerschaft und
Geburt führt (vgl. ebd., S. 15).
Ein Ausbruch aus der Ehe ist mit gravierenden Konflikten verbunden
(vgl. TERRE DES FEMMES, S. 16). Betroffene schaffen einen
Ausbruch
nur
mit
der
Unterstützung
entsprechender
Hilfsorganisationen, zumal sie auch von der eigenen Familie keine
Hilfe erwarten können. Viele Frauen wagen nicht sich zu trennen und
71
fürchten um große Verluste, weil eine von Frauen eingeleitete
Scheidung in vielen Fällen mit der Trennung von ihren Kindern
bestraft
wird.
Wie
aus
den
Biographien
kurdischer
Frauen
hervorgeht, könnte dies auch einen Verstoß durch die eigene Familie
zur Folge haben. Zudem muss die Frau befürchten, in der
Gesellschaft stigmatisiert zu werden. Jedoch lassen sich diese Fälle
nicht verallgemeinern. Inzwischen werden durchaus Ehescheidungen
vollzogen, die nicht zu einem Verstoß der eigenen Tochter führen.
Das tragische Phänomen der Zwangsheirat wird seit Jahren vermehrt
auch in Deutschland unter den Migranten beobachtet (vgl. ebd., S.
55f). Kelek berichtet in Ihrem Buch „die fremde Braut“, dass Frauen
als „Importbräute“ aus dem Ausland nach Deutschland (Europa)
verheiratet werden.
„Die typische Importbraut ist meist eben 18 Jahre alt, stammt
aus einem Dorf und hat in vier oder sechs Jahren notdürftig
lesen und schreiben gelernt. Sie wird von ihren Eltern mit
einem ihr unbekannten, vielleicht verwandten Mann
türkischer Herkunft aus Deutschland verheiratet“ (Kelek,
2005, S. 171).
Kelek führt weiter aus, dass die Importbräute fast ausnahmslos von
verstörenden Geschichten und Erfahrungen berichtet haben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kultur und die
Tradition, in die man hineingeboren wird, von ganz entscheidender
Bedeutung sind. Ganz gleich in welchem Land man lebt, begleiten
einen diese prägenden Erfahrungen.
Im Folgenden werden die Ergebnisse der Interviews zum Thema
arrangierte Ehe und Zwangsheirat anhand verschiedener Tabellen
verdeutlicht.
Tabelle: Was versteht man unter Zwangsheirat?
Kurdisch
Deutsch
72
Wenn ich von Jemanden
gezwungen werde irgend
jemand bestimmtes zu
heiraten
Jemanden heiraten zu
müssen, den man nicht
heiraten möchte
Mit jemandem das Leben
verbringen, den man nicht
möchte
Heirat unter Zwang
Das dümmste überhaupt.
Heiraten, ohne es zu wollen.
Eigene Entscheidung zählt
nicht
Eine alte, in der Tradition
verankerte und nicht mit dem
Islam übereinstimmende,
sogar verbotene Institution,
die durch Medien und
Gesellschaft aufgepuscht wird
Wenn meine Familie
bestimmt, wen ich zu heiraten
habe
Nicht das Recht haben, sich
für jemanden zu entscheiden
Ist für mich so zu verstehen,
dass ich einen Mann, ohne ihn
zu kennen, heiraten muss
Man wird gezwungen, ein
Mädchen zu heiraten, das
man nicht heiraten möchte
Die Heirat mit einer Frau, die
man nicht möchte und nicht
liebt
Einen Menschen lebendig
begraben
Die Eltern bestimmen eine
Heirat
Die Kinder werden von ihren
Eltern gezwungen, Fremde
zu heiraten
Ist eine Sache mit der ich
mich niemals beschäftigen
muss und ich alle Menschen
verachte, die andere zur Ehe
zwingen
Dass mich jemand zwingt, zu
heiraten.
Eine Heirat, die
aufgezwungen wird
Dass jemand verschenkt
wird
Frauen verprügeln
Wenn man jemanden
heiraten muss, den man
nicht liebt, es aber von den
Eltern so gefordert wird
Eine Heirat, die beide nicht
wollen aber dazu gezwungen
werden
Wie lebendig begraben zu
werden
(Quelle: Eigene Interviews, Bochum Januar-April 2007, siehe Anhang)
Die Aussagen der Befragten beider Kulturen decken sich weites gehend,
was bedeutet, dass die Vorstellung und Definition von Zwangsheirat sich in
beiden Kulturen nicht unterscheidet. In beiden Kulturen wird unter
Zwangsheirat eine Eheschließung verstanden, die unter Zwang zustande
kommt und unter Umständen auch durch Ausübung von
Gewalt
gekennzeichnet ist. Es wird deutlich, dass in beiden Kulturen der Begriff der
Zwangsehe sehr negativ belegt ist.
Im Widerspruch dazu stehen die Ergebnisse zum Thema arrangierte Ehe,
die in der nachfolgenden Tabelle dargestellt sind. 44% der kurdischen
Befragten geben an, dass sie eine arrangierte Ehe für sinnvoll halten. Es
73
gibt die Tendenz, dass etwas mehr Frauen als Männer eine arrangierte Ehe
ablehnen.
Wie oben beschrieben, gibt es jedoch keine scharfe Trennung zwischen den
Begriffen „Zwangsehe“ und „arrangierte Ehe“, in der Realität sind beide
Begriffe gleichzusetzen. Trotz der negativen Bewertung von erzwungenen
Ehen scheint in der Praxis die Tradition der arrangierten Ehen weiterhin
aktuell zu sein.
Tabelle: Halten Eltern arrangierte Ehen für sinnvoll? (gesamt)
Antworten
Deutsch
Kurdisch
Ja
0
44,4
22,2
Nein
100
55,6
77,8
100
100
100
(Quelle: Eigene Interviews, Bochum Januar-April 2007, siehe Anhang)
Tabelle: Halten Eltern arrangierte Ehen für sinnvoll? (weiblich)
Antworten
Deutsch
Kurdisch
Ja
0
40
20
Nein
100
60
80
100
100
100
(Quelle: Eigene Interviews, Bochum Januar-April 2007, siehe Anhang)
Tabelle: Halten Eltern arrangierte Ehen für sinnvoll? (männlich)
Antworten
Deutsch
Kurdisch
Ja
0
50
25
Nein
100
50
75
100
100
100
(Quelle: Eigene Interviews, Bochum Januar-April 2007, siehe Anhang)
4.2.1 Gewalt im Namen der Ehre: Ehrenmorde
„Das ich ein ehrenvoller Mörder sei; Denn nichts tat ich aus
Hass, für die Ehre alles.“ (Shakespeare)
74
Der Begriff der Ehre hat einen tiefen Ursprung, so verdeutlicht auch
Shakespeares Ausspruch, dass man die Ehre zu schützen hat. Die
Beschützung der Ehre kann sogar bis zur Tötung eines anderen
Menschen gehen. Das Opfer ist meistens aus dem unmittelbaren
Familienkreis. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele, wie die Ermordung
von Hatun Sürücü durch den jüngeren Bruder (vgl. www.heise.de,
20.03.07).
Auch ist aus dem o.g. Zitat von Shakespeare zu entnehmen, dass die
Handlung zum Schutz der Ehre nicht aus Hass geführt wird, sondern
überwiegend für die Beibehaltung der Ehre. Das Dilemma der Frau
besteht darin, dass auch ohne ihr Zutun ihre Ehrenhaftigkeit zerstört
werden kann. Wenn ihr zum Beispiel ohne „eigenes Verschulden“
eine Entführung oder eine Vergewaltigung widerfährt, bedeutet
dieses ebenfalls eine Entehrung der Frau. Das bedeutet für die
Familie dasselbe wie ein unkeusches Verhalten seitens der Frau. In
solch einem Fall ist die Familienehre zerstört. Die entehrte Frau kann
durch keine Handlung ihrerseits die Familienehre wiederherstellen.
Die Ehre der Familie kann hier lediglich durch ihren Tod
wiederhergestellt werden (vgl. König, S. 248).
4.2.2 Maßnahmen gegen Zwangsheirat und
Unterstützungsmaßnahmen für die Betroffenen
Anfang
des
Jahres
wurde
eine
Unterarbeitsgruppe
der
Interministeriellen Arbeitsgruppe „Integration“ eingerichtet und damit
beauftragt, ein Handlungskonzept zur Bekämpfung von Zwangsheirat
zu
erstellen.
Der
Zwischenbericht
der
Unterarbeitsgruppe
„Zwangsheirat“ (Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und
Integration des Landes Nordrhein-Westfalen: Zwischenbericht zum
Handlungskonzept
der Landesregierung
zur
Bekämpfung
von
Zwangsheirat) enthält eine Vielzahl von Gesetzesänderungen, sowie
Maßnahmen zur Beratung von Betroffenen, zur Prävention und zur
75
Aufklärung der Öffentlichkeit. Einige wichtige Maßnahmen, die im
Zwischenbericht Erwähnung finden, sollen im Folgenden aufgeführt
werden.
Die Landesregierung unterstützt den Gesetzesantrag des Deutschen
Bundestages
Zwangsheirat
„Entwurf
und
eines
zum
Gesetzes
besseren
zur
Schutz
Bekämpfung
der
der
von
Opfer
Zwangsheirat“. Der Entwurf sieht bei den einschlägigen Begehungsarten der Zwangsheirat eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis
zu acht Jahren vor. Unabhängig vom Wohnort der Antragstellerin
bzw. ihrer Kinder kann das Verfahren bei Gericht anhängig gemacht
werden, um die Anonymität der Betroffenen zu wahren und ihnen
Schutz vor Nachstellung und Bedrohung durch den Ehepartner zu
bieten.
Eine bereits bestehende Maßnahme zum Schutz der Opfer von
Zwangsheirat
ist
die
getrennte Anhörung
der
Ehegatten
in
Ehesachen.
Vielfach wird eine Änderung des Ausländerrechts gefordert, damit die
Betroffenen mehr rechtliche Unterstützung erhalten. Es handelt sich
zum einen um das in Härtefällen eigenständige Aufenthaltsrecht auch
innerhalb der ersten 24 Monate der Ehe in Deutschland. Zum
anderen geht es um die Widereinreisemöglichkeit für Frauen, die
unter dem Vorwand „Familienurlaub im Heimatland“ im Ausland
zwangsverheiratet wurden und danach nicht sofort nach Deutschland
zurückkehren konnten. In der Diskussion um Zwangsheirat werden
auch Gesetzesänderungen im Kinder- und Jugendbereich gefordert.
Als
zweiter
Schwerpunkt
soll
die Aufklärung
und
Beratung
ausgeweitet werden. Es besteht in NRW bereits eine gute
Infrastruktur
gegen
Gewalt
durch
ein
großes
Angebot
an
Frauenhilfeeinrichtungen. Dieser Bereich soll auch in Zukunft von
Einsparungen verschont bleiben. Darüber hinaus gibt es Mädchenund Frauenberatungsstellen, die von der Landesregierung gefördert
werden. Auch in der Jugendhilfe ist das Thema „Zwangsheirat“
76
präsent.
In
Wahrnehmung
den
Jugendämtern,
ihrer
die
Rechte
junge
Frauen
unterstützen,
bei
gibt
der
es
Fortbildungsangebote zum Thema „Migration“. Auch Ärzte sollen für
das Thema häusliche Gewalt sensibilisiert werden.
Es
gibt
Forderungen
nach
Vernetzung
von
verschiedenen
Institutionen, um die Betroffenen effektiver unterstützen zu können
und Informationsverluste zu vermeiden.
In Bezug auf die präventive Arbeit ist geplant, an Schulen das Thema
Zwangsheirat zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Zwangsheirat
soll Thema im Fach Islamkunde werden. Darüber hinaus soll es auch
im Rahmen der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer behandelt
werden.
Ein weiteres Anliegen ist es, die Öffentlichkeit über das Thema
Zwangsheirat zu informieren und das Thema zu enttabuisieren. Dies
geschieht z.B. durch die Integrationsagenturen und durch die
Fortbildung von Mitarbeitern der Jugendeinrichtungen und der
Aufklärung an Schulen.
Ein Beispiel für die Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Zwangsheirat ist
die Kampagne „Ihre Freiheit – seine Ehre“ des Aktionsbündnisses der
Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische
Ausbeutung Köln e.V., des Forums Multi-Kulti Lünen, der IFAK e.V.,
des Bundesverbands der Migrantinnen e.V. und des Vorsitzenden der
LAGA NRW. Das Ziel dieser Kampagne ist, „die immer noch
anhaltenden Tabuisierung und Tolerierung der Gewalt im Namen der
Ehre zu durchbrechen.“ Als Mittel für die Informationsverbreitung
dienen der Kampagne Postkarten und Plakate, die weitläufig verteilt
werden.
Die wichtigste und beste Prävention vor Zwangsheirat ist in erster
Linie die Durchsetzung der existierenden Menschenrechte, das
Einhalten und Beachten der entsprechenden Gesetze und dem
Vorhandensein entsprechender Schutzeinrichtungen (beispielsweise
Frauenhäuser) in allen Ländern (vgl. TERRE DES FEMMES, S. 15).
77
Es ist dringlich, in allen Gesellschaften publik zu machen, dass
Zwangsehen
weder
durch
kulturelle
noch
durch
religiöse
Begründungen gerechtfertigt werden können. Es muss eine definitive
Aufklärung sowohl für Eltern als auch für Kinder stattfinden.
Aufklärung ist auch in der Hinsicht nötig, dass nicht nur internationale
Konventionen die Wahlfreiheit bei der Eheschließung vorschreiben,
sondern dass diese „Wahlfreiheit zur Eheschließung“ auch von allen
Religionsrichtungen gefordert wird.
Menschen, die Opfer einer bevorstehenden oder bereits erfolgten
Zwangsheirat
sind,
brauchen
ein
hohes
Maß
an
Schutz,
Unterstützung und vor allen Dingen muss diesen Personen eine
Ersatzmöglichkeit zur Zwangsheirat gegeben werden. Insbesondere
müssen spezielle Maßnahmen gegen Frühehen entwickelt und
durchgesetzt werden.
Damit betroffene Frauen eine Scheidung einreichen können, ohne
mit Sanktionen wie dem Verlust der Kinder o.ä. konfrontiert zu
werden, wäre es hilfreich die entsprechende Rechtssprechung über
die Familie zu überdenken und neu aufzulegen.
Es ist eine große Notwendigkeit, ein kontinuierliches Verbot von
Frühehen und Zwangsverheiratungen in allen Ländern einzuführen
(vgl. ebd., S. 16).
Als
eine
weitere
Verlängerung
der
wichtige
Schutzmaßnahme
Schulpflicht
für
Mädchen
lässt
sich
die
formulieren.
Die
Verlängerung der Schulpflicht könnte eventuelle Frühehen verhindern
und gar aus dem Weg räumen, denn je mehr Bildungschancen
vorhanden sind, desto aufgeklärter wären sie über ihre eigenen
Rechte. Der Aufklärung und Bildung zufolge kann es einerseits zu
einer späteren Heirat kommen. Andererseits kann Bildung dem
Individuum zu einem Selbstbestimmtem und Selbstgeregeltem Leben
verhelfen (vgl. ebd.).
Demnach muss das Problem der Zwangsehen vermehrt an die
Öffentlichkeit gelangen, mit Untersuchungen, die das Ausmaß an
praktischen Beispielen verdeutlichen. Einen kleinen Beitrag dazu
kann die durchgeführte Befragung leisten. Während 100% der
78
Deutschen ihren Töchtern eigene Entscheidungen zusprechen, sind
es bei den kurdischen Befragten nur 40%.
Tabelle: Dürfen Töchter eigene Entscheidungen treffen bezüglich der
Partnerwahl?
Antworten
Deutsch
Kurdisch
Ja
100
60
66,7
Nein
0
40
33,3
100
100
100
(Quelle: Eigene Interviews, Bochum Januar-April 2007, siehe Anhang)
4.3 Exkurs: Beitrag des Gender Mainstreaming zur
Migrationsforschung
Parallel zu den bereits erwähnten Unterstützungsmaßnahmen, gibt
es eine neuere Richtung in der Forschung, die die Situation der
Frauen im Allgemeinen und im Besonderen auch die Situation der
Migrantinnen verbessern soll.
Gender Mainstreaming ist ein gleichstellungspolitisches Konzept, das
auf eine strukturelle Veränderung von Organisationen abzielt (vgl.
Meuser / Neusüß, S. 11). Geschlechterpolitik wird hier als
Querschnittsaufgabe
verstanden,
Geschlechterverhältnisse
und
mit
dem
Ziel,
männerorientierte
verfestigte
Strukturen
aufzuweichen (vgl. ebd., S. 34). Gender Mainstreaming ist eine
Ergänzung zur traditionellen Frauenförderung, dabei gibt es eine
entscheidende Neuerung in der Vorgehensweise: „Statt des Ansatzes
der Integration, bei dem Fraueninteressen in Gefahr liefen, in
Frauenkomponenten marginalisiert zu werden, sollten nunmehr der
Hauptstrom und seine für Frauen ausschließenden Mechanismen
verändert werden, indem Frauenbelage in die Planungsverfahren und
Entscheidungsprozesse gebracht wurden“ (Frey, 2004, S. 27).
Das Konzept des Gender Mainstreaming wurde erstmals auf der
dritten und vierten Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen, 1985
in Nairobi bzw. 1995 in Peking, diskutiert und 1997 im Amsterdamer
79
Vertrag als verbindliche Strategie für die Mitgliedsstaaten der
Europäischen Union festgelegt. In einem Abschlussdokument der
Konferenz in Peking verpflichteten sich die unterzeichnenden Staaten
zur Umsetzung von verschiedenen Maßnahmen, die die Situation der
Frauen verbessern sollten. In dem Dokument heißt es: „Regierung
und andere Akteure sollten eine aktive und sichtbare Politik der
konsequenten
Perspektive
in
Einbeziehung
einer
alle
und
Politiken
geschlechtsbezogenen
Programmen
fördern...“
(Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
1996).
Heute
ist
das
Thema
Gender
Mainstreaming
in
der
geschlechterpolitischen Diskussion, in Forschung und Praxis so weit
präsent, dass eine erste Bilanz gezogen werden kann. Dabei
„präsentiert sich Gender Mainstreaming auf den ersten Blick als eine
Erfolgsgeschichte“ (Meuser / Neusüß, 2004, S. 9).
„Ein Vorteil von Gender Mainstreaming wird ... vielfach darin
gesehen, dass es eine win-win-Perspektive beinhaltet, von der auch
Männer profitieren können“ (Meuser / Neusüß, S. 11). Es geht nicht
alleine um die Durchsetzung der Interessen der Frauen. Vielmehr
sollen die Belange beider Geschlechter berücksichtigt werden, um
eine
optimale
Verteilung
und
Nutzung
der
Ressourcen
zu
gewährleisten. Das Ziel ist es, die Chancengleichheit von Männern
und Frauen bei politischen Entscheidungen zu berücksichtigen (Frey,
S. 33).
Das Konzept des Gender Mainstreamings findet mittlerweile auch in
der
Migrationsforschung
zunehmend
Berücksichtigung.
Neue
Zusammenhänge wie geschlechterabhängige Migrationsbewältigung,
Familiendynamik
und
Geschlechterbeziehungen,
werden
erschlossen. Im Interesse der Forschung stehen gemeinsame und
unterschiedliche migrationsspezifische Muster von Männern und
Frauen
im
Umgang
mit
Herausforderungen
in
der
Aufnahmegesellschaft (vgl. Herwartz-Emden, 2000).
Eine Erkenntnis der Forschung des Gender Mainstreaming ist, dass
80
sich das Bild der Migrantin in den letzten Jahren gewandelt hat. Galt
die Frau früher nur als Anhängsel des auswandernden Mannes, gibt
es in der Forschung heute eine differenziertere Sichtweise. Vor allem
die englischsprachige feministische Forschung legte dar, dass
Frauen als Arbeitsmigrantinnen einen großen Anteil an der
internationalen Migration hatten (vgl. Hahn). Insgesamt wird den
Frauen in der neueren Forschung mehr eigene Handlungskompetenz
zugesprochen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass mit steigendem
Bildungsniveau, der Beteiligung am Erwerbsleben, einer längeren
Aufenthaltsdauer und besseren Deutschkenntnissen der Einfluss der
Frauen
auf
Familienentscheidungen
deutlich
sind
der
zunimmt
(vgl.
Westphal).
Migrantinnen
zunehmend
mit
Notwendigkeit
der
Neudefinition ihrer Geschlechterrolle konfrontiert (vgl. ebd.). Es
werden neue Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder konstruiert, die
abhängig
von
der
Kultur
des
Herkunftslandes,
der
Migrationsnetzwerke und der Kultur im Aufnahmeland sind. Die
Frauen
müssen
sich
mit
den
dominanten
Konzepten
im
Herkunftsland auseinandersetzen, übernehmen diese jedoch nicht
unmodifiziert. Die Bildung der Geschlechtsidentität ist durch Bildung
und Alter noch stärker beeinflusst als durch die nationale oder
ethnische Herkunft (vgl. Westphal).
Junge Migrantinnen der zweiten und dritten Generation scheinen
insgesamt flexibler auf die Migrationsanforderungen zu reagieren als
die jungen Männer, insgesamt haben sie meist bessere und höhere
Schulabschlüsse als diese (Granato, 2003, S. 113ff).
Es
zeigt
sich
eine
Orientierung
an
Religiosität
und
Selbstbestimmung, die keinen Widerspruch bedeuten muss. Oft sind
es bildungserfolgreiche junge Frauen, die selbstbewusst religiöse
Werte
mit
denen
der
Aufnahmekultur
verbinden.
Die
widersprüchlichen Erwartungen der verschiedenen Kulturen werden
in die eigenen Lebenskonzepte selbstbewusst eingebaut und kreativ
erweitert.
81
4.4 Warum Familie?
Ehe und Familie sind in Deutschland, trotz Individualisierung und
neuer Gesetzesgrundlage immer noch aktuell. Ein Grund dafür liegt
in
der
Vermittlung
der
Wichtigkeit
von
Familie
durch
die
„Normsetzer“. „Eine Durchsicht der Parteiprogramme hat bestätigt,
dass das politische Wollen der politisch Verantwortlichen – bis auf
SPD und Grüne – in Richtung traditionelle Kern- und Kleinfamilie
geht“ (Henke, S.16). Die Politik fördert also die Aufrechterhaltung
des Systems der Familie und favorisiert diese gegenüber anderen
Formen des Zusammenlebens.
Weitere Impulse zur Aufrechterhaltung des Bilds der Familie werden
durch die Medien gegeben. Ob in der Werbung oder in
allabendlichen Serien – es wird immer wieder das Ideal einer
klassischen Familie vermittelt, wenn dieses System auch nicht
immer als frei von Konflikten dargestellt wird (vgl. ebd). Selbst in
den
heutigen
Schulbüchern
ist
noch
ein
fast
klassisches
Rollendenken zu finden.
Im Gegensatz zu den Männern müssen jungen Frauen sich oft
zwischen Beruf und Familie entscheiden. Sind die Kinder da, nimmt
der Vater immer noch häufig die Rolle des instrumentellen Führers
und Versorgers ein, während die Mutter zu Hause bleibt. Aufgrund
dieser Situation, wachsen die meisten Kinder immer noch in der
traditionellen Kleinfamilie auf (Hradil).
Trotz aller feministischer Strömungen und Pluralisierungen der
Lebensformen, gibt es in der Gesellschaft immer noch vielerorts
eine Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit, die bis ins 18.
bzw. 19. Jahrhundert zurückreicht (vgl. Hausen) und ursächlich
dafür
ist,
dass
das
System
der
Kleinfamilie
weiterhin
aufrechterhalten wird.
Aus der nachfolgenden Tabelle wird ersichtlich, dass die Mehrzahl
der Befragten das Familienleben für sehr wichtig erachtet.
82
Tabelle: Wie wichtig ist für Sie das Familienleben?
Sehr wichtig
34
Wichtig
3
Nicht so wichtig
1
unwichtig
0
Summe
38
(Quelle: Eigene Interviews, Bochum Januar-April 2007, siehe Anhang)
5. Fazit: Ehe und Familie im Kulturvergleich
Je länger und intensiver ich mich in Laufe der vergangenen Monate
mit den verschiedenen Konzeptionen von Ehe und Familie
auseinander setzte, desto mehr stellte ich fest, wie umfang- und
facettenreich dieser Themenkomplex ist.
Bereits im Vorfeld hatte ich ausgiebig recherchiert und Literatur zur
rechtlichen Situation in den kurdischen Gebieten, zur historischen
Entwicklung und zur aktuellen politischen Situation gesammelt und
eingesehen. Relativ schnell stellte sich heraus, dass es kaum
wissenschaftliche Arbeiten zu kurdischen Familien und zur Stellung
der kurdischen Frau gibt. Auf diese Weise entstand die Idee,
selbständig eine Befragung durchzuführen.
Im Folgenden möchte ich auf einige Punkte zurückkommen, die mir
als Ergebnisse der Befragung besonders bedeutsam erscheinen.
Deutsche und kurdische Familien und Frauen zwischen
Tradition und Moderne
Im Verlauf der Erhebung stellte ich fest, dass von den deutschen
Befragten
teilweise
Rollenvorstellungen
sehr
vertreten
traditionelle
werden.
Verhaltens-
Obwohl
Begriffe
und
wie
83
Emanzipation, Gleichberechtigung und Gleichstellung in aller
Munde
sind,
sind
gerade
bezüglich
Kindererziehung
und
Arbeitsteilung erstaunlich häufig veraltete Rollenmuster zu finden.
Nach jahrelangen Bemühungen um Anerkennung im Beruf und
Selbstverantwortlichkeit ist es für deutsche Frauen im europäischen
Ländervergleich sehr schwer, Familie und Beruf unter einen Hut zu
bekommen. Wiedereinstieg in den Beruf, zu wenig Kita-Plätze für
unter Dreijährige, niedrigere Gehälter in gleichen Positionen wie
männliche Kollegen und wenige Frauen in Spitzenpositionen sind
kein gutes Vorbild für eine gelungene Emanzipation. Mitunter hat
man den Eindruck, die Entwicklung stehe still oder sei gar
rückläufig,
da
für
viele
deutsche
Frauen
die
traditionelle
Rollenverteilung gelebte Realität ist und sie finanziell häufig
genauso abhängig vom Mann sind wie vor fünfzig Jahren.
Die derzeitige intensive Beschäftigung der medialen und politischen
Öffentlichkeit mit dem Thema Familie, bei der angesichts sinkender
Geburtenraten das konservative Familienmodell der hausfraulichen
Mutter wieder Hochsaison hat, ist ein anschauliches Beispiel für die
ambivalente Situation deutscher Frauen und Familien zwischen
Tradition und Moderne.
Noch
stärker
sind
traditionelle
Rollenvorstellungen
bei
den
kurdischen Migrantinnen zu finden, wenngleich sich auch hier
immer stärkere Emanzipationsbemühungen abzeichnen. Besonders
Kurdinnen der jüngeren Generation, versuchen ihre vielfach
benachteiligte Lebenssituationen aufzubrechen und sich von
zwanghaften traditionellen Rollenmustern zu befreien. In diesem
Zusammenhang habe ich oft das Bild eines galoppierenden Pferdes
in Richtung Eigenständigkeit vor Augen.
Wichtig bei der Neudefinition von Werten und Lebensplänen sind
die Orientierungspunkte. Insbesondere junge Kurden müssen ihre
Position
zwischen
denen
in
vieler
Hinsicht
konfligierenden
Vorstellungen der eigenen Familie und denen der deutschen
Gesellschaft finden, die sich zudem in ständigem Wandel befinden.
84
Verkomplizierend kommt hinzu, dass es auf beiden Seiten keine
Eindeutigkeiten gibt, sondern eine Vielzahl von Lebensrealitäten,
die mit zahlreichen Widersprüchen kaum eindeutige Vorbilder bieten
können.
Sehr deutlich wurde die innerkulturelle Zerrissenheit auch am
Beispiel kurdischer Mütter. Während viele sich für fortschrittlich und
offen halten, stellt man bei näherer Betrachtung fest, dass sie doch
stark in ihren alten Traditionen verhaftet sind. Nachdem sie große
Verluste (z.B. des Heimatlandes) hinnehmen mussten, haben einige
von ihnen nun Angst, auch noch ihre Kinder an die moderne Welt zu
verlieren. Sie verfolgen noch immer einen strengen Erziehungsstil,
zum Teil sogar einen strengeren als die Kurdinnen im Heimatland.
Im Gegensatz dazu hat für kurdische Mädchen und Frauen Bildung
ebenso wie Freiheit im privaten Bereich enorm an Bedeutung
gewonnen. Viele kurdische Mädchen dürfen und wollen ihren
zukünftigen Partner frei wählen. Die Frage, ob sie auch einen Mann
anderer Nationalität oder Religion wählen würden, haben die
meisten allerdings verneint, ein Zeichen dafür, dass die Freiheit im
Geiste sich noch nicht durchgesetzt hat. Die kurdischen Mütter
befürworten
eine
gute
Schulausbildung
und
auch
einen
Hochschulabschluss ihrer Töchter, was diese aber konkret damit
anfangen sollen, ist nicht klar. An diesem Punkt kommen dann oft
wieder alte Rollenerwartungen zum tragen, was zu weiteren
Konflikten führt.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden Kulturen
Auf den ersten Blick ist vielen Deutschen das traditionelle
moslemische oder islamische Gedankengut fremd. Es erscheint
bedrohlich
und
in
scheinbarem
Widerspruch
zur
eigenen
vermeintlich emanzipierten Sicht der Dinge. Für einen Großteil der
Deutschen, die keine ausländischen Nachbarn, Berufskollegen oder
Freunde haben, bleiben die türkischen, iranischen und kurdischen
Mitbürger schlichtweg Fremde. Wenngleich es vielerorts inzwischen
85
intensive Bemühungen um Verbesserungen im Bildungssektor und
informative und sachliche Berichterstattung in den Medien gibt,
bleiben die Berührungspunkte zwischen beiden Kulturen gering, und
trennende
Faktoren
erfahren
mehr
Aufmerksamkeit
als
verbindende.
Als Beispiel für unterschiedliche Auffassungen in beiden Kulturen
wurden die jeweiligen Konzepte von Ehre miteinander verglichen.
Im Verlauf dieses Buches wurde aufgezeigt, dass in der kurdischen
Kultur die Vorgaben für ehrenhaftes Verhalten für alle Mitglieder der
Gesellschaft gelten, wenngleich auf unterschiedliche Weise, je nach
Geschlechtszugehörigkeit. Für Frauen stehen beim Thema Ehre die
Jungfräulichkeit und ihre Rolle als Tochter im Vordergrund, während
sich die Ehre der Männer an ihrer Fähigkeit die Familie zu ernähren
oder das Land zu verteidigen misst. Auf entgegen gesetzte Weise,
aber nicht minder eindeutig, fielen die Antworten der deutschen
Befragten aus. Vielen Deutschen erschienen die Fragen zum
Thema Ehre überflüssig, beziehungsweise nicht eindeutig zu
beantworten. Obwohl nicht näher drauf eingegangen wurde, muss
an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Schichtzugehörigkeit bei
der Debatte um Ehre eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Je
geringer das Bildungsniveau und das finanzielle Einkommen, desto
größer ist in der Regel die Bedeutung der Ehre.
Was die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Kulturen betrifft, so
wurde im Rahmen dieses Buches gezeigt, dass es sowohl
historisch als auch gegenwärtig viel mehr Ähnlichkeiten und
Überschneidungen gibt als allgemein hin vermutet. Aus dem
unmittelbaren Vergleich der traditionellen kurdischen Familie mit der
historischen Familie im Deutschland des 19. Jahrhunderts wurde
deutlich, dass beiden Familienkonzepten ähnliche Werte zu Grunde
liegen. Diese Erkenntnis ist insofern bedeutsam, als dass in der
Rückbesinnung von Deutschen auf die eigene Vergangenheit ein
großes Potential zum gegenseitigen Verständnis liegt.
86
Auch die Ergebnisse der Befragung haben gezeigt, dass es immer
mehr Angleichungen zwischen beiden Kulturen gibt. Bezüglich der
Fragen zum Thema Ehe und Glück innerhalb der Ehe waren sich
deutsche und kurdische Jugendliche relativ einig, und die Antworten
unterschieden sich nur wenig.
Ausblick
Denjenigen, die sich mit den Problemen und dem Alltag von
Migranten
beschäftigen,
sind
viele
dieser
historischen
und
kulturellen Hintergründe bekannt. Das Ziel der Migrationsarbeit
bleibt es, einen Beitrag zur Aufklärung und Vermittlung zwischen
beiden Kulturen zu leisten.
Es gibt nach wie vor einen großen Bedarf an Stärkung und
Unterstützung kurdischer Frauen. Ihr Selbstbewusstsein muss
gefördert werden, ebenso wie ihre Sprachkompetenz und die
Kenntnis über die Kultur, in der sie leben. Wenngleich bei weitem
nicht erschöpfend behandelt, soll mit diesem Buch ein Schritt getan
werden, um Informationen und Erkenntnisse über kurdische Frauen
in
der
deutschen
und
der
kurdischen
Gesellschaft
zusammenzutragen. Für mich persönlich ist es wichtig, diese
Informationen auch den Frauen zugänglich zu machen, die der
deutschen Sprache nicht mächtig sind oder die Analphabetinnen
sind. Aus diesem Grund beabsichtige ich in naher Zukunft, die
wesentlichen Inhalte auf Kassette und auf Video zu übertragen.
Somit
hoffe
ich,
einen
kleinen
Annäherung leisten zu können.
Beitrag
zur
gegenseitigen
87
6. Literaturverzeichnis
Aboueldahab, B. (2006): Ohnmacht oder Macht? Frauen in
Ägypten. In: Kalka, C. / Klocke-Daffa, S. (Hrsg.): Weiblich –
Männlich – Anders. Geschlechterbeziehungen im Kulturvergleich.
(Gegenbilder Bd. 5) Münster: Waxmann-Verlag.
Allison, F. C. (2002): Volksdichtung und Phantasie: Die Darstellung
von Frauen in der kurdischen mündlichen Überlieferung, In:
Skubsch, S., Kurdische Migration und kurdische (Bildungs-) Politik
(Kurdologie: Bd. Nr.5), Münster: Unrast – Verlag, S. 33 – 50.
As-Samit, A. / Bubenheim, F. / Elyas, N. (2002): Der edle Qur`an
und die Übersetzung seiner Bedeutung in die deutsche Sprache,
König – Fahd – Komplex zum Druck und Qur`an, P.O. Box 6262
Madina al-Munauwara, Königreich Saudi – Arabien.
Asim, U. (1999): Evlillikve cinsel hayat. Komya (TR): 2.baski.
Atabay, I. (1998): Zwischen Tradition und Assimilation. Die zweite
Generation türkischer Migranten in der Bundesrepublik. Freiburg im
Breisgau: Lambertus-Verlag.
Berger,
P.
/
Luckmann,
T.
(1980):
Die
gesellschaftliche
Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie.
(19. Aufl.) Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
Berko, S. H. (2006): Jiyan Helwest e. Nivisarine rexneyi. Istanbul:
Berdan Matbaacilik.
88
Besikççi, I. (1987): Wir wollen frei und Kurden sein. Brief an die
UNESCO. ( erw. Aufl.) (Reihe ist- Pocket 22) Frankfurt am Main:
isp-Verlag.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(BMFSFJ) (Hrsg.) (1996): Dokumentation der Erklärung und
Aktionsplattform
der
4.
Weltfrauenkonferenz
1995:
Gleichberechtigung. Entwicklung. Frieden. Bonn: Eigenverlag.
Boos-Nünning, U. / Karakasoglu, Y. (2005): Viele Welten leben:
Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit
Migrationshintergrund. Münster: Waxmann Verlag.
Statistisches Bundesamt (2006): Ehe und Familie in Deutschland,
Sonderheft 1: Familien und Lebensformen, Ergebnisse des
Mikrozensus
1996-2004.
Eigenverlag.
http://www.beruf-und-
familie.de/files/dldata//1c3c3dc4087427e91f851619bdd1bf6d/destati
s_mikrozensus_2005_SH1.pdf (Heruntergeladen April 2007).
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.)
(2002): Fachlexikon der sozialen Arbeit. (5. Aufl.) Stuttgart; Köln:
Kohlhammer.
Eisenrieder,
C.
(2002):
Zwangsheirat
bei
Migrantinnen:
Verwandtschaftliche und gesellschaftliche Hintergründe. In: Terre
Des Femmes e.V., (Hg.): Zwangsheirat – Lebenslänglich für die
Ehre. (Schriftenreihe: NEIN zu Gewalt an Frauen). Tübingen:
Eigenverlag. S. 36 – 45.
Elias, N. (1996): Was ist Soziologie? (9. Aufl.) Weinheim; München:
Juventa Verlag.
Fischer-Tahir, A. (2000): Nationalismus und Frauenbewegung in
Irakisch-Kurdistan. In: Savelsberg, E. / Hajo, S. u.a. (Hg.): Kurdische
89
Frauen und das Bild der kurdischen Frau. (Kurdologie Bd. Nr. 3)
Münster: LIT Verlag. S. 157 – 178.
Frey, R. (2004): Entwicklungslinien: Zur Entstehung von Gender
Mainstreaming.
In:
Meuser,
Mainstreaming,
Konzepte
–
M.
/
Neusüß,
Handlungsfelder
C.:
–
Gender
Instrumente.
(Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 418).
Fuchs-Heinritz, et al (Hrsg.) (1995): Lexikon zur Soziologie.
Opladen: Westdeutscher Verlag.
Geller, H. (1999): Liebe zwischen Ehre und Engagement. Zur
Konfrontation zweier Orientierungssysteme in binationalen Ehen
zwischen
deutschen
Frauen
und
Einwanderern
der
ersten
Generationen aus mediterranen Ländern. Opladen: Leske und
Buderich.
Gierull,
B.
(2002):
Alleinerziehende
Migrantinnen
(in
der
Familienselbsthilfe). VAMV, Verband alleinerziehender Mütter und
Väter Landesverband NRW e. V.
Gó
ómez Tutor, C. (1995): Bikulturellle Ehen in Deutschland.
Pädagogische Perspektiven und Maßnahmen. Frankfurt am Main:
Verlag für interkulturelle Kommunikation.
Hajo, Z. : In: Kurdistan - AG AStA - FU Berlin, Kurdologie-AG der
Uni Hamburg (Hg.): Studien zu Sprache, Geschichte, Gesellschaft
und Politik Kurdistans und der Kurdinnen und Kurden. Hamburg:
Bibliothek Feqiye Teyran. S. 73 – 81.
Hamidullah, M. (1996): Der Islam: Geschichte, Religion, Kultur.
Köln: Eigenverlag.
90
Hansen, G. (1995): Kultur. In: Schmalz-Jacobsen, C. / Hansen, G.:
Ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland: Ein
Lexikon. München: C.H.Beck – Verlag. S. 306 – 310.
Hecht-El Minshawi, B. (1992): Zwei Welten eine Liebe. Leben mit
Partnern aus anderen Kulturen. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt
Taschenbuch Verlag.
Heller,
A.
(1991):
Bieziehungslandschaft
im
Wandel:
sozialwissenschaftliche Aspekte und neue theologische Themen. In:
Moltmann-Wendel, E. (Hrsg.): Frau und Mann. Alte Rollen - Neue
Werte. (1. Aufl.) Düsseldorf: Patmos - Verlag. S. 47 – 82.
Hettlage, R. (1992): Familienreport: Eine Lebensform im Umbruch.
(Becksche Reihe 483) München: Beck - Verlag.
Hirschberg, W. (Hrsg.) (1988): Neues Wörterbuch der Völkerkunde.
Berlin: Dietrich Reimer Verlag.
Huber, A. (1999): Heimat in der Postmoderne. (Reihe Soziographie)
Zürich: Seismo Verlag.
Kelek, N. (2005): Die fremde Braut: Ein Bericht aus dem Inneren
des türkischen Lebens in Deutschland. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Kendal, N. (1994): Die Kurden: Geschichte und Gegenwart. In:
Kurdistan - AG AStA - FU Berlin, Kurdologie - AG der Uni Hamburg
(Hg.): Studien zu Sprache, Geschichte, Gesellschaft und Politik
Kurdistans und der Kurdinnen und Kurden. Hamburg: Bibliothek
Feqiye Teyran. S. 29 - 42.
Kizilhan, I. (2006): Ehrenmorde: Der unmögliche Versuch einer
Erklärung. (Friedens- und Demokratiepsychologie Bd. Nr. 4) Berlin:
Irena Regner – Verlag.
91
König,
K.
(1989):
Tschador,
Ehre
und
Kulturkonflikt.
Veränderungsprozesse türkischer Frauen und Mädchen durch die
Emigration und ihre soziokulturellen Folgen. (Wissenschaft und
Forschung Bd. 8) Frankfurt am Main: Verlag für interkulturelle
Kommunikation.
Lammek, S. (1989): Qualitative Sozialforschung. Methoden und
Techniken (Bd. 2) München: Psychologie Verlagsunion.
Lissner, A.
/
Süssmuth,
R.
/
Walter
K.
(Hrsg.)
(1988):
Frauenlexikon. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.
Magnus-Hirschfeld-Archiv
Familie,
Ehe
für
und
Sexualwirtschaft,
Familie.
Ehe
und
http://www2.hu-
berlin.de/sexology/ATLAS_DE/html/ehe_und_familie.hmlt
(30.04.07).
Meyer-Ingwersen,
J.
(1995):
Die
kurdische
Minderheit.
In:
Schmalz-Jacobsen, C. / Hansen, G.: Ethnische Minderheiten in der
Bundesrepublik Deutschland: Ein Lexikon. München: C.H.Beck –
Verlag. 310 – 327.
Mernessi, F. (1997): Die vergessene Macht: Frauen im wandel der
vergessenen Welt. Frankfurt a.M. : Fischer Taschenbuch Verlag.
Mina, N. (1984): Schwestern unterm Halbmond: Muslimische
Frauen zwischen Tradition und Anpassung. Stuttgart: Klett – Cotta
Verlag.
Mojab, S. (2000): Frauen und Nationalismus in der kurdischen
Republik von 1946. In: Savelsberg, E. / Hajo, S. u.a. (Hg.):
92
Kurdische Frauen und das Bild der kurdischen Frau. (Kurdologie
Bd. Nr. 3) Münster: LIT Verlag. S. 129 - 156.
Moltmann-Wendel, E. (1991): Unser Körper – Unser Selbst:
Feministische Perspektiven zur Leiblichkeit. In: Moltmann-Wendel,
E. (Hrsg.) (1991): Frau und Mann. Alte Rollen - Neue Werte. (1.
Aufl.) Düsseldorf: Patmos - Verlag. S. 83 – 102.
Mönch-Bucak, J. (1991): Kurdistan - Als Kolonie verkauft und
verraten: Vom Leben und Widerstand kurdischer Frauen in einem
vierseitig besetzten Land. In: Versöhnung leben, Frieden machen:
Frauenstrategien
gegen
Unterdrückung,
Krieg
und
Rüstung.
(Internationaler Frauenkongress in Nürnberg Bd. Nr. 3 - 4)
Nürnberg: Eigenverlag. S. 88 – 97.
Münsteraner Arbeitskreis für Gender Studies (Hrsg.)(1999):
Kultur, Geschlecht, Körper. Münster: Agenda - Verlag.
Navez-Herz,
R.
(1994):
Familie
heute.
Wandel
der
Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung, Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Peuckert, R. (2002): Familienformen im sozialen Wandel. (4. Aufl.)
Opladen: Leske und Buderich.
Rautenstrauch-Joest Museum für Völkerkunde (Hg.) (1985): Die
Braut: geliebt, verkauft, getauscht, geraubt. Zur Rolle der Frau im
Kulturvergleich. (Führer zur Ausstellung) Köln: Eigenverlag.
Rautenstrauch-Joest Museum für Völkerkunde (Hg.) (1997): Sie
und Er: Frauenmacht und Männerherrschaft im Kulturvergleich.
(Führer zur Ausstellung) Köln: Eigenverlag.
Rerrich, M. S. (1988): Balanceakt Familie: Zwischen alten
93
Leitbildern und neuen Lebensformen. Freiburg im Breisgau:
Lambertus Verlag.
Savelsberg, E. (2000): Die Chance versäumt? Ein politisches
Portrait der kurdischen Abgeordneten Layla Zana. In: Savelsberg, E.
/ Hajo, S. u.a. (Hrsg.): Kurdische Frauen und das Bild der
kurdischen Frau. (Kurdologie Bd. Nr.3) Münster: LIT Verlag. S. 179
– 198.
Scalbert, C. (2002): Das kurdische Dorf: Allegorie für die Herkunft.
In: Berliner Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie e.V. (Hrsg.)
Kurdische Studien. Berlin: Eigenverlag. S.75 - 91.
Schaffer, H. (2002): Empirische Sozialforschung für die soziale
Arbeit. Eine Einführung. Freiburg im Breisgau: Lambertus - Verlag.
Schiffauer, W. (1983): Die Gewalt der Ehre. Erläuterungen zu
einem türkisch deutschen Sexualkonflikt. Frankfurt am Main.
Suhrkamp-Verlag.
Schirilla, N. (1996): Die Frau, das Andere der Vernunft?
Frauenbilder in der arabisch – islamischen und europäischen
Philosophie. (Erziehung und Gesellschaft im internationalen Kontext
Bd. 13) Frankfurt am Main: IKO – Verlag für interkulturelle
Kommunikation.
Senol, S. (1994): Kurden in Deutschland. Fremd unter Fremde. In:
Kurdistan - AG AStA - FU Berlin, Kurdologie - AG der Uni Hamburg
(Hg.): Studien zu Sprache, Geschichte, Gesellschaft und Politik
Kurdistans und der Kurdinnen und Kurden. Hamburg: Bibliothek
Feqiye Teyran S.137 - 149.
Skubsch, S. (2002): Kurdische Migration und kurdische (Bildungs-)
Politik. (Kurdologie Bd. Nr. 5) Münster: Unrast – Verlag.
94
Stascheit, U. (2006): Gesetze für Sozialberufe (13. Aufl.) Baden Baden: Nomos Verlag.
Terre Des Femmes e.V. (2002): Zwangsheirat. Lebenslänglich für
die Ehre. (Schriftenreihe: NEIN zu Gewalt an Frauen). Tübingen:
Eigenverlag.
Tiesler, N. C. (2006): Muslime in Europa: Religion Identitätspolitiken
unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen. ( Bd. 8) Berlin:
Lit – Verlag.
Toprak, A. (2005): Das schwache Geschlecht: Die türkischen
Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre.
Freiburg im Breisgau: Lambertus - Verlag.
Ücüncü, S. (1984): Die Stellung der Frau in der Geschichte der
Türkei. Ein historischer Überblick von den alten Turkvölkern bis
heute. Frankurt am Main: R. G. Fischer Verlag.
Van Dülmen, A. (1988): Frauen. Ein historisches Lesebuch.
(Beck’sche Reihe Nr. 370) München: Beck-Verlag.
Vanly, I. C. (1980): Die nationale Frage Türkisch - Kurdistans. Eine
Übersicht mit historischem Hintergrund. (Komkar - Publikation Nr.4)
Frankfurt am Main: Eigenverlag.
Viviano, F. (2006): Der Traum der Kurden. In: National Geographic
Deutschland (Februar 2006) Hamburg: Gruner & Jahr Verlag. S. 34
– 61.
Van Bruinessen, M. (2000): Von Adela Khanum zu Leyla Zana.
Weibliche Führungspersonen in der kurdischen Geschichte. In:
Savelsberg, E. / Hajo, S. u.a. (Hg.): Kurdische Frauen und das Bild
der kurdischen Frau. (Kurdologie Bd. Nr.3) Münster: LIT Verlag. S. 9
95
– 32.
Walter, W. (1980): Die Frau im Islam. Stuttgart: W. Kohlhammer
Verlag.
Weber-Kellermann (1978): Die deutsche Familie: Versuch einer
Sozialgeschichte. (4. Aufl.) Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch
Verlag
Weber-Kellermann (1991): Das Männliche und das Weibliche: Zur
Sozialgeschichte
der
Geschlechterrollen
im
19.
und
20.
Jahrhundert. In: Moltmann-Wendel, E. (Hrsg.): Frau und Mann. Alte
Rollen - Neue Werte. (1. Aufl.) Düsseldorf: Patmos - Verlag. S. 15 –
46.
Wedel, H. (2000): Frauenbewegung und Nationalbewegung – ein
Widerspruch? Gefahren und Chancen am Beispiel der Türkei und
Kurdistan. In: Savelsberg, E. / Hajo, S. u.a. (Hrsg.): Kurdische
Frauen und das Bild der kurdischen Frau. (Kurdologie Bd. Nr. 3)
Münster: LIT - Verlag. S.105 – 128.
Wießner, G. (1986): “…in das tötende Licht einer fremden Welt
gewandert.” Geschichte und Religion der Yezidi. In: Schneider, R.
(Hg.): die kurdischen Yezidi.: Ein Volk auf dem Weg in den
Untergang. Göttingen: Progrom Taschenbücher.
Yalcin-Heckmann, L. (1991): Notizen zum Frauenalltag in einem
Flüchtlingslager: Kurdische Frauen an der kurdisch irakischen
Grenze. In: Versöhnung leben, Frieden machen: Frauenstrategien
gegen
Unterdrückung,
Krieg
und
Rüstung.
(Internationaler
Frauenkongress in Nürnberg Bd. Nr. (3 - 4) Nürnberg: Eigenverlag.
S. 186 - 190.
96
Yalcin-Heckmann, L. / van Gelder, P. (2000). Das Bild der
Kurdinnen im Wandel des politischen Diskurses in der Türkei der
1990er Jahre - einige kurdische Bemerkungen. In: Savelsberg, E. /
Hajo, S. u.a. (Hg.): Kurdische Frauen und das Bild der kurdischen
Frau. ( Kurdologie Bd. Nr.3) Münster: LIT - Verlag. S. 77 – 104.
7. Anhang
7.1 Biographien
7.1.1 Biographie Behya
Behya
Circa 70 Jahre alt, geboren in Südwest-Kurdistan, lebt in Deutschland,
hat 8 Kinder.
Was soll ich denn erzählen?
Lass mich zunächst eine andere Geschichte erzählen. Ich erzähle die
Geschichte von einem Mädchen, das mit dem Jungen eines
wohlhabenden Grafen verlobt war. Dieser Junge wollte einmal die
Familie des Mädchens besuchen.
Aber an diesem Nachmittag war das Mädchen alleine. Als der Vater
nach hause kam, sah er den jungen Mann alleine mit seiner Tochter im
Haus und erschoss ihn.
Das ist noch nicht so lange her. Das geschah vor ca. 30 Jahren, in den
60er Jahren war das.
Die Mutter des Mädchens war bei mir in Diyabakir zu Besuch und ich
bat sie, mir noch einmal genau zu schildern, was passiert war. Sie
erzählte, dass sie am Fluss zum Wäschewaschen war. Durch Zufall war
das Mädchen gerade in dem Moment allein zu hause, als ihr Verlobter
kam. Sie bat ihn, sofort zu gehen, weil sie alleine wäre. Aber zu spät,
genau in diesem Moment kam der Vater nach hause.
So waren die Sitten und Gebräuche damals. Seine Tochter mit einem
jungen Mann alleine anzutreffen, hatte die Ehre der Familie verletzt.
Der junge Mann hätte das Haus nicht betreten dürfen.
Allerdings gab es auch damals darüber Meinungsverschiedenheiten.
Manche Männer fanden, dass er einen Unschuldigen erschossen hatte.
Es gab laute Kritik, obwohl der Vater überall als „merek bu“ (ein tapferer
Mann, der auch dem Tod nicht ausweicht) geachtet wurde. Er war aus
dem Gefängnis in der Türkei geflohen, nachdem er wegen kurdischer
Widerstandsarbeit mehrfach verhaftete worden war.
Er floh nach Syrien und wurde dort von unserer Familie aufgenommen.
Später ging er mit syrisch-kurdischen Partisanenverbänden nach
Südkurdistan/Irak, in die Befreiungsfront von M. Barzani. In der KDP
allerdings holte ihn seine Tat wieder ein. Er wurde verurteilt und
97
erschossen.
Seine Ehefrau galt ebenfalls als tapfere Frau, als „jeneke merani“ (eine
Frau, die stark ist wie ein Mann, sich Respekt verschaffen kann, ihre
Gäste
persönlich
willkommen
heißt
und
eine
gesuchte
Gesprächspartnerin ist). Nach dem Tod ihres Mannes eröffnete sie ein
Geschäft und sorgte selbst für den Unterhalt ihrer Familie.
Nun erzähle ich von meiner Verlobung.
Kennen gelernt? Kennen gelernt hat man sich nicht vor der Hochzeit.
Alles wurde arrangiert. Ein junger Mann allerdings konnte in etwa seine
Wünsche zu seiner zukünftigen Frau äußern. Die Wünsche bezogen
sich allein auf das äußerliche. Außerdem musste sie auf jeden Fall aus
einer standesgemäßen Familie sein. Wichtig war auch ein gutes
Benehmen und eine gute Erziehung. Bildung wurde nicht verlangt. Wie
denn auch? Mädchen besuchten keine Schule. Die Wünsche des
jungen Mannes wurden allerdings nicht immer ernst genommen.
Mein Cousin z.B. hatte gehört, dass in einer Familie heiratsfähige
Mädchen wären. Er bat meine Stiefmütter sich dort umzusehen,
allerdings müsse seine zukünftige Braut groß und schlank sein und vor
allem schöne Augen haben. Die Mutter ging mit ein paar Verwandten zu
der Familie und fand ein Mädchen. Sie war schön, hatte eine gute
Erziehung und kam aus einer feinen Familie, aber sie war sehr, sehr
klein. So klein wie meine Schwiegermutter. Man handelte den
Brautpreis aus und wurde sich einig. Als die Schwiegermutter nach
hause kam, bestätigte sie die Erwartungen des Cousins. „Allah“, sagte
sie, „das Mädchen ist sehr, sehr hübsch und so groß wie ich.“ Da war
der Cousin zwar enttäuscht, aber er musste zustimmen.
Wenn ein junger Mann verheiratet werden soll, erkundigen sich
Vertraute aus der Familie bei den herrschenden Familien in der
Umgebung nach jungen Töchtern. Das angestrebte Heiratsalter lag so
zwischen 12 und 14 Jahren. Wenn ein entsprechendes Mädchen
gefunden worden war, reiste eine Gruppe von Männern und Frauen, die
„xelvani“, zu der Familie der jungen Frau und bat um die Hand der
Tochter. Sie verhandelten auch den Brautpreis und die Organisation der
Hochzeit. Der Bräutigam durfte nicht mit.
In meinem Fall sollte eigentlich meine Schwester verlobt werden. Nur
nebenbei wurde ich für den Bruder meines zukünftigen Schwagers
ausgesucht. Ich war allerdings als kleines Mädchen - so wie es üblich
war - dem Sohn meiner Tante versprochen worden. Dieser lebte aber
noch in Nordkurdistan. Wir waren mittlerweile „ben xete“ (unterhalb der
Grenze) nach Syrien geflohen.
Meine „xelvani“ waren ein Neffe und eine Nichte des Bräutigams. Sie
waren beauftragt worden, in meiner Familie herum zu schnüffeln, ob
noch andere geeignete Mädchen aufzutreiben wären. Dabei wurde ich
entdeckt.
Die Nichte- sie war viel älter als ich, bereits verheiratet und Mutterversuchte mich aus dem Haus zu locken: “Komm, wir gehen
schwimmen“. „Wieso“, sagte ich, „es ist doch noch viel zu früh am Tag.“
Die Nichte wollte mich ihrem Onkel unbemerkt zeigen. Was für eine
mutige Nichte! So etwas war streng verboten. Aber Allah, was waren
die Frauen damals schön! Wir trugen breite goldene Gürtel um die
Taille und schwarze Zöpfe bis unter`s Knie.
Ich bin auf jeden Fall nicht schwimmen gegangen. Natürlich sind wir
immer nur dort schwimmen gegangen, wo die Männer nicht hin gingen.
98
In unserem Dorf gab es einen großen See, einen „ava mezin“. In
unserem Uferbereich gingen die Frauen täglich schwimmen, aber nicht
nackt, sondern in Unterwäsche.
Wir Frauen aus den großen bekannten Familien durften nicht das Haus
verlassen. So gehörte sich das damals. Im Unterschied zu anderen
Frauen aus dem Dorf, gehörte es sich nicht für Mädchen aus diesen
Familien, sich auf den Straßen des Dorfes zu zeigen, Einkäufe zu
erledigen oder auf den Feldern zu arbeiten. Wir durften nur zu
einzelnen Unternehmungen aus dem Haus, z.B. zum Schwimmen oder
mal zum Picknicken oder natürlich zu „Newroz“. Das hieß damals nicht
so, sondern es hieß: „Am 21.03. musst du aus dem Haus gehen, sonst
passiert ein Unglück“. Auch am „carsembe res“, dem schwarzen
Mittwoch, mussten wir das Haus verlassen.
Zurück zu dem Tag von dem ich gesprochen habe.
Es kehrten die „xelvani“ wieder zurück. Mein Vater konnte noch nicht
zustimmen. Erst musste er das Einverständnis seiner Schwester und
seines Bruders einholen, denn die Töchter werden der nächsten
Verwandtschaft zuerst angeboten. Und tatsächlich sagten sowohl mein
Onkel als auch mein ältester Bruder nein zu den Plänen meines Vaters.
Wenige Tage später meldetet unser Diener, dass eine größere Gruppe
von Menschen auf unser Haus zu kämen. Mein Vater war ein weiser
Mann, er wusste sofort, das ist der Cousin, der von der Ablehnung der
Heirat durch die Verwandtschaft erfahren hatte.
Damals reisten reiche Leute immer mit Gefolge, umgeben von Dienern
und einigen engsten Vertrauten. Das repräsentierte ihre Macht und
unterstrich ihre Bedeutung.
Er hatte sich selber auf den Weg gemacht. Das war sehr
außergewöhnlich. Ach, das gehörte sich eigentlich damals nicht. Das
verminderte das Ansehen des Bräutigams. Aber meine Nichte hatte
mich so beschrieben, dass mein Onkel und mein zukünftiger Ehemann,
ganz verrückt vor Sehnsucht nach mir war. Er appellierte an meinen
Vater: „Wir sind doch alle mirove (Verwandtschaft)“. Und der erzählte
uns später: „Allah, dieser Mann war wie ein Magnet, er ließ nicht locker.
Ich hatte mir geschworen, die Heirat abzulehnen, aber er hat mit seinen
Bitten so mein Herz gerührt, dass ich zustimmen musste.“
Irgendwann also war die Sache bewilligt, aber ich habe das gar nicht
erfahren. Erst als mir das „xalat“ (Hochzeitsgeschenk, meist Geld oder
Gold, das ein Mädchen zur Heirat erhält und das ihr im Falle einer
Scheidung, Verwitwen oder anderen Schicksalsschlägen als Reserve
zur Verfügung steht) ausgehändigt wurde, wusste ich, dass ich verlobt
worden war.
Ich hatte keine Ahnung, wer mein Verlobter war. Ich hätte jeden
genommen, der mit vorgestellt worden wäre. Man durfte nicht einmal
fragen. Man schämte sich auch zu fragen. Ein Mädchen, das fragt oder
das störrisch ist und seine Meinung äußern will, das ist so gut wie tot.
Man wird es töten. Was soll man mit einem solchen Mädchen
anfangen? Er gab damals nur „(ja) libé“ und „belé“ (ein herzliches oder
ein wohlerzogenes „Ja“).
Mein Verlobter ließ nicht mehr locker. Sofort und zusammen mit der
Hochzeit meiner Schwester sollten auch wir heiraten.
Wir wurden also beide, meine Schwester und ich, an einem Tag zu der
Familie unserer zukünftigen Ehemänner gebracht. Man fuhr uns zu
einem Dorf, unser Bruder begleitete uns. Er war nicht mehr gegen
99
meine Verheiratung, denn als wir in der Familie abgegeben wurden,
erhielt er die Tochter der Tante, die Nichte unserer beiden Bräutigams,
als zukünftige Frau. Diese Tausche nennt man „berdeli“. So etwas war
üblich.
Auch ein Neffe unserer Bräutigams hatte uns begleitet. Ihm gefiel die
Umgebung des Dorfes so gut. Da bot ihm der jüngere Bruder aus der
Familie an: „Bleib doch noch ein paar Tage.“
Darauf erwiderte der Neffe: „Wenn ich eine Frau bekomme, bleibe ich.“
Ich wusste vorher nicht, ob ich die Erstfrau meines zukünftigen Mannes
sein würde. Das war aber alles vorher besprochen worden. Mein Vater
wusste, dass mein Verlobter bereits verheiratet war. Es war alles
arrangiert.
Auch meine Schwester wurde mit einem verheirateten Mann
verehelicht. Allerdings hatte der Bräutigam meiner Schwester die Frau
seines Bruders geheiratet, als dieser plötzlich starb. Das waren
Versorgungsehen. Die wurden von den Männern in den Familien
verlangt, das war üblich. Verwitwete Frauen wurden so in der Obhut der
Familie gehalten. Manchmal kam es dabei zu krassen
Altersunterschieden. In einem Fall weiß ich, dass der älteste Sohn
seine Tante, die Frau seines verstorbenen Onkels heiratete.
Altersunterschiede spielten keine Rolle.
Meine Mutter war sehr traurig über die Heirat. Als mein Vater zu ihr kam
und ihr erzählte, dass ich vergeben wäre, klagte sie:
„Sie ist meine letzte Tochter. Ich habe mir nie vorgestellt, sie jemals aus
den Augen verlieren zu müssen. Nun soll sie so weit wegziehen. Ich
werde sterben.“ Auch wollte sie mich nicht an einen bereits
verheirateten Mann geben. Aber da es sich um eine bedeutende
Familie handelte, war nichts zu machen.
Mein Vater fragte wütend: „Soll ich meine Töchter etwa an einen
„muxtar hassina“ (Dorfvorsteher) geben?
Und so sind wir zwei Schwestern in die Familie eines „aghas“ und
meine vier oder fünf anderen Schwestern in die Familie eines „paschas“
verheiratet worden.
Ich habe es nicht bereut, einen verheirateten Mann zu haben. Es war
das damals übliche Zwangsverhältnis. Anfangs ist es bitter, aber man
muss da durch und man passt sich nach einiger Zeit dieser Situation
an, in schlechten und in guten Zeiten.
Schön oder nicht schön, so war es. Man muss es hinunterschlucken.
Jede von uns hatte ein Zimmer und unser Mann war jeden Abend in
einem der Zimmer. So haben wir unser Leben verbracht. Das ist anders
als Euer Leben. Euer Leben ist schöner.
Wie konnte unser Leben schön sein. Wenn wir z.B. irgendwo hingehen
wollten, mussten wir eine Erlaubnis bei unserem Ehemann einholen. Es
gibt aber doch Frauen in meiner Generation, die sagen, früher wäre
alles schöner gewesen als heute. Mehr Schutz, mehr Respekt, mehr
Ordnung und Ansehen.
Ja, ja viel mehr Respekt! Vor allem gegenüber Frauen und Mädchen!
Meine Tochter, erinnere Dich doch. Dein Vater hatte vier Frauen, dein
Onkel zwei Frauen, dein anderer Onkel drei Frauen. Ist das Respekt,
heute in ein Zimmer, morgen in das andere? Das ist bitter.
Zwischen mir und den anderen Frauen gab es nicht viel Streit. Anfangs
gab es Spannungen, später haben wir uns sehr gut verstanden.
Kein Mensch hat zwischen unseren Kindern unterscheiden können. So
100
gemeinschaftlich haben wir sie erzogen. Ein Bekannter wohnte sieben
Jahre auf unserem Hof. Er stritt sich immer mit uns, welche Töchter zu
mir und welche zu der anderen Mutter gehörten.
Mann sagt, der Mann ist verantwortlich für die Beziehung der Frauen
untereinander. Es gab aber z.B. einen Schwager. Keiner konnte so gut
Frieden unter den Dorfbewohnern stiften wie er, aber unter seinen
Frauen konnte er keinen Frieden schaffen, zumindest nicht in seinem
eigenen Haushalt.
Also lag es wohl an uns. Ich denke, es liegt immer an den Frauen.
Allerdings war der Vater unserer Kinder sehr gerecht und wir haben uns
auch geschämt, wenn die Leute unsere kleinen Streitereien
mitbekommen haben. Das wollten wir beide vermeiden.
Ich bin in Cem Sharaf in Botan geboren, wir haben einen besonderen
kurdischen Dialekt, "Boti" genannt. Mein Geburtsort war sehr schön und
fruchtbar und reich an Geschichte. Die großen Kurdenfürsten stammen
aus diesem Gebiet. Ein Gebiet der Dichtung „mem u zin“, diese
Geschichte der romantischen Liebe.
Ich kenne die Liebesgeschichten und war,wie die anderen, stolz darauf.
Ja, die Liebe ist etwas Schönes. Es war schön, davon zu hören. Aber
erlebt haben wir so etwas nicht. Ob ich meinen Mann geliebt hätte oder
nicht, wen hätte das gekümmert. Was hätte ich tun können?, „testek
ned hate milé me“.
Es gab Liebende, die tauschten Blicke durch Wandspalten und
Türlöcher. Und es gab auch Menschen, die diese Liebe trotz aller
Verbote gelebt haben. Trotz aller Gesetze gab es „revandin“ (Flucht aus
Liebe). Die Liebe war stärker als der Verstand und die Liebe war stärker
als die Angst. „Revandin“ war „àcêb u adat“, die Flucht war ungehörig,
aber zugleich auch verständlich. Wenn eine solche Sache passiert ist,
wurde der „agah“ oder ein anderer angesehener Mann eingeschaltet,
um Frieden zwischen den Familien zu bringen.
War die Tochter durch den jungen Mann entführt und entehrt worden?
War sie freiwillig mitgegangen oder hatte sie ihn gar verführt?
Oft vergingen Jahre bis die Familien wieder zusammengeführt wurden.
In einem Fall wurde das junge Paar 23 Jahre verstoßen, aber dann
wurde ein großes Versöhnungsfest gefeiert.
Ich habe auch von Fällen gehört, in denen die Söhne ihren Vätern nicht
gehorcht hatten und eine von ihnen gewählte Frau, mit der sie nicht
verwandt waren, heirateten. Aber so etwas kam in 1000 oder 2000
Fällen einmal vor. Es war so gefährlich!
Es hieß: „gotie bawêxe naskînen“ (das Wort des Vaters darf nicht
gebrochen werden).
Einmal gab es in meinem Dorf einen jungen Mann, der war verliebt in
eine sehr hübsche Zigeunerin. Er hatte ihr, ohne Wissen der Familie,
ein Haus gegeben, in dem sie sich regelmäßig und heimlich trafen. Er
wurde natürlich geschützt durch seine Diener. Die wussten Bescheid,
anders wäre alles gar nicht möglich gewesen. Dieser Mann war aber
schon als Kleinkind für seine Cousine versprochen worden. Die
Hochzeit sollte bald stattfinden. Die schöne Geliebte war mittlerweile
schwanger. Er wollte diese Frau um jeden Preis behalten und weigerte
sich standhaft, sie aufzugeben und die Zwangsehe einzugehen.
Daraufhin beschloss die Familie, die Geliebte zu beseitigen. Einen
grausamen Weg wählte man dafür! Man band die Frau an einen Jeep
und schleifte sie zu Tode. Damit zeigte man dem Ungehorsamen, dass
101
diese Frau nichts wert war, und dass man sich an das Wort seines
Vaters zu halten habe.
Wie sollte er sich verhalten?
Er fügte sich dem Druck und heiratete seine Cousine. Früher habe ich
gedacht, dass meine Töchter denselben Weg gehen sollten. Früher
haben wir immer gedacht, dass wir die besten Sitten haben, die besten
Methoden, die besten Gebräuche. Egal welche es waren, bessere gab
es nicht.
Heute würde ich mir wünschen, dass meine Töchter einen Cousin
heiraten und wir den Mädchen eine gute Erziehung geben. Respektvoll
sollten sie sein. Aber ich würde ihnen eine monogame Ehe wünschen.
Ich hatte eine Schwägerin, als sie krebskrank im Sterbebett lag, rief sie
meinen ältesten Schwager zu sich und sagte zu ihm:
„Ich habe eine große Bitte. Ich habe eine junge Tochter im
heiratsfähigem Alter, gebt sie niemandem gegen ihren Willen.“
So konnte die Tochter ihren Verlobten ablehnen, dem sie schon fest
versprochen worden war.
Trotzdem sollten sich Frauen ihre Ehemänner nicht selbst aussuchen,
das gehört nicht zu unserem „resama“, zu unserem Lebensverständnis.
Eine junge Frau kann doch nicht herum gucken und sagen, ich will den
nicht und den nicht und den nicht. Dann werden sich die anderen Leute
fragen, was ist denn mit der los? Ist sie in einen anderen verliebt? Aber
so etwas war in unserer Zeit kein Problem. So etwas wie Verlieben gab
es eigentlich nicht und deshalb auch nicht solche Gerüchte.
Aber es gab Scheidungen. Vor allem bei Bardeli z.B. wenn mein Mann
mich wie einen Hund behandelt, wird über kurz oder lang mein Bruder
anfangen, seine Frau, die ja die Schwester meines Mannes ist, schlecht
zu behandeln - nicht weil er sich mit ihr nicht mehr verstehen würde,
sondern weil die Familie von ihm erwartet, dass er seine Schwester
unterstützt. So kommt es zu unlösbaren Konflikten.
Aber für mich waren Scheidungen immer schreckliche Ereignisse.
Verlobungen waren nicht so schwer zu lösen, aber leicht war das auch
nicht.. Manchmal entstanden dann diese Gerüchte über heimliche und
verbotene Bindungen. Verliebt zu sein, das entwertete nämlich ein
junges Mädchen. Auch das Herz muss jungfräulich bleiben. Obwohl die
Liebe ein edles Gefühl in unserer Kultur ist, außerhalb der
vorgesehenen Verbindungen ist sie unanständig.
Eine Verliebtheit außerhalb der Familienentscheidungen musste also
streng geheim bleiben.
Innerhalb der vorgesehenen Beziehungen war allerdings
viel erlaubt. Hat das Mädchen das Glück, sich in den
ausgewählten jungen Mann zu verlieben, werden erotische
Beziehungen zugelassen, auch wenn beide noch sehr jung
waren. Natürlich nicht in der Öffentlichkeit. Aber niemand
sagt etwas, wenn das 14-jährige Mädchen und der 27jährige Junge stundenlang in einem Zimmer alleine
zusammen sind. Allerdings muss das Mädchen bis zu ihrer
Hochzeit Jungfrau bleiben.
Während meines Aufenthalts in Europa habe ich gesehen, dass Frauen
102
ihren Ehemann selbst auswählen. Paare können 1,2 Jahre
zusammenleben, sich kennen lernen und dann entscheiden, ob sie für
immer zusammen bleiben wollen.
Das ist entsetzlich. So etwas wollen wir nicht haben. Ich wundere mich
über die heutigen Mädchen sehr. Darüber wundere ich mich wirklich!
Meine Kinder sind alle von Südwestkurdistan nach Europa und
Amerika geflohen. Ich lebe bei meinen Kindern in Deutschland und
pendle hin und wieder. Ich darf hier nur leben, so lange meine Kinder
finanziell für mich aufkommen. Ich sorge mich darum, krank zu
werden, da die Kosten vielleicht zu hoch sind. Oft wünsche ich mir bald
zu sterben. Das Schicksal hat es mit uns nicht gut gemeint. Ich
verstehe nicht, warum so viele Menschen in Deutschland finanzielle
Unterstützung bekommen und in meinem Fall die Gesetze so streng
sind, dass ich nicht einmal kranken versichert bin.
Aus der gewohnten Umgebung gerissen zu werden, ist für uns alte
Leute schon schwer genug. Für alte Menschen in Deutschland gibt es
Möglichkeiten z.B. Altenheim oder ähnliches. Für Menschen wie mich
gibt es noch keine Planung. Auch die Wohnverhältnisse meiner Kinder
sind so eng. Traditionell müsste ich bei meinen Söhnen leben, aber ich
sehe immer mehr ältere Kurden, die wie ich bei ihren Töchtern leben.
Ich fühle mich wie in einem offenen Gefängnis, ich verstehe weder die
Sprache noch die Kultur, noch kann ich mich alleine auf der Straße
bewegen.
Trotzdem danke ich Allah, dass ich wenigstens in der Nähe meiner
Kinder bin.
7.1.2 Biographie Dilxwaz
Dilxwaz
55 Jahre alt, lebt mit ihrer Familie seit 22 Jahren in Deutschland, hat 6
Kinder.
Ich bin 55 Jahre alt und die älteste von 9 Geschwistern. Ich habe 4
Schwestern und 5 Brüder. Ich bin in Bingöl geboren, eine östliche Stadt
der Türkei, wo ausschließlich nur Kurden leben. Das Leben in Bingöl,
(Bingöl übersetzt: Tausend Seen) weckt in mir tausend Erinnerungen
auf. Meine Heimat, die meine Kindheit einst so sehr mitgestaltet hat.
Ich möchte gerne von meiner Kindheit beginnen.
Meine Kindheit ist sehr friedlich und glücklich verlaufen. Ich erinnere
mich sehr gerne an diese Zeit zurück. Ich glaube es gibt nichts
worüber ich lieber nachdenke als an diese Zeit.
Mein Tagesablauf war geprägt von Spielen und manchmal Arbeiten.
Wenn ich von Arbeit rede, heißt dass nicht schwere und belastende
Arbeit, sondern Arbeit die mir Spaß machte. Ich habe regelrecht dafür
gekämpft, dass ich die Arbeit verrichten durfte. Zum Beispiel, habe ich
Kaugummi (Leim ähnliches Material) von den Bäumen gesammelt,
103
was mein Vater dann anschließend in der Stadt verkaufte. Von dem
Geld hat er mir immer schöne Dinge gekauft. Dinge wie Haarspangen,
Kleider und Schuhe. Er hatte einen sehr guten Geschmack. Er brachte
mit seinen Einkäufen sogar meine Mutter zum staunen.
Ich habe immer von meinem Vater zu spüren bekommen, dass er mich
innig liebte. Mein Vater nannte mich als Kind nicht beim Vornamen,
sondern rief mich immer mit dem Namen „sisîka mîn“ (meine helle),
weil ich eine helle Hautfarbe hatte. Dieses verdeutlichte seine Liebe zu
mir noch mehr. Aber auch ich liebte ihn sehr. Ich erinnere mich sehr
gut daran, dass ich wegen der harmonischen Beziehung zu meinem
Vater sogar von meinen Dorffreundinnen beneidet wurde, da mein
Vater der einzige war, der das Geld von den Kaugummis für mich
verbrauchte und nicht für den eigenen Haushalt. Ich war immer
unendlich stolz auf seine Geschenke und habe sie gepflegt und gehegt
wie mein Augapfel.
Trotz so vieler schöner Erinnerungen muss ich gestehen, dass das
Leben auf dem Dorf nicht immer leicht war. Unsere Häuser die aus
einfachen Steinen und Lehm bestanden, waren sehr labil und hatten
wenige Räume. Es war nicht selten der Fall, dass es rein regnete und
wir unter die Dachrille einen Auffangeimer stellen mussten. Über
solche Umstände waren besonders meine Eltern sehr traurig. Aber sie
bemühten sich sehr darum, dass es uns Kindern gut ging. Und ich
glaube im Vergleich zu den anderen Dorfbewohnern, ging es meinen
Geschwistern und mir sehr gut. Wenn ich das heutige mit damals
vergleiche, bleibt mir oft die Sprache weg. Wir kamen mit so wenig
Mitteln so lange aus. Und heute kommen wir mit so viel so wenig aus.
Ich glaube, dass keines meiner materiellen Dinge, die ich heute
besitze, meine damalige innere Ruhe, Heile und Zufriedenheit
ersetzen kann.
Als ich circa 12 Jahre alt wurde, lehrte mich meine Mutter langsam
zum Kochen, Backen und zur Handarbeit. Wie alle Mädchen aus dem
Dorf, lernte auch ich diese Tätigkeiten sehr schnell.
Es war sehr wichtig, dass die Mädchen diese Tätigkeiten konnten,
denn sie benötigten diese Fertigkeit für die spätere Heirat, es war eine
Art „Aussteuer des Mädchens“. Wenn ein Mädchen handlich geschickt
war (häkeln, stricken, sticken, nähen etc.), hat man gut über sie
gesprochen. Aber diese Fähigkeit diente natürlich auch dafür, die
eigene Mutter zu unterstützen. Eine Tochter, die ihre Mutter
unterstützte wurde in der damaligen Gesellschaft besonders
hervorgehoben.
Um meine Mutter zu unterstützen, habe ich sehr häufig meine
jüngeren Geschwister gehütet.
Ich war wie eine zweite Mutter für meine Geschwister. Im Dorf hatten
wir sehr viele Bekannte und Verwandte mit denen wir uns sehr gut
verstanden. Heute ist noch kaum einer im Dorf geblieben, viele sind in
die Städte ausgewandert Ausland geflüchtet.
Als ich 16 Jahre alt war, wurde mir zum ersten Mal eine Heirat
angeboten. Es war eine Bekannte, die einen jungen Mann vorstellte,
der aus dem Nachbardorf war. Ich kannte diesen Mann nicht und auch
er kannte mich nicht. Ich wusste nur, dass er 8 Jahre älter war als ich.
Das Angebot wurde an meinem Vater getragen. Mein Vater wollte erst
die Familie und den jungen Mann näher kennen lernen, bevor er etwas
sagen wollte. Nach einiger Zeit kam es zu diesem kennen lernen.
104
Die Familien lernten sich gegenseitig kennen. Da die Tradition
vorschreibt, dass die Kinder vor allem die Tochter über eine Heirat
nicht mit dem Vater sprechen kann. Ansonsten würde es die
Schamgrenze überschreiten. So war das nun mal damals. Heute hat
sich vieles verändert, die Mädchen haben es heute viel besser, denn
das Thema Heirat kann auch mit dem Vater besprochen werden.
Zu der Zeit wollte ich nicht heiraten, weil ich mich noch nicht bereit
fühlte und auch diesen Menschen nicht ausführlich kannte. Das habe
ich versucht meiner Mutter nahe zu legen. Meine Mutter hat dieses
meinem Vater weiter getragen.
Nun wusste auch mein Vater, dass ich bezogen auf das Thema
„Heirat“ sehr unsicher war.
Ich erinnere mich sehr gut daran, als mein Vater mit mir darüber
sprach.
Es war ein Nachmittag ich war draußen vor der Tür von unserem Haus
und habe dort fegen wollen. Mein Vater kam zu mir und setzte sich auf
eine Treppenstufe der Eingangstür.
Er sagte mir: „Sisîka mîn, deine Mutter hat mir erzählt, dass du mit der
Heirat nicht einverstanden bist. Bedenke jedoch, dass ich immer das
Beste für dich wollte und will.
Ich bin der Überzeugung, dass diese Familie und auch dieser Mann
dich gut auffangen werden. Ich habe lange über sie recherchiert und
sie auch näher kennen gelernt. Das alles bringt mich zu dieser
Überzeugung. Ich als dein Vater bin für diese Ehe, aber solltest du
sehr streng dagegen sein, werde ich dieses der Familie mitteilen.
Jedoch denke an meine Worte“.
Ich habe nur meinem Vater zugehört und nichts dazu gesagt. Die
Wörter meines Vaters sind mir im Kopf hängen geblieben und somit
habe ich das Heiratsangebot akzeptiert.
Mein Vater hat für mich 7.000 Lira Brautgeld verlangt, was auch die
Familie akzeptiert hat. Das war damals sehr viel Geld. Den größten Teil
des Brautgeldes hat mein Vater für mich investiert, indem er mir
Aussteuer kaufte. Neben dem Brautgeld hat die Familie meines
Ehemannes für meine Familie Geschenke gemacht. So war nun mal
damals die Tradition und Gebräuche in der wir lebten.
Meine Heirat hat 1968 statt gefunden. Zu meiner Zeit, auf dem Dorf,
gab es keine weißen Brautkleider. Stattdessen habe ich ein
geschmücktes langes Kleid getragen. Jedes, Mädchen, dass heiratete
hatte an diesem Tag ein rotes Taillenband zu tragen. Das Band war ein
wichtiges Zeichen der Jungfräulichkeit. Ich wurde auf einem Pferd zu
meiner „neuen Familie“ gebracht. So haben alle auf dem Dorf
geheiratet. Auf der Hochzeit gab es Musik und Tanz. Vor allem den
Folklestanz Es wurde auch gespeist.
Es war sehr schwierig mich von meiner Familie zu trennen, auch
meiner Familie fiel diese Trennung sehr schwer. An diesem Tag sind
sehr viele Tränen geflossen.
Es war sehr traurig.
Nun war ich in der neuen Familie, alles war mir ganz fremd und nicht
vertraut. Aber ich hatte das große Glück, dass mich die Familie von
Anfang an gut aufgenommen hat. Es lebten sehr viele Mitglieder in der
Familie, denn auch mein Ehemann hatte weitere 8 Geschwister. Ich
hatte viele Schwager und Schwägerinnen. Zudem waren die beiden
älteren Brüder verheiratet und lebten mit ihren Kindern und Ehefrauen
im selben Haushalt.
105
Allerdings waren hier die Häuser größer als bei uns und sie hatten
auch viel mehr Räume. Die Familie war den Dorfumständen
entsprechend wohlhabend. Vor allem hatten sie viele Nutztiere und
Ackeranbau, was wiederum viel Arbeit bedeutete. Hier haben nicht nur
die Männer draußen gearbeitet, sondern bei Bedarf auch die Frauen
des Hauses. Somit waren die Frauen im Haushalt und Draußen
Beschäftigt. Um uns die Arbeit zu vereinfachen, haben wir Frauen die
Arbeit aufgeteilt. Zum Beispiel, haben einige Frauen die Arbeit im
Haushalt und einige die Arbeit Draußen vollzogen. Das war für uns
einfacher. Meine Schwiegermutter hat genauestens darauf geachtet,
dass die Dinge im Haushalt und auch Draußen seinen richtigen Lauf
nahmen. Sie hat im Grunde genommen alles geleitet. In ihrer Person
war sie nicht hart oder unfreundlich, aber sie versuchte auf eine
weiche Art zu dominieren. Sollte man aus ihrer Sicht die Sache
betrachten, denke ich, dass sie mit ihrer Art das richtige gemacht hat,
denn ansonsten wäre es nicht möglich so viele Menschen zu leiten
und alles unter einem Hut zu bekommen. Die Familie, und auch meine
Schwiegermutter waren sehr religiös. Ich habe nie mitbekommen, dass
meine Schwiegermutter über uns Schwiegertöchter gelästert hat oder
uns in der Dorfgesellschaft schlecht darstellte. Ganz im Gegenteil.
Mein Schwiegervater hat sich nie in die Sachen der Frauen
eingemischt. Er verfolgte seinen eigenen Weg und versuchte die
Söhne zu leiten. Auch er war immer sehr freundlich und nett zu uns
Schwiegertöchtern. Ich war sehr darum bemüht, den erwünschten
Anforderungen der Familie gerecht zu werden. Nach einer kurzen Zeit
fielen mein Fleiß und meine Mühe meiner neuen Familie auf. Ich
versuchte meine Arbeit immer mit bestem Wissen und Gewissen zu
vollziehen und ihnen bei jedem Problem behilflich zu sein. Das war ich
von Zu hause aus gewöhnt. Ich habe versucht diese Familie zu meiner
Familie zu zählen und keine großen Unterschiede zu meiner
Herkunftsfamilie zu machen. Außerdem lag mir viel daran, dass es
keine Beschwerde über mich gab, die meine Eltern hätten kränken
oder verletzen können. Das hätte mich wahrscheinlich sehr zu
schaffen gemacht. Ich wollte einfach nicht, dass mein Vater seine
Entscheidung bereut und habe sehr viel Wert darauf gelegt, mich mit
all den neuen Menschen meiner neuen Umgebung zu verstehen.
Dieses fiel auf und ich nahm hierdurch eine sehr beliebte und
anerkannte Rolle ein. Meine Schwiegermutter und auch meine
anderen Schwägerinnen vertrauten mir viele Dinge an. Das war
normalerweise in der damaligen Kultur nicht üblich. Man sah die
Schwiegertochter oft als eine „Fremde“.
Ich habe 5 Kinder auf dem Dorf zu Welt gebracht, allerdings starben
ein Junge und ein Mädchen. Die Todesursache war nicht klar, denn sie
starben mit 9 und 3 Monaten
Das war nicht einfach den Tod eines Kindes zu akzeptieren, und schon
gar nicht den Tod des eigenen Kindes. Aber der liebe Allah gibt sabr
(Geduld), und so gewöhnt man sich an so manche schlimme Dinge
und lernt es zu ertragen.
So verbrachte ich gemeinsam mit meiner neuen Familie einige Jahre
auf dem Dorf.
Mein Mann hatte im Jahre 1965, bevor er mich überhaupt kannte,
einen Antrag als Gastarbeiter in Deutschland gestellt.
Wie Allah es wollte, wurde der Antrag im Jahre 1972 genehmigt.
Ich kann mich noch sehr gut an diesen Tag erinnern, so als ob es
gestern wäre.
106
Als mir mein Mann mitteilte, dass er nun nach Deutschland geht, damit
er arbeitet und uns mehr Sachen bieten kann wollte ich am liebsten
los schreien. Ich fühlte mich sehr aufgeschmissen. Ich war sehr traurig
und habe heimlich viel geweint.
Ich konnte mit dem Begriff Deutschland überhaupt nichts anfangen, es
war mir ein Fremdwort.
Diese Ungewissheit über Deutschland hat mir sehr viele Sorgen
bereitet, da ich nicht wusste wohin ich meinen Mann gehen lasse.
Ich hätte es sagen können, aber zu der Zeit war es ein Traum nach
Deutschland gehen zu können. Obwohl keiner richtig wusste, wie es in
Deutschland aussieht, haben alle (vor allem Männer) davon geträumt.
Mein Mann hatte viele Jahre auf die Genehmigung seines Antrages
gewartet, ich glaube auch wenn ich dagegen gesprochen hätte, wäre
er einfach gegangen. Ich durfte seinen Traum nicht platzen lassen und
habe viele meiner Sorgen für mich behalten. Aber mein Mann hat mir
meine Sorgen angemerkt und versuchte mich zu beruhigen. Er sagte
immer, ich gehe doch nicht für mich, ich gehe für euch. Einmal haben
wir uns sogar gestritten, weil ich ihm sagte: „Für uns brauchst du nicht
gehen, wir leben hier gut“. Er versuchte immer viele Gründe zu
nennen, das Einkommen sei mit der Türkei gar nicht gleich zusetzen
und sobald er eine gute Arbeit hat würde er uns nachkommen lassen.
Im Jahre 1972 ist mein Mann nach Deutschland gegangen um zu
arbeiten. Die Zeit verging schnell. Auch in der Abwesenheit meines
Mannes war das Zusammenleben mit seinen Eltern und Geschwistern
sehr gut. Meine Eltern kamen oft zu Besuch und auch wir haben meine
Eltern besucht. Das war damals kein Problem, weil unsere Dörfer nicht
so weit voneinander entfernt waren.
Wir haben uns gegenseitig viel unterstützt.
Es war ein Geben und Nehmen.
Mein Mann teilte uns mit, dass er hier und da arbeitet aber noch keine
feste Arbeit besitzt.
Es war so, als ob er sich bei uns entschuldigen wollte. Dabei war das
gar nicht nötig.
Nach einigen Monaten teilte er uns eine erfreuliche Nachricht mit. Er
hatte eine vorübergehende Arbeit in Frankfurt gefunden. Er ging mit
seinem Verdienst sehr sparsam um und schickte uns viel Geld zum
Leben. Seine Eltern haben das Geld verwaltet und legten den größten
Teil des Geldes für uns an.
Nach ungefähr einem Jahr, im Jahre 1973 kam er für 2 Monate wieder
in die Türkei und machte Urlaub. Ich wurde Schwanger und habe im
Jahre 1974 meinen zweiten Sohn zur Welt gebracht. Die Geburt verlief
in Abwesenheit meines Mannes. Der Abschied war wie immer sehr
schwer.
Seine Rückkehr nach Deutschland war sehr erfreulich, denn er hat
kurz darauf eine Arbeit als Straßenbauer gefunden und war 10 Jahre
dort beschäftigt.
Das war eine sehr gute Arbeit. Er hat jedes Jahr regelmäßig Urlaub
bekommen und konnte uns demnach 1975 erneut besuchen. Wir
haben uns immer sehr auf das Wiedersehen gefreut.
Ich liebte meinen Mann sehr, ich war richtig stolz auf ihn.
Er kam nie mit leeren Händen und brachte für jeden ein Geschenk mit.
Wenn er zu Urlaub kam haben wir immer viel unternommen.
107
Meine Schwiegereltern sorgten in dieser Zeit oft dafür, dass ich mit
meinem Mann oft alleine war. Es war zu der zeit nicht möglich, meinen
Mann öffentlich zu umarmen oder schöne Worte zu sagen. Solche
Sachen teilte man sich nur, wenn man alleine war.
Es war meinem Mann lange Zeit sogar unangenehm, seine eigenen
Kinder vor seinem Vater auf den Schoß zu nehmen oder zu küssen.
Auch diese Sachen wurden meistens heimlich gemacht. Das war eine
Art Respekt vor dem Älteren.
So zu denken und so zu handeln war damals kein Problem, denn man
war es einfach nicht anders gewohnt. Es war so.
Als mein Mann im Jahre 1976 wieder zu Urlaub kam, sagte er, dass er
sich dazu entschieden hat, nach Elazig aus zuwandern. Er überzeugte
seine ganze Familie. Mein Mann hatte nun genug Geld um uns dort ein
Haus bauen zu lassen. Wir hatten ja auch noch das Geld, was meine
Schwiegereltern für uns verwaltet hatten. Meine Schwiegereltern
haben seine Idee befürwortet, sie waren nicht dagegen. Ganz im
Gegenteil. Der Urlaub meines Mannes im Jahre 1978 verlief nur mit
organisatorischen Dingen. Es war nicht einfach, ein Haus für eine
große Familie bauen zu lassen. Sein Plan verwirklichte sich im Jahre
1979. Das Jahr 1979 war sehr anstrengend, ich war hoch schwanger.
Kurz nach der Geburt meiner ersten Tochter sind wir ausgewandert.
Ich lebte nun mit der Familie meines Mannes und meinen 3 Kindern in
unserem neuen Haus in Elazig. Elazig ist ungefähr 300 Kilometer vom
Dorf entfernt und ist auch eine östliche Stadt der Türkei.
Allerdings war Elazig eine weitaus moderne Stadt als Bingöl. Ganz
anders wie auf dem Dorf. Obwohl es auch hier viel zu tun gab, war das
Leben hier viel befreiender.
Es waren kaum 4 Monate vergangen, da holte uns in einer Nacht die
Nachricht ein, dass mein Vater schwer krank sei. Diese Nachricht war
ein Schock für mich. Ich konnte in dieser Nacht kein Auge zu drücken.
Mein Schwiegervater und ich sind am nächsten Tag sofort nach Bingöl
gefahren. Als ich dort ankam, war alles anormal, das Haus war
überfüllt mir vielen Menschen. Dieser eine Blick hat ausgereicht. Es
wurde für mich sofort klar, dass mein Vater bereits verstorben war. Er
lebte nicht mehr. Das war eines der schlimmsten Nachrichten meines
Lebens. Ich habe geschrien und geweint. Es war so, als ob man mir
plötzlich das Herz aus dem Leib raubt.
Es dauerte sehr lange bis ich diesen Schmerz überwunden hatte.
Das schlimmste ist, dass ich mich bei ihm nie bedanken konnte.
Ich hätte mich für alles bedankt. Besonders dafür, dass er mich in gute
Hände gegeben hat.
Ich weiß, dass viele Ehen, die von den Eltern organisiert werden nicht
gut laufen. Solche Beispiele gibt es zu genüge.
Diese Tatsache bedrückt mich heute noch.
Er war ein Vater, den man sich nur wünschen konnte.
Möge er in Frieden ruhen.
Der nächste Urlaub meines Mannes im Jahre 1981 war schon ein
wenig anders. Wir hatten unseren eigenen Bereich und konnten uns
viel besser austauschen. Kurz darauf habe ich in Elazig eine weitere
Tochter zur Welt gebracht und war nun die Mutter von 4 Kindern (2
Söhne u. 2 Töchter). Ich konnte mich sehr auf meinen Mann verlassen
und habe es nie bereut ihn geheiratet zu haben. Er war sehr
108
fürsorglich und nannte mich immer „Hasret dîl“ (die Sehnsucht meines
Herzens). Diese Worte haben mich immer sehr geschmeichelt. Ich war
stolz darauf, diese Worte hören zu dürfen und habe meiner jüngeren
Tochter den Namen „Hasret“ (Sehnsucht) gegeben. Obwohl ich
meinen Mann vor der Heirat kaum kannte, haben sich nach und nach
Gefühle entwickelt. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr
vorstellen.
Mein Mann und ich hatten mittlerweile eine richtige Familie gegründet.
In Elazig ging es uns finanziell sehr gut. Es gab wirklich nichts,
worüber wir hätte klagen können. Alles hatte sich eingespielt. Wir
haben zuerst alle in unser Haus aufgenommen. Das Ganze verlief so
ungefähr 2 Jahre, bis sich meine Schwager, für ihre Familien nach und
nach eigene Häuser bauen ließen. Mein Mann hat seinen
Geschwistern geholfen wo es nur ging. Er hat viel dazu beigetragen,
dass es auch seinen anderen Geschwistern gut ging.
Meine Schwiegereltern und die Geschwister meines Mannes, die noch
nicht verheiratet waren, blieben jedoch weiterhin bei uns. Ich habe sie
nie als eine Last empfunden, weil sie wirklich herzensgute Menschen
waren. Sie waren mir immer eine große Hilfe.
Unser Haus hatte einen umfangreichen Garten. Wir hatten viel Obst
und Gemüse.
Das war aber auch eine Gefahr, denn es kam häufig vor, dass
Jugendliche über unseren Zaun kletterten und Obst klauten.
Nach 4 Jahren in Elazig erhielten wir eine Nachricht von meinem
Mann.
Er teilte uns mit, dass ich mit unseren 4 Kindern nachziehen sollte.
Das war für mich keine besonders schöne Nachricht. Ich hatte mich
gerade in Elazig eingelebt und eingefunden und sollte schon bald alles
liegen lassen.
Das war nicht einfach sich von einem gewohnten und vertrauten Ort
trennen zu können.
Im Jahre 1985 sind wir dann nach Deutschland eingereist.
Die ersten Monate in Deutschland waren furchtbar. Ich konnte die
Sprache nicht, ich wusste nicht wie ich mich zu benehmen hatte ich
wusste gar nichts.
Ich habe meinen Mann sehr bewundert. Ich habe mich gefragt wie er
es hier alleine so viele Jahre ausgehalten hat.
Nun war er aber nicht mehr alleine.
Er hatte für uns eine 3,5 Zimmer Wohnung eingerichtet. In diesem
Haus wohnten keine Ausländer. Wir hatten nur deutsche Nachbarn.
Sie schienen aller nett zu sein. Wenn wir uns auf dem Balkon
begegneten haben die uns immer begrüßt. Ich habe immer nur mit
dem Kopf genickt, weil ich nicht wusste wie man richtig grüßt. Bis mein
Mann mir sagte, dass es reicht wenn ich „Tag“ sage.
Ich glaube das war das erste was ich auf Deutsch sprechen konnte.
Als mein Mann nach unserer Eingewöhnungsphase wieder arbeiten
ging, war ich den ganzen Tag alleine mit meinen Kindern. Mein Mann
hat alle Werktage hart durch gearbeitet. Aber auch ich habe hart
gearbeitet. Ich habe meine Kinder nach und nach zur Schule
geschickt, bin einkaufen gegangen, habe den Haushalt geregelt,
gekocht, habe Arztbesuche erledigt und was sonst noch so im
normalen Leben aufkommt.
Ein Jahr später (1986) erfuhr ich, dass meine Schwägerin (die
109
Schwester von meinem Mann, zugleich auch meine beste Freundin)
auch nach Deutschland, zu ihrem Mann, ziehen wird. Ich kann gar
nicht beschreiben wie sehr ich mich gefreut hatte. Mit dieser
Schwägerin habe ich mich besonders gut verstanden. Wir sind bis
heute noch wie Schwestern. Der Kontakt ist bis heute noch sehr
harmonisch. Wir wohnen jetzt seit ca. 21 Jahren gemeinsam in
Deutschland und seit 3 Jahren sogar auf derselben Straße. Sie ist
meine Schwägerin, meine beste Freundin und gleichzeitig auch meine
Nachbarin.
In diesem Jahr (1986) habe ich auch mein 5.Kind zur Welt gebracht,
unseren dritten Sohn. Nun hatte ich nicht nur 4 schulpflichtige Kinder,
sondern auch noch einen Säugling. Ich musste viele Dinge alleine
machen. Das war nicht einfach.
Und schon gar nicht, wenn man kein Wort Deutsch sprechen konnte.
Aber es hat geklappt, man beißt sich mit allen Mitteln durch.
Es blieb mir ja auch nichts Weiteres übrig, wenn man muss dann muss
man eben.
Mein 6.Kind ist 1988 geboren. Das war das erste Mal, dass mein Mann
bei einer Geburt dabei war. Es war ein Junge. Unser 4. Sohn.
Kurz darauf haben wir unseren ersten gemeinsamen Urlaub in der
Türkei verbracht.
Das Wiedersehen war groß, und die Sehnsucht umso mehr.
Wir sind fast alle 2 Jahre mit der ganzen Familie in den Urlaub
geflogen.
Obwohl das immer sehr teuer war, hat es sich gelohnt.
Kurz nach unserem ersten gemeinsamen Urlaub, im Jahre1989 habe
ich den ersten großen Schicksalsschlag meiner Ehe erlebt.
Ich weiß noch jede Einzelheit. Es war ein ganz gewöhnlicher Tag. Mein
Mann war arbeiten.
Wir haben das Abendbrot immer gemeinsam gegessen. Ich hatte
gekocht und wartete mit den Kindern auf meinen Mann. Es wurde
immer später, er kam und kam nicht.
Wenn manchmal etwas passiert, dann spürt man das irgendwie.
Ich wusste, dass diese Verspätung kein gutes Zeichen war, denn er
war immer pünktlich und zuverlässig. Ich wurde immer unruhiger und
meine Kinder mit mir. Irgendwann liefen mir einfach die Tränen, die
Ungewissheit machte mich zu schaffen.
Ich habe ihn in meiner Verzweiflung sogar beschimpft, weil ich das
verantwortungslos fand, dass er uns nicht benachrichtigte. Ich wurde
immer ungeduldiger.
Mein ältester Sohn versuchte mich zu beruhigen und auf mich
einzureden.
Aber es brachte nichts, es war so als ob mir 100 Stimmen sagten, dass
etwas Schlimmes passiert sei. Und so war es dann auch. Nach etwa 2
Stunden vergeblichen Wartens haben wir einen schrecklichen Anruf
bekommen. Die Polizei benachrichtigte uns über einen tragischen
Verkehrsunfall. Die Angehörigen sollten bitte zum Krankenhaus
kommen.
Es war so als ob mir die Decke auf den Kopf fällt. Es war nicht möglich
zu reden, ich war nur am schreien. Ich hatte mich richtig verloren. Mein
Sohn hat meine Schwägerin benachrichtigt. Wir sind sofort ins
Krankenhaus gefahren.
110
Als wir dort ankamen merkten wir schnell, dass es mehr war als nur
ein Verkehrsunfall. Die Ärzte versuchten uns schonend beizubringen,
dass mein Mann klinisch Tod sei. Er befand sich im Koma. Ich habe die
Ärzte angefleht, damit sie mich zu ihm ließen. Mein ältester Sohn und
ich durften ihn kurz sehen. Er lag auf der Intensivstation, es waren sehr
viele Ärzte dort. Als ich ihn da mit den unzähligen Kabeln so liegen
sah, brach meine heile Welt zusammen. Ich glaubte ihn verloren zu
haben. Ich sah meinen Sohn an und mein Sohn sah mich an. Die
Tränen flossen so dahin.
Mein Mann lag 8 Tage in Koma.
Danach lag er 4 Monate im Krankenhaus und hat sich in dieser Zeit
vielen Operationen unterziehen müssen. Sein Gesicht war wie
entstellt. Er hat viele Brüche erlitten. Sein Gehör- und Geruchssinn
sind seitdem geschädigt. Man konnte viele Dinge nicht mehr
wiederherstellen. Mein Mann ist nach diesem Unfall 60% behindert.
Die Ärzte haben ihn nach diesem Unfall als erwerbsunfähig attestiert.
Es wurde ihm verboten arbeiten zu gehen. Dieser Unfall hat unser
Leben sehr beeinträchtigt. Man kann es kaum in Worte fassen, dass er
heute noch lebt.
Es ist ein Wunder von Allah.
Mit dem Unfall hat sich aber auch sein Wesen verändert. Er ist nicht
mehr so geduldig.
Man kann ihn schnell reizen. Er fährt schnell aus der Haut und wird
schnell wütend.
Er war Jahre lang ein wunderbarer Ehemann und ein sehr fürsorglicher
Vater.
Meine Kinder und ich sind über jeden Tag froh, wo er bei uns ist.
Wir versuchen das große Geschenk zu schätzen und bemühen uns
darum, ihn nicht unnötig zu belasten.
Mittlerweile (seitdem ich geheiratet habe) sind etwa 38 Jahre
vergangen.
Meine 2 älteren Söhne (32 u. 37) sind verheiratet und haben ihre
eigenen Familien gegründet.
Sie leben sehr glücklich. Ich bin eine fünffache Großmutter. Mein
6.Enkelkind ist unterwegs.
Meine 2 Töchter (25 u. 27) haben nach einer Ausbildung zur Erzieherin
ein Studium begonnen. Meine Jüngsten Söhne (18 u. 20) machen
zurzeit Abitur.
Ich kann mit einem guten Gefühl behaupten, dass die Jugend meiner
älteren Söhne im Großen und den recht friedlich verlaufen ist. Die
haben sich gut eingefunden. Mein Mann und ich wurden nie Zeugen
davon, dass sie sich unachtsam benahmen. Sie haben nicht getrunken
und sind auch nicht in Discos oder so besucht. Wo sie sehr gerne
waren, war „Intercent“. Das war ein Jugendfreizeittreff in Marl. Fast alle
Jungen gingen dort hin. Die haben mich immer beruhigt und sagten:
„Mama da gibt es nichts schlimmes“. Wir spielen da Billard oder
andere Spiele. Das war für mich in Ordnung.
Mittlerweile sind meine beiden älteren Söhne verheiratet. Beide haben
freiwillig geheiratet. Mein Mann und ich halten uns aus solchen Dingen
raus. Natürlich möchte man wissen, aus welchen Kreisen Sie kommen,
111
aber wenn von Liebe gesprochen wird, sind wir meistens stumm.
Wir haben viel für die Hochzeit beider Söhne investiert und auch bei
der eigenen Wohnung beigesteuert. Wenn Eltern ihren Kindern nicht
beistehen, wer soll es dann tun?
Man hat ja schon den Wunsch, dass die ausgewählte Person zu der
eigenen Familie passt. Wir sind eine sehr fromme Familie und
versuchen uns an die Vorschriften des Islams zu halten. Was wir
wahrscheinlich schwer akzeptieren könnten wäre eine Christin oder ein
Christ.
Wir glauben an Allah und das Muhammed (s.a.v.) unser Prophet und
Allah`s Gesandter ist.
Wir bemühen uns um die Erfüllung der 5 Säulen des Islams.
Wir Beten, Fasten, geben jedes Jahr unsere Armensteuer (Zekat
→Almosen).
Im Jahre 1994 haben mein Mann und ich die 5. Säule des Islams
erfüllt, das heißt, dass wir eine Wallfahrt nach Mekka (Hac) gemacht
haben. Seitdem sind wir Haci`s.
Wir trinken kein Alkohol und essen kein Schweinefleisch. Das sind
Dinge, die uns der Islam zu unseren Gunsten strikt verbietet.
Außerdem kleide ich mich nach den Vorschriften, d.h. lange saubere
Kleidung, Kopftuch, keine Betonung des Körpers.
Meine beiden Töchter kleiden sich den Vorgaben entsprechend. Beide
Tragen ein Kopftuch.
Wir haben nicht nur unseren Töchtern, sondern auch unseren Söhnen
häufig mitgeteilt, wie ein Muslim leben sollte. Ein Muslim muss nett
und aufrichtig sein, er sollte seine Mitmenschen achten und sollte nicht
lügen. Wir haben uns darum bemüht, den Islam schmackhaft zu
machen.
Es ist aber wichtig, keinen Menschen zu etwas zu zwingen.
Das verbietet der Islam. Etwas kann nur schön sein, wenn man es
freiwillig macht.
Ich habe besonders meinen Töchtern immer wieder gesagt: „Wenn ihr
euch für ein Kopftuch entscheiden solltet, dann macht es weil Allah das
möchte und nicht weil ich oder euer Vater das sagt!“ Meine jüngere
Tochter hat bis zu ihrem 19.Lebensjahr noch kein Kopftuch getragen.
Ganz im Gegenteil, sie hat sich immer sehr eng und freizügig
gekleidet.
Am schlimmsten fand ich ihre Schminke, aber sie hat nichts daran
geändert.
Bis unsere Nachbarin verstorben ist. Diese Nachbarin war auch eine
Kurdin, sie war zu lieb für diese Welt. Eine unglaubliche Frau. Dieser
Tod hat viel in meiner Tochter ausgelöst. Das war der erste Tod, den
sie live miterlebt hat. Seit diesem Tag hat sie sich ganz plötzlich dazu
entschieden, ein Kopftuch zu tragen und ihre Lebensform zu ändern.
Seitdem betet sie auch.
Das hat mir bewiesen, dass jeder Mensch einen emotionalen Anstoß
braucht.
Ich finde es sehr wichtig, dass sich Menschen bilden. Gerade
heutzutage hat man ohne Bildung keine Chance. Egal ob männlich
oder weiblich.
112
Die Schule kennt kein Geschlecht. Ich habe nie Unterschiede
gemacht. Ich liebe alle meine Kinder und da ich sie alle liebe, möchte
ich für alle das Gute. Die Schule ist etwas Gutes. Obwohl ich selbst
keine Schule besucht habe, finde ich es wichtig, dass jeder Mensch
eine Schule besucht. Mein Mann und ich haben immer sehr viel Wert
darauf gelegt, dass unsere Kinder ordentlich zur Schule gehen und
sich beruflich bilden. Ich kann mich nicht damit anfreunden, wenn man
sagt, dass Mädchen die Schule verboten wird.
Menschen die so etwas behaupten sind „Tönedî“ (zurück gebliebene
Leute).
Ich habe selbst gesehen und gespürt was es heißt nicht lesen und
schreiben zu können. Meine Kinder haben bis vor kurzem noch einige
Male dafür gekämpft, mir das Lesen und Schreiben beizubringen.
Allerdings fehlt mir jetzt die Motivation, ich habe es einfach verpasst.
Heutzutage weiß ich, dass ich mich nie richtig integriert habe. Ich war
meistens den ganzen Tag Zuhause und war mit allen möglichen
Aufgaben beschäftigt.
Da wir nach und nach auch viele türkische und vereinzelt auch
kurdische Nachbarn bekamen, war ich somit von der deutschen
Gesellschaft förmlich isoliert.
Ich habe mich lieber mit Menschen angefreundet, dessen Sprache ich
auch beherrschen konnte. Allerdings war das mit großen Nachteilen
verbunden. Das habe ich aber leider viele Jahre später bemerkt.
Ich finde es sehr schlimm, dass in meiner Kultur oft Töchter
unerwünscht sind. Die Menschen wollen lieber einen Jungen, aber ich
empfinde, dass die Töchter genau so viel Wert sind wie die Jungen.
Als ich meine Töchter bekam war ich sehr glücklich darüber und bin es
immer noch. Ich habe zwei wunderbare Töchter, die ich nie missen
möchte. Ohne meine Töchter wäre das Leben eintönig. Sie sind beide
sehr intelligent und voller Lebensfreude. Ich finde jede Mutter braucht
Töchter. Ich kann alles mit ihnen teilen, sowohl Freude, als auch
Kummer. Sie zeigen mir oft in meiner Verzweiflung den Weg. Hierfür
bin ich ihnen sehr dankbar.
Natürlich gibt es auch Konflikte mit ihnen. Beide sind sehr
Selbstbewusste junge Frauen, die viele Dinge im Leben vor allem in
unserer Kultur in Frage stellen. Z.B. haben wir oft
Meinungsverschiedenheiten, was unsere Kultur betrifft. Die regen sich
oft auf, wenn kulturelle Dinge religiös begründet werden, oder wenn
über Frauen schlecht gesprochen wird und Männer mehr Freizüge
genießen als die Frauen.
Hierbei kommt es manchmal zwischen uns zu Reibereien. Jedoch
denke ich sie sollen so leben wie sie zu richtig wissen und ich so wie
ich es richtig denke. Obwohl sie in vielen Dingen anders denken und
handeln, haben sie trotz dessen, einen sehr guten Stellenwert und Ruf
innerhalb
meiner
Familie-,
Bekannten-,
Verwandtenund
Gesellschaftskreisen. Ich bin sehr stolz auf meine Töchter.
Auch mein Mann liebt seine beiden Töchter sehr. Er hat viel Spaß mit
beiden. Für ihn waren Töchter oder Söhne nie ein Thema. Er hat mich
dieses nie spüren lassen. Auch er ist sehr stolz auf beide Töchter. Im
Grunde genommen kann man sogar sagen, dass er zu seinen
Töchtern eine engere Beziehung hat, als zu seinen Söhnen.
Ich denke, wenn sie mal heiraten sollten, wird er sehr darunter leiden,
113
bis er sich daran gewöhnt hat.
Heirat ist ein sehr persönliches Thema. Sie sollen entscheiden wann
sie diesen Weg gehen wollen und nicht wir Eltern. Auch wenn dieses
zu meiner Zeit anders war. Mein Mann und ich lassen ihnen diese
Freiheit. Außerdem würden sie sich ehe von uns sich nicht
vorschreiben lassen wann und mit wem sie zu heiraten haben. Beide
stecken noch in der Bildung und sie sollen sich von mir aus für eine
Ehe Zeit lassen. Ich sage immer, sie sollen heiraten und nicht ich,
somit sollen sie entscheiden und nicht ich. Ich möchte später nie für
die Entscheidung verantwortlich gemacht werden, demnach halte ich
mich gänzlich raus. Es haben viele ihre Hand angehalten. Allerdings
haben sie andere Erwartungen und Wünsche von einer Ehe, als
wir sie vielleicht hatten. Sie sind sehr gut in die Deutsche Gesellschaft
integriert, sie sprechen beide perfekt deutsch und kennen sich gut mit
dem deutschen Gesetzen aus. Wahrscheinlich ist das auch ein Grund
dafür, dass sie sich viele Dinge zutrauen, was viele Mädchen nicht tun
würden.
Ich wünsche mir von Allah, dass sie all ihre Ziele und Wünsche im
Leben erreichen und wenn es irgendwann mit der Heirat soweit ist,
dass sie in der Ehe glücklich und zufrieden werden.
Ich hoffe, dass sie eines Tages so gute Töchter bekommen, wie ich sie
habe.
7.1.3 Biographie Ster
Ster
28 Jahre alt, geboren in Mardin Nusaybin, hat 2 Töchter, lebt in
Trennung.
I
ch heiße Ster bin 1978 in Mardin Nusaybin geboren habe noch
weitere fünf Geschwister, zwei ältere Brüder, zwei ältere und
eine jüngere Schwester.
Mein Vater war ein Beamter und meine Mutter eine Hausfrau.
Meine ersten neun Lebensjahre habe ich in der Türkei/Kurdistan
verlebt.
An die neuen Jahre kann ich mich nur noch sehr wage erinnern.
Aufgrund der Tätigkeit meines Vaters mussten wir unseren
Wohnsitz mehrfach wechseln.
Dadurch konnte ich viele neue Bereiche und Städte kennen
lernen. Ich habe es aber nie als eine Bereicherung empfunden,
da es sehr belastend war, sich ständig an neue Orte und neue
Menschen zu gewöhnen. Das war nicht einfach.
Meine ältere Schwester hat im Jahre 1987 mit 18 Jahren
geheiratet. Kurz nach ihrer Hochzeit beschloss mein Vater aus
politischen Hintergründen nach Deutschland zu fliehen.
114
Es ist bei uns Tradition, dass die verheiratetet Tochter nach
einem Monat das Elternhaus besucht. Allerdings hatte mein
Vater seinen Entschluss bereits beschlossen. Er wollte nach
Deutschland fliehen. Meine verheiratete Schwester kam mit
diesem Entschluss überhaupt nicht zurecht und ihm das sehr
übel genommen und bis heute noch nicht verziehen.
Sie war erst frisch veheiratet und konnte es innerlich nicht
vereinbaren, dass die Familie ohne sie gehen möchte.
Meine Schwester hat meinem Vater viele üble Dinge
vorgeworfen. Sie sagte sogar, dass er sie mit böser Absicht
verheiratete um sie los zu werden.
Mein Vater hielt es für sinnvoller die ersten vier Kinder im voraus
nach Deutschland zu schicken. Wir waren im Alter von 17, 15,10
und 9 Jahren. Nach unserer Einreise wollten meine Eltern
ursprünglich mit meiner jüngeren Schwester sofort nach ziehen.
Doch das war gar nicht so einfach. Der Plan hat sich nicht so
umsetzen lassen, wie man es sich vorgestellt hatte.
Wir vier Kinder waren nun ohne meine Eltern in Deutschland.
Wir befanden uns in einem fremden Land. Wir kannten
niemanden und waren völlig auf uns alleine eingestellt. Die
Einreise von meinen Eltern bereitete ihnen einige extreme
Schwierigkeiten. Die Einreise meiner Eltern sollte ursprünglich
ein paar Tage in Anspruch nehmen. Aber es hat sich viel zu
lange hinausgezögert. Es dauerte sechs bis sieben Monate.
Während dieser Zeit waren vor allem meine Schwester und ich
auf uns so ziemlich allein.
Wir Kinder wurden in einem Asylantenheim untergebracht. Diese
Unterbringung hat nicht lange gedauert, da sich nach kurzer Zeit
das Jugendamt einschaltete. Das Jugendamt hat für uns beide
Mädchen eine Pflegefamilie vermittelt. Die Pflegeeltern waren
kurdischer Herkunft. Das war eine Zeit der Ungewissheit, un war
nicht bekannt, wo sich unsere Eltern aufhielten oder ob sie
überhaupt noch nach Deutschland zu uns Kindern kommen
würden. Wir sind dort untergebracht worden bis meine Eltern
nach kamen. Ich erinnere mich ungern an diese Zeit. Das Leben
in der Pflegefamilie war nicht schön. Wir fühlten uns wie
Menschen zweiter Klasse.
Wir haben fast drei Monate bei der Pflegefamilie gelebt, bis
dann endlich meine Eltern kamen. Das Wiedersehen mit
meinen Eltern war besondern für uns Mädchen überwältigend.
Endlich waren wir wieder zusammen.
Wir waren wieder eine Familie wie früher. Nachdem meine
Eltern einen Asylantrag stellten, wurden wir gemeinsam in
einenm unterkunftsheim untergebracht.
Die Wohnverhältnisse nicht besonders gut. Die Räumlichkeiten
waren viel zu eng. Aber wir bemühten uns um eine
Zufriedenheit, denn es stand im Vordergrund, dass wir alle
zusammen
waren.
Kurz nach dem Einzug in das
115
Unterkunftsheim wurden wir vier jüngeren Kinder auch schon
eingeschult.
Ich hatte zuvor in der Türkei zwei Jahre eine Schule besucht
und bin dann hier in Deutschland direkt in die dritte Klasse
gekommen.
Die Schule bereitete mir am Anfang große Schwierigkeiten.
Obwohl mir die deutsche Sprache nicht mehr so fremd war wie
am Anfang, war mir dennoch bewusst, dass ich mich in der
Sprache noch erweitern musste.
Das habe ich dann auch getan. Das Deutschsprechen bereitete
mir mit der Zeit große Freude. Es machte mir Spaß.
Irgendwann hatte ich die besten Deutschkenntnisse und wurde
oft als Übersetzerin eingesetzt. Besonders mein Vater schätzte
diese Fähigkeit von mir.
Ich war kaum elf Jahre alt, da habe ich mich schon selbständig
um die bürokratischen Angelegenheiten meiner Familie
gekümmert.
Damals war mir die Höhe dieser Verantwortung noch nicht
bewusst. Ich habe es einfach erledigt.
Mit der Zeit flohen auch einige unserer Verwandte nach
Deutschland. Meine Eltern haben anfänglich viele Menschen bei
uns aufgenommen. Das löste bei uns ein großes Durcheinander
aus.
Die Räume waren für so viele Menschen einfach nicht
ausreichend. Die Enge war schwer erträglich und besonders für
den privaten Bereich einschränkend.
Es ließ sich nicht vermeiden, dass wir Töchter im Haushalt
eingesetzt wurden. Die meisten Auseinandersetzungen
zwischen mir und meiner Schwester basierte auf die Aufteilung
des Haushaltes. Meine Schwester war eher die ruhige und
gelassen Person. Im Gegensatz zu ihr hatte ich eine laute und
aufgewägte Persönlichkeit.
Aufgrund meiner Art wurde sie öfters von meinen Eltern in
Schutz genommen. Dieses ärgerte mich sehr, weil ich nicht
verstehen konnte, warum sie sich nicht selbst verteidigen
konnte.. Da meine Mutter krank war hatten wir eine doppelte
Belastung. Wir besorgten uns sehr um unsere Mutter.
Unsere Kindheit hat unter der Krankheit meiner Mutter so
ziemlich gelitten.
Bedingt durch die Krankheit meiner Mutter war es ihr auch nicht
möglich, die Rolle einer Mutter zu erfüllen. Sie floh immer wieder
in ihre Krankheit und war somit für uns nicht ansprechbar.
Die eigentliche Rolle meiner Mutter hat somit mein Vater
übernommen. Er hate beide Rollen eingenommen, er war
sowohl unsere Mutter als auch unser Vater.
Es wurde fast zur Gewohnheit, sie bekam die Rolle einer Mutter
inicht mehr zustande, bis heute nicht. Sie hat überwiegend
116
vermittelt, gehandelt hat sie kaum.
Mein Vater ist sehr gläubig und sich immer darum bemüht, uns
(vor allem uns Töchter) religiös zu erziehen.
Die Beziehung zwischen uns Töchtern und unserem Vater war
viel intensiver als zu unseren Brüdern. Das ist bis heute noch so
geblieben. Mein Vater hatte die Befürchtung, dass wir Töchter
die eigentliche Herkunft vergessen würden. Das waren seine
Bedenken.
Er war schon der Meinung, dass wir uns hier in Deutschland
zurecht finden sollten. Allerdings mit der Voraussetzung, die
eigene Kultur beizubehalten.
Durch die religiöse Erziehung meines Vaters wurden wir sehr
geprägt. Ich persönlich lebe in vielen Situationen nach diesen
Richtlinien.
Im Jahre 1990 haben wir durch einen Zufall eine pensionierte
Lehrerin kennen gelernt.
Sie war alleinstehend und kinderlos. Wir haben uns von Anfang
an sehr lieb gewonnen. Diese Sypmpathier beruhte auf
Gegenseitigkeit.
Wir sollten sie mal Zuhause besuchen, was wir dann auch taten.
Nach diesem Tag waren wir täglich bei ihr Zuhause. Da sie
alleinstehend war, waren meine Eltern beruhigt und ließen uns
mit gutem Herzen dorthin. Sie hat schnell für uns eine Oma
Rolle eingenommen. Bei dieser Dame haben wir sehr viel
Anerkennung, Aufmerksamkeit und Ruhe genossen.
Das hat unserer Kinderseele sehr wohl getan. Sie hat auch
innerhalb
unserer
Familie
einen
besonderen
Platz
eingenommen und wurde uns in vielen Angelegenheiten
behilflich.
Im Grunde genommen ist mein Vater gegen Zwangsehen, aber
er hat meine Schwester damals mehr oder minder
zwangsverheiratet.. Der Onkel von ihm wollte unbedingt meine
damals 15 jährige Schwester als Schwiegertochter haben. Mein
Vater liebte diesen Onkel sehr und wollte ihn nicht verletzen.
Obwohl mein Schwester mit dieser Heirat einverstanden war,
hat er sie mit diesem Cousin verheiratet. Meine Schwester hatte
damals einen Freund. Das hat aber niemanden gekümmert. Sie
hatte keinen anderen Ausweg als diese Ehe einzugehen. Nach
und nach habe ich häufig mitbekommen, wie sich mein Vater
Vorwürfe machte. Mit der Zeit hat er das bereut, vor allem in
Situationen, wo es meiner Schwester nicht gut ging.
Er ärgert sich darüber, dass er nicht gegen den Willen seines
Onkels angegangen war.
Die Mutter von meinem Vater ist früh verstorben. Hierdurch hat
mein Vater seinen Onkel an ihre Stelle getan.
Mit der Zeit häuften sich die Nachfragen, ob ich auch nicht
117
heiraten wolle.Nun war ich gefragt. Mir wurden einige
Heiratsangebote zugestellt. Allerdings wussten meine Eltern,
dass ich mich noch nicht zur einer Heirat entscheiden wollte und
haben die Angebote abgelehnt. Es war ihnen auch bewusst,
dass ich anders war als die anderen Töchter.Ich Interessierte
mich viel für Bildung und ging gerne zur Schule. Das war
meinen Eltern bewusst. Ich habe eher die Rolle eines Sohnes
eingenommen, als die einer Tochter.
Da ich einen Führerschein hatte, musste ich ihn fast immer
begleiten. Mein Vater hatte keinen eigenen Führerschein und
war mir immer besonders Dankbar für meine Hilfe.
1996 war ich auf der Berufsschule und habe den Bildungsgang
zu Pharmazeutisch-Technischen Assistentin angefangen.
Im zweiten Lehrjahr habe ich meinen Ehemann kennen gelernt.
Er hatte mich auf einer Hochzeit gesehen. Wir hatten uns zuvor
noch nie gesehen. Nur unsere Familien kannten sich ein wenig.
Meinem Ehemann war es wichtig eine Frau zu heiraten, die aus
einer angesehenen Familie stamm. Mein Vater erfüllte diesen
Wunsch von ihm. Die Familie trat mit einem Heiratsangebot an
meine Eltern.
Ich wurde im Vorfeld darüber informiert und hatte mich innerlich
auch ein wenig darauf vorbereitet.
Es fiel mir auf, dass das nun die erste Heiratsanfrage war, die
meine Eltern ernst nahmen. Das war sehr verwunderlich.
Die Familien untereinander haben sich von Beginn an gut
verstanden und beide haben für ihre Vorstellungen in der
gegenseitigen Familie Bestätigung erfahren.
Wir haben beide nicht mit dem Herzen (sprich Liebe) geheiratet,
sondern viel mehr mit dem Verstand. Ich hatte die Befürchtung,
dass ich meine Familie sehr enttäuschen würde, wenn ich das
Angebot nicht annehmen würde
Dieses wollte ich vermeiden und auch mir schien er am Anfang
der passende Partner zu sein. Ich legte einen großen Wert auf
Bildung. Mein Mann war an der Akademie und ich noch in der
Ausbildung. Mein Mann gab mir mit seinem Auftreten Sicherheit
und Ruhe
Es war ursprünglich vorgesehen, dass wir erst unsere Bildung
abschließen, ehe wir heirateten.
Das war eine erfreuliche Nachricht für mich, denn ich wolle mir
der Heirat mindestens ein bis zwei Jahre warten. Außerdem
sollte diese Zeit dazu dienen, dass wir uns näher kennen
lernten. Leider hat mich die Realität des Besseren belehrt. Alles
ging sehr schnell ich habe innerhalb von circa vier Monaten
geheiratet.
Mein Vater hatte mit mir im Vorfeld über die Familie und meinem
Benehmen gesprochen. Er sagte mir, dass nun die Familie
118
meines Ehemannes meine Familie sei. Ich sollte auf meinem
Benehmen Acht geben und sie mit Würde und Respekt
behandeln. Außerdem sollte ich den guten Namen meines
Vaters gerecht werden. Einige Abmachungen wurden von
meinen Schwiegereltern nicht eingehalten. Zum Beispiel war es
vorgesehen, dass ich eine eigene Wohnung mit meinem Mann
beziehen würde. Obwohl das vorher so abgemacht war, wurde
es nicht eingehalten.
Ich habe ein Jahr lang bei meinen Schwiegereltern leben
müssen. Im Grunde genommen habe ich mich mit meinen
Schwiegereltern
gut
verstanden,
aber
mir
meiner
Weltanschauung und Religiosität kamn sie schwer zu recht. Die
Familie war anders eingestellt als meine Ursprungsfamilie. Die
Familie meines Ehemannes war eine Großfamilie.
Ich hatte eine Schwägerin und vier Schwager. Sie alle lebten mit
uns in der Wohnung. Mir wurde der Haushalt übertragen. Ich
habe mich darum bemüht, alles zu regeln. Das war sehr
belastend.
Hinzu kamen noch die ewigen Auseinandersetzungen mit
meiner 15 jährigen Schwägerin. Sie ging mit mir ständige
Konflikte ein, denn sie war der Auffassung, dass ich ihre Stelle
eingenommen hatte. Dieses machte mich oft sehr traurig und
brachte mich zum nachdenken. Mit meinem Ehemann konnte
ich nur abends Kontakt schließen, denn tagsüber war dieses
nicht möglich.
Ich fragte mich häufig mit wem ich geheiratet hatte, mit ihm oder
mit seiner Familieß
Trotz der schwierigen Situation versuchte ich mein Benehmen
nicht negativ zu verändern.
Ich wurde bereits in den ersten Monaten Schwanger. Bis auf
meinen Mann, war die ganze Familie über diese Nachricht sehr
erfreut. Mein Mann, wollte unbedingt, dass ich diese
Schwangerschaft unterbrechen sollte. Ich hätte mich nie mit
einer Abtreibung vereinbaren können.
Das wäre für mich keine richtige Entscheidung.
Aber auch unsere Familien hätten eine Abtreibung nicht zu
gelassen.
Je fortgeschrittener die Schwangerschaft wurde, desto mehr
wendete sich mein Mann von mir ab. Auch während der
Schwangerschaft habe ich die Aufgaben die von mir erwartet
wurden vollbracht.
Ich mit der Hoffnung gelebt, dass er sich mit der Zeit schon
daran gewöhnen würde. Ich dachte mir, spätestens wenn das
Kind da ist, wird er sich schon ändern.
Meine Familie erfuhr schnell von meiner beschwerlichen
Situation Ich habe ihnen von meinen Problemen nie etwas
erzählt, denn bevor ich heiratete hatte ich mir versprochen,
119
dass ich niemals in einem Streit zu meiner Familie gehen würde.
Ich fand das schon unangenehm, als meine Schwester wegen
Streitigkeiten zu uns kam.
Es war mir wichtig auf eigenen Beinen stehen zu können.
Ich wollte meine Eltern nicht zusätzlich und unnötig belasten.
Im Jahre 1999 bis 2000 habe ich in der Ifak (Bochum) eine
Dame kennen gelernt. Innerhalb dieser Zeit wurde mir
vollkommen bewusst, dass ich mein Leben anders gestalten
musste als es momentan der Fall war. Mir wurde richtig
bewusst, dass ich total von dem abgewichen war, was ich
eigentlich immer seien wollte. Ich war vielmehr eine Hausfrau
und nicht eine Ehefrau.
Ich musste etwas ändern. Kurz darauf habe ich eine Ausbildung
im Bereich sozialpädagogische Familienhilfe absolviert.
Ich verfolgte meinen Beruf sehr aufmerksam und war sehr aktiv.
Durch die Arbeit und die Dame die ich vorher in der Ifak kennen
gelernt hatte, fand ich meine Persönlichkeit wieder. Das hatte
aber auch eine Schattenseite, denn je erfolgreicher ich innerhalb
meines Berufes wurde, desto negativ beeinflusster verlief meine
Ehe. Durch die Arbeit wurde ich wieder selbstbewusster. Das hat
meinem Mann gar nicht gefallen. Obwohl er meine Ausbildung
anfänglich befürworte, merkte ich nach und nach eine
Veränderung an ihm. Ich glaube, dass er mit meiner Entwicklung
nicht zufrieden war. Er wollte, dass ich wie früher als eine
Hausfrau fungiere und nicht als eine selbstbewusste und
berufstätige Frau. Ich war bis 2003 bei der SPFH in Bochum
beschäftigt. Durch die Seminarbesuche war ich öfters unterwegs
und lernte immer wieder neue Menschen kennen.
Nach einer eingelegten Pause wurde ich 2004 erneut
schwanger. Diese Schwangerschaft führte erneut zu Konflikten
zwischen meinem Mann und mir. Diese Schwangerschaft
brachte unsere Ehe fast zum Endpunkt.
Bei dieser zweiten Schwangerschaft war er auf jeden Fall für
eine Abtreibung. Er gab mir eine bestimmte Frist vor. Ich sollte
nach denken und mich entweder für das Kind oder für ihn
entscheiden. Das war eines der schlimmsten Erfahrungen für
mich.
Ich habe viele Tage nachgedacht. Meine erste Entscheidung war
für meinen Mann und gegen meinem Kind. Allerdings haben sich
die Probleme mit ihm gehäuft, ich habe somit keinen Sinn mehr
in meiner Ehe gefunden. Die Entscheidung stand für mich fest,
ich wollte auf alle Fälle das Kind gebären. Mein Mann bemerkte
meine feste Entschlossenheit und gab nach. Wir wollten erneut
gemeinsam versuchen diese Ehe auf die richtige Bahn zu
lenken. Auch unsere Familien waren für diese Ehe. Nach vielen
Versuchen sind wir doch gescheitert. Ich hatte keine Kraft mehr
für seine Wünsche. Somit haben wir uns ende 2005 getrennt
und leben in Trennung. Meine Eltern haben meine Entscheidung
120
akzeptiert.
Seit dem lebe ich mit meinen beiden Töchtern alleine und habe
die Unterstützung von meiner Familie. Auch der Vater meiner
Kinder hat täglich Kontakt zu den Kindern. Ich habe es nie für
richtig gehalten einen so genannten „Krieg“ mit ihm zu führen.
Zu Zeit versuche ich Familie und Beruf zu vereinbaren.
7.1.4 Biographie Assos
Assos
26 Jahre alt, in Südkurdistan geboren. aufgewachsen in der
Bundesrepublik Deutschland, hat einen Sohn.
Mein Name ist der Name eines Berges in unserem Land Kurdistan, der
sehr schön und gewaltig ist. Ich glaube mein Vater hat mir diesen
Namen gegeben, er hat auch allen meinen Geschwister exotische
Namen mit Bedeutung gegeben.
Ich habe sechs Schwestern und zwei Brüder, sieben von uns sind in
Kurdistan in der kleinen Stadt Halabja geboren, die anderen zwei in
Sylemania. Ich bin die jüngste, 1977 geboren. Meine älteste Schwester
ist jetzt 38 Jahre alt. Auch sie und ein Teil meiner anderen Geschwister
leben seit vielen Jahren in Deutschland.
Einerseits sind wir zufrieden, weil wir hier in Ruhe leben können,
andererseits sind wir traurig, weil wir unsere Eltern und unsere Heimat
verlassen haben. Jeden Tag hat man Heimweh und es wird immer
größer. Bis zu meinen 10. Lebensjahr hatte ich eine sehr glückliche
Kindheit.
Mein Vater hatte ein Schuhgeschäft, alle von uns Mädchen haben in
seinem Geschäft gearbeitet, wir haben Schuhe verkauft.
Als mein Vater seine zwei Jungen bekam, hat er kein Fest gegeben,
nur bei uns Mädchen. Er hat oft gesagt, ich wünschte die Jungen
wären auch Mädchen, weil er von seinen Mädchen immer sehr geliebt
wurde. Sie arbeiteten mit ihm in seinem Geschäft. Natürlich hat er
auch seine Söhne gemocht, aber alle Verwandten erzählten immer,
dass mein Vater nur bei der Geburt seiner Töchter lange gefeiert hat.
Mein ältester Bruder hat in der Heimat Kunst studiert. Er hat später
auch in Deutschland seine Kunst gezeigt und ging dann nach Holland
und wollte dort seine Werke veröffentlichen. Allerdings hat das nicht so
ganz geklappt. Vor sieben Jahren ist er nach England gezogen, wo er
auch geheiratet hat. Sein Ehrgeiz hat ihn weit gebracht, denn er hat
geschafft was er immer wollte. Er ist berühmt; hat viele Ausstellungen
gemacht und Bücher veröffentlicht. Außerdem spielt er bei öffentlichen
Konzerten Geige.
Meine älteste Schwester hat Bankkauffrau im Irak gelernt, sie hat auch
in einer Bank gearbeitet. In der BRD konnte sie es aber leider nicht
weit bringen. Meine andere Schwester ist Schneiderin und drei meiner
121
Schwestern haben die Schule leider nicht zu Ende gemacht. Sie waren
in dem Alter, wo man bei uns normalerweise heiratet. Meine
zweitjüngste Schwester Ala studiert seit 1996 in Deutschland und
möchte Journalistin werden. Sie macht im nächsten Jahr ihr Diplom
schreiben.
Die Älteste, Tanja, hat spät geheiratet, mit 25. Sie hat jemanden
geliebt, war aber nicht so weit ihn zu heiraten. Beide hatten erst
einmal eine Beziehung und haben erst später geheiratet. Eigentlich
macht man ein großes Fest und lädt alle Leute ein, aber die beiden
haben mit dem Geld jede Stadt im Irak bereist. So etwas war
gesellschaftlich nicht erlaubt, die beiden hatten heimlich eine
Beziehung. Allerdings wusste unser Vater davon , weil er und die
Schwester eine sehr gute Beziehung hatten. Er hat ihr sehr vertraut.
Sie ist die älteste, wir alle haben, obwohl wir inzwischen selbst
verheiratet sind, noch immer großen Respekt vor ihr. Sie wusste was
sie tat und hat es meinem Vater von Anfang an erzählt.
Mein Vater war ein sehr offener Mann. In der Stadt wo wir lebten,
durften wir uns sehr frei kleiden. Als ich ein Kind war, vielleicht acht
Jahre alt, hat mir meine Mutter einen Rock und einen Top mit
Spaghettiträgern angezogen. Ich wollte zu meinem Vater ins Geschäft
laufen und ihm meine Sachen zeigen. Das ist eine sehr schöne
Erinnerung. Obwohl die anderen Eltern ihren Kindern etwas gesagt
hatten, denn wir wurden oft von anderen Kindern mit Steinen beworfen
und beschimpft. Sie sagten, dass wir keine richtigen Moslems sind. Ich
fragte meine Mutter immer wieder, aber sie sagte nur: "Höre nicht auf
das, was die Leute sagen, wir haben unser Leben und die ihres."
Meine Großeltern habe ich nicht kennen gelernt, weil sie früh
gestorben sind. Nur meine Geschwister haben sie kennen gelernt. Ich
habe gehört, dass sie zu meiner Mutter sehr streng waren, aber die
Kinder meines Vaters haben sie über alles gelobt.
Mein Vater hat nur einen Bruder, aber der hat nur für sich und seine
eigene Familie gelebt. Mein Vater war anders, er hat für seine Familie
und seine Eltern gelebt.
Meine Mutter war nicht in der Schule, denn zu ihrer Zeit war das Leben
im Irak anders als heute. Er ist zwar auch jetzt nicht so fortschrittlich
wie Deutschland, aber die Bevölkerung dort gibt sich Mühe. Leider ist
unsere Heimat eine Kleinstadt und dort ist es wie auf einem Dorf. Der
Fortschritt geht dort langsam voran.
Mein Vater war ein Patriot, er hat nicht nur die Freiheit für Kurdistan
gewollt, sondern auch, dass seine Mädchen ihre Freiheit kriegen. Er
hat immer gesagt: "Auch wenn meine Mädchen zu einer Horde
Soldaten gehen, ich werde ihnen immer vertrauen. Er hat uns so
erzogen und diese Erziehung trage ich immer noch in mir.
Ich vermisse ihn sehr. Ich bin mit zehn Jahren nach Deutschland
gekommen, meine Eltern sind nicht mitgekommen und ich habe bei
meiner ältesten Schwester gelebt. Mein Vater wollte die Heimat nicht
verlassen und meine Mutter wollte meinen Vater nicht verlassen. Aber
sie waren sicher, dass ich bei meiner Schwester in guten Händen war.
Er wollte, dass wir fliehen, weil wir wenig Chancen gehabt hätten.
Am 16.03 1988 schien die Sonne, es war ein wunderschöner Tag.
Unsere kleine Stadt war sehr ländlich, es gab wenige Häuser. Wir
Kinder spielten draußen. Auf einmal hörte ich ein Geräusch, dass ich
nie vergessen werde. Überall wo ich hinguckte, in der Stadt und am
Himmel, überall war Staub. Dann ergriff mich mein Bruder und brachte
122
mich in einen Bunker unter unserem Haus, wo auch meine restliche
Familie war. Ich sah an ihren Augen, wie traurig sie waren. Obwohl ich
so jung war, verstand ich, dass etwas Schreckliches passierte.
Mein Vater liebte uns sehr. Er wollte immer, dass wir über alles
Bescheid wissen. Wir setzten uns zusammen und er erzählte, dass wir
von Saddam bombardiert werden.
Mein Vater war eine politisch aktive Persönlichkeit. Obwohl er keiner
Partei angehörte, sympathisierte er mit den Kommunisten.
Er konnte ahnen, dass es unsere einzige Möglichkeit war, in Richtung
Iran zu fliehen, weil wir sonst nirgendwo durch kommen konnten. Er
hat Saddams Unberechenbarkeit nicht unterschätzt, er ahnte, dass wir
sonst noch einmal mit Giftgas bombardiert werden und vielleicht daran
sterben würden.
Wir haben unseren Vater sehr geehrt und respektiert. Er war wie ein
Führer. Er hat mit der Politik aufgehört, als ich zur Welt kam.
Ich kann mich erinnern, dass wir erst dachten, dass das nur ein
normaler Bombenangriff ist. Aber wir konnten hören, dass sie immer
weiter hin und her flogen. Mein Vater sagte, dass wir nicht bleiben
können. Wir hatten alle große Angst. Ich, als kleines Kind, sagte
immer: "Ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht!" Er schüttelte mich
und sagte: "Ich weiß, was für eine Tochter ich habe, ich weiß du
schaffst es !"
Er sagte, wir alle sollen uns warm anziehen und ein feuchtes Tuch für
die Nase legen, damit wir uns unterwegs vor dem Giftgas schützen
können. Im Bunker konnte er von dem Giftgas nichts wissen, aber er
hat uns vorbereitet, als ob er es geahnt hätte.
Er war zum Teil gelähmt, er konnte natürlich laufen, aber nicht sehr
gut. Mein Vater wollte, dass wir gehen und ihn zurück lassen, aber das
wollten wir natürlich nicht. Wir trugen ihn und die Nachbarn halfen uns.
Den Anblick, der sich bot als wir den Bunker verließen, werde ich
niemals vergessen. Die Kinder, mit denen ich zuvor noch gespielt
hatte, lagen auf der Straße. Sie waren tot.
Ich konnte das nicht begreifen. In dem Moment riefen meine Eltern, wir
sollten die Tücher vor unser Gesicht halten.
Viele konnten sich nicht schützen, sie hatten keine Bunker und
mussten erst zum Nachbarn laufen, andere haben nicht mal ihr
Eigenes Haus erreicht. Es ging alles zu schnell und es passierte so
viel.
Als wir immer weiter Richtung Iran flüchteten, sah ich viele Mädchen
um ihre Eltern und Mütter und um ihre Söhne weinen. Ich kann diesen
Anblick nicht vergessen! Ich wünsche meinen schlimmsten Feinden
nicht, das zu sehen. Wer so etwas selber miterlebt, weiß was Schmerz
ist.
Wir waren drei Tage in Richtung Iran unterwegs. Ich habe mich zu
Hause bei meiner Familie nicht sicher gefühlt, auch im Bunker nicht.
Für den Weg hatte mein Vater mir einen Wintermantel gegeben, damit
ich mich nicht erkälte. Auf unserer Flucht waren nur Berge und
Wiesen. Immer wenn die Flieger kamen, legte ich mich auf die Wiese
und zog den Mantel meines Vaters über den Kopf und fühlte mich
sicher.
Wir erreichten den Iran und meine älteren Schwestern, die bereits in
Deutschland lebten, schickten Geld dort hin. Mein Vater entschied,
dass er mit meiner Mutter zurück gehen wollte. Er sagte, ihnen kann
Saddam Hussein nichts anhaben. Sie waren alt , außerdem wollte
mein Vater lieber selbst alles erleiden, als es seinen Kindern
123
zuzumuten. Es war bekannt, dass mein Vater politisch aktiv war, man
hätte seine Familie verfolgt, vielleicht sogar hingerichtet. Mit jungen
kurdischen Frauen wurde oft Menschenhandel getrieben, und so
entschied mein Vater uns zu unserer Schwester nach Deutschland zu
schicken.
Im iranischen Flüchtlingslager haben wir uns anfänglich untereinander
verloren.
Ich weiß nicht, wie wir uns wieder gefunden haben, aber ich hatte
große Angst. Dann wurden wir in Zelte untergebracht. Die
hygienischen Bedingungen in dem Lager waren schrecklich. Es gab
keine Dusche und wir haben auf dem Boden geschlafen. Ameisen und
Insekten waren überall, aber wir wollten und konnten das aushalten,
nichts war so schlimm wie Giftgas.
Meine zweitjüngste Schwester, meine beiden Brüder und ich flohen zu
Fuß in die Türkei. Dort versteckten wir uns für fünf Monate in einem
Hotel, bis wir mit Schleppern weiter nach Rumänien fuhren, wo wir uns
neun Monate aufhielten. Die Schlepper waren sehr teuer und obwohl
wir Geld von meiner Schwester und meinem Vater bekommen hatten,
war es sehr schwierig einen Transport nach Deutschland zu
bekommen. schließlich ist es uns mit Hilfe unserer angereisten
Schwester gelungen. In den ersten drei Jahren habe ich nur geweint.
Zum einschlafen drückte ich die Bilder meiner Eltern solange an die
Brust, bis meine Schwester sie mir immer weg nahm.
Ich lebte in einer neuen Welt, ich hatte keine Worte und verstand nicht
einmal die Kinder, mit denen ich auf der Straße spielte. Eine neue
Schule - ohne Wissen, ohne Freunde . Ich war sehr auf mich gestellt
und musste schnell selbstständig werden.
Ich versuchte mein Bestes und lernte schnell die Sprache. So kam ich
gleich in die siebte Klasse, dann war ich so gut, dass ich auch die
achte überspringen konnte.
Erst war ich auf der Haupt-, dann auf der Gesamt- und zuletzt auf der
Realschule. Ich merkte, dass ich mehr wollte.
Meine jüngste Schwester und ich wurden auf unsere beiden größten
Schwestern aufgeteilt. Ich lebte bei Tanja. Auch wenn sie mich sehr
liebte, merkte ich, dass kein Mensch wie die eigenen Eltern ist. Meine
Schwester hat einen eigenen Sohn (18) und eine Tochter (14). Von
meinem Vater war ich gewohnt, dass er alle gleich behandelt, nie habe
ich Unterschiede gemerkt. Erst bei meiner Schwester lernte ich
Unterschiede kennen. Sie sagte: "Jetzt bin ich erziehungsberechtigt
und du musst mir gehorchen." Ich durfte zwar raus, musste aber um
sechs wieder da sein, obwohl der Sohn von Tanja bis zehn Uhr weg
blieb. Es tat weh, anders behandelt zu werden als ein eigenes Kind.
Damals, als ich in der Pubertät war und mich immer schön machte,
war ich oft böse und traurig. Ich wünschte mir, dass ich alles machen
darf was ich will und was die Mädchen in der Schule machten.
Danke Allah, dass meine Schwester mich so behütet hat! Früher war
ich wütend, heute verstehe ich meine Schwester. Wir Kurden haben
eben eine andere Mentalität und einen anderen Alltag. Tanja wollte
mich vor schlechten Einflüssen schützen. Zu ihren Kindern war sie
deshalb nicht so streng, weil sie bei mir, die nicht ihre eigene Tochter
war, größere Angst hatte etwas falsch zu machen.
Meine Schwester lebt schon seit 25 Jahren in Deutschland und sie ist
124
sehr modern, aber in vielen Dingen war sie streng. In einigen Dingen
hatte sie Recht, aber in vielen anderen ist sie auf ihre Kultur so sehr
fixiert, dass sie vergisst, das Leben zu genießen. Ich hätte bei dem
Giftgasanschlag sterben können, jetzt werde ich mein Leben
genießen.
Aber in Bezug auf meine Ausbildung hat mich meine Schwester immer
unterstützt.
Ich machte eine Ausbildung zur Frisörin, die ich aber gegen den Willen
meiner Familie abbrach. Ich fühlte mich gezwungen die Ausbildung zu
machen und wollte nichts unter Zwang tun. Außerdem lernte ich
meinen Mann kennen, ich wollte alles an Liebe nachholen, auf was ich
die letzten Jahre verzichtet hatte. Mein Mann erfuhr als erster, dass ich
die Ausbildung abgebrochen hatte, meine Schwestern erst drei Monate
später.
Ich habe meinen Mann mit 18 Jahren geheiratet. Meine Schwester und
ich hatten einen guten Ruf, viele wollten mich heiraten. Aber ich habe
abgelehnt und abgelehnt, bis ich meinen Traummann bei einem
kurdischen Fest kennen lernte. Sonst ging ich nie auf solche Feste,
aber diesmal habe ich wohl geahnt, dass es mein Schicksal ist. Wir
waren zwei Monate zusammen bevor wir uns verlobten und einen
Monat später haben wir dann auch schon geheiratet. Ich bereue es
nicht.
Erst haben alle wegen unserer unehelichen Beziehung geschimpft,
doch ich habe es ihnen bewiesen und bin jetzt stolz darauf, mit einem
Kurden verheiratet zusein. Er kommt aus einer guten Familie und nur
weil ich ihn kenne, bereue ich es, dass ich mir zuvor gewünscht hatte
keine Kurdin zu sein.
Zu meiner Pubertätszeit hätte ich gerne meine erste große Liebe
geheiratet. Er war Marokkaner und brachte mir in der Schule
französisch bei. So eine Ehe wäre nie gegangen, die kurdische
Gesellschaft, die hier weiter existiert, hätte das nicht toleriert und
meine Familie hätte mich verstoßen müssen, um ihre Ehre zu
bewahren. Sie ist wichtiger als jeder Mann.
Mein Mann ist jetzt 30 Jahre alt. Im Gegensatz zu mir ist er im Irak
aufgewachsen. Als wir uns kennen lernten, war er gerade erst drei
Monate hier. Ich habe nicht aus Liebe zu meinen Geschwistern
geheiratet, sondern weil ich wollte. Mein Ehemann behandelt mich wie
einen guten Freund, ich kann mit ihm alles besprechen, was ich will.
Wir streiten und diskutieren, aber wir vertragen uns wieder. Meine
Schwiegereltern lieben mich, aber sie können nicht verstehen, dass
eine Frau ihre Meinung sagt. Mein Mann verteidigt mich, "Sie ist jung
und in Deutschland aufgewachsen". Mein Mann und ich lachen viel
zusammen. Einmal wollte er mir verbieten, einen Rock anzuziehen. Ich
habe den Rock aus Zorn zerrissen und gesagt, er soll mich so lassen,
wie er mich kennen gelernt hat. Ich habe ihm klar gemacht, dass ich
mich, wenn er mir etwas antun oder meine Freiheit einschränken
würde, auch scheiden lassen würde. Es ist für mich zwar schade, aber
auch wenn ich eine Scheidung schlimm finde, wäre ich dazu bereit.
Obwohl mein Mann älter ist als ich und er auch derjenige ist, der
arbeitet, bestehe ich darauf, dass nichts ohne meine Zustimmung
geschieht.
Mein größter Wunsch wäre es, meinen Vater noch einmal zu sehen.
125
Leider starb er zwei Jahre nach dem wir nach Deutschland geflohen
waren. Meine Mutter lebt noch, ich besuche sie oft und liebe sie sehr.
Sie ist nicht einsam, sagt sie, weil sie ein wunderschönes Haus hat,
sich mit den Nachbarn gut versteht und außerdem eine meiner
Schwestern mit ihren fünf Kindern in der Nähe lebt. Als wir geflohen
sind, hatte Kajal schon Kinder und war sehr verwurzelt, deshalb ist sie
damals nicht mit uns geflohen. Meine Mutter vermisst alle ihre Kinder,
aber sie ist freiwillig in der Heimat geblieben. Mein Vater hat meine
Mutter über alles geliebt und hat das auch weiter gegeben, Frauen
waren bei ihm die Chefinnen. Meine Mutter war traditionell, aber
intelligent, sie hat für die Familie gekämpft. Sie durfte nicht einmal die
Schule besuchen, aber wir Töchter haben ihr lesen und schreiben
beigebracht.
Ich werde meinen Kindern Freiheit geben und ich werde mir Freiheit
geben zu reden, mich zu kleiden, auszugehen - aber es gibt Grenzen.
Zum Beispiel werde ich nie fremdgehen. Ich lebe beide Kulturen, ich
probiere vieles aus, was andere Kurden nicht machen. Ich denke die
verpassen etwas, ich will das nicht verpassen. Ich werde meinen
Kindern alles anbieten, sie sollen mit jedem Problem zu mir kommen.
Sie sollen den Weg gehen, den sie wollen. Ich will meinen Söhnen und
Töchtern eine Freundin sein. Ich will sie zu nichts zwingen, ich werde
sie lehren, was richtig und falsch ist, und dann sollen sie selbst
entscheiden. Ich werde vertrauen.
Meine Hoffnung für die Zukunft ist, dass unser Land frei wird, damit wir
alle zurück gehen können und unser Leben dort genießen. Es ist
unsere Heimat, man hat jeden Tag Heimweh. Aber wir wollen keine
Diktatur, sondern ein gutes Regime
Deutschland ist ein Stück Heimat für mich, trotzdem komme ich mir
manchmal vor wie ein Mensch zweiter Klasse. Ich kann mich nicht zu
100 Prozent ausdrücken und nicht gut verteidigen. Ich lebe im Spagat
zwischen den Kulturen, ich muss bei jeder Seite aufpassen, nichts
falsch zu machen. Bei uns hat man immer gute Laune, in Deutschland
ist das jedem selbst überlassen. Beide Seiten haben etwas Gutes. Ich
fühle mich als Ausländerin, ich wurde zu Hause „gezwungen“ eine zu
bleiben. Die eine Kultur versteht die andere nicht. Ich habe immer
mehr mit deutschen Kindern gespielt, aber wenn ich nach Hause kam,
musste ich wieder unsere Kultur spielen. Ich wünsche mir, dass die
Deutschen unsere Kultur akzeptieren, aber auch, dass wir etwas aus
der deutschen und europäischen Kultur übernehmen. Ohne Freiheit
werden Menschen krank.
Solange ich hier bin, möchte ich mich anpassen und dafür sorgen,
dass man mich nicht für dumm hält. Sobald meine Kinder älter sind,
werde ich eine neue Ausbildung anfangen. Ich werde etwas aus
meinem Leben machen.
126
7.2 Fragebögen
7.2.1
Umfrage
zum
Thema
Gleichberechtigung der Frauen
Heirat
und
Fragebogen
Thema Heirat und Gleichberechtigung der Frauen
1. Sind Sie
weiblich
2. a) Sind Sie
verheiratet
ledig
verwitwet
geschieden
feste Beziehung
verlobt
versprochen
getrennt
2. b) Wie haben Sie Ihren Ehepartner kennen gelernt?
selbst kennen gelernt
durch die Familie
durch Freunde
2. c) Kannten Sie Ihren Ehepartner vor der Eheschließung?
nein
2. d) Wie fand die Eheschließung statt?
freie Wahl
auf Vermittlung
2. e) Sind Sie innerhalb Ihrer Verwandtschaft verheiratet?
127
nein
2. f) Sind Sie mit jmd. einer anderen Nationalität verheiratet?
nein
Wenn ja, haben Sie Kontakt zum Rest Ihrer Familie?
nein
2. g) Sind Sie mit jmd. einer anderen Religion verheiratet?
nein
Wenn ja, haben Sie Kontakt zum Rest Ihrer Familie?
nein
3. Wie viele Mitglieder hat Ihre Familie?
________________________________________________
4. Welche Nationalität haben Sie?
________________________________________________
5. Was ist Ihre Abstammung?
________________________________________________
6. Wie alt sind Sie?
________________________________________________
7. Wie alt ist Ihr Ehepartner?
________________________________________________
8. Zu welcher Religionsgemeinschaft gehören Sie?
________________________________________________
9. Was machen Sie beruflich?
________________________________________________
10. Wie viele Kinder haben Sie? ________________ Jungen
11. Wie alt sind Ihre Kinder?
Jungen:_____________________
12. Wie viele Ihrer Kinder sind verheiratet?
Jungen:_____________________
13. Wohnen die verheirateten Kinder bei Ihnen?
128
nein
14. Sind Ihre Kinder innerhalb Ihrer Verwandtschaft verheiratet?
nein
15. Ist eines Ihre Kinder mit jmd. einer anderen Nationalität
verheiratet?
ja
nein
Wenn ja, haben Sie Kontakt zu ihm?
nein
16. Ist eines Ihrer Kinder mit jmd. einer anderen Religion
verheiratet?
ja
nein
Wenn ja, haben Sie Kontakt zu ihm?
nein
17. Wie fand die Eheschließung statt
bei den Mädchen?
bei den Jungen?
auf Vermittlung
auf Vermittlung
18. Was halten Sie davon, dass ein Mann mehrere Frauen heiratet
(Bigamie)?
________________________________________________
________________________________________________
19. Darf Ihre Tochter einen Freund haben?
nein
20. Darf Ihre Tochter allein ausgehen?
nein
21. Darf Ihre Tochter einen Freund aus einem anderen Kulturkreis
haben?
ja
nein
129
22. Darf Ihr Sohn eine Freundin haben?
nein
23. Darf Ihr Sohn eine Freundin aus einem anderen Kulturkreis
haben?
ja
nein
24. Wer bestimmt über die Schwester in Abwesenheit des Vaters?
sie selbst
ihre Mutter
älterer Bruder
ältere Schwester
25. Wenn der Bruder jünger ist, darf er über die Schwester
bestimmen?
ja
nein
26. Darf Ihre Tochter studieren bzw. eine Ausbildung machen?
nein
27. Muss Ihre Tochter heiraten?
nein
28. Halten Sie arrangierte Ehen für sinnvoll?
nein
Wenn ja, warum?
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
130
29. Darf Ihre Tochter eigene Entscheidungen treffen bezüglich
Partnerwahl
Ausbildung
Freunde
30. Was bedeutet für Sie der Begriff „Ehre“?
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
31. Was bedeutet für Sie die Ehre Ihrer Tochter?
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
32. Sind die Töchter für die Ehre der Familie verantwortlich?
nein
33. Wie beurteilen Sie Zwangsheirat?
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
34. Was ist Ihnen für Ihre Töchter wichtig?
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
35. Was verstehen Sie unter einer glücklichen Ehe?
________________________________________________
131
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
36. Ist eine Ehescheidung für Sie denkbar?
nein
Wenn ja, aus folgendem Grund:
Gewalt in der Ehe
Wunsch nach anderem Partner
Krankheit
Untreue
Andere Gründe:
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
7.2.2 Umfrage zum Thema Heirat, Gleichberechtigung
und Emanzipation
Fragebogen
Thema Heirat, Gleichberechtigung und Emanzipation
1. Sind Sie
weiblich
männlich
2. a) Sind Sie
verheiratet
verwitwet
132
ledig
geschieden
in einer Beziehung
verlobt
versprochen
getrennt
2. b) Wie fand die Eheschließung statt?
freie Wahl
auf Vermittlung
unter Zwang
2. c) Sind Sie innerhalb der Verwandtschaft verheiratet?
nein
2. d) Sind Sie mit jmd. einer anderen Nationalität verheiratet?
nein
Wenn ja, haben Sie Kontakt zu Ihren Eltern behalten?
nein
2. e) Sind Sie mit jmd. einer anderen Religion verheiratet?
nein
Wenn ja, haben Sie Kontakt zu Ihren Eltern behalten?
nein
3. Wie viele Geschwister haben Sie?
________________________________________________
4. Wie viele Mitglieder hat Ihre Familie?
________________________________________________
5. Welche Nationalität haben Sie?
________________________________________________
6. Was ist Ihre Abstammung?
________________________________________________
7. Wie alt sind Sie?
133
________________________________________________
8. Wie alt ist Ihr Mann/Verlobter/Partner?
________________________________________________
9. Was machen Sie zur Zeit beruflich?
Schule
Ausbildung
Studium
Arbeit
Sonstiges:
________________________________________________
10. Würden Sie unverheiratet eine Partnerschaft eingehen?
nein
11. Würden Sie Ihre Eltern von dieser Partnerschaft informieren?
nein
12. Wenn Sie nicht verheiratet sind,
möchten Sie überhaupt heiraten?
nein
müssen Sie von ihren Eltern aus heiraten?
nein
müssen Sie innerhalb der Verwandtschaft heiraten?
nein
würden Sie jmd. mit einer anderen Nationalität heiraten?
nein
würden Sie jmd. mit einer anderen Religion heiraten?
nein
13. Wenn Sie verlobt sind, wie fand die Verlobung statt?
freie Wahl
auf Vermittlung
unter Zwang
134
14. Wenn Sie verlobt sind,
sind Sie innerhalb der Verwandtschaft verlobt?
nein
sind Sie mit jmd. aus einem anderen Kulturkreis verlobt?
nein
sind Sie mit jmd. mit einer anderen Religion verlobt?
nein
15. Wie wichtig ist für Sie das Familienleben?
sehr wichtig
wichtig
nicht so wichtig
unwichtig
16. Dürfen Sie alleine ausgehen?
nein
17. Dürfen Sie von ihren Eltern aus für die Ausbildung oder das
Studium in eine andere Stadt ziehen?
nein
18. Dürfen Sie eigene Entscheidungen treffen in Bezug auf die
Partnerwahl?
ja
nein
19. Wenn ja, werden alle Entscheidungen von Ihrer Familie
akzeptiert?
ja
nein
20. Können Sie in Ihrer Familie alles offen diskutieren?
135
nein
21. Was verstehen Sie unter dem Begriff Ehre / Ehre der Familie?
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
22. Sind Sie für die Ehre der Familie verantwortlich?
nein
23. Was verstehen Sie unter Zwangsheirat?
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
24. Sind Sie von einer Zwangsheirat betroffen?
nein
25. Halten Sie arrangierte Ehen für sinnvoll?
nein
26. Was verstehen Sie unter einer glücklichen Ehe?
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
________________________________________________
136
7.3 Auswertung der Fragebögen
7.3.1 Auswertung des Fragebogens zum Thema
Heirat und Gleichberechtigung der Frauen
7.3.1.1 Graphische Auswertung
Erklärung:
Rosa = Deutsche
Blau = Kurden
Einige der Fragen sind für Männern und Frauen getrennt ausgewertet
worden. Die Geschlechtsangabe männlich/weiblich befindet sich
jeweils am unteren Rand des Bildes.
137
138
139
140
141
142
143
144
145
7.3.1.2 Offene Fragen
Die Meinung der „kurdischen Männer“ zum Thema:
Bigamie:
Wird generell abgelehnt
Wird nur in Einzelfällen befürwortet
(z.B. wenn die Frau unfähig ist, Kinder zu gebären)
Ehre: →
Ehrlichkeit, das Einhalten wichtiger Normen einer
Gesellschaft
Das wichtigste und wertvollste im Leben
Die Familie nicht durch schlechtes Verhalten/
schlechte Taten beschmutzen
Ehre der Tochter wird gleichgesetzt mit der
Jungfräulichkeit
→
→
Zwangsehe:
Bildung:
Glückliche Ehe:
Wird abgelehnt, ist sehr schlimm und wird
immer zu Unrecht erklärt
Bildung der Töchter ist gewollt und soll gefordert
werden
Einigkeit, Respekt, Gleichberechtigung,
Vertrauen und ewige Liebe
Die allgemeine Meinung der „deutschen Männer“ zum Thema:
146
Bigamie:
Ehre: →
Zwangsehe:
Wird abgelehnt und findet keine Zustimmung
Hat viel mit einem Selbst zu tun und wenig mit der
Gesellschaft
die Töchter sind Eigenständig, Respekt.
Wird abgelehnt und verabscheut
Glückliche Ehe:
Freiheit, Bildung, Persönlichkeit, Respekt,
Vertrauen und Liebe
Die Meinung der „kurdischen Frauen“ zum Thema
Bigamie:→
Wird abgelehnt
Ehre: →
Sauberkeit, Stolz, Moral, Normen und
Werte der Gesellschaft
Zwangsehe: →
Ist schwachsinnig, wird abgelehnt
Glückliche Ehe: →
Verständnis, Liebe, Zusammenhalt,
Gleichberechtigung und Respekt
Die Meinung der „deutschen Frauen“ zum Thema:
Bigamie: →
Sind sehr dagegen und lehnen es ab
Ehre: →
Ehrlichkeit, Toleranz, Verantwortung, Recht,
Gewinn steht nicht über den Menschen
Zwangsehe: →
Findet keine Zustimmung, wird abgelehnt
Glückliche Ehe: →
Liebe, gleiche Ziele, Toleranz,
Gleichberechtigung, Harmonie
7.3.2 Auswertung des Fragebogens zum Thema
Heirat, Gleichberechtigung und Emanzipation
Auswertung des Fragebogens zum Thema Heirat,
Gleichberechtigung und Emanzipation
147
1) Fragebogen Nr.
Antworten
ohne Antwort
40
0
2) Sind Sie
weiblich
männlich
20
20
Summe
ohne Antwort
40
0
(50,00%)
(50,00%)
3) Sind Sie
verheiratet
verwitwet
ledig
geschieden
in einer Beziehung
verlobt
versprochen
getrennt
1
0
29
0
7
1
1
0
Summe
ohne Antwort
39
1
4) Wie fand die Eheschließung statt?
freie Wahl
auf Vermittlung
unter Zwang
0
(0,00%)
0
(0,00%)
1 (100,00%)
Summe
ohne Antwort
1
39
5) Sind Sie innerhalb der Verwandschaft verheiratet?
ja
1 (100,00%)
nein
0
(0,00%)
Summe
ohne Antwort
1
39
6) Sind Sie mit jmd. einer anderen Nationalität verheiratet?
ja
0
(0,00%)
nein
1 (100,00%)
Summe
ohne Antwort
1
39
7) Wenn ja, haben Sie Kontakt zu Ihren Eltern behalten?
ja
0
(0,00%)
nein
0
(0,00%)
Summe
ohne Antwort
0
40
8) Sind Sie mit jmd. einer anderen Religion verheiratet?
148
ja
nein
0
(0,00%)
1 (100,00%)
Summe
ohne Antwort
1
39
9) Wenn ja, haben Sie Kontakt zu Ihren Eltern behalten?
ja
0
(0,00%)
nein
0
(0,00%)
Summe
ohne Antwort
10) Wie viele Geschwister haben Sie?
Antworten
ohne Antwort
Minimum
Maximum
Mittelwert
0
40
38
2
0
16
3,222
Anzahl der Geschwister
Deutsche
Kurden
0 – 3 Geschwister
4 – 16 Geschwister
11) Seit wann leben Sie in Deutschland
Antworten
ohne Antwort
Minimum
Maximum
Mittelwert
20
20
4
18
10,159
12) Was ist Ihre Abstammung?
Deutsch
Kurdisch
Nationali Abstammu
tät
ng
Deutsch
(4)
Irak
(3)
Iran
(3)
Türkei
(5)
Syrien
(5)
Kurdisch
20
20
149
14) Wie alt sind Sie?
Antworten
ohne Antwort
Minimum
Maximum
Mittelwert
40
0
16
22
18,617
15) Wie alt ist Ihr Verlobter/Partner?
Antworten
ohne Antwort
Minimum
Maximum
Mittelwert
16) Was machen Sie zur Zeit beruflich?
Schule
Ausbildung
Summe
ohne Antwort
3
37
16
25
22,154
40
0
(100,00%)
(0,00%)
40
0
17) Würden Sie unverheiratet eine Partnerschaft eingehen?
ja
27
nein
13
Summe
ohne Antwort
40
0
Kurden
(weiblich)
Kurden
(männlich)
Deutsch
(weiblich)
Deutsch
(männlich)
2 (ja)
8 (nein)
8 (ja)
2 (nein)
9 (ja)
1 (nein)
8 (ja)
2 (nein)
18) Würden Sie Ihre Eltern von dieser Partnerschaft
informieren?
ja
22
nein
5
Summe
ohne Antwort
27
13
Kurden
(weiblich)
Kurden
(männlich)
Deutsch
(weiblich)
Deutsch
(männlich)
2 (ja)
0 (nein)
7 (ja)
1 (nein)
7 (ja)
2 (nein)
6 (ja)
2 (nein)
19) Wenn Sie nicht verheiratet sind, möchten Sie überhaupt
heiraten?
150
ja
nein
37
2
Summe
ohne Antwort
39
1
20) Wenn Sie nicht verheiratet sind, müssen Sie von ihren
Eltern aus heiraten?
ja
5
nein
32
Summe
ohne Antwort
37
3
21) Wenn Sie nicht verheiratet sind, müssen Sie innerhalb
der Verwandtschaft heiraten?
ja
2
nein
36
Summe
ohne Antwort
38
2
22) Wenn Sie nicht verheiratet sind, würden Sie jmd. mit
einer anderen Nationalität heiraten?
ja
25
nein
14
Summe
ohne Antwort
39
1
Kurdisch
(weiblich)
Kurdisch
(männlich)
Deutsch
(weiblich)
Deutsch
(männlich)
1 (ja)
4 (ja)
10 (ja)
10 (ja)
9 (nein)
5 (nein)
0 (nein)
0 (nein)
23) Wenn Sie nicht verheiratet sind, würden Sie jmd. mit
einer anderen Religion heiraten?
ja
21
nein
18
Summe
ohne Antwort
39
1
Kurdisch
(weiblich)
Kurdisch
(männlich)
Deutsch
(weiblich)
Deutsch
(männlich)
0
3 (ja)
9 (ja)
7 (ja)
7 (nein)
1 (nein)
3 (nein)
(ja)
9 (nein)
24) Wenn Sie verlobt sind, sind Sie innerhalb der
151
Verwandtschaft verlobt?
ja
nein
Summe
ohne Antwort
1
0
1
39
25) Wenn Sie verlobt sind, sind Sie mit jmd. aus einem
anderen Kulturkreis verlobt?
Ja
0
nein
0
Summe
ohne Antwort
0
40
26) Wenn Sie verlobt sind, sind Sie mit jmd. mit einer
anderen Religion verlobt?
Ja
0
nein
0
Summe
ohne Antwort
27) Wie wichtig ist für Sie das Familienleben?
sehr wichtig
wichtig
nicht so wichtig
unwichtig
Summe
ohne Antwort
28) Dürfen Sie alleine ausgehen?
ja
nein
Summe
ohne Antwort
0
40
34
3
1
0
38
2
36
3
39
1
29) Dürfen Sie von Ihren Eltern aus für die Ausbildung oder
das Studium in eine andere Stadt ziehen?
ja
27
nein
10
Summe
ohne Antwort
37
3
152
Kurdisch
(weiblich)
Kurdisch
(männlich)
Deutsch
(weiblich)
Deutsch
(männlich)
2 (ja)
7 (ja)
8 (ja)
10 (ja)
8 (nein)
0 (nein)
2 (nein)
0 (nein)
30) Dürfen Sie eigene Entscheidungen treffen in Bezug auf
die Partnerwahl?
ja
34
nein
5
Summe
39
ohne Antwort
1
( bei nein: 3 kurdische Mädchen/2 kurdische Jungen )
31) Wenn ja, werden alle Entscheidungen von Ihrer Familie
akzeptiert?
ja
24
nein
14
Summe
ohne Antwort
38
2
Kurdisch
(weiblich)
Kurdisch
(männlich)
Deutsch
(weiblich)
Deutsch
(männlich)
2 (ja)
7 (ja)
7 (ja
8 (ja)
8 (nein)
3 (nein)
1 (nein)
2 (nein)
32) Können Sie in Ihrer Familie alles offen diskutieren?
ja
28 (68,09%)
nein
12 (31,91%)
Summe
40
ohne Antwort 0
Kurdisch
(weiblich)
Kurdisch
(männlich)
Deutsch
(weiblich)
5 (ja)
6 (ja)
8
5 (nein)
4 (nein)
2 (nein)
(ja)
Deutsch
(männlich)
9 (ja)
1 (nein)
153
33) Was verstehen Sie unter dem Begriff Ehre / Ehre der
Familie?
kurdisch
Dass das Umfeld und
die Gesellschaft
nicht schlecht über
einen redet
Ehrlichkeit,Vertrauen
,Zusammenhalt
den gegebenen
Traditionen gerecht
werden zu können
keine Schande über
die Familie
bringen/Verantwortlic
hkeit
nichts tun was die
Familie nicht möchte
Respekt Akzeptanz
deutsch
Aufrechterhaltung der
Familie
Respekt vor den
Eltern und der
Verwandtschaft
Keine Schande über
die Familie bringen
,Vorbild darstellen
nichts
Familie aufrecht
erhalten
Respekt den Eltern
und der
Verwandtschaft
gegenüber
34) Sind Sie für die Ehre der Familie verantwortlich?
ja
20
nein
20
Summe
ohne Antwort
38
2
Kurden
(weiblich)
Kurden
(männlich)
Deutsch
(weiblich)
Deutsch
(männlich)
9 (ja)
10 (ja)
9 (nein)
10 (nein)
154
35) Was verstehen Sie unter Zwangsheirat?
kurdisch
Wenn ich von Jemanden
gezwungen werde irgend
jemand bestimmtes zu
heiraten
Jemanden heiraten zu
müssen, den man nicht
heiraten möchte
Mit Jemanden das Leben
verbringen, den man
nicht möchte.
Heirat unter Zwang
Das dümmste überhaupt.
Heiraten ohne es zu
wollen.
Eigene Entscheidung
zählt nicht.
Eine alte in der
Tradition verankerte
und nicht mit dem
Islam
übereinstimmende,sogar
verbotene Institution,
die durch Medien und
Gesellschaft auf
gepuscht wird.
Wenn meine Familie
bestimmt,mit wen ich
zu heiraten habe.
Nicht das Recht haben,
sich für jemanden zu
entscheiden.
Ist für mich so zu
verstehen,dass ich
einen Mann ohne ihn zu
kennen, heiraten muss.
Unter Druck Heiraten.
Man wird gezwungen ein
Mädchen zu heiraten,
die man nicht heiraten
möchte.
Die Heirat mit einer
Frau, die man nicht
möchte und nicht
liebt.
Einen Menschen
lebendig begraben.
deutsch
Die Eltern bestimmen
eine Heirat
Die Kinder werden von
ihren Eltern gezwungen
Fremde zu heiraten.
Ist eine Sache mit der
ich mich niemals
beschäftigen muss und
ich alle Menschen
verachte die andere
zur Ehe zwingen.
Das mich jemand zwingt
zu heiraten.
Eine Heirat die
aufgezwungen wird
Wenn man gezwungen
wird jemanden zu
heiraten.
Dass jemand verschenkt
wird
Frau verprügeln
Wenn man jemanden
heiraten muss, den man
nicht liebt, es aber
von den Eltern so
gefordert wird
Zwang zu Heiraten
Eine Heirat, die beide
nicht wollen aber dazu
gezwungen werden
Wie lebendig begraben
zu werden.
155
36) Sind Sie von einer Zwangsheirat betroffen?
ja
nein
Summe
ohne Antwort
37) Halten Sie arrangierte Ehen für sinnvoll?
ja
nein
Summe
ohne Antwort
3
36
39
1
15
24
39
1
Kurden
(weiblich)
Kurden
(männlich)
Deutsch
(weiblich)
Deutsch
(männlich)
6 (ja)
4 (nein)
6 (ja)
4 (nein)
1 (ja)
8 (nein)
2 (ja)
8 (nein)
156
38) Was verstehen Sie unter einer glücklichen Ehe?
kurdisch
Demokratie, aber auch
Mitverantwortung für
den jeweiligen
Partner,
Verständnis,
gegenseitiges
Vertrauen,
sich gegenseitig
unterstützen, lieben,
Entscheidungen
akzeptieren, den
Partner so nehmen wie
er ist
wenig Streit, Gutes
Miteinander
Zusammenhalt
Wenig Streit, Gutes
Miteinander
Zusammenhalt.
Sich
lieben,diskutieren
können.
Harmonie..
gemeinsames ziel.
Gute Familie,gute
Arbeit,verständnisvol
ler Mann.
Mit dem Mann und
Kinder Glück erleben
Liebe, vertrauen und
Mitverantwortung für
den jeweiligen
Partner.
Liebe,Freude,
Zusammenhalt.
Gerechte
Aufgabenverteilung,
keine starren Rollen
der Partner,
Zufriedenheit,Glück,A
kzeptanz und
Verständnis.
deutsch
Wenig Streit, Gutes
Miteinander.
Zusammenhalt.
Freiraum,Spaß,Problem
e.
Dass man sich seinen
Partner selber
aussucht.
Dass sich beide
Eheleute verstehen
und glücklich sind.
Ohne zwang jemanden
aussuchen/ keine
Gewalt.
Wenn man sich liebt
und mit liebe
heiratet und dem
Partner zuhören
kann/vertrauen.
Liebe, Vertrauen,
Ehrlichkeit, guter
Sex und Spaß.
Dass das
Zusammenleben gut
funktioniert.
Zusammen etwas
unternehmen.
Frei entscheiden zu
können .
Freiheiten.