Reinhold Then, Mit Paulus unterwegs, Stuttgart 2003, Verlag Kath

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Reinhold Then, Mit Paulus unterwegs, Stuttgart 2003, Verlag Kath
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Reinhold Then, Mit Paulus unterwegs, Stuttgart 2003, Verlag
Kath. Bibelwerk, S. 23-28
Teil 4
A) Die Frühzeit des Apostels - Erziehung und Ausbildung
Was erfahren wir über das Leben des Apostels vor seiner Berufung? Äußerst wenig. Im Selbstzeugnis
erwähnt Paulus auf direktem Weg nur wenige Eckdaten: “Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin
aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, lebte als Pharisäer nach dem
Gesetz” (Phil 3,5).
In der Apostelgeschichte lesen wir von seiner Jugendzeit in Tarsus und seiner zeitweiligen religiösen
Ausbildung in Jerusalem. Inwieweit Paulus seine hellenistische Bildung in Tarsus oder in Jerusalem
erfahren hat, lässt sich nicht mehr entscheiden. Tarsus hält jedenfalls das geistige Rüstzeug bereit.
Hellenistische Bildung
Ein typischer Bildungsweg eines Jugendlichen in Tarsus lässt sich mit Jürgen Becker wie folgt
beschreiben: “Zunächst wurde man im Elementarbereich (Gymnastik, Musik, Lesen und Schreiben)
unterrichtet. Das besorgten Privatlehrer und Sklaven. Darauf baute die höhere Allgemeinbildung auf.
Das war die Aufgabe der Rhetoren und ihrer Schulen. Sie lehrten Grammatik, Lektüre der Klassiker,
Rhetorik (Rede- und Aufsatzkunde), Dialektik (Anfangsgründe des Philosophierens), Mathematik und
Musiktheorie. Daran schloss sich als Krönung der Unterricht an den Philosophenschulen an, an denen
gerade auch das bedeutendste Fachwissen aller Art aus dem ganzen Altertum gelehrt wurde.”
Da dieser Schulbesuch für einen religiösen Juden undenkbar war, versuchte das jüdische
Bildungswesen in der hellenistischen Diaspora eine vergleichbare Ausbildung. “Diese bestand – schon
aus Konkurrenzdruck – in Bezug auf die erste und zweite Bildungsstufe aus sehr analogen
Unterrichtsfeldern. Natürlich konnten, ja mussten Modifikationen vorgenommen werden. Die Tora
wurde selbstredend Hauptgegenstand des Unterrichts. Gymnastik war bei den Juden nicht gut
angesehen, konnte also vernachlässigt werden. Bei den Sprachen standen wohl Aramäisch und
Griechisch hauptsächlich auf dem Stundenplan. Die Einführung in die griechische Philosophie konnte
mit Zurückhaltung oder gar nicht gelehrt werden.”1
Da Paulus die griechische Sprache gut beherrscht, darf eine entsprechende Schulbildung bereits aus
seiner Schulzeit anzunehmen sein. In den Paulusbriefen finden sich zahlreiche typisch klassischgriechische Satzperioden. Paulus muss von Jugend an die griechische Sprache gepflegt haben und sei
es über die griechische aus Alexandria stammende Bibel, Septuaginta genannt. Denn er zitiert in
seinen Briefen die Hl. Schrift häufig auswendig und zwar in griechischer Sprache.
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Jürgen Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 54f.
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Für hellenistische Bildung spricht der Aufbau und die Argumentationsfolge in den Briefen. Die
hellenistischen Argumentationsmuster, wie sie uns vor allem im Römerbrief aufscheinen, setzen
gehobene Bildung voraus. So gesehen ist Paulus später nur im Nebenberuf und im Broterwerb
“Zeltmacher”.
Eine ähnlich intellektuelle Voraussetzung dürfen wir für die frühjüdisch rabbinische Bibelauslegung
annehmen. Hier müssen wir sogar einen hebräischen und aramäischen sowie einen griechischen
Sprachsektor annehmen. Dies alles lässt erahnen, dass Paulus ein gebildeter Kopf seiner Zeit war.
Knapp 2000 Jahre später haben wir Mühe diesen schwierig gewordenen Apostel recht zu verstehen.
Rabbinische Bildung und Bibelauslegung
Wo hat Paulus seine Bibelauslegung gelernt? In Tarsus bei seinen Eltern und in der Schule oder in
Jerusalem bei Rabbi Gamaliel, wie Lukas weiß. Die biblischen Auslegungsmethoden, die wir in den
Paulusbriefen antreffen, können auch in der kleinasiatischen Diasporametropole Tarsus vermittelt
worden sein, denn sie entsprechen geläufigen frühjüdischen Auslegungsprinzipien.
Wenn Paulus sich vor seiner Bekehrung in den Synagogen schriftgemäß mit den Judenchristen
auseinandersetzt oder später während seiner Mission in den Synagogen von der Schrift ausgehend den
auferstandenen Christus verkündet, dann tut er dies immer mit den damals gängigen
Auslegungsmitteln. Einige seien exemplarisch vorgestellt, um so deutlich werden zu lassen, wie die
Bibel damals interpretiert wurde.
Rabbinische Methode “Das Reihen von Perlen” (Charasexegese)
Das Aufreihen von Perlen auf einer Schnur wird im jüdischen Kunsthandwerk mit “charas”
bezeichnet. Bild und Begriff wurden im Rabbinischen auf die exegetische Begrifflichkeit übertragen.
Rabbi Elischa ben Abuhja sagte: “Sie setzten sich und begannen Worte der Tora aneinanderzureihen.
Worte aus der Tora reihten sie an Worte der Propheten und Worte der Propheten an Worte der Übrigen
Schriften.” (pHag 77b). Hintergrund dieser Schriftgelehrsamkeit ist der Versuch, mit dem Zitieren von
Belegen aus den drei Abteilungen des Alten Testaments (Fünf Bücher Mose, Propheten und Übrige
Schriften) die Nähe der eigenen Lehrmeinung zum Offenbarungsgeschehen auf dem Sinai zu
verdeutlichen. Die Auswahl der Bibelverse erfolgt wie die Reihung nicht zufällig, sondern mit einer
bewussten theologischen Absicht.
Auch Paulus beherrscht diese Methode. Begnügen wir uns mit der Beobachtung der Art und Weise des
Zitierens ohne kommentierende Ausdeutung des Gemeinten. Beispiel Röm 11,7-10: “Was Israel
erstrebt, hat nicht das ganze Volk, sondern nur der erwählte Rest erlangt; die übrigen wurden
verstockt, wie es in der Schrift heißt: Gott gab ihnen einen Geist der Betäubung, Augen, die nicht
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sehen, und Ohren, die nicht hören, bis zum heutigen Tag.” (Jes 29,10; Dtn 29,3). Und David (= David
als Psalmensänger) sagt: Ihr Opfertisch werde für sie zur Schlinge und zur Falle, zur Ursache des
Sturzes und der Bestrafung. (Ps 69,23-24) Ihre Augen sollen erblinden, sodass sie nichts mehr sehen;
ihren Rücken beuge für immer!”
In diesem Fall hat Paulus mit Jes 29,10 + Dtn 29,3 + Ps 69,23f drei Texte aus den drei Abteilungen
des Alten Testaments zusammengeführt.
Ein weiteres Beispiel Röm 15,9-12: “Die Heiden aber rühmen Gott um seines Erbarmens willen; es
steht ja in der Schrift: Darum will ich dich bekennen unter den Heiden und deinem Namen lobsingen
(Ps 18,50). 10 An anderer Stelle heißt es: Ihr Heiden, freut euch mit seinem Volk! (Dtn 32,43). 11
Und es heißt auch: Lobt den Herrn, alle Heiden, preisen sollen ihn alle Völker (Ps 117,1). 12 Und
Jesaja sagt: Kommen wird der Spross aus der Wurzel Isais; er wird sich erheben, um über die Heiden
zu herrschen. Auf ihn werden die Heiden hoffen (Jes 11,1.19).”
Hier reiht Paulus Ps 18,50 + Dtn 32,43 + Ps 117,1 + Jes 11,1.99 wie eine Perlenkette.
Ein letztes Beispiel aus Röm 10,5-15: “Mose schreibt: Wer sich an die Gesetzesgerechtigkeit hält in
seinem Tun, wird durch sie leben (= Lev 18,5). 6 Die Glaubensgerechtigkeit aber spricht: Sag nicht in
deinem Herzen (= Dtn 9,4): Wer wird in den Himmel hinaufsteigen? (= Dtn 30,12) Das hieße: Christus
herabholen. 7 Oder: Wer wird in den Abgrund hinabsteigen? (= Ps 107,20) Das hieße: Christus von
den Toten heraufführen. 8 Was also sagt sie? Das Wort ist dir nahe, es ist in deinem Mund und in
deinem Herzen (Dtn 30,14). Gemeint ist das Wort des Glaubens, das wir verkündigen; 9 denn wenn du
mit deinem Mund bekennst: «Jesus ist der Herr» und in deinem Herzen glaubst: «Gott hat ihn von den
Toten auferweckt», so wirst du gerettet werden.
10 Wer mit dem Herzen glaubt und mit dem Mund bekennt, wird Gerechtigkeit und Heil erlangen. 11
Denn die Schrift sagt: Wer an ihn glaubt, wird nicht zu Grunde gehen (Jes 28,16). 12 Darin gibt es
keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen. Alle haben denselben Herrn; aus seinem Reichtum
beschenkt er alle, die ihn anrufen. 13 Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet
werden (Joel 3,5). 14 Wie sollen sie nun den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie an den
glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündigt? 15 Wie
soll aber jemand verkündigen, wenn er nicht gesandt ist? Darum heißt es in der Schrift: Wie sind die
Freudenboten willkommen, die Gutes verkündigen!” (Jes 52,7).
Diese Perlenkette aus Schriftversen ist noch etwas umfangreicher: Lev 18,5 + Dtn 9,4 + Dtn 30,12 +
Ps 107,20 + Dtn 30,14 + Jes 28,16 + Joel 3,5 + Jes 52,7.
Rabbinische Methode “Blütenteppich” (Florilegium)
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Diese Methode reiht Schriftverse meist aus einem biblischen Buch aneinander. Bereits das Buch der
Chronik (3. Jh. v. Chr.) kennt diese Methode und greift auf einen vorgegebenen “Blütenteppich”
zurück (1 Chr 25). Paulus übernimmt z.B. in Röm 3,10-18 vermutlich einen “Blütenteppich” und baut
ihn in seinem Brief als schriftgelehrtes Argument ein: “... wie es in der Schrift heißt: Es gibt keinen,
der gerecht ist, auch nicht einen (Koh 7,20); 11 es gibt keinen Verständigen, keinen, der Gott sucht. 12
Alle sind abtrünnig geworden, alle miteinander taugen nichts. Keiner tut Gutes, auch nicht ein
einziger. (Ps 14,1-3). 13 Ihre Kehle ist ein offenes Grab, mit ihrer Zunge betrügen sie (Ps 5,10);
Schlangengift ist auf ihren Lippen (Ps 139,4). 14 Ihr Mund ist voll Fluch und Gehässigkeit (Ps 10,7).
15 Schnell sind sie dabei, Blut zu vergießen (Jes 59,7); 16 Verderben und Unheil sind auf ihren
Wegen (Spr 1,16), 17 und den Weg des Friedens kennen sie nicht (Jes 59,8). 18 Die Gottesfurcht
steht ihnen nicht vor Augen (Ps 35,2).
Hier wird aus der 2. und 3. Abteilung der Bibel, also ohne Tora, ein Sinnzusammenhang geknüpft.
Ohne kommentierende Hinzufügungen stehen die Schriftverse nebeneinander.
Einige Auslegungsnormen, die auf Rabbi Hillel (1. Jh.) zurückgeführt werden, nachweislich aber
schon älter sind, lassen sich auch bei Paulus finden:
Der Schluss vom Geringeren auf das Größere:
“Doch anders als mit der Übertretung verhält es sich mit der Gnade; sind durch die Übertretung des
einen die vielen dem Tod anheim gefallen, so ist erst recht die Gnade Gottes und die Gabe, die durch
die Gnadentat des einen Menschen Jesus Christus bewirkt worden ist, den vielen reichlich zuteil
geworden.” (Röm 5,15)
Zwei verschiedene Bibelstellen, in denen dasselbe Wort vorkommt, erklären sich gegenseitig
Röm 4,3-8: “Denn die Schrift sagt: Abraham glaubte Gott, und das wurde ihm als Gerechtigkeit
angerechnet (= Gen 15,6). 4 Dem, der Werke tut, werden diese nicht aus Gnade angerechnet, sondern
er bekommt den Lohn, der ihm zusteht. 5 Dem aber, der keine Werke tut, sondern an den glaubt, der
den Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet. 6 Auch David
preist den Menschen selig, dem Gott Gerechtigkeit unabhängig von Werken anrechnet: 7 Selig sind
die, deren Frevel vergeben und deren Sünden bedeckt sind. 8 Selig ist der Mensch, dem der Herr die
Sünde nicht anrechnet (Ps 32,1-2).”
Hier ist es der Wortstamm “anrechnen”, der beide Schriftverse zusammenbringt. Abraham wurde sein
Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet (Gen 15,6). Und damit: Selig ist der Mensch, dem der Herr die
Sünde nicht anrechnet (Ps 32,2). Somit ist die Rechtfertigung aus Glauben notwendig als
Sündenvergebung zu verstehen, so die Quintessenz des Abschnitts.
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Es muß auf die geringsten Feinheiten des Ausdrucks geachtet werden
Gal 3,16: “Abraham und seinem Nachkommen wurden die Verheißungen zugesprochen. Es heißt
nicht: «und den Nachkommen», als wären viele gemeint, sondern es wird nur von einem gesprochen:
und deinem Nachkommen; das aber ist Christus.” (vgl. Gen 22,17). Auf welche Bibelausgabe stützt
sich Paulus? Die hebräische Bibel schreibt in Gen 22,17 Mehrzahl “die Nachkommen”, die
griechische Bibel schreibt Einzahl, “seinem Nachkommen”. Dieser Wechsel von Einzahl/Mehrzahl ist
für Paulus ein prophetischer Hinweis auf Christus, der sich bereits in der griechischen Bibel findet.
Im ägyptischen Alexandria wurde vom jüdischen Religionsphilosophen Philo (20 v. bis 50 n. Chr.)
eine bildliche Auslegung der Schrift gepflegt, sie hat im hellenistischen Judentum eine große
Verbreitung gefunden.
Allegorische (= bildliche) Auslegung
1 Kor 9,9-10: “Im Gesetz des Mose steht doch: Du sollst dem Ochsen zum Dreschen keinen Maulkorb
anlegen (Dtn 25,4). Liegt denn Gott etwas an den Ochsen? Sagt er das nicht offensichtlich
unseretwegen? Ja, unseretwegen wurde es geschrieben. Denn der Pflüger wie der Drescher sollen ihre
Arbeit in der Erwartung tun, ihren Teil zu erhalten.”
Ein weiteres Beispiel: Gal 4,22-26: “In der Schrift wird gesagt, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen
von der Sklavin, den andern von der Freien (Gen 16,15; 21,2f). Der Sohn der Sklavin wurde auf
natürliche Weise gezeugt, der Sohn der Freien auf Grund der Verheißung (Gen 17,16).
Darin liegt ein tieferer Sinn: Diese Frauen bedeuten die beiden Testamente. Das eine Testament
stammt vom Berg Sinai und bringt Sklaven zur Welt; das ist Hagar, denn Hagar ist Bezeichnung für
den Berg Sinai in Arabien -, und ihr entspricht das gegenwärtige Jerusalem, das mit seinen Kindern in
der Knechtschaft lebt (Gen 16,1). Das himmlische Jerusalem aber ist frei, und dieses Jerusalem ist
unsere Mutter.”
In den genannten Beispielen sind es der Ochse bzw. die beiden Frauen Hagar und Sarai, die bildlich
übertragen und ausgedeutet werden sollen.
Typologische Auslegung
Röm 5,14: “Adam ist die Gestalt, die auf den kommenden hinweist.” Ein anderes Beispiel mit
Adam/Christus ist 1 Kor 15,22.45-49: “Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle
lebendig gemacht werden... So steht es auch in der Schrift: Adam, der Erste Mensch, wurde ein
irdisches Lebewesen. Der Letzte Adam wurde lebendigmachender Geist. (Gen 2,7). Aber zuerst
kommt nicht das Überirdische; zuerst kommt das Irdische, dann das Überirdische. Der Erste Mensch
stammt von der Erde und ist Erde; der Zweite Mensch stammt vom Himmel. Wie der von der Erde
irdisch war, so sind es auch seine Nachfahren. Und wie der vom Himmel himmlisch ist, so sind es
auch seine Nachfahren. Wie wir nach dem Bild des Irdischen gestaltet wurden, so werden wir auch
nach dem Bild des Himmlischen gestaltet werden.”
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Sie stellt eine heilsgeschichtliche Beziehung her. So ist Adam das Vorbild (= Adam der erste Mensch)
und Christus das höhere Abbild (Christus, der letzte Mensch dieser Weltzeit), das in Beziehung steht.
Bei dieser Methode wird das Alte Testament von Christus her gelesen und auf ihn hin gedeutet.
Geschichte wiederholt sich, jedoch in größerer Weise auf Christus hin.
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