Jesus Christ Superstar

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Jesus Christ Superstar
Theater Ulm
Spielzeit 2008/09
Jesus Christ Superstar
Neuinszenierung
Musikalische Leitung: Ariane Müller/Gordian Teupke
Inszenierung: Werner Pichler
Choreographie: Roberto Scafati
Bühne: Britta Lammers
Kostüme: Andrea Hölzl
Inhalt
Seite
01. Kurt Gänzl...................................................................3
Lexikoneintrag über „Jesus Christ Superstar“
02. Über die Autoren von „Jesus Christ Superstar“............6
Andrew Lloyd Webber und Tim Rice
03. SpiegelOnline vom 24. September 2008.....................7
„Jesus Christ Superstar“ uraufgeführt
04. Andrew Lloyd Webber .................................................9
über die Uraufführung von „Jesus Christ Superstar“
05. Andrew Llyod Webber ...............................................10
Warum ein Musical über Jesus Christus?
06. Synopsis ...................................................................11
Die Liedtexte aus „Jesus Christ Superstar“ im
Vergleich mit original Bibelzitaten
07. Elisabeth Frenzel.......................................................19
Christus auf der Bühne, Theater-Thema Jesus
08. Who’s Who in der Bibel .............................................22
09. Walter Jens ................................................................24
Der Fall Judas
10. Olaf Schulze..............................................................29
„... und verriet ihn mit einem Kuss“ (Judas der Verräter?)
11. Valerian Ehnes ..........................................................31
„MARIA MAGDALENA“
12. Die Jünger Jesu und Apostel .....................................32
13. Der göttliche Bote .....................................................33
14. „Das Blut der Versöhnung“ .......................................45
15. Ist Jesus dem Glauben im Weg? ................................60
01. Kurt Gänzl
„Jesus Christ Superstar“, Musical
Gesangstexte: Tim Rice (eigtl. Timothy Miles Bindon Rice). Orchestration: Andrew
Lloyd Webber Uraufführung: 12. Okt. 1971, Mark HellingerTheatre, New York
Personen: Judas Iscariot/Ischariot; Jesus; Mary Magdalene/Maria Magdalena;
Caiaphas/Kaiphas; Annas/ Hannas; 3 Priester; Simon Zealotes/Simon Zelotes;
Pontius Pilate/Pilatus; Peter/Petrus; Herod/Herodes; Mädchen am Feuer; Soldat;
ein alter Mann. Chor: Jünger, Aussätzige, Soldaten, Gefolge Herods, Händler und
anderes Volk
Orchester: 2 Fl (1 auch Picc) , Ob, Klar (auch B.Klar), 2 Hr, 2 Trp, 2 Pos (1 auch Tb),
MelodieGit, RhythmusGit, elektr. B.Git, SchI, Perc, elektr. Org (auch Synt), Kl (auch
elektr. Kl), Streicher
Aufführung: Dauer ca. 2 Std. Die Aufführung kann durch eine Pause unterbrochen
werden. Eine symphonische Orchesterbesetzung ist verfügbar. Die Rollen von Judas
und Jesus erfordern Interpreten mit kräftigen, modernen Gesangsstimmen von
beträchtlichem Umfang, die von Caiaphas und Annas einen Basso profondo und
einen hohen oder Countertenor; ansonsten genügt modernes Standardkönnen. Das
Stück kommt mit einem einfachen, aus Gerüsten und Plattformen bestehenden
Bühnenbild aus, vor dessen Hintergrund sich die einzelnen Episoden abspielen.
Gesangsnummern: Heaven on Their Minds (Weil sie ach so heilig sind); What's
the Buzz (Was ist los); Strange Thing Mystifying (Für mich bleibt's ein Rätsel);
Everything's Alright (Alles wird gut sein); This Jesus Must Die (Der Jesus muß
weg); Hosanna; Simon Zealotes (Simon Zelotes); Poor Jerusalem (Armes
Jerusalem); Pilate's Dream (Der Traum des Pilatus); The Temple (Der Tempel/Die
Vertreibung aus dem Tempel); I Don't Know How to Love Him (Wie soll ich ihn
nur lieben); Damned for All Time (Verdammt für alle Zeit); Blood Money (Blutgeld);
The Last Supper (Das letzte Abendmahl); I Only Want to Say (Gethsemane); The
Arrest (Die Gefangennahme / Die Verhaftung); Peter's Denial (Die Verleugnung /
Petri Verleugnung); Pilate and Christ (Pilatus und Christus / Christus vor Pilatus);
King Herod's Song (Song des Herodes / Herodes-Song); Could We Start Again,
Please (Laßt uns neu beginnen); Judas' Death (Der Tod des Judas); The Trial
Before Pilate (Das Verhör vor Pilatus / Die Verurteilung); Superstar
Entstehung: Jesus Christ Superstar war das erste abendfüllende Werk des Teams
Lloyd Webber und Rice und folgte der für Schulaufführungen geschriebenen
Miniaturkantate Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat (1968), die auf
der Josephslegende basiert. Nach dem Erfolg dieses Stücks war eins der ersten
Ergebnisse ihrer Zusammenarbeit der Song “Superstar”, den die Autoren aber als
Teil eines größeren Ganzen betrachteten: Ihnen schwebte ein Bühnenmusical mit
der Geschichte Jesu vor, das in Kantatenform wie Joseph gehalten sein und dessen
Titelsong "Superstar" werden sollte. Ihr Agent David Land konnte zunächst keinen
Produzenten für ein Stück solchen Inhalts finden; statt dessen gelang ihm ein
Abschluss mit einer Plattenfirma, die Jesus 1970 veröffentlichte. Diese Aufnahme
war (vor allem in den Vereinigten Staaten) so erfolgreich, dass trotz religiöser
Bedenken (Juden und Christen könnten gleichermaßen verstört auf ein Musical
dieser Thematik reagieren) wieder eine Bühnenfassung in Betracht gezogen wurde.
Zwar wollte der für seine spektakulären Musicalproduktionen bekannte Impresario
Harold Fielding Jesus in bester Opernmanier auf die Bühne bringen, jedoch gaben
die Autoren dem andersgearteten Konzept Robert Stigwoods, des Produzenten der
Londoner Version von MacDermots Hair (1967), den Vorzug.
Handlung: In Jerusalem und Umgebung: Die Geschichte der letzten sieben Tage im
Leben Jesus' wird aus der Sicht von Judas Iscariot erzählt. Jedoch ist es nicht der
Judas der christlichen Mythologie, der hier beschrieben wird. Der Mann, dessen
Name gleichbedeutend mit dem Begriff „Verräter” geworden ist, ist vielmehr ein
normaler Mensch, der mit wachsender Besorgnis beobachtet, wie die neue ethischreligiöse Bewegung, an der er teilhat, zum Ziel von Fanatikern wird und wie ihr
Anführer Jesus von seinen hysterischen Anhängern in solch einem Ausmaß verehrt
wird, dass Anlass zu Sorge besteht. Judas' Versuche, seinen Herrn und Meister auf
den Boden der Tatsachen zurückzuholen, ihn an seine eigentliche Mission zu
erinnern, werden von dem überspannten Jesus, auf den nur Mary Magdalene einen
beruhigenden Einfluss zu haben scheint, launisch abgeblockt. Die Besorgnis ist
berechtigt, denn die Priester Jerusalems sind beunruhigt über den von Jesus
verursachten Wirbel, der die Aufmerksamkeit der römischen Machthaber auf diesen
Teil der Welt zu lenken droht. Sie beschließen, die gefährliche Bewegung samt
ihrem aufrührerischen Führer auszuschalten, zumal Jesus sich auch durch die
Appelle des Hohenpriesters Caiaphas nicht von seinem Weg abbringen lässt und
der Mob den Hass auf die römischen Besatzer geschürt wissen möchte. Als die
Lage sich immer stärker zuspitzt und Jesus Anzeichen zeigt, unter dem auf ihm
lastenden Druck zusammenzubrechen (der Statthalter Pontius Pilate hat
unterdessen von einem Traum berichtet, in dem er für den Tod eines Manns aus
Galiläa verantwortlich gemacht wird, und Jesus die Händler und Geldwechsler aus
dem Tempel vertrieben), schiebt Judas alle Zweifel beiseite. Er glaubt, die einzige
Möglichkeit, Gewaltakte unter der Bevölkerung zu verhindern, sei die, Jesus
einsperren zu lassen. Deshalb sucht er die Priester auf und verrät ihnen für 30
Silberlinge, die er nur widerstrebend annimmt, wann und wo sie Jesus allein und
ohne Gefahr gefangen nehmen und so einen Aufruhr verhindern können. Beim
letzten Abendmahl sieht Jesus sein Schicksal voraus und deutet auf Judas als den
Verräter, der sein Verhalten jedoch damit rechtfertigt, dass Jesus seinen Idealen
untreu geworden sei. Im Garten Gethsemane wird Jesus von Soldaten aufgespürt
und verhaftet; der Jünger Peter leugnet, ihn überhaupt zu kennen. Judas erkennt,
dass er von Gottes Fügung benutzt worden ist, die Bestimmung Jesus' auf Erden zu
vollenden, und erhängt sich voller Verzweiflung. Weder Pilate noch Herod, der
König von Galiläa, wollen den Gefangenen aburteilen, aber die von den Priestern
aufgewiegelte Volksmenge, die sich von Jesus betrogen fühlt, der sich nicht
verteidigen und keine Wunder vor ihren Augen vollbringen will, zwingt Pilate, ihn
zum Tod zu verurteilen. Jesus wird gekreuzigt, während Judas' Stimme die Frage
stellt, warum alles so kommen musste, wie es gekommen ist: War es Teil eines
Plans, Jesus zu einem “Superstar” zu machen, an den man sich in alle Ewigkeit
erinnern würde?
Kommentar: Jesus Christ Superstar, gelegentlich auch als Rockoper bezeichnet, ist
eine Show, die keiner der etablierten Richtungen im Musiktheater der
Nachkriegszeit folgt und sich stilistisch an kein bestimmtes Werk anlehnt. In Musik
und Texten gibt sich das Musical frisch und ungezwungen. Die gründliche
musikalische Ausbildung Lloyd Webbers und sein natürliches melodisches
Empfinden vereinen sich mit den kraftvoll-repetitiven Rhythmen moderner
Popmusik zu einer zeitgemäßen und handwerklich solide gearbeiteten
Theatermusik. (In seinen späteren Arbeiten sollte Lloyd Webber diese Art von Musik
noch verfeinern und so stilbildend eine ganze Generation junger Komponisten
beeinflussen.) Rices Gesangstexte verbinden einen Konversationston und poetisch
phantasievolle Formulierungen mit einem Sinn für Humor, der verhindert, dass die
Inhalte als zu gewichtig empfunden werden. Da Jesus kantatenartig
durchkomponiert ist, gibt es keine gesprochenen Dialoge, ein Umstand, der einer
ganzen Reihe gleichartig gearbeiteter Musicals den Weg geebnet hat. Aufgrund
dieses durchkomponierten Stils weist Jesus nur wenige Abschnitte auf, die
losgelöst vom Stück als Einzelnummern überleben können. Dazu gehören vor allem
Mary Magdalenes “I Don't Know How to Love Him”, das ursprünglich als “Kansas
Morning“ in anderem Zusammenhang hatte veröffentlicht werden sollen und für
Jesus mit einem neuen Text versehen wurde, und “Superstar"; das wirkungsvollste
und schönste Stück dürfte jedoch der für eine moderne Tenorstimme geschriebene
Monolog Jesus' im Garten Gethsemane mit dem Wunsch nach Tod und Erlösung
sein.
Wirkung: Die Uraufführung (Regie: Tom O'Horgan; Judas: Ben Vereen) war
phantasievoll und ideenreich, jedoch lenkten die Bühneneffekte und die poppige
Ausstattung eher vom Inhalt ab und waren nicht nach jedermanns Geschmack
(beispielsweise wurde der gekreuzigte Jesus von einem Gabelstapler von der Bühne
gefahren). So liefen religiöse Gruppen denn auch Sturm gegen das Stück. Die einen
protestierten gegen die sexuelle Beziehung zwischen Jesus und Mary Magdalene,
die anderen störten sich an der Darstellung Jesus' mit einem Koller, noch andere
stuften das Musical als antisemitisch ein, da die Priester als blutrünstige Bestien
gezeigt wurden. Beim Publikum jedoch, das sehen wollte, wie eine Schallplatte in
ein Bühnenspektakel umgesetzt wird, hatte das Stück großen Erfolg; es brachte es
auf 720 Vorstellungen am Broadway; Lloyd Webber wurde mit dem Drama Desk
Award ausgezeichnet. Bald folgten erste Auslandsproduktionen, von denen die
australische besonders hervorzuheben ist: Sie verzichtete auf Exzentrizitäten und
war in einem strengen, modernistischen Stil gehalten, der sich als so wirkungsvoll
erwies, dass der Regisseur Jim Sharman auch für die Inszenierung in London
verpflichtet wurde, wo das Stück 1972 im Palace Theatre, allerdings in mehr
traditioneller Form, herauskam und zum Musical mit der längsten Laufzeit (zehn
Jahre) in der Geschichte des britischen Theaters wurde. Jesus Christ Superstar ging
rund um die Welt, wurde aber in Südafrika aus religiösen Gründen verboten; in
Deutschland wurde es 1972 in Münster (Westf.) herausgebracht. Der Verfilmung
(1973) von Norman Jewison fehlte der Reiz der Bühnenshow. Das Broadway-Revival
von 1977 konnte an den Erfolg der Originalproduktion nicht anknüpfen und wurde
nach nur 96 Vorstellungen abgesetzt.
02. Über die Autoren von „Jesus Christ Superstar“
ANDREW LLOYD WEBBER
Andrew Lloyd Webber wurde 1948 im englischen Westminster (London) geboren. Er
stammt aus einer musikalischen Familie: sein Vater war Organist, Professor für
Musiktheorie und Komposition sowie Direktor am London College of Music, seine
Mutter eine anerkannte Musikpädagogin und sein Bruder ist der Cellist Julian Lloyd
Webber. Zunächst lernte er Horn und Klavier sowie die englische Volks- und
Kirchenmusik und die klassische englische Musik des 20. Jahrhunderts (Britten,
Elgar, Holst) kennen und verfasste erste Kompositionen (u.a. eine Suite für
Kindertheater und Popsongs). Dann studierte er am Royal College of Music und
wandte sich schon bald dem Musicalbereich zu.
Mit 17 Jahren lernte er den Lyriker Tim Rice kennen, mit dem er etliche Songs
sowie 1968 das Pop-Oratorium "Joseph And The Amazing Technicolor Dreamcoat"
schrieb, das 1972 beim Edinburgh Festival einen großen Erfolg hatte. Es folgten
weltweit präsentierte Filmmusiken und Musicals, unter denen "Jesus Christ
Superstar" (1971). "Evita" (1978). "Cats" (1981), "Starlight Express" (1984) und "The
Phantom Of The Opera" (1986) nur die populärsten sind. 2000 kam "The Beautiful
Game" heraus, und zuletzt feierte Lloyd Webber am Londoner Westend mit seiner
Musicaladaption von "The Woman in White" Erfolge. "Das Phantom der Oper" wurde
im Januar 2006 zum am längsten laufenden Musical in der Geschichte des
Broadway.
Lloyd Webber gewann zahlreiche Tony Awards, Drama Desk Awards, drei Grammys
(1986 für sein "Requiem" in der Kategorie für die "beste klassische zeitgenössische
Komposition") und fünf Laurence Olivier Awards. 1992 wurde er zum Ritter der
Kunst geschlagen, 1995 in die American Songwriter's Hall of Fame aufgenommen.
Im selben Jahr erhielt er auch den Praemium Imperiale Award for Music, 1996 den
Richard Rodgers Award for Excellence in Musical Theatre und 1997 gemeinsam mit
Tim Rice den Golden Globe und einen Oscar für den Besten Original-Song für die
Filmmusik zu "Evita". In Königin Elizabeths Neujahrs-Ehrung des Jahres 1997
wurde er zum Lord Lloyd-Webber of Sydmonton erhoben. 2000 liefen weltweit 27
Lloyd WebberShows gleichzeitig.
TIM RICE
Tim Rice wurde 1944 in Amersham (Buckinghamshire) geboren. Für kurze Zeit ging
er an die Pariser Sorbonne, um Jura zu studieren, wollte aber eigentlich Pop-Sänger
werden. Er wirkte sodann in der Schallplattenindustrie und wurde als
Rundfunksprecher und Fernsehansager einem breiten Publikum bekannt. Nach den
fast anderthalb Jahrzehnten des gemeinsamen Schaffens mit Andrew Lloyd Webber
arbeitete Tim Rice für und mit vielen anderen bedeutenden Künstlern, so mit Elton
John für den Oscar-gekrönten Titelsong des Disney-Films "König der Löwen"
(1995) und für das Musical "Aida" (1999). Neben seiner Tätigkeit als Song- und
Stücktexter widmet sich Rice der Herausgabe von Büchern, dem Verfassen von
Kolumnen im Londoner "Daily Telegraph" und seiner Aufgabe als Vorsitzender der
britischen Foundation for Sport and the Arts. Für seine Leistung auf diesem Gebiet
wurde er 1994 von der Königin in den Adelsstand erhoben.
“Jesus Christ Superstar” uraufgeführt - einestages
http://einestages.spiegel.de/externałShowAlbumB...
EINESTAGES - 24. September 2008 16:36
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/_jesus_christ_superstar_uraufgefuehrt.html
KALENDERBLATT: 12.10. 1971
"Jesus Christ Superstar" uraufgeführt
AP
Am 12. Oktober 1971 wird in New York das Musical "Jesus Christ Superstar"
uraufgeführt. Die Rockoper bringt dem Komponisten Andrew Lloyd Webber und dem
Texter Tim Rice über Nacht Weltruhm - und Jesus Christus wird zum neuen Idol weiter
Teile der Jugend.
Anfang der 1970er Jahre erwachte in den USA eine neue Religiosität. Nach James Dean, Elvis, den
Beatles und Woodstock wurde Jesus Christus zum neuen Idol weiter Teile der Jugend. Sichtbarer
Ausdruck dieser Welle war der enorme Erfolg der Rockoper "Jesus Christ Superstar". Sie machte den
Komponisten Andrew Lloyd Webber und den Texter Tim Rice über Nacht weltberühmt.
Der internationale Triumph von "Jesus Christ Superstar" begann bereits 1970, als ein Jahr vor der
Uraufführung des Musicals in New York die gleichnamige Schallplatte in Großbritannien veröffentlicht
wurde - allerdings wies zunächst gar nichts auf einen Verkaufserfolg hin. Das änderte sich jedoch, als die
Musik in den USA wie eine Rakete einschlug und zweieinhalb Millionen Schallplatten innerhalb von zwölf
Monaten verkauft wurden. Für Webber und Rice öffnete das die Türen zum Broadway.
"Jesus Christ Superstar" war das erste Musical in der Broadwaygeschichte, das auf einer
Plattenproduktion basierte und das erste, das schon vor den Proben ein Erfolg war. Als sich der Vorhang
im New Yorker Mark Hellinger Theater zur ersten von insgesamt 720 Aufführungen hob, war das Stück
bereits für sechs Wochen im Voraus ausverkauft und hatte schon im Vorverkauf über eine Million Dollar
eingespielt.
Kunst oder Blasphemie?
"Phantastisch" - so lauteten mehrheitlich die spontanen Reaktionen des Premierenpublikums auf das
Musical, das in einer als Song-Zyklus gestalteten epischen Bilderfolge die letzten sieben Tage des Lebens
von Jesus Christus schildert. Regisseur war Tom O´Horgan, der 1968 schon das Musical "Hair" inszeniert
hatte.
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24.09.2008 16:37 Uhr
“Jesus Christ Superstar” uraufgeführt - einestages
http://einestages.spiegel.de/externałShowAlbumB...
Während im Saal das Publikum die Rockoper von Webber und Rice mit stehenden Ovationen feierte,
protestierten vor den Türen des Theaters konservative religiöse Gruppen. Unbeeindruckt von den Rufen
"Blasphemie" hatte sich auch New Yorks damaliger Bürgermeister John Lindsay seinen Weg durch die
Demonstranten gebahnt. Auf die Frage, ob er das Musical anstößig finde, meinte er: "Nein, ich finde es
großartig."
Extravagante Premierenparty
Zu den Kritikern gehörte auch das American Jewish Committee. Dort befürchtete man durch eine
angebliche Stilisierung der Juden als Mörder eine Verschlechterung der christlich-jüdischen Beziehungen.
Dazu meinte ein jüdischer Besucher der Premiere: "Das Stück geht überhaupt nicht hart mit den Juden
um. Da stehen im Neuen Testament ganz andere Sachen." Katholische Kreise warfen der Inszenierung
vor, die Göttlichkeit von Jesus zu leugnen und Judas zum Helden zu machen.
Während Schauspieler und Musiker in der Nacht vom 12. Oktober 1971 mit ihren geladenen Gästen im
Lokal "Tavern On The Green" eine der bis dato teuersten und extravagantesten Premierenparties feierten,
fieberten Webber, Rice, O´Horgan und Produzent Robert Stigwood den ersten Kritiken entgegen. Diese
fielen nicht gerade prächtig aus, wenn man von der "Daily News" absieht, die das Stück als "Triumph"
feierte. Der Fernsehsender "ABC" war weniger begeistert: "Enttäuschend" lautete hier das Urteil. Es war
vor allem die Inszenierung selber, die viele Kritiker als zu ereignislos bezeichneten. Doch weder Proteste
noch die schlechten Kritiken konnten den weltweiten Erfolg von "Jesus Christ Superstar" beim Publikum
aufhalten.
Externer Link: Weitere historische Ereignisse am heutigen Tag bei Deutsche Welle Kalenderblatt
Eingereicht von: DEUTSCHE WELLE: KALENDERBLATT
© SPIEGEL ONLINE 2008
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH
2 von 2
24.09.2008 16:37 Uhr
04. Andrew Lloyd Webber
Wir wollten etwas schreiben mit vielen Mitwirkenden, etwas Dramatisches, das alle
Leute anspricht und eine Oper, weil ich persönlich gern ein ernstes Stück mit
populären Techniken machen wollte, nicht bloß Techniken, sondern einfach mit
meiner persönlichen Liebe zur Melodie, darauf läuft es letzten Endes hinaus. Wir
wandten uns dem Christus-Stoff zu, weil er Tim erlaubte, sich als Dichter zu
versuchen und die Christusgeschichte in neuer Art zu interpretieren. Er tat es auch,
indem er Judas zum Helden der Geschichte machte. Er schildert ihn als Mann des
praktischen Lebens, der einer Gestalt wie Christus zugetan ist, die zu der Zeit
schon ihre Aufgabe erfüllt hat und während der letzten sieben Tage des Lebens
ihre Kraft verbraucht. Es ist eine sehr menschliche Version von Christus, die seine
Größe nicht leugnet, doch die Göttlichkeit einfach nicht zur Diskussion stellt.
Dieser Standpunkt zwingt dazu, menschliche Reaktionen von anderen einer großen
Gestalt gegenüber zu behandeln. Tims Text führt die Figuren, die um Christus
sind, zusammen, der selbst in den Augen der Leute keine klaren Umrisse hat. Maria
Magdalena ist die weltliche, die sich in ihn verliebt hat; Pilatus sieht sich mit ihm
konfrontiert; Judas hatte laut Bibel die Aufgabe, die Gelder zu kontrollieren; Simon
ist der Revolutionär, der in Christus die Leitfigur einer Bewegung zur Überwindung
der Welt durch Gewalt sieht.
http://www.andrewlloydwebber.com/phprint.php?...
Jesus Christ Superstar
The 12th October 1971 should have been the happiest night of my life. I was 23
years old and a fairy tale was about to come true. An unknown British young man
w a s t o h a v e h i s fi
firrs t m u s i c a l p r e m i e r e d o n B r o a d w a y . J e s u s C h r i s t S u p e r s t a r w a s t o
o p e n o n t h e v e r y s a m e s t a g e a s M y F a i r L a d y h a d p l ay e d o n l y a d e c a d e a n d a h a l f
before.
I shall never forget the saga of Jesus Christ Superstar on Broadway. Never in my opinion was so
wrong a production mounted of my work. Even though this brash and vulgar interpretation was
quite leniently dealt with by the critics at the time, the public saw through it. The biggest selling
double album of all time ran in its first theatre incarnation a mere 20 months.
Throughout its entire preview period I was never allowed to rehearse the orchestra. Looking
back 25 years later, I suppose there were pluses. Because the production was so awful, not
production of Superstar in the rest of the world was the same, so I had a baptism of fire by a
kaleidoscopic gaggle of directors.
Most important, I resolved that night that when I got my first opportunity I would start my own
production company. It’s an irony that I’m working with Hal Prince at the moment on the other
side of the pond on Whistle Down the Wind whilst Gale Edwards has been creating her
production of Superstar here at the Lyceum. For it was Gale who staged Whistle Down the Wind
at my annual Sydmonton Festival and as a consequence the project was hijacked from the
cinema to the theatre and Hal always wanted to direct Superstar.
Back in 1970, whilst Tim Rice and I were in New York, Hal Prince sent a telegram to my parents’
flat saying he wanted to direct and produce Superstar. I only got it after we had signed the
rights away. It read “I am the producer of West Side Story, Fiddler on the Roof and Cabaret.
Please advise re; rights of Jesus Christ Superstar”. They were gone. I could have cried. I had two
idols, Hal and Richard Rodgers. I still wonder how my career would have been perceived in those
early days if he had directed it rather than my theatrical debut being allowed to be turned into a
mountain of kitsch that looked like a monument to a demented pastry chef.
I am writing these brochure notes having seen Gale Edwards’ production in preview. She has
listened to everything I told her. I introduced her to John Napier and we had a thrilling evening
discussing which painting we felt might be closest to a new production of the piece. We
unanimously came down on Holbein’s astonishing, timeless and horrifying The Dead Christ in the
Tomb in the Kunstmuseum Basel, Switzerland.
We also felt that even if the idea of a “rock opera” sounds like a late 60’s timewarp, I should not
change any of the music. In fact the only change is in the orchestration of the final scene
because I felt, in preview, that it had to be stripped to its bare bones.
I am immensely proud of Gale Edwards and what she has achieved with her virtually unknown
cast. She spent a year auditioning over 1,200 actors to arrive at the performers you see and
hear tonight.
Warts and all, it’s wonderful for me to see the old baby directed and produced in the manner
that I had hoped would have marked by Broadway debut.
Andrew Lloyd Webber
From the 1996 London Production Programme
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24.09.2008 13:51 Uhr
06. SYNOPSIS
EV'RYTHING'S ALRIGHT
Johannes 12,1-11
(...) Da nahm Maria ein Pfund echtes, kostbares Narbenöl, salbte Jesus die Füße und
trocknete sie mit ihrem Haar. Das ganze Haus wurde vom Duft des Öls erfüllt. Doch
einer von seinen Jüngern, Judas Iskarioth, der ihn später verriet, sagte: Warum hat
man dieses Öl nicht für dreihundert Denare verkauft und den Erlös den Armen
gegeben? (...) Jesus erwiderte: Lass sie, damit sie es für den Tag meines
Begräbnisses tue. Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht
immer bei euch. (...)
JUDAS
People we are hungry, people we are starving matter more than your feet and hair.
Leute, die Hunger leiden sind wichtiger als deine Füße und Haare.
JESUS
Think! While you still have me. Move! While you still see me.
Denkt nach, solange ihr mich noch habt. Tut etwas, solange ihr mich noch seht.
THIS JESUS MUST DIE
Johannes 11, 45-53
(...) Da beriefen die Hohenpriester und die Pharisäer eine Versammlung des
Hohenrates ein, Sie sagten: Was sollen wir tun? Dieser Mensch tut viele Zeichen.
Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben, Dann werden die
Römer kommen und uns die heilige Stätte und das Volk nehmen, Einer von ihnen,
Kaiaphas, der Hohepriester jenes Jahres, sagte zu ihnen: Ihr versteht überhaupt
nichts. Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für
das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht. (...) Von diesem Tag an
waren sie entschlossen, ihn zu töten.
PRIESTER
What then to do about this Jesusmania?
Was sollen wir also tun gegen diese Jesus-Manie?
KAIPHAS
So like John before him, this Jesus must die.
Wie Johannes vor ihm, dieser Jesus muss sterben,
For the sake af the nation, this Jesus must die.
Zum Wohle der Nation, dieser Jesus muss sterben.
HOSANNA
Lukas 19,28-40
Nach dieser Rede zog Jesus weiter und ging nach Jerusalem hinauf. Als er an die
Stelle kam, wo der Weg vom Ölberg hinabführte, begannen alle Jünger freudig und
mit lauter Stimme Gott zu loben wegen all der Wundertaten, die sie erlebt hatten.
Sie riefen: Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn. Im Himmel
Friede und Herrlichkeit in der Höhe.
Da riefen ihm einige Pharisäer aus der Menge zu: Meister, bring deine Jünger zum
Schweigen! Er erwiderte: Ich sage euch: Wenn sie schweigen, werden die Steine
schreien.
VOLK
Hey JC, JC, you're alright by me. Sanna, Hosanna, Hey, Superstar.
Hey JC, JC, ich finde dich in Ordnung. Sanna, Hosanna, Hey, Superstar.
JESUS
If every tongue was still, the noise would still continue, the rocks, the stones
themselves would start to sing.
Wenn alle schweigen würden, ginge der Lärm trotzdem weiter. Sogar Steine und
Felsen würden singen.
PILATE'S DREAM
Matthäus 27, 11-26
(..,) Während Pilatus auf dem Richterstuhl saß, ließ ihm seine Frau sagen: Lass die
Hände von diesem Mann, er ist unschuldig, Ich hatte seinetwegen heute Nacht
einen schrecklichen Traum, (...)
PILATUS
Then I saw thousands of millions crying for this man, and then I heard them
mentioning my name and leaving me the blame.
Dann sah ich Millionen Menschen um diesen Mann weinen. Dann hörte ich, wie sie
meinen Namen nannten und mir die Schuld gaben.
THE TEMPLE
Matthäus 21,12-17
Jesus ging in den Tempel und trieb alle Händler und Käufer aus dem Tempel
hinaus; er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler um
und sagte: In der Schrift steht: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes sein, Ihr aber
macht daraus eine Räuberhöhle. Im Tempel kamen Lahme und Blinde zu ihm und
er heilte sie. (...)
JESUS
My temple should be a house af prayer, but you have made it a den of thieves.
Mein Tempel soll ein Haus des Gebetes sein, aber ihr habt es zu einer Räuberhöhle
gemacht.
Heal yourselves!
Heilt euch selbst!
DAMNED FOR ALL TIME BLOOD MONEY
Matthäus 26,14-16
Darauf ging einer der Zwölf namens Judas Iskarioth zu den Hohenpriestern und
sagte: Was wollt ihr mir geben, wenn ich euch Jesus ausliefere? Und sie zahlten ihm
dreißig Silberstücke. Von da an suchte er nach einer Gelegenheit, ihn auszuliefern.
JUDAS
Just don't say I'm damned for all time.
Doch sagt nicht, ich sei verdammt für alle Zeit.
KAIPHAS ANNAS
We just need to know, where the soldiers can find him, with no crowd around him,
then we can't fail.
Wir müssen nur wissen, wo die Soldaten ihn finden können, ohne Menschen um ihn
herum, dann können wir nicht versagen.
THE LAST SUPPER
Lukas 22, 14-34
Als die Stunde gekommen war, begab er sich mit den Aposteln zu Tisch. (...) Und
er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und reichte es ihnen mit den
Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem
Gedächtnis, Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist
der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird. Doch seht, der Mann,
der mich verrät und ausliefert, sitzt mit mir am Tisch, (...)
Darauf sagte Petrus zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir sogar ins Gefängnis und in
den Tod zu gehen. Jesus erwiderte: Ich sage dir, Petrus, ehe heute der Hahn kräht,
wirst du dreimal leugnen, mich zu kennen.
JESUS
I must be mad thinking, I’ll be remembered, I must be out of my head. Look at your
blank faces! My name will mean nothing ten minutes after I’m dead.
Ich muss verrückt sein zu denken, dass sie sich an mich erinnern, völlig verrückt.
Schaut in eure ausdruckslosen Gesichter. Mein Name wird nichts mehr bedeuten,
schon zehn Minuten nachdem ich gestorben bin.
JUDAS
Cut out the dramatics! You know very well who.
Lass das Theater! Du weißt ganz genau, wer.
And now the saddest cut af all, someone has to turn you in.
Und nun, der traurigste Einschnitt von allen, jemand muss dich ausliefern.
GETHSEMANE
Markus 14, 32-42
(...) Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde nieder und betete, dass die
Stunde, wenn möglich, an ihm vorübergehe, Er sprach: Abba, Vater, alles ist dir
möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du
willst (soll geschehen). Und er ging zurück und fand sie schlafend. Da sagte er zu
Petrus: Simon (Petrus), du schläfst? Konntest du nicht einmal eine Stunde wach
bleiben?
JESUS
I only want to say, if there is a way, take this cup away from me.
Ich möchte nur sagen, wenn es einen Weg gibt, nimm diesen Kelch von mir.
Why then am I scared to finish what I started, what you started, I didn't start it.
Warum bin ich dann zu ängstlich, um zu beenden, was ich begonnen habe, was du
begonnen hast. Ich begann es nicht.
THE ARREST
Lukas 22, 47-53
Während er noch redete, kam eine Schar Männer; Judas, einer der Zwölf, ging ihnen
voran. Er näherte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sagte zu ihm: Judas, mit
einem Kuss verrätst du den Menschensohn? Als seine Begleiter merkten, was (ihm)
drohte, fragten sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von
ihnen schlug auf den Diener des Hohenpriesters ein und hieb ihm ein Ohr ab. Jesus
aber sagte: Hört auf damit! Und er berührte das Ohr und heilte den Mann. (...)
Markus 14, 53-65
Daraufhin führten sie Jesus zum Hohenpriester und es versammelten sich alle
Hohenpriester und Ältesten und Schriftgelehrten, (...)
Da stand der Hohepriester auf, trat in die Mitte und fragte Jesus: Willst du denn
nichts sagen zu dem, was diese Leute gegen dich vorbringen? Er aber schwieg und
gab keine Antwort, Da wandte sich der Hohepriester nochmals an ihn und fragte:
Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten? Jesus sagte: Ich bin es. (...) Da
zerriss der Hohepriester sein Gewand und rief: Wozu brauchen wir noch Zeugen?
Ihr habt die Gotteslästerung gehört. Was ist eure Meinung? Und sie fällten
einstimmig das Urteil: Er ist schuldig und muss sterben. (...)
JESUS
Judas, must you betray me with a kiss?
Judas, musst du mich mit einem Kuss verraten?
APOSTEL
Hang on, Lord, we're gonna fight for you.
Gib nicht auf, Herr, wir werden für dich kämpfen.
PETER'S DENIAL
Matthäus 26,69-75
Petrus saß draußen im Hof. Da trat eine Magd zu ihm und sagte: Auch du warst mit
diesem Jesus aus Galiläa zusammen, Doch er leugnete es vor allen Leuten und
sagte: Ich weiß nicht, wovon du redest. Und als er zum Tor hinausgehen wollte, sah
ihn eine andere Magd und sagte zu denen, die dort standen: Der war mit Jesus aus
Nazareth zusammen, wieder leugnete er und schwor: Ich kenne den Menschen
nicht. Kurz darauf kamen die Leute, die dort standen, zu Petrus und sagten:
Wirklich, auch du gehörst zu ihnen, deine Mundart verrät dich. Da fing er an sich
zu verfluchen und schwor: Ich kenne den Menschen nicht. Gleich darauf krähte ein
Hahn, und Petrus erinnerte sich an das, was Jesus gesagt hatte: Ehe der Hahn
kräht, wirst du mich dreimal verleugnen, Und er ging hinaus und weinte bitterlich.
PETRUS
I don't know him!
Ich kenne ihn nicht!
MARIA
It's what he said that you would do. I wonder how he knew.
Er sagte uns, du würdest das tun. Ich frage mich, wie er es wusste.
PlLATE AND CHRIST
Lukas 23,1-7
Daraufhin erhob sich die ganze Versammlung und man führte Jesus zu Pilatus. (...)
Pilatus fragte ihn: Bist du der König der Juden? Er antwortete ihm: Du sagst es. Da
sagte Pilatus zu den Hohenpriestern und zum Volk: Ich finde nicht das dieser
Mensch eines Verbrechens schuldig ist. (...) Als Pilatus dies hörte fragte er, ob der
Mann Galiläer sei. Und als er erfuhr, dass Jesus aus dem Gebiet des Herodes
komme, ließ er ihn zu Herodes bringen, der in jenen Tagen ebenfalls in Jerusalem
war.
PILATUS
An amazing thing, this silent king.
Sehr beeindruckend, dieser schweigende König,
You're Herod's race. You're Herod's case.
Du bist Herodes' Rasse, Du bist sein Fall.
HEROD'S SONG
Lukas 23,8-12
Herodes freute sich sehr, als er Jesus sah; schon lange hatte er sich gewünscht, mit
ihm zusammenzutreffen, denn er hatte von ihm gehört, Nun hoffte er, ein Wunder
von ihm zu sehen. Er steilte ihm viele Fragen, doch Jesus gab ihm keine Antwort.
(...) Herodes und seine Soldaten zeigten ihm offen ihre Verachtung. Er trieb seinen
Spott mit Jesus, ließ ihm ein Prunkgewand umhängen und schickte ihn so zu Pilatus
zurück.
HERODES
Prove to me that you're divine, change my water into wine.
Beweis mir, dass du göttlich bist, mach aus meinem Wasser Wein.
Prove to me that you're no fool, walk across my swimming pool.
Beweis mir, dass du kein Narr bist, lauf über meinen Swimming Pool.
Or has something gone wrong? Jesus, why do you take so long?
Oder ist etwas schief gelaufen? Jesus, warum brauchst du so lang?
COULD WE START AGAIN, PLEASE?
Johannes 19, 1-3
(...) Die Soldaten flochten einen Kranz aus Dornen; den setzten sie ihm auf und
legten ihm einen purpurroten Mantel um, Sie stellten sich vor ihn hin und sagten:
Heil dir, König der Juden! Und sie schlugen ihm ins Gesicht.
PETRUS
I think you've made your point now. You've even gone a bit too far to get the
message home.
Ich denke, du hast deinen Standpunkt deutlich gemacht. Du bist dafür sogar ein
wenig zu weit gegangen,
MARIA
So could we start again, please?
Könnten wir also von vorn beginnen, bitte?
JUDAS'S DEATH
Matthäus 27,3-10
Als nun Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass Jesus zum Tod verurteilt war, reute
ihn seine Tat. Er brachte den Hohenpriestern und den Ältesten die dreißig
Silberstücke zurück und sagte: Ich habe gesündigt, ich habe euch einen
unschuldigen Menschen ausgeliefert. Sie antworteten: Was geht uns das an? Das ist
deine Sache, Da warf er die Silberstücke in den Tempel; dann ging er weg und
erhängte sich. (...)
JUDAS
I don't believe he knows, I acted for our good.
Ich denke nicht, dass er weiß, dass ich für uns alle gehandelt habe.
You have murdered me!
Du hast mich umgebracht!
TRIAL BY PILATE
Johannes 18,28-40
(...) Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihn doch und richtet ihn nach eurem Gesetz! Die
Juden antworteten ihm: Uns ist es nicht gestattet, jemanden hinzurichten. (...)
Pilatus ging wieder in das Prätorium hinein, ließ Jesus rufen und fragte ihn: Bist du
der König der Juden? Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben es dir
andere über mich gesagt? Pilatus entgegnete: Bin ich denn ein Jude? Dein eigenes
Volk und die Hohenpriester haben dich an mich ausgeliefert. Was hast du getan?
Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt
wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde.
Aber mein Königreich ist nicht von hier. Pilatus sagte zu ihm: Also bist du doch ein
König. Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und
dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der
aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme, Pilatus sagte zu ihm: Was ist
Wahrheit?
Nachdem er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu
ihnen: Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen, (...)
VOLK
Kill him. He says, he's God. He's a blasphemer. He’ll conquer you and us and even
Caesar.
Töte ihn! Er sagt, er ist Gott! Er ist ein Gotteslästerer. Er wird dich und uns und
sogar Cäsar besiegen.
JESUS
I have got no kingdom in this world, I'm through.
In dieser Welt habe ich kein Königreich. Ich bin fertig.
PI LATUS
This man is harmless so why does he upset you?
Dieser Mann ist harmlos, wieso regt er euch auf?
39 LASHES
Johannes 19, 1-16a
Daraufhin ließ Pilatus Jesus geißeln. (...) Pilatus ging wieder hinaus und sagte zu
ihnen: Seht, ich bringe ihn zu euch heraus, ihr sollt wissen, dass ich keinen Grund
finde, ihn zu verurteilen. Jesus kam heraus; (...) Pilatus sagte zu ihnen: Seht, da ist
der Mensch! Als die Hohenpriester und ihre Diener ihn sahen, schrien sie: Ans
Kreuz mit ihm, ans Kreuz mit ihm! Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihr ihn und
kreuzigt ihn! Denn ich finde keinen, Grund ihn zu verurteilen, Die Juden
entgegneten ihm: Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muss er sterben,
weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat.
Als Pilatus das hörte, wurde er noch ängstlicher. Er ging wieder in das Prätorium
hinein und fragte Jesus: Woher stammst du? Jesus aber gab ihm keine Antwort. Da
sagte Pilatus zu ihm: Du sprichst nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht
habe, dich freizulassen, und Macht, dich zu kreuzigen? Jesus antwortete: Du
hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre. (...)
Daraufhin wollte Pilatus ihn freilassen, aber die Juden schrien: Wenn du ihn
freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich als König ausgibt, lehnt
sich gegen den Kaiser auf. (...) Pilatus sagte zu den Juden: Da ist euer König! Sie
aber schrien: Weg mit ihm, kreuzige ihn! Pilatus aber sagte zu ihnen: Euren König
soll ich kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König außer
dem Kaiser. Da lieferte er ihnen Jesus aus, damit er gekreuzigt werden konnte.
JESUS
You have nothing in your hands. Any power you have comes to you from far
beyond.
Du hast nichts in deinen Händen. Jede Macht, die du hast, kommt von weit her.
VOLK
Remember Caesar, you have a duty to keep the peace, so crucify him.
Vergiss Cäsar nicht, du hast die Pflicht, den Frieden zu bewahren, also kreuzige
ihn.
SUPERSTAR CRUCIFIXION
Markus 15,24 und 34
Dann kreuzigten sie ihn. (...)
Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: Eloi, Eloi, lema
sabachtani?, das übersetzt heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen?
Johannes 19,28 und 30
Danach, als Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war, sagte er, damit sich die
Schrift erfüllte: Mich dürstet. (...) Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach
er: Es ist vollbracht! (...)
Lukas 23, 46
(...) und Jesus rief laut: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Nach diesen
Worten hauchte er den Geist aus.
Johannes 19, 41
An dem Ort, wo man ihn gekreuzigt hatte, war ein Garten, und in dem Garten war
ein neues Grab, in dem noch niemand bestatte' worden war.
07. Elisabeth Frenzel
Christus auf der Bühne
Theater-Thema Jesus
Die Jesus-Figur kam im Mittelalter auf unsere Bühnen, als in Europa Theater zum
zweiten Mal erfunden wurde. Das antike Theater war nach seiner eminenten Kraft
und Blüte in der nachchristlichen Zeit verschollen. Doch wie das hellenistische
Theater hat sich auch das mittelalterliche in engster Verbindung mit und durch den
Gottesdienst entwickelt. Die Wurzeln der geistlichen Spiele liegen im 10.
Jahrhundert.
Die Kunstgattung der Mysterienspiele entwickelte sich als nichtperfektionistische
Kunst. Sie thematisierte Geheimnisse des Glaubens. Die Darstellung der JesusFigur blieb von Anfang an äußerst zögerlich und erst die Veränderung der
Perspektive, von der aus die Passionsgeschichte berichtet wird, führt zu
wesentlichen neuen Impulsen für das Theater des Hochmittelalters.
Eine besondere Stellung kommt im 12. Jahrhundert dem Tegernseer AntichristSpiel zu, da es zum ersten Mal den Antichrist als dramatischen Gegenspieler
einführte. Diverse theatralische Neudarstellungen beschränkten sich auf die
Zitierung oder Paraphrasierung von Christus-Worten und konnten höchstens durch
die Auswahl der Züge Varianten des Jesus-Bildes zeichnen. So gibt es den derben,
spöttischen Jesus des Trierer, Wiener und Redentiner Osterspiels, den lehrhafternsten des St. Gallener Spiels und den der Frankfurter Spiel-Gruppe, den gerechtstrengen des Zehn-Jungfrauen-Spiels, den Jesus des Rheinauer Weltgerichtsspiels,
den des Künzelsauer Fronleichnamspiels und des "Theophilus" und den von der
Frauenmystik geprägten milden und liebenden Jesu der Mariä-Himmelfahrt-Spiele
des 14. Jahrhunderts, den der Tiroler Spieler und der Augsburger Passion. Die
Vielgestaltigkeit der Mysterienspiele dokumentiert die zweite Neugeburt des
Theaters.
Neben den Mysterienspielen entwickelte sich im späten Mittelalter eine stark
moralisierende Abart, die so genannten Moralitäten, die gern mit allegorischen
Figuren, wie "das Laster", "der Glaube", '"der Reichtum" arbeiteten und stets von
der Bühne herab eine eindringliche Lehre verkündeten. Sie haben später in der
Schulkomödie, dem Jesuiten-Theater und bei den Niederländern eine Erneuerung
erfahren. Hugo von Hofmannsthals Nachdichtung einer solchen Moralität, das
berühmte Jedermann-Spiel vom Sterben des reichen Mannes wie auch sein auf
Calderons "Großem Welttheater" basierendes "Salzburger Große Welttheater" zeigen
diesen Spiel-Typus. Im Theater des Mittelalters liegen auch die Wurzeln von Paul
Claudels modernen Marien-Mysterien „Die Verkündung“ und „Der seidene Schuh“.
Im 16. Jahrhundert wurde in Deutschland neben der Meistersingerpoesie und dem
Fastnachtsspiel das sogenannte Schultheater gepflegt, das sich, wie das gleichfalls
didaktische, mit der Gegenreformation aufkommende Jesuitentheater, besonders
der lateinischen Sprache bediente.
Dem großen Strom des christlichen Volkstheaters entspringen im 16. Jahrhundert
neue kräftige Nebenflüsse in den Kulturen der einzelnen Länder. Am strengsten hat
das spanische Drama das mittelalterliche Kulturerbe bewahrt.
Als zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Gefolge der raubmordend schwedischen
Soldateska überall in Bayern der Schwarze Tod umging, gelobten die Bauern
Wallfahrten, Kirchen und Kreuzwege: sie versprachen alles, nur die Beulenplage
sollte endlich aufhören. Die Ammergauer waren nicht die einzigen, die eine
Spielaufführung als Gegenleistung in Aussicht stellten.
War es Zufall, dass die Oberammergauer 1634 ihr österliches Spiel des
Benediktinerklosters Ettal auf die Zeit nach Ostern terminierten, auf den warmen
und von der Theaterkonkurrenz andernorts nicht genutzten Wonne-Monat?
Die Heilige Schrift als Theatertext das Spiel mit Kostüm und Maske, mit Gesang
und Tanz, mit lächerlichen und grotesken Figuren bemächtigte sich der
Gotteshäuser. Dies so früh und heftig, dass es vom Konzil von Toledo im Jahre 633
aus der Kirche verbannt wurde. Die theaterhaften Umzüge an Fronleichnam sind
Papst Urban dem Vierten zu danken, der 1264 die Fronleichnamsfeier anordnete.
Aus ihnen hat sich die eine der Hauptgattungen des klassischen spanischen
Theaters
entwickelt:
die
"Autos
sacramentales",
die
kirchlichen
Fronleichnamsspiele, deren Höhepunkt nicht mehr Spiel ist, sondern ein
sakramentaler Akt, die Eucharistie, das Abendmahl.
Das spanische Theater, in der Kirche entstanden, aus der Kirche verbannt, der
Kirche nutzbar gemacht im Fronleichnamsspiel, bleibt auch dann geistig mit der
Kirche verbunden, wenn es später von Wandergruppen, von Berufsschauspielern
getragen wird und sich feste Häuser und den Hof erobert.
Die Elemente der Prozession sind in das Theater eingegangen; die Begegnung
biblischer und historischer, zeitgenössischer und allegorischer Gestalten;
Menschen der Gegenwart und der Geschichte zwischen Engeln und Teufeln; die
Primitivität der Schauwagen und der Prunk der Kostüme; die Frömmigkeit und die
Artistik; der auf das Jenseits gerichtete Glaube und der diesseitige Genuss am
Spiel; die distanzlose religiöse Inbrunst und das distanzierte ästhetische Urteil.
Die Dorfkirche konnte bald die Zahl der Schaulustigen nicht mehr fassen. Eine
Freilichtbühne auf dem Friedhof musste gebaut werden, dann ein eigenes
Schauspielhaus. Im 19. Jahrhundert entstand zumindest was die Ausmaße betrifft
die größte Bühne der Welt; gebaut nach dem Simultan-Prinzip der mittelalterlichen
Bühne mit nebeneinanderliegenden Schauplätzen. Anfang der siebziger Jahre dann,
als sich überall in der Bundesrepublik gesellschaftspolitische Veränderungen
ankündigten, wirkten sich die allgegenwärtigen Reformtendenzen auch in
Oberammergau aus.
Eine alternative Barockfassung des Mysterien-Reigens, politisch nicht anfechtbar
und künstlerisch anspruchsvoller, wurde 1977 geprobt.
Das Schwinden orthodoxer Gläubigkeit seit der Aufklärung brachte eine
rationalisierende Darstellung hervor, die in Christus wie etwa N. de Bohaire Dutheiß
"Jesus-christ où la veritable religion" nur den Tugendhelden und Lehrer sah oder
gefühlsmäßige Aneignung des Stoffes wie in Klopstocks "Messias". Bedeutende
Pläne zur Bewältigung des Jesus-Stoffes sowohl von Richard Wagner als auch von
Friedrich Hebbel und Otto Ludwig bleiben unausgeführt oder führten bestenfalls zu
Fragmenten.
Das einschneidende bibelkritische Werk "Das Leben Jesu" (1835) von D. F. Strauss
lieferte die theoretischen Grundlagen der folgenden Interpretationen, die Jesu als
mythisierte Persönlichkeit, als Sozialrevolutionär, aber auch als pathologischen Fall
darstellten. Weitere Säkularisierungstendenzen führten dann dazu, im 20.
Jahrhundert beispielsweise Jesu als atheistischen Kommunisten zu sehen. Für die
zahlreichen Versuche biblischer Schilderungen, die sich zeitgleich mit dem Leben
Jesu zugetragen haben, kann exemplarisch Oscar Wildes Einakter "Salome" stehen,
dessen Berliner Skandalpremiere von Max Reinhardt inszeniert, Richard Strauss zu
seiner gleichnamigen Oper inspirierte.
Nachdem die Jesus-Welle für die Massenmedien zum Thema geworden war,
versuchte auch das immerfort suchende Showbusiness dem allgemeinen Trend zu
entsprechen, mit dem so genannten "Jesus-Rock". Unter diesem Begriff wurden
biblischreligiöse Themen in Rockmanier zusammengefasst; wobei es häufig recht
schwierig ist, zu beurteilen, ob sich hinter den entsprechenden Stücken ein
bilderstürmender Blick auf die Revolution verbirgt oder ob es sich eher um einen
aufrichtigen Versuch handelt, die religiöse Botschaft in zeitgerechte Begriffe und
Bilder zu übertragen, die von der jüngeren Generation verstanden werden können.
Das Musical "Salvation" (Erlösung) aus dem Jahre 1969 warf keine derartigen
Probleme auf. Es gab sich betont antireligiös; obwohl es als eine Art GospelErweckungsgottesdienst aufgezogen war, der durch eine psychedelische Lightshow
ergänzt wurde. Die befreiende Erlösung sahen die Musical-Autoren Peter Link und
C. C. Courtney in Sex und Drogen.
Aus Washington kamen die Musicals "Sweet Jesus", und "Jesus Christ, Lawd Today"
und in Belgien das Rock-Oratorium "Gloria Halleluja 2000" heraus.
Mit der off-Broadway-Show "Godspell" von Stephen Schwartz und der Rockoper
"Jesus Christ Superstar" von Tim Rice und Andrew Lloyd Webber entstanden 1971
zwei Musicals, die erstmals wortwörtlich Jesus-Rock auf die Bühne brachten.
"Godspell" stellt Jesus und die Jünger als Clowns in der Tradition der Commedia
dell'arte vor. Nichtsdestotrotz blieb es zusammen mit der kompromisslosen RockMusik, den seltsam anmutenden Dekorationen und einer flapsigen Respektlosigkeit
eine unmittelbare schlichte Bibelstory.
"Jesus Christ Superstar" erzählt die biblische Passionsgeschichte: die letzten sieben
Tage im Leben Jesu.Trotz, oder vielleicht gerade wegen heftiger Opposition
kirchlicher Kreise, erreichte die Botschaft beider Musicals den Kontakt zur Jugend
der siebziger Jahre.
Das Genre Jesus-Rock wurde 1976 noch einmal mit dem Farbigen-Spektakel "Your
Arm's Too Short to Box with God" aufgegriffen, das im schnoddrigen Slang und mit
aktuellen Verfremdungen wie "Godspell" und "Jesus Christ Superstar" gleichfalls auf
dem Matthäus-Evangelium des Neuen Testaments basiert.
08. WHO'S WHO IN DER BIBEL
JESUS
Jesus' Lebensdaten sind bis heute unbekannt. Neueste Forschungen zeigen, dass er
ca. 12 v. Chr. geboren und zwischen 30 und 35 n. Chr. gekreuzigt wurde. Von
seiner Kindheit und Jugend weiß man wenig und die Authentizität der kaum
vorhandenen Schriften wird angezweifelt. Seine Lehre und sein Tod sind hingegen
sehr genau durch die vier Evangelien dokumentiert. Durch seine Empfängnis durch
den heiligen Geist und die spätere Auferstehung, die in den Traditionen des
Judentums nicht vorkommen, wurde Jesus zum Gründer einer neuen Religion.
JUDAS
Judas Iskarioth bedeutet Judas aus Kerijot, einem Ort in Judäa. Innerhalb der
Gruppe der zwölf Jünger um Jesus hatte er den Posten als Verwalter der Kasse inne.
Nach jüdischer Überlieferung gehörte Judas zu der Gruppe der Zeloten, die einen
bewaffneten Widerstand gegen die Römer forderten. Seine Berühmtheit war das
Ergebnis des Verrates an Jesus, den Judas an die Hohenpriester verkaufte. Welche
Ambitionen ihn so weit trieben, ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder
thematisiert worden, vor allen Dingen nach Auffindung des Judas-Evangeliums.
Mittlerweile ist innerhalb der katholischen Kirche eine heiße Diskussion entfacht,
ob Judas nicht sogar heilig gesprochen werden sollte.
MARIA MAGDALENA
Maria aus Magdala oder Maria Magdalena tritt erst spät den Anhängern Jesu bei.
Der genaue Zeitpunkt ist unklar. Allgemein wird vermutet, dass Maria Magdalena
die Sünderin ist, die Jesus im Haus des Pharisäers die Füße wäscht und sie mit
ihren Haaren trocknet. Doch ein eindeutiger Hinweis fehlt. Maria ist weiterhin die
erste, die feststellt, dass Jesus' Grab leer ist und ebenfalls die erste, die ihn nach
der Aufstehung trifft, auch wenn sie denkt, sie spräche mit einem Gärtner.
KAIPHAS
Kaiphas (oder Kajaphas) war Hohepriester in Jerusalem von 18 bis 36 n. Chr. und
beim Prozess gegen Jesus anwesend. Außerdem war er der Schwiegersohn des
Hohenpriesters Annas und gehörte damit zu der Familie, die in der Priesterschaft
Jerusalems den Ton angab.
ANNAS
Annas (oder Hannas) war Hohepriester in Jerusalem und Oberhaupt einer Familie,
die dieses Amt sozusagen als Monopol inne hatte. Er wurde im Jahr 15 n. Chr. des
Amtes enthoben. Er wird im Johannes Evangelium am Rande erwähnt, da Jesus erst
ihm vorgeführt wird, bevor er zu Kaiphas, dem amtierenden Hohenpriester und
Schwiegersohn Annas', kommt.
SIMON
Simon der Zelot war einer der zwölf Apostel Jesu. Es ist unsicher, wie er den
Märtyrertod erlitt: ob er gekreuzigt oder in zwei Teile gesägt wurde.
PILATUS
Pontius Pilatus war von 27 bis 36 n. Chr. Statthalter von Judäa. Jedoch erregte er
immer wieder den Zorn der Juden, da er ständig zwischen Taktlosigkeit und
unnötigem Auftrumpfen hin- und herschwankte. Am Ende wurde er seines Amtes
enthoben. Obwohl Pilatus spürte, dass Jesus ein Unschuldiger war, musste er dem
Druck der Menge nachgeben und ihn nach letzten friedlichen Lösungsversuchen
kreuzigen lassen.
PETRUS
Simon, ein Fischer aus Galiläa, war der wichtigste von den Jüngern Jesu und ragt in
allen Evangelien aus dem Kreis der Jünger heraus. Daher erhielt er den Beinamen
"Petrus" (griech. Fels), obwohl er Jesus drei Mal verleugnete. Zu einem späteren
Zeitpunkt ging Petrus nach Rom, wo er während der Neronischen Verfolgung den
Märtyrer-Tod starb: angeblich wurde er mit dem Kopf nach unten gekreuzigt.
Petrus wird zudem als der erste Papst bezeichnet. Einige Wissenschaftler und auch
die katholische Kirche behaupten bis heute, sein Grab befinde sich unter dem
Petersdom. Außerdem war Petrus der einzige Jünger, von dem berichtet wird, er
habe eine Frau gehabt.
HERODES
Herodes Antipas (4 v. Chr. 39 n. Chr.) war der Sohn von Herodes des Großen, der
[angeblich] den Kindermord in Bethlehem befahl. Er übernahm nach dem Tod
seines Vaters als Tetrarch die Herrschaft über Galiläa. Auf den Wunsch seiner
Stieftochter Salome, ließ er Johannes den Täufer köpfen und ihr den Kopf auf
einem silbernen Tablett servieren. Als Jesus auf Veranlassung von Pontius Pilatus
zu Herodes geführt wurde, weigerte er sich Verantwortung zu übernehmen und
schickte ihn wieder zurück.
09. Walter Jens
„Der Fall Judas“
Ehre sei Gott! Ich, P. Berthold B. OFM, stelle den Antrag, Judas aus Kerioth
seligzusprechen, der ein Sohn des Simon war und im Volksmund bis heute Judas,
der Sichelmann heißt. Ich bitte dem Heiligen Stuhl zu erklären, dass dieser Judas in
die himmlische Glorie eingegangen ist und öffentliche Verehrung verdient. Denn
ihm und keinem anderen sonst ist es zu danken, dass in Erfüllung ging, was im
Gesetz und bei den Propheten über den Menschensohn steht. Hätte er sich
geweigert, unseren Herrn Jesus den Schriftauslegern und Großen Priestern zu
übergeben: hätte er nein gesagt, Nein, ich tue es nicht, jetzt nicht und auch in
Ewigkeit nicht, als Christus ihn anflehte, barmherzig zu sein und ein Ende zu
machen: hätte er sich seiner Bestimmung entzogen und die Tat verschmäht, die um
unser aller Erlösung willen getan werden musste - er wäre an Gott zum Verräter
geworden. Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans.
Keine Kirche ohne diesen Mann; keine Überlieferung ohne den Überlieferer. Ein
revoltierender Judas hätte Jesus das Leben gerettet und uns allen den Tod
gebracht. Aber Judas rebellierte nicht. Er wusste nämlich, dass es an ihm, einzig an
ihm lag, ob die Prophetie des alten Bundes sich erfüllte oder nicht. Eine kleine
Bewegung seines Kopfes, ein Schütteln statt eines Nickens, als Jesus den Satz
gesagt hatte: Was du tun willst: Tu's schnell! - und Gottes Plan wäre vereitelt
worden. Die Prophetie des Alten Testaments: ein Gespött!
Davids Weissagung: »Ich bin der Schatten, der dem Körper voranfliegt; ich zeige
an, was kommen wird« ein poetisches Bild, weiter nichts. Die Worte des
zweiundzwanzigsten Psalms: »Meine Kräfte sind trocken wie eine Scherbe. Die
Zunge klebt mir am Gaumen. In den Staub des Todes hast du mich gelegt«« ein
makabres Zeugnis angesichts des alten Zimmermanns von Nazareth, der da Judas
sich geweigert hatte, ihn auszuliefern - in Galiläa sein Rentnerbrot aß . . . nicht
gekreuzigt, sondern Kreuze schnitzend: ein unter Seinesgleichen geachteter Mann,
dem die Sprüche längst verziehen waren, die er gemacht hatte, als er jung gewesen
war.
Dank sei dem Judas! Er hat getan, was getan werden musste. Er hat gewollt, was
Gottes Wille war. Einer musste es tun - und dieser eine war Judas. Er wusste, dass
es eines Menschen bedurfte, um Jesus zu überliefern: Ein Mensch war vonnöten,
kein Gott! Ein Mensch, der bereit war, zum Attentäter zu werden, zum
Mordgehilfen und Verräter, um so ein für allemal zu beweisen, wohin Menschen
geraten können, die, um ganz sie selbst zu sein, vor keinem Anschlag
zurückschrecken am allerwenigsten vor dem Anschlag auf Gott.
Dies zu erweisen war Judas' Auftrag: Indem er ihn erfüllte, wurde er zum
Vollstrecker des göttlichen Plans - und zwar freiwillig. Aus eigenem Willen. Und auf
diesen Tatbestand eben: dass sich hier einer, aus Frömmigkeit, dazu hergab, die
Rolle des leibhaftigen Satan zu spielen, den Part Dschingis Khans oder Eichmanns:
dass jemand, aus freien Stücken zum Demonstrationsobjekt wurde, um auf diese
Art, ex negatione, den Beweis anzutreten, dass wir Menschen, nach Adams Fall,
allesamt der Erlösung bedürfen. .. auf diesen Tatbestand gründet sich mein Antrag,
Judas aus Kerioth unter die Schar der Märtyrer Christi zu reihen.
Nein, der Mann war kein Teufel. Der Verrat geschah auf Gottes Befehl. Um Jesu
willen im Dienste der Sonne, des Tages, des Lichts hatte Judas Schatten zu sein,
Dunkelheit und Nacht. Vom Totenreich aus brachte er das Leben zum Leuchten,
zeigte in der Hölle die Klarheit des Himmels und zeugte als Satan für Gott.
Und nun frage ich: Lässt sich ein Martyrium denken, ein Akt der Selbstverleugnung,
der heroischer wäre als dieser? Was hat Judas auf sich genommen! Die Verachtung
seiner Landsleute, die das Blutgeld nicht wollten - gut, das mag hingehen. Auch
die Selbstgefälligkeit eines Schülers vom Schlag des Johannes lässt sich ertragen:
der Stolz des Primus, der sich von seinem Lehrer geliebt weiß und gegenüber dem
Gesellen auf der letzten Bank nichts als Verachtung empfindet. Aber die
Verfluchung durch Jesus selbst! »Einer von euch ist der Teufel.« »Ich weiß, wen ich
erwählt habe. Es muss geschehen, dass die Schrift erfüllt wird, in der es heißt: Der
mein Brot isst, hat die Ferse gegen mich erhoben.« Und, endlich, das
Entsetzlichste: »Der Menschensohn muss sterben; denn es wurde geschrieben: Er
geht dahin; aber wehe dem Menschen, der den Menschensohn ausliefern wird - es
wäre besser für ihn, er wäre niemals geboren.« In einem solchen Augenblick
schweigen zu müssen, seinem Auftrag treu zu bleiben und nicht aufschreien zu
dürfen: »Halt ein, ich bitte dich, hör auf. Ich kann nicht mehr« - dieses Martyrium
übersteigt alle Vorstellungskraft. Und doch ist auch das noch nicht alles. Denn zur
Verdammung im Augenblick, dem Richtspruch des Herrn, kommt das Urteil der
Geschichte. Die Verhöhnung durch die Kunst. Der Prozess von Seiten der
Theologie. Die kirchliche Inquisition. Judas, der Satan. Judas, Mörder von Anbeginn,
Gottes verworfener Sohn.
Und dabei war er fromm vielleicht der Frömmste, den es je gegeben hat: Ich kann
es beweisen. Mit Hilfe der Heiligen Schrift, mit meinem Glauben und der
Vorstellungskraft, die Gott mir. geschenkt hat.
Die Bibel zuerst. Im siebenundzwanzigsten Kapitel des Matthäus, Vers drei bis fünf,
stehen die folgenden Sätze: »Judas aber, der ihn ausgeliefert hatte, sah nun, dass
Jesus verurteilt war, und da packte ihn Reue, und er brachte den Großen Priestern
und Mächtigen die dreißig Silberlinge zurück: »Ich habe Unrecht getan«, sagte er,
»und einen Menschen ausgeliefert, der unschuldig ist.« Doch sie antworteten ihm:
»Was geht das uns an. Dies ist deine Sache: sieh du nur zu!« Da warf er die
Silberstücke in den Tempel und ging fort, irgendwohin, und hängte sich auf.«
So weit Matthäus: Eine Anklage gegen den Verräter, so scheint es, der, kaum dass
er die erste Sünde begangen hat, auch schon der zweiten verfällt: Dem Verrat folgt
der Selbstmord. Aber es scheint nur so. Die Sätze trügen; die Wahrheit steht
zwischen den Zeilen. Oder, genauer gesagt, sie ergibt sich, wenn man den Bericht
über Judas' Reue und Tod mit einer Erzählung vergleicht, die im Alten Testament
steht und jenem frommen Propheten gilt, Sacharja, dem die Juden für einen Dienst
ebenfalls dreißig Silberlinge gaben. Dreißig Silberlinge: der Kaufpreis eines Sklaven.
Eine Summe, die so klein war, dass sie demütigen sollte. Aber Sacharja war stolz,
und darum folgte er Jahwes Befehl und warf die Silberlinge in den Tempel des
Herrn.
Ich denke, das ist deutlich genug: Beide, Sacharja und Judas, hatten ein Amt. Der
eine musste die Schafe hüten, der andere musste das Lamm überliefern. Beide
handelten auf Gottes Befehl; beide taten, was der Herr von ihnen verlangte. Auch
Judas! Indem er Sacharja nachfolgte und den Schandlohn in den Tempel warf, gab
er ein Zeichen und deutete, eine Sekunde lang den Zipfel seines Geheimnisses
lüftend, dem, der zu lesen versteht, an: Auch ich habe, wie jener Sacharja, im
Namen Gottes gehandelt.
Nein, hier geht es nicht um die Verzweiflungstat eines Sünders; hier handelt kein
verstörter Mensch - ein Mörder, der nicht mehr ein noch aus weiß in blinder
Ekstase; hier hat ein frommer Mann seine Botschaft verkündet: Schaut her! Ich habe
das Gesetz erfüllt. Lest nach und denkt daran: Es hat seine Bedeutung, wenn ein
Mann die Silberlinge in den Tempel wirft zum Zeichen, dass er Gott gehorsam war.
Und dann gibt es noch einen zweiten Beweis wiederum in der Heiligen Schrift. Den
Kuss im Garten von Gethsemane! Wäre Judas wirklich der Verräter gewesen, den
unsere Kirche bis zu diesem Tag in ihm sieht, er hätte die Soldaten zu Jesus
geführt, hätte genickt: Der da ist es und sich aus dem Staube gemacht. Nichts
davon im Evangelium! Statt des Winkens aus dem Hinterhalt - die Umarmung; statt
des verschwiegenen Zeichens der Kuss! Der Liebeserweis eines Mannes, der
beauftragt war, sich zu verleugnen und der den ihm von Gott befohlenen Dienst bis
zu diesem Augenblick mit einer Konsequenz ausgeführt hatte, an der gemessen
selbst das Martyrium des heiligen Papius, den man, wie bekannt, in einen
siedendheißen, mit Öl und Fett gefüllten Kessel warf, als ein Kloster-Exerzitium
erscheint.
Und dann plötzlich bricht es aus Judas heraus. Unfähig, sich noch länger
beherrschen zu können, stürzt er auf Jesus zu - Meister, ich habe getan, was du
verlangtest. Bist du zufrieden mit mir? -, umarmt und küsst ihn, berührt Christi
Mund mit seinen Lippen und Jesus versteht. Mein Freund sagt er zu ihm, und dann,
flehentlich wie beim Passahmahl: Tu's jetzt. Es ist Zeit. Ein Kuss, eine Geste der
Freundschaft, der Ansatz eines Gesprächs unter Brüdern, sanfte Bewegungen und
das Wort Lieber Freund dann wird nur noch verhört, geschlagen, gespieen, gequält,
genagelt, geschrien und gefoltert. Verhöhnt und krepiert.
Die Umarmung in Gethsemane, der Judaskuss: Das ist für mich das letzte Licht, das
Jesus sah. Danach wurde es Nacht. Der Knecht küsst den Herrn, der Herr sagt zum
Diener Mein Freund: Auch das ist ein Zeichen, dass Jesus und Judas, wie Brüder,
zusammengehören. Wie gesagt, die Prophetie wollte erfüllt sein; einer musste es
auf sich nehmen, zum Element des göttlichen Willens zu werden; einer hatte dafür
zu sorgen, dass dem incarnatus das resurrexit nachfolgte; einem war von Gott der
Auftrag gegeben, den Pendelschlag zu vollenden: vom Himmel zur Erde, von der
Erde zum Himmel - und dieser eine, man kann es nicht oft genug sagen, war
Judas. Er war auserwählt worden, der Verworfene zu sein; denn er allein war stark
genug dafür. Judas, der Fromme. Der Einsame unter den Geselligen. Der Mann aus
Judäa inmitten der elf Galiläer. Der Kluge unter den Einfältigen. Der Rechner und
Zweifler unter Hirten und Fischern.
Warum führte er ihn in Versuchung geradeso, als sei das Vaterunser für ihn selbst,
Jesus von Nazareth, nichts weiter als eine Phrase?
Und führe uns nicht in Versuchung - eine Bitte, die für Jesus nicht gilt? Nein, das
kann ich nicht glauben. Ich weigere mich, mir einen Gott vorzustellen, der, um der
Erfüllung seines Plans willen, einen Menschen zur Sünde verurteilt: Auf, Judas,
mein Gesell! Ein solches Spiel ist zu ungleich, für mich: Dieser Judas hat keine
Chance. Oder doch? Gut. Dann müsste Gott bereit gewesen sein, seinen Plan fallen
zu lassen. Dann hätte die Gefahr bestanden, dass es, im doppelten Sinne des
Worts, keine Überlieferung gab.
Nun, die Wirklichkeit sieht anders aus: Judas war kein Opferlamm. Er tat es
freiwillig. Judas war eingeweiht, und darum ging er Seinen auch als seinen Weg. Er
war - ich bitte um Verzeihung für das Wort - Jesu Komplize: Nicht nur einer der
Zwölf, die Israels zwölf Stämme repräsentieren, das gottgewollte Reich, das das
zerstreute Volk am Ende der Tage wieder in Besitz nehmen wird; nicht nur einer
aus dem Kreis der Apostel, von denen Jesus gesagt hat: »Am Tage der
Wiedergeburt, wenn der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt,
werdet auch ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die
zwölf Stämme Israels richten«; nicht nur Jünger unter den Jüngern: nah bei Jesus,
mit anhörend die Worte des ewigen Lebens, Gottes Stimme aus der Wolke
vernehmend: »Dies ist mein Sohn, mein geliebter Sohn, den ich auserwählt habe.«
Judas war mehr. Der Prophetie unseres Herrn, der Fußwaschung und des
Passahmahls wurden auch die anderen Apostel gewürdigt, die Jesus zugezählt
waren: Judas aber stand höher als die übrigen elf. Er sprach mit dem Herrn in einer
Sprache, der Wissende zum Wissenden, die keiner von den andern verstand: Was
du tun willst: tu's schnell! (Und nicht etwa: Lass ab davon. Judas, ich flehe dich an:
Verfall nicht der Sünde.) Ich bin es doch, Herr? Du hast es gesagt. Ein Zwiegespräch
über die Köpfe der Jünger hinweg! (Schweigend saßen sie da und verstanden kein
Wort.) Ein Dialog zwischen Jesus und Judas: dem Getreuesten, dessen Erwählung
unser Herr bezeichnete, als er ausgerechnet ihn, den Verworfenen. . .
kommunizieren ließ.
Dem Verräter die heilige Speise, der Brocken vom Passah mahl, und dem
Verratenen der Kuss: Wie deutlich wird hier, wenngleich in verhüllender Rede, auf
die geheime Übereinkunft, den heiligen Bund zwischen dem Meister und seinem
gehorsamen Jünger verwiesen.
Und wie könnte das auch anders sein? Sie waren ja verbündet, die beiden; waren
aneinandergekettet; waren wie zwei Brüder, von denen der eine den anderen
braucht. Judas war nichts ohne Jesus: so, wie der Schatten nichts ohne den Leib ist.
Aber Jesus war auch nichts ohne Judas: Wenn der eine nicht zu den Großen
Priestern und nach Gethsemane ging, sondern das Geheimnis für sich behielt, war
es um den anderen geschehen.
Ich wiederhole also: Sie gehörten zusammen Jesus und Judas, Judas in Jesu Hand.
Beide hatten ihren Weg zu gehen vereint noch im Tod: hoch über der Erde am Holz.
Die Frage ist nur - ich stelle sie zögernd, mit großem Bedenken -, wessen Weg der
schwerere gewesen ist: der Weg unseres Heilands oder der Weg jenes Mannes, der
Jesus im Sterben voranging. Voranging in der Gewissheit vor Gott, dass die letzte
Geste auf Erden auch die erste im Himmel sein werde: Noch einmal Gethsemane,
doch jetzt ist es Jesus, der auf Judas zutritt, ihn küsst und umarmt.
Und vor den Menschen? Verachtet. Verflucht! Ein Selbstmörder, dem niemand
glaubt, dass auch er als seine letzte Stunde kam - Es ist vollbracht - gesagt haben
könnte. Ein Verworfener, dessen Todesgedanken noch nie ein Mensch zu denken
gewagt hat.
Ich aber will es versuchen:
»Warum, mein Gott, lässt du nicht zu, dass ich, statt des Schächers, neben Ihm
sterbe? Warum verlangst du auch dies noch von mir? Ist es denn noch nicht genug?
Du weißt doch, wie viel leichter es ist, an Seiner Seite gekreuzigt zu werden, als Ihn
ausliefern zu müssen. Warum also lässt du mich selbst jetzt noch allein und
duldest, dass Er dem Schächer das Paradies verspricht, während ich, die Hölle vor
Augen, hier am Baum krepieren muss? Ausgerechnet ich, der alles tat: was immer
du befahlst.«
Aber das war nicht das letzte Wort. Die Gemeinsamkeit zwischen Jesus und Judas
geht bis zum Tod: »Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe:« Ist es nicht
glaubhaft, dass auch Judas, ehe er starb, diese Worte gesagt hat?
10. Olaf Schulze
... und verriet ihn mit einem Kuss
Ein Mann gibt einem anderen einen Kuss, einen Tag später wird keiner mehr von
beiden am Leben sein. Der Geküsste, Jesus, stirbt gemartert und gedemütigt den
Kreuzestod der andere, Judas, der Übermacht seiner Schuld bewusst, hat sich
erhängt. Ihr letztes Zusammensein nach Jahren voller Vertrautheit war ein Kuss ein
Kuss, der Geschichte schrieb, der Kuss eines Verräters... und doch ein Kuss.
Dieser Kuss hat schon manche Gemüter beunruhigt. Warum zeigt Judas nicht auf
Jesus, um ihn den Häschern zu verraten? Warum gibt er ihnen keine präzise
Beschreibung und hält sich sonst fern von dem Geschehnis? Würde es nicht
genügen, einzig Ort und Zeit preiszugeben? "In Gethsemane am Vorabend des
Sabbats werdet ihr ihn finden, aber lasst mich aus dem Spiel!" Wäre dies nicht die
adäquate Haltung eines geldgierigen Verräters? Doch ein Kuss?.. oder sollte Judas
so kaltblütig gewesen sein, ein solches Zeichen zu wählen, jenes Symbol für die
größtmögliche Nähe zweier sich nahe stehender Menschen so zu pervertieren?
Schon die frühen Christen hatten ihre Schwierigkeiten mit dem Kuss des Verräters.
Die Überlieferung der Evangelien ist nicht eindeutig. Während es bei Markus (Mk.
14,45) und Matthäus (Mt. 26, 49) zu einem Kuss kommt, lässt der Verfasser des
Lukas-Evangeliums dies offen: "Judas (...) trat an Jesus heran, um ihn zu küssen.
Jesus aber sagte zu ihm: ,Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?"
(Lk. 22, 47f). Im Johannes-Evangelium hingegen fehlt das Motiv völlig. Hier ist es
Jesus selbst, der sich den Häschern von vorne herein stellt (Joh. 18, 4ff). Überhaupt
ist der Blick auf den historischen Judas Iskariot, und seine Beweggründe, sich Jesus
anzuschließen und ihn am Ende zu verraten, durch die Folgen seiner Tat verstellt.
Im Nachhinein betrachtet erscheint er so als Dieb und Querulant, vom Satan
besessen, wenn er überhaupt der Erwähnung wert ist. Dabei gehörte er zum
engsten Kreis der Jünger und verwaltete ihre gemeinsame Kasse, tätigte Einkäufe,
eine wichtige Aufgabe, und exponiert, vielleicht auch beneidet.
Die Episode der Salbung in Betanien mag das Verfahren der Evangelisten
verdeutlichen, Judas im Nachhinein aus dem Kreis der Jünger auszugrenzen. Nach
dem Markus-Evangelium (Mk. 14, 3-9) zeigen sich einige der Jünger unwillig über
die Verschwendung des kostbaren Öls, bei Matthäus gar klingt der Jünger Meinung
unisono, man hätte das Öl besser teuer verkauft und das Geld unter die Armen
verteilt (Mt. 26, 6-13). Für Johannes ist es jedoch nur Judas, der diese Frage stellt.
"Er sagte das nicht, weil er den Armen etwas Gutes tun wollte, sondern weil er ein
Dieb war. Er verwaltete die gemeinsame Kasse und griff oft zur eigenen
Verwendung hinein." Die Antwort Jesu ist allerdings auch bei ihm letztlich an alle
Zeugen der Salbung gerichtet: "Lass sie (die Frau, die Jesus gesalbt hatte; O. S.) in
Ruhe! Sie hat es für den Tag meines Begräbnisses getan. Arme wird es immer bei
euch geben, aber mich habt ihr nicht mehr lange bei euch." (Joh. 12,1-8).
Mag sein, dass sich der historische Judas in seinem sozialpolitischen Engagement
von Jesus schließlich enttäuscht sah, der für vieles nur Worte fand, die kaum seine
engsten Vertrauten verstehen konnten. Mag sein, dass Judas religiöseschatologischer Aktivismus seinen Höhepunkt im Doppelspiel des Verrates
erreichen sollte: Jesus zu zwingen, sich endlich als neuer Messias und König der
Juden zu offenbaren und das Land von den römischen Unterdrückern zu befreien.
Vielleicht mögen die Ursachen auch in gekränkter Freundesliebe und Eifersucht zu
sehen sein, in jenem Moment, da die Massen strömen und der Meister sein Ende
nahen sieht und sich in eine scheinbare Privatheit zurückzieht. Auch Judas war ein
Mensch in seiner Kompliziertheit, mit seinen Schwächen und Stärken - lässt er sich
auf dreißig Silberlinge reduzieren?
Judas erkannte seine Schuld und suchte den Freitod. Er war ein notwendiges
Werkzeug Gottes zur Erfüllung des Heilsplans. Wenn schon Jesus in Gethsemane
um Verständnis rang, musste Judas - ein Mensch durch und durch - an seinem
Schicksal verzweifeln. "Judas ist die tragischste Gestalt im Neuen Testament. Er
muss das Skandalon auf sich nehmen." (Schalom Ben-Chorin). "Und sogleich trat er
zu Jesus und sagte: ,Sei gegrüßt Rabbi!' und küsste ihn. Jesus aber sagte zu ihm:
,Mein Freund, tu, wozu du gekommen bist'!" (Mt. 26, 49f). Vielleicht kamen beide
sogar aufeinander zu, wie es bereits auf spätantiken Darstellungen des Verrats zu
sehen ist - aufeinander zu zum Begrüßungskuss, der ein Abschiedskuss werden
sollte.
Giotto gibt in der Arena-Kapelle in Padua (1305-07 entstanden) ein besonders
beeindruckendes Bild dieses Typus. Wer nur diesen Ausschnitt betrachtet - Judas,
der Jesus mit seinem Mantel umfängt - sieht zwei gute Freunde, die sich nahe
sind... ein Kuss auf die Wange, wie schon so oft...
...eine Deutung dieses Kusses ließe sich aus den folgenden Erläuterungen Schalom
Ben-Chorins ziehen: "Judas küsst den Meister, und mit diesem Kusse ist der Tod
des Gerechten besiegelt. (...) Das Motiv "Mitha bi-Neschika", des Todes im Kusse,
wird hier verhüllt, entstellt und gewissermaßen grausam karikiert angedeutet. Der
Gerechte stirbt nach jüdisch-haggadischer Vorstellung im Kusse: im Kusse Gottes.
Diese Vorstellung knüpft sich an den Tod des Moses, den einsamen Bergtod. Gott
küsst Moses die Seele fort. Nicht der Todesengel mit seinen Schrecken naht sich
dem Gerechten, sondern Gott, der Vater, neigt sich herab, küsst seinen Sohn und
nimmt ihm im Kusse die Seele, die er ihm gegeben. - Im Kusse des Judas ist etwas
von dieser Vorstellung des Todes im Kusse, der den Gerechten vorbehalten ist,
angedeutet. Mit diesem Kuss ist das Schicksal Jesu besiegelt. Gott, der sich auch
des Satans und des dunklen Jüngers zu seinem Heilsplane bedient, sendet dem
Todesgeweihten den Kuss als Erkennungszeichen. Der Kuss des Judas ist nicht nur
für die Häscher das Zeichen. Er ist es, so verstanden, auch für Jesus selbst." So
nähert sich Gott im Mensch dem Menschen... durch einen Kuss auf den Mund,
durch einen Kuss, der so vieles bedeuten mag.
Tim Rice und Andrew Lloyd Webber haben in "Jesus Christ Superstar" viele der
zwischenmenschlichen Beziehungen der Hauptpersonen aufgedeckt... und
mögliche Deutungen gegeben. Nicht allein Jesus wird zum Menschen, auch Maria
Magdalena (die nicht nur für sich allein, sondern für eine Vielzahl von Jüngerinnen
und Frauen um Jesus steht) und vor allem Judas, jene Prototypen der reuigen
Sünderin und des Erzverräters, sie werden zu Menschen, indem sie eine Geschichte
erhalten und Raum, diese zu erzählen. Eine neue, eine mögliche Botschaft. Auch
eine Botschaft von Liebe... von einer Liebe, die beide mit Jesus verbindet, von
vielleicht unerwiderter, aber dennoch gelebter Liebe: "I don't know how to love
him... Wie soll ich ihn nur lieben?" Und schließlich ist es die Geschichte von einem
Kuss, der zuviel bedeuten musste... um für die Küssenden erträglich zu sein.
11. Valerian Ehnes
MARIA MAGDALENA
Wer kennt sie nicht, die Geschichte der sündigen Maria Magdalena, der gefallenen
Prostituierten, der Jesus ihre Sünden vergab. Sie wird daraufhin eine treue
Anhängerin des Herrn und ändert ihren Lebenswandel. Doch die Geschichte ist so
leider nicht ganz richtig. Maria Magdalena heißt in Wahrheit wahrscheinlich Miriam
und kam aus dem Fischerdorf Magdala. Dass sie eine Dirne war, steht indes nicht
in der Bibel. Eine neue Generation von Religionswissenschaftlerinnen machte sich
daran, die alten Bibeltexte und Übersetzungen neu zu interpretieren. Ihr Ziel war es
vor allem, die zahlreichen Missverständnisse, die ihren männlichen Kollegen im
Laufe der Zeit unterlaufen sind, zu korrigieren. So fanden sie beispielsweise heraus, dass Maria Magdalena eine der wichtigsten Anhängerinnen des Jesus Christus
war, vielleicht sogar seine Vertraute und finanzielle Ratgeberin. Sie ist es auch
gewesen, die den Männern, den Aposteln nämlich, die wichtigste Botschaft zu
bringen hatte: die der Auferstehung Jesu.
Dennoch wird sie in Dichtung und Kunst gerne als die büßende Sünderin
dargestellt. Sie ist die Frau unter dem Kreuz Jesu, die meist in Tränen und mit
aufgelösten Haaren gleichzeitig über den Verlust ihres Herrn und über ihren
sündhaften Lebenswandel weint. Denn auch unter dem Kreuz ist sie - nach
traditioneller Darstellung - in erster Linie das ihr Vorleben bereuende und büßende
Weib. Wie selbstverständlich kommt der Betrachter dabei auf den Gedanken, ihre
Schuld müsse mit ausschweifender Sexualität zu tun haben, denn Magdalena, als
attraktive Frau dargestellt, könnte man ein Dasein als Dirne durchaus zutrauen.
Verantwortlich für das schlechte Bild der Maria Magdalena machen Bibelgelehrte
vor allem einen: Papst Gregor der Große, der im Jahre 591 in einer Predigt mehrere
biblische Frauengestalten in einer Person verband. Doch Maria Magdalena war nicht
die einzige Frau im Umkreis Jesu. So erwähnt der Apostel Paulus einen gewissen
Junius, einen der zahlreichen Anhänger des Jesus, bei dem es sich jedoch tatsächlich um eine Junia handelt. Ältere Versionen der Bibel legen das zu Tage, was
Jahrhunderte lang in Übersetzungen männlicher Bibel-Exegeten nicht von
Bedeutung erschien, die wichtige Rolle der Frau in Kirche und Religion.
12. Die Jünger Jesu und Apostel
Im Bergland bei Kafernaum nahm Jesus eine Auswahl seiner Jünger vor. Er bestellte
zwölf zu seiner Gefolgschaft und gab diesen besondere Vollmachten. Sie werden
Apostel genannt (griechisch „apostolos“ ist die Übersetzung des aramäischen
„schaliach“; das bedeutet „senden“, „mit Vollmacht senden“).
Simon, genannt Petrus ist der Gründer der christlichen Kirche in Rom. Den
Beinamen „Fels“ (griech.: Petrus, aramäisch: Kefas) erhielt er, weil auf ihm die
Kirche Jesu gegründet werden konnte. Petrus war Fischer aus Galiläa. Jesus
gegenüber war er der Vertreter der Jünger. Zusammen mit den Söhnen des
Zebedäus bildete er die Kerngruppe der Apostel. Nach der Auferstehung nahmen
sie es in die Hand, die Jünger zusammen zu halten. 64 n.Chr. wurde er unter Nero
kopfunter gekreuzigt.
Jakobus, Sohn des Zebedäus und sein Bruder Johannes werden „Boanerges“,
„Donnersöhne“, genannt, weil sie anboten, auf die Sekte der Samariter, Feuer vom
Himmel zu holen. Jakobus der Ältere war Fischer. Er wurde 44 n.Chr. auf Befehl von
König Agrippa I. mit dem Schwert hingerichtet. Seit dem 7. Jahr- hundert
verbreitete sich die Legende, dass Jakobus oder sein Leichnam nach Spanien
gelangt sei. Sein Grabmal in der Kathedrale von Santiago de Compostela wurde zu
einer der bedeutendsten Pilgerstätten.
Johannes ist der Bruder von Jakobus dem Älteren. Es heißt, der Fischer wäre der
„Lieblingsjünger“ Jesu gewesen. Nach der Kreuzigung war er mit der Betreuung der
Mutter Jesu beauftragt. Er erlitt das Martyrium, indem er in heißes Öl gestoßen
wurde.
Andreas war der Bruder Petrus’ und zunächst Jünger von Johannes dem Täufer. Er
soll in Patras an ein Kreuz mit schrägen Balken (Andreaskreuz) geschlagen worden
sein.
Philippus stammte wie Andreas und Petrus aus einem Fischerdorf in Galiläa. Er
wurde von Priestern an einem Kreuz gesteinigt.
Bartholomäus ist der Sohn des Ptolemäus. Er wird immer in Verbindung mit
Philippus genannt. Er soll in Indien oder Armenien enthäutet und enthauptet
worden sein.
Matthäus lernte Jesus bei Kafarnaum am Zoll kennen.
Thomas ist der Namensgeber für den sprichwörtlichen „ungläubigen Thomas“.
Das bezieht sich auf die Nachricht von Jesu Auferstehung. Thomas soll in Indien
wegen seiner Großzügigkeit gegenüber Armen von Lanzen durchbohrt worden sein.
Jakobus, Sohn des Alphäus wird auch Jakobus der Jüngere genannt. Man
vermutet, seine Mutter gehörte zu den Frauen, die Jesus aus Galiläa folgten.
Thaddäus verfügte vermutlich über einen sanften Charakter und die Bereitschaft
zur Hingabe. Er wurde als Märtyrer erschlagen.
Simon Kananäus war ein Anhänger der rigide kämpferisch-konservativen
Zeloten-Partei. Unklar ist, ob er ein Zelot im politischen oder religiösen Sinne war.
Unsicher ist auch, ob er den Märtyrertod durch Kreuzigung oder durch Zersägen
erlitt.
Judas Ischariot kam nicht aus Galiläa, sondern Judäa. Er erhielt für den Verrat Jesu
30 Silberstücke. Nach Jesu Verurteilung bereute er, warf das Geld in den Tempel
und erhängte sich.
Titel
Der göttliche Bote
In nur 300 Jahren stieg das Christentum von einer Provinzsekte zur Weltreligion
auf – trotz schlimmster Verfolgungen. Neue archäologische Funde zeigen:
Die Bewegung breitete sich über die jüdischen Viertel aus. Dann kamen vor allem
heidnische Frauen dazu. Am Ende gab sich das römische Kaiserreich geschlagen.
U
m 45 n. Chr. bestieg ein energischer
Mann, gehüllt in eine Wollkutte, im
Hafen von Antiochia ein Schiff und
nahm Kurs auf Zypern. Von Beruf war er
Zeltmacher. Quellen beschreiben ihn als
„klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und
krummen Beinen“.
Unauffällig mischte sich der Seefahrer
unter die Passagiere. Im Herzen trug er
einen tollkühnen Plan: Er wollte, so der
Bibelforscher Friedhelm Winkelmann, einen „als politischen Verbrecher rechtskräftig Verurteilten, der die Todesstrafe der
niedersten sozialen Schicht erlitten hatte“,
zum Gottessohn erhöhen.
Im Apostel Paulus ballt sich ein Ursprungsrätsel des Christentums. Dieser
Mann vor allem war es, der den Kreuzestod
Jesu in ein religiöses System aus Sühne und
Erlösung umdachte, das die gesamte antike
Sittenwelt zum Einsturz brachte.
16 000 Kilometer legte der rastlose Prediger bei seinen Reisen zurück. Heiden
und Krüppel umlagerten ihn. Er wurde
verprügelt, verspottet, verehrt. Er war in
Ankara und auch in Milet, der Urstadt der
Mathematik.
In (laut Bibel) 13 Briefen hat Paulus seine Missionen beschrieben. Sieben davon
Jesus-Malerei (aus dem 4. Jahrhundert)*
Höhlenkirche („Petrus-Grotte“) im türkischen Antakya
BEN BEHNKE (L.); HELD COLLECTION / BRIDGEMANART.COM (R.)
Zauberer oder Herrscher?
stammen wirklich aus seiner Feder. Das
älteste Schreiben, der 1. ThessalonicherBrief, verfasst im Winter 50/51 n. Chr., ist
das früheste beglaubigte Zeugnis des Christentums überhaupt.
In „edler Haltung“ und mit „Augen voller Freundlichkeit“, heißt es in frühkirchlichen Texten, habe der Mann seine frohe
Botschaft einer Welt der Sklaverei und
bluttriefender Amphitheater vorgetragen.
„Ich will euch ein neues Herz und einen
neuen Geist in euch geben“, rief er süß,
„und will das steinerne Herz aus eurem
Fleisch wegnehmen.“
Aber er konnte auch ganz anders. Der
heiße Atem des Kampfs weht aus seinen Episteln. „Parteisoldat Jesu“ wurde
* Aus der Commodilla-Katakombe in Rom.
143
Papstmesse auf dem Petersplatz in Rom (2007): „Obskure messianische Bewegung“
er genannt. Feinde schmähte er als
„Hunde“.
Exakt an der Stelle, wo der erstaunliche
Prediger vor fast 2000 Jahren zu seiner ersten Fahrt aufbrach, sitzt Hatice Pamir auf
einem hohen Steinquader. Es ist ein Teil
der alten Hafenmole vor Antiochia. Heute heißt der Ort Antakya und liegt in der
Türkei. Ende Februar blühen hier schon
die Blumen, lauer Wind fegt vom Mittelmeer heran.
Die Archäologin von der örtlichen
Mustafa-Kemal-Universität arbeitet an einem spannenden Projekt. Sie erkundet die
Wiege der Christenheit. Fest steht: Antiochia, drittgrößte Metropole des Römischen
Reichs, war die Schaltstelle der Bewegung.
Nicht nur Paulus lebte hier (von 36 bis
48 n. Chr.), sondern auch Petrus, der erste
Jünger Jesu. Matthäus schrieb hier wahrscheinlich sein Evangelium.
Auch der Urbischof Ignatius, den die
Römer von wilden Tieren zerfleischen
ließen, lehrte in dieser Stadt.
Nahezu alle Vordenker des neuen Glaubens hatten sich in der „Krone des Orients“
versammelt. Ob „Christen“ oder „katholische Kirche“ – in Antiochia fielen diese Begriffe zum ersten Mal.
Übrig geblieben ist von dem alten Debattierzentrum allerdings wenig. Brände
und Erdbeben vernichteten den Ort. Die
antike Stadtmauer mit ihren wuchtigen
Quadern ist noch halbwegs erhalten. Wie
ein zerborstener Lindwurm zieht sie sich
auf einem Berggrat hin.
Um die unter Flugsanden verschüttete
Siedlung überhaupt fassen zu können,
144
wurden deutsche Forscher um Mithilfe gebeten. Der Leipziger Geodät Ulrich Weferling gehört dazu. Jedes Bodendenkmal
wird derzeit vermessen, andere erkunden
den Grund geomagnetisch. Leiter des
Teams ist der Archäologe Gunnar Brands
aus Halle.
Besondere Aufmerksamkeit gilt einer
Urkirche, die in einem steilen Berghang
liegt. Wer das Portal durchschreitet, gerät
in eine Grotte. Von den grünschimmernden Felswänden rinnt Wasser in ein klobiges Taufbecken. Neben dem Altar öffnet
sich ein Tunnel, durch den die Gläubigen
einst bei Gefahr fliehen konnten.
In dieser schummrigen Höhle, so wird
angenommen, hielt vor fast 2000 Jahren
der Apostel Petrus die ersten Gottesdienste ab.
Religionsforscher verfolgen die Untersuchungen in der Türkei mit Spannung.
Sie erhoffen sich Aufschluss über eine
Grundfrage, die sie seit langem quält: Wie
gelang es den Christen, dieser „winzigen
und obskuren messianischen Bewegung“
aus dem randständigen Galiläa (so der USSoziologe Rodney Stark), das klassische
Heidentum zu verdrängen und zum Staatskult aufzusteigen?
Überraschend schnell glückte dieser
Vormarsch. Winkelmann spricht von einer
„erstaunlichen Expansion“. Zum Zeitpunkt der Kreuzigung, so viel ist klar, war
die Gruppe noch sehr klein. Angeblich besaß sie anfangs nur 120 Anhänger.
Im antiken Schrifttum taucht die Truppe
als „lichtscheue Gesellschaft“ auf, „stumm
in der Öffentlichkeit, in Winkeln geschwätd e r
s p i e g e l
1 3 / 2 0 0 8
MARIA GRAZIA PICCIARELLA / ROPI
zig“. Sueton berichtet, dass sie 49 n. Chr.
in Rom „Unruhe“ stiftete.
Schnell gründete die Sekte Ableger in
Ephesus und Alexandria. Später griff sie
nach Lyon und Köln aus. Im Bauch des
Römischen Reichs waren ethische Untergrundkämpfer am Werk.
Im Jahr 312 n. Chr. hatte der Glaube bereits Roms obersten Staatslenker erfasst:
Kaiser Konstantin, der lorbeergekrönt auf
dem Palatin residierte, schob das Christentum mit Staatsgeldern an. Auf sein Geheiß hin entstand der Vorläufer des Petersdoms und auch der Urbau der Hagia
Sophia in Istanbul.
50 Bibeln mit goldenen Lettern ließ der
Herrscher herstellen. Für jede einzelne
starben 700 Ziegen für das Herstellen des
Pergaments.
Auf dem Sterbebett erklärte sich dieser
Cäsar (der den eigenen Sohn meuchelte
und mit Astrologen verkehrte) schließlich
zur Taufe bereit und beugte sich dem Messias. Die Forscher sprechen von einer
„weltgeschichtlichen Epochengrenze“.
Nur warum verlief alles so rasant?
Die ganze Seltsamkeit des christlichen Siegeszugs wird deutlich, wenn man die Rahmenbedingungen bedenkt: Als die ersten
Apostel ausschwärmten, stand ihnen eine
gnadenlose Macht gegenüber. Rom war aus
Milliarden Schwerthieben errichtet worden.
Rund 30 Legionen hielt das Land unter
Waffen. Von den Urwäldern Germaniens
bis nach Mesopotamien führten sie Krieg.
Ganze Völkerschaften wurden entwurzelt
und versklavt. 90 Prozent der Einwohner
lebten im Dreck. Die Städte waren rand-
voll mit Dirnen, Bettlern, Analphabeten.
Kein guter Nährboden fürs Evangelium
der Liebe.
Wegen ihrer Weigerung, dem Kaiserbild
Wein und Weihrauch zu opfern, war die
Gemeinde von Anbeginn politisch verdächtig. Caligula machte den Auftakt, er
ließ Christen martern. Später, während der
Pogrome des 3. und frühen 4. Jahrhunderts,
kamen Fleischklammern und glühende Eisen zum Einsatz. Allzu redseligen Märtyrern schnitten die Henker die Zunge heraus.
Zudem gab es viel Konkurrenz am Himmel. Die einen verehrten die Fruchtbarkeitsgöttin Isis, andere schliefen sich im
Heiligtum des Serapis gesund. Aus dem
Osten kam Mithras ins Reich geschwappt.
Auch gab es jede Menge kraftvolle Heroen
– von Jupiter bis Sol.
Jesus dagegen kam auf dem Grautier daher. Eine antike Kritzelei zeigt ihn mit
einem Eselskopf. Was hatte er zu bieten?
Eine lüsterne und unzüchtige Welt musste der Apostel Paulus da bekehren. Die
Wandbilder aus Pompeji zeugen vom deftigen Geschlechtsleben der Römer. Huren
gab es zuhauf. In der Hauptstadt am Tiber
boten gallische Dirnen und geschminkte
Transvestiten ihre Dienste an.
Paulus hielt das für „Dreck“. Im Körper
sei überhaupt „nichts Gutes“, er sei ein
„Todesleib“, Sitz der Begierde und „Feindschaft gegen Gott“.
Immer wieder erregte sich der Prediger
über die „Unzucht“ („porneia“), das „Laster“, die „Werke der Finsternis“.
Frauen rührte er nicht an. Er hob sie
zwar empor – aber nur um den Preis tota-
ERICH LESSING / AKG
Titel
Apostel Petrus und Paulus (Ritzzeichnung, 4. Jahrhundert): Glaubenskrieg ums Essen
ler Entsinnlichung. Wehe, sie reizten. Im
Gottesdienst sollten sie schweigen und einen Schleier tragen.
Der Historiker Tacitus, der um 112
n. Chr. als Statthalter in der Provinz Asia
lebte – wo sich die Urchristen am schnellsten ausbreiteten –, brauchte bloß aus seiner
Villa zu blicken, um die Leute zu beobachten. Für ihn war das Ganze ein „verhängnisvoller Aberglaube“.
Wer also, das ist eine der Schlüsselfragen
der Religionsgeschichte, hörte überhaupt
auf die Botschaft von der Nächstenliebe?
Welche Schicht entflammte sich für den
Heiland aus der Provinz?
Die Sache ist deshalb so vertrackt, weil
aus dem 1. und 2. Jahrhundert kaum Zeugnisse vorliegen. Fast unsichtbar formierte
sich die Schar. Der Bibel zufolge traf sie
R … M I S C H E S
Grenze des Römischen
Reichs 106 n. Chr.
Rom
Hinrichtung des Paulus
um 65 n. Chr.
sich anfangs privat „in den Häusern“.
Schweigend trank die Gemeinde das Blut
des Herrn und pries dessen in Brotform
gereichten Leib als „Arznei der Unsterblichkeit“.
Kulinarische Kontemplation statt Kochshow.
Auch in den Katakomben von Rom
wurde nach den Ur-Anfängen gefahndet.
Mehr als 60 Tunnelsysteme ziehen sich
durch den Tuffstein. Es sind Friedhöfe der
Frühchristen. Ausgräber stießen auf Skelette sowie Duftlampen gegen den Verwesungsgeruch.
In diesen modrigen Gängen prangen
zwar die frühesten christlichen Bilder. Zu
sehen sind etwa die drei Magier aus dem
Morgenland oder der Jesusknabe im
Schoße Marias. Doch die ältesten dieser
SCHWARZES MEER
Byzanz
Thessaloniki
Philippi
Tarsus
Paulus’
Geburtsort
Antiochia
Athen
Korinth
Unterwandertes Weltreich
Frühe Ausbreitung des Christentums
im Römischen Imperium
Erste,
zweite,
dritte Paulusreise
wichtige, von Paulus gegründete
Gemeinden
Christliche Gemeinden des
1. Jahrhunderts
Christliche Kerngebiete
Lystra
Ephesus
Attalia
R E I C H
Perge
Antiochia
Salamis
Damaskus
Tyrus Bekehrungs-
MITTELMEER
Caesarea
Cyrene
erlebnis des
Paulus um
32 n. Chr.
Jerusalem
Alexandria
von Petrus
geleitete Urgemeinde
250 km
Frühchristliches
Ankerkreuz-Symbol
d e r
s p i e g e l
1 3 / 2 0 0 8
145
Zeichnungen stammen aus dem 3. Jahrhundert.
Erst neuerdings fällt etwas mehr Licht in
die Wiege der abendländischen Moral. Mit
modernen Techniken wird die Zwielichtzone der ersten 200 Jahre erhellt. Mit der
C-14-Methode bestimmen Forscher das Alter von Reliquien. Wiener Archäologen erkunden derzeit mit Laserscannern die 15
Kilometer langen Gänge der Domitilla-Katakombe. Beim Herumkrauchen haben sie
bereits neue Malereien aufgespürt.
Und auch in Israel hat der staatliche Antikendienst in jüngster Zeit reichlich Beute gemacht. Jesus zeigt sein wahres Gesicht (siehe Kasten Seite 151).
Zudem liegen verblüffende Schriftfunde vor. Eine wichtige Entdeckung kommt
aus Nag Hammadi am Nil. In einem Tongefäß lagen 13 zerfledderte Bücher. Sie enthalten Texte, die von den Päpsten später
verfemt wurden („Apokryphen“).
Insgesamt schälen sich vier Aspekte
heraus:
• Träger des Christentums waren anfangs
fast nur Juden. Die Ausbreitung lief über
ihre Viertel – deshalb der schnelle Verlauf.
• Das Angebot der Fürsorge und Nächstenliebe wirkte wie Sozialkitt im Römischen Reich. Es milderte die Rassenunruhen und Spannungen.
• Attraktiv war der neue Glaube vor allem
für Frauen.
• Am Ende half ein Babyboom. Während
die Heiden im großen Stil Kinder abtrieben und Säuglinge töteten, erklärten
die Christen die Leibesfrucht für unantastbar.
„Wir errichten ein neues wissenschaftliches Gebäude“, meint der Utrechter
Bibelkundler Leonard Rutgers. Winkelmann drückt es so aus: Die Pioniere der
Bewegung waren nichts anderes als „innerjüdische Reformer“.
Mit all diesen Befunden gerät eine Weltreligion neu ins Blickfeld, die vor rund
2000 Jahren im bäuerlichen Galiläa entstand. Jesu Heimatdorf Nazareth war so
arm, dass viele Leute in Wohnhöhlen leb-
LUISA RICCIARINI / ULLSTEIN BILD
Titel
Papyrus mit Johannes-Evangelium*
„Arznei der Unsterblichkeit“
ten. Der Alttestamentler Wolfgang Zwickel
spricht von einer „Klitsche“ mit kaum 200
Einwohnern.
Schon vorm Morgengrauen mussten die
Frauen raus und Brot backen, das die
Männer mit auf die Felder nahmen. Fisch
gab es gelegentlich, Fleisch fast gar nicht.
Ganz Arme löffelten Malvensuppe. Die
Skelette der Region weisen Eisen- und Proteinmangel auf.
Da Männer ab 14 Jahre zur Kopfsteuer
veranlagt wurden, ist damit zu rechnen, dass
auch der junge Jesus zu dem Zeitpunkt einem bezahlten Job nachging. Markus zufolge war er „Bauhandwerker“ – solche Leute
mörtelten und setzten Steine. Erst Luther
machte aus ihm einen „Zimmermann“.
Arbeit gab es genug. Rom und seine jüdischen Vasallenkönige waren gerade dabei, die rückständige Gegend mit einem
neuen Way of Life zu beglücken. Städte
mit Badehäusern wurden errichtet und
große Landgüter. Am See Genezareth entstand eine Fischindustrie mit Magdala als
Pökelzentrum.
Nur sechs Kilometer von Nazareth entfernt, wo der Maurer Jesus abends erschöpft aufs Bettlager fiel, saßen angepass* Aus dem 4. Jahrhundert, in koptischer Sprache.
Zeit der Apostel
Die Macht
des Glaubens
Chronik
des frühen
Christentums
um 30 n. Chr.
Jesus von
Nazareth wird
in Jerusalem
gekreuzigt.
frühes Christussymbol
146
Z e i t d e r Ev a n g e l i s t e n
ab 32 Petrus als Leiter der Jerusalemer Urchristen. In Antiochia
wächst die zahlenmäßig größte
Gemeinde heran.
um 50 frühester erhaltener
Paulusbrief (1. Thessalonicherbrief)
44 Judäa und Galiläa unter römischer
Verwaltung.
64 bis 67 Nach dem großen
Brand in Rom befiehlt Nero die
erste breite Christenverfolgung.
Petrus (Kopf-über-Kreuzigung)
und Paulus (Enthauptung)
verlieren ihr Leben.
um 45 bis 58 Die
Missionsreisen des
Apostels Paulus führen
ihn bis nach Athen.
Streit innerhalb der
Gemeinde, ob Beschneidung und das Gesetz der
Tora auch für die JesusAnhänger gelten.
te, hellenisierte Juden in der frisch hochgezogenen Prunkmetropole Sepphoris und
vergnügten sich in einem Theater für
4200 Gäste.
Die einen prassten – die anderen hatten
kaum zu essen. Viele Bauern überschuldeten sich unter den neuen Zwingherrn
und verloren ihr Ackerland. Der Zusammenhalt in den Dörfern, die alte Solidarität
waren bedroht.
In dieser Zeit trat Jesus gleichsam als
Robin Hood der Levante auf. Sein Einklagen von mehr Nächstenliebe diente als
Modell der Umverteilung. Einen „gewaltlosen Widerstand gegen soziale und koloniale Unterdrückung“ habe er gepredigt,
so der US-Forscher John Crossan.
„Brich dem Hungrigen dein Brot“, sagt
Christus, „und wenn du einen nackt siehst,
so kleide ihn.“
Zugleich war der bärtige Twen gegen
den überbordenden Opferkult im Tempel
von Jerusalem. Die Bauern Galiläas mussten hohe Abgaben zahlen. Wer den Steuerbütteln „Widerstand zu leisten wagte,
wurde mit Schlägen misshandelt“, schreibt
der jüdische Geschichtsschreiber Flavius
Josephus.
Allzu viel Tamtam beim Ausüben der
Religion lehnte Jesus ab. Mit dem Sabbat
nahm er es nicht so genau. Er wollte die
Revolution der Herzen gegen eine erstarrte Gesetzlichkeit. Diese würzte er mit einer
Prise Eschatologie: „Tut Buße, denn das
Himmelreich ist nahe.“
Etwa ab 27 n. Chr., so sieht es der Berner Theologe Ernst Axel Knauf, sei der
„Bettelmönch“ in der Region tätig gewesen. Ein Kostverächter war er nicht. Während Johannes der Täufer in der Wüste
hauste und Heuschrecken aß, scheute sich
der Nazarener nicht,
bei reichen Leuten zu
essen. Seine Feinde
nennen ihn in der Bibel einen „Fresser und
Weinsäufer“.
Friedrich Nietzsche
verglich die Jünger-
Büste des
Kaisers Nero
66 bis 70 Jüdischer Aufstand. Die römischen Besatzer schleifen den Tempel
von Jerusalem. Die Christen
der Stadt fliehen ins jordanische Pella.
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um 70 Markus, angeblich
der Sekretär des Petrus,
verfasst die Lebensgeschichte Jesu.
um 80 Niederschrift des
Matthäus-Evangeliums
80 bis 90 Lukas schreibt
sein Doppelwerk, das Evangelium und die Apostelgeschichte.
um 95 Evangelium
und Offenbarung des
Johannes
Frühe Darstellung des
Evangelisten Lukas
NORBERT ZIMMERMANN / ÖSTERREICHISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN, INSTITUT FÜR KULTURGESCHICHTE DER ANTIKE
Laserscannen eines Grabes (in der Domitilla-Katakombe in Rom): Friedhof der Frühchristen
schar mit einer „buddhistischen Friedensbewegung“, die ein „tatsächliches und
nicht bloß verheißenes Glück“ anstrebte:
Guru Jesus.
Selbst über dessen Privatleben lässt sich
spekulieren. Der griechische Philosoph
Kelsos nannte ihn einen unehelichen Sohn.
Die Jungfrauengeburt sei erfunden worden, um die „abstoßenden Umstände“ seiner Herkunft zu verschleiern.
Auch wird Jesus in der Bibel als „Rabbi“
bezeichnet. Tora-Lehrer waren stets verheiratet. Er ebenso? Als mögliche Kandidatin wird immer wieder seine Begleiterin
Maria Magdalena genannt. Ein lange verschollener Text aus dem 3. Jahrhundert
berichtet, dass diese Frau (und nicht Petrus) Jesu Erbe antrat und die erste Gemeinde in Jerusalem leitete.
Auftrieb bekam das Gerücht auch durch
eine andere Schrift aus Nag Hammadi.
Dort heißt es: „Der Erlöser liebte Maria
Magdalena mehr als alle Jünger, und er
küsste sie oftmals auf ihren Mund.“ Zudem wird sie als „koinonos“ („Lebensgefährtin“) angesprochen.
Als der Anführer vermutlich 30 n. Chr.
auf der Richtstätte Golgatha am Kreuz hing,
reichte sein Ruf allenfalls in die Region. Im
Römischen Reich war er ein Niemand.
Ein grausiger Fund aus einem Vorort
Jerusalems lässt ahnen, was Jesus erlitt. In
dem Grab lag ein Gekreuzigter. In seinem
Fersenknochen steckte ein 17 Zentimeter
langer Nagel. Beide Schienbeine waren
durch gezielten Beilschlag glatt durchtrennt
worden.
Diese Behandlung war noch gnädig. Aus
antiken Quellen ist bekannt, dass die Kreuzigung mit einer Geißelung begann. Dabei kamen Peitschen zum Einsatz, an denen Knochenstücke hingen. Ans Querholz
gefesselt, schleppte sich der Delinquent
dann zur Richtstätte. Dort zog man ihn
wie ein Vieh am Kreuz hoch.
Um den Todeskampf zu verlängern, besaß der Längsbalken eine Stütze für die
Füße. Drohte der Gemarterte wegen des
enormen Zugs an den Armen zu ersticken,
konnte er sich von dem Brettchen aus
hochdrücken. So ging es manchmal über
Tage.
Mit seinen Gegnern hatte Rom kein Mitleid.
Auf die Urgemeinde in Jerusalem wirkte die Quälerei wie ein Schock. Jesu Vision
der Liebe war zertreten worden. Also deutete die Gruppe das Geschehen radikal um.
Wer die Idee von der Auferstehung des
Herrn und seiner nahen Wiederkunft ausheckte, weiß bis heute niemand.
Dann schlug die Gruppe los. Nach „Phönizien und Zypern und Antiochia“, heißt
es in der Bibel, seien die Blutzeugen des
Z eit der MŠrtyrer und Kirchenlehrer
2. Jahrhundert Beginnende Konsolidierung
von Klerus und christlicher Lehre
132 bis 135 Letzter großer jüdischer Aufstand. Rom zerstört
Dutzende Dörfer. Juden dürfen Jerusalem fortan nicht mehr betreten.
um 110 Tacitus berichtet
in seinen „Annalen“ über
die Christen.
165 Der Satiriker Lukian verspottet die Christen als „arme Leute“
mit albernen Ewigkeitsideen.
112 Ein Erlass Kaiser
Trajans bestimmt, dass
Christen, die sich dem
Kaiserkult verweigern,
hingerichtet werden.
um 125 Ältester erhaltener Papyrus mit einem Text
des Neuen Testaments.
249 bis 251 Pogrome
unter Kaiser Decius.
Der Märtyrertod standhafter Christen wird
später zur Grundlage
der Heiligenverehrung.
303 bis 311 Letzte große
Christenverfolgung im
Westen des Reichs. Trotz
Massenverhaftungen und
der Zerstörung von Kirchen
scheitert die staatliche
Unterdrückung
um 200 Der Kirchenschriftsteller
Tertullian geißelt die Gladiatorenkämpfe in Rom.
251 bis 253 Papst
Cornelius lässt in Rom
das Skelett von Petrus
suchen.
313 Kaiser Konstantin
erlässt das Toleranzedikt von Mailand.
um 200 Eine Liste nennt die
meisten neutestamentlichen
Schriften (Hebräerbrief, Petrusbriefe, ein Johannes- und der
Jakobusbrief fehlen noch).
258 Kaiser Valerian
lässt Bischöfe verhaften und ohne Prozess
hinrichten.
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4. Jahrhundert
Ursprünge des
Weihnachtsfestes
Märtyrertod des heiligen
Ignatius von Antiochien
(Ikonenmalerei)
380 Das Christentum
wird Staatsreligion.
147
Panoramamodell im Museo della
Civiltà Romana
1 Circus Maximus
2 Apollontempel
3 Haus des Augustus
4 Aquädukt des Claudius
Messias ausgeschwärmt, wobei sie vorerst
„niemandem als allein den Juden das Wort
verkündigten“.
Mit ihrer Vorstellung vom Erlöser eckte
die Gruppe allerdings schnell an. Die Priester in Jerusalem huldigten einem fernen,
drohenden Gott. Die Propheten des Alten
Testaments hatten Jahwes Weltgericht vielfach angekündigt, aber es kam und kam
nicht. Das Böse (nun in Gestalt der Römer) triumphierte weiter. Die Gerechten
Israels blieben unerlöst.
Dass Jesus Gottes Sohn sei, hielten die
Strenggläubigen für schlimmste Lästerung.
Und sie hatten die Mittel, die Querulanten
zu stoppen.
Hell schimmernd im Sonnenlicht, mit
Türen aus feinstem Holz, stand der große
Jahwe-Tempel auf einem Berg in Jerusalem. Priester in blauen Gewändern, an
denen Schellen und Edelsteine hingen,
schritten dort umher; sie wachten über die
Speisegesetze und die reine Lehre der
Tora. Es gab allein 24 Dezernate für den
Opferkult.
Wie hart der Kampf mit der neuen Splittergruppe ablief, zeigte sich alsbald. Etwa
36 n. Chr. wurde das ranghohe Gemeindemitglied Stephanus gesteinigt. Bald danach
kamen – laut Bibel – alle Apostel in Haft.
Petrus, der Leiter der Gemeinde, verteidigte sie. Im letzten Moment entschlüpfte
er ins rund 500 Kilometer entfernte Antiochia.
148
5 Tempel des Claudius
6 Kolosseum
7 Kolossalstatue Kaiser Neros
8 Triumphbogen Konstantins
Paulus stand anfangs auf der anderen
Seite. Unter dem Namen Schaul (Saul) in
Tarsus geboren, hatte er in Jerusalem beim
Rabbi Gamaliel studiert. Danach schloss
er sich den Pharisäern an – einer Religionspartei der Juden –, die an die Auferstehung der Toten glaubten und nach
strengster Zucht lebten.
Der junge Mann sprühte vor Geist. Auch
die aktuelle griechische Philosophie war
ihm geläufig.
Die Apostelgeschichte erzählt, dass Paulus als Spitzel begann. Auf dem Weg nach
Damaskus, wo er wohl im Auftrag des
Tempels Christen verfolgen sollte, sei ihm
plötzlich Jesus in einer Vision erschienen
und habe ihn umgestimmt.
Später bildete der Bekehrte die typisch
gequälten Züge des Konvertiten aus. Seine
Sprache war präzise, aber auch schroff und
aufbrausend.
Ausgangspunkt seiner Arbeit war ab
etwa 36 n. Chr. das herrliche Antiochia.
Bereits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg
barg ein Grabungsteam aus Chicago dort
ãIn dieser Zeit trat Jesus auf,
ein weiser Mensch. Er war nŠmlich
Vollbringer unglaublicher Taten.Ò
Flavius Josephus, Jüdischer
Geschichtsschreiber, 93 n. Chr.
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9 Tempel der Venus
10 Thermen des Titus
und des Trajan
ALINARI / INTE RF OTO
Rom zur Zeit Kaiser
Konstantins des Großen
Hunderte Mosaike, mit denen die Villen
der römischen Präfekten und jüdischen
Kaufleute gepflastert waren. Es sind die
prächtigsten der antiken Welt.
Etwa 300 000 Menschen lebten dichtgedrängt in der Stadt, darunter Inder und
germanische Söldner. Die Viertel der Syrer
und Griechen waren durch eine Mauer
getrennt.
Immer wieder kam es zu Krawallen. In
den Gassen und Souks roch es nach Koriander und Hammeldung. In den Tempeln
räucherte Götzenfleisch. Reiche ließen sich
des Nachts aus Angst von bewaffneten
Sklaven mit Fackeln den Weg weisen.
„Mit ihrer irrwitzigen ethnischen Heterogenität und den daraus resultierenden
bitteren Konflikten“, sagt der Soziologe
Stark, sei das erst 64 n. Chr. angegliederte
Antiochia eine typische Stadt des Imperiums gewesen: „Rom schuf seine ökonomische und politische Ordnung zum Preis
des kulturellen Chaos.“
Aus diesem Sumpf entstieg die Sehnsucht nach Erlösern. Die Cäsaren hatten
die antike Welt globalisiert. Sie war reif
für einen Monotheismus, der zu allen Völkern sprach.
Basis dieser Idee waren eindeutig die
jüdischen Viertel in den Großstädten, wo
der neue Glaube zuerst Fuß fasste. Unter
dem Honigmond des Orients saßen um
45 n. Chr. jene Umstürzler zusammen, die
das Urchristentum ausheckten.
Titel
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Tempel in Jerusalem hielten. Paulus’ Angebot – Freiheit von Beschneidung, Speisegesetzen und Festkalender – war für diese
Zuhörer durchaus verlockend. Sie lebten
unter dem Druck der Anpassung. „Mein
Volk“, „meine jüdischen Geschwister“, rief
der Prediger zärtlich. Über sich selbst sagte er: „Ich bin Israelit, aus dem Stamm
Benjamin.“
Dann redete er Tacheles. Das Ritualgesetz nannte er „Kot“, nur Dummköpfe
würden es sklavisch befolgen.
Mit einem – für das Altertum – ungeheuren Gedanken hielt der Prediger dagegen. Alle Schranken des Sozialen, der
Kulturen und des Geschlechts wollte er
einreißen – zumindest im Glauben. Das
Erlösungsangebot Jesu stehe allen Menschen offen, meinte er:
„Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch
Freier, hier ist nicht Mann noch
Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“
Große Worte.
Nietzsche hielt sie für den Beginn der Gleichmacherei. „Das
Gift der Lehre – gleiche Rechte
für alle – hat das Christentum
am grundsätzlichsten ausgesät“,
höhnte der Philosoph. Er empfahl, vor der Lektüre des Neuen
Testaments „Handschuhe anzuziehen“.
Ähnlich dachten die Gegner
von einst. Schon in Philippi, wo
Paulus seine erste gemischte
Gemeinde gründete, kam es
zum Eklat. Der Fremde wurde
von Entrüsteten mosaischen
Glaubens gefangen genommen.
Ähnlich lief es in Thessaloniki,
wo ihn Synagogengänger verjagten. Der Mann, der da behauptete, ihm entströme der
„Wohlgeruch“ des Erlösers,
wirkte wie ein verheerender
Spaltpilz.
In Korinth, wo er im Winter
49/50 n. Chr. ankam, blieb
Paulus 18 Monate. Die Hafenstadt war von
jeher eine Sündenmeile mit viel Prostitution.
Bald gab es auch dort Ärger. Einige Juden folgten dem Bekehrer, andere wurden eifersüchtig und zeigten ihn beim Prokonsul Gallio an. Aus einer steinernen Inschrift lässt sich schließen, dass der Apostel
51 n. Chr. dort weilte.
Gegenmissionare wurden tätig, von
Paulus als „Lügenbrüder“ und „Falschapostel“ beschimpft. Als die Gemeinden in
Galatien umschwenkten und vom gemeinsamen Essen mit den Heidenchristen Abstand nehmen wollten und sogar
deren Beschneidung forderten, geriet er
in Wut. Auch mit anderen Gemeinden
gab es immer wieder Stress. Mal „unter
Tränen“, mal polternd versuchte er seine
INTERFOTO
Wie weiland bei den K-Gruppen oder „neuen Bund“ mit dem Allmächtigen geden Leuten um Robespierre kam es aber schaffen, die Beschneidung sei überflüssig.
Ein universeller Heilsplan schwebte dem
auch bei diesen Weltverbesserern sogleich
zum Richtungsstreit. Es brach ein Problem religiösen Denker vor. Israel sollte sein Exauf, das die Sekte alsbald in eine schwere klusivrecht aufgeben.
Wohl 49 n. Chr. brach der Mann in AnKrise führen sollte.
Das kam so: Die im Schmelztiegel An- tiochia die Zelte ab und machte auf eigene
tiochia tätigen Frühchristen wandten sich Faust weiter. Was folgte, war ein lebensauch an Heiden. Einige der Ungläubigen gefährlicher Sturmlauf. Rückblickend wird
fanden Gefallen an der Botschaft von der Paulus sagen: „Ich bin oft in Todesnähe
Auferstehung des Herrn und schlossen sich gewesen. Von den Juden habe ich fünfmal
erhalten 40 Geißelhiebe weniger einen; ich
der Gemeinde an.
Ein verschworener Clan bildete sich, bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal
der Gottesdienste feierte und gemeinsam gesteinigt worden, dreimal habe ich Schiffaß. Sowohl Petrus als auch Paulus hielten bruch erlitten.“
Zuerst wandte sich Paulus nach Kleinsolche Mahlgemeinschaften ab. Locker
kochten die jüdischen und die vormals asien – von vielen Griechen bewohnt, eine
heidnischen Christen zusammen.
Das aber verstieß gegen die
Ritualgesetze im 3. Buch Mose.
Juden durften kein Schwein
essen, nicht Ersticktes, nicht
Blutwurst, weder Hasen, Uhus
noch Shrimps, Aale und anderes
Wassergetier ohne Schuppen.
Verboten war es, Milch- und Käsegerichte neben dem Fleisch
zuzubereiten: „Du sollst das
Böcklein nicht kochen in der
Milch seiner Mutter.“
Das war durchaus ehrenhaft
gedacht – in diesem Fall zugunsten der Ziege. Auch das seltsame Gebot, Obst von Bäumen
unter vier Jahren nicht anzurühren, ließe sich mit den hohen jüdischen Moralvorstellungen begründen – als Früchteschutz für Babybäume.
Im Jahr 48 kam es deshalb
zur Krisensitzung in Jerusalem.
Noch empfand man sich als innerjüdische Gruppierung. Jakobus, ein leiblicher Bruder Jesu,
lud zum Konvent. Schließlich
wurde ein harter Kurs beschlossen: kein Verzehr von Blut, von
Kaiser Konstantin der Große (Statuenkopf)
unkoscheren Speisen und kein
Sex mit den Heidenchristen.
Petrus gehorchte – vorerst. Er löste sei- Wiege der Kunst, des Sports, der Mathene Tischgruppe auf. Der Weg zur Welt- matik –, das seit über 100 Jahren schon
religion, kaum angedacht, schien schon von Roms Legionen unterjocht war. Nur
mit Wanderstab und Papyrusrolle eilte er
wieder verbaut.
Einzig Paulus hielt mit einigen Getreuen auf dem Landweg nach Europa.
Früher stellte man sich den Prediger wie
dagegen. Mit einem Eifer, den nur der
Glauben entfacht, versuchte er, die Kon- die Redner im Hyde Park vor. Doch er
ventsbestimmungen auszuhebeln. Paulus scheute eher die öffentlichen Plätze. Seine
wollte die Pforten des Tempels aufstoßen Anlaufstationen waren die Synagogen, die
und das Heil allen Menschen predigen, durchreisenden Juden auch Bett und Frühstück boten.
nicht nur den Juden.
Schon damals gab es in allen größeren
Der Ansatz, den der Abtrünnige dabei
verfolgte, ist bis heute für die Kirche von Städten des Römischen Reichs jüdische
größter Bedeutung. Weder die Beschnei- Gemeinden, ob in Korinth, Ephesus oder
dung noch das starre Einhalten von Essriten Philippi. In Rom standen rund ein Dutstimme Gott gnädig, argumentierte er. Viel- zend Synagogen, in Alexandria noch weit
mehr sei es allein der Glaube an Christus, mehr. Dort lebten gebildete Juden, die mit
der durch seinen Tod den Menschen von der griechischen Kultur aufgewachsen
der Sünde erlöst habe. Dieser habe einen waren und zugleich enge Verbindung zum
149
Titel
ihm hielten – das war die Saat des Urchristentums, die erst nach seinem Tod so richtig aufging.
Schließlich sammelte der Ex-Pharisäer
Geld, das er der bedrängten Gemeinde in
Jerusalem schenken wollte. Kaum war
er dort angekommen, wurde er angeschwärzt, ihm drohte die Todesstrafe. Als
sein Fall vor den Hohepriester Hananias
(47 bis 59 n. Chr.) kam, entstand heftiger
Streit zwischen den verschiedenen jüdischen Religionsparteien. Im letzten Moment holte ihn ein römischer Offizier aus
dem Saal und ließ ihn nach Caesarea in
Schutzhaft bringen. Es drohte ein Mordanschlag.
Dramatisch und sehr detailliert beschreibt die Apostelgeschichte, wie Paulus
sodann nach Italien überführt wurde. Als
römischer Bürger hatte er das Recht, sich
gen hauste. Manche entleerten ihre Nachttöpfe aus den Fenstern.
Aus Sicht der Christen war Rom ein einziges Verderben. Der Evangelist Johannes
nannte die Stadt eine „Hure“, ein „Tier
aus dem Abgrund“. Doch der Mann lebte
weitab in Kleinasien.
Die Christen vor Ort verhielten sich ruhiger, aus Angst vor Verfolgung. Meist verzerrt, in kurzen Notizen, berichten antike
Historiker über die Schar. Einer von ihnen behauptete, die Sekte würde „die Genitalien ihres Oberpriesters“ anbeten.
Unter Nero kam es 64 n. Chr. zur ersten
großen Verfolgung. Nach einem Großfeuer standen 10 der 14 Stadtteile in Flammen. Ein Sündenbock wurde gesucht. Deshalb habe der Kaiser die Christen, diese
„wegen ihrer Untaten verhassten Leute“,
in Tierhäute stecken und von Hunden zer-
HELD COLLECTION / BRIDGEMANART.COM
Schäfchen bei der Stange zu halten: „Wer
euch ein anderes Evangelium verkündet,
den trifft Gottes Fluch.“
Es ist diese – unsägliche – Auseinandersetzung, die Schatten auf die Frühkirche
wirft.
Den „Herrn“ hätten die Orthodoxen
getötet, rief Paulus, auch „uns haben sie
verfolgt und gefallen Gott nicht und sind
alle Menschen Feinde, indem sie uns wehren, den Heiden zu predigen“.
Johannes spricht später von der „Synagoge des Satans“: „Ihr habt den Teufel
zum Vater.“
Die Altgläubigen vom Tempel hielten
dagegen. In einem ihrer wichtigsten Gebete hieß es: „Und die Noserim (wohl Nazarener) und die Minim (Ketzer) mögen
augenblicklich vergehen, getilgt werden
aus dem Buch des Lebens.“
Jesus und seine Jünger (Fresko aus dem 3. Jahrhundert, in der Domitilla-Katakombe in Rom): Robin Hood aus der Levante
Aber auch bei der griechischen Bevölkerung hatte es die Jesus-Truppe schwer.
Die Idee der Wiederauferstehung, gedacht
als körperliche Rückkehr aus dem Grab,
galt den in Chemie bewanderten Hellenen
als unsinnig und anstößig. Es klang ihnen
wie eine Neuauflage des Mumienkults der
Ägypter.
Zur völligen Pleite geriet der Auftritt in
Athen – der alten Hauptstadt der Philosophie. Nach einer Rede auf dem Gerichtsplatz wurde Paulus als Schwätzer verspottet.
In Ephesus, wo er ab 52 n. Chr. mehrere Jahre weilte, geriet der Bekehrer erneut
in Haft: In der Stadt stand ein ungeheuer
prächtiger Artemistempel. Vor dem Heiligtum verkauften die Silberschmiede Andenken und Amulette. Als Paulus den
Götzendienst schalt, wollte ihn das Volk,
angeführt von einem Devotionalienhändler, lynchen.
Er hetzte weiter. Am Ende hatte er mindestens 13 Gemeinden gegründet, die zu
150
vor einem Gericht in der Hauptstadt zu
verteidigen.
Bei der Reise kam Sturm auf, vor der
Küste Maltas geriet man in Seenot. Schließlich erreichte der Segler die ebenso dreckige wie glänzende Supermetropole am Tiber.
Paulus lebte dort angeblich zwei Jahre lang
in einer Mietskaserne.
Dann brechen die Nachrichten leider ab.
Kein Evangelist beschrieb, wie der „Knecht
Gottes“ starb. In seinem letzten Brief warnte Paulus nur noch: Zahlt ja eure Steuern.
Dass er bald darauf vor den Toren Roms
enthauptet wurde, entstammt einer späteren Quelle.
So deckt sich ein Schleier des Schweigens über die Urchristen in jener Stadt, in
der es von rund einer Million Menschen
wimmelte, vom geschniegelten Senator bis
zum Waschweib. Im Zentrum standen
herrliche Marmorpaläste (siehe Schaubild
Seite 148). Gleich dahinter erhoben sich
20 Meter hohe Mietskasernen, in denen
der Plebs in elendigen Einraumwohnund e r
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reißen lassen, so Tacitus. Andere verbrannten nach Einbruch der Dunkelheit
als nächtliche Fackeln.
Auch den „Apostelfürsten“ Petrus soll
es damals erwischt haben. Kopfüber sei er
ans Kreuz genagelt worden. Doch die brutale Geschichte steht erst in den – um 180
n. Chr. verfassten – „Petrusakten“. Sonderlich glaubwürdig sind sie nicht. In diesem legendenhaften Bericht treten auch
sprechende Hunde und schwimmende
Räucherfische auf.
Alle Versuche der Päpste, den Gründer
des Stuhls Petri (auf dem sie als Nachfolger
sitzen) dingfest zu machen, sind bislang
gescheitert.
Angeblich liegen seine bleichen Gebeine
in einer Krypta unter dem Petersdom in
Rom. Über eine geschwungene Freitreppe, vorbei an vier gewundenen Bronzesäulen, geht es hinab ins Gewölbe mit dem
Petrus-Schrein. Nachforschungen ergaben
indes: Es ist ein heidnischer Grabplatz aus
der Zeit um 200 n. Chr.
Der historische Jesus
Archäologische Funde
haben die Evangelien in vielen Details
bestätigt. Überlieferte Personen und
Schauplätze existierten wirklich.
Soziales Umfeld
Jesu Heimat, Galiläa, wurde zu dessen
Lebzeiten von Herodes Antipas (4 v. bis
39 n. Chr.), einem Vasallen Roms, regiert.
Dieser ließ um 29 n. Chr. Johannes den
Täufer gefangen nehmen und enthaupten.
Sepphoris wurde von Herodes
Antipas als prachtvolles Zentrum
mit marmorgepflasterten Straßen
ausgebaut – Arbeit für zahllose
Handwerker, auch aus dem nahe
gelegenen Nazareth.
Seit 6 n. Chr. war die bäuerliche Bevölkerung Galiläas gezwungen, direkte Abgaben
an Rom zu zahlen (14 Prozent). Hinzu
kamen bis zu 21 Prozent Tempelsteuer an
Jerusalem. Die Folge: Überschuldung und
Landverlust vieler Bauern.
Leben Jesu
Geboren als „Jeschua“ zwischen 7 v. Chr.
und 2 n. Chr. in Nazareth als „Sohn eines
Bauhandwerkers“. Der griechische Philosoph Kelsos berichtet, dass seine Mutter
Maria ein Verhältnis mit einem Legionär
hatte: Jesus sei nichtehelicher Herkunft.
Mit etwa 15 Jahren ergreift der Junge den
Beruf des Vaters und arbeitet wahrscheinlich auf einer der beiden regionalen
Großbaustellen in
Sepphoris (errichtet ab 4. v. Chr.) oder
Tiberias (ab 18 n. Chr.).
Phönizien
Galiläa
Gebiet des Philippus
Kapernaum
Kana
Inschrift des Pontius Pilatus
entdeckt in den Ruinen des römischen Theaters; Die Steintafel beweist seine Stellung als Präfekt.
See
Sepphoris
Tiberias Genezareth
Nazareth
Nain
Dekapolis
Caesarea
Palästina zur Zeit Jesu
römische Verwaltung
Samarien
seit 6 n. Chr.
Statthalter von 26 bis 36
n. Chr.: Pontius Pilatus
Sichem
Herrschaft des
Herodes Antipas
Judäa
Peräa
Fischerboot vom
See Genezareth
Jericho
Asdod
Möglicherweise besucht Jesus eine lokale
Rabbischule, danach bricht er alle Familienkontakte ab und schließt sich dem Asketen Johannes dem Täufer an, der in der
Wüste von Peräa einen passiven Widerstand gegen soziale und koloniale
Unterdrückung lebt. Ab etwa 27 n. Chr.
kehrt er als Wanderprediger an den See
Genezareth zurück. Die Menschen dort
bauen Wein und Oliven an, unter Herodes
entsteht eine
Fischindustrie.
Jesus hält sich oft im
Haus des Petrus in Kapernaum auf.
Um 29 n. Chr. wagt der Prediger den
Schritt nach Jerusalem, wo er gegen die
Tempelsteuer und den erstarrten jüdischen
Opferkult opponiert. Nach kurzem Aufenthalt beschuldigt ihn der
Hohepriester Kaiphas der Gotteslästerung. Der römische
Präfekt Pontius Pilatus bestätigt
das Todesurteil und lässt ihn
kreuzigen.
Paneas
Tyrus
Jordan
Gegen das immer stärker werdende Gefälle zwischen Arm und Reich regte sich bald
vielfältiger Widerstand.
„Haus des Petrus“ Möglicher
Wohnsitz des Apostels, bereits im 1.
oder 2. Jh. als Kirche genutzt. Auf den
Wänden des Gebäudes finden sich Inschriften wie „Jesus“ und „Petrus“.
Jerusalem
aus dem 1. Jh. n. Chr.;
1986 im Ufersediment
entdeckt; mit solchen
Booten fuhren vier der
Jünger Jesu, die von
Beruf Fischer waren.
Qumran
Betlehem
Askalon
Gaza
Idumäa
Totes
Meer
Grenze der röm.
Provinz Judäa
und Syrien
(ab 44 n. Chr.)
Skelett eines Gekreuzigten
aus dem 1. Jh. n. Chr.; nördlich von Jerusalem aufgefunden; Der Fussknöchel war von
einem Eisennagel durchbohrt und an einen
Holzbalken gepflockt.
d e r
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Knochenkasten
des Kaiphas
1990 in Jerusalem entdeckt; aramäische
Namensinschrift, das Grabgewölbe
stammt aus der Zeit vor 70 n. Chr.
151
AFP (L.); AP / ULLSTEIN BILD (R.)
Kreuzigungsszene (aus dem Film „Die Passion Christi“, 2004), Gläubige in der Grabeskirche in Jerusalem: Auf die Urgemeinde wirkte die Quälerei
Und doch formte sich der Kreuzesclan
heimlich zu immer größerer Stärke. Das
gesamte Neue Testament entstand zwischen 50 und 120 n. Chr.
Zunächst gab es nur Briefe und eine
Spruchsammlung mit Jesu Worten. Der
Apostel Markus schuf dann eine neue literarische Form. Um 70 n. Chr. griff der Autor (ein Jude und Begleiter von Paulus)
zur Feder und schrieb einen Roman
vom Leben und Sterben des Herrn – sein
Evangelium.
Die neue Erzählweise traf den Nerv der
Massen. Bald zogen Matthäus und Lukas
nach. Als Letzter schrieb um 95 n. Chr.
Johannes, der auch noch einen deftigen
Weltuntergang verfasste.
Das Aufblühen des christlichen Schrifttums war offenbar eng verzahnt mit dem
Niedergang der orthodoxen Gegner. 66
n. Chr. begann in Palästina eine Katastrophe. Nach einer Revolte schlug das Imperium erbarmungslos zurück. Vier Legionen
eilten herbei. Jerusalem wurde mit Rammböcken gestürmt, der Tempel geschleift.
Im Jahr 132 n. Chr. folgte die noch härter geführte letzte Runde im Kampf Jupiter gegen Jahwe. „Etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Palästinas, circa eine
halbe Million, verlor während des Aufstands ihr Leben“, schreibt der Historiker
Markus Sasse.
Judäa lag in Asche. Kaiser Hadrian erließ damals sogar ein Verbot der Beschneidung.
Das schwächte die Altgläubigen enorm.
Viele Forscher glauben, dass die DiasporaJuden nun im großen Stil zum Christentum
umschwenkten. Die neue Religion sei eine
Art „Judentum light“ gewesen, erklärt der
Theologe Knauf, „damit konnten die unter
starkem Assimilationsdruck Stehenden
besser leben“.
152
Klar ist, dass die beiden Bruder-Religionen weit länger ineinander verschlungen
waren, als die Päpste später wahrhaben
wollten. Noch um 230 n. Chr. focht der
Kirchenvater Origenes mit mosaischen Gelehrten ein Rededuell „vor Schiedsrichtern“ aus.
Die aktuellen Grabungen bestätigen das
Bild: Die frühesten Kirchen aus dem 3. und
4. Jahrhundert standen allesamt in den
jüdischen Vierteln.
Selbst die erste Gemeindeordnung
(um 120 n. Chr.) liest sich wie ein Zerrspiegel der Tora. „Eure Fastentage sollen
nicht mit den Heuchlern zusammen sein“,
so heißt es da schroff, „sie (die Juden)
fasten nämlich am Montag und Donnerstag; ihr aber sollt am Mittwoch und Freitag fasten.“
Aber auch unter den Griechen im Osten
des Reichs gewann die Sekte nun zunehmend Anhänger – sie verließ gleichsam die Ghettos. „Nicht nur über die
Städte, sondern auch über die Dörfer und
Felder hat sich die Seuche dieses Aberglaubens ausgebreitet“, schreibt im
Jahr 112 n. Chr. der Statthalter von Bithynien (in Kleinasien). Dies ist das erste
Zeugnis für eine flächendeckende Inva-
ãIst es nicht wahr, guter Herr,
dass Ihr . .. von einer Frau zur
Welt gebracht wurdet, die als
Spinnerin arbeitete ... und des
Ehebruchs beschuldigt wurde,
nachdem sie von einem ršmischen
Soldaten namens Panthera
geschwŠngert worden war?Ò
Der Philosoph Kelsos um 180 n. Chr. über Jesus
d e r
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sion des Christentums. Im Orient ging es
voran.
Der ruppige Norden dagegen blieb
zurückhaltend. In Gallien und der Provinz
Germania waren die Vorbehalte groß. Rom
liebte Pferderennen, deftige Schauspiele,
blutigen Sport – alles Dinge, die den Christen verboten waren.
„Wer nicht arbeiten will, der soll auch
nicht essen“, heißt es bei Paulus. Matthäus
sagt: „Ihr könnt nicht Gott dienen und
dem Mammon.“
Solche Sätze gefielen den Senatoren,
die auf Fressbetten lagen und gegarte Flamingozungen speisten, in keiner Weise. All
die goldbetressten Feldherrn, Latifundienbesitzer und Bankiers, deren Sklaven in
den Silberminen schufteten, mochten die
Bibel nicht.
Besonders übel stieß ihnen der Spruch
von der Gleichheit von Mann und Frau
auf. Zwar machte Paulus an anderer Stelle Einschränkungen („Ihr Frauen ordnet euch euren Männern unter“,
Epheser 5,22). Gleichwohl wies er ihnen wichtige Aufgaben in der Urkirche zu. Bald stiegen Frauen zu Diakoninnen und Leiterinnen von Hauskirchen auf.
In der heidnischen Machowelt stand die
Frau bis dahin viel weiter unten. Sie galt als
biologisch minderwertig. Witwen verarmten schnell und bettelten zu Tausenden auf
den Straßen. Mädchen wurden zwangsweise – ab zwölf Jahren – verheiratet, oder
man tötete sie gleich nach der Geburt.
Gegen diese rohe Sitte stemmten die
Christen eine neue Moral. Weder erlaubten
sie die Scheidung (was ein Verelenden der
Frauen verhinderte), noch überließen sie
Witwen ihrem Schicksal. Ein enges Helfernetz wurde aufgebaut – das Kreuz als
soziale Bewegung.
Titel
wie ein Schock
Entsprechend groß war der Zulauf. Ein
antiker Gegner der Sekte sah es so: „Aus
der untersten Hefe des Volkes sammeln
sich da die Dummen und die leichtgläubigen Weiber, die wegen der Beeinflussbarkeit ihres Geschlechts ohnedies auf alles
hereinfallen.“
Doch gerade weil die Urkirche die wirtschaftliche Stellung und die Würde der
Frau hob, kam sie immer besser in
Schwung. Sie wuchs und wuchs – nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auch streng
gegen die Kinderverhütung aussprach.
Was den Samen von der Scheide fernhielt, galt als Sünde. Der Apostel Barnabas
schimpfte über jene „verdorbenen Weiber,
die mit ihrem Munde das Böse tun“.
Ganz anders die Heiden: Manche verhüteten mit Kondomen aus Ziegenblasen.
Bei der Abtreibung kamen schwere Gifte
oder gebogene Klingen und Haken zum
Einsatz, mit dem der Fötus gewaltsam entfernt wurde.
Arme Leute – 90 Prozent des Volks –
konnten es sich einfach nicht leisten,
mehrere Kinder durchzubringen. Seneca
hielt das Ertränken von Neugeborenen,
vor allem von Mädchen, aber auch von
schwachen Babys, deshalb für ebenso vernünftig wie üblich.
Der US-Archäologe Lawrence E. Stager
machte in der Hafenstadt Askalon im Abwasserkanal unter einem Badehaus einen
schrecklichen Fund: „Im Müll lagen
annähernd hundert Säuglinge.“ Sie waren
gleich nach der Geburt in die Kanalisation
geworfen worden.
Zwar hielt der Staat dagegen. Früh wurden Gesetze erlassen, um Kinderlose finanziell zu bestrafen und ihnen Rechte zu
entziehen. Doch es half alles nichts. Schon
um die Zeitenwende sei die Geburtenrate
im Römischen Reich „unter die Ersatz- und
Reproduktionsschwelle“ gefallen, schreibt
der US-Soziologe Stark.
Die Christen dagegen waren fruchtbar
und mehrten sich. „Unsere Zahl wächst
von Tag zu Tag“, frohlockte einer von ihnen. Ein anderer gab sich staatstragend:
„Wir müssen Lasten auf uns nehmen, welche von den Heiden meistenteils vermieden werden.“ Diese seien durch „Kindsmord dezimiert“.
Der Ton der anschwellenden Gemeinde
wurde denn bald auch kecker – und irrationaler. Ihre Wortführer zogen über den
„teuflischen“ Geist der Heiden her. „Unter
Verachtung der heiligen Schriften Gottes beschäftigen sie sich mit Geometrie“,
schimpfte der Kirchenvater Eusebius.
Ergebnis: Die Wissenschaft fiel bald ins
Dauerkoma.
Jetzt, im 3. Jahrhundert, wuchs die Bewegung langsam zu einem Kreuzzug heran. Sie verließ die jüdischen Viertel.
Vor allem die Griechen begeisterten sich
nun für Taufe und Abendmahl. Aber
auch einfache Leute stiegen ein, Handwerker und Sklaven. Der Sozialist Friedrich Engels sprach von einer „Bewegung
Unterdrückter“.
Doch noch war der Kaiser zu keiner
Gnade bereit. Ab 249 n. Chr. kam es zu
fürchterlichen, reichsweiten Pogromen.
Das Imperium schlug zurück.
Aufwiegler kamen in Bergwerke. Geschoren, angekettet und gebrandmarkt
taten sie in Marmorbrüchen Dienst. Als
vier christliche Bildhauer in einem pannonischen Steinbruch ankamen, pickelte dort
bereits ein Bischof aus Antiochia.
Es nutzte nichts. Vor allem über die
Frauen, gleichsam durch die Hintertür,
brach sich das Christentum nun endgültig
Bahn. Um 370 n. Chr. war die Hausmission
bei Heidinnen so erfolgreich, dass der Kaid e r
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ser Valentinian ein letztes Mal die Notbremse zog. Er verbot das religiöse Klinkenputzen. Denn war erst mal die Mutter
getauft, riefen die Kinder bald ebenfalls
Hosianna. Die Forscher sprechen von „Sekundärbekehrung“.
Auch der große Kaiser Konstantin kam
so mit dem neuen Glauben in Kontakt.
Seine Mutter Helena, eine Wirtstochter,
war von ihrem Mann verstoßen worden
und lag lange in der Gosse. Dort nahm sie
den Jesus-Glauben an.
Als der Sohn sie „vom Mist auf den
Thron“ hob, wie es in der Antike hieß, lag
sie ihm ständig mit der frohen Botschaft in
den Ohren. Noch im Alter von über 70 Jahren reiste die Dame ins Heilige Land und
besuchte Jesu Geburtsstätte in Nazareth.
Dann wuchsen prächtige Kirchen empor. Beamte, Kaiser, Feldherren ließen sich
taufen. Im Jahre 380 n. Chr. war es so weit:
Der Glaube aus dem Orient wurde zur
Staatsreligion.
Mit dem Einströmen breiter Volksschichten vergaß das Christentum allerdings immer mehr seine jüdischen Wurzeln. Das alte Bilderverbot fiel. Eine neue
Form von Götzendienst entstand. In den
Katakomben von Rom erhielt Jesus erstmals ein Gesicht. Meist wurde er anfangs
als Wundertäter und Zauberer dargestellt,
etwa beim Erwecken des Lazarus von
den Toten.
Schließlich rückte man ihn sogar als
Herrscher und König ins Bild.
Das Christentum hatte triumphiert. An
Roms Grenzen ging es damals allerdings
militärisch bergab. Christliche Gutmenschen gab es nun genug, kämpfen wollte
keiner mehr.
Auch die Büßer, Einsiedler und Mönche, die in die Einsamkeit ausschwärmten, trugen zum Erhalt des Reichs wenig
bei. Um 400 n. Chr. kam in der Wüste
Ägyptens der masochistische Teil der Bewegung in Gang. Auch dafür hatte noch
Paulus die Saat ausgestreut.
In engen Zellen lebten die Eremiten,
andere verkrochen sich in Gräbern oder
Tierställen, aßen bloß Gras oder hängten
sich schwere Eisen ans Gemächt. Der heilige Simeon stand 37 Jahre lang bei Wind
und Wetter auf einer Säule, die er nur
nachts verließ.
All das aber ist bereits Kirchengeschichte und hat mit dem Mann aus Nazareth
nicht mehr viel zu tun. Der saß oft mit
Sündern und Huren zusammen. Die Fleischeslust wollte er streng auf die Ehe begrenzen.
Dort aber war alles erlaubt.
„Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut
es“, heißt es bei Erich Kästner. Diesen Satz
hätte der Mann aus Galiläa unterschrieben. Sein Vermächtnis ist einfach.
Rabbi Hillel, ein Zeitgenosse Jesu,
drückte es so aus: „Was dir nicht lieb ist,
das tue auch deinem Nächsten nicht. Das
ist die ganze Tora.“
Matthias Schulz
153
Titel
„Das Blut der Versöhnung“
Zu den Grundlagen der abendländischen Kultur gehört eine brutale Geschichte von Verrat, Folter
und Mord. Der Fall Jesus Christus, neu verfilmt von Mel Gibson, fesselt die Menschen
noch immer: Scharlatan, Heiland, Produkt der Phantasie? Wer eigentlich hat Jesus umgebracht?
KNA
Papst-Segen auf dem
Petersplatz in Rom
D
ie Verse sind fast 350 Jahre alt,
aber überhaupt nicht von gestern:
„O Haupt voll Blut und Wunden,
voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt,
zum Spott gebunden mit einer Dornenkron!“
Der sächsische Protestant Paul Gerhardt
(1607 bis 1676) hat den berühmten Choraltext geschrieben, Bach hat ihn zum Höhepunkt seiner Matthäuspassion gemacht,
und er könnte ein Werbeslogan für Mel
Gibsons Jesus-Film „Die Passion Christi“
sein, diese bildmächtige Folterorgie, die
seit Mitte März auch die deutschen Kinobesucher schockiert.
„Du edles Angesichte, davor sonst
schrickt und scheut das große Weltgewichte, wie bist du so bespeit, wie bist du
so erbleichet, wer hat dein Augenlicht, dem
sonst kein Licht mehr gleichet, so schändlich zugericht’?“ O-Ton Gerhardt, der sich
154
auch als Regieanweisung zu Gibsons spektakulärem Film lesen lässt.
Aus der Ferne der Jahrtausende kehrt
ein Mann auf die Medienbühne zurück,
der auf den ersten Blick wie ein Alien
wirkt: Jesus Christus, der Schmerzensmann. Eine ökonomische Botschaft hat er
nicht, bis auf die, dass Ökonomie nicht
alles ist. Seine Bergpredigt mit der Schlüsselbotschaft „Liebt eure Feinde“ – keine
seriöse Politik kann damit etwas anfangen.
Zudem schmecken die Behauptungen der
Bibel über seine Person nach Legende und
Schwindel: Er sei von einer Jungfrau geboren worden, er habe Wunder bewirkt,
und schließlich sei er auferweckt worden
von den Toten und sitze zur Rechten Gottes – wer soll das glauben?
Und doch macht der seltsame Wanderprediger von sich reden: Das Buch des
CDU-Sozialpolitikers Heiner Geißler „Was
d e r
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1 6 / 2 0 0 4
würde Jesus heute sagen?“ erreicht inzwischen die siebte Auflage. „Die politische
Botschaft des Evangeliums“ (Untertitel),
das auch den Armen und Ausgestoßenen
Erlösung verheißt, scheint selbst in Zeiten
fortschreitender sozialer Desillusionierung
von Interesse. Der Kultursender Arte widmet bis Mitte April zehn hochinspirierte
Folgen dem Thema „Die Geburt des Christentums“ – der schrittweisen Loslösung
von Jesu Lehre aus dem Judentum.
Auch zum Romanhelden bringt es der
Mann mit der Dornenkrone dieser Tage
ohne Probleme. Anfang des Jahres erschien in Deutschland Dan Browns Thriller „Sakrileg“, seit Wochen auf Platz eins
der SPIEGEL-Bestsellerliste. Das Buch
handelt vordergründig von einem aktuellen, mysteriösen Mord im Pariser Louvre.
Doch den Hintergrund bildet eine abenteuerliche Story aus tiefer Vergangenheit:
ICON
Szene aus Gibsons
„Die Passion Christi“
Darin zeugt Jesus mit Maria Magdalena
ein Kind. Nach dem Ende des Gekreuzigten flieht die Christus-Ehefrau ins römisch besetzte Gallien und bringt die
Jesus-Tochter Sarah zur Welt. Im fünften
Jahrhundert heiratet Sarahs Nachfahrin
ins Königsgeschlecht der Merowinger ein
– der Religionsstar taugt sogar für den
Boulevard der Kolportage.
Am lautesten aber ist das Getöse
um Gibsons Film „Die Passion Christi“,
der die letzten zwölf Stunden des Galiläers als Blut-und-Peitschen-Oper für
Nervenstarke vorführt. Während das
umstrittene Werk in den USA ein Riesenerfolg ist, und sich die Produktionskosten von 30 Millionen Dollar
schnell amortisierten, übte man sich hier
zu Lande vor allem in Abwehrarbeit. Die
deutschen Kritiker verweigerten Gibsons Schinderstück überwiegend die
Zustimmung. „Filmischer Devotionalienkitsch“, schimpfte ein Kritiker, die
„Zeit“ nannte das Werk „dumm“ und
„unchristlich“ und rückte es in die
Nähe von Sado-Maso-Phantasien. Berichte über einen Infarkttod während
einer Kinovorstellung in den USA
schreckten in Deutschland manchen
sensiblen Zuschauer ab (siehe Kasten
Seite 158).
Gibson, dieser einstige Saulus der
Suff- und Rauschgiftgesellschaft, den mit
35 die Droge Umkehr zum erzkatholischen Paulus gemacht hat, inszeniert seine „Passion“ wie einen Western: hier
die bösen Kriegsknechte, die bösen jüdischen Glaubenshüter und der unsichere, aber nicht ganz unsympathische
Römer Pontius Pilatus, dort der einsame
Gottesvertraute Jesus. Zum Showdown
treten an: Peitsche gegen Haut, Brutalität
gegen Leidensfähigkeit. Wie auf Erden,
also auch im Himmel – Gibsons TheoCinema ist knallhart gnostisch: Die
Mächte der Finsternis kämpfen gegen
die Mächte des Lichts.
Da geht es fast so martialisch zu wie
im richtigen Leben, diesem tagtäglichen
Alptraum aus blutigen Anschlägen, fehlgeleitetem Gotteskämpfertum und fundamentalem Starrsinn. Empfindsame
Mitteleuropäer verdrängen, wenn sie
sich über all das empören, allzu rasch:
Auch zu den Grundlagen der glorreichen westlichen Zivilisation, die Ideale
wie Freiheit, Menschenrechte und Weltfriede vor sich herträgt, gehört eine brutale Geschichte von Verrat, Folter und
Mord.
Sie handelt davon, wie ein gewisser
Jeschua Ben Josef, ein Handwerker aus
Nazaret (aramäisch „Jeschua“ heißt
„Gott hilft“, ein damals dort häufiger
Name) und später noch Jesus „Christus“
(„der Gesalbte“) genannt, nach kurzem
Leben – man weiß nicht recht, warum –
mit dreißig am Kreuz zu Tode kam.
Dann erzählt sie von seiner wunderba155
Titel
ne Zeugen, frisierte Unterlagen, ungenaue
Protokolle. Haben den Juden Jesus die Juden beseitigt? Sind es die Römer gewesen?
Wer außer Römern oder Juden soll es denn
sonst gewesen sein – schließlich spielt dieser Teil der Geschichte in Jerusalem.
Das Drehbuch, das die Evangelien für
den „Lehrer“ (Mt 23,10) Jesus entworfen
haben, sieht den Tod als Höhepunkt der
Geschichte von Anfang an vor – schließlich
sie werden ihn zum Tod verurteilen und
den Heiden übergeben, damit er verspottet,
gegeißelt und gekreuzigt wird; aber am dritten Tage wird er auferstehen“ (Mt 20,18-19).
Jesus selbst war mit diesem Plan Gottes
einverstanden. Denn als Petrus, sein erster Jünger, ihn lange vor seinem Tod bat,
sich doch solchen Mordplänen zu entziehen, fuhr Jesus ihn an: „Weg mit dir, Satan,
geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht
das im Sinn, was Gott
will, sondern was die
Menschen wollen“ (Mk
ES DURFTE KEIN GEWÖHNLICHER TOD
8,33).
SEIN. DER SOHN GOTTES MUSSTE
Die Pharisäer, die es
ausnahmsweise einmal
ERMORDET WERDEN. ABER DURCH WEN?
gut mit Jesus meinen,
ist Religion von fast allen Völkern erdacht warnen ihn vor den Mordplänen des Heworden, um das jenseitige, das Leben nach rodes – historisch ist davon nichts bedem Tod vorstellbar und erträglich zu ma- kannt, doch immerhin galt Herodes Antichen; um die Angst vor dem Tod in meta- pas, der Johannes den Täufer umbringen
physische Heilserwartung umzumünzen. ließ, nicht gerade als zimperlich. Trotzdem
Das Evangelium denkt auch den Anfang lässt sich Jesus nicht von einem Besuch
seiner Geschichte vom Ende her. Der Mär- Jerusalems abbringen: „Ein Prophet darf
tyrertod ist ein Grunderlebnis des Glau- nirgendwo anders als in Jerusalem umbens. So wurde das Kreuz zum Symbol des kommen“ (Lk 13,31).
Auf einem Esel reitet er in Jerusalem
Christentums – und Folter und Mord wurden zu wesentlichen Bestandteilen der ein. Der Empfang, der ihm laut Matthäus
und Johannes in der Heiligen Stadt bereiabendländischen Kultur.
Jesus, dieser von Gott auf die Erde tet wird, ist standesgemäß für einen Mesgeschickte Gottessohn, der in seinem kur- sias. „Viele Menschen“ (Matthäus), die
zen öffentlichen Leben so viel Positives ge- „Volksmenge“ (Johannes), stehen jubelnd
redet und bewirkt hatte, musste die Welt am Rand, legen Äste und Kleider auf
noch durch seinen Tod erlösen. Aber: Es den Boden, schwenken Palmzweige,
durfte kein gewöhnlicher Tod sein. Der schreien „Hosanna“ und „Gesegnet sei der
Sohn Gottes musste ermordet werden. König, der kommt im Namen des Herrn“
(Lk 19,38).
Aber durch wen genau?
Jesus gerät darüber offenbar in EndzeitBereits zu Beginn seines öffentlichen
Wirkens überlegten die Pharisäer, wie sie stimmung. Er knüpft aus Stricken eine
ihn umbringen könnten (Mk 3,6). Dass Geißel und treibt Händler wie GeldwechsJesus diesen Plan Gottes genau kannte, ler aus dem Jerusalemer Tempel. Dann
verriet er seinen Jüngern angeblich bis ins redet er sich von der Seele, was ihn in
dieser letzten Lebensphase bewegt:
Detail:
Mit einem siebenmaligen „Wehe euch“
„Der Menschensohn wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten ausgeliefert; verflucht er die Doppelmoral der Schriftgelehrten und Pharisäer; er weissagt die
Christenverfolgungen nach seinem Tod
Kaiser Augustus
(„um des Evangeliums willen“) und die
Zerstörung Jerusalems (die erst 40 Jahre
später, im Jahre 70, durch die Römer erfolgt).
Schließlich kündigt er das nahe Ende
mit der Wiederkunft des Menschensohnes
Einzug Jesu in Jerusalem
A KG
ren Auferweckung und seiner Karriere als
Heiland einer Weltreligion.
Aber was heißt hier schon Geschichte?
Kein schriftliches oder auf andere Weise
authentisches Zeugnis aus seiner Hand ist
bekannt. Wir wissen nicht, ob er überhaupt
schreiben konnte, ob er außer Aramäisch
auch Griechisch, die damalige Intellektuellensprache, verstand. Und: Hatte er Geschwister? War seine Mutter wirklich eine
Jungfrau – oder bloß eine „junge Frau“,
wie eine Quelle sagt? War er das uneheliche
Kind eines römischen Besatzungssoldaten?
Warum haben ihn antike Historiker wie Flavius Josephus, Sueton und Tacitus nur unter „ferner liefen“ erwähnt?
Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius
Josephus (37/38 bis 100 nach Christus), der
über Krieg und Kult seines Volkes Bücher
verfasst hat, erwähnt in seiner Schrift „Jüdische Altertümer“ (um 93) Jesus zweimal.
In einem Bericht über die Verurteilung und
Steinigung des Jakobus, der die Christenschar in Jerusalem angeführt hatte, charakterisiert Flavius Josephus diesen als „Bruder
Jesu, der Christus genannt wird“. Die Stelle gilt als authentisch – im Gegensatz zu
dem berühmten „Testimonium Flavianum“,
wo Josephus Jesus als „weisen Menschen“
und „Lehrer“ bezeichnet, der „unglaubliche
Taten“ vollbracht und „viele Juden und Heiden“ angezogen habe: „Und obgleich ihn
Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte,
wurden doch seine früheren Anhänger ihm
nicht untreu.“ Kernsätze dieser Passage
stammen wohl vom Autor, gewiss aber wurde sie auch von einem Abschreiber kreativ
überarbeitet, vor allem positiv gefärbt.
Die „Annalen“ des römischen Historikers Publius Cornelius Tacitus (55/56 bis
120 nach Christus) erwähnen Jesus mit einem einzigen Satz; Tacitus sagt, Kaiser
Nero habe als Sündenböcke für den Brand
Roms im Jahre 64 Leute verfolgt, die man
„christiani“ nenne – „dieser Name stammt
von Christus, der unter Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war“. Sueton schließlich, der Advokat und Kaiserbiograf (70 bis etwa 130),
schreibt in dem Buch „Das Leben der Caesaren“ (etwa 120) darüber, wie Kaiser Claudius aufsässige Juden aus Rom gejagt habe:
„Die Juden, die, von Chrestus aufgehetzt,
fortwährend Unruhe stifteten, vertrieb er
aus Rom“ („Chrestos“ war ein griechischer
Sklavenname, der umgangssprachlich auch
auf Christen übertragen wurde).
Und dann erst der „Mordfall“ Jesus. Da
handelt es sich um ein Justizdrama, das nach
heutiger Aktenlage kaum aufklärbar ist, wie
so vieles im Leben dieses Herrn: befange-
Der Beginn des Christentums
30 v. Chr.
20
Römische Kaiser
Jüdische Herrscher Herodes der Große
156
Geburt Jesu
10
Öffentliches
Wirken Jesu
0 n. Chr.
10
Augustus
s p i e g e l
30
Tiberius
Herodes Antipas
d e r
20
1 6 / 2 0 0 4
Kreuzigung
Caligula
ICON
„Die Passion Christi“-Szene (mit Maria-Magdalena-Darstellerin Monica Bellucci): „Filmischer Devotionalienkitsch“?
Apostelkonzil
in Jerusalem
40
Paulinische
Briefe
50
Claudius
Herodes Agrippa I.
in den kommenden Stunden enttäuschen
wird: Kassenwart Judas wird ihn an seine
Häscher verraten und mit dem falschen
Kuss das Signal zur Ergreifung Jesu geben.
Unglaublich erscheint für Petrus, den
„Fels“, auf den laut Bibel später die Kirche
gebaut wird, was der Meister dabei ihm
weissagt: In dieser Nacht, „ehe der Hahn
zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen“ (Mk 14,30). Am späten Abend
brechen dann alle auf zu dem Gang über
den Ölberg in Richtung Bethanien, zum
gemeinsamen Nachtquartier im Hause Simons, des Aussätzigen.
Dann wird es dramatisch:
Ölberg, Garten Getsemani. Jesus betet
in Todesangst; Schweiß rinnt „wie Blut“ (Lk
22,44) von ihm herab, während seine Jünger
eingenickt sind. Plötzlich erscheint „eine
70 n. Chr.: Zerstörung Jerusalems
durch die Röme
Römer
Aufruhr der jüdischen
Bevölkerung in Palästina
60
Nero
A KG
und dem Beginn des Weltgerichts an.
„Schon früh am Morgen kam das ganze
Volk zu ihm in den Tempel, um ihn zu
hören“ (Lk 21,38). Und: „Das Volk war
über seine Lehre bestürzt“ (Mt 22,33).
Die Hohenpriester und Schriftgelehrten
haben sich, ganz ohne Volk, im Palast
des Hohenpriesters Kajaphas versammelt.
Dort fassen sie offenbar in aller Stille den
Beschluss, Jesus zu töten. Der JesusJünger Judas verspricht ihnen, gegen eine
Geldzahlung, nach Matthäus 30 Silberlinge, bei der Gefangennahme seines Rabbis
zu helfen.
Laut Matthäus-Evangelium bringt Judas
die 30 Silberlinge später zurück und erhängt sich (Mt 27,3-5); laut Apostelgeschichte kauft er sich für das Geld einen
Acker, „stürzte vornüber zu Boden, sein
Leib barst auseinander, und alle Eingeweide fielen heraus“ (Apg 1,18).
Am Donnerstagabend, einen Tag vor seiner Hinrichtung, geht Jesus mit seinen Jüngern zum Abendessen in das Gemach eines
Jerusalemer Hauses. In diesem Haus wollten sie auch das nahe Pessachfest feiern.
Bei diesem „letzten Abendmahl“ teilt
er Brot und Wein (für Gläubige: seinen
Leib und sein Blut) mit den Jüngern und
sagt ihnen voraus, wer aus ihrem Kreis ihn
Vierkaiserjahr
Herodes Agrippa II.
Das Christentum wird Staatsreligion im Römischen Reich
Entstehung der Evangelien nach
Matthäus, Markus, Lukas, Johannes
70
Vespasian
d e r
große Schar von Männern, die mit Schwertern und Knüppeln bewaffnet“ sind, im Auftrag der Hohenpriester (Mt 26,47); vorneweg
schreitet Judas zum Judas-Kuss. Eine ganze
römische Kohorte (rund 500 Soldaten) ist
dabei (laut Johannes).
Im Tumult schlägt Petrus einem Knecht
der Hohenpriester mit einem Schwert ein
Ohr ab; aber Jesus berührt die Wunde, und
schon ist das Ohr wieder dran. Während alle
Jünger fliehen, wird Jesus gefesselt und abgeführt. Im Innern des Hauses von Kajaphas hat sich die gesamte jüdische Elite Jerusalems versammelt und fasst „den Beschluss, Jesus hinrichten zu lassen“ (Mt 27,1).
Gefesselt wird der Übeltäter zum römischen
Statthalter Pilatus abgeführt.
Vor Pilatus beschuldigen die Hohenpriester und Ältesten Jesus, er wiegele das
Volk auf; er verbiete, dem Kaiser Steuern
zu zahlen; er behaupte, er sei der „Messias
und König“. Pilatus fragt Jesus, ob er der
König der Juden sei. Jesus antwortet: „Du
sagst es.“ Pilatus, der die Antwort offenbar
nicht ernst nimmt, sagt „zu den Hohenpriestern und zum Volk: Ich finde nicht,
dass dieser Mensch eines Verbrechens
schuldig ist“ (Lk 23,2-4).
Als Pilatus hört, dass Jesus aus Galiläa
stammt, schickt er ihn zum Vierfürsten
s p i e g e l
80
90
Titus
Domitian
1 6 / 2 0 0 4
100
Nerva
380
Theodosius I.
157
Titel
Herodes Antipas, der für Galiläa zustän- gniert, wäscht sich vor aller Augen die
dig ist und sich zufällig in Jerusalem aufhält. Hände und spricht: „Ich bin unschuldig am
Residenz des Herodes Antipas: Der Blut dieses Menschen.“ Worauf „das ganze
Fürst ist hocherfreut, hat viel von Jesus Volk“ antwortet: „Sein Blut komme über
gehört, erwartet ein Wunderzeichen, uns und unsere Kinder.“ Pilatus gibt den
stellt viele Fragen, erhält aber von Jesus Mörder Barabbas frei, Jesus aber „lässt er
keine einzige Antwort. Die gute Anfangs- geißeln und kreuzigen“ (Mt 27,19-26).
stimmung schlägt um
in Spott und Hohn;
schließlich lässt Herodes IRGENDWANN VOR DEM PESSACHFEST
ihm „ein Prunkgewand“
(Lk 23,11) anziehen und BEKAM JESUS PROBLEME
ihn zu Pilatus zurück- MIT DER RÖMISCHEN BESATZUNG.
führen.
Damit haben die Evangelien die Frage
Pilatus, der „die Hohenpriester und die
anderen führenden Männer und das Volk“ „Von wem wurde Jesus umgebracht?“ zweiherbeigerufen hat, verkündet: „Er hat nichts fach beantwortet. Zum einen: Die Römer
getan, worauf die Todesstrafe steht. Daher haben ihn gekreuzigt, weil nur sie in ihren
will ich ihn nur auspeitschen lassen, und Provinzen die Gerichtsbarkeit bei Kapitaldann werde ich ihn freilassen“ (Lk 23,13-16). verbrechen wie Aufruhr und MajestätsbeDie Hohenpriester und die Ältesten, so leidigung hatten; und wohl auch weil Jesus,
heißt es bei Matthäus, wiegeln die Leute indem er auf die Wiederholung der Pilatusauf, so dass sie fordern, er solle ihnen statt Frage nicht mehr reagierte, ihnen allzu
Jesus den Aufrührer und Mörder Barabbas widerspenstig erschien. Und sie taten dies
zugleich, weil die jüdische Führungsschicht
freigeben und Jesus töten lassen.
Dreimal versucht Pilatus, die Volksmas- unbedingt auf dem Tod Jesu bestand.
Zum zweiten: Jesus musste sterben,
sen umzustimmen; „da schrien sie noch
lauter: ans Kreuz mit ihm!“ Pilatus resi- denn es war von vornherein Gottes Plan –
weil Jesus als Gottessohn dies von Anfang
an gewusst hat, war, so die Deutung
Heinrich Heines, sein Tod eigentlich der
Selbstmord eines Märtyrers –, was zu
dem biblischen Bild vom auffallend
„sinnenfrohen“, das Leben liebenden jungen Mann (so Weddig Fricke in seinem
Buch „Der Fall Jesus“) allerdings schlecht
passt; masochistische Todessehnsucht
kennzeichnet eher die frühchristlichen
Märtyrer wie etwa Ignatius von Antiochien. Wie auch immer, der Gott
der Christen brauchte zur Rettung der Welt ein blutiges Menschenopfer, und zwar das seines persönlichen Gesandten und
Sohnes. Die jüdische Führungsschicht war das Instrument Gottes: Sie wollte den Tod Jesu; man
könnte auch sagen, sie musste
ihn wollen.
Doch diese Logik hat einen Haken: Selbst wenn der Gott der
Bibel unbedingt die Hinrichtung
Jesu Christi benötigte: Warum
haben sich die Evangelien-Autoren dann nicht mit dem tatsächlichen historischen Verlauf der
„Digitales Oberammergau“
Der Erfolg seines Films „Die Passion Christi“ hat Mel Gibson zu einem der reichsten
Männer in Hollywood gemacht. Sogar in der arabischen Welt ist das Werk ein Hit.
M
Christ“ zählt in den USA zu den zehn kommerziell erfolgreichsten Filmen aller Zeiten. Seit dem Start am Aschermittwoch
spielte er dort 330 Millionen Dollar ein,
das entspricht rund 40 Millionen Kinobesuchern. Nur den „Herrn der Ringe“
ADAM ROUNTREE / GAMMA / STUDIO X
eister- oder Machwerk? Spirituelles Kino oder Gewaltporno? So
umstritten Mel Gibsons Kreuzigungsspektakel auch sein mag: HollywoodGeschichte hat es schon jetzt geschrieben
– in den Bilanzen. „The Passion of the
wollten in den letzten Monaten mehr Menschen sehen.
„Passion“-Macher Mel Gibson, 48, der die 30 Millionen
Dollar Produktionskosten selbst bezahlt
hatte, dürfte damit zum reichsten Mann
in Hollywood geworden sein. Denn Gibson, dessen wahre Begabung schon immer mehr im Aushandeln von Gagen als in
der Schauspielerei lag, verdient nicht nur
an der Kinokasse: Auch das Buch zum
Film und die CD mit der Filmmusik stehen
ganz oben in den Bestsellerlisten; sogar
mehr oder weniger geschmacklosen „Passion“-Klimbim, vom Kaffeebecher bis zu
Kreuzigungsnägeln für Sado-Maso-Heimwerker, können gläubige Fans bei Gibsons Firma bestellen. Dazu kommt demnächst der Verkauf von „Passion“-Videos
und DVDs, Auflage: 22 Millionen – „eine
Art digitales Oberammergau“ („Los Angeles Times“), das „Die Passion Christi“ endgültig zum erfolgreichsten Horrorfilm aller
Zeiten machen wird.
In Deutschland war das Zuschauerinteresse bisher vergleichsweise gering. Bis
„Passion“-Devotionalien (in New York)
Klimbim für Sado-Maso-Heimwerker
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fahrts-Event, jeder männliche Gläubige pilgert vom 13. Lebensjahr an jedes Jahr nach
Jerusalem, um „das Angesicht des Herrn“
zu schauen und Opfertiere (meist Lämmer), Obst, geröstete Heuschrecken, Honig
und andere Leckereien zu essen und dazu
geharzten Wein zu trinken. Aussätzige und
Frauen, die ihre Regel hatten, durften nicht
teilnehmen. Was Jesus betrifft: Es war wohl
kaum ein triumphaler Einzug in Jerusalem
auf einem Esel, vorbei an jubelnden Volks-
PHILIPPE ANTONELLO / AP
Geschichte begnügt? Sie hätten den Kreuzestod Jesu doch auch bekommen, ohne
die jüdische Führungsschicht systematisch
als Kampftruppe gegen Jesus hochzuschreiben?
Eine Antwort darauf geben die historischen Umrisse der Passionsgeschichte eher
als die Darstellungen der Evangelisten:
Jesus kam mit seiner Jünger-Gang zum
Pessachfest nach Jerusalem, wie Tausende
andere auch. Das Pessachfest ist ein Wall-
Jesus-Darsteller Caviezel (M.), Regisseur Gibson (r.): Botschaft der Bibel verkürzt?
Sonntag vor Ostern wollten hier lediglich
850 000 Zuschauer sehen, wie sich Hauptdarsteller Jim Caviezel auspeitschen lässt.
Anders als in den USA kommandierten
deutsche Kirchenleute ihre Schäfchen nicht
geschlossen zum Gottesdienst ins Kino, im
Gegenteil.
In einer gemeinsamen Erklärung warnten der katholische Kardinal Karl Lehmann,
sein evangelischer Kollege Bischof Wolfgang
Huber und Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, vor Gibsons Passionsspiel: „Mit dieser drastischen
Darstellung“, so die drei Religionsrepräsentanten, „verkürzt der Film die Botschaft der
Bibel auf problematische Weise.“ Es sei zudem nicht ausgeschlossen, „dass antisemitische Vorurteile wieder aufleben“.
In der arabischen Welt war man weniger
zimperlich. „Bewegend“ sei der Film, sagte
Palästinenser-Präsident Jassir Arafat nach
einer Privatvorführung in Ramallah. Auch in
Saudi-Arabien wurde der Film zum Verkaufsschlager – als Raubkopie. In Syrien,
Libanon, Kuweit und den Vereinigten Arabischen Emiraten läuft „Die Passion Christi“
sogar ganz offiziell in den Kinos, mit großem Erfolg. Auch die ägyptischen Zensurbehörden segneten den Start von Gibsons
Blutorgie ab. Zum Vergleich: Franco Zeffirellis „Jesus von Nazareth“-Film wurde 1977
nach nur fünf Tagen aus den Kinos von
Kairo verbannt, um aufgebrachte Islamisten
zu beruhigen.
Religiöse Eiferer, diesmal christliche, werden in den USA bald wieder Protest-Demos
wegen eines Jesus-Films veranstalten müssen: Im Mai kommt die 25 Jahre alte Erlöser-Filmsatire „Das Leben des Brian“ der
Anarcho-Komikertruppe Monty Python erneut in die Kinos. Die Pythons („He’s not
the Messiah! He’s a very naughty boy!“)
zeigen, historisch durchaus korrekt, dass
Wander- und Wunderprediger im römisch
besetzten Jerusalem an jeder Ecke lauerten.
Ihre neue Werbekampagne („Mel oder
Monty?“, „Passion oder Python?“) hat am
Karfreitag begonnen.
Martin Wolf
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massen; auch keine Volksmassen, wenn er
predigte; auch kein Rauswurf der Händler
aus dem Tempel.
Irgendwann in den Tagen vor dem Fest
bekam er vermutlich Probleme mit der
römischen Besatzung. Gerade zur Pessachzeit, in der die Juden der Befreiung
von der Unterjochung durch die Ägypter
gedachten, suchten die Römer Unruhen
jedweder Art schnell und brutal abzuwürgen. Sie hatten allen Grund zur Vorsicht: Speziell Galiläa probte regelmäßig den Aufstand gegen die römische
Fremdherrschaft, angeführt von marodierenden Zeloten, von „Dolchträgern“, wie
die Römer sie nannten. Flavius Josephus berichtet von einem späteren Festtumult, bei dem der Prokurator Cumanus
mehr als zehntausend Juden in den Tod
getrieben hat.
Unglaubhaft ist der Rummel um die Gefangennahme Jesu. 500 römische Soldaten
sollen aufgezogen sein, um einen kleinen
Rabbi festzunehmen – „eine wahnwitzige
Schilderung“, wie Weddig Fricke in seinem Buch „Standrechtlich gekreuzigt“
meint. Judas als Verräter mit JudasKuss – wahrscheinlich Evangelisten-Phantasie, ebenso wie die 30 Silberlinge, die
er dafür von den Hohenpriestern erhalten
haben soll.
Von dem katholischen Neutestamentler
Hans-Josef Klauck, Autor eines der besten
Judas-Bücher, stammt die plausible These,
Judas habe sich von Jesus wahrscheinlich
nicht aus Geldgier, sondern aus einer
durchaus nachvollziehbaren Enttäuschung
abgewandt. Dieser habe sich nicht als der
von ihm und anderen erwartete Messias
erwiesen, der auch ein Befreier vom Römer-Joch (hohe Steuern; jeder römische
Soldat durfte jeden beliebigen Juden als
Gepäckträger benutzen) sein sollte, und
das hätten die Evangelisten akzeptieren
müssen.
Unhistorisch ist wohl auch das bombastische Szenario, das die Evangelien
malen: der heimliche Todesbeschluss des
Hohen Rates, das Verhör Jesu vor dieser
Führungsgarde, das Verhör vor Herodes
Antipas.
Auch die beiden Pilatus-Szenen können,
wenn überhaupt, nicht so stattgefunden
haben, wie sie in den Evangelien beschrieben werden. Chaim Cohn, der ehemalige
israelische Generalstaatsanwalt: ein „unwahrer, aber geheiligter Bericht“. In der
Realität wird einzig und allein Pilatus Jesus
verurteilt haben.
Der Statthalter Pilatus war für seine
Brutalität und Rücksichtslosigkeit den Juden gegenüber so verschrien, dass er im
Jahr 36 nach Christus nicht zuletzt deswegen seines Amtes enthoben wurde, mit
der Auflage, sich in Rom zu verantworten. Einem römischen Präfekten wäre es
im unruhigen Palästina von damals auch
kaum in den Sinn gekommen, an Stelle eines wunderlichen Wanderpredigers
159
Ewiger Unruhestifter
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ol
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ek
* Gemälde von Cima da Conegliano (1494).
Palästina
zur Zeit Jesu
D
einen Widerstandskämpfer wie Barabbas
freizulassen.
Nach Verhör und Urteil geht es dann
richtig zur Sache: Im Amtssitz des Pilatus
machen sich die römischen Soldaten, wie
vor Kreuzigungen üblich, über Jesus her.
Dornenkrone und Purpurmantel, Spott,
Spucke und Prügel gehörten zum Ritual.
„Körperliche Gewalt war in der römischen
Gesellschaft öffentlich und an der Tagesordnung“, sagt Werner Eck, Professor für
Alte Geschichte an der Uni Köln. „Dabei
sind extreme Grausamkeiten wie die
Geißelung durchaus denkbar.“
An der Tagesordnung war in der Antike
die Gewaltanwendung gegen Mörder,
Hochverräter, Rebellen, ehrlose Gladiatoren, Straßenräuber und ungehorsame Sklaven. Das Strafregister war eindrucksvoll:
öffentliche Auspeitschung, Steinigung,
Sturz von einem hohen Felsen, Tötung
durch Tiere, lebendig Begrabenwerden,
Pfählung durch einen Holzspieß, der in
den Anus gerammt wurde, endlich das Aufhängen an einem „Unglücksbaum“ und die
Kreuzigung.
Während der Belagerung Jerusalems im
Jahr 70 nach Christus ließ Feldherr Titus,
der spätere Kaiser, täglich einige hundert
gefangene Juden vor den Mauern der Stadt
kreuzigen. Nach dem Spartakus-Sklavenaufstand 140 Jahre zuvor wurden 6000 der
überlebenden Rebellen entlang der römischen Via Appia gekreuzigt. Der Kreuzestod war besonders qualvoll, weil das Sterben sich oft über Tage hinzog – Todesursache war meist Kreislaufkollaps oder
Herzversagen. Oft blieb der Verstorbene
noch tagelang am Kreuz, wurde von Raben
Jordan
Jesu Taufe*
heimgesucht, verweste und stank bestia- Einbalsamieren hilft ihm Nikodemus, ebenlisch. Der Delinquent musste auch im falls ein Mitglied des Hohen Rates und
Tod noch entehrt werden und zur Ab- heimlicher Jesus-Jünger.
schreckung dienen. Erst der spätere Christ
Da die Evangelien nun fast an ihr Ende
Kaiser Konstantin schaffte diese brutale gekommen sind, hat sich Matthäus in seiStrafart Anfang des 4. Jahrhunderts ab.
nem allerletzten Kapitel noch eine kleiWährend nun Jesus das Kreuz zur Richt- ne Boshaftigkeit in Richtung Hohepriesstätte Golgota trägt, gehen noch zwei Ver- ter ausgedacht (Mt 28,11-15). Während die
brecher mit. „Eine große Menge Volks und Jünger verrückt spielen, weil das Grab
Frauen“, die üblichen Evangelien-Massen, des Herrn leer ist und manche den Erstehen am Straßenrand, und die Frauen scheinungen des angeblich leiblich Auferweinen. Von irgendwelchen Grausamkei- standenen noch nicht so recht trauen
ten der Soldaten in dieser Phase der Pas- mögen, erhalten auch die Hohenpriester
sion – wie der Gibson-Film sie vorführt – und Ältesten über römische Soldaten Kunist in keinem der Evangelien die Rede. Es de von dem leeren Grab. Da bestechen sie
wäre auch, sagt der Historiker Eck, nicht die Soldaten mit „viel Geld“ und bitten
historisch nachweisbar. Verordnete Folter: um die Verbreitung der Nachricht, seine
ja; doch die spontane Lust einzelner Sol- Jünger seien „bei Nacht gekommen“ und
daten am Quälen sei im römischen Heer hätten ihn, während die Soldaten schliefen,
hart bestraft worden. Im Gegenteil: Die gestohlen. „So kommt es, dass dieses
Römer zwingen einen Bauern, für den ge- Gerücht bei den Juden bis heute verbreischwächten Jesus das Kreuz zu tragen – tet ist.“
das zeugt von Mitleid, nicht von zusätzBei der Betrachtung des galiläischen
licher Grausamkeit.
Wanderpredigers und Wunderheilers verSchließlich die Ankunft auf Golgota, mischen sich kaum entwirrbar Glauben
morgens gegen neun Uhr. „Dann kreuzig- und Wissen. Der Glaube versetzt nicht nur
ten sie ihn“, schreibt der Evangelist Mar- Berge, sondern auch Fakten. Ihm geht es
kus. Wie genau, ob mit Nägeln
oder Fesseln – beides war gebräuchlich –, lassen alle vier Evangelisten offen, und es bleibt bis
Tyros
heute unbekannt.
Paneas
Reich Herodes
Golgota, zwölf Uhr mittags: Der
des Großen
Zustand Jesu hat sich offenbar
bis 4 v. Chr.
G a l i l ä a See
drastisch verschlechtert. Der Himunter römischer
Kafarnaum
Gennesaret
mel verfinstert sich für die nächsVerwaltung
Kana
ten drei Stunden, schreiben die
freie Städte
Nazaret
Evangelisten (außer Johannes).
Herrschaft des
Gegen drei Uhr nachmittags
Nain
Herodes Antipas
ruft Jesus bei Markus und MatHerrschaft des
Cäsarea
thäus (Psalm-Vers 22,2): „Mein
Philippus
Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?“, bei Johannes:
Samarien
„Mich dürstet“ (worauf er zur
Sichem
Betäubung Essig bekommt) und
Mit telmeer
bei Lukas mit Psalm 31,6: „Vater,
in Deine Hände lege ich meinen
Judäa
Geist.“ Dann schreit er auf und
Peräa
Jericho
stirbt.
Jerusalem Qumran
Es folgt eine kleine Serie von Aschkelon
Betlehem
Naturwundern: Der Vorhang im
Tempel (der vor dem Allerhei- Gaza
ligsten hing) zerreißt von oben bis
Idumäa
unten, ein Erdbeben hebt an, GräTotes
ber öffnen sich, „die Leiber vieler
Heiligen, die entschlafen waren“
Meer
heutige Grenze
(Mt 27,52), steigen heraus. Ein röPalästinas
mischer Hauptmann, der das miterlebt, bekennt: „Wahrhaftig, das
heutige Grenze
N a b a t e n e
Israels
war Gottes Sohn.“
Es wird bald Abend. Josef aus Arimatäa, ein Mitglied des Hohen Rates und
50 Kilometer
zugleich ein heimlicher Jesus-Jünger, bittet Pilatus um
den Leichnam Jesu. Er erhält
von Pilatus die Genehmigung
und bestattet ihn in einem Felsengrab nahe Golgota. Beim
A KG
AKG / CAMERAPHOTO
Titel
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Rekonstruktion des
Jerusalemer Tempels
SIPA PRESS
Leonardo-da-Vinci-Gemälde „Abendmahl“ (1495/97): „Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen“
nünftigen Verehrer Gottes“ zu publizieren.
Erst als der Dichter Gotthold Ephraim Lessing nach dem Tod von Reimarus (1768)
dessen Schriften anonymisiert veröffentlichte, brach in den protestantischen Kirchen ein Sturm der Entrüstung los.
Die spektakulärste Bibelkritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlichte der protestantische Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884 bis
1976). Sein immer wieder aufgelegtes
Werk trägt den lapidaren Titel „Jesus“
(1926). Bultmanns Arbeiten wurden weltweit bekannt unter dem Schlagwort
„Entmythologisierung“.
Bultmanns Fazit: Wir können „vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut
wie nichts mehr wissen“. Die Evangelien,
gibt er zu, schildern meist keine historisch
nachweisbaren Tatbestände. Historisch eindeutig belegbar sei nur, dass in den neutestamentlichen Texten der Glaube des Ur-
JEAN-FRANÇOIS AMELO / AKG
um Verkündigung und Erweckung. Der
Glaube gehört für den nüchternen Historiker nur als ein Gegenstand unter vielen
zur realen Geschichte, als Beleg für deren
faktischen Verlauf wirkt er eher störend.
Über 300 Jahre dauerte es, bis das Neue
Testament seine bekannte Form gefunden
hatte. Im 4. Jahrhundert wurden vier der
damals zahlreich vorhandenen Evangelien, eine Apostelgeschichte sowie 21 Briefe
und die Offenbarung des Johannes zum
Kanon gebündelt. Dieser Text wurde von
der Kirche immer energischer zur „Heiligen Schrift“ und zum „Wort Gottes“ erhoben und mit der Heiligen Schrift der Juden,
dem Alten Testament, verbunden. Dogmatisch versiegelten die Kirchenväter ihr
Auswahlpaket: Die Schriften seien von
Gott persönlich und wortwörtlich geoffenbart. Punktum.
Entsprechend sahen die gehorsamen
Theologen jahrhundertelang ihre Aufgabe
darin, bestehende Ungereimtheiten entweder mit möglichst klugen Argumenten zu
harmonisieren oder ganz einfach zu übergehen. Was Gott den Menschen geoffenbart hatte, konnte einfach nicht falsch sein.
Doch mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts änderte sich das allmählich. So
verfasste der protestantische Hamburger
Orientalist und Theologe Hermann Samuel Reimarus ein folgenreiches Manuskript.
Die neutestamentliche Botschaft von der
Erlösung der Menschheit durch Jesu Tod
und Auferstehung sei, so Reimarus, ein
Phantasieprodukt der Apostel, entstanden
nach der Kreuzigung Jesu. Um dieses
„Wunder“ glaubhaft zu machen, hätten die
Jünger den Leichnam des Gekreuzigten
heimlich verschwinden lassen.
Reimarus wagte damals nicht, seine
„Apologie oder Schutzschrift für die ver-
christentums sich ausdrücke, der aus dem
Menschen Jesus und seinem jüdischen Bekenntnis den Messias mit christlicher Botschaft geformt habe.
Bultmann fand das nicht tragisch. Er sah
keine Veranlassung, die christliche Religion oder etwa das Neue Testament ad
acta zu legen. Ihm genügte es, dass die
Ur- und Frühchristen an diesen Erlöser
tatsächlich geglaubt haben. Religiöse Wahrheit überschreite, so seine Argumentation,
ihrer Natur nach alles historisch Fassbare
und habe die Mythen und Bilder gebraucht, um ihre Botschaft unters Volk
zu bringen.
Inzwischen bestreiten nicht einmal mehr
Skeptiker, die den Kirchen fern stehen,
dass Jesus gelebt hat. Er stammte aus einfachen Verhältnissen im Norden des heutigen Israel, dem damaligen Galiläa. Geboren wurde er vermutlich irgendwann
zwischen den Jahren sieben vor bis sieben
nach der christlichen Zeitrechnung, möglicherweise in dem kleinen Dorf Nazaret.
Er hatte etliche Geschwister, laut MarkusEvangelium vier namentlich bekannte Brüder und mehrere Schwestern. Laut Markus dachten die Geschwister von Jesus,
dieser sei ganz einfach „von Sinnen“. Von
Beruf war Jesus – ebenfalls laut Markus, dem etwa 40 Jahre nach Jesu Tod entstandenen Evangelium – Zimmermann wie
sein Vater.
Die Schwangerschaft Marias durch Gott,
die Geburt in Betlehem, die Hirten, die
Weisen aus dem Morgenland an der Krippe, der Kindermord des Herodes und die
Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, der zwölfjährige Jesus als Wunderkind im Jerusalemer Tempel – alles Le-
Judas-Kuss*
Signal zur Ergreifung
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* Fresko „Christi Gefangennahme“ (1563) von Thomas Pot.
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Titel
Ein sterblicher Diener Allahs
In der Bibel der Muslime, dem Koran, wird das Jesus-Drama anders erzählt.
D
REUTERS / ULLSTEIN BILDERDIENST
er Koran, die heilige Schrift des phet im Koran ist“. Ähnlich wie in Römer Trinität galt dem Propheten Mohammed
Islam, umfasst 114 Suren (Kapi- 15,8 wird berichtet, dass es Jesu Aufgabe und seinem jüdisch-christlichen Publikum
tel). Er gilt den Muslimen als das gewesen sei, die Juden wieder auf den als Unglaube.
Obwohl der Koran die Teilbarkeit GotWort Gottes, gepredigt durch den Pro- rechten Weg zu führen: „Ich bin gekompheten Mohammed in den Städten Mek- men, um zu bestätigen, was von der Tora tes ablehnt und in der 19. Sure sogar die
ka und Medina, erstmals niedergeschrie- vor mir vorhanden war“ (Sure 3, Vers Sterblichkeit Jesu erwähnt, lassen die Jeben im 7. Jahrhundert kurz nach seinem 50). Doch auf der Arabischen Halbinsel sus-Suren doch noch ein Schimmern der
Tod. Dass allein 15 Suren Jesus Christus erwähnen, dürfte den wenigsten
Christen bekannt sein. Generell verbietet es sich
sogar für einen Muslim,
etwas Unehrenhaftes über
Jesus oder seine Mutter
Maria zu sagen.
Betrachtet man die 15
Jesus-Suren genauer, so
ergibt sich, zumindest
aus christlicher Sicht, ein
reichlich verwischtes Bild
von Jesus Christus – unentschieden in der Frage,
ob der Heiland nun göttlicher Natur oder doch nur
ein Mensch wie Mohammed war. „Man kann Teile des Koran wie eine Fortsetzung der spätantiken
Diskussion um christliche
Dogmen lesen“, sagt Michael Marx, Koran-Forscher am Seminar für Semitistik und Arabistik der
Freien Universität Berlin.
„Vieles, was man hier über
Jesu Geburt erfährt, ähnelt
der Schilderung im Neuen
Testament, zum Beispiel Pilgerstätte Kaaba in Mekka: Muslimische Frömmigkeit verbietet es, Unehrenhaftes über Jesus zu sagen
die Jungfräulichkeit Marias und die Verkündung durch den En- gab es neben Juden auch orientalische göttlichen Würde Jesu erkennen. Zwar
Christen sowie mischgläubige Juden- trägt er im Koran nicht den Titel „Sohn
gel Gabriel.“
Aber die Umstände des jungfräulichen christen, die in Jesus so etwas wie einen Gottes“, dafür aber den Namen „Issa Ibn
Marjam“, was so viel heißt wie: Jesus,
Wunders, nachzulesen in der 19. Sure, Engel sahen.
Während sich in Byzanz und Rom die Sohn der Maria. Für die arabische Naklingen noch orientalischer als die biblische Version. Nicht in einem Stall, wie bei Dogmen der Orthodoxie und des Katho- mensgebung, die jedes Kind nach seinem
Lukas, oder in einem Haus, wie bei Mat- lizismus langsam auszubilden begannen, Vater benennt, ist das eine absolute Austhäus, sondern „an dem Stamm einer Pal- lebten die Christen im Hedschas, dem nahme. In der 3. Sure heißt es sogar: „Jeme“ überkamen Maria die Wehen; und Gebiet um Mekka und Medina, weit ent- sus ist vor Gott gleich Adam, denn auch
die Datteln des Baums sollen die Bitter- fernt von den Zentren der Glaubenshüter ihn erschuf er aus Erde“ – wohl ein Bekeit ihrer schmerzlichen Geburt gelindert und Kirchenväter. Hier fand sich der Frei- leg dafür, dass eine irdische Vaterschaft
raum, nachbiblische Lehren, wie die der ausgeschlossen sein muss.
haben.
Zudem ist Jesus einer der wenigen
„Die Worte des Propheten“, so Marx, Dreifaltigkeit vom Vater, dem Sohn und
„sagen auch etwas darüber aus, mit wem dem Heiligen Geist, in Frage zu stellen. Propheten im Koran, der Wunder vollMohammed sprach, wer seine Zuhörer Die Suren des Korans liefern eine Ant- bringt. Im Gegensatz zu den anderen
waren.“ So sei es bezeichnend, dass „Je- wort: „Sprechet nicht: ‚Drei‘. Allah ist nur circa 25 Propheten, dazu zählt der Koran
sus nach Mose der meistgenannte Pro- ein einiger Gott“ (Sure 4, Vers 171). Die Adam, Noah und Abraham, vermag es
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CORBIS SYGMA
Qumran-Höhlen, Qumran-Text
genden, um die Ausnahmestellung
des Wunderkindes herauszustreichen.
Wie Jesus aussah, wie er sich gab
und wie er die Tage und Nächte
verbrachte, ist in Wahrheit unbekannt. Das älteste, um 70 entstandene Markus-Evangelium schreibt
jedenfalls nichts über die Jugend
Jesu. Markus beginnt seine Erzählungen erst mit dem öffentlichen Auftreten
des Charismatikers: wie Jesus sich im Jordan von dem landesweit bekannten und
historisch belegten Bußtäufer und Asketen Johannes taufen ließ. Nur einer Randbemerkung im 20 Jahre später entstandenen Lukas-Evangelium (3,23) lässt sich entnehmen, dass Jesus da etwa 30 Jahre alt gewesen sein könnte.
Nach heutigem Forschungsstand ist die
Taufe Jesu im Jordan wahrscheinlich mal
ein historisches Faktum – eine nachträgliche Erfindung wäre „propagandistisch“
funktionslos gewesen.
Nicht historisch ist aber das in den TaufPassagen gleich mitgelieferte Deutungsmuster: Die in den Jahren 70 bis 100
verfassten Evangelien benutzten jede sich
bietende Gelegenheit, Jesus von ihren
handelnden Figuren als Messias oder Gottessohn deklarieren zu lassen – Titel, die
BURROWS / LIAISON / GAMMA / STUDIO X
Ein „Lehrer“ wie Jesus
Jesus zu Lebzeiten wahrscheinlich nie
auf sich selbst bezogen, geschweige denn
für sich in Anspruch genommen hat. Erst
das Urchristentum hat den Verkündiger
der Botschaft zu deren zentralem Inhalt
erhoben.
Bei Jesu Taufe im Jordan schwebte laut
Markus-Evangelium „der Geist wie eine
Taube“ auf Jesus herab, und „eine Stimme
aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn; an dir habe ich Gefallen gefunden“ (Mk 1,10-11).
Dem Täufer Johannes gestehen die
biblischen Texte bloß die Rolle eines
Vorläufers Jesu zu. Johannes der Täufer, im
Gegensatz zu dem vermutlich gepflegt
auftretenden Jesus wohl eher ein rauer
Naturbursche im Zottelgewand aus Kamelhaaren, kannte wahrscheinlich die Theologie der Qumran-Gemeinde der Essener,
einer überwiegend am Toten Meer heimischen asketischen Sekte,
deren „Lehrer“ – ähnlich
Jesus – als letzter Prophet
vor dem nahen Ende der
Welt galt. In den Höhlen von
Qumran wurden von 1947
bis 1956 etwa 900 antike
Schriftrollen gefunden. Elf
Höhlen lagen in der Nähe
einer Siedlung, die etwa
zwischen 100 vor und 68
nach Christus bewohnt war.
In dem religiösen Schrifttum der Essener tritt dem
„Lehrer der Gerechtigkeit“
AKG
Jesus, Kranke zu heilen, Speisen aus dem
Himmel herabkommen zu lassen und
Vögel aus Lehm zu erschaffen. Dieses
Vogelwunder, das sich in der Bibel nicht
findet, aber dem apokryphen, kirchenoffiziell nicht anerkannten Evangelium
des Thomas entlehnt sein könnte, ist
mehr als ein Nachhall des spätantiken
Streits um die Kanonisierung der Bibel.
Dass Jesus im Koran, wie der Schöpfer
selbst, erschaffen kann, zeigt immerhin
auch die besondere Qualität des Propheten Jesus.
Elfmal wird Jesus im Koran als der
Messias bezeichnet, mehrere Male, wie
auch im Johannes-Evangelium, als das
„Wort von Gott“ (Sure 4, Vers 171). Doch
zu Johannes („Am Anfang war das
Wort“) sieht Experte Marx keine direkte
Abhängigkeit. Diese sprachliche Wendung stehe im Koran vielmehr für die Allmacht Gottes und sei nicht, wie bei Johannes, gleichzusetzen mit der Idee des
Logos, einer präexistenten, gottähnlichen
Weisheit.
Umstritten ist vor allem die Kreuzigung
Jesu. Sie wird in der 4. Sure als ein Irrtum
geschildert, was je nach Auslegung des
Korantextes mehrere Interpretationen
nach sich zog.
Der mehrheitlichen Deutung nach hätten sich die Juden in der Person geirrt, als
sie dachten, sie würden Jesus kreuzigen.
Einer zweiten Auslegung nach sei es sehr
wohl Jesus gewesen, der gekreuzigt wurde, doch sei er nicht am Kreuz gestorben, sondern Jahre später auf natürliche
Weise zu Tode gekommen.
In beiden Fällen ist Jesus nicht mehr als
ein sterblicher Diener Allahs. Aber wie
auch in der Bibel kommt ihm am Jüngsten Tag eine besondere Rolle zu. Er sitzt
zwar nicht zur Rechten Gottes, wie es im
Glaubensbekenntnis heißt, wird jedoch
in der 4. Sure als „Zeuge“ bezeichnet.
Dennoch gilt es in der islamischen Theologie als ausgeschlossen, dass es Jesus vermochte, durch sein Leiden die Sünden
der Welt auf sich zu nehmen.
„Dies ist eine der vielen Trennlinien
zur koranischen Christologie“, meint
Marx. Denn die Jesus-Suren waren unter
anderem von der Intention geprägt, „die
Unterschiede zum Christentum der Arabischen Halbinsel zu betonen“.
Heute beschäftigen sich muslimische
Theologen nur noch wenig mit dem Propheten Jesus, obwohl allein die Erzählung
seiner Geburt zahlreiche Verse umfasst.
Jesus bleibt reduziert auf seine Aufgabe,
„Gesandter“ zu sein, „der den Gesandten
verkündet“ (Sure 61, Vers 6). Und damit ist
er dem Islam vor allem dies: ein Vorläufer
für Mohammed, das „Siegel der Propheten“ (Sure 33, Vers 40).
Hindeja Farah
Christus vor Pilatus*: „Ich bin unschuldig“
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* Gemälde von Mihály Munkácsy (1881).
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DER SPIEGEL
KARGER-DECKER / INTERFOTO
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ICON
als Widerpart ein „Lügenmann“ entgegen. Namen werden nicht genannt.
Irgendwann um das Jahr 30
ließ Galiläas und Peräas jüdischer Herrscher, der „Vierfürst“ Herodes Antipas, den
Täufer Johannes ins Gefängnis werfen, weil der es gewagt
hatte, die Ehemoral des Fürsten öffentlich zu kritisieren.
Obgleich Jesus offensichtlich
zum Jüngerkreis des Täufers
gehörte, nahm er möglicherweise die Verhaftung des Johannes zum Anlass, sich abzusetzen.
Fortan zog Jesus als eine
Art freiberuflicher Wanderprediger, Wunderheiler und
Exorzist, der von Spenden lebte, wohl hauptsächlich durch Kreuzweg-Szene aus „Die Passion Christi“: Ein Bauer hilft dem Gottessohn
sein kleines Galiläa (es maß
etwa 40 mal 50 Kilometer). Sein öffent- schen Christen und Juden in der Messias- „bekämpft“ werden, bis sie Tribut zahlen.
liches Wirken dauerte höchstens drei Jah- Frage. Während gläubige Juden den Messias Islamistische Gotteskrieger, die ihre Feinre, vermutlich sogar nur ein einziges Jahr. noch immer erwarten, ist für Christen die de in den Tod bomben, können sich darauf
Wenn die Evangelien Orte, Zeiten und Gottesherrschaft mit Jesus „angebrochen“. kaum berufen.
Wie Jesus zunächst den Underdogs, daAnlässe benennen, so ist das meist nur ein
Weltberühmt wurde die Szene aus dem
Stilmittel, das die Erzählung anschaulicher mals die Mehrheit der Bevölkerung, ihr Johannes-Evangelium: Jesus lehrt vor
und einprägsamer machen soll. So hat die Selbstbewusstsein stärkte, ging mit dem großem Publikum im Jerusalemer Tempel.
weltberühmte Bergpredigt weder auf ei- vielfachen „Selig“ der Bergpredigt in die Auf der Suche nach einem Klagegrund genem „Berg“ noch vor „vielen Menschen“ Weltliteratur ein: „Selig, die arm sind vor gen Jesus haben Pharisäer und Schriftge(Mt 5,1) stattgefunden, sondern überhaupt Gott“, „selig die Trauernden“, „selig, die lehrte ihm eine Frau vorgeführt, die nach
nicht. Sie ist lediglich eine Textsammlung hungern und dürsten, denn sie werden ge- dem Gesetz des Mose wegen Ehebruchs
von etwa 25 zentralen Motiven christlicher tröstet werden“, und „ihnen gehört das gesteinigt werden muss. Jesus erledigt die
Moralvorstellungen – höchstens einige da- Himmelreich“ (Mt 5,3-10).
Sache höchst unkonventionell:
Besonders attraktiv müssen zudem im
von gehen auf Jesus selbst zurück.
„Jesus aber bückte sich und schrieb mit
Jedenfalls kamen die Worte an. Politisch 1. Jahrhundert die Akzente gewirkt haben, dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig
unter der Knute der römischen Besatzungs- die Jesus in Moralfragen setzte. Dem weiterfragten, richtete er sich auf und sagmacht, religiös unter der Fuchtel spitzfin- Dickicht von religiösen Gesetzen und Hun- te zu ihnen: ‚Wer von euch ohne Sünde ist,
diger Religionsexperten, sozial weitgehend derten Einzelvorschriften setzte er ganze werfe als Erster einen Stein auf sie.‘ Und er
verarmt, chancenlos, rechtlos, mit einer Le- zwei Grundgebote gegenüber, beide be- bückte sich wieder und schrieb auf die
reits lange zuvor Bestandteil der jü- Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten,
dischen Bibel:
ging einer nach dem andern fort, zuerst
„Du sollst den Herrn, deinen die Ältesten … Da sagte Jesus zu ihr: ‚Auch
Gott, lieben mit ganzem Herzen … ich verurteile dich nicht. Geh und sündige
und deinen Nächsten lieben wie von jetzt an nicht mehr‘“ (Joh 8,6-11).
dich selbst“ (Mt 22,37-39). An diesen
So müsste er gewesen sein, dieser origibeiden Geboten, fügte Jesus hinzu, nale Jesus, denkt man. Doch ausgerechnet
hänge „das ganze Gesetz samt den diese Szene stand nicht im ursprünglichen
Propheten“. Für den, der es nüch- Johannes-Evangelium, sondern wurde erst
terner mochte, empfahl er die Gol- viel später in den Text hineingeschrieben.
dene Regel: „Alles also, was ihr von Aber auch wenn sie erfunden ist, ist sie
anderen erwartet, das tut auch ih- gut erfunden.
nen“ (Mt 7,12). Mehr noch: „Wer bei
Vom historischen Jesus stammen geneTheologen Reimarus, Bultmann
euch der Erste sein will, der soll der rell wohl die Bildvergleiche zwischen dem
Die Legenden entzaubert
Sklave aller sein“ (Mk 10,43).
Reich Gottes und einfachen Motiven aus
Wie er sich das im Alltag vorstellte, er- dem ländlichen Galiläa: Sie erzählen vom
benserwartung von vielleicht 35 Jahren, die
Frauen eher weniger – solche Leute hatten klärte er immer wieder konkret: „Ich aber Sämann auf dem Feld oder vom Unkraut
für Botschaften von naher Erlösung und sage euch: Liebet eure Feinde“ (Mt 5,44). unterm Weizen, vom prall gefüllten FischZum Verzeihen bereit sein müsse man netz und vom Schatz im Ackerboden, oder
Befreiung stets offene Ohren.
Vom historischen Jesus waren sie wohl „nicht siebenmal, sondern siebenundsieb- vom „Sauerteig, den eine Frau unter einen
nur für Juden gedacht, weil er als Jude ledig- zigmal“ (Mt 18,22). Ein vergleichbar groß- großen Trog Mehl mischte, bis es ganz
lich eine Reform des Judentums im Sinn herziges Gebot lässt sich in der heiligen durchsäuert war“ (Mt 13,33). Der Sinn solhatte: „Ich bin nur den verlorenen Schafen Schrift der Muslime, dem mehr als 500 Jah- cher Gleichnisse ist stets: kleiner Anfang,
des Hauses Israel gesandt“ (Mt 15,24). Eine re nach den Evangelien aufgeschriebenen große Wirkung. Oder: erst Verzweiflung
Botschaft für die „Heiden“ wurde daraus Koran, nicht finden. Der Koran fordert und Chaos, dann Gottes Sieg.
Handfest wie sein Denken könnte auch
erst nach Jesu Tod. Und seitdem besteht der einerseits dazu auf, Juden und Christen zu
wichtigste theologische Unterschied zwi- „respektieren“, andererseits sollen sie auch Jesu tatsächliches Leben gewesen sein. Er
Titel
„Gott kennt das Leid“
SPIEGEL: Herr Wahl, Jesu Geburt in durch andere aushalten müssen. Und er
Betlehem, die Krippe, die Heiligen Drei kann sicher sein: Alles Leid, das MenKönige, Herodes’ Kindermord – alles schen durchmachen müssen, ist Gott
nur Legende. Wann entschuldigen Sie nicht fremd. Am Tag, als ich den Film
sich bei den „Wort zum Sonntag“-Zu- sah, hatte ich vorher einen Mitarbeiter
schauern für die historischen Schwin- besucht, der im Sterben lag. Ich kann
deleien in der Bibel?
Wahl: Für mich ist die Geschichte Jesu
nicht beendet. Sein Leben ist nicht nur
ein historisches Datum. Betlehem oder
Nazaret? Das Wichtigste ist, dass Gott
Mensch geworden ist. Auch wenn ich
eine Zeit lang in Jerusalem gelebt habe,
ich klammere mich nicht an historiografisch verbürgte Orte. Aber sie sind
hilfreich, sich bewusst zu machen, dass
Gott wirklich einmal Staub unter den
Füßen hatte.
SPIEGEL: Sie glauben also an etwas, was
historisch nicht so existiert hat, wie die
Evangelien berichten?
Wahl: Dass Jesus existiert hat, steht für
mich außer Frage, aber ich suche heute einen Zugang zu Jesus Christus. Ich
sehe ihn nicht nur als historische Gestalt, die über die Jahrhunderte hinweg auf mich schaut. Mit den Evangelien haben wir aber etwas, was norma- Theologe Wahl
le historische Fakten übersteigt. Und „Es gibt einen Glaubenssprung“
es gibt einen Glaubenssprung, der darin besteht anzunehmen, dass das, was nicht sagen: Gott hat dieses Leid gein den Evangelien steht, stimmt.
schickt, aber: Gott kennt dieses Leid.
SPIEGEL: Stimmt? Wie ist das zu ver- Damit bleiben noch viele Fragen offen,
aber wenn ich das nicht glauben könnstehen?
Wahl: In Jesus Christus ist Gott in ei- te, hätte alles keinen Sinn.
ner konkreten Stunde der Geschichte SPIEGEL: Was können junge Leute, die
Mensch geworden und ist auch heute fast ohne Kenntnis der Bibel aufwachin meinem Leben erfahrbar. Was das sen, mit den Passionsszenen anfangen?
Christentum von anderen Religionen Wahl: Ich befürchte, nicht viel. Aber
unterscheidet, ist der Glaube, dass Gott wer will das beurteilen? Gott kennt viedie Fülle der menschlichen Existenz le Wege. Vielleicht weckt der Film bei
nicht aus einer sicheren Distanz beob- manchen die Neugier, mehr zu erfahachtet, sondern sie durch seinen Sohn ren über Jesus Christus. Immerhin beam eigenen Leib erfahren hat.
schäftigt er die Leute, es wird darüber
SPIEGEL: Hat Sie Mel Gibsons Passions- diskutiert. Der Film und damit Jesus
film in diesen frommen Gefühlen be- Christus ist Thema.
SPIEGEL: Was hilft gegen die Glaubensstärkt?
Wahl: Es gibt den Pasolini-Film, der unbildung?
mich mehr beeindruckt hat. Gibson Wahl: Es gibt kein Zurück zum Schulbringt eine Verkürzung des Glaubens meisterlichen. Es geht nur über das
auf Leid und Opfer. Mich bewegt und Weitertragen von persönlichen Gotteserschreckt allein schon der Gedanke, erfahrungen. Das stand auch am Andass Gott am Kreuz gestorben ist, um fang unseres Glaubens. Die historiuns zu erlösen. Da brauche ich keine schen Fakten über die Anfänge, die
Nahaufnahmen, wie die Haut aufbricht. Bindung an die Tradition sind wichtig,
SPIEGEL: Was kann der Gläubige über- aber es kommt darauf an, wie glauhaupt von der Passion Christi lernen? bende Menschen heute die Welt geWahl: Er kann erkennen, wozu der stalten. Im Vertrauen auf und im ReMensch fähig ist und was Menschen spekt vor Gott.
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MARKUS NOWAK / KNA
Stephan Wahl, 43, katholischer Priester
und „Wort zum Sonntag“-Sprecher über Glauben heute
schien sie alle zu fesseln: Kinder, Frauen
und Männer, Arme, Kranke, Krüppel und
Besessene ebenso wie Schriftgelehrte, Älteste und Tempelpriester. Mit Pharisäern
saß er zuweilen sogar zu Tische.
Aber er speiste auch mit Zöllnern und
Huren, weshalb er seinen Feinden als
„Fresser“ und „Säufer“ galt (Mt 11,19). Als
ihm die Pharisäer dies vorhielten, konterte er: „Nicht die Gesunden brauchen den
Arzt, sondern die Kranken“ (Mt 9,12).
Insbesondere Jesu Verhältnis zu Frauen
ist bemerkenswert. Frauen gehörten zu seinem Jüngerkreis, was ungewöhnlich war
und daher kaum erfunden sein dürfte.
Noch ungewöhnlicher: „Sie alle unterstützten Jesus und die Jünger mit dem, was
sie besaßen“ (Lk 8,2-3).
War Jesus gleichwohl, für einen jüdischen Rabbi damals die Normalität, verheiratet? Weil die Evangelien darüber
schweigen, erwecken sie den Eindruck, Jesus habe unverheiratet oder gar abstinent
gelebt. Wahrscheinlich sah er das Ende der
Zeiten so nah, dass er eine Heirat überflüssig fand. Was die Ehemoral betrifft, war
er wohl ein Rigorist. Matthäus lässt ihn
predigen: „Wer eine Frau auch nur lüstern
ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“
Andere Evangelienstellen drängen dennoch Fragen auf wie: Hatte Jesus eine
Freundin, eine Geliebte, eine Lebensgefährtin? Möglichkeiten hatte der vielfach
Bewunderte gewiss mehr als genug.
Im Verdacht steht meist Maria Magdalena, die legendäre „schöne Sünderin“. Laut
Lukas-Evangelium gehörte sie zu den ständigen Jesus-Begleiterinnen, nachdem der
Meister persönlich sie geheilt hatte – von
„sieben Dämonen“ (Lk 8,2). Einen Absatz
vorher beschreibt Lukas, wie Jesus im
Haus des Pharisäers Simon zu Gast ist –
eine namentlich nicht identifizierte Hure
kommt herein und weint, wäscht Jesus mit
ihren Tränen die Füße, trocknet sie mit
ihren aufgelösten Haaren und küsst sie (Lk
7,36-50). Und das auch noch mit aufgelösten Haaren – das war damals so viel wie
nackt. Ein bisschen Liebe?
Obwohl Lukas es nicht sagt, könnte diese Hure durchaus Maria Magdalena gewesen sein. Dass sie ihren Rabbi Jesus ernsthaft geliebt haben könnte, zeigt sich vor
allem, als es Jesus schlecht geht. Laut Markus-Evangelium steht sie bei der Kreuzigung, gemeinsam mit ein paar anderen
Frauen, in Sichtweite (Mk 15,40). Jesu Männer waren, ausgenommen der legendäre
Lieblingsjünger Johannes, getürmt. Nach
der Grablegung will sie das Grab sehen und
den toten Jesus salben (Mk 16,1-8).
Und auch später lässt sie nicht locker.
Am Tag nach dem Pessach-Fest ist sie morgens früh die Erste vor der Grotte, sieht ins
leere Grab, ist entsetzt, bis ihr als Erster
Jesus nach seinem Tod erscheint und sie
tröstet (Joh 20,11-18). Sie ist ihm also durchaus nicht gleichgültig.
in seinem Jesus-Buch, „sind so viele Wunder überliefert wie von Jesus.“ Kaum ein
Exeget verteidigt heute noch diese biblischen Wunder als Fakten. In der antiken
Welt, so Becker, „stehen außergewöhnliche
mehr aus dessen Lebzeiten, er will dem
Meister nur nach dessen Auferstehung in
einer Vision begegnet sein. Auch Paulus
glaubt an das baldige Ende der Welt, aber
der intellektuelle Weltmann, Jude wie die
Jünger, betreibt die Heidenmission und überAUSGERECHNET DER JUDE PAULUS WIRD
schreitet dabei die Grenzen der jüdischen ÜberZUM PAMPHLETISTEN DER CHRISTLICHEN
lieferung. Er hat erst daJUDENFEINDLICHKEIT.
durch den Glauben an
Christus für die MenschPhänomene aller Art prinzipiell im Einklang heit geöffnet – so gesehen, ist eigentlich
Paulus der Stifter dieser Weltreligion. Auf
mit dem Wirklichkeitsverständnis“.
In endzeitlicher Erwartung verbrachte sein Mitbetreiben ist die Beschneidung
die Urgemeinde nach Jesu Tod die ersten nicht mehr Pflicht, will einer vollwertiges
Jahre in Jerusalem. Die Lehre, zuerst noch Mitglied einer christlichen Gemeinschaft
nirgends aufgeschrieben, breitete sich sein: Die Beschneidung der Herzen, so
Paulus, sei wichtiger. Der Sabbat muss
mündlich trotzdem aus.
Mit Paulus betritt um 40 nach Christus nicht mehr unbedingt geheiligt sein, auch
eine geniale Figur die Baustelle der ent- die Reinheit des Essens wird großzügistehenden Christenheit. Anders als Petrus ger beurteilt.
Grausame Ironie der Geschichte ist, dass
und der Jesus-Bruder Jakobus kennt der
mit dem antiken Weltbild und der griechi- ausgerechnet der Jude Paulus zum ersten
schen Sprache vertraute Paulus Jesus nicht Pamphletisten des christlichen Antijudaismus wird. Im Paulusbrief an die Thessalonicher, um 50 nach Christus entstanden und
damit der älteste erhaltene christliche Text,
stehen im zweiten Kapitel zwei schreckliche
Verse: Die Juden, heißt es da, „haben sogar
Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen;
sie hindern uns daran, den Heiden das
Evangelium zu verkünden und ihnen so das
Heil zu bringen“ (1 Thess 2,15-16).
Diese Stelle löst bei den Schriftgelehrten
unserer Zeit große Verlegenheit aus. Ein
kleiner Teil der Exegeten erklärt sie als
nachträgliche Einfügung. Aber die Mehrheit hält sie für echt. Der Professor für
jüdische Geschichte an der Hebräischen
Universität Jerusalem, Daniel Schwartz,
versucht eine Erklärung: „Ich muss leider sagen, dass die Feindseligkeit der Juden untereinander oft keine Grenzen
kennt.“ Der Antijudaismus eine Erfindung
der Juden?
Wohl kaum. Immerhin sahen sich, so
schätzen Experten, 6,5 Millionen Einwohner des Römischen Reiches als Anhänger
des Judentums an, also knapp ein Zehntel
der Bevölkerung. Den Juden, die in der
Diaspora wegen ihrer Reinheitsvorschriften
das gemeinsame Mahl mit Nichtjuden verweigerten, begegneten die Römer mit Ablehnung, aber auch Bewunderung, weil die
römische Staatsreligion mit ihrer Vielgötterei besonders bei der römischen Oberschicht als korrumpiert galt.
Für die Verstärkung des Antijudaismus in
späteren Epochen hat Sigmund Freud eine
interessante Erklärung. Mit Gewalt, so
schreibt der Erfinder der Psychoanalyse in
seinem Mose-Buch, seien die Völker christianisiert worden. Den Verwundungen und
AKG
Quer durch die Jahrhunderte wuchern
um diese Beziehung die wildesten Geschichten. Bereits im 2. Jahrhundert bezeichnet das apokryphe Philippus-Evangelium Maria Magdalena als Gefährtin
Jesu. Im 12. Jahrhundert, der Gründerzeit
des Templer-Ordens, wurde unter anderem die These gehandelt, Maria Magdalena sei nach dem Tode Jesu gen Südfrankreich geflüchtet und habe dort in einer
Höhle bei Sainte-Baume als Einsiedlerin
gelebt. Im Spätmittelalter kamen gar Legenden von ihrer Himmelfahrt auf – der
Körper ohne Kleider, nur bedeckt von
ihren langen Haaren.
Die Evangelien berichten über 29 Wunder, die Jesus bewirkt haben soll: 3 Austreibungen böser Geister, 16 Heilungswunder, 3 Totenerweckungen (außer der
eigenen), 7 Naturwunder. Jesus beruhigt
den Sturm auf dem Meer, geht übers Wasser, sättigt mit ein paar Broten und Fischen
einmal 4000, ein andermal 5000 Leute.
„Von keinem antiken Wundertäter“,
schreibt der Neutestamentler Jürgen Becker
Das Jüngste Gericht (Ikone, 17. Jahrhundert)
Endzeitliche Erwartung
167
dem daraus resultierenden Hass auf das
Christentum stand nur ein Ventil zur Verfügung – der Hass auf die Juden als angebliche Christus-Mörder, eine Umleitung der
Aggression, psychoanalytisch gesprochen:
eine klassische Verschiebung.
Abgesehen vom düsteren Kapitel des
Antijudaismus, gehört die Nachwirkung
der frühchristlichen Jesus-Verklärung zu
den großen Erfolgsgeschichten der Menschheit. Noch heute bekennen sich rund zwei
Milliarden Gläubige zur Botschaft der
Evangelien.
Was die Menschen an ihr stets besonders
fasziniert hat, sind ihre Paradoxien: Auferweckung im Tod, Sieg in der Niederlage,
Stärke durch Schwäche, das „Blut der Versöhnung“ (Klopstocks „Messias“-Dichtung), die Rettung im Weltuntergang, vor
allem aber: Gott als Mensch. Anders als
die meisten Kulte der Spätantike bezog
sich das Christentum nicht nur auf zeitlose Mythen und Legenden, sondern auf
ein einmaliges historisches Ereignis – auch
wenn dies weitgehend legendär dargestellt
und ausgeschmückt wurde. Gerade in der
konkreten Historizität der Jesus-Gestalt lag
das besondere Machtpotenzial des frühen
Christentums.
Alexander der Große hielt sich für einen
Sohn des Zeus, im Osten des römischen
Reichs wurde Kaiser Augustus als Gott
verehrt, Jesaja feierte den persischen König Kyros, der die Juden aus der Babylonischen Gefangenschaft befreite, als Messias – das waren alles gloriose Überhöhungen eindeutig irdischer Helden. Das
skandalös Neue an Jesus dagegen: die –
von den Kirchenvätern sehr bald nach dem
1. Jahrhundert dogmatisierte – strikte Identität von Gott und Mensch (zwei Personen,
eine Natur), die Behauptung, dieser eine
Mensch Jesus habe nicht nur göttlichen
Rang, sondern sei Gott selbst.
Aus der paradoxen Verquickung von
einmaligem geschichtlichem Ereignis und
ewiger Wahrheit ergab sich ein propagandistischer Vorteil besonderer Art: Alle
möglichen Spuren des Authentischen – heilige Orte, heilige Knochen, Turiner Grabtuch, Schweißtuch der Veronika – wurden
zu zusätzlichen Stützen des Glaubens.
Die spektakulärste Ikone dieser Art ist
das jahrhundertelang vom Fürstenhaus
Savoyen bewahrte, im Turiner Dom als
Reliquienschatz verehrte und gehütete
Leichentuch Christi – aus schattenhaften
Umrissen zeichnet das vier Meter lange
Leinentuch erstaunlich genau das Bild
eines übel Ausgepeitschten und Gekreuzigten. Lange für eine Fälschung des
Mittelalters gehalten, wurde dem heiligen
Laken vor zwei Jahren, nach akribischen
Textil- und Pollenuntersuchungen, bescheinigt, dass zumindest der Stoff wohl
aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert stammt.
Solche Gegenstände der Verehrung warben jahrhundertelang effektvoll für den
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AKG
Kreuzigungsdarstellung auf Isenheimer Altar (Matthias Grünewald, 1512/1515): Können wir ohne Religion leben?
Heiland in Gesellschaften, die überwie- schen Part der phantastischen Story zu
gend aus Analphabeten bestanden. Aber überprüfen und womöglich zu widerauch Gebildete erlagen schon frühzeitig legen, ist klar. Die Christen haben keinen
dem seltsamen Sog des Reliquienkults: Grund, darüber die Nase zu rümpfen – ist
Helena, die vornehme Mutter des Kaisers doch das Historischwerden ihres GotKonstantin, reiste im 4. Jahrhundert nach tes keine entbehrliche Zutat dieser ReJerusalem, ließ sich Grabstätte und Gol- ligion, sondern eine ihrer wesentlichen
gota zeigen und soll mindestens zwei Pointen. Das Christentum ist Theologie aus
jener Nägel, die angeblich durch Hand- Geschichte.
gelenke und Füße des Herrn getrieben
Rudolf Augstein jedenfalls zog, in seiworden waren, erworben haben – 1968 nem Buch „Jesus Menschensohn“ (1972/
wurde in Jerusalem der
von einem Gekreuzigten des 1. Jahrhunderts CHRISTLICH-JÜDISCHE „TIEFENGRAMMATIK“
stammende, von einem PRÄGT VIELE HEUTIGE
eckigen Nagel durchbohrte Fersenknochen VERSTÄNDIGUNGSPROZESSE.
ausgegraben, der belegt:
Die Füße des Opfers wurden getrennt ans 1999), aus der verworrenen Jesus-ÜberlieKreuz genagelt.
ferung die Konsequenz: Er nahm Abschied
Ob Kaisermutter Helena die echten Nägel vom Glauben an den Gottessohn Jesus
erwarb, bleibt ungewiss, überliefert aber ist, wie von der Deutungshoheit der Kirchen.
dass einer der Nägel in das Zaumzeug von „Können wir ohne Religion leben?“, fragSohn Konstantins Lieblingspferd eingearbei- te sich Augstein und antwortete: „Wir wertet wurde. Eine Religion zum Anfassen: den das wohl müssen.“
Während das Denken über die Einheit des
Gleichwohl: Nach rund 200 Jahren SäUnvereinbaren, des Unendlichen und Endli- kularisation, die in Europa erst zur Trenchen, grübelt, betasten die Hände die Nägel, nung von Kirche und Staat, dann auch zur
die den Gottessohn durchbohrten.
Trennung von Religion und Gesellschaft geDass eine derartige Religion die Zweif- führt hat, ist das allgemeine Interesse an
ler herausfordert, zumindest den histori- Jesus und seiner Lehre immer noch groß
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und anhaltend. Wie der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf in seinem neuen
Buch „Die Wiederkehr der Götter – Religion in der modernen Kultur“ schreibt, sind
von der christlich-jüdischen „Tiefengrammatik“ nach wie vor viele heutige Verständigungsprozesse geprägt, etwa wenn das
Tierschutzgesetz mit dem christlichen Begriff „Mitgeschöpf“ argumentiert.
Offenbar hängen die Menschen zäh an
jener unverfügbaren Würde, die jedem
Einzelnen von ihnen durch die Botschaft
vom Gottmenschen zugespielt wird. Sie
empfinden diesen unverhandelbaren „Transzendenzcharakter“ (Graf) als Schutz gegen die Manipulation durch alle möglichen
Sachzwänge und selbst ernannten Herren
der Welt.
Gewiss setzt die Teilhabe an diesem
Schutz den Sprung in den Glauben voraus, und Glauben ist nicht Wissen. Der
Münchner Publizist Peter Seewald, 49, beschließt sein anrührend autobiografisches
Buch „Grüß Gott – Als ich begann, wieder
an Gott zu denken“ mit einer Ferienszene,
die zugleich sehr alltäglich und sehr symbolisch für das Wagnis des Glaubens ist:
„Ich holte ganz tief Luft und tauchte, und
dann schwamm ich in weiten Zügen hinaus
Nikolaus von Festenberg,
aufs Meer.“
Manfred Müller, Mathias Schreiber
169
Gesellschaft
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
Ist Jesus dem Glauben im Weg?
Der evangelische Neutestamentler Andreas Lindemann
über die Widersprüche zwischen Jesus-Forschung und kirchlichen Lehren
AKG
SPIEGEL: Herr Professor Lindemann, Ru-
Raffael-Gemälde „Auferstehung Christi“ (um 1499)
ist Professor für Neues Testament an der Kirchlichen
Hochschule Bethel und einer der renommiertesten
deutschen Bibel-Forscher, der so genannten Exegeten. Lindemann, 56, schrieb 1975 gemeinsam mit
dem 1989 verstorbenen Bultmann-Schüler Hans
Conzelmann das „Arbeitsbuch zum Neuen Testament“, mit 84 000 Exemplaren (12. Auflage 1998) eines der meistgekauften Bücher zu dem Thema.
Überdies gibt er das „Handbuch zum Neuen Testament“ heraus.
130
M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV
Lindemann
dolf Augstein hat sein Buch „Jesus Menschensohn“ jetzt neu bearbeitet und darin
folgenden Kernsatz formuliert*: „Nicht,
was ein Mensch namens Jesus gedacht, gewollt, getan hat, sondern was nach seinem
Tode mit ihm gedacht, gewollt, getan worden ist, hat die christliche Religion und mit
ihr die Geschichte des so genannten christlichen Abendlandes bestimmt.“ Stimmen
Sie dem zu?
Lindemann: Ich würde es nicht so apodiktisch formulieren, aber im Prinzip kann ich
diesem Satz zustimmen, wenn auch nicht
den Konsequenzen, die Augstein in seinem
Buch daraus zieht.
SPIEGEL: Augstein wirft Ihnen, Herr Lindemann, Schizophrenie vor. Als kritischer
Exeget stellen Sie in Ihren Büchern und
Aufsätzen Widersprüche zwischen dem
Menschen Jesus und dem Christentum fest;
als Theologe erklären Sie, es sei „letztlich
ohne Bedeutung“, ob sich das Christentum „in Anknüpfung oder im Widerspruch
zu Jesus“ entwickelte.
Lindemann: Aus Augsteins Sicht mag das
schizophren scheinen, ich sehe es nicht so.
Wir Christen glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Christus. In einer
Predigt würde ich sagen: Wir glauben an
Gottes Handeln an Jesus, der dadurch zum
Christus wurde.
SPIEGEL: Wenn sich nahezu alles, was über
Jesus in der Bibel steht, als unhistorisch
erwiese, könnte es Ihren Glauben erschüttern?
Lindemann: Nicht im geringsten. Zugespitzt
formuliert ist es sogar umgekehrt, wie gemeinhin angenommen wird. In der historischen Erforschung des Neuen Testaments
kann es immer nur Wahrscheinlichkeiten,
nichts völlig Sicheres geben, und man muss
immer mit neuen Erkenntnissen rechnen,
die ein Umdenken erfordern. Für den
Glauben gilt dies nicht. Und vor allem
kann ich ihn nicht davon abhängig machen,
was wir historisch forschenden Theologen
jeweils feststellen.
SPIEGEL: Gehen Sie so weit wie Heinz
Zahrnt, der Autor mehrerer Jesus-Bücher,
der auch Christ bleiben würde, wenn man
„den Nachweis brächte, dass Jesus von Nazaret nicht gelebt hätte“?
* Rudolf Augstein: „Jesus Menschensohn“. Verlag
Hoffmann und Campe, Hamburg; 573 Seiten; 54
Mark.
Gesellschaft
lebt hat, daran gibt es keinen begründeten
Zweifel.
SPIEGEL: Augstein führt in seinem Buch die
Argumente an, die gegen eine Existenz
Jesu sprechen.
Lindemann: Die Argumente sind aber
schwach, und nach meinem Eindruck
macht er sie sich auch nicht zu Eigen. Hätte Jesus nicht gelebt, wäre der christliche
Glaube ein Mythos.
SPIEGEL: Ist nicht die Kunstfigur Christus,
die es nur in der Bibel und im Glauben
der Christen gibt, ohnehin ein Mythos,
selbst wenn dieser Mythos einen Bezugspunkt zu einem Menschen namens Jesus hat?
Lindemann: Ich würde nicht von einem Mythos sprechen, denn der Mensch Jesus
oder, wie wir Exegeten sagen, der „historische Jesus“ ist mehr als ein Bezugspunkt.
SPIEGEL: Papst Johannes Paul II. und seine
Hoftheologen ignorieren fast immer, was
die Jesus-Forschung in den 250 Jahren seit
der Aufklärung erbracht hat. In einer
„Handreichung“ des Vatikans zum so genannten Heiligen Jahr 2000 wird behauptet, „dass es sich bei den Evangelien um
Lebensbeschreibungen Jesu handelt“.
Lindemann: Das wird seit Jahrzehnten von
keinem ernst zu nehmenden Exegeten
mehr behauptet.
SPIEGEL: „Kein Augen- oder Ohrenzeuge
spricht noch direkt zu uns.“ Das schreibt
der Heidelberger Exeget Christoph Burchard über die Autoren des Neuen Testaments. Also haben weder, wie jahrhundertelang behauptet wurde, der Apostel Matthäus noch der Apostel Johannes ein Evangelium geschrieben, auch waren die Evangelisten Markus und Lukas keine Begleiter
von Aposteln. Stimmen die Exegeten darin überein?
Lindemann: Ich denke schon. Es gibt natür-
SPIEGEL: Deshalb brauchten wir nach Zita-
lich immer Ausnahmen.
SPIEGEL: Der Papst hält an den beiden
Aposteln als Autoren fest, und er verkündet, die Evangelien seien zwar Glaubensschriften, aber „als historische Zeugnisse
nicht weniger zuverlässig“.
Lindemann: Ich kenne jedenfalls im
deutschsprachigen Raum keinen Exegeten,
auch keinen katholischen, der sich so
äußert.
SPIEGEL: Belassen wir es bei diesen Proben römischer Ignoranz.Weihnachten läuft
im Ersten Deutschen Fernsehen drei Stunden lang ein zweiteiliger Jesus-Film, in dem
vieles so dargestellt wird, als habe es sich
wirklich ereignet. Stört Sie der Aberglaube an die Buchstaben der Bibel, wie er im
Vatikan verbreitet und auf dem Bildschirm
vorgeführt wird?
Lindemann: Ich würde nicht gerade von
Aberglauben sprechen. Es ist jedoch ein
Missverständnis der biblischen Texte, wenn
sie als Tatsachenberichte aufgefasst werden. Trotzdem kann und muss man sogar
danach forschen, was insbesondere in den
Evangelien historisch zuverlässig ist.
SPIEGEL: Genau das wollen wir jetzt. Wir
möchten mit Ihnen einige zentrale Bibelberichte über Jesus falsifizieren oder verifizieren.
Lindemann: Wir können das gern tun, aber
vorab möchte ich sagen, was mir an diesem
Vorgehen missfällt, wie es mir auch an Augsteins Buch missfällt. Er begnügt sich
durchgängig damit, festzustellen, was nicht
stimmt, was sich nicht ereignet hat.
SPIEGEL: Erwarten Sie mehr von jemandem, der wissen will, was geschehen ist?
Lindemann: Eigentlich schon. Es ist einerseits eindrucksvoll, in welchem Umfang
Augstein die neuere exegetische Literatur
heranzieht …
ten von Theologen nicht zu suchen. Wir
fanden alle, die wir für dieses Gespräch
brauchten, in Augsteins Buch.
Lindemann: … aber es ist andererseits bedauerlich, dass er es sozusagen atomistisch tut. Wenn es ihm wichtig ist, zitiert
er zu einem Thema drei, vier Exegeten
und greift dabei aus ihren Büchern nur
G. STOPPEL / GRAFFITI
Lindemann: Nein, keinesfalls. Dass Jesus ge-
Vatikan-Bischof Kasper
„Gefährliche Nähe von Mythologie“
die ihm passend erscheinenden Zitate
heraus.
SPIEGEL: Was hätte er sonst tun sollen?
Lindemann: Er wird den Autoren, die er zitiert, oft nicht gerecht, die sich ja nicht so
punktuell geäußert haben, und er macht
dadurch sein Buch insgesamt doch recht
einseitig.
SPIEGEL: Das Positive, das Sie vermissen,
liefern einige Theologen im Übermaß. Ihr
Kollege Traugott Holtz gehört nicht zu ihnen. Hat er Recht, wenn er in seinem dieses Jahr erschienenen Jesus-Buch schreibt:
„Über die Zeit bis zu Jesu erstem öffentlichen Auftreten wissen wir gar nichts.“
Lindemann: Holtz hat völlig Recht. Hinzu
kommt: Ob Jesus mit 30 Jahren öffentlich
auftrat, weiß man nicht. Das steht nur im
Lukas-Evangelium. Und auch über die
Dauer seines Wirkens – ob ein, zwei oder
drei Jahre – können wir nichts sagen.
SPIEGEL: Vielen ist noch immer unbekannt,
dass Jesus weder im Jahre null oder eins
noch in der Heiligen Nacht, noch in Bethlehem geboren ist, und viele halten die Legenden vom Kindermord des Herodes in
Bethlehem und von der Flucht der so genannten Heiligen Familie nach Ägypten
noch immer für Tatsachenberichte.
Lindemann: Unterschätzen Sie nicht die Allgemeinbildung der Deutschen?
SPIEGEL: Bei einer Umfrage für den SPIEGEL erklärten in diesem Jahr 77 Prozent
der Befragten, Bethlehem sei der Geburtsort Jesu – weil sie es nicht besser wissen.
Lindemann: Das Geburtsjahr kennt man in
der Tat nicht; die Angaben in den Evangelien sind vage und widersprechen sich.
Die Vermutungen reichen von 7 vor Christus bis 6 nach Christus. Der 25. Dezember
war ursprünglich der Geburtstag des römischen Sonnengottes. Und Bethlehem
wird wahrscheinlich nicht der Geburtsort
AP
Papst Johannes Paul II.*: Jesus-Forschung fast immer ignoriert
* Beim Abendgebet in der Sakramentskapelle der
Kathedrale von St. Louis (USA) am 27. Januar.
Gesellschaft
gewesen sein. Bethlehem wird vermutlich
nur deshalb genannt, weil es die Stadt Davids war und dort laut Altem Testament
der Messias geboren werden sollte.
SPIEGEL: Ist Jesus in Nazaret geboren?
Lindemann: Das vermute ich und mit mir
viele andere.
SPIEGEL: Dass die Jungfrauengeburt nicht
historisch ist, ist feste protestantische Überzeugung. Wie äußern sich dazu heutzutage die katholischen Exegeten?
Lindemann: Nach meinem Eindruck halten
nur wenige katholische Neutestamentler
daran noch fest. Aber auch die anderen
katholischen Kollegen tun sich hier schwer,
denn es geht offenbar um ein zentrales
Dogma ihrer Kirche. Deshalb breiten sie
zwar alle Argumente aus, meiden aber ein
klares Ja oder Nein, und einige schweigen
sich in ihren populären Büchern zu diesem Thema aus. So gehen sie einem Konflikt mit Rom aus dem Wege und brauchen
sich doch nicht wider besseres Wissen zu
äußern.
SPIEGEL: Ist es für Sie ein Problem, einerseits überzeugt zu sein, dass es keine Jungfrauengeburt gegeben hat, und andererseits das Glaubensbekenntnis zu sprechen:
„Geboren von der Jungfrau Maria“?
Lindemann: Nein, überhaupt nicht. Glauben, das kann ich auch als kritischer Exeget tun, weil Matthäus und Lukas erzählend die Glaubensüberzeugungen vermitteln, dass Jesus in noch ganz anderer
Weise als vor ihm Johannes der Täufer mit
dem Heiligen Geist und mit Gott verbunden ist.
SPIEGEL: Hielt sich Jesus für Gottes Sohn?
Lindemann: Nein.
SPIEGEL: Trotzdem schreibt Walter Kasper,
bis vor kurzem Bischof von RottenburgStuttgart und neuerdings im Vatikan, in seinem Jesus-Buch, dass „mit dem Bekenntnis
zu Jesus als dem Sohn Gottes der christliche Glaube steht und fällt“*. Noch strikter
heißt es im römisch-katholischen „Weltkatechismus“: „Um Christ zu sein, muss man
glauben, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist.“ Warum müssen die Christen glauben, was Jesus selbst nicht glaubte.
Lindemann: Einem evangelischen Theologen
fällt es immer schwer zu fordern, dass man
etwas glauben „muss“. Aber in der Sache
gebe ich Kasper und sogar dem „Weltkatechismus“ Recht. Es geht nicht darum, ob
Jesus der Sohn Gottes war, sondern um das
Bekenntnis, dass er der Sohn Gottes ist.
SPIEGEL: Christ wird man durch die Taufe.
Hat Jesus getauft?
Lindemann: Nein.
SPIEGEL: Hat er von seinen Anhängern verlangt zu taufen?
Lindemann: Der historische Jesus hat es
nicht verlangt, das wird im Neuen Testament auch nicht behauptet. Der Missionsund Taufbefehl …
* Walter Kasper: „Jesus der Christus“. GrünewaldVerlag, Mainz; 332 Seiten; 48 Mark.
d e r
s p i e g e l
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SPIEGEL: „Darum geht hin und macht zu
M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV
Jüngern alle Völker, taufet sie …“, Matthäus Kapitel 28, Vers 19.
Lindemann: … ist erst durch den Auferstandenen ergangen.
SPIEGEL: Wie sollen Christen sich das vorstellen: dass der auferstandene Jesus diesen
Auftrag auf wunderbare Weise aus dem
Jenseits erteilt hat oder dass die Urchristen
ihm dies in den Mund gelegt haben?
Lindemann: Letzteres. Der Evangelist Matthäus hat den Taufbefehl formuliert, um
die von der urchristlichen Gemeinde von
Lindemann (M.) beim SPIEGEL-Gespräch*
Im Glauben unerschüttert
Anfang an geübte Taufpraxis zu legitimieren.
SPIEGEL: Hat sich Jesus in der Erwartung
geirrt, das Weltende und das Reich Gottes
seien nahe? Es gibt Jesus-Worte, die dies
vermuten lassen, das bekannteste findet
sich im Markus-Evangelium Kapitel 9, Vers
1: „Unter denen, die hier stehen, sind einige, die den Tod nicht schmecken werden,
bis sie gesehen haben, dass das Reich Gottes mit Macht gekommen ist.“
Lindemann: Viele Exegeten lösen das Problem, indem sie Jesus diese Aussage absprechen. Dafür gibt es auch gute Argumente. Andererseits halte ich es für unwahrscheinlich, dass der Evangelist Markus
dieses Wort Jesus in den Mund gelegt hat.
Es hatte sich ja schon zu Markus’ Lebzeiten als Irrtum erwiesen. Einer von beiden
hat sich jedenfalls geirrt, Jesus oder Markus. Im Grunde ist das egal.
SPIEGEL: Machen Sie es sich nicht zu leicht?
Der katholische Bischof Kasper jedenfalls
nimmt dieses Problem ernster, vielleicht
weil zu einem unfehlbaren Papst ein irrender Christus schlecht passt. Zitat Kasper: „Hat sich Jesus etwa in dieser seiner
Naherwartung getäuscht? Wäre dies der
Fall, dann hätte dies weit reichende Konsequenzen nicht nur für den Vollmachtsanspruch seiner Person, sondern für den
Wahrheits- und Gültigkeitsanspruch seiner
ganzen Botschaft.“
Lindemann: An diesem Anspruch ändert
der Irrtum in der Terminfrage nichts.
SPIEGEL: Laut Bibel hat Jesus Tote auferweckt, einen Sturm gestillt, ist über Wasser gegangen, hat fünftausend mit fünf
* Mit den Redakteuren Werner Harenberg und Manfred
Müller in Bethel.
135
Gesellschaft
Lindemann: Viele, und weit mehr als noch
vor 20, 30 Jahren. Der christliche Glaube ist
keine Fortsetzung der Botschaft Jesu, sondern bezieht sich auf das Heilsereignis in
Christus, auf die Auferstehung und eben
nicht auf die Verkündigung Jesu.
SPIEGEL: Dann wären die „echten“ JesusWorte, wenn man sie denn feststellen kann,
jüdisch und nicht christlich?
Lindemann: Kein Zweifel. Jesus hat sich stets
ausschließlich als Jude verstanden.
SPIEGEL: Wie steht es dann mit der Bergpredigt? Dass Jesus sie gehalten hat, be-
R. MEISEL / VISUM
Broten und zwei Fischen gesättigt, Wasser
in Wein verwandelt. War Jesus zu solchen
Wundern, also zu Taten fähig, die vor oder
nach ihm kein Mensch vollbracht hat?
Lindemann: Ich halte es für ausgeschlossen,
dass Jesus die von Ihnen genannten Wunder getan hat. Solche Erzählungen gab es
damals auch über andere große Männer.
Für historisch halte ich, dass Jesus Kranke
geheilt und, nach dem Sprachgebrauch der
Bibel, „Dämonen ausgetrieben“ hat.
SPIEGEL: Hielt sich Jesus für den Messias,
den viele Juden damals erwarteten?
Protestantische Taufe: Befehl vom Evangelisten Matthäus
Lindemann: Nach allem, was wir wissen,
nicht. Er hat auch nach der Darstellung der
Evangelien nichts von dem getan, was vom
kommenden Messias erwartet wurde.
SPIEGEL: Hat Jesus gehofft, nach seinem
Tode als Christus das Haupt einer Kirche
zu werden?
Lindemann: Auch diese Frage ist, historisch
gesehen, zu verneinen. Jesus wollte keine
Kirche gründen. Überhaupt sah er die Entwicklung nicht voraus, die nach seinem
Tode, wie Sie sagen, nach seiner Auferstehung, wie wir Christen sagen, einsetzte
und die Welt veränderte.
SPIEGEL: Was von all dem, was Christen
sonst noch glauben oder glauben sollen,
hat Jesus schon geglaubt? Dass er präexistent war, es ihn also schon gab, bevor
er gezeugt wurde? Dass er wiederkehren
werde am Ende der Tage?
Lindemann: All das ist christlicher Glaube,
und Jesus hat dies nicht geglaubt, er hätte
dies auch nicht glauben können, denn er
war Jude und kein Christ. Er sah seine Aufgabe in Israel, und keinesfalls wollte er eine
neue Religion stiften.
SPIEGEL: Würden das die meisten Exegeten so formulieren?
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hauptet heute wohl kein ernst zu nehmender Exeget mehr.
Lindemann: Das stimmt. Die Bergpredigt
ist eine Komposition des Evangelisten Matthäus. Er hat Vorgefundenes und Eigenes
zu einem literarisch und theologisch bedeutenden Werk vereint. In ihm gibt es
Christliches und Jüdisches, Hellenistisches
und eben auch von Jesus Stammendes. Auf
ihn gehen, wie ich meine, insbesondere
das Vaterunser und das Gebot der Feindesliebe zurück.
SPIEGEL: „Alle neutestamentlichen Aussagen, die den Tod Jesu als Heilsereignis verstehen, sind erst nach Jesu Tod entstanden“, so der Frankfurter Theologe Hans
Kessler. Also verstand auch Jesus selbst seinen Tod nicht als Sühnetod für die Sünden
der Menschen, wie es im Credo steht.
Lindemann: Davon hat Jesus in der Tat nicht
gesprochen. Die Worte, mit denen er seinem Sterben Heilsbedeutung zuschreibt,
sind ihm nachträglich in den Mund gelegt
worden.
SPIEGEL: Wieder halten wir Ihnen entgegen, was Bischof Kasper dazu schreibt:
Wenn es so wäre, „dass dieser Gedanke keinerlei Anhalt im Leben und Sterd e r
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ben Jesu selbst“ hat, dann „rückt das Zentrum des christlichen Glaubens in gefährliche Nähe von Mythologie und Ideologie“.
Lindemann: Wir sind in der Tat an einem
zentralen Punkt. Auch hier gilt: Die Wahrheit des christlichen Glaubens hängt nicht
vom Selbstverständnis Jesu ab.
SPIEGEL: Wenn Jesus von seinem Sühnetod
nichts wusste, kann er auch das Abendmahl nicht eingesetzt, nicht von seinem
Blut gesprochen haben, „das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“.
Lindemann: Ich meine in der Tat, dass die
Abendmahlsworte nicht historisch auf Jesus zurückzuführen sind. Die urchristliche
Gemeinde hat ihren Glauben in Worte Jesu
gekleidet.
SPIEGEL: Herr Lindemann, wenn wir Sie so
hören, kommt uns der Gedanke: Was man
über den Menschen Jesus weiß, ist dem
christlichen Glauben im Wege.
Lindemann: Das bestreite ich nicht. Ich gehe
sogar einen Schritt weiter. Wir haben ja
bislang nur erörtert, was Jesus nicht gesagt
oder nicht getan hat. Es gibt aber auch Aussagen Jesu, die dem christlichen Glauben
widersprechen. Ich denke an vieles, was
mit der ausschließlichen Bindung Jesu an
das Judentum zusammenhängt.
SPIEGEL: Woran etwa?
Lindemann: An die Sabbat- und Reinheitsgebote, an denen Jesus bei aller vorhandenen Kritik selbstverständlich festgehalten hat.
SPIEGEL: Was von all dem, was in den Evangelien über die Auferstehung steht, ist Legende?
Lindemann: Die Überlieferung vom leeren
Grab und seinem Auffinden durch Frauen
und Jünger, die unterschiedlichen Schilderungen der Begegnungen mit dem Auferstandenen und natürlich auch die Himmelfahrt.
SPIEGEL: War das Grab denn leer?
Lindemann: Das weiß ich nicht. Aber selbst
wenn das Grab und Reste des Leichnams
Jesu gefunden würden, würde dies meinen
Glauben an die Auferweckung Jesu durch
Gott nicht berühren.
SPIEGEL: Was halten Sie denn von den Visionen, die Paulus im 1. Korintherbrief aufzählt: dass Christus „gesehen“ worden sei,
zuerst von Petrus, dann von anderen und
schließlich von Paulus selbst? Was wäre
auf dem Film gewesen, wenn damals eine
Kamera diese Visionen hätte aufnehmen
können?
Lindemann: Man würde auf dem Film die
von Paulus erwähnten Menschen, vielleicht
ihre Reaktionen, aber gewiss kein filmisch
wahrnehmbares Gegenüber sehen.
SPIEGEL: Reicht Ihnen als Basis für Ihren
Glauben die Behauptung von Menschen,
was sie erlebt haben? Ihr Glaube lebt vom
Glauben dieser Urchristen?
Lindemann: So ist es.
SPIEGEL: Herr Professor Lindemann, wir
danken Ihnen für dieses Gespräch.