Two Against Nature

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Two Against Nature
Two Against Nature
Ironie statt 'Authentizität' bei der
US–amerikanischen Band Steely Dan
Diplomarbeit
im Rahmen des
Diplomstudiengangs Musikerziehung
der Fakultät Musik der Universität der Künste Berlin
vorgelegt von
Hannes Hüfken
–––––––––––––––––––––
geboren in Essen
–––––––––––––––––––––
GutachterInnen:
1. 2. Prof. Susanne Fontaine
Prof. Peter Weniger
Inhaltsverzeichnis
I Einleitung..........................................................................................................................................................1
I.1 Editorische Notizen.....................................................................................................................................2
I.2 Forschungs– und Quellenlage.....................................................................................................................2
I.3 Biografische Übersicht................................................................................................................................4
II Verweigerungshaltungen – Selbstbewusste Kunst in der Kulturindustrie........................................................6
II.1 leise mächtige These: Kulturindustrie.......................................................................................................6
II.2 laute ohnmächtige Antithese: Popkultur....................................................................................................7
II.3 spannungsreiche friedliche Synthese: Popkulturindustrie.........................................................................9
III Two Against Nature – Becker & Fagen als Objekte und Subjekte von Kulturindustrie...............................12
III.1 Lay down the law and break it – Rockmusik und Ironie .......................................................................12
III.1.a Drecksarbeit 1: I Mean to Shine....................................................................................................12
III.1.b Drecksarbeit 2: Dirty Work...........................................................................................................13
III.1.b.1 Do It Again........................................................................................................................16
III.1.c Konkret nützliche Arbeit 1: Einsortieren ins Rock–Regal ...........................................................20
III.1.c.1 Abstrakt menschliche Arbeit 1: Show Biz Kids................................................................21
III.1.d Saubere Arbeit: When all my dime dancin' is through.................................................................26
III.1.d.1 Workshop situation............................................................................................................27
III.1.d.2 Schlecht bezahlte Arbeit – How all the pros play the game.............................................29
III.1.e Konkret nützliche Arbeit 2: Backbeat...........................................................................................33
III.1.e.1 Theorie des backbeat.........................................................................................................33
III.1.e.2 Steely Dan und der backbeat.............................................................................................34
III.1.e.3 Morph the Cat...................................................................................................................37
III.1.f Abstrakt menschliche Arbeit 2: Imagepolitik im Spätwerk...........................................................38
III.1.f.1 I want a name when I lose – the 'collective persona' of Becker and Fagen........................41
III.1.f.2 How 'bout a kiss – Geschlechterrollen .............................................................................43
III.1.f.3 Semi–regular Output..........................................................................................................47
III.2 Musikalische Vorläufer und ihre Verarbeitung bei Steely Dan .............................................................50
III.2.a Jazz...............................................................................................................................................50
III.2.a.1 Swing.................................................................................................................................51
III.2.a.2 Bebop................................................................................................................................53
III.2.a.2.1 Chinese music under banyan trees......................................................................55
III.2.a.3 Fusion...............................................................................................................................60
III.2.b Blues.............................................................................................................................................62
III.2.b.1 Adaption: Blues–Rock......................................................................................................63
III.2.b.1.1 Melancholie und Psychedelic Rock....................................................................63
III.2.b.1.2 Bodhisattva.........................................................................................................64
III.2.b.1.3 Little Junkie Girl.................................................................................................66
III.2.b.2 Those days are gone forever – Blues und Ironie...............................................................67
III.2.b.3 Peg, it will come back to you............................................................................................71
ii
III.2.c Rhythm & Blues...........................................................................................................................76
III.2.c.1 I never loved a man (the way I love you)...........................................................................76
III.2.c.2 I never seen you looking so bad my funky one.................................................................83
III.2.c.3 I never had no problems burnin' out the one night stands – R&B und Identität...............84
IV Wenn zwei sich lieben, freut sich ihr Drittes – Gaslighting Abbie .............................................................86
IV.1 So let's switch off all the lights / Light up all the luckies.......................................................................90
IV.2 Boppin' until Labor Day.........................................................................................................................91
IV.3 A nice relaxing hand of solitaire............................................................................................................92
IV.4 End credits..............................................................................................................................................94
V Resume...........................................................................................................................................................96
VI Anhang.........................................................................................................................................................99
VI.1 Quellenverzeichnis.................................................................................................................................99
VI.1.a Diskographie.................................................................................................................................99
VI.1.b Verwendete Quellen – Literatur, Tonträger, Film.........................................................................99
VI.1.c Online–Quellen...........................................................................................................................101
VI.2 Transkriptionen....................................................................................................................................103
VI.2.a Cornelius Bumpus Interview......................................................................................................103
VI.2.b Peg (1977)...................................................................................................................................104
VI.2.c Green Earrings (1976).................................................................................................................107
VI.2.d Gaslighting Abbie (2000)...........................................................................................................109
iii
Der Begriff des musikalischen Fetischismus ist nicht psychologisch herzuleiten. Daß „Werte“ konsumiert werden und Affekte auf sich ziehen, ohne daß ihre spezifischen Qualitäten vom Bewußtsein des Konsumenten noch erreicht würden, ist ein später Ausdruck ihres Warencharakters. Denn das gesamte gegenwärtige Musikleben wird von der Warenform beherrscht: die letzten vorkapitalistischen Rückstände sind beseitigt. Musik, mit all den Attributen des Ätherischen und Sublimen, die ihr freigiebig gespendet werden, dient in Amerika wesentlich der Reklame von Waren, die man erwerben muss, um Musik hören zu können. Wird die Reklamefunktion im Bereich der ernsten Musik sorgfältig abgeblendet, so schlägt sie in der leichten allenthalben durch. Der ganze Jazzbetrieb mit der Gratisverteilung der Noten an die Kapellen ist darauf abgestellt, daß die tatsächliche Aufführung für den Kauf der Klavierauszüge und Grammophonplatten wirbt; unzählige Schlagertexte preisen den Schlager selber an, dessen Titel sie in Majuskeln wiederholen. Was aus solchen Buchstabenmassiven götzenhaft blickt, ist der Tauschwert, in dem das Quantum möglichen Vergnügens verschwunden ist. Marx bestimmt den Fetischcharakter der Ware als die Veneration des Selbstgemachten, das als Tauschwert Produzenten und Konsumenten – den „Menschen“ – sich gleichermaßen entfremdet. „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.“ Dies Geheimnis ist das wahre des Erfolgs. Er ist die bloße Reflexion dessen, was man auf dem Markt für das Produkt zahlt: recht eigentlich betet der Konsument das Geld an, das er selber für die Karte zum Toscaninikonzert ausgegeben hat. Buchstäblich hat der den Erfolg „gemacht“, den er verdinglicht und als objektives Kriterium akzeptiert, ohne darin sich wiederzuerkennen. Aber „gemacht“ hat er ihn nicht dadurch, daß ihm das Konzert gefiel, sondern dadurch, daß er die Karte kaufte. Freilich setzt sich im Betrieb der Kulturgüter der Tauschwert auf besondere Weise durch. Denn dies Bereich erscheint in der Warenwelt eben als von der Macht des Tausches ausgenommen, als eines der Unmittelbarkeit zu den Gütern, und dieser Schein ist es wiederum, dem die Kulturgüter ihren Tauschwert allein verdanken. Zugleich jedoch fallen sie vollständig in die Warenwelt hinein, werden für den Markt verfertigt und richten sich nach dem Markt. So dicht ist der Schein der Unmittelbarkeit wie der Zwang des Tauschwertes unerbittlich. Das gesellschaftliche Einverständnis harmonisiert den Widerspruch. Der Schein von Unmittelbarkeit bemächtigt sich des Vermittelten, des Tauschwertes selber. Setzt die Ware allemal sich aus Tauschwert und Gebrauchswert zusammen, so wird der reine Gebrauchswert, dessen Illusion in der durchkapitalisierten Gesellschaft die Kulturgüter bewahren müssen, durch den reinen Tauschwert ersetzt, der gerade als Tauschwert die Funktion des Gebrauchswertes trügend übernimmt. In diesem quid pro quo konstituiert sich der spezifische Fetischcharakter der Musik: die Affekte, die auf den Tauschwert gehen, stiften den Schein des Unmittelbaren, und die Beziehungslosigkeit zum Objekt dementiert ihn zugleich. Sie gründet in der Abstraktheit des Tauschwerts. Von solcher gesellschaftlichen Substitution hängt alle spätere „psychologische“, alle Ersatzbefriedigung ab.
Theodor W. Adorno
You should never believe anything it says on a Steely Dan record. It’s just a bunch of lies and bullshit that we write to confuse the listener.
Donald Fagen
iv
I Einleitung
Kids today probably think of Steely Dan as the ultimate musos.
Whereas their albums were easily the most subversive records made in the '70s.
William Gibson
Zu den meistgehörten Begründungen für eine ablehnende Haltung gegenüber Steely Dan gehören Verweise auf den 'glatten' Sound, den Perfektionismus und die 'ambitionierte' Spielweise, andererseits die Klage über den 'unschönen' Gesang Donald Fagens. Ein häufiger Grund für Bewunderung ist, zumindest unter Jazzfans und –musikern in Deutschland, der Perfektionismus in Tontechnik und Spielweise, trotz des unschönen Ge­
sangs. Beide Positionen rücken Steely Dan in die Nähe der Fusionszene von Los Angeles, oder, mit William Gibson, der „ultimate musos“. Warum ihr Werk aber gerade durch den L.A.–Perfektionismus hindurch und über ihn hinaus geht, um subversive Qualitäten zu erreichen, möchte ich in dieser Arbeit zeigen. Interessan­
terweise nennt die Continuum Encyclopedia of Popular Music of the World (Vol. IV: S. 236) im Artikel über die Geschichte der Musikproduktion in Los Angeles neben zwei Hardcore– und Punkbands genau zwei vom Jazz beeinflusste (und erfolgreiche) Künstler, die sich dem dortigen Mainstream verweigern wollten:
This highly commercialized mainstream of Los Angeles music provoked reactions from those who did not want to join the hitmaking machine. These refuseniks included Frank Zappa, Steely Dan and the hardcore bands of the early 1980s such as X and Black Flag.
Eine vergleichende Analyse der Ironiekonzepte bei Frank Zappa und Steely Dan wäre in diesem Zusam­
menhang ein lohnendes Unterfangen. In beiden Werken werden die Fusionwelt und ihre Sessionmusiker künstlerisch gefordert, ökonomisch befriedigt – und gleichzeitig zweckentfremdet. Für diesen Vergleich möchte ich hiermit eine halbwegs umfassende Analyse der Dan'schen Ironie zur Verfügung stellen, die sich der Vermittlung musikgeschichtlicher, biographischer, kompositorischer und lyrischer Aspekte widmet. Dazu gehört auch das öffentliche Auftreten Beckers und Fagens in Interviews und Filmen und ihre extensive Nut­
zung des World Wide Web zur (monodirektionalen) Kommunikation mit Fans, ehemaligen Businesspartnern und Institutionen.
Um einen Boden zu schaffen, auf dem Ironie und Verweigerungshaltungen eine Existenzgrundlage (und –
notwendigkeit) bekommen, möchte ich in gebotener Kürze das Verhältnis von Kulturindustrie und Popkultur ab den sechziger Jahren bestimmen, so wie es in Westeuropa und den USA gefasst werden kann. Der Haupt­
teil der Arbeit wird sich damit beschäftigen, wie Steely Dan sich in, zwischen, unter oder über diesen Sphären bewegen – auch unabhängig davon, ob sie es wissentlich tun oder nicht. Dabei werden die ironischen Techni­
ken in Text, Musik und Auftreten sowie in der Vermittlung all dessen ein wichtiger Gesichtspunkt sein. Die erste Hälfte des Hauptteils werde ich damit verbringen, ihre Situierung im Rock–Kontext der Post–Pop–Ära zu bestimmen. Anschließend untersuche ich die stilistischen Bezüge in Richtung Jazz, Blues und Soul. Dabei wird wichtig sein, woran sich Steely Dan wirklich bedienen, wenn sie eine Stiloberfläche zitieren, und was das jeweils dem Konzept der Rockband hinzufügt. Zum Schluss werde ich das Stück 'Gaslighting Abbie' aus­
führlich analysieren. Es eröffnet das Album Two Against Nature und damit das Spätwerk, und in ihm finden sich – hoffentlich – alle vorher besprochenen Aspekte wieder.
Die vielen Zitate, mit denen ich in dieser Arbeit hantiere, dienen nicht dazu, Becker und Fagen das Argu­
mentieren zu überlassen – derlei wäre verlockend und einfach, spricht aus ihnen doch oft eine amüsante und belesene Scharfsinnigkeit. Im Gegenteil aber will ich zeigen, aus welchen subjektiven Bedürfnissen, vor wel­
chem Erfahrungshintergrund das Werk entsteht, das ich porträtiere. Dazwischen nämlich existiert ein Bruch: 1
Jedes Werk enthält mehr, als der Künstler bewusst hineinlegt, und jeder Künstler weiß mehr als das, was er ins Werk gießt. Donald Fagen und Walter Becker wissen in der Regel sehr viel mehr, als der verwirrte Hörer ihrer scheinbar kryptischen, zumindest lückenhaften Texte erfährt. Doch näheres Hinhören offenbart – hof­
fentlich – mehr als das, was die Komponisten referieren könnten. Dasselbe gilt für die dritte Ebene bei Vokal­
musik: die Vermittlung von Text und Musik zu einem Ganzen. Wenn die beiden einzelnen nicht in einem Verhältnis von Transporter und Transportiertem stehen – ein Anspruch, mit dem mancher Deutschrocker der Achtziger, wie herum auch immer, explizit zufrieden war – entsteht aus ihnen etwas Eigenes, Drittes, was den Charakter des Songs ausmacht. Der Song ist bei Steely Dan auch nicht ein Gerüst, das sich nach Folk–Ideolo­
gie mit Gitarre und Stimme allein reproduzieren lassen müsste. Er lebt von jedem Produktionsdetail, und fiele eines von ihnen weg, würde er ein anderer sein. Deshalb gehe ich mitunter in der Analyse, wie Steely Dan in der Produktion, auf jedes Detail ein. I.1 Editorische Notizen
Aufgrund von Beckers und Fagens nachdenkendem, stockendem Sprachgebrauch in Interviews benutze ich in Filmtranskriptionen und Interviewzitaten die nicht eingeklammerte Auslassung '...' als Kennzeichnung nicht vollendeter Sätze oder für Denkpausen und schließe mich damit der Handhabung der meisten Autoren und Editoren meiner gedruckten Quellen an. Folglich werden alle wirklichen Auslassungen, auch wenn sie weni­
ger als einen Satz umfassen, mit eckigen Klammern gekennzeichnet. Wie im Jazz üblich, verwende ich bei Notennamen und Akkordsymbolen die internationale Schreibweise: B für das deutsche H, und Bb für das deutsche B. Der Schlüssel zu meiner Schlagzeugnotation:
I.2 Forschungs– und Quellenlage
Über Steely Dan wird viel geschrieben. Für Journalisten stellt es sich als eine Ehre dar, die Herren Walter Be­
cker und Donald Fagen zu treffen, denen in den siebziger und achtziger Jahren der Ruf vorauseilte, zu den an­
strengendsten Interviewpartnern überhaupt zu gehören. Bekam man, einzig aufgrund des Interesses von ABC Records an Öffentlichkeitsarbeit, überhaupt einen Termin, wurde man von Becker und Fagen mit großer Wahrscheinlichkeit mit (amüsanten) Lügengeschichten oder Unwichtigkeiten bedacht, einem Kreuzverhör un­
terzogen, polemisch ausgefragt oder psychoanalytisch ausgedeutet, intellektuell überfordert, beleidigt oder schlicht ignoriert. Nach der langen Pause in ihrem Schaffen hat sich dieser Unwille zur ernsthaften Kommu­
nikation gelegt, und die Interviewsituationen dürften jedem Journalisten zu einem intellektuellen und musik­
historischen Vergnügen gereichen. Jede Neuerscheinung löst weltweit Interesse aus und vermehrt die Fülle von Primär– und Sekundärquellen durch Interviews und Rezensionen in jeder allgemeinen oder jazzbezoge­
nen Musikzeitschrift.
Wissenschaftliche Literatur hingegen gibt es kaum. Unter dem Titel A Royal Scam: The Abstruse and Iro­
nic Bop–Rock Harmony of Steely Dan hat Walter Everett 2004 in der Zeitschrift Music Theory Spectrum einen Artikel veröffentlicht, der sich in Kürze, aber sehr gehaltvoll und dicht, harmonischen in Verbindung mit lite­
rarischen Fragen ans Gesamtwerk widmet.
2
Mit Brian Sweets unautorisierter Biografie Reelin' in the Years, 1994 zuerst veröffentlicht und 2000 zuletzt aktualisiert, liegt ein Buch vor, das zwischen Fanartikel und populärwissenschaftlicher Veröffentlichung an­
zusiedeln ist. Der Autor ist offenbar in jeder von Steely Dans Schaffensphasen viel umher gereist, um Kon­
zerte zu besuchen und Interviews zu führen. „Unfortunately, for reasons best known only to themselves, Wal­
ter Becker and Donald Fagen declined to be interviewed despite several earnest requests.“ (Sweet 2000, S. 6). Sweet selbst findet Erwähnung in Beckers und Fagens liner notes 1 zur 1999er Wiederveröffentlichung des Al­
bums Katie Lied (1975), in denen sie auf lakonische Art von der Zeit der Albumproduktion erzählen, dabei, wie zu erwarten, mehr Konfusion als Klarheit in das Durcheinander von Gerüchten und Anekdoten bringen und Sweets Buch nur erwähnen, um es schmerzhaft unerwähnt zu lassen: Having said that, we turn to the trusty studio library with the aim of consulting Mr. Brian Sweets controversial critical biography of your unworthy narrators – only to discover that they only have the Japanese edition in stock at this time.
Die Zitate und Erzählungen, die Sweet in seiner Biographie – sämtlich ohne Quellenangabe – wiedergibt, stammen teils aus seinem großem Fundus an Zeitschriften– und Rundfunkinterviews, teils aus seinen Gesprä­
chen mit zahlreichen wichtigen Personen aus dem Umfeld der Band: Produzent Gary Katz, die Toningenieure Roger Nichols und Elliot Scheiner, das bis 1977 feste Bandmitglied Denny Dias, etliche Gastmusiker sowie Donald Fagens Mutter Elinor. Eigene Vermutungen oder Geschmacksurteile des Autors sind zwar häufig nicht gekennzeichnet, aber erkennbar. Wenn man davon ausgeht, dass die Zitate in der Regel nicht gefälscht oder erfunden sind, hat man mit diesem Buch eine reichhaltige Quelle von Aussagen vieler Beteiligter, allen voran Beckers und Fagens. Everett (2004) verwendet das Buch ohne jede kritische Bemerkung. Ein weiteres Büchlein von Brian Sweet ist trotz seines Titels Steely Dan – the Complete Guide to their Music (2004) von äußerst geringem Gebrauchswert: Die kurzen Bemerkungen zu jedem Song geben wahlweise geschmackliche Gesamtbewertungen, Produktionstrivia oder Hinweise zum Gegenstand des Songtexts. Das fanzine2 The Me­
tal Leg, dessen Co–Herausgeber Brian Sweet war, existierte von 1987 bis 1997 und ist in der Steely Dan Inter­
net Resource (s.u.) vollständig archiviert.
An musikpädagogischen Veröffentlichungen existieren neben verschiedenen Songbooks das Buch The Art of Steely Dan von David Pearl (2002), welches einen „comprehensive overview of the style of one of today's greatest bands“ (Klappentext) bietet, sowie eine DVD namens Donald Fagen: Concepts for Jazz/Rock Piano (Homespun Tapes, 1993). Dort spielt Fagen die Blues–basierten Stücke und erklärt ihre harmonische Gestal­
tung, moderiert und begleitet von Steely Dans damaligem Tournee–Pianisten Warren Bernhard.
Ein einstündiges Radiogespräch vom 23. Juli 2002 mit der Pianistin Marian McPartland ist in deren Reihe Piano Jazz auf CD erschienen. Es enthält z.T. gemeinsame Interpretationen von Steely Dan– und Duke El­
lington–Stücken. Weitere Radio– und Fernsehinterviews sind im Internet archiviert.
Was Onlinequellen betrifft, so ist zuerst die sehr reichhaltige offizielle Seite www.steelydan.com zu nen­
nen, die inhaltlich von Becker und Fagen selbst redigiert wird und daher neben obligatorischen Songtexten und Diskographien vor allem lakonische Tourneetagebücher, zynische offene Briefe an Prominente und Busi­
nesspartner, schriftlichen Austausch mit „the loyal Danfan“ und beispielsweise die Kampagne zur Bestechung des Komitees der Rock & Roll Hall of Fame in Cleveland, Ohio beinhaltet. Freilich sind die meisten Texte 1 Begleittext im CD–Booklet oder auf der Plattenhülle
2 Das Wort fanzine setzt sich aus den Wörtern fan und magazine zusammen. Fanzines werden von Fans vor allem in sub– und popkulturellen Sparten über fast jede bekanntere Band gemacht und sind meist unprofessionell in Redakti­
on, Herstellung und Vertrieb. Mit zunehmender Verbreitung des Internets vor allem dort zu finden. 3
kaum historisch aufschlussreich, sondern in erster Linie amüsant verwirrend, mithin analysierbar im Hinblick auf Beckers und Fagens ironischen Umgang mit ihrer eigenen Prominenz. Der Steely Dan Webring ist ein Zu­
sammenschluss von Fans unterhaltener Internet–Seiten, die zum Teil als Archive für Interviews und unveröf­
fentlichtes Audiomaterial zu gebrauchen sind. Ein sehr reichhaltiges, aber nachlässig redigiertes unter ihnen, das Steely Dan Archive (im Folgenden: SDA), ist während meiner Arbeiten aus Kostengründen eingestellt worden. Große Teile des Inhalts habe ich kurz nach der Außerbetriebnahme aus dem cashe der Suchmaschine google.com gespeichert, so dass sie bei mir, aber nicht mehr unter der angegebenen URL einsehbar sind. Die Steely Dan Internet Resource werde ich im laufenden Text mit SDIR angeben)
Weiter gibt es einige Filmproduktionen, die Steely Dan zum Mittelpunkt haben. In der Reihe Classic Al­
bums (Isis Productions) wurde 1999 ein Dokumentarfilm namens Aja veröffentlicht, der retrospektiv über die Produktion des gleichnamigen Albums von 1977 berichtet. 2000 hatten Steely Dan einen Auftritt in der Reihe Storytellers des Musiksenders VH1. Drittens gibt es den auf DVD veröffentlichten Konzertmitschnitt mit Do­
kumentaraufnahmen namens Two Against Nature – Steely Dan's Plush TV Jazz Rock Party in Sensuous Surround Sound (Image Entertainment 2000), im Folgenden abgekürzt: Plush TV Party. Die vor der Bandgründung entstandenen Demo–Aufnahmen aus NYC und L.A. wurden später in unzähli­
gen unautorisierten Kompilationen veröffentlicht. Die m.E. vollständigste mit dem Namen Walter Becker & Donald Fagen: Android Warehouse (age of panik/BMG, 1998) liegt mir vor. Von den enthaltenen 28 Titeln wurden sechs in neuen Versionen auf Alben des Frühwerks wiederverwendet. Der Soundtrack zum (erfolglo­
sen) Film „You gotta walk it like you talk it or you'll lose that beat“ (J.E.R. Pictures Inc. 1971) mit sechs Be­
cker/Fagen–Songs ist 1971 als LP und 2006 auf CD wiederveröffentlicht worden.
I.3 Biografische Übersicht
Pianist Donald Fagen (* 10.01.1948 in Passaic, New Jersey) und Bassist Walter Becker (* 20.02.1950 in Queens, New York City, NY) begegneten sich 1968 im „shaggy–hippie bedlam of upstate New York's Bard College“3, dessen Heimsuchung durch Razzien des Drogendezernats schon von Bob Dylan besungen worden war4. Becker und Fagen studierten Literaturwissenschaft ohne größeres Interesse am Seminarprogramm, stellten dafür aber ein gemeinsames Interesse an beat poetry und Jazz fest. 1970, mit Wohnsitz inzwischen in New York City, lernten sie über eine Kleinanzeige („no assholes needed apply“) den bebop–Gitarristen Den­
ny Dias kennen, dessen Band Demian einen Bassisten und einen Pianisten suchte. Becker und Fagen übernah­
men en passent die Band und spielten ihre eigenen Songs, bis sie zu zweit nach Los Angeles gingen, um ihre Kompositionen dort an Verlage, Plattenfirmen und Produzenten zu verkaufen. Nachdem sie einige Zeit eher erfolglos – die Songs waren zu komplex und außergewöhnlich – als Hauskomponisten für den Produzenten Gary Katz bei ABC Records gearbeitet hatten, erwirkte dieser schließlich den Abschluss eines Plattenvertrags für die beiden und eine eigene Band. Denny Dias wurde nach L.A. gebeten und brachte den Schlagzeuger Jim Hodder mit. Katz – damals unter dem Pseudonym Gary Kannon – stellte den Gitarristen Jeff 'Skunk' Baxter vor. Mit diesen drei zusätzlichen Musikern war die Besetzung unter dem Namen Steely Dan zunächst voll­
ständig, und 1972 veröffentlichte sie das Debut Can't Buy a Thrill. Der Sänger David Palmer wurde gegen Ende der Aufnahmen engagiert, sang zwei Stücke auf dem Album und einige mehr bei der anschließenden Tournee und verließ die Band dann. Seit 1973 singt Fagen alle Stücke mit Ausnahme von 'Slang of Ages' 3 Gordinier, Jeff: The Band With 2 Brains; SDA
4 'Subterranean Homesick Blues', 1965
4
(2003, gesungen von Walter Becker).
Um 1974 wich das Konzept der 'working band' nach und nach dem der 'workshop situation': Becker, Fagen und Katz bevorzugten, für jedes Stück diejenigen Gastmusiker einzuladen, die am besten den stilistischen An­
forderungen gerecht werden würden, Hodder spielte bereits auf dem dritten Album nur noch bei wenigen Stücken das Schlagzeug und hatte einige Einsätze als Backgroundsänger. Nach der Tournee im selben Jahr stiegen er und Baxter aus. Diese dritte Tournee war übrigens zunächst die letzte, weil Becker und Fagen sehr zum Missfallen der übrigen Mitglieder das Tourneeleben zu unkomfortabel fanden und sich lieber der kom­
positorischen Klausur und der Produktion im Studio widmen wollten. Einzig Dias blieb bis nach der Veröf­
fentlichung von Aja (1977) in der Band, wobei auch seine Rolle sich bis auf wenige Soli und die Mitsprache in tontechnischen Fragen reduzierte. Auch sich selber ließen und lassen Becker und Fagen gerne durch Gast­
musiker an Bass, Gitarre und Piano ersetzen. Gary Katz war bis 1980 und darüber hinaus noch bei Fagens erstem Soloalbum 1983 als Produzent involviert. Außerdem sind die Toningenieure Roger 'the Immortal' Ni­
chols und Elliot Scheiner als wichtige Mitarbeiter bis in die heutige Zeit zu nennen. Zwischen 1972 und 1977 veröffentlichten Steely Dan jährlich ein Album und 1980 ein siebtes. Auf diese sieben werde ich mich in dieser Arbeit als F r ü h w e r k beziehen. Nach Auflösung der Band 1980 veröf­
fentlichte Donald Fagen 1983 und 1993 zwei viel beachtete Soloalben und Walter Becker 1994 ein weniger beachtetes. An allen drei Alben war der jeweils andere als Produzent oder Instrumentalist beteiligt. Als T h e D a r k A g e s bezeichnet die offizielle Diskographie die Zeit dazwischen (steelydan.com/discog.html). Seit 1993 gibt es wieder Tourneen unter dem Namen Steely Dan. Die live–Besetzung besteht seitdem neben Be­
cker (Gitarre) und Fagen (Fender Rhodes E–Piano und Gesang) aus wechselnden Gastmusikern und umfasst Schlagzeug, E–Bass, eine weitere Gitarre, Klavier, dreistimmige weibliche background vocals und eine drei– bis vierstimmige Bläsergruppe. Aus Konzertmitschnitten von 1993 und 1994 ist das Album Alive in America (1994) entstanden.
Im Jahr 2000 veröffentlichten Steely Dan das extrem avancierte, „experimentelle“ (Everett), mit mehreren Grammy Awards ausgezeichnete Album Two Against Nature und drei Jahre darauf das wieder auf übliche Songformen reduzierte Everything Must Go. Morph the Cat ist als drittes Soloalbum von Donald Fagen im März 2006 erschienen, ein neues von Walter Becker ist derzeit in Produktion. Als S p ä t w e r k bezeichne ich diese Produktionen seit 2000.
Mit H a u p t w e r k beziehe ich mich auf die Alben, die schließlich den eigenen Ansprüchen genügten, die große Bekanntheit und finanziellen Erfolg erreichten und die von der Kritik entsprechend angenommen wurden: The Royal Scam (1976; mit Einschränkungen), Aja (1977), Gaucho (1980) und das gesamte Spätwerk; Fagens Soloalben sind auch zum Hauptwerk zu zählen, zumal Becker an den ersten beiden als Instrumentalist bzw. Produzent beteiligt war. Das dritte stellt die erste Veröffentlichung dar, an der Walter Becker nicht mit­
gearbeitet hat; es ist aber die derzeit aktuellste und im Ergebnis so brilliant und nah an Steely Dans Stil, dass ich es in die Analyse einbeziehen werde. Von dreizehn Top–40–Hits (US–Billboard Charts) stammen vier aus der Zeit bis 1975, sechs aus dem frühen Hauptwerk und drei von Fagens ersten zwei Soloalben. Im Spätwerk platzierte sich keine Single in den Charts, Two Against Nature erreichte aber Platz sechs der US–Albumcharts. (Für diese Zahlen vgl. http://www.steelydanarchive.com/album/)
5
II Verweigerungshaltungen – Selbstbewusste Kunst in der Kulturindustrie
Steely Dan haben das Rad nicht neu erfunden. Ihre Voraussetzungen waren beat poetry und Popmusik der sechziger Jahre sowie der Jazz und die Hollywood–Filme vergangener Jahrzehnte. Sich an keinerlei kulturel­
ler Voraussetzung zu orientieren, würde künstlerische Totalverweigerung und mithin Isolation bedeuten. Wie Steely Dan es geschafft haben, durch das Material hindurch, mit Perfektion und Ironie, offenbare und ver­
steckte Verweigerungshaltungen gegen die Erwartungen des Publikums einzunehmen – dies nachzuvollziehen ist das Anliegen dieser Arbeit. Dafür möchte ich zunächst die Spielräume herausarbeiten, die in der Dialektik von Kulturindustrie und Popkultur der sechziger und siebziger Jahre existierten – und mit Einschränkungen bis heute existieren.
II.1 leise mächtige These: Kulturindustrie
Adornos Dissonanzen, aus denen die eingangs zitierte Passage stammt, sind 1956 erschienen – gute zehn Jah­
re, nachdem Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung die Theorie der Kulturindustrie darge­
legt haben. Insofern ist dem späteren Text schon vieles vorausgesetzt, was nicht extra angesprochen wird. Be­
sonders wichtig ist, dass hier keine vulgär–antimaterialistische Kritik stattfindet, die ein behauptetes 'Menschliches' als positive, bloß verschüttete oder bedrohte Größe dem Markt und dem Warencharakter aller Güter entgegensetzen würde. Im Gegenteil, so führt Adorno hier aus, ist es gerade der Schein eines allgemein Menschlichen und des Nichtkommerziellen, der die Kulturgüter auf besondere Art dem Tauschwert anheim fallen lässt: Die Illusion des reinen Gebrauchswerts ist ihr Gebrauchswert und damit Träger des Tauschwer­
tes. Der Tauschwert aber, in Gestalt des Erfolgs auf dem Markt, ist seinerseits Maß und einziges Kriterium für den Gebrauchswert des einzelnen Produktes: Das Publikum will nicht die jeweils dargebotene Musik hö­
ren – und kann es auch gar nicht mehr –, sondern will dem Erfolg beiwohnen, den es als Qualitätskriterium anerkennt, weil es nicht merkt, dass es den Erfolg durch die Partizipation selbst herstellt. Es stellt ihn also nicht selbstbewusst her, sondern, liest man das Kulturindustriekapitel aus der Dialektik der Aufklärung dazu, auf Befehl der Industrie (nicht einzelner Manipulateure, sondern einer auf Marktgesetze verwiesenen Maschi­
nerie). Im wiederum folgenden Jahrzehnt spricht Adorno über die Entstehung der Theorie der Kulturindus­
trie:
Das Wort Kulturindustrie dürfte zum ersten Mal in dem Buch Dialektik der Aufklärung verwendet worden sein, das Horkheimer und ich 1947 in Amsterdam veröffentlichten. In unseren Entwürfen war von Massenkultur die Rede. Wir ersetzten den Ausdruck durch Kulturindustrie, um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst. Von einer solchen unterscheidet Kulturindustrie sich aufs äußerste. [...] Sie zwingt auch die jahrtausendelang getrennten Bereiche hoher und niederer Kunst zusammen. Zu ihrer beider Schaden. Die hohe wird durch die Spekulation auf den Effekt um ihren Ernst gebracht; die niedrige durch ihre zivilisatorische Bändigung um das ungebärdige Widerstehende, das ihr innewohnte, solang die gesellschaftliche Kontrolle nicht total war. Während die Kulturindustrie dabei unleugbar auf den Bewußtseins– und Unbewußtseinsstand der Millionen spekuliert, denen sie sich zuwendet, sind die Massen nicht das Primäre, sondern ein Sekundäres, Einkalkuliertes; Anhängsel der Maschinerie. Der Kunde ist nicht, wie die Kulturindustrie glauben machen möchte, König, nicht ihr Subjekt, sondern ihr Objekt. [...] Kulturindustrie mißbraucht die Rücksicht auf die Massen dazu, ihre als gegeben und unabänderlich vorausgesetzte Mentalität zu verdoppeln, zu befestigen, zu verstärken. Durchweg ist ausgeschlossen, wodurch diese Mentalität verändert werden könnte. Die Massen sind nicht das Maß, sondern die Ideologie der Kulturindustrie, sowenig diese auch existieren könnte, wofern sie sich nicht den Massen anpasste. (Adorno 1963: 337f.)
Auch der Künstler ist nicht etwa König, sondern Lieferant. Er liefert die Ware für den Markt, auf welchem 6
die industriellen Instanzen zwischen Künstler und Kunde vermitteln. Insofern produziert der Künstler, wenn er sich nicht auf andere Weise gegen seinen Reproduktionsdruck immun macht, für den Markt und muss des­
sen Gesetze und Anforderungen berücksichtigen. Diese Unterordnung ist als solche schwer erkennbar, weil sie sich positiv ausdrückt: als fetischisierte Hoffnung auf Prominenz und Ruhm. (Vgl. Adorno/Horkheimer 1944: 167f.) Der Maßstab der künstlerischen Arbeit verschiebt sich so vom Material ebenfalls auf den Erfolg als äußeres Kriterium.
Ich halte also drei Dinge fest: erstens die notwendige Abhängigkeit kultureller Produkte von ihrem markt­
mäßigen Erfolg; zweitens die Tendenz, dass auf Rezipientenseite der marktmäßige Erfolg anstelle des Materi­
als und des Genusses ausschlaggebend für die Bewertung – und damit wiederum für den Erfolg – des Kunst­
werks ist; drittens die Tendenz, dass auf Produzenten– oder Künstlerseite die Aussicht auf marktmäßigen Er­
folg anstelle des Materials und seiner inneren Kohärenz ausschlaggebend für die Bewertung des Kunstwerks ist.5
II.2 laute ohnmächtige Antithese: Popkultur
Während Adorno 1963 die späte Reflexion auf den Begriff der Kulturindustrie niederschrieb, war die soge­
nannte Popkultur im Entstehen begriffen. Sie vermochte das Verhältnis von Kulturindustrie und Masse kurz­
fristig aufzubrechen und fügte ihm so langfristig einige Nuancen zu. Doch zunächst muss der Begriff Pop be­
stimmt werden. Pop (pop culture) muss von der sonstigen Massenkultur (popular culture) unterschieden wer­
den. Bis 2001 begann der zwanzigseitige Artikel zu 'popular music' im New Grove Dictionary of Music and Musicians (Vol. 15: 87ff.) folgendermaßen:
The term 'popular music' hast most commonly been applied to music of, and since, the 'Tin Pan Alley' era, i.e. the 1880s onwards and the early years of the 20 th century in Europe. [...] In this article the term is used in a somewhat wider sense to embrace the music that, with the growth of industrialization in the 19th century, began to develop distinctive characteristics in line with the tastes and interests of the expanding urban middle classes. The repertoires covered thus embrace certain types of comic opera and dance music as well as 'light music' and the equivalent German Unterhaltungsmusik. Der New Grove–Artikel zu 'pop music' (Vol. 15: 85) hingegen lautete, kurz und bündig6:
A term that from the late 1950s has been applied to the central and most widely circulated kinds of popular music (analogously with pop art), in particular rock and roll, reggea etc.
Hiermit ist zunächst eine historische Eingrenzung („from the late 1950s“) gegeben. Was die inhaltliche („cen­
tral and most widely circulated kinds of popular music“) betrifft, gibt es gute Gründe, spezifischer zu werden. Holl (1996: 28) und Stölting (1975: 117) betonen, dass 'pop' nicht einfach als Abkürzung für 'popular' verstan­
den werden darf: „'Pop' Goes the New Art“, überschreibt Brian O'Doherty, der Kritiker der New York Times, seine Rezension der Ausstellung 'New Realists' und gibt mit diesem explosiven englischen Wort für Knall oder plötzliches Auftauchen den Rezeptionseindruck wieder, den diese Werke hervorrufen. Das 'Mit–
einem–Male–Dasein' [engl.: to pop up; Anm. HH] ist darauf zu beziehen, daß einem plötzlich und ohne daß man es vermuten konnte, in einer Galerie Ansammlungen von Massenwaren begegnen, daß auf einmal eine Kunstform da ist, die sofort 'pop'–ulär ist und ein breites Publikum anspricht. (Holl 1996: 28f; Zeichensetzung im Original.)
Edda Holl bezeichnet Pop in ihrer (nicht in Gänze haltbaren) Abhandlung Die Konstellation Pop (1996) 5 Aus dem Kulturindustrie–Kapitel ließe sich gewiss mehr festhalten, doch wäre das weder notwendig für diese Arbeit, noch ohne längere Diskussion über die vermeintlich aussichtslose Stellung des Subjekts „unterm Monopol“ möglich.
6 Ab 2001 sind beide Artikel neu verfasst und berücksichtigen Begriffsproblematik genauer. Trotzdem nimmt der Arti­
kel zu Pop music eine ähnliche Eingrenzung vor. Vgl. New Grove, 2nd Ed., Vol. 20, 101ff.
7
als die kurze Zeitspanne von 1962 – 1967, in der sich bei Konzerten der Beatles und der Rolling Stones sowie bei Warhol–Ausstellungen eine besondere, wechselseitige Beeinflussung zwischen Künstlern, Rezipienten und Werk einstellte: Durch die ekstatische Euphorie bei Konzerten nahm das Publikum Einfluss auf die Per­
formance der Künstler, die gezwungen waren, mit ihrer Dynamik, ihren Pausen, Fermaten usw. auf die Dyna­
mik des Publikums einzugehen. Weil das Werk in der Regel im Geschrei des Publikums unterging, musste es als bekannt vorausgesetzt sein, um dem Publikum dennoch Reaktionen entlocken. Das besondere an einem solchen Konzert war, „daß man ihm nicht zuhört, es sich nicht veranstalten läßt, sondern daß man es originär mitbestimmt, es mit formuliert. Die Aktion des Publikums ist Bestandteil des totalen Konzerts geworden.“ (Herbort, Heinz Josef: Unerhört und unhörbar – die Beatles. In: Die Zeit Nr. 27, 1.7.1966, S.16; zit.n. Holl: 10)
Entsprechend bei Warhols erster Einzelausstellung in einem Museum Philadelphias im Oktober 1965, als die Bilder aus Sicherheitsgründen wegen des großen Andrangs entfernt wurden und das Publikum den Pop­
star Warhol umso mehr feierte, indem es ihn in eine Ecke drängte und ihn zwang, mitgebrachte Alltagsgegen­
stände wie Campbell's Suppendosen mittels Signatur zu Kunstobjekten zu erheben. (a.a.O.: 7) Möglich waren solche „Rückkopplungseffekte“ (Holl) in der spezifischen Situation der Jugendlichen in den 60er Jahren. Laut George Melly (Revolt into Style. The Pop Arts in Britain: S. 91) ist Pop „the moment when a sound, a group or an artist was poised between the appreciation of a coterie and wide acceptance“ oder mit Edda Holl der „Schwebezustand“, in dem ein Künstler sich noch seiner „Szene“ verpflichtet fühlt, aber von der Masse schon als „Geheimtip“ gehandelt wird (S.17). Holl macht aus dieser Konstellation, auf die das Wort Pop ein­
zig anzuwenden sei, einen umfassenden und emanzipatorischen Gegensatz zur Kulturindustrie. Pop ist bei ihr sowohl emanzipatorische kollektive Kunstpraxis und „Zertrümmerung der Aura“ (50ff) im Sinne von Benja­
mins Kunstwerk–Aufsatz als auch das Nicht–identische im Sinne von Bazon Brocks Programmatik, und gleichzeitig emanzipatorische „Kommunikationsform“ (132f). Die Begründungen hierfür sind m.E. recht un­
vermittelt, doch trifft Holl mit dem Rückkopplungseffekt einen Gegenstand, der in der Kulturindustrie bis da­
hin nicht vorhanden war. Mehr noch: Popkultur war in den sechziger Jahren eine neue Art eigenständiger Ju­
gendkultur. Entstehen konnte sie vor dem Hintergrund einer relativ langen Prosperitätsperiode in den westli­
chen Industrienationen, die Lebensstandard und Bildungsniveau massenhaft anzuheben vermochte und auch den Werktätigen sowie vor allem deren Kindern größere Freizeitanteile brachte. (Vgl. 77f.) Zwar war sie auch von Anfang an erkennbar dadurch getragen, dass die Industrie in den 15– bis 30–jährigen einen neuen Ab­
satzmarkt fand (ebd.) und so Magazine, Mode, Accessoires usw. einen spezifisch jugendlichen Kulturraum ausfüllten. Was aber die Popkultur zunächst von der Massenkultur (popular culture) und der bisherigen Kul­
turindustrie unterschied, war ein gemeinsamer Hintergrund von Produzierenden und Rezipierenden – „die Künstler kamen aus der Menge, vor der sie auftraten.“ (Stölting 1975: 120f.) Es einte sie die spezifische Si­
tuation der Jugendlichen dieser Zeit, die zwar schon als vollwertige „Verbraucher“ (Holl: 78) anerkannt wa­
ren, bestimmte Rechte und Freiräume – vor allem bezüglich Sexualität – aber noch nicht der Erwachsenen­
welt abgetrotzt hatten. Mit dem Aspekt des gemeinsamen Hintergrunds ging eine gewisse Do–it–yourself–
Strategie einher, die sich im Idealfall der kulturindustriellen Infrastruktur selbstbewusst bedienen konnte. An­
ders als im Schlager und der Unterhaltungsmusik, war es bei Popbands wie den Beatles oder den Rolling Sto­
nes üblich, eigene Songs zu spielen und sich künstlerisch möglichst selbständig zu bewegen, statt mit einem verantwortlichen Produzenten im Studio Auftragskompositionen zu interpretieren. (Vgl. Stölting: 120f.) 7 Dass 7 Wohlgemerkt bezog sich das Do–it–yourself vor allem auf die Komposition und Ausführung, seltener auf Marketing, Vertrieb oder die Aneignung der Produktionsmittel im Studio.
8
Popsongs nicht mehr ins Deutsche übersetzt und adaptiert, sondern im Original gehört wurden, zeigt eine ge­
wisse Inkompatibilität mit vorheriger Unterhaltungsmusik und deutet auf einen international wirksamen Sze­
nezusammenhang hin,
„...was in erster Linie daran liegt, daß die Themen der Popmusik den Regeln der Schlager in Aufmachung und Inhalt kraß widersprechen. Von den Schlagerfans war daher kein Ansturm auf Deutsch übersetzte Popplatten zu erhoffen, gleichermaßen wären die Popfans, an die Originalgruppe und ihre englischsprachige Interpretation gewöhnt, nicht zu gewinnen gewesen.“ (Stölting: 123)
Ich halte fest: An der Notwendigkeit des marktmäßigen Erfolgs ändert sich im Pop freilich nichts, die Be­
wertungskriterien des Publikums sowie des Künstlers aber verschieben sich. Sie sind an jeweilige Szenen, an einen Kanon (sub–)kultureller Werte oder Errungenschaften, sozialer Forderungen usw. gebunden. Gleichzei­
tig gibt es im "Rückkopplungseffekt" nach Holl das Potential für eine Bewusstwerdung des Publikums: Wenn es am 'Event' beteiligt ist, es mitgestaltet, kann es zum Subjekt seiner kulturellen Gewohnheiten werden und ein Selbstverständnis der 'Fangemeinde' – diejenigen, die den Erfolg eines Künstlers herstellen oder tragen – entwickeln.
II.3 spannungsreiche friedliche Synthese: Popkulturindustrie
Wenn Pop – und nach ihm erneute Szenespielarten wie Punk oder Hip Hop – jeweils für kurze Zeit doch den Charakter einer „spontan aus den Massen selbst aufsteigende(n) Kultur“ hatten, stellt sich die Frage, wie sich Kulturindustrie und Popkultur ab den sechziger Jahren zueinander verhalten haben, und wie sich der musika­
lische Fetischismus auf Popmusik erstreckt. Während der Schlagerstar von vornherein dem Werbeimage gleicht, trägt der Popstar im Sinne Holls auch seine Makel absichtlich zu Markte und benutzt so das Image, das man von ihm erwartet, als Form, die mit einem provokativen Inhalt gefüllt werden kann – beispielsweise eine positive Darstellung von Verwahrlosung, sexuelle Freizügigkeit oder Protest gegen soziale Ausgren­
zung. In der enger definierten Pop–Phase der sechziger Jahre war dies einerseits authentischer8 Ausdruck der sozialen Situation der Jugend, andererseits ändert sich nichts an den Marktgesetzen, denen die Produktion und Distribution auch dieser Kultur ab einem gewissen Professionalitätsgrad unterworfen ist. Der Umschlag von der Szene–Identifikation zum Massenerfolg ist in dem von Holl genannten „Schwebezustand“ angelegt. Er bewirkt eine ambivalente Entwicklung für die spezifischen Inhalte, die vom Pop als Subkultur ins Spiel gebracht wurden: Als in den „Mainstream“ verallgemeinerte verlieren sie die Provokationsfunktion, die sie als szenespezifische gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und ihren Rezeptionsgewohnheiten innehatten.9 Als Image oder Mythos aber bleiben sie erhalten, weil sie andererseits überhaupt der Grund für das Interesse des Mainstreams sind. Dieses Interesse kommt dem musikalischen Fetischismus gleich: Es erhofft sich vom Neuen, scheinbar Subversiven als Gebrauchswert die Resistenz gegen den kulturindustriellen Betrieb, wel­
cher gegensätzlich dazu mit dem Profitinteresse (Tauschwert) identifiziert wird. Damit der Schein des reinen Gebrauchswerts erhalten bleibt, müssen immer neue Inhalte und Images („Stile“) vom (scheinbar) noch nicht integrierten „Schwebezustand“ dem Betrieb zugeführt werden. Auf diese Art aktualisiert – und scheinbar li­
beralisiert – sich die Kulturindustrie beständig. Schon in der Dialektik der Aufklärung wussten Horkheimer 8 authentisch im Sinne von soziologisch naheliegend oder notwendig; nicht im Sinne einer Hypostase von „echter“ Sze­
nezugehörigkeit.
9 „All diese politischen Implikationen (des Punk; Anm. HH) [...] haben zumindest im Sinne einer aufklärerisch verstö­
renden Provokation ausgedient. Sie sind als einmal wirksame Provokations–Strategien ebenso historisch unwiederhol­
bar wie Peter Handkes 'Publikumsbeschimpfungen' oder die Körperrituale der Wiener Aktionisten.“ (Martin Büsser: Wie klingt die neue Mitte? S. 31)
9
und Adorno, dass die Kulturindustrie eine Totalität erlangt hat, die die Kritik an ihr sowie alles, was sich über sie zu erheben glaubt, gewinnbringend integrieren kann: Für alle ist etwas vorgesehen, damit keiner ausweichen kann [...]. Die Belieferung des Publikums mit einer Hierarchie von Serienqualitäten dient nur der umso lückenloseren Quantifizierung. Jeder soll sich gleichsam spontan seinem vorweg durch Indizien bestimmten 'level' gemäß verhalten und nach der Kategorie des Massenprodukts greifen, die für seinen Typ fabriziert ist. (144)
Realitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat. Die Öffentlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft lässt es zu keiner vernehmbaren Anklage kommen, an deren Ton die Hellhörigen nicht schon die Prominenz witterten, in deren Zeichen der Empörte sich mit ihnen aussöhnt. (153)
Dass das Neue meist schon darauf spekuliert, als Neues dem Betrieb zugeführt zu werden, also auch die szenegemäße Produktion von Subkultur von vornherein auf einen Markt schielt, bedeutet, dass Subkultur sich nicht außerhalb von Kulturindustrie befindet, sondern allenfalls an ihrem Rand. In unzähligen subkulturellen Differenzierungen wiederholt sich also das Wechselspiel von (versuchter) stilistischer Subversion und kom­
merzieller Vereinnahmung (vgl. Holert/Terkessidis 1997) und jedes mal wähnen sich Protagonisten und Fans in einer eigenen Domäne, die das ganz Andere zu allem anderen ist, und beäugen misstrauisch die Übernah­
me ihrer Szene durch Industrie und Mainstream. Im Hip Hop heißt dieser Feind beispielsweise 'sell–out'. Sell–out wird denjenigen Künstlern vorgeworfen, die sich mit großen Plattenfirmen und MTV einlassen (vgl. Toop: Rap Attack). Dagegen wird der „underground“ als „authentisch“ hypostasiert. Was von der „Konstellation Pop“ aber übrig bleibt, ist die Möglichkeit, als Künstler selbstbewusst mit der Tatsache umzugehen, dass an die eigene Musik und das eigene Image Identifikationen, Erwartungen und Re­
zeptionsgewohnheiten beim Publikum geknüpft sind. Im besseren Falle ist Popmusik sich dessen bewusst, dass sie Warencharakter hat. Das Image kann (und muss) mit Inhalten gefüllt, aber nicht vermieden oder – im Sinne der „authentischen künstlerischen Persönlichkeit“, wie sie im Folk gefordert und im Schlager vorgegau­
kelt wird – einfach geleugnet werden. Hier können subversive Strategien ansetzen, die das „Image“ und seine Posen, Sounds und Aussagen immer wieder gegen die Erwartungshaltung des Publikums ausspielen. Martin Büsser schreibt:
Es geht mir allerdings in der Tat nicht um die Forderung, daß eine Musik sich über Text positioniert, es geht mir nicht einmal darum, eindeutige Positionierung einzuklagen, denn die kann in vielerlei Hinsicht gerade bei Musik Peinlichkeiten zutage fördern, die besser verborgen bleiben würden. Fast alle eindeutig linken Positionierungen, die Pop in den letzten Jahren hervorgebracht hat, von ATARI TEENAGE RIOT bis RAGE AGAINST THE MACHINE (mit Einschränkungen) bestanden ausschließlich aus Plattitüden und abgedroschenen Parolen. Es geht im Gegenteil um etwas, was Musik wesentlich besser kann als die politische Rede, nämlich um Verunsicherung im Umgang mit Erwartungshaltungen, etwa in der Frage von Geschlechterrollen und falschen Identitätsversprechen. (Büsser: 12f.; Interpunktion und Hervorhebungen im Original.) Weil Popkultur also als vermeintliche Gegenkultur notwendig und gewinnbringend in die Kulturindustrie zu integrieren war, ist in dieser einiges von ihr aufgehoben. Einerseits verdichtet sich mit der Ideologie der Authentizität der von Adorno beschriebene Fetischcharakter. Die Inhalte dieses „eigenen“ aber erweitern an­
dererseits die Bandbreite der belegbaren Rollen und Images in der Popularmusik, so dass selbstbewusste Künstler die Möglichkeit haben, die existierenden Rollen zu vermischen und gegeneinander auszuspielen, Images zu zerstören und Irritation zu erzeugen, bis hin zum kleinen, gezielten Schock gegen das fetischisierte Bewusstsein des Publikums. Wenn sich etwa Robbie Williams bei den MTV Music Awards 2001 wegen Ab­
wesenheit per Videoeinspielung für den verliehenen Preis bedankt, vergisst er nicht, hinzuzufügen, dass doch bitte noch mehr Leute seine CD kaufen mögen und sich zu bedanken für den tollen Lebensstil, den die Fans 10
ihm ermöglichen. Indem er die ökonomischen Motive hinter seiner eigenen Arbeit offenlegt und affirmiert, zerstört er – wissend oder nicht – bei seinem Publikum den Glauben, seine Arbeit resultiere lediglich aus un­
mittelbar künstlerischem Drang. So hat das Publikum für einen kurzen Moment die Chance, zu verstehen, dass es sein eigenes Geld dafür hergibt, einen Star reich und berühmt zu machen, den es dann für seinen Reichtum und Erfolg bewundern kann.
11
III Two Against Nature – Becker & Fagen als Objekte und Subjekte von Kulturindustrie
Mit der nun eingeführten Unterscheidung zwischen 'klassischer'10 Kulturindustrie und Popkultur(industrie) möchte ich fortfahren, indem ich Steely Dans Berührungspunkte mit beiden Sphären untersuche. Dabei wird wichtig sein, über welche Kanäle der Kulturindustrie die Band erfolgreich (gemacht) wurde; wie viel sie von der sogenannten Do–it–yourself–Strategie vor und nach Unterzeichnung des Plattenvertrags angewandt hat oder anwenden wollte; vor allem aber, wie sich das musikalische und literarische Material sowie das öffentli­
che Auftreten Beckers und Fagens aus den Gepflogenheiten der beiden Sphären zusammensetzt. Die Beant­
wortung dieser Fragen wird Aufschluss darüber geben, wie das Spiel mit Publikumserwartungen, das Aufbre­
chen von Rollenbildern und sozialen Funktionen der Musik im Falle von Steely Dan ausgesehen haben. III.1 III.1.a Lay down the law and break it – Rockmusik und Ironie Drecksarbeit 1: I Mean to Shine
Before we had Steely Dan, we wrote what we felt were respectable pop tunes that your average B flat female vocalist might be honoured to do. But we could never find any average B flat female vocalist who felt that way about them. And it was obvious because there was always some element of this fatalistic mentality that crept into the lyrics of the tune.
Walter Becker
In den siebziger Jahren ist die formelle Integration der Popkultur in die Kulturindustrie soweit fortgeschritten, dass die Produktionsbudgets im Pop angeglichen, die Produktionen also gleichermaßen aufwändig geworden sind.11 ABC Records in Los Angeles unternehmen Versuche, neben Schlagermusik auch die als 'authentisch' erachtete Sparte 'Pop' zu vermarkten, und engagieren dafür 1971 den Produzenten Gary Katz. Katz seinerseits hat Becker und Fagen in New York kennen gelernt und erwirkt ihre Anstellung als Hauskomponisten, worauf­
hin sie nach Los Angeles kommen. Fagen und Becker dazu später:
ABC was involved in commercial AM singles. They had The Grass Roots, Tommy Row, stuff like that. But they wanted to get into the underground and sell albums too. So they hired Gary, who could certainly pass any criteria for being underground at that time. He neglected to tell them that with underground music you don't need staff writers. (Sweet 2000: 3812)
ABC wanted someone with a Fu Manchu moustache to produce underground records. (Sweet: 37)
Der Begriff „underground“ steht hier offenbar für die Sphäre des Pop, in der das Do–it–yourself noch für jugendgerechte Identifikationsmuster sorgt, ist für sie aber in den siebziger Jahren nur noch wenig ange­
bracht, weil diese Sparte von anderen großen Plattenfirmen wie Island Records, Capitol, Elektra und Colum­
bia13 bereits erfolgreich vermarktet wird. Wegen der zentralen Rolle des Do–it–yourself werden aber tatsäch­
lich selten Auftragskompositionen gebraucht, Beckers und Fagens Songs also häufiger Gruppen und Sängern aus der soul– oder schlagerähnlichen Unterhaltungsmusik angeboten. Für beide Sparten jedoch sind ihre Kompositionen und Texte zu ausgefallen, so dass nur sehr wenige davon aufgenommen und vermarktet wer­
den. Das Material ist zwar rhythmisch eher rock–orientiert, literarisch und harmonisch aber zu sehr der Qua­
10 Im Folgenden werde ich die 'klassische' Kulturindustrie als diejenige, die bis in die sechziger Jahre hinein bestand, ge­
gen die durch Popkultur beeinflusste spätere Kulturindustrie abgrenzen. Selbstverständlich gibt es die Produkte der 'klassischen' weiterhin, wodurch auch eine tendenzielle Unterscheidung gleichzeitig existierender Produkte nahegelegt ist. Doch läuft dies hauptsächlich auf eine Unterscheidung hinaus, um die es in dieser Arbeit ohnehin gehen soll, näm­
lich die nach inhaltlichen Qualitäten.
11 Die Produktionsbudgets für die Steely Dan–Alben der späten Siebziger bewegen sich in siebenstelliger Höhe (vgl. Sweet: 145).
12 Im Folgenden werde ich Sweet (2000): Reelin' in the Years ohne Jahreszahl angeben. Sweet (2004): Complete Guide... wird in den seltenen Fällen seiner Verwendung extra gekennzeichnet.
13 Vgl. Continuum Encyclopedia, Vol. I: 696, 702, 716, 730.
12
lität zurückliegender Phasen der Kulturindustrie verpflichtet. Mike Stoller – zusammen mit Jerry Leiber Komponist und Produzent wichtiger Stücke aus dem Soul–Repertoire wie 'Stand by Me' (1961) und 'On Broadway' (1962) – vergleicht die Becker/Fagen–Songs „Number One“, „Charlie Freak“ und „Parker's Band“14 mit denen von Brecht/Weill und nennt sie „too Germanic“ (Sweet: 29). Also versuchen Becker und Fagen, ihre Songs den Anforderungen anzupassen und abseits oder unterhalb ihrer eigenen Ansprüche zu schreiben, haben aber auch so nicht den gewünschten Erfolg:
Becker: We weren't too successful because the lyrics always turned left in the middle of the song. It didn't take us too long to find out that it wasn't gonna work, because the 'hits' we were coming up with were really too weird or too cheesy for anyone to record. (Sweet: 39)
Fagen: A staff writer is supposed to be a researcher of radio as well as a creative person. It's essentially imitating what you hear on the radio and putting it out eight or ten months later. We weren't doing so good 'cause we're sort of funny. When you're writing for other artists, it’s difficult to get them to do songs if the lyrics aren’t absolutely banal. (ebd.)
Walter Becker polemisierte über Linda Hoover, zu deren Album sie Songs 15 beisteuerten: „She had three songs she had written in her whole life; one about her mother, one about her boyfriend, and one about fall.“ (35). 1969–71 in New York spielen Becker und Fagen E–Bass und Klavier in der Begleitband einer zweitklas­
sigen Vocal Group namens Jay & the Americans, die in den frühen Sechzigern einige Top–Ten–Hits gehabt und nun einen steilen Abstieg hinter sich hat. Die Verachtung, die sie für diese durchaus als kitschig zu be­
zeichnende Unterhaltungsmusik übrig haben, lassen sie die Bandmitglieder durchaus spüren, indem sie etwa den Gitarristen Marty Kupersmith stets einen „guitar owner“ nennen oder sich über die Verwirrung freuen, wenn niemand bemerkt, dass die beiden einen Song einen Halbton höher oder tiefer spielen als der Rest der Band. Becker has said that they even began writing „little Motown bridges“ for some of the songs. „Our bridge for 'Cara Mia' took off like a 747,“ he told one interviewer years later. (26)
Becker und Fagen sehen sich individuell also als Zaungäste des Kulturbetriebes, in den sie gleichzeitig hineindrängen wollen. Als sie es leid sind, Songs anzubieten, die zu weit weg von ihren eigenen Ansprüchen, aber nicht weit genug an die der nachfragenden Sänger und Produzenten angepasst sind, legen sie wieder mehr Wert auf eine möglichst schnelle Durchsetzung der ursprünglichen Idee einer eigenen Band mit weniger kompromissbehafteten Stücken. Diese Idee beinhaltet, dass die drei in New York City zurückgelassenen Mu­
siker Mitglieder dieser Band sein würden. Auch die Versuche, dies zu durchzusetzen, zeugen von einer gewis­
sen Distanz zum business:
They needed no encouragement to call their cohorts back east and as Baxter, Hodder and Dias assembled in Los Angeles one by one, Becker and Fagen took them upstairs to Jay Lasker's office and introduced them to him and other ABC staff. They would say: „We just found this fantastic guy and you've gotta sign him for our own band.“ After a while they stopped asking „What band?“ (Sweet: 40)
III.1.b Drecksarbeit 2: Dirty Work
Als Katz schließlich einen Plattenvertrag für eine solche Band erwirken kann, sind Becker und Fagen jedoch vorauseilend kompromissbereit bezüglich des Materials. Brian Sweet schreibt über Denny Dias' erste Wieder­
begegnung mit Becker und Fagen in L.A.:
Arriving in Los Angeles, his first stop was Walter Becker's house and when Becker played him the 14 Vgl. die später veröffentlichten Aufnahmen auf Becker/Fagen (1971): The Android Warehouse
15 Darunter das später von Barbra Streisand interpretierte „I Mean to Shine“. Leider gibt es im Text keine Anzeichen für eine Mehrdeutigkeit von 'to shine'(=scheinen, glänzen, polieren), weshalb meine Kapitelüberschrift nur halb so witzig ist...
13
demos of 'Midnite Cruiser' and 'Change of the Guard', Dias was stunned. This was very different from the type of material that had first floored him two years ago back in Hicksville. „What's happened to the songs?“ he asked. „Well, now that we're finally gonna get our shot, we wanna make sure that it sells,“ replied Becker. (40)
Was dieser Kompromiss für die Qualität der Stücke auf dem ersten Album bedeutet, werde ich in diesem Kapitel anhand zweier Songs zeigen. Für die gelungenen Songs jedoch sieht Fagen im Nachhinein sogar Vor­
teile in der Simplifizierung:
We've simplified; and I have a feeling that whenever we look back on some of the songs we used to write, I think that aside from being more complex and sophisticated, they're also a little more pretentious. So I think the simplification, in fact, made it better. (Ness: SDA)
Und offenbar gehen diese Kompromisse nur in einem Fall so weit wie zuvor die Zugeständnisse an die Abnehmer der Auftragskompositionen: 'Dirty Work' überzeugt die Entscheidungsträger bei ABC als potenti­
elle Hit–Single und ist also ausschlaggebend für die Zusage zu einer Albumproduktion. Beckers und Fagens Ansprüchen genügt der Song allerdings überhaupt nicht. Er stammt aus der Reihe von Stücken, die anderen Künstlern angeboten worden und noch stärker kompromissbehaftet sind als das Material, das sie für das Al­
bum zusammengestellt haben. Ich will es kurz untersuchen und stelle es hier neben den Album–Opener 'Do It Again'.
Dirty Work (1972)
Do It Again (1972)
Times are hard You're afraid to pay the fee So you find yourself somebody Who can do the job for free When you need a bit of lovin' Cause your man is out of town That's the time you get me runnin' And you know I'll be around
In the mornin' you go gunnin'
For the man who stole your water17 And you fire till he is done in But they catch you at the border And the mourners are all singin' As they drag you by your feet But the hangman isn't hangin' And they put you on the street
CHORUS:
I'm a fool to do your dirty work
Oh yeah I don't wanna do your dirty work No more I'm a fool to do your dirty work Oh yeah
CHORUS:
You go back Jack do it again Wheel turnin' 'round and 'round You go back Jack do it again
Light the candle Put the lock upon the door You have sent the maid home early Like a thousand times before Like the castle in its corner In a medieval game I foresee terrible trouble And I stay here just the same
CHORUS16
When you know she's no high climber Then you find your only friend In a room with your two timer And you're sure you're near the end Then you love a little wild one And she brings you only sorrow All the time you know she's smilin' You'll be on your knees tomorrow
CHORUS
Now you swear and kick and beg us That you're not a gamblin' man Then you find you're back in Vegas With a handle in your hand Your black cards can make you money 16 Alle Songtexte von www.steelydan.com übernommen, Zeilenumbrüche teilweise behutsam von mir geändert.
17 Water: evtl. die wertlose Beute des letzten Coups; „Water haul (N) An unproductive crime.“ (Criminal Slang: 249)
14
So you hide them when you're able In the land of milk and honey You must put them on the table CHORUS
Bei 'Dirty Work' handelt es sich um ein getragenes mid–tempo Stück in D–Dur und um eine traditionelle Song–Form mit Introduktion, zwei Strophen mit Refrain (A+B), einem Saxophonsolo (C) und anschließen­
dem mehrfachem Refrain: I (=B) – A – B – A – B – C – B'. Gesungen ist das Stück von David Palmer, dessen Timbre sanfter ist als das Fagens und hier fast weinerlich wirkt. Die Strophen sind im halbzeiligen Paarreim gehalten, die Reimpaare teils abgedroschene Klischees (pay the fee – for free) und in einem Falle auch unrein (town – around). Im Text bietet sich keine Ebene jenseits des gesungenen Wortes, keine Information zwischen den Zeilen, stattdessen wird in sturer Explizität in der Ich–Form der ganze Konflikt ausgesprochen, den der Sprecher mit seiner Geliebten hat. In der ersten Strophe beginnt der Sprecher mit der bewertenden Zusam­
menfassung ihres Verhaltens, um sich selbst als passives Opfer darzustellen („That's the time you get me run­
nin'“). Die erste Hälfte der zweiten Strophe besteht aus der weit verbreiteten, aber nicht sehr kunstvollen Technik, beliebige mögliche Bestandteile einer Situation gleichsam pars pro toto für diese aufzuzählen und so aus einem größeren Fundus möglicher Reimwörter zu schöpfen. In diesem Falle gibt es nicht einmal eine durchgehaltene Syntax, sondern zwei Ellipsen oder Imperative („Light the candle / Put the lock upon the door“) gefolgt von einem Hauptsatz in perfect tense („You have sent the maid home early“) und dem zum Kli­
schee geronnenen Vergleich: „Like a thousand times before“.
Zwei etwas raffiniertere Elemente kann ich in diesem Stück ausmachen: im Refrain und in der zweiten Strophe. Die zweite Strophe vergleicht die Situation mit einem Schachspiel („medieval game“). In dem Ver­
gleich ist nicht nur die Position des Sängers angesprochen („castle in the corner“=Turm), sondern der ganze Widerspruch, „terrible trouble“ vorauszusehen, sich aber nicht von der Stelle bewegen zu können. Leider ver­
liert der widerspruchsvolle Vergleich an Kraft, indem er vollständig erklärt wird; etwas rätselhaft bleibt er einzig, weil das der Name des Spiels, Schach, nicht ausdrücklich genannt wird. Zwei Beispiele aus dem Spät­
werk weisen ähnliche Positionsbestimmungen von Männern, die sich gegenüber ihrer Verehrerin oder Gelieb­
ten machtlos sehen, auf. Sie werden aber nicht bis zur Witzlosigkeit erklärt, sondern deutlich beschleunigt und mit mit eher kontrastierenden musikalischen Mitteln versehen.
Almost Gothic (2000; Auszug)
Lunch with Gina (2003; Auszug)
I'm pretty sure that what she's telling me
is mostly lies
But I just stand there hypnotized I'll just have to make it work somehow
I'm in the amen corner now It's called love – I spell L –U– V
That must be her again She's leaning on my bell That cold psychotic ring The one I know so well So I'm nailed to the floor in the no–option zone
There's about zero chance she'll give up and go home
First she's all buzz then she's noise–free
She's bubbling over then there's nothing to say
She's almost gothic in a natural way
This endless afternoon It started on the day I met her Lunch with Gina is forever
[kursive Hervorhebungen von mir; HH]
15
Der im Schachvergleich verdeutlichte Widerspruch ist im Refrain widergespiegelt. Die zusammenfassende Feststellung sagt nicht „I was...“, sondern „I'm a fool to do your dirty work“, und durch das „Oh yeah“ sowie durch den Chorgesang in Dur wird ihr etwas Lustvolles beigefügt. Von Veränderung ist nur in der zweiten Zeile die Rede („I don't wanna do your dirty work“), das „No more“ wird dem „Oh yeah“ parallelistisch ent­
gegengesetzt. Dann aber wird die erste Zeile wiederholt, und damit siegt der Stillstand, in welchem die maso­
chistische Spannung zwischen Leiden und Geliebtwerden resultiert. Der gleiche Stillstand findet sich in der harmonischen Gestaltung des Refrains:
Es existiert ein Zusammenhang zwischen Text und Harmonisierung der Refrainzeile: „I am“: Das Ich be­
kommt als Basiskategorie, von der jede Beziehungsgestaltung ausgeht, die Tonika zugeordnet. Das Prädikats­
nomen „fool“ ist die erste Feststellung, die das Ich über sich selbst macht: es relativiert sich an der Außen­
welt, entfernt sich aber noch nicht weiter als bis zur Subdominante, die gleichzeitig nur Gegenklang der Moll­
tonika ist. Diese noch aus der Strophe eingeschliffene Tonika gibt die Resignation wieder: „(to to your) dirty work“. Am weitesten von der Tonikafunktion entfernt ist die Doppelsubdominante, die die masochistische Spannung („Oh yeah“) auszuhalten hat. Von ihr rutscht das Geschehen zurück auf die (Dur–)Tonika, ohne et­
was ausgerichtet zu haben. Es rutscht aber nur durch äußeren Zwang: Die Auflösung bVII – I ist bei weitem nicht so zwingend wie die Auflösung bVII – vi es wäre, und so müssen die Achtelsynkopen der Harmoniein­
strumente mit der Chromatik als Gleitmittel nachhelfen – zurück auf die I, die hier paradox als spannungsrei­
che, unerwünschte Tonika erscheint. Nach zweieinhalb Wiederholungen endlich kommt der Rückfall ins Moll der Strophe – und die konkurrierende Tonika b–Moll zu ihrem Recht.
Doch weder die Komposition, noch die Instrumentierung oder die gesangliche Interpretation fügen dem Stück eine Ebene hinzu, die über die mäßig tragische Explizität des Textes hinausginge. Damit ist das Stück eher untypisch, und es wird verständlich, warum Becker und Fagen sich gegen eine Veröffentlichung als erste Single wehrten.
III.1.b.1 Do It Again
Wie 'Dirty Work' ist auch 'Do It Again' längere Zeit vor der Albumprodutkion komponiert worden, nämlich 1969 in New York, und damit noch früher als jenes. Es beginnt wie „Dirty Work“ mit einer You–Aussage, 16
bleibt aber dabei und treibt den mit 'Du' angesprochenen Jack im ironisch rumpelnden mid–tempo Cha–Cha durch drei verhängsnisvolle Stationen: in der ersten Strophe einen Mord als Rache für einen Diebstahl; in der zweiten ein Beziehungsdrama; in der dritten die Spielhöllen von Las Vegas. Die Ich–Instanz zeigt sich nur einmal abseits reiner Erzählfunktion (3. Strophe: “Now you swear and kick and beg us / That you're not a gamblin' man“): weiterhin als vorausgesetzte, erbarmungslose Erzählhaltung, durch den Plural aufgeladen mit der sozialen Kontrolle der Durchschnittsgesellschaft, der „agents of the law, luckless pedestrians“ ('Don't Take Me Alive', 1976), die die Geschichte des verwahrlosenden Jack sadistisch–gleichgültig verfolgt. Im Re­
frain kommentiert sie: „You go back Jack do it again / Wheel turnin' 'round and 'round“. Gemeint sein könnte das 'wheel of live' aus der buddhistischen Lehre, in dem der Mensch sich so lange gequält im Kreis bewegt, bis er endlich ins Nirvana eingeht. Das Ganze passiert in drei modal (g–Moll) vor sich hin trottenden Strophen, die zum sich überschlagen­
den Geschehen des Texts ein kommentierendes Verhältnis einnehmen: Nichts bewegt sich, gerade weil sich alles bewegt. Das immer Gleiche liegt in der kopflosen Hektik, mit der alles fortschreitet; in den Schicksals­
schlägen, die den subjektiv unschuldigen Jack treffen. Die harmonische Gestaltung erschöpft sich im Refrain, so dass die Form wie folgt verläuft:
Nach einer achttaktigen Introduktion von Schlagzeug und Percussion wird diese Form aufgenommen und stetig wiederholt: einmal als weitere Introduktion, dann zweimal als jeweils eine Strophe mit Refrain, zwei­
mal für je ein Solo – Denny Dias auf einer elektrischen Sitar und Fagen mit einer fast unisono gehaltenen Kombination aus Hammond–Orgel und analogem Synthesizer –, anschließend als letzte Strophe mit Refrain und ein weiteres mal instrumental, während das Stück ausgeblendet wird (fade out). Durch diese Gleichför­
migkeit, die sich aufbauende Introduktion und das fade out am Ende erscheint das Stück wie ein Ausschnitt aus dem ewigen Kreislauf („Wheel turnin' round and round“).
Die gleiche Strenge lässt sich auf den tieferen Gestaltungsebenen finden. Bass und E–Piano haben feste viertaktige, das Schlagwerk eintaktige Patterns. Weitgehende Isometrie des Versmaßes (Kreuzreim im dreihe­
bigen Jambus mit doppeltem Auftakt) und die streng durchgehaltene Melodie sowie die dreistrophige Erzähl­
17
weise machen nahezu eine Ballade aus dem Stück. Einzig die Enden der jeweils zweiten und vierten Zeilen sind nicht streng gestaltet: Ihr metrisches Geschlecht und die melodische Gestaltung variieren. Sie wirken da­
durch pentatonisch improvisiert und transportieren eine gewisse Gleichgültigkeit des Erzählers, die sich im sprachlichen Erzählstil wiederfindet. Die Dinge in Jacks Leben werden nicht etwa aus der spirituellen Distanz der buddhistischen Gemeinschaft erzählt, sondern in einer abgeklärten, gleichgültigen Szene–lingo beim Na­
men genannt, die ihre Distanz aus der abgestumpften Gewöhnung an derlei menschliches Versagen und Leid zieht. Man beachte die ungewöhnlichen, inhaltlich brutalen Reimpaare (you go gunnin' – till he's done in; beg us – Vegas) und die desinteressierten Schilderungen wie „but the hangman' isn't hangin'“ – der Henker hat wohl heute keine Lust; dies als einzige Begründung dafür, dass Jack seiner Todesstrafe entkommt – oder „Then you find your only friend / In a room with your two timer18“. Brian Sweet (49) vermutet, dass „Do It Again“ auch eine erste Filmreferenz ist:
It was long and rambling and told a story of murder, lynch mobs and card sharps. The lyrics conjure up cinema–style images (as would many Becker/Fagen compositions) of a Sergio Leone spaghetti Western and could easily be a synopsis to one of his films.
Tatsächlich lässt sich jede Strophe im Kopf eines an Hollywood gewöhnten Hörers in filmische Klischees auflösen, der Erzähler erzählt, was im Film ohnehin passiert. Mord, Todesstrafe, Fremdgehen, Prostitution, Glücksspielautomaten und betrügerisches Pokern sind eindeutig Elemente, die sich auch in dieser Aneinan­
derreihung in unzähligen A–, B– und C–Movies wiederfinden. Beide besprochenen Stücke enthalten eine frühe Ausformung der 'Steely Dan persona', der Figur, die durch die Musik und die gemeinsamen Texte von Becker und Fagen geistert. 2006 beschreibt Fagen diese Fi­
gur in Interviews: „The collective persona we developed in Steely Dan was of a guy who doesn't have a girl, a slacker dude prone to defensive manoeuvres and total breakdowns.“ (Sandall; SDIR) Typischerweise ist die Figur identisch mit dem lyrischen Ich eines Songs, was hier bei der weniger drastischen Ausformung in 'Dirty Work' der Fall ist. In 'Do It Again' ist die Figur in der zweiten Person beschrieben, was im Gesamtwerk selte­
ner vorkommt. Was die Ausprägung der typischen Charaktereigenschaften angeht, ist „Jack“ allerdings ein deutlich schwererer Fall als das Ich von 'Dirty Work'. Ausführlich werde ich die 'collective persona' in Kapitel III.1.f.1 besprechen, weil sie am Übergang von Früh– zum Spätwerk besondere Aufmerksamkeit verdient.
Mit der simplen ironischen Technik eines unvermittelt scheinenden, aber vermittelbaren Kontrastes zwi­
schen musikalischer und literarischer Gestaltung ist 'Do It Again' ein typisches Stück aus dem Frühwerk. Weiter weist es mit der Balladenform, den frühen Zügen der 'collective persona', mit der filmischen Bilder­
welt und dem unangemessen lakonischen Erzählstil viele Merkmale eines typischen Steely Dan–Songs auf. Er überlässt die enthaltenen Widersprüche und ihre Vermittlung dem Zuhörer. 'Dirty Work' dagegen lässt sol­
che Spannung vermissen, weil das, was der Text ausspricht, den ganzen Widerspruch seines Gegenstandes umfasst und somit uninteressant werden lässt: Der Zuhörer muss nicht aus dem Gefühl des Widerspruchs und aus eigener Erfahrung zu dem Schluss kommen, dass es hier um selbstschädigendes Verhalten geht. Weil ihm einfach von einem Fall von Selbstschädigung erzählt wird, kann er die Geschichte als äußere abtun, ohne sie wenigstens vorübergehend auf sich selbst zu beziehen – es sei denn durch die schlichte Identifikation mit der Opferposition.
Beide Stücke enthalten ein Zugeständnis an die Plattenfirma. Bei „Dirty Work“ besteht es darin, dass der 18 two timer=untreuer Ehepartner
18
Song überhaupt auf dem Album erscheint. „Do It Again“ ist mit sechs Minuten deutlich zu lang für einen Ra­
diohit, und so stimmen Steely Dan der Herstellung einer gekürzten Radioversion zähneknirschend zu. Den Fortgang der Geschichte um die Veröffentlichung des ersten Albums beschreibt der Biograph:
ABC were right behind Steely Dan and their music, but expected a tough time getting some of their more complex material played on radio – hence their insistence that they include a couple of straightforward cuts on the record. B/F didn't even want 'Dirty Work' on the album, which may explain why Fagen didn't sing it. Ironically enough, once radio programmers heard the album, they immediately latched on to 'Do It Again', one of the songs that ABC felt would be among the most difficult to secure airplay. (48)
Entgegen der Planung wird also 'Do It Again' zur ersten Singleauskopplung und zu einem vollen Erfolg. Damit, dass der Song – oder irgendein anderer – ein Hit werden könnte, haben auch Steely Dan selber nicht gerechnet. Sweet (49) zitiert den Produzenten Gary Katz: That was the farthest thing from our mind – that a long repeating phrase would be a hit song. [...] The only reason it was the first cut [das erste Stück auf dem Album; Anm. HH] was because it sounded great. We wanted to put something on that had a nice feel to it when they put the needle down.
Die Simplifizierung des Materials und die Zugeständnisse sind offenbar trotzdem Teil einer Strategie, die Becker und Fagen schon kurz nach der Albumveröffentlichung auch öffentlich diskutieren. Der folgende Aus­
zug aus dem Interview mit The Los Angeles Free Press zeigt, dass sie sich des kommerziellen Potentials – zu­
mindest im Nachhinein – durchaus bewusst sind, ohne Songs wie 'Do it Again' zu überschätzen. Fagen sieht die kompositorische Entwicklung nicht etwa an ihrem Ziel, sondern gerade an ihrem Startpunkt.
DF: We had a lot of strange material that no one could do. Until just now when we found these people [die übrigen Bandmitglieder; HH] who were able to play it and make it sound like music. For some reason, we had a lot of trouble finding musicians all those years.
Van Ness: Why do you classify it as strange material?
DF: It used to be stranger. I think it was a compromise both ways; we compromised on the material to a certain extent in making it easier to respond to, and I guess that's why we now have musicians. Van Ness: How was the material different?
DF: It was more complex – more sophisticated, to a certain extent – harmonically. And lyrically, too.
Van Ness:What songs that you do now come closest to your older strange material?
WB: Maybe 'Fire In The Hole,' that's an old one. Or 'Turn That Heartbeat Over Again.' We used to have a lot of songs like that; but after you've written a song and had it sitting around for a couple of years, you're more eager to do fresh material – do the things you're learning now.
DF: We've simplified; and I have a feeling that whenever we look back on some of the songs we used to write, I think that aside from being more complex and sophisticated, they're also a little more pretentious. So I think the simplification, in fact, made it better.
[...]
Van Ness: Are you happy with where the music is right now?
DF: Yeah, I think it's good, and it'll get better. I think we'll start working toward more ambitious musical things.
Van Ness: Right. You answered the hidden question there.
WB: Yeah. The thing is: When you start to work with a group of musicians...
DF: We didn't want to scare them.
WB: ...things evolve. To really play that kind of more complex music, there has to be a greater rapport; and that just takes time.
[...]
Van Ness: Do you feel that your music now – well, let's take the album – is commercial?
WB: I think a lot of it is. I think 'Do It Again' is commercial – without being compromised in any way.
DF: We're going to do an edit to make it shorter for the single. WB: And that'll be the only compromise, really. But I'm glad that 'Do It Again' was picked; that was my favorite cut on the album. And I think it's a very good blend of commercial potential without being silly.
Van Ness: Is that what you're going for right now? Do you feel that you need a good commercial hit to get you off the ground?
19
DF: It can't hurt.
WB: It would help, but I don't really think we need it.
DF: That's the whole thing. What we used to do was try to widen the public's appreciation of some more interesting rock 'n' roll than they'd been hearing. And for years we couldn't get a bite until we did something like 'Do It Again' which I think is very good, but we'd like to start working from there. (Ness; SDA)
Vielleicht als Distanzierung vom „commercial potential“ oder als Bezug auf das „wheel of life“ im Re­
frain bezeichnen sie 'Do it Again' im Albumcover lakonisch als „traditional“. Auf Nachfrage eines Journalis­
ten sagt Fagen später dazu: „You should never believe anything it says on a Steely Dan record. It’s just a bunch of lies and bullshit that we write to confuse the listener.” (Sweet: 47)
Noch immer sind Becker und Fagen subjektiv Zaungäste der Kulturindustrie, für die sie objektiv längst ar­
beiten, und der sie vor allem, wie sich zeigen wird, das nötige Geld und die Infrastruktur abtrotzen wollen, um Musik auf dem Niveau ihres eigenen Anspruchs zu machen. Diesem Ziel sind sie nun, mit der Produktion und Veröffentlichung eines eigenen Albums, näher gekommen.
III.1.c Konkret nützliche Arbeit 1: Einsortieren ins Rock–Regal Was die musikalischen Vorläufer und Einflüsse betrifft, bestehen Becker und Fagen, und mit ihnen Journalis­
ten, Biographen usw., damals wie heute darauf, dass der Haupteinfluss darin liege, dass beide in ihrer Kind­
heit ausschließlich Jazz gehört haben, zunächst im Radio, dann aus der elterlichen Plattensammlung. Der Ein­
fluss der Rockmusik wird an dieser Stelle oft nicht erwähnt, so dass man sich fragt, warum die beiden nicht einfach Jazzmusiker geworden sind. Die Antwort darauf gibt Walter Becker 1977, und David Pearl 2002 in The Art of Steely Dan:
We write rock songs, because when we were starting, rock was the most exciting field. It was actually more interesting melodically than jazz in the post–Coltrane period, before a lot of the new jazz started. (Walter Becker im Jahr 1977, zit.n. Sweet: 126)
As much as they were drawn to their jazz, they saw that the songs and styles of the genre were starting to be appropriated by the commercial, mass cultural scene – nothing could have turned them off more. [...] At the same time, blues influenced R&B began its ascendancy with artists such as Chuck Berry, B.B. King, and the early Motown groups creating more quality music; this also attracted Becker and Fagen. (Pearl: 4)
Sofern Steely Dan aber von vornherein in der in Genres segmentierten Kulturindustrie als Rockband be­
handelt werden, verhält sich die Erzählung, man habe als Kind nur Jazz gehört, als qualitätsanzeigende Zu­
satzinformation zum Image des Rock– oder Popmusikers, die z.B. rechtfertigen soll, warum Steely Dan auch in Jazzmagazinen behandelt werden. Musikalisch lassen sich grundsätzliche Eigenschaften ihrer Musik als pop– oder rockimmanent fassen: Es geht zumindest oberflächlich um leicht konsumierbare, tanzbare Musik mit meist ostinaten Rhythmen (beats) vom Schlagzeug und eingängigen Refrainmelodien samt Textzeilen ('catchy' hook lines). Steely Dan befriedigen in diesem Spektrum vermutlich eine gebildetere Käuferschicht, die durchaus Popmusik hören will und sich dabei gerne vollmundige Jazzharmonik sowie klassische und pop­
kulturelle Anspielungen aus Literatur– und Filmgeschichte bieten lässt. Zunächst also ist es – zumindest der Form nach – Unterhaltungsmusik, die sich sowohl zum Tanzen als auch zum Zuhören eignet, letzteres über­
durchschnittlich gut.19 Ein mal subtiler, mal deutlicher ironischer Unterton in der Musik, der sich in meiner Analyse von „Do It Again“ bereits angedeutet hat, zieht sich durchs Gesamtwerk. Ihn zu erklären, ist ein not­
19 Hier ist ein Fagen–Zitat kein Beleg, aber ein Hinweis: „I guess we appeal to a certain audience that dances, a certain audience that likes the backbeat and yet another one that can pick up on the nuances.“ (Sweet: 151)
20
wendiger Schritt in der vorliegenden Arbeit. Seine Grundlage ist die Situierung in der Rockmusik: Nicht nur, damit die Musik überhaupt gekauft und gehört wird, muss sie sich in einem aktuell erfolgreichen Genre ver­
ankern. Um den Rahmen eines Genres zu brechen und über ihn hinauszugehen, um überhaupt irgendetwas zu sagen, muss man ihn einmal betreten und an die vorhandenen Voraussetzungen anknüpfen.20
Weil Steely Dan also anfangs eine Rock–Karriere anstrebten und ihre Musik von den Geschäften in die Regale für „Rock/Pop“ einsortiert wird, will ich zuerst diese Bezüge ökonomisch/theoretisch und musikalisch bestimmen, um das, was der Jazz und andere stilistische Bezüge hinzufügen, in Kapitel III.2 zu untersuchen.
III.1.c.1 Abstrakt menschliche Arbeit 1: Show Biz Kids21
Show biz kids making movies of themselves
you know they don't give a fuck about anybody else
'Show Biz Kids' (1973)22
Can't Buy a Thrill erscheint im November 1972, erreicht im Februar 1973 Platz 17 der US–Albumcharts, die Singles 'Do It Again' (Januar 1973: Platz sechs der Singlecharts) und 'Reelin' in the Years' (März 1973: Platz elf) erreichen jeweils die Marke von einer Million verkaufter Einheiten. (Vgl. www.steelydanarchive.com/al­
bums) ABC–Präsident Jay Lasker hatte eine Verzögerung der Veröffentlichung von Can't Buy a Thrill vom September in den November veranlasst, um dass Debut–Album zusammen mit den aktuellen Alben der (Rhythm &) Blues–Gitarristen und –Sänger John Lee Hooker, Joe Walsh und B.B. King in der Kampagne „The championship season for the family of ABC/Dunhill Records“ zu bewerben. (Vgl. Sweet: 43) Dies, so­
wie die strategische Single–Veröffentlichung und ausgedehnte Tourneen, sind Marketingstrategien, die das Bekanntwerden Steely Dans von dem etwa der Beatles oder Pink Floyds unterscheiden. Die originären Pop–
Phänomene sind laut Holl und anderen Poptheoretikern als Geheimtip einer bestimmten Szene einer be­
stimmten Stadt bekannt geworden (um anschließend als umso vollständigeres Produkt samt bestehender Fan­
gemeinde vermarktet werden zu können.) Aus theoretischer Perspektive ist Steely Dan lediglich die Ware, für die ABC Records sich unter mehreren noch unbekannten Angeboten entschieden hat, um sie auf den standar­
disierten Marketing– und Vertriebswegen zu verkaufen.23
Keinesfalls soll mit der Unterscheidung zwischen originärem Pop und Post–Pop impliziert sein, dass sich die a priori kulturindustriell vermittelten Produkte nicht auf die gleiche Art rezipieren ließen wie der Pop der ersten Stunde: Identifikation, Massenhysterie und musikalischer Genuss. Es bedeutet aber, dass der auf diese Art aufgebaute Künstler sich weniger spezifischen kulturellen Erwartungen von vornherein gegenübersieht: Er ist keiner Szene verpflichtet; er kann – mit den Einschränkungen des Marktes – anbieten, was er für richtig hält, und abwarten, wie sich das Publikum zusammensetzen wird; und doch kann er, weil Pop bereits stattge­
20 Abstrakt betrachtet gehört zu den Voraussetzungen auch die Existenz von Dodekaphonie und Free Jazz, aber hieran anzuknüpfen hängt nicht nur an Fragen der eigenen Fähigkeiten und Vorlieben, sondern auch an Fragen der gesell­
schaftlichen Relevanz zur gegebenen Zeit.
21 Die Begriffe abstrakt menschliche und konkret nützliche Arbeit gehen auf Marx' Kapital zurück und bezeichnen den Doppelcharakter jeder auf den Markt bezogenen Arbeit: Als abstrakt menschliche fügt sie dem Produkt Tauschwert zu, als konkret nützliche den Gebrauchswert. (Vgl. Marx: 56ff.) Analog zum Material in der Kulturindustrie (Adorno) ist die sinnlich erfahrbare Seite der Ware bloßes Anhängsel, gewissermaßen ein Hindernis der Kapitalakkumulation: Der Tauschwert der Ware kann sich erst realisieren, wenn Käufer in ihr einen Gebrauchswert sehen.
22 Becker zur Zensurdiskussion wegen des Wortes „fuck“ in 'Show Biz Kids': „We're sadder but wiser in relation to that. But it's always comforting to know that you've got something potentially obscene on AM radio.“ (Sweet: 61)
23 Das bedeutet freilich nicht, dass diese Strategie zuverlässig funktionieren würde und es in der Konkurrenz der kultur­
industriellen Anbieter kein Risiko gäbe: Auch, wenn die kaufkräftige Nachfrage nach kulturellen Produkten eine ge­
wisse Konstanz behält, muss sie mittels Marketing stets auf die jeweils eigenen Produkte gelenkt und den Konkurren­
ten abgeworben werden.
21
funden hat, sein Image abseits der makellosen Werbefläche aus der 'klassischen' Kulturindustrie gestalten. Das genau ist, was Steely Dan, zunächst unbewusst, tun. Während das kunststudentische Milieu in den Sieb­
zigern im art rock oder progressive rock sein Bedürfnis nach Bilderwelten auslebt und der glam rock seine ex­
tremen oder androgynen Figuren entwickelt, haben Steely Dan das Bedürfnis, neben der Musik und der in ihr verkörperten „collective persona“ keinerlei Image aufzubauen. Fagen: „We both started as jazz fans and our idea of a good show is a bunch of guys in cheap suits, with their backs turned to the audience.“ (Sweet: 20224)
. Außerdem legen sie Wert auf Privatsphäre (vgl. S.127). Ihre Gesichter sind bisher auf keinem der Plattenco­
ver zu sehen25, und auf Bildern im Innern der Hüllen des Frühwerks tragen sie stets Sonnenbrillen zur Anony­
misierung und geben sich keinerlei Mühe, fotogen auszusehen.
I think we insult people unintentionally. We keep getting invited to this and that, like the Grammy awards. I got a thing that said „Wear beautiful clothes“. I don't have any beautiful clothes! Now I know what they want me to come like, they wanted me to come dressed like Cher! (Fagen im Jahr 1975, Sweet: 90)
Das show business ist Ihnen weitgehend fremd. Ein frühes Beispiel dafür ist ihr erstes Treffen 1970 mit Denny Dias und dessen Band Demian. Demian sind an Becker und Fagen wegen deren musikalischer Fähigkeiten und trotz ihrer Reserviertheit Abbildung 1: Fagen (li.) und Becker um 1971
(„aloofness“) und Introversion interessiert. Becker und Fagen wollen dringend einen Plattenvertrag, haben aber nicht die geringste Ahnung, wie sie an einen gelangen könnten. Becker gibt diese Naivität später zu: „They (Demian) worked in Clubs and stuff, which was something we'd never heard of.“ (22)
Bis 1974 sind Steely Dan bereit, die Plattenverkäufe mit Konzerttourneen zu unterstützen. Das Tourneele­
ben entspricht den Wünschen von Gitarrist Baxter und Schlagzeuger Hodder, während Becker und Fagen un­
ter dem mit ihm verbundenen Diskomfort leiden, Angst vor dem Publikum in den Südstaaten oder in Deutschland haben („Fagen said he would be afraid to go to sleep [in Deutschland] 'cause he'd likely wake up with his teeth as the rheostat in somebody's Porsche.“ Sweet: 80) und nur aus einem Verpflichtungsgefühl live spielen: gegenüber der Plattenfirma, den anderen Bandmitgliedern und den Käufern ihrer Platten. (Vgl. S.52f.) Über die erfolgreicheren Rockbands, in deren Vorprogramm sie während der ersten Tournee spielen, schimpfen sie in Interviews. Becker über die britische Glamrock–Band SLADE: „How they ever managed to get enough money together to come here and tour is a miracle“ (82). 1974, gegen Ende der vorerst letzten Tournee, sucht sich Becker auf der Bühne einen Platz hinter dem Schlagzeugpodium, wo er, im Sitzen und mit einem Kopfhörer auf dem Kopf, vor dem Publikum weitgehend versteckt Bass spielt. Von einem Journa­
listen darauf angesprochen, fragt er:
"You've noticed that? The reasons are it takes the heat off me and I don't have to make my presence felt. [...] I moved up there about ten gigs ago. I just want to hear the drums and it's all cosy up there. I have a seat and it keeps me comfortable and happy." (81)
Im Sommer 1974 trennen sich Becker und Fagen von Jeff Baxter und Jim Hodder; Die Band besteht nun 24 Alle folgenden Angaben, sofern nicht anders angegeben, beziehen sich auf Sweet 2000
25 Die Ausnahme bilden alle vier Soloalben. In den Fällen von 1983 und 1993 sind die Bilder allerdings motiviert durch die Geschichten, die mit dem Albumtitel zusammenhängen.
22
aus Dias, Becker und Fagen und geht zur 'workshop situation', der Arbeitsweise mit wechselnden Gastmusi­
kern (s. Kapitel III.2.a) über. Auf diese Art setzen sie durch, nicht mehr auf Tournee zu gehen und stattdessen mehr Zeit im Studio verbringen zu können. Walter Becker zur Begründung:
We took the band apart in a decisive fashion so that it could not be put back together and we could not be sent out on the road. What were they gonna send, me and Donald with banjos? (84)
I don't want to meet the audience. You have a more direct and intimate relationship with someone who's sitting alone, listening to your records. Playing isn't that personal. When we played, it was as direct as possible. No one was sitting more than three miles away. The trend for rock and roll bands is to play the biggest halls around. Also, I've noticed that bands who stay on the road for an extended time [...] the quality of their shows often suffers from the lack of new material. Then the quality of the records is even worse. (85)
Das berüchtigte Verhalten bei Interviews ist ein weiteres Merkmal ihrer Verweigerung gegen den Aufbau von Images und gegen die Erfordernisse des Kulturbetriebes. Die Kooperationsbereitschaft gegenüber Journa­
listen schwankt und hängt von ihrer Stimmung ab; die bis hier zitierten Passagen stammen größtenteils aus Interviews aus den Jahren 1972 – 1975, was belegt, dass es auch in dieser Zeit ernsthafte Gespräche mit Jour­
nalisten gibt. Jedoch gibt es bestimmte Themen, über die sie nicht gerne sprechen, und Phasen, in denen sie gar nicht gerne mit der Öffentlichkeit konfrontiert werden. Fagen 1976:
Also there have been periods when for personal reasons we weren't up to interviews. If we're involved with a project that isn't going well, we don't want to present it to the public. (Sweet: 115)
Besonders unliebsam sind ihnen Fragen nach der Bedeutung von Songtexten. In einem Interview mit dem New Musical Express 1974 erklärt Fagen geduldig: „We don't necessarily try to communicate any specific thing to the listener. It's more or less us trying to communicate an impression, and the listener has the free­
dom to interpret as he wants.“ (82) Aber zu anderen Gelegenheiten bleiben Becker und Fagen möglichst kryptisch und weisen die Frage implizit zurück. In what used to be the first of many such requests, Walter Becker was persuaded by a frustrated and puzzled journalist to elucidate on the impenetrability of the lyrics of 'Brooklyn', since he was having difficulty in unravelling them26. Becker explained that [...] 'the song is just a bunch of things that the guy and his wife had coming to them, you know, for the indignities that they had suffered living in Brooklyn[...] So, as you see the song does yield to a valid interpretation.' (50)
Oft begegnen sie Fragen nach vermeintlich Geheimnisvollem auch mit freundlichem Humor. Aus Grün­
den der Privatsphäre und dem subjektiven Bedürfnis nach Schutz des Werkes vor zu einfacher Auflösung in simple Gründe und Bedeutungen verraten sie aber auch dann nichts (Sweet: 95):
Asked to explain the concept of Steely Dan, they couldn't, or wouldn't, define it. The word games continued. Fagen: „We've been working on it and as soon as we can articulate it properly, it'll appear on the record probably. See, all we can do is give clues, 'cause we're too close to it. It's all on the record, you know. It's all there. There isn't much to say about it.“
„Even if we could answer the question,“ Becker said, „you know that we would lie. We would deliberately lead you off the scent.“
Fagen: „We do have rather venomous personalities at best, although we try to keep it to ourselves.“
ABC Records versuchen 1973 in einer Presseveröffentlichung, Steely Dans intellektuelle Kapazitäten durch einen Verweis auf die Einflüsse von „existentialist philosopher Martin Heidegger, symphony conductor Pierre Boulez, saxophonist John Coltrane and novelist William Burroughs“ als Qualitätsmerkmal ins Marke­
tingkonzept aufzunehmen (vgl. S.66). Becker und Fagen selbst zeigen wenig Interesse, diese Kapazitäten der 26 'Brooklyn (Owes the Charmer Under Me)' (1972) hat im musikalischen Gestus Ähnlichkeiten mit 'Dirty Work' und ist ebenfalls von David Palmer gesungen, ist aber deutlich witziger, was die Verschlüsselung des Erzählten angeht. Für ein Verständnis der irreführenden Syntax im Songtext und eine kurze Analyse, vgl. Everett: 203f.
23
Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen – wenn Fagen etwa im Gespräch über ein aktuelles Album Unge­
reimtheiten an seiner Aussagen auffallen, er aber mit einer Andeutung zufrieden ist:
One critic suggested that their lyrics on 'Katie Lied' were not their best. Fagen disagreed. „I thought they were good. I just think that from 'Pretzel Logic' on, all our lyrics have been superior to what we were doing before. More adult, if you will – not that that's such a good thing for rock and roll music, but make of that what you want.“ (108)
Wie viele Interviewversuche aus Gründen von Materialmangel oder unangenehmem Gesprächsverlauf un­
veröffentlicht geblieben sind, ist unbekannt. Eines der unangenehmsten veröffentlichten Gespräche jedoch führte die Journalistin Kristine McKenna 1980 und ließ es unter dem Titel Steely Dan: A (Very) Brief Encoun­
ter in der New York Times erscheinen: Sweet schreibt über das Interview:
The question that flipped Becker over the edge was prompted by a lyric („But I'm just growing old“) from 'Hey Nineteen'. McKenna asked if they were going through a mid–life crisis and caught the full grunt of Becker's contempt. He snapped: „Are you a journalist or a whore? Sheeesch!“ (150)
Die Zitate weisen darauf hin, dass Becker und Fagen nicht damit rechneten, dass ihnen notwendig ein kul­
turindustriell vermittelbares Image anhaften würde. Durch ihr sorgloses bis sabotierendes Verhalten konnten sie dies aber allenfalls beeinflussen, nicht verhindern. Ohne ihr bewusstes Zutun baute sich so ein Image auf, das auch etwas Rätselhaftes enthielt. Unbekannte Gesichter hinter einem Bandnamen sind ein besonders wirksames Mittel zur Belebung von Vorstellungen und Gerüchten beim Publikum. Eine Rezension zu Count­
down to Ecstasy (1973) aus dem Magazin Let It Rock nimmt den Zusammenhang zwischen der Ablehnung des show business und der 'hochgradig infizierenden' Musik vage zur Kenntnis. Der Autor schreibt über den Song 'Show Biz Kids':
They paint a picture of kids who’ve stepped out of school into stardom which is both cruel and sympathetic, all done to a highly infectious rhythm. Should have been a hit. And the other songs [der zweiten Seite des Albums; HH] are almost as good. (Gold; SDA)
Die Presse nahm die musikalischen Qualitäten wahr, nicht ohne teils hämisch auf die mitunter hässliche Präsentation hinzuweisen. So beschreibt z.B. Chris Briggs 1974 nach einem Konzert in England eine aufge­
setzte Erhabenheit und entsetzliche Dirigierversuche bei Donald Fagen:
Dreadful theatrics from Fagen, who insisted on conducting the band from behind his piano with a phoney grandeur, did nothing to enhance the content of the show. At the end of each number he would walk to the front of the stage, and, like Count Dracula assembling his demons, bring the band to order with a succession of arm flailing and assorted menacing gestures. Pure showbiz and very embarrassing. (Briggs; SDA)27
Judith Sims vom Rolling Stone beschreibt Becker und Fagen als übergelaufene Ex–Intellektuelle, deren sorgloses Äußeres noch der Vergangenheit am Bard College entspricht:
At the core of Steely Dan is the writing team of Walter Becker and Donald Fagen, two New Yorkers and former Bard College cronies who buried their intellectual pride by spending a year with Jay and the Americans. [...] Fagen is dark and lean, with the sort of intense, serious face that might be typecast as a campus revolutionary. Becker has long fair hair, glasses and apple cheeks, has the [untranscribable] as more cynical than innocent. They've been together so long, five or six years, they can finish each other's sentences without stepping on each other's lines. (Sims; SDA)
Ein Jahr später, ebenfalls im Rolling Stone, betrachtet Bud Scoppa hauptsächlich die musikalischen und li­
terarischen Qualitäten der Band und hält den Mangel an visueller Identität für nebensächlich. Gerade bei Fa­
27 Briggs ist insgesamt wesentlich empathischer als in der zitierten Passage, sieht aber eine große Kluft zwischen der Qualität der Platten und der der Konzerte.
24
gen, dessen Äußeres er mit dem Schauspieler und Frauenschwarm Montgomery Clift vergleicht, 28 stellt er den integralen musikalischen Stellenwert seines seltsamen („peculiar“) Gesanges in den Vordergrund. Aller­
dings sieht Scoppa nicht nur in der Präsentation, sondern auch in manchen Songtexten zu viel Eigenbrödlerei („private–joke obscurities“) am Werk.
Steely Dan is the most improbable hit–singles band to emerge in ages. On its three albums, the group has developed an impressionistic approach to rock & roll that all but abandons many musical conventions and literal lyrics for an unpredictable, free–roving style.[...] Steely Dan’s five musicians seem to play single–mindedly, like freelancers, but each is actually contributing to a wonderfully fluid ensemble sound that has no obvious antecedent in pop. These five are so imaginative that their mistakes generally result from too much clever detail. This band is never conventional, never bland.
[...] While it’s disconcerting to be stirred by language that resists comprehension, it’s still difficult not to admire the open–ended ambiguity of the lyrics. But along with Pretzel Logic’s private–joke obscurities (like the made–up jargon on 'Any Major Dude Will Tell You' and 'Through With Buzz'), there are concessions to the literal [...] But each has an emotional cutting edge that can’t be attributed directly to its viewpoint or story. As writers, Fagen and Becker may be calculating, but they aren’t cold.
As a vocalist, Fagen (who looks like a rock & roll version of Montgomery Clift) is as effective as he is unusual. With a peculiar nasal voice that seems richer at the top of its range than in the middle, Fagen stresses meter as well as sense, so much so that his singing becomes another of the group’s interlocked rhythmic elements. At the same time, there’s a plaintive aspect to his singing that expands the impact of even his most opaque lines. [...]
In a short time, Steely Dan has turned into one of the best American bands, and surely one of the most original. Their only problem is the lack of a visual identity to go with their musical one – as pop personalities, they’re practically anonymous. But with music as accessible and sophisticated as Steely Dan’s, no one should care. (Scoppa; SDA)
An diesen Zitaten zeigt sich, dass ein Künstler nicht darauf hoffen kann, ausschließlich seinen musikali­
schen Output oder gar seine 'wahre' Persönlichkeit transportieren zu können. Presse und Rezeptionsgewohn­
heiten, wie alle Faktoren der Kulturindustrie, sind schon existent, bevor der Künstler auch nur einen Finger rührt. Sofern Becker und Fagen in ihrem Frühwerk die Kanäle, in denen ein Image notwendig entsteht, sabo­
tieren wollten, haben sie den Fehler gemacht, diese Eigenschaft der Kulturindustrie als ihrem Schaffen äußer­
lich zu betrachten, während die sonstigen Voraussetzungen ihrer Arbeit selbstverständlich erscheinen: Studi­
os, Presswerke, Vertriebsstruktur; Rock, Jazz und Soul; beat poetry und Hollywood. So verständlich das Be­
dürfnis des Künstlers, im Starrummel einer gewisse Anonymität zu bewahren, so falsch ist die Spaltung der Produktionsweise in 'authentische' oder unmittelbare Anteile einerseits und 'industrielle' oder vermittelte an­
dererseits. Auch Becker und Fagen sprechen diese Trennung gelegentlich aus (s. Kap. III.1.e.2, „authenticity in beats and blackness“), aber schon ihre hochtechnisierte, nach Perfektion strebende Arbeitsweise im Studio kann einer 'unmittelbaren' oder 'authentischen' Vorstellung vom 'Musizieren' nicht entsprechen. Nur zufällig bezog sich ihr Bedürfnis ausschließlich auf diese Arbeit und nicht auf being rich and famous. Während es also nicht begründbar ist, daraus einen qualitativen Unterschied abzuleiten, sehe ich in der Strategie, die aus dieser Vorliebe folgte, allerdings eine sinnvolle Brechung der Publikumserwartungen im Pop: Mittels ins Hip­
pieske gehender Rockmusik und vieler Insider–Bezüge auf beat poetry und Hollywood zogen Steely Dan die Aufmerksamkeit der Poprezipienten auf sich, gegen deren selbstverständliches Bedürfnis nach Szene–Identi­
fikation und Personenkult verweigerten sie sich aber durch „private–joke obscurities“, Anonymisierung und introvertiertes Musizieren mit Jazzbezügen. Auch von den großen Grabenkämpfen der Rockmusik konnten Steely Dan unberührt bleiben. Sweet (122f.) schreibt, dass sie abseits der Auseinandersetzung zwischen Punk 28 wahrscheinlich mit dem späteren Clift, der nach einem Autounfall 1956 mit erkennbar krummer Nase weiterhin in Fil­
men auftrat.
25
und den alten Herren – den „alten Fürzen“ – des Rock der Siebziger standen:
'Aja' with its smooth, pristine production, was the absolute antithesis of the unproduced, raw–edged records being made by The Sex Pistols, The Clash and the Damned but Steely Dan went largely ignored by the punks who spewed invective on the likes of Led Zeppelin, Yes and Pink Floyd, the old dinosaurs – or old farts – of rock, as they called them. Becker and Fagen did say that punk music was of no interest to them, though they did concede that as a sociological event the upsurge may have had its benefits.
Es sei allerdings bemerkt, dass Identifikation und Personenkult auf der nächsten Ebene, unter Steely Dan–
Fans, zu keiner Zeit ausgeschlossen werden kann. Rezipienten, bei denen die beschriebene Strategie auf ein bestehendes Bedürfnis nach Ironie und Obskurität trifft, können wiederum ein besonderes Zusammengehö­
rigkeitsgefühl entwickeln, welches Chris Ingham rückblickend in der Einleitung zu seinem Interview vom Ja­
nuar 2000 beschreibt:
In the 1970s, Walter Becker and Donald Fagen – studio auteurs infused with the influence of jazz, R&B and pulp'n'beat literature and blessed with the chops and intellect to do something extraordinary with them – set lofty standards. For those who got it, there was Steely Dan and there was the rest. (Ingham; SDA)
In Kapitel III.1.f werde ich darauf eingehen, dass Becker und Fagen in späteren Jahren ihr Verhältnis zum Geschäft und zur medialen Vermittlung ihrer selbst ändern und mittlerweile die Möglichkeit wahrnehmen, ihr Image selbst zu gestalten – und zu brechen.
III.1.d Saubere Arbeit: When all my dime dancin' is through
1977 gelingt Steely Dan mit Aja ein großer Sprung in Hinsicht auf kompositorische und lyrische Ausgereift­
heit, Perfektion in Ausführung und Tontechnik, Erfolg auf dem Markt und bei der Kritik. Das Album hält sich 60 Wochen in den Albumcharts (Höchstnotierung: Platz drei), wird nach drei Monaten mit Platin29 aus­
gezeichnet und 1978 für den Grammy Award in vier Kategorien nominiert. Alle drei Single–Auskopplungen platzieren sich in den Top 40. Nachdem beim Vorgängeralbum The Royal Scam noch tontechnische Unvorher­
sehbarkeiten (vgl. Sweet: 96f.) den Klang beeinträchtigten, ist Aja eine sehr transparente Produktion: keine Nebengeräusche, hoher Signal–Rausch–Abstand und weitgehende Transparenz auch bei sehr reicher Instru­
mentierung; in der Kategorie „Best Engineered Recording (Non–Classical)“ erhält Aja den Grammy. Vor al­
lem mit dem achtminütigen Titelstück entwickelt sich die ironische Technik weg von der simplen Kontrastie­
rung von Texten mit scheinbar unpassendem musikalischem Gestus, und ausgedehnte Instrumentalpassagen kommen als doppelbödige Jazzbezüge hinzu (s. meine Analyse in Kap. III.2.a.2.1). Die 'collective persona' die sich als lyrisches Ich durch die Stücke zieht, entwickelt sich zu höheren Graden von Verschlüsselung. Oft sind Geschichten von existentieller Bedrohung unter harmlosen, manchmal schlagerähnlichen Textoberflä­
chen versteckt, so bei 'Aja', 'Peg' (s. Kap. III.2.b.3) oder 'Home at Last', welches von Odysseus' Episode bei den Sirenen handelt. Unter der undeutlichen, teils romantischen Oberfläche des Texts und dem entspannten, reich instrumentierten half time shuffle feel befindet sich der Protagonist am Ende seiner Kräfte.
Fagen: It's more interesting to write about somebody who's in a life–or–death situation or having trouble in a relationship. It goes back to Greek drama – they didn't write about people who were having a lot of fun. (Anonym: Interview Records, SDIR)
29 Das Hauptkriterium für diese Auszeichnung durch die Recording Industry Association of America (RIAA) ist die Mindestanzahl von einer Million verkaufter Einheiten; vgl. http://www.riaa.com
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Home at Last (1977; Auszug)
[...]
She serves the smooth retsina She keeps me safe and warm It's just the calm before the storm Call in my reservation So long hey thanks my friend I guess I'll try my luck again Well the danger on the rocks is surely past Still I remain tied to the mast Could it be that I have found my home at last Home at last
III.1.d.1 Workshop situation
Musicians were the key to the music that eventually, you know, got put out. I think Aja probably was a turning point were the music really became another level of sophistication in writing and performing for Donald and Walter.
Gary Katz
Ein sehr wichtiger Faktor für das Gelingen des Albums ist die zunehmende Kompromisslosigkeit bei der Aus­
wahl der Musiker. Jedes Stück ist mit einer anderen Besetzung gespielt, Becker und Fagen selbst spielen nur bei wenigen mit und beschränkten sich sonst auf das Bewerten der Takes und nachträgliche Overdubs. Nach Einschätzungen vieler Beteiligter wissen sie stets von Anfang an sehr genau, wie ein Stück zu klingen hat. Toningenieur Roger Nichols im Film Classic Albums: Aja, (0:27:15):
I was always amazed that they pretty much heard in their head what it was gonna be like completed. So they knew right away when you get a bunch of musicians together and they're cutting their tracks, and Donald and Walter would be sitting in the control room and say "No, this is not it, it's not gonna happen. So maybe we try this other tune with these guys.“ Then they'd get another band in to try the tunes that didn't work out. And all through the project, they would know: "No, that's not it, this is not working, this is what I want". And it was amazing that when the thing got done finally, I could see what everything was gonna be like. But they know from the very beginning.
Obwohl Becker und Fagen jeweils sehr genaue Vorstellungen von den Songs haben, lassen sie den Musi­
kern Interpetationsfreiheit, weil sie hoffen, dass die jeweils eingeladenen gut zum Stück passen würden: „Usually we pick musicians that we think will fit the particular song. Sometimes we'll just hear somebody on a record and hire them for a date, and if it works out it's all the better“ (Fagen, nach Sweet: 94). Rick Marotta, der bei der veröffentlichten Version von 'Peg' das Schlagzeug spielt, erzählt in einem Interview mit der Zeit­
schrift Modern Drummer über die Aufnahmen zu Peg:
They never played us the tracks. Donald would sit down at the piano, and sing and play. When that guy plays and sings, it dictates what's going to happen. They don't walk around saying „Play this note, that note, and this feel, and play this with the snare drum.“ Walter is always hovering around somewhere saying, „That's great! Do that. Yes.“ If you do something they like, they'll say, „Do that!“ Chuck [Rainey, Bassist; HH] and I just happened to fall into this amazing groove, and we started doing takes.
Ganze Besetzungen der besten Studiomusiker aus Los Angeles und extra eingeflogener Musiker aus New York kommen ins Studio und versuchen sich an den Stücken. Im Film (0:15:00) erzählt Marotta, dass ebenso ganze Besetzungen auch wieder entlassen und ihre Versuche verworfen wurden:
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It wasn't like they played Musical Chairs30 with the guys in the band. They played Musical Bands. A whole band would go and a whole incredible other band would come in.
So kommt die abwechslungsreiche Besetzungsliste auf Aja zustande. Es sind zwar mit Walter Becker und Chuck Rainey nur zwei Bassisten genannt, das Schlagzeug aber wird auf den sieben Stücken des Albums von sechs verschiedenen Musikern gespielt. Wenn Becker, Fagen und Katz eine Besetzung für einen Song erfolg­
versprechend finden, machen sie Takes (=Aufnahmedurchgänge) in mittlerer zweistelliger Anzahl, bis sie zu­
frieden sind. Üblicherweise wird diese Arbeitsweise als eine angesehen, die die Performance routinierter, d.h. sowohl fehlerfrei als auch emotionslos macht. Tom Scott, Saxophonist und Arrangeur der Blasinstrumente auf Aja, hält diesen Effekt angesichts des Materials für angemessen:
See, when you do a tune with great musicians over and over again, it flattens out the performance. Everybody just kind of plays without a whole lot of emotion. Now, in many cases, that would be a detriment. In their case, it was a plus. Because of the nature of the songs – this placid instrumental background with these weird lyrics – it worked so well. (Gordinier; SDA)
Gitarrist Dean Parks, der bei 'I Got the News', und 'Josie' mitgespielt hat, schreibt dieser Arbeitsweise spä­
ter eine besondere Qualität zu, die über die pure Perfektion hinausgeht:
One interesting thing about Donald and Walter is that perfection is not what they're after. They're after something that you wanna listen to over and over again. So we would work then past the perfection point until it became natural, until it sounded almost improvised in a way. So it was like a two–step process. One was to get to perfection and then the other is to get beyond it and to loosen it up a little bit so it didn't have to be the perfect squeaky–clean goal. It is quite an amalgamation, that's for sure. And it's interesting to note that it can be a hit. (Classic Albums: Aja, 0:24:00)
Wenn Perfektion für kalifornische Studiomusiker so viel bedeutet wie Fehlerfreiheit, dann stimmt Dean Parks' Aussage. Musik ohne störende spielerische Schwächen (Intonation, Timing, Nebengeräusche u.a.) ge­
hörte zum Alltag der Studioszene in Los Angeles, schließlich wurde hier auch der größte Teil der Film– und TV–Musik produziert. Die Ergebnisse dieser Arbeitsweise entsprechen Parks' Beschreibung des „two–step process“. Die Ausführungen der Stücke sind nicht nur makellos, sondern werden mit außergewöhnlicher Mü­
helosigkeit ihrem jeweiligen Anspruch und Charakter gerecht. Selten macht so anspruchsvolles Material einen so einfachen und selbstverständlichen Höreindruck, statt, wie viele Aufnahmen aus dem Fusion– und Easy Listening–Bereich, „squeaky–clean“ zu klingen. Interessanterweise war gerade das schwierigste Stück, 'Aja', inklusive Steve Gadds Schlagzeugsolo mit dem zweiten Take eingespielt, ohne von dieser Mühelosig­
keit etwas einzubüßen.
Becker und Fagen selbst grenzen sich auf andere Art vom Begriff des Perfektionismus ab.
Fagen: We don't think of ourselves as being perfectionist. To us, it's more like desperately trying to have it sound more or less OK.“ (Hoskyns: Librarians on Acid, SDA) We make mistakes and some of the mistakes get on the record. And no matter how long we work on it, not every song comes out the way we want it to. I'm not pleased with every last bar on 'Gaucho', but it's up to a standard that pleases us. (Sweet: 154)
Hier bedeutet Perfektion wohl mehr als Fehlerfreiheit, nämlich die Verwirklichung des vorgestellten Cha­
rakters bei jedem Song. Auf die technische Qualität der Ausführung durch die Musiker kann sich diese Aus­
sage, die außerdem von überzogener Bescheidenheit geprägt sein mag, nicht beziehen. Die Leistung der Mu­
siker wissen sie, auch gegenüber ihrer eigenen, durchaus zu schätzen:
Fagen: We've got it all except the fingers. Both of us have terrific feel. I think we get a lot of points for 30 Musical Chairs ist die englische Bezeichnung für das Gesellschaftsspiel, das im Deutschen den fragwürdigen Namen 'Reise nach Jerusalem' trägt.
28
style, but technique and execution are weak. [...] If we can't find any musician who's comfortable with a particular feel, then we'll haul out our instruments. (Sweet: 142)
Becker: What really takes so long are the things in the album that don't work. And it's never the musicians' fault. It's always our fault. When a musician comes in and looks at a piece of material that he's never seen before, sometimes it can gel. And when it does it's the best thing in the world. Take some old Charlie Parker records. On certain days his band sucked. It can happen to anyone. (145)
Zur Motivation der 'workshop'–Arbeitsweise gibt es weitere, sich mitunter widersprechende Aussagen. Fagen würdigt die Anpassungsleistung der ursprünglichen Bandbesetzung und beschreibt damit gleichzeitig die mögliche Spannung in einer Band, in der formale Gleichberechtigung herrscht, die Kompositionskompe­
tenz aber bei wenigen liegt:
I think we would have preferred to have grown up on the same block with five or seven guys who thought the same way we did and had a working unit all these years, but it didn’t work out that way. We were all strangers and they were very nice about the whole thing and more or less abdicated their own musical conscience and listend to us (41)
1975 rechtfertigt Fagen die Entlassung der ursprünglichen Band gegenüber dem New Musical Express durch den Verweise auf die im Jazz übliche Arbeitsweise:
You know, we grew up listening to jazz musicians and they're always playing with different musicians, so I don't see why the same thing can't happen here. It makes it much more interesting. (95)
Im Unterschied zu den gemeinten Jazzmusikern spielen Becker und Fagen allerdings oft nicht mit den Musikern, sondern sie lassen sie spielen. Besonders aus der Arbeit der Rhythmusgruppe zogen Becker und Fagen sich zurück. Die einzige Ausnahme auf Aja ist Beckers Bass bei 'Deacon Blues'. (Zur besonderen Be­
deutung der Rhythmusgruppe im Hauptwerk s. Kap. III.1.e.2.) Becker spielte vier Gitarrensoli, Fagen trug au­
ßer dem Leadgesang nur einige melodische oder sphärische Synthesizer und die „police whistle“ während des Gitarrensolos bei 'Aja' bei. So war die Musikproduktion in Steely Dans frühem Hauptwerk von einer Produk­
tionsweise geprägt, die dem Do–It–Yourself des Rock'n'Roll wieder entgegensteht. Allerdings wird hier nicht wie im Schlager die Komposition und Produktion ausgelagert, sondern im Gegenteil die Ausführung anderen überlassen und dirigiert. Becker und Fagen nehmen etwa die Rolle eines Regisseurs ein und verbinden ihre ästhetischen Ansprüche und ihre exakte Vorstellungskraft mit den jeweiligen Qualitäten der Studioszene von New York und Los Angeles. Oder, mit Walter Beckers Worten: „The way we did it we were kind of the au­
teurs of the record in the sense that a director is the author of his film.“ (Sweet: 123)
III.1.d.2 Schlecht bezahlte Arbeit – How all the pros play the game
Die frühere Kompromissbereitschaft bezüglich des Materials war Teil einer Strategie, die ich anhand der Stücke 'Dirty Work' und 'Do It Again' in Kapitel III.1.b.1 beschrieben habe, und die Sweet folgendermaßen zusammenfasst:
They planned to break the audience in slowly, intermingling simple pop with more and more complex material as time went by. On each successive album they gradually introduced more jazz phrasing and increasingly enigmatic lyrics.
Rückblickend, im Film Classic Albums: Aja, sehen Becker und Fagen diese Strategie mit Aja als erfüllt an:
Becker: We were feeling lucky that year and we thought, you know, there wouldn't be any problem with moving into slightly more ambitious, sort of extended compositions. (0:40:50)
Fagen: When we first started we were more writing pop songs of the time – that maybe had an infusion of our interest in jazz. But by the time we did Aja, I think we knew more what we enjoyed doing. Certainly, through the Aja album, you know, our stuff improves. (0:46:30)
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Auch die Verhandlungsposition gegenüber der Plattenfirma verbessert sich in diesem Zuge. So können Be­
cker, Fagen und Katz Selbstbestimmung über radio edits durchsetzen, und auch die teure 'workshop situation' ist ein Luxus, der erst nach einigen ausreichend erfolgreichen Alben möglich ist:
Later ABC asked Becker, Fagen and Katz to edit 'Deacon Blues' for a single, but they refused on the grounds that the song would have been totally destroyed [...]. 'Deacon Blues' did come out as a single in April 1978 [...] It peaked at number 19. (Sweet: 121)
Questioned about the expense of using top session players [...]: „Some of them are very expensive,“ Fagen said. „Some of them are outrageously expensive,“ Becker elaborated. „Although we usually spare no expense.“ Fagen wound it up by joking that as the album had cost so much at least people would be getting their money's worth. (Sweet: 111)
Schließlich werden Becker und Fagen auch in Interviews selbstbewusster. Vor der Albumproduktion ha­
ben sie gemerkt, dass sie im Vergleich zu anderen Künstlern wenig Geld an ihren erfolgreichen Platten ver­
dienen, und einen neuen Vertrag mit Warner Brothers unterschrieben. Durch den alten Vertrag von 1971 sind sie aber noch für Aja und ein weiteres Album an ABC Records gebunden. (Vgl. Sweet: 114 und 129). Bezüg­
lich der Verhandlungen und ihrer finanziellen Situation, Themen, die von Künstlern selten öffentlich behan­
delt werden und i.d.R. der Schweigepflicht unterliegen, werden Becker und Fagen in Interviews nachgerade redselig. Im Sommer 1976 sagt Becker in England zum New Musical Express:
We renegotiated that contract, so that instead of getting no record royalties, we'd get virtually no record royalties.31 And in return for that we'd get deadlines for our albums. When we were working on this one [The Royal Scam; Anm. HH] we started getting all this legal mail, harassment type mail from the record company, threatening to do things to us if we didn't finish the album by a certain date. [...] Some of your big heavy groups, when the hand in an album, the record company has to hand over x hundred thousand dollars. When we hand in an album, they just say 'Thank you.' [...] Caesar wants a record every three months, it turns out, so we have to render unto him before we render unto the concertgoer. (Sweet: 111)
Im gleichen Interview deutet Fagen die Gleichgültigkeit an, mit der sie das Thema dennoch behandeln, weil das musikalische Ergebnis wichtiger scheint:
I don't make any money whatever. I live in sort of a financial limbo. When we were young and innocent, we signed a contract that was less than sensible in the sense that we could have a lot of success and not make any money. And our studio costs have to be paid back through royalties. All the same the single will help us to sell more albums so more people will hear the music, which is good. (ebd.)
1977, im Interview mit dem englischen Magazin Sounds, legen Becker und Fagen eine besondere Ver­
knüpfung von Ironie und Strategie an den Tag, die gleichzeitig Distanz zu und Vertrautheit mit Marketing und Kapitalkonzentration beweist. Laut Brian Sweet (124) waren sie in diesem Interview...
in top form: joking about merchandising the Steely Dan name with breakfast meats and Kewpie dolls and citing their fondness for Bugs Bunny and Daffy Duck – both Warner Brothers characters – as their reason for singing with Warner Brothers Records.
Auch eine Ahnung davon, dass sie mit zunehmender Bedeutung für die Studioszene von Los Angeles selbst zur kulturindustriellen Instanz von einer gewissen Größe wurden, schlägt sich in einigen Zitaten nieder. Fagen erklärt die 'workshop situation' an anderer Stelle: „And that finally evolved into a situation where we could hire whomever we wanted to play individual songs. It's probably more like the movies than popular music.“ (Sweet: 84). Bezüglich der Absage der geplanten Tournee nach Veröffentlichung von Aja berichten Becker und Fagen von den Verhandlungen mit den Musikern. Einige von ihnen haben besonders hohe Gagen 31 royalties=Umsatzbeteiligung, Lizenzgebühr
30
verlangt, weil sie als Studiomusiker normalerweise niemals die Stadt verlassen, und die ungleiche Bezahlung führt Becker und Fagen zu Klassenkampfassoziationen:
When this became to some of the members who had, uh, slid considerably from the top of the pay scale, they had things to say like 'How come him...?' and 'And me?'“ And we said, 'Oh, shit', we felt like capitalists exploiting and repressing these musicians, so we cancelled the band after the first rehearsal. (Sweet: 128)
Mit zunehmendem Selbstbewusstsein und verbesserter Verhandlungsposition bewegen sich Steely Dan in den Jahren vor ihrer Trennung allmählich routinierter im Kulturbetrieb und können eine Arbeitsweise durchset­
zen, die ihren Ansprüchen und – mit Einschränkungen – ihren Wünschen entspricht. Im Hinblick auf das “quid pro quo” zwischen Tausch– und Gebrauchswert der Ware Musik ist es hier die privilegierte Situation der Produzierenden (Becker, Fagen, Katz), die angesichts des Budgets, der Produktionsmittel und des musika­
lischen Anspruchs den Anschein macht, hier werde Musik ausschließlich um ihrer selbst Willen geschaffen. Ein Anschein, der auf dem Arbeitsniveau Steely Dans zusätzlich besondere Dichte erlangt, weil hier niemals die Hörgewohnheiten des Publikums, sondern stets der extrem hohe eigene Anspruch zum Bewertungsmaß­
stab wurde.32 Freilich aber ist das Budget für die aufwändige Arbeitsweise ein Vorschuss auf den Tauschwert der zu produzierenden Musik, und so ist der Verkauf notwendiger Zweck des Unterfangens. Dabei machen Steely Dan bisweilen den – naheliegenden – Fehler, den ubiquitären Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Tauschwert auf den individuell erfahrbaren Widerspruch zwischen ihnen selbst und der Musikindustrie oder dem 'Massengeschmack' zu reduzieren – und sich selbst dabei als die 'eigentliche' oder authentische Sei­
te zu begreifen, für die die wichtige Frage ist, wie viel Zugeständnis an Industrie und Mainstream man ma­
chen kann, ohne die eigenen, überlegenen Qualitätsansprüche aufgeben zu müssen. Trotz ihrer mokant–elitär­
en Haltung gegenüber den 'billigen' Kulturindustrieprodukten und dem business, trotz ihrer gelegentlichen Verwendung von Marx–, Freud, oder Adorno–Zitaten in Interviews33 oder liner notes kann man also nicht da­
von ausgehen, dass Becker und Fagen einen adäquaten Begriff von Kulturindustrie haben. Die Rede von „un­
derground“ und „authenticity“ und die ahnungslose Naivität der Verweigerung in den frühen Jahren (s. Kap. III.1.c.1) zeugen davon ebenso wie folgendes Zitat:
To become excessively popular you have to cater to the whims of mass taste, which I don't feel we've done. Popularity is relevant to business but irrelevant to music, and we're only in business to the extend that we have to stay in business so we can afford to make music for fun. I'm pleasantly surprised at the level of acceptance we've attained. It's far beyond my mother's wildest dreams. (Donald Fagen im Jahr 1975, nach Sweet: 90)
Der erste Satz dieser Aussage ist in mehrfacher Hinsicht korrekturbedürftig: Erstens handelt es sich bei der Masse nicht um das Subjekt, sondern, mit Adorno, um das Objekt der Kulturindustrie; genau genommen kann sie so keinen Geschmack („mass taste“) haben, sondern lediglich mit Konsummustern auf die kurzfristi­
gen Pläne der Industrie reagieren. Denkt man etwa an die Karriere von Michael Jackson, stimmt der Satz,34 32 Sweet (46f.) zitiert Toningenieur Roger Nichols: “We finished it [die Aufnahmen zu Can’t Buy a Thrill; Anm. HH] in less than six months, which was quick for them. But even then their acceptance level was way above everyone else’s. They never had the attitude of ‘It’s getting late that’s good’ or ‘No–one else will notice’. Everything had to be as near perfect as technically and humanly possible.”
33 Vgl. etwa VI.2.a im Anhang dieser Arbeit und weitere Interviews von Plush TV Party
34 Mit seinen späteren Alben Thriller (1982) und Bad (1987) hält Jackson bis heute zweifach den Rekord von sieben Hit–Singles pro Album (vgl. Gregory: 119). Diese Zahlen legen Vermutungen über Marktforschung vor der Album­
produktion nahe; zumindest ist folgende Aussage verbürgt: „Seit ich ein kleiner Junge war, habe ich davon geträumt, die bestverkaufte Platte aller Zeiten zu machen.“ (Vgl. Ebmeier: 95ff.)
31
solange man „mass taste“ in meinem Sinne umdeutet. Sofern aber zweitens doch von Massengeschmack die Rede sein kann, wie es bei The Beatles oder The Rolling Stones kurzfristig der Fall war, haben sich die Ak­
teure nicht seinen Launen angedient („cater to the whims of“), sondern ihn gemeinsam mit ihrer Fangemein­
de entstehen lassen (s. Kap. II.2), gerade indem sie sich zunächst am Rande des mainstream bewegt haben (s. Kap II.3). Drittens ist der Unterschied zwischen 'exzessiver' Popularität einerseits und „staying in business“ andererseits ökonomisch ein gradueller, und damit die Grenze ebenso willkürlich wie die zwischen kurzfristi­
gen und langfristigen Launen des 'Massengeschmacks' bzw. des Marktes. Steely Dans Entscheidung für die Rockmusik als Basis ihrer Arbeit (s. Kap. III.1.c) kann durchaus als Anpassung an eine solche langfristige Entwicklung gesehen werden, obwohl Fagen das Gegenteil behauptet („which I don't feel we've done“). Ihre Popularität hingegen ist mit der Angabe „only to the extend that we have to stay in business“ bei weitem un­
terschätzt. Diesen Zweck erfüllt sie, aber mit vier Top–40–Alben und sieben Top–100–Singles ging sie auch 1975 schon weit darüber hinaus. Etwas von der ökonomischen Bedeutung nehmen Becker und Fagen aber im­
mer wahr, das zeigt sich auch am oben verhandelten Zitat und dem mal ironischen, mal ängstlichen Umgang mit ihrer Position als Auftraggeber der besten Studiomusiker des Landes.
Allerdings ist die Fragestellung der vorliegenden Arbeit nicht, ob und wie Becker und Fagen das Verhält­
nis von Kulturindustrie und Subjekt oder den Fetischcharakter in der Musik intellektuell begreifen. Solches Begreifen ist Sache des Theoretikers35. Diese obige Strategiebeschreibung sowie die Zitate aus Kapitel III.1.c.1 zeigen nur, dass Becker und Fagen nicht genau wissen, wogegen sie sich durchzusetzen haben. Was sie durchzusetzen haben, ist hingegen klar: dass kein einziger Takt ihrer Musik hinter die eigenen Ansprüche zurückfalle. Fagen: It just takes time to get something to be good, to get eight or ten songs that are all good. Most rock and roll albums will be padded with less than wonderful material. We want every bar of the thing to be good. It's all time and we just eat it up. We're not total perfectionists in the studio, we just have aspirations in that direction. (Sweet: 116)
Fagen: We try to make it 'unboring', that's one of the main things we go for. If it's boring that's the main indication that there's some failure. (Sweet: 87f.)
Der einzige Kompromiss, der hierfür im strengen Sinne notwendig ist, ist die Vermeidung des ökonomi­
schen Bankrotts, welcher ihnen die Möglichkeit nähme, auf diesem Niveau zu arbeiten. (Diesen Kompromiss haben Steely Dan vor allem und unnötigerweise an ihrem privaten ökonomischen Standard vollzogen, wenn man davon ausgeht, dass der Gewinn durch den unüblichen Vertrag größtenteils an ABC Records ging.) In diesem Sinne ist die von Fagen beschriebene Strategie („only in business to the extend that we have to stay in business so we can afford to make music for fun”) richtig und notwendig. Und sofern “fun” nicht Adornos Stahlbad ist, sondern die Befriedigung des Künstlers, der das unausgereifte oder verschlissene Angebot der Kulturindustrie nicht mehr ausstehen kann, ist auch das ästhetische Gelingen in dieser Strategie schon be­
rücksichtigt. Mir geht es darum, dass ein Künstler nicht Theoretiker sein und erst recht keine politischen Pa­
rolen oder „eindeutigen Positionierungen“ (Martin Büsser; s. Kap ) abgeben muss, um gelungene Vermittlung von Widersprüchen herzustellen. Vielmehr kommt er zum Ziel durch hartnäckige Insistenz auf das Material und seine Qualitätsansprüche. Im Material findet sich der Widerspruch zwischen Künstler und Industrie wie­
der. Es ist zweifach an die Voraussetzungen des Kulturbetriebes gebunden: positiv, weil es in ihnen seinen Bezugsrahmen hat, und gleichzeitig negativ, weil es nach Autonomie streben und sich in ihnen oder über sie hinaus selbständig bewegen muss, um nicht schlicht Wiederholung zu sein.
35 Künstler Sein und Theoretiker Sein schließen einander allerdings auch nicht aus.
32
III.1.e Konkret nützliche Arbeit 2: Backbeat
Exemplarisch lässt sich die Arbeitsweise, die den Bezugsrahmen anerkennt, um mit in ihm autonom zu ver­
fahren, ihn zu übernehmen oder zu sprengen, am 'beat' erläutern. Neben einer einfachen formalen Struktur und einer „great hook“36 ist der fortlaufende beat37 eines der wichtigsten Merkmale von Popsongs, und damit liegt er für Steely Dan als Material vor, das übernommen, aber auch bearbeitet werden muss. Die immanente Aufgabe, die der beat übernimmt, ist die rhythmische Kontrastierung der schweren Zählzeiten des Taktes (downbeat) bzw. ihrer Umspielung auf der bass drum gegen den backbeat auf den unbetonten Zählzeiten (im 4/4–Takt: „zwei“ und „vier“), gespielt i.d.R. von der snare drum.
III.1.e.1 Theorie des backbeat
Die Continuum Encyclopedia of Popular Music of the World (Vol. III, S. 604f.) datiert die Entstehung des backbeat in die 1930er Jahre:
During that period, Chicago jazz drumming occasionally featured snare backbeat (or cymbal backbeat) in such formal–structural sections as final ('shout') choruses, loud tutti–sections and/or instrumental solos. The characteristic presence of oom–pah rhythms in early jazz accompaniments provided Chicago jazz drummers to emphasize backbeats rather than 'strong' beats. [...] The 'strong' beats were highlighted by bass instruments, thereby creating a type of metrical 'punning'. It is possible that the occurrence of backbeat [...] was also inspired, at least in part, by sanctified gospel styles. For instance, the recorded output of 'Sister' Bessie Johnson [...] displays the very considerable presence of empathically performed backbeat, mostly in form of handclaps. [...] A consistent use of snare backbeat on beats 2 and 4 throughout all formal–structural sections of a song began to feature in recordings by R&B musicians who were musically active in various mid–US locations from around 1949, most noticeably in the recordings of Fats Dominoe with Earl Palmer drumming. [...]
Early examples of backbeat can also be found in country and western musical styles. During the 1930s, the increasing use of country and western as dance music demanded a beat that could be clearly heard above the sounds of life performance situations. [...]
By the mid–1950s, a consistent use of snare backbeat throughout a song was firmly established in rock 'n' roll drumming style. This performing practice has constituted one of the defining characteristics of rock and roll related musical styles.
Nach diesem Artikel ist der backbeat als Prinzip also dem simplen, scherzhaften („punning“) Wechsel­
spiel zwischen Bass– und Harmonieinstrumenten, seine Übertragung auf das drum set spezifischen sozialen Anforderungen an Musik geschuldet: der Tanzbarkeit, die nicht abstrakt als bewegungsinduzierende Eigen­
schaft von Musik zu verstehen ist, sondern als Ausdruck einer bedeutenden sozialen Praxis – der Party. John Mowitt geht in seiner Abhandlung percussion. drumming, beating, striking davon aus, dass [...] the interplay between accented and unaccented beats is affected by playing the bass (or kick) drum – on the downbeat and the third beat – off against the snare drum (on two and four), as though the snare is answering „back“ the bass drum. Though at this point it may seem forced to say so, the notion of the snare „answering“ to the bass drum derives not simply from the generally catachrestic character of the instrument, but, more important, from the African tradition of „call–and–response“ drumming patterns that, I will argue, have come to assert themselves in this fundamental rhythmic signature of rock–and–roll. (Mowitt: 26)
Das heißt, der 'beat', wie er von einem Spieler am drum set gespielt wird, ist eine Zusammenführung ver­
36 Vgl. Sweet: 39. 'Hook' ist die Kurzform von hook line und meint diejenige Stelle eines Songs, die dessen Wiederer­
kennungswert ausmacht. Das kann ein instrumentales Thema sein, ist aber öfter ein Teil des Refrains, zum Beispiel die Zeile, in welcher der Titel gesungen wird.
37 Gemeint ist der vom drum set gespielte, meist ostinate Rhythmus. Zu den verschiedenen Bedeutungen des Wortes in der Popularmusik: Zählzeit, Metrum, die Stilistik gleichen Namens, s. Continuum Encyclopedia, Vol. III, S. 604f.)
33
schiedener Rollen, ursprünglich von verschiedenen Akteuren gespielt. Dies, wie schon der Begriff des call & response allein, legt nahe, dass zwischen den gespielten Instanzen eine spezifische Interaktion abläuft, die ich als Auf– und Abbau von Spannung auffasse. Der musikalische Allgemeinplatz „It's all about tension and re­
lease“ bezieht sich auf dieses Wechselspiel. Auf der schweren Zählzeit wird der Rhythmus in Bewegung ge­
setzt, aber etwas sträubt sich gegen die Bewegung, wie ein sich spannendes Gummiband. Mit lautem Knall (backbeat) reißt das Gummi auf der unbetonten Zählzeit, und das Fahrzeug fährt mit Schwung zum nächsten downbeat, zum nächsten Gummiband. Dieser beständige Kampf zwischen Stillstand (These) und Bewegung (Antithese) mit dem Reißen des Gummis als qualitativem Umschlagspunkt ergibt als Synthese den groove, eine mühsame Vorwärtsbewegung, die die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Bewegung in sich aufhebt, körperlich spürbar für das zuhörende Subjekt, welches in diesem Kräftespiel sein eigenes gespiegelt sieht und die Spannung im Tanz entlädt.38
III.1.e.2 Steely Dan und der backbeat
I think Walter and I have an idea of groove that goes back to the Thirties and Forties – very laid back and [it] sounds almost like the whole thing is going to crash every bar. It has this kind of falling over feeling about it that gives it a lot of forward motion. And a lot of guys don't play like that now, don't play naturally laid back.
Die ganze Rhythmusgruppenarbeit verdient in Steely Dans Hauptwerk besonderes Augenmerk. David Pearl sieht mit der Veröffentlichung von Aja dieses Element als zentral an und begründet es mit der rhythmischen Konsequenz, die sich durch alle Ebenen des Albumopeners 'Black Cow' zieht:
With the release of Aja, the rhythm tracks were elevated to the primary and central elements in Steely Dan's songs. From the opening of „Black Cow,“ we hear the syncopated groove that will carry the melody and rhythm, the background horns, and finally, the hook throughout the entire song. (Pearl: 56)
Fagen selber spricht 1977 von der „East Coast Beat sensibility“ und grenzt sich damit von der kaliforni­
schen Musikproduktion ab:
We'd mix our records to sound as much as possible like a Fifties Miles Davis recording. We got so into that sound that on one stage we tried to persuade Roger to forget stereo and mix everything down to mono. He refused. For good or ill, it all came out of our own personalities, that East Coast Beat sensibility. The be–boppers had a way of dealing with the white world that amounted to a kind of intense irony and that influenced us.
There's something funny about smooth sounds, they go along with the whole American idea of slickness and smoothness, the idea of faux–luxe, Mantovani, Mancini, the soundtrack of the '50s. And we rejected that whole '50s sensibility... more of an insensibility really... and looked for some authenticity in beats and blackness. (Sweet: 122)
Dass Fagen Ajas klangliche Erscheinung von „slickness and smoothness“ abgrenzen will, scheint überra­
schend. Auch ist es kaum haltbar, die New Yorker Musik und ihre „beats and blackness“ für unmittelbarer zu halten als die kalifornische; von Authentizität kann in beiden Fällen gleich viel oder wenig die Rede sein, bei­
de Szenen arbeiten notwendigerweise abhängig von spezifischen kulturellen und technischen Voraussetzun­
gen. Aber mit der Betonung der 'beats' – und mit Einschränkung auch der erläuterungsbedürftigen 'blackness' – trifft er den Schnittpunkt, an welchem Steely Dan die im New Yorker Jazz üblichen Ansprüche an die rhythm section in die perfektionistischen, glatten Produktionsgepflogenheiten Kaliforniens einbringen. Dafür ist interessant, welche Gestaltungsmittel der backbeat, nun als Material betrachtet, neben seiner weitgehenden 38 Für eine weiterreichende, psychoanalytische Untersuchung des Verhältnisses von Subjekt, Tanz und Synkope s. Mo­
witt: 32f.
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Festlegung bezüglich Instrumentierung und Platzierung noch zur Bearbeitung übrig lässt. Neben der klangli­
chen Gestaltung (Stimmung der Trommel, Schlagtechnik) sind vor allem klangliche und dynamische Nuan­
cen und exaktes Timing zwei Kriterien, die in der Popmusik eine ebenbürtige Wichtigkeit erlangt haben. Für diese beiden Parameter haben Becker und Fagen im Zuge ihres Frühwerks einen obsessiven Genauigkeitsan­
spruch entwickelt, der auch die akustische Wahrnehmung der meisten anderen Musiker zu übersteigen scheint. Schlagzeuger Rick Marotta berichtet im Interview mit der Zeitschrift Modern Drummer: Every time I went in with them, I knew it was going to be something really historic. They were the most demanding of anybody I've ever worked with. Donald was like the Prince of Doom. For instance, I'd walk into the control room and it would sound unbelievably great and he'd be looking at the floor, saying “Yeah, I guess it's OK.” [...] On 'Don't Take Me Alive' [1976; HH] there's one backbeat in the 16th or 17th bar that was a little softer than the others. I'd say, „Donald, show me where“. He'd wait for the tape to come around and he'd point it out. „Right here.“ He'd pick the same spot each time. He wasn't crazy, he was just microscopic. Walter was as well. It was beyond my imagination how anybody could be so focused for so long. (On Playing with the Band; SDIR)
Sweet beschreibt schon für die Zeit mit Denny Dias' Band Demian um 1970 einen solchen Anspruch:
The other member of Demian, drummer Mark Leon, took an instant dislike to Becker and Fagen and made no secret of it. Becker and Fagen preferred a simple, straightforward rock and roll backbeat which did not detract from the subtleties of their compositions; a player who was 'neat' – heavy with his left hand and right foot. Leon's drumming was too busy for them. (Sweet: 23)
'Busy' (dicht, notenreich) und 'tight' (exakt, spannungsreich) schließen einander allerdings nicht aus, das beweisen auch Steely Dans spätere Schlagzeuger ausgiebig – 'The Fez', 'Green Earrings' (1976), 'Aja' und 'Peg' (1977) weisen sehr noten– und artikulationsreiches Schagzeugspiel auf. Nähme man Sweets Formulie­
rung ernst, wäre das Zusammenspiel von beat und kompositorischem Anspruch falsch gefasst, als reiner Kompromiss: Der backbeat müsse da sein, sonst höre niemand zu, aber er dürfe sich ja nicht gegen das auf­
lehnen, worauf es ankomme. Im Gegenteil kommt es auf den backbeat sehr genau an, durch ihn entsteht der Groove, zu dem sich jedes kompositorische Detail ins Verhältnis zu setzen hat.
Das Wort groove (engl. für Rinne, Fahrrinne, Spur) bezeichnet die Spannung, die durch die genaue rhyth­
mische Gestaltung entsteht: Man kann den backbeat – wie jeden anderen Ton auch – laid–back, on top oder ahead spielen (leicht verzögert, auf den Punkt oder leicht verfrüht). Ist der backbeat ahead, was eher im Hard­
rock vorkommt, bricht er eilig die oben beschriebene Spannung ab, bevor sie sich ganz entwickeln kann, und schleppt sich weiter zum nächsten, verzögert scheinenden downbeat. Ist er spät (laid–back), überspannt er den Bogen und stolpert auf dem zu kurzen Weg bis zum nächsten downbeat. In wenigen Millisekunden dosiert, können diese Verrückungen den Charakter des groove deutlich beeinflussen. Treten unmotivierte Varianzen in ähnlicher Größenordnung auf, leidet seine Intensität ebenso deutlich. Um die Ausmerzung dieser Ungenau­
igkeit geht es bei dem Bemühen um den „perfect drum track“.
1978/79, zur Zeit der Produktion des Albums „Gaucho“, war Roger Nichols' selbstgebauter Computer na­
mens Wendel soweit ausgereift, dass er als Rhythmusmaschine eingesetzt werden konnte. Bei einigen Stücken wurde keiner der eingeladenen Schlagzeuger den Ansprüchen gerecht, so dass zum Beispiel einer von ihnen in den credits genannt wird, aus dessen Performance lediglich ein Takt herausgeschnitten und in einer Schlei­
fe (loop) abgespielt wurde. Freilich hat Nichols zusätzlich noch Stunden damit verbracht, wieder minimale Unregelmäßigkeiten in das Geschehen zu programmieren (Vgl. Sweet: Roger Nichols Interview, SDIR). Trotz­
dem ist das Klangergebnis, wie man bei „Hey Nineteen“ und „Time out of Mind“ hören kann, von einer syn­
thetischen Qualität, die Rhythmustracks 'plätschern' ohne jede Dynamik vor sich hin, spannender Groove pas­
35
siert eher bei den handgespielten Instrumenten, hauptsächlich Fagens E–Piano und Hugh McCrackens Gitar­
re. Zum Teil ist das allerdings gewollt, wenn man Walter Becker glauben darf:
'Hey Nineteen'[...] we had a lot of trouble with. We couldn't get a track we were happy with and we ended up doing it from the bottom up, starting with the drum track and overdubbing the rest of the stuff. That's a real pain in the ass. Part of the reason we did it that way was that we didn't want a real live sound. We were looking for a kind of mechanical version of early rhythm and blues. It was our intention to let it sound a little machine–like, with Hugh McCracken's warm obligato guitar juxtaposed against that. (Sweet: 144)
Nach 1980, bei der Produktion von Donald Fagens ersten Soloalben, verstärkte sich diese Tendenz der übermäßigen Akkuratheit, Schlagzeugspuren wurden zerschnitten, geloopt, mitunter ganz von Wendel oder späteren Maschinen ersetzt und nur noch fill–ins von eingeladenen Schlagzeugern gespielt, mit dem Ergebnis, dass tatsächlich wenig von der oben beschriebenen Spannung innerhalb des Taktes sowie von der Dynamik über ein ganzes Stück übrig blieb. Roger Nichols spricht im Interview mit dem Tontechnik–Fachmagazin EQ über die Produktion von Fagens Kamakiriad (1994):
Well, Chris Parker came in to play the drums. We recorded about a zillion passes of Chris playing along with a sequencer. After Chris was safely on a plane back to New York, we took his drum track apart piece by piece. Mind you, the performance wasn't bad, he was just half a millisecond late here, a millisecond early there, you know, the usual stuff. [...] We took a piece of hi hat pattern from one verse, some cymbal crashes from somewhere else, a bunch of snare hits from all over the place, and put them all together in a sequence and made them match the drum machine pattern.39
Produktionen der achtziger und frühen neunziger Jahre weisen häufig eine solche Tendenz auf, was mit der Entwicklung elektronischer Musikinstrumente und digitaler Techniken wie MIDI und Sampling zusam­
menhängen dürfte, die während dieser Zeit nicht nur für teure Produktionen, sondern auch für semi–profes­
sionelle Musiker und kleine Studios erschwinglich wurden. Der typische Sound der Popmusik der Achtziger ist von diesen Entwicklungen erheblich geprägt (vgl. Continuum Encyclopedia, Vol. III, S. 236, 266f.). Was die Perfektion und mitunter die Sterilität des Ergebnisses angeht, haben Steely Dan eine Vorreiterrolle einge­
nommen. Spätestens seit Aja (1977) galten ihre Produktionen stets als die jeweils tontechnisch avanciertesten auf dem Markt, und Fagens The Nightfly (1983) gehört zu den ersten Platten überhaupt, die vollständig auf di­
gitalen Geräten statt auf Tonbändern aufgenommen wurden (Vgl. WNEW–FM Interview; SDIR). In den spä­
ten neunziger Jahren erlebte der „wärmere“, von der Hi–Fi–Community ohnehin durchgehend präferierte Klang analoger Technik eine Renaissance, der sich auch Steely Dan anschlossen. 40 Everything Must Go und Morph the Cat wurden wieder weitgehend auf analogen Tonbändern aufgenommen. Diese Arbeitsweise erfor­
dert allerdings beim Aufnehmen ein musikalisches Handwerk, das nicht auf die umfangreichen Schnitt– und Editierungsmöglichkeiten der computerunterstützten Aufnahmetechnik angewiesen ist. Dazu passt, dass beide Alben mit jeweils einer gleich bleibenden Band eingespielt sind, nachdem noch bei Two Against Nature kein Stück in der Besetzung dem anderen gleicht. Fagen spricht 2006 über den Schlagzeuger Keith Carlock:
We finally got a drummer who could nail a track in any style we'd give him, and we just got a stable band situation. We pretty much reverted to the way we recorded in the bulk of the '70s, live playing in the studio. (Weatherford; SDIR)
He's also unusual in that he's a great groove drummer and he's also a very good jazz drummer, as well. So he's got both the jazz technique and, you know, the happening backbeat. (One Hour Sale; SDIR)
39 Roger Nichols; SDIR. Die Größenordnungen, von denen hier die Rede ist, sind verwirrend. Eine Verzögerung von ei­
ner Millisekunde ist für Menschen nicht zu hören.
40 Toningenieur Elliott Scheiner 2006 im Interview mit der Fachzeitschrift Sound on Sound: „I don't think digital will ever catch up with analogue. Digital is convenient and it is good for doing trench work, but as far as sound is concerned, it's definitely analogue.” (Tingen: 78)
36
Die Stücke auf den beiden genannten Alben machen allerdings beim ersten Hören tatsächlich den Ein­
druck, als solle das Schlagzeug in erster Linie nicht vom Song ablenken. Dynamik im Schlagzeug passiert ausschließlich durch Instrumentierung, nicht durch gespielte Lautstärke, die beats sind ostinater als früher und gehen kaum auf das restliche Geschehen ein, obwohl die basic tracks41 live, d.h. gemeinsam statt nachein­
ander eingespielt wurden. Trotzdem klingt die Rhythmusgruppe auf beiden Alben nicht steril wie bei 'Hey Nineteen' oder 'Glamour Profession', sondern stellt höchst lebendige Grooves als Fundament für die Stücke her. Die Lebendigkeit liegt in der unerschütterlichen Spannung innerhalb des Taktes, mit leicht laid–back ge­
spielter snare drum, zu hören schon in vier Takten der Einleitung zum Eröffnungs– und Titelstück von Fagens aktuellem Album: III.1.e.3 Morph the Cat
Nachdem die downbeatlastige und tonikabasierte, dadurch simpel insistente Basslinie auf ihrer einzigen schwebenden Phrase – beginnend mit der None auf einer Achtelsynkope, endend mit dem einzigen langen Ton auf der „Vier“, dem drittletzten backbeat – ausklingt, spielt das Schlagzeug den letzten Takt zu ende, lässt aber den letzten backbeat auf der „Vier“ aus und erzeugt damit eine Spannung, die von der ganzen Band mit einem außergewöhnlich akkurat platzierten Tonika–Akkord auf der großen „1“ gelöst wird. Dies setzt sich durch alle Strophen fort, auch nachdem die Instrumentierung stark zunimmt. So beginnt (fast) jede vier­
taktige Periode mit dem Schub des gemeinsam, tenuto artikulierten Gsus²–Akkordes und läuft zum Schluss schwebend aus, um wiederum die Erschütterung der nächsten großen „1“ zu erwarten. Vergleichbar jedem Schritt der fantastischen Riesenkatze, die über das Manhattan der Post–9/11–Ära hereinkommt und die Be­
wohner in ihren Bann zieht, nicht ohne auch mal für einen Milchkaffee halt zu machen:
Morph the Cat (2006; Auszug)
High above Manhattan town What floats and has a shape like that Fans like us who watch the skies We know its Morph the Cat Gliding like a big blue cloud From Tomkins Square to Upper Broadway Beyond the park to Sugar Hill Stops a minute for a latté
41 basic tracks=die Tonspuren der Rhythmus– und Harmonieinstrumente, Begleitung
37
He oozes down the heating duct Swims like seaweed down the hall He briefly digs your wiggy pad And seeps out through the wall Über der erschütternden Schlagzeugarbeit schwebt die sedierende Ausstrahlung der Katze in Fagens üppig gesetztem Chorgesang und dem Bläserarrangement. Man beachte in den letzten zwei Takten – Christmas – den deutlichen Bach–Bezug im Satz der Kadenz DD3 – D – T3 – SD. Dezenterweise fällt dieser Bezug nicht schon beim Hören auf, sondern erst, wenn man den Satz transkribiert und isoliert.
Die Rhythmusgruppenarbeit und der leicht laid back oder exakt on top gespielte groove nehmen sich ihr Vorbild aus dem Soul und Funk, übersteigen es qualitativ aber deutlich (s. Kap. III.2.c) und bringen Steely Dan die Bewunderung vor allem außerhalb der Rock–Welt ein. Schlagzeuger Keith Carlock hatte das Glück, aus der New Yorker Jazzszene zu Steely Dan zu kommen und im gleichen Jahr zum diesbezüglich ebenfalls anspruchsvollen britischen Popsänger Sting weitergereicht zu werden. Der beat ist ein konstitutives Element von Pop– und Rockmusik, aber Becker und Fagen geben sich nicht mit seiner Übernahme zufrieden, sondern vollenden die im Funk begründete Entwicklung, ihn durch Perfektion auf eine neue Ebene zu heben. Auf die­
ser ist er nicht nur Begleitung, sondern eigenständiges Element. Natürlich kann diese Vollendung nicht Steely Dan alleine zugeschrieben werden, parallel oder sogar früher erreichten Künstler wie James Brown und Earth Wind & Fire ähnliche Spannung und Strenge in der Rhythmusgruppenarbeit. Es wird sich aber zeigen, dass Steely Dan schon vor 'Morph the Cat' weniger patternbasiert arbeiten und den Umgang mit groove zusätzlich in eine große kompositorische Versiertheit einbinden.
III.1.f Abstrakt menschliche Arbeit 2: Imagepolitik im Spätwerk
Seit den neunziger Jahren scheinen Becker und Fagen sich mit dem Kulturbetrieb und seinen Anforderungen abgefunden zu haben. Zwar hängt die Kooperationsbereitschaft in Interviews durchaus noch von der Qualität der Fragen ab: Auf die richtigen Fragen folgen mitunter ausführliche gemeinsame Überlegungen, auf die falschen allerdings amüsante Ausweichmanöver auf niedere Beweggründe (Sex, Statussymbole, Bewunde­
38
rung) für den jeweils zur Frage stehenden Gegenstand.42 Sie scheinen jedoch verstanden zu haben, dass in der Öffentlichkeit notwendig mehr als nur die Musik wahrgenommen wird, und dass diese Wahrnehmung, statt sich ihr strikt zu verweigern, effektiv genutzt werden kann um dem Publikum und seinen Rezeptionsweisen einen Spiegel vorzuhalten – oder wenigstens dem eigenen Bedürfnis nach Kohärenz Ausdruck zu verleihen. Brian Sweet (127) schreibt, dass Fagen sich später von der Totalverweigerung in frühen Jahren distanziert:
Becker und Fagen had deliberately made a point of keeping their faces off Steely Dan album covers
and Fagen admitted that they did this specifically to try and avoid any image making. „We wanted it to
stand on itself.“ [...] But looking back in the years later, Fagen's stance had shifted. „We could have
been much looser about the whole thing,“ he said.
Früher als andere Musiker griffen Becker und Fagen auf das Internet zur Kommunikation mit Fans und anderen zurück. 1995 fand der erste öffentliche online chat statt, seit 1996 gibt es die offizielle Homepage www.steelydan.com. „Countdown to Infamy“ heißt eine Abteilung dieser Seite, die Steely Dans Kampagne für ihre eigene Einführung in die Rock'n'Roll Hall of Fame, 1997 bis 2001, dokumentiert. Die erste Seite zeigt einen aufgebrochenen Glückskeks mit dem Spruch „You will be rewarded some great honor.“
It all began with this fortune cookie Mr. Chow tossed into the bag with my dumplings last week. "Will be awarded"? Good enough, but hang on a sec – surely there is no greater honor than the audible appreciations of hundreds of thousands of devoted fans – discriminating music lovers, all – washing over us as we take the stages of three mighty continents, now is there? – Or is there?
(http://steelydan.com/cookie.html)
Die Kampagne setzt sich fort über einen Bestechungsbrief an das Komitee der Hall of Fame (http://steely­
dan.com/halloffame1.html) und die Dokumentation der Beileids– und Beschwerdebriefe von Fans nach der negativen Entscheidung fort:
It is truly comforting to know that we are in the thoughts of the Loyal Fandom during this our time of great humiliation and loss. In celebration of the healing power of collective sympathy, and with the hope that it will inspire all of us to return to our lives and to our work with renewed faith and optimism in humanity, we now share some of these soothing words with you.
(http://www.steelydan.com/hofsorry.html)
2001 erreichen sie schließlich das Ziel, nur um die Hall Of Fame im kleinen Kreise, aber öffentlichkeits­
wirksam zu beschimpfen. Auf einer eBay nachempfundenen Seite namens sdBay versteigern sie in der Sub­
kategorie „Music : Rock–n–Roll : Memorabilia : Depraved Spectacles : Televised : Morally Bankrupt Vainglories : Figurines“ den Pokal, den sie bei der Einführungszeremonie entgegengenommen haben:
Ultra–rare commemorative trophy from self–styled "official" music honorary organization, issued to quasi–prominent and appropriately sheepish musician. Statuette approx. 4" x 4" x 16", made of unidentified metal alloy mounted on a marble base (see picture below). Inscribed. Representing as it does a craven lapse of taste, judgement and self respect on his part, the owner is eager to be rid of this appalling artifact ASAP.43 (http://www.steelydan.com/sdbay.html)
Den Wunsch nach Anerkennung durch die Hall of Fame, nachdem sie ihn selbst über drei Jahre verfolgt haben, nun als 'sheepish' zu bezeichnen, reflektiert die Ironie der gesamten Strategie: der Rahmen des 'Nor­
malen' und des Erfolgs wird übernommen, um ihn durch die Kombination von Arroganz des Erfolgreichen und Übertreibung des Normalen zu diffamieren. Die Rolle der überlegenen, versiert teilnehmenden Zaungäs­
te scheint Becker und Fagen in öffentlichen Auftritten zu gefallen, allerdings spielen sie die Überlegenheit nur noch selten gegen ihr Gegenüber – Publikum, Interviewer, Gastmusiker – aus. In sachlichen Momenten, wel­
42 Vgl. hierzu die auf www.steelydan.com dokumentierten Interviews oder online–Chats mit Fans, www.steelydan.com/q&a.html, www.steelydan.com/compuserve.html
43 ASAP=as soon as possible
39
che vor allem in Einzelinterviews seit den Neunziger Jahren die Regel sind, beschreibt Fagen seine Distanz zum Musikbusiness wie in der folgenden Passage aus dem Interview mit Chris Rolls für mp3.com:
You know, I don't have that much contact with it really. You know, I recently have been talking to some people from Warner Brothers... I've been in Warner Brothers since The Nightfly in 1982, and I think between... I guess in between albums I never get one phone call from Warner Brothers. Like, I have no contact with the company whatsoever unless it's to do something specific. So when an album comes out, there's a whole new bunch of people there because everyone else has been fired, and they're all [...] increasingly younger than I am and don't even know who I am, so I have to reintroduce myself. It's, you know, that shows how alien I am to the whole process really. (Rolls; SDIR)
Parallel zu der Rolle der Zaungäste gibt es das Image der seriösen, meisterhaften Bandleader, die notierte Musik mit einem großen Ensemble spielen, ähnlich einem Showmaster wie Cab Calloway oder Duke Elling­
ton. Unvermeidlich haftet Becker und Fagen etwas von dieser Aura an, wenn sie, allmählich alt werdend und in seriösem Chique, in ge­
wähltem Ausdruck ihre 30 Jahre alten Hits ankündigen. Gerade in­
dem sie eine solche Rolle aber nicht weiter einnehmen, entsteht ein Bruch, der in der obigen Artikelbeschreibung auf „sdBay“ oder in unten zitierten Passage aus dem VH1 Storyteller's–Konzert (S. 43) deutlich wird: die Aufkündigung von Diskretion und Großmut durch das Aussprechen von Beleidigungen auf dem gehobenen Sprachni­
veau der intellektuellen, versierten Showgröße – oder auf dem Sprachniveau der zu Beleidigenden – im Falle der Hall of Fame ei­
nem bürokratischen. Auch die unvermittelte Aneignung verschiede­
ner Slangs oder von Machismo–Vokabular eignet sich für deutliche Abbildung 2: Pressefoto 2007
Brüche, wie in 'Pixeleen' (s. S. ) oder 'Slang of Ages' (2003): Let me put it this way doll And I know it's getting late
I can tell from the planes of your face That you're from out of state
But here in the Willows now here's the deal Tomorrow's for squares –– tonight's for real Der Sprecher bekommt freilich sein Fett weg, wenn die Angesprochene („doll“) sich als außerirdisch oder übernatürlich herausstellt und ihn unvermittelt stehen lässt:
Damn –– she skipped dimensions Was it something that I said?
Or something I was thinking When she opened up my head?
Let me make it right baby –– never mind how There's a crazy little place I know called "Be There Now" In Plush TV Party richten Becker und Fagen sich ein provisorisches Fernsehstudio ein und zitieren das an­
wesende Dokumentar–Filmteam herbei, um ihre eigene Talkshow zu veranstalten und die Bandmitglieder zu interviewen. Das Interview mit Saxophonist Cornelius Bumpus geht vonstatten, ohne dass dieser einen Satz vollenden könnte, während Becker und Fagen ihm von links und rechts mit psychoanalytischen Deutungen seiner Rolle in der Band auf die Nerven gehen (s. Transkription im Anhang, VI.2.a) Damit drehen sie mehr­
fach das Verhältnis von Akteuren, Publikum und Medium um: als eigentliche Protagonisten des Dokumentar­
films machen sie sich zu Talkmastern und befehligen das Filmteam; als Talkmaster lassen sie den Gast nicht 40
zu Wort kommen; und als Bandleader machen sie sich zu Analytikern des Sideman und der angedeuteten pro­
blematischen Gruppendynamik. So geben sie etwas von den Produktionsverhältnissen preis, die sich hinter sowohl der DVD, als auch dem Konzert und der Musik verbergen.44
III.1.f.1 I want a name when I lose – the 'collective persona' of Becker and Fagen
When I hear the lyrics I don't usually laugh. Sometimes it's like a... small weeping.
Michael Leonhard45
Im Zusammenhang mit 'Dirty Work' und 'Do It Again' (III.1.b.1) habe ich die Entwicklung des eigenständigen Charakters, der sich als lyrisches Ich durch Steely Dans Werk zieht, schon angedeutet. Fagen nennt diesen Charakter „our collective persona“. Das Wort persona deckt die Bedeutungen zweier deutscher Wörter ab: 'Figur' im literarischen Sinne und 'Rolle' in der schauspielerischen sowie sozialen und psychologischen Be­
deutung. Vor 2006 finden sich kaum so deutliche Reflexionen auf diese lyrische Struktur wie in den Inter­
views, die Fagen ohne Walter Becker im Zuge der Veröffentlichung von Morph the Cat gibt. Er beschreibt diesen Charakter als ewig alleinstehenden Kerl mit männlichen Abwehrmechanismen, die manchmal, im Fal­
le von Zusammenbrüchen, durchsichtig werden.
Fagen: When we're together, something bad happens. That guys–without–girls thing: there's something adolescent about it. I must have some recidivist teenage urge I guess. (Sandall, SDIR)
Well you know … Walter and I developed over the years this kind of collective persona, which kind of narrates the songs and this time around, it's kind of like Steely Dan is guys without girls. It's ... you know he has a lot of male defensive devices, and then once in a while, he breaks down [...] and you see through his defenses and so on and so it's really ... you know that character has a lot of problems, he's kind of unrepentant [=reuelos; HH] about it. (Rolls; SDIR)
In einer Singleauskopplung aus Aja durfte diese Figur im Frühwerk einmal explizit werden: Der Diakon mit dem Wunschpseudonym „Blues“, der durch die tristen Vorstadtstraßen schleicht und sich einer größen­
wahnsinnigen und selbstzerstörerischen Vorstellung vom Musikerdasein hingibt, fordert gleiche Anerkennung für Versager wie für Gewinner:
Deacon Blues (1977; Auszug)
This is the day Of the expanding man That shape is my shade There where I used to stand It seems like only yesterday I gazed through the glass At ramblers Wild gamblers That's all in the past You call me a fool You say it's a crazy scheme
This one's for real I already bought the dream So useless to ask me why Throw a kiss and say goodbye I'll make it this time I'm ready to cross that fine line CHORUS:
I'll learn to work the saxophone I'll play just what I feel Drink Scotch whisky all night long And die behind the wheel They got a name for the winners in the world I want a name when I lose They call Alabama the Crimson Tide46 Call me Deacon Blues 44 Dass Bumpus sichtlich genervt und mitunter unangenehm bloßgestellt ist, ist ein unangenehmer Aspekt der Passage.
45 Trompeter und „horn consultant“ auf Two Against Nature und Plush TV Party
46 Crimson Tide ist der Name des (erfolgreichen!) College Football Teams von Alabama.
41
Wenn Fagen 1999 sagt, dass der Song mehr Autobiographisches enthält als alle anderen, ist davon auszu­
gehen, dass hier eher eine unausgesprochene Stimmung als einzelne Geschehnisse oder Schicksalsschläge aus der Kindheit bearbeitet werden. Becker hält die Hoffnung des Deacon Blues, als Saxophonist ein berühmter, exzessiver Versager zu werden, für überraschend realistisch:
Fagen: Deacon Blues is about as close to autobiography as our tunes get. You know, we were both kids who grew up in the suburbs, we both felt fairly alienated, like a lot of kids in the 50s we were looking for some kind of alternative culture, some kind of... escape, really, from where we found ourselves. And I think Deacon Blues is a nice kind of example of that.
Becker: The protagonist is not a musician. He just sort of imagines that that would be one of the mythic forms of loserdom to which he might aspire. And, you know... who's to say that he's not right? (Classic Albums: Aja, 0:25:00)
Die beiden Aussagen stammen aus Einzelinterviews, beziehen sich also nicht aufeinander. Bringt man Beckers Aussage mit seiner eigenen Drogenkarriere der späten Siebziger (s. III.2.b.1.3) zusammen, wird im selbstzerstörerischen Lebenswandel des unterbezahlten Musikers das „some kind of alternative culture, some kind of escape“ deutlich, von dem Fagen spricht. Die Ausgangsfigur des Diakons, der durchs Fenster Land­
streicher und zwanghafte Glücksspieler kommen und gehen sieht, ist allerdings eindeutig fiktional.
2000, anlässlich des ersten Albums nach der zwanzigjährigen Pause in Steely Dans Schaffen, schrieb der kanadische Science–Fiction–Autor William Gibson47 eine Rezension für die online–Musikplattform sonic­
net.com, in welcher er die 'collective persona' unter Berufung auf Burroughs als ein „vollständig Anderes“, ein „Drittes“ bezeichnet. Laut Gibson ist dieser Dritte in Steely Dans Fall eine so problematische und verfüh­
rerische Wesenheit, dass ihre Träger selber sich über zwanzig Jahre von ihr fernhalten mussten:
Artistic collaboration is a profoundly strange business. Do it right up to the hilt, as it were, and you and your partner will generate a third party, some thoroughly Other, and often one capable of things neither you nor the very reasonable gentleman seated opposite would even begin to consider. "Who," asks one of those disembodied voices in Mr. Burroughs' multi–level scrapbooks, "is the Third who walks beside us?" My theory, such as it is, about Walter Becker and Donald Fagen, is that their Third, their Other, Mistah Steely Dan hisself, proved so problematic an entity for the both of them, so seductive and determined a swirl of extoplasm, that they opted to stay the hell away from him for twenty years. [...]
Now comes, as surely every Dan fan knows, TWO AGAINST NATURE. The immediate and embarrassingly looming question being: is He back? Have they resurrected His Bad Self? Yes. They have. The Stranger has signed in, his toe–cleavage ostrich loafers flaking red Maui clay on the studio broadloom.48 [...]
And I can only hope that Becker and Fagen decide that they can afford to let their Third out of the box a little more often, as there's nobody else remotely like him, and we need him. I know I do. (Gibson: Any 'Mount Of World...; steelydan.com)
Artig bedanken sich Steely Dan mit 'Pixeleen' (2003), einem Song voller Anspielungen an Gibsons Roma­
ne. Der Text beschreibt eine Computerspielheldin, die in beiden Strophen mitten in der spektakulärsten Acti­
on–Szene durch enervierende Kommunikationsversuche ihres Vaters und ihres „as–if boyfriend Randall“ in die banale Welt zurückgeholt wird. Durch die Verwebung von Actionfilmszenen und Teenager–Sprache wird dem guy–without–girls eine besonders krude Objektwahl unterstellt, und mit der Pixelisierung wird die Ac­
47 Gibson (*1948 in South Carolina, USA) steht mit Becker und Fagen in einem wechselseitig bewundernden Verhältnis zueinander (vgl. Sweet: 199), Steely Dan dokumentieren den Artikel auf ihrer Homepage.
48 „The Stranger has signed in“: Anspielung auf den Songtitel 'Sign in Stranger' (1976); von seinen bis zu den Zehen ausgeschnittenen Straußenlederhalbschuhen blättert roter hawaiianischer Lehm auf den breitgewebten Studioteppich. (Anspielung u.a. auf Beckers Wohnsitz und Studio auf Maui, Hawaii.)
42
tionheldin „dehumanized“ (Everett: 227)
Gibsons Verweis auf Burroughs rechtfertigt sich auch durch dessen bekanntestes Werk, The Naked Lunch von 1959, aus welchem Steely Dan ihren Bandnamen beziehen. Burroughs hat das Buch als Heroinabhängi­
ger in New York geschrieben, und es enthält zum Teil authentische Erzählungen in der Ich–Form. Nachdem Burroughs eine erfolgreiche Entzugstherapie gemacht hat, sichtet er seine Aufzeichnungen und gibt sie mit einer distanzierenden Einleitung heraus: I awoke from The Sickness at the age of forty–five, calm and sane, and in reasonably good health except for a weakened liver and the look of borrowed flesh common to all who survive. The Sickness... Most survivors do not remember the delirium in detail. I apparently took detailed notes on sickness and delirium. I have no precise memory of writing the notes which have now been published under the title Naked Lunch. [...] Junk [Heroin; HH] yields a basic formula of evil virus: The Algebra of Need. The face of evil is always the face of total need. A dope fiend is a man in total need of dope. Beyond a certain frequency need knows absolutely no limit or control. In the words of total need: Wouldn’t you? Yes you would. You would lie, cheat, inform on your fiends, steal, do anything to satisfy total need. (Burroughs: 1ff.)
Das Buch ist also ein krasser Fall eines solchen lyrischen Ich. Es ist teilweise identisch mit dem Autor – wenn auch nicht mehr mit derselben Person in der Funktion des Herausgebers – und ein Arschloch, das lügt, betrügt, Freunde verpfeift und stiehlt, um seine Sucht zu stillen. Im neunten Kapitel wird eine Party beschrie­
ben, bei der es hochgradig pornographisch zugeht:
Mary is strapping on a rubber penis: "Steely Dan III from Yokohama," she says, caressing the shaft. Milk spurts across the room.
"Be sure that milk is pasteurized. Don't go giving me some kinda awful cow disease like anthrax or glanders or aftosa...."
[...]
„What happened to Steely Dan I?"
„He was torn in two by a bull dike. Most terrific vaginal grip I ever experienced. She could cave in a lead pipe. It was one of her parlor tricks."
"And Steely Dan II?"
"Chewed to bits by a famished candiru in the Upper Baboonsasshole. And don't say 'Wheeeeeeee!' this time."
"Why not? It's real boyish." (Burroughs: 95)
Becker und Fagen haben ihre Band also nach einem umschnallbaren Dildo benannt, welcher in der ersten Generation von einer Kampflesbe vaginal zerteilt und in der zweiten von einem ausgehungerten Amazonas­
fisch zerkaut worden war. Geht man davon aus, dass der Namenspatron auch die erste Erscheinung des 'Drit­
ten' war, erklärt diese Vorgeschichte ausreichend, warum er beim Lara Croft–Lookalike Pixeleen zum Span­
ner wird und sich weder gegen die liebessüchtige verheiratete Frau aus 'Dirty Work', noch gegen die attraktive Cousine Janine ('Cousin Dupree', 2000) behaupten kann.
III.1.f.2 How 'bout a kiss – Geschlechterrollen This is music we care about. We don't make music to find girls. We already have girls.
Donald Fagen
Becker: Alright. We're gonna do a song now from our new album, which... said album being entitled Two Against Nature. And this is particular tune is sort of a... a take on a country tune sort of...
Fagen: It's a rural narrative!49
Becker: It's a rural narrative that we've been telling people, with a little... with a little twist and it's called 'Cousin Dupree'. (VH1 Storyteller's, 0:27:50)
49 rural=ländlich, vom Lande
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Cousin Dupree (2000)
Well I've kicked around a lot since high school I've worked a lot of nowhere gigs From keyboard man in a rock'n ska band To haulin' boss crude in the big rigs Now I've come back home to plan my next move
From the comfort of my Aunt Faye's couch When I see my little cousin Janine walk in All I could say was ow–ow–ouch CHORUS: Honey how you've grown Like a rose Well we used to play When we were three How about a kiss for your cousin Dupree
I'll teach you everything I know
If you teach me how to do that dance
Life is short and quid pro quo
And what's so strange about a down–home family
romance
She turned my life into a living hell In those little tops and tight capris I pretended to be readin' the National Probe As I was watchin' her wax her skis On Saturday night she walked in with her date And backs him up against the wall I tumbled off the couch and heard myself sing In a voice I never knew I had before
One night we're playin' gin by a cracklin' fire And I decided to make my play I said babe with my boyish charm and good looks How can you stand it for one more day She said maybe its the skeevy look in your eyes Or that your mind has turned to applesauce The dreary architecture of your soul I said – but what is it exactly turns you off? CHORUS
CHORUS Frau im Publikum: This is a follow–up question with Cousin Dupree. I found myself really getting into it and really enjoying it and then listening to the words and found them rather disturbing 50. And so I just was wondering about... uhm, the inspiration for that or... (Gelächter im Publikum und auf der Bühne)
Becker: Well... You know, uhm, we're... the... uhm, the lyrics to Cousin Dupree are essentially a jokey take on a, you know, a traditional theme that... that appears...
Fagen: ... traditional southern theme!
Becker: ...yeah... appears in, uhm...
Fagen: But the truth is that that's not fair because, you know,
Becker: ...rural...!
Fagen: ...there's probably a Cousin Dupree in every family, you know...
Becker: Yeah. It's a rural...
Fagen: ... somewhere, if you go back far enough.
Becker: Right! It's a rural theme, you know, and it has a lot of genealogical interest and so on in it there...
Fagen: By the way, it does have a positive ending... or... depending on which character you are. But the... Cousin Dupree is finally rejected. If you listen to the words carefully it's, you know... it's kind of a tragedy, really. (VH1 Storyteller's, 0:33:25)
50 Das Storyteller's Konzert ist einige Wochen vor dem Erscheinen des Albums entstanden, 'Cousin Dupree' aber noch davor als Single erschienen. Es ist also unklar, ob die Frau das Lied hier zum ersten mal gehört hat.
44
Der gescheiterte Musiker und Gelegenheitsjobber Dupree kehrt ins Haus seiner Tante zurück und ist da­
von gekränkt, dass seine attraktive Cousine Janine sein sexuelles Interesse nicht erwidert. Für die Situierung der Geschichte auf dem Land gibt es im Werk selbst nur wenige Anhaltspunkte: die „nowhere gigs“ (Jobs im Nirgendwo), das „cracklin' fire“ und das schnelle Country/Rock–feel, in dem das Stück gehalten ist. Beim Kartenspiel am Kaminfeuer fragt er sie, wie sie seinem Charme auch nur einen weiteren Tag lang widerste­
hen könne, und sie antwortet, es sei möglicherweise sein fieser Blick, sein zu Apfelmus gewordener Geist oder seine trübe, farblose Seele. All das jedoch scheint für Dupree nichts Neues zu sein, und er will wissen, was genau sie nun an ihm abstoßend finde. Die Auseinandersetzung um das „Küsschen“ setzt sich im letzten Refrain fort und wird zu einem flinken Katz–und–Maus–Spiel51 zwischen Fagens Gesang und den weiblichen Backgroundvocals, mit drei wahlweise Ekel oder Aufregung anzeigenden Silben:
Nachdem Becker die Verankerung dieser Inzestgeschichte in den Südstaaten („traditional southern theme“) erläutert hat, erklärt Fagen in VH1 Storyteller's, dass Dupree am Ende des Songs erfreulicherweise zurückgewiesen werde. Dann fällt ihm jedoch auf, dass die Bewertung dieses Umstandes von der Perspektive abhängt, und er nimmt wieder diejenige des guy–without–girls ein („it's kind of a tragedy, really.“), um im nächsten Song den nächsten Loser zum Leben zu erwecken: 'What a Shame about Me' (2000). Der Sprecher in 'Shame' stapelt preisreduzierte Bücher im The Strand52 aufeinander, und herein kommt eine alte Jugendliebe aus seiner Zeit an der New York University: „In walks Franny from NYU / We where quite an item back then“. Man spricht über ihren Erfolg in Hollywood und die Karrieren der übrigen Mitglie­
51 Dieses vocal arrangement findet sich nur in der live–Version auf Plush TV Party.
52 Buchladen am Broadway, in welchem Fagen vor seinem Studium tatsächlich gearbeitet hat.
45
der der früheren Clique. Nur der Sprecher selbst ist erfolgloser Buchautor („I'm still working on that novel / But I'm just about to quit“) und äußerst bescheiden geworden: („But I guess I'm doin' fine / Three weeks out of the rehab / Living one day at a time“). Und selbst ihr eindeutiges Angebot („Why don't we grab a cab to my hotel / And make believe we're back at our old school“) kann er nicht annehmen, weil er so eingeschüchtert vom Karriereunterschied ist: I said babe you look delicious And you're standing very close But like this is Lower Broadway And you're talking to a ghost Take a good look it's easy to see What a shame about me Auch im Umgang mit Geschlechterrollen und sozialem Status ist die Methode eine Ironie, die von der zu­
nächst unscheinbaren Anerkennung und Übertreibung des Rahmens des „Normalen“, gesellschaftlich Durch­
gesetzten lebt. Die Übertreibung der männlichen Libido in den Bereich schmieriger Pirschjäger, Liebhaber und Verehrer wesentlich jüngerer oder minderjähriger Frauen ist eine Variante, die außerdem bei 'Hey Nine­
teen' (1980), 'Janie Runaway' (2000), 'Blues Beach' und 'Green Book' (2003) vorkommt. Schon 1975 ist dieser Charakter zum heimlichen, illegalen Kinderverführer ausgeprägt:
Everyone's Gone to the Movies (1975; Auszug)
Kids if you want some fun
Mr. LaPage is your man
He's always laughing, having fun
Showing his films in the den
Come on, Come on
Soon you will be eighteen
I think you know what I mean
Don't tell your mama
Your daddy or mama
They'll never know where you been
CHORUS:
Everyone's gone to the movies
Now we're alone at last
[...]
Kids if you want some fun
See what you never have seen
Take off your cheaters and sit right down
Start the projection machine
Die „projection machine“ der letzten Strophe enthält neben der des Filmprojektors möglicherweise eine zweite, psychoanalytische Bedeutung: die versammelten Kinder sind die Projektionsfläche des Mr. LaPage und seiner sexuellen Wünsche, die Maschine ist also in seinem Kopf. Damit sind in dem Text vier Ebenen aufgespannt: diejenige der Tarnung durch den lachenden Mr. LaPage und das Kino in seiner Höhle oder Bude; die des Schokoladenonkels in derselben Person, die die Kinder anlockt („come on, come on“) und sei­
ne Tarnung mühsam aufrecht erhalten muss („don't tell your mama“); die der Phantasie des Zuhörers überlas­
sene Ebene dessen, was LaPage tatsächlich mit den Kindern tut; schließlich die Ebene der Bewertung und der undeutlichen psychoanalytischen Anspielung, die flaschenpostartig beim entsprechend vorgebildeten Hörer ankommt. Auf diese undeutliche und kontextabhängige Technik sind auch andere Veröffentlichungen verwie­
sen, beispielsweise die 1999 verfassten liner notes der Neuveröffentlichung von Katie Lied (1975):
What to call this latest installment in the saga? "Too Little, Too Late"? "Almost Good"? "And Then There Were Three"53? "The Rape of the Domini"? (Forget it, we're saving that one for later.) In any case, by the end of 1974 we had learned a number of important life lessons, to wit:
1. There is indeed no business like show business.
2. Background singers, when on the road and deciding whom to fuck first, will start with the roadies 53 And Then There Were Three: Anspielung auf das gleichnamige Genesis–Album von 1978. Auch Genesis waren zuvor von fünf auf drei Mitglieder geschrumpft.
46
and move up from there, without necessarily ever getting to the stewards of the actual intellectual property upon which the success of the enterprise depends.
Im folgenden Jahr kommen Becker und Fagen gegenüber den aktuellen Sängerinnen auf dieses Thema zu­
rück: In Plush TV Party sitzen sie mit Victoria Cave und Carolyn Leonhard im Fond einer Limousine, Becker hält eine Liste in der Hand, von der er „Question No. 25“ vorliest:
Becker:What is the Steely Dan policy about intra–band dating?
Cave: As opposed to contraband dating? [contraband=Schmuggelware; HH]
Becker: Yeah, or extra–band dating. Extra–band dating is out! And... intra–band dating is in.
Fagen: Didn't we have a...
Cave: No dating any extra bands!
Fagen: We had a little memo about that on the website...
Leonhard: Yes, you did! I've seen it.
Fagen: ... in '96 and...
Becker: Yeah, I think we called it The New Chivalry [Neue Ritterlichkeit] and it was essentially an attempt to reinvigorate the... put some romance back in the touring process. For us, mostly!
Fagen: There were some... you know, some... disciplinary measures in case some of the other band members... you know, over... you know... just crossed the lines.
Becker: We didn't want anyone making eye–contact...
Cave: Right, no eye–contact!
Fagen: ...no eye–contact with the background singers, that kinda thing.
Becker: You know, stuff like that.
Fagen: I don't think they were allowed to speak to them, either.
Becker: Well, certainly not!
In dieser Szene fällt die Unterscheidung zwischen Affirmation und Ironie schwer. Gerade durch die selbstverständliche und bedrohlich wirkende Anwesenheit des patriarchalischen Anspruchs überkommt den Zuschauer eine unangenehme Skepsis bezüglich der Gepflogenheiten im Showgeschäft. Dabei ist die Be­
zeichnung dieses „aesthetic/ideological leitmotif of the tour, which we call 'The New Chivalry'“ (http://ww­
w.steelydan.com/morningscan.03.html) als die 'Neue Ritterlichkeit' der deutlichste Hinweis auf die ironische Ebene und bedient gleichzeitig das besprochene Image von den seriösen, eloquenten Herren. Ein weiterer Fall der 'Normalität', die notwendiger Teil der ironischen Strategie ist, ist die heterosexuelle Orientierung der Cha­
raktere.54 Die Übernahme des „normalen“ Rahmens heterosexueller und sexistischer Ausrichtung und Wahr­
nehmung ist Voraussetzung dafür, sich in ihm so breit zu machen, dass er bricht und als nicht–natürlicher, kri­
tikabler Rahmen sichtbar wird.
III.1.f.3 Semi–regular Output
Figuren wie die in den besprochenen Liedern finden sich in den jeweiligen Solo–Werken von Becker und Fa­
gen nicht wieder. So bestätigt sich Gibsons Theorie von der Entstehung des 'Dritten' durch künstlerische Zu­
sammenarbeit. Fagen dagegen benutzt in 2006 eine Verführungsgeschichte zwischen seinem eigenen lyri­
schen Ich und einer Mitarbeiterin der Flugsicherheit, um die erotischen Anteile an den Sicherheitsmaßnah­
men seit Ground Zero aufscheinen zu lassen. In einem Interview erklärt er, dass der Song durch die häufigen Kontrollen am Flughafen inspiriert sei, und das seine jüngste Kontrolle die gründlichste war, obwohl der Mit­
arbeiter ihn erkannt hatte und für sein Werk schätzte:
I often get chosen for the deep security line. It might be the picture in my driver's licence. I always get asked to take my shoes off and get wanded by the security person and all that, and it's just so boring 54 Die Ausnahme bilden Sprecher und Adressat in 'Gaucho' (1980), über welche diskutiert wird, ob sie ein männliches Liebespaar sind. Der Sprecher ist stattdessen allerdings ein unverhohlener Rassist, für den es selbstverständlich ist, dass „that gaucho amigo“ hier nicht willkommen ist. Für Ausführungen zu 'Gaucho' siehe Kap. 47
and anxiety–provoking. In fact, the last time, while all that was happening to me, the security guy was saying to me how much he liked my work, so he obviously knew who I was and yet it was the most severe security check I'd ever had. (Stevenson; jam.canoe.ca)
Die musikalisch motivierte Bewunderung des „security guy“ übersetzt Fagen in körperliche Attraktion und erzählt „a sweet interlude at LaGuardia: traveling man and airport security babe 'meet cute'“. (liner notes zu Morph the Cat):
Security Joan (2006)
Well I guess I needed a miracle If I was gonna make my flight I had to get to Gate C13 And it was still way out of sight But something in my carry–on bag Ticked off the x–ray machine Cause then an angel straight from heaven Asked me to step behind the screen When I felt her wand sweep over me You know I never felt so clean I hung out at the Starbuck’s Til just around boarding time Then I strolled on back to the checkpoint With just one thing on my mind She flashed that crooked smile and said Hon, I believe you missed your flight I said there’s been a minor change of plan And I’ll be stayin’ for one more night I could tell from the way she looked at me Everything was gonna be alright
Girl you won’t find my name on your list Honey you know I ain’t no terrorist Confiscate my shoes – my cell phone You know I love – love – love you Security Joan Girl you won’t find my name on your list Honey you know I ain’t no terrorist Confiscate my shoes – my cell phone You know I love – love – love you Security Joan
Der Sprecher kann den Flug nicht antreten, weil er nicht an der Sicherheitskontrolle vorbeikommt – aller­
dings nicht, weil er gefährlich wäre, sondern weil er sich verliebt hat – oder weil er sich aus Liebe zur Sicher­
heit gläsern macht: Er schwört, ein braver Bürger zu sein, und gibt alles her („confiscate my shoes – my cell phone“). Joan ist (erst) zufrieden, als der Sprecher in der Stadt bleibt: „I could tell from the way she looked at me / Everything was gonna be alright.“ Ein ironischer Umgang mit der US–amerikanischen Flugsicherheit ist dem Song recht unmittelbar anzuhören, aber die erfolgreiche Einschränkung der Reisefreiheit als zweiter In­
halt ist vollständig in der erotischen Geschichte versteckt.
Ein weiteres Beispiel für die Technik der scheinbaren Affirmation der „normalen“ Voraussetzungen ist die Rolle des Staates in Fagens 'Mary Shut the Garden Door'. Es beschreibt die heimliche Ankunft einer angsteinflößenden Clique in einer Flotte von Mittelklasselimousinen:
Mary Shut the Garden Door (2006; 1. Strophe)
They came in under the radar When our backs were turned around In a fleet of Lincoln Town Cars
They rolled into our town Confounded all six senses Like an opiate in the brain Mary shut the garden door Looks a lot like rain
Im Interview sagt Fagen, der Text beziehe sich auf einen republikanischen Parteitag in New York City. Weil die Stadt traditionell von den Demokraten regiert werde, habe der Parteitag den Charakter einer Invasi­
on gehabt:
48
Mary Shut The Garden Door, for example, was inspired by the arrival of the 2004 Republican convention in Fagen's own backyard. "New York's a Democratic town so it was strange," he says. "It was like having tourists run the town for a week. I got out of town for the weekend. A lot of people got out of town. The song has a 1984 atmosphere about it. It's basically about what it might feel like to have any kind of authoritarian government in power, whether it be an Islamic authoritarian, or any kind of fundamentalist government." (Stevenson; jam.canoe.ca)
Obwohl die Republikanische Partei selbst die Bundesregierung stellt, erscheinen Regierung und Militär im Text als die (ausgestrickste) Schutzmacht gegen die Invasion („They came in under the radar“). Damit setzt Fagen ironisch den Staat als Allgemeines, auf seiner Seite Stehendes, voraus, um ihn – oder zumindest seine Regierung, vertreten durch ihre Herkunftspartei – zu desavouieren. Aus dem ersten Satz von Fagens Inter­
viewzitat ließe sich eine Parteinahme für die Demokraten lesen. Davor schützt im Song aber die Verschlüsse­
lung und der allgemeine Bezug. Auch sind weder Becker noch Fagen einfach auf eine politische Linie festzu­
legen:
Fagen: I gave up when they elected Ronald Reagan president. I've never watched political news since then. I figured that if the American public elected Ronald Reagan – if they can be duped on that level – t hen it's really not worth paying attention to. Like H.L. Mencken said, „No one ever lost any money underestimating the American public.“ (Micallef: Steely Man, in: Boston Phoenix, 2.3.2006; SDIR)
Nancy asks: Using Walter's "Quick Read Song Quotes" format, how would you
classify your political beliefs? Have they changed any from the '60s and '70s?
Steely Dan: DF – That's a good one
Steely Dan: DF – Nixon then. Gingrich now. Same old, same old.
Steely Dan: WB – Anarcho–Syndicalist gutterpuppies with a taste for a well put backbeat.55
Die Übernahme des „Normalen“, des anerkannten Rahmens mit dem Ziel seiner unscheinbaren Brechung ist ein Motiv, dass sich durch den gesamten Abschnitt III.1 zieht. Es trifft zu auf die Verwendung der Rockmusik als wichtigstem Zweig von Popularmusik der Siebziger, die gebrochen wird durch Idiome und Figuren aus der 'klassischen' Kulturindustrie oder aus neuer und alter Literatur (Gibson, Burroughs, Homer). Sie trifft auch zu auf Beckers und Fagens Umgang mit dem Showbusiness, gebrochen durch Verweigerung im Früh­
werk und ironische Rollenspiele im Spätwerk; auf die Ausgestaltung der lyrischen Charaktere in Bezug auf Erfolg und Misserfolg ('Deacon Blues', 'Shame'); auf die Behandlung von Geschlechterrollen und Sexualität ('Dupree', 'Everyone's Gone to the Movies' u.a.) und schließlich sogar auf den Staat und seine Sicherheits­
maßnahmen. Die wenigen Stücke, die nicht so vorgehen, sondern ihren lyrischen Adressaten unmittelbar freundlich und empathisch behandeln, habe ich nicht besprochen, sie illustrieren aber die zumindest men­
schenfreundliche Motivation hinter der Ästhetik des „dehumanized sex“ (Everett: 227): „Any major dude with half a heart surely will tell you my friend / Any minor world that breaks apart falls together again / When the daemon is at your door / In the morning it won't be there / No more / Any major dude will tell you.“ (1974)
Mann im Publikum: I don't wanna sound greedy, it's great to have a Steely Dan album pending. Are you guys thinking of a regular... semi–regular output now and into the future?
Becker: Uhm, I don't even know what that means.
Mann: Semi–regular?
Becker: Well, sure, I guess we are: semi–regular!
(VH1 Storyteller's, 0:34:00)
55 Complete unedited transcript of Steely Dan in conference in the CompuServe Convention Center(tm) on October 20, 1995. www.steelydan.com/compuserve.html
49
III.2 Musikalische Vorläufer und ihre Verarbeitung bei Steely Dan They wanted to combine the best of the twentieth century's music into one fine, ever–listenable, intellectually snobbish slice. It could have been horrendous, but it's glorious. To take the finesse of jazz without the pseud meanderings; to take the drive of soul without the posturing; to take the beauty of classical changes – for Fagen enthuses, at length, about Ravel, Debussy, Poulenc, Satie, Fauré – without the wittering French longueurs; to take the snap of pop without its zit–busting immaturity... the recipe, then and now, is close to perfect.
Euan Ferguson
In Abschnitt III.1 habe ich die Verankerung von Steely Dan im Rock– bzw. Popkontext beschrieben. Trotz dieser Verankerung werden Becker und Fagen einerseits, die Band bzw. das Konzept 'Steely Dan' andererseits und schließlich ihre Musik nicht rockimmanent wahrgenommen. Das Konzept des large ensemble, das zwar backbeatlastige und meist songförmige, aber notierte und mitunter nach Jazz klingende Musik spielt, enthält Teile aus anderen Sphären der Populärkultur. Beckers und Fagens kulturelle Vorbilder waren vor allem Phä­
nomene der 'klassischen' Kulturindustrie, allerdings stammten sie aus den vergangenen dreißiger bis fünfziger Jahren und können mitunter als aufwändiger und kunstfertiger bezeichnet werden als der Pop der Sechziger. Duke Ellingtons Musik etwa erfordert wesentlich mehr Handwerkszeug und kann durchaus sowohl kontem­
plativ als auch zerstreuend konsumiert werden, und Bebop war nicht nur eine beliebige Weiterentwicklung, sondern kann als intellektuell fordernde, provokative Gegenbewegung zum Swing verstanden werden (vgl. New Grove Dictionary of Jazz, Vol. III: 228f.) In der Filmmusik der Mitte des Jahrhunderts steckten extrem hohe Budgets, so dass sie von exzellent besetzten Orchestern gespielt und von höchstdotierten Komponisten geschrieben werden konnte (vgl. Limbacher: Film Music: 15ff, 45ff). Auf Rhythm&Blues bzw. 'black music' beziehen Becker and Fagen sich ebenfalls in ihrem Werk und in Interviews, mit dem Funk übernehmen sie ein wichtiges Gestaltungsmittel aus dieser Musik. Der Blues, als älteste der genannten Stilistiken, ist nicht nur (überschaubares) Tonmaterial, sondern Vorbild in Sachen Ironie und Transporteur eines Mythos von Authentizität und Melancholie. Bei jedem Musikstil stellt sich auf jeweils bestimmte Art die Frage nach (kollektiver) Identifikation – beispielsweise Identifikation der Hörer mit den Aufführenden oder der Musiker mit dem Material oder ihrer Gemeinschaft. Die Verwendung der genannten Musikstile möchte ich im Folgenden näher auf ihre musikalischen und ironischen Qualitäten hin untersuchen und dabei ein besonderes Augenmerk auf den Umgang mit solchen Identifikationsleistungen legen. III.2.a Jazz
Wie beschrieben wird die Affinität zum Jazz, die sowohl Becker als auch Fagen schon in ihrer Kindheit hat­
ten, in Interviews und Artikeln besonders betont. 2000 erzählen Becker und Fagen einem Filmteam aus ihrer Kindheit:
Fagen: I've been a nerd of some sort. Somewhere between a nerd and a...
Becker: ...Shmendrick.
Fagen: ...Shmendrick. You know, sort of... didn't fit in on any level. Also I liked jazz when I was pretty young.
Becker: My father had bought a hi–fi sometime around 1958 or 59. He had, like, three or four records and one of them happened to be a Dave Brubeck record. You know, there was these long, you know... beautiful Paul Desmond solos on this thing [...] That's how I started listening to jazz.
(Plush TV Party, 0:38:15)
Zweifellos zieht sich durchs Gesamtwerk auch eine harmonische Avanciertheit, die ohne die kompositori­
schen Voraussetzungen der Tin Pan Alley–Ära, des Swing, des Bebop und des Modern Jazz nicht möglich ge­
wesen wären. Everett (2004) hat diese Bezüge und vor allem ihren ironischen Charakter im Rock–Kontext bei 50
Steely Dan zwar nicht erschöpfend, aber umfassend untersucht. Der Jazz ist noch in weiteren Aspekten ein wichtiger Bezugspunkt in Steely Dans Werk: Soli von fast allen Instrumenten genießen – auch im Hinblick auf improvisatorische Qualität – einen weitaus höheren Stellenwert und sind doch gleichzeitig nicht so expo­
niert wie das obligatorische verzerrte Gitarrensolo im Rocksong. In den Analysen einzelner Stücke, vor allem Aja (III.2.a.2.1) und Peg (III.2.b.3), werde ich im Verlauf dieser Arbeit näher auf Qualitäten und Bedeutungen der Soli eingehen. Die Arbeitsweise, die Steely Dan als 'workshop situation' bezeichnen, ist eine typische Pro­
duktionsweise des Jazz (s. Kap III.1.d.1). Schließlich finden sich vor allem im Frühwerk explizite und ver­
steckte, literarische und musikalische Anspielungen an die und Würdigungen der Swing– und Bebop–Zeit. Derlei Bezüge sind für die Wahrnehmung von Steely Dans Musik offenbar maßgeblich, so dass Donald Fagen von Hörern berichten kann, die durch sie zum Jazz gekommen sind:
Our things weren't jazz. There wasn't much improvisation and it was too rigidly constructed. But it's a great side effect of our success that it got a lot of people listening to jazz who ordinarily had no contact with it. People have told me they started listening to jazz after listening to our records, which is nice. (Sweet: 179)
III.2.a.1 Swing
Auf dem dritten Album, Pretzel Logic (1974), bei dessen Produktion Becker, Fagen und Katz begannen, die 'working band' durch die 'workshop situation' zu ersetzen, findet sich mit Duke Ellingtons 'East St. Louis Toodle–oo' die einzige Fremdkomposition und gleichzeitig das einzige reine Instrumentalstück im veröffent­
lichten Gesamtwerk. 1926 zum ersten mal aufgenommen, war 'Toodle–oo' laut Claude Carrière 56 bis 1941 das Erkennungszeichen des Duke Ellington Orchestra, bevor es durch 'Take the A–Train' abgelöst und in den Fol­
gejahren kaum noch gespielt wurde (vgl. Timmer 1988: 422, 451f.) Für dieses Stück ist sowohl bei Steely Dan als auch bei Ellington die Quellenlage verwirrend. Im Booklet zu Pretzel Logic sind die einzelnen Musiker nicht genannt, und Sweet (70) bezieht sich auf drei nicht näher genannte Ellington–Versionen, die Steely Dan als Vorlage verwendet haben sollen. Die Interpretation des Themas durch Ellingtons Trompeter Bubber Miley weicht schon bei den frühen Aufnahmen vom originalen Notentext (s. Ellington 1970: 33f.) ab und wird auf Pretzel Logic recht genau reproduziert: Denny Dias spielt es auf der elektrischen Sitar57 durch ein Wah–Wah–
Pedal, mit welchem er den 'growl'–Effekt der Trompete – öffnen und schließen des Trichters mit einem plun­
ger (Saugglocke) – imitiert. Ellingtons Notation:
Die Interpretation des Themas bei allen vorliegenden Aufnahmen:
56 vgl. liner notes in Ellington (1965)
57 Sweet (70) behauptet, Becker habe das Solo auf einer elektrischen Gitarre gespielt. Der Klang lässt aber auf eine Sitar schließen. Dellar: A Dan for all Seasons (SDA) ist die einzige mir bekannte Quelle, die Dias mit der Sitar nennt.
51
Anschließend ans Thema kopiert Jeff Baxter auf der – sonst vor allem im Country verwendeten – Pedal Steel Guitar ein Posaunensolo von Joe „Tricky Sam“ Nanton von einer der frühen Ellington–Aufnahmen. Fa­
gens Klaviersolo klingt nach frühem Stride–Piano Stil, ist aber laut Sweet (70) eine Zusammenführung ver­
schiedener Klarinettensoli:
According to Becker, the piano solo [...] was a composite of „four bad clarinet solos with notes changed only where absolutely necessary. Duke didn't have a good clarinet player in that period; a few years later he hired Barney Bigard.“
Mit dieser Information lassen sich die zur Vorlage verwendeten Aufnahmen auf diejenigen von 1926 und 27 eingrenzen, denn die erste 'Toodle–oo' –Aufnahme mit Bigard stammt aus dem März 1928. (Timmer: 5). Die mir vorliegende Version auf Ellingtons Gold Collection (1992) weist ein eindeutig nicht versiertes Klari­
nettensolo auf und ist mithin wahrscheinlich eine der frühen Versionen mit Klarinettist Rudy Jackson. In die­
sem Solo lassen leider keine Motive finden, die in Fagens Solo wieder auftauchen. Steely Dans 'Toodle–oo' ist das einzige veröffentlichte Stück mit einem von Donald Fagen gespielten Saxophon. Zusammen mit zwei Gitarren spielt er auf dem Altsaxophon den originalen dreistimmigen Tutti–Part (1:57), der zum Schlussthe­
ma (2:25) führt. Die fragwürdige Intonation dürfte einer der Gründe dafür sein, dass Fagen das Saxophon nicht häufiger spielt. Dass diese Nachlässigkeit hier ausnahmsweise durchgehen konnte, scheint eine weitere, ironische Verbeugung vor dem frühen New Orleans–Jazz zu sein, von dem das Original, seiner Entstehungs­
zeit entsprechend, noch nicht weit entfernt ist. Ellingtons frühe Version ist nicht als Swing zu bezeichnen, kann aber mit seinem 2/2–feel stilistisch zu den Vorläufern zählen. Sie enthält, wie damals aus tontechnischen Gründen üblich, kein Schlagzeug. Bass und Banjo spannen untereinander den Wechsel von down– und back­
beat auf. Die aufs Thema reduzierte live–Version auf Ellington (1965) wird von Sam Woodyard im Swing–
Feel begleitet. Jim Gordon auf Pretzel Logic spielt mit Besen auf der snare drum und tritt die hi–hat auf je­
dem backbeat – eine Zwischenlösung, die im 2/2–Swing–feel bis heute üblich ist.
Mit 154 bpm ist Steely Dans Version deutlich schneller als Ellingtons von 1926/27 (ca. 135 bpm) und 1965 (ca. 86 bpm) und stellt eine andere Ironie her als das Original. Laut Ellington ist das Stück entstanden als ironische Werbemelodie, die die Band gesungen hat, wenn sie in Massachusetts am Schild der Firma Le­
wando Cleaners vorbeifuhr:
Everything [...] represented a mood, a person, a picture. As a matter of fact, everything we used to do in the old days had a picture. We'd be riding along and see a name on a sign. We used to spend a lot of time up in New England, around Boston, and we'd see this sign, 'Lewando Cleaners', and everytime we saw it we'd start singing: 'Oh, Lee––wan–do!' Out of that came East St. Louis Toodle–oo. Probably it would have been better if we had called it Lewando and got some advertising money from it. (Dance 1970: 7)
„Toodle–oo“ ist eine etwas schrullige Verabschiedungsfloskel, gebräuchlich unter älteren Damen (Dictio­
nary of American Slang: 550). Damit ist der Titel sowie Bubber Mileys langgezogene growl–Interpretation des Themas ist eine angemessen deutliche Ironisierung einer Melodie dieser Entstehungsgeschichte. 52
Steely Dan beziehen die ironische Konnotation aus der Adaption, der exakten Übertragung von Material und Interpretation auf die Instrumente einer Rockband.
Fagen: Without having a missionary attitude about it, we still thought it would be interesting for the audience to realise that that kind of expression is not a new thing. In 1926 a trumpet player was doing with his lip what it takes a complicated set of electronics to do on an electric guitar. Walter had been putzing around with that song for years. We wanted to hear it with all the expertise of modern hi–fi. (Sweet: 70; Zeichensetzung im Original.)
'Toodle–oo' hat auf Pretzel Logic einerseits eine Sonderstellung: als einziges Swing– und Instrumental­
stück fällt es aus dem teils durch laute Rock–Gitarren dominierten Album heraus. Andererseits erklärt es die harmonischen Einflüsse bei gerade einem lauten Rock–Stück wie 'Night by Night'. Der unvermittelte Gegen­
satz zwischen 'Toodle–oo' und den anderen Stücken enthält selbst eine gewisse ironische Qualität, wird aber durch das nächste Stück vermittelt, welches ich im folgenden Kapitel untersuche. 'Your Gold Teeth II' (1975) ist das einzige Stück im Gesamtwerk, das ein richtiges Swing–feel aufweist, hier im Dreivierteltakt.
III.2.a.2 Bebop
Dem Bebop als seinerzeit umstrittener Gegenbewegung zum Swing haben Becker und Fagen separat Tribut gezollt. Gleich nach 'Toodle–oo' findet sich auf Pretzel Logic der kompakte (2'42“) Rocksong 'Parker's Band'.
Parker's Band (1974)
Savoy sides presents a new saxophone sensation
It's Parker's band with a smooth style of syncopation
Kansas City born and growing You won't believe what the boys are blowing
You got to come on man and take a piece of Mister Parker's band
You'll be riding by, bareback on your armadillo You'll be grooving high or relaxing at Camarillo Suddenly the music hits you It's a bird in flight that just can't quit you
You got to come on man and take a piece of Mister Parker's band
We will spend a dizzy weekend smacked into a trance
Me and you will listen to A little bit of what made the preacher dance
Bring your horn along and you can add to the pure confection And if you can't fly you'll have to move in with the rhythm section
Either way you're bound to function Fifty–Second Street's the junction
You got to come on man and take a piece of Mister Parker's
Clap your hands and take a piece of Mister Parker's
Come on man and take a piece of Mister Parker's band Jedem, der sich ein bisschen in der Geschichte des Jazz auskennt, erklärt sich dieses Stück von selbst. Sa­
voy Records ist das Label, unter dem die ersten Platten des Saxophonisten und Bebop–Entwicklers Charlie Parker erschienen sind. Mit 'Grooving High' und 'Relaxing at Camarillo' sind zwei von Parkers Kompositio­
nen vollständig benannt und in den Text eingebaut. „Bird“ ist Parkers Spitzname, der bis heute von der Jazz­
szene gebraucht wird, „dizzy“ (=schwindelig) ist gleichzeitig der Name von Parkers wichtigstem Partner, dem Trompeter Dizzy Gillespie. „Either way your bound to function“ enthält mitunter eine Doppeldeutigkeit: 53
Parkers Kompositionsweise bestand im Wesentlichen darin, über die Akkordprogressionen bekannter Jazz­
stücke neue Themen zu spielen, die seinem Solostil ähnelten. So ist etwa aus dem Hamilton/Lewis–Standard 'How High the Moon' das Parker–Stück 'Ornithology' geworden. Die (Funktions–)Harmonien und die Formen sind also, was der Bebop aus dem Jazz bezieht, ansonsten ändert sich einiges. Diese Arbeitsweise erlaubt es, der Rhythmusgruppe zu sagen, sie möge 'How High the Moon' in etwas höherem Tempo spielen. “Either way“ – wenn man fliegen (solieren) kann oder sich in die Rhythmusgruppe begeben muss – ist man an die bekannten harmonischen Funktionen von 'How High...' gebunden („bound to function“). In der 52nd Street in Harlem, NYC, schließlich war die größte Ansammlung von Jazzclubs, in denen die frühe Bebop–Bewegung Fuß fasste (Monroe's Uptown House, Onyx, Three Deuces, Downbeat u.a.; das nach Parker benannte Birdland befand sich bis 1965 auf dem Broadway nahe der Ecke 52 nd Street58). Zugunsten des Reims function – juncti­
on wird ein ansonsten schlecht vermittelter Gegenstandswechsel gemacht: von der Beschreibung, wie die Ses­
sion mit Parkers Band funktioniert, zur Ortsangabe. An dieser Stelle wirkt der Text notdürftig geflickt, anders bei dem ungewöhnlichen Reim der zweiten Strophe: Die Erfindung, dass man ohne Sattel auf einem Gürtel­
tier daher reitet („bareback on your armadillo“; als erste von drei Situationen, in denen man plötzlich vom Bebop ergriffen wird), ist recht absurd. Die Absurdität aber ist Teil des Witzes, der deutlich wird, wenn die dritte mögliche Situation, „relaxing at Camarillo“, den Reim schließt.
Mit der höchstens durch Übertreibung gebrochenen Emphase des Textes, die teils an eine Werbedurchsage erinnert, teils der aufgeregten Begeisterung für den neuen Stil gerecht wird, ist 'Parker's Band' eine explizite Huldigung des Bebop und seines größten Protagonisten. Das schnelle Rock–Feel und das double drumming (zwei vollständige Schlagzeugtracks: Jeff Porcaro auf dem einen, Jim Gordon auf dem anderen Kanal des Stereobildes) entsprechen dieser Aufregung, ohne selbst irgendwelche Anleihen beim Bebop zu unternehmen. Einzig die beiden parallelen schnellen Saxophonsoli nach Ende des letzten Refrains sind eine musikalische Referenz. Um sie nicht zum nostalgischen Zitat werden zu lassen, sind die beiden Soli gewissermaßen kolla­
giert: eines spielt links, eines rechts, jedes hat sein eigenes Schlagzeug, keines kümmert sich um das jeweils andere. Das Intro von 'Parker's Band' mit den vier aufeinander folgenden Quinten C – G – D – A – E von Gi­
tarre und Klavier entspricht eher dem Werbecharakter: als eröffnendes jingle für die Durchsage „Savoy Sides presents a new saxophone sensation“. Allerdings hat sich ein aufgeregtes Gitarrensolo zwischen das jingle und die Durchsage geschlichen, um der Seite der Begeisterung ebenfalls zu ihrem Recht zu verhelfen.
Einen gewissen Blues–Charakter erhält das Stück dadurch, dass die Strophe durchgehend mit C6/9 beglei­
tet wird, die Gesangslinie im ersten Teil aber bei Abwärtsbewegungen die kleine statt der großen Terz wählt. Über 'Relaxing at Camarillo' schreibt Schlagzeuger Kenny Clarke:
My favourites are his blues ones, any blues record by Bird and all the Kansas City musicians. Seems the could get more out of the blues than musicians from any other part of the country. 'Relaxin' at Camarillo' was or is a favourite. It shows exactly how Bird felt about the odd sets of progressions he'd devide to prove he knows more about the blues than any living musician. (zit. n. Hirschmann, 151)
'Relaxin'...' ist von Parker 1947 in der Badewanne (oder im Taxi, da gibt es Meinungsverschiedenheiten; vgl. Hirschmann, 149f.) komponiert worden, nachdem er einige Monate in der Nervenheilanstalt Camarillo in Kalifornien verbracht hatte. Dies wird interessant, wenn man ein späteres Steely Dan–Stück betrachtet, wel­
ches möglicherweise insgesamt eine versteckte Anspielung an den Bebop darstellt:
58 Vgl. New Grove Dictionary of Jazz: 105ff.
54
III.2.a.2.1 Chinese music under banyan trees
I'd love to get you
On a slow boat to China
All to myself alone
Get you to keep you in my arms evermore
Leave all your lovers
Weeping on the faraway shore
Der Song 'Aja' ist laut Donald Fagen „a combination of a number of different tunes that we had that were sown together to make kind of a little suite, if you will.“ (Classic Albums: Aja, 0:41:40). Mit sparsamem Text und ausgedehnten Instrumentalpassagen gehört er zu den rätselhaftesten Songs aus dem Gesamtwerk: Die Spekulationen von Fans über die Bedeutung der „dude ranch“ (=Erholungsfarm), die das Setting von 'Aja' bildet, umfassen eine Irrenanstalt, ein Kriegsgefangenenlager, eine Rehabilitationsanstalt für Vietnamvetera­
nen und verschiedene Psychosekten (EST, Encounter–Gruppen).59
Aja (1977)
Up on the hill People never stare They just don't care Chinese music under banyan trees Here at the dude ranch Above the sea Aja When all my dime dancin' is through I run to you Up on the hill They've got time to burn There's no return Double helix in the sky tonight Throw out the hardware
Let's do it right Aja When all my dime dancin' is through I run to you Up on the hill They think I'm okay
Or so they say Chinese music always sets me free Angular banjoes Sound good to me Aja When all my dime dancin' is through I run to you
In Classic Albums: Aja erklärt Fagen, dass der ältere Bruder eines Schulfreunds eine koreanische Frau na­
mens 'Aja' geheiratet und in die USA gebracht habe, „and we thought that was a good name, just as a very ro­
mantic sort of image, the sort of tranquility that can come out of a quiet relationship with a beautiful woman.“ (0:42:20). Beckers kryptische „Quick read song quotes“ zum Song im Booklet zu Alive in America lauten: „Eclectic. Orientalism. Slide into decadence or healing regression? Structure: AABBCCAC.“ Die Nennung des Formablaufs an sich ist ein ironischer Akt: die Belästigung des ahnungslosen Publikums mit der 59 s. die Foren http://www.songmeanings.net/lyric.php?lid=140474 und http://cordmeyer.spymac.com/a.htm
55
Fachsprache der Produzierenden; andererseits eine Anlehnung an die Hörgewohnheiten in der klassischen Musik, wo die Begleittexte zum besseren Verständnis des Werkes sinnvoll beitragen. Mit dem Attribut „eclec­
tic“ führt Becker den Leser offenbar auf eine falsche Fährte und legt noch mehr Gewicht auf die Verschlüsse­
lung des musikalischen wie literarischen Materials. An der Oberfläche klingt 'Aja' wie ein besonders dichtes unter den Stücken, die vom Sentiment der fernen und fremden Orte und des Heimwehs leben, wofür Becker und Fagen eine Vorliebe haben:
During [...] interviews for 'Gaucho', Becker und Fagen for the first time referred to their so–called „travelogue concept“ of songwriting. In Fagen's words this was... „aimed at transporting the listener to foreign lands and foreign worlds. Many of the songs show that attraction for exotica that Duke Ellington had. They're concerned with the unexplored territories, the crowded streets of foreign lands – the romantic frontier.“ (Sweet: 151)
Unter dieser Oberfläche verbergen sich aber mehrere mögliche, dem sentimentalen Fernweh krass zuwi­
derlaufende Deutungen: Der Sprecher ist in irgendeiner Art von betreuter Unterkunft „up on the hill“ und flüchtet von dort für ein Stelldichein mit Aja. In der ersten Strophe wird die Flucht nur geplant. Harmonisch klingt die Doppelbödigkeit zwischen Plan und Einbildung an in der Ausweichung am Ende des Refrains, der auch Everett (2004, 223) eine ironische Qualität zuschreibt. Here [...] a French–like V4/3 with a typically lowered fifth and an unusual major seventh is applied to the Neapolitanian instead of to the dominant. This abstruse event creates an appropriately exotic quality, and the offhand giving way of the tonicized C to the true tonic, B, has an ironic quality owing to the nested double use of lowered second scale degree.
Everett fügt dem Dbma7(#11) ein nicht vorhandenes B zu und interpretiert ihn als verkürzte Zwischendomi­
nante G–5 4/3 zum Neapolitaner. Recht hat er mit der ironischen Qualität der Auflösungskette, nur muss sie an­
ders interpretiert werden. Die parallele Auflösung des scheinbaren oder 'Zwischen'–Neapolitaners Db ma7(#11) nach Cma7(#11) scheint das C vom Anfang der Zeile zu bestätigen, doch ist der Cma7(#11) tatsächlich der Neapolita­
ner und gibt den Weg frei zur Tonika B, mit der die Introreprise beginnt. Damit findet der Escape auf Basis einer Ausweichungskadenz statt: Stolz endet die Ankündigung „I run to you“ auf dem spannungsreichen Nea­
politaner, und zufrieden will sie sich auf die Tonika setzen, die sich dann aber als Luftschloss herausstellt.
In der zweiten Strophe schreitet der Sprecher – eingebildet oder tatsächlich – zur Tat, die „double helix in the sky tonight“ ist ein comichaft aufgeladenes Bild für den Liebesakt mit der lange Vermissten. Die Zeilen „Throw out the hardware / Let's do it right“ breiten diese sexuelle Phantasie weiter aus: kein Spielzeug, keine Verhütung, sondern richtiger Sex mitsamt der Möglichkeit einer Befruchtung – eine „double helix“ ist schließlich auch die Form des DNA–Strangs. Mit der kurzen Transition an Stelle der Introduktionsreprise geht es in den B–Teil mit je einem Gitarrensolo von Walter Becker und Denny Dias. Beide winden sich wie eine Helix durch die luftigen Harmonien.
56
Für Wayne Shorters düsteres Saxophon–Solo geht es zurück nach B mittels einer umgekehrten Transition, und diesmal geht es in Moll weiter. Genauer: in B 9sus4, und Shorter vermeidet in seiner Improvisation weitge­
hend die Terz, so dass wir wieder nicht wissen, was Einbildung und was Realität ist. Die Transition von A–
Dur nach b–Moll und die anschließende Solobegleitung:
Das Solo und das darunter liegende bedrohliche Getrommel von Steve Gadd deuten den Fortgang der Ge­
schichte an: Der Sprecher wird gefunden und zurück in die Einrichtung auf dem Hügel gebracht, wo man kei­
nen größeren Schaden feststellen kann oder will: „They think I'm okay / Or so they say“. Nach der tatsächli­
chen (oder halluzinierten) Flucht zu Aja und der Rückkehr (oder der Ruhigstellung) bleibt nur noch die Reali­
tätsflucht („Chinese music always sets me free“), und doch wird der Aufenthalt weiterhin als ein vorüberge­
hender betrachtet: „when all my dime dancin' is through / I run to you.“60 Statt der Tonika aus dem Anlauf zur zweiten Strophe oder der Transition, die Flucht und Vereinigung einleitete, knallt die bedrohliche Unendlich­
keit des Daseins „up on the hill“ unvermittelt wieder herein: Steve Gadd trommelt noch konsequenter alle Hoffnung in Richtung fade–out, während Fagens Synthesizer das Bewusstsein sedieren.
60 Dime dancer ist ein Synonym für taxi dancer: „a dance partner available for a fee“ (New Oxford American Dictionary)
57
Gleichzeitig lässt sich das Stück als Hommage an Charlie Parker lesen: Die „dude ranch“ ist dann nichts an­
deres als die Nervenheilanstalt Camarillo, in welche sich Parker während seines dreizehnmonatigen, musika­
lisch wie gesundheitlich katastrophal verlaufenden Kalifornien–Aufenthaltes begab. Parker spricht 1947 in ei­
nem Interview mit Leonard Feather für die Zeitschrift Metronome über die Auftritte in Los Angeles:
What made it worst of all was that nobody understood our kind of music out on the coast. They hated it, Leonard. I can't begin to tell you how I yearned for New York. Ähnlich äußert sich Bandleader Dizzy Gillespie 1948 gegenüber dem New Yorker:
They thought we were just playing ugly on purpose. They were so very very very hostile. They were really square, man. They used to stare at us so tough! (beide Passagen zit. n. Hirschmann, 132f.)
Damit haben Becker und Fagen prominente Fürsprecher ihrer eigenen Verbundenheit mit der Ostküste. Sie selber waren nicht gerne in Kalifornien, welches musikalisch erst in den Sechzigern, und nur durch große Kapitalinvestitionen und Hit–orientierte Musik, ähnliche Bedeutung erlangte wie New York (Vgl. Continuum Encyclopedia, Vol. IV: S. 236). Auch mochten sie die angeblich spontanere, risikoreichere Spielweise der New Yorker Musiker lieber, während sie an denen in L.A. vor allem die Professionalität bewunderten (vgl. Becker in Classic Albums: Aja: 0:10:00).
Becker: L.A. is marked by excesses of every kind and a complete disregard for humanity, as if it were built for hamburger stand operators.
Fagen: But it's probably good for us. My mother used to say misfortune builds character. (Sims, SDA)
Die Zeilen „Aja (sprich: Asia) / When all my dime dancin' is through / I run to you“ indizieren den öko­
nomischen Grund des Aufenthaltes und die Himmelsrichtung der Sehnsucht: New York im (fernen) Osten. In Camarillo hingegen wird man nicht angestarrt: „Up on the hill / People never stare / They just don't care“, und Parker konnte unter asiatischen Feigenbäumen – „banyan trees“, die auch im Süden der USA vorkommen sol­
len – 'relaxen' und sich dem Bebop widmen. Dieser wird lediglich verschlüsselt genannt, in einer pejorativen Bezeichnung, die Cab Calloway 1941 gegenüber seinem jungen Orchestermitglied Dizzy Gillespie und dessen 58
prä–Bebop–Solostil gebraucht hatte:
[...] when Parker was experimenting in the McShann band, Cab Calloway was telling Gillespie to 'stop playing that Chinese music in my band.' (Harrison, 16f.)
Die zweite Strophe nennt an Stelle der „Chinese music“ die „double helix in the sky“, die hier Parkers Heroinrausch meinen könnte. Wenn man, wie Parker nach der (nicht belegbaren) Legende, sein Saxophon kurz vor dem Gig im Pfandhaus versetzt („throw out the hardware“), um an Heroin zu kommen, kann man nicht mitspielen. Daher keine Chinese music in der zweiten Strophe.
Ende Januar 1947 wird Parker in guter gesundheitlicher Verfassung aus Camarillo entlassen: „They think I'm okay / Or so they say“, Er spielt in Hollywood noch einige Platten für das Label Dial ein und kehrt am 7. April nach New York zurück. Dort wird Bebop inzwischen besser angenommen, und Gillespie ist mit seiner neu gegründeten Big Band erfolgreich. Also formt Parker ein Quintett mit dem jungen Miles Davis an der Trompete. In den folgenden Jahren beginnt er, sich vom Bebop zu entfernen und baut seine „almost aggressive broad–mindedness“ (Harrison, 54) aus: Er zitiert in seinen Soli Passagen von modernen Kompo­
nisten der 'ernsthaften' Musik (vgl. Hirschmann 172ff.) und hat privat offenbar kein Interesse an Jazz, sondern hört „neben Bartók, Strawinsky und Hindemith auch gerne Schlager wie 'Lover', 'Slow Boat to China' oder 'Be My Love'.“ (Hirschmann, 172). In den Fünfzigern beginnt es Parker wieder schlechter zu gehen, sein Le­
bensstil (Essen, Heroin, Alkohol) trägt deutlich dazu bei, und er beginnt zu introvertieren und sich in Inter­
views selbst zu widersprechen. „Yet on another occasion he asserted Sammy Kayes On a slow boat to china was his favourite record.“ (Harrison 54). Aus dem Wunsch nach einem langsamen Boot wird bei Steely Dan ein Fluchtimpuls: „Aja ... I run to you.“
Musikalisch folgt 'Aja' ganz anderen Gesetzen und bietet kaum Bebop–Bezüge. Der Refrain holt als ge­
leckter pseudo–Bossa Nova den dritten Kontinent ins Boot. Ins nordamerikanische Boot versteht sich, weil sowohl Asien als auch Südamerika nur in ihrer westlichen bzw. nördlichen Repräsentation innerhalb von Es­
kapismus und „exotica“ vorhanden sind. Lediglich die Häufung von drei aufeinander folgenden Soli und ei­
nem schließenden Schlagzeugfeature ist ein Indiz für die Bebop–Lesart des Stücks. Sweet (120) schreibt, dass Becker und Fagen ursprünglich an Tony Williams als Schlagzeuger für das Stück gedacht hatten, „and Becker admitted that they may have mentioned William's name to Gadd as a stylistic indicator. 'Fortunately he didn't take that too seriously,' Becker said later.“ Mit Williams hätte neben Shorter ein weiteres Mitglied von Miles Davis' legendärem zweiten Quintett (1964–68) auf 'Aja' mitgespielt. Das Quintett markiert Davis' Rückkehr vom Cool Jazz zum Standard– und Bebop–Repertoire.61 Alle Anspielungen sind, wenn sie überhaupt inten­
diert sind,62 zur Unkenntlichkeit verschlüsselt. Kein Wort weist explizit auf die Legenden und Erzählungen aus der Jazzgeschichte hin, der Verdacht der identifikatorischen Veredelung des eigenen Schaffens durch die Nennung von Vorbildern hätte deutlichere Bezüge verboten. Die Verweigerung expliziter Bezüge kann außer­
dem eine weitere Verbeugung vor Charlie Parker darstellen, der sich Ende der Vierziger auf seine Musik als „progressive music, known by the trade name bebop“ bezog: „It's just music. [...] It's trying to play clean and looking for the pretty notes.“ (zit.n. Hirschmann, 176f.). Zitate wie dieses und das folgende weisen darauf hin, dass Parker nicht einfach nur gespielt hat, was er aufgrund seiner und der allgemeinen Voraussetzungen spie­
len konnte, sondern sich der Historizität dessen bewusst war:
61 Vgl. New Grove Dictionary of Jazz, Vol. I, S. 575
62 Becker und Fagen haben nie einen Hinweis in diese Richtung gegeben, aber die Häufung der Anspielungen halte ich für nicht zufällig.
59
People get used to hearing jazz for so many years, finally somebody said 'Let's have something different' and some new ideas begin to evolve. Then people brand it 'bebop' and try to crush it. If it should ever become completely accepted, people should remember it's in just the same position jazz was. It's just another style. (Parker im Interview mit Leonard Feather, zit.n. Hirschmann, 177)
Insgesamt beziehen sich Steely Dan somit zweifach auf die Geschichte: erstens mit den verschlüsselten Bezügen und zweitens mit der Verschlüsselung an sich: „Let's not call it Bebop. Let's call it music.“ (Parker). Indem sie, statt Bebop–Anleihen vorzunehmen, die Entwicklung ihrer eigenen Musik in den Siebzigern vor­
antreiben, da Rock von der Jazzwelt noch als Provokation wahrgenommen wird, würdigen sie die progressive Entwicklung der Vierziger, als Bebop eine Provokation gegenüber dem Swing darstellte.
Mit mehrfacher Doppelbödigkeit kombiniert 'Aja' einige der wichtigsten Themen aus Steely Dans Werk: die vielleicht brisanteste Ausformung des 'Steely Dan character', ein „guy without a girl“ auf besonders schmerz­
hafte Weise, dessen Größenwahn psychotisches Ausmaß erreicht hat; heftige, aber verschlüsselte sexuelle An­
spielungen; Eskapismus mit der zusätzlichen Ambivalenz zwischen Einbildung und Realität, die den Bruch zwischen Erzählung und erzählter Realität reflektiert und verdoppelt; der Versuch, Jazz und seine Geschichte weder unmittelbar musikalisch, noch identitär nostalgisch, sondern mehrfach codiert zu integrieren; filmische oder hier comichafte Beschreibungen, die nicht unmittelbar in die Handlung passende Bilder evozieren; die Liebe für New York und die Abneigung gegen Kalifornien und seine stets glattere, 'kommerziellere' Kultur, ausgedrückt in Parkers Krankheitsgeschichte und der Übertreibung der Distanz L.A – NYC (ferner Osten); das 'travelogue'–Konzept als sentimentale Oberfläche, die alle anderen Bedeutungen hinter sich verbirgt; der Versuch, Vorahnungen der Handlung ins musikalische Material zu gießen, ohne es programmmusikalisch an­
zulegen. Mit den langen Instrumentalpassagen und vielen Soli sticht das Stück außerdem heraus und bleibt ein besonderes, während das restliche Album aus traditionelleren Songstrukturen besteht (siehe 'Peg', Kap. III.2.b.3). Damit bleiben Steely Dan im Rock–Kontext, erlauben sich aber dessen Erweiterung durch ein ein­
zelnes Stück, wie schon 1974 mit dem Ellington–Cover 'East St. Louis Toodle–oo' (s. Kap. III.2.a.1).
III.2.a.3 Fusion
Als möglichen Grund für die überraschend hohen Verkaufszahlen von Aja sieht Fagen 1977 oder 78 die Ver­
breitung der sogenannten Jazz/Rock–Fusion: „The audiences are being conditioned to getting more used to jazz harmonies because of all this fusion business – that may have something to do with it.“ (Sweet: 123). Mit dieser Überlegung unterschätzt er m.E. die Schnittstellen zwischen Fusion und Steely Dans Musik. Mit Wea­
ther Report–Gründer Wayne Shorter, dem Schlagzeuger Steve Gadd (Chick Corea) und anderen sind promi­
nente Fusion–Musiker beteiligt, im Spätwerk treten Musiker wie Vinnie Colaiuta auf, die fast ausschließlich mit dieser Richtung in Verbindung gebracht werden. Yellowjackets–Schlagzeuger Ricky Lawson darf sich im Jahr 2000 live austoben, indem er am Ende von 'Do It Again' über die folgende Begleitung der restlichen Band soliert (transkribiert von VH1 Storyteller's, 0:24:45, Reduktion von E–Piano, Gitarre und Bläsern in eine Zeile):
60
Der diatonisch verschobene Quartenstapel (TT.11–12), noch mehr die parallel sequenzierte Figur aus sus–
Akkorden (T.15) und die anschließende übertrieben angereicherte Dominante aus Bläsern, Gitarren und Syn­
thesizer stellen einen so fusiontypischen Klang her, dass hier eine ironische Konzession an die Fusion–Fans im Publikum zu vermuten ist. Gleichzeitig ist der Klang dieser Harmonien aufregend und kraftvoll: die paral­
lele Sus–Verschiebung bezieht ihre Wucht aus der üppigen Instrumentierung und der Lösung aus dem diato­
nischen Kontext. Das F#7 mit der Reibung von fünf benachbarten Tönen – darunter Terz und Quarte neben­
einander – funktioniert wegen der Dopplung von Terz und Septime trotzdem als Dominante, klingt aber un­
deutlich und komplex.
Der Solovamp, den die Band bei 'Aja' als Basis für die Saxophon– und Schlagzeug–Soli legt, stammt, was das Bandgefüge betrifft, auch aus dieser Tradition, ist aber harmonisch nicht so komplex und stimmungsmä­
ßig deutlich auf seine Position in der Handlung des Songs bezogen (s. S. 57). Solche ästhetischen Zusammen­
hänge sind im Fusion nicht üblich und aufgrund des fehlenden Textes nicht sehr naheliegend. In der Einleitung zum einem 1977 erschienenen Songbook ergehen sich Becker, Fagen und Dias in Erklä­
rungen ihres geliebten µ–Akkords. Hiermit ist nicht mehr als ein Dreiklang mit zugefügter Sekunde, µ–Major oder µ–minor (sprich: moo–Major, moo–minor), gemeint.
Some of our more harmonically sophisticated readers may know this chord by one of several other names such as "deus de musica (1st expansion)", "major triad avec neoplastic distension", or
"M' Lords Consonance". Used only sporadically in most contemporary popular music, we have found this little honey to be a sine qua non in almost every song we have written to date. [...] Once you become accustomed to this wholesome harmonic mindbath, you'll soon find yourself sneaking seconds into minor seventh chords and stacking fourths like a Hindemith gone haywire in Harlem.
(www.steelydan.com/songbook.html)
61
Die bei Steely Dan häufigste Methode, diesen Klang herzustellen, ist ein Quartenstapel („stacking fourth“) 2 – 5 – 8 von einem Harmonieinstrument, während die Terz von einem anderen kommt (s. 'Peg', III.2.b.3). Als sus2–Akkord ohne Terz fungiert der Quartenstapel alleine. In Takt 11–12 der obigen Passage aus 'Do It Again' ist es ein sus4–Akkord, der durch Schichtung zweier Quarten vom Grundton aus entsteht. Er wird diatonisch verschoben und deshalb auf der IV. Stufe zum Extrakt eines Emaj7#11 ohne Terz. 'Green Ear­
rings' (1976) schließlich wird zu einem besonderen Experiment mit dem µ–Minor (s. Kap. III.2.c.2).
III.2.b Blues
On April 12th, 1862, Winny McDan gave birth to a bouncing baby boy in the main house at Honker’s plantation near the the town of Clarksville, Archingsaw, not to be confused with more famous Clarksville in deep blues country – the Mississippi Delta! Despite the fact that the child looked to be a strapping, big–boned chap, Reuben McDan, the proud father, named him Stilliard after his teeny tiny little grandfather.
Fast–forward to 1875. One lazy afternoon, after a month of calamities too horrific and blues–tinged to describe here (including the accidental pulping of Stilliard Senior, the bizarre death of his parents on the site of an early electrical experiment and, especially, the desertion of his fiance’, Delorous “Delly” Von Bronx, on what was supposed to be their wedding day), Stilliard was fooling around with his guitar, “messin’ with some ethnic–type pentatonic scales and shit”, when he made an amazing discovery. When he bent the G string up to B, let it gliss slowly back down to G and then played an E on the the D string, the effect was no less than a perfect analog of the pain and suffering he felt in the deepest part of his soul. After noodling around for 10 minutes or so, he came up with a structure, some lyrics, and a neat rhyme scheme. And so the Blues was born.
Six months later, at a “juke joint” in East Texas, Stilliard – now Steelyard – gave his first performance in the newly forged style. The rest, as they say, is histrionics.
It is to this man – no less than the Inventor of the Blues – that this tour is dedicated. Hats off to
Steelyard „Sugartooth“ McDan
Steely Dan, Tourneeankündigung 2006
Im Blues stellt sich die Frage nach Identifikation auf besondere Art. Der Legende nach ist er als eine erzäh­
lende, meist klagende Kommunikationsform entstanden; der Existenz auf den Baumwollfeldern in der unmit­
telbaren Not, in der Segregation nach der Abschaffung der Sklaverei entspricht er als unmittelbare Aus­
drucksform des Einzelnen, der seine Situation mit etwaigen Zuhörenden soweit teilt, dass der Schritt der Identifikation schon von der Realität in brutaler Art erledigt ist und eher ein Trost durch die musikalische Verallgemeinerung des gemeinsamen Leides sich einstellen kann. Der Oxford Companion to Popular Music (S. 67) schreibt: „The Blues is the folk song of black music, stemming from origins so obscured by years of anonymity that a logical history is virtually impossible.“ Zwar gingen schon im ersten Jahrzehnt des 20. Jahr­
hunderts Plantagenarbeiter aus dem Mississippi–Delta nach Memphis, um ihre Lieder aufzunehmen.63 Die folkloristische Legende aber trägt den angenommenen Gehalt des Blues dorthin, wo er von anderen Musikern adaptiert wird. Paul Oliver schreibt in The Story of the Blues (1969; zit.n. Oxford Companion: 67): „The blues is both a state of mind and the music which gives voice to it. [...] the personal emotion of the individual fin­
ding through music a vehicle for self–expression.“ So kann denn jede Art von Traurigkeit oder Überlebens­
angst kulturell „veredelt“ werden, indem man sie als „feeling blue“ bezeichnet. Während ich diese „Verede­
lung“ eine als vulgär–musikethnologische Simplifizierung bezeichnen möchte, ist die typische Adaption auf der musikalischen Seite ebenfalls eine Simplifizierung: das zwölftaktige Schema. Auch der Oxford Compan­
ion to Popular Music hält die beiden separaten Adaptionen für bemerkenswert:
As the one easily recognizable distinguishing trait, it led to a tendency to call anything in 12–bar form a blues, even if its spirit was totally out of keeping. Boogie–woogie used the same form for often different though equally valid ends. On the other hand many Tin Pan Alley products were designated 63 Vgl. Continuum Encyclopedia, Vol. IV, S. 116f.
62
blues simply because somebody was experiencing an emotional hangover in them. (Oxford Companion: 68)
III.2.b.1 Adaption: Blues–Rock
Der Blues–Rock als ein Derivat des Rock 'n' Roll, der Verbindung von Blues und Country, begnügt sich in der Regel damit, Blues–Formen mit Rock–Beats und verzerrten Gitarren zu spielen.64 Die Authentizitätsbehaup­
tung des Blues – Melancholie als 'ursprüngliche' Empfindung, letztendlich eine positivrassistische Identifika­
tion mit einem romantisierten Bild des unterdrückten aber 'authentischen' Sklaven – verbindet sich hier mit derjenigen des Rock: echte Handarbeit schwitzender Männer mit Gitarren. Nicht, dass deren Leben frei von Leid und Herrschaft wäre, nur hat der Rückbezug auf die historische personelle Unterdrückung in den Süd­
staaten die Funktion, das eigene Leid diffus als fremdverschuldet und/oder poetisch darzustellen: Drogenab­
hängigkeit und Verfall als Schuld der Droge65; Erfolglosigkeit bei der Jobsuche als Schuld der Arbeitgeber oder der konkurrierenden Bewerber; erfolglose Liebe als Schicksal oder verschuldet durch die zurückweisen­
de Person66.
III.2.b.1.1 Melancholie und Psychedelic Rock
Eine Band, deren Werk formell sehr weitgehend aus Blues besteht, ist Pink Floyd. “In the beginning”, d.h. nach ihrer Gründung 1966 in Cambridge, UK, “they were an uncomplicated rhythm 'n' blues group [...] but they moved into the psychedelic field with a strange recording 'Arnold Lane' (1967) which coincided with the outburst of hippie activities and firmly allied them with it.” (Oxford Companion: 453). Die Zusammenfüh­
rung von Blues als (Ton–)Material und psychedelic rock als stimmungs– und stilbildendem Einfluss lässt ganz spezifische Ästhetisierungen des Blues erwarten. So beginnt zum Beispiel Wish You Were Here (1975), eines der erfolgreichsten Pink Floyd–Alben, mit einer langen Introduktion in Form eines einzigen, rubato ge­
spielten Blues–Chorus, der sich über Minuten hin streckt. David Gilmours Gitarre improvisiert pentatonisch über die liegenden Orgelakkorde in Moll. Eine naheliegende Stimmungsbeschreibung ist hier „Dämmerung“, was auch zur Position der Passage ganz am Anfang des Album passt. Die Wahl des Blues als Material mag dessen Rolle als vermeintlicher Ursprung von Rockmusik geschuldet sein. So klingt die ganze Introduktion wie der Soundtrack zum ersten Tag der Schöpfungsgeschichte. Mit den Worten
Remember when you were young
You shone like a sun
Shine on you crazy diamond
Now there's a look in your eyes
Like black holes in the sky
Shine on you crazy diamond67
entwickelt sich aus ihr das Stück „Shine on You Crazy Diamond“, das zunächst nur einige entfernte Blues–Elemente birgt, am Ende des Albums ('Crazy Diamond Part II') aber wieder in eine lange pentatoni­
sche Gesangsimprovisation mündet. Das Stück ist Pink Floyds Hommage an ihren ehemaligen Gitarristen Syd Barrett, auf dessen LSD–Konsum hier angespielt wird: „Shine on You Crazy Diamond“ enthält den Vor­
namen des Besungenen auf die gleiche Art, wie „Lucy in the Sky with Diamonds“ von den Beatles gerüchte­
weise den Namen der Lieblingsdroge der psychedelischen Szene enthält. Sehr deutlich ist die Bilderwahl, die 64 65 66 67 Vgl. einschlägige Aufnahmen von bspw. Gary Moore, Cream, Stevie Ray Vaughan
Vgl. Eric Clapton: „Cocaine“ (1977)
Vgl. Gary Moore „Walking by Myself“ (1990)
Zum Verständnis der Syntax: „Shine on“ ist ein Imperativ: „Scheine weiterhin, you crazy diamond!“
63
sich hauptsächlich im Himmel abspielt und zuerst auf Kindheit und Jugend zu sprechen kommt, später mit „stardom“ und „you cried to the moon“ neben der (himmlischen) Größe gleichzeitig den tragischen Größen­
wahn von Syd Barrett illustriert, der schließlich auch als Bluesgitarrist seine Karriere begonnen hatte. Inso­
fern ist der einleitende Blues hier mehrfach inhaltlich motiviert. Die Gleichsetzung des Blues mit 'Entstehung' ist ein quasi–mythologisches Stilmittel und scheint, wegen der ernsthaften Verwendung im psychedelischen Kontext eher eine affirmative denn eine distanzierte Gleichsetzung zu sein. Diese Frage erhält dadurch weite­
re Relevanz, dass etwa die Hälfte aller Stücke von Pink Floyd als blues–basiert gelten können. Hat die Band es sich einfach leicht gemacht, was das Material betrifft? Da bei psychedelischer Musik das größere Augen­
merk auf dem Transportieren essentieller Stimmungen durch Sounddesign und durch großangelegte Texte liegt, liegt dieser Schluss nahe. Die Art der Ästhetisierung stellt aber gleichzeitig eine Authentizitätsbehaup­
tung auf, die der Hippie–Ära nicht fremd ist: das trance–artige Aufgehen in der Musik, oder andersherum, das Musikmachen als unmittelbarer Ausdruck der eigenen Stimmung, als Soundtrack des LSD–Trips. Der da­
bei transportierte Größenwahn in der himmlischen Selbststilisierung passt zur britischen psychedelic–Szene der sechziger Jahre, die von ausgebildeten jungen Künstlern mit transzendenten Absichten in der ökonomi­
schen Sicherheit des ersten britischen Wirtschaftsbooms seit Kriegsende aufgebaut wurde (vgl. Schaffner: 19ff.). Weitere typische Essentialisierungen und Romantizismen dieser Szene finden sich in den wohlbekann­
ten antimodernen Impulsen und 'back to the roots'–Ideologien: (pseudo–)mittelalterlicher oder fernöstlicher Spiritualität, Indianerkult und Vegetarismus (vgl. Grunenberg/Harris:11), stets gemischt mit fortschrittliche­
ren Dingen, die die (post–)moderne Herkunft des Bedürfnisses nach solcher Naturalisierung doch wieder er­
kennbar machen: „gender–bending a la New York Dada“ (ebd.), elektronische Musikinstrumente und synthe­
tische Drogen. Pink Floyd leben ihre psychedelische Szeneidentität in einem wilden Gemisch aus stilistischen Aneignungen, Romantizismen und Mythen aus. Diesem Zweck scheint die Musik fast vollständig unterwor­
fen zu sein, und das spielende wie das rezipierende Subjekt soll mit dieser Musik ganz verschmelzen können – Identität im strengen Wortsinne: Eins–sein mit der Musik.
III.2.b.1.2 Bodhisattva
Derlei ist bei Steely Dan nicht zu finden, außer in Parodien. Nachdem der Can't Buy a Thrill–Opener 'Do It Again' eine unauffällige Buddhismus–Anspielung enthielt, beginnt der Nachfolger Countdown to Ecstasy mit einer deutlichen Parodie auf die vulgäre Rezeption fernöstlicher Philosophie bzw. 'Spiritualität', die sich in den siebziger Jahren bereits als antimoderne Sinnsuche auf dem Weg von der psychedelischen Szene in den Mainstream befunden haben dürfte:
64
Bodhisattva (1973)
Bodhisattva68
Would you take me by the hand
Bodhisattva
Would you take me by the hand
Can you show me
The shine of your Japan
The sparkle of your china
Can you show me
Bodhisattva
Bodhisattva
I'm gonna sell my house in town
Bodhisattva
I'm gonna sell my house in town
And I'll be there
To shine in your Japan
To sparkle in your China
Yes I'll be there
Bodhisattva
Bodhisattva
Stimmungsinduzierendes Sounddesign und plakative Arrangements, wie sie für psychedelische Musik und den darauffolgend einsetzenden Art–Rock konstitutiv sind, finden sich bei Steely Dan nicht, und auch programmmusikalische Anlagen nur selten (s. meine Ausführungen über 'Aja', Kap. III.2.a.2.1).
Fagen: We stay away from anything where the musical effect is basically to shock; I don't like harsh nasty–sounding things just for some kind of cultural shock or political statement. (Sweet: 141)
Ihre Methode ist es vielmehr, die immanenten Strukturen der verwendeten Musikstile durch Perfektion zur Geltung zu bringen und mit dem Inhalt der Texte zu konfrontieren. Im Falle von „Bodhisattva“ bedeutet das, den eifrigen Griff nach der buddhistischen Heilslehre mit der dampfablassenden Euphorie des frühen Rock 'n' Roll zu charakterisieren. Die ersten acht Takte der 16–taktigen Form von „Bodhisattva“ gleichen de­
nen des Blues–Schemas. Sie werden von einer kurzatmigen, typischen Rock'n'Roll–Linie in Bass und Gitarre begleitet:
Mehr Kurzatmigkeit erhält das Stück durch die unklare Abgrenzung der Formen. Die rasche Wiederho­
lung des Wortes „Bodhisattva“ am Ende der ersten und am Anfang der nächsten Form (2. Strophe) verwischt den Übergang und bekommt gar nicht genug von der stotternd flehenden Anrufung des Heilswesens. Früher Rock 'n' Roll lässt sich zwar als jugendliches Aufbegehren gegen das Vaterimago, als relativ direkte Triebab­
fuhr begreifen – dagegen aber klingt der Rock 'n' Roll in „Bodhisattva“ eher so prägenital wie das Schwanz–
68 „Bodhisattva: [alt–ind. >ein Wesen<, dessen Ziel >die Erleuchtung< ist.], Buddhismus: ein Anwärter künftiger Bud­
dhaschaft; im Mahajana–Buddhismus als Heilsbringer verehrt, da er wegen des Heils aller Wesen zunächst auf seine eigene Buddhaschaft verzichtet hat.“ (dtv–Lexikon)
65
wedeln eines Schoßhundes, das erregt um Eis bittende Kind oder eben die euphorisch–repressive Sublimie­
rung durch Unterwerfung unter den spirituellen Ersatzvater.69
III.2.b.1.3 Little Junkie Girl
Wie bei Syd Barrett war auch Walter Beckers Drogenkonsum mit einem erheblichen Maß an Depression und Selbstschädigung verbunden. Bei Pink Floyds ästhetischem Umgang damit liegt wiederum der Verdacht der „Veredlung“ der eigenen Melancholie durch den Blues nahe. Noch einmal: Die künstlerische Behandlung der eigenen Depression und der unerbittlichen Widersprüche zwischen Außen– und Innenwelt selbst ist nicht Ge­
genstand meiner Kritik, sie kann nicht Sklaven oder anderen 'unterdrückten' Gruppen vorbehalten bleiben. Die affirmative Verwendung des Blues aber, besonders in Verbindung mit der beschriebenen psychedelischen Ästhetisierung gibt vor, 'unmittelbarer' Spiegel des Selbst und gleichzeitig legitimes Erbe des Blues zu sein. Und ein legitimer Erbe des Blues muss sich weder erklären, noch muss er begreifen, dass 'die anderen' mögli­
cherweise genauso arm dran oder Objekte desselben Herrschaftszusammenhangs sind.
Die Vorgehensweise bei Steely Dan ist umgekehrt. Blues wird nicht übernommen, sondern als das Image, zu dem er werden musste, benutzt und dargestellt. Dies werde ich im nächsten Kapitel exemplarisch an 'Pret­
zel Logic' (1974) darstellen. Außerdem wird nicht versucht, die eigene Persönlichkeit (oder was man dafür hält) in Kongruenz mit der Musik zu bringen, sondern im Gegenteil werden eigene Erfahrungen – so sie in der Musik verarbeitet werden – in andere Figuren ausgelagert beziehungsweise, andersherum, das Subjekt möglichst aus dem Werk herausgezogen. So kann die Distanz erreicht werden, die es erlaubt, eigene Erfah­
rung als Material zu behandeln und auf höherer Stufe im Kunstwerk wieder erscheinen zu lassen.
Um den Blues kurz zu verlassen und der Drogenthematik zu folgen, gehe ich auf einen Song von Walter Beckers Album Eleven Tracks of Whack ein. Becker hatte den Tiefstpunkt seines Lebens während der Produk­
tion von Gaucho, dem technisch perfektesten Album des Frühwerks. Er kämpfte mit einem Drogenproblem, tauchte unpünktlich oder gar nicht im Studio auf, so dass auch die Stimmung zwischen Fagen und ihm deut­
lich gespannter wurde, und schließlich starb Beckers langjährige Lebensgefährtin Karen Stanley an einem überdosierten Drogencocktail. 1982, nach der Auflösung von Steely Dan, zog er von New York City nach Maui, Hawaii, schnitt sich die langen Haare sowie den Drogennachschub ab und lebte ein 'geordneteres' Le­
ben. ((Vgl. Sweet: 136, 138, 172f.) Elf Jahre später sprach er das Drogenproblem explizit in einem eigenen Song an, verlagerte es aber in eine andere Person, möglicherweise inspiriert durch Karen Stanley:
Junkie Girl (1994)
In the good old bad part of this college town Men in business suits they run you down You take their money just like you take mine You send it bubbling down the thin blue line It doesn't matter how it got this way 'Cause we could make it through this thing together I know you're laughing but I got to say Now I still want you maybe more than ever No fooling it's a fucked up world So be cool my little junkie girl
69 Zu den Begrifflichkeiten vgl. Freud: Massenpsychologie und Ich–Analyse
66
The cops are out to shut the district down I comb the ruins of your stomping grounds Stanyan Street looking like that third world war You come up blazing like an open sore Now I believe you but I got to know How come the right side of your brain is hurting So take me with you baby when you go Through to the white side of your China curtain In the good old bad part of this college town Men in grey limousines will drive you down You take their money just like you take mine Where does it get you on that thin blue line Now I can hardly hear you anymore Your eyes are empty and your voice is hollow I see you waving from a distant shore And where you're going I don't dare to follow No fooling it's a fucked up world So be cool my little junkie girl No fooling that's another world Good luck my little junkie girl
Im Gegensatz zu Pink Floyds 'Crazy Diamond' findet dieses Stück vollständig auf der Erde – oder darun­
ter – statt und versucht, über das Einfangen der real bedrohlichen Welt Empathie mit der jungen Frau herzu­
stellen, die sich mithilfe des introvertierenden Heroins von der Welt abwendet. Beckers eigener Absprung von der Droge ist in der schließlichen Wendung, dem variierten letzten Refrain, enthalten: Den Schritt dorthin, wo man durch das Zusammenspiel von bedrohlicher Welt und Drogenabhängigkeit vollends zerstört wird, geht der Sänger nicht mit. Das Auf–sich–selbst–gestellt–Sein macht das Setting des Songs aus: Graue Geschäfts­
männer vs. junkie girl vs. Polizei. Anhand dieser Beobachtung wird der Erzähler empathisch mit der vermut­
lich Prostituierten („you take their money just like you take mine“) und gerät in eine Faszination über den He­
roinrausch, die scheinbare Antithese zum Auf–sich–selbst–gestellt–Sein. Dieses jedoch holt die Handlung zum Schluss wieder ein: es bleibt nur die Trennung und „good luck“, die brutale Anerkennung der Unmög­
lichkeit, einander zu helfen. Auch die in der Popularmusik sonst beschworene Liebe ist hier machtlos. Doch geht es nicht um Schicksal: Der Liebende ist nur durch seinen Überlebenswillen gezwungen, die Geliebte ih­
rem Untergang zu überlassen, und auch sie geht selbstverantwortlich, sie ist weder Opfer himmlischer Be­
stimmung wie Syd Barrett, noch wird sie vom Stoff selbst oder der Polizei gezwungen. So kommt dieses roh interpretierte Stück Gitarrenrock ohne Schuldzuweisung oder Mystifizierung aus.
III.2.b.2 Those days are gone forever – Blues und Ironie
Born unter a bad sign
I been down aver since the day I could crawl
And if it wasn't for bad luck
I wouldn't have no luck at all.
Albert King, 1967
Hinter dem Mythos der klagenden, 'authentischen' Kommunikationsform steckt im Blues eine Tradition von Ironie. Cobb beschreibt 2007 in einer Abhandlung über Hip Hop die Ironie als – später abhanden gekomme­
nes – kennzeichnendes Element des Blues. Sie sei der letzte Versuch, mittels Lachen die Tränen abzuwehren, und in ihrer Zweischneidigkeit Ausdruck der widersprüchlichen Zuschreibungen an Afroamerikaner, die als angeblich Arbeitsscheue doch zum Arbeiten von einem anderen Kontinent verschleppt worden waren:
Caught in the existential staredown with abject circumstance, the blues artist pulls the only weapon available: a sharpened sense of irony, the simultaneous reckoning with the bitter and the sweet, the last–ditch laughter that staves off tears. That confrontation with the absurd contradictions of his own existence – the descendant of allegedly lazy people who were brought to another continent in order to work, member of an unclean race whose primary employment is in cleaning homes – was grist for the blues hallmark irony, what we might call the trickster consciousness. (Cobb: 21)
67
Laut Du Bois' The Souls of Black Folk, der alma mater der 'schwarzen' Kultur, ist die Täuschung oder Irre­
führung („deception“) die „natural defense of the weak against the strong“. Täuschung ist laut Cobb (22) auch „the primary weapon in the arsenal of the trickster“. Der trickster (Schwindler, Trickbetrüger) ist in der folkloristischen Tradition selten ein körperlich überlegener Charakter, sondern sticht seine Gegner mit abge­
feimter List („cunning and double–edged wit“) aus. Er entspricht dem heruntergekommenen Protagonisten des Blues, der aber immer noch ein Ass – oder eine Rasierklinge – im Ärmel hat:
The trickster's ironic sensibility is a defining feature of the blues, where the hero is the down and out player who nevertheless carries an ace – or razor, depending on the situation, tucked up his sleeve. (Cobb: 21)
Cobb illustriert das Ass im Ärmel mit dem oben zitierten Ausschnitt aus Albert Kings 'Born Under a Bad Sign', sowie mit dem Protagonisten von Jimi Hendrix' 'Red House':
There's a red house over yonder70, that's where my baby stay
Lord, there's a red house over yonder, that's where my baby stay
I ain't been home to see my baby, in 99 and one half days.
Wait a minute, something's wrong, this key don't fit the door
Wait a minute, something's wrong here, this key don't unlock the door
I got a bad, bad feelin' my baby don't live here anymore.
I guess I'll go back over yonder, way over the hill
I guess I'll go back over yonder, way up over that hill
'cause if my baby don't love me no more, I know her sister will.
Für einen solchen Umgang mit der Unterlegenheit und Gebrechlichkeit ist es notwendig, diese zunächst einzugestehen, was im notorisch maskulinen Hiphop in der Regel nicht vorkommt. Cobb vergleicht den (größten Teil des) Hiphop mit dem Boxer, der nach dem erlittenen Volltreffer behauptet, es habe überhaupt nicht weh getan.
[...] the dead–broke, woman–gone zero–ness that has to be admitted before it can be transcended. [...] But if the blues exist for the express purpose of alchemizing beauty from pain, hip hop is more often about swaggering in the face of it. Denying that pain is an element of its reality. Hip hop is that boxer who gets caught flush by the unseen right hand and then tells his antagonist that it didn't hurt – and the fact is, of course, that if it really didn't hurt he wouldn't feel the need to make that statement. (23)
Der trickster indessen findet sich wieder in der ironischen Haltung Steely Dans. Körperlich zur Wehr set­
zen kann er sich gewiss nicht, noch im Spätwerk hat er, immer aus der Froschperspektive, Angst vor dem lau­
ten Türklopfen der nahezu gruseligen ('Almost Gothic') Geliebten, die ihn herumschubst („It's kind of like the opposite of an aerial view / Unless I'm totally wrong / I hear her rap and brother it's strong“). Aber er scheint „happy and harmless, traffics in deception, and disarms with a smile“ (Cobb: 24), und so äußert er den sehn­
lichen Wunsch nach einer Tournee durch die Südstaaten, im selben Jahr, in dem Becker und Fagen mühsam durchsetzen, nicht mehr live spielen zu müssen. Sweet schreibt in diesem Zusammenhang von unangenehmen Begegnungen bei einem gemeinsamen Konzert mit der Black Oak Arkansas:
Black Oak were a bunch of good–natured, rowdy, beer–swilling southerners whose biker–style audience consumed vast quantities of alcohol and other stimulants, while bouncers carried unconscious bodies out of the gig by the truckload. The aesthete in Donald Fagen was offended; the scene left him feeling distinctly uneasy. (53)
They [ABC Records] were sending them to places like Fayetteville and Hammond, Louisiana, deep down swamplands which, to confirmed city dwellers like Becker and Fagen, was like taking Escimos to the Sahara. They didn't want to be there, period. A year later Becker and Fagen would immortalize 70 yonder=dort drüben
68
their touring experience in the ironic opening line of 'Pretzel Logic': „I would love to tour the southlands / In a travelling minstrel show.“ (56)
Der Begriff der minstrel show ist historisch eindeutig besetzt, aber minstrel bedeutet zunächst nicht mehr als 'Minnesänger', 'Hofsänger', touring oder travelling minstrel also 'fahrender Musikant'. So erhält die Zeile eine Zweideutigkeit, die einen ironischen Bezug auf die Tourneeerfahrungen durchaus zulässt. Diese Erfah­
rung des Zwanges zur (Konzert–)Arbeit in den Südstaaten wird mittels der Aufbereitung durch den Blues mit der historischen Zwangsarbeit gleichgesetzt, die Manieren und Rezeption des dortigen Publikums mit dem Niveau der minstrel shows verglichen. Die krasse Unangemessenheit des Vergleiches ist dem trickster zu ver­
danken, der als einziger im Tourbus noch etwas zu lachen hat, während Becker und Fagen vor Angst und De­
mütigung in ihren Sitzen versinken. Der Text führt im Folgenden das verdrehte Geschichtsbild dessen, der wehmütig der minstrel show nachhängt, ad absurdum und noch weiter zurück in die europäische Geschichte. Hierin steckt ein erster Hinweis auf den Titel: Pretzel logic ist ein englischer Ausdruck für tautologische oder verdrehte, eben bretzelfömige Logik.
Pretzel Logic (1974)
I would love to tour the Southland
In a travelling minstrel show
Yes I'd love to tour the Southland
In a traveling minstrel show
Yes I'm dying to be a star and make them laugh
Sound just like a record on the phonograph
Those days are gone forever
Over a long time ago, oh yeah
I have never met Napoleon
But I plan to find the time
I have never met Napoleon
But I plan to find the time
'Cause he looks so fine upon that hill
They tell me he was lonely, he's lonely still
Those days are gone forever
Over a long time ago, oh yeah
I stepped up on the platform
The man gave me the news
He said, You must be joking son
Where did you get those shoes?
Where did you get those shoes?
Well, I've seen 'em on the TV, the movie show
They say the times are changing but I just
don't know
These things are gone forever
Over a long time ago, oh yeah
Der entspannte shuffle von ca. 98 bpm ist das eindeutigste Bluesstück im Gesamtwerk. Harmonisch ver­
halten sich die ersten acht Takte von 'Pretzel Logic' wie ein üblicher Moll–Blues – bis auf die Ersetzung der Subdominante im zweiten Takt durch ihre Durparallele. Die ersten zwei Textzeilen werden in ebenfalls blues–
typischer Erzählweise wiederholt. Üblicherweise folgt darauf in den letzten vier Takten eine Konklusion oder ein Widerspruch als Refrain. In diesem Falle steht am Anfang jeweils ein seltsamer Wunsch, der ab Takt 9 als schwachsinnig demontiert wird. Der Wunsch selbst ist als ein nostalgischer, nicht erfüllbarer, ein weiterer Grund für die Verwendung des Blues. Und „Those days are gone forever“ klingt gleichzeitig wie ein Kom­
mentar zur eigenen Verwendung dessen, was vom Blues aus der Zeit der minstrel shows noch übrig ist: ein Mythos.
Seltsam genug, dass der Sprecher im ausgehenden 20. Jahrhundert Teil einer minstrel show sein möchte – aber dass er glaubt, er würde dann wie eine Grammophonplatte klingen, lässt hinter dem Wunsch ein voll­
ständig unlogisches Geschichtsverständnis oder ein nostalgisch–fortschrittsfeindliches Bedürfnis erkennen. Auch redet der Erzähler um den heißen Brei: „I'm dying to be a star and make them laugh“ wäre für sich ge­
69
nommen nur der Wunsch, als Entertainer alter Schule zu arbeiten. Das Wichtigste über die minstrel show ver­
schweigt er: ihre integrale Rolle in der kulturellen Tradierung des weißen Rassismus in den USA (vgl. Toll: Blacking Up, 65ff). Weiße 'blackface performers', die parodistisch Plantagenszenarien und (angebliche) afro–
amerikanische Tänze aufführen, vertragen sich kaum mit dem Diktum, früher sei alles besser gewesen – au­
ßer, man ist überzeugt von der Überlegenheit der 'weißen Rasse'. Genauso die Anbiederung an Napoleon in der zweiten Strophe. Die fünfte Zeile („'cause he looked so fine upon that hill“) bezieht sich möglicherweise auf die Tolstoi–Verfilmung „War & Peace“ (1955) von King Vidor und das damals fast aktuelle Remake von John Davies, 1972. Im Film sieht man Napoleon im Vaterländischen Krieg auf dem Berg Poklonnaya sitzen und die Schlacht bei Borodino erwarten. Diese markiert den Anfang von Napoleons militärischem und schließlich auch politischem Niedergang (vgl. Sieburg: 240ff.), aber der Erzähler ist fasziniert von der Sieges­
sicherheit und der strammen Pose des Feldherrn – obwohl dieser, ein Bein auf eine Trommel gelegt, finster dreinblickend auf einem Stuhl sitzt. Er imaginiert sich selbst in dessen einsamer Größe („they tell me he was lonely, he's lonely still“) und glaubt deshalb, er müsse ihm Gesellschaft leisten („I plan to find the time“). In einem Interview erklärt Donald Fagen:
When it says 'I stepped up on the platform/The man gave me the news' we conceived the platform as a teleportation platform. And there are other key lines like: 'I have never met Napoleon but I plan to find the time.' What we're actually saying is I plan to find the time in which he lived. (Anonym: Lyrics; SDIR)
Dem Erzähler mit dem verdrehten Geschichtsbild ist es mit der Nostalgie also so ernst, dass er eine Zeit­
reise antritt. Die folgenden Zeilen der dritten Strophe bleiben recht kryptisch, zumindest vieldeutig. In Larry Nivens Science–Fiction–Roman Ringworld von 1970 kommen teleportation platforms im Jahre 2850 als Transportmittel vor, die es ermöglichen, ohne zeitlichen Verzug rund um die Welt Partys und Geschehnisse aus den Nachrichten aufzusuchen oder einkaufen zu gehen. Dazu würden die „news“ des Mannes und die Frage nach den Schuhen als Shoppingerfolg passen, aber damit wäre das Thema Zeitreise recht unvermittelt verlassen. Wenn Fagen aber so ungenau war, mit der teleportation platform doch eine Zeitmaschine zu mei­
nen, ist die einzige halbwegs kohärente Lesart die folgende: Die ersten beiden Strophen stellen bereits Reisen in die jeweils angesprochene Zeit dar. „Those days are gone forever“ ist dann statt einer traurigen Wahrheit eher Ausdruck des Privilegs dessen, der doch dorthin reisen und sich mit der Größe schmücken kann, in wel­
che das damalige Geschehen heute erstrahlt. Die Plattform in der dritten Strophe ist bereits die zur Rückreise in die Jetzt–Zeit, der Operator der Zeitmaschine empfängt ihn, versorgt ihn mit Neuigkeiten und fragt nei­
disch nach den Schuhen, welche in der Vergangenheit aufzustöbern ein wahrer Shoppingerfolg ist. Der Erzäh­
ler sagt, er habe sie sie aus Historienfilmen gekannt („seen them on the TV, the movie show“). Er findet, nachdem er die Vergangenheit kennengelernt hat, dass diese gar nicht so viel bedeutender oder besser sei als die Jetzt–Zeit („They say the times are changing but I just don't know“), und ist froh, dass sie vergangen ist („Over a long time ago, oh yeah“). Damit erhielte der letzte Refrain gegenüber den ersten beiden eine gegen­
teilige Bedeutung bei gleichem Wortlaut. Viele weitere Deutungen des Songs sind denkbar, womit Becker und Fagen offenbar zufrieden sind:
Fagen: I think the important qualities come through. You can only do so much with a song. It's not a novel. And because we're more literary, we use more literary techniques.
Becker: That's true. In many cases, we're writing short story–type plots into our songs.
Fagen: We can't put all the details in or we'd have a lousy or pretentious song. And we certainly don't want to do that. (Anonym: Lyrics; SDIR)
70
Der stop chorus in der dritten Strophe reflektiert in dieser Lesart das Stolpern des reaktionären Nostalgi­
kers über die Erfahrung, die ihn eines Besseren belehrt. Das für Walter Becker außergewöhnlich wilde und verzerrte Gitarrensolo („Did I play that?“; Sweet: 70) verarbeitet Bluesrock–Klischees, betont so die Ironisie­
rung des Blues und gesteht gleichzeitig seine Modernisierung in diesem Kontext ein.
'Black Friday' und 'Chain Lightning' (1975) und 'Cousin Dupree' (2003) sind weitere Stücke, die das har­
monische Schema des Blues benutzen und in der Mitte abbiegen. Konsequent im Zwölftakter gehalten ist ausschließlich 'The Last Mall' (2003). Die Strophe von 'Peg' enthält eine besondere Bearbeitung des Blues.
III.2.b.3 Peg, it will come back to you
'Peg' (1977) war die erste und erfolgreichste Singleauskopplung (Platz 11) von Aja. Der Formablauf ist song­
artig, ohne C–Teil, aber mit eigenständiger Introduktion: I – A – A – B – I – A (Solo) – A – B'. Anders als in 'Pretzel Logic' ist der Blues hier zunächst nur harmonisch vorhanden und bildet das Prinzip der Strophe (A), allerdings mit der Besonderheit, dass in jedem Takt eine plagale Kadenz zum jeweiligen Hauptakkord in io­
nisch gespielt wird. In dem Film Donald Fagen: Concepts for Jazz/Rock Piano behauptet Fagen, dass die Hauptakkorde71 nicht als ionische Vierklänge, sondern als „stack of fourth“ ohne Terz und Septime gespielt werden. Auch im – sehr nachlässig notierten und fehlerhaften – Begleitheft zur DVD (S. 5) ist notiert:
Fagens linke Hand ist in dieser Transkription nicht berücksichtigt. Im Film sowie in allen live–Versionen ab 199372 spielt Fagen fünfstimmige µ–Majors als Hauptakkorde:
71 Ich meine damit die nach dem Blues–Schema jeweils geltenden Stufen I, IV oder IV, also den zweiten Akkord in je­
dem Takt.
72 Vgl. die Versionen auf Alive in America, Classic Albums: Aja, VH1 Storyteller's, Plush TV Party
71
Everett (221) notiert Dreiklänge, aber mindestens im falschen Rhythmus zeigt sich, dass er hier nicht rich­
tig hingehört hat:
Pearl (9) notiert nur Akkordsymbole, und er hält es mit Fagen, indem er auf allen Stufen die gleiche Ka­
denz IVmaj7 – Iadd9 (=µ–Major) notiert.. Beim Hören der Originalaufnahme fällt auf, dass Terz und None häufig im selben Register klingen. Das mag daran liegen, dass hier ein Hohner Clavinet und ein Fender Rhodes die­
selbe Figur in verschiedenen Registern spielen. Das Original ist nicht transparent genug, um die voicings der verschiedenen Tasteninstrumente eindeutig zu identifizieren. Bei den Zwischenkadenzen ist die Terz manch­
mal nur schwer oder nicht zu hören, was einen schwebenden Charakter herstellt und die Errichtung eines ei­
genen tonalen Zentrums verhindert. Wegen der Undeutlichkeit, evtl. Unregelmäßigkeit, habe ich diesen Um­
stand in der Transkription (s. S.104f.) nicht berücksichtigt. Die Introduktion ist eine Annäherung an den mo­
tivgebenden Rhythmus aus drei punktierten Achteln, oder eine kleine Durchführung über sein Thema: jedes Motiv besteht aus diesem Rhythmus und beleuchtet ihn und seine Artikulationsmöglichkeiten auf verschiede­
nen Zählzeiten. Den Grundrhythmus aus punktierten Achtelnoten im A–Teil ohne den Wechsel zwischen IV und I zu spielen, wäre, mit Fagens Worten: "funny but a little boring." (Concepts..., 0:16:40). Die Wahl des halbtakti­
gen Wechsels beschleunigt den harmonischen Rhythmus um ein Vielfaches: Statt nur fünf finden 23 Akkord­
wechsel in zwölf Takten statt, und doch bleibt der altbekannte harmonische Rhythmus des Blues hörbar er­
halten, weil die Bewegung IV – I einem Quartvorhalt ähnelt und der Hauptakkord jeweils deutlich stärker ist.
In der Gesangsmelodie der Strophe lassen zwei Dinge eine entfernte Verwandtschaft mit dem Blues beste­
hen: In den ersten acht Takten bewegt sie sich pentatonisch, allerdings in Dur und mit Anpassung an den je­
weiligen Hauptakkord; in Takt neun bewegt sie sich von der Quinte über die große Sexte auf die kleine Septi­
me, was eine sofortige Blues–Assoziation evoziert und, gegen den Gmaj7–Akkord, auch nur durch einen Blues–
Kontext zu rechtfertigen ist.
Im Text spricht der Erzähler eine nicht anwesende Berühmtheit namens Peg an. In der ersten Strophe gra­
tuliert er ihr lediglich für ihren jüngsten Erfolg und ermutigt sie, sich den Erwartungen gemäß zu verhalten ("when you smile for the camera / I know they're gonna love it"). Gedanken an eine große Premierenparty werden evoziert: Pegs Name leuchtet über ihrem Bild; großes Debut; Fotografen, für deren Kamera gelächelt wird. Die zweite Strophe präzisiert das "picture" zu einem "pin shot", und es ist anzunehmen, dass Peg eine Pornodarstellerin ist: Das Foto ist "done up in blueprint blue" 73, was auf die gängige pseudo–diskrete Be­
zeichnung blue movie für 'Erotikfilme' anspielen dürfte. Der Erzähler erkennt die Kleiderauswahl auf dem 73 Blueprint=Blaupause, Entwurf, Idealvorstellung
72
Foto (vermutlich keine Kleider, also das „blueprint blue“) an: "it sure looks good on you." Alle weiteren Be­
standteile des Textes sind mehrdeutig. Der Erzähler, eine nur schwach schimmernde Version der 'Steely Dan persona', ist entweder
a) ein Fan, der als Antwort auf seinen Fanbrief eine Autogrammkarte mit standardisiertem Antwortbrief bekommen hat. Der Song gibt die Projektionen wieder, deren Funktionieren beim Konsumenten den Erfolg von Pornographie ausmacht: Der Konsument gibt sich der Illusion hin, die Darstellerin würde sich auf ihn be­
ziehen, ihn anlächeln und seine Meinung hören wollen: "It sure looks good on you".
oder b) Pegs Liebhaber, der sich selbst am Erfolg seiner Freundin aufwertet. Walter Beckers „Quick read song quotes“ (Alive in America) sprechen für diese Interpretation: "Girlfriend. Narcissistic. Showbiz. Cult of self. Karmic payback."
oder c) der Filmproduzent oder Regisseur, der Pegs Bewerbungsbrief und –foto aufbewahrt und sich auf die obligatorische erste Nacht74 freut. Ob es hier um 'seriöse' oder Pornoproduktionen geht, ist offen. Wenn 'seriös', dann machen die pornographischen Anspielungen gerade die informellen Gemeinsamkeiten der bei­
den Genres stark: Dass das Foto ein 'pin shot' ist, kann der Phantasie bzw. Projektion des Betrachters ent­
springen oder auf die Ähnlichkeit von 'aussagekräftigen' Bewerbungsfotos und pin–up–Bildern anspielen. In allen drei Varianten kann die Zeile "So won't you smile for the camera / I know I'll love you better" zweierlei bedeuten: "Ich werde dich mehr lieben als zuvor" oder "Ich mach's Dir besser (als die Kamera)."
Der Refrain (B) wiederholt den ersten Takt der Strophe – mit Terz im Bass unterm Tonika–Akkord – und sequenziert ihn parallel in Moll, um dann die Figur des chromatisch fallenden Basses bei liegender oder sich stufenweise bewegender Oberstimme durchzuführen: von der Doppeldominante mit Terz im Bass auf die Subdominante; und von der Tonika auf die Zwischendominante zum schließenden Bebop–turnaround (T.27f.)
Unter der Voraussetzung, dass Mehrdeutigkeiten gewünscht und intendiert sind, spricht der Refrain für die dritte meiner Textinterpretationen. "It will come back to you" ist einerseits das machistisch–großzügige Versprechen des Produzenten: 'Es – die Nacht mit mir – wird sich für dich lohnen!', andererseits der griechi­
sche Chor, das von Becker angedeutete „karmic payback“: 'Es – die Nacht mit ihm oder die Rolle im Porno­
film – wird dich einholen!' Harmonisch ist hier eher die bedrohliche Seite enthalten: mit den Worten "back to you" kommt das Stück erstmals auf die Tonikaparallele – den Normalzustand in Moll, der vielleicht galt, be­
vor der Karrieresprung das aufgeregte, nach ständiger plagaler (=ritueller) Bestätigung verlangende Dur eta­
blierte. Die Redewendung „The shutter falls“ aus der nächsten Zeile bezeichnet in der Fotografie den Moment der Aufnahme. Der "shutter" kann aber auch die Jalousie vor dem Schlafzimmerfenster des Produzenten sein. "You see it all" ist ein klassischer Werbeslogan des US–amerikanischen Kinos. "Then the shutter falls / You see it all", singt Fagen, um leise und undeutlich zu erklären: "in 3–D". Das bedeutet, dass die Beteiligten dem Gesehenen beiwohnen: dem sexuellen Akt im Schlafzimmer, dem sexuellen Akt vor der Kamera oder der sonstigen Szene vor der Kamera. Mit der Wendung in den letzten beiden Zeilen wendet sich auch das Stück, der turnaround führt das Geschehen wieder an den Anfang, das folgende zweitaktige Interludium führt noch­
mal plagal zur Tonika der Introreprise, und diese ins hawaiianisch schillernde Gitarrensolo.
Gitarrist Jay Graydon aus Los Angeles, der sonst auf keiner Aufnahme Steely Dans in Erscheinung tritt, war der achte Gitarrist, der sich an einem Solo für 'Peg' versuchte. Unter anderem Walter Beckers, Larry Carl­
tons und Robben Fords Versuche waren erfolglos geblieben (vgl. Sweet: 61).
74 Z.B. in den Vierzigern war es in Hollywood durchaus gängig, dass der Weg zu weiblichen Rollen durch das Bett des Produzenten führte. Vgl. Thomson: 21, 67,77
73
Becker: There were many instances when we conceived what we thought were dynamite solo sections, but then nobody was comfortable with it. We were wrong in thinking that so–and–so would rip this one right off. (Sweet: 121)
1999, im Interview zu Classic Albums: Aja (0:16:20) sitzen Becker und Fagen in einem Tonstudio, spielen die Originalbänder ab und erklären einzelne Tonspuren für den Zuschauer. Dabei kommen sie auf die Idee, einige der misslungenen Solo–Versuche über Peg anzuhören, nennen dabei aber nicht die Namen der Spieler. Tonal berücksichtigen alle Soli nur die Hauptakkorde des Blues und ignorieren die halbtaktigen Akkordwechsel, was deren Nähe zum Quartvorhalt gerecht wird. Bei der Beachtung des harmonischen Rhythmus des Blues versagt aber der erste gehörte Versuch. Der Spieler hält den letzten Takt der Introduktion, weil hier das Schlagzeug einsetzt, für den ersten des A–Teils. (Ich habe der Übersichtlichkeit halber nur die Hauptakkorde notiert.) Dementsprechend bewegt er sich schon im vierten Takt der Form auf die Subdominante, bemerkt den Fehler und führt sein Subdominantmotiv über drei Takte fort. Akkord/Skalen–theoretisch ergibt der Feh­
ler bei dem gewählten Motiv kein Problem, aber die Motivik wirkt blass und unsicher, und die Blues–Form gerät aus den Fugen. In Takt eins der Form versucht er, das lange e'' bis zum g'' hochzuziehen (bending), schafft es aber nur bis zu einer hässlichen Frequenz zwischen f# und g. Die Timingschwäche in Takt drei zeugt von Nervosität. Mit den vielen kurzen Tönen und der nervösen Artikulation scheitert das Solo daran, sich selbstbewusst im Stück zu situieren, es bleibt suchend und unsicher.
Fagen: „There you go. In other words.“
Becker: „Speaks for itself, really“
Fagen: „Let's try see if we find another one!“
Becker: „This is probably the last guy to try it before Jay did it:“
74
Der Einstieg des zweiten Versuchs ist entschieden und flink, aber wieder auf der falschen „Eins“. Die Viertelpause auf der 'Eins' von Takt vier gibt dem Spieler nicht genügend Zeit, zu bemerken, dass er noch nicht in Takt fünf ist, und er spielt sein Subdominantmotiv, dass wie oben hauptsächlich aus e'' und g'' besteht. Er versucht, die Phrase durch einen Abwärtsslide zu retten und auf der wirklichen Subdominante neu anzuset­
zen. Wie zufällig landet er auf der fünften Sechzehntel im nächsten Takt und spielt eine kurze, unmotivierte Phrase, an deren Ende der Triller misslingt und der Ton verschwindet (auf der 'Vier und' in Takt 8; Fehler nicht notiert). Beim wieder unsouverän intonierten bending von a' nach b' (Takt 9) und der anschließenden klischeehaften Sechzehntelphrase in Takt 10 bemerkt Fagen: „Wouldn't you hate if someone did this to you?“ Dabei überhört er das flinke Bebopklischee mit Sextoleneinlage und mehreren chromatischen escapes in Takt 11. Becker (nickend): „And then finally Jay Graydon came in and did it with no... difficulty whatsoever:“
Jay Graydons Solo ist den beiden behandelten Versuchen an rock–gemäßer Souveränität sowie an tonaler Klarheit weit überlegen. Mit dem definierten Einstieg aus schnellem Auftakt und punktierter halber Note auf der 'Eins' hält Graydon sich nicht nur an die schwer hörbare 'große Eins' der Form, sondern er stellt sie un­
75
missverständlich klar. Gleichzeitig schweben die legato umhergeschobenen Terzen der Einstiegsphrase und ihrer Sequenzierung in genau den Wolken, die in der Notation durch die vielen Bindebögen erscheinen. Wie ein Blitz schießt Graydon in zwei Quinten abwärts aufs g' (Takt 4), um dann ab der Subdominante das Tempo stetig zu erhöhen. In der eckigen Kolloratur von Takt 9 und 10 kommt er auf 'Pegs' Grundrhythmus aus punk­
tierten Achteln zu sprechen, die er mit Sechzehnteln füllt. Die nächste Stufe sind wirre Sextolen, die gemein­
sam mit der geprüften Schauspielerin die Karrieresprungschanze herunterstolpern, um mit der entschiedenen Zweiunddreißigstelnote abzuspringen, in einem perfekten Bendingbogen das hohe g'' zu streifen und auf den blue notes am Ende von Takt 10 allmählich zu landen. Die Schlussphrase setzt sich selbstsicher bis zur 'Eins' der nächsten Strophe fort und spielt in den Gesang hinein noch ein bisschen mit der Artikulation, während sie ausklingt. Diese Art von Ausstieg gefällt Becker und Fagen offenbar, sie charakterisiert viele Saxophon– und Gitarrensoli im Hauptwerk: Das Solo fügt sich in den Fluss des Stückes ein und übergibt die Aufmerksamkeit gleitend an den Sänger, anstatt spektakulär zu enden und noch Platz für Szeneapplaus zu lassen. Das erste der drei besprochenen Soli ist so eindeutig unterqualifiziert, dass sich anhand seiner Verwerfung keine besonders hohen Ansprüche Beckers und Fagens belegen lassen. Das zweite ist ein wenig souveräner. Besonders wegen des Scheiterns am richtigen Startpunkt der Blues–Form muss man davon ausgehen, dass beide Takes jeweils den ersten Versuch eines Gitarristen darstellen, denn dieser Fehler wäre leicht zu korri­
gieren gewesen und beim zweiten mal nicht mehr passiert. Offenbar haben beide keine zweite Chance erhal­
ten, was doch wiederum ein Indiz für eine spezifisch anspruchsvolle Arbeitsweise ist. Das schließlich veröf­
fentlichte Solo beweist also nicht, indiziert aber, wie wählerisch vorgegangen wird, weil es dem Anspruch ohne jede Mühe gerecht wird und sich in 'Peg' einfügt, als wäre das Stück um das Solo herum komponiert worden.
III.2.c Rhythm & Blues
Wie im Blues ist auch im Soul und Rhythm & Blues das Ich der Singenden selten getrennt vom lyrischen Ich der Songs. Im Gegensatz zum country blues und seiner Legende muss Rhythm & Blues als komplexer ver­
mittelte, schon im entwickelten Kulturbetrieb entstandene Musik verstanden werden, die Gospel und Country einbindet (vgl. Gregory: xi ff.) Die üblicherweise behandelten Probleme sind ebenfalls Blues–verwandt aber gleichzeitig vermittelter und nicht so existentiell. Dies gilt vor allem für die Beziehungsprobleme, zum Teil aber sogar für die Behandlung des Konflikts von Afroamerikanern in den 'weiß' dominierten USA. Die zwölftaktige Form findet sich ebenfalls häufig wieder, meist aber in Teile zerlegt und/oder eingebunden als Formteil eines Songs. Diese Punkte werde ich anhand einiger Stücke von Aretha Franklin und Marvin Gaye herausarbeiten, um einerseits die Aspekte, die in Steely Dans Werk eingeflossen sind, andererseits diejenigen, denen Steely Dan sich verweigern, zu bestimmen.
III.2.c.1 I never loved a man (the way I love you)
Im Soul gilt es als 'authentisch', als erstrebenswert im Sinne der Interpretationsdisziplin 'feeling', wenn der Sänger bzw. die Sängerin sich dem Song möglichst vollständig anpasst und die im Text behaupteten Gefühls­
regungen in der Interpretation verdoppelt. Die Existenz des 'Steely Dan character', der außer– oder oberhalb der Komponisten und Interpreten Becker und Fagen wandelt, legt den Schluss nahe, dass es dieser Authenti­
zitätsanspruch des Soul nicht sein kann, woran Becker und Fagen sich hier bedienen. Und doch sind Aspekte 76
der Vortragsweise aus dem Frühwerk etwa Marvin Gayes und Aretha Franklins75 in Steely Dans Gefüge aus Musik, Textoberfläche und Subtext eingegangen.
Gayes früher Hit 'Ain't that Peculiar' (1965) gehörte Anfang der Siebziger offenbar zum Standardreper­
toire von Steely Dans Bandmitgliedern, so dass er mitunter zum Soundcheck gespielt wurde (vgl. Anonym: Steely Dan live; SDIR). Die musikalische Oberfläche der Originalversion ist trotz des Tempos von 160 bpm ein relativ ruhiger, aber treibender Groove. Der backbeat ist durchweg gedoppelt mit dominantem Händeklat­
schen aus der Gospeltradition, das hier aber sehr gleichmäßig und eng gespielt und mit deutlichem Hall auf den linken Kanal gemischt ist. 'Peculiar' ist keiner von Gayes religiösen Texten, und so dient der drive der hand claps dazu, die gutgelaunte Oberfläche gegen den irritierenden Text aufrecht zu erhalten.
Ain't that Peculiar (Smokey Robinson/Ronald White, 1965; Auszug)
Honey,
You do me wrong but still I'm crazy about you Stay away too long and I can't do without you
Every chance you get you seem to hurt me more and more But each hurt makes my love stronger than before I know flowers grow through rain But how can love grow through pain Zwar erklären die Strophen, in einem long–meter–Blues von eigentlich 24 Takten, minimal abgeändert auf 23, weitgehend den enthaltenen Antagonismus und die Missverständnisse, die ihn aufrecht erhalten:
2. Str.: It's a dog gone shame my love for you makes all your lies seem true
3. Str.: Maybe baby you think these tears I cry are tears of joy Aber die resultierende Spannung bleibt lebendig nicht nur wegen der musikalischen Gestaltung, sondern auch weil jede Strophe mit einer unbeantworteten zweiteiligen Frage danach endet, wie Liebe sich unter diesen Umständen entwickeln könne. Die erste Strophe ist oben zitiert, zwei weitere Fragen lauten:
2. Str.: But if the truth makes love last longer / Why do lies make my love stronger
3. Str.: I know love can last through years / But how can love last through tears Die viel zu harmlos klingende und mit gospelhafter Zuversicht interpretierte Frage aus der hook line: „Ist das nicht seltsam?“ distanziert sich von dem Leid aus den Strophen, und motiviert die unangemessene Leich­
tigkeit des Vortrags:
75 Künstler, die von Becker und Fagen wie selbstverständlich als wichtige Einflüsse gehandelt werden; vgl. z.B. Gillett: Donald Fagen Spins His Favourite Records; SDA
77
Ein etwas anderes Gefüge weist 'I Never Loved a Man (the Way I Love You)' (1967) auf, welches als Are­
tha Franklins Durchbruch nach dem Wechsel von Columbia Records zu Atlantic gilt.
I Never Loved a Man (The Way I Love You) (Ronny Shannon, 1967; Auszug) You're a no good heart breaker
You're a liar and you're a cheat
And I don't know why
I let you do these things to me
My friends keep telling me
That you ain't no good
But oh, they don't know
That I'd leave you if I could
78
Franklin singt die Zeilen in einer spannungsgeladenen stop&go–Weise, die sich von ihrem typischen leicht belegten Timbre in mittlerer Stimmlage im Laufe des Stücks hochschaukelt zu höherer, verzweifelter Energie um es'' und f''. Damit liegt die Spannung bei ihr gleichermaßen in der Musik und im Text, während Gayes Beitrag zum gleichen Thema eher die Musik und die Textoberfläche gegen die Textbedeutung kontras­
tiert. Beide Stücke können so als Vorläufer derjenigen Steely Dan–Stücke betrachtet werden, in denen das ly­
rische Ich sich im Zwiespalt zwischen Liebe und Leid befindet. Das am Anfang dieser Arbeit besprochene 'Dirty Work' ist als erstes dieser Stücke zwar am nächsten an 'I Never Loved a Man', stellt aber einen Rückfall hinter die Spannungskonstruktion des frühen Soul dar, weil dem unverschlüsselten, mäßig tragischen Wider­
spruch im Text auch auf der musikalischen Ebene nichts entgegensetzt ist. Das im gleichen Kapitel zitierte 'Almost Gothic' enthält aber einen ähnlichen, bloß eloquenteren, Gestus der Verwunderung wie 'Peculiar'. Und die erschöpft rebellierende Spannung von 'I Never Loved a Man' findet sich teilweise wieder in 'Black Cow' (1977) und Beckers 'Book of Liars' (1994), allerdings immer in der Textoberfläche und nie im Gesang. Analog zum Verzicht auf stimmungsinduzierende Sounddesigns und schockende Effekte werden auch hier Gestus und Bedeutung nur durchs Material errichtet; der Vortrag wird ausschließlich nach immanent musika­
79
lischen Kriterien beurteilt und fällt allenfalls mal sanfter ('Almost Gothic') und mal rauer ('Do It Again') aus.
Die im Soul übliche Verdopplung lyrischer Stimmung im Vortrag sorgt bei den beiden frühen Beispielen von Franklin und Gaye noch für Spannung, verliert aber im Laufe der siebziger Jahre an Reiz in dem Maße, in dem die Texte nach einfacheren Aussagen und Lösungen streben. Schon 1971 veröffentlicht Marvin Gaye sein als 'politisch' geltendes Album What's Going On, in welchem er fast durchgängig besorgte Parolen über den Zustand der Welt vertont. Das Titelstück eröffnet das Album und beginnt mit den Worten:
Mother, mother
There's too many of you crying
Brother, brother, brother
There's far too many of you dying
You know we've got to find a way
To bring some lovin' here today
Father, father
We don't need to escalate
You see, war is not the answer
For only love can conquer hate
You know we've got to find a way
To bring some lovin' here today
Picket lines and picket signs
Don't punish me with brutality
Talk to me
So you can see
Oh, what's going on
What's going
Ya, what's going on
Ah, what's going on
Nachdem 'What's Going On' ausgeblendet wird, setzt das nächste Stück den Schlussteil des ersten in etwas langsamerem Tempo fort. Es heißt 'What's Happening, Brother' und beginnt wie folgt (Gitarre und Klavierbe­
gleitung nicht transkribiert):
Nach dieser Introduktion singt der Sänger über weiterhin modale Akkordwechsel:
Hey baby, what'cha know good
I'm just gettin' back, but you knew I would
War is hell, when will it end,
When will people start gettin' together again
Are things really gettin' better, like the newspaper said
What else is new my friend, besides what I read
Can't find no work, can't find no job my friend
Money is tighter than it's ever been
Say man, I just don't understand
What's going on across this land
Ah what's happening brother
Oh ya, what's happening my man
80
Die Gegenüberstellung der vorgefundenen Missstände Krieg, Tod, Ignoranz und Verzweiflung einerseits und der Gegenmittel Liebe (sowohl „lovin'“ als auch „love“), Verständnis und „getting together“ andererseits zieht sich durch das gesamte Album (bei einigen Songs kommt Gottesglaube auf der Seite der Gegenmittel dazu.) Beide Stücke zeichnen sich durch gleich bleibende grooves bei ähnlichen Tempi (100–104 und ca. 97 bpm) aus, weiter durch wenig harmonische Bewegung und schwerfällige Saxophon–, Chor– und Streicherme­
lodien, deren Motive sich vornehmlich auf der neunten, siebten und fünften Stufe der Durtonleiter bzw. in Moll parallel auf der elften, neunten und siebten bewegen. Im vierten Stück des Albums, 'Save the Children', verdichtet Gaye dieses Pathos, indem er das beschriebene Klanggefüge aus pentatonischer Basslinie, Conga­
begleitung und unisono–background von Chor und Streichern beibehält und darüber jede Zeile seines Textes erst in sanft–besorgtem Ton spricht und dann, auf einer anderen Tonspur, in der trüb–traurigen 5–7–9–11–
Motivik singend wiederholt:
Die außergewöhnliche Konsequenz und Monothematik dieses Albums, in der alle Ebenen gemeinsam – Text, Motivik, Interpretation, Begleitung – die selbe Stimmung errichten, mag in einer spezifischen Situation 1971 ihren Sinn gehabt haben, etwa als Verweigerung von guter Laune oder als Unterbrechung zum Zwecke des Aussprechens trauriger Wahrheiten – Stilmittel, die Gaye zum Antipoden James Browns innerhalb des Soul gemacht haben könnten. Da er aber nur Lösungen anbietet, die sich auf der gleichen Ebene bewegen wie das Problem – Liebe und Verständnis gegen Hass und Ignoranz –, statt auf der Ebene möglicher Ursachen nach Veränderung zu suchen, reicht das Stilmittel des Aussprechens trauriger Wahrheiten nicht weit. Sofern sich weiter kein Subtext findet, verliert es an ästhetischer Kraft und verkümmert zu Selbstmitleid.
Dagegen fördern die ironischen und mehrfach verschlüsselten ground zero–Bezüge von Fagens Morph the 81
Cat wesentlich mehr über ihren Gegenstand zutage: Gerade indem der Sicherheitswahn in eine Liebesge­
schichte übersetzt wird ('Security Joan', s. III.1.f.3), kommt seine Absurdität zu Geltung, aber er wird eben nicht als rein bürokratisches Machwerk ohne jede Beteiligung des Bürgers und seiner Bedürfnisse dargestellt. Indem die New Yorker ihre Heilserwartung auf eine ambivalente Riesenkatze (III.1.e.3) projizieren, werden sie glücklich, aber auch betäubt – und sie haben nur darauf gewartet. Und indem der Staat gegen seinen eige­
nen Schutzauftrag ausgespielt wird ('Mary Shut the Garden Door'), fällt die eindeutig affirmierbare Schutz­
macht weg, die Paranoia des Bürgers entlarvt sich gerade in der paranoiden Textoberfläche.
Der Refrain von 'I Never Loved a Man' zeigt drei im frühen Soul typische Arten der Verwendung von Blasin­
strumenten: in Takt 1 bis 4 als pad (liegende Akkorde) zur Unterstützung des sich aus der Strophe heraushe­
benden Akkords (meist Subdominante oder Dominante) am Beginn von Refrain oder C–Teil; zweitens als rhythmisches Kommentar zur Tonika in höheren Registern (Takt 5–7); schließlich in Takt 11 die Unterstüt­
zung des schon aus der Strophe bekannten Rhythmusgruppengeschehens. Letztere hat hier wegen der Linie 1–b3–1 in der Oberstimme und der Plagalkadenz (C–Fm–C) vor allem tonikabestätigende Wirkung. Die zweite Art, Blasinstrumente zu arrangieren, zitiert Fagen76, am reinsten in seinem spätesten Werk, am Ende des C–Teils von 'Morph the Cat'. Die Katze schröpft die Dächer und die Glocken fangen an zu klingen, in Form von zwei Trompeten, die sich eine Weile unisono auf e'' ausruhen (Takt 3–6). Zum Gitarrensolo in G–Dur führt ein delikat eng gesetzter turnaround in e–Moll (T.5), dessen Dominante theoretisch über die Kleinterzverwandtschaft zur verkürzten echten Dominante D7(b9) (= Eb° = C° = B7(b9)) zu rechtfertigen ist, wegen des sparsamen Voicings a–b–c' und des von B nach G hinabschießenden Basses aber eher als Trugschluss zur Durparallele zu deuten ist. Das Solo wird begleitet vom hohlen Ton dreier verschie­
76 der für die meisten Bläserarrangements im Spätwerk alleine verantwortlich zeichnet
82
den gedämpfter Trompeten: harmon mute in der Oberstimme, cup mute in der Mitte, in der Unterstimme of­
fen. Der Satz führt – ähnlich dem in Takt 11 von Aretha Franklins Refrain – die b3 ein, aber nicht als blue note, sondern als Ergänzung des Akkords zum G7(#9). Auch darin, dass er nicht die Rhythmik der Harmoniein­
strumente mitmacht, sondern sich kontrapunktisch zur Pianolinie verhält, übersteigt der Trompetensatz die Arrangiertechnik des frühen Soul.
'Hey Nineteen' (1980) ist, wie in Kap. III.1.e.2 angedeutet, eine „mechanical version of early rhythm and blues.” Es transportiert damit den Generationenkonflikt zwischen dem Ich und der neunzehnjährigen Geliebten (“No we've got nothing in common”), die sogar zu jung ist, um Aretha Franklin zu kennen:
Hey Nineteen That's 'Retha Franklin
She don't remember The Queen of Soul
It's hard times befallen The sole survivors
She thinks I'm crazy But I'm just growing old
Die maschinell–tote Schlagzeugspur, die ganz und gar aus dem Jahr 1980 stammt, und die den Sechzigern verpflichtete „warm obligato guitar juxtaposed against that” kommen nicht zusammen. Zwischen ihnen entsteht der seltsame groove, in dem das ungleiche Paar sich befindet: “No we can't dance together”. Angesichts des jungen Alters von 28 und 30 Jahren, in welchem Becker und Fagen sich – oder ihr Drittes – hier als alten Sack darstellen, scheint ihr eigener frühreifer Generationenkonflikt innerhalb der Rockmusik in das Stück gegossen zu sein: Keiner von den Rockern bezieht sich mehr auf Soul und Jazz oder bemüht sich sonstwie um Qualitätsstandards! Was den 'Steely Dan character' betrifft, so hat er mit 'Hey Nineteen' als resignierter Fast–Pädophiler den Sprung in die Kaufhauslautsprecher geschafft. Dazu William Gibson:
[...] At which point I look around Frozen Foods and wonder: "Is anyone else hearing this?" Do the people who program these supermarket background tapes have any idea what this song is actually about? On this basis alone I have always maintained that Steely Dan's music was, has been and remains among the most genuinely subversive oeuvres in late 20th–century pop. (a.a.O.)
III.2.c.2 I never seen you looking so bad my funky one77
Um 1976 beginnt James Brown, den Funk – die Ekstase des Gospel, die er durch sture eintaktige Ostinati und strenges Timing mit Sechzehntelsynkopen zur Reinform gebracht hat – mit der stampfenden „four on the floor“ bass drum zu unterlegen und in Richtung Disco zu entwickeln.78 Zur gleichen Zeit wenden sich Steely Dan dem Funk erst zu, binden das konstitutive eintaktige riff aber in fortlaufende Kompositionen ein. Bei 'Kid Charlemagne' (1976) bedient sich die Rhythmusgruppe aus Bernard „Pretty“ Purdie und Chuck Rainey eines Funk–Klischees mit schwerer prä–Disco–Hihat und einer agilen Basslinie wie von James Jamerson aus frü­
hen Motown–Zeiten, während Strophe und Refrain sich frei durch die Diatonik von a–Moll mit gelegentlicher tritonusvertauschter Dominante bewegen. Fagen singt in Sechzehntelsynkopen die Geschichte eines ehemals gefeierten Acid–Designers, und der Funk liefert das langsame aber hektische Tempo für dessen Flucht aus der Stadt, weil Halluzinogene nicht mehr in sind und seine Küche zu viele belastende Beweise enthält. 77 Steely Dan: 'Any Major Dude Will Tell You' (1974)
78 Vgl. Gregory: 49. Außerdem die Brown–Stücke 'Get up offa that Thing' (1976) und 'It's too Funky in Here' (1979)
83
'Green Earrings' (1976; Transkription s. S. 107) schiebt den schon angesprochenen Quartenstapel, hier 4–7–
b3, jeweils chromatisch von unten angespielt, parallel durch die Gegend wie nur ein „Hindemith gone haywi­
re in Harlem“. Die Handlung von einem Dieb, der (nahestehenden) Frauen wertvolle Juwelen klaut und sich nichts aus ihren erschrockenen oder vorwurfsvollen Blicken macht, ist undeutlich versteckt hinter den weni­
gen, kurzen und kryptischen Worten des Gesangs, die vor allem rhythmischen und klanglichen Belangen die­
nen. Wieder ist es nicht die Art des Vortrags, die den Funk–Bezug und den musikalischen Stellenwert des Gesangs ausmacht, sondern das Material. Fagen singt wie immer ohne soulige Schnörkel oder die funky Ne­
bengeräusche eines James Brown oder Michael Jackson. Die Auswahl der Worte nach musikalischen Kriteri­
en macht sich besonders in der zweiten Strophe (s. Transkription) bezahlt, wenn die Leadgitarre den Gesang beantwortet und paraphrasiert. „Greek,“ singt Donald Fagen, „griiek“ macht die Gitarre.
III.2.c.3 I never had no problems burnin' out the one night stands79 – R&B und Identität
Ab 1949, als das Billboard Magazine in seinen Charts die Kategorie „race recordings“ aus politischen Grün­
den in „Rhythm & Blues“ umbenannte (vgl. Continuum Vol. IV: S. 411), verbreitete sich dieser Name für die Musik, die als typisch für afro–amerikanische Künstler angesehen wurde oder wird, mit Ausnahme des Jazz, der in separaten Charts berücksichtigt ist. Die Sonderung 'schwarzer' von 'weißer' Popularmusik ist damit nicht etwa aufgelöst, sondern auf eine kulturell positiv besetzte Ebene gehoben, und der Blues hängt so dem afro–amerikanischen Popmusiker als Label an, völlig unabhängig von seiner tatsächlichen Erscheinung in Harmonie oder Gestus. Die positive Sonderung ist freilich kein Werk der billboard charts und der 'weißen' Musikwelt allein, sondern auch längst eines der Bindungselemente innerhalb der 'black community' – in Ver­
bindung mit der tatsächlichen Erfahrung des negativen weißen Rassismus, versteht sich. In diesem Zuge singt 79 Textzeile aus dem – ironischen! – Song „Play that Funky Music, White Boy“ (1976) der 'weißen' Band Wild Cherry, häufig irrtümlich James Brown zugeschrieben.
84
bzw. ruft James Brown 1968 im Wechsel mit einem Kinderchor: „Say it loud – I'm black and I'm proud“. So­
wohl das positive, selbstreferentielle Zelebrieren der 'schwarzen' Kultur als auch Melancholie oder Wut ange­
sichts der traditionsreichen Unterdrückung und Ausgrenzung eignen sich besonders gut als Material für die nach 'Unmittelbarkeit' strebende Interpretationsweise des Soul und die gospelverwandte Ekstase des Funk.80 Beispiele für den ersten Fall sind James Browns 'Too Funky in Here' (1979) oder India Aries '(You know I love your) Brown Skin' (2001). Den zweiten Fall illustrieren Curtis Mayfields 'We People who are Darker than Blue' (1970) oder Living Coloürs 'Pride' (1990). Und wenn Me'Shell NdegeóCello in 'Dead Nigga Blvd. (Pt. 1)' (2002) singt „No longer do I blame white folks for the way that we be“, versucht sie die schwarze Identität von ihrem negativen Ursprung in der Unterdrückung zu lösen, aber nicht etwa sie aufzulösen und die Einteilung in 'schwarz' und 'weiß' als das zu benennen, was sie ist: wissenschaftlich unhaltbar81 und herr­
schaftsgeschichtlich entstanden. Die positive Wendung der einst negativen Zuschreibung und Zugehörigkeits­
behauptung zieht sich als konstitutiver roter Faden durch die Strömungen der 'black music'. Die Ironie des Blues kommt dabei zunehmend abhanden. „The trickster appears to be happy and harmless, traffics in decep­
tion and disarms with a smile. The average rapper, though, would rather get shot than smile in public.“ (Cobb: 24). Was Gaye in beiden besprochenen Phasen noch aufbringt, ist die Fähigkeit, Schwäche und Leid zu zeigen und zu thematisieren – zuerst ironisch, dann selbstmitleidig. Bei James Browns selbstbeweihräu­
chernden Funk–Hymnen fällt dieses Element schon weg, während das Lächeln im Gegensatz zum gangsta rap noch erhalten bleibt. Wenn Fagen sagt: „The be–boppers had a way of dealing with the white world that amounted to a kind of intense irony and that influenced us.“ (Sweet: 122), dann stellt er sich damit im rassis­
tischen Konflikt durchaus auf die Seite der historisch Unterlegenen, dabei aber zu derjenigen Gruppe, die – seiner Meinung nach – durch Ironie der Identitätsfalle entgehen kann. Sofern sich Becker und Fagen keiner solchen politischen oder kulturellen Identität verpflichtet sehen, haben sie die Freiheit, die Ironie gegen das zu wenden, was in ihrem eher universalistischen Blickwinkel als Zumutung daherkommt. Und dazu gehört selbstverständlich der historische und aktuelle Rassismus, aber auch positiv gewendete Gegenidentitäten. So ist es wohl das Angemessenste, neben dem schmierigen Liebhaber 19jähriger Frauen im gleichen Jahr einen schwulen rassistischen Platzhirsch im Supermarktlautsprecher zu etablieren:
Gaucho (1980; Auszug)
[...]
Who is the gaucho amigo
Why is he standing
In your spangled leather poncho
And your elevator shoes
Bodacious cowboys
Such as your friend
Will never be welcome here
High in the Custerdome
[...]
No he can't sleep on the floor
What do you think I'm yelling for
I'll drop him near the freeway
Doesn't he have a home
Lord I know you're a special friend
But you refuse to understand
You're a nasty schoolboy
With no place to go
Try again tomorrow
Don't tell me he'll wait in the car
Look at you
Holding hands with the man from Rio
Would you care to explain
Who is the gaucho amigo... (Refrain)
80 ...oder stellen sogar den Antrieb für ihre Entwicklung dar. Untersuchungen hierzu liegen mir nicht vor, die Geschichte des Blues legt derlei aber nahe.
81 Vgl., falls nötig, die Stellungnahme zur Rassenfrage von den Teilnehmern der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe der UNESCO–Konferenz 1995: http://www.uni–oldenburg.de/biodidaktik/BioNew/Kattmann/schwerpunkte/rasse.html
85
Auch stellt es ohne derlei identitäre Verpflichtung kein Problem dar, ein Jahr nach Paul Hindemith auch Leonard Bernstein im Affenzahn durch die Straßen von Harlem zu jagen: Victor Feldmans funky schüttelndes Pianoriff, das jede Gesangszeile von 'I Got the News' (1977) beschließt und, Blues–Form andeutend, auch mal auf die vierte Stufe und zurück transponiert wird, erstrahlt später im Song durch Vibraphon, Flöten und Blech immer pompöser, ohne an Exaktheit und Tempo einzubüßen. Mit beiden Terzen und beiden Septimen verleiht das Motiv dem Stück eine modale Ambivalenz, die auch vom Bass nicht entschieden wird.
Das Motiv verlängert den hüpfenden punktierte–Achtel–cross rhythm von drei ('Green Earrings', 'Peg') auf fünf Impulse und ist gleichzeitig ein Rückgriff auf Gayes 'Peculiar'. Die fünf dreistimmigen Akkorde in des­
sen Klavierbegleitung beginnen ebenfalls auf der zweiten Zählzeit, folgen als punktierte Viertel aber nur halb so schnell aufeinander, so wie überhaupt 1965 die Sechzehntelebene, konstitutiv für den Funk, noch kaum er­
schlossen ist. Browns 'Papa's Got a Brand New Bag' aus demselben Jahr etabliert auf der Achtelebene schon funktypische Artikulation und enthält einige Sechzehntelketten, aber noch nicht –synkopen.
Während der Blues einerseits ein Vorbild für ironische Selbstbehauptungstechniken, andererseits als Mythos bloßes Material für die Ironie liefert, stellen Soul und Rhythm & Blues den Übergang zur im Hiphop82 vollen­
deten Abschaffung von Ironie (s. III.2.b.2) dar. Im frühen Soul ist das Leid individualisiert in zweifachem Sinne: Es verliert erstens die folkloristisch verschlüsselte oder ironisch aufrechterhaltene Anbindung an ge­
sellschaftlich produziertes Leid und kümmert sich um Beziehungsfragen; zweitens wird es in der emotional aufgeladenen Vortragsweise vollständig verinnerlicht, also individuell angeeignet. Und doch ist es in den be­
sprochenen Stücken noch in Form eines unaufgelösten Widerspruchs enthalten. In manchen Stücken begnü­
gen sich Steely Dan mit dem unaufgelösten Widerspruch in einer Liebesbeziehung, wenn seine Geschichte undeutlich genug durch die Textoberfläche scheint ('Black Cow', 1977; 'Negative Girl', 2000) oder in ausrei­
chendem Tempo um die Ecke kommt wie (Lunch with) Gina. IV Wenn zwei sich lieben, freut sich ihr Drittes – Gaslighting Abbie Doch „the glory of the royal scam“ verlangt nach mehr, und so beginnt das Spätwerk – wachgeküsst vom Sechzehntelauftakt der Hihat, und innerhalb eines Taktes über je einen klirrend kurzen, haltsuchenden E µ–
Major und E9sus4–Akkord auf zwei mixolydische (E9) Beine gestellt – mit einem wahren Reigen der Film–, 82 Sofern Ironie nichts gegen die Lebenssituation in den Ghettos auszurichten vermag, hat diese Abschaffung äußere – politische – Gründe, sich der künstlerischen Entscheidung entziehen. Übrigens: Ausnahmen bestätigen hier nicht nur die Regel, sondern sind mithin eine Empfehlung wert. Vgl. im Hiphop Do You Want More?!!!??! (1995) und Game Theory (2006) von The Roots oder Outkasts Speakerboxx/The Love Below (2003) und Idlewild (2006), im Soul Erykah Badus Mama's Gun (2000), um nur die bekanntesten zu nennen.
86
Jazz– und Funkbezüge und der lebensgefährlichen Liebesbeziehungen. Auf jene zwei Beine aus extrem stac­
cato gespielten punktierten Achteln, die Grundfigur des Steely Dan–Funk, ist der Groove eingekocht:
Fagen spielt das E–Piano wieder selbst, und die Beine tragen weit, durch das ganze Stück, obwohl sie dünn sind und jederzeit ein Zusammenbruch zu spüren ist. Besonders spannungsreich wird der groove durch die enge, d.h. späte Phrasierung der Sechzehntelsynkopen in allen Stimmen. Auch in der Hihat des Intros ist ein gewisser Verzug zu bemerken: jede vierte von vier Sechzehnteln kommt leicht verspätet – es sei denn, die Hihat tanzt die Pirouette der Sechzehnteltriolen. Aufgefangen wird dieses Stolpern vom souveränen backbeat, und die ganz und gar nicht synkopierte bass drum–Figur setzt in jeden Takt zwei Granitblöcke, die den groo­
ve bis zum Ende des Stücks unumstößlich und gehirnwäschetauglich (s.u.) machen. Die Bläsersaison wird, wie sollte es anders sein, mit Achteltriolen eröffnet. Wenn man zu zweit zwei Töne im Gleichklang spielt, entsteht schon auf dem Dritten ein 'Drittes', sogar Sechsstimmiges, das den Rahmen der Triole sprengt.
Becker dudelt, wie immer, den Blues auf der Leadgitarre (s. T.1ff. der Transkription auf Seite 109ff.), aber heute mit einem Timing, das jeden Ton zu einer herausplatzenden Überraschung werden lässt.
One plush summer you come to me ripe and ready And bad through and through Um nicht allzu lange beim ersten Wort zu verweilen, dieser literaturwissenschaftlichen Methode aber nicht ganz zu entsagen, möchte ich sieben mal das Oxford English Dictionary zu Wort kommen lassen:
One:
1. The lowest of the cardinal numbers; the number of a single thing without any more.
12. One in relation to two or more things or persons; one in substance; identical; the same. One with, forming part of one whole with.
14. One in mind, feeling, intention, or bearing; in unison, harmonious; at one.
15. One from amongst others, one of a number or of several; a particular, an individual.
16. In antithesis to one in the sense of another.
18. Of two things, now usually the one... the other. The one and the other = both.
20. A person or being whose identity is left undefined; some one, a certain one.
Das zweite Wort ist schneller behandelt. Es existiert als Adjektiv: „richly luxurious and expensive“ (Ox­
ford American Dictionary), als Substantiv, Plüsch, „used for rich garments, esp. Footman's liveries“ [=Unifor­
men für Hausbedienstete], und als Verb „to plush: to wear plush, as a footman“ (Oxford Eng). Mit der 15. De­
finition von „One“ auf dem Papier, die übrigen im Sinn, starten wir in einen Sommer, luxuriös wie Plüsch; einen Sommer, in dem sich jemand vornimmt, die Plüsch–Livree anzuziehen; einen Sommer, so plüschig wie das Innere des Sargs, in welchem Abbie zum Schluss landen wird. Eine alternative Bedeutung des dritten Wortes: to sum=summieren, summer=jemand, der summiert (vgl. New Oxford American).
Zu unserem Erzähler – One Nr. 20, ich will ihn Stan nennen – gesellt sich in jenem Sommer eine wahr­
scheinlich jüngere Frau – One Nr. 15, im Folgenden: Deely –, die nicht gerade ein Ganzes abgibt, sondern die Summe ihrer aufgezählten Eigenschaften bleibt (summer!): reif und essbar und durch und durch bad 87
(verfault/ungezogen/böse/mies). With that deep mystical soul synergy pumping steady Between me and you Gleich und gleich gesellt sich gern, und sofern beide tatsächlich Seelen haben, bildet sich der Erzähler die Synergie zwischen ihnen nicht nur ein – One Nr. 12! Gemeinsam werden sie Übelstes vollbringen. Es ist kaum Juli und doch schon einiges geschafft. Im Laufe des Sommers, genauer: bis zum ersten Montag im Sep­
tember, an welchem die Errungenschaften der Arbeiterklasse gefeiert werden, soll One Nr. 16, die bisherige Frau des Erzählers, erledigt sein:
If we keep on boppin' until Labor Day Li'l miz Abbie – bye bye Die Pianistin Marian McPartland fragt in ihrem Radiogespräch mit Becker und Fagen nach der Bedeutung des Songs und bekommt hilfreiche Auskunft (Track 9, 1:09):
Fagen: 'To gaslight' is a verb which comes from the film Gaslight in which Charles Boyer tries to drive his wife crazy by... you know, doing little pranks like, you know... he would move her jewels from one place to another.
McPartland: ... and turn the lights down.
Fagen: So she would think she was going insane. So that's if you're gaslighting someone. And I noticed in the eighties... going back to the eighties, that, like, a lot of... you know, someone's girlfriend would say to their boyfriend: „Hey, you're gaslighting me!“ or...
McPartland: Boy, there is something new for my vocabulary. I thought it was kind of not hip to ask, but I just couldn't help asking. [...]
Becker: I seem to remember that we had the music for that, with the sort of icy sounding chorus and then we added a verse to it and it was sort of a... infectious funk type of verse. McPartland: It sure was!
Becker: And somehow that led us to the idea of the gaslighting theme.
Fagen: Yeah, sometimes you get a clue from the music as to what the song is about. You know like... atmosphere that it creates and, you know, will give you the idea as to what the actual story's gonna be.
Fagen spricht über George Cukors Film Gaslight von 1944, in welchem Gregory Anton (Charles Boyer) seine Geliebte Paula Alquist (Ingrid Bergmann) heiratet und mit ihr nach London ins Haus ihrer ermordeten Tante zieht. Dort beginnt er, sie durch Geräusche vom Dachboden, Ab– und Aufhängen eines Bildes und Her­
unter– und Heraufdimmen der Gaslampen an ihrer Wahrnehmung zweifeln und schließlich verrückt werden zu lassen. Dabei erscheint er aber immer liebevoll und fürsorglich – im Song reflektiert in der Zeile „some soothing herb tea“. Wie sich am Ende des Films herausstellt, ist die Hausdienerin Nancy (Angela Lansbury) seine Verbündete. Man hat sich eine gemeinsame Zukunft ausgemalt, mit den Juwelen, die Boyer auf dem Dachboden des Hauses sucht und derentwegen er Paulas Tante damals umgebracht hatte. Im Gegensatz zum Film, in dem das Verbrechen auffliegt und Paula ihre Wahrnehmung wiedererlangt, scheint das Vorhaben im Song zu gelingen. Es sind weder Juwelen noch Mord involviert, aber die Methode ist die gleiche:
That black mini looks just like the one she's been missin' Feels good on you There's a few items we need in town – allez–vous girl There's no time to waste
Such as fresh cable and fifteen watt bulbs Couple dozen – it's a big old place
Let's keep it light83 – we'll do a fright night With blood and everything Some punky laughter from the kitchen 83 light=hell; light time: „a non–violent crime, a brief prison sentence.“ (Dictionary of American Underworld Lingo)
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Das Kompliment, den Befehl und den Einkaufszettel plappern die background vocals nach wie die sedier­
te Abbie – oder wie die eifrige Deely, die vielleicht über die Gefahr nachdenken sollte, auf ähnliche Art ent­
sorgt zu werden, wenn sie als Verbündete ausgedient hat. Das Glücksversprechen des großen Plans disqualifi­
ziert sich am Plan selbst – warum sollte Stan bei der Jüngeren plötzlich verbindlicher und freundlicher sein? Er ist schließlich ein Steely Dan character! (s. III.1.f.1) Einen Hinweis auf Verbindlichkeit hat sie von ihm al­
lerdings erhalten: „pumping steady between me and you“ (to go steady=eine feste Beziehung eingehen), und so widmet man sich dem aktuell anstehenden Streich.
Zum Erfolg führt eine Reihe von Intoxikationen und Inszenierungen mit 15–Watt–Glühbirnen und der Phantasiedroge Deludin im Tee, sowie die krönende „fright night“. Die „fireworks“ sind dreifach motiviert: Sie verraten, dass Stans Unabhängigkeit bereits am vierten Juli – traditionelles Feuerwerk am Independence Day! – eintritt und Abbie ausflippt („fireworks: figurative, outburst of anger or other emotion“; New Oxford American), oder sie sind eine erneute „double helix in the sky“, ausgeführt und gleichzeitig aus der Ferne be­
trachtet von Deely und Stan, dem Paar, das ohnehin mit dem Feuer der Schizophrenie spielt. Flame is the game! Sowie ein ästhetisches Gesamtkunstwerk. Und mit dem Ende der letzten Strophe ist das Ziel erreicht:
Check out the work itself A mix of elegance and function That's right – a tweak84 or two and then she's out of here
Der Frage nachgehend, welchen Namen die Antagonistin des Songs trägt, stößt man im alten Testament auf Abigajil – engl. Abigail, gängige Abkürzung Abbie –, die als Protagonistin in eine Geschichte verwickelt ist, innerhalb derer ihr alkoholabhängiger Mann Nabal durch die Gebete König Davids stirbt, worauf hin sie Davids Frau wird (1. Sam 25). Laut Jeffrey (Dictionary of biblical tradition in English literature: S.7) gilt Abigajil als die eine der vier schönsten Frauen des alten Testaments,
...in whom beauty, wisdom and prophetical gifts were rejoined [...] [She] is also celebrated for her piety and quick–wittedness. Yet in some [...] sources it is observed that her appeal to David to „remember thine handmaid“ was really a form of coquetry and should not have been uttered to a man other than her husband.
Einzig die hebräische Etymologie von Abigajil: „My father rejoices“ (Jeffrey: ebd) deutet auf Abbie hin: Quell oder Tochter der Freude ist sie, unfreiwillig, für das sadistische Paar. Abigajils Rolle als Verschwörerin gegen ihren ersten Mann mit einem zweiten in Aussicht entspricht in 'Gaslighting Abbie' eher Stan, der seine erste Frau mithilfe einer zweiten loswerden will. Eine Angabe aus Urdang/Ruffners Allusions–Dictionary deutet auch auf Stan bzw. Gregory hin: Unterm Stichwort „Diguise“ ist Abigail üblicherweise eine Anspie­
lung auf Marlowes The Jew of Malta (1590): „...enters nunnery as convert to retrieve money“. Gregory kon­
vertiert in die Familie Alquist, um endlich an seine Juwelen zu kommen. Urdang/Ruffner leiten außerdem den Klischeenamen Abigail für Hausbedienstete („handmaid“) aus der alttestamentarischen Geschichte ab, und diese Rolle, sowie die der Verführerin, fällt wiederum Deely bzw. der Nancy des Films zu. Deely trägt also die „Footmen's liveries“ aus Plüsch. Und so muss man in Betracht ziehen, dass alle Charaktere in 'Gaslighting Abbie' Abbie sind – so früh schon: One Nr. 14!
Dachte man bisher, der Name im Titel 'Gaslighting Abbie' sei das Objekt der Niedertracht, so muss man jetzt in Betracht ziehen, dass Abbie vielmehr Subjekt, der Gaslightende ist. Und folgt man der Spur von Ab­
bie als Männernamen, landet man bei Abner, Cousin des Saulus. Obwohl Anführer von Saulus' Armee gegen das Haus Davids, war er vorher und nachher doch Verbündeter von David, zwar aus nicht–opportunistischen 84 Tweak=ugs. für Letzter Handgriff, Feineinstellung; auch: Acid–Trip
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Gründen (vgl. 2. Samuel 3), aber doch prima als Vorlage für einen Überläufer wie Stan. Und wer wäre ein ge­
borener Meister im Gaslighting, wenn nicht Abner (hebräisch für „Father of Light“; Jeffrey: 8)? Auch die Mitte der ersten Strophe bereitet kein Problem für diese Lesart: „Li'l miz Abbie – bye bye“. Stan (Abbie) will seine Ehefrau loswerden, auf dass sein Name frei werde für die nächste.
IV.1 So let's switch off all the lights / Light up all the luckies85
Die Karten werden neu gemischt: Stan wird Abbie, Deely bleibt Dienerin und heißt also Nancy, die bisherige Abbie muss sich mit dem Namen des Säufers Nabal zufriedengeben. Aber Becker und Fagen schreiben ihre Songs nicht um uns Filme nachzuerzählen. Sie können die Vorlage zu eigenen Zwecken benutzen und den Zuhörer gaslighten, indem die Charaktere hin– und hergeschoben werden wie das Bild an der Wand im Hause Alquist. Und da kommt auch schon die nächste Bedeutung für Abbie um die Ecke: im Slang amerikanischer Küchensoziologie ist ABBY/ABBIE ein Akronym für 'aging baby boomer'. Mit den Jahrgängen 1950 und 1948 stammen Becker und Fagen aus der Hochzeit des nordamerikanischen Babyboom. Fagen im Interview zu 'Mary Shut the Garden Door':
Yeah, it's depressing, but as a baby boomer, hydrogen baby, I grew up with the idea that there could be an atomic war at any minute. I remember Kruschev banging his shoe on the table and saying, 'I will bury you!
Nachdem sie das Frühwerk damit verbracht haben, Duke Ellington, Charlie Parker und Aretha Franklin zu würdigen, jetzt also eine Hommage von Steely Dan an Steely Dan? Die alternden baby boomers (One Nr. 18), die uns alle gaslighten, singen von sich selbst, und keiner merkt's? Man bemerke die steile Karriere des Prot­
agonisten: Abbie wird erst vom Objekt zum Subjekt des Psychoterrors in der Erzählung, und jetzt vom Objekt zum Subjekt des Erzählens selbst. Der Begriff der Synergie bringt Gibsons Gedanken zur Entstehung von Beckers und Fagens „Third“ auf den Begriff, besonders eine „deep mystical soul synergy pumping steady“ über zwanzig Jahre Pause hinweg. Loving all the beautiful work we've done, cara mia!
Wir erinnern uns: Die wunderschöne Zusammenarbeit begann um 1970 mit der inoffiziellen Bridge für Jay & the Americans' bekanntesten Hit 'Cara Mia' [ital. für my dear], die abhob wie eine Boeing 747 (s. S.13). Als frühes Gaslighting kann auch die Trickserei mit den Tonarten bei Jay & the Americans gelten. Jetzt, mit 50 und 52 Jahren, sind Becker wohl im Hochsommer ihres Lebens („barely July“), und bis zum Herbst ma­
chen sie's noch: „keep on boppin' until Labor day“. Auch der Albumtitel Two Against Nature spricht dieses Thema an. Er ist von Joris–Karl Huysmans' Á rebours (1884; engl. Titel: Against Nature) bezogen, soll aber gleichzeitig den banalen eigenen Kampf gegen die biologische Uhr benennen.
Fagen: You know, I think as far as the lyrics, I think we've always tried to be honest and address problems like aging and you know...I think we didn't even start out pretending we were adolescents or anything like that, so we didn't have to keep that up. You know, maybe coming out of adult traditions like jazz and literary tradition kept us honest, I think, and so ... but on the other hand, the Rolling Stones still pretend they're adolescents, and they're in their 60s, and they survived very well, so I'm not sure. (Rolls, SDIR)
Erst zur Bridge (T. 33ff.) verrät der Gesang seinen Modus, davor hat er jede Septime vermieden und die instabil strahlende sechste Stufe stark gemacht, gerade als wolle auch er nicht verraten, wer hier eigentlich wer ist. Jetzt aber fragt Abbie, kichernd in mixolydische Plüsch–Livree verkleidet: „What will it be?“ und ser­
85 Textzeile aus 'Everyting Must Go' (2003)
90
viert uns einen beruhigenden Kräutertee mit einem Schuss Deludin. „Flame“ (dufte) ist das Spiel, das wir 'Alternder Babyboomer macht alle verrückt' nennen. „It's a luscious invention for three“: Donald, Walter und Abbie/Stan/Dupree/Deacon Blues, welchen Namen auch immer der Dritte tragen darf. Ab ins Studio, „a big old place“, und „fresh cable and fifteen watt bulbs“ für gedämpftes Arbeitslicht müssen wieder her. Becker und Fagen bauen ihre Instrumente auf, während der Deacon schon einmal das Repertoire sichtet: You can choose the music
I'll set up my gear
Later on we'll chill and watch the fireworks from here.
Das New Oxford American Dictionary sagt weiter zum Feuerwerk, als wäre es für diese Situation geschrie­
ben worden: „figurative: display of brilliance or energy: when you put these men together, you're bound to get fireworks.“ IV.2 Boppin' until Labor Day
Für die enharmonische Interpretation ist das Stück eine Katastrophe. Die letzten Takte des Refrains (T. 51ff.) geben Anlass, diesen in C# zu notieren. Um aber nicht bei sieben #–Vorzeichen den b–lastigen Anfang des Refrains notieren zu müssen – oder andersherum, in Db am Ende ein Ebb maj7(#11) als Neapolitaner mit Optio­
nen in verschiedenen Stimmen zu erhalten und die Kleinterzverwandtschaft zur Strophe theoretisch einzubü­
ßen –, habe ich ihn ohne feste Vorzeichen notiert. Auch die Entscheidung, an welcher Stelle ein Taktwechsel zu 2/4 angebracht ist, ist nicht einfach zu treffen. Das G7 am Beginn des Refrains ist vorne als 'große Eins', spätestens ab Takt 81 aber als Auftakt zu betrachten. Die Figur der bass drum gibt Aufschluss über die Inter­
pretation der Takte, und so habe ich den Refrain mit ungeraden Perioden als 2/4–Takt notiert. Im Refrain (T. 47) wird über einen F7b9(b13) (=Dma7(b9)) als Vorhalt zum Neapolitaner Dmaj7 eine ausweichende Tonika C#6/9 angedeutet und beim ersten mal mittels urplötzlicher Rückkehr zur Strophe verworfen. Im C–Teil sind die Bläser fast alleine für die Harmonien verantwortlich, und zuerst (T.55) reichen sie dem Deacon Terz und be­
nachbarte Quarte am unteren Ende des weiten fünfstimmigen Akkords zur Auswahl dar. Der Verlauf des C–
Teils bestätigt die am Ende des Refrains angedeutete Tonika C# bzw. Db durch ihre Parallele in T.57. Von dort geht es gleich weiter auf die trillernde Doppeldominante („fireworks“), die zur ersten ii–V des Bebop­
teils leitet. Reduziert man diesen auf Akkorde, erhält man folgende Verbindung:
Der Schluss landet über eine kurze Dominantkette auf G, und von dort schnellt das Geschehen zurück zur Strophe – bzw. in Walter Beckers gehirngewaschenes, festgezurrtes Gitarrensolo. Vorher schnellte der Refrain von unten, C#, aufs E der Strophe. Wir haben als (angedeutete) Modi also Emix und seine zwei Kleinterzmedi­
anten C# und G. Es sind auch nur drei Jobs zu vergeben: Walter, Donald und Abbie. Bzw. Paula, Gregory und Nancy; bzw. Nabal, Stan und Deely. Wenn aber alles eins sein soll (One Nr. 12: „one in substance; identical; 91
the same. One with“), dann haben wir noch eine Leerstelle: die vierte Verwandtschaft Bb, das Gegenüber von E im Kleinterzenzirkel. Das Bb wird in den Strophen, auch im Gitarrensolo, nicht mal als blue note gespielt, und die Dominante F7 im Refrain lässt sich auch nicht zum Bb überreden. Aber Auslassung ist ja auch eine Art von Betonung. Vielleicht finden wir eine Entsprechung für diese verschwiegene harmonische Ebene in einer verschwiegenen lyrischen. IV.3 A nice relaxing hand of solitaire
Für sexuelle Unterbrechungen ist nämlich immer Zeit, auch mitten in der hektischen Vorbereitungsphase:
[...] Let's get busy There's just too much to do That black mini looks just like the one she's been missin' Feels good on you There's a few items we need in town – allez–vous girl Und anschließend schnell in die Stadt! Als Wiedersehensgeschenk bringen Becker und Fagen ihrem Abbie einen ganzen Song voller sexueller Anspielungen mit. Kaum ein Wort, das nicht in Williams' Dictionary of sexual language and imagery in Shakespearean and Stuart literature mit vielen eindrücklichen Beispielen il­
lustriert wäre. Der summer ist eine Orgie, gegen die Goethens Frühling blass aussieht. Auch ripe und ready („ripe of age sexually“, „prepared to perform sexually“) sind nicht schwierig zu erraten. Der Eintrag zu My­
stical bezeichnet die Vagina als „mysterium magnum“. „Exchange of souls confuses with physiological ideas of the mingling of seed, [...] and indeed soul, like spirit, sometimes clearly carries a semen–sense.“ Damit er­
klärt sich pumping von selbst, aber das Lexikon weiß noch mehr: „Head English Rogue (1671) describes a ma­
ture whore as 'a ship of the first Rate, an an unwieldly bulky thing, which would require more man than a Kingdom can well spare to Man her, old and leaky too, and must be pumpt every hour to keep her above wa­
ter'“. Dies muss der Ort sein, an dem einst Steely Dan III from Yokohama verenden wird. „Lovin' all the be­
autiful work we've done.“ Work: „alluding to copulation, [...] Shakespeare Merchant of Venice I.iii.77, recal­
ling Genesis 30, uses it of sheep: 'when the work of generation was Between these woolly breeders in the act...'“. Flame bezeichnet sowohl „sexual passion“ und das „object of that passion“ als auch Geschlechts­
krankheiten, was in einem Vers von 1707 illustriert wird: „Philius 'Quenches one flame by being kind, But of­
ten leaves a worse behind.'“ Game: Gespielin, Hure, Sexualakt. „The Sea, identified as the source of all life in various cultures, is traditionally associated with woman.“ Die restlichen verzeichneten Wörter aus dem Song: busy, black (=Vagina), couple (als Verb), place (=Genitalien), light, blood (=Sperma), punk (auch: punque, punquettee=Hure), knock (=sexuelle Attacke, Stoß), Lock (=Spital für Geschlechtskranke), mix (=“unite se­
xually“), tweak (=Hure). Besondere Erwähnung ist noch wert: Music: „Food of love, sensual arrouser. [...] Music teacher was another of those vocations, like the shoemaker's and tailor's, which gave unusual opportu­
nity for access to young ladies.“ Gear: „Sexual organs. [...] 'And if bad's his gear, I'd not have him, if he had ten Thousand a Year'“. Im Film heiratet die junge Musikstudentin Paula den Pianisten Gregory, vormals mu­
sikalischer Begleiter (und Mörder) ihrer singenden Tante Alice.
You can choose the music I'll set up my gear Diese Häufung von Anspielungen ist das Bindeglied zwischen den zwei Lesarten des Songs: Sie passen hervorragend in die dem Film entlehnte Handlung, und gleichzeitig sind sie eine Durchsicht des Dan'schen 92
Themenkatalogs am Beginn des Spätwerks. Nicht zitierfähige online–Verzeichnisse des amerikanischen Slangs behaupten außerdem, solitaire bedeute 'Masturbation', die, als minderwertiger Ersatz für Sex mit Part­
nerInnen gedacht, vor allem zum guy–without–girls passt, der hier gemeinsam mit seinen Schöpfern Jubilä­
um feiert. Zur Feier haben Becker und Fagen aber noch einen zweiten Film mitgebracht, der Licht auf das Kartenspiel wirft: „Why don't you pass the time by playing a little solitaire“ ist der entscheidende Satz in John Frankenheimers The Manchurian Candidate (1962). Dort wird ein Gefangener aus dem Koreakrieg, Staff Sergeant Raymond Shaw (Laurence Harvey), in einem komplizierten Komplott aus Republikanern und Sowjets zum bewusstlosen Attentäter gemacht, ebenfalls mithilfe von 15–Watt–Birnen und Deludin, nämlich „part light–induced, part drug“ (Shaw). Zur Verschwörung gehören neben Shaws Mutter und ihrem Mann, dem alkoholkranken Senator John Iselin, noch ein dunkler Hintermann aus Moskau namens Berezovo mit ei­
nem „Fu Manchu moustache“ (s. S.12). Now that's underground! Zur Hypnosetechnik gehört das Solitaire–
Spiel, und die Karo–Dame (Queen of Diamonds) macht ihn Empfänglich für Befehle, an deren Ausführung er sich anschließend nicht erinnert. Von seiner Mutter, die nicht ohne inzestuöse Energie vorgeht, wird Shaw dazu gebracht, seine brandneue Ehefrau Jocie und deren Vater, den demokratischen Senator Thomas Jordan umzubringen. Am Ende soll Shaw den nächsten Rivalen des Stiefvaters töten, den neuen US–Präsidenten Ar­
thur, erschießt stattdessen aber, wieder zu sich gekommen, seine Mutter und den Stiefvater, inzwischen Vize–
Präsident, und schließlich sich selbst. Die Mutter als oberste in der Kette der Verschwörung, die außerdem ebenfalls von Angela Lansbury dargestellt wird, legt wiederum mehr Gewicht auf Deely/Nancy/Abbie und ihre Rolle als Motor des Komplotts gegen Paula/Abbie/Nabal/Jocie.
Was Raymond Shaw zum Steely Dan character macht, ist der Umstand, dass er bei seinen Kameraden im Feld sehr unbeliebt war, diese aber ihrerseits einer Gehirnwäsche unterzogen wurden und nun stets den glei­
chen Satz sagen, um Shaw jedes Verdachts zu entheben. Der ehemaligen Captain seines Kommandos, Bennet Marco (Frank Sinatra), merkt, dass daran was faul ist:
Did you hear what I said? „Raymond Shaw is the kindest, warmest, bravest, most wonderful human being I've ever known in my life.“ And even now I feel that way, and yet, somewhere in the back of my mind, something tells me it's not true. It's just not true. It isn't as if Raymond's hard to like. He's impossible to like. In fact, he's probably one of the most repulsive human beings I've ever known in my whole... all of my life.
Yen Lo vom Pavlov Institute in Moskau, der die Gehirnwäsche überwacht, sagt über Shaw: „Having been relieved of those uniquely American symptoms, guilt and fear, he cannot possibly give himself away.“ Mit Fa­
gens Worten: „He's kind of unrepentant about it.“ So verwirrend das Rollenspiel in und um 'Gaslighting Ab­
bie' ist – Becker und Fagen sind uns keine Erklärung schuldig. Insbesondere dann nicht, wenn sie uns gasligh­
ten. Es scheint, sie erschaffen die Charaktere, zu denen sie es selbst nie gebracht hätten, weil sie als baby boo­
mers in den deprimierenden suburbs der 50er zu gut behütet waren. Das schier überquellende, und doch immer klare musikalische Arrangement ist in meiner Transkription nur angedeutet. Die Introduktion habe ich nicht reduziert, hier ist das Gefüge aus drei Gitarren (im Stereo­
bild: Mitte, rechts, links), E–Piano, Clavinet mit Wah–wah–Effekt (rechts) und Bläsern (von links bis rechts) zu sehen. Das Bläserarrangement von Becker, Fagen und Trompeter Michael Leonhard bewegt sich frei durch die harmonischen Optionen und Stilmittel und springt, wenn nötig, innerhalb zweier Takte vom extremen Staccato rhythmischer Funktionen auf obskure liegende Akkorde und wieder zurück. Obwohl drei Gitarren mitspielen, fühlt sich keine von ihnen für die Harmonien verantwortlich. Im Refrain werden die Akkorde 93
hauptsächlich von Gesang und Bläsern übernommen, während die rechte Gitarre nun doch durch die sequen­
zierte Sextenbewegung aus Terz und Grundton die Harmonien stabilisiert. Das ausgezeichnete Tenorsaxo­
phonsolo am Schluss (TT.82a bis Ende) ist von Chris Potter gespielt und hier nicht transkribiert. Vor ihm zie­
he ich meinen Wissenschaftlerhut, es in die Handlung des Songs einzubeziehen, täte ihm Gewalt an – genug der Synthese!
Wie kann man dieses mächtig bösartige Werk ablehnen? Die Frage stellen Becker und Fagen auch:
How can you knock this mighty spitelock Check out the work itself A mix of elegance and function Spitelock ist einer aus einer Reihe von Neologismen: spitewaves86, spitework87, spiteweb88. Spite, Boshaf­
tigkeit, charakterisiert das lock. Die Zeile bedeutet auf der Ebene der Filmhandlung: 'Wie kannst Du unser Ju­
welenversteck verraten?'89 oder 'Wie kommst Du auf die Idee, dieses wunderschöne Vorhängeschloss, mit dem wir Dich eingesperrt haben, zu beschädigen?' Und für die Geschichte im Studio: 'Wer wird diese teufli­
sche Platte ablehnen/schlechtfinden?' Eine Platte zumal, die sowohl alle ihre Charaktere als auch ihre Zuhörer und den Transkripteur hinters Gaslicht führt („function“) und so verteufelt gut gespielt ist („elegance“). Noch zweimal am Regler drehen, und sie kann raus ins Presswerk und auf den Markt.
That's right – a tweak or two and then she's out of here.
IV.4 End credits
Zum Schluss (T.96) dürfen Schlagzeug, Bass und Bassklarinette noch einmal demonstrieren, was eine stacca­
to artikulierte punktierte Achtelnote ist, und die Bläser bleiben mit einer Schichtung von vier Quarten – #4 – 7 – 3 – 6 – über D liegen, damit auch Hindemith nicht in Vergessenheit gerät. Die in Kap. III.1.d.2 angespro­
chene Insistenz aufs Material und seine inneren Qualitätsansprüche, dieses noch immer geheimnisvolle Mo­
ment des Komponierens, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen. Es will gehört werden. Aber es erscheint deut­
lich in einem Werk wie 'Gaslighting Abbie', weil das in der Introduktion aufgestellte dynamische und harmo­
nische Versprechen auch eingelöst wird: durch konsequente Steigerung in Dynamik und Instrumentation ohne einen Hauch von Vernachlässigung der rhythmischen Strenge; durch schrittweise Ausschöpfung der modalen harmonischen Ebene, bis sie im „icy sounding chorus“ (Becker) gebrochen werden muss.
Sollte Fagen mal wieder zwischen zwei Stücken auf der Bühne aufwachen, so wird er beruhigt feststellen können, dass nicht nur Cousin Dupree schließlich zurückgewiesen wird – auch Abner sollte mit einem Spieß zwischen den Rippen liegen bleiben (2. Samuel 3:27). Außerdem am Ende tot (in order of appearance): Frank Zappa; Elinor Fagen; Bob Dylan; Theodor W. Adorno, The Beatles, Andy Warhol, Leiber & Stoller, Jay & the Americans; ABC Records (geschluckt von MCA (geschluckt von Universal Music)); John Lee Hooker; Cher; Slade; Deacon Blues, died behind the wheel; William S. Burroughs; Steely Dan I; Steely Dan II; Cor­
nelius Bumpus, † Februar 2004 (http://www.steelydan.com/cb.html); Duke Ellington; Charlie Parker; Dizzy Gillespie; Paul Hindemith; Pink Floyd (zu zwei Fünfteln); Little Junkie Girl; Jimi Hendrix; Napoleon; Mar­
86 87 88 89 Donald Fagen: Countermoon (1993)
Fagen: Tell Blondie To Break Out The Ice, donaldfagen.com
„Walter: That's the kind of remark that's turning the Internet into SpiteWeb.“ http://www.steelydan.com/livechat.html
To knock: 'verpfeifen', 'anzeigen'; Dictionary of American Underworld Lingo. Lock: „place were stolen goods are reci­
ved“; Monteleone: Criminal Slang)
94
vin Gaye; James Brown; Leonard Bernstein; Victor Feldman; Nabal; Alice Alquist; König David; Senator Thomas Jordan samt Tochter Jocie; Raymond Shaw; Mrs. Iselin; Vizepräsident Iselin; Frank Sinatra; Ivan Pe­
trovich Pavlov.
Im Gefängnis: Gregory Anton und Nancy; James Brown, wenn nicht gerade tot.
Unbekannt ist der Verbleib von: The Beatles; Gina; Odysseus; Morph the Cat; Pixeleen; Franny from NYU; Aja; Steelyard „Sugartooth“ McDan; Peg; Kid Charlemagne; Stan und Deely.
Es leben (in alphabetical order): Abigajil, dank prophetischer Gaben und Top 4–Beauty; Paula Alquist Anton; Benjamin K. Arthur, President of the United States; Gitarrist Jeff „Skunk“ Baxter; The Beatles; Bod­
hisattva; Drummer Keith Carlock; Victoria Cave und Carolyn Leonhard, Gesang; Denny Dias; Aretha Fran­
klin; William Gibson; Drummer Jim Hodder; Jack, ewig in seinem Hamsterrad; Cousine Janine; Gary Katz; B.B. King; Labor Day; Angela Lansbury; Roger Nichols und Elliot Scheiner; Rock'n'Roll Hall of Fame; Rol­
ling Stones, the; Henry Rollins von Black Flag; Security Joan; Barbra Streisand; der trickster; Warner Bros.; Robbie Williams.
Regie: Donald Fagen und Walter Becker.
Vorhang.
95
V Resume
Das Do–it–yourself der Popmusik stellte einst eine teilweise ironische Aneignungsstrategie gegenüber der eingeschliffenen Kulturindustrie dar und belebte das „ungebärdige Widerstehende“, das der „niederen Musik“ innewohnte (Adorno), den Protest der von Bildung oder Hegemonie Ausgeschlossenen. Wo Pop und Rock nun selber eingeschliffen sind und, zugunsten der unverzichtbaren Pose oder des Image, sich mit minderer musikalischer Qualität zufrieden geben – dort setzt Steely Dans Strategie an. Überbordende musikalische Reichhaltigkeit, im Zaum gehalten durch eine Exaktheit und Formstrenge, die die Musik doch wieder trans­
parent und tanzbar macht, ist in 'Gaslighting Abbie' demonstriert. Doch sind Steely Dan gewiss nicht das Ge­
genteil von Kulturindustrie. Ein solches Gegenteil ist nicht denkbar – Kultur, die sich ihr verschließt, findet entweder in entlegensten Winkeln der Welt statt und ist somit kein Gegenteil sondern ein anderer historischer Zustand. Oder sie ist, wenn sie in Industrienationen stattfindet, Totalverweigerung und naive Hypostase des vermeintlichen Gebrauchswerts, der Glaube an 'unmittelbare' Bedeutung von Musik, Ignoranz gegenüber ih­
ren jeweils spezifischen Voraussetzungen. Wenn Becker und Fagen am Anfang ihrer Karriere das Komponie­
ren und Produzieren für die eigentliche Arbeit hielten und sich den anderen üblicherweise damit verbundenen Tätigkeiten verweigerten, so kam dabei allenfalls zufällig ein sinnvoller Umgang mit dem Image heraus. Sie entzogen sich dem Personenkult des Pop und irritierten durch die Verweigerung optischer Präsenz. Aber was sie gegen die Kulturindustrie durchgesetzt haben, haben sie gleichzeitig mit ihr durchgesetzt: Auf die industri­
ellen Produktionsmittel (Studios, Labels, Presswerke, Radiosender) waren sie von Anfang an angewiesen, bloß wollten sie darauf zurückgreifen, ohne die weiteren Arbeitsweisen (Öffentlichkeitsarbeit, Tourneen, Show und Image) mit anzuerkennen. Was bei dieser Haltung zum Gelingen des Werks geführt hat, ist eine möglichst kompromisslose Insistenz aufs Material, auf Musik, die nicht hinter ihre Vorläufer und nicht hinter ihren eigenen Anspruch zurückfällt; die in jeder Sekunde genau das – oder mehr als das? – zum Vorschein bringt, was in ihr angelegt ist. Die Regisseure der Musik haben dabei, wenn sie sich auskennen und nicht durch ihnen unbekanntes, aber bereits abgenutztes Material zu beeindrucken sind, lediglich die Aufgabe, die Musik nicht langweilig werden zu lassen. Die spielerische Strenge, die unter dem pejorativen Begriff des Per­
fektionismus falsch gefasst ist, stellt sich dabei als weitere notwendige Voraussetzung heraus. Es muss nicht nur das Material – oder die Kombination von Materialien – unabgenutzt sein, auch die Verarbeitungsqualität darf nicht hinter das jeweils momentan Menschenmögliche zurückfallen. Und die Produktionsmittel dafür gibt es einzig in der Kulturindustrie.
Sofern Steely Dan sich zwar gelegentlich dem „loyal Danfan“ und den Ikonen des Jazz, aber sonst keiner politischen oder kulturellen Gruppierung qua Identifikation verpflichtet sehen, haben sie die Freiheit zu ei­
nem ironischen Universalismus ohne Dogmen und Denkverbote. So können sie sich über alles erheben und lustig machen, was dem nicht dogmatisch denkenden Menschen als Zumutung erscheint – auch über sich selbst. Das wichtigste Mittel hier liegt in der Übertreibung des 'Normalen' und Anerkannten, also des weißen, männlichen, heterosexuellen, intellektuellen, erfolgreichen Subjekts und seiner Schwächen und Untiefen. Diese Untiefen sind in den Loser–Figuren der besprochenen Stücke enthalten und zur dominanten Eigen­
schaft gemacht. Eine solche Ironiestrategie betrifft bei Steely Dan auch die Musik. Der Perfektionismus, der in Sachen Jazz, Soul, Kaufhausmusik und Rock'n'Roll alles Übernehmenswerte übernimmt und auf die Spitze treibt, er­
gattert die allergrößte Anerkennung nach den 'allgemein gültigen' Kriterien der Popularmusik, hat aber 96
gleichzeitig etwas ganz anderes im Sinn. Und zwar eine ironische Spitze gegen die nämlichen Kriterien, so wie sie als fetischisierte Leistungskriterien im Kulturbetrieb vom Radiopop bis zur Jazzpädagogik auftau­
chen. In 'Aja' wird diese Ironie einmal besonders deutlich: Während der Text Heimweh in Fernweh verkleidet, sagt der Refrain: Seht her, wir können nordamerikanisch geglätteten Bossa Nova spielen! Indem es von einem Kapitel aus der Geschichte des Bebop handelt, davon aber nicht viel preisgibt, ist der Bezug für die Jazzge­
meinde nicht ohne weiteres erkennbar. Auch der Grabenkampf zwischen Ost– und Westküste hütet sich in 'Aja' mittels Verschlüsselung vor unerwünschten Solidaritätsbekundungen. Was bei solchen Gruppenbil­
dungsprozessen andernfalls herauskommen kann, zeigte sich 1996/97, am Höhepunkt des beef zwischen Ost– und Westküste, in den Morden an Tupac Shakur, NYC, und Biggie Smalls, L.A.
Als 'weiße' Mittelstandsbürger, die keinen Kampf um Anerkennung einer kollektiven Identität zu führen haben, können Becker und Fagen mit ihrer Rolle spielen und andere Rollen zitieren, ohne einen Verlust von 'Authentizität' oder Anfeindungen wegen Verrats zu befürchten. Sofern sie Anfangs den Kampf um Anerken­
nung durch die Musikindustrie führen mussten, haben sie dies mit einer distanzierten, aber zweckdienlichen Äußerlichkeit erledigt – und davon abgelassen, sobald ihre Situation, auch bei nur geringem persönlichen Einkommen, die gewünschte Arbeitsweise erlaubt hat. Derweil kann ich William Gibsons Superlativ in der Einschätzung von Steely Dans Musik als „most sub­
versive“ nicht teilen. Auch Punk war zu seiner Zeit eine sinnvolle Verweigerungsstrategie. Sie bediente sich anderer Mittel und verweigerte eher die künstlerisch–handwerkliche Komponente. Während im Punk das Mo­
ment der Opposition als Pose im Vordergrund steht, ist es bei Steely Dan erst hinter der opportunen musikali­
schen Oberfläche zu suchen. Ein Konkurrenzkampf um den Titel der Subversivsten würde dem jeweiligen Verständnis beider Strategien nicht dienen. Durch das Spiel mit der Position der seriösen, meisterhaften Pro­
fis aus der 'klassischen' Kulturindustrie, sowie durch die irritierenden Texte entziehen Steely Dan sich dem Bedürfnis nach 'unmittelbarer' Rezeption und Zerstreuung und der Selbstbestätigung des Expertenhörers oder Jazzmusikers. Natürlich kann – insbesondere im außerenglischsprachigen – Raum der Gestus der Stücke durch Nichtbeachtung der Texte unverstanden bleiben. Dies jedoch liegt nicht in der Verantwortung des Werks, zumal wenn die Ironie genau auf Ambivalenzen in der Perfektion abzielt. Gegen den Expertenhörer sind andere Kräuter gewachsen: Noise, Schockeffekte und Punk. Aber des Expertenhörers Helden aus der ka­
lifornischen Fusionszene helfen, vielleicht ohne es zu wissen, bei Steely Dans Arbeit gegen die Regression des Materials.
97
Fagen: It can be really exciting but you have to work on it, to make everyday, you know, interesting or whatever. It's not interesting all by itself, all the time. Not for me anyway. And that's were irony comes in to a certain extend. And it's not like anyone really sets out to be ironic. It's a defense, you know, against that sort of... "nature red in tooth and claw".
(Pause)
Becker: Is there anything to drink in this car?
Fagen: Yeah, especially after that sentence.
Becker: Yeah, any sentence that ends with the word claw... and then a quotation mark! Is there water or something?
98
VI Anhang
VI.1 VI.1.a Quellenverzeichnis
Diskographie90
Becker & Fagen:
The Android Warehouse, [Demos 1969–71; unautorisiert], age of panik/BMG 1998
O.S.T. You gotta walk it like you talk it, Spark 1971: SRLP124
Steely Dan:
Can't Buy a Thrill (ABC 1972), MCA 1998: MCD–11886
Countdown to Ecstasy (ABC 1973), MCA 1985: MCD 01654
Pretzel Logic (ABC 1974), MCA 1999: MCD–11917
Katy Lied (ABC 1975), MCA 1999: MCD–11916
The Royal Scam (ABC 1976), MCA 1985: MCAD 37044
Aja (ABC 1977), MCA 1999: 811 745–2
Gaucho (MCA 1980), MCA 2000: 112 055–2
Alive in America, Giant 1994: 7599–24634–2
Two Against Nature, Giant 2000: 74321 62190 2
Everything Must Go, Reprise 2003: 9362–48490–2
Walter Becker:
Eleven Tracks of Whack, Giant 1994: CD 24579
Donald Fagen:
The Nightfly, Warner Bros. 1982: CD 23696
Kamakiriad, Reprise 1993: 9 45230–2
Morph the Cat, Reprise 2006: 9362–49975–2
VI.1.b Verwendete Quellen – Literatur, Tonträger, Film
Adorno, Theodor W. (1944): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, (New York 11944) Neudruck Frankfurt 1997 (=Gesammelte Schriften Bd. 3, Suhrkamp)
Adorno, Theodor W. (1956): Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, (Göttingen 11956), Neudruck Frankfurt 1997, (=Gesammelte Schriften Bd. 14, Suhrkamp)
Adorno, Theodor W. (1963): Résumé über Kulturindustrie, in: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt 1997 (=Gesammelte Schriften Bd, 10.1, Suhrkamp)
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, (Gekürzte frz. Erstveröffentlichung Paris 1936), Frankfurt 1963 (Suhrkamp)
Brock, Bazon: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten, hrsg. von Karla Fohrbeck, Köln 1977
Burroughs, William S.: The Naked Lunch, (Paris ¹1959) Nachdruck (London ¹1964), London 71982 (John Calder Ltd.)
Büsser, Martin: Wie klingt die Neue Mitte? Rechte und reaktionäre Tendenzen in der Popmusik, Mainz 2001
Classic Albums: Aja; USA 1999, Regie: Alan Lewens. Produktion: Isis Productions, Vertrieb: Rhino, 60 min.
Cobb, William Jelani: To the break of dawn. A freestyle on the hip hop aesthetic, New York and London 2007 Continuum Encyclopedia of Popular Music of the World, London/New York 2003
Dance, Stanley: The World of Duke Ellington, New York 1970 Dictionary of American Slang, Berlin/New York 1967 (Langenscheidt/Crowell)
90 Die Diskographie ist unvollständig: Nicht enthalten sind Singles und autorisierte Kompilationen, die z.T. einzelne sonst unveröffent­
lichte B–Seiten und outtakes enthalten. Label– und Jahresangaben in Klammern beziehen sich auf die Ersterscheinung, sofern die von mir verwendete Auflage von ihr abweicht.
99
Dictionary of American Underworld Lingo, London 1957 (Constable & Company Ltd.)
Donald Fagen: Concepts for Jazz/Rock Piano; USA 1993, Homespun Tapes Ltd., 72 min.
dtv–Lexikon in 20 Bänden, Mannheim/München 1990 (dtv/Brockhaus)
Ebmeier, Jochen: Michael Jackson. Das Phänomen, Mainz 1999 (Atlantis/Schott)
Ellington, Duke (1965): Paris Jazz Concert. The Champs–Elysees Theater Jan. 29–30, 1965, Delta Music: 17412
Ellington, Duke (1970): New Album ''Hot''. 20 Nouveaux Succés de Duke Ellington, Paris/New York 1970 (Éditions Salabert)
Ellington, Duke (1992): Gold Collection; Digital Deja 2: D2CD19
Everett, Walter: A Royal Scam – The Abstruse Bop–Rock Harmony of Steely Dan, in: Music Theory Spectrum Vol. 26, No. 2, Fall 2004, Hrsg: Society for Music Theory, Inc.
Franklin, Aretha: I Never Loved a Man the Way I Love You, Atlantic 1967: 8139
Gaslight; USA 1944, Regie: George Cukor, Metro–Goldwyn–Mayer, 114 min.
Gaye, Marvin: What's Going On; (Motown 1971), Motown 2002: 064 022–2
Gregory, Hugh: Soul Music A – Z, London 1991
Grunenberg, Christoph und Harris, Jonathan: Summer of Love. Psychedelic Art, Social Crisis and Counterculture in the 1960s, Liverpool 2005
Harrison, Max: Charlie Parker, (=Kings of Jazz Bd. 6), New York 1960
Hirschmann, Thomas: Charlie Parker. Kritische Beiträge zur Bibliographie sowie zu Leben und Werk, Tutzing 1994
Holert, Tom / Terkessidis, Mark (Hg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin 1997.
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Jeffery, David Lyle (Hrsg.): A Dictionary of biblical tradition in English literature, Grand Rapids, Michigan 1992
Limbacher, James L. (Hrsg): Film Music. From Violins to Video, Metuchen, N.J. 1974
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Pink Floyd: Wish You Were Here, (Harvest 1975), EMI 1994: 8 29750 2
Plush TV Party: Two Against Nature – Steely Dan's Plush TV Jazz Rock Party in Sensuous Surround Sound; USA 2000, Regie: Earle Sebastian, Produktion: Believe Media Inc., Vertrieb: Image Entertainment, 102 min.
Schaffner, Nicholas: A Saucerful of Secrets. The Pink Floyd Odyssey, deutsche Ausgabe, St.Andrä–Wördern 1992
Schwindt–Groß, Nicole: Musikwissenschaftliches Arbeiten, Kassel 2002
Sieburg, Heinz–Otto: Geschichte Frankreichs, (Stuttgart ¹1975) Stuttgart 41989
Steely Dan – Confessions; USA 2003, Regie und Produktion: Joe und Harry Gantz, Beilage zu Steely Dan: Everything Must Go (Reprise); 24 min.
Stölting, Elke: Deutsche Schlager und englische Popmusik in Deutschland. Ideologiekritische Untersuchung zweier Textstile während der Jahre 1960–1970, Bonn 1975
Sweet, Brian (2000): Steely Dan. Reelin' in the Years, London (Omnibus Press)
Sweet, Brian (2004): Steely Dan – The Complete Guide to their Music, London/New York 2004 (Omnibus Press)
100
Thomson, David: Tote schlafen fest. Mythos und Geschichte eines Filmklassikers, Hamburg/Wien 2000
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Tingen, Paul: Donald Fagen – Recording Morph the Cat; in: Sound on Sound, August 2006
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Toop, David: Rap Attack, St. Andrä–Wördern 1992
Urdang, Laurence and Ruffner, Frederick G.: Allusions – cultural, literary, biblical, and historical: a thematic dictionary. Detroit 1986
VH1 Storyteller's – Steely Dan; USA 2000, Regie: Michael Chloe, Erstausstrahlung: VH1 1.2.2000, unveröffentlicht, ca. 41 min.
War and Peace; Italien 1956, Regie: King Vidor, Dino de Laurentiis Cinematografica, Paramount, 208 min.
Williams, Gordon: A dictionary of sexual language and imagery in Shakespearean and Stuart literature, London 1994
VI.1.c Online–Quellen
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SDA: The Steely Dan Archive; (z.Zt. außer Betrieb)
Briggs: Showbiz Kids: Talking with Jeff Baxter, and a Critical View of Steely Dan, in: ZigZag, Januar 1974.
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Dellar, Fred: A Dan for all Seasons, in: Vox 1990, unzureichende Angaben
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Gillett, Charlie: Donald Fagen Spins His Favourite Records, Capital Radio, January 1982, Radiotranskription, steelydanarchive.com/archive/archive3.php?id=269
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(Das Datum muss falsch transkribiert sein; Countdown To Ecstasy war im Januar 1973 nicht mal in Produktion)
Gordinier, Jeff: The Band With 2 Brains, in: Entertainment Weekly, März 2000;
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101
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Sandall, Robert: The cat will see you now, in: London Telegraph, 2. März 2006; http://www.granatino.com/sdresource/060302%20london%20telegraph.htm
Sweet, Brian: Roger Nichols Interview, in: The Metal Leg, # 21, April 1993,
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Weatherford, Mike: Back on Track, in: Las Vegas Review Journal, 26. September 2003; http://www.granatino.com/sdresource/030926%20las%20vegas%20review%20journal.htm
WNEW–FM Interview with Donald Fagen, Broadcast Sept. 12, 1989; abgedr. in: The Metal Leg 11, Okt. 1989
http://www.granatino.com/sdresource/11wnew.htm
steelydan.com: Offizielle Homepage
Countdown to Infamy, Kampagne für Steely Dans Einführung in die Rock'n'Roll Hall of Fame
http://www.steelydan.com/hof.html
Gibson, William: Any 'Mount Of World..., in: sonicnet.com, März 2000, http://www.steelydan.com/2vngibson.html
102
VI.2 VI.2.a Transkriptionen
Cornelius Bumpus Interview
Bumpus: (zum Filmteam) Gentlemen! (setzt sich)
Fagen: Okay...!
Becker: What about us, aren't you gonna say hello to us?
Bumpus: What... I just meant that in a general way, you know?
Becker: (zur Kamera) Cornelius Bumpus!
Fagen: Are we rollin'? Kameramann: Always! Becker: Always rollin'...
Fagen: Okay. Now, there seems to be, uhm, sort of a... I don't know how to say it... a kind of a... (zu Becker) How would you describe it? Between Cornelius and some of the other band members, and maybe even between Cornelius and us. A kind of, I don't know, tension, or not a... maybe not a real tension, a sort of a foe tension, really. Becker: Well, sort of a gruff repartee, I would describe it, you know?
Fagen: Right. It's kind of... Yeah, it's kind of like a comradery.
Becker: I think we have to go back to a... we have to go back in time...
Bumpus: Yes?
Becker: ...to, uhm, ... if we're really gonna shed any light on this. What was your first... Cornelius, what was your first professional engagement... as a musician?
Bumpus: This is from the tension thing right back to my first gig?
Becker: Yeah.
Fagen: Well, we're gonna be jumpin' around in time, don't let that bother you
Bumpus: Okay... okay. I got you, okay... Fagen: This is like a film, they can do that, you know?
Bumpus: Okay. Let me know when you...
Becker: You see, modern, you know, psychoanalytic theory, uhm, posits the notion that many of the keys to present–day situations are to be discovered in the past.
Bumpus: My first gig...
Becker: In an exhaustive analysis of the events in the past, perhaps even going back as far as childhood, which...
Bumpus: (verdreht die Augen)
Becker: ... we don't have time to do here know.
Fagen: And that the unconscious always says yes. So rem... be aware of that while you're... while you're digging... gigging!
Bumpus: Can I go now?
Fagen: Okay, good...
103
VI.2.b Peg (1977)
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VI.2.c Green Earrings (1976)
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VI.2.d Gaslighting Abbie (2000)
One plush summer you come to me ripe and ready And bad through and through With that deep mystical soul synergy pumping steady Between me and you Lovin' all the beautiful work we've done, cara mia And it's barely July If we keep on boppin' until Labor Day Li'l miz Abbie – bye bye What will it be – some soothing herb tea? That might be just the thing Let's say we spike it with Deludin Or else – maybe tonight a hand of solitaire CHORUS: Flame is the game The game we call gaslighting Abbie It's a luscious invention for three One summer by the sea With the long weekend that's comin' up fast Let's get busy There's just too much to do That black mini looks just like the one she's been missin' Feels good on you There's a few items we need in town – allez–vous girl There's no time to waste Such as fresh cable and fifteen watt bulbs Couple dozen – it's a big old place Let's keep it light – we'll do a fright night With blood and everything Some punky laughter from the kitchen And then – a nice relaxing hand of solitaire CHORUS You can choose the music I'll set up my gear Later on we'll chill and watch the fireworks from here How can you knock this mighty spitelock Check out the work itself A mix of elegance and function That's right – a tweak or two and then she's out of here CHORUS 109
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