Der stille Mann - Bertz + Fischer Verlag

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Der stille Mann - Bertz + Fischer Verlag
Keanu Reeves
Der stille Mann
E
Der stille Mann
r ist zu sehr ein Bildnis von sich selbst«, sagt Beatrice in MUCH
ADO ABOUT NOTHING (Viel Lärm um Nichts; 1993; R: Ken-
neth Branagh) über den düsteren Bösewicht Don John. So
schweigsam wie seine Figur in der Verfilmung dieses ShakespeareKlassikers kommt einem Keanu Reeves auch im Leben vor. Seine
Privatsphäre hat er mit den sieben Siegeln einer nie unfreundlichen
Diskretion belegt, und auch in Interviews hält er sich gerne bedeckt.
Ein Mitarbeiter des Rolling Stone berichtete, Reeves habe einmal länger
als eine Minute über einer simplen Frage gebrütet, um dann zu antworten: »Nein, eigentlich nicht.« Mit »Der stille Mann« ist das Porträt dann
auch so treffend wie schön betitelt [1]. In der Geschichte Hollwoods
ist Keanu Reeves’ Zurückhaltung keine Seltenheit. Sie gehört geradezu
zu den ureigenen Strategien eines Hollywood-Stars, der als Person mit
seiner Leinwandpräsenz konkurrieren muss. Von Robert Redford etwa
ist dazu eine reizende Anekdote überliefert; auf die Frage eines Fans, ob
er wirklich er selbst sei, antwortete er: Nur wenn ich alleine bin. Wie
Redford versucht auch Keanu Reeves, ein ganz normaler Mensch zu
sein. Er lebt zurückgezogen, meidet die Glitzerwelt von Hollywood
und ist selbst für seinen Agenten manchmal unauffindbar. Die Ironie
dabei ist, dass diese Zurückhaltung selbst wieder Teil des Images wird.
Entkommen kann ein Star den Gesetzmäßigkeiten seines Daseins nicht,
allenfalls sich komfortabel darin einrichten.
Es ist bezeichnend, dass Keanu Reeves diese Lektion fürs Schauspielerleben – zumindest auf der Leinwand – gelernt hat, als er gerade
am Anfang seiner Hollywood-Karriere stand. In TUNE IN TOMORROW
(Julia und ihre Liebhaber; 1990; R: Jon Amiel) spielt er einen jungen
Nachrichtenschreiber beim Radio, der davon träumt, Schriftsteller zu
werden. Er ist in seine 15 Jahre ältere Halbtante Julia verliebt und hört
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Reise ins Märchenland: Keanu Reeves (mit Alex Winter) in
BILL & TED’S EXCELLENT ADVENTURE
eines Tages ihre gemeinsamen Gespräche als Dialoge eines Hörspiels
wieder. Der exzentrische Autor Pedro Carmichael hat die beiden belauscht und spielt Schicksal für die Liebenden, um seine Gefühlsoper
mit Realität zu unterfüttern. Zur Rede gestellt, erklärt er seinem unwilligen Schüler, dass Kunst und Leben keinesfalls getrennte Universen
seien. Im Gegenteil: Sie befruchteten einander und schrieben voneinander ab. Der Autor sei nichts ohne die Wirklichkeit, die Menschen
nichts ohne die Vorbilder, die ihnen die Kunst beständig liefere. So
entstehe ein Kreislauf, aus dem niemand ausbrechen könne, wenn er
erst einmal in ihn hineingeraten sei. Mag diese Einsicht auch pointiert
im Sinne der Carmichaelschen Kunst formuliert sein, man kann sie
ebenso gut auf das Verhältnis von Star und Publikum ummünzen.
Gerade weil Schauspieler eine doppelte Existenz führen, ist es
verlockend, ihr Leben und Werk anhand ihrer Filmrollen zu erzählen.
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Stars! 10
Der stille Mann
Keanu Reeves
Eine wundervolle Reise
Bei Keanu Reeves würde TUNE IN TOMORROW in dieser Hinsicht ganz
und gar nicht zufällig ein Kapitel bilden, das mit »Verlust der Unbefangenheit« betitelt wäre. Doch ist diese Überschrift nur eine von vielen
denkbaren, um seine Karriere zu beschreiben. Andere Erzählungen
lassen sich leicht hinzufügen: etwa die Geschichte eines normalen
Jungen, der eine wunderbare Reise ins Märchenland Hollywoods antritt (BILL & TED’S EXCELLENT ADVENTURE / Bill & Teds verrückte
Reise durch die Zeit; 1989; R: Stephen Herek); die Parabel vom jungen
Prinzen, der in seiner Jugend mit den falschen Leuten verkehrt und
später seine Jugendtage ungeschehen machen will (MY OWN PRIVATE
IDAHO; 1991; R: Gus Van Sant); die Geschichte vom Mann aus der
zweiten Reihe, der über alle Selbstzweifel hinweg seinen eigenen Weg
findet (THE REPLACEMENTS / Helden aus der zweiten Reihe; 2000; R:
Howard Deutch); oder die Saga vom Auserwählten, der erst in seine
Rolle hineinwachsen muss (THE MATRIX; 1999; R: Andy & Larry
Wachowski). Jede dieser Erzählungen hat etwas für sich und erfasst
doch nur eine Facette. Aber zusammengenommen ergeben sie vielleicht
etwas, das über das Klischee vom Schauspieler mit den vielen Gesichtern hinausgeht. Den wahren Keanu Reeves gibt es nur, wenn er alleine
ist. Es sind seine Filme, in denen der stille Mann gesprächig wird.
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Eine wundervolle Reise
ine Zeit lang beherrschte der Ausruf »Exzellent!« das Leben
von Keanu Reeves. Er hatte mit der Teenagerkomödie BILL &
TED’S EXCELLENT ADVENTURE einen ersten Erfolg an den
Kinokassen gehabt und war wie sein Schauspielpartner Alex Winter zu
einer Kultfigur geworden. So komisch dieser Husarenritt durch die
Jahrhunderte auch heute noch ist, für Reeves’ Karriere schien die Rolle
eher ein Hemmschuh zu sein. Als Ted musste er eigentlich nur unbekümmert schauen und gelegentlich bass erstaunt tun. Er ist eine Figur
ohne Mittelwerte: Wie bei einer Achterbahnfahrt rast Reeves’ Mienen-
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spiel zwischen völliger Ausdruckslosigkeit und jähen Ausbrüchen hin
und her. Für jemanden, der sich schon in so unterschiedlichen Filmen
wie RIVER’S EDGE (Das Messer am Ufer; 1986; R: Tim Hunter) und
THE NIGHT BEFORE (Eine verrückte Reise durch die Nacht; 1988; R:
Thom Eberhardt) Meriten erworben hatte, war das eindeutig zu wenig.
In der Folge schien es auch Reeves’ größte Sorge zu sein, von Hollywood
auf die Rolle des dummen Augusts festgelegt zu werden.
So prekär das Verhältnis von Keanu Reeves zu seinem ersten Erfolg
auch war: BILL & TED’S EXCELLENT ADVENTURE steht in gewissem
Sinne exemplarisch sowohl für die ersten beiden Jahrzehnte seines
Lebens als auch für seine frühen Filme insgesamt. Die »vorzüglichen
Abenteuer« wiederholen die beiden entscheidenden Erfahrungen seiner eigenen Kindheit und Jugend: das unstete Herumirren in der Welt
und die gelockerten Familienverhältnisse. Schon sein Geburtsort, Beirut, die Hauptstadt des Libanon, scheint anzuzeigen, dass er unter
einem wandernden Stern geboren wurde: Seine Mutter Patricia arbeitete als Tänzerin in einem Club, als sie ihren ersten Ehemann, Samuel
Nowlin Reeves, kennen lernte. Reeves’ leiblicher Vater, halb chinesischer und halb hawaiianischer Abstammung, gab ihm den Vornamen
Keanu, was »Kühle Brise über den Bergen« bedeutet. (Reeves’ zweiter
Vorname ist Charles.) Nicht lange nach seiner Geburt am 2. September 1964 übersiedelte die Familie nach Australien, wo auch Keanus
Schwester Kim zur Welt kam. Die Ehe der Eltern hielt nicht lange,
Samuel ging zurück nach Hawaii, Patricia zog mit den Kindern nach
New York City. Hier heiratete sie Paul Aaron, einen Broadway- und
Hollywood-Regisseur, dem sie schließlich ins kanadische Toronto folgte. Auch diese Ehe wurde geschieden, und es kamen zwei weitere
Stiefväter ins Haus, erst der Rock ’n’ Roll-Promoter Robert Miller (aus
dieser Ehe stammt Keanus Halbschwester Karina), später Jack Bond,
der Besitzer eines Frisiersalons [2]. Mit diesem halb bürgerlichen, halb
vagabundenhaften familiären Hintergrund passt Keanu Reeves hervorragend in seine frühen Rollen. In Komödien wie BILL & TED’S EXCELLENT ADVENTURE lebt er die Freiheit aus, die die Ungebundenheit
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Eine wundervolle Reise
Keanu Reeves
Eine wundervolle Reise
BILL & TED’S EXCELLENT ADVENTURE
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wechselnder Familienverhältnisse mit sich bringen kann, und in Problemfilmen wie RIVER’S EDGE lässt er sein Publikum die Orientierungslosigkeit einer buchstäblich oder im metaphorischen Sinne vaterlosen Jugend spüren.
Bereits mit 16 Jahren entschied sich Reeves dafür, eine Karriere als
Schauspieler zu verfolgen. Er ging von der Schule ab, trat in Werbesendungen sowie im Radio auf und spielte regelmäßig Theater. Seine
Schulzeit fasste er augenzwinkernd so zusammen: »Aus der einen wurde ich rausgeworfen, eine andere verließ ich selbst, dann wechselte ich
die Schule, und bei einer anderen machte ich endgültig Schluss ... Ich
war nicht wild, eher passiv und unbeteiligt.« [3] Das Sprunghafte und
die künstlerische Ader hat Reeves offenbar von seiner Mutter Patricia
geerbt. Sie arbeitete damals als Kostümbildnerin für Stars wie David
Bowie, Dolly Parton oder Alice Cooper und gehörte zu den Bohemiens
von Toronto. Patricia lebte ihr eigenes Leben und erzog ihre Kinder früh
zur Selbstständigkeit – was aber auch bedeutete, dass diese oft auf sich
allein gestellt waren. Nicht selten blieben Reeves’ Eltern ganze Nächte
fort, während es sich ihr ältestes Kind mit einer gelieferten Pizza vor
dem Fernseher bequem machte. Nachgetragen hat es Reeves seiner
Mutter nie: »Sie war ihrer Zeit voraus«, sagte er später, »und umgab
mich und meine Schwestern mit Kultur und Kunst. Wir lernten, Ideen
zu lieben, selbst als ich den Lehrstoff in meiner Schule hasste.« [4]
Die Schauspielerei muss für Keanu Reeves von Anfang an eine
verzehrende Leidenschaft gewesen sein. Obwohl er keinerlei Erfahrung besaß und in seiner ungeschliffenen Art mitunter weit über’s Ziel
hinausschoss, nahm ihn die angesehene Schauspielschule Leah Posluns
sofort in ihre Klasse für Fortgeschrittene auf. John Palmer, einer von
Reeves’ ersten Theaterregisseuren, beschrieb ihn als »unsicheren Jungen, dem jede Art von Technik fehlte und der wild über die Bühne
sprang«. [5] Allerdings, so Palmer, ließ sich sehr gut mit ihm arbeiten:
»Er wusste, was ihm fehlte und seine Lernbegierde war enorm.« [6]
Ganz konnte Keanu Reeves den Mangel an Körperbeherrschung und
Sprecherziehung nicht kompensieren, doch das Meiste machte er mit
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Eine wundervolle Reise
Keanu Reeves
Eine wundervolle Reise
seiner natürlichen Ausstrahlung,
Beharrlichkeit und ausgeprägtem
Eigensinn wieder wett. Genau diese ungezähmte Erscheinung öffnete ihm die Türen der Besetzungsagenturen: »Er sah immer aus,
als ob er aus dem Rucksack leben
würde«, erinnerte sich die Casting-Agentin Lucinda Sill. »Er trug
meist Khakihosen, eine abgewetzte Armeejacke und Handschuhe
mit abgeschnittenen Fingern. Seine Haare, die anscheinend seit
langer Zeit keine Bürste mehr
gesehen hatten, waren stets verstrubbelt. Wenn er ehrgeizig war,
so zeigte er es nicht. Den Produzenten trat er immer sehr entspannt gegenüber. Er gab sich keine Mühe, jemanden zu beeindrukken.« [7] Seine erste Filmrolle bekam Reeves dann allerdings vor
allem wegen seiner sportlichen Vorbildung: In der Highschool hatte
er erfolgreich als Eishockeytorwart gespielt (sein Spitzname war
»Die Wand«), nun stand er für
einen Film über ein Hockeyteam,
YOUNGBLOOD (Bodycheck; 1986;
R: Peter Markle), wieder auf dem
Eis. Patrick Swayze und Rob Lowe
waren die Stars dieser rabiaten
Teenagerkomödie, und Reeves’ Rol-
Matt, seine Clique und die Leiche im
Wald: RIVER’S EDGE
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le als Heaver war klein und unbefriedigend. Bei seinem ersten Auftritt
balanciert er eine Rolle Toilettenpapier auf dem Kopf, und das ist auch
schon seine eindrucksvollste Szene.
Mit 20 Jahren brach Keanu Reeves seine Zelte in Toronto ab, um in
Hollywood sein Glück zu finden. »Ich fühlte, wenn ich es richtig
machen wollte, dann in Hollywood. Ich ergatterte einen Auftrag, ich
verdiente ein wenig Geld und besorgte mir ein neues Auto.« [8] In Los
Angeles bekam Reeves zunächst Starthilfe von seinem Stiefvater Paul
Aaron, der ihn bei sich aufnahm und ihm einen Agenten vermittelte.
Wie in seiner kanadischen Zeit spielte Reeves weiterhin vornehmlich
kleine Rollen beim Fernsehen, allerdings nicht mehr in eher unbedeutenden Serien wie Hanging in (USA 1979) oder Going Great (USA
1982), sondern er trat nun in ambitionierten Produktionen für das
Abendprogramm auf. UNDER THE INFLUENCE (1985; R: Thomas
Carter) ist ein Trinkerdrama, in dem Reeves eines von vier Kindern
eines Alkoholikers spielt, in ACT OF VENGEANCE (Verraten und verkauft; 1985; R: John Mackenzie) verkörpert er einen Auftragsmörder,
der ausgerechnet Charles Bronson, den Star der Selbstjustiz-Reihe
Death Wish, aus dem Weg schaffen soll, und in BABES IN TOYLAND
(Abenteuer im Spielzeugland; 1986; R: Clive Donner) wirkt er sogar in
einem Musical mit. Die in den Münchner Bavaria-Studios produzierte
Weihnachtsshow handelt von einer jungen Frau (Drew Barrymore), die
von einem Autofahrer unsanft in eine operettenhafte Traumwelt bugsiert wird und hier das lange vermisste Kind in sich entdeckt. Reeves
spielt den Freund ihrer älteren Schwester und singt und tanzt, so gut er
kann. »Er arbeitete unglaublich hart«, erinnerte sich sein Regisseur
Clive Donner an eine besonders aufwändige Ballettszene, »aber er ist
nun einmal kein Nurejew. Am Ende versuchten wir etwas anderes,
doch der Wagemut, mit dem er sich ohne Vorbehalte auf etwas ihm
völlig Unbekanntes einließ, war beeindruckend.« [9]
In seinem nächsten Kinofilm RIVER’S EDGE erhielt Keanu Reeves
schließlich die Gelegenheit zu einer wirklichen Talentprobe. Tim Hunter erzählt in seinem zu Recht viel gelobten Film die auf Tatsachen
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Eine wundervolle Reise
Keanu Reeves
Eine wundervolle Reise
Ensemblespiel: RIVER’S EDGE
beruhende Geschichte eines Mordfalls: Der etwas einfältige John (Daniel Roebuck) erwürgt seine Mitschülerin Jamie und lässt ihren entblößten Leichnam am Flussufer zurück. Eher beiläufig erzählt er seiner
Clique davon und stößt zunächst auf Unglauben, bis er seine Freunde
zur toten Jamie führt, die ihnen mit weit geöffneten Augen entgegenstarrt. Niemand bedeckt sie oder verständigt die Polizei. Layne (Crispin
Glover), der Anführer der Gruppe, meint, dass es ihren gemeinsamen
Code verletzen würde, die Erwachsenen hinzuzuziehen. Jamie sei tot,
und deshalb könne ihr niemand mehr helfen. Es sei John, der jetzt ihre
Hilfe brauche.
Bis heute gilt RIVER’S EDGE als ein Film über die Leere und Stumpfheit der Jugend. Dabei geht es in ihm eher um die Verlorenheit junger
Menschen in einer Gesellschaft, die ihnen keine Vorbilder bieten kann:
Die Erwachsenen sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um
mitzubekommen, was ihre Kinder umtreibt; keiner von ihnen bemerkt
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überhaupt, dass die ermordete Jamie verschwunden ist. Jeder Schüler
illustriert einen anderen Aspekt dieser sich selbst überlassenen Generation. So wächst Matt, gespielt von Keanu Reeves, in einer Familie auf,
in der kaum noch miteinander gesprochen wird. Matt verbringt die
meiste Zeit damit, gemeinsam mit seinen Freunden durch die Stadt zu
ziehen und sich zu bekiffen. Mit seiner langen Mähne, dem schlaksigen
Gang und den dreckigen Jeans am Leib gleicht er dem Klischee des
pothead bis aufs Haar. Aber er ist auch ein sorgender Bruder für seine
vernachlässigte kleine Schwester, und er ist es auch, der schließlich den
Mord an Jamie anzeigen wird. Matt ist das Gewissen des Films und
wirkt neben dem wie unter Strom stehenden Layne wie der ruhende
Pol der Clique. Nachdem er bei der Polizei gewesen ist, wandert er mit
seiner Freundin Clarissa durch die Stadt. Zärtlich legt er ihr seine Jacke
um die Schultern, und wenn die beiden schließlich im Park vor ihrer
Schule übernachten, bilden sie eine Insel des Glücks und der Hoffnung
inmitten der trostlosen Erwachsenenwelt.
Während RIVER’S EDGE auf einem ausgefeilten Ensemblespiel basierte, bekam Keanu Reeves in THE NIGHT BEFORE zum ersten Mal
Gelegenheit, allein im Scheinwerferlicht der Kameras zu stehen. Er
war nicht einfach nur der Hauptdarsteller, er war – mit wenigen Ausnahmen – in jeder Einstellung zu sehen und balancierte das Gelingen
des Films allein auf seinen Schultern – eine Erfahrung, die für einen
jungen Schauspieler gar nicht zu überschätzen ist. THE NIGHT BEFORE
beginnt mit einer Gedächtnislücke: Der junge Winston (Reeves) erwacht auf einer Straße und weiß nicht, wie er dorthin gekommen ist.
Während er umherirrt, kehrt sein Erinnerungsvermögen nach und nach
zurück: Er hatte sich mit seiner Begleiterin Tara (Lori Loughlin) auf
dem Weg zum Schulabschlussball verfahren und war irgendwann buchstäblich on the wrong side of the tracks geraten. Um zu telefonieren,
gehen die beiden in einen Tanzclub und betreten eine Welt, die mit
ihrem wohl behüteten Vorstadtkosmos nichts gemein hat: heiße Rhythmen, sanfte Drogen und halbseidene Gestalten. Irgendwann im Laufe
der turbulenten Nacht verkauft der berauschte Winston versehentlich
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Eine wundervolle Reise
Keanu Reeves
Eine wundervolle Reise
Winston findet Gefallen an seinem neuen Ich: Reeves in THE NIGHT BEFORE
Tara an einen Zuhälter und verbringt den folgenden Tag damit, sie
aufzuspüren und aus ihrer misslichen Lage zu befreien.
Das Schöne an THE NIGHT BEFORE ist, dass man einem jungen
Schauspieler dabei zusehen kann, wie er sich freispielt. So wie sich der
ausgenüchterte Winston erst in seine Heldenrolle finden muss, so wird
auch Reeves im Verlauf des Films immer lebendiger und überzeugender. Als Winston seine Abendgarderobe gegen die Jeanskleidung eines
Passanten tauscht und sich mit einer Spielzeugpistole bewaffnet, ist
der Wendepunkt gekommen. Mit dem Mut der Verzweiflung stürmt er
die Wohnung, in der er seine entschwundene Begleiterin vermutet.
Tara ist zwar nicht mehr da, aber Winston findet Gefallen an seinem
neuen Ich. Von nun an trägt ihn eine Welle jugendlichen Elans dem
glücklichen Ende zu. Im Grunde ist Winstons Wettlauf gegen die Zeit
schon ein Vorgriff auf Reeves’ spätere Rollen im Actionkino. Hier rennt
er sich den Teufel der Wohlerzogenheit aus dem Leib und braust mit
quietschenden Reifen und einer frisch gewonnen Braut davon.
Eines Tages verschwand Keanu Reeves’ leiblicher Vater vollkommen
aus dem Leben seines Sohns. Er zog fort und meldete sich nicht mehr.
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Erst als er 1992 wegen Drogenbesitzes angeklagt und verurteilt wurde,
las Reeves in der Presse wieder von ihm. Über diese Erfahrung des
Verlassenseins hat er nie viel erzählt, doch auf seine Rolle in der Milieustudie THE PRINCE OF PENNSYLVANIA (Der Prinz von Pennsylvania;
1988; R: Ron Nyswaner) angesprochen, gestand er 1989 ein, dass ihn
die Sache beschäftige: »Natürlich bedeutet es etwas für mich, aber
darüber fange ich erst an nachzudenken. Ich habe viel von meinem
Vater, viele Äußerlichkeiten, sein Lachen zum Beispiel ... Das letzte
Mal sah ich ihn mit 15, für etwa zehn Minuten. Natürlich ist das
hart.« [10]
In THE PRINCE OF PENNSYLVANIA spielt Reeves einen jungen Herumtreiber, der seinem Vater entfremdet ist und davon träumt, aus
seinem Zuhause auszubrechen. Der Titel des Films bezieht sich auf
eine Geschichte, die Reeves’ Figur Rupert Marshetta von seinem Vater
erzählt bekommt. Während seiner Dienstzeit in Vietnam, sagt Gary
Marshetta (Fred Ward), habe er immer von einem Zuhause mit ihm
selbst als König, seiner Frau als Königin und Rupert als ihrem Thronfolger geträumt. 17 Jahre später liegt das Königreich jedoch in Trümmern.
Ruperts Mutter Pam (Bonnie Bedelia) hat eine Affäre, und Rupert
selbst versucht alles, um nicht in die Fußstapfen seines Vaters zu
treten. Als er sich in die gleichermaßen unglückliche, aber wesentlich
ältere Carla (Amy Madigan) verliebt, keimt in ihm eine folgenschwere
Idee: Sein Vater besitzt ein Stück Land, hat es aber niemals zu Geld
gemacht. Wenn er seinen Vater entführte, so glaubt Rupert, könnte
seine Mutter das Land verkaufen, und ihnen stünde mit dem durch
Erpressung gewonnenen Geld ein neues Leben offen. Aus dieser Vorgabe hätte ein Schauspiel voller Sehnsucht und eines aus Liebe und
Verzweiflung geborenen Verbrechens werden können. Doch leider hat
der Regisseur Ron Nyswaner sich dafür entschieden, das Familiendrama als Komödie zu inszenieren. Bei der Entführung läuft alles schief,
was schief laufen kann, und am Ende stellt sich heraus, dass Ruperts
Vater sein Land bereits heimlich verkauft hat. Wenn die Masken dann
fallen und alle Beteiligten vor den Trümmern ihres Familienlebens
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Der junge Herumtreiber Rupert in THE PRINCE OF PENNSYLVANIA
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Reeves mit Kari Keegan (oben) und Amy Madigan in THE PRINCE OF PENNSYLVANIA
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Keanu Reeves
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stehen, ist dem Film längst alle
Top Ten Box-Office
dramatische Glaubwürdigkeit ab[ THE MATRIX RELOADED:
handen gekommen.
738.599.701 $.
Natürlich bleibt auch Keanu
[ THE MATRIX:
Reeves’ Darstellung von der Ent460.379.930 $.
scheidung seines Regisseurs nicht
[ THE MATRIX REVOLUTIONS:
unberührt. Sehr eindrucksvoll stellt
424.988.211 $.
er Ruperts Verlorenheit und seine
[SPEED:
Verstocktheit gegenüber seinem
350.448.145 $.
Vater dar. Gerade weil Rupert oft
[ SOMETHING’S GOTTA GIVE:
ungerecht gegen seinen durchaus
266.728.738 $.
gutwilligen Vater ist, wäre die spä[ CONSTANTINE:
217.122.578 $.
tere Wendung ins Tragische als Zuspitzung einer nur scheinbar aus[BRAM STOKER’S DRACULA:
215.862.692 $.
weglosen Situation überzeugend
[ THE DEVIL’S ADVOCATE:
gewesen. Auch für Keanu Reeves
152.944.660 $.
hätte es schauspierisch sicherlich
[
PARENTHOOD:
einigen Reiz besessen zu zeigen,
126.297.830 $.
wie jugendliche Leidenschaft in
[POINT BREAK:
Rücksichtslosigkeit umschlagen
83.531.958 $.
kann. Am schönsten kommt seine
(Quelle: http://www.boxofficemojo.com)
bereits in RIVER’S EDGE erkennbare Empfindsamkeit noch in der
verhaltenen Liebesgeschichte mit
der doppelt so alten Carla zum Tragen. Wie die beiden Halt aneinander
finden, um dann gemeinsam in ein Verbrechen hineinzutreiben, ist so
anrührend, dass man gerne mehr über sie erfahren hätte.
Es gibt eine ganze Reihe schöner Hollywood-Filme, die davon erzählen, wie der plötzliche Erfolg das Leben eines Menschen durcheinander wirbeln kann. Schließlich haben gerade in Hollywood viele Menschen dieses Gefühl selbst durchlebt und durchlitten. Die Katastrophe
des Erfolgs heißt eine Biografie des amerikanischen Regisseurs Frank
Capra, dessen Name dank seiner Filme aus den 30er und 40er Jahren
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für das Märchen vom sozialen Aufstieg steht. Dieser Titel könnte auch
den Durchbruch jedes Stars beschreiben, denn alle machen am eigenen
Leib die Erfahrung, dass nichts mehr ist, wie es einmal war. Sie tragen
ihre Haut zu Markte, büßen ihre Privatsphäre ein, und nicht selten legt
der Ruhm sie auf einen einzigen schauspielerischen Typus fest – bei
Keanu Reeves schien es zunächst der sympathische Dummkopf zu sein,
den er in BILL & TED’S EXCELLENT ADVENTURE so glanzvoll verkörpert hat.
Auf den ersten Blick ist Stephen Hereks Film vor allem eine dreiste
Verballhornung der BACK TO THE FUTURE-Trilogie (Zurück in die
Zukunft I-III; 1985-90; R: Robert Zemeckis). Während deren Autoren
peinlich darum bemüht waren, bei aller Fantastik einen eigenwilligen
Möglichkeitssinn zu behaupten, gibt es bei BILL & TED’S EXCELLENT
ADVENTURE kein physikalisch begründetes Halten mehr. In einer Szene begegnen sich die verschiedenen Ichs von Bill und Ted zum fröhlichen Plausch – in BACK TO THE FUTURE hätte dies noch einen Zusammenbruch des Zeit-Raum-Kontinuums zur Folge gehabt. Die beiden
Protagonisten sind das Spiegelbild dieser dramaturgischen Unbekümmertheit: zwei etwas unterbelichtete Jugendliche, die dank gutmütiger
Hilfe aus der Zukunft auf eine Zeitreise gehen.
Ganz zu Anfang sieht man Bill und Ted in einer Garage ihre Gitarren malträtieren, später erfahren wir, dass ihre Musik alle Probleme
der Menschheit lösen und die Welt befrieden wird. In der Zukunft ist
alles, was die beiden tun und was normalen Menschen reichlich dümmlich erscheinen muss, ein Heiligtum. Das Leben ist eine ewig währende
Party, man nennt sich gegenseitig »Dude« und schwingt zum Gruß
die Hand über der Luftgitarre. Weil es aber diese Zukunft nur geben
kann, wenn die beiden zusammenbleiben, beschließt die Generation
des Jahres 2688, ihnen eine Art Schutzengel zur Seite zu stellen.
Dieser soll dafür sorgen, dass die beiden ihre Geschichtsprüfung
bestehen. Fallen sie durch, wird Ted von seinem Vater auf eine Militärakademie geschickt, und ihre gemeinsame Band kann nie gegründet werden.
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Eine wundervolle Reise
Keanu Reeves
Eine wundervolle Reise
Bill, Ted und die bösen Roboterzwillinge in ...
Während man sich noch fragt, warum sich die bereits existierende
Zukunft um ihr Bestehen sorgt, beginnt auch schon der Höllenritt
durch die Jahrhunderte. In ihrem Reisevehikel, einer Telefonzelle, sammeln Bill und Ted historische Persönlichkeiten von Sokrates über Napoleon bis zu Sigmund Freud ein und schaffen es gerade noch rechtzei-
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... BILL & TED’S BOGUS JOURNEY
tig, zu einer triumphalen Schulpräsentation im Fach Geschichte heimzukehren. Statt die Historie zu studieren, lassen sie deren Protagonisten für sich selbst sprechen. Auf dem Weg hinterlassen Bill und Ted
genug Spuren für manche historische Anekdote: Johanna von Orléans
hält die Zeitreisenden für eine göttliche Erscheinung, Sigmund Freud
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Eine wundervolle Reise
Keanu Reeves
Eine wundervolle Reise
glaubt sich in einem Traum gefangen, und in der Gegenwart erlebt
Napoleon sein Waterloo auf einer Wasserrutsche.
Es ist leicht einzusehen, warum diese Mischung aus romantischem
Freiheitsstreben und unbeschwerter Frechheit beim Publikum gut angekommen ist. Die Macher so mancher Teeniekomödie scheinen zu
glauben, dass nur die geistig Armen selig sind – man denke etwa an HEY
DUDE, WHERE’S MY CAR (Ey Mann, wo is’ mein Auto; 2000; R: Danny
Leiner), einen Film, der seine Verwandtschaft mit BILL & TED’S EXCELLENT ADVENTURE bereits im Titel verrät. Wenn die Dummheit die
Zwänge des Alltags unterläuft und einen aller Sorgen ledig spricht, hat
sie etwas Erlösendes. Keanu Reeves füllt seine Rolle mit ansteckender
Naivität und mit dem nötigen Mindestmaß an innerer Überzeugung
aus. So wie Ted mit nie ermüdender Verwunderung durchs Leben
schreitet, könnte das Wort »Entgeisterung« allein für diese Figur erfunden worden sein. Dabei hatte Reeves bei den Probeaufnahmen noch
die Rolle des deutlich aufgeweckteren Bill übernommen, während Alex
Winter sich an Ted versuchte. Gemeinsam waren sie dann, wenn auch
mit vertauschten Rollen, unschlagbar. BILL & TED’S EXCELLENT ADVENTURE war so erfolgreich (über 40 Millionen Dollar Einspiel bei 10
Millionen Dollar Produktionskosten), dass 1991 mit BILL & TED’S
BOGUS JOURNEY (Bill & Teds verrückte Reise in die Zukunft; R: Peter
Hewitt) eine ähnlich gestrickte Fortsetzung ins Kino kam. Diesmal
versuchen finstere Mächte aus der Zukunft die Vergangenheit zu ändern und lassen zwei böse Roboterzwillinge von Bill und Ted in der Zeit
zurück reisen. Tatsächlich gelingt es den Doppelgängern aus der Zukunft, Bill und Ted umzubringen, doch nach einer Irrfahrt durch Himmel und Hölle kommen die Originale rechtzeitig zurück, um vor aller
Welt ein umjubeltes Konzert zu geben. Zwischen den beiden Filmen
wurde auch eine Bill & Ted’s Excellent Adventures-Zeichentrickserie
(1990-91) mit Reeves als Synchronsprecher fürs Fernsehen produziert.
Ihr war allerdings kein allzu langes Dasein beschieden.
Wie gesagt, für Keanu Reeves war BILL & TED’S EXCELLENT ADVENTURE eine zweischneidige Angelegenheit. Er hatte immer davon
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geträumt, ernsthafte Rollen zu spielen, und Ted brachte ihn diesem
Ziel nicht näher. Zudem störte er sich mittlerweile daran, stets für
Charaktere besetzt zu werden, die deutlich jünger waren als er. »Ich
habe so oft Jüngere gespielt, dass ich genug davon habe«, sagte er
damals in einem Interview. »Ich habe einige Jahre hart gearbeitet und
werde langsam eine Art Freak. Jünger zu tun, als man tatsächlich ist ...,
irgendwie färbt es auf dich ab. Ich will zu mir selbst aufschließen.« [11]
Auf die Frage, welche Art von Rollen er spielen wolle, antwortete er:
»Gib mir nur eine gute Katharsis.« [12] So erklärt sich seine spätere
Filmauswahl zum Teil daraus, dass er sich von seinem Teenager-Schatten zu lösen versuchte. Dabei ist sicherlich auch ein wenig Selbstverleugnung am Werk, etwa wenn Reeves seine komödiantische Ader über
Jahre hinweg ausbluten lässt. Doch am Ende ist es dann schon wieder
von besonderer Ironie, dass BILL & TED’S EXCELLENT ADVENTURE
einige Motive seines größten Erfolges, THE MATRIX, als Travestie vorwegnimmt: In beiden Filmen spielt Keanu Reeves eine Erlöserfigur, die
nicht weiß, wie ihr geschieht; in beiden Filmen wählt er sich per
Telefonleitung in eine andere Zeit und Welt; und nicht zuletzt sind
Sonnenbrillen in beiden Filmen ein auffälliges Requisit.
Leseprobe aus:
Michael Kohler:
Keanu Reeves. Ein Porträt.
Reihe »Stars!«, Bd. 10
© Bertz + Fischer Verlag, Berlin, 2005
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Stars! 10
Ein unbeschriebenes Blatt