Pathophysiologe U. Zwiener - Johannes Gutenberg

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Pathophysiologe U. Zwiener - Johannes Gutenberg
PHYSIO-Startseite/SCHRIFTENVERZEICHNIS III /Nr. 341
(3 Seiten insgesamt)
Stand: 28. März 2002
Pathophysiologe U. Zwiener
von H.-V. Ulmer, Mainz
Zusammenfassung: Vor der Wende engagierte sich U. Zwiener als Vorsitzender der
Gesellschaft für Pathologische Physiologie der DDR, während der Wende lotete er neben
seinem Einsatz im Demokratischen Aufbruch alsbald die Chancen für sein Fach im Umfeld
einer gesamtdeutschen Physiologie aus. Für eine selbständige Pathophysiologie gab es keine
Chance mehr; innerhalb der Deutschen Physiologischen Gesellschaft (DPG) gestaltete er von
Anbeginn eine Initiativgruppe mit, die unter einem größeren Dach gemeinsam mit
Angewandten und Klinischen Physiologen als spätere „AKP-Physiologen“ probanden- bzw.
patientenbezogene systemphysiologische und pathophysiologische Fragestellungen
bearbeitete. Selbst als Vorsitzender der DPG konnte er jedoch dem Facharzt für Physiologie
innerhalb der DPG nicht zum Durchbruch verhelfen.
Begegnungen mit dem Pathophysiologen Zwiener sind nicht zu trennen vom Menschen
Zwiener, der sich erfolgreich für die Zusammenführung von Ost und West – nicht nur in
Deutschland – eingesetzt hat. U. Zwiener hat damit als Vorbild das Prinzip Hoffnung
vorgelebt.
Nachfolgender Text in: Kratschmer, E. (Red.): Ulrich Zwiener – Weltbürger und
Visionär (anläßlich des 60. Geburtstages von Prof. Dr. Dr. Ulrich Zwiener am 6. März
2002), S. 37 - 40. Jena: Collegium Europaeum Jenense, 2002. ISBN: 3-933159-10-5
Die erste Begegnung mit U. Zwiener ergab sich durch seinen Rundbrief kurz nach
der Wende an Mitglieder der Deutschen Physiologischen Gesellschaft (DPG). Er
fragte nach den Überlebenschancen seiner Gesellschaft für Pathologische
Physiologie der DDR in einem wiedervereinigten Deutschland. Meine Antwort lief auf
schlechte Aussichten für die Selbständigkeit hinaus, da der Pathophysiologie in der
DPG eine randständige Bedeutung und eher die einer Alibifunktion zur Wahrung von
Parallel-Lehrstühlen mehrerer Physiologischer Institute zukäme.
Die erste persönliche Begegnung ergab sich dann im November 1990 anläßlich des
1. Motoriksymposiums in Jena, organisiert von seinem Mitarbeiter H. - Ch. Scholle,
den ich über den Hallenser Pathophysiologen P. G. Linke kennengelernt hatte. U.
Zwiener besaß für seine Aktivitäten beim Demokratischen Aufbruch ein Kopiergerät,
damals eine Rarität Jenenser Universitätsinstitute. Für das Symposium ließ es sich
nur begrenzt einsetzen, da an die Wartungskosten gedacht werden mußte. Es
folgten mehrere Gastvorträge in Jena mit persönlichen Gesprächen, aus denen dann
der Plan erwuchs, für den im September 1991 anstehenden Herbstkongreß der DPG
in Freiburg i. Br. zu „trommeln“. Zusammen mit H. Frauendorf (damaliges
Zentralinstitut für Arbeitsmedizin der DDR in Berlin) ermunterten wir Angewandte
Physiologen und Pathophysiologen, Beiträge für den Kongreß einzureichen.
Begünstigt wurde die gemeinsame Aktion durch die Möglichkeit zur preiswerten
Übernachtung mit Selbstverpflegung auf der Schauinsland-Hütte meiner Freiburger
Burschenschaft Teutonia – war doch die neu gewonnene Reisefreiheit oft durch die
relativ teuren Übernachtungskosten begrenzt.
16 Teilnehmer vor allem aus Ostdeutschland begegneten sich dort auf der Hütte; die
Gespräche drehten sich auch um die Perspektiven der Angewandten Physiologie
und Pathophysiologie. Von den 28 Sitzungen gab es auf dem Freiburger Kongreß
vier zur Angewandten Physiologie/Arbeitsphysiologie und zwei zur Pathophysiologie
(darunter jeweils eine Postersitzung), zusammen 21 % des Programms – ein nie
wieder erreichter Höhepunkt. Zuversichtlich trennten wir uns. Noch heute sehe ich U.
Zwiener vor Augen, wie er – ohne Wanderschuhe – morgens den nassen
Wiesenweg hangaufwärts zu seinem Wagen ging. Was werden wir gemeinsam
bewegen können?
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-2Diese „Nullrunde“ in Freiburg veranlaßte uns mit dem auf der Hütte versammelten
Kern, für das nachfolgende Jahr ein Herbsttreffen zu organisieren. In einer DLRGAusbildungsstätte in Lehmen an der Mosel konnten wir preiswert tagen, die
Mehrbettzimmer (in einem davon U. Zwiener, H. Frauendorf, D. Wirth und H.-V.
Ulmer) sowie die lebhaften Diskussionen ließen uns näher zusammenrücken; es
entstand die spätere DPG-Arbeitsgruppe für Angewandte und Klinische Physiologie
sowie Pathophysiologie (AKP: http://www.uni-mainz.de/FB/Sport/AKP/index.html ).
Diese Initiativgruppe wuchs in einem Umfeld auf, in dem immer deutlicher wurde, wie
sehr sich die deutschen Physiologen von angewandten, klinischen oder
pathophysiologischen Fragestellungen entfernten. Biophysik der Membranen war
angesagt – später dann die Molekulargenetik. Wie oft hat U. Zwiener dies im Kreise
der AKP-Physiologen diskutiert und darauf verwiesen, daß sich Physiologen und
Pathophysiologen mehr auf einen Patientenbezug besinnen sollten.
Diese Fragen wurden während der Präsidentschaft von U. Zwiener als Vorsitzendem
der DPG im Jahre 1994 fast brisant: Der Deutsche Ärztetag hatte für theoretischmedizinische Fächer den Facharzt beschlossen, auch in Anlehnung an die damit in
der ehemaligen DDR gesammelten Erfahrungen. Maßgebliche Wortführer der DPG
sprachen sich dagegen aus, u. a. wegen erklärter Rücksichtnahme auf die
Naturwissenschaftler in der DPG und wegen fehlenden Bezugs zum internationalen
USA-Maßstab. Einige AKP-Physiologen sahen im Facharzt für Physiologie bei aller
Problematik eines Arztes ohne Patienten eine Stärkung des medizinischen Elements
und hätten es gerne auf eine Kampfabstimmung ankommen lassen. Der Vorsitzende
Zwiener winkte jedoch ab: Er befürchtete – wie auch sein Ständiger Sekretär
Kuschinski – eine Niederlage. Diese hätte u. a. die Position der Physiologie innerhalb
medizinischer Fakultäten geschwächt. Seitdem hat sich die Physiologie immer mehr
von vorklinischen und klinischen Fragestellungen entfernt, zahlreiche damit befaßte
Institute oder Abteilungen in Ost und West wurden nicht wieder neu besetzt. Das
Ringen für die Anliegen der AKP-Physiologen geht weiter, maßgeblich von U.
Zwiener mitgetragen.
Auf dem Physiologenkongreß in Münster (1995) konnte man ein interessantes
„Schauspiel“ erleben: U. Zwiener hielt einen Vortrag mit fünf weiteren Mitautoren
seiner Arbeitsgruppe über: Periodical and deterministic-chaotic components of heart
rate fluctuations and their autonomic mediation. Es ging um Kohärenz- und
Spektralanalysen, mehrdimensionale Phasenräume, Lyapunov-Exponenten und
weitere, mir damals weitgehend unbekannte Spezialitäten. Ein Jungforscher traute
dem Ordinarius wohl nicht zu, daß sich dieser sattelfest in der Materie seiner
Mitautoren auskenne. Forsch nahm er mit seinen Fragen den Referenten ins Visier,
dieser blieb aber ohne Rückfrage bei seinen Jungforschern keine Antwort schuldig.
Nun noch zwei persönliche Begegnungen zur Jenenser Situation: Angesichts der
dort anstehenden Hochschulreformen sprachen wir über die Einrichtung
„Verteidigung einer Dissertation“. Diese bei westdeutschen Fakultäten unübliche
Prüfungsart war mir als besonders wichtiger, beinahe elementarer Lebensabschnitt
zahlreicher Kollegen aus der ehemaligen DDR gut bekannt und ich schätzte sie sehr.
Man solle doch wenigstens diesen akademischen Brauch nicht untergehen lassen,
war meine Meinung. Darauf U. Zwiener, er sähe kaum eine Chance; fast blindlings
werde alles, was vom Westen käme, übernommen und das alte weitgehend
ungeprüft über Bord geworfen. Immerhin: Noch heute werden medizinische
Dissertationen in Jena verteidigt.
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-3Nicht einig waren wir uns zunächst über den Umgang mit den Jenenser
Nationalpreisträgern der ehemaligen DDR, die in einem Rundbogen beim
Hintereingang des Hauptgebäudes eingemeißelt waren. Als ich diese Stelle 1994
suchte, war sie unter Putz verschwunden und nicht einmal die Pedelle konnten
meine entsprechende Frage nach dem Verbleib beantworten. Als ich U. Zwiener
daraufhin ansprach, merkte ich sehr deutlich, daß mein Argument der mir nicht ganz
verständlichen Bilderstürmerei völlig daneben lag. Wie gut, daß wir darüber und so
manches andere im Zusammenwachsen von Ost und West offen miteinander reden
konnten.
Was gebe ich dem Jubilar mit auf den Weg? Das Prinzip Hoffnung hat ihn vor und
während der Wende getragen, es trägt ihn beim Ringen für sein Fach, für die
Pathophysiologie. Und so schließe ich mit dem Segel der Hoffnung (von G. A.
Kirmse), das dem ersten Treffen der späteren AKP-Physiologen in Lehmen als Motto
mit auf den Weg gegeben war:
Segel der Hoffnung
Barst im Sturm der Mast
deines Segels der Hoffnung,
richte stärkeren auf;
zerbricht er dir auch,
ergreife dein Segel und halte
es selbst in den Wind.
Kräfte, du hast um sie
nicht gewußt,
wachsen in dir, du wirst stehen,
wirst fortan halten
dein Segel der Hoffnung durch
Wetter und Zeiten.
(Gerda A. Kirmse, Mannheim)
Literaturhinweise:
KIRMSE, G.: Segel der Hoffnung. In: Aufbruch – Schreiben und Lesen in Deutschland,
Freier Deutscher Autorenverband Rheinland-Pfalz (Hrsg.). Siegfried Bublies, Koblenz 1991.
Buchbesprechung siehe: http://www.uni-mainz.de/FB/Sport/physio/pdffiles/BBAufbruch.pdf
SCHOLLE, H.-Ch., G. MÜHLAU: Motodiagnostik – Mototherapie: Arbeitstagung
Physiologie – Pathologie – Klinik, Jena 1990. Univ.-Verlag, Jena 1992
ZWIENER, U., D. HOYER, R. BAUER, K. SCHMIDT, B. LÜTHKE, H. WAGNER:
Periodical and deterministic-chaotic components of heart rate fluctuations and their
autonomic mediation. Pflügers Arch. – Europ. J. Physiol. , Suppl. to Vol. 429, No 6, R 77,
1995
Prof. Dr. med. H.-V. Ulmer, Sportphysiologische Abteilung, FB Sport, Johannes GutenbergUniversität, 55099 MAINZ, Tel.:06131-392-3583 bzw. -5415, Fax über -3525
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341 Zwiener Begegnungen mit dem Pathophysiologen 11.01.doc/341Zwiener~.doc/.pdf
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