im Kindesalter im Kindesalter

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im Kindesalter im Kindesalter
DFP-Literaturstudium
Kopfschmerz
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© CONTRAST
state of the art
im Kindesalter
7 • 10. April 2004
DFP-Literaturstudium
Ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen in Österreich leidet an rezidivierenden Kopfschmerzen. In den Empfehlungen zur apparativ-diagnostischen Abklärung des Kopfschmerzes wird u.a. von der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft betont, dass ein
individueller Zugang erforderlich ist und kein Verfahren zur Verfügung steht, das
routinemäßig eingesetzt werden kann. Von Çiçek Wöber-Bingöl
Aktuelle Entwicklungen
Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter stellen gesundheitspolitisch
ein wichtiges Problem dar. Das belegen
Zahlen, die kürzlich vom Bundesministerium für Gesundheit und Frauen
publiziert wurden. 23 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Österreich leiden an rezidivierenden Kopfschmerzen.
Aus internationalen Studien ist bekannt, dass nicht weniger als 60 bis 80
Prozent der Kinder zumindest einmal in
ihrem Leben Kopfschmerzen gehabt
haben, wobei Mädchen etwas häufiger
betroffen sind als Knaben. Meist handelt es sich dabei um Kopfschmerzen
im Rahmen von interkurrenten Infekten. Die Prävalenz der Migräne liegt bei
Drei- bis Elfjährigen - unabhängig vom
Geschlecht - zwischen drei und fünf
Prozent und steigt danach bis zum 18.
Lebensjahr bei Knaben auf etwa sieben
Prozent, bei Mädchen auf etwa zwölf
Prozent.
Rezidivierende oder chronische
Kopfschmerzen sind nur selten Ausdruck einer zugrundeliegenden Erkrankung, sondern sind meist als primäre
Kopfschmerzen zu klassifizieren, zu
deren wichtigsten Vetretern die Migräne und der Spannungskopfschmerz
zählen. Der Ausschluss einer organischen Kopfschmerzursache stellt somit
nicht das Ende der Behandlung dar,
sondern deren Beginn. Wesentlich ist
ein strukturierter, altersgerechter Zugang
bei Diagnostik und Therapie. Anfang
2004 wurde von der International Headache Society die zweite Auflage der International Classification of Headache
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Disorders (ICHD-II) publiziert, die,
wenn auch nur punktuell, Besonderheiten des Kopfschmerzes bei Kindern und
Jugendlichen berücksichtigt.
Wenn auch der Umfang dieses Klassifikationssystems die Erfordernisse der
täglichen Praxis weit übersteigt, so stellen die Kriterien der wichtigen
primären Kopfschmerzen doch eine
maßgebliche Entscheidungshilfe dar im
Hinblick auf das weitere diagnostische
Prozedere. In Empfehlungen zur apparativ diagnostischen Abklärung des
Kopfschmerzes im Kindes- und Jugendalter, wie sie jüngst von der American
Academy of Neurology, der Deutschen
Migräne und Kopfschmerzgesellschaft
und der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft vorgelegt wurden,
wird hervorgehoben, dass ein individueller Zugang erforderlich ist und kein
“routinemäßig” einzusetzendes Verfahren zur Verfügung steht.
Was die Behandlung primärer Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen betrifft, so mehren sich die gesicherten Kenntnisse leider nur langsam.
Sowohl für die Akuttherapie als auch
hinsichtlich prophylaktischer Maßnahmen liegen nur wenige aussagekräftige,
kontrollierte Untersuchungen vor. In
Medikamentenstudien ergibt sich aufgrund hoher Placeboraten oft keine statistisch signifikante Überlegenheit des
Verum-Präparates; die entsprechenden
Daten werden oft nicht publiziert. Bei
Publikationen zu nicht-medikamentösen Therapieformen mangelt es oft an
einer Kontrollgruppe. Die Therapie der
beiden häufigsten primären Kopf-
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schmerzformen - Migräne und Spannungskopfschmerz - kann sich daher
nur zum Teil auf gesicherte Daten im
Sinn der Evidenz-basierten Medizin
stützen und erfordert den zusätzlichen
Einsatz empirisch gestützter Methoden.
Was die Prinzipien des therapeutischen
Zuganges betrifft, so zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen US-amerikanischen Empfehlungen und jenen
europäischer Zentren.
Während erstere fast ausschließlich
auf der medikamentösen Therapie beruhen, wird in Europa den nicht-medikamentösen Maßnahmen ein entscheidender Stellenwert zugeschrieben. Im
Mittelpunkt stehen dabei die Vermittlung aktiver Coping-Strategien, Entspannungstechniken und verhaltensmedizinische Programme.
state of the art
Darüber hinaus sind Besonderheiten
im Verlauf und im klinischen Bild
primärer Kopfschmerzen (vor allem bei
der Migräne), speziell im Kindesalter
vorkommende und mit Migräne assoziierte Zustandsbilder wie abdominelle
Migräne, zyklisches Erbrechen und benigner paroxysmaler Schwindel sowie
Kopfschmerzen bei Erkrankungen, die
vorwiegend im Kindesalter vorkommen, hervorzuheben.
Migräne
Krankheitsbilder
Die Migräne ohne Aura im Kindesalter zeichnet sich durch eine im Vergleich zum Erwachsenen wesentlich
kürzere Dauer von einigen Stunden
aus. Bei manchen Kindern dauert eine
Attacke ein bis zwei Stunden oder
sogar weniger als eine Stunde. Ein weiteres Charakteristikum der kindlichen
Migräne stellt die Schmerzlokalisation
dar: Nur selten findet man eine typische Hemikranie; am häufigsten wird
der Kopfschmerz frontal (median, unioder bilateral) angegeben. Voraussetzung für die Diagnose Migräne sind
auch im Kindesalter das Auftreten von
Begleitsymptomen, wobei hier als
führendes Symptom Übelkeit anzuführen ist (Tab. 1).
Kopfschmerzen bei Kindern unterscheiden sich in mancher Hinsicht von
jenen bei Erwachsenen, zeigen aber
auch viele Gemeinsamkeiten. Der we-
Aurasymptome - als Ausdruck einer
Migräne mit Aura - kommen im Kindesalter relativ selten vor und nehmen
ab der Adoleszenz an Häufigkeit zu. Die
Der Einsatz komplementärmedizinischer Methoden muss äußerst kritisch
betrachtet werden, zumal erstens ein
Wirksamkeitsnachweis oft fehlt; zweitens Therapieformen, die sich durch
ein “Behandelt-Werden” auszeichnen,
die Schmerzchronifizierung fördern
können (speziell, wenn auf Maßnahmen verzichtet wird, die den Betroffenen eine aktive Prävention und Bewältigung der Kopfschmerzen vermitteln)
und drittens diese oft als “natürlich”
angepriesenen Methoden keineswegs
frei von unerwünschten Wirkungen
sind.
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sentlichste Unterschied ist sicherlich
das Alter der Patienten, das einen entsprechenden Zugang bei der Anamnese, der klinischen Untersuchung sowie
der Indikationsstellung zu apparativen
Zusatzuntersuchungen erfordert.
Diagnosekriterien der Migräne ohne Aura (ICHD-II, 2004)
A Mindestens fünf vorangegangene Attacken
B Kopfschmerzdauer: vier bis 72 Stunden (bei Kindern ein bis 72 Stunden)
C Mindestens zwei der folgenden Kriterien
1. Schmerzlokalisation einseitig (bei Kindern häufig beidseits)
2. Schmerzqualität pochend/pulsierend
3. Schmerzintensität mäßig bis stark
4. Verstärkung durch leichte oder mäßige körperliche Aktivität
D Mindestens eines der folgenden Kriterien
1. Übelkeit und/oder Erbrechen
2. Photo- und Phonophobie
E Nicht auf eine andere Störung zurückzuführen
Tab. 1
Ausprägung der Aurasymptome unterscheidet sich nicht von jener bei erwachsenen Migränepatienten. Die Basilaris-Migräne soll im Kindesalter häufiger vorkommen. Die sogenannten Periodischen Syndrome der Kindheit umfassen rezidivierende Beschwerden, die
mit Migräne in Zusammenhang gebracht werden, jedoch ohne fassbares
organisches Korrelat sind. Das zyklische
Erbrechen zeichnet sich durch rezidivierende, beim Patienten individuell
stereotyp ablaufende Episoden mit wiederholtem Erbrechen aus, die meist mit
Gesichtsblässe und Lethargie einhergehen und selbstlimitierend sind; jedoch
liegt keine Erkrankung des Gastrointestinaltraktes zugrunde.
Die abdominelle Migräne ist durch
rezidivierende in der Mittellinie (periumbilikal oder diffus) lokalisierte mäßige bis starke Bauchschmerzen charakterisiert, die ein bis 72 Stunden anhalten
können und von Appetitlosigkeit,
Übelkeit, Erbrechen und/oder Blässe
begleitet sind. Die Diagnosestellung
‚Zyklisches Erbrechen‘ beziehungsweise
‚Abdominelle Migräne‘ erfordert den
adäquaten Ausschluss einer Erkrankung des Gastrointestinaltraktes.
Der gutartige paroxysmale Schwindel des Kindesalters ist eine heterogene
Erkrankung, die durch isolierte Drehschwindelattacken mit Blässe, Nystagmus, Erbrechen und Angstgefühl charakterisiert ist. Zwischen den Attacken
ist der neurologische Befund unauffällig. Betroffen sind vor allem kleinere
Kinder. Die Beschwerden sistieren
meist vor dem achten Lebensjahr.
Auslöser, die zum Auftreten einer
Kopfschmerzattacke beitragen können, sind Veränderungen im SchlafWach-Rhythmus (zu wenig oder zu
viel Schlaf), Verzögerung oder Auslassen von Mahlzeiten, Schulstress, Konflikte in der Familie und Ängste.
Außerdem können Lebens- und Genussmittel wie Käse oder Nüsse eventuell eine Migräneattacke auslösen,
was jedoch nur bei einer kleinen
Gruppe von Betroffenen der Fall sein
dürfte. Migräne in Zusammenhang mit
Schokolade ist möglicherweise auf
Konsum im Rahmen einer prodromalen Heißhungerattacke zurückzuführen. Die Bedeutung als Migränetrigger dürfte überschätzt werden.
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Spannungskopfschmerz
Die wichtigsten Symptome
Der Spannungskopfschmerz ist charakterisiert durch einen beidseits lokalisierten, meist als dumpf oder
drückend empfundenen Schmerz geringer oder mäßiger Intensität, bei dem
Begleitsymptome weitgehend fehlen
(Tab. 2). Abhängig von der Häufigkeit
unterscheidet man einen seltenen (an
weniger als einem Tag pro Monat auftretend), häufigen (an ein bis 14 Tagen
pro Monat) und chronischen Spannungskopfschmerz (an mehr als 14
Tagen pro Monat).
Die beiden häufigsten primären
Kopfschmerzformen, Migräne und
Spannungskopfschmerz, können anhand der Kopfschmerzcharakteristik
und der Begleitsymptome differenziert
werden (Tab. 1 und 2). Die wichtigsten
Unterscheidungsmerkmale sind die Intensität der Kopfschmerzen und das
Auftreten von Übelkeit und/oder Erbrechen. Entscheidend ist jedoch der
Ausschluss einer bedrohlichen Kopfschmerzursache, der primär auf Basis
der Anamnese und des klinisch neurologischen Befundes erfolgt und im Bedarfsfall durch gezielte apparative Diagnostik unterstützt wird.
Die Symptomatik des Spannungskopfschmerzes im Kindes- und Jugendalter unterscheidet sich nur in wenigen
Aspekten von jener des Erwachsenen.
Bei Betroffenen, die wegen Kopfschmerzen eine Kopfschmerzambulanz
aufsuchen, treten die Kopfschmerzen
bei Kindern seltener auf, sind kürzer
und zeigen kaum einen Wechsel der
Schmerzlokalisation. Darüber hinaus
nimmt die Analgetikaeinnahme vom
Kindes- ins Erwachsenenalter deutlich
zu.
Cluster-Kopfschmerz
Der Clusterkopfschmerz stellt im
Kindesalter eine absolute Rarität dar.
Sekundäre Kopfschmerzen
im Kindesalter
Organisch bedingte Kopfschmerzen kommen häufig im Rahmen von
Erkältungskrankheiten, grippalen Infekten, Angina, akuten Nebenhöhlenentzündungen sowie nach Verletzungen (zum Beispiel bei einer Schädelprellung oder Gehirnerschütterung)
vor. Aber auch nicht korrigierte Sehstörungen können Kopfschmerzen
verursachen. Bei all diesen Erkrankungen gibt es differenzialdiagnostisch meist keine Schwierigkeiten;
sie können mit Hilfe klinischer Untersuchungen diagnostiziert werden,
ohne dass dabei das Kind nennenswert
belastet wird. Gravierende organische
Erkrankungen wie beispielsweise
Hirntumore finden sich bei Kindern
mit rezidivierenden Kopfschmerzen
und unauffälligem Befund in der neurologischen Untersuchung sehr selten. Gerade deshalb erfordern sie besondere Wachsamkeit.
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Die wichtigsten Warnzeichen, die
eine umgehende medizinische Abklärung erfordern sind erstmals auftretende besonders heftige beziehungsweise progredient zunehmende oder atypische Kopfschmerzen (wie zum Beispiel
ausschließlich okzipital lokalisierte
Schmerzen oder Schmerzattacken, die
ausschließlich nachts auftreten), eine
markante Änderung vorbestehender
Kopfschmerzen, ausgeprägte oder ungewöhnliche Begleitsymptome sowie
Kopfschmerzen, die sich auf gängige
Medikamente nicht bessern.
Diagnose
Treten bei einem Kind rezidivierend
Kopfschmerzen auf, entsteht bei den
Eltern und oft auch beim behandelnden Arzt die Angst vor einem intrakraniellen Prozeß. Um so wichtiger ist ein
strukturiertes Herangehen an das Leitsymptom Kopfschmerz im Kindesalter.
Dabei bildet eine detaillierte Anamnese die Grundvoraussetzung für eine adäquate Planung der weiteren Vorgangsweise. Auch bei Kindern ist es daher
unabdingbar, die wesentlichen anamnestischen Details zu erheben. Bei
Kleinkindern, die Schmerzen noch
nicht verbalisieren können, äußern
sich Kopfschmerzen oft dadurch, dass
sich das Kind zurückzieht, aufhört zu
spielen und sich hinlegt.
Auffallende Blässe oder Weinerlichkeit können ebenfalls auf Kopfschmerzen hinweisen, vor allem, wenn sie episodisch auftreten. Größere Kinder können - entsprechende Zuwendung vorausgesetzt - viele Fragen zur Kopfschmerzanamnese selbst beantworten.
Die klinisch neurologische Untersuchung sollte einen entwicklungsneurologischen Befund beinhalten und auf
sogenannte Unreifezeichen (zum Beispiel assoziierte Mitbewegungen) achten. Die Indikation zur apparativen
Diagnostik muss noch strenger gestellt
werden als bei Erwachsenen. Eine
“Schrotschussdiagnostik” ist zu vermeiden. “Routinemäßig” kann allenfalls
eine augenärztliche Untersuchung
durchgeführt werden. Sofern ein bildgebendes Verfahren indiziert ist, sollte mit Ausnahme einer Notfalluntersuchung - die craniale MRT der cranialen
CT vorgezogen werden. Bei der Indikationsstellung müssen neben organmedizinischen Aspekten auch die Sorgen
und Ängste der Eltern berücksichtigt
werden.
Diagnosekriterien des Spannungskopfschmerzes (ICHD-II, 2004)
A Mindestens zehn vorangegangene Kopfschmerz-Episoden
B Kopfschmerzdauer zwischen 30 Minuten und sieben Tagen
C Mindestens zwei der folgenden Kriterien:
1. Schmerzqualität drückend - ziehend
2. Schmerzintensität leicht - mäßig
3. Lokalisation: beidseitig
4. Keine Verstärkung durch leichte oder mäßige körperliche Aktivität
D Beide der folgenden Kriterien
1. Kein Erbrechen
2. Keine Übelkeit, keine Photophobie, keine Phonophobie bzw.:
Photo- oder Phonophobie beim episodischen Spannungskopfschmerz
Photo- oder Phonophobie oder Übelkeit beim chronischen Spannungskopfschmerz
E Nicht auf eine andere Störung zurückzuführen
Tab. 2
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Akuttherapie der Migräne - Medikament der ersten Wahl
Substanz
Einzeldosis
Max. Tagesdosis
Nebenwirkungen
Kontraindikationen
Paracetamol
15 mg/kg
100 mg/kg
Sehr selten: Hepatotoxizität
bei Überdosierung
Lebererkrankungen
Ibuprofen
10 mg/kg
40 mg/kg
Magenschmerzen,
Bronchospasmus,
Blutungen
Ulcus ventriculi, Ulcus duodeni, Asthma
Acetylsalicylsäure
10-15 mg/kg
30-45 mg/kg
Magenschmerzen,
Fieber und Infektionskrankheiten bei
Bronchospasmus, Blutungen, Kindern unter zwölf Jahren, Ulcus ventriculi,
Reye Syndrom
Ulcus duodeni, Asthma
Tab. 3
Das Elektroenzephalogramm (EEG)
ist bei der Abklärung rezidivierender
Kopfschmerzen weitgehend bedeutungslos und nur indiziert, wenn sich in
Zusammenhang mit Kopfschmerzen ein
epileptischer Anfall manifestiert, eine
atypische Migräneaura von fokalen epileptischen Anfällen differenziert werden soll oder diagnostisch unklare
Kopfschmerzen bei unauffälligem cranialem CT beziehungsweise MRT weiter abzuklären sind.
Ein Schädelröntgen ist – außer bei
einer Schädelverletzung - obsolet. Nativröntgenaufnahmen der Nasennebenhöhlen und der Halswirbelsäule
sind nur bei gezielten klinischen Fragestellungen sinnvoll und dürfen nicht
kritiklos als “Screening-Untersuchungen” eingesetzt werden.
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Differenzialdiagnose
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Bei Kindern oder Jugendlichen mit
dem Leitsymptom Kopfschmerz ist
zunächst eine organische Kopfschmerzursache auszuschließen. Ergeben sich
bei der Anamnese und der klinischen
Untersuchung keine Hinweise auf eine
zugrundeliegende Erkrankung beziehungsweise wurden im Befarfsfall Verdachtsmomente durch adäquate Untersuchungen ausgeschlossen, liegen
meist eine Migräne oder ein Spannungskopfschmerz vor (Differenzial-
diagnose siehe Tab. 1 und 2). Die
anamnestischen Angaben des Patienten sowie der Eltern beim Erstgespräch sollten unbedingt durch einen
kindergerechten Kopfschmerzkalender ergänzt werden, der mindestens
vier Wochen lang geführt werden sollte.
Therapie
Migräne
Bei der Therapie der kindlichen
Migräne ist der erste Schritt das Erkennen und Vermeiden von Triggerfaktoren sowie gegebenenfalls eine Änderung des Lebensstils. Während einer
akuten Migräneattacke sollten die Eltern für Reizabschirmung sowie eine
entspannend-beruhigende Atmosphäre
sorgen und sich selbst ruhig-zurückhaltend verhalten. Gerade bei (kleineren)
Kindern vermögen wenige Stunden
Schlaf oder ein vorgezogener Nachtschlaf die Attacke zu kupieren. Zur medikamentösen Kupierung der Attacke
kommen in erster Linie Paracetamol
sowie Ibuprofen und eventuell Acetylsalicylsäure zum Einsatz.
Folgende Empfehlungen
sollten berücksichtigt werden:
◗ Kein Analgetikum verabreichen,
wenn die Attacke üblicherweise
a, spontan innerhalb von 30 bis 60
Minuten abklingt oder
b, durch Hinlegen/Schlafen zufrieden-stellend kupiert werden kann.
◗ Das Analgetikum so früh wie mög-
lich geben (mit der Zeit lernen die
Kinder Kopfschmerzen, aus denen
sich eine heftige Attacke entwickelt,
von allfälligen leichten, spontan abklingenden Kopfschmerzen rechtzeitig zu unterscheiden).
◗ Bei gleichzeitig bestehendem Spann-
ungskopfschmerz sollte zwischen den
beiden Kopfschmerzformen differenziert und das Analgetikum möglichst
nur zur Migränekupierung eingesetzt
werden.
◗ Dem Kind sollte ein sorgsamer Um-
gang mit Analgetika vermittelt werden,
um zu verhindern, dass sich später ein
Medikamentenabusus entwickelt.
◗ Altersentsprechende Dosierungen
sind zu beachten (Tab. 3).
◗ Unter den Darreichungsformen ist
Saft (zum Beispiel Paracetamol, Ibuprofen) zu bevorzugen.
◗ Acetylsalicylsäure sollte Kindern
unter zwölf Jahren nicht verabreicht
werden, vor allem, wenn eine gleichzeitige Infektion nicht ausgeschlossen werden kann (cave: Reye-Syndrom).
Medikamente der ersten Wahl zur Prophylaxe der Migräne und des Spannungskopfschmerzes
Substanz
Initialdosis
Erhaltungsdosis
Nebenwirkungen
Flunarizin (M)
0,1 mg/kg/d
0,1 – 0,3 mg/kg/d
Müdigkeit, Gewichtszunahme,
Depression
Depression, Übergewicht
Propranolol (M)
0,5 mg/kg/d
1-2 mg/kg/d
Müdigkeit, Hypotonie, Schlafstörungen
Asthma, Bradykardie, AV-Block,
Diabetes mellitus, Psoriasis
0,2-1 mg/kg/d
Müdigkeit, Mundtrockenheit, Übelkeit,
Verstopfung, Verlängerung der QT-Zeit
Kardiale Erkrankungen, Leberfuntionsstörungen, Epilepsie
Amitriptylin (SPKS) 0,1-0,2 mg/kg/d
Kontraindikationen
Tab. 4
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◗ Die Gabe eines Antiemetikums ist
äußerst selten erforderlich. Im Bedarfsfall sollte Ondansetron der Vorzug gegeben werden.
◗ Analgetische Mischpräparate sind generell zu vermeiden.
◗ Ergotaminhaltige Präparate sollten
nur in Ausnahmefällen eingesetzt
werden.
◗ Triptane sind im Kindesalter nicht zu-
gelassen. Bei ansonsten therapierefraktären Migräneattacken ist die
Wirksamkeit des Sumatriptan Nasensprays bei Jugendlichen gut belegt
und bei Kindern in einer kleinen
Studie beschrieben. Die Wirksamkeit von Rizatriptan 5 mg ist bei Jugendlichen nur begrenzt nachgewiesen, orales Sumtriptan war einer Placebogabe nicht überlegen. Für alle
anderen Triptane liegen keine publizierten Daten zur Wirksamkeit bei
Kindern und Jugendlichen vor.
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Die prophylaktische Therapie der
Migräne im Kindesalter umfasst
zunächst das Erkennen von Triggerfaktoren und ko-existenten Störungen wie
Leistungsdruck, Teillleistungsstörungen, problematischen Familienverhältnissen und psychiatrischen Erkrankungen. Weiters sollten geeignete Verhaltensmaßregeln vermittelt werden, wozu
vor allem ausreichender Schlaf, rechtzeitiges Aufstehen am Morgen (“den
Tag ohne Hektik beginnen”, “in den
Tag träumen dürfen”), Lernpausen und
regelmäßige Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme zählen. Die Wirksamkeit
spezieller Ernährungsvorschriften oder
Diäten ist wissenschaftlich nicht belegt.
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Eine medikamentöse Migräneprophylaxe ist nur bei einem kleinen Teil
der Kinder mit häufigen, langdauernden Attacken erforderlich. In jedem
Fall ist zu beachten, daß die Medikation nicht gleich bei der Erstvorstellung
des Kindes begonnen wird. Es sollte ein
Beobachtungszeitraum von vier Wochen abgewartet werden, in welchem
das Kind (oder die Eltern, sofern das
Kind dazu noch nicht in der Lage ist)
einen Kopfschmerzkalender führen
sollte. Bei der Wiedervorstellung ist
häufig eine deutliche Besserung der
Kopfschmerzen zu erkennen. Eine markante Verschlechterung sollte ein
Überdenken der Diagnose zur Folge
haben und neben dem Ausschluss einer
organischen Kopfschmerzursache zur
genaueren Evaluierung des psychosozialen Hintergrundes Anlass geben.
Bei der medikamentösen Prophylaxe
der Migräne im Kindes- und Jugendalter
stellen - auch einer jüngst publizierten
Meta-Analyse zufolge - Flunarizin und
Propranolol die Mittel erster Wahl dar
(Tab. 4). Der Einsatz von Valproinsäure
lässt sich durch die nachgewiesene
Wirksamkeit bei Migräne im Erwachsenenalter sowie die langjährige Erfahrung mit dieser Substanz in der Therapie von Epilepsien des Kindesalters
rechtfertigen. Jüngste Untersuchungen
weisen auf die migräneprophylaktische
Wirksamkeit von Topiramat bei Jugendlichen hin. Die Behandlungsdauer
sollte mindestens drei Monate betragen.
Die nicht-medikamentöse Prophylaxe der Migräne im Kindesalter umfassst
unter anderem Biofeedback, Entspannungstechniken und Akupunktur
natürlich erst nach genauer Beobachtung der eventuell in Frage kommenden
Triggerfaktoren. Eine zum Beispiel
nicht behandelte Teillleistungsstörung
wird trotz aller Entspannungsübungen
weiterhin während der Schulzeit für
häufigere idiopathische KopfschmerzAttacken sorgen.
Spannungskopfschmerz
Ebenso wie bei der Behandlung der
Migräne unterscheidet man auch beim
Spannungskopfschmerz die Akuttherapie von prophylaktischen Maßnahmen.
Bei der Akuttherapie des Spannungskopfschmerzes im Kindesalter
sollten möglichst keine Medikamente
sondern Entspannung und "Ablenkung"
eingesetzt werden. Im Bedarfsfall können Paracetamol oder Acetylsalicylsäure (siehe Migräne) verabreicht werden.
Wichtig ist es dabei, Obergrenzen
vorzugeben (zum Beispiel: nicht mehr
als fünf Gaben pro Monat). Die Prophylaxe des Spannungskopfschmerzes
umfasst das Vermeiden von Triggerfaktoren, Verhaltensmaßregeln wie für die
Migräne, Biofeedback, Muskelrelaxation nach Jacobson und eventuell autogenes Training. In seltenen Fällen kann
eine medikamentöse Therapie mit
Amitriptylin (Tab. 4) erwogen werden.
Wichtige Fallgruben bei
Diagnose und Therapie
Jede Symptomänderung eines bestehenden primären Kopfschmerzes muss
zu einer Überprüfung der ursprünglichen Diagnose Anlass geben, besonders
in Hinblick auf einen neu aufgetretenen sekundären Kopfschmerz. Besondere Aufmerksamkeit ist Kopfschmerzen zu schenken, die in der Nacht aus
dem Schlaf heraus entstehen, da sie
zum Beispiel auf eine Liquorzirkulationsstörung hinweisen können. Als Beispiel sei ein Mädchen mit bekannter
Migräne erwähnt, das die KopfschmerzAmbulanz der hiesigen Klinik aufgesucht hat, weil sich ihre Kopfschmerzattacken seit kurzem aus dem Schlaf
entwickelten.
Die Magnetresonanztomographie
zeigte einen Hydrocephalus occlusus.
Nach der operativen Behebung der
Problematik sistierten die nächtlichen
Attacken, und die Kopfschmerzen treten seit vier Jahren wieder tagsüber auf.
Was die Therapie betrifft, so ist im Fall
der Akuttherapie der Migräne eine
“übervorsichtig” unterdosierte Analgetikagabe entweder völlig wirkungslos,
oder es kommt nur zu einer teilweisen
Schmerzlinderung mit protrahiertem
Attackenverlauf. Auch frühzeitig eingesetzte Antiemetika können unter
Umständen den Verlauf der Attacke
protrahieren, da bei manchen Patienten nach dem Erbrechen die Migräneattacke rasch abklingt. Darum sollten bei diesen Patienten Antiemetika
nur bei wiederholtem Erbrechen verabreicht werden.
„
*) Univ. Prof. Dr. Çiçek Wöber-Bingöl,
Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes-und Jugendalters,
Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien;
Tel. 01/40 400/ .... ; Fax-DW: ....; e-mail: ........................
Lecture Board: Univ. Prof. Dr. Max Friedrich,
Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters/Medizinische Universität Wien;
Univ.Prof. Dr. Andreas Karwautz;
Universitätsklinik für Neurologie/Medizinische Universität Wien;
Univ. Prof. Dr. Christian Wöber,
Universitätsklinik für Neurologie/Medizinische Universität Wien
Herausgeber: Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des
Kindes- und Jugendalters
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www.arztakademie.at
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