Deutschunterricht in der E – Phase

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Deutschunterricht in der E – Phase
Deutschunterricht
in der E – Phase
Arbeitsbuch
Charlotte – Wolff – Kolleg
(ausgewählt und zusammengestellt von Werner Buschen, Fachbereichsleiter)
Berlin 2012
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Inhaltsverzeichnis
I.
Argumentationslehre
(4 – 22)
II.
Rhetorik
(23 – 36)
III. Redeanalyse
(37 – 63)
IV. Erörterung
(65 – 96)
V.
Schriftliche Kommunikation
(97 -126)
VI. Grammatik
(127 – 154)
VII. Text und Textarten
(155 – 166)
VIII. Literarische Texte erschließen
(167 – 273)
IX. Pragmatische Texte erschließen
(275 – 310)
X.
Anhang
(311 – 332)
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Argumentationslehre
Diskussion
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Argumentationslehre
Sinn und Ziel der Argumentation ist es, andere zu überzeugen. Dazu ist es notwendig, die Richtigkeit eines Standpunktes aufzuzeigen (bzw. einen Standpunkt zu
widerlegen). Es genügt dabei nicht, einen Standpunkt (These) mit einem Argument
oder mehreren Argumenten zu verbinden. Die Argumente müssen überzeugend sein.
Überzeugungskräftig sind Argumente, wenn
sie mit Beweis(en) und Beispiel(en) gestützt werden
die innere Schlüssigkeit (logische Abfolge) zwischen den einzelnen Aussagen
bzw. Stufen gegeben ist
die Aussagen inhaltlich richtig bzw. sachlich fundiert sind
die Aussagen möglichst verallgemeinert werden können, d.h., wenn sie einen
grundsätzlichen Gültigkeitsanspruch haben
Allgemeines Argumentationsschema
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass jede Argumentation inhaltlichen und
formalen Anforderungen genügen muss. Die Form der vollständigen Argumentation
ist dreigliedrig: Sie besteht aus Argument, Beweis und Beispiel. Diese drei Teile
unterscheiden sich sprachlich nach dem Abstraktionsgrad: Das Argument ist
abstrakter als der Beweis; das Beispiel ist immer konkret.
Argumentation
⌐─────────────────┴───────────────────¬
These → Argument →
Beweis → Beispiel
╚══╦═══╝
╚═══╦══╝
╚═══╦═══╝
Weil-Stufe
Denn-Stufe
Wie-Stufe
abstrakt <-------------------------------------------> konkret
Die drei Teile bzw. Stufen der Argumentation lassen sich auch von den
Konjunktionen her unterscheiden und benennen, wobei zwar die Unterscheidung der
Konjunktionen ‘weil’ und ‘denn’ willkürlich erscheint, aber sehr hilfreich ist.
Beispiel für eine vollständige Argumentation
These
Wir lehnen die Ehe ab,
Argument
Weil - Stufe
weil sie nach unserer Meinung überholt ist und
antiquierte Wertvorstellungen verewigt;
Beweis
Denn - Stufe
denn für die Ehe werden bürgerliche Tugenden
des 19. Jahrhunderts gefordert
Beispiel
Wie - Stufe
wie Hingabebereitschaft, Treue und die
Bereitschaft, nur eine/n Partner/-in zu haben.
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1. Das Argument
Thesen überzeugen dann, wenn sie überzeugend begründet sind. Eine überzeugende Begründung ist im höchsten Maße abhängig von der Qualität des Arguments. Es
gibt unterschiedliche Arten von Argumenten; sie unterscheiden sich auch in ihrer
Überzeugungskraft. Folgende können unterschieden werden:
Faktenargumente (unstrittige, verifizierbare Tatsachenaussagen)
normative Argumente (Aussagen über allgemein gültige oder anerkannte Normen)
Autoritätsargumente (Berufung auf weithin akzeptierte Autoritäten)
indirekte Argumente (Unterstützung der These dadurch, dass die gegenteilige
Aussage als unstimmig oder realitätsfern dargestellt wird)
Argumente, die sich auf Befürchtungen stützen
Argumente, die sich auf Mitleid oder ähnliche Gefühle stützen
Argumente, die sich auf die Gefühle einer Volksmenge stützen
Man könnte noch andere Arten von Argumenten nennen. Sie würden - wie schon die
zuletzt genannten - immer weniger überzeugend. Offenbar ist es so, dass Tatsachen
bzw. Sachverhalte überzeugender sind und wirken als Meinungen, Gefühle oder
Individuelles. Tatsachenaussagen werden offenbar anerkannt; sie werden nicht mehr
in Frage gestellt. Man ist also gut beraten, beim Argumentieren auf objektiv Gültiges,
auf Tatsachen, zurückzugreifen.
Als Tatsachen werden im Allgemeinen anerkannt:
eine wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis oder eine Gesetzmäßigkeit
eine allgemeine Übereinkunft (Konvention) oder eine gesetzliche Norm
eine allgemeine Erfahrung bzw. allgemein zugängliche Beobachtungen oder
Forschungsergebnisse
ein konkretes, zeitlich nachweisbares oder ein statistisch erfassbares Ereignis
Als Argumente gelten nicht
 Aussagen, die nicht begründet werden können
 ein Einzelfall
 Pauschalurteile, Vorurteile, Gemeinplätze oder Gerede
 persönliche Ansichten oder Bekenntnisse
Aufgabe: Suchen Sie mindestens zwei deutlich verschiedene Argumente für die
folgende These:
Das Abitur ist auch heute noch erstrebenswert,
weil _____________________________________________________________
_________________________________________________________________
weil
____________________________________________________________
________________________________________________________________
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Beim Lesen Ihrer Argumente bzw. beim Hören der Argumente der Mitschüler/-innen
merken Sie, dass es etliche gute Argumente für die These gibt; Sie spüren aber
auch, dass die Argumente allein noch nicht ganz überzeugen. Die Argumente selbst
müssen ausgeführt bzw. gestützt werden - durch Beweise.
2. Der Beweis
Argumente wirken allein nicht schon überzeugend. Argumente müssen bewiesen
werden. Als Beweise eigen sich besonders
nachweisbare Tatsachen und überprüfbare Erfahrungen
allgemein anerkannte Werte, Normen oder Regeln
Aussagen anerkannter Persönlichkeiten oder Autoritäten
anerkannte logische Denkmuster
Aufgabe: Suchen Sie zu Ihren Argumenten jeweils einen Beweis!
Denn ____________________________________________________________
_______________________________________________________________
Denn ____________________________________________________________
_________________________________________________________________
3. Das Beispiel
Die Würze jeder Argumentation sind Beispiele, konkrete Veranschaulichungen,
womit die Beweise gestützt werden. Beispiele führen die (abstrakte) These auf eine
konkrete Ebene zurück. Sie bilden sozusagen den Boden der Argumentation.
Beispiele dienen dazu, das Gesagte konkret zu veranschaulichen. Beispiele lassen
sich gewinnen
durch Verweis auf allgemein bekannte historische Ereignisse oder Tatsachen
durch die Berufung auf aktuelle Vorgänge im öffentlichen Leben
durch die Berücksichtigung alltäglicher Erfahrungen anderer Menschen
durch die Erinnerung an vergleichbare Personen, Vorgänge und Probleme aus
dem Bereich der Literatur
durch einen Rückgriff auf die eigene Lebenserfahrung
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Aufgabe: Suchen Sie für Ihre bisherige Argumentation mindestens ein Beispiel
für jeden Beweis!
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Wir haben nun erfahren: Eine überzeugende Argumentation basiert auf formalen
und inhaltlichen Voraussetzungen. Die inhaltlichen sind schnell einsichtig. Wie sieht
es mit den formalen Voraussetzungen aus? Wie schafft man es, die innere
Schlüssigkeit der Argumentation zu erreichen?
Dazu ein einfacher Tipp: Jede Aussage besitzt mindestens einen tragenden Begriff.
Wiederholt man auf der jeweils nächsten Stufe (Weil-, Denn-, Wie-Stufe) diesen
tragenden Begriff, so ist die innere Schlüssigkeit geradezu garantiert.
Beispiel:
Partys sind abzulehnen,
weil sie gesundheitsschädlich sind;
denn es werden gesundheitsschädliche Mittel verabreicht
wie Zigaretten, Alkohol und häufig auch Drogen.
Aufgabe: Formulieren Sie eine vollständige Argumentation zur folgenden These,
indem Sie vor allem auf die innere Schlüssigkeit achten!
These: Reisen in fremde Länder sind unbedingt empfehlenswert,
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Argumentation: Varianten der sprachlichen Gestaltung
Bei der Ausarbeitung der Argumente sollte auch darauf geachtet werden, dass man
nicht in starre sprachliche Schemata verfällt. Abwechslungsreiche Wortwahl sowie
verschiedene Satzbauvarianten machen einen längeren Text besser lesbar.
Bei der Argumentation gibt es an mehreren Stellen der sprachlichen Darstellung
Probleme stilistischer Art, nämlich vorwiegend
bei der Überleitung von einem zum nächsten Argument
beim Anschluss der Beispiele
Die Überleitung zwischen den einzelnen Argumenten gelingt am einfachsten
durch Variation der anreihenden Konjunktionen:
zudem, außerdem, ebenso, desgleichen, ebenfalls, ferner, des Weiteren,
zusätzlich, weiterhin, sowohl ... als auch, nicht nur ..., sondern auch, endlich
Stilistisch aufwendiger sind überleitende Formulierungen wie:
diese Überlegung führt zu einem weiteren Punkt ...
von hierher komme ich zu einem weiteren Aspekt
ein weiteres Argument spricht für die These ...
gestützt wird die These zudem ...
Der Anschluss des Beispiels wird oft zu schematisch durchgeführt; die dabei am
meisten benutzte Wendung ist: wie z.B.
Hier kann man jedoch reichlich variieren:
so z.B.
das zeigt
offenkundig wird das Gesagte, wenn wir ... betrachten
das lässt sich daran ablesen, dass ...
am folgenden Beispiel zeigt sich ...
erst kürzlich konnte man hören (lesen), dass ...
man merkt es, wenn ...
deutlich wird das ...
mit Hilfe des folgenden Beispiels lässt sich ... verdeutlichen
ich denke dabei an ...
so kann es vorkommen ...
so gibt es ...
man kann dies konkretisieren an ...
Ausarbeitung der Argumentation
Eine Argumentation kann man vergleichen mit dem Wurzelwerk eines Baumes. Der
Baum wird so fest im Boden stehen, wie seine Wurzeln ihm Halt geben; und sie
geben ihm um so mehr Halt, je breiter, tiefer und weiter verästelt sie sind.
Eine These ist umso standfester, haltbarer und überzeugender, je breiter und
differenzierter sie ausgearbeitet ist. Kann eine These mit fünf Argumenten, jedes
Argument wiederum mit mehreren Beweisen gestützt und die Beweise wiederum mit
vielen Beispielen veranschaulicht werden, so ist sie wohl überzeugender, als wenn
sie nur minimalistisch (ein Argument, ein Beweis, ein Beispiel) ausgeführt wird.
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Im Folgenden vertreten drei Schreiber dieselbe Sache. Sie wollen dem Leser nahebringen, dass es richtig ist, wenn unsere Rechtsprechung jugendliche Verbrecher
anders behandelt als erwachsene. Alle drei nennen als Argument dafür die Überzeugung, dass Jugendliche oft gar nicht im vollen Sinn für das verantwortlich
gemacht werden können, was sie begangen haben.
These: Oft kann ein jugendlicher Verbrecher gar nicht im vollen Sinn für das
verantwortlich gemacht werden, was er begangen hat.
1. Oft kann ein jugendlicher Verbrecher gar nicht im vollen Sinne für das verantwortlich gemacht werden, was er begangen hat, da er noch in stärkerem Maß als ein
Erwachsener den Einflüssen ausgesetzt ist, die von außen an ihn herandringen.
2. Oft kann ein jugendlicher Verbrecher gar nicht im vollen Sinne für das verantwortlich gemacht werden, was er begangen hat, da er noch in stärkerem Maß als ein
Erwachsener den Einflüssen ausgesetzt ist, die von außen an ihn herandringen.
Ein Erwachsener hat Erfahrung. Er kann die Folgen einer Tat abschätzen. Bei ihm
darf man auch voraussetzen, dass er gelernt hat, nicht jeder augenblicklichen
Neigung nachzugehen.
3. Oft kann ein jugendlicher Verbrecher gar nicht im vollen Sinne für das verantwortlich gemacht werden, was er begangen hat, da er noch in stärkerem Maß als ein
Erwachsener den Einflüssen ausgesetzt ist, die von außen an ihn herandringen.
Ein Erwachsener hat Erfahrung. Er kann die Folgen einer Tat abschätzen. Bei ihm
darf man auch voraussetzen, dass er gelernt hat, nicht jeder augenblicklichen
Neigung nachzugehen. Ein Jugendlicher dagegen muss diese Erfahrung ja erst
sammeln; er muss erst lernen, seine überschüssigen Kräfte zu bändigen und in
den Dienst einer guten Aufgabe zu stellen, muss endlich lernen, dass er ganz
allein für das verantwortlich ist, was er tut, auch wenn ihn andere dazu angestiftet
haben, weil ihm niemand die Verantwortung dafür abnehmen kann. In all dem sich
einzuüben, dazu hat ihm aber sein Leben noch nicht genug Möglichkeiten
gegeben.
Da Sie als Leser jetzt Adressat der Argumentationen sind, können Sie selbst
beurteilen, was überzeugend klingt und was nicht; und Sie können auch relativ
schnell feststellen, woran das (offensichtlich) liegt.
Die Abstraktionsebenen in der Argumentation
Formal gesehen besteht eine Argumentation aus Aussagesätzen, ähnlich wie ein
Satz aus Satzgliedern besteht. Wie die Satzglieder im Satz eine spezifische Funktion
bekommen, so bekommen die Aussagesätze in der Argumentation eine kausale
Funktion. Da die innere Logik der Argumentation nach dem Prinzip „Vom Abstrakten
zum Konkreten“ verläuft, können die Aussagesätze nicht beliebig vertauscht werden.
Der Satz, der das Argument bildet, muss einen höheren Abstraktionsgrad besitzen
als der Satz, der den Beweis ausmacht.
Das können Sie bei der folgenden Übung überprüfen.
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Aufgabe: Stellen Sie bei den folgenden Satzreihen fest, welche Aussage die These,
welche das Argument, welche der Beweis und welche das Beispiel ist.
1.1.
1.2.
1.3.
1.4.
In vielen Berufen wird immer weniger von Hand geschrieben.
In der Verwendung von Vordrucken ist das zu erkennen.
Die Beherrschung der Schrift ist nicht mehr so wichtig.
Die meisten Schreiben sind standardisiert.
2.1. Der große Stromausfall in New York hat gezeigt, dass viele Menschen sich
freudig auf ihre eigene Unterhaltungsfähigkeit besonnen haben.
2.2. Fernsehkonsum lässt viele Fähigkeiten des Menschen verkümmern.
2.3. Der drohenden Passivität der Bevölkerung kann damit entgegengewirkt werden.
2.4. Man sollte offiziell einen fernsehfreien Tag einführen.
3.1. Der Zuschauer würde für unmündig erklärt werden.
3.2. Einen angeordneten fernsehfreien Tag darf es nicht geben.
3.3. Dem Zuschauer würde das Recht auf die eigene freie Entscheidung genommen.
3.4. Der Zuschauer kann dann einen gemütlichen Abend mit Heimkino nicht mehr
wählen.
4.1. Offensichtlich neigen viele Jugendliche dazu, sich der Mode einer Gruppe
anzuschließen.
4.2. In diesem Alter fragt man besonders: Wer bin ich? Wohin gehöre ich?
4.3. Die Mode als äußeres Zeichen der Zugehörigkeit spielt im Leben vieler
Jugendlichen eine bedeutende Rolle.
4.4. In und nach der Pubertät findet der bewusste Prozess der Selbstorientierung
und Selbstfindung statt.
5.1. Der erfolgreiche Sportler kann mit Firmen lukrative Werbeverträge abschließen
oder hohe Startgelder von Veranstaltern verlangen.
5.2. Der Erfolg steigert den Marktwert des Sportlers.
5.3. Im bezahlten Hochleistungssport zählt nur der Erfolg.
5.4. Der erfolgreiche Sportler hat einen hohen Bekanntheitsgrad und ist deshalb als
Werbeträger interessant für Unternehmen und Firmen.
6.1. Viele Medaillengewinner, Leichtathleten, Gewichtheber, Schwimmer, wurden
nach dem Wettkampf als Doping-Sünder entlarvt; ihnen wurden Titel und
Medaille aberkannt.
6.2. Die Sportverbände haben eine besondere Verantwortung für die Gesundheit
ihrer Athleten und für faire Wettkampfbedingungen.
6.3. Die unerlaubten Leistungssteigerungen verzerren Wettkampf und Vergleich und
verstoßen gegen das Gebot der Fairness.
6.4. Der Medikamentenmissbrauch im Hochleistungssport muss unbedingt
sorgfältiger recherchiert und konsequenter und härter bestraft werden.
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Verstöße gegen die Logik der Argumentation
Häufig schleichen sich beim Argumentieren Fehler ein, die der Absicht, andere zu
überzeugen, im Wege stehen. Es kann aber auch sein, dass solche Fehler, z.B.
Scheinargumente, bewusst eingesetzt werden, um andere zu überreden oder zu
verunsichern.
Aufgabe: Prüfen Sie die folgenden Beispiele auf ihre innere Logik!
1. Die Beherrschung der Schrift ist heute nicht mehr so vordringlich. Das sollte auch
in den Klausuren zum Ausdruck kommen. Die Rechtschreibung wird ebenfalls
immer noch zu wichtig genommen.
2. Aus dem Urlaub ruft man heutzutage zu Hause an, während man früher Karten
geschrieben hat. Auch Schadensmeldungen nach Unfällen werden hauptsächlich
per Telefon oder Handy gemacht. Bald werden Geräte mündliches Sprechen in
Schrift umsetzen können.
3. Sprachkompetenz ist das Ergebnis von Lernprozessen, weil die menschliche
Sprache keine Erbsprache, sondern eine Lernsprache ist. Denn die Kinder
imitieren und übernehmen die Sprache ihrer Eltern bzw. Bezugspersonen, wie die
Soziolinguistik eindrucksvoll nachgewiesen hat.
4. Die Mode ist für viele Jugendliche auch Verkleidung, weil viele von ihnen die Mode
doch gar nicht ernst nehmen. Denn was ist Mode anders als Verkleidung?
5. Man sollte einen fernsehfreien Tag einführen, weil zu viel Fernsehen unter
anderem der Gesundheit schadet. Denn nach einem Horrorfilm bin ich immer arg
durchgedreht.
6. Man sollte einen fernsehfreien Tag einführen, weil allzu viele Menschen zu viel
fernsehen. Die Kinder unseres Nachbarn sitzen jeden Abend vor der Flimmerkiste.
7. Man sollte einen fernsehfreien Tag einführen, weil die Schädlichkeit allzu großen
Fernsehkonsums nachgewiesen ist. Denn das sagen Ihnen alle Fachleute.
8. Schriftbeherrschung im Beruf ist nicht entscheidend. Denn mein Onkel hat einen
Teilhaber im Geschäft, der kaum lesen und schreiben kann und es doch so weit
gebracht hat.
9. Der Kampf um ein besseres Theater lohnt sich nicht, weil die Leute es nicht wert
sind; denn sie gehen lieber oberflächlicheren Vergnügungen nach wie Tanzen,
Essen, Saufen usw.
10. Die Schülermitverwaltung macht lieber keine Schülerzeitung, weil die Zeitung vor
dem Druck dem Direktor vorgelegt werden muss; denn eine Zeitung, die der
Zensur unterliegt, ist für die Redakteure unzumutbar.
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Sie haben festgestellt, dass es vielerlei Fehler gibt, die eine Argumentation wenig
oder gar nicht überzeugend ausfallen lassen. Wir können zusammenfassend
feststellen: Die häufigsten Fehler beim Argumentieren sind
unvollständige Begründungen
fehlende kausale Verbindungen zwischen den Einzelgliedern
inhaltlich fragwürdige Aussagen
Scheinargumente (z.B. Berufung auf subjektive Gefühle oder Meinungen,
unangemessene Verallgemeinerung oder Folgerung)
Zirkelschluss (liegt dann vor, wenn die Folgerung schon im Argument oder
Beweis enthalten ist; z.B.: Michael ist ein Lügner. Deshalb darf man ihm nichts
glauben.)
Trugschluss (liegt dann vor, wenn aus der Argumentation etwas gefolgert wird,
was darin gar nicht enthalten ist; z.B.: Das Wort Demokratie heißt Volksherrschaft und kommt aus dem Griechischen. In Griechenland herrschte das Volk.)
falsche Verallgemeinerung (ist dann gegeben, wenn ein Einzelfall unzulässig
verallgemeinert wird, z.B.: Der Türke von nebenan ist heute nicht zur Arbeit
gegangen; der will wohl auch auf unsere Kosten leben.)
Rückgriff auf eine falsche Allaussage (liegt vor, wenn auf eine falsche oder
fragwürdige Verallgemeinerung zurückgegriffen wird, z.B.: Frauen sind
schlechte Autofahrer. Deshalb ist Erika gestern gegen einen Baum gefahren.)
falscher Analogieschluss (liegt vor, wenn unzulässige Entsprechungen oder
Ähnlichkeiten behauptet werden, z.B.: Wer raucht, greift auch zu Rauschmitteln.)
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4. Die erweiterte Argumentation
Die erweiterte Argumentation gibt zusätzlich zur vollständigen Argumentation eine
Folgerung oder Konsequenz aus dem Gesagten an. Diese Stufe der Argumentation
heißt Daher-Stufe.
Beispiel:
Diese Form der Argumentation eignet sich gut für Statements, für kurze Meinungsäußerungen oder öffentliche Erklärungen. In Kürze das Wesentliche sagen, sich auf
eine Argumentation beschränken und die Konsequenz daraus nennen - das
verlangen die öffentlichen Medien von den Interview-Partnern (auch wegen der zur
Verfügung stehenden Sendezeit).
Wir wollen auch diese Form der Argumentation einüben.
Aufgabe: Verfassen Sie in Form einer erweiterten Argumentation ein Statement zu
einem der folgenden Themen!
Wählen gehen oder nicht? (Wahlrecht, Wahlpflicht)
Politikverdrossenheit (Ursachen, Dilemma)
Ausländerfeindlichkeit
Neonazis
Schulpolitik
Tageszeitung lesen?
Schülerzeitung
Konfliktausschuss am Kolleg
Förderunterricht im Fach X.
Schulfeste
Projekte in der Schule
Bürgerinitiativen
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Die Argumentationslehre ist die notwendige Grundlage für fast alle Aufsatzarten in der
Schule, für die Problemerörterung, für die Rhetorik, für die Textanalyse, für fast alle
journalistische Formen und für viele Formen der mündlichen Kommunikation. Überall,
wo Meinungen vertreten, Positionen bezogen oder Überzeugungen dargelegt werden,
überall, wo Entscheidungen getroffen werden, muss begründet werden.
Im Folgenden werden wir zwei Formen der mündlichen Kommunikation thematisieren,
die ebenfalls auf der Argumentation aufbauen: das Gespräch und die Rede.
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Diskussion
Eine Diskussion ist eine mündliche, sachbezogene, dialogische Ausdrucksform, die
der kritischen Erörterung von Problemen dient. Das Ziel ist, alle möglichen Aspekte
eines Themas, Sachverhalts oder Problems durch gegenseitige Befragung und abwechselnde Darstellung auf ihren sachlichen Gehalt hin zu prüfen und eine gemeinsame Lösung zu finden, die der Sache und den Teilnehmern dient. Bei jedem
Diskussionsteilnehmer werden genaue Kenntnisse der Sache und eine fundierte
Meinung zum Gegenstand der Diskussion vorausgesetzt. Der Sinn der Diskussion
besteht darin, dass jeder Teilnehmer die Stichhaltigkeit seiner Argumente überprüfen
kann, damit sich erweist, welche Ansicht der kritischen Auseinandersetzung
standhält.
.
Arten der Diskussion
1. Das Rundgespräch
Diese Form ist die Grundform der Diskussion.
Hier sitzen die Teilnehmer in einem Kreis zusammen und diskutieren gleichberechtigt ein
Thema. Der Diskussionsleiter führt so, dass
zunächst die Ausgangslage dargestellt und
dann die Gründe dafür erörtert werden. Danach sollte man nach Möglichkeiten der Abhilfe suchen und die Frage des Kompromisses aufwerfen.
2. Die Podiumsdiskussion
Diese Form ist die gebräuchlichste Form der
Diskussion. Es wird auf einem erhöhten
Podest oder einfach in einem Halbkreis
vor einer Zuhörerschaft diskutiert. Die
Teilnehmer sitzen so, dass die Zuhörer sie
alle sehen können.
Meist findet eine Podiumsdiskussion aus
zwei Gründen statt:
Experten sollen vor einer Zuhörerschaft
ein schwieriges Thema erörtern.
Es diskutieren nur ausgewählte Vertreter,
wenn die Zahl der Interessenten zu groß ist.
Nach der Diskussion, die nicht länger als eine Stunde dauern soll, hat das Publikum
Gelegenheit, Fragen an die einzelnen Diskussionsteilnehmer zu richten.
3. Das Forum
Am gebräuchlichsten ist diese Form der Diskussion als Bürgerversammlung, in der
verantwortliche Kommunalpolitiker und Bürger über lokale Probleme miteinander
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reden. Diese Form stellt eine erweiterte Art der Podiumsdiskussion dar. Hier stehen
sich Sachverständige und Publikum in gemeinsamer Frage- und Antwort-Situation
gegenüber. Der Leiter sammelt die Fragen und gibt sie an den Betreffenden weiter.
Die Fragerichtung ist nicht festgelegt: Sachverständige und Zuhörer können sich
gegenseitig befragen.
4. Die Stegreifdiskussion
Als Merkmal gilt, dass diese Form der Diskussion nicht besonders vorbereitet ist. Daher muss ihr Thema aus dem Erfahrungsbereich oder der Sachkenntnis der Teilnehmer stammen. Diese Methode hat sich besonders bei sozialen Fragen bewährt. Nach
der Gesprächseröffnung, in der ein Fall dargelegt wird, folgt eine Diskussion von
Lösungsvorschlägen. Diese Vorschläge
werden dann auf ihre Brauchbarkeit hin
überprüft.
5. Die „Methode 66“
Diese Methode ist in den USA entwickelt
worden und gliedert sich in zwei Stufen.
Stufe I :
Zunächst werden unter den Anwesenden sechs Gruppen gebildet. Im Anschluss an
ein Einführungsreferat haben die Gruppen die Möglichkeit, in etwa zehn Minuten
Tatsachen und Fragen zu dem Thema zu finden. Hier muss von Fall zu Fall
festgelegt werden, ob alle Gruppen die gleiche Aufgabe erhalten (arbeitsgleiche
Gruppen) oder ob jede Gruppe einen anderen Aspekt zu untersuchen hat
(arbeitsteilige Gruppen).
Stufe II :
Nach Abschluss der Gruppendiskussion
wählt jede Gruppe einen Stellvertreter, der
das Arbeitsergebnis bekannt gibt und anschließend an der Podiumsdiskussion teilnimmt.
6. Die amerikanische Debatte
Es werden zwei Mannschaften gebildet, die jeweils den Pro- oder Contra-Standpunkt
zu einem Problem übernehmen. Die Mannschaften sitzen einander gegenüber, in
jeder „Riege“ vier bis acht, höchstens zehn Gruppenmitglieder. Die übrigen
Teilnehmer sitzen vor beiden Mannschaften als Schiedsrichter. Sie beurteilen zum
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Abschluss: Aufbau, Sprechstil, Schlagfertigkeit und bestimmen den „Sieger“ (muss
aber nicht sein). Wenn jedoch ein Sieger bestimmt wird, dann versteht es sich von
selbst, dass auch die Schiedsrichter ihr Votum begründen müssen. Der Verlauf der
Debatte ist folgender: Es gibt zwei Runden; zunächst spricht der erste Verfechter der
These, ihm erwidert der erste Verfechter der Contra-These; darauf spricht der zweite
Verfechter der These usw. In der zweiten Runde beginnt der Verfechter der ContraThese, damit jede Partei einmal das „letzte Wort“ hat. In der „Hinrunde“ werden vor
allem die eigenen Ansichten dargestellt. Die Mannschaften besprechen sich vorher,
verteilen die Argumente, je nach Wissen und Können des einzelnen, und legen die
Argumentationsfolge (Sitzordnung) fest. In der „Rückrunde“ wird versucht, die
gegnerischen Argumente zu widerlegen. Auch hier ist die Reihenfolge einzuhalten.
Da jeder das gleiche Recht hat zu reden, braucht man Regeln, die den Ablauf der
Diskussion bestimmen. Voraussetzung dazu ist die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Teilnehmer.
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Für die praktische Durchführung einer Diskussion sollten folgende Regeln gelten:
- jeder sollte sich mindestens einmal zu Wort melden
- jeder sollte ausreden können, ohne unterbrochen zu werden
- jeder achtet die Meinung des anderen
- jeder ist verantwortlich, dass sachlich argumentiert wird
- jede Meinung, jeder Vorschlag muss begründet werden
- alle dürfen erwarten, dass sich alle Diskussionsteilnehmer kurz fassen
- jeder kann Geschäftsordnungsanträge stellen (z.B. Begrenzung der Redezeit,
Schluss der Rednerliste, Schluss der Diskussion, Abstimmung u.ä.); diese
müssen allerdings begründet werden
Eine Diskussion ist keine
Debatte, da es keine
Gewinner und Verlierer gibt.
Bei einer Diskussion geht es
sachlich zu; man will der
Klärung eines Sachverhaltes
dienen.
Da die Diskussion nach bestimmten Regeln durchgeführt wird, benötigt man einen
Diskussionsleiter, der für einen geordneten Ablauf sorgt und aus dem Kreis der
Diskussionsteilnehmer gewählt wird.
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Aufgaben des Diskussionsleiters
1. die Diskussion anregen und in Gang halten
ins Thema einführen
weiterführende Fragen stellen, neue Aspekte einführen
Unklarheiten beseitigen
möglichst alle beteiligen
die eigene Meinung zurückhalten (Neuralität)
nicht unnötig unterbrechen
2. die Diskussion sachlich halten
zum Thema zurückführen
abwegige Beiträge zurückweisen
auf Wiederholungen aufmerksam machen
die Disziplin aufrecht erhalten
Redebeiträge eventuell begrenzen
Streitereien entgegenwirken
3. die Diskussion zusammenfassen
Teilergebnisse festhalten
unterschiedliche Ansichten gegenüberstellen
Gemeinsamkeiten hervorheben
Endergebnis formulieren
20
21
22
Rhetorik
Die Rede
24
Erste praktische Übungen
26
Die Fünfsatz – Technik
27
Wie man eine Rede vorbereitet und hält 29
Verhaltensspiegel
35
23
Die Rede
Als Rede bezeichnet man einen längeren Monolog (einseitig verbale Kommunikation)
über ein bestimmtes Thema, den ein Redner vor einem Zuhörerkreis hält, um durch
seine Darlegungen und Aufforderungen auf die Hörer einzuwirken. Fünf Faktoren
bestimmen die Rede: .
• die Situation, in der die Rede gehalten wird
• der Redner, der die Rede hält
• das Thema, über das geredet wird (Redegegenstand)
• die Absicht (Intention), die der Redner verfolgt
• das Publikum, der Adressat der Rede
Die Rede wird als asymmetrische Kommunikation bezeichnet, weil nur ein
Teilnehmer im Kommunikationsverlauf dominiert.
Das Gespräch hingegen wird als symmetrische Kommunikation bezeichnet, bei
der Sprecher- und Hörerrolle nicht eindeutig festgelegt sind. Jeder kann
abwechselnd Sprecher und Hörer sein.
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Es gibt unterschiedliche Redebereiche (Politik, Gericht, Kirche, Wirtschaft, Familie
usw.) und damit auch unterschiedliche Arten der Rede. Im Prinzip können drei
Arten von Reden unterschieden werden:
1. Meinungs- und Werbereden:
In ihnen werden meist bestimmte Meinungen dargelegt und bestimmte Handlungsweisen empfohlen bzw. von ihnen abgeraten; die eigenen Vorschläge werden als
nützlich, die des Gegners als schädlich dargestellt (Intention). Solche Reden
haben stark appellativen Charakter. Beispiele sind: Parlamentsreden, Wahlreden,
Aufrufe ...
2. Gerichtsreden:
Sie werden vor einer Versammlung gehalten, die Entscheidungsgewalt hat und die
zu einer bestimmten Entscheidung auffordert (Intention). In der Anklage- und
Verteidigungsrede wird verhandelt, ob ein Sachverhalt als gerecht oder ungerecht
zu bewerten ist.
3. Festreden:
Sie dienen dem Lobpreis von Personen, Gemeinschaften, Institutionen oder feierlichen Ereignissen. Festreden berücksichtigen in besonderer Weise die Gefühle
der Zuhörer. Beispiele sind Tischreden, Begrüßungsreden, Gedenkreden ...
Ein kurzer geschichtlicher Abriss
Als Redekunst hat die Rhetorik ihren Ursprung in der griechischen Antike, und
zwar in der Zeit der ersten Demokratie. Als es galt, auf der Agorá (öffentlicher
Platz) unter Freien und Gleichen die öffentlichen Angelegenheiten zu verhandeln
und politische sowie juristische Entscheidungen zu treffen, waren
Überzeugungskunst und also Rhetorik gefragt. Wer gut reden, wer andere
überzeugen konnte, vermochte auch seine Interessen am ehesten durchzusetzen.
Rhetorik wurde schnell ein wichtiger Bestandteil der Bildung. Dazu gab es im 5.
Jh. v.Chr. in Athen Lehrer, die Sophisten, die gegen Entgeld die Bürger und
Jugendlichen rhetorisch, künstlerisch und wissenschaftlich ausbildeten und damit
die Grundvoraussetzungen für die demokratische Staatsform schufen. Von
Sokrates wurden diese Sophisten getadelt, weil sie die Rhetorik aus ihrer etischmoralischen Bindung gelöst hatten und sie als bloße Technik, als
Überredungsstrategie missbrauchten. Für Sokrates sollte die Rhetorik der
Wahrheitsfindung dienen; im Wechselspiel von Rede und Gegenrede (Dialektik)
würde man sich der Wahrheit am ehesten annähern können. Voraussetzung dafür
ist aber die sittlich-ethische Grundhaltung des Redners, die auch von Platon
immer wieder betont wird (Platon verfasste fast seine gesamten philosophischen
Werke in Dialogform).
Aus der griechischen Antike ist vor allem noch Demosthenes (384-322) zu
nennen, der sich selbst durch eisernes Training zum großen Redner bildete; von
ihm stammt die Erkenntnis: Der wichtigste Teil der Rede ist erstens der Vortrag,
zweitens der Vortrag und drittens der Vortrag.
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In der Antike wurden auch die fünf wichtigsten Punkte für einen Redner definiert:
1.
2.
3.
4.
5.
die Stoffsammlung
die Gliederung
die sprachliche Formulierung
die Einprägung der Rede
der Vortrag
Die Römer übernahmen die Lehren zur Rhetorik von den Griechen und formten
sie weiter aus. Hier ist besonders Cicero (106-43) zu nennen, der auf Grund
seiner Redekunst vom Rechtsanwalt zum römischen Konsul und Gegenspieler
von Cäsar aufstieg. Von ihm stammt die Aussage: „Zwei Dinge vermögen einem
Menschen höchstes Ansehen zu verleihen: Feldherrnkunst und Beredsamkeit.“
Einer der großen Kirchenväter, Johannes I. von Konstantinopel (344-407), erhielt
wegen seiner Beredsamkeit den Beinamen „Chrysostomos“ (deutsch:
Goldmund). Von ihm stammt die Auffassung, dass jede Rede der Belagerung der
Seele des Hörers gleiche.
Im Mittelalter gab es Kloster- und Predigtschulen, in denen die Rhetorik eine
wichtige Rolle für die Verbreitung des Glaubens spielte. Neben Grammatik,
Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie galt die Rhetorik als eine
der „Sieben Freien Künste“ im 13.Jh. an der ältesten Universität in Bologna.
Große Redner brachte die Französische Revolution hervor wie Mirabeau,
Robbespierre, Danton und Napoleon I.
In Deutschland ist besonders Otto von Bismarck (1815-1898) als guter Redner
zu erwähnen. In Russland traten während und nach der Revolution mit Lenin und
Trotzki Redner auf, die mit demagogischen Mitteln auf das Volk einwirkten.
Die Rhetorik im Nationalsozialismus ist das Negativbeispiel schlechthin für den
gewissenlosen Missbrauch der Redekunst. Goebbels und Hitler stellten ihre
Rhetorik in den Dienst des politischen Terrors und hetzten ein ganzes Volk zu
Hass und Krieg auf. Dieses Erbe belastet die Rhetorik noch heute.
Erste praktische Übungen
1. Das Statement
Wie man ein Statement (= Erklärung, Kurzvortrag, Meinungsäußerung zu
einem bestimmten vorgegebenen Thema) vorbereitet und abgibt, wollen wir im
Folgenden thematisieren.
1.1. Vorbereitung
Der erste Schritt zum Statement besteht darin, dass man sich klar macht,
welche Position man zum Thema einnimmt. Diese wird dann als These,
als Kernsatz formuliert. Aus diesem Kernsatz entwickelt sich dann das
Statement bzw. die ganze Rede.
26
Der zweite Schritt muss nun darin bestehen, Begründungen für die These
bzw. Position zu finden. Bei einem Statement beschränkt man sich gewöhnlich auf eine Argumentation, höchstens zwei Argumentationen. Eine vollständige Argumentation umfasst Argument, Beweis und Beispiel.
Im dritten Arbeitsschritt wird die Gliederung bzw. der Aufbau der Rede
erstellt. Hierbei ist zu überlegen, in welcher Reihenfolge die Glieder der
Argumentation die beste Wirkung erzeugen. Günstig ist es immer, einen
steigernden Aufbau zu wählen, d.h. den wichtigsten und überzeugendsten
Aspekt zum Schluss zu bringen.
Im letzten Arbeitsschritt werden Einleitung und Schluss der Rede konzipiert
und der logische Zusammenhang des Ganzen (Überleitungen, Verbindungen usw.) überprüft.
1.2. Anmerkungen zum Sprachstil
Beachten Sie immer, dass der Redestil - im Unterschied zum Schreibstil - durch
Wortlaut und Vortragsart wirkt. Deshalb einige Tipps:
reden Sie in der Umgangssprache
passen Sie Ihren Stil der Sprechsituation an
bilden Sie möglichst kurze Sätze
vermeiden Sie ein Übermaß an Nomen (Nominalstil)
vermeiden Sie möglichst Fremdwörter
vermeiden Sie Modewörter, Schlagwörter und Phrasen
vermeiden Sie Übersteigerung, Pathos und Schwulst
1.3. Wie man ein Statement abgibt
Die wichtigsten Voraussetzungen für die Durchführung der Rede sind:
die Atmung (tief durchatmen, tief ausatmen, gleichmäßig und ruhig atmen)
das Sprechen (deutliche Aussprache, Betonungen, Sprechhöhen und pausen, Vermeidung von Verlegenheitslauten, Sprechtempo)
Mimik und Gestik (Möglichkeiten der Verstärkung, Betonung)
der Rederaum (akustische Umstände, Lautstärke, Anzahl der Zuhörer)
Auftreten des Redners (Ausstrahlung, Selbstbewusstheit, Nervosität,
Blickkontakt zum Publikum)
2. Die Fünfsatz-Technik
Diese Technik eignet sich gut als Grundlage für Diskussions- oder Debattenbeiträge,
also überall dort, wo mit mehreren Teilnehmern ein Konsens gesucht wird. Die Fünfsatz-Technik zwingt zu einer klaren Gedankenlinie, zu einem prägnanten Sprachstil
und zur Zuspitzung auf den fünften Satz. Zudem ist diese Technik auch hervorragend
als Grundgerüst für längere Reden geeignet, da sich die einzelnen Teile, z.B. die
Mittelteile, mühelos ausbauen lassen.
Bei den folgenden Varianten handelt es sich um solche, die entweder an einen
Vortrag anschließen oder eine Diskussion eröffnen können.
27
Beispiele:
1. Ich meine, der Vorschlag X ist
gefährlich.
2. Wir müssen überlegen, ob
nicht ...
3. Mir scheint der bessere Weg,
wenn ...
4. Dann nämlich können wir ...
5. Wir haben zu entscheiden, ob ...
1. Die „Kette“ bringt z.B. eine
streng chronologische oder
logische Abhängigkeit der
Glieder.
1. Dem Referenten möchte ich
danken für eine Menge neuer
Einsichten ...
2. Unter anderem hat er gesagt ...
3. Dagegen ist aber auch zu halten,
dass ...
4. Vergleicht man beide Ansichten,
dann ...
5. Aus diesem Grunde schlage ich
vor ...
2. Man baut dialektisch auf.
1. Gemeinhin sieht man die Sache
so ...
2. Aus unsere Erfahrung aber ...
3. Denn erstens ...
4. Außerdem zweitens ...
5. Folglich ...
3. Man geht vom Allgemeinen
zum Besonderen.
1. Die A - Partei hat folgenden Standpunkt ...
2. Sie begründet ihn mit ...
3. Die B - Partei vertritt den entgegengesetzten Standpunkt ...
4. Sie begründet ihn mit ...
5. Ich kann mich für keinen der beiden
entschließen, sondern ...
4. Man vergleicht zwei
Positionen.
1. A behauptet ....
2. B widersprach mit dem Hinweis auf ...
3. Mir scheint, die beiden treffen sich in
einem Punkt ...
4. Hier liegt vielleicht die Lösung, denn...
5. Wir sollten in dieser Richtung
weiterdenken.
5. Man versucht einen
Kompromiss.
1.
2.
3.
4.
Wir reden schon eine Weile über ...
Bislang dreht sich alles um ...
Dabei wurde übersehen, dass ...
Gerade dies scheint mir aber
besonders wichtig, weil ...
5. Ich stelle den Antrag ...
6. Man klammert eine (z.B. die
allgemeine) Ansicht aus.
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Aufgabe: Formulieren Sie Debattenbeiträge im Fünfsatz zu folgenden (oder selbst
gewählten) Themen:
•
•
•
•
•
•
Welches Schulfach erscheint ihnen wirklich wichtig?
Ist es richtig, dass in der Schule das Leistungsprinzip herrscht?
Sollte mehr Gruppenarbeit stattfinden?
Sollten mehr Kursfahrten angeboten werden?
Sollten mehr Ganztagsschulen eingerichtet werden?
Welche Rolle sollte die Lehrerin bzw. der Lehrer im Lernprozess einnehmen?
3. Wie man eine Rede vorbereitet und hält
Kurt Tucholsky : Ratschläge für einen schlechten Redner
Fange nie mit dem Anfang an, sondern immer drei Meilen vor dem
Anfang! Etwa so: Meine Damen und Herren! Bevor ich zum Thema des
heutigen Abends komme, lassen Sie mich Ihnen kurz ...
Hier hast du schon so ziemlich alles, was einen schönen Anfang
ausmacht: eine steife Anrede; der Anfang vor dem Anfang; die
Ankündigung, dass und was du zu sprechen beabsichtigst, und das
Wörtchen kurz. So gewinnst du im Nu die Herzen und die Ohren der
Zuhörer.
Denn das hat der Zuhörer gern: dass er deine Rede wie ein schweres
Schulpensum aufbekommt; dass du mit dem drohst, was du sagen wirst,
sagst oder schon gesagt hast. Immer schön umständlich.
Sprich nie frei - das macht einen so unruhigen Eindruck. Am besten ist es:
Du liest deine Rede ab. Das ist sicher, zuverlässig, auch freut es
jedermann, wenn der lesende Redner nach jedem vierten Satz
misstrauisch hochblickt, ob auch noch alle da sind.
Wenn du gar nicht hören kannst, was man dir so freundlich rät, und du
willst durchaus und durchum frei sprechen ... du Laie! Du lächerlicher
Cicero! Nimm dir doch ein Beispiel an unsern professionellen Rednern, an
den Reichtagsabgeordneten - hast du die schon mal frei sprechen hören?
Die schreiben sich sicherlich zu Hause auf, wann sie „Hört! Hört!“ rufen ...
ja, also wenn du denn frei sprechen musst: Sprich, wie du schreibst. Und
ich weiß, wie du schreibst.
Sprich mit langen, langen Sätzen - solchen, bei denen du, der du dich zu
Hause, wo du ja in Ruhe, deren du so sehr benötigst, deiner Kinder
ungeachtet, hast vorbereitet, genau weißt, wie das Ende ist, die
Nebensätze schön ineinandergeschachtelt, so dass der Hörer, ungeduldig
auf seinem Sitz hin und her träumend, sich in einem Kolleg wähnend, in
dem er früher so gern geschlummert hat, auf das Ende solcher Periode
wartet ... nun, ich habe dir eben ein Beispiel gegeben. So musst du
sprechen.
Fang immer bei den alten Römern an und gib stets, wovon du auch
sprichst, die geschichtlichen Hintergründe der Sache. Das ist nicht nur
deutsch - das tun alle Brillenmenschen. Ich habe einmal in der Sorbonne
einen chinesischen Studenten sprechen hören, der sprach glatt und gut
29
französisch, aber er begann zu allgemeiner Freude so: „Lassen Sie mich
Ihnen in aller Kürze die Entwicklungsgeschichte meiner chinesischen
Heimat seit dem Jahre 2000 vor Christi Geburt ...“ Er blickte ganz erstaunt
auf, weil die Leute so lachten.
So musst du das auch machen. Du hast ganz Recht: Man versteht es ja
sonst nicht, wer kann denn das alles verstehen, ohne die geschichtlichen
Hintergründe ... sehr richtig! Die Leute sind doch nicht in deinen Vortrag
gekommen, um lebendiges Leben zu hören, sondern das, was sie auch in
den Büchern nachschlagen können ... sehr richtig! Immer gib ihm Historie,
immer gib ihm.
Kümmere dich nicht darum, ob die Wellen, die von dir ins Publikum laufen,
auch zurückkommen - das sind Kinkerlitzchen. Sprich unbekümmert um
die Wirkung, um die Leute, um die Luft im Saale; immer sprich, mein
Guter. Gott wird es dir lohnen.
Du musst alles in die Nebensätze legen. Sag nie: „Die Steuern sind zu
hoch.“ Das ist zu einfach. Sag: „Ich möchte zu dem, was ich soeben
gesagt habe, noch kurz bemerken, dass mir die Steuern bei weitem ...“
So heißt das.
Trink den Leuten ab und zu ein Glas Wasser vor - man sieht das gern.
Wenn du einen Witz machst, lach vorher, damit man weiß, wo die Pointe
ist.
Eine Rede ist, wie könnte es anders sein, ein Monolog. Weil doch nur
einer spricht. Du brauchst auch nach vierzehn Jahren öffentlicher Rederei
noch nicht zu wissen, dass eine Rede nicht nur ein Dialog, sondern ein
Orchesterstück ist: eine stumme Masse spricht nämlich ununterbrochen
mit. Und das musst du hören. Nein, das brauchst du nicht zu hören. Sprich
nur, lies nur, donnere nur, geschichtele nur.
Zu dem, was ich soeben über die Technik der Rede gesagt habe, möchte
ich noch kurz bemerken, dass viel Statistik eine Rede immer sehr hebt.
Das beruhigt ungemein, und da jeder im Stande ist, zehn verschiedene
Zahlen mühelos zu behalten, so macht das viel Spaß.
Kündige den Schluss deiner Rede lange vorher an, damit die Hörer vor
Freude nicht einen Schlaganfall bekommen. (Paul Lindau hat einmal einen
dieser gefürchteten Hochzeitstoaste so angefangen: „Ich komme zum
Schluss.“) Kündige den Schluss an, und dann beginne von vorn und rede
noch eine halbe Stunde. Dies kann man mehrere Male wiederholen.
Du musst dir nicht nur eine Disposition machen, du musst sie den Leuten
auch vortragen - das würzt die Rede.
Sprich nie unter anderthalb Stunden, sonst lohnt es sich gar nicht erst
anzufangen.
Wenn einer spricht, müssen die anderen zuhören - das ist deine
Gelegenheit! Missbrauche sie.
________________________________________________________
Jetzt wissen wir, wie man schlechte Reden hält, und wir wissen einiges, was man
vermeiden muss, damit es keine missratene Rede wird.
Eine gute Rede beginnt immer beim Redner. Voraussetzungen eines guten Redners
sind Stoffbeherrschung, Sprachvermögen und Überzeugungskraft. Im Einzelnen
bedeutet das:
30
Ein guter Redner kennt seinen Stoff gut und ist optimal vorbereitet. Er
•
•
•
•
•
spricht über Sachverhalte oder Gebiete, in denen er sich gut auskennt
hat sich Gegenargumente und Fragen vorher überlegt
kennt sein Publikum oder kann es relativ schnell einschätzen
hat sein persönliches Redeziel und den Ablauf vor Augen
hat seine Rede gut gegliedert
Ein guter Redner kann sich ausdrücken. Er
• verfügt über einen ausreichenden Wortschatz
• benutzt Fachausdrücke und Fremdwörter nur, soweit sie nötig und verständlich
sind
• ist stilsicher: er weiß, welche Mittel welche Wirkung haben
• gibt Zitate korrekt und ggf. mit Quellenangabe wieder
Ein guter Redner kann überzeugen und wirkt sicher. Er
• ist engagiert bei der Sache und weckt dadurch Interesse
• motiviert sein Publikum für sein Anliegen
Ein guter Redner kennt und nutzt technische Hilfsmittel, die den Vortrag
unterstützen. Diese
• steigern das Erinnerungsvermögen
• sparen Redezeit, indem sie Sachverhalte verdeutlichen
• erhöhen die Glaubwürdigkeit
• lassen den Redner informiert und vorbereitet wirken
Die Vorbereitung
Im Prinzip muss der Redner sich auf fünf Punkte vorbereiten:
1. Thema und
Publikum
2. Redeziel
3. Inhalt
4. Form und
Taktik
Über welches Thema will ich ganz genau sprechen? Welche
Personen sind meine Zuhörer/-innen? Was wissen sie über
das Thema bzw. über mich? Was versprechen sie sich von
meinem Vortrag?
Welches Ziel setze ich mir? Was will ich erreichen? Was gilt es
zu vermeiden?
Was ist zu sagen? Welche Fakten soll ich ansprechen? Wie
trage ich den Inhalt zusammen?
In welcher Form muss ich es sagen? Womit beginne ich, was
kommt als Nächstes? Welche Argumente will ich bis zum
Schluss aufheben.
31
Der Vorbereitungsraster
Thema/Titel: ............................................................................Beginn: ................
Datum: .....................................................................................Ende: ....................
Ort: ...........................................................................................Dauer: ...................
Anlass: X..................................................................................................................
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------Publikum:
Meine Redeziele:
Inhaltsdisposition:
Form und Taktik:
Organisatorisches:
Die Konzeption
1. Versuchen Sie, den Kern Ihrer Rede in einem Basissatz zusammenzufassen:
den Basissatz erhalten Sie, wenn Sie eine Inhaltsangabe soweit
vereinfachen, dass der Inhalt in einem Satz, dem Basissatz, ausgesagt wird
aus diesem Basissatz, dem Kerngedanken, entwickelt sich Ihre ganze Rede
2. Sammeln Sie nun Stoff, der zum gewählten bzw. gestellten Thema passt. Dazu
einige Hilfen:
Stellen Sie als Erschließungsfragen die sog. W-Fragen (Wann? - Wer? - Wo?
- Wie? - Warum? usw.)
Suchen Sie Gegensätze, Kernbegriffe oder Leitgedanken
Suchen Sie themenbezogene Redensarten, Redewendungen und
Sprichwörter
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Versetzen Sie sich in die Position dessen, der völlig anderer Meinung ist als
Sie
Sammeln Sie Quellen, statistische Angaben und Beweismaterial zur Stützung
Ihrer Aussagen
3. Gliedern Sie nun Ihre Rede:
Eine Rede sollte nicht mehr als fünf Gliederungspunkte enthalten
Fassen Sie jeden Gliederungspunkt nach der Ausarbeitung kurz zusammen
und verbinden Sie ihn dann gedanklich mit dem nächsten Punkt
Legen Sie die Rede steigernd an; das wichtigste und überzeugendste
Argument bewahren Sie sich für den Schluss auf, um damit auch den letzten
Zweifler zu überzeugen
4. Überlegen Sie sich Einleitung und Schluss besonders sorgfältig:
Die Einleitung ist sozusagen der Blickfang für den Hörer; der erste Eindruck,
den der Redner macht, ist oft entscheidend; hier müssen die Zuhörer
gewonnen werden; ihre Aufmerksamkeit muss ungeteilt auf den Gegenstand
der Rede gelenkt werden
Legen Sie die Einleitung erst zum Schluss fest
Im Schluss der Rede sollte das Hauptanliegen noch einmal
zusammengefasst werden, da gerade die Schlusswendungen dem Hörer
hinterher noch im Ohr klingen
5. Beachten Sie bei Sprachverwendung, dass Sie nicht einem Schreibstil verfallen:
Reden Sie in der Umgangssprache
Passen Sie Ihren Stil der Sprechsituation an
Bilden Sie möglichst kurze Sätze
Vermeiden Sie ein Übermaß an Nomen (Nominalstil)
Vermeiden Sie möglichst Fremdwörter
Vermeiden Sie Modewörter, Schlagwörter und Phrasen
Vermeiden Sie Übersteigerung, Pathos und Schwulst
Hauptsachen gehören in den Hauptsatz, Nebensachen in den Nebensatz
Ziehen Sie das Aktiv dem Passiv vor
Geben Sie Handlungen möglichst in Verben wieder
Setzen Sie rhetorische Mittel bzw. Figuren ein, um bestimmte Wirkungen zu
erreichen: Anschaulichkeit, Eindringlichkeit, Spannungssteigerung,
Überraschungseffekte und kommunikative Wirkungsakzente (eine
alphabetische Liste hierzu finden Sie im „Anhang“; dort finden Sie auch eine
Übersicht über Klang-, Wort-, Satz- und Sinnfiguren)
6. Erarbeiten Sie nun Ihr Manuskript:
Arbeiten Sie das Manuskript zweispaltig aus: Auf der einen Seite steht der
ausführliche Text, auf der anderen Seite notieren Sie die entsprechenden
Stichworte; diese Form hat den Vorteil, dass Sie den Faden jederzeit
wiederfinden, wenn Sie im Redefluss stocken; ein kurzer Blick genügt dann.
Arbeiten Sie auch mit farbigen Markierungsstiften, damit Sie besonders
wichtige Stellen, z.B. Zitate, schnell finden.
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7. Durchführung der Rede
Sprach- und sprechtechnische Voraussetzungen:
7.1. die Atmung
Atmen Sie tief durch. Besonders wichtig: Atmen Sie tief aus, sonst entsteht
ein Luftstau in den Lungen, die verbrauchte Luft fließt nicht ab und wird
durch weitere verbrauchte Luft ergänzt. Atmen Sie besonders dann ein,
wenn der Sinn eine Pause gestattet, sonst haben Sie nur Zeit zum
Nachatmen
7.2. das Sprechen
Achten Sie auf eine gute Lautbildung: Der Zuhörer muss jede Silbe
verstehen
Passen Sie Lautstärke, Betonung, Sprechtempo der jeweiligen Situation an
Variieren Sie die Satzmelodie, den Verlauf der Sprechhöhen und -tiefen
Betonen Sie den wichtigsten Teil des Satzes
Benutzen Sie die Satzzeichen als Lesezeichen (Punkt: Stimme senken;
Komma: Stimme heben)
7.3. Mittel, die der Betonung dienen
Machen Sie Gebrauch von den unterschiedliche Betonungsmöglichkeiten
(Sprechtonerhöhung, Sprechtonverstärkung, Sprechtondehnung)
Sprechen Sie bewusst etwas tiefer, das schont die Stimme
Vermeiden Sie Verlegenheitslaute wie äh, öh, ne usw.
8. das Auftreten als Redner
Treten Sie selbstbewusst und sicher auf
Halten Sie Blickkontakt zu den Zuhörern
Sprechen Sie möglichst frei; wenn Sie nicht ganz frei sprechen können,
dann lesen Sie wie die Sprecher/-innen der Tagesschau in Wortblöcken
Sie sollten Ihre Rede vorher nicht vor dem Spiegel üben, das führt zu
Verkrampfungen
Aufgabe: Konzipieren Sie eine Rede zu einem der folgenden Anlässe und halten Sie
diese Rede vor der Klasse!
Begrüßungsrede für den neuen Vorkurs
Rede zur Verabschiedung der Abiturientinnen und Abiturienten
Begrüßungsrede für ein Klassentreffen
Rede für das alljährliche Schulfest
Rede zur Ausstellung Ihres Kunstkurses
Geburtstagsrede für ...
Gedenkrede zum Todestag eines großen Vorbildes
Rede für eine Vereinsfeier
Rede für eine offizielle Silvesterfeier
Rede zu Ihrem Verbesserungsvorschlag ...
34
Verhaltensspiegel
zur Selbst- und Fremdbeobachtung
1. Haltung
Auftreten, Körper, Hände, Füße
2. Hörerbezug
Augenkontakt, Zwiegespräch, Dialog
3. Sprachlicher Ausdruck
treffend, klar, einfach, sachlich, konservativ, modern
4. Sprachtechnik
Atmung, Ton, Artikulation
5. Körperlicher Ausdruck
Gestik, Mimik
6. Sprechausdruck
Gliederung, Betonung, Beseelung
7. Rednerischer Ausdruck
leicht - gehemmt
stark - schwach
natürlich - falsches Pathos
Spannung - Lösung
Steigerung - Höhepunkt
8. Sprechdenken
Sätze abgebrochen, zu schnell,
zu lange Sätze,
klare Gedankenführung
Beweisführung
9. Thema
erfasst, zielorientiert, Abschweifungen
10. Aufbau
Einleitung, Hauptteil, Schluss
Wegweiser, Führung für Hörer
35
Selbstvertrauen
ausgeglichen
zuversichtlich
sympathisch
anregend
konzentriert
souverän
tolerant
überzeugend
aufrüttelnd
natürlich
dynamisch
ausgewogen
beharrlich
eindringlich
vital
kreativ
zielstrebig
Ehrgeiz
Humor
höflich
Entschlossenheit
unabhängig
verlässlich
Suggestivkraft
Führungstechnik
nervös
gehemmt
überschwänglich
unentschlossen
kriecherisch
Eitelkeit
arrogant
rechthaberisch
aggressiv
Gehässigkeit
Ungeduld
ermüdend
36
Redeanalyse
Analysieren von Reden
Analyse – Beispiel
Methodik der Redeanalyse
W. Churchill: Blut und Tränen
Die rhetorischen Ziele
A. Hitler: Wahlrede
J. Goebbels: totaler Krieg
Anmerkungen zur NS – Rhetorik
K. Weiß: Rechtsradikalismus
H.-O. Henkel: Globalisierung
F. Rexhausen: Fruchtbonbons
Rede im Betrieb
Die Festtagsrede
D. Hildebrandt: Der Mond
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39
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Analysieren von Reden
Beim Analysieren von Reden steht man außerhalb der Redesituation, d.h., man ist
nicht der Adressat der Rede. Die Analyse einer Rede kann selbstredend nur anhand
eines schriftlich fixierten Textes oder von Tonband- oder Fernsehaufzeichnungen
durchgeführt werden. Die Redesituation, Redner, Publikum und andere Kontexte
sind somit schon Gegenstände der Analyse.
Jede Rede - wir erinnern uns - steht im Zusammenhang bestimmter Faktoren:
38
Der erste Schritt bei der Redeanalyse besteht darin mitzuteilen, wer wann wo bei
welchem Anlass zu wem was gesagt hat, also Angaben zu machen :
1. zum Redner / zur Rednerin
Wer ist der/ die Redner/-in? Welche Position bzw. Funktion hat er/sie inne?
Was ist allgemein über die Person bekannt?
2. zum Ort und zur Zeit der Rede
Wo, an welchem Ort, in welcher Stadt ... und zu welcher Zeit, in welchem
Jahr ... wurde die Rede gehalten?
3. zur Redesituation
Aus welchem Anlass wurde die Rede gehalten? In welchem Rahmen
findet sie statt? In welche allgemeine, politisch-soziale Situation ist sie
einzuordnen?
4. zum Publikum
Welches - spezifische - Publikum ist der Adressat der Rede? Welche
Erwartungen hegt es? Wie hat es bei der Rede reagiert?
5. zum Redegegenstand bzw. -thema
Was thematisiert die Rede? In welchen Zusammenhang ist das Thema zu
sehen?
_______________________________________________________
Analysebeispiel: J.F. Kennedy in Berlin (1963)
5
10
15
20
Meine Berliner und Berlinerinnen!
Ich bin stolz, heute in Ihre Stadt zu kommen als Gast Ihres hervorragenden
Regierenden Bürgermeisters, der in allen Teilen der Welt als Symbol für
den Kampf und Widerstandsgeist Westberlins gilt.
Ich bin stolz, auf dieser Reise die Bundesrepublik Deutschland zusammen
mit Ihrem hervorragenden Bundeskanzler besucht zu haben, der während
so langer Jahre die Politik bestimmt hat nach den Richtlinien der
Demokratie, der Freiheit und des Fortschritts. Ich bin stolz darauf, heute in
Ihre Stadt in Gesellschaft eines amerikanischen Mitbürgers gekommen zu
sein, General Clay, der hier tätig war in der Zeit der schwersten Krise, durch
die diese Stadt gegangen ist, und der wieder nach Berlin kommen wird,
wenn es notwendig werden sollte.
Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz, den ein Mensch sagen
konnte, der: Ich bin ein Bürger Roms! Heute ist der stolzeste Satz, den
jemand in der freien Welt sagen kann: Ich bin ein Berliner!
Wenn es in der Welt Menschen geben sollte, die nicht verstehen oder nicht
zu verstehen vorgeben, worum es heute in der Auseinandersetzung
zwischen der freien Welt und dem Kommunismus geht, dann können wir
ihnen nur sagen, sie sollen nach Berlin kommen.
Es gibt Leute, die sagen, dem Kommunismus gehöre die Zukunft. Sie
sollen nach Berlin kommen!
Und es gibt wieder andere in Europa und in anderen Teilen der Welt, die
behaupten, man könne mit den Kommunisten zusammenarbeiten. Auch sie
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sollen nach Berlin kommen.
25 Und es gibt auch einige, die sagen, es treffe zwar zu, dass der
Kommunismus ein böses und schlechtes System sei; aber er gestatte es
ihnen, wirtschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Lasst auch sie nach Berlin
kommen!
Ein Leben in Freiheit ist nicht leicht, und die Demokratie ist nicht
30 vollkommen.
Aber wir hatten es nie nötig, eine Mauer aufzubauen, um unsere Leute bei
uns zu halten und sie daran zu hindern, woanders hinzugehen.
Ich möchte im Namen der Bevölkerung der Vereinigten Staaten, die viele
tausend Kilometer von Ihnen entfernt auf der anderen Seite des Atlantiks
35 lebt, sagen, dass meine amerikanischen Mitbürger sehr stolz darauf sind,
mit Ihnen zusammen selbst aus dieser Entfernung die Geschichte der
letzten achtzehn Jahre teilen zu können. Denn ich kenne keine Stadt, die
jemals achtzehn Jahre lang belagert wurde und dennoch lebt mit
ungebrochener Vitalität, mit unerschütterlicher Hoffnung, mit gleicher Stärke
40 und mit gleicher Entschlossenheit wie heute Westberlin.
Die Mauer ist die abscheulichste und stärkste Demonstration für das
Versagen des kommunistischen Systems. Die ganze Welt sieht dieses
Eingeständnis des Versagens. Wir sind darüber keineswegs glücklich,
denn, wie Ihr Regierender Bürgermeister gesagt hat, die Mauer schlägt
45 nicht nur der Geschichte ins Gesicht, sie schlägt der Menschlichkeit ins
Gesicht. Durch die Mauer werden Familien getrennt, der Mann von der
Frau, der Bruder von der Schwester, Menschen werden mit Gewalt
auseinander gehalten, die zusammen leben wollen.
Was für Berlin gilt, gilt für Deutschland: Ein echter Friede in Europa kann
50 nicht gewährleistet werden, solange jedem vierten Deutschen das
Grundrecht einer freien Wahl vorenthalten wird. In siebzehn Jahren des
Friedens und der europäischen Verlässlichkeit hat diese Generation der
Deutschen sich das Recht verdient, frei zu sein, einschließlich des
Rechtes, die Familien und die Nation in dauerhaftem Frieden wieder
55 vereint zu sehen.
Sie leben auf einer verteidigten Insel der Freiheit. Aber Ihr Leben ist mit dem
des Festlandes verbunden, und deswegen fordere ich Sie zum Schluss auf,
den Blick über die Gefahren des Heute hinweg auf die Hoffnung des
Morgen zu richten, über die Freiheit dieser Stadt Berlin, über die Freiheit
60 Ihres Landes hinweg auf den Vormarsch der Freiheit überall in dieser Welt,
über die Mauer hinweg, auf den Tag des Friedens in Gerechtigkeit.
Die Freiheit ist unteilbar, und wenn nur einer versklavt ist, dann sind nicht
alle frei.
Aber wenn der Tag gekommen sein wird, an dem alle die Freiheit haben
65 und Ihre Stadt und Ihr Land wieder vereint sind, wenn Europa geeint ist und
Bestandteil eines friedvollen und zu höchsten Hoffnungen berechtigten
Erdteils, dann können Sie mit Zufriedenheit von sich sagen, dass die
Berliner und diese Stadt Berlin zwanzig Jahre lang Front gehalten haben.
Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt
70 Westberlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu
können: Ich bin ein Berliner!
40
Anmerkungen zur Rede
Die vorliegende Rede wurde am 23.6.1963 in Berlin gehalten. Vom Balkon des
Schöneberger Rathauses - damaliger Sitz des Westberliner Senats sprach der
Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu mehr als 100 000 Westberliner
Bürgerinnen und Bürgern. John F. Kennedy war Präsident der USA von 1961- 63; er
wurde am 22.11.1963 in Dallas ermordet. In seine Amtszeit fallen zwei wichtige
welthistorische Ereignisse, nämlich die Kuba-Krise und der Berliner Mauerbau, die
Eskalation des Ost-West-Konflikts bzw. des Kalten Krieges. Als relativ junger
Präsident - 1963 war er 46 Jahre alt - genoss Kennedy hohes Ansehen in der
westlichen Welt, besonders bei der Jugend, weil er neben seiner großen Energie und
Entschlossenheit auch sehr medienwirksam war.
Am 13.8.61 wurde in Berlin die Mauer gebaut und damit nicht nur die Stadt geteilt,
sondern auch Westberlin von der BRD getrennt. Damit bekam Westberlin einen
isolierten, äußerst gefährdeten Status als westliche Insel inmitten des
kommunistischen Blockes. Während Moskau daran interessiert war, Westberlin zu
isolieren und langfristig dem eigenen Reich einzuverleiben, waren die BRD und die
USA darauf bedacht, Westberlin auf jeden Fall als westliche Frontstadt zu erhalten.
Diese explosive Situation bestimmte auch die bedrohte Stimmung in Westberlin.
Insofern sahen die Bürger/ innen Berlins im Besuch des amerikanischen Präsidenten
nicht nur einen symbolischen Akt, sondern sie hegten große Erwartungen an
Kennedy, dass er ihre Situation alsbald ändern werde, zumal in der von Adenauer
regierten BRD der Wiedervereinigungswille immer wieder betont wurde.
Kennedy konnte zwar die damals unrealistischen Erwartungen der Westberliner nicht
erfüllen, aber er konnte mit seiner emotional orientierten Rede die Herzen der
Westberliner erobern und ihre Hoffnung und ihr Durchhaltevermögen stärken. Der
heftige Applaus und die skandierenden Kennedy-Rufe beweisen, dass Kennedy die
richtigen Worte in der angespannten Situation gefunden hatte und dass die Berliner
in ihm einen Freund gefunden hatten, dem sie volles Vertrauen entgegenbrachten.
Nachdem der Leser mit den externen Kontexten der Rede (Ort, Zeit, Redner,
Publikum, Situation) und dem Thema vertraut gemacht ist, folgt für die Redeanalyse
nun die Textarbeit. Diese eigentliche Analyse bezieht sich auf die drei Ebenen, die
jede Textanalyse umfasst: Inhalt, Struktur und Sprache. Bei der Redeanalyse ist es
günstig und ökonomisch, mit der Analyse der Struktur zu beginnen, weil mit der
Aufteilung der Rede in kleinere Einheiten die Textarbeit einfacher und
übersichtlicher wird.
41
Die Methodik der Redeanalyse kann etwa folgendermaßen aussehen:
1. Strukturanalyse
Die Struktur einer Rede ist wesentlich bestimmt durch Aufbau, Gliederung
Argumentation. Wir fragen also:
• Wie ist die Rede gegliedert (Abschnitte) ?
• Umfasst jeder Abschnitt eine Argumentation?
• Werden nur Thesen aneinandergereiht, oder liegen vollständige
Argumentationen vor (Argument - Beweis - Beleg)?
• Wo ist die Hauptaussage, die These, die Position des Redners zu finden?
2. Inhaltsanalyse
Die Inhaltsanalyse bezieht sich auf alle inhaltlichen Aspekte eines Textes, einer Rede
... , also auf Thema, Problem, Problemzusammenhang, auf die Intention.
Wir fragen also:
• Was will der Redner / die Rednerin erreichen?
• Welche rhetorischen Ziele sind erkennbar?
• Welche Einstellung zum Redegegenstand kommt zum Ausdruck?
• Richtet sich die Rede eher an den Verstand oder eher an das Gefühl des
Publikums? Soll es aufgeklärt oder überrumpelt werden?
3. Sprachanalyse
Die Sprachanalyse soll aufzeigen, mit welchen sprachlich-stilistischen Mitteln die
Redeabsicht (Intention) realisiert wird. Wir fragen also:
• Welche rhetorischen Mittel werden wo zu welchem Zweck eingesetzt?
• Aus welchen Bereichen stammt das Wortmaterial? Werden Fachausdrücke
benutzt? Sind Phrasen, klischeehafte Wendungen, nichtssagende
Gemeinplätze oder Schlagwörter zu finden?
• Gibt es Schlüsselwörter, Hochwertbegriffe oder andere auffällige Wörter?
Bemerkung zur Methodik
Die o.g. Ebenen der Analyse könnten nahe legen, dass eine Redeanalyse gemäß
den drei Schritten, also nacheinander, realisiert werden muss. Das wäre ein
Missverständnis. Die o.g. Ebenen geben lediglich vor, welche Aspekte bei der
Redeanalyse zu berücksichtigen sind. In welcher Form das geschieht, bleibt jedem
Einzelnen überlassen. Man kann die Redeanalyse dreiteilig gemäß den drei Schritten
erstellen, also nacheinander Struktur, Inhalt und Sprache betrachten. Dann ist auch
das Ergebnis dreiteilig. Ökonomischer ist es jedoch, abschnittweise vorzugehen und
die drei Ebenen parallel zu betrachten gemäß den Fragen:
Was ist inhaltlich ausgesagt?
Wie ist der Inhalt argumentativ dargelegt?
Welche rhetorischen Ziele sind angestrebt?
Welche sprachlich-stilistischen Mittel sind eingesetzt?
42
Analysebeispiel: (Auszug bezogen auf die Kennedy-Rede)
Die Rede ist in etliche Absätze unterteilt; inhaltlich können sechs
Sinnabschnitte ausgemacht werden: Im ersten Abschnitt (Z. 1-15) betont der
Redner seinen Stolz beim Besuch dieser bedeutenden Stadt. Der zweite Teil (Z.
16 - 32) stellt Berlin als Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen dem
Westen und dem Kommunismus heraus. Im dritten Teil (Z. 33 - 48) betont
Kennedy die Verbindung zwischen dem amerikanischen Volk und der
Bevölkerung Westberlins. Daran anschließend wird im vierten Teil (Z. 49 - 55)
die Mauer als Beweis für das Versagen des kommunistischen Systems
thematisiert. Die Situation Berlins als Hindernis für Frieden und Freiheit wird
im fünften Teil (Z. 56 - 63) dargelegt. Im Schlussteil der Rede (Z. 64 - 71)
zeichnet der Redner positive Zukunftsperspektiven für Berlin.
Auffällig erscheint zunächst die Anrede der Zuhörer/-innen. Mit dem
Possessivpronomen wird die Distanz zwischen Redner und Publikum
aufgehoben und ein Wir-Gefühl erzeugt. Der Redner nimmt so das Publikum
für sich ein, indem er suggeriert, dass die Ängste und Nöte der Berliner auch
die Angelegenheit des amerikanischen Präsidenten sind.
Diese innere Verbundenheit wird im ersten Redeteil noch unterstrichen
dadurch, dass Kennedy in dreifacher Wiederholung seinen Stolz betont und
die Verhältnisse umkehrt: Nicht die Stadt ist stolz, dass der amerikanische
Präsident sie besucht, sondern umge-kehrt: Kennedy ist stolz, dass er die
Stadt besuchen darf „als Gast Ihres ... Bürgermeis-ters“, an der Seite des
Bundeskanzlers und des General Clay. Der Untertreibung hinsichtlich der
eigenen Person stehen Übertreibungen bezüglich der angesprochenen
Personen gegenüber. Der Bürgermeister von Berlin gilt „in allen Teilen der
Welt als Symbol“, der Bundeskanzler wird identifiziert mit Demokratie, Freiheit
und Fortschritt und General Clay hat sich in „der schwersten Krise“ Berlins
bewährt. Zusätzlich werden diese Übertreibungen hinsichtlich des
Bundeskanzlers und des Bürgermeisters noch mit demselben Adjektiv
(„hervorragenden“) verstärkt, wodurch beide deutschen Politiker in der
Achtung des Redners auf dieselbe
Stufe gehoben werden. Im Zusammenhang mit dieser Aufwertung der
Personen werden auch die entscheidenden Schlüsselwörter genannt, die
Redeanlass und Redegegenstand verbinden und die Redeabsicht erkennen
lassen: Widerstandsgeist Westberlins, Demokratie und Freiheit. Mit dem
Begriff „Krise“ (der Stadt) werden zudem geschickt Vergangenheit und
Gegenwart verknüpft.
Der Redebeginn wirkt auf den Zuhörer sehr eindringlich. Das wird vor allem
durch die Anapher (dreifache Wiederholung) erreicht, die zudem vom
Parallelismus verstärkt wird: Dem Hauptsatz folgt ein Infinitivsatz, dann ein
Relativsatz. Eindringlicher kann der Anfang einer Rede kaum sein. Der
Redebeginn mit den Wiederholungen zeigt aber auch, dass es dem Redner hier
nicht darauf ankommt, zu argumentieren und zu überzeugen. Vielmehr zeigt
dieser Einstieg mit seinen Schmeicheleien eine deutlich emotionale
Ausrichtung.
Im zweiten Abschnitt der Rede ...
43
Aufgabe: Analysieren Sie einen weiteren Abschnitt der Kennedy - Rede!
Sie können dabei so vorgehen, dass Sie zunächst in einer Phase der Vorarbeit
Ihre Beobachtungen sammeln und in die jeweilige Spalte einordnen:
Zeilen
Inhalt
sprachliche Mittel
beabsichtigte Wirkung
Diese stichwortartigen Beobachtungen lassen sich zuletzt relativ schnell zu
einem Fließtext formulieren. Je intensiver die Vorarbeiten gemacht werden, um
so einfacher fällt dann die zusammenhängende Darstellung.
Aufgabe: Analysieren Sie die folgende Rede, indem Sie den Schwerpunkt auf
die rhetorischen Mittel legen!
Winston Churchill: Blut und Tränen
Das Umfeld
Am 10. Mai 1040 fielen deutsche Truppen in Belgien und Holland und Luxemburg
ein. Auf Bitten Leopolds, des Königs der Belgier, wurden gleichzeitig britische
Truppen in Richtung Belgien in Marsch gesetzt. Am gleichen Tage resignierte Neville
Chamberlain, der versucht hatte, mit Adolf Hitler in Frieden leben zu können. Das
englische Königshaus beauftragte am späten Abend desselben Tages Winston
Churchill mit der Bildung einer Allparteien-Regierung. Drei Tage später – am 13.Mai
1940-, am Tage, bevor das holländische Oberkommando kapitulierte , hielt Churchill
vor dem Unterhaus seine berühmt gewordene „Blut und Tränen„ - Rede. Mit dieser
44
Rede gelang es ihm, die zerstrittenen Parteien zu einigen und das britische Volk
zusammenzuschließen. Beide waren bereit, große Opfer zu bringen.
Die Rede
„Abends erhielt ich von Seiner Majestät den Auftrag, eine neue
Regierung zu bilden... Offensichtlich war es der Wunsch und
Wille des Parlaments und der Nation, dass dies auf einer
möglichst breiten Basis geschehe. Alle Parteien sollten
eingeschlossen sein. Ich habe den wichtigsten Teil dieser
Aufgebe erfüllt.
Eine Regierung von solchem Ausmaß und von solcher Vielgestaltigkeit zu bilden ist an sich eine schwere Aufgabe; wir
müssen aber bedenken, dass wir uns im Anfangsstadium einer
der größten Schlachten der Weltgeschichte befinden, dass wir
an vielen Punkten Norwegens und Hollands kämpfen, dass wir
im Mittelmeer kampfbereit sein müssen, dass der Luftkrieg
ohne Unterlass weitergeht und dass wir hier im Lande viele
Vorbereitungen treffen müssen. Ich hoffe, man wird es mir
verzeihen, wenn ich in dieser kritischen Lage mich heute nicht
mit einer längeren Ansprache an das Haus wende. Ich hoffe,
dass jeder meiner Freunde und jeder meiner jetzigen oder
früheren Kollegen, der von der Regierungsbildung berührt ist,
den etwaigen Mangel an Förmlichkeit, mit dem wir vorgehen
mussten, nachsehen wird.
Ich möchte dem Hause dasselbe sagen, was ich zuvor denen
gesagt habe, die die neue Regierung bilden werden: >Ich habe
nichts anzubieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß.<
Vor uns steht die schwerste alle Prüfungen. Vor uns liegen
viele, viele lange Monate des Kampfers und der Entbehrung.
Sie fragen: Was ist unsere Politik? Ich will es Ihnen sagen; Es
gilt, einen Krieg zu führen auf der See, auf dem Land und in der
Luft mit all unserer Macht – und mit all der Kraft, die Gott uns
geben kann. Es gilt, einen Krieg zu führen gegen eine
ungeheuerliche Tyrannei, die von nichts übertroffen wird in der
dunklen, traurigen Liste menschlicher Verbrechen. Das ist
unsere Politik.
Sie fragen: Was ist unser Ziel? Ich antworte mit einem Wort:
Sieg. Sieg um jeden Preis. Sieg trotz allem Schrecken. Sieg,
wie lange und beschwerlich der Weg auch sein mag. Denn
ohne Sieg gibt es kein Überleben. Das wollen wir ganz klar
sehen: Kein Überleben für das britische Weltreich. Kein
Überleben für das Drängen der Jahrhunderte, die Menschheit
vorwärts zu ihrem Ziel zu bringen. Ich übernehme meine
Aufgabe mit Schwung und Hoffnung. Ich fühle sicher, dass
unsere Sache nicht fehlschlagen wird. So fühle ich mich in
diesem Augenblick berechtigt, die Hilfe aller zu fordern, Und ich
rufe: Kommt denn, lasst uns gemeinsam vorwärts schreiten mit
vereinter Kraft!“
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Die rhetorischen Ziele
Entscheidend für die politische Rede ist die beabsichtigte Wirkung auf die Hörer.
Dabei kann man vor allem drei Typen unterscheiden: Aufwertung, Abwertung und
Beschwichtigung. Aufwertung meint den Aufbau der Position des Redners bzw.
seiner Gruppe / Partei. Diese versucht der Redner so günstig darzustellen, dass ihm
die Zustimmung seiner Hörer gewiss ist. Abwertung meint dagegen die Zerstörung
der gegnerischen Position. Der Gegner wird derart negativ hingestellt, dass die Hörer
ihn ablehnen sollen. Beschwichtigung ist eine Art Interessenausgleich mit verbalen
Mitteln: Verschiedene Gruppen mit verschiedenen Interessen werden vom Redner
mit so vagen Formulierungen hingehalten, dass sie dem Redner zunächst einmal
zustimmen und in ihm den Vertreter ihrer widersprechenden Interessen sehen.
Jeder Wirkungstyp arbeitet mit spezifischen Strategien:
Aufwertung
•
•
•
•
•
•
günstige Seiten hervorheben, ungünstige abschwächen oder verschweigen
positive Attribute für die Wir-Gruppe
dynamisches Wortfeld für die Wir-Gruppe
Koppelung mit positiven Werten (Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie)
positive Verallgemeinerung aufgrund von zwei, drei Beispielen
eigennützige Ziele als uneigennützig ausgeben („Gemeinwohl“), Übersteigerung
eigener Verdienste
• Selbstdarstellung als Garantie für Freiheit und Sicherheit
• Fehler anderen oder anderen Umständen (Schicksal) zuschieben, Einladung der
Zuhörer zur Identifikation mit der Wir-Gruppe, Andersdenkende dem gegnerischen
Lager zuschlagen
• unverfängliche Zeugen aufrufen
Abwertung
• ungünstige Seiten hervorheben, günstige abschwächen oder verschweigen,
Häufung negativer Attribute
• Koppelung des Gegners mit negativen Werten (Unfreiheit, Unrecht ..) - negative
Verallgemeinerung aufgrund von Einzelbeispielen
• gegnerische Ziele als eigennützig darstellen
• Fehler des Gegners ins Maßlose vergrößern („Untergang des Abendlandes“),
Fehler dritter Gruppen dem Gegner zuschieben
• dem Gegner Erfolge absprechen
• Deformation gegnerischer Argumente; ins Absurde übersteigern
• Verzerrung gegnerischer Zitate, um sie leichter widerlegen zu können
• Grundsätze des Gegners als von der Geschichte widerlegt darstellen
• gegnerische Forderungen halb anerkennen, doch als längst erfüllt von der
Wir-Gruppe ausgeben
• Diffamierung durch Assoziationen
• Neudefinition gegnerischer Schlagworte
• Parzellierung des Gegners: einen Teil auf eigene Seite ziehen
• innenpolitischer Gegner mit außenpolitischen Feinden koppeln
• unverfängliche Zeugen aufrufen
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Beschwichtigung
• Verständnis bekunden
• auf Gemeinschaft hinweisen („Wir sind alle eine Familie“)
• als Vertreter einer Gruppe sich zum Sprecher einer anderen machen:
Vermittlerrolle einnehmen
• alle Interessen als berechtigt anerkennen, Widersprüche verschweigen (sowohl als auch; weder - noch)
• für jeden etwas anbieten
• auf unabwendbares Schicksal hinweisen
• allgemeine Weisheiten zitieren
• Formulierungen Wählen, die für jede Interpretation offen sind
• Verallgemeinerung bei Belastung einer Gruppe („wir alle müssen die
gemeinsamen Lasten tragen“, „Dienst am Allgemeinwohl“)
• Tabuisierung von Problemen, sodass deren Erörterung unmöglich wird
Adolf Hitler : Wahlrede zum 14.09.1930 (Auszug)
Das Umfeld
Reichstagswahlen 14. September 1930: Die NSDAP gewinnt 18,2% der Stimmen
und 107 der 577 Reichstagssitze. Am 11. Oktober 1931 schließen sich NSDAP,
DNVP und andere rechtsgerichtete Gruppen zur Harzburger Front zusammen, die
mit Unterstützung der Industrie die Macht ergreifen will.
Die Rede
„Die nationalsozialistische Bewegung wird mit ihrem Siege den alten
Klassen- und Kastengeist überwinden. Sie wird aus Standeswahn
und Klassenirrsinn wieder ein Volk entstehen lassen.
Sie wird dieses Volk zu eiserner Entschlossenheit erziehen.
Sie wird die Demokratie überwinden und die Autorität der
Persönlichkeit in ihre Rechte setzen.
Sie wird das verletzte Recht wieder dem deutschen Volke
zurückgeben durch die brutale Verfechtung des Grundsatzes, dass
man solange kein Recht zum Hängen des Kleinen besitzt, solange
die größten Verbrecher ungestraft und ungeschoren bleiben.
Die anderen Parteien mögen sich mit der Inflationsdieberei
abgefunden haben, mögen den Revolutionsbetrug anerkennen: Der
Nationalsozialismus wird die Diebe und Landesverräter zur
Verantwortung ziehen. Der Nationalsozialismus kämpft für den
deutschen Arbeiter, indem er ihn aus den Händen seiner Betrüger
nimmt, die Schutztruppe des internationalen Bank- und
Börsenkapitals, aber vernichtet.
Die nationalsozialistische Bewegung wird bei ihrem Siege die
deutsche Verwaltung säubern von Parasiten, die ohne Recht und
ohne alle Kenntnisse nur auf Grund ihres Parteibuchs die Nation
belasten. Wer von neuen Steuern redet, soll erst die Verwaltung von
den in 12 Jahren hineingeströmten Revolutionsparasiten befreien.
Man schützt den ehrlichen Beamten nur, indem man seiner Leistung
und seiner redlichen Arbeit den Weg frei macht, den
parlamentarischen Schieber aber aus der Beamten-Bahn entfernt.
47
Die nationalsozialistische Bewegung wird bei ihrem Siege den
Schutz des Menschen auch wirtschaftlich bis zum Äußersten zu
garantieren suchen. Solange die Börse und Warenhäuser nicht
genügend besteuert sind, ist jede weitere Steuererhöhung im Kleinen
ein Verbrechen.
Die nationalsozialistische Bewegung wird bei ihrem Siege den
Bauern schützen durch rücksichtslose Erziehung unseres Volkes zur
Verwendung unserer eigenen Produkte.
Auch unsere oberen Zehntausend werden lernen müssen,
schwarzes Brot zu essen, anderenfalls unser Roggen verkommt und
Weizen eingeführt werden muss!
Wir werden die nationale Ehre und den nationalen Stolz darein
setzen, alles Fremde, wenn irgend möglich, zu meiden und den
Ergebnissen des eigenen Fleißes den Vorzug geben.
Wir werden dafür sorgen, dass an die Spitze aller Reformen die
Reform unseres Wehrwillens gestellt wird und die Änderung unserer
ausländischen Politik.
Die nationalsozialistische Bewegung wird nach ihrem Siege nicht
mehr die Politik des ewigen Buhlens um Frankreichs Gunst
fortsetzen. Jede Hand, die sich uns in Europa aus gleicher Not und
gleicher Gesinnung heraus bietet, wird einst von uns dankbar
ergriffen werden.
Wir wollen dafür sorgen, dass die Bedeutung unseres Volkes in der
Zukunft wieder seinem natürlichen Wert entspricht, und nicht der
jammervollen Vertretung unserer letzten 15 Jahre.
Wenn unsere Gegner heute zu den wahnwitzigsten Mitteln der
Verfolgung greifen, wenn die so genannte freie Republik ihre Bürger
bei jeder Gelegenheit mit dem Gummiknüppel schlagen lässt, so wie
man früher vielleicht Hunde prügelte, dann mag unser Volk nicht
vergessen, dass heute die Unterdrückung uns Nationalsozialisten
nur trifft, weil wir uns des unterdrückten Volkes annehmen.
Deutsches Volk, gib Acht: Heute zieht man uns, den Feinden der
Korruption, die Braunhemden aus.
Unterliegen wir, dann wird man dir, deutscher Bauer, Arbeiter,
Beamte, Angestellter, als dem Opfer der Korruption, einst auch noch
das letzte Hemd ausziehen!
Sie üben sich an uns in dieser Kunst.
Der 14. September 1930 kann, wenn unser Volk die letzten
Konsequenzen zieht, zum Beginn einer gewaltigen deutschen
Umwandlung werden, aus der heraus eine neue deutsche Kraft
erwächst.
Millionen ahnen heute das Schicksal, das uns bevorsteht, mögen sie
auch die Kraft finden, es abzuwenden!
Die Parole für den 14. September kann nur lauten: Schlagt die
politischen Bankrotteure unserer alten Parteien !
Lasst euch nicht bluffen von den Phrasen einer „Hindenburg“- oder
„Staatspartei“ oder „Lettow-Vorbeck-Front“!
Lasst euch nicht bluffen vom Schwindel einer Wahlreform, an die
kein Mensch ernstlich glaubt, einer Reichsreform und weiß Gott was
48
sonst noch! Kämpft dafür, dass eine Reform des deutschen Volkes
eintritt!
Die erste Forderung dieser Reformation kann aber nur lauten:
Weg mit den Verantwortlichen für unseren Verfall!
Volksgenosse, schließe dich an der marschierenden braunen Front
des erwachenden Deutschlands! Dein Nein dem heutigen System
gegenüber heißt: Liste 9!
Schlagt sie am 14. September zusammen, die Interessenten am
Volksbetrug.“
(abgedruckt im Westdeutschen Beobachter, 11.9.1930)
Joseph Goebbels: Wollt ihr den totalen Krieg?
Das Umfeld
Um die Mitte des Jahres 1942 stand fast ganz Kontinentaleuropa unter deutscher
Herrschaft. Nördlich von Stalingrad erreichten deutsche Soldaten die Wolga. Dann
aber begannen die Rückschläge. Im Oktober bleibt die Offensive vor Stalingrad
stecken. Am 19/20 November tritt die Rote Armee zum Gegenangriff an. Die sechste
Armee wird in Stalingrad eingeschlossen und muss hier auf Befehl Hitlers ausharren.
Am 2. Februar 1943 ergeben sich die letzten deutschen Soldaten in Stalingrad.
146300 deutsche Soldaten fallen, neunzigtausend gehen in russische
Gefangenschaft. Die Wende des Krieges wird vielen bewusst.
Bereits am 30. Januar 1943 rief Goebbels zum totalen Krieg auf. Nachdem das
Desaster vom Stalingrad vollkommen war, hielt Goebbels am 18. Februar 1943 in
Münchens Sportpalast seine berühmteste Rede. Tatsächlich gelang es ihm, Millionen
von Menschen Sand in die Augen zu streuen. Stalingrad wurde von einem tödlichen
Schicksalsschlag zu einem „Mahnruf des Schicksals an die deutsche Nation“ umgedeutet. Goebbels` „Wollt ihr den totalen Krieg ?“- Rede war dieser Mahnruf.
Der „totale Krieg“ ist nicht länger Sache der Streitkräfte, sondern eine Sache von
Völkern. Wie zuvor eine Truppe die andere möglichst vernichtend schlagen wollte,
so will im totalen Krieg ein Volk das andere vernichtend treffen. Joseph Goebbels
kannte das bereits 1935 erschienene Buch mit dem Titel „Der totale Krieg“ von E.
Ludendorff, der den Ersten Weltkrieg als den ersten dieser Völkerkriege bezeichnete:
„Das Wesen des totalen Krieges beansprucht buchstäblich die gesamte Kraft eines
Volkes, wie er sich gegen sie richtet.“ Ludendorff fordert als Voraussetzung für den
totalen Krieg die seelische Geschlossenheit des Volkes, die völlige Ausrichtung der
Wirtschaft auf den Krieg und den bedingungslosen und absoluten Gehorsam der
Soldaten und Bürger.
Die Rede
„Das im Nationalismus erzogene, geschulte und disziplinierte
deutsche Volk kann die volle Wahrheit ertragen. Es weiß, wie
schwierig es um die Lage des Reichs bestellt ist. Und seine
Führung kann es deshalb auch auffordern, aus der
Bedrängtheit der Situation die nötigen harten, wenn nötig auch
härtesten Folgerungen zu ziehen. Wir Deutsche sind
gewappnet gegen Schwäche und Anfälligkeit. Und Schläge und
Unglücksfälle des Krieges verleihen uns nur zusätzliche Kraft,
feste Entschlossenheit und eine seelische und kämpferische
49
Aktivität, die bereit ist, alle Schwierigkeiten und Hindernisse mit
revolutionärem Elan zu überwinden.
Das große Heldenopfer, das unsere Soldaten in Stalingrad
brachten, ist für die ganze Ostfront von einer
ausschlaggebenden geschichtlichen Bedeutung gewesen. Es
war nicht umsonst. Warum – das wird die Zukunft beweisen.
Ich habe die Aufgabe, Ihnen ein ungeschminktes Bild der Lage
zu entwerfen und darauf die harten Konsequenzen für das
Handeln der deutschen Führung, auch für das Handeln des
deutschen Volkes zu ziehen.
Wir durchleben im Osten augenblicklich eine schwere
militärische Belastung. Der Ansturm der Steppe gegen unseren
ehrwürdigen Kontinent ist in diesem Winter mit einer Wucht
losgebrochen, die alle menschlichen und geschichtlichen
Vorstellungen in den Schatten stellt. Die deutsche Wehrmacht
bildet dagegen mit ihren Verbündeten den einzigen überhaupt
in Frage kommenden Schutzwall. Es ist verständlich, dass wir
bei den großangelegten Tarnungs- und Bluffmanövern des
bolschewistischen Regimes das Kriegspotenzial der
Sowjetunion nicht richtig eingeschätzt haben. Erst jetzt
offenbart es sich uns in seiner ganzen wilden Größe.
Wir wissen damit also, vor welcher geschichtlichen Aufgabe wir
stehen. Eine zweitausendjährige der abendländischen
Menschheit steht in Gefahr. Man kann diese Gefahr gar nicht
ernst genug schildern, aber es ist auch bezeichnend, dass
wenn man sie nur beim Namen nennt, das internationale
Judentum in allen Ländern dagegen in lärmenden
Ausführungen Protest einlegt.
Die europäischen Staaten einschließlich Englands behaupten,
stark genug zu sein, einer Bolschewisierung des europäischen
Kontinents rechtzeitig und wirksam entgegenzutreten..
Diese Erklärung ist kindisch und verdient überhaupt keine
Widerlegung. Sie besitzen weder das Potenzial noch die
militärischen Machtmittel, noch die geistigen Voraussetzungen,
um dem Bolschewismus auch nur den geringsten Widerstand
entgegenzustellen. Sie würden im Bedarfsfall von seinen
motorisierten Roboterdivisionen in wenigen Tagen glatt
überfahren werden. Die geistigen Lähmungserscheinungen der
westeuropäischen Demokratien gegen ihre tödlichste
Bedrohung sind wahrhaft herzbeklemmend. Das internationale
Judentum fördert sie mit allen Kräften. Wenn das feindliche
Ausland wegen unseren Maßnahmen gegen das Judentum
heuchlerische Krokodilstränen vergießt, so kann uns das nicht
daran hindern, das Notwendigste zu tun. Deutschland hat
jedenfalls nicht die Absicht, sich dieser jüdischen Bedrohung zu
beugen, sondern viel mehr die, ihr rechtzeitig, wenn nötig unter
vollkommener und radikalster Ausrottung des Judentums,
entgegenzutreten. Wir lassen uns nicht durch das Geschrei des
internationalen Judentums in aller Welt in der mutigen und
aufrechten Fortführung des gigantischen Kampfes gegen diese
Weltpest beirren. Es kann und darf nur mit Sieg enden!
50
Das Ringen um Stalingrad wurde geradezu zu einem Symbol
dieses Widerstandes gegen den Aufruhr der Steppe. Im Osten
tobt ein Krieg ohne Gnade. Der Führer hat ihn richtig
charakterisiert, als er erklärte: Es werden aus ihm nicht Sieger
und Besiegte, sondern nur noch Überlebende und Vernichtete
hervorgehen.
Das deutsche Volk steht damit vor der ernstesten Frage dieses
Krieges, nämlich der: die Entschlossenheit aufzubringen, alles
einzusetzen, um alles, was es besitzt, zu erhalten, und alles,
was es zu späterem Leben benötigt, zu gewinnen. Terror wird
nicht mit geistigen Argumenten, sondern nur mit Gegenterror
gebrochen! Wir sind entschlossen, unser Leben mit allen
Mitteln zu verteidigen, ohne Rücksicht darauf, ob die uns
umgebende Welt die Notwendigkeit dieses Kampfes einsieht
oder nicht. Der totale Krieg ist also das Gebot der Stunde.
Es muss jetzt zu Ende sein mit den bürgerlichen
Zimperlichkeiten, die auch in diesem Schicksalskampf nach
dem Grundsatz verfahren wollen: Wasch mir den Pelz, mach
mich nicht nass.
Als ich in meiner Rede vom 30. Januar von dieser Stelle
aus den totalen Krieg proklamierte, schwollen mir aus den
versammelten Menschenmassen Orkane der Zustimmung zu.
Ich kann also feststellen, dass die Führung sich in ihren
Maßnahmen in vollkommenster Übereinstimmung mit dem
ganzen deutschen Volke in der Heimat und an der Front
befindet.
Das Volk will alle, auch die schwersten Belastungen auf sich
nehmen und ist bereit, jedes Opfer zu bringen, wenn damit dem
Siege gedient wird. Arm und reich und hoch und niedrig
müssen in gleicher Weise beansprucht werden . Jedermann
wird in dieser ernstesten Phase unseres Schicksalskampfes zur
Erfüllung seiner Pflicht der Nation gegenüber angehalten, wenn
nötig, gezwungen werden! Auch dabei wissen wir uns in
Übereinstimmung mit dem nationalen Willen unseres Volkes.
Die Front hat angesichts der übermenschlichen Opfer, die sie
täglich zu bringen hat, ein elementares Anrecht darauf, dass
auch nicht ein einziger in der Heimat das Recht für sich in
Anspruch nimmt, am Kriege und seinen Pflichten
vorbeizuleben.
Ich bin glücklich, dieses Programm des Sieges einem Volke
vortragen zu dürfen, das diese Maßnahmen nicht nur willig auf
sich nimmt, sondern sie fordert. Ich möchte aber zur Stunde
der Wahrheit an euch, meine deutschen Volksgenossen und
Volksgenossinnen, eine Reihe von Fragen richten, die ihr mir
nach bestem Wissen und Gewissen beantworten müsst. Ihr,
meine Zuhörer, repräsentiert in diesem Augenblick die Nation.
Ich frage euch: Glaubt ihr mit dem Führer und mit uns an den
endgültigen Sieg der deutschen Waffen? Seid ihr entschlossen,
dem Führer in der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn
und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen
Belastungen zu folgen?
51
Ich frage euch: Seid ihr bereit, mit dem Führer als Phalanx der
Heimat hinter der kämpfenden Wehrmacht stehend, diesen
Kampf mit wilder Entschlossenheit und unbeirrt durch alle
Schicksalsfügungen fortzusetzen, bis der Sieg in unseren
Händen ist?
Ich frage euch: Soldaten, Arbeiter und Arbeiterinnen, seid ihr
und das deutsche Volk entschlossen, wenn der Führer es
einmal in der Notzeit befehlen sollte, zehn, zwölf, wenn nötig
vierzehn und sechzehn Stunden täglich zu arbeiten und das
Letzte für den Sieg herzugeben?
Ich frage euch:. Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn
nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst
vorstellen können?
Ich frage euch: Vertraut ihr dem Führer? Ist eure Bereitschaft,
ihm auf allen seinen Wegen zu folgen und alles zu tun, was
nötig ist, um den Krieg zum siegreichen Ende zu führen, eine
absolute und uneingeschränkte?
Ich frage euch: Seid ihr von nun an bereit, eure ganze Kraft
einzusetzen und der Ostfront, unseren kämpfenden Vätern und
Brüdern, die Menschen und Waffen zur Verfügung zu stellen,
die sie brauchen, um den Bolschewismus zu besiegen?
Ich frage euch: Gelobt ihr mit heiligem Eid der Front, dass die
Heimat mit starker, unerschütterlicher Moral hinter der Front
steht und Ihr alles geben werdet, was sie zum Siege nötig hat?
Ich frage euch: Wollt ihr, dass die Regierung dafür sorgt, dass
auch die letzte Arbeitskraft, auch die der Frau, der Kriegführung
zur Verfügung gestellt wird und dass die Frau überall da, wo es
nur möglich ist, einspringt, um Männer für die Front
freizumachen?
Ich frage euch: Billigt ihr, wenn nötig, die radikalsten
Maßnahmen gegen einen kleinen Kreis von Drückebergern und
Schiebern, die mitten im Kriege Frieden spielen wollen und die
Not des Volkes zu eigensüchtigen Zwecken ausnutzen? Seid
ihr damit einverstanden, dass wer sich am Kriege vergeht, den
Kopf verliert? Und nun frage ich euch zuletzt: Wollt ihr, dass wie
das nationalsozialistische Parteiprogramm das vorschreibt,
gerade im Kriege gleiche Rechte und gleiche Pflichten
vorherrschen, dass die Heimat die schwersten Belastungen des
Krieges solidarisch auf ihre Schultern nimmt und dass sie für
hoch und niedrig und arm und reich in gleicher Weise verteilt
werden?
Ich habe euch gefragt, und ihr habt mir eure Antwort nicht
vorenthalten Ihr seid ein Stück Volk. Durch euren Mund hat sich
die Stellungnahme des Volkes vor der Welt manifestiert. Ihr
habt unseren Feinden das zugerufen, was sie wissen müssen,
damit sie sich keinen Illusionen und falschen Vorstellungen
hingeben. Somit sind wir, wie von der ersten Stunde unserer
Macht an durch all die zehn Jahre hindurch, fest und brüderlich
im deutschen Volke vereint.
52
Wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt
haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung. Wir
sehen ihn greifbar nahe vor uns liegen, wir müssen nur
zufassen! Wir müssen nur die Entschlusskraft aufbringen, alles
in seinem Dienste unterzuordnen; das ist das Gebot der
Stunde! Und darum lautet von jetzt ab die Parole: Nun Volk,
steh auf – und Sturm brich los!“
Anmerkungen zur nationalsozialistische Rhetorik
Drei Merkmale bestimmen im Wesentlichen die nationalsozialistische Rhetorik: Ihr
Stil ist dogmatisch, autoritär und manipulativ.
1. Der Nationalsozialismus strebte weniger danach, seine Ideologie wissenschaftlich
zu begründen und begrifflich durchzubilden. In der Propaganda dominiert die
emotionale Aktivierung der Massen. Der Redner wirkt nicht durch Argumente,
sondern durch apodiktische (unwiderlegbare) Behauptungen, die keinen Zweifel
an der Lehre bei den Zuhörern aufkommen lassen dürfen. Der Redner
beansprucht für sich auszusprechen, was alle dachten und als gute Deutsche
auch zu denken hatten. Die Argumentation entzieht sich der Befragbarkeit und
wird zur ideologischen Setzung, zum Dogma.
2. Die Propaganda des Nationalsozialismus bedient sich der
massenpsychologischen Gesetzmäßigkeit der Reklame; die Mittel der
Wiederholung, Steigerung und Vereinfachung werden auf die Spitze getrieben.
Mit schroffer Antithetik wird der Gegner abgewertet, die Ziele der eigenen
Bewegung als höchste Aufgaben ausgegeben und eine grandiose Hoffnung auf
eine ganz neue Gesellschaft verkündet. In der Behandlung der Feinde kennt die
Sprache keine Grenze, keine Vorbehalte. Die offene, aggressive Strategie der
Diffamierung zeugt von Selbstgerechtigkeit und fanatischer Überzeugtheit.
Anstelle einer differenzierten politischen Analyse tritt eine vergröbernde SchwarzWeiß-Klassifizierung.
3. Mit der Begrenztheit der politischen Inhalte korrelieren sprachliche
Formelhaftigkeit, Wiederholungen von Gedanken, markante Bilder, Symbole und
Slogans. Der Slogan beispielsweise vereinfacht die Wirklichkeit und ist in seiner
appellativen Funktion, die aus den angelagerten Gefühlswerten resultiert,
besonders geeignet, , Aufmerksamkeit zu erwecken, die Symbolwelt der Gegner
zu unterminieren und die eigene als die richtige herauszustellen. Hitlers Intoleranz
gegenüber seinen Feinden und seine Überzeugung von der Richtigkeit der
eigenen Ideen äußern sich im Wortfeld der fanatischen Unduldsamkeit: absolut,
total, gesamt, radikal, ausschließlich, bedingungslos, kompromisslos,
rücksichtslos, unerschütterlich, entschlossen, unerbittlich. An die Einheit der
Partei appelliert Hitler mit den Symbolen der Geschlossenheit und Festigkeit: treu,
Geschlossenheit bis zum Alleräußersten, stark, mächtig, gehärtet wie Kruppstahl,
eingeschworen, Zusammenhalt wie Pech und Schwefel. Diese Symbole der
Einheit, Ordnung, Disziplin und Tatkraft sind Argumente für den sicheren Sieg des
Nationalsozialismus in der Zukunft in der Zukunft, aber auch Imperative an die
Zuhörer.
4. Entsprechend dem Eklektizismus (aus verschiedenen Denksystemen das
53
„Passende“ herausnehmen und zusammenmengen) seiner Ideologie lehnt der
Nationalsozialismus sich an die innerhalb der Arbeiterschaft mit positiven
Wertgefühlen besetzten Symbole an, die ebenso national-konservative und
völkische Kreise ansprachen: Volkstum, völkisch, organisch, Vaterland,
Volksgemeinschaft, Ordnung, germanisch-sozial, Genosse, Arbeiter, Kapitalist,
Fortschritt, Freiheit, Vernunft. Da das Hitler’sche Arsenal politischer Losungsworte
Elemente aus dem breiten Spektrum des ideologischen Wortschatzes für sich
okkupierte und die Bedeutung der einzelnen Begriffe zudem wenig fixiert war,
öffnete sich die Möglichkeit, dass sich Zuhörer aus ganz verschiedenen sozialen
Gruppen mit den Aussagen oder wesentlichen Teilen derselben identifizieren
konnten.
Konrad Weiß: Rechtsradikalismus und Gewalt in Deutschland
„Ich schäme mich. Ich schäme mich, Deutscher zu sein. Ich schäme
mich in einem Land zu leben, das eine Mauer der Gewalt, der
Gefühllosigkeit, der Selbstsucht um sich baut. Ich schäme mich, in
einem Land zu leben, in dem Menschen Beifall klatschen, wenn
Menschen angegriffen, verletzt, vertrieben werden. Ich schäme mich,
Mitbürger von Feiglingen zu sein, die Kinder und Frauen schlagen und
drangsalieren, und die Jagd auf jene Menschen machen, die bei uns
Zuflucht und Hilfe suchen oder anders sind.
Zehn Menschen wurden in diesem Jahr vom Rechtsradikalen getötet.
Hunderte wurden geschlagen, getreten, verletzt. Tag für Tag werden
Menschen, die eine andere Hautfarbe haben oder eine fremde
Sprache sprechen, diskriminiert, benachteiligt, geschändet. Mehr als
1300 rechtsradikale Gewaltakte wurden bis Ende September in
Deutschland verübt. 400 Mal wurden Bomben oder Brandflaschen auf
Asylbewerberheime oder in die Wohnungen von Ausländern geworfen.
Auch ausländische Diplomaten, Kaufleute und Touristen sind sich
ihres Lebens im Land der Deutschen nicht mehr sicher. An jedem Tag
dieses Jahres wurden Synagogen und jüdische Gräber geschändet,
360 Mal in zwölf Monaten. Und die meisten Deutschen stehlen sich
davon und schweigen. Was ist das nur für ein Land, in dem
Hunderttausende auf die Straße gehen, wenn ihnen der Bau eines
Flugplatzes oder eines Atomkraftwerkes missfällt, die aber von einer
kollektiven Lähmung befallen scheinen, wenn es um das Leben
ausländischer Mitbürger geht. Gerade einmal 5000 Berliner und
Brandenburger haben am vergangenen Wochenende den Weg zur
verbrannten jüdischen Baracke in Sachsen-hausen gefunden, 5 000
von fünf Millionen.
Es gibt keine Entschuldigung für das, was heute in Deutschland
geschieht und was wir heute in Deutschland dulden. Weder der
mühsame Prozess der Wiedervereinigung noch unsere schmerzliche
Ernüchterung, weder die Arbeitslosigkeit noch die sozialen Nöte
rechtfertigen die aktive und passive Fremdenfeindlichkeit. Weder die
unbewältigte Vergangenheit noch die Deformierungen aus sechzig
Jahren Diktatur dürfen als Entschuldigung dafür dienen, dass
Menschen wie Tiere über Menschen herfallen. Durch nichts kann
diese tausendfache Gewalt gegen schutzlose Menschen gerechtfertigt
54
oder entschuldigt werden. Diese Fremdenfeindlichkeit so vieler
Deutscher ist keine krankhafte Verhaltensstörung, die der
rücksichtsvollen Therapie bedarf, sondern eine Unmenschlichkeit, die
unentschuldbar ist.
Haben wir Ostdeutschen aus 40 Jahren Unterdrückung und
Eingesperrtsein wirklich nichts anderes gelernt als Ausgrenzen,
Aussperren, Ausstoßen? Und ist die westdeutsche Demokratie nach
40 Jahren wirklich so schwach und verkommen, dass sie sich nicht zu
wehren weiß? 813 fremdfeindliche Ausschreitungen wurden bis Ende
September in Westdeutschland registriert – fast doppelt so viel wie in
Ostdeutschland.
Unsere Demokratie muss sich wehren. Wir dürfen es nicht hinnehmen
und dulden, dass der Name Deutschlands wieder und wieder von
radikalen Gewalttätern beschmutzt wird. Jede und jeder in unserem
Land muss unsere Demokratie verteidigen. Das beginnt mit
scheinbaren Kleinigkeiten, die aber so viel Mut, Wachheit und
Zivilcourage erfordern:
Denn es braucht Mut, dem Kollegen oder Taxifahrer, der von
„Kanaken“ spricht oder fremdenfeindliche Witze erzählt, über den
Mund zu fahren. Und es braucht genauso Mut, denen
entgegenzutreten, die Polizisten als „Bullen“ beschimpfen oder sie bei
ihrer Arbeit zum Schutz von Mitbürgerinnen und Mitbürgern behindern.
Es braucht Courage, nicht wegzusehen oder sich davonzuschleichen,
wenn Menschen beleidigen und misshandeln oder wenn Steine und
Brandflaschen geworfen werden. Es braucht Courage, dem Nachbarn,
der zum Sturm auf Ausländer Beifall klatscht, in aller Eindeutigkeit zu
sagen, was man von ihm hält. Oder den Feiglingen, die sich
vermummen, die Maske vom Gesicht zu reißen. Ich kann auch diese
so genannten Antifaschisten nicht ernst nehmen, die nicht einmal den
Mut haben, mit ihrem Namen und Gesicht für ihr Handeln einzustehen.
Es braucht staatsbürgerliche Verantwortlichkeit, nicht schweigend zu
dulden, wenn Verfassungsfeinde ihre Fahnen und Symbole zeigen
und ihre wirren Reden halten, sondern Anzeige zu erstatten und
Polizei und Justiz zum konsequenten Handeln aufzufordern.
Am vergangenen Wochenende marschierten in Dresden 500
Neonazis auf und hatten dabei den Arm zum Hitlergruß erhoben;
Fernsehaufnahmen belegen dies. Dennoch schritt die Polizei nicht ein.
Ein Polizeisprecher sagte, dass es keine Hinweise auf strafrechtlich
relevante Handlungen gegeben habe. Gilt der §86a des
Strafgesetzbuches in Dresden denn nicht? Ich fordere den
sächsischen Innenminister auf, jene Beamte, die gegen die
Verwendung der verfassungsfeindlichen Symbole nicht pflichtgemäß
eingeschritten sind, zur Verantwortung zu ziehen. Wir müssen unsere
Demokratie radikal verteidigen, radikal, aber mit friedlichen Mitteln, mit
den Mitteln des gewaltfreien Widerstands, mit den Mitteln des Rechts.
Ich unterstütze nachdrücklich den Vorschlag unseres Kollegen
Wolfgang Ullmann, internationale Künstlerinnen und Künstler zum
Boykott der Kunststadt Dresden aufzurufen, wenn dort erneut ein
Aufmarsch von Rechtsradikalen geduldet werden sollte. Ich rufe meine
Mitbürgerinnen und Mitbürger in Brandenburg auf, die
Jahrtausendfeier unserer Landeshauptstadt Potsdam zu boykottieren,
55
solange das Land Brandenburg eine Hochburg der Intoleranz ist und
ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger dort nicht in Frieden und
Sicherheit leben können. Städte und Gemeinden, in denen radikale
Gewalttäter aufmarschieren oder sich in Festsälen und Gasthäusern
versammeln dürfen, sollten wir meiden. Wer Rechtsradikalen aus
Gewinnsucht oder Feigheit Unterschlupf bietet, soll wissen, dass er
sich selbst isoliert.
Unsere Demokratie muss sich wehren. Dazu gehört auch, dass der
Rechtsstaat das Recht verteidigt, unparteiisch und konsequent.
Polizeibeamte, die der Ermordung eines ausländischen Mitbürgers
aus sicherer Entfernung tatenlos zusehen, wie es in Eberswalde
geschah, sind pflichtvergessene Schufte, die bestraft werden müssen.
Staatsanwälte, die Terroristen wenige Stunden nach einem
versuchten Mord oder Anschlag wieder auf freien Fuß setzen, sind
nicht minder gemeingefährlich als jene Kriminelle. Und der Richter, der
fünf Mörder zu wenigen Jahren Jugendstrafe verurteilte, nur weil nicht
erkennbar war, wessen Stiefeltritt das Opfer tatsächlich getötet hat,
hat sich selbst zum Mittäter gemacht. Ich bin kein Jurist, aber ich
meine, wenn Terroristen in der Absicht losziehen, Menschen
„aufzuklatschen“, wie es in ihrer schrecklichen Gewaltsprache heißt,
oder Bomben zu legen, dann ist der Tod von Menschen
gemeinschaftlich gewollt und gemeinschaftlich verübt. Das allein muss
das Strafmaß bestimmen.
Wir brauchen in Deutschland keine neuen Gesetze, sondern die
konsequente Anwendung der gegebenen. Oder ist in diesem Land
das Leben eines deutschen Politikers oder Industriellen mehr wert als
das eines angolanischen Gastarbeiters oder eines rumänischen
Asylbewerbers?
Warum werden linksradikale Terroristen lebenslang in Hochsicherheitsgefängnissen verwahrt, rechtsradikale Terroristen aber nach
verübten Anschlägen wieder auf freien Fuß gesetzt? Eine der
Ursachen des Unheils, das wieder über Deutschland gekommen ist,
ist die Bejahung der Gewalt. Die Barbarei der Rechtsradikalen wird
aus den vielen kleinen Gewalttätigkeiten gespeist, an die wir uns
gewöhnt haben und die wir fast widerstandslos hinnehmen. Wir haben
es nur ungenügend gelernt, Konflikte gewaltfrei zu bewältigen, im
Kleinen genauso wie im Großen.
Wir dulden die Gewalt im Straßenverkehr und die Gewalt der
Erwachsenen gegen die Kinder. Wir akzeptieren, dass Gewalt gegen
Frauen als Kavaliersdelikt angesehen wird. Wir nehmen die
vielfältigen, die verbalen oder handgreiflichen Gewalttätigkeiten gegen
Minderheiten und Andersdenkende gedankenlos hin. Wir dulden unter
dem Vorwand, die Freiheit der Kultur zu schützen, dass uns und
unseren Kindern unentwegt die scheußlichsten Gewalttaten vorgeführt
werden. Es ist die Saat dieser vielfältigen Gewalt, die nun aufgeht.
Unsere Demokratie, unser Land können wir nur durch eine große
Koalition der Menschlichkeit vor dem Rückfall in Barbarei und
Totalitarismus bewahren. Diejenigen, die heute „Neger aufklatschen“,
werden morgen uns und unsere Familien foltern und töten. Sie
werden, wenn wir sie gewähren lassen, nicht danach fragen, ob wir
Sozialdemokraten oder Kommunisten, ob wir christliche oder liberale
56
Demokraten, ob wir Grüne oder Bürgerrechtler sind. Wir werden uns
gemeinsam in ihren Vernichtungslagern wiederfinden, so wie es auch
1933 geschah, wenn wir sie weiter gewähren lassen, wie bisher.
Mancher von uns steht doch schon heute auf ihren Todeslisten.“
Konrad Weiß, MdB, Rede im Deutschen Bundestag am 8. Oktober
1992 (gesprochener Text)
Hans-Olaf Henkel : Globalisierung als Herausforderung für eine neue
Innovationspolitik
Rede zur Eröffnung der IAA in Frankfurt am 19. September 1997 (Auszug)
Wer sich auf der Internationalen Automobilausstellung auch nur ein
wenig umschaut, dem kann nicht entgehen, wie sehr gerade die
Automobilindustrie, eine der wichtigsten und traditionsreichen
Industriebranchen in Deutschland, auf Innovationen setzt. Das Auto
wurde zwar schon vor über 100 Jahren erfunden, aber mit jeder neuen
Fahrzeug-Generation wächst der Fahrkomfort, gibt es mehr
Fahrsicherheit, sinkt der Benzinverbrauch pro gefahrenen Kilometer,
wird der Abgasausstoß verringert und vieles mehr. Innovationen
prägen die Automobilindustrie seit ihrem Bestehen und daher spreche
ich gerne hier auf der diesjährigen IAA mit Ihnen über die
Herausforderungen einer neuen Innovationspolitik,
Herausforderungen, die vor allem aus der rasanten Globalisierung
resultieren.(....)
Wozu brauchen wir überhaupt Innovationen? Schauen wir uns dazu
die deutsche Automobilindustrie an: Deutsche Autos werden
heutzutage überall in der Welt produziert. Viele Modelle werden an
einem bestimmten Ort aus Teilen zusammengesetzt, die jeweils zu
einem bemerkenswerten Prozentsatz wieder irgendwo anders auf dem
Globus produziert worden sind. „Made in Germany“ ist so durch
„Made by Mercedes, made by BMW oder made by Volkswagen“
ersetzt worden. Direktinvestitionen, strategische Allianzen und „global
sourcing“ haben in allen großen Industriebranchen Deutschlands zu
einer starken internationalen Produktionsverflechtung geführt.
Multinationale Unternehmen optimieren die Wertschöpfungskette über
den gesamten Globus. Auch kleine und mittlere Unternehmen wagen
zunehmend den Schritt ins Ausland.
Wenn Deutschland in diesem globalen Standortwettbewerb als
Hochlohnland bestehen will, ist es auf innovative Vorsprünge in
ausreichender Zahl angewiesen. Wir können als rohstoffarmes Land
gutes Geld nur mit innovativen Produkten und Dienstleistungen
verdienen. Sie sind die einzige und daher unverzichtbare Quelle
unseres Wohlstandes.
Innovationen sind Kernelement unserer Konkurrenzfähigkeit – vor
allem als Exportnation – und damit Voraussetzung für die Schaffung
zukunftssicherer Arbeitsplätze. Wir brauchen Innovationen vor allem in
Bereichen, in denen mit den am schnellsten wachsenden Märkten von
morgen zu rechnen ist. Der Erfolg der innovativen deutschen
Automobilindustrie macht es uns vor. Wir brauchen aber auch
57
Innovationen in so zukunftsträchtigen Bereichen wie der
Informationstechnologie und der Biotechnologie. Dabei muss klar sein:
Innovationen sind keine Alternative zu Rationalisierung,
Kosteneffizienz oder gar einer rationalen Lohn- und Abgabenpolitik.
Auch innovative Produkte werden an den günstigsten Standorten
gefertigt werden.(....)
Was muss sich ändern? Lassen Sie mich vorneweg sagen: Wir
müssen an vielen Stellschrauben gleichzeitig drehen. Es hat gar
keinen Zweck, dass wir die Diskussion nur auf die Steuern lenken
oder nur auf die Löhne oder nur auf die Lohnzusatzkosten. Oder nur
auf die Bürokratie, sondern wir müssen jedem klarmachen, dass wir
überall gleichzeitig schalten und drehen müssen.(....)
Was muss eigentlich in unserer Gesellschaft insgesamt geschehen?
Glücklicherweise haben wir einen neuen, wichtigen Mitstreiter. Das ist
der Bundespräsident. Die Berliner Rede des Bundespräsidenten halte
ich persönlich für eine der wichtigsten in den letzten Dekaden. Ich
glaube, sie ist wichtig, erstens, weil hier an oberster Stelle der
Reformstau sozusagen noch einmal amtlich bestätigt wurde, denn der
wurde ja von der Regierung negiert. Zweitens, weil er das Verteidigen
von Besitzständen gegeißelt hat. (......)
Mein letzter Punkt: die Visionen.
Um die Bereitschaft für Reformen in Deutschland zu fördern, müssen
wir den Menschen sagen, wohin es gehen soll. Wir haben deshalb im
Präsidium des BDI beschlossen, uns an der Formulierung einer
solchen Vision zu beteiligen. Wir wollen beschreiben, wie im Idealfall
die deutsche Gesellschaft im Jahre 2010 aussehen kann. Wir haben
das Projekt in neun Felder eingeteilt, darunter Themen wie die mobile
Gesellschaft, die vitale Gesellschaft oder die Informationsgesellschaft.
Wie müssen die Sozialversicherungssysteme aussehen? Oder die
Wissensgesellschaft, das wichtige Thema Bildung? Oder die
umweltfreundliche Gesellschaft?
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einem Zitat schließen.
You never solve the problem by putting it on ice. – Darum geht`s.- Ich
danke Ihnen.
Felix Rexhausen: 40 Jahre Glasers Fruchtbonbons
Herr Ministerpräsident, meine Herren Minister, Herr
Regierungspräsident, Herr Oberbürgermeister, hochansehnliche
Festversammlung!
Als heute vor genau vierzig Jahren Hermann Glaser der kleinen
Angelika Hoffmann, die dort in einem Denkmal verewigt ist, einen von
ihm halb im Spaß verfertigten Fruchtbonbon in den Mund steckte und
das Kind begeistert „Aah!“ rief, da hat wohl noch niemand geahnt,
dass wir heute, genau vierzig Jahre später, in so großartigen
Werksanlagen aus aller Welt uns einfinden würden, um gemeinsam
der seither verflossenen vier Jahrzehnte festlich zu gedenken und
dieses Werk und seine Schöpfer zu ehren. (Beifall)
Vierzig Jahre- das ist im geschichtlichen Ablauf ein langer Zeitraum.
Die Stürme der Weltwirtschaftskrise, der Machtergreifung, des Zweiten
58
Weltkrieges und der Währungsreform haben Glasers Fruchtbonbons
umtost – sie aber trotzten allen Widrigkeiten und jedes Mal, wenn die
zerstörenden Fluten zurückwichen, dann erhoben sie sich wie ein
Phönix aus der Asche! Das ist vor allem und über allem das Verdienst
Hermann Glasers. Sein Wahlspruch „Stets Qualität, aber die
preiswert“ half ihm und seinen Bonbons über alle schweren Zeiten
hinweg. In Notzeiten die Preise nicht senken, in guten Zeiten sie nur
erhöhen, wenn notwendig, zugleich aber immer so billig produzieren
wie möglich – das waren und sind die erfolgreichen Maximen dieses
wahrhaften Pioniers einer freiheitlichen Wirtschaft, dieses
Unternehmers, wie können wohl sagen: par excellence! (Beifall)
40 Jahre Glasers Fruchtbonbons – das heißt zugleich: 40 Jahre
rastloser Entwicklungsarbeit, die immer wieder zeigte, dass es an
Glasers Fruchtbonbons nichts zu verbessern gibt; denn wirklich:
Hermann Glasers Methode und Rezept waren vom ersten Tage an
vollkommen. Was immer weiter verfeinert wurde, das war die
Verwendung der künstlichen Substanzen statt der soviel
aufwendigeren natürlichen Stoffe, und war die immer neue Anpassung
des Geschmacks an den Zeitgeschmack, ja die den künftigen
Geschmack regelmäßig vorausahnende aktive Mitgestaltung des
Zeitgeschmacks! Dabei war die Devise von Glasers Fruchtbonbons
stets: Nicht das Neue, sondern das Bessere – Fortschritt, nicht Mode!
(Beifall)
40 Jahre Glasers Fruchtbonbons, das heißt aber auch: 40 Jahre
unermüdlicher Werbung, 40 Jahre sozialer Einstellung gegenüber den
hier Beschäftigten, 40 Jahre Dienst am verbrauchenden Menschen!
(Beifall)
Denn Glasers Fruchtbonbons haben ihre Wurzeln tiefer als nur in der
hervorragenden Unternehmerpersönlichkeit Hermann Glasers. Sie
haben ihre Wurzeln vor allem in seiner zutiefst ethischen Gesinnung.
In einer familienfeindlichen Zeit der Familie zu helfen, in einer Zeit, da
Deutschland verachtet war, durch seine Fruchtbonbons dem
deutschen Namen in aller Welt wieder Klang und Würde zu geben –
das waren und sind die eigentlichen und ich darf sagen: die wohl
stärksten Antriebe im Werk Dr. h. c. Hermann Glasers. Dass er
daneben und neben seinen zahlreichen öffentlichen Ämtern noch die
innere Muße gefunden hat, als leidenschaftlicher Jäger sich sein
starkes Interesse an der Kunst zu erhalten und eine große Sammlung
von Jagdbildern anzulegen, das rundet das Bild und das Werk dieser
erstaunlichen Persönlichkeit, die ganz aus einem Guss ist, in
großartiger Weise ab.
Aber schauen wir nicht nur zurück, schauen wir in die Zukunft: Und so
sei Hermann Glaser, ja uns allen, zum heutigen Tage gewünscht,
dass seine Fruchtbonbons noch viele weitere 40 Jahre um die Welt
gehen und er selbst seine Kraft dem Dienst am Menschen an unserer
gesamten Wirtschaft noch lange widmen möge! Schluckauf! (Großer
Beifall).
(Aus: Felix Rexhausen, Mit deutscher Tinte, Fischer-Bücherei 880, S.
112ff.)
59
Rede im Betrieb
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!
„Jahre lehren mehr als Bücher“, sagt der Volksmund. Er hat Recht!
Wir können aus den Büchern unseres Betriebes eine Menge Zahlen
herauslesen, die als Aktiva oder Passiva der vergangenen zwölf
Monate schwarz auf weiß festgehalten wurden. Nur schwer
herauslesen aber können wir aus diesen Büchern die Leistungen des
Einzelnen während des Jahres, das nun hinter uns liegt. Als Leiter der
Firma kenne ich diese Leistungen jedoch - und danke Ihnen dafür!
Wenn man sich in unserem Haus umschaut, sieht man mehr, als
Bücher verraten können. Sie alle haben auch im verflossenen Jahr
getan, was Sie konnten, um die Aufwärtsentwicklung des Betriebes
weiter zu fördern.
Wenn es dabei mitunter zu kleinen Problemen oder Ärgernissen
gekommen ist, die im Zuge der Weiterentwicklung nicht zu vermeiden
waren – wir wollen sie vergessen und uns jetzt nur noch der recht
beachtlichen Erfolge freuen! Jeder von Ihnen weiß, wie schwierig es
heutzutage ist, sich im Konkurrenzkampf am Markt zu behaupten.
Wenn wir uns auch im letzten Jahr behauptet haben, dann war das
keine Glückssache, sondern es lag einzig und allein an Ihnen! Jede
Stunde fleißiger Arbeit an der Verladerampe, am Fließband, an der
Schreibmaschine und nicht zuletzt im Außendienst hat ihren Lohn
eingebracht und Früchte getragen. Sie hat uns aber gleichzeitig auch
noch enger miteinander verbunden als eine große Gemeinschaft, in
der jeder seine Pflichten erfüllt – zum Nutzen aller! „Das vorige Jahr
war immer besser!“ – heißt das zweite Sprichwort, über das es sich
lohnt nachzudenken. Es ist ein Zitat, das einen gewissen Pessimismus
ausdrückt. Lassen wir diesen Pessimismus bei uns aber gar nicht erst
aufkommen! Sagen wir lieber optimistisch: Das vergangene Jahr war
gut, aber die kommenden zwölf Monate sollen noch erfolgreicher
werden! An jedem Schreibtisch, vor jeder Werkbank und überhaupt in
jeder Abteilung der Firma wollen wir so denken und handeln, um auch
in Zukunft Ergebnisse erzielen zu können, mit denen wir zufrieden
sind.
Und noch ein drittes Zitat gibt es, das ich hier anführen möchte! Es
heißt: „Das Jahr hat ein weites Maul und einen großen Magen!“ Es
weist uns darauf hin, dass wir auf unseren Lorbeeren nicht ausruhen
dürfen, dass uns neue Aufgaben erwarten und das wir diese Aufgaben
bewältigen müssen, wenn wir nicht wollen, dass die Zeit uns
überrundet und schlägt. Nun gut, meine Damen und Herren, stopfen
wir dem kommenden Jahr das Maul und füllen wir ihm den Magen. Wir
wollen das ja nicht deshalb tun, weil wir der Zukunft trotzen müssen,
sondern wir wollen es tun, weil wir alle den Wunsch haben, in
Sicherheit und Wohlstand zu leben. Ich danke Ihnen noch einmal
dafür, dass Sie auch in den vergangenen zwölf Monaten Ihre Pflicht
und oft mehr getan haben – jeder Einzelne im Dienst am Ganzen.
(aus: Studer, Jörg: Erfolgreich Reden halten. Mit vielen Musterreden; !999, S. 280/1)
60
Die Festtagsrede
1. Die politische Rhetorik, die untrennbar mit der Demokratie verbunden ist, dient im
Idealfall der Wahrheitsfindung und der Meinungsbildung; sie setzt also demokratische
Freiheiten voraus.
2. Die Festtagsrede ist eine rhetorische Zweckform. Sie hat eine bestimmte Tradition,
die die Form festlegt. Der Festredner zeigt keine Neigung, selbst wenn er auf
Veränderung abzielt, den bestehenden und als schlecht erkannten Verhältnissen
zu widersprechen - es sei denn aus dem Geist der konservativen Kulturkritik. Eine
Festtagsrede ist immer systemstabilisierend.
3. Die Festtagsrede ist durch eine generelle Friedfertigkeit gegenüber den
herrschenden gesellschaftlichen Zuständen gekennzeichnet; sie will nicht in
Frage stellen, sondern Ruhe, sie will nicht anklagen, aufrütteln, sondern zähmen,
beschwichtigen. Die Festtagsrede ist eine elegante Form gesellschaftlicher
Bestätigung, Bestätigung des Bestehenden und Selbstbestätigung.
4. Die Bereitschaft, Bestehendes zu akzeptieren, wird auch in der Sprache erkennbar. Hier werden immer wieder gestanzte Begriffe und Wendungen reproduziert,
die einmal vorformuliert endlos weiterverwendbar sind. Die Festrede ist in der
Regel Nachrede, ein Fertigprodukt fixer Phrasen - je nach Anlass oder Situation:
freudig, besinnlich, traurig oder stimmungsvoll.
5. Festtagsreden sind auf Widerspruchsfreiheit angelegt, auf störungsfreien Ablauf.
Sie läuft ab wie ein Ritual, ein inszeniertes Geschehen nach bestimmten Regeln.
Konflikte zwischen den Teilnehmern werden neutralisiert, gesellschaftliche
Antagonismen werden ausgeklammert; alle Teilnehmer werden in die rituelle
Gemeinschaft einbezogen. Harmonisierung ist das Ziel, Problematisierung bleibt
unerwünscht. Harmonische Solidarität tritt an die Stelle von Reflexion, Selbstreflexion und Kommunikation.
6. Die unbequeme Alltäglichkeit wird ausgeklammert, Faszination statt Information
geliefert; die graue Realität wird aufgehoben, zum Verschwinden gebracht oder auf
eine höhere, weniger belastende Ebene transportiert. Der Gegensatz von Festredesituation und Alltagssituation ist typisch für diese Form. Die Bewusstseinsspaltung im Redner ist kalkuliert, weil er weiß, was die Öffentlichkeit hören will,
nämlich Phrasen, die sie bestätigen und nicht in Frage stellen. Der Festtagsredner
ist ein kalkulierter Opportunist gegenüber dem Publikum. Er baut ein Reich
scheinbarer Einheit und scheinbarer Freiheit auf, indem die Widersprüche des
Alltags befriedet werden sollen.
Aus der Illusion dieser ewig besseren, wertvolleren Welt erlangt die Festrede ihre
erhebende Würde. Die Menschen können sich glücklich fühlen, auch wenn sie es
gar nicht sind.
Mit dem Bestehenden findet man sich ab, da es ja eine höhere Welt gibt.
7. Die Lügenhaftigkeit der Festrede geht weniger auf den Redner als auf die zur
Verfügung stehende Sprache zurück. Gerade die Festrede zeigt, dass die
gesellschaftliche Tradition hier eine Sprachtradition ist. Aber was ist es
eigentlich, was den Festredner immer wieder zur Lügensprache greifen lässt?
Die da redend ihre Interessen wahren, indem sie erhaben Konflikte hinter
61
sich lassen, folgen dabei herrschenden Denk- und Redensarten. Und diesen
kommt Ideologie-Charakter zu. Lügen die Festredner, so erweisen sie sich als
Ideologie-träger und wirken systemstabilisierend: Festreden haben sozial
konservativen Charakter, und darin besteht ihr Lügencharakter.
8. Damit steht fest: Festreden sind politische Reden, auch wenn sie einen
angeblich unpolitischen Charakter vortäuschen. Die politische Wirkung des
Unpolitischen zielt gerade auf die feierliche Erhaltung des Status quo. Schon
immer hat, wer unpolitisch sich gab, am besten manipulieren können. Die
auf Widerspruchsfreiheit angelegte Atmosphäre wirkt derart, dass unter
ihrem Deckmantel allgemein gültige Vorurteile und Lügen verbreitet werden
können. Die Intention dessen, was gesagt wird, wenn nichts zu sagen ist, ist
also von einem politischen Interesse begleitet.
Dieter Hildebrandt : Der Mond
Eine Bundestagsrede, frei nach Matthias Claudius
Der Mond, meine Damen und Herren,
und das möchte ich hier in aller Offenheit sagen,
ist aufgegangen,
und niemand von Ihnen, meine Damen und Herren, wird mich daran hindern, hier mit
aller Entschlossenheit festzustellen:
die goldnen Sterne prangen
am Himmel und das, meine Damen und Herren, sei hier in aller Deutlichkeit gesagt, so wie meine
Freunde und ich uns immer zu allen Problemen geäußert haben:
hell und klar!
Und ich scheue mich auch nicht, hier an dieser Stelle ganz konkret zu behaupten:
Der Wald steht schwarz
und ich möchte hinzufügen dürfen, Herr Bundeskanzler (Blick auf den
Bundeskanzler)
und schweiget!
Und hier sind wir doch alle aufgerufen, die uns tief bewegende Frage an uns zu
richten: wie geht es denn weiter, meine Damen und Herren?
Nun habe ich den Mut, meine Damen und Herren, Ihnen hier freimütig zu bekennen:
und aus den Wiesen steiget das, was meine Reden immer ausgezeichnet hat:
der weiße Nebel wunderbar!
Aufgaben:
1. Streichen Sie das Gedicht „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius aus
dem Text heraus. Was bleibt von der Rede übrig? (Claudius’ Gedicht finden Sie
auf der nächsten Seite)
2. Diese Bundestagsrede ist natürlich keine Rede im üblichen Sinne. Welcher
Textform würden Sie Hildebrandts „Rede“ zuordnen?
3. Was will Hildebrandt Ihrer Auffassung nach mit seiner Rede sagen?
62
Abendlied
Matthias Claudius
Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
(Das ist die 1. Strophe des sieben Strophen umfassenden Gedichtes.)
63
64
Erörterung
Die steigernde Erörterung
Die dialektische Erörterung
65
67
82
Erörterung
1. Definition
Erörterung meint die Auseinandersetzung mit einer Sachfrage, einer These, einem
Problem oder einer Meinung.
Jeder Mensch ist tagtäglich gezwungen, sich mit bestimmten Fragen, Problemen
oder Erfahrungen auseinander zu setzen, zwischen Alternativen eine Entscheidung
zu treffen, Einigung in Streitfragen herzustellen, Situationen zu überdenken und zu
be- urteilen, sich über Sachverhalte klar zu werden, sie zu den eigenen Kenntnissen
in Beziehung zu setzen und persönlich Stellung zu nehmen.
Die Erörterung dient dazu, Einstellungen zu finden, Meinungen zu vertreten, Urteile
zu bilden und zu begründen, Entscheidungen zu treffen und Kritik zu üben. Erörtern
nennt man jenes Überlegen, Vergleichen und Abwägen, das einem Urteil, einer Entscheidung vorausgeht.
2. Arten
Folgende Arten der Erörterung werden unterschieden:
die sachbezogene Erörterung:
formuliert
die dialektische oder problembezogene Erörterung:
die Problemerörterung anhand
von Texten:
hierbei ist das Thema als Sachfrage
(z.B. Wie stellen Sie sich eine sinnvolle
Freizeitgestaltung vor?)
hierbei ist das Thema als Wertfrage gestellt
(z.B. Ist die Werbung Orientierungshilfe
oder Instrument der Massenmanipulation?)
sie hat einen Text zur Grundlage, in dem
sich ein Verfasser zu einem Problem äußert
und eine bestimmte Meinung vertritt, z.B.
zu Goethes „Faust“
3. Voraussetzungen
Die Grundvoraussetzungen jeder Erörterung sind gute Sachkenntnisse und eine
fundierte Argumentation. Argumentieren heißt: seine Behauptungen oder Meinungen
begründen und beweisen. Überzeugungskraft erhalten Argumente nur dadurch, dass
sie durch Begründungen gestützt werden. Eine vollständige Begründung (Argumentation) umfasst Argument, Beweis und Beispiel.
4. Methodik
Wenn die Erörterung auf fundierten Argumentationen basiert, dann ergibt sich, dass
jede Erörterung einen klaren, übersichtlichen und folgerichtigen Aufbau haben muss.
Erörterungen sind zielgerichtet; sie sollen zu einem Urteil, zu einer Entscheidung führen. Der Weg zu diesem Ziel, also das methodische Vorgehen, ist durch logische
Einzelschritte (Argumentationen) charakterisiert. Je nach Art der Erörterung sieht
die Methodik anders aus.
66
Die steigernde Erörterung
Bei der steigernden Erörterung wird die Argumentationsreihe nach Gewichtigkeit
geordnet: Das voraussichtlich wirksamste Argument steht am Ende, sodass für den
Adressaten / Leser eine inhaltliche Steigerung gegeben ist.
Was verlangt eine solche Erörterung von Ihnen?
Der Schulaufsatz ‘Erörterung’ ist eine schriftliche Auseinandersetzung mit einem
Thema oder Sachverhalt. Hierzu sollen Argumentationen übersichtlich angeordnet
und folgerichtig aufgebaut werden. Das Ziel dieser Aufsatzform ist eine klar
gegliederte und inhaltlich überzeugende Darstellung. Methodisch sind für diese
Aufsatzform folgende Arbeitsschritte günstig:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Thema auswählen und erschließen
Stoff sammeln
die Stoffsammlung ordnen
eine Gliederung erstellen
die Argumente ausarbeiten
eine Einleitung entwerfen
einen Schluss finden
die Reinschrift fertigen
Schlussredaktion
1. Thema auswählen und erschließen
Bei Klausuren in der Schule werden Ihnen in der Regel mehrere Themen zur
Auswahl angeboten. Deshalb sollten Sie die Themen gründlich prüfen, indem Sie
sich fragen, zu welchem der Themen Sie über das meiste Sachwissen verfügen.
Schauen Sie sich die Aufgabenstellung genau an: die zentralen Begriffe der
Themenstellung, die in der Aufgabe enthaltene Frage, die Zusammenhänge der
Aufgabe usw.
2. Stoff sammeln
Haben Sie sich für ein Thema entschieden, lassen Sie zunächst Ihre Gedanken einfach „strömen“ und schreiben Sie stichwortartig (Clustering oder Mindmapping) alles
auf. In einem zweiten Anlauf versuchen Sie mit dem sog. W - Fragen (Wer?,
warum?, in welcher Hinsicht?, unter welchen Umständen? usw.) weitere Aspekte zu
finden. Am Ende dieses Arbeitsschrittes haben Sie ein Strukturbild mit Begriffen
bzw. eine Liste mit untereinander stehenden Stichwörtern: die Grundlage für den
nächsten Arbeitsschritt.
3. Stoffsammlung ordnen
Bei der Ordnung der Stoffsammlung geht es darum, die inhaltlich zusammengehörenden Stichpunkte zu markieren und sie unter einem Sammelbegriff oder einer
67
knappen Überschrift zusammenzufassen. Diese somit gewonnenen übergeordneten
Gesichtspunkte bilden die Basis für die Gliederung.
4. Gliederung erstellen
Die Gliederung wird erstellt, indem die übergeordneten Gesichtspunkte als Weil Sätze formuliert und der These unterstellt werden. Bei diesem Verfahren kann gut
überprüft werden, ob These und Argument logisch und inhaltlich zusammenpassen.
Hierbei ist auch schnell zu übersehen, welche Argumente stärker sind, welche weniger stark sind. Sie werden sodann in steigernder Reihenfolge geordnet; das beste
Argument kommt zuletzt.
Die Gliederung, die bei dieser Aufsatzform auch in der Reinschrift verlangt wird, kann
so aussehen :
Gliederung :
Das Leben auf dem Lande hat enorme Vorteile,
- weil es insgesamt billiger ist
- weil die Wohnungsverhältnisse besser sind
- weil die zwischenmenschlichen Beziehungen überschaubar sind
- weil die Nähe zur Natur gegeben ist
- weil das Leben insgesamt gesünder ist
5. Ausarbeitung der Argumente
Ist die Gliederung erstellt, erfolgt die Ausarbeitung der gefundenen Argumente, d.h.,
sie werden mit Denn-Stufe und Wie-Stufe vervollständigt. Hierbei kann auf die Stoffsammlung zurückgegriffen werden, in der ja noch viele konkrete Stichwörter als
Basis für die Beweise und Beispiele gegeben sind.
6. Einleitung entwerfen
Sind die Argumente vollständig ausgearbeitet, ist der wichtigste Schritt der Themen
bezogenen Vorstudien abgeschlossen. Mit der Einleitung konzentrieren Sie sich
wieder auf den Adressaten des Aufsatzes. Die Einleitung hat die Funktion, den
Adressaten (Leser/-in) einzustimmen und ihn auf das Aufsatzthema vorzubereiten.
Dazu sind viele Möglichkeiten denkbar.
Die Einleitung kann nur aus einem Satz bestehen, der einen wichtigen, zum Problem
hinführenden Gedanken klar und eindeutig wiedergibt. Als Einleitungsmöglichkeiten
bieten sich an:
ein aktuelles Ereignis
eine allgemeine Feststellung
ein geschichtlicher Rückblick
die Definition des Kernbegriffs des Themas
ein Vergleich mit Ähnlichem
ein treffendes Zitat
ein gegensätzlicher Gedanke
ein persönlicher Gedanke
68
7. einen Schluss finden
Der Schluss soll den Aufsatz abrunden. Auch hierbei gibt es vielfältige Möglichkeiten:
eine Zusammenfassung der Gesichtspunkte
eine Folgerung aus dem Gesagten
eine persönliche Stellungnahme
eine Einschränkung des Themas
Vergleiche mit Ähnlichem
ein gegensätzlicher Gedanke
ein weiterführender Gedanke
ein Wunsch
8. die Reinschrift fertigen
Sind die Arbeitsschritte 1 - 7 auf dem Konzeptpapier gut vorgearbeitet, ist das Anfertigen der Reinschrift nur noch eine stilistische Feinarbeit. Je ausführlicher vorgearbeitet worden ist, um so leichter fällt das Anfertigen der Reinschrift, die Niederschrift des Aufsatzes. Bei dieser Niederschrift können Sie Ihr Konzept nochmals
überarbeiten, auf Vollständigkeit, inhaltliche Aussagekraft und sachliche Richtigkeit
überprüfen.
Vor der Niederschrift ist zu bedenken, dass Schulaufsätze prinzipiell Adressaten
bezogene Darstellungen sind, wobei nicht (nur) der Lehrer als Empfänger gedacht
werden soll. Der Adressatenbezug bedeutet für den Aufsatz-Schreibenden (wie für
Journalisten, Moderatoren usw.), dass er sich beim Schreiben auf den Adressaten
einstellen muss. Das betrifft nicht nur dessen Führung innerhalb der Argumentation
(Überleitungen, Hinweise, Querverbindungen), sondern auch die Hinleitung zu
Thema und Aufgabe sowie die Abrundung am Ende der Ausführungen. Aus diesem
Grunde sind Schulaufsätze grundsätzlich dreiteilig: Sie beginnen mit einer Einleitung,
dann folgt der Hauptteil, zuletzt der Schluss.
Für die Niederschrift z.B. einer steigernden Erörterung ergibt sich also folgendes
Schema:
I. Einleitung
II. Erörterung
(steigernde Kette von Argumentationen)
III. Schluss
oder:
→ → → →
Einleitung - 1. Argument - 2. Arg.
-
3. Arg.
69
-
→
4. Arg.
-
Schluss
9. Schlussredaktion
Nach der Reinschrift sollten Sie den gesamten Aufsatz nochmals durchlesen und
eventuell noch Kleinigkeiten verbessern, z.B. Wortwiederholungen, Rechtschreibeund Zeichensetzungsfehler usw.
10. Beispiel
An einem Beispiel sollen die methodischen Schritte nun einmal demonstriert werden.
Wir wählen das Thema „Drogen“ und folgende Aufgabenstellung:
Was sind die Ursachen für den Drogenkonsum Jugendlicher?
Haben wir uns für dieses Thema entschieden, so beginnen wir mit der Stoffsammlung. Bevor man mit Hilfe von z.B. Mindmapping ins Thema einsteigt, sollte man sich
zuerst den Kernbegriff bzw. die Kernbegriffe des Themas genau anschauen.
Orientiert man sich bei den ersten Arbeitsschritten an den Kernbegriffen, kann man
das Thema nicht verfehlen.
Die Kernbegriffe bei unserem Thema sind:
- Ursachen
- Drogenkonsum
- Jugendliche
Es geht also um den Drogenkonsum, nicht allgemein, sondern einer speziellen
Gruppe, nämlich der Jugendlichen. Und gefragt ist nach den Ursachen, nach den
Gründen. Erwartet wird demnach, dass mehrere Ursachen genannt werden, die
Jugendliche dazu bringen, Drogen zu konsumieren.
Um das Thema möglichst breit zu erfassen, empfiehlt es sich, mit dem W-Fragen zu
arbeiten:
Wer ist betroffen?
Jugendliche, also die Altersgruppe von (sagen wir)
12 - 20, also hauptsächlich Schüler/-innen
Was sind Drogen?
ursprünglich Naturprodukte mit heilender Wirkung;
heute alle Arten von Stoffen, die zur Abhängigkeit
führen können
Welche Drogen?
„harte“ Drogen wie Heroin, Opiate, Kokain
„weiche“ Drogen wie Marihuana, Haschisch
„Psychopharmaka“ (beruhigende und anregende
Arzneimittel, Alkohol und als Einstieg Nikotin)
Welche Wirkung haben sie? Anregend, beruhigend, betäubend, enthemmend, beschwingend, entspannend
Wie konsumiert man?
trinken, schnüffeln, rauchen, spritzen, schlucken
Wo konsumiert man?
überall, zu Hause, im Lokal, bei Freunden
Wann konsumiert man? zu jeder Zeit, besonders abends
Diese Fragen bzw. die Antworten liefern nun das Material der Stoffsammlung, als
Mind-map dargestellt oder als Liste von Stichwörtern:
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Freundeskreis
Mutproben
Gruppenzwang
Probleme in der Schule
Trinken der Erwachsenen
Alkohol enthemmt
Werbung
Unsicherheit
lustig sein
Leberschäden
Einfluss von Freunden
Freizeit
Frustrationen
Eltern trinken, rauchen
schlucken Tabletten
• Komplexe, Nervosität
• Gehirnzellen sterben ab
• Kontaktschwierigkeiten
Probleme vergessen
großes Angebot
Misserfolge
keinen Anschluss finden
Neugier
Verdrängung von Problemen
Langeweile
Eltern haben keine Zeit
Streit in der Familie
Scheidung der Eltern
Schlüsselkinder
Autoritätsverlust der Eltern
Gefahr der Abhängigkeit
Schüchternheit
Angeben
hohe Anforderungen
Der nächste Arbeitsschritt besteht darin, die Stoffsammlung nach Schwerpunkten zu
ordnen. Dabei kann man folgendermaßen vorgehen:
zusammengehörende Stichwörter markieren (z.B. farblich)
nicht zum Thema gehörende Stichwörter streichen
Stichwörter, die sich inhaltlich überschneiden, zusammenfassen
Oberbegriffe suchen
Wir bekommen nach diesen Überlegungen folgende Punkte:
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negative Vorbilder
schwierige Familienverhältnisse
zu wenig Zeit füreinander
Probleme mit Freunden
starker Gruppenzwang
schlechter Einfluss
Misserfolge in Schule und Beruf
Komplexe
Flucht vor der Realität
Langeweile
Verlockung durch die Werbung
Konfliktsituationen
Aus diesen ergeben sich folgende Oberbegriffe:
Schule und Beruf
Freundeskreis
Komplexe
Familie
Wirtschaft
71
Aus den gewonnenen Oberbegriffen lassen sich die Aspekte für die
Gliederung ableiten.
1. Schule und Beruf sind wesentliche Ursachen.
hohe Anforderungen
ständige Misserfolge
verschiedene Konfliktsituationen
2. Der Freundeskreis hat großen Einfluss.
schlechter Einfluss
verschiedene Probleme
Gruppenzwang
3. Der Jugendliche selbst ist ein wichtiger Grund.
Neugier
Angabe
Komplexe
Langeweile
Flucht vor der Realität
4. Die Familie bildet eine nicht unwichtige Ursache.
schwierige Familienverhältnisse
Autoritätsverlust der Eltern
mangelndes Verständnis
zu wenig Zeit füreinander
negatives Vorbild
5. Die Wirtschaft fördert den Drogenkonsum.
großes Angebot an Spirituosen und Tabletten
verlockende Werbung
Die bisherigen Schritte der Erarbeitung bilden die notwendigen Vorarbeiten der so
genannten Ausarbeitung oder Reinschrift. Diese Vorarbeiten gehören nicht in die
Reinschrift, sondern werden auf den Konzeptpapieren notiert.
Der folgende Arbeitsschritt bildet den ersten Teil der Reinschrift, nämlich die Niederschrift der Gliederung, die nach dem Thema und vor der Ausarbeitung erwartet wird.
Die Gliederung zeigt auch schon die Hierarchisierung der Aspekte (nach dem
Steigerungsprinzip) an:
Was sind die Ursachen für den Drogenkonsum Jugendlicher?
Gliederung
1.
2.
3.
4.
5.
Die Wirtschaft fördert den Drogenkonsum
Der Freundeskreis hat einen enormen Einfluss.
Schule und Beruf sind ursächliche Faktoren.
Schwierige Familienverhältnisse sind ein wesentlicher Grund.
Der Jugendliche selbst ist ausschlaggebend.
Der erste Teil der Reinschrift ist erstellt. Die Ausarbeitung der einzelnen Aspekte
(hier. Thesen) fällt auf Grund der Stoffsammlung nicht mehr so schwer, da
Argumente und Beweise schon stichwortartig erarbeitet sind.
72
Deswegen bietet es sich an dieser Stelle der Erarbeitung - die Abfolge der Gedanken
ist ja vorausgeplant - an, die Einleitung des Aufsatzes zu überlegen: Wie führe ich
den Leser in meine Ausarbeitung ein?
Einleitung
Sie wissen, Aufsätze in der Schule werden als adressatenbezogene Darstellungsformen konzipiert, d.h. sie sind im Prinzip dreiteilig: Einführung, Hauptteil, Schluss.
Die Einleitung hat die Funktion, den Leser in die Thematik einzuführen und ihn auf
die folgenden Ausführungen vorzubereiten. Diese Funktion wird am besten durch
eine dreischrittige Vorgehensweise erfüllt:
1. ein Einleitungsgedanke wird vorgegeben
2. eine Überleitung zur Themafrage wird formuliert
3. die Themafrage wird nochmals wiederholt
Bei unserem Beispielthema (wie bei jedem anderen Thema) bieten sich vielfältige
Möglichkeiten der Einleitung an. Die gängigsten seien genannt:
- man kann mit einem aktuellen Ereignis beginnen
(Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in den Medien das Drogenproblem
in irgendeiner Form angesprochen wird. Erst vor kurzem machte ein etwas
kurioser Fall in der Presse Schlagzeilen. Rauschgiftfahnder hatten im Norden
des US-Staates Georgia die Überreste eines Schwarzbären entdeckt. Er
hatte von Schmugglern aus dem Flugzeug abgeworfenes Kokain im
Schwarzmarktwert von mehreren Millionen Dollar gefressen. Macht diese
ungewollte Kokain-Orgie eines Schwarzbären vor allem Tierfreunde
betroffen, so sind wir alle angesprochen, wenn wir bedenken, dass diese
Unmenge von Rauschgift Jugendlichen zugedacht war, von denen einige
vielleicht daran gestorben wären. Warum kommt es überhaupt so weit, dass
Jugendliche ihr Leben aufs Spiel setzen und zu Tabletten und Nikotin oder
sogar Alkohol und Rauschgift greifen?)
- man kann eine allgemeine Feststellung heranziehen
(Der Konsum illegaler Drogen wie Opiate, Heroin, Kokain oder Haschisch
schnellte in den 70er Jahren sehr stark in die Höhe, ging zu Beginn der
80er Jahre etwas zurück und steigt seit 1983 erheblich an. Derzeit sind
Designdrogen wie Ecstasy und Crack zu einem ernsten Problem geworden.
Mehr als 300.000 Deutsche nehmen ständig harte Drogen, wie der
Drogenbericht des letzten Jahres ausweist. 1996 starben 1712 Menschen an
Rauschgiftkonsum , was eine Steigerung um 10% gegenüber dem Vorjahr
bedeutet. Auch der Verbrauch legaler Drogen wie Alkohol, Nikotin und
Arzneimittel hat seit Mitte der 80er Jahre bedrohliche Ausmaße erreicht. Vor
allem aber gibt zu denken, dass immer mehr Jugendliche zu Drogen greifen.
Das Einstiegsalter für Alkohol- und Drogenmissbrauch liegt bereits bei
ungefähr zwölf Jahren. Deshalb sollten wir uns fragen, was die Gründe für
den Drogenkonsum Jugendlicher sind.
- man kann mit einem geschichtlichen Rückblick beginnen
(Von jeher haben Menschen überall auf der Welt Drogen vor allem zu
geselligen und religiösen Zwecken, aber auch als Medikamente gegen
Schmerzen verwendet. So ist der Schlafmohn als Rauschmittel schon vor
Jahrtausenden beschrieben worden. Die Verwendung von Cannabis ist seit
nahezu 5000 Jahren in Zentralasien, Indien und dem Orient bekannt. Auch
Alkohol ist fast so alt wie die Menschheit. Bei vielen Völkern, wie z.B. den
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Babyloniern, Ägyptern und Römern, war er in Form von Wein Bestandteil
vieler kultischer Handlungen. Während aber früher die Drogen den
Erwachsenen vorbehalten waren, werden sie heute bereits von Jugendlichen
gebraucht und missbraucht. Auch die Ursachen für den Drogenkonsum
haben sich verlagert. Deshalb stellt sich die Frage nach den Gründen des
Drogenkonsums heutiger junger Menschen.)
- man kann mit der Definition des Kernbegriffs anfangen
(Als Drogen wurden ursprünglich getrocknete Pflanzen oder deren Teile
bezeichnet, die als Heilmittel verwendet wurden. Heute versteht man unter
Drogen nicht nur die illegalen „harten“ Rauschdrogen wie Heroin, Opiate,
Kokain und die „weichen“ Drogen wie Haschisch und Marihuana, sondern
auch legale, beruhigende wie die Einstiegsdroge Nikotin. Alle diese
aufgeführten Drogen lösen zunächst ein Wohlbefinden aus, können aber zur
körperlichen und seelischen Abhängigkeit führen. Da der Konsum dieser
Mittel, vor allem von Alkohol, Nikotin und Tabletten auch bei Jugendlichen
stetig steigt, stellt sich die Frage, was die Ursachen für den Drogenkonsum
Jugendlicher sind.)
- man kann einen Vergleich mit Ähnlichem ziehen
(Ein ganz wesentlicher Problemherd für fast jede Jugend ist der Konflikt
zwischen den Generationen. Zu diesen Spannungen zwischen Jung und Alt,
die es schon seit Menschengedenken gibt, kommen für Jugendliche unserer
Zeit neue Schwierigkeiten hinzu. Man denke hierbei nur an kriminelle
Jugendbanden oder an die Gefahr der Jugendsekten. Ein weiteres aktuelles
Problem, das weltweit ein alarmierendes Ausmaß erreicht hat, ist der
Drogenkonsum. Immer wieder muss man sich darum fragen, weshalb so
viele junge Menschen den Rauschmitteln verfallen.)
- man kann mit einem Zitat beginnen
(Viele moderne Jugendbücher befassen sich mit dem Drogenproblem. Eines
davon ist der Roman „Ein abgekartetes Spiel“ von Otto Steiger. Er beschreibt
darin die Beziehung zwischen dem Alkoholiker Viktor, der gerade eine
Entziehungskur macht, und dem Gymnasiasten Martin. Nach den Gründen
für sein Trinkverhalten gefragt, antwortet Viktor: „Ich will nicht trinken natürlich will ich trinken, aber doch nur, weil ich mich aus einer verhassten
Gegenwart stehlen will.“ Wenngleich hier nur ein einziger Abhängiger mit
seinen speziellen Schwierigkeiten dargestellt wird, so bekommt der Leser
doch einen allgemeinen Einblick in die Drogenproblematik. Gerade wenn
man solche Romane liest, kann man auch die Frage nach den Ursachen für
den Drogenkonsum Jugendlicher klarer beantworten.)
- man kann mit einem grundsätzlichen Gedanken einleiten
(Auf Grund des Fortschritts auf dem Gebiet der Medizin und wegen der
modernen Hygiene ist die Lebenserwartung der Menschen innerhalb der
letzten 100 Jahre erheblich gestiegen. Vor allem die Entdeckung des
Penicillins und auch die richtige Anwendung von Morphium haben dazu
beigetragen. Bei uns beträgt die durchschnittliche Lebensdauer derzeit etwa
72 Jahre. Aber immer mehr Menschen verkürzen durch unkontrollierten
Konsum von Drogen, seien es nun Tabletten, Nikotin, Alkohol oder
Rauschmittel, bewusst oder unbewusst ihr Leben. Jedes Jahr gibt es allein in
Deutschland Hunderte von Rauschgifttoten. Darum sollte man sich genauer
mit dem Problem des Drogenkonsums befassen, wobei sich zunächst die
Frage stellt, warum so viele junge Menschen zu Drogen greifen.)
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- man kann mit einem persönlichen Gedanken beginnen
(Vor kurzem wurde einer meiner Klassenkameraden wegen einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert, weil er auf einer Party zu viel Bier und
Schnaps getrunken hatte und schließlich bewusstlos zusammengebrochen
war. Er musste sofort ins Krankenhaus eingeliefert werden. Obwohl in der
Schule und auch durch Broschüren der Krankenkassen über die schlimmen
Folgen übermäßigen Alkoholkonsums informiert wird, kommt es immer
wieder vor, dass Jugendliche bedenkenlos Alkohol und andere Drogen zu
sich nehmen. Deshalb sollten wir einmal überlegen, was die Ursachen für
den Drogenkonsum bei Jugendlichen sind.)
Hauptteil
Der Hauptteil besteht aus einer zusammenhängenden Darstellung der
Argumentationen. Dabei wird erwartet:
die vollständige Ausarbeitung der Argumentationen
sprachliche Überleitungen und Verbindungen der Argumentationen
eine steigernde Abfolge der Argumentationen
Wir wissen: Ein Argumentation umfasst Argument, Beweis und Beispiel. Minimalisten
(die meisten Schüler glauben, sie müssten solche sein) erfüllen immer nur die
Minimalerwartung: ein Argument, ein Beweis, ein Beispiel, und zwar immer in der
gleichen Reihenfolge. Hier geht es aber nicht um die Erfüllung formaler Schemata,
sondern um Überzeugungsarbeit. Und das bedeutet: Wenn man eine These mit
mehreren Argumenten untermauern, diese wiederum mit mehreren Beweisen
stützen und diese wiederum mit vielen Beispielen veranschaulichen kann, wirkt man
überzeugender als ein rhetorischer Minimalist.
Auch der andere Punkt dürfte sofort einleuchten: Wenn man beim Argumentieren
immer dieselbe Reihenfolge, also Argument, Beweis, Beispiel, wählt, wirkt die
Darstellung eintönig und langweilig. Variiert man jedoch die Reihenfolge, wirkt die
Gestaltung abwechslungsreich und lebendig. Nichts spricht dagegen, mal mit einem
Beispiel zu beginnen oder mit einem Beweis.
Für Verbindungen und Überleitungen gibt es sprachlich etliche Möglichkeiten. Zum
einen bietet die Sprache eine Überfülle an Konjunktionen oder Bindewörtern
(außerdem - desgleichen - ebenfalls - ferner - des Weiteren - zudem - weiterhin ...).
Zum anderen gibt es eine Vielzahl sprachlicher Wendungen, die Gedanken
miteinander verbinden:
Ein weiterer Aspekt spricht für ...
Es kommt noch hinzu, dass ...
Das bisher Gesagte führt zu einem weiteren Punkt ...
Ein bedeutender Gesichtspunkt ist auch ...
Daneben darf man nicht vergessen, dass ...
Außerdem wäre noch zu erwähnen, dass ...
Weiterhin muss man bedenken, dass ...
75
Schluss
Die Darstellung des Schlusses ist - wie die Einleitung - in vielerlei Hinsichten möglich.
Einige sollen aufgezeigt werden:
- Zusammenfassung der Gesichtspunkte
(Zusammenfassend kann man sagen, dass die Ursachen für den hohen
Drogenkonsum nicht nur beim Jugendlichen selbst zu suchen sind, sondern
vor allem die Umweltfaktoren eine große Rolle spielen. Der Jugendliche ist
psychisch noch nicht so gefestigt, dass er sich den Einflüssen der Umwelt
völlig entziehen könnte. Deshalb ist es besonders wichtig, dass er gerade
von seiner Familie unterstützt wird, auf Drogen bewusst zu verzichten oder
maßvoll damit umzugehen. Insgesamt liegt jedoch die Verantwortung für sein
Verhalten bei ihm selbst.)
- Folgerung aus dem Gesagten
(Aus all dem folgt, dass es verfehlt wäre, mit der Kritik zuerst bei den
Jugendlichen anzusetzen, da sie mit vielen Problemen konfrontiert werden.
Vielmehr müssen die Erwachsenen ihr Verhalten überprüfen und den
Jugendlichen ein gutes Beispiel geben, denn Anschauung und Nachahmung
zählen noch immer zu den wirkungsvollsten Formen des Lernens. Doch
andrerseits kann das Fehlverhalten der Jugendlichen nicht generell
entschuldigt werden. Dies wäre eine zu einfache Lösung. So mancher junge
Mensch denkt nicht daran, dass das Leben ein einmaliges Geschenk ist und
er für sich selbst letztlich die Verantwortung tragen muss.)
- persönliche Stellungnahme
(Wenn man all die Ursachen abschließend nochmals überdenkt, so wundert
es mich eigentlich nicht, dass Jugendliche in bestimmten schwierigen Situationen glauben, zu Drogen greifen zu müssen. Eine vorschnelle Verurteilung
dieser jungen Menschen wäre sicher nicht angebracht. Allerdings meine ich,
dass gerade in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit und auch in den
Schulen eingehend vor dem Drogenkonsum gewarnt worden ist. Jeder
Heranwachsende sollte diese Mahnung ernst nehmen und folgende Aussage
überdenken: „Komm,“ sagte der Esel zum Hahn, „etwas Besseres als den
Tod werden wir allemal finden.“)
- Einschränkung des Themas
(Wenn man über die Ursachen des Drogenkonsums nachdenkt, wird einem
erst bewusst, wie oft auf Probleme Jugendlicher derzeit in den
Massenmedien eingegangen wird. Dadurch kann fast der Eindruck
entstehen, als seien die heutigen Heranwachsenden schlechthin entweder
problembeladen und mutlos oder opportunistisch und aufsässig. So würde
man allerdings das Bild der heutigen Jugend verzerren, denn nur relativ
wenige sind von der Drogensucht betroffen. Der Großteil der jungen
Menschen hat gelernt, mit schwierigen Situationen fertig zu werden.)
- Vergleich mit Ähnlichem
(Viele Jugendliche nehmen jedoch nicht Drogen, sondern weichen auf
andere Ersatzbefriedigungen aus. So lassen sich manche in Sekten
aufnehmen, andere wiederum sind besessen von Spielautomaten, wieder
andere reagieren sich ab, indem sie randalieren. Dies alles sind typische
Zeiterscheinungen, die vielfach auf gleiche Ursachen zurückzuführen sind.
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Eine davon ist der Mangel an Liebe und Geborgenheit, die den jungen
Menschen Elternhaus und Freundeskreis geben könnten. Auch weist die
hohe Zahl der Selbstmordversuche darauf hin, dass die Jugend von heute
mit vielen Problemen belastet ist.)
- gegensätzlicher Gedanke
(Es darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, als müsste man Drogen
schlechthin verdammen. Selbstverständlich ist es unerlässlich, bei
Krankheiten vom Arzt verschriebene Medikamente einzunehmen. Auch sind
bestimmte Rauschdrogen zur Schmerzlinderung für die moderne Medizin
unbedingt notwendig. Selbst eine gesundheitsfördernde und blutreinigende
Wirkung alkoholischer Getränke ist unbestritten, wenn sie zur rechten Zeit
konsumiert werden. Eine absolute Ablehnung aller Drogen wäre wohl eine
weltfremde Forderung. Wie in allen Lebensbereichen kommt es auch hier
darauf an, dass man mit Verstand handelt.)
- weiterführender Gedanke
(Unkontrollierter Drogenkonsum hat natürlich auch Folgen, die sehr schwerwiegend sein können. Die Auswirkungen erstrecken sich dabei nicht nur auf
körperliche Schäden, sondern ebenso auf den geistig-seelischen Zustand. In
diesem Zusammenhang ist gerade bei Alkohol- und Rauschgiftsüchtigen ein
sozialer Abstieg vielleicht sogar in die Kriminalität oder Prostitution möglich.
Darum muss man versuchen, bereits die Ursachen für den Drogenkonsum
abzubauen. Ein wichtiger Schritt dazu ist die Einsicht, dass unsere Welt
wieder menschlicher werden muss.)
- Wunsch
(Da gerade in unserer Zeit viele Jugendliche drogenabhängig sind, besteht
die Aufgabe eines jeden von uns darin, ehemalige Abhängige wieder in die
Gesellschaft einzugliedern. Sei es nun der ehemalige Fixer oder der einstige
Trinker, jeder braucht Hilfe bei der Arbeits- und Wohnungssuche und bei der
Bewältigung seiner Sorgen und Probleme. Es wäre wünschenswert, dass wir
diese Unterstützung gewähren oder aber die Heranwachsenden durch unser
persönliches Vorbild so beeinflussen, dass es gar nicht zu einer Abhängigkeit
kommt.)
Themenbeispiele:
1. Wo sehen Sie Möglichkeiten für den Einzelnen, wirksam zum Schutz der Umwelt
beizutragen?
2. Welche Vorzüge hat die Demokratie?
3. Welche Gefahren können eine Demokratie bedrohen?
4. Worauf führen Sie die zunehmende Politikverdrossenheit zurück?
5. Wo liegen die Ursachen für die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland?
6. Was erwarten Sie von einer guten Tageszeitung?
7. Wodurch wird heutzutage die Natur am stärksten bedroht?
8. Worin sehen Sie den Wert einer Urlaubsreise?
9. Welche Probleme ergeben sich aus der ständig zunehmenden Verkehrsdichte in
Berlin?
10. Worin sehen Sie den Wert einer sinnvollen Freizeitgestaltung?
11. Wie kann man heute die Massenmedien sinnvoll nutzen?
12. Was kann getan werden, um das Leben in den heutigen Großstädten
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lebenswerter zu gestalten?
13. Unter welchen Umständen halten Sie die Einschränkung der Pressefreiheit für
geboten?
14. Welche Bildungsziele erscheinen Ihnen heute als vordringlich?
15. Warum sollte man Sport treiben?
16. Warum sollten sich Paare auch heute noch für Kinder entscheiden?
17. Was erschwert heute die Begegnung junger Menschen mit der älteren
Generation?
Aufgabe:
Wählen Sie ein Thema aus.
Bilden Sie mit anderen Kollegiaten/-innen Gruppen.
Bearbeiten Sie gemeinsam das Thema nach den bekannten methodischen
Schritten.
Die Anzahl der Argumente soll der Anzahl der Gruppenmitglieder entsprechen.
Denn jedes Mitglied soll nach Festlegung der Gliederung ein Argument alleine
ausarbeiten. Einleitung und Schluss sowie die Überleitungen zwischen den
Argumentationen sollen gemeinsam gefunden und formuliert werden.
Aufsatzbeispiel
Thema: Welche Gründe sehen Sie für die zunehmende Gewalttätigkeit bei Kindern
und Jugendlichen und welche Lösungen sind denkbar?
Gliederung:
A Einleitung
Lehrer klagen darüber, dass schon die kleinen Schüler im Sportunterricht Gewalt
anwenden.
B Hauptteil
I. Gründe für die Aggressivität der Kinder und Jugendlichen
1. Gewalt in den Medien
a) Fernsehen
b) Videoverleih
2. Veränderte Familienverhältnisse
a) Berufstätigkeit beider Elternteile
b) Hohe Scheidungsrate
3. Veränderte gesellschaftliche Werte
a) Erziehung zum Konsum
b) Ellbogenmentalität
II. Mögliche Lösungen der Probleme
1. Erschwerter Zugang zu Gewaltdarstellungen im Film
a) Späte Sendezeiten im Fernsehen
b) Einhalten der Ausleihvorschriften bei Videos
2. Reagieren auf Veränderung der Familienverhältnisse
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a) Schaffung von kleineren Klassen und Ganztagsbetreuung
b) Verbesserung der Freizeitmöglichkeiten
3. Umdenken der Erwachsenen
a) Erziehung zu nichtmateriellen Werten
b) Einplanen von Zeit für Kinder
C Schluss
Aggressionen von Kindern als Hilfeschrei
Immer häufiger kann man in Zeitungen lesen, dass Kinder und Jugendliche zunehmend gewalttätiger gegen Gleichaltrige oder Wehrlose reagieren. Sie schließen sich
zu Gruppen zusammen, beleidigen, schikanieren und schüchtern ihre Opfer ein.
Manchmal greifen sie jene auch körperlich an. Auch in den Schulen kann die wachsende Gewaltbereitschaft beobachtet werden. Beispielsweise berichten Lehrerinnen
und Lehrer über die steigende Aggressivität im Sportunterricht.
Wie kommt es zu dieser Entwicklung und was kann man dagegen unternehmen?
Eine Erklärung für die steigende Gewalttätigkeit liegt sicherlich in der Darstellung von
Gewalt. In den Medien kann man eine täglich wachsende Anzahl von Gewalttaten
beobachten. Eine Studie hat gezeigt, dass im Fernsehen pro Woche mehr als 500
Morde zu sehen sind. Gerade auch nachmittags, wenn viele Kinder fernsehen,
werden Filme mit erheblichem Gewaltpotenzial wie Science-Fiction-Serien oder
Krimis gezeigt. Messerstechereien und Schlägereien sind dort an der Tagesordnung.
Außerdem haben Kinder auch keinerlei Schwierigkeiten, an Gewaltvideos heranzukommen. Tests haben ergeben, dass Jugendliche aus Videotheken ohne Ausweiskontrolle sogar Hinrichtungsdarstellungen aus Amerika mitnehmen konnten. Haben
Jugendliche nicht so großzügige Videoverleiher in der Nähe, kann man immer noch
die Videofilme älterer Geschwister oder Freunde anschauen. Selbst Filme wie
„Rambo“ oder „Terminator“ enthalten neben vielen Prügeleien die Darstellung zahlreicher Toter. Dadurch werden schlechte Vorbilder für Kinder geschaffen.
Hinzu kommt, dass oftmals die eigenen Familienverhältnisse die Aggressivität der
Kinder und Jugendlichen fördern. In vielen Familien müssen heutzutage beide Eltern
arbeiten, weil ein Verdienst nicht ausreicht. Folglich sind die Kinder den ganzen
Nachmittag allein zu Hause. Oft haben sie keinen Ansprechpartner für ihre Probleme
und fühlen sich allein gelassen. In einer kürzlich ausgestrahlten Fernsehsendung
wurde nachgewiesen, dass über 70% der 10 - 16-Jährigen alleine oder in Gruppen
mit Gleichaltrigen den Nachmittag verbringen.
Ähnlich gelagert ist die Problematik bei Scheidungskindern. Hin- und hergerissen
zwischen dem Alltag bei der Mutter, die arbeiten muss, um die Kinder zu ernähren,
und dem Vater, den man nur am Wochenende sehen darf, werden bei den Kindern
Aggressionen angestaut, die sich dann im Pausenhof durch körperliche Gewalt
entladen. Auch dafür gibt es etliche Beispiele schon in den Grundschulklassen.
Wie oben gezeigt haben Eltern häufig wenig Zeit für ihre Kinder und noch weniger
Zeit, sich über eine gute und wertvolle Kindererziehung Gedanken zu machen. Da
sich bisweilen dann doch das Gewissen rührt, schenkt man Spielzeug oder teure
Kleidung statt Liebe und Geborgenheit. Damit gewöhnt man Kinder an eine Konsumhaltung, die materielle Dinge als Ersatz für menschliche Wärme bietet. In der schon
erwähnten Fernsehsendung wurde eine Statistik gezeigt, aus der hervorging, dass
die meisten Kinder und Jugendlichen Fahrräder, technische Geräte wie Walkman,
Videorekorder, DVD-Geräte , Gameboys und sogar Computer besitzen.
79
Auch wenn ein Elternteil nachmittags zu Hause ist, heißt das noch nicht, dass sich
die Eltern auch wirklich mit dem Kind beschäftigen. Oft fühlt sich das Kind dennoch
allein gelassen und reagiert deshalb vielleicht aggressiv. Viele Eltern müssen im
Berufsleben hart kämpfen und versuchen, ihre Kinder auch für diesen Kampf
vorzubereiten. Lehrer erzählen immer wieder von Kindern, denen zu Hause
beigebracht wird, sich in der Schule nichts gefallen zu lassen. Für diese Kinder heißt
das oft: zuschlagen ohne zu reden.
Es genügt aber nicht die Situation nur darzustellen, man sollte sich auch Gedanken
zur Lösung der beschriebenen Probleme machen.
Es wäre unrealistisch zu glauben, man könnte Gewaltfilme ganz verbieten. Die Eltern
können aber versuchen, die Verantwortlichen beim Fernsehen zu veranlassen,
Gewaltfilme zu einer späteren Sendezeit zu zeigen. Wenn solche Filme erst ab 22
oder 23 Uhr gesendet würden, müssten die Eltern dafür sorgen, dass ihre Sprösslinge um diese Zeit im Bett sind. Videorekorder sollten entsprechende Verschlüsselungsmechanismen erhalten, damit es Kindern nicht möglich ist, diese Filme aufzuzeichnen.
Was das Ausleihen von Gewaltvideos betrifft, so sind die Maßnahmen noch näher
liegend. Videoverleiher müssen das Alter der Kunden stärker als bisher kontrollieren,
indem es auf den Bezieherausweisen vermerkt wird oder ein zusätzlicher Ausweis
beim Ausleihen dieser Videos nötig ist. So kann man ganz einfach verhindern, dass
z.B. Kriegsfilme oder brutale Actionfilme in die Hände von Kindern gelangen. Was
die Kinder zu Hause machen, liegt - ähnlich wie beim Fernsehprogramm - in der
Verantwortung der Eltern.
Damit kommen wir zum zweiten wesentlichen Ansatzpunkt.
Aggressionen von Kindern könnten sicher abgebaut werden, wenn man ihr Umfeld
verbessern würde. Dazu kann die Schule durch die Einrichtung kleinerer Klassen
ganz gut beitragen, in denen sich die Lehrerinnen und Lehrer wieder mehr und
intensiver um den einzelnen Schüler kümmern können. Wenn in den Klassen statt 30
bis 40 Schüler nur die Hälfte davon säße, hätte die/der Unterrichtende nicht nur mehr
Zeit für jeden Einzelnen, sondern könnte auch den Unterricht pädagogisch sinnvoller
und erfolgreicher gestalten.
Eine weitere Möglichkeit, Kinder zu beschäftigen, ist das Angebot von Ganztagsschulen oder zumindest von Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag. Kinder und
Jugendliche werden dort ordentlich betreut und verbringen ihre Zeit sinnvoll mit
Gleichaltrigen. Sie müssen also nicht mehr ihre Zeit vor dem Fernseher oder mit
Computerspielen vertreiben. Hierbei ist der Staat gefordert, solche Möglichkeiten in
ausreichender Zahl zu schaffen. Er könnte auch das Freizeitangebot für Kinder und
Jugendliche allgemein verbessern durch die Unterstützung von Jugendtreffs und den
Bau von Spiel- und Sportstätten.
Darüber hinaus muss unbedingt ein Umdenken bei den Erwachsenen erfolgen. Die
Erziehung sollte sich weg vom Konsumdenken und hin zu den menschlichen Werten
wie Vertrauen, Geborgenheit und Liebe bewegen. Denn diese Zuwendungen
brauchen Kinder und Jugendliche viel dringlicher als alles andere. Ein gemeinsamer
Ausflug, gemeinsames Spiel, miteinander reden, erzählen und zuhören ist den
Kindern sowieso lieber als das zehnte ferngesteuerte Auto.
Dabei geht es nicht um Zeit, sondern überhaupt um die Zuneigung der Eltern.
Neuere Forschungen haben ergeben, dass Kinder sehr gut bei allein erziehenden
80
oder berufstätigen Müttern aufwachsen können, wenn diese und die Väter eine
bestimmte Zeit des Tages mit den Kindern verbringen.
Die Aggressivität von Kindern und Jugendlichen geht in eine gefährliche Richtung.
Es ist kein Einzelfall mehr, dass Mitschüler brutal zusammengeschlagen werden oder
dass auf Lehrer geschossen wird. Wenn man bisher gedacht hat, derartiges passiere
nur in Amerika, so muss man heute, spätestens nach den Schüssen in Erfurt, zur
Kenntnis nehmen, dass diese amerikanischen Verhältnisse unsere Kinder schon
eingeholt haben. Es ist höchste Zeit, diese Entwicklung ernst zu nehmen und durch
geeignete Maßnahmen abzufangen. Wir müssen die kindlichen Aggressionen
endlich auch als Hilfeschrei von Kindern erkennen, die sich nicht anders ausdrücken
können.
81
Die dialektische Erörterung
Der zweite Typus der Erörterung (nach der sachbezogenen Erörterung), den wir
kennen lernen, hat eines vor allem mit dem ersten Typus gemeinsam: Es geht um
überzeugende Argumentation. Es gibt aber mehrere Unterschiede, wie schon die
Bezeichnung „dialektische“ vermuten lässt.
Eine dialektische Erörterung können Sie sich vom Verfahren her wie eine Diskussion
zweier Sprecher mit gegenteiligen Auffassungen vorstellen:
Eine dialektische Erörterung erörtert ein Problem, zu dem man Gründe für und gegen
finden muss. Das Ziel dieser Aufsatzform liegt darin, die Gründe so gegeneinander
abzuwägen, dass eine fundierte Entscheidung, ein Urteil, zu Stande kommt.
82
Dass die dialektische Erörterung andere Anforderungen stellt als die sachbezogene
Erörterung, erkennt man schon an der Aufgabenstellung. Einige Beispiele sollen das
demonstrieren:
Sollen längere Reisen mit dem Auto oder mit der Bahn gemacht werden?
Verbringen Sie Ihre Ferien lieber in den Bergen oder am Meer?
Sollte man auswandern, wenn das Ausland bessere Lebensmöglichkeiten
bietet als die Heimat?
Sollten die Zensuren in der Schule abgeschafft werden?
Sollte das Fernsehen nach den Wünschen der Zuschauer gestaltet werden?
An diesen Beispielen sehen Sie, dass es sich jeweils um eine Wertfrage handelt, die
nicht einfach mit einem Ja oder Nein beantwortet werden darf. Die Beantwortung der
Frage, also Ihre Stellungnahme, verlangt eine intensive Auseinandersetzung mit dem
Thema und seinen unterschiedlichen und gegensätzlichen Aspekten. Das bedeutet,
dass der wichtigste Teil der Erörterung in der Pro- und Contra-Argumentation
besteht, der ja die Grundlage für das Urteil bildet.
Wie kann man an solche Themen herangehen, welche Methodik bietet sich an?
Die Aufgabenstellung bei der dialektischen Erörterung ist immer schon so formuliert,
dass in der Themafrage Pro- und Contra-These sofort erkennbar sind. Lautet das
Thema beispielsweise „Ist die Emanzipation der Frau in unserer Gesellschaft schon
verwirklicht?“, so ergeben sich beide gegensätzliche Thesen:
Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft schon verwirklicht.
Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft nicht verwirklicht.
Man kann nun beide Thesen auf dem Konzeptpapier nebeneinander aufschreiben
und dann alles notieren, was einem für die eine oder andere Seite einfällt.
Wenn man ein Thema breit erfassen und möglichst voll ausschöpfen will, empfiehlt
sich eine andere Vorgehensweise.
Jede Themafrage hat einen tragenden Begriff. In unserem Beispiel ist es die
„Emanzipation“ der Frau. Mit diesem Begriff und seiner Bedeutung sollte man sich
zunächst beschäftigen. Der Vorteil dabei ist, dass man eine Vielzahl von Aspekten
für die Stoffsammlung gewinnt.
Emanzipation bedeutet: Freilassung, Befreiung, Gleichstellung, Gleichberechtigung,
Autonomie. Die Gegenbegriffe drängen sich sofort auf: Unterdrückung, Abhängigkeit,
Unterjochung, Diskriminierung, Unselbstständigkeit. Schon sind wir mitten im Thema!
Die Vielzahl der Aspekte vergrößert sich noch, wenn wir mit den W-Fragen an die
Begriffe herangehen:
Von wem oder von was wird die Frau befreit?
Mit wem wird sie gleichgestellt?
Von wem ist die Frau abhängig?
Wer unterdrückt die Frau und warum? usw.
Diese und andere Fragen vertiefen die Sicht auf das Thema, insofern sie es in
größere Zusammenhänge stellt und auf die historische, gesellschaftliche, juristische,
philosophische Dimension verweist. Weitere W-Fragen können gestellt werden, neue
Aspekte werden sichtbar:
83
Seit wann gibt es Emanzipationsbestrebungen von Frauen?
Auf welchen Gebieten ist die Emanzipation bisher erfolgreich gewesen?
In welchen Bereichen ist die Emanzipation der Frau noch nicht
durchgesetzt?
Wo sind heute Emanzipationsbestrebungen zu sehen?
Weshalb muss die Emanzipation der Frau erkämpft werden?
Wer stellt sich den Emanzipationsforderungen entgegen und warum?
usw.
Aus all diesen Fragen ergibt sich eine Fülle von Aspekten für die Stoffsammlung.
Das Ergebnis könnte etwas so aussehen:
a) Frauen dürfen wählen und gewählt werden
b) die Frau ist nach dem Gesetz dem Mann gleichgestellt
c) Mädchen wählen zunehmend typische Männerberufe
d) seit 1976 kann der Mädchenname der Frau der Familienname sein
e) gleicher Lohn für gleiche Arbeit
f) Frauen reisen allein
g) immer mehr Führerschein- Besitzerinnen
h) seit 1976 muss der Mann bei der Erwerbstätigkeit auf die Belange der Frau
Rücksicht nehmen (Paragraf 1356 Abs.2, BGB)
i) Rentenrecht (1984 verwirklicht)
j) immer mehr Mädchen studieren
k) Leichtlohngruppen
l) Emanzipation auf dem Land weniger fortgeschritten als in der Stadt
m) wenig Chancen, Ministerin zu werden
n) schlechtere Ausbildung
o) höhere Erwartungen bei beruflichem Aufstieg
p) typische Frauenberufe: Putzfrau, Kindergärtnerin, Verkäuferin, Friseuse
q) Doppelbelastung: Familie - Beruf
r) Erziehung der Mädchen zum „schwachen Geschlecht“
s) Ausnutzung der Frau als Sex-Objekt
t) einseitige Ausrichtung durch die Werbung
u) Verantwortung für Kinder und Haushalt
v) Frauen verlieren Arbeitsplatz schneller
w) weniger Frauen in leitenden Positionen
x) Schwierigkeiten in Männerberufen
Der nächste Schritt ist angesichts der Vielzahl der Aspekte nicht so einfach, denn es
müssen Oberbegriffe gefunden werden, damit die Stoffsammlung in eine überschaubare Ordnung gebracht werden kann. Es gibt positive und negative Aspekte,
materielle und ideelle, individuelle und familiäre Gesichtspunkte. Eine gute Übersicht
bekommt man hier, wenn man die Bereiche, in denen die Frau betrachtet worden ist,
differenziert. Danach ergibt sich:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
die rechtliche Stellung der Frau
die Stellung der Frau im Beruf
die Stellung der Frau in der Familie
die Stellung der Frau im Alltagsleben
die Stellung der Frau in der Freizeit
die Stellung der Frau in der Ausbildung
84
Da zu jedem dieser Punkte Pro- und Contra-Argumente zu finden sind, kann die nun
folgende Gliederung folgendermaßen aussehen (1. Alternative):
1. Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft verwirklicht,
weil die Gleichstellung der Frau rechtlich garantiert ist
weil die Frau gleiche Möglichkeiten der Berufswahl und -ausübung hat
weil die Frau nicht mehr alleine für Haushalt und Kinder zuständig ist
weil die Frau im Alltag unabhängig und selbstbestimmt auftreten kann
weil die Frau ihre Freizeit selbstständig plant und gestaltet
weil die Frau viele weiterführende Bildungsmöglichkeiten nutzen kann
2. Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft nicht verwirklicht,
weil unsere Rechtswirklichkeit Frauen immer noch benachteiligt
weil die Frauen im Berufsleben stark benachteiligt werden
weil die Frau in der Familie immer noch ausgebeutet wird
weil die Frau im Alltag häufig diskriminiert wird
weil die Freizeitmöglichkeiten für Frauen eingeschränkt sind
weil Frauen insgesamt geringere Ausbildungsmöglichkeiten haben
Der Vorteil einer so ausgerichteten Gliederung liegt darin, dass man bei der
Ausführung (schriftlichen Darstellung) abwechselnd Pro- und Contra-Seite zu Wort
kommen lassen kann (wie beim Diskussionsbeispiel zu Beginn). Die Struktur dieser
Methodik, bei der die abwägende Gegenüberstellung von Einzelargumenten die
Abfolge bestimmt, sieht folgendermaßen aus:
Man führt die Gedanken abwechselnd
vom Argument der These zum Argument
der Gegenthese („Seitenwechsel“) und
kommt zum Schluss zur Synthese.
Die o.a. Stoffsammlung kann aber auch zu einer anderen Gliederung führen, die
etwa so aussehen könnte (2. Alternative):
1. Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft verwirklicht,
weil die Gleichberechtigung der Frau gesetzlich verankert ist
weil die Frauen im Alltagsleben unabhängig sind wie die Männer
weil die Frauen in der Freizeit ebenso selbstständig sind wie die Männer
2. Die Emanzipation der Frau ist in unserer Gesellschaft noch nicht verwirklicht,
weil Frauen im Beruf benachteiligt werden
weil Frauen in der Ausbildung geringere Chancen bekommen
weil Frauen in der Familie in vielfacher Weise ausgebeutet werden
85
Der Vorteil einer so ausgerichteten Gliederung liegt darin, dass man bei der
Ausführung eine Seite (Pro oder Contra, je nach Wichtigkeit) zunächst ganz
ausarbeitet und danach die andere Seite bedenkt. Die Struktur dieser
Vorgehensweise, bei der die abwägende Gegenüberstellung der Argumentationen
im Zentrum steht, sieht folgendermaßen aus:
Man stellt die These mit allen
Argumenten der Gegenthese mit allen
Gegenargumenten gegenüber und
kommt dann im 3. Teil zum Abwägen und
zur Synthese.
Nachdem die Gliederung erstellt ist, überlegt man im nächsten Arbeitsschritt das Ziel
der Argumentation. Das Ziel der dialektischen Erörterung kann nicht sein, sich für
eine der beiden Seiten zu entscheiden, weil ja die eigene Argumentation zeigt, dass
es für beide Seiten gute Argumente gibt. Das Ziel hierbei kann nur eine beide Seiten
berücksichtigende Synthese sein, die unterschwellig immer schon bei der Pro- und
Contra-Argumentation mitschwingt. Diese Synthese macht den eigentlich schöpferischen Teil der dialektischen Erörterung aus; denn die gegensätzlichen Standpunkte
müssen miteinander verbunden werden. Das bedeutet: In der Synthese muss etwas
völlig Neues gefunden werden, das in beiden Argumentationen noch nicht enthalten
sein konnte, weil sie jeweils nur einseitig sind.
Für das Erstellen der Synthese gilt:
die Synthese darf nicht bloß eine unbegründete Privatmeinung aussprechen;
die Synthese darf nicht zu einer der beiden Thesen zurückkehren;
die Feststellung, es komme jeweils auf den Einzelnen an, wie er das Problem
lösen will, ist nur in seltenen Fällen eine überzeugende Synthese;
wer einfach zur Lösung des Problems die Thesen mit „sowohl - als auch“
verknüpft, überzeugt nicht;
die Synthese sollte einen neuen, über die Themenformulierung hinausgehenden Begriff finden;
wer mit seiner Synthese zeigen kann, dass er das Thema / Problem selbstständig, verantwortlich und mit Sachkenntnis durchdacht hat, überzeugt am
meisten;
Eine Synthese zu unserem Beispielthema könnte lauten:
Die Erörterung hat gezeigt, dass man die Themafrage nicht mit einem klaren
Ja oder Nein beantworten kann. Obgleich die Fortschritte in Bezug auf die
Gleichberechtigung durchaus beachtlich sind, lässt sich nicht übersehen,
dass die Frauen bei uns in wichtigen Bereichen immer noch benachteiligt
werden. Auf dem Papier steht zwar, dass die Frau dem Mann gleichgestellt
86
ist, die Realität ist aber weniger von gesetzlichen Vorgaben als vielmehr
von traditionellen Denkweisen bestimmt. Solange der Mann sich über die
Frau stellt und ihre Emanzipation verhindert, weil er den Verlust seiner
privilegierten Stellung fürchtet, kann es keine wirkliche Emanzipation der
Frau geben. Und solange es in der Familie bzw. in der Gesellschaft üblich
ist, Jungen anders zu behandeln als Mädchen, und solange in der
Kindererziehung Rollenverhalten erwartet und gefördert wird, solange kann
von einer wirklichen Gleichberechtigung der Frau nicht gesprochen werden.
Die Emanzipation der Frau ist nicht (allein) das Problem der Frauen,
sondern das Problem der ganzen Gesellschaft. Und erst, wenn die
Bereitschaft gegeben ist, von alten, überkommenen Denkmustern
abzurücken und sich für neue, humanere Vorstellungen und Werte zu
öffnen - das gilt besonders für die Männer -, dann kann aus der juristischen
Gleichstellung der Frau auch eine faktische werden.
Sind Gliederung und Synthese vorgeplant - wir befinden uns immer noch im
Stadium der Vorarbeiten, der groben Konzeption -, geht es im nächsten Schritt
um die Ausarbeitung der Argumente (Sie wissen schon: weil - denn - wie). Bei
dieser Ausarbeitung können Sie zurückgreifen auf jene Aspekte der
Stoffsammlung, die für die Gliederung noch nicht gewählt worden sind.
Sind die Argumentationen vollständig erstellt, können wir uns auf die letzten
Punkte der Vorarbeit konzentrieren, auf die Einleitung und den Schluss.
Möglichkeiten hierfür haben Sie schon bei der steigernden Erörterung kennen
gelernt. Darauf können Sie zurückgreifen; Sie können aber auch Aspekte aus der
Stoffsammlung aufgreifen, die sich für die Einleitung bzw. für den Schluss eignen.
Nun sind die Vorstudien abgeschlossen. Es ist klar und sofort einleuchtend: Je
intensiver und detaillierter die Vorarbeiten gemacht werden, umso leichter dürfte
die Ausführung sein. Denn dabei geht es ja nur noch darum, das Vorbereitete
schriftlich zu formulieren und in einen Fließtext zu bringen.
Vergessen Sie bitte nicht: Die Gliederung gehört zur Arbeit dazu und wird den
Ausführungen vorangestellt.
Themenbeispiele:
1. Raucher werden aus U-Bahnen und Büroräumen verdrängt. Auch in Flugzeugen
und Restaurants gibt es immer häufiger Rauchverbote.
Sollte das Rauchen in öffentlichen Räumen ganz verboten werden?
2. Stellt das Fernsehen eine Bereicherung dar oder ist das Leben der Menschen
durch das Fernsehen ärmer geworden?
3. Sollte die industrielle Massentierhaltung verboten werden?
4. Junge Männer müssen Wehr- oder Ersatzdienst leisten. Wäre es da nicht gerecht,
wenn für junge Frauen ein soziales Pflichtjahr eingeführt würde?
5. Ist die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von homosexuellen und
heterosexuellen Lebensgemeinschaften berechtigt?
87
6. Sollten alle wissenschaftlichen Experimente mit Tieren in der gegenwärtigen Form
verboten werden?
7. Ist es richtig, dass sich in der modernen Demokratie die Minderheit dem Willen der
Mehrheit fügen muss?
8. Ist die Auffassung, dass jeder für sein mögliches Suchtproblem selbst
verantwortlich ist, richtig?
9. Sollte der Arzt Sterbehilfe leisten dürfen?
10. Fördert oder hemmt die Gruppenarbeit im Unterricht den Lernprozess?
11. Führen oder Wachsen lassen - welches Erziehungsmodell ist geeigneter?
12. Rationalisierung - Fluch oder Segen?
13. Hat die moderne Technik unser Leben besser und sicherer gemacht?
14. Gefährden die heutigen Massenmedien das freie, selbstständige Denken?
15. Sollte die Notengebung in der Schule abgeschafft werden?
16. Sollte die Alkoholwerbung in Funk und Fernsehen untersagt werden?
17. Führt die wachsende Freizeit zu mehr Freiheit?
18. Ist es richtig, dass unser Grundgesetz am Privateigentum festhält?
19. Sind Bürgerinitiativen in einer Demokratie überflüssig?
20. Hat die Politik das Recht, in die Kultur und in den Kulturbetrieb einzugreifen?
21. Fördert oder gefährdet die moderne Publizistik das freie, selbstständige Denken?
22. Schon 1996 konnte man via Kabel über 30 Fernsehprogramme empfangen. - Hat
sich der Traum von mehr Freiheit im Bereich der Mediennutzung - einst ein
Hauptargument für das Kabelfernsehen - erfüllt?
23. Glauben Sie, dass eine gerichtliche Strafe einen Menschen ändern kann?
24. Rechtfertigen Sicherung und Ausbau des Wohlstandes Umweltzerstörung und
-verschmutzung?
88
Schüler- Beispiel einer dialektischen Erörterung
Thema: Ist die Auffassung, dass jeder für sein mögliches Suchtproblem selbst
verantwortlich ist, richtig?
Gliederung:
Pro - These: Jeder Mensch ist für sein mögliches Suchtproblem selbst verantwortlich,
weil die fehlende Bereitschaft, sich mit Drogen, Sucht und den
daraus entstehenden Problemen ernsthaft auseinanderzusetzen,
es jeder therapeutischen Einrichtung unmöglich macht, einem
Abhängigen zu helfen, einen Ausweg aus der Sucht zu finden;
weil das Risiko einer Abhängigkeit, die durch regelmäßige
Einnahme von Drogen entstehen kann, allgemein bekannt ist.
Contra - These: Ein Drogensüchtiger ist für seine Sucht nicht selbst verantwortlich,
weil das soziale Umfeld (Familie, Schule etc.) und auch die
Gesellschaft verantwortlich sind für die Menschen, insbesondere
für die Heranwachsenden;
weil die konsumorientierte, mit vielfältigen Problemen belastete
heutige Welt, gekennzeichnet durch Stress und Schnelllebigkeit,
dem einzelnen und besonders der Jugend wenig Raum für die
Selbstentfaltung bietet.
Synthese:
Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft muss ethisch fundiert
sein durch gegenseitige Verantwortung.
Die ursprüngliche Bedeutung von
Drogen liegt in der Anwendung von
Präparaten pflanzlichen, mineralischen
und tierischen Ursprungs in Form von
Heilmitteln, Gewürzen oder Stimulanzen. Ein unsachgemäßer Umgang mit
diesen Stoffen kann zu schweren gesundheitlichen Schäden und Suchtverhalten führen. Da dies allgemein
bekannt ist, weiß jeder, der mit dieses
Mitteln zu tun hat, worauf er sich einlässt. Von daher muss man der Auffassung zustimmen, dass jeder im
Umgang mit diesen Mitteln selbst
verantwortlich ist.
Diese Selbstverantwortung ist besonders bei solchen Süchtigen gegeben,
die willentlich Drogen konsumieren
und nicht den Willen und die
Bereitschaft besitzen, sich
therapeutisch betreuen zu lassen, um
den Ausstieg aus der Sucht zu
erreichen. Erfolge hierbei lassen sich
nur erzielen, wenn beide Seiten
konstruktiv zusammen arbeiten. Die
Lebensgeschichten vieler Drogen-
abhängiger, die nach mehrfach durchlebten Entzugstherapien immer wieder
in die Abhängigkeit zurückgefallen
sind, belegen deutlich, dass das
Suchtproblem ein vielschichtiges und
umfassendes Gesamtproblem ist, das
eine Therapie allein nicht lösen kann.
Therapie bedeutet nämlich auch die
Betreuung nach dem Entzug, damit
der Betroffene nicht Gefahr läuft,
wieder in sein altes Umfeld und die
damit verbundenen Probleme zu
geraten. Hierbei spielt natürlich die
Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen
eine wichtige Rolle; denn nur solchen,
die ihr Problem erkennen und wirklich
Hilfe suchen und die Maßnahmen der
Hilfe akzeptieren, kann geholfen
werden. Je länger und ausgeprägter
das Ausmaß der Sucht andauert,
desto schwieriger wird es für den
Betroffenen, selbstverantwortlich einen
Ausweg zu finden, denn ein Langzeitmissbrauch führt in jedem Fall auch zu
Persönlichkeitsveränderungen wie
Konzentrationsstörungen, impulsivem
89
Und bei denen, die bereits Kontakt mit
Drogen haben, muss es von staatlicher
Seite Hilfe geben. Eine repressive
Drogenpolitik hilft keinem, sie fördert
lediglich den Anstieg der Preise und
damit den Gewinn der Dealer. Und
diese Spirale vergrößert die Beschaffungskriminalität und damit die Unmöglichkeit des Süchtigen, aus diesem
fatalen Kreislauf herauszukommen.
Stellt man sich die Frage, warum
jemand überhaupt zu Drogen greift,
dann sind die gesellschaftlichen
Verhältnisse ein wesentlicher Faktor.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der
Egoismus und Rücksichtslosigkeit
dominieren, in der das Geld und der
materielle Besitz und nicht Menschlichkeit und Nächstenliebe die obersten
Prioritäten besitzen. Jeder ist sich
selbst der Nächste. Soziale Verantwortung ist in dieser Konkurrenzgesellschaft eher die Ausnahme, weswegen
diejenigen, die das allgemeine Spiel
nicht mitmachen, gnadenlos ausgegrenzt werden. Hinzu kommt ein immer
enger werdender Arbeitsmarkt, der
vielen Millionen Menschen die Arbeit
oder sogar schon eine Ausbildung
verweigert und sie den sozialen
Netzen überantwortet.
Perspektivlosigkeit, Einsamkeit und
Langeweile sind die Folgen, die eine
gefährliche Basis für die Flucht aus der
Wirklichkeit sein können. Der Griff zu
Drogen bildet oft dann die scheinbare
Rettung aus der Verzweiflung, zumal
dieser Weg in unserer Gesellschaft
dadurch erleichtert wird, dass für
legale Drogen (Alkohol, Zigaretten,
Tabletten) überall geworben wird und
sie mühelos erhältlich sind. Die legalen
Drogen bilden in der Regel die erste
Stufe der Drogenabhängigkeit. Die
sozialen Verhältnisse im Kleinen, also
Familie, Umfeld, Freunde, entscheiden
wesentlich mit, ob jemand in den
illegalen Drogenkonsum abfällt und
zum Außenseiter wird.
Verhalten, Aggression, Apathie,
Gleichgültigkeit, Resignation, Isolation
und Rückzug.
Ein weiteres Argument für die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen ist wie schon mal erwähnt - der hohe
Bekanntheitsgrad von Drogen und
deren Wirkung in unserer Gesellschaft.
Die Zigarettenwerbung macht eigens
auf die gesundheitsschädliche Wirkung
aufmerksam, Radio und Fernsehen
bieten dauernd Informationen über
Drogen und Drogenmissbrauch. Und
auch die Gesundheitsämter arbeiten
ebenfalls in aufklärerischer Absicht. Es
existiert außerdem noch ein vielfältiges
Angebot an Informationsmaterial, Broschüren, CDs, Aufkleber usw. Keiner
kann sich damit herausreden, dass er
nichts gewusst habe.
Trotz all dieser Maßnahmen wächst
das Herr der Drogensüchtigen dauernd
an, sodass es offenbar so ist, dass der
Blickwinkel der persönlichen Verantwortung nicht alles erfassen kann.
Wenn es also Faktoren gibt, die den
Einzelnen beeinflussen, ohne dass er
sich dagegen wehren kann, dann kann
man ihm auch keine Schuld
zusprechen.
Jeder Mensch wird von seinem
Umfeld, seinem Milieu, in dem er
aufwächst, automatisch beeinflusst.
Das gilt besonders für Kinder und
Jugendliche, die sich dieser
Beeinflussung oft gar nicht bewusst
sind. Solange die soziale Kontrolle im
positivem Sinne funktioniert und die
Mitmenschen auch eine Verantwortung
für alle anderen wahrnehmen, kann
das Abdriften des einzelnen in Sucht,
Kriminalität und dergleichen
aufgefangen werden. So kann
beispielsweise ein psychologisch und
pädagogisch orientierter Unterricht in
der Schule dazu beitragen, dass das
Thema Drogen und Sucht nicht tabuisiert, sondern offensiv in den Lernprozess einbezogen wird. Eltern sollten
ihren Kindern die gesundheitlichen,
finanziellen und sozialen Folgen von
Sucht und Abhängigkeit erklären und
sich immer gesprächsbereit zeigen.
Die Erörterung hat gezeigt, dass es
gute Pro- und gute Contra-Argumente
für die Ausgangsfrage gibt und dass
man es sich mit einer einseitigen Ant90
leichtesten gelernt in einem Klima des
Vertrauens in der Familie, in der
Schule, im Freundeskreis oder im
sozialen Umfeld allgemein. Wie groß
die Macht dieser Sozialisationsinstanzen ist, zeigt sich immer dann
deutlich, wenn sie versagen bzw. wenn
nur eine von ihnen versagt. Sind schon
die familiären Verhältnisse zerrüttet, ist
es für die Schule fast unmöglich, die
entstandenen Defizite auszugleichen.
Wenn der Freundeskreis nicht
verantwortlich handelt, ist der Einzelne
hochgradig gefährdet. Daran zeigt sich
deutlich, dass es im sozialen
Miteinander immer darauf ankommen
muss, dass das Verhältnis von
Individuum und Gesellschaft nur dann
ausgewogen funktionieren kann, wenn
es ethisch fundiert ist. Aber das ist
nichts Neues, alles seit
Menschengedenken bekannt. Nur
heute meinen wir uns darüber
hinwegsetzen zu müssen, um dem
Egoismus Platz zu machen. Das kann
nicht funktionieren. Und deswegen
werden wir uns in zunehmendem
Maße mit Drogenproblemen
auseinandersetzen müssen.
wort zu leicht macht. Auch wenn man
davon ausgeht, dass jeder Mensch in
der Lage sein sollte, frei und eigenverantwortlich zu handeln, darf man die
Umstände und Einflüsse, unter denen
wir heute in dieser Gesellschaft leben,
nicht unterschlagen. Um den
Einzelnen vor möglichen
Gefährdungen zu schützen, muss auf
beiden Seiten schon im Vorfeld
grundlegender vorgesorgt werden. Auf
der einen Seite muss schon von der
kindlichen Erziehung an alles
unternommen werden, die Autonomie
und Eigenverantwortlichkeit des
Einzelnen zu ermöglichen und zu
stärken; auf der anderen Seite muss
die gesellschaftliche Verantwortung für
den Einzelnen ernst genommen und
größer werden. Denn die
Eigenverantwortung des Einzelnen
steht in direktem Zusammenhang mit
der gesellschaftlichen Verantwortung.
Ich fühle mich dann für andere
verantwortlich, wenn ich deren
Verantwortung für mich erfahre.
Lassen die anderen mich links liegen,
werde ich kaum auf den Gedanken
kommen, dass ich für sie verantwortlich bin. Verantwortung tragen muss
gelernt werden und dies wird am
Sie haben beim Lesen dieser Klausur bemerkt, dass nicht alles gut gelungen ist.
Aufgabe:
Überprüfen Sie bei der Gliederung, ob die Argumente überzeugen.
Überprüfen Sie die Ausarbeitung der Argumentationen.
Prüfen Sie, inwieweit die Synthese auf die vorherigen Argumentationen
bezogen ist und ob sie überzeugend ausgefallen ist.
Musterbeispiel einer dialektischen Erörterung:
Aufgabe: Digitales Fernsehen, „Multimedia“, Internet - erörtern Sie die Vor- und
Nachteile dieser modernen Technologien und nehmen Sie Stellung dazu!
Gliederung:
1. These: Die modernen Technologien haben etliche Nachteile.
1.1. Viren sind eine Gefahr für den Computer.
1.2. Der unbefugte Zugang zu persönlichen Daten ist möglich.
1.3. Das Angebot kann jugendgefährdend sein.
91
1.4. Das Angebot ist unüberschaubar und unkontrollierbar.
1.5. Die neuen Technologien können süchtig machen.
1.6. Die Nutzung ist teuer und führt zur Vernachlässigung sozialer Kontakte.
2. These: Die modernen Medien bringen viele Vorteile.
2.1. Die neuen Medien haben einen hohen Unterhaltungswert.
2.2. Das Internet bietet zahlreiche kostenlose Programme.
2.3. Das Internet eröffnet neue Kontakte und Informationsquellen.
2.4. Jugendliche lernen frühzeitig den Umgang mit dem Computer.
2.5. Die neuen Medien bieten verbesserte Kommunikations- und
Informationsmöglichkeiten.
2.6. Die neuen Medien sind aktuell, schnell, billig und vielseitig.
Synthese: Die Selbstverantwortung des Einzelnen bestimmt den Umgang mit den
neuen Medien.
Mit „Multimedia“, digitalem Fernsehen
und Internet stehen völlig neue
Informations- und Kommunikationstechnologien zur Verfügung. Unter
„Multimedia“ versteht man das Zusammenwirken verschiedener
Informationsübermittler, z.B. Bilder,
Ton und Video. Das digitale Fernsehen
ändert Fernsehsignale in digitale
Signale um und bietet dadurch hervorragende Qualität und eine große
Programmvielfalt. Das Internet
schließlich ermöglicht die weltweite
Kommunikation mittels eines
weltumspannenden, computergestützten Netzwerks. Diese neuen
Informations- und Kommunikationstechnologien bringen eine große Zahl
von Vorteilen, aber auch eine Menge
Nachteile mit sich.
Eindringen von Viren melden oder
verhindern.
Mit der Virengefahr verbunden ist auch
das Problem, dass während der
„online-Sitzungen“ Unberechtigte
Zugang zu persönlichen Daten haben
können. Gibt man z.B. Adressangaben
für die Bestellung von Produkten ein,
so können diese Angaben mit speziellen Programmen auch von Unberechtigten eingesehen werden. Die
Folgen dieses unbefugten Zugangs zu
persönlichen Daten hängen natürlich
vom Wert dieser Daten ab: Ist es
beispielsweise gelungen, die CodeWörter für das „online-banking“ in
Erfahrung zu bringen, so kann der
Schaden für den Betroffenen sehr groß
sein. Die Banken versichern aber
immer wieder, dass es nahezu
unmöglich sei, diese Code-Wörter
herauszubekommen.
Bei Computern liegt ein großer Nachteil in der Gefahr, dass so genannte
Viren, also digitale Störprogramme,
über die Internet-Verbindung Eingang
in den Computer des Benutzers finden.
Diese Viren können große Schäden
anrichten, sie können z.B. wichtige
Daten oder Programme löschen. Jeder
Computerbesitzer, der schon einmal
einen solchen Virus auf der Festplatte
hatte, weiß, welche Probleme mit der
Wirkung, Erkennung und Beseitigung
verbunden sind. Allerdings gibt es
auch Schutzprogramme, die das
Das Angebot des Internets kann auch
jugendgefährdend seil, weil die angebotene Vielfalt Jugendlichen ohne
Schwierigkeiten Zugang zu extremistischem Gedankengut oder zu Pornografie gestattet. Man braucht nur das
Wort „Pornografie“ in eine Suchmaschine einzugeben und bekommt
dann alle möglichen Angebote aufgelistet. Der Anbieter will zwar immer das
Alter und die Adresse des Benutzers
92
ohne den virtuellen Internet-Kontakt
verbringen möchte.
Wenn die neuen Medien derart missbraucht werden, stellt sich der größte
Nachteil ein: Man investiert viel Geld
und Zeit. Jede Stunde, die man mit
dem „Surfen“ im Internet verbringt,
kostet neben den Telefon- auch
Nutzungsgebühren von bis zu drei
Euro, sodass im Monat schnell einige
Hundert Euro zusammenkommen.
Zudem kommt, dass man dadurch
soziale Kontakte vernachlässigt, wenn
man dauernd in einer virtuellen Welt
agiert. Die Folge davon ist, dass
Freundschaften oder auch Familien
auseinanderfallen, weil der Einzelne
vor lauter „Multimedia“ nicht mehr
bereit ist, für diese Beziehungen Zeit
aufzubringen. Dies ist wohl der schwer
wiegendste Nachteil der neuen
Technologien.
wissen, um den Zugang zu
bestimmten Seiten nur Volljährigen zu
gestatten; dieses Vorgehen bietet aber
keinen wirklichen Schutz der
Jugendlichen, da es leicht zu umgehen
ist. Hier könnte nur ein striktes Verbot
solcher jugendgefährdenden Inhalte
helfen. Auf Grund der Unüberschaubarkeit des Internets wäre die
Einhaltung eines solchen Verbots aber
kaum zu kontrollieren.
Das Problem der Kontrolle stellt sich
auch bei der Schwierigkeit, die angebotenen Informationen zu verifizieren.
In einem Spiegel-Artikel stand z.B. vor
kurzem, dass so genannte „NetzMythen“, also erfundene Geschichten,
im Internet kursieren. Viele haben
dann vergeblich versucht, diese im
Wust der Adressen und Angebote zu
finden. Internet, „Multimedia“ und
digitales Fernsehen bieten dem
Konsumenten eine große Menge an
Informationen an, die er vielleicht oder besser: mit Sicherheit gar nicht
benötigt. Auf Grund der Überfülle von
Angeboten ist das Ganze für den
Benutzer unüberschaubar und
verwirrend. Die richtige Auswahl aus
dieser Fülle zu treffen, dürfte den
meisten sehr schwer fallen. Seriöse
Angebote sind nicht auf Anhieb von
unseriösen Offerten zu unterscheiden;
Hinterlist und Betrug erkennt man nicht
auf den ersten Blick.
Diesen Nachteilen stehen jedoch zahlreiche Vorteile gegenüber. Zunächst
ist der Unterhaltungswert der neuen
Medien sehr hoch einzuschätzen. Die
Vielzahl von Programmen, die beispielsweise das digitale Fernsehen
bietet, ist ein Garant dafür, dass der
Konsument immer etwas zu seinem
jeweiligen Bedürfnis Passendes findet.
Auch im Internet findet sich eine
Menge Unterhaltungsangebote auf
Musikseiten oder in so genannten
„chat-groups“; diese sind
Gesprächskreise, in denen über eine
Vielzahl aktueller Themen diskutiert
wird. Beim Stichwort „Unterhaltung“
darf man natürlich die Computerspiele
nicht vergessen, die im Internet
jederzeit bequem greifbar sind. Dies
bringt uns zum nächsten Vorteil: Das
Internet bietet Zugang zu kostenlosen
„Shareware-Programmen“. Diese
Programme kann man sich auf den
eigenen Computer kopieren und
nutzen. Besonders Spiele werden
gerne auf diese preiswerte Weise
ausprobiert. Man kann aber auch
besondere Versionen hochwertiger
Anwendersoftware, wie z.B. Bildbearbeitungsprogramme, auf die beschriebene Weise erhalten. So kann
Ein weiteres Problem, das diese neuen
Technologien mit sich bringen, ist die
Suchtgefahr. Die Verbreiterung der
Informationsbasis bedeutet auch, dass
man sich länger mit dem Computer
und dem Fernsehen beschäftigt. Die
Vielzahl der Spiele beispielsweise, die
im Internet - häufig kostenlos - greifbar
sind, verleiten dazu, immer mehr
davon auszuprobieren. Es gibt bereits
Spiele - ein Beispiel dafür ist das
Abenteuerspiel „Quake“ -, die man im
Internet mit Spielpartnern aus der
ganzen Welt spielen kann. Die Folge
davon ist, dass man regelrecht
abhängig werden kann und keinen Tag
93
der Benutzer Geld sparen, aber auch
Zeit, die er aufwenden müsste, um das
Programm in einem Geschäft käuflich
zu erwerben.
übermitteln. Dass E-Mail noch dazu
sehr viel billiger ist als die normale
Briefpost, kommt als weiter bedeutsamer Vorteil hinzu.
Sehr viel Zeit spart man auch beim so
genannten „online-banking“. Man führt
seine Bankgeschäfte einfach vom
häuslichen Schreibtisch aus und
erspart sich dadurch den Weg zur
Bank, um beispielsweise eine Überweisung abzugeben.
Unterhaltend kann auch das Surfen im
Internet sein. Es ist spannend, neue
Adressen zu entdecken und auszuprobieren, neue Kontakte zu knüpfen
oder Informationsquellen zu erschließen. Für den Benutzer eröffnet diese
virtuelle Welt auch die Möglichkeit,
herkömmliche Schranken gesellschaftlicher Konventionen außer Acht
zu lassen, wenn er z.B. unter falschem
Namen seine ganz persönliche
Meinung zu einem bestimmten Thema
äußert. Natürlich hat diese Möglichkeit
auch negative Seiten, wenn z.B. An bieter von Kinderpornografie ihre
Machwerke problemlos im Internet
veröffentlichen können.
Glücklicherweise gibt es aber bei der
Polizei Arbeitsgruppen, die einen
solchen Missbrauch des weltweiten
Datennetzes zu verhindern suchen.
Ein wichtiger Vorteil der modernen
Medien liegt darin, dass Jugendliche
auf Grund der oben genannten
Vorteile, z.B. auf Grund des
Unterhaltungswertes, frühzeitig an den
Umgang mit ihnen gewöhnt werden.
Wenn jemand beispielsweise seine
eigene Homepage im Internet
veröffentlichen möchte, lernt er mit
dieser Motivation spielerisch den
Umgang mit dem Computer und die
Erstellung von Programmen. Diese
Erfahrung kann im späteren Berufsleben große Vorteile bringen.
Internet, „Multimedia“ und digitales
Fernsehen liefern schnell eine Fülle
von Informationen, nach denen man
normalerweise lange und kostenintensiv recherchieren müsste. Ein gutes
Beispiel ist der „newsticker“ im
Internet, der ständig aktualisiert die
neuesten Pressemeldungen
veröffentlicht. Diese Meldungen sind
von hoher Aktualität, die weder vom
Radio noch vom Fernsehen mit ihren
festen Sendezeiten überboten werden
kann. Das digitale Fernsehen bietet
dem Zuschauer sogar die Möglichkeit,
gleichzeitig unterschiedliche
Perspektiven, z.B. bei einem Formel-IRennen, zu wählen. Der Umfang
dieser Information übertrifft sogar den
des Zuschauers, der vom
Streckenrand aus das Rennen verfolgt.
Wir haben gesehen, dass die Vorteile
der neuen Medien vor allem im
Bereich der Informationsübermittlung
und der Kommunikation die Nachteile
überwiegen. Der Ausbau dieser
Technologie bedeutet im Übrigen
einen wichtigen Standortvorteil für die
Bundesrepublik Deutschland. Durch
ISDN und neue Kabelsysteme ist das
Internet als Bestandteil der Infrastruktur ein wichtiger Vorteil, wenn es um
die Frage der Wettbewerbsfähigkeit
geht, da sich mit dem Internet neue
Märkte erschließen lassen. Auch
„Multimedia“ schafft neue Arbeitsplätze
und trägt damit zur sozialen Stabilität
und zur Zukunftsfähigkeit des Landes
bei.
Der letzte und wichtigste Vorteil der
neuen Technologien besteht in den
wesentlich verbesserten Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten. Wenn man den E-Mail-Service
nutzt, stellt man fest, dass man im
Vergleich zum herkömmlichen Brief
wesentlich mehr schreiben kann und
dass die Laufzeit der elektronischen
Post nur einen Bruchteil des „normalen“ Briefes beträgt. Außerdem kann
man durch Anhängen von Dateien
auch große Datenmengen schnell
Trotz aller Vorteile, die jeden schnell
überzeugen können, darf nicht ver94
gessen werden, dass der Umgang mit
den neuen Technologien auch Gefahren mit sich bringen kann. Um diese
Nachteile zu minimieren und die Vorteile optimal zu nutzen, sollte der Benutzer diese Medien verantwortungsvoll für sich in Anspruch nehmen. Ein
verantwortlicher Umgang setzt weitreichende Kenntnisse hinsichtlich der
Medien, ihrer Möglichkeiten, Vorteile
und Gefahren voraus. Um diese
Kenntnisse zu erlangen, muss sich der
Benutzer theoretisch und praktisch mit
diesen Medien auseinandersetzen. Für
die praktische Seite gibt es etliche
Angebote, z.B. an den Volkshochschulen; die theoretischen Kenntnisse können im Freundeskreis oder durch
Fachliteratur gewonnen werden. Nur
wer die Vorteile kennt, kann sie
nutzen, nur wer die Gefahren kennt,
kann sie vermeiden. Letztlich ist es
aber immer die Selbstverantwortung
des Einzelnen, die Umgang und
Nutzung bestimmt.
Ein solcher verantwortungsvoller
Umgang mit den neuen Medien kann
z.B. schon in der Schule im Rahmen
der Medienerziehung gelernt werden.
Hier kann jeder Schüler seine ersten
Erfahrungen mit den modernen
Medien machen und deren
Möglichkeiten kennen lernen. Weil die
neuen Technologien in unserer
Gesellschaft große Bedeutung
zukommt, sollten in der Schule noch
mehr Anstrengungen unternommen
werden, der Medienerziehung einen
größeren Raum im Lehrplan
einzuräumen. Nur so können die
Chancen, die diese Medien bieten,
auch wirklich genutzt werden.
Aufgabe:
Überprüfen Sie die Argumentationen.
Prüfen Sie, ob die Synthese den Erfordernissen genügt.
Bewerten Sie den Aufsatz und begründen Sie Ihr Urteil.
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96
Schriftliche
Kommunikation
1. Das Protokoll
Wie schreibe ich ein Protokoll?
Beispiel eines Stundenprotokolls
2. Das Referat (Methodik)
Thesenpapier erstellen
Präsentation des Referats
Vom Schriftlichen zum Mündlichen
3. Die Facharbeit
4. Kreatives und produktionsorientiertes Schreiben
4.1. Aufwärmübungen
4.2. Schreiben mit allen Sinnen
4.3 Paralleltexte schreiben
4.4. Arbeit an manipulierten Texten
4.5. Einen Essay schreiben
97
98
100
101
102
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122
1. Das Protokoll
Es gibt kaum ein Ereignis von
öffentlicher Bedeutung, bei dem nicht ein
Protokoll angefertigt wird. Protokolle
haben - das unterscheidet sie von
anderen Berichten - dokumentarischen
Charakter; im Falle einer Beschwerde
oder eines Einspruchs (einer Revision
bei Gericht) greift man auf sie zurück.
Dem Protokollanten wird deshalb eine
besondere Sorgfaltpflicht auferlegt.
Das Protokoll hat die Aufgabe, den
Verlauf und die Ereignisse von
Veranstaltungen in allen Bereichen
festzuhalten. Gerichts-, Bundestags-,
Landtags- und Ratssitzungen werden im
Allgemeinen in ihrem gesamten
Wortverlauf fixiert. In den meisten
anderen Fällen - vom Protokoll einer
Vorstands-, Gewerkschafts-, einer
Ausschuss-, Schulkonferenz- bis hin zur
Taubenzüchtervereinssitzung - wird man
sich auf die Wiedergabe des Wesentlichen beschränken.
Abgesehen vom wörtlichen Protokoll
(vgl. Parlaments- oder Gerichtsprotokoll), das die Teilnehmeräußerungen in
direkter Rede festhält, beschränken sich
die anderen Protokollformen auf eine mehr oder weniger - verkürzte neutrale
Wiedergabe der Redebeiträge. Unter
Verwendung der indirekten Rede
(Konjunktiv) werden die wichtigsten
Argumente der Beteiligten dokumentiert.
Protokolle werden entweder im Präsens
(die allgemeine Form) oder im
Präteritum abgefasst.
Man unterscheidet drei Formen des Protokolls:
1. das Verlaufsprotokoll (Es skizziert den Verlauf der betreffenden Veranstaltung;
es nennt die Abfolge der Tagesordnungspunkte, den wesentlichen Inhalt der
einzelnen Wortbeiträge, Thesen und Argumente zu den einzelnen Punkten,
Zwischenergebnisse und Ergebnisse, Beschlüsse usw.)
2. das Ergebnisprotokoll (Es ist die knappere Form eines Protokolls, in dem nur die
zur Beratung vorliegenden Punkte und entsprechende Beschlüsse festgehalten
werden)
3. das Gedächtnisprotokoll (Es wird nachträglich aus dem Gedächtnis angefertigt
und erfasst meist nur die wesentlichen Aspekte)
Form des Protokolls
Die äußere Form des Protokolls ist genormt. Am Anfang des Berichtes werden
angegeben:
Welche Besprechung, Veranstaltung, Unterrichtsstunde usw. protokolliert wird
Wann die Besprechung ... stattgefunden hat (Anfang und Ende der Sitzung)
Wo die Besprechung ... stattgefunden hat
Wer dabei anwesend war, wer gefehlt hat, ggf. auch warum
Name des Leiters, Vorsitzenden ...
Name des Schriftführers, Protokollanten
Tagesordnung
98
Die endgültige Form des Protokolls umfasst dann folgende Angaben:
Rahmen und Zeit, Ort, Anwesende, Fehlende, Vorsitz bzw. Leitung
Thema und Tagesordnung, behandelte Unterlagen, Texte
Verlauf (nur beim Verlaufsprotokoll)
Ergebnisse
Name und Unterschrift des Protokollanten
Beispiel:
Protokoll über die Sitzung des Bauausschusses der Stadt D. am 17.2.1995
Ort: D., Kleiner Sitzungssaal des Rathauses
Anwesende:
der Vorsitzende des Bauausschusses, Herr Dimmer (CDU), sieben stimmberechtigte
Mitglieder der Fraktionen im Rathaus, sieben beratende Mitglieder (die Personen werden
meist einzeln namentlich und mit Parteizugehörigkeit genannt) und Herr Baudirektor Wohlfahrt.
Tagesordnung:
1. Anerkennung der Tagesordnung
2. Genehmigung des Protokolls über die Sitzung am 16.1.1995
3. Bericht der Verwaltung zum Antrag der Fa. Mannsteufel auf Abriss der Häuser
Nr. 5 bis 11 in der Mannsteufelstraße und auf Genehmigung des Baus eines
15-stöckigen Verwaltungsgebäudes an gleicher Stelle. Drucksachen-Nr. 3/052/95
4. Aussprache und Beratung
Beginn: 18.00 Uhr
Zu 1. Der Vorsitzende begrüßt Herrn Baudirektor Wohlfahrt und alle ordentlichen und
beratenden Mitglieder des Ausschusses. Die Tagesordnung wird einstimmig
anerkannt.
Zu 2. Das Protokoll über die Sitzung vom 16.1.1995 wird einstimmig genehmigt.
Zu 3. Herr Baudirektor Wohlfahrt trägt den Antrag der Fa. Mannsteufel auf Abriss der
vier Jugendstilhäuser in der Mannsteufelstraße und auf Bau eines 15-stöckigen Verwaltungsgebäudes an gleicher Stelle vor. Er verweist auf die besonderen Verdienste
der Fa. Mannsteufel um die Stadt D., die sich ja schon in der Benennung der Straße
nach der Fa. bekunde. Er macht darauf aufmerksam, dass die Fa. M. im Falle einer
Nichtgenehmigung des Bauprojekts ihre Verwaltung in die Nachbarstadt R.
auslagern werde. Die Verwaltung mit ihrem Oberstadtdirektor an der Spitze, in
dessen Auftrag er spreche, bedaure zwar außerordentlich den Verlust der unter
Denkmalschutz stehenden Jugendstilhäuser, der Verlust würde jedoch ausgeglichen
durch den hervorragenden Entwurf des namhaften Architekten Gero Modersohn,
sodass ein architektonisch mindestens ebenbürtiges Gebäude von exemplarischer
Modernität an gleicher Stelle entstehe. Im Übrigen verweist er darauf, dass
Denkmalschutz in NRW keine verbindliche Rechtsnorm darstelle. Im Anschluss
daran erläutert er am Baumodell die besonderen Vorzüge des Entwurfs.
Zu 4. Herr Dimmer dankt Herrn Baudirektor Wohlfahrt für seinen anschaulichen
Bericht und verweist darauf, dass der Stadt ein Schaden in Millionenhöhe an Gewer99
besteuer entstehe, wenn die Fa. Mannsteufel ihre Verwaltung in die Nachbarstadt
auslagere.
Herr Lautklein (SPD) beklagt zwar die erpresserische Drohung der Fa. M., ihre
Verwaltung verlegen zu wollen, sieht aber im Interesse der Stadt keine Möglichkeit,
das Projekt zu verweigern. Im Übrigen sei der architektonische Wert der
Jugendstilhäuser zweifelhaft.
Frau Fallbein (Bü 90/Grü.) lehnt aus grundsätzlich demokratischen Erwägungen und
aus ökologischen Bedenken (Veränderung der Thermik durch den Hochbau) den
Antrag ab. Stilistisch sei der Entwurf „postmoderne Kacke“.
Nach weiterer Aussprache empfiehlt der Bauausschuss (Stimmenverhältnis 9 zu 3
bei drei Enthaltungen) dem Rat der Stadt D. dem Bauvorhaben zuzustimmen.
Ende der Sitzung: 19.45 Uhr
Der Protokollführer
(Unterschrift)
Der Vorsitzende
(Unterschrift)
Während Ihrer Schulzeit begegnet Ihnen vor allem das Stundenprotokoll, das
Protokoll einer Unterrichtsstunde, das meist für alle Schüler der Klasse bzw. des
Kurses kopiert wird. So bekommen alle die Ergebnisse einer Stunde in die Hand.
Das Stundenprotokoll ist zumeist ein Ergebnisprotokoll. Allerdings kann es bei ganz
wichtigen Unterrichtsstunden auch sinnvoll sein, um beispielsweise den Verlauf einer
Diskussion zu dokumentieren, die einzelnen Stationen dieser Diskussion zu nennen.
Deshalb sollten Sie sich, wenn Sie ein Protokoll schreiben sollen, immer erst
erkundigen, ob ein Ergebnis- oder ein Verlaufsprotokoll erwartet wird.
Wie schreibe ich ein Protokoll?
1. Mitschrift :
Entscheidend für die Qualität eines Protokolls ist eine vernünftige Mitschrift des
Unterrichtsgeschehens. Dazu verwenden Sie am besten große Blätter (Din A 4);
diese sollten Sie in der Mitte falten. Die linke Hälfte benutzen Sie dann für die Mitschrift im Unterricht, die rechte Hälfte ist reserviert für Nachträge. Nummerieren
Sie die einzelnen Schritte des Verlaufes! Wichtige Wortbeiträge sollten Sie möglichst im Wortlaut festhalten und ggf. mit dem Namen des Sprechers versehen.
2. Entwurf :
Zunächst sollten Sie eine Gliederung anfertigen.
Beim Verlaufsprotokoll: Chronologische Reihenfolge nach den Tagesordnungspunkten (TOP) und innerhalb der TOPs nach Aspekten auswählen
Beim Ergebnisprotokoll: Innerhalb der TOPs nach Zusammenhängen, nicht nach
chronologischem Ablauf ordnen
Stil: Berichtstil ohne persönliche Anteilnahme; nur Wichtiges in der direkten Rede;
in der Regel die indirekte Rede benutzen; Passivkonstruktionen verwenden;
Tempus: in der Regel im Präsens (Präteritum ist auch möglich)
3. Reinschrift
Die Reinschrift erfolgt in der schon genannten, für Protokolle genormten Form.
100
Beispiel:
Stundenprotokoll
Kurs: Grundkurs Deutsch 12
Fachlehrerin: Frau Schmidt
Zeit: Monatag, den 24.4.2000, 3.Stunde (10.00 - 10.45 Uhr)
Rahmenthema: Liebeslyrik
Stundenthema: Erschließung des Gedichtes „Entdeckung an einer jungen Frau“
Textgrundlage: Bertolt Brecht: „Entdeckung an einer jungen Frau“
Protokollantin: Lena Schröder
I. Besprechung der Hausaufgabe
Welche Konzepte von Liebe habe wir bisher kennen gelernt?
- Liebe als zerstörerische Gewalt
- Liebe als unendliche Harmonie
- Liebe als besitzergreifende Macht
II: Einstieg
Lehrerin teilt Arbeitsgruppen Gedichtschnipsel des o.g. Textes aus
Gruppen versuchen Gedichtfassungen zu erstellen
Gruppen stellen ihre Versionen vor und begründen sie (bis auf eine Gruppe legten
alle den Originaltext)
Begründungen: Reim, Zeichensetzung, Großschreibungen, Textentwicklung
III. Besprechung der Brecht - Fassung
- Situation: Mann will Frau nach einer Liebesnacht morgens verlassen, er bleibt
aber aus Mitleid noch etwas bei ihr
- Aufbau: 2 Quartette, 2 Terzette (also Sonett)
Quartette: Aufbau der Situation
Terzette: Begründung für das Bleiben, wörtliche Rede
- Wortwahl: Adjektive / Adverbien: „kühl“ (2x), „nüchtern“, „unumwunden“; keine
Liebesstimmung, eher sachlich (nur körperliche Liebe);
Widerspruch: „junge Frau“ - „graue Strähne“ (Zeit des Übergangs);
auch temporal ein Übergang: „zwischen Tür und Angel“ (nicht auf
Dauer angelegt)
- lyrisches Ich: ein Mann (?), der aus Mitleid bei der Frau bleibt, wird von seinem
Trieb gesteuert (Begierde verschlägt ihm die Stimme); will Intensität
der Liebe steigern; keine richtige Kommunikation mit der Frau; auf
sich selbst konzentriert
- Reim: abab; cddc; efg; efg; (untypisch für Sonett, Verbindung Alt - Neu
IV. Hausaufgabe
Halten Sie schriftlich fest, welches Konzept von Liebe in diesem Gedicht dargestellt
wird.
Unterschrift: (der Lehrerin)
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Anhang zum Stundenprotokoll
Bertolt Brecht: Entdeckung an einer jungen Frau
Des Morgens nüchterner Abschied, eine Frau
Kühl zwischen Tür und Angel, kühl besehn.
Da sah ich: eine Strähn in ihrem Haar war grau
Ich konnt mich nicht entschließen mehr zu gehen.
Stumm nahm ich ihre Brust, und als sie fragte
Warum ich Nachtgast nach Verlauf der Nacht
Nicht gehen wolle, denn so war’s gedacht
Sah ich sie unumwunden an und sagte:
Ist’s nur noch eine Nacht, will ich noch bleiben
Doch nütze deine Zeit; das ist das Schlimme
Dass du so zwischen Tür und Angel stehst.
Und lass uns die Gespräche rascher treiben
Denn wir vergaßen ganz, dass du vergehst.
Und es verschlug Begierde mir die Stimme.
2. Das Referat
Referat nennt man einen Vortrag über ein klar begrenztes Thema. Sachverhalte
sollen dargestellt, Zusammenhänge verdeutlicht und Ergebnisse herausgestellt
werden. Referate bedürfen eingehender Vorbereitung und straffer Gliederung. Die
Einleitung sollte so fesselnd sein, dass die Adressaten neugierig werden und Lust
auf das Thema bekommen. Der Mittelteil muss methodisch klar und logisch
aufgebaut, verständlich in der Abfolge und deutlich zielgerichtet sein. Überzeugende
Argumentationen und klare Zusammenfassungen von Ergebnissen sind hier
besonders wichtig; denn die Adressaten sollen ja in ihren Gedanken "geführt"
werden.
2.1. Arbeitsschritte
Zunächst kommt es darauf an, Thema und Aufgabe genau zu analysieren: Was ist
genau verlangt? Zu welchen Ziel soll das Ganze führen? Als erste Herangehensweise bietet sich die genaue Erfassung der Begriffe an, die in der Themenstellung
erscheinen.
Die Definition des/der tragenden Begriffs/e hilft, die Bearbeitung des Themas klar
einzugrenzen. Der arbeitstechnische Vorgang zur Erstellung des Referats lässt sich
insgesamt grob in fünf Arbeitsschritte gliedern:
102
1. Stoffermittlung
2. Stoffsammlung
3. Stoffverarbeitung
4. Ausarbeitung
5. Präsentation
2.1.1. Die Stoffermittlung
Welcher Stoff ermittelt werden soll, hängt natürlich vom Thema ab. Das Thema gibt
vor, in welcher Hinsicht Sachwissen verlangt wird. Es kommt hierbei darauf an, sich
sachkundig zu machen, und das bedeutet: sich Literatur zu verschaffen. Das geschieht in zwei Schritten: Zunächst muss geschaut werden, wo und wie überhaupt
Literatur zum Thema gefunden werden kann. Dazu bieten sich an:
Konversationslexika, Fachlexika, Fachlehrbücher, Handbücher, Dissertationen,
Bibliographien, Verfasserkatalog, Sachkatalog bzw. Schlagwortkatalog. Hier finden
sich Autoren und Werke, die für die Auseinandersetzung mit dem gegebenen Thema
notwendig sind. Das Ergebnis dieses Schrittes ist dann eine Literaturliste jener
Autoren und Werke.
Ein Referat kann am günstigsten in einer Bibliothek erstellt werden, weil dort gemäß
der Literaturliste ein sog. "Handapparat" aufgebaut werden kann, also alle benötigte
Literatur unmittelbar verfügbar gemacht werden kann. Die gewählte Literatur muss
sog. Standardwerke genauso berücksichtigen wie die aktuellsten, neusten
Publikationen (z.B. Aufsätze in Zeitschriften).
2.1.2. Die Stoffsammlung
Die Stoffsammlung vollzieht sich in zwei Schritten:
a) Durcharbeiten der gewählten Literatur,
b) schriftliches Festhalten von Informationen.
Das Durcharbeiten der Literatur setzt eine bestimmte Lesetechnik voraus. Die gründliche Bearbeitung sollte durch Unterstreichen, Markieren, Randbemerkungen u.ä.
erfolgen. Das Gelesene und Erarbeitete muss immer wieder in Hinblick auf das
Referatthema durchdacht werden, so dass Wesentliches von Unwichtigem sogleich
getrennt werden kann. Nach der Bearbeitung eines Textes sollte der Inhalt schriftlich
festgehalten werden, vielleicht stichwortartig und mit Seitenvermerk. Am besten
arbeitet man bei der Stoffsammlung mit einem Karteikastensystem. So kann die
verwendete Literatur übersichtlich und für die Verarbeitung zugriffbereit aufbereitet
werden. Neben den eigenen Stichwörtern oder schon formulierten Sätzen können
auf den Karteikarten auch Exzerpe, Konspekte, Zitate u.ä. gesammelt werden.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch ein Ordnungssystem für die Karteikarten;
es empfiehlt sich eine Ordnung nach Schlag- bzw. Stichwörtern.
103
2.1.3. Die Stoffverarbeitung
Verarbeitet wird der Stoff in zwei Arbeitsschritten:
Gliederung
schriftliche Ausarbeitung
Die Gliederung sollte das Thema übersichtlich darstellen, die Entfaltung des Themas
methodisch stringent vorzeichnen, die einzelnen Aspekte und Schritte in logischer
Reihenfolge verbinden und das Wesentliche zielgerichtet herausstellen. Generell
kann man sagen, dass die Gliederung eines Referats vier Punkte umfasst:
1. Die Einleitung
Sie wendet sich an die Adressaten und führt diese in die spezielle Thematik bzw.
Problematik ein und gibt einen Gesamtüberblick über das Referat (Ziel, Absicht,
Vorgehensweise).
2. Der erste Hauptteil
Er liefert die Darstellung des Sachverhalts, d.h., hier werden die Aussagen und
Positionen der Fachliteratur zum Thema vorgestellt. Unterschiedliche Aspekte und
Argumentationen sowie der aktuelle Stand der Diskussion bzw. in der Wissenschaft
sollen dargeboten werden.
3. Der zweite Hauptteil
In ihm erfolgt die Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Positionen und
Argumentationen. Diese erfolgt in der Form der kritischen Prüfung, also in Form der
Pro- und Contra-Argumentation. Hierbei ist der eigene sachliche Standpunkt zum
Thema und Problem Grundlage und Ergebnis der Prüfung.
Dieser Schritt ist der wichtigste in einem Referat; er besteht also aus zwei Punkten:
a) Pro- und Contra-Argumentation hinsichtlich der vorhandenen Positionen,
b) die argumentativ entwickelnde Darstellung der eigenen Position.
4. Der Schluss
Er bietet Raum für eine Zusammenfassung, für Schlussfolgerungen und für einen
Ausblick. Hier kann auch Persönliches zum Thema geäußert oder auf der Grundlage
der Kenntnisse Wünschenswertes ausgesprochen werden.
Ist die Gliederung, also das Gerüst des Referats, erstellt, sollte man die Karteikarten
nach den Hauptgesichtspunkten dieser Gliederung ordnen. So kann man sich
schnell einen Überblick über das gesamte Material, das ja eingearbeitet werden soll,
verschaffen und auch schnell feststellen, wo noch Lücken bestehen.
2.1.4. Schriftliche Ausarbeitung
Stoffsammlung und Gliederung bilden die Grundlage für die schriftliche Ausarbeitung.
Hierbei kann es sich als hilfreich erweisen, wenn man vor der Niederschrift eines
Abschnittes die vorgesehene Gedankenfolge detailliert in Stichwörtern festhält. So
lassen sich leicht logische Stringenz und die inhaltliche Überzeugungskraft des
104
Darzustellenden überprüfen. Je detaillierter und präziser die Vorarbeiten gemacht
werden, um so leichter und schneller kann die schriftliche Darstellung erfolgen.
Wichtig hierbei ist auch das korrekte Zitieren von übernommenen Aussagen bzw.
eine genaue Zitier- und Nachweistechnik. (siehe Anhang: Zitieren)
Die Reinschrift besteht aus folgenden Elementen:
Titelblatt (Schule, Kurs, Thema, Datum)
Inhaltsverzeichnis (mit Seitenzahlen)
Einleitung - Hauptteile - Schluss (Zusammenfassung)
Literaturverzeichnis (alphabetisch)
2.1.5. Präsentation vorbereiten
2.1.5.1. Stichwortzettel
Der Stichwortzettel (auch als Mindmap) dient beim freien oder halbfreien Vortrag
eines Referates als Wegweiser und Gedächtnisstütze.
Auf dem Stichwortzettel sollen die wesentlichen Aussagen, am besten unter
Oberbegriffen oder Überschriften geordnet, in ihrer gedanklichen Anordnung notiert
werden.
Pfeile, Symbole usw. verdeutlichen den Gedankenablauf. Ein verbindliches Muster
kann für einen Stichwortzettel nicht festgelegt werden, aber ein paar Tipps können
hilfreich sein:
Stichwörter und ggf. Gliederung des Referates groß und übersichtlich notieren, d.h.,
Blätter nur einseitig beschriften / drucken und durchnummerieren
Zusammenhänge, Gelenkstellen etc. handschriftlich mit Unterstreichungen oder
Textmarkern, computergestützt mit verschiedenen Formatierungen
(Schriftarten, Zeichengröße, Fett- und Kursivdruck) hervorheben
bei handschriftlichen Verbesserungen nicht durchstreichen oder
dazwischenschreiben, sondern überkleben oder neues Blatt anfertigen
2.1.5.2. Hilfsmittel / Medien
Wenn beim Vortrag bestimmte Hilfsmittel eingesetzt werden sollen, muss zunächst
geklärt werden, ob sie für den Zeitpunkt der Präsentation verfügbar sind. Wenn dies
der Fall ist, werden die entsprechenden audiovisuellen Materialien (z.B. Folien)
angefertigt, die in Frage kommen bzw. sich anbieten.
Besonders sorgfältig sollte überlegt werden, welche und vor allem wie viele Medien
wann und zu welchem Zweck eingesetzt werden sollen. Hierbei sollten Sie bestrebt
sein, beide Hirnhälften der Zuhörer anzusprechen und möglichst viele Kanäle bzw.
Lernwege zu benutzen. Wenn die zum Einsatz kommenden Mittel bestimmte Räumlichkeiten bzw. Sitzordnungen verlangen (z.B. freier Blick auf eine Projektionsfläche,
einen Bildschirm oder Tafel), müssen diese äußeren Rahmenbedingungen in die
Überlegungen zur Präsentation des Referates mit einbezogen werden.
105
2.1.5.3. Visualisieren
Überlegen Sie, welche Teile bzw. Inhalte des Referats visualisiert werden sollen. Die
Visualisierung sollte Ihren Vortrag unterstützen und nicht umgekehrt (Gefahr bei
Power-Point-Präsentationen). Deshalb sollten Sie genau planen, was Sie wozu
einsetzen wollen. Ihr Vortrag sollte keine Multimedia-Show werden. Sie sollten Ihr
Publikum nicht mit einem Überangebot an Medien überfordern. Der gezielte Einsatz,
z.B. bei wichtigen Passagen Ihres Referats, ist am wirkungsvollsten. Sie können
folgende Möglichkeiten wählen:
Tafel
Power Point -Präsentation
Fernseher / Videorekorder
Folien
CD - Player
Mind - Maps
Kassettenrekorder
Bilder und Fotos
Laptop
Plakate und Collagen
Beamer
Modelle
Overhead - Projektor
Wandkarten
Flippchart
Musik, Sprechtexte
Pinnwand
2.1. 5.4. Thesenpapier erstellen
Das Thesenpapier (Handout, Tischvorlage) erleichtert den Zuhörern die Konzentration auf Ihren Vortrag. Es enthält die wichtigsten Stichpunkte zum Thema, sodass die
Zuhörer (Mitschüler) nicht oder nur wenig mitschreiben brauchen.
Berücksichtigen Sie bei der Erstellung des Thesenpapiers:
Das Thesenpapier sollte maximal eine bis zwei Seiten umfassen und sechs bis
zehn Thesen umfassen.
Im Thesenpapier sind themenspezifische Auffassungen, Behauptungen und
Ergebnisse des Referats so prägnant und gebündelt darzustellen, dass sie den
„roten Faden“ des Vortrags verdeutlichen.
Die Informationen sollten strukturiert, präzise und verständlich sein.
Das Thesenpapier sollte übersichtlich und großzügig angelegt sein (Platz
lassen für eventuelle Notizen!).
Das Thesenpapier enthält Angaben zum Zeitpunkt des Referats (Datum und
Uhrzeit), die Namen der beteiligten Schüler und das Thema.
Beispiel
Thesenpapier zum Referat am .................... Uhrzeit .........................
Referent bzw. beteiligte Schüler: ...........................................................................
Thema: Medizinische Experimente und ärztliche Verantwortung im
Nationalsozialismus am Beispiel der Fleckfieberversuche im KZ Buchenwald
Thesen:
1. Der Aufbau einer Fleckfieberversuchsstation im Konzentrationslager Buchenwald
diente nicht dem Schutz der Bevölkerung, sondern war lediglich eine taktische
Maßnahme im Rahmen der nationalsozialistischen Kriegsführung.
106
2. Die willkürliche Auswahl und verbrecherische Behandlung der Häftlinge entbehrten jeder medizinischen Grundlage. Die Ergebnisse der Versuche an den
wehrlosen Häftlingen wurden vom nationalsozialistischen Staat, seinen
medizinischen Forschungsinstituten und der kriegsunterstützenden Industrie zur
Massenherstellung von Impfstoffen für den Einsatz an der Front genutzt.
3. Inhumane Infektionsmethoden zur Übertragung von Fleckfiebererregern bei der
Erprobung von Impfstoffen verstärkten den grausamen und menschenverachtenden Charakter der Versuche, die im KZ Buchenwald von 1942 bis 1945 an
Häftlingen vorgenommen wurden.
4. Die an den Häftlingen durchgeführten Versuche entsprachen in keiner Weise den
Erfordernissen und Regeln medizinischer Forschung. Sie standen im vollen
Widerspruch zum ärzlichen Ethos und stellten einen Verstoß gegen die
Menschlichkeit dar.
5. Ziel der ärztlichen Tätigkeit sollte es sein, das Leid der Menschen zu lindern und
Krankheiten zu heilen. Oberste Priorität ist der Erhalt des Lebens. Die Ärzte in den
Konzentrationslagern handelten nicht nach diesem „hippokratischen Eid“.
6. Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg verurteilte 1946 im ersten
sogenannten „Ärzteprozess“ 16 Mediziner in diesem Zusammenhang wegen
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Die Anklageschrift gegen den Lagerarzt
von Buchenwald, Waldemar Hoven, spiegelt die Verbrechen der verantwortlichen
Ärzte im Rahmen der Durchführung von Fleckfieberversuchen in besonderer
Weise wider.
7. Um eine Wiederholung solcher Verbrechen zu verhindern, wurde 1947 der
„Nürnberger Ärztekodex“ formuliert, der seitdem als wichtige Grundlage für die
Selbstverpflichtung von Wissenschaftlern zur Einhaltung forschungsethischer
Normen gilt.
2.2. Die Präsentation des Referats
Die Präsentation des Referats bedeutet nicht, die schriftliche Fassung vorzulesen
oder zu referieren.
Präsentation bedeutet,
- ausgewählte Aspekte (Inhalte, Ergebnisse, Methoden) der Facharbeit
- mit Blick auf die Zuhörer
- unter Berücksichtigung der Begleitumstände (Zeit, Ort, technische
Möglichkeiten) möglichst überzeugend, d.h. logisch strukturiert, anschaulich
und gut nachvollziehbar vorzustellen.
Im Unterschied zum schriftlichen Referat stehen bei der Präsentation die Zuhörer im
Zentrum des Interesses. Mit Hilfe der folgenden Checkliste können Sie eine
Zuhöreranalyse erstellen, um sich optimal auf die Adressaten einzustellen.
Checkliste zur Präsentation
Zeit
Wie viel Zeit steht mir für die Präsentation zur Verfügung?
Wie lange können und wollen die Zuhörer meinen Ausführungen folgen?
Zuhörer
Welches Vorwissen haben meine Zuhörer?
107
Welche Interessen haben sie?
Was erwarten sie von mir?
Wie kann ich die Zuhörer in meine Präsentation einbeziehen?
Wie kann ich das Interesse am Zuhören wecken und aufrechterhalten?
Inhalt und Umfang
Was wähle ich aus? Was ist unbedingt wichtig?
Welches Ergebnis, welcher Inhaltsaspekt, welche Methode ist außergewöhnlich,
exemplarisch, typisch, übertragbar etc.?
Welches Ziel verfolge ich mit meiner Präsentation?
Wie baue ich meine Präsentation logisch strukturiert und gut nachvollziehbar auf?
Form
Mit welcher Darstellungsform kann ich meine Inhalte, Ergebnisse, Methoden und
Ziele am eindruckvollsten und überzeugendsten vermitteln?
Welche meiner Aussagen möchte ich visualisieren?
Welche Präsentationsmedien unterstützen das Verständnis meiner Aussagen?
Welche technischen Möglichkeiten stehen mir zur Verfügung?
Bei der Präsentation sind Sie der Moderator; Sie moderieren Ihre eigene
Präsentation, indem Sie
- die Zuhörer begrüßen,
- sich und Ihr Thema vorstellen,
- auf Vorkenntnisse und Experten hinweisen,
- den zeitlichen Ablauf bekannt geben,
- das Interesse an Ihrer Präsentation mit einem motivierenden Einstieg
wecken,
- die Gliederung und Struktur der Präsentation deutlich machen,
- Zwischenergebnisse formulieren,
- auf zusätzliche Materialien verweisen,
- auf Fragen der Zuhörer eingehen,
- die Zuhörer ansprechen und einbeziehen,
- Ergebnisse zusammenfassen,
- offene Fragen und Problemstellungen benennen,
- einen Ausblick geben,
- für die Aufmerksamkeit danken.
Wenn Sie solche Grundsätze der Moderation befolgen, stellen Sie sich nicht als
Besserwisser dar, der andere von oben herab belehren will. Sie erscheinen eher als
kompetenter Begleiter des Verstehensprozesses, den Ihre Zuhörer vollziehen. Die
Zuhörer fühlen sich angesprochen und ernst genommen. Die Akzeptanz gegenüber
Ihren Aussagen und Ihrer Person steigt dadurch.
Zum Schluss noch einige Tipps:
•
•
•
Sprechen Sie möglichst frei oder stützen Sie sich auf Karteikarten mit
Stichwörtern.
Erstellen Sie einen Ablaufplan für Ihre Präsentation.
Sprechen Sie deutlich und nicht zu schnell. Halten Sie Blickkontakt mit Ihren
Zuhörern.
108
•
Setzen Sie die Präsentationsmedien nur funktional ein. Aufwand und Nutzen
sollen dabei in einem sinnvollen Verhältnis stehen. Veranstalten Sie auf
keinen Fall einen „Medienzauber“; der lenkt nur von Ihren Anliegen ab.
Exkurs: Vom Schriftlichen zum Mündlichen
Ist das Referat erstellt, d.h. schriftlich formuliert, die Argumentationen ausgearbeitet
und deren Reihenfolge festgelegt, erfolgt ein weiterer Schritt der Vorbereitung, nämlich die Abstimmung oder Umgestaltung der Schriftsprache für den mündlichen
Vortrag. Das Ablesen der schriftlichen Rede wäre für die Hörer auf Dauer unerträglich, weil keiner so redet, wie man gemeinhin schreibt und die Rede einen unrealistischen Duktus bekäme. Ein Referat halten gehört wie die Rede, der Vortrag oder die
Predigt zur konkreten mündlichen Kommunikation und muss sich, wenn sie wirken
soll, dieser konkreten Situation anpassen. Und das bedeutet, dass nicht die
Schriftsprache, sondern die Alltagssprache benutzt wird.
Bei dieser Umgestaltung für den Vortrag sollte der Redetext auch dahingehend
verändert werden, dass er anschaulich, eindringlich und spannend wird. Für diese
Wirkungszwecke stellt die Sprache unendlich viele stilistische Möglichkeiten zur
Verfügung:
1. Anschaulich wird ein Vortrag (oder Text) vor allem durch bildliches Sprechen
(Metaphern), durch Vergleiche und Personifikationen.
2. Eindringlich wirkt ein Vortrag (oder Text) vor allem durch Wiederholungen,
Anaphern, Übertreibungen und Gegenüberstellungen.
3. Spannung erreicht man am besten mit dem Satzbau (kurze Sätze, parallel
gebaute Sätze, unvollständige Sätze) und mit Steigerungen.
4. Will man sein Publikum ab und an überraschen, dann setzt man Ironie,
Wortspiele oder paradoxe Formulierungen ein.
5. Möchte man das Publikum direkt einbeziehen, dann bieten sich Anreden,
rhetorische Fragen und Einschübe an.
Beispiel:
geschriebener Text
Betrachten wir die Menschen
bei einem Überfall, bei dem
Zivilcourage gefordert wäre,
so erkennen wir eine
Mischung aus Wegschauen,
Desinteresse, Verharmlosung
und wortreichem
Aktionismus; aber keiner tut
wirklich was.
gesprochener Text
Aber was passiert wirklich, wenn beispielsweise
Neonazis einen Ausländer überfallen? Am hellen
Tage - mitten in der Fußgängerzone! Da ist die
Gelegenheit für Zivilcourage. Aber - was passiert?
Nichts! Die einen schauen weg. Andere wollen
erst gar nichts gesehen haben. Wieder andere
halten es für einen dummen Jungenstreich und
gehen weiter. Und die, die zuschauen und genau
wissen, was da geschieht, reden nur und
quatschen. Sie haben hundert Vorschläge zur
Hand, was getan werden müsste. Aber sie tun
nichts, greifen nicht ein, helfen nicht.
109
3. Die Facharbeit
Wie beim Referat geht es auch bei der Facharbeit um eine intensive Auseinandersetzung mit einem Thema oder Themenaspekt. Die Facharbeit dient dazu, grundlegende Fertigkeiten des wissenschaftlichen Arbeitens einzuüben, die für ein
späteres Studium unabdingbar sind.
Wir unterscheiden drei unterschiedliche Aufgabentypen:
•
die Literaturarbeit (hier geht es vorwiegend um die Bearbeitung von Primärund Sekundärliteratur wie z.B. bei dem Thema „Die
Erfahrungen des 1. Weltkriegs in der Lyrik des
Expressionismus“)
•
die empirische Untersuchung (hier geht es vorwiegend um die Auswertung
eigener Erhebungen und Untersuchungen wie z.B. bei
dem Thema „Das Leseverhalten von Kollegiatinnen und
Kollegiaten an unserer Schule“)
•
die fächerverbindende Arbeit, die Themen und Methoden aus mindestens
zwei Fächern kombiniert wie z.B. bei dem Thema „DADA
in Kunst und Literatur am Beispiel von Texten von Kurt
Schwitters und Hans Arp“
Die Themen der Facharbeit ergeben sich meist aus dem Unterrichtszusammenhang.
Sie werden entweder vom Unterrichtenden vorgegeben oder von Ihnen selbst
vorgeschlagen.
Die methodischen Schritte, die das Erstellen einer Facharbeit erfordert, sind denen,
die Sie beim Verfassen eines Referats kennengelernt haben, vergleichbar. Sie
können folgendermaßen aussehen:
1. Erfassen des Themas (Schlüsselbegriffe klären, Überblick über Stoffgebiet
Verschaffen, Vorwissen einbringen in Form eines
Mind-Map)
2. Informationsbeschaffung (Nachschlagwerke, Internet, Primär- und
Sekundärliteratur)
3. Materialauswertung
(Sichtung und Auswertung von Texten durch
Markieren, Exzerpieren, Zusammenfassen)
Damit man bei diesem wichtigen Arbeitsschritt nicht die
Übersicht verliert, sollte man eine sog. Materialkartei anlegen.
Dabei werden die (farblich unterschiedlichen) Karteikarten
mit Schlagwörtern beschriftet und sie enthalten dann z.B.
Exzerpte, Zitate, Quellenangaben usw.
4. Gliederung erstellen
(Abfolge der Aspekte festlegen, das logische
Gerüst der Darstellung festlegen)
5. Einleitung und Schluss planen
6. Ausarbeitung und Reinschrift
110
Der formale Aufbau der schriftlichen Facharbeit sieht wie folgt aus:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Titelseite
Inhaltsverzeichnis / Gliederung
Haupttext (Einleitung, Hauptteil, Schluss), evtl. mit Darstellungen / Bildern
ggf. Anhang mit zusätzlichen Materialien
Literaturverzeichnis
Erklärung (mit Unterschrift), dass die Facharbeit ohne fremde Hilfe
angefertigt worden ist und nur die im Literaturverzeichnis aufgeführten
Hilfen und Quellen benutzt worden sind
Die Präsentation der Facharbeit
Die Präsentation der Facharbeit bedeutet nicht, die schriftliche Fassung vorzulesen
oder zu referieren.
Präsentation bedeutet,
- ausgewählte Aspekte (Inhalte, Ergebnisse, Methoden) der Facharbeit
- mit Blick auf die Zuhörer
- unter Berücksichtigung der Begleitumstände (Zeit, Ort, technische
Möglichkeiten) möglichst überzeugend, d.h. logisch strukturiert, anschaulich
und gut nachvollziehbar vorzustellen.
Lesen Sie hierzu die Ausführungen zur „Präsentation des Referats“.
4. Kreatives und produktionsorientiertes Schreiben
Kreatives Schreiben dient dazu, Freude an Sprache und Schreiben zu gewinnen.
Man probiert Gedichte, Geschichten oder kleine Szenen aus, nur zu dem Zweck,
seine Schöpferkraft zu entfalten, Freude am Tun zu haben, Sensibilität für Wörter
und Formen zu entwickeln. Dabei stellt sich vielleicht so etwas wie Bewunderung für
Dichtung ein, weil man durch das eigene Tun erfährt, wie mit den Worten gerungen
werden muss, bis sie ein literarisches Gefüge bilden.
Sie sitzen beispielsweise in einer Gruppe von fünf Personen zusammen. Jeder sagt
ein Wort. Nun schreibt jeder aus diesen fünf Wörtern den Anfang einer Geschichte.
Nach fünf Minuten wird der Anfang in eine Richtung zum Nachbarn weiter gereicht.
Ihr Nachbar rechts schreibt also Ihren Anfang weiter, Sie dagegen schreiben den
Anfang Ihres Nachbarn zur Linken weiter. Alle fünf Minuten werden die Blätter nach
rechts weiter gegeben. Im fünften Durchgang sollte man zu einer Art Schluss
gelangen. Dieses Schreibspiel macht großen Spaß und kann auch zu Hause in der
Familien- oder Freundesrunde durchgeführt werden.
Das produktionsorientierte Schreiben kennen Sie schon aus dem Vorkurs.
Produktives oder produktionsorientiertes Schreiben hat als Grundlage immer einen
Text; denn produktives Schreiben meint eine besondere Form der Textinterpretation,
111
bei der nicht über den Text geschrieben, sondern in der Art und Weise des Textes.
Man nähert sich dabei dem Text nicht von außen, sondern geht sozusagen in den
Text hinein. D.h., beim produktiven Schreiben ist man selbst Autor/-in und produziert
selbst.
4.1. Aufwärmübungen
Treiben Sie Sport? Bevor das eigentliche Training beginnt, müssen Sie Ihre Muskeln
erst aufwärmen, um das Risiko von Verletzungen zu meiden. Beginnen wir also auch
beim Schreiben nicht direkt mit dem Roman, sondern mit kleinen Übungsformen, die
Freude machen.
Da Schreiben etwas Individuelles ist und etwas mit Ihnen zu tun hat, soll Ihr
Eigenname im Zentrum der ersten Übung stehen. Sie sollen zwei Namenspiele
kennen lernen, an denen Dichter schon seit der Antike ihre Freude hatten: das
Akrostichon und das Anagramm. Bei den Formen danach (Haiku, Elfchen, Konkrete
Poesie) handelt es sich um kleine Gedichte, die eine sehr strenge Form aufweisen,
an der man sich am Anfang gut orientieren kann.
4.1.1. Akrostichon
Schreiben Sie Ihren Namen senkrecht auf, pro Zeile einen Buchstaben. Zu jedem
Buchstaben suchen Sie nun ein Wort, das zu Ihrer Persönlichkeit passt.
Beispiel:
Liebe
Energie
Natur
Abenteuer
Lena
Erfindet
Neue
Abenteuer
Lässt die
Erde
Nicht
Alles - vergessen?
4.1.2. Anagramm
Schreiben Sie alle Buchstaben, die in Ihrem Vor- und Nachnamen vorkommen,
sortiert auf und bilden Sie daraus einen Fantasienamen.
Beispiel:
Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (dt. Schriftsteller aus dem 17. Jh.)
German Schleifheim von Sulsfort
Samuel Greifnson von Hirschfeld
4.1.3. Elfchen
Elfchen heißt diese Gedichtform, weil sie aus elf Wörtern besteht. Diese müssen in
folgender Weise auf fünf Verse (Zeilen) verteilt werden:
1. Zeile: eine Eigenschaft (ein Wort)
2. Zeile: eine Person oder Sache, die diese Eigenschaft hat (zwei Wörter)
112
3. Zeile: Tätigkeit der Person oder Sache und / oder Ortsangabe (drei Wörter)
4. Zeile: weitere Informationen zu Person oder Sache (vier Wörter)
5. Zeile: Schluss (ein Wort)
Beispiel:
Grau
der Himmel
Regen fällt ununterbrochen
Mein Herz trauert nach
Sonnenschein
4.1.4. Haiku
Diese Gedichtform stammt aus Japan. Ursprünglich wurden Naturerfahrungen
verarbeitet. Auch hierbei ist die Verteilung, diesmal von Silben, streng geregelt:
1. Vers: fünf Silben
2. Vers: sieben Silben
3. Vers: fünf Silben
Beispiel:
Still liegt unser See
Keine Wellen trüben ihn
Kein Vogel singt hier
4.1.5. Konkrete (visuelle) Poesie
Durch die räumliche Anordnung der Wörter entsteht eine visuelle Wirkung.
Beispiel:
4.2.
ordnung ordnung
ordnung ordnung
ordnung ordnung
ordnung ordnung
ordnung ordnung
ordnung unordn g
ordnung ordnung
ordnung ordnung
ordnung ordnung
ordnung ordnung
ordnung ordnung
(aus: Ulrichs, Timm: ordnung unordnung)
Schreiben mit allen Sinnen
Es muss nicht immer ein Text sein, der als Schreibanlass oder Schreibimpuls dient.
Außer über Ihren Sehsinn verfügen Sie noch über weitere, die leider in der Schule oft
vernachlässigt werden.
113
Lassen Sie sich zum Schreiben auch von Ihren anderen Sinnen inspirieren. Dazu
gibt es viele Möglichkeiten. Allerdings müssen Sie hier selbst Ihr Material suchen.
Einige Anregungen:
h Wählen Sie ein entspannendes, beruhigendes Musikstück aus. Vergessen Sie
für einen Moment Techno, Rap, House Music oder was auch immer gerade „in“
ist. Greifen Sie zu einem klassischen Stück, vorzugsweise aus der Barockzeit
(Bach, Vivaldi). Setzen Sie sich entspannt hin, vor sich ein leeres Blatt und
einen Stift. Schalten Sie den CD - Player ein und schließen Sie die Augen.
Hören Sie sich tief in das Stück ein, fühlen Sie sich ein. Die Assoziationen, die
Ihnen nun kommen, notieren Sie nach dem Hören auf Ihr Blatt. Betrachten Sie
Ihr Wortmaterial und überlegen Sie, ob sich daraus eine Geschichte, ein
Gedicht oder sonst ein Text verfertigen lässt. Versuchen Sie’s einfach!
h Suchen Sie einen Gegenstand aus, der Ihnen persönlich viel bedeutet, sei es
ein Stein, den Sie während des Urlaubs am Strand gefunden haben, sei es ein
Ring, den Ihnen ein lieber Mensch geschenkt hat, oder ähnliches. Nehmen Sie
diesen Gegenstand in die Hand. Schließen Sie auch einmal kurz die Augen, um
den Gegenstand nur zu fühlen. Welche Erinnerungen oder Assoziationen
stellen sich ein? Verfahren Sie so, wie oben beschrieben.
h Auch Ihr Geruchssinn und Geschmackssinn sollten einmal aktiviert werden.
Suchen Sie einen riechenden Gegenstand (z.B. ein Lavendelsäckchen) oder
essen Sie etwas Besonderes (z.B. ein Bonbon) und gehen Sie wie oben
beschrieben vor.
h Nun kommen wir doch noch einmal auf das Sehen zurück, aber anders, als Sie
es gewohnt sind. Lassen Sie sich von einem gemalten Bild oder von einer
Fotografie zum Schreiben anregen. Versenken Sie sich in das Dargestellte.
Was fühlen Sie? Was fällt Ihnen dazu ein? Schreiben Sie alles auf.
4.3. Paralleltexte schreiben
Paralleltext bedeutet, dass Sie die Struktur eines Textes für Ihr eigenes Schreiben
übernehmen. Beginnen wir die praktische Arbeit mit einem Gedicht.
Glückes genug
Detlev von Liliencron
Wenn sanft du mir im Arme schliefst,
Ich deinen Atem hören konnte,
Im Traum du meinen Namen riefst,
Um deinen Mund ein Lächeln sonnte Glückes genug.
Und wenn nach heißem, ernstem Tag
Du mir verscheuchtest schwere Sorgen,
Wenn ich an deinem Herzen lag
Und nicht mehr dachte an ein Morgen Glückes genug.
Schreiben Sie nun ein Parallelgedicht zu Liliencrons Text. Sie behalten die Struktur
bei, füllen sie aber mit anderem Inhalt. Überlegen Sie vorher, vielleicht mit Hilfe eines
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Mindmappings, was für Sie Glück bedeutet. Dann versuchen Sie das folgende
Schema mit Ihren Worten zu füllen:
Glückes genug
Wenn _________________________________________
_______________________________________________
_______________________________________________
_______________________________________________
Glückes genug.
Und wenn ______________________________________
_______________________________________________
_______________________________________________
_______________________________________________
Glückes genug.
Auch mit kleineren szenischen Texten kann man parallel arbeiten. Als Vorlage soll
ein Text von Loriot dienen, dessen berühmte Knollenmännchen Sie sicherlich schon
einmal gesehen haben.
Die Szene, die er hier so komisch präsentiert, kennen wir alle aus unserem Alltag. Es
entsteht ein Streit aus Nichtigkeiten. Man fühlt sich verletzt und geht zum Gegenangriff über. Daraus entsteht eine Spirale, die nicht so leicht zu stoppen ist.
Loriot: Das Ei
(Das Ehepaar sitzt am Frühstückstisch. Der Ehemann hat sein Ei geöffnet und beginnt nach einer
längeren Denkpause das Gespräch.)
ER: Berta!
SIE: Ja ...
ER: Das Ei ist hart!
SIE: (schweigt)
ER: Das Ei ist hart!
SIE: Ich habe es gehört ...
ER: Wie lange hat das Ei denn gekocht ?
SIE: Zu viele Eier sind gar nicht gesund ...
ER: Ich meine, wie lange dieses Ei gekocht hat ...
SIE: Du willst es doch immer viereinhalb Minuten haben ...
ER: Das weiß ich.
SIE: Was fragst du denn dann?
ER: Weil dieses Ei nicht viereinhalb Minuten gekocht haben kann!
SIE: Ich koche es aber jeden Morgen viereinhalb Minuten!
115
ER: Wieso ist es dann mal zu hart und mal zu weich?
SIE: Ich weiß es nicht ... Ich bin kein Huhn!
ER: Ach! ... Und woher weißt du, wann das Ei gut ist?
SIE: Ich nehme es nach viereinhalb Minuten heraus, mein Gott!
ER: Nach der Uhr oder wie?
SIE: Nach Gefühl ... eine Hausfrau hat das im Gefühl ...
ER: Im Gefühl? ... Was hast du im Gefühl?
SIE: Ich habe es im Gefühl, wann das Ei weich ist ...
ER: Aber es ist hart ... vielleicht stimmt da mit deinem Gefühl was nicht ...
SIE: Mit meinem Gefühl stimmt was nicht? Ich stehe den ganzen Tag in der Küche,
mache die Wäsche, bring’ deine Sachen in Ordnung, mache die Wohnung
gemütlich, ärgere mich mit den Kindern rum und du sagst, mit meinem Gefühl
stimmt was nicht?
ER: Ja,ja ... jaja ...jaja ... wenn ein Ei nach Gefühl kocht, dann kocht es eben nur
zufällig genau viereinhalb Minuten!
SIE: Es kann dir doch ganz egal sein, ob das Ei zufällig viereinhalb Minuten kocht ...
Hauptsache, es kocht viereinhalb Minuten!
ER: Ich hätte nur gern ein weiches Ei und nicht ein zufällig weiches Ei! Es ist mir
egal, wie lange es kocht!
SIE: Aha! Das ist dir egal ... es ist dir also egal, ob ich viereinhalb Minuten in der
Küche schufte!
ER: Nein ... nein ...
SIE: Aber es ist nicht egal ... das Ei muss nämlich viereinhalb Minuten kochen ...
ER: Das habe ich doch gesagt ...
SIE: Aber eben hast du doch gesagt, es ist dir egal!
ER: Ich hätte nur gern ein weiches Ei ...
SIE: Gott, was sind Männer primitiv!
ER: (düster vor sich hin) Ich bringe sie um ... morgen bringe ich sie um ...
Um auch einen Sketch zu schreiben, wäre es schön, wenn Sie sich eine Partnerin
oder einen Partner suchen könnten, mit der oder dem Sie gemeinsam den
Paralleltext erstellen. Sie können folgendermaßen vorgehen:
Sie suchen sich eine Situation aus Ihrem Alltag, die konfliktanfällig ist, z.B. die
nicht zugeschraubte Zahnpastatube.
Sie verteilen die Rollen, d.h., Sie überlegen, wer der „Missetäter“ und wer das
„Opfer“ ist.
Formulieren Sie mögliche Vorwürfe und Entgegnungen.
Schreiben Sie dann den ganzen Dialog. Sie können dabei Regieanweisungen
in Klammern ergänzen.
Spielen Sie den Dialog auch einmal durch - vielleicht vor der Klasse.
Besonders gut für eine produktive Umgestaltung eignen sich die Märchen. Schon im
kindlichen Alter regen sie die Fantasie an und bleiben gewöhnlich tief im Gedächtnis
haften. Erinnern Sie sich noch an „Rotkäppchen“ oder an „Dornröschen“?
Bevor Sie die folgenden Abwandlungen lesen, sollten Sie den Handlungsverlauf der
Grimm - Märchen nochmals vergegenwärtigen.
116
Thaddäus Troll
Rotkäppchen auf Amtsdeutsch
R. seitens ihrer Mutter über das Verbot
betreffs Verlassens der Waldwege auf
Kreisebene belehrt. Dieselbe machte
sich infolge Nichtbeachtung dieser
Vorschrift straffällig und begegnete
beim Übertreten des amtlichen
Blumenpflückverbots einem polizeilich
nicht gemeldeten Wolf ohne festen
Wohnsitz. Dieser verlangte in gesetzwidriger Amtsanmaßung Einsichtnahme in das zu Transportzwecken von
Konsumgütern dienende Korbbehältnis
und traf in Tötungsabsicht die Feststellung, dass die R. zu ihrer verschwägerten und verwandten, im Baumbestand
angemieteten Großmutter eilend war.
(...)
Im Kinderanfall unserer Stadtgemeinde
ist eine hierorts wohnhafte, noch unbeschulte Minderjährige aktenkundig,
welche durch ihre unübliche Kopfbedeckung gewohnheitsrechtlich Rotkäppchen genannt zu werden pflegt.
Der Mutter besagter R. wurde seitens
ihrer Mutter ein Schreiben zustellig
gemacht, in welchem dieselbe Mitteilung ihrer Krankheit und Pflegebedürftigkeit machte, worauf die Mutter
der R. dieser die Auflage machte, der
Großmutter eine Sendung von
Nahrungs- und Genussmitteln zu
Genesungszwecken zuzustellen.
Vor ihrer Inmarschsetzung wurde die
Aufgabe: Überlegen Sie, wie die Märchenverfremdung von T. Troll weitergehen
könnte! Überlegen Sie sich, welche Fachsprachen Sie noch kennen und
welche sich für eine Verfremdung des Rotkäppchen - Märchens eignet!
Unternehmen Sie einen eigenen Schreibversuch!
Günter Kunert : Dornröschen (1972)
Generationen von Kindern faszinierte
gerade dieses Märchen, weil es ihre
Fantasie erregte: wie da Jahr um Jahr
eine gewaltige Hecke aufwächst, über
alle Maßen hoch, ein vertikaler
Dschungel, erfüllt von Blühen und
Welken, von Amseln und Düften, aber
weglos, undurchdringlich und
labyrinthisch. Die Mutigen, die sie zu
bewältigen sich immer wieder
einfinden, bleiben insgesamt auf der
Strecke: von Dornen erspießt; hinter
Verhau verfangen, gefangen,
gefesselt; von giftigem Ungeziefer
befallen und vom plötzlichen Zweifel
gelähmt, ob es diese begehrenswerte
Königstochter überhaupt gäbe. Bis
eines Tages endlich der Sieger kommt:
ihm gelingt, was den Vorläufern
misslungen: er betritt das Schloss, läuft
die Treppe empor, betritt die Kammer,
wo die Schlafende ruht, den zahnlosen
Mund halb geöffnet, sabbernd,
eingesunkene Lider, den haararmen
Schädel an den Schläfen von blauen,
wurmigen Adern bekräuselt, fleckig,
schmutzig, eine schnarchende Vettel.*
Oh, selig alle, die von Dornröschen
träumend, in der Hecke starben und im
Glauben, dass hinter dieser eine Zeit
herrsche, in der die Zeit endlich einmal
fest und sicher stände.
* Vettel : altes Weib
Aufgabe: Überlegen Sie, welche Absicht G. Kunert mit seiner Abwandlung von
„Dornröschen“ verfolgt! Schreiben Sie selbst ein Märchen, das Sie gut
117
kennen, um, indem Sie ihm eine überraschende Wendung geben!
Schauen wir uns auch noch die letzte literarische Großform an, die Epik, die
erzählenden Texte. Als Beispiel dient hier eine Fabel, weil sie relativ kurz ist und über
eine feste Form verfügt. In ihr handeln Tiere wie Menschen, wobei bestimmte Tiere
eine Eigenschaft verkörpern, so steht der Fuchs für Schläue. Die Tiere spielen eine
Konflikt- oder Problemsituation vor, die aufgelöst wird. Diese Lösung nennt man die
„Moral von der Geschicht“, ist also eine Lehre, die verallgemeinerbar ist. Die Fabel ist
eine didaktische Textart, die den Menschen lehren und erziehen möchte. Schon in
der Antike wurden - wie Sie ja vom Vorkurs wissen - Fabeln geschrieben, aber auch
moderne Schriftsteller verwenden diese Textart gern, so auch Franz Kafka.
Franz Kafka: Kleine Fabel
„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit,
dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und
links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell
aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin und dort im Winkel steht die
Falle, in die ich laufe.“ „Du musst nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.
Aufgabe: Schreiben Sie eine Parallelfabel. Folgende Schritte können Ihnen helfen:
- Formulieren Sie zunächst, welche „Moral“ Ihre Fabel haben soll.
- Überlegen Sie, welche Tiere vorkommen und welche Rolle sie
einnehmen sollen.
- Beginnen Sie auch mit „Ach“, sagte ...
4.4. Arbeit an manipulierten Texten
Es kann spannend im Deutschunterricht zugehen, wenn ein nicht vollständiger Text
präsentiert wird und die Schüler die fehlenden Textpassagen ergänzen sollen. Dies
geschieht nämlich nicht willkürlich, denn vor dem Ergänzen muss der Text sorgfältig
gelesen werden, damit Hinweise gefunden werden, die zur Ideenfindung beitragen
können. Sicherlich ist auch Kreativität gefragt, aber da das Ergänzen des Textes
auch schon zur Hypothesenbildung über den manipulierten Text führt, befinden wir
uns bereits im Bereich des produktionsorientierten Schreibens.
Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine Kurzgeschichte von Elisabeth
Langgässer (1899-1950), die als Halbjüdin 1936 Publikationsverbot erhielt. Ihre
älteste Tochter kam ins Konzentrationslager Auschwitz, überlebte aber den
Holocaust. Lesen Sie den Text und versuchen Sie den fehlenden Schlusssatz zu
ergänzen: Was steht auf dem Schild?
118
Elisabeth Langgässer:
Saisonbeginn
Pfosten in die Erde zu graben, auf
ihren Schultern trugen, setzten alles
unter dem Wegekreuz ab; der dritte
stellte den Werkzeugkasten, Hammer,
Zange und Nägel daneben und
spuckte ermunternd aus.
Nun beratschlagten die drei Männer,
an welcher Stelle die Inschrift des
Schildes am besten zur Geltung käme;
sie sollte für alle, welche das Dorf auf
dem breiten Passweg betraten, besser:
befuhren, als Blickfang dienen und
nicht zu verfehlen sein. Man kam also
überein, das Schild kurz vor dem
Wegekreuz anzubringen, gewissermaßen als Gruß, den die Ortschaft
jedem Fremden entgegenschickte.
Leider stellte sich aber heraus, dass
der Pfosten dann in den Pflasterbelag
einer Tankstelle hätte gesetzt werden
müssen - eine Sache, die sich von
selbst verbot, da die Wagen, besonders die größeren, dann am Wenden
behindert waren. Die Männer schleppten also den Pfosten noch ein Stück
weiter hinaus bis zu der Gemeindewiese und wollten schon mit der Arbeit
beginnen, als ihnen auffiel, dass diese
Stelle bereits zu weit von dem Ortsschild entfernt war, das den Namen
angab und die Gemeinde, zu welcher
der Flecken gehörte. Wenn also das
Dorf den Vorzug dieses Schildes und
seiner Inschrift für sich beanspruchen
wollte, musste das Schild wieder näher
rücken - am besten gerade dem Kreuz
gegenüber, so dass Wagen und Fußgänger zwischen beiden hätten passieren müssen.
Dieser Vorschlag, von dem Mann mit
den Nägeln und dem Hammer gemacht, fand Beifall. Die beiden
anderen luden von neuem den Pfosten
auf ihre Schultern und schleppten ihn
vor das Kreuz. Nun sollte also das
Schild mit der Inschrift zu dem
Wegekreuz senk-recht stehen; doch
zeigte es sich, dass die uralte Buche,
Die Arbeiter kamen mit ihrem Schild
und einem hölzernen Pfosten, auf den
es genagelt werden sollte, zu dem Eingang der Ortschaft, die hoch in den
Bergen an der letzten Passkehre lag.
Es war ein heißer Spätfrühlingstag, die
Schneegrenze hatte sich schon hinauf
zu den Gletscherwänden gezogen.
Überall standen die Wiesen wieder in
Saft und Kraft; die Wucherblume verschwendete sich, der Löwenzahn
strotzte und blühte sein Haupt über
den milchigen Stängeln; Trollblumen,
welche wie eingefettet mit gelber
Sahne waren, platzten vor Glück, und
in strahlenden Tümpeln kleinblütiger
Enziane spiegelte sich ein Himmel von
unwahrscheinlichem Blau. Auch die
Häuser und Gasthöfe waren wie neu:
ihre Fensterläden frisch angestrichen,
die Schindeldächer gut ausgebessert,
die Scherenzäune ergänzt. Ein Atemzug noch: dann würden die Fremden,
die Sommergäste kommen - die Lehrerinnen, die mutigen Sachsen, die
Kinderreichen, die Alpinisten, aber vor
allem die Autobesitzer in ihren großen
Wagen ... Röhr und Mercedes, Fiat
und Opel, blitzend von Chrom und
Glas. Das Geld würde anrollen. Alles
war darauf vorbereitet. Ein Schild kam
zum andern, die Haarnadelkurve zu
dem Totenkopf, Kilometerschilder und
Schilder für Fußgänger: Zwei Minuten
zum Café Alpenrose. An der Stelle, wo
die Männer den Pfosten in die Erde
einrammen wollten, stand ein Holzkreuz, über dem Kopf des Christus war
auch ein Schild angebracht. Seine
Inschrift war bis heute die gleiche, wie
sie Pilatus entworfen hatte: J.N.R.J. die Enttäuschung darüber, dass es im
Grunde hätte heißen sollen: er
b e h a u p t e t nur, dieser König zu
sein, hatte im Lauf der Jahrhunderte
an Heftigkeit eingebüßt. Die beiden
Män-ner, welche den Pfosten, das
Schild und die große Schaufel, um den
119
einige lachten, andere schüttelten nur
den Kopf, ohne etwas zu sagen; die
Mehrzahl blieb davon unberührt und
gab weder Beifall, noch Ablehnung
kund, sondern war gleichgültig, wie
sich die Sache auch immer entwickeln
würde. Im ganzen genommen konnten
die Männer mit der Wirkung zufrieden
sein. Der Pfosten, kerzengerade, trug
das Schild mit der weithin sichtbaren
Inschrift, die Nachmittagssonne glitt
wie ein Finger über die zollgroßen
Buchstaben hin und fuhr jeden
einzelnen langsam nach wie den
Richtspruch auf einer Tafel...
Auch der sterbende Christus, dessen
blasses, blutüberronnenes Haupt im
Tod nach der rechten Seite geneigt
war, schien sich mit letzter Kraft zu
bemühen, die Inschrift aufzunehmen:
man merkte, sie ging ihn gleichfalls an,
welcher bisher von den Leuten als
einer der ihren betrachtet und wohl
gelitten war. Unerbittlich und dauerhaft
wie sein Leiden, würde sie ihm nun für
lange Zeit schwarz auf weiß gegenüberstehen.
Als die Männer den Kreuzigungsort
verließen und ihr Handwerkszeug
wieder zusammenpackten, blickten alle
drei noch einmal befriedigt zu dem
Schild mit der Inschrift auf. Sie lautete:
( ... )
welche gerade hier ihre Äste mit
riesiger Spanne nach beiden Seiten
wie eine Mantelmadon-na ihren
Umhang entfaltete, die Inschrift im
Sommer verdeckt und ihr
Schattenspiel deren Bedeutung verwischt, aber mindestens abgeschwächt
hätte.
Es blieb daher nur noch die andere
Seite neben dem Herrenkreuz, und da
die erste, die in das Pflaster der Tankstelle überging, gewissermaßen den
Platz des Schächers zur Linken bezeichnet hätte, wurde jetzt der Platz
zur Rechten gewählt und endgültig
beibe-halten. Zwei Männer hoben die
Erde aus, der dritte nagelte rasch das
Schild mit wuchtigen Schlägen auf;
dann stellten sie den Pfosten
gemeinsam in die Grube und rammten
ihn rings von allen Seiten mit größeren
Feldsteinen an.
Ihre Tätigkeit blieb nicht unbeachtet.
Schulkinder machten sich gegenseitig
die Ehre streitig, dabei zu helfen, den
Hammer, die Nägel hinzureichen und
passende Steine zu suchen; auch
einige Frauen blieben stehen, um die
Inschrift genau zu studieren. Zwei
Nonnen, welche die Blumenvase zu
Füßen des Kreuzes aufs Neue füllten,
blickten einander unsicher an, bevor
sie weitergingen. Bei den Männern, die
von der Holzarbeit oder vom Acker
kamen, war die Wirkung verschieden:
(aus: Langgässer, Elisabeth: Der Torso. Hamburg 1947)
Es ist ebenfalls möglich, einen Text auseinanderzuschneiden und ihn in
Schnipselform zu präsentieren. Der Lehrer schneidet von einem Gedicht die
einzelnen Verse aus und verteilt die Schnipsel. Sie versuchen dann die Originalfassung des Gedichtes herauszufinden. Diese Arbeit gelingt am besten in Gruppen.
Aufgabe: Versuchen Sie die Originalfassung des Gedichtes herauszufinden:
- Verschieben Sie die Zeilen so lange, bis sie Ihrer Meinung nach
zusammenpassen. Orientieren Sie sich dabei an Reim, Zeichensetzung, Groß- und Kleinschreibung und inhaltlichen Zusammenhängen.
- Nehmen Sie dann die Stropheneinteilung vor, indem Sie nach einer
inneren Struktur des Gedichtes suchen.
120
Als letzte Möglichkeit sei die „Variante - Methode“ vorgestellt. Sie erhalten einen
Text, bei dem ein Teil, sei es der Anfang oder das Ende oder seien es nur einzelne
Wörter, weggelassen wurde. Anschließend präsentiert der Lehrer Ihnen mehrere
Varianten für diese fehlenden Teile. Sie müssen sich für eine entscheiden und dies
natürlich auch begründen. Als Beispiel dient ein Gedicht, bei dem jeweils einzelne
Wörter gestrichen wurden. Bei den drei Wortvorschlägen ist jeweils das Originalwort
dabei.
Weltende (1911)
Jakob van Hoddis
Dem Bürger fliegt vom ______________ Kopf der Hut,
In allen Lüften ______________ es wie Geschrei,
_________________ stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
________________ ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke _________________ zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die _________________ fallen von den Brücken.
Wählen Sie aus folgenden Vorschlägen das passende Wort aus:
Vers 1 : runden, spitzen, dicken
Vers 2 : hallt, stöhnt, klingt
Vers 3 : Kinder, Dachdecker, Kletterer
Vers 5 : Die Revolution, Das Ende, Der Sturm
Vers 6 : Mauern, Dämme, Wälle
Vers 8 : Tiere, Geländer, Eisenbahnen
121
Einen Essay schreiben
Im Unterschied zum gedanklich und sprachlich strengeren Erörtern handelt es sich
beim essayistischen Schreiben um eine offene, lockere Form der Behandlung eines
Themas. Essays beschäftigen sich meistens mit allgemein interessanten Themen
aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen. Dabei kommt es
dem Schreiber nicht darauf an, dem Leser wissenschaftlich gesicherte „objektive“
Erkenntnis zu vermitteln, sondern „subjektive“ Denk-Anstöße zu geben. Deswegen
ist der Essay keine fest umrissene Textsorte mit bestimmten „Regeln“, sondern zeigt
eine offene Struktur, bei der das Thema eher assoziativ entfaltet wird.
Demgegenüber sind Stil und Art der Gestaltung anspruchsvoll und auf Wirkung
bedacht. Der Essay - Schreiber versucht den Leser zu gewinnen, indem er z.B.
ungewöhnliche gedankliche Verbindungen knüpft oder überraschende Vergleiche
zieht. Er greift zu pointierten Formulierungen und setzt auf Anschaulichkeit und
Bildhaftigkeit. Er vermeidet Allgemeinplätze und Klischees.
Beispiele:
Günter Kunert : Vom Reisen (Auszug)
Reisen, wie ich es verstehe, ist kein
Hintersichbringen einer Entfernung
zwischen zwei näher oder entfernter
gelegenen Orten, um so rasch wie
möglich einen Zweck zu erfüllen, was
Zusammensetzungen wie „Geschäftsreise“, „Dienstreise“ falsch und widersprüchlich benennen. Reisen meint
weder das Verlassen des Heimes noch
der Heimatstadt noch des sogenannten Vaterlandes, sondern vor allem:
der Gewohnheit. Selbst noch im
letzten, von keiner Einsicht getrübten
Touristen schimmert im Unterbewusstsein etwas vom existentiellen
Motiv des Reisens, das Metamorphose
heißen könnte. (...) Verwandlung - aber
wie? Das Wort ist nun oft genug
gefallen, somit die Erläuterung fällig.
Gemeint ist keineswegs die Zunahme
an Kenntnissen und Wis-sen, keine
Steigerung von Fähigkeiten, unterschiedliche Situationen reibungsloser
zu bewältigen - gemeint ist, dass die
Fremde (und ich benutze bewusst den
altertümlichen, doch treffenden
Ausdruck) den Reisenden sich selber
fremd werden lässt. Woanders ist man
ein anderer. Welcher einigermaßen
empfindsame Reisende merkt nicht
beispielsweise unter südlicherem Him-
mel an sich selber eine stärkere Bereitschaft zu größerer Lebhaftigkeit, gar zu
ungewohnten Gestikulationen? Dem
anderen Lebensrhythmus sich anpassend, verliert er merklich von der eigenen, ohnehin unsicheren Individualitätssubstanz, gewinnt jedoch fremdartig neue hinzu, die aus der KollektivIndividualität, von welcher er eingehüllt
wird, auf ihn übergeht. Man meint, die
abweichende, sogar gegensätzliche
Daseinsweise durch ein Minimum an
Mimesis zu begreifen, nachzufühlen,
und in diesem Nachfühlen (etwas wie
ein emotionales Bewusstsein, und das
ist bloß ein scheinbarer Widerspruch)
liegt bereits, da wir ja damit schon von
uns selber absehen und anderes
Leben in uns aufzunehmen trachten,
die Verwandlung beschlossen. Beteiligt
sich noch unsere Fantasie, unser Vorstellungsvermögen an dem Vorgang,
erhöht sich seine Intensität: Jede
Land-schaft bietet uns plötzlich Heimat
und glückliche Geborgenheit, jedes
Haus die Möglichkeit, eine Existenz
hineinzuprojizieren, welche die unsere
sein könnte, sein müsste. Jeder
fremden Frau mit den eigentümlichen
Zügen, dem vieldeutigen Blick, dem
Fluidum einer gänzlich anderen Natur,
122
bettet im Gelee seiner sozialen und
gesellschaftlichen Lage.
Derart vollzieht sich an Reisenden die
Goethische Sentenz „Reisen bildet“,
was dem Sprachgebrauch des Alten
zufolge, wahrscheinlich mehr enthält
als nur Bildungserlebnis und wohl eher
und glaubhafter besagt, dass, wer
reise, zum Menschen gebildet werde.
Was eben auf andere Weise das
gleiche verheißt: Verwandlung - aus
rohem Stoff zu einem Wesen, das
(potenziell) die Gesamtheit, meinetwegen: die Gattung, mitenthält. Eine Literatur, die sich mit dem Reisen befasst
und sich solcher Möglichkeiten trotzdem nicht bewusst ist, darf getrost als
„Reise - Literatur“ bezeichnet werden:
Ihr bleibt alles unverwechselbar
exotisch und außerhalb des
Begreifens, Begriffenen, sogar
Begrifflichen.
anderen Historie ordnet man sich , da
sie neben uns mit fremder Stimme in
fremder Sprache spricht, als ihr Gatte
oder Liebhaber zu: durchaus glaubhafte Möglichkeiten, die, wären sie
verwirklicht, uns zum selbstverständlichen Bestandteil der Piazza
werden ließen, genussvoll speisend
und trinkend, ehe wir unser gemeinsames Bett in einem halb verfallenen,
von lauter lauten Leuten bewohnten
Quartier aufsuchen würden. ( ... )
So außer sich und aus seinem persönlichen Alltag geraten, in einer Art gezügelter, doch permanenter Ekstase, erfährt der Reisende auch das eigene
Ich, da er nach allen Wandlungen
erneut und immer wieder zu sich
selber zurückkehrt.. Weil es jedoch bei
dieser Rückkehr kaum mehr das ganz
Gleiche ist wie vordem, findet er sich
selber fremd und verfremdet vor, sich
selber deutlicher erkennbar, einge-
Joseph von Westphalen : Lob des ruhigen Reisens
Egal, ob man liebt oder arbeitet, egal,
ob bei Tag oder mitten in der Nacht:
Die kostbaren Stunden rennen gewöhnlich schnell vorbei.
Das taten sie schon zu Zeiten von
Romeo und Julia. Doch der Herr von
heute denkt nicht an Shakespeare,
wenn ihm die Zeit für Job und Liebe
verrinnt. Ich mache etwas falsch, sagt
er sich, steuert ein Reisebüro an und
lässt sich einen Trip empfehlen, bei
dem es auf einem schönen Schiff
garantiert ganz langsam an irgendeiner
Küste entlanggeht. Das braucht er
jetzt.
Die wirklichen Gegner der Beschleunigung allerdings entfliehen dem modernen Mördertempo nicht für wenige
Wochen, um sich diesem dann erholt
erneut zu unterwerfen. Diese Leute
kämpfen täglich wacker dagegen an.
Im österreichischen Klagenfurt wurde
199o ein mittlerweile international
florierender Verein „Zur Verzögerung
der Zeit“ gegründet. Vielleicht weiß der
ja Rat gegen die Raserei. Ob die ein
Telefon haben? Schon, aber die
Stimme auf dem Anrufbeantworter sagt
freundlich, rasche Telefonauskünfte
seien nicht im Sinne des Vereinsgedankens. Anfragen bitte schriftlich. Der
Verein werde antworten, wenn er Zeit
habe.
Die Statuten der Langsammacher sind
munterer als erwartet. Die Herrschaften machen sich darin über den
Produktfetischismus der Gesellschaft
lustig und über die Politiker, für die nur
der schnelle Erfolg innerhalb der Wahlperiode zählt. Die angeblich Energie
sparende Sommerzeit komme nur den
Tennisspielern zugute, die nun abends
länger Licht hätten.
Das alles liest sich plausibler als
manche ausgefallenen Reiseangebote.
So viel wird erkennbar: Wer im Alltag
123
eine originalitätslüsterne Minderheit zu
schaffen. Ist auch mehr damit zu verdienen als mit Survivaltrainings und
den Tipps, wie der Tourist aus
Gletschereis Tauwasser gewinnt.
Originell ist die Idee natürlich nicht.
Dass der Reisende auch langsam zum
Ziel kommt, hat Johann Gottfried
Seume 1801 mit seinem schon damals
vielbeachteten Spaziergang vom
sächsischen Leipzig zum sizilianischen
Syrakus gezeigt. Romantische Jungfilmer wie Wim Wenders und Werner
Herzog sind vor rund 20 Jahren von
Salzburg nach Venedig und von
München nach Paris gelascht und
haben ihre angenehmen Erfahrungen
mit der Verzögerung der Zeit beim
langsamen Vorwärtskommen in
langatmigen Büchern festgehalten.
Alles alte Hüte.
Warum der Tourismus erst jetzt die
Langsamkeit entdeckt, ist rätselhaft.
Die Vermutung, das Thema Langsamkeit habe die Branche gewissermaßen angesteckt, der Trend habe
zum Ausreifen seine Zeit gebraucht, ist
ebenso neckisch wie falsch. Wenn sich
mit der Schneckenpost Geld verdienen
lässt, wäre sie ruckartig übermorgen
früh eingeführt.
ab und zu innehält, sich an den Kopf
greift, gelassen etwas Zeit verplempert
und dabei neue Kräfte sammelt, der
kann sich die organisierte Gruppenwanderung durch die Wüste Gobi
sparen, die ihm, wenn schon nicht die
verlorene Zeit, so doch das verlorene
Gefühl für die Zeit wiederbringen soll.
Während die paar hundert Vereinsmitglieder überall dort, wo es ihnen
sinnvoll erscheint, an der Verzögerung
der Zeit arbeiten, plant der Rest der
wohlhabenden Welt millionenfach
seinen Urlaub, getrieben von der Angst
vor dem Herzinfarkt oder von blankem
Erlebnishunger, vom Statusdenken
oder von Weltbilderweiterungshoffnungen, vom Gefühl, etwas zu
versäumen, oder von ordinären
Erholungsbedürfnissen.
Wer das Besondere schätzt, begnügt
sich schon seit Jahren nicht mehr mit
dem Mittelmeerraum oder den Kanarischen Inseln; der reist im kalten
Euro-Winter nach Mauritius oder Bali aber das machen auch schon so viele.
Wer das Besondere schätzt, hat es
nicht leicht. In den 80-er Jahren wurde
der Abenteuerurlaub modern. Geröstete Regenwürmer und Baumrinde
statt Vollpension und Swimmingpool,
Urwald und Wüste statt der Highlights
des spätromantischen Kirchenbaus.
Es ist wohl das griffige Reizwort
„Entdeckung der Langsamkeit“, das
der Tourismus nun spät für sich ausschlachtet und das die Reiseveranstalter zu fieberhaftem Ausarbeiten von
Angeboten befeuert. Eigentlich müsste
der Schriftsteller Sten Nadolny für die
Nutzung des Begriffs Provision bekommen. Von ihm stammt die geniale
Formulierung, die 1983 seinen gleichnamigen Roman über eine Expedition
des Polarforschers John Franklin zum
Kultbuch machte.
In den 70-er Jahren warb die Zeitschrift
„Merian“ mit dem Slogan „Mut zur
Muße“ für eine Verlangsamung des
Reisens. Das hat keinen Trend
ausgelöst. Die Zeit war offenbar noch
nicht reif. Heute ist die Hetze groß
Das war seinerzeit ein beliebtes
Reportagethema für LifestyleMagazine. Aber wer kennt jemanden,
der jemanden kennt, der so etwas
mitmachte? Die zivilisationsgeplagten
Körper und Seelen sollten in urigen
zwei, drei Wochen genesen - war zu
lesen. Die Idee konnte sich nicht
durchsetzen. Warum sollte der
Gegenwartsmensch in den Ferien das
tun, was er das ganze Jahr über
machte: Zähne zu-sammenbeißen und
überleben?
Wenn die Tourismusindustrie jetzt die
„Entdeckung der Langsamkeit“ propagiert, hat sie mit dieser Idee mehr
Chancen, eine exklusive Marktlücke für
124
Diesem Strudel im Urlaub entkommen
zu wollen, ist entschuldbar. Wem es
allzu schwindlig geworden ist, wem mit
Segeltörns und Trekkingtouren nicht
mehr zu helfen ist, der macht sich auf
die langsame Reise zu sich selbst und
quartiert sich in einem Kloster ein. Die
Mönche sind selig: Endlich sind die
Zellen wieder belegt - mit reumütigen
Hochgeschwindigkeitsmanagern, die
artig Besserung geloben. Nach 14
Tagen das erste Erfolgserlebnis: Beim
Radieschenzupfen im Klostergarten
vertraut der Workaholic mit dem 800
000-Euro-Job dem Bruder Emeran
sein Glück an: Stellen Sie sich vor,
heute habe ich mich seit Jahren zum
ersten Mal gelangweilt.
Die Frage ist, ob der Zeitgenosse das
in einem stinknormalen Urlaub an
einem stinknormalen halbwegs
unverpesteten Strand nicht einfacher
haben kann. Ist auch rasend langweilig
dort, und die Zeit vergeht nicht. Oder
er bleibt im Sommer zu Hause auf dem
Balkon, wenn alles ausfliegt. Das
beschert einem durchaus erhellende
Momente.
genug, um ein breites Bedürfnis nach
gemächlicher Fortbewegung erstrebenswert erscheinen zu lassen.
Dass der Massentourismus auf
Langsamkeit setzt, ist kaum zu erwarten. Aber eine relevante und zu
Buche schlagende Minderheit scheint
bereit zu sein, auf breiten Flüssen
auch ohne aufregendes Nachtleben an
Bord ruhig durch den Urwald zu
kreuzen; tagelang ohne den Kitzel
spannender Mordfälle in luxuriösen
Zügen durch Indien, China oder die
Mongolei zu rattern, sich mit dem
Ballon dorthin treiben zu lassen, wohin
der Wind einen weht.
Die guten alten Zeiten wollen diese
Menschen nachspielen; eine Zeit, als
nicht alles immer schon „am liebsten
gestern“ fertig sein musste. Schon
liebäugelt die Tourismusbranche mit
längeren Zeppelinreisen und schier
endlosen Wanderungen, wer weiß, bis
nach Neuseeland gar. Nur für das
Gehen über das Wasser findet sich
seltsamerweise noch kein urchristlicher
Anbieter.
Wie jeder Trend hat auch dieser etwas
Albernes. Der schrullige Charme, den
die Idee mit der Langsamkeit hat, verflüchtigt sich, wenn die Sache vermarktet wird. Andererseits, von den vielen
Moden, die unsere Wohlstandsgesellschaft gebiert, gehört die Entdeckung
des langsamen Reisens zu den harm losen und vernünftigeren.
Das Arbeitsleben ist vom Beschleunigungsprinzip diktiert. Ein Auto, das 240
Kilometer in der Stunde fährt, befriedigt
niemanden, weckt nur im Freak den
Wunsch nach einem schnelleren; an
den Computern trommeln die Leute
ungeduldig mit den Fingern, weil der
neue Pentium-Prozessor die Daten
immer noch nicht hurtig genug hin und
her schaufelt; und schon im Frühjahr
müssen die Lager der Kaufhäuser für
die nächsten Winterklamotten geräumt
sein.
125
Jetzt haben Sie zwei deutlich unterschiedliche Essays zum gleichen Thema kennengelernt. Sie haben die betonte Subjektivität der Auffassung und die z.T. lockere Art
der Behandlung des Themas, die assoziative und sprunghafte Gedankenführung und
die stilistisch weitreichenden Möglichkeiten dieser Darstellungsform erkannt und
hoffentlich Lust bekommen, diese Textsorte selbst einmal auszuprobieren. Sie
werden feststellen, dass es großen Spaß macht, wenn man einmal angefangen hat.
Wenn Sie ein Thema gewählt haben, können Sie folgendermaßen vorgehen:
Schreiben Sie in Form eines Clusterings oder Mindmappings alles auf, was
Ihnen spontan zum Thema einfällt.
Bringen Sie Ihre Einfälle in eine Ordnung (es muss keine logisch-kausale sein)
und legen Sie eine Abfolge der Gedanken bzw. Assoziationen fest.
Formulieren Sie Ihre Gedanken / Assoziationen so, dass ein flüssiger Text
entsteht, den der Leser gut verstehen kann. Markieren Sie dabei auch die
Sinnabschnitte.
Themenvorschläge:
· Reisen in die Fremde
· Andere Völker - andere Sitten
· Urlaub vom Ich
· Urlaub und Selbstfindung
· Schule und Selbstverwirklichung
· Familie - ein Auslaufmodell?
· Wie man garantiert eine Beziehung zerstört
· Wie man garantiert alle Fettnäpfe trifft
· Die Rache des technischen Fortschritts
· Die Natur schlägt zurück
· Wer sucht, der findet
· Ideen muss man haben
· Internet als Chance
· Recht auf Dummheit
· Immer mit der Ruhe
· Der Krieg ist keine Lösung
· Schule verbildet
· Das Vorrücken der Wüste
· Lernen von Vorbildern
· Die Leere im Kopf
Wenn Sie von den Vorschlägen nicht inspiriert worden sind, wählen Sie halt ein
eigenes Thema. Es kommt darauf an, dass Sie den Essay als Darstellungsform
ausprobieren - egal mit welchem Thema.
126
Grammatik
1. Wortarten
2. Satzglieder
3. Satzlehre
3.1. Satzarten
3.2. Satzgefüge
3.2.1. Subjektsatz
3.2.2. Objektsatz
3.2.3. Prädikatsatz
3.2.4. Attributsatz
3.2.5. Adverbialsätze
3.3. Satzglied - Nebensatz
Kommaregeln
Grammatiktest
127
128
128
135
135
137
138
139
141
141
142
146
148
152
1. Die Wortarten
Wir unterscheiden zehn Wortarten:
Verben
-
sie werden konjugiert
Nomen (Substantive)
Adjektive
Artikel
Pronomen
Numeralien





sie werden alle dekliniert
Adverbien
Präpositionen
Konjunktionen
Interjektionen




sie sind alle nicht flektierbar
2. Die Satzglieder
Wenn wir Sätze bilden, dann greifen wir auf die Wortarten zurück. Allerdings
bekommen sie dann eine neue Funktion: Sie werden zu Satzgliedern.
Wir unterscheiden fünf verschiedene Satzglieder:
1.
2.
3.
4.
5.
das
das
das
die
das
Subjekt (Satzgegenstand)
Prädikat (Satzaussage)
Objekt (Satzergänzung)
abverbiale Bestimmung (Umstandsbestimmung)
Attribut (Beifügung)
Ein Satzglied kann aus einem Wort oder einer Wortgruppe bestehen. Was ein
Satzglied ist oder zu einem Satzglied gehört, kann mit drei verschiedenen Methoden
untersucht werden:
1. Ersatzprobe: Jedes Satzglied kann durch ein einzelnes Wort, z.B. ein
Pronomen ersetzt werden.
Die Mutter legt ein gekochtes Ei auf den Frühstückstisch.
Sie
legt
es
auf ihn.
(So zeigt sich, dass der Satz aus vier Satzgliedern besteht.)
2. Verschiebeprobe: Was sich beim Verschieben nicht trennen lässt, gehört als
Satzglied zusammen:
Ein gekochtes Ei legt die Mutter auf den Frühstückstisch.
Auf den Frühstückstisch legt die Mutter ein gekochtes Ei.
(Es zeigt sich: "ein gekochtes Ei" ist ebenso ein einziges Satzglied wie "auf
den Frühstückstisch". Man könnte noch weitere Beifügungen einfügen, es
bliebe immer nur ein Satzglied: auf den reich gedeckten Frühstückstisch;
auf den mit vielen unterschiedlichen Speisen reich gedeckten Frühstückstisch).
128
3. Weglassprobe: Was ohne Beeinträchtigung des Satzbaus weggelassen werden
kann, ist nur Bestandteil eines Satzglieds (meist ein Attribut
oder eine adverbiale Bestimmung).
Die (aufmerksame) Mutter legt (morgens immer) ein (gekochtes) Ei auf
den (reich gedeckten) Frühstückstisch.
2.1 Subjekt
Subjekt ist der, die oder das, von dem im Satz etwas ausgesagt wird. Das Subjekt
antwortet auf die Frage: Wer oder was? Das Subjekt steht immer im Nominativ.
Subjekt und Prädikat bilden den Satzkern.
2.2 Prädikat
Als Prädikate bezeichnen wir Aussagen, die über das Subjekt gemacht werden.
Diese Aussage kann sich beziehen auf das,
- was das Subjekt tut:
- was mit dem Subjekt geschieht:
- was das Subjekt ist:
- wie das Subjekt ist:
Das Kind singt.
Der Motor wird angelassen.
Die Eiche ist ein Baum.
Die Rose ist dunkelrot.
Wie die Beispiele zeigen, kann das Prädikat einstellig oder mehrstellig sein. Wird
beispielsweise eine Aussage im Futur II formuliert, dann ist die Prädikatsgruppe
dreistellig: Morgen um diese Zeit werde ich schon gegessen haben.
Aufgabe: Markieren Sie bei den folgenden Sätzen das Subjekt (grün) und das
Prädikat (rot)!
1. Die Eltern frühstücken in der Küche.
2. Das Gesagte bezweifele ich nicht im Geringsten.
3. In der Sahara brennt die Sonne immer sehr heiß.
4. An der Bushaltestelle begegneten sich dann die Kontrahenten.
5. Zusammen mit ihren Eltern reiste Julia nach Italien.
6. In allen Gärten blühen seit Tagen die Nelken.
7. Abends leuchtet der See in der Abendsonne.
8. Wegen seiner guten Arbeit wurde der Lehrling vom Meister gelobt.
9. Nach den Satzgliedern werden die Satzarten bestimmt.
10. Der Satzkern besteht aus Subjekt und Prädikat.
11. Anstelle des Nomens kann ein Pronomen stehen.
12. Wie die anderen Satzglieder kann das Prädikat mehrgliedrig sein.
2.2.1 Das Prädikatsnomen
In manchen Grammatiken wird das Prädikatsnomen auch „Gleichsetzungsnominativ“
oder „ist-Prädikation“ oder „Prädikative“ genannt. Wie auch immer – wichtig ist, dass
das Prädikatsnomen eine Sonderform des Prädikats ist und bei folgenden Verben
auftreten kann: sein, werden, bleiben, scheinen, sich dünken, heißen.
Werden diese Verben in einem Satz als Vollverben benutzt, ergibt sich immer eine
mehrstellige Prädikatsgruppe. Sie hat dann folgende Struktur:
129
Die Eiche
ist
ein Laubbaum.
↓
↓
Kopula + Prädikatsnomen
└───────┬─────────┘
Prädikatsgruppe
Beim (Hilfsverb) „sein“ gibt es verschiedene Möglichkeiten von Prädikatsgruppen.
Das Prädikat kann bestehen aus Kopula und einem
- Nomen im Nominativ
- Adjektiv
- Pronomen
- Adverb
- Numerale
- Infinitiv mit „zu“
- Nomen im Genitiv
- Nomen mit Präposition
:
:
:
:
:
:
:
:
Uwe ist ein Einzelgänger.
Bärbel ist wissbegierig.
Das Buch ist mein.
Meine Mühe war vergebens.
Dieser Patient ist der dritte.
Die Kinder sind zu bedauern.
Er ist ihrer Meinung.
Sie ist bei Bewusstsein.
Aufgabe: Unterstreichen Sie die Prädikatsnomen (rot)!
1. Wegen des Platzregens ist die Straße besonders nass.
2. Er bleibt trotz aller Vorsätze ein Versager.
3. Nach dem Unfall schien das Auto ein Wrack.
4. Er dünkt sich ein guter Fahrer im Straßenverkehr.
5. Sie blieb trotz aller Zweifel die Siegerin.
6. Nach dem Studium wird sie wahrscheinlich Richterin.
2.3 Objekt
Das Objekt ist die (notwendige) nähere Bestimmung, die bestimmte Verben im Satz
fordern; durch das Objekt wird dann der unvollständige Sinn des Prädikats
vervollständigt (z.B. Die Frau holt ... den Eimer.)
Es gibt fünf verschiedene Arten von Objekten:
das Akkusativobjekt (Ergänzung im 4.Fall) steht nach Verben, die den
Akkusativ verlangen (bringen, schlagen ..). Nach dem Akkusativobjekt fragt
man: Wen od. Was? (Ich wasche den Wagen.)
das Dativobjekt (Ergänzung im 3.Fall) steht nach Verben, die den Dativ
verlangen (geben, helfen ...). Das Dativobjekt antwortet auf die Frage:
Wem ? (Er vertraut dem Freund.)
das Genitivobjekt (Ergänzung im 2.Fall) steht nach Verben, die den Genitiv
verlangen (gedenken, bedürfen ...). Das Genitivobjekt antwortet auf die Frage:
Wessen ? (Die Kranken bedürfen der Pflege.)
das doppelte Objekt steht nach Verben, die zwei Objekte nach sich ziehen,
entweder beide im Akkusativ oder im Akkusativ und in einem anderen Kasus:
Die Weisheit lehrt den Weisen Verschwiegenheit. (Akk.+ Akk.)
130
Der Lehrer gibt den Schülern ihre Zeugnisse.
Er würdigt den Gefangenen keines Blickes.
Die Klasse macht eine Fahrt ins Grüne.
(Dat.+ Akk.)
(Akk.+ Gen.)
(Akk.+ Präp.Obj.)
das Präpositionalobjekt steht dann, wenn ein Verb eine Ergänzung mit
Präposition nach sich zieht bzw. ohne Präposition nicht erweitert werden
kann. Der Grammatik-Duden nennt über 250 Verben, die ein Präpositionalobjekt verlangen. Nach dem Präp.Obj. fragt man mit der entsprechenden
Präposition:
Auf was ?
Sie achtet auf ihre Linie.
Aus was ?
Bronze besteht aus Kupfer und Zinn.
An wen ?
Ich schreibe an meine Eltern.
Mit wem ?
Ich plage mich mit dem Text ab.
Aufgabe: Markieren Sie bei den folgenden Sätze die Objekte (blau)!
1. Ich hole dich morgen vom Zug ab.
2. Werner hat seine Hausaufgaben vergessen.
3. Auf dem Markt boten einige Verkäufer billige Waren an.
4. Die Perser zerstörten Athen und die Akropolis.
5. Am Totensonntag gedenken die Christen der Toten.
6. Hast du schon wieder einen neuen Wagen?
7. Sie borgte dem Nachbarn die Bohrmaschine.
8. Der Fuchs beraubte den Raben seiner Nahrung.
9. Der Lehrer lehrte die Schüler die Grammatik.
10. Der kranken Tante halfen die guten Nachbarn.
11. Wir wünschen allen schöne Ferien.
12. Dem Gericht erzählte er eine tolle Geschichte.
2.3.1 Das Präpositionalobjekt
Beim Erkennen der Objekte machen die Präpositionalobjekte die größten
Schwierigkeiten. Der Grund dafür ist, weil die Präposition notwendiges Bestandteil
des Satzgliedes ist. Es gibt im Deutschen eine begrenzte Anzahl (ca. 300) von
Verben, die mit einem Präpositionalobjekt erweitert werden, z.B. hoffen auf, denken
an, pochen auf X
Der Satzbauplan sieht dann folgendermaßen aus:
Satz
┌──────┬─────┴───────────┐
Subjekt Prädikat
Präpositionalobjekt
Der Hund
achtet
auf seinen Herrn.
Aufgabe: Unterstreichen Sie die Präpositionalobjekte in den folgenden Sätzen!
1. Auf deine Ledertasche solltest du aufpassen.
2. Das hängt allein von deiner Zusage ab.
3. Vor Ratten ängstigen sich die meisten Menschen hierzulande.
4. Beim Lesen muss man sich auf fremde Welten einlassen können.
131
5. Immer wieder appellierte sie an seine Vernunft.
6. Über die Willensfreiheit kann man endlos diskutieren.
7. Anscheinend handelt es sich um eine wichtige Angelegenheit.
8. Der Gefangene büßt seit zehn Jahren für seine Tat.
2.4 Adverbiale Bestimmungen (Umstandsbestimmungen)
Auch mit Adverbialbestimmungen kann ein Satz(kern) erweitert werden. Unter grammatischem Aspekt sind diese nicht unbedingt erforderlich, aber sie liefern wichtige
Informationen darüber, unter welchen Umständen etwas geschieht. Die Adverbialbestimmungen beziehen sich direkt auf das Prädikat (Verb) und geben Ort, Zeit, Art und
Weise sowie den Grund eines Geschehen oder einer Handlung an.
Im folgenden Beispiel sind alle Möglichkeiten der adverbialen Bestimmung vertreten:
Meine Tante fährt
morgen
└─┬─┘
wann?
(Zeit)
mit dem Zug
zur Erholung
└──┬───┘ └───┬───┘
womit?
wozu?
(Art u. Weise)
(Grund)
aufs Land.
└──┬──┘
wohin?
(Ort)
Das Prädikat (Verb) ist hierbei durch vier Adverbialbestimmungen erweitert und
näher bestimmt. Mit dem Verb fragt man nach der Adverbialbestimmung:
Frage
Wann fährt meine Tante?
Womit fährt sie?
Warum, wozu fährt sie?
Wohin fährt sie?
Antwort
morgen
mit dem Zug
zur Erholung
aufs Land
Art der Umstandsbestimmung
Temporalbestimmung
Modalbestimmung
Kausalbestimmung
Lokalbestimmung
Wir unterscheiden demnach:
Temporalbestimmungen (auf die Fragen: wann?, wie lange?, wie oft?)
Mein Zug fährt morgen früh.
Die Ferien dauern sechs Wochen.
Ich schrieb ihr zwei- oder dreimal.
Modalbestimmungen (auf die Fragen: wie?, womit?, wodurch?, wie sehr?
woraus? ...)
Der Sportler trainiert fleißig.
Er zeichnet mit einem Kohlestift.
Sie verkauft das Bild für 300 Euro.
Kausalbestimmungen (auf die Fragen: warum?, wozu?, weshalb?, woran?,
bei welcher Bedingung?, bei welcher Einschränkung?
bei welcher Folge? ...)
Er gab wegen Übermüdung auf.
132
Sie zitterte vor Aufregung.
Er handelt wider besseres Wissen.
Alle kamen trotz der bitteren Kälte.
In der Wüste kamen sie vor Hitze fast um.
Lokalbestimmungen (auf die Fragen: wo?, wohin?, woher?, wie weit?, wie
hoch?, wie tief?, wie lang?, wie breit?, wie dick? ...)
Unsere Schule liegt in der Innenstadt.
Der Wind weht von Nordwesten.
Sie sprang sechs Meter weit.
Aufgabe: Markieren und bestimmen Sie bei den folgenden Sätzen die adverbialen
Bestimmungen (violett)!
1. Kann man mit Geld alles kaufen?
2. Letztes Jahr bin ich in Madrid gewesen.
3. Im Jahr 1969 landete der erste Mensch auf dem Mond.
4. Wegen meiner Fußbeschwerden bin ich langsamer gegangen.
5. Beinahe wäre sie in einen schreckliches Abgrund gefallen.
6. Bei Regenwetter bleiben wir zu Hause.
7. Das Rennen fand trotz des starken Regens statt.
8. Das Efeu rankt sich an der Hütte empor.
9. Zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit machte sie eine Kur.
10. Wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes machte sie eine Kur.
11. Viele Dorfbewohner kamen 1997 durch ein Erdbeben um.
12. Des Morgens lernt man am leichtesten.
2.5 Attribut
Jedes Nomen im Satz kann mit einer oder mehreren Beifügungen näher erklärt,
bewertet oder ausgeschmückt werden. Diese Beifügung heißt Attribut und steht nicht
in direkter Beziehung zum Prädikat (Verb). Weil das Attribut zu einem anderen
Satzglied (Subjekt, Objekt, Adverbialbestimmung) gehört, ist es ein Satzglied zweiten
Grades. Es kann dem Nomen vorangestellt oder ihm nachgestellt werden:
Ein gutes Buch verlangt einen aufmerksamen Leser.
Der Hut des Vaters stammt aus dem Kaufhaus am Domplatz.
Das Attribut antwortet auf die Frage: Was für ein/e?
Das Attribut kann mit verschiedenen Wortarten gebildet werden. Es gibt also
verschiedene Möglichkeiten des Attributs. Es kann gebildet werden aus einem
Adjektiv oder Partizip als Begleiter eines Nomens
(Wir bekommen einen nassen Sommer. Der gefeierte Star kam zuletzt.)
Pronomen oder Numerale als Begleiter eines Nomens
(Auf dem Tisch liegt mein Buch. Er suchte zwei Beispiele.)
Nomen im Genitiv (Genitivattribut)
133
(Die Blüten der Rosen duften. Die Arbeit des Schülers war gut.)
Nomen mit einer Präposition
(Die Freude über das Geschenk war groß.)
Adverb
(Die Schule dort ist die unsrige.)
Verb im Infinitiv mit "zu"
(Die Kunst zu schreiben kann erlernt werden.)
Eine Sonderform des Attributs ist die Apposition, die nachgestellte Beifügung
im gleichen Fall. Die Apposition wird durch Kommas abgetrennt.
(Der Gartenteich besteht aus Kunststoff, einem widerstandsfähigen
Material. Der Löwe, der König der Tiere, kommt in vielen Fabeln vor.)
Merke: Genitivattribut und Genitivobjekt werden oft verwechselt; sie unterscheiden
sich jedoch deutlich voneinander. Das Genitivobjekt ist abhängig vom Prädikat; es
setzt ein Verb voraus, das nur mit dem Genitiv erweitert werden kann ( wie z.B.
bedürfen, gedenken X). Das Genitivattribut ist abhängig von einem Nomen (eines
Satzgliedes).
Ich bedarf deiner Hilfe. (Genitivobjekt)
Die Hilfe des Arztes kam zu spät. (Genitivattribut)
Aufgabe: Markieren Sie bei folgenden Sätzen die Attribute (gelb)!
1. Rosen gelten als die schönsten Blumen.
2. Ich verweise Sie auf andere, ortskundige Fußgänger.
3. Die Pferde in der Koppel gehören meinem Vater.
4. Nachts bellen die Hunde des Schäfers manchmal.
5. Auch sein letzter Versuch zu fliehen misslang.
6. Die morgige Arbeit bereitet mir schon heute erhebliche Kopfschmerzen.
7. Aufmerksame Schüler verwenden den Trick mit der Umstellprobe.
8. Zur Bestimmung der Satzglieder muss man die richtige Frage stellen.
9. Alle bisher formulierten Sätze beziehen sich auf das Attribut, das einzige Satzglied
zweiten Grades.
Es ist geschafft ! Jetzt haben Sie alle Satzglieder kennengelernt und können nun alle
Satzglieder von Sätzen bestimmen. Testen Sie sich mit den folgenden Sätzen. Der
Einfachheit halber sollten Sie jetzt mit den üblichen Abkürzungen arbeiten:
Subjekt
Prädikat
Objekt
Präpositionalobjekt
Adverbiale Bestimmung
- Temporalbestimmung
- Lokalbestimmung
- Modalbestimmung
- Kausalbestimmung
Attribut
=
=
=
=
S
P
O
Präp-O
=
=
=
=
=
Temp
Lok
Mod
Kaus
Attr
134
Aufgabe: Bestimmen Sie die Satzglieder der folgenden Sätze!
1. Bis zum Abitur dauert es noch über zwei Jahre.
____________________________________________
2. Im Kurssystem belegen die Schüler zwei Leistungskurse nach eigener Wahl.
3. Im Leistungskurs Deutsch wird die deutsche Literatur vom Mittelalter bis heute
thematisiert.
_________________________________________________________________
4. Textanalyse und Erörterung bilden die zwei Aufgabentypen des Faches Deutsch.
___________________________________________________________________
5. Der E-Phase kommt die wichtigste Bedeutung für das Kurssystem zu.
_______________________________________________________________
6. In der E-Phase werden die wesentlichen Voraussetzungen für die Kursphase
gelegt.
________________________________________________________________
7. Defizite aus der E-Phase werden meist bis zum Abitur mitgeschleppt.
________________________________________________________________
8. Ein erfolgreicher Abschluss der E-Phase garantiert in der Regel ein erfolgreiches
Durchlaufen des Kurssystems und das Bestehen des Abiturs.
________________________________________________________________
3. Satzlehre
3.1. Satzarten
Die Satzarten werden unterschieden nach der kommunikativen Funktion, nach der
Intention, die ein Satz erfüllen soll.
Aufgabe: Geben Sie bei den folgenden Beispielen die Funktion des Satzes an!
1. Schließ die Tür! Mach die Tür zu! ___________________________
2. Lasst uns gehen! __________________________
3. Hättest du doch auf mich gehört! _____________________________
4. Wünschen Sie die Limonade eisgekühlt? ________________________
135
5. War das ein Konzert! __________________________
6. Der Politiker ging auf die Frage gar nicht ein. _____________
7. Das ist vielleicht ein eingebildeter Mensch! ________________
8. Wurdest du gut behandelt? ______________________
9. Hören Sie mit diesem Unsinn auf! __________________________
10. Wenn er doch endlich ginge! _______________________
11. Der Mensch ist das Maß aller Dinge. __________________________
12. Der Sprecher kündigt den Star an, die Menge jubelt und grölt, dann kommt er
endlich.
____________________________
13. Der Politiker, der gereizt wirkt, weil er übermüdet ist, stellt sich dennoch den
Fragen der Reporter.
__________________________________
Ergebnis: Wir unterscheiden ___ verschiedene Satzarten. Diese Unterscheidung
berücksichtigt ausschließlich den Inhalt bzw. die Intention der Sätze.
Es gibt also:
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Wenn man die Sätze ausschließlich der Form nach betrachtet, so kann
man vier verschiedene Arten von Sätzen unterscheiden:
a) der einfache Satz,
b) der erweiterte Satz,
c) die Satzreihe (Parataxe) und
d) das Satzgefüge (Hypotaxe).
136
3.2. Das Satzgefüge
Satzgefüge meint die Verbindung eines Hauptsatzes (HS) mit einem oder mehreren
Nebensätzen (NS).
Beispiel:
Er überlegte, was sie gesagt hatte.
I------HS-----I,I---------NS--------------I
Woran kann man einen Nebensatz erkennen?
Von den Satzgliedern her gesehen ist ein Nebensatz zunächst ein Satz, d.h., er
besteht zumindest aus Subjekt und Prädikat und kann wie jeder Satz durch beliebig
viele Satzglieder erweitert werden.
(Bsp.: Er überlegte, was sie ihm gestern Abend kurz vor zwölf leise flüsternd gesagt
hatte.)
Doch zwei bzw. drei Merkmale können genannt werden, die einen Nebensatz
kennzeichnen:
1. die Abhängigkeit vom Hauptsatz, d.h., der NS ist dem HS
untergeordnet; ein NS kann nicht alleine stehen;
2. die Änderung der Satzgliedstellung, d.h., beim NS steht
das Prädikat (i.d.R.) am Ende des Satzes;
3 die besondere Art der Einleitung: In der Regel werden
Nebensätze mit Konjunktionen oder Pronomen (Relativund Interrogativsätze) eingeleitet.
Dieses dritte Merkmal gilt nicht bei den sog. Infinitivsätzen (Sie bat ihn, doch
möglichst rasch zu kommen) und den sog. verkürzten Nebensätzen (Er versprach,
dass er kommen werde. / Er versprach, er werde kommen.)
Welche Funktion hat der Nebensatz?
Der Nebensatz wird auch Gliedsatz genannt. Dieses Begriff gibt schon die Funktion
an: Der Nebensatz (Gliedsatz) hat die Funktion, ein Satzglied zu ersetzen; ein
Nebensatz vertritt, steht für ein Satzglied.
Wenn diese Behauptung richtig ist, muss jeder Nebensatz in ein Satzglied - und
umgekehrt - jedes Satzglied in einen Nebensatz verwandelt werden können. Im
Prinzip ist diese Annahme richtig, wenn die Umwandlung auch nicht immer so glatt
möglich ist wie bei den folgenden Beispielen.
Das kranke Kind war sehr erschöpft.
Das Kind, das krank ist, war sehr erschöpft.
(HS)
(HS, NS, HS)
Wir erwarten, dass er sein Versprechen einlöst.
Wir erwarten seine Einlösung seines Versprechens.
(HS, NS)
(HS)
Dass der Vulkan ausgebrochen ist, steht in allen Zeitungen. (NS, HS)
Der Ausbruch des Vulkans steht in allen Zeitungen.
(HS)
137
Die Beispiele sagen auch etwas aus über die Stellung des Nebensatzes
im Satzgefüge. Der NS kann auftreten
(1) als nachgestellter NS,
(2) als Vordersatz und
(3) als zwischengeschobener NS
Beispiele:
- Wir bleiben zu Hause, weil es regnet.
- Weil es regnet, bleiben wir zu Hause.
- Wir bleiben, weil es regnet, zu Hause.
Welche Arten von Nebensätzen gibt es?
Die These, dass Nebensätze Satzglieder ersetzen, muss zu der Folgerung führen,
dass es so viele Arten von Nebensätzen gibt wie Satzglieder.
Wir unterscheiden fünf Satzglieder; also gibt es fünf Arten von Nebensätzen:
Subjektsätze
Prädikatsätze
Objektsätze
Adverbialsätze
Attributsätze
3.2.1 Der Subjektsatz
These: Ein Nebensatz, der das Subjekt vertritt, heißt Subjektsatz.
Bsp.:
- Wer fleißig ist, hat häufig Erfolg.
(Der Fleißige hat häufig Erfolg.)
- Wie lange der Flug dauert, ist ungewiss.
(Die Dauer des Fluges ist ungewiss.)
Aufgabe: Wandeln Sie die Subjektsätze in Subjekte um!
1. Dass die Preise fallen, erfreut den Kunden.
__________________________________________
2. Wer regelmäßig Sport treibt, trainiert seinen Körper.
_____________________________________________________
3. Es ist sicher, dass der Zug sofort abfährt.
__________________________________________
4. Es wäre mir sehr angenehm, wenn du mich besuchtest.
___________________________________________________
138
5. Ob er siegt, hängt doch sehr von der Tagesform ab.
____________________________________________________
6. Dass die Leistungen sinken, ist deutlich zu spüren.
________________________________________________________
7. Jetzt ist mir klar, was du vorhattest.
_______________________________________
Aufgabe: Bestimmen Sie das Subjekt des Satzes und wandeln Sie es in einen
Subjektsatz um!
1. Ein Lügner ist unzuverlässig.
_____________________________
2. Komisches reizt zum Lachen.
___________________________
3. Die Lösung der Aufgabe ist mir nicht bekannt.
_____________________________________________
4. Glück hat häufig nur der Tüchtige.
__________________________________
5. Seine Zahlungsfähigkeit muss noch überprüft werden.
__________________________________________________
6. Der Sieg unserer Mannschaft ist noch lange nicht sicher.
_________________________________________________________
7. Die Größe eurer Wohnung war mir bewusst.
______________________________________
3.2.2 Der Objektsatz
These: Der Nebensatz, der das Objekt vertritt, heißt Objektsatz.
Aufgabe: Wandeln Sie den Nebensatz in ein einfaches Objekt um!
1. Wir wünschen dir, dass du Erfolg hast.
_____________________________________
139
2. Er bezahlte, was er schuldig war.
_______________________________
3. Ich rechne damit, dass ihr kommt.
________________________________
4. Dass der Kunde angerufen hatte, hatte der Kaufmann vergessen.
_____________________________________________________________
5. Sie gedachten derer, die dieses Werk geschaffen hatten.
_______________________________________________________
6. Ich zweifle nicht daran, dass der Ring echt ist.
_______________________________________________
7. Alle waren überzeugt, dass die Mannschaft siegen wird.
_____________________________________________________
8. Der Verratene erkannte den, der ihn verraten hatte.
____________________________________________________
Aufgabe: Bestimmen Sie das Objekt des Satzes und wandeln Sie es um in
einen Objektsatz!
1. Der Arzt hilft allen Kranken.
______________________________
2. Seine Behauptung konnte der Wissenschaftler nicht beweisen.
____________________________________________________________
3. Einem Betrüger kann man nicht trauen.
______________________________________
4. Das Volk verlangte die sofortige Aufklärung des Verbrechens.
_____________________________________________________________
5. Wir erwarten die Rückzahlung des geliehenen Geldes.
___________________________________________________
6. Segler freuen sich stets über einen günstigen Wind.
__________________________________________________
7. Das beschuldigte Kind beteuerte seine Unschuld.
______________________________________________
8. Ihren Beschluss bereute sie noch Jahre später.
____________________________________________
9. Ich erinnere mich noch gut an den Vorfall.
_________________________________________
140
3.2.3 Der Prädikatsatz
These: Der Nebensatz, der ein Prädikat vertritt, heißt Prädikatsatz.
Aufgabe: Wandeln Sie die Prädikatsätze in einfache Prädikate um!
1. Herr Kleinschmidt ist es, der die Filme zensiert.
________________________________________________
2. James Watt war es, der die Dampfmaschine erfunden hat.
_______________________________________________________
3. Diese Äpfel sind es, die am besten schmecken.
_____________________________________________
Aufgabe: Wandeln Sie die Prädikate um in Prädikatsätze!
1. Regen ist die Ursache vieler Unfälle.
_____________________________________
2. Herder ist der Gründer dieser Schule.
_____________________________________
3. Mein Onkel ist der Veranlasser dieser Aktion.
_____________________________________________
3. 2.4 Der Attributsatz
These: Der Nebensatz, der ein Attribut vertritt, heißt Attributsatz.
Aufgabe: Wandeln Sie die Attributsätze in einfache Attribute um!
1. Holz, das trocken ist, brennt gut.
__________________________________
2. Sende mir die Kiste, die beanstandet wurde, wieder zurück.
__________________________________________________________
3. Ich danke dir für das Geschenk, das du mir zugesandt hast.
__________________________________________________________
141
Aufgabe: Wandeln Sie die Attribute um in Attributsätze!
1. Wichtige Briefe lässt man einschreiben.
______________________________________
2. Der Besitz des Grafen wird nun endlich versteigert.
__________________________________________________
3. Der Kaffee aus Guatemala hat ein hervorragendes Aroma.
______________________________________________________
4. Der Rhein, Deutschlands größter Fluss, ist heute eine Kloake.
___________________________________________________________
5. Die Art deines Benehmens erregte Anstoß.
_______________________________________
3.2.5 Die Adverbialsätze
Die Adverbialsätze bilden die umfangreichste Gruppe der Nebensätze. Wie bei den
adverbialen Bestimmungen nach Zeit, Ort, Art und Weise, Grund unterschieden wird,
so auch bei den Adverbialsätzen. Aus der Temporalbestimmung wird ein temporaler
Nebensatz bzw. ein Temporalsatz, aus der Lokalbestimmung ein Lokalsatz, aus der
Modalbestimmung ein Modalsatz. Da die Kausalbestimmung mehrere Varianten in
sich enthält, unterscheidet man bei den durch Umwandlung zustande kommenden
Nebensätzen genau nach deren Funktion:
Kausalsätze (im engeren Sinne) geben den Grund an;
Finalsätze geben das Ziel an;
Konsekutivsätze geben die Folge, die Konsequenz an;
Konditionalsätze geben die Bedingung an;
Konzessivsätze geben eine Einräumung an;
Komparativsätze geben einen Vergleich an.
Damit ergeben sich neun Arten der Adverbialsätze. Neben der inhaltlichen Funktion
im Satzgefüge kann man diese Nebensätze auch an der spezifischen Konjunktion,
mit denen sie eingeleitet werden, erkennen:
temporale Konjunktionen: nachdem, bevor, während, als, wenn, bis, seit,
indessen, solange, sooft, ehe, ...
lokale Konjunktionen:
wo, wohin, woher, ...
modale Konjunktionen:
indem, dadurch - dass, ohne - dass, als ob, wie, ...
kausale Konjunktionen:
weil, da, zumal, ...
finale Konjunktionen:
dass, damit, auf dass, ...
konsekutive Konj.:
dass, so dass, als dass, ...
konditionale Konj.:
wenn, es sei denn dass, falls, sofern,
konzessive Konj.:
obwohl, obgleich, obschon, wenngleich, wiewohl, ...
komparative Konj.:
wie, als ob, als wenn, gleich wie, ...
142
Aufgabe: Bestimmen Sie die Nebensätze und wandeln Sie diese in Satzglieder um!
1. Wir geben Bescheid, sobald die Nachricht eintrifft.
___________________________________________________
2. Sie legte die Liste alphabetisch an, damit sie übersichtlich ist.
_____________________________________________________________
3. Wir wollen es nicht so machen, wie es vorgeschrieben ist.
_________________________________________________________
4. Er benahm sich, als habe er die Welt erobert.
_____________________________________________
5. Falls das Schiff früher einläuft, rufen wir an.
______________________________________________
6. Das Kind betrat den Rasen, obwohl es verboten war.
_________________________________________________
7. Als wir das Porzellan einpackten, zerbrachen einige Teller.
___________________________________________________________
8. Wo gehobelt wird, fallen Späne.
_______________________________
9. Weil die Witterung ungünstig war, sind die Kartoffeln teuer.
____________________________________________________________
10. Er hat den Tisch so angefertigt, wie du es angegeben hattest.
_____________________________________________________________
Aufgabe: Bestimmen Sie die adverbiale Bestimmungen und wandeln Sie diese in
Adverbialsätze um!
1. Das Gasthaus liegt an der Kreuzung der beiden Landstraßen.
_________________________________________________________
2. Die Ölpreise sind wegen der Golfkrise gestiegen.
_______________________________________________
3. Trotz erheblicher Schwierigkeiten wurde das Projekt ein Erfolg.
______________________________________________________________
143
4. Gemäß euren Wünschen wollen wir vorgehen.
________________________________________
5. Bei einem Motorschaden müssen wir die Reise aufgeben.
_____________________________________________________
6. Zur Verbesserung der Qualität arbeitete sie noch sorgfältiger.
______________________________________________________________
7. Mit etwas Fleiß kann jeder das selbst schaffen.
_______________________________________________
8. Beim Aas sammeln sich die Geier.
_______________________________
9. Die Lokomotive fuhr heftig dampfend davon.
___________________________________________
10. Sie reiste zur Erholung aufs Land.
_________________________________
11. Ich komme auf dein Winken.
__________________________
12. Trotz des enormen Endspurts konnte er nicht gewinnen.
_____________________________________________________
13. Er sieht bemitleidenswert aus.
_____________________________
14. Wegen des heftigen Sturms blieben wir daheim.
____________________________________________
Zusammenfassende Übungen
Übung (1): Bestimmen Sie das unterstrichene Satzglied und wandeln Sie es um in
einen Nebensatz!
1. Der Fleißige hat häufig auch Erfolg.
__________________________________________________________________
2. Das Krokodil beweint seine Opfer nach dem Verzehr mit vielen Tränen.
_________________________________________________________________
3. Wichtige Briefe lässt man einschreiben.
_________________________________________________________________
144
4. Wir erwarten alsbald die Rückzahlung des geliehenen Geldes.
_________________________________________________________________
5. Regen ist die Ursache vieler Unfälle.
_________________________________________________________________
6. Seine Leistungsfähigkeit muss noch überprüft werden.
_________________________________________________________________
7. Das Volk verlangte die sofortige Aufklärung des Verbrechens.
_________________________________________________________________
8. Der Kaffee aus Guatemala hat ein gutes Aroma.
_________________________________________________________________
9. Wegen des rauschenden Wassers hörten die Bachstelzen nichts.
__________________________________________________________________
10. Die Größe eurer Wohnung war mir nicht bekannt.
________________________________________________________________
11. Das beschuldigte Kind beteuerte seine Unschuld.
________________________________________________________________
12. Der Storch bekämpft seine Übelkeit durch Trinken von Salzwasser.
________________________________________________________________
Übung (2): Bestimmen Sie die Art des Nebensatzes und wandeln Sie ihn in ein
Satzglied um!
1. Holz, das trocken ist, brennt gut.
__________________________________________________________________
2. Alle waren überzeugt, dass die Mannschaft siegen wird.
_________________________________________________________________
3. Ob sie siegen wird, hängt von der Tagesform ab.
__________________________________________________________________
4. Kluge Schüler erledigen das, indem sie Computer einsetzen.
__________________________________________________________________
5. Dass der Kunde angerufen hatte, hatte der Verkäufer vergessen.
__________________________________________________________________
6. Dass die Preise fallen, erfreut die Kunden.
__________________________________________________________________
145
7. Senden Sie mir die Ware, die beanstandet wird, wieder zurück!
__________________________________________________________________
8. Ich zweifle nicht daran, dass der Ring echt ist.
_________________________________________________________________
9. Herr Reich-Ranicki ist es, der die Literatur kritisiert.
_________________________________________________________________
10. Ich rechne damit, dass ihr kommt.
________________________________________________________________
11. Es ist nicht sicher, dass der Zug sofort abfährt.
_________________________________________________________________
12. Ich danke dir für das Geschenk, das du mir zugesandt hast.
_________________________________________________________________
13. Sie können billigeren Urlaub bekommen, wenn Sie bei uns buchen.
_________________________________________________________________
3.3 Satzglied - Nebensatz
Bei der Umwandlung des Nebensatzes in ein Satzglied (und umgekehrt) haben die
Konjunktionen (bzw. die Präpositionen) eine besondere Bedeutung. An ihnen - und
das trifft besonders für die Adverbialsätze bzw. adverbialen Bestimmungen zu - lässt
sich ablesen, um welche Art des Nebensatzes bzw. der Adverbialbestimmung es sich
handelt. Wird z.B. ein Nebensatz mit der Konjunktion „damit“ eingeleitet, handelt es
sich um einen Finalsatz (finaler NS); die entsprechende Präposition ist „zur“.
Ich fahre, damit ich mich erholen kann, aufs Land.
Ich fahre zur Erholung aufs Land.
Da also Nebensätze mit ganz bestimmten Konjunktionen eingeleitet werden und da
andrerseits adverbiale Bestimmungen mit ganz bestimmten Präpositionen gebildet
werden, ergibt sich die folgende tabellarische Übersicht:
Nebensätze
(Konjunktionen)
1. temporale Konjunktionen:
als, nachdem, während, indessen, sooft,
solange, bis, wenn, sobald, seit, bevor,
ehe ...
Hauptsätze
(Präpositionen)
1. temporale Präpositionen:
seit, ab, binnen, bis, über, von - an, für,
zwischen, innerhalb, ab ...
146
2. lokale Konjunktionen:
wo, wohin, woher ...
2. lokale Präpositionen:
an, auf, außerhalb, ab, abseits, diesseits,
jenseits, hinter, von, durch, entlang, über,
gegenüber, unterhalb, oberhalb, aus,
längs ...
3. modale Konjunktionen:
3. modale Präpositionen:
indem, wie, als ob, dadurch - dass, ohne - bei, anstatt, außer, ohne, wider, zuwider,
dass ...
gegen, ungeachtet, nach, ausschließlich
..
4. kausale Konjunktionen:
4.1. kausal: weil, da, zumal ...
4.2. final: dass, damit, um - zu, auf dass
...
4.3. konsekutiv: dass, sodass, als dass ...
4.4. konzessiv: obwohl, obgleich,
obschon, wenngleich, wiewohl,
trotzdem
4.5. konditional: wenn, falls, sofern, es sei
denn, dass ...
5. komparative Konjunktionen: wie, als
wenn, als, als ob, gleich wie ...
4. kausale Präpositionen:
wegen, dank, kraft, durch, zwecks ...
zur, infolge, zum ...
bis - zu
trotz, bei ...
bei, anlässlich ...
komparative Präpositionen: wie, als
Wir haben die Nebensätze bisher gemäß ihrer inhaltlichen Funktion unterschieden.
Betrachten wir die Nebensätze formal, also aus grammatikalischer Sicht, dann unterscheiden wir
Konjunktionalsätze
Relativsätze
indirekte Fragesätze
Infinitivsätze
Partizipialsätze
Konjunktionalsätze sind solche Nebensätze, die mit (unterordnenden) Konjunktionen (als, weil, obwohl ...) eingeleitet werden (z.B. alle
Adverbialsätze)
Relativsätze
sind solche Nebensätze, die mit Relativpronomen (der, die,
das, welcher, welche, welches) eingeleitet werden (z.B. alle
Attributsätze)
indirekte Fragesätze sind jene Nebensätze, die mit einem Fragewort (Interrogativpronomen) eingeleitet werden, also z.B. mit den Pronomen
wer, wie, ob ...
Infinitivsätze
sind formal keine Sätze, weil sie keinen vollständigen Satzkern
147
besitzen, aber sie haben i.d.R. das Gewicht eines Nebensatzes und können auch in einen (normalen) Nebensatz umgeformt werden (Sie bat ihn nach Hamburg zu kommen. Sie bat
ihn, dass er nach Hamburg komme. Ich freue mich (darüber)
im Lotto gewonnen zu haben. Ich ... darüber, dass ich ...;
Ich ...über meinen Lottogewinn.).
Partizipialsätze
sind (wie die Infinitivsätze) formal keine Sätze, haben aber
das Gewicht eines Nebensatzes (Nach Hamburg reisend
besuchte er seine Tochter. Indem er nach Hamburg reiste,
besuchte er seine Tochter.).
3.4. Kommaregel
Wir erinnern uns: Die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebensätzen ist für die
Zeichensetzung wichtig. Die Grundregel heißt nämlich:
Das Komma trennt Haupt- und Nebensätze voneinander.
Bei den Infinitiv- und Partizipialsätzen hat sich die Regel geändert. Neuerdings
können (erweiterte) Infinitiv- oder Partizipialsätze vom übrigen Satz durch Komma
abgetrennt werden (Kann-Regelung). Aber sie müssen durch Kommas getrennt
werden, wenn
- der Infinitiv- oder Partizipialsatz durch ein Hinweiswort angekündigt oder
- durch ein Rückverweiswort auf sie Bezug genommen wird oder
- wenn sie zwischen Subjekt und Prädikat eingeschoben sind
- wenn Missverständnisse ausgeschlossen werden müssen
Beispiele:
Die Abgaskontrolle dient dazu, die Umwelt zu schützen.
So, von Zweifel getrieben, eilte er nach Hause.
Mich den Zuhörern verständlich zu machen, das war meine Absicht.
Von Zweifeln getrieben, so eilte er nach Hause.
Jenny, bitterlich weinend, lief hinaus.
Die Eltern, ohne das Kind zu beachten, rauchten weiter.
Wir empfehlen ihm, zu folgen. Wir empfehlen, ihm zu folgen.
Anne veranlasste ihn gestern, zu fahren. Sie veranlasste ihn, gestern zu fahren.
Sie hatte Angst im Dunkeln, hinzufallen. Sie hatte Angst, im Dunkeln hinzufallen.
2. Regel: Infinitive mit zu, die mit um, ohne, statt, anstatt, außer, als eingeleitet
sind, muss man grundsätzlich mit Kommas vom Gesamtsatz abtrennen, auch
wenn sie nicht erweitert sind.
Beispiele:
Er redet lieber, anstatt zuzuhören.
Sie ist zu ihm gegangen, um ihm zu helfen.
148
Es konnte ihr nichts Besseres passieren, als ihn zu treffen.
Er lief weg, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Sie gab das Geld lieber aus, statt es zu sparen.
Grammatik - Test (Satzglied - Nebensatz)
A. Bestimmen Sie das unterstrichene Satzglied und wandeln Sie es um in einen
Nebensatz!
1. Regelmäßiges Üben führt zur Überwindung der Defizite.
1.1. _______________________
1.2. ______________________________________________________________.
2. Die Möglichkeit der Heilung ist bei Früherkennung sehr groß.
2.1. ________________
2.2. ______________________________________________________________.
3. Defekt gelieferte Ware kann umgetauscht werden.
3.1. __________________
3.2. ______________________________________________________________.
4. Der Hausmeister registrierte die starke Verschmutzung der Räume.
4.1. ____________________
4.2.______________________________________________________________.
5. Er erklärte trotz der knapp gewordenen Zeit alles ganz genau.
5.1. _______________
5.2. ______________________________________________________________.
6. Vor Bekanntgabe der Ergebnisse herrschte eine große Spannung.
6.1. ___________________________
6.2.______________________________________________________________.
149
7. Die Dauer des Fluges kann exakt ausgerechnet werden.
7.1. ____________________________
7.2. ______________________________________________________________.
8. Das gestern thematisierte Gedicht soll auswendig gelernt werden.
8.1. _____________________________
8.2. ______________________________________________________________.
9. Den Ausbruch eines Gewitters erwarten wir noch heute.
9.1. ____________________________
9.2. ______________________________________________________________.
10. Der alte Schäfer ist auch der Hüter der Schafe am Berghang.
10.1. ____________________________
10.2. _____________________________________________________________.
11. Relativ präzise beschrieb er das Aussehen des Tatverdächtigen.
11.1. ____________________________
11.2. _____________________________________________________________.
B. Bestimmen Sie die Nebensätze und wandeln Sie diese um in Satzglieder!
1. Alle klatschten Beifall, als der Sänger die Bühne betrat.
1.1. ___________________
1.2. __________________________________________________________.
2. Sie tat nichts, obwohl sie eindringlich gewarnt worden war.
2.1. ______________________
2.2. ______________________________________________________________.
3. Dass alle die Grammatik beherrschen, ist schon wünschenswert.
3.1. ______________________
3.2. ______________________________________________________________.
150
4. Wer trinkt, um zu vergessen, sollte vorher bezahlen.
4.1. ________________________
4.2. ______________________________________________________________.
5. Der Abgeordnete nahm wieder zurück, was er beantragt hatte.
5.1. _______________________
5.2. ______________________________________________________________.
6. Wenn dieser Test gut gelingt, sind Sie grammatikfest.
6.1. ______________________
6.2. ______________________________________________________________.
7. Es wurde recht schnell aufgedeckt, dass einige Beträge fehlten.
7.1. _____________________________
7.2. ______________________________________________________________.
8. Die Baustoffe müssen geliefert sein, bevor wir mit dem Bau beginnen.
8.1.______________________________
8.2. ______________________________________________________________.
9. Die Flut, die immer größer wurde, konnte eingedämmt werden.
9.1. ______________________________
9.2. ______________________________________________________________.
10. Der Täter, der aus der Haft entflohen war, wurde wieder eingefangen.
10.1. _____________________________
10.2. _____________________________________________________________.
11. Es freut die Kunden, dass die Preise ständig fallen.
11.1.______________________________
11.2. _____________________________________________________________.
151
12. Sie rechnete fest damit, dass sie versetzt würde.
12.1. _______________________________
12.2 ___________________________________________________________.
Test: Grammatik (Satzglied - Nebensatz)
A. Bestimmen Sie das unterstrichene Satzglied und wandeln Sie es um in einen
Nebensatz!
1. Vor Bekanntgabe der Ergebnisse herrschte eine große Spannung.
1.1. _______________________
1.2. ______________________________________________________________.
2. Das Fehlen etlicher Beträge wurde schnell aufgeklärt.
2.1. ________________
2.2. ______________________________________________________________.
3. Ich zweifle an der Echtheit des Ringes.
3.1. __________________
3.2. ______________________________________________________________.
4. Der reich gedeckte Tisch war für alle eine Augenweide.
4.1. ____________________
4.2.______________________________________________________________.
5. Schnee ist die Ursache vieler Auffahrunfälle.
5.1. _______________
5.2. ______________________________________________________________.
6. Er verneinte mit energischem Kopfschütteln.
6.1. ___________________________
6.2.______________________________________________________________.
152
7. Wegen eines Täuschungsversuchs wurde ihm das Heft abgenommen.
7.1. ____________________________
7.2. ______________________________________________________________.
B. Bestimmen Sie die Nebensätze und wandeln Sie diese um in Satzglieder!
1. Er führte sich auf, als ob er der Besitzer sei.
1.1. ___________________
1.2. __________________________________________________________.
2. Es befremdete alle, wie er vor Gericht auftrat.
2.1. ______________________
2.2. ______________________________________________________________.
3. Wir erwarten alle, dass sie uns alsbald besucht.
3.1. ______________________
3.2. ______________________________________________________________.
4. Seit die Maschine abgehoben hat, habe ich ein seltsames Gefühl im Bauch.
4.1. ________________________
4.2. ______________________________________________________________.
5. Das Gedicht, das wir gestern thematisiert haben, stammt von Schiller.
5.1. _______________________
5.2. ______________________________________________________________.
6. Wenn der Motor ausfällt, müssen wir aufhören.
6.1. ______________________
6.2. ______________________________________________________________.
7. Noch für heute erwarten wir, dass ein Gewitter ausbricht.
7.1. _____________________________
7.2. ______________________________________________________________.
153
8. Er würde alles richtig machen, wenn er die Regeln beherrschen würde.
8.1. _____________________________
8.2. ______________________________________________________________.
9. Sie wusste noch genau, woher er seine Zitate genommen hatte.
9.1. ____________________________
9.2. ______________________________________________________________.
10. Keiner konnte sich erinnern, von wem der Flugzettel verteilt worden war.
10.1. ____________________________
10.2. ______________________________________________________________.
154
Text und Textarten
1. Was ist ein Text?
2. Textarten
3. Pragmatische Texte (Sachtexte)
4. Literarische Texte
- Unterhaltungsliteratur
- ästhetische Literatur
- literarische Wertung
5. Gattungen der Literatur
155
156
156
157
159
166
1. Was ist ein Text?
Ein Text (lat.: texere = weben, flechten, zusammenfügen) ist ein Geflecht von Sätzen
(Sinneinheiten), die nach bestimmten Regeln zusammengefügt sind. Die Regeln
berücksichtigen formale (Grammatik, Semantik, Syntaktik, Stilistik) und inhaltliche
(Thema, Problem, Kontexte) Anforderungen. Ein Text ist also ein geordnetes,
geschlossenes Sprachganzes.
2. Textarten
Das Kriterium für die Unterscheidung und Einteilung von Texten ist die Intention
(Aussageabsicht). Gemäß den Vorstellungen und Zielen, die ein Verfasser
realisieren will, lassen sich Textarten und Textsorten unterscheiden und einteilen.
Aufgabe: Lesen und vergleichen Sie die beiden folgenden Texte in Bezug auf
die Intention
die Textart
die Sprachverwendung
Text 1
Hormone sind Botenstoffe, die von Teilen des Nervensystems, besonderen
Hormondrüsen und manchen Geweben gebildet werden. Das Blut verteilt sie im
Körper. Sie wirken in winzigen Mengen, nachhaltiger, aber weniger gezielt als die
Impulse des Nervensystems. Ihre Wirkung entfalten die Hormone nur in solchen
Zellen, die besondere "Auffangmoleküle" besitzen. Je mehr Auffangmoleküle in einer
Zelle vorhanden sind, um so stärker kann sich das betreffende Hormon auswirken. In
den Zellen wirken die Hormone auf die DNA-Verdoppelung, die Eiweißsynthese an
den Ribosomen, den Energieumsatz in den Mitochondrien und die Durchlässigkeit
der Plasmamembranen.
Text 2
Zum Marktplatz kam neuerdings auch ein Wanderfriseur nach Suleyken, ein kleiner
vergnügter Mann, der den Leuten das Haar im Freien abnahm, mitten im Quieken
der Ferkel, im heiseren Brummen der Ochsen, zwischen all den Gerüchen eines
masurischen Marktes, zwischen dem erdigen Geruch nach neuen Kartoffeln und dem
Gestank nach altem Kohl, zwischen dem scharfen Geruch nach Kisten und Bretterzeug, nach Fischen, Hafer und Terpentin, zwischen dem sanften Kalkgeruch ausgenommener Hühner und dem sauberen Duft nach Äpfeln und Mohrrüben. Zwischen all
den Gerüchen und Geräuschen in dieser hochschwangeren Luft, bediente der
Wanderfriseur an einem trauten Herbstmorgen einen großen, schwarzhaarigen
Mann, den schönen Alec, wie er genannt wurde, ein Wunder an Wuchs, auch wenn
dieses Wunder barfüßig ging.
156
Sie werden in der Regel den ersten als pragmatischen Text oder Sachtext
eingeordnet und den zweiten Text als literarischen Text erkannt haben.
Der pragmatische Text könnte aus einem biologischen Sachbuch oder aus einem
Schulbuch (Biologie) stammen. Die wesentlichen Merkmale solcher Texte können an
ihm aufgezeigt werden: Pragmatische Texte (Sachtexte)
sind realitätsbezogen, d.h., sie haben einen unmittelbaren
Bezugspunkt in der Realität
sind zweckorientiert, d.h., sie haben eine konkrete Funktion (z.B. in
einem Lehrbuch)
sind sachlich in der Darstellung
sind eindeutig in der Intention (Information)
richten sich an den Verstand (verstehender Nachvollzug)
Der literarische Text (Text 2) ist der Beginn der Erzählung „Das war Onkel
Manoah“ aus dem Buch „So zärtlich war Suleyken“ von Siegfried Lenz. Das Buch
besteht aus 20 Erzählungen über die Bewohner der masurischen Stadt Suleyken ,
ihre Lebensumstände und Auseinandersetzungen. Doch dieser Ort Suleyken existiert
so wenig wie seine Einwohner; auf keiner Karte ist er zu finden. Erst in der
Vorstellung des Lesers wird der erfundene Markt zu einem Ort, wie er tatsächlich
sein könnte. Dem Erzähler ist es gelungen, den Markt so anschaulich zu schildern,
dass der Leser sich ihn gut vorstellen kann. Der Erzähler hat wirkliche Gegenstände
ausgewählt und mit Erdachtem gemischt. Der Markt von Suleyken ist also sowohl
Erfindung (Fiktion) als auch Wirklichkeit, eine erfundene Wirklichkeit, die dem Leser
ebenso interessant erscheinen kann wie die reale Lebenswirklichkeit, mit der er sich
täglich auseinandersetzen muss.
Auch an diesem Text lassen sich in einer ersten Herangehensweise und im
Unterschied zu den Sachtexten die wesentlichen Merkmale literarischer Texte
aufzeigen: Literarische Texte
sind nicht wirklichkeitsgebunden, sondern fiktiv, d.h., sie schaffen
eine eigene Wirklichkeit
sind nicht zweckgebunden, sie haben keine feste Funktion
sind kreativ und vielschichtig in der Darstellung (Sprachkunstwerk)
sind nicht eindeutig in der Intention
richten sich an den ganzen Menschen
3. Pragmatische Texte (Sachtexte)
Es gibt eine scheinbar unüberschaubare Fülle von Sachtexten. Kochrezepte und
Zeitungsartikel sind hier ebenso einzuordnen wie Vereinssatzungen und
Polizeiberichte. Um diese Fülle unterschiedlicher Textsorten dennoch zu ordnen, hilft
auch hier der Blick auf die Intention. Fragt man , was die einzelnen Texte wollen,
bekommt man ein übersichtliches Bild. Wir können demnach unterscheiden
informative (mitteilende) Texte
kognitive (belehrende) Texte
normative (regelnde) Texte
appellative (auffordernde) Texte
157
⇒ Informative Texte sind mitteilende, berichtende, beschreibende und Meldungen
übermittelnde Texte
Textsorten:
Meldung, Nachricht, Beschreibung, Charakteristik, Protokoll,
Kommentar, die meisten journalistischen Formen: Leitartikel,
Leserbrief, Rezension, Interview, Klappentext, Karikatur ...
⇒ Kognitive Texte (lat. kogitare = erkennen) sind auf Erkenntnis gerichtete,
belehrende, unterrichtende, auf Denken beruhende und abzielende Texte
Textsorten: wissenschaftliche Texte, Fachbücher, Lehrbücher, Sachbücher
und -artikel, populärwissenschaftliche Texte; aber auch
schriftliche schulische Formen: Erörterung, Textanalyse,
Begriffsbestimmung, Facharbeit
⇒ NormativeTexte sind zum einen solche mit amtlichem oder nichtamtlichem
Charakter (z.B. Gesetze, Erlasse, Abkommen, Verträge, Urteile, Vorschriften,
Verordnungen, Satzungen, Anweisungen, Bestimmungen, Hinweise ...),
zum anderen solche Texte, die unmittelbar normieren und mittelbar wirken
(z.B. Gesetze, Verbote, Gebote, Verordnungen, Richtlinien, Verträge, Aufrufe,
Reden, Arbeitsanleitungen, Ratschläge ...)
⇒ Appellative Texte (lat.: appellare = um Hilfe ansprechen, aufrufen) sind solche
Texte, die sich auffordernd bzw. werbend an den Adressaten wenden und ihn zu
einem bestimmten Verhalten oder zu einer bestimmten Handlung aufrufen.
Textsorten: Zu den appellativen Texten werden gezählt:
→ die manipulativen Texte, die gezielt den Adressaten lenken,
auch mit unterschwelliger Beeinflussung, mit List und Tricks;
solche Texte kommen aus den Bereichen: Politik, Wirtschaft,
Kultur (Rundschreiben, plakative Texte, Flugblätter, Aufrufe,
Einladungen, Prospekte usw.)
→ die persuasiven (überredenden) Texte aus Wirtschaft und
Werbung (Slogans, Prospekte, Annoncen, Programme usw.)
→ die agitativen (aufreizenden, aufhetzenden) Texte aus den
Bereichen Politik und Wirtschaft (Propagandatexte,
Rundschreiben, Aufrufe, Vorträge usw.)
→ die provokativen (herausfordernden) Texte aus den Bereichen
Politik und Kultur (Schlagzeilen, Flugblätter, Handzettel usw.)
→ die suggestiven (einredenden) Texte (Werbetexte,
Selbstdarstellungen, Erfolgsberichte usw.)
→ die demagogischen (aufwiegelnden) Texte (Aufklärungsschriften, Ansprachen, Warnungen, Vorträge, Reden usw.)
.
158
4. Literarische Texte
Aufgabe: Lesen und vergleichen Sie die folgenden Texte in Bezug auf
- Stil und Sprache
- Wirkung
Text 1
Peter brauchte daher ein paar Sekunden, bis er sich in der Lage fühlte, ihr eine
Antwort geben zu können. Er spürte, wie sein Herz rascher schlug, und auf einmal
rauschte das Blut in seinen Adern. Gefühle, die monatelang verschüttet gewesen
waren, brachen sich nun auf einmal Bahn. Der Mann in ihm war erwacht ...
Da stand eine hübsche, begehrenswerte Frau vor ihm, und sie hatte ihm soeben ihre
Liebe gestanden. In ihren blauen Augen las er ihre Bereitschaft, und das brachte
sein Blut in Wallung, fast von einem Moment zum anderen.
Peters Stimme klang verändert. „Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit“, erwiderte er.
„Wissen Sie, dass Sie mir eine große Freude damit bereiten?“
„Ich fürchtete eher, dass Sie ...“ Ihr Blick war eine einzige Lockung.
„Es ist immer gut zu erkennen, dass man von anderen Menschen nicht nur als
Arbeitsmaschine gewertet wird“, sagte Peter Hoffmann mit rau gewordener Stimme.
„Sie haben sich hier als Arbeitsmaschine eingeführt“, sagte sie mit dunkler Stimme,
„aber das sind Sie im Grunde genommen gar nicht. Als Frau hat man ein feines
Gespür dafür. Sie sind ein Mensch wie jeder andere, ein Mann mit Ausstrahlung, der
man sich als Frau nur schlecht entziehen kann, auch wenn man sachlich miteinander
zusammen arbeitet. Aber vielleicht ist es besser, wenn wir dieses Thema
abbrechen.“ Ohne dass es ihm bewusst wurde, trat er einen halben Schritt näher an
sie heran. „Warum sollte es besser sein?“ fragte er. Ihr Blick irrte ab, aber nur für
eine Sekunde. „Weil ... ich fürchte, Sie könnten mein Bekenntnis falsch auslegen“,
antwortete sie stockend. „Inwiefern?“ „Sie ... Sie sehen sehr gut aus, Sie sind sehr
reich ... welche Frau wünscht sich da nicht, sich an Ihre Seite stellen zu können?“ Ein
unergründliches Lächeln schwebte um ihren Mund. „Haben Sie denn noch nie von
jenen Frauen gehört, die alles daran setzen, einen reichen Mann an die Angel zu
bekommen, damit sie für den Rest ihres Lebens ausgesorgt haben? Ich möchte auf
keinen Fall mit diesen Frauen verwechselt werden. Deswegen ist es wohl ratsam,
wenn wir uns von jetzt an nur noch über das Wetter unterhalten.“
Eine Woge brach über Peter Hoffmann zusammen, eine Woge, die alles Denken und
Fühlen, alle Erinnerung in ihm auslöschte. Ohne dass es ihm so recht bewusst
wurde, zog er Nancy in seine Arme. Ihre blauen Augen flammten auf. Der lockende
Mund öffnete sich ein wenig, und Peter glaubte zu fühlen, dass sie am ganzen
Körper zitterte. Plötzlich küsste er sie. Dämme brachen in ihm, die Flut, die
hereinbrach, raubten ihm den klaren Verstand. Er küsste eine fremde Frau, er küsste
sie voller Leidenschaft und Verlangen, und er dachte nicht mehr daran, dass es
daheim eine andere gab, die sich in Sehnsucht nach ihm verzehrte, der sein Herz
gehörte.
Peter küsste Nancy heiß und verzehrend, und die Frau in seinen Armen erwiderte
den Kuss mit glutvoller Leidenschaft. Sie ergab sich diesem Kuss, sie kannte keine
Scheu und keine Hemmungen. Ihr ganzes Wesen und ihr ganzes Herz schienen in
diesem Kuss zu liegen, und ein wenig erschrak Peter vor ihrer stürmischen
Heftigkeit, bevor ihm das klare Denken vollends abhanden geriet ...
159
Text 2
(Brief an Wilhelm, geschrieben am 16. Julius)
Ach wie mir das durch alle Adern läuft, wenn mein Finger unversehens den ihrigen
berührt, wenn unsere Füße sich unter dem Tisch begegnen! Ich ziehe zurück wie
vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich wieder vorwärts - mir wird’s so
schwindelig vor allen Sinnen. - O! und ihre Unschuld, ihre unbefangene Seele fühlt
nicht, wie sehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn sie gar im
Gespräch ihre Hand auf die meinige legt und im Interesse der Unterredung näher zu
mir rückt, dass der himmlische Atem ihres Mundes meine Lippen erreichen kann: ich glaube zu versinken, wie vom Wetter gerührt. - Und Wilhelm! Wenn ich mich
jemals unterstehe, diesen Himmel, dieses Vertrauen -! Du verstehst mich. Nein, mein
Herz ist so verderbt nicht! Schwach! Schwach genug! - Und ist das nicht Verderben?
Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart. Ich weiß nie, wie
mir ist, wenn ich bei ihr bin; es ist, als wenn die Seele sich mir in allen Nerven
umkehrte. - Sie hat eine Melodie, die sie auf dem Klavier spielet mit der Kraft eines
Engels, so simpel und so geistvoll! Es ist ihr Leiblied, und mich stellt es von aller
Pein, Verwirrung und Grillen her, wenn sie nur die erste Note davon greift.
Kein Wort von der Zauberkraft der alten Musik ist mir unwahrscheinlich. Wie mich der
einfache Gesang angreift! Und wie sie ihn anzubringen weiß, oft zur Zeit, wo ich mir
eine Kugel vor den Kopf schießen möchte! Die Irrung und Finsternis meiner Seele
zerstreut sich, und ich atme wieder freier.
_________________________________
Beide Texte sind fiktiv, geben erfundene Wirklichkeiten wieder. Sie haben jedoch
sicherlich bemerkt, dass sie sich in Darstellung und Wirkung unterscheiden. Wir
stoßen damit auf ein wichtiges Problem, das nicht unumstritten ist, nämlich auf das
Problem der literarischen Wertung. Es kann in der Frage zusammengefasst
werden: Wer entscheidet nach welchen Kriterien darüber, ob etwas hochwertige
Literatur, also Kunst ist? Die Alternative zur literarischen Differenzierung wäre die
kollektive Gleichwertigkeit aller literarischen Gebilde und damit ein auswegloser
Relativismus. Ein Relativismus ist aber nicht haltbar, da - wie Sie an den beiden
Beispielen gesehen haben - die verschiedenen Werke durchaus deutliche
Qualitätsunterschiede aufweisen. Ein Textvergleich zeigt diese Unterschiede, und
zwar sowohl auf der Inhaltsebene als auch auf der formalen Ebene. Der Unterschied
ergibt sich - wie noch zu belegen ist - auch aus den verschiedenen Intentionen. Die
sogenannte Kunstliteratur, mit der Sie es im Deutschunterricht zu tun haben, verfolgt
andere Absichten als die sogenannte Unterhaltungsliteratur.
Text 1 ist dem Silvia-Roman „So grenzenlos kann Liebe sein“ von Lore von Holten
entnommen, also einem Heftchen-Roman, hier aus dem Bastei Verlag (Band 571,
o.J.). Diese erscheinen wöchentlich oder monatlich und bedienen Millionen von
Leserinnen und Lesern. Die Auflagen dieser Unterhaltungsliteratur sind ungleich
höher als die der Kunstliteratur. Das muss Gründe haben.
Schauen wir uns zunächst die Merkmale der Unterhaltungsliteratur an:
Unterhaltungsliteratur oder Trivialliteratur ist eine umstrittene Bezeichnung für eine
umstrittene Form der Literatur; schon die Bezeichnung enthält ein Werturteil, insofern
sie die Minderwertigkeit dieser literarischen Erzeugnisse behauptet, die inhaltlich und
sprachlich-stilistisch nicht den geltenden Normen der sog. "hohen" Literatur
160
entsprechen. Im Unterschied zur Kunstliteratur ist die Unterhaltungsliteratur Zeugnis
einer Massenkultur, die mehr Menschen erreicht als die Kunstliteratur.
Unterhaltungsliteratur wird serienmäßig, häufig pseudonym von vertraglich bestellten
Autoren verfasst.
Die Arten und Textsorten der Unterhaltungsliteratur sind vielfältig: Kriminalromane,
Groschenhefte, Liebes-, Frauen-, Arzt-, Schicksals, Adels-, Fortsetzungs-,
Abenteuer-, Science Fiction-Romane, Western, Biographien von Prominenten,
Comics, Trivialdramen (Volksstücke), Schlagertexte, Gelegenheitsgedichte,
Erbauungsschriften, Bildergeschichten usw.
Die Inhalte sind meist durch die Textsorte festgelegt. Ein Liebesroman handelt von
der Liebe, von Beziehungen, von Liebesglück, Liebesleid, von Konflikten; Landserromane handeln vom Krieg, vom Soldatenleben, von Heldentaten usw.
Entscheidender ist hierbei die Art der Darbietung. Grob verallgemeinert darf gesagt
werden, dass die Unterhaltungsliteratur beinhaltet:
durchschaubare menschliche und äußere Situationen,
typische und typisierte Personen bzw. Personengruppen mit vorgeprägtem
Schicksal,
wenige Grundmuster bzw. Schablonen hinsichtlich Aufbau und
Erzählstruktur, Wortwahl und Satzbau,
stereotype Handlungen und Verhaltensweisen je nach Art des Romans,
eine einfache, durchschaubare "innere" Welt an Vorstellungen,
Einstellungen, Wünschen,
Stilisierung auf Wunscherfüllung und Gegenwelten (z.B. Idylle),
Verknüpfung märchenhafter Elemente mit realen sozialen
Gegebenheiten (Trivialisierung des Lebens),
Illusion der Realitätsmeisterung in allen Situationen,
klischeehafte Reduzierungen der Wirklichkeit auf klare überschaubare
Segmente,
Banalitäten, Scheinprobleme, Sentimentalitäten, Preziositäten; Fehlen der
kritischen und ironischen Distanz.
Auf drei wesentliche Formprinzipien der Unterhaltungsliteratur kann hingewiesen
werden:
1. das Prinzip der Voraussagbarkeit, das es dem Leser ermöglicht, immer zu
wissen, wie es weitergeht und wie es enden wird
2. das Prinzip der Vertauschbarkeit, das durch die Typisierung und Stilisierung
der Personen, der Handlungen, der Denk- und Fühlweisen u.a. erreicht wird
3. das Prinzip der Häufung von Schicksalen, Verhaltensweisen, Wirkungen u.ä.
Die Verfasser solcher Texte beabsichtigen
zu unterhalten, zu entspannen, abzulenken, indem sie weder vom Inhalt noch
von der Sprache her besondere Ansprüche oder Anforderungen stellen
Scheinbefriedigungen anzubieten, Wünsche zu erfüllen, Sehnsüchte zu stillen,
Prestige zu heben usw.
mit Menschen, Vorstellungen und Verhaltensweisen vertraut zu machen, die
Modellcharakter besitzen, typisch sein und zur Identifikation anregen sollen;
161
den Leser in Traumwelten, Schein-, Zukunfts- oder Abenteuerwelten zu
versetzen, in denen er sich glücklich und anerkannt fühlen kann;
durch "Nervenkitzel" Spannung und Anreiz zu erzeugen und zum weiteren
Konsum solcher Texte zu veranlassen.
So wie die Inhaltsschemata je nach Textsorte variiert werden, passen sich auch die
Sprachmuster diesen Gegebenheiten an. Im einzelnen können folgende sprachliche
Eigenheiten genannt werden:
Unterschiedliche Sprachebenen: Idiolekte, Dialekte, Soziolekte, Hochsprache,
poetische Sprache; die Science Fiktion-Romane ahmen eine wissenschaftliche
Sprache nach, der Bergroman bevorzugt den Dialekt, Arztromane die Hochsprache; in einzelnen Fällen kann geradezu von einer Sondersprache
gesprochen werden.
Oft ist die Mitteilungskraft der gewählten Sprache sehr eingeschränkt, oft
schrumpft sie zum Klischee (Verwendung von Sprichwörtern, Redensarten,
Redewendungen, umgangssprachliche Formeln als Ausdruck der "Volksnähe").
Verben und Adjektive sind jeweils personen-, geschehens- und situationstypisch
und haben zumeist charakterisierende oder Atmosphäre erzeugende Funktion.
Wort- und Ausdruckswiederholungen entsprechen dem Formprinzip der
Häufung (das liebe, zarte, geschmeidige Mädchen lächelt, tänzelt und schmiegt
sich in die Arme ...).
Wortmalereien und poetisierende Wendungen finden sich häufig bei
Landschaftsschilderungen, oft auch gekünstelte Formulierungen, seltene
Wortbildungen, gezierte und überladene Bilder, Übertreibungen.
Bilder, Metaphern und Vergleiche (meist aus der Natur) werden zum Zweck der
Reizerhöhung eingesetzt.
Sprachliche Überhöhungen (durch Superlative, Reizwörter o.ä. oder durch
formale Möglichkeiten des Drucks - Kursiv- oder Sperrdruck, Großbuchstaben)
dienen der Eindringlichkeit.
Kurze Sätze, Satzreihen, Prinzip der Häufung, Ausrufesätze, kurze Dialoge,
wörtliche Rede (umgangssprachlich).
Die spezifischen Merkmale der Unterhaltungsliteratur zeigen deutlich die Absicht
dieser Art von Literatur: Die Leserin bzw. der Leser soll unterhalten werden dadurch,
dass eine Gegenwelt zur faktisch gesellschaftlichen Wirklichkeit aufgebaut wird, in
der sie bzw. er die geheimen oder „wahren“ Bedürfnisse ausleben kann, allerdings
nur im Traum. Ersatzbefriedigungen und Fluchtmöglichkeiten werden angeboten, die
wenigstens für die Zeit des Lesens den (grässlichen) Alltag ausblenden. Die
Unterhaltungsliteratur ist von vornherein auf diese eher psychologische Intention
orientiert und hat deshalb nicht den Anspruch der Kunstliteratur. Der Vorwurf der
Minderwertigkeit der Unterhaltungsliteratur ist nicht gerechtfertigt, weil sie nicht an
den völlig anderen Kriterien der Kunstliteratur gemessen werden kann.
Dass die Unterhaltungsliteratur oft auch fragwürdige ideologische Ziele anstrebt (z.B.
Stabilisierung gesellschaftlicher Zustände, Festlegung geschlechtlicher Rollenbilder
usw.) und häufig auch moralisch bedenkliche Werte festschreibt (z.B. Reichtum,
Liebe, Schönheit, gesellschaftliches Prestige), wird nur dem kritischen Leser
auffallen. Aber vielleicht entsprechen diese Ziele und Werte ja den heimlichen
Wünschen der Leserschaft.
162
Text 2 stammt aus Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“, einem Briefroman,
der 1774 erschienen ist. Darin geht es um einen jungen Mann aus dem
wohlhabenden Bürgertum, der sich, seiner vertrauten gesellschaftlichen Umgebung
überdrüssig, zurückgezogen hat und sich auf dem Lande, in der Natur, im Umgang
mit den Dorfbewohnern und mit Kindern erholt, mit Malen und Lesen beschäftigt. So
meint er, ein neues, befreiteres Leben finden zu können.
In dieser Aufbruchstimmung begegnet er Lotte, der Tochter eines fürstlichen
Amtmanns, die anstelle der verstorbenen Mutter die große Familie versorgt. Werther
verliebt sich in Lotte, aber sie ist bereits verlobt. Als er Albert, ihren Bräutigam,
kennenlernt, entwickelt sich ein gutes Verhältnis, doch Werther kann sich mit dem
Verlöbnis nicht abfinden. Er vergleicht seine Liebe zu Lotte mit einer
lebensgefährlichen Krankheit - er denkt an Selbstmord.
Der Verlauf der weiteren Handlung zeigt dann die unterschiedlichen „Leiden des
jungen Werthers“ auf, die sich nicht nur auf die unglückliche Liebe zu Lotte
beschränken. Zuletzt erschießt sich Werther.
In dem oben abgedruckten Auszug (Text 2) erinnert sich Werther an die körperliche
Berührung mit Lotte, die in ihm ein erotisches Verlangen auslöst, das aber keine
Erfüllung finden darf. Das sexuelle Begehren wird mit Schuldgefühlen besetzt, womit
Lottes Unschuld noch höher erhoben wird. Lottes Heiligkeit und ihr Klavierspiel
bewirken die Wandlung, die Abkehr vom Sinnlich-Erotischen und die Hinwendung zur
Musik, zum Sinnlich-Geistigen. Diese Sublimierung wird von Werther als Befreiung
erlebt.
Schon diese grobe Inhaltsanalyse lässt erkennen, dass hier ein vielschichtiges und in
etlichen Kontexten verwobenes Geschehen dargeboten ist. Da ist zunächst der
empfindsame Werther, der in Lotte eine Seelenverwandte, also eine ebenso
empfindsame Seele, erkennt, zu der er sich stark hingezogen fühlt. Die körperliche
Berührung löst schwärmerische Begeisterung, aber auch den Argwohn seiner
Selbstkontrolle aus. Er weiß, dass Lotte verlobt ist, und muss deshalb eine Strategie
finden, seine innere Zerrissenheit zu überwinden. Die Art und Weise seines
Vorgehens spiegelt das Normen- und Wertesystem seiner gesellschaftlichen
Zugehörigkeit wider, worin wiederum politisch-gesellschaftliche Zustände sichtbar
werden. Noch andere Inhaltsaspekte fallen auf: Lottes Verhalten, die Rolle der Musik
usw. Die Form (Briefroman) und die Sprache (Sprache des Herzens), in der das
Geschehen dargeboten werden, verweisen auf den literaturhistorischen
Zusammenhang (Epoche der Empfindsamkeit). Schließlich ist auch noch der
biografische Entstehungszusammenhang (Goethes Leben und Denken, Einflüsse
und Anregungen) zu nennen, der ebenfalls in das Erzählte hineinspielt und zum
Verständnis des Ganzen beiträgt.
Zusammengefasst können wir hier schon einmal festhalten: Jedes Werk der sogenannten Kunstliteratur basiert auf biografischen, literaturgeschichtlichen und
sozialgeschichtlichen Entstehungszusammenhängen. Diese ermöglichen auch das
Verständnis und die Interpretation der literarischen Werke. Der wichtigste von den
dreien ist der literaturhistorische Kontext, weil darin die besonderen Eigenheiten z.B.
einer Epoche oder Generation wie ästhetische Besonderheiten, Kunstauffassung,
Selbstverständnis des Künstlers usw. enthalten sind.
Am vorliegenden Beispiel („Werther“) stellt sich z.B. die Frage: Wieso „Briefroman“?
Oder breiter gefragt: Wieso gibt es im 18.Jh. in ganz Europa diese neue Gattung? Es
hat zu tun mit der Entdeckung der Subjektivität im 18. Jh., mit Rousseau, mit der
Zivilisationskritik, mit der Kritik an der rationalistischen Aufklärung usw. Der
Briefroman ist Ausdruck eines subjektiven Schreibens, im Brief, ähnlich wie im
163
Tagebuch, können innere Empfindungen und Gefühle unmittelbar ausgedrückt
werden, weil die Distanz eines Erzählers wegfällt. Werther schreibt seine Briefe an
seinen Freund Wilhelm. Weil Werther von seinen innigsten Gefühlen und ureigenen
Empfindungen redet, ist der Briefroman die adäquate Form.
Versuchen wir nun die wichtigsten Merkmale der Kunstliteratur zusammenzufassen
(in Zukunft nennen wir die Kunstliteratur oder die poetisch-ästhetische Literatur oder
die Literatur im engeren Sinne nur noch „Literatur“, weil wir wesentlich nur mit dieser
zu tun haben):
Literarische Texte sind vielschichtig (polyvalent, multidimesional): Sie haben eine
vordergründige Handlung, ein oberflächliches Geschehen und sie besitzen eine
Tiefendimension (das eigentlich Gemeinte). Das Dargestellte ist lediglich eine Veranschaulichung des Gemeinten, eine Konkretisierung, ein Beispiel. Das eigentlich
Gemeinte - auch Gehalt genannt - geht über das Dargestellte weit hinaus und
verweist auf größere, abstrakte (gesellschaftliche, historische, philosophische ...)
Zusammenhänge. Die Vielschichtigkeit hat zur Folge, dass literarische Texte
prinzipiell unausschöpflich sind; sie sind unausschöpfbar, insofern sie jedem
Leser, jeder Generation neue Deutungsmöglichkeiten und Sinnbezüge bietet und
also nie zu Ende interpretiert werden können.
Die Multidimensionalität zeigt sich beispielsweise in einem Roman in der Vielzahl
der Elemente, die er in sich vereint. Dabei können unterschieden werden:
1. das rezeptive Element
(In dem Text werden Begebenheiten, Fantasien, Wünsche und Normen der
jeweiligen Gesellschaft aufgenommen. Der Text spiegelt die Zeit sowie
soziale Prototypen wider)
2. das reflektive Element
(Im Text wird ein zentrales Problem aufgedeckt, das die Menschen in der
jeweiligen Zeit beschäftigt hat; der Autor zeichnet ein Bild mit besonderer
Tiefenschärfe und konfrontiert den Leser mit Gegebenheiten der jeweiligen
Gesellschaft.)
3. das ideologische Element
(Im Text werden Strukturen, Praktiken, Ziele der Gesellschaft konserviert,
kritisiert oder abgelehnt und durch andere Normen ersetzt.)
4. das kommunikative Element
(Der Text ist Botschaft des Autors für eine bestimmte Zielgruppe und Anlass
zu einem Meinungs- und Ideenaustausch zwischen Autor und Leser. Über
den Text beeinflusst der Autor den Leser, der selbst wiederum auf den
Autor zurückwirkt; hierbei sind Autor und Leser aufeinander angewiesen.)
5. das normative Element
(Der Text enthält möglicherweise Aufforderungen an den Konsumenten,
Gegebenheiten und Normen, Regeln und Gesetze anzuerkennen.)
6. das aktivierende Element
(Durch reflektive und ideologische Elemente im Text wird der Leser u.U. zur
164
Aktion veranlasst. Der Leser ist gewissermaßen der verlängerte Arm des
Autors.)
7. das revolutionäre Element
(Literatur, die ein bestehendes Gesellschaftssystem in Frage stellt, ein
Gegenmodell erstellt und fordert, enthält revolutionäre Elemente.)
8. das ästhetische Element
(Literarische Produkte sind nach den Regeln der Ästhetik hergestellt. Diese
beschäftigt sich mit der Fähigkeit, das Kunstschöne und ästhetisch
Belangvolle (das Tragische, Komische usw.) zu schaffen, zu erkennen, zu
werten und zu erleben. Poetiken, Analysen und Interpretationen geben
Auskunft über die ästhetische Struktur von Texten.)
Literatur ist fiktiv, d.h. sie liefert eine erfundene Wirklichkeit. Literatur muss immer
- auch wenn sie die naturalistische Widerspiegelung anstrebt - etwas prinzipiell
anderes sein als das, was sie abbildet (Gegenstand, Gesellschaft, Thema,
Problem). Als fiktive ist Literatur umbildende Abbildung und als Kunstwerk muss
sie in der Formstruktur die Stimmigkeit eines in sich geschlossenen Ganzen
erhalten. Nur dadurch kann die Illusion der zweiten Wirklichkeit erzeugt werden.
Damit wird die Form zu einem notwendigen Konstitutiv des Inhalts. Form und
Inhalt bedingen einander: Jeder Inhalt spiegelt sich in der adäquaten Form, die
Form bringt den Inhalt allererst hervor. Diese stilistische Stimmigkeit aller Einzelmomente bezieht sich ebenso auf die inhaltlichen Aspekte wie auf die Strukturelemente und auf die sprachlichen Mittel.
Literatur meint Kunstwerk, Sprachkunstwerk, d.h. die Sprache ist Werkzeug und
Mittel, Stil und Form. Mittels Sprache wird das "Innere", das Eigentliche, der
Gehalt sichtbar gemacht. Wort, Satz und Text sind nicht nur grammatisch zu
verstehen und zu bewerten; sie haben funktionale Bedeutung: stilistische, formale,
kompositionelle. Die fiktive Wirklichkeit zu gestalten und dabei das Eigentliche
aufscheinen zu lassen, das ist die Funktion der literarischen Sprache. Am
eindruckvollsten wird das in der Lyrik deutlich. Das bedeutet: Die Sprache bzw.
die sprachlichen Zeichen bekommen in der Literatur eine weitere Dimension. Zu
der denotativen (bezeichnenden) und konnotativen (mitbezeichnenden, kontextumfassenden) Bedeutung kommt die literarisch-symbolische Ebene, die das
sprachliche Zeichen im und durch das Ganze (Kunstwerk) gewinnt - jene tiefere
Dimension, die "zwischen den Zeilen" erkennbar wird.
Literarische Texte erfordern einen aktiven Leser, der von dem dargestellten
Geschehen angeregt, evtl. auch emotional einbezogen wird und darüber hinaus
durch Reflexion die eigentliche Intention erfassen soll. Diese zeigt sich nicht sofort
und automatisch, sondern muss erschlossen werden. Literarisches Sprechen ist
"uneigentliches Sprechen", weil das Gemeinte nicht konkret und direkt, sondern
verschlüsselt (enkodiert) dargestellt ist. Die Entschlüsselung (Dekodierung)
geschieht über Analyse und Interpretation. Das Verständnis literarischer Texte
setzt beim Leser bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten voraus. (Das gilt für die
Kunst generell.)
Literarische Texte wollen gleichzeitig unterhalten, erfreuen, aufklären, belehren,
165
nachdenklich machen, kritisieren, verändern und verbessern; sie wollen Lebensanschauungen, Überzeugungen und Gewohnheiten relativieren und den Horizont
des Lesers durch neue Seh- und Denkmöglichkeiten erweitern.
5. Gattungen der Literatur
Seit der Antike gibt es Dichtung in den drei Grundformen: Epik, Lyrik und Dramatik.
Aristoteles hat in seiner „Poetik“ als erster den Versuch unternommen, diese drei
Gattungen zu definieren. Danach ist
1. die Epik der monologische Bericht einer Handlung; neben einer möglichen
Handlung kann auch ein bloßes Geschehen berichtet werden, etwa
Naturvorgänge, oder es können Landschaftsschilderungen gegeben werden;
2. die Lyrik die monologische Darstellung eines Zustandes; hier können vor allem
Gefühle, Stimmungen und innere Erlebnisse künstlerisch ausgedrückt werden;
3. die Dramatik die dialogische Darstellung einer Handlung; der handelnde Mensch
steht im Zentrum des dramatischen Geschehens.
166
Literarische
Texte
erschließen
Texte erschließen
1. Literarische Texte erschließen
1.1. Untersuchendes Erschließen: Textinterpretation
1.1.1. die Epik
Beispiel: „Neapel sehen“ von Kurt Marti
- Inhaltsanalyse
- Strukturanalyse
- Sprachanalyse
Die wichtigsten stilistischen Mittel
Leitfragen für die Textinterpretation
Methodik der Textinterpretation (Zsfg.)
169
169
169
169
173
176
179
185
192
197
200
Textsorte: Kurzgeschichte
P. Bichsel: Die Tochter
W. Wondratschek: Mittagspause
R. Musil: Ein Verkehrsunfall
M.L. Kaschnitz: Hobbyraum
Ein ruhiges Haus
St. Andres: Das Trockendock
G. Wohmann: Kompakt
P. Bichsel: San Salvador
S. Kirsch: Katzenpfote
G. Wohmann: Die Klavierstunde
H. Heckmann: Das Henkersmahl
F. Kafka: Der Nachbar
W. Schnurre: Die Prinzessin
W. Borchert: Die Küchenuhr
Mein bleicher Bruder
I. Aichinger: Das Fenster - Theater
201
201
202
203
204
204
205
207
207
208
209
211
212
213
214
216
218
167
Textsorte: Parabel
A. Schopenhauer: Die Stachelschweine
J.G. Herder: Die Ratte in der Bildsäule
F. Kafka: Gib’s auf
Die Maus
B. Brecht: In Erwartung großer Stürme
Wenn die Haifische Menschen wären
M. Buber: Der Palast
E. Bloch: Armer und reicher Teufel
W. Schnurre: Das Los unserer Stadt
A. Schnitzler: Parabeln
220
220
220
221
221
221
221
222
223
223
224
1.1.2 die Lyrik
Beispiel: „Er ist’s“ von E. Mörike
Gedichtformen
Grundbegriffe der Lyrik
Methodische Tipps für die
Gedichtinterpretation
Gedichte (eine Auswahl)
225
225
232
233
234
238
Textsorte Ballade (eine Auswahl)
244
1.1.3. die Dramatik
Formen des Dramas
Wichtige Begriffe in der Dramatik
Beispiele (drei Szenen)
Methodik der Szenenanalyse
Beispiel einer Szenenanalyse
253
253
254
257
266
267
1.2. Erörterndes Erschließen literarischer
Texte: die literarische Erörterung
271
1.3. Gestaltendes Erschließen pragmatischer
Texte: Adressatenbezogenes Schreiben
272
168
Texte erschließen
Der Begriff erschließen ist heute zur zentralen Kategorie des Arbeitens im Deutschunterricht geworden, und das gilt sowohl in Bezug auf literarische als auch auf
pragmatische Texte.
Erschließen umfasst folgende Arbeitsschwerpunkte:
erfassen (Inhalt, Form, Sprache, Aufbau)
verstehen (Aussage, Funktion, Intention)
erläutern (Kontext, übergreifende Zusammenhänge, Einflüsse,
Traditionen)
strukturieren (Schwerpunktbildung, Begriffsdefinition, Abstraktion)
argumentieren (text-, thema-, sachbezogen, wissenschaftlich fundiert)
urteilen (begründete Schlussfolgerungen, Stellungnahme)
verfassen (eigenständig gestalten in text-, thema-, sach-, stil- und
strukturadäquater Form)
Die zentrale Aufgabe des Erschließens prägt alle Aufgabenarten und hat drei
verschiedene Aspekte, die des untersuchenden, des erörternden und des
gestaltenden Erschließens. Bezieht man diese Aspekte auf literarische und
pragmatische Texte, dann ergeben sich für die Arbeit im Fach Deutsch und also auch
für das Berliner Abitur sechs verschiedene Aufgabentypen:
Untersuchendes Erschließen literarischer Texte (Textinterpretation)
Untersuchendes Erschließen pragmatischer Texte (Textanalyse)
Erörterndes Erschließen literarischer Texte (Literarische Erörterung)
Erörterndes Erschließen pragmatischer Texte (Texterörterung)
Gestaltendes Erschließen pragmatischer Texte (Adressatenbezogenes
Schreiben)
Im Folgenden werden die einzelnen Aufgabenarten vorgestellt und deren
methodische Besonderheiten aufgezeigt.
1. literarische Texte erschließen
1.1. Untersuchendes Erschließen literarischer Texte:
Textinterpretation
Da, wie wir wissen, die Literatur drei Gattungen umfasst, kann sich die Textinterpretation auf epische, lyrische oder dramatische Texte beziehen. Diese sollen
nacheinander thematisiert werden. Wir beginnen mit der Epik.
1.1.1. die EPIK
Epik meint die erzählende Dichtung; sie ist entstanden aus der Urform des
Erzählens, nämlich aus der Situation, dass ein leibhaftiger Erzähler in einem Kreis
von Zuhörern sitzt und diesen etwas erzählt. In der Epik werden als vergangen
angenommene Geschehnisse und Handlungen vergegenwärtigt; deswegen findet
169
sich als Erzähltempus vorwiegend das epische Präteritum (in Ausnahmefällen kann
auch das historische Präsens verwendet werden). Dargeboten wird das Geschehen
von einem Erzähler.
Erzähler
In epischen Texten ist der Erzähler nicht identisch mit dem Autor. Der Autor erfindet
oder wählt einen Erzähler, der gleichsam zwischen Autor und Leser vermittelt und
dem Leser die erzählte Welt präsentiert. Der Erzähler hat eine ganz bestimmte Sicht
auf das Geschehen (Erzählperspektive), er kann es von außen erzählen
(Außenperspektive), sodass er jederzeit die gesamten Geschehnisse überschaut
(Allwissenheit). Er kann die Ereignisse aber auch aus der Perspektive einer am
Geschehen beteiligten Person bzw. Figur erzählen (Innenperspektive). So ergeben
sich mehrere Möglichkeiten der Erzählperspektive, auf die wir später noch eingehen
werden. Neben der Perspektive, aus der erzählt wird, gibt es natürlich noch eine
Vielzahl von Möglichkeiten, wie der Erzähler das Geschehen darbieten kann
(Erzählstrategie). Der Erzähler kann die Ereignisse beispielsweise chronologisch
wiedergeben, er kann aber auch mit Rückblenden oder Vorausdeutungen arbeiten
oder das ganze Geschehen mit Hilfe der Montagetechnik zerstückelt darbieten,
sodass sich der Zusammenhang des Geschehens beim Leser erst nach und nach,
sozusagen mosaikartig zusammensetzt. Außerdem nimmt der Erzähler zum
Erzählten eine bestimmte Haltung ein. Die Erzählhaltung meint die Einstellung, mit
der der Erzähler dem Leser das Geschehen vermittelt; sie kann sachlich, distanziert,
ironisch, humorvoll, kritisch, melancholisch usw. sein. Diese wirkt sich natürlich auf
die Art der Darbietung und auf die Sprachverwendung aus.
Handlung
Der Autor wählt für seine erzählte Welt einen Stoff, der als Grundlage dient wie z.B.
eine Liebesgeschichte, einen Kriminalfall, einen Historischen Stoff usw. Die
Ereignisse verknüpft der Autor zu einem sinnvollen Zusammenhang in einer
schlüssigen und glaubhaften Abfolge. Dieses durch Komposition gestaltete
Gesamtgeschehen nennt man Handlung. Im Laufe der kulturellen Entwicklung haben
sich bestimmte Handlungsmuster herausgebildet, auf die Autoren zurückgreifen und
die die umgestalten können (Liebestragödien, der Kampf gegen das Böse,
Menschen in Extrem- oder Konfliktsituationen, Abenteuer usw.).
Hinsichtlich der Komposition unterscheidet man
-
Haupthandlung und Nebenhandlung(en)
-
Rahmen- und Binnenhandlung
-
äußere Handlung (äußere Ereignisse)
-
innere Handlung (Gefühle, Gedanken X der Figuren).
Die Handlung kann strukturiert sein
-
durch die zeitliche Abfolge der Ereignisse
-
durch die Handlungsstränge
-
durch Motive oder andere formale Elemente.
170
Figurenkonzeption
In der erzählten Welt treten Figuren (Personen) auf, die der Erzähler auf vielfältige
Weise gestalten kann. Er kann sie z. B. direkt charakterisieren (beschreibend,
bewertend) oder von einer anderen Figur charakterisieren lassen. Er kann sie auch
indirekt charakterisieren, sodass sich der Leser aus dem Verhalten und den
Äußerungen der Figur selbst ein Bild von dessen Charakter machen kann. Immer
liegt der Gestaltung einer Figur eine bestimmte Konzeption zugrunde: Figuren
können gestaltet sein als Typen, individuelle Charaktere, statisch, dynamisch usw.
Aspekte der Charakterisierung können sein:
-
das äußere Erscheinungsbild (Aussehen, Kleidung, Alter X)
-
das äußere Verhalten (Sprechweise, Mimik, Gestik, Handeln X)
-
die innere Einstellung (Interessen, Absichten, Gedanken, Gefühle X)
-
die Lebensumstände (Beruf, gesellschaftliches Umfeld, ökonomische Lage X)
Figurenkonstellation
Der Erzähler plant die Beziehungen zwischen den Figuren sorgfältig, die man in einer
Art Soziogramm (mit Namen und Pfeilen) abbilden kann. Hierbei zeigen sich Hauptund Nebenfiguren sowie Grundkonstellationen wie Protagonist und Antagonist
(Hauptfigur und Gegenspieler), Verbündete, Nahestehende, Sympathisanten, Feinde
usw.
Raum / Raumgestaltung
Der Erzähler kann den Schauplatz oder Raum der Handlung gestalten, je nachdem,
welche Bedeutung und Funktion er habne soll. Man kann Grundfunktionen der
Schauplatzgestaltung unterscheiden:
-
Der Schauplatz oder Ort der Handlung kann bedeutungskonstituierend sein
(Innenraum, öffentlicher Raum X); die einfache Beschreibung des Ortes kann
bereits Aufschluss über Figurenkonstellation und Handlungszusammenhänge
geben.
-
Die soziale Umwelt in ihrer Funktion als kausal-determinierendes Milieu prägt
die Figur in ihrem Denken, Sprechen, Fühlen und Handeln; die soziale Umwelt
ist Ausdruck des gesellschaftlichen Lebensstils einer Figur (Kleidung, Haltung,
Wohnung usw.
-
Der Stimmungsraum unterstreicht den Gemütszustand einer Figur durch eine
bestimmte Atmosphäre, z.B. Gewitterschwüle (kurz vor einem
Gefühlsausbruch der Figur), Sonnenschein (Heiterkeit und Gelassenheit der
Figur), Regen (Traurigkeit der Figur) usw.
-
Der symbolische Raum verdichtet die gesamte Thematik, z.B. eines Romans,
in anschaulichen, bedeutsamen Bildern (Symbolen) mit deutlicher
Verweisfunktion.
171
Zeit / Zeitgestaltung
Der Erzähler kann die Zeit unterschiedlich gestalten. Dabei kann man unterscheiden
zwischen erzählter Zeit, also der Zeit, über die sich das gesamte Geschehen
erstreckt, und der Erzählzeit, also der Zeit, die man zum Erzählen, Vortragen oder
Lesen braucht. Der Erzähler kann die erzählte Zeit raffen (Zeitraffung), dehnen
(Zeitdehnung) oder Deckungsgleichheit zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit
herstellen (Zeitdeckung). Er kann auch zeitneutral erzählen (z.B. beim Beschreiben
oder beim Erzählerkommentar), er kann in der Zeit springen (Zeitsprung), er kann
zurückspringen (Rückblende) oder auf Künftiges vorausdeuten (Vorausdeutung).
Formen der Epik
Im Laufe der Literaturgeschichte hat sich eine Fülle epischer Formen
herausgebildet, auf die ein Autor zurückgreifen kann; denn jede feststehende Form
besitzt bestimmte Charaktermerkmale und eignet sich für bestimmte Absichten
besonders. So eignet sich z. B. die Anekdote für historisch markante Ereignisse, die
Fabel ermöglicht dem Autor ein bildhaft-verstecktes Sprechen.
Eine Übersicht über die wichtigsten epischen Formen zeigt die Vielfalt der
Möglichkeiten:
172
Um aufzuzeigen, wie die Literaturbetrachtung bzw. Literaturanalyse in der Epik
vorgeht und welche Besonderheiten gegenüber den anderen Gattungen zu beachten
sind, wählen wir eine epische Kurzform: die Kurzgeschichte. Als Beispiel nehmen wir:
Kurt Marti: Neapel sehen
5
10
15
20
25
30
35
Er hatte sich eine Bretterwand gebaut. Die Bretterwand entfernte die
Fabrik aus seinem häuslichen Blickkreis. Er hasste die Fabrik. Er
hasste seine Arbeit in der Fabrik. Er hasste die Maschine, an der er
arbeitete. Er hasste das Tempo der Maschine, das er selber beschleunigte. Er hasste die Hetze nach Akkordprämien, durch welche er es zu
einigem Wohlstand, zu Haus und Gärtchen gebracht hatte. Er hasste
seine Frau, sooft sie ihm sagte, heut Nacht hast du wieder gezuckt.
Er hasste sie, bis sie es nicht mehr erwähnte. Aber die Hände zuckten
weiter im Schlaf, zuckten im schnellen Stakkato der Arbeit. Er hasste
den Arzt, der ihm sagte, Sie müssen sich schonen, Akkord ist nichts
mehr für Sie. Er hasste den Meister, der ihm sagte, ich gebe dir eine
andere Arbeit, Akkord ist nichts mehr für dich. Er hasste so viele verlogene Rücksicht, er wollte kein Greis sein, er wollte keinen kleineren
Zahltag, denn immer war das die Hinterseite von so viel Rücksicht,
ein kleinerer Zahltag. Dann wurde er krank, nach vierzig Jahren
Arbeit und Hass zum ersten Mal krank. Er lag im Bett und blickte zum
Fenster hinaus. Er sah sein Gärtchen. Er sah den Abschluss des
Gärtchens, die Bretterwand. Weiter sah er nicht. Die Fabrik sah er
nicht, nur den Frühling im Gärtchen und eine Wand aus gebeizten
Brettern. Bald kannst du wieder hinaus, sagte die Frau, es steht alles
in Blust1. Er glaubte ihr nicht. Geduld, nur Geduld, sagte der Arzt, das
kommt schon wieder. Er glaubte ihm nicht. Es ist ein Elend, sagte er
nach drei Wochen zu seiner Frau, ich sehe immer das Gärtchen, sonst
nichts, nur das Gärtchen, das ist mir zu langweilig, immer dasselbe
Gärtchen, nehmt doch einmal zwei Bretter aus der verdammten
Wand, damit ich was anderes sehe. Die Frau erschrak. Sie lief zum
Nachbarn. Der Nachbar kam und löste zwei Bretter aus der Wand. Der
Kranke sah durch die Lücke hindurch, sah einen Teil der Fabrik. Nach
einer Woche beklagte er sich, ich sehe immer das gleiche Stück der
Fabrik, das lenkt mich zu wenig ab. Der Nachbar kam und legte die
Bretterwand zur Hälfte nieder. Zärtlich ruhte der Blick des Kranken
auf seiner Fabrik, verfolgte das Spiel des Rauches über dem Schlot,
das Ein und Aus der Autos im Hof, das Ein des Menschenstromes am
Morgen, das Aus am Abend. Nach vierzehn Tagen befahl er, die
stehen gebliebene Hälfte der Wand zu entfernen. Ich sehe unsere
Büros nie und auch die Kantine nicht, beklagte er sich. Der Nachbar
kam und tat, wie er wünschte. Als er die Büros sah, die Kantine und
so das gesamte Fabrikareal, entspannte ein Lächeln die Züge des
Kranken. Er starb nach einigen Tagen.
(aus: Marti, Kurt: Wohnen zeitaus, Zürich 1967)
1
Blust (oberdt.) : Blüte
173
Eine schöne Kurzgeschichte? Eine traurige, eine deprimierende? Wie auch immer
Sie spontan emotional auf die Geschichte reagiert haben - dieses Gefühl ist von
dieser Geschichte erzeugt worden und muss seine Gründe haben. Die emotionale
Reaktion eröffnet meistens einen guten Zugang zum Dargestellten und zu dessen
Absicht. Denn die Frage, warum sich dieses oder jenes Gefühl eingestellt hat,
verweist auf das Erzählte zurück und drängt zu Antworten, die nur im Text gefunden
werden können.
Man könnte über Martis Kurzgeschichte sagen: Der Text erzählt in extrem knapper
Form von der Arbeit, der Krankheit und dem Tod eines Arbeiters. Diese Aussage ist
sicherlich zutreffend. Aber ist damit das Wesentliche des Textes erfasst? Weiß man
damit schon, weshalb Marti den Text geschrieben hat? Weiß man damit, was Marti
dem Leser, also uns, eigentlich mitteilen will? Die eben gemachte Aussage über die
Kurzgeschichte erfasst nur Teile der Oberfläche, des Vordergrundes.
Will man fundierte Aussagen über den Text und dessen Intention machen, muss man
den Text analysieren. Oder anders: Die Textanalyse hat den Sinn, begründete
Deutungen eines literarischen Textes zu liefern.
Wir erinnern uns, was wir über die Eigenart von Literatur gesagt haben: Literarische
Texte sind Sprachkunstwerke, in denen der Dichter oder Schriftsteller in
verschlüsselter Form seine Absicht verwirklicht. Das Dargestellte ist dabei nicht
identisch mit dem Gemeinten (Gehalt), sondern nur dessen Veranschaulichung,
Konkretisierung (wie bei einem Gemälde). Das Gemeinte muss entdeckt,
entschlüsselt werden. Genau dazu dient die Textanalyse. Das bedeutet: Jeder
literarische Text besitzt zumindest zwei Dimensionen, eine Oberflächen- und eine
Tiefendimension. Die Oberflächendimension zeigt sich in dem, was schon beim
ersten Lesen erfasst werden kann: die äußere Handlung, das erzählte Geschehen.
Bezogen auf unser Beispiel wären dies: die Arbeit, die Krankheit und der Tod des
Akkordarbeiters. Die Tiefendimension (oder der „doppelte Boden“ oder „das
zwischen den Zeilen“) muss erschlossen werden mit Hilfe von Analyse und
Interpretation, wobei die Analyse die Grundlage für die Interpretation bildet.
Was aber meint hier „Texterschließung“?
Aus dem Begriff können drei Aspekte abgeleitet werden: Die Textschließung
hat als Grundlage einen Text (oder mehrere Texte)
hat ein Ziel, nämlich eine begründete Deutung des Textes (oder der Texte)
benutzt ein Verfahren, eine Methode, um das Ziel zu erreichen
Es ist einleuchtend, dass die Methode das Wichtigste ist zum Erreichen des Zieles.
Das ist nicht nur bei der Texterschließung der Fall, sondern bei fast allen
menschlichen Vorhaben und Tätigkeiten. Will ich einen Fluss überqueren oder einen
Tisch bauen, will ich eine Arbeit über das Verhalten der Elefanten schreiben oder
den „Satz des Pythagoras“ beweisen - immer brauche ich eine (für das Ziel
geeignete) Methode. Die Methode ist der Weg zum Ziel; Methode meint eine
systematische Vorgehensweise, die aus einer sinnvollen Aufeinanderfolge von
Einzelschritten besteht.
Wie kommt man zu einer sinnvollen Methode der Texterschließung?
Die Methode wird bestimmt vom Ziel und von der Grundlage. Das heißt: Will man
einen Text verstehen, muss man sich auf den Text einlassen; man muss ihn
analysieren. Analysieren heißt: den Text zergliedern nach den Elementen, aus denen
er besteht.
174
Woraus besteht ein Text?
Jeder Text, auch ein literarischer, besteht aus zwei bzw. drei Elementen: Jeder Text
hat eine Form und transportiert einen Inhalt. Daraus folgt: Die Textanalyse besteht
aus Form- und Inhaltsanalyse.
Die Inhaltsanalyse bezieht sich auf die inhaltlichen Aspekte eines Textes, also
auf Thema, Problem, Handlung, Ort und Zeit, Personen, Personenkonstellation
und Charaktere.
Die Formanalyse bezieht sich einerseits auf die Struktur eines Textes
andererseits auf die Sprache.
Die Strukturanalyse betrachtet alle Strukturelemente eines Textes, also
den Aufbau, die Gliederung, die Erzählperspektive, Spannungskurve,
Höhe- und Wendepunkt(e), Erzählzeit und erzählte Zeit
Die Sprachanalyse bezieht sich auf die Sprachverwendung. Und da
Sprache immer aus Wörtern, Sätzen und Stilelementen besteht, meint
Sprachanalyse die
Analyse der Wortwahl (Semantik)
Analyse des Satzbaus (Syntaktik)
Analyse des Stils (Stilistik)
Daraus ergibt sich:
Die Textanalyse umfasst Inhalts-, Struktur- und Sprachanalyse.
Wie man dabei vorgeht, womit man beginnt usw., ist individuell unterschiedlich und
hängt auch vom jeweiligen Text ab. Die Analyse eines Romans wird anders
vorgehen als die Analyse einer Kurzgeschichte, obwohl beide sich gleichermaßen
auf Inhalt, Struktur und Sprache beziehen. - Das bisher Gesagte lässt sich in
folgendem Strukturbild zusammenfassen:
Textanalyse
Inhaltsanalyse
Thema / Problem
Handlung / Geschehen
Ort und Zeit der Handlung
Personen / Personenkonstellation
Personencharakteristik
Strukturanalyse
Aufbau / Gliederung / Handlungssequenzen
Spannungskurve / Höhepunkt / Wendepunkt
Erzählperspektive
Erzählstrategie
Erzählzeit / erzählte Zeit
Sprachanalyse
Semantik
Syntaktik
Stilistik
175
Im Folgenden soll am Beispiel der Kurzgeschichte von Kurt Marti eine Vorgehensweise bei der Textanalyse demonstriert werden, und zwar die Methode, die die
einzelnen Analyseteile nacheinander in Angriff nimmt. Diese Analyse soll ein Musterbeispiel sein; sie gibt nicht vor, was von Ihnen erwartet wird.
Auch bei der Textanalyse gilt, was anderswo schon öfter gesagt worden ist: Je
intensiver und detaillierter die Vorarbeiten durchgeführt werden, umso leichter fällt
später die zusammenhängende Darstellung bzw. die Reinschrift.
Zunächst sollte man den Text mehrfach lesen, Wesentliches und Auffälliges
markieren, Randnotizen machen, Stichwörter herausschreiben usw. Dann kann man
mit den Analyseteilen beginnen. - Wir wollen hier mit der Inhaltsanalyse beginnen.
Diese bezieht sich - wie schon gesagt - auf die Inhaltsaspekte der vorliegenden
Kurzgeschichte.
→ Inhaltsanalyse
Welche inhaltlichen Aspekte sind in der Kurzgeschichte bestimmend?
Folgende sind hier wichtig:
die Hauptfigur und deren Einstellung zu Arbeit und Fabrik
die Nebenfiguren
die Bretterwand
die Krankheit der Hauptfigur
der Tod der Hauptfigur
die Überschrift der Kurzgeschichte
Schauen wir uns nun die einzelnen Aspekte genauer an:
1. Was erfahren wir über die Hauptfigur?
Aus der ersten Texthälfte können wir entnehmen:
• Der Mann ist namenlos, identitätslos, anonym, damit austauschbar und
verallgemeinerbar.
• Er ist Fabrikarbeiter, Akkordarbeiter, dessen Arbeit vom Takt und Tempo
der Maschine diktiert wird.
• Seine Einstellung zur Fabrik und zu seiner Arbeit ist äußerst negativ; er
hasst alles, womit er zu tun hat.
• Die negative Einstellung bestimmt auch seinen Umgang mit anderen
Menschen und seine Privatsphäre.
• Er besitzt aufgrund seiner Arbeit ein Haus mit Garten in der Nähe der
Fabrik.
• Er lebt in zwei Daseinsbereichen, Haus und Fabrik, die durch eine
Bretterwand getrennt sind.
• Er will sein Älterwerden nicht wahrhaben, möchte nicht weniger verdienen
und nimmt gut gemeinte Ratschläge nicht an.
• Er wird nach 40 Arbeitsjahren krank.
2. Was können wir über die Bretterwand sagen? Dem Text ist zu entnehmen:
• Die Bretterwand soll Fabrik und Privatsphäre, Arbeitswelt und den
familiären Lebensraum strickt trennen.
• Die Bretterwand ist Ausdruck einer Illusion bzw. Täuschung; denn die
176
Fabrik wird nur äußerlich aus dem Blickfeld entfernt, aber nicht aus Gefühl
und Bewusstsein.
• Im zweiten Teil des Textes ist sie das Objekt, an dem die Veränderungen
der Hauptfigur veranschaulicht werden: Der Abbau der Wand ermöglicht
ein neues Sehen.
3. Was hat die Krankheit zu bedeuten?
• Die Krankheit ist der Einschnitt in den von der Fabrik bestimmten
Lebensrhythmus.
• Sie zwingt den Arbeiter zur Ruhe, die dann die Distanz zu Arbeit und
Fabrik ermöglicht.
• Sie ermöglicht eine neue Form der Wahrnehmung und Einschätzung.
• Sie ist die Ursache für die inneren Veränderungen des Arbeiters.
4. Welche Bedeutung kommt den Nebenfiguren zu?
• Sie sind Mahner und Besorgte: Sie wollen nur das Beste.
• Sie müssen als Objekte des Hasses, als Sündenböcke herhalten.
• Sie bieten die Außensicht auf die Hauptfigur.
5. Wieso stirbt die Hauptfigur?
• Der Tod schließt die innere Entwicklung des Arbeiters vom alles
umfassenden Hass über die Identifizierung mit der Fabrik bis zum
zufriedenen Lächeln vor dem Tod ab.
• Die Begründung für den Tod wird nur indirekt gegeben, nämlich in der
auffälligen Überschrift der Kurzgeschichte.
6. Was leistet die Überschrift?
• Neapel kommt im Text nicht vor; es gibt aber ein italienisches Sprichwort
(„Neapel sehen und dann sterben.“). Die erste Hälfte erscheint als
Überschrift, die andere Hälfte veranschaulicht die Kurzgeschichte.
• Das italienische Sprichwort steht für einen unerreichbaren Wunsch oder
für etwas Ersehntes, Erstrebtes, für ein Ideal.
• Das Sehen des Ganzen und das Sterben fallen in der Geschichte
zusammen: Der Arbeiter versöhnt sich zuletzt mit der Fabrik, blendet alles
Negative aus, idealisiert seine Fabrik; er konstruiert sich sein Neapel und
kann zufrieden sterben.
Ist die Vorarbeit (bezogen nur auf die Inhaltsanalyse) so weit erstellt, fällt die
Ausführung nicht mehr schwer. Sie könnte folgendermaßen ausfallen:
Im Mittelpunkt der Kurzgeschichte steht ein namenloser Fabrikarbeiter, dessen
Akkordarbeit vom Rhythmus der Maschine bestimmt wird. Die Folge dieser
unmenschlichen Arbeit ist ein tief greifender Hass, der sich auf alles richtet,
was mit der Arbeit zu tun hat. Aufgrund seines Alters scheint er mit der
Akkordarbeit überfordert, aber er will die Warnungen seiner Frau, seines
Meisters und des Arztes nicht zur Kenntnis nehmen; im Gegenteil: Er hasst sie
dafür, dass sie ihm die Wahrheit sagen. Weil er die Ursache seines Hasses
nicht treffen kann, müssen die Menschen seiner nächsten Umgebung als
Sündenböcke herhalten.
Eine andere Folge seiner Arbeit stellt der Besitz eines Hauses mit Garten in der
Nähe der Fabrik dar. Damit sind die beiden Lebensbereiche des Arbeiters
177
genannt: Fabrik und Haus, Arbeitsbereich und Privatsphäre. Abgegrenzt
werden beide Bereiche durch eine Bretterwand. Allerdings wird schnell klar,
dass die strickte Trennung nicht gelingt, denn die Bretterwand ändert nichts an
der Situation des Arbeiters oder an seinem Verhältnis zur Arbeit. Die Fabrik
bestimmt auch im Privatbereich das Fühlen und Denken des Arbeiters bis in
den Schlaf hinein: Nachts zucken die Hände „im schnellen Stakkato der Arbeit“
(Z.9). Die Bretterwand entfernt zwar die Fabrik aus dem Blickfeld, kann das
Verhasste aber nicht aus dem Bewusstsein und Leben verbannen. Insofern
steht die Bretterwand zu Beginn für die Selbsttäuschung und Entfremdung des
Arbeiters. Es muss für ihn unter den gegebenen Umständen eine pure Illusion
bleiben zu glauben, er könnte Arbeit und Freizeit, Beruf und Privatbereich
strickt voneinander trennen.
Als einschneidende Folge der Arbeit, des Hasses und der Selbsttäuschung
muss hier die Krankheit angesehen werden. Über die Art der Krankheit erfährt
man nichts, aber sie bedeutet für den Arbeiter eine deutliche Zäsur in dem von
der Fabrik bestimmten Lebensrhythmus. Allerdings ermöglicht sie dem
Arbeiter die Ruhe zum Nachdenken und die Distanz von Fabrik und Arbeit.
Schließlich bewirkt sie eine schrittweise voranschreitende Veränderung der
Wahrnehmung und Einstellung des Kranken. Symbolisch wird diese innere
Veränderung an der Bretterwand dargestellt. Während die Wand zu Beginn die
strickte Trennung zwischen dem verhassten Fabrikbereich und der scheinbar
freien Privatsphäre veranschaulichen soll, symbolisiert nun der schrittweise
Abbau die innere Wandlung des Arbeiters. Schrittweise wird die
Selbsttäuschung abgebaut und ein neues Sehen und Erkennen eröffnet - im
wahrsten Sinne des Wortes, aber auch im übertragenen Sinn. Am deutlichsten
zeigt sich das, nachdem die halbe Wand beseitigt ist: Von diesem Zeitpunkt an
ist der Blick des Kranken „zärtlich“ (Z.31) und er „verfolgt das Spiel des
Rauches über dem Schlot“ (Z.32). Aus der einstmals verhassten Fabrik ist nun
seine Fabrik (vgl. Z.32) geworden, deren Schönheit er sogar entdecken kann.
Die Fabrik zu sehen und zwar das ganze Areal, das wird dem Kranken sogleich
zum dringenden Bedürfnis. Nachdem die ganze Wand abgebaut und der Blick
auf das Ganze frei geworden ist, kann sich der Arbeiter entspannen. Die ganze
Anspannung der 40 Arbeitsjahre, die Hetze, Aggression und Selbstlüge
verschwinden mit der Erkenntnis, dass diese Fabrik sein Lebensinhalt war und
ist. Am Ende seines Lebens versöhnt sich der Arbeiter mit der Fabrik,
identifiziert sich mit ihr und idealisiert sie sogar.
Wer sich dann fragt, warum der Arbeiter am Ende stirbt, bekommt mit der
Überschrift der Kurzgeschichte den entscheidenden Hinweis. Der Titel „Neapel
sehen“ muss beim ersten Lesen verwirrend wirken; denn Neapel kommt in der
Kurzgeschichte gar nicht vor, aber die Formulierung soll den Leser auf ein
italienisches Sprichwort stoßen: „Neapel sehen und dann sterben.“ Die erste
Hälfte der Redewendung erscheint als Titel, die andere Hälfte erzählt die
Kurzgeschichte. Wichtig hierbei ist die Bedeutung des italienischen
Sprichwortes: Es steht für ein unerreichbares Ziel, für das Höchste der
Wünsche, für etwas, was man erstrebt, ersehnt, erleben möchte, für ein großes
Ideal. Auf die Kurzgeschichte übertragen, ergibt sich für den Schluss: Der
Arbeiter hat zuletzt „sein Neapel“ gesehen und kann zufrieden sterben.
Wie dieses Ende der Kurzgeschichte allerdings verstanden werden kann,
darauf soll später, bei der Darlegung der Intention, noch Bezug genommen
werden. An dieser Stelle der Analyse kann festgestellt werden, dass der Autor
178
offenbar das italienische Sprichwort in Beziehung gesetzt hat zum Leben eines
Akkordarbeiters und dass es ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des
Textes ist.
→ Strukturanalyse
Welche Strukturelemente sind in der Kurzgeschichte wichtig?
Wir sammeln wieder auf dem Konzeptpapier:
1. Aufbau: deutliche Zweiteilung des Textes, ab Z. 15 beginnt der 2.Teil (Krankheit)
2. Erzählstrategie: beide Teile stehen antithetisch zueinander
Teil 1
Fabrik, Arbeitsbedingungen, Hass
Maschinen, Akkord, Hetze, Zahltag
Bretterwand als Schutz vor Fabrik
Hass als Ausdruck der Ohnmacht
gegenüber dem Arbeitsprozess
Teil 2
Krankheit, innere Wandlung, Tod
Ruhe, Identifizierung, Zufriedenheit
Abbau der Bretterwand für die Versöhnung
mit der Fabrik
Sehen, Erkenntnis, Entspannung
3. Spannungskurve: im 1.Teil: Aneinanderreihung, kaum Spannungssteigerung;
im 2. Teil: Darstellung des Wandlungsprozesses, stufenweise
Steigerung; am Ende fallen Höhepunkt (innerer
Frieden) und Tod zusammen. Letzter Satz schließt
Geschehen ab.
4. Erzählperspektive: Was ist damit gemeint? Wir müssen einen längeren Exkurs
unternehmen:
Exkurs : Möglichkeiten der Erzählperspektive
Bei literarischen Werken, deren wesentliches Kennzeichen die Fiktionalität ist, muss
zunächst unterschieden werden zwischen dem Autor und dem Erzähler. Der Autor
hat die Idee, er erfindet eine Handlung, macht ein Konzept, ordnet den
Geschehensablauf und dessen Elemente. Erzählt wird die Geschichte dann von
einem fiktiven Erzähler, sozusagen von einer Zwischeninstanz, einem Medium
zwischen Autor und Leser.
Für diese Erzählerrolle weist der Autor dem Erzähler eine Perspektive, eine Erzählsituation, einen Standort zu, also eine Sichtweise, aus der das Erzählte gesehen und
dargeboten wird. Erzählperspektive meint die literarische Gestaltungstechnik, also
die Art und Weise, wie die epische Handlung aus der Sicht des Erzählers dargeboten
wird.
179
Die Möglichkeiten der Erzählperspektive unterscheiden sich nach dem Standort des
Erzählers, der entweder außerhalb des Geschehens steht (Außenperspektive) oder
innerhalb (Innenperspektive):
1. die auktoriale Erzählperspektive (auctor = Urheber, Verfasser)
Sichtweise und Organisation des Geschehens werden von einem Standpunkt aus
bestimmt, der außerhalb der Romanfiguren und -handlung liegt. Eine solche
Außensicht ermöglicht es dem Erzähler, das erzählte Geschehen an jeder beliebigen Stelle zu überschauen, jederzeit zu kommentieren, sich einzuschalten und
sich der Vorausschau und des Rückblicks zu bedienen. Auf diese Weise erweckt
er den Anschein der epischen Allwissenheit. Er steht außerhalb bzw. über der
epischen Handlung.
Eine solche Perspektive kann viele Grade durchlaufen: Der Held der Erzählung
kann z.B. die Ideale des Autors artikulieren; der Erzähler kann sich aber auch
völlig von dem erzählten Geschehen distanzieren. Dem auktorialen Erzähler ist
auch die Einsicht in die inneren Vorgänge seiner Figuren möglich, da er ja über
dem Geschehen steht und sozusagen die Handlung nach seinem Willen gestaltet.
2. die personale Erzählperspektive
Hierbei wählt der Erzähler seinen Standort innerhalb des dargestellten
Geschehens, indem er sich z.B. unter den Figuren der Handlung einen
'Stellvertreter' sucht und aus dessen Perspektive das Geschehen erzählt. Damit
fällt das erzählende Medium weg, und für den Leser entsteht die Illusion, er
befinde sich selbst auf dem Schauplatz des Geschehens oder er betrachte die
dargestellte Welt mit den Augen der Romanfigur. Dabei wird das Geschehen nicht
(wie beim auktorialen Erzähler) "erzählt", denn dazu wäre Distanz nötig, sondern
das Geschehen spiegelt sich gleichsam in der Wahrnehmung und im Bewusstsein
der Romanfigur wider. Bewusstseinsvorgänge können nicht erzählt, sondern allenfalls reproduziert werden. Die dargestellte Welt wird nicht von außen betrachtet,
sondern von innen erfahren. Somit ist nicht der äußere Ablauf einer Handlung
interessant, sondern wie sich diese Handlung im Bewusstsein der erlebenden
Figur spiegelt mit allen damit verbundenen Gedanken, Vorstellungen, Ängsten und
Wünschen. Primär ist also das wahrnehmende, denkende und erlebende Subjekt,
also dessen innere Vorgänge; die äußeren Abläufe treten zurück. Es ist klar, dass
diese Innenperspektive immer nur einen Ausschnitt einer Welt (gemäß der Wahrnehmung der einzelnen Figur), nie das Ganze (wie bei der auktorialen Perspektive) bieten kann, also eingeschränkt und einseitig bleiben muss. Diese Einschränkung entspricht unserem heutigen Verhältnis zur Wirklichkeit; sie verleiht damit
dem Erzählten Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit und erweckt gleichzeitig ein
intensives Interesse des Lesers. Eine solche unmittelbare und intensive
Darstellungsmöglichkeit heißt personale Erzählperspektive.
Ein Sonderfall hinsichtlich Außen- und Innenperspektive ist
3. die Ich - Erzählperspektive
Sie zeigt den Erzähler als selbst unmittelbar am erzählten Geschehen beteiligt. Er
hat das Erzählte erlebt, beobachtet oder direkt von den eigentlichen Akteuren in
Erfahrung gebracht. Selbstverständlich ist das Ich dabei lediglich eine fiktive
Gestalt und nicht mit dem Verfasser identisch. Diese Perspektive, die durchgängig
180
in der 1.Person Singular, meist des erzählenden Präteritums, dargeboten wird, ist
eingeschränkt durch die Grenzen der Figur bzw. Rolle. Das Ich kann / darf nicht
mehr erzählen, als es seinem Alter, seinem Bildungsgrad, seiner gesellschaftlichen Erfahrung usw. gemäß wissen kann; sonst wird es unglaubwürdig.
Der Vorteil dieser Erzählperspektive liegt in der Glaubwürdigkeit, Lebendigkeit
und Direktheit des Erzählens. Gegenüber dem personalen Erzählen kann das
erzählende Ich in der Erinnerung eine möglichst große Distanz zum Erzählten und
damit eine annähernde Außenperspektive einnehmen. Fallen jedoch erzählendes
und erlebendes Ich eng zusammen, ist nur die Innenperspektive möglich, die jene
Unmittelbarkeit erzeugt, die der Ich-Erzähler beabsichtigt.
Darstellungsformen in der Epik
Neben der Erzählperspektive gibt es in der Epik noch die sog. Darstellungsformen.
Dabei unterscheiden wir die szenische Darstellung und die Bewusstseinswiedergabe.
- Szenische Darstellung
meint die Darstellung von Gesprochenem (Dialoge, Gespräche usw.), was als
direkte Rede (1.Person; Indikativ) erscheint.
Er sagte: „Ich muss sie treffen. Ich darf auf keinen Fall zu spät kommen.“
- Bewusstseinswiedergabe
meint die Darstellung von inneren Vorgängen der literarischen Personen.
Hier unterscheiden wir drei verschiedene Formen:
1. der innere Monolog
meint das unmittelbare (stumme) Selbstgespräch ohne alle Zwischenglieder;
unausgesprochene Gedanken werden in direkter Form und in der 1.Person
Singular des Präsens wiedergegeben, sodass für den Leser eine unmittelbare
Identifikation mit den Gedanken, Assoziationen und Vorstellungen der auf diese
Weise sich äußernden Figur möglich wird.
Hoffentlich treffe ich sie. Dass ich bloß nicht wieder zu spät komme.
2. die erlebte Rede
ist die Wiedergabe von Bewusstseinsvorgängen in der 3.Person Singular, meist
des Präteritums; dabei sollen die Gedanken aus der Sicht der handelnden bzw.
betroffenen Person, nicht aus der des Erzählers wiedergegeben werden. Die
erlebte Rede kann als Zwischenform zwischen direkter und indirekter Rede
angesehen werden.
Er musste sie treffen. Sofort. Durfte nicht wieder zu spät kommen. Bloß das
nicht.
3. der Bewusstseinsstrom
(vom engl. 'stream of consciousness') meint die direkte, unfertig formulierte
Wiedergabe der sich im Bewusstsein einer erlebenden Figur vollziehenden
Abläufe, Bilder, Assoziationen, die dem Leser unter psychologischem Aspekt
einen tieferen Einblick in die Charakterstruktur einer Figur erlauben.
181
Im Unterschied zu den beiden vorherigen Formen ist der Bewusstseinsstrom die
Möglichkeit, momentane Sinneseindrücke, Gedankenfetzen, sekundenhafte
Gefühlsregungen, selbst unterbewusste Regungen ungebrochen und ohne
Rücksicht auf Regeln der Sprache einzufangen. Während der innere Monolog
noch weitgehend assoziativ zusammengehalten wird, stellt sich der Bewusstseinsstrom als ein oft pausenloser Monolog nebeneinander eingeblendeter
Gedankenfetzen und sich überlappender Vorstellungen dar. Eine derart tiefenpsychologische Charakterenthüllung, die minutiös alle Regungen unterschiedlicher Bewusstseinsebenen zur Darstellung bringt, muss notwendigerweise
den zeitlichen Ablauf eines Geschehens äußerst stark dehnen, da Bewusstseinsakte ungleich schneller ablaufen, als gesprochene oder geschriebene
Sprache sie darstellen können.
Sie. Nur sie. Rote Ampel. Kurz vor vier – verdammt, das wird knapp 4
Aufgabe: Bestimmen Sie bei den folgenden Textauszügen die Erzählperspektive
und die Darstellungsform!
a) „Da er Raat hieß, nannte ihn die ganze Stadt Unrat. Nichts konnte einfacher und
natürlicher sein. Der und jener Professor wechselten zuweilen ihr Pseudonym. Ein
neuer Schub Schüler gelangte in die Klasse, legte mordgierig eine vom vorigen
Jahrgang noch nicht genug gewürdigte Komik an dem Lehrer bloß und nannte sie
schonungslos beim Namen. Unrat aber trug den seinigen seit vielen Generationen,
der ganzen Stadt war er geläufig, seine Kollegen benutzten ihn außerhalb des
Gymnasiums und auch drinnen, sobald er den Rücken drehte. Die Herren, die in
ihrem Hause Schüler verpflegten und sie zur Arbeit anhielten, sprachen vor ihren
Pensionären vom Professor Unrat. Der aufgeweckte Kopf, der den Ordinarius der
Untersekunda hätte neu beobachten und nochmals abstempeln wollen, wäre nie
durchgedrungen; schon darum nicht, weil der gewohnte Ruf auf den alten Lehrer
noch so gut seine Wirkung übte wie vor sechsundzwanzig Jahren.“
(aus: Heinrich Mann: Professor Unrat)
b) „Gott sei Dank, dass ich die Pulver habe. Das ist die einzige Rettung. Wo sind sie
denn? Um Gottes willen, man wird sie mir doch nicht gestohlen haben. Aber nein,
da sind sie ja. Da in der Schachtel. Sind sie noch alle da? Ja, da sind sie. Eins,
zwei, drei, vier, fünf, sechs. Ich will sie ja nur ansehen, die lieben Pulver. Es
verpflichtet ja zu nichts. Eins, zwei, - aber ich bringe mich ja sicher nicht um. Fällt
mir gar nicht ein. Drei, vier, fünf - davon stirbt man auch noch lange nicht. Es wäre
schrecklich, wenn ich das Veronal nicht mit hätte. Da müsste ich mich zum
Fenster hinunterstürzen und dazu hätt’ ich doch nicht den Mut. Aber das Veronal, man schläft langsam ein, wacht nicht mehr auf, keine Qual, kein Schmerz. Man
legt sich ins Bett; in einem Zuge trinkt man es aus, träumt, und alles ist vorbei.
Vorgestern habe ich auch ein Pulver genommen und neulich sogar zwei. Pst,
niemandem sagen. Heut’ werden es halt ein bissl mehr sein. Es ist ja nur für alle
Fälle. Wenn es mich gar, gar zu sehr grausen sollte. Aber warum soll es mich
denn grausen? Wenn er mich anrührt, so spucke ich ihm ins Gesicht. Ganz
einfach.“
(aus: Arthur Schnitzler: Fräulein Else)
182
c) „Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (sodass ich wohl in kleinen
Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärts schreiten können), indem
ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen
Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht
mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach
Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin. Allein, da alles, was ich
mitzuteilen habe, sich aus meinen eigensten und unmittelbarsten Erfahrungen,
Irrtümern und Leidenschaften zusammensetzt und ich also meinen Stoff
vollkommen beherrsche, so könnte jener Zweifel höchstens den mir zu Gebote
stehenden Takt und Anstand des Ausdrucks betreffen, und in diesen Dingen
geben regelmäßige und wohlbeendete Studien nach meiner Meinung weit weniger
den Ausschlag als natürliche Begabung und eine gute Kinderstube.“
(aus: Thomas Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull)
d) „Der Mississippi wäre das Richtige, dachte der Junge, auf dem Mississippi konnte
man einfach ein Kanu klauen und wegfahren, wenn es stimmt, was im Huckleberry
Finn stand. Auf der Ostsee würde man mit einem Kanu nicht sehr weit kommen,
ganz abgesehen davon, dass es an der Ostsee nicht mal schnelle, wendige Kanus
gab, sondern nur so olle schwere Ruderboote. Er sah vom Buch auf, unter der
Treenebrücke floss das Wasser still und langsam durch; die Weide, unter der er
saß, hing ins Wasser rein, und gegenüber, in der alten Gerberei, regte sich, wie
immer, nichts. Der Mississippi wäre besser als die Speicher in der alten,
verlassenen Gerberei und die Weide am langsamen Fluss. Auf dem Mississippi
wäre man weg, während man sich auf den Speichern in der Gerberei und unter
der Weide nur verstecken konnte. Unter der Weide auch nur, solange sie Blätter
hatte, und die hatten schon mächtig begonnen abzufallen und trieben gelb auf
dem braunen Wasser davon. Verstecken war übrigens nicht das Richtige, dachte
der Junge, - man musste weg sein.“
(aus: Alfred Andersch: Sansibar oder Der letzte Grund)
e) „ ... also das war ja doch eine Erleichterung fasse dich kurz lass einen Furz wer
weiß vielleicht war das Schweinskotelett was ich gegessen hab mit der Tasse Tee
hinterher nicht mehr ganz gut bei der Hitze gerochen hab ich an sich nichts also
dieser Mann in dem Metzgerladen der immer so komisch guckt der ist bestimmt
ein großer Gauner ich hoffe die Lampe da qualmt nicht krieg sonst die ganze Nase
voll Ruß aber immer noch besser wie wenn er die ganze Nacht das Gas anlässt
ich hab selbst in meinem Bett in Gibraltar nicht richtig schlafen können weil ich
ewig aufstehn musste um nachzusehn wieso bin ich bloß so verdammt nervös
deswegen obwohl im Winter mag ichs eigentlich ganz gerne ist irgendwie
gemütlicher oh mein Gott war das lausig kalt in dem Winter damals wie ich erst so
zehn war oder war ich ja doch stimmt ich hatte die große Puppe damals mit all den
komischen Kleidchen hab sie andauernd angezogen und wieder aus ... „
(aus: James Joyce: Ulysses)
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------Kehren wir wieder zu unserer Kurzgeschichte zurück!
Welche Erzählperspektive hat Kurt Marti seinem Erzähler zugedacht?
Wir können feststellen, dass in „Neapel sehen“ durchgängig die auktoriale
Perspektive vorherrscht, allerdings mit wechselnder Distanz zum Erzählten.
183
5. Erzählzeit - erzählte Zeit: im 1. Teil sind 40 Arbeitsjahre zusammengefasst;
im 2. Teil sind wenige Wochen dargestellt
Erzählzeit: ca. fünf Minuten
Das Konzeptpapier zur Strukturanalyse sieht nun folgendermaßen aus:
1. Aufbau: deutliche Zweiteilung des Textes, ab Z. 15 beginnt der 2.Teil (Krankheit)
2. Erzählstrategie: beide Teile stehen antithetisch zueinander
Teil 1
Fabrik, Arbeitsbedingungen, Hass
Maschinen, Akkord, Hetze, Zahltag
Bretterwand als Schutz vor Fabrik
Hass als Ausdruck der Ohnmacht
gegenüber dem Arbeitsprozess
Teil 2
Krankheit, innere Wandlung, Tod
Ruhe, Identifizierung, Zufriedenheit
Abbau der Bretterwand für die Versöhnung
mit der Fabrik
Sehen, Erkenntnis, Entspannung
3. Spannungskurve: im 1.Teil: Aneinanderreihung, kaum Spannungssteigerung;
im 2. Teil: Darstellung des Wandlungsprozesses, stufenweise
Steigerung; am Ende fallen Höhepunkt (innerer
Frieden) und Tod zusammen. Letzter Satz schließt
Geschehen ab.
4. Erzählperspektive: durchgängig die auktoriale Perspektive, allerdings mit
wechselnder Distanz zum Erzählten.
5. Erzählzeit - erzählte Zeit: im 1. Teil sind 40 Arbeitsjahre zusammengefasst;
im 2. Teil sind wenige Wochen dargestellt
Erzählzeit: ca. fünf Minuten
Die Ausführung könnte wie folgt erstellt werden:
Äußerlich erscheint die Kurzgeschichte als ein Block ohne Abschnitte. Die
Darstellung weist jedoch eine deutliche Zweiteilung auf. Im 1. Teil (Z. 1-15) sind
die 40 Arbeitsjahre des Arbeiters äußerst knapp zusammengefasst: Es beginnt
mit der Bretterwand, die beide Lebensbereiche des Arbeiters voneinander
abtrennen soll, und wendet sich dann dem vielfältigen Hass zu, der den
Arbeiter völlig bestimmt. Dabei erhält der Leser einen Einblick in die Fabrik und
in die Arbeitsbedingungen, aber auch in den Privatbereich des Arbeiters. Der
Hass wird so als Ausdruck der Ohnmacht gegenüber dem Arbeitsprozess
erkennbar.
Im 2. Teil (Z. 15 - 39) werden die Krankheit, die äußeren Veränderungen und die
innere Wandlung des Arbeiters dargestellt. Während der 1.Teil wesentlich aus
der Aneinanderreihung von Objekten des Hasses besteht und nur wenig
Spannung erzeugt, steigt die Spannungskurve im 2.Teil stufenweise an, und
zwar parallel zum schrittweisen Abbau der Bretterwand. Diese allmähliche
Horizonterweiterung führt letztlich zur Erkenntnis des Ganzen. Damit ist der
184
Höhepunkt erreicht, in dem Entspannung und Versöhnung sowie der Tod des
Arbeiters zusammenfallen. Damit endet auch die Kurzgeschichte.
Dargeboten wird das Geschehen aus der auktorialen Erzählperspektive. Auch
wenn sich der Erzähler ab und zu seiner Hauptfigur annähert und dessen
Sichtweise und Wertungen übernimmt (Gärtchen, verlogener Zahltag, Spiel des
Rauches), bleibt die Außenperspektive doch durchgängig erhalten. Selbst die
innere Wandlung des kranken Arbeiters wird auktorial dargeboten, indem sie
symbolisch als äußeres Geschehen (Abbau der Wand) erscheint.
Was leistet diese Erzählperspektive? Warum hat der Autor sie gewählt? Diese
Frage kann vielleicht beantwortet werden, wenn man sich die Alternative
vorstellt. Hätte Marti zumindest die innere Veränderung des Arbeiters aus
dessen Perspektive, also als Bewusstseinsstrom, erlebte Rede oder innerer
Monolog, gestaltet, hätte der Leser viel intensiver mit dem Arbeiter gefühlt,
hätte tiefes Mitleid mit ihm empfunden, wäre emotional stärker angesprochen
worden. Die auktoriale Erzählperspektive weist dem Leser die distanzierte
Beobachterposition zu. So betrachtet der Leser Handlung und Hauptfigur von
außen und kann die rationalen Zusammenhänge des erzählten Geschehens
erfassen.
(Bei der Darstellung der Intention der Kurzgeschichte kommen wir hierauf zurück.)
Das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit ist im vorliegenden Beispiel für die
Interpretation nicht so wichtig. Feststellen kann man jedoch, dass hierbei die Zweiteilung des Geschehens bestätigt wird. Im 1. Teil der Kurzgeschichte sind 40 Arbeitsjahre knapp zusammengefasst; der 2. Teil erzählt über einen Zeitraum von einigen
Wochen. Die Erzählzeit beträgt etwa fünf Minuten. Aber - so darf man hier fragen was gewinnt man aus diesen Feststellungen für die Interpretation? Es gibt Texte, bei
denen das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit ein ganz wesentlicher
Schlüssel zum Verständnis darstellt; in unserem Beispiel können wir es vernachlässigen.
→ Sprachanalyse
Die Sprachanalyse umfasst die semantische, die syntaktische und die stilistische
Analyse. Was aber bedeuten diese Begriffe? Wir müssen Exkurse in die Sprachbetrachtung unternehmen:
- Semantische Analyse
Die Analyse der Semantik bezieht sich auf die Wortwahl und fragt:
Welche Wörter und Begriffe wählt der Erzähler bzw. Autor ?
Warum wählt er gerade dieses Wort oder jenen Begriff?
Die Analyse der Wortwahl ist deswegen sinnvoll, weil die Sprache zur Bezeichnung
von Dingen, Gegenständen, Sachverhalten, Eigenschaften usw. reichhaltige Alternativen zur Verfügung stellt, die inhaltlich nie identisch sind, sondern voneinander
abweichen, mal geringfügig, mal deutlicher (z.B. Selbstmord, Selbsttötung, Selbstentleibung, Suizid, Befreiung vom Leben). Oft sind Wörter mit bestimmten Wertungen
(Auf- oder Abwertung, negative Besetzung usw.) verbunden, sodass ihre Wahl etwas
über die Aussageabsicht des Sprechers bzw. Autors verraten.
Die Frage „Welche Wörter wählt der Autor?“ schließt eine weitere Frage mit ein: Aus
185
welchem Bereich stammt das Wort? Mit „Bereichen“ sind jene Unterteilungen gemeint, nach denen wir unsere Wirklichkeit ordnen. Danach gibt es z: B. den Bereich
der Natur, der Politik, der Wissenschaft, der Ethik, der Religion, der Technik usw.
Wenn beispielsweise ein Autor gesellschaftliche Vorgänge mit Begriffen aus der
Natur oder Biologie darstellt, hat er offenbar eine andere Auffassung zur Gesellschaft
als ein Autor, der dieselben Vorgänge mit politischen und juristischen Begriffen
beschreibt.
Schauen wir auf Martis Kurzgeschichte und betrachten wir sie unter semantischem
Aspekt, dann dürften mehrere Punkte auffallen. Wir markieren sie im Text und fassen
sie auf dem Konzeptpapier zusammen:
29-mal „er“
7-mal „Bretterwand“ bzw. „Wand“
9-mal „hasste“ (1. Teil)
12-mal „sehen“ bzw. „blicken“ (2.Teil)
6-mal „Gärtchen“ (Verkleinerungsform, Diminutivum)
Begriffe aus der Arbeitswelt (1.Teil): Fabrik, Arbeit, Maschine, Tempo, Akkord,
Meister, Zahltag
Privatbereich: Wohlstand, Haus, Gärtchen
Abwertung des Gärtchens (2.Teil): langweilig
Abwertung der Bretterwand (2.Teil): „verdammte Wand“
Aufwertung der Fabrik (2.Teil): zärtlich, seine Fabrik, unsere Büros
Die Ausarbeitung kann so aussehen:
Die Sprachanalyse bestätigt das, was die Inhaltsanalyse erbracht hat. Schon
beim ersten Lesen fällt die Wiederholung bestimmter Wörter auf, z.B. des
Wortes „hassen“ oder des Wortes „Bretterwand“ bzw. „Wand“. Das anonyme
Personalpronomen „er“, womit der Text beginnt, taucht gleich 29-mal auf,
womit deutlich ein Aspekt des Textes unterstrichen wird (Anonymität,
Verallgemeinerung).
Die schon festgestellte Zweiteilung des Textes wird auch sprachlich bestätigt.
Im 1.Teil dominiert das Verb „hassen“; es wird 9-mal wiederholt und zeigt
deutlich die innere Situation des Arbeiters: Er wird vom Hass bestimmt. Dieser
Hass hat seine Ursache in der Arbeitswelt, die in einem breiten semantischen
Feld vertreten ist: Fabrik, Maschine, Tempo, Akkord, Meister, Hetze, Kantine,
Büros, Fabrikareal. Der Zusammenhang von Arbeit und Hass (vgl. Z.16)
bestimmt den ersten Textteil. Der Privatbereich des Arbeiters wird nur relativ
kurz erwähnt (Wohlstand, Haus, Gärtchen). Auffällig hierbei ist die
Verkleinerungsform, das Diminutivum „Gärtchen“, ein positiv emotionaler
Lichtblick innerhalb des allumfassenden Hasses.
Während im 1.Teil das Verb „hassen“ dominiert, wird der 2.Teil des Textes vom
Verb „sehen“ bzw. „blicken“ bestimmt; gleich 12-mal sind diese Verben der
äußeren Wahrnehmung zu finden, die in Verbindung mit den Objekten den
Wandlungsprozess des Arbeiters - jetzt auch „der Kranke“ genannt - anzeigen.
Auch in der Wahrnehmung des „Gärtchens“ spiegelt sich die innere
Veränderung: Sechsmal wird das Diminutivum wiederholt, zuletzt in
Verbindung mit dem Adjektiv „langweilig“ (Z.24). Die Bretterwand, im 1.Teil
lediglich zweimal genannt, wird im 2.Teil zum Schlüsselwort. Auch an der
Bretterwand oder genauer: an der Wahrnehmung der Wand wird die
186
Veränderung des Arbeiters demonstriert. Im 1.Teil als Trennung zwischen
Fabrik und Privatsphäre eingeführt, wird sie nun als „verdammte(n) Wand“
(Z.25/26) wahrgenommen, die den Blick auf die Fabrik verwehrt. Abwertung
und Abbau der Wand gehen einher mit einer zunehmenden Aufwertung der
ehedem verhassten Fabrik. Die neue Sicht des Arbeiters belegen vor allem das
Adjektiv „zärtlich“ (Z.31) und das Possessivpronomen („seiner Fabrik“, Z.32).
Die Fabrik bzw. das, was von ihr wahrgenommen wird, erscheint jetzt als etwas
Schönes (vgl. Z.32) und Lebendiges (vgl. Z.33). Bestätigt wird die neue
Wahrnehmung und Einstellung des Arbeiters durch seine Reaktion: Sein
entspanntes Lächeln (vgl. Z.38) erscheint als äußeres Zeichen der inneren
Versöhnung. Der letzte Satz der Kurzgeschichte klingt wie ein lapidarer
Kommentar, eine Bestätigung dessen, was der Titel schon erwarten lässt.
- Die syntaktische Analyse
Die syntaktische Analyse bezieht sich auf den Satz als Sinn- und Bedeutungseinheit
und untersucht Sätze eines Textes in Bezug auf ihre Leistung, Konstruktion und
Wirkung.
Die Leistung von Sätzen ist u.a. durch die Satzarten festgelegt. Wir unterscheiden
Aussagesätze
Aufforderungssätze
Befehlssätze
Fragesätze
Wunschsätze
Ausrufesätze
Bei der Konstruktion bzw. Organisation von Sätzen unterscheiden wir
Parataxe (meint eine Aneinanderreihung von Hauptsätzen, die sogenannte
Satzreihe; in ihr dokumentiert sich eine „einfache“ Sicht auf die Realität, in der
jedes Element gleich wichtig ist (vgl. Kindersprache); sie kann aber auch
bewusst als Stilmittel eingesetzt werden)
Hypotaxe (meint die Verflechtung von Haupt- und Nebensätzen, das sogenannte Satzgefüge; diese komplizierte Satzorganisation spiegelt eine
differenzierte Sicht auf die Realität wider; auf Grund der Verbindung zwischen
den Sätzen werden in Hypotaxen Zusammenhänge, Abhängigkeiten,
Ursachen, Wirkungen und andere Faktoren dargelegt)
Besondere Wirkungen können mit den sogenannten Satzfiguren erzeugt werden.
Diese weichen vom üblichen Satzbau ab und sind dadurch auffällig; sie werden als
stilistische Mittel eingesetzt (siehe auch Stilanalyse). Die wichtigsten Satzfiguren
sind:
Ellipse (Auslassung eines wichtigen Satzgliedes)
Parallelismus (Wiederholung derselben Satzgliedfolge in mehreren
aufeinander folgenden Sätzen)
Anakoluth (Satzbruch)
187
Chiasmus (syntaktisch symmetrische Überkreuzstellung)
Anapher (Wiederholung desselben Satzanfangs)
Zeugma (syntaktische Unebenheit)
Inversion (ungewöhnliche Umstellung der Satzglieder)
Klimax (syntaktische stufenweise Steigerung)
(Diese Satzfiguren mit Erläuterungen und Beispielen finden Sie im Folgenden bei der
Stilanalyse oder im Anhang unter „Die wichtigsten stilistischen Mittel“.)
Schauen wir uns mit diesen Kenntnissen Martis Kurzgeschichte an und achten nun
auf die Syntax! Die Auffälligkeiten notieren wir auf ein Konzeptpapier:
1.Teil: extrem kurze Sätze, Parataxe, einzelne kleinere Hypotaxen
gleiche Satzanfänge, unverbundene Satzreihe, isolierte Sätze
Parallelismen, Gleichförmigkeit des Satzbaus
2.Teil: beginnt ebenfalls mit kurzen Sätzen, dann längere Sätze
Parataxe und Hypotaxe
Sätze werden miteinander verbunden
variabler Satzbau
Schluss: kurzer, lapidarer Aussagesatz
in der wörtlichen Rede: Aussage- und Befehlssätze
Die Ausarbeitung kann dann so aussehen:
Auch in der Syntax wird die Zweiteilung des Textes sichtbar. Im 1.Teil fällt die
Reihung von extrem kurzen Sätzen auf. Deren Unverbundenheit und
Gleichförmigkeit erzeugen beim Lesen jenen abgehackten Rhythmus, in dem
das „Stakkato der Arbeit“ hörbar wird. Die vorherrschende Parataxe wird
zweimal unterbrochen von kurzen hypotaktischen Sätzen, in denen die
wörtliche Rede wiedergegeben ist.
Der 2.Teil beginnt zwar ebenfalls mit kurzen Sätzen, aber der Satzbau fällt
variabler aus; zudem sind nun die Sätze miteinander verbunden, sodass der
harte Rhythmus des 1.Teils verschwunden ist. Die kurzen bis mittellangen
Sätze sind hauptsächlich parataktisch organisiert. Das gilt auch für die Sätze
der wörtlichen Rede. Erst am Ende des Textes erscheinen drei relativ kurze
hypotaktische Sätze, in denen das Geschehen zum Höhepunkt gesteigert wird.
Wie im 1.Teil so finden sich auch im 2.Teil fast durchgängig einfache
Aussagesätze. Die wörtlichen Rede des Kranken enthalten indirekte
Aufforderungen, einmal ist sogar ein direkter Befehlssatz formuliert, in denen
der Kranke den Abbau der Bretterwand anordnet (vgl. Z.25/26). Darin bekundet
sich der feste Wille des Kranken, den Prozess der Wahrnehmungserweiterung
bis zur freien Sicht auf das Ganze fortzusetzen. Die Folge seiner Anordnung ist
im wichtigsten Satz des Textes hypotaktisch dargestellt (vgl. Z.37-39). Mit der
darin ausgedrückten Zufriedenheit des Kranken könnte der Text bzw. die
Kurzgeschichte enden. Es folgt jedoch noch der schon einmal erwähnte
Schlusssatz, der kurz und lapidar das im Titel angeschlagene Sprichwort
vervollständigt.
188
- Die stilistische Analyse
Die Stilanalyse untersucht im Wesentlichen, von welchen möglichen Ausdrucks- und
Darstellungsvarianten ein Verfasser im besonderen Maße Gebrauch gemacht hat
und welche Prinzipien (z.B. Prinzip der Anschaulichkeit, Prinzip der Wiederholung
usw.) er einsetzt, um seine Intention verständlich zu machen.
Wir unterscheiden hierbei:
1. Stil- bzw. Sprachschicht; diese kann sein:
a) dichterisch (feierlich, poetisch, oft altertümlich),
b) bildungssprachlich (gebildet, Kenntnisse voraussetzend),
c) fachsprachlich (z.B. wissenschaftlich),
d) gehoben (gepflegt, nicht alltäglich),
e) bürokratisch (Amtsdeutsch, behördlich, steif, unpersönlich),
f) umgangssprachlich (gelockerte, alltagssprachliche Ausdrucksweise)
g) vulgär (derbe Ausdrucksweise).
2. Stilistische Prinzipien
Es gibt mehrere Stilprinzipien, die jedoch für einen Autor und damit auch für die
Stilanalyse unterschiedlich wichtig sind. Die zwei wohl wichtigsten Prinzipien sind:
- das Prinzip der Anschaulichkeit
(Die Veranschaulichung von komplexen Zusammenhängen, Wirkungen und
Handlungen erhöht deren Verständlichkeit. Veranschaulichung kann Beispieloder Beweisfunktion haben. Sie wird vor allem durch die Verbildlichung des
Wesentlichen, des Kerns erreicht, sodass durch das veranschaulichte
Besondere ein Zugang zum Umfassenden und Schwierigen ermöglicht wird.)
- das Prinzip der Wiederholung bzw. Eindringlichkeit
(Die Wiederholung von Wörtern oder Sätzen ist kein Zeichen für den Mangel
an Ausdrucksfähigkeit, sondern ein bewusstes Stilmittel, das immer dann
eingesetzt wird, wenn ein Verfasser besonders eindringlich wirken will. Die
Wiederholung betont das Besondere, verstärkt Wirkung und Eindruck,
verweist auf Wichtiges und zeigt dem Leser an, worauf er besonders achten
sollte. Wiederholungen gibt es nicht nur als wörtliche, es gibt auch
bedeutungsmäßige Wiederholungen.)
Daneben gibt es noch:
- das Prinzip der Lebendigkeit
(die Darstellung soll lebendig, abwechslungsreich und dynamisch sein. Das
kann z.B. durch die unterschiedlichen Redeformen erreicht werden:
wörtliche, indirekte Rede, innerer Monolog usw.)
- das Prinzip der Folgerichtigkeit
(Folgerichtigkeit meint die logische Aneinanderreihung der Aussagen, den
stimmigen, schritt- und stufenweisen Aufbau eines Textes, die innere kausale
Stimmigkeit der Sätze)
189
- das Prinzip der Klarheit
(Klarheit meint die Klarheit des Ausdrucks, die Eindeutigkeit und Bestimmtheit
der Sachverhalte, der Argumentation, des Geschehens usw.)
- das Prinzip der Angemessenheit
(Stil und darzustellender Inhalt sollen angemessen sein)
- das Prinzip der Einheitlichkeit
(Einheitlichkeit bezieht sich auf die innere Harmonie, Geschlossenheit
inhaltlicher, sprachlicher, situativer Art)
- das Prinzip der Variation und des Wechsels
(Abwandlung des Vorgegebenen in verschiedene sprachliche Formen,
Wechsel des Ausdrucks)
- das Prinzip der Glaubwürdigkeit
(die Darstellung muss überzeugen, eine Manipulation des Lesers muss
vermieden werden)
- das Prinzip der Spannungssteigerung
(die Darstellung soll aufregend, einnehmend und spannend sein, vielleicht auch
mit Überraschungen aufwarten)
- das Prinzip der kommunikativen Einbeziehung des Lesers
(der Leser kann direkt oder indirekt in die Darstellung einbezogen werden, z.B.
durch Ansprache oder rhetorische Fragen)
3. Stilarten
Wir unterscheiden drei Stilarten:
a) Nominalstil: beim Nominalstil herrschen nominale Formen vor, die
hauptsächlich den Inhalt des Textes tragen. Der Stil ist nüchtern,
sachlich, trocken, nicht flüssig, kompliziert und äußerst komprimiert.
Der Charakter ist zwingend, ordnend und bestimmend. Der Nominalstil
ist charakteristisch für kognitive und normative, z.T. auch für
informative Texte.
b) Verbalstil: beim Verbalstil trägt das Verb die wesentliche Information der Sätze.
Handlungen, Vorgänge und Ereignisse werden differenziert dargestellt, Ziele,
Vorstellungen und Erwartungen werden anschaulich konkretisiert. Der Stil ist
flüssig, dynamisch, lebendig, die Sprache leicht verständlich. Der Verbalstil ist
kennzeichnend für informative, unterhaltende und literarische Texte.
c) Adjektivstil: beim Adjektivstil dominiert das beschreibende und bewertende
Adjektiv, das den Dingen und der Realität bestimmte Qualitäten zuspricht,
ausschmückt, auf- oder abwertet, überhöht usw. und beim Leser eine gezielte
Atmosphäre erzeugt. Der Adjektivstil ist charakteristisch für Schilderungen,
für triviale, unterhaltende und Werbetexte.
190
In der Reinform kommen die einzelnen Stilarten selten vor; bei literarischen Texten
finden sich in der Regel Mischformen. Darüber hinaus kann auch die Fachsprache
(mit Fachwortschatz und fachbezogener Bildlichkeit) als Stilart eingesetzt werden,
wenn es darum geht, eine spezifische und bedeutungsvolle Wirklichkeit wiederzugeben. Ihr Vorteil liegt in der Genauigkeit der Benennung und der Aussage und in
der Eindeutigkeit der Information.
4. Stilmittel
Bei den Stilmitteln unterscheiden wir:
a) Schlüsselwörter, Leitmotive,
b) Personifikation, Verdinglichung,
c) Ironie (uneigentliches Sprechen: Diskrepanz zwischen Gesagtem und
Gemeintem)
d) Redeformen:
die wörtliche Rede (mal mit, mal ohne redeeinleitende Zeichen (Anführungszeichen) oder sonstige Satzzeichen; die direkte Rede gibt dem epischen Text
einen dramatischen Akzent; sie unterbricht zwar den Erzählfluss, aber sie
macht einen Text lebendig, szenisch unmittelbar; zudem dient sie der
indirekten Charakterisierung des Sprechenden)
der innere Monolog, das "stumme Selbstgespräch" (meint eine
Darbietungsform des Erzählens in der 1. Person Singular Indikativ Präsens;
ermöglicht die Innensicht ohne kommentierende Einmischung des Erzählers;
der Erzähler schlüpft in eine Figur hinein und gibt deren Gedanken, Gefühle
und Wahrnehmungen wieder; er ist als Erzähler dann nicht mehr präsent)
die erlebte Rede (ist eine Darbietungsform des Erzählens, und zwar in der
3.Person Singular Präteritum Indikativ; meist ohne redeeinleitende Verben
schlüpft der Erzähler in eine Figur, um deren Gedanken und Gefühle
eindrücklich wiederzugeben; er ist aber als Erzähler noch spürbar)
die indirekte Rede (referiert die Figurenrede, erzeugt Distanz zum erzählten
Geschehen auf Grund der grammatischen Verschiebung in den Konjunktiv
und in die dritte Person; der Erzähler wird dabei als Vermittler des
Geschehens deutlich)
e) stilistische Figuren: Sie werden wegen ihrer Wirkung auf den Leser eingesetzt.
Im Wesentlichen gibt es fünf Wirkungsakzente und dazu entsprechende
stilistische Mittel und Figuren: Anschaulichkeit, Eindringlichkeit,
Spannungssteigerung, Überraschungseffekt, kommunikativer Akzent
191
Übersicht:
Anschaulichkeit
Eindringlichkeit
Spannungssteigerung
Allegorie
Beispiel
Bild
Metapher
Metonymie
Personifikation
Synästhesie
Synekdoche
Vergleich
Emphase
Euphemismus
Hyperbel
Inversion
Litotes
Periphrase
Wiederholung
Antithese
Asyndeton
Chiasmus
Ellipse
Klimax
Parallelismus
Raffung
Überraschungseffekt
Kommunikativer Akzent
Anakoluth
Anspielung
Ironie
Oxymoron
Paradoxon
Wortspiel
Zeugma
Anrede
Einschub
Parenthese
Rhetorische Frage
Vorgriff
Die wichtigsten stilistischen Mittel
Allegorie
Alliteration
Allusion
Anakoluth
Anapher
Antithese
Asyndeton
Bild
Chiasmus
Sinnbild, Gleichnis: Verbildlichung eines abstrakten Begriffs (Das
Rad des Schicksals dreht sich; Justitia mit Waage und
Augenbinde)
auch Stabreim genannt: gleicher Anlaut der betonten Silben bei
mehreren Wörtern (mit Mann und Maus; Milch macht müde
Männer munter)
Anspielung (Er fällte ein salomonisches Urteil.)
Satzbruch ("Korf erfindet eine Mittagszeitung, welche, wenn man
sie gelesen hat, ist man satt." Morgenstern)
Wiederholung des gleichen Anfangswortes bei aufeinander
folgenden Sätzen, Versen, Strophen ("Ihr unsterblichen Seelen.
Ihr, die ihr nicht von dieser Welt seit. Ihr Weltoffenen." Handke)
Entgegenstellung (Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Heiß ist die
Liebe, kalt ist der Tod. Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit.)
Unverbundenheit: Aneinanderreihung ohne Konjunktion
(Alles rennet, rettet, flüchtet ... ; Veni, vidi, vici)
Bildlichkeit: Gesamtbegriff für sprachliche Mittel, die abstrakte
Sachverhalte anschaulich machen, z.B. Allegorie, Chiffre,
Metapher, Symbol, Vergleich.
Überkreuzstellung: syntaktische Überkreuzung zweier an sich
parallel gebauter Sätze ("Die Kunst ist lang, und kurz ist unser
192
Chiffre
Ellipse
Euphemismus
Hyperbel
Hypotaxe
Inversion
Ironie
Katachrese
Klimax
Litotes
Metapher
Metonymie
Motiv
Neologismus
Onomatopoesie
Oxymoron
Parataxe
Parenthese
Paradoxon
Leben." Goethe)
Geheimzeichen, Verschlüsselung: zu Zeichen reduzierte
Symbole od. Stimmungsträger, die das Gemeinte nur andeuten,
das Wirkliche verfremden ("Mit allen Augen sieht die Kreatur nur
das Offene." Rilke)
Auslassung eines für die vollständige syntaktische Konstruktion
notwendigen Satzgliedes (Je schneller, desto besser! Was nun?
Alles klar?)
verhüllende oder beschönigende Umschreibung einer unangenehmen Sache (statt sterben: entschlafen, verscheiden, ableben,
heimgehen; vollschlank)
Übertreibung (Er hat einen Mund wie ein Scheunentor. "Ich fühle
eine Armee in meiner Faust." - Schiller)
Satzorganisation in Form der Über- und Unterordnung von
Haupt- und Nebensätzen; komplizierter Satzbau, kunstvoll
geschachteltes Gefüge von Sätzen
Umstellung, Umkehrung: Bezeichnung für eine von der üblichen
und gebräuchlichen Wortfolge abweichende Umstellung von
Wörtern bzw. Satzgliedern (In seinen Armen das Kind war tot. Goethe, Erlkönig)
Form des uneigentlichen Sprechens: sagt das Gegenteil dessen,
was eigentlich gemeint ist (eine schöne Bescherung; die Hellste!)
Bildbruch (Der Zahn der Zeit hat schon manche Träne
getrocknet. Der Lungenkrebs reibt sich vergnügt die Scheren.
Sobald der Krach mit Fortschritt zu tun hat, drückt unser Ohr ein
Auge zu.)
Kunstvolle Steigerung (Es dauerte Tage, Wochen, Monate, ja
Jahre. In jeder Partei gibt es Eifrige, Übereifrige und Allzueifrige.)
Bejahung durch doppelte Verneinung, Milderung des Gesagten
(nicht unschön; er ist nicht gerade ein Held; er freute sich nicht
wenig)
Bildliche Bezeichnung (Flussbett, Drahtesel, Wüstenschiff); zu
unterscheiden sind:
Genitivmetaphern: der Korall der Lippen
Adjektivmetaphern: süßer Ton, dunkler Klang
Verbmetaphern: umgreifen, besetzen, gipfeln
Satzmetaphern: Sein Herz drohte zu brechen.
Umbenennung: ein Teil steht für das Ganze, pars pro toto (im
Kreml und im weißen Haus .. er kann den ganzen Novalis
auswendig; er trank fünf Glas)
sich wiederholende, vorgeprägte typische Handlungsteile
Wortneubildung, neu gebildeter sprachlicher Ausdruck (z.B.
Waschbrettbauch)
Lautmalerei bei Wortbildungen (knistern, ächzen, girren, klirren,
brausen, sausen)
Kopplung einander widersprechender Wörter (bittersüß,
helldunkel, beredtes Schweigen, alter Knabe)
Satzreihe: Reihung von Hauptsätzen
Einschub (Das war - kurz gesagt - seine Meinung)
Widersprüchlichkeit, Scheinwiderspruch (Einmal ist keinmal. Das
193
Parallelismus
Personifikation
Pleonasmus
Rhetorische
Frage
Sentenz
Symbol
Synästhesie
Synekdoche
Synonymie
Tautologie
Vergleich
Zeugma
Zitat
Leben nach dem Tod. Es ist merkwürdig, wie wenig im ganzen
die Erziehung - verdirbt.)
Gleichbau mehrerer Sätze, Verse, Strophen ("Gottes ist der
Orient! Gottes ist der Okzident!" - Goethe)
Belebung eines Dinges oder Abstraktums ("Es kam die Nacht
und blätterte gleichgültig in den Bäumen." - Rilke)
das doppelte Ausdrücken einer Sache (weißer Schimmel, wieder
von neuem, alter Greis)
Frage, auf die keine Antwort erwartet wird (Was ist gewisser als
des Menschen Ende?)
kurzer Denkspruch (Humor ist, wenn man trotzdem lacht.)
Wahrzeichen, Merkmal: bildhafter Ausdruck für einen auf etwas
Höheres, Umfassenderes verweisenden Vorgang oder
Zusammenhang (Kreuz, Adler, Flagge)
Zugleichempfindung: Mischung mehrerer Sinnesgebiete
(Farbhören, die Sprache des Geschmacks, die Musik des
Herzens)
Begriffsvertauschung: ein Teil steht für das Ganze ("Dach" für
Haus; "Klinge" statt Schwert)
Kombination sinnverwandter Wörter (Es gibt kein Ende, keinen
Ausgang, keine Auflösung. Mein Liebster, mein Bräutigam, mein
Verlobter!)
Bezeichnung desselben Gegenstandes oder Sachverhalts durch
verschiedene, gleichbedeutende Worte (nackt und bloß; einzig
und allein)
Verbindung eines gemeinsamen Gehalts zweier Bereiche (Er ist
stark wie ein Löwe, groß wie ein Baum und reich wie das Meer.)
Verbindung mehrerer Nomen durch ein Verb, das sinngemäß
aber nicht zu allen passt (Ich heiße Schmidt und Sie herzlich
willkommen! Der Hund hob den Blick und ein Bein 'gen Himmel.)
Übernahme und Verwendung wörtlich wiedergegebener
Äußerungen als Beleg für die eigene Auffassung ( ... wie Goethe
seinerzeit schon sagte: "Es irrt der Mensch, solang er strebt.")
--------------------------------------------------------------------------------------Sie haben jetzt einen Einblick bekommen in die Stilistik, die dem Schriftsteller
praktisch unendlich viele Möglichkeiten an die Hand gibt, seine Absicht sprachlich
umzusetzen. Was Sie allerdings jetzt auch festgestellt haben, ist die Tatsache, dass
man diese sprachlichen Feinheiten gar nicht wahrnehmen kann, wenn man sie nicht
kennt. Es mag sein, dass eine bestimmte Wirkung, die sprachlich erzeugt wird, beim
Leser spürbar wird; aber er weiß nicht, warum es so ist. Wenn man die sprachlichstilistischen Mittel und Möglichkeiten kennt, weiß man auch, warum sich gerade
diese oder jene Wirkung einstellt. Und mehr noch: Man kann dann selbst sprachliche
Mittel zu bestimmten Wirkungen einsetzen.
Sie sollten angesichts der Vielzahl stilistischer Möglichkeiten keinen Schrecken
bekommen, weil Sie vielleicht vermuten, dass bei der stilistischen Analyse alle Mittel
auch herausgearbeitet und nachgewiesen werden müssen. Davon kann keine Rede
sein; es wäre zeitlich auch gar nicht machbar, innerhalb normaler Klausurzeiten alle
sprachlichen Mittel beispielsweise der Marti-Kurzgeschichte zu analysieren und
deren Wirkung aufzuzeigen.
194
Die stilistische Analyse verlangt lediglich, die wichtigsten, auffälligsten stilistischen
Ausdrucksformen zu erkennen und deren Funktion aufzuzeigen.
Der häufigste Fehler, der hierbei zu beobachten ist, besteht in der Auffassung, man
müsse lediglich die stilistischen Mittel feststellen, also, es genüge z.B. zu sagen:
In der 5. Zeile findet sich eine Metapher, in der 9. Zeile sehen wir eine
Antithese und in der 15. Zeile kann eine Hyperbel ausgemacht werden.
Stilistische Feinheiten wahrzunehmen ist nur die notwendige Voraussetzung der
Analyse; viel wichtiger ist es, deren Funktion innerhalb des Textes und in
Bezug auf die Aussageabsicht des Autors aufzuzeigen. Schon aus diesem
Grunde sollten Sie sich bei der Stilanalyse nur auf die wesentlichen Mittel
beschränken.
Bezogen auf den Marti-Text und dessen auffälligste Stilmittel muss man die Fragen
beantworten:
Warum werden im Text bestimmte Wörter so häufig wiederholt?
Warum wird die Bretterwand personifiziert?
Warum setzt der Erzähler im 1.Teil so häufig die Anapher und den
Parallelismus ein?
Warum werden so auffällige Metaphern (Z. 9, 13/14, 15, 31/32, 38/39)
verwendet?
Warum wird die wörtliche Rede eingesetzt?
Aufgabe: Verfassen Sie eine Stilanalyse der Kurzgeschichte von K. Marti!
Nachdem Sie nun den letzten Analyseteil vervollständigt haben und somit die
Analyse abgeschlossen ist, können wir zum Ziel des Ganzen übergehen, zur
Intention des Autors. Wir fragen also: Was hat die Analyse ergeben? Welche
Aussageabsicht können wir aus der Analyse folgern?
Die Analyse hat ergeben, dass der Arbeiter im Mittelpunkt der Kurzgeschichte
steht; auf ihn ist das Augenmerk gerichtet, sowohl auf seine Arbeit als auch
auf seine Krankheit. Die Zweiteilung des Geschehens und damit auch des
Textes zeigt antithetisch die zwei Lebenssituationen des Arbeiters, seine Arbeit
und als Folge davon seine Krankheit. Die 40 Jahre Arbeit sind von Hass
geprägt, die Zeit der Krankheit von der sich verändernden Wahrnehmung und
Einstellung. Der Schwerpunkt des Erzählten liegt deutlich auf dem Veränderungsprozess, der durch die Krankheit bedingt parallel zu ihr verläuft. Die
innere Veränderung führt letztlich zu Versöhnung und Zufriedenheit, während
die Krankheit im Tod endet.
Es wird also ein eher unauffälliges Geschehen dargeboten: Ein Arbeiter, der
seine Arbeit hasst, wird krank und stirbt zuletzt doch zufrieden. Das ist zwar
tragisch, aber es wäre nichts Besonderes, wenn nicht der auffällige Titel der
Kurzgeschichte wäre. Das italienische Sprichwort, das nur zur Hälfte im Titel
erscheint, legt die Vermutung nahe, dass der Verwandlungsprozess des
Arbeiters für „sein Neapel“ steht: Kurz vor seinem Tod konstruiert sich der
195
Arbeiter „sein Neapel“, idealisiert das, was er 40 Jahre lang gehasst hat. Er
blendet alles Negative aus, versöhnt sich mit seiner Fabrik und mit seiner
Arbeit, d.h. mit seinem Leben, und kann zufrieden sterben. Der Tod des
Arbeiters vervollständigt die italienische Redensart und - eröffnet neue Fragen:
Versöhnt der Tod mit dem Leben? Muss man sich „sein Neapel“ künstlich
konstruieren, damit man sich ein erfülltes Leben einreden kann? Erlebt jeder
Mensch eine solche Verwandlung vor dem Tod? Wird im Angesicht des Todes
alles Erlebte idealisiert?
Die Kurzgeschichte handelt von einem anonymen „Er“, dessen
Arbeitsbedingungen relativ genau dargestellt sind. Man kann davon ausgehen,
dass der Arbeiter als Beispiel für eine bestimmte Arbeits- und Lebensweise
steht: der Akkordarbeiter in einer Fabrik. An ihm werden die Auswirkungen, die
psychischen und körperlichen Folgen dieser Arbeit aufgezeigt. Akkordarbeit,
Hass, Zucken im Schlaf und Entfremdung von der Arbeit und von sich selbst
bilden jene unheilvolle Spirale, die in Krankheit und Tod gipfelt. Der Akkordarbeiter wird so zum Opfer der Arbeitsbedingungen, die er akzeptiert, aber nur
teilweise mitbestimmen kann. Er wird für den Arbeitsprozess funktionalisiert
und vollkommen von ihm bestimmt. Unter solchen Bedingungen ist ein
humanes, sinnvolles oder gar erfülltes Leben nicht vorstellbar. Dass ein
solcher Arbeiter erst krank werden muss, um seine Sicht auf die Welt und auf
sich selbst im positiven Sinne verändern zu können, ist Anklage genug. Aber
dabei lässt es Marti nicht bewenden; seine Gesellschaftskritik geht noch
weiter. Wenn der Arbeiter sich vor dem Tod „sein Neapel“ konstruieren muss,
um zufrieden sterben zu können, dann wirft dies doch ein bezeichnendes Licht
auf eine Gesellschaft, in der Menschen so leben (müssen) wie der Protagonist
und in der „Neapel“ zum Krankheitserlebnis geschrumpft scheint.
Martis gesellschaftskritische Intention klagt jene Arbeitsbedingungen an, die
Menschen verdinglichen und entfremden; er klagt eine Gesellschaft an, in der
solche Arbeits- und Lebensbedingungen nichts Ungewöhnliches sind, in der
die Maschine den Rhythmus bestimmt und der Verlust humaner Prinzipien in
Kauf genommen wird.
(Diese Interpretation der Kurzgeschichte ist nur eine Deutungsmöglichkeit. Sie ist
nicht zwingend und nicht allein gültig. Literatur - so haben wir schon gesagt - ist
polyvalent, also nie eindeutig. Andere Deutungen, die sich ebenfalls auf die Analyse
stützen können, sind denkbar und möglich. Wichtig dabei ist aber, dass die
Interpretation nicht willkürlich erstellt wird, sondern durch die Analyse gestützt wird.
Die Analyse ist die Begründung für die Deutung.)
Sie haben nun eine Methodik der Textanalyse kennengelernt. Diese Methode hat
schrittweise - sehr detailliert - die einzelnen Analyseschwerpunkte nacheinander
betrachtet. So kann man vorgehen, so muss man nicht vorgehen. Wählt man diese
Methode, gibt es mehrere Varianten, je nach dem, womit man beginnt.
196
Mit folgenden Leitfragen können Texte nach dieser Methode erschlossen werden:
Strukturanalyse
Welche Erzählschritte (Gliederung) sind erkennbar?
Hat das Erzählte einen Spannungsbogen?
Gibt es einen Höhepunkt bzw. mehrere Höhepunkte?
Hat das Geschehen einen Wendepunkt, von dem aus die Entwicklung in eine
neue Richtung verläuft?
Wie beginnt bzw. wie endet der Erzählvorgang? Gibt es eine Einleitung oder
blendet sich der Erzähler in ein Geschehen ein? Hat der Text einen
abgeschlossenen oder einen offenen Schluss?
Wird chronologisch erzählt? Gibt es Rückblenden, Vorwegnahmen,
Vorausdeutungen?
Aus welcher Perspektive wird erzählt (auktorial, personal, Ich-Perspektive)?
Werden innere Vorgänge dargestellt? In welcher Form (innerer Monolog,
erlebte Rede)?
Wie steht der Erzähler zum Geschehen? Gibt er sich überhaupt zu erkennen?
Kommentiert er das Geschehen, gibt er Vorausdeutungen?
Spielt das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit in der Darstellung des
Geschehens eine Rolle? Ist der Erzählvorgang (oder sind einzelne
Sequenzen) durch Zeitraffung gekürzt oder zeitlich gedehnt? Wird der Eintritt
eines Ereignisses (künstlich) hinausgeschoben?
Inhaltsanalyse
Wovon handelt der Text? Welches Thema / Problem wird angesprochen?
Wie entwickelt der Text das Problem / Thema?
Welches Geschehen, welche Handlung stellt der Text dar?
Wann und wo spielt das Geschehen? Welche Rolle spielen Ort und Zeit der
Handlung?
Wer sind die Handlungsträger? Gibt es eine Hauptfigur, gibt es
Gegenfiguren? Nebenfiguren? Funktionsträger?
Wie stehen die Figuren zueinander? Welche Haltung nehmen sie zum
Geschehen / Problem ein?
Wie sind die handelnden Figuren charakterisiert? Was tun sie? Was sagen
sie? Wie verhalten sie sich? Welche besonderen Merkmale haben sie?
Welche Bedeutung kommt der Überschrift des Textes zu?
Sprachanalyse
Aus welchem (n) Bereich(en) nimmt der Erzähler seine Nomen? Gibt es
auffällige Begriffe?
Haben die Adjektive eher beschreibende oder bewertende (Auf- oder
Abwertung) Funktion?
Welche Verben werden eingesetzt, und welche Bedeutung kommt ihnen für
die Darstellung des Geschehens zu?
Welche Wortart(en) trägt (tragen) den Inhalt des Dargestellten am
deutlichsten (Nominal-, Verbal-, Adjektivstil)?
Ist der Text von der Stilebene her poetisch, fachsprachlich, bürokratisch,
umgangssprachlich ... gehalten?
197
Welche stilistischen Mittel setzt der Erzähler zu welchem Zweck ein
(sprachliche Bilder, Personifikation, Wiederholung, Ironie, Leitmotive usw.)?
Erfassen der Intention
Warum wird die Geschichte überhaupt erzählt? Will der Autor den Leser
belehren, mahnen, aufklären, unterhalten, belustigen, manipulieren, zum
Handeln auffordern oder ... ?
Welche Einstellung des Autors zum Dargestellten wird erkennbar? Welche
Überzeugung, Erfahrung will er vermitteln?
Welche Zusammenhänge (historische, gesellschaftliche, ideologische,
politische ...) lässt der Text erkennen?
Wie stehen Entstehungszeit und Intention zueinander?
Andere Erschließungsmethoden
Bei der Erschließung der Kurzgeschichte von Kurt Marti haben wir eine Methode
kennengelernt, die man die „Block-Methode“ nennen könnte: Nacheinander werden
die Analyse-Blöcke (Inhalts-, Sprache- und Strukturanalyse) erarbeitet, wobei die
Reihenfolge nicht festgelegt ist.
Eine mögliche andere Methode ergibt sich, wenn man den jeweiligen Text zuerst in
kleinere Einheiten (Erzählschritte) unterteilt und dann diese Einheiten nach allen
Hinsichten (Struktur, Inhalt, Sprache) hin analysiert. Diese Methode beginnt also mit
einem Aspekt der Struktur, nämlich mit der Darstellung der Gliederung des Textes.
Die festgestellten Einzelteile des Textes können dann mit folgenden Leitfragen
analysiert werden:
1.
2.
3.
4.
Was wird inhaltlich dargestellt?
Wie ist das sprachlich-stilistisch gemacht?
Welche Strukturmerkmale sind eingesetzt?
Welche Funktion hat die Einheit (Erzählschritt, Abschnitt) für das Ganze?
Diese Vorgehensweise endet mit einer zusammenfassenden Darstellung der
Intention des gesamten Textes.
Eine weitere Methode konzentriert sich auf die inhaltlichen Schwerpunkte der
Erzählung und analysiert von diesen her die Darstellung. Im Überblick sieht diese
Methode etwa folgendermaßen aus:
1.
2.
3.
4.
Welche Inhaltsaspekte enthält die Erzählung?
Wie sind diese sprachlich dargestellt?
In welcher Struktur erscheinen die Inhaltsaspekte?
Welche Intention ergibt sich aus den Analysen?
198
Die vierte Methode, die noch kurz genannt werden soll, orientiert sich an den
Naturwissenschaften und arbeitet mit der Hypothesenbildung. Das bedeutet: Nach
dem Lesen der Erzählung stellt man eine Hypothese über die Aussageabsicht des
Textes auf und versucht diese dann durch die Analyse des Textes zu beweisen. Im
Überblick sieht diese Methode etwa so aus:
1. Welche Aussageabsicht könnte der Text verfolgen?
2. Wird meine Hypothese durch die Inhaltselemente bestätigt?
3. Bestätigt die Sprachverwendung meine Hypothese?
4. Bestätigen die Strukturelemente die Hypothese?
Diese Methode birgt – auch wenn sie auf den ersten Blick überzeugend erscheint –
eine große Gefahr: Bei der Analyse kann der Blick verengt werden auf die
bestätigenden Elemente, sodass alles andere übersehen wird.
Es mag noch viele andere Methoden der Textanalyse geben; alle müssen sich auf
den Text beziehen, denn der Text ist zunächst das Einzige, das dem Leser zur
Verfügung steht. Wenn man den Autor besser kennt, dessen Ideologie und
Zeithintergrund (und anderes), dann eröffnen sich noch andere Zugänge zum Text.
Die Analyse ändert sich dadurch aber nicht. Immer hat man es mit den drei
Dimensionen des Textes zu tun; sie bilden die Grundlage für die Analyse.
Nun wissen wir, dass schulische Darstellungsformen, also auch die Textanalyse,
besonders in Klausuren in der Regel dreiteilig angelegt sind, weil eine Klausur nicht
nur zielgerichtet (Erfassen der Intention), sondern auch adressatenbezogen
verfasst werden soll. Das bedeutet, dass der Adressat, der Leser der Klausur (nicht
nur die Lehrerin oder der Lehrer), geführt werden muss im Verständnis des
Dargestellten.
Diesem Zweck dienen u.a. die Einleitung und der abrundende Schluss. Einleitung
und Schluss bilden bei schulischen Darstellungsformen immer den Rahmen für die
eigentliche Aufgabe bzw. Arbeit.
Berücksichtigen wir diese verlangte Dreigliedrigkeit, dann können wir die
Anforderung der Texterschließung literarischer Texte in folgendem Schema
zusammenfassen:
199
Methodik der Texterschließung
(literarischer, vor allem epischer Texte)
I. Einleitung
1. Angaben zum Verfasser und zum Entstehungsjahr
2. Angaben zur Textsorte
3. Knappe inhaltliche Einordnung des Textes (Thema, Problem und
Zusammenhang)
II. Analyseteil
1. Inhaltsanalyse:
- Thematik, Problementfaltung
- Handlung, Handlungsgefüge
- Ort und Zeit der Handlung
- Personen und Personenkonstellation
- Personencharakteristik
2. Formanalyse
2.2. Strukturanalyse:
- Aufbau, Gliederung, Handlungssequenzen
- Höhepunkt, Wendepunkt, Spannungsbogen
- Erzählweise, Erzählperspektive
- Erzählzeit, erzählte Zeit
2.2. Sprachanalyse
- Semantik
- Syntax
- Stilistik
3. Interpretation
- Intention des Textes
- Zusammenhang zwischen Intention und Entstehungszeit
- Angaben zum ideologischen Standort des Autors
III. Schluss
-
Abrundung der Textanalyse, vielleicht durch die Wiederholung und
Ausweitung des wichtigsten Ergebnisses der Analyse oder durch
einen kurzen Hinweis auf Thema und Intention
eigene Stellungnahme zum Thema und Einordnung des
dargestellten Problems in einen übergeordneten, allgemeineren
Gesichtspunkt
200
Textsorte Kurzgeschichte
5
10
15
20
25
30
35
40
45
Die Tochter
Peter Bichsel
Abends warteten sie auf Monika. Sie arbeitete in der Stadt, die Bahnverbindungen sind schlecht. Sie, er und seine Frau, saßen am Tisch und warteten
auf Monika. Seit sie in der Stadt arbeitete, aßen sie erst um halb acht. Früher
hatten sie eine Stunde eher gegessen. Jetzt warten sie täglich eine Stunde
am gedeckten Tisch, an ihren Plätzen, der Vater oben, die Mutter auf dem
Stuhl nahe der Küchentür, sie warteten vor dem leeren Platz Monikas. Einige
Zeit später dann auch vor dem dampfenden Kaffee, vor der Butter, dem Brot,
der Marmelade.
Sie war größer gewachsen als sie, sie war auch blonder und hatte die Haut,
die feine Haut der Tante Maria. „Sie war immer ein liebes Kind", sagte die
Mutter, während sie warteten.
In ihrem Zimmer hatte sie einen Plattenspieler, und sie brachte oft Platten mit
aus der Stadt, und sie wusste, wer darauf sang. Sie hatte auch einen Spiegel
und verschiedene Fläschchen und Döschen, einen Hocker aus marokkanischem Leder, eine Schachtel Zigaretten.
Der Vater holte sich seine Lohntüte auch bei einem Bürofräulein. Er sah dann
die vielen Stempel auf einem Gestell, bestaunte das sanfte Geräusch der
Rechenmaschine, die blondierten Haare des Fräuleins, sie sagte freundlich
„Bitte schön", wenn er sich bedankte.
Über Mittag blieb Monika in der Stadt, sie aß eine Kleinigkeit, wie sie sagte, in
einem Tearoom. Sie war dann ein Fräulein, das in Tearooms lächelnd Zigaretten raucht.
Oft fragten sie sie, was sie alles getan habe in der Stadt, im Büro. Sie wusste
aber nichts zu sagen.
Dann versuchten sie wenigstens, sich genau vorzustellen, wie sie beiläufig in
der Bahn ihr rotes Etui mit dem Abonnement aufschlägt und vorweist, wie sie
den Bahnsteig entlang geht, wie sie sich auf dem Weg ins Büro angeregt mit
Freundinnen unterhält, wie sie den Gruß eines Herrn lächelnd erwidert.
Und dann stellten sie sich mehrmals vor in dieser Stunde, wie sie heimkommt,
die Tasche und ein Modejournal unter dem Arm, ihr Parfum; stellten sich vor,
wie sie sich an ihren Platz setzt, wie sie dann zusammen essen würden.
Bald wird sie sich in der Stadt ein Zimmer nehmen, das wussten sie, und dass
sie dann wieder um halb sieben essen würden, dass der Vater nach der Arbeit
wieder seine Zeitung lesen würde, dass es dann kein Zimmer mehr mit
Plattenspieler gäbe, keine Stunde des Wartens mehr. Auf dem Schrank stand
eine Vase aus blauem schwedischem Glas, eine Vase aus der Stadt, ein
Geschenkvorschlag aus dem Modejournal.
„Sie ist wie deine Schwester", sagte die Frau, „sie hat das alles von deiner
Schwester. Erinnerst du dich, wie schön deine Schwester singen konnte."
„Andere Mädchen rauchen auch", sagte die Mutter.
„Ja", sagte er, „das habe ich auch gesagt." - „Ihre Freundin hat kürzlich
geheiratet", sagte die Mutter
Sie wird auch heiraten, dachte er, sie wird in der Stadt wohnen.
Kürzlich hatte er Monika gebeten: „Sag mal etwas auf französisch." „Ja",
hatte die Mutter wiederholt, „sag mal etwas auf Französisch." Sie wusste aber
nichts zu sagen.
Stenografieren kann sie auch, dachte er jetzt. „Für uns wäre das zu schwer",
sagten sie oft zueinander.
201
50
Dann stellte die Mutter den Kaffee auf den Tisch. „Ich habe den Zug gehört",
sagte sie.
(aus: Bichsel, P.: Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen; Olten 1964)
Mittagspause
5
10
15
20
25
30
35
Wolf Wondratschek
Sie sitzt im Straßencafé. Sie schlägt sofort die Beine übereinander. Sie hat
wenig Zeit.
Sie blättert in einem Modejournal. Die Eltern wissen, dass sie schön ist. Sie
sehen es nicht gern.
Zum Beispiel. Sie hat Freunde. Trotzdem sagt sie nicht, das ist mein bester
Freund, wenn sie zu Hause einen Freund vorstellt.
Zum Beispiel. Die Männer lachen und schauen herüber und stellen sich ihr
Gesicht ohne Sonnenbrille vor.
Das Straßencafe ist überfüllt. Sie weiß genau, was sie will. Auch am
Nebentisch sitzt ein Mädchen mit Beinen.
Sie hasst Lippenstift. Sie bestellt einen Kaffee. Manchmal denkt sie an
Filme und denkt an Liebesfilme. Alles muss schnell gehen.
Freitags reicht die Zeit, um einen Cognac zum Kaffee zu bestellen. Aber
freitags regnet es oft.
Mit einer Sonnenbrille ist es einfacher, nicht rot zu werden. Mit Zigaretten wäre
es noch einfacher. Sie bedauert, dass sie keine Lungenzüge kann.
Die Mittagspause ist ein Spielzeug. Wenn sie nicht angesprochen wird, stellt
sie sich vor, wie es wäre, wenn sie ein Mann ansprechen würde. Sie würde
lachen. Sie würde eine ausweichende Antwort geben. Vielleicht würde sie
sagen, dass der Stuhl neben ihr besetzt sei. Gestern wurde sie angesprochen.
Gestern war der Stuhl frei. Gestern war sie froh, dass in der Mittagspause
alles sehr schnell geht.
Beim Abendessen sprechen die Eltern davon, dass sie auch einmal jung
waren. Vater sagt, er meine es nur gut. Mutter sagt sogar, sie habe eigentlich
Angst. Sie antwortet, die Mittagspause ist ungefährlich.
Sie hat mittlerweile gelernt, sich nicht zu entscheiden. Sie ist ein Mädchen wie
andere Mädchen. Sie beantwortet eine Frage mit einer Frage.
Obwohl sie regelmäßig im Straßencafe sitzt, ist die Mittagspause
anstrengender als Briefe schreiben. Sie wird von allen Seiten beobachtet. Sie
spürt sofort, dass sie Hände hat.
Der Rock ist nicht zu übersehen. Hauptsache, sie ist pünktlich.
Im Straßencafe gibt es keine Betrunkenen. Sie spielt mit der Handtasche
Sie kauft jetzt keine Zeitung.
Es ist schön, dass in jeder Mittagspause eine Katastrophe passieren könnte.
Sie könnte sich sehr verspäten. Sie könnte sich sehr verlieben. Wenn keine
Bedienung kommt, geht sie hinein und bezahlt den Kaffee an der Theke.
An der Schreibmaschine hat sie viel Zeit, an Katastrophen zu denken.
Katastrophe ist ihr Lieblingswort. Ohne das Lieblingswort wäre die
Mittagspause langweilig.
(aus: Wondratschek, Früher begann der Tag mit einer Schusswunde, München 1969)
202
Ein Verkehrsunfall
Robert Musil
Die beiden Menschen, die eine breite, belebte Straße hinaufgingen, gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren vornehm in Kleidung,
Haltung und in der Art, wie sie miteinander sprachen, trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche gestickt, und ebenso, das heißt
5 nicht nach außen gekehrt, wohl aber in der feinen Unterwäsche ihres Bewusstseins, wussten sie, wer sie seien und dass sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze befanden.
Diese beiden hielten nun plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich einen Auflauf
bemerkten. Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprun10 gen, eine querschlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts
gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich zeigte, wo
er, mit einem Rad auf der Bordschwelle, gestrandet dastand. Wie die Bienen um
das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den
sie in ihrer Mitte freiließen.
15 Von seinem Wagen herabgekommen, stand der Lenker darin, grau wie
Packpapier, und erklärte mit groben Gebärden den Unglücksfall. Die Blicke der
Hinzukommenden richteten sich auf ihn und sanken dann vorsichtig in die Tiefe
des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag, an die Schwelle des
Gehsteigs gebettet hatte. Er war durch seine eigene Unachtsamkeit zu Schaden
20 gekommen, wie allgemein zugegeben wurde. Abwechselnd knieten Leute bei
ihm nieder, um etwas mit ihm anzufangen; man öffnete seinen Rock und schloss
ihn wieder, man versuchte ihn aufzurichten oder im Gegenteil, ihn wieder
hinzulegen; eigentlich wollte niemand etwas anderes damit, als die Zeit ausfüllen,
bis mit der Rettungsgesellschaft sachkundige und befugte Hilfe käme.
25 Auch die Dame und ihr Begleiter waren herangetreten und hatten, über Köpfe
und gebeugte Rücken hinweg, den Daliegenden betrachtet. Dann traten sie
zurück und zögerten. Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-MagenGrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein unentschlossenes,
lähmendes Gefühl; Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: „Diese
30 schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen
Bremsweg“. Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem
aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort wohl schon manchmal gehört, aber
sie wusste nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte es auch nicht wissen; es
genügte ihr, dass damit dieser grässliche Vorfall in irgendeine Ordnung zu
35 bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr
unmittelbar anging'. Man hörte jetzt auch schon die Pfeife eines Rettungswagens
schrillen, und die Schnelligkeit seines Eintreffens erfüllte alle Wartenden mit
Genugtuung. Bewundernswert sind diese sozialen Einrichtungen. Man hob den
Verunglückten auf eine Tragbahre und schob ihn mit dieser in den Wagen.
40 Männer in einer Art Uniform waren um ihn bemüht, und das Innere des
Fuhrwerks, das der Blick erhaschte, sah so sauber und regelmäßig wie ein
Krankensaal aus. Man ging fast mit dem berechtigten Eindruck davon, dass sich
ein gesetzliches und ordnungsgemäßes Ereignis vollzogen habe. ,;Nach den
amerikanischen Statistiken", so bemerkte der Herr, „werden dort jährlich durch
45 Autos 190000 Personen getötet und 450000 verletzt."
„Meinen Sie, dass er tot ist'" fragte seine Begleiterin und hatte noch immer das
unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben. ;Ich hoffe, er lebt", erwiderte der Herr. „Als man ihn in den Wagen hob, sah es ganz so aus.
(aus: Musil, R.: Der Mann ohne Eigenschaften; Hamburg 1952)
203
Hobbyraum
Marie Luise Kaschnitz
Meine Söhne, sagt Herr Fahrenkamp, sind wortkarg genug. Ich frage sie
dieses und jenes, ich bin kein Unmensch, es interessiert mich, was die Jugend
denkt, schließlich war man selbst einmal jung. Wie soll nach eurer Ansicht die
Zukunft aussehen, frage ich und bekomme keine Antwort, entweder meine
5 Söhne wissen es selber nicht oder sie wollen sich nicht festlegen, es soll alles
im Fluss bleiben, ein Fluss ohne Ufer sozusagen, mir geht das auf die Nerven,
offen gesagt. Darüber, was es nicht mehr geben soll, äußern sich meine
Söhne freimütiger, auch darüber, wen es nicht mehr geben soll, den Lehrer,
den Richter, den Unternehmer, alles Leute, die unseren Staat aufgebaut
10 haben, in größtenteils demokratischer Gesinnung, aus dem Nichts, wie man
wohl behaupten kann, und das ist jetzt der Dank. Schön und gut, sagen meine
Söhne, aber Ihr habt etwas versäumt, und ich frage, was wir versäumt haben,
die Arbeiter sind zufrieden, alle Leute hier sind satt und zufrieden und was
gehen uns die Einwohner von Bolivien an. Ihr habt etwas versäumt, sagen
15 meine Söhne und gehen hinunter in den Hobbyraum, den ich ihnen vor
kurzem habe einrichten lassen. Was sie dort treiben, weiß ich nicht. Meine
Frau meint, dass sie mit Bastelarbeiten für Weihnachten beschäftigt sind.
(aus: Kaschnitz, Marie Luise: Steht noch dahin. Neue Prosa; Frankfurt a.M. 1970, S.171)
Ein ruhiges Haus
5
10
15
20
Marie-Luise Kaschnitz
Ein ruhiges Haus, sagen Sie? Ja, jetzt ist es ein ruhiges Haus. Aber noch vor
kurzem war es eine Hölle. Über uns und unter uns Familien mit kleinen
Kindern, stellen Sie sich das vor. Das Geheul und Geschrei, die Streitereien,
das Trampeln und Scharren der kleinen zornigen Füße. Zuerst haben wir nur
den Besenstiel gegen den Fußboden und gegen die Decke gestoßen. Als das
nichts half, hat mein Mann telefoniert. Ja, entschuldigen Sie, haben die Eltern
gesagt, die Kleine zahnt, oder die Zwillinge lernen gerade laufen. Natürlich
haben wir uns mit solchen Ausreden nicht zufrieden gegeben. Mein Mann hat
sich beim Hauswirt beschwert, jede Woche einmal, dann war das Maß voll.
Der Hauswirt hat den Leuten oben und den Leuten unten Briefe geschrieben
und ihnen mit der fristlosen Kündigung gedroht.
Danach ist es gleich besser geworden. Die Wohnungen hier sind nicht allzu
teuer, und diese jungen Ehepaare haben gar nicht das Geld, umzuziehen.
Wie sie die Kinder zum Schweigen gebracht haben? Ja, genau weiß ich das
nicht. Ich glaube, sie binden sie jetzt an den Bettpfosten fest, so dass sie nur
kriechen können. Das macht weniger Lärm. Wahrscheinlich bekommen sie
starke Beruhigungsmittel. Sie schreien und juchzen nicht mehr, sondern
plappern nur noch vor sich hin, ganz leise, wie im Schlaf. Jetzt grüßen wir die
Eltern wieder, wenn wir ihnen auf der Treppe begegnen. Wie geht es den
Kindern, fragen wir sogar. Gut, sagen die Eltern. Warum sie dabei Tränen in
den Augen haben, weiß ich nicht.
(aus: Kaschnitz, Marie Luise: Steht noch dahin. Neue Prosa; Frankfurt a.M. 1970, S.171)
204
DAS TROCKENDOCK
5
10
15
20
25
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35
40
45
Stefan Andres
Das erste Trockendock in Toulon, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts von
einem Ingenieur namens Grognard erbaut wurde, verdankt seinen Ursprung
einer merkwürdigen Begebenheit. Schauplatz war ein Seearsenal, im
eigentlichen Sinne aber das Gesicht eines Galeerensträflings - das Antlitz
eines für einen Augenblick um seine Freiheit verzweifelt ringenden Menschen.
Bevor es den von Grognard erbauten Wasserbehälter gab, der mit seinem
steigenden Spiegel das Schiff in den Fluss hinausschob, war es üblich, dass
ein Galeerensträfling die letzten Dockstützen des vom Stapel laufenden
Schiffes, freilich unter Lebensgefahr, wegschlug, worauf dann im gleichen
Augenblick der Koloss donnernd und mit funkenstiebendem Kiel ins Wasser
schoss. Gelang es dem die Stützen fortschlagenden gefangenen Manne, nicht
nur dem Schiff die erste Bewegung zu geben, sondern auch sich selbst mit
einem gedankenschnellen riesigen Satz aus der Nachbarschaft des herabrutschenden hölzernen Berges zu bringen, dann war er im gleichen Augenblick in seine Freiheit und in ein neues Leben gesprungen; gelang es ihm
nicht, blieb von seinem Körper nichts übrig als eine schleimige Blutspur.
Der Ingenieur Grognard, der sich erstmalig zu einem solchen Stapellauf eingefunden hatte, ergötzte seine Augen an den übrigen festlichen Gästen auf den
Tribünen und ließ, ganz den düsteren und ehernen Wundern des Arsenals
hingegeben, den Silberknauf seines Stockes zu den immer neuen Märschen
mehrerer Militärkapellen auf die hölzerne Balustrade fallen, wo er sich mit
andern Ehrengästen befand. Die Kommandos gingen in der Musik unter,
gleichwohl bewegten sich die Arbeiter, die freien und die Sträflinge, des
gewohnten Vorgangs wie stumme Ameisen kundig, mit Tauen und Ketten und
Stangen hantierend, als hinge ein jeder an einem unsichtbaren Faden.
Grognard hatte einen der besten Plätze, er stand dem Bug, etwa fünfzig
Schritt entfernt, gerade gegenüber. Wiewohl er vom Hörensagen wusste, auf
welch gefährliche Weise man das Schiff flottmachte und ins Wasser ließ, so
hatte er sich doch nicht den Vorgang aus den Worten in eine deutliche
Vorstellung überführt. Ja, er war sogar unbestimmt der Ansicht, dass es
menschlich und gut sei, wenn ein ohnehin verwirktes Leben durch einen
kühnen Einsatz sich entweder für die Allgemeinheit nützlich verbrauche oder
für sich selber neu beginne. Nun aber, als endlich die Stützen am Schiffsrumpf
alle bis auf die am Bug fortgenommen; als die Arbeiter zurückkommandiert und
die Matrosen an Bord gegangen waren; als schließlich die Musik mit ihren in
die Weite schreitenden Takten plötzlich abbrach; als nur noch ein Trommelwirbel dumpf und knöchern gegen die düsteren Mauern des Arsenals anrollte –
und verstummte -, da kam ein einzelner Mann in seiner roten Sträflingsjacke
mit den schweren hufnagelbeschlagenen Schuhen über das Pflaster gegen
das Schiff geschlurft. Er trug einen riesigen Zuschlaghammer in der Hand, der
zuerst herabhing, dann, je näher der Mann dem schwarzen Schiffsbauch kam,
sich zögernd hob und, als seine winzige Gestalt der Fregatte so nahe war,
dass ihr gewölbter Rumpf ihn wie ein schwarzer Fittich überschattete, einmal
pickend und vorsichtig pochend eine Stütze berührte, schließlich aber in der
Hand des Mannes auf dieselbe Weise herabhing.
205
50
55
60
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95
Es lag eine gefährliche Stille über der Fregatte und den Zuschauern. Grognard
bemerkte, dass er zitterte und mit dem Silberknauf seines Stockes die vorsichtig antastende Bewegung des Zuschlaghammers mitgetan hatte. Und als ob
dieses winzige Geräusch des Stockes sein Ohr erreicht hätte, - der Sträfling
wandte sich plötzlich wie hilfesuchend um. Grognard konnte die Nummer an
der grünfarbenen Mütze des lebenslänglich Verurteilten lesen - es war die
Nummer 3222 - und zugleich mit der Zahl und wie durch sie hindurch sah er
das zitternde Lächeln, in welchem der Sträfling seine Zähne entblößte und
einmal langsam die Augen verdrehte, als wollte er Schiff, Zuschauer, Mauern
und Himmel mit diesem einen Blick gierig verschlingen. Aber sofort wandte er
sich wieder dem Schiff zu - mit einem Ruck, so als könnte die Fregatte etwa
hinter ihm arglistig ohne sein Zutun entrinnen. Einen Atemzug lang blieb er
regungslos stehen, den Hammer gesenkt, dann hob er ihn langsam... Es ging
ein Stöhnen über den Platz, man wusste nicht, kam es aus dem Publikum,
dem ächzenden Gebälk des Schiffes oder der Brust des Mannes, der im
gleichen Augenblick zuschlug: einmal, zweimal, hin- und herspringend,
gelenkig wie ein Wiesel und wild wie ein Stier, und dreimal zuschlug und
viermal-, man zählte nicht mehr. Das Schiff knackte, mischte seine vom
Hammer geweckte Stimme in dessen Schläge - und da, als noch ein Schlag
kam, sprang es mit einem Satz vor, und auch der Mann sprang, den Hammer
wie in Abwehr gegen den plötzlich bebenden Schiffsrumpf werfend, sprang
noch einmal, blieb aber, als nun alles aufschrie, das Gesicht in den Händen,
stehen, wie ein Mensch im Traum - und der Schiffsrumpf rüttelte zischend und
dröhnend über ihn fort.
Dieser Vorgang, der nur wenige Atemzüge lang gedauert hatte, löste einen
brünstigen vieldeutigen Schrei aus, der hinter der Fregatte herschnob - über
die blutige Spur fort, die. alsbald einige Sträflinge mit Sand zu tilgen kamen.
Auch Grognard hatte im allgemeinen Jubel einen Schrei getan und mit dem
Schrei zugleich einen Schwur. Dieser Schwur aber enthielt im ersten Augenblick seines Entstehens einen Kern: und in diesem barg sich das Bild eines
Trockendocks.
Als hätte er gewusst, dass seine Lächerlichkeit damit besiegelt sei, wenn er
die eigentliche Triebkraft zu diesem Plan enthüllte: er führte nur Beweggründe
ins Feld, die das öffentliche Wohl und den Fortschritt betrafen. Und als endlich
trotz aller Widerstände das Dock mit Becken und Schleusentor fertig war,
geschah es, dass der Urheber, der sich nun von jenem zwischen Hoffnung
und Todesangst verzerrten Lächeln des Galeerensträflings erlöst glaubte, von
einem Gefangenen mit einem Hammer niedergeschlagen wurde - es war, als
Grognard gerade den Platz am Trockendock überschritt. Der Gefangene trug
die grüne Wollmütze der Lebenslänglichen und schleppte seine Kette
gemächlich hinter sich her. Eine Weile war er um Grognard in immer enger
werdenden Kreisen langsam herumgegangen, bis er schließlich vor ihm stand.
Grognard sah offenbar zuerst nur die Mütze und die Nummer daran, bei deren
Anblick er wie über einer geheimnisvollen Zahl jäh erstarrte. Doch da schrie
auch schon der Mensch, seinen Hammer schwingend: „Das ist der Mann des
Fortschritts, der uns den Weg zur Freiheit nahm! Zur Hölle mit dir!" Die
herbeieilenden Wachen, die sich des Sterbenden annahmen, sahen, wie der
noch einmal die Augen aufschlug und hörten, wie er mit einer Stimme, die
voller Verwunderung schien, flüsterte: „Ah -3222 - Pardon - ich habe mich
geirrt!“
(aus: Andres, Stefan: Die Verteidigung der Xantippe. Zwölf Geschichten. München 1962)
206
Kompakt
Gabriele Wohmann
„Das Meer ist fast grün", sagte die amerikanische Kusine Susan. „Wie
gestern", sagte Lore. „Langweilig, langweilig", sagte Meline. Es war gegen
zwei und zu heiß. Die drei Frauen lagen im Schattenparallelogramm, das die
Badehütte nach Norden warf. „Mir fällt kein so heißer Sommer ein", sagte
Meline. „Bloß gut für die Kinder." „Sie spielen nett", sagte Susan. Wieder
ärgerten sich die beiden andern über ihren Singsang. Lore machte die Augen
zu. Meline starrte über ihr Buch weg in Richtung Meer. Winzig vor dessen
Blaugrün die Kinder. Mickey, Fredchen, Babette - sie zählte nur drei, oder nur
bis drei, kam nicht weiter, döste vielleicht ein, und fuhr dann fort zu lesen. „Es
sind aber nur drei", sagte Susan laut. „Ich seh nur drei Kinder." Lore seufzte.
Sie war nie mehr richtig wach, seit sie hier waren. Seit Alfreds Abschiedskuss
am Hafen. Oder schon früher. Diese Hitze, die sich gleich blieb. Sie wälzte
sich auf den Bauch. Meline legte das Buch weg und nutzte die Gelegenheit,
unbehelligt Lores Krampfader zu beäugen, befriedigt gewann sie den
hässlichen Eindruck. „Sie schaufeln und schaufeln", sagte Susan. „Ich seh nur
drei von ihnen." „Gäb's nur Regen", sagte Lore, sie machte ihren Unterarm
nass dabei, schmeckte Schweiß auf der sandigen Zunge.
„He, steh nicht rum, Fred, die Stelle muss noch dichter werden." Mickey
schnaubte vor Anstrengung und Stolz. Mickey war ein Angeber, fand Fred. Er
merkte auf einmal, dass das hier nicht gut für ihn war. Seit dem Scharlach
wurde ihm jetzt manchmal schlecht, wenn er sich anstrengte. Er hatte auf
einmal Angst, wovor? Mickey gab ihm einen leichten Stoß. Er hieb wieder
sein Schaufelblatt in den Sand. Aber er sah gar nicht mehr richtig.
„Du, Lore", rief Susan, „Meline! Ich seh das Evchen überhaupt nicht." Susan
stand auf. Ihr erschrockenes und kühles Gesicht reizte die beiden andern.
„Letzter Schliff, so!" sagte Mickey. Der Berg war plattgeklopft, er war
kompakt, sein Fundament zuverlässig. Auf dem Gipfel eine Mütze aus Tang.
Fredchen fühlte sich wieder wohler und stellte sich eifrig neben den tüchtigen
Mickey. Jetzt war Babette niedergeschlagen. Bloß diese zwei Bösewichter
zum Spielen. Sie spielte viel lieber mit Evchen. Liebes weiches zusammengekauertes Evchen tief unten im Sandberg. Wie lang war's noch bis zur Flut?
(aus: Wohmann, Gabriele: Habgier. Düsseldorf 1973)
San Salvador
I
II
III
IV
Peter Bichsel
Er hatte sich eine Füllfeder gekauft.
Nachdem er mehrmals seine Unterschrift, dann seine Initialen, seine Adresse,
einige Wellenlinien, dann die Adresse seiner Eltern auf ein Blatt gezeichnet
hatte, nahm er einen neuen Bogen, faltete ihn sorgfältig und schrieb: „Mir ist
es hier zu kalt", dann „ich gehe nach Südamerika", dann hielt er inne,
schraubte die Kappe auf die Feder, betrachtete den Bogen und sah, wie die
Tinte eintrocknete und dunkel wurde (in der Papeterie garantierte man, dass
sie schwarz werde), dann nahm er seine Feder erneut zur Hand und setzte
noch großzügig seinen Namen Paul darunter.
Dann saß er da.
Später räumte er die Zeitungen vom Tisch, überflog dabei die Kinoinserate,
dachte an irgendetwas, schob den Aschenbecher beiseite, zerriss den Zettel
207
mit den Wellenlinien, entleerte die Feder und füllte sie wieder. Für die
Kinovorstellung war es jetzt zu spät.
V Die Probe des Kirchenchores dauert bis neun Uhr, um halb zehn würde
Hildegard zurück sein. Er wartete auf Hildegard. Zu all dem Musik aus dem
Radio. Jetzt drehte er das Radio ab.
VI Auf dem Tisch, mitten auf dem Tisch, lag nun der gefaltete Bogen, darauf
stand in blauschwarzer Schrift sein Name Paul.
VII „Mir ist es hier zu kalt", stand auch darauf.
VIII Nun würde also Hildegard heimkommen, um halb zehn. Es war jetzt neun
Uhr. Sie läse seine Mitteilung, erschräke dabei, glaubte wohl das mit
Südamerika nicht, würde dennoch die Hemden im Kasten zählen, etwas
IX müsste ja geschehen sein.
X Sie würde in den „Löwen" telefonieren.
XI Der „Löwen" ist mittwochs geschlossen.
XII Sie würde lächeln und verzweifeln und sich damit abfinden, vielleicht.
XIII Sie würde sich mehrmals die Haare aus dem Gesicht streichen, mit dem
Ringfinger der linken Hand beidseitig der Schläfe entlang fahren, dann
langsam den Mantel aufknöpfen.
XIV Dann saß er da, überlegte, wem er einen Brief schreiben könnte, las die
Gebrauchsanweisung für den Füller noch einmal - leicht nach rechts drehen –
las auch den französischen Text, verglich den englischen mit dem deutschen,
sah wieder seinen Zettel, dachte an Palmen, dachte an Hildegard.
XV
Saß da.
XVI Und um halb zehn kam Hildegard und fragte: „Schlafen die Kinder? "
XVII Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.
(aus: Bichsel, Peter: Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen; Olten 1964)
Katzenpfote
Sarah Kirsch
Sarah Kirsch wurde 1935 in Limlingerode (Harz) geboren. Auf das Studium Biologie
und Literatur folgte die Arbeit in verschiedenen Betrieben der damaligen DDR, bevor
sie zur freien Schriftstellerin wurde. Sie schrieb zunächst Gedichte mit sozialistischer
Thematik, später Natur- und Liebeslyrik. 1976 wurde sie wegen ihrer Beteiligung am
Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann (vgl. S. 304 £)
aus dem Schriftstellerverband der damaligen DDR ausgeschlossen, stellte einen
Ausreiseantrag und übersiedelte 1977 nach Berlin (West), später nach
Norddeutschland. Als Lyrikerin und Autorin kurzer Prosa gewann sie mehrere
Literaturpreise.
5
So viele verschiedene Existenzformen ich hatte, vielleicht würde ich gerne
noch einmal durch die ihnen zugeordneten Wohnungen geh’n. Allen
gemeinsam wäre ein Straußenei, welches ich immer mitnahm wohin es auch
ging. Man kann daraus schließen dass es mir besonders am Herzen lag aber
das stimmt ebenso wenig wie es zu leugnen ist. Beeindruckt hat es mich wohl
ob seiner Exotik und von den Hühnereiern fortgeführt zeit meines Lebens.
Aber jetzt zu den Wohnungen hin. Zuerst in die Wehrstedter Straße wo die
Kindheit angestammt ist: ach da liefe ich gleich durch den
Schneeglöckchengarten, den Hausflur wo unter der Treppe der Abdruck eine
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10
Katzenpfote im roten Zementfußboden eingegraben ist. Könnte auch sein ich
stiege in den Apfelkeller des Großvaters hinab, das Gruseln im Nacken dass
die Falltüre zuschlagen könnte, ich bin auf ewig gefangen. Oder ich schliche
die weißgescheuerte seidige Treppe wie jetzt noch im Traum hinauf, an Türen
vorüber hinter denen sowohl die Eltern eines SS-Mitgliedes als auch die eines
15 Jungkommunisten wohnten, und weder der eine noch andere kehrte wieder. In
unserer Wohnung hörte ich in der Ofenecke unter hohlgelegten Dielen die
jungen Ratten wispern und schreien während die Standuhr ihre Bemerkungen
macht. Im Kleiderschrank befände sich der rot-weiß-gestreifte Beutel mit
dunkelgelbem Rohzucker, der so merkwürdig verzögert zusammenrutscht,
20 wenn ich mich mit einer Puppentasse bediene. Meine anderen Wohnungen
aber möchte ich sie wirklich betreten? Die gekachelte Herrschaftsküche in H.
mit dem Geruch der Weinkelterei? Da stand ich am Fenster und schaute über
die Dächer in den Schneehimmel hinein, der Architektentüll riss mir die Brust
auf. Ich schlich an seinem Arbeitszimmer vorüber, keine Lust auf Gespräche.
25 Oder schnell in die Wohnmaschine Fischerinsel mal rein- da fällt mir ne
Gänsehaut zu und das Würgen sitzt mir im Hals. Mobilität ist mein Segen
gewesen. Um Gottes Willen, wäre ich dort oder bei Schlesisch Himmelreich
oder Prins Herzlos2 geblieben, nicht auszumalen. Sind mir darüber Flügel
gewachsen und eines Tages war ich ein Schwan, auf und davon. Unhaltbar im
30 sozialistischen Vaterland noch.
Kein Verständnis für Beton, niemals und nirgends.
__________
1 Prins Herzlos: Phantasiefigur in Sarah Kirschs Prosa; erinnert an „Märchenprinz` und „Prinz Eisenherz"
(aus: Kirsch, Sarah: Schwingrasen; Stuttgart 1991)
Die Klavierstunde
5
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Gabriele Wohmann
Das hatte jetzt alles keine Beziehung zu ihm: die flackernden Sonnenkleckse
auf dem Kiesweg, das Zittern des Birkenlaubs; die schläfrige Hitze zwischen
den Hauswänden im breiten Schacht der Straße. Er ging da hindurch (es war
höchstens eine feindselige Beziehung) mit hartnäckigen kleinen Schritten. Ab
und zu blieb er stehen und fand in sich die fürchterliche Möglichkeit, umzukehren, nicht hinzugehen. Sein Mund trocken vor Angst: er könnte wirklich so
etwas tun. Er war allein; niemand, der ihn bewachte. Er könnte es tun. Gleichgültig, was daraus entstünde. Er hielt still, sah finster geradeaus und saugte
Spucke tief aus der Kehle. Er brauchte nicht hinzugehen, er könnte sich widersetzen. Die eine Stunde möglicher Freiheit wog schwerer als die mögliche
Unfreiheit eines ganzen Nachmittags. Erstrebenswert: der ungleiche Tauschhandel; das einzig Erstrebenswerte jetzt in dieser Minute. Er tat so, als
bemerke er nichts davon, dass er weiterging, stellte sich überrascht, ungläubig. Die Beine trugen ihn fort, und er leugnete vor sich selbst den Befehl ab,
der das bewirkte und den er gegeben hatte.
Gähnend, seufzend, streckte sie die knochigen Arme, ballte die sehr dünnen
Hände zu Fäusten; sie lag auf der Chaiselongue. Dann griff die rechte Hand
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tastend an die Wand, fand den Bilderrahmen, in dem der Stundenplan steckte;
holte ihn, hielt ihn vor die tränenden Augen. Owehowehoweh. Die Hand
bewahrte den sauber geschriebenen Plan wieder zwischen Bild und Rahmen
auf; müde, renitent hob sich der Oberkörper von den warmen Kissenmulden.
Owehowehoweh. Sie stand auf; empfand leichten Schwindel, hämmernde
Leere hinter der faltigen Stirnwand; setzte sich wieder, den nassen Blick starr,
freudlos auf das schwarze Klavier gerichtet. Auf einem imaginären Bildschirm
hinter den Augen sah sie den Deckel hochklappen, Notenhefte sich voreinanderschieben auf dem Ständer; verschwitzte Knabenfinger drückten fest und
gefühllos auf die geblichen Tasten, die abgegriffenen; erzeugten keinen Ton.
Eins zwei drei vier, eins zwei drei vier. Der glitzernde Zeiger des Metronoms
pendelte beharrlich und stumm von einer auf die andere Seite seines düsteren
Gehäuses. Sie stand auf, löschte das ungerufene Bild. Mit der Handfläche
stemmte sie das Gewicht ihres Arms gegen die Stirn und schob die lappige
lose Haut in die Höhe bis zum Haaransatz. Owehoweh. Sie entzifferte die
verworrene Schrift auf dem Reklameband, das sich durchs Halbdunkel ihres
Bewusstseins schob: Kopfschmerzen. Unerträgliche. Ihn wegschicken. Etwas
Lebendigkeit kehrte in sie zurück. Im Schlafzimmer fuhr sie mit dem kalten
Waschlappen über ihr Gesicht.
Brauchte nicht hinzugehen. Einfach wegbleiben. Die Umgebung wurde
vertraut: ein Platz für Aktivität. Er blieb stehen, stellte die schwere Mappe mit
den Noten zwischen die Beine, die Schuhe klemmten sie fest. Ein Kind rollerte
vorbei; die kleinen Räder quietschten; die abstoßende Ledersohle kratzte den
Kies. Nicht hingehen, die Mappe loswerden und nicht hingehen. Er wusste,
dass er nur die Mappe loszuwerden brauchte. Das glatte warme Holz einer
Rollerlenkstange in den Händen haben. Die Mappe ins Gebüsch schleudern
und einen Stein in die Hand nehmen oder einen Zweig abreißen und ihn
tragen, ein Baumblatt mit den Fingern zerpflücken und den Geruch von Seife
wegbekommen.
Sie deckte den einmal gefalteten Waschlappen auf die Stirn und legte den
Kopf, auf dem Bettrand saß sie, weit zurück, bog den Hals. Noch mal von
vorne. Und eins und zwei und eins. Die schwarze Taste, b, mein Junge. Das
hell beschriftete Reklameband erleuchtete die dämmrigen Bewusstseinskammern: Kopfschmerzen. Ihn wegschicken. Sie saß ganz still, das nasse
Tuch beschwichtigte die Stirn; sie las den hoffnungsweckenden Slogan.
Feucht und hart der Lederhenkel in seiner Hand. Schwer zerrte das Gewicht
der Hefte: jede einzelne Note hemmte seine kurzen Vorwärtsbewegungen.
Fremde Wirklichkeit der Sonne, die aus den Wolkenflocken zuckte, durch die
Laubdächer flackerte, abstrakte Muster auf den Kies warf, zitterndes
Gesprenkel. Ein Kind; eine Frau, die bunte Päckchen im tiefhängenden Netz
trug; ein Mann auf dem Fahrrad. Er lebte nicht mit ihnen.
Der Lappen hatte sich an der Glut ihrer Stirn erwärmt: und nicht mehr tropfig
hörte er auf, wohl zu tun. Sie stellte sich vor den Spiegel, ordnete die grauen
Haarfetzen. Im Ohr hämmerte der jetzt auch akustisch wirkende Slogan.
Die Mappe loswerden. Einfach nicht hingehen. Seine Beine trugen ihn
langsam, mechanisch in die Nähe der efeubeklecksten Villa.
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Kopfschmerzen, unerträgliche. Sie klappte den schwarzen Deckel hoch;
rückte ein verblichenes Foto auf dem Klaviersims zurecht; kratzte mit dem
Zeigefingernagel ein trübes Klümpchen unter dem Daumennagel hervor.
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Hinter dem verschnörkelten Eisengitter gediehen unfarbige leblose Blumen
auf winzigen Rondellen, akkuraten Rabatten. Er begriff, dass er sie nie wie
wirkliche Pflanzen sehen würde.
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Auf den dunklen steifen Stuhl mit dem Lederpolster legte sie das grüne,
schwach gemusterte Kissen, das harte, platte. Sah dem imaginären
Bildschirm die länglichen Dellen, die seine nackten Beine zurückließen.
Einfach nicht hingehen. Das Eisentor öffnete sich mit jammerndem Kreischlaut
in den Angeln.
75 Kopfschmerzen, unerträgliche. Wegschicken. Widerlicher kleiner Kerl.
Die Mappe loswerden, nicht hingehen. Widerliche alte Tante.
Sie strich mit den Fingern über die Stirn. Die Klingel zerriss die Leuchtschrift,
übertönte die Lockworte.
„Guten Tag", sagte er. „Guten Tag", sagte sie. Seine (von wem nur
80 gelenkten?) Beine tappten über den dunklen Gang; seine Hand fand den
messingnen Türgriff. Sie folgte ihm und sah die nackten braunen Beine, platt
und breit werden auf dem grünen Kissen; sah die geschrubbten Hände Hefte
aus der Mappe holen, sie auf den Ständer übereinanderschieben. Schrecken
in den Augen, Angst vibrierte im Hals. Sie öffnete das Aufgabenbuch, las:
85 erinnerte mit dem (von wem nur gelöschten?) Bewusstsein. Eins zwei drei
vier. Töne erzeugten seine steifen Finger; das Metronom tickte laut und
humorlos.
(aus: Wohmann, Gabriele: Erzählungen. München 1966)
Das Henkersmahl
Herbert Heckmann
Fress ich mich arm: und sauff mich zu tod,
so hab ich gewiss gewalt über den Tod.
Johann Fischart
Auf die Frage, welches sein letzter Wunsch sei, antwortete er, ohne
Umschweife, er wolle sich noch einmal satt essen, ehe man ihn vom Leben in
den Tod bringe. „Satt", wiederholte er und deutete auf seinen mageren Leib,
der krumm und mit Schwären überdeckt an der Kerkermauer lehnte. „Satt",
5 sagte er zum dritten Mal und hob die Hände mit den Ketten bis zur
Mundhöhe. Die Wächter lachten übermütig und versprachen ihm ein
fürstliches Mahl mit
silbernen Löffeln und Gabeln, die er jedoch dann nicht mehr stehlen könne.
„Wir werden dir etwas auftischen, dass du weißt, was du in der Hose hast."
Sie ergingen sich in saftigen Schilderungen opulenter Speisen, dass dem
10 Delinquenten das Wasser im Munde zusammenlief. Sie priesen das Spanferkel, den Ochsen am Spieß, die fetten Hämmel, gebratene Tauben und
Kapaune - und stießen sich an, wenn ihr Opfer die Augen lüstern verdrehte.
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„Macht schon!"
Wieder mit sich allein, hatte der zum Tode Verurteilte plötzlich die Vorstellung,
alles, ja rundherum alles, sei essbar, er presste den Mund an die Mauer und
riss sich die Lippen blutig. Kraftlos sank er auf sein Lager zurück und träumte
von offenen Mündern.
Als sie ihn dann zum Essen weckten, konnte er kaum den Löffel führen. Sein
Kopf sank bis in Tellernähe, und der Dampf von sauren Kutteln stieg in seine
Nase. Die Wächter hockten sich vor ihm hin und beobachteten, wie er erst
langsam und zittrig, dann zuversichtlicher den Löffel handhabte, die Backen
vollstopfte und versonnen kaute, mit jedem Bissen mehr Übersicht gewinnend.
Bald war der Teller leer, der Humpen vakant, das Maul gewischt, aber der
Hunger ungebrochen. Um mehr bat er und streckte seine Glieder, sodass die
Ketten klirrten.
„Es sei dir gewährt", sagten die Wächter und brachten neue Schüsseln herbei
und jungfräuliche Flaschen. Sie lachten, als sie das tapfere Zupacken ihres
Opfers sahen, wetteten untereinander, wie viel er noch verschlingen könne.
„Es gilt."
Und es galt, er kaute, schluckte, rülpste und schnaufte. „Tapfer!" schrieen sie.
„Mehr!" sagte er und aß, was ihm vorgesetzt wurde, aß und aß. „Er wird uns
noch die Haare vom Kopfe fressen." Aber sehr bald wurde ihre Freude
kleinlauter. Längst schon waren die Ketten von seinen Händen und Füßen
gesprungen, sein Leib dehnte sich, schon aß er mit der Wildheit eines
Scheunendreschers und wuchs zur Decke hin. Der Schemel krachte unter ihm
zusammen. In furchtbarer Nacktheit stand er da. Die Wächter flohen aus der
Zelle, aber unverdrossen aß er weiter und zwang seine Bewacher, ihm immer
mehr aufzutischen, sei es, was es wolle. Sie taten es ängstlich und blieben
außer Reichweite seines Löffels, zitterten, wenn er vor Hunger schrie.
Die Decke barst über seinem Kopf, das Dach brach auseinander, es
kümmerte ihn wenig, er aß. Seine Wächter verschlang er mit den Trümmern,
er verschlang Straßen und Häuser, den Richter samt seiner Frau, spülte sie
mit dem Fluss hinunter. Sein Adamsapfel hatte die Größe einer Kirchglocke.
Der Schatten seines unförmigen Körpers wächst drohend über das Land. Ich
habe gerade noch Zeit, dies niederzuschreiben. Ich höre das Donnern von
Schritten, die Erde ächzt. Der Hunger sei mir gnädig.
(aus: Heckmann, Herbert: Schwarze Geschichten. Frankfurt/M. 1964)
Der Nachbar
Franz Kafka
Mein Geschäft ruht ganz auf meinen Schultern. Zwei Fräulein mit Schreibmaschinen und Geschäftsbüchern im Vorzimmer, mein Zimmer mit Schreibtisch, Kasse, Beratungstisch, Klubsessel und Telephon, das ist mein ganzer
Arbeitsapparat. So einfach zu überblicken, so leicht zu führen. Ich bin ganz
5 jung und die Geschäfte rollen vor mir her. Ich klage nicht, ich klage nicht.
Seit Neujahr hat ein junger Mann die kleine, leerstehende Nebenwohnung, die ich ungeschickterweise so lange zu mieten gezögert habe,
frischweg gemietet. Auch ein Zimmer mit Vorzimmer, außerdem aber noch
eine Küche. - Zimmer und Vorzimmer hätte ich wohl brauchen können - meine
10 zwei Fräulein fühlten sich schon manchmal überlastet -, aber wozu hätte mir
die Küche gedient? Dieses kleinliche Bedenken war daran schuld, dass ich
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mir die Wohnung habe nehmen lassen. Nun sitzt dort dieser junge Mann.
Harras heißt er. Was er dort eigentlich macht, weiß ich nicht.; Auf der Tür
steht: „Harras, Bureau“. Ich habe Erkundigungen eingezogen, man hat mir
15 mitgeteilt, es sei ein Geschäft ähnlich dem meinigen. Vor Kreditgewährung
könne man nicht geradezu warnen, denn es handle sich doch um einen
jungen, aufstrebenden Mann, dessen Sache vielleicht Zukunft habe, doch
könne man zum Kredit nicht geradezu raten, denn gegenwärtig sei allem
Anschein nach kein Vermögen vorhanden. Die übliche Auskunft, die man gibt,
20 wenn man nichts weiß.
Manchmal treffe ich Harras auf der Treppe, er muss es immer außerordentlich eilig haben, er huscht förmlich an mir vorüber. Genau gesehen habe
ich ihn noch gar nicht, den Büroschlüssel hat er schon vorbereitet in der Hand.
Im Augenblick hat er die Tür geöffnet. Wie der Schwanz einer Ratte ist er
25 hineingeglitten und ich stehe wieder vor der Tafel :„Harras, Bureau", die ich
schon viel öfter gelesen habe, als sie es verdient.
Die elend dünnen Wände; die den ehrlich tätigen Mann verraten, den
Unehrlichen aber decken. Mein Telefon ist an der Zimmerwand angebracht,
die mich von meinem Nachbar trennt. Doch hebe ich das bloß als besonders
30 ironische Tatsache hervor. Selbst wenn es an der entgegengesetzten Wand
hinge, würde man in der Nebenwohnung alles hören. Ich habe mir abgewöhnt, den Namen der Kunden beim Telefon zu nennen. Aber es gehört
natürlich nicht viel Schlauheit dazu, aus charakteristischen, aber unvermeidlichen Wendungen des Gesprächs die Namen zu erraten: - Manchmal
35 umtanze ich, die Hörmuschel am Ohr, von Unruhe gestachelt, auf den Fußspitzen den Apparat und kann es doch nicht verhüten, dass Geheimnisse
preisgegeben werden.
Natürlich werden dadurch meine geschäftlichen Entscheidungen unsicher,
meine Stimme zittrig. Was macht Harras, während ich telefoniere? Wollte ich
40 sehr übertreiben - aber das muss man oft, um sich Klarheit zu verschaffen -, so
könnte ich sagen: Harras braucht kein Telefon, er benutzt meines, er hat sein
Kanapee an die Wand gerückt und horcht, ich dagegen muss, wenn geläutet
wird, zum Telefon laufen, die Wünsche des Kunden entgegennehmen,
schwerwiegende Entschlüsse fassen, großangelegte Überredungen ausführen
45 vor allem aber während des Ganzen unwillkürlich durch die Zimmerwand
Harras Bericht erstatten.
Vielleicht wartet er gar nicht das Ende des Gespräches ab, sondern erhebt
sich nach der Gesprächsstelle, die ihn über den Fall genügend aufgeklärt hat,
huscht nach seiner Gewohnheit durch die Stadt und, ehe ich die Hörmuschel
50 aufgehängt habe, ist er vielleicht schon daran, mir entgegenzuarbeiten. (1917)
(aus: Kafka, Franz: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt/M. 1970)
Die Prinzessin
Wolfdietrich Schnurre
Ein Käfig; auf, ab, trottet es drin, auf, ab; zerfranst, gestreift: die Hyäne. Mein
Gott, wie sie stinkt! Und Triefaugen hat sie, die Ärmste; wie kann man nur mit
derart grindligen Blicken überhaupt noch was sehen:
Jetzt kommt sie zum Gitter, ihr Pestatem trifft mich am Ohr.
5 „Glauben Sie mir?"
„Auf’s Wort", sage ich fest.
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Sie legt die Pfote ans Maul: „Ich bin nämlich verzaubert." „Was Sie nicht
sagen; richtig verzaubert?"
Sie nickt. „In Wirklichkeit nämlich -„
„In Wirklichkeit nämlich -?"
„- bin ich eine Prinzessin", haucht sie bekümmert.
„ja, aber um Himmels willen!" rufe ich, „kann Ihnen denn da gar
keiner helfen?"
„Doch", flüstert sie; „die Sache ist so: jemand müsste mich einladen.“
Ich überschlage im Geist meine Vorräte; es ließe sich machen. „Und Sie
würden sich tatsächlich verwandeln?"
„Auf Ehre."
„Also gut", sage ich, „dann seien Sie heute zum Kaffee mein Gast."
Ich gehe nach Hause und ziehe mich um. Ich koche Kaffee und decke den
Tisch. Rosen noch aus dem Garten, die Cornedbeefbüchse spendiert nun
kann sie kommen.
Pünktlich um vier geht die Glocke. Ich öffne, es ist die Hyäne.
„Guten Tag", sagt sie scheu; „Sie sehen, da bin ich."
Ich biete ihr den Arm und wir gehen zum Tisch. Tränen laufen ihr über die
zottigen Wangen, „Blumen - ", schluchzt sie, „oh je!"
„Bitte", sage ich, „nehmen Sie Platz. Greifen Sie zu."
Sie setzt sich geziert und streicht sich geifernd ein Brötchen.
„Wohl bekomm's", nicke ich.
„Danke", stößt sie kauend hervor.
Man kann Angst bekommen, was sie verschlingt. Brötchen auf Brötchen
verschwindet; auch die Cornedbeefbüchse ist leer. Dazwischen schlürft sie
schmatzend den Kaffee und lässt erst zu, dass ich ihr neu eingieße, wenn sie
den Rest herausgeleckt hat.
„Na -?" frage ich, „schmeckt es?"
„Sehr", keucht sie rülpsend. Doch dann wird sie unruhig.
„Was ist denn?" erkundige ich mich.
Sie stößt abermals auf und blickt vor sich nieder; Aasgeruch hängt im Fell,
rötliche Zecken kriechen ihr über die kahlen Stellen hinter den Ohren.
„Nun -?" ermutige ich sie.
Sie schluchzt. „Ich habe Sie belogen", röchelt sie heiser und dreht hilflos einen
Rosenstiel zwischen den Krallen; „ich - ich bin gar keine Prinzessin."
„Schon gut", sage ich; „ich wusste es längst."
(aus: Schnurre, Wolfdietrich: Das Los unserer Stadt. Olten 1959)
Die Küchenuhr
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Wolfgang Borchert
Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte
ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig
war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann
zeigte er ihnen, was er in der Hand trug.
„Das war unsere Küchenuhr", sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die
auf der Bank in der Sonne saßen. „Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist
übriggeblieben.«
Er hielt eine runde, tellerweiße Küchenuhr vor sich hin und tupfte mit den
Fingern die blaugemalten Zahlen ab.
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„Sie hat weiter keinen Wert", meinte er entschuldigend, „das weiß ich auch.
Und sie ist auch nicht so besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so mit
weißem Lack. Aber die blauen Zahlen sehen doch ganz hübsch aus, finde ich.
Die Zeiger sind natürlich nur aus Blech. Und nun gehen sie auch nicht mehr.
Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer.
Auch wenn sie jetzt nicht mehr geht."
Er machte mit den Fingerspitzen einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der
Telleruhr entlang. Und er sagte leise: „Und sie ist übriggeblieben."
Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine
Schuhe, und die Frau sah in ihren Kinderwagen. Dann sagte jemand:
„Sie haben wohl alles verloren?"
„ja, ja", sagte er freudig, denken Sie, aber auch alles! Nur sie hier, sie ist
übrig." Und er hob die Uhr wieder hoch, als ob die anderen sie noch nicht
kannten.
„Aber sie geht doch nicht mehr", sagte die Frau.
„Nein, nein, das nicht. Kaputt ist sie, das weiß ich wohl. Aber sonst ist sie doch
noch ganz wie immer: weiß und blau." Und wieder zeigte er ihnen seine Uhr.
„Und was das Schönste ist", fuhr er aufgeregt fort, das habe ich Ihnen ja
überhaupt noch nicht erzählt. Das Schönste kommt nämlich noch: Denken Sie
mal, sie ist um halb drei stehen geblieben. Ausgerechnet um halb drei,
denken
Sie mal."
„Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getroffen", sagte der Mann und
schob wichtig die Unterlippe vor.„ Das habe ich schon oft gehört. Wenn die
Bombe runtergeht, bleiben die Uhren stehen. Das kommt von dem Druck."
Er sah seine Uhr an und schüttelte überlegen den Kopf. „Nein, lieber Herr,
nein, da irren Sie sich. Das hat mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen
nicht immer von den Bomben reden. Nein. Um halb drei war ganz etwas
anderes, das wissen Sie nur nicht. Das ist nämlich der Witz, dass sie gerade
um halb drei stehen geblieben ist. Und nicht ein Viertel nach vier oder um
sieben. Um halb drei kam ich nämlich immer nach Hause. Nachts, meine ich.
Fast immer um halb drei. Das ist ja gerade der Witz."
Er sah die anderen an, aber die hatten ihre Augen von ihm weggenommen. Er
fand sie nicht. Da nickte er seiner Uhr zu: „Dann hatte ich natürlich Hunger,
nicht wahr? Und ich ging immer gleich in die Küche. Da war es, dann fast
immer halb drei. Und dann, dann kam nämlich meine Mutter. Ich konnte
noch so leise die Tür aufmachen, sie hat mich immer gehört. Und wenn ich in
der dunklen Küche etwas zu essen suchte, ging plötzlich das Licht an. Dann
stand sie da in ihrer Wolljacke und mit einem roten Schal um. Und barfuss.
Immer barfuss. Und dabei war unsere Küche gekachelt. Und sie machte ihre
Augen ganz klein, weil ihr das Licht so hell war. Denn sie hatte ja schon
geschlafen. Es war ja Nacht.
,So spät wieder`, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät wieder.`
Und dann machte sie mir das Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß.
Dabei scheuerte sie immer die Füße aneinander, weil die Kacheln so kalt
waren. Schuhe zog sie nachts nie an. Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt
war. Und dann hörte ich sie noch die Teller wegsetzen, wenn ich in meinem
Zimmer schon das Licht ausgemacht hatte. Jede Nacht war es so. Und
meistens immer um halb drei. Das war ganz selbstverständlich, fand ich,
dass sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen machte. Ich fand das
ganz selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als:
215
60 So spät wieder.` Aber das sagte sie jedes Mal. Und ich dachte, das könnte nie
aufhören. Es war mir so selbstverständlich, das alles. Es war doch immer so
gewesen."
Einen Atemzug lang war es ganz still auf der Bank. Dann sagte er leise: „Und
jetzt?" Er sah die anderen an. Aber er fand sie nicht. Da sagte er der Uhr leise
65 ins weißblaue, runde Gesicht: „Jetzt , jetzt weiß ich, dass es das Paradies war.
Das richtige Paradies."
Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: Und Ihre Familie?"
Er lächelte sie verlegen an: „Ach, Sie meinen meine Eltern? Ja, die sind auch
mit weg. Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg."
70 Er lächelte verlegen von einem zum andern. Aber sie sahen ihn nicht an.
Da hob er wieder die Uhr hoch, und er lachte. Er lachte: „Nur sie hier. Sie ist
übrig. Und das Schönste ist ja, dass sie ausgerechnet um halb drei stehen
geblieben ist. Ausgerechnet um halb drei." Dann sagte er nichts mehr. Aber er
hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine
75 Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort
Paradies.
(1946)
(aus: Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk; Hamburg 1949)
Mein bleicher Bruder
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Wolfgang Borchert
Noch nie war etwas so weiß wie dieser Schnee. Er war beinah blau davon.
Blaugrün. So fürchterlich weiß. Die Sonne wagte kaum gelb zu sein vor
diesem Schnee. Kein Sonntagmorgen war jemals so sauber gewesen wie
dieser. Nur hinten stand ein dunkelblauer Wald. Aber der Schnee war neu und
sauber wie ein Tierauge. Kein Schnee war jemals so weiß wie dieser an
diesem Sonntagmorgen. Kein Sonntagmorgen war jemals so sauber. Die
Welt, diese schneeige Sonntagswelt, lachte.
Aber irgendwo gab es dann doch einen Fleck. Das war ein Mensch, der im
Schnee lag, verkrümmt, bäuchlings, uniformiert. Ein Bündel Lumpen. Ein
lumpiges Bündel von Häutchen und Knöchelchen und Leder und Stoff.
Schwarzrot überrieselt von angetrocknetem Blut. Sehr tote Haare, perückenartig tot. Verkrümmt, den letzten Schrei in den Schnee geschrieen, gebellt
oder gebetet vielleicht: Ein Soldat, Fleck in dem nie gesehenen Schneeweiß
des saubersten aller Sonntagmorgende. Stimmungsvolles Kriegsgemälde,
nuancenreich, verlockender Entwurf für Aquarellfarben: Blut und Schnee und
Sonne. Kalter, kalter Schnee mit warmem dampfendem Blut drin. Und über
allem die liebe Sonne. Unsere liebe Sonne. Alle Kinder auf der Welt sagen:
die liebe, liebe Sonne. Und die bescheint einen Toten, der den unerhörten
Schrei aller toten Marionetten schreit: Den stummen fürchterlichen stummen
Schrei!
Wer unter uns, steh auf, bleicher Bruder, oh, wer unter uns hält die stummen
Schreie der Marionetten aus, wenn sie von den Drähten abgerissen so blöde
verrenkt auf der Bühne rumliegen? Wer, oh, wer unter uns erträgt die
stummen Schreie der Toten? Nur der Schnee hält das aus, der eisige. Und die
Sonne. Unsere liebe Sonne.
Vor der abgerissenen Marionette stand eine, die noch intakt war. Noch
funktionierte. Vor dem toten Soldaten stand ein lebendiger. An diesem sau-
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beren Sonntagmorgen im nie gesehenen weißen Schnee hielt der Stehende
an den Liegenden folgende fürchterlich stumme Rede:
Ja. Ja ja. Ja ja ja. Jetzt ist es aus mit deiner guten Laune, mein Lieber. Mit
deiner ewigen guten Laune. Jetzt sagst du gar nichts mehr, wie? Jetzt lachst
du wohl nicht mehr, wie? Wenn deine Weiber das wüssten, wie erbärmlich du
jetzt aussiehst, mein Lieber. Ganz erbärmlich siehst du ohne deine gute Laune
aus. Und in dieser blöden Stellung. Warum hast du denn die Beine so
ängstlich an den Bauch rangezogen? Ach so, hast einen in die Eingeweide
gekriegt. Hast dich mit Blut besudelt. Sieht unappetitlich aus, mein Lieber.
Hast dir die ganze Uniform damit bekleckert. Sieht aus wie schwarze
Tintenflecke. Man gut, dass deine Weiber das nicht sehn. Du hattest dich doch
immer so mit deiner Uniform. Saß alles auf Taille. Als du Korporal wurdest,
gingst du nur noch mit Lackstiefeletten. Und die wurden stundenlang
gebohnert, wenn es abends in die Stadt ging. Aber jetzt gehst du nicht
mehr in die Stadt. Deine Weiber lassen sich jetzt von den andern. Denn du
gehst jetzt überhaupt nicht mehr, verstehst du? Nie mehr, mein Lieber. Nie nie
mehr. Jetzt lachst du auch nicht mehr mit deiner ewig guten Laune. Jetzt liegst
du da, als ob du nicht bis drei zählen kannst. Kannst du auch nicht. Kannst
nicht mal mehr bis drei zählen. Das ist dünn, mein Lieber, äußerst dünn.
Aber das ist gut so, sehr gut so. Denn du wirst nie mehr „Mein bleicher Bruder
Hängendes Lid" zu mir sagen. Jetzt nicht mehr, mein Lieber. Von jetzt ab nicht
mehr. Nie mehr, du. Und die andern werden dich nie mehr dafür feiern. Die
andern werden nie mehr über mich lachen, wenn du „Mein bleicher Bruder
Hängendes Lid" zu mir sagst. Das ist viel wert, weißt du? Das ist eine
ganze Masse wert für mich, das kann ich dir sagen. Sie haben mich nämlich
schon in der Schule gequält. Wie die Läuse haben sie auf mir
herumgesessen. Weil mein Auge den kleinen Defekt hat und weil das Lid
runterhängt. Und weil meine Haut so weiß ist. So käsig. Unser Blässling sieht
schon wieder so müde aus, haben sie immer gesagt. Und die Mädchen haben
immer gefragt, ob ich schon schliefe. Mein eines Auge wäre ja schon halb zu.
Schläfrig, haben sie gesagt, du, ich wäre schläfrig. Ich möchte mal wissen,
wer von uns beiden jetzt schläfrig ist. Du oder ich, wie? Du oder ich? Wer ist
jetzt „Mein bleicher Bruder Hängendes Lid"? Wie? Wer denn, mein Lieber, du
oder ich? Ich etwa?
Als er die Bunkertür hinter sich zumachte, kamen ein Dutzend grauer Gesichter aus den Ecken auf ihn zu. Eins davon gehörte dem Feldwebel. Haben
Sie ihn gefunden, Herr Leutnant? fragte das graue Gesicht und war
fürchterlich grau dabei.
Ja. Bei den Tannen. Bauchschuss. Sollen wir ihn holen?
Ja. Bei den Tannen. Ja, natürlich. Er muss geholt werden. Bei den Tannen.
Das Dutzend grauer Gesichter verschwand. Der Leutnant saß am Blechofen
und lauste sich. Genau wie gestern. Gestern hatte er sich auch gelaust. Da
sollte einer zum Bataillon kommen. Am besten der Leutnant, er selbst.
Während er dann das Hemd anzog, horchte er. Es schoss. Es hatte noch nie
70 so geschossen. Und als der Melder die Tür wieder aufriss, sah er die Nacht.
Noch nie war eine Nacht so schwarz, fand er. Unteroffizier Heller, der sang.
Der erzählte in einer Tour von seinen Weibern. Und dann hatte dieser Heller
mit seiner ewig guten Laune gesagt: Herr Leutnant, ich würde nicht zum
Bataillon gehen. Ich würde erst mal doppelte Ration beantragen. Auf Ihren
Rippen kann man ja Xylophon spielen. Das ist ja ein Jammer, wie Sie
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75 aussehen. Das hatte Heller gesagt. Und im Dunkeln hatten sie wohl alle gegrinst. Und einer musste zum Bataillon, Da hatte er gesagt: Na, Heller, dann
kühlen Sie Ihre gute Laune mal ein bisschen ab. Und Heller sagte: Jawohl.
Das war alles. Mehr sagte man nie. Einfach: Jawohl. Und dann war Heller
gegangen. Und dann kam Heller
80 nicht wieder.
Der Leutnant zog sein Hemd über den Kopf, er hörte, wie sie draußen
zurückkamen. Die andern. Mit Heller. Er wird nie mehr „Mein bleicher Bruder
Hängendes Lid" zu mir sagen, flüsterte der Leutnant. Das wird er von nun an
nie mehr zu mir sagen.
85 Eine Laus geriet zwischen seine Daumennägel. Es knackte. Die Laus war tot.
Auf der Stirn - hatte er einen kleinen Blutspritzer.
(1946)
(aus: Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk; Hamburg 1949)
DAS FENSTER-THEATER
Ilse Aichinger
I
Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind trieb in leichten
Stößen vom Fluss herauf und brachte nichts Neues. Die Frau hatte den
starren Blick neugieriger Leute, die unersättlich sind. Es hatte ihr noch
niemand den Gefallen getan, vor ihrem Haus niedergefahren zu werden.
Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu tief unten. Der
Lärm rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben
vom Fenster abwenden wollte, bemerkte sie, dass der Alte gegenüber Licht
angedreht hatte. Da es noch ganz hell war, blieb dieses Licht für sich und
machte den merkwürdigen Eindruck, den aufflammende Straßenlaternen
unter der Sonne machen. Als hätte einer an seinen Fenstern die Kerzen
angesteckt, noch ehe die Prozession die Kirche verlassen hat. Die Frau blieb
am Fenster.
Il
Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die
Wohnung über ihr stand leer und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese
Zeit schon geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte
wieder. Er griff sich an die Stirne, entdeckte, dass er keinen Hut aufhatte, und
verschwand im Innern des Zimmers.
III
Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte.
Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst
leicht und dann immer eifriger. Er hing über die Brüstung, dass man Angst
bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das
schien ihn nur zu bestärken. Er ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom
Hals - einen großen bunten Schal - und ließ ihn aus dem Fenster wehen.
Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er
den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen
Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und
verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche
zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange
Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten
Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht
218
gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei
verständigt.
IV Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern
erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der
Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt
geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, sodass sich sein Gesicht in tiefe Falten
legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das
Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann
hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich
von seinem Anblick loszureißen.
V
Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den
Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge
kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen
suchte, erklärten sie einstimmig, in diesem Hause zu wohnen. Einige davon
kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die
Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein
nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit
einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem
Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine
Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es
war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer,
gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm
nach. Die Frau schlich hinter ihnen her.
VI Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt
noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das
er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, dass er schlafen wolle.
Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern.
Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon
knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres
Fenster sah.
VII Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in
die Wohnung oberhalb musste eine neue Partei eingezogen sein. An eines der
erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner
Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die
Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich
mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine
Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft
den Wachleuten ins Gesicht.
(aus: Aichinger, Ilse: Der Gefesselte. Erzählungen; Frankfurt/M. 1953)
219
Textsorte PARABEL
Die Stachelschweine
Arthur Schopenhauer
Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem Wintertage recht
nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren
zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln;
welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der
5 Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes
zweite Übel; sodass sie zwischen beiden hin- und hergeworfen wurden, bis
sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie
es am besten aushalten konnten. - So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft,
aus der Leere und Monotonie des eigenen Inneren entsprungen, die
10 Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und
Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie
endlich herausfinden und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist
die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält,
ruft man in England zu: „Keep your distance!“ (Wahre deinen Abstand!) 15 Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur
unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.
- Wer jedoch viel eigene innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft
weg, um keine Beschwerde zu geben noch zu empfangen.
(1851)
Die Ratte in der Bildsäule
Johann Gottfried Herder
Hoan-Kong fragte einst seinen Minister, den Koang-Tschong, wofür man
sich wohl in einem Staat am meisten fürchten müsse. Koang-Tschong
antwortete: „Prinz, nach meiner Einsicht hat man nichts mehr zu fürchten, als
was man nennet: die Ratte in der Bildsäule.“
5 Hoan-Kong verstand diese Vergleichung nicht: Koang-Tschong erklärte sie
ihm also: „Ihe wisset, Prinz, dass man an vielen Orten dem Geiste des Orts
Bildsäulen aufzurichten pflegt; diese hölzernen Statuen sind inwendig hohl
und von außen bemalet. Eine Ratte hatte sich in eine hineingearbeitet und
man wusste nicht, wie man sie verjagen sollte. Feuer dabei zu gebrauchen,
10 getraute man sich nicht, aus Furcht, dass solches das Holz der Statue
angreife; die Bildsäule ins Wasser zu setzen, getraute man sich auch nicht,
aus Furcht, man möchte die Farben an ihr auslöschen. Und so bedeckte und
beschützte die Ehrerbietung, die man vor der Bildsäule hatte, die - Ratte.“
„Und wer sind diese Ratten im Staate?“ fragte Hoan-Kong.
15 „Leute,“ sprach der Minister, „die weder Verdienst noch Tugend haben und
gleichwohl die Gunst des Fürsten genießen. Sie verderben alles; man siehet
es und seufzet darüber; man weiß aber nicht, wie man sie angreifen, wie
man ihnen beikommen soll. Sie sind die Ratten in der Bildsäule.“
(1788)
220
Gib’s auf
Franz Kafka
Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum
Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es
schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen,
der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden,
5 ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war
ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem
Weg. Er lächelte und sagte: „Von mir willst du den Weg erfahren?“ „Ja,“
sagte ich, „da ich ihn selbst nicht finden kann.“ „Gib’s auf, gib’s auf,“ sagte er
und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem
10 Lachen allein sein wollen.
(1922)
Die Maus
Franz Kafka
„Ach,“ sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so
breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich
rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so
schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im
5 Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ - „Du musst nur die Laufrichtung
ändern,“ sagte die Katze und fraß sie.
(1920)
In der Erwartung großer Stürme
Bertolt Brecht
In einem alten Buch über die Fischer der Lofoten lese ich: Wenn die ganz
großen Stürme erwartet werden, geschieht es immer wieder, dass einige der
Fischer ihre Schaluppen am Strand vertäuen und sich an Land begeben,
andere aber eilig in See stechen. Die Schaluppen, wenn überhaupt
5 seetüchtig, sind auf hoher See sicherer als am Strand. Auch bei ganz großen
Stürmen sind sie auf hoher See durch die Kunst der Navigation zu retten,
selbst bei kleineren Stürmen werden sie am Strand von den Wogen
zerschmettert. Für ihre Besitzer beginnt dann ein hartes Leben.
(1948)
Wenn die Haifische Menschen wären
Bertolt Brecht
„Wenn die Haifische Menschen wären,“ fragte Herrn K. die kleine Tochter
seiner Wirtin, „wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?“ „Sicher,“
sagte er. „Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie am Meer für die
kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin,
5 sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden sorgen, dass die Kästen
immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitäre
Maßnahmen treffen. Wenn zum Beispiel ein Fischlein sich die Flosse
verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es
den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht
10 trübsinnig würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige
Fischlein schmecken besser als trübsinnige. Es gäbe natürlich auch Schulen
in den großen Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein lernen, wie
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man in den Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden zum Beispiel
Geografie brauchen, damit sie die großen Haifische, die faul irgendwo liegen,
finden könnten. Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung
der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, dass es das Größte und
Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freudig aufopfert, und dass sie alle an
die Haifische glauben müssten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für
eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen, dass
diese Zukunft nur gesichert ist, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen
niedrigen, materialistischen, egoistischen und marxistischen Neigungen
müssten sich die Fischlein hüten und es sofort den Haifischen melden, wenn
eines von ihnen solche Neigungen verriete. Wenn die Haifische Menschen
wären, würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde
Fischkästen und fremde Fischlein zu erobern. Die Kriege würden sie von
ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, dass
zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger
Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, sind bekanntlich
stumm, aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und können
einander daher unmöglich verstehen. Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar
andere Fischlein, feindliche, in einer anderen Sprache schweigende
Fischlein, tötete, würden sie einen kleinen Orden aus Seetang anheften und
den Titel Held verleihen. Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei
ihnen natürlich auch eine Kunst. Es gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne
der Haifische in prächtigen Farben, ihre Rachen als reine Lustgärten, in
denen es sich prächtig tummeln lässt, dargestellt wären. Die Theater auf
dem Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in
die Haifischrachen schwimmen, und die Musik wäre so schön, dass die
Fischlein unter ihren Klängen, die Kapelle voran, träumerisch und in
allerangenehmste Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten. Auch
eine Religion gäbe es da, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würde
lehren, dass die Fischlein erst im Bauch der Haifische richtig zu leben
begännen. Übrigens würde es auch aufhören, wenn die Haifische Menschen
wären, dass alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind. Einige von ihnen
würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein
wenig größeren dürften sogar die kleineren auffressen. Das wäre für die
Haifische nur angenehm, da sie dann selber öfter größere Brocken zu
fressen bekämen. Und die größeren, Posten habenden Fischlein würden für
die Ordnung unter den Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im
Kastenbau usw. werden. Kurz, es gäbe überhaupt erst Kultur im Meer, wenn
die Haifische Menschen wären.
(1948)
Der Palast
Martin Buber
Ein König baute einst einen großen und herrlichen Palast mit zahllosen
Gemächern, aber nur ein Tor war geöffnet. Als der Bau vollendet war, wurde
verkündet, es sollten alle Fürsten vor dem König erscheinen, der in dem
letzten der Gemächer throne. Aber als sie eintraten, sahen sie: da waren
5 Türen offen nach allen Seiten, von denen führten gewundene Gänge in die
Fernen, und da waren wieder Türen und wieder Gänge, und kein Ziel erstand
vor dem verwirrten Auge. Da kam der Sohn des Königs und sah, dass all die
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Irre eine Spiegelung war, und sah seinen Vater sitzen in der Halle vor seinem
Angesicht.
(1955)
Armer und reicher Teufel
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Ernst Bloch
Wer genug Geld hat, wird manchmal merkwürdig gut. Er gönnt den Nächsten
auch etwas, denkt sich etwas Schönes für sie aus. Reiche Leute wollen gern
spielen, setzen dabei arme ein. So hielt es auch jener Amerikaner, als er den
sonderbarsten Wettbewerb erließ. Ein junger Mann war gesucht, am liebsten
ein Bergarbeiter, gesund und anstellig. Aus den hunderttausend Bewerbern
wurde einer angenommen; der junge Mann meldete sich. Ein hübscher
Bursche, hatte nun nichts zu tun, als die weiteren Bedingungen zu erfüllen:
nämlich auf gute Manier zu essen und zu trinken, feine Kleider mit Schick zu
tragen, Figur machen. Ein Hofmeister brachte ihm die Künste der Welt bei,
Reiten, Golf, gebildete Sprache vor Damen und was sonst ein amerikanischer Gentleman braucht. Alles mit dem Geld seines Schutzherrn; nach
beendetem Schliff trat der Glückliche eine dreijährige Reise um die Welt an,
mit Kreditbriefen in der Tasche, die jeden noch so exotischen Wunsch
erfüllen ließen. Nur eine kleine letzte Bedingung stand noch aus: der junge
Mann musste nach der Reise wieder ins Bergwerk zurück, als wäre nichts
geschehen. Musste dort mindestens zehn Jahre bleiben, als Grubenarbeiter
wie bisher. Auch dies unterschrieb der Glückspilz, hielt sich ans Leben, das
näher lag; die Zeit der goldenen Jugend begann. Reiste in den Opernglanz
von Europa, hatte Glück bei Frauen und hatte Begabung dafür, jagte
indische Tiger und speiste bei Vizekönigen, kurz, führte das Leben von
Prinzen, mit Kontrast-Beleuchtung obendrein. Bis zu dem Tag, wo er
heimkehrte und seinem Gönner fast wohlgesättigt dankte, wie einem
Gastgeber beim Abschied. Zog die alten Kleider wieder an und stieg in die
Grube zurück, zu den Kohlen, blinden Pferden, Kameraden, die ihm so fremd
geworden waren und die ihn verachteten. Stieg ins Bergwerk zurück unvorstellbar jetzt die ersten Tage, Monate, der Gegenschein und jetzige
Kontrast, die Einfahrt ums Morgengrauen, die Arbeit auf dem Rücken, das
Schwitzen, Husten, der Kohlestaub in den Augen, der schlechte Fraß, das
Bett mit dreien. Nun hätte der Bursche den Vertrag freilich brechen können;
auf gute Manier, indem er eine andere Stelle mit ihr suchte, oder auf
revolutionäre, als Arbeiterführer. Stattdessen streikte er verblüffend, fuhr
nach New York, sah seinen Wohltäter, erschoss ihn. Für den Arbeiter post
festum hatte man Verständnis; das Gericht sprach ihn frei.
(1967)
Das Los unserer Stadt
Wolfdietrich Schnurre
Ingenieure haben bei Befestigungsarbeiten am Rande der Stadt eine furchtbare Entdeckung gemacht. Sie sprengten eben einen die Zufahrtstraße
bedrohenden Felsen vom Berg, als sich unterhalb der Gesteinswunde ein
ungeheures Auge auftat. Zugleich wurden in allen Teilen der Stadt macht-
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5
volle Erdstöße verspürt, und seit Stunden schon hallt aus den Rissen im
Pflaster ein pumpendes Pochen herauf, als sei im Erdschoß eine Höllenmaschine verborgen.
Inzwischen ist die schlimmste aller Befürchtungen Wahrheit geworden:
Unsere Stadt wurde auf der Brust eines schlafenden Riesen erbaut; nun
10 haben die Ingenieure ihm eine Braue gesprengt, und er beginnt zu
erwachen.
Es sind bereits zahlreiche Kommissionen ernannt worden, die den
Auftrag erhielten, das Ohr des Riesen zu finden, um ihm den Wunsch vorzutragen, er möge die Gewohnheit haben, doch noch einige Zeit liegen zu
15 bleiben, und die Ingenieure haben vor seinem Auge ein großes Schild angebracht, auf dem sie sich dafür entschuldigen, dass er verletzt worden ist.
Er scheint jedoch nicht unsere Sprache zu sprechen; sein Auge
blickt starr durch die Inschrift des Schildes hindurch; und auch sein Ohr hat
bisher noch keine Kommission entdeckt. So wird wohl die Stadt in Kürze
20 vergehen und als bröckelnder Sandstaub an den Gliedern des Riesen
herabwehen.
(1959)
Parabeln
Arthur Schnitzler
Ein frommer Jüngling macht einen Ausflug zu Rad. Wie er bei einer Kirche
vorbeikommt, nimmt er eine Hand von der Lenkstange und schlägt ein Kreuz.
In diesem Augenblick verliert er das Gleichgewicht und bricht sich einen Arm.
________________________________________________
Ein braver, frommer Mann hatte sich nach einem Leben voll Arbeit in einer
schönen Gegend ein Haus gebaut und ließ über das Tor in goldenen
Buchstaben die Worte setzen: Gesegnet sei dies Haus und jeder, der geht
ein und aus. Bald nachdem er mit seiner jungen Frau und seinen
unmündigen
Kindern das Haus bezogen hatte, wurde er und seine Familie ermordet,
beraubt und das Haus selbst niedergebrannt. Die Wirkung des frommen
Spruches aber sollte sich bald aufs Herrlichste erweisen. Der Mörder wurde
nämlich niemals entdeckt und durfte sich sein ganzes Leben lang an dem
Genuss des geraubten Gutes ungestört und reuelos erfreuen.
(1917)
224
1.1.2. die Lyrik
Das Wort Lyrik ist vom griechischen Wort „lyrikós“ (= zum Spiel der Lyra gehörend,
Lyrabegleitung) entlehnt und meint ursprünglich einen Gesang, der von der Lyra
(= erstes Saiteninstrument) begleitet wurde. Die ursprüngliche Bindung an die Musik
ist nie ganz verloren gegangen; sie zeigt sich bei der Lyrik in der besonderen Art und
Weise, wie Sprache hier verwendet wird.
Im Unterschied zu den anderen Literaturgattungen ist die Lyrik von wesentlich drei
Grundvorstellungen geprägt:
Lyrik ist die ursprüngliche und erste dichterische Gattung
Lyrik ist empfindsam-subjektiver Ausdruck von Unmittelbarkeit, Gemüt und
Gefühl
Lyrik ist eine natürliche Lebensäußerung, an der gemeinsame Elemente von
Sprache, Tanz und Musik Anteil haben
Wichtig ist: Die Lyrik ist die Gattung, in der ein Ich sich unmittelbar ausdrücken kann,
seine Empfindungen, Gefühle, Gedanken usw. Mit dieser Feststellung ist schon - wie
wir noch sehen werden - ein Kriterium gegeben, nach dem lyrische Texte unterschieden werden können: Es gibt also Empfindungslyrik, romantische Gefühlslyrik,
Gedankenlyrik usw.
Betrachten wir ein Beispiel:
Eduard Mörike
Er ist’s
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
- Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!
Zunächst ist man geneigt zu sagen, Mörike stellt in diesem Gedicht den Frühling dar.
Beim genaueren Lesen oder Hören wird aber klar, dass der Frühling, die Jahreszeit,
nur den Anlass, den Auslöser bietet für das subjektive Erleben. Das Nahen des
Frühlings wird als subjektives Erlebnis, als alle Sinne umfangendes, inneres Ereignis,
dargestellt. Also nicht die Jahreszeit steht im Zentrum, sondern die Innerlichkeit des
Subjekts. Die äußere Veränderung in der Natur wird als innere Verwandlung erlebt.
Denn das erlebende Ich wird erfasst von den alles verändernden Wirkungen des
nahenden Frühlings. Aus der anfänglichen Vorfreude entsteht ein Enthusiasmus, in
dem sich die Einheit von Natur und Mensch ausdrückt.
Den Beweis für diese Deutung muss auch die Formanalyse liefern. Fragen wir also:
Wie hat Mörike sein Thema gestaltet?
An diesem berühmten Gedicht von Mörike, das dieser 1828 veröffentlicht hat, lassen
sich fast alle Merkmale der Lyrik aufzeigen. Schon die äußere Form unterscheidet
Gedichte von den anderen Gattungen. Gedichte bestehen aus einer oder mehreren
kompakten Einheiten, Strophen genannt. Im vorliegenden Beispiel besteht das
225
Gedicht aus einer Strophe. Eine Strophe besteht aus mehreren Versen oder Zeilen.
Mörikes Gedicht umfasst neun Zeilen bzw. Verse, die offensichtlich unterschiedlich
lang sind; die 7. Zeile fällt optisch sofort auf wegen ihrer Länge.
Jede Zeile, jeder Vers besteht aus mehreren Einheiten, Metren (Singular: Metrum;
deutsch: Versmaß) genannt. Metrum meint die (regelmäßige) Abfolge von betonten
und unbetonten Silben. Zusammen mit dem Inhalt ergibt sich beim Lesen ein
bestimmter Rhythmus. Die Begriffe Metrum und Rhythmus stammen aus der Musik
und weisen auf den schon erwähnten Ursprung der Lyrik bzw. Dichtung zurück.
Beim Lesen oder Hören des Gedichtes haben Sie auch bemerkt, dass die Zeilen
miteinander verbunden sind, nämlich durch das Zeilenende. Den Gleichklang am
Versende nennt man Reim; bezogen auf das ganze Gedicht spricht man vom
Reimschema.
Finden sich in einem Gedicht die eben genannten Merkmale, dann spricht man von
einer gebundenen Sprache: Die Sprache ist gebunden durch Metrum, Rhythmus,
Vers, Reim und Strophe. Bis ins 20. Jahrhundert ist die gebundene Sprache das
wesentliche Merkmal der Lyrik.
Betrachten wir die genannten Merkmal im Einzelnen:
→ Die Metrik
Metrik ist die Wissenschaft vom taktmäßig - rhythmischen Bau der gebundenen
Sprache. Die Grundeinheit der Metrik ist der Vers, die Zeile; die kleinste metrische
Einheit heißt Takt, Versfuß oder metrische Grundform. Der Takt benennt die Abfolge
von betonten und unbetonten Silben und er besteht i.d.R. aus zwei Hälften, die
unterschiedlich aufgeteilt sein können, z.B. eine betonte und eine unbetonte Silbe
wie bei den Wörtern: Lüfte, Düfte, Frühling usw. oder eine betonte Silbe und zwei
Viertel (-silben) wie bei den Wörtern: Königin, Heiliger, Neulinge usw.
Die betonten Silben heißen Hebungen, die unbetonten Senkungen. Um die
Hebungen und Senkungen zu kennzeichnen, gibt es unterschiedliche Methoden der
metrischen Notation. Wir verwenden im Folgenden die heute gängige Version, bei
der jede Silbe mit einem „x“ dargestellt wird. Ist eine Silbe betont, so bekommt das
„x“ einen Akzent, also x. Jedes Taktende wird mit einem vertikalen Strich angezeigt.
Die erste Zeile des Mörike-Gedichtes sieht dann so aus:
x x I x x I x x Ix
Die Metrik unterscheidet vier metrische Grundformen (Taktarten):
Jambus (xx)
eine Folge von Senkung und Hebung
(z.B. gelehrt, Verbot, Betrug, hinweg, gesagt ...)
Trochäus (xx)
eine Folge von Hebung und Senkung
(z.B. Leben, Liebe, Rose, Tiefe, sicher, außen ...)
Daktylus (xxx od. eine Folge von einer Hebung und zwei Senkungen
x∪
∪∪)
(z.B. Königin, Neulinge, Schweifende, Heilige ...)
Anapäst (xxx od.
∪∪x)
eine Folge von zwei Senkungen und einer Hebung
(z.B. Paradies, Malerei, nebenbei ...)
226
Woran erkennt man nun Hebungen und Senkungen in einem Gedicht? Das ist gar
nicht so schwer, denn die Betonung der Silben wird nicht willkürlich vom jeweiligen
Dichter festgelegt. Sie folgt vielmehr den Vorgaben der „natürlichen“ Betonung der
Wörter bzw. der normalen gesprochenen Hochsprache. Im Deutschen wird z.B. das
Wort Apfel auf der ersten Silbe betont, das Wort Zitrone auf der zweiten und das
Wort Apfelsine auf der dritten Silbe. Der Dichter verwendet die Wörter so, dass ein
(regelmäßiger) Wechsel von betonter und unbetonter Silbe, auch Alternation (Verb:
alternieren) genannt, entsteht. Einsilbige Wörter können innerhalb eines Metrums
sowohl Hebung als auch Senkung darstellen. In der 1. Zeile von Mörikes Gedicht ist
das Wort „sein“ eine Senkung, das Wort „ich“ in der letzten Zeile eine Hebung.
Das Mörike-Gedicht besteht also aus einer Strophe mit neun Zeilen oder Versen.
Das durchgängige Metrum ist der Trochäus. Allerdings ist die Anzahl der Trochäen
pro Zeile unterschiedlich. Die ersten vier Zeilen bestehen jeweils aus vier Trochäen,
die
5. und 6. Zeile haben jeweils nur drei, die 7. Zeile hat fünf, die 8. Zeile und die letzte
Zeile haben jeweils 3 Trochäen. Symbolisch dargestellt zeigt das Gedicht folg.
äußere Form:
x x I x x I x x Ix
x x I x x I x x Ix x
x x I x x I x x Ix x
x x I x x I x x Ix
xxIxxIx
xxIxxIxx
x x I x x I x x Ix xI x
xxIxxIx
xxIxxIxx
→ Der Reim
Unter Reim versteht man den Gleichklang von Wörtern oder genauer: den
Gleichklang von Wörtern vom letzten betonten Vokal ab (z.B. singen - klingen;
kommen - vernommen; Lüfte - Düfte; Band - Land). Es gibt mehrere Formen des
Reimes. Zunächst soll uns nur der sog. Endreim interessieren, also die klangliche
Übereinstimmung von Versenden. Denn damit haben wir es beim Mörike-Gedicht zu
tun. Um die Reimfolge oder das Reimschema darzustellen, benutzt man die kleinen
Buchstaben als Symbole, also a für den ersten, b für den zweiten usw. Das Reimschema des Mörike-Gedichtes sieht demnach so aus: a b b a c d c e d. Sogleich fällt
auf, dass eine Zeile reimlos ist, nämlich die 8. Zeile. Eine reimlose Zeile wird in der
Lyrik „Waise“ genannt und mit dem Buchstaben „w“ symbolisiert. Das Gedicht hat
also das Reimschema: a b b a c d c w d. Eine Waise ist immer ein formaler Hinweis
auf etwas Besonderes. Im vorliegenden Gedicht ist die Funktion der Waise deutlich
zu erkennen: In der 8. Zeile ist der Höhepunkt des enthusiastischen Gefühls
dargestellt, die Gewissheit, dass der Frühling das erlebende Ich ganz erfasst und
erfüllt hat. Das bestätigt auch die Sprachverwendung: direkte Ansprache, Interjektion
und Ausruf spiegeln die höchste seelische Erregung wider. Eine solche
227
überschwängliche Freude muss geradezu das Reimschema sprengen. Wenn Sie
nochmals auf die Reime des Gedichtes schauen, wird Ihnen auffallen, dass es zwei
verschiedene Endreime gibt, nämlich einsilbige (Band - Land) und zweisilbige (Lüfte Düfte) bzw. mehrsilbige (Harfenton). Einen einsilbigen Endreim nennt man eine
männliche oder stumpfe Kadenz, einen zweisilbigen (ausklingenden) Versschluss
nennt man eine weibliche oder klingende Kadenz (Kadenz = Versschluss).
Beim Mörike-Gedicht sind die a- und c-Reime männlich, die b- und d-Reime weiblich;
die Waise ist eine männliche Kadenz, weil sie auf der letzten Silbe betont ist (nicht
ausklingt). Männliche Reinschlüsse werden mit einem „m“, weibliche mit einem „w“
gekennzeichnet.
Will man bei der Analyse der äußeren Form eines Gedichtes die zeitaufwendige
Aufzeichnung der metrischen Struktur und des Reimschemas abkürzen, so bieten die
Zahlen und Buchstaben eine gute Möglichkeit dafür. Die erste Zeile des MörikeGedichtes kann so aussehen: 4 m a (4 Takte, männliche Kadenz, a-Reim), die zweite
Zeile so: 4 w b usw. Das Ergebnis der formalen Analyse sieht dann so aus, wie auf
der rechten Seite dargestellt:
x x I x x I x x Ix
x x I x x I x x Ix x
x x I x x I x x Ix x
x x I x x I x x Ix
xxIxxIx
xxIxxIxx
x x I x x I x x Ix xI x
xxIxxIx
xxIxxIxx
a
b
b
a
c
d
c
w
d
4ma
4wb
4wb
4ma
3mc
3wd
5mc
3mw
3wd
Der Vorteil dieser verkürzten Darstellung ist offensichtlich: Die Auffälligkeiten einer
Strophe, eines Gedichtes zeigen sich viel schneller als bei der metrischen
Darstellung.
Sichtbar wird sofort die Zweiteilung des Gedichtes.
Die ersten vier Zeilen bilden vom Reim und von
der Anzahl der Takte her eine Einheit . Ähnliches
kann von den restlichen Zeilen gesagt werden, die
von den c- und d-Reimen verbunden werden, auch
wenn die Reimfolge anders als im ersten Teil gestaltet ist. Auffällig ist auch die Überlänge der
7. Zeile und die Waise in der 8. Zeile, zwei Besonderheiten, auf die man sofort gestoßen wird und die
gute Fragen für die Texterschließung aufwerfen:
Warum diese Unregelmäßigkeiten? Worauf weisen sie hin? Die 7. Zeile könnte
lauten: „Horch, ein Harfenton!“ Dann würde sie der anderen Zeile mit c-Reim (Z. 5)
entsprechen, nämlich 3 m c; sie könnte auch lauten: „Horch, ein leiser Harfenton!“
oder: „Horch, von fern ein Harfenton!“, also jeweils 4 m c. Die Alternativen deuten
darauf hin, was bei einer Verkürzung verloren ginge. Die überlange 7. Zeile hat nicht
nur die letzte sinnliche (akustische) Empfindung zum Inhalt, sondern auch eine Stille,
ein Verzögern, ein Anschwellen, sozusagen die Ruhe vor dem Sturm, vor dem
Ausbruch der enthusiastischen Freude. Auch der Gedankenstrich am Anfang der
228
Zeile lässt die vorherige Bewegung zur Ruhe kommen. Und in diese Ruhe hinein tönt
der letzte Beweis, ganz entfernt, aber deutlich, unüberhörbar. Und dann entlädt sich
die Spannung im freudigen Aufschrei (Z. 8).
Ergänzend zum bisher Gesagten über den Reim sollten die wichtigsten Reimformen
und Reimfolgen erwähnt werden:
Bei den Reimformen unterscheiden wir neben den schon genannten männlichen
oder stumpfen und weiblichen oder klingenden Reimen noch:
reine Reime
(genauer Gleichklang in Vokal und Schlusskonsonant vom
letzten Vokal an, z.B. Band - Land; Raub - Staub; Schatten Matten)
unreine Reime (ungenauer Gleichklang entweder der Vokale oder der
Schlusskonsonanten, z.B. Lied - Gemüt; grüßen - sprießen;
Weite - Geläute) Sind nur die Vokale am Gleichklang
beteiligt, spricht man von Assonanzen (z.B. sehen - regen;
Geläute - Häuser; Menge - Kapelle)
rührende Reime (Reime zwischen phonetisch gleichlautenden, aber bedeutungsverschiedenen Wörtern, z.B. Wirt - wird; Rain - rein;
heute - Häute)
identische Reime (reimen mit demselben Wort)
gleitende oder reiche Reime (dreisilbige Reime, z.B. Greifender Durchschweifender; Wiedersehn - nie gescheh’n)
Bei den Reimfolgen unterscheiden wir
den Paarreim
(aa, bb, cc ...)
den Kreuzreim
(abab, cdcd ...)
den umarmenden Reim (abba, cddc ...)
den Schweifreim
(aab, ccb ...)
den verschränkten Reim (abc, abc)
den Kehrreim oder Refrain (Wiederholung eines Verses z.B. am Ende der
Strophen)
den Anfangreim (Reim des ersten Wortes aufeinander folgender Verse, z.B.
Krieg! Ist das Losungswort.
Sieg! Und so klingt es fort.
(Goethe)
den Schlagreim (Reim zweier unmittelbar aufeinander folgender Wörter in
einem Vers, z.B. quellende, schwellende Nacht - steigendes,
neigendes Leben)
den Binnenreim (Reime innerhalb eines Verses, z.B. bei stiller Nacht zur ersten
Wacht - kein Vogelsang noch Freudenklang)
den Schüttelreim (Reime auf mehreren Silben bei wechselseitiger
Vertauschung der Anfangskonsonanten, z.B.
Die böse Tat den Schächer reut,
Doch nur, weil er den Rächer scheut.
→ Der Rhythmus
Rhythmus meint die gleichmäßige, abgemessene Bewegung (Musik, Lyrik u.a.). Ein
Bestandteil des Rhythmus ist das Versmaß. Aber ein gleiches Metrum ergibt nicht
immer den gleichen Rhythmus. Der Grundrhythmus eines Verses bzw. eines
229
Gedichtes wird zwar vom Metrum wesentlich mitbestimmt; es kommen jedoch andere
Aspekte hinzu, vor allem der Inhalt und die sog. rhythmischen Mittel. Unter
rhythmische Mittel versteht man
den sprecherischen und melodischen Akzent (Tonhöhe, Tonlänge),
die Pausen (Verseinschnitte), abhängig vom Sinn gebenden Sprechen,
das Tempo, abhängig von der Gesamtgestimmtheit,
die Klangfarbe (entsteht durch die wiederholte Folge von Vokalen und bzw.
oder Konsonanten, z.B. Alliterationen)
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass es im Prinzip so viele Arten des
Rhythmus gibt wie Gedichte. Das ist grundsätzlich zwar richtig, denn der Rhythmus
kann die gesamte Bandbreite durchlaufen von gleichmäßig bis zerhackt. Das heißt:
Der Rhythmus kann gleichmäßig-fließend, ruhig-getragen, schreitend, tänzerisch
oder tänzelnd, hüpfend, wogend und drängend sein, aber auch gestaut, holprig und
unruhig-zerhackt.
Jedoch lassen sich bestimmte Rhythmustypen in der Geschichte der Lyrik
ausmachen, die sich unabhängig von Dichter und Zeit immer mal wieder zeigen. Die
wichtigsten seien kurz genannt:
der fließende Rhythmus (eine drängende Bewegung mit Leichtigkeit und
Gleichmäßigkeit wie z.B. in den Liedern)
der strömende Rhythmus (eine ständig weiter drängende Bewegung mit
großem Schwung, großer Spannung und etwas Feierlichkeit)
der tänzerische Rhythmus (gleichmäßig fließend, aber größere Straffheit des
Sprechens und stärkere Akzentuierung der Hebungen)
der bauende Rhythmus (mehrfaches erneutes Einsetzen und Aufsteigen,
Anhalten und Steigern, relativ selbstständige Teile, die ein nachdrückliches
und beherrschtes Sprechen verlangen)
der spröde oder gestaute Rhythmus (Folge mehrerer unterschiedlicher
rhythmischer Einheiten; relativ lange Pausen, die die Bewegung immer
wieder aufhalten)
→ Der Vers
Vers (lat.: versus = Furche, Reihe; Bild vom Pflüger) meint eine Gedichtzeile, eine
rhythmisch und durch eine Taktregel (Metrum) geformte Einheit eines Gedichtes. Im
Laufe der Zeit haben sich bestimmte Versformen bzw. Taktreihen herausgebildet.
Die wichtigsten seinen kurz genannt:
Bei den Versen, in denen der Jambus dominiert, spricht man von den jambisch
steigernden Taktreihen; die wichtigsten sind
der steigernde Viertakter (vier Jamben mit stimmlicher Steigerung zu lesen)
z.B.
Man lobt nâch tode manegen man
der lob zer werlde nie gewan.
(Freidank)
der Knittelvers (vier unregelmäßige, holprige Jamben, bis zu 14 Silben
umfassender Vers)
230
z.B.
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
(Goethe)
der steigernde Fünftakter (fünf Jamben)
z.B.
Ein zart Geheimnis webt in stillen Räumen
die Erde löst die diamantnen Schleifen,
und nach des Himmels süßen Strahlen greifen
die Blumen, die der Mutter Kleid besäumen.
(Eichendorff)
der Blankvers (ungereimter Vers mit fünf Jamben)
z.B.
Es eifre jeder seiner unbestochnen,
Von Vorurteilen freien Liebe nach.
(Lessing)
der steigernder Sechstakter (sechs Jamben; bevorzugter Vers für alle ernsten
Gattungen des hohen Stils in der Antike und im Barock)
z.B. Das Recht des Herrschers üb’ ich aus zum letzten Mal. (Schiller)
der Alexandriner (sechs Jamben mit Zäsur in der Mitte, nach dem dritten
Jambus)
z.B. Wer groß im Kleinen ist, wird größer sein im Großen. (Goethe)
Bei den Versen mit dem Trochäus als Versmaß spricht man von den trochäisch
fallenden Taktreihen; die wichtigsten sind:
der fallende Viertakter (vier Trochäen)
z.B.
Eines nur ist Glück hienieden,
Eins: des Innern stiller Frieden
Und die schuldbefreite Brust.
(Grillparzer)
der fallende Fünftakter (fünf Trochäen)
z.B.
Nach Korinthus von Athen gezogen
Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt.
(Goethe)
der fallende Achtakter (acht Trochäen; Versmaß der römischen Komödie)
z.B. Nächtlich am Busento lispeln bei Consenza dumpfe Lieder
Aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wipfeln klingt es wieder.
(Platen)
Bei den Versen, die von Daktylen gebildet werden spricht man von den daktylisch
doppelfallenden Taktreihen; die wichtigsten sind:
der Hexameter (sechs Daktylen)
z.B. Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen; es grünten und blüten
Feld und Wald; auf Hügeln und Höhen, in Büschen und Hecken
Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel.
(Goethe)
der Pentameter (fünf Daktylen)
z.B. Aber der große Moment findet ein kleines Geschlecht.
231
(Goethe)
→ Die Strophe
Strophe (ursprünglich der gesungene Teil des Chorgesangs) meint die Verbindung
von mehreren Versen von gleichem oder ähnlichem Bau zu einer
zusammengehören-den Einheit. Im Laufe der lyrischen bzw. literaturhistorischen
Entwicklung haben sich etliche Strophenformen herausgebildet. Die wichtigsten sind:
die Volksliedstrophe (gewöhnlich vier Verse umfassend, drei oder vier
Hebungen pro Vers)
die Terzine
(Dreizeiler mit jeweils fünf Jamben und auffälligem
Reimschema, z.B. aba - bcb - cdc -ded ...)
die Kanzonenstrophe (Strophenform des Minnesangs; Zweiteilung:
Aufgesang mit zwei Stollen und Abgesang;
z.B. abc - abc - ded)
die Stanze
(Strophe aus acht Versen mit jeweils fünf Jamben
und besonderem Reimschema, z.B. ab ab ab cc )
das Dichtichon
(Zweizeiler mit jeweils fünf oder sechs Hebungen)
→ Gedichtformen
Formale Einteilung:
Inhaltliche Einteilung:
Idealtypische
Einteilung nach
Lied
Alltagslyrik
der Gestaltung:
• Gesang
• Volkslied
• Kunstlied
Ballade
Arbeiterlyrik
Bildgedichte
Erzählgedichte
Experimentelle Lyrik
• Heldenlied
• Volksballade
• Kunstballade
Ode
Elegie
Hymne
Sonett
Madrigal
Epigramm
Kanzone
Gebrauchslyrik
Gedankenlyrik
Gedichte über Gedichte
Hermetische Lyrik
Kinderlyrik
Konkrete Poesie
Liebeslyrik
Mundartlyrik
Naturlyrik
Ökolyrik
Politische Lyrik
Religiöse Lyrik
Das Liedhafte
(z.B. Naturvorgänge und Erlebnisse in
einfacher
Sprache)
Das Hymnische
(Lob, Preis und
Jubel in erhabener Sprache)
Das Lehrhafte
(z.B. Gedankenlyrik)
Das Erzählerische (z.B. die
Ballade)
232
Weitere Grundbegriffe der Lyrik
Alexandriner
Allegorie :
6-hebiger Jambus mit Zäsur in der Mitte
Verbildlichung eines abstrakten Begriffs, oft in Form der
Personifikation
Bildlichkeit :
Gesamtbegriff für sprachliche und dichterische Mittel, die
abstrakte Sachverhalte anschaulich machen, z.B. Allegorie,
Metapher, Symbol ...
Chiffre :
Stimmungsträger, die der Einbildungskraft einen weiten
Spielraum lassen; in der modernen Dichtung werden Symbole
häufig zu Chiffren reduziert, die die Wirklichkeit verfremden; sie
deuten das Gemeinte nur an
Dinggedicht :
Gedicht, das einen Gegenstand oder ein Lebewesen distanziert
und objektiv, gleichsam aus dem „Ding selbst“ beschreibt
Elegie :
seit der Barockzeit ein Gedichtform zum Ausdruck von Trauer
und Liebe
Emblem :
Sinnbild oder Zeichen mit einem bestimmten Bedeutungsinhalt
(z.B. Ölzweig für Frieden, Palme für Beständigkeit)
Enjambement :
Versbrechung, Zeilensprung; die syntaktische Einheit greift
von einem Vers (Strophe) in den folgenden über
freie Rhythmen :
reimlose Versfolgen - mit oder ohne Strophengliederung - , die
keinem metrischen Schema folgen, sodass jeder Vers von
individueller Länge und Zusammensetzung ist
Hymne :
urspr. kultischer Gesang zum feierlichen Lob und Preis eines
Gottes; heute allgemein: Lob- und Preisgedicht
lyrisches Ich :
der Sprechende im Gedicht, erschließbare dichterische Figur
und vom Autor zu unterscheiden (ähnlich wie der Erzähler in
epischen Texten)
lyrisches Präsens : Bezeichnung für die im Gedicht weithin übliche Gegenwartsform mit durativem (dauernden) Stilwert
Motiv :
sich wiederholende, vorgeprägte typische Textteile (z.B. ein
Begriff oder eine Grundsituation wie das Lösen eines Rätsels
oder die Feindschaft zwischen Familien oder die Begegnung
eines Liebenden mit dem Geist der toten Geliebten u.ä.
Ode :
lyrische Form eines strophisch gebauten feierlichen Gedichtes
Quartett :
Vierzeilenstrophe beim Sonett
Refrain :
Kehrreim; in strophischen Gedichten am Ende der Strophen
stets wiederkehrende Verse
Terzett :
Dreizeilenstrophe beim Sonett
Terzine :
dreizeilige Strophe nach dem Reimschema aba, bcb, cdc ...
zyz (Kettenreim)
Volkslied :
jedes Lied, das in schlichter Symbolik (goldener Ring,
zerbrochenes Mühlrad u.ä.) einfaches Naturempfinden oder
elementares menschliches Fühlen ausdrückt: Lust und Leid,
Schmerz der Trennung, Abschied und Wiederkehr usw.
Zäsur :
Einschnitt, Pause in einer meist längeren Verszeile (z.B. im
Alexandriner)
(Die wichtigsten stilistischen Mittel finden Sie im „Anhang“.)
233
Methodische Tipps für die Gedichtinterpretation
Wenn Sie ein Gedicht nach dem ersten Lesen nicht sogleich verstanden haben, so
ist das ganz normal. Denn schließlich hat sich der Autor in der Regel viel Mühe
gegeben, vielleicht sogar wochen- oder monatelang um die Form gerungen, um
seine Intention optimal auszudrücken. Da wäre es ja fast ein Wunder, wenn man als
Leser das Ergebnis dieser mühevollen Arbeit schon auf den ersten Blick erfassen
könnte. Deshalb sollten Sie zunächst das Gedicht mehrmals und wenn möglich auch
laut lesen. Das mehrmalige Lesen oder Hören des Textes kann einige Verständnisprobleme lösen und gute Zugänge zur Aussageabsicht eröffnen. Zum Wesen der
Literatur gehört, dass sie nicht eindeutig ist oder auf eine absolute Wahrheit
ausgerichtet ist, die der Leser finden muss. Wir fragen also heute nicht mehr: Was
wollte uns der Autor sagen? Interpretieren heißt: deuten, sich annähern, annähern an
ein mögliches und wahrscheinliches Verständnis dessen, was der Autor mit seinem
Gedicht beabsichtigt hat.
Wenn wir sagen: Literatur ist vieldeutig, vielschichtig, polyvalent, so treffen wir damit
ein Wesensmerkmal von Literatur. Aber diese Aussage bedeutet nicht, dass nun alle
Deutungen gleich „zutreffend“ sind, dass alles willkürlich ist. Das Gedicht selbst gibt
dem Leser Hinweise und Hilfen, um ein mögliches und wahrscheinliches Verständnis
der Intention zu finden. Da ist der Text, der Titel, das Thema und vor allem die Form,
die Struktur und die kunstvolle Sprache.
Wie Sie bei der Betrachtung des Mörike-Gedichtes gesehen haben, bietet die
Herangehensweise über die äußere Form gute Zugänge zum Gedicht und zur
Intention. Diese Methodik bietet sich auch deswegen an, weil Sie zunächst mit
handfesten Aspekten, also sozusagen mit empirisch nachweisbaren Fakten,
beginnen können. Dass das betreffende Gedicht so viele Strophen umfasst, dass
jede Strophe so viele Zeilen besitzt, dass die Zeilen so viele Metren hat, dass das
Reimschema so oder so aussieht, sind ja wohl (in der Regel) unstrittige
Gegebenheiten. Hat man diese Dinge bei einem Gedicht festgestellt, bekommt man
mit dem „Bild“ der äußeren Form schon deutliche Hinweise. Das Bild der äußeren
Form vom Mörike-Gedicht lenkt - wie wir gesehen haben - die Aufmerksamkeit des
Lesers sofort auf die vorletzte Zeile mit der Waise und eröffnet möglicherweise den
entscheidenden Zugang zum Gedicht.
Aus einem zweiten Grund heraus empfiehlt sich die Herangehensweise über die
Form. Da in der Lyrik Form und Inhalt unmittelbarer zusammengehören als bei den
anderen literarischen Gattungen, müssen die Frage nach der Form und die Frage
nach dem Verhältnis von Form und Inhalt hierbei ergiebiger sein.
Für die Frage nach der Form bieten sich geeignete W - Fragen an:
Um welche Gedichtform handelt es sich?
Was für eine Strophenform liegt vor?
Welche Metren (Versfüße) lassen sich ausmachen?
Wie sieht das Versmaß aus?
Welches Reimschema wird verfolgt?
Wie sieht der Satzbau bzw. das Verhältnis von Zeile und Satzbau aus?
Welche Wortwahl trifft der Autor?
Wer spricht das Gedicht bzw. ist das lyrische Ich erkennbar?
234
Für die Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt kann man fragen:
Was ist das Thema des Gedichtes?
Passt die Wortwahl zum Thema bzw. was sagt die Wortwahl über die
Einstellung des Autors zum Thema aus?
Hält der Dichter Formen ein oder durchbricht er sie (Reimschema, Strophen,
Versmaß, Satzbau, Grammatik) ?
Wann wurde das Gedicht geschrieben? Was weiß ich über diese Zeit bzw.
Literaturepoche?
Was weiß ich über den Autor des Gedichtes?
Eine systematisierte „Methodik der Gedichtinterpretation“ kann so aussehen:
I.
Einleitung
II.
Analyseteil
- allgemeine Angaben zum Gedicht, Autor und Thema
- Angaben zur Entstehungszeit (wenn bekannt)
1. Formbeschreibung
- Beschreibung des äußeren Aufbaus (Strophe, Zeile)
- Angaben zur Gedichtform (Sonett, Ode ...)
- Angaben zum Reim und Reimschema
- Angaben zum Metrum und Rhythmus
- Angaben zum Vers und Satzbau (Kongruenz X)
- Zusammenfassung: Darlegungen zur Gesamtwirkung der
optisch-klanglichen Mittel (Regelmäßigkeit, Harmonie, Brüche)
2. Inhalts- und Sprachanalyse
- Angaben zum Gedichttyp (z.B. Naturlyrik)
- Darlegung der inhaltlichen Abfolge in den Strophen bzw. Zeilen
- Angaben zur Sprachgestaltung (stilistische Mittel
- Herstellen von Querverbindungen von Inhalt und Sprache
- Angaben zum lyrischen Ich: Einstellung zum Gegenstand oder
Problem
3. Interpretation
- Darlegung der Intention: Zusammenfassung der
- inhaltlichen und formalen Analyse in Hinblick
- auf die Aussageabsicht des Autors
- Einordnung des Gedichtes bzw. der Intention in
den literaturhistorischen Zusammenhang
III.
Schluss
(Abrundung der Darstellung, z.B. mit einer wertenden
Stellungnahme zum Gedicht, zu seiner Aussage und Wirkung)
235
Beispiel einer Gedichtinterpretation
Aufgabenart : Textinterpretation
Aufgabe :
Analysieren und interpretieren Sie das Gedicht „Er Ist’s“ von
Eduard Mörike.
Beim vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Er Ist’s“, das 1828 von
E. Mörike veröffentlicht worden ist. Es ist ein einstrophiges Gedicht mit neun Zeilen.
Die Zeilen sind unterschiedlich lang, sodass der erste Eindruck weder Harmonie
noch Gleichförmigkeit vermittelt. Als Metrum ist durchgängig der Trochäus gewählt.
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich eine deutliche Zweiteilung des Gedichtes, die
durch Taktanzahl und Reimschema bestätigt wird. Denn die Zeilen 1 – 4 haben
jeweils vier Takte, die Zeilen 5, 6, 8, 9 drei Takte und die auffällig lange Zeile 7
umfasst fünf Takte. Das Reimschema zeigt eine besonders kunstvolle Gestaltung
und eine deutliche Auffälligkeit: abba cdcwd. Die Zeilen 1 – 4 werden bestimmt durch
einen umfassenden Reim (a) und einen Paarreim (b); der zweite Teil, Z. 5 – 9, würde
einen Kreuzreim aufweisen, wenn, ja, wenn da nicht in Z. 7 eine Waise eingefügt
wäre. Diese zweifache Besonderheit dieser Zeile, nämlich die Waise und die
Zeilenlänge, muss die Inhaltsanalyse aufklären. Hier ist zum Reimschema noch zu
sagen, dass die Reimschlüsse gemäß den Reimen männliche (a,c,w) und weibliche
Kadenzen (b,d) aufweisen.
Die Formanalyse hat ergeben, dass erst der zweite, genauere Blick auf das Gedicht
die kunstvolle Gestaltung offenbart. Allerdings wird auch deutlich, dass der Dichter
mit der auffälligen 7. Zeile dem Leser einen deutlichen Hinweis geben wollte.
Wenden wir uns im Folgenden dem Inhalt und der Sprachverwendung zu. Der
sachliche Titel des Gedichtes, „Er ist’s“, verrät nichts über Thema und Inhalt; er soll
die Neugierde des Lesers wecken und zum Lesen auffordern. Das Gedicht beginnt
mit Beschreibungen von Naturwahrnehmungen (Z. 1 – 4), wobei schon zugleich
deutlich wird, dass nicht die äußeren Naturerscheinungen im Zentrum stehen,
sondern die subjektive Wahrnehmung des lyrischen Ich. Denn die Vorboten des
Frühlings sind Sinneseindrücke, die durch Auge, Geruch und Gehör vermittelt
werden. Bestätigt wird diese subjektive Wahrnehmung durch eine metaphorische
Sprache, die im Leser bekannte Bilder und Assoziationen der ersehnten Jahreszeit
lebendig werden lässt.
Zunächst wird die Farbe des Frühlings angesprochen. Dabei wird der Frühling
personifiziert und mit zwei Qualitäten ausgestattet. Die schon erwähnte Farbe ist mit
der Metapher „blaues Band“ beschrieben; blau deutet auf die Himmelsfarbe, das
Band zeigt das Umfassende, das alles Verbindende an. In Verbindung mit dem
blauen Band steht die Verbmetapher „flattert“ (Z. 2). Das Flattern spiegelt das sanfte,
aber entschlossene Heranrücken des Frühlings wie das Flattern einer Siegesfahne.
Auch die zweiten Vorboten des Frühlings, die „Düfte“, sind personifiziert. Sie sind mit
aufwertenden Adjektiven („süße, wohlbekannte“) versehen und ihr Tun in eine
Verbmetapher („streifen“) gekleidet, die zudem mit einer auffälligen
Modalbestimmung („ahnungsvoll“) verstärkt wird. Diese Wortwahl unterstreicht die
positiven Erwartungen, die der Frühling weckt, und lässt eine romantische Stimmung
anklingen.
Während die Zeilen 1 – 4 Sinneseindrücke widerspiegeln, wird in den folgenden zwei
Zeilen ein konkretes Frühlingsphänomen bzw- -symbol angesprochen. Auch die
„Veilchen“ (Z. 5) sind personifiziert, ihnen wird ein menschliches Erleben („träumen“)
236
und ein Bestreben zugesprochen: Sie drängen danach, sich endlich zu zeigen als
Fanale der heranrückenden Jahreszeit. Natürlich soll der Leser hierbei die Farbe und
den Duft der Veilchen als Bestätigung des in Z. 1 – 4 Gesagten entdecken.
Die schon mehrfach angesprochene 7. Zeile beginnt mit einem Gedankenstrich,
sozusagen die Ruhe vor dem Sturm oder hier: ein Innehalten vor der entscheidenden
Gewissheit. Wir, die Leser, werden angesprochen und mit einem Imperativ (Horch“)
aufgefordert, unsere ganze Konzentration auf unser Gehör zu richten, um aus der
Ferne einen „Harfenton“ zu vernehmen. Es ist nur „ein leiser Harfenton“, weshalb
man ihn nur äußerst konzentriert wahrnehmen kann. Die Wortwahl „Harfenton“ soll in
uns alle Assoziationen hervorrufen, die sich mit dem vornehen, erhabenen
Instrument verbinden. Die akustische Wahrnehmung wird hier zur Gewissheit. Alles,
was zuvor gesagt wurde, sind Ahnungen, sinnliche Vorboten des Frühlings. Der
Harfenton ist der Beweis für den endgültigen Einzug des Frühlings. Um dieses Ende
des sehnsüchtigen Wartens, um die endgültige Gewissheit, um die erhoffte Erlösung
besonders deutlich herauszuheben, ist diese Verszeile auch formal zweifach
herausgehoben (Verslänge, Waise).
Nach dieser Gewissheit, nach dem Beweis des Frühlings entläd sich die Freude des
lyrische Ich in einem enthusiastischen Ausruf (Z. 8, 9). Der Frühling wird dreimal
angesprochen, die Gewissheit bestätigt („ja du bist’s“) und nochmals wiederholt
(Z. 9). Wieder wird der Frühling personifiziert, er wird direkt angesprochen und
überschwänglich begrüßt. Der Enthusiasmus des lyrischen Ich wird auch mit den drei
Ausrufezeichen jeweils am Ende der letzten drei Zeilen unterstrichen.
Die Analyse hat ergeben, dass es sich bei dem Gedicht nicht um reine Naturlyrik
handelt. Denn die äußere Veränderung in der Natur wird hier als innere seelische
Erfahrung erlebt. Nicht die Natur steht hier im Zentrum, sondern das innere Erlebnis
des lyrischen Ich. Der Vorfrühling ist Anlass, Auslöser, er wird erlebt als
übermächtiges, lebendiges Wesen (Personifikation), das unser Gemüt für
Sinneseindrücke öffnet, die unmittelbar das seelisch-geistige Empfinden anrühren.
Die Veränderungen in der Natur beim Übergang vom Winter zum Frühling finden ihre
Entsprechung in den Veränderungen im Menschen. In seinem Inneren erlebt er das,
was in der äußeren Natur geschieht.
Es ist klar, dass eine solche Betrachtungsweise aus einer Zeit stammen muss, in der
der Mensch–Natur-Zusammenhang als ein unmittelbarer gesehen wurde. Der
Mensch ist hier Teil der Natur und in ihr aufgehoben. Die Natur ist nicht Objekt,
sondern ein göttlicher, allumfassender Organismus, der sich im Subjekt spiegelt.
Diese Denkweise finden wir in der Empfindsamkeit, beim jungen Goethe, bei
Klopstock u.a., aber vor allen in der Romantik. Auch wenn Mörike in der
Literaturgeschichte in die Biedermeier-Epoche eingeordnet wird, so muss beim
vorliegenden Gedicht gesagt werden, dass es sich um ein romantisches Gedicht
handelt. Dafür sprechen die Wahl des Themas (Mensch-Natur), die Wahl des Genres
(Erlebnislyrik), die metaphorische Sprache, hier besonders die Verwendung von
„ahnungsvoll“ (Ahnung oder Ahndung ist ein Hochwertbegriff der Romantik) und nicht
zuletzt die Intention des Gedichtes.
237
Ludwig Heinrich Christoph Hölty
Frühlingslied
Die Luft ist blau, das Tal ist grün,
Die kleinen Maienglocken blühn
Und Schlüsselblumen drunter;
Der Wiesengrund
Ist schon so bunt
Und malt sich täglich bunter.
Drum komme, wem der Mai gefällt
Und freue sich der schönen Welt
Und Gottes Vatergüte,
Die solche Pracht
Hervorgebracht,
Den Baum und seine Blüte.
Ludwig Uhland
Frühlingsglaube
Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht,
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.
Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiß nicht, was noch werden mag,
Das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal :
Nun, armes Herz, vergiss die Qual!
Nun muss sich alles, alles wenden.
Rainer Maria Rilke
Vorfrühling
Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
An der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,
Greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigen’s.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum
Friedrich Hölderlin
238
Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Rainer Maria Rilke
Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
Und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
Dränge sie zur Vollendung hin und jage
Die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
Und wird in den Alleen hin und her
Unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Oktoberlied
Theodor Storm
Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!
Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt,
So gänzlich unverwüstlich!
239
Und wimmert auch einmal das Herz, Stoß an und lass es klingen!
Wir wissen’s doch, ein rechtes Herz
Ist gar nicht umzubringen.
Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den ganzen Tag
Vergolden, ja vergolden!
Wohl ist es Herbst; doch warte nur,
Doch warte nur ein Weilchen!
Der Frühling kommt, der Himmel lacht,
Es steht die Welt in Veilchen.
Die blauen Tage brechen an,
Und ehe sie verfließen,
Wir wollen sie, mein wackrer Freund,
Genießen, ja Genießen!
Verfall
Georg Trakl
Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.
Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.
Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.
Mondnacht
Joseph von Eichendorff
Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.
240
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Der Panther
Rainer Maria Rilke
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
So müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
Und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
Der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
Ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
In der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
Sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
Geht durch der Glieder angespannte Stille Und hört im Herzen auf zu sein.
Fragen eines lesenden Arbeiters
Bertolt Brecht
Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war
Die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang,
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.
Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
241
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?
Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?
So viele Berichte.
So viele Fragen.
Kurt Marti
Eine Leichenrede
als sie mit zwanzig
ein kind erwartete
wurde ihr heirat
befohlen
als sie geheiratet hatte
wurde ihr verzicht
auf alle studienpläne
befohlen
als sie mit dreißig
noch unternehmenslust zeigte
wurde ihr dienst im haus
befohlen
als sie mit vierzig
noch einmal zu leben versuchte
wurde ihr anstand und tugend befohlen
als sie mit fünfzig
verbraucht und enttäuscht war
zog ihr mann
zu einer jüngeren frau
liebe gemeinde
wir befehlen zu viel
wir gehorchen zu viel
wir leben zu wenig
242
Ingeborg Bachmann
Reklame
Wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
heiter
angesichts eines Endes
mit musik
und wohin tragen wir
am besten
unsere Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille
eintritt
Karl Krolow
Müdigkeit
Die Luft ist heißgebackener
Staub.
Mit verklebtem Auge
lebt schattenlos die Müdigkeit.
Langsam fällt eine Hand
aus der Tasche zu Boden.
Die mit Wasser begossenen
Blätter erinnern an Grün.
Vergeblich versuche ich,
eine Beziehung herzustellen
zwischen einer stillstehenden Uhr
und dem Licht.
243
Textsorte Balladen
Johann Wolfgang von Goethe
Der Erlkönig
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlkönig mit Kron’ und Schweif? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. „Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind!
In dürren Blättern säuselt der Wind. „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn,
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau
Es scheinen die alten Weiden so grau. „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“ Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,
Er hält in den Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Müh und Not
In seinen Armen das Kind war tot.
244
Johann Wolfgang von Goethe
Der Zauberlehrling
Ach! Und hundert Flüsse
Stürzen auf mich ein.
Nein, nicht länger
Kann ich’s lassen;
Will ihn fassen.
Das ist Tücke!
Ach, nun wird mir immer bänger!
Welche Miene, welche Blicke!
Hat der alte Hexenmeister
Sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
Auch nach meinem Willen leben.
Seine Wort’ und Werke
Merkt’ ich und den Brauch,
Und mit Geistesstärke
Tu’ ich Wunder auch.
Walle! Walle
Manche Strecke,
Dass zum Zwecke
Wasser fließe
Und mit reichem, vollem Schwalle
Zu dem Bade sich ergieße.
O, du Ausgeburt der Hölle!
Soll das ganze Haus ersaufen?
Seh’ ich über jede Schwelle
Doch schon Wasserströme laufen.
Ein verruchter Besen,
Der nicht hören will!
Stock, der du gewesen,
Steh doch wieder still!
Willst’s am Ende
Gar nicht lassen?
Will dich fassen,
Will dich halten
Und das alte Holz behände
Mit dem scharfen Beile spalten.
Und nun komm, du alter Besen!
Nimm die schlechten Lumpenhüllen;
Bist schon lange Knecht gewesen;
Nun erfülle meinen Willen!
Auf zwei Beinen stehe,
Oben sei ein Kopf,
Eile nun und gehe
Mit dem Wassertopf!
Walle! Walle
Manche Strecke,
Dass zum Zwecke
Wasser fließe
Und mit reichem, vollem Schwalle
Zu dem Bade sich ergieße.
Seht, da kommt er schleppend wieder!
Wie ich mich nur auf dich werfe,
Gleich, o Kobold, liegst du nieder;
Krachend trifft die glatte Schärfe.
Wahrlich! Brav getroffen!
Seht, er ist entzwei!
Und nun kann ich hoffen.
Und ich atme frei.
Wehe! Wehe!
Beide Teile
Stehn in Eile
Schon als Knechte
Völlig fertig in die Höhe!
Helft mir, ach! Ihr hohen Mächte!
Seht, er läuft zum Ufer nieder;
Wahrlich! Ist schon an dem Flusse,
Und mit Blitzesschnelle wieder
Ist er hier mit raschem Gusse
Schon zum zweiten Male!
Wie das Becken schwillt!
Wie sich jede Schale
Voll mit Wasser füllt!
Stehe! Stehe!
Denn wir haben
Deiner Gaben
Vollgemessen! Ach, ich merk’ es! Wehe! Wehe!
Hab’ ich doch das Wort vergessen!
Und sie laufen! Nass und nässer
Wird’s im Saal und auf den Stufen.
Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister! Hör mich rufen! Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Wird ich nun nicht los.
“ In die Ecke,
Besen, Besen!
Seid’s gewesen!
Denn als Geister
Ruft euch nur zu seinem Zwecke
Erst hervor der alte Meister."
Ach! das Wort, worauf am Ende
Er das wird, was er gewesen.
Ach, er läuft und bringt behände!
Wärst du doch der alte Besen!
Immer neue Güsse
Bringt er schnell herein,
245
Friedrich Schiller
Die Bürgschaft
Da stößt kein Nachen vom sichern Strand,
Der ihn setze an das gewünschte Land,
Kein Schiffer lenket die Fähre,
Und der wilde Strom wird zum Meere.
Zu Dionys, dem Tyrannen schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
„Die Stadt vom Tyrannen befreien!“ „Das sollst du am Kreuze bereuen.!“ -
Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
Die Hände zum Zeus erhoben:
„O hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
Die Sonne, und wenn sie niedergeht
Und ich kann die Stadt nicht erreichen,
So muss der Freund mir erbleichen.“
„Ich bin“, spricht jener, „zu sterben bereit
Und bitte nicht um mein Leben;
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
Ich lasse den Freund dir als Bürgen Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.“
Doch wachsend erneut sich des Stromes
Wut,
Und Welle auf Welle zerrinnet,
Und Stund an Stunde entrinnet.
Da treibt ihn die Angst, da fasst er sich
Mut
Und wirft sich hinein in die brausende Flut,
Und teilt mit gewaltigen Armen
Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.
Da lächelt der König mit arger List
Und spricht nach kurzem Bedenken:
„Drei Tage will ich dir schenken.
Doch wisse, wenn verstrichen, die Frist,
Eh du zurück mir gegeben bist,
So muss er statt deiner erblassen,
Doch dir ist die Strafe erlassen.“
Und gewinnt das Ufer und eilet fort
Und danket dem rettenden Gotte;
Da stürzet die raubende Rotte
Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
Den Pfad ihm sperrend, und schnaubet
Mord
Und hemmt des Wanderers Eile
Mit drohend geschwungener Keule.
Und er kommt zum Freunde: „Der König
gebeut,
Dass ich am Kreuz mit dem Leben
Bezahle das frevelnde Streben;
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit.
So bleib du dem König zum Pfande,
Bis ich komme, zu lösen die Bande.“
„Was wollt ihr?“, ruft er, vor Schrecken
bleich,
„Ich habe nichts als mein Leben,
Das muss ich dem Könige geben!“
Und entreißt die Keule dem nächsten
gleich:
„Um des Freundes willen erbarmet euch!“
Und drei mit gewaltigen Streichen
Erlegt er, die andern entweichen.
Und schweigend umarmt ihn der treue
Freund
Und liefert sich aus dem Tyrannen,
Der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
Hat er schnell dem Gatten die Schwester
vereint,
Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.
Da gießt unendlicher Regen herab,
Von den Bergen stürzen die Quellen,
Und die Bäche, die Ströme schwellen.
Und er kommt ans Ufer mit wanderndem
Stab Da reißet die Brücke der Strudel hinab,
Und donnernd sprengen die Wogen
Des Gewölkes krachenden Bogen.
Und die Sonne versendet glühenden
Brand,
Und von der unendlichen Mühe
Ermattet sinken die Kniee:
„O hast du mich gnädig aus Räubershand,
Aus dem Strom mich gerettet ans heilige
Land,
Und soll hier verschmachtend verderben,
Und der Freund mir , der liebende,
sterben!“
Und trostlos irrt er an Ufers Rand;
Wie weit er auch spähet und blicket
Und die Stimme, die rufende schicket -
Und horch! Da sprudelt es silberhell
Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen,
Und stille hält er, zu lauschen;
246
Ein Retter, willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blutge Tyrann sich nicht,
Dass der Freund dem Freunde gebrochen
die Pflicht,
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue!“
Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig,
schnell,
Springt murmelnd hervor ein
lebendigerQuell,
Und freudig bückt er sich nieder
Und erfrischet die brennenden Glieder.
Und die Sonne blickt durch der Zweige
Grün
Und malt auf den glänzenden Matten
Der Bäume gigantischen Schatten;
Und zwei Wanderer sieht er die Straße
ziehn,
Will eilenden Laufes vorüber flieht,
Da hört er die Worte sie sagen:
„Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.“
Und die Sonne geht unter, da steht er am
Tor
Und sieht das Kreuz schon erhöhet,
Das die Menge gaffend umstehet;
An dem Seile schon zieht man den Freund
empor,
Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
„Mich, Henker!“, ruft er, „erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!“
Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
Ihn jagen der Sorgen Qualen;
Da schimmern in Abendrots Strahlen
Von fern die Zinnen von Syrakus,
Und entgegen kommt ihm Philostratus,
Des Hauses redlicher Hüter
Der erkennt entsetzt den Gebieter:
Und Erstaunen ergreift das Volk umher,
In den Armen liegen sich beide
Und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
Und zum König bringt man die
Wundermär;
Der fühlt ein menschliches Rühren,
Lässt schnell vor den Thron sie führen.
„Zurück! Du rettest den Freund nicht mehr,
So rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet’ er
Mit hoffender Seele der Wiederkehr,
Ihm konnte den mutigen Glauben
Der Hohn des Tyrannen nicht rauben.“ -
Und blicket sie lange verwundert an;
Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen,
Ihr habt das Herz mir bezwungen,
Und die Treue, sie ist doch kein leerer
Wahn So nehmet auch mich zum Genossen an.
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der Dritte.“
„Und ist es zu spät, und kann ich ihm
nicht,
Annette von Droste-Hülshoff
Der Knabe im Moor
O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!
Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnlenor',
Die den Haspel dreht im Geröhre!
Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt als ob man es jage;
Hohl über der Fläche sauset der Wind Was raschelt da drüben im Hage?
Das ist der gespentische Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe
verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.
Voran, voran! Nur immer im Lauf,
Voran, als woll' es ihn holen;
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigemann ungetreu,
247
Ein Gräber im Moorgeschwehle.
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!
Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war's fürchterlich,
O schaurig war's in der Heide!
Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
"Ho, ho, meine arme Seele!"
Der Knabe springt wie ein wundes Reh,
Wär nicht Schutzengel in seiner Näh',
Seine bleichenden Knöchelchen fände
spät
Heinrich Heine
Belsazar
Nur oben in des Königs Schloss,
Da flackert's, da lärmt des Königs Tross.
Und der König ergriff mit frevler Hand
Einen heiligen Becher, gefüllt bis am
Rand.
Und er leert ihn hastig bis auf den Grund
Und ruft laut mit schäumendem Mund:
Dort oben in dem Königssaal
Belsazar hielt sein Königsmahl.
"Jehovah! dir künd ich auf ewig Hohn Ich bin der König von Babylon!"
Die Knechte saßen in schimmernden
Reihn
Und leerten die Becher mit funkelndem
Wein.
Doch kaum das grause Wort verklang,
Dem König ward's heimlich im Busen
bang.
Die Mitternacht zog näher schon;
In stummer Ruh lag Babylon.
Das gellende Lachen verstummte zumal;
Es wurde leichenstill im Saal.
Es klirrten die Becher, es jauchzten die
Knecht;
So klang es dem störrigen Könige recht.
Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Das kam's hervor, wie Menschenhand;
Des Königs Wangen leuchten Glut;
Im Wein erwuchs ihm kecker Mut.
Und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer und schrieb und
schwand.
Und blindlings reißt der Mut ihn fort;
Und er lästert die Gottheit mit sündigem
Wort.
Der König stieren Blicks da saß,
Mit schlotternden Knien und totenblass.
Und er brüstet sich frech und lästert wild;
Die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.
Die Knechtschar saß kalt durchgraut,
Und saß gar still, gab keinen Laut.
Der König rief mit stolzem Blick;
Der Diener eilt und kehrt zurück.
Die Magier kamen, doch keiner verstand
Zu deuten die Flammenschrift an der
Wand.
Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;
Das war aus dem Tempel Jehovahs
geraubt.
Belsazar ward aber in selbiger Nacht
Von seinen Knechten umgebracht.
248
Theodor Fontane
Die Brück’ am Tay
(28. Dezember 1879)
meet again?
When shall we three
Macbeth
„Wann treffen wir drei wieder zusamm'?“
„Um die siebente Stund', am Brückendamm.“
„Am Mittelpfeiler.“
„Ich lösche die Flamm'.“
„Ich mit.“
„Ich komme vom Norden her.“
„Und ich von Süden.“
„Und ich vom Meer.“
„Hei, das gibt einen Ringelreihn,
Und die Brücke muss in den Grund hinein.“
„Und der Zug, der in die Brücke tritt
Um die siebente Stund'?“
„Ei der muss mit.“
„Muss mit.“
„Tand, Tand,
Ist das Gebilde von Menschenhand!“
Auf der Norderseite, das Brückenhaus Alle Fenster sehen nach Süden aus,
Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
Und in Bangen sehen nach Süden zu,
Sehen und warten, ob nicht ein Licht
Übers Wasser hin „ich komme“ spricht,
„Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,
Ich, der Edinburger Zug.“
Und der Brückner jetzt: „Ich seh einen Schein
Am anderen Ufer. Das muss er sein.
Nun Mutter, weg mit dem bangen Traum,
Unser Johnie kommt und will seinen Baum,
Und was noch am Baume von Lichtern ist,
Zünd' alles an wie zum heiligen Christ,
Der will heuer zweimal mit uns sein Und in elf Minuten ist er herein.“
Und es war der Zug. Am Süderturm
Keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
Und Johnie spricht:“Die Brücke noch!
Aber was tut es, wir zwingen es doch.
Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
Die bleiben Sieger in solchem Kampf,
Und wie's auch rast und ringt und rennt,
Wir kriegen es unter, das Element.
249
Und unser Stolz ist unsre Brück';
Ich lache, denk ich an früher zurück,
An all den Jammer und all die Not
Mit dem elend alten Schifferboot;
Wie manche liebe Christfestnacht
Hab ich im Fährhaus zugebracht,
Und sah unsrer Fenster lichten Schein,
Und zählte und konnte nicht drüben sein.“
Auf der Norderseite, das Brückenhaus Alle Fenster sehen nach Süden aus,
Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
Und in Bangen sehen nach Süden zu;
Denn wütender wurde der Winde Spiel,
Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel,
Erglüht es in niederschießender Pracht
Überm Wasser unten ... Und wieder ist Nacht.
„;Wann treffen wir drei wieder zusamm'?“
„Um Mitternacht, am Bergeskamm.“
„Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm.“
Ich komme.“
„Ich mit.“
„Ich nenn euch die Zahl.“
„Und ich die Namen.“
„Und ich die Qual.“
„Hei! Wie Splitter brach das Gebälk entzwei!“
„Tand, Tand,
Ist das Gebilde von Menschenhand.“
Wolf Biermann
Ballade auf den Dichter FranÇois Villon
1
Mein großer Bruder Franz Villon
Wohnt bei mir mit auf Zimmer
Wenn Leute bei mir schnüffeln gehn
Versteckt Villon sich immer
Dann drückt er sich in’ Kleiderschrank
Mit einer Flasche Wein
Und wartet bis die Luft rein ist
Die Luft ist nie ganz rein
Er stinkt, der Dichter, blumensüß
Muss er gerochen haben
Bevor sie ihn vor Jahr und Tag
Wie’n Hund begraben haben
Wenn mal ein lieber Freund da ist
Vielleicht drei schöne Fraun
Dann steigt er aus dem Kleiderschrank
Und trinkt bis morgengraun
Und singt vielleicht auch mal ein
Lied
Balladen und Geschichten
Vergisst er seinen Text, soufflier
Ich ihm aus Brechts Gedichten
2
Mein großer Bruder Franz Villon
War oftmals in den Fängen
Der Kirche und der Polizei
Die wollten ihn aufhängen
Und er erzählt, er lacht und weint
Die dicke Margot dann
Bringt jedesmal zum Fluchen
Den alten dicken Mann
250
Ich wüsste gern, was die ihm tat
Doch will ich nicht drauf drängen
Ist auch schon lange her
Er hat mit seinen Bittgesängen
Mit seinen Bittgesängen hat
Villon sich oft verdrückt
Aus Schuldturm und aus Kerkerhaft
Das ist ihm gut geglückt
Mit seinen Bittgesängen zog
Er sich oft aus der Schlinge
Er wollt nicht, dass sein Hinterteil
Ihm schwer am Halse hinge
Drei Pfund Patronenblei
Und flucht und spuckt und ist doch voll
Verständnis für uns zwei
5
Natürlich kam die Sache raus
Es lässt sich nichts verbergen
In unserm Land ist Ordnung groß
Wie bei den sieben Zwergen
Es schlugen gegen meine Tür
Am Morgen früh um 3
Drei Herren aus dem großen Heer
Der Volkespolizei
„Herr Biermann“ - sagten sie zu mir „Sie sind uns wohl bekannt
Als treuer Sohn der DDR
Es ruft das Vaterland
Gestehen Sie uns ohne Scheu
Wohnt nicht seit einem Jahr
Bei Ihnen ein gewisser
Franz Fillonk mit rotem Haar?
Ein Hetzer, der uns Nacht für Nacht
In provokanter Weise
Die Grenzsoldaten bange macht!“
- ich antworte leise:
3
Die Eitelkeit der höchsten Herrn
Konnt meilenweit er riechen
Verewigt hat er manchen Arsch
In den er musste kriechen
Doch scheißfrech war FranÇois Villon
Mein großer Zimmergeist
Hat er nur freie Luft und roten
Wein geschluckt, geprasst
Dann sang er unverschämt und
schön
Wie Vögel frei im Wald
Beim Lieben und beim Klauengehn
Nun sitzt er da und lallt
Der Wodkaschnaps aus Adlershof
Der drückt ihn aufs Gehirn
Mühselig liest er das „ND“
(Das Deutsch tut ihn verwirrn)
Zwar hat man ihn als Kind gelehrt
Das hohe Schul-Latein
Als Mann jedoch ließ er sich mehr
Mit niederm Volke ein
6
„Jawohl, er hat mich fast verhetzt
Mit seinen frechen Liedern
Doch sag ich Ihnen im Vertraun:
Der Schuft tut mich anwidern!
Hätt ich in diesen Tagen nicht
Kurellas Schrift gelesen
Von Kafka und der Fledermaus
Ich wär verlorn gewesen
Er sitzt im Schrank, der Hund
Ein Glück, dass Sie ihn endlich holn
Ich lief mir seine Frechheit längst
ab von den Kindersohln
Ich bin ein frommer Kirchensohn
Ein Lämmerschwänzchen bin ich
Ein stiller Bürger. Blumen nur
In Liedern sanft besing ich.“
4
Besuch mich abends mal Marie
Dann geht Villon solang
Spazieren auf der Mauer und
Macht dort die Posten bang
Die Kugeln gehen durch ihn durch
Doch aus den Löchern fließt
Bei Franz Villon nicht Blut heraus
Nur Rotwein sich ergießt
Dann spielt er auf dem Stacheldraht
Aus Jux die große Harfe
Die Grenzer schießen Rhythmus zu
Verschieden nach Bedarfe
Erst wenn Marie mich gegen früh
Fast ausgetrunken hat
Und steht Marie ganz leise auf
Zur Arbeit in die Stadt
Dann kommt Villon und hustet wild
Die Herren von der Polizei
Erbrachen dann den Schrank
Sie fanden nur Erbrochenes
Das mählich niedersank
251
252
1.1.3. Die Dramatik
Formen des Dramas:
1. Tragödie
Griechische Tragödie
Klassische Tragödie
Historisches Ideendrama
Bürgerliches Trauerspiel
Soziales Drama
Schauspiel
4. Lustspiel
Comedie larmoyante
Unterhaltungslustspiel
Romantisches Lustspiel
Konversationslustspiel
Dramatischer Schwank
5. Sonderformen
2. Komödie
Volksstück
Antike Komödie
Charakterkomödie
Intrigenkomödie
Situationskomödie
Dramatische Satire
Tendenzstück
Formen in Verbindung
mit Musik:
Singspiel
Operette Oper
Musical
3. Tragikomödie
Hörspiel
Film
Fernsehspiel
Drama ist der Oberbegriff für die dichterische Gestaltung eines durch
Rollenträger vorgeführten Geschehens. Ein Drama ist in Redeform (Dialog,
Monolog) geschrieben; es ist eine Sprechhandlung.
Der Sprechtext kann durch erklärende Informationen und Regieanweisungen
ergänzt werden, z.B. wann und wo eine Handlung spielt, wie sich der Autor die
Bühnengestaltung vorstellt usw. Diese Informationen gehören nicht zum
Sprechtext, sondern richten sich an den Regisseur, an die Schauspieler.
Ein Drama unterteilt sich in Akte und Szenen bzw. Szenenfolgen. Im
klassischen Drama besteht ein Akt aus mehreren Szenen. Szenen können
durch Ortswechsel oder Personenwechsel voneinander abgegrenzt sein. Die
deutsche Bezeichnung „Auftritt“ besagt, dass Personen abtreten und andere
auftreten.
Ein Drama wird primär für die Aufführung auf einer Bühne vor einem Publikum
verfasst, nicht zum Lesen. Die Inszenierung gehört wesentlich zu einem Drama;
dennoch ist jede Inszenierung eine Interpretation des Dramas. Hält ein
Regisseur sich eng an die Gestaltungsvorstellungen (Regieanweisungen) des
Autors, spricht man vor einer „werkgetreuen“ Inszenierung. Der Dramentext des
Autors kann aber auch als Vorlage für eine „neue“ oder „aktualisierte“
Aufführung des Dramenstoffes dienen.
Im Mittelpunkt des Dramas steht die Handlung. Im Unterschied zu einer
Romanhandlung wird eine Dramenhandlung nicht durch einen vermittelnden
Erzähler wiedergegeben, sondern von Schauspielern (Handlungs- oder
Rollenträger), die bestimmte Personen der Handlung darstellen.
253
Die Handlung wird durch handelnde Personen dargestellt und ausgeführt. Diese
Personen verkörpern bestimmte Typen oder Charaktere, was sich in ihren
Äußerungen und Handlungen zeigt. Ein Typus oder Typ ist durch einseitige
Betonung eines oder weniger Merkmale festgelegt und „geprägt“ (z.B. der
Narr). Ein Charakter umfasst die gesamte Persönlichkeit eines Menschen,
seine Individualität; dies gilt auch für die Bühnefiguren, wenn sie nicht als
Typen, sondern als individuell gestaltete Personen auftreten. Charaktere sind
vielschichtig; ihre Entscheidungen hängen von vielen Überlegungen ab. Das
macht eine Dramenhandlung eigentlich erst spannend.
Die Hauptfigur ist der „Held“ im Drama; sie bestimmt den Handlungsverlauf
ganz entscheidend. Häufig steht dem Helden ein Gegenspieler gegenüber. Der
Held kann ein „aktiver Held“ sein (bestimmt bzw. beeinflusst die Handlung); er
kann ein „passiver Held“ sein (Opfer der Verhältnisse). Held kann auch eine
soziale Gruppe sein (z.B. „Die Weber“); dann spricht man vom „kollektiven
Helden“.
Dramen können in Versform oder in Prosa geschrieben sein; die Sprache kann
poetisch gestaltet oder alltägliche Umgangssprache sein. Die Sprechweise
einer Person, wie sie sich ausdrückt, wie sie argumentiert, dient der
Charakterisierung dieser Person.
Die Bühne ist der Spielort der Handlung; sie ist nicht die Wirklichkeit, sondern
Ersatzort für die Wirklichkeit; sie besitzt jedoch eine Eigenwirklichkeit, die durch
ihre Gestaltung (Bühnenbild, Kulisse, Requisiten usw.) zum Ausdruck kommt.
Wichtige Begriffe in der Dramatik
Akt (lat.: Handlung) : Ein Drama ist meistens in Akte eingeteilt; die häufigsten
Formen sind das dreiaktige und das fünfaktige Drama, bei einer kürzeren
Handlung kann das Stück auch nur aus einem Akt (Einakter) bestehen. Der Akt
ist ein in sich geschlossener größerer Handlungsabschnitt innerhalb der
Gesamthandlung, der in der Regel in Szenen unterteilt ist.
Charakter (griech.: eingeritztes Merkmal) : Charakter meint die Individualität oder
Persönlichkeit eines Menschen, wie sie sich gibt und handelt. Im Drama
unterscheidet man zwischen Typus und Charakter.
Der Typus ist leicht erkennbar entweder äußerlich durch seine Kleidung und
sein Auftreten oder durch die ihm zugewiesene Rolle. Typus meint ein
vereinfachter oder festgelegter Charakter (z.B. Typus des Harlekins).
Der Charakter kann dagegen vielschichtig sein; zwar mögen einzelne markante
Eigenarten überwiegen, aber er ist nicht so schnell und einfach festlegbar wie
ein Typus. Gerade die Unvorhersagbarkeit seines Handelns und seiner
Reaktion gibt der dramatischen Darstellung ihre Spannung.
Dialog (griech.: Unterredung, Wechselgespräch) Dialog meint das Wechselgespräch
oder den Gedankenaustausch zwischen zwei oder mehreren Personen. Ziel
dabei kann sein, sich gegenseitig zu informieren oder einen Konflikt zu lösen.
Für das Erreichen des Gesprächsziels ist es wichtig, wie die Teilnehmer sich
zueinander verhalten, ob sie zuhören können oder nur blind ihre Meinung
vortragen, ob sie sich gegenseitig als gleichberechtigte Partner anerkennen
oder jeder nur von oben her redet; wichtig ist also die Beziehungsebene.
254
Epilog (griech.: Schlussrede): Im Epilog - wie auch im Prolog - wendet sich ein
Sprecher, der als Schauspieler oder als eine andere Person aus dem Stück
auftreten kann, an das Publikum mit den möglichen Absichten:
Ein Schauspieler oder der Theaterdirektor bedankt sich für das
Interesse der Zuschauer und hängt noch eine kleine „Moral“ an den
Ausgang der Handlung.
Der Autor rechtfertigt seine Interpretation des Ausgangs der
Handlung.
Das Stück endet offen, ohne einen befriedigenden Schluss; das
Publikum wird aufgefordert, sich selbst Gedanken zu machen, wie
der Konflikt gelöst werden könnte.
Exposition (lat.: Darlegung, erklärende Einführung) : Die Exposition ist ein wichtiger
Bestandteil des Dramas; sie eröffnet sozusagen die Handlung. In ihr wird die
Ausgangssituation bzw. Vorgeschichte der Handlung dargestellt, die Personen
und ihre Beziehungen vorgestellt, die Konfliktlage aufgezeigt. In den meisten
Stücken ist die Exposition mit dem ersten Akt abgeschlossen.
Fabel (lat.: Erzählung) : Der Begriff Fabel hat zwei Bedeutungen: Zum einen
bezeichnet sie die epischen Kleinform (Tiere als Handlungsträger), zum
anderen meint Fabel eine kurze, prägnante Information über das
Handlungsschema und die Kernaussage einer Erzählung oder eines Dramas,
also eine extrem verdichtete Information über Thema und Motiv (nicht Inhalt)
auf die Frage: Worum geht es in der Geschichte bzw. Handlung? (Beispiel: In
Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ geht es um die Verführbarkeit zuvor
rechtschaf-fender Bürger zu Rechtsbeugung und sogar zu Mord durch die
Aussicht auf eine stattliche Belohnung, die den wirtschaftlichen Nöten ein Ende
setzen könnte).
Handlung : Im Unterschied zu einer Romanhandlung wird eine Dramenhandlung
nicht durch einen vermittelnden Erzähler wiedergegeben, sondern von
Schauspielern, die bestimmte Personen der Handlung darstellen, vor einem
Publikum auf der Bühne in einer bestimmten zeitlichen Länge aufgeführt. Das
bedeutet, der Autor muss die gesamte Handlung in Redeform niederschreiben,
denn die sichtbaren und hörbaren Handlungsträger sind die Gestalten auf der
Bühne. Das Publikum ist in seinem Verständnis der Handlung auf das
angewiesen, was auf der Bühne geschieht.
Held : Der Held ist die Hauptfigur in einem Drama; oft erscheint er schon im Titel. Er
kann - muss nicht - der bestimmende Handlungsführer sein, dann ist er der
Motor des Geschehens, der mit seinen Entscheidungen, Aktionen und
Reaktionen die Handlung bestimmt. Der Held kann aber auch das Opfer der
Verhältnisse sein, kann passiver und tragischer Held (Antiheld) werden.
Inszenierung : Selten ist der Autor eines Dramas auch derjenige, der das Stück
inszeniert, d.h. auf die Bühne bringt. Die Inszenierung hängt von der Zusammenarbeit vieler Mitarbeiter ab. Verantwortlich für die Inszenierung ist der
Regisseur. Er beauftragt z.B. einen Dramaturgen, die Textvorlage zu überarbeiten, er bestimmt die Schwerpunkte der Auslegung, er besetzt die
255
einzelnen Rollen mit Schauspielern, er beauftragt Bühnenbildner, Masken- und
Kostümbildner, Beleuchter und Tongestalter.
Komödie (griech.: heiterer Umzug mit Gesang) : Die Komödie ist eine Grundform
des Dramas. Sie basiert meist auf einer erfundenen Geschichte aus dem Alltag
und agiert mit Charakteren und Typen aus dem „Volk“, meist komische Figuren
mit kleinen Fehlern. Der Handlungsverlauf ist auf einen glücklichen,
versöhnlichen Ausgang ausgerichtet, auch wenn einzelne Personen der
Lächerlichkeit preisgegeben werden. Im Unterschied zur Tragödie wird hierbei
die Alltagssprache verwendet.
Lehrstück : Das Lehrstück ist eine besondere Form der politisch-agitatorischen
Lehrdichtung, in der eine Ideologie (z.B. der Marxismus) szenisch erläutert und
das Publikum über das „richtige“ Verhalten belehrt werden sollte (z.B. bei
Brecht).
Monolog (griech.: Selbstgespräch): Monolog meint einmal: allein reden und zum
anderen: mit sich selbst reden (sprachlich laut denken). Im Drama ist der
Monolog eine Sprechweise, die an das Publikum gerichtet ist. Der Sprechende
teilt seine inneren Empfindungen oder Gedanken mit. Was das Publikum aus
den dargestellten Situationen nicht erfahren kann, was aber für das Verständnis
und den Verlauf der Handlung wichtig ist, das erfährt es durch Monologe.
Peripetie (griech.: Wendung, Verkehrung) : Die Peripetie ist ein Strukturelement der
Tragödie und bezeichnet den meist plötzlich eintretenden Umschlag der
dramatischen Handlung in die tragische Richtung (Katastrophe). Kennzeichen
der Peripetie ist die „Krisis“ (Wendpunkt), in der die Umstände plötzlich
umschlagen und dem Helden die Möglichkeit zum freien Handeln entzogen
wird. Möglichkeiten der Peripetie sind z.B. der Umschlag von Glück in Unglück,
vom Nichterkennen zum Erkennen usw.
Person (lat.: Maske des Schauspielers) : In antiken Theater haben die Schauspieler
Masken getragen. Die Bezeichnung wurde auf die Gestalten übertragen, die
von den Schauspielern auf der Bühne verkörpert wurden. Person kann eine
vielschichtiger oder widersprüchlicher Charakter sein oder auch ein Typus (auf
bestimmte Eigenschaften festgelegt).
Prolog (griech.: Vorrede) : Der Prolog ist meist eine kommentierende Einführung in
das nachfolgende Spiel auf der Bühne; er ist Teil der Aufführung. Ein Sprecher
(Schauspieler oder andere Person des Stücks) wendet sich direkt ans Publikum
(vor dem geschlossenen Vorhang). Der Prolog kann Teil der Exposition sein
und die Handlung vorwegnehmen und erläutern.
Spiel im Spiel : oder: Bühne auf der Bühne : ist mit der Rahmenerzählung in der
Epik vergleichbar; in beiden Fällen ist es eine Geschichte in der Geschichte.
Auf der Bühne wird das Spiel im Spiel als Aufführung innerhalb des
Bühnenspektakels inszeniert; es ist Teil der Argumentation des gespielten
Dramas.
Stück : Sammelbegriff für alle Texte, die von Schauspielern auf einer Bühne für
Zuschauer gesprochen und in Handlung umgesetzt werden
256
Szene (griech.: Bühne, offener Bühnenaufbau) . Unter Szene verstand man
ursprünglich den offenen Bühnenaufbau im Hintergrund, vor dem ohne Vorhang
gespielt wurde. Heute meint Szene die kleinste Gliederungseinheit innerhalb
eines Aktes. Szenen können durch Ortswechsel oder durch Personenwechsel
voneinander abgegrenzt sein. Die deutsche Bezeichnung „Auftritt“ besagt, dass
Personen abtreten und andere auftreten.
Tragikomödie : Mischform aus Tragödie und Komödie, in der sich tragische und
komische Elemente zu einem Handlungsgefüge verbinden; sie hat viele
Facetten, sie ist kein formales Nebeneinander oder Nacheinander von ernsten
und heiteren Szenen; sie ist vielmehr ein Spiegel der widersprüchlichen Vielfalt
unserer Erfahrungswelt
Tragödie (griech.: Bocksgesang) : Die Bedeutungsgeschichte des Wortes liegt im
Dunkeln; Möglicherweise sind Kultgesänge gemeint, die von einem Chor in
Tierkleidung vorgetragen wurden. Die Tragödie gehört zu den Grundformen des
Dramas. Sie nimmt ihren Stoff aus dem Mythos oder der Geschichte, ihre
Personen sind in der Regel Vertreter der gehobenen Gesellschaftsschichten,
die mit einem „edlen Charakter“ versehen sind. Der Handlungsverlauf ist auf die
Peripetie gerichtet, in der die Handlung ins Tragische umschlägt und mit der
Katastrophe endet. Der Sprachstil der Tragödie ist in der Regel eine feierliche
Redeweise.
____________________________________________
Szenenbeispiele
Wenden wir uns nun einigen Beispielen zu, in denen die Merkmale der dramatischen
Literatur sichtbar werden.
Beim ersten Beispiel handelt es sich um eine Szene aus dem Drama „Leben des
Galilei“ von Bert Brecht,das 1938/39 geschrieben wurde. Der historische Galileo
Galilei (1564 - 1642) dient als Vorlage. Dieser hatte die Lehre des Kopernikus
(heliozentrische Weltbild) wissenschaftlich beweisen können, war aber in Konflikt mit
der päpstlichen Inquisition geraten und zum Widerruf gezwungen worden. Von der
Inquisition entlassen, kehrte Galileo als 68-Jähriger nach Florenz zurück und lebte
bis zu seinem Tod als Gefangener der Inquisition in einem Landhaus. Obwohl er in
den letzten Jahren fast erblindet war, führte er seine naturwissenschaftlichen Studien
fort.
Den biografischen Gegebenheiten folgt auch Brechts Drama. Die 14. Szene, aus der
der folgende Auszug stammt, spielt im Landhaus in der Nähe von Florenz, wo Galilei
als Gefangener seine letzten Lebensjahre verbringt.
(Es wird am Tor geklopft. Virginia geht in den Vorraum. Der Mönch öffnet. Es ist
Andrea Sarti. Er ist jetzt ein Mann in den mittleren Jahren.)
Andrea: Guten Abend. Ich bin im Begriff, Italien zu verlassen, um in Holland wissenschaftlich zu arbeiten, und bin gebeten worden, ihn auf der Durchreise aufzusuchen, damit ich über ihn berichten kann.
Virginia: Ich weiß nicht, ob er dich sehen will. Du bist nie gekommen.
Andrea: Frag ihn.
257
(Galilei hat die Stimme erkannt. Er sitzt unbeweglich. Virginia geht hinein zu ihm.)
Galilei: Ist es Andrea?
Virginia: Ja. Soll ich ihn wegschicken?
Galilei (nach einer Pause): Führ ihn herein.
Virginia (zum Mönch): Er ist harmlos. Er war sein Schüler. So ist er jetzt sein Feind.
Galilei: Lass mich allein mit ihm, Virginia.
Virginia: Ich will hören, was er erzählt. (Sie setzt sich.)
Andrea (kühl): Wie geht es Ihnen?
Galilei: Tritt näher. Was machst du? Erzähl von deiner Arbeit. Ich höre, es ist über
Hydraulik.
Andrea: Fabrizius in Amsterdam hat mir aufgetragen, mich nach Ihrem Befinden zu
erkundigen.
(Pause)
Galilei: Ich befinde mich wohl. Man schenkt mir große Aufmerksamkeit.
Andrea: Es freut mich, berichten zu können, dass Sie sich wohl befinden.
Galilei: Fabrizius wird erfreut sein, es zu hören. Und du kannst ihn informieren, dass
ich in angemessenem Komfort lebe. Durch die Tiefe meiner Reue habe ich mir
die Gunst meiner Oberen so weit erhalten können, dass mir in bescheidenem
Umfang wissenschaftliche Studein unter geistlicher Kontrolle gestattet werden
konnten.
Andrea: Jawohl. Auch wir hörten, dass die Kirche mit Ihnen zufrieden ist. Ihre völlige
Unterwerfung hat gewirkt. Es wird versichert, die Oberen hätten mit Genugtuung
festgestellt, dass in Italien kein Werk mit neuen Behauptungen mehr veröffentlicht wurde, seit Sie sich unterwarfen.
Galilei (horchend): Leider gibt es Länder, die sich der Obhut der Kirche entziehen.
Ich fürchte, dass die verurteilten Lehren dort weitergefördert werden.
Andrea: Auch dort trat infolge Ihres Widerrufs ein für die Kirche erfreulicher Rückschlag ein.
Galilei: Wirklich? (Pause) Nichts von Descartes? Nichts aus Paris?
Andrea: Doch. Auf die Nachricht von Ihrem Widerruf stopfte er seinen Traktat über
die Natur des Lichts in die Lade.
(Lange Pause)
Galilei: Ich bin in Sorge einiger wissenschaftlicher Freunde wegen, die ich auf die
Bahn des Irrtums geleitet habe. Sind Sie durch meinen Widerruf belehrt worden?
Andrea: Um wissenschaftlich arbeiten zu können, habe ich vor, nach Holland zu
gehen. Man gestattet nicht dem Ochsen, was Jupiter sich nicht gestattet.
Galilei: Ich verstehe.
Andrea: Federzoni schleift wieder Linsen, in irgendeinem Mailänder Laden.
Galilei (lacht): Er kann nicht Latein.
(Pause)
Andrea: Fulganzio, unser kleiner Mönch, hat die Forschung aufgegeben und ist in
den Schoß der Kirche zurückgekehrt.
Galilei: Ja.
(Pause)
Galilei: Meine Oberen sehen m e i n e r seelischen Wiedergesundung entgegen.
Ich mache bessere Fortschritte, als zu erwarten war.
Andrea: So.
Virginia: Der Herr sei gelobt.
Galilei (barsch): Sieh nach den Gänsen, Virginia.
(Virginia geht zornig hinaus. Im Vorbeigehen wird sie vom Mönch angesprochen.)
Der Mönch: Der Mensch missfällt mir.
258
Virginia: Er ist harmlos. Sie hören doch. (Im Weggehen) Wir haben frischen
Ziegenkäse bekommen.
(Der Mönch folgt ihr hinaus.)
Andrea: Ich werde die Nacht durchfahren, um die Grenze morgen früh überschreiten
zu können. Kann ich gehen?
Galilei: Ich weiß nicht, warum du gekommen bist, Sarti. Um mich aufzustören? Ich
lebe vorsichtig und ich denke vorsichtig, seit ich hier bin. Ich habe ohnedies
meine Rückfälle.
Andrea: Ich möchte Sie lieber nicht aufregen, Herr Galilei
Galilei: Barberini nannte es die Krätze. Er war selber nicht gänzlich frei davon. Ich
habe wieder geschrieben.
Andrea: So?
Galilei: Ich schrieb die „Discorsi“ fertig.
Andrea: Was? Die „Gespräche, betreffend zwei neue Wissenszweige: Mechanik und
Fallgesetze“? Hier?
Galilei: Oh, man gibt mir Papier und Feder. Meine Oberen sind keine Dummköpfe.
Sie wissen, dass eingewurzelte Laster nicht von heute auf morgen abgebrochen
werden können. Sie schützen mich vor misslichen Folgen, indem sie Seite für
Seite wegschließen.
Andrea: O Gott!
Galilei: Sagtest du was?
Andrea: Man lässt Sie Wasser pflügen! Man gibt Ihnen Papier und Feder, damit Sie
sich beruhigen! Wie konnten Sie überhaupt schreiben mit diesem Ziel vor
Augen?
Galilei: Oh, ich bin ein Sklave meiner Gewohnheiten.
Andrea: Die „Discorsi“ in der Hand der Mönche! Und Amsterdam und London und
Prag hungern danach!
Galilei: Ich kann Fabrizius jammern hören, pochend auf sein Pfund Fleisch, selber in
Sicherheit sitzend in Amsterdam.
Andrea: Zwei neue Wissenszweige so gut wie verloren!
Galilei: Es wird ihn und einige andre ohne Zweifel erheben zu hören, dass ich die
letzten kümmerlichen Reste meiner Bequemlichkeit aufs Spiel gesetzt habe,
eine Abschrift zu machen, hinter meinem Rücken sozusagen, aufbrauchend die
letzte Unze Licht der hellen Nächte von sechs Monaten.
Andrea: Sie haben eine Abschrift?
Galilei: Meine Eitelkeit hat mich bisher davon zurückgehalten, sie zu vernichten.
Andrea: Wo ist sie?
Galilei: „Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus.“ Wer immer das schrieb, wusste
mehr über Komfort als ich. Ich nehme an, es ist die Höhe der Torheit, sie
auszuhändigen. Da ich es nicht fertiggebracht habe , mich von wissenschaftlichen Arbeiten fernzuhalten, könnt ihr sie eben so gut haben. Die Abschrift liegt
im Globus. Solltest du erwägen, sie nach Holland mitzunehmen, würdest du
natürlich die gesamte Verantwortung zu schultern haben. Du hättest sie in
diesem Fall von jemanden gekauft, der Zutritt zum Original im Heiligen Offizium
hat.
(Andrea ist zum Globus gegangen. Er holt die Abschrift heraus.)
Andrea: Die „Discorsi“! (Er blättert in dem Manuskript.)
Andrea (liest): „Mein Vorsatz ist es, eine sehr neue Wissenschaft aufzustellen,
handelnd von einem sehr alten Gegenstand, der Bewegung. Ich habe durch
Experimente einige ihrer Eigenschaften entdeckt, die wissenswert sind.“
Galilei: Etwas musste ich anfangen mit meiner Zeit!
259
Andrea: Das wird eine neue Physik begründen.
Galilei: Stopf es untern Rock.
Andrea: Und wir dachten, Sie wären übergelaufen! Meine Stimme war die lauteste
gegen Sie!
Galilei: Das gehörte sich. Ich lehrte dich Wissenschaft, und ich verneinte die
Wahrheit.
Andrea: Dies ändert alles. Alles.
Galilei: Ja?
Andrea: Sie versteckten die Wahrheit. Vor dem Feind. Auch auf dem Felde der Ethik
waren Sie uns um Jahrhunderte voraus.
Galilei: Erläutere das, Andrea.
Andrea: Mit dem Mann auf der Straße sagen wir: Er wird sterben, aber er wird nie
widerrufen. - Sie kamen zurück: Ich habe widerrufen, aber ich werde leben. –
Ihre Hände sind befleckt, sagten wir. - Sie sagen: Besser befleckt als leer.
Galilei: Besser befleckt als leer. Klingt realistisch. Klingt nach mir. Neue Wissenschaft, neue Ethik.
Andrea: Ich vor allen andern hätte es wissen müssen! Ich war elf, als Sie eines
andern Mannes Fernrohr an den Senat von Venedig verkauften. Und ich sah Sie
von diesem Instrument unsterblichen Gebrauch machen. Ihre Freunde
schüttelten die Köpfe, als Sie sich vor dem Kind in Florenz beugten: die
Wissenschaft gewann Publikum. Sie lachten schon immer über die Helden.
„Leute, welche leiden, langweilen mich“, sagten Sie. „Unglück stammt von
mangelhaften Berechnungen.“ Und: „Angesichts von Hindernissen mag die
kürzeste Linie zwischen zwei Punkten die krumme sein.“
Galilei: Ich entsinne mich.
Andrea: Als es Ihnen dann gefiel, einen volkstümlichen Punkt Ihrer Lehren zu
widerrufen, hätte ich wissen müssen, dass Sie sich lediglich aus einer
hoffnungslosen politischen Schlägerei zurückzogen, um das eigentliche
Geschäft der Wissenschaft weiter zu betreiben.
Galilei: Welches besteht in ...
Andrea: ... dem Studium der Eigenschaft der Bewegung, Mutter der Maschinen, die
allein die Erde so bewohnbar machen werden, dass der Himmel abgetragen
werden kann.
Galilei: Aha!
Andrea: Sie gewannen die Muße, ein wissenschaftliches Werk zu schreiben, dass
nur Sie schreiben konnten. Hätten Sie in einer Gloriole von Feuer auf dem
Scheiterhaufen geendet, wären die anderen die Sieger gewesen.
Galilei: Sie sind die Sieger. Und es gibt kein wissenschaftliches Werk, das nur ein
Mann schreiben kann.
Andrea: Warum dann haben Sie widerrufen?
Galilei: Ich habe widerrufen, weil ich den körperlichen Schmerz fürchtete.
Andrea: Nein!
Galilei: Man zeigte mir die Instrumente.
Andrea: So war es kein Plan?
Galilei: Es war keiner.
(Pause)
Andrea (laut): Die Wissenschaft kennt nur ein Gebot: den wissenschaftlichen
Beitrag.
Galilei: Und den habe ich geliefert. Willkommen in der Gosse, Bruder der Wissenschaft und Vetter im Verrat! Isst du Fisch? Ich habe Fisch. Was stinkt, ist nicht
mein Fisch, sondern ich. Ich verkaufe aus, du bist ein Käufer. O unwidersteh260
licher Anblick des Buches, der geheiligten Ware! Das Wasser läuft im Mund
zusammen, und die Flüche ersaufen. Die Große Babylonische, das mörderische
Vieh, die Scharlachene, öffnet die Schenkel, und alles ist anders! Geheiligt sei
unsre schachernde, weißwaschende, Tod fürchtende Gemeinschaft!
Andrea: Todesfurcht ist menschlich! Menschliche Schwächen gehen die Wissenschaft nichts an.
Galilei: Nein! - Mein lieber Sarti, auch in meinem gegenwärtigen Zustand fühle ich
mich noch fähig, Ihnen ein paar Hinweise darüber zu geben, was die
Wissenschaft alles angeht, der Sie sich verschrieben haben.
(Eine kleine Pause)
Galilei (akademisch, die Hände über den Bauch gefaltet): In meinen freien Stunden,
deren ich viele habe, bin ich meinen Fall durchgegangen und habe darüber
nachgedacht, wie die Welt der Wissenschaft, zu der ich mich selber nicht mehr
zähle, ihn zu beurteilen haben wird. Selbst ein Wollhändler muss, außer billig
einkaufen und teuer verkaufen, auch noch darum besorgt sein, dass der Handel
mit Wolle unbehindert vor sich gehen kann. Der Verfolg der Wissenschaft scheint
mir diesbezüglich besondere Tapferkeit zu erheischen. Sie handelt mit Wissen,
gewonnen durch Zweifel. Wissen verschaffend über alles für alle, trachtet sie,
Zweifler zu machen aus allen. Nun wird der Großteil der Bevölkerung von ihren
Fürsten, Grundbesitzern und Geistlichen in einem perlmutternen Dunst von
Aberglauben und alten Wörtern gehalten, welcher die Machinationen dieser
Leute verdeckt. Das Elend der Vielen ist alt wie das Gebirge und wird von Kanzel
und Katheder herab für unzerstörbar erklärt wie das Gebirge. Unsere neue Kunst
des Zweifelns entzückte das große Publikum. Es riss uns das Teleskop aus der
Hand und richtete es auf seine Peiniger. Diese selbstischen und gewalttätigen
Männer, die sich die Früchte der Wissenschaft gierig zunutze gemacht haben,
fühlten zugleich das kalte Auge der Wissenschaft auf ein tausendjähriges, aber
künstliches Elend gerichtet, das deutlich beseitigt werden konnte, indem sie
beseitigt wurden. Sie überschütteten uns mit Drohungen und Bestechungen,
unwiderstehlich für schwache Seelen. Aber können wir uns der Menge
verweigern und doch Wissenschaftler bleiben? Die Bewegungen der
Himmelskörper sind übersichtlicher geworden; immer noch unberechenbar sind
den Völkern die Bewegungen ihrer Herrscher. Der Kampf um die Messbarkeit
des Himmels ist gewonnen durch Zweifel; durch Gläubigkeit muss der Kampf der
römischen Hausfrau um Milch immer aufs Neue verloren gehen. Die
Wissenschaft, Sarti, hat mit beiden Kämpfen zu tun. Eine Menschheit, stolpernd
in diesem tausendjährigen Perlmutterdunst von Aberglauben und alten Wörtern,
zu unwissend, ihre eigenen Kräfte voll zu entfalten, wird nicht fähig sein, die
Kräfte der Natur zu entfalten, die ihr enthüllt. Wofür arbeitet ihr? Ich halte dafür,
dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der
menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert
durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens
aufzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und eure
neuen Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit
alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein
Fortschritt von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann
eines Tages so groß werden, dass euer Jubelschrei über irgendeine neue
Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden
könnte. - Ich hatte als Wissenschaftler eine einzigartige Möglichkeit. In meiner
Zeit erreichte die Astronomie die Marktplätze. Unter diesen ganz besonderen
Umständen hätte die Standhaftigkeit eines Mannes große Erschütterungen
261
hervorrufen können. Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler
etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis,
ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden! Wie es nun steht, ist
das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die
für alles gemietet werden können. Ich habe zudem die Überzeugung gewonnen,
Sarti, dass ich niemals in wirklicher Gefahr schwebte. Einige Jahre lang war ich
ebenso stark wie die Obrigkeit. Und ich überlieferte mein Wissen den
Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu missbrauchen,
ganz, wie es ihren Zwecken diente.
(Virginia ist mit einer Schüssel hereingekommen und bleibt stehen.)
Galilei: Ich habe meinen Beruf verraten. Ein Mensch, der das tut, was ich getan
habe, kann in den Reihen der Wissenschaftler nicht geduldet werden.
Virginia: Du bist aufgenommen in den Reihen der Gläubigen. (Sie geht weiter und
stellt die Schüssel auf den Tisch.)
Galilei: Richtig. - Ich muss jetzt essen.
(Andrea hält ihm die Hand hin. Galilei sieht die Hand, ohne sie zu nehmen.)
Galilei: Du lehrst jetzt selber. Kannst du es dir leisten, eine Hand wie die meine zu
nehmen? (Er geht zum Tisch.) Jemand, der hier durchkam, hat mir Gänse
geschickt. Ich esse immer noch gern.
Andrea: So sind Sie nicht mehr der Meinung, dass ein neues Zeitalter angebrochen
ist?
Galilei: Doch. - Gib Acht auf dich, wenn du durch Deutschland kommst, die Wahrheit
unter dem Rock.
Andrea (außerstande zu gehen): Hinsichtlich Ihrer Einschätzung des Verfassers, von
dem wir sprachen, weiß ich Ihnen keine Antwort. Aber ich kann mir nicht denken,
dass Ihre mörderische Analyse das letzte Wort sein wird.
Galilei: Besten Dank, Herr. (Er fängt an zu essen.)
Virginia (Andrea hinausgleitend): Wir haben Besucher aus der Vergangenheit nicht
gern. Sie regen ihn auf.
(Andrea geht. Virginia kommt zurück.)
Galilei: Hast du eine Ahnung, wer die Gänse geschickt haben kann?
Virginia: Nicht Andrea.
Galilei: Vielleicht nicht. Wie ist die Nacht?
Virginia (am Fenster): Hell.
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------2. Beispiel: Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker (1961)
Der folgende Text entstammt dem 2.Akt der 1962 uraufgeführten Komödie. Möbius,
ein genialer Physiker, versteckt sich in einem als Sanatorium getarnten Irrenhaus, da
er eine Formel gefunden hat, deren Anwendung ungeheure Energien freisetzen
würde. Außer ihm leben dort zwei weitere Physiker, Agenten östlicher und westlicher
Geheimdienste, die ebenfalls vorgeben, verrückt zu sein, nämlich sich für Newton
bzw. Einstein zu halten, um an diese Formel zu kommen. Schließlich geben sie sich
einander zu erkennen und besprechen die Lage.
Möbius: Es gibt Risiken, die man nie eingehen darf: Der Untergang der Menschheit
ist ein solches. Was die Welt mit den Waffen anrichtet, die sie schon besitzt,
wissen wir, was sie mit jenen anrichten würde, die ich ermögliche, können wir
262
uns denken. Dieser Einsicht habe ich mein Handeln untergeordnet. Ich war arm.
Ich besaß eine Freu und drei Kinder. Auf der Universität winkte der Ruhm, in der
Industrie das Geld. Beide Wege waren zu gefährlich. Ich hätte meine Arbeiten
veröffentlichen müssen, der Umsturz unserer Wissenschaft und das Zusammenbrechen des wirtschaftlichen Gefüges wären die Folgen gewesen. Die Verantwortung zwang mir einen anderen Weg auf. Ich ließ meine akademische Karriere
fahren, die Industrie fallen und überließ meine Familie ihrem Schicksal. Ich
wählte die Narrenkappe. Ich gab vor, der König Salomo erscheine mir, und schon
sperrte man mich in ein Irrenhaus.
Newton: Das war doch keine Lösung!
Möbius: Die Vernunft forderte diesen Schritt. Wir sind in unserer Wissenschaft an
die Grenzen des Erkennbaren gestoßen. Wir wissen einige genau erfassbare
Gesetze, einige Grundbeziehungen zwischen unbegreiflichen Erscheinungen,
das ist alles, der gewaltige Rest bleibt Geheimnis, dem Verstande unzugänglich.
Wir haben das Ende unseres Weges erreicht. Aber die Menschheit ist noch nicht
so weit. Wir haben uns vorgekämpft, nun folgt uns niemand nach, wir sind ins
Leere gestoßen. Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere
Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur
noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht
an uns zugrunde. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es
zurückgenommen. Es gibt keine andere Lösung, auch für euch nicht.
Einstein: Was wollen Sie damit sagen?
Möbius: Ihr müsst bei mir im Irrenhaus bleiben.
Newton: Wir?
Möbius: Ihr beide. (Schweigen)
Newton: Möbius! Sie können von uns doch nicht verlangen, dass wir ewig Möbius: Ihr besitzt Geheimsender?
Einstein: Na und?
Möbius: Ihr benachrichtigt eure Auftraggeber. Ihr hättet euch geirrt Ich sei wirklich
verrückt.
Einstein: Dann sitzen wir hier lebenslänglich. Gescheiterten Spionen kräht kein
Hahn mehr nach.
Möbius: Meine einzige Chance, doch noch unentdeckt zu bleiben. Nur im Irrenhaus
sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind
unsere Gedanken Sprengstoff.
3. Beispiel: Heinar Kipphardt, In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964)
1954 musste sich der Atomphysiker J. Robert Oppenheimer vor einem
Untersuchungsausschuss der Atomenergiekomission der USA verantworten. Ihm,
dem „Vater der Atombombe“ und Regierungsbeauftragten für Fragen der
Atomphysik, wurde vorgeworfen, Verbindungen zu Kommunisten unterhalten und die
Entwicklung der Wasserstoffbombe verzögert zu haben. Tatsächlich hatte sich
Oppenheimer unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und
Nagasaki einige Zeit geweigert, an diesem Projekt mitzuarbeiten.
Heinar Kipphardts 1964 uraufgeführtes dokumentarisches Drama „In der Sache J.
Robert Oppenheimer“ hält sich - in großen Teilen wörtlich - an das Protokoll der
Aussagen vor dem Untersuchungsausschuss. Im folgenden Ausschnitt aus der
7.Szene äußert sich der Physiker Edward Teller, zeitweise Mitarbeiter
263
Oppenheimers, aber bei der Entwicklung der Wasserstoffbombe sein Rivale, als
Zeuge.
Evans: Haben Sie niemals moralische Skrupel hinsichtlich der Wasserstoffbombe
gehabt?
Teller: Nein.
Evans: Wie sind Sie mit dem Problem fertig geworden?
Teller: Ich habe das nicht als mein Problem angesehen.
Evans: Sie meinen, man kann etwas machen, eine Wasserstoffbombe machen oder
so etwas und sagen: was jetzt damit wird, das ist nicht mein Problem, seht zu,
wie ihr damit fertig werdet?
Teller: Es ist mir nicht gleichgültig, aber ich kann die Folgen, die Anwendungsmöglichkeiten, die in einer Entdeckung stecken, nicht voraussehen.
Evans: Kann man die Anwendungsmöglichkeiten einer Wasserstoffbombe nicht
ganz gut voraussehen?
Teller: Nein. Es kann gut sein, und wir alle hoffen das, dass sie niemals angewendet
wird und dass ihr Prinzip, die künstlich herstellbare Sonnenenergie, die billigste
und gewaltigste Energie, die wir kennen, in zwanzig oder dreißig Jahren das
Gesicht der Erde wohltuend verändert hat.
Evans: Ihr Wort in Gottes Ohr, Dr. Teller.
Teller: Als Hahn in Deutschland die erste Uranspaltung gelang, dachte er zum
Exempel überhaupt nicht an die Möglichkeit, die freiwerdende Energie für
Explosionszwecke zu verwenden.
Evans: Wer hat als erster daran gedacht?
Teller: Oppenheimer. Und es war ein furchtbarer Gedanke, den nur naive Leute
unmoralisch nennen.
Evans: Das müssen Sie einem älteren Kollegen erklären.
Teller: Ich meine, dass Entdeckungen weder gut noch böse sind, weder moralisch
noch unmoralisch, sondern nur tatsächlich. Man kann sie gebrauchen oder
missbrauchen. Den Verbrennungsmotor wie die Atomenergie. In schmerzhaften
Entwicklungen haben es die Menschen schließlich immer gelernt, sie zu
gebrauchen.
Evans: Obwohl Sie der Vernunft, nach Ihren eigenen Worten, wenig trauen?
Teller: Ich traue den Tatsachen, die schließlich sogar Vernunft hervorbringen,
gelegentlich.
Evans: Ich habe kürzlich in der Zeitung gelesen, dass es bei einem unserer SuperTests einen fürchterlichen Zwischenfall gegeben hat Teller: Bikini‫?٭‬
Evans: Ja, kürzlich, es kamen 23 japanische Fischer ums Leben.
Teller: Ich glaube.
Evans: Wie konnte das passieren?
Teller: Der Fischdampfer geriet in ein radioaktives Schneegestöber, weil sich der
Seewind plötzlich von Norden nach Süden drehte, fatalerweise.
Evans: Wie haben Sie die Nachricht von diesen Fischern aufgenommen?
Teller: Wir haben eine Kommission eingesetzt, um alle Folgen zu beobachten, und
wir haben die meteorologischen Voraussagen für unsere Tests sehr verbessern
können.
__________
‫٭‬Bikiniatoll: Gebiet der Atombombenversuche der USA im Pazifik, etwa 3000 km
von der japanische Küste entfernt
264
Die drei Beispiele bzw. Ausschnitte beziehen sich auf Dramen mit einer vergleichbaren Thematik: Es geht um die Wissenschaft oder konkreter: um die Verantwortung
des Wissenschaftlers - also um ein hochbrisantes Problem.
Diese Beispiele sollen einen kleinen Einblick in die Dramatik vorwiegend der 2. Hälfte
des 20 Jahrhunderts vermitteln. Sie sollen aber auch neugierig machen und anregen,
das ganze Drama im Unterricht zu lesen.
Es ist klar, dass die Analyse einer dramatischen Szene, wie sie in der Schule
erwartet wird, andere Schwerpunkte haben muss als die Analyse eines Gedichtes
oder eines epischen Textes. Zwar stehen auch hier die alle Texte konstituierenden
Prinzipien (Inhalt, Struktur, Sprache) im Mittelpunkt der Analyse, aber die Dramatik
hat - wie schon gesagt wurde - besondere Strukturelemente: Dialog,
Gesprächsverlauf, Gesprächssituation, Beziehungsebene der Teilnehmer usw.
Grundsätzlich können bei dramatischen Textes folgende Fragen gestellt werden:
Wer sind die Teilnehmer am Gespräch?
In welcher Situation kommt das Gespräch zu Stande?
Warum findet das Gespräch überhaupt statt?
Welche Absichten und Interessen verfolgen die einzelnen Teilnehmer?
In welcher Beziehung stehen die Teilnehmer zueinander?
Was ist der Gesprächsgegenstand bzw. das Thema?
Wie verläuft das Gespräch?
Zu welchem Ergebnis führt das Gespräch?
Welchen Stellenwert bzw. welche Funktion hat das Gespräch oder die Szene
im ganzen Drama?
Aus diesen Fragen und aus den bekannten schulischen Anforderungen ergibt sich
folgende mögliche Methodik für die Analyse dramatischer Texte:
265
Analyse dramatischer Texte (Szenen- bzw. Dialoganalyse)
Die Textanalyse, deren Grundlage ein dramatischer Text ist, stellt im Prinzip die gleichen Anforderungen wie die Analyse und Interpretation eines epischen Textes (z.B.
Kurzgeschichte), nämlich Struktur-, Inhalts- und Sprachanalyse. Allerdings müssen
hierbei die Besonderheiten der Gattung (Dialog, Monolog) berücksichtigt werden.
Für die Analyse und Interpretation einer Dramenszene oder eines Szenenausschnitts
hat sich die folgende Methodik bewährt:
I. Einleitung
Informationen über Szene, Drama, Autor, Entstehungszeit
knappe Angaben zum Stellenwert der Szene bzw. Szenenausschnitts im
ganzen Drama
kurze Zusammenfassung der vorausgegangenen Handlung
II. Szenenbeschreibung
knappe Zusammenfassung des Szeneninhalts bzw. des Gesprächs, Dialogs
oder Monologs
Angaben über die Gesprächssituation (äußere Situation, Ort, Zeit, Anlass ...)
Angaben über die Gesprächsteilnehmer (Rolle, Funktion ... im Drama)
III. Analyse
Gesprächsverlauf (Aufbau, Sequenzen, Höhe- und Wendepunkte ...)
Sprachverwendung (Sprachebene, auffällige sprachlich-stilistische Mittel ...)
Gesprächsgegenstand (Thema, Problem, Zusammenhang ...)
Interessen und Intentionen der Teilnehmer (Ziele, Strategien, vorgebliche und
eigentliche Absichten ...)
Beziehungsebene der Teilnehmer (offen, partnerschaftlich, autoritär,
Abhängigkeitsverhältnis ...)
IV. Interpretation
Ergebnis des Gesprächs bzw. Monologs (Kompromiss, Klärung eines
Konflikts, Verschiedenheit, Streit, Trennung)
Funktion des Gesprächs bzw. Monologs (für die beteiligte(n) Figur(en) und für
den Fortgang der Handlung ...)
Stellenwert des Gesprächs / Monologs für das Drama bzw. für die Intention
des Dramas (z.B. Schlüsselszene für die innere Entwicklung einer Figur oder
für die äußere Handlung oder ...)
Einordnung der Szene und des Dramas in den literaturhistorischen Zusammenhang (typische inhaltliche und formale Merkmale ...)
V. Schluss
Abrundung der Darstellung, z.B. mit einer Aktualisierung des Dramas, des
Themas, eines Dramen- oder Szenenelements o.ä.
266
Beispiel einer Szenenanalyse
a) der Text
Humbrecht: Wo? wo ist sie, mein Evchen? - meine Tochter, meine einige Tochter?
(erblickt sie auf dem Bett) Ha! bist du da, Hure, bist da? - Hier Alte! dein Geld!
(wirft einen Sack hin, Fr. Marthan hebt ihn auf und thut ihn beyseite.) - Hängst
den Kopf wieder? Hasts nicht Ursach, Evchen, ‘s ist dir alles verziehn, alles! 5
(schüttelt sie) Komm! sag ich, komm! wir wollen Nachball halten - - ja, da
möchte man sich ja kreutzigen und segnen über so ein Aas: wenn der Vater
zankt, so laufts davon, gibt er gute Worte, so ists taub. - (schüttelt sie noch
heftiger) Willst reden? oder ich schlag dir das Hirn ein! Fr. Marthan (reißt ihn zurück): Thut er doch, als wenn er einen Ochsen vor sich hätt!
10
Kein Wunder, wenn sie die Gichter bekäm - Kann er nicht ordentlich reden?
Humbrecht: Hast Recht, Alte! vollkommen Recht! wart! wie mach ichs? (kniet
nieder vor seiner Tochter) Liebs, guts Evchen! Hab doch Mitleiden mit deinem
gedemüthigten Vater! verstoß ihn nicht ganz; nimm ihn zu Gnaden wieder auf! sieh, auf den Knieen liegt er vor dir und bittet dich. Hast deine Mutter vor der
15 Zeit ins Grab gebracht, sey so gut, ich beschwör dich darum, und gib auch mir
den letzten Stoß, mir, deinem Vater Evchen (die sich auf die letzt langsam aufrichtete, erblickt neben ihr das Kind, deutet
darauf und fällt mit dem Gesicht wieder aufs Bett): Da! da ist er!
Fr. Marthan (bringt eine angesteckte Lampe, stellt sie auf den Tisch, geht ans Bett
20
und deckt das Kind auf, eben so geschwind aber wieder halb zu): Du lieber
Herr Gott! was seh ich! das muß ich gleich gehen anzeigen, sonst bin ich
verlohren. - In der Seele dauert sie mich - aber (lauft ab).
Humbrecht (springt auf): Da! was ist da? ein Kind! ha! wies lächelt! - dein Kind,
Evchen? Soll auch meins seyn! Mein Bastert, ganz allein mein, wer sagt, daß er
25 dein ist, liebs Evchen! dem will ich das Genick herumdrehn.
______________
Z. 1 einige = einzige
Z. 5 Nachball halten = etwas nachholen
Z.10 Gichter = Krämpfe
b) Aufgabenstellung: Analysieren und interpretieren Sie den Textauszug aus dem
Drama „Die Kindermörderin“ von Heinrich Leopold Wagner!
c) Ausführung:
Die vorliegende Szene stammt aus dem Schlussakt des Dramas "Die Kindermör
derin" von H.L.Wagner; es handelt sich genau um die 4.Szene des VI. Aktes. Das
Drama von 1776 thematisiert das zeittypische Motiv des Kindsmords und zeigt am
Beispiel von Evchen Humbrecht die sozialen, moralischen und juristischen Hintergründe auf.
Evchen wird hinterlistig von dem adligen Leutnant v. Gröningseck verführt und geschwängert. Nach der Tat ist der Leutnant jedoch bereit, ihr Liebe zu schwören und
267
das Heiratsversprechen zu geben. Während der Leutnant wegen der Einwilligung zur
Heirat zu seinen Eltern reist und dort längerfristig krank wird, spinnt sein Freund
Hasenpoth eine gemeine Intrige, um die standesungemäße Heirat zu verhindern. Er
redet Evchen ein, sie sei von Gröningseck verlassen worden. Daraufhin und aus
Angst vor der Entdeckung ihrer Schwangerschaft und aus Furcht vor dem strengen
Vater flieht Evchen aus dem Elternhaus, kommt bei der Lohnwäscherin Marthan
unter, bringt ihr Kind zur Welt und tötet es.
Unmittelbar an die Tötungsszene schließt sich die vorliegende Szene an, in der Vater
und Tochter nach deren Flucht zum ersten Mal wieder aufeinandertreffen. Anwesend
ist auch Frau Marthan, in deren Haus diese Szene spielt. Herbeigeführt wurde dieses
Treffen zwischen Vater und Tochter von Evchen selbst, die Frau Marthan wegen der
hohen Belohnung, die der Vater für das Auffinden Evchens ausgeschrieben hatte, zu
ihm geschickt hat. Mit dem Eintreffen der beiden in das Zimmer, in dem sich Evchen
und das Kind befinden, beginnt die Szene, die beherrscht wird von den emotionalen
Reaktionen des Vaters auf das Wiedersehen seiner Tochter.
Die Szene gliedert sich in sechs Gesprächssequenzen, die auch etliche Regieanweisungen enthalten. Die meisten Sprechanteile kommen dem Vater zu, der auch mit
der Frage nach Evchen beginnt. Aufgewühltheit und Freude bestimmen seine
Sprache. Seine Aufgeregtheit zeigt sich in der Wiederholung des Fragewortes (Wo,
wo ist sie ..."), seine übergroße Freude spiegelt sich in der dreimaligen Verwendung
und Steigerung des Possessivpronomens ("mein Evchen?- meine Tochter, meine
einige Tochter?"). Aber schon im nächsten Satz spricht er seine Tochter als "Hure"
an. Nachdem er der Marthan die Belohnung zugeworfen hat, wendet er sich erneut
Evchen zu, die er nun trösten will, indem er nachhaltig sagt, dass ihr alles verziehen
sei. Aus der Regieanweisung geht hervor, dass Evchen nicht reagiert, weshalb der
Vater sie "schüttelt" (Z.5). Er wird nun ungehalten, sichtbar an den wiederholten
Imperativen ("Komm! sag ich, komm!"). Da Evchen anscheinend auch jetzt nicht
reagiert, zieht sich der Vater einen Augenblick lang zurück, indem er mit sich selbst
spricht und sich über das für ihn unverständliche Verhalten seiner Tochter beschwert.
Er nennt sie ein "Aas", das vor dem strengen Vater flieht und vor dem liebenden
Vater schweigt. Und während er sie dann - laut Regieanweisung - noch heftiger
schüttelt, verliert er allmählich die Beherrschung und fällt in seinen alten, autoritären,
drohen-den Ton des strengen Familienoberhauptes (wie im II.Akt) zurück ("Willst
reden? oder ich schlag dir das Hirn ein!"). Diese Unbeherrschtheit resultiert aus
seiner Verkennung der Situation. Der Vater freut sich, Evchen endlich wiedergefunden zu haben, aber er kennt die verzweifelte Situation seiner Tochter nicht, die
kurz zuvor ihr Kind erstochen hat. So kann er nicht verstehen, dass Evchen seine
Freude über das Wiedersehen nicht teilt und auf seine Verzeihung nicht reagiert.
Auf die Ungehaltenheit des Vaters reagiert jedoch in der 2.Sequenz Frau Marthan,
die ihn zurückhält und ihm sein unbeherrschtes Verhalten unmissverständlich
vorwirft. Sie redet dabei in ihrer bildhaft-derben Sprache, indem sie sein Einreden auf
Evchen mit dem Verhalten einem "Ochsen" (Z.9) gegenüber vergleicht und mögliche
schlimmen Folgen andeutet ("Kein Wunder, wenn sie die Gichter bekäm"). Ihre
abschließende rhetorische Frage "Kann er nicht ordentlich reden?" wiederholt den
Vorwurf der Unbeherrschtheit und Unangemessenheit. Frau Marthan kennt Herrn
Humbrecht, Evchens Vater, kaum, und es ist nur aus der konkreten Situation heraus
erklärlich, dass sie um Evchen willen in den Konflikt eingreift und es trotz des
Standesunterschieds wagt, gegen den Vater Vorwürfe zu erheben. Sie hat Evchen in
deren Not aufgenommen und deren Lebensgeschichte kennengelernt. Evchen hat ihr
ganzes Mitgefühl. Der Vater muss ihr wie ein Grobian der eigenen Tochter
gegenüber vorkommen, weshalb sie ihn deutlich zurechtweist.
268
Wider Erwarten - und auch nur aus der Situation erklärlich - zeigt der Vater Einsicht
(3.Sequenz). Er gesteht Frau Marthan zweimal zu, dass sie Recht habe. Er ist verunsichert, er weiß nicht, wie er sich Evchen gegenüber verhalten soll. Aus der Regieanweisung geht hervor, dass er sich vor Evchen niederkniet, bevor er sie erneut anspricht. Gestik und Ansprache zeigen deutliche Anklänge eines Gebets. Die Anrede
"Liebs, guts Evchen!" schlägt den flehentlichen Gebetston an, der mit der Bitte um
"Mitleiden" (Z.12) und "Gnaden" (Z.13) fortgesetzt wird. Er nennt sich selbst einen
"gedemüthigten Vater", der nicht verstoßen werden will, der "auf den Knieen liegt ...
und bittet" (Z.14). Dann jedoch folgt eine Bitte ("Hast deine Mutter ins Grab gebracht,
... gib auch mir den letzten Stoß"), die entweder die tiefe Verzweiflung des Vaters in
Bezug auf Evchens Schande widerspiegelt oder als bewusste Provokation eingesetzt
wird, damit Evchen endlich eine Reaktion zeigt. Denn die Anspielung auf Evchens
Schuld am Tod der Mutter - sie war nach Evchens Flucht aus Kummer gestorben will nicht so ganz in den Kontext passen, weil der Vater sich zuvor über das Wiedersehen so gefreut und ihr alles verziehen hat. Nun jedoch scheint es, als wolle er
nicht länger leben. Offenbart sich in dieser Widersprüchlichkeit die innere Zerrissenheit des Vaters, der seine Tochter liebt, der aber die gesellschaftliche Schande
nicht ertragen kann?
Auf jeden Fall reagiert Evchen nun endlich (4.Sequenz). Sie bringt jedoch nur vier
Worte hervor. Aus der Regieanweisung ist zu entnehmen, dass sie auf das
getötete Kind zeigt, dann "mit dem Gesicht wieder aufs Bett" (Z.18) fällt. So, als
wolle sie dem Vater tatsächlich "den letzten Stoß" geben, sagt sie nur: Da! da ist er!"
(Z.18), als sei damit die ganze Ursache ihres Unglücks bezeichnet. Dass Evchen in
dieser Szene so passiv ist, belegt ihre Opfer-Rolle. Zur aktiven Teilnahme an einem
Gespräch mit dem Vater ist sie gar nicht fähig; zu sehr wird sie von ihrer
Verzweiflung und ihrem Unglück eingeschnürt.
Auf den Ausruf Evchens reagiert zuerst Frau Marthan (5.Sequenz). Die Regieanweisung macht deutlich, dass sie das getötete Kind entdeckt, es aber schnell wieder
halb zudeckt. Ihre etwas seltsam anmutende Reaktion verbindet zwei sehr unterschiedliche Aspekte: Sie ist entsetzt, denkt aber sofort an ihre staatsbürgerliche
Pflicht, den Mord anzuzeigen, um nicht straffällig zu werden ("..., sonst bin ich
verlohren."). Ihre Autoritätshörigkeit ist stärker als ihr menschliches Mitempfinden,
was auch in ihrem abschließenden Satz besätigt wird ("In der Seele dauert sie mich aber"). Mitleid und Bedauern werden zwar empfunden, "aber" es gibt in dieser
Situation Wichtigeres. Diese Priorität der staatsbürgerlichen Pflicht weist Frau
Marthan als Untertan genau jenes Systems
aus, das Wagner für den Kindsmord wesentlich verantwortlich macht. Hierdurch
bekommt Frau Marthan eine neue Funktion innerhalb der Figurenkonstellation: Ihre
autoritätshörige Reaktion deutet an, warum die brutale Justiz der Kindermörderinnen
so lange unhinterfragt bestehen konnte.
In der letzten Sequenz der vorliegenden Szene reagiert der Vater auf Evchens Hinweis bzw. auf Frau Marthans Verhalten. Er "springt auf"(Z.23) und sieht das halb
zugedeckte Kind, erkennt aber nicht, dass es tot ist.
Er sieht das Lächeln des Kindes und ist angetan, was im Wechsel von elliptischen
Ausrufen und Fragen zum Ausdruck kommt. Er erklärt Evchens Kind für das seine,
und zwar ausschließlich für das seine, was mit einer dreifachen Wiederholung des
Possessivpronomens unterstrichen wird ("soll auch meins seyn! Mein Bastert, ganz
allein mein"). Und um diesen Anspruch noch zu verstärken, droht er in seiner grobschlächtigen Art allen, die das Kind als Evchens Kind behaupten, an, er wolle ihnen
"das Genick herumdrehn" (Z.25). Dass er das Kind "Bastert" nennt, zeigt, dass er
sich Evchens Problematik als einer ledigen Mutter sehr wohl bewusst ist; indem er
269
das Kind als sein eigenes bezeichnet und allen droht, die etwas anderes behaupten,
stellt er sich väterlich vor seine Tochter, um sie vor den sozialen Folgen zu schützen.
Am Ende der Szene ist das Verhältnis des Vaters zu seiner Tochter aus dessen Sicht
bereinigt. Er hat seine Tochter wiedergefunden, und er nimmt Mutter und Kind in
seinen väterlichen Schutz. Allerdings weiß der Vater hier noch nicht, dass Evchen
das Kind erstochen hat.
Die Szene wird dominiert von Humbrechts Reden und emotionalen Reaktionen. Ein
Gespräch zwischen den anwesenden Personen kommt nicht zustande. Frau Marthan
und Evchen reagieren nur auf Humbrechts Reden, Frau Marthan, indem sie den
aufgebrachten Vater zurechtweist, Evchen, indem sie auf das Kind zeigt. Die äußere
Situation lässt hier gar kein Gespräch, keinen Austausch zwischen den Personen
erwarten, da Humbrechts psychische Hin- und Hergerissenheit die Szene
beherrschen: seine Freude, seine Ungehaltenheit, sein "Gebet" und zuletzt seine
Väterlichkeit.
Die wichtigste Funktion der vorliegenden Szene für den Handlungsverlauf liegt in der
Versöhnung des Vaters mit der Tochter, in der die innere Veränderung des Vaters
zum Ausdruck kommt. Er wandelt sich vom sittenstrengen, von äußeren, gesellschaftlichen Normen bestimmten Familienoberhaupt zum liebenden Vater, der seine
Mitschuld an Evchens Werdegang erkennt und der sie zuletzt vor gesellschaftlichen
Nachteilen schützen will. Mit der Vaterfigur zu Beginn des Dramas weist Wagner
deutlich auf die Unmenschlichkeit der bürgerlichen Moral und Rollenverteilung hin.
Wenn Prinzipien wichtiger sind als Menschen, wenn die Moral sich gegen die
Menschen selbst richtet, wenn der Tugendrigorismus sich gegen Humanität und
Liebe stellt, dann haben Freiheit und Selbstbestimmung keine Chance mehr. Auf
diesen inneren Widerspruch in der bürgerlichen Ideologie haben wie Wagner viele
Stürmer und Dränger in ihren gesellschaftskritischen Werken hingewiesen. Evchen
und alle Kindermörderinnen im 18.Jh. sind die Opfer inhumaner gesellschaftlicher
Normen, Gesetze, Verordnungen. - Mit der Vaterfigur zum Schluss des Dramas
deutet Wagner die Richtung der Veränderung im bürgerlichen und menschlichen
Selbstverständnis an.
Eine weitere Funktion der Szene liegt darin, dass hier der Fortgang der Handlung
angedeutet wird. Mit Frau Marthans Entschluss, den Kindsmord anzuzeigen, wird die
Öffentlichkeit informiert und die Justiz in Gang gebracht. Damit ist der tragische
Schluss vollends eingeleitet, der nach Wagners Willen die Empörung des Zuschauers und Lesers wecken soll.
Es ist offensichtlich, dass H.L. Wagner, der Jurist war, mit seinem Drama in die zu
seiner Zeit hochaktuelle Auseinandersetzung um den Kindsmord und um die extrem
harte Bestrafung der Kindermörderinnen, denen ausschließlich die Schuld für ihr Tun
angelastet wurde und die in der Regel mit dem Tod bestraft wurden, eingreifen
wollte. An Evchens Beispiel zeigt er auf, dass gesellschaftliche Faktoren die
unfreiwilligen Mütter zu ihren Taten drängen und dass somit die ausschließlich von
der subjektiven Schuld der Täterin ausgehende Justiz die wahren Ursachen
verkennt. In dieser Form der Gesellschaftskritik zeigt sich das Denken der Sturm und
Drang-Zeit, die im Unter-schied zur Aufklärung die gesellschaftlichen Bedingungen
des Menschseins ins Zentrum rücken und im Menschen primär ein gesellschaftliches
Wesen sehen. Ob damit auch schon die Schuldfrage - bezogen auf das im Drama
vorliegende Grundproblem - geklärt ist, bleibt offen.
270
1.2. Erörterndes Erschließen literarischer Texte:
Literarische Erörterung
Die literarische Erörterung meint die Auseinandersetzung mit Fragen, Problemen und
Sachverhalten, die in literarischen Texten zum Ausdruck kommen. Eine solche
Auseinandersetzung setzt natürlich das Verständnis bzw. die Textinterpretation des
zu Grunde liegenden Textes voraus.
Als Themen dieses Aufgabentyps kommen beispielsweise die in literarischen Werken
dargestellten Wahrnehmungsweisen, Menschenbilder, Gesellschaftsentwürfe und
Wirklichkeitsauffassungen sowie Fragen des literarischen und kulturellen Lebens in
Frage. Beispielsweise können die Themen - immer bezogen auf einen konkreten
literarischen Text bzw. bei einem Vergleich auf mehrere Texte - wie folgt lauten:
Darstellung und Bedeutung der Familie in der Literatur
Das Motiv des Reisens in der Literatur
Die Verführbarkeit des Menschen in der Literatur
Künstlerfiguren in der Literatur
Generationskonflikte als Gegenstand der Literatur
Tabuverletzung in der Literatur
Vergleich der Deutschlandbilder in zwei Werken
Funktion und Aufgabe der Literatur
Zum letzt genannten Thema wollen wir uns ein Beispiel anschauen. Der zu Grunde
liegende Text ist ein Zitat des Dichters Dieter Wellershoff.
Zitat:
„Die Literatur ist ein der Lebenspraxis beigeordneter Simulationsraum,
Spielfeld für ein fiktives Handeln, in dem man als Autor und als Leser die
Grenzen seiner praktischen Erfahrung und Routine überschreitet, ohne ein
wirkliches Risiko dabei einzugehen“ (Dieter Wellershof in: Literatur und
Veränderung, Köln 1969).
Aufgabe: Erörtern Sie diese These anhand von Beispielen und nehmen Sie Stellung!
Methodik
Für das Abfassen einer literarischen Erörterung gilt im Prinzip dieselbe planmäßige
und nach einzelnen Arbeitsschritten gestaffelte Vorgehensweise wie bei jeder
Problemerörterung, nämlich
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Erschließung des Themas
Stoffsammlung
Stoffordnung und Gliederung
Entwurf der Einleitung
Argumentationsführung im Hauptteil
Formulierung des Schlussgedankens
Kernstück jeder Erörterung ist eine schlüssige, stimmige und anschauliche
Argumentation.
271
Bei der literarischen Erörterung bedient man sich für die Argumentation vornehmlich
folgender Aspekte:
Sachwissen (z.B. aus der Fachliteratur) über Autoren, Werke, Epochen,
Gattungen, Erzähltechniken usw.
Ergebnisse und Aussagen der Sekundärliteratur bezüglich bestimmter Werke,
Probleme und Fragestellungen (z.B. Interpretationen, motivgeschichtliche
Untersuchungen usw.)
eigene aus dem (den) zu bearbeiteten Text(en) oder Werk(en) gewonnene
Erkenntnisse und Einsichten
An die Stelle der Beispiele bei der Problemerörterung treten beim literarischen
Aufsatz die Textstellen (Belegstellen). Für das Anführen bzw. die Wiedergabe von
Textstellen gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten:
1. Zusammenfassung eines Textes / einer Texteinheit in der Art einer Inhaltsangabe
2. Umschreibung einer Textpassage mit eigenen Worten in Form der Paraphrase
3. Wörtliches Zitat
Nachdem Sie nun ein Beispiel kennen gelernt haben und über die notwendigen
methodischen Kenntnisse verfügen, können Sie sich selbst an dieser Aufgabenart
versuchen. Nehmen wir als Textgrundlagen zwei Kurzgeschichten, die hier im
Arbeitsbuch abgedruckt sind.
Thema: Die Darstellung der Familie in der Literatur der Gegenwart
Aufgabe: Erörtern Sie vergleichend die Gestaltung der Familie in den
Kurzgeschichten „Die Tochter“ von P. Bichsel und „Hobbyraum“ von
M.L. Kaschnitz!
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------
1.3. Gestaltendes Erschließen pragmatischer Texte:
Adressatenbezogenes Schreiben
Adressatenbezogenes Schreiben hat das Ziel, einen pragmatischen Text durch eine
gestaltende Antwort auf seinen zuvor analysierten Inhalt, seine Argumentationsstrategie und Sprache zu erschließen. Das bedeutet, adressatenbezogenes
Schreiben umfasst in der Regel zwei Anforderungen: zuerst die Analyse eines
pragmatischen Textes( z.B. einer politischen Rede) und im zweiten Schritt eine
gestaltende (kreative) Darstellung (z.B. einen Brief). Der Aufgabenschwerpunkt ist
der Gestaltungsauftrag, die argumentative Auseinandersetzung mit einer
Textvorlage, bezogen auf eine bestimmte Kommunikationssituation bzw. einen
bestimmten Verwendungszweck. Gestaltungsformen können z.B. sein: Brief,
Kommentar, Essay, Rede, Debattenbeitrag, Rezension, Flugblatt u.a.
Der zu schreibende Text muss sich zum einen an den formalen und sprachlichen
Bedingungen der vorgegebenen Gestaltungsform orientieren und zum anderen den
kommunikativen Kontext, insbesondere die Adressatengruppe, berücksichtigen.
272
Aufgabenbeispiele
a) Textgrundlage ist ein Auszug aus einem Artikel aus DIE ZEIT, in dem ein Herr
Joffe seine Meinung über den gegenwärtigen Sprachgebrauch äußert.
Die Aufgabenstellung kann dann so aussehen:
Gestalten Sie einen Kommentar zur Sprachkritik des Journalisten Josef
Joffe, der in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT in der Rubrik „Leserartikel“
erscheinen soll.
Untersuchen Sie hierfür zunächst die Position des Autors unter
Berücksichtigung der sprachlichen Gestaltung des Textes.
Schreiben Sie zur Untersuchungs- und Gestaltungsaufgabe jeweils einen
eigenen Text.
b) Textgrundlage ist ein Auszug aus einer Rede Hitlers. Die Aufgabenstellung
kann dann so aussehen:
Gestalten Sie eine Reaktion von deutschen Emigranten auf Hitlers Rede
in Form eines Flugblattes, das von den Alliierten über Deutschland
abgeworfen werden soll.
Untersuchen Sie dafür zunächst den Auszug aus Hitlers Rede. Beachten
Sie besonders die sprachlichen Aspekte.
Schreiben Sie zur Untersuchungs- und Gestaltungsaufgabe jeweils einen
Text.
c) Textgrundlage ist das Manuskript eines Vortrags von M. Heuwagen, die ihre
Auffassung über die Anglisierung der deutschen Sprache vertritt. Die
Aufgabenstellung kann so aussehen:
Gestalten Sie einen Redebeitrag als Reaktion auf den Vortrag Marianne
Heuwagens. Setzen Sie sich darin mit den Positionen Heuwagens zu
fremdsprachlichen Einflüssen auf die deutsche Sprache auseinander.
Untersuchen Sie dazu zunächst die Argumentation von M. Heuwagen.
Verfassen Sie zur Untersuchungs- und Gestaltungsaufgabe jeweils einen
zusammenhängenden Text.
273
274
Pragmatische
Texte
Erschließen
1. das untersuchende Erschließen pragmatischer
Texte: die Textanalyse
Beispiel
Pragmatische Texte
E: Canetti: Der Beruf des Dichters
G. Lehnert: Mit dem Handy in die Peepshow
H. von Hofmannsthal: Brief des Lord Chandos
M. Walser: Warum liest man überhaupt?
Methodik der Textanalyse
282
283
285
287
288
2. das erörternde Erschießen pragmatischer Texte:
die Texterörterung
Beispiel: A. Schopenhauer: Über Lesen und Bücher
Exkurs: Möglichkeiten der Textwiedergabe
Grundtypen des Urteils
289
289
293
297
Texte
M. Walser: Über Leseerfahrungen
R. de Weck: Die Gier der Medien
E. Uhl: Medien fördern Fantasie und Kreativität
H.M. Enzensberger: Bescheidener Vorschlag
zum Schutze der Jugend vor
Erzeugnissen der Poesie
Ch. Noll: Volk ohne Sprache
N. Postman: Unterricht als Unterhaltung
R. Klüger: Frauen lesen anders
3. das gestaltende Erschließen pragmatischer Texte:
adressatenbezogenes Schreiben
Beispiel
275
276
276
299
300
300
301
302
304
305
307
307
Pragmatische Texte erschließen
1. das untersuchende Erschließen pragmatischer Texte:
Textanalyse
Das untersuchende Erschließen pragmatischer Texte meint nichts anderes als die
Analyse von Sachtexten. Sie erfordert
das Erfassen des Textes in seinen wesentlichen Elementen und Strukturen
das Aufzeigen der Position und Intention des Verfassers
die Prüfung der Argumentation auf Stichhaltigkeit und Schlüssigkeit
die Darlegung des Adressaten- und Situationsbezugs
die Analyse von Sprache und Struktur
die Beurteilung der Wirkung des Textes
die Einordnung des Textes in übergreifende Zusammenhänge
Wir gehen von einem Beispiel aus, und zwar nehmen wir den folgenden Text von
Marion Gräfin Dönhoff als Grundlage.
Marion Gräfin Dönhoff: Wo bleibt das Ethos?
Am puren Egoismus geht jede Gesellschaft zugrunde (Auszug)
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In der vorigen Woche schrieb Robert Leicht in einem Leitartikel - mit dem er
für ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz eintrat - , es komme für die Frage,
wer ein guter Staatsbürger sei, nicht auf das Ethnische an, sondern auf das
Ethische. Er hat so Recht. Aber wo in unserer modernen Industriegesellschaft
findet man eigentlich das Ethische? Wo verbirgt es sich?
Unsere Gesellschaft wird zusammengehalten durch Leistung, technischen
Fortschritt, optimale Rationalität und ein Höchstmaß an Produktion und
Konsum. Kultur, Geist, Philosophie - überhaupt die Humanitas - spielen eine
immer geringere Rolle. Von Ethik redet kein Mensch. Typisch für unsere
Gesellschaft ist das ungebremste Streben nach immer neuem Fortschritt,
nach Befriedigung der ständig wachsenden Erwartungen: Alles muss immer
größer werden, von allem muss es immer mehr geben - mehr Freiheit,
Wachstum, Profit ... Wir leben eben in einer dynamischen Epoche und nicht,
wie Jahrhunderte zuvor, in einer Welt, die durch Statik charakterisiert war.
Das Menschenbild, das diese Gesellschaft vor Augen hat, entspricht diesem
Szenario: Es ist das Bild des Homo oeconomicus, der mit unbarmherziger
Präzision und unfehlbarer Rationalität seinen Gewinn optimiert. Die
ausschließliche Diesseitigkeit, die den Menschen von seinen metaphysischen
Quellen abschneidet, der totale Positivismus, der sich nur mit der Oberfläche
der Dinge beschäftigt und jede Tiefendimension vergessen lässt, kann aber
als einzige Sinngebung den Menschen auf Dauer nicht befriedigen.
Schließlich wird alles noch in besonderer Weise durch das herrschende
Wirtschaftssystem verstärkt. Bei der Marktwirtschaft, die ja auf dem System
des Wettbewerbs, also der Konkurrenz beruht, kommt alles darauf an, besser
zu sein als die anderen. Der Motor dieses Systems ist daher der Egoismus.
Und dieser Egoismus macht vor nichts halt. In seinem Gefolge wächst die
Brutalität, die unseren Alltag kennzeichnet, wie auch die Korruption, die in
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vielen Ländern mittlerweile bis hinauf ins Kabinett reicht. Jeder denkt an sich,
an seine Lustmaximierung - für das Allgemeinwohl soll gefälligst der Staat
sorgen.
Aber jede Gesellschaft braucht Bindungen. Ohne Spielregeln, ohne einen
bestimmten Konsens über Verhaltensnormen kann kein Gemeinwesen
bestehen, nicht einmal ein Club oder ein Verein. Eine Gesellschaft, die nicht
über einen ethischen Minimalkonsens einig ist und die keine allgemeinen
moralischen Barrieren akzeptiert, wird mit der Zeit unweigerlich zerfallen.
Ohne Zweifel ist die Marktwirtschaft das effizienteste Wirtschaftssystem, das
existiert. Ihm verdanken wir den raschen Wiederaufbau unseres durch den
Zweiten Weltkrieg zerstörten Landes, den Wohlstand unserer Gesellschaft
und wohl auch die Stabilität unserer Demokratie. Aber in das Marksystem ist
neben dem Trieb des Egoismus auch ein Faktor der Maßlosigkeit eingebaut,
wodurch ein Klima allgemeiner Bereicherung erzeugt wird: Allenthalben ist
Raffgier die Folge.
Wenn es nicht gelingt, sich auf einen ethischen Minimalkonsens zu einigen,
dann wird unsere vielgerühmte freie Marktwirtschaft allmählich zu einem
Catch-as-cath-can entarten und vielleicht eines Tages so zusammenbrechen
wie vor kurzem das sozialistische System. (...)
Manchmal fragt man sich besorgt: Wird die Demokratie unten den
obwaltenden Umständen weiter bestehen können? Nicht, dass die
Gesellschaft ihrer überdrüssig wäre, sie bejaht Pluralismus, ist froh über
Rechtssicherheit und Freiheit, aber sie lehnt viele derzeitige
Erscheinungsformen der Demokratie ab. Die Bürger sind verdrossen, sie
treten aus der Kirche aus, aus den Parteien, den Gewerkschaften, sie
schimpfen über die Politiker, haben kein Vertrauen mehr zu den
Parlamentariern, behaupten, diese dächten nur an ihre Wiederwahl und
kümmerten sich nicht um die wirklichen Probleme. Die Politiker ihrerseits
erklären, die Medien seien an allem schuld. Die Gesellschaft ist ganz einfach
frustriert. (...)
Was aber können wir tun? Wir müssen uns zunächst klar darüber sein, dass
Verantwortungsethik durch den Erziehungsprozess im Elternhaus, in der
Schule und in der Gemeinschaft erworben wird, dass also die civil society sich
weder von selbst einstellt noch durch Anordnung von oben erzwingen lässt.
Denn der moderne Staat, dessen Grundlage ja nicht die Religion ist, sondern
vielmehr ein Ensemble bestimmter Grundsätze - the rule of law -, will nicht und
kann nicht ethische Richtlinien angeben; er muss sich jedoch auf
zivilisatorische Formen und sittliche Grundhaltungen in der Gemeinschaft
verlassen können.
Ist aber ein potenzielles Reservoir an ethischer Gesinnung überhaupt
vorhanden? Gibt es einen Fundus, der sich akzeptieren lässt? Man spürt
allenthalben Ansätze dazu und auch eine echte Sehnsucht vieler Bürger nach
Sinnerfüllung und nach Bereitschaft zum Handeln.
Waren jene Millionen Menschen, die auf die Straße gingen und Lichterketten
bildeten, um gegen Mord und Brandanschläge auf Ausländer zu protestieren,
nicht ein Beweis dafür, dass ein solcher Fundus existiert? Und die
Protestbewegungen, die Solidarität und Mitwirkung an Entscheidungen
fordern, zeigen doch auch, dass die Aversion gegen Politik nicht aus dem
Gefühl geboren wird: „Politik, ein garstig Lied“, sondern dass im Gegenteil, die
Betreffenden beteiligt sein wollen.
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In Amerika gibt es seit einigen Jahren eine Bewegung, deren Mitglieder sich
communitarians nennen. Gemeinschaftler, wenn man so will. Ihr gehören
vorwiegend Intellektuelle an: Akademiker, Sozialwissenschaftler, Philosophen.
Sie wollen durch Partizipation das Verantwortungsgefühl der Bürger für die
Gemeinschaft neu beleben: den Markt, der seinen „ethischen Unterbau“
verloren hat, wieder in einen moralischen und sozialen Kontext stellen: also
dem Konsum-Kapitalismus ein Wertesystem entgegensetzen. Außerdem
treten sie für das Subsidiaritätsprinzip ein, also dafür, nur noch jene Aufgaben
an den Staat zu delegieren, die in der Familie und auf lokaler Ebene nicht
erledigt werden können. Auf diese Weise, so hoffen sie, werden die Bürger
das Gemeinwesen als „ihren“ Staat anerkennen, sich sozusagen in ihm
wiedererkennen. Die communitarians haben bereits ein Netz solcher
Organisationen in den USA aufgebaut.
Vielleicht sind dies Hinweise, denen auch wir nachgehen sollten.
(aus: DIE ZEIT, Nr 28 vom 5.7.1996, S.7)
Was können Sie tun, wenn die Aufgabe hier lautet: Analysieren Sie den Text von
Marion Gräfin Dönhoff?
Sie können folgendermaßen vorgehen:
1. Lesen des Textes mit vorläufigen Unterstreichungen wichtiger Textstellen
2. Mit einem zweiten, intensiven Lesen wird das Textverständnis überprüft.
Dabei werden zentrale Begriffe, Kerngedanken, gedankliche Folgerungen
und stilistische Auffälligkeiten markiert (möglichst mit unterschiedlichen
Farben).
3. Nun können Sie den Text in Sinneinheiten gliedern und die Argumentation
analysieren: Was ist die übergeordnete Aussage (These) des jeweiligen
Abschnitts und wie wird diese begründet? Sind die Argumente schlüssig
und überzeugend? Welche sprachlichen Mittel werden eingesetzt? (Das ist
der wichtigste und umfangreichste Arbeitsschritt der Textanalyse.)
4. Jetzt können Sie im Zusammenhang der Gesamtanalyse die Intention des
Textes bestimmen: Was will der Verfasser erreichen? Warum hat er den
Text überhaupt geschrieben?
5. Zuletzt können Sie mit Bezug auf die Entstehungszeit des Textes die
Bedeutung und Wirkung kritisch würdigen und Ihre eigene Auffassung
argumentativ darlegen.
Aufgabe: Erproben Sie die fünf methodischen Schritte an dem Dönhoff-Text, indem
Sie ein Konzeptpapier erstellen, das als Grundlage für die Reinschrift
dienen könnte.
Aufgabe: Lesen Sie die folgende Ausarbeitung, vergleichen Sie die Ergebnisse mit
Ihren eigenen und prüfen Sie, ob der Schreiber alle Anforderungen des
Aufgabentyps zufriedenstellend erfüllt hat.
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Bei dem vorgelegten Text von Marion Gräfin Dönhoff handelt es sich um einen
Textauszug, welcher der Wochenzeitschrift DIE ZEIT vom 5.7.1996 entnommen
worden ist. Dieser Auszug ist der Textkategorie Sachtext bzw. pragmatischer Text
zuzuordnen.
Gräfin Dönhoff ist nicht nur bekannt als Verfasserin vieler publizistischer Artikel, sondern
auch als Herausgeberin der Wochenzeitschrift DIE ZEIT für Politik, Wirtschaft,
Handel und Kultur.
Bevor man den Text liest, wird bereits augenfällig, dass die Autorin mit der Wahl ihrer
Überschrift in Form einer rhetorischen Frage eine Position in den Mittelpunkt ihrer
Betrachtung gerückt haben möchte, die den Leser animiert, den Gedankengang der
Fragestellerin zu verfolgen. Die in der Folge gewählte kontrastierende Zwischenüberschrift „Am puren Egoismus geht jede Gesellschaft zugrunde“ stellt eine These
in den Raum, welche im Verlaufe des Textes zu beweisen sei. Der aufmerksame
Leser wird für sich zunächst geklärt haben wollen, was unter dem Begriff „Ethos” im
Allgemeinen und bei Dönhoff im Besonderen zu verstehen sei. Im allgemeinen
Verständnis des Begriffes „Ethos”, welcher aus dem griechischen ethos hergeleitet
und in etwa mit Gewohnheit, Brauch, Gesittung beziehungsweise mit Charakter und
Herkommen übersetzt worden ist, wird aus heutiger Sicht unter bildungssprachlichem
Aspekt eine vom Bewusstsein sittlicher Werte geprägte Gesinnung als
Gesamthaltung verstanden. So gesehen wird also mit dem Begriff „Ethos“ eine
moralische Grundhaltung, ein sittliches Weltbewusstsein einer sozialen Gruppe
bezeichnet. Interessant ist dabei aber auch, dass diese Ideale und Maßstäbe des
sittlichen Handelns sich weitgehend von der Moral dadurch unterscheiden, dass sie
nicht immer vernünftig und begründbar sein müssen. Damit muss Ethos historisch
bedingt erfasst und begründet werden. Ethos ist demnach ein Ausdruck
historisch entwickelter Normen, Werte und moralischer Handlungsmuster, die sich in
der sozialen Gruppe oder in Absprache der Menschen als gesellschaftliche Wesen in
einer Gesellschaftsformation durchgesetzt haben und von den Mitgliedern einer
sozialen Gruppe beziehungsweise der jeweiligen Gesellschaft anerkannt worden
sind.
Gräfin Dönhoff setzt in ihrem Text dagegen, dass sie im Einklang mit dem Autor
Robert Leicht steht, der in einem Leitartikel in DIE ZEIT für ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz eintritt und meint, es komme bei der Frage, was ein guter Bürger
sei, nicht auf das Ethnische, sondern auf das Ethische an (vgl. Z. 2/3). Besorgt fragt
sich die Verfasserin jedoch, wo in „unserer modernen Industriegesellschaft „man
eigentlich das Ethische” (Z. 4/5) finde. Offen bleibt ihr konkret definierter Begriff von
einem Ethos.
Als zweiter zentraler Begriff wird der „Egoismus”, hier als purer „Egoismus”, der „jede
Gesellschaft zugrunde” richte, angesprochen. Egoismus unter dem Aspekt
moralischer Handlungsmuster kann nur als Gegensatz zum Altruismus verstanden
werden. Das Individuum hat demnach eine moralische Haltung eingenommen, von
der es nur handelt, wenn das Handeln auf das Erreichen eigennütziger Zwecke
ausgerichtet ist. Psychoanalytisch gesehen dient ein „gesunder” Egoismus der
Entfaltung des Ego, des Ichs im Sinne der Verwirklichung des Selbsterhaltungstriebes. Nach heutiger Erkenntnis wird Egoismus erst dann moralisch verwerflich,
wenn das Leben und die Persönlichkeit anderer Individuen einer menschlichen
Gesellschaft beengt beziehungsweise beeinträchtigt werden. Selbst Immanuel Kant
(1724—1804) unterschied schon verschiedene Arten von Egoismus. Stellvertretend
seien an dieser Stelle genannt: der metaphysische, der logische, der ästhetische und
der moralische Egoismus. Dönhoff bezieht sich in ihrem Beitrag auf den moralischen
Egoismus, der jede Gesellschaft zugrunde richte.
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Beim ersten Lesen des vorgelegten Textes wird erkennbar, dass die Verfasserin die
Absicht verfolgt, die Gefahr des Verlustes ethischer Normen der Gesellschaft
transparent zu machen. Deutlich wird auch, dass ein Verlust moralischer Werte und
Normen die Stabilität einer Gesellschaft erschüttere. Sie meint, eine Gesellschaft, die
nicht über einen ethischen Minimalkonsens einig sei und die keine allgemeinen
moralischen Barrieren akzeptiere, „werde mit der Zeit unweigerlich zerfallen (vgl.
Z. 33-35). Mithilfe der appellativen Argumentationsweise gelingt es der Autorin, ihre
Kritik an den Werteverlusten der Gesellschaft der heutigen Zeit zu begründen,
gleichzeitig aber auch Wege zu offerieren, die Möglichkeiten aufzuzeigen, diesem
gesellschaftlichen Dilemma zu entkommen.
Gräfin Dönhoff bedient sich einer Vielzahl rhetorischer Fragen, welche insbesondere
dann gestellt werden, wenn Kritikpunkte von allgemeinem Interesse sind, so zum
Beispiel die Frage nach dem Ethischen in der modernen Industriegesellschaft, wenn
es da heißt : „Xaber wo in unserer modernen Industriegesellschaft findet man
eigentlich das Ethische? Wo verbirgt es sich?" (Z. 4/5) oder die Frage nach dem
Bestand der Demokratie bei allem Pluralismus, wenn sie formuliert: „Wird die
Demokratie unter den obwaltenden Umständen weiter bestehen können?” (Z. 47/48).
Die Autorin nutzt innerhalb ihrer Argumentation neben rhetorischen Fragen und
Thesendarstellung des Öfteren die kontrastierenden Formen des Pro und Contra bei
der Bereitstellung von Argumenten und Beispielen. Das jedoch in einem ausgewogenen Maße. Dabei verwendet sie innerhalb der adversativen Beantwortung der
Fragen häufig die Konjunktion „aber”, so zum Beispiel in den Zeilen 4, 31, 39,50, 57.
Neben der Nutzung des Stilmittels der Antithese (vgl. Z. 3/4, 12—14, 17—21 etc.)
verwendet die Verfasserin die Stilfiguren der Akkumulation (Z. 8—12, 69/70 etc.), des
Weiteren sprachliche Bilder wie Metaphern und Vergleiche, um ihre Intentionen
nachhaltiger dem Leser gegenüber verdeutlichen zu können. Wenn sie formuliert:
„Wir leben eben in einer dynamischen Epoche und nicht, wie Jahrhunderte zuvor, in
einer Welt, die durch Statik charakterisiert war” (Z.13/14), dann gelingt es der
Schreiberin, ein antithetisches Bild aufzubauen. In der heutigen Zeit ist die
Gesellschaft eben nicht mehr statisch, sondern dynamisch, was an die heutigen
Menschen neue Anforderungen stellt, nämlich sich in dieser Welt zurechtzufinden
und seine Mitmenschen trotz freier Marktwirtschaft zu achten.
Marion Gräfin Dönhoff bringt in ihre Argumentationsstruktur zur Unterstützung ihrer
Aussagen neben treffenden Personifikationen gleichsam wertende Attribute in den
Redefluss, so zum Beispiel „unsere moderne Industriegesellschaft” (Z. 4), „das
ungebremste Streben” (Z. 10), „der ständig wachsenden Erwartungen” (Z. 11) etc.
Ausgehend von den Überlegungen über ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz (vgl.
Z. 2) stellt die Autorin einleitend die Frage nach dem Verbleib des Ethischen in
unserer Gesellschaft. Im Folgenden untersucht sie die stabilisierenden Kräfte der
Gesellschaft und stellt antithetisch fest, dass von Ethik kein Mensch mehr rede (vgl.
Z. 9). Bei der Analyse des modernen Menschenbildes gelangt sie zu der Erkenntnis,
dass es dem heutigen Menschenbild an „Tiefendimension” (Z. 20) und befriedigender
Sinngebung fehle. Unter Beachtung der neuzeitlichen Verhaltensweisen des derzeit
herrschenden Wirtschaftssystems mit seinem harten Wettbewerb konstatiert die
Autorin, dass vor allem der Egoismus die Triebkraft des Systems der freien
Marktwirtschaft sei. Sie nutzt die Metapher „Motor” (Z. 25) für die Versinnbildlichung
der Triebkraft des Egoismus, indem sie verabsolutiert: „Der Motor dieses Systems ist
daher der Egoismus.” (Z. 25).
Verständlich erscheint deshalb Dönhoffs Ruf nach sogenannten „Spielregeln” (Z. 31)
und einem „ethischen Minimalkonsens” (Z. 34). In antithetischer Argumentationsweise wägt die Autorin weiterführend im Text Vorzüge und Nachteile der freien
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Marktwirtschaft ab und wiederholt den Ruf nach jenem ethischen Konsens, um
Auswüchsen des herrschenden Wirtschaftssystems zu begegnen und um noch
weiteren negativen Entwicklungen wie etwa dem „sozialistischen System” (Z. 46)
vorzubeugen. So wäre also auch weiterhin an den Bestand der Demokratie zu
denken. Einerseits, so Dönhoff, fördere Demokratie den Pluralismus, biete Recht und
Freiheit, aber anderseits offenbare sich verstärkt bei den Bürgern eine Politikverdrossenheit (vgl. Z. 51 f.). Die Bejahung der Vorzüge und die Politikverdrossenheit
der Bürger sind zwei antithetische Pole ihres Nachdenkens über den Erhalt der
Demokratie als Staatsform. Mit ihrer Aussage „Die Gesellschaft ist ganz einfach
frustriert.” (Z. 57) rundet sie den Komplex ihrer Kritik ab und leitet nun über auf ihre
Bemühungen, Wege zu zeigen, um aus dem aufgezeigten Dilemma herauszufinden.
Man kann mit Marion Gräfin Dönhoff übereinstimmen, wenn sie meint, dass bei der
Suche nach der Schuld für das Stimmungstief und den Frust der Gesellschaft die
Politiker nicht unbelastet seien. Es bestehe Handlungsbedarf zur Wahrung des
Sittlichen. Eine „Verantwortungsethik” (Z. 59) müsse dem modernen demokratischen
Staat die Sicherheit geben, sich auf Zivilisation und sittliche Grundhaltungen
verlassen zu können (vgl. Z. 66).
Wiederum antithetisch wird auch über das Vorhandensein ethischer Gesinnung
nachgedacht: „Ist aber ein potenzielles Reservoir an ethischer Gesinnung überhaupt
vorhanden? Gibt es einen Fundus , 'der sich aktivieren lässt?” (Z. 68). Die
Verfasserin spürt trotz allem aber Ansätze von Handlungsbereitschaft bei vielen
Bürgern auf der Suche nach Sinnerfüllung. Gerade die Beispiele, die für ein
verantwortungsbewusstes politisches Handeln stehen, wie Protestbewegungen
gegen Ausländerfeindlichkeit, Solidarität und Mitwirkung an Entscheidungen (vgl.
Z. 74), können als Zeichen der Hoffnung gewertet werden.
Mit dem Blick auf Amerika, das seit einigen Jahren zu einem Land der
communitarians (der Gemeinschaftler) geworden ist, welches sich mit weniger Staat
und mehr Eigenverantwortlichkeit gestaltet, appelliert Dönhoff an die Leser, ihr
Verantwortungsgefühl als Bürger neu zu belegen, sich eine Identifikation zu schaffen,
sich in „ihrem” Staat der Demokratie wiederzuerkennen (vgl. Z. 88). Zaghaft versucht
sie im letzten Satz des letzten Absatzes die Leser zu ermutigen, ihren Hinweisen zu
folgen. Da sie jedoch annimmt, mehr oder weniger auf „verlorenem” Posten zu
stehen, schränkt sie ihr Anliegen ein, indem sie diesen Satz einleitet mit dem Adverb
„vielleicht” und gleichsam den Konjunktiv für die Gesamtaussage benutzt.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Autorin Marion Gräfin Dönhoff dem
Leser hier einen argumentativen Text mit appellativen Einschüben vorlegt, welcher
sich mit der Frage nach dem Verbleib des Ethos (im moralischen Sinne) in unserer
Gesellschaft beschäftigt. Dabei gelangt sie zu dem Ergebnis, dass jedes Individuum
in der modernen Industriegesellschaft dafür Sorge zu tragen habe, Ethik und Moral
gegenüber dem sich verbreitenden gnadenlosen Egoismus in der freien Marktwirtschaft zu verteidigen. Diesem Anliegen ist voll zuzustimmen; denn auch als
Schülerin oder Schüler der gymnasialen Oberstufe wird man mehr und mehr
beherrscht vom rivalisierenden Kampf um Leistungspunkte. Dabei passiert es immer
häufiger, dass man vordergründig nur das eigene Ich im Blickfeld hat, ohne sich um
andere noch zu kümmern. Der appellative Charakter des analysierten Textes hat
mich angeregt, meine eigene Verhaltensweise zu überdenken und Ansatzpunkte zu
finden, auch den Menschen an meiner Seite verstehen zu wollen. Hilfsbereitschaft,
Solidarität, Freiheit und Verantwortungsbewusstsein sind Werte innerhalb einer
geschaffenen Demokratie, die es zu bewahren gilt.
(Weitere Texte zum Üben)
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Elias Canetti (1905 – 1994)
Der Beruf des Dichters (Münchener Rede, Januar 1976)
Zu den Worten, die während einiger Zeit in hilfloser Ermattung daniederlagen, die
man mied und verheimlichte, durch deren Gebrauch man sich zum Gespött machte,
die man solange entleerte, bis sie verschrumpft und hässlich zur Warnung wurden,
gehört „Dichter“. Wer sich auf die Tätigkeit, die wie immer weiterbestand, dennoch
einließ, nannte sich „Jemand, der schreibt“.
Man hätte denken können, dass es darum ging, einen falschen Anspruch
aufzugeben, neue Maßstäbe zu gewinnen, strenger zu werden, gegen sich, und alles
besonders zu vermeiden, was zu nichtswürdigen Erfolgen führt. In Wirklichkeit
geschah das Gegenteil, eben von denen, die auf das Wort „Dichter“ erbarmungslos
losschlugen, wurden die Methoden, Aufsehen zu erregen, bewusst entwickelt und
gesteigert. Die kleinliche Meinung, dass alle Literatur tot sei, wurde in pathetischen
Worten als Proklamation gefasst, auf kostbares Papier gedruckt und so ernst und
feierlich diskutiert, als handele es sich um ein komplexes, schwieriges Denkgebilde.
Gewiss, dieser besondere Fall ersoff bald in seiner Lächerlichkeit, aber auch andere,
die nicht steril genug waren, sich in einer Proklamation zu erschöpfen, die bittere und
sehr begabte Bücher verfassten, brachten es als „Jemand, der schreibt“ sehr bald zu
Ansehen und taten nun, was früher Dichter zu tun pflegen: Statt zu verstummen,
schrieben sie dasselbe Buch immer wieder. So verbesserungsunfähig und
todeswürdig die Menschheit ihnen erschien, eine Funktion war ihr geblieben: ihnen
zu applaudieren. Wer dazu keine Lust verspürte, wer die immerselben Ergüsse satt
hatte, war doppelt verdammt: einmal als Mensch, damit war es schon nichts, und
dann als einer, der sich weigerte, die endlose Sterbesucht dessen, der schrieb, als
das Einzige anzuerkennen, das überhaupt noch von Wert war.
Sie werden begreifen, dass ich angesichts solcher Phänomene denen, die nur
schreiben, nicht weniger Misstrauen entgegenbringe als denen, die sich auch
weiterhin selbstgefällig Dichter nennen. Ich sehe keinen Unterschied zwischen ihnen,
sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen, eine Geltung, die sie einmal erlangt
haben, scheint ihnen ein verbrieftes Recht.
Denn in Wirklichkeit ist es so, dass heute niemand ein Dichter ist, der nicht ernsthaft
an seinem Recht, es zu sein, zweifelt. Wer den Zustand der Welt, in der wir leben,
nicht sieht, hat schwerlich etwas über sie zu sagen. Ihre Gefährdung, früher ein
Hauptanliegen der Religionen, hat sich ins Diesseits verlagert. Ihr Untergang, mehr
als einmal geprobt, wird von solchen, die keine Dichter sind, kühl ins Auge gefasst,
es gibt welche, die seine Chancen errechnen, einen Beruf daraus machen und
darüber fetter und fetter werden. Seit wir unsere Prophezeiungen Maschinen
anvertraut haben, haben Prophezeiungen jeden Wert verloren. Je mehr wir von uns
abspalten, je mehr wir leblosen Instanzen anvertrauen, desto weniger sind wir Herren
über das, was geschieht. Aus unserer wachsenden Macht über alles, Unbelebtes wie
Belebtes und besonders über Unseresgleichen, ist eine Gegenmacht geworden, die
wir nur scheinbar kontrollieren. Hundert und tausend Dinge wären darüber zu sagen,
aber es ist alles bekannt, das ist das Sonderbarste daran, es ist in jeder Einzelheit
zur täglichen Zeitungsnotiz, zur verruchten Banalität geworden. Sie werden von mir
nicht erwarten, dass ich es alles wiederhole, ich habe mir heute etwas anderes,
etwas Bescheideneres vorgenommen.
Vielleicht ist es der Mühe wert, darüber nachzudenken, ob es in dieser Situation der
Erde etwas gibt, wodurch Dichter oder was man bisher dafür hielt, sich nützlich
machen könnten. Immerhin ist, trotz aller Schicksalsschläge, die das Wort für sie zu
erdulden hatte, etwas von seinem Anspruch geblieben. Literatur mag sein, was sie
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will, sie ist eines nicht, so wenig wie die Menschheit, die noch an ihr festhält: sie ist
nicht tot. Worin müsste das Leben dessen bestehen, der sie heute vertritt, was sollte
er zu bieten haben?
Durch Zufall bin ich kürzlich auf die Aufzeichnung eines anonymen Autors gestoßen,
dessen Namen ich schon darum nicht nennen kann, weil niemand ihn kennt. Sie
trägt das Datum: 23. August 1939, das war eine Woche vor Ausbruch des Zweiten
Weltkriegs, und lautet:
„Es ist aber alles vorüber. Wäre ich wirklich ein Dichter, ich müsste den Krieg
verhindern können.”
Welch ein Unsinn, sagt man sich heute, da man weiß, was seither geschehen ist,
welche Anmaßung! Was hätte ein Einzelner verhindern können, und warum gerade
ein Dichter? Lässt sich ein Anspruch denken, der wirklichkeitsferner ist? Und was
unterscheidet diesen Satz vom Bombast derer, die durch ihre Sätze bewusst den
Krieg herbeigeführt haben?
Ich las ihn irritiert, ich schrieb ihn mit steigender Irritation heraus. Hier, dachte ich,
habe ich gefunden, was mir an diesem Wort ,Dichter' am meisten zuwider ist, einen
Anspruch, der in krassestem Widerspruch steht zu dem, was ein Dichter bestenfalls
vermöchte, ein Beispiel für die Großsprecherei, die dieses Wort diskreditiert hat und
einen mit Misstrauen erfüllt, sobald einer der Gilde sich auf die Brust schlägt und mit
seinen kolossalen Absichten herausrückt.
Aber dann, während der folgenden Tage, spürte ich zu meinem Erstaunen, dass der
Satz mich nicht losließ, dass er mir immer wieder in den Sinn kam, dass ich ihn
hernahm, zerlegte, wegstieß und wieder hernahm, als liege es nur an mir, einen Sinn
darin zu finden. Es war schon sonderbar, wie er begann: „Es ist aber alles vorüber”,
Ausdruck einer vollkommenen und hoffnungslosen Niederlage zu einer Zeit, da die
Siege beginnen sollten.
Da alles auf sie abgestellt wurde, spricht er bereits die Trostlosigkeit des Endes aus
und zwar so, als wäre es unvermeidlich. Der eigentliche Satz aber: „Wäre ich wirklich
ein Dichter, ich müsste den Krieg verhindern können” enthält bei näherem Zusehen
das Gegenteil einer Großsprecherei, nämlich das Eingeständnis kompletten
Versagens. Noch mehr aber drückt er das Eingeständnis einer Verantwortung aus
und zwar dort – das ist das Verwunderliche daran –, wo man von Verantwortung im
üblichen Sinne des Wortes am wenigsten sprechen könnte. [...]
Gertrud Lehnert (geb. 1956)
Mit dem Handy in der Peepshow — Die Inszenierung des Privaten im
öffentlichen Raum
[...] Die Modegattung des 18. und 19. Jahrhunderts war nicht zufällig der Roman,
dessen exklusiver Gegenstand das Private ist — und der dieses Private
paradoxerweise vollkommen öffentlich macht. Romane haben zwar seit ein paar
Jahrzehnten ihre wahrnehmungsprägende Bedeutung eingebüßt, sie sind durch Film
und Fernsehen ersetzt worden. Ein großer Roman jedoch dominiert unsere Kultur,
wie kein anderer zuvor es jemals vermochte: die Psychoanalyse. Sigmund Freud hat
um 1900 eine Sprache entwickelt, die das bislang unsagbar Intime sagbar machte,
und dieses Intime wurde gleichzeitig reduziert auf Sexualität. Seither erzählt und
deutet uns die Psychoanalyse unsere individuellen Lebensgeschichten und macht
sie zu kohärenten und sinnvollen Lebens- und Gesellschaftsromanen. Die
Psychoanalyse hat unsere kulturelle Wahrnehmung verändert und unsere
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Realitätsauffassung umstrukturiert. [...]
Die Psychoanalyse bezieht sich aufs Individuum, aber sie meint alle Individuen. Denn
in ihrer Perspektive teilen wir alle mehr oder weniger die gleiche Leidensgeschichte
und die gleiche Hoffnung auf Heilung. Sie präsentiert unsere zeitgenössische Kultur
als eine prekäre und in ihrem Gleichgewicht stets bedrohte Mischung partikularer
Egoismen. Die Psychoanalyse ist der Mythos des 20. Jahrhunderts geworden.
Als dann in den 90er Jahren die — trivialisierte — Psychoanalyse auf die neuen
Kommunikationsmedien traf, entstand aus dieser Verbindung eine gänzlich neue
kulturelle Situation, die dennoch konsequent an die historische Entwicklung anknüpft.
Gott ist zwar definitiv ersetzt worden durch das allmächtige „Ich”, das omnipräsente
Auge Gottes aber ist mutiert in das jeweilige elektronische Kommunikationsinstrument — das Handy zum Beispiel oder den PC mit Internetzugang — das jedes
Individuum jederzeit und überall von einem körperlosen Publikum erreichbar und
beobachtbar macht. „Big Brother” spioniert uns nicht mehr gegen unseren Willen
aus, wir holen ihn freiwillig in unsere Wohnzimmer.
Der in der letzten Dekade möglich gewordene globale Austausch des Privatesten
und Banalsten hat die Intimität selbst endgültig durch die permanente Inszenierung
von Intimität ersetzt. Privatheit findet auf der Straße oder im Internet statt, und das
Publikum ist allgegenwärtig. Selbst wenn wir in unseren vier Wänden sind, können
via Telefon, Fernsehen oder auf anderen Wegen jederzeit andere Menschen (und
auch deren Intimität) in unsere Privatsphäre eindringen. Ein grundlegender Wandel
hat sich damit in den Lebensbedingungen der Industriestaaten vollzogen: Die
ursprünglich nur für Großstädte charakteristische Situation ist zur universellen
Lebenssituation geworden. Auch auf dem „platten Lande” herrscht der Dualismus
zwischen der Sehnsucht nach Intimität und der Notwendigkeit, ja dem Drang, sie
öffentlich zu inszenieren. Längst ist auch hier die Möglichkeit, immer und überall mit
jedermann auf der ganzen Welt zu kommunizieren, ständig dicht von anderen
Menschen bedrängt zu werden oder sie zu bedrängen, zur Normalität geworden.
Da wir jederzeit mit Zuschauern rechnen müssen, fühlen wir uns unaufhörlich
beobachtet. Das liegt daran, dass wir die Zuschauerinstanz in unsere Köpfe
verlagern, so dass wir auf unserer imaginären Bühne, selbst wenn wir tatsächlich
allein sind, doch immer auch von (mindestens) einem imaginären Zuschauer
beobachtet werden: von uns selbst, und unser Verhalten dementsprechend
einrichten. Wir inszenieren uns, selbst wenn wir allein sind. So könnten wir jederzeit
von realen Zuschauerinnen überrascht werden, ohne je auf dem linken Fuß
erwischt zu werden. [...]
Die Inflation der Handys in unserem Alltag ist ein besonders anschauliches Beispiel
dafür, wie wenig sich heute noch (vermeintlich) „authentisches” Verhalten und
Inszenierung unterscheiden lassen. Tatsächlich jedoch findet die Inszenierung der
Intimität im öffentlichen Raum auf Hunderte von unterschiedlichen Weisen statt. In
nachmittäglichen Talkshows schwatzen „Menschen wie du und ich” vor einem
Millionenpublikum ganz schamlos über ihre intimsten Gefühle und über ihre
sexuellen Praktiken und Probleme.
Zeitungen und Zeitschriften berichten ausführlich über das offizielle oder heimliche
Liebesleben von Prominenten. Der amerikanische Präsident Clinton wäre fast an
seiner Sex-Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky gescheitert – oder doch
zumindest an seiner mangelnden Aufrichtigkeit in dieser Angelegenheit, auf die die
Öffentlichkeit ein Recht zu haben glaubt: Sie will informiert werden – und aufrichtig
informiert werden – über das, was der Präsident im Bett und außerhalb des Bettes
tut, und sie richtet ihr politisches Verhalten nach diesen höchst intimen Details.
Prinzessin Diana hat, so will es ihr inzwischen festgezimmerter Mythos, dieses
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Interesse des Publikums an ihrem Privatleben buchstäblich zugrunde gerichtet, und
noch nach ihrem Tod lässt ihr die öffentliche Neugier keine Ruhe. Diese Inszenierung
der fremden Intimität im öffentlichen Raum in der allgegenwärtigen Bilderflut vermag
im Extremfall unser eigenes Leben zu vertreten und überflüssig zu machen, solange
wir mit Bildern von anderen gefüttert werden.
Unsere privaten Räume scheinen fast ausnahmslos zu mehr oder weniger
öffentlichen Bühnen mutiert zu sein. Niemals zuvor haben Menschen ihr Innerstes so
konsequent nach außen gekehrt. Alles scheint jederzeit und überall sagbar und
zeigbar zu sein. Ist das die „Tyrannei der Intimität”, wie der Untertitel eines Buches
von Richard Sennett lautet? Oder ist unsere Kultur an dem Punkt angekommen, an
dem Intimität nur noch eine Maskerade ist, hinter der sich nichts verbirgt, weil nichts
mehr geheim ist? [... ]
______________
Big Brother: zunächst Anspielung auf den „Big Brother” titulierten Führer eines
diktatorisch regierten Staates in George Orwells 1949 veröffentlichtem Roman 1984,
in dessen Namen mittels allgegenwärtiger Fernsehmonitore die Bevölkerung
überwacht und manipuliert wird; zugleich Verweis auf die Fernsehserie „Big Brother”,
in der vom Sender ausgewählte Personen freiwillig für 100 Tage unter ständiger
Beobachtung durch Fernsehkameras zusammenleben und die Zuschauer in
regelmäßigen Abständen darüber entscheiden, wer die Gruppe zu verlassen hat.
Zuschauerinnen: Die Autorin verwendet häufig die feminine Form hei der
Bezeichnung von Personengruppen.
Richard Senett: amerikanischer Soziologe, geb. 1943; sein Buch „Verfall und Ende
des öffentlichen Lebens”, dessen Untertitel zitiert wird, erschien 1974 in New York.
Hugo von Hofmannsthal:
Brief des Lord Chandos (1901/02)
Philipp Lord Chandos ist der von Hofmannsthal gewählte fiktive Verfasser des
Textes, der dieser Fiktion nach im Jahre 1603 an Francis Bacon schreibt, um sich bei
diesem Freunde "wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu
entschuldigen." (...)
Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit anhanden gekommen,
über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.
Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu
besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle
Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein
unerklärliches Unbehagen, die Worte "Geist", "Seele" oder "Körper" nur
auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des
Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil
herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie
kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten
Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches
Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. Es begegnete
mir, dass ich meiner vierjährigen Tochter Katherina Pompilia eine kindische Lüge,
deren sie sich schuldig gemacht hätte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit,
immer wahr zu sein, hinführen wollte und dabei die mir im Munde zuströmenden
Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander
überflossen, dass ich den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir
285
unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem
heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ, die Tür hinter mir zuschlug und mich
erst zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, wieder
einigermaßen herstellte.
Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost.
Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urteile, die
leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so
bedenklich, dass ich aufhören musste, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen.
Mit einem unerklärlichen Zorn, den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, erfüllte es
mich, dergleichen zu hören, wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht
ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist
zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, weil
seine Töchter haushälterisch sind; ein Familie kommt in die Höhe, eine andere ist im
Hinabsinken. Dies alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie
nur möglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch
vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem
Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte,
das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den
Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem
vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die
Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die
einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten
und in die ich wieder hineinstarren muss: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich
schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins' Leere
kommt. (...)
Seitdem führe ich ein Dasein, das Sie, fürchte ich, kaum begreifen können, so
geistlos, so gedankenlos fließt es dahin; ein Dasein, das sich freiwillig von dem
meiner Nachbarn, meiner Verwandten und der meisten Land besitzenden Edelleute
dieses Königreiches kaum unterscheidet und das nicht ganz ohne freudige und
belebende Augenblicke ist. Es wird mir nicht leicht, Ihnen anzudeuten, worin diese
guten Augenblicke bestehen; die Worte lassen mich wiederum im Stich. Denn ist es
ja etwas völlig Unbenanntes und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen
Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer
überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet.
Ich kann nicht erwarten, dass Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muss Sie
um Nachsicht für die Albernheit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf
dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein
Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung
werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die
sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich
plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner
Gewalt steht, ein erhabenes oder rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken
mir alle Worte zu arm scheinen.
(...)
Text aus: H. von Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Prosa 11, Frankfurt 1959,
S. 7—20 (Auszüge)
_____________
Blachfeld = flaches Feld
286
Martin Walser: Warum liest man überhaupt'?
Weil die Großmutter aufgehört hat zu erzählen; sei es, weil sie tot ist oder sich
endgültig vor dem Fernsehapparat eingerichtet hat. Warum richte ich mich nicht auch
endgültig vor dem Fernsehapparat ein? Weil es mir auf die Dauer zu anstrengend ist,
so passiv zu sein. Ist das nur eine Papierblüte, dass das Passivsein, also das
Nichtstun anstrengend sei, oder steckt etwas dahinter? Wenn das Bewusstsein oder
die Seele oder der Geist — egal wie wir unsere innere Unruhe nennen —, wenn
diese imaginäre Wesensmilch längere Zeit nicht selber brodeln darf, wird sie sauer.
Unser Bewusstseinsseelengeist will ja selber ein Film sein, der andauernd läuft, und
er geht einfach ein, wenn er längere Zeit bloß dem Beschuss oder Genuss fix und
fertiger Außenfilme ausgesetzt ist. Wird also die Seele oder das Bewusstsein beim
Lesen aktiver als beim Filmanschauen'? Ja, weil das Geschriebene unfertig ist und
von jedem Leser erst zum Leben erweckt und dadurch vollendet werden muss; kein
bisschen anders als die Notenschrift des Komponisten durch den Sänger, den
Pianisten undsoweiter. Der Leser braucht die gleichen Voraussetzungen, die der
Musizierende braucht. Ich spreche nicht von Bildungsquanten. Wie klänge ein
Schubert-Lied, wenn der, der es singt, nichts hätte als eine Stimme und eine
Ausbildung, von dem Unerträglichen aber, gegen das diese Lieder geschrieben
wurden, hätte er keine Ahnung! So wenig genügt es, lesen gelernt zu haben, um
Kafka lesen zu können. Wer, zum Beispiel, unter Umständen lebt, die ihn über seine
Lage hinwegtäuschen, liest nicht. Wer glaubt, nichts mehr zu fürchten und nichts
mehr zu wünschen zu haben, kann ganz sicher keinen Kafka mehr lesen. Wer zum
Beispiel glaubt, er sei an der Macht, er sei oben, er sei erstklassig, er sei gelungen,
er sei vorbildlich, wer also zufrieden ist mit sich, der hat aufgehört, ein Leser zu sein.
Der geht wahrscheinlich in die Oper. Wer aber noch viel zu wünschen und noch mehr
zu fürchten hat, der liest. Lesen hat keinen anderen Anlass als Schreiben. Auch das
Schreiben findet statt, weil einer etwas zu wünschen und zu fürchten hat. Lesen und
Schreiben wären also eng verwandt? Es sind zwei Wörter für eine Tätigkeit, die
durch die unser Wesen zerreißende Arbeitsteilung zu zwei scheinbar
unterscheidbaren Tätigkeiten gemacht wurde. Also weil einem etwas fehlt, schreibt er
und weil ihm etwas fehlt, liest er? Wenn der Leser nicht die gleichen Erfahrungen
gemacht hat, die der Autor gemacht hat, sagt ihm das Buch nichts, es ist tot für ihn.
Man sagt dann, er kann mit dem Buch nichts anfangen.
Ein Buch, das dem Wünschen und Fürchten von sehr vielen Menschen entspricht,
mit dem schon sehr viele Menschen etwas anfangen konnten, ist, zum Beispiel,
Robinson Crusoe. Jeder will weit fort und es soll letzten Endes doch gut ausgehen.
Die Wirklichkeit macht meistens nicht mit. Sie vereitelt unseren Wunsch, unseren
Anspruch, unser Recht. Auf die Vereitelung, auf dieses Dreinpfuschen der Wirklichkeit antwortet jedes Buch. Man nennt den Wunschcharakter, den diese Antwort
annimmt, Fiktion.
In der Fiktion bestreiten wir der Wirklichkeit ihr Recht, in unsere Erwartungen
hineinzupfuschen. Man muss es hundertmal sagen, dass das Schreiben nicht
Darstellen ist, nicht Wiedergeben ist, sondern Fiktion, also eo ipso Antwort auf
Vorhandenes, Passiertes, Wirkliches, aber nicht Wiedergabe von etwas Passiertem.
Deshalb ist Lesen auch nicht Zurkenntnisnehmen, sondern Entgegnung. Der Leser
antwortet. Er antwortet mit seinem eigenen Wünschen und Fürchten. Er antwortet
auf die Fiktion des Schreibens mit seiner Fiktion. Der Leser potenziert also die
Fiktion. Erst in ihm entfaltet also die Fiktion ihre Protestkraft, Kritikkraft, Wunschkraft.
Auch ein Buch, das kein happy end hat, zeigt durch seine Stimmung, dass es lieber
287
gut ausginge; dass es den Zustand beklagt, der zu diesem unhappy end führt; dass
es eine Wirklichkeit wünscht, in der das Ende glücklich wäre. Ich kenne nicht ein
einziges Buch, in dem ein unglückliches Ende bejubelt wird, in dem der Schreiber
sich glücklich zeigt über das unglückliche Ende, das seine Geschichte unter den
herrschenden Umständen nehmen musste
Das ist das Gemeinsame: Leser und Schreiber wünschen ein besseres Ende jeder
Geschichte, d. h., sie wünschen, die Geschichte verliefe überhaupt besser. Nur wenn
die große und ganze Geschichte besser verläuft, können die unzähligen einzelnen
Lebensgeschichten besser ausgehen. Leser und Schreiber sind also
uneinverstandene Leute, Leute, die sich nicht abgefunden haben. Noch nicht. Hätten
sie sich abgefunden, wären sie zufrieden mit sich und allem, würden sie nicht mehr
lesen und schreiben, sondern gingen andauernd in die Oper.
(Text aus: Martin Walser: "Über den Leser — soviel man in einem Festzelt sagen
sollte"; in: "literatur konkret", 2. Jg. 1978, H. 3, Hamburg 1978, S. 59)
Methodik der Textanalyse (pragmatische Texte)
I. Einleitung
Informationen über den Text bzw. Textauszug: Verfasser, Titel,
Veröffentlichungsdatum, Thema, Textsorte, Medium geben
II. Erfassen des Textes in den wesentlichen Elementen und
Strukturen
1.
2.
3.
4.
5.
III.
Strukturierte Textwiedergabe erstellen: Aufbau und Inhalt
die Argumentation auf Sachlichkeit und Schlüssigkeit prüfen
sprachliche und stilistische Auffälligkeiten herausstellen
die Position und Intention des Textes / Verfassers herausstellen
den Adressaten- und Situationsbezug darlegen
Beurteilung des Textes
1. die Wirkung des Textes bezüglich der Intention bewerten
2. den Text in übergreifende Zusammenhänge einordnen
(z.B. Sachgebiet, historischer Kontext, politische und soziale
Verhältnisse, Bedingumgen der medialen Vermittlung usw.)
288
2. das erörternde Erschließen pragmatischer Texte:
Texterörterung
Die Erörterung einer Textvorlage erfordert
a) das Verstehen des Inhalts des Textes, also
das Thema, das Problem
den Hauptgedanken, die Kernthese
die Argumentation
die verwendeten Begriffe und die Beziehungen zwischen den Aussagen
b) das Erkennen des Verwendungszusammenhangs des Textes, also
die Position und Absicht des Verfassers
der Entstehungszusammenhang des Textes
c) die kritische Prüfung der Textvorlage, also
die Überzeugungskraft der Argumente
die Vollständigkeit der Argumentationen
die Haltbarkeit der Verfasserposition
d) das eigene Urteil zur Textvorlage, also
die eigene Stellungnahme zum Problem
die Beurteilung und Wertung der Textvorlage
Der wichtigste Teil einer solchen Erörterung ist die kritische Prüfung des Textes, bei
der eine sachliche Auseinandersetzung mit Inhalt, Argumentation, Position und
Absicht der Textvorlage bzw. des Verfassers verlangt ist. Diese Auseinandersetzung
wird geführt auf der Grundlage der eigenen Auffassung und Wertung (z.B. eines
literarischen Textes). Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist dann eine
Beurteilung der Textvorlage bzw. der Verfasserposition. Dabei sind grundsätzlich drei
Richtungen möglich: Zustimmung, Ablehnung, Differenzierung. Entweder stimmt man
dem Verfasser zu, oder man lehnt seine Auffassung ab, oder man stimmt nur
teilweise zu.
An einem Beispiel sollen die einzelnen Arbeitsschritte aufgezeigt werden. Wir legen
folgenden Text zu Grunde:
Arthur Schopenhauer: Über Lesen und Bücher
Wenn wir lesen, denkt ein anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen
Prozess. Es ist damit, wie wenn beim Schreibenlernen der Schüler die vom
Lehrer mit Bleistift geschriebenen Züge mit der Feder nachzieht. Demnach ist
beim Lesen die Arbeit des Denkens uns zum größten Teile abgenommen. Daher
5 die fühlbare Erleichterung, wenn wir von der Beschäftigung mit unsern eigenen
Gedanken zum Lesen übergehen. Aber während des Lesens ist unser Kopf doch
eigentlich nur der Tummelplatz fremder Gedanken.. Wenn nun diese endlich
abziehen, was bleibt? Daher kommt es, dass, wer sehr viel und fast den ganzen
Tag liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreib erholt, die
10 Fähigkeit selbst zu denken allmählich verliert - wie einer, der immer reitet, zuletzt
289
15
20
25
30
das Gehen verlernt. Solches aber ist der Fall sehr vieler Gelehrten: Sie haben
sich dumm gelesen. Denn beständiges, in jedem freien Augenblicke sogleich
wieder aufgenommenes Lesen ist noch geisteslähmender als beständige
Handarbeit, da man bei dieser doch den eigenen Gedanken nachhängen kann.
Aber wie eine Springfeder durch den anhaltenden Druck eines Körpers ihre
Elastizität endlich einbüßt, so der Geist die seine durch fortwährendes Aufdringen
fremder Gedanken. Und wie man durch zu viele Nahrung den Magen verdirbt und
dadurch dem ganzen Leib schadet, so kann man auch durch zu viele Geistesnahrung den Geist überfüllen und ersticken. Denn je mehr man liest, desto
weniger Spuren lässt das Gelesene im Geist zurück: Er wird wie eine Tafel, auf
der vieles übereinander geschrieben ist. Daher kommt es nicht zur Rumination3:
Aber durch diese allein eignet man sich das Gelesene an, wie die Speisen nicht
durch das Essen, sondern durch die Verdauung uns ernähren. Liest man
hingegen immerfort, ohne späterhin weiter daran zu denken, so fasst es nicht
Wurzeln und geht meistens verloren. Überhaupt aber geht es mit der geistigen
Nahrung nicht anders als mit der leiblichen: Kaum der fünfzigste Teil von dem,
was man zu sich nimmt, wird assimiliert; das übrige geht durch Evaporation4,
Respiration5 oder sonst ab.
Zu diesem allen kommt, dass zu Papier gebrachte Gedanken überhaupt nichts
weiter sind als die Spur eines Fußgängers im Sand: Man sieht wohl den Weg,
welchen er genommen hat; aber um zu wissen, was er auf dem Weg gesehen,
muss man seine eigenen Augen gebrauchen.
(aus: Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. In: Sämtliche
Werke, Band 5; Frankfurt / M. 1986, S.651/2)
Die erste Voraussetzung der Texterörterung ist natürlich die Texterfassung: Der Text
muss allererst verstanden sein, damit eine Auseinandersetzung mit ihm möglich wird.
Dazu ist es nötig bzw. ratsam, den Text mehrmals durchzulesen und dabei Wichtiges
zu markieren, herauszuschreiben oder sich Stichwörter zu notieren.
Damit wir das Wichtige einem Text finden, fragen wir:
Zu welchem Thema oder Problem äußert sich der Verfasser überhaupt?
Welche Meinung bzw. Position vertritt er zu diesem Thema?
Wie begründet er seine Auffassung?
Diese Fragen vor Augen lesen Sie den Text noch einmal und arbeiten im Text, indem
Sie Wesentliches markieren und die Abfolge des Gedankenganges stichwortartig am
Rand vermerken.
Das Ergebnis dieses Arbeitsschrittes kann z.B. auch wie folgt aussehen:
3
reifliche Überlegung
Ausdünstung
5
Atmung
4
290
291
Schon beim ersten Lesen ist klar geworden, dass Schopenhauer sich mit dem Lesen
oder genauer gesagt: mit der Wirkung des Lesens auf den Leser beschäftigt. Das ist
sein Thema. Seine Auffassung zu diesem Thema scheint negativ zu sein: Er wertet
das Lesen ab und gibt einige Gefahren des Viellesens an. Aber - wie genau verläuft
sein Gedankengang?
→ Analyse des Textes
Kognitive Texte (z.B. wissenschaftliche Texte) und informative Texte (z.B. viele
journalistische Texte) sind von der Struktur her gesehen immer argumentative Texte.
Die Analyse solcher Texte konzentriert sich auf die Argumentationsstrukturen, formal
und inhaltlich.
Wenn Sie Schwierigkeiten haben beim Erkennen von Argumentationsstrukturen,
dann stehen Ihnen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, diese zu ermitteln. Da wie Sie schon wissen - Argumentation formal bedeutet, Aussagen bzw. Sätze kausal
miteinander zu verbinden, können Sie bei argumentativen Texten versuchen, die
einzelnen Sätze mit „weil“ zu verbinden und prüfen, ob das funktioniert. Wenn das
inhaltlich stimmig ist, dann wissen Sie zunächst schon, dass der Weil-Satz vom
anderen abhängig ist und in der Argumentation diesem untergeordnet ist. Ob der
andere Satz damit schon eine These ist, muss in gleicher Weise mit den anderen
Sätzen geprüft werden. Dies ist natürlich ein zeitaufwändiges Verfahren.
Ein anderes Verfahren ist vielleicht nahe liegender: Sie schreiben die wichtigen
Aussagen des Textes auf:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Beim Lesen wiederholt man nur den mentalen Prozess eines anderen.
Beim Lesen wird einem das eigene Denken abgenommen.
Wer viel liest, verliert allmählich die eigene Denkfähigkeit.
Man kann sich wie viele Gelehrten dumm lesen.
Der Geist kann durch zu viel Geistesnahrung überfüllt und erstickt werden.
Vielleserei führt dazu, dass nur ganz wenig aufgenommen wird.
Geschriebenes ist wie eine Lesespur, die nur die Richtung weist.
Schauen Sie sich nun den Gedankengang an, dann sehen Sie, dass Schopenhauer
drei Aspekte (Teilthemen) hat: Er spricht über eine Eigenart des Lesens, er spricht
über die Folgen des Viellesens und er spricht zuletzt (metaphorisch) von einer
Eigenart von Texten bzw. Büchern.
Zu diesem Ergebnis gelangen Sie auch, wenn Sie die Sätze nach dem schon
genannten Verfahren mit „weil“ verbinden. Sie sehen dann, dass die beiden ersten
Sätze mit „weil“ verbunden werden können (2. Satz ist übergeordnet), dass aber der
3.Satz weder mit dem 1. noch mit dem 2. Satz verbunden werden kann. Sehr wohl
können jedoch die Sätze 4, 5 und 6 mit dem 3. Satz kausal verbunden werden (Man
verliert die eigene Denkfähigkeit, weil man sich dumm lesen kann, weil den Geist
ersticken kann, weil nur ganz wenig hängen bleibt.). Zuletzt sehen Sie auch, dass der
7.Satz nicht vom 3.Satz abhängig ist, sondern einen neuen Aspekt nennt, der mit
dem 1. Satz zu tun hat, aber nicht kausal mit diesem verbunden werden kann.
292
Daraus ergibt sich, dass Schopenhauers Text drei Thesen umfasst, die sehr unterschiedlich begründet sind. Das Schwergewicht liegt bei der Darlegung der Folgen
des Lesens (Mittelteil); sie umfasst die meisten Begründungen.
Wenn Sie den Text so weit durchschaut haben, können Sie die Textwiedergabe
anfertigen; denn sie bildet in der künftigen Reinschrift (Fließtext) nach der Einleitung
den zweiten Teil der Ausarbeitung.
Diese Textreproduktion hat besonders bei Klausuren vor allem zwei Funktionen:
Da das Verständnis der Textvorlage bei diesem Aufgabentyp die notwendige
Voraussetzung für die weitere Arbeit bildet, soll die Textwiedergabe zeigen, von
welchem Textverständnis der Schüler bei seinen Darlegungen ausgeht.
Da Klausuren nicht nur zielgerichtete, sondern auch adressatenbezogene
Darstellungsformen sind, soll die Textwiedergabe den Leser mit der Grundlage
der Klausur vertraut machen, sodass er den weiteren Ausführungen folgen
kann.
Exkurs: Textwiedergabe
Für die Textwiedergabe stehen Ihnen prinzipiell drei unterschiedliche Verfahren zur
Verfügung:
1. die Textwiedergabe in der indirekten Rede (im Konjunktiv)
2. die thesenartige Textwiedergabe (im Indikativ)
3. die Textbeschreibung bzw. umschreibende Textwiedergabe (im
Indikativ)
1. Textwiedergabe in der indirekten Rede (Konjunktiv)
Zu Beginn sagt Schopenhauer, dass man beim Lesen lediglich den mentalen
Prozess eines anderen wiederhole. Deshalb werde einem das eigene Denken
weitgehend abgenommen. Während des Lesens sei unser Kopf „eigentlich nur
der Tummelplatz fremder Gedanken“. Wer viel lese, verliere allmählich die
Fähigkeit selbst zu denken, wie ein dauerhafter Reiter die Gehfähigkeit verliere.
Der Geist könne wie der Magen durch zu viel Nahrung überfüllt und erstickt
werden. Vielleserei verhindere auch die gedankliche Aneignung und führe
dazu, dass nur ganz wenig haften bleibe. Zuletzt sagt Schopenhauer, dass
Geschriebenes wie Spuren im Sand lediglich den Weg weise, aber das eigene
Denken nicht ersetzen könne.
2. Textwiedergabe in Thesenform (Indikativ)
In seinen Ausführungen „über Lesen und Bücher“ stellt Schopenhauer
folgende Thesen auf:
1. Beim Lesen wird uns das eigene Denken abgenommen.
2. Wer viel liest, verliert allmählich seine eigene Denkfähigkeit.
3. Bücher können nur den Weg weisen, aber nicht das eigene Denken
ersetzen.
293
3. Textwiedergabe als Textbeschreibung (Indikativ)
In seinen Ausführungen „über Lesen und Bücher“ gibt Schopenhauer seine
Auffassung über das Lesen bzw. über die Wirkung des Lesens auf den Leser
wieder. Für ihn ist das Lesen nur die Wiederholung fremder Gedanken. Er
warnt davor, zu viel zu lesen, weil er die Gefahr sieht, dass dabei die eigene
Denkfähigkeit verloren geht. Er vergleicht diese Gefahr mit einem dauerhaften
Reiter, der das Gehen verlernt. Er unterstellt vielen Gelehrten Dummheit auf
Grund ihres Lesens. Mit einem weiteren Vergleich untermauert er die Gefahren
des Lesens: Wie die Völlerei den Magen verdirbt, so erstickt die Vielleserei den
Geist. Das Bild von Nahrung und Verdauung führt Schopenhauer dahingehend
fort, dass auch Lesen und Reflexion („Rumination“) zusammengehören, wenn
das Gelesene nicht verloren gehen soll. Im letzten Abschnitt bietet
Schopenhauer noch einen anschaulichen Vergleich für die Funktion von
Geschriebenem: Wie die Spuren im Sand lediglich den Weg weisen, so können
fremde Gedanken nur anregen, aber nicht das eigene Denken ersetzen.
Diese drei Alternativen erfüllen gleichermaßen den Zweck der Textreproduktion: Sie
zeigen das Textverständnis und geben dem Leser eine gute Grundlage für das
Verständnis der folgenden Arbeitsschritte. Von da her sind diese Textwiedergaben
gleichwertig.
→ Prüfung der Argumentation
Der nächste Arbeitsschritt - wir befinden uns immer noch bei den Vorarbeiten besteht darin, die Argumentation Schopenhauers zu überprüfen; das bedeutet zu
fragen
Werden die Behauptungen (Thesen) begründet?
Wie werden sie begründet (vollständig, folgerichtig) ?
Welche sprachlichen Besonderheiten fallen auf?
Sind die Begründungen sachbezogen (oder eher unsachlich) ?
Sind die Aussagen überzeugend?
Mit diesen Fragen gehen wir nun an den Text heran und beginnen die eigentliche
Erörterung, die Auseinandersetzung mit dem Verfasser.
Methodisch kann man dabei so vorgehen, dass man die Gedankenschritte bzw.
Argumentationen nacheinander betrachtet und prüft. Dabei beschreibt man zunächst
die äußere Struktur einer Sinneinheit, um sich damit sozusagen die „Angriffsflächen“
für die Auseinandersetzung zu schaffen. Bezogen auf den ersten Teil unseres
Textbeispiels kann dies etwa folgendermaßen ausgeführt werden:
In seiner ersten These behauptet Schopenhauer, dass uns beim Lesen das
eigene Denken abgenommen wird. Er begründet diese Meinung mit der Aussage, dass beim Lesen ein anderer für uns denkt und wir nur dessen Gedanken wiederholen, wie ein Schüler beim Schreibenlernen das Vorgeschriebene
nachschreibt. Ein zweites Argument, das Schopenhauer vorbringt, bekräftigt
lediglich das schon Gesagte: Beim Lesen sei unser Kopf „eigentlich nur der
294
Tummelplatz fremder Gedanken“. An Schopenhauers Sprache fällt einerseits
auf, dass er auffällige Metaphern verwendet, um die Lesetätigkeit als fremdbestimmt abzuwerten. Das Denken wird uns „abgenommen“ (Z.4) und unser
Kopf ist beim Lesen nur „der Tummelplatz fremder Gedanken“ (Z.7). Zum
anderen fallen die Vergleiche auf, die Schopenhauer ebenfalls einsetzt, um die
Minderwertigkeit und Gefährlichkeit des Lesens zu unterstreichen. Der Schüler,
der das Schreiben lernt, imitiert nur, der Reiter, der das Gehen verlernt, kann
nur noch verlacht werden, und die Gelehrten verdummen beim Lesen.
Damit ist der erste Teil des Textes erfasst. Die Beschreibung hat mindestens vier
Ansätze bzw. Angriffsflächen für die Erörterung ergeben: die These, die Argumente
und der Vergleich. An diese Ansätze stellt man nun die Standardfragen: Stimmt es
überhaupt, dass ...?, Ist es richtig, dass ...?, Ist es überzeugend, dass ...?
Bei dieser Vorgehensweise zeigt sich die enge Verwandtschaft zwischen der dialektischen und der Texterörterung und es wird klar, warum die dialektische Erörterung
die beste Voraussetzung für die Texterörterung darstellt. Bei der dialektischen
Erörterung läuft alles auf Pro- und Contra-Argumentationen hinaus. Bei der
Texterörterung ist es ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass die Grundlage der
Erörterung mit dem Text schon vorliegt. Statt der Frage „Stimmte es, dass ...?“ kann
ich auch fragen:
Was spricht für die Auffassung des Verfassers?
Was spricht gegen die Auffassung des Verfassers?
Bezieht man diese Fragen auf Schopenhauers These und Argumentation des ersten
Textteils, wird man eine Menge von Gedanken und Einfällen haben, die man stichwortartig auf dem Konzeptpapier notieren sollte, getrennt nach Pro und Contra.
Je ausführlicher man diese Arbeitsschritte durchführt, um so leichter fällt später die
Ausführung, die zusammenhängende schriftliche Darstellung.
Bezogen auf unser Textbeispiel kann die Ausführung zur ersten Argumentation etwa
so lauten:
Schopenhauer hat Recht mit seiner Aussage, dass wir beim Lesen fremde
Gedanken nachdenken. Man muss sich ja in die Gedankenwelt des
Schreibers hineinversetzen, um seine Gedanken verstehen zu können. Oft
kommt es dabei vor, dass man sich so intensiv in das im Buch Dargestellte
versenkt, dass man als Leser aus der realen Welt herausgerissen wird, Ort
und Zeit vergisst und sich ganz in die Gedanken- oder Fantasiewelt des
Buches begibt. Aber - so muss man doch fragen - ist das ein so passiver
Vorgang, wie es bei Schopenhauer anklingt? Einen Gedanken nachdenken
und ihn verstehen ist doch nur möglich, wenn man ihn in die eigene
Gedankenwelt integrieren kann, wenigstens für die Zeitspanne des
Aufnehmens und Verstehens. Dazu ist ein aktives Nach- und Mitdenken
nötig; das geschieht nicht quasi automatisch, wie Schopenhauer glauben
machen will. Wenn es nicht so wäre, würde jeder Leser schon über die
Gedanken des Schreibers verfügen, würde den gleichen Bewusstseinszustand und den gleichen Erfahrungshorizont haben wie der Schreiber.
Nur dann wäre das Lesen eine Wiederholung eines mentalen Prozesses;
dann würde auch Schopenhauers Vergleich mit dem Schreibenlernen über295
zeugen. Da sich aber Bewusstsein und Erfahrungshintergrund aller
Menschen voneinander unterscheiden, sind Lesen und Verstehen fremder
Gedanken immer mit eigener Denkarbeit verbunden. Lesen kann in diesem
Sinne auch nie mit einem „Tummelplatz fremder Gedanken“ beschrieben
werden. Diese abwertende Wortwahl trifft nicht einmal für das Lesen der
anspruchlosesten Unterhaltungsliteratur zu, die den Leser in eine heile
Welt hineinzieht. Auch hier muss das Geschriebene verstanden, die Bilder
und Handlungen in die Welt des Lesers transformiert werden. Man wird
sicherlich zugestehen, dass bei dieser Art von Literatur der Aufwand des
Lesers geringer ist als z.B. bei philosophischer Literatur. Von daher
müssen auch Schopenhauers Verallgemeinerungen und seine undifferenzierte Verabsolutierung als provokativ, ja ärgerlich wirken. Mit seiner
Formulierung, beim Lesen werde uns die Arbeit des Denkens „zum
größten Teil“ abgenommen, gesteht Schopenhauer jedoch selbst zu, dass
seine Aussage, beim Lesen „denkt ein anderer für uns“ , nicht ganz
stimmig ist.
Besonders deutlich wird die Unhaltbarkeit von Schopenhauers Auffassung,
wenn man an das Lesen von Gedichten, Dramen oder Romanen denkt, wie
es in der Schule üblich ist. Es ist ja gerade ein Wesensmerkmal dieser sog.
Kunstliteratur, dass sie multidimensional und polyvalent ist und sich dem
oberflächlichen Lesen entzieht. Ein Rilke-Gedicht beispielsweise kann man
gar nicht so lesen, wie Schopenhauer es beschreibt. Wer nicht „zwischen
den Zeilen“ lesen kann oder den „doppelten Boden“ nicht wahrnimmt, wird
keinen Zugang zum Gedicht bekommen, geschweige denn Rilkes Gedanken „wiederholen“ können. Bei diesem Einwand gegen Schopenhauers
Überzeugung meldet sich sogleich ein weiterer: Die Beschäftigung mit
Literatur belegt immer wieder neu, dass es gänzlich unmöglich ist, dass ein
Leser die Gedanken des Schreibers „wiederholt“. Das literarische Werk wie
andere geistige Werke auch (z.B. philosophische) sind in der Regel lediglich das Endprodukt eines oft tagelangen, wochenlangen oder gar jahrelangen Schaffensprozesses eines Dichters oder Denkers. Als Leser müsste
man den gesamten Schaffensprozess genauso durchleben wie der Autor,
um seine Gedanken wiederholen zu können. Man muss hier nicht unbedingt Goethes „Faust“, an dem der Dichter über fünfzig Jahre gearbeitet
hat, als Beispiel anführen, um die Absurdität von Schopenhauers Auffassung zum Lesen zu erkennen, aber es belegt überzeugend, was für alle
anderen literarischen Werke genau so gilt. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass der Philosoph Schopenhauer die Unhaltbarkeit seiner Aussagen nicht selbst noch klarer gesehen hat, als es dem Leser möglich ist.
Aber dann stellt sich die Frage, warum er seine Überlegung so extrem und
provokativ formuliert hat bzw. was seine wahre Absicht mit dieser
Meinungsäußerung ist.
Formal in ähnlicher Weise kann die Erörterung der anderen beiden Thesen geführt
werden, sodass man bei unserem Beispiel dann im erörternden Teil drei Blöcke hat.
Dann kommen wir zum Sinn des Ganzen. Sie erinnern sich: Ziel der textbezogenen
Erörterung ist ein fundiertes Urteil über die Textvorlage.
296
Grundtypen des Urteils
Die Auseinandersetzung mit vorgegebenen Aussagen kann im Prinzip zu drei unterschiedlichen Ergebnissen führen: entweder stimmt man zu oder man widerspricht
oder man differenziert die Aussage, indem man nur teilweise zustimmt.
Es gibt also drei Grundtypen des Urteils bei Texterörterungen:
1. Zustimmung
In diesem Fall stimmt man mit den Aussagen und Ausführungen der Textvorlage
völlig überein und sieht keinen Ansatz für eine Gegenargumentation. Die kritische
Auseinandersetzung mit dem Text ist hierbei am schwersten. Denn es genügt
nicht, einfach zu sagen: Ich stimme in allen Punkten zu. Auch die Zustimmung
muss argumentativ vorgebracht werden und über den Wortlaut des Textes
hinausreichen.
Dazu können Sie folgendes tun:
Sie können die Thesen des Verfassers mit eigenen Erkenntnissen und
Erfahrungen weiter abstützen.
Sie können mögliche Gegenargumente zu den Thesen des Textes, auch
wenn sie gar nicht im Text erscheinen, entkräften.
Sie können die logische Schlüssigkeit der vom Verfasser entwickelten
Position durch eine persönliche Rekonstruktion der Hauptgedanken
nachweisen.
2. Ablehnung
In diesem Fall sind Sie anderer Meinung als der Verfasser und es dürfte Ihnen
dann nicht schwer fallen, die Aussagen des Textes zu entkräften. Hierbei
begründen Sie Ihren Widerspruch bzw. Ihre Entgegenhaltungen und stellen dem
Text die eigene Meinung gegenüber. Dazu sollten Sie folgendes tun:
Sie ziehen die Stichhaltigkeit einer Aussage durch Gegenargumente bzw.
Gegenbeispiele in Zweifel, z.B. dadurch, dass Sie einen anderen Verfasser
und dessen Position referieren oder eigene Erfahrungen dagegenhalten.
Sie entkräften vorgetragene Argumente, indem Sie die Geltung der Beweise
(Normen, Tatsachen ...) anzweifeln.
Sie überprüfen die Vollständigkeit und Schlüssigkeit der Argumentation des
Verfassers und problematisieren mögliche Ungereimtheiten.
Sie können die Aussagen des Verfassers grundsätzlich akzeptieren, aber
ihre Geltung eingrenzen, indem der Sachverhalt zergliedert und differenziert
wird („Das-kommt-darauf-an“-Methode).
Sie können die Prämissen von Aussagen des Verfassers aufdecken
(weltanschauliche Grundlagen, wissenschaftliche Denkschule, persönliche
Interessenlage) und so den Text kritisch einordnen.
3. Differenzierung
Meistens ist es wohl so, dass Sie mit einigen, vielleicht sogar mit zentralen
Positionen des Verfassers übereinstimmen. Andererseits gibt es aber auch
Aussagen, denen Sie widersprechen möchten. Die Denkoperationen, die hierbei
möglich sind, stellen eine Mischung aus den Grundtypen 1. und 2. dar.
297
Für die Darstellung des Urteils in der Gesamtkonzeption (Klausur) kommen zwei
unterschiedliche „Stellen“ in Frage: entweder jeweils am Ende der Erörterung einer
These oder nach der (ganzen) Erörterung. Vermeiden Sie auf jeden Fall, Ihre
Erörterung mit dem Urteil zu beginnen; denn dann verengt sich Ihre gesamte
Argumentation auf die Begründung dieses Urteils, und es kommt gar nicht mehr zu
einer wirklichen Auseinandersetzung mit den Textaussagen. Es ist für die Erörterung
und für ein überzeugendes Urteil immer besser, sich zuerst auf den Text
einzulassen, die Aussagen ernst zu nehmen und zunächst gelten zu lassen. Geht
man gleich zustimmend an einen Text heran, verengt sich die Wahrnehmung auf die
Zustimmungsaspekte, dann sieht man die Fragewürdigkeiten nicht mehr. Geht man
ablehnend an den Text heran, nimmt man nur noch wahr, was diese Ablehnung
bestätigt; berechtigte und zutreffende Aspekte werden so gar nicht wahrgenommen.
Beispiel für ein abschließendes Urteil:
Stellen Sie sich vor, dass die Auseinandersetzung mit Schopenhauers erster These
so verlaufen ist, wie oben dargestellt. Stellen Sie sich weiter vor, dass die Erörterung
der zweiten These (Verlust der Denkfähigkeit) ebenso ablehnend ausgefallen ist wie
bei der 1. These, dass aber die 3.These Zustimmung erfahren hat, dann kann das
abschließende Urteil folgendermaßen ausfallen:
Die Erörterung der Textvorlage hat ergeben, dass Schopenhauers erste
These kaum haltbar ist. Gewichtige, besonders erkenntnistheoretische
Bedenken sprechen dagegen, dass einem Menschen überhaupt - nicht
nur beim Lesen - das Denken abgenommen werden kann oder dass man
Denkvorgänge anderer Menschen wiederholen kann.
Auch Schopenhauers zweite These ist in dieser Form unhaltbar. Durch
Lesen kann kein Mensch, auch nicht die erwähnten Gelehrten, die Denkfähigkeit verlieren. Ersetzt man die Denkfähigkeit durch Kritikfähigkeit, kann
man dem Verfasser schon eher zustimmen. Aber dass Vielleserei den Geist
„überfüllen und ersticken“ könnte, ist gar nicht vorstellbar, so anschaulich
Schopenhauer seine Vergleiche auch vorbringt. Zustimmen muss man ihm
allerdings bei dem Gedanken, dass Gelesenes quasi verdaut werden muss,
soll es Wurzeln schlagen. Ohne Auseinandersetzung mit dem Gelesenen hat
der Leser kaum einen Vorteil aus seinem Tun.
Der letzten These Schopenhauers kann man am ehesten zustimmen. Es versteht sich fast von selbst, dass der Leser „seine eigenen Augen
gebrauchen“ muss, also aktiv lesen, das eigene Denken aktivieren muss, um
das Gelesene nachvollziehen und verstehen zu können. Ohne reflektierende
Aufmerksamkeit ist ein Verstehen von Texten oder Büchern nicht möglich.
Das dürfte für das Metier, in dem Schopenhauer hauptsächlich tätig war, die
Philosophie, besonders einleuchtend sein.
298
→ Einleitung und Schluss
Wenn Sie die Vorarbeiten bis zur Darstellung des Urteils beendet haben, folgt nun im
letzten Arbeitsschritt die Festlegung von Einleitung und Schluss. Denn wie bei den
anderen Aufgabentypen schon gesehen, werden die schriftlichen Darstellungsformen
des Faches Deutsch dreiteilig ausgeführt. Die eigentliche Aufgabe wird von
Einleitung und Schluss eingerahmt (Adressatenbezug). Vorschläge hierfür finden Sie
in der folgenden methodischen Zusammenfassung.
Aufgabe: Probieren Sie die Methodik am folgenden Text aus und verfassen Sie eine
textbezogene Erörterung! Nutzen Sie den Rand für Ihre Notizen!
Martin Walser: Über Leseerfahrungen
Ich muss gestehen, ich lese nicht zu meinem Vergnügen,
ich suche weder Entspannung noch Ablenkung, noch
andere Freuden dieser Art. Ein Buch ist für mich eine Art
Schaufel, mit der ich mich umgrabe. Obwohl ich das nicht
zu meinem Vergnügen tue, sondern einfach aus einem
Bedürfnis, für das ich keine Gründe mehr anzugeben
weiß, keine Gründe auf jeden Fall, die von anderer Art
wären als die, die uns veranlassen zu atmen oder zu
essen, trotzdem macht mir das Lesen, dieses Herumgraben in mir selbst, oft mehr Vergnügen als das Atmen,
ja es macht mir zuweilen sogar das Atmen wieder vergnüglicher. (...)
Wer Tag für Tag einer Sache zugewandt ist, am Schalter
steht und sechzehntausend Gesichter sieht, wer ein paar
hundert Schrauben zu drehen hat, Zimmerwände tapezieren,
Zähne aufbohren oder Schülern das Einmaleins beibringen
muss, der kommt nicht dazu, die Möglichkeiten seines
Bewusstseins zu erschöpfen; für den muss die Menschheit,
die Wirklichkeit eine vielgliedrige Maschinerie sein, bei der
es aufs Funktionieren ankommt. Wie der Arzt nun dafür zu
sorgen hat, dass der Leib all dieser Handelnden nicht
verkümmert, nicht zu einer einzigen rechten Hand wird
oder zu einer Schulterbewegung, weil alles andere nicht
mehr gebraucht wird, so kann der Schriftsteller dem
Bewusstsein sich zuwenden; seine Sache ist der Mensch
in allen seinen Beziehungen. Der Schriftsteller, durch
keine andere Hantierung abgelenkt, ist der Beobachter
und als solcher auch Korrektiv. Das wäre zumindest eine
seiner Möglichkeiten.
Wer Proust liest, wird sich selbst vielleicht als eine
Kümmerform menschlichen Daseins empfinden. Man
hat das Gefühl, als habe man eigentlich von den
Möglichkeiten des eigenen Bewusstseins bisher noch
kaum Gebrauch gemacht! Proust befreit die von Zwecken
und Gewohnheiten verschüttete Wirklichkeit; ich kann mir
nicht vorstellen, dass man nach dieser Lektüre in einem
299
Eisenbahnabteil genauso halbblind zwischen den Leuten
sitzt wie vorher.
Trotzdem könnte man sagen: was er beschreibt, ist nicht
unsere Wirklichkeit, wir werden durch die Lektüre nun
nicht alle zu höchst sensiblen Prousts. Das ist leider wahr.
Aber nur zum Teil. Denn es genügt schon, einmal zu sehen,
zu lesen, zu erleben, wie unendlich vielgestaltig die
Wirklichkeit ist, wie unendlich differenziert jeder Mensch,
ganz gleich wie dumm oder klug oder gut oder böse er sein
mag, es genügt, den Reichtum zu erleben, den Proust sichtbar
macht, um selbst wenigstens ein bisschen reicher zu werden.
Roger de Weck: Die Gier der Medien
Guter Journalismus ist zugleich informativ und unterhaltsam:
Lesefreude und Erkenntnislust vermengen sich. Neugierde
ist ein Trieb, Dramatik eine Sehnsucht, die nach Wort und
Bild riefen, längst bevor die Presse entstand. Doch jetzt
gedeiht ein Journalismus der Nullinformation. Denn es gibt
mehr Medien, als Stoff vorhanden ist - mit zwei Folgen:
Einerseits tobt der Verteilungskampf um Informationen,
andererseits schaffen viele Medien künstlichen Stoff; die
Stunde des Kunststoffjournalismus.
Die Gier nach Stoff, wie bei einem Junkie, verleitet zur
Dramatisierung des Belanglosen. Die Mediengesellschaft
macht Unwichtiges wichtig und Wichtiges unwichtig. Es
fehlt der Respekt. Das Angebot richtet sich an übersättigte
„Medienkonsumenten“, nicht mehr an den Staatsbürger.
Und weil es - beim Heißhunger solcher Medien - zu wenig
„verkäufliche“ Informationen gibt, erfinden sie Events, die
eben keine Ereignisse sind.
In ihrer Scheinwelt gefangen, sind viele Journalisten, die
berufshalber Wirklichkeit vermitteln sollen, von der Lebensrealität weiter entfernt als ihr Publikum. Unter dem Quotendruck ist die Hand voll Weltverbesserer, die durch die
Medienlandschaft zog, einem Heer standpunktloser Zyniker
gewichen; sie wollen bloß den Effekt. Sie bieten am
wenigsten, was am meisten gefragt ist: Orientierung.
(aus: Die Gier der Medien. Zur Feier des Tages: Ein paar
Fragen an uns Journalisten; von Roger de Weck. In:
Die Zeit, Nr. 1 vom 29.12.’99, S. 1)
Elisabeth Uhl:
Medien fördern Fantasie und Kreativität
Medien sind in der Öffentlichkeit allgegenwärtig und
bestimmen unser Denken und Handeln mehr, als wir
es wahrnehmen. Fernsehen, Video und Computer
spielen vor allem im Alltag von Kindern und Jugend300
lichen eine dominante Rolle. Sie nutzen diese
Technologien überwiegend in ihrer Freizeit und
greifen dabei in erster Linie auf kommerzielle
Angebote der Freizeitindustrie zurück.
Die Aufgabe einer emanzipatorischen Medienpädagogik besteht darin, den Kindern und
Jugendlichen Medienkompetenz zu vermitteln.
Sie soll zum aktiven, selbstbestimmten und kritischen,
sozial verantwortlichen Umgang mit den Medien als
Kommunikationsmittel befähigen. Die Vorteile aktiver
Medienarbeit sind dabei vielfältig. Der Umgang mit
den modernen Informations- und Kommunikationstechnologien ist ein geeignetes Mittel, um Fantasie
und Kreativität zu entfalten und eigene, gestalterische
Ausdrucksformen zu entwickeln. So werden beispielsweise bei dem Aufbau von Computernetzwerken - selbst
wenn diese nur dazu dienen, sogenannte Ballerspiele
auf den Monitor zu zaubern - Fähigkeiten im Umgang
mit Soft- und Hardware erworben, die wiederum den
Jugendlichen in ihrem späteren Berufsleben helfen
können.
Aktive Medienarbeit ermöglicht Jugendlichen, sich mit
ihren Ideen, Gedanken und Vorstellungen in die öffentliche Diskussion einzubringen. Letztlich macht die aktive
Gestaltung der Medien Spaß. Die außerschulische
Jugendmedienarbeit zeichnet sich im Gegensatz zur
schulischen durch Freiwilligkeit aus, was die Bedingungen
für lustvolles und engagiertes Arbeiten verbessert. Um
eine konstruktive Zusammenarbeit der verschiedenen
pädagogischen Institutionen zu erreichen, ist eine größere
Vernetzung der einzelnen Institutionen gefordert, vor allem
im schulischen und außerschulischen Bereich.
Damit auch den sozial Benachteiligten der Zugriff auf die
Medien ermöglicht wird, ist für eine angemessene
technische Ausstattung der pädagogischen Einrichtungen
zu sorgen. Zudem sind ein breites Angebotsspektrum
sowie Mobilität und Engagement der Mitarbeiter gefordert.
In einer Zeit, in der die Medien zum Leben gehören, ist ein
kompetenter und kritischer Umgang mit ihnen Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Denken und Handeln.
(aus: Der Tagesspiegel vom 15.9.1999)
Hans Magnus Enzensberger: Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend
vor Erzeugnissen der Poesie
[...] Was aber die Literatur betrifft, so verdankt sie ihren Charme nicht zuletzt der
Tatsache, dass es jedermann freisteht, sie zu ignorieren — ein Recht, von dem
bekanntlich die Mehrheit unserer Mitbürger entschiedenen Gebrauch macht und
dessen Verteidigung jedem Schriftsteller am Herzen liegen muss [...]
Nur für die Minderjährigen unter unsern Mitbürgern hat das Recht auf freie Lektüre
301
keine Geltung. Sie, die ohnehin täglich in Betonbunkern gefangen gehalten werden,
welche das Gemeinwesen eigens zu diesem Zweck errichtet hat, zwingt man
fortgesetzt Gedichte zu lesen und, was noch viel entsetzlicher ist, zu interpretieren,
Gedichte, an denen sie in den meisten Fällen keinerlei Interesse bekundet haben.
Wohl weiß ich, dass die Deutschlehrer diesen widerwärtigen Zustand, unter dem sie
vermutlich selber leiden, durchaus nicht mutwillig herbeigeführt haben. Die wahren
Schuldigen sind im Unterholz von Instituten zu suchen, die von einer gewöhnlichen
Schule so weit entfernt sind wie Kafkas Schloss. Es handelt sich um eine Horde von
Bürokraten und Curriculum-Forschern, die außerordentlich schwer dingfest zu
machen ist. Ihre wahren Absichten liegen im Dunkeln. Was sie zu dem Projekt
bewegt, in unseren Oberschulen hunderttausend von Sub-Germanisten
heranzuzüchten und die Interpretation von Gedichten als Zwangsarbeit zu
verhängen, das wissen wir nicht. Wir werden es nie erraten. Dass unter solchen
Umständen Verschwörungstheorien ins Kraut schießen, kann nicht wundernehmen.
Zwei von ihnen habe ich bereits erwähnt. Leute, die in dem Wahn leben, die Lyrik sei
eine umstürzlerische Kunst von unerhörter Brisanz, haben daraus den Schluss
ziehen wollen, ihre Behandlung im Deutschunterricht sei einer Impfung zu
vergleichen; die Gesellschaft schütze sich vor der Subversion durch Gedichte, indem
sie diese sorgfältig vernichte. Die Fertigkeiten des Deutschlehrers seien mit denen
eines Sprengmeisters zu vergleichen; mit Hilfe der Interpretation werde dem
gefährlichen Produkt sozusagen der Zünder abgeschraubt.
Die entgegengesetzte Lehrmeinung, der die Poesie aus dem umgekehrten Grunde
verdächtig scheint, hält dafür, dass den armen Schülern Gedichte in den Rachen
gestopft werden im sie mit den herrschenden Zuständen zu versöhnen: Das süße
Gift sei dazu angetan, jede Rebellion in ihnen zu ersticken und sie zu lammfrommen
Anhängern des Status quo zu machen. Diese beiden Hypothesen kommen mir
ebenso unsinnig vor wie die Erscheinung, die sie erklären möchten.
Schön wäre es ja, wenn der Kapitalismus auf so schwachen Füßen stünde, dass er
es nötig hätte, seine Herrschaft durch die Interpretation von Gedichten zu
„stabilisieren”, doch fürchte ich, dass sein Fortbestand sich auf weit handgreiflichere
Tatsachen stützt. Und warum ausgerechnet Gedichte? Warum werden nicht ganze
Schulklassen zwangsweise in die Popkonzerte geschleppt um dann, als
Klassenarbeit, die „richtige” Interpretation von Pink Floyd zu „erarbeiten”?
(aus: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt 1988)
_____________
Das Schloss: Roman von Franz Kafka (1926); Schloss: Chiffre für etwas
Unerreichbares
Status quo: gegenwärtige Zustand
Chaim Noll (geb. 1954)
Dritte Nacht: Volk ohne Sprache
[...] Kaum ist jemand mit Karriereaussichten irgendwo „eingestiegen”, hört er auf, sich
verständlich zu äußern. Er kann sich, wenn er Karriere machen will, das
Mitschwingen des Mentalen und Emotionalen nicht mehr leisten. Der populäre Erfolg,
das Einverständnis mit den Zuhörern oder Lesern liegt hierzulande im Zerstören
jedes mentalen Klangs. Wo nichts klingt, wird aber in Wahrheit, trotz vieler Worte,
auch nichts gesagt. Doch das Nichts-Sagen, Nichts-Ausdrücken mit Hilfe von Worten
scheint dieser Nation die höchste Kunst — ein deutlicheres Zeichen für ihr verstörtes
302
Verhältnis zur spät gewonnenen Sprache ist nicht denkbar.
Die Atomisierung der deutschen Sprache lässt auch die Nation zerfallen, schafft,
auch wenn äußerlich immer noch Friede herrscht, einen Vorkriegszustand nationaler
Sprachlosigkeit. Neben der Formelwelt der professionellen Schreiber gibt es noch
das alles zerredende Deutsch der Politiker, das Halb-Amerikanisch der Geschäftsleute und ein Dutzend spezifische Wissenschaftssprachen, wobei jede Sparte sich
auf die ihre besonders viel zugute hält und um kein Jota davon abrücken will.
Insgesamt steht diesen höheren Branchendialekten zunehmend ein trauriges,
verhängnisvolles Pendant entgegen: das bis zum neuen Analphabetentum gehende
Verrohen der Alltagssprache. Sie ist heute ganz im Abgerissenen, Bruchstückhaften,
Lallenden angekommen, trägt bloß mehr ein Lumpenkleid, ist bar jeder Überzeugungskraft. Zahllose Poeten, die im Sprachvulgarismus ihr Heil suchen,
können mich, auch wenn sie heute Mode sind, nicht vom Gegenteil überzeugen. Das
Deutsch, das im Alltag gesprochen wird, ist nicht nur arm an Worten, sondern auch
arm an Empfindungen, Klängen, Nuancen, es ist brutal, von vornherein auf
Abschließung und Ablehnung aus, es ist primitive Parole, ein Hervorstoßen eigenen
Unmuts und daher jedem Gespräch, jeder Unterhaltung feind. Alles Verbindliche
wurde daraus verbannt: Die eigene Forderung, mühsam hervorgebracht, erschlägt
durch ihren dumpf-bösen Unterton jeden Einwand. Fehlende Ausdruckskraft wird
durch die Wucht einer populistischen Gemeinschaft ersetzt. Der vulgärsprachige
Deutsche sagt zunehmend lieber „wir” als „ich”.
Wir einfachen Leute, Wir Taxi-Fahrer oder Fußgänger, Wir Deutschen, Wir, das Volk,
Wir Alten oder Jungen, Wir Einwohner, Anwohner und so weiter — Sprache soll hier
nicht differenzieren und Wahrheit erspüren, sondern Front bilden. Ein plumpes
Vokabular steht der fordernden Aggressivität zur Verfügung wie Keulen, Sensen,
stachelbewehrte Morgensterne. Fernsehen und Gazetten werfen die Parolen unters
Volk und geben die Formeln aus, die dann über Tage und Wochen zu hören sind, um
endlich spurlos zu verschwinden und dem nächsten verbalen Stumpfsinn Platz zu
machen. Dieser Vorgang hat etwas Grausiges an sich, weil dabei Sprache
verschlissen und verbraucht wird wie eine Fast-food-Mahlzeit, weil Worte vernichtet
werden, deutsche Worte immerhin, die für jeden, der diese Sprache liebt, fortan
unbrauchbar sind.
Aus diesen Niederungen flüchten sich die Intellektuellen in luftige Höhen, wo das
Wort nun wiederum verdorrt. Schreiben soll hierzulande angeblich in einem luftleeren
Raum angesiedelt sein, in dem die Miasmen der Iaaesgeschäfte unbekannt sind.
Realiter sind die deutschen Literaten heimliche Machiavellisten: Pragmatiker,
Anpasser, Politiker wie andere auch. Sie wollen aber moralischer sein als andere
und haben eine vertrackte „Innerlichkeit”, „Betroffenheit” oder sonst eine
Verabredung erfunden, die ihnen hilft, inmitten des Schmutzes deutscher
Wirklichkeiten tapfer die Augen zu schließen. [...]
(Chaim Noll, Nachtgedanken über Deutschland, Rowohlt Verlag Hamburg 1992, S. 79— 81.)
_____________
Sprache: Im ersten Teil dieses Essays wird betont, dass das Deutsche im
Gegensatz zum Lateinischen oder Griechischen recht spät, eigentlich erst mit der
Weimarer Klassik, eine Blüte erlebte.
Realiter: lateinisch „in Wirklichkeit”
303
Neil Postman
Unterricht als Unterhaltung: Die „Sesamstraße” und die Folgen
Als im Jahre 1969 die erste Folge von Sesamstraße gesendet wurde, schien
ausgemacht, dass sie bei Kindern, Eltern und Erziehern begeisterte Aufnahme
finden würde. Den Kindern gefiel die Sendung, weil sie mit Werbespots groß geworden waren und intuitiv wussten, dass sie die am besten gemachte Unterhaltung im
Fernsehen ist. Diejenigen, die noch nicht zur Schule gingen, und auch die, die
gerade in die Schule gekommen waren, fanden nichts Komisches dabei, dass der
Unterricht aus einer Serie von Werbespots bestand. Und dass das Fernsehen zu
ihrer Unterhaltung da war, war für sie ohnehin selbstverständlich.
Die Eltern begrüßten Sesamstraße aus mehreren Gründen – nicht zuletzt deshalb,
weil die Sendung ihre Schuldgefühle angesichts der Tatsache dämpfte, dass sie
nicht im Stande oder nicht willens waren, den Zugang ihrer Kinder zum Fernsehen
zu beschränken. Sesamstraße schien zu rechtfertigen, dass man Vier- und
Fünfjährigen erlaubte, während langer Zeitspannen reglos vor dem Bildschirm zu
verharren. Die Eltern gaben sich der Hoffnung hin, das Fernsehen werde ihren
Kindern noch etwas anderes beibringen als die Antwort auf die Frage, welche
Cornflakes die knusprigsten sind. Gleichzeitig enthob Sesamstraße sie der
Verpflichtung, ihren Kindern, soweit sie noch im Vorschulalter waren, das Lesen
beizubringen – gewiss keine Kleinigkeit in einer Kultur, in der Kinder häufig als lästig
empfunden werden. [...] Sesamstraße erschien als eine fantasievolle Hilfe bei der
Lösung des immer größer werdenden Problems, den Amerikanern das Lesen
beizubringen, und gleichzeitig schien sie die Kinder zu ermuntern, die Schule zu
lieben.
Heute wissen wir, dass Sesamstraße die Kinder nur dann ermuntert, die Schule zu
lieben, wenn es in der Schule zugeht wie in Sesamstraße. Mit anderen Worten, wir
wissen, dass Sesamstraße die herkömmliche Idee des Schulunterrichts untergräbt.
Während das Klassenzimmer ein Ort sozialer Interaktionen ist, bleibt der Platz vor
dem Bildschirm Privatgelände. Während man in einem Klassenzimmer den Lehrer
etwas fragen kann, kann man dem Bildschirm keine Fragen stellen. Während es in
der Schule hauptsächlich um die Sprachentwicklung geht, verlangt das Fernsehen
Aufmerksamkeit für Bilder. Während der Schulbesuch vom Gesetz vorgeschrieben
ist, ist Fernsehen ein freiwilliger Akt. Während man in der Schule eine Strafe riskiert,
wenn man nicht auf den Lehrer Acht gibt, wird fehlende Aufmerksamkeit vor dem
Bildschirm nicht geahndet. Während man mit dem Verhalten in der Schule zugleich
gewisse Regeln des Sozialverhaltens beachtet, braucht man sich beim Fernsehen an
solche Regeln nicht zu halten, das Fernsehen hat keinen Begriff von Sozialverhalten.
Während der Spaß im Klassenzimmer immer nur Mittel zum Zweck ist, wird er im
Fernsehen zum eigentlichen Zweck. [...]
Das Fernsehen bietet eine wunderbare und, wie gesagt, höchst originelle Alternative
zu alledem. Man könnte sagen, dass die vom Fernsehen propagierte Bildungstheorie
im Wesentlichen drei Gebote umfasst. Der Einfluss dieser Gebote lässt sich an
Fernsehsendungen aller Art beobachten. [...]
1. Du sollst nichts voraussetzen.
Jede Fernsehsendung muss eine in sich geschlossene Einheit sein. Vorwissen darf
nicht verlangt werden. Nichts darf darauf hinweisen, dass Lernen ein Gebäude ist,
das auf einem Fundament errichtet ist. Dem Lernenden muss jederzeit Zutritt
gewährt werden, ohne dass er dadurch benachteiligt wäre.
2. Du sollst nicht irritieren.
Im Fernsehunterricht ist die Irritation der kürzeste Weg zu niedrigen Einschaltquoten.
304
Ein irritierter Fernsehschüler ist ein Schüler, der auf einen anderen Sender
umschaltet. Die Sendungen dürfen also nichts enthalten, was man behalten,
studieren, mit Fleiß verfolgen oder – das Schlimmste überhaupt – geduldig erarbeiten
müsste. Man geht davon aus, dass jede Information, jeder Bericht, jeder Gedanke
unmittelbar zugänglich gemacht werden kann, denn nicht die Entwicklung des
Lernenden, sondern seine Zufriedenheit ist entscheidend.
3. Du sollst die Erörterung meiden wie die zehn Plagen, die Ägypten heimsuchten.
Von allen Feinden des Fernsehunterrichts, zu denen auch die Kontinuität und die
Irritation gehören, ist die Erörterung der furchtbarste. Argumente, Hypothesen,
Darlegungen, Gründe, Widerlegungen und all die anderen traditionellen Instrumente
eines vernünftigen Diskurses lassen das Fernsehen zum Radio werden, schlimmer,
sie machen aus ihm ein drittklassiges Druckerzeugnis. Deshalb erfolgt der
Fernsehunterricht stets in der Form von Geschichtenerzählen, geleitet von
dynamischen Bildern und von Musik unterstützt. [...]
Im Fernsehen wird nichts gelehrt, was sich nicht visualisieren und in den Kontext
einer dramatischen Handlung stellen lässt.
Einen Unterricht ohne Voraussetzungen, ohne Irritation und ohne Erörterung darf
man wohl als Unterhaltung bezeichnen.
(aus: Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der
Unterhaltungsindustrie; Frankfurt /Main, 1985, S. 174ff.)
Ruth Klüger: Frauen lesen anders
Fest steht: Es gibt eine Mädchen- und eine Jungenliteratur. Sie ist nicht streng und
absolut geschieden, doch lesen Mädchen eher Jungenbücher als umgekehrt. Ein
Grund dafür ist sicher die Sozialisierung. Jungen werden eher von ihren
Altersgenossen verspottet, wenn sie „Pippi Langstrumpf” oder „Heidi” lesen, während
Mädchen es sich erlauben können, mit einem Band Karl May in der Hand gesehen
zu werden. Dazu kommen in den vergangenen zwei Jahrzehnten, in Amerika wie in
Deutschland, Romane, die sich ausdrücklich mit den Problemen heranwachsender
Mädchen beschäftigen, also von vornherein einen ausschließlich weiblichen Markt
anvisieren, was natürlich weder für noch gegen die Qualität dieser Werke spricht. [...]
Der Mensch ist lernfähig. Wir Frauen lernen lesen, wie die Männer lesen. Es ist nicht
so schwer. Die interessanten Menschen in den Büchern, die als wertvoll gelten, sind
männliche Helden. Wir identifizieren uns mit ihnen und klopfen beim Lesen jede
Frauengestalt auf ihr Identifikationsangebot ab, um sie meist seufzend links liegen zu
lassen. Denn wer will schon ein verführtes Mädchen oder ein verführendes
Machtweib oder eine selbstmörderische Ehebrecherin oder ein puppenhaftes
Lustobjekt sein? Höhenflüge und Abenteuer wollen wir und widmen uns
dementsprechend den Männergestalten, denen wir das allgemein Menschliche
abgewinnen. Wir werden dadurch aufmerksame Leserinnen, während die meisten
männlichen Leser oft wenig anfangen können mit Büchern, die von Frauen
geschrieben sind und in denen Frauen die Hauptrollen spielen. [...]
Ja, aber, denken Sie jetzt, große Literatur handelt doch vom allgemein
Menschlichen, an dem beide Geschlechter teilhaben. Und Ahnliches hätte ich noch
selbst gerade im Zusammenhang mit Hamlet und Faust gesagt, bevor ich die
implizite Gleichsetzung von „menschlich” mit „männlich” kritisierte. In richtigem und
schönem Deutsch sind Frauen und Männer gleichermaßen Mensch, während es im
Englischen wie im Französischen nur ein Wort für beides, Mensch und Mann, gibt.
305
Als ich Schillers „An die Freude” als Zehnjährige las, fühlte ich mich ausgeschlossen
gerade von den Versen, bei denen sich alle mit eingeschlossen fühlen sollen. Da
hieß
es zunächst: „Alle Menschen werden Brüder.” Eigentlich, so dachte ich, sollte es
„Geschwister” heißen, wenn auch Frauen gemeint sind. Doch entschuldigte ich den
Dichter: Auf „Geschwister” findet sich nicht so leicht ein Reimwort, „Geschwister” ist
unpoetisch, also gut, „Brüder”. Doch dann las ich:
Wem der große Wurf gelungen
Eines Freundes Freund zu sein,
Wer ein holdes Weib errungen
Mische seinen Jubel ein.
Ich dachte, zur Not könnte es mir ja in ferner Zukunft gelingen, ein holdes Weib zu
werden, wiewohl mir diese Aussicht als nicht eindeutig erstrebenswert erschien. Da
ich naturgemäß nie in der Lage sein würde, ein solches, nämlich ein holdes Weib, zu
erringen, würde ich bestenfalls einen Mann zum Jubeln veranlassen, doch selber
mitzujubeln schien mir der Dichter zu versagen, und das in seiner menschheitsumfassenden Versöhnungshymne. Ein Mensch konnte ich offensichtlich nicht sein,
nur eines Menschen Weib. Später lernte ich, eine solche Reaktion auf ein großes
Gedicht sei kindisch. Ich musste alt werden, um ihre spontane Richtigkeit zu
erkennen. [...]
Wenn es stimmt, dass wir auch als erwachsene und erfahrene Leser und Leserinnen
dem Identifikationsprinzip nie entgehen, so ist der Kern oder auch der Gott eines
solchen engagierten Lesens der Eros. Da überschneidet und scheidet sich männlich
und weiblich und wird es, so meine ich, auch bei fortschreitender Gleichheit der
sozialen Rollen tun. Da liegen die Unterschiede, die bleiben, wenn wir die unnötigen
Unterschiede in der Erziehung der Geschlechter überwunden haben, was indessen
noch Iange dauern wird. Und inzwischen müssen wir diese Unterschiede besser
kennenlernen, um ihnen in unserer Ästhetik gerecht zu werden.
Und so ist vielleicht auch der Titel dieses Aufsatzes falsch, denn er unterstellt ja die
Richtigkeit männlicher Normierung, er unterstellt, dass noch immer das Heiligtum der
Freude, das bei Schiller alle Menschen umfasste, doch ein Rotarierklub von
„Brüdern” ist, in dem Frauen nur als von Männern errungene „holde Weiber” etwas
zu suchen haben. „Männer lesen anders” wäre ein alternativer Titelvorschlag.
Dieselbe These im Gewande der Antithese. Die Synthese lässt einstweilen warten.
(Aus: Ruth Klüger, Frauen lesen anders. © 1996 Deutscher Taschenbuch Verlag, München)
306
2.3. Das gestaltende Erschließen pragmatischer Texte:
Adressatenbezogenes Schreiben
Das gestaltende Erschließen pragmatischer Texte basiert auf der Textanalyse eines
Sachtextes. Da diese Aufgabenart auf das adressatenbezogenes Schreiben
orientiert ist, erfordert sie vom Schreiber
das Erfassen der Vorlage bzw. die Sichtung, Auswertung und Erschließung
von Materialien
das Erkennen der Möglichkeiten der Vorlage für die eigene Gestaltung
die argumentative Auseinandersetzung mit der Thematik
die Entwicklung und Gestaltung eigener Darstellungsformen unter
Berücksichtigung des Adressatenbezugs
dem vorgegebenen kommunikativen Kontext sprachlich und strategisch
gerecht zu werden
die eigene Vorgehensweise, die getroffenen Entscheidungen, die
entwickelten Darstellungsformen zu begründen und zu reflektieren
Wir beginnen mit einem Beispiel. Die Aufgabenstellung könnte so lauten:
Das „Gymnasium am Stadtwald“ soll einen neuen Namen erhalten, der
Identifikationsangebote für die Schülerinnen und Schüler enthält.
Der Schulsprecher bezieht im Rahmen seiner Abiturrede Position zu dem an der
Schule kontrovers diskutierten Vorschlag, die Schule nach Hilde Domin zu
benennen.
Vor diesem Hintergrund bearbeiten Sie bitte folgende Aufgaben:
- Arbeiten Sie wesentliche inhaltliche Aspekte der Würdigung Hilde Domins
aus dem Text von Harald Hartung heraus.
- Verfassen Sie die Abiturrede. Beziehen Sie die Ihnen wichtig erscheinenden
Gesichtspunkte des Zeitungsartikels ein.
- Erläutern Sie die wesentlichen gestalterischen Entscheidungen Ihrer
Textproduktion.
Harald Hartung
Der Baum blüht trotzdem
Zum 90. Geburtstag von Hilde Domin (1999)
Mit Hölderlin-Zitaten sollte man gewiss sparsam sein. Aber heute - an Hilde Domins
Neunzigstem - darf man wohl an einen Satz aus Hölderlins Rhein-Hymne erinnern:
„Das meiste nämlich vermag die Geburt.” Hilde Domin nämlich hat die besondere Art
ihrer Geburt einmal selbst beschrieben und gedeutet: „Ich, H. D., bin erstaunlich
jung. Ich kam erst 1951 auf die Welt. Weinend, wie jeder in diese Welt kommt. Es
war nicht in Deutschland, obwohl Deutsch meine Muttersprache ist. Es wurde
spanisch gesprochen, und der Garten vor dem Haus stand voller Kokospalmen.
Genauer; es waren elf Palmen. Alles männliche Palmen und also ohne Früchte.
Meine Eltern waren tot, als ich auf die Welt kam. Meine Mutter war wenige Wochen
307
zuvor gestorben.”
Hilde Domin kam also zweimal auf die Welt: das erste Mal natürlich und gleichsam
provisorisch, das zweite Mal parthenogenetisch, aber definitiv -- man kann sagen:
durch Erweckung. Diese zweite Geburt geschah durch Sprache. „Ich habe ein
Gedicht geschrieben”, mit diesem Satz überraschte die Vierzigjährige eines Morgens
ihren ungläubigen, ja unwillig reagierenden Mann.
Die Szene war exotisch, in einem Haus am Rande der Welt, wo der Pfeffer wächst,
im Exil, und die Geburt der Lyrikerin war der Anfang einer Heimkehr: Heimkehr in der
Sprache, Heimkehr in jenes Land, in dem die Sprache gesprochen wurde, in der
Hilde Palm als Hilde Domin fortan ihre Gedichte schriebe. Domin - das Pseudonym blieb als Dankesabtrag an Santo Domingo, an die Dominikanische Republik, die der
Exilierten Schutz gewährt hatte.
„Das war nicht vorgesehen. Es hätte nie passieren brauchen” - mit diesen Worten hat
Hilde Domin ihr Erweckungserlebnis heruntergespielt, aber zugleich das Wunder
bekräftigt. Wunder stoßen nicht jedem Beliebigen zu. Das Leben nahm sich Zeit für
die zweite Geburt der in Köln geborenen Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts.
Doch schon was und wie sie studierte, lässt aufmerken. In Heidelberg, Köln und
Berlin studierte sie Rechts- und Staatswissenschaften, Soziologie und Philosophie
und erfuhr entscheidende Impulse durch Karl Jaspers und Karl Mannheim.
Sie sah auch deutlicher als andere, was Deutschland bevorstand, und ging im
Oktober 1932 mit dem Archäologiestudenten Erwin Walter Palm nach Italien. Die
jungen Leute heirateten 1936, und die junge Frau promovierte im gleichen Jahr mit
einer Arbeit zur Staatstheorie der Renaissance. Dann aber, nach einem kurzen
Aufenthalt in England, das eigentliche Exil: die zwölf in einer windstillen Phase der
Trujillo-Diktatur verbrachten Jahre in Santo Domingo; 1954 kehrten die Palms nach
Deutschland zurück, verbrachten aber längere Aufenthalte in Spanien. Seit 1961, mit
der Berufung ihres Mannes dorthin, ist Hilde Domin in Heidelberg ansässig.
„Die Rückkehr aus dem Exil ist vielleicht noch aufregender als das Verstoßenwerden”, schrieb sie über Brecht. Sie schrieb es mit besonderem Recht über sich
selbst. Hans-Georg Gadamer, der Freund, hat Hilde Domin die „Dichterin der
Rückkehr” genannt. Die Poetin, die „der Sprache wegen” zurückgekehrt war, wollte
aber nicht wegen ihrer Rückkehr nach Deutschland gefeiert werden oder gar als Alibi
einer falschen Versöhnung dienen. Ihre Verse sprachen für sich selbst. Sie sprachen,
seit ihrem Debüt „Nur eine Rose als Stütze” (1959), immer auch von dem prekären
Charakter von Leben und Dichtung: „Meine Hand greift nach einem Halt und findet
nur eine Rose als Stütze.”
Dichtung lebt aber vom Paradox, dass das Fragilste das Haltbarste sein kann, und so
boten die Rosen der Dominschen Poesie nicht nur Halt für die Dichterin, sondern
auch für Tausende von Lesern und Leserinnen. Die Gedichte gingen und gehen von
Hand zu Hand. Sie wurden -- mit den Worten der Autorin – zu magischen
Gebrauchsgegenständen, „die, wie die Körper der Liebenden, in der Anwendung erst
richtig gedeihen”. Sie wurden es, weil sie ästhetische Faszination und moralische
Anmutung auf diskrete Weite miteinander verbanden. Domins Gedichtbücher sind
Bücher, die leben. Die Auflagen zeigen es auch heute noch.
Das „Zimmer in der Luft”, wo es Akrobaten und Vögel gab, war auch Raum für Trost
und Hoffnung. Und über die Jahre wurden die zart surrealen Poesien aus der
spanischen Schule mehr und mehr zu engagierten Zurufen, die weniger didaktisch
als Brecht, weniger aggressiv als Enzensberger klangen, doch niemals
kompromisslerisch oder unentschieden. „Gewöhn dich nicht”, heißt einer ihrer
Imperative. Und eine Zeitlang mochte es Hilde Domin erscheinen, als lebten wir
wieder in „Grauen Zeiten” und in einem Land, in dem „die Toten sich fürchten”.
308
Was Hilde Domin politisch zu sagen hat, vertraut sie lieber noch ihren Reden und
Essays an. Als die Literatur für tot und überflüssig gehalten wurde, wies sie, die
Tochter eines Anwalts, die Existenzberechtigung der Poesie „am ungeeignetsten
Objekt” nach, am politischen Gedicht. Als „politischer Mensch vom Scheitel bis zur
Sohle” kritisierte sie die Neigung der Intellektuellen, die Gegenstände ihres
aufgeregten verbalen Engagements (Vietnam, Kambodscha usw.) aktualitätssüchtig
wieder fallen zu lassen. Und 1972 wirkte sie auf den herrschenden
Linksopportunismus wie ein rotes Tuch, als sie bekannte, dass für sie die
Bundesrepublik der „gutartigste Staat” sei, den es seit Hermann dem Cherusker auf
diesem Territorium gegeben habe.
An Courage fehlt es Hilde Domin auch heute nicht. In einer Rede hat sie Roswitha
von Gandersheim, die erste deutsche Dichterin .,eine starke Ruferin" genannt. Auch
wenn die Stimme zarter und brüchiger geworden ist, darf die erste deutsche
Dichterin unserer Gegenwart diese Charakterisierung auch auf sich beziehen. Hilde
Domin will gehört werden und wird gehört. (...)
(849 Wörter)
(Text aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.1999)
_____________________________________________________________
Was müssen Sie tun? Wie können Sie vorgehen?
Schauen Sie sich die Aufgabe genau an: Was ist verlangt?
1. Lesen Sie den Text noch einmal intensiv durch und markieren Sie die für Sie
wesentlichen Informationen, die er über die Dichterin bietet (Lebensgeschichte, historischer Kontext, Beginn des Schreibens, Intention des
Schreibens, Lyrik und Politik in den 68-er Jahren, anhaltende Bedeutung
der Dichterin).
2. Die von Ihnen markierten Textstellen bzw. Informationen sollen die Basis für
die Abiturrede bilden, die Sie konzipieren sollen. Zuerst sollten Sie Ihre
Position festlegen hinsichtlich der Namensgebung: Soll die Schule den
Namen einer Lyrikerin bekommen? Bietet die Dichterin Identifikationsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler sowie für die Schulgemeinde?
3. Wenn Sie Ihre Position festgelegt haben, überlegten Sie sich die Argumentationen. Dabei können Sie auf die markierten Textstellen zurückgreifen und Sie
in Ihre Begründungen einarbeiten. Nach diesem Arbeitsschritt ist das Gerüst
Ihrer Rede fertig. Danach sollten Sie überlegen, wie Sie die Rede einleiten, in
welcher Reihenfolge Sie die Argumentationen vorbringen und wie Sie die
Rede beenden wollen. Achten Sie bei den Formulierungen auch darauf, dass
Ihnen etliche rhetorische Mittel zur Verfügung stehen, um bestimmte
Wirkungen zu erzeugen.
4. Wenn Sie die Rede erfolgreich abgeschlossen haben, dann sollen Sie gemäß
der 3. Aufgabe Ihre Entscheidungen hinsichtlich Ihrer Gestaltung erläutern:
Warum habe ich diese Einleitung gewählt? Warum habe ich diese Abfolge der
Argumente gewählt? Warum habe ich z.B. rhetorische Fragen eingebaut?
Usw. Alle diese Erläuterungen verfassen Sie zusammenhängend in Form
eines Fließtextes.
309
310
Anhang
Die Technik des Zitierens
Die wichtigsten stilistischen Mittel
Methodik der Gedichterschließung
Die Charakterisierung literarischer Figuren
Die Kurzgeschichte (Merkmale)
Die Parabel (Merkmale)
Die Novelle (Merkmale)
Die Ballade (Merkmale)
Lektüre - Empfehlungen
Die 13 wichtigsten Kommaregeln
Vorbereitung auf die Deutschklausur
Korrekturschlüssel im Fach Deutsch
311
312
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316
317
318
319
320
321
323
326
328
332
Die Technik des Zitierens
Zitate sind wörtliche Übernahmen aus einem Text, die im Prinzip nicht verändert
werden dürfen und grundsätzlich (wie die wörtliche Rede) mit Anführungszeichen
kenntlich gemacht werden müssen. Der Quellennachweis, die Seiten- oder Zeilenzahl, erfolgt in Klammern am Ende des Zitats.
Die wichtigsten Regeln für das Zitieren lauten:
1. Das Zitat muss dem Original genau entsprechen.
2. Das Zitat muss mit Anführungszeichen markiert werden.
3. Auslassungen innerhalb eines Zitats werden mit drei Punkten innerhalb der
Anführungszeichen gekennzeichnet.
4. Das Zitat wird immer mit Belegstelle angegeben. Die Quellen- bzw. Zeilenangabe
dient als Beleg und gehört zum Satz, d.h. der Punkt steht danach.
5. Das Zitat muss syntaktisch passen, d.h., der eigene Satzbau muss dem Zitat
angepasst werden, nicht umgekehrt.
6. Nichtwörtliches Zitieren wird mit Vergleichshinweisen gekennzeichnet, z.B.
(vgl. Z.5).
7. Hinzufügungen innerhalb eines Zitates werden in Klammern und mit einer
Anmerkung angezeigt, z.B. (Anm. des Verfassers). Die Anmerkung fällt weg, wenn
lediglich Kasusendungen verändert werden; diese werden in eckige Klammern
gesetzt.
8. Das Zeilenende im Originaltext - besonders bei Gedichten - wird beim Zitieren mit
einem Schrägstrich (... / ...) angezeigt.
Beispiele
1. Im ersten Textabschnitt kommen viele Nomen vor, welche die Arbeitswelt
repräsentieren, so z.B. „Fabrik“, „Maschine“ und „Akkord“.
2. „Zärtlich ruhte der Blick des Kranken auf seiner Fabrik“ (Z.31/32) . Diesem
zentralen Satz im zweiten Textteil, besonders dem Adjektiv „zärtlich“, kann man
entnehmen, dass der Arbeiter eine neue Einstellung zur Arbeitswelt gewonnen
hat.
3. Im zweiten Teil ist zu erkennen, wie die Hauptperson eine fast liebevoll zu
nennende Einstellung zu Arbeit und Fabrik gewinnt. Denn nun heißt es: „Zärtlich
ruhte der Blick des Kranken auf seiner Fabrik, verfolgte ... das Ein des Menschenstroms am Morgen, das Aus am Abend“ (Z.31-34).
4. An einer Stelle beklagt sich der Kranke darüber, dass er nur „immer das gleiche
Stück der Fabrik“ (Z.29/30) sehe.
5. Nach den beiden Eingangssätzen folgen einige, die anaphorisch mit den Worten
„Er hasste“ beginnen (vgl. Z.2ff.). Diese Wiederholungen heben das Gefühl des
Arbeiters hervor, das den ersten Teil bestimmt.
6. „Hass“ ist im ersten Teil der Kurzgeschichte das Schlüsselwort, womit die
Innenwelt des Arbeiters charakterisiert wird.
7. Der Arzt rät dem Arbeiter, sein Arbeitstempo zu reduzieren („Akkord ist nichts
mehr für Sie“; Z.10/11).
8. Der Mann missachtet die Ratschläge des Arztes, denn „er wollte kein Greis sein“
(Z. 13) - er ignoriert sein Alter (Anm. des Verfassers) - „er wollte keinen kleineren
Zahltag“ (Z.13/14).
9. Aus der zuerst schützenden Bretterwand wird zuletzt die „verdammte[n]Wand“
(Z.25/26).
312
Die wichtigsten stilistischen Mittel
Allegorie
Sinnbild, Gleichnis: Verbildlichung eines abstrakten Begriffs (Das
Rad des Schicksals dreht sich; Justitia mit Waage und
Augenbinde)
Alliteration
auch Stabreim genannt: gleicher Anlaut der betonten Silben bei
mehreren Wörtern (mit Mann und Maus; Milch macht müde
Männer munter)
Allusion
Anspielung (Er fällte ein salomonisches Urteil.)
Anakoluth
Satzbruch ("Korf erfindet eine Mittagszeitung, welche, wenn man
sie gelesen hat, ist man satt." Morgenstern)
Anapher
Wiederholung des gleichen Anfangswortes bei aufeinander
folgenden Sätzen, Versen, Strophen ("Ihr unsterblichen Seelen.
Ihr, die ihr nicht von dieser Welt seit. Ihr Weltoffenen." Handke)
Antithese
Entgegenstellung (Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Heiß ist die
Liebe, kalt ist der Tod. Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit.)
Asyndeton
Unverbundenheit: Aneinanderreihung ohne Konjunktion
(Alles rennet, rettet, flüchtet ... ; Veni, vidi, vici)
Bild
Bildlichkeit: Gesamtbegriff für sprachliche Mittel, die abstrakte
Sachverhalte anschaulich machen, z.B. Allegorie, Chiffre,
Metapher, Symbol, Vergleich.
Chiasmus
Überkreuzstellung: syntaktische Überkreuzung zweier an sich
parallel gebauter Sätze ("Die Kunst ist lang, und kurz ist unser
Leben." Goethe)
Chiffre
Geheimzeichen, Verschlüsselung: zu Zeichen reduzierte
Symbole od. Stimmungsträger, die das Gemeinte nur andeuten,
das Wirkliche verfremden ("Mit allen Augen sieht die Kreatur nur
das Offene." Rilke)
Ellipse
Auslassung eines für die vollständige syntaktische Konstruktion
notwendigen Satzgliedes (Je schneller, desto besser! Was nun?
Alles klar?)
Euphemismus
verhüllende oder beschönigende Umschreibung einer unangenehmen Sache (statt sterben: entschlafen, verscheiden, ableben,
heimgehen; vollschlank)
Hyperbel
Übertreibung (Er hat einen Mund wie ein Scheunentor. "Ich fühle
eine Armee in meiner Faust." - Schiller)
313
Hypotaxe
Satzorganisation in Form der Über- und Unterordnung von
Haupt- und Nebensätzen; komplizierter Satzbau, kunstvoll
geschachteltes Gefüge von Sätzen
Inversion
Umstellung, Umkehrung: Bezeichnung für eine von der üblichen
und gebräuchlichen Wortfolge abweichende Umstellung von
Wörtern bzw. Satzgliedern (In seinen Armen das Kind war tot. Goethe, Erlkönig)
Ironie
Form des uneigentlichen Sprechens: sagt das Gegenteil dessen,
was eigentlich gemeint ist (eine schöne Bescherung; die Hellste!)
Katachrese
Bildbruch (Der Zahn der Zeit hat schon manche Träne
getrocknet. Der Lungenkrebs reibt sich vergnügt die Scheren.
Sobald der Krach mit Fortschritt zu tun hat, drückt unser Ohr ein
Auge zu.)
Klimax
Kunstvolle Steigerung (Es dauerte Tage, Wochen, Monate, ja
Jahre. In jeder Partei gibt es Eifrige, Übereifrige und Allzueifrige.)
Litotes
Bejahung durch doppelte Verneinung, Milderung des Gesagten
(nicht unschön; er ist nicht gerade ein Held; er freute sich nicht
wenig)
Metapher
Bildliche Bezeichnung (Flussbett, Drahtesel, Wüstenschiff); zu
unterscheiden sind:
Genitivmetaphern: der Korall der Lippen
Adjektivmetaphern: süßer Ton, dunkler Klang
Verbmetaphern: umgreifen, besetzen, gipfeln
Satzmetaphern: Sein Herz drohte zu brechen.
Metonymie
Umbenennung: ein Teil steht für das Ganze, pars pro toto (im
Kreml und im weißen Haus .. er kann den ganzen Novalis
auswendig; er trank fünf Glas)
Motiv
sich wiederholende, vorgeprägte typische Handlungsteile
Neologismus
Wortneubildung, neu gebildeter sprachlicher Ausdruck (z.B.
Waschbrettbauch)
Onomatopoesie
Lautmalerei bei Wortbildungen (knistern, ächzen, girren, klirren,
brausen, sausen)
Oxymoron
Kopplung einander widersprechender Wörter (bittersüß,
helldunkel, beredtes Schweigen, alter Knabe)
Parataxe
Satzreihe: Reihung von Hauptsätzen
Parenthese
Einschub (Das war - kurz gesagt - seine Meinung)
314
Paradoxon
Widersprüchlichkeit, Scheinwiderspruch (Einmal ist keinmal. Das
Leben nach dem Tod. Es ist merkwürdig, wie wenig im ganzen
die Erziehung - verdirbt.)
Parallelismus
Gleichbau mehrerer Sätze, Verse, Strophen ("Gottes ist der
Orient! Gottes ist der Okzident!" - Goethe)
Personifikation
Belebung eines Dinges oder Abstraktums ("Es kam die Nacht
und blätterte gleichgültig in den Bäumen." - Rilke)
Pleonasmus
das doppelte Ausdrücken einer Sache (weißer Schimmel, wieder
von neuem, alter Greis)
Rhetorische
Frage
Frage, auf die keine Antwort erwartet wird (Was ist gewisser als
des Menschen Ende?)
Sentenz
kurzer Denkspruch (Humor ist, wenn man trotzdem lacht.)
Symbol
Wahrzeichen, Merkmal: bildhafter Ausdruck für einen auf etwas
Höheres, Umfassenderes verweisenden Vorgang oder
Zusammenhang (Kreuz, Adler, Flagge)
Synästhesie
Zugleichempfindung: Mischung mehrerer Sinnesgebiete
(Farbhören, die Sprache des Geschmacks, die Musik des
Herzens)
Synekdoche
Begriffsvertauschung: ein Teil steht für das Ganze ("Dach" für
Haus; "Klinge" statt Schwert)
Synonymie
Kombination sinnverwandter Wörter (Es gibt kein Ende, keinen
Ausgang, keine Auflösung. Mein Liebster, mein Bräutigam, mein
Verlobter!)
Tautologie
Bezeichnung desselben Gegenstandes oder Sachverhalts durch
verschiedene, gleichbedeutende Worte (nackt und bloß; einzig
und allein)
Vergleich
Verbindung eines gemeinsamen Gehalts zweier Bereiche (Er ist
stark wie ein Löwe, groß wie ein Baum und reich wie das Meer.)
Zeugma
Verbindung mehrerer Nomen durch ein Verb, das sinngemäß
aber nicht zu allen passt (Ich heiße Schmidt und Sie herzlich
willkommen! Der Hund hob den Blick und ein Bein 'gen Himmel.)
Zitat
Übernahme und Verwendung wörtlich wiedergegebener
Äußerungen als Beleg für die eigene Auffassung ( ... wie Goethe
seinerzeit schon sagte: "Es irrt der Mensch, solang er strebt.")
315
Methodik der Gedichterschließung
Die Analyse und Interpretation eines Gedichtes (bzw. der Gedichtvergleich) erfordern
die gleichen Fertigkeiten wie die Textanalyse eines epischen Textes. Allerdings
müssen die spezifischen Besonderheiten der Lyrik auch entsprechend berücksichtigt
werden.
Die Möglichkeiten des Vorgehens bei der Analyse / Interpretation sind vielfältig. Es
kommt aber immer wesentlich darauf an, bei der Analyse den Zusammenhang von
Form und Inhalt aufzuzeigen. Da in der Lyrik Form und Inhalt besonders eng zusammenhängen, genügt es nicht, die auffälligen Formelemente zu nennen, d.h. die
Formanalyse isoliert vom Gehalt zu betrachten. Es muss vielmehr darum gehen
aufzuzeigen, was die Form für den Inhalt leistet.
Hierfür bietet sich ein bewährtes methodisches Grundmodelle an:
I. Einleitung
allgemeine Angaben zum Gedicht, Autor und Thema
Angaben zur Entstehungszeit (wenn bekannt)
II. Analyseteil
1. Formanalyse
Beschreibung des äußeren Aufbaus (Strophe, Zeilen)
Angaben zur Gedichtform (Sonett, Ode ...)
Angaben zum Reim und Reimschema
Angaben zum Metrum und Rhythmus
Angaben zum Vers und Satzbau (Kongruenz ...)
Zusammenfassung: Darlegungen zur Gesamtwirkung der optischklanglichen Mittel (Regelmäßigkeit, Harmonie, Brüche ...)
2. Inhalts- und Sprachanalyse
Angaben zum Gedichttyp (z.B. Naturlyrik)
Darlegung der inhaltlichen Abfolge in den Strophen bzw. Zeilen
Angaben zur Sprachgestaltung (stilistische Mittel)
Herstellen von Querverbindungen von Inhalt und Sprache
Angaben zum lyrischen Ich: Einstellung zum Gegenstand oder Problem
3. Interpretation
Darlegung der Intention: Zusammenfassung der
inhaltlichen und formalen Analyse in Hinblick
auf die Aussageabsicht des Autors
Einordnung des Gedichtes bzw. der Intention in
den literaturhistorischen Zusammenhang
III. Schluss
(Abrundung der Darstellung, z.B. mit einer wertenden
Stellungnahme zum Gedicht, zu seiner Aussage und Wirkung)
316
Die Charakterisierung literarischer Figuren
Die Analyse und Interpretation literarischer Texte umfasst notwendigerweise auch
die im literarischen Geschehen agierenden oder erscheinenden Figuren; denn die
Figurenkonzepte sind wesentliche, oft die wichtigsten Konstituenten des
Dargestellten und der Intention.
Literarische Figuren sind keine Personen aus Fleisch und Blut, sondern fiktive Konzepte im literarischen Ganzen, also Funktionen. Dennoch erstellt der Leser in
seinem Bewusstsein aus den im Text verstreuten Angaben zu einer Figur ein
kohärentes Bild einer Person (nach den gelernten Schemata der PersonenWahrnehmung).
Bei der Charakterisierung literarischer Figuren ist der Interpret angewiesen auf die
im Text direkt oder indirekt vermittelten Angaben zu den Figuren. Nicht alle literarischen Figuren sind vom Autor gleichartig ausgearbeitet; die Hauptfiguren sind
natürlich differenzierter, komplexer, umfassender gestaltet; die Nebenfiguren sind oft
auf wenige Merkmale reduziert.
Das Gesamtbild einer literarischen Figur ergibt sich aus dem Gesamteindruck
zusammengefügter Mosaiksteine, die über den gesamten Text verstreut sind. Zur
Erstellung einer Charakteristik kommt es also zunächst darauf an, die unterschiedlichen Informationen im Text zu sammeln und aufzulisten. Diese Einzelinformationen lassen sich kategorisieren etwa nach folgenden Punkten:
das äußere Erscheinungsbild der Figur,
die soziale Situation,
die Eigenschaften
die Verhaltensweisen und
die Handlungen.
Gemäß diesen Kategorien ergibt sich ein Fragenkatalog, der zu einer Liste von
Merkmalen führt, die Grundlage der Charakteristik sein kann:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Was wird über das Äußere (Gesicht, Figur, Kleidung usw.) mitgeteilt?
Welche Mitteilungen werden zur sozialen Situation gemacht?
Welche Angaben werden zum Beruf und zur finanziellen Lage gemacht?
Was erfährt man über die Biografie?
Welche Mitteilungen werden zu Vorlieben und Abneigungen gemacht?
Welche Informationen erhält man über die Lebensbedingungen?
Was wird über die Verhaltensweisen erzählt? Was sagt die Figur? Was tut sie
(in bestimmten Situationen)?
8. Was wird über ihre Einstellungen (zu bestimmten Problemen oder Fragen)
mitgeteilt?
9. Welche charakterlichen Eigenschaften werden hervorgehoben?
Die Beantwortung dieser Fragen ist nicht identisch mit dem Figurenkonzept,
sondern bilden lediglich dessen Einzelteile (Mosaiksteine), aus denen der
Gesamteindruck erst im Zusammenhang erstellt werden muss.
317
Die Kurzgeschichte
1. Entstanden ist die Kurzgeschichte (short story) als eine neue literarische Form im
19.Jh. in Amerika; sie entsprach dem dortigen Lebensgefühl, das von Schnellebigkeit und Momenthaftigkeit geprägt war. Dies findet in der knappen, überschaubaren Gestaltung der unmittelbaren Lebensverhältnisse durch die Kurzgeschichte
seine Entsprechung. Unverkennbar ist der Einfluss der publizistischen Gegebenheiten der Entstehungszeit auf Struktur und Gehalt: für die Veröffentlichung in
Zeitungen gedacht, durfte das Erzählte nicht viel Platz verbrauchen, sollte jedoch
den meist flüchtigen Leser vom ersten Satz an faszinieren.
2. Die Kurzgeschichte beschränkt ihren Stoff auf eine einzige Situation. Während der
Roman eine Vielzahl sich ineinander verschlingender Ereignisse und Zustände
darstellt, hebt die Kurzgeschichte brennpunktartig eine einzige, oft alltägliche
Situation aus dem Strom des Geschehens heraus. Die Kurzgeschichte ist auf die
Fixierung eines Augenblicks und dessen Inhalte gerichtet. Von daher bekommt
das Belanglose, das scheinbar Unbedeutende, ein Einzelgegenstand, eine Geste
oder ein Wort tragende Bedeutung.
3. Der Gegenstand der Kurzgeschichte ist nicht eine Handlung, sondern eher ein
Zustand, eine Stimmung, eine spezifische Atmosphäre, in die der Leser sich mit
jedem Satz tiefer hineinbohrt. Die Geschehnisse erscheinen mehrdeutig,
labyrinthisch; sie werden jedoch nur andeutend dargestellt.
4. Meist zeigt die Kurzgeschichte zu Beginn einen harmlosen Ausschnitt einer Lebenswirklichkeit, in die ein unvorhergesehenes Ereignis hineinbricht, das den
geregelten Ablauf zerstört und den / die Menschen zur Reaktion zwingt. Vom
Schicksalsschlag übermächtigt, werden die Protagonisten grundlegend (in ihrem
Charakter) verändert. Die Wiedergabe eines schicksalhaften Moments ist
geradezu das Urmotiv der Kurzgeschichte.
5. Die Kurzgeschichte lebt von der Psychologie. Die Intention liegt in der Offenbarung und psychologischen Durchdringung eines Stückes Lebenswirklichkeit:
das vieldeutige, rätselhafte, unentwirrbare menschliche Dasein.
6. Die Kurzgeschichte beginnt ohne Einleitung und hat einen offenen Schluss. Der
Leser springt sozusagen auf einen fahrenden Zug und springt während der Fahrt
wieder ab. Keine Lösung wird geboten. Dem Leser bleibt es selbst überlassen,
318
damit fertig zu werden.
7. Die Kurzgeschichte arbeitet mit typischen Formelementen: Einblendemethode,
Abblendverfahren, Ausspartechnik, Raffung, Andeutung, Doppelbödigkeit der
Sprache, komprimierte Symbolik, Gestik, Einzelworte. Der Verlauf der
Kurzgeschichte ist linear: sie hat keine Nebenhandlung, keine Spannungs- und
Höhepunkte im üblichen Sinne.
8. Die Kurzgeschichte will nicht unterhalten; sie will schockieren ("Eine Axt für das
gefrorene Meer in uns"), provozieren, desillusionieren, demaskieren und so den
Leser zwingen, sich einem wichtigen Problem zu stellen. Es soll ein Stachel
zurückbleiben, der das Denken nicht zur Ruhe kommen lassen will.
Die Parabel
(gr. paraballein = daneben werfen, an die Stelle setzen, nebeneinander halten,
vergleichen)
1. In der antiken Rhetorik ist „Parabel“ ein Terminus für eine Weise des
Sprechens, die nicht im eigentlichen Sinne verstanden werden soll, sondern in
der Weise der Übertragung (gleichnishaftes Sprechen).
2. Als literarische Gattung ist die Parabel wie die Fabel eine Form des bildhaften
Sprechens; beide bedienen sich der Form des Gleichnisses: Sie stellen Sachverhalte nicht um ihrer selbst willen dar, sondern wollen mit ihrer Darstellung
auf etwas anderes verweisen (z.B. auf eine Wahrheit, die hinter dem
Gesagten fassbar werden soll). Das Gesagte ist also nicht das Gemeinte,
sondern lediglich dessen Konkretisierung: Ein Ereignis wird als Beispiel
dargeboten für etwas Allgemeines. Die besondere Form der Entschlüsselung
verlangt, das konkret gegebene Bild (Bildteil) auf eine allgemeine, abstrakte
Aussage (Reflexionsteil) zu übertragen.
3. Es lassen sich somit drei Merkmale der Parabel feststellen:
das uneigentliche, gleichnishafte Sprechen
der Unterschied zwischen Bild- und Reflexionsteil
die Herleitung des Gemeinten aus dem dargestellten Beispiel
4. Die Parabel muss von verwandten Formen abgegrenzt werden: Im
Unterschied zur Allegorie, Metapher und zum Symbol steht bei der Parabel
das Bild nicht anstelle der Sache, sondern daneben, außerhalb. Allegorie,
Metapher und Symbol sind bildhafte Ausdrücke, bildhafte Darstellungen eines
Begriffs oder Sachverhalts; die Parabel meint ein bildhaftes Erzählen in Form
eines Gleichnisses.
5. Die Parabel ist eine Zwischenform zwischen Kurzgeschichte und Allegorie; mit
der Kurzgeschichte hat die Parabel gemeinsam, dass sie zweifellos eine kurze
319
Geschichte (epische Kleinform) ist. Die Kurzgeschichte wird allerdings erst zur
Parabel, wenn die erzählte Geschichte eine Lehre, Einsicht oder Frage verkörpert, die über den Einzelfall ins Allgemeine, Abstrakte hinausgreift.
Mit der Allegorie hat die Parabel gemeinsam, dass sie ein Abstraktum in sinnliche Gestalt kleidet und zu ihrer Deutung vom Bild auf das Abstraktum hin
übertragen werden muss. Die Allegorie bezieht sich auf ein Bild, die Parabel
auf eine Geschichte.
6. Der formale Bau der Parabel ist auf eine Pointe hin komponiert, die die zuvor
aufgebaute Denkerwartung nicht erfüllt. In der Regel ist die Parabel dreiteilig
aufgebaut: Ausgangssituation, das eigentliche Geschehen, Pointe.
Formal unterscheidet man zwischen offenen und geschlossenen Parabeln.
Eine geschlossene Parabel liefert auch den Reflexionsteil zum Bildteil, eine
offene nur den Bildteil.
7. Es gibt drei Arten von Parabeln, die nach inhaltlichen Kriterien unterschieden
werden:
die religiöse Parabel (Altes Testament, Martin Buber ...)
die phänomenologische P. (Dürrenmatt, Frisch ...)
die politische P. (Brecht, Kunert, Kunze ...)
8. Die politische Parabel ist eine bevorzugte literarische Form in Zeiten mit
zugespitzten politischen Gegensätzen. Sie ist dann die getarnte Waffe von
Literaten, die von der Macht zur Tarnung gezwungen werden. Deshalb kommt
die Parabel in totalitären Regimen häufiger vor als in demokratischen.
9. Wie die Fabel gehört die Parabel zu den didaktischen Formen der Literatur.
Sie will den Leser belehren.
Die Novelle
Novelle (ital. novella = kleine Neuigkeit) meint eine merkwürdige (geschichtliche)
Begebenheit, die durch eine unerwartete, entscheidende Wendung (Wendepunkt) zu
einem unerhörten Ereignis wird. Goethe nennt die Novelle „eine sich ereignete
unerhörte Begebenheit“.
Die Novelle ist gesellschaftlich orientiert; sie zeigt den Menschen als Individuum in
der Krise, in der Welt der Wirklichkeit, schicksalhaft in Konfliktsituationen gestellt,
häufig dem tragischen Ausgang überantwortet.
Folgende Strukturmerkmale sind charakteristisch für eine Novelle:
begrenzter Umfang: im Mittelpunkt steht ein Ereignis, an dem nur wenige
Personen beteiligt sind; die Novelle ist an der inneren Entwicklung eines
Charakters („Ausnahmemensch“), der erprobt wird, interessiert; dieser Charakter
steht immer in einer bestimmten historischen Situation, das bedeutet:
das Geflecht von Charakter und Vorfall, die Verknüpfung von Individuum und
320
Schicksal und die Frage ihrer Verflechtung machen das Wesentliche aus
Kristallisation und Wendepunkt: während der Roman mehrere Handlungen und
Geschehnisse verknüpft, wird in der Novelle alles in einem einzigen Vorfall
zusammengefasst; dieser Vorfall ist von besonderer („unerhörter“) Art; er führt
zum Wendepunkt, der mit einem Dingsymbol, einem äußeren, gegenständlichen
Zeichen, angezeigt wird; nach einer Novelle von Boccaccio, in der ein Falke diese
Rolle spielt, wird das Dingsymbol auch „Falke“ genannt
Konzentration des Erzählten: die Novelle ist auf äußerste Verdichtung und abgekürzte Darstellung aus; ähnlich wie die Anekdote gipfelt die Handlungsführung in
einem einzigen Punkt; die Verwandtschaft der Novelle mit dem Drama zeigt sich
in einer knappen Exposition am Anfang, in dem zusammenraffenden Hinführen
zum Höhe- und Wendepunkt, in dem Abfall oder Ausklang am Schluss
Zurücktreten der äußeren Umstände und der psychischen Zustände: keine
ausführliche Milieuschilderungen; die Schauplätze sind oft wie Bühnenbilder
gestaltet; die Erscheinungen der Dingwelt werden zu neuer Bedeutung erhoben,
werden Leitmotive; diese sind transparent und lassen eine höhere Wirklichkeit
durchschimmern; sie verbinden die Erzählschritte zu einem geschlossenen
Ganzen (geschlossene Form)
Sprachliche Gestaltung: Novellen sind in der Regel sparsam in der Anwendung
von Stilmitteln; kurze, genaue Striche geben den Eindruck eines vollständigen
Porträts: kurze, dramatisch scharf beleuchtete Szenen, Vergleiche, Metaphern,
prägnante, phantasieweckende Bilder, Vorausdeutungen, Rückschau,
Zu unterscheiden sind folgende Arten:
•
•
•
•
Gesellschaftsnovelle
Problemnovelle
Schicksalsnovelle
Novellenkranz (zusammengehörende Novellensammlung)
Die Ballade
1. Die Ballade (lat.: ballare = tanzen und singen) meint ein erzählendes Gedicht. In
Strophenform wird ein episches oder dramatisches Geschehen dargestellt. Die
Grundstimmung ist hierbei meist düster. Der Erzählstoff kann aus der Sage, der
Legende oder der Geschichte stammen. Oft liegt der Glaube an Schicksal,
Dämonie und Magie zu Grunde.
2. Die Ballade will modellhaft menschliche Grunderfahrungen und Probleme
aufzeigen. Sie will das Krisenhafte einer Begebenheit darstellen: das Bedrohtsein
des Menschen durch unheimliche, unfassbare Mächte, die ihn vernichten wollen
oder ihn mit einem Schrecken entlassen. Der Einbruch überpersönlicher Mächte in
die menschliche Welt, und damit verbunden, die kritische Wende im Leben des/r
321
handelnden Menschen ist das eigentliche Metier der Ballade. Zwischen Welt und
Schicksal gestellt, ist der Mensch zur Entscheidung aufgerufen.
3. Die innere Struktur der Ballade wird geprägt von lyrischen, epischen und
dramatischen Elementen. Es vollzieht sich ein Ringen in dramatischer Spannung:
Exposition, erregendes Moment, steigende Handlung, Höhepunkt, Umschwung,
fallende Handlung, Katastrophe bzw. Wiederherstellung der Ordnung. Der innere
Zusammenschluss der Aussagen wird mit Leitmotiv(en) und Dingsymbol(en)
erreicht. Das Geschehen wird relativ knapp skizziert, nur ein szenischer Ausschnitt
wird gezeigt in rascher Zeitabfolge. Die Ballade konzentriert sich auf die
Zuspitzung der Konfliktsituation und ist deswegen zielgerichtet (Finalität), auf eine
Art Pointe am Schluss angelegt.
4. Die äußere Struktur wird geprägt von der rhythmischen Form und vom metrischen
Schema, von Zeitstufen, Klaggebilden und dichterischen Bildern, welche die
äußere und innere Spannung sichtbar machen.
5. Die Mittel der sprachlichen Gestaltung sind: schlichte Wörter, einfache
Satzgebilde, einfache, überschaubare Strophenform, beseelte Tonlage. Die
sachlich genaue Berichterstattung (Erzählgedicht) ist ebenso möglich wie
dramatische Sprechhaltungen (Dialog, Monolog). Der häufig auftretende Refrain
deutet noch hin auf den ursprünglichen Charakter eines Tanzliedes; dabei wird der
Kehrreim oft als Mittel der Wiederholung, Steigerung und Abrundung eingesetzt.
6. Die Ballade hat stark belehrenden Charakter: Sie will am Modell, am konkreten
Geschehen etwas Bestimmtes aufzeigen. Die dargestellte Handlung ist somit
zweischichtig bzw. mehrschichtig: das vordergründige Geschehen, die
dramatische Handlung ist die Konkretisierung eines hintergründigen Gehalts.
Typische Situationen der Ballade sind: das hybride Überschreiten gesetzter
Grenzen, das Sühnen verborgener Schuld, das Eingreifen überirdischer Mächte.
Weil der Mensch in der Auseinandersetzung mit den anonymen Mächten meist
unterliegt, in seiner Sicherheit aufgeschreckt oder vernichtet wird, ist der Ballade
ein pessimistischer Grundzug zueigen.
7. Im Wesentlichen unterscheidet man folgende Typen von Balladen:
die Heldenballade oder heroische B. (stellt eine heldenhafte Haltung dar
wie z.B. Tapferkeit, Mut, Treue, Selbstaufopferung usw.)
die Schicksals- oder Ideenballade (der Mensch im Konflikt - das sittliche
Gesetz)
die numinose Ballade (Auseinandersetzung des Menschen mit geheimnisvollen, naturmagischen oder totenmagischen Mächten)
das Erzählgedicht (soziale Ballade, humoristische B., engagierte B.)
322
Lektüre-Empfehlungen : Bibliothek der Weltliteratur
Wer Anregungen sucht auf die Frage, was „man unbedingt gelesen haben sollte“,
bekommt hier die ultimativen Tipps. Der folgende Überblick über die angeblich
besten Bücher der europäischen Literatur soll Sie neugierig machen. Die Bücher sind
alphabetisch geordnet.
Achebe, Chinua :
Andersen, Hans Christian :
Austen, Jane :
Okonkwo oder Das Alte stürzt
Märchen und Geschichten
Stolz und Vorurteil
Balzac, Samuel :
Boccaccio, Giovanni :
Borges, Jorge Luis :
Brontë, Emily :
Molloy, Malone stirbt, Der Namenlose (Trilogie)
Das Dekameron
Fiktionen
Sturmhöhe
Camus, Albert :
Celan, Paul :
Céline, Luis Ferdinand :
Cervantes, Miguel de :
Chaucer, Geoffrey :
Conrad, Joseph :
Der Fremde
Gedichte
Reise ans Ende der Nacht
Don Quijote
Die Canterbury - Erzählungen
Nostromo
Dante Alighieri :
Dickens, Charles :
Diderot, Denis :
Döblin, Alfred :
Dostojewski, Fjodor M. :
Die göttliche Komödie
Große Erwartungen
Jacques der Fatalist und sein Herr
Berlin Alexanderplatz
Schuld und Sühne
Der Idiot
Die Dämonen
Die Brüder Karamasow
Middlemarch
Der unsichtbare Mann
Medea
Eliot, George :
Ellison, Ralph :
Euripides :
Faulkner, William :
Flaubert, Gustave :
Garcia Lorca, Federico :
Garcia Marquez Gabriel :
Absalom, Absalom!
Schall und Wahn
Madame Bovary
Jules und Henry oder Die Schule des Herzens
Zigeunerromanzen
Hundert Jahre Einsamkeit
Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Gilgamesch - Epos
Goethe, Johann Wolfgang :
Gogol, Nikolai W. :
Grass, Günter :
Guimarães Rosa João :
Faust
Die toten Seelen
Die Blechtrommel
Grando Sertão
Hamsun, Knut :
Hemingway, Ernest :
Hunger
Der alte Mann und das Meer
323
Das Buch Hiob (Altes Testament)
Homer :
Ilias
Odyssee
Ibsen, Hendrik :
Nora oder Ein Puppenheim
Joyce, James :
Ulysses
Kafka, Franz :
Kalidasa :
Kawabata, Yasunari :
Kasantzakis, Nikos :
Die Verwandlung und andere Erzählungen
Der Prozess
Das Schloss
Sakuntala
Ein Kirschbaum im Winter
Alexis Sorbas
Laurence, D.H. :
Laxness, Halldor K. :
Leopardi, Giacomo :
Lessing, Doris :
Lu Xun :
Söhne und Liebhaber
Sein eigener Herr
Gesänge
Das goldene Notizbuch
Das Tagebuch eines Verrückten
Mahfus, Nagib :
Mann, Thomas :
Melville, Herman :
Montaigne, Michel de :
Morante, Elsa :
Morrison, Toni :
Murasaki, genannt Shikibu :
Musil, Robert :
Die Kinder unseres Viertels
Die Buddenbrooks
Der Zauberberg
Moby Dick
Essais
La Storia
Menschenkind
Die Geschichte vom Prinzen Genji
Der Mann ohne Eigenschaften
Nabokov, Vladimir :
Orwell, George :
Ovid :
Pessoa, Fernando :
Poe, Edgar Allan :
Proust, Marcel :
Lolita
1984
Metamorphosen
Das Buch der Unruhe
Erzählungen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Rabelais, François :
Rulfo, Juan : Pedro
Rumi, Dschalaluddin :
Rushdie, Salman :
Gargantua und Pantagruel
Páramo
Mathnawi
Mitternachtskinder
Sadi :
Die Saga von Njal
Salih, Tayyib :
Saramago, José :
Shakespeare, William :
Obstgarten
Zeit der Auswanderung in den Norden
Die Stadt der Blinden
Hamlet
König Lear
Othello
324
Sophokles
Stendhal :
Sterne, Laurence
Stevo, Italo :
Tausendundeine Nacht
Tolstoi, Leo N. :
König Ödipus
Rot und schwarz
Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys
Zeno Cosini
Tschechow, Anton P. :
Twain, Mark :
Krieg und Frieden
Anna Karenina
Der Tod des Iwan Iljitsch und andere Geschichten
Erzählungen
Die Abenteuer des Huckleberry Finn
Valmiki :
Vergil :
Ramayana
Aeneis
Whitman, Walt :
Woolfe, Virginia :
Grashalme
Mrs. Dalloway
Die Fahrt zum Leuchtturm
Ich zähmte die Wölfin
Yourenar, Marguerite :
-------------------------------------------------------------------------Wenn Sie eines dieser Bücher kennen oder gelesen haben, dann sollten Sie es der
Klasse vorstellen und empfehlen. Das können Sie wie folgt tun:
1.
2.
3.
4.
5.
Sie sprechen mit der Lehrerin bzw. dem Lehrer einen Termin ab.
Sie schreiben dann Titel, Autor und Veröffentlichungsjahr an die Tafel.
Sie geben eine kurze Inhaltsangabe (nicht den Schluss des Buches).
Sie sagen kurz, worum es in dem Buch geht (Thema, Problematik).
Sie geben eine kurze Wertung des Buches (subjektive Sicht), indem Sie sagen,
was Ihnen besonders gut gefallen hat.
6. Sie können eine typische Passage des Buches vorlesen, wenn Sie diese für
anregend halten.
7. Sie machen Angaben über Verlag und Preis.
Da Sie lediglich Appetit machen wollen, sollte Ihre Vorstellung bzw. Ihr Vortrag nur
ein paar Minuten dauern. Wollen Sie eine Passage vorlesen, so sollte diese nicht
allzu lang sein und möglichst aus den vorderen Teilen des Buches stammen. Wenn
Sie die Pointe des Buches bzw. den Schluss vorwegnehmen, zerstören Sie
möglicherweise die Intention des Ganzen.
325
13 Regeln zur Kommasetzung
1. Das Komma trennt Hauptsätze, wenn sie nicht durch „und“ oder „oder“
verbunden sind (Satzreihe).
- Morgens regnete es, gegen Mittag kam dann die Sonne heraus.
- Fabian spielt mit der Eisenbahn, Peter schaut dabei zu.
2. Das Komma trennt Hauptsatz und Nebensatz (Satzgefüge).
- Mein Magen knurrt, weil ich Hunger habe.
- Wenn du Lust hast, gehen wir ins Kino.
- Die CD, die du mir geschenkt hast, ist fantastisch.
- Du willst also, dass ich mit dir gehe.
- Ich weiß nicht, was es bedeuten soll.
- Ich frage mich, worüber ihr gelacht habt.
3. Das Komma trennt Nebensätze unterschiedlichen Grades.
- Ich finde, das das, was du da machst, Wahnsinn ist.
- Ich gehe zur Schule, damit ich lerne, was ich für die Uni brauche.
- Sag mir doch, was ich tun soll, damit du zufrieden bist.
(Folglich steht kein Komma bei Nebensätzen gleichen Grades, wenn sie mit
„und“ oder „oder“ verbunden sind:
- Ich weiß, dass du klug bist und dass du Ehrgeiz besitzt.
- Ich gehe zur Schule, damit ich etwas lerne und damit für die Uni
gerüstet bin.
4. Das Komma trennt Glieder einer Aufzählung, wenn sie nicht durch „und“,
„oder“, „sowohl – als auch“, „weder – noch“, „entweder – oder“ verbunden
sind.
- Zu meinem Geburtstag kamen Peter, Uschi, Nicole und Axel.
- Bring doch bitte Tomaten, Käse, Salat und Sahne mit.
- Ich kaufe weder die schwarze noch die blaue Hose.
Merke: Kein Komma steht dann, wenn das letzte Adjektiv einer Aufzählung
mit dem folgenden Nomen einen Gesamtbegriff bildet.
- Am liebsten esse ich frischen holländischen Käse.
- Ich zeige dir meine schöne, neue elektrische Eisenbahn.
5. Das Komma trennt eine Apposition (nachgestellte Beifügung) vom übrigen
Satz.
- Beate, unsere Klassensprecherin, beschwert sich beim Direktor.
- Mit meinem Nachbarn, einem Tischler, verstehe ich mich sehr gut.
6. Das Komma trennt nähere Erläuterungen ab.
- Raubkatzen, vor allem Tiger, sind meine Lieblingstiere.
- Ich backe viel, z.B. Kuchen und zu Weihnachten auch Plätzchen.
7. Anreden und Ausrufe werden durch Komma abgetrennt.
- Na, wie geht es dir heute, Isabelle?
- Monika, mach bitte das Fenster zu!
- Hey, lass mich endlich in Ruhe!
326
8. Indirekte Aussagesätze, vor allem auch die indirekte Rede (es handelt sich
ja um Nebensätze), werden mit Komma abgetrennt.
- Nico beteuerte, er habe nicht abgeschrieben.
- Ich frage mich, ob das die beste Lösung ist.
9. Folgt der direkten Rede ein Nachsatz, dann steht ein Komma
- „Ich gehe heim“, sagte er.
- „Warum bleibst du nicht?“, fragte sie.
- „Wie schade, schluchzte sie, „dann gehe ich alleine ins Kino.“
10. Das Komma trennt den erweiterten Infinitiv ab. Es kann auch beim nicht
erweiterte Infinitiv gesetzt werden. Infinitive mit „zu“, die mit „um“, „ohne“,
„statt“, „anstatt“, „außer“ oder „als“ eingeleitet werden, müssen grundsätzlich
mit Kommas abgetrennt werden, auch wenn sie nicht erweitert sind.
- Ich habe große Lust, mich mit dir zu treffen.
- Er wagte nicht (,) sich zu rühren.
- Sie arbeitete weiter, ohne aufzuschauen.
- Ohne aufzuschauen, arbeitete sie weiter.
- Sie arbeite, ohne aufzuschauen, weiter.
- Anstatt zuzuhören, redete sie weiter.
Merke: Das Komma muss auch dann gesetzt werden, wenn die Infinitivgruppe
von einem Verweiswort abhängt.
- Sabine mag es, mit Fabian zu reden,
- Fabian hat nicht damit gerechnet, Sabine zu treffen.
Das Komma muss auch gesetzt werden, um Missverständnisse zu
vermeiden.
- Ich hoffe, jede Woche etwas zu gewinnen.
- Ich hoffe jede Woche, etwas zu gewinnen.
11. Das Komma trennt erweiterte Partizipien ab.
- Lachend sah sie mich an.
- Aus vollem Mund lachend, sah sie mich an.
- Den Jubel der Zuschauer auskostend, dreht er eine Ehrenrunde.
- Der neue Comuter, gerade erst gekauft, ist schon defekt.
12. Kommasetzung bei Vergleichen mit „als“, „wie“, „so – wie“
Kein Komma steht, wenn nur Satzteile miteinander verknüpft werden.
- Ich bin schneller als du.
- Sie ist so groß wie du.
Kommas müssen gesetzt werden, wenn „als“, „wie“, „so – wie“ Nebensätze
einleiten.
- Ich bin schneller, als du denken kannst.
- Sie ist so groß, wie du vor zwei Jahren warst.
13. Kommasetzung bei Zeit- und Ortsangaben:
Zwischen den Gliedern von Zeit- und Ortsangaben steht ein Komma. Nach
dem letzten Bestandteil kann ein Komma stehen.
- Ich fahre am Mittwoch, dem 3. Mai, morgens um acht Uhr (,) mit dem
Zug.
- Der Maler stellt seine Bilder in Berlin, Seestraße 7, 2. Obergeschoss
links (,) aus.
327
Vorbereitung auf die Deutschklausur
1. Allgemeines
Die Klausur im Fach Deutsch ist - im Unterschied zu anderen Fächern - eine
zusammenhängende, in sich geschlossene Darstellung; d.h., es gibt weder
(Teil-)Überschriften noch Nummerierungen, sondern formulierte Überleitungen
und Querverbindungen.
Klausuren werden immer im Präsens geschrieben, auch wenn deren
Textgrundlage im Präteritum verfasst ist.
Die einzelnen Arbeitsschritte (Sinneinheiten, methodische Einzelteile) werden
durch Absätze sichtbar gemacht; Absätze ersetzen jedoch nicht die Überleitungen.
Die Klausur soll in einer deutlich lesbaren Schreibschrift verfasst werden.
Unleserliche Wörter oder nicht eindeutig identifizierbare Buchstaben (z.B. bei
der Groß- und Kleinschreibung) werden als R-Fehler angestrichen.
Die Zahlen bis zwölf werden (als Wörter) ausgeschrieben; ausgenommen sind
die Ordnungszahlen (z.B. der 4. Abschnitt) und die Zeilenangabe:
a) beim Zitat z.B. : (Z. 5)
b) beim Gedicht z.B. : (II,3) - heißt: 2. Strophe, 3. Zeile
c) beim Drama z.B. : (III,4) - heißt: 3. Akt, 4.Szene
Der Gedankenstrich hat eine andere Funktion als das Komma; beide sind
nicht einfach vertauschbar.
Zitieren:
Die wichtigsten Regeln für das Zitieren lauten:
a) Das Zitat muss dem Original genau entsprechen.
b) Das Zitat muss mit Anführungszeichen markiert werden.
c) Auslassungen innerhalb des Zitates werden mit drei Punkten innerhalb der Anführungszeichen gekennzeichnet.
d) Das Zitat wird immer mit Belegstelle angegeben. Die Quellen- bzw.
Zeilenangabe dient als Beleg und gehört zum Satz (d.h., der Punkt
steht danach).
e) Das Zitat muss syntaktisch passen, d.h., der eigene Satzbau muss
dem Zitat angepasst werden (nicht umgekehrt).
f) Nichtwörtliches Zitieren wird mit Vergleichshinweisen gekennzeichnet, z.B. (vgl. Z.5).
g) Hinzufügungen innerhalb eines Zitates werden in Klammern und mit
einer Anmerkung angezeigt, z.B. (Anm. des Verfassers). Die Anmerkung fällt weg, wenn lediglich Kasusendungen verändert werden;
diese werden in eckige Klammern gesetzt.
h) Das Zeilenende im Originaltext - besonders bei Gedichten - wird
beim
Zitieren mit einem Schrägstrich (... / ...) angezeigt.
328
Einen Duden bekommen Sie bei jeder Deutschklausur, damit Sie in Zweifelsfällen
(Rechtschreibung, Zeichensetzung, Abkürzungen) nachschauen können. Machen
Sie Gebrauch davon !!!
2. Vermeidung besonders häufiger Einzelfehler
2.1. Grammatik
- Konjunktiv und indirekte Rede: Die wichtigsten Regeln lauten:
a) Die Wiedergabe von Äußerungen oder Gedanken anderer Personen wird
in Form der indirekten Rede, also mit dem Konjunktiv, angezeigt. In der
Regel ist dabei der Konjunktiv I zu verwenden.
• Sie sagte: „Ich muss mich beeilen.“ (direkte Rede)
• Sie sagte, dass sie sich beeilen müsse. (indirekte Rede)
• Sie sagte, sie müsse sich beeilen. (indirekte Rede)
b) Sind die Formen des Konjunktivs I identisch mit den Formen des
Indikativs, wird auf den Konjunktiv II zurückgegriffen.
• Sie sagte: „Wir haben Glück gehabt.“
• Sie sagte, sie hätten Glück gehabt.
c) Wird in der direkten Rede Vorzeitiges, also zum Zeitpunkt des Sprechens
schon Abgeschlossenes, ausgedrückt, wird das mit dem Konjunktiv Perfekt
wiedergegeben.
• Er sagte: „Es war ein schönes Erlebnis.“
• Er sagte, es sei ein schönes Erlebnis gewesen.
das / dass
a) ‘das’ ist ein bestimmter Artikel, ein Demonstrativ- oder Relativpronomen;
für ‘das’ kann „dieses“ oder „welches“ eingesetzt werden.
• Das Kind mag das Spiel, das (welches) wir gestern gespielt
haben. (Relativsatz)
b) ‘dass’ ist eine Konjunktion, die ganz bestimmte Nebensätze (Gliedsätze),
z.B. Subjekt-, Objekt- oder Konsekutivsätze, einleitet.
• Dass sie es gewesen ist, ist offensichtlich.
• Ich hoffe, dass du gut angekommen bist.
• Er war so groß, dass es sich bücken musste.
329
durch ist eine Präposition, die häufig unkorrekt verwendet wird (durch den
Kälteeinbruch, durch seinen Glauben) korrekt: wegen, aufgrund, infolge
‘nachdem’ ist eine temporale Konjunktion, die Vorzeitiges, also bereits Abgeschlossenes, zum Ausdruck bringt. Die hierbei korrekten Tempi
sind das Plusquamperfekt oder das Perfekt.
• Nachdem sie die Klausur geschrieben hatte, war sie froh.
2.2. Rechtschreibung
Regeln der neuen Rechtschreibung:
(Bitte nachschauen im Arbeitsbuch des Vorkurses !!!)
Genitiv bei Namen: Im Deutschen wird einfach ein ‘s’ angehängt (Goethes
Werk, Schillers Dramen, Helgas Studio, Rolfs Schänke
Ausnahme: Nur dann, wenn ein Eigenname auf s,ß,x,z,tz endet, wird zur
Kennzeichnung des Genitivs ein Apostroph nachgestellt:
Aristoteles’ Schriften, Grass’ Romane, Felix’ Aufsatz, Löns’ Lyrik
2.2.1. Groß- und Kleinschreibung
1. Nach den Wörtern (Mengenangaben): etwas, alles, viel, wenig, nichts
werden Adjektive großgeschrieben:
• etwas Schönes, viel Gutes, nichts Besonderes
2. Bezeichnungen von Tageszeiten werden nach Adverbien großgeschrieben:
• heute Abend, morgen Mittag, gestern Morgen
4. Bezeichnungen von Tageszeiten, die als Adverbien verwendet sind,
werden kleingeschrieben:
• morgens, abends, montags, dienstags morgens
5. Nach einem Doppelpunkt wird großgeschrieben, wenn ein vollständiger
Satz folgt, und kleingeschrieben, wenn z.B. eine Aufzählung folgt:
• Und so wird es gemacht: Man nehme zuerst einen Eimer.
• Und das braucht man: viel Farbe, Wasser, Papier.
2.2.2. Getrennt- und Zusammenschreibung
(Bitte nachschauen im Arbeitsbuch des Vorkurses !!!)
2.3. Zeichensetzung
Kommaregeln: Die wichtigsten Regeln finden Sie im vorherigen Kapitel
330
bei Abkürzungen: mit Punkt(en): z.B. - usw. - z.T. - u.a.
ohne Punkt: TÜV, ARD, BGB, km/h, kg, DM
(alle gängigen Abkürzungen stehen im Duden)
bei Zitaten: Zitate werden in Anführungszeichen gesetzt; die Quellenangabe
(Zeilenangabe) dient als Beleg und gehört damit zum Satz.
(s.o. unter "Zitieren")
Dann erwähnt Gryphius den Menschen, er bezeichnet ihn als "das Spiel der
Zeit" (III,2).
3. Stilistik
Wirkung und Überzeugungskraft einer Klausur hängen auch vom Stil, vom richtigen
Wort, vom treffenden Ausdruck, von klaren Formulierungen ab. Natürlich ist der Stil
etwas Subjektives - jeder hat seinen persönlichen Stil, auch in der Schriftsprache -,
aber doch (nur) innerhalb der sprachlich-stilistischen Möglichkeiten und Grenzen.
Sprache und Stil sind stets abhängig von der Intention.
Die Absicht der Deutschklausur besteht sowohl bei der Analyse, bei der Interpretation als auch bei der Problemerörterung in der sachlichen, aufgabengerechten und
zusammenhängenden Darstellung von Sachverhalten und Gedankengängen. Der
entsprechende sachliche Stil ist bestimmt von den Prinzipien der Klarheit, Angemessenheit und Folgerichtigkeit. Verstöße gegen diese Stilprinzipien bedingen die
häufigsten stilistischen Fehler und Mängel. Sie beziehen sich auf:
Umgangssprache (Bullen, glotzen, quatschen, veräppeln ...)
bürokratische Ausdrücke (Inangriffnahme, Kenntnisnahme, zum Einsatz
bringen, in Erwägung ziehen, zu Papier bringen ...)
Flickwörter und Füllsel (eigentlich, letztendlich, irgendwie, praktisch, perfekt,
restlos, selbstverständlich, in der Tat ...)
Modewörter (total, absolut, geil, super, irre, platt, unterschwellig, einsame
Spitze, nicht drin sein, in sein ...)
Vulgärsprache (Beispiele erübrigen sich)
Redestilelemente (ja, also, irgendwie, nicht wahr? ...)
schwerfällig wirkende Verwendungen des Relativpronomens 'welcher'
(der Mann, welcher gestern starb, ... mit welchem ich ...)
stilistisch besser: der, mit dem
unvollständige Sätze (Das ist ein romantisches Gedicht. Volksliedstrophe.
Harmonischer Inhalt. Sagte ich schon)
unangemessener Nominalstil (Vor der Inangriffnahme der Analyse der
Intention ist eine gründliche Überprüfung der Inhaltsschwerpunkte und der
Sprachstruktur erforderlich.)
unangemessene Hypotaxen (Bevor wir mit der Analyse, die sich auf die
Intention, die dem Gedicht zugrunde liegt, bezieht, beginnen können, müssen
wir den Inhalt, bezogen auf dessen Schwerpunkte, untersuchen, dürfen dabei
jedoch Struktur und Sprache, die ja den Inhalt erst hervorbringen, und zwar in
der spezifischen Weise des hier vorliegenden Autors, der, als er das Werk
verfasste, 23 Jahre alt war, nicht unterschlagen.)
331
Charlotte-Wolff-Kolleg
Fachbereich Deutsch
Korrekturschlüssel
1. Sprachrichtigkeit
R
Z
Z (Zitat)
G
-
Rechtschreibungsfehler
Zeichensetzungsfehler
Interpunktion beim Zitat unkorrekt
Grammatikfehler (Genus-, Kasus-, Modus-, Numerus-,
Tempus-, Satzbaufehler oder fehlerhafte Konjunktion,
Präposition, fehlerhaftes Pronomen, Lexemfehler oder
fehlerhafter Bezug)
2. Sprachgestaltung
A (b:)
A (ugs)
A (WW)
A (Wdh)
A (St)
Zitat
-
Ausdrucksfehler (besser: ...)
Ausdrucksfehler (umgangssprachlich)
Wortwahl fehlerhaft
Wiederholung
Stilfehler
Zitat unkorrekt
-
falscher Fachausdruck
fragwürdiger Inhalt
unkorrekter Inhalt (jeweils mit Kommentar)
-
siehe oben, z.B. bei Wiederholungsfehlern (R s.o.)
muss getilgt werden
muss eingefügt werden
Umstellung der Wörter
3. Inhalt
FA
I (?)
I (...)
4. weitere Zeichen
s.o.
[-]
√
\
5. Hinweise zur Zählung der Fehler (Fehlerquotient)
bei eingeschobenen Nebensätzen und Appositionen werden die
Kommafehler markiert, es wird jedoch nur ein Fehler gezählt
Modusfehler bei der Textwiedergabe werden markiert, es wird jedoch nur ein
Fehler pro Satz bzw. Absatz gezählt
Fehler aufgrund von Tempuswechsel (z.B. bei der Textwiedergabe, Inhaltsangabe u.ä.) werden markiert, gezählt wird jedoch nur ein Fehler pro
Tempuswechsel
332