Diagnose Kieferschmerz – Ressourcen der Regulationsmedizin

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Diagnose Kieferschmerz – Ressourcen der Regulationsmedizin
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Diagnose Kieferschmerz –
Ressourcen der
Regulationsmedizin
Heinz Spranger
Zusammenfassung
Die European Pain Federation (EFIC) hat im Jahr 2014 die Kopf-,
Gesichts- und Kieferschmerzen in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt.
Auf alle Ärzte, die interdisziplinär tätig sind, kommt damit die Verantwortung zu, ihren Anteil an Empfehlungen zur Anamnese, Befunderhebung, Therapieplanung und Rehabilitation zu verifizieren. Das akute
medizinische Schmerzmanagement befasst sich mit Warnhinweisen
und weiterer Diagnostik von Symptomen homologer Ätiologien. Das
ärztliche Handeln bei chronischen Schmerzen ist dagegen auf das Überdauern von heterologen und komplexen Sequenzen ausgerichtet. In
beiden Schmerzformen kommt dem Arzt für dentale und orale Medizin
eine durch seine berufliche Stammkompetenz gegebene zentrale Rolle
zu. Dabei fallen biologische, psychologische und soziale Faktoren
gemeinsam als Teil integrierter Patientenversorgung ins Gewicht.
In komplementärer Interpretation zur „Pathogenese“ bedeutet diese
das Erreichen von Gesundungsstadien. Nach dem „Salutogenese“Modell von Antonovsky ist Gesundung als Prozess unter Nutzung
verfügbarer Ressourcen zu verstehen, verlorene Gesundheit wiederherzustellen. Daraus ergibt sich das Primat, den Bezug zu KieferRelation und Okklusion zu erhalten, weil diese die kausale Schlüsselrolle
bei Kopf-, Gesichts- und Kieferschmerzen sind. Praxisentscheidungen
der Dentalen und Oralen Medizin gehen alle Ärzte an, die eine aktive
Rolle an einem interdisziplinären Konsens am Patienten spielen. In
heutiger Praxis sind im Sinne der ganzheitlichen Medizin Lösungsstrategien notwendig, die nicht nur durch einen Informationsaustausch
kontrolliert werden, sondern epikritische Betreuung der Ergebnisse
erbringen. Das Konsilium sollte Longitudinalkontrolle sein und über
die gesamte Befund- und Therapiesequenz erfolgen.
Schlüsselwörter: Kopf-, Gesichts- und Kieferschmerzen, Körperstatik,
Kiefergelenk führende Strukturen, Parafunktionen, Parodontologie, Desmodont, Okklusion der Zahnreihen, Ressourcen der Sekundärprävention
E
vident ist, dass zwischen Statik und Dynamik des gesamten Körpers
und der Funktion und Struktur der Kiefergelenkgewebe eine enge
Wechselbeziehung besteht. (TRAVELL 1960) Das ist von Bedeutung für
den Umgang mit Kiefergelenkbeschwerden, die einen wesentlichen Anteil
an Kopf-, Nacken-, Gesichts- und Kieferschmerzen haben. Diese Krankheitsstörungen beschäftigen ärztliche und auch nicht-ärztliche Heilberufler. Eine rohe Erkrankungsrate von etwa 8% der Bevölkerung beinhaltet
bei immerhin 80% der Frauen und 50% der Männer erhebliche körperliche
Beschwerden im Kopfbereich. Kiefergelenkschmerzen können sowohl mit
Leiden von Fehlstellungen der Wirbelsäule, als auch mit Beckenschiefstand verbunden sein. Diagnostik und Therapie bedürfen konventionell
einer fächerübergreifenden Koordination im Rahmen der medizinischen
und medizinnahen Fragestellungen. (SPRANGER 2012)
zaenmagazin 6. Jahrgang 1/2014
Abb. 1: Sagittalschnitt durch Kiefergelenk in vertikaler Projektion. HE.
Der KG-Kopf liegt im Zenith der fossa. Diese Lage beschreibt morphologisch die Zentrik (akzeptierte Relation). Die bindegewebige distale
craniale Portion der Verlängerung des M. pterygoideus lateralis übernimmt die Funktion des discus (distal-cranial vaskularisiert).
Sie gestattet eine Beweglichkeit des caput mandibularis innerhalb der
ginglimo-arthrodialen Umgebung. (HE. Standard 40fach)
So genannte Cranio-Mandibuläre
Dysfunktionen
Die übliche Befundbezeichnung von Cranio-Mandibulären Dysfunktionen (CMD) steht für den Sammelbegriff einer Reihe klinischer
Symptome der Kaumuskulatur und/oder des Kiefergelenks sowie der dazugehörenden Strukturen im Mund- und Kopfbereich. In diese Strukturen
gehören auch die periostoiden Gewebe der desmodontalen Zahnfächer.
Epidemiologisch verbirgt sich unter dem übergeordneten Begriff CMD die
Temporo-mandibuläre Gelenk-Störung (TMJD). (LUTHER 2007)
Dadurch wird auf zeitweilige Funktions- und Lageveränderung der beteiligten Strukturen hingewiesen, deren Befindlichkeitswert temporär sehr
stark variieren kann. Kiefergelenkfunktionsstörungen sind multikausal.
Sie bedürfen der medizinisch ganzheitlichen Betreuung.
Häufige Leitsymptome sind Okklusionsveränderungen, die sich direkt auf
die Relations-Stabilität und die Unterkiefer-Beweglichkeit auswirken. Deshalb muss auch die gesamte Körperstatik in die Therapie mit einbezogen
werden. Das ist Grundlage von Befunderhebung, Diagnostik und Therapie
der Myoarthropathien, für die eine komplexe interdisziplinäre Sorge einsetzen muss. Der Zahnarzt hat dabei Kieferrelations- und Okklusionskorrektur zu betreiben. (TÜRP & SCHINDLER 2003)
Die zahnmedizinische Auffassung der letzten Jahrzehnte, die ausschließlich den ortsständigen Biofilm „dentale Plaque“ für Beginn und
Fortschreiten von Parodontitis und Zahnlockerung verantwortlich machte,
wich dem Blick auf die systemischen Zusammenhänge zwischen dentaler
und myofazialer Gesundheit. Die rein lokalistische Schau auf Belagbelastung der Gingivae und die oberflächliche Parodontitis sind jedem
Patienten als zusammenhängende Phänomene vermittelbar. Aber die
Reaktion „Zahnfleischbluten“ alleine veranlasst den Patienten nicht zum
Kontrollgang, sondern erst ein belästigendes Schmerzgeschehen im
Mundhöhlenbereich.
Einer der typischen Anlässe sind ausstrahlende Beschwerden im Ohrund Gesichtsbereich. In wiederkehrenden Argumentationen wird heute
noch der Begriff „Costen-Syndrom“ benutzt, um das Schmerzgeschehen
zu benennen. Damit soll die Ursache für eine Reihe von neuralgischen
Schmerzen im Ohr- und Schädelbereich, Schwindel, auch mit Tinnitus und
Hörminderung bezeichnet werden. (COSTEN 1934)
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Andere Störungen, wie schmerzfreie Reibe- und Knackgeräusche der
Kiefergelenke, Druck an den Kiefergelenkpolen und gelegentliche muskuläre Verspannungen im Bereich der Kopf- und Halsmuskulatur, Mundschleimhaut- und Zungenbrennen können assoziiert sein. Aktueller
Behandlungsbedarf besteht obligat bei Schmerz, traumatogenen, tumorösen oder orthopädischen Befunden. HNO-ärztliche Befunde müssen abgeklärt sein.
Ressourcen der Regulation – Überprüfen der Differentialdiagnostik für das
Therapiefeld
Zu einander differentialdiagnostisch ähnlichen Beschwerdebildern
gehören Symptomatologien aus vielfältig definierbaren salutogenen oder
pathogenen Entitäten.
Dazu zählen die Befundgruppen aus den Kapiteln der International
Classification of Diseases (ICD 10 GM 2013) K 00-K14: Krankheiten der
Mundhöhle, der Speicheldrüsen und der Kiefer – und analog zu üblicher
Fach-Nomenklatur weiterhin –
• Neben Kontusionen des Unterkiefers (mit 25 bis 30 % Beteiligung von
Frakturen) – Schmerz, Hämatome und radiologische Zeichen,
• der Zusammenbruch der seitlichen Stützzonen in Oberkiefer und Unterkiefer durch Verfall oder Zahnverlust mit chronischer Verlagerung
der Kiefergelenke
Abb. 3: Abrasion mit Demastikation (Zahnsubstanzverlust durch
abrasive Kost). Zähne mit Restvitalität trotz Freilegung aller Zahnhartgewebe. Die Beurteilung der Restvitalität betroffener Zähne ist
im Sinne von Zahnerhaltung komplex.
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Irritationen können aber ebenso mechanischer Art sein, etwa durch
Elemente von Zahnprothesen, -brücken, kieferorthopädischen Apparaturen oder hervorstehenden Füllungen. Bei umfangreichen Zahnersatz- und Prothesenträgern kann außerdem eine schlecht eingestellte
Kieferrelation Ursache sein.
Dysgnathien Ober- und Unterkiefer (Angle-Klassifikationen) – Störung
der vaskulär-lymphatischen Abflüsse,
Chronische nasale Obstruktion – Exzessive Mundtrockenheit – Mundatmung – Arzneimittelgebrauch,
Myopathien der Mm. pterygoidei laterales und mediales und der –
Schmerzen an den Kieferhöhlen,
Myopathien der Mm. sternocleidomastoidei,
Beschwerden in Regionen der Kieferhöhlen – voluminöse Hindernisse
(Polypen) – entzündliche, exazerbierende Prozesse an Zahnwurzeln,
schwer differenzierbare subjektive Symptome im Mund mit atypischer
Mukositis – Nebenwirkungen verschiedener Arzneien – Vitamin-, Magnesium- und Eisenmangel – Begleitsymptome der Hyperglykämie –
depressive Verstimmungen, Angst.
Sehr selten auch Irritationen durch unterschiedliche Metalle im Mund
– z. B. in Zahnkronen oder Piercings.
Die Zentrik – „Acceptable Reference“
Abb. 2: Abrasion durch traumatischen Einbiss der UK-Zähne in die
teilrekonstruierten OK-Frontzähne. Hypermotorik, männlich 71 Jahre.
Nicht alle klinischen Bilder sind so eindrucksvoll. Der Verfall lateraler Stützzonen ist häufiges Problem.
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Kompressionen mit Schmerzen im Kiefergelenk. Der Unterkiefer
weicht (ohne Gelenkerguss) zur kranken Seite ab (schmerzhafte
Protrusion). Bei Gelenkerguss gibt es eine Lateralverschiebung
des Unterkiefers zur gesunden Seite (Bonnetsche Schonhaltung).
Akute perikoronale Entzündungen im Molarenbereich,
Symptome der Exazerbation bei progressiver Parodontitis,
Vitalitätsverlust von Zähnen mit periapikalen Zeichen (Klinik und
Radiologie).
Symptomatische Trigeminusneuralgie – spontane oder getriggerte
Schmerzattacke im Ausbreitungsgebiet.
Persistierende Trigeminusneuralgie – anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz mit vegetativen Erscheinungen im Versorgungsgebiet.
Symptome des Zungenbrennens nach Heißgetränken, Alkohol, Tabak
sowie heißen, sehr scharf oder stark gesüßte Speisen, NahrungsmittelUnverträglichkeiten – homologe Auslöser Reizungen im Mundraum
durch scharfe Zahnkanten, Zahnstein, Geschwüre der Mundschleimhaut, Gingivitis, Parodontitis, Änderungen im Biotop.
Patienten mit Kiefer-Schmerzen und ähnlichen Beschwerden suchen
meist zunächst ihren Zahnarzt auf. Befunderhebung, Therapiekonzept,
Behandlung und Nachsorge zu Problemen des Kau-Bewegungssystems
sind deshalb vielfach in zahnmedizinischen Verantwortungsbereichen.
Sie führen zu einer Behandlungskonzeption, die sich auch angesichts der
zukünftigen Demografie hauptsächlich auf Zahnsubstanz- oder ZahnErsatz stützt. Auch die schmerzhaften Symptomatologien des Gesichtsschädels werden vornehmlich zahnärztlich bezogen gesehen.
Ausnahmen sind Beschwerdebilder von Kopf, Gesicht und Kiefer mit
heterologen und komplexen Schmerzen. Manche dieser Patienten
schöpfen dann pluridisziplinäre Medizin und Praxis aus, weil sie ihre
Befindlichkeiten nicht richtig zuordnen können. So entsteht das Problem,
den aus Patientensicht „richtigen“ Arzt für das gesundheitliche Problem
zu finden.
Eine eindeutige Definition dessen, was den Kern ärztlicher Disziplinen
bei „Schmerz“ im Kopfbereich ausmacht und dementsprechend auch, was
die Grenzen und Übergänge zwischen Disziplinen charakterisiert, gibt es
nicht. Für den individuellen Zugang zum Patienten ist so im Einzelfall zu
prüfen, wie aktuell der Wert patientenorientierter Entscheidungen der
ärztlichen Fachgebiete auf der Grundlage von angezielter Wirksamkeit ist.
Das eigentliche Organisationsproblem darf dabei der Zahnarztpraxis überantwortet werden, die koordiniert.
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Ressourcen der Regulation – Kompetenz
Dentaler und Oraler Medizin
Abb. 4: Balancierte Laterotrusion mit unregelmäßiger Schliff-FlächenAbrasion an Gruppenkontakt. Diese Position in Zusammenhang
mit einseitigem Schmerz ist mit zahnmedizinischer Kontrolle der
klinischen Zusammenhänge herauszufinden. In der Regel geht
sie auf muskuläre Hypervalenz der unilateralen Adduktoren und
contralateralen Mediotraktoren zurück.
Der Zahnarzt kann dem Patienten durch temporären Aufbiss helfen,
sich auf Lagestabilität der Kiefer „in Zentrik“ auch auf längere Zeit einzurichten: Der Zahnmediziner kann das Prinzip der Lagestabilität der
Okklusion bezahnter Kiefer und der von Prothesen durch balancefreie
gleichseitige Medio- und Laterotrusion wahren. Dadurch ist möglich, im
Verlaufe vieler ärztlicher Behandlungsphasen die Kieferrelation stabil zu
halten. Die Stabilität der lateralen Stützzonen konzentriert sich auf die
maximale Ruheposition der Kondylen im Zenith der Kiefergelenkpfanne.
Diese Stellung erlaubt das Abfahren eines okklusalen Feldes in einer gewählten Ebene. „Zentrik“ wurde von US-amerikanischen Gnathologen als
„Acceptable Reference“ anerkannt. Kau- und Schluckakte werden in Relation zu der Form der Kiefergelenkspalten verstanden. Die Kieferrelation
wird als die vertikale, sagittale und transversale Lagebeziehung der Kiefer
zueinander unter Berücksichtigung der Ruhelage des Unterkiefers und
der Kondylenposition bezeichnet.
Die Bestimmung der vertikalen Kieferrelation (Bisshöhe) muss der
Bestimmung der horizontalen Kieferrelation vorausgehen, da eine
vertikale Änderung zwangsläufig eine horizontale Änderung in sagittaler
Richtung nach sich zieht.
Die Unterkieferhaltung zum Oberkiefer ist ein Bestandteil der Körperhaltung. Sie ist individuell. Der gnathologische Fortschritt gegenüber
den herkömmlichen Relationsbestimmungen liegt in der Berücksichtigung möglichst aller räumlicher Begrenzungen. Damit ist die Beziehung
der Zahnreihen zueinander an vielen Stellen möglich. Der Entwurf der
Okklusion kann also präzise justiert werden. Dieser Vorteil wird in der
Prothetik begrüßt, weil Zahnersatz für Zahnreihen, kleine und große
zahnbegrenzte Lücken und diverse Implantatversorgungen Standard
der Zahnmedizin sind.
Zur praktischen Bedeutung von Kieferrelation und Okklusion kommt
der harmonische Ausgleich parodontaler Beweglichkeit und damit der
zahnhaltenden Partien von Gingiva, Alveolarknochen, Zahnwurzelzement
und Desmodont. Diese Gewebe (Abb. 5) zeichnen sich durch subtile Rückstellungen nach Belastung aus. Bekannt ist, dass Intrusionen und Extrusionen, sowie Kippungen der Zähne im Parodont schädigenden Einfluss
auf die periapikalen Elemente haben können. Untersuchungen dentaler
Traumata haben nachgewiesen, dass gelockerte Zähne degenerierte funktionsunfähige Propriozeptoren haben und damit keine Überreizung melden
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Abb. 5: Histologische Darstellung eines Interdentalraumes regulär
in habitueller Interkuspidation belasteter Zahnreihe. Apposition
und Resorption der knöchernen laminae cribriformis. Zwischen
Zahnwurzeln und Alveole Desmodont (analog Periodont), in dem
Gefäße und Propriozeptoren liegen. (HE Standard 79fach)
können, sodass eine etablierte Zahnlockerung auch definitiv zur stärkeren
Traumatisierung führt (KUNG 1974). Das ist durch experimentelle und
klinische Untersuchungen nachgewiesen worden (HENERS 1973).
Abb. 6: Histologie (HE) des Interdentalraumes in vertikalem Aufschnitt.
Die desmodontalen Strukturen sind nach Belastungsrichtung und der
Zahnwanderung gemäß geordnet. (HE. Standard 130fach)
Damit war die pathologische Wertung massiver Zahnbelastungen
akzeptiert worden, die aufgrund von Bruxismus (KAROLYI 1901) und von
Autoaggression (DRUM 1962) einwirken, dem „traumatischen Potential
der Parafunktionen“. Es ist evident, dass Phänomene gestauchter Parodontalgewebe durch untypische Knirsch- und Pressbewegungen zu einer
Überbelastung des Desmodonts führen. Im dreidimensionalen System
Mundhöhle liegen der Schaden auslösende Ort und der Schaden (Zahnwanderung, Kippung) diagonal zueinander. So ist ein elongierter dritter
Molar mit Latero- oder Protrusionshindernis zugleich Anlass für Ausweichbewegungen des Unterkiefers und okklusalen / dentalen Schäden an
einer diagonal dazu oder frontal gelegenen Zahnreihe. („Diagonalgesetz“
THIELEMANN 1956)
Von zahnärztlicher Relevanz ist, dass zentral ausgelöste und dann
etablierte Parafunktionen den Schaden am Locus minoris resitentiae erwirken. Liegt dieser in den Kopfmuskel- und Kiefergelenkgeweben, kommt
es zur schmerzhaften Autodestruktion. Liegt dieser in der Okklusion,
kommt es zu Deprogrammierungen der Kiefer- und Gesichtsmuskulatur.
Liegt dieser in der Struktur und Funktion des Desmodonts, tritt eine
Kribrosierung parodontaler Gewebe mit Zahnlockerungen auf. Diese
Kennzeichen sind zahnmedizinischer Therapiekompetenz zugeordnet.
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neuartige und auch zukünftige Gegebenheiten auf Basis der kognitiven
und emotionalen situativen Handlung oder Willenshandlung dar. Der
Anpassungsvorgang ist langwierig und bedarf sowohl ärztlicher Kontrolle und Führung, als auch beständiger zahnmedizinischer Korrektur. Es
versteht sich, dass die Exploration von Parafunktionen einen sensiblen
Teil der ärztlichen Partnerschaft mit dem Patienten darstellt und in besonderem Maße der Reflexion auf die Menschenwürde bedarf. Die Darstellung des Situationskreises zwischen Individuum und Umgebung trifft
diese Problematik in der Mitte von rezeptorischen und effektorischen
Sphären. Das Problem der Patienten mag im täglichen Stressgeschehen
liegen. Bedeutungserteilung und Bedeutungsverwertung schaffen
aber keine Problemabfuhr. Die emotionale Korrektur erfolgt individuell
im Nicht-bewussten. (THURE VON UEXKÜLL 1990).
Abb. 7: Vergrößerung aus dem Interdentalraum (HE). Fortgesetzte
Zahnbelastung lässt die Knochenmarkräume zum Umbau über
stoffwechselaktive Fasermarkpolster kommen. (HE. Standard 130fach)
Das Konzept der Autodestruktion durch Hyperfunktion an desmodontalen Geweben und der daraus resultierenden Parodontitissymptome
bis hin zum Zahnausfall erweitert den zahnmedizinisch beachtlichen
Schadensbericht. Salutogenetische Grundlage der Therapie von Parodontopathien bleibt die konsequente Entfernung hingegen von etabliertem
oralem Biofilm, der dentalen Plaque.
Ressourcen der Regulation – Wertstellung des psychosomatischen Anteils
Das Spektrum der Parafunktionen als Autoaggression zur Autodestruktion enthält mit seinem psychosomatischen Anteil den anderen
Blickwinkel der Interdisziplinarität. Das Spektrum der Beeinträchtigungen
der Patienten reicht von vorübergehenden Reaktionen auf Stressfaktoren
bis zu schweren Blockaden der biologischen, psychologischen und sozialen Bezogenheit. Die Ursachen sind vielfältig. Zunächst muss ärztlich
abgeklärt werden, ob eine Beeinträchtigung der Wahrnehmung oder der
Sensorik im Tages- und Nachterleben vorliegt. Menschliche Disharmonien,
Reaktionen auf Traumata oder Antworten auf ein inadäquates oder defizitäres Kommunikationsangebot der Umgebung können zu einer Störung
der Bezogenheit führen.
Die Regulation von Parafunktionen ist im wesentlichen Selbstregulation. Der Patient, der eine eigene Erinnerung an die schädliche Funktion
hat, wird sie tagsüber auch mental beherrschen. Ohne willentliche
Kontrolle muss er Hilfen in Anspruch nehmen, die seine Ärzte reichen.
Ihre Fremdregulation ist Leistung an Symptomen. Dabei spielt eine
entscheidende Rolle, dass Parafunktionen im Schmerzbereich von Kopf,
Gesicht und Kiefer einerseits zu den häufigsten, andererseits auch zu
den am besten zugänglichen gehören.
Physiologisch biologische, psychologische und soziale Mechanismen
der Steuerung von Ressourcen stellen einen wesentlichen Faktor der ärztlichen Betreuung von Stress und Depressionen dar. Die ärztliche Therapie
von Parafunktionen muss darüber hinaus auf eine Anpassung des Organismus an hyperfunktionelle Bedingungen gehen. Orale Parafunktionen
(Orale Habits) sind im allgemeinen Sprachgebrauch Sammelbegriff für
nicht natürlichen Gebrauch des Kauorgans. Man nennt sie „Verhalten zu
Äußerungen von nonverbaler Kommunikation“. (KLUGE 2000)
Alle Parafunktionen sind erworben und finden im Wesentlichen unbewusst statt. Sie gehören zum Persönlichkeitsprofil eines Menschen.
Sie stellen allerdings längerfristige Anpassungen an komplexe, variable,
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Autor
Univ.-Prof. a. D. Dr. med. dent. habil.
Dr. h. c. Heinz Spranger
Kolleg für Gesundheit und Entwicklung in
A-Graz/Schloss Seggau
Korrespondenz:
Mühlenstraße 1
26906 Dersum
[email protected]
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