SI 07-3.indd - Psychiatrie Verlag

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SI 07-3.indd - Psychiatrie Verlag
Sozialpsychiatrische
Informationen
3/2007
37. Jahrgang
»Gerecht ist anders ...«
Auswirkungen der Globalisierung auf
psychisch kranke und behinderte Menschen W. Rätz
Zeit der Erschöpfung M. Schenk (Österreich)
Beseelung und Verwaltung D. Petry (Niederlande)
Wie lange hält das Netz für
psychisch kranke Menschen? J. Gassmann (Schweiz)
Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung S. Pöld-Krämer
Ökonomisch kontraproduktive
Verteilungen der Wertschöpfung H.-J. Bontrup
Psychisch kranke Menschen im Dschungel
der Sozialgesetzgebung H. Roelfs, U. Gieselmann
Arbeitsrehabilitation auf einem ständig
schrumpfenden Arbeitsmarkt – macht das noch Sinn? P. Weber, S. Prins
Denken Sie sich die Gesichter doch einfach weg ... Interview
Das bedingungslose Grundeinkommen W. Nestle
Stimmt unser Arbeitsbegriff noch? K. Groth
Warum wir nicht arbeiten »müssen« S. Prins
»Alte Texte – neu gelesen«
Vita activa oder vom tätigen Leben H. Arendt
Psychiatrie-Verlag
Inhalt
Editorial
Sozialrechtsreformen
auf Erfolgskurs
Silvia Pöld-Krämer
32
1
Themenschwerpunkt:
»Gerecht ist anders ...«
Auswirkungen der
Globalisierung auf
psychisch kranke und
behinderte Menschen
Arbeitsrehabilitation
auf einem ständig
schrumpfenden Arbeitsmarkt –
macht das noch Sinn?
Peter Weber im Gespräch
mit Sibylle Prins
33
Werner Rätz
2
Denken Sie sich
die Gesichter doch
einfach weg ...
Zeit der Erschöpfung
Interview
39
Martin Schenk (Österreich)
4
Beseelung und Verwaltung
Das bedingungslose
Grundeinkommen
Detlef Petry (Niederlande)
6
Wilhelm Nestle
42
Wie lange hält das
Netz für psychisch
kranke Menschen?
Aus: Wer hat Angst vor
der freien Zeit?
Jürg Gassmann (Schweiz)
12
Zwischen Solidarität
und Eigenverantwortung
Silvia Pöld-Krämer
15
Ökonomisch
kontraproduktive
Verteilung der
Wertschöpfung
Heinz-J. Bontrup
25
Schön für
den Luxuskonsum
Sibylle Prins
28
Psychisch kranke
Menschen im Dschungel
der Sozialgesetzgebung
Heinz Roelfs und Ulrike Gieselmann
29
Guillaume Paoli
47
Stimmt unser
Arbeitsbegriff noch?
Karsten Groth
47
Warum wir nicht
arbeiten »müssen«
Sibylle Prins
50
Aus: Lasst euch
nicht gehen
Guillaume Paoli
53
»Alte Texte – neu gelesen«
Hannah Arendt
Vita activa oder
vom tätigen Leben
54
»Wie geht es eigentlich den
Sozialpsychiatrischen Diensten in ... Berlin?«
Ilse Eichenbrenner, Detlev E. Gagel, Dieter Lehmkuhl
56
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
1
Editorial
»Gerecht ist anders ...«
Erst war’s nur ein Arbeitstitel. Dann fanden wir, dass der
Titel schlicht und einfach ein elementares Erleben zahlreicher
Menschen festhält: Es ging schon mal gerechter zu. Falls diese
Behauptung zutrifft, was hat sich verändert und warum? Was
sind die Auswirkungen und wie kann und soll es weitergehen?
Was ist unsere Rolle dabei?
Weil wir überzeugt sind, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, zu den besonders neugierigen, kritischen, gewitzten und
aufgeschlossenen Zeitgenossen/innen gehören, konfrontieren
wir Sie in diesem Heft zwar wieder einmal nicht mit fertigen
Antworten, dafür aber mit einigen Herausforderungen für
Fantasie und Nachdenklichkeit.
Erstens muten wir Ihnen mit den ersten vier Artikeln zu, über
den bundesdeutschen Tellerrand hinaus sozialpolitische Probleme unter globaler (W. Rätz) und europäischer Perspektive
wahrzunehmen. (M. Schenk, D. Petry, J. Gassmann). Diese Zumutung ist eigentlich keine, da die Beiträge hierzu alle leicht
lesbar sind. Sie sind einerseits informativ und andererseits
mit deutlicher Leidenschaftlichkeit geschrieben.
Zweitens kann jeder, der genauer verstehen will, was sozial- und wirtschaftspolitisch in Deutschland vorgeht, und
der nach sorgfältigen Analysen sucht, sein Wissen durch die
dann folgenden Artikel von S. Pöld und H. Bontrup vertiefen.
Dies wird einige Konzentration erfordern, lohnt sich aber
unbedingt.
Drittens haben wir Beiträge aufgenommen, die besonders
nah am Erleben von Klienten und Mitarbeitern bleiben. Für
Praktiker werden unter diesem Gesichtspunkt vielleicht der
Artikel »Psychisch kranke Menschen im Dschungel der Sozialgesetzgebung« von H. Roelfs und U. Gieselmann und das
Interview mit einer Werkstattleiterin unter dem vielsagenden
Titel »Denken Sie sich die Gesichter doch einfach weg« der
beste Einstieg in das Heft sein.
Viertens haben wir einen besonderen Schwerpunkt auf das
Thema »Arbeit« gelegt. Durch die diesbezüglichen Beiträge
aller Autorinnen und Autoren wird mehr als deutlich, dass wir
nicht mehr so tun können, als sei der allgemeine Arbeitsmarkt
noch ein Arbeitsmarkt für alle, auch wenn von einigen Politikern und manchen Sozial- und Rehabilitationsprofis diese
Fiktion aufrechterhalten wird. Die Kluft zwischen Gewinnern
und Verlierern wird immer größer. Verlierer sind die, die das
System nach hinten rauswirft. Welche sinnvollen Ziele könnte
und sollte Rehabilitation psychisch kranker Menschen unter
Anerkennung der derzeitigen Arbeitsrealitäten haben? (Dialog
zwischen Ergotherapeut P. Weber und S. Prins vom Verein
Psychiatrie-Erfahrener Bielefeld) Brauchen wir vielleicht ein
ganz anderes Verständnis von Arbeit? (K. Groth). Und warum
sollen eigentlich alle arbeiten? (S. Prins) Wäre es vielleicht eine
Lösung, die finanzielle Absicherung der Menschen deutlicher
und menschenwürdiger von der Erwerbsarbeit abzukoppeln
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
und Voraussetzungen für ein bedingungsloses Grundeinkommen zu schaffen? (W. Nestle)
Fünftens lassen wir unter der Rubrik »Alte Texte neu gelesen« die Philosophin Hannah Arendt zu Worte kommen
(Textstellen aus»Vita activa«). Arendt weist bereits in den
Sechzigerjahren hellsichtig auf die Widersprüche hin, die
entstehen, wenn eine Gesellschaft versucht, den Menschheitstraum von der Befreiung durch die Knechtschaft der
Arbeit zu verwirklichen und gleichzeitig die Verherrlichung
der Arbeit aufrechtzuerhalten.
Da man bei den vielen ernsthaften Fragen, kritischen Analysen und angedeuteten Zukunftsperspektiven einigermaßen
ins Schwimmen kommen kann, haben wir uns sechstens
erlaubt, einige Glossen und Karikaturen einzufügen. Denn
Humor ist bekanntlich der Schwimmgürtel auf dem Strom
des Lebens.
Und siebtens finden alle, die schon darauf warten, auch am
Ende dieses Heftes wieder den Beitrag zum Thema: »Wie geht
es eigentlich den sozialpsychiatrischen Diensten in ...?
Zum Schluss noch eine uns wichtige Anmerkung: Dass wir
unter dem Titel »Gerecht ist anders ...« keinen Beitrag zur
Lage von psychisch kranken Asylanten/innen, Flüchtlingen
und Migranten/innen veröffentlichen, obgleich sie von sozialen Härten ganz besonders betroffen sind, könnte von unverzeihlicher Einseitigkeit und Ungerechtigkeit ihnen gegenüber
zeugen, wenn es nicht den Redaktionsbeschluss gäbe, eines
der kommenden Hefte dem Thema »Die vergessenen psychisch Kranken« (Arbeitstitel) zu widmen.
Für die Redaktion
Renate Schernus
Peter Weber
Sibylle Prins
2
»Gerecht ist anders ...«
Auswirkungen der
Globalisierung auf
psychisch kranke und
behinderte Menschen
Werner Rätz
Informationsstelle Lateinamerika im Koordinierungskreis von attac Deutschland. Arbeitsschwerpunkte: »soziale Sicherungssysteme«/
»genug für alle/bedingungsloses
Grundeinkommen«/Gentechnologie
Werner Rätz
Neoliberale Globalisierung ersetzt zunehmend gesellschaftliche Regulierungen durch Marktsituationen und Konkurrenzabläufe. Ihre Kritik sollte also die Situation von Menschen
vorrangig in den Blick nehmen, die absehbar an dieser neuen
Herausforderung scheitern müssen. Zumindest was psychisch
kranke und behinderte Menschen betrifft, ist das nicht der
Fall: Sie sind für die globalisierungskritische Bewegung bisher
kein Thema. Gleiches gilt umgekehrt: Die behindertenpolitische Debatte beschäftigt sich höchstens sehr allgemein mit
der Globalisierung. Dieser Artikel kennzeichnet deshalb auch
eher ein Aufgabenfeld zukünftiger Fragestellungen, als dass
er einen erreichten Stand darstellt.
Trotz dieses Befundes gibt es eine sofort ins Auge springende
Überschneidung: Der Diskurs um »Selbstbestimmung« ist
ein zentrales Element beider Themenbereiche. Selbstbestimmung war in der Behindertenpolitik allzu oft noch nur als
Ziel, als Wunschvorstellung formulierbar, musste viel mehr
erkämpft werden, als dass sie gestaltet werden konnte. Sie ist
deshalb klar positiv besetzt. Neoliberale Globalisierung beruft
sich ebenfalls durchgängig auf Selbstbestimmung, die hier
allerdings oft im Gewand der »Eigenverantwortung« daherkommt. Zwar schaffe, so argumentiert Anne Waldschmidt im
Rahmen der Disability Studies, »der Neoliberalismus ... die
Voraussetzung für die Selbstbestimmung auch der behinderten Menschen«. Aber, fährt sie fort: »In der fortgeschrittenen
Moderne darf man nicht nur selbstbestimmt leben; man muss
es sogar ... Autonomie ... ist zur sozialen Verpflichtung geworden.« (Aus Politik und Zeitgeschehen B 08/2003)
Im Neoliberalismus geht es um Möglichkeiten, um Angebote
auf einem Markt, um die die Einzelnen konkurrieren. Durchsetzen muss man sich schon selbst. Im neuen Abkommen über
die Rechte behinderter Menschen sollen dann auch vor allem
wirksame Zugänge zu Beratung, Bildung und Vermittlung
»ermöglicht«, Beschäftigung, selbstständiges Unternehmertum oder Genossenschaften »gefördert« und »Förderprogramme und Anreize« geschaffen werden. Auch psychisch kranke
und behinderte Menschen haben Fähigkeiten und sind in
der Lage, sich durchzusetzen. Aber manche und in manchen
Situationen sind eben auch bedürftige Menschen, die besondere Bedingungen brauchen, deren Möglichkeiten erst gelebt
werden können, wenn ihnen bestimmte Zugänge systematisch
und zuverlässig zur Verfügung stehen. »Barrierefreiheit« ist
nicht nur eine Anforderung an Gebäude und Wege, sondern
auch an Arbeitsmärkte. Davon aber ist ausdrücklich keine
Rede mehr.
Josef Siegers (Hauptgeschäftsführung der Deutschen Arbeitgeberverbände) sagt, es gehe um den »regulären Arbeitsmarkt
und nicht um die ›Perfektionierung institutioneller Sonderregelungen‹«. »Die Beschäftigung Behinderter ist eingebettet
in die üblichen betrieblichen Kosten- und Ertragskalküle. Es
gibt auf Dauer keine Nischen für Behinderte, sondern nur
Arbeitsplätze, deren Arbeitsergebnis höher ist als der Arbeitseinsatz.« Die »Globalisierung der Märkte« böte dafür durch
»Rationalisierung« und »weltweit neue Absatzchancen« gute
Möglichkeiten. Ausschlaggebend dafür, ob Behinderte diese
wahrnehmen könnten, sei »die Qualifikation des einzelnen
Arbeitnehmers«. (ZB 1/2000)
Die von Siegers angesprochenen konkurrenzfähigen neuen
Beschäftigungsmöglichkeiten ergeben sich etwa in der Landwirtschaft, weil »sich Werkstätten durch die zunehmende
Globalisierung einem verstärkten Preisdruck ausgesetzt (sahen), sodass die Suche nach Alternativen zur industriellen
Fertigung einsetzte«. So heißt es in einer Projektbeschreibung der Forschungsgemeinschaft für biologischen Landbau.
Dort wird auch die Erklärung für die Konkurrenzfähigkeit
der Behindertenwerkstätten geliefert: »Angesichts des agrarstrukturellen Wandels gaben immer mehr Betriebe ihre Produktionsgebäude und -flächen auf.« Wirtschaftlich nicht mehr
einkömmlich leistbare Tätigkeiten, Lohnkonkurrenz in den
internationalen Exportmärkten, die Mobilisierung spezieller
Fähigkeiten einzelner behinderter Menschen, das sind die gebotenen Beschäftigungsperspektiven. Wer da nichts zu bieten
hat, hat ein Problem.
Die Werkstätten für Behinderte können etwas davon erzählen.
Bei ihnen gibt es eine verstärkte Platznachfrage von Personen,
deren bisherige (Über-)Lebenszusammenhänge und Nischen
verloren gehen. Ulrich Hiltl von den Werkstätten in Schwandorf nennt vier Gruppen: Menschen mit psychischen Behinderungen; Menschen mit einer Behinderung aus anderen
Kulturkreisen; Autisten; Menschen mit Behinderungen aus
Unfällen oder Krankheiten wie Schädel-Hirn-Verletzungen,
Schlaganfällen, Drogenmissbrauch. Der Zusammenhang mit
der Globalisierung ist offensichtlich. Diese führt zu vermehrtem Stress im Arbeitsleben und in der Freizeit; Krankheiten,
Unfälle, »Aussteigen« durch Drogen oder psychische Störungen sind eine notwendige Folge. Durch die Verschlechterung
der Lebensbedingungen weltweit suchen immer mehr Menschen auch hierzulande eine Zukunft für sich, oft unter illegalen Bedingungen; für diese gilt das Gesagte verstärkt. Und
die Vermarktlichung des gesamten Sozialbereichs, speziell des
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Rätz: Auswirkungen der Globalisierung auf psychisch kranke und behinderte Menschen
Gesundheitswesens, vernichtet dort Betreuungsmöglichkeiten
und Lebensorte, sodass die Herausgefallenen nach Alternativen schauen (müssen). Das wird noch deutlicher, wenn Hiltl
darauf hinweist, dass die Nachfragenden immer jünger werden
und immer öfter nicht aus den Förderschulen kommen.
Behinderte waren auf dem Arbeitsmarkt immer schon Billigarbeitskräfte. Viele ihrer Arbeitsplätze fielen weg, weil sie
durch Maschinen ersetzt wurden. Inzwischen aber ist ein
weltweiter Konkurrenzkampf darum entstanden, menschliche Arbeit noch billiger anzubieten als diese Maschinenarbeit. Migration und die damit verbundene Rechtlosigkeit,
Ausgliedern ganzer Unternehmensteile zu schlechtesten Bedingungen, Wegfall öffentlicher Unterstützung und spezieller
Förderprogramme tragen dazu bei. Ausschlaggebend aber
ist die Tatsache, dass Arbeitskraft inzwischen weltweit um
die niedrigsten Löhne konkurriert. Hiltl nennt Zahlen: Die
Lohnstunde kostet in Moskau 0,50 US-$, im Iran 1,20, im
Baltikum 2,00, in der Türkei 1,50, in Indien 0,70. Hinzuzufügen wären die Insassen chinesischer Arbeitslager, die praktisch
umsonst arbeiten. Das Benchmarking der Firmen, der genaue
Vergleich der Kosten und des Ertrags eines Arbeitsplatzes in
jeder Beziehung, innerhalb des Unternehmens, im Vergleich
zur direkten Konkurrenz, im lokalen Lohngefüge und auf
dem Weltmarkt ist selbstverständlicher Teil globalisierter
Unternehmenspraxis.
Behinderte und kranke Menschen bekommen darin nur eine
Chance, wenn sie Kostenvorteile bieten. Oder wenn sie Glück
haben, sozusagen in der Lotterie gewinnen. Denn die gehört
selbstverständlich auch zum Akzeptanzmanagement dieses
Systems. Seine Gnadenlosigkeit könnte sonst zu offensichtlich werden. So kümmert sich die Weltbank zwar nicht um
die systematische Verbesserung der Lebensumstände der
Bevölkerung in den arm gemachten Ländern des Südens,
sondern vielmehr darum, dass diese ihren Schuldendienst
leisten können. Aber gelegentlich, als Projekt, werden auch
mal Arbeitsplätze für Behinderte geschaffen. So geschehen
etwa vor drei Jahren, als sich weltweit dreitausend Projekte
in einem Wettbewerb anmeldeten, bei dem eine Arbeitsstätte
für 250 behinderte Menschen zu gewinnen war. Das Rennen
machte eine Gruppe in Addis Abeba, Äthiopien, die öffentliche Toiletten bauen und betreiben will – die Stadtverwaltung
hatte sich aus diesem Geschäft zurückgezogen. Hier werden
Behindertengruppen nicht nur gegeneinander ausgespielt,
sondern die »Erfolgreichen« werden auch noch benutzt, um
den Abbau der ohnehin schon desolaten öffentlichen Versorgung zu legitimieren.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die das Projekt
konzipiert hat, erwähnt es nicht, aber es ist anzunehmen,
dass viele der äthiopischen Betroffenen ihre Behinderung
im Krieg erworben haben, der im Rahmen der neoliberalen
Wolfsgesellschaft so viele Länder verwüstet. In einem anderen Fall ist bekannt, dass die Beeinträchtigung, an der die
Menschen leiden, eine unmittelbare Auswirkung moderner
Wirtschaftspraxis ist. In den indischen Baumwollanbaure-
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
gionen wurde in den letzten Jahren verstärkt gentechnisch
veränderte Baumwolle angebaut. Saatgut und Spritzmittel
sind teuer, die Erträge waren schlecht, die Bauern verschuldeten sich. Die Gläubiger nahmen alles weg, das Geld, das
Vieh, die Erträge anderer Pflanzen, alles, was sich zu Geld
machen lässt. Die Sorge um die Familie, die Verzweiflung
angesichts der Ausweglosigkeit, letztlich auch die Schande,
öffentlich bloßgestellt zu sein, wenn sichtbar alles Geldwerte
weg ist (in einem dokumentierten Fall wurde die Haustür
abmontiert und verkauft), führen zur Selbstaufgabe und zum
Selbstmord vieler Bauern, obwohl Selbstmorde bisher in der
Region selten und kein Teil der Kultur waren.
Wäre es da bloßer Zynismus, die aktuelle Debatte um Sterbehilfe und PatientInnenverfügung (»Ich will so nicht mehr
leben!«) als Teil der Bearbeitung der psychischen und tatsächlichen Folgen des Neoliberalismus zu verstehen?
Anschrift des Verfassers
Werner Rätz
Jagdweg 49
53115 Bonn
[email protected]
3
4
»Gerecht ist anders ...«
Zeit der Erschöpfung
Sozialpolitische
Herausforderungen
in Österreich
Martin Schenk
Wir stören. Das haben wir alle gemeinsam, sagt die Vertreterin
einer Selbsthilfegruppe von Menschen mit Psychiatrieerfahrung: Wir stören einfach. Weil wir haben ja eine Störung.
Die Krankenstandstage wegen psychischer Erkrankungen sind
in Österreich um über 70 % seit 1990 gestiegen. Von allen in
Österreich verschriebenen Psychopharmaka-Medikamenten
machen Antidepressiva mittlerweile fast die Hälfte aus. Die
Kosten für Psychopharmaka haben sich bei den Krankenkassen seit 1995 verdoppelt. Von denjenigen, die Antidepressiva
beziehen, gehören Erwerbslose zur größten Gruppe.
Das Krankheitsrisiko von Armutsbetroffenen insgesamt ist
laut österreichischem Sozialbericht doppelt so hoch wie das
der Durchschnittsbevölkerung. Und Menschen in psychischen Krisen haben ein hohes Risiko armutsbedingt in die
Krankheit zu rutschen oder krankheitsbedingt in die Armut.
Menschen mit geringem sozioökonomischen Status weisen
in Österreich signifikant höhere Krankenhausaufenthalte aufgrund affektiver Störungen auf als Menschen mit höherem.
Ähnliche Unterschiede lassen sich auch für Suchterkrankungen, für Schizophrenie und für Belastungsstörungen beobachten. Überproportional betroffen sind aber auch Menschen in
Sozialhilfe und Frauen in prekären Arbeitsverhältnissen. Dass
Krankheit für Tausende zu sozialer Verelendung führt, ist im
siebtreichsten Land der Erde inakzeptabel.
Was schwächt: Sozioökonomische
Dauerbelastung geht unter die Haut
Menschen, die psychisch erkranken, haben bei sinkenden
Chancen am Arbeitsmarkt, nicht-existenzsichernden Sozialleistungen und häufiger Stigmatisierung ein hohes Risiko, in
die Armut zu rutschen. Aber auch der umgekehrte Weg von
der Armut in eine schwere psychische Krise ist in der Public
Health Forschung »gut« belegt. Chronische sozioökonomische
Belastung geht unter die Haut.
Denn Leben am Limit macht Stress. An sich ist Stress nichts
Schlechtes, er gehört sogar zum täglichen Leben. Stress ist
nichts weiter als der Versuch des Körpers, sich in anstrengenden Zeiten an die Situation anzupassen. Wenn aber Entspannung über einen längeren Zeitraum hinweg ausbleibt,
wird es gesundheitlich belastend.
Dazu kommt die Scham, die eigene Armutssituation zu zeigen. Wenn das eigene Ansehen bedroht ist, fühlen wir Scham.
Scham ist bedrohtes Ansehen. Von finanzieller Not Bedrohte
versuchen so lange wie möglich die Normalität aufrechtzuerhalten, das Gesicht vor den anderen zu wahren. Das braucht
zusätzlich zu den schwierigen Lebensumständen nochmals
viel Energie.
Die Dauerüberanspruchung der eigenen Ressourcen macht
Menschen verletzlicher und schwächt die Widerstandsfähigkeit. So schwinden die persönlichen Ressourcen innen wie
auch die sozialen von außen. Die Vulnerabilität, die Verwundbarkeit wird höher. Dazu kommt, dass auch das Nichteintreten erwarteter Ereignisse wie erhoffte Entlastung oder
zugesagter Job massiv belastend wirkt und Stress chronifiziert.
Die sogenannte Managerkrankheit mit Bluthochdruck und
Infarktrisiko tritt bei Armutsbetroffenen dreimal so häufig auf
wie bei den Managern selbst. Aber nicht weil die Manager
weniger Stress haben, sondern weil sie die Freiheit haben,
den Stress zu unterbrechen: mit einem schönen Abendessen
oder einer Runde Golf. Sie können sich Erholung wählen,
was die anderen nicht können. Den Unterscheid macht die
Freiheit.
Was stärkt: Freundschaft,
Anerkennung, Selbstwirksamkeit
Handlungsspielräume zu erweitern und Verwirklichungschancen zu erhöhen, stärkt Menschen, die in Armut leben. Es
sind besonders drei Lebensmittel, die stärken: Freundschaft
hilft. Anerkennung hilft. Selbstwirksamkeit hilft. Das Gegenteil macht verwundbar: Isolation schwächt, Beschämung
schwächt, Ohnmacht schwächt. Wer sozial Benachteiligte zu
Sündenböcken macht, wer Leute am Sozialamt bloßstellt,
wer Zwangsinstrumente gegen Arbeitssuchende einsetzt,
wer mit erobernder Fürsorge Hilfesuchende entmündigt, der
vergiftet diese Lebensmittel: Freundschaft bedeutet soziale
Netze. Anerkennung heißt Respekt. Selbstwirksamkeit heißt
Lebensumstände verändern können.
Je ungleicher aber Gesellschaften sind, desto eingeschränkter
sind diese Lebensmittel. Es gibt weniger »Inklusion«, das heißt
häufiger das Gefühl ausgeschlossen zu sein. Es gibt weniger
»Partizipation«, also häufiger das Gefühl, nicht eingreifen zu
können. Es gibt weniger »Reziprozität«, also häufiger das Gefühl, sich nicht auf Gegenseitigkeit verlassen zu können.
- Mit zunehmendem sozialen Abstieg schwinden die sozialen
Netze, Freunde verabschieden sich, soziale Unterstützung
wird geringer. Alle Studien weisen darauf hin, dass Menschen am Rand der Gesellschaft sich tendenziell aus allen
öffentlichen und politischen Zusammenhängen zurückziehen. Armut isoliert. 48 Prozent der Armen in Österreich
verzichten auf Einladungen zu sich nach Hause, aber nur
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Schenk: Zeit der Erschöpfung
Martin Schenk
Sozialexperte der Diakonie Österreich
und Mitbegründer der Österreichischen
Armutskonferenz
-
-
7 Prozent der nichtarmen Bevölkerung. Nur 27 Prozent
von Armut Betroffener sind Mitglied in irgendwelchen Vereinen, aber 44 Prozent der Restbevölkerung, sagt uns der
Sozialbericht des Sozialministeriums.
Ebenfalls schwächend auf die Widerstandsfähigkeit wirkt
sich die Fremdbestimmung über die eigene Lebenssituation
aus. Kann man selbst noch irgendetwas ausrichten, hat
Handeln einen Sinn? Die Erfahrung schwindender Selbstwirksamkeit des eigenen Tuns macht verletzlich. Das sind
angesammelte Entmutigungserfahrungen.
Mit niedrigem sozialem Status geht ein Mangel an Anerkennung und Belohnung einher. Das gemeinsame Auftreten von hoher Verausgabung und niedriger Belohnung
macht krank. Der belastende Alltag am finanziellen Limit
bringt keine »Belohnungen« wie besseres Einkommen, Anerkennung, Unterstützung oder sozialen Aufstieg. Eher im
Gegenteil, der aktuelle Status droht stets verlustig zu gehen. Eine solche »Gratifikationskrise« wirkt besonders bei
Menschen, die arm trotz Erwerbsarbeit sind, die in den
Randbelegschaften und in prekären Billigjobs arbeiten.
Entlasten
Österreich gehört in Europa zu den gut ausgebauten Sozialstaaten. Trotzdem gibt es eine Reihe von neuen Problemen.
Prekäre Jobs, Jugendarbeitslosigkeit, mangelnde soziale Aufstiegschancen. Und: Über 100 000 Menschen sind in Österreich nicht krankenversichert, das sind fast zwei Prozent
der Wohnbevölkerung. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie
geringes Einkommen haben. Zwei Drittel befanden sich zum
ersten Mal in dieser Situation, immerhin ein Drittel war schon
öfter davon betroffen. Zum Beispiel: Herr Gubitzer hat einen
depressiven Schub. In solchen Phasen psychischer Krise versagen seine Fähigkeiten zur Selbstorganisation. Er versäumt
den Termin am Arbeitsmarktservice und fällt aus der Krankenversicherung.
Im sozialpolitischen Feld gibt es eine ganze Reihe von Benachteiligungen, denen Betroffene ausgesetzt sind. Viele
Menschen mit psychischen Erkrankungen sind zu gesund
für die Invaliditätspension, aber zu krank, um Arbeit zu
bekommen. Niederschwellige Einrichtungen mit aufsuchenden psychosozialen Diensten um die Ecke finden sich
kaum in bedürfnisgerechter Form. Und es gibt viel weniger Rehabilitationsmaßnahmen der Krankenversicherung
bei psychischen Erkrankungen als bei physischen Leiden.
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Es fehlt ein Ausbau des sogenannten zweiten bzw. dritten
Arbeitsmarktes für Menschen, die das Tempo am »ersten«
Arbeitsmarkt nicht halten können. Es gilt ja immer das Alles-oder-Nichts-Gesetz: Voll arbeiten oder gar nicht. Leute
mit psychischen Krisen beispielsweise können ganz einfach
nicht voll erwerbstätig sein, würden aber trotzdem gerne 15
Stunden arbeiten. Psychosoziale Dienste um die Ecke gibt
es zu wenig. Nach stationärem Aufenthalt werden die Betroffenen allzu oft in die Obdachlosigkeit und Einsamkeit
entlassen. Da könnte der Ausbau der Delogierungsprävention
bei längerem Krankenhausaufenthalt helfen. Oder Tageseinrichtungen ohne Barrieren, nicht beschämend, man kann
kommen aber auch wieder gehen. Wohnhäuser, die jederzeit
und unbürokratisch aufgesucht werden können. Ein mobiler
Krisendienst, der wie ein Notarzt rund um die Uhr und auch
zu Feiertagen Menschen in Krisen zu Hause aufsucht. All das
würde entlasten. Besonders ist es der ländliche Raum, der da
nicht vergessen werden darf.
Leben am Limit macht verletzlich. Jetzt ist die Zeit der Erschöpfung. Stress, Stress, Stress. Duck, Druck, Druck. Erfolg,
Erfolg, Erfolg. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Jeder ist seines Glückes
Schmied.
Du kannst gewinnen, wenn du nur willst! Immer lächeln,
das macht dich erfolgreich. Die andere Seite: Wenn du es
nicht schaffst, bist du selbst schuld. Wenn du keinen Job
hast, leistest du nichts. Wenn du einen Job hast, dann musst
du mehr leisten, damit du ihn noch morgen hast. Wenn du
nicht mehr mitkommst, bist du ein Versager. Wenn du nicht
funktionierst, dann störst du.
Ich störe einfach, sagt die Erschöpfung. Ich kann nicht mehr.
Wir haben eine Störung.
Anschrift des Verfassers
Martin Schenk
Trautsongasse 8
A-1080 Wien
www.diakonie.at
www.armutskonferenz.at
5
6
»Gerecht ist anders ...«
Beseelung und
Verwaltung1
Die niederländische Sozialund Rechtspolitik und ihre
Auswirkung auf psychisch kranke
Bürger und ihre Helfer
Detlef Petry
Kurzer Rückblick
Seit 30 Jahren arbeite ich in Maastricht (Niederlande) als
Psychiater in der Rehabilitation ›chronisch psychiatrischer
Patienten‹ und ihrer Familien. Dem Thema dieses Beitrags
möchte ich mich aus dem Blickwinkel meiner eigenen Erfahrung mit diesen ›Schwächsten‹ innerhalb der Psychiatrie
nähern.
Als ich hier im Jahr 1978 begann, bestand keinerlei Interesse an dieser Gruppe von Patienten und man war erstaunt,
dass ich mich als Psychiater mit ›ausbehandelten Patienten‹
beschäftigen wollte. Es gab damals noch kaum Gesetze und
Regeln innerhalb der Psychiatrie.
Alles gründete sich auf das Vormundschaftsgesetz aus dem
Jahr 1830 und das Psychiatriegesetz aus dem Jahr 1884; eine
sehr repressive Ausgangslage.
Weil sich niemand für unsere Arbeit interessierte, hatten
meine Kollegen und ich in den ersten zehn Jahren eigentlich völlige Freiheit und Zeit, unseren Weg zu suchen, um
für diese Menschen im Sinne der Rehabilitation eine völlig
andere Richtung einzuschlagen: Ihre Ehre als gleichwertige
Menschen und Bürger wiederherzustellen.
Mitte der 80er-Jahre begann dann allmählich das Umschlagen
von der Bürgerstruktur zur Managementstruktur. Es wurden
neue organisatorische Ausbildungen eingeführt, mit dem Ziel,
die Psychiatrie auf einer ›wissenschaftlichen Grundlage‹ optimal zu organisieren.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus Ende der
80-er-Jahre schien es definitiv bewiesen, dass der ›Kapitalismus‹ gesiegt hatte und dass einer ›neo-liberalen‹ marktwirtschaflichen Reorganisation der Psychiatrie nichts mehr im
Wege stand.
Alles und jeder wurde gesehen als Teil eines betrieblichen
Produktionsprozesses, der so effizient wie möglich in die Praxis umgesetzt werden musste. Die Marktwirtschaft mit ihrem
Kern, der Konkurrenz, wurde Leitmotiv. Zunächst begann
die Reorganisation innerhalb der Einrichtungen selbst und
eine neue technokratische Sprache infiltrierte die normale
Menschensprache. Die Manager nahmen das Heft in die
Hand. Ihr Anteil in den Organisationen nahm sprunghaft
zu. Er beträgt heute in den Organisationen in Kanada und
den USA 13,5 % und in Europa sind die Niederlande mit 6 %
inzwischen Spitzenreiter.
Außerdem fusionierten die Einrichtungen zu größeren Organisationen (›Konzernen‹) und schmückten sich mit neuen
Namen, die nichts mit der Psychiatrie zu tun hatten.
In den 90er-Jahren beschleunigte sich dieser Prozess der
›Überwölbung‹ (Fritz Bremer) und inzwischen sind wir auch
innerhalb der Psychiatrie in einer kapitalistischen Marktwirtschaft gelandet.
Die Einführung sozial- und rechtspolitischer
Gesetze in den Niederlanden
Nach dem 2. Weltkrieg wurden in den Niederlanden schrittweise neue Gesetze vom Parlament beschlossen und eingeführt, die die Lage psychisch kranker Menschen allmählich
verbesserten.
Ab 1967 bekamen z. B. alle Niederländer mit einer Erkrankung bei nicht versicherbarem Risiko (chronische Krankheiten) eine monatliche Unterstützung von mehr als 1000
Gulden. (Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten)
Erst ab 1983 mussten die Patienten für ihren Verbleib und
ihre Behandlung einen eigenen Beitrag, abhängig vom Einkommen, bezahlen. Übrig blieb dann für sie ein Taschen- und
Kleidergeld von ca. 300 Gulden. Unsere Patienten wurden
dadurch natürlich schlagartig weniger reich oder besser gesagt
ärmer – ein erstes Zeichen an der Wand?
Ab jetzt musste jeder Cent umgedreht werden für den Bedarf des täglichen Lebens: Zigaretten, Getränke, Kleidung,
usw.
Einen großen Schritt vorwärts bedeutete das Gesetz für die
Treuhänder, das 1981 verabschiedet wurde (Onderbewindstelling). Dadurch waren Entmündigungen nicht länger notwendig. Es gab sie nur noch in wenigen Ausnahmefällen.
Heute jedoch haben zu viele Patienten einen Treuhänder, weil
sie in den letzten 20 Jahren von einer enormen Gesetzes- und
Regelflut überspült wurden. Viele Patienten konnten das alles
nicht mehr selbst regeln und drohten, wenn sich kein Mensch
um ihre Belange kümmerte, darin zu ertrinken.
Das Jahrzehnt von 1990 bis 2000 war insbesondere die Zeit,
in der die Rechte der Patienten gesetzlich besser geregelt
wurden. (1) Zum Beispiel wurden Zwangsbehandlungen
abgeschafft. Es gab nur noch freiwillige Behandlung oder
Behandlung in einer Notsituation. Der Gesetzgeber ist momentan damit beschäftigt zu prüfen, ob in solchen Fällen nicht
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Petry: Beseelung und Verwaltung
wieder der Psychiater eine Behandlung beginnen darf, nach
dem sogenannten ›Best-will-Prinzip‹. Auch wird über ambulante Zwangsbehandlung für Patienten, die in der Gemeinde
leben, aber z. B. ihre Medikation verweigern, nachgedacht.
Von den inhaltlichen Zielen der Soteriabewegung sind wir in
den Niederlanden noch weit entfernt. (2)
Flankiert durch überwiegend liberale Gesetze zum Beschwerderecht, zu Behandlungsverträgen und zur Mitsprache waren
unsere Beziehungen zu Patienten inzwischen geprägt durch
Respekt, der Anerkennung von Gleichwertigkeit und einen
machtfreien Dialog. Immer erst verhandeln, dann erst, wenn
nötig, behandeln.
Inzwischen ist der durch die Regelung zum Mitspracherecht
(medezeggenschap) 1996 eingeführte »Klientenrat« allerdings
hauptsächlich nur noch mit den Papieren und Akten der neuen Regelflut beschäftigt. Für ein echtes Mitspracherecht der
Patienten hat er keine Zeit mehr.
Die Gesetze, die zwischen 1990 und 2000 eingeführt wurden,
gaben unseren Patienten eine neue Rechtspostion. Sie wurden
mehr und mehr zu gleichberechtigten Bürgern! Dies prägte
unsere Arbeit mit ihnen. Das 1995 eingeführte »persönliche
Budget« allerdings, das auch in diese Richtung wirken sollte,
kommt in der Psychiatrie nur langsam in Gang, insbesondere bei den schwächeren Patienten, die damit oftmals nicht
selbstständig umgehen können und Hilfe nötig haben. Diese
Hilfe muss dann bei anderen Personen nachgefragt werden.
Außerdem ist das Ganze mit großem bürokratischen Aufwand
verbunden. Bis jetzt profitieren hiervon nur sehr selbstständige
und mündige Patienten.
In der Geistig-Behindertenversorgung und bei Demenzkranken ist dieses persönliche Budget schon weiter verbreitet,
da bei ihnen meistens die Familien als Sachwalter auftreten
können.
Im Rahmen der weitergehenden Marktwirtschaft wurde 2005
auch in der Psychiatrie eine zentrale Indikationsstellung (Centrale Indicatie Zorg) von der Politik angeordnet. Jeder niederländische Staatsbürger muss erst eine Indikation haben,
bevor er Hilfe bekommt. Das gilt nur für Langzeitkranke
und nicht für Notfälle. Hierbei wird alles mit einem enormen
bürokratischen Wasserkopf zentral geregelt und elektronisch
festgelegt.
Ab 2006 ist jeder Niederländer per Gesetz (Zorgverzekeringswet) verpflichtet, sich für alle Krankheiten in einer Basisversicherung zu versichern. Jeder Bürger muss für diese Basisversicherung jährlich einen gleichen Basistarif von ca. 1100 Euro
bezahlen. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit der Zuversicherung (›Privat‹) und die schwächeren Bürger bekommen
Zuschläge, wenn ihr Einkommen zu niedrig ist.
Die Ausführung dieses Gesetzes liegt nicht mehr in den Händen der klassischen Krankenkassen, sondern wurde an die
Versicherungen (Zorgkantoren) delegiert. Hierin befinden
sich die fusionierten Krankenkassen. Diese Kantore sitzen im
Zentrum der Macht: sie bekommen das Geld und verteilen
es dann!
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Inzwischen fusionieren diese Versicherungen bereits zu riesigen Versicherungskonzernen und residieren in postmodernen
Versicherungspalästen.
Ab jetzt muss erst ›produziert‹ werden und nach Lage der
Produktion bekommen die Einrichtungen ihr Geld.
Am vorläufigen Ende der Gesetzesflut steht das Gesetz zur
gemeindenahen Versorgung (Wet Maatschappelijke Opvang)
von 2007. Die bisher zentral geregelte Versorgung wird damit an die Gemeinden delegiert. Die Gemeinde wird verantwortlich für die gesellschaftliche Unterstützung ihrer Bürger.
Die Gemeinden müssen dafür sorgen, dass alle ihre Bürger
gesellschaflich integriert werden und am Gemeindeleben teilnehmen können. An und für sich ist dies inhaltlich natürlich
eine gute Entwicklung, aber den meisten Gemeinden fehlt
momentan noch das Know-how, um alle damit verbundenen Aufgaben zu bewältigen.Vor allem auf dem Gebiet der
Psychiatrie muss noch viel entwickelt werden. Für die Psychiatrie bedeutet das aber auch, dass sie ihre isolierte Stellung
innerhalb einer Gemeinde verlassen muss.
Weil das ›Know-how‹ in den Gemeinden sehr unterschiedlich
ist, ist es damit noch dem Zufall überlassen, ob man in der
Gemeinde, in der man als Bürger gerade wohnt, zu seinem
Recht kommt. Das Geld für all diese Aufgaben bekommen
die Gemeinden nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel
von der Regierung. Weil aber nicht genug Geld da ist, entsteht
auch auf Gemeindeniveau die Konkurrenz ums Geld. (3)
Die Umsetzung der neuen gesetzlichen
Regelungen in die Praxis
Bevor ich auf die Umsetzung der neu eingeführten Gesetze
eingehen und zeigen werde, welche Folgen sie für psychisch
kranke Bürger und ihre professionellen Helfer haben, möchte ich noch kurz den momentanen Stand unserer Rehabilitationsbemühungen in Maastricht nach 30 Jahren Arbeit
wiedergeben:
Inzwischen wohnen einige hundert Patienten aus unseren
früheren Einrichtungen in einer eigenen Wohnung oder in beschützenden Wohneinrichtungen in der Stadt Maastricht und
den umliegenden Dörfern. Sie werden bereits seit 20 Jahre
in ihrem häuslichen Milieu von uns in allen Lebenslagen begleitet (›Case-manager‹). Nur eine kleine Restgruppe (›harter
Kern‹) wohnt noch in schönen Häusern am Rande der Klinik.
Das sind Menschen, die durch die Psychiatrie über Jahrzehnte
hinweg am meisten vernachlässigt worden sind.
Bei ihnen steht das alltägliche Leben völlig im Mittelpunkt
und auch sie wurden wieder mehr zu Mitbürgern. Ihre professionellen Begleiter nennen wir inzwischen ›Lebensbegleiter‹,
um damit die Zeitperspektive und den Inhalt ihrer Tätigkeit
ganz deutlich anzugeben. (4)
Mittlerweile arbeiten wir innerhalb der Stadt Maastricht ganz
im Sinne der gemeindenahen Psychiatrie. In den vier Stadtteilen der Stadt (Sozialräumen) haben wir jeweils ein Zentrum
und von hier aus versorgt ein ambulantes psychiatrisches
Team diesen Teil der Stadt – ganz nahe an den Bürgern.
7
8
»Gerecht ist anders«
Seit 1990 gibt es in unserer Provinz Limdurg eine Organisation mit dem Namen Horizon, die mit 170 freiwilligen Helfern
(Bürgerhelfer) ebenso viele Patienten als Freunde (›maatjes‹)
begleitet. (5) Wir haben in Maastricht also inzwischen eine
große Zahl professioneller und freiwilliger Helfer, die schon
viele Jahre ihre Arbeit mit Leib und Seele tun: mit Beseelung.
In Folge des sekundären Prozesses der ›Überwölbung‹ dieses
durch professionelle und freiwillige Helfer gestalteten primären Prozesses durch die Marktwirtschaft entsteht immer
mehr Kritik an solchen Organisationsmodellen und die Frage nach ihrer Rechtfertigung wird mehr und mehr gestellt.
Der ›Großrechner‹, wie es Klaus Nouvertné schon vor Jahren
ankündigte, hat uns inzwischen voll im Griff. In unsererm digitale Zeitalter wird der Computer zum alles beherrschenden
Apparat des täglichen Lebens.
Durch die Zusammenarbeit zwischen dem Staat, der Computer-Branche und den Versicherungen (Zorgkantoren) entsteht
ein Machtdreieck: Eine Form von »Staatstherapie«?
Für die psychiatrischen Probleme hat man eine Art Katalog
(DSM IV) zur Hand genommen.
Die Probleme unserer Patienten werden mit den in diesem
Katalog beschriebenen Kategorien verglichen und auch entsprechend so klassifiziert. Hieran wird ein speziell für diese
Problemklassifikation entwickeltes Protokoll für ihre Behandlung gekoppelt. Derartige universelle Behandlungsprotokolle werden als Lösung für die angemessene Behandlung
der Probleme psychisch kranker Menschen angesehen. Der
damit verbundene Prozess negiert den sehr persönlichen Gesichtspunkt des Erlebens und Erfahrens der Patienten. Diese
technokratische Entwicklung geht an dem eigentliche Kern
psychiatrischer Arbeit vorbei: Dem zwischenmenschlichen
Kontakt und Dialog. Mitarbeiter werden zu ›Technokraten‹
und sind damit Ausführende dieser uniformierten, aber auch
inhaltlich steuernden Kontroll- und Verwaltungsinstrumente.
Zur Durchführung dieser Maßnahmen ist das ›Elektronische-Patienten-Dossier‹ (EPD) das Herzstück in diesem
Prozess geworden. Auf der einen Seite bietet es die Möglichkeit, unendlich viele Informationen über die Patienten zu
speichern – allerdings in technokratischer Sprache. Auf der
anderen Seite besteht die große Gefahr, dass sehr persönliche Daten im Sinne des Datenschutzes nicht ausreichend
geschützt sind.
Im schrillen Kontrast hierzu haben wir in unserer Arbeit gerade angefangen, zusammen mit den Patienten und ihren
Familien ein ›Lebensbuch‹ zu schreiben, worin nur Dinge
in verständlicher Sprache und nur in gemeinsamer Übereinstimmung hineingeschrieben werden: Ein trialogisches
Lebensbuch.
Ein weiteres Kernstück der elektronischen Akte ist die ›Diagnose-Behandlungs-Kombination‹: Diese besteht zunächst aus
einer reinen ›Produktbeschreibung‹ (Diagnose). Danach wird
der Behandlungsprozess beschrieben. Die Kosten werden
dann auf der Grundlage der Behandlungsaktivitäten berechnet: Das Geld steuert den Prozess.
Nach vielen Jahren der Arbeit mit unseren Patienten haben
wir gerade die Entstigmatisierung von dem Stempel einer
Diagnose erreicht. Und jetzt müssen wir mit einer Diagnose
aus dem DSM IV-Katalog stigmatisieren: Ich persönlich empfinde dies als ›Verrat‹ an meinen Patienten. Meiner Meinung
nach ist der DSM-Katalog eine institutionalisierte Form von
Patientenhass.
Wir müssen täglich unsere Leistung in die elektronische Patienten-Akte eingeben (Agenda), mit einer Kodenummer,
die wiederum an einen Geldbetrag gekoppelt ist. Und diese
Kodenummern werden von der Versicherung (Zorgkantoor)
sehr genau überprüft und erst dann wird bezahlt.
Außerdem werden unerwartete Dossierkontrollen von der
Versicherung durchgeführt und wenn irgendetwas nicht auf
Punkt und Komma stimmt, droht unserer Institution eine
Kürzung des Budgets.
Aus dem Blickwinkel der Versicherung gesehen sind die Patienten in erster Linie eigentlich keine Patienten mehr, sondern Versicherte. Die Devise lautet: »Die Sorge um Patienten
kostet uns Geld und die Kosten müssen niedrig bleiben.« Es
ist traurig, aber wahr: Ihr Leitmotiv ist ›Sorge muss Schadensbegrenzung sein‹. (6)
Zur Verteidigung der Leitung und des Managements unserer Einrichtung muss ich sagen, dass auch sie unter dem
Druck dieser Veränderungen stehen: Wenn wir die Leistung
nicht erreichen, gehen wir bankrott. Und hinzufügen möchte ich, dass unsere Klinikleitung und das Management sich
sehr bewusst sind, welcher enorme Druck dadurch auf uns
professionelle Helfer ausgeübt wird. Auch sie teilen unser
ethisch-moralisches Dilemma. (7)
Aber wir müssen täglich damit weiterleben: auf der einen
Seite eine gute Versorgung bieten, so wie wir das schon jahrelang machen und gewöhnt sind, und auf der anderen Seite
uns dem täglichen Leistungszwang beugen! Ein schwieriger
Spagat, sowohl ethisch, menschlich als auch hinsichtlich des
Verantwortungsgefühls für unsere gesamte Institution.
Durch intensive tägliche Übung beherrschen wir die Technik
des Großrechners schon besser, aber durch diese Aktivitäten am Computer verlieren wir täglich kostbare Stunden am
Patienten.
Die Antwort der Institutionen, die ja jetzt auf dem Psychiatriemarkt als ›Anbieter‹ im Konkurrenzkampf um das Geld
des Zorgkantores mit dingen müssen, ist das ›Prozessmanagement‹.
Je effektiver und billiger sie ihr ›Produkt‹ beim ›Unternehmer‹ Versicherung anbieten, umso eher nehmen sie einen der
vorderen Plätze in der Reihe der Anbieter ein, wenn es um
die Verteilung des Geldes geht. Das Wichtigste ist, dass man
als Institution ein staatlich geprüftes Zertifikat (›Gütesiegel‹)
für sein ›Produkt‹ hat. Alle Teile eines Produktes unterliegen
in bestimmten zeitlichen Abständen intern einer zirkulären
Kontrolle, um sicherzugehen, dass das ›Produkt‹ qualitativ gut
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Petry: Beseelung und Verwaltung
ist und dass bei niedrigen ›Produktionskosten‹ die geforderte
›Produktion‹ auch erreicht wird. Hierbei ist der Druck auf die
professionellen Helfer am deutlichsten spürbar.
Dazu wurden für die verschiedenen Helfer die sogenannten
Normzeiten eingeführt; Zeiten in denen die Dauer des Kontakts mit den Patienten exakt vorschrieben wird. So beträgt
die Normzeit für einen Psychiater, der ja am teuersten ist, nur
noch zehn Minuten pro Patientenkontakt. Wenn eine längere
Kontaktzeit notwendig ist, muss der Psychiater die Patienten ›an billigere Helfer (Krankenpfleger und Sozialarbeiter),
weiterreichen‹. Diese dürfen dann einen Kontakt von 30 bis
45 Minuten wahrnehmen.
Der Psychiater wird so wieder zu einem ›klassischen Spezialisten‹, der eigentlich nur noch die Diagnose festzustellen
und die darauf folgende Behandlung, meistens Medikamente,
festzulegen hat. Somit wird in unserem multiprofessionellen
Team die Hierarchie, die wir schon lange abgeschafft und
vergessen hatten, durch die Hintertür wieder eingeführt.
In unserer langjährigen gemeinsamen Team-Praxis behandelten wir uns untereinander mit viel Respekt für die Professionalität des anderen, aber auch für seine menschlichen
Qualitäten. Dieses Teamgefüge, das eine Arbeit mit den
›schwächeren Patienten‹ über viele Jahre hinweg und nicht
selten ›lebenslänglich‹, überhaupt erst ermöglichte, wird durch
diese ›Re-Hierarchisierung‹ untergraben. Das Verhältnis der
Teammitglieder untereinander wird somit rationeller und
weniger relationell.
Früher machte ich mit Patienten Ausflüge in die Umgebung,
zu ihrem Geburtsort oder zu den Eltern, und das ›kostete‹ viel
Zeit, manchmal einen ganzen Tag nur für einen Patienten
(›Rehistorisierung‹). Das dürfte, ja muss jetzt wohl zu Ende
gehen.
Ein weiteres, beinahe unglaubliches Bespiel möchte ich aus
einer Einrichtung für Demenzkranke beschreiben: Ein Helfer
und sein jeweiliger Patient haben beide ein Band um ihren
Hals hängen, woran eine elektronische Karte (›Smartcard‹)
befestigt ist. Sobald sie zu einem Gespräch oder einer pflegerischen Handlung in Kontakt treten, müssen beide erst diese
Karte in einen dafür konstruierten Apparat stecken, der die
gemeinsame ›Kontaktzeit‹ bis auf die Minute exakt registriert.
Zwischenmenschliche Kontakte im Minutentakt.
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Zusammengefasst kann man sagen, dass durch dieses Prozessmanagement mit seinen zirkulären Kontrollen nur die sekundären Prozesse der ›Überwölbung‹ auf ›Qualität‹ kontrolliert
werden. Und das wird Qualitätsmanagement genannt. (8)
Bei diesem ›Qualitätsmanagement‹ wird die Qualität des
primären Prozesses, der zwischenmenschlichen Beziehung
zwischen Patienten und Helfern überhaupt nicht erfasst, geschweige denn untersucht oder gemessen.
In dieser Zeit, in der die psychiatrische Forschung vor allem
auf ›Evidence-Based‹ fundierte Untersuchungsobjekte gerichtet ist, steht die qualitative, anthropologische Forschung nicht
im Rampenlicht. Dabei lieferten zaghafte Versuche in dieser
Richtung in den letzten Jahren gerade für unsere Patienten
fundamentale Ergebnisse.2 (9)
Folgen und Auswirkungen für
psychisch kranke Bürger und ihre Helfer
In erster Linie ist der beschriebene Prozess ein fremdbestimmender Angriff auf die »Beseelung« der Helfer. Eine durch
jahrelange Erfahrung gewachsene Praxis der Helfer wird von
diesem Rationalisierungsprozess überwölbt und gleichzeitig
untergraben. Die Helfer fühlen sich nicht mehr ernst genommen und sie werden in ihrer Berufsehre angegriffen. Die Folge
ist eine allgemeine Verfremdung. Man erlebt sich nicht mehr
als Teil seiner eigenen Organisation, die das gemeinschaftliches Ziel einer guten Versorgung der Patienten verfolgen
sollte. Es entsteht Misstrauen und Abwehr und man fühlt
sich an seinem Arbeitsplatz nicht mehr sicher. Als Helfer wird
man hauptsächlich nach der erbrachten Produktion und nicht
mehr nach der inhaltlichen Qualität der Versorgungspraxis
beurteilt.
Die Folgen für den Arbeitsalltag sehen in etwa so aus:
Am Morgen und vor allem am Abend jeden Tages sitzen wir
am Computer und es gibt weniger Zeit für unsere Patienten.
Oft muss man die Türe schließen, um für den Computer Ruhe
zu haben. Oder wenn ein Patient ins Zimmer kommt, sitzen
wir mit dem Gesicht zum Computer und mit dem Rücken
zum Patienten: Ende des Dialogs?
Früher saß ich nicht am Computer, sondern am Frühstückstisch der Patienten! Damals hatte ich noch Zeit, mit ihnen
Ausflüge zu machen. Diese Zeiten sind seit der Einführung
von Normzeiten und elektronischer Akte vorbei. Eine Entmenschlichung mit unabsehbaren Folgen für das Vertrauen
zwischen dem Helfer und dem Patienten.
Ein Patient, den ich schon seit 30 Jahren kenne, fragte mich
vor kurzem: bist du verrückt geworden oder ich? Als ich so
am Computer saß, und er den großen Stapel Akten auf meinem Schreibtisch sah, sagte er: »Komm, wir verbrennen den
Stapel Papier auf dem Scheiterhaufen von Jeanne d’Arc und
hauen einfach ab. Nur weg hier!« Er nimmt haarfein wahr,
wie auch ich unter all dem leide und er will mich solidarisch
aus meiner Zwangsjacke befreien: eine umgekehrte Welt in
der Psychiatrie! Früher haben wir doch die Patienten in eine
Zwangsjacke gesteckt?
9
10
»Gerecht ist anders«
Auch die Sprache zwischen uns hat sich verändert. Früher
sprachen wir gemeinsam eine für beide Seiten verständliche
Menschensprache, weil wir von einer jahrenlangen gemeinsamen Lebenserfahrung ausgehen konnten. Jetzt schleicht
sich durch den beschriebenen technokratrischen Prozess eine
Fremdsprache in unser tägliches Leben ein.
Wenn ich von dem Lebensproblem eines Patienten rede, muss
ich jetzt wieder eine Diagnose benutzen. Durch jahrelange
gemeinsame Arbeit hatten wir versucht, dieses Lebensproblem
zu verstehen und in einem gemeinschaflichen Prozess daran
zu arbeiten.
Jetzt muss ich Lebensprobleme durch eine erneute Stigmatisierung fremdbestimmen lassen – eine weitere Verfremdung.
Früher sagten wir, dass der Patient verwirrt spricht. Jetzt hat
der Patient den Eindruck, dass ich verwirrt spreche. Wiederum eine Umkehrung.
Grundsätzlich kann man feststellen: Der Prozess der Überwölbung ist über die Köpfe der Patienten hinweggerollt,
ohne dass sie daran überhaupt beteiligt wurden: Eine wahre
Fremdbestimmung?
Während dieses Prozesses entstanden immer neue Regeln
und Vorschriften, mit denen die Patienten überflutet wurden: unsere schwächeren Mitbürger sehen vor lauter Bäumen
den Wald nicht mehr! Hierdurch haben sie natürlich wieder
mehr Unterstützung nötig (siehe auch die große Zunahme
der Treuhänder) und sie geraten hinsichtlich Selbstständigkeit
und Selbstwertgefühl schwer unter Druck. Sie verstehen die
Welt nicht mehr und verstehen einfach nicht, warum das alles
so laufen muss. ›Wir gingen doch bisher normal miteinander
um?‹
Finanziell wurden unsere Patienten von ›reichen Patienten‹
aus den 60er-Jahren zu armen Patienten heute. Durch den
Zwang, ab 1983 einen eigenen Beitrag zur AWBZ zu zahlen,
begann dieser Prozess der Verarmung. Seitdem haben sie nur
noch Taschen- und Kleidungsgeld von ca. 250 Euro im Monat. Davon müssen sie die Bedürfnisse des täglichen Lebens
bezahlen. Wenn man bedenkt, dass eine Packung Zigaretten
inzwischen 5 Euro kostet, kann man sich vorstellen, was übrig bleibt. Die Folge ist, dass sie sich nur billige Tabakwaren
von minderwertiger Qualität kaufen können und ihre Kleider im Laden für gebrauchte Kleider (›Secondhandshop‹).
Dann müssen sie obendrein noch die Wäschereikosten für
ihre Kleider selber bezahlen. Das kostet auch wieder 50 Euro
im Monat.
Seit 2006 müssen die Patienten eine eigene Steuerklärung
ausfüllen und auch dabei haben sie natürlich wiederum Hilfe
nötig. Welcher ›normale‹ Mensch kann heutzutage noch seine Steuerklärung selbst machen! Seit kurzem kommt hinzu,
dass die Steuererklärung nur noch elektronisch ausgefüllt
werden darf.
Ferner wurden die Patienten in ihren Mobilität gravierend
eingeschränkt. Ihre Fahrtkosten in die Stadt müssen sie jetzt
selbst bezahlen. Um jede Busfahrkarte muss gerungen werden! Die Versichrung vergütet nur noch Liegend-Transporte
zum Krankenhaus, wenn man ernstlich krank oder schon
halb tot ist.
Vom Sozial- und Arbeitsministerium (Gesetz über Arbeit,
Einkommen und Arbeitsfähigkeit) wurden alle Langszeitarbeitslosen in den letzten Jahren erneut auf ihre Arbeitstauglichkeit überprüft, mit der Frage, ob sie nicht wieder in
den allgemeinen Produktionsprozess eingegliedert werden
könnten. So auch unsere schwachen Mitbürger, von denen
viele noch nie in ihrem Leben gearbeitet haben. Allein schon
die Angst und die Unruhe, die diese Überprüfung bei den
Patienten verursachte, ist nicht zu unterschätzen. Selbst die
Schwächsten unter uns werden im marktwirtschaftlichem
Denken neben einem Dasein als ›Produkt‹ jetzt auch als mögliche Produzenten gesehen.
Der Schwächste darf eigentlich nicht länger einfach ein Patient
sein, der unsere Liebe und Zuneigung verdient, nein: Auch er
ist ein potienzieller Faktor in der allgemeinen Marktwirtschaft
geworden! (10).
Für schöne und entspannende Aktivitäten ist überhaupt kein
Geld mehr da. Die Welt unserer Patienten wird immer kälter,
kahler und ärmer.
Letztendlich kommt durch das Gesetz zur gemeindenahen
Psychiatrie der Konkurrenzkampf erst richtig in Gang: immer
mehr ›Anbieter‹, auch von außerhalb der Psychiatrie ›dingen‹
mit im Konkurrenzkampf. So ist zum Bespiel die häusliche
Pflege, die bisher nur durch professionelle Helfer angeboten
werden durfte, für den Markt freigegeben.
Ab jetzt kann jeder beliebige Putzbetrieb ›mitdingen‹, um
Geld von der Gemeinde zu bekommen.
Wie können weniger robuste Menschen an diesem Kampf
überhaupt noch teilnehmen? Natürlich können sie das alleine nicht. Auch hierbei haben sie wiederum Hilfe nötig – so
werden sie immer hilfloser und unselbstständiger. Das Motto
der Gemeinde ist: »Die Bürger sind in erster Linie für sich
selbst verantwortlich, dann kommt erst noch die Familie und
dann erst die Gemeinde.« Aber viele Bürger mit psychischen
Problemen sind dazu nicht in der Lage. Dies muss den Verantwortlichen in den meisten Gemeinden erst noch bewusst
werden.
Zusammenfassung: Der Konflikt zwischen
Einführung und Umsetzung der Gesetze
In der Gesetzgebung waren und sind die Niederlande sehr
progressiv und führend in Europa. Das gilt eigentlich auch
für die Basisversicherung und das Gesetz zur gemeindenahen
Psychiatrie. Aber durch den Prozess der Vermarktwirtschaftlichung und auch durch die sogenannte Kostenexplosion im
Gesundheitswesen kommt es zu ersten Einbrüchen bei dieser
progressiven und sozialen Gesetzgebung und zu einer deutlichen Aushöhlung des Auffangnetzes für psychisch kranke
Bürger.
Zum einen wird die progressive Gesetzgebung schleichend
untergraben, zum anderen steht die Ausführung der Gesetze
in schrillem Kontrast zu ihrer eigentlichen Intention.
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Petry: Beseelung und Verwaltung
Wie in ganz West-Europa und den USA gelten immer mehr
die Methoden einer freien Marktwirtschaft: Der Patient wird
gesehen als ein Versicherter, ein Produkt und als ein möglicher Produzent.
Die Verwaltung der Beseelung:
auf dem Wege zur Entseelung
Inzwischen wissen wir, dass die Zucht des Marktes sehr groteske Formen annehmen kann.
Wir bekommen es mit einem Managementapparat zu tun,
welcher einen immer größeren Anteil an dem Budget einer
Institution bekommt und sich immer neue Pläne, Protokolle
und Kontrollinstrumente ausdenkt, um die Organisation in
›Bewegung‹ zu halten, oder besser gesagt, sie auf Trapp zu
halten und zu bringen.3
Das Management ist auf Expansion gerichtet, Eroberung
des Marktes mit immer besseren ›Produkten‹ (Diagnosen),
strategisch handeln, das Image mit immer neuen Slogans
und leuchtenden Logos und immer flitzenderer Reklame
verbessern, sogar schon im Fernsehen. Letztendlich ist am
Markt jeder ständig auf der Jagd nach neuen Produkten (neue
Diagnosen).
Inzwischen laufen immer mehr professionelle Helfer mit tiefgehenden Frustationen und einer enormen Wut im Bauch
in der Psychiatrie herum, weil ihnen praktisch ihre Berufung
weggenommen worden ist und ihre Berufsehre obendrein.
(12)
Durch die neo-liberale Regierung in den Niederlanden ist
in den lezten Jahren die Marktwirtschaft auch in der Psychiatrie von oben herab durchgedrückt worden, ohne dass das
gesellschaftliche Mittelfeld, in unserem Falle die Psychiatrie,
in einen gleichwertigen Dialog einbezogen worden ist und
ohne dass bei der Umsetzung von Gesetzen auf angemessene Langsamkeit geachtet worden ist. Es wäre angebracht
gewesen, bei der Ausführung von Gesetzen darauf zu achten,
wem sie dienen sollen. Das hätte mehr Bescheidenheit und
vor allem Mitgefühl mit den Schwächsten der Gesellschaft
erfordert.
Auch die professionellen Helfer, die eine jahrenlange Lebenspraxis in ihren Berufen und breite menschliche Erfahrungen aufweisen, sind bis ins Herz getroffen. Sie, für die ihr
Beruf bisher vor allem mit sehr persönlichen Beziehungen
und individuellen Menschen zu tun hatte, werden durch Vermarktlichung und Machtprozess auf gehorsame ›Prozessoren‹
reduziert, die abstrakte Richtlinien und Modelle ausführen
müssen, um mit mehr Effizienz für mehr ›Output‹ zu sorgen.
Und wie sieht es denn jetzt mit der Ehre unserer Patienten
aus? Vor vielen Jahren sind viele professionelle Helfer angetreten, um ihre Ehre als Bürger wiederherzustellen: Rehabilitation.
Gerät ihre Ehre durch die technokratische Überwölbung nicht
erneut in Gefahr? In früheren Jahren waren sie Opfer einer
kustodialen Psychiatrie. Jetzt drohen sie Opfer einer tech-
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Detlef Petry, Psychiater
Psychatrisches Zentrum
»Vijverdal«
nokratischen Marktideologie in der Psychiatrie zu werden,
innerhalb derer sie keinerlei eigene Rolle spielen können.Von
einer wirklichen Mitsprache der Patienten kann, wie schon
gesagt, in diesem sie überrollenden Prozess, keine Rede mehr
sein. Sie sind diesem Konkurrenzkampf nicht gewachsen, sie
können nicht ›mitdingen‹ und sie können nicht produzieren.
Sie sind selbst zu einem ›Produkt‹ geworden! Was sie in diesen Zeiten wirklich benötigen ist unsere Solidarität, unsere
Zuneigung, unsere Nähe und unsere Liebe.
Letztendlich finde ich hierfür keine anderen Worte als: Es
handelt sich um ein moralisches Vergehen! Dieses Vergehen
raubt der Welt ihre Beseelung und verdirbt das Verhältnis
von Menschen untereinander.
Die Kultur ist anzusehen als eine Welt von Lebenspraxen
(Lehrer, Polizisten, helfende Berufe usw.), in denen Menschen sich formen und bilden können, wo sie selbstständig
und mit Ehre ihren Beruf ausüben können, und wo sie sich
verantwortlich fühlen für das Gemeinwohl. Gegenwärtig haben wir es mit einem Kulturverlust zu tun und es ist eine
Frage der Ehre, eine Antwort auf diesen Kulturverlust zu
suchen. (13)
Zum Schluss möchte ich den vorsichtigen Versuch einer solchen Antwort wagen:
Die zwischenmenschlichen Beziehungen von Patienten, ihren Familien und ihren professionellen Helfern (›Triade‹)
in ihrem oftmals jahrlang dauernden trialogischem Prozess
sollten das wirkliche Kernstück (›Herz‹) jeder psychiatrischen
Arbeit sein.
Wie auch immer die Arbeit organisiert wird, sie sollte diesen
Lebenspraxen dienen, denn gerade dies und nur dies, ist eine
sehr solide und dauerhafte Grundlage für eine gesunde ›Kultur‹ psychiatrischer Arbeit. So können psychiatrische Dienste
zu menschlichen und die Ehre jedes Menschen respektierenden Keimzellen werden, in denen die Psychiatrie weiter
humanisiert und nicht technokratisiert wird.
Anmerkungen
1 Hinweis der Redaktion: Eine Langfassung dieses Beitrags, ein
Kurzüberblick über die niederländische Sozialgesetzgebung im
Hinblick auf psychisch kranke Menschen, eine Zusammenstellung der sprachlichen Veränderungen in der sozialen Arbeit sowie
Quellennachweise können beim Autor angefordert werden.
2 Ab 2007 hat unser Arbeitsprojekt der Rehabilitation für ein qualitatives Forschungsprojekt zur Untersuchung unserer langährigen
11
»Gerecht ist anders ...«
12
Praxis in Maastricht 200 000 Euro an Forschungsgeldern bekommen. Dieses Forschungsprojekt steht unter dem Titel: ›Ungleiche
Bürger‹: Relationelle Bürgerschaft. Hierbei soll qualitativ untersucht werden, welchen Effekt gerade die zwischenmenschlichen
Beziehungen am Heilungsprozess haben. Ein erster Lichtblick
oder ein wirklicher Durchbruch? Die Zeit wird es lehren!
3 Kürzlich nannte das jemand in den Niederlanden, in einem Vergleich zur Viehzucht, eine ›Intensive Menschenzucht‹. (11)
Soziale Sicherheit
in der Schweiz:
Wie lange hält das
Netz für psychisch
kranke Menschen?
Jürg Gassmann
Anschrift des Verfassers
Detlef Petry
Psychatrisches Zentrum »Vijverdal«
Postfach 88
NL-6200 AB Maastricht
[email protected]
Die Schweiz verfügt über ein differenziertes Netz der sozialen
Sicherheit. Häufig auftretende und gesellschaftlich anerkannte Risiken sind durch eine Reihe von Sozialversicherungen
gedeckt. Auch psychisch kranke und behinderte Menschen
kommen in den Genuss verschiedener Leistungen, die ihre
Integration fördern und ihnen ein menschenwürdiges Dasein
ermöglichen. Zwar kann auf die einzelnen Leistungen nicht
eingegangen werden, im Sinne eines Überblickes sind jedoch
wenigstens die bedeutendsten Sozialwerke des Bundes zu
nennen (mit dem Jahr des Inkrafttretens der entsprechenden
Bundesgesetze in Klammer):
- Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV (1948)
- Invalidenversicherung IV (1960)
- Unfallversicherung (1984)
- Berufliche Vorsorge (1985)
- Arbeitslosenversicherung (1983)
- Krankenversicherung (1996)
- Erwerbsersatz bei Mutterschaft (2005)
Da die Rentenleistungen für die Deckung der Lebenshaltungskosten im Alter und bei Invalidität nicht ausreichen,
wurden 1996 außerdem Ergänzungsleistungen eingeführt. Es
handelt sich dabei um versicherungsähnliche Leistungen, die
dazu dienen, die Renteneinkommen der Versicherten nach
dem Bedarfsprinzip bis zum sozialen Existenzminimum aufzustocken. Beim Eintritt eines nicht versicherten sozialen Risikos
kommt subsidiär – im Sinne eines letzten Auffangnetzes – die
Sozialhilfe zum Zuge. Die Zuständigkeit für die Sozialhilfe
liegt bei den Kantonen, wobei die Leistungen in der Regel
von den Gemeinden ausgerichtet werden.
Das historisch gewachsene System der sozialen Sicherheit
verfügt bis heute insgesamt über einen guten Ruf und eine
hohe Akzeptanz bei der Schweizer Bevölkerung. Doch es
stehen große Bewährungsproben bevor, bei denen sich erst
zeigen wird, wie weit die Solidarität mit sozial schwächeren
Menschen reicht.
Krankenversicherung: Spardruck steigt
Ein Politikum ersten Ranges, das die Interessen von psychisch
kranken Menschen direkt tangiert, ist die Explosion der Kosten im Gesundheitswesen. Die Krankenversicherung – sie
ist für die gesamte Wohnbevölkerung obligatorisch – wird
über Kopfprämien finanziert. Die Prämien steigen Jahr für
Jahr in der Größenordnung von 5 % an, was vor allem für
mittelständische Familien, die keine Prämienverbilligungen
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Gassmann: Soziale Sicherheit in der Schweiz: Wie lange hält das Netz für psychisch kranke Menschen?
Jürg Gassmann
Zentralsekretär
Stiftung Pro Mente Sana
geltend machen können, eine große Belastung darstellt. Der
Spardruck nimmt zu, und es ist zu befürchten, dass chronisch
kranke und vor allem psychisch behinderte Menschen ihn
mehr zu spüren bekommen werden als andere Gruppen von
Patientinnen und Patienten.
Als Beispiel dafür mag die neue Regelung für die Vergütung von Psychotherapien dienen, die am 1. Januar 2007 in
Kraft getreten ist. Zuvor haben die Krankenversicherungen
bei Psychotherapien bis zu 60 Sitzungen ohne größere Kontrollen Kostenvergütungen geleistet. Nunmehr müssen die
Leistungserbringer dem Vertrauensarzt der Kasse bereits nach
sechs Sitzungen eine Meldung mit Diagnose und weiteren
sensiblen Angaben unterbreiten, wenn die Therapie länger
als zehn Sitzungen dauern wird. Das neue Verfahren führte
schon kurz nach dessen Einführung zu einzelnen Therapieabbrüchen. Patientinnen und Patienten fürchten zu Recht,
dass der Datenschutz in Bezug auf die hochsensiblen Daten,
die im Meldeverfahren erhoben werden, nicht gewährleistet
ist. Vor einigen Tagen wurde öffentlich, dass bei einzelnen
Krankenversicherungen nicht nur die Vertrauensärzte – wie
gesetzlich vorgesehen –, sondern gleich mehrere hundert Kassenmitarbeiterinnen Zugriff auf die Daten haben.
Missbrauchspolemik in der Invalidenversicherung
In einer tiefen Krise steckt zurzeit aber vor allem die Invalidenversicherung. Dieser Versicherungszweig schreibt seit Jahren
rote Zahlen: Das jährliche Defizit beträgt ca. 1,6 Milliarden
Franken, die kumulierten Schulden sind auf über 9 Milliarden
Franken angewachsen. Die Ursache für diese defizitäre Entwicklung liegt einerseits in der massiven Zunahme der Zahl
der Bezieherinnen von IV-Renten: ihr Anteil an der aktiven
Bevölkerung hat in den vergangenen zehn Jahren von 3,7 %
(1996) auf 5,4 % (2006) zugenommen. Andererseits hinkt
die Finanzierung der Versicherung der Entwicklung der Rentenzahlen weit hinterher. Die Mehrheit des Parlamentes zeigt
zwar Einsicht in die Notwendigkeit einer Zusatzfinanzierung.
Diese ist aber bislang aufgrund parteipolitischer Querelen
über deren Ausgestaltung gescheitert.
Da die IV-Renten infolge psychischer Krankheiten mit einem Anteil von beinahe 40 % aller Neurenten stark überproportional zugenommen haben, setzen nun die politischen
Maßnahmen vorwiegend bei dieser Zielgruppe an. Die
Gründe für die massive Zunahme der IV-Renten aufgrund
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
psychischer Ursachen sind vielfältig. Neben demografischen
Entwicklungen, der zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft sowie einer gewissen Entstigmatisierung
psychischer Krankheiten haben unseres Erachtens vor allem
konjunkturelle Entwicklungen und die bekannten strukturellen Veränderungen der Arbeitswelt dazu geführt, dass eine
zunehmende Zahl von psychisch beeinträchtigten Menschen
invalidisiert wurde. Im aktuellen sozialpolitischen Diskurs
werden diese strukturellen Zusammenhänge jedoch weitgehend ausgeblendet. Vielmehr besteht die Tendenz, die
Ursachen für diese Entwicklung im (Fehl)Verhalten der
Versicherten zu sehen. Das gesellschaftliche Problem wird
damit stark individualisiert.
Als Meinungsmacherin profiliert sich die rechtsbürgerliche
Schweizerische Volkspartei. Sie hat den Stein im Jahr 2003
mit dem Begriff der »Scheininvaliden« ins Rollen gebracht
und stellt die Entwicklung der Rentenzahlen hauptsächlich
als Folge von Missbrauch der Versicherung dar. Gemäß SVPPolitikern wird die IV dabei von »Tausenden Sozial-Abzockern geplündert und ruiniert« (Neue Zürcher Zeitung vom
27. März 2007). Als Maßnahme zur Sanierung strebt die
Partei unter anderem eine »Einschränkung der Rentenberechtigung vor allem im unklar definierten psychischen Bereich«
(NZZ vom 27.3.07) an. Diese populistische Argumentation,
die bei weiten Bevölkerungsteilen verfängt, hat zur Folge,
dass Versicherungsmissbrauch und psychische Krankheiten
zunehmend in einen Topf geworfen werden. Viele psychisch
behinderte Menschen schämen sich deshalb heute, über ihre
IV-Rente zu reden, was ihre soziale Integration zusätzlich
erschwert.
Revision der IV: Tatsächliche
Integration oder Etikettenschwindel?
Um der defizitären Entwicklung der Invalidenversicherung
entgegenzutreten, haben die eidgenössischen Räte im Herbst
2006 die 5. IVG-Revision verabschiedet. Da einige Organisationen erfolgreich das Referendum dagegen ergriffen haben,
wird es am 17. Juni 2007 zu einer Volksabstimmung über die
Vorlage kommen. Angesichts der politischen Kräfteverhältnisse wäre es allerdings eine große Überraschung, wenn die
Vorlage in der Abstimmung abgelehnt würde. Im Falle einer
Annahme durch das Volk wird die Revision am 1. Januar
2008 in Kraft treten.
Die Revision hat das Ziel, die Zahl der IV-Neurenten massiv zu
senken. Zu diesem Zweck soll der bereits bestehende Grundsatz »Eingliederung vor Rente« verstärkt werden. Zudem sollen
gewisse Einsparungen erzielt werden, unter anderem durch
Leistungskürzungen bei der Rente von Frühbehinderten und
durch die Verlagerung der Finanzierung von medizinischen
Maßnahmen in die Krankenversicherung.
Die für den Vollzug zuständigen IV-Stellen haben in der Vergangenheit die Eingliederung von psychisch kranken Menschen zu wenig gefördert. Darüber besteht Einigkeit. Umstritten ist demgegenüber, ob die vorgesehenen Maßnahmen
13
14
»Gerecht ist anders«
daran Wesentliches zu ändern vermögen oder ob es sich eher
um Etikettenschwindel handelt:
- Mit einem System der Früherfassung können zukünftig Arbeitnehmer bereits nach einer kurzen Dauer der Arbeitsunfähigkeit – voraussichtlich werden es vier Wochen sein – bei
den IV-Stellen gemeldet werden. Meldeberechtigt sind Arbeitgeber, verschiedene Versicherungen, Angehörige und
behandelnde Ärztinnen. Im Rahmen der Früherfassung
sollen die Weichen vor allem im Hinblick auf die Erhaltung von bestehenden Arbeitsplätzen richtig gestellt werden. Die Früherfassung ist umstritten, weil die Meldung
auch ohne Zustimmung der Versicherten erfolgen kann.
Die Eingliederungsmotivation der Betroffenen ist für den
Erfolg aller Bemühungen von zentraler Bedeutung. Es stellt
sich deshalb in der Tat die Frage, ob die als Disziplinierungsinstrument konzipierte Früherfassung eingliederungswirksam sein kann.
- Nach der Früherfassung können Maßnahmen der Frühintervention und später dann Integrationsmaßnahmen getroffen werden: Konkret geht es um die Finanzierung von
Ausbildungskursen, Arbeitsvermittlung, sozialberufliche
Rehabilitation und um Beschäftigungsmaßnahmen. Der IV
stehen damit Unterstützungsmöglichkeiten für psychisch
beeinträchtigte Personen zur Verfügung, die bislang im
Leistungskatalog gefehlt haben.
- Sodann soll die Mitwirkungspflicht der Versicherten erheblich verschärft werden. Durch die neuen Regelungen sind ihnen alle Maßnahmen zumutbar, die mit dem
Gesundheitszustand vereinbar sind. Für Versicherte, die
nicht mitwirken, werden neue Sanktionen eingeführt, die
ohne vorgängige Mahnung ausgesprochen werden können
und zu erheblichen Leistungskürzungen führen können.
Es muss befürchtet werden, dass viele psychisch kranke
Menschen, die aufgrund ihres Krankheitsbildes gar nicht
in der Lage sind mitzuwirken, Opfer dieser Sanktionen
werden.
Die Übersicht über die Neuerungen zeigt: sie setzen praktisch
ausschließlich auf der individuellen Ebene, beim Versicherten
an. Es liegt an ihm, sich für den Arbeitsmarkt fit zu machen.
Die Arbeitgeber bleiben demgegenüber frei, ob sie ihre soziale
Verantwortung wahrnehmen oder nicht. Im Gegensatz zu
Deutschland und anderen europäischen Staaten gibt es in
der Schweiz keine Quote, die Unternehmen dazu verpflichtet, behinderte Menschen einzustellen. Somit ist die Gefahr
groß, dass die Eingliederung in eine Sackgasse mündet, weil
am Ende der Zugang in die Arbeitswelt trotz aller Eingliederungsbemühungen verschlossen bleibt.
Die weitere Entwicklung zeichnet sich bereits heute ab: Eine
zunehmende Zahl von psychisch beeinträchtigten Menschen
wird als arbeitsfähig eingestuft, ohne über tatsächliche Erwerbschancen zu verfügen. Wird ihnen der Zugang zur Invalidenversicherung verwehrt, sind viele von ihnen fortan auf
Leistungen der Sozialhilfe angewiesen. Die Lasten werden
auf diese Weise vom Bund auf die Kantone und Gemeinden
verschoben, den psychisch behinderten Menschen droht ein
sozialer Abstieg. Zu hoffen bleibt, dass die Sozialhilfe als unterstes Netz der sozialen Sicherheit den neuen Belastungen
standhält.
Anschrift des Verfassers
Jürg Gassmann
Stiftung Pro Mente Sana
Hardturmstr. 261
Postfach
CH-8031 Zürich
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
»Gerecht ist anders ...«
15
Zwischen Solidarität
und Eigenverantwortung –
Zur Krise und Neugestaltung
unseres Sozialstaats
1
Silvia Pöld-Krämer
Die wirtschaftliche und
gesellschaftspolitische Krise des Sozialstaats
Seit mit der rot-grünen Bundesregierung ab 1998 der lange
schon diskutierte »Umbau« des Sozialstaats nachhaltig vorangetrieben wurde und durch die Gesundheitsreform 2003
sowie durch »Hartz IV« 2004/2005 klare Konturen erhielt,
wird die Diskussion über die Frage, was in unserem Land
unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen und wie sie zu bewahren bzw. herzustellen ist, mit neuer Schärfe geführt. An
dieser Debatte beteiligen sich Kirchen2 und Politik(er/innen)3,
Wissenschaft4 und sozial-politisch engagierte Akteursgruppen5. Mit anderen Worten: Soziale Gerechtigkeit ist Thema
in unserer Gesellschaft.
Deutschland ist laut seiner Verfassung6 ein sozialer Staat.
Dieser Sozialstaat sorgt über seine Sozialleistungsgesetze bzw.
durch die Sozialleistungsbehörden für eine Verteilung des
gesellschaftlichen Einkommens und der gesellschaftlichen
Ressourcen an wirtschaftlich oder durch besondere Notlagen
(Krankheit, Behinderung, Pflegebedarf usw.) benachteiligte
Bevölkerungsgruppen, die auf solidarische Hilfe in Form von
staatlicher Vorsorge und Fürsorge angewiesen sind.7 Insofern ist allgemein unbestritten, dass die Frage nach sozialer
Gerechtigkeit in unserem Land auch eine Anfrage an seine
sozialen Sicherungssysteme enthält. Deren Situation stellt
sich seit Jahren angespannt dar. Auch wenn seit Ende 2006
die Haushaltslage von Bund, Ländern und Gemeinden durch
unerwartete Steuereinnahmen erstmals wieder entspannter
wirkt, lösen sich die Probleme mit Blick auf die Sozialen Sicherungssysteme damit keineswegs auf.
- Die gesetzliche Rentenversicherung ist seit Jahren in einer
finanziellen Krise. Im Juli 2005 spitzte sich die Situation so
zu, dass ihr als Soforthilfe vorzeitig Bundeszuschussmittel
gezahlt wurden8 und zudem durch eine Gesetzesänderung
seit 2006 die Sozialversicherungsbeiträge von den Unternehmen statt in der Mitte des Folgemonats schon am Ende
des Vormonats zu zahlen sind.9 Im März 2007 stimmte
der Bundesrat der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf
67 Jahre zu, wobei in der Gesetzesbegründung ein deutlicher Zusammenhang mit der künftig zu erwartenden finanziellen Ausstattung der Rentenversicherung angesichts eines
zahlenmäßig und zeitlich zunehmenden Leistungsbezuges
von Rentenberechtigten hergestellt wird.10
- Die gesetzlichen Krankenkassen hatten zwar infolge des Gesundheitsreformgesetzes 2004 Mehreinnahmen in Höhe
von ca. 4 Mrd. Euro. Diese dienten aber nur dem Abbau
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
von Schulden, welche sich nach Angaben des BMGS zum
31.12.2004 immer noch auf rd. 2 Mrd. Euro beliefen.11
Inzwischen wurde nach langem politischen Streit eine weitere Gesundheitsreform vereinbart, die in Stufen beginnend ab dem 1.4.07 in Kraft tritt.12 In ihrer ablehnenden
Stellungnahme zum Entwurf dieses Gesetzes verweisen die
Spitzenverbände der gesetzlichen Kassen auf ein zum Ende
der Legislaturperiode zu erwartendes Defizit von 13 bis
16 Mrd. Euro und damit verbundene zwingende Beitragssatzsteigerungen.13
- Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe,
besser bekannt unter dem Namen »Hartz IV«, brachte der
Bundesagentur für Arbeit negative Schlagzeilen wegen der
Mehrausgaben in Milliardenhöhe, die mit diesem System
für Bund und Kommunen unvorhergesehen anfielen.14 Inzwischen sind die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
gesenkt worden und seit Neuestem verzeichnet die Bundesagentur für Arbeit Milliardenüberschüsse.15 Bis Ende 2006
gab es aber noch ein monatelanges Tauziehen zwischen
Bund und Ländern um die Höhe des Mietzuschusses für
ALG II-Bezieher, weil die Kommunen sich durch diesen
Kostenanteil über Gebühr belastet sahen.16 Die Kommunen
beriefen sich auf steigende Zahlen von Sozialhilfeempfängern17 und entsprechende Kosten18. Nimmt man hinzu,
dass im März 2007 die offizielle Zahl der Arbeitsuchenden
bei rund 4,1 Mio. liegt, stellt sich die Absicherung von Beschäftigung und notwendigem Lebensunterhalt mit Blick
auf die staatlichen Sicherungssysteme weiterhin problematisch dar.
Grundsätzlich kann man im Hinblick auf unsere Gesellschaft
nicht von »Armut« sprechen. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht vom März 200519 stellt fest, dass Deutschland ein
reiches Land ist, welches trotz höherer Arbeitslosigkeit neben Dänemark und Schweden zu den EU-Ländern mit der
niedrigsten Armutsrisikoquote und mit nur geringer Armut
gehört. Derselbe Bericht stellt aber auch fest, dass die Schere
zwischen Reich und Arm in unserer Gesellschaft zunehmend
auseinander klafft – es gibt immer mehr Superreiche unter
uns, aber noch viel schneller wächst die Zahl der Bedürftigen, insbesondere der von Fürsorge abhängigen Kinder und
Jugendlichen.
Auch im Hinblick auf unseren Sozialstaat und seine finanziellen Probleme kann man nicht einfach von »Armut« sprechen.
Zwar liegt Deutschland mit einem Anteil der Sozialschutzleistungen am Bruttoinlandsprodukt (Sozialschutzquote)20
16
»Gerecht ist anders«
von 30,2 Prozent über dem europäischen Durchschnitt von
2821. Aber das könnte auch ein Indiz für einen gewissen Wohlstand sein – wenn nämlich feststellbar wäre, dass den hohen
Ausgaben auch hohe »Gewinne« gegenüberstünden. Solche
»Gewinne« könnte man an einem leistungsstarken Gesundheitssystem, an der Abnahme oder gar dem Verschwinden
von Altersarmut und an einer armutsfesten Absicherung von
Erwerbslosigkeit festmachen. Zu unserem Gesundheitssystem
stellt z. B. das Kieler Institut für Gesundheits-System-Forschung (IGSF) in einer viel beachteten Studie22 fest, dass
es im internationalen Vergleich umfassend, preiswert und
überdurchschnittlich effizient ist.23 Hinsichtlich der Altersarmut in Deutschland weist die Sozialhilfequote für die über
65-Jährigen im Jahr 2003 ein Absinken auf 0,7 aus24, 25.
Die öffentliche Zustimmung zum Sozialstaat ist in Deutschland dennoch im Schwinden begriffen. Die Kritik entzündete sich bereits Mitte der Achtzigerjahre am Problem der
Arbeitslosigkeit, dem man seitdem zur Sicherung des Standortes Deutschland einerseits mit einer Entlastung der Arbeitgeber von Lohnnebenkosten begegnen wollte und will;26
andererseits möchte man durch Entlastung von Unternehmenssteuern den Standort attraktiv machen.27 Dabei gibt es
kontroverse Feststellungen zu der Frage, ob Deutschland
bereits jetzt als »Niedrigsteuerland«28 anzusehen ist oder im
Gegenteil noch überdurchschnittliche Steuersätze erhebt.29
Jede nachhaltige Veränderung der Lohnnebenkosten bzw. der
Sozialversicherungsbeiträge berührt die Leistungsfähigkeit der
gesetzlichen Sozialversicherungsträger, die Verringerung der
Steuereinnahmen hat Auswirkungen auf die Mittel, welche für
Fürsorgeleistungen der öffentlichen Hand zur Verfügung stehen. Der Sozialstaat wird also schlanker. Das ist auch gewollt.
Teilweise geht es beim Schlagwort vom »Umbau des Sozialstaats« ziemlich unverblümt um die Behauptung, dass der
Sozialstaat das eigentliche Problem unserer Gesellschaft sei
und daher weniger umzubauen als abzubauen sei. So erklärt
z. B. Degen die künftige Sozialkultur vorrangig zu einer Kultur
der Selbstsorge und sieht soziale Gerechtigkeit verwirklicht,
wo sich der Einzelne »für sich selbst ... und ... für die, die
ihm am nächsten sind« einsetzt.30 Deutlich formuliert es auch
Steingart: »Die Verbindungsstelle zwischen denen, die arbeiten und denen, die nicht mehr arbeiten, ist der Sozialstaat, ein
komplexes Gebilde, das eine Vielzahl von Leistungssystemen
unterhält. Die ziehen vom Kraftzentrum der Volkswirtschaft
jene Energie ab, die für die Erledigung der sozialen Aufgaben
gebraucht werden.«31 Der Sozialstaat selbst soll es also sein,
der die »Erledigung sozialer Aufgaben« verhindert.
Die Suche nach gesellschaftlichem
Konsenses mit Blick auf den Sozialstaat
Dass die Debatte um die Zukunft unseres Sozialstaates nicht
wertfrei geführt wird, ist sicher richtig. Denn der Sozialstaat
selbst beruft sich für seine Existenz und seine Aufgaben
schließlich auch auf Werte. So besagt § 1 des ersten Sozialgesetzbuchs, dass die Sozialleistungen mit dem Ziel der
»Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit« gestaltet sein sollen. Gerechtigkeit ist unbestreitbar ein
ethischer Wert. Und in den vergangenen Jahren ist gerade mit
Blick auf unseren Sozialstaat viel darum gestritten worden,
welche Art von Gerechtigkeit wir in ihm verwirklicht sehen
wollen. Eine Verteilungsgerechtigkeit, die sicherstellt, dass
Güter und Ressourcen der Gemeinschaft zuverlässig die erreichen, die bedürftig sind? Eine Leistungsgerechtigkeit, die
Anreize schafft zur Leistung und diese belohnt? Eine Chancen- und Beteiligungsgerechtigkeit, die allen – ob leistungsstark oder schwach – vergleichbar gute Ausgangsbedingungen
für die Teilnahme am Kampf um gesellschaftliche Güter und
Ressourcen gewährleistet?32 Die beiden christlichen Kirchen
haben zu diesen Fragen natürlich auch Position bezogen.33
Diese Stellungnahmen sind durchaus lesenswert, insofern sie
eine Idee von den (gewandelten) kirchlichen Wertvorstellungen mit Blick auf Werte wie Nächstenliebe und Solidarität
mit den Armen zeigen.
Derzeit befindet sich unsere Gesellschaft in einem Stadium,
in dem über Wertfragen wie die nach sozialer Gerechtigkeit
der Diskurs zu führen und ein Konsens herzustellen ist. Die
Aktion Mensch startete im März 2006 gemeinsam mit einer
beeindruckenden Anzahl großer und kleiner Kooperationspartner aus Wohlfahrts- und Fachverbänden, Selbsthilfegruppen und weiteren Initiativen das Gesellschafter-Projekt
»DieGesellschafter.de« mit der Frage: »In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?«. Alle Bürgerinnen und Bürger
sind damit zur Beteiligung in vielfältiger Form (Diskussionsbeiträge, Aktionen, Mitgesellschafter usw.) aufgefordert. 34
Dies schafft eine denkbar niedrige Schwelle für den Eintritt
in Diskurs und gemeinsames Engagement in den vielfältigsten
gesellschaftlichen Zusammenhängen und erscheint als ein
gelungener Ansatz, um Beteiligung herzustellen. Denn die
Auseinandersetzung um das gesamtgesellschaftliche Verständnis von sozialer Gerechtigkeit und deren Verwirklichung in
unserem Sozialstaat darf sich nicht vorrangig auf wirtschaftli-
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Pöld-Krämer: Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung
che Daten – reale, vermutete oder erwartete – konzentrieren,
wie es bisher weitgehend der Fall war. Es muss darum gehen,
welche Ziele mit dem Sozialstaat verfolgt werden und wie
viel Einzelne und Gruppen in der Gesellschaft bereit sind,
dafür aufzubringen – in Geld, Zeit oder sonstigen Ressourcen.
Die Forderung nach einer »Kultur des Enthusiasmus für den
Konsens«35 ist berechtigt. Denn unsere Gesellschaft befindet
sich in einem komplexen Spaltungsprozess. Dieser wird eben
nicht mehr mit so einfachen Gegensätzen wie »oben/unten«,
»reich/arm« beschrieben. Spätestens seit der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung »Gesellschaft im Reformprozess«36 ist der
Begriff des »Prekariats« zum Allgemeingut geworden. Er zeigt
an, dass die gesellschaftliche Exclusion heute prinzipiell allen
gesellschaftlichen Gruppierungen als Möglichkeit vor Augen steht. Das hat weitreichende Folgen. Denn sowohl das
Vertrauen in den Rückhalt der eigenen sozialen Herkunftsgruppe wie auch der Anreiz (insbesondere für Menschen aus
Unterschichtsgruppen), mit eigenen Mitteln und öffentlicher
Unterstützung in andere/höhere soziale Gruppen um- bzw.
aufzusteigen, ist dadurch infrage gestellt. Nolte stellt fest,
dass der Sozialstaat derzeit höchstens noch eine Minimalloyalität sichert, sodass sich die Inanspruchnahme von Sozialleistungen und die gleichzeitige Indifferenz, ja Ablehnung
gegenüber dem System, das diese Leistungen generiert, nicht
mehr ausschließen.37 Sieht unsere Gesellschaft diesem Spaltungs- und Abspaltungsprozess weiter zu, ist der Sozialstaat
als grundlegende Dimension unserer Gesellschaftsordnung
auch dann nicht zu retten, wenn er wirtschaftlich wieder auf
die Beine kommt.
Die Bedeutung von Arbeit(slosigkeit)
mit Blick auf den Sozialstaat
Ein gesellschaftlicher Konsens setzt die Vergewisserung
über einvernehmlich geteilte wie über im Streit befindliche
Grundannahmen unseres Sozialstaats voraus.
Da Armut in unserem Land zu einem großen Teil auf das
Fehlen von Erwerbsarbeit zurückgeht und der Mangel an
Erwerbsarbeit immer wieder mit den zu hohen Folgekosten
des Sozialsystems begründet wird, muss man sich hierzu positionieren. Dass die Lohnnebenkosten für das Problem der
wachsenden Arbeitslosigkeit in Deutschland allenfalls noch
marginal eine Rolle spielen, müsste inzwischen eigentlich jedem klar sein. Als Telekom im November 2005 den Abbau
von rund 30 000 Stellen ankündigte, geschah dies nach ihrem eigenen Bekunden keineswegs wegen der Sozialabgaben,
sondern wegen der sich ändernden Wettbewerbsbedingungen
und dem Wechsel der Bürger vom Festnetz auf das Handy.
Mitarbeiter wurden in diesem Bereich schlicht nicht mehr
gebraucht. Aber selbst wenn ein Unternehmen wirtschaftlich
gut dastünde und nach der Auftragslage jede/n Mitarbeiter/
in gut brauchen könnte, besteht dennoch die Möglichkeit,
dass es – das hat uns Mannesmann/Vodafone eindrücklich
gezeigt – einfach noch besser dastehen könnte, wenn im
Rahmen von Fusionen tausende Arbeitsplätze überflüssig
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
gemacht würden. Außerdem sind die Arbeitsplätze, über die
ein Unternehmen seine Produktion betreibt und seine Gewinne erzielt, ggf. am kostengünstigsten in Indien oder in
China zu unterhalten. Arbeitsbedingungen wie in diesen Ländern – jenseits von Tarifverträgen und gesetzlichen Mindeststandards – können und sollen in Deutschland bisher nicht
hergestellt werden. Die aktuelle Auseinandersetzung um die
gesetzliche Festlegung von Mindestlöhnen macht allerdings
den Zwiespalt deutlich, mit dem seine Befürworter umgehen
müssen: Angesichts eines zunehmend globalisierten Arbeitsmarktes können Mindestlohnbestimmungen mit dem Ziel der
Einkommenssicherung gerade zu Einkommensabsenkungen
auf eben diese Mindestlohnhöhe führen. Dem ist auch nicht
dadurch abzuhelfen, dass die Mindestgrenzen entsprechend
höher angesetzt werden, denn als zu üppig empfundene Forderungen sind nicht konsensfähig und verschärfen zudem ggf.
noch die schlechte Ausgangslage der eigenen Zielgruppe gegenüber denjenigen, die ihre Arbeitskraft günstiger anbieten.
Der Sozialstaat ist nicht die Ursache dieser Probleme und
kann sie auch nicht lösen, obwohl er auch darauf reagieren
muss. Diese Unterscheidung muss gesellschaftlicher Konsens
sein, damit die Problembekämpfung nicht an der falschen
Stelle stattfindet.
Wird unterschieden zwischen den Problemen des Arbeitsmarktes und den Folgewirkungen auf den Sozialstaat, so wird
schnell nachvollziehbar, dass das mit »Hartz IV« eingeführte
Prinzip des »Förderns und Forderns« in der im Sozialgesetzbuch II erhaltenen Ausformung ins Leere geht und die Sicht
auf die tatsächlichen Probleme gefährlich verstellt. Die Agenda
2010, mit der die Regierung 2003 den unabweisbaren Umbau
des Sozialstaats vorantreiben wollte, bezeichnet als Prämisse
der öffentlichen Fürsorge im Rahmen von »Hartz IV« das
Prinzip des »Förderns und Forderns«. Das Recht auf Fürsorgeleistungen, also auf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe, wird
davon abhängig gemacht, dass die betroffenen Leistungsempfänger jede erdenkbare Anstrengung unternehmen, um ihren
finanziellen Hilfebedarf zu verringern.38 Selbst die, die unter
ökonomischen Gesichtspunkten zu Arbeitsleistungen nicht in
der Lage sind und als »nicht Erwerbsfähige« in die Sozialhilfe
fallen, sollen wenn irgend möglich wenigstens kleine bezahlte
Tätigkeiten übernehmen.39 In der Regierungserklärung vom
14.03.03 vor dem Deutschen Bundestag formulierte Bundeskanzler Schröder es so: »Niemandem ... wird künftig gestattet
sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.«40
Die zentrale Forderung von »Hartz IV« besteht darin, dass
die Transferleistungsempfänger wenigstens im Rahmen ihrer
Möglichkeiten produktiv sein sollen und sei es im Rahmen
gemeinnütziger Tätigkeiten als sog. »1-Euro-Jobber«. Wer
diesbezüglich keine erheblichen Anstrengungen unternimmt
bzw. sich als »Arbeitsuchender« ständig dazu bereithält, dem
wird das Recht auf soziale Unterstützung entzogen. Das ist
inzwischen Gesetzesrealität.
17
18
»Gerecht ist anders«
Silvia Pöld-Krämer
Professorin für Arbeits- und Sozialrecht
Im alten Bundessozialhilfegesetz klang das noch anders. Danach war es die Aufgabe der Sozialhilfe, dem Leistungsempfänger ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht und ihn zu befähigen, möglichst unabhängig
von der öffentlichen Fürsorge zu leben.41 Arbeit war hier eine,
aber keineswegs die einzige Möglichkeit zur Zielerreichung.
Man mag dem entgegenhalten, dass 1961, dem Geburtsjahr
des BSHG, die Arbeitslosigkeit kein gesellschaftliches Problem in Deutschland war. Ist die alte Zielsetzung des BHSG
damit heute für unseren Sozialstaat nicht mehr leistbar oder
wünschenswert?
Das tragende Grundprinzip unseres Sozialstaats ist das sog.
Solidarprinzip. Das sehen auch die Verfechter des neuen
Denkansatzes des »Forderns und Fördern« so. Was versteht
man unter dem Solidarprinzip? Im Sozialwort der Kirchen
von 199742 heißt es: »Solidarität meint die Tatsache menschlicher Verbundenheit und mitmenschlicher Schicksalsgemeinschaft. ... In ihm schlägt sich die Einsicht nieder, dass in der
Gesellschaft ›alle in einem Boot‹ sitzen. ... Aufgabe der ...
Gemeinschaft ist es, die Verantwortung der Einzelnen zu ermöglichen und zu fördern. ... Solidarität stellt Augenhöhe
her. Sie sieht zwischen den Gliedern der Gemeinschaft eine
wechselseitige Verbindung auch im Sinn einer wechselseitigen
Abhängigkeit.« Oskar von Nell-Breuning, der die katholische
Soziallehre im letzten Jahrhundert ganz maßgeblich mit entwickelt hat, bezeichnet das Solidarprinzip als Bau- und Entwick-
lungsgesetz der menschlichen Gemeinschaft. Solidarität ist
damit eine Frage unserer Natur.43 Sie dient allen Beteiligten.
Damit ist eine Sichtweise wie diejenige der Agenda 2010 nicht
vereinbar. Das Prinzip des Förderns und Forderns vermittelt nämlich eine andere, sehr spezifische Sichtweise auf die
Gesellschaft. Es ist eine Gesellschaft derer, die geben und
derer, die nehmen. Die geben, sind die »Produktiven«, denn sie
stellen durch ihre Arbeit und die daran anknüpfenden Sozialabgaben zugleich Werte für den Markt und für den Sozialstaat
– in Form der Transferleistungen – her. Die Nehmenden,
die »Transferleistungsempfänger«, sind die »Unproduktiven«.
Sie erscheinen in doppelter Weise als Klotz am Bein des arbeitenden Bevölkerungsteils. Denn sie nehmen nicht an der
Werteproduktion teil und ziehen zugleich Ressourcen ab.
Inzwischen, im Jahr 3 von »Hartz IV«, wird immer offensichtlicher, dass die gesetzliche Fixierung auf Erwerbstätigkeit und
Erwerbsfähigkeit als Prüfstein der im arbeitsfähigen Alter befindlichen, wirtschaftlich bedürftigen Bevölkerungsgruppen in
die Irre führt. Denn ein nicht unerheblicher Anteil vor allem
der langzeitarbeitslosen »Arbeitsuchenden« ist faktisch wegen
gesundheitlicher, intellektueller und/oder sozialer Einschränkungen nicht vermittelbar. Das belastet die Arbeit der Fachkräfte in den Arbeitsagenturen, Sozialberatungsstellen und
bei den sozialen Einrichtungen bzw. Diensten und verursacht
nicht selten bei den Hilfesuchenden Verwirrung hinsichtlich
der eigenen Leistungseinschätzung, verbunden mit Schuldzuweisungen und Sanktionen durch die Arbeitsagenturen,
wenn »zumutbare« Arbeit »verweigert« wird. Inzwischen zeigen Vorschläge wie die von Arbeitsminister Müntefering und
Wirtschaftsminister Glos, die beide – mit unterschiedlichen
Modellen44 – eine Integration von Langzeitarbeitslosen und
Geringverdienern über staatlich subventionierte Kombilöhne
herbeiführen wollen, dass auf politischer Ebene sehr wohl
die Grenzen einer Integration der im arbeitsfähigen Alter be-
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Pöld-Krämer: Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung
findlichen deutschen Gesamtbevölkerung erkannt werden.
Nur: Man will ihnen begegnen, indem man die Erwerbspflicht strenger denn je gesetzlich verankert und sanktionierbar macht.
Sozialstaat ohne Vollbeschäftigung
Versicherungspflichtige Arbeit kann nicht mehr als Dreh- und
Angelpunkt des Sozialstaats und unserer Gesellschaft gesehen
werden. Diese Erkenntnis ist derzeit nicht leicht zu vertreten,
da im Gefolge der boomenden Wirtschaft auch die Arbeitslosenzahlen (leicht) zurückgehen und mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden.45 Der Streit um
Mindestlöhne, Kombilöhne und nicht zuletzt die nach wie vor
bestehende Zahl von mehr als 4 Mio. Arbeitsuchenden macht
aber deutlich, dass auch ein Zuwachs neuer Stellen nicht mit
der Erwartung von Vollbeschäftigung im bisher verstandenen
Sinne verbunden werden darf. Denn Vollbeschäftigung verbindet die Politik in ihren öffentlichen Äußerungen46 und die
Mehrheit der Bevölkerung noch immer mit der Erwartung
eines auskömmlichen, d. h. den Lebensunterhalt verlässlich
sicherstellenden Einkommens. Diese Erwartung hat keine
realistische Grundlage mehr.47 Das Prinzip Fördern und Fordern muss dieser Erkenntnis angepasst werden.
Man kann sagen, dass die Arbeit inzwischen nicht mehr
Grundlage des Sozialstaats ist, sondern ihm nach dem derzeitigen Verständnis ihrer Funktion zum Hindernis wird. Das
macht einen Paradigmenwechsel nötig. Lohnarbeit ist seit eh
und je ein Ausgangspunkt für das Eintreten in die gesetzlichen
Sozialversicherungszweige gewesen. Dadurch finanziert sie
einen erheblichen Teil unseres Sozialstaates. Lang andauernde Arbeitslosigkeit wird somit nicht nur für die Betroffenen,
sondern bei hoher bzw. lang anhaltender Arbeitslosigkeit auch
für den Sozialstaat zum finanziellen Problem. Da aber die Art
von Arbeit, die den Sozialstaat bisher finanzierte, nicht bzw. in
zu geringem Maß angeboten wird, muss sich der Sozialstaat
von ihr verabschieden, seine Finanzierungsgrundlagen neu
ordnen und seine Leistungsziele entsprechend justieren.
Wie wäre die Neuordnung der sozialstaatlichen Finanzierungsgrundlagen denkbar? Für einen Modellentwurf ist hier
nicht der Platz. Zunächst nur so viel: Anknüpfungspunkt für
die Sozialabgaben war bisher die versicherungspflichtige Beschäftigung. Daneben finanzieren wir alle aus unseren Steuern den Sozialstaat. Ob die Aufrechterhaltung dieser zweifachen Finanzierungsbasis eigentlich auf ewig gerechtfertig ist,
kann man hinterfragen. Zur Zeit der Implementierung der
Sozialversicherungszweige ging es darum, der arbeitenden
Bevölkerung die Möglichkeit zu verschaffen, die Lebensrisiken Arbeitslosigkeit, Krankheit und Erwerbsunfähigkeit
dergestalt abzusichern, dass bis zur Bewältigung der Krise
der Lebensstandard halbwegs gesichert und der Absturz in
die Fürsorge vermeidbar war. Von der Fürsorge zu leben
bedeutete mit dem Existenzminimum zu leben. Heute stehen
die gesetzlichen Sozialversicherungen – außer der ohnehin
etwas atypischen Unfallversicherung – nicht mehr für eine
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Standardsicherung ein. Allen voran hat sich die Arbeitslosenversicherung mit der Verkürzung des Arbeitslosengeldes auf
eine zwölfmonatige Bezugsdauer von der Idee getrennt, dass
die Versicherten dauerhaft oder wenigstens für einen nennenswerten Zeitraum einen Lebensstandard deutlich oberhalb
der Sozialhilfe erwarten dürfen. Wenn aber das Lebensrisiko
Arbeitslosigkeit nicht mehr abgesichert ist und vielleicht auch
nicht abgesichert werden kann, ist dann eine Arbeitslosenversicherung eigentlich noch die richtige Antwort des Sozialstaats
auf das Problem der Arbeitslosigkeit?
Dass der Sozialstaat uns nicht mehr angemessen gegen das Lebensrisiko Arbeitslosigkeit absichern kann, ist offensichtlich.
Also sollte er dies als Ziel aufgeben. Dass der Sozialstaat sich
nicht mehr über Erwerbsarbeit als Finanzquelle nachhaltig
finanzieren kann, scheint ebenfalls offensichtlich. Also muss er
sich einen neuen Anknüpfungspunkt suchen. Dafür kommen
Einkommen und Vermögen der natürlichen und juristischen
Personen unserer Gemeinschaft in Betracht. Arbeitseinkommen kann dabei eine Einkommensart sein, Zinsen und Erträge
eine andere, Einkommen aus Vermögen (z. B. Zinsen) oder
Vermögensveräußerungen (z. B. Unternehmensveräußerungen) eine weitere usw. Sozialversicherung und soziale Fürsorge würden so vermutlich noch näher zusammenrücken als
bisher schon. Wäre das ein Schaden?
Gewonnen würde dafür vielleicht ein Stück Freiheit von der
völligen Fixierung auf das »Problem Arbeit«. Sinn und Zweck
der Solidargemeinschaft muss es sein, jedem Einzelnen unter
uns und damit uns allen als Gemeinschaft ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Arbeit zum Zweck des Selbsterhaltes reicht als verbindendes Ziel einer kleinen wie einer großen
Gemeinschaft nicht aus. Und Arbeit durch die Gestaltung der
Lebensbedingungen für Teile der Bevölkerung zum Selbstzweck – Leben, um zu arbeiten – zu machen, ist menschenverachtend. So entsteht eine Atmosphäre von Misstrauen,
Abwehr und Abwertung gegenüber Sozialleistungsbeziehern,
verbunden mit der Angst um den eigenen Arbeitsplatz. Dies
muss in unserer Gesellschaft immer wieder öffentlich kritisiert
werden. Dies ist nicht nur, aber wegen ihres Selbstverständnisses auch eine Aufgabe der Kirchen, der christlichen Verbände
und Wohlfahrtsorganisationen. Wer zulässt, dass die Werteordnung unserer Gesellschaft derart verkürzt und verkrümmt
wird wie derzeit, der trägt dafür auch Mitverantwortung.
Zu den Grenzen von Eigenverantwortung
auf dem Hintergrund von Solidarität
Ob wir es schaffen, uns von unserer Fixierung auf Erwerbsarbeit als Finanzierungsgrundlage unseres Sozialstaats zu
lösen, steht dahin. Selbst wenn es gelingt, kann und darf
dies nur in einem langjährigen allmählichen Umsteuerungsprozess geschehen. In der Zwischenzeit ist darauf zu achten,
dass die Richtung stimmt, in welche sich der Sozialstaat
entwickelt.
Bisher bezieht sich die sozialpolitische Diskussion um die
Neuordnung der sozialstaatlichen Finanzierungsgrundlagen
19
20
»Gerecht ist anders«
noch auf die einzelnen Zweige der sozialen Sicherungssysteme. Dadurch könnte man den Eindruck bekommen, dass
es um jeweils ganz verschiedene Denkansätze geht, wenn
z. B. in der Krankenversicherung über »Bürgerversicherung
versus Gesundheitsprämie« oder im Hinblick auf die Alterssicherung über »Generationenvertrag versus Kapitalversicherung« gestritten wird. Zunächst einmal liegt aber bei all diesen
Streitigkeiten die Frage zugrunde, ob ein Lebensrisiko wie
Krankheit oder Alter, das jedes Glied unserer Gemeinschaft
grundsätzlich treffen kann, eher solidarisch oder in individueller Eigenverantwortung abgesichert werden sollte.
Unsere Sozialversicherungszweige stellen die bisherige gesellschaftliche Lösung einer solidarischen Absicherung dar.
Allerdings war dies immer nur eine Teillösung. Obwohl z. B.
die Kranken- und noch mehr die Pflegeversicherung quasi
als Volksversicherung fungieren, indem sie rd. 90 % der Bevölkerung erfassen, werden gerade wirtschaftlich besonders
gut situierte Bürger und Bürgerinnen in dieser Solidargemeinschaft nicht mit einbezogen: Die Beamten und die sog.
»Besserverdienenden« sind neben den Selbstständigen von
der Versicherungs- und Mitfinanzierungspflicht ausgenommen. Angesichts dieser Situation gibt es insbesondere aus
den Reihen der SPD-Politiker/innen die Forderung, durch
Einbeziehung der bisher ausgesparten Bevölkerungsteile das
Solidarprinzip auszuweiten. Auf der anderen Seite wird vertreten, dass die gesetzlich verordnete Solidarität der Versicherten
an ihre Grenzen gestoßen sei und ergänzt, wenn nicht ersetzt
werden müsse durch private Vorsorge im Hinblick auf die
allgemeinen Lebensrisiken. Damit hätten die Einzelnen auch
die Entscheidungsfreiheit, ob, und inwieweit, sie ein Lebensrisiko hinnehmen oder absichern wollen.
Bei der Betrachtung der solidarischen Absicherung von Lebensrisiken gibt es einen weiteren Aspekt zu beachten. Dies
zeigt sich vor allem bei der Kranken- und Pflegeversicherung.
Um die Finanzen der Versicherungen nicht zu sehr zu strapazieren, wird die Belastung der Versicherten mit einem Teil
der durch Krankheit oder Pflegbedarf verursachten Kosten
für gerechtfertigt erklärt. Denn nicht jede kleine Krankheit
und nicht jede pflegerische Unterstützung im Kontext von
Krankheit, Alter und Behinderung muss gleich als »Lebensrisiko« durch eine ganze Versichertengemeinschaft abgedeckt
werden. In der Krankenversicherung hat das in den letzten
Jahren zu einem wachsenden Katalog von Leistungen geführt,
die von der Versorgungspflicht der Kassen ausgenommen
sind oder zu denen der Versicherte eine Zuzahlung leisten
muss. In der Pflegeversicherung wurde das Pflegerisiko von
vornherein als etwas angesehen, mit dem der Betroffene und
seine Angehörigen grundsätzlich allein fertig werden müssen.
Nur da, wo der Pflegebedarf so erheblich ist, dass der Einzelne
die Belastung nicht schultern kann, wird er durch einen Zuschuss der Pflegekasse unterstützt. Wer damit seinen Bedarf
nicht decken kann, muss auf Sozialhilfe zurückgreifen. Es
erscheint prinzipiell richtig, dass der Gesetzgeber die Frage
nach Solidarität oder Eigenverantwortung in dieser doppelten
Weise stellt. Solidarität kann überflüssig sein – wenn nämlich
der Betroffene sich selbst helfen kann. Und Solidarität kann
überfordert sein – wenn nämlich das abzusichernde Risiko
größer ist als die Mittel, die der Solidargemeinschaft zur Verfügung stehen.
Grundsätzlich muss man sich im Hinblick auf unseren Sozialstaat aber klar machen, dass darin das Modell der Eigenverantwortung bzgl. der Absicherung allgemeiner Lebensrisiken
nur begrenzt tragfähig ist. Würde man Ernst machen mit der
Eigenverantwortung bei der Absicherung des Krankheitsrisikos, dann müsste es z. B. möglich sein, dass ein Kranker, der
weder versichert ist noch über ausreichende Barmittel verfügt,
tatsächlich unbehandelt bleibt und seine Gesundheit oder gar
sein Leben riskiert. Das ist bei uns – Gott sei Dank – nicht
denkbar. Man kann hier rechtlich argumentieren und auf
unsere Verfassung48 verweisen, die es dem Staat nicht erlaubt,
einzelne seiner Bürger im Fall von Krankheit, Behinderung
oder Pflegebedarf oder bei finanzieller Bedürftigkeit infolge
Arbeitslosigkeit oder Altersarmut ganz ohne Hilfe zu lassen.
Aber auch ohne rechtliche Absicherung ließe sich in Deutschland eine völlige staatliche Abständigkeit gegenüber Not leidenden Bürgern und Bürgerinnen politisch nicht halten. Da
dies so ist, muss anerkannt werden, dass unsere Gesellschaft
letztlich immer für die solidarische Absicherung der einzelnen
Mitglieder einsteht. Wer die Solidargemeinschaft braucht,
weil es mit der »Eigenvorsorge« nicht geklappt hat, der findet
sie in der staatlichen Fürsorge jederzeit vor, ganz unabhängig
von einem gegebenenfalls vorwerfbaren Eigenverschulden.
Auch die, die sich unter Berufung auf »Eigenvorsorge« der
Solidargemeinschaft entziehen, bleiben als Hilfeberechtigte
ein Teil von ihr. Um es gleich klarzustellen: Das ist auch
richtig so. Wer würde ernsthaft wollen, dass Kranke oder
Bedürftige aus welchen Gründen auch immer ohne die nötige
Hilfe bleiben? Wird allerdings über Eigenverantwortung hinsichtlich sozialer Risiken debattiert, ist die Frage angebracht,
ob damit nicht möglicherweise nur den Gutverdienenden die
Solidarität mit den Gering- oder Nichtverdienenden erspart
werden soll in der Gewissheit, dass für den Fall der Fälle die
vordem abgelehnte Solidargemeinschaft sehr wohl für die
Betroffenen einspringt.
Eigenverantwortung und Solidarität
am Beispiel der Gesundheitsversorgung
Bezogen auf die Reform der Krankenversicherung bedeuten
diese Überlegungen, dass die Einnahmenseite der Versicherung erweitert werden muss, um den Faktor Erwerbsarbeit
zu marginalisieren und eine umfassende solidarische Absicherung tatsächlich herzustellen. In diese Richtung geht z. B. die
Idee einer »Bürgerversicherung« unter Einbeziehung neuer
Zielgruppen wie der Beamten und Besserverdienenden sowie
der Heranziehung aller Einkommensarten bei der Beitragsberechnung. Der mit der GKV-WSG49 eingeführte Gesundheitsfond – der erst ab 2009 Realität werden soll – könnte
noch im Sinne solcher Zielsetzungen ausgerichtet werden. Die
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Pöld-Krämer: Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung
jetzt schon in Kraft getretene erweiterte gesetzliche Versicherungspflicht50, welche die Medien irreführend auch z. T. als
»Bürgerversicherung« titulieren, hat damit nichts zu tun. Die
Regelung will lediglich wirtschaftlich ungesicherte Personen,
insbesondere Selbstständige und Rentner, vor dem Herausfallen aus dem Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung
bewahren.
Was den Leistungsumfang der Krankenkassen angeht, ist
die Unterscheidung zwischen »Wellness«- bzw. zum allgemeinen Lebensunterhalt gehörenden Gesundheitsleistungen
(wie Hautcreme, Zahnseide etc.) und krankheitsbedingt erforderlicher medizinischer Hilfe sicher sinnvoll und nötig. Die
Gesundheitsreform 2003 und die entsprechende Angleichung
der sozialhilfefinanzierten Krankenhilfe51 ist über dies Ziel
weit hinausgeschossen. Soziale Gerechtigkeit findet hier in
der Weise statt, dass Reich wie Arm Praxisgebühren, Zuzahlungsbeträge und vor allem die von der Leistungspflicht
ausgeschlossenen Arzneimittel aus eigener Tasche finanzieren
müssen.52 Zwar wurden Zahnersatz und Krankengeld nicht
aus der Leistungspflicht der Kassen ausgegliedert; stattdessen
fällt »nur« ein zusätzlicher Versicherungsbeitrag an. Die Versorgung mit Sehhilfen für erwachsene Bürger und Bürgerinnen ist dagegen – mit Ausnahme von Extremfällen – gänzlich
entfallen.53 Wegen der Krankenhilfeangleichung werden bedürftige Frauen nicht einmal mehr mit der Pille versorgt; nur
Abtreibungen bekommen sie im Bedarfsfall noch auf Staatskosten. Brille, Pille und Zahnersatz sind keine »Wellness-«
oder »Zusatzleistungen«. Sie sind allerdings bei entsprechendem Einkommen ohne Weiteres bezahlbar und dann nach
dem oben dargestellten Verhältnis von Eigenverantwortung
und Solidarität kein Fall für die Solidargemeinschaft. Im Hinblick auf Fürsorgeempfänger und Menschen mit vergleichbar
niedrigem Einkommen verlangt das Solidarprinzip, welches
der gesetzlichen Krankenversicherung immer noch zugrunde
liegt, die Wiedereinführung wirtschaftlicher Härteklauseln,
damit eine umfassende und kostenfreie Krankenversorgung
der bedürftigen kranken und behinderten Bürger und Bürgerinnen erneut sichergestellt wird.
Eigenverantwortung und Solidarität
am Beispiel der Altersvorsorge
Was die Rentenversicherung betrifft, so muss auch hier die
Marginalisierung von Erwerbsarbeit und die Sicherstellung
eines menschenwürdigen Lebens das Versicherungsziel sein.
Ähnlich wie bei der Krankenversicherung müssten demnach
alle Bürger mit allen Einkommensarten in die Versicherung
einbezogen sein. Und auch in einem weiteren Punkt müssen
wir die Rentenversicherung den Strukturen der Krankenversicherung anpassen: Einzahlen muss jede/r nach seinem
oder ihrem wirtschaftlichem Vermögen, aber als Auszahlung
sollten alle eine einheitliche Rente erhalten. Dies ist nicht zu
verwechseln mit einer »Grundrente«, die sich ihrer Grundidee
nach zwingend an der bloßen Existenzsicherung ausrichtet.
Das wäre nichts anderes als Altersarmut auf Rentenbasis. Die
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Aufgabe der Rentenversicherung kann andererseits nicht in
der Sicherung des jeweiligen Lebensstandards ihrer ehemaligen Beitragszahler bestehen. Interessanterweise schätzen
dies offenbar schon viele Bürger und Bürgerinnen – entgegen
der geltenden Rechtslage – genau so ein. Untersuchungen
haben ergeben, dass es immer noch eine hohe Zustimmung
bei Jung und Alt zum sog »Generationenvertrag« gibt, also
zur Finanzierung der Altersrenten durch die jeweils nachgewachsene und in Arbeit stehende Generation, während
gleichzeitig wenig Vertrauen der Jüngeren besteht, dass sie
im Alter eine ihren Einzahlungen halbwegs entsprechende
Rente erhalten werden. 54 Tatsächlich sorgt unser derzeitiges
Rentensystem dafür, dass wir ihm nicht trauen können. Der
Generationenvertrag, auf den es sich beruft, ist nämlich seiner
Grundidee nach nichts anderes als ein System der Umverteilung: Weil die Jungen für die Alten gesorgt haben, werden sie
auch selbst im Alter von ihren Nachkommen versorgt. Dieses
System will jeder Generation die Angst vor einem Leben in
Altersarmut nehmen. Eine solche Umverteilung zwischen den
Generationen nimmt unser Rentensystem aber letztlich gar
nicht vor. Die Rentenzahlung richtet sich derzeit danach, wie
viel und wie lange man in die Versicherung eingezahlt hat.
Damit funktioniert sie eigentlich nicht viel anders als eine
private Kapitalversicherung: Was ich einzahle, will ich später
auch wiederhaben – am besten mit Zins und Zinseszins. Bei
einer privaten Kapitalversicherung trage ich allerdings das
Risiko, dass meine Geldanlage durch Börsenprobleme, Inflation oder ähnliche nicht vorhersehbare Risiken des Kapitalmarktes wertlos wird. Dies Risiko ist uns Deutschen offenbar
bewusst und wir wollen es nicht eingehen. Man kann das an
den öffentlichen Klagerufen der Politik und Ökonomie über
die geringe Akzeptanz der privaten Alterssicherung bei uns
ablesen. Es ist offenbar so, dass wir es mit denen halten, die
wie seinerzeit Oskar von Nell-Breuning die Idee einer privaten Alterssicherung für Unsinn halten. Zu ihnen gehört auch
Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der in einem Beitrag für
die ZEIT55 darauf hinwies, dass in einem privaten wie einem
staatlichen Altersvorsorgesystem die Renten immer nur aus
dem finanziert werden können, was die nächste Generation
aktuell erwirtschaftet. Wer dies anerkennt, muss sich von dem
Gedanken einer beitragsentsprechenden Rente verabschieden
und zwar möglichst bald. Genau so, wie die eben verabschiedete Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre56 grundsätzlich zu bejahen ist. Die Verlängerung der Lebenszeit muss
wenigstens ein Stück weit aufgefangen werden durch eine
Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Das ist ein Gebot der
Generationengerechtigkeit, damit die (immer weniger werdenden) Jüngeren in der Gesellschaft die (immer mehr werdenden) Älteren nicht über Gebühr solidarisch unterstützen
müssen. Dass dies zu erheblichen Problemen angesichts eines
Arbeitsmarktes führen wird, der Arbeitsuchende spätestens ab
50 Jahren weitgehend ausgrenzt und überdies für die älteren
Beschäftigten noch in keiner Weise angemessene Konzepte
für alterns- bzw. alterungsgerechte Beschäftigungsverhältnisse
21
22
»Gerecht ist anders«
entwickelt hat, soll nicht übersehen, aber an dieser Stelle auch
nicht vertieft werden.57
Mit einer längeren Erwerbsphase und einer gesetzliche Rente,
welche sich tendenziell an den aktuellen Einnahmen der Versicherung statt an den eigenen Beitragseinzahlungen orientiert,
kann Eigenvorsorge dann noch in Form eines »et on« betrieben
werden. Zur Veranschaulichung sei auf den Vergleich mit einem Menü zurückgegriffen: Der Hauptgang wird solidarisch
bezahlt, den Nachtisch kann man auf eigene Kosten kaufen.58
Und wenn man das Geld für den Nachtisch nicht hat, ist es
auch nicht so schlimm.
Eigenverantwortung und Solidarität
am Beispiel des täglichen Lebensbedarfs
Was schließlich die Absicherung des Lebensunterhaltes mit und
ohne Erwerbsarbeit angeht, so gibt es schon lange die Forderung nach einem steuerfinanzierten armutsfesten Bürgergeld.
Derzeit wird die Diskussion darüber vielfach unter dem Begriff
»bedingungsloses Grundeinkommen« geführt. Über dessen Ausgestaltung und Höhe wird man noch viel diskutieren müssen.
Am schwierigsten wird der Spagat sein, den die systematische
Integration von Erwerbsarbeit erfordert. Erwerbsarbeit sollte
in einer Solidargemeinschaft als ein produktiver Beitrag Anerkennung finden. Aber der zeitweise oder dauerhafte Verlust
von Arbeit darf nicht zu Ausgrenzung und Chancenlosigkeit
führen. Wie kann es gelingen, dass Erwerbsarbeit selbst unter
herausfordernden und anstrengenden Bedingungen auch dann
noch attraktiv bleibt, wenn ein Leben ohne diese Arbeit weder
eine materielle noch eine soziale Bedrohung darstellt? Den
bisherigen, sehr kontroversen Beiträgen zum bedingungslosen Grundeinkommen ist noch kein überzeugendes Modell zu
entnehmen.59 Aber auch wenn der Weg noch offen ist, kommt
als Ziel nur in Betracht, dass in unserer Solidargemeinschaft
ein menschenwürdiges Leben mit und ohne Arbeit gesichert
ist, und dass Ansehen und gesellschaftliche Teilhabe an der
Person und nicht am Vorhandensein oder Nichtvorhandensein
eines Arbeitsplatzes anknüpfen.
Ein Mittel dazu, diese Ziele zu verwirklichen, besteht in sozialen Netzwerken wie Familie, Nachbarschaften, Gemeinden
und Gemeinschaften unterschiedlichster Interessengruppen.
Soziale Netzwerke bieten sehr wirkungsvoll Möglichkeiten,
einerseits produktive Beiträge jenseits der herkömmlichen
Erwerbsarbeit einbringen zu können und andererseits für
den Bedarfsfall auch eine Versorgungssituation herzustellen,
die mehr als nur das für ein menschenwürdiges Leben Auskömmliche bietet. Die Familie im althergebrachten Sinn ist
dafür ein ganz gutes Beispiel. Hier mischten sich Erwerbsund Reproduktionsarbeit. Und beide hatten in den Augen
der Familienmitglieder eine gleichwertige Bedeutung. Alle
zusammen schafften sie neben der finanziellen Lebensbasis
einen sozialen Zusammenhalt, der im Ergebnis auch eine
Art geldwerten Vorteil darstellte. Denn stabile soziale Beziehungen bieten nun einmal auf ihre Weise auch Schutz
vor den Wechselfällen des Lebens. Eine Untersuchung von
Blinkert/Klie hat z. B. ergeben, dass in stabilen sozialen Netzwerken die Angehörigenpflege sicher gestellt ist – mit und
ohne finanzielle Hilfen wie dem Pflegegeld. Instabile soziale
Beziehungsgefüge dagegen führen zu nicht gesicherten Pflegesituationen – ebenfalls unabhängig von Ansprüchen auf
finanzielle Hilfen.60
Soziale Netzwerke können und sollen nicht mehr wie früher
anstelle unserer sozialen Sicherungssysteme für Notlagen
ihrer Mitglieder einstehen. Es geht hier auch nicht um bürgerschaftliches Engagement, welches eher im Hinblick auf
die Übernahme sozialer Aufgaben thematisiert wird denn im
Hinblick auf wechselseitige soziale Beziehungspflege. Soziale
Netzwerke werden – wenn sie gelingen sollen – in unserer
Gesellschaft ihren Tribut fordern, z. B. indem die Mitglieder
des Netzwerkes weit weniger flexibel verfügbar sind als derzeit
in der Arbeitswelt gefordert. Aber soziale Netzwerke brächten
auch einen individuellen wie gesamtgesellschaftlichen Gewinn. Denn auf der Basis verlässlicher sozialer Sicherungsleistungen können soziale Netzwerke einen Rahmen bieten,
der für die Beteiligten mit sozialen und mittelbar auch mit
finanziellen Vorteilen verbunden ist. Um noch einmal ein
Bild zur Veranschaulichung zu nehmen: Wenn die soziale
Absicherung des Einzelnen im Umfang einer Grundrente den
Kaffee darstellt, dann können soziale Netzwerke Milch und
Zucker sein, die für sich genommen weder nach Masse noch
nach Kosten Bedeutung haben. Für den Genuss des Getränks
haben sie aber eine erhebliche Bedeutung.
Anmerkungen
1 Es handelt sich um die leicht überarbeitete und aktualisierte Fassung eines am 09.11.2005 gehaltenen Vortrages anlässlich der
Hauptversammlung des Verbandes Evangelischer Diakonen und
Diakoninnengemeinschaften in Deutschland (VEDD). Der besseren Lesbarkeit wegen wird die weibliche neben der männlichen
Form nicht durchgehend benutzt.
2 Wort der Ev. Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen
Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover/Bonn 1996; Kommission für gesellschaftliche und
soziale Fragen der Deutschen Bischöfe, Das Soziale neu denken,
2003; Rat der EKD, Gerechte Teilhabe, Denkschrift zur Armut
in Deutschland, Gütersloh 2006
3 Auf Antrag der Koalitionsfraktion erhielt die Bundesregierung
2000 erstmals den Auftrag zur regelmäßigen Erstellung von Armuts- und Reichtumsberichten mit dem Ziel, soziale Gerechtigkeit
in der Politik zu stärken, zum 2. Armuts- und Reichtumsberichts
2005, S. 15, s. auch Fn 19; BLÜM, N., Gerechtigkeit – eine Kritik
des Homo oeconomicus, Freiburg 2006; LAFONTAINE, O., Politik
für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft, Berlin 2006;
HÖHLER, G., Jenseits der Gier. Vom Luxus des Teilens, Berlin
2007
4 Zum Beispiel HORSTER, D. (Hrsg.), Sozialstaat und Gerechtigkeit Göttingen 2005, GRÖTZINGER, G./MASCHKE, M./OFFE, C.,
Die Teilhabegesellschaft. Modell eines neuen Wohlfahrtsstaats,
Frankfurt a. M. 2006
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Pöld-Krämer: Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung
5 Zum Beispiel HEBEL, St./KESSLER, W. (Hrsg.), Zukunft sozial:
tungskosten/weitere Ausgaben zu verstehen, Quelle: Bundesmi-
Wegweiser zu mehr Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2004; HART-
nisterium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialkompass in Europa
WIG, I./SPENGLER, T. (Hrsg.), Die große Entsolidarisierung, Kurs-
2007, Bonn 2006, S. 18, 19.
buch Nr. 157, Berlin 2004; Social Watch Deutschland, Kein Geld
für die Armen, Report 2006
6 Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG
7 Zum Konzept des Sozialstaats und den Merkmalen seines wohlfahrtsstaatlichen Arrangements s. KAUFMANN, F.-X., Herausforderungen des Sozialstaats, Frankfurt a. M. 1997, S. 21 ff.
8 Tagesspiegel online v. 28.07.05 unter: www.tagesspiegel.de/
21 Bezogen auf die EU-25, Quelle Bundesministerium für Arbeit
und Sozialordnung Fn. 20, S. 16.
22 BESKE, F./DRABINSKI, U./GOLBACH, Leistungskatalog des Gesundheitswesens im internationalen Vergleich. Eine Analyse von
14 Ländern, Kiel 2005.
23 Pressemittelung des IGSF v. 31.08.05 URL (30.03.07) www.
igsf.de/Band104-lang.pdf
politik/index.asp?ran=on&url=http://archiv.tagesspiegel.de/ar-
24 2. Armuts- und Reichtumsbericht, Fn 3 und 19, S. 60
chiv/28.07.2005/1958359.asp
25 Dass 2005 noch 630 000 Personen Grundsicherung im Alter und
9 S. § 23 SGB IV i. d. F. des zum 1.1.2006 in Kraft getretenen
bei Erwerbsminderung bezogen, Fn 17, erklärt sich wesentlich
Gesetzes zur Änderung des Vierten und Sechsten Buches Sozi-
daraus, dass zu den Leistungsbeziehern nicht nur die über 65-Jäh-
algesetzbuch (»Rentenentlastungsgesetz«).
10 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz BTDrs. 16/3794
11 Mitteilung des BMGs unter: www.die-gesundheitsreform.de/presse/pressemitteilung/pdf/2005_2/pmnr_103-GKV1-Quartal.pdf
12 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG), BT-Drs. 16/3100
13 Gemeinsame Stellungnahme der Spitzenverbände vom 06.11.06
rigen, sondern auch die unter 65-jährigen volljährigen Menschen
gehören, die behinderungsbedingt erwerbsunfähig sind.
26 S. Koalitionsvereinbarung 1998, II Arbeit, S. 10; Koalitionsvereinbarung 2005, S. 21
27 Das Kabinett hat am 14.3.08 den Entwurf für eine Unternehmenssteuerreform 2008 verabschiedet, um die Unternehmenssteuerbelastung auf 29,83 % abzusenken, Quelle: Berlin Kontor Online
URL (30.03.07) www.aok-bv.de/politik/reformwerkstatt/re-
Press Service URL (30.03.07) www.berlinkontor.de/14.03.2007/
form2006/index_08721.html
kabinett-beschliesst-2983-unternehmenssteuer.html
14 S. dazu Der Spiegel, 43/2005, Alltägliche Selbstbedienung,
S. 24, 25, K. RUDZIO, Betrug und Irrtum, in: Die Zeit Nr. 44 v.
27.10.05, S. 23, J. VIERING, Rechenkunststücke mit Hartz IV, SZ
v. 29.10.05, S. 8
15 S. Süddeutsche Zeitung Nr. 71 v. 26.03.07, S. 5, Geldsegen weckt
Begehrlichkeiten. Laut diesem Artikel werden für 2007 zwischen
10 und 15 Mrd. Euro Überschuss erwartet.
16 Zur Vorgeschichte und zum Gesetz zur Änderung des Zweiten
Buches Sozialgesetzbuch und des Finanzausgleichsgesetzes vom
28 OECD Revenue Statistics 1965-2005 Abb. 13110 zit. von Jahnke
unter URL www.jjahnke.net/steuern.html
29 So die KPMG-Studie »Steuersätze 2006 im internationalen
Vergleich«, Pressemitteilung v. 18.04.06 URL (30.03.07) www.
presseportal.de/story.htx?nr=811734.
30 DEGEN , J., Mehr Freiheit, in: Sozialwirtschaft 1/2007, S. 11,
12.
31 STEINGART, G., Deutschland. Der Abstieg eines Superstars, München 2005, S. 116, 117.
22.12.2006, BGBl. I S. 3376 v. 28.12.2006, URL (30.03.07)
32 S. dazu HORSTER Fn 4
www.aus-portal.de/aktuell/gesetze/01/index_8279.htm.
33 Fn 2
17 Tatsächlich stieg die Anzahl der Empfänger/innen von Grundsi-
34 www.diegesellschafter.de
cherung im Alter und bei Erwerbsminderung bis Ende 2005 im
35 STEINFELD, Th., wir wollen alle gut sein, SZ v. 21.09.05
Vergleich zum Vorjahr um fast 20 % auf rund 630 000 Personen,
36 Gesellschaft im Reformprozess, Ergebnisse einer Erhebung der
während die Anzahl der Bezieher/innen von Hilfe zum Lebensun-
TNS Infratest Sozialforschung Berlin 2006, 94, download über
terhalt außerhalb von Einrichtungen nach vorläufiger Erschätzung
des statistischen Bundesamtes Ende 2005 sich auf rund 81 000
Personen belief. Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland,
URL www.destatis.de/presse/deutsch/sach/pm08.htm.
18 In einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung,
URL www.harald-thome.de
37 NOLTE, P., Generation ReformJenseits der blockierten Republik,
München 2004, S. 70, 71
38 S. vor allem §§ 1 – 3, 31 SGB II
39 S. § 11 Abs. 3 SGB XII
21.11.2006, nennt das Geschäftsführende Präsidialmitglied des
40 URL www.unser-parlament.de Link Reden und Dokumente
Deutschen Städte- und Gemeindebundes Dr. Landsberg die Zahl
41 § 1 BSHG; das BSHG trat mit dem 31.12.2004 außer Kraft.
von 630 000 Beziehern von Grundsicherung im Alter und bei
42 Fn 2 S. 47 – 49
Erwerbsminderung URL (30.03.07) www.dstgb.de Link Pres-
43 Von NELL-BREUNING, O., Baugesetze der Gesellschaft, Freiburg/
semeldungen; hinzu kommen noch die Bezieher/innen von Hilfe
zum Lebensunterhalt in der Sozialhilfe, sodass die Gesamtzahl
der Sozialhilfebezieher/innen sich entsprechend erhöht.
19 URL (30.03.07) www.sozialpolitik-aktuell.de/docs/Lebenslagen
%20in%20Deutschland_Bericht.pdf
Basel/Wien 1990, S. 22 ff.
44 S. zum von Müntefering favorisierten Modell Bofinger IZA, DIW
Berlin, Beschäftigungs- und finanzpolitische Auswirkungen des
Konzepts von Bofinger und Walwei, IZA Research Report No 1,
Februar 2007, URL www.iza.org/files/IZA-Gutachten_Kombi-
20 Darunter sind hier die Gesamteinnahmen/-ausgaben für soziale
lohn.pdf und zum von Glos verfolgten Modell IZA, Untersuchung
Sicherung, bestehend aus direkten Sozialleistungen plus Verwal-
der beschäftigungs- und finanzpolitischen Auswirkungen eines
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
23
24
»Gerecht ist anders«
Konzepts für existenzsichernde Beschäftigung des Bundesminis-
56 Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demographi-
teriums für Wirtschaft, März 2007, URL www.iza.org/index_ht
sche Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen
ml?lang=de&mainframe=http%3A//www.iza.org/de/webcontent/
der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpas-
news/index_html&topSelect=news
sungsgesetz), BT-Drs. 16/4372
45 »Mehr Arbeitsplätze in DAX-Konzernen«, Süddeutsche Zeitung
Nr. 68 v. 22.03.07, S. 19
46 »Wer arbeitet, soll nicht arm sein«, Süddeutsche Zeitung Nr. 72
v. 27.03.07, S. 6
57 S. dazu EBERT et al. Fn 47
58 Als anschauliches Beispiel könnte man auch auf den Cappuccino
verweisen, dessen Kaffeebrühe für die solidarische Sicherung und
dessen Rahm für die Eigenvorsorge stünde; der Begriff ist aber
47 EBERT, A./KISTLER, E./STAUDINGER, Th., Rente mit 67 – Proble-
bereits politisch besetzt und in spezifischer Weise gefüllt, s. JU-
me am Arbeitsmarkt, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 4-5/2007,
Beschlüsse zur Sozialpolitik v. 11.05.2004 und die Stellungnahme
S. 25, 27 m. w. N.
zum dreisäuligen »Cappuccinomodell« unter: www.dachaueriz.
48 Gebot des Schutzes der Menschenwürde aus Art. 1 GG.
49 Das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV-WSG), BT-Drs. 16/3950, tritt vom
1.4.07 an bis 2011 stufenweise in Kraft.
50 § 5 Abs. 1 Nr. 13 n. F.
51 §§ 48 ff. SGB XII, § 264 SGB V
52 §§ 34, 61, 62 SGB V
de/html/modules.php?name=IZ_Nachrichten&func=showArtic
le&id=761.
59 Zum Stand der Debatte zwischen Reiner Roth und Ronald Blaschke s. labournet.de Germany URL www.labournet.de/diskussion/
arbeit/existenz/linkskritik.html.
60 BLINKERT, B/KLIE, Th., Pflege im sozialen Wandel, Hannover
1999, S. 181
53 § 31 SGB V
54 DALLINGER , U., Generationengerechtigkeit – Wahrnehmung
Anschrift der Verfasserin
in der Bevölkerung, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 8/2005,
Silvia Pöld-Krämer
S. 29 – 37
FH Bielefeld – FB 4
55 Die Zeit Nr. 32 v. 04.08.05, S. 9
Jakobusstr. 3
33604 Bielefeld
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
»Gerecht ist anders ...«
Ökonomisch
kontraproduktive
Verteilungen der
Wertschöpfung
25
Heinz-J. Bontrup
Dipl.-Ökonom, Dipl.-Betriebswirt,
Professor für Wirtschaftswissenschaft
Mitglied der Arbeitsgruppe
Alternative Wirtschaftspolitik
Heinz-J. Bontrup
Entscheidend für einen weitgehend krisenfreien Marktprozess
ist die Verteilungsfrage der jährlich generierten Wertschöpfung,
die auch als »Wert der Arbeit« bezeichnet werden kann. Dieser
Wert zerfällt in die geleisteten Lohn- und Gehaltszahlungen
sowie in Form von Gewinn, Zinsen und verausgabten Mietund Pachtzahlungen. Durch die Besteuerung dieser Wertschöpfung ist der Staat u. a. in der Lage, einen Sozialstaat
zu finanzieren. Was passiert nun aber, wenn sich erstens die
Wertschöpfung immer mehr in Richtung einer Umverteilung
zu den Gewinn- und Vermögenseinkünften bewegt und zweitens
der Staat durch Steuern und Abgaben zusätzlich immer mehr
den »Faktor« Arbeit und damit die Löhne und Gehälter belastet
sowie die Unternehmensgewinne und Vermögenseinkünfte
entlastet?
In der Wirtschaftswissenschaft konkurrieren zur Beantwortung dieser Fragen zwei theoretische Ansätze miteinander.
Da ist zum einen die neoklassische/neoliberale Theorie, auch
Angebotstheorie genannt, die zur Bekämpfung der seit Mitte
der 1970er-Jahren bestehenden Massenarbeitslosigkeit auf
den Markt, auf Wettbewerb, und eine Zurückdrängung des
Sozialstaates pocht. Die Löhne und Lohnnebenkosten müssten gesenkt, der Sozialstaat beschnitten und die Gewinne
und Vermögenseinkommen erhöht werden. Dann würden die
Unternehmen auch investieren und es käme zu mehr Beschäftigung. Dieser marktradikalen Sicht steht die keynesianische
Theorie gegenüber. Demnach gibt es unter kapitalistischen
Markt- und Wettbewerbsbedingungen keinen krisenfreien
Mechanismus, der automatisch für eine vollbeschäftigte Wirtschaft sorgt. Einzelwirtschaftliches – auch rationales – Handeln impliziere per se kein gesamtwirtschaftlich positives Ergebnis. Ohne staatliche Interventionen in den Marktprozess
seien allenfalls suboptimale Ergebnisse möglich. Ob durch
Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörungen oder durch die Verteilungen der primären Markt- und Wettbewerbsergebnisse,
immer käme es nur zu einer unzureichenden volkswirtschaftlichen Wohlfahrtsentwicklung.
Was ist nun aber richtig? Dies soll im Folgenden empirisch
anhand der Verteilung der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung
in Deutschland untersucht und darstellt werden.
Sinkende Löhne und Gehälter bei
steigenden Gewinnen und Vermögenseinkünften
Schaut man sich die funktionale Verteilung der gesamtwirtschaftlich geschaffenen Wertschöpfung an, so wird überdeutlich, dass es zu einer Umverteilung zur Profitquote (Gewinne,
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Zinsen, Miet- und Pachteinkünfte) in Deutschland gekommen ist. Im langfristigen Trend ist die um den Anteil der
Selbstständigen bereinigte gesamtwirtschaftliche Brutto-Lohnquote, die im Jahr 1974 seit Gründung der Bundesrepublik
mit 75,2 v. H. ihren Höhepunkt erreicht hatte, bis 2005 um
6,2 Prozentpunkte auf 69,0 v. H. zurückgegangen. Immer
höhere Arbeitslosigkeit – seit der Wiedervereinigung gab es
einen Anstieg um 87 v. H. – sowie prekäre Beschäftigung,
Niedriglohn-Jobs und ausbleibende Reallohnsteigerungen
prägen das gesamtwirtschaftliche Bild. So ist die Zahl der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten allein von 2000 bis
2005 um 1,7 Millionen Personen zurückgegangen, während
die 400-Euro-Jobs im selben Zeitraum um 670 000 zugelegt
haben. Konnten die nominalen Nettolöhne und -gehälter
zwischen 1991 und 2005 jahresdurchschnittlich noch um
1,7v. H. steigen, so gingen die Reallöhne und -gehälter um 0,3
v. H. zurück, obwohl das Volkseinkommen im selben Zeitraum jahresdurchschnittlich um 2,6 v. H. zulegte.
Besonders extrem waren die gesamtwirtschaftlichen Umverteilungswerte nach dem Börsenabsturz und dem Zusammenbruch der sogenannten New Economy im Jahr 2001.
Von 2001 bis 2005 zeigt sich hier insgesamt, trotz des konjunkturellen Einbruchs, ein Anstieg des Volkseinkommens –
also der zur Verfügung stehenden gesamtwirtschaftlichen
Wertschöpfung – um 160 Mrd. Euro (vgl. Tab. 1). Um diese Summe ist Deutschland während dieses Zeitraums insgesamt reicher geworden. Jahresdurchschnittlich entsprach
dies einer Wachstumsrate von 2 v. H. Von diesem Reichtum
entfallen aber auf Unternehmens- und Vermögenseinkommen 131,1 Mrd. Euro, dies entspricht einer Quote von fast
82 v. H. Auf die Arbeitnehmerentgelte der gut 34 Millionen
abhängig Beschäftigten kamen aber lediglich nur 28,9 Mrd.
Euro oder eine Quote von 18 v. H. des Volkseinkommens.
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik sind im Jahr
2005 die Arbeitnehmerentgelte sogar nominal um 5,6 Mrd.
Euro gesunken, was bedeutet, dass die Unternehmens- und
Vermögenseinkommen stärker zugenommen haben als das
gesamte Volkseinkommen. Nur was wurde – einmal unabhängig von den sozialen Verwerfungen, von der Zunahme
der Armuts- und Reichtumsschere – damit erreicht? Selbst
bei einer unterstellten konstanten gesamtwirtschaftlichen
Sparquote nichts anderes als ein Rückgang der binnenwirtschaftlichen Konsumgüter- und Investitionsgüternachfrage.
Diesen Rückgang konnte auch die äußerst erfolgreiche Auslandsnachfrage – die aber nur nach Abzug der Importe etwa 5
26
»Gerecht ist anders«
Tab. 1: Zunahme des Volkseinkommens und seine Verteilung Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit
Volkseinkommen
Arbeitnehmerentgelt
Unternehmens- und Vermögens-
Reales Wirtschaftswachstum
Registrierte Arbeitslosigkeit
einkommen
2001
2002
2003
2004
2005
Gesamt
in Mrd. €
in v. H.
in Mrd. €
in v. H.
36,4
20,3
18,8
58,3
26,2
160,0
2,4
1,3
1,2
3,6
1,6
2,0
20,6
8,1
2,4
3,4
-5,6
28,9
1,9
0,7
0,2
0,3
-0,5
0,5
in Mrd. €
15,8
12,2
16,4
54,9
31,8
131,1
in v. H.
in v. H.
in Tsd.
in v. H.
3,7
2,8
3,6
11,7
6,1
5,5
1,2
0,0
-0,2
1,2
0,9
0,9
3.852
4.060
4.376
4.381
4.863
-1,0
5,4
7,8
0,1
11,0
4,6
* Prognose. Quelle: Statistisches Bundesamt 2005, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, eigene Berechungen
v. H. der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ausmacht – nicht
kompensieren. Im Gesamtergebnis kam es zu einer verheerenden Wachstumsschwäche und zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit. So stieg das reale Bruttoinlandsprodukt von
2001 bis 2005 lediglich um jahresdurchschnittlich 0,9 v. H.
bei einem gleichzeitigen jahresdurchschnittlichen Anstieg der
registrierten Arbeitslosenzahlen um 4,6 v. H.
Immer mehr disproportional verteiltes Vermögen
Das nur schwache Wirtschaftswachstum, Massenarbeitslosigkeit und die Umverteilung zur Profitquote haben aber noch
eine zweite wesentliche Wirkung gehabt. Eine zunehmende
disproportionale Verteilung der Geldvermögensbestände. Aus
Einkommen entsteht durch Ersparnis ein Vermögensbestand
und aus diesem wiederum Einkommen. Dazu ist ein Blick
auf das private Netto-Geldvermögen in Deutschland zu werfen,
das mittlerweile auf über 2,5 Billionen € angewachsen ist (4
Billionen € Brutto-Geldvermögen minus Schulden von rund
1,5 Billionen €). Auf die reichsten 10 Prozent der privaten
Haushalte entfällt dabei fast die Hälfte des gesamten NettoGeldvermögens. Von besonderer Bedeutung ist in diesem
Kontext, dass ohne die Schulden des Staates und der Unternehmen die Geldvermögensbestände der privaten Haushalte nicht
möglich wären. Wenn in einer Volkswirtschaft niemand bereit
ist, sich zu verschulden, kann auch niemand Geldvermögen
bilden und Zinsen erhalten.
Insofern impliziert eine Staatsverschuldung bzw. bedeuten staatliche Defizite nichts anderes, als dass die übrigen
Teilnehmer des Wirtschaftslebens einen exakt gleich großen
Überschuss besitzen. Die Summe aller Schulden ist notwendigerweise immer genauso groß wie die Summe aller Guthaben
(Vermögen). Wenn die Schulden wachsen, wachsen die Guthaben im Gleichschritt mit. Genauso wenig belasten wir mit
unseren Staatsschulden automatisch unsere Kinder. Denn die
Kinder, die unsere Schulden erben, erben auch unser Vermögen. Man kann bei der Staatsverschuldung nicht immer nur
in populistischer Manier die Schuldenseite verachten, oder
wie die Bundeskanzlerin Merkel von einem »Sanierungsfall
Deutschland« reden, und die Vermögensseite unterschlagen,
die dann aber isoliert betrachtet, von vielen bewundert wird
(s. Tab. 2).
Ein Blick in die gesamtwirtschaftliche Vermögensbildung und
Finanzierungsrechnung Deutschlands seit der Wiedervereinigung zeigt diesen Zusammenhang. Von 1991 bis 2005
betrug der kumulierte Überschuss der privaten Haushalte in
Deutschland gut 1263 Mrd. €. Neben den privaten Haushalten erzielten nur die finanziellen Sektoren (Banken und
Versicherungen) noch einen Überschuss in Höhe von fast
160 Mrd. €. Dem standen exakt gleich große kumulierte
Defizite bei den Produktionsunternehmen in Höhe von knapp
564 Mrd. € und Kapitalabflüsse ins Ausland von fast 84 Mrd.
€ sowie kumulierte Staatsschulden von über 775 Mrd. € gegenüber (siehe Tab. 2). Aufgrund der Wiedervereinigung war
Deutschland bis 2001 auf Kapitalzuflüsse zur Finanzierung
der gesamten Sachvermögensbildung angewiesen, d. h. die gesamtwirtschaftliche Ersparnis reichte nicht zur Finanzierung
der Investitionen aus. Dies dokumentierte sich auch in einer
negativen Leistungsbilanz. Seit 2002 kommt es dagegen wieder
zu einem Kapitalexport. Die gesamtwirtschaftliche Ersparnis
übersteigt seitdem bei weitem die Sachvermögensbildung in
Deutschland und die Leistungsbilanz ist positiv. Die deutsche Wirtschaft investiert verstärkt Finanzierungsmittel im
Ausland.
Der Staat erhöhte noch die Umverteilung
Wenn vor diesem Hintergrund Staatsverschuldung und private
Geldvermögensbildung zwei Seiten einer Medaille sind, dann
kann Politik nicht weiter privaten Reichtum pflegen und sich
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Bontrup: Ökonomisch kontraproduktive Verteilungen der Wertschöpfung
Tab. 2: Finanzierungskreislauf der deutschen Wirtschaft nach Sektoren – in Mrd. € Private Haushalte*
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
20001)
2001
2002
2003
2004
2005
Kumuliert
Jahresdurchschnitt
76,4
79,0
72,4
51,8
56,8
61,7
62,8
66,1
69,4
75,4
97,3
101,8
125,1
131,3
136,6
1.263,9
84,3
Produktionsunternehmen**
Finanzielle Sektoren***
-66,9
-61,1
-42,3
-46,6
-30,2
-14,8
-26,8
-34,0
-70,3
-137,1
-41,4
5,8
-12,5
10,2
4,1
-563,9
-37,6
11,2
10,0
11,7
13,9
8,3
3,2
6,0
-4,7
6,2
8,0
2,1
19,8
19,6
22,1
22,3
159,7
10,6
Ausland (+) = Kapitalzufluss
23,1
12,3
9,8
22,8
23,9
12,4
8,6
15,3
24,0
26,6
1,6
-47,8
-45,6
-82,4
-88,5
-83,9
-5,6
Staat Finanzierungsdefizit
-43,8
-40,2
-51,6
-41,9
-58,8
-62,5
-50,6
-42,7
-29,3
27,1
-59,6
-79,6
-86,6
-81,2
-74,5
-775,8
-51,7
* Inkl. Einzelunternehmen; ** Kapital- und Personengesellschaften; *** Banken und Versicherungen, 1) Im Jahr 2000 einschl. der Verkäufe von UMTS-Lizenzen,
Quelle: Deutsche Bundesbank: Ergebnisse der gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung für Deutschland 1991 bis 2004, Frankfurt a.M. 2005, S. 17 und S. 23,
sowie Monatsbericht Juni 2006, S. 17.
dafür öffentliche Armut einhandeln, sondern es ist eine adäquate Besteuerung der privaten Überschüsse bzw. Gewinne
und Vermögen überfällig. Hierauf wird von der Politik aber
seit langem nicht nur verzichtet, sondern die Überschüsse
wurden noch durch eine einseitige staatliche Umverteilungspolitik bei den Steuern und Sozialabgaben zugunsten der Unternehmen und Vermögenden erhöht. Dies zeigt die Entwicklung
der Netto-Lohnquote, die aussagt, wie viel nach der staatlichen
Intervention von den primären Markteinkommen noch übrig
bleibt. Seit 1991 ging die Netto-Lohnquote im wiedervereinten Deutschland bezogen auf das Volkseinkommen um 4,4
Prozentpunkte von 40,3 v. H. auf 35,9 v. H. im Jahr 2005
zurück, während das Kaufkraftpotenzial der Netto-Gewinnund Vermögenseinkommen um 3,4 Prozentpunkte von 25,0
v. H. im Jahr 1991 auf 28,4 v. H. im Jahr 2005 anstieg. Konjunktur- und wachstumspolitisch fatal ist dabei, dass die Kaufkraftpotenziale der beiden Einkommensquoten asymmetrisch
wirksam werden. Die mikroökonomisch mit tendenziell hohen
privaten Einkommen verbundenen Gewinn- und Vermögenseinkommen weisen auch große, nicht nachfragewirksame
Sparneigungen auf; die hohe nachfragewirksame Konsumneigung, die tendenziell mit Lohneinkommen verbunden ist,
kann sich jedoch wegen mikroökonomisch stagnierender, ja
sinkender Einkommen nicht entfalten. So zeigt sich dann
auch die Umverteilung in einer hohen gesamtwirtschaftlichen
Sparquote. Die Sparquote, die zwischen 1991 und 2000 noch
von 12,9 v. H. auf 9,2 v. H. zurückgegangen war, stieg seitdem
wieder bis auf 10,6 v. H. im Jahr 2005 an.
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Umsetzung der »E-N-A-Formel« tut Not
Damit steht der Befund fest: Die Neoklassik, die neoliberale
Theorie, irrt. Die »G-I-B Formel«, gib mit heute mehr Gewinn,
so kommt es morgen zu mehr Investitionen und übermorgen
zu mehr Beschäftigung, geht unter kapitalistischen Verhältnissen einer markt- und wettbewerbsgetriebenen Wirtschaft nicht
auf. Die Formel (Theorie) vernachlässigt völlig die Nachfrageseite von Märkten, sie ist einseitig angebotsorientiert. Sie erkennt nicht einmal den Doppelcharakter von Arbeitkosten. Zwar
handelt es sich hierbei einerseits um Kosten, hinter denen immer auch eine Leistung steht, andererseits aber auch um Einkommen. Senke ich nun die Arbeitskosten, so senke ich damit
auch die Einkommen und automatisch verschlechtern sich die
Absatzbedingungen der Unternehmen. Gelingt es diesen immer schlechter ihre laufende Produktion abzusetzen, werden
auch bei steigenden Gewinnen keine arbeitsplatzschaffenden
Investitionen getätigt. Die versprochenen Beschäftigungseffekte bleiben aus. Sofern das Geld von den Unternehmen
nicht sofort auf die Finanzmärkte fließt und dort unter anderem in Private Equity- und Hedge-Fonds sein Unwesen treibt,
wird es allenfalls für Rationalisierungsmaßnahmen verwendet
– dann allerdings mit weiteren negativen Auswirkungen auf
die Arbeitsmärkte. Hier hilft auch das außenwirtschaftliche
Ventil nichts, wie die zuvor aufgezeigten empirischen Daten deutlich gemacht haben. Der Kaufkraftausfall durch die
Umverteilung zur Profitquote schlägt negativ zu stark auf die
gesamtwirtschaftliche Binnennachfrage durch, als dass hier
die aus dem Ausland zufließende Kaufkraft dies kompensieren
könnte. Richtig wäre dagegen eine keynesianische Therapie
mit antizyklischen Staatsausgaben. Statt der »G-I-B-Formel«
müsste es außerdem zur wirtschaftspolitischen Umsetzung
27
Glosse
28
der »E-N-A-Formel« kommen. Einkommenssteigerungen der
abhängig Beschäftigten gemäß der Produktivitätsrate plus der
Inflationsrate führen zu mehr Nachfrage bei den Unternehmen und diese zu Erweiterungsinvestitionen und einer Erhöhung der Arbeitsplätze. Hiervon profitiert letztlich auch der
Staat in Form von höheren Steuereinnahmen und Abgaben,
sodass es auch nicht zu einer Beschneidung des Sozialen in
der Gesellschaft kommen muss.
Schön für
den Luxuskonsum
Schon wegen des Farbfotos fällt mein Blick auf einen groß aufgemachten Artikel in meiner Tageszeitung. Es geht darin um »luxuriöse
Designermode für Kinder«. Also nicht jene Designermarken, die sich
Anschrift des Verfassers
heutzutage auch der Durchschnittsverdiener schon leisten kann, son-
Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup
dern wirklich die gehobene Klasse. Und gehobene Preise! Berichtet
Fachhochschule Gelsenkirchen
wird von strahlenden Augen neun- und zwölfjähriger Mädchen bei
Neidenburger Str. 43
der Anprobe, zufriedenen Müttern, die »das Gute, was wir uns selbst
45877 Gelsenkirchen
gönnen, auch an unsere Kinder weitergeben wollen« und einer selbst-
e-mail: [email protected]
verständlich ebenfalls zufriedenen Besitzerin eines entsprechenden
Kindermodengeschäftes in der Nobel-Einkaufsstraße. Es handelt sich
bei unserer Stadt übrigens nicht um eine bekannte Modemetropole,
sondern um ein mittelgroßes »Provinzoberzentrum«. Deshalb, so bedauert die Geschäftsinhaberin, könne man das in Florenz angebotene
Nerzjäckchen für Babys zum Preis von 2000 � hier auch nicht los
werden. Was aber anscheinend »geht«, ist ein Mädchen-Volantrock
für 469 �. Die Frage, ob die Sachen nicht sehr bald zu klein sind, wird
weggewischt mit dem Argument, auch Erwachsene wechselten ihre
Garderobe oft nach einer Saison (alle Erwachsenen?). Was mich störte,
war nicht die Tatsache, dass es solche Kindermode zu diesen Preisen
gibt. Einkommensunterschiede und Konsumunterschiede wird es immer geben. Gestört hat mich die völlig unhinterfragte, fröhliche Darstellung, das wirklich scham-lose Zurschaustellen. Denn diese Zeitung
ist die größte Lokalzeitung vor Ort. Sie wird – sofern diese Menschen
sich das finanziell leisten können – auch von vielen Arbeitslosen, Hartz
IV-Empfängern – wer weiß, vielleicht sogar von psychisch erkrankten
Menschen – gelesen. Diese sehen natürlich sofort, dass ein vorgestelltes Kleidchen für eine Achtjährige so viel kostet, wie ihnen »das
Amt« monatlich zum Leben zur Verfügung stellt; ein Kleidchen, das
vielleicht dreimal angezogen wird, weil das Kind danach schon wieder
herausgewachsen ist. Solche Leser/innen, oft regelmäßige Gäste bei
der »Tafel« oder in Kleiderkammern, müssen sich dann noch das Zitat
der Unternehmensberatung Roland Berger (ausgerechnet!) gefallen
lassen: »Der Luxuskonsum boomt.« Schön für den Luxuskonsum.
Leser/innen, die daran nicht teilnehmen können, fangen in ihrem von
Geldsorgen zermarterten Hirn vielleicht an, nach alten Vokabeln zu
suchen. Wie hieß das noch mal schnell – »Umverteilung«?
Sibylle Prins
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
»Gerecht ist anders ...«
29
Psychisch kranke
Menschen im Dschungel
der Sozialgesetzgebung
Notizen aus der Praxis der
unabhängigen Beratungsstelle
des Vereins »Widerspruch e. V.«
in Bielefeld
Heinz Roelfs und Ulrike Gieselmann
Der Verein Widerspruch e. V. – Sozialberatung bietet seit 1986 kostenlose Beratung und Unterstützung für Menschen an, die auf Sozialhilfe,
Grundsicherung für Arbeitsuchende (ALG II) oder auf Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes angewiesen sind.
Das Beratungsangebot des Vereins wird auch von Personen in Anspruch genommen, die eine psychische Grunderkrankung haben. Diese
Personen sind oft durch eine langjährige Therapieerfahrung geprägt
und haben für sich individuelle Methoden erarbeitet, die ihnen das
Leben in einer Nische der Gesellschaft ermöglichen. Sie stehen dem
psychiatrischen Hilfesystem nicht selten skeptisch gegenüber oder
empfinden es als bedrohlich.
Der niederschwellige Zugang zum Beratungsangebot von Widerspruch
e. V. macht es gerade für diese Personengruppe attraktiv. Die Ratsuchenden müssen nicht damit rechnen, in irgendeiner Form hinterfragt
zu werden oder sich rechtfertigen zu müssen.
Um die Beratungsarbeit zu erleichtern, hat der Verein »Widerspruch
e. V.« einen Leitfaden mit dem Titel »Wie sichere ich meinen Lebensunterhalt? – Grundsicherung für Arbeitssuchende, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung« herausgegeben.
Bei dem Leitfaden handelt es sich um einen ausführlichen und verständlich geschriebenen Ratgeber für Betroffene, der auch vielen
MitarbeiterInnen von Beratungsstellen und Sozialverwaltung als Beratungsgrundlage dient.
Der Leitfaden ist zu beziehen über [email protected] oder über
den Buchhandel ISBN 3-86039-012-0, 1. Auflage, Stand 1. Juli 2005
nebst Ergänzungsblatt, Stand 1. August 2006, 213 Seiten, broschiert,
Bezugspreis: 7,50 € (gegf. zzgl. 1,20 Versandkosten).
Bekanntlich ist die deutsche Sozialpolitik der letzten Jahre
durch eine Verknappung der finanziellen Ressourcen geprägt.
Mit Ablauf des Jahres 2004 wurden in diesem Kontext die
bisherige Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe im Sozialgesetzbuch II (SGB II) zusammengefasst und das Bundessozialhilfegesetz durch das SGB XII ersetzt. Fortan können
bedürftige Personen oder Familien, die »ihren notwendigen
Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen beschaffen können« fast identische Sozialleistungen
nach drei verschiedenen Gesetzen bekommen: wenn sie als
erwerbsfähig gelten,1 erhalten sie die Grundsicherung für
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Arbeitssuchende (ALG II nach SGB II – besser bekannt als
»Hartz IV«), wenn sie dauerhaft nicht erwerbsfähig sind, gibt
es die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
nach SGB XII und für diejenigen, die weder das eine noch das
andere sind, gibt es die (alte) Sozialhilfe nach dem (neuen)
SGB XII.
Die Folge dieser weitreichenden Gesetzesänderungen, die
für etwa 8 Millionen Betroffene zeitgleich zum 1.1.2005 in
Kraft traten, war ein für alle Beteiligten nicht mehr überschaubares Chaos: in den Behörden abstürzende Computer,
nicht erreichbare Sachbearbeiter, überforderte Amts- und
Abteilungsleiter und lange Schlagen verzweifelter Betroffener.
Die massenhaft fehlerhaften Bescheide und unklaren Gesetzesvorgaben haben zwischenzeitlich zu einer Prozesslawine
vor den Sozialgerichten und auch schon zu mehreren Gesetzesänderungen geführt – die Verantwortlichen sprechen in
diesem Zusammenhang beschönigend von einem »lernenden
Gesetz«.
Ist diese Situation schon für »normale« Betroffene nur schwer
auszuhalten, so wirkt sie sich bei psychisch Kranken, die erfahrungsgemäß mehr als andere auf stabile und überschaubare
äußere Verhältnisse angewiesen sind, nicht selten katastrophal
aus.
Um dies zu verdeutlichen, beschreiben wir im Folgenden
exemplarisch den Fall einer psychisch kranken Frau, der sich
so oder so ähnlich, in jeder deutschen Kommune hätte ereignen können.
Frau Y. ist etwa 40 Jahre alt, Mutter einer Tochter und hat,
bis ihre psychische Erkrankung zum Ausbruch kam, den Beruf
einer Krankenschwester ausgeübt. Sie sucht seit etwa 2004
regelmäßig unsere Sozialberatung auf. Damals lebte sie gemeinsam mit ihrer Tochter von Sozialhilfe.
Ende 2004 wurde Frau Y. vom Sozialamt mitgeteilt, dass sie
ab dem 1.1.2005 keine Sozialhilfe mehr erhalten würde und
gleichzeitig wurde sie aufgefordert, bei der neuen Behörde
»Arbeitplus« einen Antrag auf Arbeitslosengeld II (ALG II)
zu stellen.2 Dieser Aufforderung kam Frau Y. trotz des hohen
bürokratischen Aufwandes mit unserer Hilfe nach, da sie ansonsten befürchten musste, dass sie Anfang 2005 kein Geld
mehr bekommen würde.
Ab dem 1.1.2005 bezogen Frau Y. und ihre im Dezember
30
»Gerecht ist anders«
Ulrike Gieselmann
Widerspruch e. V.
Heinz Roelfs
Widerspruch e. V.
1986 geborenen Tochter – damals noch Schülerin am Gymnasium – also ALG II. Ihnen beiden wurde jeweils eine monatliche Regelleistung von 345 € für Alleinstehende bewilligt,
denn da die Tochter bereits volljährig war, bildeten die beiden
keine Bedarfsgemeinschaft. Die Situation wurde für Frau Y.
allerdings prekär, als die für sie zuständige Fallmanagerin
nach fünf Monaten begann, Anforderungen bezüglich Arbeitssuche an sie zu stellen und ihr mit Sanktionen drohte.
Diese waren – mit unserer Unterstützung – durch mehrfache
Krankschreibungen abwendbar, doch es wurde deutlich, dass
Frau Y. aufgrund ihrer Erkrankung nicht als erwerbsfähig im
Sinne des Gesetzes gelten konnte. So wurde sie denn vom Amt
aufgefordert, erneut einen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen,
denn als dauerhaft erwerbsunfähig galt sie noch nicht.
Seit Mitte 2005 bezog Frau Y. wieder Sozialhilfe, während
ihre Tochter weiterhin ALG II erhielt. Frau Y. war entsetzt,
als das Sozialamt ihr mitteilte, dass von nun an ihre Tochter
der Haushaltsvorstand sei. Ihre Tochter erhielt die volle Regelleistung in Höhe von 345 €, während Frau Y. nur noch
276 € als Haushaltsangehörige, also 69 € weniger, zugebilligt
wurden. Widerspruch und Klage gegen diese zweifelhafte
Gesetzesauslegung wurden ihr nahegelegt, hätten sie jedoch
überfordert.
Als nach Beendigung ihrer Schulzeit die Bewerbung ihrer
Tochter bei einer Computerfirma erfolgreich war, freute sich
Frau Y. zunächst sehr. Aber ihre Freude war nur von kurzer
Dauer, denn das Einkommen ihrer Tochter von etwa 1600 €
netto monatlich hatte zur Folge, dass Frau Y. den Anspruch
auf Sozialhilfe verlor: Das Sozialamt teilte ihr mit, dass ihre
Tochter fortan in der Lage und verpflichtet sei, sie von ihrem
Einkommen zu unterhalten.
Auch um ihr eine – wenn auch geringfügige – finanzielle Unabhängigkeit von ihrer Tochter zu ermöglichen, wurde in der
Folgezeit mit ihr gemeinsam die Beantragung einer Erwerbsunfähigkeitsrente in die Wege geleitet. Dies war kein leichter
Schritt für Frau Y., denn bis dahin hatte sie darauf gehofft,
dass ihre Erkrankung vorübergehender Natur sein könnte.
Um ihre sich weiter verschlechternde psychische Situation
aufzufangen, wurde gleichzeitig eine ambulante psychiatrische
Betreuung beantragt.
Knapp ein Jahr später, im Juli 2006, wurde die Tochter von
Frau Y. arbeitslos und bezog wieder ALG II. Frau Y. war zwischenzeitlich als dauerhaft erwerbsunfähig anerkannt worden
und erhielt ergänzend zu einer kleinen Erwerbsunfähigkeits-
rente die Grundsicherung für Erwerbsgeminderte nach SGB
XII. Zum 1.1.2006 war das SGB II dahingehend verändert
worden, dass Betroffene, die das 25. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben, nur noch Anspruch auf einen reduzierten
Regelsatz haben. Deshalb wurde nun beiden, also Mutter
und Tochter, lediglich ein Regelsatz von 276 € bewilligt.
Dadurch waren also noch einmal 69 € weniger als zuvor
in der Haushaltskasse. Rechtmäßigerweise standen Frau Y.
als Haushaltsvorstand 345 € zu, doch es bedurfte zunächst
wieder der Intervention beim Sozialamt, um diesen Anspruch
mithilfe eines Widerspruches durchzusetzen.3
Frau Y. suchte Ende 2006 die Beratung erneut auf. Vor einigen Wochen war ihre Tochter aus der gemeinsamen Wohnung
ausgezogen. Durch ihre Krankheit und die permanent unklare
finanzielle Situation kam es häufig zu Konflikten. Ihre Tochter
sah sich dem Zusammenleben mit ihrer Mutter nicht länger
gewachsen. Sie hat ein Studium aufgenommen und erhält
nun BAföG-Leistungen. Darum wurde Frau Y. nunmehr vom
Sozialamt aufgefordert, in eine kleinere, für sie angemessene
Wohnung umzuziehen. Um ihre Bemühungen zu belegen,
sollte sie sich binnen eines Monats bei neun Wohnungsanbietern registrieren und dies auf einer Liste per Stempelabdruck
bestätigen lassen. Gemäß den Richtlinien der Stadt Bielefeld
wurden Frau Y. für den Umzug 100 € für Umzugskosten
zugebilligt. Davon sollte sie Umzugshelfer und Leihwagen
bezahlen. Für die Kosten der Renovierung der alten und der
neuen Wohnung könne sie keine extra Leistungen bekommen,
da diese aus dem laufenden Regelsatz von 345 € anzusparen
seien, teilte man ihr mit.4
Frau Y. erklärte, momentan sehr krank zu sein. Die ambulante
psychiatrische Betreuung hatte sie aufgegeben, denn die Sozialarbeiterin, zu der sie eine gute Beziehung aufgebaut hatte,
musste wegen einer Verschlechterung der Refinanzierung des
Ambulanten Dienstes ihren Arbeitsplatz wechseln. Den darauf
folgenden ständigen Wechsel ihrer Betreuerinnen konnte Frau
Y. nicht aushalten und hatte den Betreuungsvertrag gekündigt.
Nun verbrachte Frau Y. manchmal ganze Tage in ihrem Bett.
Sie berichtete, dass sie in der Vergangenheit bereits zweimal
umgezogen sei und sie erzählte von den Wohnungen, die sie
bereits bewohnt hatte. Damals hatte sie das Problem, dass
das Sozialamt die Umzugskosten nicht tragen wollte, weil der
Umzug aus Sicht des Amtes nicht notwendig war. Jetzt, wo sie
endlich einen für sich sicheren Ort gefunden hatte, würde sie
aufgefordert, wieder auszuziehen. Das war für Frau Y. nicht
einsichtig. Außerdem fühlte sie sich beim Umgang mit dem
Grundsicherungsamt inzwischen gänzlich überfordert. Die für
sie zuständige Sachbearbeiterin empfand sie als unfreundlich,
bevormundend und abweisend. Sie erkläre ihr gar nichts und
versuche immer, sie wegzuschicken.
In der folgenden Woche erschien Frau Y. nicht zum vereinbarten Beratungsgespräch. Stattdessen erfuhren wir durch
den Anruf einer Sozialarbeiterin der zuständigen psychiatrischen Klinik, dass sich Frau Y. dort in Behandlung begeben
hatte.
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Roelfs und Gieselmann: Psychisch kranke Menschen im Dschungel der Sozialgesetzgebung
Die Sozialarbeiterin berichtete, dass sich die Lage von Frau Y.
noch weiter verschärft hatte, weil ihre Grundsicherung während des Klinikaufenthaltes eingestellt worden war. Das Amt
hatte dies damit begründet, dass ihr in der Klinik wegen »häuslicher Ersparnis« nur ein gekürzter Regelsatz zustehe, denn
sie erhalte dort ja täglich drei kostenlose Mahlzeiten. Weil die
Rente von Frau Y. hoch genug sei, stünde ihr während ihres
Klinikaufenthaltes keine Grundsicherungsleistung zu.5
Die Umzugsaufforderung des Amtes wurde durch den Klinikaufenthalt gegenstandslos, denn Frau Y. ist ein Umzug
wegen ihrer Erkrankung nicht zumutbar.
Wäre die Sachbearbeiterin von Frau Y. ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Beratung und Unterstützung der Leistungsberechtigten6 nachgekommen, so hätte die Eskalation der
Situation sicher vermieden werden können. Gerade, wenn es
um ein so existenzielles Thema wie Wohnen geht, hätte die
für Frau Y. zuständige Sachbearbeiterin, der ihre persönliche
Situation ja bekannt war, die Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten ausschöpfen und von einem Wohnungswechsel
absehen müssen.
Es kann sicherlich diskutiert werden, wo die Grenzen der
Informationspflicht nach dem SGB liegen. Betroffene müssen
aber die Möglichkeit bekommen, im Rahmen des geltenden
Rechts ihre Schwierigkeiten überwinden zu können. Im Fall
von Frau Y. war der Beratungs- und Unterstützungsbedarf
offensichtlich. Sie hat sich die notwendige Hilfe zunächst von
unserer Beratungsstelle holen können: Nachdem ihre Situation dann eskaliert ist, muss nunmehr ein anderer Leistungsträger – nämlich die Krankenkasse – die daraus resultierenden
Folgekosten erbringen.
Es würde aber zu kurz greifen, die Ursache der beschriebenen
Problematik (nur) bei den Sachbearbeitern der zuständigen
Ämter zu suchen. Ursache ist neben den eingangs genannten
organisatorischen und zeitlichen Problemen vielmehr ein systemimmanenter Widerspruch. Einerseits haben die Ämter den
gesetzlichen Auftrag, die Hilfesuchenden zu beraten und zu
unterstützen, andererseits haben sie den politischen Auftrag,
öffentliche Gelder einzusparen und – angeblichen7 – Sozialleistungsmissbrauch zu verhindern. Beide Aspekte schließen
sich aber gegenseitig aus: Um dem Anspruch auf Beratung
und Unterstützung gerecht zu werden, ist die Schaffung von
Verständnis und Vertrauen nötig. Um dem Anspruch nach
Kontrolle gerecht zu werden, ist es erforderlich, den Anliegen
der Betroffenen mit Skepsis und Misstrauen zu begegnen.
Dieser Widerspruch ist nicht neu. Er wurde aber durch den
mit Einführung von »Hartz IV« vollzogenen Paradigmenwechsel eklatant verschärft: Aufgabe des Bundessozialhilfegesetzes
war und ist es, den Leistungsberechtigten ein Leben in Würde
zu ermöglichen, Aufgabe von »Hartz IV« ist es (nur noch),
dazu beizutragen, dass die Hilfebedürftigen »ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen
Kräften und Mitteln bestreiten können«.8
Keine Vorgabe der neuen Sozialleistungsgesetze hat sich nach
unserer Erfahrung im Amtsalltag schneller durchgesetzt als
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
dieser Wertewandel – mit gravierenden Folgen für diejenigen,
die aufgrund verschiedenster Handicaps diesem neuen »Ziel«
der Leistungsgewährung nicht gerecht werden können.
Anmerkungen
1 Als erwerbsfähig gilt gemäß § 8 SGB II, wer nicht aufgrund von
Krankheit oder Behinderung länger als sechs Monate außerstande
ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkt
mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
2 Diese Aufforderungen wurden ohne Prüfung der Erwerbsfähigkeit
an alle Sozialhilfeberechtigten versandt, weil sich die Kommunen
davon die Kostensenkung bei der (kommunalen) Sozialhilfe versprachen – die Kosten des ALG II trägt zu einem großen Teil der
Bund.
3 Auf solche falschen Berechnungen treffen wir sehr häufig bei Familien, bei denen zwei verschiedene Ämter Sozialleistungen erbringen. Offenbar weiß da oftmals ein Amt nicht, was das andere
tut.
4 Viele Sozialgerichte sind anderer Auffassung: Wohnungsrenovierungen sind nicht aus der Regelleistung zu zahlen, sondern als Teil
der Kosten der Unterkunft vom Amt gesondert zu erbringen – vgl.
u. a. Beschluss des LSG Niedersachen-Bremen vom 11.09.06, Az.
L 9 AS 409/06 ER
5 Nach Rechtsauffassung der Grundsicherungsämter kann der maßgebliche Regelsatz gemäß § 28 (1) SGB XII gekürzt werden, »wenn
im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt
ist«. Diese Auffassung ist rechtlich äußerst umstritten: durch die
Pauschalierung der Regelleistung auf 345 € entfällt die Möglichkeit, den Regelsatz bei zusätzlichen Bedarfen (z. B. Bekleidung und
Hygieneartikel für einen Krankenhausaufenthalt) heraufzusetzen
ebenso wie die Möglichkeit, den Regelsatz bei »anderweitiger Bedarfsdeckung« herabzusetzen.
6 Siehe § 14 und § 15 SGB I: »Die Auskunftspflicht erstreckt sich auf
die Benennung der ... zuständigen Leistungsträger sowie auf alle Sachund Rechtsfragen, die für die Auskunftssuchenden von Bedeutung sein
können ... Die Auskunftsstellen sind verpflichtet ... mit dem Ziel zusammenzuarbeiten, eine möglichst umfassende Auskunftserteilung ...
sicherzustellen.« Auch die §§ 10 und 11 SGB XII formulieren den
Anspruch der Leistungsberechtigten auf Beratung und Unterstützung.
7 Vgl. Pressemitteilung der BA vom Juni 2006 zum Datenabgleich.
Danach liegt die Zahl der Fälle, bei der Sozialleistungsmissbrauch
vermutet werden kann, bei unter 2 % der durch Datenabgleich
überprüften Fälle.
8 Siehe die §§ 1 des Bundessozialhilfegesetzes (SGB XII) und der
Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II).
Anschrift der Verfasser
Heinz Roelfs
Ulrike Gieselmann
Widerspruch e.V. – Sozialberatung
Rolandstr. 16
33615 Bielefeld
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Glosse
Sozialrechtsreformen
auf Erfolgskurs
Der lange geforderte »Umbau des Sozialstaats« scheint in Deutschland
ler, mit der Agenda 2010 werde innerhalb der ersten drei Jahre die
endlich in Gang gekommen zu sein. Insbesondere der Gesetzgeber hat
Arbeitslosenzahl halbiert. Als die Arbeitslosenquote im Jahr 1 nach
dabei ordentlich Fahrt aufgenommen. Die Sozialgesetzbücher befinden
Hartz IV gleich blieb bzw. zwischendurch mal leicht anstieg, war die
sich in ständiger Um- und Neugestaltung, egal ob Gesundheitsbereich,
öffentliche Reaktion unisono enttäuscht und verbittert. Der Kanzler
Altersvorsorge oder »Arbeitslosengeld II« bzw. Sozialhilfe. Das löst
erzwang einen vorzeitigen Regierungswechsel. Jetzt, im Jahr 3 nach
bei den Sozialrechts-Profis aus Wissenschaft und Praxis wachsenden
Hartz, boomt die Wirtschaft und die Arbeitslosenzahlen gehen leicht
Unmut aus: Die Gesetze seien mit »heißer Nadel« gestrickt, in sich und
zurück. Ob hier mehr als ein zeitlicher Zusammenhang besteht, wird
untereinander widersprüchlich und jedes »Bereinigungsgesetz« führe
nicht gefragt. Vielmehr verbreiten die Medien eine Euphorie, als sei
nur zu neuen, noch schlimmeren Unsinnigkeiten, ja zu einer sich selbst
die Arbeitslosenzahl inzwischen tatsächlich halbiert. Nur zur Erinne-
überholenden Gesetzgebung und Gesetzesreform (die Verabschiedung
rung: Die Arbeitslosenzahl betrug im Dezember 2004 rd. 4,5 Mio.,
der neuen Gesundheitsreform in Gestalt des GKV-WSG wurde z. B.
dann kurzzeitig rd. 5 Mio. und im Dezember 2006 wieder gut 4 Mio.
verbunden mit der Ankündigung von ersten Änderungsregelungen
Arbeitslose. Was beweist das? Dass sich alles um die Analysten und
»im Omnibusverfahren«).Auch könnten die Verlage den aktualisierten
nicht um die Arbeitslosen dreht.
Nachdruck der Sozialgesetze angesichts dieser Turbo-Umwälzungen
Und was – aus Sicht der Analysten – wäre zum Stand der Sozial-
nicht mehr sicherstellen, weswegen natürlich auch die juristische Se-
gesetzgebung zu sagen? Die Erwartung, dass ein Sozialgesetz bür-
kundärliteratur (Kommentare, wissenschaftliche Beiträge u. Ä.) schon
gerfreundlich und eindeutig formuliert, logisch strukturiert und ver-
vor ihrer Drucklegung hoffnungslos veraltet sei. Das Gleiche gelte für
waltungstechnisch effektiv umsetzbar ist, hat (leider) niemand. Der
die Rechtsprechung in diesem Bereich. Diese explodiere einerseits
Gesetzgeber hat diese Einschätzung mit seinen Aktivitäten in den
(man bestaune unter www.tacheles-sozialhilfe.de die zur eigenstän-
letzten Jahren vielfach bestätigt. Die Sozialgesetzgebung kann also
digen Bibliothek ausartende Urteilssammlung zum SGB II-»Hartz IV«).
noch im Prozess ihrer Selbstauflösung die Erwartungen der Analysten
Andererseits sei sie bis zum Erlass eines klärenden höchstrichterlichen
nur positiv enttäuschen. Diese prophezeien seit mindestens fünfzehn
Urteils wiederum längst durch eine neue Rechtslage überholt. Die
Jahren ohnehin den Super-GAU des gesamten sozialen Sicherungssys-
Entwicklung einer verlässlichen Verwaltungspraxis sei unter solchen
tems. Dabei ist ihr Blick fest und ausschließlich auf die finanzielle Lage
Umständen gar nicht erst zu erwarten.
der Sozialleistungsträger gerichtet. Den Umbau der Sozialgesetze misst
Von derlei Maßstäben für die Bewertung »gut« oder »schlecht« ge-
man bei uns vor allem an den wirtschaftlichen Auswirkungen. Dass
machter Gesetze und ihrer Wirkung muss man sich lösen. Solche
– neben dem Rückgang der Arbeitslosenzahlen – die Bundesagentur
Qualitätsvorstellungen sind von gestern. Heute gilt die Frage: Entspricht
für Arbeit unvorhergesehen Milliardenüberschüsse »erwirtschaftet«,
das, was geschieht, den Erwartungen? Allerdings geht es nicht um
lässt das Sozialgesetzbuch II gut dastehen. Der Erfolg der Gesund-
die in der Sozialen Arbeit seit einiger Zeit diskutierte diffuse »Kun-
heitsreform wird an Defiziten oder Überschüssen der Krankenkassen
denzufriedenheit«, von der keiner weiß, wem sie gilt und wie man sie
und vielleicht noch an steigenden oder sinkenden Beiträgen der Ver-
misst. In Politik und Wirtschaft, Kultur und Sport orientiert man sich
sicherten gemessen; eine deutliche Verbesserung der Versorgungs-
längst an der »leading-group« der Analysten (nicht zu verwechseln
landschaft wird nicht erwartet und muss demnach nicht eintreten.
mit den Analytikern!). Die geben vor, woran Personen, Produkte oder
Auch der Erwartungshorizont für die Pflegeversicherungsreform ist
Prozesse zu messen sind: Nämlich an den zuvor öffentlich formulier-
mit dem Stichwort »Finanzierbarkeit« hinreichend umrissen. Diese
ten Erwartungen und daran, ob diese jeweils erfüllt, enttäuscht oder
»Latte« kann der Gesetzgeber schaffen, wenn er die Ausweitung und
übertroffen werden. Beispiel Börse: Ein aktiennotiertes Unternehmen
Einschränkung von Leistungen entsprechend austariert. Und was die
macht im Geschäftsjahr X eine satte Rendite von 23 %. Statt Freude
Rentenreform angeht, sind die Analysten begeistert, denn ihre düs-
gibt es lange Gesichter. Denn die Analysten hatten für diese Firma
teren Vorhersagen wurden weit unterboten – es gibt sie immer noch,
eine Rendite von 25 % vorhergesagt. Bleibt das tatsächliche Ergebnis
die Rente (zumindest bis zur nächsten Reform). Es steht also gut um
hinter der Vorhersage zurück, ist Depression die Folge. Beispiel Sport:
unsere Sozialgesetzgebung – aus Sicht der Analysten.
Für das Leichtathletik-Fest in Zürich kündigt der Läufer X an, einen
neuen Weltrekord über 10 000 Meter aufzustellen. Er bleibt aber am
Silvia Pöld-Krämer
Ende zwei Zehntel Sekunden unter der selbst gesetzten Marke. Frust
auf der ganzen Linie – der neue Weltrekord wurde nicht erreicht.
Wenn umgekehrt bei den olympischen Winterspielen der Vertreter aus
Äthiopien im Skispringen startet und nicht Letzter, sondern Vorletzter
wird, sind alle aus dem Häuschen. Auch für die Politik ist längst nicht
mehr entscheidend, ob sie gut, sondern ob sie erwartungsgerecht
ist. Beispielsweise behaupteten Peter Hartz und der Bundeskanz-
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
»Gerecht ist anders ...«
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Arbeitsrehabilitation
auf einem ständig
schrumpfenden Arbeitsmarkt –
macht das noch Sinn?
Ergotherapeut Peter Weber (Hannover)
Sibylle Prins: Ich möchte unser Gespräch mit der Schilderung eines typischen »Rehafalles« eröffnen: Herr Müller ist
31 Jahre alt, hatte ursprünglich ein Studium der Elektrotechnik angefangen. Aufgrund einer heftigen Psychose, die mit
einem längeren Klinikaufenthalt verbunden war und einem
gescheiterten Versuch, das Studium wieder aufzunehmen,
brach er dieses schließlich ab. Er versuchte dann, eine Stelle
im technischen Bereich zu finden. Zweimal fand er auch eine
Arbeitsstelle, verlor sie jedoch bald wieder, da es zu neuen
psychischen Krisen kam. Vor einem dreiviertel Jahr begann
er eine Rehabilitationsmaßnahme in einem BTZ (BeruflichesTrainingszentrum). Wie steht es nun deiner Meinung nach mit
seinen Aussichten nach dieser Maßnahme einen Arbeitsplatz auf
dem ersten Arbeitsmarkt zu finden?
Peter Weber: Das ist unter den gegebenen Arbeitsmarktbedingungen eine schwierige Frage. Die Perspektive einer
Arbeitsaufnahme bewegt sich heutzutage in einem Konfliktfeld zwischen der abschließenden Begutachtung durch die
inzwischen hochprofessionellen Reha-Einrichtungen und der
realen Arbeitsmarktsituation. Um zu verdeutlichen, was ich
meine, möchte ich kurz Herrn Müllers möglichen Weg in
einem BTZ nachzeichnen: Im Rahmen des Trainings im BTZ
hat er unterschiedliche Bereiche durchlaufen. Am Anfang gab
es eine Beratung, bei der eine schriftliche Empfehlung und
Vereinbarung zu einer Förderung von Herrn Müller im BTZ
formuliert wurde. Es folgte die Klärung seiner früheren beruflichen Kompetenzen. Die weiteren konkreten Zielperspektiven für die kommenden Phasen im BTZ wurden festgelegt.
Herr Müller war dann bspw. im kaufmännischen Arbeitstrainingsbereich tätig und konnte zunehmend besser mit dem
Arbeitsanforderungen umgehen, er wurde immer sicherer.
In Übungs- und Kurseinheiten eingebunden konnte er neue
berufsspezifische Fertigkeiten erwerben und alte auffrischen.
Die externen Trainings und Praktika in berufsfeldbezogenen
Betrieben forderten von ihm, eine angemessene Arbeitnehmerrolle aufzubauen und seine sozialen Kompetenzen am
Arbeitsplatz z. B. im Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten
auszubauen. Zusätzlich wurden weitergehende berufsspezifische Kompetenzen vermittelt. In allen Bereichen hat Herr
Müller gute Erfolge zu verzeichnen.
Zurzeit ist Herr Müller im Rahmen der direkten Vorbereitung
einer Arbeitsaufnahme in den entsprechenden Trainingsgruppen im BTZ integriert.
Fazit: Nach all diesen Ergebnissen bescheinigt das BTZ Herrn
Müller im Hinblick auf die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit
aktuell eine gute Arbeits- und Vermittlungsfähigkeit.
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
im Gespräch mit
Sibylle Prins vom
Verein Psychiatrie-Erfahrener
(Bielefeld)
Sibylle Prins: Nun gut, aber was heißt das jetzt? Welchen Wert
hat dieses Ergebnis heutzutage noch?
Peter Weber: In der Tat muss das zweite vom BTZ als erreicht dargestellte und bewertete Ziel, die Vermittlungsfähigkeit, angesichts einer völlig veränderten Arbeitsrealität neu
bewertet werden. Seit Beginn der modernen Arbeitsrehabilitation psychisch kranker Menschen vor ca. 20 Jahren sind für
die Entwicklung der Rehabilitationskonzepte die, vor allem
von Christiane Haerlin 1985 formulierten Grundsätze: Arbeitstraining muss realitätsnah sein und keine Arbeitsrehabilitation
ohne Perspektive danach maßgebend. Angesichts der aktuellen
Arbeitsmarktsituation scheinen sich diese Grundsätze in den
heutigen Arbeitszusammenhängen anders darzustellen, als sie
es ursprünglich taten.
Sibylle Prins: Das finde ich auch. Vermittlungsfähigkeit in sozialversicherungspflichtige Arbeit und die Begriffe »Perspektive«
und »Realitätsnähe« müssen neu definiert werden.
Peter Weber: Wie sieht die Perspektive »Arbeit« heute aus?
Aktuell bewegt sich die Arbeitslosenzahl um die 4,2 Mill.
Wir haben mit den Hartz IV-Gesetzen inzwischen ein radikal
verändertes Sozialsystem bekommen, das die Schere zwischen
denen, die sozialversicherungspflichtige Arbeit haben und
denen, die keine haben, brutal deutlich macht. Zusätzlich ist
der Geldfluss der Psychiatriereform versiegt – es wird eher
wieder genommen, statt gegeben.
Von daher spiegeln die aktuellen Arbeitslosenzahlen und die
aktuelle Situation im Sozial- und Gesundheitswesen auch die
aktuellen Chancen wider, einen Arbeitsplatz zu finden. Von
den Politikern ist das Thema Vollbeschäftigung, wenn auch
Bestandteil des Koalitionsvertrages, kaum noch zu hören.
Sibylle Prins: Das kennt man ja.
Peter Weber: Genau – die Diskussion hat sich seit der Ära
Kohl kaum verändert: politisch argumentiert wird mit konjunkturellen Strategien, während die strukturelle Situation
am Arbeitsmarkt dem entgegen läuft. Die neoliberale G-I-B-
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»Gerecht ist anders«
Formel = »Gebt mir mehr Gewinn, so kommt es morgen zu
mehr Investitionen und danach zu mehr Beschäftigung«, ist
eine Mär oder »Lebenslüge« wie man inzwischen sogar aus
den Parteispitzen der CDU hört. (Siehe dazu den Beitrag von
Bontrup in diesem Heft.)
Die hoch entwickelten Wirtschaftssysteme der reichen Industriestaaten sind offensichtlich an einem Punkt angekommen,
an dem sie ab sofort und für die weitere Zukunft erstens mit
weniger Menschen und mit weniger Arbeitszeit auskommen
werden und zweitens, wenn denn Menschen gebraucht werden, die Arbeit immer dorthin verlagern werden, wo diese
Arbeitskraft billig zu haben ist.
Neben diesen erklärenden mehr übergreifenden Analysen
zur Perspektive auf dem Arbeitmarkt, gewinnen Rationalisierungsprozesse über zunehmende Automatisierung und
zunehmende Digitalisierung, an Bedeutung. Bestehende Automatisierungskapazitäten, bzw. -potenziale werden immer
mehr ausgeschöpft.
Die aktuell heftig diskutierte »Perspektive« der Regierungskoalition mit Minijobs, Mindestlöhnen und Kombilöhnen
neue Arbeit zu schaffen, bietet, aus der Nähe betrachtet,
keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, wie wir
sie alle kennen. Es geht um neue Konstrukte, die allenfalls
Arbeitsplätze schaffen, die weniger kosten, weniger Einkommen bringen und dabei mehr Arbeitszeit und meist schlechte
soziale Absicherung bedeuten.
Wie schneiden psychisch erkrankte Menschen in diesem Konkurrenzkampf ab? Wie sieht das bei euch in Bielefeld aus?
Sibylle Prins: Zunächst ein Versuch, die Situation zu erfassen: Für eine kleine, überschaubare Gruppe, nämlich die etwa
70 Mitglieder des Vereins Psychiatrie-Erfahrener Bielefeld
e. V. stellt sich die Situation wie folgt dar: von den 70 Personen
haben vier einen Arbeitsplatz auf dem 1. Arbeitsmarkt, der
geeignet ist, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Davon ist eine
Person freiberuflich tätig, zwei weitere haben Teilzeitstellen,
die aber ausreichend entlohnt werden. Ferner haben ca. sechs
Personen neben ihrer Rente oder anderem Transfereinkommen einen Arbeitsplatz auf dem 1. Arbeitsmarkt, der nicht zur
Bestreitung des Lebensunterhalts ausreicht, also sog. Minijobs
(400-€-Jobs) etc. Eingerechnet wurden darin auch illegale
Beschäftigungen wie etwa Putzstellen oder Kinderbetreuung.
Etwa zwölf Mitglieder arbeiten in der WfbM oder in speziellen
Zuverdienstprojekten für psychisch kranke Menschen. Einige,
ca. drei bis sechs Personen, fallen unter die Rubrik »Sonstiges« (Ausbildung, Praktikum, 1-€-Jobs, Zuverdienst durch
Honorarverträge). Alle anderen sind vollkommen beschäftigungslos! Und dabei muss man noch berücksichtigen, dass
in einer Organisation wie der unseren eine gewisse »Auslese
nach oben« stattfindet, nicht von uns gewollt, aber dadurch
bedingt, dass die Mitgliedschaft im Verein ein Mindestmaß
an Eigeninitiative, Bewusstheit über die eigene Lage und politisches Interesse voraussetzt.
Peter Weber: Das zeigt letztendlich wieder einmal, dass sich
die Arbeitssuche für Psychiatrieerfahrene nicht einfach gestaltet.
Welche Erfahrungen kannst du dazu schildern?
Sibylle Prins: Psychische Erkrankung ist ganz generell, aber
besonders auf dem Arbeitsmarkt, immer noch einer hohen
Stigmatisierung ausgesetzt. Manchmal denke ich, professionelle Reha-Mitarbeiter könnten das aus dem Blick verlieren.
Es ist einfach eine völlig andere Situation, ob ein Mitarbeiter
einer bekannten Rehabilitationseinrichtung einen ihm bekannten Ansprechpartner in einer Firma anruft, um mit ihm
über eine Praktikumsstelle oder eine Eingliederungsmaßnahme zu verhandeln, oder ob ein Psychiatrieerfahrener allein
auf »freier Wildbahn« auf Bewerbungstour geht. Arbeitgeber
haben nun mal Vorbehalte gegen psychisch vorbelastete Arbeitnehmer. Selbst die Betriebe, denen, aus welchen Gründen
auch immer, daran gelegen ist, die Schwerbehindertenquote
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Weber und Prins: Arbeitsrehabilitation auf einem ständig schrumpfenden Arbeitsmarkt – macht das noch Sinn?
zu erfüllen, stellen lieber körperlich behinderte Menschen
ein, deren Verbände sogar manchmal damit werben, dass
die von ihnen Vertretenen genauso leistungsfähig und belastbar seien wie nicht behinderte Arbeitnehmer. Die Krux ist,
dass psychiatrieerfahrene Bewerber dies eben oft nicht von
sich sagen können. Und ein Weiteres: Psychische Krisen und
Erkrankungen führen oft dazu, dass man sein ganzes Leben
von Grund auf neu denken, neu gestalten und organisieren,
quasi ein ganz neues Lebenskonzept schreiben muss. Neben
den Zeiten, die man mit Warten verbringt, also Warten auf
einen Reha- oder Praktikumsplatz oder auf die Antwort einer
Bewerbung, braucht dieses Unterfangen, das völlig aus dem
Gleis geratene Leben in eine neue Fahrbahn zu bringen, oft
viel Zeit. Meist kann man da nicht in Wochen oder Monaten denken. Zum einen vergrößert die Zeit, die man einfach
braucht, bis man sich umorientiert hat, die Lücken im Lebenslauf. Zum anderen muss aber auch diese Zeit gestaltet,
gefüllt werden. Solche »Leerzeiten« würde es im Leben von
Psychiatrieerfahrenen wahrscheinlich auch dann geben, wenn
wir Vollbeschäftigung und optimale Eingliederungsbedingungen hätten. Frage: Wie gehen wir mit diesen Zeiten um?
Ignorieren wir sie?
Peter Weber: Deine Ausführungen bieten einen passenden
Übergang zum zweiten Grundsatz rehabilitativer Arbeit, der
Realitätsnähe. In diesem Zusammenhang stellen sich die Fragen: Wie sieht sie heute aus, die Arbeitsrealität? Mit was muss
man als Arbeitnehmer heute im Arbeitsalltag rechnen? Wo
liegen die Anforderungen?
Dabei kommen vor allem drei Merkmale in den Blick: die
Arbeitszeit, die Arbeitsstrukturen/-anforderungen und das
Krankheitsverhalten am Arbeitsplatz.
Der Sachverständigenrat der Bundesregierung hat in seinem
Bericht zu den wirtschaftlichen Entwicklungen für 2005/2006
sehr deutlich Öffnungsklauseln und eine Verlängerung der
Wochenarbeitszeit und die Einführung von Arbeitszeitkonten
im Hinblick auf die Tarifverträge gefordert. Damit können
die Betriebe flexibler mit dem Faktor Arbeitszeit umgehen.
Für den einzelnen Beschäftigten bedeutet dies einerseits die
Freiheit, sich z. B. Freiräume durch zeitlich begrenzte Mehrarbeit zu schaffen, andererseits wachsen aber damit auch die
Verfügbarkeit und die Anforderung an Flexibilität. Freizeit
wird nur noch eingeschränkt planbar.
Ein weiterer Aspekt sind die in den Betriebsabläufen anfallenden nicht unerheblichen Überstunden. Zwar sind bezahlte
Überstunden deutlich zurückgegangen, gleichzeitig ist aber
die Anzahl der unbezahlten Überstunden gestiegen.
Welche Erfahrungen hast du während deiner Arbeitstätigkeiten
mit der vorgeschriebenen Arbeitszeit gemacht?
Sibylle Prins: Auch an meinem ehemaligen Arbeitsplatz sind
inzwischen die Arbeitszeiten von 38,5 auf 40 Stunden erhöht
worden. Ich hatte fast die ganzen Jahre »Vollzeit« gearbeitet,
d. h. außer freitags, einen Arbeitstag von 8,25 Std. täglich.
Das war natürlich viel zu viel, aber mein Arbeitgeber erlaubte mir zunächst keine Reduzierung. Als es dann das neue
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Teilzeitgesetz gab, reduzierte ich auf sechs Stunden täglich,
insgesamt also 30 Std. Ich hatte inzwischen auch weitere Klinikaufenthalte hinter mir. Ich merkte aber, dass selbst sechs
Studen täglich noch zu viel für mich waren. Hinzu kamen
Tage, an denen ich zwar zur Arbeit erschien, es mir aber oft
so schlecht ging, dass meine Anwesenheit fast meine einzige
Leistung war. Den verlangten verlässlichen Leistungspegel
konnte ich somit nicht aufbringen. Eine weitere Reduzierung
der Arbeitszeit war aber nicht möglich, da sonst mein Gehalt
nicht mehr ausgereicht hätte. Ich saß also in der Zwickmühle.
Eine besser bezahlte Teilzeitstelle zu finden, war mir auch
nicht möglich. Es waren also nicht die fachlichen oder intellektuellen Anforderungen, von denen ich überfordert war,
sondern die Bedingungen, unter denen die Arbeit stattfand,
mit denen ich zunehmend mehr Schwierigkeiten hatte. Ein
Problem war auch, dass ich zwar die Arbeitszeiten »irgendwie«, mit Hängen und Würgen durchhielt, für private oder
gar Freizeitaktivitäten aber keine Kraft mehr übrig war, ich
die gesamte freie Zeit nur noch zur Erholung und Ausruhen
benötigte.
Peter Weber: Dabei wird Arbeitsrealität nicht nur von veränderten Arbeitszeiten geprägt. Auch Arbeitsstrukturen und
Arbeitsanforderungen sind zunehmend komplexer gestaltet und erfordern eine größere Flexibilität. So resultiert die
Notwendigkeit der Flexibilisierung heute nicht zuerst aus
technologischen Neuerungen, sondern aus neuen wirtschaftlichen Konzepten des Marketings. Heute gilt selbst in Verwaltungen die »Kundenorientierung« und schon sie bedeutet
Flexibilisierung. Jeder Arbeitsablauf wird daran gemessen,
ob er im Sinne des Marketings den Bedürfnissen der Kunden entspricht. In diesem Sinn werden Arbeitsabläufe und
Produktionsprozesse fortwährend »optimiert«. Diese neue
Haltung hat Auswirkungen in ausnahmslos jedem Bereich
der Arbeitswelt.
Zusätzlich wird immer mehr eine geografische Flexibilität
Voraussetzung für einen sicheren Arbeitsplatz. So ist für international tätige Konzerne ein geografischer Arbeitsplatzwechsel bei Umstrukturierungsmaßnahmen bis in die unteren
Gehaltsgruppen eine gängige Praxis. Ebenso wird es bei der
Arbeitsplatzsuche mittelfristig nicht mehr gehen, sich nur auf
die Heimatregion zu beschränken.
Komplexitätszunahmen in den Arbeitsprozessen leiten sich
häufig von der oben beschriebenen höheren Anforderung
an Flexibilität ab. Der Druck flexiblere operative Ebenen
zu schaffen, erfordert automatisch Lösungsstrukturen, die
weniger den bisherigen linearen Handlungsmustern folgen
dürfen, sondern sich umfassender und reflektierter in zirkulären Mustern bewegen. Das heißt, es geht immer mehr
um Arbeitssysteme, die keinen längerfristig gültigen Grundregeln unterliegen, sondern die sich immer wieder neu bestimmen, verorten und die logischerweise immer häufiger zu
veränderten Arbeitsabläufen führen. Entsprechend greifen
Marketingstrategien nur noch kurzfristig, müssen kurzfristig
überprüft, modifiziert und umgesetzt werden, sodass in der
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»Gerecht ist anders«
konkreten Arbeitsdurchführung, am Ende des Weges eine
sich manchmal komplett anders darstellende Arbeitsrealität
präsentiert.
Wie ist nun unter diesen Umständen die Teilhabe an Arbeit für
Psychiatrie-Erfahrene realisierbar?
Sibylle Prins: An meinem letzten Arbeitsplatz habe ich zwölf
Jahre gearbeitet. Anfangs war es das, was man einen »ruhigen
Job« nennt. Für meinen Geschmack schon zu ruhig, manchmal war nicht genug zu tun. Das hat sich im Laufe der Jahre
sehr verändert. In den letzten Jahren kam man mit der Arbeit überhaupt nicht mehr nach – es wurde aber kein neues
Personal eingestellt, sondern der Arbeitgeber schaute eher,
wo sich noch Arbeitsstellen einsparen ließen. Zusammen mit
meiner sowieso schon unregelmäßigen Leistungskurve habe
ich das nur dadurch einigermaßen kompensieren können, dass
ich sehr gut darin wurde, die wichtigen von den unwichtigen
Arbeiten unterscheiden zu können, und mich auf die Aufgaben zu konzentrieren, die wirklich termingebunden erledigt
werden mussten. Hinzu kam, dass die Verantwortung enorm
anstieg. Zudem hat sich die Form der Arbeit verändert – durch
die vielseitige und vielfältige Nutzung von Computern und
der Digitalisierung in vielen Arbeitsbereichen sind viele Tätigkeiten weggefallen oder in ihrem Wert erheblich gemindert.
Umgang mit Informationstechnologie ist in vielen Berufen
heute ein Muss, die Vielfalt möglicher Betätigungsformen
hat abgenommen.
Du hast bereits die erhöhten und andersartigen Schlüsselqualifikationen für den ersten Arbeitsmarkt genannt, wie Flexibilität auf allen Ebenen, bei gleichzeitiger Kontinuität des Leistungsniveaus, Belastbarkeit, Fähigkeit, in komplexen und sich
rasch ändernden Bedingungen und Abläufen zurechtzufinden,
erhöhte sozioemotionale Kompetenz, usw. Das Problem liegt
nun darin, dass die besonderen Beeinträchtigungen von Psychiatrieerfahrenen ja meist nicht ihre körperlichen und auch
eher selten ihre intellektuellen Fähigkeiten betreffen, sondern
gerade jene, auf die es in der heutigen Arbeitswelt am meisten
ankommt. Sagen wir es ruhig so: Druck aushalten und mit
Druck umgehen zu können.
Ich habe den Eindruck, dass die psychische und soziale Belastung
an den Arbeitsplätzen immer mehr ansteigt. Wie siehst du das?
Peter Weber: Das finde ich auch, der Druck, am eigenen
Arbeitsplatz zu bestehen, ist unter den oben beschriebenen
Anforderungen an Flexibilität und Komplexität und vor dem
Hintergrund der knapp gewordenen Arbeitsplätze extrem
gestiegen. Daraus lassen sich meiner Erfahrung nach zwei
Auswirkungen auf die soziale Situation am Arbeitsplatz ableiten. Erstens wird bei bestehendem Arbeitsplatz solidarisches
Handeln letztendlich den wirtschaftlichen Ansprüchen der
Firma und eigenökonomischen Überlegungen unterliegen.
Und zweitens wird jemand der sich auf einen Arbeitsplatz
bewirbt, neben den instrumentellen Anforderungen sich noch
mehr als früher auf die gestiegenen sozioemotionalen Anforderungen einstellen müssen.
Hier geht es um den Bereich der meiner Erfahrung nach für Psy-
chiatrieerfahrene die größte Bedeutung hat. Kannst du das bestätigen?
Sibylle Prins: Was die sozioemotionalen Kompetenzen angeht nehme ich die Anforderungen, die in dieser Hinsicht gestellt werden, als widersprüchlich wahr: da soll man teamfähig
sein, sich in den Zusammenhang von Kollegen, Vorgesetzten
und Kunden gut einfügen und bewegen können, gleichzeitig wird eine unwahrscheinlich hohe Selbstständigkeit und
eine gute Durchsetzungsfähigkeit verlangt – also eher was
für Einzelgänger. Man soll so feinfühlig sein, dass man in der
Atmosphäre des Betriebes mitschwingt, man soll ausgleichend
wirken – gleichzeitig soll man so robust sein, dass einem von
dem vielen Spannungen, Brüchen, Widersprüchlichkeiten, die
im zwischenmenschlichen Miteinander nun mal auftreten, gar
nichts unter die Haut geht oder einen gar umhaut.
Als ich bei meinem letzten Arbeitsplatz einstieg, hatte ich
Glück: das Betriebsklima dort war echt gut, jedenfalls für
mich – in meiner unmittelbaren Nähe gab es keine Intrigen,
Eifersüchteleien oder Ähnliches unter den Kolleginnen, die
Vorgesetzten waren eher unterstützend als Druck machend
und die gesamte Haltung dort war zwar etwas distanziert,
aber sachlich und freundlich, auch fehlertolerant. Ich begriff
in dieser Zeit auch, dass für mich so ein Faktor wie »gutes
Betriebsklima« viel wichtiger ist als die Frage, ob mir die Arbeit
nun besonders gut gefällt, oder ich ein hohes Gehalt bekomme. Leider kann man diesen sozialen Faktor »Betriebsklima«
vor der Arbeitsaufnahme nicht einschätzen oder abfragen.
Ich würde nicht pauschal sagen, dass psychiatrieerfahrene
Menschen von vornherein schlechtere soziale Kompetenzen
als andere haben. Meine Erfahrungen aus dem Miteinander
und der Zusammenarbeit in unserem Selbsthilfeverein sprechen deutlich eine andere Sprache. Aber manchmal brauchen
sie besondere Bedingungen. Ich will aber die Ursachen dafür, wenn es auf der Beziehungsebene im Beruf nicht klappt,
nicht einseitig auf die Psychiatrieerfahrenen abschieben. Es
gibt jede Menge Arbeitsplätze – leider nicht nur auf dem
Bau –, wo wirklich raue oder zumindest sehr unangenehme
Sitten herrschen. Ich habe Bedingungen erlebt, da glich das
Zwischenmenschliche eher einem Kriegsschauplatz als einem
Arbeitsplatz. Damit haben ja sogenannte »gesunde« Menschen
oft schon große Probleme.
Peter Weber: Die Krankenstände sinken nach den Statistiken
der Krankenkassen immer weiter. Zugleich werden die Deutschen
offensichtlich immer öfter aus psychischen Gründen krankgeschrieben. Ist dir diese Entwicklung bekannt? Welche Bedeutung hat sie
für psychiatrieerfahrene Menschen?
Sibylle Prins: Wenn ein großer Teil der Krankheitstage auf
psychische Beschwerden zurückzuführen ist, handelt es sich
ja in der Mehrheit um Menschen, die keine intensive psychiatrische Behandlung, Betreuung, Rehabilitation erfahren
und oft noch keine sehr schwerwiegende psychiatrische Diagnose erhalten haben. Wie wirkt sich aber das geschilderte
Arbeitsleben auf diejenigen Menschen aus, die schon eine
schwere psychische Erkrankung hinter sich haben? Es wird
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Weber und Prins: Arbeitsrehabilitation auf einem ständig schrumpfenden Arbeitsmarkt – macht das noch Sinn?
oft gesagt, dass Arbeit sich besonders bei Menschen mit psychischen Problemen stabilisierend und gesundheitsfördernd
auswirkt. Ob das aber auch für alle Arbeitsplätze, für die
gesamte heutige Arbeitswelt gilt? Andererseits ist es erwiesen,
dass Arbeitslosigkeit krank macht. Da kann man sich fast fragen, was schlimmer ist – die krankmachende Arbeitslosigkeit
oder ein krankmachender Arbeitsplatz? Zurück zur Rehabilitation: Können denn deiner Meinung nach die Reha-Einrichtungen
in der Begleitung ihrer Klienten unter diesen Bedingungen noch
gegensteuern?
Peter Weber: Gegensteuern wäre letztendlich nur möglich,
wenn die Trainingsbedingungen der neuen Realität entsprechend gestaltet würden. Damit stellt sich aber auch sofort
die Frage, ob dann noch die Reha-Teilnehmer, von denen
wir heute sprechen, einen Zugang in die Reha-Maßnahmen
finden würden.
Auch die stärkere Einbeziehung von flankierenden Hilfen und
Unterstützungssystemen werden unter diesen Bedingungen
die Chancen, psychiatrieerfahrene Menschen in sozialversicherungspflichtige Arbeit zu bringen, nicht vergrößern.
Die Reha-Einrichtungen sind meiner Meinung nach inzwischen längst von den aktuellen Arbeitsweltveränderungen
beeinflusst. Als Reha-Erfolg gilt schon seit Mitte der 90erJahre nach Vorgabe der Leistungs- und Kostenträger die tatsächliche Vermittlung in ein sozialversicherungspflichtiges
Arbeitsverhältnis, statt der bis dahin gültigen Vermittlungsfähigkeit.
Dieser Paradigmenwechsel musste in den Einrichtungen der
beruflichen Rehabilitation bspw. Einfluss auf die Zugangsund Aufnahmevoraussetzungen haben. Das heißt innerhalb
der Reha-Verläufe muss frühzeitiger entschieden werden, wie
und wo es weiter geht. Damit verbunden steigt die Vermittlung in die niedrigschwelligen Arbeitsbereiche des zweiten
Arbeitsmarktes.
Dass diese Entscheidungsfindung nicht von der aktuellen Arbeitsmarktsituation beeinflusst wird, ist kaum denkbar.
Bei deiner Frage, wie die Reha-Einrichtungen gegensteuern
können, muss auch darüber nachgedacht werden, welche
Auswirkungen sich damit verbinden, wenn man als Reha-Mitarbeiter einen Arbeitsplatz hat, bei dem der primäre Arbeitsauftrag lautet, Menschen mit Beeinträchtigungen für einen
Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten
bzw. zu trainieren, den es aber kaum noch gibt? Das ist eine
fatale Situation und wirft eine moralisch-ethische Frage auf,
die aber nicht primär von den Reha-Mitarbeitern beantwortet
werden muss, sondern von den Kosten- und Leistungsträgern und Reha-Politikern, die diese Situation von außen am
Laufen halten.
»Der Kontext vor dem sich die Rehabilitationsprozesse abspielen, hat sich verändert.«
Was heißt das also? Die Rehabilitationskonzepte sind theoretisch fundiert, methodisch effektiv. Sie sind über die Jahre
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
immer weiterentwickelt worden und haben sich bewährt.
Aber – was sich verändert hat, ist der Kontext, vor dem sich
die Rehabilitationsprozesse abspielen. Dieser neuen Realität
und den damit verbundenen Perspektiven für die Rehabilitanden muss Rechnung getragen werden. Wenn das nicht
geschieht, wird Rehabilitation sich immer auf der Ebene der
individuellen Trainingssituation und der individuellen Trainingsergebnisse abspielen, ohne den Blick auf eine mögliche
Perspektive, d. h. der Trainingserfolg rückt alleine in den
Fokus ohne Berücksichtigung der weiterführenden Wege.
Letztendlich geht es um eine neue Definition dessen, was
wir in unserer Gesellschaft als Arbeit verstehen. Mal weg von
den Rehabilitationsgeschehen und -strukturen. Du hast ja für dich
längst eine Alternative gefunden. Wie sieht diese aus?
Sibylle Prins: Anfangs waren Alternativen natürlich auch
für mich nicht denkbar. Da musste es unbedingt eine Tätigkeit auf dem 1. Arbeitsmarkt sein. Auch wenn das immer
schwieriger für mich wurde. Im Laufe der Zeit habe ich aber
Menschen, die ganz andere Lebensmodelle lebten, näher
»In den Rehabilitationsprozessen rückt der
Trainingserfolg alleine in den Fokus ohne Berücksichtigung der weiterführenden Wege.«
kennengelernt, und unter bestimmten Bedingungen waren
diese Menschen mit ihrem jeweiligen Lebensmodell auch sehr
zufrieden, manchmal sogar besser dran als vorher. So wurden
auch für mich andere Lebensmodelle denkbar und mitunter
attraktiv. Für viele Psychiatrieerfahrene ist eine Frühverrentung eine Katastrophe. Für mich aber bedeutete es eine große Erleichterung und machte den Weg frei für ein meinen
Bedürfnissen und Fähigkeiten besser angepasstes Leben. Ein
wichtiges Standbein sind meine Aktivitäten in der Psychiatrieerfahrenen-Selbsthilfe. Das ist ein auch für manchen anderen
gangbarer Weg. Ich bin Vorsitzende eines Selbsthilfevereins,
das bedeutet viel Mitgliederkontakte, Mitgliederpflege, Vorbereitung und Koordination, etwa von Vorstandssitzungen
oder Projekten, Gremienarbeit, und so weiter. Was in einem
halbwegs aktiven Verein halt so anfällt. In diesem Bereich
kann ich vieles verwirklichen, was ich gern beruflich getan
hätte, mir aber aufgrund der Erkrankung verwehrt blieb. Mit
einigen wichtigen Unterschieden zur Arbeitswelt: niemand
zählt meine Fehltage, Tage, an denen es mir zu schlecht geht,
um etwas zu machen. Es wird keine gleich bleibende tägliche
Arbeitszeit oder Arbeitsleistung von mir verlangt. Trotzdem
habe ich eine Aufgabe, das Gefühl, mich sinnvoll und sozial
eingebunden zu betätigen. Die Selbsthilfe bietet heute ein
viel breiteres und vielfältigeres Spektrum an Betätigungsmöglichkeiten, als ich soeben aufgezählt habe – in dem von dir
herausgegebenen Buch »Tätigsein« habe ich versucht, dieses
Spektrum zu beschreiben. Ich denke, es ist wichtig, mehr
und unterschiedlichere Lebensmodelle als nur das des geregelten, versicherungspflichtigen dauerhaften Vollarbeitsplatzes als gleichwertig anzuerkennen. Es ist ferner wichtig, die
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»Gerecht ist anders«
Bedingungen herzustellen und zu unterstützen, damit solche
anderen Lebensmodelle auch ohne allzu belastende Schwierigkeiten verwirklicht werden können. Und die Betroffenen
müssen darin unterstützt und begleitet werden, das für sie jeweils passende Lebensmodell auch zu finden, zu akzeptieren,
zu gestalten oder Unterstützung dafür zu suchen.
Abschließende Thesen:
- These 1 Es ist davon auszugehen, dass die aktuelle und
die zukünftige Arbeitsmarktsituation nur noch eine eingeschränkte Anzahl von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen vorhalten wird. In der Konkurrenz des freien
Arbeitsmarktes werden psychiatrieerfahrene Menschen erst
In den Rehabilitationseinrichtungen muss innerhalb der Teams und mit den Rehabilitanden
offener und vermehrt darüber geredet werden,
welche Perspektiven der Arbeitsmarkt noch
hergibt.
-
sekundär oder tertiär diese Plätze erreichen können. Es ist
auch davon auszugehen, dass aufgrund der Veränderung der
direkten Arbeitsstrukturen, das neue Anforderungsniveau
nur von wenigen psychiatrieerfahrenen Menschen erreicht
und gehalten werden kann. Von daher ist es notwendig, dass
in den Rehabilitationseinrichtungen innerhalb der Teams
und aufgrund ihrer ethisch-moralischen Verpflichtung auch
mit den Rehabilitanden offener und vermehrt darüber geredet wird, welche Perspektiven in Bezug auf Erwerbsarbeit
der Arbeitsmarkt noch hergibt. Die Leitungen der Rehabilitationseinrichtungen sollten sich in der Pflicht sehen
(auch im eigenen beruflichen Interesse), mit den Kostenund Leistungsträgern über neue Zielbestimmungen, die
sich an den zukünftigen Arbeitsmarktbedingungen (z. B.
in Richtung Minijob, Mindestlohn-Arbeitsverhältnisse und
Kombilohn) anpassen, zu sprechen.
These 2 Es ist auch dann noch davon auszugehen, dass für
viele psychiatrieerfahrene Menschen niedrigschwelligere
Arbeitsplätze notwendig sein werden. Auf der sich derzeit abzeichnenden »Einbahnstraße« in Richtung WfbM,
müssen dringend andere Wege oder Straßen gebaut bzw.
bestehende ausgebaut werden. In diesem Sinne muss z. B.
Freiwilligenarbeit, Zuverdienst aller Art, Selbsthilfearbeit
anerkannt und entsprechend entlohnt werden. Hierzu
gehört auch unbedingt eine Stärkung der Position der
Integrationsfirmen. Die Bestrebungen, einen dritten Arbeitsmarkt aufzubauen, sind sicher ein gutes Zeichen in
diese Richtung.
Die Leitungen der Rehabilitationseinrichtungen
sollten sich in der Pflicht sehen, mit den Kostenund Leistungsträgern über neue Zielbestimmungen, die sich an den zukünftigen Arbeitsmarktbedingungen anpassen, zu sprechen.
-
These 3 Es ist darauf zu achten, dass niedrigschwellige Arbeitsplätze von denen besetzt werden, für die sie vorgesehen
waren. Mit dem Wegbrechen von hochschwelligen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen, kommt es häufig zu
einer Umverteilung von oben nach unten. In Ermangelung
des sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatzes werden
Zuverdienstarbeitsplätze beispielsweise von »erfolgreichen
Reha-Absolventen« besetzt, obwohl sie eigentlich für Leistungsschwächere gedacht waren.
Die Effizienzkontrolle dieser neuen Wege in Richtung niedrigschwelliger Arbeitsplätze muss sich an
der Nützlichkeit für die Schwächsten orientieren.
-
-
-
These 4 Auch wenn das Angebot an niedrigschwelligen
Arbeitsplätzen sich nicht so schnell entwickeln wird, ist
es mit Blick auf den derzeitigen Kostendruck im Gesundheitswesen unbedingt diskussionswürdig, dass sich krankenkassenfinanziert zunehmend ergotherapeutische ambulante Behandlungstrukturen entwickeln, in denen über
Langzeit- und Kombirezeptierungen tagesstrukturierende
Maßnahmen angeboten werden. Dies umso mehr, weil eine
Teilnahme über die Rezeptgrundlage, immer gekoppelt ist
mit der Vorgabe krank sein zu müssen. Alternativ müssen
von den Krankenkassen unabhängige Finanzierungskonstrukte entstehen, die eine sinnvolle tagesstrukturierende
Betätigung ermöglichen. Hier wäre z. B. zu überlegen, ob
Tagesstätten oder Kontaktstellen Angebote vorhalten und
vermitteln, die auch stundenweise honoriert werden können. Dabei sollten solche Angebote bevorzugt werden, die
die psychiatrische Subkultur verlassen und gemeinwesenorientiert sind.
These 5 Es muss eine gesamtgesellschaftliche Diskussion in
Gang kommen, in der die Bedeutung von Arbeit, im Jahodaschen Sinne, eine neue, auf die aktuellen arbeitsmarktpolitischen Grundlagen bezogene, Bestimmung erfährt. Dabei
ist eine Grundvoraussetzung die finanzielle Absicherung
der Menschen deutlicher und menschenwürdiger von der
Erwerbsarbeit abzukoppeln. Die Gegenüberstellung Erwerbsarbeit – Eigenarbeit muss korrigiert werden bspw.
im Sinne von Erwerbsarbeit – Gemeinwesenarbeit. Dazu
ist es notwendig, dass offen über die Situation gesprochen
wird, dass die entstehenden Systeme ein menschenwürdiges Grundeinkommen beinhalten, das aber gesellschaftlich
akzeptiert und anerkannt werden muss.
These 6 Trotz der großen Veränderungen des Arbeitsmarktes sollte die Möglichkeit der Integration von Menschen mit
psychischen Einschränkungen nicht ausgeschlossen bleiben. Unverzichtbar ist dabei die Zusammenarbeit und/oder
Auseinandersetzung mit denjenigen psychiatrieerfahrenen
Menschen, die neben ihren persönlichen Problemen noch
Interesse für die politische Dimension ihrer Lage aufbringen
können. Das werden vielleicht nur wenige sein, aber es gibt
sie, auf jeden Fall in den Landes- und Bundesverbänden
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
»Gerecht ist anders ...«
Die finanzielle Absicherung der Menschen
muss deutlicher und menschenwürdiger von
der Erwerbsarbeit abgekoppelt werden.
der Psychiatrieerfahrenen. Es ist ein rehapolitischer und
psychiatriepolitischer Diskurs notwendig, der Bedingungen
der Vorbereitung und der Perspektiven des Rehabilitationsprozesses in den Blick nimmt. Sowohl Leitungs- wie
auch Basismitarbeiter/innen in diesem Bereich sind aufgefordert, den sozialpolitischen Horizont, der ihre Arbeit
bestimmt, zu erkunden, zu diskutieren und nach Möglichkeiten zu suchen, ihn, wo möglich, zu beeinflussen. Nur,
wenn die Bemühungen, psychiatrieerfahrenen Menschen
eine Perspektive zu geben, die gesellschaftliche Realität, in
der diese Bemühungen stattfinden, aktiv einbeziehen, kann
verhindert werden, dass sie individuell oder konzeptionell
ins Leere laufen.
Anschrift der Verfasser
Sibylle Prins
Peter Weber
Herman-Nohl-Schule/BFS Ergotherapie
Regionales Kompetenzzentrum Hildesheim
Steuerwalderstr. 162
31137 Hildesheim
[email protected]
Denken Sie sich
die Gesichter doch
einfach weg ...
Interview mit einer
Werkstattleiterin
Vorbemerkung: Ich bin nach Z. gefahren und warte jetzt
auf die Diplom-Sozialarbeiterin Frau Apenbrink.1 Das sehr
moderne, großzügig mit viel Glas hergerichtete Werkstattgebäude beeindruckt mich. Ich habe meine Befangenheit noch
nicht ganz abgeschüttelt, als Frau A. eintritt. Sie wirkt auf
mich sofort sympathisch. Der kesse, kurze Haarschnitt steht
ihr ebenso wie die abgewetzten Jeans und das bunt geringelte
T-Shirt. Alter? Vielleicht Mitte Vierzig. Sie strahlt Herzlichkeit
und Wärme aus. Ich hatte mir auf der Herfahrt im Zug eher
eine leicht magersüchtige, moderne Managerin mit schwarzem Aktenköfferchen und adrettem Kostüm vorgestellt. Die
sind verpflichtet zum »positive thinking« – hatte ich mir gedacht – und mir vorgenommen, das Interview entsprechend
zu beginnen. Ob das noch passt? Egal, nach der Begrüßungszeremonie muss ich anfangen.
Info: Was hat sich in den letzten Jahren in Ihrer Abteilung
von den Rahmenbedingungen her verbessert?
Frau A.: Verbessert (lange Pause und Lachen) – da muss
ich stark nachdenken. Gut für uns alle ist jedenfalls, dass ich
durch langjährige Mitarbeit in dieser Einrichtung alle Traditionen und Schlupflöcher kenne, über viele Kontakte verfüge.
Ich glaube, dass es mir gelungen ist, ein gutes Arbeitsklima
zu erhalten, aber verbessert hat es sich nicht.
Hm – verbessert hat sich vielleicht, dass ich sehr selbstständig
arbeiten kann. Das ist der Vorteil von dem Nachteil, dass
die Geschäftsführung dauernd wechselt. Na ja, und die Gebäude, die haben sich auch verbessert. Vielleicht lässt sich
auch positiv verbuchen, dass wir vernetzter arbeiten mit anderen Projekten und Betrieben. Die Kehrseite ist, dass die
Komplexität gewachsen ist und die Abläufe immer schneller
werden. Das ist nur durch Routine zu bewältigen. Die Anzahl
der Kontakte ist zwar wesentlich höher geworden – wegen
notwendiger Absprachen und Abstimmungen –, sie sind aber
längst nicht mehr so intensiv, darunter leidet dann die Qualität auch ehemals guter und tiefer Beziehungen. Vernetzung
bedeutet ja nicht automatisch gute Prozesse.
Info: Könnten Sie das noch etwas näher beschreiben?
Frau A.: Früher gab es einfache Strukturen und eindeutige
Zuständigkeiten. Entscheidungen konnten gut vorbereitet
werden und waren hinsichtlich ihrer Konsequenzen durchschaubar. Jetzt gibt es extrem viele Schnittstellen. Man überlegt dauernd – durchaus mit einem gewissen Misstrauen –
wen muss ich mit einbeziehen, wen lasse ich lieber aus. Aber
1 Pseudonym
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
39
40
»Gerecht ist anders«
letztlich kann man die beeinflussenden Faktoren nicht mehr
durchschauen. – Da fällt mir noch eine Verbesserung ein: Die
Beschäftigten – ich meine die Menschen mit Behinderungen
– vertreten inzwischen ihre Interessen viel selbstbewusster.
Das ist für diejenigen, die viel gesundes Potenzial mitbringen,
sehr förderlich. Wer sich engagieren will und kann, hat viel
mehr Möglichkeiten als früher. Da wirkt die Werkstättenmitwirkungsverordnung positiv. Dass die berufliche Bildung
mehr Gewicht bekommen hat, finde ich ebenfalls positiv.
Allerdings hat das auch zwei Seiten. Jedenfalls da, wo wie bei
uns schon ein hoher Level bestand. Jetzt soll es mehr Verbindlichkeit geben, Rahmenbildungspläne und so was. Das ist aber
begleitet von mehr Standardisierung und Gleichmacherei. Die
Menschen, auf die sich das alles beziehen soll, geraten paradoxer Weise dadurch eher ins Hintertreffen – wegen der vielen
Zeit, die für ausführliche Dokumentation einzusetzen ist und
die dann für ein persönliches Gespräch fehlt. Der größte Teil
der bei uns Beschäftigten wird viel zu wenig begleitet, weil
keine Zeit da ist. Die knappe Zeit gleicht einem zu kurzen
Hemd, mit dem man im Schnee steht. Man zieht an allen
Ecken, aber es langt nicht mehr, um richtig zu wärmen.
Dadurch, dass auf das alte, gut laufende System ein neues
draufgepfropft wurde, kriegen wir es kaum mehr gebacken.
Es ist schwierig, das zu integrieren ohne was kaputt zu machen. Die Dokumentationsanforderungen drängen sich in den
Vordergrund: beantragen, bereinigen, erklären, auseinandersetzen, Schnittstellenbearbeiten, Tausend Gremien.
Info: Haben die Dokumentationsanforderungen nur negative
Effekte?
Frau A.: Keineswegs. – Man kann mit den Klienten darüber
gut ins Gespräch kommen, aber der Dokumentationswust
und die tausend Absprachen fressen dann die Zeit weg für
normale, alltägliche Beziehungen und sich daraus ergebende
Hilfestellungen. Immer weniger Personal soll immer mehr für
immer weniger Geld leisten. Das hat auch mit dem Qualitätsmanagement zu tun. Es ist ja gut, sich ständig zu überlegen,
was man an den Arbeitsabläufen verbessern kann. Allerdings
wie es durchgeführt wird, die Wege die dabei beschritten werden, finde ich oft fragwürdig.
Info: Wie hoch würden Sie den prozentualen Anteil derjenigen Beschäftigten einschätzen, die von den neuen Konzepten
voraussichtlich profitieren werden?
Frau A.: Etwa zwanzig Prozent würde ich grob schätzen.
Darin sind aber auch schon Leute, die unter anderen Arbeitsmarktbedingungen gar nicht erst in einer geschützten
Werkstatt sein müssten.
Info: Könnte jemand, der den Betrieb nicht so gut kennt wie
Sie, den derzeitigen Anforderungen gerecht werden?
Frau A.: (selbstsicher und energisch) Das halte ich für ausgeschlossen. Das geht nur, weil ganz viel Routine und ganz
viel Kenntnisse von einigen Jahren Arbeit da sind, nicht nur
bei mir. Die erfahrenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
wirken stabilisierend in all der Hektik. Allerdings für mich
entstehen daraus auch Probleme. Je mehr du die Menschen
kennst und von ihren Ängsten weißt, desto behutsamer gehst
du mit ihnen um. Die Neuen in der Geschäftsführung z. B.,
die kennen die Menschen nicht, die können deshalb eher von
den Zahlen her denken.
Info: Könnten Sie dafür ein Beispiel geben?
Frau A.: Wir hatten mal jemand in der GF, der ohne mit
der Wimper zu zucken, Stellen streichen wollte. Als ich ihm
sagte, so geht das nicht und aus welchen menschlichen Gründen nicht, antwortete er: Sie machen es sich viel zu schwer.
Denken Sie sich die Gesichter doch einfach weg. Ich glaube,
er war der Meinung, dass emotionale Intelligenz für das Leitungsgeschäft eher hinderlich ist.
Info: Welche Eigenschaften braucht eine Leiterin oder ein
Leiter Ihrer Meinung nach?
Frau A.: Leiten erfordert ein sehr hohes Maß an Kommunikation nach allen möglichen Seiten und dafür ist emotionale
Intelligenz unabdingbar. In den letzten Jahren ist auch zunehmend mehr Mut notwendig, sozusagen Mut in unbekannten
Gewässern zu navigieren.
Info: Machen die vielen Veränderungen nicht auch Angst?
Frau A.: Ich habe keine Angst vor Veränderungen, aber ich
bin kritisch gegen Einseitigkeiten. Deshalb schätze ich auch
die Traditionalisten hier im Betrieb, die machen es mir zwar
nicht leichter, ich bin oft anderer Meinung, aber sie sind ein
wichtiger Faktor, um die Balance zu halten. Stromlinienförmige Mitarbeiter finde ich langweilig. Bei den Mitarbeitern
war mir immer eine respektvolle Haltung den behinderten und
beeinträchtigten Menschen gegenüber das Wichtigste. Und
was die Wertschätzung im Umgang mit Menschen betrifft, da
treffe ich mich mit den Traditionalisten. Ich bin zwar nicht
christlich geprägt, aber es geht mir um den Menschen, gleich
ob behinderter oder nicht behinderter Mitarbeiter.
Info: Besitzen Ihre jetzigen Chefs emotionale Intelligenz?
Frau A.: (lacht) Man kommt sich gar nicht mehr so nah,
um das überhaupt feststellen zu können. Na ja – die wächst
nicht mit der Hierarchieebene. Außerdem kommen die Geschäftsführer nicht mehr aus sozialen Bereichen. Inhaltlich
ist die GF auf mich angewiesen. Dass eine qualitativ gute
Arbeit eher zu schaffen ist, wenn die Mitarbeiter sich wohl
fühlen und motiviert sind, übersehen sie gern. Hinsichtlich
der behinderten Mitarbeiter habe ich oft Schwierigkeiten,
ihnen deutlich zu machen, welche Wichtigkeit Beziehung
und eine ausreichend dichte Begleitung hat, dass genau das
mit Qualität zu tun hat.
Info: Wenn die Personalsituation nicht so eng wäre, könnten
Sie dann den Neuerungen mehr abgewinnen?
Frau A.: (sehr lebhaft) Ja, ja – wenn die Personalsituation besser wäre, dann könnte man die Sachen, die von der Intention
her vernünftig sind, besser akzeptieren. Diese Lückenhaftigkeit, zu der man im Augenblick verdammt ist, ist fatal. Du
kannst gerade mal die schwierigste Situation bearbeiten und
die anderen Probleme liegen lassen, bis sie auch schwierig
geworden sind. Mitarbeiter fehlen uns an allen Ecken und
Enden. Alles andere haben wir: Räume, Fachlichkeit, Lo-
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Interview: Denken Sie sich die Gesichter doch einfach weg ...
gistik, Lkw. Viele Veränderungsnotwendigkeiten kommen
aus dem Willen zum Einsparen und nicht von zielführenden
Konzepten her. Da heißt es: Hast du Plus oder Minus erwirtschaftet? Was ist nächstes Jahr zu erwarten? Nullrunde – Tarife steigen – Schere geht weiter auseinander. Da hat man die
Wahl. Entweder löst man Bereiche auf, setzt Teams anders
zusammen oder erschließt neue Tätigkeitsfelder.
Info: Macht Not nicht auch erfinderisch?
Frau A.: Wir wären auch kreativ, wenn keine Not bestände.
Ich glaube, dass man eher dann kreativ wird, wenn man gut
besetzt ist. Zum Beispiel sind ad hoc Gespräche nicht mehr
möglich. Die sind aber gerade für neue Ideen förderlich.
Info: Wie würden Sie über die Jahre hinweg Ihre Motivationsoder Arbeitslustkurve einschätzen – in welchen Jahren gab es
Höhepunkte, in welchen Tiefpunkte?
Frau A.: Ich habe und hatte immer eine hohe Motivation. Es
gab mal ein paar Jahre, da habe ich tatsächlich in der Zeitung
nach anderen Stellen gesucht. Da war eine Geschäftsführung
dran, die vieles kaputt gemacht hat, und mit der ich im ständigen Streit lag. Aber schließlich musste sie gehen. Inzwischen ist
es für mich fast schon nachrangig, wer in der Geschäftsführung
ist. Gut waren die Zeiten, in denen vonseiten der GF noch
mehr Zeit zur Verständigung da war. Dann kamen, so etwa um
das Jahr 2000, verschärftes Controlling und rabiate Reduzierungen. Da ging es mir schlecht. Ich habe stark überlegt, ob ich
das aushalte. Ich arbeite ja mit vielen der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern schon jahrelang zusammen und da lasse ich mich
natürlich von ihren Ängsten und den realen Härten berühren.
In Zeiten, in denen ich unzufrieden bin, denke ich auch so
Sachen wie: andere in der freien Wirtschaft verdienen für eine
vergleichbare Tätigkeit das Dreifache. Ich muss schließlich als
Alleinverdienerin eine Familie ernähren.
Info: Wie schätzen Sie Ihre Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten in der Arbeit ein?
Frau A.: In dem Spielraum, der ökonomisch für mich vorhanden ist, relativ hoch. Wie ich die gegebenen Ressourcen
verwende, ist innerhalb eines vereinbarten Rahmens meine
Sache. Das ist es auch, was meine Motivation noch erhält.
Allerdings haben sich auch diese Spielräume verkleinert. Zum
Beispiel Mitarbeiter kann ich nur noch bedingt aussuchen, da
es nur noch wenige Neueinstellungen gibt und Versetzungen
zunehmend von betrieblichen Notwendigkeiten beeinflusst
werden. Aber in das, was von meiner Seite nicht zu verändern
ist, setze ich keine Energien.
Info: Worin liegen für Sie die größten Schwierigkeiten?
Frau A.: Absolut schlecht ist, dass man zu wenig Zeit für Zwischenmenschliches hat. Ich nehme sie mir, aber mit schlechtem Gewissen. Um mit den Menschen so umzugehen, wie
ich es für richtig halte, beute ich mich ständig selbst aus. Das
ist in der normalen Arbeitszeit nicht zu schaffen. Ich habe
mich aber bewusst dafür entschieden. Sonst würde mir die
Arbeit keinen Spaß mehr machen. – Was ist schwierig? Ein
ständiges Thema ist das Auseinanderklaffen von Anspruch
und Wirklichkeit.
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Hier eine Balance zu finden ist für Gruppenleitungen noch
schwieriger als für mich. Die sind näher dran, sowohl an
den Kollegen als auch an den Beschäftigten. Sie werden zerrieben zwischen den Anforderungen an Schnelligkeit und
dem Gefühl, dass sie den Beschäftigten nicht gerecht werden.
Verschlechtert hat sich, dass auf den hierarchisch gleichen
Ebenen alle viel vereinzelter arbeiten. Es gibt dadurch mehr
Konkurrenz untereinander.
Info: Ist das von der Geschäftsführung so gewollt?
Frau A.: Die macht sich zumindest öffentlich keine Gedanken darum.
Info: Warum gibt es Ihrer Meinung nach vonseiten der Mitarbeiterschaft aus den Sozialberufen nicht mehr Widerstand?
Frau A.: Weil wir alle Rädchen im Getriebe sind, weil wir so
gut gelernt haben, empathisch zu sein, für alles Verständnis zu
haben. Weil wir gelernt haben, vom Individuum her zu denken. Verstehen und Verhandeln, das ist unsere Sache, nicht
Auflehnen. Vielleicht müsste man Kostenträgern bestimmte
Haltungen deutlicher machen, sich Verbündete suchen. Habe
ich lange versucht. Unter den neuen Abteilungsleitungen
habe ich keine Verbündeten gefunden. Die kommen schon
mit einer neuen Kultur, die vielleicht kompatibler mit den
Anforderungen ist. Ich weiß nicht, was sie denken. Ich begegne ihnen nicht. Ich kann sie nicht kennenlernen. Jeder schaut
auf seine eigenen Ziele. Ein Schulterschluss ist dadurch sehr
schwierig. Und außerdem, wie soll man in Widerstand gehen, wenn es keine klaren Feindbilder gibt? Die Chefs erlebe
ich auch als Getriebene, getrieben von maximaler Arbeitsbelastung, von Gesetzen, Kostenträgern, von ehrgeizigen
Zielvereinbarungen. Die haben wenig Spielraum und sind
froh, wenn man sie nicht mit zusätzlicher Arbeit belästigt.
Spannend ist, dass jeder sich für ein Opfer der Verhältnisse
hält. An welcher Stelle sind wir Täter, wo sind wir Opfer?
Jede Ebene hat ihre nachvollziehbaren Gründe, ihre Entschuldigungen. Wo liegt die Verantwortung? Wer oder was
macht es so schlimm?
Sind es die Politiker, sind es die Kommunen mit den leeren
Kassen? Irgendwann landet man bei der Globalisierung. Ich
frage mich natürlich auch, wie lange mache ich was mit. Wenn
Entscheidungen getroffen werden, die ich falsch finde, äußere
ich meinen Unmut auch schriftlich, um festzuhalten, dass ich
dagegen war. Manchmal ändert das zwar nichts, aber dann
kann ich morgens besser in den Spiegel sehen.
Info: Was ärgert Sie am meisten?
Frau A.: Dass versucht wird, alles gleich zu machen, die
Vielfalt von Möglichkeiten durch Checklisten einzufangen.
Das häufig so etwas wie eine Pseudoeinbeziehung zu beobachten ist, die keinerlei oder nur wenig Auswirkungen auf
Entscheidungen hat. Ärgerlich ist auch, dass Strukturen top
down verändert werden. Die springen oben schnell auf Außenreize an. Die eine Strukturveränderung ist noch nicht abgeschlossen, die Auswirkungen sind noch nicht bekannt und
schon kommt die nächste. Wenn das oft passiert, tut man gut
daran, die Prozesse, wo immer möglich, zu verlangsamen.
41
»Gerecht ist anders ...«
42
Ich persönlich arbeite selbst schnell, aber ich weiß, dass die
Bereiche mehr Zeit brauchen. Es laufen ständig gleichzeitig
viele Prozesse und dabei hat man den Eindruck, dass kaum
etwas entschieden wird.
Info: Wieso? Ich denke, es wird sehr viel entschieden?
Frau A.: Es wird dauernd etwas entschieden, aber gleichzeitig
hat man das Gefühl, nichts wird richtig entschieden, da es
sich nicht um strategisch durchdachte inhaltliche Entscheidungen handelt.
Info: Wo liegen die Ursachen?
Frau A.: Ich weiß nicht, wer der Treiber ist in diesem Spiel.
Ich weiß nicht, wem ich das anlasten soll. Wenn ich wüsste,
wie es gespielt wird, wäre ich in der Politik und würde es
ändern. Wenn ich nicht auch einen gewissen Lustgewinn aus
der Beobachtung all dieser interessanten Phänomene ziehen
würde, würde ich vielleicht verzweifeln. Ich gehe dabei irgendwie auf die Metaebene.
Info: Wie wird es Ihrer Meinung nach weitergehen?
Frau A.: Gute Frage, habe ich mich auch schon oft gefragt.
In fünf bis sieben Jahren wird es sein wie auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt. Immer mehr Automatisierung, immer mehr
Technisierung, immer weniger Zeit für zwischenmenschliches
Miteinander. Immer weniger Fachkräfte, immer weniger bezahlte Arbeit. Parallel dazu werden immer mehr Menschen
mit Behinderungen ambulant betreut werden. Ich bin sehr für
die ambulante Betreuung, aber sie muss auch stattfinden. Es
wird viel von Eigenverantwortung geredet, aber wir entdecken
schlicht Vernachlässigung. Für uns ist es jedoch unmöglich,
die Personalkürzungen im ambulanten Bereich mit aufzufangen. Die neuen Konzepte z. B. »virtuelle Werkstatt« usw. finde
ich hochinteressant, aber wenn es so weitergeht wie bisher,
werden die wirklich Unterstützungsbedürftigen, besonders die
sogenannten Systemsprenger, rausfallen. Ich befürchte, dass
es immer schwieriger werden wird, demokratische Prozesse
zu organisieren.
Wirkliche Einbeziehung wird schon deshalb immer schwieriger, weil Demokratie Zeit braucht. Demokratie heißt für mich
auch: Umgang mit Vielfalt. Man versucht aber heute, alles
gleich zu machen, alles durchzustrukturieren. Mir kommt das
so vor, als seien alle sehr desorientiert und sehnen sich nach
Sicherheit, die durch Überstrukturierung hergestellt werden
soll. Genau aus diesem Grunde finden manche Kollegen diese
Vorgehensweisen auch gut. Man kann sich an vorgegebenen
Ordnungsschemata und Standards festhalten.
Info: Wie verträgt sich dazu der Anspruch besonders individuell und passgenau vorzugehen?
Frau A.: Nicht besonders gut, schon wegen der mangelnden personellen Ressourcen kommen doch oft nur 08/15Geschichten dabei heraus.
Info: Frau Apenbrink, vielen Dank, dass Sie den Sozialpsychiatrischen Informationen so großzügig einen Teil ihrer knappen
Zeit gewidmet haben.
Das Interview führte Renate Schernus.
Das bedingungslose
Grundeinkommen
Wilhelm Nestle
Was versteht man unter einem
bedingungslosen Grundeinkommen (BGE)?
Das »Deutsche Netzwerk Grundeinkommen« nennt vier Kriterien:
1. Existenzsichernd
2. Individueller Rechtsanspruch. Es soll also beispielsweise
unabhängig davon gezahlt werden, was mein Lebenspartner
verdient
3. Keine Bedürftigkeitsprüfung. Deshalb erhält es jede(r) –
gleichgültig wie viel Geld ihm/ihr zur Verfügung steht
4. Kein Zwang zur Arbeit1
Ohne jede Vorbedingung bekommt jede und jeder einen monatlichen Grundbetrag ausbezahlt, der ihr bzw. ihm ein Leben
in Würde ermöglicht. Über die Höhe gibt es unterschiedliche
Vorstellungen von 600 bis 1500 €.
Das unterscheidet sich grundsätzlich von dem, was gegenwärtig Existenzsicherung genannt wird. Sozialhilfe oder Hartz
IV lassen zwar niemanden verhungern und sorgen auch sonst
für elementare Bedürfnisse. Beim BGE geht es aber um mehr
als um das bloße Überleben. Es soll die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Für die Vertreter(innen)
dieser Idee gehört es zur Menschenwürde, das Leben nach
eigenen Vorstellungen zu gestalten – und auch Tätigkeit bzw.
Arbeitsplatz frei wählen zu können. Deshalb ist BGE ein Menschenrecht und an keine Bedingung gebunden.
BGE zielt also in die entgegengesetzte Richtung als gegenwärtige Existenzsicherung. Es will den Einzelnen instand setzen,
sein Leben selbst zu bestimmen. Sozialhilfe oder Hartz IV
sichern zwar das Überleben. Sie stigmatisieren aber die Empfänger. Und sie werden bewusst so unattraktiv gehalten, dass
die Bezieher »motiviert« werden, Arbeit anzunehmen, egal,
wie sie gestaltet ist.2
Die Frage der Finanzierung soll hier nur angesprochen werden. Der Modus wird von dem Gesellschaftsmodell abhängen,
auf das wir dann zusteuern.3 Evident ist: Von der Geldmenge
her, die um den Globus schwirrt, wäre die Finanzierung kein
Problem. Eben so offensichtlich ist, dass die Finanzierung
eines echten BGEs einen Wandel in der Verteilung des Reichtums voraussetzen würde. Und ich denke, dass die Einführung
des BGEs nicht ohne gleichzeitige Reform unserer Wirtschaft
in Richtung nachhaltiger Umgang mit der Natur eingeführt
werden sollte.
Was spricht für ein BGE?
»Es ist wirklich genug für alle da!« heißt der Slogan, mit dem
die Arbeitsgruppe »Genug für alle« von Attac für ein BGE
wirbt.4 Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist
es nicht mehr notwendig, dass die Mehrheit der Menschen
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
43
Wilhelm Nestle
Attac Tübingen
arbeiten muss, um das materielle Leben zu gewährleisten. Im
Gegenteil, es sind immer weniger, die im Produktionsprozess
tätig sind. Die Kehrseite: Immer mehr werden arbeitslos,
viele ohne Chance, im Arbeitsprozess wieder Fuß fassen zu
können. Unsere Politiker haben aber aus dieser Entwicklung
keine Konsequenzen gezogen und versuchen mit Zuckerbrot
und Peitsche Hartz IV-Empfänger in Arbeitsplätze zu treiben,
die es nicht gibt. Das hat in manchen Arbeitsagenturen zu
menschenunwürdigen Praktiken geführt.5 Genau so unangemessen ist die Forderung, Hartz IV-Empfänger sollten zu
Arbeiten verdonnert werden, die sonst niemand tun will.6
Angesichts dieser Entwicklung erscheint das BGE als der
einzige Ausweg, um die Menschenwürde in unserer fortgeschrittenen Industriewelt zu retten.
Was spricht dagegen?
Für Menschen, die nichts anderes kennen als unsere gängige Erwerbsarbeit, erscheint das BGE als der Umsturz aller
Werte.
1. »Wer arbeitet dann noch?« wird gefragt. Die Produktion
der Dinge, die wir zum Leben brauchen, wird zusammenbrechen.
2. Es ist ungerecht, dass die, die arbeiten, auch noch für den
Lebensunterhalt der »Faulenzer« aufkommen müssen.
3. Warum sollen Reiche ein BGE erhalten?
4. Man befürchtet einen »Kombilohneffekt«. Wer ein BGE bezieht, könnte bereit sein, für einen geringen Lohn zu arbeiten,
da seine Existenz ja gesichert ist. Das könnten Arbeitgeber
ausnützen?
5. Von der linken Seite kommt der Einwand, dass mit einem
BGE, für das keine Gegenleistung erbracht werden muss, die
Menschen »ruhig gestellt« würden. Die Regierung bräuchte
sich nicht mehr darum kümmern, dass sie Arbeit finden, und
die Kapitalisten könnten noch ungehinderter ihren zerstörerischen Wirtschaftkurs verfolgen.7
Analyse
Menschenbild
Die gängige Erwerbsphilosophie geht davon aus, dass die
meisten Menschen von Natur aus am liebsten faulenzen und
deshalb zur Arbeit gezwungen werden müssen. Das geschieht
heute durch die Angewiesenheit auf erworbenen Lohn. Spiegelbildlich findet sich bei Verfechtern des BGEs oft ein idealistisches Menschenbild. Es sei in der Natur des Menschen
angelegt, zum Wohle der Menschheit tätig, zumindest aber
kreativ zu sein.
Ist die »Natur« des Menschen so eindeutig vorgegeben? Sie
erscheint mir eher als ein sehr komplexes System. Was der
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Einzelne denkt, fühlt, sich wünscht, hängt – auch – von seinem sozialen Umfeld ab. Und dieses ist einem geschichtlichen Wandel unterworfen, was ein Blick in die Geschichte
zeigt. Die Natur des Menschen – einzeln und kollektiv – ist
unserem Ökosystem vergleichbar. Eine unübersehbare Fülle
von Faktoren wirken gegenseitig aufeinander. Deshalb ist
sehr schwer vorhersehbar, wie sich ein Eingriff an einer Stelle
auswirkt. Und die Einführung eines BGE wäre zweifellos kein
geringer Eingriff.
Das relativiert alle Prognosen, enthebt uns freilich nicht, uns
darüber den Kopf zu zerbrechen. Unser bewusstes Wollen
und Abmühen ist ein wichtiger Faktor in diesem System und
will verantwortet sein. Wir können gar nicht anders, als unser
soziales System auch aktiv zu gestalten, und wir tun es ja
auch, seit es menschliche Kultur gibt. Was zurzeit durch die
neoliberalen Akteure geschieht, greift in brutalster Weise in
unser soziales System ein – ohne Rücksicht auf das, was die
menschliche Natur braucht. Blindlings werden menschliche
Bindungen und Grundlagen zerstört. Auch das (ver)formt
die menschliche »Natur«.
Historische Analyse unserer Situation
»Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.« Dieser viel zitierte Satz aus der Bibel8 entspricht den Produktionsbedingungen der vorindustriellen Zeit. Der größte Teil der Bevölkerung
musste in der Landwirtschaft arbeiten, damit alle zu essen
hatten. Die Industrialisierung brachte eine Verschiebung.
Während die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft
abnahm, wurden immer mehr Menschen gebraucht, um die
Industriegüter für den steigenden Lebensstandard herzustellen. Es wurde deshalb immer noch als Notwendigkeit für das
Leben empfunden, dass alle, die konnten, arbeiteten.
Von der Notwendigkeit zu unterscheiden ist der Zwang, den
Menschen über Menschen ausüben. Er prägt die Geschichte
in vielfältigen Formen. Oft wurde er mit der Notwendigkeit
legitimiert. Häufig führte er aber auch zu ungerechter Verteilung des erwirtschafteten Reichtums.
Die politische Entwicklung des Abendlandes hin zur Demokratie hat schließlich dazu geführt, dass Zwangsherrschaft von
Menschen über Menschen für unvereinbar mit der Menschenwürde erklärt wurde. Damit war theoretisch der Zwang aus
der Arbeitsorganisation verbannt. Verpflichtung ist nur noch
über Gesetze möglich, die – im Prinzip – von allen mündigen
Gliedern eines Gemeinwesens beschlossen sind.
44
»Gerecht ist anders«
Allerdings blieb die Eigentumsfrage von dieser Entwicklung
weitgehend ausgeklammert. Marx hat ins Bewusstsein gebracht, dass die Besitzer von Produktionsmitteln faktisch
über gewaltige Zwangsmechanismen verfügen.9 Gleichzeitig
leuchtete bei ihm zum ersten Mal die Perspektive auf, dass
die Menschen immer weniger arbeiten müssen, um zu essen – vorausgesetzt, der erarbeitete Reichtum wird gerecht
verteilt. Legendär ist die Marx’sche Vision, dass es reicht,
wenn jeder zwei Stunden in der Woche arbeitet, damit genug
für alle da ist.
Diese Utopie blieb im real existierenden Sozialismus ein ferner Traum. Die Bürger in seinem Einflussbereich waren alle
gezwungen zu arbeiten, um essen zu können. Das mussten
die Bürger der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg
auch. Aber sie taten es erfolgreicher. Sie bekamen für ihre
Arbeit mehr Lohn und sie konnten sich vor allem mehr und
Besseres dafür kaufen. Zwar verblieb immer noch ein beträchtlicher Teil des Mehrwertes bei den Arbeitgebern. Aber
das störte die Arbeitnehmer vergleichsweise wenig. Es ging
ihnen immer besser – besser als es früheren Generationen je
gegangen war. Für den steigenden Lebensstandard vom Auto
bis zum Farbfernseher wurden alle Hände gebraucht – ja man
holte sich noch zusätzlich Arbeitskräfte aus anderen Ländern.
So blieb im Bewusstsein der Bundesbürger der Zusammenhang unhinterfragt: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.«
Dem Zwang, für das nötige Geld zu arbeiten, entsprach eine
Notwendigkeit – wollte man am Wirtschaftswunder teilnehmen.
Dieses Weltbild herrscht immer noch in unseren Köpfen. Und
wer es infrage stellt, löst erst einmal eine reflexhafte Angst aus:
Ich komme zu kurz, wenn ich für andere mit arbeiten soll.
So haben Unternehmer und Politiker ein leichtes Spiel, die
Bürger(innen) auf die Regel einzuschwören: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.« Das galt schon immer und wird
als Naturgesetz empfunden. Die zugrunde liegende Fiktion,
dass dem Zwang zur Arbeit eine existenzielle Notwendigkeit
entspreche, wird aber immer unrealistischer. Es wird nur noch
eine Minderheit gebraucht, um lebensnotwendige Güter zu
erzeugen. Und die wird eben deshalb immer erpressbarer, weil
immer weniger gebraucht werden. Die Leistung, die ich heute
für mein Geld erbringe, dient zum überwiegenden Teil nicht
dem Leben, sondern dem shareholder value, der sinnlosen
Geldvermehrung. Je sinnloser aber der Arbeitszwang wird,
umso menschenunwürdiger wirkt er sich aus. Da ist nur noch
nackter sinnloser Zwang. Wer hier im Namen von Freiheit
und Selbstverantwortung durch Maßregelungen à la Hartz IV
Menschen in aussichtlose oder sinnlose Arbeitsperspektiven
treiben will, pervertiert das Wort Freiheit und verhöhnt die
Arbeitslosen wie die Arbeitenden. Angesichts dieser Entwicklung kann man eigentlich nicht anders als zu fordern: Schafft
endlich den Arbeitszwang und die Bedürftigkeitsprüfung ab,
sonst steuert unsere Gesellschaft in die Unmenschlichkeit.
Ich würde allerdings weiter fragen: Ist damit, dass heute wenig Menschen mühelos die nötigen Güter für alle herstellen
können, die Not aus dem Leben verschwunden? Die Frage
stellen, heißt sie zu verneinen. Die Zerstörung unseres Planeten, Bildungsnotstand, die Verhältnisse in unseren Pflegeheimen, das Wachsen der Armut wären nur einige Stichworte,
die zeigen, wie sehr es an notwendender Arbeit von Menschen für Menschen und für die Umwelt fehlt. Aber unser
gegenwärtiges System ist offensichtlich nicht in der Lage, auf
diese Nöte angemessen zu reagieren. Die Wirtschaft häuft
maßlosen finanziellen Reichtum an. Gleichzeitig bleibt das
Notwendige liegen, weil dafür kein oder viel zu wenig Geld
zur Verfügung steht.10
Das BGE als ein Element einer
neuen Gesellschaftsordnung
Die Einführung eines BGE wäre ein Schritt, die sinnlose
Zwangswirtschaft zu beenden. Dass sich damit auch alle andere Not wenden würde, glaube ich nicht, auch nicht, wenn
das BGE »erkämpft« wäre.11 Die Alptraumvision des selbstzufriedenen Bürgers, den nur sein eigenes privates Glück
kümmert, liegt nicht außerhalb des Denkbaren. Wie können
die eigentlich notwendigen Tätigkeiten in den Blick gerückt
werden und zwar für alle Menschen einschließlich der Politiker und der Verantwortlichen in der Wirtschaft?
Mir scheint, dass das Menschenbild vieler Ideologen des BGEs
an einer Einseitigkeit leidet. Ihr Interesse konzentriert sich auf
die Freiheit des Menschen. Er muss vom unwürdigen Arbeitszwang befreit werden. Deshalb fordern sie eine gerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Und zweifellos ist das
Gefühl, frei entscheiden zu können, konstitutiv dafür, dass ein
Mensch Sinn in seinem Leben spürt. Aber das ist nur ein Pol.
Damit Spannung ins Leben kommt, braucht es als Gegenpol
das Bewusstsein, an der Gestaltung des gemeinsamen Lebens
beteiligt zu sein. Für den Sinn im Leben ist es auch wichtig,
Not zu spüren, und gebraucht zu werden, um sie abzuwenden. Bei denen, die heute für einen Arbeitszwang eintreten,
schwingt vielleicht eine Ahnung dieses Zusammenhangs mit.
Allerdings sind die Zwangsmaßnahmen nach Hartz IV absolut
kontraproduktiv, um in den Menschen Verantwortung für das
Gemeinwesen zu wecken. Im Gegenteil, sie entfremden die
Menschen der Gesellschaft und vermitteln nichts weniger als
das Gefühl eines sinnvollen Lebens.
Der »Kampf« um ein BGE muss meines Erachtens gleichzeitig ein Kampf um demokratische Mitbestimmung sein und
zwar in allen Bereichen – einschließlich der Wirtschaft. Alle
Menschen müssen einbezogen sein in die Verantwortung für
das Gemeinwesen, für Schaffung und Erhaltung menschenwürdiger Verhältnisse, für einen partnerschaftlichen Umgang
mit der Natur. Und die Frage, wie wir uns dazu motivieren,
unsere Verantwortung wahrzunehmen, beantwortet sich –
glaube ich – nicht immer von allein. Da ist unsere Fantasie
gefragt.12
Das BGE würde dafür einen Raum eröffnen. Aber diesen
Lebensraum müssen wir gestalten. Lassen wir unsere Fantasie
walten, um Modelle zu finden, in denen der materielle Druck,
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Nestle: Das bedingungslose Grundeinkommen
vor allem der Druck, für Geld etwas zu leisten, an Bedeutung
immer mehr abnimmt und die Freude, am Gestaltungsprozess
der Gesellschaft beteiligt zu sein, immer wichtiger wird.
BGE, das für solche Tätigkeiten Raum schafft, erscheint mir da
der menschlichen »Natur« mehr zu entsprechen.
11 »Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist dann ein Beitrag zu
der anderen Welt, die von der globalisierungskritischen Bewegung
Anmerkungen
für möglich gehalten wird, wenn es erkämpft wird. Wird es ge-
1 www.grundeinkommen.info/
währt aus Mitleid mit den Armen oder aus Kalkül, um sie ruhig
2 Dieter Althaus (CDU), Ministerpräsident in Thüringen, hat ein
zu stellen, wird es zur Befreiung der Menschen von ungerechten
Modell vorgestellt, das viel diskutiert wird. Von 800 € werden
Verhältnissen nicht viel beitragen.« AttacBasistext 17 Rätz/Pater-
200 € für Krankenversicherung abgezogen. Die verbleibenden
noga/Steinbach: Grundeinkommen: bedingungslos 79
600 € entsprechen ungefähr dem, was gegenwärtig Hartz IV-
12 Michael Opielka blickt in diese Richtung, wenn er schreibt: »In der
Empfängern ausbezahlt wird. Für eine Teilhabe am Leben unserer
Kombination gibt es auch überhaupt keine Alternative als beides:
Gesellschaft ist das zu wenig. Faktisch (und wohl auch beabsich-
ein Recht auf Einkommen und ein Recht auf Arbeit. Ich würde
tigt) bedeutet es immer noch fast einen Zwang, bezahlte Arbeit
immer beides fordern. Das ist auch naheliegend, denn die Leute
zu suchen.
wollen beides. Sie wollen am gesellschaftlichen Arbeitskörper teil-
3 Werner Rätz hat für mich einleuchtend dargelegt, dass man sich
haben, der eine vielleicht mehr, der andere weniger. Damit gibt es
erst dann auf ein Finanzierungsmodell festlegen kann, wenn die
natürlich auch eine gewisse Verpflichtung. Aber die Verpflichtung
gesellschaftspolitischen Voraussetzungen absehbar sind. Siehe
muss immer freiheitlich sein. Verpflichtung kann nicht bedeuten,
sein Artikel: »Für ein bedingungsloses Grundeinkommen sind
dass man die Leute verknechtet wie im BSHG. Das ist unwür-
Finanzierungsmodelle unvermeidlich, aber schädlich!« auf der
dig.« (Gespräch mit Michael Opielka »Arbeitet man wirklich für
Attac Homepage unter dem Link »Genug für alle«.
sich selbst?« in Hans-Peter Krebs und Harald Rein (Hrsg.) Exis-
4 »Ein garantiertes Einkommen, das im Zeitalter des wirtschaft-
tenzgeld – Kontroversen und Positionen 1. Aufl. 2000; Münster:
lichen Überflusses möglich wird, könnte zum ersten Mal den
Westfälisches Dampfboot S. 201) »Freiheitliche Verpflichtung«,
Menschen von der Drohung des Hungertods befreien und ihn
dieser Begriff ist so logisch wie ein weißer Rappe. Aber diese
auf diese Weise von wirtschaftlicher Bedrohung wahrhaft frei und
Paradoxie drückt genau aus, worum es geht: Wir brauchen ein
unabhängig machen«, schreibt Erich Fromm schon 1966. Gesamt-
BGE als Menschenrecht und wir brauchen Menschen, die sich
ausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt
für das gemeinsame Leben verantwortlich fühlen.
und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band V, S. 310
5 Die Erfahrungen bei den einzelnen Ämtern sind sehr verschieden.
Anschrift des Verfassers
Ich habe mit Teilnehmer(innen) eines Kurses gesprochen, zu
Wilhelm Nestle
dem sie als Hartz IV-Empfänger(innen) verpflichtet wurden. Sie
Attac Tübingen
fühlten sich regelrecht demoralisiert. Es wurde ihnen das Gefühl
Untere Schillerstr. 4
vermittelt, dass sie selbst an ihrer Arbeitslosigkeit schuld seien,
72076 Tübingen
da sie sich nicht gut genug »verkaufen« würden und sei es als
[email protected]
Animierdame in einschlägigen Lokalen.
6 1-Euro-Jobs werden zum Teil durchaus als sinnvolle, erfüllende
Tätigkeit erlebt. Sie sind aber zeitlich begrenzt und erfüllen selten
ihren eigentlichen Zweck, Menschen wieder ins Arbeitsleben zu
integrieren.
7 Mit »Brot und Spielen« sind schon im alten Rom die Massen
darüber hinweggetäuscht worden, dass sie von jedem Einfluss
auf die Gestaltung der Gesellschaft ausgeschlossen waren.
8 2. Thessalonischer 3,10
9 Ein Aussiedler, der bis in die 70er-Jahre in der Sowjetunion gelebt
hatte, sagte zu mir: »Ich war in einem Arbeitslager gewesen. Aber
ich habe vor dem Natschalnik nie solche Angst gehabt, wie jetzt
vor meinem Arbeitgeber, der mich rausschmeißen kann.«
10 Es wird auch die Forderung erhoben, alle notwendigen Tätigkeiten vom Haushalt über die Pflege alter Menschen bis zur
Kindererziehung zu bezahlen. Es ist sicher nötig, dass z. B. dem
Pflegebereich – stationär und vor allem ambulant – mehr Aufmerksamkeit und mehr Geld zugewendet wird. Ebenso besteht
im Angebot für Kindertagesstätten ein Nachholbedarf. Ich halte
es aber für ein verhängnisvolles Ziel, möglichst alles, was Menschen füreinander tun, zu bezahlen. Da wird alles zur Ware. Ein
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
45
46
Glosse
Aus:
Wer hat Angst vor
der freien Zeit?1
Guillaume Paoli
Es könnte ein Märchen sein: Einst ging den Bauern von Eurodorf die
In einer solchen Debatte fühle ich mich etwas deplatziert. Die glück-
Arbeit aus. Saat und Ernte erledigten sich von alleine und die Speicher
lichen Arbeitslosen haben kein Zukunftsmodell zu bieten; besser ge-
füllten sich ohne ihr Zutun an. Doch statt sich zu freuen und ihr neues
sagt, sie verzichten auf vorgefertigte Denkgebäude, in denen sich die
Dasein zu genießen, wurden die Bauern sehr traurig, nicht mehr ackern
Menschen erwartungsgemäß wohl oder übel niederlassen werden.
zu können. Verzweifelt baten sie den weißbärtigen Weisen vom Dorf
Uns geht es darum, unsere Gegenwart neu zu bewerten und mög-
um Rat. »Alles kommt auf die Definition an«, antwortete er. »Wenn
lichst zu ändern. Zu der Frage »Was tun?« kann ich nur vorschlagen:
es keine Arbeit im bisherigen Sinne mehr gibt, dann braucht ihr nur
Erstmal aufhören, mit den Wölfen zu heulen, um die Gedanken von
all jene kleinen Tätigkeiten, die ihr bislang einfach so ausübtet, für
der Wirtschaftspropaganda freizumachen. Als gesamtgesellschaftlich
Arbeit zu erklären. Dann wird jeder seinen Arbeitsstolz wiederge-
relevant betrachte ich nur die Vorstellung, einen freien Raum zu schaf-
winnen (und außerdem kostet es den Gutsherrn keinen Pfennig).«
fen, in dem alle möglichen Handlungen und Experimente ermöglicht
Und so taten sie. Wenn ein Bauer zum Beispiel nach wie vor seinen
werden können. Um sich »verwirklichen« zu können – was das auch
Nachbarn besuchte, stellte er nun eine Rechnung aus und bekam
immer heißen soll – brauchen manche eine Arbeitsstruktur, andere
eine kleine Belohnung für seine »Dienstleistung«. Durch die allgegen-
eher Dilettantismus und Muße. Schließlich darf man auch diejenigen
wärtige Rechnerei wurde zwar das Alltagsleben erheblich erschwert,
nicht vergessen, die einfach eine Pause brauchen und in Ruhe gelassen
doch konnten alle wieder behaupten, sie arbeiteten. Und wenn sie
werden möchten. Also werde ich mich hier darauf beschränken, von
nicht vor Langeweile gestorben sind, dann leben sie noch heute. In
der Gegenwart ausgehend negative Bemerkungen zu den gängigen
Ermangelung von Arbeitsbeschaffung hat heute die Arbeitsbenamung
Zukunftsvorstellungen der Arbeit zu machen. Meiner Meinung nach
Konjunktur. Eine Tagung zur »Zukunft der Arbeit« gleicht einer Orgie
wird das Positive nicht von Spezialisten, sondern von sozialen Bewe-
der Definitionen. Nebst der knapp gewordenen Erwerbsarbeit werden
gungen, Bürgerinitiativen oder Sowjets bestimmt werden können
uns (so die Tagungsmappe) »schillernde Begriffe« wie »New Work«,
– oder auch nicht.
»bürgerschaftliches Engagement«, »Bürgerarbeit« und »informelle
Arbeit« serviert. Wenn ich ein Buch lese, wird mir nun erklärt, ich
Anmerkung
leiste »Eigenarbeit« (was ich zusätzlich davon habe, ist mir nicht klar
1 Auszug aus einem Tagungsbeitrag (»Zur Zukunft der Arbeit«) bei
geworden). Sogar Monstren wie »Beziehungsarbeit« bleiben uns nicht
der Heinrich-Böll-Stiftung 1998 – Fassung nach: www.dieglueck-
erspart (so tolerant ich auch bin, ich würde keine Beziehungsarbeiterin
lichenarbeitslosen.de/schriften
als Freundin schätzen!). Möge sich Heinrich Böll, Verfasser einer »Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral«, in seinem Grab umdrehen:
Seine Erben sind arbeitswahnsinnig geworden!
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
»Gerecht ist anders ...«
47
Stimmt unser
Arbeitsbegriff noch?
Karsten Groth
»Nein« ließe sich schlechthin auf die Frage im Titel dieses
Beitrags antworten. Die sozioökonomischen Verhältnisse der
modernen Gesellschaften haben sich derart verändert, dass
unser Arbeitsbegriff nicht mehr stimmt. Denn er ist historisch
in kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen verankert, wie sie heute für uns nicht mehr gelten. Auch eignet er
sich nicht dafür, und darum soll es in diesem Heft ja immerhin
gehen, die Gerechtigkeit unter den Menschen zu vergrößern.
Dafür waren allerdings auch in früheren Zeiten die jeweils
gültigen Arbeitsbegriffe nicht zuständig.
Ausgehend von einem Arbeitsgebriff, wie er heute gemeinhin genutzt und begriffen wird und wie er gesellschaftlichen
Zielvorstellungen und Vereinbarungen sowie arbeits- und
sozialrechtlicher Gesetzgebung zugrunde liegt, will ich im
Folgenden versuchen, einige Veränderungen an der Begrifflichkeit von Arbeit vorzuschlagen. Auch auf die Gefahr hin,
dass dieses Unterfangen ein wenig anmaßend wirken könnte
angesichts eines gesellschaftlichen Begriffsbildungsprozesses
dieses gewaltigen Ausmaßes. Aber vielleicht können diese
Anstöße ja dazu anregen, die eigene Reha-, Integrationsoder auch sozio- und psychotherapeutische Praxis einmal in
diesem Sinne zu überprüfen und gegebenenfalls ein wenig
anzupassen.
In einem Beitrag über Stress als Plage des 21. Jahrhunderts
(GEO, Heft 3, 2002) schreibt Ines Possemeyer: «Die Grundlage unserer Existenz ist die Arbeitswelt. Von Kindheit an
werden wir erzogen und ausgebildet, später in der Arbeitswelt
zu bestehen. Der Beruf ist zentraler Schlüssel zu sozialem
Status und wirtschaftlichem Wohlstand. Er bestimmt unsere
Möglichkeiten, uns selbst zu verwirklichen und weiterzuentwickeln.« Und schon im 19. Jahrhundert kritisiert der Wirtschaftstheoretiker Friedrich List den Produktivitätsbegriff
Adam Smith’: »Wer Schweine erzieht«, sagt er, »ist ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied
der Gesellschaft.«
Damit ist relativ überschaubar und treffend beschrieben, was
wir in den industrialisierten (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaften unter Arbeit verstehen. Denn nichts anderes will der
Arbeitsbegriff: beschreiben, was wir auf Basis gesellschaftlicher Vereinbarungen und Übereinkünfte als – zu bezahlende
– (Erwerbs-)Arbeit zu verstehen haben. Unter dem Dach
eines solchen Arbeitsbegriffs können sich die Leitbilder, an
denen sich die Akteure bei der Ausführung ihrer Arbeit orientieren, natürlich verändern. Sie orientieren sich an den politisch-ökonomischen Bedingungen und finden aktuell ihren
Ausdruck in der Erosion des sog. Normalarbeitsverhältnisses
mit festen Arbeitsorten, Arbeitszeiten und Arbeitszuschnitten
wie der Trennung in Kopf- und ausführende Handarbeit.
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Stattdessen werden die aktuellen Leitbilder der Arbeit geprägt von neuen Anforderungen und erhöhten Ansprüchen
an Zeitsouveränität, Flexibilität, Komplexität, Qualität und
Innovationskraft.
Aber auch das neue Leitbild der Arbeit ist bei weitem nicht
eindimensional, längst gibt es wieder Tendenzen in die Gegenrichtung und zu beobachtende Beharrungskräfte (Schumann 2003). Was in der Debatte über diese Veränderungen
meist übersehen wird, ist, dass sie sowohl Verlierer als auch
Gewinner hervorbringen. Das vergessen wir manchmal, wenn
wir es im Umfeld der Gemeindepsychiatrie – zumindest bei
oberflächlicher Betrachtung – meist mit den Verlierern zu
tun haben.
Wenn wir es denn unter dem Stichwort der Globalisierung
tatsächlich mit tiefgreifenden epochalen gesellschaftlichen
Veränderungen zu tun haben, dann darf es auch nicht wundern, wenn sich dabei unser Verständnis von dem, was wir als
Arbeit bezeichnen, mit verändert. Das ist auch nicht wirklich
neu, denn schon immer hat sich der Begriff, den sich die
Menschen von der Arbeit machten, historisch in einem dialektischen Veränderungsprozess den jeweiligen gesellschaftlichen
Verhältnissen angepasst.
»Arbeit, soweit sie notwendig ist, ist nicht frei; gleichwohl
bleibt sie notwendige Voraussetzung aller Freiheit.« Dies weiß
bereits Aristoteles (384 – 322 v. Chr.), und er markiert mit dieser Auffassung die Geburtsstunde der begrifflichen Verdoppelung des Arbeitsverständnisses. Mit dieser Verdoppelung
48
»Gerecht ist anders«
Karsten Groth
Dipl.-Psych.
Universitätsklinikum HamburgEppendorf
sind im Altertum das Reich der Freiheit und das Reich der
Notwendigkeit begründet und die dafür jeweils vorgesehenen
Arbeiten fein säuberlich aufgeteilt. Die körperliche Arbeit, die
Landwirtschaft, das Herstellen des Handwerks und alle Tätigkeiten für Lohn gelten als notwendige und unfreie Arbeiten.
Sie sind den Unfreien und Sklaven vorbehalten und werden
als mit Mühe verbunden und fremdbestimmt verachtet. Der
Zweck der Tätigkeiten aus dem Reich der Freiheit hingegen
findet sich aus sich selbst heraus und ist nicht mehr aus der
Notwendigkeit heraus von außen gesetzt. Der Genuss gehört
dazu, die Politik und die Wissenschaft. Aber als die wirklich
reine Tätigkeit bleibt im Reich der Freiheit nur die betrachtende, die Philosophie. Denn »sie [hat] keinen anderen Zweck
als sich selbst« (Hund 1990).
Prägend für das Mittelalter wird später eine christliche Arbeitsauffassung werden, die im Wesentlichen in einer Aufwertung der handwerklichen und körperlichen Arbeit besteht. Der
Dualismus von freiheitlicher und notwendiger Tätigkeit wird
dabei jedoch aufrechterhalten: »Seiner Natur nach ... treibt
und lenkt das beschauliche Leben auch das tätige Leben; denn
die höhere Vernunft, die der Beschauung zugeordnet ist, wird
mit der niederen, die der Tätigkeit zugeordnet ist, verglichen
wie der Mann zur Frau, die durch den Mann zu lenken ist.«
(Thomas v. Aquin, 1225 – 1274) Die höhere Vernunft, die
dem Reich der Freiheit zuzuordnen ist, bleibt dabei weitestgehend dem Klerus und dem Adel vorbehalten. In seinem
Feldzug gegen das satte Leben von Klerus und Adel gelingt
es dann erst Martin Luther (1483 – 1546) ein neues Arbeitsverständnis zu kreieren, welches die Arbeit aus dem Reich der
Notwendigkeit aufwertet und sie mit Würde versieht.
Dieses, weit in unser heutiges Bewusstsein hineinreichende Arbeitsverständnis bedeutet dann auch, über das Notwendige hinaus zu arbeiten und nicht durch Arbeit nur die
Reproduktion sicherzustellen. Zur Christenpflicht wird die
Arbeit durch das Bürgertum der Neuzeit erhoben. Woraus
die frühe Arbeiterbewegung dann auch schnell ein Recht auf
Arbeit ableitet. Dieses Verständnis des Arbeitsbegriffs erlebt
seine Höhepunkte während des ungeheuren Wirtschaftsaufschwungs in den Nachkriegsjahren mit seiner Vollbeschäftigung bis in die 70er-Jahre. Wir finden das Recht auf Arbeit,
auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Ar-
beitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit in
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und hören
auch 1997 noch von beiden großen Kirchen, dass das Menschenrecht auf Arbeit aus christlicher Sicht unmittelbarer
Ausdruck der Menschenwürde ist. Wir hören aber auch, z. B.
1982 im Club of Rome, dass die Arbeit ihren Charakter als
zentrale Lebensäußerung und als Grundbedürfnis des Menschen verlieren wird (Strasser 1999).
Auf diesem historischen Hintergrund und geprägt von der
Ausformung dieses Arbeitsverständnisses durch Taylorismus
und Fordismus beschränken wir unseren heutigen Arbeitsbegriff – inzwischen wohl auf der ganzen Welt und unter mal
mehr, mal weniger sozial abgefederten kapitalistischen Wirtschaftsbedingungen – auf Erwerbsarbeit bei hoher Effektivität und Funktionalität unter im Wesentlichen entfremdeten
Arbeitsbedingungen. Rastloses Produzieren, fortschreitendes
zivilisatorisches und kulturelles Schaffen, Wachstum, Fortschritt und Eigentumakkumulation, das sind die Werte, die
dieses Arbeitsverständnis begleiten (Rosenau 2005).
Dieser Arbeitsbegriff gerät jedoch angesichts der sozioökonomischen Entwicklungen unserer modernen (Erwerbsarbeits-)
Gesellschaften an seine Grenzen. Denn er bildet nur noch ab,
was lediglich für einen Teil dieser Gesellschaften gilt. »Es geht
nicht an«, so Oskar Negt 2003 auf einer Tagung zur Zukunft
der Arbeit, »dass sich manche totlangweilen während andere
sich totarbeiten.«
Doch ob wir Arbeit haben oder nicht, ob wir uns als arbeitslos
begreifen oder nicht, das entscheidet sich eben nicht nur an
dem Vorhandensein oder der Abwesenheit von möglicher
Erwerbsarbeit, sondern auch an der Begrifflichkeit, mit der
wir Arbeit belegen und an dem, was wir als Arbeit beschreiben und definieren. Es sei hier noch einmal erwähnt: Der
Gesellschaft geht eben nicht die Arbeit aus, es ist ausreichend
Arbeit vorhanden, um die gesamte erwerbsfähige Bevölkerung
an Arbeit teilhaben zu lassen. Ungeklärt bleibt hingegen das
Verteilungsproblem von Arbeit und – bedeutsam in unserem
Zusammenhang – das Problem der Bewertung, Definition
und Entlohnung von Arbeit: Ist es Arbeit, wenn ich meiner
Tochter ein Bett baue, meinen alten Vater pflege oder mich
ehrenamtlich in einem Entwicklungsprojekt engagiere? Ist
das Aufziehen von Kindern (bezahlfähige) Arbeit, ist die Eigenarbeit Arbeit und ist es Arbeit, wenn ich im Internet nach
stundenlangem Suchen ein – natürlich besonders preiswertes – Ticket gebucht habe, die ehemalige Reisebürokauffrau
aus dem Büro um die Ecke dafür aber in ihrem Schrebergarten
Kartoffeln anpflanzt?
Dörner und Feischen beklagten schon während der Gütersloher Fortbildungswoche 1994, dass die im Zuge der Industrialisierung zerstörte anthropologische Einheit von produzierendem und sozialem Handeln keine tragfähige neue
Solidaritätsform zwischen Starken und Schwachen in einer
nachindustriellen Gesellschaft mehr zulasse. Sie entwarfen
eine zweite Wiedervereinigung ganz eigener Art: Die Wiedervereinigung zwischen produzierendem und sozialem Tun im
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Groth: Stimmt unser Arbeitsbegriff noch?
Rahmen eines Arbeitsmarktes für alle. »Es muss keine Utopie mehr sein«, schreiben sie, »dass die Betriebe der Zukunft
sich (...) die Behinderten, die Langzeitarbeitslosen und die
bisher als unproduktiv Ausgegrenzten ihrer Region und das
für [sie] aufgebrachte Geld aufteilen, die Solidarität durch
Vereinheitlichung von produktivem und sozialem Tun wieder
tragfähig machen, womit dann nur noch ein Arbeitsmarkt für
alle existieren wird.« (Dörner/Feischen 1995)
Die Nordelbische Frauensynode spricht sich in einem Positionspapier zur Neubewertung von Arbeit (Febr. 2007) dafür
aus, dass die bisher unbezahlte familiär geleistete Erziehungsund Pflege-Tätigkeit (Care-Tätigkeit) zukünftig zu bezahlen
sei. Und sie hat dafür Leitlinien entwickelt, in denen deutlich
wird, wie hier in der Verbindung mit der Gleichstellungspolitik der Zukunft der Arbeit zu Leibe gerückt werden soll.
Care-Tätigkeit ist Arbeit, sie soll der Erwerbsarbeit durch
Bezahlung angeglichen werden. Folglich leiten sich aus ihr
auch Ansprüche auf Sozialversicherung ab, die Abhängigkeit der Erziehenden und Pflegenden von dem konventionell
erwerbstätigen Partner wird vermindert. Mit dem Care-Geld
wird es sowohl Frauen als auch Männern ermöglicht, Beruf
und Familie zeitlich nacheinander oder auch nebeneinander zu vereinbaren. Die Finanzierung, so die Autorinnen,
wird ermöglicht durch die Umschichtung und Konzentration
von bisher direkten (Elterngeld, Kindergeld) und indirekten
(Steuersparnisse) Familienleistungen. Es wird also konkret in
der Debatte um die Erweiterung des Arbeitsbegriffs.
Ich will hier abschließend auf einige Vorschläge zurückgreifen,
wie sie Hartmut Rosenau, Professor am Institut für systematische Theologie der Universität Kiel, in einem Vortrag über
den Wert der Arbeit und die Würde des Menschen formuliert
hat. Er schlägt vor, im Sinne eines biblisch-reformatorischen
Menschenbildes ein Recht auf Arbeit grundgesetzlich als eine
Staatszielbestimmung zu formulieren. Nicht als einklagbare
Garantie von Arbeitsplätzen, aber um dem Bestehen und der
Wahrnehmung einer besonderen Verantwortung des Staates
für eine menschengerechte Arbeitspolitik angemessen Ausdruck zu verleihen. Es wäre spannend zu beobachten, welche
Auswirkungen eine solche Gesetzesgrundlage auf die HartzIV-Gesetzgebung haben würde.
Ein reformatorisches Menschenbild impliziert dann auch
das Aufgeben der Orientierung an einem mittlerweile ohnehin ad absurdum geführten, fortschrittsoptimistischen Ideal
grenzenlosen und permanenten Wirtschaftswachstums. Und
damit dann wohl auch – in den Kontexten der beruflichen
Integration Erkrankter und Behinderter – ein Aufgeben der
fatalen alleinigen Orientierung an den Arbeitsplätzen des
sog. allgemeinen Arbeitsmarktes. Wenn dieser allgemeine
Arbeitsmarkt denn nicht ein Arbeitsmarkt für alle ist. Die
Schaffung, Erhaltung und Verteilung von Arbeit, so Rosenau, hätte sich dann vornehmlich am Erhalt der Schöpfung
und am Dienst für den Nächsten zu orientieren. Daneben
klagt Rosenau die humane Gestaltung der konkreten Arbeitsverhältnisse sowie die Stärkung der Rechte arbeitender
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Menschen auf verantwortliche Mitbestimmung gegenüber
den Kapitaleignern ein. Wir benötigen einen Einstellungswechsel in der Einschätzung von Arbeit bzw. Arbeitslosigkeit:
weg vom Leistungsfanatismus und Erfolgsfetischismus, hin
zur Wiederentdeckung der Muße und des Spiels im Sinne
eines Ausdrucks von Lebensqualität. Wir benötigen einen
grundsätzlichen Einstellungswandel in der Wahrnehmung
von arbeitenden und nichtarbeitenden Menschen. Da wären wir dann bei einer ganz konkreten Veränderung des Arbeitsbegriffs. Auch im Sinne Hannah Arendts, die ja schon
1967 beklagte, dass die Arbeit die einzige Tätigkeit sei, auf
die sich die moderne Arbeitsgesellschaft noch verstehe. Was
eigentlich kein Problem wäre, wenn die Menschheit mit dem
Beginn der Neuzeit nicht damit begonnen hätte, alle Tätigkeiten, die anthropologisch auch den Grundbedingungen
menschlicher Existenz entsprechen, aus dem öffentlichen
Leben zu entfernen und dem Arbeitsbegriff einer Arbeitsund Konsumgesellschaft unterzuordnen: die anschauende
Kontemplation, die Muße, das Denken, das über die Produktion von Konsumgütern hinausgehende Herstellen von
zum überdauernden Gebrauch bestimmter Produkte und
das öffentliche Handeln (Arendt 1967).
Aus therapeutischen und pädagogischen Gründen war es
schon immer sinnvoll und nützlich, sich gegenüber den
Integrationszielen und Rehabilitationswünschen der Patienten, Klienten und Rehabilitanden wertschätzend neutral
zu verhalten. Auf dem Hintergrund eines hier entworfenen
erweiterten Arbeitsbegriffs, der auch viele andere Elemente
gesellschaftlich nützlicher Tätigkeiten außerhalb der klassischen Erwerbsarbeit einbezieht, ist es nun allemal angebracht,
sowohl wertschätzende Neutralität als auch dirigistisch und
helferisch Zurückhaltung gegenüber einer ganzen Palette
möglicher – auch eigenwilliger – Integrationsziele walten
zu lassen. Und endlich auch den Mut aufzubringen, diese
unterschiedlichen Lebensentwürfe und Rehabilitationsziele
konzeptionell in bestehende Reha-Systeme einzubinden sowie administrativ zu unterstützen, zu fördern und damit ihre
Umsetzung und Verwirklichung überhaupt erst zu ermöglichen. Die Möglichkeit der existenziell gut abgesicherten
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ohne den Zwang zur
Teilhabe an klassischer Erwerbsarbeit wird dafür, vielleicht
ja auch im Sinne eines bedingungslosen Grundeinkommens,
Voraussetzung sein.
Literatur
ARENDT, H. (1967): Vita Aktiva. München. Piper Verlag
DÖRNER, K., K. FEISCHEN (1995): Ein Arbeitsmarkt für alle. In:
DÖRNER, K. (Hrsg.)(1995): Jeder Mensch will notwendig sein. Gütersloh. Verlag Jakob van Hoddis
GROTH , K. (2006): Kontexte beruflicher Integration. In: Kerbe
3/2006
HUND, W. D. (1990): Stichwort Arbeit. Heilbronn. Distel Verlag
NEGT, O. (2003): Arbeit und menschliche Würde. Vortrag. Forum
Rehabilitation 2003. Hamburg
49
»Gerecht ist anders ...«
50
POSSEMEYER, I. (2002): Stress – Wie meistern wir die schöne neue
Arbeitswelt? GEO 3/2002
Rosenau, H. (2005): Ora et labora – Über den Wert der Arbeit und
die Würde des Menschen. Vortrag. Flensburg am 25.04.2005
SCHUMANN, M. (2003): Widersprüchliches zu den Entwicklungsten-
Warum wir nicht
arbeiten »müssen«
Sibylle Prins
denzen der Arbeit. Vortrag. Heidelberg am 21.03.2003
STRASSER, J. (1999): Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht.
Zürich. Pendo Verlag
Anschrift des Verfassers
Karsten Groth
Diese furchtbare Tatkraft
rührt nur davon her,
dass man nichts zu tun hat.
Innerlich meine ich.
Robert Musil
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Martinistr. 52
20246 Hamburg
Ein Vortragstitel, dessen Urheber ich nicht mehr ermitteln
kann, lautete: »Das Leben ist eine fortwährende Ablenkung«.
Wovon aber lenken wir uns ab mit unserer pausenlosen Betriebsamkeit? Was hätten wir zu tun, wenn wir wirklich »innerlich« etwas zu tun hätten?
Vielleicht würden wir als Erstes darauf schauen, ob denn
die Arbeiten, die wir ausführen, alle so notwendig und sinnvoll sind, wie wir behaupten – ob sich der ganze Einsatz an
menschlicher Energie dafür im echten Sinne lohnt. Wie viele
von den Produkten, die täglich hergestellt werden, sind ökologisch, friedenspolitisch, sozial, global gesehen eher schädlich
als nützlich? Welche wichtigen Arbeiten bleiben unerledigt,
weil sie nicht über die gängige Erwerbsarbeit finanziert werden (wollen oder können)? Sind Papierbackförmchen ein
nützliches, notwendiges Produkt? Oder die Montage von
Möbelfüßen für Billigmöbel, deren größter Teil nach der
entsprechenden Rabattaktion in der Schrottpresse landet?
Dieses aber sind Arbeiten, die in Werkstätten für Behinderte
ausgeführt werden. In einem Novembermonat durften die
Beschäftigten einer Zuverdienstfirma für psychisch Kranke
eines diakonischen Trägers Hundekuchen in Hunde-Adventskalender einfüllen. Zum einen stanken die verwendeten Materialien bestialisch, die Beschäftigten klagten über
Atemwegsreizungen, Kopfschmerzen, den unerträglichen
Geruch. Und: Hunde-Adventskalender – also eigentlich
eine Pervertierung des Adventsgedankens – bei einem diakonischen Träger? Ist das nötig? Vor allem aber: fühlen sich
die Menschen durch eine solche Arbeit wirklich gebraucht,
nützlich, »notwendig«? Oder ist diese Überhöhung der Arbeit
mit psychologischen oder philosophischen Argumenten in
Wirklichkeit Schönrednerei, um die allgemeine Ratlosigkeit
zu übertünchen? In der Psychiatrie wird dann immer mit
der Notwendigkeit der »Tagesstruktur« argumentiert. Deren
Wert will ich auch gar nicht abstreiten. Nur: diese Tagesstruktur ist ein künstlicher Begriff, ein Ersatz, ein Notbehelf – bei
manchen sog. tagesstrukturierenden Maßnahmen scheint
es wirklich nur um die Struktur an sich, ein inhaltsleeres,
nacktes Gerüst zu gehen, bei dem es eigentlich gleichgültig
ist, wie und womit es gefüllt wird. Frage an den/die Leser/in:
Wie sieht denn Ihre »Tagesstrukur« aus? Ergibt sie sich nicht
quasi zwangsläufig aus von Ihnen als sinnvoll und notwendig
erlebten Lebensbezügen?
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Prins: Warum wir nicht arbeiten »müssen«
Wir betonen einseitig den Wert der »Vita activa«. Wo bleibt
aber der andere, notwendige Gegenpol, die vita contemplativa? Die alte Benediktiner-Regel lautet ja bekanntermaßen »ora
et labora«. Wir haben dieses »Bete und Arbeite« der Einfachheit halber auf »Arbeite!« (mit Ausrufungszeichen) verkürzt.
Was uns entgeht, wenn wir den anderen Pol, die Passivität,
das kontemplative Element, die Muße, die innere Betrachtung
nicht mehr leben, nicht mehr kultivieren, wird uns gar nicht
bewusst. Spätestens wenn uns eine schwere Krankheit ereilt,
wir bettlägerig, pflegebedürftig werden oder uns aus anderen
Gründen nicht mehr verlässlich auf den aktiven Pol stützen
können, rächt sich das. Ich höre da einen Aufschrei: gerade
psychisch erkrankte Menschen könne man ja nicht sich selbst,
ihren negativen Gedanken, ihrer Grübelsucht (oder anderen
Süchten), dem Nichtstun und dem Alleinsein überlassen.
Dazu ein kleiner Ausflug: auch ich neige zu ausschweifenden
Grübeleien. Dazu kommt noch, dass ich eigentlich aus der
Pause heraus lebe, mein Tätigsein nur eine Unterbrechung
einer (endlich erlangten) fortwährenden Pause ist. Dieses
Thema, das intensive gedankliche Kreisen um irgendwelche
Angelegenheiten, mochte ich jedoch nicht den Psychiater/
innen vortragen, aus Angst, das könne nun auch noch pathologisiert werden. Wohl bereitete es mir natürlich die üblichen
Schwierigkeiten in meinem Alltag, insbesondere im Arbeitsleben. Aus dem Arbeitsleben wurde ich mittlerweile befreit,
und es ergab sich eine paradoxe Situation: dadurch, dass ich
nun das Glück hatte, »hauptberuflich« als Autorin tätig sein zu
können, gehört das Herumsitzen und Träumen, Nachdenken,
seinen Gedanken nachhängen, ja, auch das nicht so salonfähige und auf den ersten Blick »unergiebige« Grübeln plötzlich
anerkanntermaßen zu meinem »Berufsbild«. Niemand macht
mir mehr einen Vorwurf daraus, dass ich damit so viel Zeit
verplempere, niemand versucht mehr, mich zu mehr Tätigsein
anzutreiben – höchstens ich selbst –, sondern alle Welt versucht mich davor zu schützen, »nicht so viel zu arbeiten« – was
für eine ironische und merkwürdige Verkehrung! Und was für
ein unwahrscheinliches Glück, einen zu meinen Neigungen
passenden Lebensrahmen gefunden zu haben! Den meisten
Psychiatrie-Erfahrenen bleibt das leider versagt.
Müssen wir wirklich alle arbeiten? Die Betonung liegt auf
»alle«. Schon immer haben Gesellschaften es sich geleistet.
Mitglieder zu unterhalten, die nicht in direktem Sinne an der
volkswirtschaftlichen Produktivität teilhatten, nicht zur Überlebenssicherung im materiellen Sinne beitrugen. Dazu konnten alte und kranke Menschen gehören, aber auch Künstler,
Gelehrte, Priester, Schamanen. Meine Mutter gehörte noch
zu der Generation von Frauen, die sich ihre Berufstätigkeit
gegen den Widerstand des Ehemannes erkämpfen musste. Der
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
massive Ausschluss der Frauen vom Erwerbsleben ist oder war
natürlich eine Ungerechtigkeit, ein patriarchalisches Unterdückungsmoment und gleichzeitig eine massive Missachtung
des sog. »reproduktiven Bereichs« als »keine richtige Arbeit«.
Trotzdem zeigt sie auch an, dass die Gesellschaft es sich leisten konnte, einen Großteil der erwerbsfähigen erwachsenen
Bevölkerung nicht an der Erwerbsarbeit teilhaben zu lassen
und sozusagen »auszuhalten«. Was aber die Missachtung des
reproduktiven Bereichs angeht: dieser setzt sich m. E. heute
noch genauso fort, trotz Elterngeld und evtl. Betreuungsgeld.
Kinder machen ja auch dann noch Arbeit, wenn sie älter als
drei Jahre sind. Um auf die Psychiatrie-Erfahrenen zurückzukommen: es muss doch einmal offen gesagt werden dürfen,
dass manche von ihnen mit eben diesem Bereich (der in den
letzten Jahrzehnten auch komplizierter und anspruchsvoller geworden ist) – Haushalt, Arztbesuche, Behördengänge
usw. – einfach schon vollständig ausgelastet sind, ja, man
manchmal froh sein darf, wenn sie diese Aufgaben überhaupt
einigermaßen bewältigen können. Daneben gibt es in diesem
Bereich solche wirklich an die Nieren gehenden Schicksale
zu erleben, dass man den betreffenden Menschen eigentlich
nur wünschen kann, noch ein paar schöne Momente in ihrem
Leben erleben zu dürfen, ohne ihnen nun noch besondere
Verpflichtungen irgendwelcher Art auferlegen zu wollen.
Bei den Diskussionen, ob (Erwerbs-)Arbeit bzw. die Pflicht
zur Arbeit eine psychische Notwendigkeit ist, wird mit zwei
gegensätzlichen Menschenbildern argumentiert: das optimistische geht davon aus, dass Menschen »von Natur aus« neugierig, kreativ, auf andere ausgerichtet seien und es einen fast
naturhaften Drang gäbe, sich entsprechende Beschäftigung
freiwillig zu suchen. Das andere, pessimistische Bild geht davon aus, dass Menschen ohne die Verpflichtung zur Arbeit in
Lethargie, Apathie, Suchtverhalten, Asozialität, usw. verfallen
würden. Letzteres Bild scheint sich im psychiatrischen Bereich
zu bestätigen ...? Mir kommt da ein alter Arbeitslosenwitz mit
doppelter Pointe in den Sinn: »Mein Sohn, der arbeitslose,
hat jetzt endlich was gefunden – er fängt mit dem Meditieren
an.« »Oh, das ist ja immerhin besser als den ganzen Tag herumsitzen und nichts tun.« Die erste Pointe liegt an der Oberfläche und besteht darin, dass Meditieren, wenn man es rein
vom Äußerlichen her beschreibt, eben dies ist: herumsitzen
und nichts tun. Die tieferliegende »Pointe« liegt aber darin,
dass Meditation als eine Art »qualifiziertes Nichtstun« angesehen wird. Wo aber kann man dieses qualifizierte Nichtstun
heutzutage lernen – außer eben in jenen Meditationskursen,
die nicht jedermanns Sache sind und auch nicht für jeden
zugänglich. Wo wird es gelehrt: in der Schule? In Familien?
Anderswo? Autodidaktisch? Und da auch ein Meditierender
nicht pausenlos meditieren kann, lehren Meditationslehrer
außer der Versenkung auch immer die Tätigkeit – die Benediktiner sind nicht die Einzigen mit jenem Doppelgebot – wo
kann man lernen, außerhalb der regulären Erwerbsarbeit sich
sinnvolle, erfüllende, möglicherweise sogar sozial nützliche
Betätigungen selbst zu suchen und aufrechtzuerhalten? Sicher,
51
52
»Gerecht ist anders«
es gibt da einige Naturtalente – aber darauf kann man nicht
setzen. Wie können Menschen die für sich passende Nische
suchen, finden, gestalten, wie können sie die notwendigen
Rahmenbedingungen herstellen oder wo werden sie bereitgestellt? Hinzu kommt noch ein gesellschaftlicher Aspekt: es ist
schon vielfach festgestellt worden, dass es früher ein Merkmal
der Elite, z. B. des Adels, gewesen sei, von der Arbeitspflicht
befreit zu sein und möglichst viel freie Zeit zur Verfügung
zu haben, während das einfache Volk (oder die Sklaven) bis
zum buchstäblichen Umfallen schuften musste. Und dass es
heute ein Kennzeichen von Elite sei, einen 16-Stunden-Tag
zu haben, während diejenigen, die keine Arbeit hätten und
unter einem Zuviel an freier Zeit litten, die Ausgegrenzten und
Unterprivilegierten seien. Was bei aller Verwunderung über
diese Verkehrung oft vergessen wird: es ist ein Unterschied, ob
diese Entpflichtung und Muße stattfindet vor einem Hintergrund von persönlichem materiellem Wohlstand, Gesundheit,
guter Bildung und dem Vorhandensein eines guten sozialen
Netzes, oder ob man arm, krank, wenig gebildet und isoliert
ist – dann nämlich wird die »freie« Zeit wirklich zur »leeren«
Zeit, und alle befürchteten Folgen treten ein.
Ein weiterer Punkt: Peter Sloterdijk hat mal beschrieben,
dass es durch die Aufklärung dazu gekommen sei, dass das
Christentum plötzlich einer Betrachtung »von außen«, durch
Andersdenkende ausgesetzt gewesen sei. Und dass diese Außenbeobachtung ungeheuer wichtig gewesen sei, letztendlich
ja der Religion auch gut bekäme. Psychiater und psychiatrische
Mitarbeiter/innen sind so sehr gewohnt, »objektive« Beobachtungs- und Beurteilungskriterien für psychisch erkrankte
Menschen aufzustellen, dass sie sich manchmal ungeheuer
schwer tun, die Innensicht, die subjektive Sicht der Betroffenen überhaupt zur Kenntnis und ernst zu nehmen. Da scheint
man das also für wichtig zu halten. Ich meine: auch unsere
Arbeitswütig- und Gläubigkeit bedarf dringend einer Außenbeobachtung! Wie viel Schaden richten wir nicht auch durch
unsere Arbeiterei an, manches bliebe besser ungetan – als
praktisches Beispiel sei hier die bürokratische Aufblähung
mancher Hilfeverfahren genannt, die selbst gute und unterstützenswerte Ideen und Anfänge in einem Wust von Vorschriften und Verfahrensregeln untergehen lässt. Die Kritik,
die kritische Betrachtung der Arbeitsgesellschaft, wenn sie
denn von Randständigen – u. a. auch psychisch erkrankten
Menschen – geleistet wird, wird sie oft als »irrelevantes Gefasel« abgetan. Oder es wird ihnen geantwortet: »Das geht halt
nicht anders.« Geht es nicht anders?
Ein letzter Punkt: Ein Problem, das in der Psychiatrie manchmal sichtbar wird, deutlicher aber dort hervortritt, wo es um
sehr schwer körperliche oder geistig behinderte Menschen
geht. Menschen, die nicht (mehr) oder von Geburt an nicht in
der Lage sind, in irgendeiner, auch nicht in einer krampfhaft
sozialpädagogisch herbeigezwungenen Art, an unserem volkswirtschaftlichen Produktivitätsrausch teilzunehmen. Da meint
man also, in Legitimationsnot zu geraten. Denn wie sollen
diese Menschen sich und ihr Leben als wertvoll, nützlich, usw.
empfinden bzw. von anderen so wahrgenommen werden? Was
ist ihre Rolle, ihr Beitrag in unserem Zusammenleben? Das
Stichwort heißt hier: Zusammenleben. Persönliche Nähe zu
diesen Menschen macht diese Frage nämlich unmöglich. Aber
einigen scheinen die persönlichen, emotionalen, zwischenmenschlichen Bindungen als Argument nicht zu genügen.
Denen möchte ich antworten: Es könnte auch sein, dass der
»Beitrag« jener Menschen genau darin liegt: uns andere zur
Übernahme von Verantwortung, zur Sorge, auch zur Fürsorge
zu bewegen. Unsere Geduld, unsere Tragfähigkeit, unseren
Einfallsreichtum anzuspornen. Uns ein Bild für die Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit und Irrtumsanfälligkeit aller Menschen zu geben. Und für die Schönheit menschlichen Lebens
inmitten aller Unvollkommenheit.
Fredi Saal, ein schwer körperbehinderter Autor, hat sich auch
mit diesem Problem auseinandergesetzt – aus eigener Betroffenheit, denn nach einigen Versuchen musste er die Eingliederung in irgendeine Form von Arbeitsleben aufgeben. Neben
einigen anderen Überlegungen und Vorschlägen stach für
mich eine Idee besonders heraus: das Spielen zu kultivieren.
Natürlich kein suchterzeugendes Glücksspiel, kein monotones Skatspielen, auch nicht diese unsägliche Brettspielbegeisterung oder gar die virtuellen Welten der Computerspiele.
Sondern – so wie ich ihn verstanden habe – das Spiel als die
(gemeinsame und freie, durchaus auch lustbetonte) Entfaltung der vorhandenen, der besten Kräfte jedes Menschen.
Somit wäre weder der Arbeitende noch der Meditierende
die höchste Entwicklungsstufe des Menschen, sondern der
Spielende. Dies aber wäre vielleicht doch etwas für alle. Nicht
immer, aber immer öfter.
Literatur
Robert MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg, 1978/1988
Fredi SAAL, Warum sollte ich jemand anderes sein wollen? Erfahrungen eines Behinderten. Neumünster, 2002
Peter SLOTERDIJK (Hg.) Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker – gesammelt von Martin Buber, München 1993
Anschrift der Verfasserin
Sibylle Prins
Verein Psychiatrie-Erfahrener
Bielefeld e.V.
Postfach 10 29 62
33529 Bielefeld
[email protected]
www.vpe-bielefeld.de
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Glosse
53
Aus:
Lasst euch
nicht gehen1
Guillaume Paoli
Taktik des Nicht-Tuns (Variation 1)
Anmerkung
Irrtümlich wird heute kämpferischer Geist mit Stumpfheit, Hektik und
1 Auszug aus einem Beitrag zu »Kapitalismus und Depression«
hysterischem Geschrei verbunden. Dagegen sprechen die jahrhunder-
Volksbühne, Berlin, 29.03.01 (Fassung nach: www.dieglueckli-
tealten Weisheiten der Kampfkunst. Nur wer äußerst sanft ist, kann
chenarbeitslosen.de/schriften
die nötige Härte erzeugen. Nur wer sich im Gegner vollständig aufzulösen vermag, kennt dessen Schwäche und kann ihn entsprechend
zerschlagen. Gelassenheit macht unerschütterlich. Zum Beispiel beruht
die Taktik der chinesischen Kampfart Neijia, der »inneren Richtung«,
ausschließlich auf zwei Prinzipien: dem Nicht-Tun und der Ausnutzung der Fehler des Gegners. »Das Nicht-Tun«, so Lie-Zi, »hat keine
Kenntnisse, es hat keine Fähigkeiten, doch es gibt nichts, was es nicht
wüsste, und es gibt nichts, was es nicht könnte.«
Eines Tages kamen einige glückliche Arbeitslose auf eine Wiese inmitten der Großstadt. Sie legten sich auf Liegestühle nieder und beobachteten den umhertobenden Beschäftigungswahn ihrer Zeitgenossen. Es
war eine ausgezeichnete Beobachtungsstelle. Bald kamen Schaulustige
und Neugierige auf sie zu, und fanden das, was sie nicht taten, gut war.
Sie legten sich mit nieder und genossen die Sonne und den mitgebrachten Sekt. Es kamen aber auch andere, die ebenfalls behaupteten, die
glücklichen Arbeitslosen wären toll, doch um sogleich deren Ruhe mit
obszönen Angeboten zu stören. »Wollt ihr nicht an einem Marsch für
die Vollbeschäftigung teilnehmen?«, fragten die einen. »Wir möchten
Sie gern für unsere Fernsehshow gewinnen«, meinten die anderen.
Enttäuscht nahmen sie die Antwort entgegen: »Wir bleiben liegen.«
Ein Aktivist, der gekommen war, um seine Sympathie zu verkünden,
wollte partout wissen, was für eine Zukunftsvision, welchen Gesellschaftsentwurf die glücklichen Arbeitslosen hatten.
Zukunft?
Begegnung mit
n–
süchtigen Kliente
are
eine unvermeidb
zum
Herausforderung
deln
gemeinsamen Han
Vision?
Entwurf?
Er stieß auf völlige Verständnislosigkeit.
»Ihr seid mir zu unpolitisch«, ärgerte er sich.
»Ihr habt keinen Mut, die Umstände zu bekämpfen.«
»Aber wir kämpfen doch die ganze Zeit«, erwiderte ein Liegender, der
die Augen gerade aufgemacht hatte. »Wir warten den Gegner ab.«
»So, so, ihr wartet«, spottete der Aktivist, »und was passiert dann,
wenn der Gegner kommt?«
»Dann wird er angreifen und wir werden ihn vorbeilassen, wie werden
ausweichen und ausweichen, bis er sein Gleichgewicht verliert und in
Fachtagung am
12. September 2007
in Köln
Verwaltungsgebäude
des Landschaftsverbands
Rheinland
Hermann-Pünder-Str. 1
50663 Köln
die Position gerät, in der wir ihn mit minimalem Aufwand, geschickt
und graziös neutralisieren können.«
»So’n Eso-Quatsch«, empörte sich der Aktivist und er lief fort.
Währenddessen machte die Nachricht, dass sich Untertanen öffentlich
zum Nicht-Tun bekannt hatten, immer mehr Wellen. Bald erreichte
sie den Palast der Sozialdemokraten. Voller Sorgen schickten sie einen
Mandarin an Ort und Stelle, um die Sache zu untersuchen.
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Programm und
Anmeldung:
DGSP-Geschäftsstelle
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Tel.: 0221/51 10 02
Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: [email protected]
54
»Alte Texte – neu gelesen«
Auszüge aus
Hannah Arendt:
Vita activa oder
vom tätigen Leben*
Vorbemerkung: Die Rubrik »Alte Texte neu gelesen« ist geeignet, uns
Bescheidenheit zu lehren. Fast alle uns hochmodern erscheinenden
Gedanken sind bereits lange vor uns gedacht worden, oft fundierter
als wir sie in unserer auf pragmatische, schnelle Antworten fixierten
Zeit zu denken im Stande sind. Hannah Arendt setzte sich bereits
1958 in ihren Ausführungen zu den menschlichen Grundtätigkeiten
»Arbeiten, Handeln und Herstellen« mit dem möglichen Ende der
Arbeitsgesellschaft auseinander. Unter anderem stellt sie das hohe
Ethos der Arbeitsgesellschaft, dem wir uns auch gegenwärtig noch
kaum entziehen können, in seinen historischen Entwicklungszusammenhang. Wir haben Textstellen ausgewählt, in denen Arendt auf
die Widersprüche hinweist, die für eine Gesellschaft entstehen, die
den Menschheitstraum von der Befreiung durch die Knechtschaft der
Arbeit verwirklichen und gleichzeitig die Verherrlichung der Arbeit
aufrechterhalten will.
Renate Schernus
»Die Neuzeit hat im 17. Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres
Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in
eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln. Die Erfüllung des
uralten Traums trifft wie in der Erfüllung von Märchenwünschen auf eine Konstellation, in der der erträumte Segen sich
als Fluch auswirkt. Denn es ist ja eine Arbeitsgesellschaft,
die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und
diese Arbeitsgesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen
die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um deretwillen die
Befreiung sich lohnen würde. (...) Was uns bevorsteht ist die
Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch
versteht. Was könnte verhängnisvoller sein.« (S. 12/13)
»Richtet man das Augenmerk einzig auf die Ereignisse, die
an der Schwelle der Neuzeit stehen, ... so ist die Umstülpung
von Theorie und Praxis, bzw. die Ausmerzung der Kontemplation aus der Reihe der sinnvollen menschlichen Vermögen, nahezu eine Selbstverständlichkeit. Ebenso selbstverständlich scheint, dass diese Umstülpung Homo faber,
das Herstellen und Fabrizieren, und nicht den handelnden
Menschen oder das Animal laborans auf die höchste Stufe
menschlicher Möglichkeiten hob.
Und diese Selbstverständlichkeiten scheinen sich auf den
ersten Blick voll zu bestätigen. Unter den hervorragenden
Merkmalen der Neuzeit von ihren Anfangsstadien bis in die
Welt noch, in der wir leben, lassen sich überall die typischen Verhaltungsweisen von Homo faber nachweisen: die
Tendenz, alles Vorfindliche und Gegebene als Mittel zu be-
handeln; das große Vertrauen in Werkzeuge und die Hochschätzung der Produktivität im Sinne des Hervorbringens
künstlicher Gegenstände; die Verabsolutierung der ZweckMittel-Kategorie und die Überzeugung, dass das Prinzip des
Nutzens alle Probleme lösen und alle menschlichen Motive
erklären kann; die souveräne Meisterschaft, für die alles
Gegebene sofort Material wird und die gesamte Natur sich
ausnimmt wie ›ein ungeheuer großes Stück Stoff, aus dem
wir herausschneiden können, was wir wollen, um es wieder
zusammenzuschneidern, wie wir wollen‹; die Gleichsetzung
von Klugheit mit Scharfsinn oder Findigkeit und die Verachtung für alles Denken, das nicht einfach abzielt auf ›die
Fabrizierung von künstlichen Gegenständen, vor allem von
Werkzeugen, mit denen man Werkzeuge produzieren kann,
um die Fabrikation weiterhin bis ins Unendliche zu variieren‹;
schließlich die Selbstverständlichkeit, mit der Handeln und
Herstellen identifiziert werden, bzw. mit der alles Handeln
im Sinne eines Herstellens verstanden wird.
Es würde zu weit führen, diesen Dingen im Einzelnen nachzugehen, und es ist auch nicht nötig; man kann sie leicht an
den Grundüberzeugungen der Naturwissenschaften ablesen, die selbst heute noch meinen, sie schafften nur Ordnung
in der ›bloßen Ungeordnetheit‹, dem ›wilden Durcheinander
Natur‹, weil sie in ihrer Begriffssprache die älteren Vorstellungen von Harmonie und Einfachheit durch die Modelle
und Muster ersetzt haben, die Homo faber für sein Herstellen
benötigt. Man kann sie natürlich ebenso gut an den Grundsätzen der klassischen politischen Ökonomie ablesen, deren
höchstes Ideal Produktivität und deren Vorurteil gegen nicht
unmittelbar produktive Tätigkeiten selbst Marx noch dazu
gebracht hat, den doch so selbstverständlichen Anspruch auf
Gerechtigkeit für die Arbeiterklasse im Namen ihrer ›Produktivität‹ zu erheben, bzw. die Arbeit im Sinne einer herstellenden Tätigkeit umzudeuten. Am ausgeprägtesten findet
man sie in den pragmatischen Strömungen der neuzeitlichen
Philosophie, die zu der kartesischen, allgemeinen Weltentfremdung das Nützlichkeitsprinzip fügte, das die englische
Philosophie seit dem siebzehnten und die französische seit
dem achtzehnten Jahrhundert so entscheidend beherrscht,
dass man sich hier oft gar nicht mehr vorstellen kann, dass
Menschen in ihrem Verhalten durch anderes motiviert sein
können als durch Interessen. Ganz allgemein gesprochen,
kann man wohl sagen, dass die älteste Überzeugung von
Homo faber, nämlich dass der Mensch das Maß aller Dinge
ist, innerhalb der Neuzeit den Rang eines von aller Welt
akzeptierten Gemeinplatzes erreichte.
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben
Was einer Erklärung bedarf, ist nicht die moderne Wertschätzung von Homo faber, sondern die Tatsache, dass
diese Wertschätzung nicht noch allgemeiner war und vor
allem sich nicht länger durchgesetzt hat, dass auf sie vielmehr verhältnismäßig schnell die Verherrlichung der Arbeit
gefolgt ist.« (S. 389/390)
»Die uralte Verachtung des Sklaven, der lediglich der Notdurft des Lebens diente und sich dem Zwang eines Herrn
unterwarf, weil er selbst um jeden Preis am Leben bleiben
wollte, konnte sich in einer christlichen Welt unmöglich
halten. Denn der Christ konnte nicht gut mit Plato meinen,
der Sklave habe seine sklavische Seele bereits dadurch bewiesen, dass er sich nicht das Leben genommen habe, als das
Schicksal der Sklaverei ihn traf; für ihn war die Erhaltung
des eigenen Lebens unter allen Umständen und Bedingungen zu einer heiligen Pflicht geworden, und der Selbstmord
galt als ein schwereres Verbrechen als der Mord. Nicht dem
Mörder, aber dem Selbstmörder wird das christliche Begräbnis verweigert. Dies aber hat nicht das geringste mit
der modernen Verherrlichung der Arbeit zu tun, von der
sich im Neuen Testament und in der gesamten christlichen
Tradition vor der Neuzeit keine Spur findet, wie sehr sich
auch moderne Interpreten bemüht haben, sie in die Texte
hineinzulesen. Paulus war nun wahrlich kein ›Apostel der
Arbeit‹, wie man gemeint hat, und die wenigen Stellen, auf
die sich diese Behauptung zu stützen versucht, wenden sich
an Faulpelze, die ›anderer Leute Brot essen‹, oder ermahnen zur Arbeit, auf ›dass ihr stille seid und euch um eure
eigenen Angelegenheiten kümmert‹ (...) Liest man die
Quellen ohne moderne Vorurteile; so bleibt erstaunlich,
wie selten die Kirchenväter auf den doch so naheliegenden
Gedanken kamen, die Arbeit als Strafe für die Erbsünde zu
erklären und sich in diesem Sinn auf das Pauluswort ›Wer
nicht arbeitet, soll auch nicht essen‹ zu berufen. Aber Thomas
folgt nicht dem Alten oder dem Neuen Testament, sondern
Aristoteles, wenn er erklärt, dass nur ›die Notwendigkeit zur
körperlichen Arbeit zwinge‹. Auch für ihn ist die Arbeit eine
Natureinrichtung, die Art und Weise, durch die die Natur
das Menschengeschlecht am Leben erhält, und hieraus folgert er, dass es keineswegs eine Pflicht aller Menschen sei,
im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot zu essen, sondern dass
man nur arbeiten solle wenn man sich wirklich anders nicht
mehr zu helfen weiß.« ...
»Trotz seines Glaubens an die Heiligkeit des Lebens, das
unter allen Umständen und mit allen Mitteln erhalten werden musste, konnte das Christentum schon darum keine
eigentliche Arbeitsphilosophie entwickeln, weil es an dem
unbedingten Primat der Vita contemplativa gegenüber allen
Tätigkeiten der Vita activa immer festgehalten hat: ›Vita
contemplativa simpliciter melior est quam vita activa‹ ›das
Leben der Kontemplation ist ohne Einschränkungen besser als ein tätiges Leben‹ – und was immer die Verdienste
des tätigen Lebens sein mögen, die der Kontemplation sind
›wirksamer und mächtiger‹. Dies nun war sicher nicht die
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Meinung Jesu, sondern offenbar die Folge des mächtigen
Einflusses griechischer Philosophie auf das scholastische
Denken.« ...
»Die einzige Tätigkeit, zu der die Predigt Jesu die Hörer
anhält, ist das Handeln, und das einzige menschliche Vermögen, das in ihrem Mittelpunkt steht, ist der Glaube, der
Wunder wirkt.« (S. 403 – 405)
»Erst als die Vita activa ihre Ausrichtung auf die Vita contemplativa verlor, konnte sie sich als tätiges Leben voll entfalten;
und nur weil dies tätige Leben ausschließlich auf Leben als
solches ausgerichtet war, konnte der biologische Lebensprozess selbst, der aktive Stoffwechsel des Menschen mit der
Natur, wie er sich in der Arbeit verwirklicht, so ungeheuer
intensiviert werden, dass seine wuchernde Fruchtbarkeit
schließlich die Welt selbst und die produktiven Vermögen,
denen sie ihre Entstehung dankt, in ihrer Eigenständigkeit
bedroht.« (S. 407)
Anmerkung
* 1. Auflage unter dem Titel »The Human Condition«, Chicago
1958, 11. Auflage, München 1999
55
56
Wie geht’s eigentlich den
Sozialpsychiatrischen Diensten in ... Berlin?
Wie geht es eigentlich
den Sozialpsychiatrischen
Diensten in Berlin?
Ilse Eichenbrenner, Detlev E. Gagel, Dieter Lehmkuhl
Historische Entwicklung
Die Sozialpsychiatrischen Dienste (kurz: SpDs) in Berlin blicken auf eine lange Tradition zurück. Die ursprünglich sog.
Fürsorgestellen für Nerven- und Gemütskranke ohne eigenständige Leitung wurden im Jahr 1967 personell deutlich aufgestockt und erhielten ihre jetzige Struktur, Aufgabenzuweisung
und Personalausstattung. Sie sind als eigenständige Dienststellen unter fachärztlicher Leitung Teil der kommunalen
Gesundheitsämter und multiprofessionell besetzt (leider ohne
Pflegepersonal). Ursprünglich sahen die Personalbemessungsgrundlagen je einen Sozialarbeiter/20 000 Einwohner und je
einen Arzt/80 000 Einwohner vor, später kamen zusätzlich je
ein Arzt und ein Psychologe pro Dienststelle hinzu.
Die SpDs haben im Vergleich zu denen anderer Bundesländer einen recht umfassenden Versorgungsauftrag und
eine entsprechende Ausstattung. Sie sind zuständig für erwachsene psychisch Kranke einschließlich suchtkranker,
psychisch alterskranker und geistig behinderter Menschen.
Alkohol- und Drogenberatung wird ausschließlich in freier
Trägerschaft durchgeführt. Die Abgrenzung in der Zuständigkeit zwischen SpD und Suchtberatungsstellen erfolgt im
Allgemeinen nach Kriterien der Motivation, Chronizität und
Depravation der Suchtkranken. Die drei größten Diagnosengruppen in den SpDs sind Psychosekranke, Suchtkranke und
psychisch Alterskranke (in dieser Reihenfolge). Eine weitere
Besonderheit besteht darin, dass nach dem Berliner PsychKG
für Zwangseinweisungen nur das Gesundheitsamt (d. h. der
SpD) – und nicht das Ordnungsamt – zuständig ist, und das
Vormundschaftsgericht nur auf dessen Antrag unterbringt,
auch wenn sich der Patient schon in der Klinik befindet. Die
Doppelfunktion von Hilfe und sozialer Kontrolle war immer
schon Teil der Arbeit und des Selbstverständnisses der Berliner SpDs, wurde offensiv vertreten und extern wie intern
für sinnvoll gehalten.
Eine entscheidende Veränderung erfolgte 1990: Nach der
Wende wurde diese Struktur auf den Ostteil der Stadt übertragen. Die dortigen Polikliniken wurden in SpDs umgewandelt,
wobei deren Behandlungsfunktion auf die niedergelassenen
Ärzte bzw. Psychiatrischen Institutsambulanzen überging. Zur
Angleichung der Verhältnisse im Ost- und Westteil der Stadt
fand ein intensiver Erfahrungsaustausch mit Hospitationen
untereinander (meist der Ostkolleg/-innen in den Westbezirken) statt. Ein aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive
wünschenswerter Systemvergleich zwischen östlicher Poliklinik und westlichem SpD erfolgte nicht.
(West-)Berlin hat bereits in den 80er-/90er-Jahren die Regionalisierung der Versorgung konsequent umgesetzt. Inzwischen
sind die großen psychiatrischen Fachkrankenhäuser weitgehend aufgelöst bzw. übernehmen nur noch die Pflichtversorgung im jeweiligen Bezirk. Dem von der Senatsverwaltung
nach der Wende geplanten massiven Abbau psychiatrischer
Betten (zwischen 1993 und 2001 wurde der Bettenbestand
ohne Maßregelvollzug von ursprünglich 5429 Betten auf derzeit ca. 0,7 Betten/1000 Einwohner nahezu halbiert) folgte
parallel der Aufbau komplementärer Angebote in annähernd
gleichem Umfang. Mit dessen Ausdifferenzierung hat sich
die Arbeit der SpDs drastisch verändert: Weniger die persönliche Begleitung der Klienten, sondern Screening, Behandlungs-und Rehabilitationsplanung verbunden mit einer
starken Zunahme der Begutachtungsaufträge prägen den
Alltag in Richtung eines Betreuungsmanagements. So sind
die Sozialarbeiter/-innen inzwischen fast ausschließlich mit
der Prüfung von Hauspflege in Form von Excel-Tabellen
und Betreutem Wohnen u. a. Eingliederungshilfen mittels
des Berliner Behandlungs- und Rehabilitationsplanes (BBRP
seit 2000) beschäftigt.
2001 wurden ursprünglich 23 Bezirke in zwölf (Fusions-)Bezirke zusammengelegt, wobei »West-Fusionen« (z. B. SteglitzZehlendorf), »Ostfusionen« (z. B. Treptow-Köpenick), Mischfusionen (z. B. Friedrichshain-Kreuzberg) und Bezirke ohne
Fusion (z. B. Reinickendorf) entstanden. Entsprechend gibt
es derzeit zwölf SpDs. Deren Zusammenlegung ist in den einzelnen Bezirken unterschiedlich verlaufen. Seitens der Politik
ist unter vordergründigen »Kostenaspekten« eine Tendenz
zur räumlichen und organisatorischen Zentralisierung festzustellen, die im Widerspruch zu fachlichen Erfordernissen
steht (Kieznähe und kürzere Wegezeiten durch dezentrale
Strukturen).
Psychiatrische Notfall- und Krisenversorgung
Die SpDs sind während der üblichen Bürozeiten (Montag bis
Freitag von 8.00 bis 16.00 Uhr) sowie in einer bürgerfreundlichen Spätsprechstunde (Donnerstag bis 18.00 Uhr) erreichbar. In einzelnen Bezirken waren ab 1983 unterschiedliche
regionale Krisendienste entstanden. Das Psychiatrie-Entwicklungsprogramm (PEP) verlangte 1996: »Die psychiatrische
Krisen- und Notfallversorgung in Berlin ist insbesondere auch
unter dem Aspekt des massiven Ausbaus der betreuten Wohnformen als Ersatz für die Kapazitätsrücknahme im stationären
Bereich flächendeckend zu gestalten. Sie ist dabei nicht als
zusätzliche Versorgungsinstitution zu etablieren, sondern im
verbindlichen Zusammenwirken aller am regionalen Versorgungssystem Beteiligten zu entwickeln.« Das PEP empfahl
weiter, lediglich einem Anbieter diese Aufgabe berlinweit zu
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Eichenbrenner, Gagel, Lehmkuhl: Wie geht es eigentlich den Sozialpsychiatrischen Diensten in Berlin?
übertragen. Die verschiedenen Träger der bestehenden Krisendienste schlossen sich deshalb in einer GbR als »Berliner
Krisendienst« für die flächendeckende ambulante Krisenversorgung zusammen. Seit 1999 wird in insgesamt sechs Regionen mit neun Standorten die Zeit von 16.00 Uhr bis 24.00
Uhr abgedeckt. Darüber hinaus ist der zentrale Standort in
Mitte rund um die Uhr besetzt (tagsüber ist jedoch der SpD
für Krisenintervention zuständig). Neben festen Mitarbeiter/innen und einem fachärztlichen Hintergrunddienst sorgen
zahlreiche Honorarkräfte, die hauptberuflich in der psychosozialen Versorgung tätig sind, darunter auch Mitarbeiter/-innen
der SpDs, für eine Vernetzung von SpD und Berliner Krisendienst. Andererseits ist eine gewisse, nicht nur atmosphärische
Konkurrenzsituation zwischen beiden Einrichtungen spürbar.
So erfolgt die Dokumentation im Berliner Krisendienst nicht
(mehr) personenbezogen, was Übergaben von Krisenfällen
erschwert; auch die in die Diskussion gebrachte Frage, ob der
Berliner Krisendienst mit den Hoheitsrechten nach PsychKG
beliehen werden sollte, irritierte die Szene.
Aktuelle Entwicklungen
Kostenleistungsrechnung (KLR)
Ende der 90er-Jahre wurde mit der Berliner Verwaltungsreform in der gesamten Verwaltung eine Kostenleistungsrechnung eingeführt. Diese Verbetriebswirtschaftlichung öffentlicher Aufgaben bestimmt den Alltag professionellen Handelns
zunehmend (s. u.) und erscheint als dominierendes Element
der ursprünglich mehrdimensional angelegten Reform. Nach
elf (!) Überarbeitungen werden nun folgende kostenrelevante
Produkte nach dem jeweiligen Medianwert budgetiert:
- alle Leistungen der Basisbetreuung im Zusammenhang mit
psychosozialer Beratung, Betreuung und Hilfevermittlung
(einmal pro »Fall« pro Jahr als sog. »Fallpauschale« abrechenbar); zusätzlich als Sonderleistungen:
- jede Krisenintervention und
- jede Begutachtung (differenziert nach den Leistungsempfängern Bezirks- und Senatsverwaltung sowie externe Kostenträger).
Zur Illustration ein paar Zahlen und Fakten in der Tabelle
auf der nächsten Seite.
Die einzelnen Produkte haben einen unterschiedlichen Grad
an Revisionssicherheit. Trotz der eindeutigen Definition einer
Krise als »sofortigem fachlichen Interventionsbedarf, spätestens innerhalb von 24 Stunden« kommt es gerade bei diesem Produkt zu starken Abweichungen (siehe Tabelle und
unten).
Berliner Fallsteuerung
Seit Anfang 2004 gibt es ein Träger-Budget in der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Menschen, das jeweils
für drei Jahre mit der zuständigen Senatsverwaltung in der
»Kommission 75« ausgehandelt wird. Es wird den Trägern
über die Laufzeit im bisherigen Umfang garantiert, darf/soll
jedoch nicht überschritten werden. Es gibt ihnen somit Pla-
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
nungssicherheit, dem Senat »sichert« es die Begrenzung der
Kosten. Dieser Senat erwartet im Gegenzug von den Trägern die Abdeckung aller Bedarfslagen (Pflichtversorgung),
ermöglich ihnen dafür auch eine Flexibilisierung der Hilfen
(z. B. Fallzahlausweitung bei Ausdünnung der Hilfen). Mitte
2004 wurde auf zwölf Hilfebedarfsgruppen mit für alle Träger
einheitlichen Vergütungsätzen umgestellt. Die Überwachung
der Budgets mithilfe eines Budgetprogramms obliegt den bezirklichen Psychiatriekoordinatoren. Vergleichbar den Hilfeplankonferenzen ist in jedem Bezirk ein sog. Steuerungsgremium Psychiatrie (SGP) installiert. Dies regelt die Verteilung
der Hilfesuchenden in das komplementäre Hilfesystem. Der
jeweilige SpD bereitet das SGP durch individuelle Hilfekonferenzen, Begutachtung und tw. Erstellung des BBRP vor
und nimmt dort regelhaft teil. Insbesondere aber begleitet
er kritisch sowohl die Auswahl des Leistungstyps als auch
Qualität und Quantität der vorgeschlagenen Betreuung in
der Sitzung bzw. den vorgelagerten Hilfekonferenzen. Seit
2006 torpediert ein neues Steuerungsmodell durch die Einführung eines Fallmanagements im Sozialamt die mühsam
errungenen Strukturen. Die bisherigen Sachbearbeiter/-innen
der Eingliederungshilfe wurden umfassend geschult und haben nun einen klaren Spar-Auftrag. Was bedeutet das? Laut
AV-Eingliederungshilfe führen sie nach Bekanntwerden eines
Hilfebedarfs ein Assessment durch, an dem der SpD zu beteiligen ist. Kritisch anzumerken ist, dass durch die Einführung dieses administrativen Fallmanagements eine doppelte
Struktur entsteht. Oblag bislang den SpDs aufgrund ihrer
Fachkompetenz als psychiatrisch-klinischem Fallmanagement
meist de facto die Entscheidung über Art und Umfang der
Eingliederungsmaßnahmen, so wird mit der neuen Regelung
das Verhältnis anders gewichtet. Die Fachkompetenz wird relativiert und eine Bürokratieebene mit zusätzlichem Personal
und erhöhtem Abstimmungs-, Dokumentations- und Koordinierungsaufwand etabliert. Der Gedanke drängt sich auf,
dass nicht nur die steigenden Kosten der Eingliederungshilfe
zur Einführung des Fallmanagements führten, sondern die
Sozialämter mit deren Funktionsverlust durch Einführung des
SGB II auch nach neuen Betätigungsfeldern suchten.
Kernaufgaben nach dem
Gesundheitsdienstreformgesetz
Am 1. Juli 2006 trat das Gesundheitsdienstreformgesetz
(GDG) in Kraft. Wesentliches Ziel neben einer auf Pflichtund Gewährleistungsaufgaben fußenden Versorgungsphilosophie ist eine Vereinheitlichung der bislang heterogenen
Struktur des öffentlichen Gesundheitsdienstes in den einzelnen Bezirken. Nach einer intensiven Diskussion innerhalb der
SpDs im Rahmen dieser Reform gingen nachfolgende – die
Praxis schon seit Jahren bestimmende – Kernaufgaben in ein
Leitbild der SpDs ein:
- Notfallpsychiatrische Versorgung und Krisenintervention
einschließlich der Unterbringung nach dem Berliner PsychKG als hoheitliche Aufgabe
57
58
Eichenbrenner, Gagel, Lehmkuhl: Wie geht es eigentlich den Sozialpsychiatrischen Diensten in Berlin?
n (berlinweit) min/max (pro Bezirk) Stückkosten Median
Psychosoziale Betreuung und Hilfevermittlung
Krisenintervention
Begutachtung für Bezirksverwaltung
Begutachtung für Hauptverwaltung
-
40 959
10 877
31 126
6676
2041 – 6238
391 – 1286
1286 – 5013
259 – 1140
Einleitung, Organisation, Koordinierung und Vermittlung
vielfältiger Hilfen
- Begleitende Betreuung und Behandlung von Betroffenen
und sozialem Umfeld
- Information und Beratung
- Begutachtung bei Eingliederungsmaßnahmen nach dem
SGB XII und fakultativ im Rahmen des Betreuungsrechts
im BGB
Den SpDs wurden ihre Pflichtaufgaben also belassen, wenngleich sie nicht mehr als eigenständige Beratungsstellen, sondern zukünftig im Fachbereich »Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitshilfe für Erwachsene« mit den
Beratungsstellen für Behinderte zusammengefasst werden
sollen. Im Gesetzestext heißt es: »Der öffentliche Gesundheitsdienst nimmt sozialpsychiatrische gemeindebezogene
Aufgaben nach Maßgabe des Gesetzes für psychisch Kranke
und des Betreuungsgesetzes wahr. Er wirkt an der Planung,
Qualitätssicherung und Weiterentwicklung des gemeindepsychiatrischen Versorgungsstruktur mit, insbesondere durch
Beratung und Betreuung von psychisch kranken und abhängigkeitskranken Menschen sowie von auf Grund solcher Erkrankungen behinderter Menschen einschließlich derer, die
durch eine solche Krankheit gefährdet oder bedroht sind, und
stellt die Behandlung sicher. Er trifft die notwendigen Maßnahmen der Unterbringung nach dem Gesetz für psychisch
Kranke.« (Gesundheitsdienstreformgesetz vom 25. Mai 2006)
Dabei machen die personenzentrierte Hilfeplanung sowie
die Begutachtung von komplementären Hilfen und Hilfen
zur Pflege mit einem erheblichen Koordinierungs- und Dokumentationsaufwand inzwischen den Hauptteil der Arbeit
aus. Dieser Funktionswandel ebenso wie die Notwendigkeit,
sich aufwendig abzustimmen und nicht mehr die alleinige
Entscheidungskompetenz zu haben, hat bei einem Teil der
Mitarbeiter, die lieber unmittelbar patientenbezogen arbeiten
wollen, zu Frustrationen geführt.
Als personelle Mindestausstattung wurde festgelegt: auf je
100 000 Einwohner ab 18 Jahren sollen in den SpDs 2,4 Ärzt/
-innen, 4,8 Sozialarbeiter/-innen, 0,6 Psycholog/innen und 2,0
Verwaltungsangestellte tätig sein. Diese Mindestausstattung,
die eher durch die Haushaltslage oder wirtschaftspolitische
Ideologien (Reduzierung und Outsourcing öffentlicher Aufgaben), denn durch fachliche Erfordernisse bestimmt wird,
entspricht in etwa der Festschreibung der Planstellen auf
dem gegenwärtigen Niveau nach deutlicher Absenkung in
den vorausgegangenen Jahren. Die personelle Ausstattung
der einzelnen SpDs folgte bisher der historischen Entwicklung
und der unterschiedlichen Prioritätensetzung der Bezirke und
weniger einer am Bedarf und der Sozialstruktur der Bezirke
277 €
204 €
197 €
315 €
min/max (pro Bezirk) n/1000 Einwohner (min/max)
228 – 342 €
150 – 240 €
170 – 264 €
188 – 495 €
1,45 (1,09 – 2,33)
0,38 (0,19 – 0,53)
1,10 (0,64 – 1,87)
2,36 (1,40 – 5,22)
orientierten rationalen Gesundheitsplanung. So haben gutbürgerliche Bezirke eine vergleichsweise gute Personalausstattung, während soziale Problembezirke tw. deutlich unter
der Mindestausstattung liegen.
Zusammenarbeit der SpDs untereinander
Die SpDs treffen sich vierteljährlich bei der Senatsverwaltung
für Gesundheit zu einem Informationsaustausch. Außerdem
hat sich seit ca. 1997 die sog. Montagsrunde mit monatlichen
Treffen etabliert, in der die meisten SpDs vertreten sind.
Sie dient neben dem Informationsaustausch der gemeinsamen Abstimmung der Handlungsfelder (z. B. Standard- und
Leitbilddiskussion), der inhaltlichen Positionierung und Einflussnahme zu aktuellen Themen und Veränderungen sowie
der Formulierung von fairen und transparenten Regeln im
Umgang mit der KLR. Ursprünglich geplant als Ort grundlegender Reflexion der Praxis jenseits der Alltagshektik wurde
dieses Treffen bald von der Klärung aktueller Entwicklungen
und dem Alltagsgeschäft bestimmt. Daher veranstalten die
SpDs seit 2004 jährlich einen eineinhalbtägigen Workshop mit
externer Moderation, um Raum für gezielte Reflexionen und
fachlicher Konzeptentwicklung (z. B. Öffentlichkeitsarbeit)
zu schaffen. Diese Treffen und der Workshop sind sehr hilfreich in Hinblick auf die Herausbildung einer gemeinsamen
Philosophie und Stärkung des eigenen Selbstverständnisses
in der Aufgabenwahrnehmung und -erfüllung.
Glosse: Bericht aus dem Alltag eines SpDs
Auch in der Berliner Verwaltung hat das »New Public Management«
zugeschlagen. Es werden Zielvereinbarungen abgeschlossen, GenderBudget-Analysen in Auftrag gegeben, und der Kunde mit seinen Wünschen steht im Zentrum der Transparenz. Es gibt Mentoren-Runden,
Controller und KLR-Beauftragte. Auch der SpD erbringt Produkte, die
ihm seine »Kunden« natürlich aus der Hand reißen. Keinen Kunden
gelüstet nach einer Zwangseinweisung oder danach, beim SpD gemeldet zu werden. Sei’s drum! Welche Produkte erbringen wir tatsächlich? Zunächst wurde vor allem das Produkt »Psychosoziale Beratung«
gestrichelt. Aber was genau ist eine Beratung? Natürlich gibt es dazu
Definitionen und Produktblätter. Später wurden die verschiedenen
Beratungsleistungen in einer Fallpauschale (siehe oben) zusammengefasst. Der Median wird errechnet, in manchen Bezirken ist das Produkt
zu teuer (siehe Tabelle). Zug um Zug wurden die Mittelzuweisungen
an die Bezirke umgestellt, orientieren sich nun an der KLR. Wessen
Produkte zu teuer sind, der erhält weniger Geld. Mit weniger Geld
kann er weniger Personal finanzieren. Mit weniger Personal kann er
weniger Produkte erbringen: Also erhält er weniger Geld ... Nein, es ist
nicht originell! Die Vorgesetzten monieren und drängen nachdrücklich,
doch ein paar (hundert?) Striche mehr zu machen. Wer kann schon die
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
Anz_ScherBrem_86,5*243
26.04.2007
15:05 Uhr Seite
1
Eichenbrenner, Gagel,
Lehmkuhl: Wie geht es eigentlich
den Sozialpsychiatrischen
Diensten
in Berlin?
Anzahl der Beratungen kontrollieren? Alle stricheln mehr, schließlich
wird in Berlin eine astronomische Anzahl an Beratungen erbracht.
Revisionssichere Produkte müssen her, allerdings ist inzwischen der
Personalbestand in einigen Bezirken schon gewaltig geschrumpft. Seit
der Einführung der Fallpauschalen ist es egal, ob man einmal oder
365-mal im Jahr mit einem Klienten zu tun hat. Zu jedem Strich gibt
es einen Vermerk und eine Akte, revisionssicher! Es werden Gutachten
und Krisen gezählt, denn beides scheint überprüfbar. Denkste! Was
sind Krisen? Krisen sind Meldungen, die akute Hausbesuche oder
Kriseninterventionen (auch am Telefon) auslösen. Kriseninterventionen
am Telefon? Geht es nicht jedem schlecht, der bei uns anruft? Wer
zu wenig Krisen strichelt, erhält einen Rüffel vom Vorgesetzten. Wie
gehabt. Es wird ein direkter Bezug hergestellt zwischen aktuellem
Personalnotstand und Krisenstrichliste nach dem Motto: »Wenn Sie
nicht mehr Krisen machen, dann können wir die nächste freiwerdende
Stelle auch nicht mehr besetzen.« Keiner von uns kann kontrollieren,
ob wir wirklich zu wenig Striche machen oder ein Opfer der Sparzwänge des ganzen Bezirksamts sind. (Dabei entfällt ca. die Hälfte unserer
»Produktkosten« auf die sog. Regiekosten, d. h. werden gar nicht
durch uns selbst veranlasst, sondern von oben oder über Dritte her auf
uns »heruntergebrochen«). Wundern Sie sich bitte nicht über unsere
Gesprächstechnik, falls Sie einmal beim Sozialpsychiatrischen Dienst
anrufen sollten. Ohne Name, Geburtsdatum und Adresse läuft bei uns
gar nichts (eine Fallpauschale) und wir hören Ihnen aufmerksam und
empathisch zu (eine Krise). Hausbesuch, Beratung der Angehörigen
usw. sind leider nicht drin, es sei denn, wir erfahren etwas mehr über
Ihre fünf Kinder und drei Geschwister (acht Fallpauschalen, x Krisen).
Ganz Berlin führt plötzlich Krisengespräche, und beim Hausbesuch
notiert die Sozialarbeiterin die Namen aller Nachbarn auf den Klingelschildern. Flexibel, kreativ und innovativ soll er sein, der Arbeitsnehmer
der Zukunft im SpD! Ein anderer Zynismus greift derzeit Raum: Die
im Rahmen des neuen GDG vereinbarten Stellenkontingente werden
unterlaufen, weil zwar Stellenausschreibungen genehmigt werden,
aber nur »intern«, d. h. über eine Ausschreibung im Berliner Amtsblatt.
Das bedeutet, dass eine Stellenbesetzung in dem einen Bezirk zwangsläufig zum Stellenabbau im anderen Bezirk führt. Diese Abwerbung
von Kolleg/-innen, auch als »Stellenkannibalismus« bezeichnet, stiftet
eher Unfrieden als Kooperation zwischen den Bezirken. Natürlich sind
auch »Außeneinstellungen« möglich, bislang aber nur befristet und
nur nach Genehmigung durch die Finanzverwaltung. Und die lässt auf
sich warten: Es wird ein »Einstellungskorridor« nach rein monetären
Gesichtspunkten (Stellenabbau ist das Ziel) festgelegt, der zu Qualitätseinbußen in der Fachlichkeit und zum allmählichen Ausbluten der
Gesundheitsämter allgemein und der SpDs im Speziellen führt.
Anschrift für die Verfasser
Ilse Eichenbrenner
Kantsrr. 36
10625 Berlin
[email protected]
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
59
60
Leserbrief zu
»Wie geht es eigentlich
ohne sozialpsychiatrische
Dienste im Saarland«?
Beitrag von Dr. Martin Kaiser,
SHG Klinik Merzig, Ausgabe 2/07 in
»Sozialpsychiatrische Informationen«
In obigem Beitrag zeichnet Herr Dr. Kaiser ein recht »rosiges«
Bild der psychiatrischen Versorgung, insbesondere chronisch
psychisch kranker Menschen, im Saarland und kommt zu dem
Schluss, dass man aufgrund dessen auf »Sozialpsychiatrische
Dienste« verzichten könne.
Diesen Optimismus kann ich als Mitarbeiter eines sozialpsychiatrischen Vereins im Landkreis Saarlouis (210 000 Menschen) keineswegs teilen und hätte mir im Gegenteil immer
gewünscht, dass solche ambulant-aufsuchenden Dienste
flächendeckend installiert würden. Der einzige vorhandene
ambulant-aufsuchende Dienst im Kreis Homburg wird seine
Tätigkeit sogar einstellen müssen.
Die klinische Sektorisierung mit der Zuständigkeit klinischer
Abteilungen für die einzelnen Landkreise ist natürlich ein begrüßenswerter Schritt gewesen. Jedoch ist der entsprechende
parallel zu leistende Schritt des Ausbaues ambulanter Strukturen in sozialpsychiatrischen außerklinischen Setting bis heute
nicht geschehen. Komplementäre Wohneinrichtungen, auch
Tagesstätten, gab es vereinzelt auch schon vor der Dezentralisierung der psychiatrischen Kliniken. Der Ausbau komplementärer Strukturen erfolgte aber nicht in »erforderlichem«
Maße – wie Herr Dr. Kaiser meint –, sondern höchst unterschiedlich in den einzelnen Landkreisen: Zum Teil entstanden
neue Großeinrichtungen des »Intensiv betreuten Wohnens«
in ländlicher Struktur, aber auch gemeindefern.
Zum anderen Teil versuchten – meist kleinere – Träger, den
Aufbau bedarfsgerechter komplementärer und ambulanter
Strukturen voranzutreiben, sodass es über die Landkreise
hinweg sehr unterschiedliche Einrichtungen im Bereich des
intensiv betreuten Wohnens gab, was die jeweilige Größe
betrifft. Hinzu kam im Saarland auch, dass man sich von
politischer Seite schwer tat, in neuen kleineren Trägern echte
Alternativen zu etablierten Wohlfahrtskonzernen zu sehen,
was in der Folge eher zu einer Zersplitterung von Zuständigkeiten einzelner Trägern führte, die Hausmacht der bestehenden Wohlfahrtskonzerne eher stärkte und dadurch auch die
Konkurrenz untereinander verstärkte anstatt die Kooperation.
Diese Spaltung zwischen »großen und kleinen« Anbietern findet bis heute ihre Fortsetzung in der Vorstellung des Landes,
bis zum Jahre 2012 35 % der Heimplätze insgesamt im Land
abzubauen und dies gleichmäßig bei jedem einzelnen Träger.
Da ein entsprechender Aufbau ambulanter Strukturen mittelfristig im Verhältnis 1 : 1 umgesetzt werden soll (d. h.: ein
ambulanter Platz pro abgebautem stationärem Platz), droht
kleineren Trägern schlichtweg das »Aus«, was auch die Zerstörung von geschaffenen Lebenswelten für chronisch psychisch
kranke Menschen zur Folge hätte.
Vonseiten des Landes wird argumentiert, langfristig sei im
Saarland die demografische Entwicklung rückläufig. Das mag
sein, aber man muss auch diese Entwicklung landkreisbezogen betrachten, und hier verläuft sie nicht einheitlich. Dazu
kommt, dass unsere Wohneinrichtungen im Landkreis Saarlouis noch nie mit so vielen Anfragen wie jetzt konfrontiert
wurden.
Es mag auch sein, dass die psychiatrischen Kliniken im Saarland ein Eigenleben führen, sicher haben auch sie keinen
Mangel an Beschäftigung, im Gegenteil, jedoch spielt sich
das Leben der chronisch psychisch kranken Menschen meist
außerhalb der Klinik ab, und es gilt, ihre konkrete Lebensbedingungen zu betrachten und ggf. zu verbessern, um Klinikeinweisungen zu vermeiden. Dabei darf nicht vergessen
werden, dass es eine Population chronisch psychisch Kranker
gibt, die sich seit dem ersten »Run« aus den psychiatrischen
Krankenhäuser im Saarland (seit ca. 20 Jahren) in komplementären Wohneinrichtungen befinden, und deren Stabilität in hohem Maße von einem konstanten Betreuungs- und
Beschäftigungsniveau außerhalb der Klinik abhängt. Es gilt,
diesen Menschen ihre Lebenswelt, ihr stabilisierendes Milieu
zu erhalten und auch diese den sich verändernden Lebensbedingungen anzupassen (Alter, Demenz). Eine neue Generation psychisch kranker Menschen kommt auf uns zu, wo es
gilt, bei diesen viel stärker präventiv und ambulant zu arbeiten, als dies bisher möglich war. Aber reichen die bisherigen
Strukturen und Maßnahmen im Saarland letztlich aus, um
eine 2. Generation und folgende vor dem gleichen Schicksal
wie Erstgenannte zu bewahren?
Ich bezweifle dies: Statt einer Dezentralisierung und Steuerung in gemeindepsychiatrischen Verbünden in den Landkreisen ist eine landeszentrale Steuerung der Belegung in die
Wohnheime vorgesehen. Verbindliche Hilfeplankonferenzen
werden zumindest im Moment als unnötig angesehen. Wie
soll eine bedarfsgerechte ambulante Versorgung auf dieser
Basis erfolgen können? Diese Psychiatriereform läuft Gefahr,
eine vielleicht bereits bestehende 2-Klassengesellschaft der
psychiatrischen Versorgung noch zu verstärken. Aber sind
wir es nicht schon längst gewöhnt, mit der Verelendung von
Lebensbedingungen von Millionen Menschen in unserem
Land zu leben? Ich hoffe, dass sich wenigstens die Psychiatrieerfahrenen und die Angehörigen aufmachen, um sich
einzubringen. Es geht um ihre Interessen.
gez. Jürgen Kiefer, Dipl.-Psychologe
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
61
Buchbesprechung
PRINS, S (2006) Seitenwechsel. Psychiatrieerfahrene
Professionelle erzählen. Paranus Verlag, Neumünster,
192 Seiten, 16,80 Euro
Sibylle Prins knüpft an das von ihr herausgegebene Buch
»Wege zum Glück« an, mit dem sie begonnen hatte, sich der
Heterogenität der Menschen zu stellen, die ihren ganz persönlichen Weg aus den psychischen Krisen gefunden haben. Auch
das Buch »Seitenwechsel« gibt einen Einblick in die Vielfalt
der Gestaltungsmöglichkeiten psychoseerfahrener Menschen.
Von der Oberärztin (M. Osterfeld) bis zum Tätigen in Sachen
Psychiatrieerfahrung (J. Daszkowski) reicht das Spektrum der
Lebensführung ganz verschiedener Menschen, die teilweise
mehrfach die Seiten zwischen Profitum und Patientendasein
wechseln mussten. Fast alle der Befragten – das Buch ist in
Interviewform gehalten – geben an, wie wichtig ihnen die
eigene Krisenerfahrung bei der Arbeit mit Klienten ist und
dass Empathie und Verständnis für andere, Toleranz und
Zuwendung mit aus dieser Erfahrung gespeist werden.
Niemand der Interviewten macht sich selbst zum Maßstab
für andere, keiner meint, den Heilsweg für alle gefunden zu
haben, was sich sicher aus der Beidseitigkeit der Erfahrungen
ergibt. Sibylle Prins lenkt die Befragungen mit so viel Geschick, dass ein spannendes Buch daraus geworden ist, das
versucht und dem es auch gelingt, die manchmal so tiefen
Gräben zwischen Psychiatrieerfahrenen und Professionellen
zu überwinden.
Es sind durchweg sympathische Menschen, die Rede und
Antwort stehen, schon allein dadurch, dass niemand sich
anmaßt, ein Patenrezept zu haben, was sonst bei Psychiatrieerfahrenen oft recht unbescheiden daherkommt.
Kein Interview gleicht dem anderen, wie kein Mensch dem
anderen gleicht und dennoch jeder zu der großen Menschheitsfamilie gehört.
Arnhild Köpcke
Langenhagen
Termine
Vom 5. bis 7. Juli 2007 findet der 8. Interdisziplinäre Kongress für Suchtmedizin in München statt. Weitere Informationen und Anmeldung: mic – management information
center GmbH, 86895 Landsberg, Tel. 08191/125-479, Fax
08191/125-600, [email protected], www.m-i-c.de
110. Jubiläum der Mitteldeutschen Psychiatrietage. Thema:
Biogenese und Psychogenese. Referenten (u. a.): Kay Redfield Jamison, Jules Angst, Nick Craddock und Tim Crow.
Ort: Georg-Friedrich-Händel-Halle, Salzgrafenplatz 1,
06108 Halle. Zeit: Freitag, den 21.9.2007 bis Samstag, den
22.9.2007. Anmeldungen unter www.psychiatrietagehalle2007.de. Kontakt: Dr. Dörthe Röttig, Tel. 0345-557-4569,
[email protected]
Das 64. Psychotherapie-Seminar findet vom 23. bis 28. September 2007 zum Thema »Alkoholismus und Familie«
in Freudenstadt statt. Veranstalter: Psychotherapie-Seminar
Freudenstadt e. V., Wissenschaftl. Leitung und Organisation: Prof. Dr. H. Schneider, Karl-von-Hahn-Str. 120, 72250
Freudenstadt, Tel. 07441/542399, Fax 07441/542504, www.
pt-seminar-freudenstadt.de
Vom 19. bis 21. Oktober 2007 findet in Hall in Tirol eine
Tagung zum Thema »Der suizidale Jugendliche« statt. Tagungssekretariat: Psychiatrisches Krankenhaus des Landes
Tirol, Brigitte Durda, Thurnfeldgasse 14, A-6060 Hall in
Tirol, Tel. +43 (0)5223 5082031, [email protected]
Aachener Sozialpsychiatrischer Fortbildungstag 2007:
»Zwischen den Stühlen: Junge psychisch kranke Menschen zwischen Pädagogik und Behandlung«, 24. Oktober 2007 im Aachen. Weitere Informationen: Aachener
Verein zur Förderung psychisch Kranker und Behinderter
e. V., Heinz-Josef Brendt, Albert-Maas-Str. 2 – 4, 52078 Aachen, Tel. 0241/59075, Fax 0241/575051, aachenerverein.
[email protected]
Am 19. und 20. November 2007 findet im Kongress Palais
Kassel – Stadthalle die Jahrestagung der Aktion Psychisch
Kranke e. V. statt. Thema: Individuelle Wege ins Arbeitsleben. Im Mittelpunkt stehen die Entwicklung und Ergebnisse
des Projekts »Teilhabe an Arbeit und Beschäftigung für psychisch Kranke – Entwicklung regionaler, integrierter und personenzentrierter Hilfesysteme«. Weitere Information: Aktion
Psychisch Kranke e. V., Oppelner Str. 130, 53119 Bonn, Tel.
0228/676740, Fax 0228/676742, E-Mail: [email protected],
Homepage: www.psychiatrie.de/apk oder www.apk-ev.de
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
62
Termine
»Europa ver-rückt
die Perspektiven!«
Jahrestagung der
Deutschen Gesellschaft
für soziale Psychiatrie
(DGSP) e. V.
01. – 03. November 2007
Tagungsort:
Fachhochschule München
Fakultät Sozialwesen
Mit dem Zusammenschluss der Binnenmärkte und der Gemeinschaftswährung Euro sind die einzelnen Länder der
Europäischen Union bereits hochgradig miteinander verschmolzen. Welche Folgen ergeben sich aus dieser rasanten
Verschmelzung möglicherweise für den Bereich des Sozialen
und insbesondere für die (Sozial)Psychiatrie?
Im Jahr 2005 veröffentlichte die europäische Kommission
ein Grünbuch mit dem Titel: »Die psychische Gesundheit
der Bevölkerung verbessern – Entwicklung einer Strategie
für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union«.
Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation WHO ergaben das ca. 27 %(!) der Bürger der EU mindestens einmal
in ihrem Leben unter psychischen Störungen litten. In ihrem
Grünbuch kommt die EU zum Schluss den sozialen, wirtschaftlichen und strukturellen Auswirkungen der psychischen
Gesundheit ihrer Bürger größere Bedeutung beizumessen.
Der Belastung Betroffener, der ihrer Angehörigen und der der
gesamten Gesellschaft sowie der Wahrung der Menschenrechte soll damit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Auf der Jahrestagung der DGSP sollen in diesem Jahr namhafte
Experten zu Wort kommen, die die Bearbeitung der Themen
Gesundheit und Soziales auf europäischer Ebene maßgeblich
mit begleitet haben. Zusammen mit nationalen Experten und
dem Publikum sollen mögliche Antworten gefunden und dem
lokal und regional denkenden Akteur verständlich gemacht
werden. Darüber hinaus werden bereits existierende und gut
funktionierende europäische »best practice«-Projekte vorgestellt. Auch die Situation der psychiatrischen Versorgung in
Osteuropa und die der MigrantInnen in Deutschland werden
Thema sein. Wo bieten sich hier Kooperationsmöglichkeiten
aus deutscher Sicht?
Ferner werden in Schwerpunktforen mit teils internationalen
Gästen Themen wie Arbeit und psychische Gesundheit, Gender, Trialog, Zwangsbehandlung, Migration, Versorgungsforschung, europäische Geschichte und psychische Gesundheit
sowie die Auswirkungen der europäisierten Hochschullandschaft auf die einschlägigen Berufsgruppen diskutiert werden.
Stets im europäischen Kontext!
Der letzte Tag der Tagung steht unter dem Vorzeichen Ausblick und Visionen auf ein Europa mit möglicherweise verrückten Perspektiven.
Wir freuen uns nach 18 Jahren wieder einmal eine Jahrestagung der DGSP in der bayerischen Landeshauptstadt München ausrichten zu können! Die Tagung wird in Kooperation
mit der Fachhochschule München und der Projekteverein
gGmbH ausgerichtet.
Für die Vorbereitungsgruppe:
Thomas Meinhart
Elektronische Abonnements und
Zeitschriftenbeiträge als PDF-Datei
-
Online-Abonnements
Die Sozialpsychiatrischen Informationen können Sie auch als
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Sie können das PDF ausdrucken und Textpassagen kopieren, verpflichten sich aber, die Dateien lediglich auf einem
Computer bzw. Datenträger zu speichern und nicht weiter
zu verbreiten. Das elektronische Abonnement ist unabhängig
vom Abonnement der Printausgabe.
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Einzelartikel
Alle Artikel können Sie ab Ausgabe 1/2000 auch einzeln
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3,00 Euro. Die Bezahlung erfolgt über Bankeinzug, wenn Sie
nicht ausdrücklich eine Rechnung wünschen (ab 12,- Euro
Rechnungsbetrag). Sie können das PDF ausdrucken und
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lediglich auf einem Computer bzw. Datenträger zu speichern
und nicht weiter zu verbreiten. Weitere Einzelheiten und eine
Bestellmöglichkeit finden sie im Internet: www.verlag.psychiatrie.de/zeitschriften/
Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007
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Hinweise für Autoren
Sozialpsychiatrische Informationen
Lassen Sie sich durch die nachfolgenden Vorschläge und Hinweise auf keinen Fall davon abhalten, auch zukünftig spontan
der Redaktion unverlangt Manuskripte einzusenden, selbst
dann nicht, wenn sie den folgenden Punkten nicht entsprechen sollten:
1. Manuskripte sollten nach Möglichkeit weniger als 26.000
Zeichen beinhalten. Bitte senden Sie neben dem Ausdruck
auch die dazugehörige Datei per E-Mail oder auf Diskette an
die Redaktionsadresse.
2. Eine kurze Zusammenfassung bis zu 20 Zeilen sollte vom
Autor dem Artikel vorangestellt werden.
3. Zur besseren Übersicht und höheren Akzeptanz des Manuskripts trägt eine gute Gliederung (Zwischentitel, ohne Nummerierung) bei.
4. Wenn Zitate unumgänglich sind, sollten diese am Ende
des Artikels und bei den entsprechenden Literaturhinweisen
aufgelistet werden.
5. Die Redaktion verpflichtet sich, dem Autor eine schnelle
Rückmeldung darüber zu geben, dass sein Manuskript eingetroffen ist und in welcher Zeit er eine definitive Nachricht
über die Annahme erhalten wird. Deshalb geht die Redaktion
davon aus, dass die Autoren die Manuskripte nicht gleichzeitig
anderen Zeitschriften anbieten.
6. Nach Annahme wird das Manuskript im nächsten thematisch passenden Heft erscheinen.
7. Die Autoren erhalten nach Möglichkeit ein PDF ihrer Arbeit
aufbereitet als Sonderdruck (bitte E-Mail angeben). Auf Wunsch
versenden wir bis zu zehn Sonderdrucke ihrer Arbeit kostenlos
als Printversion. Weitere Sonderdrucke liefert der Verlag gegen
Berechnung eines Kostenanteils von 0,05 € pro Seite.
gegründet 1971
ISSN 0171 - 4538
Postvertriebsnr. G 07569
Redaktion:
Michael Eink, Hannover
Hermann Elgeti, Hannover
Helmut Haselbeck, Bremen
Gunther Kruse, Langenhagen
Sibylle Prins, Bielefeld
Renate Schernus, Bielefeld
Ulla Schmalz, Düsseldorf
Ralf Seidel, Mönchengladbach
Peter Weber, Hildesheim
Dyrk Zedlick, Glauchau
Redaktionsanschrift: Frau Gabriele Witte,
Klinik f. Psychiatrie u. Psychotherapie – Institutsambulanz,
Rohdehof 5, 30853 Langenhagen
Tel. 0511/73 00 590, Fax: 0511/73 00 518
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Verlag: Psychiatrie-Verlag gGmbH,
Thomas-Mann-Str. 49a, 53111 Bonn,
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Emden
Die nächsten Schwerpunktthemen*
»Wissenschaftliche Praxis versus Erkenntnisinteresse?«
(Heft 4/2007)
»Kritische Pharmakologie« (Heft 2/2008)
»Organisationsentwicklung« (Heft 3/2008)
»Die vergessenen psychisch Kranken« (Heft 4/2008)
*Diese Themenplanung kann sich aufgrund aktueller Entwicklungen verändern
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PsychiaterSein
»Die Zukunft wird einen gewandelten Typ des Psychiaters sehen und
brauchen: weniger geheimnisumwittert, weniger selbstherrlich und mit
ihren Patienten vermittelnd.« (1971)
Karl Peter Kisker (1926 - 1997) war einer der wichtigsten
Praktiker und zugleich Theoretiker der deutschen Psychiatrie.
Als Lehrstuhlinhaber an der Medizinischen Hochschule Hannover prägte er die Psychiatriereform der 70er und 80er Jahre
entscheidend.
In seinem psychiatrischen Denken und Handeln seiner Zeit
weit voraus, beherrschte er den Spagat zwischen praktischer
Psychiatrie in der Institution und unmittelbarem,
individuellem Begleiten des psychisch kranken Menschen.
Seine Schriften vermitteln, was im Spannungsfeld von gesellschaftlich-politischen Zwängen und einem humanistischen
Menschenbild PsychiaterSein bedeutet.
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Wielant Machleidt, Torsten
Passie, Dieter Spazier (Hg.)
PsychiaterSein
Karl Peter Kisker –
Auswahl seiner Schriften
ISBN 978-3-88414-428-2
380 Seiten,
29.90 Euro/52.20 sFr
www.psychiatrie-verlag.de