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Rigor Mortis (Teil 1)
von Nasicus (01.08.2006, 19:36 Uhr)
And he took the stars in his hands
And as he scattered them he’d shout
I’m the joker of the universe
I’m what it’s all about.
Now he’s dying in his grief
And the hard men dragged him down
They have killed the wild-eyed jester
They have killed the Fireclown
- Michael Moorcock/Blue Oyster Cult: The Great Sun Jester
Entlang einer leblosen Straße reihten sich auf zwei Seiten die hohen Stämme von Birken
aneinander. Dort, wo sie sich der Straße zuwandten, hatten Abgase das raue Weiß ihrer
Rinde in ein fleckiges Grau verwandelt. Durch kahle Äste konnte man rote Ziegel
erkennen, verputzte Wände und spiegelnde Fenster, daneben Beton und die bunten
wirren Formen von Graffitis. Ab und zu zeigte sich die Silhouette eines stillen
Beobachters hinter spiegelndem Fensterglas. Rote und gelbe Blätter bedeckten die
Straße an mehreren Stellen fast vollständig, und wenn das warme Abendlicht auf sie
fiel, hätte man fast einen Eindruck von kleinen Flammen gewinnen können, die von
einem leichten Wind aufgerüttelt über den Boden wischten. Immer wieder gab es auch
Stellen, an denen der Asphalt sich nach oben gewölbt hatte und aufgebrochen war, um
den großen Wurzeln Platz zu machen, die an die Oberfläche drängten. Einige Zweige
wippten auf und ab, während kleine Vögel auf ihnen sprangen.
Ihr Zwitschern ging bald völlig in einem anderen Geräusch unter, das sich vom Ende der
Straße her näherte.
Sechs Gestalten, alle in Kutten aus schimmernder schwarzer Seide, marschierten dort, in
zwei Reihen nebeneinander, und trugen dabei einen Sarg aus dunklem Holz auf den
knochigen Schultern.
Ihre Hände umklammerten lange Haltestangen aus Bronze, sie setzten schwerfällig
einen Fuß vor den anderen und sangen mit tiefen traurigen Stimmen. Ihr Lied war
langsam, mal laut und mal leise, und bestand nur aus sich immer wieder abwechselnden
lang gezogenen Vokalen. Für den Toten, den sie mit sich schleppten, hatten sie keine
Worte, nur die Gleichförmigkeit der Laute, die aus ihren Mündern kamen.
Ein Zuschauer, der sich hinter einer Birke versteckt hatte und nun vorsichtig hinter
ihrem Stamm hervorspähte, konnte sehen, wie die sechs Gestalten ihre Köpfe gesenkt
hielten, wie ihre Stiefel und die langen Schleppen, die sie hinter sich herzogen, die
Blätter auf der Straße zur Seite fegten.
Ab und zu blickte einer der schwarzgekleideten Sargträger auf und beobachtete die
Fenster der Häuser, die sie passierten. Sie wollten sicher gehen, dass die Leute, die den
Leichenzug eventuell von dort aus verfolgten, auch angemessene Trauer zeigten.
Auf diese Weise brachten sie den Sarg aus der Stadt heraus auf einen kleinen Hügel, der
mit halbverdorrtem gelblichem Gras und einigen kleinen Blumen bewachsen war.
Mehrere Grabsteine standen dort, glatte hellgraue Pfeiler, von denen sich einige schon
ein ganzes Stück zur Seite geneigt hatten. Irgendwo zwischen ihnen hatte man ein
frisches Loch ausgehoben.
Die Gestalten in den Kutten ließen den Sarg langsam dort hinein sinken - eine Prozedur,
während der sich das eine oder andere Ächzen und Stöhnen in ihren monotonen Gesang
mischte.
Fast gleichzeitig richteten sie sich anschließend wieder auf, wobei einer von ihnen sich
ans Kopfende des Grabes stellte und beide Arme hob, so dass ihm die Kutte verrutschte
und zwei nur leicht behaarte Arme zum Vorschein kamen. An seinem rechten
Handgelenk konnte man eine dicke Armbanduhr aus Plastik erkennen.
„Ihr Trauernden!“ begann er langsam, nachdem er sich geräuspert hatte.
„Dieser Mann, den wir heute…“
„Oh! Oh! Oh!“ meldete sich da eine zweite Stimme zu Wort.
„Bitte… dürfte ich wohl auch meinen Senf dazugeben, hm?“ Ein
rasch lauter werdendes Klimpern ertönte.
Sechs im Schatten liegende Gesichter drehten sich in Richtung des Pfads, der den
Friedhofshügel hinaufführte. Ein zwergwüchsiges Männlein kam mit kleinen Sprüngen
den Hang hinaufgeeilt. Seine ganze Kleidung war leuchtend rot, und auf dem Kopf trug
es eine Art Narrenkappe, die am Kragen mit einer ganzen Anzahl hüpfender Glöckchen
verziert war.
„Scheiße, scheiße, scheiße…“ murmelte der Kleine, als er sich am
Fußende des Sargs aufstellte und die Hände auf die Knie stützte. Klebrige braune
Haarsträhnen hingen an seiner Stirn, er schwitzte heftig und atmete in schnellen
keuchenden Stößen. „Dachte schon… ich wär’… zu
spät… aber ihr Jungs seid ja nicht die Schnellsten, hm?“
Mittlerweile stand er schon wieder aufrecht und blickte - mit einem breiten Grinsen auf
dem unrasierten Gesicht - von einem fast identischen Vermummten zum nächsten.
„Dieser Mann, den wir heute…“ wiederholte sich der Mann am
anderen Ende des Lochs und gab sich Mühe, die Unterbrechung durch den kleinen
Narren zu ignorieren.
„War eigentlich ziemlich komisch, hm?“ unterbrach ihn dieser gleich
wieder. „Ich meine… ihr erinnert euch, hm? Schon ziemlich dämlich, ab
und zu, aber lustig, wenn er wieder mal besoffen war!“
Hände und Uhr verschwanden wieder ganz in der Kutte, als der Sprecher die Arme
sinken ließ und dem Narren einen wütenden Blick zuwarf. Seine knochigen Wangen
hatten sich leicht gerötet, sein Mund war nur noch eine nach unten gekrümmte empörte
Linie.
„Mein Herr!“ sagte er „Mein Herr! Also bitte… Sie sollen
nicht so über die Toten reden!“
„Warum?“ Der Narr lehnte den Kopf zur Seite und begegnete den
Blicken der Trauernden mit großen Augen. „So war’s doch.
Hab’ ihn praktisch nie nüchtern erlebt. Meistens ist er die Straße lang getorkelt,
hat irgendwas gesungen oder Leute angequatscht. Ja, genau so seh’ ich ihn vor
mir!“
„Also wirklich!“ einer der Männer am Rand des Grabes deutete mit
zitterndem Zeigefinger auf den Narren. „Dieser kleine Wicht…!“
„Aber, aber…“ lachte der Kleine „Wartet doch mal. Ich
hab’ da was… Die Polizistin? Erinnert ihr euch nicht, wie er mal nach
einem besonders… fröhlichen Abend und vielleicht ein, zwei Gläschen Schnaps
zu viel - Kam ja öfter vor, hm? - diese Polizistin angemacht hat? Das müsst ihr doch
noch wissen! Hat ihm ’ne Nacht in der Ausnüchterungszelle eingebracht, aber
wir hatten alle unseren Spaß dabei, damals…“
Einen Moment lang nagte der Narr an einem seiner Fingernägel, dann schüttelte er
kichernd den Kopf. „Immer besoffen, immer… Nur bei seinem Tod
nicht.“
Die Trauernden waren ein paar Schritte näher an ihn herangetreten, ein oder zwei von
ihnen hatten die Hände in ihren weiten Ärmeln zu Fäusten geballt.
„Kommt schon, Jungs… Hm? Die ganze Zeit passiert dem Kerl nie
irgendwas, und dann, wenn er einmal in seinem Leben nüchtern ist, fällt ihm ein
verdammter Ziegelstein auf die Stirn, von ’nem beschissenen
Baugerüst!“
Derjenige, der den Narren schon vorher angeschrien hatte, sprang jetzt nach vorne und
griff nach ihm. „Hörst du wohl auf!“
Der Narr machte einen schnellen Schritt zur Seite und wich so den Händen des
Trauernden aus. Der Mann in der Kutte drehte sich zu ihm um, schnaufend und den
Unterkiefer nach vorne geschoben. „Ich werde dich Respekt lehren, hörst
du?“
„Lehren, hm?“ Der Narr lächelte wie ein unschuldiges Kind.
„Kennst du Humor? Slapstick? Da!“ Und damit gab er seinem
überraschten Aggressor einen Stoß, der ihn mit rudernden Armen rückwärts ins Grab
fallen ließ.
„He…!“
Mit einem dumpfen Geräusch landete er in der feuchten Erde, direkt neben dem Sarg.
Kleine braune Bröckchen rieselten ihm über die Kutte und ins Gesicht.
„Scheiße!“ schrie der Vermummte „Du
kleiner…!“
Ein lautes Krachen verschluckte den Rest seines Satzes, als auf einmal das Holz des
Sargdeckels splitterte. Eine blasse Faust, in der mehrere winzige Splitter steckten, ragte
zwischen den Überresten von zwei zertrümmerten Brettern hervor. Ihre Finger streckten
sich kurz, dann begann sie, auf dem Deckel umher zu tasten, bis sie den Verschluss des
Sargs zu fassen bekam...
(...weiter zu Teil 2...)
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