Zur Arbeit - Christoph Martens

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Zur Arbeit - Christoph Martens
UNFEHLBARKEIT
TROTZ
WERTEWANDELS
Ist die Einstellung der Kirche zur Homosexualität noch
zeitgemäß?
Julius-Motteler-Gymnasium
Schuljahr 2013/14
Fach Ethik
Christoph Martens
Klasse 10c
Inhaltsverzeichnis
1. Homosexualität in der heutigen Zeit ................................................................................................... 2
1.1 Wandel im Umgang mit Homosexuellen ...................................................................................... 2
1.2 Das „Outing“ als tiefgreifende Änderung ..................................................................................... 3
1.3 Probleme im Miteinander .............................................................................................................. 4
2. Die Kirche und ihre Vorstellung der Unfehlbarkeit ............................................................................ 6
2.1 Das katholische Unfehlbarkeitsdogma .......................................................................................... 6
2.1.1 Inhalt....................................................................................................................................... 6
2.1.2 Bedeutung bis heute ............................................................................................................... 7
2.2 Sieht sich die protestantische Kirche als unfehlbar? ..................................................................... 8
3. Positionen der Kirche zur Homosexualität ........................................................................................ 10
3.1 Aussagen der Bibel ...................................................................................................................... 10
3.2 Differenzierung zwischen Katholiken und Protestanten ............................................................. 11
3.2.1 Grundsätzliche Positionierung der katholischen Kirche....................................................... 11
3.2.2 Sichtweise der evangelischen Kirchen ................................................................................. 13
3.3 Umgang der Gläubigen mit Homosexualität im Alltag ............................................................... 14
3.3.1 Christliche Homosexuelle .................................................................................................... 14
3.3.2 Bedeutung des Glaubens für die Akzeptanz von Homosexuellen ........................................ 15
4. Perspektiven für ein gemeinsames Miteinander ................................................................................ 17
4.1 Schlussfolgerung: Inwieweit ist die Homosexualität in der Kirche bereits jetzt toleriert? ......... 17
4.2 Papst Franziskus: Ein neuer Hoffnungsträger? ........................................................................... 18
4.3 Ermöglicht die Bibel eine völlige Gleichstellung verschiedener Sexualitäten? .......................... 19
5. Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................................... 21
6. Literatur- und Quellenverzeichnis ..................................................................................................... 22
7. Selbstständigkeitserklärung ............................................................................................................... 23
1
1. Homosexualität in der heutigen Zeit
1.1 Wandel im Umgang mit Homosexuellen
Die Homosexualität ist keineswegs ein Phänomen unserer heutigen, offenen Gesellschaft.
Durch alle Epochen der Geschichte hinweg sind Fälle von gleichgeschlechtlicher Liebe
überliefert. Seit dem Mittelalter wurden Homosexuelle jedoch bewusst ausgegrenzt und ihre
Form der Sexualität unter Strafe gestellt. Darüber hinaus wurde die Homosexualität bekannter
Herrscher und Staatsmänner vertuscht, wie dies beispielsweise im Fall des Bayernkönigs
Ludwig II. der Fall war.
Im Zuge des geistigen Fortschritts, beginnend mit der Aufklärung, suchte man nach Ursachen
für dieses Phänomen. Über Jahrhunderte war die gängige Theorie, dass die Homosexualität eine
geistige Störung sei. Als solche konnte man Homosexuelle weiter bekämpfen, zum Teil durch
heute unsinnig anmutende Therapieversuche, größtenteils aber weiter durch Ausgrenzung. Bis
1969 stand die Homosexualität in Deutschland unter Strafe.
Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung der 1960er/1970er Jahre versuchten nun auch die wegen
ihrer Sexualität ausgegrenzten, verstärkt für ihre Rechte zu kämpfen. Es bildete sich eine
weltweite Schwulenbewegung, die die Streichung ihrer Form der Liebe von der Liste der
psychischen Störungen forderte. Eine in dieser Bewegung gängige Argumentation lautete
sinngemäß: „Wenn […] so über Schwarze gesprochen würde wie über Homosexuelle“1, dann
sei der Sinn der gesamten Bürgerrechtsbewegung in Frage zu stellen, denn mittlerweile waren
in den USA Schwarze gesetzlich gleichgestellt worden.
Seither setzte ein neues, fortschrittliches Denken gegenüber verschiedener Sexualität ein.
Während die biologische Forschung die Ursache in einem Defekt der Geschlechtschromosome
sieht, geht gerade die Ethik noch einen Schritt weiter. Man sieht Homosexualität mittlerweile
als Teil der menschlichen Identität, nicht mehr als bloße Verhaltensstörung an. Über ein
solches, aus ethischer Sicht, unabänderliches Merkmal an sich verbietet sich eine Diskussion.
Eine Diskussion sollte lediglich zu der Frage geführt werden, inwiefern Homosexuelle mit
Heterosexuellen gleichzustellen sind.
Hier hat die Gesellschaft einen großen Fortschritt erzielt. Unter der sozialliberalen Koalition
Willy Brandts wurde die Strafbarkeit der Homosexualität 1969 abgeschafft. Mit den „Outings“
1
(Vonholdt, 2013)
2
prominenter Persönlichkeiten, insbesondere von Politikern wie Klaus Wowereit, Guido
Westerwelle oder Ole von Beust stieg auch die Akzeptanz für homosexuelle Leistungsträger in
unserer pluralistischen Gesellschaft. Während 2002 und 2006 die „Homo-Ehe“ sowie das
Gleichbehandlungsgesetz
beschlossen
wurden,
brauchte
es
zwei
Urteile
des
Bundesverfassungsgerichts von 2013, um eine steuerliche Gleichstellung (Ehegattensplitting)
und eine Gleichstellung im Adoptionsrecht zu schaffen.
1.2 Das „Outing“ als tiefgreifende Änderung
Trotz aller erreichten Fortschritte haben insbesondere Jugendliche noch große Hemmungen
davor, sich als Homosexuell zu „outen“. Einer Befragung der FRA aus dem Jahr 2013 zufolge
hätten 68% der Homo- und Bisexuellen ihre sexuelle Orientierung während der Schulzeit
versteckt. 2
Worin können die Ursachen dafür liegen? Von Kind an wird einem das heile Familienbild von
Vater, Mutter und Kind suggeriert. Auch später, mit Beginn der Pubertät, ist die „erste Liebe“
verständlicherweise meist die zwischen einem Jungen und einem Mädchen. Stellt der
pubertierende Homosexuelle nun inmitten einer schon komplizierten Phase seines Lebens fest,
dass er auf sein Geschlecht orientiert ist, stürzt dies viele in emotionale Schwierigkeiten. Die
Folge ist, dass offensichtlich Homosexuelle eher zu Depressionen neigen, stellen sie doch fest,
dass sie „anders“ sind als Gleichaltrige. Auch ohne die bewusste Ausgrenzung durch andere
fühlen sie sich bereits ausgeschlossen.
Hinzu kommen natürlich gesellschaftliche Begebenheiten, die nicht mal zwingend bewusst
gegen Homosexualität gerichtet sein müssen, es einem Homosexuellen aber durchaus schwerer
machen. Hierzu zählen Beleidigungen unter Heterosexuellen wie „Schwuchtel“ oder „Schwule
Sau“ genauso wie die gerade unter Pubertierenden stark verbreitete Ansicht „Jungs sollen Jungs
sein“, also möglichst männlich und kraftstrotzend.
Natürlich gibt es auch Hindernisse, die bewusst gegen Homosexuelle gerichtet sind. So ist es
erwiesen, dass es Schwule oder Lesben auf dem Land deutlich schwerer haben als in der Stadt.
Das konservative Lebensbild, welches zur Verleugnung der sexuellen Orientierung bis ins
Erwachsenenalter führt, steht hier im krassen Gegensatz zur eher linken oder liberalen
Stadtbevölkerung, welche oftmals offener lebt oder eher Bereitschaft für neue oder andere
2
(Homosexualität in Deutschland, 2013)
3
Formen des Zusammenlebens zeigt. Auch ist in vielen Großstädten eine Schwulenszene bereits
vorhanden, während auf dem Dorf der Homosexuelle mit seiner Lebensweise meist allein
dasteht.
Dieser Unterschied wird auch in Sachen Bildung deutlich. Als bislang einziges Land hat Berlin
das Thema Homosexualität in den Grundschulunterricht aufgenommen. In anderen
Bundesländern, wie hier in Sachsen, wird das Thema gar nicht, zu spät (Vorurteile sind in der
neunten Klasse schon vorhanden) oder unzulänglich im Unterricht behandelt.
Durch das Outing Klaus Wowereits hat sich Berlin noch einmal als am fortschrittlichsten in
Deutschland erwiesen, denn ein Satz hilft mit Sicherheit vielen, gerade pubertierenden
Homosexuellen: „Ich bin schwul und das ist auch gut so!“
1.3 Probleme im Miteinander
Eine von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) auf ihrer Homepage veröffentliche
repräsentative Umfrage ergab, dass etwa die Hälfte der Deutschen Homosexualität in Teilen
negativ gegenüberstehen.3 Stichproben mit psychologischen Verfahren ergaben sogar, dass
unterbewusst eine weit größere Gruppe dazu negativ eingestellt ist, ihre Toleranz also nur unter
gesellschaftlichem Druck zustande kommt.
Hierfür werden von der bpb im Wesentlichen drei Ursachen genannt. Zunächst einmal die
politische Orientierung. Das konservative Lebensbild, verkörpert durch die CDU/CSU, steht
dem freien Lebensideal liberaler und linker Parteien gegenüber. Derzeit gibt es eine in unserer
Gesellschaft wahrnehmbare, beinahe biedere Strömung hin zum Konservativen, da es
Deutschland vergleichsweise sehr gut geht und dieser Wohlstand nach Ansicht vieler durch die
Unionsparteien geschaffen wurde. Auch sind die beiden Schwesterparteien die einzigen, die
sich schwertun, Homosexuelle rechtlich völlig gleich zu stellen. Gesetze wie die Abschaffung
der Strafbarkeit oder die Einführung der „Homo-Ehe“ wurden stets von Koalitionen jenseits
der Union verabschiedet, also SPD-FDP (1969) und SPD-Grüne (2002).
Der zweite, beinahe noch wichtigere Punkt, ist der Kontakt zu Homosexuellen. Generell haben
diejenigen Befragten mehr Verständnis und Toleranz für sexuelle Minderheiten, die diese in
3
(Steffens, 2013)
4
ihrem unmittelbaren Umfeld haben. Ist dies nicht der Fall, wird die Homosexualität nur als
Abweichung von der Normalität aus der Distanz betrachtet und somit kritisch gesehen.
Der letzte Punkt ist die Religiosität. Religiöse Menschen, egal ob Christen oder Muslime,
zeigten sich oftmals weniger tolerant. Worin dies jedoch begründet ist, dem möchte ich in den
folgenden Kapiteln auf den Grund gehen.
5
2. Die Kirche und ihre Vorstellung der Unfehlbarkeit
2.1 Das katholische Unfehlbarkeitsdogma
2.1.1 Inhalt
Inerrantia et Indefectibilitas, Unfehlbarkeit und Irrtumsfreiheit, sind seit jeher Bestandteil des
christlichen Glaubens. Zunächst sah man diese jedoch nur bei Gott und den Evangelien, das
Wort Gottes war Gesetz, er als über allem stehende Institution konnte sich, nach kirchlicher
Ansicht, nicht irren. Diese Denkweise ist in vielen Religionen üblich, braucht man doch ein
festes Fundament, auf welches man sich stützen kann.
Seit dem Mittelalter wurde die Unfehlbarkeit Gottes zunehmend auf die Kirche als Ganzes
übertragen. Da Päpste immer mehr weltliche Machtansprüche erheben, bilden sich
ernstzunehmende Widerstände innerhalb der Kirche, die schließlich im 16. Jahrhundert in der
Reformation gipfelten. Rom als ehemaliges Zentrum des Abendlandes stand nun „in
permanenter Konkurrenz zu Wittenberg und Genf, Zürich und Canterbury.“4 Viele katholische
Kleriker suchten im Gegensatz dazu nach einem festen Punkt, um sich von diesen
protestantischen Strömungen distanzieren zu können. Es wurde innerhalb der katholischen
Kirche als notwendig angesehen, die päpstliche Autorität zu stärken. Zusätzlich änderte sich
die weltliche Gesellschaft im Zuge der Aufklärung. Gerade seit der Französischen Revolution
suchten viele Konservative nach Ordnung und Sittlichkeit. Als letzter Garant wird auch hier der
Papst gesehen.
Dies alles passte ganz in die „Pianische Epoche“, einer Reihe von Päpsten im 19./20.
Jahrhundert, welche sich die Wahrung kirchlicher Traditionen als oberstes Ziel gesetzt hatte.
Papst Pius IX. (1846-1878) kann als durchweg konservativ, sogar reaktionär, bezeichnet
werden. Er kritisierte die „Irrtümer“ der Moderne und polemisierte gegen die Wissenschaft.
Jedoch gab es damals in der katholischen Kirche einen Konflikt zwischen liberalen Katholiken
und eben jenen reaktionären, welche auch als Ultramontane bezeichnet werden. Zur Lösung
dieses Konfliktes berief Papst Pius IX. 1867 das sogenannte 1. Vatikanische Konzil ein.
Was dieses Konzil am 18.07.1871 verabschiedet, ist die Niederschrift dessen, was sich in der
katholischen Kirche seit Jahrhunderten herausgebildet hatte. Es heißt:
4
(Graf, An Gottes Stelle, 2012)
6
„Wenn der Römische Papst in höchster Lehrgewalt (ex cathedra) spricht, […] eine Lehre über
Glauben oder Sitten sei von der ganzen Kirche festzuhalten, so genießt er Kraft des göttlichen
Beistandes […] jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei endgültigen
Entscheidungen in Glaubens- und Sittenlehre ausgerüstet haben wollte.“5
Der Papst ist also unfehlbar und er allein besitzt diese Irrtumsfreiheit. Wer sie nicht anerkenne,
so heißt es weiter, sei exkommuniziert.
2.1.2 Bedeutung bis heute
Mit seiner Unfehlbarkeit darf der Vatikan nun bindende Entscheidungen treffen, welche auch
die Sitten, also die Lebensführung betreffen. Ein gläubiger Katholik muss sich nicht mehr
seinem Glauben, sondern einer einzigen Person in Glaubens- und Sittenfragen unterordnen.
Durch diese Bevormundung besitzen die Stellvertreter Gottes ein ungeheuerliches
Machtpotential gegenüber allen Katholiken, denn als gläubiger Mensch möchte man schließlich
nicht aus der Kirche ausgeschlossen werden.
Die Glaubensfreiheit des Einzelnen wird abgelehnt zugunsten der päpstlichen Autorität, der
Gläubige darf Gott nicht auf seine Weise näherkommen, sondern nur durch den Weg, den Rom
vorgibt. Insofern lässt sich von einer Untergrabung der Würde des einzelnen Gläubigen
sprechen.
Was aber noch unglaublicher erscheint, ist die Begründung der päpstlichen Unfehlbarkeit: Sie
kommt nicht etwa daher, dass die Kirche selbst unfehlbar sei, sondern sie wird mit dem
Amtscharisma des Papstes begründet. Nicht der Glaube steht von nun an an erster Stelle,
sondern der Papst, dem man bedingungslos zu folgen hat. Inwieweit dies noch im Sinne des
ursprünglichen Christentums ist, darf bezweifelt werden.
Ganz abgesehen davon ist dieses Dogma natürlich wider der menschlichen Vernunft. Hatten
die Aufklärer doch in den Jahrhunderten zuvor erwiesen, dass niemand unfehlbar sei, dass der
Mensch eigenständig handeln solle (Kant: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu
bedienen!), verschließt sich die katholischen Kirche diesem Wandel.
5
(Graf, An Gottes Stelle, 2012)
7
Der 1988 verstorbene Kardinal Hans Urs von Balthasar spricht daher in Bezug auf das 1.
Vatikanische Konzil davon, dass es für die katholische Kirche eine „ausweglose Sackgasse“6
gewesen sei. Denn diese hat sich endgültig als Gegeninstanz zu den Werten der Aufklärung
profiliert, welche in der menschlichen Vernunft begründet sind. Damit hat man sich den Weg
zu jedem Fortschritt zunächst einmal verbaut.
2.2 Sieht sich die protestantische Kirche als unfehlbar?
Der Protestantismus ist ein nur schwer einzugrenzender Begriff für eine Reihe kirchlicher
Strömungen, die sich in der Reformationszeit (16. Jahrhundert) aus unterschiedlichen Gründen
gegen die katholische Übermacht gewandt haben. Seit dem 17./18. Jahrhundert gibt es ein
Bestreben, „den“ Protestantismus, das heißt „den“ protestantischen Glauben, zu finden. Eine
Definition einer protestantischen Identität ist also vonnöten. Doch dieses Zusammenwachsen
einzelner Glaubensrichtungen ist nicht zwingend durch Toleranz und Akzeptanz erreichbar,
behaupten zumindest einzelne Protestanten. Der 1926 – 1984 lebende französische Philosoph
Michel Foucault spricht sogar davon, dass sich ein protestantisches Gemeinschaftsbewusstsein
nur durch „immer neu zu vollziehende Ausschließungsprozeduren stabilisieren“7 kann. Im 19.
Jahrhundert aufkommende Judenkritik sowie der vom protestantischen Preußen zeitweise
betriebene Kulturkampf sind Belege dafür, dass genau dieses Denken schon in den
Jahrhunderten zuvor wichtig für das Gemeinschaftsbewusstsein waren.
Doch das Wesen des Protestantismus ist deutlich weitreichender und der von Goethe geprägte
Begriff der „Weltfrömmigkeit“ beschreibt es treffend. Die ideale Lebensführung liegt im
religiösen Verpflichtungscharakter des Einzelnen. Im Unterschied zum Katholizismus gibt es
keine Institution, die das Leben eines Gläubigen bis in alle Einzelheiten bestimmen will,
vielmehr ist die Frömigkeit des Protestanten selbst gefragt. Er ist befreit von kirchlicher
Fremdbestimmung und verpflichtet sich selbst zu einem religiösen Leben, frei nach seiner
Interpretation dieses Begriffs. So ist für den Protestantimus entscheidend, die Unterschiede
zwischen Klerikern und Gläubigen aufzuheben, ein „Priestertum aller Gläubigen“8 zu schaffen.
Die Folge sind eine aktive Weltgestaltung und Beteiligung des Einzelnen, der Protestant ist
deutlich leistungs- und aufstiegsorientierter als andere Gläubige, allen voran die Katholiken.
6
(Denzler, 1997)
(Graf, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart., 2006)
8
(Graf, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart., 2006)
7
8
Ein Beleg hierfür ist die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Englische Pilger,
Puritaner (also „Protestanten“), kamen im 17. Jahrhundert auf den neu entdeckten Kontinent,
um hier frei zu leben. Ihr Glaube gab ihnen eine solch große Motivation, dass sie bald den
halben Kontinent bis zur Westküste hin besiedelt und sich vom Vereinigten Königreich
abgespalten hatten. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts, also keine dreihundert Jahre nach der
ersten Besiedlung, waren die USA das wirtschaftsstärkste Land der Welt.
Auch anhand dieses Beispiels lässt sich schlussfolgern, dass sich der protestantische Glaube
nicht für unfehlbar hält. Vielmehr darf der Einzelne ihn nach seiner Frömmigkeit interpretieren
und sein Leben selbst gestalten. Der gläubige Protestant ist deshalb geprägt von starker
Selbstdisziplinierung und einem Bewusstsein für seine Verantwortung. Dies alles ist die
Ursache dafür, dass sich der Protestantismus, im Unterschied zum Katholizismus, nie von
vornherein einem gesellschaftlichen Wandel verschließt und immer wieder offen für
Veränderungen ist.
9
3. Positionen der Kirche zur Homosexualität
3.1 Aussagen der Bibel
Wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln erwähnt, geben viele Christen als Grund für ihre
Abneigung gegen Homosexuelle ihren Glauben an. Das natürliche, von Gott erschaffene Bild
sei Mann und Frau, alles andere komme nicht in Frage. Doch welche konkreten Belege gibt es
hierfür in der Bibel? Schreibt die Bibel eine heterosexuelle Beziehung vor?
Bei der Interpretation dieser muss berücksichtigt werden, dass die Bibel vor mindestens
zweitausend Jahren geschrieben wurde. Das Werteverständnis war ein komplett anderes.
Jedoch gab es in der damaligen römischen Gesellschaft die Praxis der sogenannten
Knabenliebe. Die freien männlichen Einwohner der römischen Provinzen konnten hierbei den
sexuellen Verkehr mit Sklavenjungen, sogenannten Lustknaben, ausüben, wenn sie dabei den
aktiveren Teil des homosexuellen Aktes übernahmen.
Die neu aufkommende, im Judentum ihren Ursprung habende, monotheistische Religion um
Jesus Christus verurteilt die Praxis der Knabenliebe. Im Römerbrief heißt es dazu: „Männer
trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung.“
(Röm 1,25-27)9. Bei genauerer Betrachtung dieser Verszeilen fällt jedoch auf, dass die
Homosexualität hierbei eine Folge der Ungläubigkeit und Blasphemie ist, nicht jedoch ein
Beleg für selbige. Wer also nicht fromm an Gott glaube, sei zur Strafe homosexuell.
Dass dies jedoch eine harte Strafe sei, beweist der Korintherbrief: „Weder Unzüchtige noch
Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch
Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber weder das Reich Gottes erben.“ (1 Kor
6,9).10
Die Knabenliebe wird darin also gleichgestellt mit kriminellen Akten und dementsprechend
verurteilt.
In den Evangelien wird die Homosexualität kaum erwähnt. Dies bietet idealen Spielraum für
Interpretationen, sowohl der liberaleren Christen, aber auch der konservativeren. So
argumentiert die liberale Seite, dass die Nicht-Erwähnung die Irrelevanz der Homosexualität
9
(Homosexualität im Neuen Testament, 2013)
(Homosexualität im Neuen Testament, 2013)
10
10
belegt. Zwar ist diese Form der Liebe und Zuneigung nicht ideal, aber eben auch nicht
heilsrelevant. Im heutigen Sprachgebrauch kann man wohl von einer „Grauzone“ sprechen. Die
heterosexuelle Ehe werde zwar gelobt und über alles gestellt, deshalb sei aber das Gegenteil
nicht zwingend schlecht, man lehnt also die automatische Negierung ab.
Genau entgegengesetzt argumentieren jetzt die Konservativen. Die Heterosexualität sei
wertvoll, und dies impliziere eine Ablehnung der Homosexualität. Außerdem sei diese
Ablehnung schon damals so selbstverständlich gewesen, dass die Verfasser der Evangelien und
letztlich auch Jesus selbst keinerlei Anlass gehabt hätten, sich damit zu beschäftigen.
Eine Differenzierung zwischen Altem und Neuem Testament ist dennoch möglich. Während
nämlich das Alte Testament die Homosexualität als Verunreinigung eines Menschen ansieht,
wird das Gefühl der Homosexualität im Neuen Testament tief im Inneren des Menschen,
vielleicht sogar im Herzen, lokalisiert. Dies ist insoweit eine Radikalisierung, als dass aus dem
Herzen andere, „böse“ Gefühle kommen wie Mord, Habgier, Diebstahl oder Unzucht.
Die homosexuelle Praxis widerspricht also letztlich dem Willen Gottes. Doch ein wesentlicher
Punkt wird an dieser Stelle meist vergessen: Das Liebesgebot Gottes gilt ausnahmslos und
umfassend, es schließt also die homosexuelle Liebe an sich nicht aus, denn eine
Liebesbeziehung wird in der Bibel nie thematisiert, es geht nur um „Handlungen“. Während
die Bibel also den gleichgeschlechtlich sexuellen Kontakt ablehnt, schließt sie eine
verantwortungsvolle, aufopfernde Beziehung zweier Männer oder zweier Frauen, die einander
zugeneigt sind, nicht aus.
3.2 Differenzierung zwischen Katholiken und Protestanten
3.2.1 Grundsätzliche Positionierung der katholischen Kirche
Die Haltung vieler katholischer Würdenträger gegenüber der Homosexualität basiert auf der
Ansicht, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen veränderbar sei. Als Grundlage hierfür
werden empirische Forschungen aus längst vergangenen Tagen angeführt, beispielsweise die
des Anthropologen Joseph D. Unwin (1895 – 1936). Man argumentiert, dass diese und andere
Studien nie widerlegt wurden und so Psychotherapeuten Homosexualität „heilen“ könnten. Die
11
seit 1973 von Forschern abgelehnte Aufführung der Homosexualität auf der Liste emotionaler
Störungen ist für die katholische Kirche weiterhin Tatsache.
Darauf baut ein Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre von 1986 auf, welches
wesentliche Positionen der katholischen Kirche darlegt. So heißt es unter Punkt 7: „Deshalb
handelt eine Person, die sich homosexuell verhält, unmoralisch.“11 Diese ja durchaus noch
diskussionswürdige These wird ergänzt und erweitert durch zahlreiche Anschuldigungen und
Unterstellungen gegenüber Homosexuellen. So seien diese von Selbstgefälligkeit geprägt und
stünden der schöpferischen Weisheit Gottes entgegen. Jedoch wird in keiner einzigen Zeile
erwähnt, warum ein Homosexueller pauschal als selbstgefällig bezeichnet wird. Die katholische
Kirche beansprucht zudem in diesem Schreiben, die „Wahrheit über die menschliche Person“12
zu kennen, indem sie nämlich behauptet, Homosexuelle laufen dieser zuwider. Aus ethischer
Sicht ist es mehr als fragwürdig, ob es überhaupt „die“ Wahrheit über „die“ menschliche Person
gibt.
Nun muss natürlich beachtet werden, dass seit 1986 eine Veränderung in unserer Gesellschaft
dahingehend stattgefunden hat, dass Homosexualität mehr als toleriert, eher schon integriert
wird (vgl.: 1.1 Wandel im Umgang mit Homosexuellen). Hat die katholische Kirche sich
diesem vollständig verschlossen? Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man neuere Quellen
heranzieht. Bereits im oben genannten Schreiben von 1986 heißt es, ein Dialogversuch sei der
„Versuch der Manipulation der Kirche“13. Das unbegründete, sture Beharren auf uralten
Dogmen wird in aktuelleren Äußerungen aufgegriffen und erweitert. So rät das Portal zur
katholischen Geisteswelt auf seiner Webseite, die „klare Position […] weder durch den Druck
staatlicher Gesetzgebung noch durch den gegenwärtigen Trend“14 aufzugeben. Man spricht sich
also im Zweifelsfall gegen die alleinige Gesetzgebungsbefugnis eines Staates aus, wenn dieser
beispielsweise Homo-Ehen legalisiert. In einer Verlautbarung der Glaubenskongregation von
2003 wird der katholische Parlamentarier dazu aufgerufen, jeglichen Gesetzentwurf „zu
Gunsten der rechtlichen Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften“15 abzulehnen.
Die katholische Kirche stellt sich also in jeglicher Hinsicht stur. Besonders haarsträubend
erscheint dem objektiven Leser eine Formulierung, die aus dem Jahr 2009 stammt. Hierbei
werden Schulen als „eine letzte heterosexuelle Bastion“16 bezeichnet. Die Aufklärung zum
11-16
(Die Haltung der Kirche zur Homosexualität, 2013)
12
Thema in der Schule wird von katholischer Seite demnach befürwortet, aber eben die
Aufklärung aus einem anti-homosexuellen, fast homophoben Blickwinkel. Diese, wenngleich
extremen, Äußerungen verdeutlichen, dass hier beinahe jedes Mittel im Kampf gegen die
Homosexualität recht ist.
Der Gipfel des Ganzen ist der Kommentar des Weihbischofs Andreas Laun aus dem Mai 2009.
Er spricht vom Kampf um die Freiheit, wobei er die Freiheit für seine Seite beansprucht. Denn
frei ist aus katholischer Sicht nicht, wer homosexuell ist, sondern derjenige, der von seiner
Homosexualität „geheilt“, quasi „befreit“ ist. Widerspruch gegen die gewagte Behauptung, dass
die sexuelle Orientierung geändert werden kann, duldet Laun nicht. Denn seine Widersacher
wenden seiner Meinung nach „Methoden von Talibans“17 an. Auch diese These begründet Laun
nicht, weshalb seine Äußerungen als undurchdachte Polemik eingeordnet werden können, die
einen Dialog innerhalb der katholischen Kirche beinahe unmöglich macht. Doch ob diese
überhaupt daran interessiert ist, darf begründeterweise bezweifelt werden.
3.2.2 Sichtweise der evangelischen Kirchen
In den evangelischen Kirchen hat im Gegensatz zur katholischen Kirche seit Beginn der 1990er
Jahre ein Umdenken stattgefunden. Die Diskussion zum Thema Homosexualität ist im vollen
Gange, es treten unterschiedliche Interpretationen der Bibel auf, die zwischen der Einordnung
als Sünde und der absoluten Gleichrangigkeit mit der heterosexuellen Ehe schwanken.
Im Jahr 1996 gab der Rat der EKD die Schrift „Mit Spannungen leben“ heraus, die ein erstes
Umdenken dokumentiert. Darin wird dazu aufgerufen, biblische Aussagen zum Thema (Homo) Sexualität noch einmal gründlich zu prüfen und die gleichgeschlechtliche Liebe nicht von
vornherein zu verurteilen. Desweiteren empfiehlt die Schrift, „Spannungen nicht zu beseitigen,
sondern auszuhalten“18. Gott sei barmherzig, auch gegenüber homosexuell veranlagten, und so
sei Gottes Geleit und Beistand auch denjenigen Menschen garantiert, die sich nicht nach
katholischer Lehre „heilen“ lassen wollen, sondern ihre Homosexualität offen leben. Jedoch
wird zu diesem Zeitpunkt die seelische Begleitung sowie die Segnung von geistlichen
Würdenträgern für Homosexuelle in der Öffentlichkeit, also vor allem bei öffentlichen
Gottesdiensten, ausgeschlossen. Die Homosexualität wird also toleriert, aber vor einem
offenem Umgang scheut die evangelische Kirche.
17
18
(Die Haltung der Kirche zur Homosexualität, 2013)
(Homosexualität und Kirche, 2013)
13
Diese Position wird in dem Papier „Verlässlichkeit und Verantwortung“ aus dem Jahr 2000
unterstrichen. Eine verantwortungsvolle homosexuelle Beziehung wird befürwortet und soll
unterstützt werden, da „die Lebensform der [klassischen] Ehe nicht gewählt werden kann“19.
Diese Stärkung dürfe jedoch nicht auf Kosten der rechtlichen Stellung der Ehe geschehen. Zwar
soll eine ethisch/moralisch und eine rechtlich/materielle Gleichstellung, wie etwa im Mietrecht,
der bald darauf eingeführten eingetragenen Lebenspartnerschaft geschaffen werden, dagegen
solle trotzdem keine Verwechselbarkeit mit der Ehe zwischen Mann und Frau entstehen.
Die Diskussion innerhalb der evangelischen Kirchen ist damit keinesfalls abgeschlossen. Noch
im Jahr 2002 sprach man sich für die geistliche Begleitung von Homosexuellen, zumindest im
„geschützten“, also intimen, Raum aus. Daraufhin erklärten vier Gliedkirchen, unter anderem
die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, dass sie diese Begleitung auch im offenen
Raum, also während der Gottesdienste, durchführen wollen. Bis heute hat sich das Bild noch
mehr gewandelt: Sogar die Segnung von Homosexuellen wird von neun Gliedkirchen öffentlich
durchgeführt, immerhin fünf, darunter die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsen,
führen die Segnung im geschützten Raum durch.
Eine kontroverse Diskussion findet zum Thema Adoptionsrecht von Homosexuellen statt. Zwar
befürwortet die evangelische Kirche im Einzelfall die Stiefkindadoption eines homosexuellen,
eingetragenen Lebenspartners, doch einer grundsätzlichen Öffnung des Adoptionsrechts steht
man noch kritisch gegenüber. Man befürchtet, dass Homosexuelle über diese Stiefkindadoption
auch Gemeinschaftsadoptionen durchführen können, und so das klassische Bild „Mutter-VaterKind“ faktisch nicht mehr existiere. So sprach man sich gegen das Adoptionsrecht für
Homosexuelle aus. Das Bundesverfassungsgericht entschied jedoch, dass das allgemeine
Adoptionsrecht auch für eingetragene Lebenspartnerschaften gälte.
3.3 Umgang der Gläubigen mit Homosexualität im Alltag
3.3.1 Christliche Homosexuelle
Als in den letzten Jahren die Diskussion um die Position der Kirche zur Homosexualität
zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit geriet, wurden immer wieder Einzelfälle von
19
(Homosexualität und Kirche, 2013)
14
Christen, die sich offen zu ihrer sexuellen Orientierung bekannten, einbezogen. Die Kirche,
egal welche, bemühte sich in diesen Einzelfällen immer um Zurückhaltung.
Fakt ist jedoch: Es gibt trotz der teilweise kritischen Positionierung der Kirchenobersten
durchaus homosexuelle Christen, und die jeweiligen Kirchen vor Ort stehen im Zweifelsfall
ihren Gläubigen zur Seite, egal ob sie katholisch oder evangelisch, egal ob sie heterosexuell
oder eben homosexuell sind. Und auch die Missbrauchsfälle in katholischen Internaten zeigen,
dass Homosexualität unter geistlichen durchaus keine Einzelfälle sind, wenngleich diese
Missbrauchsfälle kein Musterbeispiel für christliche Homosexuelle sein sollen.
Der Pfarrer Donald Cozzens geht sogar davon aus, dass die Quote an Homosexuellen in der
katholischen Kirche über dem Durchschnitt liegt. Dies mag vielleicht auch am Zölibat der
katholischen Würdenträger liegen, die ja ein Leben lang den Frauen entsagen.
Zudem bildeten sich eigene Kirchen für Homosexuelle. Ein Beispiel hierfür ist Metropolitan
Community Church, die Troy Perry 1968 in Los Angeles gründete. Hier wird die gesamte
Sexualmoral der bisherigen Kirchen angeprangert, egal ob Monogamie, Heterosexualität oder
die Ablehnung von Abtreibung und Verhütung. Dies zeigt, dass viele Homosexuelle weiterhin
gläubig sind und eben nicht, wie die katholische Kirche behauptet, ungläubig. Auch in
Deutschland bildeten sich Verbände christlicher Homosexueller, die offen auf dem
Christopher-Street-Day auftreten und sich für AIDS-Prävention einsetzen. Mittlerweile hat sich
ein pluralistisches Bild herausgebildet, unabhängig von Sexualität und Religiösität.
3.3.2 Bedeutung des Glaubens für die Akzeptanz von Homosexuellen
Die Feststellung, dass viele Gläubige anders als „ihre“ Kirche denken, wurde im Juni 2013
besonders deutlich. Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider hatte damals das Abrücken
von der Ansicht, dass die heterosexuelle Ehe die alleinige Norm sei, gefordert. Viele Gläubige
waren damals irritiert, hatte doch bis dahin die Kirche, wenn überhaupt, nur kleine, unbeholfene
Schritte zur Integration Homosexueller getan. Die katholische Kirche überhaupt war entzürnt.
Im Dezember 2013 veröffentlichte der Bund der Deutschen Katholischen Jugend das Ergebnis
einer Umfrage unter 10.000 katholischen Jugendlichen, wonach die Sexualmoral ihrer Kirche,
also die Ablehnung der Homosexualität, für sie unverständlich sei und daher für 90 % keine
Rolle spiele.
15
Egal ob sich die Kirche abrupt öffnet oder dogmatisch verschließt – Die Gläubigen sind verwirrt
und nehmen sich die Sexuallehre ihrer Kirche immer seltener an. Predigen die Kirchen also an
ihren Anhängern vorbei?
Bei meinen Recherchen sprach ich mit einigen gläubigen Jugendlichen, zwei evangelischen
und einem katholischen. Alle drei versuchten mich unabhängig voneinander davon zu
überzeugen, dass sie die Argumentation ihrer Kirche zwar teilweise nachvollziehen können,
beim Thema Homosexualität haben sie sich jedoch jeder eine eigene Meinung gebildet. Diese
ist teilweise ähnlich der ihrer eigenen Kirche, zum Großteil jedoch offener und toleranter.
Viele Gläubige nehmen die Lebenswirklichkeit, nämlich dass sich die Gesellschaft den
Homosexuellen immer mehr öffnet, wahr, und stellen sich nicht grundsätzlich dagegen. Sie
urteilen über Menschen nicht nach ihrer Sexualität, sondern nach ihrem Verhalten. Was die
Kirche vorgibt, ist für viele, besonders Katholiken, beim Thema Homosexualität nebensächlich
geworden.
16
4. Perspektiven für ein gemeinsames Miteinander
4.1 Schlussfolgerung: Inwieweit ist die Homosexualität in der Kirche
bereits jetzt toleriert?
Beim Lesen verschiedenster Stellungnahmen zum Thema Homosexualität und Kirche wird
deutlich, dass die Aussage, die Kirche stünde dem Thema absolut offen und tolerant gegenüber,
ebenso falsch ist wie die Aussage, jeder Christ sei homophob. Vielmehr hat zwischen diesen
beiden Extremen eine komplexe und zum Teil widersprüchliche Positionierung stattgefunden,
die bei weitem noch nicht abgeschlossen ist.
Zum einen ist zu differenzieren zwischen katholischer Kirche und protestantischer, hierbei noch
einmal zwischen evangelischer Kirche und Freikirchen, da letztere zum Teil eine distanziertere,
zum Teil eine tolerantere Einstellung zur Homosexualität haben. Zusammenfassend lässt sich
hierzu sagen, dass die evangelische Kirche in ihrem Öffnungsprozess gegenüber der
Homosexualität derzeit weiter fortgeschritten ist als die katholische Kirche; in einzelne Aspekte
des kirchlichen Lebens konnte sich die Homosexualität vollkommen integrieren. Die
katholische Kirche dagegen tut sich weiterhin schwer, Homosexuelle als solche zu akzeptieren
und sie bei ihrer Suche nach dem persönlichen Glück zu begleiten.
Eine zweite Differenzierung verkompliziert jetzt allerdings dieses Bild von Homosexualität und
Kirche und fördert ein zutiefst widersprüchliches Meinungsbild zutage. Denn es gibt
nachweislich eine große Distanz, vor allem in Fragen der Sexualethik, zwischen der Kirche als
Institution und ihren Gläubigen. Die evangelische Kirche hat hiermit weniger zu kämpfen, da
ihre offene Einstellung einen großen Spielraum für persönliche Meinungen bietet - vom quasi
Homophoben bis zum Homosexuellen wird größtenteils niemand verurteilt. Die katholische
Kirche hat dagegen damit ein riesiges Problem: Denn gerade sie erhob ja nachweislich in der
Geschichte (vgl. 2.1 Das katholische Unfehlbarkeitsdogma von 1870) den Anspruch, in
höchster Lehrgewalt zu sprechen, quasi unfehlbar zu sein. Jetzt ist es aber gerade die
katholische Kirche, der die jugendlichen Gläubigen in ihrer Sexuallehre widersprechen.
Im Prozess der Öffnung der Kirche hin zur Homosexualität ist eines deutlich geworden: Die
Ablehnung von Homosexualität mag im Glauben begründet sein, nicht jedoch in dem, was die
Kirche vorgibt. Vielmehr ist die Zurückhaltung gegenüber Homosexuellen ein Problem der
gesamten Gesellschaft – und wer offen gegenüber Homosexualität sein möchte, kann dies auch
als Christ.
17
4.2 Papst Franziskus: Ein neuer Hoffnungsträger?
„Diese Kirche […] ist das Haus aller.“20
„Ich träume von einer Kirche als Mutter und als Hirtin.“21
Papst Franziskus verkündet seit seinem Amtsantritt 2013 eine neue Auffassung von der Rolle
der Kirche in einer immer turbulenteren Gesellschaft. Seine Ansichten tat er zu einem Großteil
in einem Interview mit der christlichen Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ im September 2013
kund. Er betrachte, so in dem Interview, die Kirche als „Feldlazarett nach einer Schlacht“22.
Gemeint ist wohl, dass die Hauptaufgabe der katholischen Kirche längst nicht mehr die Vorgabe
von Dogmen zum „richtigen“ Leben ist, sondern vielmehr die Seelsorge. Desweiteren
widerspricht er klar dem Unfehlbarkeitsdogma von 1871 (vgl. 2.1), indem er von der
Unfehlbarkeit der Gläubigen im Ganzen spricht. Dieser Denkansatz ist interessant: Franziskus
meint also, anders als die meisten seiner Amtsvorgänger, dass die Unfehlbarkeit der Kirche nur
deshalb besteht, weil viele Menschen gemeinsam nach dem Rechten Weg suchen. Er hält es
demzufolge für fatal, die Irrtumsfreiheit bei einem kleinen Kreis an Klerikern oder gar bei nur
einer Person, nämlich sich selbst, zu sehen.
Mit seiner offenen, barmherzigen Auffassung gibt er wohl auch neuen Spielraum, um über die
Haltung der katholischen Kirche bezüglich der Homosexualität nachzudenken. In dem selben
Interview bezeichnet er homosexuelle Personen, die in der Vergangenheit Halt in der Kirche
gesucht haben und abgewiesen wurden, als „sozial verwundet“23. Keine Rede ist seitens
Franziskus von einer Krankheit oder der Möglichkeit der Therapie, vielmehr sollte sich die
katholische Kirche um solche Halt-Suchende kümmern, denn „wenn eine homosexuelle Person
guten Willen hat und Gott sucht, dann bin ich keiner, der sie verurteilt“24. Letztendlich werde
nur Gott richten, und Gott habe alle Menschen in der Schöpfung frei gemacht. Er richte in erster
Linie über die Person, nicht über dessen sexuelle Veranlagung. Die Kirche habe im Diesseits
lediglich die Aufgabe, mit Barmherzigkeit zu begleiten.
Die Frage, ob ein Christ seine Sexualität jedoch offen ausleben darf und trotzdem mit dem
Suchen nach Gott fromm ist, lässt Franziskus, vielleicht bewusst, unbeantwortet. Er spricht
nicht vom Ausleben der Homosexualität, sondern vielmehr von der Veranlagung. Zudem betont
20-24
(Das Interview mit Papst Franziskus, 2014)
18
er auch, dass die katholische Kirche nicht nur über aktuelle Fragen der Sexualethik wie
Verhütung, Abtreibung oder eben Homosexualität diskutieren sollte – man müsse ja nicht
endlos davon sprechen.
Trotzdem sind die Positionierungen von Papst Franziskus, gemessen an den Maßstäben
katholischer Wandlungsprozesse, revolutionär. Sein Credo lautet: „Wir müssen also ein neues
Gleichgewicht finden, sonst fällt auch das moralische Gebäude der Kirche wie ein Kartenhaus
zusammen“.25
4.3 Ermöglicht die Bibel eine völlige Gleichstellung verschiedener
Sexualitäten?
Für die Beantwortung der Frage, inwieweit die Homosexualität zur christlichen Weltansicht
passt, ist für die meisten Gläubigen die Aussage der Bibel wohl von größerer Bedeutung als die
Dogmen ihrer Kirche. Daher soll zuletzt noch einmal geklärt werden, ob die Bibel überhaupt
die Toleranz und Integration von Homosexuellen in die Gesellschaft erlaubt.
Zunächst einmal lässt sich feststellen: Völlig gleich ist der Bibel die homosexuelle und die
heterosexuelle Beziehung nicht. Es wird eindeutig die Ehe von Mann und Frau befürwortet und
als etwas Heiliges unter dem Schutz Gottes deklariert. Die heterosexuelle Ehe sorgt für
Nachkommen und wird als die natürliche Lebensweise angesehen. Das Leitbild der Kirche ist
also durchaus die Liebe und Ehe zwischen Mann und Frau, welche von Gott füreinander
geschaffen wurden.
Doch die oft angeführte Tatsache, die Bibel spreche sich ausdrücklich gegen Homosexualität
aus, wird nirgendwo direkt formuliert. Zwar sprechen sich einzelne Passagen gegen den
homosexuellen Verkehr, also gegen gleichgeschlechtlichen Sex aus, doch schließlich verneint
die Bibel genauso den außerehelichen, heterosexuellen Geschlechtsverkehr.
Gerade bei letzterem nehmen es viele Christen heutzutage auch nicht mehr wirklich ernst – und
das ist auch gut so. Denn eine Religion tut gut daran, in gewissem Maße mit der Zeit zu gehen.
Und ist es nicht gerade die Bibel, die von ihren Anhängern verlangt: „Liebe deinen Nächsten
wie dich selbst!“?
25
(Das Interview mit Papst Franziskus, 2014)
19
Dieses Liebesgebot, die Nächstenliebe, ist ja quasi das Fundament des Christentums. Für Laien,
und sicher auch für viele Gläubige ist es unverständlich, warum es für Menschen anderer
Sexualitäten nicht gelten sollte. Niemand verlangt von der Kirche, die Homosexualität auf eine
Ebene zu stellen mit der Heterosexualität. Das einzige, worum es geht, und was auch dem
Wandel der Gesellschaft entspricht, ist, dass die Kirche ihren jahrhundertelangen Kampf gegen
Menschen mit einer anderen Sexualität aufgibt und sie als solche akzeptiert, wie sie geboren
wurden. Die These, wonach sich ein Mensch seine Sexualität quasi „heraussuchen“ kann, ist
längst widerlegt. Sexualität ist angeboren. Und jeder, egal ob Homosexueller, Transsexueller,
Heterosexueller oder welche Orientierung auch immer, hat Nächstenliebe verdient – von
Christen genauso wie von Nicht-Christen. Die jahrhundertelang gepredigte Unfehlbarkeit der
Kirche, es gibt sie nicht, insbesondere dann nicht, wenn sich die Werte einer Gesellschaft
wandeln, hin zu Toleranz und Selbstbestimmung.
20
5. Abkürzungsverzeichnis
bpb
Bundeszentrale für politische Bildung
CDU/CSU
Christlich-Demokratische Union / Christlich-Soziale Union
EKD
Evangelische Kirche in Deutschland
FDP
Freie Demokratische Partei
FRA
Agentur der Europäischen Union für Grundrechte
Kor
Korintherbrief
Röm
Römerbrief
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
vgl
Vergleiche
21
6. Literatur- und Quellenverzeichnis
Das Interview mit Papst Franziskus. (18. Januar 2014). Von http://www.stimmen-derzeit.de/zeitschrift/online_exklusiv/details_html?k_beitrag=3906412 abgerufen
Denzler, G. (1997). Das Papsttum. Geschichte und Gegenwart. München: Verlag C.H.Beck.
Die biblischen Aussagen zu Sexualität und Homosexualität. (20. November 2013). Von
http://www.ekd.de/familie/spannungen_1996_2.html abgerufen
Die Haltung der Kirche zur Homosexualität. (22. Dezember 2013). Von Das Portal zur katholischen
Geisteswelt: http://www.kath-info.de/homo.html abgerufen
EKD-Chef verteidigt Familienbild […]. (27. Dezember 2013). Von Der Stern:
http://www.stern.de/panorama/synode-der-evangelischen-kirche-ekd-chef-verteidigtfamilienbild-und-staatliche-zahlungen-2070302.html abgerufen
Finger, A. (27. Dezember 2013). Homosexualität/en und Religion/en. Von
http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/homosexualitaet/38892/homosexualitaet-und-religionen?p=all abgerufen
Graf, F. (2006). Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart. München: Verlag C.H.Beck.
Graf, F. (31. Juli 2012). An Gottes Stelle. Spiegel Geschichte, S. 108-111.
Homosexualität im Neuen Testament. (20. November 2013). Von
http://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t_im_Neuen_Testament abgerufen
Homosexualität in Deutschland. (27. Oktober 2013). Von
http://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t_in_Deutschland#Gesellschaftliche_Situ
ation abgerufen
Homosexualität und Kirche. (27. Dezember 2013). Von Evangelische Kirche in Deutschland:
http://www.ekd.de/homosexualitaet/einfuehrung.html abgerufen
Katholische Sexualmoral interessiert Jugendliche nicht. (27. Dezember 2013). Von Der Stern:
http://www.stern.de/news2/aktuell/katholische-sexualmoral-interessiert-jugendlichen-nicht2078398.html abgerufen
Steffens, M. (27. Oktober 2013). Diskriminierung von Homo- und Bisexuellen. Von
http://www.bpb.de/apuz/32828/diskriminierung-von-homo-und-bisexuellen abgerufen
Vonholdt, C. (27. Oktober 2013). Homosexualität verstehen. Von
http://www.dijg.de/homosexualitaet/verstehen-biblisches-verstaendnis-mann abgerufen
Warnecke, T. (27. Oktober 2013). Wie geht es Homosexuellen in Deutschland? Von
http://www.tagesspiegel.de/politik/diskriminierung-wie-geht-es-homosexuellen-indeutschland/4324214.html abgerufen
Die Datumsangaben bei Internetadressen entsprechen dem Datum der Entnahme.
22
7. Selbstständigkeitserklärung
Ich erkläre, dass ich die Facharbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis
angeführten Quellen und Hilfsmittel genutzt habe.
…………………………………….
……………………………….............
(Ort und Datum)
(Unterschrift)
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