Leseprobe - Delius Klasing
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Leseprobe - Delius Klasing
Lasse Johannsen Tatjana Pokorny Ulrike Schreiber 125 Segel sport Jahre in Deutschland Delius Klasing Verlag 6 125 Jahre Deutscher Segler-Verband … und in 50 Jahren? 8 Die Stunde null: Momentaufnahmen aus der Gründungszeit • Es begann in einer Bretterbude: Zwölf Vereine gründen den DSV • Verein, was heißt das eigentlich? (von Rolf Bähr) • Konkurrenz für den DSV: Segler organisieren sich auch anderweitig • Die Klassikerszene heute: Renaissance und Rennerei (von Wilfried Horns) 28 Segeln vor der Haustür: die deutschen Reviere • Segelatlas Deutschland • Bilderbuchrevier Bodensee: 130 Wassersportvereine, 130 Regatten (von Reinhard Heinl) • Wie es Euch gefällt: Berliner Segelglück ist hausgemacht • Starker Strom und dicke Pötte: die Unterelbe – ein anspruchsvolles Segelrevier (von Jürgen Chr. Schaper) • Nicht nur bei Kaiserwetter exzellent: die Ostseeküste • Die Zukunft liegt im Osten: neue Segelreviere dank altem Tagebau (von Jens Tusche) 64 78 92 94 100 102 116 118 Hakenkreuz am Heck: der Segelsport im Nationalsozialismus • Strukturwandel: der organisierte Segelsport nach der »Machtergreifung« • Segler auf Abwegen: Spionage mit Yachten • Ein Mann, ein Mast: Walter »Pimm« von Hütschler 140 64 70 74 Dem Horizont entgegen: Fahrtensegler auf dem Vormarsch • Als der Skipper noch Kapitän war: die Ahnen der sportlichen Seefahrt • Romantik Fahrtensegeln: Ist das eigentlich ein Sport? • Frauen erobern die See 120 50 58 60 Die Kieler Woche: »Mutter und Vater aller Regatten« • Ein Hoch auf den Kaiser: Die Kieler Woche beginnt • Deutschlands Segelwochen: die attraktiven Schwestern der Kieler Woche • Eine Klasse für sich: die Deutsche Meisterschaft • Klassenvereinigungen im Deutschen Segler-Verband 102 28 30 40 Landratten ahoi: Segelsport auf Eis, Land und Strand • Eissegeln: heißer Ritt auf schmalen Kufen • Strandsegeln: himmlische Fahrt zwischen Düne und Meer • Modellsegeln: Hightech im Miniformat 78 17 20 21 27 123 134 137 Ein Sport kämpft sich frei: Segeln in der Nachkriegszeit • Aufbruchstimmung in Ost und West: Schicksale und Anekdoten 140 148 Olympisch gut: der deutsche Segelsport im Zeichen der fünf Ringe • Ein Name geht um die Welt: Willy Kuhweide • Sieger mit System: Jochen Schümann • Eine Klasse für sich: Kröger & Kroker • Die neue Kraft: Sailing Team Germany • Eine glänzende Bilanz: deutsche Medaillengewinner bei olympischen Segelregatten seit 1900 151 154 155 158 160 164 Im Westen viel Neues: Segeln wird zum Volkssport • Meilensteine des Bootsbaus: die ersten Jollen und Küstenkreuzer aus GFK • Großer Spaß auf kleinen Booten: Varianta, Conger & Co • König Kunststoff regiert den Bootsbau und das Chartergeschäft • Erst hipp, dann olympisch: Windsurfen 166 168 172 173 176 Segeln in der DDR: die Freiheit, die ich meine • Die DDR-Seeseglerfamilie: eine eigene Welt • Die Improvisationskünstler: aus Alt mach’ Boot • Die zweite Stunde null: Ost und West wachsen zusammen • Von kleinen und großen Freiheiten: ein Leben lang Leistungssportler (von Jochen Schümann) 176 184 187 188 194 Blauwassersegeln: zwischen Paradies und Teufels Küche • Auf der Clubyacht um die Welt • Junge Helden und Hippies zur See • Medaillen für den Breitensport: die Kreuzer-Abteilung und ihre Fahrtenwettbewerbe 194 208 218 222 Sternstunden der Bootsbaukunst • Genie und Perfektionist: Konstrukteur Max Oertz • DBSV-Präsident Torsten Conradi: »Nicht mitschwimmen, sondern engagieren« 224 229 230 Aufbruch an die Spitze: Deutschlands Hochseesegler greifen an • Salzränder, die mich an den Cup erinnern (von Hans-Otto Schümann) • Der Traum vom America’s Cup wird wahr: »I am sailing« • Die Welt ist nicht genug: deutsche Spuren im Ocean Race 232 236 242 248 Willkommen im Club: Deutschlands starke Vereine • Jugendarbeit in den Vereinen und Verbänden • Kleines Boot ganz groß: der Optimist • Schöner Schein: die Lizenz zum Segeln 248 257 260 264 Anhang • Vorsitzende/Präsidenten des Deutschen Segler-Verbandes • Danksagungen • Textquellen, Bildquellen 264 265 266 125 Jahre Deutscher Segler-Verband … ... und in 50 Jahren? ___ Stellt Euch vor, es ist 2063 und der Segelsport in aller Munde! Nicht, weil er höher, schneller oder weiter kann. Sondern, weil er noch mehr Menschen begeistert als heute. Wie wir das erreichen? Der Segelsport hat sich in 125 Jahren unter dem Dach des Deutschen Segler-Verbandes immer wieder neu erfunden. Er war und ist viel mehr als eine Freizeitbeschäftigung. Die Leidenschaft für Wind und Wellen steht für eine Lebenseinstellung und bietet dabei nach dem Shakespeare-Motto »Wie es Euch gefällt« eine größere Palette an Aktivitäten als viele andere Sportarten. Der Segelsport wird immer bleiben, was er ist: eine Quelle der Inspiration, ein Kraftwerk aus Tradition und Vision. Sein Reiz besteht darin, die natürliche Energie des Windes zu nutzen. Generationen von Bootsbauern und Nautikern haben diese Kunst immer weiter verfeinert. Unsere modernen Yachten spiegeln diese Ideen in vielen Details wider. 6 Segeln bleibt aber auch in seinen Werten unschlagbar. Fairness, Teamgeist und Verantwortung sind an Bord ebenso gefragt wie Wissen und Können. In Segel-Crews zieht man an einem Strang. Das prägt die Menschen und ihr Gemeinschaftsgefühl. In Vereinen zusammengeschlossen, entstehen Steganlagen und Clubhäuser. Die Projekte stiften oft Freundschaften, die ein Leben lang halten. Diese besondere Art des maritimen Lebensstils finden wir heute in vielen deutschen Binnen- und Seerevieren vor, oft verbunden mit internationalen Begegnungen und sozialem Engagement. Wer hier mitmacht, findet schnell Anschluss, egal wo er herkommt. Diese Kultur weiterzuentwickeln, wird auch in kommenden Jahrzehnten Ziel und Ehrgeiz unserer Vereine, Landesseglerverbände und Klassenvereinigungen im Deutschen Segler-Verband bleiben. Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt hat einmal so wunderbar gesagt: »Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.« Es wird an uns selbst liegen, wie der Segelsport in 50 Jahren aussieht. Wir können und werden mit unserem Engagement von heute Einfluss auf das Gesicht des Segelsports von morgen nehmen! Die vergangenen 125 Jahre des Segelsports in Deutschland haben fantastische Entwicklungen hervorgebracht, nachzulesen in diesem Buch und tagtäglich erlebbar in den Clubs, die sich unter dem starken Dach des Deutscher Segler-Verbandes zusammengeschlossen haben. Das macht Lust auf mehr. Auf eine ausgedehnte Reise unter Segeln oder auf die nächste Regatta. Es motiviert aber auch, sich für dieses Hobby stark zu machen. Dafür, dass junge Menschen Gelegenheit bekommen, die Welt des Wassers kennenzulernen, sich selbst und andere an Bord zu erfahren. Wir Segler sind überzeugt: Segeln ist eine gute Schule für das Leben. Wer in jungen Jahren gelernt hat, eine Segelyacht eigenverantwortlich zu steuern und sicher von Hafen zu Hafen zu bringen, wird auch sonst erfolgreich sein. Einige werden Ihnen in diesem Buch vorgestellt. Vor allem solche, die sich neben ihrer Freude am Segeln auch der Verbesserung seiner Rahmenbedingungen gewidmet haben. Segeln ist gelebte Freiheit. Sie zu genießen, ist unsere Passion; sie zu erhalten und weiterzuentwickeln, ist unser Ehrgeiz für die Zukunft. Die Kraft dafür schöpft der Deutsche SeglerVerband aus seiner 125-jährigen Tradition. Unsere Vision für die nächsten 50 Jahre sind Kinder, die mit ihren Erlebnissen auf dem Wasser glücklich werden. Eltern, die ihnen dies ermöglichen. Chefs, die erkennen, dass ihre Mitarbeiter im Sport an Bord Kraft zur Leistung schöpfen. Athleten, die ihren Traum vom olympischen Gold verfolgen. Und Vereine und Verbände, die sich gemeinsam mit uns dafür einsetzen, dass auch künftige Generationen an dieser besonders schönen Seite des Lebens teilhaben können. Ihnen wünsche ich einen belebenden Törn durch die 125-jährige Geschichte des deutschen Segelsports und viel Freude an der Mitgestaltung seiner Zukunft! Rolf Bähr DSV-Präsident 7 »DER SPIEGEL«: Die Zeitschrift widmet im August 1965 ihre Titelgeschichte der neuen Lust der Deutschen am Wassersport. Im Westen viel Neues: Segeln wird zum Volkssport In den 1960er- und 1970er-Jahren boomt der Segelsport in Westdeutschland wie nie zuvor. Der neue Werkstoff GFK ermöglicht die Serienfertigung im großen Stil und damit die Herstellung preiswerter Jollen und Kielboote für eine breite Käuferschicht. Ebenfalls im Trend: Windsurfen und Urlaub auf der Charteryacht. ___ Papa, Mama, Kind und Hund auf Tour in einem Segelboot? Dieses Vergnügen ist bis zu Beginn der 1960er-Jahre vergleichsweise wenigen Deutschen vorbehalten. Es sind zwar entgegen hartnäckigen Vorurteilen nicht nur reiche Herren, die sich regelmäßig einen Ausflug auf die oder auf den See gönnen, allerdings handelt es sich bis dahin um eine überschaubare Gruppe von Seglern, die sich – ob wohlhabend oder nicht – Tradition und Seemannschaft verpflichtet fühlen und meistens einem Mitgliedsverein des Deutschen Segler-Verbandes angehören. Sie segeln gepflegte hölzerne Schiffe und setzen auf Yachtgebräuche. 164 Und nun das! Ab Mitte der 1960er-Jahre werden immer mehr »wilde« Segler gesichtet, unterwegs auf Jollen und Kielbooten, deren aus dem neuen Werkstoff GFK gefertigten Rümpfe nicht selten in den Farben Orange, Rot oder Gelb leuchten. Auf manchen Booten kleben sogar bunte Rallye-Streifen! Die NeuWassersportler machen Picknick an der Pinne und lassen dabei keinen Tümpel und keine Talsperre aus. Sie trailern ihre Boote quer durch die noch junge Republik und erobern in wenigen Jahren die westdeutschen Binnen- und Küstengewässer. Nicht jeder alteingesessene Segler ist erfreut über diese neue Dominanz der Massen auf dem Wasser. Man möchte unter sich bleiben, doch stattdessen treibt die gestiegene Zahl ein Seglerhaus am Wannsee, den Seglerrat leitet Peter-Robert der Wassersportler die Kosten für die Liegeplätze in die HöRichter vom Tegeler Segel-Club. Pochhammer veranlasst, dass die in Hamburg beheimatete DSV-Geschäftsstelle mehr qualihe. In manchen Kreisen nennt man die GFK-Boote »Joghurtbecher« oder »Hostalenschüsseln«. Mit hohen Aufnahme- und fiziertes Personal und größere Räumlichkeiten erhält. Diese Mitgliedsbeiträgen versuchen einige Clubs, den Ansturm auf Umstrukturierungen der Führungs- und Verwaltungsebene des Verbandes führen schon bald zum gewünschten Erfolg: ihr Refugium zu verhindern. Das wiederum erzürnt ein paar junge Segler, die ganz im Sinne der Zeit gegen das EstabDer Großdampfer DSV läuft wieder auf Kurs. lishment revoltieren. Spontan gründen einige der »Rebellen« eigene Vereine. In Hamburg entsteht die Regatta-Vereinigung Elbe und in Berlin das Segler-Kollektiv Roter Anker, das nach einer 1906 gegründeten Gewerkschaft benannt wird, die damals Vorschotern zu mehr Recht verhelfen sollte. Doch weder Revolte noch Widerstand halten die riesige Wassersport-Welle auf. Der glasfaserverstärkte Kunststoff, kurz GFK genannt, setzt seinen Siegeszug durch den internationalen und den nationalen Bootsbau fort. Binnen weniger Jahre gibt es mehr GFK- als Holzboote, und auch die Segeltücher Welcher Bootsbauer wann genau das erste Segelboot aus glaswerden nun nicht mehr aus Baumwolle (Mako), sondern aus faserverstärktem Kunststoff fertigte, lässt sich heute kaum dem Kunststoff Dacron gefertigt. Währenddessen etabliert nachvollziehen – zu viele Werften und Selbstbauer experimensich Otto Normalbürger mehr und mehr in der Segelszene: tieren Mitte des 20. Jahrhunderts weltweit und unabhängig voneinander mit dem neuen Material. Fest steht aber, dass Viele der zunächst »wilden« Segler gründen eigene Clubs, die der Werkstoff schon viel früher als im Wassersport in anderen oft kurz darauf in den Deutschen Segler-Verband eintreten. Fertigungsbereichen Verwendung findet. Die ersten Glasfasern Ein Blick in die Statistik verdeutlicht diese Entwicklung: Im Jahr 1963 sind im DSV 310 Vereine mit 32 000 Mitgliedern werden 1929 in Deutschland hergestellt, Anfang der 1930erorganisiert, 1973 zählt der Verband bereits Jahre beginnt man in den USA, sie industriell 741 Vereine mit 86 010 Mitgliedern. 1983 ist Weder Revolte zu fertigen. Hochwertiges Epoxidharz gibt es noch Widerseit 1938, und 1943 wird erstmals Balsaholz die Zahl der DSV-Vereine auf 1107 Clubs mit stand halten die 153 468 Seglerinnen und Seglern aus Westzur Fertigung von Sandwichlaminaten eingeriesige Wasserdeutschland angestiegen. setzt. Vorreiter in der Nutzung von GFK sind die sport-Welle auf USA, die ab 1942 Autos, Boote und Flugzeuge Dieser enorme Mitgliederzuwachs führt zu einer erheblichen Mehrbelastung der aus Polyesterharz fertigen. Auch die Deutsche Kriegsmarine verwendet während des Zweiten Weltkriegs GFK Geschäftsstelle des Deutschen Segler-Verbandes, die ihren Aufgaben Anfang der 1970er-Jahre personell und materiell für den Schiffbau. kaum noch gewachsen ist. Ein weiteres Problem dieser Zeit: In den 1940er-Jahren hält der Wunderwerkstoff GFK erstmals in den Segelsport Einzug. Der US-Amerikaner Ray Greene Der DSV-Vorstand ist mit 30 Mitgliedern zu groß, um schnell genug auf die ständig steigenden Anforderungen reagieren zu baut bereits 1942 eine vier Meter lange Jolle aus Polyesterharz können. Bei dem 1971 in Lübeck-Travemünde veranstalteten und Glasfasern. Ab 1947 stellt er die GFK-Jollen »Tuby Dink« Deutschen Seglertag äußern die Delegierten eine massive Unund »Rebel« in Serie her. 1957 baut Greene den 7,60 Meter zufriedenheit mit der Verbandsarbeit. Das muss schnell besser langen Seekreuzer »New Horizons« – die erste von Sparkman werden, sonst droht der Bruch mit den Vereinen! Noch vor & Stephens entworfene Kunststoffyacht. Ort wird ein elfköpfiger Konzeptions-Ausschuss zur ErarbeiDie deutschen Segler entdecken etwa Mitte der 1950ertung eines neuen DSV-Grundgesetzes gebildet. Dem gehört Jahre den Werkstoff GFK für sich. Unter der Überschrift »Boote unter anderen der spätere DSV-Präsident Rolf Bähr an. Die aus der Retorte« berichtet die »Yacht« in ihrer Ausgabe 1/1955: Leitung übernimmt der damalige Vorsitzende des Berliner »Im vergangenen Jahr erschienen in Deutschland die ersten kleinen ProSegler-Verbandes Peter-Robert Richter. beboote aus Kunstharz für Segel und Motor. Im Ausland werden bereits Schon beim nächsten Deutschen Seglertag 1973 in DüsGebrauchsboote von 15 m Länge und mehr aus Glasharz gegossen, man beginnt nationale und internationale Einheitsboote aus Glasharz in seldorf legt der Ausschuss den Entwurf einer modernen Verbandssatzung vor. Zwei Tage lang wird eifrig über dieses neue Serien herzustellen [...] Es ist an der Zeit, daß wir uns etwas gründlicher DSV-Grundgesetz debattiert, dann nehmen es – in fast unvermit der ›Materie‹, dem Glasharz und seinen Verwendungsmöglichkeiten, beschäftigen.« Damit haben bereits einige experimentierfreudige änderter Form – 90 Prozent der Delegierten an. Das DSV-PräHerren begonnen – zum Beispiel der Hamburger Bauingenieur sidium und der neu initiierte Seglerrat werden in Düsseldorf Walter Vehstedt, der 1955 die Jolle »Aquamarin« aus Kunststoff gemäß dieser Satzung gewählt. An der Spitze des Deutschen und Glasfasermatten baut. Aus der Urform dieses Bootes werSegler-Verbandes steht jetzt Dr. Kurt Pochhammer vom Ver- Meilensteine des Bootsbaus: die ersten Jollen und Küstenkreuzer aus GFK 166 den insgesamt 18 Jollen gefertigt, die recht schnell sind, bei Regatten aber außer Konkurrenz segeln müssen, weil sie vom Deutschen Segler-Verband nicht anerkannt werden. 1957 stellt die in Oehningen am Bodensee beheimatete Ceha-Werft bereits 500 GFK-Boote pro Jahr her. Im Angebot ist unter anderem eine 4,05 Meter lange Jolle, die die Werft segelfertig für 1200 DM liefern will »wenn eine genügend große Serie zustande kommt« (»Yacht« 1/1957). Im Jahr 1958 kommt in Deutschland erstmals eine GFK-Serienyacht auf den Markt. Es ist der von dem US-Amerikaner Philip Rhodes gezeichnete und von der Amsterdamer Schiffswerft de Vries Lentsch gebaute 33-Fuß-Kielschwerter »Swiftsure«. Im selben Jahr baut Hans-Jürgen Vorbau von der Segler-Vereinigung Altona-Oevelgönne in Eigenregie seinen Jollenkreuzer »Caribe«. 1959 entwirft der Niederländer E. G. van de Stadt die neun Meter lange europäische Serien-Yacht »Pionier«. In den 1960er-Jahren greift der GFK-Virus weiter um sich. Die Segler erkennen nach und nach den Nutzen der preiswerten und pflegeleichten Boote, und die Werften wittern im Serienbau ein profitables Geschäft. So entstehen in den USA und in Europa zahlreiche Jollen und Yachten aus dem neuen Werkstoff. Einen großen Erfolg feiert zum Beispiel die niederländische Victoria-Werft mit der von Dick Koopmans entworfenen Victoire 22. Das 6,60 Meter lange Kajütboot wird von 1961 bis 1980 rund 1500-mal produziert. Auf dem deutschen Markt macht 1963 die auf der Lübecker Werft von Werner Muffler gebaute »Fähnrich« von sich reden. Dieser 9,55 Meter lange, von Kurt W. Schröter gezeichnete Seekreuzer gilt als erste deutsche GFK-Serienyacht, die aufgrund der damals noch sehr massiven Laminatstärke – sie soll zwischen 8 und 33 Millimeter schwanken – äußerst stabil ist. Ein weiterer deutscher GFK-Klassiker ist die 9,65 Meter lange »Hanseat« von Willy Asmus. Sie läuft 1964 auf seiner Werft in Glückstadt an der Unterelbe erstmals vom Stapel, 1965 startet der Tischlermeister die Serienproduktion. Die ersten Versionen werden mit Kurzkiel oder als Kielschwerter gebaut, ihr auffälligstes Merkmal sind die Fenster im Niedergangsbereich, die manchen Betrachter an Schießscharten denken lassen. Seinen größten Erfolg feiert Asmus aber mit einem Nachfolgemodell, der erstmals 1970 gebauten 10,50 Meter langen »Hanseat 70«. WERFTGRÜNDER WILLY DEHLER: Ihm gelingt mit der Varianta (links) sein erster Massenabsatz. 167 DIE WERBEFOTOS FÜR DIE VARIANTA: Sie zeigen bewusst Frauen und Kinder. Die Zielgruppe der Werft sind junge Familien. Großer Spaß auf kleinen Booten: Varianta, Conger & Co Der enorme Segelboom der 1960er- und 1970er-Jahre gründet weniger auf den Bau hochwertiger GFK-Kreuzer wie »Fähnrich« und »Hanseat«, sondern mehr auf der Massenproduktion preiswerter Jollen und kleiner Kajütboote. In der Zeitschrift »Yacht« verdeutlicht ein Berichterstatter von der interboot 1969 die Vielfalt des Angebots: »Wer glaubt, den Küstenkreuzer seiner Wahl bereits gefunden zu haben, könnte sich irren. Er war zumindest nicht in Friedrichshafen, wo mehr neue Familienkreuzer zwischen 10 000 und 20 000 Mark zu sehen waren, als je auf einer Ausstellung zuvor.« In dem »Yacht«-Artikel werden 42 Jollen- und Kielboote vorgestellt, die meisten sind zwischen vier und sieben Meter lang. 18 der Modelle stammen aus deutscher Produktion. Einige dieser Bootstypen sind bis heute als Touren- und Regattaboote verbreitet und werden von aktiven Klassenvereinigungen betreut. Dazu zählen zum Beispiel das Zweihand-Kielboot Dyas, der Jollenkreuzer Fam, die Trapezjolle Jeton und der Kielschwerter Neptun 22. 168 Wie groß die Bandbreite der deutschen Hersteller ist, die sich Anfang der 1960er-Jahre an das Experiment Serienbootsbau wagen, zeigt ein Blick auf zwei Extreme – auf die zunächst noch kleine Bastelbude von Willy Dehler und auf die Hamburger Großschiffswerft Blohm + Voss, die in dieser Zeit die Conger-Jolle auf den Markt bringt. Kaum ein anderes Unternehmen dokumentiert so gut die Geschichte des deutschen GFK-Serienbootsbaus wie die Anfang der 1960er-Jahre gegründete Dehler-Werft. Die ersten DehlerBoote messen kaum mehr als drei Meter, und heute, rund 50 Jahre später, sind Yachten der Marke Dehler als geräumige Cruiser/Racer auf fast allen Segelrevieren Europas und auf zahlreichen Regatten zu bewundern. Willy Dehler, Inhaber eines Rundfunkgeschäfts und passionierter Segler, begeistert sich Ende der 1950er-Jahre zunächst rein privat für das neue Bootsbaumaterial GFK und experimentiert damit. Nach ein paar erfolgreichen Einzelbauten mietet er ein ehemaliges Kino in Dortmund und baut dort zwei kleine Autodachjollen in Serie: die 3,95 Meter lange »Pfeil-Jolle« sowie die nur 3,05 kurze »Winnetou«, die er in der »Yacht« segelfertig für 1195 DM anbietet. Die Geschäftsidee ist erfolgreich: Rund 400 Jollen bringt Willy Dehler in seinen ersten Jahren als Produzent an den Mann. Nun will es der Sauerländer wissen. Willy Dehler verkauft sein Rundfunkgeschäft und gründet zusammen mit seinem Bruder Heinz das Unternehmen Dehler Bootsbau in Freienohl an der Ruhr. 1966 zeigen die beiden auf der Hamburger Bootsschau ihren ersten Kielkreuzer, die von E. G. van de Stadt gezeichnete 6,40 Meter lange Varianta. Das Publikum ist begeistert von dem familientauglichen Bötchen, und die »Yacht« schreibt von einem »Schaf mit fünf Pfoten«, weil es so vielseitig ist. Und in der Tat, die Varianta ist mit 550 Kilogramm Gewicht gut trailerbar, hat bei aufgeholtem Schwert einen binnentauglichen Tiefgang von 70 Zentimetern und verfügt über ausreichend Schlafgelegenheiten. Der Clou des Schiffchens ist der Kajütaufbau, der wahlweise auf- oder abgesetzt werden kann. Kostenpunkt: 6850 DM segelfertig plus 750 DM für die Kajüte. Das überzeugt viele Wassersport begeisterte, die bis dahin das Wandersegeln auf geschlossenen Booten für unerschwinglich hielten. Die Varianta avanciert zum VW Käfer des Segelsports. Bis zum Produktionsende im Jahr 1982 verkauft Dehler insgesamt 4250 Stück. Das Design wird über die Jahre leicht modifiziert und der Aufbau später fest montiert, aber der Erfolg bleibt dem Schiffchen lange treu. Noch heute gibt es eine aktive Klassenvereinigung, deren Mitglieder jährlich bei rund 30 Ranglistenregatten und bei einer Internationalen Deutschen Meisterschaft starten. Während Woche für Woche Variantas aus der Werfthalle rollen, lassen die Brüder Dehler in den folgenden Jahren weitere Jollen und Kielboote entwickeln. Zu ihren großen Erfolgen zählen die Familienkreuzer Delanta, Duetta und Optima sowie die Regattaklasse Sprinta Sport. Im Jahr 1976 gewinnen Frank Hübner und Harro Bode olympisches Gold im 470er von Dehler. 1979 verlässt Heinz Dehler das Unternehmen. Willy führt die Werft allein weiter, die nun auch größere Schiffe wie die Dreivierteltonner DB 1 und DB 2 sowie weitere Regatta- und Fahrtenyachten produziert. Trotz des großen Ansehens, dass Dehler damit gewinnt, gerät die Werft wirtschaftlich immer wieder in unruhiges Fahrwasser. Nach zwei Insolvenzen 1998 und 2007/08 wird sie 2009 schließlich von der HanseYacht AG in Greifswald übernommen. Fast zeitgleich mit der Varianta, aber unter gänzlich anderen Vorzeichen wird 1965 die Conger-Jolle auf den Markt gebracht. Verantwortlich zeichnet Blohm + Voss. Auf der 1877 gegründeten Großschiffswerft lief 1914 der Riesendampfer »Bismarck« in Anwesenheit seiner Majestät Kaiser Wilhelm II. vom Stapel, 1933 wurde dort das Schulschiff »Gorch Fock« für die Reichsmarine gebaut. Und nun fertigt diese traditionsreiche Hamburger Werft eine Kunststoffjolle namens Conger – das heißt übersetzt Meeraal – von nur 5,30 Meter Länge. Der Telegramm vom Bundeskanzler Der prominenteste Conger-Segler der 1970er-Jahre war Bundeskanzler Helmut Schmidt. 1977 sandte er der Klasse das folgende Telegramm: »Es freut mich, daß es der ›CONGER‹ inzwischen zur Anerkennung durch den Deutschen Segler-Verband gebracht hat, und wünsche der vom Segel-Club Frankenau Lembruch ausgerichteten ersten Deutschen Meisterschaft guten Verlauf. Leider kann ich selbst an der Regatta nicht teilnehmen. Entgegen anderslautenden Presseberichten möchte ich jedoch klarstellen, daß ich mit meinem ›CONGER‹ manche steife Brise auch trockenen Fußes überstanden habe. Allen Teilnehmern an der 1. Deutschen ›CONGER‹-Meisterschaft wünsche ich Mast- und Schotbruch. Helmut Schmidt, Bundeskanzler Bau solch kleiner Vergnügungsboote ist ein absolutes Novum in der Firmengeschichte. Zunächst erwirbt Blohm + Voss die Baulizenz der USamerikanischen »Hawk«. Doch es stellt sich rasch heraus, dass diese Jolle ungeeignet für den Massenabsatz ist. Sie läuft schnell aus dem Ruder und kentert leicht. Also heuert die Werft den späteren Olympiamedaillengewinner Ulli Libor an, unter dessen Federführung das Design der »Hawk« gründlich überarbeitet wird. Karl-Heinrich Lehmann, der damalige Leiter der Kunststoffsparte von Blohm + Voss, zeichnet das Deck neu und Klaus Feltz den Rumpf. So entsteht die Conger-Jolle, die im Vergleich zum Vorgängermodell sehr stabil und gut zu segeln ist. Auf der Bootsausstellung in Hamburg 1965 wird sie erstmals vorgestellt. Zusätzlich betreibt Blohm + Voss einen bis dahin unüblichen Werbeaufwand: In der ganzen Republik werden Vorführboote zur Verfügung gestellt, und bei einigen Regatten starten gleich mehrere Werftcrews im Conger. Das Konzept geht auf. Schon drei Jahre nach der Markteinführung wird der 1000. Conger verkauft. Im Januar 1971 wird in Hamburg eine Klassenvereinigung gegründet und 1977 die erste Deutsche Meisterschaft ausgetragen. Zu ihrem 40. Bestehen im Jahr 2011 zählt die Conger-Klassenvereinigung mehr als 300 Mitglieder und rund 140 Mannschaften in der Rangliste. Bis heute sind 3940 Conger aus den Werkshallen gerollt – nicht alle bei Blohm + Voss, denn 1978 übernahm die Fiberglas Technik GmbH die Baulizenz, aber alle im fast unveränderten Design. Der Conger ist bei Fahrten- und Regattaseglern so beliebt, dass er noch immer produziert wird. 169 DER CONGER IM WERFTPROSPEKT der 1960 ER-JAHRE: ein gemütliches Familienboot … 170 … und ein treuer Gefährte für den harten Männertörn. 171 Anhang Vorsitzende/Präsidenten des Deutschen Segler-Verbandes 1888–1912 Adolph Burmester, Norddeutscher Regatta Verein 1913–1928Geh. Reg. Rat Prof. Dr. Ing. Carl Busley, Marine-Regatta-Verein, Norddeutscher Regatta Verein, Verein Seglerhaus am Wannsee 1928 Dr. Wilhelm Rakenius (kommissarisch), Verein Seglerhaus am Wannsee 1929–1932 Dr. Wilhelm Rakenius, Verein Seglerhaus am Wannsee 1932 Stellvertreter von Dr. Rakenius: Dr. A. Mendelssohn, Bonner Yacht-Club 1932–1933 Dr. Edmund Koebke, Potsdamer Yacht Club 1933–1934 Oberstleutnant Erich Kewisch, Kaiserlicher Yacht-Club, Potsdam 1934–1935 Reichsbankrat Carl Unfug, Segler-Club »Tegelsee« (Spandauer Yacht-Club) 1935–1939 Oberstleutnant Erich Kewisch, Kaiserlicher Yacht-Club, Potsdam 1936–1940 Stellvertreter von Erich Kewisch: Adolf Hain, Verein Seglerhaus am Wannsee 1940–1943Adolf Hain, Geschäftsführer des Verbandes (mit der Führung des Verbandes beauftragt), Verein Seglerhaus am Wannsee 1946–1948 Carl Georg Gewers und Erich F. Laeisz lösen sich als Vorsitzende in der Besatzungszone ständig ab 1949–1956 Carl Georg Gewers, Hamburger Segel-Club 1956–1972 Dietrich Fischer, Norddeutscher Regatta Verein 1972 Dr. Kurt Pochhammer (kommissarisch), Verein Seglerhaus am Wannsee 1973–1985 Dr. Kurt Pochhammer, Verein Seglerhaus am Wannsee 1985–1993 Hans-Otto Schümann, Hamburger Segel-Club 1993–2001 Hans-Joachim Fritze, Norddeutscher Regatta Verein 2001–2005 Dierk Thomsen, Kieler Yacht-Club seit 2005 264 Rolf Bähr, Verein Seglerhaus am Wannsee Die Autoren bedanken sich bei … Ralf Abratis Michael Amme Jörg Besch Martin Birkhoff Jörn Bock Wibke Borrmann Gudrun Calligaro Volker Christmann Torsten Conradi Sabine Delius Svante Domizlaff Anton Dreher Wilfried Erdmann Hannes Ewerth Thomas Gade Angelika und Rollo Gebhard Hans Glasneck Wolfgang Goeken Dr. Dieter Goldschmidt Dr. Gesa Gruber Fridtjof Gunkel Carsten Hark Rachel Hibberd Franz Hoof Sönke Hucho Sönke Jessen Saskia Jöhnk Sebastian Kalabis Beate Kammler Otto Kasch Martin Kauffmann Landeshauptstadt Kiel Klaus Kinast Andreas Krause Nico Krauss Tim Kröger Alexander Lauterwasser Hannes Lindemann Bernd Luetgebrune Achim Mende Alois Mühlegger Lutz-Henning Müller Dietrich Onnasch Dr. Jochen Orgelmann Michael Oswald Klaus Pollähn Manuela Preinbergs Uwe Rafoth Jochen Rieker Henning Rocholl Burkhard Rosenberg Calle Schmidt Ivo Schuppe Gerhard Philipp Süß Norbert Suxdorf Wolfgang Tarrach Gerd Trulsen Uwe Wenzel Nigel Winkley Klaus Zapf … der »Yacht«-Redaktion und der DSV-Geschäftsstelle … ihren Familien und Freunden für ihre Geduld und ihr Verständnis Besonderer Dank gilt unseren Gastautoren Rolf Bähr, Präsident des Deutschen Segler-Verbandes Reinhard Heinl, Präsident des Landes-Segler-Verbandes Baden-Württemberg Wilfried Horns, Erster Vorsitzender des Freundeskreises Klassische Yachten Jürgen Chr. Schaper, Kommodore der Segler-Vereinigung Altona-Oevelgönne Jochen Schümann, erfolgreichster deutscher Olympiasegler und zweimaliger America’s-Cup-Gewinner Dr. Jens Tusche, Präsident des Segler-Verbandes Sachsen 265 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 1. Auflage ISBN 978-3-7688-3569-5 © by Delius, Klasing & Co. KG, Bielefeld Lektorat: Felix Wagner Schutzumschlaggestaltung: Jörg Weusthoff, Weusthoff Noël, Hamburg Layout: Susann Pechtstein, Weusthoff Noël, Hamburg Lithografie: scanlitho.teams, Bielefeld Druck: Kunst- und Werbedruck, Bad Oeynhausen Printed in Germany 2013 Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise reproduziert, übertragen oder kopiert werden, wie z. B. manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopieren, Bandaufzeichnung und Datenspeicherung. Delius Klasing Verlag, Siekerwall 21, D-33602 Bielefeld Tel.: 0521/559-0, Fax: 0521 /559-115 E-Mail: [email protected] www.delius-klasing.de
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