Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins - Zentral

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Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins - Zentral
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
Jahrgänge 79-83
Schriftleitung:
Dr. Gerhard Kutzsch
Günter Wollschlaeger
Dr. Christiane Knop
Bearbeitet von Ruth Koepke
BERLIN 1983-1987
Veranstaltungen im IV. Quartal 1987
1. Montag, 5. Oktober 1987,19.30 Uhr: Gemeinschaftsveranstaltung mit den Hugenotten zur
750-Jahr-Feier Berlins. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
2. Montag, 19. Oktober 1987,19.30 Uhr, Lichtbildervortrag von Herrn Hans Frost: Berlin und
seine Eisenbahnen. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
3. Montag, 9. November 1987,19.30 Uhr, Lichtbildervortrag von Herrn Harry Nehls: Wanderfahrt nach Glienicke - Die Antikensammlung des Prinzen Carl. Bürgersaal des Rathauses
Charlottenburg.
4. Montag, 23. November 1987,19.30 Uhr, Vortrag mit Lichtbildern von Herrn Hans-Werner
Klünner: Theodor Fontanes Wohnstätten in Berlin. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
5. Sonnabend, 19. Dezember 1987, 18.00 Uhr: Vorweihnachtliches Beisammensein im St.Michaels-Heim, Bismarckallee 23,1000 Berlin 33, Fahrverbindungen: Busse 10, 29,19 bis
Hertastraße. Anmeldungen bis zum 20. November unter Telefon 8 54 5816 erforderlich.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21,1000 Berlin 20, Telefon 3 332408.
Geschäftsstelle: bis 30. April 1987 beim Schriftführer (siehe nachstehend), vom l.Mai 1987 an bei der
Schatzmeisterin (siehe zwei Zeilen weiter).
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38,1000 Berlin 22, Telefon 3657605.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28. Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
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592
Inhaltsverzeichnis
I. Aufsätze
Bannasch, Karl-Heinz
Die jüdische Gemeinde in Spandau (4 Abb.)
490
Beck, Konrad
Die Ravenes (2 Abb.)
310
Bendt, Veronika
Synagogen in Berlin (1 Abb.)
23
Börsch-Supan, Helmut
Martin Sperlich zum Abschied von seinem Amt
als Direktor der Staatlichen Schlösser und Gärten
192
Bollert, Werner
Karl Klingler (1879-1971) und sein Quartett
447
Brass, Arthur
Rettung und Rückkehr der Thora-Rollen (1 Abb.)
54
Göpel, Wilfried
Begegnungen 1931
264
Goldbach, Renate
500 Jahre Jerusalems-Kirche (2 Abb.)
243
Haertel, Siegfried
Paul Zech (1 Abb.)
130
Heidemann. Wilfried M.
Der Sandwich-Insulaner Maitey von der Pfaueninsel (3 Abb.)
Royal Louise (3 Abb.)
154
406
Hengsbach, Arne
75 Jahre Siemens-Güterbahnhof (1 Abb.)
Die Bismarckwarte bei Fürstenbrunn (3 Abb.)
Die Abdeckerei in der Jungfernheide (1 Abb.)
Neu-Staaken (4 Abb.)
Die Moabiter Gondelfahrt
114
234
330
358
478
Hiilsbergen, Henrike
Die Tagebücher und Chroniken des Charlottenburger Pfarrers
Johann Christian Gottfried Dressel (2 Abb.)
298
Kettig, Konrad
Ernst Kaeber zum Gedächtnis
22
Knop. Christiane
Die Weinhändler Mitscher und Caspary (2 Abb.)
Die Militärkuranstalt zu Frohnau
16
46
V
75 Jahren Gartenstadt Frohnau (2 Abb.)
Rechenschaftsbericht aus einer schweren Zeit:
„Das Vereinslazarett Frohnau 1914-1919" (2 Abb.)
541
Kollat, Horst
Zum Geburtstag von Gerhard Johann David von Scharnhorst
438
Kutzsch, Gerhard
Über Karl Wilhelm Saegert (1 Abb.)
Kwasigroch, Bernward
75 Jahre griechisch-katholische Seelsorge in Berlin (4 Abb.)
Liegl, Otmar
250 Jahre Böhmen in Berlin (6 Abb.)
304
81
218
2
Lowenthal, Ernst
Verdienst um Berlin
578
Nehls, Harry
Zur Provenienz und Lokalisierung des Festspielzeltes
im Gartenhof zu Klein-Glienicke (4 Abb.)
Paralipomena - Glienicker Antiquitäten aus dem Kunsthandel (10 Abb.)
434
497
Rothkirch, Malve Gräfin v.
Der Glienicker Klosterhof (23 Abb.)
Seiler, Michael
Blattzierpflanzen und Rankengewächse auf der Pfaueninsel (1 Abb.)
Über die Einweihung des Kirchhofes hinter dem „ehemaligen Schul- und Küstergehöft
zu Nikolskoe" und seine Beziehung zur Pfaueninsel (3 Abb.)
Die Walkieferknochen auf der Pfaueninsel (3 Abb.)
66
172
182
288
Sommer, Klaus
Friedrich Wilhelm Kullrich - Königlicher Hof-Medailleur in Berlin (12 Abb.)
34
Sperlich, Martin
Zur Anbringung der linken Sockelplatte am Denkmal Friedrichs 1
87
Schachinger, Erika
Wilhelminisches Mäzenatentum (2 Abb.)
562
Schaumann, Werner
Das Einsturzunglück des S-Bahntunnels
zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor vor 50 Jahren
312
Schlenk, Joachim
Die Brandenburger Judensau (11 Abb.)
462
Schmidt, Thomas
Das Deutsche Stadion in Berlin-Grunewald (6 Abb.)
211
Schröter, Roland
Die Staatliche Bildungsanstalt zu Berlin-Lichterfelde von 1920-1933
441
VI
Schütze, Karl-Robert
Ew Hochwolgeboren (2 Abb.)
Das Landwehr-Zeughaus an der Communikation (3 Abb.)
194
258
Schulz, Günther
Die Vogelperspektive von Broebel (3 Abb.)
378
Schweinin, Friedhelm
Johann Eiert Bode - der bedeutende Astronom (2 Abb.)
282
Stamm, Herma
Eine wenig bekannte Medaille auf Alexander von Humboldt (3 Abb.)
388
Thietje, Gisela
Johann Georg Moser, ein Architekt (4 Abb.)
526
Uhlitz (f), Otto
Sechzig Jahre „Märkische Heide" (3 Abb.)
Aus den geheimen Registraturen der Berliner politischen Polizei 1878-1899
Zum Bau der Havelchaussee
Aus der Geschichte des Berliner Nachtwachdienstes um 1800 (1 Abb.)
98
187
270
572
Voß, Karl
Das Französische Gymnasium in Berlin und seine Schüler
511
Wimmer, Clemens Alexander
Georg Steiner, Königlich preußischer Hofgärtner (3 Abb.)
322
Wittmack, E. H.
Die Blumenzwiebelzucht in Berlin im vorigen Jahrhundert
135
Wollschlaeger, Günter
Siedlungsplanung und Architektur der zwanziger Jahre in Berlin (11 Abb.)
342
II. Kleine Beiträge, Notizen, Berichte
75 Jahre Stadtbibliothek
Vortragsreihe zur Geschichte Berlins
im Pergamon-Museum
Zugänge im Märkischen Museum
Neue Aufschlüsse zur Berliner Geschichte
120000 Besucher im Märkischen Museum
25
25
25
25
58
Stadtfomm
Berlin
gegründet
58
Feier des 300.
Gründungstages
des Friedrichwerderschen Gymnasiums
90
Geschichtsmuseen in der DDR
91
„Fontane-Kreis" in Fulda
91
Heimatgeschichtliche Sammlung in Erkner
91
Zur Phonothek
in der Berliner Stadtbibliothek
92
Das Historische Archiv
der Technischen Hochschule Berlin
92
Friedrich Neuhaus
109
Berichtsjahr 1984
der Internationalen Bauausstellung 1987 . . . 122
Denkmalschutz für Deutschlands
letzten Glaspalast
75. Jahrestag der Eröffnung
des Märkischen Museums
Vier Millionen Bücher bei den Staatlichen
Allgemeinbibliotheken in Ost-Berlin
ßayem _ ^ ^ ^
Preußen _ Bayem
Die Bauernfänger von Berlin
Joha nnisthaler Ensemble
unter Denkmalschutz
Wiederherstellung des Schloßparks Biesdorf
Zur Rückführung der Rehefplatten
der Siegessäule
Über die Kaisereiche in Friedenau
Bibliographie der Veröffentlichungen
von Heinz Goerke
aus
den Jahren 1943 bis 1982
Über den Steglitzer Obus
122
123
123
,42
210
222
223
223
224
248
249
VII
Ehrenmitglied Dr. Richard von Weizsäcker
antwortet
Neubauten im alten Stadtkern
Bahnhöfe von S-Bahn und U-Bahn
in Ost-Berlin werden wiederhergestellt . . . .
Um die Kuppel des Reichstages
Mehr als 100 historische Museen
in der DDR
Neue Straßennamen in Berlins Stadtmitte
Zunehmendes Interesse
an alten Nahverkehrsmitteln und
Verkehrsanlagen in Ost-Berlin
Die Friedrichstraße wird wiederbelebt . . . .
Zunftzeichen in Ost-Berlin
28 000 Bände zur Geschichte Berlins
in der Berliner Stadtbibliothek
Berliner Bär im Wappen
des neuen Fuldaer Oberhirten
Ältestes Fachwerkhaus in Potsdam
wird wiederhergestellt
Preisträger des Deutschen Preises
für Denkmalschutz 1984
Um das Knoblauchhaus
im Viertel um die Nikolaikirche
Kern des ehemaligen märkischen Dorfes
Marzahn wird neu gestaltet
Dokumentation über alte Schwengelpumpen
in Ost-Berlin
Der Kreisauer Kreis
Neubauten rund um die Nikolaikirche . . . .
Um die Bronzeplatten der Siegessäule . . . .
Förderungsprogramm „Berlin-Forschung"
Erhaltung und Restaurierung
des Dorfkerns Marzahn
Restaurierung der
Friedrichwerderschen Kirche
Schlüter-Kanzel in der Marienkirche
wird restauriert
15 Millionen Besucher in den Geschichtsund Heimatmuseen in der DDR
Gasthaus „Zur Rippe" am Molkenmarkt
Friedrichwerdersche Kirche
als Schinkel-Museum
Erste Zweigstelle
für das Märkische Museum
Friedrich der Große und die Staatsoper . . .
Friedrich der Große und die Kunst
im Neuen Palais in Sanssouci
Restaurierung des Roten Rathauses
Bekrönung des Deutschen Domes
am Gendarmenmarkt
Zur Situation des Sintflutbrunnens
Alle vier Reliefplatten der Siegessäule
aufgefunden
VIII
III. Exkursionen
250
250
250
250
274
274
274
314
314
Lemgo
Göttingen
Eutin
Ravensberger Land
Lübeck
Trier
92,
202,
293, 316,
395, 425,
517,
57
142
248
370
483
551
IV. Hinweise und Informationen
Kleine Mitteilungen:
25, 26, 59, 248, 250, 292, 314, 316, 317, 339, 360,
453, 459, 518, 552
315
315
Veranstaltungskalender:
32, 64, 96, 128, 152, 208, 256, 232, 280, 296, 320,
340, 376, 404, 432, 459, 488, 524, 560, 592
315
315
338
339
315
368
369
369
369
393
393
393
394
426
453
453
481
482
482
482
552
584
Literaturhinweise:
15, 81, 108, 168, 179, 187, 199, 216, 263, 272, 287,
302, 308,329,422,436,471,481,494,500,537,549,
568, 577
Nachrufe:
Jenny Becker
Franz Berndal
Karl Bullemer
Dietrich Franz
Fritz Bunsas
Lieselotte Gründahl
Walter G. Oschilewski
Dr. jur. Otto Uhlitz
203
203
272
273
274
516
549
583
Nachrichten aus dem Mitgliederkreis:
25, 26, 59, 203, 222, 224, 250, 272, 292, 314, 339,
352, 370, 452, 453, 515
Kurzmitteilungen:
58, 202, 222, 292, 317, 370, 371, 394, 403, 452,
482, 516, 550, 552, 558
Neue Mitglieder:
31, 63, 96, 127, 152, 207, 231, 255, 279, 293, 320,
340, 375. 403. 431, 458, 487, 524, 559, 591
Eingegangene Bücher:
30, 62. 63. 254, 279, 295, 337, 374, 430, 431.
523, 537
V. Buchbesprechungen
Alt-Berliner Humor
(1986, Schultze-Bemdt)
Alt-Berliner Photoalbum
(1982, Schultze-Berndt)
454
61
Alte Berliner Läden (Schultze-Berndt) . . .
Ausflugs-Atlas (1979, Köhler)
26
227
Bauten unter Denkmalschutz (1982, Knop)
Behr/Hoffmann: Das Schauspielhaus
in Berlin (1984, Schultze-Berndt)
Berlin - New York (1982, Schultze-Berndt)
Berlin - Bauwerke der Neugotik
(Schultze-Berndt)
Berlin in alten Ansichtskarten
(1981, Schultze-Berndt)
Berlin - Landschaften am Wasser
(1982, Schultze-Berndt)
Berlin Stadtatlas (1984/85, Köhler)
Berliner Illustrirte Zeitung
(1982, Kutzsch)
Berliner Lokale (1979, Schultze-Berndt) . .
Berliner Poesiealbum (Köhler)
Berliner S-Bahn (1982, Schiller)
Berlins heimliche Sehenswürdigkeiten
(1981, Schultze-Berndt)
Blauenfeldt:
Den danske meninhed i Berlin ca. 1905 bis 1.12.43 (1985, Kunzendorf) . . .
Boesche-Zacharow: Johannes Lotter
(1985, Schultze-Berndt)
Borkowski:
Wer weiß, ob wir uns wiedersehen
(1980, Schultze-Berndt)
Borkowski: Rebellin gegen Preußen
(1984, Köhler)
143
Carle: Das hat Berlin schon mal gesehen
(1982, Kutzsch)
Clemens/Szamatolski:
Der historische Friedhof in Berlin (Knop)
Cornelsen: Kleine Fische auf Justitias Grill
(1984, Elge)
Cziffra: Der Kuh im Kaffeehaus
(1981, Schultze-Bemdt)
Damus/Rogge:
Fuchs im Busch und Bronzeflamme
(1979, Schultze-Berndt)
„Das alte Berlin" (Schultze-Bemdt)
Das Brandenburgische Koch-Buch
(Schultze-Bemdt)
Das Goldene Buch von Berlin
(1987, Schultze-Bemdt)
Das grüne Buch (1982, Köhler)
Das Kochbuch aus Berlin
(Schultze-Bemdt)
Denk 'mal Berlin
(1984, Schultze-Bemdt)
Deutscher Bund für Vogelschutz
(Schultze-Bemdt)
399
124
454
Die deutschen Heimatmuseen
(Schultze-Bemdt)
Die Entdeckung Berlins
(1984, Schultze-Bemdt)
Die große Berliner Straßenbahn
und ihre Nebenbahnen 1902-1911
(1982, Schiller)
Die Mauer spricht
(1985, Schultze-Bemdt)
Dorfszenen (Schultze-Bemdt)
251
317
149
373
426
61
59
277
151
60
397
147
29
586
373
27
398
127
484
227
29
253
317
555
553
227
555
294
318
Einblicke, Einsichten - Aussichten
(1983, Schultze-Bemdt)
Erinnerungen an Berlin (H. H.)
Emst/Stümbke: Wo sie ruhen ...
(1986, Einholz)
Fink: Mich hungert (1980, Kutzsch)
Friedrich Gilly 1772-1800 (1984, Uhlitz) . . .
Friedrich Nicolai (1983, Knop)
75 Ingenieurausbildung im Beuth-Bereich
der Technischen Fachhochschule Berlin
1909-1984 (Schultze-Bemdt)
Gehrig: „Bist'ne Jüdische?" (Köhler) . . . .
Geisel: Im Scheunenviertel (Köhler)
Gellermann: Die Armee Wenck
(1984, Schultze-Bemdt)
Gemalte Illusionen (Schultze-Bemdt) . . . .
Genschorek: Ernst Ludwig Heim
(1981, Kutzsch)
Gottschalk: Altberliner Kirchen
in historischen Ansichten (1985, Schiller)
Gronefeld: Kinder nach dem Krieg
(Köhler)
Gründgens: Gedichte und Prosa
(1984, Schultze-Bemdt)
Grünert: Die Preußische Bau- und
Finanzdirektion (1983, Kutzsch)
Günther: Peter Joseph Lenne
(Wollschlaeger)
Hammacher: Bernhard Heiliger
(Schultze-Bemdt)
Hecker: Die Luisenstadt (1981, Knop) . . . .
Henseleit/Bickel: Berliner Küche
gestern und heute (Schultze-Bemdt)
Hildebrandt/Knop: Gartenstadt
Frohnau (1985, Schultze-Bemdt)
Hildebrandt: Christlob Mylius
(1981, Kutzsch)
Hoffmann: Berlin vor fünfzig Jahren
(Schultze-Bemdt)
Holmsten: Deutschland Juli 1944
(1982. Schultze-Bemdt)
227
337
455
207
336
588
402
428
126
204
294
60
372
428
318
226
485
253
252
555
521
148
206
95
IX
Holmsten: Die Berlin-Chronik
(1984, Schultze-Berndt)
Holmsten: Berliner Miniaturen 1945
(1985, Schultze-Berndt)
Hürlimann: Berlin (Schultze-Berndt)
400
230
In der Luisenstadt (1983, Knop)
252
Jacoby: Liebe deinen Nächsten
(1984, Schultze-Bemdt)
Jaene: Berlin lebt (Kutzsch)
396
61
v. Kardoff/Sittel: Berlin (1983, Illigner) . . .
Kerber: Berühmt und unverblümt
(1985, Schultze-Berndt)
Kertbeny: Berlin wie es ist (1981, Knop) . . .
Kleberger: Eine Gabe ist eine Aufgabe Käthe Kollwitz (1984, Knop)
Klebes: Die Straßenbahnen Berlins
in alten Ansichten (1984, Schiller)
Knef: So nicht (Köhler)
Knobloch: Herr Moses in Berlin (Knop)
Knobloch: Berliner Fenster
(Schultze-Berndt)
Koischwitz: Sechs Dörfer
in Sumpf und Sand (1983, Knop)
Kramer/Hilkenbach/Jeanmaire:
Die Straßenbahnlinien im westlichen
Teil Berlins III u. IV (Schiller)
Kutzsch/Bohrmann: Berlin
zu Kaisers Zeiten (Schultze-Berndt)
Kutzsch: Berlin mit Umgebung
(1968, Knop)
Lange: Groß-Berliner Tagebuch 1920-1933
(1982, Schultze-Berndt)
Lemke: Laß dir nicht verblüffen
(1982, Schultze-Berndt)
Lowenthal: Die historische Lücke
(1987, Wetzel)
Märkte in Berlin (Köhler)
Maser/Poelchau: Pfarrer am Schaffott
der Nazis (Kutzsch)
Mendelssohn-Studien (1986, Stolzenberg)
Menge: So lebten sie alle Tage
(1984, Schultze-Berndt)
Merian: Reiseführer Berlin (Knop)
Munding: Daß ich nur noch selten schreibe
(Köhler)
v. Müller: Mit dem Spaten in die
Berliner Vergangenheit (1981, Knop)
319
402
454
144
521
276
95
94
205
230
429
294
519
397
228
587
228
251
486
318
148
428
584
'ne Menge Arbeit (1981, Illigner)
149
Niemands Land (1982, Schultze-Berndt) . . . 124
Nothhelfer: Zwischenräume
(Schultze-Berndt)
94
X
Oschilewski: Auf den Flügeln der Freiheit
(1984, Kutzsch)
275
Peschken/Klünner: Das Berliner Schloß
(1982, Kutzsch)
226
Pierson: Dampfzüge auf Berlins
Stadt- und Ringbahn (1983, Schiller)
229
Pitz, Hofmann, Tomisch: Berlin W
(1984, Grunwald)
397
Potsdamer Schlösser in Geschichte und Kunst
(1984, Uhlitz)
278
Pragher: Verkehrsknoten Berlin
in den 30er Jahren (Schiller)
373
Reicke: Die großen Frauen
der Weimarer Republik (1984, Kutzsch) . . .
Reihe „in alten Ansichten"
(Schultze-Berndt)
Reiseführer Berlin (1982/83, Köhler)
Reuther: Die große Zerstörung Berlins
(1985, Grunwald)
Rothkirch: Prinz Carl von Preußen
(1981, Knop)
Rueger: Soli Deo Gloria (1985, Wahren) . .
Safft: Haltestellen des Lebens
(Schultze-Berndt)
Seeger/Bötzel: Musikstadt Berlin
(1974, Wilde)
Der Senator für Gesundheit und Soziales
und Familie: Bericht (1981, Illigner)
Sichelschmidt: Berliner Leben
(Schultze-Berndt)
Sichelschmidt: Die Berliner und ihr Witz
(1978, Schultze-Berndt)
So schön ist Berlin (Schultze-Berndt)
Sombart: Jugend in Berlin 1933-1943
(1984, Illigner)
Spohn: Kommen und Gehen
(Schultze-Berndt)
Schall: Bier is ooch Stulle
(Schultze-Berndt)
Schlimpert: Brandenburgisches Namenbuch
(1984, Schiller)
Schmidt: Berlin-Kreuzberg
(1984, Schultze-Berndt)
Schneider: Der städtische Berliner
öffentliche Nahverkehr (Schiller)
Schramm: Also nee
(1983, Schultze-Berndt)
Schulz: Berlin und die Berliner
(1977, Schultze-Berndt)
Schwipps: Lilienthal (1979, Illigner)
Stadtansichten (Schultze-Berndt)
Stadtgeographischer Führer Berlin (West)
Bd. 7 (1981, Köhler)
227
148
277
426
150
317
294
60
146
61
228
277
400
294
555
275
398
553
205
28
146
28
277
Steckner: Museum Friedhof
(1984, Knop)
Steglitzer Heimat (Schultze-Berndt)
Steinle: Ein Bahnhof auf dem Abstellgleis
(1983, Schiller)
Trumpa: Zehlendorf gestern und heute
(Kutzsch)
Tucholsky: Sieben Beiträge zu Werk
und Wirkung (Grunwald)
Uebel: Viel Vergnügen
(1985, Schultze-Berndt)
40 Jahre RIAS Berlin (Schultze-Berndt) . . .
Vorstehen: Borsig (1983, Illigner)
Voß: Auf den Spuren Goethes in Berlin
(1982, Knop)
456
337
229
226
396
427
554
401
125
Was nun, Berlin (1982, Schultze-Berndt) . . .
Weber: Einladung nach Berlin
(1976, Kutzsch)
Wedding: Ein Bezirk von Berlin
(1983, Schultze-Berndt)
Wegener: So lebte Ludwig Fritz Wegener
(1970, Uhlitz)
So lebten wir 1913/1933 (1971)
So lebten wir 1933/38 (1971)
So lebten wir 1938/1945 (1972)
So lebten wir 1945/1951 (1976)
Ahnenliste Wegener (1985)
Wirth: Berlin und die Mark Brandenburg
(1982, Kutzsch)
Wolff: Augenblicke verändern uns mehr
als die Zeit (1982, Kutzsch)
Wollschlaeger: Chronik Friedenau
(1986, Knop)
206
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126
520
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F«dh«bt. der Beniner Stadtbibliothe»
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MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
79.Jahrgang
Heftl
Die Böhmische oder Bethlehemskirche in Berlin,
1737 eingeweiht, 1943 im Krieg zerstört
Januar 1983
/
2$6 Jahre Böhmen in Berlin
Von Otmar Liegl
Wie die Geschichte lehrt, ist Schlachtenglück oder Schlachtenunglück allein nicht die Voraussetzung für den Aufstieg oder den Niedergang von Nationen. Politische Entscheidungen
vorausschauender Art wie dynastische Verträge, Umstellung von der niederdeutschen auf die
hochdeutsche Amtssprache, Einführung der Reformation, Übertritt des Herrscherhauses zum
Calvinismus und die Förderung der Einwanderungswellen in das von Kriegen, Hunger und
Seuchen entvölkerte Land sind Meilensteine auf dem Weg Brandenburg-Preußens zur Großmacht gewesen. Als evangelische Glaubensflüchtlinge hat das Land Hugenotten, Salzburger
und Böhmen aufgenommen und in einem mehr oder weniger langen, z. T. über Generationen
hinweg dauernden gegenseitigen Anpassungsprozeß integriert. Zum Verständnis der böhmischen Einwanderung ist eine Betrachtung der Geschichte der evangelischen Kirche böhmischer
Konfession unerläßlich.
Die Christianisierung der heidnischen Tschechen erfolgte durch die beiden Slawenapostel
Cyrillus und Methodius. Die böhmische Kirche hatte also zunächst den griechischen Ritus.
Durch die Beziehungen mit und der späteren Abhängigkeit vom Fränkischen bzw. Heiligen
Römischen Reich verstärkte sich auch der Einfluß Roms und setzte sich schließlich durch.
Böhmen erlebte im 14. Jahrhundert einen großen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen
Aufschwung. Bildung, Handel und Wandel blühten, aber das einfache Volk hatte keinen
Zugang dazu. Die 1348 gegründete Universität Prag, mit italienischen und deutschen Lehrern
besetzt, führte den römischen Ritus 1350 in der Kirche voll ein, mit lateinischer Sprache und
Zeremonien beim Gottesdienst, Ehelosigkeit der Priester und Entzug des Laienkelches. Volksprediger traten dagegen auf. 1391 errichteten fromme Bürger und Ritter die Bethlehemskapelle
in Prag, in der nur böhmisch, d. h. tschechisch, gepredigt wurde. Auch Johann Hus, Magister
der Universität, predigte dort von 1402 bis 1412. Er war ein Volksredner und Agitator und
geißelte die herrschenden Zustände. Er war auch kein Freund der Deutschen, sondern förderte
das tschechische Nationalbewußtsein gegen Kaiser und Papst. Seine Verurteilung und Verbrennung am 6. Juli 1415 in Konstanz unter Bruch des kaiserlichen Schutzbriefes setzte ganz
Böhmen und seine Nachbarländer in Brand. 16 Jahre dauerten die Hussitenkriege. Der
Laienkelch wurde das Symbol eines Volkes, das stürmisch seine Vollberechtigung in der Kirche
und in der Gesellschaft forderte. Zwei Richtungen gab es unter den Hussiten: die gemäßigten
Utraquisten oder Kalixtiner, die auf vier Forderungen bestanden: den Laienkelch, die Landessprache beim Gottesdienst, die Herstellung der Kirchenzucht und die Abschaffung des weltlichen Besitzes der Geistlichen. Die gehobenen Schichten der Nation gehörten ihnen an. Dann
die radikalen Taboriten, die die gänzliche Reformation des Gottesdienstes forderten. In ihrer
urchristlichen Gütergemeinschaft zeigten sich republikanische und kommunistische Tendenzen. Sie vertraten breite Kreise des Landvolkes und der unteren Stände in den Städten, die
damals schwer zu leiden hatten. Zuerst kämpften die Hussiten gemeinsam gegen die Anhänger
Roms, bis die Kirche 1433 auf dem Basler Konzil in den Prager Kompaktaten auf die
Forderungen der Utraquisten einging. Nun wurden die Taboriten 1434 von den Utraquisten
und vom katholischen böhmischen Adel gemeinsam entscheidend geschlagen. Maßgebend am
Zustandekommen der Prager oder Basler Kompaktaten war Johann Rokyzana, Magister und
Prediger an der Teynkirche, der vom böhmischen Landtag zum Erzbischof der utraquistischen
Kirche gewählt, aber von Rom nie bestätigt worden war, weil man die Bildung einer utraquistischen Landeskirche nicht wollte. Rokyzana stand auf der Schwelle zwischen Katholizismus
2
Die Bethlehemskapelle in Prag,
wie sie bis 1786 aussah
und Protestantismus. Der Zusammenhalt zwischen Utraquismus und Rom und damit die
Einheit der Kirche gingen ihm über alles. Der Hussitismus war ursprüngliche keine Los-vonRom-Bewegung. Rokyzana gab aber den Anstoß für die Bildung der böhmischen Brüderunität.
Ihre Geschichte beginnt mit Gregor dem Schneider, der ein Neffe von Rokyzana und eifriger
Zuhörer unter seiner Kanzel war. Man hungerte nach guten Priestern und echter christlicher
Gemeinschaft und Lebensgestaltung. Rokyzana erwirkte beim König Podiebrad die Erlaubnis
für Gregor und seine Freunde, sich in Kunwald bei Senftenberg niederzulassen. Dort bauten sie
1457 eine Lebensgemeinschaft auf (Bratri Zakona Kristova = Brüder des Gesetzes Christi), um
sich nur durch das Vorbild des Evangeliums in Sanftmut, Armut, Demut und Feindesliebe
leiten zu lassen. Mit der Wahl und Weihe eigener Priester erfolgte die Loslösung von der
utraquistischen und römischen Kirche. 1467 erfolgte die Wahl des ersten Bischofs, der sich jetzt
Jednota bratrska (= Unitas fratrum, Brüderunität) nennenden Gemeinschaft. Die Brüder
nahmen nicht nur das Abendmahl in beiderlei Gestalt, sondern nach taboritischem Brauch
statt der geweihten Hostie gewöhnliches Weißbrot. Mit der Loslösung von Rom wurden die
Brüder zu Ketzern. Auch Rokyzana nahm in einem Hirtenbrief gegen sie Stellung. Utraquisten
und Brüder wurden Feinde. Damit begann die Verfolgung und die Zeit des Leidens für diese
Kirche. Unter dem Schutz des Adels breitete sie sich aber trotzdem in Böhmen und Mähren aus.
Der Adel hatte die Brüder als treue Untertanen, fleißige Handwerker und Bauern mit schlichter, sauberer Lebensführung schätzen gelernt. Sie nahmen Beziehung zu Luther auf, der trotz
mancher Meinungsverschiedenheiten ihre „Brüder-Konfession" mit einem Vorwort von ihm
1536 in Wittenberg drucken ließ. Auch in der utraquistischen Kirche regten sich wieder
reformatorische Bestrebungen, es bildete sich ein lutherischer neu-utraquistischer Flügel.
3
Nach dem Verbot der Brüderkirche durch das St.-Jakobs-Mandat, das bereits 1508 vom
böhmischen Landtag beschlossen und nach dem Schmalkaldischen Krieg 1548 erneuert worden war, kam es zur ersten großen Auswanderung nach Polen und Altpreußen, das damals
noch ein polnisches Lehen war. In Polen entstand eine selbständige Unitätsprovinz mit
Zentrum zunächst in Posen, später in Lissa. Aus Altpreußen wanderten die Brüder nach
25 Jahren wieder aus, weil sie dort als unbequeme Eindringlinge empfunden worden waren und
auch kein Verständnis bei der lutherischen Landeskirche fanden. Erst 1609 gewährte Kaiser
Rudolf II. auf Drängen der Stände mit seinem Majestätsbrief die Religionsfreiheit für alle
christlichen Bekenntnisse in Böhmen und Mähren. Eine 12jährige Glanzzeit folgte daraufhin
für die Brüderunität. Schon vor 1600 war das große Kralitzer Bibelwerk herausgegeben
worden, das eine Grundlage für die tschechische Schriftsprache geworden ist.
Die Niederlage der böhmischen Stände 1620 am Weißen Berg zu Beginn des 30jährigen Krieges
bedeutete die Vernichtung der evangelischen Kirche böhmischer Konfession, aber auch das
Ende einer selbständigen böhmischen Nation. Kaiserliche Patente erzwangen die Rekatholisierung durch die Ausweisung der evangelischen Geistlichen und ihrer Gemeindeglieder, wenn sie
nicht binnen sechs Wochen katholisch werden wollten. 1627 wurde der gesamte evangelische
Adel ausgewiesen. Das bedeutete den politischen Umsturz vom Ständestaat zur absolutistischen Erbmonarchie. 36000 Adels- und Bürgerfamilien mit mehreren hunderttausend Menschen verließen das Land. Der Hauptstrom der Auswanderung ging nach Sachsen und in die
Oberlausitz. Auch der letzte Bischof der verfolgten Brüderkirche in Böhmen, Johann Arnos
Comenius, verließ mit seinen Getreuen das Land und wandte sich 1628 über Schlesien nach
Lissa in Polen. Er ist nicht nur ein großer Theologe, sondern auch ein bedeutender Pädagoge
gewesen. Mit seinen Werken und Schriften hat er das europäische Schul- und Erziehungswesen
reformiert. Seine Reisen führten ihn nach Holland, England, quer durch Deutschland, Ungarn
und Schweden, Trotzdem ließ der schwedische Kanzler Oxenstierna die Brüderunität im
Westfälischen Frieden fallen. Comenius übertrug in Amsterdam, wohin er während des
schwedisch-polnischen Krieges fliehen mußte, kurz vor seinem Tod (1670) die Bischofswürde
auf seinen Schwiegersohn Peter Figulus, der sie dann weitergab an seinen Sohn Daniel Ernst
Jablonski, welcher seinen polnischen Familiennamen wieder angenommen hatte. Jablonski
war Senior der polnischen Unität und Oberhofprediger in Berlin geworden.
Die eingezogenen Güter in Böhmen und Mähren wurden mit Italienern, Franzosen, Schotten
und Deutschen besetzt. Die Bauern bekamen fremde Herren, die ihre Sprache nicht verstanden. In die Städte zogen Deutsche. Heimlich in Böhmen und Mähren verbliebene Evangelische
pflegten die hussitische Tradition über Generationen in geheimen Versammlungen und durch
die Lektüre der Bibel sowie den Gebrauch des Brüdergesangbuches. Der Protestantismus
stärkte die Bildungsantriebe auch bei der einfachen Bevölkerung. Die Ausübung der evangelischen Glaubensform in der Illegalität wäre Analphabeten nur schwer möglich gewesen.
Nach dem 30jährigen Krieg erfolgte die Abwanderung nicht mehr in Massen, sondern in
kleinen Gruppen, Jetzt waren es vorwiegend Kleinbürger und leibeigene Untertanen, Handwerker und Bauern, die das Land wegen des massiven wirtschaftlichen und religiösen Druckes
verließen. Die Frondienstverpflichtungen waren immer wieder erhöht worden, und es wurden
sogar Listen über die eingehaltenen Beichtstunden angelegt. Viele hielten diesen körperlichen
und seelischen Druck nicht mehr aus. In den Aufnahmeländern waren die Exulanten wegen der
durch Kriegsgreuel, Hunger und Seuchen bedingten allgemeinen Entvölkerung gern gesehen.
Sachsen und die Lausitz wurden dadurch dicht besiedelt. Man gewährte wirtschaftliche und
konfessionelle Privilegien, nicht zuletzt um dem Kaiser tüchtige Menschen wegzunehmen.
Sachsen gewährte das Bürgerrecht, das Recht auf böhmischen Buchdruck und die Ausübung
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von Handwerk und Handel. Allerdings verlangte die orthodoxe lutherische Landeskirche die
unbedingte Anpassung an den lutherischen Ritus, was dann den Anstoß zu Auseinandersetzungen gab. Im orthodoxen Luthertum war die Entscheidung zwischen Autoritätsglauben und
freier evangelischer Überzeugung noch nicht gesichert. Eine Gefahr bedeutete auch die sogenannte Erbvereinigung zwischen Böhmen und Sachsen, eine Vereinbarung, nach der Erbuntertänigen das Recht auf Auswanderung verweigert war, wenn sie nicht als Knechte und Mägde im
Gefolge ihrer selbst flüchtigen Grundherrschaft gekommen waren.
Anders war die Situation in Preußen. Die Hohenzollern hatten sich 1613 dem reformierten
Bekenntnis angeschlossen. König Friedrich Wilhelm I. erließ im Interesse seiner „Peuplierungspolitik" von 1718 an jährlich ein Patent, daß Kolonisten in Preußen unter günstigen
Bedingungen aufgenommen würden. Gefördert wurden die Auswanderungsbewegungen im
18. Jahrhundert in Böhmen und Mähren durch die Erweckungspredigten der Hallenser Pietisten in den schlesischen Gnadenkirchen, die Kaiser Josef I. aufgrund der Altranstädter
Konvention von 1707 zulassen mußte. Eine wichtige Rolle spielte die Kirche in Teschen, in der
die Oberschlesier Johann Liberda und Andreas Macher tschechische Predigten hielten. Die
beiden begegnen uns später wieder in Berlin als Prediger der dort aufgenommenen Böhmen.
1722 entstand bei Berthelsdorf in der Lausitz eine Kolonie mährischer Exulanten deutscher
Sprache, aus der Nikolaus Graf von Zinzendorf eine innerkirchliche Gemeinschaft formte mit
einer Gemeinderegel, die derjenigen der alten Brüderunität ähnelte. Wegen Schwierigkeiten mit
dem Staat und der Landeskirche errichtete er daraus ein selbständiges Kirchentum. Mit der
Weihe des mährischen Exulanten David Nitschmann im Jahre 1735 und zwei Jahre später von
Graf Zinzendorf zu Brüderbischöfen durch den Berliner Oberhofprediger und Senior der
polnischen Unität Jablonski war die Herrnhuter Brüdergemeine als erneuerte Unität entstanden.
Ebenfalls in der Lausitz, in Großhennersdorf, war eine tschechische Exulantenkolonie mit 600
Seelen entstanden, der die Gutsherrin Katharina von Gersdorf, eine Großmutter von Graf
Zinzendorf, den vorher schon erwähnten Liberda als Prediger gegeben hatte. Schwierigkeiten
mit der Gutsherrschaft und schlechtere Erwerbsmöglichkeiten als Folge der Zuwanderungen
veranlaßten Liberda, mit einigen Delegierten der Exulanten im Herbst 1732 Friedrich Wilhelm I., der ein halbes Jahr zuvor die emigrierten Salzburger so großzügig aufgenommen hatte,
für die Böhmen um Asyl zu bitten. Zunächst abweisend, gestattete er ihnen schließlich den
Einzug in Berlin in kleinen Gruppen, als sie unter den schlimmsten Bedingungen des Winters in
verzweifelter Lage an der Grenze der Mark standen und auch nach Sachsen nicht mehr hatten
umkehren können. 500 Menschen waren gekommen, zerlumpt und ermattet und ohne ihren
geistlichen Leiter, denn Liberda war in Sachsen verhaftet und als Aufwiegler, der sächsische
Untertanen wegführe, ins Zuchthaus Waldheim gebracht worden. Sein anfängliches Mißtrauen
überwand der König bald, nachdem er die Böhmen als ehrliche und fleißige Leute kennengelernt hatte. Um sie in Berlin zu halten, ließ er ihnen in der Friedrichstadt 39 Häuser bauen
zwischen Kochstraße und Halleschem Tor und gewährte ihnen noch eine Reihe von Vergünstigungen: freies Bürger- und Meisterrecht, 5jährige Steuerfreiheit, 2jährigen Mietzinszuschuß,
mehrere 100 Taler zur Beschaffung von Arbeitsmaterial, vorwiegend Garn und Flachs, denn es
handelte sich bei den Exulanten hauptsächlich um Leineweber und Flachsspinner, und die
Befreiung vom Militärdienst. Die Gemeinde wurde zunächst von ihren Ältesten geleitet, die
täglich eine Morgen- und Abendandacht hielten. Die ersten Trauungen und Taufen vollzog der
Oberhofprediger Jablonski in polnischer Sprache. 1735 berief der König als Prediger den in
Cottbus wirkenden Macher, weil er Liberda nicht freibekommen konnte. Außerdem ließ er
ihnen eine Kirche in der Mauer-, Ecke Krausenstraße bauen, die den Namen Bethlehemskirche
5
in Anlehnung an die Predigtstätte von Hus, die Bethlehemskapelle in Prag, bekam. Auch ein
eigenes Pfarr- und Schulhaus wurde in der Wilhelmstraße errichtet. Die Gemeinde bekam ein
eigenes Abteil im Friedrichstädtischen Friedhof vor dem Halleschen Tor, „weil sie sich nicht
mit dem deutschen Totengräber verständigen konnten". Im Volksmund hieß das Viertel bald
die Böhmische Walachei. Kurz nach der Kirchweihe 1737 ist Liberda mitsamt seinem Gefangenenwärter aus Waldheim eingetroffen, aus dem ihnen gemeinsam die Flucht geglückt war.
Liberda wurde nun vom König als Prediger eingesetzt und Macher nach Teltow versetzt.
Mittlerweile war auch im sächsischen Gerlachsheim bei Marklissa eine tschechische Kolonie
entstanden, die Augustin Schultz als Prediger bekam. Diese Menschen, fast 500 an der Zahl,
stammten aus der Gegend von Landskron, Leitomischl, Rotwasser und Hermanitz, also aus
Nordostböhmen und Nordmähren. Fürst von Lichtenstein, der Grundherr von Rotwasser,
beschwerte sich über den Wiener Hof in Dresden über die Aufnahme seiner Erbuntertänigen in
Sachsen und forderte ihre Rückführung. Die sächsische Regierung gab ihm recht und ließ die
Leute suchen. Augustin Schultz sah nun keine andere Möglichkeit als die Flucht für diesen
Personenkreis nach dem preußischen Cottbus. Dies geschah im Winter 1736/37. Darüber
empörte sich der Grundherr in Gerlachsheim und forderte von den Zurückgebliebenen
Schadenersatz. Da sie ihn nicht befriedigen konnten, konfiszierte er ihre Habe. Nur mit dem
Allernötigsten flohen nun auch diese Böhmen im Februar 1737 nach Cottbus. Mit 200 weiteren
Böhmen warteten in Cottbus 700 Tschechen auf die Erlaubnis, nach Berlin gehen zu dürfen. Sie
wurde erteilt. Um sie alle unterzubringen, ließ der König das Lehnschulzengut in Rixdorf in
Erbpacht geben. Es wurden neun Doppelhäuser mit Scheunen für je zwei Familien mit je 12 bis
14 Morgen Acker- und Gartenland gebaut. Die Häuser standen alle firstständig. Sie wurden an
18 geeignete Gerlachsheimer Familien erb- und eigentümlich übergeben. Dafür sollten sie nach
zwei Freijahren jährlich Zins zahlen und dem Pächter des Schulzenhofes einige Hand- und
Spanndienste leisten. Je Haus und Hof bekamen sie das notwendige Ackergerät, und jeder Wirt
erhielt zwei Pferde und zwei Kühe. In jeder Scheune wurden zwei Kammern ausgebaut für je
eine Einliegerfamilie. Die Einlieger mußten jedes Jahr vier Taler Miete zahlen und gegen Lohn
bei der Ernte helfen. Auch die Rixdorfer blieben vom Kriegsdienst befreit. So war neben der
Arbeiterkolonie in Berlin eine bäuerliche Kolonie in Rixdorf entstanden. Augustin Schultz
hatte die Rixdorfer zu betreuen und hatte auch die Hilfspredigerstelle in Berlin. Die Rixdorfer
versammelten sich zu ihren Gottesdiensten entweder in der deutschen Dorfkirche oder in
Kupkas Scheune in der Richardstraße. Die neue Siedlung wurde ein selbständiges Dorf und
bekam den Namen Böhmisch-Rixdorf zum Unterschied von Deutsch-Rixdorf. 1748 bekamen
weitere 20 Kolonisten die Erlaubnis, auf Rixdorfer Ackerstellen kleine Häuser zu bauen. Zu
dieser Zeit zählte Böhmisch-Rixdorf 300 Einwohner. 1751 wurde der Böhmische Gottesacker
am heutigen Karl-Marx-Platz eingeweiht. Das Dorfschulzenamt blieb in den Händen von
Kolonistenfamilien bis zur Vereinigung von Deutsch- und Böhmisch-Rixdorf im Jahre 1874.
Die Einwohner hatten kein leichtes Brot, auch die Bauern mußten für ihren Unterhalt nebenbei
weben und spinnen. Erst in der Gründerzeit kamen etliche ihrer Nachfahren durch den Verkauf
von Ackerland als Bauplätze zu Wohlstand. Mit tschechischem Schrifttum wurden die Kolonien in Berlin und Rixdorf für Kirche und Schule zunächst aus Halle versorgt, das neben Zittau,
Dresden und Lauban ein wichtiger Mittelpunkt des tschechischen Buchdrucks war. Von 1749
an gab es dann in Berlin selbst zwei böhmische Druckereien.
In Berlin wurde ein böhmisches Seminar für begabte Tschechenkinder eingerichtet, aus dem
eine Reihe späterer böhmisch-lutherischer Prediger hervorging. Auch ein eigener Chirurg
wurde den Böhmen zugestanden, und zwei Ehefrauen wurden in die königliche Anatomie
delegiert, um den Hebammenberuf zu erlernen. Später wurden noch zwei Freistellen im
6
Evangelisch-reformiertes Gemeindehaus mit Betsaal in der Richardstraße; bis 1874 auch Schule für die
böhmisch-reformierten und lutherischen Kinder in Rixdorf
Alumnat des königlichen Joachimsthalschen Gymnasiums für den böhmisch-reformierten
Predigernachwuchs in Preußen bewilligt. Das amtliche Berlin hat sich damals zwei-, wenn nicht
gar mehrsprachig gegeben. Es gibt Bürgerbriefe vom Rat der königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin, die in deutscher und tschechischer Sprache abgefaßt sind. Im 19. und 20. Jahrhundert wäre das nicht mehr denkbar gewesen. Fast 60000 Taler hat Friedrich Wilhelm I. für die
Berliner Böhmen ausgegeben, und er stellte 1739 weitere 6000 Taler für die Entwicklung seiner
böhmischen Kolonien zur Verfügung.
1740 bestieg Friedrich II. den Thron. Er brauchte Geld für die sogleich begonnenen Schlesischen Kriege. Friedrich II. lud nun zur Einwanderung nach Preußen in Böhmen und Mähren in
großem Stil ein, um Maria Theresia möglichst viele Untertanen wegzulocken. Dies unternahm
er zunächst wieder mit Hilfe der Hallenser Pietisten und der Prediger Liberda und Macher, die
nacheinander zu Inspektoren für die böhmischen Gemeinden in Preußen ernannt wurden. Den
Einwanderungsstrom lenkte er vorwiegend in die katholischen Gegenden des neu gewonnenen
Schlesiens, die habsburgfreundlich waren. Da die den Böhmen gemachten Versprechungen
trotz königlicher Anordnung von den schlesischen Grundherren oft nicht eingehalten wurden
- sie versuchten alsbald die Exulanten wieder in die Erbuntertänigkeit zu bringen -, gab es
Rückschläge. „Wir sind Böhmen, sollen wir keine Freiheit haben, so hätten wir in Böhmen
bleiben können", so heißt es einmal in einer Eingabe der Rixdorfer. Bevor die Böhmen aus
Schlesien wieder zurückwanderten, wollte der König das „eigensinnige Volk" lieber in Berlin
7
haben. Erst durch das Wirken böhmischer Prediger reformierter Konfession, die auf große
Spendenbeträge aus der Schweiz, Holland und Preußen zurückgreifen konnten, entstanden
zahlreiche Gemeinden in Schlesien, besonders um Münsterberg. Dem von Jablonski ordinierten Blanitzky zahlte der König 5 Taler pro angeworbene Familie und den Exulanten erstattete
er die Reisekosten, z. B. nach Berlin 2 Groschen pro Kopf und Meile.
Schon bald nach der Ansiedlung in Berlin ist es bei den Böhmen zu konfessionellen Streitigkeiten gekommen. Ihr erster Prediger Liberda, obwohl Lutheraner, nahm Rücksicht auf ihre alte
böhmische Tradition. Oblaten bei der Kommunion, Exorzismus bei der Taufe, Altar mit
Kruzifix und Kerzen erschienen ihnen als katholische Relikte. Liberda reichte ihnen beim
Abendmahl Weißbrot und keine Oblaten. Die Böhmen sagten schon in Sachsen, daß sie sich
des lutherischen Gottesdienstes nur insoweit bedienen wollten, als ihre böhmische Bruderordnung dabei bestehen könnte. Man unterschied zwischen Hussiten, welche sich zur lutherischen Krichenverfassung jederzeit gehalten, und den Brüdern, die sich der alten Bruderverfassung bedient hatten. Macher, der 1745 wieder an die böhmische Gemeinde in Berlin berufen
worden war, bestand darauf, Oblaten auszuteilen. Eine sich reformiert nennende Gruppe bat
deshalb 1747 in einer Eingabe an den König, eine eigene Gemeinde bilden zu dürfen. Nachdem
auch die Lutheraner den König um eine Entscheidung gebeten hatten, wurde eine Kommission
eingesetzt, vor der sich die Böhmen erklären sollten. Die Abstimmung ergab 108 Lutheraner,
133 Reformierte (4 in Rixdorf) und 179 Neutrale (davon 65 Rixdorfer), die sich dann als
böhmisch-mährische Brüdergemeine konstituierten. Für die Reformierten wurde der von
Böhmen abstammende Theophil Eisner von der polnischen Brüderunität in Lissa berufen, der
seine ersten Predigten in polnischer Sprache hielt, bis er des Tschechischen ganz mächtig war.
Die Berliner und Rixdorfer Brüdergemeine hat offiziell 1756 den Anschluß an die Herrnhuter
Unität vollzogen. Im übrigen wurden die Reformierten von Ältesten (Presbytern) geleitet.
Geplant war sogar, Presbytissen („Ältestinnen") zu wählen, für die damalige Zeit ein Novum.
Die Bethlehemskirche in Berlin wurde zur Simultankirche erklärt, auch in das Pfarr- und
Schulhaus mußten sich Lutheraner und Reformierte teilen, was viele Streitigkeiten verursachte.
Je nach der Gottesdienst haltenden Konfession mußten Kruzifix und Kerzen in die Kirche
hinein-oder herausgebracht werden. Die Herrnhuter erwarben eigene Gebäude in der Wilhelmstraße für ihre Versammlungen. Das reformierte Schulgebäude in Rixdorf entstand 1750.
Es wurde Anfang des 19. Jahrhunderts (1835) durch ein neues Gebäude, das heute noch als
Betsaal benutzt wird, ersetzt. Die Herrnhuter bauten auch in Rixdorf eine Schule (1754), das
älteste profane Gebäude, das heute noch steht, und ein Gemeinhaus (1761), das nach einem
Ausbau im 19. Jahrhundert (1833), 1944 durch Fliegerangriff zerstört wurde, wobei der Prediger mit zehn Gemeindegliedern umkam. 1884 erwarb die böhmisch-lutherische Gemeinde in
Rixdorf durch Kauf die deutsche Dorfkirche, die 1912 auch den Namen Bethlehemskirche
bekam. Nach hussitischem Brauch waren Bänke, Brüstung der Empore, Orgel, Kanzel,
säulenartige Einfassung des Altarbildes sowie beide Türen zur Sakristei weiß gestrichen,
entsprechend dem Weiß in den Betsälen der Reformierten und der Brüdergemeine. Bei ihrer
Renovierung 1939/1941 wurde durch den Landeskonservator diese hussitische Tradition unterdrückt. Das Gestühl mußte im Stil der Berliner Dorfkirchen braun gestrichen werden. In
einer anderen Berliner Dorfkirche (Schöneberg) war es dagegen der Landeskonservator, der
einen hellen Anstrich für das Gestühl empfahl.
Die konfessionelle Spaltung griff auch auf die anderen im Berliner Raum und in Schlesien
entstandenen böhmischen Gemeinden über.
Zur Entwicklung der Industrie und Kultivierung wüster Sandschollen entschloß sich der
König, einen Kranz weiterer Kolonien um Berlin zu bilden. Dabei griff er vorwiegend auf
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Das 1944 im Krieg zerstörte Gemeindehaus der Brüdergemeine Neukölln mit dem charakteristischen
Dachreiter
Böhmen zurück wegen ihrer Bedürfnislosigkeit und ihres Fleißes. So entstand 1750 NeuSchöneberg (Krasna Hora) als eigene politische Gemeinde am „Böhmerberg" zwischen dem
heutigen Kleistpark und dem Kaiser-Wilhelm-Platz. Die 20 Kolonistenstellen waren mit
Berliner Böhmen besetzt worden, die sich verpflichten mußten, jewels zwei weitere neue
Familien herbeizuschaffen, von denen eine ihre aufgegebene Einliegerstelle in Berlin einnehmen, die andere mit ihr in ihrem neuen Haus wohnen sollte. Hier entstanden später die
Wirtshäuser, Tanzcafes und Tabagien, die Schöneberg sogar im Lied bekannt machten. Und
bald danach folgte Böhmisch-Neuendorf, das später in der tschechischen Übersetzung auch
amtlich Nowawes hieß. Dieser Name wurde erst 1938 im Dritten Reich in Babelsberg geändert.
Hier wurden 100 Häuser gebaut, bis auf das Pfarr- und Schulhaus lauter Doppelhäuser. 1751
wohnten dort schon 60 böhmische Familien. Schönerlinde (Krasna Lipa) bei Köpenick,
gegründet 1752, war nur eine kleine Siedlung mit neun Feuerstellen. Von Neu-Zittau (1752)
weiß man nicht einmal, ob dort überhaupt Böhmen gewohnt haben. Bedeutender war dann
wieder Friedrichshagen am Müggelsee, gegründet 1753. Hier waren 50 Doppelhäuser für 100
Familien gebaut worden, von denen 1765 33 böhmische waren. In Schönholz (1767/68) lebten
zwölf böhmische Siedler, in Boxhagen bei Rummelsburg (1771) sieben. In Grünau (1768) waren
vier böhmische Kolonistenfamilien angesiedelt. In Neu-Zehlendorf (Hubertushäuser), 1768
gegründet, ist unter den zehn Kolonistenstellen nur ein Böhme gesichert.
Die Kolonistenhäuser, meistens Doppelhäuser, wurden in der Regel auf Staatskosten erbaut,
erb- und eigentümlich mit Garten oder Wiesenland von einem oder mehreren Morgen übergeben. Meistens war die Bedingung daran geknüpft, keine Schulden aufzunehmen, die Besitztümer über mehrere Generationen weg nicht ohne Genehmigung der kurmärkischen Domänenkammer zu verkaufen, und wenn, dann nur wieder an einen Ausländer oder wie in Nowawes
auch an einen Soldaten. Aus wirtschaftlichen Gründen konnten die Bestimmungen oft nicht
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eingehalten werden. In Notzeiten wie im 7jährigen Krieg verkauften in Nowawes einige
Kolonisten heimlich ihr Besitztum und flohen. Auch Zuschüsse zur Einrichtung wurden
gegeben und die Befreiung von Steuerlasten und vom Militärdienst zugesichert. Der König
legte Maulbeerplantagen an zur Seidenraupenzucht, um den Verdienst der Kolonisten zu
verbessern. Alle aber erlebten bitterste Notzeiten, weil der Boden zu karg war und das zugeteilte
Land oft nicht ausreichte, um zur Selbstversorgung eine Kuh zu halten. Die Entlöhnung für die
Textilarbeiter war so kümmerlich, daß die ganze Familie mit den Kindern arbeiten mußte. In
Nowawes hatten die Kolonisten Zwangsverträge, sie durften nur für einen Kattunfabrikanten
arbeiten. Hier brach der erste Weberaufstand in Preußen im Jahre 1785 aus. Berlin war damals
die größte Textilstadt auf dem Kontinent.
Außer Neu-Schöneberg, das zunächst als reine Böhmenkolonie angelegt worden war, hatten
alle anderen von Friedrich II. angelegten Siedlungen von Anfang an einen mehr oder weniger
großen Anteil von Siedlern deutscher Sprache. In Nowawes waren es vorwiegend Schweizer
und Württemberger. Kirchlich gehörten die Siedlungen zur Bethlehemsgemeinde in Berlin oder
nach Rixdorf, wenn sie nicht von vornherein in eine deutsche Gemeinde eingepfarrt waren. Sie
hatten aber, wenn die Kopfzahl der Böhmen nicht wie in Schönholz, Neu-Zehlendorf, Grünau
zu klein war, einen böhmischen Lehrer bewilligt bekommen. Nur das rasch größer gewordene
Nowawes bekam einen lutherischen Pfarrer, den zu wählen bis 1797 das Vorrecht der Böhmen
war. Er mußte aber Böhmen und Deutsche gleichermaßen betreuen. So wurde im Gottesdienst
zuerst tschechisch, dann deutsch gepredigt. Die Lieder sang man gemeinsam, jeder in seiner
Sprache. Später trennten sich die Gemeinden. Der gemeinsame Pastor hatte es schwer. Die
Böhmen behaupteten, er kümmere sich zuwenig um ihre Gemeinde, die Deutschen beklagten
sich, daß er bohemisiere. Die Einwohner in den neuen Kolonien zogen oft von Berlin her zu,
weil sie in der neuen Siedlung z. B. keinen Zins zu zahlen brauchten. Die Kolonisten in
Boxhagen kamen direkt aus Böhmen bzw. Mähren. Der König stellte 1762 einen böhmischen
Colonie-Commissarius ein, der die Privilegien und Freiheiten der Böhmen zu vertreten hatte
und zugleich vereidigter Dolmetscher und Vermittler bei der preußischen Obrigkeit war.
Die Böhmen lebten die ersten Jahrzehnte sehr zurückgezogen und abgeschlossen von der
deutschen Bevölkerung, heirateten nur untereinander. Spannungen mit den Einheimischen
waren nicht selten. Der Zuzug aus der Heimat stärkte das böhmische Element in Berlin. Sehr
aktiv waren die drei Berliner kirchlichen Gemeinden auch in der Herausgabe tschechischer
Literatur. Der lutherische Pfarrer Servus verfaßte eine Geschichte der böhmisch-lutherischen
Gemeinde, die heute in Prag aufbewahrt wird. Das mit einer Widmung an die preußische
Königin versehene böhmische Kancyonal des reformierten Pfarrers Eisner ist bis in die jüngste
Zeit bei den Exulantengemeinden in Osteuropa in Gebrauch gewesen. Auch er gab eine
Verfolgungsgeschichte und einen Abdruck des Bruderkatechismus von 1608 heraus.
Während der Napoleonischen Kriege wurden auch die Böhmen zum Heeresdienst eingezogen.
Als Freiwillige ist sogar ein als Soldat verkleidetes böhmisches Mädchen aus Friedrichshagen,
Eleonora Prohaska, im Lützowschen Korps gefallen. 1813 bewährten sich die Böhmen als
Dolmetscher zwischen Deutschen und Russen.
Mit dem Erlaß des Toleranzpatentes und der Aufhebung der Leibeigenschaft in Böhmen und
Mähren 1781 durch Kaiser Josef II. hörte die Abwanderung aus den böhmischen Ländern auf.
Es kam sogar zu Rückwanderungen aus dem preußischen Schlesien und aus Berlin. Mit der
Aufhebung der Leibeigenschaft und im Gefolge davon der Befreiung von der gutsherrlichen
Gerichtsbarkeit und anderer drückender Lasten ist Josef IL seinen Nachbarländern weit
vorausgeeilt. Dadurch und dank dem Reformkatholizismus der Josefinischen Zeit blieben
Böhmen und Mähren katholisch. Nur 2 % der Bevölkerung, 45 000 Menschen, erklärten sich
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Der zweisprachige Grabstein der Katerina
Gelinkowa (gesprochen: Jelinkowa)
geb. Aplowa (Catharina Hirschel
geb. Appelin), gest. 1796, an der Wand des
Böhmischen Gottesackers in Neukölln
für evangelisch. Die in der Heimat seit fast 200 Jahren so sehr vernachlässigte tschechische
Nationalkultur konnte an die Werke der Emigration anknüpfen. Darin liegt das Wunder der
tschechischen Wiedergeburt in Böhmen und Mähren. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte
man die Germanisierung der böhmischen Länder auch in tschechischen Kreisen für unvermeidlich gehalten.
Dafür begann jetzt in der Emigration die Sorge um die Erhaltung der nationalen Identität. Das
vorhandene Nationalgefühl verhinderte zwar eine schnelle Eindeutschung. Aber „die Alten
sterben weg, und die Jungen entwöhnen sich der Muttersprache und schließen sich deutschen
Gemeinden an", heißt es einmal. Besonders in den Kolonien mit von vornherein gemischter
Bevölkerung starb die böhmische Sprache bald aus. Die Familiennamen wurden der deutschen
Schreibweise angepaßt, z. T. direkt ins Deutsche übersetzt: aus Sagiz wurde Hase, aus Lischka
Fuchs. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden die böhmischen Lehrerstellen in
den gemischten Kolonien gestrichen. 1809 wurde die böhmisch-lutherische Gemeinde in
Nowawes mit der deutsch-lutherischen zusammengelegt. 1822 wurde ein böhmischer ColonieCommissarius nicht mehr bewilligt. In den meisten ehemaligen Kolonien erinnert heute nichts
mehr an die böhmische Vergangenheit. Vielfach sind sogar ihre Ortsnamen von der Landkarte
verschwunden durch Eingemeindung oder Zusammenschluß und leben nur noch in Straßennamen weiter.
Nur in Rixdorf hat sich das böhmische Element, die tschechische Sprache bis ins 20. Jahrhundert erhalten, obwohl der preußische Staat mindestens seit den 20er Jahren des vorletzten
Jahrhunderts und noch schlimmer seit 1871 eine forcierte Eindeutschungspolitik gegenüber
seinen Minderheiten betrieben hat. 1835 klagt ein Lehrer aus Hussinetz in Schlesien: „Was wir
von den höheren Ämtern erlitten, das weiß nur Gott und wir allein." Als in Berlin 1827 bei der
11
lutherischen Bethlehemsgemeinde die Pfarrstelle ihres letzten und größten böhmisch predigenden Geistlichen durch Tod und 1829 auch bei der reformierten Bethlehemsgemeinde durch
Amtsniederlegung die Pfarrstelle frei wurde, verweigerte das Konsistorium die Bestätigung des
böhmisch predigenden Magisters Johann Wilhelm Rückert und oktroyierte den Gemeinden
unter Übergehung auch anderer zweisprachiger Bewerber jeweils einen Geistlichen, der die
tschechische Sprache nicht verstand. Allein in Rixdorf konnte Rückert noch bis 1840 jährlich
einige böhmische Gottesdienste abhalten. Auf ihren Protest hin wurden zwei Älteste der
Reformierten wegen Beleidigung des Konsistoriums zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt.
Die Strafe wurde später auf 14 Tage Arrest herabgesetzt und den Gemeinden das Recht auf
Wahl des Geistlichen wieder bestätigt. Die Kirchenleitung vertrat die Eindeutschungsbestrebungen noch härter als die staatlichen Ämter. Sie erwog sogar den Plan, die böhmischen
Gemeinden überhaupt aufzulösen. Mit dem Ende der böhmischen Sprache im Gottesdienst
hörte auch die tschechische bzw. zweisprachige Beschriftung der Grabsteine auf. Wie lange der
böhmische Gottesdienst bei den Herrnhutern angehalten hat, geht aus keinen Aufzeichnungen
hervor. In der Brüdergemeine wurde bis 1875 aber noch die große Kirchenlitanei in tschechischer Sprache verlesen. Und das böhmische Gesangbuch wurde erst 1893 endgültig durch das
deutsche ersetzt. Die Schulen der beiden Bethlehemsgemeinden in Berlin wurden 1871 geschlossen, und in Rixdorf erfolgte die Zusammenlegung mit der deutschen Schule 1874 bei der
Vereinigung von Deutsch- und Böhmisch-Rixdorf. Die Schule der Rixdorfer Brüdergemeine
wurde erst 1909 aufgehoben. Ein Treffpunkt derjenigen, die die böhmische Sprache noch
pflegten, waren um die Jahrhundertwende die Räume der Mutter Noack im Keller gegenüber
der Einmündung des heutigen Hermhuter Weges in die Richardstraße, gegenüber dem alten
Sandkrug, der Ceska Hospoda. In Neukölln, wie Rixdorf seit 1912 heißt, starb 1925 der letzte
Böhme, der kaum ein Wort Deutsch verstand, und 1940 verschieden die beiden letzten
Böhminnen, die die tschechische Sprache noch beherrschten.
Im letzten Krieg wurde die Friedrichstadt, die sich schon lange aus einem Wohn- in ein
Geschäftsviertel verwandelt hatte, zerstört und damit auch die böhmische Kirche und das
Gemeinhaus der Hermhuter. Während die Böhmisch-Reformierten in Berlin und Rixdorf
schon immer eine Gemeinde (mit zwei Predigtstätten) bildeten, sind die beiden anderen
böhmischen Gemeinden in Berlin nach dem Krieg mit ihren Schwestergemeinden in Neukölln
verschmolzen worden. Der alte Böhmische Kirchhof in Berlin ist bis auf einen kleinen Rest 1971
der Straßenerweiterung am Blücherplatz zum Opfer gefallen. Für das in Neukölln durch eine
Fliegerbombe vernichtete Gemeinhaus hat die Brüdergemeine 1961 ein modernes Gemeindezentrum bekommen, das leider architektonisch aus dem Rahmen des Böhmischen Dorfes fällt.
Die alten Brüderhäuser haben nämlich einen eigenen Baustil mit Dachtürmchen. Stadtbaurat
Kiehl hat sich offenbar bei der Anlage des Neuköllner Krankenhauses in den Jahren 1906 bis
1909 davon inspirieren lassen. Der Mitteltrakt im Hauptgebäude mit dem großen Versammlungssaal im 1. Stock ist architektonisch einem brüderischen Gemeinhaus ähnlich.
Die reformierte Gemeinde hat 1938 die Bezeichnung „böhmisch" aus ihrem Namen gestrichen,
weil sie zu einer Sammelgemeinde geworden war. 1940 stellte sie aber noch fest, daß die
Gemeindezugehörigkeit erblich sei und am Namen hänge. Manches hat sich noch an altem
böhmischem Brauchtum in den Gemeinden erhalten: bei den Reformierten das Lichterbrett bei
der Christvesper und bei der Brüdergemeine der Ostergang mit dem Bläserchor am frühen
Sonntagmorgen auf den Böhmischen Gottesacker, um der Heimgegangenen zu gedenken. Zu
Weihnachten wird von einem Teil der Brüdergemeine noch das alte böhmische Weihnachtslied
Cas radosti (Zeit der Freuden) gesungen. 1912 haben die drei Gemeinden ein Denkmal für
König Friedrich Wilhelm I. am Eingang in das Böhmische Dorf errichtet. Im letzten Krieg
12
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2)To jssme wschichni
3)Sspassiteli,
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2)Zo andjele
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1)W mjesstetschku
2)A protosch
3)Krali na3ch,
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2 Paoholatfcu,
3)DeJ «Llosti
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wschichni
sse
ssklonj sse k nam
pacholatko
nealuwnjatku
tw« radosti
na simnje.
sspiwejme.
dojit nam.
na aslamnje
radujm5,
jako Pan,
entging es der Einschmelzung nur, weil es Privatbesitz der Gemeinden ist, und nach dem Krieg
hat es die sowjetische Besatzungsmacht verschont, weil es von Slawen erbaut worden war.
Das Böhmische Dorf hat sein Aussehen nach dem großen Brand von 1849 verändert. Nur ein
einziges Haus ist wieder so firstständig aufgebaut worden, wie einst alle anderen auch standen.
Noch acht Anwesen werden von Nachfahren der eingewanderten Böhmen bewohnt. Sie
pflegen die überkommene Tradition und haben mittels einer Bürgerinitiative im Jahre 1981 die
Zerstörung der immer noch von ihnen geprägten Dorfstruktur durch ein geplantes großes
schulisches Oberstufenzentrum mitten im Ortskern verhindern können.
250 Jahre sind Böhmen in Berlin. Die Geschichte spricht nicht nur aus den Straßennamen,
sondern auch aus dem Wappen Neuköllns mit dem Hussitenkelch. Die böhmische Einwanderung ist nie so spektakulär betrachtet worden wie die hugenottische oder salzburgische,
wahrscheinlich aus einem antislawischen Vorurteil heraus. Es hat sogar Zeiten gegeben, in
denen versucht worden ist, die tschechische Herkunft der Einwanderer zu verschleiern. Neben
schon vorher erwähnten Ereignissen wurden 1938 in Neukölln die Johann-Hus-Straße (heute
Zwiestädter Straße) und vermutlich auch die Taboritenstraße (heute ein Teil der Kirchhofstraße) umbenannt, wie überhaupt viele Bezeichnungen, die an slawische Besiedlung oder
Einflüsse erinnerten, damals in der Mark und andernorts ausgelöscht worden sind. Gerüchteküche und Mundpropaganda hatten im Dritten Reich das zu besorgen, was niederzuschreiben
noch nicht möglich war. Die Böhmen waren auf einmal zu Deutschstämmigen, quasi Sudentendeutschen von Anbeginn, ernannt worden. Im Arrangement mit dem Regime blieb es nicht
aus, daß vereinzelt auch einer von ihnen einen deutschen Herrenstandpunkt gegenüber den
„minderwertigen Slawen" eingenommen hat. Dieser Versuch einer Geschichtsklitterung dürfte
überwunden sein.
Die böhmische Einwanderung hat nicht nur in Berlin Bleibendes für uns hinterlassen. Der
große böhmisch-lutherische Prediger Janik bzw. Jänicke hat im Jahre 1800 die erste Berliner
Missionsgesellschaft und 1805 eine biblische Gesellschaft gegründet, aus der die Preußische
Hauptbibelgesellschaft hervorgegangen ist. Sein Nachfolger in der Leitung der Gemeinde,
Johannes Goßner, bayerischer Herkunft, gründete die große Missionsgesellschaft, die seinen
Namen trägt, und das älteste in West-Berlin stehende Krankenhaus, das Elisabethkrankenhaus
in der Lützowstraße. Daniel Ernst Jablonski, der Enkel des Brüderbischofs Comenius, hat als
Oberhofprediger in Berlin die Berliner Akademische Gesellschaft gegründet. Der in Berlin
geborene archäologische Schriftsteller Ceram (u. a. Verfasser von „Götter, Gräber und Gelehrte") benutzte dieses Wort als Pseudonym, es ist sein umgekehrt gelesener böhmischer
Familienname Marek. Die Masse der im Deutschtum aufgegangenen bäuerlichen und handwerklichen Exulanten bildete einen Grundstock der Berliner Arbeiterschaft. Nach den ersten
adelig-bürgerlichen Einwanderungswellen nach Sachsen haben Gelehrte böhmischer Abkunft
wie der Philosoph und Naturforscher Tschirnhaus das deutsche Geistesleben beeinflußt und
befruchtet. Manche großen Geister unserer Nation wie Herder, Lessing und Schleiermacher
sind von böhmischen Schulen geprägt worden, durch die sie gegangen waren. Die Einwanderungsbewegungen brachten eine Auflockerung der Gewerbebeschränkungen in der Stadt und
des Flurzwanges auf dem Lande mit sich. Sie beschleunigten dadurch die Befreiung des
Bauernstandes und die Emanzipation des Bürgertums.
Auf den Souverän gemünzt, der sie in seinem Land aufgenommen hat, haben die Böhmen in
Rixdorf den Leitsatz: Lev ostrihä holubicku (Der Löwe beschützt das Täubchen).
An die Stelle des Monarchen ist als Souverän das Volk, die Gesellschaft getreten. Der Rang
dieser Gesellschaft ist so hoch wie die Achtung, die sie ihren Minderheiten und deren Rechten
entgegenbringt.
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Böhmische Kolonien in und um Berlin
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10.
11.
Südliche Friedrichstadt, die „böhmische Walachei" (1732)
Böhmisch-Rixdorf(1737)
Neu-Schöneberg (Krasna Hora), am „Böhmerberg" (1750)
Nowawes (Böhmisch-Neuendorf) (1751)
Schönerrinde bzw. Grünerlinde (Krasna Lipa) (1752)
Neuzittau (1752) (für Sachsen und Böhmen gegründet)
Friedrichshagen am Müggelsee (1753)
Schönholz (1767/1768)
Neu-Zehlendorf (Hubertushäuser) (1768)
Grünau (1768)
Boxhagen bei Rummelsburg (1771)
Literatur
Akten der böhmischen Gemeinden beim Archiv der Evangelischen Kirche in Berlin (West).
Brode, Eugen: Geschichte Rixdorfs. Verlag Mier & Glasemann, Rixdorf 1899.
Die Bethlehems- oder Böhmische Kirche. Evangelisches Gemeindeblatt Berlin, Jg. 23, Nr. 8-10,
August-Oktober 1972.
Die Brüderunität in Bildern 1457-1957. Prag 1957. Herausgegeben von der Brüderunität in Prag.
Geschichte der Brüdergemeine Rixdorf zum 150jährigen Jubiläum der Gemeine am 4. März 1906 (Rixdorf
1906).
Hort, Irmgard: Die böhmischen Ansiedelungen in und um Berlin. Aus Herbergen der Christenheit.
Jahrbuch für Deutsche Kirchengeschichte 1959. Koehler & Amelang (VOB), Leipzig.
Huettchen, Bruno: Ein Böhme schuf Berlins „Carlsbad". Berliner Börsenzeitung, 28.3.1939.
Kafka, Otto F.: Reminiszenzen an Familie Serno. Mitteilungsblatt des Neuköllner Heimatvereins, Nr. 10,
S. 151, August 1957.
Knak, G.: Johann Jänicke, der evangelisch-lutherische Prediger an der böhmischen oder Bethlehemskirche zu Berlin nach seinem Leben und Wirken dargestellt von Karl Friedrich Ledderhose, evangel.
Pfarrer u. Dekan zu Neckarau bei Mannheim, und zum Besten der Mission für China. Im Selbstverlag
Berlin 1863.
Knak, Johannes: Festbüchlein der böhmisch-lutherischen Gemeinde der Bethlehems-Kirche. Selbstverlag
Berlin 1887.
Möller, Georg: Von Richardsdorf bis Neukölln. Neukölln 1926.
Motel, M.: Böhmisches Dorf - Böhmische Dörfer? Geschichte und Entwicklung eines Neuköllner
Phänomens. Bezirksamt Neukölln von Berlin, Pressestelle, Paul Kistmacher Druckerei 1982.
Müller, Joseph Th.: Geschichte der böhmischen Brüder. Herrnhut 1925 und 1931.
Lic. Nordmann, Walter: Der Böhmenzug. Aus „Der Heliand". Verlag des Evangelischen Bundes, Berlin
1937.
Petranek, Adolf: Festschrift zur hundertundfünfzigjährigen Gedenkfeier der Einweihung der Bethlehemskirche zu Berlin. Verfaßt im Auftrage der Ältesten der evangelisch-reformierten böhmischen
Gemeinde. Friedrich Luckardt, Berlin 1887.
Petranek, Adolf: Die Bethlehemskirche zu Berlin. Der Bär, 14. Jg., Nr. 13 (24.7.1887).
Schmidt, Hans: Die böhmischen Brüder. Burckhardtshaus-Verlag, Berlin-Dahlem 1938.
Schneider: Zur Erinnerung an die Jubelfeier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Brüdergemeine in
Berlin am 29. September 1901. J. Windolff. Berlin SW12.
Prof. Dr. Schultze, Johannes: Rixdorf- Neukölln. Herausgegeben vom Bezirksamt Neukölln. Mier&
Glasemann KG, Berlin-Neukölln 1960.
Winter, E.: Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert.
Akademie-Verlag, Berlin 1955.
Winz, Helmut: Es war in Schöneberg. Haupt & Puttkammer OHG, Berlin 1964.
Anschrift des Verfassers: Priv.-Doz. Dr. med. Otmar Liegl, Grünlingweg 6, 1000 Berlin 47
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„Die Weihhändler Mitscher und Caspary,
gelegen an der Königs- und Klosterstraßen-Ecke ..."
Vor Christiane Knop
Diese Ecke gibt es in Ost-Berlin noch. Zwar ist sie wie seit dem 18. Jahrhundert noch immer ein
Punkt im geschäftigen Stadtverkehr; die einstige Königsstraße heißt heute Rathausstraße und
zieht sich durch Hochhauszeilen dahin. In friderizianischer Zeit standen hier und in der
Klosterstraße barocke Stadtpaläste, wovon heute einzig das Podewilssche Palais zeugt. Die
Weinstube Mitscher und Caspary war ihm einst benachbart - eine „gute Adresse" in der
Gesellschaft -, und ihr Haus wiederum grenzte an die schöne frühgotische FranziskanerKlosterkirche aus der Zeit der askanischen Markgrafen. Doch ihre heutige Ruine mit der
kristallinisch reinen Form der durchbrochenen Maßfenster im Chor ist nun ein abseitiger Ort.
Das Verkehrsgebrause verschallt hinter Mühlendamm und Jüdenstraße. In der Klosterstraße
herrscht gespenstische Stille.
Erst wenn Abendnebel vom Westen, vom Dom her aufziehen, steigt das Vergangene auf. Da
verbindet sich im Geiste des Betrachters auch Aufstieg und Ausprägung der beiden Weinhändlerfamilien Mitscher und Caspary und deren Handlung im Dunstkreis des preußischen
Königshofes.
Familientradition und Geschäft werden heute in West-Berlin von der letzten Caspary-Erbin
fortgeführt, und sie bewahrt, wie durch Wunder und sonderbare Launen der Geschichte
erhalten, eine ganze Kiste mit handschriftlichen Urkunden, alten Frachtbriefen, Rechnungen
und Kontobüchern auf. Sie bezeugen vom Reisepaß des ersten Mitscher bis zur Ernennung des
letzten Caspary zum Handelsrichter in der Weimarer Republik, wie sieben Generationen
Berliner Bürger, fünf davon im Zusammenhang mit dem Hohenzollernhaus, in der Residenzstadt eine Wein- und Gesellschaftskultur formten. „Es war immer ein schweres Gewerbe",
betont die letzte Erbin und meint damit die Arbeit im Weinberg; es gilt aber auch für das Stehen
in preußischen Zeitläuften. Denn es hielt die Familientradition auch fest, was es hieß, preußischer Untertan und Berliner Bürger zugleich zu sein. Und sie kann dartun, was es, besonders in
Napoleonischer Zeit, an Leistung erforderte.
Die Casparys standen dank ihrer moselländischen Herkunft der gelegentlichen berlinischen
Selbstgefälligkeit kritisch gegenüber, trugen dessen ungeachtet aber die Lasten eines residenzstädtischen Gemeinwesens, als wären sie sie sich selber schuldig.
Zwar hatten sie nie den literarischen Nimbus wie Lutter und Wegener; kein E. T. A. Hoffmann
und kein Ludwig Devrient nahmen bei ihnen Zuflucht vor dämonischem Selbstverzehren.
Auch hatten sie nicht den Vorzug, sich „Königliche Hoflieferanten" zu nennen wie die Habeis
Unter den Linden. Es mochte bei ihnen wohl eher ausgesehen haben wie in Sala Tarones
Etablissement, das Fontane im „Schach von Wuthenow" beschreibt: ein schlichtes Stadthaus,
eine schaukelnde Laterne in der Hausdurchfahrt für die Rollwagen, sonst alles „duster", und
der Küfer warnt die späten Gäste: „Aliens voll Pinnens un Nagels!" Im verblakten Keller aber
findet man seine Behaglichkeit, später dann, in der ausgehenden Wilhelminischen Zeit, prächtige Räume, KPM-Geschirr und Bestecke von Sterlingsilber.
Doch wir sind der Zeit vorausgeeilt.
Es kamen die Begründer Justus Mitscher und Nicolaus Caspary, Ableger zweier alter Familien
aus Traben-Trabach, 1784 nach Berlin. Friedrich der Große hatte die Stelle eines Kellermeisters
an seinem Hofe ausgeschrieben; doch ihnen beiden zuvor kam um wenige Wochen Simon
Habel, der die Stelle bekam. Dennoch blieben beide und suchten in Berlin ansässig zu werden.
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Sie müssen der heimatlichen Sippe abenteuerlich erschienen sein mit ihrem Entschluß, es mit
dem preußischen Friedrich und seinen Berliner Spreeweinen aufzunehmen. - Vom großen
Friedrich wußte man, daß er französische Rotweine bevorzugte und von deutschen Weißweinen nichts hielt. Ein Zeitgeschmack.
Die Pflege der Spreeweine war damals noch den Wollanks1 anheimgegeben. Heute ist nicht
mehr ersichtlich, wie weit Rat und Förderung der Wollanks mitgespielt haben beim Entschluß
der jungen Weinhändler. Eine lose Verbindung jedoch muß sich hergestellt und erhalten haben;
denn die Casparys verkauften 1848 die letzte Flasche Wollankschen Wein für drei Taler - da
„ging" er schon nicht mehr; tout Berlin einschließlich des Hofes hatte Mosel- und Rheinwein
schätzen gelernt, und Glaßbrenner verspottete den Spreewein als „Schulwein", geeignet, „sehulunwillige Kinderkens" damit in die Schule zu jagen, indem man ihnen androhe, andernfalls den
sauren Spree wein trinken zu müssen. Die Wollanks dagegen lieferten den Casparys 1794 die
Steine zum Hausneubau.
Justus Mitscher kam mit einem Paß aus Frankfurt am Main. „Wir, Bürgermeister und Rat des
Heiligen Reichs Stadt, ersuchen hiermit alle und jede Person Vorweiser dieser, den Justus
Mitscher, welcher Geschäfte halber unterwegs ist, zu vorgemerktem Vorhaben... alle Beförderung und Hilfeleistung zu erzeigen."
Um sich bei Hofe einzuführen, brachte er Proben von Rhein- und Moselwein mit, für welche er,
hätte der kgl. Keller sie gekauft, Akzise hätte entrichten müssen. Dem König gefiel der Mosel;
er behielt ihn und erwies sich dem Niederlassungsansinnen geneigt, wies sodann aber Herrn
Mitscher über das Generaldirektorium an, er möge den Rheinwein anderwärts verkaufen oder
zurücktransportieren. „Den Colonisten und Weingärtnern Justus Mitscher und Nicolaus
Caspary wird auf ihre bei des Königs Majestät eingereichte Bittschrift vom 10. hujus der
Freipass [Befreiung von der Akzise] auf die erbetenen 10 Stück Faß Mosel Wein, nicht aber auf
nämliches Quantum Rhein-Wein in des Königs Namen Höchstselbst vollzogen. Genehmigt
13. Dezember 1784. - Der Kgl. Preußische General-Oberfinanz-Kriegs- und Domänen-Direktor." Es folgen drei Unterschriften, das kgl. Siegel und eine Stempelmarke für die Krone und die
Initialen FR auf dem Bescheid.
So blieben die „Colonisten und Weingärtner", die dem König dargetan hatten, daß sie aus der
Kenntnis eigner Weinberge etwas von Weinbau und Lagerung verstanden und daß damit auch
in Preußen ein gutes Geschäft zu machen sei. Sie gründeten die Firma „Weinhandlung Mitscher
und Caspary. Anno 1785" - bald ist sie zweihundert Jahre alt.
Und sie erwarben das Berliner Bürgerrecht. Seine Formulierung ist in sieben Generationen
vom Vater auf den Sohn bewahrt worden und bewußt gewesen in seiner inhaltlichen Bedeutung. „Ich gelobe und schwöre meinem Allergnädigsten Könige und Herrn, auch Einem
Hoch-Edlen Magistrat dieser Kgl. Haupt- und Residenzstadt, jederzeit getreu und gehorsam
sich zu zeigen, Dero Nutzen und Bestes nach höchstem Vermögen zu befördern, dagegen
Schaden und Nachteil zu kehren und abzuweisen. So oft ich auch von Seiner Kgl. Majestät bei
Tag und Nacht, in heimlichen oder öffentlichen Sachen gefordert werde, will ich gehorsam
allemal erscheinen und alles, was mir auferlegt wird, mit gutem Fleiß bestellen, auch mich in
keinerlei Sachen wider Seine Kgl. Majestät oder einen Hoch-Edlen Magistrat gebrauchen noch
finden lassen. Ingleichen will ich alle und jede Gaben, sie haben Namen, wie sie wollen, gern
und willig abtragen und bezahlen, und mich in allen Dingen, wie auch einem guten Bürger
1
Eine alte Berliner Familie, die mindestens seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert dort ansässig war und
im frühen 19. Jahrhundert die nördliche Gegend vor dem Königstor erschloß, wovon heute noch die
Straßennamen „Weinbergsweg" und „Weinmeisterstraße" zeugen, ferner der S-Bahnhof „Wollankstraße" (Pankow).
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eignet und gebühret, erzeigen und verhalten. So wahr mir Gott helfe durch Seinen Sohn Jesum
Christum."
Früher als gedacht kam die Zeit, wo die Weinhandlung die „Gaben willig und gerne abtragen
und bezahlen" sollte.
1793 war ihr von König Friedrich Wilhelm IL die Genehmigung zum Ausbau und Umbau des
Hauses an der Klosterstraßen-Ecke erteilt worden. Dann kamen die Koalitionskriege mit dem
Einfall der Franzosen in die Pfalz. Die Mitscher und Caspary waren einfallsreicher und
vorsorglicher als andere: Sie verbrachten 1796 den in Traben lagernden Wein schleunigst und
auf eigene Kosten - der Preis war durch den „Kriegstrubel" ernorm überhöht - nach Berlin.
Auch die Lagerkosten übernahmen sie auf eigne Kappe. Und dann stockte der Absatz
unerwartet; auch der Hof nahm den bestellten Wein aus Sparsamkeit nicht ab. Die Weinhandlung mußte sich bei Hofe in Erinnerung bringen mit einer nur für den König verbilligten
Angebotsliste, versehen mit dem Hinweis, daß die Firma schon für die „Kellereien des
Hochseligen Königs" Friedrich geliefert habe. Vom Erfolg dieser Offerte weiß man wenig.
Die Zeiten wurden noch schlimmer. Berlin war seit 1806 von den Franzosen besetzt, Napoleons
Kontribution lastete schwer, besonders schwer auf dem Stand der Kaufmannschaft, die sie als
Korporation aufbringen mußte. So müssen die Mitscher und Caspary um Befreiung von
Einquartierung bitten mit einem Gesuch, sie hätten als getreue Untertanen des Königs alle
Pflichten geleistet, wie es ihnen auch als Bürger zukam. „Dieses können die Weinhändler
Mitscher und Caspary in der Königs- und Klosterstraßen-Ecke mit Wahrheit bezeugen."
Sie führen ins Feld, daß ihnen durch den Transport nach Berlin selbst 3000 Louisdors
Frachtkosten entstanden seien. Aber durch die Besetzung Berlins hätten sie viele Kunden
verloren, die Keller seien außerdem geplündert worden, und gerade jetzt seien Unkosten für
den Hausneubau entstanden. So könnten fremde Händler mit größerem Gewinn verkaufen, sie
aber seien getreue Untertanen und bezahlten die Akzise pünktlich.
Das französische Einquartierungsbüro scheint ein offenes Ohr dafür gehabt zu haben; doch
von der Kriegskontribution wurde niemand befreit. Es folgte lakonisch die Anordnung des
Kommissars: „Die Kontribution von 100 Talern ist am 23. 5.1807 zu zahlen im Comptoir des
Herrn Girard und Sohn am Mühlendamm, vormittags 9 bis 1 Uhr. Abschlägige Zahlungen
können nicht entgegengenommen werden." Auch eine Quittung seiner pünktlichen Zahlung ist
dem Herrn Caspary ausgefertigt worden, daß er „als Eigentümer des in der Königsstraße
belegenen, mit der Nr. 40 bezeichneten Hauses zur Bestreitung der Kriegskosten einen unverzinsbaren Vorschuß von 150 Reichstalern zur Hauptstadt-Kasse bezahlt hat,... und soll diese
Quittung bei der künftigen Regulierung als bares Geld oder Zahlungsmittel angesehen
werden."
Man hat es aufbringen können, da Sparsamkeit ererbte Familienkunst gewesen zu sein scheint,
zumindest seit der zweite Herr Caspary seine Ausgaben im Kontobuch pedantisch rubrizierte:
Trinkgelder für den Orgeltreter der (benachbarten) Parochialkirche (obwohl die Familie zu
St. Nicolai gehörte), Ausgaben für einen Kupfertopf, für ein Leinenhemd, für den Anstreicher
der Kellertür und für eine einschläfrige Bettstelle. Rührend zu sehen, wie da Großes und Kleines
miteinandergeht! Doch war die Familie zu dieser Zeit schon wohlhabend, denn die Bestandsaufnahme schloß: „... haben wir mit Gottes Segen 50000 Taler Courant."
Der Alexanderplatz lag nahe. Er war Wollmarkt. Nach abgewickeltem Geschäft kehrten die
märkischen Junker bei Mitscher und Caspary ein. Sie wußten, sie würden dort vorzüglichen
Wein finden und beste Gesellschaft. Die Königs- und Klosterstraßen-Ecke des Herrn Caspary
führte Adel und Nobelbürgertum zusammen; durch sein Zutun ist das aufgeklärte Berlin
erwachsen. Die Firma führte in kaiserlichen Zeiten nicht nur ein Gästebuch, sondern auch ein
20
Schuldnerverzeichnis. (Die Habeis taten's auch.) Eingetragen waren viele junge Gardeoffiziere.
Kamen die Väter zum Wollmarkt nach Berlin, beglichen sie - zumeist - die Weinrechnungen
ihrer Söhne. Doch zuweilen kam es anders, die Firma sicherte sich ab. Das weinfreudige Berlin
fand hier sein Charakteristikum festgeschrieben, zum Exempel: „Ist ein schlimmer Zahler"
oder „ .. .ist nichts zu hoffen."
Doch man kam über gute und böse Zeiten, sogar über das Ende der Hohenzollernmonarchie
hinweg. In der Weimarer Republik wurde der fünfte Caspary zum Handelsrichter ernannt. „An
den Kaufmann Karl Caspary sen. in Berlin" steht handschriftlich, wie in der preußischen
Verwaltung üblich, auf dem linken unteren Rand auf normalem Briefbogen in schlechtem
Papier.
„Der Justizminister
Ial375
Berlin W 8, den 30.12.1923
Mittels Erlasses von heute sind Sie für die Zeit vom 16. Jan. 1924 bis 1926 zum Handelsrichter
beim Landgericht I in Berlin ernannt worden. - Im Auftrag Dr. ..."
So arm war die Republik geworden.
Auch das Vermögen der Mitscher und Caspary war am Ende des Ersten Weltkrieges als
verlorene Kriegsanleihe erbärmlich zusammengeschrumpft. Man ertrug es wie alle Opfer in den
vergangenen Zeiten. Dennoch reichte es zum Weiterleben; erst dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieb es vorbehalten, alles zu zerstören, die Firma in dem zerbombten Haus schuld- und
sinnlos zu enteignen.
Die alt-neue Firma „Mitscher und Caspary". Anno 1785" lebt anders. Sie weiß es. Und
trotzdem ist unvergessen, was der in Traben zurückgebliebene Vetter 1785 an Justus Mitscher
schrieb, als er von dessen Entschluß erfuhr, sich im Berlin Friedrich des Großen niederzulassen:
„Die Großmut und Liebe des Königs gegen Sie hat mich in rührende Empfindung versetzt.
Verehren Sie ihn, wie er mir allezeit groß verehrungswürdig blieb! Man hat Ursach, Gott zu
danken, wenn man in einem Lande Schutz und Fürsorge genießt und sich ehrlich mühen darf
und sein Brot erwerben kann. Kehren Sie sich nicht an die vielen Lästerungen, die man über den
Herrn ausstößt; es ist unverantwortlich, sündhaft und lieblos und wider Gottes Gebot."
Die sieben Generationen Casparys liegen begraben auf dem alten Nicolai-Friedhof am Prenzlauer Tor in der einstigen Königsstadt; bei ihnen schlafen in guter Gesellschaft viele Berliner
Bürgermeister, Künstler, Gelehrte und Musiker und die Begründer alter Waisenhäuser und
Schulen.
Anschrift der Verfasserin: Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28
21
Ernst Kaeber zum Gedächtnis
Von Konrad Kettig
Dem Verein für die Geschichte Berlins ist es eine Ehre und Freude zugleich, sich an Leben und
Werk seines Ehrenmitglieds Dr. Ernst Kaeber, dessen Geburtstag sich am 5. Dezember 1982
zum hundertsten Male jährte, in Dankbarkeit zu erinnern. Der Charlottenburger Ernst Kaeber
(5. Dezember 1882 - 5. Juli 1961) besuchte das Joachimsthalsche Gymnasium, studierte
Geschichte und neuere Sprachen, promovierte bei dem bedeutenden Erforscher preußischer
Geschichte Otto Hintze 1906 zum Dr. phil. und ließ sich für die Laufbahn eines wissenschaftlichen Archivars ausbilden. In den Jahren 1913 bis 1955 - unterbrochen durch eine politisch
bedingte Amtsentsetzung von 1937 bis 1945 - war er Direktor des Stadtarchivs (heute Landesarchiv Berlin).
Die sehr erfolgreiche Tätigkeit des Stadtarchivars wurde begleitet, wie die Liste der Titel seiner
veröffentlichten Schriften ausweist, von einer Fülle wissenschaftlicher, aus zuverlässigen Quellen erarbeiteter, streng sachlicher Publikationen zu Themen aus allen Perioden der Vergangenheit Berlins. Dieses wissenschaftliche Werk, das der Erfroschung und Darstellung der Geschichte seiner Vaterstadt galt, stellt einen Glanzpunkt in der Geschichtsschreibung der Stadt
Berlin dar. Einzelheiten über Leben und Werk des bisher wichtigsten Historiographen Berlins
in unserem Jahrhundert findet der Interessierte in mehreren Veröffentlichungen. Es sind zu
nennen: Kettig, Konrad: Ernst Kaeber als berlinischer Historiker (mit Bibliographie), in: Der
Bär von Berlin, 1957/58, S. 7-18; Lachmann, Joachim: Ernst Kaeberf, in: Jahrbuch für die
Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 9/10,1961, S. 698-701; Oschilewski, Walther: Ernst
Kaeber zum Gedächtnis, in: Der Bär von Berlin, 11,1962, S. 121/122; Vogel, Werner: Ernst
Kaeber, Leben und Werk (mit Bibliographie), in: Ernst Kaeber: Beiträge zur Berliner Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1964, S. 377-392.
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, daß Kaeber unermüdlich bemüht war, der
Kenntnis der heimischen Geschichte einen breiteren Raum im öffentlichen Bewußtsein zu
verschaffen. Neben anderen Gründen sei das auch deswegen wünschenswert, weil die Beschäftigung mit „der Vergangenheit dem, der einige Stunden ihr Zuhörer wird, Glauben und Kraft
eben auch für den Kampf des Tages zu schenken vermag". Um seinem Ziel näher zu kommen,
hat er vielerlei unternommen. Vor allemfieldem „Verein für die Geschichte Berlins", der seit
vielen Jahrzehnten Freunde der Geschichte der Stadt aus allen Schichten der Bevölkerung
umfaßt, eine besondere Rolle zu. Der Verein ist keine gelehrte Gesellschaft, aber er hat von
Anfang an nicht nur den Sinn für die Heimatgeschichte zu wecken gesucht, sondern auch durch
mehrere Aktivitäten der Wissenschaft und Forschung gedient.
Schon 1913 war Kaeber Mitglied des Vereins geworden. Neben zahlreichen Vorträgen hat er
zeitlebens tatkräftig in verschiedenen Vorstandsämtern im Verein mitgearbeitet, so z. B. seit
1926 als Schriftführer, seit 1932 als Herausgeber der Vereinszeitschrift, die zur Zeit der Weimarer Republik in eine wissenschaftliche Zeitschrift umgewandelt wurde. Mit dieser Zeitschrift
erhielt Berlin endlich das zentrale, maßgebende Organ für alle Fragen, Themen, die in den
Bereich der berlinischen Geschichtsschreibung und -forschung fallen. Die Zeitschrift des
Vereins konnte dann in den Jahren bis 1945 mit den zahlreichen, meist sehr viel älteren
Landesgeschichtszeitschriften des In- und Auslandes durchaus konkurrieren. Diese für eine
wirksame Arbeit auf dem Gebiet der berlinischen Geschichte unerläßliche landesgeschichtliche
Zeitschrift mit wissenschaftlichen Beiträgen, laufender bibliographischer Berichterstattung
und einem Rezensionsteil, der über die wichtigste Literatur des In- und Auslands kritisch
22
referiert, nach 1945 wieder in Gang zu bringen, ist Kaeber aus verschiedenen Gründen nur
ansatzweise gelungen. Bis heute fehlt das zentrale landesgeschichtliche Organ für den Bereich
der Berliner Geschichte. Statt dessen sind inzwischen mehrere periodisch erscheinende, meist
kleinere Publikationsblätter verschiedener Vereine, Museen, sonstiger Institutionen entstanden, die die unheilvolle Zersplitterung der Informationsmöglichkeiten im Bereich der berlinischen Geschichtsforschung verstärkt haben.
Die auf diesem Gebiet Suchenden (vor allem Ausländer, die heute sehr viel stärker als früher an
Berlinfragen interessiert sind) sehen sich ungeahnten Schwierigkeiten gegenüber. Zum Fehlen
eines zentralen Informationsorgans kommt der große Mißstand, daß die für die Arbeit auf dem
Gebiet der Berlinforschung benötigten Materialien (Archivalien, Autographen, Porträtsammlungen, Abbildungen, Teildokumentationen, Bücher, Zeitschriften u. a. m.) keineswegs einigermaßen umfassend in einem Archiv, Museum oder einer Bibliothek zur Verfügung stehen,
sondern über viele „Stellen" vielfältig zerstreut zu finden sind. Auch die Bemühungen, in diesem
Bereich zu einer Zusammenfassung, zu einer behutsamen Zentralisierung der Bestände an
Berolinensien (hier im weitesten Sinne gemeint) zu gelangen, sind bisher vergeblich gewesen. Es
sollte Aufgabe des Vereins sein, mit Unterstützung einiger weniger Sachverständiger und mit
Vertretern aus der Verwaltung eine Beseitigung der bestehenden Mängel einzuleiten. Weiterhin
wäre darauf zu dringen, daß der Verein örtlich mit seinem „Apparat" (Vortragsraum, Besprechungszimmer, Arbeitsraum für Benutzer, Bibliothek, Archiv u. a. m.) an eine leistungsfähige,
für die Pflege der Berlinforschung zuständige Institution, wie z. B. das Landesarchiv, oder eine
Bibliothek angebunden wird. Eine solche örtliche Verbindung von landesgeschichtlicher Vereinsinstitution mit entsprechender kommunaler oder Landeseinrichtung (Archiv, Bibliothek,
historisches Museum) wird seit vielen Jahrzehnten vielerorts praktiziert, ist eigentlich eine
Selbstverständlichkeit und erhöht die Wirksamkeit der Arbeit - vor allem auch in finanzieller
Hinsicht - auf landes- und heimatgeschichtlichem Gebiet ganz wesentlich. Möchten in Erinnerung und Erfüllung sozusagen des geistigen Erbes unseres hochverdienten Ehrenmitglieds
Ernst Kaeber einige der hier aufgeführten Wünschbarkeiten und Notwendigkeiten zur Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten in der Berlinforschung verwirklicht werden!
Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. K. Kettig, Krottnaurer Straße 13,1000 Berlin 38
Nachrichten
Synagogen in Berlin
Ausstellung im Berlin-Museum, Lindenstraße 14, 1000 Berlin 61. Dauer: 26. Januar bis 20. März 1983.
Anlaß: 50 Jahre danach... In Erinnerung an die Eröffnung des früheren Jüdischen Museums in BerlinMitte, Oranienburger Straße 31, am 24. Januar 1933.
Das frühere Jüdische Museum in Berlin war aus der Kunstsammlung (Wolfsche Stiftung) der Jüdischen
Gemeinde hervorgegangen und feierte unter Teilnahme von Max Liebermann die Eröffnung seiner
Räume in dem neben der Neuen Synagoge, Oranienburger Straße 30, gelegenen, 1932 geräumten und
umgestalteten Siechenheim der Jüdischen Gemeinde.
Diese Eröffnung, nur 6 Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, nahm die Jüdische Abteilung
des Berlin-Museums zum Anlaß, mit einer Gedenkfeier und einer Ausstellung „Synagogen in Berlin" an
die Bedeutung jüdischer religiöser und kultureller Einrichtungen zu erinnern.
23
Querschnittszeichnung der Synagoge Münchener Straße 37 in Schöneberg
Einweihung 1910
Die Synagoge stand 1945 noch; sie wurde 1956 abgetragen
Aufnahme: Aus den Akten der Baupolizei Schöneberg, 1982
Fotograf: Hans-Joachim Bartsch
Der Nationalsozialismus, der die Zerstörung all dessen plante, was in deutscher und europäischer Kultur
und Geschichte „jüdisch" war oder schien, war am 24. Januar 1933 vielen Verantwortlichen als ungeheure
Drohung vor Augen, so daß die Eröffnung gerade zu diesem Zeitpunkt eine bewußte Antwort auf die der
jüdischen Gemeinschaft gestellte Herausforderung war.
Eine Gedenkfeier zur Eröffnung dieses Museums in Verbindung mit einer Ausstellung „Synagogen in
Berlin" stehen in einem inneren Zusammenhang; die früheren Berliner Synagogen sind weitgehend zu
einem Objekt der musealen und der kunst-/ kultur-/ architekturgeschichtlichen Betrachtung geworden durch die Zerstörung, die ihnen widerfuhr -; gleichzeitig jedoch muß betont werden, daß einige der
Synagogen in den noch vorhandenen Resten wie auch in ihrer heutigen intakten Funktion ein Symbol für
die Lebendigkeit jüdischen Lebens in Berlin sind.
Zur Ausstellung erscheint ein zweiteiliger Katalog „Synagogen in Berlin" und eine „Geschichte des
Jüdischen Museums in der Oranienburger Straße 31".
Veronika Bendt
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75 Jahre Stadtbibliothek
Am 15. Oktober 1982 feierte die Berliner Stadtbibliothek in der Breiten Straße im Bezirk Mitte ihr
75jähriges Bestehen. Unter ihrem Direktor Oberbibliotheksrat Dr. Werner verfügt sie über einen Gesamtbestand von 1,2 Mio. Einheiten. Darunter sind 60 000 Schallplatten, 10000 Kunstdrucke, 5000 gerahmte
oder aufgeblockte Bilder, 200 Originalgrafiken von Künstlern aus der DDR, etwa 3000 Diaserien und 160
verschiedene Kurse in 36 Sprachen. Ein umfangreiches Katalogwerk erschließt die Bücher der Ausleihbibliofhek. In mehreren Lesesälen verfügt die Stadtbibliothek über etwa 300 Plätze.
SchB.
Vortragsreihe zur Geschichte Berlins im Pergamon-Museum
Im ganzen Jahr 1982 hat Dipl.-Phil. Paul Thiel vom museumspädagogischen Dienst an jedem zweiten
Sonntag begleitende Vorträge zu einer Ausstellung „Großstadtproletariat - Lebensweise einer Klasse"
gehalten, die vom Museum für Volkskunde im Pergamon-Museum veranstaltet worden war. Der erste
dieser Diavorträge behandelte die Berliner Kneipen, Destillen und Weißbierstuben, vom „Groben Gottlieb" über „Bock" und „Zippe" bis „Zum Nußbaum", zu „Lutter und Wegener" und zur „Bierkirche" in
Friedrichshain. Hierbei wurden auch historische Zusammenhänge wie der Berliner Bierboykott von 1894
behandelt und kulturhistorische, philologische und soziologische Fragen einbezogen. Dabei hat sich P.
Thiel auf Archivmaterial, Katasterunterlagen, Baupläne und auch zeitgenössische Illustrationen aus der
Zeit um die Jahrhundertwende gestützt.
Wenn der Berliner in einer Kneipe einkehrte, dann wurde dort „einer gezwitschert", „einer auf den
Diensteid genommen" oder „einer hinter die Binde jekippt", so daß man anschließend „im Tee",
„anjeäthert", „illuminiert" oder „leicht anjesäuselt" war.
Die Themen weiterer Vorträge waren „Mädchen für alles gesucht", „Schlafburschen und Obdachlose", der
„Tod auf dem Feld der Ehre" oder „Hausfrauenvereine".
SchB.
Zugänge im Märkischen Museum
Das Märkische Museum ist bestrebt, seine Bestände zu mehren. So konnten den Sammlungen u. a. 2200
Berliner Ansichten auf Postkarten von 1945 bis zur Gegenwart, 90 Münzen aus der Zeit des 13. bis
18. Jahrhunderts, eine komplette Schmiedeausrüstung aus der Zeit um die Jahrhundertwende, Theaterzeitschriften von 1911 bis 1937, Theaterunterlagen von Liebhaberbühnen, historisches Kinderspielzeug,
Schmuck und Handarbeiten hinzugefügt werden.
SchB.
Neue Aufschlüsse zur Berliner Stadtgeschichte
Unter Leitung von Dr. Heinz Seyer von der Arbeitsstelle für Bodendenkmalpflege beim Märkischen
Museum wurde vorder Turmfront der Nikolaikirche ein 12 X 12 m großes, bis zu 3 m tiefes Feld ergraben.
10 m westlich des Turmeingangs zeichnet sich eine dicke Lehmschicht ab, die von Holzwänden begrenzt
wurde. Dabei handelt es sich vermutlich um den ehemaligen Keller eines 4 x 4 m großen Hauses aus dem
14. Jahrhundert. Weitere Untersuchungen der Archäologen sollen nun ergeben, ob hier Spuren des bisher
ältesten nachgewiesenen Berliner Hauses entdeckt wurden. In der Nähre liegt eine kreisrunde Bodenverfärbung von 75 cm Durchmesser, die auf ein hölzernes Vorratsbehältnis, etwa eine Tonne, schließen läßt.
SchB.
Aus dem Mitgliederkreis
Unserem Ehrenmitglied Willy Brandt ist am 29. November 1982 von der Universität Leeds die Ehrendoktorwürde der Rechtswissenschaft in einer Feierstunde verliehen worden, bei der die Herzogin von Kent als
Kanzler der Universität den Vorsitz hatte.
SchB.
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Aus dem Mitgliederkreis ist nachzutragen, daß Professor Julius Posener, der unlängst zum Dr.-Ing. E. h.
promoviert wurde, vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz mit dem Karl-FriedrichSchinkel-Ring ausgezeichnet wurde. Damit sollen seine Verdienste um den Denkmalschutz und sein
Beitrag zur Rettung zahlreicher Berliner Bauwerke vor dem Abbruch gewürdigt werden.
SchB.
*
Unserem Mitglied, dem Verleger Axel Springer, ist der David-Preis verliehen worden. Der goldene
Davidstern trägt die Inschrift „Für Wahrheit und Gerechtigkeit". Der Jerusalemer Bürgermeister Teddy
Kollek hat Axel Springer als einen Bewahrer Berlins und Jerusalems gewürdigt, der sich überall standfest
für die Aussöhnung von Juden und Deutschen einsetzt.
SchB.
*
Frau Dr. Ella Barowsky, langjährige Parlamentarierin und von 1955 bis 1959 Bezirksbürgermeisterin von
Schöneberg, wurde bei ihrer Verabschiedung als Aufsichtsratsmitglied der DeGeWo mit der „Ehrenmedaille der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft" ausgezeichnet.
*
Professor Dr. Johannes Broermann, Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, vollendete am 17. Oktober 1982 sein 85. Lebensjahr. Vielfältig sind die Ehrungen, die ihm in Würdigung seiner Verdienste um die
Wissenschaft zuteil wurden. Der Bundespräsident hat ihm das Große Bundesverdienstkreuz verliehen.
Die Universität Wien hat ihn zu ihrem Ehrenbürger gewählt. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der
Universität Freiburg verlieh ihm die Ehrendoktorwürde.
SchB.
*
Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche zum
70. Geburtstag Frau Elsa Feldmann, Herrn Rudi Mücke, Frau Ilse Nikolas, Frau Gertrud Polke, Frau Dr.
Senta Rasmus, Herrn Kurt Reimann, Herrn Rudolf Weigmann; zum 75. Geburtstag Prof. Dr. Dr. Walter
Hoffmann-Axthelm, Frau Gudrun Mellin, Frau Erna Rosenberger; zum 80. Geburtstag Frau Charlotte
Bormann, Frau Jenny Beckert, Herrn Hans Hoppe, Herrn Gerhard Krienke, Herrn Hans Müller, Herrn
Hans Wolff-Grohmann; zum 90. Geburtstag Herrn Friedrich Pausin, Frau Käthe Supke.
Buchbesprechungen
Alte Berliner Läden. Ein Foto-Text-Buch mit 80 Fotografien. Texte von Barbara Tietze. Nicolaische
Verlagsbuchhandlung, Berlin 1982, 86 Seiten, Format 23 X 24 cm, 29,80 DM.
Bei der Vorbereitung der Ausstellung „Berlin und seine Kneipen", bei der neben Hans Werner Klünner
auch der Rezensent mitwirkte, fiel auf, wie viele alte Fotografien im Postkartenformat von Eingängen oder
von der Frontseite Berliner Gaststätten aus der Kaiserzeit existierten und mit wieviel Stolz die Gastwirte
und ihre Kunden posierten. Im Plakat dieser Ausstellung und auch in einem kommerziellen Poster sind
diese alten Aufnahmen festgehalten worden. Hingegen erscheint es bemerkenswert, wie wenig in einer
sonst doch der Show und dem Exhibitionismus verfallenen Zeit wie der unsrigen heutige Gastwirte dazu zu
bewegen wären, sich vor ihrem Etablissement fotografieren zu lassen.
Nachdem ein Bildband über Wiener Türen Furore gemacht hatte, lag es nahe, auch „Parterre und
Souterrain" Berliner Läden und Kneipen in einer Monographie zu behandeln, beinahe vergessene Dokumente aus dem Berliner Alltag, wie Professor Barbara Tietze sie nennt. Meist stammen die Fotopostkarten
von umherziehenden, heute nicht mehr bekannten Straßenfotografen, die mit diesem „privaten Arbeitsbeschaffungsprogramm" jenen Bereich kleinbürgerlichen Lebens festgehalten haben, der sich zwischen den
weitaus besser bekannten herrschaftlichen Kreisen und der Welt der Armut abspielte. Gerade die kleinen
Läden spiegeln den Lebensstandard von Kleinbürgern und Arbeitern wider, die sich Berlin als Wohn- und
Arbeitsort ausgewählt hatten. Und wenn das Berlin der Jahrhundertwende mit der Einwandererstadt New
York verglichen wurde und die Autorin in ihrem Vorwort darauf verweist, „daß kleine Läden und
individuelle Dienstleistungen wieder Konjunktur haben", so fallen einem gerade in New York die vielen
kleinen Einzelhandelsgeschäfte auf. Auch die soziologische Seite dieser alten Postkarten wird von Barbara
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Tietze hervorgehoben: „Nachbarschaften, wie sie durch die persönlichen Kontakte zwischen Stadtbewohner und Kolonialwarenhändler, durch das enge Miteinander von Ladengeschäften und Mietwohnungen,
von Werkstatt und Hinterhof entstehen, erscheinen uns als Faktor der sozialen Sicherheit, als positives
Moment der Geborgenheit. Zeitgenossen hingegen schildern ihre Bemühungen, aus der sozialen Kontrolle
durch diese Art Nachbarschaft auszubrechen. Wir lernen daraus, städtisches Leben in der Öffentlichkeit
der Straße ist nicht ohne Rücksicht auf die anderen Lebensumstände der Zeit und der Stadt einzuschätzen."
Wo es noch möglich war, wurden die Läden identifiziert und mit Straßennamen und Hausnummer
angegeben. Der erläuternde Bildtext knüpft an den jeweiligen Ladentyp an, er nimmt aber nicht immer
unmittelbar auf das Foto Bezug. Man erfährt Einzelheiten etwa über die zeitgenössische Zigarettenindustrie, auch über Schokoladen- und Margarineindustrie, merkwürdigerweise aber weniger von den Menschen auf den Fotos, ihrer Kleidung, Uniform, den abgebildeten Kinderwagen usw. Ganz am Schluß
werden dann auch Kneipen und Restaurants abgebildet (übrigens schreibt man Schultheiss immer noch
mit ss).
H. G. Schultze-Berndt
Dieter Borkowski: Wer weiß, ob wir uns wiedersehen. Erinnerungen an eine Berliner Jugend. S. Fischer
Verlag, Frankfurt am Main 1980, 224 Seiten, broschiert, 20 DM.
Habent sua fata libelli - Am 2. Mai 1945 übergab der Autor, Jahrgang 1928, an der Frankfurter Allee der
Mutter eines Schulfreundes sein Tagebuch, das er am 2. November 1942 begonnen und am 2. Mai 1945
abgeschlossen hatte. Nach der Rückkehr aus dem Gefangenenlager, in das er als Luftwaffenhelfer geraten
war, erhielt er es wieder. Als der Verfasser am 9. Juni 1960 vom Ministerium für Staatssicherheit verhaftet
wurde, wurden auch seine Diarien beschlagnahmt, die er bis dahin weitergeführt hatte. Die Erlebnisse
seiner Kindheit und Jugend in der Reichshauptstadt Berlin hat er dann in der Einzelhaft nachgeschrieben.
Nachdem er 1973 in die Bundesrepublik Deutschland entlassen wurde, hat er diesen ersten Teil seiner
Lebenserinnerungen veröffentlicht.
Er stößt damit in eine Welle solcher Schilderungen jugendlicher Gefühle zunächst des Überschwangs und
dann der zunehmenden Skepsis und Abwendung vom System. Wenn derartige „Memoiren" Jugendlicher
aus den Kriegsjahren in dieser Quintessenz auch nicht repräsentativ sein dürften, so machen sie sich doch
gut. Dem Autor kann bescheinigt werden, daß er sich getreulich erinnert und genau recherchiert hat. Das
Geschehen im Luftkrieg um Berlin gibt er aus der Sicht der Turmflakabteilung im Friedrichshain wieder.
Ob allerdings die Luftwaffenhelfer dort auf den Führer Adolf Hitler und Großdeutschland vereidigt
wurden, sei als Frage angemerkt; im allgemeinen wurden die Flakhelfer der Hitlerjugend nicht vereidigt.
Wie in der Geschichte unseres Vereins nachzulesen, wurden die Dome am Gendarmenmarkt bei einem
Luftangriff am 23. November 1943 beschädigt und in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 1944 zerstört.
Im Tagebuch wird unter dem 18. Mai 1944 vermerkt, daß diese Dome am hellichten Tag in Flammen
aufgingen.
Das Buch des Nacherlebens dieser schweren Zeit sollte man vor allem jungen Menschen in die Hand
drücken, obwohl diese am ehesten geneigt sein werden, um das Geschehen dieser Zeit und die sich dabei
entwickelnden Sekundärtugenden von Pflichterfüllung bis Leistungsbereitschaft einen großen Bogen zu
schlagen.
H. G. Schultze-Berndt
Irmgard Wirth: Berlin und die Mark Brandenburg. Landschaften. Christians Verlag, Hamburg 1982,
216 Seiten, mit 177 Abbildungen, Leinen 98 DM.
Ihrem Buche „Berlin 1650-1914. Stadtdarstellungen aus den Sammlungen des Berlin-Museums" ließ
Irmgard Wirth im gleichen Verlag und in gleicher brillanter Ausstattung ein Buch folgen, das die
Landschaften der Mark Brandenburg zum Sujet hat: Gemälde und Graphik aus drei Jahrhunderten. Die
Darstellung der Landschaft um ihrer selbst willen beginnt in der europäischen Kunst im 17. Jahrhundert,
in Deutschland wenig später, von Skizzen der Dürerzeit einmal abgesehen. Italiener, dann die Holländer
werden erste geistig-künstlerische Vorbilder. Die immer wieder als reizlos, nüchtern und ärmlich apostrophierte Mark Brandenburg schien freilich nur einen kargen Nährboden für künstlerische Landschaftsmalerei abzugeben - doch welch ein Irrtum. Schon die Berliner Theoretiker J. G. Sulzer und Karl Philipp
Moritz priesen die Ästhetik der Landschaft und die „ganz nahe Beziehung [der Natur] auf unser Gemüt".
Wer im vorliegenden schönen Buche blättert, spürt, wie die so stille, ernste, aber auch herb-anmutige,
charaktervolle Landschaft der Mark noch im Bild das „Gemüt" ergreift. Französisches Rokoko, klassischromantische Manier, Biedermeier, Realismus, Impressionismus - Kunststile und -richtungen kamen und
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gingen und fanden die Gefolgschaft der Landschaftsmaler. Nicht immer zog man in Berlin die jeweils
gängige künstlerische Handschrift getreulich nach. Topographische Treue, Nüchternheit, hoher Realitätsgrad konnten den Werken der Großen von Chodowiecki bis Liebermann, aber auch denen der vielfach
vergessenen Meister aus dem zweiten Glied, jenen spezifisch berlinischen „touch" geben, der auch noch ein
unmalerisch scheinendes, „unergiebiges" Motiv zum Meisterwerk zu erhöhen vermag. Gar manchen
Künstlern hat Theodor Fontane als Romancier und Wanderer durch die märkische Heimat die Augen für
deren stille Reize geöffnet und ihre bildnerische Ausdruckskraft beflügelt. Souverän über dem Stoff
stehend, immer wieder Umblicke bietend auf die Kunstübung der Paysage unter gesegneten Himmelsstrichen, stilistisch geschliffen, führt Irmgard Wirth den Leser aus dem 18. bis in die dreißiger Jahre unseres
Jahrhunderts. Sie lehrt sehen und erschließt die Bilder dem Verständnis des Fachmanns, erst recht dem des
Laien nach Inhalt, Konzeption und Farbgebung. Hinter solcher ästhetisierenden Sicht und Wertung
treten Fragen nach dem sozialen Umfeld des Künstlers, nach einem möglichen Auftraggeber und dessen
eventuellen Einfluß, nach vielleicht sogar geschmacksbildendem Publikum so gut wie ganz zurück. Dabei
waren doch nur die wenigsten der vorgestellten Meister als Akademielehrer der Mühen ums tägliche Brot
überhoben. Ein paar schmale Ausblicke auf solche Gedankengänge werden aber eröffnet. Philipp
Hackert, dem Goethe eine biographische Skizze widmete, wird mit der Äußerung zitiert, daß viele
mißratene Historienmaler sich aufs „erniedrigende" Landschaftsmalen nur um ihres Lebensunterhaltes
willen verlegten (S. 20); ein Bild des recht bekannten Berliners Franz Skarbina wird als Auftragsarbeit für
einen reichen Bergwerksbesitzer vermutet (S. 138). Und die Sozialkritik eines Meisters Zille zwingt
geradezu Überlegungen der vorgenannten Art auf. Alles in allem: Hier wird ein nach Gehalt und Gestalt
hervorragendes Buch auf den Tisch gelegt, das eine Lücke in der kunstgeschichtlichen Literatur endlich
ausfüllt.
Gerhard Kutzsch
Stadtansichten. Gedichte Westberliner Autoren. Illustriert von Uliane Borchert. H. W. Herrmann Verlag,
Berlin (West), Herausgeber: Peter Gerlinghoff, Günter Maschuff, Hans Ulrich Treichel, broschiert, 181
Seiten, 12 DM.
Das Ordnungsprinzip dieser zeitgenössischen Anthologie ist der Wohnsitz oder Arbeitsplatz der Autoren,
die als Westberliner bezeichnet werden, obwohl zu wetten ist, daß auch einige Nordberliner darunter sind.
Neben bekannten Namen wie F. C. Delius, Ute Erb, Aldona Gustas, Christoph Meckel oder Volker von
Törne trifft man Lyriker an, die einem bis dahin nichts bedeuteten. Das Spektrum der Gedichte reicht von
einer Confessio Volker von Törnes aus dem Eröffnungsgottesdienst des Evangelischen Kirchentages 1977
in Berlin über Liebesgedichte, einer Berliner Zukunftsvision bis zu einem Gespräch über den Frieden und
zu „Zeitgedicht" überschriebenen Poemen. Südafrika, Chile, der nationalsozialistischen Vergangenheit
und den Werwölfen der Wiking-Jugend sind politische Gedichte gewidmet, eines von ihnen entstand unter
dem Eindruck einer Solidaritätsveranstaltung (für Chile) der FDJW in der „Neuen Welt".
Als Zeitdokument der späten 70er Jahre hat diese Sammlung auch für den Berlin-Historiker Wert.
H. G. Schultze-Bemdt
Klaus-Peter Schulz: Berlin und die Berliner. Heiteres und Nachdenkliches über einen verwegenen Menschenschlag. Herderbücherei, Band 646, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, 1977,144 Seiten, 5,90 DM.
Nach einem neuen Ordnungsprinzip hat unser Mitglied, der Arzt-Schriftsteller Dr. Klaus-Peter Schulz,
Betrachtungen über den Berliner und seine Stadt und zugehörige Anekdoten zusammengestellt. Im
wesentlichen sind es drei Abschnitte, unter denen der bis 1977 als Parlamentarier tätige Berliner seine
Vorfahren und Mitbürger betrachtet: „Berliner von A bis Z" (A wie Arnim, Bettina von, bis Z wie Zille,
Heinrich), dann „Von Durchreisenden und Wahlberlinern" (hier sind Persönlichkeiten von Joachim I. bis
Suhr, Otto, versammelt) und schließlich „Die geborenen Berliner", die zugegeben kürzeste Ahnengalerie
(von Friedrich dem Großen, König von Preußen, bis Tucholsky, Kurt).
Der Blickwinkel und die Betrachtungsweise unterscheiden sich wohltuend vom üblichen Anekdotensammelsurium vergleichbarer Darstellungen. Auf Seite 99 berichtet Klaus-Peter Schulz, sein Vater Heinrich
Schulz, damals als Staatssekretär im Reichsinnenministerium für die koordinierende Kulturpolitik in
Deutschland verantwortlich, habe Heinrich Zille dazu inspiriert, Max Liebermann zum 80. Geburtstag
eine Zeichnung mit seinem ganzen „Milljöh" zu schenken. Dieses Werk sei im Museum für die Geschichte
Berlins erhalten. Hier werden sicher ungewollt Wünsche an das offensichtlich gemeinte Berlin-Museum
angemeldet.
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Über den Urberliner Adolf Hoffmann (1858 bis 1930), Sozialdemokraten, Stadtverordneten und Pamphletisten, schreibt der Autor: „Seinen Mangel an gediegener Bildung und Ausdrucksfähigkeit überspielte
er immer wieder durch jene typische Form des Berliner Humors, die sich als überzogene, manchmal etwas
lärmvolle und provokatorische Bescheidenheit definieren läßt. Ein Original unter allen mit echtem
Spreewasser Getauften war er durch und durch, an vielseitigen Talenten eines ewigen Amateurs fehlte es
ihm ebenfalls nicht, und durch seine Schlagfertigkeit, auf gut berlinisch .Kodderschnäuzigkeit', ist er
berüchtigt und berühmt geworden. Gegner rief der politisch sehr radikale und kompromißlose Mann
gleichsam von allen Seiten auf den Plan."
Ein wenig trifft der Schluß dieses Porträts auch auf den Verfasser selbst zu.
H. G. Schultze-Berndt
Berlins heimliche Sehenswürdigkeiten. Spezialgeschäft für verbilligte Bücher H. P. Heinicke, Rheinstraße
Nr. 58, 1000 Berlin 41, 1981, 130 Seiten, 16,50 DM.
Jeweils einer Bildseite wird eine Seite Text gegenübergestellt, wobei das weibliche Geschlecht erfreulich
stark vertreten ist, selbst wenn es sich um so unterschiedliche Damen handelt wie Käthe Kruse und Soraya,
Hildegard Knef und Käthe Kollwitz, Else Lasker-Schüler und Kitty Schmidt. Daneben werden Persönlichkeiten wie August Scherl, Friedrich Schröder-Sonnenstern und Jochen Klepper mit ihrem jeweiligen
Wohnhaus oder ihrer Wirkungsstätte konfrontiert. Nicht immer ist dabei ein leicht eingängiger Bezug
zwischen Bild und Text herzustellen, zumal vielfach Neubauten an die Stelle des ursprünglichen Gebäudes
getreten sind. Die Angabe der Geburts- und Sterbedaten hätte dem biographischen Charakter dieses
Büchleins gut getan.
Daß sich Anastasia nicht von der Stauffenbergbrücke in den Landwehrkanal stürzte, sondern wohl von
der Bendlerbrücke, daß Erich Maria Remarque sein berühmtestes Buch „Im Westen nichts Neues" nicht
1919, sondern 1929 veröffentlichte und daß ein Ausdruck wie „oftverfilmteste" dem Sprachgefühl widerstrebt, läßt sich einsehen. Einiges ist auch bei der Topographie des Selbstmörderfriedhofs durcheinandergeraten. Der am Schildhorn angesiedelte Friedhof dürfte jedenfalls nicht die Bezeichnung Waldfriedhof
Stahnsdorf tragen.
Wer ein sonst freundliches Buch verschenken will, das Kurzbiographien von Annemarie Renger und von
Wolfgang Neuss, von Richard Sorge und von Ilse Kubaschewski mit ihrer Bleibe in Berlin verknüpft, wird
mit diesem etwas eigenwilligen Büchlein „hinter den Kulissen der Kulturmetropole" gut beraten sein.
H. G. Schultze-Berndt
Geza von Cziffra: Der Kuh im Kaffeehaus. Die goldenen Zwanziger in Anekdoten. Verlagsbuchhandlung
F. A. Herbig, München, Berlin 1981, 304 Seiten, Leinen 29,80 DM.
Es muß in der Tat der Kuh heißen und nicht die Kuh, wird hier doch auf die Person des Wiener
Feuilletonisten Anton Kuh angespielt. Unlängst ist im Löcher-Verlag, Wien, in Lizenz des Ostberliner
Verlages Volk und Welt eine Sammlung seiner Feuilletons, Essays und Publizistik mit einem Nachwort
von Ruth Greuner herausgekommen. Der hier vorliegende Band im Großdruck und auch deshalb mit
Zielrichtung auf die ältere Generation handelt aber nur in Teilen von Wien, weil, wie es heißt, die
berühmten, oft zitierten Wege in den zwanziger Jahren nicht nach Rom, sondern nach Berlin führten. Die
vielen Anekdoten, unter denen man nicht wenige alte Bekannte trifft, sind rund um das Cafe Größenwahn
(des Westens) und um das Romanische Cafe angesiedelt. Sie zusammengetragen zu haben ist das Verdienst
Dr. Erich Doters, des Anekdoterichs, auf dessen Sammlung sich der Autor stützt. Wenn die Darstellung
zuweilen auch etwas einfältig klingt („Kennen Sie Theodor Fontane? Sie müssen, lieber Leser, diese Frage
schon entschuldigen, aber berechtigt ist sie, denn in unserer bestsellerträchtigen Zeit drohen manche
großen Dichter in Vergessenheit zu geraten"), so ist sie im ganzen doch sehr erfreulich zu lesen.
Nicht mit allen Aussagen kann man sich einverstanden erklären, so wenn Klabund heute „so gut wie
vergessen" sein soll. Zille wurde in Radeburg und nicht in Radebeul geboren. Göring war preußischer
Minsterpräsident und nicht Innenminister. Daß in einem Buch eines seriösen Verlages heute schon eine
Silbentrennung Inte-resse möglich ist, darf man allerdings nicht dem Autor anlasten.
Ein Kapitel ist Dada gewidmet, wo sich nach 1917 in Berlin die Gruppe Deutschland des dadaistischen
revolutionären Zentralrats unter Raoul Hausmann und Richard Huelsenbeck bildete: „Geschäftsstelle:
Charlottenburg, Kantstraße 118. Beitrittserklärungen werden dort entgegengenommen." Man sollte einmal nachsehen, ob dort schon die sicher verdiente Gedenktafel hängt.
H. G. Schultze-Berndt
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Eingegangene Bücher
Aufbau und Aufgaben der Berliner Bezirksverwaltung. Neu überarbeitete Auflage, Broschüre.
Ausstellung „Die Berliner S-Bahn". Katalog mit über 500 Abbildungen. Neue Gesellschaft für Bildende
Kunst, Berlin, 32 DM.
Ausstellungskatalog „Berliner Schauplätze aus Fontanes Romanen". Berlin, 259 Seiten, 20 DM.
Bemmann, H: Berliner Musenkinder-Memoiren. Eine heitere Chronik von 18907-1930. Verlag VEB Lied
der Zeit, Berlin, 216 Seiten, mit 111 Fotos, Pappband, 18 M.
Benneu, Jack O.: 40 000 Stunden am Himmel. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Grunwald. Ullstein
Verlag, Berlin, 480 Seiten und 16 Tafeln, mit Abbildungen, gebunden, 38 DM.
Berlin. dtv-Merian-Reiseführer von Joachim Nawrocki, Christa Nawrocki, Günter Kunert, Jens Fleming,
Barbara Effenberger und Marlies Menge. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 350 Seiten mit
zahlreichen Fotos, Karten und Übersichten, broschiert, 22,80 DM.
Berlin im Abriß. Katalog. Medusa-Verlag Wölk + Schmid, Berlin.
Berlin - Landschaften am Wasser. Mit 90 Bildern in Farbe von Carl Hatebur, Text von Peter Baumann,
Nicolaische Buchhandlung, Berlin, 124 Seiten, 68 DM.
Berlin und seine Bauten. Herausgegeben vom Architekten-Verein zu Berlin. Frölich & Kaufmann, Berlin,
1877, Reprint des Originals, 800 Seiten, 609 Abbildungen, gebunden, Subskriktionspreis bis 31. März
1983: 148 DM, danach 198 DM.
Berlin Wilmersdorf. Ein StadtTeilBuch. Herausgegeben von Udo Christoffel. 2. Auflage, Kunstamt
Wilmersdorf, Berlin 1981, 168 Seiten, eine lose Beilage, mit zahlreichen Abbildungen.
Berliner Stadtadressbuch. Verlag Schmidt-Römhild, Berlin.
Berlin-Karte im Maßstab 1 :4000. Bezirksamt Wilmersdorf, Berlin, 4 DM.
„Blätter zur Geschichte von Borsig und Borsigwalde" im MD-Projekt Borsig und Borsigwalde - Wir
entdecken unsere Geschichte. Erste und zweite Folge. Museumspädagogischer Dienst, Berlin.
Carle, Wolfgang: Das hat Berlin schon mal gesehen. Eine Historie des Friedrichstadt-Palastes nach einer
Dokumentation von Heinrich Mertens. 2. Auflage, Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin,
224 Seiten, 96 Abbildungen, Pappband, 14 M.
Iden, Peter: Die Schaubühne am Halleschen Ufer, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 9,80 DM.
Dreiser, Hans: Berlin. Prisma Verlag, Düsseldorf 1981, 64 Seiten, mit 50 Abbildungen, kartoniert,
12,80 DM.
Drewitz, Ingeborg: Eis auf der Elbe. Tagebuchroman. Claasen Verlag, Düsseldorf, 207 Seiten, gebunden,
24,80 DM.
• Ethel, Jeffrey, und Price, Alfred: Angriffsziel Berlin. Auftrag 250: 6. März 1944. Motorbuch-Verlag,
Stuttgart, 39 DM.
Frecot, Janos: Berlin fotografisch. Fotografie in Berlin 1860-1982. Katalog. Medusa-Verlag Wölk +
Schmid, Berlin, 29 DM.
Geschichte der Salzburger Protestanten. Herausgegeben vom Salzburger Verein in Berlin, Berlin, 1 DM.
Gründungsgeschichte des Luisenstifts (175 Jahre). Neu verlegt, 8 DM.
• Hildebrandt, Dieter: Die Leute vom Kurfürstendamm. Roman einer Straße. Carl Hanser Verlag, München, 400 Seiten, gebunden, 36 DM.
• Hannah Hoch. Worte und Werke. Frölich & Kaufmann, Berlin, 144 Seiten, 100 Abbildungen, gebunden,
48 DM.
Erich Honecker in Berlin. Herausgegeben von der Bezirksleitung Berlin der SED. Dietz Verlag, Berlin
1982, 172 Seiten, 11,20 M.
Idelberger, Horst: Radwege in Berlin. Zustand, Planung, Möglichkeiten. Fahrradbüro Berlin, Berlin, mit
Abbildungen, grafischen Darstellungen und Tabellen, 90 Seiten 8,10 DM.
Jacobi, Lotte: Berlin - New York. Schriftsteller der 20er Jahre, Vorwort von Ludwig Greve. Zusammengestellt von Walter Scheffler. Enst Klett Verlag, Stuttgart, 120 Seiten, 45 Abbildungen, broschiert,
25 DM.
• Jameson, Egon: Augen auf! Streifzüge durch das Berlin der zwanziger Jahre, Herausgegeben von Walther
von La Roche. Originalausgabe. Ullstein Buch 20218. Ullstein Verlag, Berlin, 7,80 DM.
Jensen, Jens Christian: Adolph Menzel. DuMont Buchverlag, Köln, 148 Seiten, 40 Farbtafeln, 70 Abbildungen, gebunden 79 DM.
Kalender „Berlin Gestern 1983". Joeres*Verlag, Mönchengladbach.
Kalender 1983 „Berliner Aspekte" und 2 Postkartenserien über die Berliner Wannseebahn. Ute und Bernd
Eickemeyer Verlag, Berlin.
30
Kalender 1983. Mit dreizehn Bogen im Format DIN A3, Vierfarbendruck, 12,50 DM.
Ken, Alfred: Mit Schleuder und Harfe. Theaterkritiken aus drei Jahrzehnten. Herausgegeben von Hugo
Feting. Vorwort Sibylle Wirsing. Verlag Severin und Siedler, Berlin, ca. 700 Seiten, Leinen,
39,80 DM.
Knobloch, Heinz: Herr Moses in Berlin. Ein Menschenfreund in Preußen. Das Leben des Moses Mendelssohn. Veränderte und überarbeitete Ausgabe, Das Arsenal Verlag für Kultur und Politik, Berlin,
478 Seiten, zahlreiche Abbildungen, englische Broschur, 32,80 DM.
Kompa, Kutschmar, Kam: Architekturführer DDR. Bezirk Potsdam. 1. Auflage, VEB Verlag für Bauwesen, Berlin (DDR) 1981.
Krolow, Wolfgang: Seiltänze. Mit Texten von Rolf Hosfeld. Peter-Paul Zahl. LitPol Verlagsgesellschaft,
Berlin, 36 DM.
Krüger, Horst: Der Kurfürstendamm. Glanz und Elend eines Boulevards. Hoffmann und Campe Verlag,
Hamburg, 128 Seiten, Abbildungen, gebunden, 28 DM.
Lange, Friedrich C. A.: Groß-Berliner Tagebuch, 2. Auflage, Westkreuz-Verlag, Berlin/Bonn 1982, 190
Seiten, 18 DM.
Paret, Peter: Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland. Verlag
Severin und Siedler, Berlin, 352 Seiten, mit 48 ganzseitigen Farbtafeln, Format 17 X 24 cm, Leinen,
78 DM.
'Plessen, Elisabeth: Kohlhaas. Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 9,80 DM.
' Riebschläger, Klaus: Vor Ort - Blick in die Berliner Politik. Verlag Arno Spitz, Berlin, 240 Seiten, 25 DM.
•Schlicht, Uwe: Trotz und Träume. Jugend lehnt sich auf. Verlag Severin und Siedler, Berlin, ca. 256 Seiten,
kartoniert, ca. 19,80 DM.
Scholder, Klaus: Die Mittwochsgesellschaft. Unbekannte Protokolle aus dem geistigen Deutschland
1932-1944. Verlag Severin und Siedler, Berlin, 383 Seiten, 200 Abbildungen, Leinen, 48 DM.
Scholz, Bubi: Der Weg aus dem Nichts. Wilhelm Heyne Verlag, München, 367 Seiten, broschiert,
8,80 DM.
> Silva Stadtplan Berlin 1936. Im Maßstab 1 :23000, mit einem Straßenverzeichnis. Limitierte und numerierte Auflage von 1000 Exemplaren, Verlag Jürgen Schacht, Berlin, Subskriptionspreis 48 DM, ab
l.Januarl983 58DM.
Springer, Peter: Schinkels Schloßbrücke in Berlin. Zweckbau und Monument. Propyläen Verlag, Berlin,
336 Seiten, 144 Abbildungen, gebunden, 198 DM.
Stadtbuch Reinickendorf 1982. Chronik-Verlag, Berlin.
StadtFront Berlin West Berlin. Ein Bilder LeseBuch. Elefanten Press Verlag, Berlin, 223 Seiten, Fotos,
36 DM.
Technikschau - Von der Festungsstadt zum Industriebezirk. Broschüre. Bezirksamt Spandau, Pressestelle, Berlin.
Im IV. Vierteljahr 1982
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Arwed Felgen, Verkaufsdirektor
Neißer Straße 2, 6415 Petersberg/Fulda
Tel.(0661)63695
(Bunsas)
Irmgard Grunemann, Technikerin
Sommerfieldring 23, 1000 Berlin 39
Tel. 8051372
(Dr. Kutzsch)
Dr. Gerhard Kiersch, Professor
Rosenheimer Straße 4, 1000 Berlin 30
Tel. 2136982
(Köhler)
Günther Rüdiger, Feuerwehrbeamter
Morgensternstraße 14, 1000 Berlin 45
Tel. 7723842
(Brauer)
Lina Spiel, Kauffrau
Saalestraße 38, 1000 Berlin 44
Tel. 6848484
(J. Methlow)
Burkhard Willimsky, Bezirksstadtrat
Senftenberger Ring, 1000 Berlin 26
Tel. 4033177
(Griegers)
Maria Wilke, Renterin
Wichmannstraße 23, 1000 Berlin 30
Tel. 26163 21
(Brauer)
JJ
Veranstaltungen im I.Quartal 1983
1. Freitag, 28. Januar 1983, 19.00 Uhr: Eisbeinessen anläßlich des 118. Jahrestages der Gründung unseres Vereins im Großen Saal der Hochschul-Brauerei, Amrumer Straße 31, Ecke
Seestraße, Berlin 65.
2. Dienstag, 8. Februar 1983,16.30 Uhr: Führung durch die Ausstellung „Berliner Synagogen"
im Berlin-Museum, Lindenstraße 14, Berlin 61. Leitung: Frau Dr. Veronika Bendt. Treffpunk im Foyer.
3. Donnerstag, 24. Februar 1983, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Hans Werner
Klünner: „Spaziergang durch Alt-Berlin um 1900." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg..
4. Donnerstag, 3. März 1983,11.00 Uhr: Besichtigung des Areals des zukünftigen Museums für
Verkehr und Technik auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Güterbahnhofs. Treffpunkt: Trebbiner Straße 9, Berlin 62.
5. Donnerstag, 17. März 1983, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Michael Kremin:
„Residenzstadt Charlottenburg. Die zentrale Idee." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
6. Donnerstag, 24. März 1983, 13.00 Uhr: Besichtigung des Berliner Kriminalmuseums. Treffpunkt: Gothaer Straße 19, Berlin 62.
Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste herzlich willkommen. Die Bibliothek
ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Vorträgen Beisammensein und
Diskussion im Ratskeller.
Mit Wirkung vom 1. Januar 1983 hat Frau Lieselott Gründahl die Leitung der Geschäftsstelle übernommen. Der Verein dankt Herrn Brauer für seine Verdienste.
*
Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Gatower Straße 86, 1000 Berlin 20.
Geschäftsstelle: Frau Lieselott Gründahl, 1000 Berlin 31, Damaschkestraße 33, Telefon 3232835; vom
Vorstand beauftragt.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-1.
Schatzmeister: Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 693 6791. Postscheckkonto des
Vereins: Berlin West 433 80-102, 1000 Berlin 21. Bankkonto: 0381801200 bei der Berliner Bank,
Kaiserdamm 95, 1000 Berlin 19.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30 22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Gatower Straße 86, 1000 Berlin 20; Günter Wollschlaeger; Dr.
Christiane Knop.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
Beüagenhimveis: Einem Teil der Auflage ist ein Prospekt des Arani-Verlages, 1000 Berlin 15, beigelegt. Wir
bitten unsere Leser um freundliche Beachtung.
32
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MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
79. Jahrgang
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April 1983
Heft 2
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König Wilhelm I. an den Staatsminister und Minister des Königlichen Hauses von Schleinitz, Kullrich das
Prädikat als Hof-Medailleur beizulegen, 23. Dezember 1863 (Zentrales Staatsarchiv, Merseburg, DDR)
Deutsches Reich, 5 Mark
Friedrich Wilhelm Kullrich
Königlicher Hof-Medailleur in Berlin
Sein Leben und Werk
/
Von Klaus Sommer
1977 wurde vom Verband der Deutschen Münzvereine e. V. der Eligius-Preis für Arbeit
aus der Münz- und Medaillenkunde gestiftet. Die Arbeit von K. Sommer (Krefeld) erhielt
1982 den 1. Preis in diesem Wettbewerb der Experten. Mit freundlicher Genehmigung d
Redaktion des Numismatischen Nachrichten-Blattes (Speyer), das die Untersuchung in
Heft 10/1982, Jg. 31, veröffentlichte, drucken wir sie imfolgenden ab, leicht gekürzt um e
paar Aufzählungen von Münzen und Medaillen, die F. W. Kullrich für deutsche und
ausländische Auftraggeber ausführte.
Die hier vorgelegte Arbeit wendet sich an jeden, der an der deutschen Münz- und Medaillengeschichte des 19. Jahrhunderts interessiert ist, insbesondere an die Sammler der deutschen
Reichsmünzen. Sie soll das Leben und Werk desjenigen Künstlers bekannt machen, der in
Zusammenarbeit mit anderen Medailleuren eben diese Reichsmünzen geschaffen hat, mit
Friedrich Wilhelm Kullrich.
Neben vielen anderen Reichsmünzen ist es vor allem das erste Markstück des Deutschen
Reiches, dessen Vorder-(Adler-)Seite sein Werk ist, mit dem Kullrich sich ein bleibendes und
würdiges Andenken geschaffen hat.
Von knappen Bemerkungen hier und dort abgesehen, hat sich bisher weder die numismatische
Literatur mit Kullrich ausführlich befaßt, noch erwähnen allgemeine Lexika seine Persönlichkeit und sein außerordentlich umfangreiches Werk. Wichtige Angaben über Kullrichs Münzarbeiten und seine Arbeitsweise enthält das Werk des Freiherrn von Schrötter über das
preußische Münzwesen.
Detailliertere Kenntnis über Kullrichs Arbeiten habe ich erhalten durch die freundlichen
Mitteilungen von Frau Dr. Lore Börner, Münzkabinett, Berlin, DDR - mir wurde hier
Einblick in die Münzakten gestattet -, von Frau Dr. G. van der Meer, Den Haag, Frau
Schukina, Leningrad, Herrn BJ0rn R. Ronning, Oslo, und Herrn Dr. O. Iliescu, Bukarest. Die
Münzenhandlung Heinrich Winter, Düsseldorf, hat mir ihre Bibliothek zur Verfügung gestellt.
Als ein besonderes Glück erachte ich es, daß es mir vergönnt war, die Bekanntschaft mit den
Nachkommen von Wilhelm Kullrich zu machen. Sie zeigten für mein Vorhaben großes
Interesse und haben mir alles mitgeteilt, was über den berühmten Vorfahren in der Familie
noch bekannt ist. Ihnen allen danke ich sehr herzlich.
Am 23. September 1862 ernennt König Wilhelm I. Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten. Die von Bismarck bestimmte politische Entwicklung, gekennzeichnet durch die für
Preußen siegreichen Kriege gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich
(1870/71) und schließlich durch die Reichsgründung 1871, weckte in Preußen und dann auch im
jungen Reich ein neues nationales Selbstbewußtsein. Stolz und Optimismus, aber auch Überheblichkeit und Prunksucht breiteten sich im Lebensgefühl der Bürger aus. Wie auf allen
Gebieten des menschlichen Lebens so auch in seinem Spiegelbild, der Kunst, wurde der neue
Geist spürbar. Die Medaillenkunst, ohnehin seit jeher ein bevorzugtes Mittel, die Erinnerung
an die Großtaten der Herrscher und Völker in unvergänglichem Metall für die Nachwelt
lebendig zu halten, folgte dieser Bewegung.
34
Friedrich Wilhelm Kullrich (1821-1887)
Am 27. August 1862 ernannte die königlich preußische General-Münzdirektion einen Künstler
zu ihrem Ersten Medailleur, der für diese Aufgabe wie geschaffen war, den durch viele Münzund Medaillenarbeiten bereits bekannten und geschätzten Friedrich Wilhelm Kullrich. Seine
Medaillen, in ihrer Ausführung von hohem handwerklichen Können, sind ein getreues Spiegelbild der Zeit: Sie sind patriotisch in der Gesinnung, im Stil monumental und in der Form
groß und schwer.
Wilhelm Kullrich wurde am 18. Dezember 1821 als Sohn des Huf- und Waffenschmieds und
Stadtältesten Johann Friedrich Kullrich (1789-1865) und seiner Ehefrau Johanna Christiana
geborene Kretschmar (1794-1857) in Dahme in der Mark geboren. Die Familie Kullrich läßt
sich bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurück verfolgen. Sie stammt aus Pressel im
damaligen Kursachsen. Über Wildenhain kam der Urgroßvater von Wilhelm Kullrich, ein
Schmiedegeselle, 1777 nach Dahme und heiratete dort die Tochter eines Huf- und Waffenschmieds. Auch der Großvater übte diesen Beruf aus. Zum Huf- und Waffenschmied bestimmte auch der Vater seinen Sohn Wilhelm. Als Schmiedegeselle unternahm der 17jährige
eine zwei Jahre dauernde Wanderschaft, die ihn u. a. nach Dresden, München, Salzburg, Wien,
Venedig, Stuttgart, Kassel und Braunschweig führte. Über die Erlebnisse auf seiner Reise
35
berichtet Kullrich in einem erhalten gebliebenen Tagebuch. Er hält darin sehr anschaulich die
Umstände fest, unter denen damals ein Handwerksbursche eine Wanderschaft durchführte.
Seinen Lebensunterhalt verdiente sich der junge Mann durch Hufbeschlag und Schmiedearbeiten. In München z. B. arbeitete er in der Holzerischen Wagenfabrik, die zu dieser Zeit die
Eisenbahnwagen für die Augsburg-Münchner Eisenbahn baute. Ein großes Erlebnis für ihn
waren gelegentliche Fahrten mit der Bahn, so auch die von Fürth nach Nürnberg, wofür er
sechs Kreuzer zahlte. Wilhelm Kullrich war ein aufgeweckter und fröhlicher junger Mann. Die
lückenlose Aufzählung der Münchner Bierbrauereien und die begeisterte Schilderung des Balls
der Münchner Schmiedegesellen in der Fastnacht im großen Rosengarten sind ein Beweis
dafür. Sein flott geschriebenes Tagebuch schmückt er mit hübschen Landschaftsskizzen,
heraldischen Zeichnungen und Darstellungen von allerlei Wagentypen. Von der langen, meist
zu Fuß zurückgelegten Wanderschaft heimgekehrt, arbeitete er zunächst in der Werkstatt
seines Vaters und half mit, die zehn Kinder zählende Familie zu ernähren, bis er zum Militär
einrücken mußte. In dieser Zeit begann er mit den ersten Graveurarbeiten. Dem Wunsch des
Vaters folgend, ging Kullrich anschließend nach Berlin, um hier ein tierärztliches Studium
aufzunehmen. Bald muß er aber sein eigentliches Talent erkannt haben, denn er gab das
Studium und auch den Schmiedeberuf auf, ging von 1845 bis 1847 als Graveur in die Lehre des
Medailleurs und Elfenbeinschneiders Johann Karl Fischer (1802-1865) und besuchte danach
auf Empfehlung von Fischer bis 1850 die von Johann Gottfried Schadow geleitete Akademie
der Künste zu Berlin, an der er zum Bildhauer und Graveur ausgebildet wurde. Karl Fischer
war auch hier sein Lehrer. Einfluß auf die Entwicklung des jungen Kullrich hatte auch sein
Freund, der Schriftsteller Albert Emil Brachvogel (1824-1878), selbst als Graveur ausgebildet
und 1846 ebenfalls ein Schüler von Karl Fischer. Brachvogel gehörte dem Berliner Handwerkerverein an, und wir können annehmen, daß auch Kullrich dort Mitglied war. An der Revolution
von 1848 nahm der junge Kullrich großen Anteil. Im Dahmer Wochenblatt steht unter dem
6. Juli 1848 eine von ihm unterzeichnete Ode, worin es u. a. heißt: „ . . . Der Gefallenen Schatten
steigen auf, umringen mich... dreihundert Seelen stehn vor meinem Auge, blutbefleckt... Ich
gelobte, immerdar zu kämpfen für die Geistesfreiheit . . . ihr sei stets mein Kopf und Herz
geweiht...!" Es mag dahin gestellt bleiben, ob Kullrich tatsächlich der Verfasser dieser Ode ist
oder ob vielleicht sein Freund Brachvogel die Feder geführt hat. Mutig war sein Bekenntnis für
die Gefallenen der Revolution in jedem Fall. Noch einmal mußte Kullrich zu den Soldaten. Als
preußische Truppen unter dem Befehl Friedrich Wilhelms, des Prinzen von Preußen, 1849
mithalfen, den republikanischen Aufstand in Baden niederzuwerfen, war Kullrich dabei. Bei
seiner Einstellung, wie sie aus der Ode von 1848 deutlich geworden ist, wird ihm der Waffengang nicht leicht gefallen sein. Auf dieses Ereignis fertigte Kullrich, noch Schüler an der
Akademie, nach einer Zeichnung von Peter von Cornelius, 1849, seine zweite bekanntgewordene Medaille. Sie zeigt, zu welcher Meisterschaft es Kullrich in so kurzer Zeit bereits gebracht
hatte.
Die erste Medaille Kullrichs ist die auf G. Schadow. Sie wurde 1849 unter Leitung von
Chr. D. Rauch in dessen Werkstatt modelliert. Kullrich hat aus Anlaß des Todes von Schadow,
1850, eine weitere Medaille auf diesen Künstler geprägt.
In der Akademie der Künste wurde auch Christian Daniel Rauch auf den talentierten Künstler
aufmerksam und ließ ihm wiederholt seine Förderung zuteil werden. Er veranlaßte ihn 1851,
auf sein soeben fertiggestelltes Reiterdenkmal Friedrichs des Großen Unter den Linden eine
Medaille anzufertigen. Der König Friedrich Wilhelm IV., sehr angetan von dieser Arbeit,
kaufte die Stempel, um davon die zum Verschenken bei der Einweihungsfeier bestimmten
Exemplare prägen zu lassen. Rauch selbst erhielt je eine Medaille in Gold, Silber und Bronze.
36
Reiterstandbild Friedrichs des Großen, Unter den Linden, von Chr. D. Rauch, 1851
Kullrich war jetzt bereits als ein erstklassiger Medailleur anerkannt. Es ist wieder Rauch zu
verdanken, daß er den jungen Künstler drängte, seine Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Rauch
bewunderte die vorbildliche Prägetechnik der Engländer: Das Feld einer Medaille matt zu
halten und das Relief darauf glänzend erscheinen zu lassen, das verstanden sie meisterhaft.
Rauch wollte, daß auch preußische Medailleure diese Technik kennenlernten und verschaffte
deshalb 1851 durch Vermittlung der berühmten Londoner Prägeanstalt von Wyon Kullrich
eine Anstellung bei der Royal Mint im Tower. Kullrich blieb etwa zwei Jahre in London.
Danach ging er nach Brüssel und Paris. 1855 war er in München und schließlich noch für eine
kurze Zeit in der Schweiz. Wir wissen nicht, wo Kullrich die Stempel zu seinen sieben
Medaillen, die er in den Jahren seiner verschiedenen Auslandsaufenthalte, also zwischen 1851
und 1855, schnitt und die Stücke prägen ließ; ob an den ausländischen Prägeanstalten, an der
Berliner Münze oder vielleicht bereits bei der Berliner Medaillen-Münze von G. Loos. Keine
seiner Medaillen aus diesen Jahren trägt allerdings neben seiner eigenen Chiffre das Signum G.
Loos. Zu Ende des Jahres 1855 ist Kullrich wieder in Berlin.
Bevor wir die Arbeiten Kullrichs für die Königliche Münze und seine eigenen Medaillenarbeiten verfolgen, wollen wir einen Blick auf seine privaten Verhältnisse werfen. 1858 heiratete
Kullrich Anna Maria Marianne Schultz (1836-1927). Sie war die Tochter von Louise Schultz,
einer geborenen Borsig. Die Verbindung zur Familie des berühmten Lokomotivbauers hat
schon eine Zeitlang davor bestanden, denn Kullrich fertigte 1854 eine Medaille auf den Tod von
August Borsig an.
Wilhelm Kullrich wohnte in Berlin, und zwar 1856 in der Kürassierstraße 1, 1859 in der
Louisenstraße 62, 1870 am Enckeplatz 5 und schließlich bis zum Tode in der Halleschen
Straße 12.
Das Ehepaar hatte neun Kinder. Der älteste Sohn, Friedrich (1859-1934), wurde Stadtbaurat
in Dortmund. Eine Straße ist dort nach ihm benannt. Der Sohn Ernst (1863-1945) - sein
Taufpate war Brachvogel - wurde Oberstudiendirektor in Berlin-Tempelhof und der Sohn
Reinhard (1869-1947) wie sein Vater Medailleur an der Berliner Münze. Von ihm stammen
unter anderem die 2- und 3-Mark-Gedenkmünzen auf die Jahrhundertfeier der Befreiungskriege, 1913.
Über die Persönlichkeit Kullrichs geben die amtlichen Akten wenig Auskunft, und in der
Familie ist die Erinnerung an den berühmten Vorfahren schon weitgehend verblaßt. Es wird
noch von Wanderungen mit seinem Sohn Ernst durch die Hohe Tatra und von seiner
37
Naturliebe berichtet. Mehrmals war Kullrich in Rom. Bei seiner Arbeit duldete der Meister
keine Störung, schon eine Fliege machte ihn wütend. Wilhelm Kullrich muß ein gutherziger
Mann gewesen sein, denn es wird berichtet, daß er notleidenden Künstlern Geld lieh und sich
dann oft damit begnügte, deren Werke an Zahlungs Statt anzunehmen. Auf diese Weise soll
eine ansehnliche Gemäldesammlung in seiner Wohnung zusammengekommen sein. Es heißt
auch, daß Kullrich wählen durfte, ob er lieber Hof-Medailleur oder Professor werden wollte.
Auf den Rat seiner Frau hin entschied er sich für den ersten Titel. Wilhelm Kullrich war
Mitglied des Vereins Berliner Künstler und der Loge zum Goldenen Pflug.
Schon 1856 hatte die Königliche Münze zu Berlin Kullrich auf Empfehlung der Akademie der
Künste eine feste Anstellung in Aussicht gestellt. Sie erfolgte aber tatsächlich erst nach dem
Tode des Medailleurs Francke am 29. November 1859. Kullrich wurde 2. Münzmedailleur
neben dem Hof-Medailleur Christoph Carl Pfeuffer (1801-1861). Bis dahin wurde Kullrich
aber schon gelegentlich zu Münzarbeiten herangezogen. So stellte er 1858 stellvertretend für
den erkrankten Pfeuffer die Stempel für die neuen y6-Taler her. Als Honorar erhielt er dafür 12
Friedrichsd'or. Am 1. März 1860 erscheint sein Name in der Gehaltsliste der Münze mit einem
Jahresgehalt von 600 Talern. Als Pfeuffer 1861 starb, wurde Kullrich am 27. August 1862
1. Medailleur und erhielt zum Jahreswechsel 1863/1864 das königliche Patent zum Hof-Medailleur. Sein Gehalt betrug 1868 1000 Taler.
Um den Posten eines 1. Medailleurs hatte sich auch Professor Karl Fischer beworben. Die
General-Münz-Direktion lehnte ihn aber wegen seiner „Renitenz und Unmanier" ab und gab
seinem ehemaligen Schüler Kullrich den Vorzug, weil dieser, nach den Worten des GeneralMünz-Direktors Goedeking, „außer künstlerischer Befähigung eine für Münzverhältnisse sehr
zu wünschende Gefügigkeit besaß".
Auch der Münzhof zu St. Petersburg bemühte sich, Kullrich nach Rußland zu holen. Der
Künstler muß dort bereits in hohem Ansehen gestanden haben. Schon 1853 hatte Kullrich eine
Medaille auf das 50jährige Jubiläum des Petersburger Bankhauses Stieglitz angefertigt, und
1855 bestellte der kaiserliche Hofrat Dr. von Köhne in St. Petersburg bei Kullrich eine Medaille
auf die Krönung des neuen Zaren Alexander II.
Köhne war es wohl auch, der den St. Petersburger Münzhof veranlaßte, 1859 Kullrich ein
glänzendes Angebot zu machen. Danach hätte Kullrich schon nach einer 15jährigen Dienstzeit
in Rußland mit einer Pension von 2000 Rubeln in den Ruhestand treten können. Kullrich lehnte
das verlockende Angebot ab, reiste aber 1860 nach Petersburg. Auf Einladung der dortigen
Münz-Direktion führte er technische Verbesserungen durch und schulte das Personal. Die
preußische Münzverwaltung beeilte sich, diesen begehrten Mann nun ganz für sich zu gewinnen.
Als Kullrich 1859 seine Anstellung bei der Königlichen Münze zu Berlin erhielt, befanden sich
seine Arbeitsräume noch in dem Gentzschen Bau auf dem Werderschen Markt. Der ständig
wachsende Münzbedarf machte aber in den folgenden Jahren erhebliche Um- und Neubauten
erforderlich. Sie zogen sich bis 1871 hin. Danach bot die Münze, die nun ihre Hauptdienstgebäude an die Unterwasserstraße verlegt hatt, einen völlig neuen Anblick. Der von F. Gilly und
G. Schadow geschaffene Münzfries, der das alte Münzgebäude schmückend umzogen hatte,
wurde 1869 dort abgenommen und mit Ergänzungen an der Fassade des neuen Münzgebäudes
angebracht. Der alte Gentzsche Bau fiel 1886 der Spitzhacke zum Opfer.
Die Einrichtung der Münze war dem technischen Fortschritt gefolgt. 14 Uhlhornsche Prägemaschinen, ein großes Medaillenprägewerk und zwei Stoßwerke zum Senken der Matrizen,
Patrizen und zum Prägen besonders großer Medaillen sowie alle anderen Apparate und
Maschinen für die Münz- und Medaillenherstellung, angetrieben von drei Borsigschen
38
Gottfried Schadow, Bildhauer, 1764-1850
Dampfmaschinen, alles auf dem letzten Stand der Technik und sinnvoll einander zugeordnet,
fand Kullrich hier für seine Arbeit vor.
Erster Direktor und gleichzeitig General-Münzwardein an der Königlichen Münze war 1859
Heinrich Christian Kandelhardt. Zweiter Direktor und Obermünzmeister Friedrich Wilhelm
Loos (ein Enkel von Daniel Loos). Erster und Hof-Medailleur war Christoph Karl Pfeuffer und
Rendant Wilhelm Goedeking. Den Medailleuren war im Münzgebäude ein Atelier eingerichtet
worden, sofern sie nicht schon ihre Wohnung dort hatten. Ihre Münzarbeiten für fremde
Staaten und ihre privaten Medaillenarbeiten konnten sie dort nach einem festgelegten Reglement ausführen. So durften sie für fremde Regierungen nur mit Genehmigung der Münzdirektion arbeiten. Schriftpunzen, die für die Münzherstellüng vorhanden waren, durften für
Privatarbeiten nicht benutzt werden.
Die Arbeitsweise eines Medailleurs hatte sich in den letzten 50 Jahren seit den Tagen eines
Daniel Loos stark verändert. Kullrich wie die anderen Medailleure stellte nach einer Zeichnung
ein positives Reliefmodell aus Ton oder Wachs her, das erheblich größer war als die Münze
oder Medaille, die man machen wollte. An dieser übergroßen Form konnte der Medailleur, der
ja jetzt mehr Bildhauer oder Modelleur als Stempelschneider war, alle Einzelheiten der Vorlage
auf das Feinste ausarbeiten. War das geschehen, wurde von diesem Relief ein Gipsabguß
genommen, der anschließend noch einmal überprüft, notfalls überarbeitet wurde. Damit war
die Arbeit des Künstlers beendet. Der folgende Vorgang war mechanischer Art. Nach dem
letzten Gipsabguß wurde ein Eisenguß vorgenommen, der nun als Vorlage für den anschließenden Reduktionsprozeß diente. Die Reduktionsmaschine, damals schon gut entwickelt,
reduzierte nach dem Storchenschnabelprinzip die Form auf die gewünschte Größe und übertrug gleichzeitig schneidend und versenkend, alle Höhen und Tiefen des Modells fein abtastend,
das Relief in den ungehärteten Stahlstempel.
Als 1. Medailleur an der Königlichen Münze zu Berlin war es Kullrichs Aufgabe, die Stempel
für die Münzen des Königreiches Preußen und später des Deutschen Reiches sowie für andere
deutsche und ausländische Staaten herzustellen und auf eine einwandfreie Ausprägung zu
achten. Es war in Preußen nicht üblich, daß die Stempelschneider und Medailleure ihre Signen
auf die Münzen setzten. (Es kommen Ausnahmen vor.) So fehlt auch auf den von Kullrich
hergestellten Münzen, mit Ausnahme auf den rumänischen, sein Signum. Das macht es schwer,
eindeutig festzulegen, welche Stücke tatsächlich von ihm oder aber von einem seiner Kollegen,
39
Medaille auf die Vermählung des Prinzen Wilhelm von Preußen mit der Prinzessin Auguste Viktoria
von Schleswig-Holstein- Augustenburg, 1881
Pfeuffer, Mertens oder Weigand, stammen. Amtliche Unterlagen, die hier helfen könnten,
existieren nicht mehr oder sind nicht zugänglich, und in der Literatur häufen sich die Widersprüche. Insbesondere läßt das Fehlen zuverlässiger Unterlagen die eindeutige Zuordnung der
Rück-(Adler-)Seiten der silbernen 2- und 5-Markstücke sowie der Reichsgoldmünzen nicht zu.
Seit 1867 stellte der Kaiserliche Münzhof zu St. Petersburg Versuche an, Kleingeld aus Nickel
herzustellen. Deshalb wandte man sich 1877 auch an die Berliner Münze, die ein Angebot
unterbreitete und eine Musterprägung vorlegte. Aussehen und Größe entsprachen einer Kupferkopeke. Die Aufschriften waren in russisch, die Rückseite jedoch zeigte den preußischen
Adler. Zu einem Auftrag kam es nicht, und Rußland blieb zunächst beim Kupfergeld.
Neben den vielen Münzstempeln, die Kullrich angefertigt hat, stammen von ihm auch die
Typen für die Randschrift auf den Reichsmünzen.
Wilhelm Kullrich war ein bekannter und gesuchter Medailleur. Seine Stellung als Hofmedailleur eröffnete ihm Möglichkeiten des Schaffens, die anderen Künstlern verschlossen blieben.
Aus vielen deutschen Ländern, ebenso aber auch aus dem Ausland, aus Norwegen, Rumänien
und sogar aus Australien, wurden Aufträge an ihn vergeben.
Zuerst wollen wir uns den Medaillen zuwenden, die Kullrich für Preußen hergestellt hat. Viele
festliche Begebenheiten in der königlichen und später kaiserlichen Familie, ebenso auch die
geschichtlichen Ereignisse, besonders die siegreichen Kriege, finden ihren Niederschlag in
Kullrichs Medaillenwerk. Dann viele Personenmedaillen, meist aus Anlaß eines Jubiläums in
Auftrag gegeben, sowie Medaillen auf vielerlei Begebenheiten.
Kullrichs Arbeiten erinnern an Ausstellungen, an die Einweihung von Brücken, Banken und
anderer Gebäude, an Jubiläen von Universitäten, wissenschaftlichen Gesellschaften und Freimaurerlogen. Der Gründung einer Stadt vor Jahrhunderten wird ebenso gedacht wie der
Fertigstellung der 1000. Lokomotive bei Borsig. Für Vereine liefert Kullrich Prämien- und
Schützenmedaillen.
Neben diesen dynastischen und privaten Medaillen stammt von Kullrich eine große Anzahl von
staatlichen Verdienstmedaillen und Ehrenzeichen. Die von ihm gefertigten Alsen- und Düppelkreuze für die Teilnehmer am Krieg gegen Dänemark, 1864, und die in großer Auflage in
Bronze und Stahl geprägten Kriegsdenkmedaillen von 1870/71 finden sich in vielen Familien
auch heute noch unter den Erinnerungsstücken aus Urgroßvaters Zeiten.
40
Medaille zur Erinnerung an die Fertigstellung
der 1000. Lokomotive bei Borsig, 1858
Kullrich führte seine Medaillenarbeiten in den Räumen der Königlichen Münze oder in der
privaten Berliner Medaillen-Münze aus. Er gab weder Verkaufslisten heraus noch kümmerte er
sich um den Vertrieb. Das alles überließ er der Berliner Medaillen-Münze, mit der er sein Leben
lang zusammengearbeitet hat, oder seinen anderen Auftraggebern.
Zwei Beispiele sollen zeigen, wie es zu Aufträgen kam und wie die Medaillen vertrieben wurden:
Im Jahre 1861 bestellte der Magistrat von Braunschweig eine Medaille auf die 1000jährige
Jubelfeier der Stadt bei dem in „bedeutendem Rufe" stehenden kgl. preuß. Münzgraveur
Kullrich. Die Ausprägung erfolgte in Gold, Silber und Bronze. Den Vertrieb der Stücke
besorgte ein Herr Johannes Heinrich Meyer, am Bankplatz wohnhaft. An ihn sollten sich die
Interessenten wenden.
Im anderen Beispiel geht es um die Hamburger Denkmünze zum 100. Jahrestag der Handelsfreiheit in Hamburg 1867. Mehrere Mitglieder der Handelskammer veranstalteten eine Subskription auf diese Medaille. Der berühmte Historienmaler Eduard Bendemann (1811-1889)
lieferte den Entwurf und Kullrich fertigte danach die geschmackvolle Medaille. Sie erschien
nicht im Handel, sondern wurde an die Subskribenten verteilt.
Mindestens 40 Medaillen von Wilhelm Kullrich sind von der berühmten Berliner MedaillenMünze in Auftrag gegeben oder vertrieben worden. Diese Stücke tragen neben dem Signum des
Medailleurs auch die Chiffre dieser Firma, meist G. LOOS DIR. Die erste Medaille Kullrichs,
die diesen Firmennamen trägt, ist die von 1856 auf Carl F. L. Hinckeldey. Die Berliner
Medaillen-Münze - die Anmerkung sei wegen der Bedeutung dieser Prägeanstalt für die
Arbeiten Kullrichs gestattet - wurde nach dem Tode von Gottfried Bernhard Loos, 1843, dem
Sohn des berühmten Hof-Medailleurs Daniel Loos, von dem Maschinisten L. Ostermann, der
schon unter Gottfried B. Loos gearbeitet hatte, bis 1879 geleitet, und zwar außerordentlich
erfolgreich. Sie firmierte jetzt „Berliner Medaillen-Münze von L. Ostermann, vorm. G. Loos."
Die Geschichte dieser für die gesamte deutsche Medaillenkunst des 19. Jahrhunderts so wichtigen Prägeanstalt ist leider noch nicht erforscht worden. Ihre Akten, aus denen ein gutes Stück
deutscher Medaillengeschichte rekonstruiert werden könnte, sind bei einem Bombenangriff im
Zweiten Weltkrieg am 3. Februar 1945 in den Berliner Geschäftsräumen, Schmidstraße 33, mit
allen anderen Werten, darunter u.a. auch vielen Stempeln aus der Zeit von Daniel Loos,
zugrunde gegangen. Der letzte Inhaber der Berliner Medaillen-Münze, Max Januscheit, ver4!
suchte nach dem Zweiten Weltkrieg vergeblich, den Betrieb wieder in Gang zu bringen, mußte
aber schließlich am 12. Mai 1952 seine Firma endgültig auflösen.
Abgesehen von wenigen Arbeiten, die Kullrich ohne jeden Auftrag, nur aus „Liebe zur Sache",
wie er selbst sagt, durchgeführt hat, z. B. die Medaille von 1871 auf den Einzug Kaiser
Wilhelms I. in Berlin, stellen seine Medaillen Auftragsarbeiten dar. Außer der Loosschen
Prägeanstalt waren die Auftraggeber der preußische Hof und Staat sowie Privatpersonen,
Vereine und Messeverwaltungen. Einige ausländische Staatsaufträge wurden auch über die
Berliner Medaillen-Münze abgewickelt, so z. B. die für Norwegen anläßlich der Krönung Karls
XV. 1860. Andere Aufträge dieser Art führte Kullrich direkt aus. Hier sind besonders seine
vielen Arbeiten seit 1866 für das junge Königreich Rumänien zu erwähnen. Zu dem rumänischen König Karl I. (1866-1914) aus dem Hause Hohenzollern-Sigmaringen muß Kullrich ein
besonders gutes Verhältnis gehabt haben. In der Familientradition wird berichtet, daß er
zweimal Gast des rumänischen Königs gewesen sei. Karl I. hat Kullrich auch für sein Münzund Medaillenporträt Sitzungen gewährt.
Kullrich war mindestens zweimal in Rumänien, und zwar in den Jahren 1869 und 1883. Bei
diesen Besuchen modellierte er die Bildnisse des Fürsten Karl bzw. des rumänischen Königspaares und besprach die von ihm vorzunehmende Prägung rumänischer Münzen und Medaillen.
Viele Medaillen Kullrichs sind in Gemeinschaftsarbeit mit anderen Künstlern entstanden.
Folgende Medailleure sind als Mitarbeiterin Erscheinung getreten: F. Staudigel, E. Schilling,
E. Weigand (der Nachfolger Kullrichs), H. Weckwerth, W. Uhlmann, R. Fessler aus Bukarest,
Karl Pfeuffer, E. Durussel, A. Wappenstein.
Zu den beruflichen Qualitäten eines Medailleurs gehörte es, daß er die Entwürfe zu seinen
Medaillen selbst machte. Auch Kullrich hat viele Medaillen nach eigenen Entwürfen oder nach
den von ihm selbst angefertigten Porträtzeichnungen seiner Auftraggeber ausgeführt. In diesen
Fällen fügte er dann seinem Signum ein A.V. (ad vivum) hinzu. In erheblichem Umfang aber
arbeitete er, wie auch die anderen Medailleure, nach fremden Entwürfen. Die Namen dieser
Maler oder Bildhauer erscheinen dann zusätzlich auf den Medaillen: Peter von Cornelius, J. H.
Strack, E. Daege, L. Rosenfelder, August Fischer (der Bruder von Professor Karl Fischer),
E. Bendemann, Th. Grosse, A. Wolff, R. Siemering, G Bläser, Ph. Grotjohann, L. Burger,
R. Diez und E. Luerssen.
Kullrich signierte seine Arbeiten mit folgenden Chiffren: KULLRICH, KULLRICH F.,
KULLRICH FEC, KULLRICH SCULPS., K., W.KULLRICH , WKULLRICH FEC,
WKULLRICH F., W.KULLRICH FECIT, W.KULLRICH FEC.BEROL., W.KULLRICH
BERLIN, W.KULLRICH IN BERLIN, W.K.
Kullrich ließ von einigen Stempeln durch die Firma F. Schneider in Berlin, Linkstraße 9,
Abdrücke in Bristol-Papier prägen. Er selbst fertigte nach einigen seiner Medaillen Reliefmedaillons in Gips an. Ein solches Medaillon zu der Medaille auf das Reiterdenkmal Friedrichs
des Großen, 1851, sechs Zoll im Durchmesser, kostete 25 Silbergroschen. Unter Glas in
vergoldeten Metallrahmen war es für 1% Taler zu haben.
Seit 1856 beteiligte sich Kullrich auch an den Ausstellungen der Akademie der Künste zu
Berlin. 1856 zeigte er dort neben seinen Medaillen auch eine Kamee, in Muschel geschnitten,
mit dem Bildnis des kgl. Hof-Bildhauers Professor Chr. D. Rauch. Eine Kamee mit Kullrichs
Selbstporträt ist hier abgebildet.
Aus dem Journal der Königlichen Münze geht hervor, daß Kullrich dort schon vor seiner
Anstellung private Medaillenarbeiten ausführen durfte. So prägte er z. B. im Januar 1856 die
Medaille auf die 600-Jahr-Feier der Stadt Königsberg und im selben Jahr auch 184 Exemplare
42
Kamee mit Kullrichs Selbstporträt
der von dem kaiserlichen Hofrat Dr. von Köhne in Auftrag gegebenen Medaille auf die
Krönung des Zaren Alexander II. (vier in Gold, 16 in Bronze und 164 in Silber, davon 64 nur
einseitig geprägt: 13 mit dem Kopf Nikolaus I. und 51 mit dem Kopf Alexanders IL). Kullrich
erhielt dafür eine vom Obermünzmeister Klipfei und Münzmeister Loos unterschriebene
Rechnung über fünf Mark, zehn Loth und zwei Grän verbrauchten Silbers und über Prägekosten in Höhe von 4'/2 Silbergroschen pro Stück = 24 Taler, 18 Silbergroschen. Es ist anzunehmen, daß später noch weitere Stücke ausgeprägt wurden. Bei solchen Arbeiten bat Kullrich
zuvor anhand von Gipsabgüssen um Genehmigung zur Ausprägung.
An einem Beispiel können wir das Approbationsverfahren verfolgen: Im Jahre 1857 wollte
Kullrich für die Mansfelder Industrie- und Landwirtschaftliche Ausstellung in Eisleben eine
Medaille prägen. Die General-Münz-Direktion leitete Kullrichs Gesuch an die königliche
Verwaltung des Staatsschatzes und Münzwesens mit der Bemerkung weiter: „Da dieses Gepräge nichts zu enthalten scheint, was Bedenken gegen deren Ausprägung erregen könnte, so
ersuchen wir die kgl. Verwaltung des Staatsschatzes ehrerbietigst zur Ausprägung dieser
Preismedaille hochgnädigst die Erlaubnis zu erteilen. - Die General-Münzdirektion an die kgl.
Verwaltung des Staatsschatzes und Münzwesens." Wenige Tage darauf, am 19. Oktober 1857,
wurde die Genehmigung erteilt.
Die Eintragungen im Journal der Königlichen Münze geben zwar einige Anhaltspunkte über
die Prägezahlen, aber die genaue Auflagenhöhe konnte nur für wenige Medaillen ermittelt
werden: Die Medaille auf den Krieg gegen Österreich 1866 wurde mit 264 Exemplaren (14 in
Gold, 100 in Silber, 150 in Bronze), die auf den siegreich beendeten Krieg gegen Frankreich
1871 in 262 Exemplaren (25 in Gold, 100 in Silber, 134 in Bronze, 3 in vergoldeter Bronze)
ausgeprägt. Bei der ersten Ausprägung der Medaille auf die drei Standbilder Blüchers, Yorcks
und Gneisenaus, 1856, wurden 81 Exemplare hergestellt. Später mögen weitere Stücke hinzugekommen sein.
Wenn es auch vorkam, daß Kullrich nur in ganz minimalen Auflagen prägte, in einem Fall
waren es nur sechs Stück, so achtete er im allgemeinen doch darauf, daß ein Auftrag mindestens
etwa 100 Exemplare ausmachte. Wie aus einem Brief Kullrichs vom 1. Juli 1880 an den
preußischen Kultusminister von Puttkamer hervorgeht, hatte der Kaiser bei Kullrich 10
Exemplare von der Medaille auf seinen Einzug in Berlin 1871 in Bronze bestellt. Kullrich lehnte
diesen Auftrag höflichst ab und bat darum, 100 Stücke liefern zu dürfen.
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Bei dieser Gelegenheit erfahren wir auch etwas über die Preise seiner Medaillen. Der Stückpreis
für die Ausführung dieser Medaille in Bronze bei einer Auflage von 100 Stück belief sich auf
20 Mark. Bei einer größeren Bestellung ermäßigte sich der Preis bis auf 15 Mark. Von einigen
anderen Medaillen sind die Preise auch bekannt:
Vermählung des Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen mit der Prinzeß Royal von Großbritannien, 1858, 54 mm: Gold 20 Fr.d'or, Silber 6 Taler, Bronze l'/2 Taler, Neugold 2 Taler;
1 OOOjähriges Stadtjubiläum Braunsch weigs, 1861,51 mm: Gold 90 Taler, Silber 5 Taler, Bronze
1 Taler; Reiterdenkmal Friedrichs des Großen, 1851,37,8 mm: Silber 2'/2 Taler, Bronze 1 Taler.
Der Fortschritt in der Prägetechnik ermöglichte es Kullrich, seine Arbeiten mit hohem Relief zu
arbeiten und auch in außerordentlichen Formaten herzustellen. Einige Medaillen messen 75,78
oder gar 85 mm (Sieg über Frankreich 1871 z. B.). Am häufigsten vertreten sind die Durchmesser von ca. 42 und 51 mm. Die kleinste Medaille mißt 18 mm.
Ausgeprägt wurden die Medaillen in fast allen prägbaren Metallen, in Silber und Bronze vor
allem, aber auch in Gold, Zinn, vergoldeten oder versilberten Metallen, in Kupfer, Neugold,
Messing, Stahl und Aluminium.
Wie viele Medaillen Kullrich insgesamt hergestellt hat, ist nicht genau festzustellen. Sein eigenes
Werkverzeichnis habe ich nicht gefunden, und in den Verkaufslisten der Berliner MedaillenMünze werden die Medailleure leider nicht genannt. Die Addition der in der numismatischen
Spezialliteratur und v. a. in den vielen Auktions- und Verkaufslisten des Münzenhandels
vermerkten Kullrich-Medaillen ergibt eine Zahl von etwa 140 Arbeiten.
Als stilistisches Vorbild dienten Kullrich und den anderen Medailleuren seiner Zeit immer noch
Bilder und Symbole aus der Antike. Füllhörner, Kränze, Götter und Genien. Aber auch das
deutsche Mittelalter hat bei der Gestaltung mancher Medaille Pate gestanden. Viele Arbeiten
machen einen etwas altväterlichen Eindruck auf uns. Es gibt Medaillen, auf denen Kleidung
und dargestellte Gegenstände der modernen Zeit entsprechen, auf anderen sind Stile unbekümmert vermischt: Auf der Rückseite der Medaille auf die Gewerbeausstellung zu Königsberg 1875 sitzt die Stadtgöttin mit Mauerkrone und Lorbeerkranz, antik gekleidet, neben einer
rauchenden Lokomotive. Die Medaille auf die Vermählung des Prinzen Wilhelm (Kaiser
Wilhelm II.) 1881 zeigt auf der Vorderseite die Brautleute in Uniform bzw. Kleidung der
eigenen Zeit, aber auf der Rückseite (von Uhlmann) eilen sie in Gewändern des Mittelalters
aufeinander zu.
Bei der Gestaltung einer Anzahl von Arbeiten fällt eine Besonderheit auf: Auf der Rückseite
der Medaille auf das Rauchsche Reiterdenkmal Friedrichs II. wird die Umschrift in ein vom
Medaillenfeld deutlich abgehobenes Band gesetzt. Bei späteren Arbeiten gewinnt dieses Band ein Relieffries - immer mehr Raum und nimmt dann - die Bildmitte wird entsprechend kleiner
- erzählende Szenen auf. Auf der Vorderseite der Medaille auf die drei Feldherrendenkmäler
marschieren und kämpfen die preußischen Truppen um die Köpfe ihrer Generäle herum. Bei
den Medaillen auf den Krim-Krieg 1856, den Einzug Kaiser Wilhelms 1871, auf eine landwirtschaftliche Ausstellung in Rumänien verfährt der Künstler in gleicher Weise. Ebenso auch bei
den großformatigen Medaillen auf die Siege von 1866 und 1871. Nur setzt hier der Künstler
statt der Bildfolgen die Namen der Heerführer ein.
„Die Medaille hat nicht nur darzustellen, sondern auch eine bestimmte Idee, die eigene oder die
des Auftraggebers, auszudrücken. Wer nicht die schaffende und dichtende Kraft des Poeten in
sich hat, der ist nicht zum Medailleur vorherbestimmt." (A. Lichtwark).
Für viele seiner Arbeiten werden wir Wilhelm Kullrich geschmackvolle Gestaltung und
meisterhafte Ausführung zugestehen. Dazu rechnen wir die Medaille auf die goldene Hochzeit
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Medaille auf die Feldherrndenkmäler Yorck, Blücher, Gneisenau, 1856
(links: Köpfe, rechts: Denkmäler)
Kaiser Wilhelms I. und Kaiserin Augustas 1879. Das alte Kaiserpaar ist hier in einer würdigen,
ernsten Haltung dargestellt.
Auch in Arbeiten wie der Medaille auf den Sieg über Frankreich 1871 erkennen wir den Stolz
und das gewonnene Selbstvertrauen des jungen Reiches, und in vielen Medaillen begegnet uns
der Zeitgeist der Gründerjahre. Die Idee glauben wir also in den Werken Kullrichs zu sehen, um
auf die Forderung Lichtwarks einzugehen, für die poetische Kraft indessen sind Einfachheit,
Schwere und Klarheit getreten. Die Medaillen sind gediegen wie der König selbst.
Mehr zum Schmunzeln reizt uns dagegen der Anblick eines kleinen Gepräges, und zwar auf die
Königskrönung von 1861. Da sitzt das Königspaar auf einem „klotzigen" Doppelthron, hoch
an den Medaillenrand gedrückt, und blickt aus luftiger Höhe, man möchte sagen ängstlich, auf
eine verwirrende, beinahe chaotische Szene unter sich herab.
Neben dem Wohlwollen seines königlichen Herren wurde Kullrich mit zahlreichen Ehrungen
und Orden „begnadigt". Er war Ehremitglied der Akademien der Bildenden Künste zu
St. Petersburg und Wien und Träger von Orden von Norwegen, Rumänien und Rußland sowie
von Anhalt, Braunschweig, Mecklenburg-Schwerin und Reuß. Von seinem eigenen Land
Preußen war er - außer mit der Landwehrdienstauszeichnung II. Klasse - mit dem königlichen
Kronenorden 4. Klasse dekoriert worden. Außerdem war Kullrich Träger der Großen Goldenen Medaille für Kunst, die von der Akademie der Künste verliehen wurde.
Wilhelm Kullrich starb am 2. September 1887 in Berlin und wurde am 5. September 1887 unter
großer Anteilnahme seiner Familie, seiner Kollegen und vieler Freunde auf dem Matthäikirchhof in Schöneberg beigesetzt. Die Grabstelle wurde erst 1957 aufgegeben.
Anschrift des Verfassers: Klaus Sommer, Heyenfeldweg 120, 4150 Krefeld
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ßie Militärkuranstalt zu Frohnau
Eine Akte aus dem Wilhelminischen Kaiserreich
Von Christiane Knop
Bei Durchsicht einer Akte des Kriegsministeriums, und zwar seiner Medizinalabteilung von
1916 bis 1919 „betr. Heilanstalt Frohnau"1, ergibt sich ein ungewöhnliches Bild vom Ablauf
einer Verwaltungsentscheidung im Wilhelminischen Kaiserreich - auch in Zeiten des Krieges -,
das geeignet ist, Klischees von der militärischen Vorrangigkeit des Obrigkeitsstaates gegenüber
dem Bürgerwillen zu korrigieren. Es ist in besagtem Falle keineswegs so, daß der Kaiser oder
sein Reichskanzler über den Volkswillen hinweg befohlen und der Magnat Fürst von Donnersmarck habe seinem Prestige neue Nahrung gegeben.
Die Verhandlungen, die sich vom Mai 1916 bis in den Herbst 1919 hinziehen, spiegeln einerseits
das schwerfällige Hin und Her zwischen den höchsten Reichsbehörden in einem Rechtsstaat,
obschon einem obrigkeitsstaatlichen, und andererseits das traurige Abgleiten jeder Initiative,
aller Wünsche, Entwürfe und Schätzungen bis in die trostlose Lage der Kapitulation und
Demobilisierung, wie sie ein Assessor beim Landrat des Kreises Niederbarnim im Oktober 1918
vorausahnte.
Ein großes Projekt scheint zerredet worden zu sein, wenn man auf der letzten Seite2 die lapidare
Feststellung liest: „... das Bauvorhaben betreffend die Einrichtung einer Militär-Kuranstalt zu
Frohnau bei Berlin ... soll fallengelassen werden." Dies am 16. April 1919. Auf eine wahrhaft
fürstliche Schenkung von 1000 Morgen Waldland und 3 Millionen Goldmark zur Errichtung
einer Militärheilanstalt für Schwerstverwundete, über die der Kaiser als Kuratoriumsvorsitzender selbst verfügen sollte, scheint kleinmütiges Versagen die Antwort gewesen zu sein.
Als der Schriftwechsel begann, war der Fürst seit wenigen Wochen tot, aber die Schenkung an
den Kaiser bestand schon; es wäre nun auf die verwaltungsjuristischen und finanztechnischen
Folgeeinrichtungen angekommen, ein medizinisch bahnbrechendes Projekt zu verwirklichen.
Doch der Heutige, der die Auseinandersetzung um Haushaltsentwürfe und Sparbeschlüsse, die
Wirkungskraft wirtschaftswissenschaftlicher Prognosen und parteipolitischer Argumentationen um Arbeitsplätze und Versorgungsbezüge, aber auch Verantwortungsscheu aus arbeitsmarktpolitischen Gründen kennt, versteht den sich mit fast gesetzmäßiger Notwendigkeit
vollziehenden Entscheidungsvorgang mit seinem Nein und Nun-nicht-mehr. Er findet die
Gegenwart widergespiegelt.
Die Hauptpersonen der Handlung sind der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg, dem
damals auch das Reichsschatzamt unterstand, der Kriegsminister von Falkenhayn als oberster
Dienstherr des Feldsanitätsdepartements, der Generalstabsarzt der Armee im Großen Hauptquartier, Professor von Schjerning, als Befürworter des Planes, der Landrat beim Kreise
Niederbarnim, von Gerlach, zu dem der Gutsbezirk „Kaiserlich Frohnau" gehören sollte;
hinzu kommen Architekten und Ingenieure, die aufgrund der Bodenbeschaffenheit Fragen der
Be- und Entwässerung, der Heiz- und Kochanlagen begutachten, und sogar ein erster Bewerber, der die Anstalt wirtschaftlich leiten möchte, weil er Erfahrungen solcher Art aus der
Ostasienexpedition einbringen kann3.
Dem Reichskanzler wird zunächst eine sorgfältig durchdachte Denkschrift des Generalstabsarztes der Armee und des Chefs des Feldsanitätswesens, von Schjerning, aus dem Großen
Hauptquartier vorgelegt, abgefaßt im Januar 1916. Sie ist bereits Ergebnis vorangegangener
Besprechungen des damals 86jährigen Fürsten von Donnersmarck mit dem Leibarzt der
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fürstlichen Familie, Dr. Berg, der zugleich Chefarzt des Lazaretts war, das die Fürstin von
Donnersmarck in Frohnau seit 1914 führte, ferner des Ministers des Königlichen Hauses, den
der Kaiser für den Plan gewonnen hatte.
Dem Nacherlebenden erscheint es erstaunlich vorausschauend, wenn Professor von Schjerning
darauf hinweist, welche unerträglichen wirtschaftlichen Lasten dem Deutschen Reiche nach
Kriegsende durch die soziale und medizinische Versorgung der Kriegsbeschädigten erwachsen
würden. Es geht diesem hohen Militär, der in erster Linie Arzt ist, um die Herabminderung der
gesetzlichen Versorgungsbezüge, die nicht in allen Fällen gesetzlich erworben sind, sondern
vielfach juristisch unabgesichert. Es wird also auch derer gedacht, die später im sozialen
Niemandsland leben und dann eine moralische und politische Last für den Staat darstellen
müssen, wie es tatsächlich ja auch geschehen sollte. Aber dies wird gleichsam nur im Seitenlicht
beleuchtet; grundsätzlich geht es um die Kriegsopfer schlechthin, deren Dimension schon jetzt
klar erkannt wird in der Formulierung: „ ... bei Größe und Ausdehnung des Krieges." - Der
Heutige schaudert, wenn er bedenkt, daß die schrecklichsten menschlichen Verluste durch die
Materialschlachten vom Sommer und Herbst 1916 erst noch bevorstehen; noch ist Verdun nicht
das schreckenerregende Symbol.
Die Denkschrift möchte die zu errichtende Militärheilanstalt in der Tradition des alten
friderizianischen Invalidenhauses „Laeso et invicto militi" fortgeführt sehen, jedoch abgestellt
auf die neuartigen medizinischen Indikationen.
Es bringt der Generalstabsarzt auch die Erfahrungen der bisherigen „Militärkuranstalten" z. B. Wildbad und Königstein im Taunus - ein, und hier fällt das Wort für die beabsichtigte
Institution zum erstenmal, bei der „Offizier und Mann sich am sichersten geborgen fühlen", wie
er sagt; also „kein Invalidenhaus zum dauernden Verbleib, sondern eine Leib und Seele des
Kranken berücksichtigende neuzeitliche Heilanstalt zu zeitweiligem Kurgebrauch und
ambulatorischer Behandlung". Man glaubt Virchows sozialliberale Einstellung herauszuhören
- aus dem kaiserlichen Hauptquartier!
Daß nun ein klarer Abriß von der zu schaffenden Heilanstalt vorgelegt wird, die ganz dem
Geiste Kaiser Wilhelms IL verpflichtet sein und seinen Namen tragen soll, deutet daraufhin,
daß zwischen dem Fürsten, dem Generalstabsarzt, dem fürstlichen Leibarzt und Lazarettchef
Dr. Berg sowie dem Kaiser Fühlungnahmen stattgefunden haben. Die Denkschrift setzt die
Donnersmarcksche Schenkung unausgesprochen voraus, worauf die Formulierung „...in
stiller, anmutiger Lage in der Nähe Berlins" deutet; dem hohen Militär ist diese „anmutige
Lage" von Frohnau als Hofjagdrevier ja bekannt.
Alle Argumente erscheinen selbst dem Heutigen noch großherzig-sozial und außerdem praktisch - wie z.B. der Hinweis, daß auch im Kriegsapparat tätige Offiziere (Generalstab,
Kriegsministerium) dort ambulatorisch behandelt werden könnten (man denkt an etwa 800
Fälle) und daß man die Anstalt in Friedenszeiten als Garnisonslazarett statt des alten in
Tempelhof weiterverwenden könne.
Man hat bei der stationären Kapazität an 100 Offiziere und 200 Unteroffiziere und Mannschaften gedacht, die mit allen damals modernen Kurmitteln behandelt werden sollten. Die Bau- und
Ausstattungskosten werden auf 5 Millionen veranschlagt und mit Personal, Kurdauer und
Leistungsvolumen genau beziffert.
Es ist auch beachtenswert, daß gerade der Chef des Feldsanitätswesens die häufigsten, dringlichen und damals neuen medizinischen Indikationen erwähnt, wie „kieferchirurgische Verletzungen, Versteifungen, Verkrümmungen von Gliedmaßen, Fehlen ganzer Glieder und periphere Lähmungen". Es sind Verstümmelungen, die vor allem der Stellungskrieg in den Materialschlachten mit sich gebracht hat und die ein Umdenken erfordern. Die Formulierung „Es
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müßte sogleich ein Bauplatz bestimmt werden" läßt erkennen, daß schon die bestimmte
Vorstellung von Frohnau bzw. die Donnersmarcksche Schenkung allem zugrunde liegt.
Auch der Name der Militärkuranstalt wird bereits proponiert: „Haus Kaiser Wilhelm II." In
ähnlicher Form wird er auch im weiteren Schriftwechsel verwendet.
Das Projekt wird dem Reichskanzler dringend gemacht. Aber noch ist auch der Kaiser
vorsichtig. In seiner Randbemerkung - übrigens eine klare und beherrschte Handschrift bekundet er seine Zustimmung, ordnet aber an, die Einwilligung des Herrn Kriegsministers
einzuholen, und setzt den Baubeginn auf die Zeit nach Beendigung des Krieges fest.
Damit ist der Konfliktstoff bereits gegeben: die Kompetenzabgrenzung zwischen militärischer
Anstalt, die ja Reichsangelegenheit ist, und privater Finanzierung und den kommunalpolitischen Folgen. Um ihre Klärung wird es in den nächsten Monaten gehen.
Dann schreitet das Projekt recht plötzlich fort. Telegraphisch erbittet der Kommandierende
General im Kriegsministerium/Medizinalabteilung den Reichskanzler als Chef des Reichsschatzamtes um Auskunft, wieweit „die Verfügung über Frohnau" gediehen sei - der Plan hat
also weitere konkrete Gestalt angenommen -; er selbst wolle mit dem Kriegsminister „alsbald
dorthin fahren". Die Sache wird mit dem Vermerk „Sogleich" eilig gemacht und sogar um
telegraphische Rückantwort gebeten. Das ist im Mai 1916.
Schon zwei Tage später erfolgt die Antwort des Reichskanzlers. Aus ihr geht hervor, daß im
Großen Hauptquartier eine entscheidende Besprechung schon im April stattgefunden habe,
wovon er mit Schreiben vom 24. April in Kenntnis gesetzt worden ist. Doch nun hat er
daraufhin in einem ersten handschriftlichen Entwurf seine Bedenken skizziert - sie werden
später in maschinenschriftlicher Form sorgfältiger ausgeführt. Er zögert, weil er im Reichstag
Etatschwierigkeiten zu erwarten hat. Es sei kaum denkbar, für 1916 noch einen Ergänzungsetat
über 5 Millionen unterzubringen. Auch kann der Kaiser über die zugedachte Vermögenszuwendung nicht nach persönlichem Ermessen verfügen, sondern er muß sich hohenzollernschem Hausgesetz zufolge an die Richtlinien des Ministers des Königlichen Hauses halten. Da
es sich ferner um einen zukünftigen Besitz des Militärfiskus handeln wird, also Reichsangelegenheit sein wird, muß der Umfang der „Belastung mit einer beschränkten Dienstbarkeit" wahrscheinlich Haftung der Öffentlichkeit gegenüber - geklärt werden. Als Eigentumsform
schlägt er Erbbaubesitz auf 99 Jahre vor. So soll deshalb der Wettbewerb für einen Vorentwurf
des Hauses noch aufgeschoben werden. „Das Vorhaben ist noch nicht etatsreif', urteilt er.
Hier beginnt die verhängnisvolle Verzögerung. In dem eben erwähnten späteren Schreiben
erörtert Bethmann-Hollweg die Kosten von nun 5 '/2 Millionen; man hat aus dem Offizierskurhaus in Wildbad Vergleichszahlen herangezogen, und die hier veranschlagten Kosten gehen
weit darüber hinaus.
Doch nun wird es interessant: Das Militär entfaltet die vorantreibende Kraft. Seit es einmal von
der weitschauenden Idee überzeugt ist, spannt es den Rahmen noch großzügiger. - Der
Generaladjutant des Kaisers, von Loewenfeld, weist auf die Möglichkeit hin, eine „weitherzige"
- das Wort unterstrichen - Durchführung möglich zu machen. Ihm liegt die Transportfrage mit
"der Eisenbahn am Herzen, die sichern soll, daß Schwerverwundete sofort und leicht ins
Lazarett kommen sollen.
Er hat die bisher geübte und weltweit geachtete Fortschrittlichkeit des Berliner Medizinalwesens im Auge und möchte sie hier fortgesetzt sehen. Umsichtig schlägt er vor, sich das
Vorkaufsrecht für weitere Grundstücke in Frohnau zu sichern, auf denen die wissenschaftlichen Forschungsinstitute stehen sollen; als Denkmodell stehen offenbar die Kaiser-WilhelmInstitute und die Kaiserin-Friedrich-Stiftung.
„... es wird darauf Bedacht zu nehmen sein, daß die Zukunft in Sachen Gesundheitspflege
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Anforderungen stellen wird, an die wir noch gar nicht zu denken vermögen. Wer hat beim Bau
der alten Pepiniere an Röntgen gedacht?" - Diese Beschwörung erfolgt zu einem Zeitpunkt, als
das damals modernste Krankenhaus, das Rudolf-Virchow-Krankenhaus, gerade erst 10 Jahre
bestand.
Im August - die Etatberatungen für 1917 sind offenbar in vollem Gange - drängen die beiden
Chefärzte des Feldsanitätswesens, O.St.A. Schwiening und O.St.A. Hocheimer, in Vertretung
von Professor Schjerning nochmals auf baldige Hereinnahme des Projekts in den Etat und
heben seine Bedeutsamkeit noch drängender hervor: „Frohnau soll eine Musteranstalt werden,
die gerade bei Berlin nötig ist, wo der größte Zusammenfluß der Kriegsbeschädigten stattfindet
und auch die schwersten Fälle schnell Rat und Hilfe durch die ersten Fachärzte bekommen
müssen... Dabei soll jeder Luxus vermieden werden."
Sie rücken auch die Kostenfrage in ein verständlicheres Licht. Der vom Reichsschatzamt
herangezogene Vergleich mit den Kosten eines Offiziersgenesungsheims in Wildbad geht fehl,
weil in Frohnau Erschließungskosten zu leisten sind, die dort entfallen, weil das Institut ja alle
vorhandenen Kurmittel eines Weltbades mit in Anspruch nimmt.
Ihre Aufrechnung liefert uns Heutigen einen interessanten Einblick in die Preisgestaltung des
Jahres 1916. Es gilt damals als Binsenweisheit, daß das Bauen in Berlin erheblich teurer ist als in
Süddeutschland. Hinzu kommt ein gewisser Klassenunterschied, der ein Offiziersbett mit fünf
Mannschaftsbetten zu Buche bringt. Demgegenüber wird eine Kuranstalt im Sinne ganzheitlicher Medizin konzipiert. Sie sprechen von „jeder Art von Medikomechanik, Orthopädie,
Elektromedizin, Strahlen-, Licht- und Luftbehandlung, Geländekuren, Arbeiten in Werkstätten, Garten und Landwirtschaft, Gelegenheiten zu chirurgischen Nachoperationen an Knochen, Muskeln, Nerven und Blutgefäßen, Prüfung und Instandsetzung künstlicher Glieder. Neben der Krankheit soll der kranke, körperlich und seelisch leidende Mensch durch die Art
seiner Unterbringung, Beschäftigung und Unterhaltung nach der eigentlichen Kur mit allen
aussichtsreichen Mitteln gefördert werden. Dies erfordert Anlagen, die über den Rahmen
bisheriger Kuranstalten hinausgehen, sich aber nach den im Kriege gesammelten Erfahrungen
durch dauerhafte Erfolge reichlich bezahlt machen."
Sie errechnen die Gestellung eines Bettes mit 4000 Mark statt, wie bisher erwogen, mit 8000, für
die Ausstattung pro Kopf 1667 Mark. So wird also der Reichskanzler ermutigt, und er wird nur
um einen außeretatmäßigen Vorschuß von 10000 Mark gebeten, damit ein verbindlicher
Vorentwurf endlich erstellt werden kann.
Auch der Kriegsminister hat gegengezeichnet, und die Frage der „beschränkten persönlichen
Dienstbarkeit für den Bauplatz" ist vom Kaiser selbst gelöst worden. Es müßte nun losgehen.
Denn die „Guido Fürst von Donnersmarck'sche Generaldirektion" auf Schloß Neudeck in
Oberschlesien macht wenige Wochen später, am 11. September 1916, ebenfalls Dampf. Sie
übermittelt dem Kriegsminister in Berlin das Gutachten einer renommierten Firma, die eine
Brunnen- und Wasserwerkanlage in Frohnau zu leisten fähig und bereit ist - sie war bisher an
der Aufschließung der Landhauskolonie Frohnau tätig und kennt das Gelände gut. Und es
werden 50000 Mark als erste Rat für einen Entwurf überwiesen. Die entsprechende Seite des
Kontobuches liegt bei der Akte.
Auch in diesem Schreiben wird noch einmal die Notwendigkeit zur Errichtung einer „MilitärKuranstalt größeren Stils" zusammengefaßt. Ein Wettbewerb wird abermals gefordert, damit
ein Kostenanschlag nun genau beziffert werden kann. Dann heißt es lapidar: „Der Bauplatz
wird geschenkt."
Das nächste Schreiben des Reichskanzlers spiegelt die inzwischen eingetretene militärische
Lage - Verdun! - wider. Es ist an den Kriegsminister gerichtet und läßt sich zu einem Ja/Nein
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herbei, da er nun sicher ist, daß eine weiterefinanzielleStiftung der Donnersmarckschen Erben
dem Geldmangel aufhelfen würde. Er möchte diese Last ausschließlich der Stiftung auferlegen,
da die Gestellungskosten für ein Bett inzwischen die Höhe von 18 000 Mark erreicht haben.
Dies ist dem Reichstag nicht mehr zumutbar. - So viel Volksvermögen hat also der Krieg in
diesem Sommer verschlungen; die Inflation ist hier bereits vorgegeben.
Alles hängt nun von einem überzeugenden Vorentwurf ab. Für ihn gibt der Kanzler nun grünes
Licht, ohne sich jedoch festlegen zu wollen. So liegt denn 14 Tage später dieses Bauprogramm
vor, vorgelegt von der „Intendantur der militärischen Institute" mit Sitz in der Luitpoldstraße
im Berliner bayerischen Viertel. Man hat es offenbar aus der Schublade gezogen, wo es
bereitgelegen hatte. Federführend ist Baurat Professor Weiß. - Es hat sich inzwischen auch der
feste Arbeitstitel herauskristallisiert: „Militär-Heilanstalt in Kaiserlich Frohnau/Berlin".
Das Bauprogramm hält fest an der Aufnahmekapazität von 100 Offizieren sowie 200 Unteroffizieren und Mannschaften zuzüglich einer nicht bezifferten größeren Anzahl von kriegsbeschädigten Offizieren und Mannschaften, die in „Groß-Berlin" tätig sind und auch nach
dem Kriege ambulant behandelt werden sollen.
Da die Frohnauer Bauordnung nur zweigeschossige Gebäude zuläßt, sollen also die Offiziere in
vier Gebäuden, jedes zweigeschossig mit ausgebautem Dach, untergebracht werden. Der
Entwurf hält sich in der Abmessung der Räume an die Friedensordnung für eine Garnison; den
höheren Offizieren soll eine Burschenkammer beigegeben werden. Ähnlich den heutigen
Rehabilitationszentren sind für Gelähmte acht Wohnungen mit anschließenden Pflegeräumen
und Baikonen für Liegekuren vorgesehen.
Im übrigen sieht der Entwurf die üblichen Neben- und Diensträume für Ärzte und Pflegepersonal und Behandlungsräume vor, vor allem genügend Abstellraum. Die Flurerweiterungen
sollen zu Tagesräumen genutzt werden.
Inmitten der vier Offizierswohnhäuser ist ein Offizierskasino gedacht, ebenfalls ausgestattet
nach der Garnisonsgebäudeordnung aus Friedenszeiten; es enthält Nebenräume für Dienstund Pflegepersonal; gedacht ist an unverheiratete Sanitätsoffiziere.
Auch die Mannschaften erhalten vier Gebäude zugewiesen wie die Offizierslogis. Kapazität:
50 Mann je Wohnhaus in 1- bis 8-Bett-Zimmern je nach Schwere der Erkrankung. Hier sollen
die Kellergeschosse für Werkstätten zur Beschäftigungstherapie genutzt werden, angeschlossen
an das Maschinen- und Kesselhaus, das die Energie liefern muß. Analog dem Offizierskasino
gibt es einen Mannschaftsspeiseraum mit seinen Wirtschaftsräumen. Auch hier wieder ausgebaute Dachräume für Personalunterkünfte sowie Hörsäle und Lehrräume, sogar eine Kegelbahn.
Inmitten der Wohngruppe soll das Kurmittelhaus stehen; es muß alle Untersuchungs- und
Behandlungsräume einschließen, Arztpraxen und eine Röntgenanlage sowie Apotheke und
Verwaltung. Die therapeutischen Möglichkeiten umfassen die ganze Palette damaliger Physiotherapie und Balneologie, die Maßnahmen zur Rehabilitation gelähmter Glieder im besonderen. Angefügt wird ein Operationshaus. Es soll für die Aufnahme von sieben intransportablen
Schwerstkranken dienen; ferner ist an eine Infektionsisolierstation gedacht (die laut Randnotiz
dem Rotstift zum Opfer gefallen ist).
Räumlichkeiten zur Obduktion und Aufbewahrung von Leichen werden ebenfalls für erforderlich gehalten, dazu Remisen und Ställe, Garagen und eine kleine Feuerlöschstation, ja sogar ein
kleiner landwirtschaftlicher Hof für Viehhaltung und eine Gärtnerei. Die Dachräume sind außer für Gärtner- und Kutscherwohnungen - für Futterböden geplant. Es folgen Ausführungen über Kessel- und Maschinenhaus, Wäscherei, Kühlanlagen und Schlosserei. Überall
können und sollen auch Patienten beschäftigt werden. Gesonderte Wohnungen sind für
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unverheiratete Sanitätsoffiziere, Chefarzt und Oberstabsarzt vorgesehen und schließlich ein
Pförtnerhaus.
Aus alledem geht hervor, daß die Planung eine geradlinige Fortsetzung des alten Invalidenhauses auf dem modernen Stand und unter den damals obwaltenden gesellschaftlichen Zuständen
ist. Genauso ausgebreitet wie damals die persönliche Fürsorge Friedrichs des Großen ist hier
die Für- und Vorsorge des Sanitätsdepartements auf Betreiben des Fürsten von Donnersmarck
und im Einvernehmen mit dem Kaiser als oberstem Kriegsherrn, also kein billiger Kriegsersatzbau.
So wird verständlich, wie hoch die Kosten sein müssen. Er werden veranschlagt: 5 Millionen
Mark für den Bau und 500 000 Mark für die Ausstattung sowie 10 000 Mark für den Vorentwurf
und die Erschließungsarbeiten. Sie sollen aufgeteilt werden: die 10000 Mark als außeretatmäßige Ausgabe noch für 1916,2,5 Millionen Mark für den Haushalt 1917, weitere 2 Millionen
Mark als zweite Baurate für den Haushalt 1918 und 1 Million Mark als Schlußrate für die
Ausstattung. So steht also der ausgereifte Entwurf da, jedermann einleuchtend und dem
Reichsschatzamt mundgerecht gemacht.
Noch im selben Monat bestellt telegraphisch der Arbeitsminister den Chef des Feldsanitätswesens zu sich zur Unterrichtung „wegen beschleunigter Zugverbindung mit Frohnau", wie es
im Telegramm heißt.
Und noch einmal schaltet sich der Kaiser persönlich ein, der sich bisher zurückgehalten hat,
und zwar mit einer Anregung, die Mosaikwerkstatt Wagner solle bei der Ausschmückung des
Offizierskasinos beteiligt werden. Man kennt die kaiserliche Vorliebe für diesen Dekorationsstil von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche her.
Obwohl nun der nächste Schriftvorgang den Vermerk „Schleunig" trägt, stellt sich am 9. November 1916 der Reichskanzler noch immer steif. Der Vorentwurf des Professors Weiß hat ihn
nicht davon überzeugen können, daß er die sehr hohen Kosten von 18 000 Mark pro Bett vor
Reichstag und Bundesrat werde verantworten können. Die Aufwendungen scheinen ihm
immer noch zu hoch angesetzt angesichts der gewaltigen Kriegslasten, die er - und man
bedenke die kritische Lage an beiden Fronten! - auf sich zukommen sieht, zumal die Hochrechnung eines Verwaltungsfachmannes aus der Medizinalabteilung ihn in dem Grundsatz
bestärkt, das Projekt werde die angesetzte Summe erfahrungsgemäß weit übersteigen. Er sei
höchstens bereit, die Sache durchzubringen, wenn ein Bett auf 8000 Mark käme, was dem
bisherigen Satz entspricht. Um kein klares Nein herauslesen zu müssen, behält sich der
Kriegsminister doch eine gelegentliche Neuvorlage bei „Sr. Exellenz" vor. Wenn es überhaupt
weitergehen soll, muß die „Akademie des Bauwesens" den Vorentwurf nochmals begutachten.
Inzwischen hat die Gemeinde Berlin-Pankow Wind von der Sache gekriegt; denn ein Schreiben
des Gemeindevorstands weist „ergebenst" daraufhin, daß das Wasserwerk für Pankow an der
Havel bei Stolpe gelegen sei und genügend Kapazität auch für die Militärkuranstalt aufbringen
werde, was heißt, Pankow will am Geschäft teilhaben.
Im November 1916 ist von der Akademie das Gutachten ausgefertigt und dem Kriegsminister
zugestellt worden. Die Erwägungen des Für und Widers sind zäh und unübersichtlich. Aber am
Ende hat der Begutachter sich zu einer Befürwortung durchgerungen, nicht zuletzt deshalb,
weil ihm eine wirtschaftliche Zukunftsanalyse zugänglich gemacht worden sein muß, die
allerdings immer noch von der Hoffnung auf einen Siegfrieden ausgeht. Es steht nun fest, daß
der Baubeginn erst nach dem Friedensschluß vorgenommen werden soll.
Die architektonische Gestaltung und die Ausstattung werden hier auf andere Grundzüge
gebracht, eine axiale Verlagerung der Gebäude wird vorgeschlagen, und zwar in die Nord-SüdRichtung parallel zur Rauenthaler Straße, so wie das heutige Fürst-Donnersmarck-Haus
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tatsächlich errichtet ist, da hier bereits eine gepflasterte Straße vorhanden ist und keine weiteren
Abholzungen notwendig werden. Dabei ergeben sich in manchen Dingen Einsparungen, im
ganzen aber rechnet man mit Mehrkosten von fast 2 Millionen Mark, selbst wenn man das
Gesamtniveau senkt.
Der Heutige bedauert das Fehlen jeglicher Bauzeichnung in der Akte. Der Baubeschreibung
zufolge hätte die Anlage wohl eine Ähnlichkeit mit der des Virchow-Krankenhauses mit seinen
Pavillons und den Freiflächen dazwischen gehabt, zumal der Gutachter sich zu den über- und
unterirdischen Verbindungsgängen äußert.
Interessant ist, wie gesagt, die wirtschaftliche Prognose: Die Bautätigkeit werde nach dem
Krieg infolge von Hypothekenschwierigkeiten zurückgehen, die Neuentwicklung von Industriebauten stagnieren, weil sie durch die Kriegsproduktion übersättigt sei, die Umstellung auf
Friedenswirtschaft werde überhaupt einen bescheideneren Zuschnitt erforderlich machen.
Zumal durch die zurückströmenden Soldaten das Arbeiter- und Baustoffangebot sich erhöhen
müsse, was auf die Preise drückt.
Diese Entwicklung werde den Preisanstieg der Kosten für die Militärkuranstalt auffangen, was
auch dann dem Reichsschatzamt neue Normen abfordern werde. Daher kann also auch der
Grundtenor des Gutachtens noch ein halbwegs positiver sein. Doch spürt man eine gewisse
Müdigkeit und Verantwortungsscheu; es kämpft bereits zwischen den Zeilen das eine Deutschland mit dem anderen.
Tatsächlich haben sich die Schwergewichte auch schon entscheidend verlagert. Das Zögern ist
nur verständlich, wenn man weiß, daß der Kriegsminister von Falkenhayn seit Mitte 1916 die
Westfront dazu ausersehen hat, die materielle Überlegenheit der Entente-Mächte zu unterlaufen und die Kriegsführung auf einen solchen Punkt zu konzentrieren, wo der Geger gezwungen
werden soll, sich zu verausgaben. Die Wahlfielauf Verdun. Jedoch schon im September mußte
Falkenhayn erkennen, daß die Truppen sich in der Hölle von Verdun verbluteten.
Hinzu kamen die Kriegserklärungen Rumäniens und Italiens, die es dann so aussehen ließen,
als entglitte der Obersten Heeresleitung die Führung. Sie wurde umbesetzt: Hindenburg und
Ludendorff traten an Falkenhayns Stelle; doch ihre militärischen Anfangserfolge konnten das
tiefgreifende Dilemma der Versorgungslage nicht ausgleichen. Im Gegenteil, es zeigte sich jetzt
in seiner dramatischen Aussichtslosigkeit. Erst jetzt wurden die Folgen davon relevant, daß
sich das Vorkriegsdeutschland kaum Kolonien mit nennenswerten Rohstoffquellen hatte
erwerben können. Die Versorgung mit Industrierohstoffen, vor allem Nichteisenmetallen, war
fast Null. Das gleiche galt für die chemische Produktion. So wurde aus wirtschaftlichen
Gründen eine entscheidende Kriegslösung erforderlich.
Bethmann-Hollwegs Zögern entspringt einem Umdenkungsprozeß, der bis Ende 1916 noch mit
einem halbwegs günstigen wirtschaftlichen Kriegsausgang gerechnet hatte; die hohen Verluste
des Jahres 1916 veränderten alle Prognosen schlagartig ins Negative, zumal unter dem Eindruck
der alliierten Kriegsblockade. Alle positiv gedachten Kreditmaßnahmen wie das „Gesetz des
Vaterländischen Hilfsdienstes", eine Staatsanleihe, die der Reichskanzler gerade im Sommer
1916 im Reichstag einbrachte, zeitigte eindeutig negative Folgen, wie z. B. Lohntreiberei in der
Kriegsindustrie. Die Wirtschaft steuerte auf einen Staatssozialismus zu. Dazu kam Hindenburgs Einsicht, der Kriegswille der Entente sei nicht zu brechen.
Die ohnehin nie sehr gefestigte Position Bethmann-Hollwegs kam dadurch restlos ins Wanken;
er wurde zum Rücktritt gedrängt; nach dem kurzen Zwischenspiel Michaelis' trat Graf von
Hertling seine Nachfolge als Kanzler an.
13. Juni 1917: Der 4. Akt in der Frage „Frohnau" beginnt mit einem Paukenschlag des Kriegsministers. Im Westen hat sich der Krieg noch immer festgefressen, aber im Osten ist er in
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Bewegung geraten; man spekuliert im Großen Hauptquartier wohl schon mit dem Umschwung in Rußland - nur vier Monate trennen die Zeitgenossen noch von der Oktoberrevolution, Die Materialschlachten gegen die westlichen Alliierten müssen grauenhafte Verluste
gebracht haben, so daß sich nun wieder das Militär, also das Sanitätsdepartement, sorgenvoll,
in fast beschwörendem Tone äußert. Es sucht die Dinge voranzutreiben, zumal „das Kriegsende noch nicht abzusehen ist".
„Auch im Reichstag ist kürzlich die Notwendigkeit der schleunigen Bereitstellung neuer
umfangreicher Militär-Kuranstalten erörtert worden. Der Kaiser hat die Wichtigkeit und
Eilbedürftigkeit des Bauplanes anerkannt und wendet der Sache fortgesetzt sein besonderes
Interesse zu. - Der Kriegsminister hat tatkräftige Förderung zugesagt. Wenn auch die jetzige
Lage des Baumarktes eine baldige Inangriffnahme der Bauarbeiten nicht gestattet und das
Kriegsende nicht abzusehen ist, so verursacht die Bereitstellung der erforderlichen Mittel und
die Erledigung der technischen Vorarbeiten doch einen erheblichen Zeitaufwand. Kommt es zu
einem baldigen Frieden oder Waffenstillstand, so würde der bisher entstandene oder noch
entstehende Zeitverlust zu schwerem Notstand in der Heilfürsorge der vielen Tausenden von
kurbedürftigen Kriegsteilnehmern führen."
So plädiert man, da fest steht, daß das Reichsschatzamt sich außerstande erklärt, auch die
4 Millionen Mark aus der „Stiftung Ludendorff-Spende" bereitzustellen, um eine möglichst
einfache, kostensparende Durchführung auf der Grundlage des Weißschen Entwurfs zu ermöglichen. Es kehrt die Beschwörung „Beschleunigung!" wieder.
Gleichzeitig hat der Kriegsminister auch den Minister für öffentliche Arbeiten mobilisiert und
von ihm am 19. August 1917 erreicht, daß ein beschleunigter Personenverkehr zwischen Berlin
und Stolpe eingerichtet werden kann. „Diese Züge würden außer in Stolpe nur in Frohnau und
Gesundbrunnen halten." Einen Fernbahnhof in Frohnau zu errichten, lehnt der Kriegsminister
der hohen Kosten wegen ab.
Nun scheinen die letzten Hindernisse beseitigt zu sein. Da kommt der Landrat des Kreises
Niederbarnim, Gerlach, wieder als retardierendes Moment dazwischen; als ein wahrhafter
Zauderer mit Amtsstubenargumenten. Er hat, als es um die katastermäßige Auflassung des
Geländes für den Gutsbezirk „Kaiserlich Frohnau", auf dem der Bauplatz liegen soll, die
Grundbücher von Frohnau beim Amtsgericht in Oranienburg eingesehen und herausgefunden, daß die „Berliner Terrain-Centrale" aus der Zeit des Ansiedlervertrages für Frohnau von
1909 der Kirchengemeinde und dem Schulvorstand von Stolpe noch 67 000 Mark schuldet und
nicht bereit sei, sie zu zahlen. Eine solche unklare Rechtsgrundlage sei der Auflassung hinderlich.
So ist das Jahr 1917 verstrichen, 1918 hat begonnen. Nach dem Gesagten braucht man sich nicht
zu wundern, daß nun auch der neue Reichskanzler Graf von Hertling den Mut verloren hat.
Sehr langatmig redet er gegen das Projekt. Am 23. Februar 1918 postuliert er, der geplante Bau
sei eine „reine Friedensmaßnahme". Man wisse ja nicht, wie der Frieden aussehen werde und ob
sich dann noch die Notwendigkeit ergeben würde, „einen Bau für die gedachten Zwecke in dem
geplanten Umfang auszuführen".
Inzwischen ist auch seine Stellung angefochten; er hat durch die Sozialdemokratie im Reichstag
erhebliche Opposition erfahren müssen, und der Kaiser hat ihn von Anfang an nicht recht
gedeckt. So hat Graf von Hertling die Ablehnung des Projekts seinem Stellvertreter, dem
Grafen Roedern, übertragen, der klar das Nein ausspricht.
Man hat inzwischen klarer erkannt, welche neuen Ausgaben auf das abgekämpfte Reich
zukommen würden. Graf Roedern schätzt die zukünftige Preisgestaltung anders ein: nämlich
Preissteigerungen gerade im öffentlichen Dienst, der ja im Zuge der Demobilisierung noch
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mehr staatliche Fürsorge vorwalten muß. Der Haushaltsentwurf für 1918 ist nur unter großen
Schwierigkeiten zustande gekommen, eine Summe von 5,5 Millionen Mark ist darin nicht mehr
unterzubringen. Wie ein Refrain zieht es sich durch das Schreiben: „... dem vermag ich nicht
zuzustimmen." Damit schließt die Akte.
So ist also die Heilanstalt „Kaiser-Wilhelm-Haus" in Frohnau nicht gebaut worden. Das
Stiftungskuratorium hat den Stiftungsfonds, da er ja in Liegenschaften bestand, über die
Inflation hinweggerettet. Aus seinem Exil in Doorn ist der Kaiser als Kuratoriumsvorsitzender
zurückgetreten und hat den Vorsitz, wie es der alte Fürst von Donnersmarck geplant hatte, dem
jeweils ältesten Sohn der fürstlichen Familie zurückerstattet; das war 1918 Guidotto Graf
Henckel von Donnersmarck.
Auch vor dem Zugriff der Nationalsozialisten hat sie sich zu wahren gewußt und dann den
eigentlichen Stifterwillen wieder aufleben lassen in der Errichtung des „Fürst-DonnersmarckHauses" zur Rehabilitation cerebralbewegungsgestörter Kinder. Damit begann gegen Ende der
fünfziger Jahre ein neues Kapitel.
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IV, 11, Abt. 3, Nr. 83. - Die Akte befindet sich heute in Privatbesitz.
Im Beschluß der Kassenverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Akademie, Berlin NW 40, an das Kriegsministerium.
Für seine Tätigkeit fordert er nur freie Wohnung und Beköstigung, er erbietet sich dagegen, seine
persönliche Sammlung ostasiatischer Kunstschätze dem Offizierskasino zur Verfügung zu stellen.
Anschrift der Verfasserin: Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28
/
/Rettung und Rückkehr der Thora-Rollen
Von Arthur Brass
Nach Niederwerfung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und dem Genozid an der
jüdischen Bevölkerung Europas mit seinen Millionen ermordeter Menschen wurde in BerlinWeißensee auf dem hundert Jahre alten berühmten jüdischen Friedhof ein historisches Kapitel
in der Geschichte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zum guten Ende geführt, das bereits
Gegenstand in der internationalen jüdischen Presse und in zeitgeschichtlicher Literatur war.
Die auf dem Friedhof in Berlin-Weißensee verwahrt gewesenen und unbeschädigt gebliebenen
über 400 Thora-Rollen kehrten zurück in die Synagogen Berlins, der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Israels und anderer Länder, wo wieder jüdische Religionsgemeinden entstanden waren. Sie wurden damit der hohen Aufgabe im religiösen Leben der jüdischen Bevölkerung, die nach dem Holocaust noch am Leben geblieben war, wieder zugeführt.
Die Thora enthält bekanntlich die fünf Bücher Moses auf handgeschriebenen Pergamentrollen.
Ihre Verlesung ist ein wesentlicher Teil des jüdischen Gottesdienstes. Die im 2. Buch Moses,
Kapitel 20, enthaltenen zehn Gebote gehören zu den sittlichen Grundlagen aller zivilisierten
Staaten der Welt.
Wie diese Schriftrollen schließlich vor der Profanierung durch die NS-Machthaber gerettet
wurden, soll in den folgenden Zeilen geschildert werden.
Die von der Auflösung, der Flucht und Auswanderung und später den Deportationen in die
Ghettos und Vernichtungslager „judenfrei" gewordenen Gemeinden in Preußen hatten ihre
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Thora-Rolle aus dem Bestand des Berlin-Museums, Jüdische Abteilung
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von den Juden-Pogromen am 8/9. November 1938 verschont gebliebenen Thora-Rollen,
Weisungen entsprechend, an die durch die 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz gegründete
„Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" zu Berlin gesandt, wo sie in einem gemeindeeigenen Gebäude in der Elsässer Straße angesammelt und ordnungsgemäß verwahrt worden
waren.
Einer schönen Inspiration folgend, veranlaßten im Frühjahr 1943 zwei in besonders verantwortlichen Stellen bei der Jüdischen Gemeinde tätige Angestellte den Abtransport von 583
Thora-Rollen auf das Gelände des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee, Lothringenstraße. Der Verfasser dieses Berichtes war seinerzeit Dienststellenleiter des Jüdischen Friedhofs, auf dem bis zum Kriegsende laufend die Beerdigungen der verstorbenen Juden Berlins
stattfanden. Der Transport wurde durchgeführt mit zwei großen Lastwagen des christlichen
Spediteurs Scheffler. Dieser auch sonst als Freund der Juden bekannte Mann ist während des
Kampfes um Berlin verstorben. Er führte den Transport, der ihn in höchster Weise gefährdete,
zudem unentgeltlich durch. Der Vorstand der Jüdischen Gemeinde durfte von der Aktion nicht
verständigt werden; auch das Reichssicherheitshauptamt und die Gestapo durften nichts
davon erfahren.
Zu dieser Zeit bestand bei den Nationalsozialisten die Absicht, in der Synagoge Münchener
Straße 37 eine provokatorische und profanierende Ausstellung von Kultusgütern der Juden
und Freimaurer zu eröffnen, bei der die erwähnten Thora-Rollen ausgestellt worden wären. Ein
kurzer Anruf des Direktors des Jüdischen Krankenhauses bei dem Verfasser dieses Berichtes
meldete die Abfahrt der beiden Lastwagen. Wenige Stunden danach passierten die beiden
Wagen mit dem Kultusgut das Tor des Friedhofes. Von den überraschten jüdischen Mitarbeitern der Friedhofsverwaltung wurden die Lastwagen sofort den Hauptweg entlang zur neuen
großen Friedhofskapelle und seinen Nebengebäuden inmitten des Friedhofgeländes geleitet.
Für die große Anzahl der Schriftrollen wurde viel Raum benötigt. Sie wurden sorgsam
untergebracht auf der ursprünglich für einen kleinen Chor und ein Harmonium gebauten
Empore der Trauerhalle und in dem rechts neben dieser Kapelle liegenden Gebäude, das für
den Aufenthalt der an den Trauerfeierlichkeiten teilnehmenden Rabbiner und Kantoren
bestimmt war. Zu dieser Zeit fanden die Beerdigungen ausschließlich von der neben dem
Eingang des Friedhofs in der Lothringenstraße gelegenen Trauerhalle aus statt. Inmitten des
Friedhofes, weit entfernt von seinem Eingang, erschien uns die Auswahl der Unterbringungsstelle zweckmäßig. Ein Kapitel hatte seinen Anfang genommen, das mit einer starken zusätzlichen Gefährdung aller jüdischen Mitarbeiter des Friedhofes verbunden war. Bei einer zu
dieser Zeit in einem anderen Zusammenhang stattgefundenen Vorladung zum Reichssicherheitshauptamt - IV B 4 -, zu der der damalige Vorsitzende der „Reichsvereinigung der Juden in
Deutschland", Dr. Epstein, der Friedhofsdezernent des Gemeindevorstandes und der Verfasser dieses Artikels erscheinen mußten, wurde dem ganzen Personalbestand der Friedhofsverwaltung die Verbringung in das Konzentrationslager Mauthausen angedroht.
Die genannte Verwahrungsstätte des Kultusgutes sollte jedoch leider nicht Bestand haben. Bei
den Bombenangriffen der Alliierten auf Berlin blieb der Jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee, der zwischen Rüstungsbetrieben lag, nicht verschont. Er wurde von mehr als 20 Bomben
getroffen. Auf die genannten Gebäude mit den Thora-RollenfielenBrandbomben, so daß die
Schriftstücke beschädigt und mit Schutt bedeckt wurden. In mühevoller Arbeit mußten die
vielen hundert Thora-Rollen überprüft und die für Synagogen nicht mehr verwendbaren
ausgeschieden und ihr Transport an eine andere Stätte der Zuflucht auf dem Friedhofsgelände
veranlaßt werden. Für diese wichtige Arbeit an dem teuren Kultusgut stellte sich ein jüdischer
Lehrer (Hebraist) mit jüdischen Schülern der Verwaltung zur Verfügung, dem wir Dank
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schulden. Über 90 Schriftrollen waren so schadhaft geworden, daß sie dem Religionsgesetz
gemäß auf dem Friedhof beigesetzt werden mußten. Die Beisetzung der beschädigten und für
Kultuszwecke nicht mehr brauchbaren Schriftrollen fand in einem Trauerakt statt, der von
dem in der Deportation aus dem Leben geschiedenen jungen Rabbiner Heinz Meyer geleitet
wurde. Die anderen über 400 einwandfrei erhalten gebliebenen Thora-Rollen wurden in einem
am Eingang Lothringenstraße gelegenen Gebäude der Verwaltung untergebracht. Sie wurden
in aller Ordnung und unter günstigen klimatischen Bedingungen auf Regalen gelagert, die von
unserem Tischer besonders hergestellt waren. So konnten sie nach der Auslöschung des
NS-Regimes ihrer hohen religiösen Aufgabe in den Synagogen und Betstätten jüdischer
Gemeinschaften wieder zur Verfügung gestellt werden.
Dies war das gute Ende der Flucht vor Profanierung und den Gefahren des Krieges, das
eingebettet ist in das Geschehen der NS-Zeit und durch diesen Bericht der Zeitgeschichte
überliefert werden soll.
Anschrift des Verfassers: Arthur Brass, Witteisbacher Straße 10 a, 1000 Berlin 31
Nachrichten
120 000 Besucher im Märkischen Museum
Im Märkischen Museum wurde aus Anlaß des 125. Geburtstages des Meisters am 12. Januar 1983 das
Heinrich-Zille-Kabinett wiedereröffnet. Im Jahre 1982 haben 116228 Interessenten Ausstellungen im
Märkischen Museum am Köllnischen Park besucht, darunter diejenigen über 100 Jahre Kabarettgeschichte, über historische Postkarten und über Raucherutensilien aus 300 Jahren. Neueröffnet wurden
die ständigen Abschnitte zur Berliner Stadtgeschichte zwischen 1705 und 1815 sowie zur Theatergeschichte von 1740 bis 1850.
Interesse fand vor allem der Feldberger Altar aus dem Mittelalter. Erstmalig wurde in einem Betrieb eine
Gastausstellung veranstaltet, im VEB Bergmann-Borsig mit historischen Fotos.
Für das Jahr 1983 ist von März an eine Ausstellung „Marx in Berlin" geplant. Im zweiten Quartal wird die
überarbeitete ständige Schau „Berlin 1648-1705" eröffnet. Von Juni an ist der Raum über Theatergeschichte wieder zugänglich. Die Ausstellung „75 Jahre Märkisches Museum" widmet sich in erster Linie
der Baugeschichte. Schließlich wird des 250. Geburtstages des Berliner Verlegers, Kritikers und Schriftstellers Christoph Friedrich Nicolai gedacht.
SchB.
Studienfahrt in die Alte Hansestadt Lemgo
Es war wieder eine halbe Hundertschaft, die sich am Freitag, dem 17. September 1982, an der Berliner
Bank an der Hardenbergstraße einfand, um die Reise nach Lemgo anzutreten. Im romantisch gelegenen
Restaurant „Aussichtsturm" im Lemgoer Stadtwald machte man die erste Bekanntschaft mit der ansprechenden Umgebung dieser lippischen Stadt, aber auch mit Verkehrsamtsleiter Egon Trommer, der sich
um die Vorbereitung und Abwicklung dieser Exkursion sehr verdient gemacht hat und dem deswegen hier
noch einmal mit Nachdruck Dank gesagt werden soll. Ein Kleinod Lemgos, das Hexenbürgermeisterhaus,
bildete den Auftakt zur Besichtigung der Sehenswürdigkeiten, ein Vortrag in lippischem Platt in der Alten
Abtei vermittelte erste volkskundliche Eindrücke, eine Kaffeerunde in der „Ratswaage" führte an die
gastronomischen Genüsse Lemgos heran. Dem Besuch des mehr bizarren als ästhetischen Junkerhauses
folgte der eindrucksvolle Rundgang durch die Fachhochschule Lippe, Abteilung Lemgo, mit Professor
Dr.-Ing. G. Baron an der Spitze. Der abendliche Besuch in der Stiftung Eben-Ezer erwies sich schon als ein
früher Höhepunkt der ganzen Studienfahrt, da Professor Jochen Walther mit Herzenswärme und
Einfühlungsvermögen die Aufgabe einer solchen Institution in der Hilfe an Behinderten lebendig zu
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machen wußte. Eine kalte Platte mit lippischer Hausmannskost im Restaurant „Ilsetal", bei dem einige
akademische Kellner ihr Geschick im Bedienen zeigten, schloß den Abend ab.
Unter sachkundiger Leitung fand am Vormittag des folgenden Sonnabends eine Führung durch die Alte
Hansestadt Lemgo mit ihren Kirchen, Giebeln und Fassaden statt. Dieser Stadtbummel wurde durch den
gleichzeitig abgehaltenen Lemgoer Wochenmarkt belebt. Bürgermeister Reinhard Wilmbusse und Martin
Kittlaus, Leiter des Bauplanungsamtes, empfingen die Berliner Gäste, die vor dem Aufbruch zum
Hermannsdenkmal gern die Gelegenheit aufgriffen, sich in der Marienkirche von Kantor Walther Schmidt
auf der Scherer-Orgel ein kleines Konzert geben zu lassen. Was sich als Führung durch das Westfälische
Freilichtmuseum Bäuerlicher Kulturdenkmale schlicht im Programm präsentierte, erwies sich als ein sehr
strammer Marsch, der sich durch die so liebenswürdige wie lebendige Art der beiden Führerinnen aber als
recht eindrucksvoll im Gedächtnis eingeprägt hat. Die Kaffeepause in der Deele der Museumsgaststätte
„Zum wilden Mann" war wohlverdient, das Abendessen im Alten Gasthaus Lallmann in Lüerdissen
enthüllte dann das Geheimnis um den Pickert.
Am Sonntag früh strahlte immer noch die spätsommerliche Sonne, als Stadtführer Josef Peters die Gäste
am Kurpark Bad Salzuflen zu einem Stadtrundgang empfing, dem sich ein Spaziergang durch die
Kuranlagen anschloß. Der Vollständigkeit halber seien auch noch das Mittagessen im Ried-Hotel zu Bad
Salzuflen und die Kaffeepause im Königshof zu Königslutter erwähnt, aber auch der Stau auf der
Autobahn. Dennoch war die Heimfahrt unbeschwert, und nicht wenige der Teilnehmer erkundigten sich
nach dem Fahrtziel für die Exkursion 1983: Eine Anfrage liegt in der Stadt Göttingen vor.
H. G. Schultze-Berndt
Stadtforum Berlin gegründet
Im September 1982 hat sich in Berlin das „Stadtforum e.V." gebildet, dem u. a. auch namhafte Fachleute
wie Professor Julius Posener, Professor Martin Sperlich und Professor Reinhard Breit angehören. Die
Gründung des Stadtforums ist eine Reaktion auf die Städtebaupolitik, die nach Ansicht der Gründungsmitglieder in immer stärkerem Maße den Organismus und die Lebensfähigkeit der Stadt schädigt. Vor
allem will sich das Stadtforum für die Erhaltung und Pflege der 1704 bis 1706 von Eosander geplanten und
im Stadtgrundriß noch erhaltenen Altstadt von Charlottenburg einsetzen. Die Altstadt von Charlottenburg mit viel historischer Bausubstanz aus dem 18. und 19. Jahrhundert, deren Geschichte durch den Fund
wertvoller historischer Akten des frühen 18. Jahrhunderts lückenlos dargestellt werden kann, ist im
übrigen eines der stabilsten und lebendigsten Berliner Stadtquartiere.
Angesichts der Planungen, von 1985 an verstärkt in Innenstadtquartiere einzugreifen und Bestehendes
abzureißen, will das Stadtforum durch Untersuchungen noch intakter Stadtzusammenhänge Erfahrungen
gewinnen, die Grundlage für eine konstruktive Stadtentwicklungs- und Stadtplanungspolitik sein könnten. Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen mit der Internationalen Gesellschaft für Stadtgestaltung in Wien
diskutiert werden, die u. a. auch Stadtverwaltungen, Bürger und Baugesellschaften berät.
Auskünfte erteilt das Stadtforum e.V., Goethestraße 49, 1000 Berlin 12, Telefon (0 30) 3115493. SchB.
Tagesordnung der Jahreshauptversammlung am 18. Mai 1983
1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichts, des Kassenberichts und des Bibliotheksberichts
2. Berichte der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer
3. Aussprache
4. Entlastung des Vorstands
5. Neuwahl des Vorstands
6. Wahl von zwei Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern
7. Verschiedenes
Anträge aus dem Kreis der Mitglieder sind bis spätestens 26. April 1983 der Geschäftsstelle einzureichen.
Um pünkdiches Erscheinen wird gebeten.
5K
Aus dem Mitgliederkreis
Vom Biedermeier zum Atomzeitalter.
Ein Beitrag zur Geschichte des Julius-Springer-Verlages, 1842 bis 1965
Dr. phil. Paul Hövel, seit mehr als 15 Jahren Mitglied unseres Vereins, hat der Vereinsbibliothek seinen
Privatdruck „Vom Biedermeier zum Atomzeitalter" überreicht. Das Buch ist nur in einer Auflage von 100
Exemplaren erschienen, so daß seine Hergabe für unsere Bibliothek eine Auszeichnung bedeutet. Seit
seiner Gründung 1842 hat der wissenschaftliche Springer-Verlag nicht wenig zum kulturellen Ansehen
Berlins beigetragen. Dr. P. Hövel schildert in seinem Buch die politische, wirtschaftliche und kulturelle
Entwicklung dieser Zeitspanne seit 1817, dem Geburtsjahr von Julius Springer, und zugleich auch die
Geschichte Berlins.
Dr. Paul Hövel kam vor einem halben Jahrhundert aus Düsseldorf nach Berlin. Wie er schreibt, haben ihn
die folgenden schlechten Jahrzehnte zu einem „überzeugten Berliner" gemacht. Als Leiter des Berliner
Hauses des Springer-Verlages wie auch in vielfältiger ehrenamtlicher Tätigkeit als Vorsitzender der Urania
und als Vorsitzender mancher Ausschüsse des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels hat er ein Stück
Kulturgeschichte Berlins mitgeschrieben. Für seine Spende sei ihm herzlich gedankt.
Dieses Buch ist außerdem in Berlin vorhanden in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, in den
Universitätsbibliotheken der FU und TU sowie in der Amerika-Gedenkbibliothek.
SchB.
Buchbesprechungen
Berlin - Landschaften am Wasser. Ein Foto-Textbuch mit 90 Fotografien in Farbe. Fotografiert von Carl
Hatebur. Texte von Peter Baumann. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1982, 124 Seiten, Großformat 26,5 X 26,5 cm, Ganzleinen, 68 DM.
Hier haben sich ein kundiger Autor, der seinen Text gut recherchiert hat, und ein Fotograf mit dem Mut zu
extrem bunten, aufregenden Bildern zu einem Buch vereint, zu dem man beiden und dem Verlag
gratulieren kann. Da wird das nötige Quentchen Statistik mitgeteilt: Berlin ist einer der zehn größten
Binnenhäfen Deutschlands und das vielleicht schönste Wassersportrevier Europas. Zwölf schiffbare
Wasserstraßen von 182 km Länge und 152 nicht befahrbare Gewässer werden von 455 Brücken überspannt. Acht Prozent seiner 884 km2 Groß-Berlins werden vom flüssigen Element eingenommen. Das
Buch begleitet die Havel, den „norddeutschen Flachlandneckar" (Fontane), auf seinen 30 km, die er durch
die Stadt fließt, und auch die Spree, den unerforschten Fluß, in einer Art Flußgeschichte. Diese stützt sich
auch auf Adriaan von Müller, den Treuhänder der Berliner Altertümer, und es darf allenfalls gefragt
werden, ob es Rixdorf und nicht Ricksdorf heißen muß. Der interessierte Leser (und das Interesse wird mit
Sicherheit geweckt) erfährt beiläufig eine Menge über die Historie Berlins, des Schiffsbaus, des brandenburgischen Seewesens und der Berliner Dampfschiffahrt. Berlin, „Herz der östlichen Wasserstraßen", war
hinter Duisburg-Ruhrort zweitgrößter Binnenhafen Deutschlands und liegt jetzt mit einem Güterumschlag von jährlich 8 Mio. Tonnen an achter Stelle der deutschen Binnenhäfen. Mehr als 17 000 Angler
sind in 76 Vereinen zusammengeschlossen, zusammen mit den Berufsfischern holen sie jährlich 150
Tonnen Fisch aus der Havel, davon allerdings 110 Tonnen der unbeliebten Weißfische. Vor zwei
Jahrzehnten haben die Spandauer Fischer noch 1,6 Mio. Krustentiere u. a. für den Export nach Frankreich gefangen, jetzt kommt man allenfalls auf 100000 Krebse. Die 25 Mitglieder der Fischer-Sozietät
Tiefwerder-Pichelsdorf des Jahres 1950 sind inzwischen auf sechs Berufsfischer zurückgegangen - das Fest
der Fischer auf der Spree, der Stralauer Fischzug, ist bereits verschwunden.
Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung (1939) beförderte die Berliner Berufsschiffahrt mit 319 Schiffen
auf einem Wasserstraßennetz von 2200 km Länge rund 60000 Passagiere, von Hamburg bis nach
Dresden, von Stettin bis Breslau. Die Geschichte des Wassersports (Gründung des ersten Seglervereins
1835) kommt durchaus zu ihrem Recht, auch mit Zitaten wie: „Auf dem Meere zu segeln ist kein
Kunststück, wohl aber auf der Spree!" Man kann den Verfasser auf einer „Dampferfahrt" mit der Reederei
59
Riedel begleiten. Ein oder zwei Kapitel sind dem Naturschutz gewidmet. Kritik wird an Spandau geäußert:
„Mit den verschlissenen, beschmierten, besetzten und gar halb verlassenen Häusern wirkt der Kiez
(Spandauer Kolk) vergessen von einem reichen Industriebezirk, der sich selbst im 750. Jahr seines
Bestehens an dieser Stelle nur verbal zu seinem Herkommen bekennt."
Auch wer nicht zu den 75000 Wassersportlern oder 6700 Seeleuten (darunter 16 Kapitäne auf großer
Fahrt) des Westteils unserer Stadt gehört, wird an diesem Buch über Berlin am Wasser Freude und
Belehrung finden.
Hans G. Schultze-Berndt
Horst Seeger/Ulrich Bötzel: Musikstadt Berlin. VEB Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1974,179 Seiten
mit 68 Abbildungen, broschiert, 4,80 M.
Diese kleine Musikgeschichte Berlins wendet sich an ein breites musikinteressiertes Publikum und sucht in
gefälligem, zwanglos plauderndem Stil einen einführenden Überblick zu bieten. Nachdem man zunächst
auf gut der Hälfte des Raumes den vielschichtigen Entwicklungen bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges
hinein in relativ ausgewogener Weise gerecht wird, beschränkt sich die Darstellung im weiteren fast
ausschließlich auf den östlichen Teil der Stadt. Dieser wird denn auch als der eigentliche Erbe vorangegangener großer Traditionen breit und ausgiebig gefeiert, während musikhistorisch bedeutsame Vorgänge im
Westteil der Stadt nur hier und da mit einem knappen Satz Erwähnung finden. Für den hiesigen Leser sind
nicht nur dort, sondern auch im vorangehenden Abschnitt regelmäßig eingestreute, um historische
Deutung im rechten marxistischen Sinne bemühte ideologische Phrasen ärgerlich. Wer über solche für
DDR-Autoren wohl obligatorischen Sätze und Passagen hinwegzulesen vermag, kann aber eine im
wesentlichen doch sehr liebevolle Schilderung der musikalischen Entwicklung Berlins bis in die vierziger
Jahre finden und einen Einblick in das hierzulande im allgemeinen sicherlich weniger bekannte Ostberliner
Musikschaffen gewinnen.
Alexander Wilde
Wolfgang Genschorek: Ernst Ludwig Heim. S. Hirzel Verlag, Leipzig 1981,226 Seiten mit 87 Abbildungen,
14 DM.
Nach seinen Ärztebiographien über C. G. Carus, Hufeland und Robert Koch beschäftigt sich V. jetzt mit
E. L. Heim, dem volkstümlichen Berliner Mediziner (1747-1834), der bei allem Interesse für Forschung
und Fortschritt doch mehr Praktiker als Wissenschaftler war, ein Arzt und Helfer aus Leidenschaft, dem
der Kontakt mit den kranken Mitmenschen ein Element seines Daseins gewesen ist. Die Darstellung fußt
auf alter und jüngerer Literatur, nur wenige Male wird aus dem Aktenbestand des Ostberliner Stadtarchivs
„Armendirektion" geschöpft; das im Landesarchiv Berlin (West) vorhandene Briefkonvolut und die
möglicherweise in anderen Bibliotheken und Archiven noch lagernden persönlichen Zeugnisse werden
nicht berücksichtigt. Dann hätten sich gewiß unmittelbares Erleben, Denken, Fühlen, Wollen des Menschen Heim noch eindringlicher vortragen lassen, als es jetzt der Fall ist. Doch das Buch ist gut und mit
Gewinn zu lesen. Der Ablauf eines Lebens wird eingebettet in gesellschaftliche Zusammenhänge, in das
kulturelle und - recht umfangreich - medizinische Geschehen jener Tage. Über die gelegentlichen
obligaten Seitenhiebe, der DDR-Ideologie zuliebe eingeflochten, liest man gelassen hinweg.
Gerhard Kutzsch
Berliner Lokale in alten Ansichten von Dr. Gustav Sichelschmidt. Europäische Bibliothek, Zaltbommel,
Niederlande, 1979, 92 Abbildungen, 26,80 DM.
Die Berliner Bevölkerung, die ethnisch keineswegs homogen war, und ihr Zusammenwachsen zu einem
„verwegenen Menschenschlag" haben davon profitiert, daß sie quer durch alle sozialen Schichten menschliche Kommunikation liebte und hierfür die gastronomischen Einrichtungen aufsuchte. Sie traf sich
außerhalb der Stadtmauern in den Tabagien, in denen man nach Herzenslust rauchen (und trinken)
konnte, was ein königliches Verbot auf der Straße untersagte. In einer Vielzahl von Kneipen, Budiken und
Destillen stillen seitdem Männlein und Weiblein ihren ungewöhnlichen Berliner Durst.
Um die Jahrhundertwende sind die Ansichtskarten entstanden, die den Bildteil dieses Bandes bilden, vom
Berliner Rathskeller bis zum Restaurant Müggel-Werder. Auch die Berliner Bock-Brauerei, das Böhmische Brauhaus, der Spandauer Bock, die Neue Welt, und das Schloß-Restaurant Tegel (jetzt „Der Alte
Fritz") gehören dazu; aber auch das Bierhaus „Siechen", der Franziskaner, der Spatenbräu und das
Tucherhaus, Landres Weißbierstuben in den ehemaligen Werkstätten Christian Daniel Rauchs in der
Klosterstraße und der Charlottengarten, Berlins älteste Weißbierstube, werden in Wort und Bild vorgestellt.
Hans G. Schultze-Berndt
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Alt-Berliner Photoalbum. Verlag Bernd Ehrig, Barstraße 28, 1000 Berlin 31. 19,80 DM.
Das Gesicht alter Städte wird von verschiedenen Verlagen in Buchreihen den nachgewachsenen Generationen überliefert. Da gibt es eine Serie „Dingshausen, wie es früher war", eine andere stellt „Hinterstadt in
alten Postkarten" vor. Was den ersten hier zu besprechenden Band von vergleichbaren Editionen
unterscheidet, ist das Format der sämtlich aus der Landesbildstelle Berlin stammenden Fotografien, die
sich teilweise über zwei Seiten erstrecken. Ebenso positiv ist zu vermerken, daß eine chronologische
Reihenfolge gewählt und die Jahreszahlen gottlob mitgeteilt wurden. Bildtitel und das Vorwort des
Verlegers sind auch in Englisch und Französisch aufgeführt.
SchB.
Berlin in alten Ansichtskarten. Herausgegeben von Lothar Papendorf. Flechsig Verlag, Frankfurt am
Main 1981,95 Seiten, 24,80 DM.
Die zehn Seiten des Vorworts und des Inhaltsverzeichnisses abgerechnet, hat dieser Band so viele
Abbildungen wie Seiten. Eine ungefähre Angabe der Entstehungszeit der Ansichtskarten und damit eine
Datierung wäre dienlich gewesen. Auf Seite 17 scheint die Unterschrift verdruckt zu sein. Auch wird von
Schinkels Dom gesprochen, wo es schon derjenige Raschdorffs ist.
SchB.
Gustav Sichelschmidt: Berliner Leben. Ein Photoalbum aus der Zeit der Jahrhundertwende. Haude &
Spenersche Verlagsbuchhandlung GmbH, Berlin, 82 Seiten, 19,80 DM.
Der Aufstieg Berlins zur Reichshauptstadt lockte die Fotografen auf die Straße und in die Häuser. Die hier
zusammengetragenen Fotos mit ihren Bildunterschriften sind im wesentlichen der Monatsschrift „Berliner
Leben" entnommen. Dabei wurden weniger die bekannten Motive der Ansichtskartenliteratur gewählt als
Gegenstände, deren unfreiwillige Komik zum Schmunzeln oder zur Nachdenklichkeit verführt, scheint es
doch „selbst in den Berliner Elendsquartieren menschlicher zugegangen zu sein als in unseren gemordeten
Städten" (aus der Einführung), wie ja auch heute „bereits jede stuckübersäte Hausfassade der Gründerjahre als künstlerische Offenbarung zur Kenntnis" genommen wird. Die Reproduktionen sind so gut oder
so schlecht wie ihre Vorlage. Leider werden auch hier keine Jahreszahlen mitgeteilt, was etwa bei den
Kunstausstellungen zu bedauern ist. Daß in jedem Berliner, ob er gedient oder nicht gedient hat, sein Herz
bei den Klängen des Preußenmarsches höher schlägt (Abbildung „Aufziehen der Hauptwache"), läßt sich
jetzt nur noch „Unter den Linden" feststellen. Dort wird man es auch mit Genugtuung vermerken, daß Zar
Nikolaus bei der Hofjagd im neuen Kaiserlichen Jagdrevier Oranienburg binnen einer Stunde 35, Kaiser
Wilhelm aber nur 30 kapitale Schaufler geschossen hat. Das letzte Bild „Nachtasyl" gibt zu denken, wurde
doch nur 1300 Unglücklichen allnächtlich Schutz auch vor der Polizei gewährt.
SchB.
Annemarie Weber: Einladung nach Berlin. Langen Müller, München 1976. 224 Seiten, 28 DM.
So ganz und gar unkonventionell, wie der Klappentext verheißt, wird das Thema sicher nicht behandelt. Es
gibt schon eine Reihe von Büchern, die in gefällig zu lesenden Feuilletons oder instruierenden Texten, auch
in Mischform, ihre Neigungen zur Stadt bekunden oder Abneigung nicht verhehlen. Annemarie Weber
will vor allem glaubwürdig sein, und sie ist es. Unter vielen Aspekten wird Berlin lebensnah und frisch
betrachtet - Menschen, Natur, Kunst, Bauwerke, Soziales: aus subjektiver Auswahl rundet sich ein
Ganzes. In „Momentaufnahmen" wird den Männern und Frauen „aufs Maul geschaut". Hier bedient sich
V. der Dialogform, wie sie schon der alte Glaßbrenner vor etwa 150 Jahren so zum „Amusemang"
vorführte. Ein sympathisches Buch, trefflich geeignet zum Verschenken!
GerhardKutzsch
Hans Dieter Jaene: Berlin lebt. Bilder einer Stadt von 1150 bis heute. Anke Starmann Verlag, Berlin.
224 Seiten, ohne Jahresangabe.
Der Bildband mit knappen interpretierenden Texten hebt sich aus der Menge von Fotobüchern durch die
Absicht heraus, die Handels- und Gewerbestadt zu behandeln. Sehr konsequent wird das Vorhaben nicht
durchgeführt. Vom Handwerk ist keine Rede, von Industrie und Handel wird mehr, aber auch nicht
ausschließlich gesprochen und dies auch nur bis 1914, mit welchem Jahr die zwischen die Seiten geschobene Chronik der Wirtschaftsentwicklung endet. Was weiterhin im Bild geboten wird, ist politische
Historie (besonders des 20. Jahrhunderts) und ist eine Vorführung markanter Bauten in beiden Teilen der
Stadt. Damit befindet sich das Buch wieder in der Gesellschaft der üblichen Publikationen. Ungeachtet
solcher Einwände gefällt der Band, der - sofern noch nicht vorhanden - Interesse am Schicksal Berlins zu
wecken und für die Stadt zu werben weiß.
Gerhard Kutzsch
61
N e u e B e r l i n - L i t e r a t u r (Besprechung vorbehalten)
Agee, Joel: „Zwölf Jahre". Eine Jugend in Ostdeutschland. Carl Hanser Verlag, München 1982,350 Seiten,
gebunden, ca. 34 DM.
„Alltagskultur/Industriekultur", Protokoll einer Tagung vom 15. l.bis 17.1.1982 Berlin (West) mit Fotos
von Friedrich Seidenstücker, Berlin 1945-1950. Museumspädagogischer Dienst, Berlin.
„Baedeker Berlin-Wedding". Zweite Auflage mit Stadtplan, drei Sonderplänen und 23 Zeichnungen. Text:
Georg Holmsten. Karl Baedeker Verlag, Freiburg/Breisgau.
Baur, Max: Potsdam Sanssouci. Bilder der Erinnerung, fotografiert 1934 bis 1939. Eingeleitet von Martin
Gosebruck. Rembrandt Verlag, Berlin 1981, mit 85 Abbildungen und 1 Stadtplan Berlin.
„Bauten unter Denkmalschutz", Bildband. Von Dieter Bolduan, Laurenz Demps, Peter Goralczyk, Heinz
Mehlan und Horst Weiss. Berlin-Information, Berlin (Ost), 287 Seiten.
„Berlin for Young People/pour les jeunes", englische/französische Ausgabe. Informationszentrum Berlin,
Berlin 1982. 144 Seiten, broschiert, mit 24 Farbfotos und zwei Plänen von der Innenstadt.
„Berlin in Geschichte und Gegenwart". Medusa Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, 344 Seiten, 19,80 DM.
Börsch-Supan, Helmut: „Antoine Watteaus Embarquement im Schloß Charlottenburg". In der neuesten
Publikation der „Kleinen Schriften". Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Schloß
Charlottenburg, Berlin, 36 Seiten, 5 DM.
„Der Mendelssohn-Bau am Lehniner Platz". Erich Mendelssohn und Berlin. Herausgegeben mit Unterstützung des Senators für Bau und Wohnungswesen Berlin. Copyright: Schaubühne am Lehniner
Platz Berlin (zahlreiche Abbildungen). Verlag Albert Hentrich, Berlin.
„Die Böhmen in Berlin 1732-1932". Landesarchiv Berlin.
Drewitz, Ingeborg, Lorenzen, Rudolf, u.a.: „Berlin: lokale Lokale". Kneipen-Gedichte und -Geschichte(n).
Die „Szene" geschildert und bebildert von Michael Ebner und Arno Kirmeier. Berlin Verlag, Berlin,
ca. 128 Seiten, ca. 40 Abbildungen, ca. 28 DM.
Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des Gotteshauses der evangelischen Kirchengemeinde Am Hohenzollernplatz. Gemeindebüro der Kirche Am Hohenzollernplatz, Berlin.
„Friedrich und Wilhelmine - Die Kunst am Bayreuther Hof" von Lorenz Seelig. Schnell & Steiner GmbH
u. Co., München, 26 DM.
Greiffenhagen, Martin: „Die Aktualität Preußens." Fragen an die Bundesrepublik. S. Fischer Verlag
GmbH, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch 3488.
Gross, Leonard: „Versteckt". Wie Juden in Berlin die Nazi-Zeit überlebten. Deutsch von Cornelia
Holfelder-v. d. Tann. Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek, 384 Seiten, gebunden, 36 DM.
Haupt, Michael: „Die Berliner Mauer". Vorgeschichte - Bau - Folgen. Literaturbericht und Bibliographie
zum 20. Jahrestag des 13. August 1961. Mit einem Geleitwort von Willy Brandt. Bernard & Graefe
GmbH & Co. Verlag für Wehrwesen, München 1981, VIII, 230 Seiten, gebunden, 42 DM.
„Jahrbuch der Deutschen Oper Berlin". 19,80 DM.
„Jugend unter Hitler. Alltag im Nationalsozialismus". Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin.
„Kladderadatsch". Die Geschichte eines Berliner Witzblattes von 1848 bis ins Dritte Reich. Herausgegeben
von Ingrid Heinrich-Jost. Informationspresse c. w. leske vertag gmbh, Köln, 350 Seiten, gebunden,
38 DM.
Lentz, Georg: „Heißer April". Roman. Albrecht Knaus Verlag, München 1982 ca. 320 Seiten, gebunden,
ca. 32 DM.
„Lokal 2000, Berlin als Testfall", Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek, rororo aktuell.
„Machtergreifung" - Berlin 1933. Hans-Norbert Burkert, Klaus Metußek, Wolfgang Wippermann.
Herausgegeben vom Pädagogischen Zentrum Berlin. Frölich & Kaufmann, Berlin, 18 X 25,5 cm,
264 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Paperback, Nr. 0063, 25 DM.
Nakamura, Masauovi: „Operation Heimkehr". Politthriller. Berlin im Spannungsfeld von Ost und West.
Droermersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co., München 1982,352 Seiten, gebunden,
ca. 34 DM.
9. Bestandskatalog „Steinzeug und Porzellan des 18. Jahrhunderts im Kunstgewerbemuseum Berlin". Von
Dr. Stefan Bursche. Kunstgewerbemuseum Knobelsdorff-Flügel des Schlosses Charlottenburg,
Berlin, 331 Seiten, 38 DM.
Ribbe, Wolfgang (Hrsg.): „Slawenburg- Landesfestung- Industriezentrum". Beiträge zur Geschichte von
Stadt und Bezirk Spandau. Colloquium Verlag, Berlin, ca. 400 Seiten Großoktav mit zahlreichen
Abbildungen, Leinen, ca. 68 DM.
62
-: „Berliner Bibliotheken". Geschichtswissenschaften, 113 Seiten, broschiert, 15 DM.
Scheer, Joseph/Espen, Jan: „Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei - Alternatives Leben oder
Anarchie? Die neue Jugendrevolte am Beispiel der Berliner ,Scene'." Bernard & Graefe GmbH & Co.
Verlag für Wehrwesen, München, 167 Seiten, viele Bilder.
Schirmag, Heinz: „Albert Lortzing". Ein Lebens- und Zeitbild. 360 Seiten, 69 Abbildungen und 15 Notenbeispiele. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin (Ost), zellophanierter Pappband, 14 Mark,
Auslandspreis 20 Mark.
Schönberger, Angela: „Die Neue Reichskanzlei von Albert Speer." Zum Zusammenhang von nationalsozialistischer Ideologie und Architektur. Gebr. Mann Verlag, Berlin, 284 Seiten, mit 81 Abbildungen, 48 DM.
„Spandau einst und jetzt", Bildband. Kunstamt Spandau, Berlin, 119 Seiten, 25 DM.
Steinerne Zeugen. Stätten der Judenverfolgung in Berlin. Wolfgang Wippermann. Herausgegeben vom
Pädagogischen Zentrum Berlin. Frölich & Kaufmann, Berlin, 18 x 25,5 cm, 116 Seiten, zahlreiche
Abbildungen, Paperback, Nr. 1004,19,80 DM.
Streckfuß, Adolf: 1848 - Die März-Revolution in Berlin. Ein Augenzeuge berichtet. Herausgegeben von
Horst Denkler, in Zusammenarbeit mit Irmgard Denkler. Informationspresse c. w. leske verlag,
Köln 1983, zeitgenössisch illustriert, Leinen mit Schutzumschlag, 724 Seiten, 58 DM.
Stresemann, Wolf gang: „Die Zwölf. Vom Siegeszug der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker.
Atlantis-Verlag, Zürich, 92 Seiten, reich illustriert, gebunden, 29 DM.
„Tradition ohne Schlendrian". 100 Jahre Philharmonischer Chor Berlin. Stapp Verlag, Berlin, ca. 300
Seiten, englische Broschur, 29,80 DM.
Trumpa, K.: Zehlendorf in der Kaiserzeit - vom Dorf zum Vorort. Berlin.
„Unterwegs zur mündigen Gemeinde - Die evangelische Kirche im Nationalsozialismus am Beispiel der
Gemeinde Dahlem". Alektor-Verlag GmbH, Stuttgart, 16 DM.
Vier handgezeichnete, farbige Kartenblätter im Rahmen der Reihe „Quellen zur Geschichte der deutschen
Karthographie". Berlin und Umgebung 1774/1775, 144 Seiten starkes Begleitheft von Professor
Wolfgang Scharfe, Karten herausgegeben von Eckard Jäger und Lothar Zögner, Format 90 x 60,
118 DM.
Weber, Klaus Conrad: Chronik von Dahlem II. 1945 bis 1981 - Landhauskolonie und Stätte der Wissenschaft. arani-Verlag, Berlin, 24,80 DM.
„Wie sie DIE MAUER sehen". Stellungnahmen von Besuchern einer öffentlichen Zentralbibliothek. Eine
Dokumentation, in Faksimile. Verlag Haus am Checkpoint Charlie, Berlin.
Wirth, Irmgard: Berlin und die Mark Brandenburg, Landschaften, Gemälde und Graphik aus drei
Jahrhunderten. Hans Christians Verlag, Hamburg, 216 Seiten, 78 DM.
Wolff Charlotte: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit (Autobiographie). Verlag Julius Beltz,
Weinheim.
„Zehlendorf - ein Bezirk macht Geschichte". Amt für Jugendarbeit des Ev. Kirchenkreises BerlinZehlendorf.
„10 Jahre Berliner Malerpoeten". Herausgegeben von Aldona Gustas. Nicolaische Verlagsbuchhandlung,
Berlin, 92 Seiten, 27 Abbildungen, kartoniert, 19,80 DM.
2. und 3. Band der Reihe „Berliner Geschichte". Magistrat von Berlin - Stadtarchiv, Berlin (Ost), 96 Seiten,
4 Mark.
Im I. Vierteljahr 1983
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Dr. med. Joachim Heinrich Bälde, Internist
Helfensteiner Straße 30, 3501 Zierenberg
Tel. (05606)3720
(Dr. Letkemann)
Bert Becker, Student
Heinrich-Kamp-Straße 15 a, 5802 Wetter 1
Tel. (0 23 35) 58 79
Dr. Werner Haupt, Dipl.-Chemiker
Spessartstraße 17, 1000 Berlin 33
Tel. 8 216766
(Haupt)
Lucie Kuntz, Rentnerin
Lichtungsweg 12. 1000 Berlin 28
Tel. 4017460
(Franzke)
Dr. Robert Wiesenack, Dipl.-Br.-Ing.
Schellendorffstraße 15, 1000 Berlin 33
Tel. 8 23 29 25
(Dr. Schultze-Berndt)
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Veranstaltungen im II. Quartal 1983
1. Donnerstag, den 14. April 1983,15.00 Uhr: Besuch der Ausstellung „Das Ende des Bauhauses und Bauhäusler im 3. Reich". Führung: Frau Angela Markowski. Bauhaus-Archiv,
Klingelhöferstraße 13-14. Fahrverbindungen: Busse 9, 16, 24, 29.
2. Donnerstag, den 21. April 1983,16.30 Uhr: Besuch der Ausstellung „Die Böhmen in Berlin,
1732-1982". Führung: Herr Dr. Hans J. Reichhardt. Landesarchiv, Kalckreuthstraße 1-2.
Fahrverbindungen: Busse 19, 29, U-Bahnhof Wittenbergplatz.
3. Mittwoch, den 18. Mai 1983,19.30 Uhr: Jahreshauptversammlung. Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg. - Tagesordnung unter Nachrichten abgedruckt.
4. Sonnabend, den 21, Mai 1983,10.30 Uhr: „Von Neidenburg in Ostpreußen zur Gartenstadt
im Ost-Havelland. Das Wirken Paul Schmitthenners". Leitung der Führung durch Staaken:
Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt: Torweg, Ecke Hackbuschstraße.
5. Dienstag, den 14. Juni 1983, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Hauptstadt und Weltstadt. Stadtplanung und Stadtgestaltung. Berliner Architektur
der zwanziger Jahre". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
6. Dienstag, den 28. Juni 1983, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günther Kühne:
„Bauten in der Industrielandschaft Berlin". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste herzlich willkommen. Die Bibliothek
ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Vorträgen Beisammensein und
Diskussion im Ratskeller.
Die Mitglieder, die Interesse daran haben, ihre MITTEILUNGEN binden zu lassen, mögen sich
bitte in der Bibliothek bei Herrn Bunsas melden.
Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12, 1000 Berlin 19.
Geschäftsstelle: Frau Lieselotte Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 3232835;
vom Vorstand beauftragt.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Bemdt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeister: Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791.
Konten des Vereins: Postscheckamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000'Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30 22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
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MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
79. Jahrgang
Heft 3
Blick in den Glienicker Klosterhof
Juli 1983
/Der Glienicker Klosterhof
Eindrücke - Fragen - Gedanken
Von Malve Gräfin Rothkirch
„Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort."
Eichendorff
Das Glienicker „Klosterhöfchen", wie Prinz Carl von Preußen es selber nannte, entstand in der
Zeit der Romantik. Im Jahr der Einweihung, 1850, war der Dichter Eichendorff 62 Jahre alt.
Der 49jährige Prinz, der den Bau selbst bestimmte, beauftragte für die Ausführung den
Architekten Ferdinand von Arnim.
Mit diesem Klosterhof wurde die Gebäudekette um den Pleasureground geschlossen. Im und
am Kasino hatte der Prinz hauptsächlich seine antiken, hier seine mittelalterlichen Kunstwerke
vereint. Es ließ sich merkwürdigerweise in keiner zeitgenössischen Lebenserinnerung ein Echo
finden. Er selber muß sein „Klosterhöfchen" besonders geliebt haben, denn er setzte für seine
Erhaltung - zugleich für die des Kasinos - eine bestimmte Vermögenssumme aus.
Bisher ließen sich auch keine Pläne, Aufzeichnungen oder Akten finden, aus denen Näheres
und einzelnes zu erfahren wäre, z. B. über Konzeption, Kosten, Herkunft, Datierung der
verschiedenen Kunstwerke. Nur ganz allgemein ist in einem Protokoll des „Vereins für die
Geschichte Potsdams" von 1864 festgehalten, daß der Prinz Reste eines Klosters auf der Insel
Certosa bei Venedig erworben hatte, um sie zusammen mit andernorts gesammelten Dingen
für diesen Bau im „Styl eines byzantinischen Chiostro" zu verwenden. Seinerzeit war der
Kreuzgang mit den mittelalterlichen Doppelsäulen und zwei kleinen kapellenartigen Nebenräumen gefüllt mit „losen" Kunstgegenständen, wie Ampeln, Kruzifixen, Vortragekreuzen darunter dem Baseler Kreuz Kaiser Heinrichs II. -, Krummstäben, byzantinischen Emails,
Aquamanile in Löwengestalt, Gobelins, Meßgewändern..., nicht zu vergessen den Goslarer
Kaiserstuhl (Inventar von Bergau „Bau- und Kunstdenkmäler in der Provinz Brandenburg"
von 1885). Aus dem „byzantinischen" Brunnen in der Mitte sprang ein Wasserstrahl, Rasen
bedeckte den Boden, Efeu umrankte die Mauern, der Vorhof hatte Weg und Bepflanzung.
Heute wirkt das verwitterte „Klosterhöfchen" fast leblos. Dennoch hat es wohl für jeden, der
durch das verschlossene Gitter lugt, eine Anziehung, als verberge sich ein Geheimnis dahinter.
Nachdem ich still und länger darin verweilte, war mir, als hätte ich es finden dürfen, das
„Zauberwort" von Eichendorff. Seither „singt" mir der Klosterhof, erfüllt mich, eröffnet
meinen Augen immer neue Anblicke und erweckt Fragen, Gedanken und Entdeckungen. Ja, es
sind kunstgeschichtliche Entdeckungen, die mich drängen, sie in frischer Begeisterung mitzuteilen.
Dieser Aufsatz ist keine wissenschaftliche Bestandsaufnahme. Er möchte Impulse geben, die
anstehende Restaurierung des Klosterhofes mit vielschichtigen kunsthistorischen und Materialuntersuchungen begleiten zu lassen. Vor allem liegt mir daran, all denjenigen, die Sinn und
vielleicht sogar Sehnsucht - im Sinn der Romantiker - nach einer kontemplativen Begegnung
mit sakraler Kunst des Mittelalters haben, diesen Ort in Berlin gleichsam ans Herz zu legen. Ich
will versuchen, einige meiner Erlebnisse in Worte zu kleiden, wie die „Dinge" mich ansprachen,
mir Fragen stellten, mich nach Vergleichbarem suchen ließen, bis ich begann, sie zu verstehen.
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Mit „verstehen" meine ich einerseits von der äußeren Form her, ihre zeitliche und örtliche
Herkunft bestimmen zu können, andererseits vom Inhalt her, ihre zeitlos gültigen Symbolhaftigkeiten zu erahnen oder ihre zeitfernen geschichtlichen Hintergründe als etwas zum „Anfassen" Nahes zu „begreifen".
Treten wir durch Vorhalle und Vorhof über die Schwelle mit dem Pentagramm oder Dämonen abwehrenden - Drudenfuß ins Innere des Klosterhofes, in den Kreuzgang hinein, so
wird der erste Blick von dem Wandgrab festgehalten, das in die Rückwand einer hohen,
überdachten Nische eingefügt ist. Das Grabmal selbst, wie hochgetragen, wird von zwei
mächtigen Säulen mit Korbkapitellen flankiert. Wer liegt dort auf dem mit Mosaikbändern um
Porphyrscheiben geschmückten Sarkophag? Unter Kopfkissen und Füßen sind Bücher,
Folianten, zu erkennen, der Dargestellte trägt Gelehrtenkappe, Mantel und Handschuhe mit
Quasten.
Es ist Pietro d'Abano, ein Weltweiser, Arzt, Astronom und Astrologe. Er wurde 1257 in Abano
geboren, lehrte als Professor der Naturphilosophie und Medizin in Padua, wo er um 1315
verstarb, ein Zeitgenosse Dantes (1265-1321) und Giottos (1266-1337). Pietro kommentierte die
„Problemata" des Aristoteles und verarbeitete das gesamte, im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts bekanntgewordene antike und arabische Geistesgut. Als Anhänger des Philosophen
Averroes (1126-1198) geriet er in Konflikt mit der Inquisition und wurde der Ketzerei bezichtigt.
Es ist überliefert, daß sogar sein Leichnam noch verbrannt werden sollte - trotz Freispruch
nach dem Prozeß -, weshalb ihn seine Schüler nächtlich ausgegraben und versteckt haben
sollen.
Heute gilt Pietro d'Abano den Paduanern als erster bedeutender Gelehrter seit Gründung ihrer
Universität 1222. Ein Relief am Eingang des Palazzo della Ragione erinnert dort an ihn. Aber
sein Grabmal, sein - leeres - Hochgrab, welchen Platz hatte es ursprünglich? Wie konnte es
geschehen, daß ausgerechnet ein preußischer Prinz es erwarb, nach Glienicke bringen ließ und
ihm hier eine so ehrende Aufstellung schuf? Im vorigen Jahrhundert war hierzulande Pietro
d'Abano bekannter als heute. Clemens Brentano ließ ihn in den „Romanzen vom Rosenkranz"
erscheinen, Spohr komponierte eine deutsche Oper seines Namens, die 1834 in Kassel aufgeführt wurde, und Ludwig Tieck schrieb eine Novelle über ihn. Ob Tieck diese seine „Zaubergeschichte - Pietro von Abano" an einem der Vorleseabende bei König Friedrich Wilhelm IV. in
Sanssouci vortrug und Prinz Carl davon so begeistert war, daß er sich entschloß, das Grabmal
dieses „Weltweisen" zu erwerben, als es im Kunsthandel „auftauchte"?
Gestützt wird der Sarkophag von einem „Steinträger". Wie überzeugend drückt diese blockhafte Gestalt zugleich eigene Kraft und drückende Last aus! Der Mann sitzt mit weitaufgerissenen Augen und Mund da, gespannt und eingepreßt zwischen dem Block auf seinen Schultern
und dem unter seinen Schenkeln. Flachanliegende Akanthusblätter, Falten des Untergewandes, des Oberkleides, Schuhe, Gürtel, Bart und Locken, alles ist sorgfältig, stilisiert und doch
zugleich realistisch eingemeißelt.
Von wem, wann, wofür mag dieses eindrucksvolle Kunstwerk geschaffen sein? Stilkritisch
betrachtet wirkt der Steinträger etwa 200 Jahre älter als die weichmodellierte Gestalt des Pietro
d'Abano. Gehört er nicht in die Reihe frühromanischer Plastiken oberitalienischer Kirchen,
wie zum Beispiel Cremona oder Verona? Könnte „unser" Steinträger gar von Meister Nikolaus
stammen, der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts am Dom von Ferrara arbeitete und dort
eine ähnliche Figur schuf?
67
Steinträger unter dem Wandgrab
Ferrara, Portalfigur um 1135
Im nördlichen Kreuzgang werden wir von einer dritten Plastik angezogen, einer Gottvater-Büste. Obgleich sie vom Stil her wiederum „ganz anders" wirkt, spüren wir, ohne es gleich mit
Worten ausdrücken zu können, daß ein Sinnzusammenhang besteht, wie überhaupt, daß hier
im Klosterhof nichts zufällig angeordnet ist. Welche Idee mag den Prinzen geleitet haben?
Auch diese Plastik ist an hervorgehobener Stelle „gerahmt". Im mittleren Blickfeld dreier
Arkaden schwebt gleichsam Gottvater auf einer Konsole aus aufgerollten Blättern. Den
Hintergrund bildet ein marmoriertes, mit Mosaikstreifen begrenztes Wandstück, rechts und
links rahmen ihn gedrehte Porphyrsäulen, oben ein Steingiebel, unten ein gezackter Steinbalken, den eine Säule mit auffallend urtümlichem Kapitell zu stützen scheint.
Ich nahm mir Zeit, um mich anschauen zu lassen - ich schreibe bewußt „mich anschauen zu
lassen" -, um die Plastik mit dem Herzen erleben zu dürfen. Natürlich regte sich dann auch die
kunstgeschichtliche Frage: welche Zeit, welcher Künstler schuf solches Meisterwerk? Meine
Erinnerung lenkte mich nach Pisa. Beim Blättern in Büchern fand ich Einzelaufnahmen der
Domkanzel. Ist es nicht im wesentlichen die gleiche Weise, wie hier und dort Mund, Augen,
Haare, Hände, wie Gewandfalten und auch Blätter im Verein mit menschlicher Gestalt
geformt sind? Ist es nicht dieselbe Kraft geistigen Ausdrucks, die sich bei allen Köpfen zwischen
den Augenbrauen konzentriert? Die Glienicker Gottvater-Büste stammt von Giovanni Pisano,
zumindest aus der Werkstatt von Vater und Sohn Pisano.
Seltsam, Giovanni, der Sohn, lebte fast zur gleichen Zeit wie Pietro d'Abano. Er wurde um 1250
geboren und starb 1314 in Pisa. Nachdem er mit seinem Vater Nicolo am Brunnen in Perugia
6*
Kopf der Gottvater-Büste
Detail der Domkanzel in Pisa von Giovanni Pisano
gearbeitet hatte, wurde er 1284 Dombaumeister in Siena. Hier schuf er den Figurenzyklus der
Westfassade. 1297 ging er, auch als Dombaumeister, nach Pisa und schmückte die gotischen
Geschosse des Baptisteriums mit Vollfiguren und Büsten. Von 1302 bis 1312 entstand die
unvergleichliche Kanzel des Doms.
Es ist bekannt, daß Pisaner und Sienesen im 19. Jahrhundert verwitterte Plastiken durch
Kopien ersetzten. Die meisten Originale, heißt es, seien heute in Museen; also nicht alle.
Deshalb liegt die Vermutung nahe, daß Prinz Carl diese Gottvater-Büste (die ja recht verwittert
ist) zusammen mit dem Affenkapitell aus Pisa (im Vorhof des Klosterhofes) erwarb.
Gottvater als Schöpfer des Himmels und der Erde hält in seiner rechten Hand eine mit dem
Kreuz gezeichnete Kugel, das Symbol des Kosmos. Ihm gegenüber, in der Mitte der Wand des
südlichen Kreuzganges (an einer heute leeren Stelle) befand sich bis zum Verkauf um 1935 der
Tondo eines byzantinischen Kaisers aus dem 12. Jahrhundert. Der Kaiser trägt ebenfalls eine
Kugel in seiner rechten Hand, aber hier bedeutet sie die irdische Welt, auf der das Kreuz als
Zeichen christlicher Herrschaft aufgerichtet ist. Wieder ahnen wir einen vom Prinzen Carl
gefügten Sinnzusammenhang.
Der Kaisertondo befindet sich heute mit einer auch aus Glienicke stammenden (und durch
Kopie ersetzten) byzantinischen Madonna in der Dumbarton Oaks Collection bei Washington.
Im Klosterhof existiert ein weiteres byzantinisches Relief, eine Muttergottes mit dem Christuskind. Sie entzieht sich bisher der Definition, obgleich sie beschriftet ist. Welche Sprache ist es,
aus welchem Kulturkreis stammt das Relief, wo gibt es Vergleichbares?
69
Bei jedem Gang durch den Klosterhof stellen die vielen unterschiedlichen Säulen erneute
Fragen. Zum Beispiel: Wo gibt es derart meisterhaft stilisierte und kostbar gearbeitete Basen
wie die der Porphyrsäulen neben der Gottvater-Büste, und wer schuf das urtümlich, mythisch
wirkende Kapitell mit dem Kopf eines Dämons zwischen Tauben? Die beiden Korbkapitelle zu
sehen des Wandgrabes von Pietro d'Abano hingegen lassen sich datieren und orten. Sie
stammen aus dem 6. Jahrhundert und kommen vielleicht aus San Michele in Ravenna. Diese
byzantinische Kirche war Mitte des 19. Jahrhunderts derart verfallen, daß König Friedrich
Wilhelm IV. mit einer Sondererlaubnis des Papstes das Apsismosaik kaufen konnte (es befindet
sich heute im Ostberliner Bode-Museum). Es liegt nahe anzunehmen, daß sich Prinz Carl beim
Kauf und Transport von Kunstwerken aus Italien seinem Bruder anschloß.
Marmorbase einer Porphyrsäule
Kapitell unter der Gottvater-Nische
Noch ein Gedanke zu den „Glienicker" Korbkapitellen: Die geschichtliche Spanne zwischen
ihrer Entstehung und der Lebensmitte des Pietro d'Abano - um 580 bis um 1280 - ist zeitlich
etwa gleich „weit" wie zwischen dem Philosophen und uns. Siebenhundert Jahre... vierzehnhundert Jahre! Was ist „Zeit"?
Nicht symbolträchtig, sondern schmückend wirken Paare gedrehter Mosaiksäulen um ein
Fenster und eine Blendtür. Sie entstanden wohl in der Werkstatt der römischen Familie Cosma,
die seit Beginn des 13. Jahrhunderts berühmt wurde. Mir fiel als Vergleich die Tribuna der
Unterkirche von San Francesco in Assisi ein. Auch diese Empore ist mit gedrehten Kosmatensäulen geschmückt und einem Kreismuster, das dem des Sarkophages von Pietro d'Abano
ähnelt. Wieder andersgestaltete Säulen tragen die Kuppel des kleinen Glockenhauses, das sich
über der nordwestlichen Dachecke des Klosterhofes ins Baumgezweig erhebt. Ihre gedrehten
Säulen entsprechen denen des nördlichen Seitenflügels. Sie sind denen der beiden Ein- und
Ausgangshallen und außerdem den Porphyrsäulen um die Gottvater-Büste verwandt. Welche
der Säulen sind „alt", aus dem Mittelalter, und welche sind „neu", aus dem 19. Jahrhundert?
Gegen Echtheitszweifel spricht, daß kein Kapitell dem anderen gleicht. Selbst in den Windungen der Säulenschäfte unterscheiden sie sich. Was also ist hier „echt", was „unecht"?
70
Cosmatensäule an der Blendtür
Im Kreuzgang gibt es andere „Stücke", bei denen sich die Nachahmung deutlich von dem
originalen „Urbild" abhebt. Zum Beispiel haben die im 19. Jahrhundert gebrannten Tonziegel
mit Rosetten, die zu Bändern gefügt alle Wände durchziehen, ihr Vorbild in dem „echten" Fries
über Pietro d'Abanos Grabmal. Besonders fremdartig und „verdächtig" kamen mir die Pfeiler
mit den zierlichen Ecksäulen der Eingangshalle vor. Sollten sie eine Erfindung des Prinzen Carl
oder Ferdinand von Arnims sein? Aber dann stieß ich auf einen Bildband über die Abtei
Pomposa, worin vier im Hof des Kreuzganges isoliert stehende Eckpfeiler zu erkennen sind,
„Bifores", die aus dem 12. Jahrhundert stammen sollen. „Ihr plastischer Stil ist dem der Loggia
des Doms von Ferrara verwandt, die der Meister Gugliemo 1135 schuf' (Mistrorigo). Beim
Vergleich mit Glienicke wirken die Pfeiler in Pomposa allerdings wesentlich kompakter.
Immerhin ist bemerkenswert, daß es im Mittelalter in Italien derartige Bifores mit gedrehten
Ecksäulchen und verzierten Zwischenflächen gab. Seltsam, daß die unteren Stücke der Pfeiler
in Pomposa durchgeschnitten beziehungsweise wie zusammengesetzt aussehen, wie es auch bei
den meisten Säulen der Glienicker Halle der Fall ist.
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Vorhalle (11. Jahrhundert) der Abteikirche Pomposa (Beginn 8. Jahrhundert)
Bei genauerem Hinsehen tauchen immer mehr Fragen auf. Wo gibt es Zackenbögen, wie sie
den nördlichen Seitenflügel des Vorhofes (nicht den südlichen!) und die beiden Hallen zieren?
Beim weiteren Suchen nach vergleichbaren Kunstwerken entdeckte ich Abbildungen zweier
Kirchen in Tuscania und fand Seitenportale mit gezackten Bögen... Kapitelle mit stilisierten
Blättern, Eckvoluten, Blüten... Säulenträger am Hauptportal (allerdings in Gestalt von
Löwen)... die Fassade im ganzen wie zusammengestückelt wirkend... eine Zwerggalerie
ähnlich der am Südflügel des Vorhofes hier in Glienicke! Sollten sich zumindest in dieser
Richtung Anhaltspunkte für stilistische, zeitliche und landschaftliche Bestimmungen vieler
rätselhafter Stücke im Klosterhof finden lassen? Tuscania liegt auf einer einsamen Bergeshöhe
nicht weit von Montefiascone im südlichen Etrurien. Im Ort gibt es zwei alte Kirchen, S. Pietro
und S. Maria Maggiore. Einer Legende nach soll S. Pietro für den Langobardenkönig Liutprand erbaut worden sein. Jedenfalls stammen beide Kirchen aus dem 7. oder 8. Jahrhundert.
Sie wurden im 12. Jahrhundert erweitert und teils umgebaut. In der Kirche S. Pietro sind noch
langobardische Steinschranken und ein Ziborienaltar erhalten. Langobardische Steinschranken? Waren dies nicht die vier abstrakten Reliefs im Klosterhof?
Von Meisterhand sind sie gearbeitet und voller erspürbarer Symbolik! Da gibt es Quadrate und
Kreise, Zeichen für Welt und Kosmos, geordnet durch die heilige Zahl vier; bandartige, sich
72
Langobardischi"; Relief, 8. Jahrhundert?
Tuscania: Portal von S. Maria Maggiore,
12. Jahrhundert
Langobardisches Relief, 8. Jahrhundert?
umschlingende Linien; spiralige und blattartige Endungen; Rosetten, Symbole für Sterne und
Paradies; im Mittelpunkt eine Blüte - die Rosa mystika - oder ein Kreuz.
Eines der Reliefs zeigt eine Art Triumphbogen, der aus pfianzenrankigen Säulen aufsteigt und
oben mit Flammenzeichen besetzt ist (auch Krabbenreihe oder laufender Hund genannt).
Darunter wachsen gleichsam zwei Lebensbäume neben einem hochaufgerichteten Kreuz.
Kunstgeschichtlich betrachtet, handelt es sich hierum typisch langobardische „Muster". Kreuz,
Bäume, Rosetten finden sich so zum Beispiel auf der bekannten Sigwaldplatte am CalixtusBaptisterium in Cividale aus dem 8. Jahrhundert.
73
Wer waren die Langobarden? Ein westgermanisches, wahrscheinlich aus Gotland stammendes
Volk, sind sie um 50 v. Chr. an der Niederelbe ansässig gewesen (Bardowik!). Um 400 n. Chr.
zogen sie nach Böhmen und Niederösterreich, weiter über Ungarn, Friaul nach Oberitalien in
die „Lombardei", wo ihr Heerführer Alboin 568 das langobardische Königreich gründete.
Pavia, 572 erobert, wurde fortan Haupt- und Krönungsstadt. In der Nachfolge des Ostgotenreiches von Theoderich bestand die langobardische Herrschaft in Italien rund 200 Jahre. 774
wurde Desiderius von Karl dem Großen besiegt, der sich darauf selbst mit der eisernen Krone
der Langobarden krönen ließ.
Die Langobardenkönigin Theodelinde stand in freundschaftlicher Beziehung zum heiligen
Columban, der - aus Irland ausgewandert - in Bobbio ein berühmt gewordenes Kloster
gründete, in dem er 615 starb. Ob Columbans irische Frömmigkeit die langobardische Kunst
beeinflußte? Königin Theodelinde ließ ihren Sohn Adewald katholisch taufen, obgleich ihr
zweiter Gemahl König Agilulf Arianer war und blieb. Zur Taufe von Adewald im Jahre 603
schenkte Papst Gregor der Große ein kostbares Evangeliar. Dies war 1965 auf der Aachener
Ausstellung über Karl den Großen zu sehen. Ist es nur ein Zufall, daß sich auf dem Einbanddeckel dieses Evangeliars aus dem Anfang des 7. Jahrhunderts ein fast modern anmutendes,
stilisiertes Blütenmuster findet ähnlich dem an den Steingewänden der Eingänge in den
Glienicker Kreuzgang und die Kapelle?
Langobardischer Brunnen, 7. Jahrhundert?
74
Vorhalle Pomposa: Kreuz mit Manus Dei
Und der Brunnen inmitten des Klosterhofes? So wie hier mag er im Hof eines Klosters
gestanden haben, das vielleicht sogar vom heiligen Columban gegründet wurde. Deutlich sind
noch Abnutzungsspuren von Tauen zu erkennen, mit denen Wassergefäße aus der Tiefe
gezogen wurden. Gedrehte Säulen an den Ecken des Brunnens mit verwitterten, einfachen
Blattkapitellen, sollten sie nicht an die vier Flüsse des Paradieses erinnern und Glauben
schenken, daß Wasser aus seiner Tiefe heiligt? Jede Seite ist mit unterschiedlichen Ankerkreuzen, Palmetten- und Wellenbändern „beschriftet". Vergleichbare langobardische Brunnen
stehen im Museum Corner in Venedig und im Kreuzganghof der römischen Kirche S. Giovanni
in Laterano. Dieser wird ins 8. Jahrhundert datiert. Unser Glienicker Brunnen könnte bereits
aus dem 7. Jahrhundert stammen. Wenn man ihn länger still betrachtet, spürt man seine
sakrale Ausstrahlung.
Die seltene Form des Ankerkreuzes am Glienicker Brunnen leitet zum Betrachten der beiden
eigentümlichen, einander gleichen Kreuze; das eine in die Wand über der Grabfigur Pietro
d'Abanos eingelassen, das andere den Giebel über der „Apsis" bekrönend. Weinlaubranken
sind den Balken eingemeißelt, ihren Enden fügen sich kreisrunde Scheiben mit Ankerkreuzen
an, im Schnittpunkt ist eine Manus Dei, eine Hand Gottes, zwischen Sonne und Halbmond
erkennbar. Wo gibt es vergleichbare Kreuze? In Pomposa, eingelassen in die Schauwand der
Kirchenvorhalle, die um das Jahr 1000 erbaut wurde! Hier gibt es zudem - wie in Glienicke? als „Spolien" eingefügte „ältere", aus der Gründungszeit der Benediktinerabtei im 8. Jahrhundert stammende Tierreliefs.
75
Insgesamt sind in Wände und Bogenzwickel des Glienicker Klosterhofes 29 rundgefaßte
Tierreliefs eingelassen, dazu enthält die Archivolte über dem Grabmal des Philosophen in ihren
Rankenkreisen sieben gegengleiche Tierdarstellungen. In einer 1982 veröffentlichten Studie von
Swiechowski, Rizzi und Hamann-MacLean wurden diese „romanischen Reliefs von venezianischen Fassaden" katalogisiert, aber nicht gedeutet und datiert. Von Gestaltung und Technik
her stammen sie aus verschiedenen Zeiten und wohl auch Orten. Im 12. und 13. Jahrhundert
waren Predigtbücher verbreitet, die aus dem „Physiologus" und aus „Bestiarien" schöpften.
Von hierher betrachtet, könnten einige Tierdarstellungen - zum Beispiel der Archivolte - so
etwas wie steinerne Predigten sein. Oder sollten die übereinander stehenden Tiere - eins auf
dem Rücken des anderen - sich aus byzantinischen und sassanidischen Vorbildern herleiten
lassen? Ich mußte mich im Klosterhof unwillkürlich an die Heiratsurkunde der Kaiserin
Theophanu erinnern. Sie war eine Nichte des byzantinischen Kaisers und wurde im Jahre 972
mit Otto II. verheiratet. Die auf purpurrotem Pergament beschriftete Urkunde zeigt ein
„Grundmuster" sich wiederholender Kreise mit Tierpaaren.
Gussago, S. Maria Assunta, Langobardisches
Relief, 8. Jahrhundert
Ist das Motiv von Adler und Schlange nicht ein mythisches Symbol, das von der christlichen
Religion übernommen wurde? Es kommt mehrmals im Klosterhof vor. Eine Darstellung
ähnelt - bis hin zur Kerbschnittechnik - einem langobardischen, aus dem 8. Jahrhundert
datierten Relief. Dieses stammt aus der Kirche S. Maria Assunta in Gussago und ist beschriftet
„MAVI ORANS", was wohl bedeutet: „Meister Mavius schuf dies betend."
76
„Kaiserliches" Gitter an der Kapelle
Noch haben wir nicht die kleine Kapelle des südlichen Kreuzganges betrachtet; zunächst die
Tür mit Steinfassung und Gitter. Wieder die skeptische Frage: Kann das Gitter wirklich „echt"
und also alt sein? Im Muster gleicht es dem am Hauptportal und den Gittern im Vorhof. Doch
gibt es Unterschiede: Die beiden Türen sind im Material wesentlich stärker als die Einfriedung
des Vorhofes. Sie ist ganz offensichtlich als Nachbildung der „originalen" Gitter geschmiedet.
Dann müßten diese aus einem Stück gegossen sein? Und, da sie einem Teilstück des ältesten
Gitterpaares im Aachener Dom fast gleichen, könnten sie um 800 entstanden sein? Und woher
hat sie Prinz Carl?
Wieder und wieder prüfe ich meine Begeisterung über diese herrlichen frühmittelalterlichen
Kunstwerke. Sie führten doch bisher ein mehr oder weniger unerkanntes Schattendasein! Sollte
das meiste nicht doch nur Nachahmung und der ganze Klosterhof ein typisches Zeugnis des
beginnenden Historismus, ja des Eklektizismus sein? Hiergegen spricht, daß Prinz Carl - zwar
„nur" Prinz und Laie - dennoch „Kenner und Beschützer des Schönen" (nach Pückler) war.
Sein Adjutant Job von Witzleben schrieb am 30. April 1879 aus Venedig (an seine Mutter über
den Prinzen): „Er ist zum 11. Mal in Italien und kann es keinen besser unterrichteten und
geistvolleren Führer geben." Am 23. Mai desselben Jahres berichtete Witzleben aus Mailand:
„Der Prinz machte mit uns zu Wagen eine Partie nach Monza . . . und nächsten Tag nach der
Certosa bei Pavia. Letztere war höchst interessant, denn selten sieht man in so begrenztem
Raum solche kostbare Sachen, kostbar durch Kunstwert, Alter und Seltenheit."
Prinz Carl kannte also Monza, wo noch heute die Schätze von Königin Theodelinde mit dem
Evangeliar Papst Gregors des Großen aufbewahrt werden. Er kannte „natürlich" auch Pavia,
die Krönungsstadt der Langobarden.
77
Daß es Prinz Carl beim Sammeln mittelalterlicher Kunst um Sinnzusammenhänge ging, zeigen
vor allem zwei „Gegenstände", die er einst hinter dem „kaiserlichen" Gitter in der kleinen
Klosterhofkapelle aufstellen ließ: das Reliquienkreuz Kaiser Heinrichs II. (heute im Westberliner Kunstgewerbemuseum) und der Goslarer Kaiserstuhl. Das Kreuz hatte Heinrich II. im
Jahre 1015 zusammen mit anderen Weihegaben dem Basler Münster gestiftet. Es enthält
Reliquien vom Kreuz Christi und in der Mitte eine Kamee aus der römischen Kaiserzeit.
Nachdem dies „Heinrichskreuz" etwa 300 Jahre versteckt blieb (von 1529 bis 1827), wurde es
1836 versteigert und vom Prinzen Carl erworben.
4iHfr'
Der Goslarer Kaiserstuhl, 11. Jahrhundert
Der Thron Kaiser Heinrichs III. (1039-1056) war eines der ersten Stücke von Prinz Carls
mittelalterlicher Sammlung. Er kaufte ihn 1820 seinem scheidenden Erzieher Minutoli ab. Die
Goslarer hatten ihn 1811 mit anderem „Altmetall" zum Einschmelzen weggegeben. Heute steht
der Kaiserstuhl wieder in Goslar, wohin ihn Prinz Carl vererbte, aber leider ohne Hinweis, wem
dies zu verdanken ist.
Kaiser Heinrich III. hatte sich bemüht, Ordnung in die seinerzeit zerstrittene römische Kirche
zu bringen. Er beraumte 1046 eine Synode in Sutri ein, um zwei von damals drei konkurrierenden Päpsten dem Gericht des Episkopates zu überliefern. In vollem Ornat wurden Gregor VI.
und Silvester III. in die Krypta des langobardischen Domes von Sutri geführt. In Anwesenheit
des Kaisers mit seinem Gefolge und des gesamten Episkopates wurde ihnen die Absetzungssentenz vorgelesen. Dann nahm man ihnen feierlich, Stück um Stück, die Zeichen ihrer päpstlichen
Würde ab, gleichzeitig Fackel um Fackel und Kerze um Kerze löschend. Es muß eine überaus
beeindruckende Zeremonie gewesen sein, in einer Krypta, die der Langobardenkönig Liutprand im frühen 8. Jahrhundert stiftete, derselbe, an den die Kirchen in Tuscania erinnern!
Unsere Gedanken sind nach Glienicke zurückgelenkt.
78
Alle „Dinge" des Klosterhofes haben einen Sinnzusammenhang. Prinz Carl wählte sie mit
Bedacht aus. Dabei kam ihm ein an sich tragisches Geschick zugute. Im Herbst 1846 unternahmen Prinz Carl und Prinzessin Marie mit ihrer ältesten, 17jährigen Tochter Luise eine Reise
nach Italien. Bereits in Genua erkrankte Luise so schwer, daß die Eltern sie in Todesangst nicht
verlassen und Weiterreisen konnten. Sie mußten etwa ein Jahr in Oberitalien bleiben. Im Mai
1847 zogen sie in die Villa Carlotta am Comersee, die damals einer Schwägerin des Prinzen,
Prinzessin Marianne, Gemahlin seines Bruders Albrecht, gehörte. Hier hatte Prinz Carl Zeit
zum Nachdenken, zum Lesen, zum Planen, zum Sammeln. Das besondere Interesse für
frühmittelalterliche italienische Kunst teilte er mit seinem Lieblingsbruder Friedrich Wilhelm.
Der König kam im September 1847 nach Venedig und bat Carl, ihn als Cicerone zu begleiten. In
Potsdam war damals die Friedenskirche im Bau, die Friedrich Wilhelm IV in Anlehnung an
San demente in Rom selbst entworfen hatte. Sie erhielt ein originales byzantinisches Apsismosaik aus einer verfallenen Kirche der Insel Murano. In Venedig war 1847 beim Kunsthändler
Pejaro das Mosaik des 6. Jahrhunderts aus Ravenna zu besehen, das der König gekauft hatte
und hier restaurieren ließ.
Von der Villa Carlotta aus machte Prinz Carl natürlich auch Bootsfahrten (wie Briefe bezeugen) über den Comersee. Ob er auf der kleinen Insel Comacina landete, sie durchstreifte und
Trümmer des 6. bis 12. Jahrhunderts entdeckte? Über dieser Insel waltet ein Geheimnis: Es soll
noch heute auf ihr von Buschwerk überwachsene Ruinen und herumliegende Mauerbruchstücke geben. Vermutlich war sie der Sitz einer ehemals römischen, dann langobardischen
Bauhütte, der „magistri comacini". Nachdem Barbarossa Mailand 1162 besiegt hatte und die
Magistri (modern ausgedrückt: die Ingenieure) von Comacina den Wiederaufbau vorantrieben, ließ der Kaiser 1169 alle Gebäude, Kirchen und Häuser der kleinen Insel zerstören. Sie muß
ihm ein besonderer Dorn im Auge gewesen sein. Die „magistri comacini" sollen danach
ausgewandert sein.
Langobardische Stucksäule
70
Ob die hohe Säule an der äußeren Nordwestecke des Klosterhofes einst auf der Insel Comacina
stand? Sie läßt sich ins 7. oder 8. Jahrhundert datieren, trägt sogar langobardische Schriftzeichen. Gerade sie ist nicht „unecht", wie bisher behauptet wurde, weil sie „nur" aus Backsteinen mit Stucküberzug geschaffen ist. Materialgerechtigkeit als Kriterium zur Beurteilung
„echter" Kunst paßt hier ebensowenig wie für Schinkels Werke, der ja viele Säulen, Gesimse,
Vasen... aus Zinkguß anfertigen und als Gestein imitieren ließ. Auch läßt sich der Klosterhof
nicht am Klassizismus Schinkelscher Prägung messen. Wer mit einem solchen Maßstab
herangeht, wird ihn als fremdartig empfinden. Der Klosterhof gehört in die Kette der Gebäude
um den Glienicker Pleasureground als wesentlicher Abschluß, gleichsam als Schlußstein. Den
Vorhof ließ Prinz Carl um einen bereits hochgewachsenen Baum errichten - mit Freiräumen im
unterirdischen Mauerwerk zum Weiterwachsen der Wurzeln!
Blick in den Vorhof
Kunst nimmt nicht von sich aus Rücksicht auf die Natur, sondern Ehrfurcht und Einfühlsamkeit des Menschen. Es ist aber hier mehr als nur Rücksicht. In Glienicke sind unterschiedlichste
„Dinge" - verschieden vom Wesen, vom Material, vom Alter her - zusammgengestimmt: das
Ganze und jedes Teil dient einem Sinn. Es lebt hier - wie Eichendorff es nannte - „ein Lied in
allen Dingen". Dies wurde von den Romantikern ernst genommen. Sie warnten vor der
Selbstüberschätzung der Rationalisten und wandten sich bewußt dem Mittelalter zu. So
verstanden, ist der Glienicker Klosterhof weder ein Gebilde des Historismus noch ein Museum
für byzantinische Kunstwerke, sondern ein persönliches Bekenntnis zur Schöpfungsordnung,
in der Natur und Kunst und mitten darin der Mensch - wachsend und reifend - Gott dienen
dürfen.
80
Literatur
Ausstellungskatalog: Karl der Große, Aachen 1965.
Borsig, Arnold von: Die Toscana, Wien 1940.
Carli, Enzo: II Pergamo del Duomo di Pisa, Pisa 1975.
Fillitz, H.: Das Mittelalter, Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 5, Berlin 1969.
Glück, H.: Die christliche Kunst des Ostens, Berlin 1923.
Goez, W.: Von Pavia über Parma.... DuMont-Kunstreiseführer, Köln 1972.
Kayser, F.: Kreuz und Rune - Langobardisch-romanische Kunst in Italien, Stuttgart 1964/65.
Kugler. Franz: Handbuch der Kunstgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1859.
Kutzli, Rudolf: Langobardische Kunst, Stuttgart 1981.
Lurker, M. (Edit.): Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart 1979.
Mistrorigo, Teresa: Die Abtei von Pomposa, Bologna 1961.
Nyssen, W., und Sonntag, F.-P.: Der Gott der wandernden Völker. Frühe, christliche Zeugnisse
der keltisch-germanischen Stämme von Västergötland bis Asturien, Freiburg 1969.
Reclams Kunstführer, Berlin. Kunstdenkmäler und Museen. Stuttgart 1977.
Ricci, Corradi: Romanische Baukunst in Italien, Stuttgart 1925.
Ruhf, G.: Das Grab des hl. Franziskus, Freiburg 1981.
Schaffen, Emerich: Die Langobarden in Italien, Jena 1941.
Schmidtke, Dietrich: Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters
(1100-1500), Inaugural-Dissertation - FU Berlin 1968.
Strzygowski, Josef: Ursprung der christlichen Kirchenkunst, Leipzig 1920.
Swiechowski, Rizzi, und Hamann-MacLean: Romanische Reliefs von venezianischen Fassaden,
Wiesbaden 1982.
Anschrift der Verfasserin: Malve Gräfin Rothkirch, Barsekowstraße 1, 1000 Berlin 41
>mer uan Wilhelm Saegert
Von Gerhard Kutzsch*
Saegert entstammt einer Familie einfacher Soldaten. Sein Vater hatte 28 Jahre lang bei den
neumärkischen Dragonern gedient, war als Unteroffizier verabschiedet worden und verbrachte
den Rest seines Lebens als Ratsdiener in dem Städtchen Bärwalde, wo auch der Sohn 1809
geboren worden war. Mit Hilfe eines Stipendiums besuchte Carl Wilhelm, ein aufgeweckter
Junge, das Lehrerseminar in Neuzelle, machte mit 19 Jahren sein Abschlußexamen als Taubstummenlehrer und kam 1840, nach Jahren der Lehrtätigkeit in Königsberg, Weißenfels und
Magdeburg, als Direktor der Taubstummenanstalt nach Berlin. Im Sommer 1843 finden wir
ihn nebenamtlich als Geschichtslehrer des Thronprätendenten Prinz Friedrich Wilhelm (des
späteren Kaisers Friedrich HL), sehen ihn aber schon nach kurzer Zeit wieder dieses Postens
enthoben. Er habe weder ihn noch seinen Sohn angesprochen, schreibt der Prinz von Preußen
zehn Jahre später seinem königlichen Bruder, weil er sich durch andringliches Wesen und
beständige schmeichlerische Bemerkungen auf die Zukunft des jungen Prinzen ihnen so
unangenehm gemacht, daß der Sohn selbst darum gebeten habe, diesen Lehrer nicht zu
* Die folgenden Ausführungen stellen eine Kurzfassung meines Aufsatzes „Friedrich Wilhelm IV. und
Carl Wilhelm Saegert" dar, erschienen im „Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands",
Band VI, Tübingen 1957, S. 133-172.
81
„konservieren" (25. November 1853). Im gärenden Jahr 1848 kämpft Saegert unter den Fahnen
der Revolution, freilich nicht mit der Waffe in der Hand, sondern mit dem Worte, er läuft in die
Volksversammlungen, hält Reden an die Menge und empfiehlt sich dieser selbst als Chef eines
zu schaffenden Arbeitsministeriums. In einer anonym erschienenen, auf Saegert gezielten
Flugschrift vom „falschen Abbe de l'Epee" (Berlin 1851 bei C. G. Brandis) heißt es: „Sich das
Ansehen gebend, als huldige er den Freiheitsidealen der frommen Schwärmer, schloß er sofort
einen Bund mit jenen Fanatikern, denen nichts heilig und zu Rechte bestehend ist; er ward ein
eifriger Apostel der modernen Freiheitslehre und ihrer sozialistischen Träumereien und scharte
sich als solcher mit den Stellenjägern aller Grade um ihre F a h n e . . . " Da beschied Friedrich
Wilhelm IV., sehr wahrscheinlich von Härder, dem Kabinettssekretär der Königin, auf den
„Volkstribun" aufmerksam gemacht, diesen - den er schon ganz der Revolution verfallen
glaubte - zu sich, „um ihn der guten Sache zu gewinnen". Von dieser Stunde an gab sich Saegert
als loyalster Untertan Seiner Majestät, stellte sich dem König als Nachrichtenübermittler und
Berater zur Verfügung und wußte sich fortan sieben Jahre lang in dessen Gunst zu erhalten.
Nur wenigen höchstgestellten Beamten war die Doppelrolle des Direktors der Taubstummenanstalt bekannt, ferner ein paar Höflingen, deren Aufgabe es war, den regelmäßig in den
Schlössern zu Berlin, Charlottenburg oder Potsdam auftauchenden Besucher durch Bedientenwohnungen und über Hintertreppen in die Arbeitsräume des Königs zu geleiten. Die
„Zauberkraft der Übereinstimmung", die der König zwischen sich und Saegert entdeckte, ist
nur vom Pathologischen her verständlich, die Erklärung für das tatsächlich vorhandene
Abhängigkeitsverhältnis des Monarchen von dem Direktor muß in den Bereichen des Irrationalen gesucht werden. Von Saegert allein fühlte sich der Mann verstanden, den das Unverstandensein als „eine der größten Plagen seines glorreichen Lebens" bedrückte. „Sie haben einen
spiritus familiaris, der mehr weiß wie andere Geister..." schrieb Friedrich Wilhelm seinem
Vertrauten (1855). Saegert wollte den König nicht beherrschen, er wollte nur eines: eine
Position im Staatsdienst haben, so hoch wie möglich. Aber sie hätte nicht mit zuviel Verantwortung beladen sein dürfen.
Im September 1848 bot ihm der König die Ministerpräsidentschaft und das Kultusministerium
an. Besser als sein Herr wußte Saegert, daß er für beide Ämter unmöglich war und schlug sie
aus. Er wolle „nicht jetzt schon Minister werden, da es ihm die Esel in der Löwenhaut doch
nicht verzeihen würden, wenn er ohne Haut ginge und er würde sehr viele Neider haben". Der
Schuldirektor war sich darüber im klaren, daß seine Ernennung für ein höchstes Staatsamt den
unüberwindlichen Widerstand aller nur denkbaren Kräfte hervorgerufen und ihn möglicherweise sogar die Rolle des heimlichen Mandatars gekostet hätte. Dank energischem Nachdruck
von allerhöchster Seite wurde Saegert 1849 in die 1. Kammer gewählt, der er dann für zwei
Legislaturperioden angehört hat. Friedrich Wilhelm hoffte so, den Freund einem Ministersessel nähergebracht zu haben, hat ihm jedoch keinen wieder angeboten.
Saegerts geradezu manisches Streben, auf der Stufenleiter des beruflichen Erfolges nach oben
zu klimmen und sich im Glanz neuer Würden zu sonnen, hat zwei Kultusministern, Ladenberg
und Raumer, das Leben sauer gemacht. Schon im August 1848 fordert der König durch seinen
Geheimkämmerer Schöning, dann auch persönlich den Oberpräsidenten v. Patow auf, dem
Wunsch Saegerts nach Mitgliedschaft im Provinzial-Schulkollegium zu entsprechen. Patow
lehnt mit einem Hinweis auf die extraordinäre Laufbahn dieses Mannes und auf den Widerstand, der deshalb unter den Räten entstehen würde, ab. Bezeichnete es Saegert zeitlebens als
seinen Grundsatz, nichts zu tun, wozu er auch andere Leute gebrauchen könne, so war die
Beurteilung durch Patow treffend, er kümmere sich um alles, das er mit Eifer begänne, um dann
die Details anderen zu überlassen, der Direktor sei exzentrisch und löse das ganze Kollegium
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auf, „in dieser Branche aber sei noch Ordnung und man wünsche nicht, daß sie auch dort
aufhöre". Friedrich Wilhelm war wütend und erklärte bei Patows Entlassung, er habe ihm auch
diese Stellungnahme nicht vergessen.
Das nächste Ziel eines Doppelangriffs von Seiten des Königs und Saegerts ist Kultusminister
Ladenberg. Dieser widersetzt sich hartnäckig dem Ansinnen, Saegert gar ins Ministerium
avancieren zu lassen und ihm ein besonderes Dezernat für Taubstummenangelegenheiten
einzuräumen. Mit wohlgesetzten Worten weist der Minister seinen königlichen Herrn darauf
hin, daß dieser Mann von Einseitigkeit und Selbstüberschätzung, die dem Dilettantismus eigen,
nicht frei sei und daß die unangenehm hervortretende Neigung zu Geltungssucht und Überheblichkeit ihn mit einer Reihe sehr achtbarer Direktoren und Lehrer in Konflikt gebracht habe.
Bis ins dritte und vierte Glied will sich Saegert, der von dem Bericht des Ministers Kenntnis
erhielt, an Ladenberg rächen. In einem langen Handschreiben vom 26. August 1850 versucht
der König, Ladenberg über sein wahres Verhältnis zu Saegert aufzuklären, den er einen „streng
und geistreich konservativen integren Mann" nennt, den eine unselige konstitutionelle Bürokratie zu kompromittieren versuche. Der Kultusminister entgegnet mit einem Hinweis auf die
Beurteilungen durch den Regierungspräsidenten v. Wolff-Metternich und andere Vorgesetzte
Saegerts, daß man es mit einem tieferer wissenschaftlicher Bildung ermangelnden, der Basis
eines gründlichen und richtigen Urteils entbehrenden, ehrgeizigen Mann zu tun habe, der in der
Lehrerwelt für einen aufgeblasenen, eitlen Schwätzer gelte, dem es nur um das Geltendmachen
seines eigenen Interesses zu tun sei und der sich auf Kosten seiner Berufspflichten überall
hervordränge. Saegerts Aufnahme ins Kollegium bedrohe den Hochstand des preußischen
Bildungs wesens, indem sie alle wissenschaftlich gebildeten Lehrer tief entmutigen müsse. Auch
Ladenbergs Nachfolger v. Raumer, unternahm jahrelang nichts Entscheidendes, um des Königs und Saegerts Wünsche zu erfüllen. Erst im Sommer 1852 erinnert Saegert das Ministerium
wieder daran, daß sein produzierender Geist im Fach der Humanitätspflege sich nicht einzwängen lasse, daß er im Ausland verherrlicht, in Berlin aber grundlos Persona ingrata bei den
Behörden sei. Anlaß für die Beförderung zum Schulrat (Juli 1852) wurde jedoch eine vorübergehende Trübung des Verhältnisses zu Friedrich Wilhelm, der in dem Bemühen um Versöhnung dem schmollenden „Freunde" einen Gefallen tun wollte. „Fortschritte habe ich nicht
gemacht", hatte dieser dem König geschrieben, „E. M. (Euer Majestät) haben in vier Jahren
nicht vermocht, mich zu der Höhe zu erheben, die ein Bormann, Heindorf, v. Gräfe und Stiehl
(d. s. Schul- und Geh. Regierungsräte) einnehmen, ich bin diesen gegenüber ein Untergebener
geblieben... ich leide an keinerlei Illusionen mehr, darum fort mit der Politik, Arbeit für eigene
Rechnung . . . ich bin seit November 48 wie ein Hund verdrängt, beseitigt - ich werde mich in
einigen Jahren emanzipiert und verjüngt haben; mit einer Politik, die Manteuffel. Westphalen
und Raumer führen, gehe ich keinen Schritt weiter fort..." (19. Mai 1852). Einmal zum
Regierungsschulrat ernannt, nimmt Saegert nach dreimonatiger Unterbrechung seine Besuche
bei Friedrich Wilhelm sogleich mit einem fünfstündigen Gespräch wieder auf. Der König irrte
aber in der Meinung, seinen Intimus zufriedengestellt zu haben. Dieser fühlt sich in der
Provinzialbehörde „zwischen oben und unten eingeklemmt" und „als Mädchen für alles"
behandelt. Abermals erhält Raumer Befehl, Saegert anzuhören. Der Minister zaudert und hat
„moralische Bedenken", diesen Mann zum Ministerialrat zu machen. Er wolle ihn nur empfangen, schreibt der Direktor, „wie man auch Zeitungsschreiber, Spione und Schmarotzer empfängt und verbraucht" (24. Dezember 1852). Das trostlose Spiel vom Sommer dieses Jahres
wiederholt sich: Der „Freund" droht dem König seinen Rückzug an und hält vierzehn Tage
darauf seine Bestallung zum General-Inspekteur des Taubstummenwesens in den Händen
(Allerhöchster Erlaß vom 8. Januar 1853).
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Anfang 1856 trennen sich Saegerts Wege von denen Friedrich Wilhelms, doch läßt ihn dieser
noch einmal 1857 als Gutachter in einer diffizilen politischen Angelegenheit durch den Ministerpräsidenten Manteuffel zu sich rufen. Ein Allerhöchster Erlaß vom 28. September 1857
macht Saegert zum Geh. Regierungs- und vortragenden Ministerialrat. Er wird zur Disposition
des Ministerpräsidenten gestellt und von seinen Pflichten als Anstaltsdirektor entbunden. Im
Staatsministerium vermag man ihm aber keine der neuen Würde entsprechende Tätigkeit
zuzuweisen. Sein Bemühen, Oberregierungsrat zu werden, bleibt erfolglos. Jahrelang stöhnt er
noch über die Absichtlichkeit seiner Zurücksetzung. Dem neuen Ministerpräsidenten. Fürst zu
Hohenzollern-Sigmaringen, erbietet er sich, ein Nachrichtenwesen zu organisieren. Der Fürst
lehnt ab als zu kostspielig, eine anderweitige Verwendung im Ministerium komme auch nicht in
Frage, da der Prinzregent sie nicht wünsche (Bescheid an Saegert vom 14. Mai 1859).
Der Verkehr mit dem König war in der Weise vor sich gegangen, daß Saegert ihn - wenigstens
anfänglich -jeden Sonntag in den frühen Nachmittagsstunden aufsuchte, später wurden auch
die Wochentage benutzt. Obendrein sandte der Direktorfast täglich Berichte zum Monarchen,
der sie entweder auf Wunsch des Absenders sogleich vernichtete oder mit Randbemerkungen
versah und umgehend zurückschickte. Die bereits erwähnten Höflinge Schöning und Härder
vermittelten diesen Nachrichtenaustausch, für den man sich ausgerissener Tagebuchblätter
bediente. Als Redner in der 1. Kammer ist Saegert lediglich in Schuldebatten ausführlicher
hervorgetreten, und ob er wirklich in den Jahren 1850 bis 1854, also auch noch nach seinem
Ausscheiden aus dem Parlament, einzelne Abgeordnete in ihren Entscheidungen maßgeblich
beeinflußt hat, wie er sich in seinen Mitteilungen an den König schmeichelt, ist sehr fraglich.
Von den gegensätzlichen Auffassungen im Prinzipiellen zwischen König, Regierung und
Kammern ganz abgesehen, haben die Deputierten in zäher Kleinarbeit an den wichtigen
innerpolitischen Angelegenheiten dieser Jahre (Verfassungsrevision, Herrenhausbildung)
Formulierungen gefunden und Beschlüsse gefaßt, die auch eines Saegerts beflissene Geschäftigkeit hinter den Kulissen nicht mehr im Sinn der Intentionen und Wünsche seines königlichen
Mandanten umzubiegen vermochte.
Saegert ist überzeugt, daß Preußen eine Verfassung benötige, die dem Wiederaufleben der
Revolution vorbeugen und der werbenden Kraft auf die deutschen Mittel- und Kleinstaaten
nicht ermangeln dürfe. In einem Aufsatz „Die Verfassungsfrage" (Berlinische Zeitung, 25. Januar 1849) vermißt Saegert eine tiefgreifende Behandlung sozialer Probleme durch die neue
preußische Verfassung und mit dem Ruf nach Arbeitslosen-, Alters-, Witwen- und Waisenversorgung nimmt er Forderungen voraus, die erst nach Jahren ein großes Anliegen der „sozialen
Demokratie" im innerpolitischen Kampf werden sollten. Den Zensus lehnt er ab, weil unmoralisch und den demokratischen Demagogen Vorschub leistend, denen mit einem „allgemeinen
Wahlrecht" der Wind aus den Segeln genommen werden soll. Andererseits konnte er sich auch
nicht mit jenem noch vom Vereinigten Landtag angenommenen Wahlgesetz vom 8. April 1848
befreunden, das „dem Organismus der Anarchie" entnommen einem jeden das aktive und
passive Wahlrecht ohne Rücksicht auf Besitz, Bildung und Würdigkeit gab. Saegert trug noch
seine eigenen Vorstellungen von der Volksvertretung Preußens mit sich. Die zweite oder
Ständekammer sollte das ganze Volk, geteilt nach Interessen in vier Gruppen mit je einer
gleichen Anzahl von Deputierten, vertreten: Arbeiter, Grundbesitzer, Handel- und Gewerbetreibende, Intelligenz. Jeder Urwähler hätte in seiner ihm zukommenden Steuer- oder Ständeklasse zu wählen gehabt. Saegert sah so die Prinzipien eines allgemeinen Wahlrechts und der
Gleichheit vor dem Gesetz gewahrt. Der preußischen Verfassung „Form und Inhalt dessen
geben, was Deutschland haben und werden soll", war sein Wunsch. Er setzte sich für die
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Carl Wilhelm Saegert (1809-1879),
Direktor der Taubstummenanstalt
in Berlin 1840 bis 1857.
Freund und politischer Berater
Friedrich Wilhelms IV. in den Jahren
1848 bis 1855.
Revision des Grundgesetzes, dann für die Pairie im Sinn des Königs ein. Dessen kräftigen
Widerwillen gegen die Konstitution macht sich Saegert zunehmend zu eigen: Er nennt sie „ein
Werk der Not, eine Konzession an aufgeregte Massen, eine Beschwichtigung für den Augenblick", das revidierte Werk „ein Produkt des Zufalls, der schwankenden Majoritäten die letzte
Entscheidung in die Hand gab" (29. Dezember 1849).
Die Berufung aller Mitglieder der 1. Kammer wollte Friedrich Wilhelm als königliche Prärogative beanspruchen und daher den Verfassungsartikel 65 beseitigt wissen, der die Hälfte der
Kammermitglieder aus Wahlen hervorgehen ließ. Angesichts der Entschiedenheit des Monarchen in dieser Frage enthüllt sich die ganze, mit tönenden Worten verputzte Bedeutungslosigkeit des „zwischenparlamentarischen" Wirkens Saegerts schlagend. Die führenden Köpfe der
Fraktionen handelten ihre Ansichten und Formulierungen ohne ihn aus. Was er erfuhr, wußte
der König bereits, der seinerseits einmal zielklar genug weniger denn sonst der Saegertschen
Meinungen zur Sache bedurfte. Großen Wert legte Friedrich Wilhelm aber auf die Versprechungen des Freundes, Abstimmungserfolge in den Kammern vorzubereiten. Diese Zusagen
konnte Saegert nicht einlösen. Die Kammerdebatten führten zu keinem Ergebnis, und erst die
den Abgeordneten einer neuen Legislaturperiode unterbreitete Regierungsvorlage entschied im
Frühjahr 1853 die künftige Bildung des „Herrenhauses" im Sinn der Forderungen des Königs.
Nach jedem Mißerfolg in den Kammern will sich Saegert zurückziehen. Im Lauf des Jahres
1852 ist das etwa viermal der Fall. Es kommt dabei zu jenen schon oben erwähnten Spannungen
im Verhältnis zum König, der, um den Verlust des Freundes besorgt, diesem die geforderten
Ämter eines Rates und General-Inspekteurs ohne weiteres bewilligt. Ohne seine Erpressungsmanöver hätte Saegert diese Würden nie erhalten. Er wollte aber gar nicht ernstlich den König
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verlassen. Gewiß hat er das bittere Gefühl des Verkannt- und Mißachtetseins von einer
schnöden Welt ausgekostet, aber sein Trotz bäumte sich dagegen auf. Noch sah er seine große
Karriere vor sich und benötigte den König als Mittel zum Zweck - seinem anomal gesteigerten
Geltungsdrang Erfüllung werden zu lassen. Er „bockte" nur und wollte wieder gebeten sein,
eine Erwartung, die ihn auch nicht täuschte.
An einer außenpolitischen Affäre im Zusammenhang mit dem Krimkrieg zerbrach im Herbst
1855 das „Freundschaftsverhältnis" zwischen dem König und Saegert. Als einziger unter allen
Vertrauten Friedrich Wilhelms stützte der Schuldirektor seinen Monarchen, als dieser je einen
Sonderbotschafter in die westlichen Hauptstädte London und Paris senden wollte, um die
Bündnisfrage mit den Westmächten beziehungsweise die preußische Teilnahme an den kommenden Wiener Friedenskonferenzen zu erörtern. Saegert korrespondierte bald auch eifrig mit
den beiden Spezialgesandten, dem Geheimrat Usedom und dem General Wedell, gab ihnen
sogar unter Umgehung des Königs Ratschläge und „rektifizierte" deren Meinungen. In London
wie Paris erwiesen sich die Missionen als völlige Mißerfolge. Nach Berlin zurückgekehrt, gingen
Wedell und Usedom auf die Suche nach dem Schuldigen, den sie in Manteuffel zu finden
glaubten, der ihre Reisen durch Gegeninstruktionen für die offiziellen preußischen Gesandten
von vornherein zur Aussichtslosigkeit verurteilt habe. Saegert, schlau genug, um die Blamage
der preußischen Politik zu erkennen und den drohenden Sturm der Auseinandersetzung
zwischen den Beteiligten ahnend, schickt dem König, der ihn um Auskunft bittet, mehrere
Schreiben mit schwächlichen Rechtfertigungsversuchen und Absagen weiterer Tätigkeit'
„durch die Hintertür". Er unterstellt, daß seinem Reden und Predigen kein Gehör geworden
und deshalb die Karre mit aller Gewalt in den Dreck gefahren sei. Oder er vergleicht sich mit
einem Souffleur, der nicht mehr vermag, als den Helden auf die Beine zu sehen, er aber Saegert - wolle nicht mit seinen Gaben „für solch Schauspielerpack verbraucht werden"
(12. August 1855). Der König rügt den Inhalt und Ton solcher Briefe energisch, versichert
Saegert jedoch weiterhin der Unverbrüchlichkeit seiner Dankbarkeit und Treue, ohne indessen
den Schuldirektor umstimmen zu können. Dieser weist alle Versuche Friedrich Wilhelms, mit
Hilfe von Fragen in politischen Angelegenheiten das alte Verhältnis wiederherzustellen,
schnöde zurück. Selbst die Aussteuerbeihilfe für die Saegertschen Töchter, der alljährlich zu
Weihnachten ein Betrag hinzugefügt wurde, verschmähte deren Vater, allerdings erfolglos. Des
demütigenden Bemühens um die Freundschaft eines Unwürdigen endlich müde, erklärt der
König, hinfort nichts Schriftliches von dem Direktor mehr annehmen zu wollen. Dennoch
schickt er diesem zu Pfingsten 1856 noch ein Porträtbild mit einer Inschrift auf der Rückseite,
die von fortdauernder Hochachtung und Dankbarkeit zeugt.
Der Einfluß Saegerts auf Friedrich Wilhelm pflegte m dem Maß zu wachsen, in dem sich der
Monarch von seinen Ratgebern in Regierung oder Freundeskreis verlassen fühlte und auf sich
selbst gestellt fand. Sobald sich der Monarch mit seinen verschwiegenen Lieblingswünschen im Jahre 1848 gehörte hierzu die schnelle Rückkehr des vor der Revolution nach England
ausgewichenen Prinzen von Preußen, 1854/55 die Entsendung von Spezialbeauftragten in die
westlichen Hauptstädte - einer vorhandenen oder vermuteten Opposition gegenübersah, war
der geschmeidige Scharlatan Saegert der Mann, der dem ängstlichen und unsicheren Monarchen insgeheim den Rücken steifte. So hat der Schuldirektor seinen indirekten Einfluß ausüben
können und namentlich in der Affäre Wedel/Usedom die Schwierigkeiten vergrößern helfen,
die die auf verantwortliche Stellen berufenen Männer ohnehin schon mit ihrem königlichen
Gebieter hatten.
Anschrift des Verfassers: Dr. G. Kutzsch, Königin-Eüsabeth-Straße 12, 1000 Berlin 19
SO
Ztfr Anbringung der linken Sockelplatte
am Denkmal Friedrichs I.
am 19. Mai 1983
Ansprache von Herrn Prof. Dr. Martin Sperlich
Meine Damen und Herren,
nicht nur Bücher, auch Statuen haben ihre Schicksale. Im Ehrenhof des Charlottenburger
Schlosses steht Schlüters Denkmal des Großen Kurfürsten. Der Kurfürst Friedrich III. hatte es
1697 in Auftrag gegeben, 1700 wurde es von Johann Jacobi gegossen und am 12. Juli 1703, dem
Geburtstag des Auftraggebers, der inzwischen als Friedrich I. der erste preußische König
geworden war, auf der Langen Brücke aufgestellt. Diese Brücke hatte Arnold Nering 1691 bis
1694 im Auftrag des Großen Kurfürsten gebaut, ein Jahr, bevor er das Charlottenburger
Schloß zu bauen begann.
Ursprünglich wollte Friedrich III. sein eigenes Standbild von Schlüter dort aufstellen, dann
aber wurde dieser Platz für das Reiterbild gebraucht, und die Statue des Königs wurde recht
nachlässig behandelt. Zunächst war vorgesehen, sie im Hof des Zeughauses aufzustellen, doch
blieb sie vorerst im Gießhaus stehen, man hatte wohl Bedenken, nach der Königskrönung ein
Denkmal mit den kurfürstlichen Insignien zu zeigen.
Nach dem Tod Friedrichs I. läßt der Soldatenkönig Überlegungen anstellen, wie und wo die
Statue aufzustellen sei. Der Gießer Jacobi macht sich anheischig, die königlichen Insignien
nahtlos anzugießen, man erörtert, ob Sklaven oder Tugenden den Sockel schmücken sollten,
wie hoch dieser zu sein habe oder ob man die Figur gar auf eine Säule in der Art der
Trajanssäule stellen soll. Als Ort der Aufstellung werden vorgeschlagen:
1. der innere Schloßplatz
2. der vordere Schloßplatz
3. der Werdersche Markt
Alle anderen Plätze wären entweder zu unregelmäßig wie der Molkenmarkt oder allzu dürftig
bebaut. Diese Überlegungen blieben jedoch ohne Folgen, und die Figur blieb weiter im
Gießhaus abgestellt.
1728 wurde das Denkmal dann aber doch auf dem Molkenmarkt aufgestellt, freilich bloß zur
Dekoration für den Empfang Augusts des Starken. Dem Besucher aus dem prächtigen
Elbflorenz sollte im dürftigen Preußen doch etwas geboten werden, und dem ökonomisch
denkenden Soldatenkönig war die fehlende Königswürde seines Vaters recht gleichgültig. Auf
einem Sockel mit gipsernen Sklaven erfüllte so Schlüters Bildwerk seine Aufgabe als Bühnenbild für die fürstliche Stadtrundfahrt.
Nach der Abreise des Besuchers schreibt von Marwitz an den König: „E. K. M. werden sich
erinnern, daß die Sklaven unter der Statue als auch die Adler und Schilder wegen der Kürze der
Zeit nur von Gips angefertigt. Wan dan solche den Winter über nicht nicht dauern und abfallen
werden, so muß E. K. M. Resulution anheimzustellen... solches alles von Metall gießen zu
lassen. Und weil die jetzige Gipser Arbeit also bezahlet und angefertigt, daß solche künftig zum
Modell des Gießens dienen soll und deshalb angenommen werden müßte, so würde wohl nötig
sein, indessen einen Verschlag von Brettern um gedachte Statue zu setzen."
Der König befiehlt, die Sklaven in Bronze gießen zu lassen, will dann aber andere Begleitfiguren, läßt Entwürfe machen und sucht, weil die ihm nicht gefallen, Kupferstichvorlagen heraus.
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Jahrelang geschieht nichts, die Gipsfiguren werden unansehnlich, werden aber, ehe sie ganz
verrotten, doch noch in Bronze gegossen. Die Aufstellung bleibt unbefriedigend, dem König
fällt eine ökonomische Abhilfe ein. Die Stände der Kurmark sollen die Ehre haben, die Kosten
zu tragen. Er läßt ihnen sagen, „er habe sehr gerne vernommen, daß dero Churmärckische
Landschaft nebst andern guten Gewinsten der Lotterie auch das große Los gewonnen, wozu
(er) derselben gratuliere", und „er trage zu ihr das Vertrauen, sie werde sich eine Freude daraus
machen, das Piedestal von der Statue dero in Gott ruhenden Herrn Vaters M. zu Berlin auf ihre
Kosten machen zu lassen, wogegen er den benötigten Marmor schenken wolle."
Obwohl die Stände von der Lotterie nur Verluste zu verbuchen hatten, gehorchten sie diesem
zarten Wink. Die Entwurfsarbeiten für den Sockel, die Reliefs und die Inschriften ziehen sich
lange hin. 1741 befreit Friedrich der Große, der seinen Großvater nie besonders geschätzt hat,
die Stände von ihrer Verpflichtung. Die Marmorblöcke blieben liegen und wurden 1742 dem
Bildhauer Adam übergeben. Das Denkmal wurde wieder im Gießhaus abgestellt; und als 1760
die Russen Berlin besetzten, nahmen sie es als Kriegsbeute mit, brachten es aber bloß bis nach
Spandau, von wo aus es 1764 nach Berlin ins Zeughaus zurückgebracht wurde. Friedrich der
Große wollte die Figur dort im Hof aufstellen lassen, als aber Boumann einen Kostenanschlag
über 3000 Taler für den Sockel vorlegte, schrieb er an den Rand: „Ich habe die ApothekenRechnung des Baudirektors Boumann erhalten und bin denselben Betrag, da dergleichen
Statue zu versetzen, unmöglich mehr als 120 Taler kosten kann, zu bewilligen nicht gemeint."
Nun stand Schlüters Werk den Rest des Jahrhunderts unter Gerumpel in einem Winkel des
Zeughauses und wäre um ein Haar eingeschmolzen worden. Im Dezember 1800 machte der
Kurator der Akadamie der Künste den Vorschlag, das Werk zur Jahrhundertfeier der Krönung
auf einem provisorisch bronzierten Holzpostament aufzustellen. Die Bronzesklaven, die auch
noch da waren, sollten aber ihrer mäßigen Qualität wegen nicht aufgestellt werden. Später will
Rauch aus ihnen antike Bronzekopien für das Ehrenhoftor im Charlottenburger Schloß gießen
lassen, dann sollen sie für das Denkmal Friedrich Wilhelms I. in Gumbinnen benutzt werden.
Schließlich hat man sie aber doch eingeschmolzen. 1802 wird das Bildwerk endlich in Königsberg in Preußen auf einem von Gottfried Schadow entworfenen Sockel aufgestellt, 1807
entwendeten französische Soldaten das Zepter, das dann 1815 aus dem Metall eines eroberten
französischen Geschützes neu gegossen wurde. Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Bronze
mit Ölfarbe gestrichen und verlor dadurch ihre Patina.
Schadow schreibt 1849 in „Kunstwerke und Kunstansichten": „Das Piedestal ist von Marmor,
die Inschrift wurde von Hofrath Hirth verfaßt und lautet auf der Vorderseite:
Friedrich
Erster
König der Preußen
zu Königsberg gekrönt
d. XVIII. Jänner MDCCI
auf der hinteren Seite:
Die Bildsäule des Ahnherrn
widmete
dem edlen Volk der Preußen
zum immerwährenden Denkmal
gegenseitiger Liebe und Treue
d. I. Jänner MDCCCI
Friedrich Wilhelm III.
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Auf der rechten Seite ist der schwebende Adler mit Zepter und Reichsapfel mit der Unterschrift
„Suum cuique", auf der linken Seite sind Krone und Zepter dargestellt. Die hintere Marmorplatte trägt jetzt einen neuen Text, der in wenigen Zeilen das weitere Schicksal erzählt: „Statue
von Andreas Schlüter. 1698 für den Hof des Zeughauses bestimmt. 1801 von Friedrich Wilhelm III. der Stadt Königsberg i. Pr. geschenkt. Auf einem von Gottfried Schadow entworfenen
Sockel am Schloß aufgestellt und seit 1945 verschollen. Neu gegossen 1972 nach der Form der
Staatlichen Gipsformerei zu Berlin mit tätiger Hilfe von Waldemar Grzimek als Geschenk von
Gerhard Marcks."
Es ist eine lange Geschichte, die hier lapidar verkürzt als wichtigste Mitteilung vier Bildhauernamen enthält: Schlüter - Schadow - Marcks - Grzimek. Ich will in Kürze das Kapitel 2 dieser
Geschichte, dasjenige mit den zwei Namen unserer Zeitgenossen, erzählen: Der Charlottenburger Gerhard Marcks ist vor zwei Jahren mit über neunzig Jahren gestorben, er hat die
Aufstellung dieses Denkmals noch erleben können, wenn auch nicht in persönlicher Mitwirkung. Waldemar Grzimek, der schon als Fünfzehnjähriger unter den Fittichen von Gerhard
Marcks seine erste Skulpturenausstellung hatte, konnte im Jahr der Aufstellung dieses Denkmals in der Charlottenburger Orangerie sein Gesamtwerk ausstellen. Ohne diese beiden stände
diese Skulptur nicht hier.
Wir, die Betreuer der Schlösser und Gärten, wollten seit jeher, d. h., seit wir eigene Haushaltspläne aufstellen, das in Königsberg verlorene Werk in Bronze gießen lassen, weil der Gips der
Gipsformerei allzu gefährdet ist. Dieser Gipsabguß nach dem Original ist nun nach dem
Verlust des Bronzedenkmals als „Original" anzusehen, und wir haben die Pflicht, die so
bewahrte Form dieses großen Kunstwerkes in dauerhaftem Material, d. h. wiederum in Bronze,
aufzuheben. Wir wußten, daß es diesen Gips gab, als es aber ernst wurde, als wir das Geld
hatten, stellte es sich heraus, daß es wieder einmal Fatalitäten mit den Beinen der Hohenzollern
gab: Die uns benachbarte Gipsformerei der Staatlichen Museen hatte nur das Oberteil der
Statue, die Beine fehlten.
Wir gaben also traurig diesen Akt der Denkmalpflege auf, bis eines Tages Waldemar Grzimek
ins Schloß kam und uns mit Eindringlichkeit beschwor, Friedrich I. in Bronze gießen zu lassen,
weil doch der Gips eben nicht ewig hält. Als er erfuhr, warum wir das noch nicht getan hätten,
wurde er sogleich tätig und konnte, freizügiger als wir, feststellen, daß in der anderen Gipsformerei dieser Stadt - wir haben hier ja alles doppelt - das Modell vollständig war.
Vor einem Jahrzehnt gab es nun für uns noch keine Möglichkeit, diese Zwillingssituation zu
Rate zu ziehen, wenn man ein Diener des Senats ist - daran glaubten beide Hälften der
Deutschen mit großer Festigkeit. Künstler sind freie Menschen und können sich den Luxus
leisten, ihrem Ingenium und ihrem Verstand zu folgen. Drüben wollte man von Gerhard
Marcks eine große Figur haben. Marcks sagte: „Ich will dafür kein Honorar, sondern nur, daß
ihr Schlüters Standbild in Bronze gießt." Durch diese so noble wie einfache Transaktion steht
nun dieses Werk als das Werk von vier deutschen Bildhauern vor uns.
Fritz Becker, vielfach bewährt beim Wiederaufbau des Charlottenburger Schlosses, hat die
bildhauerischen Arbeiten des Sockels und die Schrift geschaffen. Der Sockel wurde nach Fotos
und überlieferten Maßangaben von dem Architekturhistoriker Hartwig Schmidt mit Scharfsinn und analytischem Verstand zeichnerisch rekonstruiert. Leider gab es nur Fotos von vorn
und von rechts, die linke Reliefplatte, nach Schadows Beschreibung mit Krone und Zepter
geziert, wurde von keinem Foto überliefert. Denkmalpflegerische Gewissenhaftigkeit erlaubt
es uns nicht, ein solches Emblem frei zu erfinden. Wir ließen den Marmorbossen roh stehen, um
ihn bearbeiten zu können; wenn nun, da dieses Problem allen sichtbar ist, ein Königsberger
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Landsmann in seinem Fotoalbum einen Schnappschuß von der linken Seite findet, wird auch
dieses Relief noch entstehen. So sagte ich vor vier Jahren.
Wir wußten natürlich, daß Krone und Zepter auf dieser Reliefplatte dargestellt waren, aber wir
sind Denkmalpfleger und machen nichts als Rekonstruktion, was nicht klar überliefert und
belegt ist. Für uns gilt die Maxime des Dichters, die von Rilke stammt: „Er war ein Dichter, und
er haßte das Ungenaue."
Es schien uns kurios, daß alle die vielen hundert Fotos dieses Denkmals immer nur von vorn
oder von halb rechts aufgenommen waren, niemals von der linken Seite, aber wir gaben die
Hoffnung nicht auf, daß irgendeinmal doch noch ein solches Foto auftauchen konnte. Dazu
muß man allen Leuten davon erzählen, und unsere Hoffnung trog nicht. Im Jahr 1982 schickte
uns Herr Ulrich Albinus von der Stadtgemeinschaft Königsberg eine alte kolorierte Postkarte
von 1901, die diese fehlende Platte darstellte, freilich in einer extremen Schrägansicht, aber doch
genau genug, um die Anordnung von Zepter und Krone genau zu erkennen. Wie diese im
einzelnen aussehen, wußten wir natürlich nicht nur von alten Darstellungen seit dem Beginn
des 18. Jahrhunderts, sondern auch von den Originalen, die wir hier im Schloß aufbewahren.
Ich darf daher der Stadtgemeinschaft Königsberg in der Landsmannschaft Ostpreußen aus der
Patenstadt Duisburg und der Prussia-Gesellschaft herzlich danken und ihre Vertreter begrüßen. Leider hat der Stadtvorsitzende der Stadtgemeinschaft Königsberg zu dieser Veranstaltung nicht kommen können, der insofern eine besondere Beziehung zu diesem Denkmal
besitzt, als er in seinem Büro die Porträtzeichnung eines Verwandten von Gerhard Marcks zu
hängen hat. Fritz Becker, der auch das gegenüberliegende Relief und die Schrift geschaffen hat,
hat mit denkmalpflegerischem Engagement, das vielfach beim Wiederaufbau der Berliner
Schlösser bewährt ist, auch dieses Marmorrelief geschaffen.
Nun steht also Schlüters Skulptur auf Schadows Sockel, beide auf das genaueste und redlichste
rekonstruiert, am angemessenen Ort am Schloß Charlottenburg, dessen Bauherr sich 1701 in
Königsberg krönen ließ. Beide Städte beherbergten sein Denkmal. Wir sind glücklich, daß eine
Gemeinschaftsarbeit so vielfältiger Art nun zum Abschluß gekommen ist und ein Kunstwerk
höchsten Ranges dank dem tätigen Interesse so vieler Bürger wieder erstehen konnte, mit allen
historischen Bezügen, die wir, wenn wir uns selbst verstehen wollen, nicht vergessen dürfen.
Ich freue mich, daß Herr Ulrich Albinus von der Prussia-Gesellschaft, dem das Verdienst
gebührt, die Unterlagen für die Wiederherstellung der Reliefplatte beigebracht zu haben, daß
Frau Dr. Gundermann und Herr Dr. Krüger bei dieser Enthüllung anwesend sind, und nicht
zuletzt danke ich unserem bewährten Freund, dem Bildhauer Fritz Becker, der das historische
Vorbild mit künstlerischer Sensibilität und denkmalpflegerischer Gewissenhaftigkeit in Marmor geschlagen hat.
Nachrichten
Feier des 300. Gründungstages des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums
1681 hatte der Große Kurfürst auf der Spreeinsel, dem Friedrichs-Werder, das Friedrichs-Werdersche
Gymnasium gegründet, das seit 1908 in der Bochumer Straße in Moabit ansässig war. 1935 wurden dort die
letzten Sextaner eingeschult, die Lateinklassen an der Friedrich-Nietzsche-Schule in Hermsdorf, später
Georg-Herwegh-Oberschule, wurden unter der Bezeichnung Friedrichs-Werdersches Gymnasium bis
1951 weitergeführt, danach erlosch der Name.
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Paul Sohst, sowohl Absolvent als auch Lehrer am Friedrichs-Werderschen Gymnasium (FWG), hatte den
Gedanken, des 300. Gründungstages zu gedenken. Er wandte sich an den Schriftführer des Vereins für die
Geschichte Berlins, Dr. H. G. Schultze-Berndt, der, gestützt auf einen Kreis ehemaliger FWGer, die
organisatorischen Vorbereitungen für eine Feier in die Hand nahm, die am 23. Oktober 1982 in der
Georg-Herwegh-Oberschule stattfand. Es mögen an die 200 Festgäste gewesen sein, die sich in der Aula
dieses Gymnasiums einfanden, dessen Oberstudiendirektor H. Völker ein Geleitwort sprach. Für die
ehemaligen Schüler des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums übermittelte Dr. K. Voigt die Grüße, für
den Bezirk Reinickendorf dessen Bürgermeister G. Birghan, nachdem der Bezirksbürgermeister
H. M. Quell aus Tiergarten die ehemaligen FWGer in ihrem früheren Schulgebäude in der Bochumer
Straße willkommen geheißen hatte. Frau Dr. Hanna-Renate Launen, Senatorin für Schulwesen, Jugend
und Sport, nutzte die Gelegenheit zu grundlegenden Ausführungen über die gerade vom Friedrichs-Werderschen Gymnasium mitgetragene fortschrittliche Pädagogik im Preußen des vergangenen Jahrhunderts.
„300 Jahre Friedrichs-Werdersches Gymnasium" war das Thema des Festvortrages von Dr. F. Escher
(Freie Universität Berlin), den dieser zugleich als Vorstandsmitglied des Vereins für die Geschichte Berlins
hielt. Dr. H. G. Schultze-Berndt richtete das Schlußwort an die alten und jungen Schüler, sprach ihnen den
Dank aus und äußerte seine Freude über die vielen Zeichen der Verbundenheit, die in Form von Briefen,
aber auch in Gestalt der Anwesenheit ehemaliger jüdischer Mitschüler aus den USA, aus Israel und
Großbritannien zum Ausdruck gekommen war.
Das Orchester der Georg-Herwegh-Oberschule unter Leitung von Oberstudienrat F. Klöck und Frau
Studiendirektorin A. Zirr umrahmte den Festakt in schwungvoller Weise.
Ein Begrüßungsabend im Hotel Hamburg war der Feierstunde vorausgegangen, ein gemeinsamer Besuch
der Deutschen Oper Berlin schloß die Folge dieses Festes, das herzbewegende Erlebnisse vermittelte, vielen
Schülern das Wiedersehen nach Jahrzehnten ermöglichte und etwas vom guten Geist des FriedrichsWerderschen Gymnasiums als eines der ältesten Gymnasien Berlins spüren ließ. H. G. Schultze-Berndt
Geschichtsmuseen in der DDR
Die 102 Geschichtsmuseen in der DDR werden jährlich von 6,4 Mio. Interessenten besucht. Teils wird die
deutsche Geschichte insgesamt dargestellt, teils werden nur einzelne Epochen behandelt oder Sondergebiete wie die Agrargeschichte, Militärhistorie usw. aufgegriffen. Besonders zahlreiche Geschichtsmuseen finden sich in den Bezirken Dresden, Erfurt, Halle, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und Magdeburg.
Jede Bezirksstadt der DDR verfügt heute über ein historisches Museum. Nach 1945 wurden nach dem
Verständnis der DDR wichtige Geschichtsmuseen gegründet. Zu ihnen gehören das Museum für Deutsche
Geschichte in Berlin, das Georgi-Dimitroff-Museum in Leipzig und die zu den historischen Museen
gezählten nationalen Mahn- und Gedenkstätten in Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen. Mehr
als die Hälfte der Museen der DDR sind Regional- und Heimatmuseen. Die Geschichtsmuseen werden
von 83 Jugendclubs und Arbeitsgemeinschaften mit mehr als 2200 Mitgliedern betreut. Etwa 40 % der
Ausstellungsbesucher sind Jugendliche, wie sich auch die von mehreren Museen getragenen „Museumstage der Jugend" bewährt haben.
SchB.
„Fontane-Kreis" in Fulda
Mit dem Ziel, Berliner Geschichte lebendig zu erhalten, hat sich in Fulda ein „Fontane-Kreis" konstituiert.
Diesergeht auf Arwed Felgen, Neisser Straße 2,6415 Petersberg, zurück, der in einem Oberstudienrat des
Dom-Gymnasiums, einem gebürtigen Spandauer, einen tatkräftigen Mitstreiter gefunden hat. In einer
Filiale der Commerzbank soll Berliner Geschichte in Karten und Bildern der Öffentlichkeit nahegebracht
werden. Außerdem sollen in den Volkshochschulen des Landkreises und der Stadt Fulda Seminare über
die Geschichte der ehemaligen Reichshauptstadt veranstaltet werden.
SchB.
Heimatgeschichtliche Sammlung in Erkner
Seit dem 7. April 1983 ist die kleine „Heimatgeschichtliche Sammlung" in Erkner wieder zugänglich, die im
strohgedeckten „Kolonistenhaus" aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, dem ältesten Haus des Ortes,
untergebracht ist. Sie zeigt Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände sowie Fotos und Dokumente zur
91
I
Ortsgeschichte und ist donnerstags und sonntags von 14.00 bis 17.00 Uhr geöffnet. Unter anderem hatten
die Besitzer des unter Denkmalschutz stehenden Hauses Gegenstände eines Schumachers, eine Kaufmannswaage, ein Butterfaß und einen Dreschflegel zur Verfügung gestellt. Die Chronik des mehr als 400
Jahre alten Ortes vor den Toren Berlins beginnt mit der ersten urkundlichen Erwähnung von „im
Arckenow" von 1579. Die Ausstellung untersteht dem Heimatgeschichtlichen Kabinett Köpenick, das
auch Führungen und ortsgeschichtliche Vorträge vermittelt (Telefon 6 56 2123).
SchB.
Zur Phonothek in der Berliner Stadtbibliothek
Die Berliner Stadtbibliothek in der Breiten Straße im Bezirk Mitte sammelt seit 1955 Schallplatten, die seit
1966 auch öffentlich ausgeliehen werden. Die Phonothek verfügt mittlerweile über etwa 60 000 Schallplatten, darunter mehr als 200 Phonographenwalzen vom Ende des 19. Jahrhunderts. 1973 wurde der
Phonothek eine Linguathek eingegliedert, in der 160 verschiedene Kurse in 36 Sprachen vermittelt werden
können. Seit 1975 werden auch Tonbandkassetten ausgeliehen, deren Bestände sich auf 3000 Stück
belaufen. Seit dem Frühjahr 1983 stellen Dr. Heinz Werner, Direktor der Berliner Stadtbibliothek, und Dr.
Werner Goldhan, Direktor der Musikabteilung der Deutschen Staatsbibliothek, in der Reihe „da capo"
des „Berliner Schallplattentheaters" große Sänger und Instrumentalisten aus Gegenwart und Vergangenheit vor.
SchB.
Das Historische Archiv der Technischen Fachhochschule Berlin
Das Historische Archiv der Technischen Fachhochschule (TFH) wurde 1975 eingerichtet. Es arbeitet mit
folgenden Aufgaben:
a) Zentrale Archivierung von Text- und Bildmaterial, Tonträgern und Schaustücken in Zusammenhang
mit den Vorläufereinrichtungen der TFH, nämlich den ehemaligen Ingenieurschulen bzw. -akademien
Bauwesen (Schöneberg und Neukölln), Beuth, Gauß und Gartenbau;
b) Erarbeitung einer historischen Gesamtdarstellung dieser Ingenieurschulen;
c) Archivierung bezüglich der TFH seit Gründung;
d) Öffentlichkeitsarbeit
e) Aufbau einer Dokumentation durch Sammlung von Schrift- und Bildgut über sämtliche im Stadtgebiet des ehemaligen Groß-Berlin ansässig gewesenen bzw. noch vorhandenen Bildungseinrichtungen
technischer Prägung (mit Ausnahme der TH/TU Berlin und des Berufsschulwesens). Hiermit wird der
Grundstock für eine umfassende Historiographie des technischen Bildungswesens in Berlin über einen
Zeitraum von drei Jahrhunderte geschaffen.
Archiv- und Sammlungsbestand
I. Schularchive (19. und 20. Jahrhundert): Archiv der 1. Handwerkerschule, Bau-Archive Kurfürstenstraße, Leinestraße und Vereinigte Bauschulen, Beuth-Archiv, Gauß-Archiv, Gartenbau-Archiv und
TFH-Archiv
II. Ingenieurarchiv (20. Jahrhundert)
III. Schulsammlungen (18. bis 20. Jahrhundert): Akademien, Handwerkerschulen, Gewerbeschulen,
Fachschulen, Meisterschulen, Bauschulen, Ingenieurschulen (West- und Ost-Berlin) und Fachhochschulen
IV Sonstige Sammlungen: Lehrbücher, Dia-Sammlung „Entwicklung der Bautechnik" (inkl. Baugeschichte Berlins), Bildmappen für Architektur und Gartenbau; Sammlung biographischen Materials über die mit den Vorläufereinrichtungen der TFH verbundenen Leitfiguren C. P. W. Beuth,
C. F. Gauß, F. Grashof und P. J. Lenn6
Die Schularchive und -Sammlungen umfassen z. Z. 75 Institutionen.
Leitung: Professor Dipl.-Ing. Dipl.-Kaufmann Hans J. Wedefeld. Sprechzeit: Während des Semesters:
dienstags 9.30 Uhr bis 12.00 Uhr.
Anschrift: Technische Fachhochschule Berlin, Historisches Archiv, Luxemburger Straße 10, 1000 Berlin 65, Haus Grashof, Raum 802. Telefon 45 04-4 20 oder 45 04-219/335.
SchB.
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Nicolai-Zimmer im Märkischen Museum wiedereröffnet
Zum 250. Geburtstag des Berliner Schriftstellers, Kritikers, Buchhändlers und Verlegers Christoph Friedrich Nicolai hat das Märkische Museum dessen Zimmer mit einer neuen Ausstellung wiedereröffnet.
Originalmöbel aus seinem ehemaligen Wohnhaus in der Brüderstraße, Buchausgaben, Gemälde und
Graphiken erinnern an Leben und Werk des bedeutenden Berliner Aufklärers.
SchB.
Studienfahrt nach Göttingen
Die diesjährige Exkursion führt vom 16. bis 18. September 1983 nach Göttingen. Es ist das folgende
Programm vorgesehen:
Freitag, 16. September 1983
6.30 Uhr
Abfahrt an der Berliner Bank, Hardenbergstraße
12.00 Uhr
Ankunft in Göttingen, gemeinsames Mittagessen
13.00 Uhr
Ankunft bei Sartorius, Information über das Unternehmen (Dr. Chr. Sartorius)
13.45 Uhr
Betriebsbesichtigung (Dr. Chr. Sartorius, E. Knothe, Dr. Schmeisser)
15.30 Uhr
Kaffeepause bei Sartorius
19.30 Uhr
Gemeinsames Abendessen
Sonnabend, 17. September 1983
9.00 Uhr
Städtisches Museum, Diavortrag von Kustos Dr. J.-U. Brinkmann, anschließend
Gang durch die Stadtgeschichtliche Abteilung (Museumsdirektor Dr. Schmeling,
Herr Schütte, M.A., Dr. Brinkmann)
Anschließend Stadtrundgang unter Führung von Damen und Herren des
Städtischen Museums bzw. des Göttinger Geschichtsvereins
11.30 Uhr
Empfang durch Oberbürgermeister Professor Dr. Rinck im Alten Rathaus
12.30 Uhr
Mittagessen
14.30 Uhr
Besichtigung von Muthaus und Burg Hardegsen (Archivar L. Simon)
und des Geigenmuseums (Führung durch dessen Besitzer Dr. Eilermeier)
Anschließend Kaffeetafel in der Burgschenke
17.00 Uhr
Besichtigung der 850 Jahre alten romanischen Klosterkirche im Töpferdorf Fredelsloh
18.00 Uhr
Besuch der Burg Plesse, Führung Dr. Last bzw. Gemeindedirektor Lies,
Geschäftsführer der Freunde der Burg Plesse e.V.
Anschließend Abendessen im Rittersaal der Burg Plesse
Sonntag, 18. September 1983
9.30 Uhr
Aufbruch
10.00 Uhr
Besuch des Grenzdurchgangslagers Friedland mit Vortrag über Geschichte,
Aufgaben und Bedeutung des Lagers
11.00 Uhr
Europäisches Brotmuseum, Mollenfelde
12.30 Uhr
Schloß Berlepsch mit gemeinsamem Mittagessen
15.30 Uhr
Kaffeepause
ca. 21.00 Uhr Rückkehr
Änderungen bleiben vorbehalten, die noch offenen Lokalitäten für die verschiedenen gemeinsamen
Mahlzeiten werden rechtzeitig mitgeteilt. Die Übernachtung ist im Hotel Rennschuh, Kasseler Landstraße 93,3400 Göttingen, vorgesehen; sämtliche Zimmer verfügen über Dusche und WC, der Bettenpreis
beträgt 40 DM einschließlich Frühstück pro Nacht.
Die Sartorius GmbH verfügt u. a. über die Geschäftsbereiche Präzisions- und Analysenwaagen, Mikrobiologische Laborfiltration, Klinische Chemie und Medizintechnik und ist ein für die Universitätsstadt
Göttingen repräsentatives Unternehmen.
Für das Abendessen auf der Burg Plesse sind wahlweise vorgesehen: Smoki-Matjes (9,50 DM). Plessefilet
bzw. Herrenplatte (jeweils zwei Schweinefilets, 10,50 DM).
Anmeldungen sind formlos bis zum S. August 1983 an Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000
Berlin 65, zu richten, wobei dieser Termin auf die Rückkehrer aus den Schulferien Rücksicht nimmt. Der
Teilnehmerbeitrag beläuft sich auf 81,50 DM je Person, er schließt die Omnibusfahrt, die Ausflüge, alle
Besichtigungen, Führungen und Vorträge ein.
SchB.
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Buchbesprechungen
Heinz Knobloch, Herr Moses in Berlin. Ein Menschenfreund in Preußen. Das Leben des Moses Mendelssohn. - Lizenzausgabe im „Arsenal" 1982, ursprünglich erschienen im Verlag „Der Morgen", Berlin (Ost),
1981, 449 Seiten, mit einem Personenregister, Literaturangaben, zahlreichen Abbildungen und einem
Abbildungsverzeichnis.
Die Darstellung ist ein in der DDR modernes Buch, indem es auf eine geschlossene Biographie verzichtet
und dafür in der Manier der Aneinanderreihung von Mosaiksteinen zwischen Gegebenheiten der Gegenwart und Vergangenheit hin und her springt. Der Vf. läßt den Leser an der Entstehung seines subjektiv
erfaßten Mendelssohn-Bildes teilnehmen. Dazu führt er ihn durch die noch sichtbaren Reste einer
Mendelssohn-Vergangenheit im friderizianischen Preußen in Alt-Berlin. Der Titel „Herr Moses in Berlin"
ist mit Bedacht so formuliert und deutet auf eine besondere Erkenntnismethode: Der Vf. will auf der
Spurensuche im trümmerhaften Ost-Berlin einen solchen Mendelssohn vergegenwärtigen, wie er dem
heutigen sozialistischen Bewußtsein dort erscheint. Dies involviert eine parteiliche Betrachtungsweise, wie
sie der Diamat als einzig wahrer Standpunkt beansprucht, von dem aus Vergangenheit überhaupt
betrachtet werden darf. In der Absicht, jeder Gedenktafelverehrung aus dem Weg zu gehen und im
Erzählen eine Gestalt zu schaffen, die jeder Leser frisch ergreifen kann, geht der Vf. etwas leichtfertig mit
der historischen Wahrheit um, obschon er ein ausgiebiges und weitverzweigtes Quellenstudium (auch in
West-Berlin) betreibt und bisher wenig bekannte Funde - z. B. im Gleim-Haus in Halberstadt - auftut.
Es geht dem Vf. nicht um das Modell zum „Nathan", sondern um eine lautere geistige Figur, die aus einer
gesellschaftlichen Außenseiterposition als nur geduldeter Jude im absolutistischen Staat durch gewaltfreie
Selbstbehauptung und unbedingte Souveränität eine anerkannte Autorität wird, an der nie jemand vorbei
kann und die eigentlich ihren Platz in der Akademie der Wissenschaften hätte einnehmen sollen. (Die
Ablehnung Friedrichs des Großen, seine Berufung dorthin zu bestätigen, trug ihm seine Todeskrankheit
ein.) Die sprunghafte Darstellung macht das Buch schwer lesbar, zumal für jugendliche Leser, die sich in
der historischen Topographie des alten Berlin nicht auskennen. Es fordert auch die Geduld, die Einseitigkeit hinzunehmen, mit der das friderizianische Staatssystem als das „sklavischste in ganz Europa"
abgewertet wird. Der Vf. spricht stets nur von „Eff Zwei" und bezichtigt den König der sarkastischen
Launen und hinterhältigen Praktiken, deutsche Philosophie zu erniedrigen.
Der Leser erhält aber ein genaueres Bild von Moses Mendelssohns geistiger Wirksamkeit, als es die
gängigen Kenntnisse geben. Mendelssohn war nicht nur der Lessing- und Nicolai-Freund, sondern als
außergewöhnlicher Autodidakt ein Reformator des orthodoxen Judentums seiner Zeit und ein Bildner
seiner eignen jüdischen „Nation", die er an die deutsche Sprache und die Dichtung der Aufklärung
heranführte. Der Vf. zitiert nicht unberechtigt Heines Hinweis auf die Ähnlichkeit seiner Bedeutung mit
der Luthers. Zum ersten Mal seit dem Zeitalter der Kreuzzüge befruchteten jüdischer und deutscher Geist
einander. Und wie im 13. Jahrhundert entstand als Frucht „Menschenfreundlichkeit", das ist Toleranz aus
Vernunft und als Herzensangelegenheit des Gebildeten und der Fürsten. Als ein sozial Geachteter und als
unbestechlicher Richter von umfassender philosophischer Bildung nimmt „Herr Moses", wie man ihn
nennt, schließlich seinen Platz im aufgeklärten Berlin ein. Durch seine Söhne und den ihm befreundeten
Arzt Dr. Markus Herz leitet er über in das Zeitalter der Berliner Salons. Allerdings hat er - befangen in der
Philosophie seiner Jugend - weder Goethe noch das Zeitalter der Romantik verstanden. Hier liegen seine
Grenzen.
Das Menschenfreundsein hat der Vf. überzeugend geschildert; unbefriedigend aber bleibt die Frage
beantwortet, was Aufklärung in Preußen unter Lessing und Nicolai gewesen sei; denn diese Suche verstellt
sich der Vf. mit seiner Einseitigkeit dem Phänomen Preußen gegenüber. Verdienstlich ist die Würdigung
seiner „Phädon"-Übersetzung und der Übertragung der Psalmen sowie seiner Selbstdarstellung des
Judentums. - Zwischen den Zeilen kann der aufmerksame Leser Seitenhiebe gegen das ideologische
System heraushören, unter dem die Untersuchung entstanden ist. Gerade wegen dieser Besonderheiten ist
es ein lesenswertes Buch.
Christiane Knop
Gabriele und Helmut Nothhelfer: Zwischenräume. Menschen in Berlin 1973-1982. Mit einem Text von
Michael Zimmermann. Herausgegeben von Ann und Jürgen Wilde. DuMont Buchverlag Köln 1983,
Leinen, 160 Seiten, 58 DM.
Nicht der einzelne Mensch, sondern Menschen, die sozusagen unter die Leute gegangen sind, werden von
Gabriele und Helmut Nothhelfer mit ihren Fotos eingefangen. Dennoch sind dies keine Schnappschüsse
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und auch keine Porträts, sondern Bilder von Menschen, die ihre Aufmerksamkeit anderen zuwenden oder
einfach vor sich hinträumen. „Diesem Augenblick des Innehaltens verhelfen sie (die Nothhelfers) mit ihren
Fotos zur Dauer." Dies ist dem Vorwort von M. Zimmermann zu entnehmen, der auch darauf hinweist,
daß auf den Bildern die eigentlichen Berlin-Symbole fehlen, daß man Berlin aber auf den zweiten Blick an
dem Altersgegensatz zwischen der Großvätergeneration und den Jugendlichen als der Hauptmasse der
Bevölkerung Berlins erkennt. „Aber Berlin ist vor allem eine Großstadt, die im Unterschied zu manchen
westdeutschen Großstädten eine ,gute Gesellschaft', zu der man gehört oder nicht gehört, mit bestimmten
Standards, Verhaltensweisen und äußeren Merkmalen nicht hat." Im übrigen hat der mehr in historischen
Kategorien denkende Rezensent nie gewußt, daß man Fotografieren auch so philosophisch betrachten
kann.
Die Gesichter erscheinen in der Tat merkwürdig abweisend, träumerisch oder verkniffen, zuweilen gar
entseelt, obwohl M. Zimmermann dies als „das bürgerliche Prinzip der distanzierten Würde" deutet. Am
freundlichsten kommt einem fast das einzige Foto vor, das nur die Rückenpartie eines Mädchens zeigt
(Nr. 63), sonst ist alles en face aufgenommen worden. EinrichtigesLachen setzt allerdings den Schlußpunkt unter das Buch. Es stammt (im Gegensatz zu dieser Fotografie) von Gabriele Nothhelfer selbst
(S. 155).
Die Nothhelfers holen sich erst nach der „heimlich" entstandenen Aufnahme das Einverständnis ihrer
Objekte ein. Die Künstler bitten darum, nicht ihnen die Schuld zu geben, wenn an ihren Bildern „ein
Moment von Traurigkeit" zu spüren ist. Die beste Kennzeichnung ihrer hier sichtbar gewordenen Kunst
stammt von den Nothhelfers selbst: „Die Zwischenräume, die uns von den anderen trennen, sind
durchsichtig, aber inwieweit sind sie durchlässig? Diese Frage ist oft das eigentliche Thema unserer
Fotografien. In der Menge versucht der einzelne, Distanz zu wahren. Niemand möchte etwas von sich
preisgeben oder verletzlich wirken. Unangefochten will jeder seiner Wege gehen. Daraus erwächst die
trennende Kälte, die besonders in den Großstädten, so auch in Berlin, spürbar ist."
H. G. Schultze-Berndt
Georg Holmsten: Deutschland Juli 1944. Soldaten, Zivilisten, Widerstandskämpfer. Droste Verlag Düsseldorf, 1982, 160 Seiten, 153 Abbildungen, 48 DM.
Unser Mitglied G. Holmsten, aus vielen auch historischen Büchern und dank seiner sechs Baedeker
Berliner Bezirke bekannt, legt hier sozusagen den Teil seiner Autobiographie vor, der sich mit seiner Rolle
beim Widerstand als designierter Leiter des Deutschen Nachrichtenbüros (DNB) befaßt. Er schildert die
Geschichte des Bendlerblocks und führt auch in die Militärhistorie der Weimarer Republik ein (wem ist es
heute ohne weiteres geläufig, daß das Kabinett Wilhelm Marx wegen seiner Zusammenarbeit mit der
Roten Armee gestürzt wurde?). Der Autor widersteht dem Versuch, sich zu heroisieren, und legt dar, wie
er mit Hilfe seiner Graue-Maus-Theorie den Schergen bei allen Verhören widerstehen konnte (hier setzte
für ihn eigentlich erst der „Widerstand" ein).
Zwischengeschaltete Bildseiten dienen der Illustration der allgemeinen Lage im Sommer 1944. Die Bilder
sind gut gewählt, so daß man sich manchmal einen Nachweis wünschte. Ein Irrtum ist zu korrigieren: auf
Bild 133 beglückwünscht nicht Reichsjugendführer B. von Schirach Hitler zum überstandenen Attentat; in
dieser Funktion war er schon längst von A. Axmann und dieser von H. Lauterbacher abgelöst worden, um
den es sich wohl handelt. Eine Chronik der Tage vom 1. Juni bis 31. August 1944 beschließt dieses Buch,
das die Geschichte des 20. Juli mit derjenigen eines Mannes verknüpft, dem beim Gelingen eine wichtige
Rolle zugekommen wäre,
H. G. Schultze-Berndt
Hildegard Knef: So nicht. Albrecht Knaus Verlag, Hamburg. 320 Seiten, Leinen, 34 DM.
In diesem Buch - einem Gemisch aus Autobiographie und Roman - beschreibt Hildegard Knef insbesondere das Schicksal ihres Bruders, seinen Kampf ums Weiterleben nach einem Mordanschlag, seinen
Durchhaltewillen, getreu seiner Parole: So nicht. Doch auch für sie selbst gilt dies, auch sie wird gebeutelt
von immer neuen Schicksalsschlägen, die sie allerdings geradezu magisch anzuziehen scheint, sich aber nie
unterkriegen läßt. Das Buch liest sich wie ein Kriminalroman, doch am Ende muß man einem Ausspruch
ihres Bruders zustimmen, der einmal meint: er wie seine Schwester könnten weder mit Geld noch mit
Menschen umgehen.
Irmtraut Köhler
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Veranstaltungen im III. Quartal 1983
1. Sonntag, den 17. Juli 1983,10.30 Uhr: „Felder, Wiesen, Wald, Wasser und ländliche Bauten eine sommerliche Begehung einer märkischen Landschaft am Rande der Großstadt". Endpunkt Dorfaue Heiligensee. Leitung: Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt Ruppiner
Chaussee 377, am Meilenstein. Fahrverbindungen: S-Bahnhof Heiligensee, Bus 14, Haltestelle Bahnhof Heiligensee, Hennigsdorf er Straße.
2. Dienstag, den 19. Juli 1983,14.30 Uhr: Sommerausflug und Streifzug durch die Geschichte
der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe mit Besichtigung. Treffpunkt vor dem Hauptpoital. Anschließend Gelegenheit zum Kaffeetrinken im Blockhaus.
Sommerpause im Monat August.
3. Freitag, den 2. September 1983,15.00 Uhr: „Rund um die Dorfaue Marienfelde". Leitung:
Herr Günter Wollschlaeger. Treffpunkt vor dem Westportal der Dorfkirche.
4. Studienfahrt nach Göttingen vom 16. bis 18. September 1983. Leitung: Herr Dr. Hans
Günter Schultze-Berndt. Programm und Hinweise auf der letzten Seite.
Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gaste herzlich willkommen. Die Bibliothek
ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Vorträgen Beisammensein und
Diskussion im Ratskeller.
Die Mitglieder, die Interesse daran haben, ihre MITTEILUNGEN binden zu lassen, mögen sich
bitte in der Bibliothek bei Herrn Bunsas melden.
Im II. Vierteljahr 1983
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Christian Bornemann, Beamter
Suchlandstraße 11, 1000 Berlin 41
Bernd Heibel, Beamter
Alt-Moabit 84 b, 1000 Berlin 21
Charlotte Pangels, Schriftstellerin
Kanarische Inseln/Spanien,
La Matanza de Acentejo, Galle Limeras 46
Anneliese Stade
Maxhofstraße 9 a, München 71
(Gründahl)
Hans-Joachim Wollschläger, Dipl.-Ing.
Ernst-Lemmer-Ring 161, 1000 Berlin 37
(Grünert)
Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19.
Geschäftsstelle: Frau Lieselotte Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 323 2835;
vom Vorstand beauftragt.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Bemdt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeister: Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791.
Konten des Vereins: Postscheckamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30 22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
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{*o"!'!.-• <ü Ar* R^r'inpr S«i>!srveT.o-»fef»fc
^MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
79. Jahrgang
Oktober 1983
Heft 4
Märkische Heide
Text und Mel.: Gustav Büchsenschütz
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wäl - der! Heil dir meinBrandenbur-ger Land! Hoch Land!
2. Uralte Eichen, dunkler Buchenhain, l-'grrünende Birken umrahmen den Wiesenrain,:! Steig« hoch...
3. Bauern und Bürger vom märkischen Geschlecht !•' hielten stets zur Heimat
in märkischer Treue fest.-! Steige hoch...
4.„Hie Brandenburg- allwege!" sei unser Losungswort, h der Heimat die
Treue in allen Zeiten fort..-! Steige hoch,..
Mit freundlicher Genehmigung des Robect-Rühie-Vetlages,
München
/Sechzig Jahre „Märkische Heide"
Das Lied und sein Schöpfer - Ein Kapitel Zeitgeschichte
C/ Von Otto Uhlitz
Das Heimatlied und sein Schöpfer
Märkische Heide, märkischer Sand
sind des Märkers Freude, sind sein Heimatland.
Steige hoch, du roter Adler,
hoch über Sumpf und Sand,
hoch über dunkle Kiefernwälder!
Heil dir, mein Brandenburger Land!
So lautet die erste Strophe des volkstümlichen Liedes, das einmal eines der am meisten
gesungenen Lieder in Deutschland und so etwas wie eine „Nationalhymne" der Brandenburger
war'. Ich verbinde mit diesem Lied vor allem die Erinnerung an meine Miiitärzeit. Wir haben
das Lied oft und gern gesungen, freiwillig und ohne Zwang, denn was gesungen wurde,
bestimmte keine Heeresdienstvorschrift, kein Offizier und Unteroffizier, sondern - wenn der
Wunsch, ein Lied zu singen, geäußert wurde oder das Kommando „Ein Lied" kam - der rechte
Flügelmann des ersten Gliedes der Marschkolonne. In dieser Eigenschaft habe ich mich oft
befunden. Mir gefiel die Melodie. Der Text sprach mich unmittelbar an, bin ich doch in der
Mark groß geworden, am Rande dunkler Kiefernwälder. Grünende Birken gab es ebenfalls,
natürlich auch märkischen Sand. Der rote Adler war auch etwas anderes als das Hakenkreuz.
Er beschäftigte schon meine kindliche Phantasie, war er doch - auf dem Schild der Feuersozietät - an fast jedem Gebäude in der Mark zu sehen. Er schmückte auch eine alte Landkarte,
die es bei uns zu Hause gab. Und auf dieser Landkarte hatten die Umrisse der Mark die
Form eines Adlers. Ich war der Meinung, daß da irgendwelche Zusammenhänge bestehen
müßten.
Über den Textdichter und Komponisten haben wir uns damals keine Gedanken gemacht. Für
uns war die „Märkische Heide" ein altes märkisches Volkslied oder ein Lied, das zum
mindesten aus der Zeit Theodor Fontanes und seiner Wanderungen stammte.
Daher war ich überrascht, als vor wenigen Jahren einer meiner Söhne, der sich als Stadtführer
ein Zubrot verdient, von seinem „Kollegen" Gustav Büchsenschütz erzählte, der das Lied
„Märkische Heide" geschaffen habe und trotz seines hohen Alters (Gustav Büchsenschütz
wurde 1982 80 Jahre alt) fast täglich auf Achse sei, um Touristengruppen durch Berlin zu
begleiten. Ich habe Gustav Büchsenschütz dann bald selbst kennengelernt und als temperamentvollen Erklärer unserer Stadt und ihrer Geschichte erlebt. Seine echt berlinische Art
kommt an. An sich hätte er diese Tätigkeit als Stadtamtmann i. R. und ehemaliger Leiter des
Sport- und Bäderamtes des Bezirks Steglitz gar nicht nötig: Es macht ihm aber Spaß, sein
heimatkundliches Wissen den meist westdeutschen Gästen zu vermitteln. Nicht ohne Grund ist
er als erster Stadtführer in Berlin und wohl sogar in der gesamten Bundesrepublik 1975 mit dem
Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden.
Weil das Lied „Märkische Heide" auch in der NS-Zeit gesungen wurde, meinen einige, es sei ein
„Nazilied" gewesen2. Davon kann nach der Entstehungsgeschichte und nach dem Text keine
Rede sein. Das Lied besingt schlicht und einfach die Schönheit der Mark Brandenburg in einem
dem Wesen ihrer Landschaft und ihrer Menschen angemessenen Ton. Text und Melodie sind
von Anfang an verständlich, ja selbstverständlich. Man spürt: Das Lied kommt aus dem
%
Herzen, es gibt ungekünstelt die Eindrücke wieder, die der Schöpfer des Liedes bei seinen
Wanderungen durch das Brandenburger Land in sich aufgenommen hat. Der Text enthält
nicht eine einzige martialische Zeile. Es ist ein Heimatlied und enthält ein deutliches Bekenntnis
zur Heimat. Wer ein solches Bekenntnis als „nazistisch" oder „faschistisch" diffamiert, sollte
sich mit dem hohen Stand der heimatkundlichen Forschung und der Heimatpflege in der DDR
vertraut machen (vgl. nur die bemerkenswerte, im Akademie-Verlag erscheinende Buchreihe
„Werte unserer Heimat"). Er blättere vor allen Dingen einmal in den Liederbüchern der Jungen
Pioniere, der FDJ, der Schulen und der Nationalen Volksarmee („Heimat, dich werden wir
hüten") und beschäftige sich mit den von Johannes R. Becher verfaßten und von Hanns Eisler
vertonten Heimatliedern. Die erste Strophe eines dieser Lieder, die ich hier nur als Beispiel
zitieren möchte3, lautet:
Deutsche Heimat, sei gepriesen:
Du, im Leuchten ferner Höh'n,
in der Sanftmut deiner Wiesen,
deutsches Land, wie bist du schön!
Das Gewitter ist verzogen
und verraucht der letzte Brand.
Weltenweiter Himmelsbogen
wölbt sich strahlend über dich,
unser Heimatland.
Ein anderes Becher/Eisler-Lied beginnt mit: „Wieder ist es Zeit zum Wandern, und wir gehen
Hand in Hand, und der eine zeigt dem andern unser schönes deutsches Land."4 Damit will ich
es bewenden lassen. Für den, der sich schnell informieren will, empfehle ich das 1982 in
6. Auflage erschienene Wanderliederbuch „Zieh mit mir hinaus"3.
Moßmann und Schleuning haben beispielhaft das in DDR-Liederbüchern abgedruckte Lied
„Unsere Heimat" mit der Musik von Hans Naumikat und dem Text von Herbert Keller näher
beleuchtet und dieses Lied, in dem die Bäume im Walde, das Gras auf der Wiese, das Korn auf
dem Felde, die Vögelein in der Luft, die Fische im Wasser und einiges mehr aufgezählt werden,
nicht ganz zu Unrecht mit einem zu fast jeder Landschaft passenden „Ludwig-Richter-Holzschnitt" verglichen5.
Man stelle doch einmal Liedern dieser Art das Lied von der „Märkischen Heide" gegenüber.
Hier gibt es, wie schon Klaus-Konrad Weber festgestellt hat 6 , keine „subjektiven Ergüsse",
keine „Appelle an eine nur imaginäre Heimat", „nichts Verschwommenes", keine undifferenzierte Heimattümelei. Hier wird vielmehr „mit wenigen Strichen . . . in sachlicher Weise"
unverkennbar und unverwechselbar eine reale Heimat, unsere Mark Brandenburg, angesprochen. Wer eine andere Heimat einbeziehen will, muß der Melodie einen anderen Text unterlegen, wie das z. B. die Tiroler getan haben, die mit den Märkern den roten Adler als Wappentier
gemeinsam haben. Sie sangen oder singen noch heute7 nach der Melodie von Büchsenschütz:
Riesige Berge, steile Felsenwand
sind Tirolers Freude, sind sein Heimatland.
Steige hoch, du roter Adler,
hoch über Fels und Wand,
hoch über firnenweiße Berge!
Heil dir, mein Südtiroler Land!
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Büchsenschütz hat unsere alte Mark und nicht eine nationalsozialistische Mark Brandenburg
besungen, denn 1923, als das Lied entstand, gab es in der Mark nicht eine einzige NS-Organisation, und Hitler war so gut wie unbekannt. Und wir haben, als wir das Lied sangen, auch nicht
an den NS-Gau gedacht, zumal dieser nicht „Mark Brandenburg", sondern „Kurmark" hieß.
Das Wort „Kurmark" kommt im Text des Liedes nicht vor.
Büchsenschütz hat über die Entstehung des Liedes in der Februarausgabe 1934 der Zeitschrift
„Brandenburger Land"8 berichtet, und zwar objektiv und ohne sich bei den Nazis anzubiedern.
Insoweit unterscheidet er sich von vielen „Musikschaffenden", die sich mit den Nationalsozialisten arrangierten9. Daß er nicht verschweigen konnte, daß das Lied auch auf den großen
Veranstaltungen der NSDAP gesungen wurde, liegt auf der Hand.
Gustav Büchsenschütz hat, wie er damals und auch später verschiedentlich berichtete, das Lied
geschrieben, weil ihm bei seinen vielen Wanderfahrten durch die deutschen Lande bewußt
geworden war, daß die Mark Brandenburg kein eigentliches Heimatlied besaß. Überall hörte
man Heimatgesänge, am Rhein, in Tirol, an der Weser und an der Saale - nur von der
brandenburgischen Heimat kündete kein volkstümliches Lied. Die wenigen märkischen Lieder
eigneten sich nur für geschulte Chöre, nicht aber zum Singen beim Wandern. Als er 1923,
21 Jahre alt, für eine freie Wandergruppe der Bismarckjugend, der Jugendorganisation der
Deutschnationalen Volkspartei, einen Heimabend ausrichten mußte, kam ihm der Gedanke,
selbst ein Lied zu schaffen. Aufseiner von ihm unzertrennlichen Klampfe summte er sich die
Töne zusammen und schrieb sie, da ihm das Notenschreiben nicht geläufig war, in Tonsilben
nieder „e - eis - d - eis - h" und darunter fein säuberlich die Worte „Märkische Heide". Ebenso
stellte er die Verse zusammen10. Am Himmelfahrtstag des Jahres 1923, dem 10. Mai, also vor
nunmehr 60 Jahren, trug er das Lied seinem Freundeskreis in der Jugendherberge Wolfslake
am Krämer (südöstlich Vehlefanz im Havelland) vor.
Nun kann man von der Bismarckjugend halten, was man will - eine Naziorganisation war sie
jedenfalls nicht. Einem 1935 in der Zeitschrift „Deutscher Kulturwart" veröffentlichten
Artikel" kann entnommen werden, wie Büchsenschütz zur Bismarckjugend gekommen ist.
Das hing mit seinen ersten Ausflügen zusammen, die ihn, wie könnte es bei einem Berliner
anders sein, in die Müggelberge führten. Die Müggelberge und der nahe gelegene Teufelssee
übten eine besondere Anziehungskraft auf ihn aus, schon wegen der gruseligen Geschichte von
der verwunschenen Prinzessin, die im See einen Schatz hütet und den einsamen Wanderer in die
Tiefe locken will. „Wenn wir Kinder sehr artig waren", so schrieb Büchsenschütz, „dann durften
wir auf den Aussichtsturm klettern." Neben dem Aussichtsturm auf den Kleinen Müggelbergen
gab es die imposante steinerne „Bismarckwarte" auf den Großen Müggelbergen, von der aus
man einen besonders weiten Blick auf die märkische Landschaft hatte. Am 1. April, dem
Geburtstag des ersten Reichskanzlers, brannte oben auf der Warte in einem eigens dafür
erbauten „Feuerbecken" das „Bismarckfeuer", das die kindliche Phantasie besonders anregte.
Kein Wunder also, daß sich der junge Schüler damals von der Bismarckjugend besonders
angesprochen fühlte und sich ihr anschloß (womit erwiesen ist, welche harmlosen oder sogar
banalen Gründe die Mitgliedschaft in einer Organisation oft haben kann).
Damals, als am Himmelfahrtstag des Jahres 1923 am Krämerwald zum erstenmal das Lied von
der „Märkischen Heide" erklang, ahnte niemand, daß es einmal eine so große Verbreitung
finden würde. Es verdankte sie, wie Büchsenschütz 1934 schrieb, in erster Linie der märkischen
Wandervogelbewegung. Eine sangesfreudige Gruppe übernahm es von der anderen. Das Lied
erlebte die typische Verbreitung eines Volksliedes: Es wurde mündlich überliefert, Textdichter
und Komponist blieben unbekannt. Aus diesem lebendigen Gebrauch erklären sich, wie
Büchsenschütz ebenfalls schon 1934 feststellte, einige Abweichungen vom Text und von der
100
Älteste gedruckte Notenfassung des Liedes aus dem Jahre 1924
Melodie in der ursprünglichen Form. Das Lied war seinem Schöpfer ganz einfach davongelaufen. Es wurde von ihm erst 1932 wieder eingeholt, als sich in Robert Rühle ein Verleger fand, der
es drucken ließ und fortan wirtschaftlich verwertete.
Inzwischen hatte es aber eine weit über die Wandervogelbewegung und die bündische Jugend
hinausgehende Verbreitung gefunden. Ohne Zutun seines Schöpfers und ohne, daß er das
gewollt hätte, war das Lied trotz seines unpolitischen Inhalts von den völkischen Verbänden
und schließlich auch von der SA in Beschlag genommen worden.
Exkurs: Alte Melodien, neue Texte
Dieses Schicksal teilte es allerdings mit vielen anderen Liedern. Damals wurde fast das gesamte
Liedgut der bündischen Jugend und der Volksliedbewegung von der Hitlerjugend übernommen12. Auch die meisten Kampflieder der Arbeiterbewegung wurden von der nationalsozialistischen Bewegung „umfunktioniert". Die „Märkische Heide" stellt insoweit keine Besonderheit dar.
In diesem Zusammenhang muß vor allen Dingen an das Schicksal des revolutionären Arbeiterliedes „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" erinnert werden, das nicht nur mit dem abgewandelten
Text „Brüder in Zechen und Gruben", sondern sogar mit dem ursprünglichen Text von der SA
und anderen NS-Verbänden gesungen wurde. Mit dem ursprünglichen Text ist es im Anhang
zu „Köhlers Taschen-Liederbuch für das deutsche Volk"13, übrigens zusammen mit der „Märkischen Heide", im Abschnitt „Lieder der nationalen Erhebung" abgedruckt. Mit dem ursprünglichen Text steht es als „Kampflied der SA" auch in „Uns geht die Sonne nicht unter,
Lieder der Hitlerjugend, Köln 1934" M. Das Leunalied („Bei Leuna sind viele gefallen, bei Leuna
floß Arbeiterblut") wurde sogar mit der Ortsbezeichnung Leuna auch in SA-Kreisen gesungen,
obwohl es zur Zeit des Kommunistenaufstandes in Leuna noch keine SA gab15. Aus dem Lied
vom kleinen Trompeter („Von all' unsern Kameraden war keiner so lieb und so gut wie unser
kleiner Trompeter, ein lustig' Rotgardistenblut") wurde ein Horst-Wessel-Gedenklied („Von
all' unsern Kameraden war keiner so lieb und so gut wie unser Sturmführer Wessel, ein lustiges
Hakenkreuzlerblut"). In dem Lied „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren" wurde
der Kehrreim geändert. Anstatt „dem Karl Liebknecht, dem haben wir's geschworen" sang
man „dem Adolf Hitler..." Aus dem sogenannten „Büxenstein-Lied" („Im Januar um Mitter101
nacht ein Spartakist stand auf der Wacht") mit der auf Berlin bezogenen 7. Strophe „O Spreeathen, o Spreeathen, viel Blut, viel Blut hast du gesehen! In deinem Friedrichshaine ruht so
manches tapfere Spartakusblut" wurde: „Durch Groß-Berlin marschieren wir. Für Adolf
Hitler kämpfen wir! Die rote Front, brecht sie entzwei! SA marschiert - Achtung - die Straße
frei!"
Der Kundige weiß natürlich, daß wir hier das beliebte Weltkrieg-I-Soldatenlied „Argonnerwald, um Mitternacht, ein Pionier stand auf der Wacht" vor uns haben, das allerdings auch
schon Vorgänger hatte: „Zu Kiautschou um Mitternacht, stand ein Matrose auf der Wacht"
und „O Regiment, mein Heimatland, meine Mutter hab' ich nicht gekannt".
Ebenso wie das Büxenstein-Lied stammen fast alle von den Nazis mißbrauchten Arbeiterkampflieder - eine Ausnahme bildet „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", das auf ein altes
russisches Volks- oder Studentenlied zurückgehen soll16 - aus dem Fundus älterer, wohlbekannter Soldatenlieder. Für unsere Beispiele sind außer „Argonnerwald" zu nennen: „In
Bosnien sind viele gefallen", „Von allen Kameraden war keiner so frohgemut als unser kleiner
Trompeter - ein jung' Husarenblut", „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren. Auf,
auf zum Kampf, zum Kampf fürs Vaterland. Dem Kaiser Wilhelm haben wir's geschworen,
dem Kaiser Wilhelm reichen wir die Hand." 17
Die Kommunisten hatten keine Berührungsängste, als sie diese Soldatenlieder nach textlichen
Abänderungen übernahmen. Sie hatten auch keine Hemmungen, sie nach der „Entweihung"
durch die Nazis und dem Sturz des NS-Regimes wieder in ihr Liederrepertoire aufzunehmen.
Die Liedforschung der DDR geht der Text- und Melodiengeschichte der einzelnen Lieder ganz
penibel nach, behandelt jedoch ihren Mißbrauch durch die Nationalsozialisten nicht' 8 . Ebenso
verfuhr die deutsche Liedforschung zur Nazizeit. Sie verschwieg, daß die hier erörterten
„Kampflieder der Bewegung" einmal Arbeiterkampflieder waren19. Das Marschlied „Durch
Groß-Berlin marschieren wir" wurde als angeblich zeitgebundene Neuschöpfung unmittelbar
auf das Kriegslied „Argonnerwald um Mitternacht" zurückgeführt; seine zwischenzeitliche
Existenz als Arbeiterkampflied wurde nicht erwähnt, war aber den meisten Menschen in dieser
Zeit durchaus noch vertraut. Diese Zusammenhänge sind den Jüngeren kaum bekannt. Das
dürfte diesen Exkurs rechtfertigen.
Das Heimatlied im Dritten Reich
Der eigentliche Siegeszug der „Märkischen Heide" begann 1933, nicht weil die Nazis die Macht
übernahmen, sondern weil in diesem Jahr der bekannte Operettenkomponist Paul Lincke das
Wanderlied als Marschlied „arrangierte" und zwei einleitende Marschteile hinzukomponierte.
Auch das ist ohne Wissen des Textdichters und Komponisten des Wanderliedes geschehen, wie
sich aus einem Brief Paul Linckes vom 12. November 1936 ergibt, in dem es heißt: „Sehr
geehrter Herr Büchsenschütz!... Weder ich noch meine Angestellten haben je behauptet, daß
das Lied ,Märkische Heide' von mir ist, und auf Anfragen stets richtig gestellt, daß ich nur die
Vorteile [einleitenden Teile, d. Verf.] des Marsches und die neue Harmonisierung und MarschOrchestrierung mit neuen Nebenmelodien geschrieben habe. Ich hängte also nicht nur das
Trio 19a einfach an, sondern bearbeitete es mit richtigen Marsch-Effekten für Streich- und
Militärmusik. Die Arbeit ist von allen maßgebenden Kapellmeistern und Musikern als hoch
künstlerisch ge wertet worden, und jeder wird feststellen, daß die Melodie durch dieses MarschArrangement musikalisch veredelt wurde. Daß ich ohne Ihr Wissen den Marsch gemacht, ist
nicht wahr. Herr Robert Rühle hat mir gesagt, daß er von Ihnen als Verfasser des Textes und
[der] Musik alle Rechte erworben hatte und unter der Voraussetzung mich aufgefordert, den
Marsch zu schreiben. Zur grundsätzlichen Feststellung der Angelegenheit werde ich jetzt der
102
Gustav Büchsenschütz.
Texter und Komponist des Liedes
„Märkische Heide, märkischer Sand",
als Stadtführer 1982, 80 Jahre alt
Musikkammer (Rechtsbüro) den Fall übergeben, damit endlich Klarheit geschaffen und meine
Person nicht mehr in unwürdiger Weise in die Sache hineingezogen wird. Heil Hitler! Paul
Lincke"
Gustav Büchsenschütz war hinsichtlich des vorletzten Satzes ganz anderer Meinung. Er
glaubte, daß er dem Verleger mit den Verlagsrechten nicht zugleich seine Urheberrechte
übertragen hatte und die Bearbeitung des Wanderliedes als Marschlied seiner Einwilligung
bedurft hätte. Er verzichtete jedoch auf eine gerichtliche Auseinandersetzung, zumal die
Tantiemen reichlich flössen, an denen nun allerdings auch Paul Lincke wegen der einleitenden
Marschteile beteiligt war. Aus dem ersten Satz des Schreibens von Paul Lincke ergibt sich aber
auch, daß Gustav Büchsenschütz insofern nach wie vor seinem Lied hinterherlaufen mußte, als
nun plötzlich in Veröffentlichungen20 und Rundfunksendungen Paul Lincke als alleiniger
Schöpfer genannt wurde. Büchsenschütz sah sich bis in den Krieg hinein veranlaßt, Rundfunksender, Zeitungen und Zeitschriften vom wahren Sachverhalt zu unterrichten, wofür er eine Art
„Musterbrief' verwandte. Unterstützt wurde er bei der Wahrung seiner Rechte von dem
Herausgeber und Verleger des Cottbuser Anzeigers, Albert Heine, der nicht müde wurde,
gegen die „Unterschlagung" des wirklichen Dichters und Komponisten zu protestieren.
Einem prominenten Nazi wäre das alles kaum passiert. Gustav Büchsenschütz war aber in den
braunen Jahren keiner der professionellen „Liedermacher", die im Auftrage des Reichspropagandaministers Lieder am laufenden Band vertonten. Er war und blieb ein Laie, dem einmal ein
großer Wurf gelungen war. Insoweit kann er mit dem französischen Pionierhauptmann Claude
103
Joseph Rouget de Lisle verglichen werden, der 1782 die Marseillaise schuf, oder mit dem
Drechsler Pierre Degeyter, der 1888 die Internationale vertonte, deren Text allerdings von dem
Arbeiterdichter Eugene Pottier stammt.
Gustav Büchsenschütz war noch nicht einmal Mitglied der NS-Partei. Er war 1945 das, was er
schon vorher war: Stadtinspektor beim Bezirksamt Steglitz von Berlin. Erst nach 1945 stieg er
auf der Laufbahnleiter einige Sprossen höher und wurde Amtmann. Zunächst einmal wurde er
jedoch 1943 eingezogen. Als Soldat konnte er nach seiner eigenen Melodie marschieren. In der
Amerika-Gedenkbibliothek wird ein Teil der Korrespondenz des damaligen Vorsitzenden des
Vereins für die Geschichte Berlins, Dr. Hermann Kügler, aufbewahrt. Darunter befinden sich
auch einige Feldpostbriefe von Gustav Büchsenschütz, der mit Kügler eng befreundet war.
Nach diesen Briefen war Büchsenschütz alles andere als ein begeisterter Krieger. In den Briefen
geht es überwiegend um das Vereinsleben, um Vorträge und heimatkundliche Wanderungen,
an denen Büchsenschütz nicht teilnehmen konnte, und um Veröffentlichungen des Vereinsvorsitzenden, die dieser ihm zugeschickt hatte. Alles vollkommen unpolitisch. Nur einen Satz
möchte ich aus seinem Brief vom 25. Juni 1944 an den „lieben Freund Hermann" zitieren: „Ich
habe Sehnsucht nach meiner Heimat Berlin - und wenn es auch nur Trümmer sind."
„Märkische Heide" war nach 1933 ohne Zweifel eines der am meisten gesungenen Lieder, nicht
nur in Berlin und Brandenburg, sondern darüber hinaus in anderen Teilen Deutschlands. Auch
weit über Deutschland hinaus war es verbreitet. Der Text ist in mehrere Sprachen übersetzt
worden. Tantiemen kamen aus aller Welt, nicht nur aus fast allen europäischen Ländern,
sondern auch aus den Vereinigten Staaten, aus Brasilien und Japan. Der Berliner Schulleiter
und Volksliedforscher Johannes Koepp schrieb damals: „Wenn ich mit Berliner Jungen auf den
Schüleraustauschreisen deutsche Lieder sang, dann als erstes immer ,unser' Lied, die Märkische Heide. Sie erklang unter Pinien bei den Ruinen von Delphi und in Boulogne an der
französischen Kanalküste, im englischen College und am Lagerfeuer inmitten von amerikanischen Jungen im Camp Becket südlich der großen Seen von Nordamerika. Ein Indianer, ein
junger Student aus New York, spitzte besonders die Ohren, hieß er doch in seinem Stamm der
,Red Eagle' [Roter Adler]. Als französische Schüler vom Aufenthalt in der Mark 1933 heimkehrten, sangen sie auf dem Pariser Nordbahnhof: ,Eleve-toi, aigle rouge!' Seltsame Wanderungen und Wandlungen eines Liedes!"21
Nach dem Kriege wurde das Lied nach wie vor gesungen. Anfang der fünfziger Jahre erschien
eine Telefunken-Schallplatte. Die Bundeswehr übernahm das Lied in ihre Liederbücher22. Nur
im Osten war und blieb es verpönt. Im Westen teilte es schließlich das Schicksal der deutschen
Nationalhymne und aller deutschen Volkslieder. Es ist wie diese heute beinahe in Vergessenheit
geraten. Jazz, Beat- und Popmusik, Schlager mit englischen Texten, und seien sie noch so
banal, gelten als „in". Deutsche Volkslieder zu singen gilt hierzulande - ganz im Gegensatz zur
DDR - als hinterwäldlerisch und reaktionär. Nur für „Folklore" - ausländische Volksmusik erwärmt man sich neuerdings. Insoweit ist das Schicksal des Liedes „Märkische Heide" nichts
Besonderes. Und doch unterscheidet es sich in wesentlichen Punkten von anderen zur NS-Zeit
gesungenen Liedern: Es wurde zwar ebenso wie die erwähnten Arbeiterlieder Ende der
zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre von den Nationalsozialisten übernommen, die
linksorientierten Gruppen ließen es aber „links" liegen, obwohl es sich z. B. in dem „Liederbuch
des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold"23 neben dem Deutschlandlied, neben „Was ist des
Deutschen Vaterland", „Stimmt an mit hellem, hohem Klang", „Der in Krieg will ziehen, der
muß gerüstet sein", „Flamme empor", „Ich hatt' einen Kameraden", „Regiment sein' Straße
zieht" und anderen Liedern dieser Art ausgesprochen harmlos und geradezu pazifistisch
ausgenommen hätte.
104
Die Nichtbeachtung des populären Liedes durch die Arbeiterbewegung dürfte darauf zurückzuführen sein, daß es erst 1923 entstanden ist. Die alten Soldatenlieder waren aber schon 1919
oder bald danach von der revolutionären Arbeiterbewegung umgestaltet und übernommen
worden. Im Gegensatz zu diesen Liedern war „Märkische Heide" kein Soldatenlied, sondern
ein Wander- und Heimatlied. Als solches besaß es keinen „kämpferischen Charakter", aber
gerade der war damals gefragt24. Im übrigen stand die „Heimat" in jenen Jahren in der
Arbeiterbewegung nicht hoch im Kurs. Man war international. Als das Lied dann um 1930 von
den völkischen Verbänden und den Nazis okkupiert wurde, war es zu spät. Nun war es als
Kampfmittel der anderen Seite ohne arbeiterrevolutionäre Vergangenheit festgelegt.
Die Nationalsozialisten waren in dieser Hinsicht skrupelloser und insoweit wohl auch die
geschickteren Propagandisten. Sie übernahmen ungeniert die alten Arbeiterkampflieder, um
die revolutionäre Arbeiterschaft auf ihre Seite zu ziehen. Die zur SA übertretenden Kommunisten konnten ihre alten vertrauten Lieder, wenn auch teilweise mit verändertem Text, weitersingen. Und dabei konnten sich die Nazis noch darauf berufen, daß es sich bei diesen Liedern im
Grunde genommen um alte Soldatenlieder handele. Ebenso ungeniert okkupierten die
Nationalsozialisten, ohne den Textdichter und Komponisten zu fragen oder ihn in ihren
Liederbüchern beim Namen zu nennen, auch das ganz unpolitische Lied „Märkische Heide",
um die vielen unpolitischen Wandergruppen, die Angehörigen der Wandervogelbewegung, die
bündische Jugend und nicht zuletzt die heimattreuen Brandenburger zu beeindrucken. Wer
wollte leugnen, daß sie Erfolg hatten?
Noch in einem weiteren Punkt unterscheidet sich die „Märkische Heide" von den „Kampfliedern der Bewegung", einerlei, ob es sich dabei um mißbrauchte alte Arbeiterlieder oder um von
Komponisten wie Baumann und anderen neugeschaffene Lieder handelt: Es ist im Gegensatz
zu allen diesen Liedern in den Liederschatz der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg
eingegangen, wobei ich unter „Liederschatz" die Lieder verstehe, die von den Soldaten wirklich
gesungen wurden, nicht diejenigen, die in den Liederbüchern standen oder die in den KinoWochenschauen, im Rundfunk oder auf Propagandaveranstaltungen erklangen. Die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges waren weiß Gott keine Hurrapatrioten. Vaterlandslieder mit hohlem Pathos wie „Es braust ein Ruf wie Donnerhall", „O Deutschland hoch in
Ehren" oder Lieder, die den Krieg verherrlichen, haben wir nicht gesungen. Baumanns 1932 für
eine katholische Jugendgruppe(l)12 geschriebenes Lied „Es zittern die morschen Knochen"
auch nicht. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. NS-Kampflieder, gleichgültig, wo sie
hergekommen oder wie sie entstanden sind, und reine NS-Kompositionen wie „Es dröhnet der
Marsch der Kolonnen", „Nun laßt die Fahnen fliegen", „Unsere Fahne flattert uns voran",
„Volk ans Gewehr" existierten für uns Soldaten nicht. Auftragsarbeiten des Propagandaministeriums wie „Wir fahren gegen Engelland", „Bomben auf Engelland" und Norbert
Schultzes „Waffengattungslieder" (Afrikalied, Panzergrenadierlied, Marinelied, U-Boot-Lied
usw.) ebenfalls nicht. Insoweit muß ich Fred K. Prieberg25 widersprechen, der behauptet, diese
Lieder wurden „an der Front und in der Heimat eifrig gesungen". Meine Erfahrungen decken
sich mit denen Rudolf Walter Leonhardts26: Wir haben Lieder gesungen, die von Mädchen und
Frauen, von der Heimat und vom Wiedersehen handelten. Ich kann sie hier nicht alle
aufzählen. Die Älteren kennen sie: „In einem Polenstädtchen"; „Erika" („Auf der Heide blüht
ein kleines Blümelein"); „Lore" („Im Wald, im grünen Walde, da steht ein Försterhaus"); „In
Sanssouci am Mühlenberg"; „Die blauen Dragoner", dies schon wegen des Anhanges „Weit ist
der Weg zurück ins Heimatland"; das Lied von der „schwarzbraunen Haselnuß", von den
„Heckenrosen" („Schön blühn die Heckenrosen, schön ist das Küssen und das Kosen"), vom
„freien Wildbretschütz", vom „schönen Westerwald", vom „Schlesierland" („Kehr ich einst zur
105
Heimat wieder") und so weiter und so weiter und natürlich und nicht zuletzt das Lied von der
„Märkischen Heide". Wenn dieses Lied ein „Kampflied der NS-Bewegung" gewesen war (was
nicht zutrifft), dann war es das einzige Kampflied, das von den deutschen Soldaten angenommen, gesungen und damit in den Kreis der Lieder einbezogen wurde, die nach Rudolf Walter
Leonhardt 27 damals das waren, was man heute als „Protest-Songs" bezeichnen würde. Oder wie
anders soll man Lieder nennen, die anstatt der von uk-gestellten Komponisten amtlich produzierten und amtlich verordneten Propagandastücke gesungen wurden?
Es besteht kein Grund die Lieder, die die deutschen Landser im Zweiten Weltkrieg wirklich
gesungen haben, heute zu diskriminieren oder nur dann zu akzeptieren, wenn sie, wie etwa „Lili
Marleen", dadurch die „höheren Weihen" erhalten haben, daß sie auch von den Soldaten der
Alliierten gesungen wurden. Das gilt auch und gerade für die „Märkische Heide", ein Lied, in
dessen Text auch der Böswilligste keine Naziideologie hineininterpretieren kann. Und wer da
meint, die von den Soldaten gesungenen Lieder hätten die Kriegsanstrengungen unterstützt,
der müßte auch alles verbieten, was damals im Rundfunk, insbesondere in den beliebten
Wunschkonzerten, in den Opern- und Operettenhäusern gespielt und gesungen wurde. Vom
kulturellen Erbe der deutschen Musik würde dann nicht viel übrig bleiben. Viele z. T. berühmte
Komponisten und Interpreten, fast alle unsere großen Filmschauspieler (die ganz wesentlich
dazu beigetragen haben, daß das Volk bei guter Laune blieb), hätten dann seit 1945 in Sack und
Asche gehen müssen. Sie taten es nicht. Vor allen Dingen die Filmschauspieler bezeichnen sich
in ihren Memoiren fast durch die Bank als „Widerstandskämpfer", auch wenn sie damals bei
Goebbels ein- und ausgegangen sind. Sollten die deutschen Infanteristen etwa schweigend
marschieren und sich das Leben noch schwerer machen, als es ohnehin schon war?
Ähnliche Melodien?
Als ich vor einem Jahr einer in Berlin erscheinenden Zeitschrift gegenüber arglos die Frage
aufwarf, ob man nicht des Schöpfers unseres Liedes aus Anlaß seines 80. Geburtstages am
7. April 1982 gedenken sollte, wies man nicht nur auf die angebliche „Belastung" des Liedes hin,
sondern behauptete auch, die Melodie der „Märkischen Heide" sei aus den Melodien von drei
anderen Liedern zusammengesetzt und daher keine eigenständige Schöpfung. Das soll der
Musikforscher Hans Mersmann nachgewiesen haben. Mersmann beschäftigt sich in der Tat auf
Seite 43 seines 1937 bei Ludwig Voggenreiter in Potsdam erschienenen Buches „Volkslied und
Gegenwart" (das eigentlich in einen Giftschrank gehört, weil M. sich bemühte, die Volksliedforschung im Lichte der NS-Rassentheorie zu betrachten) mit dem Kehrreim des Liedes
„Märkische Heide" und nur mit diesem („Steige hoch, du roter Adler, hoch über Sumpf und
Sand, hoch über dunkle Kiefernwälder! Heil dir, mein Brandenburger Land!"). Mersmann
vergleicht diesen Teil der Büchsenschütz-Melodie mit den Melodien der Lieder „Pfeifer, laß
dein Rößlein traben", „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" und „Of den Alpe möcht i singe, weiß
so mengs und artig Lied". Dabei kommt er zu der durchaus zutreffenden Feststellung, daß die
Melodie „Pfeifer, laß dein Rößlein traben" keine persönliche Schöpfung sei, da der Zusammenhang mit dem Kehrreim von Büchsenschützens „Märkische Heide" sinnfällig sei. Und in der
Tat: Die beiden Melodien sind fast tongleich, woraus jedoch nichts anderes zu folgern ist, als
daß das nachgemachte Landsknechtlied „Pfeifer, laß dein Rößlein traben" nach der Büchsenschütz-Melodie gesungen wurde - genauso wie das bereits erwähnte Tiroler Lied „Riesige
Berge, steile Felsenwand". Da Mersmann in der Fußnote 1 auf Seite 43 als Quelle für das Lied
„Pfeifer, laß dein Rößlein traben" das Liederbuch der Hitlerjugend „Uns geht die Sonne nicht
unter" angibt und außerdem in der Fußnote 2 daraufhinweist, daß die „Märkische Heide" mit
106
„großer Wahrscheinlichkeit" früher entstanden ist, bestand kein Grund anzunehmen, Büchsenschütz habe für seinen Text die Melodie des nachgemachten Landsknechtsliedes verwendet.
Meine weiteren, u. a. mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg durchgeführten Recherchen haben ergeben: Das Lied „Pfeifer, laß dein Rößlein traben"
ist nur einmal veröffentlicht worden, und zwar in dem von Mersmann erwähnten Liederbuch
der Hitlerjugend „Uns geht die Sonne nicht unter", das 1934 erschienen ist. Für dieses Lied
wurde die Büchsenschütz-Melodie verwendet, nicht umgekehrt.
Hinsichtlich des Schweizer Liedes „Of den Alpe möcht i singe, weiß so mengs und artig Lied"
konnte keiner der von mir befragten Musikexperten eine Übereinstimmung mit der Melodie
des Kehrreims von „Märkische Heide" feststellen. Mersmann behauptet eine solche Übereinstimmung auch nicht. Er „spürt" nur eine „innere Nähe". Der breite Anstieg im Dreiklang, der
hinunter bis zur Sexte, hinauf bis zur Terz geht, sei für das süddeutsche, besonders für das
schweizerische Volkslied kennzeichnend. Das erwähnte Schweizer Lied zitiert er beispielhaft.
Er will damit beweisen, daß das Lied „Märkische Heide" seine Popularität seinem volksliedhaften Charakter verdanke. Das hat man natürlich in den zwanziger Jahren, als das Lied von
Mund zu Mund und von Gruppe zu Gruppe ging, ohne die von Mersmann angestellten
musiktheoretischen Betrachtungen auch schon „gespürt".
Jedenfalls ist entgegen den aufgestellten und wohl auch in interessierten Kreisen unter der
Hand weiterverbreiteten Behauptungen festzustellen: Die Melodie des Kehrreims des Liedes
„Märkische Heide" hat nichts mit der des Schweizer Volksliedes zu tun.
Was bleibt, ist das Lied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", mit dessen Melodie an der Textstelle
„Hell aus dem dunklen Vergangenen ..." in der Tat die letzten Takte des Kehrreims der
„Märkischen Heide" („... über dunkle Kiefernwälder! Heil dir, mein Brandenburger Land!")
fast übereinstimmen. Experten meinen, daß es sich bei dieser Übereinstimmung um eine
unbewußte Adaption handele. Büchsenschütz führt gerade diese Stelle auf die von ihm bereits
1934 in der Zeitschrift „Brandenburger Land"8 erwähnten Veränderungen zurück, die die
Melodie in den zwanziger Jahren bei der Verbreitung des Liedes von Mund zu Mund erfahren
habe. Das wird durch die wohl erste gedruckte Notenfassung des Liedes in der Vereinszeitschrift der Bismarckjugend aus dem Jahre 1924 (Abbildung 2) bestätigt28. Die letzten Takte der
heutigen Fassung des Kehrreims der „Märkischen Heide" haben sich die singenden Wandergruppen in den zwanziger Jahren „zusammengesungen". Dabei ist es unbewußt zu einer
Übernahme einiger Takte des Liedes „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" gekommen.
Das beweist den volksliedhaften Charakter des Liedes. Auch für Mersmann ist diese Stelle, die
der singende Laie überhaupt nicht bemerkt und die selbst Experten erst aufgrund meines
ausdrücklichen Hinweises wahrgenommen haben, ein Beweis dafür, daß das „Zeitlied" „Märkische Heide" auf dem Boden des Volksliedes stehe, wenn auch nicht des deutschen, so doch
des russischen, denn die Melodie von „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" gehe auf ein russisches
Volkslied zurück. Diese Tatsache spricht meiner Meinung nach nicht gegen unser Lied,
sondern bestätigt nur die zwischen dem deutschen und dem russischen bzw. slawischen
Musikgefühl bestehende Verwandtschaft.
Unbeschadet der Veränderung einiger Takte der ursprünglichen Melodie durch die „Stimme
des Volkes" ist zusammenfassend festzustellen: Mersmann hat nicht nachgewiesen, daß die
Melodie der „Märkischen Heide" aus den drei oben erwähnten Liedern zusammengesetzt ist.
Er hat das noch nicht einmal behauptet. Nicht Büchsenschütz hat fremde Melodien, sondern
andere haben seine Melodie verwendet. Als Textdichter und Komponist der „Märkischen
Heide" hat sich Gustav Büchsenschütz einen Ehrenplatz in der Geschichte der Mark Brandenburg gesichert.
107
1
Hans Jürgen Hansen: Heil dir im Siegerkranz - Die Hymnen der Deutschen, Oldenburg 1978, S. 6,73.
Das wurde mir jedenfalls entgegengehalten, als ich einer in Berlin erscheinenden Zeitschrift 1982
vorschlug, des 80. Geburtstages von Gustav Büchsenschütz zu gedenken.
3
Vgl. „Zieh mit mir hinaus - Wanderliederbuch", 6. Aufl., Leipzig 1982, S. 88. Hierzu auch Walter
Moßmann und Peter Schleuning: „Alte und neue politische Lieder", Rowohlt-Taschenbuch, 1978,
S.115.
4
Wie Anm. 3, Wanderliederbuch, S. 6.
5
Wie Anm. 3, S. 116.
6
Klaus-Konrad Weber: „Gustav Büchsenschütz - Dichter und Vertoner der Märkischen Heide 65 Jahre", in: Mitteilungsblatt der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg
Nr. 65 vom 1. Mai 1967.
7
Auf einer Steglitzer Woche im Jahre 1966 sang es der Knabenchor des Stiftes Wüten bei Innsbruck,
wobei der Chorleiter allen Ernstes glaubte, es handele sich um ein Tiroler Volkslied. Er wurde erst von
dem anwesenden SPD-Abgeordneten Susen auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht (Bericht des Herrn
Susen). Den Text des nach der Melodie der „Märkischen Heide" gesungenen Tiroler Liedes hat
Johannes Koepp auf S. 146 des 1. (und einzigen) Bandes seiner „Deutschen Liederkunde - Jahrbuch für
Volkslied und Volkstanz", Potsdam 1939, abgedruckt. Ich habe den Text auch im Programm eines
Tumabends des Turnvereins Lienz vom 27. April 1937 gefunden.
8
S.33.
' Beispiele in Hülle und Fülle bei Fred K. Prieberg: „Musik im NS-Staat", Fischer-Taschenbuch, 1982.
10
Mündliche Mitteilung von G. B.
" 2. Jg., 1935, S. 147 ff.
12
Prieberg, wie Anm. 9, S. 243 ff.
13
Minden i. W. o. J. (Bibliothek des Volkskundemuseums in Berlin).
14
In dem 1939 von der Reichsjugendführung herausgegebenen „Unser Liederbuch - Lieder der Hitlerjugend" ist es auf S. 9 ebenfalls als „Altes Kampflied der SA", allerdings mit dem Text „Brüder in
Zechen und Gruben", abgedruckt.
15
Moßmann und Schleuning, wie Anm. 3, S. 261.
16
Vgl. Hans Mersmann, Volkslied und Gegenwart, Potsdam 1937, S. 44 (russisches Volkslied). Neuerdings wird behauptet, es handele sich um ein russisches Studentenlied, vgl. das in Anm. 3 zitierte
Wanderliederbuch, S. 130, und „Heimat, dich werden wir hüten - Ein Liederbuch für den Marschgesang", hrsg. von Oberst Eberhard Schröder und Major Günther Rudolph, 2. Aufl., (Ost-)Berlin 1980,
S. 28, 29.
17
Vgl. Wolfgang Steinitz: „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten",
(Ost-)Berlin 1978, S. 298 ff. (300).
18
Vgl. hierzu das eben (Anm. 17) erwähnte Buch und Hermann Strobach: „Deutsches Volkslied in
Geschichte und Gegenwart", (Ost-)Berlin 1980.
19
Vgl. z. B. Hans Mersmann, wie Anm. 16, der sich auf S. 45 ff. mit der Geschichte des NS-Marschliedes
„Durch Groß-Berlin marschieren wir" beschäftigt.
" a Lincke versteht unter Trio das ursprüngliche Wanderlied, dem er zwei Marschteile vorgesetzt hat.
20
Vgl. z. B. den Artikel „Dem jungen Paul Lincke zum 70jährigen", in: Nr. 262 des „8-Uhr-Abendblattes"
vom 6. November 1936 und die Berichtigung vom 11. Februar 1937, in der festgestellt wurde, daß allein
Gustav Büchsenschütz Anspruch darauf hat, als Autor des Liedes „Märkische Heide" genannt zu
werden.
21
Wie Anm. 7.
22
Vgl. das vom Bundesministerium der Verteidigung - Führungsstab der Streitkräfte - 1976 herausgegebene Liederbuch der Bundeswehr „hell klingen unsere Lieder", S. 45.
23
Herausgegeben im Auftrage des Bundesvorstandes, J. H. W. Dietz Nachf., Berlin o. J. (1926?).
24
Hermann Strobach, wie Anm. 18, S. 32.
25
Wie,Anm. 9, S. 338.
26
„Lieder aus dem Krieg", Goldmann-Taschenbuch, München 1979, S. 7 ff. (13).
27
Ebd., S. 10. Bedauerlicherweise erwähnt R. W. L. nicht das Lied „Märkische Heide", was nur auf einem
Versehen beruhen kann.
28
„Der Bismärcker", 1924, S. 50, heute verschollen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß Text und
Melodie vor der endgültigen Drucklegung durch den Verleger Rühle im Jahre 1932 noch in anderen
Vereinsmitteilungen u. ä. abgedruckt worden sind.
29
Vgl. Anm. 16.
2
108
Friedrich Neuhaus - ein vergessener Eisenbahnpionier
Am 28. Oktober 1983 jährt sich zum 100. Male die Enthüllung des Denkmals für Friedrich
Neuhaus, das immer noch auf der Treppe zwischen den beiden Rundbogenportalen vor dem
ehemaligen Hamburger Bahnhof in der Invalidenstraße steht. Denkmal wie auch Friedrich
Neuhaus sind heute nahezu vergessen, zu Unrecht, wie die folgenden Ausführungen zeigen
werden.
Georg Ernst Friedrich Neuhaus wurde am 20. September 1797 in Behme bei Herford in
Westfalen geboren. Noch vor Abschluß seiner Schulausbildung beteiligte er sich 1815 als
freiwilliger Jäger am Frankreichfeldzug. 1816 ging er zum Studium nach Berlin und legte 1818
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Eiserne Neujahrskarte (6X9 cm) der Königlichen Eisengießerei von 1848 aus dem persönlichen Besitz von
Friedrich Neuhaus
am Ende der 1. Studienphase das „Regierungs-Kondukteur- (d. h. Feldmesser-jExamen" und
1824 als Abschluß der 2. Studienphase das ,.Bau-Kondukteur-(d. h. Baumeister-jExamen" ab.
Dazwischen war er 3 Jahre im Deichbauwesen an der Oder beschäftigt. Von 1824 bis 1828 war
Neuhaus als ausführender und begutachtender Baumeister beim Straßenbau in den damaligen
Provinzen Brandenburg, Pommern und Preußen tätig. 1828 wurde er zum Wegebau-Inspektor
und 1835 zum Oberwegebau-Inspektor in Stargard ernannt. In diesem Jahr wandte sich das
Stettiner Kommittee für den Bau einer Eisenbahnlinie Berlin-Stettin an ihn und beauftragte
ihn mit den Vorarbeiten für deren Bau. Nachdem Neuhaus Nord-, Mittel- und Süddeutschland,
109
Österreich, Holland und Belgien bereist hatte, um sich über den Bau und Betrieb von Eisenbahnlinien zu informieren, führte er ab 1836 die Planung für diese Bahnlinie aus.
Als deren Bau im Jahre 1840 dann in Angriff genommen wurde, schied Neuhaus aus dem
Staatsdienst aus, um als Oberingenieur den Bau zu leiten - damals eine risikobehaftete
Entscheidung. Denn wie in jenen Jahren die Arbeit bei den Eisenbahngesellschaften eingeschätzt wurde, macht eine Äußerung Wilhelm Beuths deutlich, als sich Neuhaus von ihm
verabschiedete: „Neuhaus, ich habe Sie bisher für einen verständigen und anständigen Menschen gehalten, da Sie aber jetzt Eisenbahnen bauen wollen, muß ich feststellen, daß Sie ein
Schwindler geworden sind." Diese damals noch ablehnende Haltung Beuths gegenüber Eisenbahnen belegt Max Neuhaus, der Sohn von Friedrich Neuhaus, noch mit einem anderen
Beweisstück, das leider seit 1945 verschollen ist. Er schreibt: „Hierüber gibt es ein ergötzliches
Dokument, nämlich eine Aquarellskizze von der Hand des berühmten Schinkel, die im
Schinkel-Museum in der Technischen Hochschule aufbewahrt wird. Beuths Steckenpferd war
die Hebung der Pferdezucht, und die Skizze stellt ihn dar, wie er in einem bequemen Lehnstuhl
sitzt, vor sich auf den Knien ein Buch großen Formats mit Abbildungen von Vollblutpferden.
Aber er betrachtet diese nicht mehr, sondern liegt zurückgesunken, den Kopf nach rechts
gewendet, anscheinend ohnmächtig im Lehnstuhl; denn links von ihm zeigt sich ein vorbeifahrender Eisenbahnzug, dessen Anblick ihn in der Betrachtung der Zuchthengste jäh gestört und
in den auf dem Bild dargestellten traurigen Zustand versetzt hat."
Die Berlin-Stettiner Bahn war mit 134 km Länge eine der ersten größeren Bahnlinien Deutschlands und wurde in 3 Jahren vollendet. Neueste Erkenntnisse hatte sich Neuhaus auf einer
Englandreise im Jahre 1841 verschafft; von dort bezog er auch das Schienenmaterial für den
Oberbau. Beim Bau dieser Bahnlinie hatte er erstmals in Deutschland Beton verwendet, eine
Technik, die er in Belgien kennengelernt hatte. Bei der Auswahl der Lokomotiven berücksichtigte Neuhaus bereits deutsche Fabrikate: So wurde der Eröffnungszug am 15. August 1843,
besetzt mit Ehrengästen - darunter König Friedrich Wilhelm IV. und Alexander von
Humboldt - von einer Borsig-Lokomotive gezogen; Ausdruck einer lebenslangen privaten und
geschäftlichen Beziehung zwischen Borsig und Neuhaus, der übrigens selbst als Lokomotivführer ausgebildet war. Zur gleichen Zeit leitete Neuhaus den Bau der Linie Stettin-Stargard
ein.
Inzwischen zum Baurat ernannt, wurde Neuhaus 1843 zum technischen Mitglied der Direktion
der Berlin-Hamburger Eisenbahn-Gesellschaft gewählt, um die Vorarbeiten für diese Bahn
und dann deren Bau zu leiten. Dies wurde der eigentliche Höhepunkt seiner Arbeit. Von 1844
bis 1847 erbaute er eine Bahnanlage, die jahrelang als beispielhaft galt. Das Empfangsgebäude
in Berlin diente später oft als Vorbild für andere Bahnhöfe, die von Borsig hergestellte eiserne
Bahnsteighalle war die erste dieser Art und Größe in Norddeutschland, und die Bahnhöfe an
der Strecke nach Hamburg waren so modern konzipiert, daß viele von ihnen, wie jeder
Transitreisende heute noch sehen kann, unverändert ihre Aufgabe erfüllen. Und schließlich war
die Streckenführung so angelegt, daß sie - was bei ihrem Bau nicht vorgesehen war Geschwindigkeitsrekordfahrten bis in die jüngste Zeit erlaubte.
Auch nachdem Neuhaus 1850 zum Vorsitzenden der Direktion und zum Betriebsdirektor der
Berlin-Hamburger Eisenbahn-Gesellschaft gewählt worden war, eine Position, die er bis zu
seinem Tode innehatte, blieb er weiterhin aktiv. Sein Plan, am Monbijouplatz einen zentralen
Personenbahnhof zu errichten, ließ sich nicht verwirklichen, so daß als Ersatzlösung nach
seinen Plänen 1850/1851 die Berliner Verbindungsbahn erbaut wurde, eine Linie, die die isoliert
stehenden Berliner Kopfbahnhöfe miteinander verknüpfte. 1860 wurde er aufgrund seiner
Verdienste zum Geheimen Regierungsrat ernannt.
110
Friedrich Neuhaus um 1865
111
Nach dem Bau der Linie Wittenberge-Buchholz (1871-1874) unter seiner Leitung war sein
letztes großes Werk in Berlin der Bau eines Verwaltungsgebäudes für die prosperierende
Berlin-Hamburger Eisenbahn-Gesellschaft (1874) an der Ecke Invaliden-/Heidestraße. Daneben sind noch einige technische Neuerungen erwähnenswert, die ihm zuzuschreiben sind, wie
der Bau der ersten schmiedeeisernen Gitterbrücke in Deutschland über den Eisgraben bei
Spandau zusammen mit Borsig (abgerissen 1910) sowie die erstmalige Verwendung von
Laschenverbindungen an den Schienensträngen und die Verbesserung des Schienenprofils.
Neuhaus starb am 4. Dezember 1876 und wurde auf dem Invalidenfriedhof begraben. Er gehört
zu den Pionieren des Eisenbahnwesens; zahlreiche wegweisende Lösungen hat die Eisenbahntechnik ihm zu verdanken. Da ihm selbst die Weiterverbreitung seiner Ideen und Erkenntnisse
nicht wichtig erschien, ist er heute fast vergessen.
Anmerkung:
Eine ausführliche und reich bebilderte Darstellung des Lebens von Friedrich Neuhaus sowie seines
Hauptwerkes, des Hamburger Bahnhofes, mit dem später darin untergebrachten Verkehrs- und Baumuseum findet sich in: Holger Steinle: Ein Bahnhof auf dem Abstellgleis. Der ehemalige Hamburger
Bahnhof in Berlin und seine Geschichte. 1983, 100 S., 78 Abb., Format 21X27 cm, gebunden mit
Schutzumschlag, 34 DM, ISBN 3-924091-00-5, zu bestellen bei: Silberstreif Verlag GmbH, Postfach
311309, 1000 Berlin 31, Telefon (030) 249212.
112
3§ 5 - •
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Das Neuhaus-Denkmal vor dem ehemaligen Hamburger Bahnhof in der Invalidenstraße, 1982
113
J75 Jahre Siemens-Güterbahn
Von Arne Hengsbach
Wer die Nonnendammallee westlich von Siemensstadt befährt, kommt zwischen Paulsternstraße und Gartenfelder Straße an dem etwa 700 m langen Bahnhof der Siemens-Güterbahn
vorbei. Der Bahnhof mit seinen drei Gleisen liegt in einem etwa 21 m breiten Mittelstreifen
zwischen den beiden Fahrdämmen der Straße. Vom Bahnhof Ruhleben aus überführt die
Reichsbahn auf einer 2,1 km langen Zuführungsstrecke die für die Siemenswerke bestimmten
Waggons bis zu dem Bahnhof in der Nonnendammallee bzw. holt die für den Rücktransport
zusammengestellten Wagen von dort wieder ab. Die Verteilung der Wagen auf die einzelnen
Siemenswerke übernehmen die elektrischen Lokomotiven der Siemens-Güterbahn. Außerdem
laufen über diesen Bahnhof die Wagen für die von der Reichskreditgesellschaft betriebenen
Strecken im östlichen Haselhorst nach dem Eiswerder und vor allem zu den großen Tanklagern
der Firmen Shell und Esso am Salzhof. Diese Anschlußbahn, auf der die WTAG mit Dieselloks
den Betrieb für die Reichskreditgesellschaft führt, zweigt am Westende der Nonnendammallee
aus dem Siemens-Bahnhof ab und führt in nördlicher Richtung weiter. In der Hauptsache ist
heute der Siemens-Bahnhof von den Kesselwagenzügen mit Ölprodukten besetzt, die zu den
Tanklagern am Salzhof transportiert werden, oder mit den entleerten Ölzügen, die zur Abholung durch die Reichsbahn wiederum auf dem Siemens-Bahnhof abgestellt werden. Dieser
Bahnhof, der für die Firma Siemens und die übrigen angeschlossenen Firmen auch heute noch
von wirtschaftlicher Bedeutung ist, konnte am 16. März 1983 auf sein 75jähriges Bestehen
zurückblicken.
Allerdings beschränkt sich dieses Jubiläum nicht auf den Bahnhof; die gesamte SiemensGüterbahn, von der der Bahnhof ja nur ein Betriebsteil ist, konnte am gleichen Tage ihr
75. Jubiläum begehen.
Im folgenden soll aber weniger der technische und wirtschaftliche Werdegang der SiemensGüterbahn im Mittelpunkt stehen als vielmehr die Stadt- und verkehrsplanerischen Vorstellungen und Bestrebungen, die die Bahn zum Gegenstand ihrer Entwürfe gemacht haben.
Zunächst aber sei auf die Vor- und Entstehungsgeschichte unserer Güteranschlußbahn eingegangen: Schon im Jahre 1899, noch vor der Jahrhundertwende, als die Firma Siemens &
Halske ihr einstiges Kabelwerk, das erste Werk am „Nonnendamm", d. h. der nachmaligen
Siemensstadt, errichtet hatte, suchte sie nach Lösungen, wie sie ihre neue Fertigungsstätte an
die Staatsbahn anschließen könnte. In jener automobillosen Zeit war der Eisenbahntransport
zum und vom Werk für jedes größere Industrieunternehmen von ausschlaggebender Bedeutung. Als Straßenfahrzeug stand nur das pferdebespannte Fuhrwerk zur Verfügung, das Güter
nur über kurze Distanzen im Stadtverkehr zu befördern vermochte. Als behelfsmäßiges
Verkehrsmittel hatte Siemens & Halske bereits 1899 bei Inbetriebnahme des Kabelwerks ein
Trajektschiff eingesetzt, einen besonders konstruierten Dampfer, der auf der Spree zwischen
dem Werk und einem bis zum Ufer des Flusses geführten Anschlußgleis des Bahnhofs Westend
(oberhalb der damaligen Eisenbahnbrücke am Charlottenburger Schloßpark) pendelte und
jeweils zwei Güterwagen mitführen konnte. Mit diesem Schiff konnten bei zwölfstündigem
Betrieb pro Tag insgesamt 16 Eisenbahnwagen hin und her befördert werden. Diese Verkehrsverbindung reichte so lange aus, wie sich der Bedarf an Eisenbahntransporten im engen
Rahmen hielt. Dringend notwendig aber wurde die Herstellung eines dauerhaften und ausrei114
Güterbahnhof Nonnendammallee, Oktober 1982
chenden Eisenbahnanschlusses seit 1904, also zu dem Zeitpunkt, als immer mehr neue Werke
am „Nonnendamm" geplant wurden und auch entstanden, die verkehrlich erschlossen werden
mußten.
Der Leiter und zugleich Planer der Siemens-Bauabteilung, der Regierungsbaumeister Karl
Janisch, konnte sich bei seinen vorbereitenden Projektarbeiten für einen Güterbahnanschluß
für die Siemens werke zunächst auf einen bereits vorliegenden Entwurf stützen. Die Stadt
Spandau hatte nämlich im Jahre 1900 ein Projekt für eine kombinierte Straßen- und Güterbahn
ausarbeiten lassen, das eine Straßenbahnverbindung zwischen der Spandauer Altstadt und
dem fernen „Nonnendamm" über Haselhorst vorsah, außerdem sollten die wenigen schon an
der Unterspree gelegenen Industriebetriebe - es handelte sich um die Firma Motard in
„Paulstern" und um das Siemens-Kabelwerk - Gleisanschlüsse erhalten, die von der militärfiskalischen Anschlußbahn Spandau-Eis werder abzweigen sollten. Dieser Entwurf blieb unverwirklicht, denn der Stadt Spandau standen die Mittel für die Ausführung, die 1902 auf
533 000 RM veranschlagt worden waren, nicht zur Verfügung. Diesen Entwurf entwickelte
Janisch 1905 weiter. Tatsächlich wurden dann 1907/08 sowohl die Güterbahn als auch die
Straßenbahnstrecke ausgeführt. In Siemensstadt hatten beide Bahnen sogar gemeinschaftliche
Gleise. Da aber dieser Gemeinschaftsbetrieb von Straßen- und Güterbahn diese Gleisstrecken
zu stark belastete, wurde 1918 bis 1922 die Auflösung dieser gemeinsamen Strecken ausgeführt,
so daß jeder Verkehrsträger nun über seine eigenen Gleise verfügte. Die von Siemens gebaute
Straßenbahn von Spandau nach dem Nonnendamm wurde am 1. Oktober 1908 eröffnet und ein
Jahr später von der Stadt Spandau übernommen. Ihre weitere Entwicklung interessiert hier
nicht mehr.
115
Die Siemens-Güterbahn wurde an die militärfiskalische Güterbahn Spandau-Eiswerder angeschlossen, diese Lösung hatte seinerzeit auch die Stadt Spandau vorgesehen. Diese im Jahre
1892 dem Betrieb übergebene Anschlußbahn verband die staatlichen Rüstungsfabriken Artilleriewerkstatt, Geschoß-, Gewehr-, Munitions-, Pulverfabrik und das Feuerwerkslaboratorium
mit dem Staatsbahnhof Spandau. Von diesem zog sich die Bahn in drei großen Bogen durch
das militärfiskalische Fabrikgelände, vor allem nördlich der Spree und im Westen von Haselhorst. An der Stelle der Militärbahn, die am weitesten nach Osten gelegen war, etwa an der
Einmündung der Gartenfelder Straße in die Berliner Chaussee (Straßenname heute Am
Juliusturm), zweigte der Siemens-Anschluß ab und verlief weiter in östlicher Richtung, und
zwar nördlich der Nonnendammallee, die zu dieser Zeit nur aus einem 5,50 m breiten Fahrdamm und anschließendem Schlacken weg im Zuge der heutigen südlichen Fahrbahn bestand.
Zwischen Straße und Gleisen stand eine Reihe Weiden. Ungefähr gegenüber dem Motardschen
Fabriketablissement „Paulstern" lag der Übergabebahnhof, der aus einem Übergabe- und
einem Umfahrungsgleis, beide etwa je 340 m lang, bestand. Die Gleisanlage war am Südrand
des Haselhorster Exerzierplatzes angelegt worden, und Siemens zahlte für die vom Reichsmilitärfiskus zur Verfügung gestellten Flächen eine Miete. Die Militärverwaltung trat also
Siemens gegenüber als Gestattungsgeber für den Anschluß und als Grundstücksvermieter
auf.
Bis zu dem neuen Bahnhof beförderten Lokomotiven der preußischen Staatsbahn die für die
Siemensfirmen bestimmten Wagen und holten von hier auch die für den Rücktransport
bereitgestellten Waggons wieder ab. Auf dem Bahnhof übernahmen die elektrischen Lokomotiven der Siemens-Güterbahn die Wagen und brachten sie auf verschiedenen Strecken zu den
einzelnen Werken in Siemensstadt und Gartenfeld. Als das Gartenfelder Kabelwerk 1912 in
Betrieb ging, wurde der Bahnhof um etwa 125 m nach Osten verlängert, weil das neueröffnete
Werk zusätzlichen Güterverkehr brachte.
Die 1908 in Betrieb genommene Güteranschlußbahn der Firma Siemens mitsamt ihrem kleinen
Bahnhof an der Nonnendammallee genügte in den ersten Jahren ihres Bestehens den Verkehrsansprüchen vollkommen. Eine neue Situation brachte dann aber der Erste Weltkrieg
(1914-1918). Die militärfiskalische Eisenbahn war durch die Transporte von Rohstoffen, Kohle
usw., andererseits von Waffen, Gerät und Zubehör an die Zeugdienststellen und Truppenteile
überlastet. Dazu kamen die Gütertransporte der Siemensfirmen, die ja ebenfalls auf der Bahn
ihre Kriegsgüter, Munition, Waffen, Nachrichtengeräte, elektrische Schiffsausrüstungen und
Flugzeuge versenden mußten. Bei der stetig zunehmenden Belegung der Militärbahnstrecke
zum Güterbahnhof Ruhleben durch beide Bahnen - jeweils etwa 120 000 Waggons sollen in
den letzten Kriegsjahren über die Militärbahn gelaufen sein, davon etwa die Hälfte für bzw. von
Siemens - waren Verkehrsengpässe zu befürchten.
Die Firma Siemens plante daher 1916 die Herstellung einer eigenen Güteranschlußbahn an den
Güterbahnhof Ruhleben, der im Osten des Bahnhofs abzweigen, in einem Bogen nach Nordosten geführt und die Spree westlich der damaligen Otternbucht überqueren sollte. Auf dem
Gelände der „Lietzower Wiesen", heute Baustelle für das neue Kraftwerk Reuter-West, war ein
Verteilerbahnhof vorgesehen, von dem aus Verbindungsgleise zu den schon bestehenden
Gleisanlagen, u. a. auch zur Nonnendammallee, geführt werden sollten. Dieser Plan fand aber
nicht die Zustimmung der Spandauer Behörden. Besonders der Spandauer Stadtrat für den
Tiefbau, Dr. Fischer, stellte sich gegen das Siemenssche Bahnprojekt. Fischer, der von 1916 bis
1920 in Spandau amtierte, war der erste Stadtplaner Spandaus, der nach damals neuzeitlichen
Gesichtspunkten den Entwurf eines Generalbebauungsplanes der Stadt aufstellte; dieser Ent116
wurf enthielt nicht nur die Zonung nach Bauklassen, die Ausweisung von Wohn- und Industriegebieten, sondern auch verkehrsplanerische Vorstellungen. Fischer sah in dem Straßenzug
Nonnendammallee-Berliner Chaussee (heute Am Juliusturm) eine wichtige Hauptverkehrsstraße, die Spandau mit Siemensstadt verbinden sollte. Innerhalb der Siemensstadt war die
Nonnendammallee bereits seit 1906 in 49 m Breite ausgebaut worden. In dieser Breite wollte
Fischer sie weiter nach Westen in Richtung Spandau fortsetzen, die Berliner Chaussee wollte er
mit 42 m Breite bemessen. In diese Konzeption paßten die Gleisanlagen der Firma Siemens
nicht mehr hinein. Er bestand daher auf einer Herausnahme der Gleise aus der geplanten
Straße.
Nach langen Verhandlungen mit der Firma Siemens, der derartige Verzögerungen ihres
Bauprojektes zunächst recht ungelegen kamen, einigten sich schließlich die Stadt Spandau und
Siemens auf ein neues Projekt: Die nördlich der Nonnendammallee gelegenen Siemenswerke,
nämlich das Kabelwerk in Gartenfeld und das Flugzeugwerk in Siemensstadt, aus dem nach
Kriegsende das Schaltwerk hervorgehen sollte, dachte man durch ein Gleis zu erschließen, das
von dem Verteilerbahnhof nach Norden abzweigte, die Nonnendammallee planfrei mit einer
Brücke überquerte und sich dann neben der heutigen Paulsternstraße auf das Niveau senkte,
um dann auf dem vorhandenen Strang weiter nach Gartenfeld zu führen; das Schaltwerk sollte
durch ein abzweigendes Kurvengleis angeschlossen werden. Die Gleisanlagen der südlich der
Nonnendammallee befindlichen Werke sollten durch ein weiteres Verbindungsgleis mit dem
Verteilerbahnhof verbunden werden. Die Kosten für diese umfangreichen Gleisbauarbeiten,
die Bahndämme, die Brücke usw. wollten die Stadt Spandau und Siemens je zur Hälfte tragen.
Die diesbezüglichen vertraglichen Vereinbarungen wurden am 8. Juli bzw. am 24. August 1918
abgeschlossen, zu einer Zeit, da sich der Krieg bereits seinem Abschluß näherte. Es wurden
noch Vorarbeiten für eine spätere Durchführung eingeleitet, doch bedurfte es einer Bauausführung nun nicht mehr. Das Ende des Krieges brachte eine weitgehende Entlastung der bisherigen
militärfiskalischen Eisenbahn, die jetzt für den zurückgegangenen Verkehr völlig ausreichte. So
wurde das Projekt nicht weiterverfolgt, es geriet zwar nicht ganz, aber doch ziemlich in
Vergessenheit.
Erst ein Jahrzehnt später sollte es wieder aufleben, 1928, als die Planungen für das neue
„West"-Kraftwerk (heute Kraftwerk Reuter) in den Spreewiesen südlich von Sternfeld begannen. Für die Zufuhr von Kohle war neben dem Wasser- auch ein Bahnanschluß vorgesehen.
Der 1918 von Siemens und der Stadt Spandau ausgearbeitete Plan einer von Ruhleben aus in
nordöstlicher Richtung verlaufenden Anschlußbahn, die Siemens - und das neue Kraftwerk an die Reichsbahn anschließen sollte, gewann nun wieder an Bedeutung. Dieser Entwurf
konnte allerdings nur als Grundlage für die neue Planung dienen. Infolge der Lage des
Westkraftwerks erhielt nämlich die nun vorgesehene Bahn eine weiter nach Osten, jenseits der
damaligen Otternbucht, verschobene Führung.
Die Projektierung des Westkraftwerks gab den städtischen Baubehörden Veranlassung, ihre
Entwürfe übergeordneter Straßenzüge mit denen des Elektrizitätswerks abzustimmen. Es
bestanden in den städtebaulichen Überlegungen Vorstellungen von „Hauptverkehrsstraßenzügen", damals des öfteren auch „Ausfallstraßen" genannt. Für den Nord-Süd-Verkehr war ein
auch als „Außenringstraße" bezeichneter Straßenzug vorgesehen, der Charlottenburg mit
Reinickendorf verbinden sollte; vom Wiesendamm herkommend sollte er die Spree östlich des
neuen Kraftwerks überschreiten, dann in einem Bogen nach Nordwesten auf Haselhorst zu
verlaufen. Es war daran gedacht, diese Straße nordwestlich der (einstigen) Saatwinkler Brücke
über den Hohenzollernkanal und weiter durch die Jungfernheide nach Reinickendorf zu
führen.
117
Diese Straßenplanung hat auf dem Bebauungsplanentwurf für die ab 1930 aufgeführte „Reichsforschungssiedlung" in Haselhorst - nach einer vom Deutschen Reich gegründeten Gesellschaft zur Erforschung neuer wirtschaftlicher und technischer Methoden im Wohnungsbau so
genannt - in starkem Maße eingewirkt. Nach dem Projekt dieser Straßenverbindung Charlottenburg-Reinickendorf wurde der 40 m breite, zweibahnige Haselhorster Damm ausgebaut,
das einzige Teilstück, das von dem großen Plan jemals verwirklicht wurde. An Ost-West-Verbindungen hatte man u. a. einen durchgehenden Straßenzug Holtzdamm-Nonnendammallee
vorgesehen. Der Holtzdamm war ein schmaler, kaum befestigter Feldweg, der in dem Laubenund Gewerbegebiet am Ostrand des heutigen Charlottenburg-Nordost (Paul-Hertz-Siedlung)
seinen Anfang nahm und sich in westlicher Richtung durch das ausgedehnte Kleingartenland
des heutigen Stadtteils Charlottenburg-Nord nach Siemensstadt hinzog. Im Zuge dieses Holtzdammes war eine breite Hauptverkehrsstraße geplant, die etwa in Höhe der Mäckeritzstraße in
die Nonnendammallee einmünden sollte. Im Zuge dieses einstmals geplanten Holtzdammes ist
1960 der Popitzweg angelegt worden. Die Nonnendammallee selbst war nur innerhalb der
Siemensstadt in 49 m Breite vollständig ausgebaut, weiter westlich bestand sie nur aus dem
südlichen Fahrdamm, der 1927/28 auf eine Breite von 7,50 m gebracht und asphaltiert worden
war, und einem Gehweg. Auch die anschließende Berliner Chaussee (heute Am Juliusturm)
erfuhr damals einen Teilausbau; damals wurde der nördliche Fahrdamm angelegt. Die Planung lief also den tatsächlichen Verhältnissen weit voraus.
Zu den Straßenbauobjekten in der Siemensstadt-Haselhorster Gegend gehörte auch ein Ausbau des „Schwarzen Weges". Dieser lief vom einstmaligen Gutshaus des Ritterguts Haselhorst
am Knick der Gartenfelder Straße auf 700 m Länge geradezu nach Süden durch die Felder des
Gutes. Vermutlich nach der Farbe seiner Befestigung trug der von Weiden und Pappeln
besäumte Weg den Namen „Schwarzer Weg". 1929 wurde er in Paulsternstraße umbenannt.
Auch dieser Weg hat die Stadtplaner schon frühzeitig zu neuen Einfällen angeregt, wozu seine
gerade Führung beigetragen haben könnte. Schon 1905 hatte Janisch anläßlich der Planung für
die Straßenbahnlinie Spandau-Hauselhorst-Siemensstadt vorgeschlagen, hier eine Straße mit
Mittelplanum für die Bahn und zwei Richtungsfahrdämmen vorzusehen, wobei eine Straßenbreite von 30 m angenommen wurde. Der Spandauer Stadtbaurat Fischer wollte 1917 den
„Schwarzen Weg" in ein Netz überörtlicher Straßen einbinden. Er spricht von einem „nordsüdlichen Straßenzug, welcher von der Jungfernheide ausgehend, über Gartenfelde, den Schwazen
Weg und nach Überquerung der Spree... südlich des Spandauer Bockes die Charlottenburger
Chaussee erreicht... sowie die kürzeste Verbindung zwischen Jungfernheide und Grunewald
darstellt". Also auch bei Fischer tritt bereits der Grundgedanke einer Nord-Süd-Verbindung
hervor, wie sie dann ein Jahrzehnt danach die städtischen Planer verfolgten. Ein späterer
Ausbau des „Schwarzen Weges" als „Ausfallstraße" wird zuerst in den Jahren 1928/29 konkreter erörtert.
Diesen Planungen war eines gemeinsam: Es waren Straßen höherer Ordnung, bei denen eine
zusätzliche Nutzung des Straßenraumes durch die vorhandenen Anlagen der Siemens-Güterbahn nicht mehr möglich schienen. Infolgedessen unterstrich die Stadt Berlin-ihre Forderung,
die Gleise der Siemensbahn rechtzeitig aus dem künftigen Straßenland zu entfernen. „Die
Werkbahnen der Siemens-Schuckert-Werke können nach diesem Plan ohne besondere
Schwierigkeiten aus den Verkehrsstraßen beseitigt werden", sagt ein Vermerk vom 23. Mai 1929
der zentralen Tiefbauverwaltung. Die Realisierung der großartigen Straßenbauprojekte Holtzdamm -Nommendammallee bzw. der „Ausfallstraße Reichskanzlerplatz-Tegel" war innerhalb
der nächsten Jahre nicht zu erwarten, weder bestand als Voraussetzung ein förmlich festgestellter Fluchtlinienplan, noch konnte der Grunderwerb für die benötigten Straßenlandflächen
118
vorbereitet werden. Hinzu kam, daß sich die Stadt Berlin seit 1929 immer mehr in ihrer
finanziellen Krise verstrickte, die eine Inangriffnahme derartig kostspieliger Straßenbauprojekte ohnehin verbot. Die Planungen Berlins schwebten hier gleichsam in einem luftleeren
Raum.
Unter diesen Umständen konnte man der Firma Siemens den Betrieb ihrer Güterbahn in den
von den phantasievollen Planungsvorstellungen betroffenen Gebieten nicht verwehren, man
genehmigte auch beantragte Erweiterungen von Gleisanlagen, aber der Polizeipräsident als
Kleinbahnaufsichtsbehörde erteilte diese Genehmigungen nur befristet, auf einige Jahre, um
später jederzeit eine reibungslose Durchführung der Straßenplanungen zu gewährleisten. Diese
Einschränkungen bezogen sich sowohl auf die 1928 durchgeführte Erweiterung des bislang nur
zweigleisigen Güterbahnhofs an der Nonnendammallee um weitere drei Gleise nach Norden
hin in das frühere Exerzierplatzgelände als auch auf den neuen Gleisanschluß von Siemens
nördlich der Spree bis zum bestehenden Gleisnetz in der Motardstraße und an der Nonnendammallee. In seiner Genehmigung vom 15. November 1929 nach dem preußischen Kleinbahngesetz für die Anschlußbahn Ruhleben-Siemensstadt machte er die Auflage, daß die schienengleichen Kreuzungen des neuen Zuführungsgleises mit der Nonnendammallee, der Motardstraße und der projektierten Ausfallstraße am Kraftwerk West „bis spätestens im Jahre 1935
durch den Bau von Überführungsbauwerken zu beseitigen und gleichzeitig" sämtliche Gleisanlagen der Siemens-Schuckert-Werke aus der Nonnendammallee zu entfernen seien. In den
dreißiger Jahren wurden diese Termine um jeweils ein oder einige wenige Jahre verlängert, da
sich ein Straßenbau immer noch nicht abzeichnete.
Erst gegen Ende des Jahrzehnts schienen umfassende Straßenbaumaßnahmen in einer absehbaren Zukunft bevorzustehen. Anstelle der 1924 als Behelfskonstruktion errichteten hölzernen
Berliner Brücke über die Havel in Spandau wurde 1937 die Errichtung der Berliner-Tor-Brücke
der heutigen Juliusturmbrücke in Angriff genommen, deren Fertigstellung sich bis 1942 hinzog.
Auch der Ausbau der zu beiden Seiten an der Brücke anschließenden Straße „Am Juliusturm"
wurde vorbereitet. In Spandau selbst wurde eine breite Schneise durch das Altstadtgebiet an der
Breiten Straße und am Behnitz geschlagen, die später gelegentlich als brutaler Eingriff in die
Altstadtstruktur bedauert worden ist. Östlich der Brücke wurden die Planungen für den
Straßenbau eingeleitet. Ihrer künftigen Verkehrsbedeutung entsprechend sollte die Straße von
anderen Verkehrsmitteln nur noch planfrei überschritten werden. Daher wurde projektiert, die
plangleiche Kreuzung der - der Siemens-Güterbahn westlich benachbarten - Industriebahn
der „Inag" (Industrieanlagen GmbH) in der Straße „Am Juliusturm" östlich der Zitadelle
durch ein Überführungsbauwerk zu ersetzen. Der Bahnkörper sollte dann im Zitadellenweg
wieder auf Niveau abfallen. Dieses Vorhaben ließ auch den Neubau der Nonnendammallee mit
der Herstellung eines zweiten Fahrdammes in einer absehbaren Zeit heranrücken. Außerdem
bestand die Absicht, die „Ausfallstraße", die ein Jahrzehnt zuvor bei der Kraftwerks- und
Güterbahnplanung eine Rolle gespielt hatte, „in kurzer Zeit" herzustellen. In der Zeit der
Speer-Planung wurde diese Straße als „vierter Rang" bezeichnet. Der Polizeipräsident forderte
daher die Firma Siemens im März 1938 auf, die Beseitigung der plangleichen Kreuzungen
vorzunehmen und den Güterbahnhof an der Nonnendammallee bis spätestens zum 31. Dezember 1939 zu beseitigen.
Die Firma Siemens war also genötigt, für ihren Übergabe- und Verschiebebahnhof einen neuen
Standort zu finden, der auch den betriebstechnischen und wirtschaftlichen Erfordernissen
Rechnung trug. Vier Varianten für den neuen Bahnhof wurden ausgearbeitet, zwei davon
verlegen ihn in Süd-Nord-Richtung westlich der Paulsternstraße, wobei die Anlage so angeordnet wurde, daß in dem einen Entwurf der Hauptteil der Verschiebegleise südlich, in dem
119
anderen nördlich der Nonnendammallee liegen sollte. Ein anderes Projekt sah den Bahnhof im
Bereich der östlichen Motardstraße vor, und es waren 1939 auch bereits Verhandlungen mit der
Stadt eingeleitet, die Motardstraße als öffentliche Straße aufzuheben und das Straßenland den
Bahnzwecken zur Verfügung zu stellen. Eine vierte Überlegung schließlich versetzte den
Bahnhof in die damaligen Spreewiesen zwischen Nonnendammallee und Spree westlich von
Paulstern. Zu einer Entscheidung über den Standort des zu verlegenden Bahnhofes kam es
trotzdem nicht.
Die NS-Zeit war für weitreichende städtebauliche Planungen außerordentlich aufgeschlossen.
Umfangreiche Projektierungen wurden in Angriff genommen, bereits vorliegende Entwürfe
wurden umgearbeitet, dann mußten die einzelnen Projekte miteinander abgestimmt werden, da
die eine Planung in die andere eingriff, dabei mußten auch schon beabsichtigte Ausführungen
zurückgestellt werden. Daß finanzielle oder wirtschaftliche Überlegungen bei den Planverfassern eine Rolle gespielt haben, ist nicht ersichtlich. Nachdem man ein Jahrzehnt hindurch die
geplante Ringstraße mit der Güterbahn hatte überführen wollen, wurde 1938 gefordert:
„Gemäß der Forderung des Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt sind ... alle
Eisenbahnen unter dem 4. Ring unterführt". Das erschwerte natürlich die gesamte Güterbahnplanung der Firma Siemens, denn die bisher berechneten Gradienten waren nun wertlos. Noch
einschneidender aber war ein 1938 aufgestellter Plan: der vierte Ring sollte nun östlich am
Kraftwerk West, weiterhin östlich der Paulsternstraße und über den östlichen Teil der Insel
Gartenfeld in Richtung Tegel verlaufen.
Parallel zu dem vierten Ring war im Siemensstädter Bereich eine Eisenbahnstrecke vorgesehen,
die von der Heerstraße nach Tegel führen und je zwei S-Bahn- und Güterbahngleise aufnehmen
sollte. Die Linienführung war „hauptsächlich vom Generalbauinspektor bestimmt... und von
Wehrmachtbelangen beeinflußt". Diese recht unbekümmerten Planungen brachten für die
Projektierung des Siemens-Güterbahnhofs, aber auch für die betroffenen städtischen Straßenbauentwürfe so viele Fragen, daß an eine Innehaltung des Räumungstermines Ende 1939 nicht
mehr gedacht werden konnte. Der Polizeipräsident war daher damit einverstanden, in dieser
Angelegenheit gesetzte Fristen „auf unbestimmte Zeit" zu verlängern. An diesen Planungen
wurde auch noch in den ersten Kriegsjahren gearbeitet, an eine Ausführung war, selbst wenn
die Planungen einen Abschluß gefunden hätten, nach Ausbruch des Krieges 1939 nicht mehr zu
denken. NS-Planungen aus den Speerschen Büros kann man zwar als großzügig bezeichnen, es
haftete ihnen aber auch Rücksichtslosigkeit an, denn sie zeigten wenig Einfühlung in vorhandene Stadtstrukturen und die Landschaft. Angelegt waren diese Planungen in einem Maßstab,
der zu den tatsächlich bestehenden Notwendigkeiten häufig in keinem Verhältnis mehr stand.
Nach Beendigung der Blockade wandte sich die Tiefbauverwaltung dem Ausbau schon bestehender bzw. neu herzustellender Straßenzüge zu. Das Notstands- oder „Garioa"-Programm
brachte mit seinen Sondermitteln in den Jahren 1950 bis etwa 1957 die Möglichkeit, umfangreiche Straßenbaumaßnahmen zu finanzieren. Das zur Bekämpfung der damaligen Arbeitslosigkeit konzipierte Programm gab die Möglichkeit, mit niedrigen Tagewerkssätzen viele Arbeitskräfte zu beschäftigen. Ein ganzes Geflecht von neuen Verkehrsstraßen wurde damals im
Nordwesten der Stadt geplant und ausgeführt. 1950 bis 1952 entstand der Tegeler Weg (heute
Kurt-Schumacher-Damm) in der ersten Ausbaustufe. 1952 wurde als damals größtes nach dem
Kriege durchgeführtes Straßen-Neubauvorhaben der Goerdelerdamm angelegt. 1952/53
wurde der „neue" Siemensdamm nördlich der vorhandenen Straße verlegt. Diese Straßenumlegung sowie die des Tegeler Weges zwischen Bahnhof Jungfernheide und Jakob-Kaiser-Platz im
Jahre 1953 geschah, um die Voraussehungen für den Weiterbau des 1938 begonnenen Westhafenkanals zu schaffen.
120
Dieses Netz neuer Verkehrsstraßen hat auch auf die weiteren Straßenbauplanungen des Senats
eingewirkt. Schon Ende 1952 stellte man Überlegungen an, den immer noch nur eine schmale
Fahrbahn aufweisenden Straßenzug der Nonnendammallee (westlich der Siemensstadt) und
der Straße Am Juliusturm ebenfalls auszubauen und mit einer zweiten Fahrbahn zu versehen.
Den akuten Anlaß für den Ausbau der Nonnendammallee gab schließlich die schon 1953
beabsichtigte Errichtung des Ziegelsplitterwerks an der Nonnendammallee gegenüber dem
Siemens-Bahnhof, da man durch den Verkehr zu und von diesem Werk eine erhebliche
zusätzliche Belastung der Nonnendammallee erwartete. Bei den dem Ausbau vorausgehenden
Verhandlungen zwischen den Baubehörden Berlins und den Siemensfirmen tauchte auch
wieder die alte Frage einer Verlegung des Siemens-Bahnhofs an der Nonnendammallee auf,
aber diesmal löste man sie gewandter, als man sie 1918, 1928 und 1938 angestrebt hatte. So
vereinbarten Berlin und Siemens, daß im Endzustand bei grundsätzlicher Beibehaltung der
Planungen aus den Jahren 1918 und 1928 bis 1939 diese Gleisanlagen aus der Nonnendammallee entfernt werden und die Nonnendammallee dann von der Siemens-Güterbahn unter
Beseitigung der höhengleichen Kreuzung niveaufrei überquert werden sollte. Der Zeitpunkt
des „Endzustandes" aber wurde zeitlich überhaupt nicht festgelegt, vielmehr führte man
1954/55 den neuen nördlichen Straßenteil am Güterbahnhof entlang, der nun zwischen zwei
Fahrdämmen in einem 21 m breiten Mittelstreifen lag. Lediglich zwei der vorhandenen fünf
Gleise gab Siemens auf und stellte die bisherigen Gleisflächen dem Straßenbau zur Verfügung.
Derartige Abmachungen konnten um so eher getroffen werden, als sich bereits damals, vor
Mitte der fünfziger Jahre, deutlich der Rückgang des Güterverkehrs auf der Schiene abzuzeichnen begann.
Auch heute, fast drei Jahrzehnte nach dem Ausbau der Nonnendammallee hat sich eine
Notwendigkeit, den Bahnhof in seiner Lage zu verändern, nicht gezeigt. Was man allerdings
1954 nicht voraussehen konnte war, daß der Güterbahnhof in der Nonnendammallee eine
erhebliche Funktionsänderung erfahren mußte. Er wurde seit etwa 1965 zum Olbahnhof für die
großen Tanklager der Firmen Shell und Esso am Salzhof, die von Ruhleben her über die
Siemens-Anschlußbahn und den Siemens-Bahnhof mit Kesselwagenzügen beliefert wurden.
Auf diesem übernehmen die Lokomotiven der Westfälischen Transport AG die Züge mit den
Mineralölprodukten und führen sie auf dem Anschlußgleis nach dem Salzhof den Tanklagern
zu. Im letzten Jahrzehnt gingen im Jahr jeweils etwa 15000 bis 20000 Ölwaggons über den
Bahnhof in der Nonnendammallee.
Die Straßenplanung des vierten Rings, die einst mit der Bahnplanung in engem Zusammenhang stand, hat die Jahrzehnte überdauert. Die alte „Ausfallstraße" östlich vom Kraftwerk
Reuter und ihre nördliche Fortsetzung im Zuge der Paulsternstraße sind in den Planungen seit
den 50er Jahren unverändert zu finden. Bei der Projektierung für das neue Heizkraftwerk
„Reuter-West" der Bewag ist die Straße zwischen Spree und Motardstraße, diesmal als „Hauptverkehrsstraße" bezeichnet, wiederzufinden und im Bebauungsplan für das Kraftwerk zwischen Spree und Motardstraße auch entsprechend ausgewiesen. Hier ist die Straßenplanung
zum ersten Mal über die skizzenhaften Entwürfe hinaus gediehen. So ist das zählebige Projekt
immerhin 65 Jahre alt geworden, ohne daß seine Realisierung in absehbarer Zeit in Aussicht
stünde. Da aber der Verkehr mit seinen Bedürfnissen nicht ohne Straßen sein kann, hat man ein
Provisorium geschaffen. Im Jahre 1952 baute die Stadt die Paulsternstraße im Notstandsprogramm behelfsmäßig aus, die neue Straße wurde neben dem einstigen „Schwarzen Weg"
angelegt; 1966 wurde der Fahrdamm wegen des inzwischen stark angewachsenen Verkehrs
wiederum provisorisch verbreitert. So hat die Straße als „vorläufige Einrichtung" auch schon
wieder ein Alter von dreißig Jahren erreicht.
121
Nachrichten
Vom 23. September an bis Ende November 1983 findet eine kleine Ausstellung zum Thema Hamburger
Bahnhof/Verkehrs- und Baumuseum im Verkehrsmuseum in der Urania statt.
Berichtsjahr 1984 der Internationalen Bauausstellung 1987
Nach dem Stand Mitte 1983 seien hier einige der Veranstaltungen aufgeführt, die das Land Berlin,
vertreten durch den Senator für Bau- und Wohnungswesen, im Berichtsjahr 1984 für die Internationale
Bauausstellung 1987 vorgesehen hat:
1. Retrospektive „Wohnen in Berlin 1900-1984". Konzeption und Projektleitung: Stiftung Deutsche
Kinemathek.
2. „Friedrich Gilly", Ausstellung, Ort: Berlin-Museum, Zeit: 21. September bis 1. November 1984. Friedrich Gilly (1772-1800) darf als Begründer der modernen Baukunst - nicht nur in Preußen - gelten.
Bisher unbekannte Originalzeichnungen, Fotos und Archivalien, aber auch Objekte des Kunstgewerbes werden Friedrich Gillys umfassende Leistungen im Städtebau und in der Landbaukunst dokumentieren. Projektleitung: Berlin-Museum in Zusammenarbeit mit Hella Reelfs.
3. „Die Zukunft der Metropolen - Das Beispiel Berlin", Ausstellung/Veranstaltung, Ort: Technische
Universität Berlin, Zeit: September bis November 1984. Ein Forschungs-, ein (wissenschaftliches und
populäres) Veranstaltungs- sowie ein Ausstellungsprogramm zur Untersuchung und Darstellung der
Zukunftsperspektive Berlins als deutscher Metropole. In einem historischen internationalen Vergleich
werden Aspekte der Geschichte, der Gegenwartsproblematik und der Zukunftschancen der Metropolen im Prozeß des technisch-industriellen und gesellschaftlichen Wandels behandelt. Es wird der Frage
nachgegangen, inwieweit und in welchem Sinne die besonderen Probleme des heutigen Berlins auch als
Zuspitzung genereller Probleme der Metropolen begriffen werden können, inwieweit die Nachteile der
Berliner Situation auch die Chancen ihrer Umkehrung in Vorteile bergen und inwieweit die besonderen
Zuspitzungen von Problemen, wie aber auch spezifische Standortaspekte Berlins die Chancen bieten
für exemplarische Antworten auf gesellschaftliche Probleme von nationalem und internationalem
Interesse. Konzeption und Projektleitung: Technische Universität Berlin, vertreten durch den Präsidenten und K. Schwarz.
4. „Städtisches Wohnen in Berlin und in London vom Mittelalter bis heute", Ausstellung, Ort: voraussichtlich Orangerie, Schloß Charlottenburg, Zeit: Oktober 1984. Konzeptionelle Vorbereitung: Josef
Paul Kleihues, Projektleitung: Joseph Rykwert, Association für Metropolitan Arts, London.
5. „Kreuzberg", Kreuzberger Mischung gestern - heute - morgen, Ausstellung, Ort: Bewag-Halle,
Paul-Lincke-Ufer, Zeit: 16. September bis Oktober 1984. Gegenstand der Ausstellung soll das komplexe Phänomen der „Mischung" sein, als Gewerbegeschichte, Arbeits- und Alltagskultur sowie
Gewerbe- und Wohnarchitektur. Konzeptionelle Vorbereitung: Hardt-Waltherr Hamer, Projektleitung: K. H. Fiebig, D. Hoffmann-Axthelm, E. Knödler-Bunte.
Denkmalschutz für Deutschlands letzten Glaspalast
Das Verwaltungsgericht Berlin hat jetzt den Denkmalschutz für das ehemalige Deutsche ArbeitsschutzMuseum an der Fraunhoferstraße in Charlottenburg bestätigt. Das Gebäude war im Frühjahr 1982 vom
Landeskonservator unter Schutz gestellt worden. Gegen die Unterschutzstellung hatte die Eigentümerin
des Gebäudes, die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, geklagt. Die 16. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin wies die Klage der Bundesanstalt ab.
Bei dem früheren Arbeitsschutz-Museum mit seiner gläsernen Ausstellungshalle handelt es sich um das
letzte Objekt dieser Art im gesamten deutschsprachigen Raum. Derartige Glaspaläste sind sonst nur noch
als Gewächshäuser in botanischen Gärten zu finden. Das Museum für Arbeitsschutz war von 1900 bis 1906
als Eisenfachwerkbau für die „Ständige Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt" vom Reichsamt des Innern
erbaut worden.
I
SchB.
122
Fünfundsiebzigster Jahrestag der Eröffnung des Märkischen Museums
Nachdem der Magistrat von Berlin schon 1891 für den Bau des Museums ein Grundstück an der
Waisenbrücke erworben hatte und 1899 mit den Aushubarbeiten begonnen worden war, konnte das
Märkische Museum am Köllnischen Park erst am 10. Juni 1908 eröffnet werden. In einer Sonderausstellung, die noch bis November 1983 gezeigt wird, erinnert das Märkische Museum Berlin an seine Baugeschichte und an seinen Architekten Ludwig Hoffmann (1852-1932), der von 1896 bis 1924 Berliner
Stadtbaurat war.
Die Fotosammlung des Museums konnte inzwischen durch Originalfotografien des 1950/51 in der Ära
Ulbricht abgerissenen Berliner Stadtschlosses ergänzt werden, die sämtlich von „J. Jamrath und Sohn,
Photograph beider kaiserlich-königlichen Majestäten in Berlin", stammen. Außerdem wurden der Sammlung mehr als 2000 Berlin-Ansichten aus der Zeit nach 1945 einverleibt. Die Grafiksammlung wurde um
Handzeichnungen aus den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts vermehrt, darunter die Zille-Mappe
„Komm, Karlineken, komm" von 1925. In der Handschriftenabteilung wurde eine Dokumentation von
„merckwürdigen" Justizvorgängen aufgenommen, die aus Edikten und Urteilen der Jahre 1600 bis 1665
besteht.
SchB.
Vier Millionen Bücher bei den Staatlichen Allgemeinbibliotheken in Ost-Berlin
Im Ostteil der Stadt stehen Bücher, Fachzeitschriften und Tonträger aus insgesamt 550 Bibliotheken den
Bürgern kostenlos zur Verfügung. Ein Fünftel der Bevölkerung Berlins wird von den Staatlichen Allgemeinbibliotheken mit einem Gesamtbestand von rund vier Millionen Büchern, Bildern, Karten und
Tonträgern versorgt. Die Berliner Stadtbibliothek konnte im ersten Halbjahr 1983 ihren Buchbestand um
etwa 40000 Bände auf 1,116 Millionen Exemplare erweitern.
SchB.
Von unseren Mitgliedern
Arne Hengsbach 70 Jahre
Am 20. November 1983 feiert Arne Hengsbach, einer unserer namhaftesten und fruchtbarsten Berlinhistoriker, seinen 70. Geburtstag. Wer den großen und schwergewichtigen, äußerlich etwas mürrisch
wirkenden Mann nicht kennt, wird in ihm kaum einen derart aufgeschlossenenen und sensiblen, vielseitig
interessierten und humorvollen Geschichtskenner vermuten. Geboren in Siemensstadt, ist er zeit seines
Lebens diesem Stadtteil zwischen Berlin und Spandau und seiner besonderen, weit über das Lokale
hinausgreifenden Entwicklung treu geblieben. Am Staatl. Kantgymnasium Spandau legte er 1932 das
Abitur mit einer „Fünf in Mathematik und einer „Eins" in Geschichte ab - ein bedeutsames Indiz für die
frühe Hinneigung zur Historie, die vielleicht sogar erblich bedingt war. Denn auch sein Vater, der
Schriftsteller Arno Hengsbach, genannt Hach, wandelte zu jener Zeit eifrig und im Hauptberuf auf den
Spuren des alten Berlin. Er schrieb in den Jahren 1928 bis 1945 für die „DAZ", die „Morgenpost", die
„Germania" und andere Zeitungen heimatgeschichtliche Artikel, wobei er die Literaturgeschichte bevorzugte; auch die Berliner Stadt- und Dorfkirchen wurden in umfangreichen Serien behandelt. Der Sohn
folgte den väterlichen Anregungen schon zeitig und begann seine literarische Tätigkeit im Jahre 1932 mit
Artikeln über die Entstehung Siemensstadts im „Siemensstädter Anzeiger", für die er ein Honorar von
2 RM pro Aufsatz erhielt. Zur gleichen Zeit erlernte er bei der bekannten Gsellius'schen Buchhandlung in
der Berliner Mohrenstraße den Antiquariatsbuchhandel, bis der Zweite Weltkrieg ihm schließlich andere
Tätigkeiten abverlangte.
Voll zur Entfaltung konnte Arne Hengsbach seine historische Begabung erst nach Kriegsende bringen. Er
war von der Gründung des „Spandauer Volksblattes" im März 1946 an bis zu 750-Jahr-Feier Spandaus im
Jahre 1982 heimatkundlicher Mitarbeiter dieser Zeitung. Die erste zusammenhängende Darstellung der
Geschichte Siemensstadts (mit Haselhorst) erschien 1954 anläßlich des 50jährigen Gründungstages der
Wohnstadt - aus der Feder Arne Hengsbachs. Neben den selbständigen Schriften hat er in verschiedenen
Publikationen, vor allem im „Bär von Berlin" und in den „Mitteilungen" unseres Vereins (dem er seit 1949
123
angehört), mehr als 50 größere Aufsätze veröffentlicht, die die Siedlungs-, Bau-, Industrie- und Verkehrsgeschichte Berlins zum Gegenstand haben. Mit gleicher Freude und Akribie widmete er sich kulturgeschichtlichen Themen wie dem Spandauer Theater oder der Berliner Trivialliteratur. Zahlreiche Arbeiten lieferte Hengsbach auch zur topographischen Entwicklung seiner Vaterstadt Spandau, der er in
verschiedenen beruflichen Funktionen diente, so z. B. 1946 bis 1950 als Pressereferent beim Bezirksamt
Spandau. Zum Abschluß seines langen Berufslebens war er in den letzten Jahren als firmengeschichtlicher
Mitarbeiter bei der Firma Siemens tätig. Das Altenteil hat dieser überaus kundige Sachwalter BerlinSpandau-Siemensstädter Geschichte zwar erreicht, wünschen wir ihm und noch mehr uns, daß er sich
tunlichst noch nicht darauf zurückziehen möge!
Peter Letkemann
Buchbesprechungen
Niemands Land. Fotos: Monika Hasse, Text: Peter Schneider. Verlag Frölich & Kaufmann GmbH, Berlin
1982, 25 DM
Monika Hasse, von Hause aus mit dem Entwerfen von Theaterkostümen beschäftigt und in dieser
Eigenschaft auch Gastprofessorin an der Hochschule der Künste Berlin, fotografiert seit einem Jahrzehnt.
Wer aus ihrer Arbeit in den schönen Künsten nun auch schöne Fotografien im herkömmlichen Sinn
erwartet, wird sich getäuscht sehen - auf ihren Fotos hält sie „planmäßig Unwichtiges, Nebensächliches,
Wertloses fest". Weder Ansichtskartenaufnahmen noch Stadtlandschaften herkömmlicher Art sind ihr
Sujet, „sondern der Wahrnehmungsraum eines einzelnen Menschen, der in dieser Stadt zu einer bestimmten Zeit lebt. Zu sehen ist eine Stadt, die nahezu menschenleer ist. Soweit Menschen erkennbar sind, wirken
sie verlorener noch als die Dinge, die sie umgeben. Daß diese Stadt Berlin heißt, tut fast nichts zur Sache.
Monika Hasses Fotos handeln vom Leben in einer großen Stadt am Rand des zweiten Jahrtausends."
So beschreibt Peter Schneider die künstlerische Sicht der Fotografin. Peter Schneider ist zuletzt durch seine
Erzählung „Der Mauerspringer" (1982) und durch das Drehbuch zum Film „Der Mann auf der Mauer"
bekannt geworden. Er steuert Zwischentexte bei, für die ähnliche Kriterien gelten können wie für die
Fotos, aber auch Bildunterschriften, etwa zu einem Foto eines großen Mercedes-Sterns oberhalb eines die
Mauer symbolisierenden Zaunes mit drohend abwehrenden Dornen: „Montags kein Fleisch, freitags kein
Bier. Lieber Erich, wir danken dir." Hier zwei weitere Proben für die bewußt verfremdenden Bildtitel:
„Was aus Berlin wird? Hier ist mein Vorschlag, erwidert der Fahrer dem Reisenden auf seine Frage: ein
Bierzelt über die Stadt, die Außenmauern stehen ja schon, nur in der Mitte 'ne Fahrspur freilassen für den
Bierwagen" und „Die Mauer ist für die Deutschen im Westen der Spiegel, der ihnen Tag für Tag sagt, wer
der Schönste im Lande ist."
H. G Sckultze-Bemdt
Berlin - New York. Schriftsteller in den 30er Jahren, fotografiert von Lotte Jacobi. Mit einem Vorwort von
Ludwig Greve. Zusammengestellt von Walter Scheffler. 100 Seiten, 45 Abbildungen. Pappband 25 DM.
Marbacher Schriften, Band 21, 1982. In Kommission bei der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachf.
GmbH Stuttgart.
Die Fotografin, die heute noch in New Hampshire, USA, tätig ist, kam 1927 nach Berlin, dem „gemütlichen Babel", und hat mit Vorliebe Literaten, Theaterleute und Verleger abgelichtet. Ihre Aufnahmen
sind eine Art fotografischer Literaturgeschichte, von Vicki Baum, Ernst Bloch und Martin Buber bis zu
Kurt Wolff, Carl Zuckmayer und Arnold Zweig, dazwischen Alfred Döblin, Alfred Kerr, die Manns,
Joachim Ringelnatz, Anna Seghers und Kurt Tucholsky. In einem gediegenen Band sind diese zeitgeschichtlich wertvollen und künstlerisch eindringlichen Porträtfotos zusammengefaßt worden, denen
Ludwig Greve ein Geleitwort vorangestellt hat. Er verweist auf das Magazin „Querschnitt", dem diese
Aufnahmen entnommen sein könnten, obwohl ein Teil bereits aus New York stammt, wohin Lotte Jacobi
1935 emigrierte.
Da vor allem der jüngeren Generation „Der Querschnitt" nicht geläufig sein mag, sei auf das Ullstein Buch
Nr. 4716 „Der Querschnitt" hingewiesen, in dem ein Faksimile-Querschnitt durch den Querschnitt
1921-1936 gegeben wird, herausgegeben von Wilmont Haacke und Alexander von Baeyer. In der
Nr. 6/1933 schrieb Dr. Louis Ferdinand von Preußen über Ford, in der letzten Ausgabe vom Oktober
1936 ist ein Artikel von Friedrich Luft abgedruckt. So schließt sich der Kreis wieder.
H. G. Schultze-Berndt
124
Karl Voß: Auf den Spuren Goethes in Berlin. The World of Books Ltd., London 1982.129 Seiten mit einem
Personen verzeichnis, einem Straßenverzeichnis der behandelten Berliner Örtlichkeiten und 28 Abbildungen aus dem 18. Jahrhundert.
Der Titel ist bescheidener als sein profunder Inhalt; denn es schreibt ein Berlin- und Goethe-Kenner
zugleich, der als gebürtiger Berliner die gewissenhafte Berliner Goetheforschung souverän handhabt.
Seine Studie entspringt pädagogischer Absicht und ist ein didaktisches Meisterwerk, in dieser Kürze - er
verfolgt Goethes fünftägigen Berlinaufenthalt von 1778 gleichsam Schritt für Schritt - ein Goethe-Bild von
Berlin her zu entwerfen, bei dem Weimar am Rande bleibt. Er geht der Nachvollziehung dieser Tage
anhand von Goethes Tagebuch den ungewöhnlichen Weg, das in jenem Jahrzehnt noch ungeschiedene
Konglomerat von Spätaufklärung, Sturm und Drang und gerade sich abzeichnender Klassik in die
Berliner Geistes weit einzupflanzen. Selbst der Historiker und Germanist liest bekannte Fakten in bisher
kaum vollzogener Zusammenschau und in statu nascendi der friderizianischen Königsstadt.
Im Mittelpunkt stehen nicht, wie sonst gewohnt, „Goethes Herzog", sondern Wilhelm von Humboldt,
Zelter, die Karschin und die Topographie Berlins.
Der jungen Generation ist es keine leichte Lektüre; sie verlangt mühevolles Sicheinlesen in ein dichtes
Gespinst geistiger Beziehungen anhand eines guten historischen Berlinführers; sie ist doppelt schwer, weil
der Schauplatz der Spurensuche im heutigen Ost-Berlin liegt, das junge Menschen weder kennen noch
leicht aus der trostlosen Verfremdung wiedererkennen können. Gerade deshalb mußte der Versuch
unternommen werden - gleichsam als Nachlese zum Goethe-Jahr und von einem Berliner, dem aus eigener
kindlicher Heimatkunde Alt-Berlin noch vertraut ist.
Verdienstlich ist es, die Spurensuche an die noch vorhandenen topographischen Gegebenheiten aus dem
18. Jahrhundert anzuknüpfen; allerdings wäre man dankbar für eine besser lesbare, größere Karte von
Berlin um etwa 1800; denn nur so ist das im Anhang gegebene Straßenverzeichnis für den Unkundigen
nachvollziehbar.
In dem Bestreben, auf knappem Raum ein geistiges Gesamtbild zu entwerfen, ließ es sich offenbar nicht
vermeiden, zeitlich vor- und zurückzuspringen, was die Lesbarkeit erheblich erschwert. Vf. setzt bei jungen
Leuten viele literaturhistorische Kenntnisse voraus, die kaum noch vorhanden sind.
Der Kunstgriff, städtebauliche Gegebenheiten vom Zeitpunkt ihrer Entstehung bis zu ihrem heutigen
Zustand zu verfolgen, läßt vor dem Leser das Wesen der Residenzstadt, wie es Nicolai zuerst beschrieben
hat, bis zum Gebilde Groß-Berlin entstehen - so z. B. das Ensemble des Forum Fridericianum, den
Wollmarkt über den Alexanderplatz der Döblin-Zeit bis zum Mittelpunkt der „Sozialistischen Metropole
der Hauptstadt der DDR". Der Leser mache sich selbst auf die Suche!
Viele reizvolle Streiflichter beleben das Bild, wie z. B. die Erwähnung, daß Chamisso WachofFizier am
Potsdamer Tor war, daß Goethe und Schiller in demselben Gasthof Unter den Linden abstiegen, oder die
launige Gegenüberstellung, wie verschiedenartig Goethe, Schiller und Heine „die Linden" erlebten.
Es bleibt die Aufgabe, das scheinbar schockierende Zitatrichtigzu interpretieren: „Es ist ein schön Gefühl,
an der Quelle des Krieges zu sitzen in dem Augenblick, da sie überzustrudeln droht. Und die Pracht der
Königsstadt und Leben und Ordnung und Überfluß, das nichts wäre ohne die tausend und tausend
Menschen, bereit für sie geopfert zu werden. Menschen, Wagen, Pferde, Geschütze, Zurüstungen, es
wimmelt von allem..." - Diese scheinbare Kriegsbegeisterung ist verständlich als Gefühl des Aufbruchs
aus politischer Stagnation und Kleinstaatlichkeit und ist abzugrenzen gegen militaristische oder nationalistische Einschläge, womit diese Anschauung nichts zu tun hat.
Erwähnenswert ist ferner das Streiflicht, wie Goethe als weimarischer Staatsminister an gewerblichen und
sozialen Problemen befaßt ist; er besuchte die Königliche Porzellanmanufaktur.
Das schöne und bedeutsame Kapitel seiner Freundschaft mit Zelter liest sich angenehm; neu oder wenig
bekannt ist Ottilie von Goethes Ehekrise, in der sich alle Beteiligten eine Heilung durch einen Berlinbesuch
erhofften. In allem erwies sich Zelter als väterlicher Freund, als eine zarte und redliche Gestalt.
Durch die Freundschaft mit Zelter reicht Goethes Berlinverbundenheit bis ins Zeitalter Friedrich Wilhelms III. hinein.
Ein seelischer Mittelpunkt ist ferner das Humboldt-Kapitel; die schöne Freundschaft beider Männer
nahm angesichts nahenden Todes der beiden tiefernste Züge an.
Der Berliner Leser ist dankbar für das Goethe-Won: „Berlin (sei) der einzige Ort in Deutschland, für den
man etwas zu unternehmen Mut hätte...", eine Überzeugung, aus der die Stadt heute leben muß.
Das Kapitel der Goethe-Aufführungen und der literarischen Adaptation in Berlin kann Vf. in diesem
Rahmen nur streifen; es ist eine eigene Studie wert, vor allem im Zusammenhang mit seiner Hochschätzung der guten Bühnensprache am Berliner Theater (S. 99) und des kunstverständigen Publikums.
125
Vf. berichtet auch, wie sehr Goethe im Alter mit dem Aufstieg zur vormärzlichen Industriestadt verbunden
blieb. Diese Anschauung mag seine Ahnung für das heraufsteigende Industriezeitalter geweckt haben.
„Ich lebe in Berlin mehr, als ich sagen kann, und vergegenwärtige mir möglichst das mannigfache Große,
was für die Königsstadt, für Preußen und für den gesamten Umfang der Kunst und Technik, der
Wissenschaften und der Geschäftsordnung (gemeint: Wirtschaftsordnung) geleistet und gegründet wird"
(S. 101).
Seine Zuneigung zu Berlin begann 1778 mit Wegely und endete im hohen Alter mit den Trostworten
Zelters zu seinen Altersdepressionen: „Berlin segnet dich; kein Ort ist in der Welt, wo du besser angesehen
bist."
Das weist voraus auf die beginnende Goethe-Verehrung in den Berliner Salons.
Christiane Knop
Charlotte Wolff: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit/Eine Autobiographie. Beltz Verlag Weinheim
und Basel, 1982, 319 Seiten, brosch.
Der Lebensweg der Autorin - Jüdin, Ärztin, Psychologin und Wissenschaftlerin - führte aus einem
behüteten Elternhaus in einem westpreußischen Provinznest nahe der polnischen Grenze über Danzig,
Königsberg, Freiburg, Tübingen und Berlin nach Paris und London. Sie begegnet einer Vielzahl interessanter Menschen - Maler, Dichter, Schriftsteller, Wissenschaftler -, an denen sich ihr analytischer
Scharfsinn, aber auch ihre intuitive Begabung ebenso offenbaren können wie an den Situationen, in die sie
gerät. In Berlin sind es vornehmlich Dora und Walter Benjamin und deren Kreis, in Paris beeindrucken die
Surrealisten die Emigrantin tief, hier und in London erleichtern ihr Maria und Aldous Huxley neben vielen
anderen Freunden und vor allem Freundinnen das Leben. Ihren Unterhalt verdient sich Charlotte Wolff
mit praktizierter Chirologie, der Charakter- und Schicksalsdeutung aus den Formen und Linien der
Hände. In der Annahme, genug darüber gesagt und geschrieben zu haben, widmet sich die unter dem
Zwang lesbischer Veranlagung lebende Frau fortan sexualwissenschaftlicher Forschung. Sie schreibt ein
Buch über Liebe zwischen Frauen und eines über Bisexualität (beide Bücher liegen in deutscher Übersetzung vor). Wenn die Vf. behauptet, Menschen würden „wesentlich häufiger durch biographische Ereignisse [also durch einmalige, durch Augenblicksereignisse] hetero- oder homosexuell als durch ihre
Konstitution", so ist von hieraus wohl der seltsame deutsche Titel dieses Buches zu erklären - der Sexus der
Vf. ist jedenfalls anläge- und nicht ereignisbedingt. Bisexualität wird nicht nur als Bestandteil der
Persönlichkeit, sondern als gleichberechtigte Lebensform verstanden. „Unter bisexueller Gesellschaft
verstehe ich eine solche, die keine Wertunterschiede bei der einen oder anderen Liebesorientierung macht.
Die Gleichsetzung von Heterosexualität mit Reife und beim Mann mit körperlicher und geistiger Überlegenheit führt zur Zerstörung der menschlichen Rasse." Die Vf. bringt ihre Gedanken über das unkonventionelle Sexualverhalten einer alternativen Gesellschaft, erreichbar durch Erziehung, in den „Feminismus"
(hier mit Frauenbewegung gleichgesetzt) ein. „Wir müssen allen Menschen klarmachen, daß die Zukunft
der Menschheit von einer neuen Mentalität abhängt, die den Materialismus verachtet und statt dessen
Kultur und Liebe zu den erstrebenswertesten Zielen erklärt. Erste Bedingung der Freiheit ist absolute
Toleranz in kollektiven und individuellen Beziehungen" (S. 243), und „nur eine bisexuelle Gesellschaft
kann uns vom Sexismus und der ganzen Skala psychosexueller und sozialer Unterdrückung befreien"
(S. 237). Nur so wird das Verhältnis der Geschlechter zueinander entspannt. „Die vorurteilsbehaftete
Vorstellung der vom Mann abhängigen Frau ist nichts weiter als eine überalterte soziale Konvention"
(S. 306). Nach der Lektüre so breit ausgeführter philanthropisch-utopischer Sexualpsychologie vermißt
der Leser das Fehlen der Chirologie-Erkenntnisse der Vf. um so mehr. Das Buch bleibt „sexlastig". Wer
meint, es könne sich unter die Berolinensien unserer Bibliothek nur verirrt haben, der sei auf die Berliner
Jahre der Studentin, dann Ärztin hingewiesen und auf die Darlegungen der alten Dame anläßlich ihrer
Berlin-Besuche in den 70er Jahren, als sie die hiesigen Lesbierinnen und Emanzipierten mit ihren kühnen
Thesen noch in Wallung brachte.
Gerhard Kutzsch
Eike Geisel: Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente, 158 Seiten, 120 Abbildungen, Verlag
Severin und Siedler, Berlin, Leinen, 38 DM.
Schon in dem Namen „Scheunenviertel" liegt etwas Unheimliches und Beängstigendes, zugleich aber auch
eine Verlockung. Günter Kunert schreibt in seinem Vorwort: „Das Scheunenviertel war eine eigentümliche Mixtur aus vielen Bestandteilen, nicht nur Ghetto, nicht nur Unterwelt, nicht nur billiges Amüsier126
viertel, nicht nur Zuflucht der aus Polen eingereisten armen Juden, nicht nur ein ,Zille-Milljöh'." Wo
befand sich dieses Viertel? Es lag hinter dem Berliner Alexanderplatz in einem Geviert von Gassen und
Gäßchen zwischen Münz- und Lothringer Straße, Prenzlauer und Rosenthaler Straße. „Hier wohnten im
alten Berlin die armen Leute, und hier befanden sich schon früh die Quartiere der Armut und die
Schlupfwinkel der Verworfenheit. Im Jahre 1846 wies Berlin nach einer statistischen Aufstellung schon
2000 Verbrecher, ebensoviel Obdachlose sowie 8000 Bettler und andere fragwürdige Existenzen auf, und
im Lauf dieser Zeit wurden die engen Gassen und die schmutzigen Häuser des Scheunenviertels immer
mehr zum Schlupfwinkel des Verbrechertums." (Aus einem Polizeibericht Anfang dieses Jahrhunderts.)
Im Jahre 1906/07 wurde der verfallene Kern um den Babelsberger Platz abgerissen und die Volksbühne
dort erbaut; der Platz hieß nun Bülowplatz, aus ihm wurde der Horst-Wessel-Platz, daraus der RosaLuxemburg-Platz, und heute heißt er schlicht Luxemburgplatz. Doch das Viertel blieb heruntergekommen. In der Dragoner-, Linien-, Rücker- und Mulackstraße blieb die Wohndichte fünfmal höher als in der
ganzen Stadt, die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. So also das Zustandsbild, bevor die erste
Judenwelle nach dem Attentat auf den Zaren 1881 hereinschwappte. Zuerst waren es noch wenige, ihre
Zahl vergrößerte sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der russischen Revolution, als viele
Juden aus Angst vor Pogromen ihre Heimat in Rußland und Polen verließen, um in Deutschland Schutz
und Auskommen zu suchen. Sie alle - die Ostjuden - kamen am Schlesischen Bahnhof an und siedelten
sich wie schon so viele vor ihnen hinter dem Alexanderplatz an. Man schätzt, daß es einige tausend
gewesen sind. Sie kamen als kleine Kaufleute, Schuster, Uhrmacher, Schneider oder Zigarettenarbeiter
nach Berlin, die meisten in der Hoffnung, von hier den Sprung über den großen Teich nach Amerika
machen zu können. Ihr Zentrum war die Grenadierstraße mit ihrer Vielzahl von Geschäften, koscheren
Speisestuben, mit ambulantem Straßenhandel, Betstuben, Synagogen und Talmudschulen, aber auch
zionistischen Kulturvereinen und sozialistischen Klubs.
Das Buch Eike Geisels dokumentiert anhand der verschiedensten Texte, Bilder und Dokumente die
Atmosphäre und die Geschichte dieses ostjüdischen Viertels, das durch die Nazis ausgerottet und schon
beinahe vergessen innerhalb unserer einstigen Hauptstadt existierte.
Irmtraut Köhler
Wolfgang Carle: Das hat Berlin schon mal gesehen/Die Geschichte des Friedrichstadt-Palastes. HenschelVerlag Berlin (Ost) 1982, 236 Seiten, mit 104 Abbildungen.
Angesichts der Fülle nostalgischer Berlin-Bücher in West und Ost engt sich das Feld der Themen für
schreibwillige Autoren immer mehr ein. W. Carle hat sich die Geschichte der Berliner Revue, der „Show",
zum Gegenstand gewählt, keineswegs nur die des Friedrichstadt-Palastes, wie der Untertitel verheißt,
wenngleich dessen Geschicke auch heller ausgeleuchtet werden. Das ist ein Buch, ganz speziell geschrieben
für Liebhaber der Welt des Varietes und der Ausstattungsstücke. Den jüngeren Generationen sagen die
tausend genannten Namen von Artisten und Künstlern der zwanziger und dreißiger Jahre nichts mehr.
Gerhard Kutzsch
Im III. Vierteljahr 1983
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Käthe Kutsche
Zimmermannstraße 17, 1000 Berlin 41
Ursula Seffert
Ruhrstraße 15, 1000 Berlin 31
Wolfgang Spenn, Dipl.-Verwaltungswirt
Florastraße 7, 1000 Berlin 41
Hans Joachim Wolf
Stadtrandstraße 488, 1000 Berlin 20
127
Veranstaltungen im IV. Quartal 1938
1. Donnerstag, den 6. Oktober 1983, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Klaus von
Krosigk, dem Referenten für Gartendenkmalpflege beim Senator für Umweltschutz, „Aufgaben und Ziele der Gartendenkmalpflege in Berlin". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
2. Donnerstag, den 13. Oktober 1983,19.30 Uhr: „Berlin halt ein..." Aus dem Leben und Werk
von Paul Zech. Es liest Siegfried Haertel. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
3. Sonntag, den 13. November 1983, Volkstrauertag, 10.30 Uhr: „Von Amalie Friedländer und
Charlotte von Kalb zu Adolph von Menzel und Theodor Mommsen - Begehung des dritten
Kirchhofs der Dreifaltigkeitsgemeinde am Hang des Tempelhofer Berges". Führung: Herr
Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt: Bergmannstraße 39/41. Fahrverbindungen: U-Bhf.
Gneisenaustraße, Busse 4, 24, 28.
4. Donnerstag, den 24. November 1983,19.30 Uhr: Vortrag von Herrn Prof. Dr. Wolf-Dieter
Dube, Generaldirektor der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz: „Die Berliner
Museen in den achtziger Jahren". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
5. Donnerstag, den 1. Dezember 1983, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Prof. Dr.
Irmgard Wirth: „Berliner Bildnismalerei im 19. Jahrhundert". Bürgersaal des Rathauses
Charlottenburg.
6. Mittwoch, den 14. Dezember 1983, 11.00 Uhr: „Vorweihnacht auf einem Barnimdorf.
Treffpunkt vor dem Portal der Dorfkirche Lübars. Mittagessen und gemütliches Beisammensein im „Alten Dorfkrug Lübars". Menü: Selleriecremesuppe, Rinderschmorbraten in
Rotweinsauce, gemischtes Gemüse und Kartoffeln, rote Grütze. 18 DM. Telefonische
Anmeldungen bis zum 28. November 1983 unter der Rufnummer 8 5127 39 ab 19.00 Uhr.
Fahrverbindungen: U-Bhf. Tegel, weiter mit Bus 20.
Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12, 1000 Berlin 19.
Geschäftsstelle: Frau Lieselotte Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 32328 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeister: Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791.
Konten des Vereins: Postscheckamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30 22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
128
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MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
80. Jahrgang
Hef{5) A
Ludwig Meidner • Paul Zech
Januar 1984
Paul Zech
Ein expressionistischer Dichter
Von Siegfried Haertel
Die expressionistische Dichtung hatte in dem am 19. Februar 1881 in Briesen/Westpreußen
geborenen Paul Zech einen der stärksten und konsequentesten Vertreter sozialer Lyrik. Mit
solcher Wucht, Schärfe und Hellsichtigkeit hatte vor ihm noch niemand dichterisch das
Industrieleben gestaltet. Alfred Wolfenstein1 schrieb einmal:
„Das Leben des Dichters aber, das sei im Getümmel
des Schicksals und der kämpfenden Gestalten.
Er halte sein Herz nicht in seinem Haupte gefangen.
Er fürchte nicht für sein Werk, wenn er sich der
Lebendigkeit hingibt, sondern, wenn er sich fürchtet.
Im grenzenlosen Leben gestalte er zuerst sich selbst,
- dann kann sein Werk seine wahrste Gestalt empfangen.
Denn nur der dem Kampfe Hingegebene kann Welt erzeugen.
Und es geht nicht dem endlichen Paradies zu, sondern der
unendlichen Steigerung des Menschlichen."
Diese Zeilen von Wolfenstein, der auch Expressionist war, geben einen Umriß vom Leben und
künstlerischen Wirken Paul Zechs. Sie könnten als Motto über einer Biographie des Dichters
stehen, und sie sollen hier als Einleitung der Würdigung eines fast vergessenen, in der Geschichte des Expressionismus jedoch fest verankerten Westpreußen stehen.
Bevor wir uns nun der Biographie und dem Werk von Paul Zech zuwenden, soll hier noch
einmal das Hauptanliegen der Expressionisten vorgetragen werden, das ja zugleich das literarische Programm des zu Würdigenden umreißt. Im Lexikon kann man über den Expressionismus unter anderem folgendes lesen:
„Im Protest gegen die konventionellen Formen und als Gegenbewegung zum Naturalismus werden
die neue Wirklichkeit und der neue Mensch erlebt und gestaltet. Der Expressionismus stellt das
innere Erlebnis über das äußere Erlebnis; die Dichter sollen Künder sein. Steigerung des Gefühls
bis zum Pathos, ekstatischer Ausdruck."
Der in Prag geborene expressionistische Dichter Paul Kornfeld2 sieht die wichtigste Aufgabe
des Expressionismus so:
„Das eben mag die letzte Mission und der letzte Sinn aller Kunst sein, nichts als das: Die
Menschheit zu erinnern, daß sie aus Menschen besteht, und den Menschen zu erinnern, daß er
Gottes ist und eine Seele hat, daß sie sein einziger Mittelpunkt, ein einziges Wesen ist und alles
andere nur Last, die sie niederzieht, und das Netz, in das sie eingefangen sein muß, um auf der Erde
zu sein; letzter Sinn aller Kunst, dem Menschen vorzuführen, wie alle Wirklichkeit nur Schein ist
und hinschwindet vor dem wahren menschlichen Dasein."
„Die Menschheit erinnern, daß sie aus Menschen besteht." Das ist wohl der Kernsatz des
Expressionismus und damit auch die programmatische Aufgabe von Paul Zech.
Um ein Beispiel dieser Aufgabe des Dichters zu geben, sei hier auf einen Vers aus seinem 1916
entstandenen dramatischen Gedicht Empor hingewiesen.:
1
2
Jurist und später freier Schriftsteller. Geboren 1888 in Halle/Saale, gestorben als Emigrant 1945 in Paris
Freier Schriftsteller und Dramaturg. Er war Jude. Geboren 1889 in Prag, umgekommen 1942 in Lodz.
130
„ O Menschheit, such in diesem ausgerauchten Raum
die Mutter nicht! Millionen Mütter kauern
angstklein und überströmt von Tränenschauern
an leerer Betten mondbescheintem Saum.
Mit hilflos stammelnden Gebeten heben
sie die durchbohrten Herzen in die Nacht empor
und bröckeln langsam von dem Turmbau Leben
wie morsche Ziegel ab. Denn nie verlor
ein Dasein so den Sinn zu sein, wie dieser Frauen
sohnloses Jahr. Ihr Himmel war gewölbt in dem Gebot:
alternden Vätern Söhne aufzubauen,
die Wachsenden, noch über den gemeinen Tod
der Zeuger, aus rohrschwanken Kinderzeiten
in ein umfriedetes Geborgensein zu leiten.
Ihr aber habt mit schmetterndem Gesang,
mit marschgeschwellten Schritten
das Band zerschnitten
von Herz zu Herz. Aus eurem Überschwang
gewitterte ein sonnenloser Norden.
Und so wie eine Rose, die Frost verdirbt:
sind alle Mütter grau geworden,
und niemand weiß von euch wie mühsam jede stirbt."
Da wir uns nun dem Leben Paul Zechs zuwenden, soll hier noch einmal der eingangs zitierte
Satz von Alfred Wolfenstein stehen: „Das Leben des Dichters aber, das sei im Getümmel des
Schicksals und der kämpfenden Gestalten." Betrachten wir das Leben des Dichters, so erkennen
wir deutlich die Reflexion auf das Werk. In Wuppertal-Elberfeld ging der Lehrerssohn zur
Schule. Nach dem Abitur studierte er in Bonn, Heidelberg und Zürich. Soziale Neigungen
ließen ihn jedoch bald sein Studium abbrechen, um als Hauer und Steiger in den Kohlenzechen
des Ruhrgebietes und in den Eisenhütten von Belgien und Nordfrankreich zu arbeiten. Ein
gewerkschaftlicher Auftrag brachte ihn in Paris mit jungen französischen Literaten zusammen.
Von ihnen empfing er die Anregung, Villon, Mallarme, Verlaine, Rimbaud und Verhaeren zu
übersetzen. Diese Arbeit gab wohl auch den Anstoß zu eigenen dichterischen Versuchen. Im
Jahre 1909 erschien als Privatdruck ein Band Gedichte „Das schwarze Revier". Von diesem
Zeitpunkt an war Zech literarisch ungemein produktiv. Bis zu seiner Emigration im Jahre 1933
erschienen rund 45 Titel in verschiedenen Verlagen. Gleichzeitig gab Paul Zech folgende
Zeitschriften heraus: Das neue Pathos, Das dramatische Theater und Weihnachtsblätter.
Parallel zu diesem umfangreichen literarischen Wirken läuft der Kampf um die leibliche
Existenz. Von 1910 bis 1933 lebte er in Berlin. Seine letzte Wohnung war in Schöneberg,
Naumannstraße 78. Er war Redakteur an verschiedenen Zeitungen, Mitarbeiter der Volksbühne und Bibliothekar. Zeitweilig arbeitete er als Kommunal- und Industriebeamter, dabei
immer seine Stentorstimme gegen das soziale Unrecht erhebend. Diese Arbeit in den verschiedenen Berufen, das Hineingestelltsein in die Masse der Werk- und Berufstätigen gab dem
literarischen Schaffen jene Ursprünglichkeit der Sprache, die den Dichter Paul Zech kennzeichnete.
Das nachstehende Gedicht Mittagspause zeigt, wie der Arbeiter Zech eine bestimmte Situation
seines Werktages lyrisch umgesetzt hat:
131
Vom Ruß die Gesichter noch grau
hocken sie breit in der Sonne da.
Aus den Ohren hat sich der Räderradau
langsam gelöst und der Wald scheint ganz nah.
Sie atmeten den harzigen Ruch
mit jedem Biß in das trockene Brot,
und verschlucken den Fluch
wider die ewige Not.
Ein Vogel spaziert da im Kraut,
und auf dem Steinhaufen brennt
so faul eine Schlange die Haut -:
Erdelement!
Da werden die Augen ganz hell
und denken ins Leben zurück:
an Wiesen und Herdengeschell
und glauben, das war wohl das Glück ...
Da war wohl die Welt,
die hinter dem Sonntag liegt,
und wo das stinkig Geld
keinen Heller mehr wiegt.
Wo man sich satt fressen kann
wie auf der Wiese das Vieh ....
und da sehn sie sich manchmal an
und fühlen ein Zittern im Knie.
Und lächeln bedrückt
in den Wind, der mit Staub
und herbstaltem Laub
jetzt langsam heranrückt.
Der Regen fällt schwer auf ihr weites Gesicht
und die Luft schmeckt rauchig und alt...
und drin in der Fabrik, da regnet es nicht
und das Rad hat wieder Gewalt.
132
In den Gedichtbänden Das schwarze Revier, Schollenbruch und Schwarz sind die Wasser auf der
Ruhr fand seine Bergarbeiterzeit ihren literarischen Niederschlag. In dem obenstehenden
Gedicht klingt in einigen Zeilen die Liebe Zechs zur Natur durch. In seinem zweiten, 1910
erschienenen Bändchen Waldpastelle beschäftigt sich der Dichter nur mit der Natur. In diesen
Gedichten sind Erinnerungen an seine Kindheit in Westpreußen und im Sauerland verarbeitet.
Als Probe das Gedicht:
Der Wald
Reißt mir die Zunge aus: so habe ich noch Hände,
zu loben dieses inselhafte Sein.
Es wird ganz Ich und geht in mich hinein,
als wüchsen ihm aus meiner Stirn die Wände,
wo klar die Berge zu den Wolken steigen.
Ich will mit dem gerafften Licht
ins Blaue malen das noch nie geschriebene Gedicht
und es in alle Himmel klar verzweigen.
Denn hier ist Eingang zu dem Grenzenlosen;
hier wird die Welt zum zweiten Male Kind
aus den gezogenen weißen und den schwarzen Losen.
Tritt ein, der du verwandert bist und blind!
Wenn einst in Räumen laut war hohes Rufen
um Gott - : die Bäume sind zu ihm die Stufen.
Dieses Sehnen nach den heimatlichen Wäldern hat den Dichter sein ganzes Leben lang begleitet.
Die Krönung für sein dichterisches Schaffen erfuhr Paul Zech im Jahre 1918 durch Heinrich
Mann, der ihm als entscheidender Mann der Jury den Kleist-Preis der Heinrich-v.-KleistStiftung zusprach.
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich Zech mit dem Erleben des furchtbaren
Völkermordens auseinander, und es entstanden Werke wie Das Grab der Well, Eine Passion
wider den Krieg, Golgatha, Eine Beschwörung zwischen den Feuern und andere pazifistische
Dichtungen. Erwin Piscator, der revolutionäre Regisseur, brachte in seinem Berliner Theater
am Nollendorfplatz mit großem Erfolg Paul Zechs Rimbaud-Vision Das trunkene Schiff
heraus. Bis 1933 erschienen fast jedes Jahr ein bis zwei neue Werke, darunter Romane, die recht
erfolgreich waren, wie Die Geschichte der armen Johanna, Peregrins Heimkehr und Ich bin Du.
Mit der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, bei der auch die Bücher Paul Zechs mit den
Worten Wider den undeutschen Geist ins Feuer flogen, endete dieser Lebensabschnitt.
Die Nationalsozialisten setzten Zech sofort nach der Machtergreifung im Jahre 1933 fest.
Wahrscheinlich sahen sie ihn als Kommunisten an, der er aber nie war. Nach Feststellung dieses
Irrtums ließen sie Zech im Juni dieses unseligen Jahres frei, und er emigrierte über Prag und
Paris nach Südamerika. Kurt Pinthus schreibt im Nachwort seiner „Menschheitsdämmerung"
über diese Zeit: Nach bitteren Jahren in Argentinien, wo er seinen Lebensunterhalt als Hausierer
zeitweise verdient, bereiste er, meist auf Einladungen, den südamerikanischen Kontinent. Er
befährt den Amazonas und seine entlegensten Nebenarme und lebt bei wilden Indianerstämmen. Er
besichtigt mit fachmännischem Interesse chilenische Kupferminen und spürt den Konquistadoren
am Sonnentor von Tiahuanaco nach, befährt mit einem Binsenboot den Titicaca-See und nimmt an
133
archäologischen Forschungen in Inka-Ruinen teil. Heute ist er mit brasilianischen Schmetterlingsjägern unterwegs im Urwald, wenig später bei den Wasserfällen des Iguacu in Paraguay. Wir sehen
ihn bei den Rest-Stämmen der Ona-Indianer im Feuerland, dann geruhsam auf einer Hazienda,
Indios ausfragend, um seine Sammlung von alten Indio-Geschichten zu vervollständigen."
Hier in der Fremde, immer von einem unsagbaren Heimweh geplagt, entstehen unter dem Titel
Neue Welt Verse der Emigration. In einem dieser Verse steht:
Die dunklen Stimmen aberfinden
noch nicht die Spur zu meinem Blut,
ich höre immer noch die Linden
im Rauschen der Gedankenflut.
Wie in Europa ist auch hier die literarische Produktion unerschöpflich. Noch in Buenos Aires
erscheinen die Bücher Bäume am Rio de la Plata, Gedichte, die Erzählungen Ich suchte Schmid
und fand Malva und eine Gedenkschrift für Stefan Zweig. Nach dem Krieg wurden aus dem
Nachlaß Zechs herausgegeben: Die schwarze Orchidee, indianische Legenden; Die Sonette aus
dem Exil; der Roman Kinder von Parma; Reiseberichte aus Südamerika unter dem Titel Das rote
Messer; Die grüne Flöte vom Rio Bini; ausgewählte Legenden Die Ballade von einer Weltraumrakete und Abendgesänge und Landschaft der Insel Marapampa. Außerdem war Paul Zech in
Chile Mitarbeiter der einzigen deutschsprachigen Zeitschrift Deutsche Blätter.
Das unruhige Leben in Südamerika zehrte sehr an den Kräften dieses Mannes von stabiler
Statur. Am 7. September 1946 brach er kurz vor Erreichen seiner Wohnung in Buenos Aires
zusammen und starb noch am selben Tag an Entkräftung. Es scheint, als hätte Paul Zech in
seinem Roman Die Geschichte der armen Johanna sein einsames Sterben vorausgesehen. Das
Werk schließt:
Am anderen Morgen fand Dich, wie es sich geziemt, eine ganz gleichgültige Person tot im Bett. In
einem Sarg aus Tannenholz wurdest Du begraben, ohne Begleitung. Auch ich ging nicht mit, denn
noch im Tode solltest du Dein Schicksal der Einsamkeit erfüllen, erzengelgleich, in frommster
Erhabenheit.
Zitieren wir hier noch einmal den letzten Teil der Worte Alfred Wolfensteins, die am Beginn
dieses Gedenkens stehen:
„ Und es geht nicht dem endlichen Paradiese zu, sondern der unendlichen Steigerung des Menschlichen. "
Paul Zech hat mit seiner Dichtung der Menschlichkeit gedient und deshalb sollte er nicht
vergessen werden.
Anschrift des Verfassers: Siegfried Haertel, Mariendorfer Damm 216, 1000 Berlin 42
134
Die Blumenzwiebelzucht in Berlin im vorigen Jahrhundert
Die nachstehende Arbeit beschäftigt sich mit der selbst den Kennern der Berlin-Geschichte
wenig gegenwärtigen Tatsache, daß im vorigen Jahrhundert die Blumenzwiebelzucht im
Osten der Stadt einen ins Gewichtfallenden Wirtschaftsfaktor darstellte. Der Aufsatz - im
folgenden etwas gekürzt - wurde 1921 in der Zeitschrift „ Gartenschönheit" veröffentlicht
und stammt aus der Feder von Prof. Dr. Dr. h. c. Dr. E. h. Wittmack (1839-1929). dem
Nestor der deutschen Landwirtschaftswissenschaft. Der gebürtige Hamburger promovierte
1867 in Berlin und ging gleich darauf zur Pariser Weltausstellung, wo ihn der preußische
Vertreter v. Salviati mit dem Kauf der für die Errichtung eines landwirtschaftlichen
Museums bestimmten Gegenstände beauftragte. Wittmack wurde zunächst der Kustos des
Museums, das an der Potsdamer Brücke lag. 1874 habilitierte er sich in Berlin und legte ein in
seiner Fachwelt viel beachtetes Buch über Gras- und Kleesamen vor. Gleichzeitig dozierte er
am Landwirtschaftlichen Lehrinstitut. Bei Errichtung der Landwirtschaftlichen Hochschule
1881 wurde er dort ordentlicher Professor, später auch Honorarprofessor für Angewandte
Botanik an der Friedrich-Wilhelms-Universität mit Lehraufträgen an der Tierärztlichen
Hochschule und an der Gärtnerlehranstalt in Dahlem. Er war der erste Doktor der Landwirtschaft E. h. und Dr. h. c. der Veterinärmedizin. Die ihm für die Vollendung des W.Lebensjahres zugedachte höchste Ehrung - die Verleihung des Adlerschildes des Deutschen
Reiches - hat er nicht mehr erlebt.
Hyazinthen
Es war einmal, so sagte ich in den letzten zwanzig Jahren alljährlich zu meinen Studierenden,
wenn wir im Mai den ersten botanischen Ausflug nach dem Park des Herrn von Treskow in
Friedrichsfelde machten und an den Stationen der Stadtbahn Warschauer Straße und StralauRummelsburg vorbeikamen. Es war einmal hier ein Hauptsitz der Berliner Blumenzwiebelkultur, das Auge erfreute sich an den herrlichen Hyazinthen und Tulpen. Jetzt ist davon fast
nichts mehr zu sehen. Die Riesenstadt Berlin streckte ihre Arme auch im Osten immer weiter
aus, besetzte wie im Damenspiel die Flächen mit Häusern, vertiefte im Interesse der Schiffahrt
die Spree und entzog dadurch den Gärten und Feldern das Grundwasser. Und doch waren die
Hyazinthen- und Tulpenkulturen vor dem Frankfurter und Stralauer Tor nicht die einzigen
Stätten, auch in Berlin selbst wurden noch viele gezogen.
Wann die Anzucht der Blumenzwiebeln vor dem Frankfurter Tor eigentlich begonnen hat, ist
nirgends recht zu ersehen; es ist überhaupt merkwürdig, daß wir über die Gärten Berlins im
19. Jahrhundert wenig oder doch nichts Zusammenfassendes haben. Über das 17. und 18. Jahrhundert sind wir namentlich durch Nicolais „Beschreibung der Residenzstädte Berlin und
Potsdam", dritte Auflage, zweiter Band, 1786, viel besser unterrichtet, und neuerdings hat
Professor Dr. Pniower, Direktor des Märkischen Museums, die „Berliner Gartenkunst im 17.
und 18. Jahrhundert" trefflich geschildert in der Zeitschrift „Gartenkunst", 1914, Heft 8, Seite
111 bis 127, mit 21 Abbildungen. In demselben Heft gibt er auch Seite 127 bis 132 eine
Darstellung der „Berliner Plätze und ihrer gärtnerischen Anlagen mit acht Abbildungen".
Über die Geschichte der Hyazinthe findet sich unter anderem ein Artikel von C. Schenkung im
9. Jahrgang der Gartenlaube, Seite 139. Die Hyazinthe wurde Mitte des 16. Jahrhunderts aus
Konstantinopel beziehungsweise dem Orient eingeführt und dann besonders in Holland
kultiviert. In Berlin soll sie nach Otto und Dietrich, Allgemeine Gartenzeitung (wir wollen diese
135
künftig kurz mit O. und D. bezeichnen), 5. Jahrgang, 1837, Seite 152, von David Bouche,
Lehmgasse 11,1740 bis 1750 zuerst gebaut sein. Wahrscheinlich ist es aber dessen Vater Pierre
Bouche gewesen, denn Jean David Bouche lebte erst vom 1747 bis 1819. Letzterer hat sich aber
um die Kultur der Blumenzwiebeln, die er in größerem Maße betrieb, wie überhaupt um die
Blumenzucht entschieden große Verdienste erworben, und auf Betreiben der Anwohner wurde
wegen des Boucheschen Blumengartens laut Verfügung vom 17. August 1816 die Lehmgasse
Blumenstraße benannt. Übrigens schickten schon um 1740 die Gebrüder Klefeckere in Hamburg alljährlich ihren „Catalogus von gar vielen schönen Arten Bluhmenzwiebeln" nach Berlin
(Consentius Alt-Berlin Anno 1740, 2. Auflage, Berlin 1911, Seite 66).
Bis etwa 1820 lagen die meisten Gärtnereien im Osten Berlins noch innerhalb der Stadtmauer,
der jetzigen Memeler Straße, und nach Ludwig Helling, Geschichtlich statistisches topographisches Taschenbuch von Berlin 1832, Seite 114, gab es auch damals noch „in der Luisenstadt und
im Stralauer Viertel mehr Gärten als Häuser". Die meisten Gärten waren in der Blumenstraße,
Koppenstraße, Fruchtstraße, Rosengasse, wohl richtiger Roseesgasse, nach dem Schweizer
Obersten du Rosee, welcher hier einen großen Garten hatte (Fidicin, Berlin, historisch und
topographisch, Berlin 1843, Seite 110) (jetzt Markusstraße), Krautstraße, benannt nach dem
Finanzminister von Kraut, dessen Garten, 1723 angelegt, in der Langengasse vor dem Stralauer
Tor lag (Consentius, a.a.O., Seite 71), Frankfurter Straße, Palisadenstraße, Langestraße.
Mühlenstraße und auf der linken Seite der Spree in der Köpenicker Straße.
Allmählich begann man auch die Kulturen vor dem Frankfurter Tor. Im Jahre 1820 kaufte zum
Beispiel Johann Jakob George, der Großvater des Herrn Paul George, von Gastwirt
Brennicke, dem Besitzer des sogenannten Schlößchens, eines früheren Jagdschlosses, sieben
Morgen Land und gleichzeitig der Gärtner Krause von Brennicke ebenfalls sieben Morgen. In Boxhagen und Rummelsburg begann die Kultur etwas später. In den 1850er Jahren wurden
die Gärtnereien, die noch in der Stadt lagen, infolge der Anlegung des Schlesischen, damals
Frankfurter Bahnhofes und des Ostbahnhofes fast gänzlich nach den Außenbezirken verdrängt.
Immer blieb die Blumenzwiebelkultur hauptsächlich im Spreetale, das sich dafür besonders
eignete. Der Untergrund war feuchter Sand, der Grundwasserstand kaum jemals tiefer als 75
Zentimeter. Die Oberschicht bestand aus bester Gartenerde, die durch Jahrzehnte lang andauernde Spatenbearbeitung aus Wiesenboden entstanden war. Dabei war das ganze Terrain
vollständig eben und senkte sich nur ganz allmählich nach dem Spreebett hin. Der Grundwasserbestand sank erst dann stärker, als die Spree der Schiffahrt wegen um etwa zwei Meter
vertieft wurde.
Man muß geradezu staunen über die frühere Ausdehnung der Hyazinthenkultur. In O. u. D.,
1. Jahrgang, 1833, Seite 62, heißt es unter anderem: Bald werden die hiesigen Blumisten sich mit
den Holländern messen können. Schwerlich dürfte das Ausland es glauben, daß es hier
Gartenbesitzer gibt, die vier Magdeburger Morgen (ein Hektar) zum großen Teil mit sehr
guten, frühen, sehr seltenen Sorten Hyazinthen bebauen. Wenn man die Hyazinthenkultur vor
25 Jahren gesehen und sie jetzt wieder sieht, so glaubt man sich auf die holländische Hyazinthenfelder versetzt zu sehen. Die große Wohlfeilheit spricht schon für die Menge, die hier
gezogen wird. Schade, daß so oft durch Krankheiten hier sowohl wie in Holland Massen davon
verloren gehen. Der Hyazinthenflor der Herren David und Peter Bouche zeichnet sich auch in
diesem Jahre durch seine Schönheit und geschmackvolles Ordnen aus, und es ist ein großer
Genuß, in den Hyazinthengefilden mit Muße Floras Schätze bewundern zu können.
136
Vegetative Vermehrung
Der Heranzucht der Blumenzwiebeln erfolgte in der Hauptsache aus Brutzwiebeln. Die größte
Vermehrung erzielte man aus den sogenannten „Platzern", die sich bei besonders starkem
Wachstum in größeren Mengen hauptsächlich bei den Sorten L'amie du cceur, Maria Catharina
und Görres vorfinden. Diese am Boden geplatzten Zwiebeln teilten sich nach dem Wiedereinlegen ins Land in viele kleine und mittelgroße Zwiebeln auf. Das in Holland vielfach übliche
Verfahren, durch einen Kreuzschnitt am Zwiebelboden oder gar durch Aushöhlen des Zwiebelbodens kleine Zwiebelchen zu erhalten, war weniger im Gebrauch. Es kommt hier auch in
Betracht, daß die Blumenzwiebelzucht in Berlin fast nie als alleiniger Erwerbszweig betrieben
wurde, sondern in Gärtnereien, die auch Gemüse, Topfpflanzen oder Baumschulartikel kultivierten.
Einer der größten Züchter war der Kunst- und Handelsgärtner C. Krause. Fruchtstraße 15, er
gab 1837 (O. u. D., Seite 152) die Zahl seines alljährlichen Vorrats auf etwa 1% Millionen
Zwiebeln einschließlich der jungen Nachkömmlinge an, und im Herbst 1836 wurden 6000
Henri le Grand von hier nach Holland geschickt. Die Nachbargärten blieben nicht zurück, so
der von David Bouche, Peter Bouche, Joh. Peter Bouche, Mathieu, Limprecht, Joh. George
und anderen mehr.
Im Jahre 1842 (O. u. D., Seite 161) war aber der Kunstgärtner Fr. Mawes, Fruchtstraße 13 (bei
O. u. D. steht Mewes und kein Vorname, Fruchtstraße 13 wohnte aber Fr. Moewes), wohl der
größte, bei ihm sah man ein Feld von 2000 Quadratruten (über 11 Morgen, fast 3 Hektar). Er
hatte etwa 2 Millionen Zwiebeln (einschließlich der jungen), von denen er wenigstens 60 000
Stück (in O. u. D. steht 600 000, da ist wohl eine Null zu viel) verkaufte, die nach allen Gegenden
Deutschlands, nach Polen, Rußland, Dänemark, Schweden und Frankreich gingen. Er hatte in
seinem Katalog 357 Sorten Hyazinthen und 100 Tulpen. Von La bien aimee verkaufte er
jährlich 40 000, von Henri le Grand 30 000, von Acteur, Geliert, L'amie du cceur je 20 000 usw.
Von Tulpen: einfach Duc van Thol 30 000, gefüllte 20 000, Tournesol und Duc von Neukirch je
10000.
Berlin hatte 1842 etwa 400 Kunstgärtner, von denen die Hälfte wenigstens sich mit der Anzucht
der Zwiebelgewächse, wenn auch in weit geringerem Maße beschäftigte.
Die Hyazinthenausstellungen
In den 1840er Jahren fanden in der Fruchtstraße großen Hyazinthenausstellungen im Freien
statt, die auch vom Hof besucht wurden. Stets waren diese Ausstellungen mit Konzerten
verbunden und auch sogar mit Restaurationsbetrieb. Dies ist um so erklärlicher, als es damals und früher noch mehr - Sitte war, in einigen Gärtnereien seinen Kaffee einzunehmen, im
Sommer im Freien, im Winter in den Gewächshäusern, die zu Wintergärten erweitert waren.
In der Vossischen Zeitung Nummer 89 vom 17. April 1841 zeigt G F. Huck an, daß er in diesem
Jahre als Haupttableau die große Ehrenpforte nachgebildet habe, welche bei dem feierlichen
Einzüge des Königs und der Königin auf dem Alexanderplatz errichtet war, 90 Fuß hoch
(gemeint ist wohl lang) und 60 Fuß breit, von einer eigens erbauten Tribüne sei das ganze
Terrain bequem zu übersehen. Nachmittags Konzert des ganzen Gardeschützen-„Chors".
Eintrittspreis 2 % Silbergroschen, wofür jeder ein Topfgewächs, ein Bouquet oder eine farbige
lithographierte Karte, darstellend die große Ehrenpforte, erhält.
Fr. Mcewes und L. Faust hatten im selben Jahr (Vossische Zeitung Nummer 91) ein paar
Hyazinthen-Tableaux: einen Glorientempel mit preußischem Adler, Wappen und der
Inschrift: F.W. IV. u.a.
137
In Nummer 95,1841, künden Fr. Mcewes und L. Faust an, daß am Sonntag den 25. April, früh
6 Uhr, ein großes Trompetenkonzert stattfinde und zur Bequemlichkeit des Publikums an
verschiedenen Halteplätzen in der Stadt von früh '/26 Uhr Droschken aufgestellt seien. „Es wird
gebeten, Nummer 13 zu beachten." Es herrschte also schon Konkurrenzneid.
Daß der beißende Berliner Witz auch damals nicht fehlte, geht aus einer Anzeige in der
Vossischen Zeitung vom 19. April 1841 hervor. Da kündet Louis Drucker, Besitzer eines
Vergnügungslokals, an: „Montag und Dienstag 425. und 426. Vergnügtsein, großes Konzert
und wissenschaftliche Vorträge. Die Eröffnung meiner Hyazinthenausstellung erfolgt heute
Abend um acht Uhr. Sie zeichnet sich durch Verwelkung und Geruchlosigkeit aus. Droschken
werden vergütigt. Die Rolle der Sperlinge hat Herr Prof. Nudelmüller aus Gefälligkeit übernommen."
Die Ausstellungen wurden von Tausenden besucht, und man erzählt sich, daß man sich gar
nicht die Zeit nahm, das Geld zu zählen, sondern es in Körben forttrug und in die gute Stube
legte.
Im Jahre 1842 hatte G. F. Huck das Denkmal Friedrichs des Großen dargestellt, 1844 die beiden
Rossebändiger, welche der russische Kaiser dem König geschenkt, 1845 das Standbild Peters
des Großen.
Friedrich Möwes (hier schreibt er nicht Mcewes, man sieht, es wechselt sehr zwischen Möwes,
Mcewes und Mewes) zeigt 1842 an, daß er einen Flächenraum von 2000 Quadratmetern mit
Blumenzwiebeln bepflanzt habe, das Haupttableau sei der Rote Adlerorden, außerdem fünf
geometrische Figuren, 1844 hatte er das Brandenburger Tor dargestellt und eine geometrische
Figur, 1845 die Alexandersäule in Petersburg und 1846 das russische Wappen. Dieser Doppeladler war 100 Fuß hoch und 80 Fuß breit. - Er war jedenfalls der größte Aussteller, nahm aber
auch stets 5 Silbergroschen als Eintrittspreis, die andern nur 2 '/2 Silbergroschen. August Mewes
hatte 1842 als Haupttableau das Berliner Stadtwappen, umgeben von einem Kranz mit Krone.
1846 macht er außer auf seinen Hyazinthen- auch auf seinen Tulpenflor, „bekanntlich den
größten und schönsten", aufmerksam.
Wenn man bedenkt, daß die Zwiebeln zu diesen Tableaux schon im Herbst in die Erde gelegt
werden mußten, so kann man die Sorgfalt ermessen, die nötig war, um die verschiedenen
Farben auseinander zu halten, auch mußten es Sorten sein, die zu gleicher Zeit blühten.
Merkwürdigerweise sagten die Tageszeitungen in ihrem redaktionellen Teil fast nichts über die
großartigen Ausstellungen, und auch die Fachzeitschriften erwähnten ihrer selten.
Allmählich scheint die Sache sich überlebt zu haben, schon 1845 ladet nur noch Friedrich
Möwes ein. Auch gingen die Kulturen später zum Teil durch Ringel- und Rotzkrankheit zu
Grunde.
Schon im Jahre 1841 sagt übrigens Demmler (O. u. D., Seite 47), daß die Anzahl blühender
Gewächse, namentlich der Blumenzwiebeln in Berlin, im Abnehmen begriffen sei, die Gründe
aber seien erfreulich, weil der Verkauf der Berliner Zwiebeln im trockenen Zustande seit einigen
Jahren einen ungemeinen Aufschwung genommen habe und der Züchter für die trockene
Zwiebel mehr erhalte als für die getriebene.
Ersatz der Kulturen durch Maiblumen
Von 1850 an wurden nach Herrn A. Clotofskis Mitteilungen Hyazinthen schon von vielen
Gärtnern gezogen, und zwar nur aus Brutzwiebeln, die gangbarsten Sorten waren: La jolie
blanche, weiß, Henry le Grand, hellblau, Görres, rot, L'amie du coeur, rot und blau, Maria
Catharina, rot; von Tulpen: Duc van Thol, einfach, Scharlach, rot, gelb, weiß, rosa, gefüllt, rot
138
und gelb, und Duc de Berlin, rot und gelb. Letztere war von N. Richard in der Mühlenstraße
gezüchtet. Außerdem wurden noch zu Tausenden gezogen: Tournesol, gefüllt, rot und gelb,
Duc de Neukirch, einfach, rot und gelb, usw. Die Berliner Zwiebelkultur steigerte sich
dermaßen, daß um 1870 der Gärtner Petzold vor dem Stralauer Tor allein mit L'amie du coeur,
rot und blau, etwa vier bis sechs Morgen und August Schultze (auch Tulpenschultze genannt) in
der Mühlenstraße acht bis zehn Morgen mit Tulpen belegt hatte.
Die Berliner Zwiebeln hatten einen guten Ruf, da sie sich früher treiben ließen als die
holländischen. Um diese Zeit bezogen aber schon manche Gärtner kleinere Hyazinthenzwiebeln aus Holland und kultivierten sie noch ein Jahr, wo sie ihre volle Größe erreicht hatten,
das nannte man „überlegen".
Da die Boxhagener Ländereien sich am besten für die Kultur eigneten, waren in wenigen
Jahren (um 1870) etwa 80 bis 100 Morgen mit Blumenzwiebeln belegt. Der größte Züchter war
damals Louis Friebel, und im Frühling waren die Kulturen der Anziehungspunkt von Tausenden von Berliner Besuchern. Auch die Prinzessin Friedrich Carl kam fast jedes Jahr nach dort,
um sich an der Pracht der Blumen zu erfreuen.
Die Berliner Blumenzucht ging aber nach und nach um 1900 aus den obenerwähnten Gründen,
ferner wegen des Rauches und auch wegen der Zwiebelkrankheiten ein. C. van der Smissen,
Steglitz, macht in seinem Zwiebelkatalog 1901 (Gartenflora 1901, Seite 420) bekannt, daß er die
seit 20 Jahren geführte besondere Abteilung für Berliner Hyazinthen aufgebe wegen fortschreitender Bebauung und des Mangels an geeignetem Boden. Gustav Adolf Schultz, Eckartsberg,
den wir damals befragten, bestätigte das und sagte: „Ich kultiviere auf meinen Ländereien in
Friedrichsfelde allerdings noch an 100 000 Zwiebeln, und außerdem sind es wohl noch einige
Firmen, wie die Herren Fritz Götze, Gebr. George, A. Clotofski und andere mehr, doch ist das
kein Vergleich mit der früheren Bedeutung." In dieser Aufzählung hatte G. A. Schultz wohl nur
vergessen, Louis Friebel aufzuführen, der war damals noch der bedeutendste Züchter.
Glücklicherweise hat die Berliner Gärtnerei durch den Niedergang der Blumenzvwefe/zucht
nicht gelitten. Die Maiblumenkultur trat mehr an ihre Stelle, sie wuchs schon von den 50er
Jahren an und spielte zu Ende der 60er Jahre eine hervorragende Rolle. Es war besonders Carl
Chone, der Vater von Otto Chone, der auch den Export erfaßte und schon von Mitte der 60er
Jahre an nach England und Rußland, dann nach Frankreich und Ende der 60er Jahre nach den
Vereinigten Staaten versandte. Ähnlich geschah es bei Julius Hoffmann, Köpenicker Straße,
und L. Späth, ebendaselbst, jetzt Baumschulen weg. Gegen Mitte der 70er Jahre kam noch
Gustav Adolf Schultz, Eckartsberg, hinzu. Die Ausfuhr an blühbaren Keimen umfaßte viele
Millionen, und wenn der Durchschnittspreis mit 33 Mark das Tausend angenommen wird, so
kommt für die damaligen Verhältnisse eine ganz hübsche Summe heraus! - Trotz der Ausfuhr
blieben für den Berliner Bedarf noch genügend Keime zum Treiben, und die Preise waren gut.
Das änderte sich aber schnell, als die Gotthardbahn die Überschwemmung der deutschen
Märkte mit italienischen Blumen hervorrief. Da lohnte sich die Treiberei fast nicht mehr.
Immerhin ist die Maiblumenzucht ebenso erwähnenswert für die Berliner Gärtnerei wie die
Zucht der Hyazinthen und anderer Blumenzwiebeln.
Tulpen und verwandte Blumen
Die Tulpen wurden in Deutschland 1559 aus der Türkei eingeführt und in Berlin seit etwa 1730
in größerem Umfang gezogen. Nicolai hebt in seiner „Beschreibung der Residenzstädte Berlin
und Potsdam", 3. Aufl., 2. Band, Berlin 1776, Seite 929, besonders die schönen Tulpenflore in
den Gärten der Prediger an der Parochialkirche in der Klosterstraße hervor. Der Hofprediger
139
Reinhard und sein Vorgänger, Hofprediger Schare, zogen Tulpen aus Samen und warteten
nicht bloß fünf bis sechs Jahre, sondern zehn bis fünfzehn Jahre, bis die Tulpen ihre endgültige
Farbenzeichnung erhielten. Weiter werden genannt Hofprediger Grüner und Wilmsen. - Auch
andere Liebhaber zogen Tulpen aus Samen, so Generalleutnant Eye von Wartemberg am
Brandenburger Tor, Generalmajor von Buttler in Potsdam, Geheimer Finanzrat Beyer,
Mauerstraße, Kriegsrat Beyer, Hofrat Scala, Kgl. Opernsänger Concialini, Unter den Linden,
Kaufmann und Kommerzsekretär Schmiel und von Gärtnern Hofgärtner Heydert, Potsdam,
Hofgärtner Fintelmann, Charlottenburg, „Lustgärtner" Zietemann zu Berlin in der Königsvorstadt.
Das größte Sortiment Tulpen, über 900 Sorten, bloß in Beyblumen und Bissarden, außer den
Baguetten und Rigaults, besaß der obengenannte Kaufmann und Kommerzsekretär Schmiel,
Schützenstraße, welcher damit in und außerhalb des Landes einen beträchtlichen Handel trieb.
Er gab auch ein gedrucktes Verzeichnis heraus. Destillateur Bohn, Lindenstraße, Kunst- und
Handelsgärtner Winzer, ebenfalls Lindenstraße, kultivierten auch Tulpen. Schöne Sortimente
Tulpen hatten noch Bertram, unweit der Oranienburger Brücke (im Reußschen Garten?),
Goldsticker Barth, Krausenstraße, Steinschneider Liebig auf dem Köpenicker VorstadtsKirchhof. Um 1835 hatte der Justizrat Meyer, dessen Häuser zur Besichtigung offenstanden,
unter anderem schöne Tulpen, ebenso die Gärtner Kratz, Krause, George, Mewes. - Krause,
Limprecht, Toussaint und Craß hatten schon im Dezember 1835 schöne Maiblumen trotz des
ungünstigen Wetters. Ein einziger dieser Gärtner setzte zu Weihnachten gegen 500 Töpfe
blühender Maiblumen ab.
Limprecht trieb damals schon einen neue Tulpe Duc de Berlin, die früher ist als Duc van Thol,
wie oben erwähnt, von Carl Richard gezüchtet. Interessant ist, daß Mitte der 70er Jahre des
vorigen Jahrhunderts Tulpenzwiebeln nach Holland geschickt wurden. Dort hatten die Sorten
Duc van Thol einfach, rot und gelb, so durch eine Tulpenkrankheit, „das Feuer", gelitten, daß
dringend gesunde Zwiebeln zur Nachzucht gebraucht wurden.
Infolge des trockenen Bodens und der klimatischen Verhältnisse sowie auch der durch die Nähe
der Welt- und Fabrikstadt Berlin beeinflußten, mit Rauch geschwängerten Niederschläge
wollten Hyazinthen, Scilla und Crocus nicht mehr wachsen. Die Tulpenkultur dagegen konnte
erweitert werden, weil die reichlichen Niederschläge des Winters und des Frühjahrs in der Regel
das Wachstum günstig beeinflußten. Die älteren, nicht mehr gangbaren Sorten wurden ausgemerzt und durch neuere, marktfähige Sorten ersetzt.
Außer Hyazinthen und Tulpen wurden auch Krokus und Narzissen sowie ganz besonders
Scilla sibirica kultiviert. Diese wurden der sehr schönen blauen Farbe wegen, der Lieblingsfarbe Kaiser Wilhelms I., überaus gern gekauft. Gebr. George dürften davon die größten
Bestände gehabt haben. Es kamen jährlich etwa 120000 Stück zum Verkauf, und Wilhelm
Ernst, Charlottenburg, forderte bei seinen Zwiebelbestellungen von ihnen stets bis 100000
Stück. Leider trat in den 1890er Jahren eine Krankheit, der Schwamm, ein, gegen die alle Mittel
vergeblich waren. Die Scillakultur mußte deshalb um die Jahrhundertwende gänzlich aufgegeben werden.
140
Nachrichten
Wilhelm Borchert las Luthertexte
Aus der Fülle von Lutherveranstaltungen dieses Jahres hebt sich die der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche hervor, die am 11. November 1983, Luthers 500. Geburtstag, stattfand. Im Rahmen eines Gottesdienstes las Staatsschauspieler Wilhelm Borchert ausgewählte Luthertexte und tastete sich von seiner
ursprünglichen Sprache her zum Kern des evangelischen Wortes vor. Mit seiner Einstimmung auf das „Ich
bin der Herr, dein Gott!" und die Auslegung aus dem Großen Katechismus „Gott im Herzen glauben"
traute er der Gewalt der reformatorischen Lehre wieder die ungebrochene Wirkungskraft zu. Es waren die
Kernsätze des Lutherverständnisses zu hören, sein Appell an die Ehre des Christseins, wenn er den Sohn
Gottes annimmt, und die Freiheit des Christen im weltüberwindenden Vertrauen. Der Bogen der
Lutherthemen zog sich hin über Frieden und weltliche Obrigkeit bis zum Trost in der letzten Einsamkeit.
Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche war gut beraten, an der Stelle preußisch-hohenzollerischer Luthersuche statt eines „Stadtfestes" das Wort vom eindringlichsten Sprecher Berlins laut werden zu lassen.
Christiane Knop
Auswärtige Tätigkeit des Märkischen Museums
Das Märkische Museum bemüht sich, seine Schätze auch unmittelbar an die interessierte Bevölkerung
heranzutragen. So wurde im Oktober 1983 im Kulturhaus des VEB Bergmann-Borsig eine Ausstellung
„Berliner Brücken auf historischen Fotografien" eröffnet, in der etwa 80 Aufnahmen von der alten
Schmöckwitzer Zugbrücke bis zur heutigen Stadtbahnbrücke gezeigt wurden. Historische Berliner Fotos
aus der Sammlung des Märkischen Museums waren gleichzeitig auch im Schaufenster des Fotoantiquariats im Zeiss-Industrieladen am Alexanderplatz zu sehen.
*
Im Oktober wurde im Märkischen Museum aus Anlaß des 300. Geburtstages des bedeutenden Berliner
Hofmalers Antoine Pesne (1683 bis 1757) eine umfangreiche Sonderausstellung mit etwa 80 Ölgemälden
und Handzeichnungen eröffnet, darunter neben Porträts aus dem Kreis um Friedrich den Großen der
„Kietz von Freienwalde" als einziges Landschaftsbild. Pesne arbeitete von 1711 an fast ein halbes Jahrhundert am Berliner Hof und schuf unter anderem die Decken- und Wandmalereien in den Schlössern
Charlottenburg und Rheinsberg.
SchB.
Herbsttagung der Otolaryngologischen Gesellschaft zu Berlin
vom 18. bis 20. November 1983
Diese Tagung erwies sich über ihre fachspezifische Bedeutung hinaus als ein nachdenklich stimmendes
Politikum. Vor dem brisanten Hintergrund der Bundestagsdebatte über den Nachrüstungsbeschluß färbte
sich auch die Besinnung über interdisziplinäres Denken und Zusammenarbeiten in der Medizin zur Sache
hoher Besorgnis. Das Thema war angeregt worden von Dr. rer. nat. Anthony Michaelis, einem nach
London emigrierten Deutschen. Er spitzte das Problem zu auf Angst vor einem Atomkrieg und Beherrschung der Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt. So atemberaubend auch ihre Dimensionen im
nächsten Jahrzehnt sein werden, so sei doch ihre technische Beherrschung möglich, vor allem als
„Bringeschuld der Wissenschaftler und als Holschuld der Politiker", die beide im Verantwortungsbewußtsein einer Elite verbunden sind. Dem Mediziner wies Prof. Dr. Gustav-Adolf von Harnack, Enkel des
Berliner Theologen, den Platz zu, wenn er dem Abrücken vom alten Arztleitbild zum Ideal des Allroundmediziners das Wort redete.
Die scheinbar bloße Routinetagung hat etwas vom Aspekt Berlins als wegweisender Medizinstadt
aufgezeigt.
Christiane Knop
141
Der Verein für die Geschichte Berlins steht nach wie vor allen Mitgliedern und darüber hinaus allen in der
Berlinforschung Tätigen zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse offen und bietet ebenfalls das Forum, in
Vorträgen und Diskussionen die Resultate Fachleuten und interessierten Hörern bekanntzumachen.
Hiervon sind auch nicht die Geschichte der Bezirke und eingemeindeten Vororte, Stadt- und Gartenplanungen, Biographien bekannter Berliner oder Arbeiten über Einzelobjekte aller Gebiete ausgenommen. Der Vorstand fühlt sich im Hinblick auf die bevorstehende 750-Jahr-Feier veranlaßt, noch einmal
daraufhinzuweisen. Interessierte wollen sich bitte in dieser Angelegenheit mit Herrn Günter Wollschlaeger, 1000 Berlin 41, Niedstraße 14, Telefon 8 5127 39, in Verbindung setzen.
Göttingen ist eine kleine Stadt...
Als normale Reisende waren die 50 Teilnehmer an der Studienfahrt nach Göttingen vom 16. bis 18. September 1983 aufgebrochen, als Ellermeier-Fans und als Bhagwan-Jünger kehrten sie heim. Daß überdies
auch noch zwei Vorstandsmitgliedern die Ohren geklungen haben werden, nämlich Professor Dr. H. Engel
während unseres Besuches auf dem Burgmannshof Hardegsen bei Dr. Friedrich Eilermeier und Professor
Dr. M. Sperlich zum Zeitpunkt unseres Rundgangs durch die Klosterkirche Fredelsloh gemeinsam mit
Pastori. R. F. Both, gab dieser Exkursion einen besonderen Reiz. Doch es ist der Reihe nach zu berichten.
Schon der Auftakt, das Mittagessen im Gasthaus „Zum stillen Winkel" in Großenrode, war verheißungsvoll. Beeindruckend waren bei der Sartorius GmbH in Göttingen der Empfang durch Dr. Chr. Sartorius
und der Rundgang durch das Werk mit seinen verschiedenen Abteilungen, vor allem der Abteilung der
Präzisions- und Analysenwaagen sowie der der Membranfiltration - alles nach dem Motto präzise und
modern. In der dem gemeinsamen Hotel vorgelagerten „Eisenpfanne" fand sich am Abend dann noch eine
nette Runde ein.
Am Sonnabend, 17. September 1983, verstand es Kustos Dr. J.-U. Brinkmann im Städtischen Museum in
hervorragender Weise, mit einem Diavortrag in die Historie Göttingens einzuführen. Der anschließende
Rundgang durch die Stadtgeschichtliche Abteilung zeigte ein nach Gestaltung und Inhalt vorzügliches
Museum, das zu durchstreifen Freude macht. Hier hatten sich bereits Herren des Göttinger Geschichtsvereins eingefunden, die sich dann auch die Führung durch die Stadt bis zum Alten Rathaus teilten, wo
1. Bürgermeister Eckoldt ein Wort herzlichen Willkomms an die Berliner Gäste richtete.
Am Nachmittag war der Burgmannshof in Hardegsen das erste Ziel, und der Burgmann Dr. F. Eilermeier
wußte mit seiner Begeisterung seine Gäste für sein Werk, die Rettung und Restaurierung des Burgmannshof, einzunehmen und diesen auch in einen Zusammenhang zu bringen mit der Reformation in Niedersachsen.
Das Muthaus in Hardegsen führte Stadtarchivar L. Simon vor. Pfarrer i. R. F. Both verstand es dann in
der romanischen Klosterkirche des Töpferdorfes Fredelsloh, seine Zuhörer mit der Geschichte der
Restaurierung dieses Bauwerks und der dabei eingeschlagenen Schritte mit seinem ostpreußischen spröden
Charme so sehr in den Bann zu schlagen, daß Dr. M. Last vom Verein „Freunde der Burg Plesse e.V." fast
schon seine Position auf der windigen Plesse geräumt hätte. So fand dieser Tag an historischer Stätte seinen
gebührenden Ausklang.
Sehr eindrucksvoll war am Sonntag morgen der Rundgang durch das Grenzdurchgangslager Friedland,
dessen Leiter Marquardt in einem Brief vom 28. September 1983 daraufhinwies, „daß in Berlin-Marienfelde ebenfalls ein Lager existiert, in dem wie hier Opfer unserer neuesten Zeit ankommen, die auf das
Entgegenkommen ihrer Mitmenschen angewiesen sind. Es würde mich freuen, wenn es sich das eine oder
andere ihrer Mitglieder zur Aufgabe machte, dort mit Rat und Tat hilfsbedürftigen Menschen zur Seite zu
stehen."
Das Europäische Brotmuseum in Molenfelde, dessen Leiterin Gerda Kunkel die Führung übernommen
hatte, war schon zum zweiten Mal Ziel eines Besuches. Die Fülle der Gegenstände sprengt jetzt schier den
Raum, vielleicht könnte der Gestalter des Städtischen Museums Göttingen hier mithelfen, moderne
Museumsdidaktik zur Anwendung zu bringen und Spreu vom Weizen zu trennen. Amüsant war auf
Schloß Berlepsch das vegetarische Mittagessen, das von Dr. Sieglinde Reichert und ihren jungen Mitarbeitern liebenswürdig gereicht wurde. Ein Gang rund um das Schloß gab Gelegenheit, etwas von der
Bhagwan-Gemeinschaft dieser freundlichen Menschen zu erfahren. Die Kaffeetafel in Königslutter war
der letzte offizielle Programmpunkt dieser harmonischen Studienreise nach Göttingen, die nach Theodor
Heuss „eine kleine Stadt (ist), durch die aber die Ströme der Welt gehen".
142
Auf die Frage nach dem Ziel der Exkursion 1984 gab der Chronist ein Rätsel auf: von 1772 bis 1775 lebte im
Abel-Bornemann-Haus in Göttingen eine Persönlichkeit, die mit dem nächsten Ort in Verbindung steht.
Überraschend schnell kam die Antwort: Johann Heinrich Voss und Eutin.
H. G. Schultze-Berndt
Bayern - Preußen. Preußen - Bayern
Eine gemeinsame Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (Berlin), der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen sowie der Bayerischen Vereinsbank in
München fand ihren Niederschlag in einer Schrift, deren von Werner Vogel und Lorenz Seelig besorgter
Katalogteil 34 Seiten umfaßt, wohingegen die schön bebilderte Einleitung 92 Seiten ausmacht. Werner
Knopp, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin, steuert einen Aufsatz „Adler und Rauten.
Bayerns und Preußens Weg durch die deutsche Geschichte" bei. Werner Vogel, Archivdirektor am
Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, berichtet über „Bayern und Preußen. Zeugnisse aus
sechs Jahrhunderten". Lorenz Seelig, Referent in der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser,
Gärten und Seen, geht auf „Künstlerische Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und Bayern. Von
der Renaissance bis zum Ende der Monarchie" ein. Elfi M. Haller, der auch Redaktion und Gestaltung
dieser Schrift anvertraut waren, ist in der Bayerischen Vereinsbank, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und
Volkswirtschaft, tätig. Sie stellt zwei Porträts einander gegenüber: „Königin Elisabeth. Eine bayerische
Prinzessin auf dem preußischen Königsthron" und „Königin Marie. Eine preußische Prinzessin auf dem
bayerischen Königsthron", wobei sie sich bei Königin Elisabeth auch auf das Heft 60 der Schriften des
Vereins für die Geschichte Berlins, die Monographie von Bissing über diese Monarchin, stützen konnte.
Die Bayerische Vereinsbank, die auch in Berlin über eine Zweigniederlassung verfügt, hat dankenswerterweise Interessenten an diesem Gegenstand eine begrenzte Zahl dieser Schrift zur Verfügung gestellt. Beim
Schriftführer können sie angefordert werden.
SchB.
Alte Ratswaage in Friedrichshagen restauriert
Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Ratswaage in Friedrichshagen, Aßmannstraße, Ecke PeterHille-Straße, mit ihren unterirdischen technischen Vorrichtungen ein geschütztes Denkmal des Stadtbezirks Köpenick, wird restauriert. Für die Rekonstruktion der Waage, von der auch eine Zeichnung von
Schinkel existiert, sind Mitglieder der Interessengemeinschaft Denkmalpflege des Kulturbundes Köpenick
in Zusammenarbeit mit einer Waagenbaufirma zuständig.
SchB.
Buchbesprechungen
Bauten unter Denkmalschutz. Hrsg. vom Autorenteam Dieter Bolduan, Laurenz Demps, Peter Goralczyk,
Heinz Mehlau, Horst Weiß. In: Berlin-Information 1982, Berlin (Ost). Mit einem Vorwort von Prof.
Dr.-Ing. Ludwig Deiters, Generalkonservator der DDR. 286 Seiten. Mit einem Künstlerverzeichnis,
365 Farbtafeln, 1 Lithographie und 1 Faksimile des Plans von Berlin 1710. 55 M.
Mit Blick auf die 750-Jahr-Feier Berlins hat die Berlin-Information der DDR ein Prachtwerk herausgebracht, das den Westberliner entzückt. Findet er doch alle architektonischen und kunstgewerblichen
Gegebenheiten, an denen sein Herz hängt, in einer sorgsam zusammengedachten Schau bei der Hand,
oder anders gesagt, er schaut die Orte historischen Geschehens und erlebt sie im Bild wieder persönlich.
Joachim Fieguth besorgte ausgezeichnete Fotos, die den Leser glauben lassen, er wandere durch die eben
restaurierte mittelalterliche, barocke und klassizistische Stadt. Es geht ein so mächtiger Eindruck des
Schönen davon aus - u. a. von Bildausschnitten ornamentalischer Details in Großaufnahme, die völlig
ungewohnte Perspektiven herstellen, daß alles Graue und Ärmliche im Stadtbild Ost-Berlins versinkt.
143
Zwar muß er schmerzlich feststellen, daß das historische West-Berlin mit seinem Denkmalsbestand restlos
ausgeschlossen ist, ja daß es nicht einmal Hinweise gibt, wo z. B. Stadtplaner und Architekten in Ost- und
West-Berlin gleichermaßen gewirkt haben - wie an den Hohenzollernschlössern, den Gutshäusern und
Dorfkirchen, an Bürgerbauten des 19. Jahrhunderts, an der Gartenstadtidee oder dem Wirken von Taut
oder Behrens. Es ist, als habe Schinkel nur in Ost-Berlin gebaut.
Und er muß es auch hinnehmen, daß der Generalkonservator der DDR von einem ideologisch geschlossenen Konzept der Denkmalpflege ausgeht und unter dem Sammelstichwort „nationales Kulturerbe" so tut,
als sei die historische und künstlerische Entwicklung Berlins und ihre gegenwärtige Bewußtwerdung
ausschließlich eine Sache der DDR und ihrer Hauptstadt.
„... ist dem reichen Erbe verpflichtet, das in der gesamten Geschichte des deutschen Volkes geschaffen
wurde. Alles Große und Edle, Humanistische und Revolutionäre wird in der Deutschen Demokratischen
Republik in Ehren bewahrt und weitergeführt, indem es zu den Aufgaben der Gegenwart in eine lebendige
Beziehung gesetzt wird." Zitiert nach dem Programm der SED, IX. Parteitag der SED 1976.
Die Reihe der abgebildeten Denkmäler reicht von frühgeschichtlichen slawischen Fundorten über die
mittelalterliche Stadtgeschichte bis zu den modernen Hochhausbauten an der Weberwiese in der Leipziger
Straße und am neuen Alexanderplatz.
Doch der westliche Leser begegnet, sofern er sich bei seinen gelegentlichen Besuchen meist nur in der
Friedrichstadt und Unter den Linden bewegt hat, dem einzigartig schönen Chorpolygon der Klosterkirchenruine - in seiner Ruinenschönheit besser erkennbar als vor seiner Zerstörung -, dem Schloß
Köpenick mit seinem Wappensaal, den lange nicht mehr gesehenen Spittelkolonnaden, der Alten Anatomie, den Bürgerbauten in der Marienstraße, dem neugotischen Treppenhaus des einstigen Landgerichts
in der Littenstraße und - unbetretbar - den flämisch anmutenden Höfen des Hufeland-Krankenhauses in
Buch mit seinen beschaulichen Dachgauben, um nur einiges herauszugreifen. Auch sonst Selbstverständliches ist inzwischen denkmalwürdig geworden, wie etwa gotisierende Fenster in den Charitegebäuden mit
ihrer herbstlichen Weinlaubberankung oder der Figurenschmuck am Altartisch der Schloß- und Dorfkirche in Buch, die Märchenfiguren im Friedrichshain, sogar das Stadtbad Mitte in der früher so ärmlichen
Gartenstraße oder der alte Wasserturm an der Rykestraße von 1855.
Aufzuzählen wäre noch vieles, erwähnt seien noch die Tritonen und Fischleiber im eisernen Brüstungsfeld
der Schloßbrücke, das Kettenrad der Jungfernbrücke, Rosetten als Schmuckzeichen über Haustoren, alte
Treppengeländerbaluster, die Dachbekrönung über den Torhäusern am Eingang zur Universität - alle
diese Details in Großaufnahmen.
Die beigegebenen Texte sind sachkundig gearbeitet und stellen die historischen Zusammenhänge exakt
her; allerdings muß man über ihre ideologische Bezogenheit hinwegesehen.
Es fehlt, wie bei jeder Auswahl unvermeidlich, einiges, so z. B. die Grabmalkunst. Dennoch ein Werk, das
man trotz aller geschichtlichen Vorbehalte begierig beschaut. Und es weckt die Sehnsucht. - Welches
Glück, könnte man ihm ein gleich gut bebildertes Kompendium der Denkmalsgüter in West-Berlin in so
handlicher Form anschließen!
. Christiane Knop
C. von Kertbeny, Berlin, wie es ist. Ein Gemälde des Lebens dieser Residenzstadt und ihrer Bewohner,
dargestellt in genauer Verbindung mit Geschichte und Topographie, d. i. die einzigartige Beschreibung
Berlins von 1831. 337 Seiten, mit einem Stadtplan (Faksimile von 1831), 6 Bildtafeln zeitgenössischer Stiche
und einem Register. Reprintausgabe 1981, arani-Verlag.
Schon der Untertitel deutet es an: Es ist etwas Neues hinzugekommen. Seit Nicolais Beschreibung vor damals zwei Menschenaltern waren das Residenzstädtische und geistig Aufstrebende Berlins, sein Anspruch
auf europäische Geltung ins Selbstbewußtsein des Berlinischen eingeflossen. Die damaligen Stadtführer
hatten seinen Zustand deskriptiv abgehandelt und waren eine vorzügliche Informationsquelle gewesen.
Vergleicht man nun die vorliegende Abhandlung mit der um 10 Jahre jüngeren von Valentin Heinrich
Schmidt (Wegweiser für Fremde und Einheimische durch Berlin und Potsdam. Nicolaische Buchhandlung
1821), so wird deutlich, daß ein historisches Denken inzwischen Allgemeingut geworden ist. Der Verfasser
beschreibt nicht nur eine Residenz, sondern ein politisches Gemeinwesen in seiner Entstehung, zuerst als
Stadt, später als preußische Residenz.
Zwar spricht Kertbeny (d. i. Carl Maria Benkert) patriotisch und oft geschwollen und ist uneingeschränkt
hohenzollerntreu, mehr als der kritische Nicolai, und es spricht daraus ein starker Fortschrittsglaube. Er ist
getragen von hohem Nationalgefühl aus der Zeit der Steinschen Reformen, obwohl diese nicht als
epochemachendes Ereignis hervorgehoben werden, wie wir heute überhaupt Epochen und Geister anders
artikulieren. Doch es geht nicht darum, wieweit ein Buch nach gut 150 Jahren überholt ist, sondern die
144
Lektüre empfängt ihren Reiz als Momentaufnahme, die der spätere Kenner danach befragt, welche
künftigen Züge es in sich trägt und in welcher Weise der Damalige sich im Strom der Überlieferung weiß.
Aber die Schilderung der städtischen Verfassung und ihrer Organe spiegelt den Zustand nach der
Städteordnung wider. So fängt z. B. alles über die Wirtschaft Gesagte den Augenblick des Übergangs vom
Merkantilismus zur freihändlerisch bestimmten Manufaktur ein, ehe die Industrialisierung einsetzt.
Da der Verfasser auch ein Lebensbild zu geben sucht, tut er es modern und betrachtet die Gesellschaft
eindringlich. Moralisierend kennzeichnet er die Berliner als modesüchtig und nachahmerisch. Er konstatiert ihre Kritiksucht, ihre Neugier und ihren Bildungseifer ä la mode. Doch weist er auch auf Berlin als
Umschlagplatz vieler geistiger Impulse hin. Der Sachverhalt des Spree-Athens ist schon gegeben. Aber
noch - im Vormärz - wird eine ständische Kultur geschildert, wobei das Positive bei Hof, Adel und
Gelehrtentum gesehen wird; dem Berliner Kleinbürger wird die echte Bildung abgesprochen. Das mittlere
Bürgertum wird als anspruchslos gelobt, sein Familiensinn hervorgehoben. Es findet sich am echtesten in
der Biedermeierposse wieder. So beschreibt er auch das Eigenleben der Juden und der französischen
Kolonie, hebt deren Toleranz und ihren Wohltätigkeitssinn hervor, ferner ihren Gewerbefleiß und hohen
Bildungsstand.
Im Vergleich zum Stadtführer von 1821 zeigt der beigegebene Stadtplan keine erhebliche Stadterweiterung.
Der Einwandererzustrom nach den Friderizianischen Kriegen hat bereits stattgefunden und stagniert nun,
ehe die industrielle Zuwanderung erfolgen wird.
Im Vergleich zu früheren Stadtführern gibt der Verfasser ein genaueres Bild von der Kolonisation der
mittelalterlichen Doppelstadt, ja, es scheint hier erstmalig eine modern anmutende Anschauung von der
mittelalterlichen Stadt als historischem Phänomen faßbar. Danach beschreibt er das Entstehen jeder
Teilstadt mit ihren charakteristischen baulichen Ensembles, wie sie sich aus sachlichen Gegebenheiten
geformt haben, so der Friedrichswerder als Ausbau der Bastion, die Sophienstadt als früher Gewerbestadtteil. So erhält Berlin ein gewachsenes Gesicht. Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts wird
vorbereitet, indem er den Ausbau Berlins zur Zeit des Großen Kurfürsten unter den Leitgedanken seiner
Außenpolitik stellt. Sein Staatsgedanke liegt überhaupt als Gestaltungskriterium seinem politischen Urteil
zugrunde. „Das tatenreiche Leben dieses Fürsten, der wie mit Zauberkraft aus einem wüsten und
verödeten Lande, unter unaufhörlichen Kriegen mit feindlichen Nachbarn, in noch nicht einem halben
Jahrhundert einen blühenden Staat schuf, in seiner ganzen Wirksamkeit zu entwickeln ..."
In den Ausführungen über das Bildungswesen, zeigt er umfassende Kenntnisse über den Stand aller
Wissenschaften und Künste, vor allem die Universität wird als gegliedertes Ganzes begriffen. Auch
Wilhelm von Humboldts Anschauungen sind schon verwurzelt; der Verfasser läßt sich über die deutsche
Sprachpflege an der Universität aus, obwohl sich das Zeitalter der Germanistik noch nicht entfaltet hat.
Aber er erkennt Bopps Sprachforschung auf dem Gebiet des Indogermanischen als epochemachend.
Unter den Gelehrten von außerordentlichem Ruf nennt er Alexander von Humboldt, Ritter, Link,
Raumer und von der Hagen, den Erforscher des Sanskrit, Bopp, den Altphilologen Böckh, die Theologen
Neander und Schleiermacher, den Philosophen Hegel, den Juristen Savigny. Durch seine Auswahl nimmt
er, anders als seine Vorgänger, eine Wertung vor.
Das Schwergewicht mißt er der Medizin zu. Sie nimmt den breitesten Raum ein. Er gibt ein Verzeichnis der
bereits fachspezifisch verzweigten medizinischen Institute und Krankenhäuser; er zählt die Namen der
bedeutenden Ärzte auf, die Berlin den hohen Rang einer Medizinstadt gaben, u. a. Hufeland, Heim,
Osann, Graefe, Goercke, Rust und Jüngken. Auch in den Medizinalanstalten des Heeres sieht er Orte des
Fortschritts. Die naturwissenschaftlichen Museen stehen noch in ihren Anfängen.
Bei den bildenden Künstlern nennt er alle bedeutenden Namen, doch fehlt die bei uns gängige Einteilung in
Stilrichtungen. Wir erkennen, daß im Urteil der Zeitgenossen Schinkel an überragender Stelle steht, ihm
folgen Blechen und Gropius.
Neben den staatlichen Institutionen von Universität und Akademie und Bauakademie beginnt das
Zeitalter privater Kunstschulen und -vereine. Wie das wirtschaftliche und gewerbliche Wesen sich vielseitig frei entfaltet, seit es von merkantilistischer Begrenzung mündig geworden ist, so zeigt der Verfasser dies
auch für die geistigen Tätigkeiten, die auf der Basis privater Impulse Berlin das Bewegliche geben. Dasselbe
gilt für das städtische Armenwesen.
Es liest sich gleichfalls reizvoll, wie der Verfasser die Berliner Gewerbe und die preußische Finanz in ihrem
Entstehungswachstum schildert. Das tatsächliche Schwergewicht des Gewerbeedikts wird erkennbar.
Man erkennt auch die Grundfigur einer Nationalanschauung in den Ausführungen über die Zusammenhänge des Handels und seiner Organisation im Zeitalter beginnender Industrialisierung. Der Handel sei
gesellschaftsformend. Darauf verweist auch die Beobachtung, daß Berlin ursprünglich ein Handelsplatz
145
zweiter Ordnung war, der durch die Ansiedlung von Manufakturen und die Ausbildung der preußischen
Staatsbanken einen Handelsaufschwung bekam, der Berlin der Amsterdamer Börse gleichmachte, ja, daß
es überhaupt den Vergleich mit London und Paris wagen konnte. Gerade wer das Ausklingen des
Vormärz insgeheim schon sucht, findet das Berliner Gewerbe ausführlich abgehandelt. An seiner Spitze
nennt der Verfasser seine Eisengießereien - Borsig allerdings fehlt noch -, die Porzellanmanufaktur und
die Textilspinnereien für Wolle, Baumwolle und Seide. Noch läßt sich keine Standortballung der einzelnen
Gewerbe in bestimmten Stadtvierteln feststellen, es sei denn, man nimmt den Standort der Eisengießereien
vorm Oranienburger Tor als ihren Anfang. Die Bedeutung der Dampfmaschine, in die Wolltuchproduktion bereits eingeführt, wird noch nicht erkannt. Abschließend liest man wehmütig die Beschreibung des
prächtigen und geschäftigen Lebens auf der Königstraße, der Breiten und Brüderstraße. Doch das
„Nachtleben" ist noch die brave Ruhe des Biedermanns.
Reizvoll auch die Schilderung der wenigen damals neuen Kirchhöfe vor den Stadttoren mit der modischen
Grabmalkunst des Eisengusses. Vor dem geistigen Auge des Lesers entsteht der idyllische Garnisonfriedhof in der Linienstraße mit Fouques Grabkreuz. Friedhofsgestaltung als Erholungsparke ist damals neu.
Christiane Knop
Werner Schwipps, Lilienthal, arani-Verlag, Berlin 1979, 39,80 DM.
Der Verfasser ist immens fleißig gewesen und hat aus allen Himmelsrichtungen über die Brüder Otto und
Gustav Lilienthal zusammengetragen, was an Aufzeichnungen, Briefen usw. noch vorhanden ist. Dieses
Material breitet er mehr oder weniger ohne Weglassungen und Hinzufügungen aus. Etwas Wichtung und
Sichtung wäre besser gewesen, denn ist es wirklich wichtig, wer der Baumeister der Kirche war, in der
Lilienthals Urgroßeltern 1730 geheiratet haben, oder wie sich der Lebenslaufseiner Schwester in Neuseeland gestaltet hat?
Aber inmitten dieser Fülle kommt doch auch manches interessante Detail hervor, das die verschrieenen
Fabrikanten der späten Gründerjahre in einem anderen Licht erscheinen läßt als gemeinhin üblich. So
führten die Lilienthalbrüder schon 1890 eine Gewinnbeteiligung für ihre Arbeiter ein, gründeten 1895 eine
gemeinnützige Baugenossenschaft „Freie Scholle" und waren Mäzene eines Theaters (des späteren RoseTheaters). Alles wurde mit einer fast fanatischen Begeisterungsfähigkeit angegangen, hinter der weniger
materielle Interessen standen als vielmehr die reine Lust am Erfinden und Verbessern.
Der Ingenieur bedauert die ungenaue Beschreibung der Erfindungen, die niemals richtig erkennen läßt,
worin denn nun das eigentlich Neuartige gelegen hat (z. B. bei der kleinen Dampfmaschine, die das
Fundament des relativen Wohlstands der Familie bildete). Der allein heimatgeschichtlich Interessierte
dagegen wird das schön ausgestaltete Buch mit Gewinn lesen.
Bernd Illigner
Der Senator für Gesundheit, Soziales und Familie, Bericht über die Situation der Frauen in Berlin. 411 Seiten,
102 Tab., 1981.
Im Juni 1980 forderte das Abgeordnetenhaus von Berlin den zuständigen Senator auf, einen Bericht über
die Situation der Frauen in der Stadt vorzulegen. Am 9. Februar 1982 wurde er vom Senat beschlossen.
Der Bericht enthält umfangreiches statistisches Material, gegliedert nach
- Erziehung und Bildung
- Mädchen in der Jugendhilfe
- Frauen im Beruf
- Frau in der Familie
- Wiedereingliederung von Müttern in das Erwerbsleben
- Frauen in Politik und Gesellschaft
- Frauen im Seniorenalter
- Soziale Infrastruktur, Unterhaltssicherung
- Besondere Zielgruppen (Ausländer, Suchtabhängige, Behinderte, Straffällige)
Die (anonymen) Verfasser sind empört über die Benachteiligung der Frau. Dieses Engagement spricht aus
jedem Satz und erschwen demjenigen, der sich nur sachlich informieren will, die Lektüre erheblich. Der
Rezensent hat sich an die reichhaltigen Statistiken gehalten und fand bemerkenswert: Weiblich sind in
Berlin 55 % der Bevölkerung, 49 % der Schüler, 52 % der Gymnasiasten, 61 % der Lehrer, 45 % der
Erwerbspersonen (Bundesrepublik 38%), 29% der Gewerkschaftsmitglieder (Bundesrepublik 20%),
45 % der Arbeitslosen (Bundesrepublik 52 %), 69 % der über 60jährigen (Bundesrepublik 63 %).
Es kommt in dem Bericht zwar nicht zum Ausdruck, aber insgesamt scheinen die Frauen sich in Berlin
ganz gut durchzusetzen.
Bernd Illigner
146
Die Berliner S-Bahn. Gesellschaftsgeschichte eines industriellen Verkehrsmittels. Herausgegeben von der
Arbeitsgruppe Berliner S-Bahn. Verlag Ästhetik und Kommunikation. Berlin 1982. 383 Seiten, 40 ganzseitige Reproduktionen, 446 Textfotos, 62 Aufrisse und 25 Planskizzen, 38 DM.
„Gesellschaftsgeschichte eines industriellen Verkehrsmittels" betitelt der Verlag seinen allumfassenden
Bericht über die Berliner S-Bahn, der auf 383 großformatigen Seiten (22,5 x 24 cm) dem Leser zu diesem
nunmehr fast schon überstrapazierten Thema eine wahrhaft phänomenale Fülle von Informationen in
Wort und Bild bietet.
Im Rahmen eines Referates über die historischen Bedingungen des Berliner Nahverkehrs und eines
Rückblicks auf eine historisch gewordene Technik diagnostiziert Eberhard Knödler-Bunte „die tödlichen
Nebenwirkungen der Autogesellschaft, die längst zu herrschender Realität geworden sind". Dieter Hoffmann-Axthelm referiert in geschliffenem Stil über die historischen Voraussetzungen der Eisenbahnstadt
Berlin - „der eigentliche Zentralbahnhof Berlins war und ist die Stadtbahn als ganze" - und erkennt, daß
Stadtplaner und Eisenbahningenieure erst um 1910 zu gemeinsamen Zielvorstellungen hinsichtlich gesteigerter Zentralisierungsprojekte der Stadt gelangten. Wer sein Wissen über Konzipierung und Planung der
Streckenführung der Stadtbahn „von allem Anfang an" erweitern will, der begleite Erika Schachinger auf
ihrem Gang durch die Abrißlandschaften um die alte Herkulesbrücke, den Königsgraben und die
Neuanlage der Kaiser-Wilhelm-Straße vor rund hundert Jahren. Die bemerkenswerte Reportage von
20 Seiten wird durch 75 textbezogene, hochinformative Anmerkungen ergänzt, deren Sonderstudium ich
Berliner Eisenbahnfans wärmstens empfehle. Rolf Külz schildert die Gesamtentwicklung des Berliner
städtischen Nahverkehrs mit besonderer Berücksichtigung der sukzessiven Streckenentwicklung der
Stadt- und Ringbahn anhand übersichtlicher Planskizzen, die dem Standardwerk „Berlin und seine
Eisenbahnen, 1896" entstammen. Sein Bericht erstreckt sich bis in unsere Tage. Die Autoren Bock,
Dittfurth, Eilhardt, Hilbers, Peschken und Suermann befassen sich in der Folge mit den Ingenieurbauwerken der Bahn. Zahlreiche Grundrißskizzen zeigen Details architektonischer Besonderheiten von
Bahnhöfen und deren Dachkonstruktionen in der Innenstadt und den Vororten sowie alte und moderne
Brücken und Straßenüberführungen. Natürlich ist auch der „Stadtbahnbögen" und ihrer kommerziellen
Bedeutung gedacht. Der Anlegung der Nord-Süd-Bahn und den tragischen Folgen des Tunneleinsturzes
während der Bauzeit im August 1935 ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Auf den Seiten 148 bis 150 gibt
sich Ingeborg Drewitz elegisch im Gedenken an die Rolle, die die S-Bahn in ihrer Jugendzeit für sie gespielt
hat.
Mittlerweile gelangt der unverdrossene Leser nun in die Gegend, die uns Berlinern als „die Plumpe"
wohlbekannt und wohlvertraut ist. Lothar Binger und die Autorin Hellemann schildern in Wort und Bild,
wie es am Gesundbrunnen in ferner und näherer Vergangenheit zugegangen ist und heute zugeht. Zu Wort
kommen 75- und 82jährige „Laubenpieper", die nicht „in plumpem Jargon", sondern „im Plumpenjargon"
in Dampfbahnreminiszenzen schwelgen. Eine Reihe Fotos von geradezu grandioser Aussagekraft (von
Seidenstücker, Pragher und anderen) rahmt die lebensnahe Schilderung dieser Stadtgegend. „Stadtwahrnehmung und Kunst" sind die Rubriken, die milieubezogene Reproduktionen von Werken einzelner
Maler und Fotografen bringen. Die „literarische Stadtbahn" kommt mit Poesie in Metaphern und
Visionen anschließend zu Wort. Die letzte sachbezogene Reportage von Wittgen und Krznar befaßt sich
mit „Bahnanlagen, Fahrzeugen und Signalen" aus der Dampfzeit, der Frühzeit der Elektrifizierung und
der Modernisierung alter Baureihen des rollenden Materials. Über das zur Streckenausrüstung gehörende
Signalwesen mit der automatischen Zugsicherung wird ebenfalls berichtet. Depressive Gefühle beschleichen den Betrachter der Fotos auf den Seiten 211 bis 213, auf denen dichtes Strauchwerk restliche
Schienenstumpen demontierter Gleisanlagen überwuchert als Direktfolge dessen, was wir noch heute
„dem Führer verdanken". Erfreulich die Zusammenstellung eines kleinen Lexikons der Autoren Buchmann und Wittgen, das auf drei Seiten das „Fach-Chinesisch der Leute vom Bahnbereich" begreiflich
macht. Ein weiteres Kapitel ist dem Eisenbahner und dem Eisenbahnarbeiter, ihrem Dasein auf der
Strecke und im Bahnbetriebswerk gewidmet. Gedanken zu einer neuen Verkehrspolitik, die die S-Bahn
und ihre künftige Rolle als Verkehrsträger auch in West-Berlin betreffen, beschließen das fachliterarisch
nunmehr wahrlich erschöpfend behandelte Thema der Berliner S-Bahn.
Zu den Ungereimtheiten, die den Wert des Werkes jedoch in keiner Weise beeinträchtigen, gehört das Foto
auf Seite 26, das einen modernen Wagentyp zeigt, der unmöglich schon 1883 in Betrieb gewesen sein kann.
Der Situationsplan des Bahnhofs Königsbrücke (S. 47) weist die Königstraße irreführend als Verlängerung
der Alexanderstraße aus. Siemens & Halske hatten 1879 auf der Gewerbeausstellung noch keine „elektrische Straßenbahn vorgestellt" (S. 61), sondern lediglich den gelungenen Versuch gezeigt, einen Elektromotor auch als Antriebsmittel für die Zugförderung entwickeln zu können. Der auf Seite 82 reproduzierte
147
Streckenplan stammt nicht vom Ende des 19. Jahrhunderts, da Rixdorf erst im Januar 1912 in Neukölln
umbenannt worden ist. Was den Maler W. Giese veranlaßt haben mag, den gesamten Fuhrwerks- und
Straßenbahnverkehr in der Königstraße als Linksverkehr aufzuzäumen (S. 271), bleibt unerfindlich.
Obwohl ich die Einverleibung des vorliegenden Werkes in die Bücherreihe eines jeden Berliner Verkehrsinteressenten und Eisenbahnenthusiasten vom Inhalt her intensiv befürworte, möchte ich nicht verschweigen, daß der Prachtband mit seinem stattlichen Eigengewicht von 1,2 kg bereits nach wenigen Malen
behutsamen Umblätterns in seine Einzelteile zerfällt. Der Verlag wäre gut beraten, dem Hause, das für die
Gesamtherstellung verantwortlich ist, die Anwendung eines Einbindeverfahrens zur Auflage zu machen,
das den dickleibigen Wälzer zumindest während einer gewissen Anstandsfrist im Zaum hält.
Hans Schiller
/ Reihe „... in alten Ansichten" von Dr. Gustav Sichelschmidt. Europäische Bibliothek, Zaltbommel (Nieder/,
lande), gebunden, Querformat 21 x 15 cm: „Das historische Berlin" 26,80 DM f^Nordberlin", „Ostberlin",
*J^*> •-! „Kreuzberg, Neukölln und TempelhofViSchöneberg und Wilmersdorf' (je 21,80 DM); „Tiergarten"
(19,80 DM); „Berliner Denkmäler" (26,80 DM); „Potsdam" (19,80 DM).
Man ist überrascht von der Vielfalt der immer neu variierten klugen Vorworte des Autors sowie über die
sachlich zuverlässigen, ausführlichen Bildunterschriften. Da diese für Ost-Berlin topographischen Werken
ihrer Entstehungszeit entnommen sind, kann man Zeitprobleme umgehen, wie sie sich etwa aus der
Bezeichnung „Ostberlins" als selbständigem politischem Gebilde ergeben, wo es sich doch um den Bezirk
Mitte und andere Bezirke handelt. Welche Fülle von alten Ansichtskarten breitet sich vor dem Betrachter
aus, wo heute stupide immer nur die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche abgelichtet und als Ansichtskarte
verkauft wird! Die Qualität der Abbildungen leidet gelegentlich unter ihrer Verkleinerung und Druckart.
Auch hier wäre die Angabe von Jahreszahlen zu den Ansichten wünschenswert gewesen. Etliche Druckfehler sind wohl mehr dem Korrektor anzulasten, Ausdrücke wie „pejorative Argumente" dem Verfasser.
Der Interessent und Liebhaber wird an diesen Ansichtskartenalben aus dem Berlin der Jahrhundertwende
(Verlagsankündigung), worunter in der Tat die Zeitspanne 1880 bis 1930 zu verstehen ist, seine Freude
haben.
H. G. Schultze-Berndt
Dieter Hildebrandt: Christlob Mylius/Ein Genie des Ärgernisses. Stapp Verlag Berlin 1981,164 Seiten mit
26 Abbildungen.
Sicherlich empfindet Dieter Hildebrandt, der Journalist, Kabarettist und „Satiriker", eine gewisse geistige
Affinität zu Christlob Mylius (1722-1754), dem sächsischen Pastorensohn, Vetter und Freund Lessings, als
Journalisten, Kritiker, Dichter (und Naturforscher), den er hier mit ein paar Leseproben vorstellt und dem
er einen biographischen Essay widmet. Jugendlich selbstbewußt verstand sich Mylius auf Prägnanz und
Pointe des Ausdrucks. Kind der Aufklärung, war er ein vielseitig interessierter junger Mann, der freilich
der Fasson, der geistigen Disziplin, ermangelte, um mit seinem Wirken der Nachwelt mehr geben zu
können und in ihrem Gedächtnis zu bleiben.
Gerhard Kutzsch
dtv Merian Reiseführer „Berlin". dtv-Taschenbuch vom Mai 1982, hrsg. von Christa und Joachim
Nawrocki, Günter Kunert, Jens Fleming, Barbara Effenberger, Marlies Menge. 344 Seiten, mit einem
Register, Straßenskizzen, TJ- und S-Bahn-Übersichten.
Unter der großen Zahl von Einführungen ins gegenwärtige Berlin für Fremde vermittelt der Name
„Merian" von vornherein eine bestimmte Vorstellung des Sichannäherns an eine Stadt oder Landschaft als
Kulturraum in Vergangenheit und Gegenwart. Der vorliegende Band erfüllt alle Notwendigkeiten eines
Taschenbuchs in seinem Wortsinn. Es ist ein Nachschlagewerk für den Wenige-Tage-Besucher, der sich
anhand von Verweis- und Sammelstichworten schnell orientieren kann. Sein Vorzug ist intensive Detailkenntnis von Autoren aus Ost und West. Die schwierige Aufgabe, die geteilte Stadt mit ihren unterschiedlichen Welten Fremden bündig nahezubringen, ist geschickt gelöst worden dank der sprachlichen Könnerschaft der beiden Autoren J. Nawrocki und G. Kunert, die im Kapitel „Erste Begegnung mit Berlin"
einander glänzend ergänzen. Der Einleitungstext spricht zu Recht von „geballten Informationen, aber
zugleich gewichtet und sortiert"; zu ergänzen ist: praktikabel gemacht in der Schwierigkeit des Passierens
von West nach Ost.
Es kommt gerade das Doppelgesicht der einstmals einen Stadt gut heraus. Anders als Berlinführer des
19. Jahrhunderts stellt hier das Verfasserteam den historischen Inhalt pointiert-spritzig und auf ausge148
wählte Bereiche für Junggebliebene heraus. Dabei ist das Unausschöpfliche, Quirlige, Vielgesichtige des
Berliner Lebens und der Berliner Geistigkeit eingefangen - so z. B. in Wortkaskaden lebensvoller
Schilderungen der Wald- und Seenlandschaft um Berlin. Vor allem Kunert brilliert mit fast distichonartiger Diktion.
Beide Autoren leitet die gleiche Liebe zum Kleinbürgerlichen, glanzlos Echten und Inhaltreichen der
kleinen Leute in Kiez und Kneipe, in der Sommerlaube und bei Herdwärme. Da Kunert, der einstige
Ostberliner, das ältere Berlin zum Gegenstand hat, das geliebte und noch immer oder wieder vorzeigbare,
spitzt er seine Betroffenheit zu in dem Gegensatz von „Magistrale" der Frankfurter Allee und den alten
Höfen des Nordostens; er preist den verträumten Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee: „... so
separiert wie so vieles in Berlin, das niemals wieder zu seiner einstigen Dynamik zurückgefunden hat"
(S. 29). Beide Verfasser beklagen, wo sie den hastigen Wiederaufbau berühren, in Ost und West die gleiche
Einfallslosigkeit, das geistige Abseits in der Sterilität der Betonwelt.
Das Kapital „Der gute Tip von Merian" ist eine profilierte Information, die das Liebenswerte hervorhebt
und zum Wiederkommen verlockt. Es beglückt aber auch die Berliner; sie entdecken manches Neue, das es
z. B. in Ost-Berlin schon wieder gibt, aber auch Überholtes (wie z. B. Einkaufstips in West-Berlin) und
Fehler. So existiert an der Invalidenstraße (Naturkundemuseum) kein U-Bahnhof Zinnowitzstraße
(S. 140).
Christiane Knop
^
'ne Menge Arbeit. Ungewöhnliche Berufe in einer Großstadt. Ein Berliner Fotobuch von Hemme,
Hermann, Tietze. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1981, 124 Seiten, 120 Abb., 29,80 DM.
Angesichts der Flut von Berlinbüchern, in denen alte Läden, alte Treppenhäuser, alte Hauseingänge usw.
abgebildet sind, könnte man meinen, es gäbe wirklich nichts Nostalgisches mehr zu entdecken. Aber in
einer Stadt mit so vielen Hinterhöfen wird es doch wohl auch genügend Hinterhofbetriebe geben, um
damit einen weiteren Band zu füllen!
Allzulange haben die Herausgeber allerdings nicht gesucht, und daher mußten bei 21 dargestellten
Betrieben einige dazwischengeschmuggelt werden, die nicht so ungewöhnlich sind, daß sie dem Berlinbild
eine neue Facette hinzufügen könnten (Konditor, Fischer, Uhrmacher, Goldschmied, Maßschneider.
Bootsbauer, Schädlingsbekämpfer). Da muß dann die Selbstdarstellung der Meister mit vielen „ick" und
.jenau" für das Lokalkolorit sorgen. Immerhin macht es Spaß, das Buch zu durchblättern und z. B. einem
Tierpräparator, einem Hersteller von künstlichen Augen oder einem Bleiglaser bei der Arbeit zuzusehen.
Die Einleitung von Barbara Tietze stilisiert dann allerdings diese Kleinbetriebe zu Vorbildern für menschengerechte Arbeitsplätze hoch und stellt ihnen die krankmachenden, „unmenschlichen" Arbeitsplätze
der Industrie gegenüber. Dabei übersieht sie freilich, daß der hochqualifizierte Handwerker auch in der
Industrie einen abwechslungsreichen Arbeitsplatz finden würde, auf dem er sich „verwirklichen" kann,
zum anderen, daß die beschriebenen Betriebe zumeist schöne Einzelstücke für eine zahlungskräftige
Kundschaft herstellen. Würde ein Industriebetrieb die Arbeitsplätze ähnlich liebenswert verkramt einrichten, würde ihm der Wettbewerb schnell das Lebenslicht ausblasen.
Bernd Illigner
/S"Vfo& Große Berliner Straßenbahn und ihre Nebenbahnen 1902-1911. Reprint des Originals 1982. Hans
J
Feulner, Verlagsauslieferungen, Lindenallee 25,1000 Berlin 19. 246 Seiten, 5 Karten und Pläne. Format:
^ 22 X28 cm, Preis 58 DM.
Rund hundert Jahre währte das Straßenbahnzeitalter im Bereich des heutigen West-Berlins. Die ersten
dreißig Jahre waren vom Pferdebetrieb geprägt, die restlichen siebzig Jahre gehörten dem elektrischen
Betrieb. Während dieser Epoche wurde die Wortneuschöpfung der „Elektrischen" zu einer in Berlin
allgemeinen Begriffsbezeichnung, unter der die Straßenbahn verstanden wurde. Die Bezeichnung „Tram"
oder „Trambahn" ist im Berliner Bereich niemals üblich gewesen.
Unter der Vielzahl der kleinen, teils gemeindeeigenen, teils privaten Unternehmen ragte die „Große
Berliner Straßenbahn" mit weitem Abstand heraus. Im Jahre 1902 erschien die erste Denkschrift der
Gesellschaft, die die Epoche von ihrer Gründung als „Große Berliner Pferde-Eisenbahn-Aktiengesellschaft" (1871) bis zum Abschluß der Einführung des elektrischen Betriebes (1902) umfaßt und den „ruhigen
Zeiten des Pferdebetriebes" gewidmet war. Der zweite Band schildert den enormen Aufschwung und die
Ausbreitung des Unternehmens während des ersten Dezenniums des elektrischen Betriebes. Da diese
Denkschriften nur einem begrenzten Interessentenkreis aus dem Bereich deutscher Straßenbahn- und
149
Kleinbahnverwaltungen zugedacht war, wurde die Druckauflage in engen Grenzen gehalten, so daß das
Werk heute selbst in Bibliotheken nur selten zu finden und in Antiquariaten so gut wie gar nicht mehr
aufzutreiben ist.
Der Berliner Verlagsvertreter Hans Feulner hatte 1982 den begrüßenswerten Einfall, einen Nachdruck des
zweiten Bandes der Denkschrift herauszugeben. Das Werk ist kein trockener Geschäftsbericht einer
privaten Aktiengesellschaft, sondern bietet weiten Kreisen von Interessenten für die Geschichte Berlins
einen umfassenden Überblick über die rasante Entwicklung des innerstädtischen öffentlichen Nahverkehrs. Auf den technischen Bereich, wie die Entwicklung des Wagenparks, des Oberbaus, der Ausbildung
des Fahrpersonals und des Unfallwesens, wird ebenso eingegangen wie auf die Rechtsverhältnisse, die
Finanzen, die Verwaltung sowie die Entwicklung des Liniennetzes. Der Bericht enthält eine Vielzahl
zumeist wohlgelungener fotografischer Reproduktionen und in den Text integrierter Zeichnungen und
statistischer Angaben, die auch dem nicht einschlägig versierten Leser Einblick in „entlegenere" verkehrstechnische Sektoren gewährt. Dem Reprint liegen fünf zusätzliche Karten und Pläne bei, aus denen
Verkehrsumfang und -dichte des Liniennetzes ersichtlich sind.
Der Rezensent gehört zu der Generation, die diese Epoche noch miterlebt hat, und bewahrt die Szenerien
aus jenen fernen Tagen, in denen ein Nicht-mehr-Vorhandensein der Straßenbahn in Berlin einfach
unvorstellbar gewesen wäre, in hellster Erinnerung. Unschwer selbst für phantasiearme Zeitgenossen von
heute, sich die Länge des Staus schienengebundener Fahrzeuge vorzustellen, der sich zwischen der
Bülowstraße und dem Spittelmarkt in Minutenschnelle bildete, wenn ein Verkehrshindernis wie der
Radbruch eines pferdebespannten Leichenwagens zur Mittagszeit die Potsdamer Brücke blockierte, die
1913 von 34 verschiedenen Straßenbahnlinien überquert wurde.
Dem auch drucktechnisch einwandfreien Feulnerschen Reprint ist weite Verbreitung zu wünschen.
Hans Schiller
Gräfin Malve Rothkirch: Prinz Carl von Preußen. Kenner und Beschützer des Schönen. Biblio Verlag,
Osnabrück 1981,288 Seiten mit einem Personenregister, Stammtafeln, mehreren Skizzen und reichhaltigem zeitgemäßem Bildwerk, 88 DM.
Das Buch liest sich am meisten aufschlußreich, wenn man es bewußt einspannt in den Zeitabschnitt
zwischen dem Alter des Prinzen Carl, als er sich nach dem Tode der Gattin selbst von Geist und Form der
Schinkelzeit in Glienicke abgewendet hat, und dem Anbringen der Gedenktafel durch den JohanniterOrden 1981 in der Kirche von St. Peter und Paul in Nikolskoe in Erinnerung an den Herrenmeister der
Balley Brandenburg. Dazwischen liegt als schmerzlichstes Ereignis die Zerstörung seines Stadtpalais
„Prinz Carl am Wilhelmplatz" als Goebbelssches Reichspropagandaministerium. Es wird ein wesentliches
Stück preußischer Geschichte, tragischer hohenzollernscher Familiengeschichte und das Kernstück der
Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts sichtbar.
Vfn. will dem Prinzen Carl, Sohn der Königin Luise, das fehlende Standbild setzen und tut dies auf mutige
und schöne Weise zugleich.
Sie bekennt sich zu subjektiver Erschließung des kunstwissenschaftlichen Phänomens Glienicke, indem sie
über wissenschaftsmethodische stilkritische Betrachtungsweise hinaus Glienicke und das Ensemble der
Havelschlösser als „Dinge von innen her" erfaßt. „Nur ein Ich kann erspüren, was ein Ich beim Schaffen
bewegte", bekennt sie. Sie legt aufgrund ausgedehnter neuer Quellenforschung im Entstehen des Ambientes Glienicke den Lebenssinn des Prinzen Carl dar, den sie, dem Fürsten Pückler folgend, „Kenner und
Beschützer des Schönen" nennt.
Der Lebensbogen dieses Mannes könnte auch bezeichnet werden mit dem Wandel, der sich in Briefäußerungen niederschlägt wie „... eine Welt im Herzen..." zu „einer Welt aus dem Herzen (schaffen)".
Der Leser versteht, wie bedeutsam in entwicklungspsychologischem Licht die bürgerliche, warmherzige
Atmosphäre in der Königsfamilie Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise war, in der jeder der
Preußenprinzen seine Individualität gewann. - Für den künstlerisch veranlagten Carl sind sein Erzieher
Minutoli, der Baron de la Motte-Fouque und die Zauberfeste „Lallah Roukh" und die Undine-Aufführungen mit Schinkels Dekorationen und das Verlebendigen der Ritterzeit in Eichendorffs Dichtung
relevant für sein späteres Kunstwirken. Sie klingen an verwandte Saiten der eigenen Ritterlichkeit an und
die wachsende Gabe, sich die Herzen bedeutsamer Geister wie Pückler, Schinkel, Rauch und Humboldt zu
gewinnen.
150
Die Verflechtung seiner militärischen und staatsmännischen Laufbahn mit seiner künstlerischen in
Anlehnung an seine Italienreisen und Rußlanderfahrungen zieht sich wie ein roter Faden durch das
Lebensgeflecht als Herr auf Glienicke. Vfn. hätte als Untertitel auch „Sir Charles Glienicke" wählen
können, wie er sich selbst bezeichnete; doch greift das Epitheton „Kenner und Beschützer des Schönen"
tiefer.
Sie verfolgt in jährlich fortgesetzten Berichten sein Leben. Seit Prinz Carl 1824 Glienicke erwirbt, entsteht
ein Bild, wie Schloß und Park allmählich seine einmalige Gestalt annehmen, bis das Gesamtkunstwerk
dasteht und dem Prinzen im hohen Mannesalter und in seiner Alterszeit mit seiner Blütenfülle eine Oase
des zeitlos Schönen wird.
Gleichermaßen ersteht vor dem Auge des Lesers das romantische und klassizistische Berlin und das
Miteinander der Geisteswirksamkeiten wie Aufführung der Matthäuspassion durch MendelssohnBartholdy, die Rolle des Hofmalers Hensel, das Sichzurückträumen in die Ritterzeit mit der Vollendung
des Kölner Doms und dem Erwerb von Burgen am Rhein, das erste Sichaneignen byzantinischer Kunst
und die Anfänge der Ägyptologie, der mittelalterlichen Altertumswissenschaften in Germanistik und
Historie, das Bekanntwerden der Funde von Troja, dem Aufschwung der Kunstwissenschaften in
Akademie und Museum. Der in immer weitere Gebiete ausgreifende Mäzen Prinz Carl führt damit das
Zeitalter Goethes ins Eisenbahn- und Industriezeitalter über und gibt ihm die geistige Begründung unter
Bewahrung des Altpreußischen.
Für des Prinzen Carl Bedeutung als Mitglied des königlichen Hauses und seinen staatsmännischen Rang
ist das Kapitel „Freund seines Bruders, des Königs Friedrich Wilhelm IV." ein Kernstück. Sie ist die seine
Persönlichkeit prägende Epoche. Neu ist dabei der Blick auf seine Rolle in den Revolutionstagen von 1848.
Sie involviert einen Bruderzwist im Hause HohenzoUern, eine Entfremdung zwischen den Prinzen Carl
und Wilhelm, dem späteren Kaiser. Carl stellt sich mit seiner ganzen Existenz auf die Seite der Friedenspolitik seines königlichen Bruders. Und damit wird vom angeblichen „Romantiker auf dem Thron" ein
neues, ein realistisches Bild gezeichnet, das geeignet ist, dem Urteil über die Geschichte Preußens im
19. Jahrhundert neue Akzente zu geben. Der unbedingte Friedenswille Friedrich Wilhelms IV. gewinnt im
Licht der Friedensforschung unserer Tage neue Dimensionen; eine Parallelität zur Gestalt des späteren
Kaisers Friedrich III. liegt auf der Hand. Prinz Carl hatte deshalb auch eine abweichende Einstellung zu
den drei preußischen Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71. Man wagt kaum zu ermessen, wie anders die
preußische und deutsche Geschichte hätte verlaufen können. Tapfer beugt sich Prinz Carl, der eine
Zeitlang als Thronprätendent vorgesehen war, „dem Unerforschlichen des menschlichen Daseins".
Ein eigener Lebensbereich ist seine Wirksamkeit als Wiederbegründer und Herrenmeister des Johanniterordens, der sich dann in den preußischen Kriegen als segensreich erweisen sollte, so wie sein königlicher
Bruder dessen Aufgabe umschreibt: „Die Spitäler ... sollen helfen ... das persönliche Aufopfern eines
ganzen Lebens zu Zwecken christlicher Liebeswerke den Augen des Landvolkes näher zu rücken" (S. 153).
Vfn. hat ihre Absicht erreicht und den Prinzen „seiner schicksalhaften Vergessenheit" entrissen (S. 236),
ihn in seine eichendorffisch anmutende Garten- und Kunstwelt hineingestellt. Das In-Beziehung-Setzen
geistiger Ereignisse durch wechselseitige Erhellung der Künste wird heute nur noch wenig beherrscht. Um
so mehr ist dies ein sauber gearbeitetes, ein profundes und ein schönes Buch.
Christiane Knop
Berliner Illustrirte Zeitung. Zeitbild, Chronik, Moritat für jedermann 1892-1945. Zusammengestellt und
herausgegeben von Christian Ferber. Ullstein Verlag Berlin 1982. 400 Seiten.
Es gab in den zwanziger Jahren unseres Säkulums eine Reihe von Illustrierten an den Kiosken; die
Münchner, die Kölner, die Hamburger, Hackebeils - aber weit vor ihnen allen rangierte, was Aktualität
und interessierenden Gehalt, Beliebtheit und Verbreitung im ganzen Deutschen Reich anbelangte, die
„Berliner Illustrirte Zeitung". Sie war die Illustrierte schlechthin, die jeden Donnerstag für 20 Pfje Heft von
zwei Millionen Lesern gekauft wurde und ihnen die große und kleine Welt mit Hilfe „moderner" Technik
wie Momentfotografie und Rotationsdruck ins Wohnzimmer brachte. Im Politischen enthielt sich das
Blatt jeglicher Stellungnahme. Seine Romane stammten von Clara Viebig, Thea v. Harbou, Vicki Baum
und anderen Unterhaltungsschriftstellern, die den Zeitgeschmack so gut trafen, wie es der Illustrierten im
ganzen gelang. Einen gewissen Eindruck von 53 Jahren Zeitgeschehen (1892 bis 1945) vermittelt denn auch
das vorliegende Buch mit seinen Bildproben und Textfragmenten. Die Älteren, die sich noch des
Ullstein-Blattes erinnern, werden gern darin blättern, den Jüngeren wird es wohl kaum Interesse abnötigen
können.
Gerhard Kutzsch
151
Veranstaltungen im I. Quartal 1984
1. Sonnabend, den 14. Januar 1984, 15.00 Uhr: Führung durch die Ausstellung zum 250. Geburtstag „Friedrich Nicolai - Leben und Werk" in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Potsdamer Straße 33, Berlin 30. Leitung: Frau Dr. Ingeborg Stolzenberg. Treffpunkt
im Foyer.
2. Donnerstag, den 19. Januar 1984, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Klaus von
Krosigk, dem Referenten für Gartendenkmalpflege beim Senator für Umweltschutz, „Aufgaben und Ziele der Gartendenkmalpflege in Berlin". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
3. Donnerstag, den 9. Februar 1984,19.30 Uhr: „Berlin halt ein..." Aus dem Leben und Werk
von Paul Zech. Es liest Siegfried Haertel. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
4. Freitag, den 17. Februar 1984, 19.00 Uhr: Eisbeinessen anläßlich des 119. Jahrestages der
Gründung unseres Vereins im Restaurant und den Festsälen der Hochschul-Brauerei,
Amrumer Straße 31, Ecke Seestraße, Berlin 65. Telefonische Anmeldungen bis zum
7. Februar unter 8 5127 39.
5. Donnerstag, den 23. Februar 1984,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Notizen zum Berliner Dom." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
6. Donnerstag, den 8. März 1984, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Manfred Motel:
„Das böhmische Dorf in Berlin." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
7. Donnerstag, den 22. März 1984, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Erhard Mayer:
„Die Berliner Siegesallee - einst und jetzt." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
Im IV. Vierteljahr 1983
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Konrad Beck, Journalist
Müllerstraße 138 c, 1000 Berlin 65
Tel. 4617083
(Grave)
Dr. Jan-Günter Frenzel, Zahnarzt
Branitzer Platz 6, 1000 Berlin 19
Tel. 30593 24
(Schriftführer)
Harand Giray
Otto-Suhr-Allee 53, 1000 Berlin 10
Tel. 3412682
(Bibliothek)
Dr. Wolfgang Kramer, Journalist
Potsdamer Straße 93, 1000 Berlin 30
Tel. 2616555
(Prof. Dr. Kiersch)
Martin Lippold, Rentner
Alemannenstraße 11,1000 Berlin 28
Tel. 4017540
(Dr. Schultze-Berndt)
Prof. Dr. Christoph Rueger, Musikwissenschaftler
Xantener Straße 20,1000 Berün 15
Tel. 8 813922
(Ueberlein)
Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12, 1000 Berlin 19.
Geschäftsstelle: Frau Lieselotte Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 323 28 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89,1000 Berlin 61, Telefon 6936791.
Konten des Vereins: Postscheckamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 3022 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
152
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MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
G E G R Ü N D E T 1865
80. Jahrgang
Heft 2
April 1984
Der Druckfehlerteufel hat uns im Januarheft 1984 einen argen Streich gespielt: Es ging als
Heft 5 hinaus, während es doch in der Tat Heft 1 (1984) war. Wir bitten unsere Mitglieder
und alle Bezieher der „Mitteilungen", die kleine Korrektur auf der Frontseite des Heftes
selbst vorzunehmen.
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Harry Maitey von Gottfried Schadow
153
Der Sandwich-Insulaner Maitey von der Pfaueninsel
Die Lebensgeschichte eines hawaiischen Einwanderers in Berlin
und bei Potsdam von 1824 bis 1872*
Von Wilfried M. Heidemann
Meiner Mutter Irmgard Heidemann geb. Raeder
zu ihrem 70. Geburtstag gewidmet
I. Polynesien und Preußen
Auf dem kleinen Friedhof der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe in Berlin-Wannsee steht
ein Steinkreuz mit der Inschrift „Hier ruht in Gott der Sandwichinsulaner Maitey 1872". Dieser
Satz in versenkten Goldbuchstaben macht manchen Leser ratlos, bei anderen läßt er die
Phantasie wuchern, und wieder andere macht er neugierig.
Es ist schwierig, die Sandwich-Inseln auf der Karte zu finden. Sie wurden von Kapitän James
Cook 1778/79 auf seiner dritten Reise für Europa entdeckt.' Es war die letzte Entdeckung einer
bewohnbaren größeren Erdmasse. Chef der britischen Admiralität war damals John Montagu,
der vierte Graf von Sandwich, den sein Zeitgenosse Johann Reinhold Forster 1781 als „einen in
allen Lüsten versoffenen und schandlosen Mann" beschrieb.2 Es wird von ihm erzählt, er habe
das Spiel so ungern unterbrochen, daß er sich Klappbutterbrote an den Tisch bringen ließ.
Nach diesem Gönner benannte Kapitän Cook den von ihm entdeckten Hawaii-Archipel
„Sandwich Islands". James Cook wurde am 14. Februar 17793 in der Kealakekua-Bucht das
Opfer einer durch polynesische Riten und europäisches Auftreten bedingten Ereigniskette.
Dieser Zwischenfall wurde der lesenden Weltöffentlichkeit zuerst von Anton Friedrich
Büsching am 10. Januar 1780 in Berlin bekannt gegeben. Er ließ den Druck seiner „Wöchentlichen Nachrichten von neuen Landcharten, geographischen, statistischen und historischen
Büchern und Sachen" anhalten, um diese bei ihm über Land aus dem russischen St. Petersburg
eingetroffene Nachricht einem anderen Artikel vorzuziehen.
Büsching war ein ungewöhnlich vielseitiger evangelischer Theologe.4 Er hatte in der vom
Pietismus August Hermann Franckes geprägten preußischen Universitätsstadt Halle studiert.
Der hallesche Pietismus war die treibende Kraft der „ersten Missionstat seitens des protestantischen Deutschlands"5 gewesen. Die beiden ersten deutschen lutherischen Missionare Ziegenbalg und Plütschau waren vor ihrer Ausreise in die dänische Kolonie Trankebar/Indien 1705
vom Rektor des Berliner Werderschen Gymnasiums Joachim Lange vermittelt worden.6
Büsching hatte an einer für damalige europäische Verhältnisse weltoffenen Universität studiert.
Als er seine „Wöchentlichen Nachrichten" herausgab, war er Oberkonsistorialrat und Direktor
des Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin. „Er wagte es zuerst, genauere Nachrichten
über den Zustand mancher Länder bekannt zu machen, die bisher als Staatsgeheimnisse
verborgen gehalten wurden."7 Das mag für einen Berliner Schulbeamten und ein Mitglied einer
geistlichen Behörde im spätfriderizianischen Preußen beachtlich sein, wurden doch zu jener
Zeit auf königliche Anordnung in diesem Staat die Ergebnisse der Landvermessung aus
militärischen Gründen möglichst geheim gehalten.8
Durch das Öffentlichkeitsbewußtsein Büschings erfuhren die Berliner vom gewaltsamen Tod
des Entdeckers der Hawaii-Inseln einen Tag vor seinen Landsleuten, die diese Nachricht erst
* Für den Druck überarbeiteter Vortrag, der am 16. November 1983 in der Kirche St. Peter und Paul auf
Nikolskoe gehalten wurde.
154
am 11. Januar 1780 in einer Meldung der Admiralität und einem Nachruf in der „London
Gazette" lasen.9 Der gewaltsame Tod von James Cook wurde trotz des Schreibverbots der
britischen Admiralität von einem seiner beiden deutschen Seeleute 1781 in seinem in Mannheim
gedruckten Werk „Heinrich Zimmermanns von Wißloch in der Pfalz Reise um die Welt mit
Capitain Cook" einer interessierten Öffentlichkeit bekannt gemacht.10 Dieses Ende des Entdeckers hatte eine nachhaltige Wirkung, weil es das bis dahin in Europa vorherrschende Bild
vom „edlen Wilden" gründlich zerstörte."
Der französische Reisende de Bougainville hatte der Insel Tahiti noch wegen der von Europäern ungewohnten sexuellen Freizügigkeit der weiblichen Bevölkerung in Anspielung auf die
Liebesgöttin Venus den Namen „Nouvelle Cythere" gegeben.12 Solches Verhalten ließ sich auch
bei den hawaiischen Frauen beobachten, aber dahinter steckte je länger, je mehr auch ein
Mann, der sich dadurch von den Seeleuten die materiellen Mittel, vor allem Feuerwaffen,
beschaffen ließ, um schließlich unter seiner Oberherrschaft die ganze Inselgruppe zu vereinen.
Es war der spätere König Kamehameha I. Ihm begegnete der erste Berliner auf Hawaii am
24. November 1816 und dann wieder am 28. September 1817 persönlich. Es war der Schriftsteller
und Botaniker Adelbert von Chamisso. Der alte Held muß ihn ziemlich beeindruckt haben,
schrieb er doch in sein Tagebuch: „Drei der hervorragenden Männer der alten Zeit, ich rühme
mich der Ehre, haben mir die Hand gedrückt: Tameiameia, Sir Joseph Banks und Lafayette."
Chamisso war bei einer der dreißig russischen Expeditionen, die von 1803 bis 1833 in den Pazifik
segelten, mitgefahren.13 Sein Schiff war die Brigg „Rurik"; sie fuhr unter dem Kommando des
Kapitäns Otto von Kotzebue, einem Sohn des Schriftstellers August von Kotzebue, dessen
Ermordung am 23. März 1819 durch den Jenenser evangelischen Theologiestudenten Karl
Ludwig Sand in Mannheim die politische Szene in Deutschland nachhaltig - vor allem durch
Zensurbestimmungen - beeinflußt hat.
Im Winter 1818/19 saß Chamisso in Berlin an seinem Bericht über die Expedition. Sein Freund
E. T. A. Hoffmann griff verschiedene Ideen und Einzelheiten für seine phantastische Erzählung
„Haimatochare" auf, die in „Hana-ruru auf O-Wahu" „unfern König Teimotus Residenz"
spielt. Diese 1819 in Berlin veröffentlichte phantastische Erzählung ist das erste Stück Prosadichtung der Weltliteratur, das Hawaii als Schauplatz hat.14
II. Von Hawaii nach Berlin
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich die Hawaii-Inseln zu einem sehr bedeutenden Zentrum des Walfangs entwickelt. Am 27. November 1823 verließ der hawaiische König
Kamehameha II. (Liholiho) an Bord des englischen Walfängers „L'Aigle" sein Königreich in
Richtung England.15 Es war die erste Auslandsreise eines hawaiischen Monarchen. Für den
gleichen Tag notiert das Journal der unter Kapitän Harmssen fahrenden bremischen Fregatte
„Mentor": „ . . . 2 Uhr Nachmittags erblickten Land (die Insel Owyhee) . . . um 9 Uhr die
nördliche Spitze von Owyhee und die südliche von Mowee", und am nächsten Tag
um
9 Uhr liefen (auf der Rhede) in den Bay von Hanäorora auf d. I. Waahoo und ankerten in 14
Faden Wasser. Bis zum 3 ten Dec. Morgens 10 Uhr lagen wir Anker, hatten unsere Wasserfässer
gefüllt und einige Erfrischungen eingekauft."16
Die Reise dieses Schiffes um die Erde war die Verwirklichung eines lang gehegten Plans der
„Königlich Preußischen Seehandlung" in Berlin. Es war die erste deutsche Weltumseglung. Die
Seehandlung hatte das in Vegesack gebaute und 1817 von Kiel auf neu verzimmerte Schiff der
Gebrüder Delius aus Bremen17 zu diesem Zweck gechartert und mit dem Hamburger Kauf155
mann Wilhelm Oswald als Supercargo (Frachtoffizier) auf die Fahrt geschickt. Er ließ sich in
Honululu an Land rudern, um die geplanten Einkäufe zu arrangieren. Dort machte er die
Bekanntschaft des amerikanischen „Konsuls und Agenten" John Coffin Jones jun., der ihm
über die politischen Zusammenhänge, die zur Abreise des Königs nach England geführt hatten,
„seine Hoffnung auf englischen Schutz und Stärkung angesichts der Subversion einiger Häuptlinge"18 Mitteilung machte. Aus anderen Quellen erfuhr Oswald, daß die Reise des Königs
„durch Furcht vor einer russischen Invasion" motiviert worden war. Oswald spürte, daß auf
Hawaii eine Zeit politischer Unruhe war. Für einen englischen Missionar und seine erkrankte
Frau, der versuchte Honululu zu verlassen und dem vor drei Wochen die Erlaubnis verweigert
worden war, mit dem König und seiner Reisegesellschaft auf der „L'Aigle" nach London zu
segeln, fand sich auf der „Mentor" kein Platz.
Auf der Weiterfahrt hatte die „Mentor" aus dem chinesischen Hafen Kanton vor allem Tee
mitgenommen, von den anderen Stationen der Reise aber „auch einen schönen Vorrath von
Naturseltenheiten und Kunstgegenständen aus den drei Weltteilen, die er besuchte, mitgebracht", wie die „Vossische Zeitung" vom 18. Oktober 1824 unter der Überschrift „Unser
Chinafahrer" festhält. Zu einer Ausstellung in den Räumen des Seehandlungsgebäudes in der
Jägerstraße am Gendarmenmarkt bemerkt die Zeitung weiter: „Auch für ein ethnographisches
Museum, deren (!) Einrichtung wir noch immer entgegensehen, ist so manches Merkwürdige
mitgekommen ... Zeug aus Baumrinde von den Sandwich-Inseln... Und damit dem künftigen
Museum der Aufseher nicht fehlt, ist auch ein Freiwilliger von den Sandwich-Inseln mit
eingetroffen. Henry, so wird er gerufen, oder vielmehr: so nennt er sich, kam als der Mentor
dort anlegte, an Bord, und bat flehentlich, daß man ihn mitnehmen möchte. Man erkundigte
sich nach seinen Familien-Verhältnissen, er hatte weder Vater noch Mutter, noch sonst
jemanden, der Ansprüche an ihn machte; so ging er mit nach China, und hat sich nun schon
ganz an die Europäische Lebensweise gewöhnt. Henry mag ungefähr 15 bis 18 Jahr alt sein, die
Menschenrace, von der er stammt, gehört nicht zu den Negern, steht ihnen jedoch durch die
schwärzliche Hautfarbe u. etwas platte Nase ziemlich nah, unterscheidet sich jedoch durch
wohlgebildete Lippen und glattes, langwachsendes, weiches Haar; sein Teint scheint etwas
brouillirt, am Arm und im Gesicht ist er tattowiert. Er ist sehr gelehrig, freundlich, munter,
arbeitssam. Deutsche Worte spricht er geläufig nach, wenn sie nicht zu viel Consonanten
haben, besonders scheint ihm das r ganz zu fehlen. Wenn er zum Singen eingeladen wird, ziert
er sich fast eben so sehr, wie unsere jungen Damen, und hat auch die andere böse Gewohnheit,
daß man ihn, wenn er erst angefangen hat zu singen, gute Worte geben muß, ehe er aufhört.
Beim Singen setzt er sich auf einen Stuhl, u. macht mit seinen Händen lebhafte Bewegungen,
wobei es mir bemerkenswerth schien, daß er mit der rechten Hand sich oft an das Herz schlug,
während er mit der Linken die rechte Seite nie berührte. Sein Gesang beschränkte sich auf vier
bis fünf Töne, und die Worte schienen vornehmlich aus den Lauten ae, i, und o zu bestehen,
seine Stimme hat nichts Schnarrendes, man könnte sie eine angenehme Tenorstimme nennen,
doch machte der Vortrag des Gesanges mit diesen sonderbaren Bewegungen ganz den Eindruck, als ob man einen Irren sah. - Eine ganz besondere Freude äußerte der Insulaner über
einen Herrn von ziemlich starken Embonpoint, er lief auf ihn zu und umfaßte ihn mehrmals, so
daß man wirklich besorgt war, es möchte sich der jenen Insulanern eigenthümliche Appetit, der
einst Cook das Leben kostete, bei dem jungen Freiwilligen zu regen anfangen."19 Man darf sich
das zeitgenössische Berliner Ausstellungspublikum allerdings auch nicht allzu zartfühlend
vorstellen.20
In den hawaiischen Quellen gibt es keinerlei Erwähnung dieses jungen Mannes. Vielleicht
gehörte er zu denen, die durch die Ereignisse bei der Abreise seines Königs nach Honululu
156
gekommen waren und die jetzt nicht wußten, was sie machen sollten. Henry hörte auch auf
einen Spitznamen, von dem die Deutschen annahmen, daß er sein Familienname sei: Maitey
(„offensichtlich war dieser Name vom hawaiischen maika'i oder matai'i abgeleitet, das ,gut'
bedeutet und die fröhliche, willige Veranlagung des Jugendlichen widerspiegelt"21). Henry
hatte auf dem ersten deutschen Schiff, das die Welt umsegelte, und zwar aufgrund einer in der
preußischen Hauptstadt Berlin von einer staatlichen Einrichtung begonnenen und geplanten
Unternehmung, Asyl gesucht und auch gefunden.
Am 25. August 1824 notiert das Journal der „Mentor": „Erhielten Order von ... Delius in
Bremen unseren Cours nach Swinemünde die Rhede von Stettin zu richten p. Dover boat."
Hier deutet sich an, daß das Schiff inzwischen an die Seehandlung verkauft worden war. Am
7. September 1824 wird im Journal festgehalten: „Nachmittags 12 Uhr kamen in Sund bei
Elsingeur vor Anker gleich darauf kam H. Holm konigl. Preuß. Consul an Bord, brachte uns
eine Preuß. Flagge, welche gleich daraufgehißt wurde." Als die „Mentor" im Englischen Kanal
lag, war im nahen Woolwich die Mannschaft von „H.M.S. Blonde" dabei, dieses Schiff zum
Auslaufen nach Hawaii vorzubereiten. Der König Kamehameha II. und seine Königin Kamamalu waren im Mai 1824 in England eingetroffen und Mitte Juli an Masern gestorben. Die
sterblichen Überreste des Königspaares wurden von der „Blonde" unter dem Kommando von
Kapitän George Byron, einem Neffen des ebenfalls 1824 verstorbenen Dichters Lord Byron,
der damals am griechischen Freiheitskampf teilnahm, überführt. Das Fernweh lag in dieser
Familie, denn der Urgroßvater des Kapitäns und Großvater des Dichters John Byron war
bereits 1764 in der Südsee gewesen.22
Die Seehandlung war eine königliche Gründung, bei der damals die letztgültigen Entscheidungen beim preußischen Monarchen lagen. „Maitey hatte seinen hawaiischen König verloren und
war unter die Hoheit eines fremden geraten, ohne daß er sich einer dieser beiden Tatsachen
bewußt war."23
Nach der Ankunft und dem Löschen der Ladung in Swinemünde ergab sich die Frage, was mit
Maitey geschehen solle. Swinemünde war ein kleiner, soeben neu eröffneter Hafen. Der
Kapitän Harmssen, Supercargo Oswald und die Schiffsoffiziere wurden in Berlin erwartet, um
dem König Friedrich Wilhelm III. nach der erfolgreichen Weltumseglung vorgestellt zu
werden. Maitey wurde, wohl auch weil man nicht wußte, was mit ihm zu tun sei, erst einmal mit
nach Berlin genommen, wo der neue Reeder entscheiden mochte, was mit ihm geschehen solle.
In Berlin wurde sogleich eine „Acta den durch das Seehandlungs-Schiff Mentor mitgebrachten
Sandwich-Insulaner Harry Maitey betreffend"24 angelegt. Ihr erstes Blatt datiert vom 22. September 1824. Der Präsident der Seehandlung Christian Rother zeigt in diesem Schreiben dem
König die Ankunft Maiteys an und bittet um Entscheidung. Friedrich Wilhelm III. war nicht
gerade für rasche Entscheidungen bekannt. Außerdem war er gerade nicht in Berlin, sondern
dachte in Paretz über eine persönliche Entscheidung nach: über seine Wiederheirat mit der
dreißig Jahre jüngeren schlesischen Gräfin Harrach.
Am 13. Oktober 1824 schreibt Rother erneut an den König: „Der Sandwichs-Insulaner, ein
äußerst gutmütiger Mensch, der schon etwas Deutsch versteht, bis jetzt aber noch nichts weiter
als seine Sandwichs-Sprache spricht, ist auch hier angelangt; ich habe solchen in meiner
Wohnung und bitte Ew. Majestät devotest, die weitere Bestimmung über ihn mir huldreichst
zugehen zu lassen."25 Der König schrieb bereits zwei Tage später aus Paretz nach Berlin zurück,
erwähnte aber nur kurz die Angelegenheit des Polynesiers: „Wegen des mitgekommenen
Sandwichs-Insulaners, werde ich Ihnen Meine Bestimmung des nächsten eröffnen." Sein
Berater, der Geh. Kabinettsrat Albrecht fügt seinem Brief an den Präsidenten der Seehandlung
noch ein Besprechungsergebnis zu: „Wegen des Sandwichs-Insulaners soll ich mit Ihnen
157
Rücksprache nehmen, was mit ihm anzufangen sey, namentlich, wie und wo er behufs seines
Unterrichts in der deutschen Sprache und im Christentum unterzubringen sey."
So blieb Maitey erst einmal in der Dienstwohnung der Familie Rother im Obergeschoß des
Seehandlungsgebäudes und belebte auf seine Weise die naturkundliche und völkerkundliche
Ausstellung im gleichen Haus.26
Einige Dinge fallen in dem Bericht der Vossischen Zeitung auf:
1. Es wird betont, daß Maitey freiwillig gekommen sei. Um 1820 waren „Owyhee-Chiefs" auf
den Inseln entführt worden, um sie später in London als menschliche Rarität auszustellen. Sie
sind wie alle anderen Hawaiianer, die vor Maitey die Inseln verlassen hatten, spurlos in der
Hafenbevölkerung verschwunden.27
2. Es wird betont, daß Maitey niemanden gehabt habe, der auf ihn Ansprüche stellen konnte.
Als er in Berlin ankam, galten dort noch die Sklavenbestimmungen des preußischen Landrechts. Sie wurden erst später unter dem Einfluß Alexander von Humboldts, der Maitey wohl
gekannt hat, geändert. Humboldt schrieb an August Boeckh:
29. Dezember 1857
„... Ich habe zu Stande gebracht, was mir am meisten am Herzen lag, das von mir lang
geforderte Negergesetz: jeder Schwarze wird frei werden, sobald er preußischen Boden
berührt.. Z'28
3. Auch wenn die Bemerkung über den Mann mit dem Embonpoint, den Maitey umarmte,
scherzhaft gemeint gewesen sein könnte, drückt sich darin doch gleichzeitig ein Mißtrauen
gegenüber diesem dunklen Wilden aus, denn die Zeit des „edlen Wilden" in Europa war vorbei,
und die Südseeinsulaner waren seit Cooks Tod eben auch mögliche Kannibalen. Im übrigen
liegt diesem Zwischenfall auf der Berliner Ausstellung wohl ein europäisches Mißverständnis
zugrunde: In Polynesien gilt der beleibte Mensch nicht nur als schön, sondern gleichzeitig auch
als mächtig.29
4. Zu Maiteys Gesang ist zu sagen, daß seine Bestauner wohl ein deutsches Volkslied hören
wollten und ihm mit dem heute noch üblichen Unverständnis der Menschen einer alphabetisierten Gesellschaft begegneten. Maitey dürfte ihnen wohl eine Ballade vorgetragen haben, wie sie
in der Geschichtsüberlieferung der mündlichen Kulturen eine wichtige und stabilisierende
Rolle spielen. Er gab etwas preis, und daraus erklärt sich wohl auch seine Scheu. Seine
Besichtiger verstanden seine Sprache nicht und konnten daher auch seine Gebärden nicht
begreifen. So erklärt sich ihr Werturteil „doch machte der Vortrag des Gesanges mit diesen
sonderbaren Bewegungen ganz den Eindruck, als ob man einen Irren sah."
Nach der Anordnung des Königs sollte Maitey nicht nur in der deutschen Sprache unterrichtet
werden, sondern auch Religionsunterricht erhalten. Friedrich Wilhelm III. war als Oberhaupt
der Evangelischen Landeskirche und als Stifter der Union zwischen lutherischer und reformierter Kirche in dieser Frage stark engagiert. Außerdem war es eine Zeit, in der sich in Europa
christliche Kreise mehr und mehr für die Mission unter den Menschen in Übersee einsetzten. In
Berlin war am 29. Februar 1824 in der Studierstube des Professors der Rechtswissenschaften
Moritz August vor. Hollweg, Am Holzmarkt 1, unmittelbar hinter der Universität die „Gesellschaft zur Beförderung der Evangelischen Missionen unter den Heiden" gegründet worden, die
heute bei uns und in Übersee im Berliner Missionswerk wirkt.30 Außerdem war die Taufe
Maiteys für seine rechtliche Stellung sehr wichtig. Die preußischen Behörden haben z. B. einmal
westfälischen Quäkern, die ihre Kinder nicht taufen ließen und dazu als Pazifisten sich auch
weigerten, ein Gewehr für ihren König in die Hand zu nehmen, ihre Kinder zwangsweise
weggenommen. Bittsteller aus diesen Familien wurden in Potsdam bei Friedrich Wilhelm III.
nicht vorgelassen.3' Heinrich Heine schrieb als Student eineinhalb Jahre, bevor Maitey in diese
158
Stadt kam, am 1. April 1823 in Berlin das Bekenntnis nieder: „Auch ich habe nicht die Kraft
einen Bart zu tragen, und mir Judenmauschel nachrufen zu lassen."32 Zwei Jahre später, am
28. Juni 1825, ließ sich dieser Dichter von Göttingen aus im nahen preußischen Heiligenstadt
taufen.33
III. Der Sandwich-Insulaner wird zum königlichen Pflegling
Heinrich Wilhelm Maitey
Besonderes Glück hatte Maitey, daß er in der Familie des Präsidenten Rother aufgenommen
wurde. Rother leitete die wirtschaftlichen Unternehmungen der Seehandlung außerordentlich
erfolgreich. Sie betrafen unter anderem die Ausgabe von Anleihen, Straßenbau in den Provinzen, Bewirtschaftung eigener Güter, Betrieb eigener Fabriken sowie Import- und Exportgeschäfte zur Ausfuhr preußischen Leinens nach Übersee. Das Unternehmen war ein Motor der
Industriealisierung Preußens. Er stammte nicht aus einer adeligen Familie, was ihm seine
Karriere möglicherweise erleichtert hätte, sondern verdankte seine Laufbahn eigener Tüchtigkeit. Er kam aus einfachen Verhältnissen in Schlesien. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere war
er nicht nur Präsident der Seehandlung, sondern auch preußischer Finanzminister. Er wurde
für Maitey eine Respekts- und Bezugsperson. Maitey war aus seiner hawaiischen Kultur eine
„hanai" bzw. Adoptionsbeziehung vertraut. Mit Rothers Sohn entwickelte sich eine Freundschaft, und Frau Rother wurde später die Patin seines ersten Kindes.34
Im übrigen war Maitey in Berlin in der besten der möglichen Welten untergebracht; wenigstens
von einem europäischen Standpunkt aus gesehen. Das Seehandlungsgebäude lag am
Gendarmenmarkt, dessen Schauspielhaus gerade vom Staatsarchitekten Schinkel vollendet
worden war. Dort gab es auch die Weinstube von Lutter und Wegener, die durch Offenbachs
Oper „Hoffmanns Erzählungen" weltbekannt geworden ist. Nahebei lag das Cafe Stehely, dort
wurden wie auch in anderen Kaffeehäusern fleißig die - freilich zensierten - Zeitungen gelesen.
Auf dem Gendarmenmarkt wurde einige Male in der Woche Markt abgehalten. E. T. A.
Hoffmann hat das in der Erzählung „Des Vetters Eckfenster" überaus lebendig beschrieben.35
Wenige Schritte entfernt lag die Straße Unter den Linden, wo es immer etwas zu sehen und zu
beklatschen gab. Maitey hatte sich sehr schnell an die europäische Kleidung gewöhnt, ja, er
entwickelte eine besondere Vorliebe für sie, vor allem für blankgeputzte Stiefel. Rother bildete
ihn als Tischdiener aus, und seine Freunde steckten Maitey gern reichliche Trinkgelder zu, die
er bald für Kleidungsstücke ausgab. Er fuhr auch einige Sommer mit der Familie auf ihren
Landsitz in Schlesien. Nach den Rechnungen der dortigen Schuster scheint er recht viel durch
die Wälder und Felder gestreift zu sein.
Aber selbst bei einer so verständnisvollen Familie wie Rother gab es Mißverständnisse. Maitey
badete gern und häufig. Rother deutete das als einen Versuch seines Schützlings, die dunkle
Hautfarbe loszuwerden, und erkannte nicht, daß zur polynesischen Kultur und dem dortigen
Klima häufiges Baden und Schwimmen gehören.36
Kurz vor Maiteys Ankunft war Rother Vorsitzender des „Berliner Vereins zur Erziehung
sittlich verwahrloster Kinder" geworden. Er sah die Folgen der von ihm mit betriebenen
Industrialisierung und unterstützte diesen Verein auch über die Seehandlung finanziell. 1825
wurde das „Erziehungshaus vor dem Halleschen Tor" eröffnet. Zum Leiter wurde ein
Pädagoge von gutem Ruf, der Erziehungsinspektor D. T. Kopf berufen, der aus pietistischer
Tradition stammte. Das Ziel dieses Erziehungshauses war aber nicht etwa nur die Rettung
verlorener Seelen, sondern eine gute Berufsausbildung der Jungen, um sie der Zwangsgemeinschaft hartgesottener Krimineller fernzuhalten.
159
Das Erziehungshaus wurde als Schule für Maitey bestimmt. Er hatte dort aber nur Lese-,
Schreib-, Rechen- und Religionsunterricht. An der Werkausbildung der anderen Jungen nahm
Maitey nicht teil. Er brauchte auch nicht ihre graue Uniform mit den gelben Knöpfen und der
blauen Mütze zu tragen, sondern behielt seine elegante Kleidung. Außerdem aß er am Tisch
Kopfs und bekam eine bessere Verpflegung als die anderen Zöglinge. Anfang 1827 empfahl
Rother dem König Maitey als Diener für den Hof, lobte seine Sauberkeit und verwies auf seine
Servierfähigkeiten, die er in seinem Haus gelernt habe. Der König antwortete gleich und
versprach eine Entscheidung nach Maiteys Taufe und Konfirmation. Bis dahin sollte er seine
Schulausbildung vor allem in Deutsch und Religion fortsetzen.37
Rother stand also weiter vor dem Problem, was er mit dem polynesischen Burschen in seinem
Haushalt machen sollte. Er holte erst einmal eine Auskunft von Erziehungsinspektor Kopf ein,
die nicht allzu ermutigend war. Seine Kenntnisse in Religion seien nur vage, und sein unzureichendes Deutsch hindere ihn an der Kommunkation mit den anderen Schülern.38 Wie alle
Väter besprach Rother die Lernschwierigkeiten seines Pfleglings mit seinen Freunden. In
diesem Fall war der Freund Wilhelm von Humboldt. In der Akte Maitey existiert ein Handzettel Humboldts vom 15. April 1827:
„Wollten mir Ew. Hochwohlgeboren heute Nachmittag um 6 Uhr Ihren Harry schicken, so
möchte ich meine Kunst an ihm versuchen. Ginge es heute nicht, so bitte ich ihn um die gleiche
Stunde nächsten Dienstag."39 Humboldt vergaß im Lauf der Begegnungen mit Maitey wohl
sein freundlich gemeintes ursprüngliches Angebot des Nachhilfeunterrichts, vielmehr befragte
er ihn eingehend über die hawaiische Sprache und trug seine Forschungsergebnisse auf der
Akademiesitzung am 24. Januar 1828 vor. Dabei erwähnte er Maitey mehrere Male.40
Von Juni bis Oktober 1827 war Maitey ständig im Erziehungshaus, und im Herbst 1828 wurde
er nicht wieder eingeladen, in Rothers Haushalt zurückzukommen. Rothers Geduld war wohl
erschöpft. Maitey hatte nicht nur Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Wegen dieser
Schwierigkeiten entließ ihn der Waisenhauspfarrer Rötscher auch aus dem Konfirmandenunterricht. Rötscher war ein vorsichtiger Geistlicher, der mit seinem Konfirmanden kein Risiko
eingehen wollte. Der Konfirmandenunterricht stand in jenen Jahren aufgrund der Spannungen, die mit der Durchführung der staatlich angeordneten Kirchenunion zusammenhingen,
besonders unter dem Zeichen dogmatischer Unterweisung. Rötscher wollte besonders bei
einem Konfirmanden, der möglicherweise bald in der Nähe des Königs arbeiten würde, alles
richtig gemacht haben.41 Für Maitey bedeutete Taufe und Konfirmation die Rückkehr zu
Rothers. Das jedenfalls spricht aus seinem Neujahrsschreiben vom 1. Januar 1829:
„Hochwohlgeborener Herr,
Gnädiger Herr Präsident.
Euer Hochwohlgeboren wünsche ich zum neuen Jahre viel Glück und Segen, Gesundheit und
Freude. Ich werde recht gut seyn und fleißig lernen, damit ich bald getauft werden kann; und
bleibe ich immer bei meinem lieben Herrn Präsident; und bediene ihn treu, und mein Herr
Präsident wird mich lieb behalten.
Harry Maitey
ein Sandwich Insulaner."42
Am 15. April 1829 konnte Kopf Rother mitteilen, daß Pastor Hoßbach bereit sei, Maitey mit
den anderen Jungen des Erziehungshauses in den Konfirmandenunterricht aufzunehmen. Es
liegt eine gewisse Ironie darin, daß Hoßbach der Pfarrer war, den Rother selbst ursprünglich
vorgeschlagen hatte. Er war Frühprediger an der Neuen Kirche, die auch Deutscher Dom
160
genannt wurde und an der Südseite des Gendarmenmarktes lag. Er war nicht nur jünger als
Rötscher, seine offene Art war auch seiner Laufbahn nicht hinderlich. Später wurde er
Superintendent und Konsistorialrat. Er erhielt auch ein theologisches Ehrendoktorat.43
Vor der Taufe und der Konfirmation kam es im Hause Rother aber noch zu einem Zwischenfall
mit Maitey. Ende 1829 wurde er aufgefordert, bei einem Diner in der Wohnung Rothers zu
servieren. Es wurde Wein aufgetragen, und Maitey trank dabei mehr, als ihm gut tat. Ein
anderer Diener versuchte, ihn um einen Taler Trinkgeld zu betrügen, und Maitey stellte ihn
lautstark. Rother wurde herausgerufen, konnte ihn aber nicht besänftigen, und Maitey ließ sich
zu einem Wutanfall hinreißen, der für sich sprach.44 Neben Maiteys Enttäuschung über die
anscheinend zerschnittene „hanai"-Beziehung zu seinem Beschützer Rother und der Ungewißheit über seine Zukunft kam noch etwas anderes, das zu seinem Gefühlsausbruch geführt hatte.
Die Vossische Zeitung berichtet am 2. Oktober 1829 über „Die glückliche Rückkehr des
preußischen Handelsschiffes Prinzessin Louise" von einer Reise um die Erde und weist auf eine
Ausstellung „in einigen Zimmern des Seehandlungsgebäudes" hin. „Endlich müssen wir noch
einer mehr historischen Curiosität mit erwähnen. Unter den mancherlei Gewändern und
Trachten fremder Völkerschaften, sehen wir nämlich auch einen Kriegsmantel des Königs der
Sandwichinseln. Die rothen und gelben Federn, aus denen er verfertigt ist, sind ein Regal der
Krone; der Mantel hat aber auch noch besonderen Werth dadurch, daß ihn ein berühmter
Vorfahr des jetzigen Königs in den vielen Schlachten, durch die er die Herrschaft über die Inseln
errang, getragen hat."45 Der Mantel ist heute noch ein Prachtstück der Sammlung des Völkerkundemuseums in Berlin-Dahlem.46 Zur Herstellung eines solchen Mantels werden die Federn
von bis zu 80 000 Vögeln benötigt. Durch Zufall ist auf der Insel Kauai vor einigen Jahren eine
kleine Population dieser Vögel wiederentdeckt worden. Von einem Vogel können jeweils nur
ein bis zwei Federn für einen solchen Mantel verwendet werden. Das Bishop-Museum in
Honululu hat vor einigen Jahren aus irischem Privatbesitz einen solchen Mantel nach Hawaii
zurückgekauft.47
Maitey war auf der „Mentor" aus Hawaii geflohen und hatte in Preußen Asyl gefunden. Für ihn
ergab sich beim Anblick des Federmantels möglicherweise der Eindruck, daß sein bisheriger
Beschützer Rother jetzt gemeinsame Sache mit den Machthabern seiner Heimat mache. Rother
ordnete bei Kopf ein ausführliches Strafprogramm für Maitey an, das nach Einwänden des
Erziehungsinspektors jedoch gemildert wurde.48
Am Freitag, dem 23. April 1830, wurde Maitey in einem privaten Gottesdienst von Hoßbach
getauft und konfirmiert. Seine Paten waren Rother, Stadtrat Hollmann und Kopf. Henry oder
Harry Maitey bekam den Namen Heinrich Wilhelm. Hinterher nahm er mit den anderen
Konfirmanden des Erziehungshauses am Abendmahl teil. Von seinen Paten bekam er
„15 Taler, die für ihn auf ein Sparkassenbuch eingezahlt wurden".49 Dann ging es zurück ins
Erziehungshaus. Maiteys Traum „dann bleibe ich immer bei meinem lieben Herrn Präsident"
hatte sich nicht verwirklicht.
Nach Maiteys Konfirmation sicherte der König Friedrich Wilhelm III. Rother ab 1. Juli 1830
für seinen Schützling eine Stelle mit 300 Taler Jahresgehalt am Hof zu. Der Hofmarschall von
Maltzahn sollte das Einstellungsgespräch führen. In Begleitung von Kopf stellte sich Maitey
vor, aber der Hofmarschall war nicht da, und sie wurden von seinem Stellvertreter Hofrat
Bußler empfangen.50
Es begann ein etwas merkwürdiges Beamtenexamen. Zunächst befragte Bußler Maitey über
preußische Ränge und Beamtenbezeichnungen. Es gab da wohl mehr als hundert verschiedene
Berufsbezeichnungen in fünf Rängen. Maitey kannte so etwas zwar aus seiner heimatlichen
Gesellschaft, die sehr hierarchisch aufgebaut war, aber die meisten preußischen Rangbezeich161
nungen hatte er noch nie gehört. Der Kandidat versagte.51 Dann wurde ihm ein Stapel
handgekritzelter Benachrichtigungen und Anordnungen vorgelegt. Er sollte Adressen und
unleserliche Unterschriften entziffern. Maitey hatte zwar im Erziehungshaus Schönschreiben
gelernt, hatte aber bisher noch keine Gelegenheit gehabt, Buchstabenansammlungen von der
Güte einer Ärztehandschrift zu enträtseln. Der Kandidat versagte auch hier vollständig.
Nach Abschluß dieses Examens stellte Bußler fest, daß der Kandidat für die Hofstellung
ungeeignet sei. Der stets eifrige Erziehungsinspektor Kopf versprach weitere Ausbildung seines
Schülers. Bußler ging darauf nicht ein, sondern hatte eine ihm glänzend erscheinende Idee.
Maitey war doch ein Insulaner, und so paßte er am besten auf eine Insel, und die königliche
Pfaueninsel, in der Havel zwischen Potsdam und Berlin gelegen, brauchte gerade einen
Fährmann.52
Vielleicht besteht Interesse zu wissen, wie Henry Harry oder Heinrich Wilhelm Maitey ausgesehen hat. Gottfried Schadow hat ihn einmal gezeichnet und dazu geschrieben: „Da derselbe
unter uns geblieben, so zeigt der Augenschein einem Jeden, daß in dessen Gesichtszügen nichts
Abweichendes von den unsrigen wahrzunehmen ist. Die breiten Wangenbeine finden sich auch
bei uns, und, obgleich sein Schädel schmäler, wird dieser doch durch die starken und dicken
Haare versteckt; was ihn einigermaßen unterscheidet ist die dunklere Hautfarbe. Zu einer
feineren Geistesbildung fand er sich nicht geeignet."53
In Berlin hatte man festgestellt, daß der dunkle Mann aus der Südsee weder ein edler Wilder
noch ein Menschenfresser war, sondern ein Mitmensch, allerdings eben auch kein Mann, der
über ein unerschöpfliches Bildungsreservoir verfügt hätte. Maitey war inzwischen zu einem
evangelischen preußischen Untertanen und kleinen königlichen Hofbeamten geworden.
IV. Die langen Jahre auf der Pfaueninsel und in Klein-Glienicke
Die Pfaueninsel54 war so etwas wie ein preußisches Utopia. Ein schmaler Streifen Wasser, der
mit einer Fähre überquert wird, trennt sie vom Festland. Auf dem Weg zum ruinenartigen
Schlößchen liegen Walkieferknochen, die möglicherweise aus Maiteys hawaiischer Heimat
stammen.
1769 hatte der französische Entdeckungsreisende Louis Antoine de Bougainville aus Tahiti
einen jugendlichen Eingeborenen namens Aotourou mit nach Paris gebracht. James Cook
brachte 1775 von seiner zweiten Reise dessen Landsmann Omai nach London. Beide wurden in
gelehrte und aristokratische Zirkel eingeführt und waren Mittelpunkt amüsierter Neugierde.55
Im Zusammenhang damit entstand in Europa eine Südseemode. Ein Ausdruck davon ist auch
das otaheitische Kabinett im Pfaueninselschloß, das das Innere einer Südseehütte vortäuschen
soll, wo man die Menschen in paradiesischen Zuständen vermutete.56 Auf der Pfaueninsel gab
es auch ein Palmenhaus, das etwa zur Zeit, als Maitey dort ankam, von Carl Blechen gemalt
worden ist.57
Maitey wurde dem Maschinenmeister Friedrich zugeteilt und empfing von ihm eine vielseitige
handwerkliche Ausbildung. Dabei kam er auf der ganzen Insel herum: Von der Meierei im
Norden bis zum Schloß im Süden. Er erledigte Holzschnitz-, Möbeltischler- und Schlosserarbeiten. Auf der Insel gab es für die Pumparbeiten des Bewässerungssystems eine der ersten
Dampfmaschinen in Deutschland. Es muß für die preußische Hofgesellschaft ein ganz besonderes Vergnügen gewesen sein, dieses in England erfundene technische Wunderwerk von einem
europäisch-elegant gekleideten Mann aus der Südsee bedient zu sehen. An zwei bis drei Tagen
in der Woche stand die Insel auch dem allgemeinen Publikum offen, das zunächst in Kremsern
und dann mit der Eisenbahn in ziemlich großen Scharen zu Besuch kam.58
162
Auf der Insel gab es nämlich nicht nur Park, Schloßbauten und Pfauen zu besehen, sondern es
entwickelte sich dort auch ein Vorläufer des heutigen Berliner Zoos. Die überseeischen Tiere
wurden zumeist von der Seehandlung geliefert. Deren „Acta betreffend die Ablieferung von
lebendigen Tieren pp an die königliche Menagerie auf der Pfaueninsel 11. July 1834-1849"
beginnt auf Blatt 1, Nr. 1, mit folgendem Text: „Mit dem Schiffe Prinzessin Louise 2 große
Enten, welche nur sehr selten in der Nähe des Vulkans Owhyhie gesehen werden, angekauft
durch Capt. Wendt für 10 Span. Thaler. Von diesen Thieren existiert nach der Äußerung von
Herrn Liechtenstein bloß in London vielleicht 1 Exemplar oder doch nur wenige, und schien
ihm diese Nachricht ganz besondere Freude zu gewähren." Dazu die Randnotiz: „Die beiden
Enten ad 1, sind bereits auf der Pfaueninsel angekommen."59 Es handelt sich bei diesen seltenen
Vögeln um die Hawaiigans oder Nene.60 Sie wurden wohl in dem Haus für Wassergeflügel
untergebracht inmitten eines Teiches, der von einem malerischen Wasserfall gespeist wurde.61
Es ist wahrscheinlich, daß die Tiere nicht nur als zoologische Rarität auf die Pfaueninsel
gebracht worden sind. Seeleute haben zwar immer gern zur Aufbesserung ihrer Heuer Kleintiere aus Übersee nach Europa mitgebracht, aber zwischen Wendt und Maitey bestand
offensichtlich eine enge menschliche Beziehung. Sein Onkel war der Kapitän J. H. Harmssen
gewesen. Er hatte unter seinem Kommando als Untersteuermann an der ersten Weltumseglung
auf der „Mentor" teilgenommen.62 Johann Wilhelm Wendt und Maitey waren auch zusammen
auf zwei Wagen mit den Ausstellungsstücken von Swinemünde nach Berlin gefahren.63 Vielleicht hatten Wendt und Rother ihrem früheren Schützling mit dem raschen Transport der
Hawaiigänse auf die Pfaueninsel einen Gefallen tun wollen.
Nach mündlicher Überlieferung soll sich Maitey am Wassergeflügelteich in Charlotte
Dorothee Becker, die Tochter des Tierwärtergehilfen Becker aus Stolpe verliebt haben, als sie
dort die Enten und Gänse fütterte. Maiteys Heirat hatte sich durch das Fehlen eines wichtigen
Dokuments verzögert. Als königlicher Beamter brauchte er einen Heiratskonsens. Er wurde
immer wieder vertröstet. Schließlich wandte er sich an seinen alten Beschützer Rother, der ihm
zügig half. Sein Jahreseinkommen erhöhte sich gleichzeitig auf 350 Thaler.64 Die beiden hatten
am 25. August 1833 in der Kirche am Stölpchensee geheiratet65, einem schlichten Fachwerkbau,
der später durch einen Neubau ersetzt wurde.66 Nach seiner Hochzeit wurde das Paar auch
einmal auf der Pfaueninsel dem König vorgestellt. Es entwickelte sich aber kein besonders
lebhaftes Gespräch.67 Das muß nicht unbedingt an den jungen Leuten gelegen haben, wird von
Friedrich Wilhelm III. doch erzählt, daß seine bevorzugte Verbform der Infinitiv gewesen sei.
Da auf der Pfaueninsel Wohnungen knapp sind, zog das junge Paar nach Klein-Glienicke, und
zwar neben das dort gerade im Bau befindliche Pfarrhaus. Am 2. Dezember 1837 wurde ein
Sohn Heinrich Wilhelm Otto geboren. Als er von seinem Nachbarn Pfarrer Fintelmann in
St. Peter und Paul auf Nikolskoe getauft wurde, umstanden den Taufstein nicht weniger als
acht Paten, darunter Frau Rother. Der kleine Junge starb wie seine 1846 geborene Schwester
Friederike Wilhelmine leider als Kind. Der zweite Sohn Heinrich Wilhelm Eduard, der am
8. Dezember 1839 geboren wurde, überlebte seine Eltern.68
Maitey arbeitete weiterhin auf der Pfaueninsel. Auch zum Besuch seiner Schwiegereltern kam
er auf die Insel. Von seinem Wohnort Klein-Glienicke gab es eine direkte Straße, die 1840 nach
dem Tod König Friedrich Wilhelms III. aufgehoben wurde. Dessen Sohn, Friedrich Wilhelm IV, wollte damit seinem Bruder Prinz Carl einen Gefallen tun, weil der seinen
Landschaftspark nicht mehr länger durch einen Fahrweg getrennt sehen wollte. Danach gab es
den heute noch existierenden Uferweg, der am Schloß Klein-Glienicke vorbeiführte.69 Dort
konnte Maitey einem anderen dunkelhäutigen Menschen begegnen, dem Diener Achmed des
Prinzen Carl.70
163
Ein Mann war sehr ärgerlich, daß Maitey nicht mehr ohne Unterbrechung auf der Insel lebte:
der Maschinenmeister Friedrich. Zehn Jahre nach Maiteys Umzug machte er eine Eingabe und
verlangte den Umzug des „Neuseeländers" (!) Maitey in eine leerstehende Wohnung auf der
Pfaueninsel. Maitey wurde nach diesen offenen und verhüllten Beschwerden Friedrichs, der
eine Oberaufsicht über ihn beanspruchen wollte, offiziell dem Garteninspektor Fintelmann
unterstellt.71
Es gab einen Grund für Friedrichs Verhalten. In Potsdam werden einige sehr schöne Elfenbeinmodelle aus dem Pfaueninselschloß verwahrt72, die nach den Akten Friedrich angefertigt hat.
Für diese Sammlerstücke, die vom König Friedrich Wilhelm III. und der Zarenfamilie sehr
geschätzt wurden, erntete Friedrich Lob und finanzielle Anerkennung. Eigenartigerweise
begann Friedrich mit der Herstellung dieser schönen Dinge nach Maiteys Ankunft und hörte
schlagartig nach seinem Umzug damit auf. Pro Modell waren etwa 12 000 Stücke aus Elfenbein
bzw. Perlmutter zu schneiden.73 Kinder in Hawaii schnitzten dort aus Muscheln und Knochen
Speerspitzen und Angelhaken. Seeleute schnitten auf den langen Segeltouren während ihrer
Frei wachen aus Walroß zahnen.74 Die Vossische Zeitung berichtet zur Ausstellung, auf der sie
Maitey ihrer Leserschaft vorstellte, über chinesische Kunstgegenstände, die von dem Schiff
„Mentor" mit nach Berlin gebracht worden waren: „Man erstaunt über die Geschicklichkeit,
mit welcher Chinesen in Perlmutter, Elfenbein und Schildpatte zu arbeiten verstehen, sie
schneiden die Figürchen auf Tabaksdosen, zu Schachspielen u.s.w. so sauber aus, wie es die
Nürnberger Künstler in ihrer besten Zeit nicht verstanden..." Maitey besaß also durchaus eine
entsprechende Vorbildung und Vorwissen zur Durchführung solcher Arbeiten.
Im Pfaueninselschloß gibt es einen gelben Raumteiler, von dem bei den Führungen erzählt
wird, er sei von den Kindern der Königin Louise mit ausgeschnittenen Figuren beklebt worden.
Aus den Akten ging jedoch hervor, daß Friedrich der Künstler war. Auch hier läßt sich gut
denken, daß die Feinarbeit von Maitey geleistet wurde.75
In den Tagen der Revolution von 1848 hielt es der König Friedrich Wilhelm IV. für angeraten,
seinen Bruder und Thronfolger Wilhelm nach England ins Exil zu schicken. Er verbarg sich bei
seiner Reise nach Hamburg auf der Pfaueninsel.76 In der Hansestadt half ihm ein Kaufmann zur
Weiterreise nach England, der sich inzwischen William O'Swald nannte. Es war jener Supercargo Wilhelm Oswald, der dem jungen Hawaiianer Henry 1823 auf der „Mentor" bei der
ersten deutschen Weltumseglung Asyl gewährt hatte.77
Auch Maiteys ersten deutschen Beschützer in Berlin traf das Jahr 1848. Die Seehandlung, die
bisher an den preußischen König unter Rother Gewinne abgeführt hatte, geriet in den Sog der
Wirtschaftskrise und mußte aus Staatsmitteln einen Vorschuß von 1 Mio. Taler aufnehmen.
Nach Rothers Ablösung als Finanzminister und Präsident des Unternehmens geriet die staatliche Seehandlung unter einen politisch bedingten Privatisierungsdruck, von dem sie sich nie
wieder erholt hat.78
Prinz Wilhelm kehrte aus London nach Deutschland zurück und wohnte wieder Maitey
gegenüber im Schloß Babelsberg. In Sichtweite seines Wohnhauses war dort 1843-45 ein
Maschinenhaus entstanden, das ihn an seine ersten Jahre auf der Pfaueninsel erinnerte. Der
Prinz wurde Regent und als Wilhelm I. König von Preußen und deutscher Kaiser. Bei seinen
Wegen zur Insel sah Maitey manchmal eine Miniaturfregatte aus dem für sie gebauten
Bootsschuppen segeln. Die „Royal Louise" war ein Geschenk des britischen Königs.79 Dieses
englische Schiffsgeschenk mochte Maitey daran erinnern, daß George IV. seinem König 1822
einen kleinen Schoner, die „Prince Regent", als Geschenk hatte überreichen lassen. Sein König
war darüber so begeistert gewesen, daß er sich auf den Weg nach England gemacht hatte.80 Ein
paar Tage später hatte Maiteys Reise nach Preußen begonnen.
164
Die Miniaturfregatte „Royal Louise" auf der Werft von E. Kluge in Sacrow
Preußen wurde immer größer und setzte sich Siegessäulen. Nach 1870 gab es in Berlin
französische Kriegsgefangene, die Prinz Friedrich-Karl zur Aufforstung seines nahegelegenen
Forstes Dreilinden heranzog.81 Unter den Gefangenen kam es zu einem Pockenausbruch. Die
Pocken wurden Maiteys Krankheit zum Tod. Er starb am 26. Februar 1872 in seinem KleinGlienicker Haus Kurfürstenstraße 10.82
Heinrich Wilhelm Maitey wurde auf dem kleinen Friedhof der Kirche St. Peter und Paul auf
Nikolskoe wie alle anderen Einwohner der Pfaueninsel bestattet. Nach der Einschätzung von
Anneliese Moore ist sein Grabkreuz der am besten erhaltene Grabstein eines Hawaiianers in
Übersee.83
V. Maitey im Spiegel und Zerrbild europäisch-überseeischer Beziehungen
Den Entdeckungsreisenden de Bougainville und Cook sind von europäischen Intellektuellen
Vorwürfe gemacht worden, weil sie die beiden Südseeinsulaner Aotourou und Omai von Tahiti
mit nach Frankreich und England gebracht hatten. „War es nicht unverantwortlich, daß man
einen jungen Mann, der das Vorrecht genossen hatte, in paradiesischer Umgebung aufgewachsen zu sein, sorglos frei und glücklich, seiner angestammten Heimat entriß und den korrumpierenden Sitten einer europäischen Großstadt aussetzte? War es erlaubt, um der Zerstreuung der
breiten Menge willen die Glückseligkeit eines unschuldigen Naturkindes aufs Spiel zu setzen?"84 Was ist nun zu dieser aus der Schule Rousseaus, des frühen Gegners der Sklaverei und
des Kolonialismus, stammenden Kritik im Zusammenhang mit dem Hawaiianer Maitey in
Berlin zu sagen?
165
Die ferne Heimatinsel Maiteys ist unumkehrbar in ein Beziehungsnetz zur europäisch-nordamerikanischen Zivilisation geraten, an dessen Anfang das folgenreiche Wirken amerikanischer Missionare aus Boston stand. So ähnelt z. B. die Grabstätte der Königsfamilie in
Honululu durchaus dem, was sich reiche Berliner zur gleichen Zeit etwa auf Kreuzberger
Friedhöfe stellen ließen. Die 2-Cent-Briefmarke, mit der ein Missionar seine Post frankierte,
läßt heute das Herz eines Sammlers intensiver schlagen.851881 besuchte der hawaiische König
Kalakaua u.a. auch Berlin und Potsdam. In einem schnell geschriebenen Brief teilt er seiner
Schwester Liliuokalani mit:
„Meine liebe Schwester,
vergangenen Freitag sind wir hier angekommen und seitdem Tag und Nacht unterwegs
gewesen: Besuche in kaiserlichen Schlössern und Museen; bei Exerzierübungen der deutschen
Artillerie-, Infanterie- und Kavallerietruppen. Vergangenen Sonntag waren wir beim Prinzen
Wilhelm und seiner Frau, er ist ein Bruder des Prinzen Heinrich von Preußen, der in Hawaii
gewesen ist. Außerdem haben wir den Prinzen Karl - Bruder des Kaisers - besucht und den
Prinzen Friedrich-Karl. Großkreuz des Kalakaua-Ordens für Prinz Wilhelm und Prinz Friedrich-Karl, Kamehameha-Orden für Prinz Karl. Der Kalakaua-Orden ist hier in Deutschland
und England sehr beliebt, besonders beim Prince of Wales und auch beim Prinzen Wilhelm,
dessen Frau voller Freude aufsprang, als wir zusammen von einer Gesellschaft heimkehrten.
Am nächsten Tag, als wir beim Prinzen Carl wieder zusammenkamen, waren alle wieder so
vergnügt. Wir sind hier in Deutschland mit Herzlichkeit aufgenommen worden .. ."86
Seit 1872, Maiteys Todesjahr, lebte in Hawaii ein gebürtiger Potsdamer, der den gleichen
Taufnamen trug wie er: Heinrich Wilhelm Berger. Er war ein unermüdlicher Dirigent der
Hofkapelle und gilt als Entwickler der Hawaiimusik.87 Deshalb interessierte sich der König
auch für rangniedere Personen: „Ich habe Bergers Mutter und Schwester gesprochen, und ich
schicke Dir ein Programm der Militärkapelle, der er früher angehört hat. Vielleicht kann er die
Noten besorgen und die Stücke bei meiner Rückkehr spielen .. ,"88
Die einheimische Bevölkerung Hawaiis ist zu Maiteys Lebzeiten aus verschiedenen Gründen
erheblich dezimiert worden. Die Geschichte der Inselgruppe ist in etwa nach dem Schema der
drei „M" verlaufen: „First the missionaries, then the merchants and then the marines!" (Erst die
Missionare, dann die Kaufleute und dann die Marineinfanteristen.) Die letzte Königin
Liliuokalani wurde 1893 nach einer von amerikanischen Kaufleuten veranlaßten Intervention
von US-Marinesoldaten abgesetzt.89 Als Prinzessin war sie wenige Jahre vorher bei den
Feierlichkeiten zum 50jährigen Regierungsjubiläum der Königin Victoria in England Tischdame von deren ältestem Schwiegersohn gewesen und hatte sich mit diesem Preußenprinzen,
der im Jahr darauf für 99 Tage deutscher Kaiser wurde, angeregt unterhalten.90 Hawaii wurde
Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika.
Es geriet schnell in Vergessenheit, daß die preußische und die hawaiische Königsfamilie von
einem dritten Königshof protokollarisch gleichwertig behandelt wurde, wie sich das am
Beispiel dieses Jubiläums und den jeweils vom englischen Monarchen geschenkten Schiffen
deutlich geworden war. Auch die Bewertung Maiteys in Berlin und Potsdam geriet nach seinem
Tod unter den Einfluß kolonialistischen Denkens.
Caesar v. d. Ahe war im Zusammenhang des Hawaiianers von der Pfaueninsel der beste
Kenner der damals noch unzerrissenen Archive und konnte auch noch auf mündliche Überlieferungen zurückgreifen. Er schließt im Jahre 1933 seinen Aufsatz über Maitey mit dem Satz:
„Maitey war zweifellos nicht, wie man annimmt, ein auf der Pfaueninsel als Sehenswürdigkeit
benutzter Wilder, sondern ein gesitteter Mensch, der sich der besonderen Fürsorge mancher
166
Das Grab Maiteys auf dem Friedhof von St. Peter und Paul auf Nikolskoe, Aufnahme W. E. Werner
hochstehenden Persönlichkeiten in Berlin und Potsdam erfreuen konnte."91 Der apologetische
Charakter dieser unter dem Eindruck der Hitlerschen Machtübernahme geschriebenen Gedankens ist unverkennbar. Es war wohl auch nötig, den Sandwichinsulaner von der Pfaueninsel
in Schutz zu nehmen, denn nur wenige Jahre später schreibt 1937 der in Klein-Glienicke als
Pfarrer in unmittelbarer Nähe von Maiteys Wohnung lebende Fritz Schmidt: „Wahrscheinlich
ist Maitey mit einem Tiertransport nach der Pfaueninsel gekommen."92 Diese Version wurde
für einen 1983 gesendeten Unterhaltungsfilm „Über die Schwierigkeiten des Zusammenlebens"
des Senders Freies Berlin übernommen.
Wie war es innerhalb weniger Jahre zu dieser Maitey abwertenden Einschätzung gekommen?
Es ist wohl anzunehmen, daß die Kolonialzeit hier ihre kräftige Nachwirkung im allgemeinen
Bewußtsein zeigt. Die britische Flotte war in den Friedensperioden des 19. Jahrhunderts
aufgrund des Drucks der englischen Öffentlichkeit ausgeschickt worden, um den Sklavenhandel auf den Weltmeeren wirkungsvoll zu bekämpfen. Das gelang, doch am Ende dieser
Maßnahmen stand die koloniale Aufteilung der Welt unter die Mächte Europas, bei der
1884/85 die Berliner Kongokonferenz eine wichtige Etappe war. Hawaii war das erste in diesem
Zusammenhang von den Vereinigten Staaten übernommene außeramerikanische Gebiet.
Für die Verbreitung des „Kolonialgedankens" unter den breiten Bevölkerungsschichten waren
die Kolonialausstellungen von großer Bedeutung. In den zoologischen Gärten und an anderen
Örtlichkeiten fanden sogenannte Völkerschauen statt. Der Berliner Zoo begann im Jahre 1878
mit solchen Veranstaltungen. Im Sommer wurden „17 dunkelhäutige Nubier vom Blauen Nil
mit Kamelen, fünf Elefanten, vier jungen Nashörnern und acht Giraffen" den Berlinern gezeigt.
167
Allein am 6. Oktober 1878 zählte der Zoo 62 000 Besucher bei dieser Sonderschau.93 Diese
massenwirksamen Zurschaustellungen von Menschen überseeischer Völker wurden zumeist
von der Hamburger Tierhandelsfirma Hagenbeck veranstaltet. Sie hatten 1874 mit einer
lappländischen Familie begonnen, die zusammen mit einem Rentiertransport aus Norwegen in
die Hansestadt geholt worden war. Carl Hagenbeck teilt in seinen Erinnerungen seine Eindrücke mit: „Diese erste Völkerschau wurde zu einem großen Erfolg, weil das ganze Unternehmen mit einer gewissen Naivität und Unverfälschtheit ins Leben getreten war und auch so
vorgeführt wurde."94 Diese „Unschuld" scheint auf beiden Seiten im Lauf der Jahre verloren
gegangen zu sein. Die letzte Völkerschau veranstaltete Hagenbeck 1931 mit „Südsee-Kanaken
von Neu-Kaledonien".95 Die europäische Enttäuschung hallt noch Jahrzehnte später in der
Wertung des offiziellen Geschichtsschreibers der Firma nach: „Schon ihre Ankunft enttäuschte. In ihren europäischen Anzügen fielen die Südseeinsulaner kaum im Hamburger
Straßenbild auf, so daß in aller Eile erst nach Mustern aus dem Völkerkunde-Museum für sie
,Originalkostüme' angefertigt werden mußten. Tagsüber tanzten sie zwar den obligaten HulaHula, abends scherbelten sie Foxtrott und Shimmy auf der Reeperbahn. Das Auslegerboot, das
sie kontraktlich mit heimischen Werkzeugen anfertigen sollten, kenterte beim Stapellauf. Vom
Bootsbau hatten diese Herren aus der Südsee keinen blassen Schimmer. Am 21. Juni wurden sie
vorzeitig heimgeschickt."96
Am 7. Dezember 1941 wurde der hawaiische Perlenhafen, der Marinestützpunkt Pearl Harbour
der US-Flotte, von japanischen Flugzeugen bombardiert. Der deutsche Machthaber Adolf
Hitler erklärte danach den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg. Er endete mit der
bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches, zu dessen erstem Staatsoberhaupt
Maiteys Babelsberger Nachbar Wilhelm I. ausgerufen worden war. Die Sieger trafen sich im
Sommer 1945 zur Potsdamer Konferenz. Eines ihrer Ergebnisse war, daß die Pfaueninsel dem
amerikanischen Sektor von Berlin zugeschlagen wurde. Maiteys Geburtsinsel Hawaii wurde
am 21. August 1959 von Präsident Eisenhower als gleichberechtigter 50. Staat in die Union
aufgenommen.97
Anmerkungen
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4
5
6
7
8
Popp, Klaus-Georg (Hrsg.): Cook der Entdecker, Schriften über James Cook von Georg Forster und
Georg Christoph Lichtenberg, Leipzig 31981.
Zitiert nach: Bitterli, Urs: Die „Wilden" und die „Zivilisierten", Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1976, S. 387.
So Lichtenberg in der ersten deutschen Monographie über Cook, Popp, S. 166.
Zur Bedeutung Büschings als Vertreter einer „biblischen Theologie" vgl. Kraus, Hans-Joachim: Die
biblische Theologie, Ihre Geschichte und Problematik, Neukirchen-Vluyn 1970, S. 25. Auf die Begrenztheiten Büschings auf dem Gebiet der Theorie einer biblischen Theologie in den Augen seiner
Zeitgenossen weist Hans-Eberhard Heß hin in: Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler, ein
Beitrag zur Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts, Augsburg 1974 (S.354, Anm.98; S. 143-356,
Anm. 106; S. 371, Anm. 189). Vgl. auch Bitterli, S. 265/266.
Warneck, Gustav: Abriß einer Geschichte der protestantischen Missionen von der Reformation bis auf
die Gegenwart, hrsg. von Joh(annes) Warneck, Berlin l01913, S. 41.
Warneck, S. 56.
Artikel: Büsching, Anton Friedrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Dritter Band, Leipzig 1876,
S. 644-655.
Scharfe, Wolfgang: Abriß der Kartographie Brandenburgs 1771-1821, Veröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin, Band 35, Berlin - New York 1972, S. 43-47. Scharfe erwähnt dabei auch
Büschings Argumentation, der Beispiele anführt, „daß Mangel an Karten zu unnötigen Bedrückungen
der Landesbewohner durch einen desinformierten Feind führen kann". Ebd., S. 46, Anm. 42. Interes-
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sant ist in diesem Zusammenhang, daß Büsching 1787 im Jahr nach dem Tod Friedrichs des Großen
auch eine theologische Begründung seiner Geographie vorgelegt hat: „Der Nutzen der Erdbeschreibung ist wichtig und verdienet eine eigene Abhandlung, die aber nach meinem Zweck nicht weitläufig
sein darf. Ihr Hauptnutzen, den ich am ausführlichsten abhandeln will, ist, daß dadurch die Erkenntnis
Gottes, des Schöpfers und Erhalters aller Dinge, ansehnlich befördert wird. Unser Erdboden ist zwar
nur ein kleiner, aber für uns der merkwürdigste Teil seiner herrlichen Werke; und wie die ganze Welt
zeuget, daß ein Gott sei, so enthält insonderheit unsere Erde davon die unwidersprechlichsten Beweisthümer. Wir mögen uns hinwenden, wohin wir wollen, so können wir deutlich Spuren der göttlichen
Macht, Weisheit und Güte bemerken" (zitiert nach Bitterli, S. 265).
Popp, S. 252, Anm. 191. - „... schnellere deutsche als englische Veröffentlichung in Sachen Cook: es
soll ein Werkchen existieren - allerdings kann man nur noch der Photokopien handhaft werden -, das
1780 in Reval und Leipzig erschienen ist: anonymer Autor: .Nachrichten von dem Leben und den
Seereisen des berühmten Capitain'." (Briefliche Mitteilung von Prof. Anneliese Moore, Kailua, Hawaii,
vom 16.2.1984 an den Verfasser.)
Moore, Anneliese W.: Beziehungen zwischen Hawaii und Berlin, in: Jahrbuch für Brandenburgische
Landesgeschichte. 31. Band, Berlin 1980, S. 74-102, S. 74.
Bitterli, S. 391 f.
Ebd., S. 387.
Moore, Beziehungen, S. 75 f.
Hoffmann, E.T. A.: Sämtliche poetischen Werke, 3. Band, S.515-527.
Moore, Anneliese: Harrv Maitey: from Polynesia to Prussia, in: The Hawaiian Journal of History,
Volume XI, Honululu 1977, S. 125-161, S. 126.
Journal des Schiffes Mentor auf der Reise von Bremen nach Canton und von da zurück nach
Swinemünde in den Jahren 1822-1824. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem (GStA), 1109, Nr. 3523, S.43.
Übersicht der sämtlichen Reisen des königl. Seehandlungs-Schiffes Mentor..., GStA I HA Rep. 109,
Nr. 977.
Moore, Harry Maitey, S. 126.
Königlich priviligierte Berlinische Zeitung von Staats und gelehrten Sachen, Im Verlage Vossischer
Erben. 245stes Stück. Montag, den 18ten Oktober 1824.
„... und abends in Verein", Johann Gottfried Schadow und der Berlinische Künstler-Verein
1814-1840, Katalog der Ausstellung im Berlin-Museum, führt unter Nr. 130 eine Zeichnung Schadows
auf, die Vorlage für den Zinkdruck „Das Publikum auf der Kunstausstellung" (Nr. 130 a) wurde. Die
Darstellung dürfte auch in ihrer satirischen Übertreibung nicht unzutreffend sein.
Moore, Harry Maitey, S. 127. Das Wort Maitey begegnet auch heute noch in Deutschland. Hingewiesen sei auf den „Mai Tai"-Begrüßungs-Cocktail, mit dem die Speisekarte des Kieler Restaurants
„Polynesien" beginnt, dessen Einrichtung nicht nur die fachliche Aufmerksamkeit des Ethnologen
verdient.
Moore, Harry Maitey, S. 129. Vgl. auch: hawaii, hrsg. von Leonhard Lueras, München 1983, S. 53.
Moore, Harry Maitey, S. 129.
Ebd., S. 157, Anm. 22. Die Akte lagert jetzt im Deutschen Zentralarchiv, Historische Abteilung II,
Merseburg.
Wie die folgenden Dokumente zitiert nach: v. d. Ahe, Caesar: Der Hawaiianer auf der Pfaueninsel, in:
Potsdamer Jahresschau 1933, S. 19-31, S.21.
Eine umfassende Information über dieses abgerissene Haus und die Unternehmungen der Seehandlung
gibt: Kern, W.: Dienstgebäude der Königl. Seehandlungs-Sozietät in Berlin, Jägerstr. 21, in: Zeitschrift
für Bauwesen LH, 1902; vgl. besonders die Abbildungen Spalte 365/366.
Moore, Harry Maitey, S. 132; vgl. auch v. d. Ahe, S. 21.
v. Humboldt, Alexander: Eine Auswahl, hrsg. von Gerhard Harig, Leipzig - Jena 1959, S. 348. Bis
dahin galt der § 198 des Allgemeinen Preußischen Landrechts: „Fremde, die sich nur eine Zeitlang in
Königlichen Landen befinden, behalten ihre Rechte über die mitgebrachten Sklaven."
Freundlicher Hinweis von Herrn Dieter Eggers, Kiel.
Vgl. Lehmann, Hellmut: 150 Jahre Berliner Mission, Erlangen 1974.
Fabricius, Cajus: Carl von Tschirschky-Boegendorff. Ein Beitrag zur Geschichte der Erweckung in
Minden-Ravensberg und zur Familiengeschichte des Reichskanzlers Michaelis. In: Jahrbuch des
Vereins für Evangelische Kirchengeschichte Westfalens, 20. Jahrgang 1918. Gütersloh, S. 1-91. vgl.
S.48.
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57
Mende, Fritz: Heinrich Heine, Chronik seines Lebens und Werkes, 2., bearbeitete und erweiterte
Auflage, Berlin 1981, S. 33.
Ebd., S. 50.
Kern, Dienstgebäude, Sp. 362/363. Meuß, Johann-Friedrich: Die Unternehmungen des Königlichen
Seehandlungs-Instituts zur Emporbringung des preußischen Handels zur See, in: Veröffentlichungen
des Instituts für Meereskunde an der Universität Berlin, Neue Folge, B. Historisch-volkswirtschaftliche
Reihe, Heft 2, Berlin 1913, S. 19 ff. Moore, Harry Maitey, S. 139.
Hoffmann, S. 865-889.
v. d. Ahe, S. 23, Brief Rothers an den König vom 14. März 1827: „... liebt die Reinlichkeit sehr, weil er
immer noch glaubt, durch öfteres Waschen seine schwärzliche Farbe zu verlieren und hat sonst keinen
Fehler, als daß er das Geld liebt, um sich Sachen, besonders aber feine und nette Kleider dafür
anschaffen zu können."
Ebd. Antwortbrief Friedrich Wilhelms III. an Rother vom 18. März 1827: „Auf Ihren Bericht vom
14. d. Mts. will Ich erst nach vollzogener Taufe und Einsegnung des Sandwichs-Insulaners Harry
Maitey disponieren, und soll bis dahin der Unterricht desselben in den Elementarkenntnissen, in der
deutschen Sprache und in der Religion fortgesetzt werden. Eine Veränderung seines Namens bei der
Taufe, wenn Harry in Heinrich geändert wird, finde ich nicht angemessen."
Ebd., S. 24.
Moore, Beziehungen, S. 89.
Moore, Harry Maitey, S. 138/139.
v. d. Ahe, S. 24: „Harry hat seit Jahr und Tag an Einsicht und Verstand, vorzüglich aber an Herzensbildung sehr gewonnen; eine Gewandheit in der deutschen Sprache wird er jedoch schwerlich erzielen,
weil seine Sprachwerkzeuge schwerfällig und ungelenkig sind." Maiteys Schwierigkeiten dürften
vermutlich nicht an einer anatomischen Unzulänglichkeit seiner „Sprachwerkzeuge" gelegen haben,
sondern wie bei jedem Menschen in einer neuen sprachlichen Umwelt in der ungewohnten Phonetik der
anderen Sprache begründet gewesen sein. Vgl. auch den Art. Rötscher, Gottlieb, in: Evangelisches
Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, hrsg. vom Brandenburgischen Provinzialsynodalverband, II. Band, 2. Teil, Berlin 1941, S. 717. Rötscher hatte ein Spezialpfarramt für Waisenhauskinder.
Abgebildet bei Moore, Harry Maitey, nach S. 128.
Evangelisches Pfarrerbuch, II. Band, 1. Teil, S. 359.
v.d.Ahe, S.24.
Vossische Zeitung, 2. Oktober 1829. Nr. 230.
Vgl. das Sammelblatt Nr. 106 des Museums für Völkerkunde der Staatlichen Museen Preußischer
Kulturbesitz, Abteilung Südsee.
Freundliche Auskunft von Herrn Dieter Eggers, Kiel.
v.d.Ahe, S.24
Ebd., S. 25.
Ebd.
Ebd. Über die komplizierte Hof- und Beamtenhierarchie mag dem Interessenten Auskunft geben:
Lorenz, H.: Die Amtstitel und Rangverhältnisse ..., Berlin-Plötzensee 1907, bes. S. 16 ff. „Preußisches
Hofrangreglement 1878, basierend auf vorherigen Reglements".
v.d.Ahe, S. 25.
Schadow, Gottfried: Polyklet oder von den Maasen des Menschen nach dem Geschlechte und Alter mit
Angabe der wirklichen Naturgröße nach dem rheinländischen Zollstocke und Abhandlung von dem
Unterschiede der Gesichtszüge und Kopfbildung der Völker des Erdboden, als Fortsetzung des
hierüber von Peter Camper ausgegangenen von Gottfried Schadow, Berlin 1834, S. 26/27.
Die Pfaueninsel, Führer, hrsg. von der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, 8., neu
bearbeitete Auflage, Berlin 1971.
Bitterli, S. 185 ff.
Die Pfaueninsel, S. 4. Clemens Alexander Wimmer hat kürzlich darauf hingewiesen, wieviel auch die
Gestaltung der Pfaueninsel diesen Idealvorstellungen verdankt. Vgl. seinen Aufsatz: Preußische Gärten als Verwirklichung Watteauscher Visionen, in: Das Gartenamt, 32. Jahrgang, 1983, S. 733-736.
Zum Ganzen siehe auch: Bilder vom irdischen Glück, Giorgione - Tizian - Rubens - Watteau Fragonard, Katalog zur Ausstellung im Weißen Saal des Charlottenburger Schlosses, Berlin 1983.
Vgl. den Aufsatz von Michael Seiler: Das Palmenhaus auf der Pfaueninsel (1831-1880), in: Jahrbuch
für Brandenburgische Landesgeschichte, Bd. 32, 1981, S. 98-120.
170
58
Kourist, Werner: 400 Jahre Zoo, Im Spiegel der Sammlung Werner Kourist/Bonn, Köln - Bonn 1976
(Kunst und Altertum am Rhein, Führer des Rheinischen Landesmuseums in Bonn, hrsg. im Auftrag
des Landschaftsverbandes Rheinland Nr. 71), S.97f.
59
GStA, I. 109 Nr. 3065, S.l.
m Vgl. Grzimek, Bernhard: Grzimeks Tierleben, Enzyklopädie des Tierreichs, München 1980, unveränderter Nachdruck der 1975 bis 1977 erschienenen Auflage, Band 7, Vögel 1, S. 288/289, Abb. 1, S. 284.
61
Abgebildet bei Kourist, S. 87, auf einem Aquarell von Carl Wilhelm Pohlke, 1830. Der Wasserfall ist
1983 von den Mitarbeitern der Staatlichen Schlösser und Gärten wieder freigelegt und auch zeitweise
wieder zur Auffüllung des alten Wasservogelteichs in Betrieb genommen worden. Der Berliner Zoo hat
eine Zuchtgruppe von Hawaiigänsen, die inzwischen recht zahlreich geworden ist. Es erscheint
wünschenswert, sie wieder auf dem Wassergeflügelteich auf der Pfaueninsel zu halten, dem Platz, an
dem sie außerhalb von Hawaii zum ersten Mal gehalten worden sind.
62
Focke, Joh.: Art. Wendt, Johann Wilhelm, in: Bremische Biographie des 19. Jahrhunderts, hrsg. von
der Historischen Gesellschaft des Künstlervereins, Bremen 1912.
63
v.d.Ahe, S.20.
64
Ebd., S.27f. Die dort abgedruckte ausführliche Bittschrift scheint nicht eigenhändig von Maitey
abgefaßt zu sein. Vgl. Moore, Harry Maitey, S. 150.
65
Kirchenbuch Stolpe 1833, Nr. 2.
66
Wolff, Karl: Wannsee, 4., erweiterte und neu bearbeitete Auflage, Berlin 1974, S. 83f.
67
v.d.Ahe, S.29.
» Ebd., S. 29 f. Maitey scheint keine heute noch lebenden Nachkommen zu haben. - Auch der Grabstein
von Eduard Maitey ist auf dem Nikolskoer Friedhof erhalten.
69
Mündliche Auskunft von Herrn Alfred Gobert, Schloß Glienicke.
70
Gräfin Rothkirch, Malve: Prinz Carl von Preußen, Osnabrück 1981, S. 157,193f., Abb. 124, 208.
71 v.d.Ahe,S.26.
72
Ausstellungskatalog Schinkel in Potsdam, Potsdam, 1981, Nr. 23, S. 44 f.
73
a.a.O., S. 45.
74
Moore, Harry Maitey, S. 152.
75
v.d.Ahe, S. 27: „Die Enkelin Mayteys bewahrt noch das Buchenholzstück, auf dem Maytey die
Figuren alle ,mit himmlischer Geduld' ausgeschnitten hat."
76
Wolff, S. 72 f.
77
Moore, Harrv Maitey, S. 153.
78
Kern, Sp. 364. Meuß, S. 274ff.
79
Bohrdt, Hans: Lustjachten der Hohenzollern, in: Hohenzollern Jahrbuch, 3. Jahrgang, 1899, S. 164.
80
hawaü,S.52.
81
Fontane, Theodor: Fünf Schlösser, Altes und Neues aus der Mark Brandenburg, vollständige Ausgabe, Berlin, o. J., S. 388/389.
82
v. d. Ahe, S. 30; vgl. Moore, Harry Maitey, Anm. 127. Sie weist auf die hohe Anfälligkeit der Hawaiianer gegenüber Pocken hin.
83
Moore, Harry Maitey, Anm. 129. Das Grabkreuzist 1983 von der Gartendenkmalpflege restauriert und
wieder aufgestellt worden.
84
Bitterli, S. 186.
85 hawaii, S. 180.
86
Moore, Beziehungen, S.98. Zu den Orden siehe: Gritzner, Maximilian: Handbuch der Ritter- und
Verdienstorden aller Kulturstaaten der Welt innerhalb des XIX.Jahrhunderts, Leipzig 1893,
S. 131-140.
87
hawaii, S. 330-332.
88
Moore, Beziehungen, S. 98/99.
89
hawaii, S. 69 f.
90
Moore. Beziehungen, S. 97, Anm. 78.
91
v.d.Ahe, S. 31.
92
Schmidt, Fritz: 100 Jahre Peter und Paul auf Nikolskoe, Berlin 1937, S. 134 (Es war umgekehrt. Maitey
zuliebe kamen die ersten Tiere aus Hawaii auf die Pfaueninsel! - s.o. Anm. 59-63).
93
Klös, Heinz-Georg: Von der Menagerie zum Tierparadies, 125 Jahre Zoo Berlin, Berlin 1969. Es
verdient indes festgehalten zu werden, daß sich Berlin bei dieser neuen Unterhaltungsgattung, verglichen mit anderen deutschen Großstädten und europäischen Metropolen, sehr zurückhielt: „Nur
Dr. Bodenius (!) lehnte immer noch kühl ab, seinen Berliner Zoo für derartige Schaustellungen zu
171
94
95
96
97
öffnen." Niemeyer, Günter H. W.: Hagenbeck, Geschichte und Geschichten, Hamburg 1972
S.216/217.
Hagenbeck, Carl: Von Tieren und Menschen, Erlebnisse und Erfahrungen, Leipzig 1957 (5. Auflage
der Neuausgabe), S. 47.
Niemeyer, S. 217. Es waren Melanesier, vgl. a.a.O., S. 220.
Ebd., S. 220.
hawaii, S.81.
Anschrift des Verfassers: Pfarrer Wilfried M. Heidemann,
Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe, 1000 Berlin 39 (Wannsee)
Blattzierpflanzen und Rankgewächse auf der Pfaueninsel ein Ausdruck der Tropensehnsucht zu Anfang des 19. Jahrhunderts
Von Michael Seiler
Wenn in den letzten Jahren Bananenpflanzen und Rizinus in die Schmuckgruppen auf der
Pfaueninsel Eingang fanden und in diesem Jahr sich Mangold dazugesellen wird, so soll damit
eine Komponente ihrer gärtnerischen Tradition wieder sichtbar werden. Die Pfaueninsel gilt
durch die Tätigkeit des Hofgärtners Ferdinand Fintelmann (1774-1863) und seines Neffen
Gustav Adolph Fintelmann (1803-1871) als die Wiege der Blattpflanzenmode des 19. Jahrhunderts. In dem in der Wochenschrift für Gärtnerei und Pflanzenkunde 1864 erschienenen
Nachruf auf Ferdinand Fintelmann heißt es (S. 6 und 7): „Ein besseres Schicksal hat ein anderer
Gedanke gehabt, der noch fortlebt und auf der Pfaueninsel zuerst, und zwar schon um 1810,
thatsächlich ausgeführt wurde. Um diese Zeit nämlich wurde die Kastellanschaft mit der
Hofgärtnerstelle vereint; Fintelmann bekam damit die Meierei-Verwaltung und zugleich mehr
Arbeitskräfte, auch seine Wohnung in der Nähe des Schlosses. Eine neue Saumpflanzung in der
Umgebung desselben wurde aus Feigen und wohlriechenden Brombeeren (Rubus odoratus)
gebildet, die Ufer an der Ueberfahrt mit grossen Feldsteinen gegen Beschädigung gewahrt,
dazwischen aber die gemeine Pestilenzwurz (Petasites vulgaris) gepflanzt, nicht nur, um die
Steine zu verdecken, sondern auch um mit ihren Blättern zu prangen. Dahinter reckten
Onopordon und Delphinium sich empor. Unausgesetzt hat F. Fintelmann die Blattpflanzen im
Auge gehabt und behalten: 1817 waren schon Ricinus, Zea, Arundo Donax, Heracleum
asperum u. dergl. in Verwendung und 1823 oder 24 prangten die ersten Canna's auf erwärmter
Unterlage als Gruppen im Freien, inmitten des reichen Blumenschmuckes des Gartens. Von
jener Zeit ab haben Blattpflanzen sich Bahn gebrochen, so weit Gärten gepflegt werden."
(Die Erklärung der botanischen Pflanzennamen findet sich im Anhang zu dem weiter unten
folgenden Aufsatz von G. A. Fintelmann.)
Eine Saumpflanzung aus wohlriechenden Himbeeren wurde 1979 östlich vom Schloß neu
angelegt. Diese nordamerikanische Himbeere zeichnet sich durch besonders schöne Blattform
und Blattstellung aus. Noch 1896 berichtet der Landschaftsgärtner E. Klaeber in der Zeitschrift
für Gartenbau und Gartenkunst von starken Feigen zu Seiten der kleinen Laube im Runden
Garten der Pfaueninsel. Für diese Stelle sind inzwischen neue Exemplare herangezogen
worden.
Nachdem im Laufe des vergangenen Jahrhunderts die Blattpflanzenmode sich zu Übertreibungen entwickelte und dann von der Teppichgärtnerei abgelöst wurde, ist uns heute diese
Gestaltungsweise für Freilandgruppen fremd geworden, ihre Motive sind vergessen. Wir
172
müssen uns in die Ästhetik einer Zeit, die Blattform, Blattgröße und Blattstellung über
Blütenfarbe und -große setzte, erst wieder einstimmen. Dazu ist ein aus der Feder Gustav
Adolph Fintelmanns stammender Text wie kein zweiter geeignet. Aus ihm spricht die morgenfrische Begeisterung für die Formen und die Vielfalt der nun wissenschaftlich entdeckten und
durchforschten Tropenfernen, die Namen Georg Forster und Alexander von Humboldt seien
da stellvertretend für die vielen anderen aufgerufen. Alexander von Humboldt bezeichnet in
seinen „Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse" die Palmen als die „höchsten und edelsten
aller Pflanzengestalten" und setzt sie an die erste Stelle seines Systems der Pflanzenformen,
gefolgt von der „Pisang- oder Bananen-Form", von der er schreibt: „Wenn die ficulischen
Früchte der Ceres, durch die Kultur über die nördliche Erde verbreitet, einförmige, weitgedehnte Grasfluren bildend, wenig den Anblick der Natur verschönern, so vervielfacht dagegen
der sich ansiedelnde Tropenbewohner durch Pisangpflanzungen eine der herrlichsten und
edelsten Gestalten."
Die Fasanerie im Parkteil Charlottenhof, Potsdam-Sanssouci, Bleistiftzeichnung von J. Rabe 1845. Das
Bild zeigt Gruppen aus Blattpflanzen und in die Bäume steigende Schlinger.
Am 1. Dezember 1833 auf der 125. Versammlung des Vereins zur Beförderung des Gartenbaus
in den königlich preußischen Staaten sprach der Gartendirektor Lenne über den Inhalt einer
Abhandlung, die G. A. Fintelmann, Hofgärtner in Paretz, eingereicht hatte, und bestimmte
diesen „dankenswerten Beitrag" zur Veröffentlichung im Organ des Vereins, den „Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des ..." Als dieser Beitrag mit dem Titel „Über Anwendung
und Behandlung von Blattzierpflanzen und deren Verbindung mit Rankgewächsen für
Schmuckgruppen" im 10. Band der „Verhandlungen" 1834 auf den Seiten 359 bis 371 erschien,
173
hatte G. A. Fintelmann inzwischen die Hofgärtnerstelle auf der Pfaueninsel seines nach Charlottenburg versetzten Onkels Ferdinand Fintelmann eingenommen. Er hatte bei ihm bereits
1819 bis 1822 auf der Pfaueninsel gelernt und war während des Baues und der Einrichtung des
großen Palmenhauses 1829 bis 1831 dort ebenfalls tätig.
In seinem Nachruf auf G. A. Fintelmann bescheinigt der Botaniker Professor Karl Koch
(Wochenschrift für Gärtnerei und Pflanzenkunde, 1871, S. 188), daß diese Abhandlung auf die
ganze damalige Zeit großen Einfluß ausgeübt hat. Dieser Text gibt so vorzüglich und charakteristisch allgemeine und gärtnerische Vorstellungen wieder, daß jeder Versuch, ihn zu referieren,
eine Minderung seines Aussagewertes bedeuten würde. Er wird deshalb im Original wiedergegeben, lediglich um die drei letzten, gärtnerische Kulturanweisungen enthaltenden Seiten
gekürzt. Die häufigen Entstellungen der botanischen Pflanzennamen darin wurden berichtigt.
Merkwürdigerweise sind diese Entstellungen in den Verhandlungen die Regel und wurden
damals nicht berichtigt. Ich habe die damalige Benennung der Pflanzen belassen, schon um
Vergleiche mit anderen zeitgenössischen Werken zu ermöglichen, und durch eine angehängte
Zahl die Verbindung zu dem 160 Nummern umfassenden Anhang hergestellt. Für diesen
Anhang habe ich mich der nicht geringen Mühe unterzogen, die Identität der genannten
Pflanzen mit den nach den heute gültigen Regeln benannten zu bestimmen und, wo es möglich
war, den deutschen Namen zu geben. Dazu wurden mehrere zeitgenössische Werke, wie Peter
Friedrich Bouche, Die Blumenzucht in ihrem ganzen Umfange, Berlin 1837/38, und moderne
gärtnerische und botanische Werke benutzt. Da der Anhang einen angemessenen Umfang
erhalten sollte, mußte der Versuchung widerstanden werden, auf die Persönlichkeiten, nach
denen die Pflanzen benannt wurden, und die, die sie benannten, und die Einführungsgeschichte
der Pflanzen selbst einzugehen. Dies ist nur gelegentlich geschehen.
Die Aufgabe der Pfaueninsel-Gärtnerei wird es sein, einen Teil der von Fintelmann genannten
Pflanzen zu kultivieren und zu Schmuckgruppen an den historischen Plätzen zusammenzustellen. Heikle „Tropenkinder" gehören dazu ebenso wie gärtnerisch verachtete Pflanzen der
Ruderalgesellschaften: Eselsdisteln, Kletten, deren Schönheit und Nutzen die ökologische
Bewegung erst wieder zum zweiten Male entdeckt hat. Rizinus soll von Maurandien durchschlungen werden, „Lianen" müssen in die Sträucher und Bäume geworfen werden. Hier liegt
ein weites Feld wiederzugewinnender praktischer und ästhetischer Erfahrung. Doch hören wir
nun Fintelmann:
„Sprechen Schönheit und Mannigfaltigkeit der Blumen zu uns von dem unerschöpflichen
Reichthum der Natur, so erinnert die Üppigkeit und Größe der Blätter an ihre Kraft und Fülle;
sie mahnen uns an die fernen Tropen, wohin uns unsere Wünsche so oft tragen, dort wo die
Vegetation in ihrer ganzen Macht herrscht.
Wenn wir unsere Gärten mit solchen Formen zieren, müssen sie uns nicht noch weither werden
als sie uns waren? Wird der geläuterte Geschmack sie je verwerfen können?
Erinnern wir an den Genuß, den der Anblick einer blumenreichen Landschaft gewährt, und
stellen wir daneben die Freude, welche eine bunt geschmückte Wiese hervorruft, so sehen wir
auch hier uns mehr von der Form, als von dem reichen Gewirr der Farbe angezogen. Das
spielende Kind pflückt sich Blumen auf der Wiese, und jagt dem Schmetterlinge nach; der
Mann betrachtet die schönen Gruppen, bei denen nur Form, ungestört durch bunte Farben,
ergötzt.
Wir wollen nicht weiter die Vorzüge eines Landschaftsgartens vor dem Blumengarten verfolgen, sondern nur sehen, wie wir beide noch schöner ausschmücken können. Oder sollten sich
etwa nicht für beide die Blattzierpflanzen eignen?
174
Der klassische Acanthus, die hohe Zierlichkeit der Cynara Cardunculus 1 , die ernste Ruhe der
Cynara Scolymus2, die glänzende Fülle der Ricinus, die prächtige Beta brasiliensis3, die
fröhliche Nicotiana glauca4, die schlanke Typha latifolia5, die behaglich Canna, das zierliche
Panicum plicatum6, das edle Arundo Donax 7 , ja das bizarre Onopordon 8 , und die steife Iris,
können nie den Eindruck verfehlen, den sie machen sollen, sie mögen um sich her die
Blumenbeete sehen, oder neben Gruppen hoher Bäume stehen.
Bringt uns der Maler nicht Tushilago Petasites9, Rumex Hydrolapathum10 und so manche
Pflanze seiner Phantasie in den Vordergrund der Landschaft? Sollte nun der Gärtner sie nicht,
und so manche schönere noch dahin pflanzen dürfen?
Für die Anordnung der Gruppen ist es durchaus noth wendig, daß man die Ausmessungen der
Pflanze kennt, besonders aber die Höhe berücksichtigt. Danach ließen sich, wenn man nicht
auf die wieder verschwindenden Blüthenstände, sondern nur auf die Blatt- und Zweigverbreitung achtet, folgende 4 Stufen aufstellen:
Erste Stufe: Acanthus mollis". Begonia discolor12. Beta brasiliensis3. Canna indica'3. Iris sp.
(z.B. germanica14, plicata15, bicolor16 etc.). Cucurbita sp.17 besonders der schwarzkörnige
Angurea-Kürbis*. Helianthus annuus nanus18. Die teutschen Farm und die des freien Landes
überhaupt. Veltheimia Uvaria19. Cyperus alternifolius20 für Sumpf. Nuphar21, Nymphaca22 (für
Wasserflächen). Rumex Hydrolapathum 10 , ~ Nemolapathum 23 , - Sanguineus24, für Sumpf
oder feuchten Boden.
Zweite Stufe: Cynara Cardunculus1, - Scolymus2. Hemerocallis fulva25. Cucurbita Melopepo26
und der italienische ohne Ranken. Iris sp. (z. B. florentina27, Güldenstaedtiana28 etc.). Rheum
Emodi29, ~ palmatum 30 , ~ Rhaponicum31, ~ Ribes32, - undulatum33. Tussilago Petasites9.
Dritte Stufe: Arctium Bardana34, - majus35. Atriplex hortensis rubrifolia36. Aralia spinosa37.
Calla aethiopica38 für Sumpf und Wasser. Canna sp. (z. B. flaccida39, lutea40, stolonifera41,
nepalensis42, glauca43 etc.). Cyperus Papyrus44 für Sumpf. Datura ceratocaula45, ~ quercifolia46,
~ Tatula47. Heracleum pyrenaicum48. Onopordon Acanthium49, ~ macracanthum 50 , - tauricum51 etc.. Pteris aquilina52. Solanum pyracanthum53, ~ marginatum54. Symphytum asperrimum". Zea Mays56.
Vierte Stufe mit den Uebergängen von der vorigen: Angelica Archangelica57. Arundo Donax et
var. fol. varieg7. Bocconia cordata58. Canna, z. B. patens59, speciosa60, Sellouii61, rubricaulis62
etc. Datura Tatula gigantea63, ~ arborea64. Helianthus annuus major45. Heraclum pubescens
giganteum66. Malva crispa67. Nicotiana glauca4, - Tabacum68. Phytolacca decandra69. Polygonum Orientale70. Polymnia Uvedalia71. Ricinus communis et varietatis72. Solanum laciniatum73. Sylphium connatum 74 , ~ perfoliatum75. Sorghum saccharatum76. Tithonia tagetiflora77.
Zea Mays gigantea et mexicana56.
Leicht wäre das Verzeichnis durch Anführung zierlicher Blattformen zu verdoppeln und mehr,
doch heben wir nur die edeleren hervor. Lauter längst bekannte Pflanzen, von denen jedoch nur
wenige so benutzt worden sind, wie sie es verdienen. Wie lange leben manche schon in den
botanischen Gärten, ihre Schönheit blieb unbeachtet, unbewundert. Beinahe 3 Jahrhunderte
haben wir in den Küchengärten Cynara Scolymus2, 2 Jahrhunderte die prächtige Cynara
Cardunculus 1 . Wie lange standen sie dort, und wie lange zieren sie unsere Vordergrunds- oder
Blumengruppen? - drei Jahre - Viele Gärten habe ich gesehen, schon lange die Ricinus, vor
10 Jahren die Canna im freien Lande, nirgends die beiden eben genannten Prachtpflanzen; erst
in Sanssouci wurden sie 1832 benutzt.
* Er wurde durch den Hofgärtner Herrn Sello junior aus Italien eingeführt, und wird auf Charlottenburg
zur Bekleidung von Laubengängen benutzt
175
Ist die Idee, solche Blattzierpflanzen für beabsichtigte Effekte zu benutzen, nicht neu, so scheint
es doch, als bedürfe sie unbegreiflicher Weise noch der Anregung. Oder sollte die nothwendige
Pflege dieser Pflanzen so gescheut werden, daß man sie vernachlässigt sieht? Der emsige
Gärtner aber verwendet oft viel mehr Mühe auf die Blumen seiner Beete, ohne eine so
großartige Belohnung zu erhalten wie ihm die Gruppen solcher tropischen Formen gewähren
würden. Ihre Anwendung würde uns, nach und nach freilich nur, denn die Gewohnheit
beherrscht die beinahe allmächtige Mode, von den Linien der Einfassungen, von der beinahe
störenden Symmetrie der Blumenbeete neben der schönen Freiheit der Baum- und Strauchgruppen befreien. Wir würden die ununterbrochenen Zirkelstücke verlieren, denn diese Pflanzen breiten sich da und dorthin, ohne daß wir sie zwingen können, in den vorgeschriebenen
Linien zu bleiben.
Betrachten wir die Dauer der aufgeführten Pflanzen, so erleben die meisten die ersten Fröste
des Herbstes, nur die folgenden nicht:
Die Rheum, Angelica, Onopordon, Heracleum und Atriplex verschwinden schon im Sommer,
die Tussilago, Sorghium, Polygonum, Curcurbita, Helianthus65, Malva, Zea56, verlieren oft
schon vor den Frösten ihre Schönheit zum Theil. Wir müssen bei deren Anwendung darauf
achten.
Die Stauden sind in dieser Hinsicht, allgemein genommen, viel beständiger. Die Biennen spät
im Sommer (Ende September) gesäet, entwickeln im nächsten Jahre sich etwas später und
dauern somit weiter hinaus. Von den Sommergewächsen können wir immer Folgepflanzen
haben, doch mit einiger Schwierigkeit auf derselben Stelle, aber ihre Mannigfaltigkeit braucht
nie ganz aus dem Garten zu verschwinden, wir lassen sie bald hier bald dort hervortreten, und
vermehren so das rege Leben unserer Vordergemälde oder Schmuckgruppen, indem der
Wechsel in ihren Gestaltungen mannigfaltiger wird.
Da wo die hierher gehörenden Pflanzen der ersten Stufe stehen, ersetzen wir sie nachher durch
Ende Mai gelegte Riesenkürbis. Wir lenken die weithin laufenden Ranken nach unserem
Gefallen, zwischen den Pflanzen hindurch. Die absterbenden Blätter werden abgeschnitten, die
des Kürbis suchen begierig das Licht, und stören so nicht die etwa verlangte Abstufung, indem
die hintersten immer die vordersten überwachsen. Die der zweiten Stufe stehen neben und
zwischen denen, welche bis zum Herbste dauern in derselben Höhe, und ihr Verschwinden wird
keine Lücken machen, sondern die Leichtigkeit der Gruppirung erhöhen, oder die spät
gesäeten Sommergewächse werden so lange wie jene grünen. Oder wir weisen ihnen ihre Stelle
gesondert an, die sie nachher den schönen Salvia splendens78, involucara81 etc. dem duftenden
Heliotropium80, der Volkameria81, den prangenden Pelargonien, oder überhaupt solchen
Pflanzen einräumen, die wir bis dahin in Töpfen oder Fenster-Kasten hielten. Wer ohne
geräumige Gewächshäuser, sich jährlich Anagallis82, Fuchsia, Calceolaria83 u. dgl. für das freie
Land im Frühjahr anziehen muß, wird den Platz den die mächtigen Heracleum48 oder andere
einnahmen, nur erst zur gelegenen Zeit frei sehen. Wir dürfen solche Gruppen also nicht weit
von den Wegen legen, damit uns nichts von dem zweiten Schmucke verloren gehe. Ferner
liegende besetzen wir mit Riesenbaisaminen oder Aster chinensis84, Tagetes85 etc. die leicht mit
Ballen, wohin man nur will, getragen werden können oder die Blattzierer der 4ten Stufe,
weitläufig zwischen den früh absterbenden niedrigerer Art ausgepflanzt, überwachsen die
falbenden Blätter und erhalten die beabsichtigte Wirkung. Sommergewächse dieser Art, die
man spät gesäet hätte, in angemessener Größe zu versetzen, wo sie doch erst Wirkung thun
könnten, ist ein mühsames undankbares Geschäft, aber ausführbar.
Sehen wir ungern bis zur Zeit wo unsre Vordergrundspflanzen ihre wirkungsreiche Entwickelung erlangt haben, die Stellen leer, und wollen die kahle Erde verdecken, so breiten wir darüber
176
einen Flor von im Sommer Schatten liebenden Frühlingspflanzen aus. Die Primula86, Viola87,
Hepatica88, Galanthus89, Anemone (sylvatica90, arvensis91 und apennina92) Helleborus93, die
Zwiebelblumen: Hyacinthus belgicus (non scriptus auctorum)94 Muscari racemosum95 etc.
Scilla, Fritillaria96, Tulipa, Erythronium97 u. s. w. gehören hierher. Sie können einige Jahre auf
derselben Stelle im Sommer unter dem Drucke anderer Pflanzen stehen. Nach Verlauf dieser
Zeit muß die ganze Gruppe im Herbste angelegt, der Boden erneut werden, weil er die Kraft
verloren hat. Jährlich aber bekommen die Stellen, mit denen man auch durch theilweises
Verlegen der Frühlingsblumen im Herbste, wechseln kann, wohin für den Sommer die Blattzierer gepflanzt werden sollen, einen Guß mit flüssigem Dung, und soweit wir uns mit dem
Spaten zu arbeiten erlauben dürfen, kräftigen alten Mist im Herbste. Stören uns auch diese
freien Stellen noch bis nach den Maifrösten, so haben wir bunten Federkohl oder Frühpflanzen
der rothen Melde dahin zu setzen, deren ganz abweichende Blattfärbung hier gewiß Wirkung
thut. Auch können Acanthus in Töpfen, Phormium tenax98, Agapanthus umbellatus99, wenn
sie sonst nicht verzärtelt sind, vom April an im Freien stehen, so hierher gestellt werden.
Wir haben die in Rede stehenden Pflanzen schon mehreremale Vordergrudspflanzen genannt,
in Folge der Ansicht, daß sie weiter in die Landschaft hineingeschoben, wirkungslos erscheinen
würden. Mehr braucht wohl nicht für den Ort, den sie in einer Anlage einnehmen sollen, gesagt
zu werden. Es gilt dies von allen Stufen der Höhe, doch gewähren die letzten den Vortheil, daß
wir sie schon mehr vom Standpunkte einer Ansicht enfernen dürfen.
Je nachdem wir den Eindruck für das Erhabene, Heitere, Bestehende oder Zierliche u.s. w.
abmessen wollen, lassen wir die größeren Formen allein für sich, in Verbindung unter einander,
mit den kleineren munter spielenden Blättern, oder den schlanken Grasformen zusammengestellt, mit Blumen oder auffallenden Blattfärbungen verbunden, auftreten.
Wollen wir die Pracht der Blumen zur Steigerung des Eindrucks benutzen, so stellen wir
zwischen Rheum z. B. oder dgl. die Paeonia hortensis100, die Papaver bracteatum101 und
Orientale102, die Lilium bulbiferum103, tigrinum104, superbum105, Martagon106, chalcedonicum107
u.s.w. Wenn sie verschwinden oder ehe sie erscheinen, wird die Gruppe nicht armselig
aussehen. Gegen das dunkle Grün der Tussilago Petasites9 sticht die Eleganz des bunten
Phalaris arundinacea108 herrlich ab, Tropaeolum majus109 lagert sich später über die auf
trockenem Standort unscheinbar werdenden Blätter hin, und dahinter treten zum Herbst die
Rudbeckia laciniata110, purpurea"1, Sylphium74, Pyrethrum uliginosum"2 u. s. w. hervor. Steht
die Gruppe feucht, so wird sie desto schöner gedeihen, und wir können dort nicht Tropaeolum
legen, sondern setzen die Samen neben Paeonia und Papaver101 in einer andern Zusammenstellung. Die oben genannten Wucherpflanzen mit den auch Feuchtigkeit liebenden Canna
zusammen zu stellen, ist nicht anzurathen, sie würden diese beeinträchtigen.
Zu dieser Bananenform gesellt sich glücklich der hohe Wuchs des Arundo Donax7. Die breiten
Gestalten der Ricinus unterbrechen wir mit Sorghum76, Nicotiana glauca4, Zea Mays gigantea56
und mexicana: dazwischen schwebt der Purpurregen des Polygonum Orientale70. Ueber die
schwerfällige Datura Tatula47 erhebt sich die leichte Vernonia praealta1 ' \ die muntere Boltonia
glastifolia114, oder das kräftige Solanum laciniatum73 rankt zwischen Ricinus lividus"5, von
Cynara Cardunculus1 umgeben, die langen Zweige und geschlitzten hellgrünen Blätter hervor.
Die zierlichen, sorgfältig gefalteten Pancium (frumentaceum116 und plicatum6) treten aus
Canna indica hervor, an die sich dicht auf der Erde eine einzelne Ranke mit buchtigen
mattgefleckten Blättern des Angurienkürbis (wir möchten ihn Cucurbita sinuosa heißen) als
Einfassung lagert, oder wir haben statt dieser die liebliche Blattform der Drymaria gracilis117
mit den leuchtenden Blumen der Anagallis82 gepaart.
Den Wasserspiegel eines Teiches beleben wir mit Nymphaea22 und Nuphar21, Sagittaria118.
177
Pontederia coerulea"9, und an das sumpfige Ufer bringen wir den ehrwürdigen Cyperus
Papyrus44, die schlanke Thypha5, zur Seite derselben Cyperus altemifolius26 Iris PseudAcorus'20 und andere, Calla aethiopica38 Rumex Hydrolapathum10, Nemolapathum23, sanguineus24, und das merkwürdige Alisma Plantago121. Wer würde hier gern unsern Butomus122 und
Ranunculus Lingua123 vermissen, und nicht in guter Erwartung Agapanthus umbellatus" und
Calcolaria scabiosaefolia124 auf das trocknere Ufer pflanzen. Im Schatten und feucht gedeiht
das düstere Symphytum asperrimum55, und erreicht eine Höhe von mehr denn 5 Fuß, und die
vorher genannte Rudbeckia laciniata110 kann ihr zur Seite stehn. In warmer Lage, schattig,
gedeiht mäßig feucht die sonderbare Begonia discolor12, und ist von eigenthümlicher Wirkung
wenn sich die Strahlen der hellen Abendsonne durch ihre Blätter stehlen. Die im Freien
ausdauernden Farren beleben den angenehmen Schatten einer Haingruppe an einem Wiesenrande.
Unter den Blumen die wir zwischen die großartigen Blattformen streuen wollen, verdienen, des
Contrastes wegen, besonders die schlank aufstrebenden den Vorzug: Digitalis125, Delphinium126, Aconitum127, Verbaseum128, Malva129, Campanula neglecta130, pyramidalis131, Ranunculus132, Trachelium133, u.dgl. Lobelia fulgens134, cardinalis135 gehören hierher. Gegen das
Graugrün der Cynara sticht karmoisin, oder überhaupt roth, besser als jede andere Farbe ab.
Die viel verzweigten Scabiosa alpina136, caucasica137, Centaurea calocephala138, Lavatera trimestris139 und viele im Habitus mit dieser verwandten, Stauden- und Samengewächse, verbinden
sich auch gut, wie z. B. Echinops140, Carduus nutans141, mit großen Blattformen.
Die reichen Georginen lassen sich, nach ihren Sorten, mit den Vordergrundspflanzen jeder
Höhe verbinden.
Jede Pflanze entfaltet sich am schönsten, wenn sie unbeschränkt von andern, gleichsam allein
steht, darum müssen wir die Entfernung in der wir pflanzen wollen, nicht geizig zumessen: 3,4,
5 ja 6 Fuß nach der zu erwartenden Ausbreitung der Art. Zu unserer Freude stellen wir einige
ganz einzeln, wie einen Ballen der Canna patens60, rubricaulis63, Ricinus72, eine zweigreiche
Pflanze von Nicotiana glauca4, oder die herrliche Datura arborea64. Nur wer viel oder schlechte,
unten kahle Pflanzen hat, kann es entschuldigen, wenn er diese Zierde einer Gruppe schenkt.
Sie ist auch dort schön und wirkungsvoll, aber weniger als wenn sie nach allen Seiten die großen
duftenden Trichter herabhangen läßt, und sich aus einer kleinen Umgebung von Cynara
Scolymus2 oder Hemerocalis25, erhebt. Wir thun gut, wenn wir die Georgine nicht zu nahe
stellen, sie entzieht der Datura einen Theil unserer Bewunderung. Aralia spinosa37, (besonders
kräftig sind junge Pflanzen), verdient auch abgesondert zu stehen, oder von Erythrina laurifolia143 umgeben, deren Blumen und Belaubung scharf dagegen hervortreten.
Wir haben so manche schöne Rankpflanze und sehen sie so wenig in unseren Gärten. Die
künstlichen Lauben, an die wir sie bringen könnten sind verworfen worden, die Mühe welche
das järhliche Herabreißen der abgestorbenen Ranken machen würde, hat sie von den Bäumen
der Haine und den Sträuchern abgehalten, die Arbeit die das immerwährende Anbinden
herbeiführen würde, bewahrte unsre Anlagen vor steifen Spindeln oder Pyramiden, aber hat
auch den Blumengärten eine gefällige Zierde vorenthalten. Hier sollten wir nicht säumen von
einigen Stäben, ein wenig Drath und Schnur, grün gestrichen, zierliche Spaliere, Lauben,
Fächer, Mäntel und wie alle diese kleine Baulichkeiten heißen mögen, wieder aufzuführen,
wenn sie auch der kritische Geschmack aus den großen Gärten, für natürliche Schönheit
bestimmt, verwiesen hat. Dort wollen wir sie noch am Wege an Stämmchen einzelner Rosen
oder hochstämmiger Flieder, Schneebällen, Kugelakazien u. s. w. bringen, damit sie die Stöcke,
wo es die Leichtigkeit oder Durchsichtigkeit einer solchen Pflanzung nicht verbietet, bekleiden
helfen. Der oft vergessene Lathyrus odoratus144, das brennende Tropaeolum majus109, die
178
verachtete Scharlachbohne, die mannigfaltigen Ipomoea145 oder Convolvulus146, die alte Glycine Apios147, die schnell verbreitete Maurandia Barclyana148, und die unbeachtete M. scandens149, Fumaria fungosa150, die neuen Rhodochiton volubile151, Eccremocarpus scalus152,
Lophospermum scandens153, die seltenen Alstroemeria tricolor154, Salsilla155, Caldasii156,
Tropaeolum tuberosum157, sind wohl die vorzüglichsten der Klimm- und Rankpflanzen die bei
uns im Freien blühen.
Unsere schönen zweigigen Blattzierpflanzen bieten uns die beste Gelegenheit, solche Rankpflanzen in unsere Gärten zu bringen; wir können, was wir in den Palmenhäusern an den
Passifloren bewundern, auch auf unsern Rasenflächen haben. Kein Genuß ohne Mühe. Die
leichten Festons oder das durchsichtige Gewebe der Ranken, könnte, nicht mit dem Messer im
Zaum gehalten, bald weiter gehn als wir wollen. Wenn wir die Bäume einer Hainpflanzung mit
kletternden Sträuchern, mit Cucurbita aurantia158, der Sonderbarkeit wegen mit C. lagenaria159,
Cobaea scandens160 u. s. w. beziehen lassen, um auch hier uns noch an die Lianen der Tropen
erinnern zu lassen, so mögen dort die leichteren Maurandien und ihre Gefährten hinauf
klettern. Sie schwingen sich schön an die kräftigen Formen jener Vordergrundspflanzen der
dritten und besonders der vierten Stufe an, daß wir sie mit allen verbinden können. Bewahren
wir uns Arundo Donax später Sorghum und Zea für die innig verzweigten Alstroemeria so
verlieren wir nichts von der Schönheit beider, der Grasform und der sie umschlängelnden
Ranke. Die Datura Tatula gigantea wird am schicklichsten der Fumaria zur Stütze dienen,
denn beide werden sich um die Wette in die Weite ausdehnen, und die heruntergefallenen
Zweige der Fumarie suchen sich wieder aufzurichten einer an dem andern. Die sanftrothen
Blumen, das vielgetheilte, helle zarte feine Laub sticht gegen das reinste Dunkelgrün der
Unterlage überall deutlich ab. Die Eccremocarpus müßte sich wohl noch schöner ausnehmen,
der Ricimus nimmt die Maurandia, Tropaeolum u. s. w. auf."
Anhang
Die heute gültigen botanischen und deutschen Namen der von Fintelmann
genannten Pflanzen.
Ist der botanische Name unverändert gültig, so wird er in dieser Liste nicht wiederholt, sondern nur der
deutsche Name angegeben.
1
Cardy, Kardone, Spanische Artischocke.
2
Artischocke.
3
Beta vulgaris L. var. cicla (L.) Moq., Mangold.
4
Graugrüner Tabak.
5
Rohrkolben.
6
Setaria palmifolia (Koenig) Stapf, Borstengerste.
7
Pfahlrohr, in Südfrankreich und Spanien heimisch.
8
Onorpodum sp., Eselsdistel.
9
Petasites hybridus (L.) Gaertn., Mey. et Scherb., Gewöhnl. Pestwurz.
10
Fluß-Ampfer.
11
Akanthus.
12
Begonia grandis Dry.
13
Indisches Blumenrohr.
14
Schwertlilie.
15
Iris plicata = Iris pallida X Lam.
16
Dietes bicolor (Lindl.) Sw., Dietes.
17
Kürbis.
18
Sonnenblume - Zwergform.
19
Veltheimia viridifolia (L.) Jacq., Grünblättrige Veltheimie.
179
20
Cypergras.
Teichrose.
22
Seerose.
23
Rumex sanguineus L., Hain-Ampfer.
24
Rumex palustris Sm., Sumpf-Ampfer.
25
Taglilie.
26
Cucurbita pepo L., Kürbis.
27
Iris pallida Lam., Art d. Schwertlilie.
28
Iris halophila Pall., Art der Schwertlilie.
29,30,3i, 32,33 A r t e n d Rhabarber.
34
Arctium tomentosum (L.) Mill., Filzige Klette.
35
Arctium lappa L., Große Klette.
36
Atriplex hortensis L. var. rubra (L.) Roth, Rotblättrige Melde.
37
Aralie, Teufels-Krückstock.
38
Zantedeschia aethiopica (L.) Spr., Zimmer-Calla.
39,40,41,42,43 Arten des Blumenrohrs, die mit Ausnahme von Canna flaccida Salisb. heute nicht mehr in
gärtnerischer Kultur sind, aber zu den Stammeltern der heutigen Hybriden zählen.
44
Papyrusstaude.
45
Art d. Stechapfels.
46
Art d. Stechapfels.
47
Datura stramonium L. var tatula (L.) T., Varietät d. Gemeinen Stechapfels.
48
Heracleum elegans (Crantz) Jacq., Berg-Bärenklau.
49
Onopordum acanthium L., Eselsdistel.
x 51
- Arten d. Eselsdistel.
52
Pteridium aquilinum (L.) Kuhn, Adlerfarn.
53
Rotstacheliger Nachtschatten.
54
Geränderter Nachtschatten.
55
Symphytum asperum Lepech., Rauher Beinwell, Comfrey; S. officinale X asperum = S. X uplandicum
Nym, Futter-Comfrey findet sich verwildert auf der Pfaueninsel und stammt möglicherweise aus
Anpflanzungen Fintelmanns.
56
Mais.
57
Erzengelwurz.
58
Macleaya cordata (Willd.) R. Br., Federmohn.
59
Offenstehendes Blumenrohr, zählte nach Bouche damals zu den beliebtesten Arten.
60
Prächtiges Blumenrohr.
61
Sellows Blumenrohr.
62
Rotstengliges Blumenrohr.
63
Form von Nr. 47.
64
Stechapfel, Engelstrompete.
65
Sonnenblume, große Sorte.
66
vermutl. Heracleum lanatum Michx., Art d. Bärenklau.
67
Krause Malve.
68
Tabak.
69
Phytolacca americana L., Amerikanische Kermesbeere.
70
Orient-Knöterich.
71
Carolinische Polymnia; nach der Muse des Gesanges benannt, um die Schönheit der Pflanze anzudeuten.
72
Wunderbaum, Palma Christi.
73
Geschlitzblättriger Nachtschatten; entdeckt und benannt von Joh. Georg Forster (1754-1794) auf der
Weltreise 1772-1775 als Begleiter von James Cook (1728-1779).
74
Silphium connatum, Verwachsene Silphie.
75
Silphium perfoliatum L., Becherpflanze.
76
Sorghum saccharatum Pers., Zuckerhirse.
77
Tithonia rotundifolia (Mill.) Blake, Tithonie.
78
Salvie, Prachtsalbei.
79
Art d. Salbei, Halbstrauch aus Mexiko u. Guatemala, 1824 eingeführt.
80
Heliotrop.
21
180
81
Clerodendrum fragrans Vent., Clerodendrum.
Anagallis monelli L., Gauchheil; gemeint sind wohl die großblütigen Kultivare des 19. Jahrhunderts,
die heute fehlen. Anagallis arvensis L. und A. coerulea Nath sind verbreitete Ackerunkräuter von
übersehener Schönheit. A. monelli ssp. linifolia (L.) Maire wird seit 1983 auf der Pfaueninsel kultiviert.
83
Pantoffelblume.
84
Callistephus chinensis (L.) Nees, Sommeraster.
85
Studentenblume, Sammetblume.
86
Schlüsselblume.
87
Veilchen.
88
Anemone hepatica L., Leberblümchen.
89
Schneeglöckchen.
90
Anemone sylvestris L.. Großes Windröschen.
91
Ranunculus arvensis.
92
Apenninen-Anemone.
93
Helleborus niger L., Christrose.
94
Scilla non-scripta (L.) Hoffgg. et Link, Hasenglöckchen.
95
Muscari atlanticum Boiss. et Reut., Gewöhnliche Traubenhyazinthe.
96
Kaiserkrone.
97
Erythronium dens-canis L., Hundszahn.
98
Neuseeländischer Flachs, wurde von Solander und Cook auf der Weltreise 1768 bis 1771 entdeckt.
99
Agapanthus africanus (L.) Hoffgg., Schmucklilie.
00
Pfingstrose.
Art von Stauden-Mohn.
02
Art von Stauden-Mohn.
03
Feuer-Lilie.
04
Tigerlilie.
05
Stolze Lilie, 1738 aus Nordamerika eingeführt.
06
Türkenbundlilie.
07
Brennende Lilie.
08
Glanzgras.
09
Große Kapuzinerkresse.
10
ausdauernde Art der Rudbeckie.
1
' ausdauernde Art der Rudbeckie.
12
Leucanthemella serotina (L.) Tzvelev, Sumpfliebende Bertramswurz.
13
Vernonia altissima Nutt, Vernonie.
14
Boltonia asteroides (L.) L'Herit., Boltonie.
15
Ricinus communis L. var sanguineus I.B.S. Norton, Rotblättriger Wunderbaum.
16
Echinochloa frumentacea Link, Futterhirse.
17
tropisches Tüpfelfarngewächs.
18
Sagittaria sagittifolia L., Pfeilkraut.
19
Pontederia cordata L., Pontederie, angeblich schon 1579 aus Nordamerika eingeführt.
20
Iris pseudacorus L., Gelbe Schwertlilie.
21
Alisma plantago-aquatica L., Gemeiner Froschlöffel.
22
Butomus umbellatus L., Schwanenblume.
23
Großer Hahnenfuß.
24
einjährige Art d. Pantoffelblume, aus Peru, Chile, Ecuador 1822 eingeführt, in demselben Jahr wurde
auch die heute allein verbreitete C. integrifolia Murr, eingeführt.
25
Fingerhut.
26
Rittersporn.
27
Eisenhut.
28
Königskerze.
29
Althaea rosea (L.) Cav., Stockrose.
30
Campanula patula L.
31
Pyramidenförmige Glockenblume.
32
Hahnenfuß.
33
Halskraut.
34
Leuchtende Lobelie.
82
181
135
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
5/
58
59
60
Kardinals-Lobelie; diese und Nr. 134 sind anders als die heute verbreitete L. erinus hohe, rotblühende
Stauden.
Cephalaria alpina (L.) Schrad., Schuppenkopf.
Kaukasische Scabiose.
Centaurea atropurpurea W. K., f. flava, Schönköpfige Flockenblume.
Pappelrose, Sommer-Lavatere.
Kugeldistel.
Nickende Distel.
damals üblicher Name für Dahlien.
Lorbeerblättriger Korallenbaum.
Wohlriechende Wicke.
Prunkwinde.
Winde.
Wisteria frutescens (L.) Poir., Amerikanische Glyzine, Wistarie.
Asarina barclaiana (Lindl.) Pennell, Maurandie.
Asarina scandens (Cav.) Pennell, Kletternde Maurandie.
Dicentra formosa (Andr.) Walp., Tränendes Herz, aber eine andere als die bekannte Art.
Rhodochiton, in der Literatur wird als Einführungsjahr um 1835 angegeben, Fintelmann empfahl also
auch kaum erprobte Neuheiten.
Eccremocarpus scaber Ruiz et Pav., Schönranke.
Asarina lophospermum (Baüey) Penneil, Rotblühende Maurandie.
Alstroemeria pulchra Sims, Dreifarbige Alstroemerie.
Bomarea salsilla (L.) Herb., Windende Bomarie.
Bomarea caldasii (HBK.) Willd., Bomarie; das in Pareys Blumengärtnerei angegebene Einführungsdatum 1863 erweist sich durch Fintelmanns Aufsatz als falsch.
Knollen-Kapuzinerkresse; in Südamerika wegen der eßbaren Knollen angebaut unter dem Namen
Maca.
Cucurbita pepo var. ovifera, Apfelsine', Orangenkürbis.
Lagenaria siceraria (Mol.) Standley, Flaschenkürbis.
Glockenrebe.
Über die Einweihung des Kirchhofes hinter dem
ehemaligen Schul- und Küstergehöft zu Nikolskoe
und seine Beziehungen zur Pfaueninsel
Von Michael Seiler
Am 13. August 1837 wurde die Kirche St. Peter und Paul nach nicht ganz dreijähriger Bauzeit
geweiht. Im gleichen Jahre konnte auch der Unterricht in der dazugehörigen königlichen
Freischule aufgenommen werden. Der Wunsch, der neuen Kirche einen Friedhof beizulegen,
muß schon bald nach der Einweihung an den König herangetragen worden sein. Der GeneralGartendirektor Peter Joseph Lenne reichte dem Hofmarschall v. Massow aufgrund einer
Marginalverfügung vom 27. November 1837 schon am 28. November einen Situationsplan des
geplanten Kirchenhofs ein1 (Abb. 3). Er sollte direkt an das einen Morgen große Gartenland
des Küstergehöftes anschließen und eine Flächeninhalt von 72 Quadrat-Ruthen (= 2/5 Morgen =
1021 m2) haben und aus einem Rechteck von 12 X 6 Ruthen (1 preuß. Ruthe - 3,766242 m)
bestehen. Lediglich der Eingang auf der Ostseite sollte etwas aus der gemeinsamen Flucht mit
dem Gartenland hervortreten. Das heutige gußeiserne Eingangstor ist wohl das ursprüngliche,
denn eine ihm ähnliche Form erscheint gleich zweimal als flüchtige Bleistiftskizze auf einem
182
m&
t/Pz/firferfce.
xi
Abb. 1: Ausschnitt aus Abb. 4, die Randskizze rechts oben zeigend: das Eingangstor zum Kirchhof.
Abb. 2: Ausschnitt aus Abb. 4, skizzierter Eingangsbereich des Kirchhofes.
Aufnahmen der Abb. 1 bis 4: der Verfasser.
183
Situationsplan des Schul- und Küstergehöftes, der offensichtlich als Entwurfsvorlage für
Lennes Plan des Kirchhofes diente und auch die Skizze des Begräbnisplatzes mit seinem
Vorplatz und Zugangsweg enthält (Abb. 2). Das Tor bildet augenscheinlich den einzigen
Schmuck der schlichten Einfriedung, denn im Anschluß links zeigt die Skizze etwas, das sich als
nur halb so hoher Plankenzaun deuten läßt (Abb. 1). Diese Deutung wird dadurch zusätzlich
gestützt, daß der Hofgärtner Habermann von der Pfaueninsel in den Baurapporten von 1907
bis 19132 immer wieder darauf hinwies, daß der „Lattenzaun" um den Kirchhof zu Nikolskoe
dem Zerfallen nahe sei und der Erneuerung durch Maschendraht bedürfe. Der heutigentags
dort befindliche durchsichtige Forstzaun aus sich kreuzenden Stämmen, gibt dem sehr filigranen Eisentor nicht den erforderlichen optischen Halt.
Für den halbkreisförmigen Vorplatz und den in einem Bogen durch den Forst auf ihn
hinführenden Zufahrtsweg von 1% Ruthen Breite hatte Lenne einen Flächenbedarf von 53'/3
Quadrat-Ruthen veranschlagt. Vermutlich ist die bogenförmige Zufahrt durch den Forst nicht
ausgeführt, sondern der heute bestehende Weg entlang der Grenze des Gartenlandes gewählt
worden. Der Übersichtsplan zu dem Umgemeindungsantrag des Königl. Ober-HofmarschallAmtes vom 23. August 1911 zeigt schon, durch Grenzsteine markiert, dieselbe Situation, wie sie
heute vorgefunden wird3. Der Antrag sah die am 15. September 1911 vollzogene Umgemeindung der Parzellen der Königl. Ställe, des Blockhauses, der Kirche, der Schule und des
Begräbnisplatzes vom Gutsbezirk Potsdam-Forst in den Gutsbezirk Pfaueninsel vor, zu dem
sie verwaltungsmäßig ohnehin gehörten. Aus dem genannten Übersichtsplan läßt sich folgern,
daß weder der dem östlichen Eingangsbereich vorgelagerte Halbkreis noch das Hervortreten
des Eingangstores aus der Grundstücksflucht entsprechend Lennes Entwurf verwirklicht
wurde.
Der Hofgärtner der Pfaueninsel Gustav Adolph Fintelmann (1803-1871) berichtet am 5. Dezember 1837 an den Hofmarschall von Massow: „Euer Hochwohlgeboren beehre ich mich
untertänigst anzuzeigen, daß der bei der St. Peter- u. Pauls-Kirche neu angelegte Kirchhof heut,
d. 5. d. M., nachmittags 2 Uhr, eingeweiht worden, und zwar bei dem Begräbnisse eines
1'/Jährigen Sohnes des K.[öniglichen] Schloß Knecht Mewes hierselbst. In der Voraussetzung
daß Ew. Hochwohlgeboren gern hiervon Kenntnis nehmen möchten glaubte ich diese Anzeige
nicht unterlassen zu dürften."4
Der Bericht des damals erst vor kurzem bestellten Predigers der Peter-und-Pauls-Kirche, Julius
Fintelmann (1807-1868)5, Bruder des Hofgärtners der Pfaueninsel, ging ebenfalls an den
Hofmarschall. Er ist mit dem Datum des 6. Dezember versehen und lautet:
„Ew. Hochwohlgeboren beeile mich zu melden, daß ich gestern nachmittags 2 Uhr vor
Bestattung der Leiche des Kindes vom Schloßknecht Mewes den Friedhof zu St. Peter-Paul im
Auftrage des Königl. Superintendenten Eben feierlich eingeweiht habe. Das Grab habe ich so
anfertigen lassen, daß, im Falle Se. Majestät der König zu befehlen geruhten, es auf besondere
Weise ausgezeichnet werde und zugleich zur Zierde des ganzen Kirchhofes dienen kann."6
Julius Fintelmann stellte unter diesem Schriftsatz in einer Lageskizze den genauen Ort des
Grabes gegenüber dem Eingang dar. Diese Angabe hat der Verfasser dem von Lenne signierten
Plan hinzugefügt und mit dem Buchstaben G versehen (Abb. 3).
Die große Linde, die sich heutzutage genau in der Mitte des Rechtecks des Friedhofes erhebt,
könnte, bedenkt man die Standortverhältnisse, eine Pflanzung aus der Entstehungszeit des
Kirchhofes sein. Weiterhin wird das Vegetationsbild des Kirchhofes durch Buchsbaum und
amerikanische Riesenlebensbäume (Thuja plicata) geprägt. Die Thuja plicata stammen wahrscheinlich aus der gleichen Pflanzungsperiode um die Jahrhundertwende, in der dieses Gehölz
auf der Pfaueninsel verbreitet wurde.
184
»-Jf/mrfutet 9/Utn
«tfM?£
Abb. 3: Lennes Kirchhofsentwurf vom 28. November 1837, gezeichnet von Gerhard Koeber. Die Lage
des 1. Grabes wurde vom Verfasser nach der Skizze von Julius Fintelmann zusätzlich eingetragen und mit
G bezeichnet. Der Plan befindet sich: siehe Anm. 1.
Aufnahme: Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten. Foto-Archiv Pfaueninsel.
Nach Aussage des ehemaligen Maschinenmeisters auf der Pfaueninsel, Willi Kluge, fand man
den Friedhof nach dem letzten Krieg stark verwüstet vor und stellte die umherliegenden
Grabsteine von geschichtlichem Interesse in einer Reihe an der Westgrenze der Anlage auf. So
sind die schlichten und sehr schönen Grabsteine des Hofgärtners Gustav Adolph Fintelmann
und seiner Frau Eulalia (1806-1866) nicht mehr an ihrem ursprünglichen Platz. In derselben
Reihe ist der Stein der königl. Schloßjungfer, der Zwergin der Pfaueninsel Maria Dorothea
Strackon (1806-1878), erhalten. Das bekannteste Grabmal, das des Sandwich-Insulaners
Harry Maitey (um 1807-1872) und seiner Ehefrau Dorothea geb. Becker, zeigt sich in gut
restauriertem Zustand. Veschwunden sind die noch bei Willi Wohlberedt71934 verzeichneten
Gräber des russischen Leibkutschers Iwan Bockow (1777-1857), der das Blockhaus Nikolskoe
beaufsichtigte, des ersten Maschinenmeisters der Gartenbewässerung der Pfaueninsel, Joseph
Friedrich (1790-1873) und seiner Ehefrau Elisabeth geb. Riesleben (1789-1873), derer Fontane
in seiner Schilderung der Pfaueninsel ausführlich gedachte, und des Riesen der Pfaueninsel,
Karl Friedrich Licht (1798-1834).
185
Abb. 4: „Situation des
Schul- und Küstergehöftes bei Nikolskoe"
Verwaltung der Staatlichen Schlösser und
Gärten, Schloß
Charlottenburg,
Plansammlung
Nr. B13/M1/E5/83.
Plan nicht signiert und
datiert, vermutlich
1836/37. Er diente als
Grundlage für Lennes
Entwurf vom 28. November 1837, wie die
Bleistifteintragungen
und Randzeichnungen
beweisen.
Erhalten ist das aufwendige Familienbegräbnis des königlichen Hofgärtners Habermann, der
von 1902 bis Ende 1919 auf der Pfaueninsel wirkte, und das Grab des Gärtnergehilfen Reinhard
Rösner (1850-1933), der 10 Jahre das berühmte Palmenhaus auf der Insel betreute, darin eine
Dienstwohnung hatte und bei dessen Brande 1880 beinah umkam 8 . Der Reviergärtner Hugo
Neubert wußte von den fachlichen und menschlichen Qualitäten des alten Rösner auf das
lebhafteste zu berichten. Hugo Neubert trat 1910 seinen Dienst auf der Insel an und arbeitete
und lebte dort seit dieser Zeit. Er starb am 24. Mai 1983, am Tage seines 97. Geburtstages, und
wurde „oben" bei den anderen „Pfaueninsulanern" in Nikolskoe bestattet. Rösner hat 63,
Neubert 73 Jahre seines Lebens der Pfaueninsel gewidmet. Der Friedhof gehört heute den
Berliner Forsten. Die Berliner Gartendenkmalpflege hat sich seiner in denkmalpflegerischer
Hinsicht dankenswerterweise angenommen. Es ist zu überlegen, ob die kulturgeschichtliche
Besonderheit dieses Begräbnisplatzes es nicht erfordert, auf einem schlichten Stein Namen und
Daten derjenigen in Erinnerung zu rufen, deren Gräber leider verschwunden sind.
186
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
7
8
Plan und Begleitschreiben Lennes, in Plankammer-Akte 36, Bl. 167 und 177, bei der Verwaltung der
Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci. Es ist bemerkenswert, daß der arbeitsmäßig
überlastete Lenne Entwurfsplan und Berechnungen in einem Tag zu liefern wußte.
Akte bei der Verwaltung der Pfaueninsel.
Kolorierte Lichtpause in der Plankammer Schloß Charlottenburg.
Plankammer-Akte 36, Bl. 175, bei: siehe Anm. 1.
Vgl. auch Gert Hartenau-Thiel, Bericht über den Kirchhof und Zitat aus dem Klein-Glienicker
Kirchenbuch in: 100 Jahre Peter und Paul auf Nikolskoe, hrsg. von Pfarrer Fritz Schmidt, Berlin 1937,
S. 134.
Plankammer-Akte 36, Bl. 174, bei: siehe Anm. 1.
Wohlberedt, Willi, Verzeichnis der Grabstätten bekannter und berühmter Persönlichkeiten in GroßBerlin und Potsdam mit Umgebung, Teil II, Berlin 1934, S. 134,135.
Seiler, Michael, Das Palmenhaus auf der Pfaueninsel, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, 32. Band, Berlin 1981, S. 119.
Anschrift des Verfassers: Michael Seiler, Pfaueninsel, 1000 Berlin 39
Aus den geheimen Registraturen
der Berliner politischen Polizei 1878-1889
Zu einer wichtigen neuen Dokumentensammlung*
Von Otto Uhlitz
Das Staatsarchiv Potsdam hat in den drei Jahrzehnten seines Bestehens eine Reihe von für die
Geschichte Berlin-Brandenburgs bedeutsamen Veröffentlichungen vorgelegt. Zu nennen sind
zunächst die 1964 und 1967 erschienenen Bände der Übersichten über die Bestände des Archivs
(Band 1 erschien noch unter dem alten Namen „Brandenburgisches Landeshauptarchiv"), zu
deren Kern die bis in den Zweiten Weltkrieg hinein im ehemaligen Preußischen Geheimen
Staatsarchiv in Berlin-Dahlem bzw. in dessen Hauptabteilung „Staatsarchiv für die Provinz
Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin" verwahrte Überlieferung gehört. Es folgten
1970 bis 1974 die vier Bände der verdienstvollen, von Hans-Joachim Schreckenbach bearbeiteten „Bibliographie zur Geschichte der Mark Brandenburg". Schließlich ist u.a. das kurz vor
dem Abschluß stehende Historische Ortslexikon für Brandenburg zu erwähnen, von dem
insbesondere die Bände III (Havelland), IV (Teltow) und VI (Barnim) zu unentbehrlichen
wissenschaftlichen Hilfsmitteln für jeden geworden sind, der sich mit der Geschichte der 1920
mit Berlin vereinigten Städte, Gemeinden und Gutsbezirke befassen will. Mit dem hier angezeigten Buch beginnt nach dem Vorwort des Direktors des Archivs, Prof. Dr. Beck, eine neue
Phase der Publikationstätigkeit des Archivs, die Quellenpublikationen aus wichtigen Beständen zum Gegenstand hat. In drei Bänden sollen zunächst aus den Registraturen des ehemaligen
* Besprechung von: Dokumente aus geheimen Archiven. Übersichten der Berliner politischen Polizei
über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung 1878-1913. Band I
1878-1889. Bearbeitet von Dieter Fricke und Rudolf Knaack, Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar
1983 (= Veröffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam, herausgegeben von Friedrich Beck, Band 17),
XX, 406 S., 54 M.
187
Berliner Polizeipräsidiums die „Übersichten über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung" veröffentlicht werden. Bei diesen Übersichten handelt es
sich um Dokumente von einzigartigem Wert, die von 1878 bis 1913 aufgrund eines Erlasses des
preußischen Innenministers vom 5. September 1878 (und eines ergänzenden Ministerialerlasses
vom 21. Mai 1883) vom Berliner Polizeipräsidenten herausgegeben wurden, bei dem schon
vorher die „erforderlichen Einrichtungen" getroffen worden waren, um die „Agitation der
sozialdemokratischen Partei" und deren „Berührung . . . mit den Umsturzparteien anderer
Länder . . . scharf zu beobachten und das sich ergebende Material an einer Stelle zu sammeln
und zu verarbeiten". Insoweit fungierte der Polizeipräsident in Berlin als zentrale Stelle der
politischen Polizei in Preußen und in einem gewissen Sinne des gesamten Reiches. Als Quellenmaterial für die „Übersichten" dienten vornehmlich die Quartalsberichte, die von den
Regierungspräsidenten regelmäßig dem Innenminister zu erstatten waren, Berichte von Polizeibehörden, Polizeibeamten und Polizeispitzeln, Zeitungsartikel sowie Druck- und Flugschriften und sonstiges Material der Sozialdemokraten und Anarchisten. Auch die entsprechenden
Bewegungen im Ausland wurden erfaßt. Über das Quellenmaterial wird in der Einleitung unter
Angabe der (insbesondere archivalischen) Belege berichtet. Dadurch erfährt der Leser auch
etwas über die Arbeitsweise und die Struktur der Berliner politischen Polizei und ihre bereits
unmittelbar nach 1848/49 beginnende Vorgeschichte.
Zum Benutzerkreis der geheimen Übersichten gehörten die preußischen Oberpräsidenten,
Regierungspräsidenten (Landdrosten in der Provinz Hannover) und Polizeibehörden, die
sächsischen Kreishauptleute, der Polizeichef von Hamburg sowie einige Polizeibehörden im
Ausland, darunter das Schweizerische Justiz- und Polizeidepartement, die Polizeidirektionen
in Kopenhagen, Wien und Prag, der Direktor der Kriminalabteilung in London und die
Polizeipräfektur in Paris. Später erhielten die Landräte Auszüge. Die kommandierenden
Generale wurden von den Oberpräsidenten unterrichtet.
Die im vorliegenden ersten Band enthaltenen 16 Übersichten sind schon einmal, 1964, von
Reinhard Höhn unter dem unsachlichen und wohl auch nur als „Zitat" gedachten Titel „Die
vaterlandslosen Gesellen/Der Sozialismus im Lichte der Geheimberichte der preußischen
Polizei 1878-1914, Band I (1878-1890)" im Westdeutschen Verlag in Köln und Opladen
aufgrund von Archivalien der Staatsarchive Marburg und Münster veröffentlicht worden.
Hohns Edition hat damals im Westen (vgl. Historische Zeitschrift, Band 20, S. 398) und im
Osten (vgl. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1965, S. 138 ff.) keinen großen Beifall gefunden, und das wohl mit Recht, da Höhn die Übersichten - abgesehen von einer allgemeinen
Einführung „Die Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz" - ohne Erläuterungen abgedruckt hat. Hohns Edition der ersten 16 Übersichten ist auch ein Torso geblieben; die von ihm
angekündigte Edition aller Übersichten wurde nicht verwirklicht.
Die von dem Staatsarchiv Potsdam herausgegebene Edition ist demgegenüber mit einem
wissenschaftlichen Anmerkungsapparat versehen, der keine Wünsche offen läßt. Er enthält
Erläuterungen für das Verständnis von Fakten und Sachverhalten, notwendige Richtigstellungen von Aussagen im Text der Übersichten, Angaben über Personen, Zeitungen, Zeitschriften,
Parteien und Organisationen sowie Hinweise auf die Literatur.
Der vorliegende erste Band umfaßt die Zeit des Verbotes der Sozialdemokratischen Partei
unter dem Sozialistengesetz von 1878 bis 1890, in der die Auseinandersetzung zwischen Staat
und sozialistischer Bewegung ihren Höhepunkt erreichte. Quellenkritisch ist zu berücksichtigen, daß es sich bei den „Übersichten" um Dokumente des damaligen Staatsapparates handelt.
Gleichwohl hat man den Eindruck, daß sie ein sachliches und ungeschminktes Bild des
damaligen Verhältnisses des Staates zur Sozialdemokratie vermitteln. Das gilt insbesondere für
188
die Methoden des Kampfes gegen die Sozialdemokratie und für die „Taktik der Sozialdemokratie, diesem Kampfe zu begegnen oder auszuweichen" (Historische Zeitschrift, Band 20, S. 399).
Aber auch als Quelle für die Entwicklung der sozialistischen und anarchistischen Bewegungen
selbst sind die Übersichten von Bedeutung, wenn auch zu berücksichtigen ist, daß dem
Staatsapparat viele Interna dieser Bewegungen verborgen geblieben sind und ihm „das richtige
Gespür ihrer wirksamen Bekämpfung fehlte" (Fricke, Einleitung, S. XIV). Der Behauptung
Frickes (Einleitung, S. XV), daß es die wichtigste Aufgabe der Übersichten gewesen sei, „die
Pogromstimmung gegen die sozialistische Arbeiterbewegung nicht nur in Preußen, sondern
ebenfalls in den anderen deutschen Bundesstaaten ständig wachzuhalten und zu schüren",
möchte ich nicht zustimmen. Dem widerspricht der von Fricke (Einleitung, S. XI) selbst
hervorgehobene geheime Charakter der Übersichten und der beschränkte Benutzerkreis, der
1880 aus 140 und 1905 aus 152 leitenden Beamten bzw. Dienststellen des In- und Auslandes
bestand.
Die „Übersichten" werden im Untertitel des Buches und in der Einleitung als „Übersichten über
die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung" bezeichnet,
obwohl sie seinerzeit amtlich „Übersichten über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen
und revolutionären Bewegung" genannt wurden. Dieses Abweichen vom damaligen amtlichen
Sprachgebrauch ist der Sache nach gerechtfertigt, da es grundsätzlich richtig ist, zwischen der
revolutionären (marxistischen) Arbeiterbewegung und den anarchistischen und nihilistischen
Bestrebungen zu unterscheiden, von denen sich nicht nur die sozialdemokratischen Führer in
Deutschland, sondern auch der in London im Exil lebende Karl Marx scharf distanziert hatten.
Karl Max (gest. 1883) und Friedrich Engels, die beiden Lehr- und Altmeister des „wissenschaftlichen Sozialismus", tauchen übrigens in den „Übersichten" nur am Rande auf; sie stellten
offensichtlich für die politische Polizei in Deutschland im Gegensatz zu dem von London und
später von den USA aus agierenden Anarchisten Johann Joseph Most kein Problem dar.
Der Berliner Polizeipräsident unterschied nicht zwischen den revolutionären Sozialisten und
den Anarchisten; er unterstellte sogar den „eigentlichen Sozialdemokraten", die Anarchisten
nur „äußerlich" zu bekämpfen, „innerlich" aber mit ihnen zu sympathisieren (Übersicht vom
4. März 1884). Der Tatsache, daß die Sozialdemokraten, die sich damals noch Sozialistische
Arbeiterpartei Deutschlands nannten, im Gothaer Programm von 1875 sogar einen deutlichen
Trennungsstrich zwischen sich und den revolutionären Sozialisten gezogen hatten, legte er
offensichtlich keine Bedeutung bei. Es war allerdings damals schwer, zwischen den unterschiedlichen Positionen der sozialistischen Bewegung zu unterscheiden, zumal es das offizielle, in der
Schweiz erscheinende Parteiorgan „Der Sozialdemokrat" an Zweideutigkeiten nicht fehlen
ließ. Zwischen Sozialdemokraten, revolutionären Sozialisten (Marxisten, Kommunisten) und
Anarchisten hätte man aber doch deutlicher unterscheiden können und müssen. Man hat es
offensichtlich nicht getan, um die Ausschreitungen und Verbrechen der Anarchisten als
Vorwand zu benutzen, in der Wachsamkeit gegenüber den „eigentlichen Sozialdemokraten"
nicht nachzulassen (Einleitung, S. XV).
Es ist im Rahmen einer Rezension nicht möglich, den Gesamtinhalt der Übersichten auch nur
annähernd darzustellen. Nur einen Punkt möchte ich herausgreifen: Die Übersichten bestätigen in überzeugender Weise das, was August Bebel schon 1879 im Schlußkapitel seines illegal
gedruckten und vertriebenen Buches „Die Frau und der Sozialismus" geschrieben hatte:
„ . . . So hat Deutschland in dem großen Riesenkampfe der Zukunft die Führerrolle übernommen, zu der es durch seine ganze Entwicklung und auch durch seine geographische Lage als das
,Herz Europas' prädestiniert erscheint. Es ist kein Zufall, daß es Deutsche waren, die die
Bewegungsgesetze der modernen Gesellschaft entdeckten und den Sozialismus als die Gesell189
schaftsform der Zukunft wissenschaftlich begründeten ... Es ist auch nicht Zufall, daß die
deutsche sozialistische Bewegung die wichtigste und bedeutendste der Welt ist, die die Bewegung anderer Nationen insbesondere die Frankreichs, das in einer Art mittelbürgerlicher
Entwicklung steckenblieb, überflügelte; daß ferner deutsche Sozialisten die Pioniere sind,
welche den sozialistischen Gedanken unter die Arbeiter der verschiedensten Völker verbreiteten ..."
In den „Übersichten" mußte von Anfang an als Ergebnis der „Beobachtungen" ein „stetiges
Anwachsen der sozialdemokratischen und revolutionären Bewegung in D e u t s c h l a n d "
(Sperrung auch im Originaltext) konstatiert werden, das sich durch das Ausnahmegesetz und
die in Angriff genommenen sozialpolitischen Reformen nicht aufhalten ließ (vgl. z. B. die
Übersicht vom 1. November 1884). Die Reformen, die objektiv betrachtet einen großen Fortschritt darstellten, wurden mit Erfolg als ein auf Bauernfang berechneter Schwindel ausgegeben, der die eigentliche soziale Frage nicht berühre. Diese könne nur durch eine sozialistische
Produktion gelöst werden, die keine Ausbeuter und Ausgebeuteten mehr kenne.
Das Anwachsen der sozialdemokratischen Bewegung konnte an den Wahlergebnissen abgelesen werden. Das Sozialistengesetz hatte bekanntlich die politische Repräsentation der Sozialdemokratie in den Parlamenten und kommunalen Vertretungskörperschaften nicht angetastet,
was übrigens für den Zusammenhalt der sonst verbotenen Partei von unschätzbarer Bedeutung
war. In der „Übersicht" vom 24. Juli 1886 heißt es: „ D e u t s c h l a n d hat die hervorragende
und deshalb von vielen beneidete Stellung, welche es von jeher in dieser Bewegung eingenommen hat, behalten. Die Trägerin der sozialistischen Ideen, die sozialdemokratische Partei, ist
über das ganze Reich verbreitet, wohl organisiert und in stetigem Wachstum begriffen."
In der letzten in diesem Band veröffentlichen Übersicht vom 22. November 1889 stellte der
Berliner Polizeipräsident in dem Bericht über den Internationalen Sozialistenkongreß vom Juli
des gleichen Jahres fest: „[Es] zeigte sich wiederum, daß die Deutschen bezüglich ihrer
Organisation und ihrer Fortschritte allen anderen Nationen als Vorbild gelten." Und an einer
anderen Stelle der gleichen Übersicht heißt es: „Die deutsche Sozialdemokratie nimmt, wie
bereits bemerkt, unter den gleichartigen Parteien sämtlicher europäischer Länder zweifellos die
erste Stelle ein, und mit Recht. Sie ist vor allem vorzüglich organisiert. Angeblich unterscheidet
sie sich in nichts von jeder anderen politischen Partei, die von einem Vorstande, als welcher bei
ihr die Mitglieder der Reichstagsfraktion fungieren, geleitet wird."
Demgegenüber steht in den „Übersichten" über England u.a.: „In England beteiligt sich die
eingeborene Bevölkerung mit wenigen Ausnahmen noch immer nicht an der allgemeinen
sozialistischen Bewegung" (15. Juni 1881). Aus den USA wird berichtet: „Unter den
Amerikanern selbst sind sozialistische Anschauungen nur wenig verbreitet, es sind aber eine
große Menge Deutscher dort, welche aus der Heimat derartige Ideen mit hinübergebracht
haben und, wenn sie dieselben in Amerika auch nicht verwerten können, dennoch jede
Gelegenheit benutzen, ihnen in der Heimat durch moralische und pekuniäre Unterstützung
Geltung zu verschaffen" (15. Juni 1881). Der Allgemeine Gewerkschaftsbund in den USA
bestand in der Hauptsache aus Deutschen (14. Juni 1882). In der Schweiz klagten die sozialdemokratischen Führer nach der Trennung von der deutschen Partei über zunehmende
Gleichgültigkeit der Mitglieder (30. Juli 1883). Die Belgier, Holländer und Dänen übernahmen
das Gothaer Programm der Deutschen (10. Juni 1879/30. Juli 1883). Die Ungarn setzten ihre
ganze Hoffnung auf die Deutschen, welche sie als „den Fels" der gesamten Sozialdemokratie
bezeichneten (29. Dezember 1879).
Damit will ich es bewenden lassen. Wenn man das alles liest, fragt man sich: Wie kommen
eigentlich die Historiker und die Publizisten in den angelsächsischen Ländern, in denen die
190
sozialen Verhältnisse in jener Zeit um keinen Deut besser als in Deutschland waren, dazu, uns
Deutschen (leider unter dem Beifall jüngerer deutscher Historiker) einen angeblichen
„Sonderweg" der deutschen Geschichte und einen besonderen „Untertanengeist" einzureden?
Das alles soll mit Martin Luther begonnen haben und von ihm über Friedrich den Großen und
Bismarck in gerader Linie auf Hitler zugelaufen sein.
Martin Luther war einer der größten Revolutionäre, die wir kennen. Er (und mit ihm die
überwiegende Mehrheit unseres Volkes) hat der Hierarchie der damals übermächtigen Papstkirche den von ihr verlangten sklavischen Gehorsam aufgekündigt und damit der modernen
Welt und vor allen Dingen der modernen Wissenschaft den Weg bereitet. Was das mit
„Untertanengeist" zu tun haben soll, ist mir rätselhaft. Friedrichs des Großen Satz „Ich bin der
erste Diener des Staates", mit dem er die Losung der absoluten Fürsten „Der Staat bin ich",
verwarf, war ebenfalls revolutionär. Bismarck hat die Sozialdemokratie bekämpft. Das hatte
aber nichts, wie behauptet wird, mit der Vorherrschaft konservativ-feudaler Wertvorstellungen
und einer „feudalen Mentalität" oder einer „Unmündigkeit" des deutschen Bürgertums zu tun,
sondern entsprach dessen Interessen, insbesondere auch im Sinne der marxistischen Klassenkampftheorie. Dort, wo es - wie damals in England und den USA - keine Sozialisten gab und
die Arbeiter, Gott und der Obrigkeit ergeben, ihr Schicksal ertrugen, brauchte man kein
Bündnis zwischen der Bourgeoisie und den feudalen Überresten und kein „Sozialistengesetz",
um sie zu bekämpfen. Und Hitler? Hier möchte ich Sebastian Haffner (Anmerkungen zu
Hitler, S. 203) zitieren: „Hitler paßte zum deutschen Nationalcharakter ungefähr so, wie seine
Parteitagsbauten nach Nürnberg paßten - also wie die Faust aufs Auge . . . Hitler kam für die
Deutschen immer von weither; erst eine Weile vom Himmel hoch; nachher dann . . . aus den
tiefsten Schlünden der Hölle!" Der Geburtsort der nationalsozialistischen Bewegung war nicht
München in Deutschland, sondern Versailles in Frankreich.
Am Schluß seiner „Anmerkungen zu Hitler" bedauert es Sebastian Haffner, daß „viele Deutsche" (man kann jetzt schon sagen „die Deutschen in der Bundesrepublik") sich nicht mehr
trauen, Patrioten zu sein. Das ist eine richtige Feststellung. Die Geschichtslosigkeit in der
Bundesrepublik hat ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Das deutsche Volk wird in
diesem Teil Deutschlands seine nationale Identität verlieren, wenn es nicht gelingt, ein neues,
gesundes deutsches Selbstbewußtsein wachzurufen. Ein solches Selbstbewußtsein kann nur aus
einem gesunden Verhältnis zur deutschen Geschichte wachsen. Das Studium des vorliegenden
Buches kann dazu beitragen. Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, insbesondere
ihre Geschichte zur Bismarckzeit, widerlegt das Gerede vom „deutschen Untertanengeist". Der
Kampf Bismarcks gegen die Sozialdemokratie lag in der Natur der Sache. Eine so mächtige
sozialistische Bewegung wäre damals auch in jedem anderen Land auf den erbitterten Widerstand des Bürgertums und der Aristokratie, die damals z. B. auch in England noch eine Rolle
spielte, gestoßen.
Anschrift des Verfassers: Dr. Otto Uhlitz, Westendallee 70,1000 Berlin 19
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Martin Sperlich zum Abschied von seinen Amt
als Direktor der Staatlichen Schlösser und Gärten
Von Helmut Börsch-Supan
Die Staatlichen Schlösser und Gärten in Berlin, dieses Fragment der ehemals großen von
Königsberg bis Brühl reichenden preußischen Schlösserverwaltung, hatten in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg das Glück, zwei bedeutende Persönlichkeiten an ihrer
Spitze zu sehen: Margarete Kühn und Martin Sperlich. Nur diesem Umstand ist es zu
verdanken, daß mancher schlecht informierte Besucher des Schlosses Charlottenburg heute
den Eindruck hat, der Krieg habe diesen Bau verschont. Wenn die Schlösserverwaltung als
Denkmalpflege- und Museumsinstitution besonderer Art einen guten Ruf weit über die Grenzen Berlins hinaus genießt, so ist dies ebenfalls das Verdienst der beiden. Margarete Kühn war
es, die den Wiederaufbau des Schlosses Charlottenburg durchsetzte, aber der Praktiker Martin
Sperlich war seit 1956 der starke Motor für alle denkmalpflegerischen Arbeiten. Er kletterte auf
die Gerüste und sah den Bauzeichnern auf die Finger.
Margarete Kühn hatte ihn, der vorher als Volontär der Staatlichen Museen mit der Rückführung des Kunstgutes aus Celle nach Berlin beschäftigt gewesen war, an die Schlösser als
zunächst einzigen wissenschaftlichen Mitarbeiter geholt. Als 1969 Margarete Kühn in den
Ruhestand ging, war es selbstverständlich, daß Martin Sperlich ihr Nachfolger wurde. Der
damalige Senator für Wissenschaft und Kunst, Werner Stein, war liberal genug, die fachliche
Kompetenz und die charakterliche Eignung höher zu bewerten als einen Dissens in politischen
Ansichten.
Nur indem Begeisterung und Sachverstand das Defizit an physischen Kräften ausglichen, war
mit knappem Personalbestand zu leisten, was in den Jahren bis heute bewältigt wurde: die
Durchführung nahezu aller denkmalpflegerischen Arbeiten im Bereich der Schlösser und
Gärten und wenigstens die Weichenstellung für die noch zu lösenden Probleme. Vergleicht man
die Kosten für den Wiederaufbau des Charlottenburger Schlosses mit den Summen, die Berlins
Skandalbauten verschlungen haben, dann wird überdies deutlich, was preußisches Beamtentum, das sich an seinem Ursprungsort besser als andernorts bewahrte, einmal gewesen ist.
Über der weithin sichtbaren Leistung der Wiederherstellung des Schlosses Charlottenburg sind
die übrigen Unternehmungen nicht zu vergessen. Das Jagdschloß Grunewald, das bereits 1963
außen seine barocke Erscheinung wiedererhalten hatte, wurde 1973/74 innen restauriert,
wobei vor allem der große Renaissancesaal im Erdgeschoß zurückgewonnen wurde. Grabungen im zugeschütteten Wassergraben um das Schloß haben Reste der Renaissancegiebel zutage
gefördert und uns das ursprüngliche Aussehen des Schlosses bekannt gemacht. Auf der
Pfaueninsel erhielt nicht nur das Schlößchen sein originelles Architekturgewand zurück,
sondern auch das Kavalierhaus und die Meierei. In der letzten Zeit hat Martin Sperlich sich mit
seiner herkulischen Energie vor allem der Wiederherstellung und sinnvollen Nutzung von
Glienicke angenommen, dieses immer noch zuwenig in seinem hohen künstlerischen Rang
erkannten Juwels. Die Rückführung des Schlosses mit seinen Nebengebäuden in den Zustand
der Schinkelära durch den Abriß der beeinträchtigenden Zutaten der Nachkriegszeit ist die
wichtigste denkmalpflegerische Aufgabe, die den Schlössern zu erledigen bleibt. Groß ist auch
sein Verdienst um den Garten, dessen ursprüngliche Gestalt er zusammen mit Michael Seiler
erforscht hat. Das Schinkeljubiläum 1981 nutzte er zur Wiederherstellung des Pleasure grounds
und zum Wiederaufbau des Gewächshauses.
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Mit besonderem Eifer hat sich Martin Sperlich seit mehreren Jahren der Gartendenkmalpflege
zugewandt und nicht wenig dazu beigetragen, daß diese Disziplin mehr und mehr an Ansehen
gewinnt. Seine Lehrtätigkeit als Honorarprofessor an der Freien Universität ist ebenfalls
hauptsächlich diesem Gebiet gewidmet. Martin Sperlich hat das Gebot der Stunde erkannt, die
Kunst der Gärten der allgemeinen Aufmerksamkeit zu empfehlen, denn nichts ist in einer von
einem akuten Defizit an Natur bedrohten Stadt wohltuender als Gärten. Schlösser und Gärten
gehören zusammen, und nur durch ihre Gärten werden die Schlösser zu wirklich lebendigen
Organen der Stadt. Ohne sie würden die Schlösser allzuleicht zu Reservaten der Vergangenheit
versteinern und im schlechten Sinne museal werden. Die Verbindung von Kunstgenuß, Begegnung mit Natur und Einsicht in Geschichte zu einer komplexen Lebenserfahrung ist immer das
Ziel Martin Sperlichs gewesen. Dieses geistige Fundament der Institution ist über ihrer
materiellen Substanz nicht zu vergessen.
Martin Sperlich wurde 1919 in Darkehmen in Ostpreußen, im heute russischen Teil der Provinz,
geboren. Seine Herkunft hat ihn geprägt, und dazu gehört, nicht mit ihr zu kokettieren. Auf das
Abitur in Königsberg folgten Arbeits- und Militärdienst seit 1938. Er machte Feldzüge in Polen,
Frankreich und Rußland mit und wurde verwundet. 1944 begann er in Danzig das Studium der
Medizin, das er 1947 in Hamburg fortsetzte. Aber nach vier Semestern sattelte er auf die
Kunstgeschichte um, die damals noch kein Modefach war. Was der Mensch mit seinem Geist
hervorbrachte, interessierte ihn mehr als seine physische Natur, aber diese bleibt doch stets bei
ihm die tragende Grundlage seiner Existenz. Wer ihn sieht, spürt das sogleich. 1953 promovierte er in Hamburg bei Wolfgang Schöne mit einer Dissertation „Die Stellung der FranzLegende in Assisi in der Geschichte der Perspektive". Seitdem gehört die Beschäftigung mit den
Problemen der Perspektive zu seinen speziellen wissenschaftlichen Neigungen. Nachdem er ein
Jahr Assistent an der Hamburger Universität gewesen war, wählte er den praktischen Umgang
mit der Kunst zu seiner Lebensaufgabe, indem er sich zum Volontariat an den Staatlichen
Museen entschloß. Damit wurde er Berliner, und er hat seitdem wohl nie mit dem Gedanken
auch nur gespielt, diese Stadt um einer Karriere willen zu verlassen. Was ihn an Berlin bindet,
ist die hier offener als anderenorts zutage tretende Dringlichkeit der Probleme unserer Kultur,
denen er indes mit Zuversicht auf die Durchsetzungskraft des Humanen begegnet. Ein weiter
Kreis von Freunden in West und Ost ist es, der diese Zuversicht aufrechterhält.
Im Umgang mit Menschen verbraucht und erneuert er seine Kräfte. Nichts tut er lieber, als in
Führungen die Schlösser und ihre Gärten zu erklären, wobei er interessierten Schulklassen stets
den Vorzug vor gelangweilten Staatsoberhäuptern gibt. Erst im gemeinsamen Erlebnis mit
anderen Menschen entfaltet für ihn die Kunst ihre ganze inspirierende Energie.
Martin Sperlich sitzt nicht gern am Schreibtisch, und es ist nie sein Ehrgeiz gewesen, durch
Publikationen den Lorbeer des Kunsthistorikers zu verdienen. Vielleicht ist sein Gewissen im
Umgang mit der Sprache zu groß, als daß ihm die Aufsätze leicht aus der Feder fließen. Seine
immer wieder in Erstaunen versetzende Kenntnis der Literatur, seine Fähigkeit, auch Entlegenes wörtlich zu zitieren, macht ihn bei der eigenen Produktion bescheiden. Das meiste von dem,
was er geschrieben hat, ist aus der Rückzugsstellung des überlegenen Humors, oft vom Terrain
der Kuriosität aus, gedacht und zielt auf die Dummheit. Nichts ist ihm so verhaßt wie die den
Gedanken schändende Phrase, deren sich die Inhaber der Macht bedienen. Nirgends wird das
deutlicher als in den formvollendeten Gedichten, mit denen er sich vielfach dienstlichen Ärger
von der Seele geschrieben hat. Ein Freund hat sie gesammelt und zu seinem 60. Geburtstag in
einem Band herausgegeben, der inzwischen in zweiter Auflage erschienen ist. Wie angesehen
Martin Sperlich in Kunsthistorikerkreisen ist, obgleich er nicht den Gelehrten herauskehrt,
zeigt die Festschrift „Schlösser, Gärten, Berlin", die ihm zum gleichen Datum gewidmet wurde.
193
Martin Sperlich glaubt nicht, daß dem öffentlichen Leben durch Verkrustungen, sei es in der
Parteienwirtschaft, sei es im Behördentrott, Halt zu geben sei, sondern er bejaht die Beweglichkeit des Geistes und die Impulse der Menschlichkeit. Er kämpft mit scharfem Witz gegen die
Machtübernahme durch das Mittelmaß.
Die Angegriffenen haben nicht die Chance ergriffen, Martin Sperlichs Vorwürfe durch eine
großmütige Tat zu widerlegen, sie haben sich gerächt und ihm bei seiner Verabschiedung den
Dank für seine weit über die Pflichterfüllung hinausgehende Leistung verweigert. Er wird indes
auch im Ruhestand für Berlin wirken und eine Hoffnung für diejenigen sein, die sich mit einem
Phänomen nicht abfinden, das schon Karl Friedrich Schinkel als „moderne Barbarei" benannt
und folgendermaßen beschrieben hat: „In neuester Zeit hat der Begriff Barbarei einen ganz
anderen Charakter gewonnen; er ist nicht mehr vollkommene Roheit, Mangel an aller Sitte,
Grausamkeit pp., sondern überfeine äußere Bildung, die keinen Grund und Boden hat.
Geschmack nach der konventionellen Weise der Zeit ohne Spur von Genie, Entfernung jeder
ursprünglichen naiven Gesinnung, raffinierte Umgehung aller Gesetze der Gesellschaft zu
egoistischen Zwecken."
Die Spuren von Martin Sperlichs Wirken für die Berliner Schlösser und Gärten werden nie
ganz verwischt werden können.
Dr. Helmut Börsch-Supan, Museumsdirektor und Professor,
Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten
Ew Hochwolgeboren...
Ein bisher unbekannter Brief von Gottfried Schadow mit einer Antwort
von Karl Friedrich Schinkel aus dem Archiv der Preußischen Akademie der Künste
Von Karl-Robert Schütze
Frau Professor Dr. Margarete Kühn,
Direktorin der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten a. D.,
Herausgeberin von Karl Friedrich Schinkels „Lebenswerk"
und Mitglied unseres Vereins seit einem Vierteljahrhundert,
zum achtzigsten Geburtstag gewidmet
Gottfried Schadow, der Direktor der Akademie der Künste, hat den Brief eigenhändig am
8. Juni 1825 ohne persönliche Anrede an ein Akademiemitglied gerichtet, er ist nicht adressiert
und wahrscheinlich im Hause zugeleitet worden, was möglicherweise aus den bisher ungedeuteten Kürzeln unter der Unterschrift hervorgeht.
Für die Antwort wurde die schon beschriebene Seite des in der Mitte gefalteten Blattes benutzt.
In dem handschriftlichen Text, einen Tag später von Karl Friedrich Schinkel niedergeschrie194
ben, macht sich zugleich der zunächst ungenannte Adressat bekannt. Es handelt sich um ein
dienstliches Schreiben, in Anbetracht des am Anfang der Zusammenarbeit durchaus freundschaftlichen, zumindest aber kollegialen Verhältnisses der beiden Künstler scheint es den
Tiefpunkt ihrer Beziehungen2 zu illustrieren.
Worum geht es in dem Brief, was macht die kurzen Texte der beiden berühmten Akademiemitglieder bei der umfangreichen von ihnen und über sie veröffentlichten Literatur noch nach über
eineinhalb Jahrhunderten interessant, zumal Beginn und Ende des Vorgangs nicht im Zusammenhang überliefert sind?
Zunächst zum Inhalt des Schriftstückes: Schinkel hatte das erstgenannte Buch3 aus der
Bibliothek der Akademie entliehen und es dort zurückgegeben, es wurde nun aber durch den
„Secretair, Bibliothekar und Oekonomie-Inspektor" der Bau-Akademie, Friedrich Meissner4,
für die dortige Bibliothek beansprucht. Das zweite genannte Werk5 befand sich bereits in der
Bau-Akademie, obwohl es durch die Akademie der Künste angekauft worden war. Schadow
hatte es wegen seines vermeintlich vorwiegend technischen Inhalts dorthin abgegeben. Der
Titel ist von ihm aus der Erinnerung wiedergegeben, ein angehefteter Zettel von „dritter Hand"
gibt die zur Identifizierung notwendigen bibliographischen Angaben. Der Empfänger des
Schreibens wird aufgefordert, sich zu dem jeweils richtigen und sinnvollen Standort der Werke
zu äußern. Die nur einen Tag später niedergeschriebene Antwort macht deutlich, daß Schinkel
beide Werke bekannt waren, eine klare Entscheidung enthält sie nicht. Er hält beide für jede der
genannten Ausbildungsstätten für wichtig, weil in ihnen „Technisches mit Ästhetischem"
verbunden wird, und fügt hinzu, daß die Abtrennung der technisch ausgerichteten Ausbildung
an der Bau-Akademie von der auf das Ästhetische zielenden an der Akademie der Künste
„immer Schwierigkeiten hat". Selbstverständlich rät er, einen eventuell vorhandenen Rechtsanspruch gegenüber der Bau-Akademie geltend zu machen. Schinkel befand sich da in einer
problematischen Situation, denn er gehörte den beiden streitenden Parteien an, der Akademie
als „Professor für Baukunst" und der Ober-Baudeputation (deren Bibliothek mit der der
Bau-Akademie vereint war) als „Geheimer Ober-Baurath". Er antwortet hier ganz eindeutig als
Akademiemitglied, die unentschiedene Aussage sollte deshalb inhaltlich und nicht taktisch
verstanden werden.
Der Hintergrund: Auseinandersetzungen6, die vor und bei der endgültigen Trennung der
Bau-Akademie von der Akademie der Künste im Jahre 1824 stattgefunden haben. Schadow
selbst erinnert sich in seinem Bericht „Kunstwerke und Kunst-Ansichten" der Vorgänge:
„Gegen Ende dieses Jahres7 geschah die Sonderung der Baufächer, indem die neu errichtete
allgemeine Bauschule die technischen Theile der Baukunst insbesondere lehren, wogegen bei
der Academie der Künste der ästhetische Theil verbleiben sollte. Dies hatte zur Folge, dass aus
unserer Bibliothek alle Werke, deren Inhalt das Technische betraf, dem neuen Institute
überliefert werden mussten."8 Die 1799 gegründete und räumlich aus dem Akademiegebäude
ausgegliederte Bau-Akademie - Schinkel gehörte zu den 95 Eleven des ersten Jahrgangs - war
trotz der getrennt bleibenden Gebäude von 1809 bis 1824 wieder der Akademie der Künste
unterstellt. Integriert waren „auch die beiderseitigen Bibliotheken, wenn auch nicht räumlich"9.
„Innerhalb des Zeitraums der Verbindung der Kunstakademie mit der Bauakademie wirkte
ausserdem, unter der Oberaufsicht des Geheimen Ober-Bauraths Rothe und des Professors
Rabe, der Geheime Secretair Meissner als Unterbibliothekar in der Abteilung der Bibliothek,
welche in dem damaligen Bauakademie-Gebäude an der Ecke der Zimmer- und Charlottenstrasse verblieben war."10 „Bei der sodann wieder eingetretenen Trennung der beiden Institute
wurde der Büchervorrath der Bibliothek der Kunstakademie durch diejenigen Werke vergrössert, welche sich auf den ästhetischen Theil der Baukunst bezogen, während diejenigen, welche
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vorwiegend den technischen Theil betrafen, bei der Bibliothek der Ober-Baudeputation und
der reorganisierten Bauakademie verblieben"", heißt es in der Geschichte der Bibliothek
weiter.
Die erneute vollständige Trennung der beiden Ausbildungsinstitute erfolgte durch eine „Königliche Allerhöchste Kabinets-Ordre" vom 31. Dezember 1823, sie beendete einen seit den Befreiungskriegen anhaltenden Ressortkampf um die Zuständigkeit für die Gewerbeförderung und
das gewerbliche Ausbildungswesen, dem von Seiten des Kulturministeriums keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde12. Die Technische Deputation für Gewerbe, der seit 1817 Schinkels
guter Freund Peter C. W. Beuth vorstand, mußte deshalb ein eigenes System aufbauen, an
dessen Spitze die Bau-Akademie stand. Sie ressortierte nun beim Ministerium für Handel,
Gewerbe und Bauwesen13, was die technische Ausrichtung deutlich genug zum Ausdruck
bringt. Natürlich änderten sich damit auch die Besitzverhältnisse an den beiden ehemals
verbundenen Bibliotheken, denn die Akademie der Künste und die Bau-Akademie unterstanden jetzt verschiedenen Verwaltungen. Schinkels Verweis auf Rechtsansprüche läßt sich so
leicht erklären.
Zum interpretierbaren Inhalt der Antwort: Schinkels Worten wird in diesem Kommentar
beinahe grundsätzliche Bedeutung zugemessen, deshalb müßten sich vergleichbare Äußerungen in seinen Texten zur Ausbildung von Architekten und insbesondere in dem Lehrbuchmaterial finden lassen, an dessen „klassizistischer Fassung" er zu dieser Zeit gerade arbeitete. In
einem der Entwürfe zu einer Einleitung, der Anfang der zwanziger Jahre niedergeschrieben
wurde, heißt es z. B.: „Ein Gebrauchsfähiges Nützliches Zweckmäßiges schön zu machen ist
Aufgabe der Architektur..." 14 , meint das nicht, daß sich im Ergebnis „Technisches mit
Ästhetischem in genauer Verbindung findet"?
Goerd Peschken hat den Einfluß der politischen Verhältnisse und Entscheidungen der Restaurationszeit deutlich herausgearbeitet und gezeigt, daß sich Schinkel der durch das Desinteresse
der Kulturverwaltung an der technischen Ausbildung entstandenen Zweigleisigkeit des
Systems auch in seinen eigenen Lehrbuchplänen anpaßte. Daß er es aus Staatsräson tat, belegt
die hier mitgeteilte kurze Antwort an Schadow, eineinhalb Jahre nach der Abtrennung der
Bau-Akademie niedergeschrieben.
In seiner Stellungnahme zur Architektenausbildung, insbesondere in seinem Gutachten für die
Kunstakademie in Düsseldorf, das im September 1822 dort vorlag, hat Schinkel dagegen ganz
unmißverständlich die staatliche Position aufgenommen, indem er alle technischen Hilfswissenschaften, die der Baukunst dienlich sein konnten, an „ein anderes Institut als eine Akademie
der schönen Künste"15 verwies. Dazu sei noch auszugsweise die Meinung des damaligen
Professors für Baukunst an der Akademie in Düsseldorf zitiert, die Paul Ortwin Rave 1936 aus
Privatbesitz abgeschrieben hat. Professor Schaeffer schreibt an seinen Direktor Cornelius am
25. Februar 1823: „Ich gestehe Ihnen offenherzig, daß ich den mir zur Begutachtung überreichten Plan schon in Berlin mit Herrn OBR Schinkel, als er dem hohen Ministerium übergeben
war, besprochen, denselben nun mehrmals zur Hand genommen, mit meinen Fähigkeiten
zusammen gehalten, gefunden, daß er nur mit Ausdehnung eine gelehrte aesthetische Seite in
Anspruch nimmt, und meine technische, mit unendlichen Mühen und Erfahrungen theoretisch
und praktisch erworbene unbenutzt liegen läßt. Ich finde diesen Plan, speziell bei einer
Malerakademie, im hohen Sinne, sehr gut und Bedürfnis; aber eine Bauakademie von allseitigem Nutzen, sicher auf dem aesthetischen, ihr zu opfern, erscheint wohl niemand gut, der
Um-und Fernsicht hat. Aus bloßen Mathematikern Architekten anzustellen, langt gar nicht zu,
aber eher ist es denkbar, als bloße Zeichner dazu zu nehmen."16
Resultat: Die Antwort Schinkels an Schadow zeigt, daß die Änderung seiner Lehrbuchpläne,
196
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197
daß die rigorose Trennung des technischen und des ästhetischen Ausbildungsbereichs, wie sie
im Gutachten für Düsseldorf zum Ausdruck kommt, nur seine Anpassung an die offizielle
Politik, also an das Durchführbare, widerspiegelt, daß er persönlich aber eine engere Verbindung für richtig und notwendig gehalten und dem Kollegen Schaeffer darin zugestimmt hätte.
Diese Ausführungen sollen dazu dienen, den größeren Zusammenhang in dem das beiläufige
und doch wichtige Schreiben zu sehen ist, herzustellen. Der Brief hat aber nicht nur Bedeutung
im Rahmen von Schinkels Überlegungen zur Architektenausbildung, er gewinnt diese auch
durch das lebendige Bild, das er von den damaligen Auseinandersetzungen gibt, und natürlich
durch die beiden genannten Bücher.
Einfluß der genannten Werke: Schinkel wird das Werk von Durand noch im Jahr 1823
ausgeliehen haben, er kehrte im Dezember 1824 von seiner zweiten Italienreise nach Berlin
zurück, da müssen die Arbeiten an der am 31. Dezember 1823 verordneten Aufteilung abgeschlossen gewesen sein. Warum Schadow Schinkel nicht auch bei der Zuordnung des Werks
von Ledoux um Rat gefragt hat, ist nicht zu ermitteln und wahrscheinlich mit Schinkels
ständiger Arbeitsüberlastung und dem zu dieser Zeit kühlen persönlichen Verhältnis zu
erklären.
Schadows Anfrage macht ganz sicher, daß Schinkel das genannte Lehrwerk von Durand
kannte17 und gründlich studiert hat18. Verschiedene Entwürfe werden auf diesen Einfluß
zurückgeführt, dazu gehören insbesondere die Rotunde im Alten Museum, entworfen 1823
(s.o.), und die Bibliothek, entworfen 1835.
Problematischer sind Aussagen über den Einfluß von Ledoux' Entwürfen auf Schinkel. Das
Werk ist in dem Jahr erschienen, in dem Schinkel erstmals Paris besuchte, wo er noch einige
Gebäude im Original hätte sehen können.
Durand und Ledoux, diese beiden Architekten, denen es im Gegensatz zu Schinkel gelang, ihre
Vorbildersammlungen bzw. Lehrbücher abzuschließen und damit große Wirkung zu erreichen, nennt Schinkel in seinen Aufzeichnungen nur am Rande 19 . Der hier vorgelegte Brief
beweist, daß beide Werke in Berlin vorhanden und damit für das Akademiemitglied und den
Geheimen Ober-Baurat Schinkel jederzeit einsehbar waren, darüber hinaus wird deutlich, daß
er den Durand zumindest längere Zeit für das Studium ausgeliehen hatte. Die umgehende
Antwort zeigt, daß ihm der Ledoux zumindest oberflächlich bekannt war.
Der hier mitgeteilte, unscheinbare Brief verbessert unsere Kenntnisse und dürfte der SchinkelForschung über das Angedeutete hinaus von Nutzen sein.
(Abschrift zeilengetreu)
Ew Hochwolgeboren
Hatten Durand: precis de Lecons d'architecture 3 Bände
geliehen u dies Werk an unsere Academie zurückgeschickt
selbiges wird izt durch G. S. Meisner für jene Academie
reclamirt.
den le Doux: Projets de Batimens halte ich dafür
das: solches hirher gehört, dieses Werk ist dort
obgleich von uns angeschafft u habe ich bei der Theilung
es dahin gehen lassen, in der Meinung das solches
Technik im wesentlichen enthalte.
198
Hirnach möchten wir eine Gegen Reclamation machen
doch wünscht ich bevor Ihre Meinung
Berlin den 8ten Juni 1825
Ihr ergebener GSchadow
Director
Beide obengenannte Werke
eignen sich ebensowohl für technische Bau Academie
als für die Academie der schönen Baukunst, weil sich
in ihnen Technisches mit Ästhetischem in genauer
Verbindung findet, wie denn dies überhaupt bei
der Baukunst in so vielen Fällen gleichen Schritt geht u weßhalb
eine Trennung immer Schwierigkeiten hat. Wenn wir bei der
Academie der Künste aber durch Ankauf aus unsern Mitteln irgend ein Recht auf eins
oder das andre obiger Werke haben, so müßte eine Reclamation wohl immer versucht
werden können.
Ihr ganz ergebenst Schinkel. 9. Juni 1825.
(an dieses Blatt angeheftet der Zettel mit der Aufschrift:)
le Doux, PArchitecture consideree sous le rapport de l'art, des meurs, et de la legislation. fol.
Nachweis: Archiv der Preußischen Akademie der Künste, Archiv der Akademie der Künste, Berlin,
Inv.-Nr. 84/56/200 (Handaktenmaterial)
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
,0
Archiv der Preußischen Akademie der Künste, Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Inv.-Nr.:
84/56/200 (Handaktenmaterial).
Börsch-Supan, Helmut: Schadow und Schinkel, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die
Geschichte Berlins, Berlin 1981, S. 7-28.
Durand, Jean Nicolas Louis: Precis des Lecons d'Architecture donnees ä l'Ecole polytechnique, Paris
'1802-1805,21817-1819,31823.
G. S. ist wohl als Geheim Secretair zu lesen.
Ledoux (Le Doux), Claude Nicolas: L'Architecture consideree sous le Rapport de l'Art, des Moeurs et
de la Legislation, Paris 1804.
Peschken, Goerd: Das Architektonische Lehrbuch (Schinkel-Lebenswerk), München/Berlin 1979,
S.40 f; Rave, Paul Ortwin: Schinkel als Beamter, zuletzt in: Karl Friedrich Schinkel. Architektur,
Malerei, Kunstgewerbe. Ausstellungskatalog Berlin 1981, S. 75-94.
1823; bei Schadow gewinnt man den Eindruck, es müßte sich um 1821 handeln.
Kunstwerke und Kunst-Ansichten von Dr. Johann Gottfried Schadow, Berlin 1849, S. 198 (Reprint mit
Einleitung und Register von Helmut Börsch-Supan, Berlin 1980).
Katalog der Bibliothek der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin, Berlin 1893, S.V.
s.o. S.XI.
199
" s.o. S.V.
12
Peschken, Lehrbuch, S. 40.
" Chronik der königlichen Akademie der Künste. Von September 1822 bis zum September 1824, in:
Verzeichnis derjenigen Kunstwerke..., Berlin 1824, S. VI-VIII.
14
Schinkel, Lehrbuchmaterial, H. III, Bl. 17/18, in: Peschken, Lehrbuch S. 58.
15
Brües, Eva: Die Rheinlande (Schinkel-Lebenswerk), Berlin 1968, S.20; weitere Stellungnahmen zur
Architektenausbildung sind bisher nicht im Zusammenhang publiziert.
16
Archiv der Staatlichen Museen zu Berlin, Schinkel, Mappe Kunstverwaltung, Vc.
17
Peschken konnte das nicht nachweisen, er vermutet es nur: Peschken, Lehrbuch, S. 107.
18
Forssman, Erik: Karl Friedrich Schinkel. Bauwerke und Baugedanken, München/Zürich 1981,
S. 34/35.
19
Peschken, Lehrbuch, S. 107; Forssman, Schinkel, S. 25, Anm. 35.
Hinweise und Unterstützung verdanke ich: Frau Dr. Dagmar Wünsche, Herrn Dr. Götz Eckhardt, Herrn
Dr. Gottfried Riemann.
Anschrift des Verfassers: Dr. Karl-Robert Schütze, Bruno-Bauer-Straße 20a, 1000 Berlin 44
200
Nachrichten
Ehrenpromotion Margarete Kühn - Verabschiedung Martin Sperlich
Es war eine glückliche Idee, die Feier aus Anlaß der Vollendung des 80. Lebensjahres von Frau Professor
Dr. Margarete Kühn mit der Verabschiedung von Professor Dr. Martin Sperlich zusammenzulegen und
die vielen Freunde und Weggefährten in die Eichengalerie des Schlosses Charlottenburg einzuladen. Nach
der Begrüßung durch Professor Dr. Helmut Börsch-Supan holte Professor Sperlich zu einer Gratulatio auf
M. Kühn aus, in deren Mittelpunkt die Saga von der Wiederherstellung des Charlottenburger Schlosses
stand. Mit beredten Worten schilderte er ihren Kampf gegen die Hydra, aber auch das insgeheime
Einverständnis aller Mitarbeiter: Wenn „Kühnchen" will, machen wir es! Zu den geistigen Ahnen und
Wegbereitern Margarete Kuhns zählte er Leibniz, Voltaire und Humboldt. Schlüter, Lenne und Schinkel.
Merkenswert ist woh! auch noch die Aussage Sperlichs, daß das Restaurieren nicht von den Restaurativen
und das Konservieren nicht von den Konservativen besorgt wird.
Professor Dr. Reiner Haussherr trug eine schwungvolle Laudatio auf Margarete Kühn vor. Er würdigte
die in ihrer Person geschlagene Brücke von Kunsthistorie und Preußisch-Berliner Geschichte. Hatte sie
1945 die Vertretung des Direktors übernommen, so gilt der unter ihrer Leitung bis 1969 vollzogene
Wiederaufbau des Charlottenburger Schlosses als eine bahnbrechende Leistung der deutschen Denkmalpflege nach dem Krieg. Es ist das Verdienst von Margarete Kühn, diesem Bauwerk das Schicksal des
Berliner Stadtschlosses erspart zu haben. Hoch zu rühmen ist aber auch ihre Forschung, die sich vor allem
mit Schinkel, Schlüter und dem Berliner Stadtschloß beschäftigt. In ihren kunsthistorischen Herausgeberschaften erweist sie sich als eine fachliche und moralische Autorität.
Der stellvertretende Sprecher des Fachbereichs Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin,
Professor Dr. Dieter Hertz-Eichenrode, hob in seiner Begründung der Verleihung der Ehrendoktorwürde
an Frau Professor Dr. M. Kühn hervor, daß der Fachbereich zum ersten Mal keinen Fachprofessor, zum
ersten Mal eine Frau und mithin zum ersten Mal auch eine Berlinerin mit der Ehrenpromotion auszeichne.
Er verlas die lateinisch gehaltene Ehrenurkunde und fand ebenso viel Beifall wie Bezirksbürgermeister
Eckard Lindemann, der Frau Kühn den im Kanzleideutsch verfaßten Bürgerbrief von Charlottenburg
verlieh. Dem Zuhörer kam der Gedanke, ob Frau Professor Kühn die mit diesem Bürgerbrief offerierten
Dienste nicht auch schon in ihrer aktiven Tätigkeit hätte in Anspruch nehmen sollen.
In ihrer Danksagung drückte Frau Professor Dr. h. c. Dr. Margarete Kühn die Freude über die Kontinuität zu ihrem Nachfolger Martin Sperlich aus, die sich auch in der Kontrapunktik moderner Kunst ergab. In
einem Rekurs ging sie aus dem Stegreif auf die Historie und Bedeutung der brandenburgisch-preußischen
Universitäten ein, von Frankfurt an der Oder (1506) über Duisburg (1652) bis zur Gelehrtenstadt
Tangermünde (1677), Halle an der Saale (1694) und schließlich Berlin.
Sehr eloquent war die Laudatio, die Professor Dr. Helmut Börsch-Supan auf seinen langjährigen Chef
hielt, der aus dem Charlottenburger Schloß so etwas wie ein „Forum für Geschichte und Gegenwart"
gemacht habe. Martin Sperlich, eine starke Persönlichkeit und ein anspruchsvoller Geist, sei durch
unbequeme Leidenschaft und herkulische Energie ausgezeichnet. Seine Arbeit wandte sich vom Schloß
Charlottenburg über das Jagdschloß Grunewald, die Pfaueninsel und Glienicke schließlich der Gartendenkmalpflege zu. Professor Börsch-Supan, der Martin Sperlich die Statur eines Helden der klassischen
Tragödie zugestand, bezeichnete diesen als einen Vertreter der abtretenden Generation, die mehr vom
Leben weiß, weil sie den Krieg als Erwachsener mitgemacht hat. Niemand wird innerlich widersprochen
haben, als er Martin Sperlich ein großes Herz attestierte, das großer Liebe, großer Treue und großen
Zornes fähig sei.
Hier hakte Dr. Volker Hassemer, Senator für kulturelle Angelegenheiten, ein, der Martin Sperlich als
einen eigenen Kopf mit harten Kanten bezeichnete. Frau Professor Kühn, die am Vormittag die ErnstReuter-Plakette in Silber aus der Hand des Regierenden Bürgermeisters Dr. Richard von Weizsäcker
erhalten hatte, dankte er für den Mut zum Optimismus, den sie bewiesen und ausgestrahlt habe.
Umrahmt wurde die Feierstunde von Musikstücken, die das Quantz-Ensemble Berlin unter Karl-Bernhard Sebon vortrug, der als Flötist Martin Sperlich eine „Elegie auf die wiederhergestellte Goldene
Galerie" verehrungsvoll widmete.
H. G. Sehultze-Bemdt
201
Tagesordnung der Jahreshauptversammlung
am 14. Juni 1984
1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und des Bibliotheksberichtes
2. Berichte der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer
3. Aussprache
4. Wahl von zwei Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern
5. Verschiedenes
Anträge aus dem Kreis der Mitglieder sind spätestens bis zum 21. Mai 1984 der Geschäftsstelle
einzureichen. Um pünktliches Erscheinen wird gebeten.
119. Stiftungsfest
Mit einem zünftigen Eisbeinessen im Restaurant „Hochschul-Brauerei" feierte der Verein in zeitlicher
Nähe zu seinem Gründungstag das 119. Stiftungsfest. Da der Vorsitzende Dr. G. Kutzsch kurzfristig
absagen mußte, oblag es dem Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, mit Ausführungen zum Thema
„Berlin wie es ist - und trinkt" eine Brücke zur Historie zu schlagen und gleichzeitig auf die Dinge
hinzuweisen, die für Kehle und Magen bereitstanden.
SchB.
Studienfahrt 1984 des Vereins für die Geschichte Berlins nach Eutin
Vorläufiges Programm
Freitag, 7. September 1984
6.30 Uhr
Abfahrt an der Berliner Bank, Hardenbergstraße
12.00 Uhr
Mittagessen in Buchen
13.00 Uhr
Besichtigung der Maschinenfabrik Otto Tuchenhagen in Buchen
16.30 Uhr
Ausflug auf dem Großen Eutiner See mit „MS Freischütz", Führung: Verkehrsamtsleiter D. Frick, mit Kaffeetafel an Bord
18.15 Uhr
Spaziergang um den Uklei-See, Führung: Oberförster Schlenzka
19.15 Uhr
Gemeinsames Abendessen im Forsthaus Wüstenfelde am Uklei
Sonnabend, 8. September 1984
9.00 Uhr
Führung durch das Schloß Eutin (Gerhard Nauke, Vorsitzender des Verbandes
zur Pflege und Förderung der Heimatkunde im Eutinischen e.V.)
parallel
Führung durch das Museum (Kreisdenkmalpfleger Dr. K.-D. Hahn)
anschließend Stadtrundgang mit Besichtigung der St.-Michaels-Kirche (Propst Dr. Dreyer),
Orgel Vorspiel; anschließend Empfang im Rathaus durch Bürgermeister Knutzen
12.30 Uhr
Gemeinsames Mittagessen im Fissauer Fährhaus
14.00 Uhr
Exkursion durch Ostholstein zur romanischen Kirche Altenkrempe (Führung:
Pastor Tillmann), zum Herrenhaus Hasselburg (mit Vorspiel Dr. Beurmann auf
historischen Musikinstrumenten) und zum Kloster Cismar in Grömitz; zwischendurch
Kaffeetafel im Landhaus Petersen in Bliesdorf
19.00 Uhr
Gemeinsames Abendessen in den Schloßterrassen Eutin; anschließend kleiner
Eutiner Kneipenbummel (fakultativ)
Sonntag, 9. September 1984
9.00 Uhr
Aufbruch, Besichtigung des Max-Planck-Instituts für Limnologie Plön (Professor
Dr. J. Overbeck) mit Exkursion zum Plußsee
11.00 Uhr
Besichtigung der Kirche in Bosau (Führung: Pastor Ehlers)
13.00 Uhr
Mittagessen in der Raststätte Nord am Grenzübergang Gudow
ca. 21.00 Uhr Heimkehr
202
Zur Übernachtung stehen im Hotel Kellersee, 2427 Malente, genügend Zimmer zur Verfügung. Der
Übernachtungspreis beläuft sich einschließlich Frühstück pro Person und Nacht auf 46 DM, Einzelzimmer 58 DM.
Es können jetzt schon unverbindliche Anmeldungen an den Schriftführer, Dr. H. G. Schultze-Berndt,
Seestraße 13,1000 Berlin 65, gerichtet werden. Änderungen und Ergänzungen zum Programm sowie das
Teilnehmerhonorar werden im Juniheft der „Mitteilungen" abgedruckt.
Aus dem Mitgliederkreis
Unser Mitglied Dr. Richard von Weizsäcker, ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin, ist als der 20. Träger mit dem Theodor-Heuss-Preis, ausgezeichnet worden. Der Ehrenvorsitzende der Stiftung Theodor-Heuss-Preis, Altbundespräsident Walter Scheel, bezeichnete in
seiner Laudatio Richard von Weizsäcker als den „toleranten Liberalen", der wisse, daß kein
Mensch allein im Besitz der Wahrheit ist, daß auch die Argumente der anderen zu beachten
seien, vor allem aber der Mensch zu achten sei.
*
Am 5. Januar 1984 ist Frau Jenny Beckert geb. Zander im Alter von 80 Jahren nach kurzer
schwerer Krankheit verstorben. Sie ist in der Brunnenstraße aufgewachsen, wo ihre Eltern ein
Hotel besaßen. Mehr als ein halbes Jahrhundert wohnte sie in der Kamminer Straße 22. Von
Beruf Verwaltungsangestellte, gehörte sie viele Jahre der CDU an und war in einer Reihe von
Ehrenämtern tätig, so auch der Gewerkschaft ÖTV. Seit 1970 war sie auch Mitglied unseres
Vereins. Kurz vor ihrem Hinscheiden erlebte sie, schon im Krankenhaus, noch eine große
Freude, als ihr das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen wurde. Mit ihrem wachen
Interesse und ihrer charakteristischen Stimme werden wir Frau Jenny Beckert, die so vielen
Veranstaltungen beiwohnte und an Exkursionen teilnahm, in lebendiger Erinnerung behalten.
SchB.
*
Bundespräsident Karl Carstens hat dem im Dezember 1983 aus dem Amt geschiedenen Präsidenten des
Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, das Großkreuz des Bundesverdienstordens verliehen. SchB.
Franz Berndal verstorben
Am 28. September 1983 ist Franz Berndal, Schauspieler und Schriftsteller, im 85. Lebensjahr in seiner
Vaterstadt Berlin verstorben. Das Künstlerblut war väterliches Erbteil, seinem Großvater, dem Königlichen Hofschauspieler Carl Gustav Berndal, widmete der Verstorbene vielfältige Betrachtungen. Doch
der junge Franz Berndal mußte nach dem Schulabschluß am Askanischen Gymnasium zunächst eine
Banklehre absolvieren und seinen Wunsch, die Schauspiellaufbahn einzuschlagen, zurückstellen, bis er
nach dem Krieg, den er als Verwaltungsoffizier mitgemacht hatte, aus sowjetischer Gefangenschaft
zurückkehrte. An verschiedenen Berliner Bühnen wirkte er von 1947 bis 1966, war daneben publizistisch
tätig und schrieb auch für den Rundfunk.
Immer schon hatte er sich in Gedichten zu den Problemen des Menschen und unserer Zeit geäußert, und
die Reihe seiner Buchtitel ist lang. Der 1979 erschienene Lyrikauswahlband „Kröne Dein Leben" war die
achtzehnte seiner Veröffentlichungen in Buchform. Immer wieder kreisen seine Gedanken um Berlin, was
auch aus den Titeln seiner Lyrikbände „Berliner Balladen", „Herz für Berlin" und zuletzt „Wiener
Impressionen eines Berliners" hervorgeht. 25 seiner Gedichte wurden von so namhaften Komponisten wie
Olaf Bienert und Alexander Ecklebe vertont.
203
Einer noch größeren Öffentlichkeit wurde Franz Berndal durch seine Vorträge bekannt, die er vor einer
Vielzahl interessierter Gremien über Berliner Theatergeschichte und Kulturhistorie ganz allgemein zu
Gehör brachte. Hier war er in seinem Element und konnte sein geschichtliches Verständnis, das auch aus
seinen Balladen spricht, mit seiner Gabe bewähren, seine Ideen und Gefühle anderen Menschen nahezubringen.
Der erste von insgesamt sechs Literaturpreisen wurde dem Berliner Poeten Franz Berndal schon 1928
verliehen, die Zahl seiner sonstigen Auszeichnungen und Ehrenmitgliedschaften ist Legion, seit 1977 ist
sein Name auch im „Kürschner" verzeichnet.
Zwei Jahrzehnte lang diente er in Ehrenämtern der Kirche, so als Kirchenältester, Kreis-Synodaler und als
Archiwerwalter des Kirchenkreises. 51 Jahre lang war er mit seiner Frau Gertrud geborene Winguth bis zu
ihrem Tode in einer Ehe verbunden, im Sommer 1983 heiratete er seine langjährige Betreuerin M. Eggemann, die sich des Menschen und Werkes Franz Berndais angenommen hatte.
Bei vielen Gelegenheiten tauchte sein Charakterkopf bei den Veranstaltungen unseres Vereins auf. Wenn
wir uns recht erinnern, war ein Gang über den Friedhof am Halleschen Tor die letzte Begegnung im Kreise
des Vereins. Wir ehren unser langjähriges verdienstvolles Mitglied, indem wir aus seinem Gedanken zum
Ewigkeitssonntag zitieren: „Am andern Ufer fließen keine Tränen, / wir sehn das Licht, da schweigt die
Erdennot, / am andern Ufer - stillt sich alles Sehnen / beim großen Siege - über unsern Tod."
H. G. Schultze-Berndt
Buchbesprechungen
Günther W. Geliermann: Die Armee Wenck - Hitlers letzte Hoffnung. Aufstellung, Einsatz und Ende der
12. deutschen Armee im Frühjahr 1945. Mit einer Einführung von Professor Dr. Andreas Hillgruber und
einem Vorwort von Oberst i. G. a. D. Günter Reichhelm, Bernard & Graefe Verlag, Koblenz 1984, 211
Seiten, 49 Fotos, 5 Kartenskizzen, 18 Dokumente (Faksimiledrucke), Tabellen, Übersichten, Leinen,
48 DM, ISBN 3-7637-5438-5.
Die V-Waffen (lauthals angekündigt) und die Rundstedt-Offensive (insgeheim vorbereitet) haben zwar
Freund und Feind das Herz nicht stocken lassen, waren aber Realitäten des letzten Kriegsjahres. Was aber
hatte es mit der 12. Armee auf sich, auf die man im Berlin der letzten Kriegswochen alle Hoffnungen setzte,
sofern man den Nachrichten der letzten Tageszeitung „Panzerbär" Glauben schenkte? Am 22. April 1945
wurde die Einschließung der Stadt nahezu vollzogen, in Frohnau wurde gekämpft. Am selben Tag
entschied sich Hitler dafür, in Berlin zu bleiben und dem Vorschlag Jodls zu folgen, die gesamte Front
gegen die Amerikaner umzudrehen und die Truppen zum Entsatz der Reichshauptstadt einzusetzen. Die
„Armee Wenck" war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, zusammengesetzt aus RAD-Divisionen,
Fahnenjunkern, der 1. Panzervernichtungsbrigade Hitlerjugend, einem Freikorps Adolf Hitler, Verbänden aus Magenkranken usw., die zu Divisionen mit so klingenden Namen wie Scharnhorst und Schill.
Theodor Körner und Friedrich Ludwig Jahn zusammengefaßt waren. Es erscheint bemerkenswert, daß
selbst bei diesen inhomogenen Truppenkörpern das Überlaufen zu den Amerikanern nicht dem befohlenen Kampf gegen die Sowjets vorgezogen wurde. Der letzte deutsche Angriff des Zweiten Weltkrieges
begann am 26. April 1945. Er hatte das Ziel, in einem Rettungswerk u. a. die Reste der 9. Armee, die
Verwundeten aus den Lazaretten und die Flüchtlinge in den Westen zu führen, nachdem der Entsatz von
Berlin nicht mehr auszuführen und lediglich eine Verbindung zur Garnison Potsdam herzustellen war. Am
29. April sandte Hitler an Jodl den berühmten Funkspruch, in dem es heißt „1.) Wo Spitze Wenck?
2.) Wann tritt er an?" Die Antwort Keitels vom folgenden Tage „12. Armee kann Angriff auf Berlin nicht
fortsetzen" löste den Selbstmord Hitlers aus.
Mangelhaft ausgebildet, unzureichend motorisiert, fast ohne schwere Waffen und ohne jegliche Unterstützung durch Panzerverbände, Luftwaffe und Luftabwehr, wurde dieser letzte größere deutsche Angriff mit
unerhörter Bravour geführt, der das gesteckte Ziel, die Besatzung Potsdams, die Verwundeten und die
Reste der 9. Armee in Sicherheit zu bringen, erreichte und den Rückzug auf die Elbe in voller Ordnung
einleitete. Ob nicht wenigstens kurzfristig ein Durchbruch nach Berlin möglich gewesen wäre, ist heute
Spekulation. Die Divisionen der Armee Wenck bestanden aus den jüngsten, aber zu jener Zeit besten
Soldaten der Wehrmacht.
Der Autor, dessen Dissertation die Grundlage dieses Buches bildete, ist Historiker und Diplompolitologe,
sechs Jahre lang war er Bezirksstadtrat für Volksbildung in Schöneberg. In nüchterner Sprache schildert er
204
die sehr kurzlebige Geschichte der 12. Armee von ihrer Aufstellung angesichts der militärischen Lage des
Reiches Anfang April 1945 über den Kampf gegen die Amerikaner an der Elbe, die Änderung ihres
operativen Auftrags sowie den Rückzug auf den Elbe-Brückenkopf. Der Übergang über die Elbe und die
dann immer noch ungeklärte Auslieferung von Soldaten der 12. Armee an die Sowjets bilden den Schluß
dieser Arbeit, aus der bei aller Sachlichkeit die Dramatik des Geschehens und jene Haltung der Soldaten
spricht, die man in allen Ländern außerhalb Deutschlands heute Heldentum nennen würde.
H. G. Schultze-Berndt
Adalbert G. Schramm: Also, Nee... Was man so hin und wieder in Berlin denkt - liest - hört und sieht.
Europa-Union-Verlag, Bonn 1983, 32 Seiten, illustriert, Hardcover, 9,90 DM, ISBN 3-7713-0205-6.
Auch ein Verlag, der auf dem Gebiet der Europaliteratur seine Meriten hat, kann an Berlinbüchern nicht
vorübergehen. Das hier vorgelegte kleine Büchlein ist sogar in der Edition Berolina dieses Verlages
erschienen. Es stellt eine Reihe von Illustrationen des Autors zusammen, die an die Kritzeleien der Berliner
Rangen auf den Hinterhöfen erinnern. Der Begleittext ist zu kurz, als daß man die Behauptung des
Verlages auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen könnte, Albert G. Schramm sei „der letzte lebende Schriftsteller, der voll im Dialekt seiner Heimatstadt schreibt." Die folgende kleine Geschichte „Herrenpartie" möge
für den Berliner Humor des ganzen Bandes stehen: „Wat hat Karl allet mitjebracht?" „Zwölf Flaschen
Wein, vier Flaschen Korn, fuffzich Flaschen Bier, Stücka zwei Flaschen Mampe und zwee Schrippen."
„Siehste, det es een juter Mensch, an de Vöjel hat a ooch jedacht."
H. G. Schultze-Berndt
Wedding - Ein Bezirk von Berlin. Werner Kohn (Fotos), Richard Schneider (Text), Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1983, 84 Seiten, 65 Fotos in Farbe und im Duoton, 18 historische Abbildungen,
Format 24 X 23 cm, Leinen, mit farbigem Schutzumschlag, 29,80 DM.
Der Wedding war immer schon mit Berlin verbunden, bevor er zusammen mit dem Gesundbrunnen durch
eine Königliche Kabinettsorder vom 28. Januar 1860 zu einem Stadtbezirk vereinigt und nach Berlin
eingemeindet wurde. Der Gesundbrunnen unter seinem späteren Namen „Luisenbad" versiegte 1882 als
Folge der auch damals schon vorgenommenen Ausschachtungen für Bauarbeiten. Zum Zeitpunkt der
Eingemeindung hatte der neue Stadtbezirk 14 692 Einwohner, 1918 mehr als 350 000,1952 noch 242 000,
und 1982 lebten nur noch etwa 154000 Menschen im Wedding, davon 20000 Türken.
Die Geschichte der Industrieansiedlungen im Wedding liest sich wie ein Nekrolog, denkt man etwa an so
klangvolle Namen wie Schwartzkopff und Rathenau (AEG), an die Brüder Wittler oder an den Braumeister Groterjan, wie ja auch die Hochschul-Brauerei geschlossen werden mußte. Nur Schering ist noch
übrig geblieben.
Aus der zuverlässigen Feder des SFB-Redakteurs Dr. Richard Schneider wird man auf zehn einführenden
Seiten mit Historie und Gegenwart des Weddings vertraut gemacht. Der Fotograf Werner Kohn stammt
wie der neue Direktor der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten aus Bamberg. Bei der Lektüre
liest man zwischen den Zeilen viele Dinge, die einem alten Weddinger durch den Kopf gehen und ans Herz
gewachsen sind. Hierher gehören die heute noch deutlichen Unterschiede zwischen den Stadtteilen
Gesundbrunnen und Wedding, die Nachkriegsgeschichte der Brunnenstraße, aber auch der Müllerstraße
als Einkaufs-Dorados des benachbarten Ost-Berlins bis zum Schließen des Kaufhauses Hertie in der
Chausseestraße, man denkt an den Marsch der Henningsdorfer Arbeiter am 17. Juni 1953, man wünschte
sich Ausführungen (nicht nur als Bildlegende) über den Volkspark Rehberge (und über die „Rehberger"
des 19. Jahrhunderts) wie auch über den Schillerpark ... Was können Bild und Text mehr oder Besseres
hervorrufen als solche weiterführenden Gedanken?!
Der Band, von Frau Bezirksbürgermeister Erika Hess als Erinnerungsgabe des Bezirks gern überreicht,
erfüllt auch damit seinen Zweck wie die vorangegangenen Bände über Zehlendorf und Steglitz.
H. G. Schultze-Berndt
Heinz Knobloch: Berliner Fenster. Feuilletons. Mitteldeutscher Verlag Halle - Leipzig, broschiert, 237 Seiten, 7,50 M.
Heinz Knobloch, der in jüngerer Zeit mit Lesungen auch in unserem Teil Berlins in Erscheinung getreten
ist, legt hier in seinem zehnten Sammelband Feuilletons aus den Jahren 1974 bis 1980 vor. Der Titel
erinnert an eine Montagssendung des SFB im III. Fernsehprogramm. Vor allem hat es dem Autor der
Bezirk Pankow angetan, aber in eindringlicher Form würdigt er auch das Schicksal des Jüdischen
205
Friedhofs Weißensee und geht auf eine Reihe von Museen ein. Im Kapitel „Die Sprache" behandelt er eine
Schrift des vor einiger Zeit verstorbenen Dr. Heinz Gebhardt, der sich seit 1931 nicht nur mit Glaßbrenners
Berlinisch beschäftigte. Glaßbrenners Heft „1844 im Berliner Guckkasten", bei Tauchnitzin Leipzig, „also
im Ausland", gedruckt, ist Gegenstand einer gesonderten Betrachtung. Glaßbrenner bezeichnet sich dort
„als ausgestoßnes Mitglied des Mäßigkeitsvereines zu Berlin und Mensch". H. Knobloch rührt an ein Tabu
(S. 128), wenn er an die gemeinsame Parade der Wehrmacht und der Roten Armee nach der Niederschlagung Polens erinnert, und er ist kritisch, wenn er beanstandet, daß man nicht einmal zum 250. Geburtstag
Daniel Chodowieckis dessen Grab auf dem französischen Gemeindefriedhof geschmückt hat. Andererseits läßt er Heinrich von Kleist nicht Gerechtigkeit zuteil werden, wenn er unterschlägt, welche Inschrift
der jetzige Grabstein trägt, nachdem die ursprüngliche Marmorplatte von 1861 seit 1936 im Magazin des
Märkischen Museums liegt. Geradezu tragikomische Züge hat die Schilderung des Besuchs von Fontanes
Grab zu dessen 80. Todestag, der ihm nach 21 Telefongesprächen genehmigt wurde, mit der Fotogenehmigung des Ministeriums für Nationale Verteidigung. Ob die drei Urenkelinnen Fontanes tatsächlich „im
Ausland" leben, darf allerdings mit Fug und Recht gefragt werden.
Der Verfasser mußte wohl der Hilfe eines Lektors/Korrektors entraten, sonst wären ihm nicht so
auffallende Fehler bei Eigennamen durchgegangen wie Leibnitz, Baedecker oder Jenny v. Westfalen, die
als Westphalen in die Ehe mit Marx ging. Man stolpert auch über die Gebrüder Grimm und Humboldt, die
doch keine Firma, sondern schlichte Brüder sind. Um deutsche geographische Bezeichnungen macht
H. Knobloch auch dort einen großen Bogen, wo er etwa beim Plattensee statt Balaton keine Repressionen
erwarten muß.
Das Papier muß nicht von bester Qualität, das Buch aber so gebunden sein, daß man die Zeilenenden der
linken Seite und die Anfänge der rechten Seite lesen kann. Im Zusammenhang mit dem unzugänglichen
Invalidenfriedhof in der Scharnhorststraße stellt der Autor die utopische Frage etwa im Jahre 2679, „wieso
die Vorfahren ihre teuren Toten ausgerechnet in unmittelbarer Nähe ihrer Staatsgrenze beerdigten". Der
Rezensent ist sicher nicht der einzige Leser Heinz Knoblochs, der hofft, daß in 700 Jahren die „Staatsgrenze" mitten durch eine Stadt nur noch als ein Treppenwitz der Weltgeschichte angesehen wird.
H. G. Schultze-Berndt
Was nun, Berlin. Beatrice Kunz (Fotos) und Eva Raith (Text). Jonas Verlag für Kunst und Literatur
GmbH, Marburg 1982, broschiert 18 DM.
Eigenwillige Texte sind ebenso ausdrucksstarken Fotos gegenübergestellt: „in einer zerrissenen Stadt / in
einem land mit brächen / in einer zeit ohne worte... die gespräche sind monologe geworden." Berlin wird
man schwerlich auf den ersten Blick erkennen, wenn einem nicht Monumentalbauten den Weg weisen,
eher das, was man früher Weltschmerz und heute Tristesse nennt: „manchmal wünsch ich mir / daß die
sonne (mich wärmt), immer weiter / so lange ich lebe." Man verspürt auch nichts mehr von Jugendrevolte,
eher von einer den Älteren unverständlichen Resignation. Ein Foto des Charlottenburger Schlosses wird
von dem folgenden Text begleitet: „wozu braucht man ein schloß heutzutage / wo die zukunft abhanden
gekommen ist / wo die Vergangenheit uns schon längst eingeholt hat / wo du die gegenwart nur noch
ersäufen kannst."
H. G. Schultze-Berndt
Herbert Hoffmann: Berlin vor fünfzig Jahren. Ein Fotoreporter sieht seine Stadt und ihre Menschen.
Rembrandt Verlag Berlin, 64 Seiten, 80 Abbildungen, Leinen, 29,80 DM.
Herbert Hoffmann, auch der „Zille mit der Kamera" genannt, weil man damals noch nichts von Zille als
hervorragendem Fotografen wußte, ist so alt wie unser Jahrhundert (geboren am 27. Juli 1899). Er hat sich
weniger der feierlichen Anlässe als des Berliner Alltags angenommen, wenn er „durch die Gegend, durch
das Scheunen viertel, durch Neukölln" wanderte und Schnappschüsse machte. „Sechs bis acht Stunden bin
ich da manchmal gelaufen, immer mit offenen Augen." Da zu seiner Zeit manche Zeitungen dreimal
täglich erschienen, mußten die Redaktionen immer mit neuestem Bildmaterial versorgt werden. Die in
diesem Band getroffene Auswahl verzichtet auf die damaligen politischen oder kulturellen Aktualitäten
zugunsten der, wie es im Vorwort heißt, Darstellung des Lebens selbst. Ergänzend wurden einige
Aufnahmen aus dem Archiv der Landesbildstelle eingegliedert. Wünschenswert wäre es gewesen, auch die
Jahreszahlen anzugeben, wo sich dies bewirken ließ, weil die Fotos zwischen 1918 und 1933 entstanden
sind.
Nichts kennzeichnet die Entwicklung der Weimarer Republik besser als die beiden hier zitierten Inschriften. Das erste Bild „So begann die erste deutsche Republik" zeigt eine Straßendemonstration, auf der ein
206
Plakat folgenden Inhalts mitgeführt wird: „Ja, es ist ein mächtig Tagen auf der Welt wie nie zuvor, /
unsichtbare Schwingen tragen lichtwärts jeden Geist empor. / Und Gedanken, nie gedacht noch, brechen
sich auf Erden Bahn, / da selbst, wo sich tiefe Nacht noch jüngst gebreitet, flieht der Wahn." Und ganz am
Schluß liest man auf einem Transparent: „Mit Hitler gegen den RüstungsWahnsinn der Welt!"
H. G. Schultze-Bemdt
Georg Fink: Mich hungert. Roman. Ullstein Verlag, Frankfurt - Berlin - Wien 1980,190 Seiten, 4,80 DM.
Georg Fink als Autor soll ein Pseudonym, der tatsächliche Verfasser dieses autobiographischen Romans
über ein Proletarierschicksal vom Wedding bis heute unbekannt sein. Der Held der Geschichte verbringt
seine Jugendjahre noch im Kaiserreich, kann dank der Nachhilfe eines reichen Gönners aus dem Leben im
Schatten heraustreten, um endlich in den „goldenen zwanziger Jahren" als professioneller Pantomime im
Licht der Bühnen des Berliner Westens zu stehen. Alle essentiellen Kompositionselemente eines Romans
aus vergangenen Zeiten des Berliner Nordens finden sich beisammen: der arbeitslose versoffene Vater, die
als Waschfrau ums tägliche Brot für drei Kinder kämpfende Mutter, Hinterhof, Einzimmerwohnung,
Dirnentragödie, Unterwelt, Knast. Die Darstellung ist recht eindrucksvoll, auch wenn sie gelegentlich
etwas ans Artifizielle streift.
Gerhard Kutzsch
Gerhard Kühn: Heiügensee-Chronik (1300-1781), Bd. II 1782-1848, Bd. III 1851-1918. Hrsg. von der
Ev. Kirchengemeinde Berlin-Heiligensee 1977, 1979 und 1982.
Von inniger Heimatliebe zum Dorf Heiligensee und zu seiner fürsorglich betreuten Kirchengemeinde
beseelt, hat Pfarrer Kühn als Chronist einen großartigen Beitrag zum Geschichtsverständnis für unsere
Mark geleistet. Leitfaden war ihm der Kampf des bescheidenen Dörfleins - geschützt durch Havel und
Sümpfe - um das Überleben bis in die heutige Zeit. Als Höhepunkte in der Geschichte werden die
Bedeutung der Fähre für die Tausenden von Pilgern nach Wilsnack und der Bau der Heiligenseer
Straßenbahn aufgezeigt. Die Zusammenfassung der anfänglich in den Monatsheften der Gemeinde
erschienenen historischen Artikel aus der Zeit germanischer Siedlung am Heiligen See (2000 v. Chr.) bis
1300 n. Chr. zum ersten Chronikheft hat sicherlich ebenso große Freude bereitet wie die Folgehefte. Sie
sind eine gute Quelle für Heimat- und Familienforscher. Mit bewundernswerter Lebendigkeit und dem
ihm eigenen Humor schildert Pfarrer Kühn die Schicksale der Fischer- und Bauernfamilien sowie
kirchliche Begebenheiten anhand präziser Unterlagen. Alle Leser, die sich mit den Menschen unserer
märkischen Dörfer verbunden fühlen, können schon auf die nächsten Bändchen gespannt sein, die
Gerhard Kühn nun im wohlverdienten Ruhestund schreibt.
Fritz Bunsas
Im I. Vierteljahr 1984
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Alte Pankgrafen-Vereinigung von 1381
zu Berlin bey Wedding a. d. Panke
Paulsborner Straße 88, 1000 Berlin 31
Tel. 8 9120 76
(Weingartner)
Jürgen Fischer, Fabrikant
Beymestraße 18, 1000 Berlin 41
Tel. 7 9133 80
(Ehepaar Franz)
Brigitte Flößner, Lehrerin
Manfred-von-Richthofen-Straße 8,
1000 Berlin 42
Tel. 7863328
(Schneider)
Dr. Eckart Henning, M. A.
Lückhoffstraße 33, 1000 Berlin 38
Tel. 8038805
(Dr. Kutzsch)
Otto Kanold, Rentner
Beerenstraße 49 a, 1000 Berlin 37
Tel. 8 0150 30
(Schriftführer)
Gerald Linke, stud. phil.
Fritzi-Massary-Straße 4,1000 Berlin 44
Tel. 6851842
Ortrud Rücker, Bibliothekarin
Wilmersdorfer Straße 165,1000 Berlin 10
Tel. 3 3140 05
(Schriftführer)
Helmut Schröder, kaufmännischer Angestellter
Friedenstraße 19, 8012 Ottobrunn
Tel.(089)60958 79
Weingartner, Alois Joachim, Hausverwaltung
Courbierestraße 8, 1000 Berlin 30
Tel. 243636
Jörn Werther, Arzt
Claudiusstraße 12, 1000 Berlin 21
Tel. 3922278
Roderich Wester, Brandschutzberater
Heerstraße 444,1000 Berlin 19
Tel. 3634135
(Bunsas)
207
Veranstaltungen im II. Quartal 1984
1. Donnerstag, den 26. April 1984,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Erhard Mayer:
„Die Berliner Siegesallee - einst und jetzt. Teil II". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
2. Donnerstag, den 10. Mai 1984,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Bemerkungen zur Baugeschichte des ehemaligen Zeughauses in der Dorotheenstadt".
Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
3. Donnerstag, den 24. Mai 1984, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Pfarrer Dr. Hermann F. W. Kuhlow: „Die Einführung der lutherischen Reformation in der Kurmark
Brandenburg". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
4. Donnerstag, den 14. Juni 1984, 19.30 Uhr: Jahreshauptversammlung. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. Tagesordnung unter Nachrichten abgedruckt.
5. Sonntag, den 24. Juni 1984,10.00 Uhr: „Von Forstsekretär Burgsdorff zu Bankier Schlieper
- Tegel: Dorf, See, Forst, Fließ. Eine frühsommerliche Begehung". Leitung Herr Joachim
Hans Ueberlein. Treffpunkt U-Bhf. Tegel, Ausgang Nord-West vor dem Geschäft von
Julius Schönborn. Fahrverbindungen: U-Bahn, Busse 13,14,15, 20. Rundkurs.
Dieser Ausgabe der „Mitteilungen" liegt ein Prospekt des Berliner Verlages Arno Spitz bei. Wir bitten
unsere Leser um freundliche Beachtung.
Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19.
Geschäftsstelle: Frau Lieselotte Gründahl, Damaschkestraße 33,1000 Berlin 31, Telefon 32328 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berün 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 343022 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der .Schriftleitung.
208
i &
*• MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
G E G R Ü N D E T 1865
80. Jahrgang
Heft 3
Juli 1984
Ein Transport verhafteter Bauernfänger in Berlin. Nach einer Skizze von G. Guthknecht
Die Bauernfänger von Berlin
Unsere Illustration stellt den Transport einer Anzahl von Berliner Bauernfängern durch
Polizeimannschaften dar. Diese Schwindlergattung ist schon ziemlich allgemein bekannt und
erfreut sich eines gewissen Rufs in der Welt. Kein vorsichtiger Vater in der Provinz, der nicht
seinem Sohn bei der Abreise nach der preußischen Hauptstadt die Warnung mitgäbe: „Nimm
dich vor den Bauernfängern in Berlin in acht!" Der Mann hat gut reden: aber käme er, wie sein
Sohn, als unerfahrener Kleinstädter nach Berlin, so wäre es fraglich, ob er auch nach seinen
Worten zu tun vermöchte. Einem Bauernfänger geht man schwer aus dem Wege, wenn man
ihm gut für ein Opfer erscheint, und das Taschenzuhalten nutzt nicht viel. Besser schon, daß
man es macht wie jener Witzbold, der einer bauernfängerischen Freundlichkeit gleich damit ein
Ende machte, daß er sich in vertraulicher Art selbst als einen von dieser Sorte bezeichnete.
Was ist denn auch natürlicher, als daß der Fremde, der aus seinem Dorf oder Städtchen zum
ersten Mal nach Berlin Gekommene Unter den Linden langsam spazierengeht, alles neugierig
in dieser Prachtstraße anschaut, vor dem Denkmal Friedrichs stehenbleibt und schüchtern
dann auf die Freitreppe zum Museum aufsteigt? Wie er da in Sinnen und Betrachten versunken
steht, kommt ein freundlicher Mensch an ihn heran, ganz seinesgleichen und Standes, wie es
scheint, spielt selbst den Fremden oder macht sich durch Auskunft und harmlose Gefälligkeit
liebenswürdig. Der Fremde sieht nicht ein, weshalb er diesem freundlichen Mann mißtrauen
soll. Er findet auch nichts Böses darin, daß er schließlich, nachdem sie beide sich Berlin
besehen, mit diesem Begleiter ein Glas Bier trinken geht. Wenn man da lustige Gesellschaft
findet, die gerade ein Spielchen macht, so ist dies immer noch nicht gefährlich, und wenn der
biedere Fremde sich endlich daran beteiligt, so ist es seine Sache. Geht er nach einer Stunde
freilich ausgebeutelt von dannen, so weiß er recht gut, daß er mit Bauernfängern zusammen
gewesen, die ihn im Kümmelblättchen-Spiel, so eine Art Hokus-Pokus mit Kartenerraten,
gründlich übers Ohr gehauen haben. Oder das fremde Dienstmädchen kommt auf dem
Bahnhof an und trifft da zufällig mit einer freundlichen Frau zusammen, die das lebhafteste
Interesse daran nimmt, ihr einen Dienst zu verschaffen, die ihr Unterkommen besorgt und so
gefällig gegen sie ist, daß das arme Ding aus soviel Menschenfreundlichkeit erst klug wird, wenn
sie, enttäuscht in allem und verlassen, um ihre abgeschwindelte Barschaft weint.
Bauernfänger sind besondere Spitzbubentypen Berlins, gefährliche Menschenfreunde, welche
sich das Vertrauen Unerfahrener erwerben und es mißbrauchen. Sie leben von der Gutmütigkeit der Menschen nach dem Sprichwort, daß die Dummen nicht alle werden. Gaunerei solcher
Art wächst auf dem Sumpfboden jeder großen Stadt; aber der Berliner Charakter, schlau und
dreist, hat sie in ein ganz bestimmtes gemütliches System gebracht, wie es anderwärts nicht in
solchem Maße der Fall ist. Es ist eine Art Krieg gegen die Einfalt, ein Fallenstellen für
Leichtgläubige, als halte sich der Bauernfänger für berufen, seinen Witz auf anderer Kosten zu
üben und durch diese Schlauheit den Unerfahrenen schnell mit dem Geist der Zivilisation und
den Gefahren der Großstadt bekannt zu machen. Es hat etwas Komisches, von Bauernfängern
ausgebeutelt worden zu sein. Aber die Polizei läßt diesen Spaß nicht gelten, und kann sie ein
solches Nest aufheben, wo die provinzielle Unschuld ihr Lehrgeld an die Verderbtheit der
Großstadt bezahlen muß, so freut sie sich nicht wenig. Es kommt leider selten genug vor, denn
der Gerupfte schämt sich nachher, seine Leichtsinnigkeit einzugestehen und die liebe Gesellschaft des Kümmelblättchens zu denunzieren, und diese selbst wechselt ihren Gastwirt, ihren
Schankkeller so oft, als sie sich ein Opfer geholt hat. Es war ein unglücklicher Sonntag für jene
Bauernfängergesellschaft, welche unser Zeichner auf ihrem Transport nach dem Arrest abgenommen hat. Bei der Razzia, welche an diesem Tage, am lichten Mittag, die wohlunterrichtete
210
Kriminalpolizei in einem auch als Diebesherberge längst bekannten Keller abhielt,fielenzehn
Männer und zwei Frauen in ihre Hände, deren Abführung natürlich den Zusammenlauf einer
großen Volksmenge zur Folge hatte. Solch ein ganzes Sortiment von Bauernfängern sieht man
nicht alle Tage, und alle Welt freut sich, wenn auf eine Zeitlang ein paar weniger arbeiten. Aber
sie werden darum ebensowenig „alle" wie ihre Opfer.
Diese Industrie ist, wie gesagt, erklärlich in einer großen Stadt wie Berlin. Sie bildet nur einen
der Auswüchse, welche die unvermeidliche Demoralisation der massenhaft zusammengedrängten Gesellschaft hier hervorgebracht hat. Berlin hat in der letzten Zeit nicht nur dadurch
Anlaß zu sehr stark in die Öffentlichkeit gedrungenen Klagen gegeben. Seine überhandnehmende Prostitution, mit welcher die Bauernfängerei und die Zuhälter- oder sogenannte Louiswirtschaft in engster Verbindung stehen, ist in den elegantesten Stadtvierteln ein Ärgernis
geworden, dem die Polizei nicht hinreichend Abhilfe zu gewähren vermag. Die nächtliche
Sicherheit läßt außerordentlich viel zu wünschen übrig, und wenn eine Zunft Londoner
Garotters sich noch nicht gebildet hat, so hätte sie sich doch bei dem Mangel an Überwachung
der Straßen bei Nacht recht gut schon konstituieren können. Von Zeit zu Zeit macht zwar die
Polizei einen Feldzug gegen das verdächtige Gesindel, welches in den berüchtigten Kellern
haust, und jetzt ist nun auch die Sicherheitsmannschaft vermehrt und besser zum Nachtdienst
organisiert worden; aber dies alles kann die Gebrechen nicht zur Genüge beseitigen. Liegt es
teilweise daran, daß es dem militärischen Schutzmann und Nachtwächter mehr auf den
kleinlichen Diensteifer ankommt und der einzelne sich plagt, ohne dem Allgemeinen zu nützen,
so ist doch die Hauptquelle dieser Verderbnis in dem Zudrang aller faulen Elemente zu suchen,
die sich in Berlin wie in einem großen Reservoir sammeln, und denen die unselige Berliner
Häusereinrichtung mit den Kellern, Hintergebäuden, vier und fünf Stockwerken, Gelegenheit
gibt, sich auch in den feinsten Vierteln und in vielen der elegantesten Häuser einzunisten,
wodurch selbstverständlich eine Überwachung derselben ohne die schreiendsten Mißgriffe der
Behörden und anstößigste Behelligung friedlicher Bürger nicht möglich ist.
Es ist in neuster Zeit eifrig darauf Bedacht genommen worden, diesem mit dem Wachstum der
Einwohnerzahl sich immer mehr ausbreitenden Unwesen Einhalt zu tun. Wie weit es gelingen
wird, den Augiasstall der Metropole von dem sozialen Schmutz zu säubern und das überhandnehmende Proletariat einzuschränken, bleibt abzuwarten.
(Eine Reportage der Illustrirten Zeitung, Leipzig, vom 16. März 1872)
Das Deutsche Stadion in Berlin-Grunewald
Markstein der Entwicklung des Sportstättenbaus in Deutschland
Von Thomas Schmidt
Alsrichtungweisendfür den deutschen Sportstättenbau gilt das von dem Berliner Architekten
und Geheimen Baurat Dr.-Ing. h. c. Otto March (1845-1913) vor 70 Jahren errichtete und heute
in Vergessenheit geratene erste Deutsche Stadion in Berlin-Grunewald. Es war Vorbild vieler
europäischer und deutscher Anlagen. In Deutschland entwickelten sich neue Baugedanken
fort. Es entstanden die sogenannten Sportparks: Es handelt sich hier um SpezialStadien, die
man in einem Sportpark zusammenfaßte. Nach 70 Jahren Sportgeschichte kann der Bedarf an
derartigen Sportparks in der Bundesrepublik als gedeckt angesehen werden.1 Dies gibt Anlaß,
211
das erste Bauwerk dieser Epoche und einige daraufhin entstandene Anlagen aus der Zeit kurz
nach dem Zweiten Weltkrieg im Berliner und deutschsprachigen Raum vorzustellen.
Das Deutsche Stadion
Die Vorbereitungen für den Bau des Deutschen Stadions gehen zurück auf den 1904 gegründeten „Deutschen Reichsausschuß für Olympische Spiele" (DRA). Dieser Ausschuß beschloß
1906, angeregt durch einen Besuch im Panathenäischen Stadion in Athen (erste Olympiade
1896), auf der von Otto March projektierten Pferderennbahn Berlin-Grunewald2 des Berliner
Reitervereins Union Club, ein Olympiastadion für die ursprünglich für das Jahr 1912 in Berlin
vorgesehenen Spiele zu errichten.3
Ziel der Planung war es, möglichst viele Wettkampfeinrichtungen in einer Arena zu integrieren
(im Gegensatz zu heute) und das Bauwerk unter Einbeziehung der natürlichen Landschaft als
Stätte nationaler Bildhauerkunst zu repräsentieren. Der Name „Das Deutsche Stadion" entstand in Verbindung mit dem Vorhaben, eine Anlage für nationale Kampfspiele und nationale
Kunst4 zu schaffen und möglichst allen Bevölkerungsschichten ganzjährig die Möglichkeit zum
Ausgleichs- und Leistungssport zu bieten. Finanzielle Schwierigkeiten der Stadt Berlin erlaubten jedoch nicht die Fertigstellung dieser Bauanlage für die Olympiade im Jahr 1912. Die Spiele
wurden deshalb erst für das Jahr 1916 an Berlin vergeben, als feststand, daß die Finanzierung
von 2,5 Millionen Reichsmark für das Bauwerk von dem Union Club getragen werden konnte.
Hierbei stellte der Union Club jedoch die Bedingung, die Stadionanlage so zu konzipieren, daß
diese weder sichtbar sei noch den Rennbahnbetrieb störe. Die von March angefertigten
Entwürfe sahen deshalb die Bauanlage in einer Sandmulde vor, was durchaus auf Zustimmung
des Clubs stieß. Daraufhin wurde im November 1912 mit den Bauarbeiten begonnen, die kurz
vor dem 13. Juni 1913, dem Tag der Einweihung, abgeschlossen waren.5 Genutzt wurde die
Sportanlage jedoch nicht, wie ursprünglich geplant, zum sportlichen Selbstzweck, sondern bis
Kriegsausbruch für Armeemeisterschaften (olympische Vorspiele, die vergleichbar waren mit
den deutschen Kampfspielen von 1922).6 Nach dem Krieg diente das Stadion anfangs für
Filmarbeiten sowie Unterhaltungsabende, von 1922 an wieder für militärische und sportliche
Zwecke. 1920 wurde die Stadionanlage der im gleichen Jahr gegründeten Hochschule für
Leibesübungen zur Verfügung gestellt. Der Raummangel machte 1926 den Bau von zusätzlichen Quergebäuden am West- und Ostende des Schwimmbeckens notwendig. Weitere Umbauten betrafen vorhandene Räume. Die wachsende Zahl von Sportstudenten erforderte in
unmittelbarer Nähe 1926 einen neuen Hochschulbau. Es entstand das „Deutsche Sportforum"
(Architekt: Werner March, 1894-1976, Sohn Otto Marchs)7, heute Hauptquartier der britischen Schutzmacht. 1933 entschied sich Hitler für die Neugestaltung des Baugeländes. Das
Deutsche Stadion wurde 1933 abgerissen und an der gleichen Stelle von 1934 bis 1936 das
heutige Olympiastadion (Architekt: Werner March) für die bevorstehende Olympiade 1936
errichtet.8
Die Abbildungen 1 und 2 zeigen das Deutsche Stadion. Es wurde in dreijähriger Bauzeit nach
den Entwürfen Otto Marchs 1913 fertiggestellt. Es handelte sich um ein Erdstadion (Stahlbetonkonstruktion). Bildwerke deutscher Kunst schmückten es aus.9 Namhafte Künstler, wie
Ludwig Cauer, Hermann Fuchs, Ludwig Vordermayer, Georg Kolbe u.a., bekamen hierfür
Aufträge. In der Mitte der Königsloge schwebte eine Siegesgöttin auf einer Säule. Auch auf den
Postamenten am Haupteingang des Stadions, wo der Tunnel in die Arena mündete, wurden
Figuren aufgestellt.10 Infolge der Einsenkung in das Erdreich, war das Stadion von weitem nicht
erkennbar.
212
Abb. 1: Das Deutsche Stadion im Grunewald bei Berlin; erbaut 1912 für die 1916 ausgefallene Olympiade
in Berlin; Architekt: Dr.-Ing. h. c. Otto March (1845-1913), Vater von Werner March, dem Architekten
des heutigen Berliner Olympiastadions
Abb. 2: Das Deutsche Stadion im Grunewald bei Berlin - Querschnitt
Die Abbildung 2 zeigt den Querschnitt eines langgestreckten Korbrundes, dessen eine Längsseite durch ein Schwimmwettkampfbecken unterbrochen ist. Die Kampfbahn wurde von einer
im Steigungsverhältnis ca. 1:2 in Stahlbeton konstruierten, nichtüberdachten Tribüne umgeben, unter deren Längsseiten die Sport- und Zuschauerfolgeeinrichtungen lagen. Unter den
Kurventribünen gab es dagegen keine Nutzungen.
Die Erschließung des Stadions konnte aufgrund seiner Lage nur über das Rennbahngelände
erfolgen. Sie vollzog sich von den heute noch zu sehenden Eingangsportalen (Abb. 3) von der
Stadionallee über eine sich senkende Straße, die heute als Zufahrt für die Unterkellerung des
Olympiastadions dient. Der ehemalige Ehrenhof mit zwei Seitengebäuden (jeweils 120 m2), in
denen sich Räume für die Stadion Verwaltung, Presse, Post und Polizei befanden", sowie ein
60 m langer und 20 m breiter Tunnel (unter der damaligen Rennbahn, heute Stadiongelände),
der als Hauptzugang zur Kampfbahn und zu den Tribünen diente, sind ebenfalls noch
vorhanden (Abb. 4).
213
Abmessungen des Stadions (Abb. 2): Längsachse: 340 m; Querachse: 180 m; Innenfeldgröße:
35151 m212; Zuschauerkapazität: 33000 (16900 Sitzplätze, 16100 Stehplätze).13
Obwohl die Olympischen Spiele wegen des Ersten Weltkrieges nicht im Deutschen Stadion
ausgetragen wurden, bleibt es bei der Betrachtung von olympischen Sportstätten nie unerwähnt. So wird vor allem die Eingliederung in die Geländestruktur hervorgehoben.14 March
diente dabei das Bauprinzip antiker griechischer Stadien als Vorbild.15 Dieser Planungsaspekt
kann als einmalig in der heutigen Stadiongeschichte betrachtet werden, da es aufgrund der
großen Ausmaße unserer heutigen Stadien nur noch in wenigen Fällen möglich ist, konsequent
diesem antiken griechischen Bauprinzip zu folgen. Die ovale gestreckte Form des Deutschen
Stadions ähnelt formal dem Charakter eines antiken römischen Zirkus. Ein weiteres wesentliches Element bei der Gestaltung war die Verbindung mit der bildnerischen Kunst. Es wurden
hier Themen aus der Mythologie aufgegriffen. Man verfolgte das Ziel, eine Verbindung
zwischen körperlicher Ertüchtigung und moralischen Werten darzustellen.16 Diese Neuerungen
beurteilte man damals sehr positiv. Das Stadion hatte aber auch zahlreiche Mängel aufzuweisen: Trotz guter öffentlicher Verkehrsanbindung stellte es sich aufgrund seiner Lage und
seines Bautypus nicht als markantes, dem Betrachter ins Auge fallendes Gebäude dar. Erst
beim Betreten der Tribüne nahm man das große Ausmaß wahr. Die Kampfbahn zeigte ein
heute nicht mehr gebräuchliches sporttechnisches Prinzip, nämlich die Integration von Laufbahn, Radrennbahn und Schwimmwettkampfbecken (Abb. 1) (ca. 33 000 m2). Wegen der vom
Radsportverband geforderten 666 m langen Radrennbahn, die gegen den Willen Otto Marchs
installiert werden mußte, hatte das Stadion eine große Flächenausdehnung, die die Wechselwirkung zwischen Sportlern und Zuschauern beeinträchtigte. Nachteilig erwies sich auch das
zentrale Erschließungssystem. Die Zugangsstraße konnte die Menschenmenge (bis zu 33 000
Menschen gleichzeitig) nicht verkraften. Stauungen waren die Folge. Auch war es nicht
möglich, alle Umkleideräume usw. für die Sportler im Stadion selbst unterzubringen. Dadurch
ergaben sich für die Teilnehmer lange Wege bis zur Kampfbahn.17
Abgesehen von diesen Mängeln war es March architektonisch gelungen, den waschschüsselartigen Anblick des Stadions durch die Anordnung des Schwimmwettkampfbeckens außen auf
der Nordlängsseite aufzulockern. Die Lage des Schwimmbeckens entsprach jedoch nicht der
damaligen Planerregel18, da Zuschauerplätze für andere Wettbewerbe verlorengingen. Der
Schwimmsport erhielt deshalb eine separat angelegte Tribüne innerhalb des Stadions, einen
„Intimbereich", und wurde somit architektonisch besonders betont. Durch diese Separierung
war auch gewährleistet, gleichzeitig mehrere Sportwettkämpfe ohne gegenseitige Behinderung
durchführen zu können.
Stilistisch zeigte das Stadion die Wiederaufnahme klassischer Elemente. Sie begründeten den
geometrischen Aufbau des Stadions, nicht zuletzt die Konzeption der Kaiserloge. Diese zeigte
eine strenge Symmetrie, Säulenordnung mit Horizontalgebälk und Balustraden mit sparsamer
Ornamentik. Auf den Balustraden der Stehplatzumgänge befand sich Figurenschmuck mit
Sportlermotiven. Die zwei noch vorhandenen Verwaltungsgebäude im Ehrenhof (Abb. 4),
kubisch angelegt, entsprechen eher einer neoklassizistischen Prägung. Sie dienen heute einer
Malerfirma als Schuppen. Die Gebäude stehen sich im Ehrenhof symmetrisch gegenüber und
zeigen jeweils eine einheitliche Baumasse, hochrechteckige Fenster mit schmucklosen verputzten Wandflächen. Entgegen dem damals typischen Merkmal öffentlicher Gebäude, weithin
sichtbare Bezugspunkte zu sein, tendierte dieser vom Studium der griechischen Klassik inspirierte Bau von außen nicht zum Monumentalen, da er aufgrund der Lage auf dem Grunewaldgelände - dem Erdbauprinzip folgend - nicht sichtbar war. Außerdem fehlte ein großer
Freiraum vor dem Stadiongelände, der sonst üblicherweise öffentliche Bauten umgab.19
214
Abb. 3: Die heute noch vorhandenen Eingangsportale zum Deutschen Stadion
Abb. 4: Ehemalige Erschließungsstraße zum Stadion Dient heute als Zufahrt zur Unterkellerung des
Olympiastadions
215
Großen Einfluß nahm March auf die Entwicklung des Sportstättenbaus in Deutschland. Er
nahm dem Stadionbau den Zufallscharakter der früheren Sportanlagen. Ähnliches vollbrachte
er bereits zuvor im Rahmen der Pferderennbahnarchitektur. Beispiele hierfür sind die Anlagen
in Köln (1897/98), Mannheim, Breslau und Berlin-Grunewald (1909) sowie Hoppegarten
(Umbau). Besonders hervorzuheben sind die zweigeschossigen Tribünenbauten für die Rennbahn in Berlin-Grunewald und die historische Derbybahn in Hamburg-Horn (1911/12). Diese
Bauten entstanden nach Studienreisen, die March nach Paris gemacht hatte. Anregungen für
die Querschnittsgestaltung sollen vor allem die damals neuen Tribünen in Le Tremblay im
Marnetal oberhalb von Paris gegeben haben.20
Das Deutsche Stadion wurde zum Vorbild vieler deutscher und europäischer Anlagen. Im
Hinblick auf die Möglichkeit, später die Olympischen Spiele in Deutschland austragen zu
dürfen, veranstaltete man nationale Turn- und Sportfeste, die den Bedarf vieler neuer Sportanlagen mitbegründeten. Zahlreiche Architekten schulten sich am Deutschen Stadion und
entwickelten die Gedanken des Erbauers fort. Die eingeschlagene Richtung „Sportplätze sollen
in erster Linie gestaltete Natur sein" wurde beibehalten. Nachträgliche Untersuchungen der
Kampfbahngestaltung ergaben, daß es unmöglich ist, sämtliche Sportarten in einer Kampfbahn zu vereinigen. Die daraufhin entwickelte Kombination Fußballfeld und 400 m Leichtathletiklaufbahn hat sich am besten bewährt und wurde richtungweisend bei der Kampfbahngestaltung.
So erhielt jede Sportart eine Kampfbahn mit Zuschauertribünen. Diese Anlagen faßte man
dann in einem Sportpark zusammen. Herausragende Beispiele hierfür sind die Anlagen in
Frankfurt a. M. 1925, Köln 1924, Düsseldorf 1924 (Rheinstadion), Nürnberg 192721, Berlin 1936
(Reichssportfeld, Architekt: Werner March; heute Olympiastadion) (Abb. 5). Besonderen
Aufschwung nahm nach dem Ersten Weltkrieg der Sportanlagenbau für breitere Bevölkerungsschichten. Zwischen 1920 und 1930 entstanden in Berlin u.a. folgende Anlagen:
Mommsenstadion, Kühler Weg, Töbelmannweg, Jungfernheide, Rehberge, Tiergartensportplatz, Poststadion, Humboldthain, Schillerpark, Volkspark Neukölln, Dominicus-Sportplatz,
Hubertus-Sportplatz, Sportplatz Wannsee, Plötzensee, Tegel, Westend, die Schwimmhallen
Schöneberg und Gartenstraße und zahlreiche Turnhallen bei Schulneubauten. In Gegensatz zu
dieser Entwicklung steht die Zeit nach 1933. Zugunsten des Kasernenbaus wurde die Schaffung
neuer Sportanlagen vernachlässigt. Den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges fielen fast alle
Sportstätten in Berlin zum Opfer. Instandsetzung und Wiederaufbau konnten erst nach 1949,
nach Aufhebung der Blockade, beginnen22.
Anmerkungen
1. Billion, Falk: Der Zweite Goldene Plan, in: Deutscher Sportbund (Hrsg.): Jahrbuch des Sports 1983,
Niedernhausen 1983, S. 34 ff.
2. March, Otto: Die Rennbahn im Grunewald, in: Baumeister, Berlin, 7. Jg., H. 2, August 1909, S. 126,
130 ff.
3. Krause, G.: Das Deutsche Stadion und Sportforum, Berlin 1926
4. Ehemalige Rennbahn Grunewald und ehemaliges Deutsches Stadion, in: Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Stadt und Bezirk Charlottenburg (bearb. v. Irmgard Wirth), Berlin 1961,
S.220f.
5. ebd.
6. Krause, G., S. 32,38,48 und 56. Literaturhinweis: March, W.: Das Sportforum auf dem Reichssportfeld, in: Baugilde, 19. Jg., 1937, S. 41-64
7. Schmidt, Thomas: Das Berliner Olympia-Stadion und seine Geschichte, Berlin 1983
8. Ehemalige Rennbahn ..., a.a.O., S. 222
216
Abb. 5: Deutsche Sportparks
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
Krause, G., a.a.O.
Reher, A., a.a.O., S. 11 f.
Krause, G., a.a.O., S. 222
Flächenberechnung vom Verfasser
Krause, G., a.a.O.
Wimmer, M.: Bauten der Olympischen Spiele, Tübingen 1976, S. 35
Literaturhinweis: Zschietzmann, W.: Wettkampf und Übungsstätten in Griechenland, Bd. 1: Das
Stadion, Stuttgart 1960
Ehemalige Rennbahn ..., a.a.O., S. 220 ff.
Mallwitz, A.: Das Deutsche Stadion im Grunewald, Berlin 1909, S. 20
Seiffert, J.: Der Bau des Deutschen Stadions, in: Deutscher Reichsausschuß für Leibesübungen
(Hrsg.): Stadionalbum, Leipzig 1914, S.45-61. Damalige Planerregel: Diejenige Hufeisenform von
Großkampfbahnen galt als geeignet, bei der das Becken quer zur Stadionlängsachse an die offene
Seite des Tribünenhufeisens gelegt wurde. Aus geländetechnischen Gründen war dies im Deutschen
Stadion nicht möglich, so daß die Längsachsenseitenlage des Beckens in Frage kam (vgl. Krause, G.,
a.a.O., S. 18 f.).
Petsch, J.: Architektur und Gesellschaft, Köln 1973, S. 213
Seiffert, J.: Anlagen für Sport und Spiel, H. 3, Leipzig 1928, S. 178, Abb. S. 181
ebd. - Schweizer, O. E.: Sportbauten und Bäderbauten, Berlin 1938, S.84 ff.
Senator für Jugend und Sport Berlin (Hrsg.): Spiel und Sportstätten in Berlin, Berlin 1955
Anschrift des Verfassers: Dr.-Ing. Th. Schmidt, Detmolder Straße 51, 1000 Berlin 31
217
75 Jahre griechisch-katholische Seelsorge in Berlin
Von Diakon Bernward Kwasigroch
Selbst alten Berlin-Kennern wird es kaum bekannt sein, daß es in Berlin eine kleine Gemeinde
von mit Rom unierten orthodoxen Christen gibt, die 1983 mit Stolz darauf verweisen konnten,
daß nun schon seit 75 Jahren Priester des byzantinischen Ritus hier wirken, wie man sie nach
der Weise, in der sie die Gottesdienste zelebrieren, nennt. Dieser Ritus war in der zweiten
römischen Hauptstadt, in Byzanz, dem späteren Konstantinopel, und im ganzen oströmischen
Reich, üblich.
Betrachten wir die kleine Gemeinschaft etwas näher, die seit 1967 in Kreuzberg in der Mittenwalder Straße 15 auf dem zweiten Hinterhof im ersten Stock ihre Kirche hat, dazu Pfarr- und
Gemeinderäume im selben Haus, das einst als Sozialstation der Grauen Schwestern von der
hl. Elisabeth gebaut wurde. Heute gibt man die Zahl ihrer Mitglieder mit etwa 500 an. Doch
bilden die Gläubigen von ihrer Herkunft her eine vielfältige Gruppe. Flüchtlinge aus der
Ukraine - nach der russischen Revolution nach Berlin gekommen -, Rumänen - zumeist nach
dem zwangsweisen Zusammenschluß der griechisch-katholischen Gläubigen mit der rumänischen orthodoxen Kirche nach 1945 nach Berlin gezogen -, Araber - sogenannte Melkiten, aus
bekannten Gründen aktuellster Art aus dem Libanon und Syrien nach Berlin verschlagen und einige Deutsche, die sich aus Neigung und Interesse dem Ritus angeschlossen haben,
kommen hier zum gemeinsamen Gottesdienst in kirchenslawischer oder auch rumänischer
Sprache und zur anschließenden Kaffeetafel zusammen, bei der auch der Wodka nicht fehlt.
Eigenartig ist nicht nur die Zusammensetzung, sondern auch das Zustandekommen des
Gemeindezentrums in Kreuzberg. Wie so oft ist es mit einem Manne verknüpft, der im rechten
Moment wagte, einen entscheidenden Schritt zu tun: Zlatko Latkovic, ein kroatischer griechisch-katholischer Priester aus Zagreb, gleichzeitig Kunstmaler und Professor, den die politischen Umstände in seiner Heimat nach Berlin vertrieben hatten. Er kam 1963 in unsere Stadt
und wurde mit der Seelsorge für die byzantinischen Gläubigen beauftragt. Das Gemeindevermögen bestand aus einer recht schlechten Nikolaus-Ikone. Doch wählte Latkovic gerade
den heiligen Nikolaus, den Wundertäter, wie ihn die Ostkirchen nennen, zum Patron der zu
gründenden Gemeinde. Gottesdienste fanden zu dieser Zeit in der Krypta der Kirche der
Lankwitzer Christkönigsschwestern statt, die eigens zu diesem Zweck baulich so angelegt war,
daß sie die Kapelle der kleinen Gemeinschaft aufnehmen konnte.
Prof. Latkovic malte die Ikonostase und etliche Tafelikonen und so bekam der Raum ein „echt
byzantinisches" Aussehen. Ein kleiner Chor sang sonntäglich zur heiligen Liturgie. Doch
kamen nur sehr vereinzelt und furchtsam die politisch sehr verschreckten Gläubigen in die
wenig zentral gelegene Kirche.
Als die Hünfelder Oblatenpatres (Klostergenossenschaft) das Raphael-Stift, wie die Sozialstation in der Mittenwalder Straße hieß, aufgaben, trat Pfarrer Latkovic kurz entschlossen als
Käufer auf, da amtliche Stellen der katholischen Kirche Berlins nicht halfen. Er kaufte alle drei
Wohnhäuser, die zu dem Komplex gehörten. Sein Traum war, hier nicht nur das Gemeindezentrum zu errichten, sondern auch eine Sozialstation, von Schwestern des byzantinischen
Ritus betreut, für die alten Gemeindemitglieder entstehen zu lassen.
Zunächst galt seine Sorge der Einrichtung der Kirche. Da kaum Dinge aus Lankwitz mitgenommen werden konnten, wurde fast alles neu erstellt. Eine Ikonostase, die Bilderwand, die bei
den orthodoxen Gläubigen den Raum der Gemeinde vom Altarraum trennt, wurde gebaut und
gemalt. Die Kirche wurde schrittweise mit Wandgemälden ausgeschmückt, Einrichtungsgegen218
stände wie Leuchter, Kelche und Gewänder wurden zusammengebettelt. Bald war alles vorhanden, was in einer funktionierenden Gemeinde da sein muß. Fragte man Latkovic, wie das
möglich war, verwies er schmunzelnd auf den hl. Nikolaus, der als Patron für seine Gemeinde
sorgte. Untertreibend hörte man ihn sagen, daß sein Eigenverdienst nur die Wahl des geeigneten Kirchenpatrons gewesen sei.
Das wichtigere Problem, das von ihm und seinen Freunden angegangen wurde, war die
Statusfrage. Die Gemeinde hatte keinerlei verfaßte Grundlage. Die Sacra Congregatio pro
Ecclesiis Orientalibus1 in Rom und der Berliner Bischof Alfred Kardinal Bengsch fanden sich
auf Latkovics Drängen zu einer Gemeindegründung bereit. Heute stellt also die GriechischKatholische Gemeinde hl. Nikolaus Berlin eine Kuratie2 dar, die finanziell vom Berliner Bistum
getragen wird und nach der Jurisdiktion der Congregatio oder dem Exarchen der katholischen
Ukrainer in München, Dr. Piaton Kornyljak, unterstellt ist. Eine wohl einmalige, den politischen und seelsorglichen Besonderheiten der Gemeinde angepaßte Lösung.
Der gesundheitlich bedingte Weggang Latkovics aus Berlin hat die Gemeinde nicht auseinanderlaufen lassen. Zwei Jahre war kein fester Priester in der Stadt, ein Diakon wurde der
Gemeinde geweiht, der die Pfarrgeschäfte führen mußte. Heute hat sie in Janko Salmic wieder
einen aktiven Priester, der in Zusammenarbeit mit Diakon und Pfarrgemeinderat unter seinem
Vorsitzenden Georg Halaj die Arbeit bewältigt. Noch ein kurzer Blick sei auf die Vorkriegsgeschichte der byzantinischen Gläubigen in unserer Stadt geworfen:
Graf Andreas Scheptyckij, Metropolit von Lemberg (Lviv), sandte 1908 den Priester Alexej
Baziuk nach Deutschland und auch nach Berlin. Er hatte die schwierige Aufgabe, die zahlreichen ukrainischen Auswanderer zu betreuen. Diese waren zumeist über Deutschland auf dem
Wege in die Vereinigten Staaten und nach Südamerika. Baziuk standen in Berlin die Priester
Kunicki und Ganicki zur Seite. 1923 nahm der Priester Mihajlo Kindij festen Wohnsitz in Berlin
und baute eine ständige Seelsorgearbeit von dem kleinen Kloster in der Johannisstraße in
Berlin-Mitte aus auf.
1927 kam Dr. Petro Werhun als Seelsorger nach Berlin. Da die Zahl der Ukrainer stark
gestiegen war, fanden nun in römisch-katholischen Pfarrkirchen mehrerer Bezirke byzantinische Gottesdienste statt. In der alten Kirche der Gemeinde Hl. Familie (Prenzlauer Berg) fand
die Gemeinde schließlich ein Zentrum, das ihr von Bischof Graf Preysing zugewiesen werden
konnte. 1940 wurde Petro Werhun von Papst Pius XII., der diesen bei seiner Arbeit als Nuntius
in Deutschland persönlich kennengelernt hatte, zum Apostolischen Administrator der katholischen Ukrainer bestellt. Für die russisch-katholischen Gläubigen wirkten zu dieser Zeit die
Priester Kuzmin Karavajeff bis 1931 und dann bis 1963 Wladimir Dlusski in Berlin. 1941 und
1942 hatten die Ukrainer Ivan Czorniak und dann von 1942 bis 1945 Petro Romanischin unter
der Leitung von Dr. Werhun am Ort.
Mit dem Einmarsch der Sowjets endete die Arbeit der ukrainischen Geistlichen in Berlin
abrupt. Dr. Werhun wurde ebenso wie die anderen Geistlichen verhaftet. Während diese
freikommen konnten, brachte man Dr. Werhun nach einem der üblichen Verleumdungsprozesse nach Sibirien, wo er allen Befreiungsbemühungen zum Trotz in Krasnojarsk im Rufe der
Heiligkeit starb.
Die Zahlen aus der Zeit vor 1945 sagen viel über die zu bewältigende Seelsorgearbeit aus: In und
um Berlin lebten bis zu 30000 Gläubige des byzantinischen Ritus. Bedingt durch die Zwangsarbeitslager, waren die Seelsorgetätigkeiten der wenigen Priester sehr erschwert. Die Nationalsozialisten kontrollierten argwöhnisch jeden Schritt der Geistlichen. Trotz allem gab es einen
großen Chor, der auch konzertant auftrat und im Rundfunk sang.
Die heutige Situation der Gemeinde ist von der der früheren Jahre wieder grundverschieden.
219
CRIECHISCH-KATH. CE/MEINDE
HL. NIKOLAUS
1 BERLIN
6 1 . Miltenw.lder Straße 15 12. Hol)
Bischof Dr. Piaton Kornyljak spendet den Segen
220
Kreuzberg, Mittenwalder Straße 15
Kirche (1967)
221
Die Gemeinde ist stark überaltert. Nachwuchs ist in jüngster Zeit aus dem Nahen Osten und
aus dem ukrainischen Anteil Polens hinzugekommen, sogar junge Familien. Ob sich diese aber
weiter in Berlin aufhalten werden, ist ungewiß. Die Gemeinde hat wieder einen leistungsfähigen
Chor unter der Leitung von Dr. Franz Görner. Er konzertiert und singt zu hl. Liturgien, die in
römisch-katholischen oder orthodoxen Gemeinden zelebriert werden. Dieses Auftreten als
Botschafter der byzantinischen Christenheit ist eine der Aufgaben der Gemeinde. In der
Ökumene nimmt sie einen bescheidenen Platz ein und beteiligt sich an den Gebetswochen im
Januar in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
Höhepunkte im Jahr sind Weihnachten, Ostern und das Nikolausfest, die man mit feierlichen
Gottesdiensten und einer großen Agape begeht, einem Festessen, von Gemeindemitgliedern
für Gemeindemitglieder und Freunde ausgerichtet. Die Sozialstation hat sich leider nicht
verwirklichen lassen, wäre aber heute notwendiger denn je, da das Durchschnittsalter der
Gläubigen bedrohlich ansteigt. Hoffnung in die Zukunft ist trotzdem vorhanden, denn der
Berliner Bischof Kardinal Meisner hat versichert, daß die Mitgliederzahlen für ihn kein Grund
wären, eine Gemeindearbeit stillzulegen. Der hl. Nikolaus wird sich wohl auch in Zukunft wie
bisher seiner kleinen Schar annehmen.
Anschrift des Verfassers: Diakon Bernward Kwasigroch, Mittenwalder Straße 15,1000 Berlin 61
Nachrichten
Mitgliederversammlung am 14. Juni 1984
Ehrenmitgliedschaft für Dr. Richard von Weizsäcker
Von den 791 Mitgliedern des Vereins hatten sich genau zwei Dutzend am 14. Juni 1984 im Bürgersaal des
Rathauses Charlottenburg eingefunden, wo die Regularien vom Vorsitzenden Dr. G.Kutzsch zügig
abgewickelt werden konnten. Die Versammlung nahm den Tätigkeitsbericht, den Kassenbericht und den
Bibliotheksbericht entgegen und hörte in gleicher Weise die Berichte der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer, aus denen sich keinerlei Beanstandungen, im Falle der Bibliothek jedoch eine Reihe wertvoller
Anregungen ergaben. Hierauf gingen einige Mitglieder auch in der Aussprache ein, die sich um einen
künftigen Standort der Bibliothek und um die Rezensionen von Büchern in den „Mitteilungen" drehte.
Rechtsanwalt Landesgerichtsrat a. D. Dietrich Franz beantragte die Entlastung des Vorstandes mit einem
Dank für dessen Arbeit. Die Versammlung entsprach diesem Antrag ohne Gegenstimmen. Die Wiederwahl der bewährten Kassenprüfer Degenhardt und Kretschmer erfolgte ebenso einmütig wie die Bestätigung der Mitglieder Frau Dr. Crantz und Schramm in ihrem Amt als Bibliotheksprüfer.
Zum Punkt „Verschiedenes" wurde von verschiedenen Mitgliedern vor allem zu den Vorbereitungen zur
750-Jahr-Feier Berlins Stellung genommen. Der Verein wird dabei einerseits seine eigenen Möglichkeiten,
andererseits die zur Realisierung größerer Vorhaben erforderlichen Geldmittel zu berücksichtigen haben.
Für einen Ausschuß „750-Jahr-Feier" soll in den „Mitteilungen" zur Mitarbeit aufgerufen werden. Auf der
Versammlung meldeten sich spontan Frau Köhler und Frau Hamecher sowie die Herren Dr. Wenzel,
Kretschmer und Schrammm. K.-H. Schramm empfahl, auch in den Tageszeitungen intensiver für den
Verein zu werben. Hieran schlössen sich Auseinandersetzungen um den Besuch der Vorträge, deren
Häufigkeit und das Verhalten neuen Mitgliedern gegenüber an.
Nachdem die Mitgliederversammlung dem verdienstvollen Bibliotheksbetreuer Hans Schiller einen Gruß
ans Krankenlager geschickt und dem 2. stellvertretenden Vorsitzenden G. Wollschlaeger den Dank für die
Vorbereitung des Veranstaltungsprogramms ausgesprochen hatte, entsprach sie dem auf Antrag des
Schriftführers vom Vorstand einstimmig gemachten Vorschlag, dem früheren Regierenden Bürgermeister
von Berlin, Dr. Richard von Weizsäcker, die Ehrenmitgliedschaft zu verleihen. Das Votum war einstimmig. Dem künftigen Bundespräsidenten wurde die Ehrenmitgliedschaft mit der folgenden Begründung
verliehen:
222
Der Verein für die Geschichte Berlins, gegründet 1865, verleiht
Herrn Dr. jur. Richard von Weizsäcker
die Ehrenmitgliedschaft.
Er würdigt damit seine Verdienste, die er sich als Regierender Bürgermeister von Berlin um unser
Gemeinwesen erworben hat. Lauterkeit seiner Gesinnung, noble Haltung und die Kunst menschlichen
Regierens haben das Selbstbewußtsein Berlins zu stärken vermocht. Diese Auszeichnung gilt auch einer
Persönlichkeit, die in historischen Zusammenhängen zu denken weiß. Die Ehrenmitgliedschaft des
Vereins für die Geschichte Berlins soll die Bande zwischen dem gewählten Bundespräsidenten und seiner
Stadt Berlin festigen.
Berlin, den 14. Juni 1984
SchB.
Studienfahrt 1984 des Vereins für die Geschichte Berlins nach Eutin
In der Nr. 2/1984 der „Mitteilungen" war das vorläufige Programm der Exkursion vom 7. bis 9. September
1984 abgedruckt worden. Die Mitglieder, die sich hierauf gemeldet hatten, werden jetzt brieflich verständigt. Weitere Interessenten sind herzlich willkommen (Meldeschluß 30. Juli 1984). Gegenüber der Vorankündigung, die auf Wunsch gern noch einmal zugestellt wird, haben sich keinerlei wesentliche Programmänderungen ergeben. Der Teilnehmerbeitrag beläuft sich pro Person auf 84,50 DM. Er schließt die
Omnibusfahrt mit allen Exkursionen, Führungen und Eintrittsgeldern sowie den Ausflug auf dem Großen
Eutiner See mit „MS Freischütz" ein.
Meldungen nimmt entgegen der Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65,
Telefon 45 09-2 91, der auch Auskünfte erteilt.
SchB.
Johannisthaler Ensemble unter Denkmalschutz
Das „Alte Fenn" in Johannisthai im Stadtbezirk Treptow gehört zu den mehr als 800 Straßen, Plätzen und
Gedenkstätten der Arbeiterbewegung, Fabrikgebäuden, Kirchen und ehemaligen Dorfangern, die in
Ost-Berlin seit 1978 unter Denkmalschutz stehen. 1921 bis 1927 entstanden dort rund 180 zweigeschossige
Reihenhäuser nach Plänen von Bruno Taut und Paul Engelmann. Diese Gartenstadtsiedlung, die an
Alt-Glienicke erinnert, zeigt schöne Schmuckelemente an Giebeln, Hauseingängen, Klinkersimsen und
Fenstern. Das Ensemble wird jetzt von der Aktion „Gepflegte Denkmale und ihre Umgebung" (1982 ins
Leben gerufen vom Ministerium für Kultur, dem Kulturbund und dem Nationalrat der Nationalen Front)
gemeinsam mit den Bewohnern in seinem Originalzustand wiederhergestellt.
SchB.
Wiederherstellung des Schloßparks Biesdorf
Der unter Denkmalschutz stehende Schloßpark in Biesdorf wird in seinen alten Zustand versetzt.
Nachdem im Frühjahr 1984 das Platanenrondell vervollständigt wurde, werden im Herbst vom Stadtbezirksgartenamt Berlin-Marzahn Eichen, Buchen, Kastanien und Linden gepflanzt. Dabei soll der
Standort der Bäume und Sträucher so gewählt werden, daß sich Sichtachsen wie zur Zeit der Jahrhundertwende ergeben, die einen ungehinderten Blick auf das Schloß ermöglichen.
SchB.
Zur Rückführung der Reliefplatten der Siegessäule ist die vierte Platte unauffindbar?
Gegenwärtig werden in der Reinickendorfer Bronzegießerei Winkelhoff die drei verfügbaren Bronzereliefs
der Siegessäule restauriert, die dann im Sommer wieder an ihren ursprünglichen Standort zurückgebracht
werden sollen. Am 4. Februar 1984 sind die beiden je 12 Meter langen und insgesamt 10 Tonnen schweren
Bronzereliefs mit einer französischen Militärmaschine nach Berlin-Tegel gebracht worden. Ihre Rückgabe
war auf Zusagen des Pariser Bürgermeisters Jacques Chirac und des Verteidigungsministers Charles
Hernu erfolgt. Das Relief „Schlacht bei Sedan" hatte im Pariser Stadtmuseum, der „Einzug der siegreichen
223
Truppen in Berlin 1871" im französischen Armee-Museum gelegen. Der damalige Regierende Bürgermeister Dr. Richard von Weizsäcker bezeichnete die Rückgabe der Bronzetafeln als eine großzügige Geste
und als einen sichtbaren Beweis dafür, daß mit Beharrlichkeit und Geduld einst unüberbrückbar erscheinende Probleme überwunden werden können.
30 Jahre lang hatte sich unser Mitglied Otto Kanold, Beerenstraße 49 a, 1000 Berlin 37 (Zehlendorf), bei
einer Vielzahl von Institutionen des Bundes und des Landes Berlin darum bemüht, diese beiden Reliefs
nach Berlin zurückzuführen, nachdem eine dritte Tafel mit Motiven aus dem preußisch-österreichischen
Krieg von 1866 beschädigt in der Zitadelle Spandau gelagert hatte. Der Intervention des Auswärtigen
Amtes ist es schließlich gelungen, daß den Bemühungen Otto Kanolds, der seines schier aussichtslosen
Unterfangens wegen geradezu verlacht wurde, schließlich doch der Erfolg beschieden war. Auch unser
Verein hatte bei den zuständigen Behörden vorgesprochen.
Das vierte Relief „Auszug der Truppen/Sturm der Düppeler Schanzen" bleibt nach wie vor verschollen,
nachdem sowohl Nachforschungen in Dänemark als auch eine Umfrage des Berliner Landeskonservators
vom Mai 1983 keine Ergebnisse brachten. Mitglieder, die sich des Zeitpunkts der Demontage und des
möglichen Schicksals und Verbleibs dieser vierten Bronzetafel erinnern, werden um Nachricht gebeten.
SchB.
Aus dem Mitgliederkreis
Professor Dr. Heinz Goerke, von 1967 bis 1969 Direktor des Klinikums Steglitz der Freien Universität
Berlin und von 1970 bis 1982 ärztlicher Direktor des Klinikums Großhadern in München, ist mit dem
Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet worden. Professor H. Goerke, Ordinarius für Geschichte der Medizin an der Universität München, hatte zuvor an der FU Berlin denselben Lehrstuhl inne.
*
Unserem Mitglied Axel Springer ist vom Jerusalemer Stadtrat in Anerkennung seiner Verdienste um die
Stadt einstimmig der Ehrentitel „Freund Jerusalems" verliehen worden.
*
Dem ehemaligen Präsidenten der Ärztekammer Berlin, unserem Mitglied Professor Dr. Wilhelm Heim, ist
die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft, die Paracelsus-Medaille, verliehen worden.
*
Frau Charlotte Winckler-Bollert, Ringstraße 10,7899 Berau, bis 1978 unser Mitglied, hat im Selbstverlag
zwei autobiographische Bände veröffentlicht: „Eine deutsche Frau erzählt" (1970) und „Eine Seniorin
erzählt" (1977). Da die Auflage vergriffen ist, bittet die Autorin um Rückgabe, wenn die Büchlein nicht
mehr benötigt werden.
SchB.
Über die Kaisereiche in Friedenau
Unser Mitglied Heinz-Günther Bahr vollendete am 20. April 1984 sein 75. Lebensjahr und bedankte sich
bei den Gratulanten mit einem orts- und verkehrsgeschichtlichen Rückblick unter Einschluß familiärer
Bereiche und mit einer Ansicht der Kaisereiche, die einer Werbeanzeige für Berlin-Friedenau um 1910
entstammt und dem Bildband „Die Straßennamen Berlins in alten Ansichten" (Europäische Bibliothek,
Zaltbommel/Niederlande) entnommen wurde.
Diese persönlich gehaltene Darstellung soll den Lesern nicht vorenthalten bleiben, wir erweisen damit
zugleich dem verdienstvollen Pädagogen und Kirchenmusiker Heinz-Günther Bahr Reverenz. SchB.
Mitten auf dem Platz steht die am 22. März 1879, dem 82. Geburtstag Kaiser Wilhelms I., zur Erinnerung
an die goldene Hochzeit des Kaiserpaares gepflanzte Kaisereiche. Der heutige Baum stammt von einer
Nachpflanzung im Jahre 1883. In dem linken Haus - zwischen Moselstraße und Saarstraße - befand sich
das Cafe Kaisereiche, zweitweise auch „Cafe Laurisch" benannt, nach dem Krieg „Wienerwald"-Lokal,
heute Restaurant „Kaisereiche". In dem mittleren Haus - zwischen Saarstraße und Illstraße - war das
224
„Cafe Woerz" untergebracht (später ein Auto-Salon, danach Radio-Reisel, jetzt ein Waschsalon).
Zwischen Illstraße und Rheinstraße lag das „Hotel Kaisereiche", das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde;
heute befinden sich dort eine Filiale der Sparkasse der Stadt Berlin-West und das Standesamt I von Berlin.
Die drei weiteren auf dem Bild nicht sichtbaren Ecken sind übrigens in der Bausubstanz und in den
Fassaden erhalten geblieben.
An der Kaisereiche steht ein Straßenbahnzug, der von der Rheinstraße, wo die Gleise neben der Straße auf
besonderen Rasenrabatten liegen, zur Saarstraße abgebogen ist. Der Schaffner ist ausgestiegen und nach
vorn zum Fahrer gegangen; das war wohl so Vorschrift. Beide warten auf die Freigabe der Saarstraße zur
Friedenauer Brücke. Denn Straße und Brücke sind nur eingleisig befahrbar. Der Richtungsverkehr wird
von einem Straßenbahner geregelt, der an der Friedenauer Brücke steht und das per Hand besorgt. Er
dreht eine Ampel, die tagsüber eine weiße Scheibe mit einem diagonalen Strich in grüner Farbe bzw. eine
rote Scheibe und bei Dunkelheit grünes bzw. rotes Licht zeigt. Durch die Saarstraße fahren vier Linien im
15-Minuten-Verkehr, die Linien 60 und 61 (von Weißensee kommend) und die Linien 87 und 88 (aus
Richtung Treptow). Die 60 und die 88 fahren über die Becker- und die Rubensstraße zum AugusteViktoria-Krankenhaus, die 61 und die 87 durch die Knaus- und die Bismarckstraße - dort auf besonderen
Gleiskörpern - zum Stadtpark Steglitz. Stand in der Beckerstraße oder in der Rubensstraße mal ein
Möbelwagen, mußten die Züge mittels eingebauter Weiche über das Gegengleis geleitet werden, da sie
sonst die Möbelwagen nicht passieren konnten.
Übrigens verkehrte im Jahre 1912 in Steglitz ein von der Gemeinde betriebener Obus (Oberleitungsbus)
zwischen dem Bahnhof Steglitz und dem Knausplatz. Begegneten sich die beiden Wagen, mußten die
Schaffner die Kabel, die von den auf der Oberleitung rollenden Wagen kamen, umpolen.
Aber noch einmal zurück zur Saarstraße! Noch manche Jahre blieb der Verkehr dort - 32 Züge in der
Stunde! - eingleisig, zuletzt nur noch auf der Brücke. Zweimal wurde die Brücke umgebaut, mehrfach die
Straße, und ein neuer Umbau der Straße steht bevor. Die Straßenbäume und die Vorgarten sind längst
verschwunden, und der weltstädtische Verkehr braust durch die Straße. Doch einiges ist von dem ehemals
idyllischen Friedenau noch übriggeblieben. Wie heißt es doch in der Werbeanzeige von 1910: „Wohl ein
Dutzend schöner Orte / bilden heute Groß-Berlin, / öffnen gastlich ihre Pforte, / fragen dich, wo willst du
hin? / Wer die Wahl hat, muß sich quälen, / aber prüfe ich genau, / werd ich immer wiederwählen / dich,
mein trautes Friedenau."
225
Buchbesprechungen
Kurt Trumpa: Zehlendorf gestern und heute. Ein Ort im Wechsel der Zeiten. Verlag Elwert und Meurer,
Berlin, 3., überarbeitete Auflage, 244 Seiten, 36 DM.
Der Verfasser ist der Historiker und Chronist Zehlendorfs. Daß er bei seinen Mitbürgern im Bezirk
„ankommt", beweist die 3. Auflage seiner Ortsgeschichte. Neue Erkenntnisse wurden eingearbeitet, vor
allem aber nötigt das hervorragende überreiche Bildmaterial Bewunderung ab. Heutige Ansichten von
Straßen, Plätzen und Häusern werden denen von anno dazumal gegenübergestellt; der Wandel der Zeiten
illustrativ sinnfällig gemacht. Der Leser wird sehr eingehend und verläßlich durch mehr als 750 Jahre
„Dorfhistorie" geführt. Von 1945 an wählt der Verfasser die Form der Chronik: Hier freilich werden in
einer künftigen 4. Auflage ein paar herausgefilterte Daten, weil überflüssig und nicht charakteristisch, dem
Ganzen zum Vorteil gereichen. Vielen Zehlendorfern wird das vorliegende Heimatbuch jedenfalls Erinnerung, Belehrung und Freude schenken.
Gerhard Kulzsch
Eberhard Grünert: Die Preußische Bau- und Finanzdirektion. Grotesche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1983,
271 Seiten, Leinen, 60 DM.
Schon zu Zeiten ihres Bestehens verband die Öffentlichkeit in Preußen mit der Behörde, die sich
Ministerial-Militär- und Baukommission, nach dem Ersten Weltkrieg Preußische Bau- und Finanzdirektion (kurz: Baufi) nannte, kaum eine Vorstellung. Hinter diesen Namen verbargen sich staatliche Stellen in
einer riesigen, wenn auch infolge ihrer höchst disparaten Funktionen lockeren Verbindung von Bauaufgaben, Militärwesen, Domänen-, Grundstücks-, Katasterverwaltung, Kirchenpatronat, ja auch Verwaltungsgerichtsbarkeit und noch anderem mehr. Ein Präsident stand an der Spitze dieser Riesenorganisation. Man möchte argwöhnen, ministerielle Willkür habe der Baufi beliebig viele Aufgabenbereiche
zugewiesen, doch täte dies der disziplinierten preußischen Verwaltung Unrecht: Respektable Sachgründe
lagen so gut wie immer für eine Zuweisung von Dienststellen an diesen oder jenen Platz vor. Der Verfasser
geht der Entstehung und Entwicklung der Baufi von 1822 bis 1944, also von ihren Urzellen an, sehr
sorgfältig nach. Manchmal tut er fast ein wenig zuviel des Guten, man läuft Gefahr, sich im Dickicht der
Jahreszahlen, Personennamen und Ämterfunktionen zu verheddern. Das Buch gewinnt seinen Wert und
seine Brauchbarkeit als Lexikon. Wer sich über eine ganz konkrete Frage eines Teilbereichs der preußischen Innenverwaltung unterrichten will, wird hier Antwort erhalten. Es wurde Zeit für die Baufi, ihren
Geschichtsschreiber zu finden.
Gerhard Kutzsch
Goerd Pescnken und Hans-Werner Klünner: Das Berliner Schloß. Propyläen-Verlag, Berlin 1982,560 Seiten, 289 Abbildungen, 152 Abbildungen im Text, gebunden, Großformat im Schuber, 280 DM.
Mit dem Bau des Berliner Schlosses wurde 1443 unter Kurfürst Friedrich IL begonnen, und was von
Anbeginn an als eine Art Statussymbol landesherrlicher Macht und Ausdruck der Repräsentation sein
sollte, ist es über ziemlich genau 500 Jahre hinweg geblieben. Die Ostberliner Kommunistenrissen1951 die
Kriegsruine gegen den heftigen Widerstand der Kunstexperten ab. Bedeutende Renaissance- und Barockbaumeister haben an diesem Monument gewirkt und ihm den künstlerischen Ruf eingetragen, der sich
vielleicht mehr an ganz bestimmte Partien (Teiltrakte, Portale, Innenräume usw.) als an die Gesamtkonzeption heftet. Wenn auch allgemeingeschichtliche Aspekte den Vorrang vor wissenschaftlichen Spezialuntersuchungen haben sollen, bieten die Autoren doch neue Erkenntnisse an, aus langjähriger Beschäftigung mit dem Schloß gewonnen. Wiewohl sich das vorliegende Buch als Vorwegpublikation betrachtet, da
Margarete Kühn und Martin Sperlich, die ehemaligen Chefs der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und
Gärten, eine wissenschaftliche Spezialarbeit über den Bau auf der Spreeinsel vorbereiten, darf man es doch
getrost als Standardwerk bezeichnen. Das kunstgeschichtliche Erlebnis „Schloß" wird umfassend bis in
Details textlich und bildlich dargeboten und als Teil und Schauplatz in die bewegte politische Geschichte
Preußen-Deutschlands eingebettet. Die opulente Ausstattung und der Preis lassen den Band beinahe als
ein Objekt für Bibliophile erscheinen. Viele interessierte Leser werden sich wohl nur in Bibliotheken an ihm
erfreuen können.
Gerhard Kutzsch
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Reicke, Ilse: Die großen Frauen der Weimarer Republik. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1984, 124 Seiten,
7,90 DM.
Die Verfasserin ist die Tochter des liberalen Berliner Bürgermeisters Georg Reicke (1902-1920). Vor
einiger Zeit wurde sie dem Fernsehpublikum in der Sendereihe „Zeugen des Jahrhunderts" vorgestellt.
Darin gab die alte Dame persönliche Erinnerungen so lebensnah und anschaulich zum besten, wie sie es
jetzt wieder in ihrem Buch über die wichtigsten Köpfe der Frauenbewegung tut. Vor dem Ersten Weltkrieg
oft ignoriert oder verspottet, fand diese nach 1919 öffentliche Anerkennung und trug Neues und Wesentliches, auch zum Staatsaufbau, bei. Aus acht verschiedenen Schaffensbereichen werden neben manchen
weniger bekannt gewordenen Namen Gertrud Bäumer, Anna v. Gierke, Alice Salomon, Agnes v.
Zahn-Harnack, Marianne Weber vorgestellt: Frauen, über die selbst der „Gebildete" von heute schon das
Lexikon zu Hilfe nehmen muß, um sich zu orientieren. Die Verfasserin bietet eine dankenswerte Ergänzung vieler Darstellungen der Weimarer Republik, die ohne die geringste Würdigung der wissenschaftlichen, sozialen und organisatorischen Leistungen solcher aktiven Frauen auskommen.
Gerhard Kutzsch
Einblicke - Einsichten - Aussichten. Aus der Arbeit der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz in
Berlin. Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, Sonderband 1, herausgegeben im Auftrag des Stiftungsrats
vom Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Werner Knopp, Gebr. Mann Verlag, Berlin 1983,
Sonderband 1, Stephan Waetzoldt zum 60. Geburtstag, Leinen, 320 Seiten, 48 DM.
Dieser Band ist Stephan Waetzold zur Vollendung seines sechsten Lebensjahrzehnts gewidmet, dessen
Wirken als Generaldirektor die Entwicklung der staatlichen Museen in den letzten anderthalb Jahrzehnten entscheidend geprägt hat. In seinem einleitenden Aufsatz „Glanz und Last der Geschichte. Spezifische
Arbeitsbedingungen der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz" weist Werner Knopp auf die
Bedeutung der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz hin, deren Anwesenheit in Berlin dazu
beiträgt, daß die Bundesbürger Berlin weiterhin nicht nur als ein im Vorfeld ihres Staates liegendes
„Glitzerding" betrachten, sondern als das nach wie vor bedeutendste Kulturzentrum in Deutschland. In
der Steigerung der kulturellen Ausstrahlungskraft liegt vielleicht die größte Chance, Berlin für Besucher
aus aller Welt als natürliche und anziehungskräftigste Zentralstadt zu erhalten. Immerhin zieht Berlin
nach München immer noch die meisten Museumsbesucher an. Leider versucht die DDR immer wieder, die
Beteiligung der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz an Ausstellungen zu behindern, indem sie
ihre Leihgaben von der Nichtteilnahme der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz abhängig macht.
Dabei wäre es möglich, über den Ausgleich besonders widersinniger Zerreißungen einzelner Zusammenhänge sehr vernünftig miteinander zu reden, wenn nur beide Seiten grundsätzlich den Status quo
akzeptierten. An dieser Stelle kann auch die bekannte Kritik Peter Blochs zitiert werden, die er in seinem
Beitrag „Die Reste des Rauch-Museums" wiederholt, wonach auf Beschluß des Berliner Senats unter
Dr. H. J. Vogel die Schloßbrückengruppen - „ohne Klärung der Eigentumsverhältnisse, gegen jede
politische und restauratorische Vernunft" - aus dem Lapidarium herausgerissen und nach Ost-Berlin
geschenkt wurden.
Der Interessent an Berlinhistorie sei vor allem auf die folgenden Aufsätze hingewiesen: Wolf-Dieter
Heilmeyer: „Vorgartengeschichte eines Museums" und Franz Adrian Dreier: „Zwei historische Wurzeln
des Berliner Kunstgewerbemuseums - ein Beitrag zur Geschichte seiner Sammlungen".
Der gediegen aufgemachte Band mit seinen bemerkenswerten Beiträgen leidet etwas unter unnötigen
Druckfehlern.
H. G. Schultze-Berndt
Horst Cornelsen: Kleine Fische auf Justitias Grill. Berlin Verlag Arno Spitz, 1984, 143 Seiten, mit
Zeichnungen von Titus, gebunden, 19,50 DM.
„So ist es in Justitias Laden / beim Rechtsstreit geht man häufig baden." Das ist das Fazit der kleinen
Sammlung von Geschichten, die Horst Cornelsen, bekannt durch seine humorvollen Berichte aus dem
Gerichtssaal, hier dem Leser vorgelegt hat. In seinem leicht ironisierenden Stil erzählt er von den
Gestrauchelten, die in Justitias Fänge geraten sind. Die Liebe und der Alkohol spielen eine große Rolle,
aber auch Angriffslust, die leicht zu Schäden an den Mitmenschen führt. Ein Buch also, das die
menschlichen Schwächen zwar launig verpackt darbietet, aber gleichwohl zum Nachdenken anregt. Titus
hat mit wenigen Strichen das Geschehen charakterisiert.
Elge
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Märkte in Berlin. Nicolaische Verlagsbuchhandlung Berlin, 80 Seiten, 63 Abbildungen, davon 16 in Farbe,
gebunden, 29,80 DM.
Das vorliegende Buch wurde von Studenten der Publizistik im Fachbereich Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin konzipiert, geschrieben und fotografiert. Es beschreibt Wochenmärkte, wie den in bürgerlicher Atmosphäre liegenden Markt an der Matterhornstraße, den quirligen,
farbenprächtigen Markt auf dem Winterfeldplatz, der noch ein wenig an altes Berliner Marktleben
erinnert, und den orientalisch bunten Türkenmarkt am Maybachufer, der sich lebhaftesten Zuspruchs
sowohl von Hausfrauen, Rentnern, Punks, Studenten als auch von Türken erfreut, die mit ihren Großfamilien hier meist erst am Nachmittag eintreffen.
Die Autoren gehen sowohl auf die Geschichte des Berliner Marküebens als auch auf die Architektur und
die Marktordnung ein. Wir erfahren von kühnen Markthallenkonstruktionen aus Eisen und Glas, so von
der in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts gebauten ersten Markthalle zwischen Schiffbauerdamm
und Karlstraße. Diese wurde jedoch schon sehr bald - da sie weder von Händlern noch von Käufern
angenommen wurde - zu einem Domizil für Zirkusunternehmen umgebaut (Renz und Schumann). Den
entscheidenden Umbau besorgte dann Hans Poelzig 1919 zum Großen Schauspielhaus für Max Reinhardt.
Folgende Stationen seien noch genannt: Revuetheater unter Eric Charell, unter den Nazis „Theater des
Volkes" und schließlich bis zur jetzigen Schließung „Friedrichstadtpalast".
Nach Eröffnung der Stadteisenbahn wurden 1886 noch der „Centralmarkt" am Alexanderplatz und drei
weitere Hallen eröffnet. Doch nur die Markthalle am Alexanderplatz und in der Lindenstraße (noch heute
Blumengroß markt) hatten Bestand, die beiden anderen mußten ihre Tore schließen; aus ihnen wurde das
Vergnügungsetablissement „Clou" und das Postscheckamt in der Dorotheenstraße. Vorgestellt werden
dann noch die Arminiusmarkthalle, der Fruchthof und der Blumenmarkt sowie Trödel- und Weihnachtsmärkte.
Die Texte sind reichlich bebildert; ein umfassendes Verzeichnis aller Berliner Märkte mit Öffnungszeiten,
Verkehrsverbindungen, Warenangeboten und Besonderheiten macht das Buch auch zu einem praktischen
und nützlichen Einkaufsführer.
Irmtraut Köhler
Luise Lemke: Laß dir nich verblüffen! Berliner Witze. Jesammelt und jesiebt von Luise Lemke, arani-Verlag GmbH, Berlin 1982, etwa 100 Seiten, mit Illustrationen von Frauke Trojahn, Glanzeinband, 14,80 DM,
ISBN 3-7605-8565-5.
Gustav Sichelschmidt: Die Berliner und ihr Witz. Versuch einer Analyse. Rembrandt Verlag GmbH,
Berlin 1978, 118 Seiten, mit Illustrationen nach Zeichnungen aus dem 19. Jahrhundert, Leinen, ISBN
3-7925-0255-0.
Aufbauend auf ihrer Sammlung Berliner Sprüche „Lieber'n bißken mehr, aber dafür wat Jutet", die
binnen sechs Monaten drei Auflagen erlebte, legt die Autorin eine Zusammenstellung treffsicherer Berliner
Witze vor, die jeweils um bestimmte Themen kreisen, was sich an den Überschriften der Kapitel wie „Ick
bin alle Kinder, die wir haben" oder „Det wirft mir um Stunden zurück" ablesen läßt. Wer sich selbst nur
amüsieren will oder wem daran gelegen ist, seinen Vorrat an Witzen aufzufrischen, wird bei Luise Lemke
sicher fündig. Ein Beispiel weise die Richtung: „Ja, ja, die Frauen sind verschieden!" „Meine leider noch
nicht."
Gustav Sichelschmidt, bewährter Berlinologe auf vielen schriftstellerischen Feldern, macht es sich mit
seinem Essay schwerer. Sein Erstaunen gilt der Tatsache, daß bis heute noch keine Phänomenologie des
Berliner Witzes geschrieben worden ist, wenn auch Herbert Schöfflers „Kleine Geographie des deutschen
Witzes" mit der einführenden „Landkarte des Humors" von Wilhelm Pinder hierfür schon eine Vorarbeit
geleistet hat. In einer Reihe von Abschnitten, die von der Naturgeschichte des Berliners und den
historischen Perspektiven ausgehen, die Frage „Humor oder Witz?" beantworten, den häßlichen und die
richtigen Berliner behandeln und schließlich der „Metropole der Intelligenz" Tribut zollen, werden
Berliner Volksmund und Berliner Literaten auf ihren Beitrag zu diesem Thema abgeklopft. Aber auch so
seltene Besucher Berlins wie Goethe kommen zu Wort, der sich 1820 geäußert hat: „Das Völkchen besitzt
so viel Selbstvertrauen, ist mit Witz und Ironie gesegnet und nicht sparsam mit diesen Gaben." Zu dem
unerschöpflichen Thema des Berliner Humors, dem schon vor dem Ersten Weltkrieg und in den 20er
Jahren umfangreiche Anthologien gegolten haben, kann sich diese so gescheite wie vergnügliche Abhandlung durchaus sehen und lesen lassen.
H. G. Schultze-Berndl
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Holger Steinte: Ein Bahnhof auf dem Abstellgleis. Der ehemalige Hamburger Bahnhof in Berlin und seine
Geschichte. Silberstreif-Verlag GmbH, Berlin 1983, 100 Seiten, 78 Abbildungen, Format 27 X 21 cm,
gebunden mit Schutzumschlag, 34 DM.
„Ein Bahnhof auf dem Abstellgleis" betitelt Dr. Dr. Steinle seine umfassende Reportage über ein Berliner
Bahnhofsrelikt. Der Autor bezeichnet das wechselvolle Schicksal des Hamburger Bahnhofs als „eines der
letzten Geheimnisse West-Berlins". 138 Jahre sind seit der Inbetriebnahme des Bahnhofs (1846) vergangen.
38 Jahre (von 1846 bis 1884) diente er als Kopfstation einer der wichtigsten deutschen Eisenbahnstrecken,
der Verbindung des weltoffenen Hafens mit der Hauptstadt Berlin, 38 Jahre (von 1906 bis 1944) beherbergte er das Verkehrs- und Eisenbahnmuseum, und seit 39 Jahren (von 1945 bis heute) ragen die durch
Kriegseinwirkung teilbeschädigten Baulichkeiten, zu denen der öffentliche Zutritt infolge komplizierter
Besitzverhältnisse zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Werkes versagt war, in öder Abgeschiedenheit
am äußersten Rand unserer zweigeteilten Stadt.
Daß nur wenige heutige Berliner von einem Hamburger Bahnhofje etwas vernommen haben, mag daran
liegen, daß er schon vor genau hundert Jahren seiner eigentlichen verkehrsbedingten Bestimmung
entkleidet wurde, indem man die Personenbeförderung dem neuerrichteten, nahegelegenen Lehrter
Bahnhof zugeleitet hatte. Es ist Steinles Verdienst, alles Wissenswerte über den „vergessenen" Bahnhof
zusammengetragen zu haben. Zu neuem Leben wird die Person des Baurates Friedrich Neuhaus erweckt,
dem aufgrund seiner Erfahrungen im Eisenbahnbau die Errichtung der Strecke Berlin-Bergedorf, des
Hauptteils der Verbindung nach Hamburg, übertragen wurde, worüber in den „Mitteilungen" des Vereins
für die Geschichte Berlins, Heft 4,1983, S. 109-113, bereits berichtet worden ist. Die umfassende Darstellung des wechselvollen Schicksals des Hamburger Bahnhofs, der als einziger den Zweiten Weltkrieg ohne
allzugroße irreparable Schäden überstanden hat, ruft diesen zu seiner Zeit wichtigen Verkehrsträger in die
Erinnerung zurück. Steinles Report orientiert den Leser über die technisch hervorragend konzipierte
Bahntrasse nach Hamburg, die langwierigen und hartnäckigen Verhandlungen hinsichtlich der Standortwahl des Bahnhofs in Berlin, ergänzt durch informative Planskizzen, über die Erschließung seines
Umfeldes und den Ablauf der gesamten Bauarbeiten. Größte Aufmerksamkeit widmet der Autor der
späteren Verwendung des Bahnhofsempfangsgebäudes als Verkehrsmuseum. Allein 39 gute, teils ganzseitige fotografische Aufnahmen beziehen sich auf das Museum und seine Gegenstände. Für die Ausstattung
des großformatigen Bandes in seinem Glanzpapierumschlag mit dem Farbfoto des Bahnhofs, für den
klaren Druck und die gute Papierqualität gebührt dem Silberstreif-Verlag Dank und Anerkennung. Ein
weiteres wohlgelungenes Requisit der Berliner Verkehrsgeschichte liegt vor.
Hans Schiller
Kurt Pierson: Dampfzüge auf Berlins Stadt- und Ringbahn. 3., veränderte und erweiterte Auflage. Verlag
W. Kohlhammer, Stuttgart, 1983, 166 Seiten, 120 Abbildungen, Format 27 X 19 cm, gebunden, mit
Schutzumschlag, 59 DM.
Kurt Piersons Standardwerk „Dampfzüge auf Berlins Stadt- und Ringbahn" ist soeben in dritter, erweiterter, teils neu konzipierter Auflage und gediegener Ausstattung im Verlag Kohlhammer, Stuttgart, erschienen. Die Menge der Schriften, die sich dem Berliner S-Bahn-Thema widmen, ist, zumal in den letzten
Jahren, lawinenartig angeschwollen. Die zumeist jungen Autoren behandeln jedoch vorwiegend die zweite
Entwicklungsphase des Bahnbetriebes seit der Einführung der elektrischen Zugförderung in den zwanziger Jahren. Um so begrüßenswerter ist die Aktivität Piersons, des „alten Herrn aus dem Eisenbahnmilieu",
der sich, heute 85jährig, mit Leib und Seele der ersten Eisenbahnphase, dem Dampfbetrieb, zugehörig
fühlt, in dem er sich von der Pike auf hochgedient hat.
Es ist Piersons Verdienst, in mehreren einschlägigen Sparten bewandert zu sein. Er vereint profundes
technisches Fachwissen im Lokomotivbau mit speziellen „Intimkenntnissen" aus dem Bereich des Berliner
Eisenbahnwesens und besitzt die virtuose Gabe, Erfahrenes und Erlebtes im Gewand zeitgenössischen
Lokalkolorits auf eine Weise wiedererstehen zu lassen, die den Leser dieser Lektüre eine bereits historisch
gewordene Epoche „live" miterleben läßt.
Zu begrüßen sind die der Neuauflage vorangestellten kurzen Informationstexte, die die Entwicklung der
ersten in Berlin etablierten privaten Eisenbahnunternehmungen beschreiben. Von besonderer Prägnanz ist
die Schilderung der „alten Verbindungsbahn", die sich als Vorläufer der späteren Ring- und Stadtbahn von
1850 bis 1871 in Betrieb befand und nur noch wenigen unserer heutigen Zeitgenossen ein Begriff ist.
Erfreulich auch die Bereitschaft des Autors, einige wenige irrtümliche Angaben aus einer früheren Auflage
in den Neudruck nicht unkorrigiert wieder zu übernehmen, eine Unsitte, der man im Bereich der
Verkehrsliteratur nur allzu häufig begegnet. Die große Anzahl der schon in früheren Auflagen vorhande-
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nen fotografischen Aufnahmen ist um eine Reihe weiterer Reproduktionen und Planskizzen aus dem
Bahnbereich vermehrt worden. Nicht ganz gelungen ist ein Hinweis auf die Einrichtung der späteren
Ringlinie der Großen Berliner Pferdeeisenbahn im Zusammenhang mit dem auf Seite 29 abgebildeten
Wagen No. 1 der seit 1865 nach Charlottenburg verkehrenden Pferdebahn. Inhalt, Aufmachung und
Ausstattung der Piersonschen Neuauflage tragen dazu bei, die Berliner Nahverkehrsliteratur um ein
besonders attraktives, lesens- und besitzenswertes Werk zu bereichem.
Hans Schiller
Martin Hüriimann: Berlin. Königsresidenz - Reichshauptstadt - Neubeginn. Atlantis Verlag Zürich und
Freiburg i. Br., Leinen, 328 Seiten, 68 DM.
„Wer die Reichshauptstadt gekannt hat, vermag beim Wiedersehen nach der Zweiteilung über all den
Kongressen und festlichen Veranstaltungen nicht zu vergessen, daß hier ein einzigartiges, in Jahrhunderten gewachsenes kommunales Gebilde zugrunde ging." Der dies in seinem Epilog „Die zweigeteilte Stadt"
zu diesem hervorragenden Berlinband schreibt, ist ein Ausländer des Jahrgangs 1897, genauer gesagt ein
Historiker, Verleger, Fotograf und Redaktor, der als Student in die Reichshauptstadt gekommen war, sich
dann als Filmproduzent betätigte und schließlich als Herausgeber der Zeitschrift „Atlantis" ein kosmopolitisches Element auch noch in schweren Jahren und in schwieriger Zeit war. Elf Jahre lang wirkte
Dr. phil. Martin Hürlimann-Kiepenheuer in Berlin, gab schon 1934 ein Buch „Berlin. Bilder und Berichte"
heraus, zu dem der vorliegende Band, den er eigentlich „Die Reichshauptstadt" nennen wollte, das späte
Gegenstück ist: Nur wer sich vergegenwärtigt, was Berlin war, kann ermessen, was der Führer und
Reichskanzler im Namen des deutschen Volkes verspielt hat, schreibt der Autor in seinem Vorwort. Am
4. März 1984 ist er in seiner Schweizer Heimat verstorben.
Chronologisch geht er von der Residenzstadt der Hohenzollern bis in unsere Tage vor, wobei er
verständlicherweise den Franzosen und Schweizern in Berlin ein besonderes Kapitel widmet und in einem
Exkurs auch Berlins Juden herausstellt. Das durch hervorragende Sachkenntnis ausgezeichnete Buch ist
ein zuverlässiger Führer und will nicht mit neuen Theorien aufwarten. Man freut sich an der treffsicheren
Auswahl der Abbildungen und den nicht weniger glücklich ausgesuchten Zitaten. Berlin wird auch in
seiner Rolle für die preußische Geschichte dargestellt, vor allem während der Märzrevolution 1848. Das
Kapitel „Zwölf Jahre Hitler", aus dem sich „für rückblickende Fernsehreportagen freilich nicht alles
(eignet)", kann Martin Hüriimann als Zeitgenosse schreiben, wobei er vor allem auf die Vorgänge in der
Preußischen Akademie der Künste eingeht. Hürlimanns Schilderung dieses Jahrzwölfts unterscheidet sich
wohltuend von vergleichbaren Darstellungen, die nur voreingenommene Urteile zementieren wollen. Das
Ende Berlins ist bekannt: Am 23. April 1945 stellen U-Bahn und Stadtbahn den Betrieb ein, am 25. April ist
der Ring um Berlin geschlossen (und am Sonnabend, 28. April, 15 Uhr findet bei Landre, Neue Friedrichstraße 83, der letzte Vortrag des Vereins für die Geschichte Berlins statt: Dr. Paul Rehfeld „Der erste
Verkehr von Massengütern auf der Berliner Eisenbahn", wie man hier ergänzen darf).
Im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Leitung des Kupferstichkabinetts interessiert
die Aussage des Verfassers, daß dieses allein schon durch seine Zeichnungen von Dürer und Rembrandt
eine der bedeutendsten graphischen Sammlungen der Welt ist. Einige Irrtümer (oder Druckfehler) lassen
sich bei einer Neuauflage sicher berücksichtigen. So muß es statt Niederbarmen Niederbarnim heißen
(S. 148), Philipp Scheidemann rief auch nicht von einem Fenster der Reichskanzlei, sondern von der
Freitreppe des Reichstags die Republik aus (S. 204), und Hegel schließlich ist 1831 nicht ein Opfer der Pest
geworden, die schon um 1720 in Europa erloschen ist, sondern er starb an Cholera. Nur an einer Stelle
möchte man wirklich mit dem so sympathischen Martin Hüriimann hadern, wo er schreibt: „Im August
(1961) sichert die DDR ihre Grenze durch die Berliner Mauer." Hier darf man den Schweizerbürger fragen:
Vor was oder gegen wen? Er meinte wohl „sichert"!
Die uneingeschränkte Empfehlung für dieses kenntnisreiche, gut geschriebene und glänzend ausgestattete
Buch kann durch eine solche Meinungsverschiedenheit indes nicht angetastet werden.
H. G. Schultze-Bemdt
Gerd Koischwitz: Sechs Dörfer in Sumpf und Sand. Geschichte des Bezirkes Reinickendorf von Berlin.
Wilhelm Möller OHG o. J. (1983), 250 Seiten, mit zahlreichen alten Fotos und Faksimiles, 39,80 DM.
Das Buch füllt eine Lücke, nämlich das in den letzten Jahren fast in Vergessenheit geratene volks- und
heimatkundliche Wissen wieder in die Gegenwart einzubeziehen, was früher die Lehrer mit erstaunlichem
Rüstzeug an Wissen betrieben. Es will ein Heimatbuch für Jüngere und Ältere werden. So macht es
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unterhalb des großstädtischen Erscheinungsbildes die mittelalterlichen dörflichen Strukturen bis hin zu
den Flurnamen sichtbar.
Es will in der Nachfolge der didaktischen Geschichtsbilder aus den zwanziger Jahren von den großen
schicksalbewegenden Kräften wie dem Dreißigjährigen Krieg oder preußischer Staatlichkeit erzählen und
bezieht dabei die dingliche Kultur wie Bienenzucht und Fischfang, Fruchtwechsel und Schulzenaufsicht,
Mühlenkultur und Schulhandwerk mit ein. Der Dörfler, wie er es bis ins zweite Drittel des vorigen
Jahrhunderts noch war, wird in allen Lebensbereichen bis hin zur „sprechenden Stille" der märkischen
Landschaft geschildert (S. 112) und begriffen in seinem Eingebundensein in die sozialen Ordnungsmächte
von Ritter- und Bürgertum, Klöstern und Kirche, Schule und Militär, Dorf- und Kirchenordnung.
In seinem Bemühen, Geschichte als Alltagsgeschehen dieser Art zu erfassen, ist der Verfasser aber auf
halbem Wege stehengeblieben, die Volkskunde in eine erneuerte Sicht der historischen Kräfte einzuordnen. Das Lehnswesen z. B. wird noch immer einsträngig gesehen, obwohl man heute weiß, wie vielschichtig in der Ostkolonisation die geistigen und politischen Leitlinien des Deutschen Ritterordens und der
Klöster waren, die ebenso wie die Markgrafen auch auf dem Barnim gesiedelt haben. Man kann dem
Verfasser noch zugestehen, daß er die durch die politische Spaltung abgetrennten „Sechs Dörfer" als eine
siedlungsgeographische Einheit von „Sumpf und Sand" der Nacheiszeit zusammenfaßt. Da es sich aber
um den prägnantesten Berliner Bezirk mit gut erhaltenen mittelalterlichen Dorfkernen handelt, fragt man,
wo bleibt die prägende Kraft der Ordensritter und der Prämonstratenser? Der Leser vermißt die Hinweise
auf das Spannungsfeld zwischen Lehnin, das zugleich Grablege der askanischen Markgrafen war, und der
(Franziskaner-)Klosterkiche in Berlin, wie es baugeschichtliche Untersuchungen schon dargetan haben.
Es entsteht hier mehr ein Anschauungsbild von den Rittern auf dem Barnim als von der Stadt und
Residenz Berlin als Kraftzentrum. So war auch die Auswirkung des Steinschen Regulierungsedikts und der
Gewerbeordnung von stärkerer historischer Wirkungskraft.
Dennoch bleibt es verdienstlich, ein so umfangreiches Stoffgebiet auf knappem Raum zusammenzudrängen, ansprechend zu erzählen und die Spuren der Geschichtlichkeit allenthalben sichtbar werden zu lassen.
Vom reichhaltigen Bildmaterial geht der Reiz des Altertümlichen aus, es macht den Einklang von
erhaltener Dörflichkeit und moderner Großstadt spürbar. Es kann der überall sich regenden Ortsteilerforschung der Bürger Hilfestellung geben, die der Selbstfindung dient. Dann aber mag die zuweilen altertümelnde Sprache stören.
Eine zweite Auflage hat einige Unrichtigkeiten zu verbessern, vor allem den schlimmen Irrtum, bei dem
großartigen Westwerk auf Seite 27 handele es sich um Lehnin; es ist Chorin. - Wenn es ein Nachschlagewerk werden soll, fehlt noch ein Namen- und Sachregister sowie ein Abbildungsverzeichnis.
Christiane Knop
Im II. Vierteljahr 1984
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Hartmut Dach, Fertigungsplaner
Eiserfelder Ring 8,1000 Berlin 20
Tel. 3 727616
(Illigner)
Gerda Klann, Rentnerin
Jungfernheideweg 33,1000 Berlin 13
Tel. 3 823433
(Pretzsch)
Dr. Ingrid Krause, Ärztin
Hagenstraße 29,1000 Berlin 33
Tel. 8 26 29 47
(Schwermer)
Dr. Otmar Liegl, Augen-Chefarzt
Grünlingweg 6,1000 Berlin 47
Tel. 6 0196 01
(Schriftführer)
Sigmar Radau, Chemieingenieur
Severingstraße 23,1000 Berlin 47
Tel. 60488 28
(Dr. Balan)
Rita Schelling, Sekretärin
Uhlandstraße 42,1000 Berlin 15
Tel. 883 5896
(Dach)
Wulf Wilbert, Rechtsanwalt
Pr.-Fr.-Leopold-Straße 30,1000 Berlin 38
Tel. 8 03 45 30
(Schriftführer)
Hans-Joachim Wolf, Volkswirt
Reichsstraße 31,1000 Berlin 19
Tel. 3 04 22 97
(Wollschlaeger)
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Veranstaltungen im III. Quartal 1984
1. Sonnabend, den 21. Juli 1984, 10.00 Uhr: Sommerausflug 1984. „Die Spandauer Zitadelle
nach den neuesten Bauforschungen und archäologischen Erkenntnissen." Leitung der Besichtigung Herr Jürgen Grothe, Dauer etwa 3 Stunden. Anschließend um 13.15 Uhr Gelegenheit
zum Mittagessen in der Zitadellenschenke: Spießbraten mit Kraut und Specksalat 18,50 DM.
Telefonische Anmeldung für das Mittagessen täglich ab 19.00 Uhr unter der Nummer
8 5127 39 bis zum 18. Juli. Treffpunkt 9.50 Uhr am Torhaus der Zitadelle, Zitadellenweg.
Sommerpause im Monat August.
2. Donnerstag, den 6. September 1984,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag mit zwei Projektoren von
Frau Ingeborg Hensler und Herrn Oswald Hensler: „Der Potsdamer und der Leipziger Platz
mit ihrer Umgebung einst und jetzt." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
3. Freitag, den 7. September, bis Sonntag, den 9. September 1984: Studienfahrt 1984 nach Eutin.
Leitung Herr Dr. Hans Günter Schultze-Berndt.
4. Sonntag, den 16. September 1984,10.00 Uhr: „Von der Invalidensiedlung nach ,Kaiserlich'Frohnau - Eine architekturhistorisch-gartenkünstlerische Stadtteilbegehung." Leitung Herr
Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt Staehlerweg, an der Brücke der Nordbahn. (Endhaltestelle des Busses 15, vom U-Bhf. Tegel kommend. Abfahrt des Busses 15 vom U-Bhf. Tegel um
9.29 Uhr.) Endpunkt der 3-Stunden-Wanderung ist der Bahnhof Frohnau (Busse 12 und 15).
Wir bitten unsere Mitglieder, bei Wohnungswechsel die neue Anschrift umgehend der
Geschäftsstelle bekanntzugeben, da Postvertriebsstücke (unsere „Mitteilungen") trotz Nachsendeantrag nicht nachgeschickt werden.
Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19.
Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 3 23 28 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89,1000 Berlin 61, Telefon 6936791.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 0381801200.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 3022 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
232
Fachabt. der Berliner MadtbiDitotneic
n i U 1 J 1
*- MITTEILUNGEN W
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
G E G R Ü N D E T 1865
80. Jahrgang
Heft 4
Oktober 1984
Der engere Wettbewerb zur Erlangung von Entwürfen für eine Bismarck-Warte auf Westend
bei Charlottenburg. * Zur Ausführung gewählter Entwurf von Prof. Dr. Bruno Schmitz in
Charlottenburg. * Gesamt-Ansicht aus der Vogelschau mit Angabe der Umgebung des Denkmales. * Deutsche Bauzeitung, XLV. Jahrgang 1911, No. 53.
Diß/Bismarckwarte bei Fürstenbrunn
'Ein Kapitel Planungsgeschichte
Von Arne Hengsbach
Zu den Nationaldenkmälern, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert deutsch-nationaler Gesinnung und Stimmung der bürgerlichen Schichten ihre Entstehung verdankten, gehören auch die
vielen Bismarcktürme, -säulen und -warten, die in den zwei Jahrzehnten von 1895 bis zum
Ausbruch des Ersten Weltkriegs überall in Deutschland geplant und ausgeführt wurden. Neben
den Personendenkmälern wurden auch Architekturdenkmäler errichtet, bei denen die figürliche Darstellung des Reichskanzlers gegenüber dem monumentalen Bauwerk mehr oder
weniger zurücktrat. Vor allem zwei Formen wurden bei diesen der Erinnerung an den Gründer
des Deutschen Kaiserreichs von 1871 gewidmeten oder geweihten Architekturdenkmälern
beliebt: der Turm in immer wieder abgewandelten Varianten und, wenn auch nicht so häufig,
der Rundbau, wie er bereits bei der Kehlheimer Befreiungshalle von 1863 verwendet worden
war, auch er in verschiedenen Spielarten.
Die Bismarckmonumente wurden auf Bergeshöhen oder im Flachland wenigstens auf Anhöhen errichtet; weithin sichtbar solten sie von dem Ruhme des Mannes, der die Nation in einem
Reiche geeint hatte, künden. Zugleich aber hatten die Bismarcktürme usw. noch eine andere
Funktion, sie dienten als Aussichtstürme, von denen aus ein Blick weit in die tiefer gelegene
Landschaft möglich war. Die Türme krönten Feuerbecken, in denen an nationalen Gedenktagen wie dem Reichsgründungstag, Bismarcks Geburtstag oder dem Sedantag ein Feuer
entzündet wurde, das weit ins Land hin leuchtete. Die Flammen, die da loderten, boten
vielfältige Symbolik; sie sollten erinnern an Sieg, Opfer, Reinheit und andere Begriffe aus einer
völkisch-germanischen Gedankenwelt.
Es gab einige Architekten, die sich auf das Entwerfen solcher Denkmäler spezialisiert hatten,
dazu zählten vor allem Wilhelm Kreis (1873-1955), Bruno Möhring (1863-1929) und Bruno
Schmitz (1858-1916), daneben waren aber auch wenig bekannte Baukünstler Schöpfer von
Bismarckmonumenten. In zahlreichen Städten der Mark Brandenburg sind Bismarcktürme
und -warten entstanden. Hier seien nur zwei Beispiele genannt: die Bismarcksäule von Wilhelm
Kreis am östlichen Stadtrand von Frankfurt a. O. (1901) und die Bismarckwarte auf dem
Marienberg in Brandenburg a. H. nach einem Entwurf von Bruno Möhring (1908). Auf
Berliner Gebiet wurde eine Bismarckwarte 1904 auf den Müggelbergen errichtet. Sie kann als
vereinfachte und verkleinerte Variante des Kyffhäuser-Denkmaltyps eingeordnet werden. Der
über 30 m hohe, mit Rüdersdorfer Kalksteinen verkleidete Bau, der 120 000 Mark gekostet
hatte, war von dem sonst nicht hervorgetretenen Architekten Otto Rietz in Schöneberg
entworfen worden. Zur Aussichtsplattform führten 166 Stufen; auch hier wurden an auf
Bismarck bezogenen Gedenktagen die üblichen Leuchtfeuer entfacht.
Die Vorstellungen, Anhöhen mit nationalen Denkmälern zu krönen, fand auch Eingang in die
Berliner Stadtplanung. Bruno Möhring, der auch als Berliner Städtebauer und Planer hervorgetreten ist, hatte bei einem von der Stadt Schöneberg im Jahre 1910 ausgeschriebenen
Wettbewerb für einen Bebauungsplan des Schöneberger Südgeländes den ersten Preis erhalten.
In einer Besprechung des Möhringschen Entwurfs in der „Deutschen Bauzeitung" vom 10. Mai
1911 wird bemerkt: „Die höchste und südlichste Stelle bekrönt eine Denkmal-Architektur, die
sich als Sehpunkt in der Achse der Prachtstraße darbietet." In einer Entwurfsskizze „Südliche
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Platzanlage mit Blick über den Sportpark nach dem Bismarck-Denkmal" ist ein turmartiges
Gebäude mit einem Standbild erkennbar.
Möhring selbst erläuterte in der „Bauwelt" vom 18. März 1911 sein Projekt: „Auf der höchsten
Stelle des Geländes ist ein monumentales Denkmal geplant, das in der Achse der 60 m breiten
Prachtstraße errichtet ist und als Wahrzeichen des neuerschlossenen Geländes weithin sichtbar
die Gegend beherrschen soll. Das Denkmal ist in der Art der Bismarcksäulen gedacht." Als
Standort für das Monument war die Gegend des heutigen „Insulaners" vorgesehen, an der
Grenze von Schöneberg und Südende, die schon immer einige Bodenerhebungen aufwies. Zu
einer Verwirklichung der stolzen Schöneberger Planungen ist es bekanntlich nie gekommen.
Der Vorschlag Möhrings bietet aber ein gutes Beispiel für die monumentalen, barocken
Vorbildern verpflichteten Stadtplanungen der späten Wilhelminischen Ära.
Die allerorten vorhandene Aufgeschlossenheit für die Aufstellung patriotischer Denkmale ist
auch für das Projekt einer Bismarckwarte auf den Westender Höhen bestimmend gewesen, das
in Vorbereitung und Planung erheblich weiter gediehen war als die Möhringschen Anregungen
für ein derartiges Monument in Schöneberg-Süd. Auch das Westender Vorhaben konnte nicht
verwirklicht werden; es bietet aber ein gutes Beispiel für jene großzügig gehaltenen Entwürfe
der Denkmalsbaukunst und des Städtebaus in jenem Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Ersten
Weltkriegs 1914.
Die ersten Nachrichten über ein Bismarckdenkmal in Westend finden wir in der „Vossischen
Zeitung" vom 4. April 1905: „Eine Bismarckwarte soll auch im Westen Berlins entstehen. Wie
Direktor von Schütz auf dem Bismarckkommers mitteilte, hat der Berliner Bismarckausschuß
am Fürstenbrunnen, im Westen von Berlin, ein zwei Morgen großes Grundstück gekauft und
beschlossen, dort eine Bismarckwarte zu errichten, die alljährlich das Andenken an den
Altreichskanzler mit Feuerflammen feiern soll." Ähnlich auch der Spandauer „Anzeiger für das
Havelland", ebenfalls vom 4. April 1905: „Ein Bismarck-Turm wird auf der Höhe von Fürstenbrunn errichtet werden. Zwei Morgen Terrain hat der Landwirtschaftsminister, wie auf dem
Bismarck-Kommers in der Berliner Philharmonie mitgeteilt wurde, für diesen Zweck bereits
hergegeben. Die Sammlungen für den Turmbau sind im Gange."
Nahe am Abfall der Diluvialplatte des Teltow zum Spreetal, oberhalb der im Jahre 1905
eröffneten Vorortbahn-Haltestelle „Fürstenbrunn" sollte die Bismarckwarte ihren Standort
haben. Von der 53 m hohen Erhebung, die etwa 20 m über dem Spreetal lag, hatte man
tatsächlich einen weiten Blick über die meist noch unberührten Spreewiesen bis nach Spandau
und über die dunkle Waldkulisse der Jungfernheide hinweg bis nach Tegel zu den dort gerade
im Bau befindlichen großen Gasometern der Berliner Gaswerke. Es bestand aber ein Unterschied zu den Bismarckdenkmälern in anderen Städten. Dort lagen sie nämlich im Bereich der
äußersten Stadtrandzone oder noch jenseits von dieser. Selten wurde ein Standort im Stadtgebiet selbst gewählt wie in Brandenburg a.H., wo die Bismarckwarte auf dem Marienberg
erbaut worden war.
Zu jener Zeit, da der Entschluß gefaßt wurde, auf dem Westender Plateau ein Bismarckdenkmal zu plazieren, war das Gelände Nordwestends zwischen dem Spandauer Damm damals „Spandauer Chaussee" - und der Hamburger und Lehrter Eisenbahn noch unbebaut,
und der für das Denkmal in Aussicht genommene Platz wurde 1905 einmal als ein „gerade der
Haltestelle (Fürstenbrunn) gegenüber liegender, ziemlich scharf hervorspringender Sandhügel"
bezeichnet. Es war aber schon damals abzusehen, daß das etwa 150 ha umfassende Gelände
Nordwestends einmal der Bebauung zugeführt werden würde, wobei allerdings der Zeitpunkt
für eine solche Entwicklung noch völlig ungewiß blieb. Im Endzustand konnte also nicht wie
anderwärts ein einsam gelegenes Monument auf der Höhe entstehen, sondern es mußte in die
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allerdings noch völlig unbekannten Strukturen eines später hier entstehenden Stadtteils eingepaßt werden. Die bauliche Entwicklung konnte hier also nicht wie sonst einsträngig verlaufen.
Gerade zu jener Zeit, als die ersten Denkmalspläne für Westend im Mai 1905 bekannt wurden,
brachten die Grundbesitzer, die in Nordwestend Terrains hatten, bei den städtischen Körperschaften eine „Petition" ein, in der sie die Festsetzung von Baufluchtlinien, also einen Bebauungsplan, forderten. Ein solcher war die rechtliche Voraussetzung für die Durchführung von
Erschließungsmaßnahmen. Solange kein Bebauungsplan vorlag, mußten die Eigentümer ihre
Grundstücke ungenutzt liegen lassen und hatten keine Möglichkeit, mit diesen als Bauland
Terraingeschäfte zu betreiben.
Die Charlottenburger Kommunalpolitiker mochten allerdings nicht oder wenigstens noch
nicht auf die von den Grundbesitzern geäußerten Wünsche eingehen. Der Stadtbaurat August
Bredtschneider (1855-1924) hatte seit 1900 die gesamte kommunale Charlottenburger Städtebaupolitik und Stadtplanung maßgeblich gestaltet und beeinflußt. Die Ziele seiner und der
Charlottenburger Baupolitik hat er unmißverständlich herausgestellt. Über einen in anderer
Angelegenheit am 29. August 1905 abgehaltenen Ortstermin hat der Siemensdirektor Spiecker
einen Vermerk aufgesetzt, in dem auch die Ausführungen Bredtschneiders über die bauliche
Gestaltung der Gegend bei Fürstenbrunn festgehalten sind. Die Stadtverwaltung hätte „an der
ganzen Entwicklung der Dinge hier kein Interesse", sie würde vielmehr alles tun, um die
Aufschließung der Gebiete um die neue Haltestelle Fürstenbrunn herum nach Möglichkeit
zurückzuhalten. Es sei gegen das Interesse der Stadt, zu viele Terrains auf einmal aufzuschließen, weil es nicht genug reiche Leute gebe, die diese beziehen könnten, und das ganze
Programm der Kommunalverwaltung sei darauf gegründet, daß nur reiche Leute nach Charlottenburg herangezogen werden sollten, und diese seien nicht zu Hunderten und Tausenden
zugleich heranzuziehen. Deswegen müsse die Stadt mit der Aufschließung neuer Terrains
möglichst langsam und vorsichtig vorgehen. Bredtschneider glaubte, daß erst „die nach uns
folgende Generation" erleben werde, daß die Gegend auf dieser Seite der Stadt für die
Bebauung aufgeschlossen würde. Zu dem geplanten Denkmal bemerkte er, „daß die Ausführung möglichst lange hintan gehalten werden sollte, daß übrigens der Zugang zu dem Denkmal
von der Station Fürstenbrunn aus gegeben sein werde".
In Charlottenburg wurde nach den von Bredtschneider dargelegten Grundsätzen verfahren.
Die Stadt betrieb zu jener Zeit in erster Linie den Ausbau der Bismarckstraße und des
Kaiserdamms - der seiner Zeit bis zur Weichbildgrenze am Bahnhof Heerstraße ging - zu
Prachtstraßen sowie die Erschließung eines völlig neuen Stadtteils, Neuwestends, der sich vom
Spandauer Damm bis zur Heerstraße hinzog und von der Reichsstraße als Magistrale durchschnitten wurde. Gemeinsam mit der Terraingesellschaft, die den künftigen Stadtteil parzellieren und die Baugrundstücke mit Gewinn veräußern wollte, führte Charlottenburg die aufwendige Erschließung durch. Um die gewünschten begüterten Bevölkerungsschichten zur Übersiedlung in das abseits gelegene Neuwestend zu veranlassen, mußten außer Straßen auch
öffentliche Verkehrsmittel geschaffen werden, die es den künftigen Bewohnern ermöglichten,
schnell und bequem ihre Büros und Geschäfte in der City zu erreichen. So beteiligte sich die
Stadt auch an den Kosten für den Bau der Untergrundbahn nach Neuwestend. Bei diesem
Engagement für ein großes Projekt, das zudem noch in Konkurrenz stand mit anderen in den
westlichen Vorortgemeinden wie Wilmersdorf, Dahlem, Zehlendorf usw., die ebenfalls um den
Zuzug wohlhabender Bürger warben, mußten Erschließungen weiterer großer Gebiete zurückgestellt werden. Nicht nur Nordwestend, sondern auch das gesamte nördliche Stadtgebiet
zwischen der Spandauer Grenze und Plötzensee wurde von der Bebauung ausgeschlossen.
Die Nachrichten über die Bismarckwarte bei Westend sind in den folgenden Jahren nur
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Geplanter Standort
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spärlich. Wie in den meisten derartigen Fällen hatte sich auch hier ein Verein gebildet, der die
Verwirklichung des Projekts vorbereitete und Spendensammlungen zur Deckung der Baukosten durchführte. Das „Teltower Kreisblatt" berichtete am 3. Oktober 1907: „Für die Berliner
Bismarckwarte, die an der Spandauer Chaussee nahe bei Fürstenbrunn entstehen soll, werden
jetzt aufs neue Sammlungen eingeleitet... Abgesehen von dem Grundstück, das einen Wert
von 8299 Mark hat, verfügt der Verein zur Zeit über Barmittel im Betrag von 8768 Mark. Die
Kosten der Bismarckwarte sind aber auf rund 100000 Mark veranschlagt. Die Bismarckwarte
soll eine ähnliche Form wie die auf den Müggelbergen errichtete erhalten."
Zu den Spendern gehörten nach dem „Teltower Kreisblatt" vom 7. Juli 1908 auch die Firmen
Siemens & Halske AG und Siemens-Schuckertwerke GmbH, die für die Bismarckwarte
zusammen 10000 Mark gezeichnet hatten. Die Siemensfirmen waren Nachbarn geworden. In
dem Spreetal zu Füßen des Hügels, der das Bismarckdenkmal aufnehmen sollte, war hauptsächlich in den Jahren von 1905 bis 1913 eine große Fabrikstadt entstanden, die sich vom
nördlichen Spreeufer bei Füstenbrunn nach Norden und Nordwesten hin erstreckte, mit
großen, z.T. 25 m hohen Stockwerksbauten, ausgedehnten Hallen, einem Kraftwerk, Heizwerken, einem Industriehafen, einer Werksgüterbahn mit einem verzweigten Gleisnetz, aber
auch zahlreichen Schuppen und Behelfsbauten. An die Industriebauten schloß sich die Wohnstadt zu beiden Seiten der Nonnendammallee an, deren Bau ebenfalls 1905 begonnen wurde
und die 1914 mehr als 7000 Bewohner zählte. 1914 erhielt die neue Industrie- und Wohnsiedlung
den Namen „Siemensstadt". Sie lag unmittelbar vor den Charlottenburger Grenzen auf Gelände, das Spandau in seinen Stadtkreis eingemeinden konnte. Das geschäftige Treiben in
einem großen Industriestandort hätte in einem sonderbaren Kontrast zu einer nationalen
Weihestätte gestanden, das die roten Ziegelfronten der Werksbauten in 300 bis 600 m Entfernung nicht allzu sehr überragt hätte. Doch nahm man dieses seltsame Konglomerat hin.
Früher, als Bredtschneider es vorausgesagt hatte, sah sich Charlottenburg dann doch genötigt,
sich mit der künftigen städtebaulichen Gestaltung Nordwestends zu beschäftigen. Das hatten
nicht so sehr die Eigentümer, die auf eine Verwertung ihrer Grundstücke drängten, als die Stadt
selbst veranlaßt. Charlottenburg hatte sich zwar damit abgefunden, daß das Gebiet der
Siemensstadt entgegen seinen Bestrebungen nach Spandau eingemeindet worden war, es
strebte aber nun, seit 1908, an, seine Nordgrenze mit Spandau zu verbessern, wobei es folgende
Planungen entwickelte: Die Spree, die zwischen Fürstenbrunn und der Gegend des heutigen
Kraftwerks Reuter in einem flachen Bogen nach Süden verlief, sollte begradigt und dabei nach
Norden in das Spandauer Gebiet bei Sternfeld verschoben werden, um auf dem Gelände
südlich des neuen Spreebettes unter Einbeziehung des alten Flußlaufes einen großen Umschlagund Handelshafen anlegen zu können. Geplant war, die Hafenanlage dem Gelände östlich von
Fürstenbrunn bis etwa an den Wiesendamm auszudehnen und mit Anschlußgleisen zur parallel
verlaufenden Staatsbahn zu versehen.
Die Verhandlungen mit den Staatsbehörden und der Stadt Spandau, die 1908 aufgenommen
wurden, hatten 1914 noch keinen Abschluß gefunden. Zuletzt stand nicht mehr der Hafenbau,
sondern die Verlegung der Spree und mit ihr der Grenze zwischen Charlottenburg und
Spandau in die Mitte der neuen Wasserstraße im Vordergrund der nur langsam fortschreitenden Vorbereitungen für eine Vereinbarung. Diese Wasserbauprojekte hatten zur Folge, daß
auch für das südlich angrenzende Nordwestend entsprechende Planungen aufgenommen
wurden, denn das künftige Hafengelände mußte durch Zufahrtsstraßen mit dem Charlottenburger Stadtgebiet verbunden werden.
Für den Stadtteil Nordwestend wurde 1911 eine neue Baupolizeiverordnung erlassen, die die
hochgeschossige Bebauung, die hier vorgesehen gewesen war, herunterstufte und dafür Bau238
klassen mit geringerer Stockwerkzahl und entsprechend weniger Ausnutzung der Baugrundstücke vorsah. Auch das mußte der Bebauungsplan berücksichtigen. Zur gleichen Zeit, als sich
die städtischen Behörden mit den umfangreichen Hafen- und Bebauungsplanentwürfen beschäftigten, war auch der Verein „Bismarck-Warte - Westend" nicht untätig geblieben. Er
hatte im Oktober 1910 einen engeren Wettbewerb für einen Denkmalsbau ausgeschrieben, an
dem drei Architekten beteiligt waren. Preisträger war der in dergleichen Entwürfen geübte
Professor Bruno Schmitz. Die Kosten für den Bau der Warte waren in dem Preisausschreiben
auf 400000 Mark begrenzt, eine Summe, über die der Verein im Jahre 1911 nicht im entferntesten verfügte. Das Vereinsvermögen erreichte damals etwa ein Viertel der beabsichtigten
Bausumme. Schmitz hatte keinen Turm entworfen, sondern einen Rundbau. Die „Bauwelt"
beschrieb am 10. Juni 1911 das Schmitzsche Projekt:
„Der... preisgekrönte Entwurf des Professors Dr. Ing. Bruno Schmitz für die Bismarckwarte
auf der Westender Höhe ... stellt eine 36 m hohe, runde Säulenhalle mit überragender Attika
dar. In der Mitte dieses monumentalen Arkadenkranzes befindet sich ein Feueraltar. ,Dieses
einfache Motiv', sagt Professor Schmitz in seinem Erläuterungsbericht, ,ist von bedeutsamer
Wirkung, die beim Abbrennen des Feuers ins Gewaltige gesteigert wird'... Eine breit gelagerte
möglichst große Masse fügt sich besser in die flache Landschaft ein als ein Turm oder sonstiges
hohes Motiv. Die breite Masse des Bauwerkes verbindet sich in ebensolcher Weise mit der
mächtigen Sanddüne, und es entsteht so eine gewaltige Einheit, die ebensowohl in den
Häusermassen der Stadt sich kraftvoll behauptet als auch die weite Ebene beherrscht... Durch
die Verlegung des Fürstenbrunner Weges sind nicht nur günstige Beleuchtungsverhältnisse
geschaffen, sondern es ist auch dafür gesorgt, daß der Blick auf die Gesamtanlage nie verbaut
werden kann. Aus diesem Grunde hat auch der Bahnhof Fürstenbrunn eine leicht zu bewerkstelligende Verschiebung erfahren. Das Gelände zwischen dem neuen Fürstenbrunner Weg
und der Düne ist in eine dem Monument entsprechende Parkanlage strengen Stils umgewandelt ..."
Auch die „Deutsche Bauzeitung" hat den Schmitzschen Entwurf gewürdigt (am 21. Juni und
5. Juli 1911): „... Das Denkmal bildet den krönenden Punkt einer T-förmigen Platzanlage. Der
nördliche Arm dieses Platzteiles hat zwischen den Hauswandungen eine Breite von etwa 105 m,
die Hauswandungen steigen von Straßenfläche zu einer Höhe von etwa 15 m an und bleiben
damit sehr erheblich unter der Höhe des Denkmales, das... bis zur Oberkante der Attika eine
Höhe von 25 m erreicht, während die Höhe von Denkmal-Fußboden bis Oberkante Umgang
vor der Attika 16 m beträgt. Der innere Durchmesser des Sechzehn-Eckes der Denkmal-Bogenstellung beträgt 40 m ... der äußere Durchmesser des Denkmals beträgt 50 m."
Auf Zusammenhänge zwischen Denkmalsarchitektur und der benachbarten Siemensstadt
weist die „Deutsche Bauzeitung" ebenfalls hin: „Im Norden sind dem Denkmal eine Anzahl
großer industrieller Anlagen vorgelagert, die eine nicht gerade erwünschte Nachbarschaft für
das Bauwerk bilden und höchstwahrscheinlich nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung des
Werkes waren. Denn der Künstler war augenscheinlich bestrebt, den großen Baumassen der
industriellen Anlagen die größere geschlossenere des Denkmalbaues entgegen zu stellen ...
Eine Brücke über die Spree, welcher nach der Bedeutung ihrer Lage monumentaler Charakter
zu geben wäre, verbindet die Denkmal-Anlage mit dem Rohrdamm."
Die notwendige Abstimmung des Denkmalentwurfs mit dem Bebauungsplanentwurf, den das
von Bredtschneider geleitete Charlottenburger Tiefbauamt ausgearbeitet hatte, wurde betrieben. Der Geschäftsbericht des Vereins „Bismarck-Warte - Westend" für das Geschäftsjahr
1911/12 gab sich optimistisch: „... In diesem der Stadtverordneten-Versammlung von Charlottenburg bereits zur Beschlußfassung vorgelegten Plane, der aber noch der behördlichen
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Genehmigung bedarf, ist dem Bruno Schmitzschen Entwurf in weitgehender Weise Rechnung
getragen. Mit Ausnahme des vorgelegten Baufluchtlinienplanes wird unsere Vereinsaufgabe
einen gewaltigen Schritt der Lösung näher gebracht werden. Der herrlich gelegene Bauplatz auf
der Höhe von Westend liegt bekanntlich innerhalb eines der Bautätigkeit noch zu erschließenden Stadtteiles, dem einerseits die Bismarckwarte berufen ist, ein monumentales und charakteristisches Gepräge zu verleihen, während andererseits die Bauweise des Stadtteils wieder die
Wartenanlage zur höchsten Wirkung bringen soll."
Der Entwurf hätte im übrigen eine erhebliche Erweiterung des Baugrundstücks erfordert. Es
bedurfte zahlreicher Überlegungen über die genaue Lage des Denkmals, seine Orientierung
und die Art der Umgebung, „um den verschiedenen, auch besonders durch den Bahnhof
Fürstenbrunn bedingten Interessen gerecht zu werden", wie der rührige und tatkräftige Vorsitzende des Vereins, der Generalmajor z.D. G. Becker, einmal ausführte. So brachte z. B. der
städtische Entwurf für Nordwestend die Notwendigkeit „des Zurückrückens des Bauplatzes für
die Warte nach Süden zum Zwecke der Gewinnung des Raumes für einen südlich des
Eisenbahnstranges Berlin-Spandau und an diesem entlang führenden Verkehrsweg".
Am 4. März 1912 lag dem Beirat des Vereins ein neuer - privater - Bebauungsplanentwurf vor,
„welchen die Boden-Aktien-Gesellschaft Charlottenburg West hat anfertigen lassen, und
welcher als Verfasser die Unterschrift Taut trägt"; bei dem Planverfasser hat es sich um Bruno
Taut gehandelt. Der Geheime Baurat Otto March referierte über diese Tautsche Bearbeitung,
die eine Reihe von Vorzügen aufweise, „so z. B. die Entwicklung der Hauptavenue von der
Spandau-Charlottenburger Chaussee nach der Bismarck-Warte. Die Breite dieser Avenue
könnte indessen auf 50 m beschränkt werden. Ein großer Vorzug des Taut'schen Planes liegt
darin, daß die Avenue nur einmal durch eine große Verkehrsstraße durchschnitten wird ..."
Die von Taut offensichtlich vorgesehene breite barocke Achse, die auf das Denkmal zuläuft,
gehört zu dem Motivschatz der Stadtbaukunst jener Jahre, sie wurde wiederholt in Vorschlägen für eine künftige Bebauung Berliner Vororte verwendet. In den Tautschen Entwürfen für
die Gartenstadt Falkenberg und die Bebauung Gatows und Kladows (1913) werden derartige
breite und repräsentative Straßenzüge oder Straßenteile ebenfalls angedeutet.
Mit diesen Nachrichten über eine vielseitige Planungstätigkeit für die Gestaltung Nordwestends und der Bismarckwarte hört der Fluß der Informationen über diese Gegenstände auf. In
der folgenden Zeit gibt es nur spärliche Mitteilungen über die weitere Entwicklung, und die war
negativ. Der Bebauungsplan, den Bredtschneiders Behörden ausgearbeitet hatten, kam nicht
zur Festsetzung. Der „Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Charlottenburg" für 1914 teilt mit: „Für das 140 Hektar große Stadtgebiet von
Nordwestend, zwischen Spree und Spandauer Chaussee gelegen, wurde ein neuer Bebauungsplan in Bearbeitung genommen."
Die Forderungen der Grundbesitzer nach einer baldigen Erschließung ihrer Terrains in Nordwestend wurden auch nicht mehr so nachdrücklich erhoben. Auf dem Grundstücksmarkt
bestand zu jener Zeit eine Flaute. Die Bebauung des mit hohem Kostenaufwand von der
Neuwestend-Gesellschaft und der Stadt Charlottenburg ins Leben gerufenen Stadtteils am
Theodor-Heuß-Platz und an der Reichsstraße schritt zögernd voran, nur auf dem kurzen
Teilstück zwischen dem Platz und der Kastanienallee wurde die Reichsstraße mit „herrschaftlichen" Mietshäusern bebaut, im übrigen liefen die abends hellerleuchteten Straßen durch leeres
Gelände. Die Käufer von Bauparzellen hielten sich zurück, außerdem war das Angebot an
Baugrundstücken ähnlicher Art in den Berliner Vororten reichlich, in Wilmersdorf z. B., am
Rüdesheimer Platz, entstand etwa zur gleichen Zeit ebenfalls ein Wohnviertel für anspruchsvolle Mieter des gehobenen Mittelstandes.
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Das Westender Plateau bei Fürstenbrunn, von Siemensstadt aus gesehen, um 1925. Die Bismarckwarte
sollte auf der Sandfläche, rechts im Bild, errichtet werden.
Foto: Siemens-Archiv
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So war in Nordwestend die Neigung geringer geworden, erhebliche Mittel in eine Aufschließung zu investieren, deren wirtschaftlicher Erfolg zunächst fraglich schien. Hinzu kam, daß die
neue Bauordnung für Nord Westend die bauliche Ausnutzung der Grundstücke verringert hat;
das schlug natürlich auf die Grundstückswerte durch. Es war ein Unterschied, ob ein Baugrundstück zu 3/10 bzw. 4/10 oder aber zu 5/10 genutzt werden durfte. Das alles wirkte sich auch auf
das Projekt der Bismarckwarte aus; in unerschlossenem Gelände ohne festgesetzte Zugangsstraßen wäre der Bau nicht auszuführen gewesen. Aber auch andere Faktoren beeinflußten den
Denkmalsplan ungünstig.
Der „Anzeiger für das Havelland" brachte am 2. April 1914 eine Übersicht über den Werdegang
des nicht verwirklichten Monuments: „Aus Anlaß des gestrigen Geburtstags des Altreichskanzlers dürfte es interessieren, zu erfahren, was aus dem Plan einer Bismarck-Warte für Berlin
und die westlichen Vororte auf der Höhe von Westend geworden ist, für die auch in Spandau
gesammelt worden ist. Dieses Bauwerk sollte innerhalb Groß-Berlins ein Gegenstück zu der
Bismarck-Warte auf den Müggelbergen im Osten sein. Wie erinnerlich, hatte der Verein
Bismarck-Warte Westend vor drei Jahren einen engern Wettbewerb ... veranstaltet, aus dem
Bruno Schmitz als Sieger hervorging... Der Verein hatte schon damals etwa die Hälfte der auf
400000 Mark veranschlagten Baukosten gesammelt und hoffte, die Bismarck-Warte zum
100. Geburtstag Bismarcks, am 1. April 1915 eröffnen zu können. Dieser Wunsch wird sich aber
nicht verwirklichen lassen. Der eifrigste Förderer des Gedankens, auf der Höhe von Westend
eine Bismarck-Warte zu errichten, Generalmajor z.D. Becker ist im vorigen Jahre gestorben.
Dazu kam, daß das Gelände von Nordwestend in eine niedrigere Bauklasse versetzt wurde, so
daß es der beteiligten Terrain-Gesellschaft aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich war, das
erforderliche Gelände, wie ursprünglich beabsichtigt war, unentgeltlich zur Verfügung zu
stellen. Dieser Platz auf der Höhe von Westend kommt daher für die Bismarck-Warte nicht
mehr in Frage. Staatsminister v. Podbielski hat sich nun, wie bekannt, der Sache angenommen,
und es besteht jetzt die Aussicht, einen geeigneten Platz an der Döberitzer Heerstraße zur
Errichtung der Bismarck-Warte zu erhalten."
Wenige Monate später begann der Erste Weltkrieg, jede weitere Beschäftigung mit derlei
Planungen war nun ausgeschlossen. Ein patriotischer Wunsch, an dessen Erfüllung man neun
Jahre hindurch geglaubt hatte, mußte aufgegeben werden. Es wurde verwehten Spuren nachgegangen, das, was sich noch aufspüren ließ, zeigt, wie stark auch in der späten Wilhelminischen Zeit noch die Bismarck-Verehrung war, aber auch die Lebhaftigkeit, Phantasie und
Großzügigkeit der Raumgestaltung der damaligen Stadtplanung und die Einwirkung barocker
Vorbilder auf den Städtebau.
Anschrift des Verfassers:
Arne Hengsbach, Joachim-Friedrich-Straße 2, 1000 Berlin 31
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5p0' Jahre Jerusalems-Kirche
Von Renate Goldbach
Der Sage zufolge hat alles damit angefangen, daß der Askanier Albrecht der Bär im Jahre 1134
die Nordmark vom deutschen Kaiser als Fahnlehen erhielt. Dort sollen dann, zwanzig Jahre
später, inmitten von Wildnis, Sümpfen und halb zum Christentum bekehrten wendischen
Einwohnern die Johanniterbrüder, die dem Markgrafen aus dem Heiligen Land gefolgt waren,
das Kirchlein Hierusalem erbaut haben. Es soll genau an der Stelle gestanden haben, an der die
Spree vor den Städten Colin und Berlin in Sumpfgebiet überging.
Tatsächlich findet sich der erste historisch belegte Hinweis auf die Jerusalems-Kirche in einem
Ablaßbrief mehrerer Bischöfe vom 18. Oktober 1484, der anläßlich eines großen verheerenden
Brandes erlassen wurde. Ein Berliner Patrizier namens Müller oder Molner soll diese im Jahr
1484 erwähnte Kapelle gestiftet haben zum Gedenken an eine Wallfahrt nach Jerusalem.
Fest steht auch, daß es sich nicht um eine Kirche, sondern nur um eine kleine Kapelle handelte,
die vor den Stadtmauern von Colin und Berlin stand.
Das sind die Geschichten aus der sehr alten, vorlutherischen Zeit. Erneut erwähnt wird die
Jerusalems-Kirche dann wieder zu der Zeit der Reformation. Damit war auch die JerusalemsKapelle zusammen mit allen anderen Kirchen und Kapellen des Landes evangelisch geworden.
In welcher Form das geschah, sagt uns keine Überlieferung. Erst ein Jahr später - im Jahre 1540
- findet die Kapelle wieder in einem Visitationsprotokoll Erwähnung.
Der Große Kurfürst schenkte die Jerusalems-Kirche 1671 dem Magistrat vom Friedrichswerder, der ein Armenhospital errichten wollte. Mit der Errichtung dieses Hospitals wurde
dann gleichzeitig auch die Jerusalems-Kirche restauriert und repariert. Im Jahre 1689 erweiterte
dann der Baumeister Simonetti den Kirchenbau. Die Gemeinde, die jetzt zur Friedrichstadt
gehörte, wuchs und wuchs, so daß schon einige Jahre später ein weiterer Aus- und Anbau
beschlossen werden mußte.
Mit Beendigung dieses neuen Anbaus wurden dann von 1695 an auch regelmäßige Sonntagsgottesdienste abgehalten. Hierzu ist zu sagen, daß die Jerusalems- und Neue Kirche lange Zeit bis zum Jahre 1930 - ein gemeinsames geistliches Ministerium hatten, das sich aus zwei
lutherischen, zwei reformierten und einem Freiprediger zusammensetzte. Die Prediger der
ersten Jahre nach Einführung regelmäßiger Gottesdienste waren hauptsächlich Rektoren, die
ihr Schulamt weiter ausübten. Der erste lutherische Geistliche war der Prorektor Berger vom
Berlinischen Gymnasium, sein Subrektor Werkmeister der erste reformierte Geistliche. Mit
diesen beiden Geistlichen beginnt für die Jerusalems-Kirche das eigentliche Pfarr- und
Gemeindeleben.
Die Friedrichstadt dehnte sich weiter aus, und trotz der mehrmaligen An- und Umbauten
wurde die Kirche für die Gemeinde zu klein. Friedrich Wilhelm I. verfügte dann auch im Jahre
1725 den Abriß der Jerusalems-Kirche und den Neuaufbau unter der Oberleitung von Philipp
Gerlach. Das Baumaterial wurde vom König gestiftet, und aufsein Geheiß wurde eine Kollekte
ausgeschrieben.
So konnte der Bau zügig vorangehen und am Pfingstsonntag des Jahres 1728 der geistliche
Einweihungsgottesdienst stattfinden. Die neue Kirche hatte zwar noch keinen Turm, aber es
fand sich Rat, indem Prediger und Vorsteher beim König um eine neue Kollekte vorstellig
wurden. Alsbald konnte auch der Turm errichtet werden. Aber möglicherweise war diese
zweite Kollekte zugunsten der Jerusalems-Kirche doch nicht so einträglich, denn wegen
schlechten Baumaterials und zu eilig durchgeführter Bauarbeiten senkte sich der Turm nach
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einer Seite bedenklich, so daß er schon 1747 wieder abgerissen werden mußte. Stehenblieb nur
der massive Unterbau, der mit einem Notdach versehen wurde.
Die reformierte und die lutherische Kirche blieben bis zum Jahr 1830 in der Gemeinde vereint.
Durch das Unionsstatut wurden die Konfessionsunterschiede der beiden zur Jerusalems- und
Neuen Kirche gehörenden Gemeinden beseitigt und eine Teilung in zwei Parochien vorgenommen. Die Parochie der Jerusalems-Kirche erhielt die Grenzen im Süden Mehringplatz
(früher Belle-Alliance-Platz), im Norden Krausenstraße, im Westen Wilhelmstraße und im
Osten Lindenstraße. Für jede der beiden Gemeinden wurden eigene Geistliche und Kirchenbeamte berufen. Gemeinsam blieben die Begräbnisplätze und das Kirchen vermögen sowie das
Prediger- und Witwenhaus in der Friedrichstraße 213. Diese nach dem Unionsstatut 1830
verbliebene Restvermögensgemeinschaft wurde erst 1877 aufgelöst. Danach erhielt die Jerusalems-Kirchen-Gemeinde das Haus Friedrichstraße 213, einen entsprechenden Anteil am
Kapitalvermögen und die ihr speziell vermachten Legate. Gemeinsam blieben die fünf Begräbnisplätze und einige Legate.
Die Jerusalems-Kirche erlebte einen weiteren Ausbau im Jahr 1836 und erhielt ein Jahr später
statt des Notdaches eine neue Spitze für den Turm nach einer Zeichnung des Königlichen
Oberbaudirektors Schinkel.
Aber auch die Geschichte Preußens blieb nicht stehen. Die alten Gegensätze zwischen Preußen
und Frankreich brachen erneut auf und gipfelten im Krieg von 1870/71. Viele deutsche Staaten
hatten sich dieser Auseinandersetzung angeschlossen, und so war es nur folgerichtig, daß 1871
im Spiegelsaal von Versailles mit der Kaiserproklamation ein deutsches Kaiserreich unter
Wilhelm I. mit Berlin als Hauptstadt und dem endgültigen Ausscheiden Österreichs gegründet
wurde.
Und nun wieder zurück zu der Jerusalems-Kirche. Diese wurde 1878/79 nach Plänen und unter
Leitung des Baumeisters Edmund Knoblauch völlig umgebaut. Eine neue Orgel wurde auch
angeschafft. Zitieren wir hier aus der „Illustrierten Zeitung" Nr. 1908 vom 24. Januar 1880:
„Die Hauptstadt des Deutschen Reiches hat zwar viele imposante Bauten aufzuweisen, aber
was ihre Kirchen betrifft, so sind dieselben die schwächste Partie der Spreemetropole. Der Geist
des Protestantismus hat in dieser Richtung sich durch nüchterne Formen geltend gemacht, was
namentlich auch bei dem Dom am Lustgarten der Fall ist. Neuerdings wurde aber ein
bedeutender Schritt gethan, um der Aesthetik auch auf dem Gebiet des Kirchenbaus gebührende Rechnung zu tragen. Dies bekundet die am ersten Adventssonntag des verflossenen
Jahres feierlich eingeweihte Jerusalemskirche. Der Umbau des alten Gotteshauses kommt in
allen seinen Theilen, einschließlich des Thurmhelms, einem Neubau gleich. Der leitende
Baumeister, Edmund Knoblauch in Berlin, hat damit ein Werk geschaffen, welches eines der
schönsten Zierden der Residenz ist, und das ihm zum dauernden Ruhm gereichen wird. Dieser
Erfolg ist um so höher anzuschlagen, als es zu den undankbarsten und schwierigsten Aufgaben
für den Architekten gezählt werden muß, den Umbau eines an sich unschönen und zugleich
unpraktischen Bauwerkes auszuführen."
Besonders hebt der Artikel dann noch die von Wilhelm Sauer erbaute Orgel hervor, deren
ungewöhnliche Klangfülle gerühmt wird. Die Kosten dieses Umbaus wurden bis auf ein
Patronatsgeschenk des Magistrats aus der Gemeindekasse beglichen und betrugen 305 000 RM.
Der Glasmeister Geßel, der die Herstellung sämtlicher Kirchenfenster übernommen hatte,
schenkte der Jerusalems-Kirche ein nach einem Knoblauch-Entwurf gemaltes Fenster „Durch
Kampf zum Frieden". Ein großes Ölbild „Der leidende Christus" spendete ein Kaufmann
namens Ackermann.
Ein weiterer Umbau des Kircheninnern fand in den Gründerjahren statt. Hierbei wurde die
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Die Jerusalems-Kirche um 1740, deren Turm bereits 1747 wegen Baufälligkeit(!) abgetragen werden mußte.
Gasbeleuchtungsanlage durch eine elektrische ersetzt. Die Brüder Siemens stifteten eine
Christusfigur aus Carrara-Marmor des Bildhauers Hüsler. Die Altarbekleidung war eine
Stiftung des Fabrikanten Collani.
Am Anfang des neuen Jahrhunderts wurde Berlin zur Geschäftsstadt. In der Innenstadt
siedelten sich immer mehr Großbanken und Versicherungen an (Deutsche Bank, Dresdner
Bank), ein Kaufhaus nach dem anderen entstand (Wertheim, Tietz, Israel). Auch in der
Friedrichstadt machte sich diese Entwicklung bemerkbar. Neben Siemens und Halske in der
Markgrafenstraße siedelten sich weitere Industriebetriebe an. Das Verlags- und Zeitungsgewerbe um die Gegend Koch-, Zimmer-, Linden- und Jerusalemer Straße breitete sich weiter
aus. Im Volksmund wurde die Jerusalems-Kirche nur noch „Zeitungskirche" genannt. Die
Menschen flohen, soweit sie es sich leisten konnten, in die grünen Außenbezirke. Der Hausvogteiplatz, das Zentrum der Textilindustrie, dehnte sich weiter aus. Es entstanden große
Firmen, und viele jüdische Kaufleute etablierten sich.
Das Berlin der zwanziger Jahre erhielt einen ungeahnten Zuwachs an kultureller Kraft. In
diesen Jahren der Gegensätze wurde aus der doch auch im Kaiserreich noch nicht wirklich
entwickelten Hauptstadt Berlin die Weltstadt Berlin. Hier traf sich alles, was auf kulturellem
und künstlerischem Gebiet Rang und Namen hatte. Aber auch hier entwickelte sich der
Nationalsozialismus, der ab 1933 dem künstlerischen Treiben der Stadt ein jähes Ende
bereitete.
Als die 450-Jahr-Feier unserer Kirche gefeiert wurde, waren die Nationalsozialisten schon an
der Macht, und Deutschland und die Welt versanken in Finsternis. Zur Kirchengeschichte ist
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noch anzumerken, daß durch die Stadtflucht die Gemeinde in der Friedrichstadt so klein
wurde, daß die beiden Gemeinden der Jerusalems- und Neuen Kirche schon 1933 wieder
zusammengeführt wurden.
Als einmalig in der evangelischen Kirchengeschichte ist anzumerken, daß die JerusalemsKirche an den rumänischen Staat verkauft wurde. Dieser zahlte eine Summe von 450000 RM
und erhielt die Zustimmung des Magistrats von Berlin und des Evangelischen Konsistoriums
zum Kaufvertrag, der am 21. August 1941 abgeschlossen wurde. Da die Rumänische Staatskirche nicht gleich einzog, wurden erst einmal Weizensäcke im Mittelschiff gelagert, aus dem
das Gestühl entfernt worden war. Alle Archivalien und die sakralen Gegenstände brachte man
in die Neue Kirche. Am 3. Februar 1945 zerstörte ein Bombenangriff die Jerusalems-Kirche bis
auf wenige Reste. Ebenso erging es der Neuen Kirche und den dort eingelagerten Archivalien
der Jerusalemer.
Bis 1961 stand die Ruine unserer Kirche. So lange brauchte der Berliner Senat, um mit
Rumänien zu einer Einigung zu kommen. Schließlich fand die Sprengung der Überreste am
9. März 1961 statt. Bei der anschließend folgenden Enttrümmerung wurden viele menschliche
Gebeine und Reste von Grabsteinen gefunden. Außerdem wurden Fundamente freigelegt, die
von einer spätmittelalterlichen Kapelle stammen könnten.
In den Jahren bis 1968 hatte unsere Gemeinde Gastrecht im Gemeindehaus der Dreifaltigkeitsgemeinde in der Wilhelmstraße 115.
Am 4. Dezember konnte der Grundstein für das neue Gemeindezentrum der Jerusalems- und
der Neuen Kirchen-Gemeinde durch Generalsuperintendenten Helbich gelegt werden. Die neu
zu errichtende Kirche steht ca. 300 m von ihrem alten Standort entfernt an der Linden-/Ecke
Markgrafenstraße. In den Grundstein wurde eine Urkunde des Verlegers Axel Springer
eingemauert, in der es u.a. heißt: „Mögen das Gemeindezentrum und sein Glockenturm
Meilensteine an der Straße von Berlin nach Jerusalem sein, die es freizuschaufeln gilt."
Am 22. Dezember 1968 konnte das Gemeindezentrum die kirchliche Weihe empfangen. Nach
den Plänen der Architektin Kressmann-Zchach war ein moderner Bau mit dem 306 Plätze
fassenden Gemeindesaal, dem Verwaltungstrakt mit Pfarrwohnung und Jugendräumen entstanden. Der Glockenturm ist fast 30 m hoch mit einem 3 m hohen Kreuz, das abends
angestrahlt wird. Er wurde einschließlich der Glocken von dem Verleger Springer gestiftet, der
hier in unserem Bezirk die alte Tradition des Zeitungsviertels weiterführt. In den Ansprachen,
die von Superintendenten Helbich und dem Kirchenrat Herbert Kriwath gehalten wurden,
gedachten beide auch des Teiles der Gemeinde, die durch die Teilung der Stadt auf der anderen
Seite geblieben ist.
Anschrift der Verfasserin:
Renate Goldbach, Jerusalems- und Neue Kirchen-Gemeinde,
Lindenstraße 85, 1000 Berlin 61
Das Gemeindezentrum der Jerusalems- und Neuen Kirchen-Gemeinde
wurde am 22. Dezember 1968 eingeweiht.
Den Glockenturm stiftete der Berliner Verleger Axel Springer.
246
247
Aus dem Mitgliederkreis
Studienfahrt nach Eutin
Eine ganze Reihe von Absagen kurz vor dem Aufbruch brachte es mit sich, daß die rund 60 Reiseteilnehmer einen geräumigen doppelstöckigen Omnibus zur Verfügung hatten. Dieser brachte sie am
Freitag, dem 7. September 1984, in den Jägerhof Wangelau, wo sie von Dipl.-Ing. H. O. Mieth, Inhaber der
Maschinenfabrik Otto Tuchenhagen, begrüßt, über Produktion und Bedeutung dieses weltweit führenden
Unternehmens aufgeklärt und zu einem guten Mittagsmahl eingeladen wurden. Der Rundgang durch den
Betrieb in Buchen mit seinen 500 Mitarbeitern (davon 130 Ingenieure) vermittelte ein gutes Bild, weswegen
sich Brauereien und Molkereien den der Automatisierung dienenden Erzeugnissen des Hauses Tuchenhagen anvertrauen. Pünktlich konnte dann in Eutin „MS Freischütz II" zu einer Rundfahrt auf dem leider
regenverhangenen Großen Eutiner See geentert werden. Bürgermeister Grimm begrüßte die Gäste seiner
Stadt, der Vorsitzende des Verbandes zur Pflege und Förderung der Heimatkunde im Eutinischen
Gerhard Nauke, getreuer Begleiter auch am folgenden Tag, gab erste Erläuterungen. Für den sehr
instruktiven Spaziergang um den Uklei-See unter Führung Oberförster Schlenzkas hatte sich der Himmel
wieder aufgeklärt, und auch das gute Abendessen im Forsthaus Wüstenfelde am Uklei versöhnte die
Gemüter.
Sonnenschein hieß die Gäste am Sonnabend, dem 8. September 1984, in Eutin willkommen, wo sie im
Schloß liebenswürdig an die Hand genommen und im Wechsel im Kreisheimatmuseum von dessen Leiter
Dr. K.-D. Hahn geführt wurden. Der Stadtrundgang vermittelte dank einleuchtenden Schilderungen
G. Naukes einen hervorragenden Eindruck vom „Weimar des Nordens", in der St.-Michaelis-Kiche
begrüßte Pfarrer Lindow die Gäste und gab dann Hernn Klimm das Wort zu kirchengeschichtlichen und
architektonischen Erläuterungen. Dem Mittagessen im herrlich gelegenen Fissauer Fährhaus folgte der
Besuch der romanischen Kirche Altenkrempe, in der Pastor Tillmann zu Erklärungen zur Verfügung
stand. Allgemein als Höhepunkt der Exkursion wurde der Besuch des Herrenhauses Hasselburg empfunden, dessen Schloßherr, Dr. Andreas Beurmann, alte Instrumente und die Herzen seiner Gäste zum
Klingen brachte. Die größte reetgedeckte Scheune Schleswig-Holsteins, als Schauplatz von Barockopern
ausersehen, ließ die künftige segensreiche Tätigkeit Dr. Beurmanns erahnen und den Wunsch laut werden,
zu einem Konzert nach Hasselburg zurückzukehren. Einer Kaffeetafel im Landhaus Petersen in Bliesdorf
schloß sich dann der Besuch des Zisterzienserklosters Cismar an. Dieser auch sichtbar vom Wetter
begünstigte Tag klang in den Schloßterrassen Eutin aus.
Nachdem die Reisegefährten das Chaos des sonntäglichen Kaffeetrinkens im Hotel am Kellersee teils
humorvoll-gelassen, teils mit energischem Zugriff bewältigt hatten, waren sie für die Ausführungen des
Direktors des Max-Planck-Instituts für Limnologie Plön, Professor Dr. J. Overbeck, sehr aufgeschlossen.
Dieser schilderte die Entwicklung des Instituts aus einer privaten Gründung vor 90 Jahren zu einer Stätte
wissenschaftlichen Forschens von Weltrang, in der heutige Fragen der Ökologie bereits bearbeitet und
grundlegend erforscht wurden, bevor diese zum Schlagwort wurden. In einem glänzenden Diavortrag und
mit einem informativen Film wußte Professor Overbeck seine Zuhörer zu fesseln, sein Mitarbeiter Neufeld
führte sie dann an den Plußsee, zum Objekt jahrzehntelanger Beobachtung. Die erste Verspätung der Reise
ergab sich in der alten Vicelin-Kirche Bosau, deren Pastor Ehlers die Schilderung seines Gotteshauses zu
einem Gottesdienst werden ließ. Der dann einsetzende Dauerregen konnte die Reisenden nicht mehr allzu
sehr stören, die in der Raststätte Gudow Nord brav Schlange standen, um ihren Mittagsteller entgegenzunehmen. Als Kontrast zu Ostholstein und dem ehemaligen Fürstbistum Lübeck als Sei der diesjährigen
Studienfahrt soll 1985 das Ravensburger Land erkundet werden.
H. G. Schultze-Berndl
Bibliographie der Veröffentlichungen von Heinz Goerke aus den Jahren von 1943 bis 1982. Anläßlich seines
65. Geburtstages zusammengestellt und herausgegeben von Juliane C. Wilmanns, mit einer Laudatio von
Hans Schadewaldt. Münchener Vereinigung für Geschichte der Medizin e.V., München 1982, broschiert,
DIN A5, 63 Seiten.
In dieser Personalbibliographie unseres Mitglieds Professor Dr. h. c. Dr. H. Goerke sind auch alle seine
Veröffentlichungen zur Geschichte der Berliner Medizin nachgewiesen. Dieses Büchlein kann nicht im
Buchhandel erworben werden. Interessenten können es im Sekretariat des Instituts für Geschichte der
Medizin der Universität München, Lessingstraße 2, 8000 München 2, abrufen.
SchB.
248
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Über den Steglitzer Obus
Im Heft 3/1984 der „Mitteilungen" hatte Kirchenmusikdirektor Heinz-Günter Bahr über die
„Kaisereiche" in Friedenau berichtet. Sein Klassenkamerad Heinz Ostermann ergänzt diese
Schilderungen mit dem Foto von 1912, das den Obus in der Bismarckstraße am Lauenburger
Platz zeigt. Hierzu führt er aus:
Nachdem die Gemeinde Steglitz sich zu einem erneuten Versuch mit einem Obus entschlossen
hatte, wurde die rund zwei Kilometer lange Strecke vom Wannseebahnhof Steglitz über das
Postamt, die Bergstraße und Bismarckstraße bis zum Knausplatz an der Schöneberger Grenze
am 20. April 1912 in Betrieb genommen. 1913 wurde die Trasse der Linie geändert, um den
Friedhof in der Bergstraße besser bedienen zu können. Von September 1913 an fuhren die Busse
statt durch die Bismarckstraße weiter über die Bergstraße - Altmarkstraße - Thorwaldsenstraße bis zur Ecke Knausstraße. Das technisch Interessante war der Kontaktwagen, der auf
der Oberleitung lief und bei Begegnungen mit dem in Gegenrichtung fahrenden Obus zwischen
den Wagen ausgetauscht werden mußte. Bei Beginn des Ersten Weltkrieges mußte die Linie
eingestellt und die kupferne Oberleitung Kriegszwecken zugeführt werden.
Dieser Obus fuhr also von 1912 bis 1914. Übrigens waren die Wagen elfenbeinfarbig gestrichen
und trugen das Steglitzer Stadtwappen.
SchB.
249
Ehrenmitglied Dr. Richard von Weizsäcker antwortet
Auf die Mitteilung, die Mitgliederversammlung vom 14. Juni 1984 habe ihn einstimmig zum Ehrenmitglied
gewählt, erwiderte der designierte Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker am 25. Juni 1984:
„Sie haben mir eine große Freude gemacht und eine hohe Ehre erwiesen, indem Sie mir die Ehrenmitgliedschaft des Vereins für die Geschichte Berlins zuerkannt haben.
Meine Verbindung zu Berlin erstreckt sich über ein ganzes Leben. Sie hat sich in den letzten Jahren auf
besondere Weise vertieft. Durch die Ehrenmitgliedschaft in Ihrem an Tradition so reichen Verein wird ein
neues Band geknüpft, das ich mit herzlicher Dankbarkeit entgegennehme.
Der Arbeit des Vereins und den Bestrebungen seiner Mitglieder gelten für die weitere Zukunft meine
besten Wünsche."
SchB.
Nachrichten
Neubauten im alten Stadtkern
Im Bereich zwischen dem Roten Rathaus und Spree, zwischen Marx-Engels-Forum und Molkenmarkt
entsteht ein neues Wohngebiet auf historischem Grund. Insgesamt sollen 788 Wohnungen neu gebaut
werden, ferner 31 Geschäfte und 22 Gaststätten. Zu diesen gehört auch der historische „Nußbaum", eines
von insgesamt 20 Bürgerhäusern, die in alter Bauweise und äußerlich originaltreu dem Molkenmarkt ein
zwar altertümliches, jedoch mitnichten geschichtlich verbürgtes Gesicht geben sollen. Es ist weiter
vorgesehen, dort auch das vor 220 Jahren erbaute und 1935 abgerissene Ephraim-Palais sowie die alte
Berliner Gerichtslaube anzusiedeln.
SchB.
*
Unser Jahrbuch „Der Bär von Berlin" wird im Herbst erscheinen. Die Mitglieder erhalten dann den Band
zugestellt, soweit sie den fälligen Mitgliedsbeitrag für das laufende Jahr entrichtet haben.
*
Bestellungen von Publikationen des Vereins sind ausschließlich an die Geschäftsstelle des Vereins:
Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, zu richten.
Bahnhöfe von S-Bahn und U-Bahn in Ost-Berlin werden wiederhergestellt
In den nächsten Jahren sollen 51 S-Bahnhöfe und 224 U-Bahnhöfe im Ostteil der Stadt restauriert werden,
wie in den Denkmalschutz-Informationen des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz berichtet
wird. Dabei sollen der Gesamtcharakter der Anlagen und unter Denkmalschutz stehende architektonisch
wertvolle Details erhalten bleiben.
Die für die Wiederherstellung des S-Bahnhofs Marx-Engels-Platz (Börse) benötigten Ziegel müssen eigens
angefertigt werden. Beim S-Bahnhof Prenzlauer Berg sind gleichfalls denkmalspflegerische Belange zu
berücksichtigen. Noch in diesem Jahr soll mit der Wiederherstellung der Südfassade des Bahnhofs
Friedrichstraße begonnen werden.
SchB.
Um die Kuppel des Reichstages
Unser Mitglied Günter Stolle, Eichbomdamm 298,1000 Berlin 26, unterrichtet uns über eine Korrespondenz mit Joachim Tanneberger, Knesebeckstraße 5,1000 Berlin 12, deren Inhalt hier kurz zur Diskussion
gestellt werden soll. Nachdem der Dom am Lustgarten einschließlich seiner Kuppel wieder hergerichtet
worden ist, ist die Frage berechtigt, ob nicht auch das Reichstagsgebäude wieder mit einer Kuppel versehen
werden kann. Auf einen entsprechenden Vorstoß hat die Verwaltung des Deutschen Bundestages am
13. März 1984 wie folgt geantwortet: „Beim Wiederaufbau des Reichstagsgebäudes ist auf die Wieder-
250
errichtung der Kuppel verzichtet worden, weil sie zur neugestalteten Innenarchitektur keinen Zusammenhang mehr bildete. Im Vordergrund stand damals die innere Funktion und nicht so sehr die äußere Gestalt
des Bauwerkes. In der Zwischenzeit hat sich das Stilempfmden der Bürger wesentlich gewandelt. Die
Frage bleibt dennoch, ob eine Kuppel ohne jeden Bezug zur inneren Architektur - sozusagen wie eine
Haube - auf das Gebäude gesetzt werden sollte. Sicherlich wäre dies heutzutage in Leichtbauweise mit
modernen Baumethoden technisch möglich, ohne eine solche Abrundung - wie beim historischen
Bauwerk - bereits im Fundament zu gründen. Aber auch dann bliebe diefinanzielleFrage und bedürfte
des politischen Anstoßes."
Wie aus diesem Schreiben weiter hervorgeht, werde die Bundesbaudirektion als bauausführende Behörde
das Thema nur dann aufgreifen, wenn der Deutsche Bundestag als Bauherr des Gebäudes einen entsprechenden Auftrag erteilen und die Stadt Berlin ihr Interesse an einer Wiedererrichtung der Kuppel
bekunden und dieses an das Präsidium des Deutschen Bundestages herantragen würde: „In diesem
Zusammenhang müßte der Senat wohl ein Gesamtkonzept für die Gestaltung der Umgebung des
Reichstagsgebäudes vorlegen."
Des weiteren wurde die Frage aufgeworfen, ob der Platz vor dem Reichstag nicht wieder in den alten
Zustand versetzt werden kann, also mit dem an anderer Stelle im Tiergarten aufgestellten Bismarckdenkmal und mit dem Granitbrunnen. Zu dem „unbefriedigenden Zustand" des Vorplatzes nimmt die
Verwaltung des Deutschen Bundestages wie folgt Stellung: „Ein Wettbewerb für die Gesamtlösung des
Reichstagsumfeldes ist nach meinem Wissen jedoch bislang an der Trassenfrage für die Westtangente bzw.
deren Ersatzlösung, an dem noch nicht geregelten Gebietsaustausch des Geländedreiecks um das ehemalige Columbus-Haus sowie an der nach wie vor problematischen Absicherung des Sowjetischen
Ehrenmals gescheitert."
Schließlich hat sich J. Tanneberger zu den Auseinandersetzungen um die verschwundene vierte Reliefplatte von der Siegessäule, die vermutlich von Buntmetalldieben eingeschmolzen wurde, geäußert. Er
schlägt vor, dieses Bronzerelief mit den Darstellungen aus dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 anhand
alter Zeichnungen bis zur 750-Jahr-Feier Berlins wiederherzustellen, wenn keine alten Gußformen mehr
vorhanden sind. In unserer Stadt dürften sicher hinreichend Künstler leben, die diese Arbeit übernehmen
könnten.
SchB.
Buchbesprechungen
Maser/Poelchau: Pfarrer am Schaffott der Nazis. Moewig-Taschenbuch, Rastatt, 176 Seiten, 6,80 DM.
Der Hitler-Forscher Werner Maser sitzt dem Gefängnispfarrer Dr. Poelchau gegenüber und stellt ihm
Fragen, dem Mann, der mehr als tausend Opfer des nationalsozialistischen Regimes auf dem Gang zum
Henker begleitete. Wenig mehr als vierzig Jahre liegen diese Schrecken zurück, doch will uns die zeitliche
Entfernung rückschauend aus einer neuen, heileren Welt schon viel, viel größer erscheinen. Wollen wir die
Erinnerung verdrängen? Liegt hier ein furchtbares Buch über eine furchtbare Zeit vor? Gewiß nicht, sein
Inhalt ist zeitüberlegen. Ein Seelsorger spricht, der „die Möglichkeit hatte, bewußt Sterbende bis zu der
Grenze zu führen, an der der Unterschied zwischen dem bewußt Sterbenden und dem bewußt Lebenden
auf ein Minimum zusammenschrumpft", und „mit der Vollmacht der Botschaft des Christentums versehen, konnte er die Seele aus ihren Ängsten lösen und sie für den Herrn dieser und jener Welt
vorbereiten". In solchem Verständnis ist es ein erhebendes Buch, das vom Balsam der Religiosität, der
Bindung an eine überirdische Macht, und von der Möglichkeit und der Wirklichkeit menschlicher Größe
und Würde handelt, die sich im Angesicht eines sicheren nahen Todes einzigartig bewähren.
Gerhard Kutzsch
Die deutschen Heimatmuseen. Ein Führer zu mehr als 900 Museen und Sammlungen in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin. Herausgegeben von Hanswilhelm Haefs. Mit einem Sonderbeitrag von
Carsten Sternberg „Überlegungen zum deutschen Heimatmuseum, dargestellt am Kempener KramerMuseum". Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main 1984, 336 Seiten, mit einem 24seitigen farbigen
Bildteil, Ppbd., 28 DM.
Man möchte sich am Titel stoßen, weil es sich (natürlich?) nicht um die deutschen Heimatmuseen handelt,
sondern um diejenigen der Bundesrepublik Deutschland und des Westteils Berlins. In alphabetischer
251
Folge nach den Ortsnamen werden 880 Heimatmuseen und 45 Heimatvertriebenenmuseen vorgestellt und
die für einen Museumsbesuch nötigen oder wünschenswerten Angaben gemacht. Ein Sach- und geographisches Register wie auch eine im Zeitalter der Gemeindereformen erforderliche Ortsnamenkonkordanz
erleichtern die Benutzung. Das Personenregister bringt die im Text erwähnten Personen, nicht aber die
Namen der Museumsleiter. Aus Berlin werden neben dem Berlin-Museum und dem Deutschlandhaus die
Heimatmuseen Kreuzberg, Neukölln, Reinickendorf, Schöneberg, Spandau, Steglitz, Tempelhof und
Zehlendorf, ein „Kommunales Museum für Stadtgeschichte", im Text auch als Museum für Stadtteilgeschichte bezeichnet, bei dem es sich um die Sammlung des Bezirks Wilmersdorf handelt, das Museumsdorf Düppel sowie schließlich das Heimatarchiv Charlottenburg aufgeführt, als dessen Leiter der Stadtrat
für Volksbildung fungiert, der indes Peter Mudra (nicht Mundra) heißt. Was als 24seitiger farbiger Bildteil
bezeichnet wird, sind in der Tat die am Beispiel des Kempener Kramer-Museums dargestellten „Überlegungen zum deuschen Heimatmuseum". Der im selben Verlag erschienene deutsche Museumsführer in
Farbe wartet hingegen auf fast jeder Seite mit Farbfotos auf.
Dieser Museumsführer bietet eine gute Grundlage, die entsprechenden Institutionen aufzufinden und ihre
Charakteristika kennenzulernen. Daß wiederum von Exponaten gesprochen wird statt von Expositen, was
dochrichtigesLatein, oder von Gegenständen, was dann korrektes Deutsch wäre, beweist den Verfall von
humanistischer Bildung oder Sprachgefühl, selbst bei Autoren, die wie der Herausgeber sogar Sprachwissenschaft studiert haben.
Hans G. Schultze-Berndt
In der Luisenstadt. Studien zur Stadtgeschichte von Berlin-Kreuzberg. Von Christiane Bascön-Borgelt,
Astrid Debold-Kritter, Karin Gansauge, Kristiana Hartmann, hrsg. von der Bauausstellung Berlin GmbH
(IBA), Transit Buchverlag 1983, 144 Seiten, mit vielen Skizzen, Stichen und Fotos, 24 DM.
Ein erster Teil bringt die allgemeine Besiedlungsgeschichte der Luisenstadt, zwei Fallstudien arbeiten
exemplarisch das eigentliche Anliegen heraus: Die Verfasser der Studie bringen vor dem Hintergrund der
neuerdings behutsamen Stadterneuerung am Beispiel Kreuzberg die stadtplanerische Genese der Luisenstadt als eine differenzierte bauliche, ökonomische, sozial- und kommunalpolitische Entwicklung ins Bild
aus einer Zeit, als der von Stein reformierte Staat Preußen und der Magistrat von Berlin sich um eine
reizvolle Stadterweiterung bemühten. So erscheint es als eine dankbare Aufgabe, das auf den als unansehnlich verrufenen Kreuzberg bezogene Hegemannsche Verdikt der „größten Mietskasernenstadt der Welt"
auf ein reales Maß zu reduzieren und die historischen Sachverhalte neu ins Bewußtsein zu rufen. Eine
solche Vergegenwärtigung setzt ähnliche Bemühungen fort, die ein Katalog zur Preußen-Ausstellung
angebahnt hat*.
Anteilnehmend liest man vom mehrfach abgewandelten Konzept einer mit Grünzügen und Schmuckplätzen durchzogenen Stadt und der Architektur der Nach-Schinkel-Zeit. Wenig bekannt ist dabei die
durchaus fortschrittliche Rolle des späteren Königs Friedrich Wilhelm IV., der als Kronprinz im Austausch mit Schinkel und Lenne eine noble Stadtgestalt entwarf, deren Grundlinien an Landwehrkanal und
einstigem Luisenstädtischen Kanal noch heute erkennbar sind. Man hört vom Bethanien-Krankenhaus als
dem Kristallisationspunkt für die Besiedlung des Köpenicker Feldes, das seit 1802 Luisenstadt hieß.
Die beiden Fallstudien vom Heinrichplatz und dem Block am Schlesischen Tor schildern den grundlegenden Unterschied zwischen der Stadtgestalt mit Boulevards und Sternplätzen und der dichten Renditebebauung auf engem Raum. Die Nachfrage nach billigem Wohnraum im Zuge der Industrialisierung ging
in den achtziger Jahren konform mit dem Wandel vom Schmidplan und Lenneplan zur Hobrechtschen
Baufluchtverordnung. Der oberflächliche Betrachter hat bisher kaum beachtet, daß die nachklassizistische Bauform noch auf die Tradition des Bürgerhauses vom 18. Jahrhundert zurückgreift. Erst mit der
Besetzung der Hinterhöfe durch Industrie ist die Entwicklung zur Mietskasernenstadt eingeleitet worden.
Zwar geht die Untersuchung in der Auswertung der Objektbeschreibungen, Planskizzen, Gutachten und
Adreßbücher behutsam vor, doch scheint der Hauptvorwurf einer „liberalistischen Stadtpolitik" durch
Hausbesitzerparlamente und das Verdikt des Hypothekenwesens etwas einseitig in den Vordergrund
gerückt, und damit ist ein modernes Unbehagen ins 19. Jahrhundert hinübergespiegelt worden. Wenn man
auch zugesteht, daß die Abkehr von absolutistischer, dirigistischer Baupolitik eine tiefe Zäsur bedeutet, so
* Manfred Hecker: Die Luisenstadt - ein Beispiel der liberalistischen Stadtplanung und baulichen
Entwicklung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Berlin zwischen 1789 und 1848, Facetten einer Epoche,
Katalog der Akademie der Künste zum Preußen-Jahr 1981.
252
ist doch festzustellen, daß die Verfasser die historische Wirksamkeit der Steinschen Städtepolitik nicht
tiefgreifend genug berücksichtigen. Auch die erste Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg ist
unter ähnlichen Konstellationen erfolgt. Und ein Lobpreis der Vermischung von Arbeiten und Wohnen
wäre vor einem Jahrzehnt noch höchst ketzerisch gewesen. Hier haben erst die modernen Bestrebungen
nach Stadterneuerung Wandel geschaffen.
Der Kenner jener Verhältnisse wüßte gern noch anderes hinzugefügt: den Wandel der Besitzerstruktur in
den Inflationsjahren; ferner sind die Kriegszerstörungen wenig berücksichtigt und die erste Aufbauphase
in den fünfziger Jahren mit ERP-Mitteln, der Druck der unkritischen Renovierung unter dem Zwang der
Wohnraumnot. In der Ära Kressmann waren die gewachsenen Bindungen zur Friedrichstadt und
Stadtmitte behutsam gepflegt worden. All dies ist durch die Mauersituation empfindlich gestört worden,
so daß die eintretende Planungsunsicherheit erst den Zustrom der türkischen Bevölkerung ermöglichen
konnte.
Die geschilderte Wechselwirkung von Wohnungsnachfrage durch Randwanderung der Industrie und
wiederum Gewerbeansammlung wegen der Wohndichte in den Quartieren ist auch für die nördlichen und
östlichen Vorstädte (Rosenthaler, Spandauer, Königs- und Stralauer Vorstadt) beispielhaft. Sie verlockt
zu erzählerischer Gestaltung des Lebens in der Luisenstadt nach dem Grundsatz „Das Leben der Häuser
ist zugleich das Schicksal ihrer Menschen". Hier sind Neuanfänge gesetzt worden.
Christiane Knop
s~^k. M. Hammacher: Bernhard Heiliger. Künstler unserer Zeit, Band 20. Erker-Verlag St. Gallen, broschiert,
160£eiten, 27 DM.
^^MTDamus und H. Rogge: Fuchs im Busch und Bronzeflamme. Zeitgenössische Plastik in Berlin (West). Ein
Kunstbuch und eine neue Art von Stadtführer. Heinz Moos Verlag München, 1979, 257 Seiten, 34 DM.
ISBN 3-7879-0120-5.
Manches Mitglied wird sich des Besuches im Atelier Bernhard Heiligers erinnern, dessen Werk und
Besonderheit hier geschildert werden. An der in „-ismen" ausgedrückten Entwicklung der Bildhauerkunst
in Europa (Kubismus, Futurismus und Konstruktivismus) hatten die deutschen Bildhauer keinen Anteil.
Bernhard Heiligers Schaffen setzte zu einem Zeitpunkt ein, da die Auseinandersetzung zwischen der
älteren Generation, die noch selber in Stein meißelte, und jenen Künstlern, die modellierend räumlich
denken und ihr Werk in Bronze umsetzen, bereits ausgetragen war. Die künstlerischen Interessen wandten
sich nun anderen Problemen zu, die bei Heiliger im Zwischenbereich von Figuration und Abstraktion
einer Lösung harrten. Dies hieß für Heiliger zunächst, „sich von Maillol zu lösen, beim Porträt Despiau
und Marini zu überwinden und in der Abstraktion von der biomorphen Gestaltungsweise Arps und
Moores loszukommen". Dabei zieht vor allem die Oberfläche und deren Gestaltung Heiliger unwiderstehlich an, was sich in einer Vielzahl von Materialien ausdrückt, Aluminium und Zement, auch Bronze,
gelegentlich Marmor, Kalkstein oder Asbest. Als eines seiner Hauptwerke kann die riesige Hängeskulptur
„Kosmos 70" im Reichstagsgebäude angesehen werden. Der Autor wird bei den Porträts Heiligers oftmals
an die Köpfe und Figuren im Bamberger Dom erinnert. Er resümiert: Das Werk ist voller Kontraste und
dennoch ein Wunder an Einheit, obwohl es nicht von einer alles umfangenden Form zusammengehalten
wird.
Das zweite der hier zu besprechenden Bücher bezieht sich auf alle künstlerisch plastischen Objekte, die
nach 1945 im Westteil Berlins aufgestellt wurden, wobei die Zusammenhänge zwischen der Größe des
Objekts, dem Ort der Aufstellung und der dem Objekt zugesprochenen Bedeutung herausgearbeitet
werden sollen. Insofern war dieses Buch ein „Muß". Es ist gut lesbar und gescheit vorgetragen, wobei man
zwischen der Scylla kunsthistorischer Hochsprache und der Charybdis soziologischen Geschwafels geschickt hindurchmanövriert. Vielleicht sind die Argumente eine Spur zu weit hergeholt und wirkt der Stil
zu dozierend-anspruchsvoll. Ein Lieblingsthema ist es, die Unterschiede zwischen Hochkunst und „volkstümlicher" Kunst der Massen deutlich zu machen. Mit Recht wird bedauert, daß die maßlosen Dimensionen heutiger Architektur und die kleinen Kunstobjekte zusammenhanglos nebeneinander stehen und die
einzelnen Künstler an den Bauaufgaben nur selten mitbeteiligt werden. Den Verfassern wäre bei ihrem
gelungenen Wurf allenfalls anzulasten, daß sie die Kunstbetrachtung auch dazu benutzen, sich politisch zu
artikulieren. So mokieren sie sich über die 1955 von Theodor Heuss auf dem später nach ihm benannten
Platz entzündete Flamme, die bis zur Wiedervereinigung brennen soll, mit den Worten: „aus der Flamme
wird wohl ein .Ewiges Licht' werden". Daß sie bestreiten, Leipzig und Magdeburg lägen in „Deutschland",
wird nicht nur beim Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte Stirnrunzeln hervorrufen, die bekanntlich bis zum heutigen Tag „in Deutschland" stationiert sind.
H. G. Schultze-Berndt
253
Eingegangene Bücher
Kirchen, Klöster und ihre Kunstschätze in der DDR, Bilder und Beschreibungen. Verlag C. H. Beck,
München 1982, 408 Seiten, mit 432 Abbildungen, Leinen, 98 DM.
Peter Muck: Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester, eine Dokumentation. Verlag Hans
Schneider, Tutzing 1982, 3 Bände, Ganzleinen.
Westberliner Statt Buch 1, Arbeitsgruppe Westberliner Statt Buch 1978, ein Adress-Nachschlagewerk.
560 Seiten, geleimt.
Adolf Glaßbrenner: Unterrichtung der Nation. Ausgewählte Werke und Briefe, Band 2 und 3. C. W. Leske
Verlag, Köln 1981, Ganzleinen.
Kurt Neheimer: Der Mann, der Michael Kohlhaas wurde, ein historischer Bericht. Eugen Diederichs
Verlag, Köln 1979, Ganzleinen.
Joachim Fernau: Sprechen wir über Preußen, die Geschichte der armen Leute. Herbigverlag, München
1981, Ganzleinen, ca. 30 DM.
Adriaan v. Müller, K. v. Müller-Muci: Die Ausgrabungen auf dem Burgwall in Berlin-Spandau. Verlag
Volker Spiess, Berlin 1983, Text und Tafelband geleimt und Loseblattsammlung, 170 Seiten.
Orgel-Köhne undJ. Grothe: Zitadelle Spandau. Arani-Verlag, Berlin 1978, geleimt.
Eberhard Roters: Der Bildhauer Waldemar Grzimek. Propyläen Verlag, 288 Seiten, 82 Abbildungen auf
Tafeln, 431 Abbildungen im Werkverzeichnis, Leinen, 148 DM.
Folkwin Wendland: Berlins Gärten und Parke. Von der Gründung der Stadt bis zum ausgehenden
19. Jahrhundert. Propyläen Verlag, 424 Seiten, 400 Abbildungen, Leinen, 198 DM.
Max Baur: Potsdam Sanssouci. Bilder der Erinnerung fotografiert. 1934-1939. Bildband, 96 Seiten, 85
Abbildungen und ein Stadtplan, gebunden, 39,80 DM.
--" Friedrich Mielke: Potsdamer Baukunst. Propyläen Verlag, 1981,515 Seiten, Beschreibungen und zahlreiche
Fotos, Leinen.
Wolfram Hoepfner und Fritz Neumeyer: Das Haus Wiegand von Peter Behrens in Berlin-Dahlem.
Abbildungen und Beschreibungen, 211 Seiten, Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1979, gebunden.
Urteile über Berlin und die Berliner
In den Jahren 1938 bis 1943 sind in den „Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins", damals
„Zeitschrift" genannt, insgesamt zwanzig „Urteile über Berlin und die Berliner" erschienen, zumeist aus der
Feder von Felix Hasselberg und Dr. Hermann Kügler. In loser Folge sollen auch jetzt wieder weniger
bekannte und an verstreuten, nicht ohne weiteres zugänglichen Stellen abgedruckte Bemerkungen über
unsere Stadt und ihre Einwohner zitiert werden.
Hier wird mit Aufzeichnungen der Anfang gemacht, die der damals fünfundzwanzigjährige englische Arzt
Dr. Henry Reeve (1780 bis 1814) im Winter 1806 in sein nicht für die Öffentlichkeit bestimmtes Reisejournal
eintrug. Es behandelt eine Reise von Wien über Dresden nach Berlin. Der Text wurde von Henning
Schlüter ins Deutsche übertragen, bearbeitet und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht.
Mitgeteilt von Dr. H. G. Schultze-Berndt.
Mittwoch, den 19. Februar. Bis Berlin gilt es, nicht weniger als elf Poststationen zu passieren! Je weiter ich
mich von Dresden entfernte, um so jämmerlicher wurden die Straßen und Gasthöfe. Jenseits der
sächsischen Grenze versank die Kutsche immer wieder in tiefem Sand. In den preußischen Dörfern zeigte
sich nur selten eine menschliche Seele. Hie und da huscht ein ausgemergeltes Weiblein oder ein dünnes
Kind über die Dorfstraße. Die Männer scheinen ausnahmslos zum Dienst in der Armee gepreßt zu sein.
Als wir uns Berlin näherten, wurden die Sand wege immer ärger. Fast hätte man meinen können, ringsum
sei Urwald, und es ginge einem darin verborgenen indianischen Wigwam entgegen!
Um so größer war mein Erstaunen, als wir durchs Tor rollten und nun im Trab auf einer breiten,
wohlgepflegten Straße fuhren. Berlin entzückte mich auf den ersten Blick. Besonders schön, daß alle
großen Bauwerke ganz für sich allein stehen. Freilich vermißte ich, wie schon draußen am Tore, den
geschäftigen Trubel einer Metropole. Verglichen mit Wien, Dresden oder gar London, rollten nur
herzlich wenige Fuhrwerke an uns vorüber.
Gleich am ersten Abend ging ich ins Theater, wo man eine Art Märchenoper gab. Als die königliche
Familie ihre Loge betrat, gab es keinerlei ehrerbietige Begrüßung seitens des Publikums. Niemand schien
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von der Anwesenheit des Landesherrn und seiner Gemahlin sonderlich Notiz zu nehmen. Welch eine
Schönheit ist übrigens die anmutige, jugendfrische Königin Luise von Preußen! Man sieht ihr wahrhaftig
nicht an, daß sie schon achtmal niedergekommen ist.
Freitag, den 28. Februar. Gleich in der Frühe führte mich der berühmte Dr. Hufeland zu dem Hospital „La
Maison de Charite", wo unter einem Dach die mannigfaltigsten Gebrechen kuriert werden. Leider kann
ich über die Reinlichkeit der Krankenstuben nichts Gutes notieren. Es sind schmale, düstere Gelasse, in
denen allzu viele Betten aufgestellt sind. Und keines ist mit einem Vorhang vom nächsten getrennt!
Dienstag, den 4. März. Trotz Schnee- und Hagelschauer stapfte ich zur Königlich Preußischen Porzellanmanufaktur und betrachtete dort allerlei hübsche Dinge, deren handwerkliche Akkuratesse staunenswert
ist. Allerdings fordert man gesalzene Preise für diese Figuren, Tassen und Vasen! So kostet eine Kakaotasse nebst Untersatz, beides dekoriert mit dem Porträt der Königin Luise, nicht weniger als 45 Taler. Ich
sah auch ein Service für die königliche Tafel, das dieser Tage von der Staatsschatulle für 15000 Taler
erworben wurde. Auf einer Abendgesellschaft beim Professor Hufeland fand ich eine elegant gekleidete
Schar von Menschen jeglicher Provenienz vor. Ordensgeschmückte Hofbeamte und Offiziere, Poeten,
Philosophen und sogar einige wohlrenommierte Komödianten wandelten schwatzend, trinkend und
schmausend durch sechs hell beleuchtete Stuben.
Donnerstag, den 13. März. Ich machte Herrn Humboldt meine Aufwartung. Dieser dreißigjährige, ganz
unaffektierte und quicklebendige Mann beherrscht fünf Sprachen und ist ein Individuum von großen
Gaben. In der hohen Einschätzung seiner Fähigkeiten als Mineraloge, Chemiker und Naturforscher sind
sich alle Kapazitäten einig. Was ihn vor den Fachgelehrten so auszeichnet, ist seine süperbe Sprachbegabung und die reiche literarische Bildung. Herr Humboldt, der mir lange von seinen aus eigener Tasche
bezahlten Forschungsreisen nach Peru und Mexiko erzählte, ist gebürtiger Berliner. Das Königreich
Preußen kann sich eines solch urbanen Geistes mit Recht rühmen!
Sonntag, den 15. März. Bei einem Benifizkonzert hone ich den Kastraten Tombolini eine Arie von
Cimarosa singen. Der arme Teufel besitzt zwar eine göttliche Stimme, aber der Anblick dieses um der
Kunst willen aller Männlichkeit beraubten Individuums stimmt so betrüblich, daß ich die Augen schließen
mußte, um mich des glockenhellen Gesangs recht erfreuen zu können. Hinterdrein spielte ein vierzehnjähriger Knabe namens Meyerbeer ein Klavierkonzert vom Mozart und erntete dafür Beifallsstürme. Die
gesamte königliche Familie, alle Gesandten und der in Berlin ansässige preußische Adel wohnten der
Veranstaltung bei.
Sonntag, den 22. März. Um 12 Uhr mittags ging ich zu einem Kolleg des Herrn Fichte über die neue, so
lauthals gepriesene Transzendentalphilosophie. Dieser Professor, ein Schüler Kants, gilt hier als der
allertiefste Denker. Während er den Sommer über in Erlangen lehrt, hält er zur Winterszeit hier alle
Sonntage einen Vortrag, bei dem jedermann gegen einen Taler Entree Zutritt hat. Mit dem feierlichen
Gestus, der einer umwälzenden Entdeckung zukommen mag, gab dieser kleine, zugeknöpfte Mensch ganz
nebulöse Worte oder altbackene Gemeinplätze von sich. Wir waren unserer drei und zerbrachen uns den
Kopf, um diesem krausen Kolleg einen plausiblen Sinn abzuringen. Immer wieder stellten wir uns die
Frage, was wohl all die Zuhörer, darunter etliche gescheit aussehende Männer und sogar ein Dutzend
Frauenspersonen, bewogen haben mochte, diesen konfusen Darlegungen zu lauschen.
Im III. Vierteljahr 1984
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Hildegard Brandt
Christa Thorau, Lehrerin
Schustehrusstraße 20-22, 1000 Berlin 10
Bonhoefferufer 18, 1000 Berlin 10
Tel. 3431399
(Guth)
Tel. 3443111
(Bibliothek)
Rudolf Franz, Oberstlt. a. D.
Dr. Martin Zippe, M.A.,
Schamhorststraße 13, 5970 Plettenberg
Oberstlt. a. D., Historiker
Tel. (0 23 90) 5 34 30
(Cramer)
Saarstraße 10, 4400 Münster
Ruth Leupold
Tel. (02 51) 231169
(Zopf)
Gorkistraße 63, 1000 Berlin 27
Dagmar Frowein, Ärztin
Tel. 4 34 25 31
(Pretsch)
Düppelstraße 17,1000 Berlin 37
Roswitha Reschke, Sekretärin
Tel. 8027910
(Dr. Beerbohm)
Badener Ring 15, 1000 Berlin 42
Tel. 785 3749
(Koepke)
255
Veranstaltungen im IV. Quartal 1984
1. Donnerstag, den 25. Oktober 1984, 16.15 Uhr: „Friedrich Gilly und die Privatgesellschaft
junger Architekten". Führung durch die Ausstellung Frau Dr. Hella Reelfs. Eintritt zum
Gruppenpreis. Treffpunkt in der Eingangshalle des Berlin-Museum, Lindenstraße.
2. Donnerstag, den 8. November 1984,19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Technik, Architektur und Plastik - Berliner Brücken". Bürgersaal des Rathauses
Charlottenburg.
3. Donnerstag, den 22. November 1984, 19.00 Uhr: Vortrag von Herrn Dr. Hermann F. W.
Kuhlow: „Die Einführung der lutherischen Reformation in der Kurmark Brandenburg."
Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
4. Donnerstag, den 13. Dezember 1984, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Professor
Dr. Jürgen Julier: „Aufgaben und Ziele der Schlösserverwaltung". Bürgersaal des Rathauses
Charlottenburg.
5. Sonnabend, den 15. Dezember 1984,16.00 Uhr: Vorweihnachtliches Beisammensein im ParkCafe, Bäkestraße 15,1000 Berlin 45, Lichterfelde. Es liest Siegfried Haertel „Weihnachtliches
aus dem alten Berlin". Fahrverbindungen: Bus 84 bis Hindenburgdamm, Ecke Karwendelstraße; Busse 86 und 17 bis Ostpreußendamm, Ecke Bäkestraße.
Essensvorschläge:
Forelle blau, mit Pariser Kartoffeln und Salat, 15,50 DM,
Kalbsmedaillons in Sauce von frischen Champignons mit Pariser Kartoffeln oder Kroketten,
gemischtem Gemüse und Salatbeilage, 17,50 DM
Cordonbleu mit Kroketten, gemischtem Gemüse und Salat, 18,50 DM,
Hirschbraten in Wildsauce, mit Pariser Kartoffeln oder Spätzle, Apfelrotkohl, Birne mit
Preiselbeeren und Salatbeilage, 22,50 DM.
Telefonische Anmeldungen mit Essenswunsch ab 19.00 Uhr unter der Nummer 8 5127 39 bis
zum 10. Dezember 1984.
Beachten Sie bitte die veränderten Anfangszeiten unserer Vorträge im Rathaus Charlottenburg!
Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12, 1000 Berlin 19.
Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 32328 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89,1000 Berlin 61, Telefon 6936791.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34302234. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
256
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MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS _
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GEGRÜNDET 1865
RatsbiWiothek
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Fpftgbt. fa Berliner Stadtbibliothe
81. Jahrgang
Heft 1
Januar 1985
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«OUttLaitdwehrre^imwiit».
Das neue Zeughaus des 3tcn Bataillons (2,es Berlin) 20"en Landwehrregiments zwischen dem
Potsdamer und Anhaltschen Thore in Berlin
„Dieses schöne Gebäude, über dessen ungemein zweckmäßige innere Einrichtung der Soldatenfreund später vollständigere Mitteilung enthalten wird, verdankt das 2,e Berliner LandwehrBataillon der Gnade Sr. Majestät des Königs. Wir haben hier die vordere Ansicht nach der
Straßenseite. Die hintere nach dem geräumigen Hofe gewendete Seite hat zwei halbrunde
thurmartige Vorbaue für die feuersicheren steinernden Treppenhäuser, und in der Mitte eine
brückenartige Auffahrt in den ersten Stock für das Bataillons-Fuhrwerk, so daß jetzt die ganze
Ausrüstung und Bewaffnung für das Bataillon in diesem Gebäude vereinigt ist. Auf dem Hofe
befindet sich ein besonderes kleines Haus für die Werkstätten."
\ i Das Landwehr-Zeughaus an der Communikation1
^ V V o n Dr. Karl-Robert Schütze
Die 1813/14 während der Befreiungskriege im Rahmen der preußischen Heeresreform gebildete Landwehr, die alle Reservisten und nicht Eingezogenen im Alter von 20 bis 32 Jahren
erfaßte, blieb bis über die Mitte des vergangenen Jahrhunderts hinaus ein milizartiger Truppenteil. Dieser benötigte zwar keine großen Unterkünfte, aber doch Magazine und andere
Versorgungseinrichtungen, die zunächst recht bescheiden ausfielen, wie einem zeitgenössischen
Text zu entnehmen ist: „Die Kammern der beiden Berliner Bataillone waren ... compagnieweise auf verschiedene Thor- und Stadt-Wachen verteilt."2
Erst nach der wirtschaftlichen Gesundung des Staates und der grundlegenden Neuordnung der
Landwehr durch „allerhöchste Verordnung" vom 3. November 18423 kam es zu der baulichen
Umsetzung der Bedürfnisse dieses Truppenteils. Die um 1840 auffällig häufige Rückerinnerung
an die „große Zeit" der Befreiungskriege sollte wohl den vollständigen Sieg der Reaktion über
alle fortschrittlichen Kräfte im Bewußtsein der Bevölkerung verdrängen helfen. So wurde im
Jahre 1843 der schon fast vergessene, sogenannte Dennewitz-Friedhof in der Hasenheide, auf
dem viele der in den Berliner Lazaretten verstorbenen Freiheitskämpfer beigesetzt worden
waren, mit einer Mauer umgeben und durch eine kleine Kapelle - nach Entwurf Friedrich
Wilhelms IV.? - sowie durch ein großes gußeisernes Kreuz geehrt.4 In diesem Jahr entstand
auch „das neue Zeughaus des 3tcn Bataillons (2tes Berlin) 20ten Landwehrregiments"5 (Titelbild).
Die hier erstmals gemeinsam abgebildete Vorder- und Rückansicht6 (Abb. 1) gibt einen guten
Eindruck von dem Gebäude, das bis zu seinem Abriß, etwa 1880, seinem ursprünglichen Zweck
diente.7 Neben dem Zeughaus beherbergte es noch das Büro der 4. Garde Infanterie Brigade
und zwei Wohnungen. Im Adreßbuch für das Jahr 1884 wird unter dieser Adresse, Königgrätzer Straße 122, die General Militär-Kasse angegeben, der Eigentümer war weiterhin der
Militär-Fiskus. In der Zwischenzeit hatte August Busse (1839-1896) den Neubau auf dem
Gelände fertigstellen können. Die General Militär-Kasse bestand unter dem Namen Feldkriegskasse bzw. Generalkriegskasse seit 1678 und war vorher im Lagerhaus in der Klosterstraße 76 untergebracht. Das neue Gebäude beherbergte daneben noch einige andere militärische Kassenverwaltungen und Wohnungen für Hausmeister und Angestellte. Mit diesem Bau
stellte sich der Militärfiskus nicht nur gegen die Interessen und Pläne der Stadt Berlin, sondern
auch gegen die einiger Reichsbehörden, er machte damit eine großflächige Neuordnung des
Geländes unter Einbeziehung des Reichsgrundbesitzes unmöglich. Dieses destruktive Verhalten blieb kein Einzelfall, selbst in unmittelbarer Nachbarschaft gab die Militärverwaltung noch
einige Proben eigensinnigen, gegen die Allgemeinheit gerichteten Verhaltens. So weit einige
Anmerkungen zur späteren Geschichte des Grundstücks und seiner Bebauung.
Da das Landwehr-Zeughaus bisher in der Literatur kaum erwähnt worden ist und sich darüber
hinaus in die wenigen Mitteilungen Fehler eingeschlichen haben, seien die verschiedenen
Quellen hier einmal ausführlicher dargestellt. Bei der Suche nach Unterlagen stößt man in der
großartigen Sammlung „Berliner Baukunst nach Schinkel"8 auf anscheinend schlüssige Hinweise. Im Architektenkatalog des Bandes werden unter „Wilhelm Drewitz" Angaben gemacht,
die den genannten Bau betreffen müßten. Es heißt dort unter Bauten in Berlin: LandwehrZeughaus, Königgrätzer Str., 1847/48, und unter Veröffentlichte Entwürfe: 2. Das neue Landwehr-Zeughaus für ein Bataillon in Berlin. Zs. f. Bw. 1,1851, S. 144-146, Bl. 27 (Abb. 2 und 3).
Diese Angaben beruhen auf dem Text und der Anmerkung aus der ersten Ausgabe von Berlin
und seine Bauten von 1877; zu dieser Zeit stand das Gebäude noch unverändert. Der Text sei
258
hier zitiert, weil er nicht den vorhandenen Bau beschreibt, sondern sich am von Drewitz
veröffentlichten Text orientiert:
„Das Landwehr-Zeughaus in der Königgrätzer Strasse, ein schlichter Bedürfnissbau, der seinen
Namen jedoch wesentlich nur im modernen Sinne des Wortes führt, wurde in den Jahren
1847-48 von Drewitz erbaut. Dasselbe ist 29,61™ lang bei 14,25 m Tiefe und zwei Geschosse
hoch. An beiden Giebeln führen die Eingänge in den an der Hinterfront des Gebäudes
durchlaufenden Korridor; ebenda führen zwei Treppen nach dem oberen Geschoss. An den
Korridor schliessen sich die Kammer-Räume, im Erdgeschoss Wagenräume für den Train, im
ersten Geschoss darüber eine Bataillonkammer, daneben 4 Kompagniekammern an. Die
Erbauungskosten haben einschliesslich der inneren Ausstattung mit Gerüsten für die Lagerung
von Militär-Effekten und Nebenanlagen ca. 43500 Mk. betragen."9
Abb. 1: F. Albert Schwanz, Hofansicht des Landwehr-Zeughauses, vor 1880, aus: Brost/Demps, Berlin
wird Weltstadt, S. 236
Der Vergleich mit den beiden Ansichten (Titelbild und Abb. 1) zeigt deutlich, daß der 1851
veröffentlichte Entwurf (Abb. 2) nicht das an der Potsdamer Communication Nr. 6 in den
Jahren 1843/44 ausgeführte Gebäude wiedergibt. Die Beschreibung und die mit 1847/48
angegebene Ausführungszeit10 beziehen sich auf den veröffentlichten Plan. Wilhelm Drewitz
spricht in seinem Text von der Ausführung, in Berlin konnte ich aber kein zweites LandwehrZeughaus finden. Da sich die beiden Titel seiner Veröffentlichung durch den Zusatz „in Berlin"
im Textteil unterscheiden, könnte darin die Fehlerquelle gesehen werden, wenn es gelänge, den
Bau an einem anderen Standort zu finden.
259
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Quer Profil »*rh a b
Abb. 2: Wilhelm Drewitz, Zeughaus für ein Landwehr-Bataillon, aus: Zeitschrift für Bauwesen 1,1851,
Atlas, Bl. 27
Das Zeughaus in der späteren Königgrätzer Straße wurde bereits am 8. Juni 1844 in Betrieb
genommen. In einer Regimentsgeschichte heißt es dazu: „1844 nach beendeter Uebung konnte
das 3. Bataillon zum erstenmale seine Waffen und Armaturstücke daselbst abgeben. Der
damalige Commandeur des Bataillons, Major Baron v. Koschkull, hielt bei dieser Veranlassung an die Mannschaften"'1 eine Ansprache, deren Text auch am Schluß des weiter unten
abgedruckten Zitats wiedergegeben ist.
Bisher ließ sich nicht feststellen, ob Wilhelm Drewitz auch für den hier vorgestellten und
ausgeführten Bau als Architekt verantwortlich war, möglich wäre es, denn er war seit 1842
Bauinspektor bei der Provinzial-Behörde für die Militär-Oekonomie und hat 1843 im Architekten- und Ingenieur-Verein einen Vortrag über Militärbauten in Berlin gehalten12, dabei könnte
er auch seinen Neubau vorgestellt haben. Geradlinigkeit, Einfachheit und Sparsamkeit des
militärischen Nutzbaus lassen eine Zuschreibung an diesen bisher nicht genügend gewürdigten
Architekten durchaus zu, insbesondere, wenn man den Bau mit der aufwendigeren, noch heute
erhaltenen ehemaligen Garde-Dragoner-Kaserne am Mehringdamm vergleicht.
Leider fehlen zu den beiden Ansichten der Fassaden noch immer weitere Nachrichten über die
Grundrisse und den inneren Aufbau des Hauses. Der in der Bildunterschrift von 1844 angekündigte genaue Bericht scheint nicht erschienen zu sein. Statt dessen finden sich einige
Bemerkungen über die Eröffnung des neuen Landwehr-Zeughauses unter dem Titel „Abendliches Plauderstündchen im Quartier" a in zwei bereits vor der Lithographie (Titelbild) erschienenen Heften der gleichen Zeitschrift. Wegen der Seltenheit des Blattes sei der betreffende
Bericht in den sich auf das Zeughaus beziehenden Teilen vollständig zitiert:
260
„Abendliches Plauderstündchen im Quartier.
Am 8. Juni hatten die beiden Berliner Bataillons des 20sten Landwehr-Regiments Parade und
Exerzieren vor Seiner Majestät dem Könige auf der sogenannten Schlächterwiese neben der
Hasenhaide. Sonst fand eine dergleichen Parade und Besichtigung gewöhnlich erst am Ende
Das n e u e L a n d w e h r - Z e u g h a u s für ein Bataillon
in Berlin.
(Mit Zeichnungen auf Blatt 2 7 . ) .
Das dem Zwecke Dach zur Aufbewahrung von Waffen und Montirungsstücke im Jahre 184^ neu erbaute
Zeughaus ist 94 Fufs 4 Zoll lang, 45 Fufs 5 Zoll tief, in
zwei Etagen, jede 11 Fufs im Lichten hoch, von Mauersteinen erbaut, und mit Zink nach der sogenannten schlesischen Methode (mit aufgeschraubten Deckleisten) eingedeckt.
Die getroffene Wahl eines nach der Länge des Gebäudes durchgehenden Korridors, mit 2 Treppen und
2 Eingängen an den Giebeln, ist aus dem Bedürfnis
hervorgegangen, die Einkleidung der Mannschaft nach
Möglichkeit zu erleichtern; zu dem Ende steht, jeder
Aufbewahrungsraum mit dem Korridor im Zusammenhange, und es haben die Treppen eine solche Lage erhalten, dafs zur freien Passage Überall eine Breite von
6 Fufs verbleibt.
Die Anordnung der benöthigten Räume, sowie deren
Abmessungen ergeben sich aus dem Grundrifs wie folgt:
Die e r s t e E t a g e zu ebener Erde enthält einen
an der Hinterfront liegenden und durchgehenden Korridor, zu welchem die in beiden Giebeln befindlichen
Eingänge führen; hier liegen auch die beiden Treppen
zur 2. Etage, in der Mitte der Waffensaal, von diesem
rechts die Escadron- und Sattelkammer, und links die
Pulzstube und die Artilleriekammer. Die z w e i t e nicht
gezeichnete E t a g e mit dem gleichfalls durchgehenden
Korridor, wie in der ersten Etage, und den TreppenAufgängen zum Bodenräume, enthält: über dem Waffensaal der ersten Etage, eine Bataillonskammer, und rechts
und links 4 Kompagniekammern.
Bei der geringen Gröfse des Bauplatzes, worauf
das in Rede stehende Gebäude errichtet ist, und der
daran geknüpften Anforderung, den verbleibenden Hofraum möglichst grofs zur Aufstellung der einzukleidenden Mannschaft zu erhalten, wurde das Gebäude mit
seiner hinteren Längenwand c d an das unbebaute Nachbar-GrundstUck gesetzt, es erhält mithin nach den hiesigen Polizei-Gesetzen von dieser Seite weder Luflnoch Lichtöfihungen, auch darf der Abfall der Traufe
nicht nach dortbin gerichtet sein, woraus demgemnfs
die Anordnung der Facade und die danach gewählte
Dachconstruction hervorgegangen ist; und zwar ergiebt
sich die äufsere Architektur des Gebäudes aus der gezeichneten vorderen und Seitenansicht, mit der zinnen-
artigen Bekrönung, sowie das Detail dieser letzten Anordnung aus der in der Ansicht und im Profil in vergröfsertem Mafsstabe angegebenen Darstellung. Die Abdeckung der Zinnen-Schlitze ist mittelst Schieferplatten
in gewöhnlicher Stärke bewirkt.
Die Dachconstruction ist im Quer-Profil nach der
Linie a b dargestellt. Das Regen- und Schneewasser
sammelt sich in einer nach der Länge angebrachten vertieften Kupferrinne, und wird mittelst zweier Abfallröhren von gleichem Material an den Punkten x, x des Grundrisses abgeleitet —
Für den Fall, dafs das Gebäude später eine andere Bestimmung zu Wohnzwecken erhalten sollte, sind
in den Scheidemauern enge Schornsteinröhren angelegt
worden, die aber nur bis zum Dachfufsboden reichen
und erst später höher geführt werden würden. — Auf
Anlage von Kellerräumen brauchte nicht Bedacht genommen zu werden; dagegen haben die im unteren Geschofs
auf Unterlagshölzern ruhenden Bretter-Fufsböden, Luftzüge erhalten, die mit entsprechenden Luftöffnungen in
den Frontwänden im Zusammenhange stehen, wodurch
eine Luft-Circulation unter dem Fufsboden erzeugt wird.
Im Aeufseren bestehen die Frontwände aus gefugtem
Mauerwerk im Kreuzverbande, mit auf Brettern gestrichenen und beschnittenen Mauersteinen von gelblicher
Farbe, und mit einem röthlich braungemischten Mörtel
gefugt. — Zur Ersparnifs aller unnützen Kosten hat man
sich lediglich bei dem Abschlufs des Zinnen- Gesimses
der Frontsteine bedient
Zu dem innern Mauerwerk wurden gewöhnliche
Mauersteine angewendet; die innern Wandflächen haben
einen Kalkmörtel-Pute mit einer entsprechenden Färbung
erhalten. — Die Decken sind geschalt, und mit Rohrpute versehen, und es besteht bei der Balkenlage die
Stakung aus einem halben Windelboden, wobei der
3 bis 4 Zoll über den Stakhölzern belegene Raum nur
mit Lehm, und nicht auch mit Schutt ausgefüllt ist wie
letzteres hier wohl häufig bei Privathäusern Anwendung
findet. Die Erbauungskosten des Gebäudes betragen
einschliefslich der inneren Ausstattung mit Gerüsten für
die Lagerung der Militair-Effecten, und mit Inbegriff der
erforderlich gewesenen Aufhöhung des Hofraums, der
Pflasterung des letzteren und theilweise Aufführung von
Bewährungsmauem rund 14,500 Thlr., und nach Abrechnung dieser Nebenausgaben pr. pr. 13,000 Thlr., wonach
bei einer Grundfläche von 4284 QFufs, der QFufs rund
3 Thlr. 1 Sgr. gekostet hat.
Drewitz.
Abb. 3
261
der 14tägigen Uebungs-Periode statt, diesmal aber schon am neunten Tage nach der Einkleidung der Mannschaften, was hinsichtlich des erlangten Resultats um so auffallender ist, als die
Wehrmänner ein fast durchgängig neues Exerzitium lernen mußten. Die Auszeichnung, welche
beiden Bataillons dadurch zu Theil wurde, daß Seine Majestät der König Allerhöchstselbst die
Parade abzunehmen geruhten, schien sämmtliche Wehrmänner zu doppelter Anstrengung
anzusporen, so daß wirklich Ueberraschendes geleistet wurde. Groß war die Zahl der Zuschauer, die den lebhaftesten Antheil an Allem nahmen, was vorging, und wir können kein
besseres Bild davon geben, als indem wir aus der Erinnerung die Gespräche verschiedener
Gruppen von Zuschauern niederschreiben. Ein Bericht spricht nur das einseitige Urtheil des
Berichterstattenden aus, darum geben vielleicht die folgenden Aeußerungen eine vollständigere
Uebersicht.
Achte Gruppe.
Nebenhergehende.
- Also, ein neues Zeughaus hat das 20ste Landwehr-Regiment bekommen?
- Das heißt, nur das 3te Bataillon, weil die Kompagnie-Kammern so sehr zerstreut auf den
Böden verschiedener Ställe und Wachen lagen. Es soll ein sehr schönes Gebäude geworden
seyn.
- Ich bin auch neugierig darauf, es zu sehen. Ich denke, wir marschiren mit und sehen zu, wie
die Fahne zum erstenmale hineingetragen wird.
- Wissen Sie wohl, daß mir mit der Einrichtung eines ordentlichen Zeughauses ein wahrer Stein
vom Herzen gefallen ist.
- Wie so?
- Ich konnte seit dem letzten heillosen Spektakel, am Geburtstage des hochseeligen Königs,
den Gedanken nicht loswerden, daß bei einer ähnlichen Gelegenheit, wie letzthin in München
und bei dem Hoberschen Skandal in Carlsruhe, das Gesindel sich einmal der Waffen in einem
der Landwehr-Zeughäuser bemächtigen und schweren Unfug damit anrichten könnte.
- So etwas ist doch bei uns nicht zu befürchten.
- Sagen Sie das nicht. Wer hätte am 2. August damals wohl geahnt, daß am 3ten solch ein
Tumult entstehen könnte? Ich hörte damals ein paar Kerle sagen: „I was, wenn sie die Soldaten
auf uns loslassen, dann brechen wir die Kompagnie-Kammern auf und holen uns Gewehre!" Es wäre ein großes Unglück, wenn je der Pöbel bei nichtsnutziger Veranlassung zu den Waffen
der Landwehr könnte!
- Sie haben Recht. Daran habe ich bis jetzt noch gar nicht einmal gedacht. Altes Sprichwort:
Festgebunden, Festgefunden! und Besser bewahrt, als beklagt.
- Hören Sie einmal, die Trommler und Pfeifer spielen den schönen Marsch von Gungl, der jetzt
überall Mode ist.
- Es ist erstaunlich, wie sie das in der kurzen Zeit haben lernen können. Jetzt geht doch Alles
mit Dampf. Die Leute rühren Jahrelang keine Trommel und Pfeife an, und lernen in 8 Tagen
nicht allein alle regelmentsmäßigen Märsche und Signale, sondern auch noch solche ModeMärsche.
- Das steht das neue Gebäude!
- Allen Respekt, das ist ja ein wahrer Pallast. Wollen es uns doch rasch einmal besehen.
Im Hofe des neuen Zeughauses.
Der B a t a i l l o n s - C o m m a n d e u r . Halt! Gewehre ab! Wehr-Männer! Des Königs
Majestät hat die Gnade gehabt, dem 3ten Bataillon 20sten Landwehr-Regiments dieses neue
Zeughaus zu erbauen. Der Soldat dankt seinem König und Kriegsherrn durch Treue, Gehor262
sam und eifrige Pflichterfüllung. Ihr habt heute Eure Schuldigkeit gethan. Es lebe Se. Majestät
der König!
Hurrah! Hurrah! Hurrah!
Stillgestanden! Gewehr auf! Fahne vor! Präsentiert das Gewehr!
Die Fahne wird bei gerührtem Spiele in das Zeughaus getragen und dort zum erstenmale
aufgestellt."
Nur vier Jahre vergingen, und das enttäuschte und um seinen Lohn betrogene Volk erhob sich
gegen den reaktionären Staat, dem es aber erneut gelang, sich mit Gewalt gegen seine Bürger
durchzusetzen. Ob das Landwehr-Zeughaus bei den kämpferischen Auseinandersetzungen die
in dem Gespräch befürchtete Rolle gespielt hat, konnte ich bisher nicht feststellen.
Die beiden Ansichten des Gebäudes zeigen, daß es sich um einen Putzbau handelte, dem durch
Fugen das wehrhafte Aussehen eines aus großen Quadern gefügten Bauwerks gegeben werden
sollte. Auf der Lithographie von der Vorderseite treten deutlich einfache Gesimse hervor, die
die Stockwerke betonen. Die auskragenden Dachbalken auf Konsolen schließen die Fassade
nach oben ab und geben ihr einen bescheidenen Schmuck, sogar darauf wurde an der Rückseite
verzichtet. Neben den beiden Treppentürmen fällt dort besonders die Rampe auf, die es
ermöglichte, auch schweres Gerät im ersten Stockwerk zu lagern. Ob diese hölzerne, schnell
entfernbare Konstruktion durch Sicherheitsinteressen veranlaßt wurde? Wir wissen es nicht!
Das mitgeteilte Gespräch aus dem Jahre 1844 läßt einen derartigen Schluß aber durchaus zu.
Gegen eine solche Vermutung spricht, daß dieses Detail bei dem erst drei Jahre nach der
Revolution veröffentlichten (und gebauten?) Entwurf14 nicht erneut verwendet wurde.
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
Später Königgrätzer Straße, heute Stresemannstraße
Carl Brecht, Geschichte des 3. Brandenburgischen Landwehr-Regiments Nr. 20, Berlin 1864, S. 138
Brecht, 1864, S. 137
Wilhelm Borchert, Garnison-Friedhof Hasenheide in Wort und Bild, Berlin 1930; der Autor erarbeitet
gegenwärtig im Auftrag des Bezirksamts Neukölln eine Geschichte des Friedhofs und seiner Denkmäler
Der Soldatenfreund 12,1844, Beilage zu Nr. 583, Bildtext auf S. 5736
Harald Brost/Laurenz Demps, Berlin wird Weltstadt. Photographien von F. Albert Schwartz, Leipzig
1981, S. 236
Andreas Bekiers/ Karl-Robert Schütze, Zwischen Leipziger Platz und Wilhelmstraße, Berlin 1981,
S. 35, ebenfalls mit falscher Zuordnung des Gebäudes. Diese Fehler berühren die dargestellten
städtebaulichen Probleme nicht.
Eva Börsch-Supan, Berliner Baukunst nach Schinkel, München 1977, S. 568
Berlin und seine Bauten, Berlin 1877, S. 236
Dieser Fehler wurde auch von Brost/Demps, 1981, S. 236, übernommen. Auf dem mit 1885 zu spät
datierten Foto sind deutlich Garde- und Landwehr-Soldaten zu erkennen, die General Militär-Kasse
hat das Gebäude nicht genutzt, sie ist erst 1884 in den für sie errichteten Neubau eingezogen
Brecht, 1864, S. 139
Börsch-Supan, 1977, S.568
Der Soldatenfreund 12,1844, Nr. 572, S. 5639-5642, und Nr. 573, S. 5649-5651
Wilhelm Drewitz, Das neue Landwehr-Zeughaus für ein Bataillon in Berlin, in: Zs. f. Bw. 1, 1851,
S. 144-146, B. 27
Anschrift des Verfassers: Dr. Karl-Robert Schütze, Bruno-Bauer-Straße 20 A, 1000 Berlin 44
263
i/Begegnungen 1931
Von Wilfried Göpel
I Renee Sintenis
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An einem früh winterlichen Tage stand ich vor dem Haus Magdeburger Straße, an der
Schmalseite des Platzes im alten Berliner Westen. Es war früher Nachmittag, der Wochenmarkt
eben zu Ende. Inmitten lauter Rufe, dem Schnauben der Pferde fiel es mir etwas schwer, mich
auf den Besuch bei der Bildhauerin Renee Sintenis einzustimmen. Kam ich doch eben aus
meiner Studentenbude an der Schloßfreiheit, wo vor dem Begas-Brunnen, dem „Gabeljürgen",
wie ihn die Berliner nannten, der ungewohnte Verkehr zwischen den Linden und dem Roten
Rathaus, kaum gedämpft von den dicken Portieren einer altväterlichen Patrizierwohnung, Tag
und Nacht vorüberzog. Es hatte lange Zeit gedauert - die Prominenz läßt sich bitten, sagten
Berliner Freunde -, bis mir eines Tages ein elegantes, blaugetöntes Briefchen Tag und Stunde
meines Besuches ankündigte. Aber ich wollte die Künstlerin selbst erleben. Ich glaubte schon
damals, man könne ihrem Werk nur aus der Kenntnis des Menschen, der Gründe seines
Auftrags wirklich gerecht werden.
Etwas erstaunt betrachtete ich das niedrige Haus. Es war keine der behäbigen Villen dieser
Gegend zwischen Potsdamer Straße und dem Landwehrkanal. Mit einem großen Torbogen,
dem baumbestandenen, kopfsteingepflasterten Hof, mit Schuppen und Wagenremise im Hintergrund erinnerte es eher an die Handwerker und halbstädtischen Ackerbürger des vergangenen Jahrhunderts. Schwer vereinbar schien es mir jedenfalls auf den ersten Blick mit der
Herrenreiterin im Tiergarten, der eleganten Erscheinung bei Ausstellungseröffnungen in der
Akademie am Pariser Platz oder in den Galerien. Pflegten doch, dem Zeitgeschmack entsprechend, Zeitschriften wie „Querschnitt", „Dame" und „Elegante Welt" gern bei gesellschaftlichen Ereignissen diesen etwas mondänen Typ der Garconne.
Sobald ich aber der Künstlerin selbst gegenübersaß, waren alle diese Bilder einer etwas
spielerischen Eleganz völlig vergessen: An ihrem Schreibtisch saß eine schlanke, hochgewachsene Frau, Anfang der vierziger Jahre. Unter dem dunklen Haar eine energische Nase und
breite Backenknochen - vielleicht eine Erinnerung an ihre schlesische Heimat, die sie auch
später noch gern erwähnte und, wie etwa Menzel, zeitlebens hochschätzte.
Bestimmend aber war der kluge, zielbewußte Blick aus dunklen, leicht verschleierten Augen.
Wie eine Bildhauerzeichnung erfaßte er den Raum der Wirklichkeit in kühlem Abstand, um sie
zugleich mit dem eigenen Wesen zu verbinden. Man ahnte wohl, daß in dieser Frau eine
immense bildhafte Kraft vorhanden war, die immer von neuem an der Vervollkommnung der
Sprache ihrer Kunst gearbeitet und auch gelitten hatte. Kaum verwunderlich, daß daraus
innerhalb weniger Jahrzehnte neben Clara Westhoff, Hanna Cauer und - wenn man so will auch den späten plastischen Arbeiten von Käthe Kollwitz auf ihre Art eine der bekanntesten
Bildhauerinnen - nicht nur ihrer Zeit - werden konnte.
Bald entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch. Auf meine Fragen erzählte sie aufgeschlossen und
völlig unprätentiös aus ihrem Leben. Saint-Denis hieß die Familie der Künstlerin, Hugenotten
aus Frankreich, die schon unter dem Großen Kurfürsten um ihrer Religion willen in Preußen
Asyl gefunden hatten. Pastoren finden sich darunter. Ein berühmter Rechtslehrer aus dem
Beginn des vergangenen Jahrhunderts gab zum ersten Male das „Corpus juris civile" und das
„Corpus juris canonici" in deutscher Sprache heraus. Politiker der Bismarckzeit gehörten
ebenso dazu und mancher Vertreter der gebildeten Stände. Auch der Vater war Jurist. Als
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Älteste von drei Geschwistern wurde sie am 20. März 1888 in Glatz geboren. Bestimmende
Jugendjahre verlebte sie nach einer Umsiedlung der Familie in dem märkischen Städtchen
Neuruppin, unweit der Apotheke von Fontanes Vater, der sich ja auch der französischen
Kolonie zurechnete. Das hochaufgeschossene, ein wenig schlaksige junge Mädchen fand in der
Enge dieser Provinzstadt wenig Freunde. Ja, Gleichaltrige verspotteten sie sogar, und auch von
den Erwachsenen mag sie manchen scheelen Blick erfahren haben. So zog sie sich ganz auf sich
selbst zurück, fand Freude an der Schönheit der herben märkischen Landschaft. Und die Nähe
des Rheinsberger Schlosses mit seinem weiten Park und den Erinnerungen an Friedrich den
Großen und seinen Bruder Heinrich bedeutete zugleich einen Abglanz der weiten Welt. Vor
allem aber schloß sie Freundschaft mit Tieren, den kreatürlichen Geschöpfen, die uns noch
Dank wissen für jede Zuneigung und Geborgenheit. Durch Zufall befand sich ganz in der Nähe
der elterlichen Wohnung ein kleines Gestüt, in dem die Pferde noch frei und unbeschwert
aufwuchsen. Hier verbrachte sie viele Stunden, und noch aus ihren späteren Arbeiten läßt sich
erkennen, wie sie deren Gestalt bis in die kleinste Bewegung „par coeur", d. h. mit dem Herzen,
auswendig lernte und beherrschte. In dieser Zeit begann sie auch zu zeichnen. Wenn man so
will, war dies die Grundlage zu jenem Zauberspiegel der Kunst, von dem Hans Thoma in seinen
Erinnerungen erzählt, er habe sich ihn als kleiner Schwarzwaldbub beim Hüten der Ziegen
ausgedacht, um damit nach Belieben die Welt vor sich abrollen zu lassen.
Als der Vater einen Ruf als Syndikus erhielt, siedelte die Familie für wenige Jahre nach
Stuttgart über. Die junge Renee schloß hier die Oberschule ab und erhielt auch ersten
Zeichenunterricht an der Kunstschule. Schon 1908 ging die Familie nach Berlin, das zu ihrer
endgültigen Heimat werden sollte. Der Entschluß zur Kunst stand nun fest, wenn dies auch von
der Familie als „brotlos" und für ein Mädchen als sowieso völlig überflüssig angesehen wurde.
Schließlich fand man eine solide Ausbildung handwerklicher Art in der Kunstgewerbeschule,
Grunewaldstraße, als angemessen und eben noch vertretbar. Für die zwanzigjährige, strengerzogene Juristentochter war es nicht leicht, die Schallmauer der bürgerlichen Diesseitigkeit zu
durchbrechen und in der Fülle großstädtischer Anregungen, ganz auf sich gestellt, den rechten
Weg zu finden. Wohl gab es in Berlin schon seit 1900 die in bewußtem Gegensatz zur offiziösen
Kunst begründete Sezession der Liebermann, Slevogt und Corinth, aber die Träger neuer
Kunstideen wie die Dresdner „Brücke" (seit 1905) und der Münchner „Blaue Reiter" (seit
1911/12) hatten noch einen weiten Weg bis zur allgemeinen Anerkennung zurückzulegen. Die
Berliner Hochschulen jedenfalls waren noch weitgehend von dem „dynastischen Realismus"
Wilhelminischer Zeit bestimmt. Der Eintritt in die Malklasse Leo v. Königs ergab sich als
Kompromiß. War er doch ein Mitglied der Sezession, stand aber mit einer ausgesprochenen
Begabung für Bildnisse aristokratischer Haltung noch weit in den Traditionen der Jahrhundertwende.
Doch er war ein guter Lehrer. Renee verdankt ihm mit Sicherheit die Grundlagen zum
virtuosen Kontur ihrer späteren Zeichnung. Aber die Linie allein genügte nicht, es fehlte die
dritte Dimension des Raumes. So wechselte sie in die Bildhauerklasse von Wilhelm Haverkamp
über. Haverkamp war einer der Künstler, die vielbeschäftigt und betriebsam, Kirchen und
Plätze bis zur Berliner Siegesallee mit Denkmälern im Geschmack der Jahrhundertwende
versorgten. Es fällt uns heute schwer, ihn als Lehrer am Beginn einer solchen Laufbahn zu
denken: ein Beweis mehr, daß Renee Sintenis dies Gelingen nur der eigenen schöpferischen
Kraft verdankte. Jedenfalls nahm sie die Herausforderung mit unendlichem Fleiß auf, lernte
das Handwerk von der Pike auf, zu modellieren, Gerüste zu erstellen, Ton zu brennen und nicht
zuletzt die Anatomie von Mensch und Tier bis in Einzelheiten zu beherrschen. So erwarb sie
sich das technische Rüstzeug für ein ganzes Lebenswerk. Auch Anerkennung blieb nicht aus,
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als Meisterschülerin konnte sie nach wenigen Jahren ein eigenes Atelier in der Prinz-AlbrechtStraße übernehmen.
Aber der glückhafte Beginn findet jähe Unterbrechung. Der Kriegsausbruch 1914 ließ die
Achtung vor den Musen nicht eben steigen, wirtschaftliche Sorgen und Unverständnis ließen
den Vater zuerst an die Ausbildung der beiden jüngeren Brüder denken, und so fand sich die
Sechsundzwanzigjährige unversehens in der Kanzlei des Vaters, einem Anwalt am Berliner
Kammergericht, wieder, befaßt mit Stenographie, Schreibmaschine und trockenen juristischen
Schriftsätzen.
Die Liebe zur Kunst erwies sich jedoch als stärker. In einer für damalige Zeiten etwas
dramatisch verlaufenen „Palastrevolution" sagte sie sich endgültig vom Elternhaus am Kleistpark los. Kurzerhand zog sie in die kleine Wohnung einer alten Schulfreundin, die sich recht
und schlecht mit kunstgewerblichen Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt. Dort fand sie zwar
ein bescheidenes Stübchen, aber nicht einmal ein eigenes Bett. Um die bürgerliche Vorstellung
von der „brotlosen" Kunst gleichsam zu bestätigen, mangelt es nun oft am Nötigsten, an
Kohlen für die Heizung etwa oder dem Fahrgeld zur Schule. Aber noch einmal gelingt es der
Künstlerin, sich im festen Glauben an ihre Aufgabe wie Münchhausen am eigenen Schopf aus
der bedrohlichen Lage zu befreien. Zwei Wunder geschehen: Einmal läßt eben diese schwere
Zeit den angelernten schulischen Ballast vergessen und in mühevoller Arbeit als Erinnerung an
ihre Jugend die ersten Kleinplastiken der Tiere als ureigene Sprache entstehen. Der alte Noack
in Friedenau, in seiner Werkstatt als Bildgießer der Kolbe und Barlach, Gies und Belling mit
künstlerischer Qualität wohl vertraut, räumte Renee Sintenis Kredit für einige der schönsten
Stücke ein. Die fertigen Güsse können zusammen mit einem mühsam luftgetrockneten Selbstbildnis (Gips) in einer Ausstellung der Berliner Sezession gezeigt werden. Und nun erfolgt das
zweite Wunder: Kein geringerer als der Dichter Rainer Maria Rilke, vertraut mit neuer Kunst
durch die Arbeit im Atelier Rodins und die Freundschaft mit dem Kreis um Vogeler, Clara
Westhoff, Paula Modersohn-Becker im Barkenhof zu Worpswede, nimmt diese ersten Arbeiten mit Begeisterung auf. Vor allem empfiehlt er sie nachdrücklich dem Sammler von der Heydt
zum Ankauf.
So trifft eines Tages ein Brief des Sammlers ein mit herzlichen Glückwünschen zu einem
solchen Gelingen. Zugleich enthält er einen Scheck mit der runden Summe für den Ankauf, vor
allem des in der Ausstellung als unverkäuflich bezeichneten Selbstbildnisses, aber auch einiger
Kleinplastiken. Es v/ar ein vierstelliger Betrag, der allen materiellen Sorgen ein Ende setzte.
Obwohl die Trennung von der Familie schwer zu überwinden war - ein Bruder fällt im Krieg,
und der Vater stirbt bald darauf, unversöhnt und ohne die allgemeine Anerkennung der
Künstlerin noch zu erleben -, begann seitdem - wohl von unermüdlicher Arbeit getragen - die
glücklichste Zeit ihres Lebens. Sie heiratete den über ein Jahrzehnt älteren Maler und Grafiker
Emil Rudolf Weiss, Lehrer an der Kunstgewerbeschule und in allen Verlagen als Erfinder neuer
Schriftbilder bekannt. Eine größere Ausstellung in der Galerie Gurlitt bringt allgemeine
Zustimmung, und - später vor allem dank der Galerie Vömel - erfolgen Ankäufe der
verschiedensten Museen, auch in Paris und New York. Bald wurde Renee Sintenis in die
Akademie der Künste gewählt, und die Ausstellungen am Pariser Platz zeigten regelmäßig
jährlich ihre neuesten Arbeiten. Kurzum - die Dreißig- und Vierzigjährige hat sich längst einen
festen, unverrückbaren Platz im künstlerischen Schaffen errungen.
Noch immer bildeten die Tierplastiken einen gewichtigen Teil ihrer Arbeit. Aber langsam
wuchsen sie zu lebensgroßen Bronzen in den Gärten der Villen und in den Parks. Es folgten die
meisterhaften Bildnisse von Andre Gide, Hans Siemsen, von Ringelnatz (wir erinnern uns
dabei an den Schluß seines Gedichtes vom „Reh": „und dann gab ich ihm einen Stips, und dann
266
war es aus Gips"). Die Figur des weltberühmten finnischen Läufers Nurmi schließt sich an, des
Boxers, des Fußballspielers und des zu untrennbarer Einheit von Pferd und Reiter in der
Bewegung erfaßten „Polospielers". Nicht zuletzt aber auch an die Bronzefiguren der griechischen Dichterin Sappho und der vom erzürnten Gott Apollo verfolgten und in einen Lorbeerbaum verwandelten Nymphe Daphne.
Wie alle ganz in ihrer Aufgabe sich erschöpfenden Menschen liebte auch Renee Sintenis den
lebendigen Austausch der Gedanken im Gespräch. Ohne Scheu erzählte sie von den einzelnen
Stationen ihres Werdens, gab Auskunft über diese und jene Frage. Unterdessen hatte ich Zeit,
mich in dem sparsam eingerichteten Berliner Zimmer umzusehen: Neben dem weißen, noch
biedermeierlich anmutenden Kachelofen standen ein von Notenstößen umgebener Flügel, ein
wenig altväterliche Stühle und ein Schreibtisch, die Wände waren ohne jeden Schmuck. Aus
vielen Künstlerateliers kannte ich diese nüchterne Zweckmäßigkeit. Sie erinnert an den Vordergrundbaum auf alten Gemälden, der erst durch den Gegensatz Nähe-Ferne für den Betrachter die Weite einer Landschaft freigibt. Am Fenster auf einem langen Tisch fanden sich noch
Entwürfe, größere und kleinere Bronzen, so daß ich alte Bekannte Stück für Stück in die Hand
nehmen, Erklärungen fordern konnte. Ein ruhendes Kälbchen, ein äugendes Reh, spielende
Eselchen und junge Fohlen junge Elefanten, Ponys mit jagender Mähne, Hunde und Ziegen.
Selbst die kleinste Rundung ist durchdacht, die gespannte Sehne, die Schmiegsamkeit eines
Pferdehalses. Auf die Frage nach dem Modell betont die Künstlerin, für sie sei eine lange
dauernde Anschauung wohl wichtig, um das Wesenhafte zu erfassen. Die Realität irritiere sie
nur, berausche sie fast, und erst in einem zweiten Schritt gelänge es ihr, sie in die eigene Sprache
umzusetzen.
Auf dem Tisch liegen auch Mappen mit Zeichnungen und Radierungen - was gäbe es
Schöneres? Wieder sind es vor allem Tiere, sich neckende, spielende, laufende und ruhende
Wesen verschied3nster Arten. Dann aber auch hochaufgeschossene Jünglinge und zarte
Mädchenwesen; häufig genug mit literarischen Bezügen, vor allem zu der Mythologie der
Antike. Aber das Gegenständliche ist nur das auslösende Moment zu einer wundervollen
Spannung zwischen dem glatten Weiß des Papiers und den dunkelschwarzen oder farbigen
Strichen des Konturs. Wahrhaftige Bildhauerzeichnungen sind es.
Die darauffolgenden Jahre brachten nur gelegentlich ein flüchtiges Wiedersehn mit der Künstlerin. Aber nach fast drei Jahrzehnten besuchte ich sie noch einmal während der Vorbereitung
zu einer Publikation. Diesmal fand ich sie in der kleinen Neubauwohnung am Innsbrucker
Platz mit dem weiten Blick auf den Schöneberger Stadtpark. Sie lebte dort, betreut von einer
jungen Frau, die auch später ihren Nachlaß hütete, der nach ihrem Tod 1965 der Berliner
Nationalgalerie zufiel. Die siebzigjährige Frau war sichtbar müde geworden. Aber aus ihren
Augen leuchtete immer noch der etwas wissender gewordene, alles Kreatürliche mit Liebe
umfassende Blick. Viel Schweres hatte sie erlebt. E. R. Weiss, ihr Gatte, war schon 1942
verstorben, und die Agonie von Berlin hatte sie bis zur Neige auskosten müssen. Ihre frühere
Wohnung und das Atelier hatten zwar die Bombennächte überdauert, waren aber bei Kriegsende während der russischen Siegesfeiern im Mai 1945 in Flammen aufgegangen und mit allen
Arbeiten und persönlichen Erinnerungen vernichtet worden.
Aber bald faßte sie neuen Mut. Der Bürgermeister von Schöneberg wurde auf sie aufmerksam,
verschaffte ihr eine neue Behausung - damals ein unschätzbarer Wert. Nach den Aufräumungsarbeiten in der Hochschule an der Hardenbergstraße erhielt sie ebenso wie Richard
Scheibe ein Meisteratelier. So konnte sie ihre Lehrtätigkeit wieder aufnehmen und, besonders
auf dem Gebiet der Grafik, wichtige und reife Blätter ihrem Werk hinzufügen.
Überschaut man das Lebenswerk von Renee Sintenis, geben uns wohl ihre Selbstbildnisse am
267
eindeutigsten Auskunft über das Werden des Menschen und der Künstlerin. In den Selbstbildnissen von 1923 und 1926 erkennen wir schon die selbstbewußte Beherrschung künstlerischen
Ausdrucks. Noch stärker spürbar ist diese in den Darstellungen von 1931 und 1933. Auf dem
Höhepunkt des Schaffens ist eine Sprache gefunden, die sich virtuos der Mittel des eigenen
Könnens bedient. In dem Kopf des Jahres 1945 finden wir das ganze Leid jener schweren Zeit
ausgedrückt.
X a r l Schmidt-Rottluff
Zum 100. Geburtstag des Meisters der „Brücke" am 1. Dezember 1984
TJicht neben dem Gebäude der altehrwürdigen Leipziger Alma mater mit der gotischen
Paulinerkirche - damals noch am Augustusplatz - befand sich im Keller eine bescheidene
Kunsthandlung. Da in Vorlesungen Wilhelm Pinders und später Leo Bruhns die Kunstgeschichte spätestens mit Marees und Leibl zu enden pflegte, begegnete ich dort zum ersten Mal
der modernen Kunst als junger Student. So erschloß sich mir hinter den tiefliegenden kleinen
Fenstern und verwinkelten, noch aus der alten Stadtbefestigung erhaltenen Räumen eine ganz
neue Welt. Herr Barchfeld, der Besitzer, war - sofern nicht mit einem seiner endlosen
Verkaufsgespräche befaßt - zudem jederzeit bereit, Erklärungen und Hinweise zu geben. Dort
erfuhr ich auch, daß in den städtischen Sammlungen von Chemnitz und Halle der beste
Eindruck über die Kunst der Expressionisten zu gewinnen sei.
So sparte ich meine nicht eben fürstlichen Honorare aus ersten journalistischen Arbeiten auf,
um an freien Sonntagen auf Entdeckungsreisen zu gehen. Ich fuhr nach Chemnitz, wo Dr.
Schreiber eine kleine, aber recht instruktive Sammlung der Brücke-Maler aufbauen konnte,
besuchte Dr. Schardt in Halle, der sich in den schönen alten Räumen der Moritzburg nachdrücklich für die Moderne bis zu den bekannten Auftragsarbeiten der Stadtansichten Lionel
Feiningers vom Bauhaus in Dessau einsetzte; später auch nach Breslau zu Dr. Wiese, wo sich in
Zusammenarbeit mit den jüngeren Mitgliedern der Akademie langsam eine interessante Folge
neuer Erwerbungen für das Museum ergeben hatte. Alles dies war eine Offenbarung für mich
gegenüber den zaghaften Ansätzen in Leipzig, und ich konnte darüber mit jugendlicher
Begeisterung berichten. Weitere Aufschlüsse erhielt ich in der Sammlung einer Leipziger
Familie - die u. a. eine lückenlose Folge der Grafik Schmidt-Rottluffs besaß - , vor allem aber
in den kostbaren Schätzen der Sammlung Bernhard Köhlers. Waren dort doch in einer Berliner
Stadt wohnung zwischen dem „Zickenplatz" und der Hochbahn auf langen Tischen meterhoch
die schönsten Aquarelle und grafischen Blätter magaziniert. Nach dem Krieg hörte ich, sie seien
ebenso wie die Ateliers von Renee Sintenis in der Kurfürstenstraße, von Gerhard Marcks in
Wannsee und von Hugo Lederer in Neu-Westend sämtlich den Bombennächten zum Opfer
gefallen.
Irritierte mich zuerst das „epater le bourgois" („den Bürger verblüffen") in den frühen Werken
dieser Künstler, so schrieb ich dies bald dem Suchen nach neuen Wegen und der Reaktion auf
vielerlei Anfeindungen zu. Waren doch die in der Verklärung so oft als „goldene Zwanziger"
bezeichneten Jahre eine vielschichtige, recht unruhige Zeit.
Klar wurde mir bald, daß hier etwas Neues, von echtem Sendungsbewußtsein Getragenes
entstand, das seinen Weg nicht nur in der deutschen Kunst nehmen würde. Löste es sich doch
von dem inzwischen „akademisch" gewordenen Impressionismus und seiner Nachfolge „mit
dem Stück Natur, gesehen durch ein Temperament", um - wie wir damals sagten - von dem
„gebauten Bild" ersetzt zu werden, das die innere und äußere Realität zugleich erfassen und in
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echten Werten der Form und Farbe festhalten wollte. Und wir jungen Menschen hatten damals
die Empfindung, hier und an dieser Stelle würden unsere ureigenen Gedanken ausgesprochen.
Immer wieder wurde in den Gesprächen damals der Name Schmidt-Rottluffs genannt. Von
Alois Schardt und Dr. Schreiber wußte ich, daß er nicht nur bei den Ankäufen, sondern bis in
die Anordnung der Bilder, sogar bei der Farbgebung der Museumsräume ein entscheidendes
Mitspracherecht (besonders in der Moritzburg) besaß. So war nur natürlich, daß ich eines
Tages dem Künstler selbst in seiner Etagenwohnung der Friedenauer Niedstraße, dicht neben
der Bildgießerei Noack, gegenübersaß. Ich fand dort in dem ganz bürgerlich eingerichteten
Wohnzimmer mit Georg Kolbes „Klagenden" auf einem Schrank einen hochgewachsenen
Mittvierziger von verbindlichen Formen. Unverkennbar war sein sächsischer Dialekt, nicht in
der weicheren, singenden Form der alten Meißner Mark zwischen Leipzig und Dresden,
sondern mit der kantigeren Färbung des Erzgebirges, einem Land, in dem seit Jahrhunderten
Bergleute Erze förderten und geschickte Handwerker heimisch waren. Aufgeschlossen erzählte
er im Gespräch vom ersten Zusammenschluß der Dresdner Architekturstudenten in der
Gemeinschaft der „Brücke", deren Namen er selbst fand, wie er immer neue Künstler (darunter
auch schon frühzeitig Munch) für ihre Bestrebungen zu gewinnen suchte - von seinen Reisen
nach Nidden und dem pommerschen Leba, Dangast usw., wo er sich immer wieder mit der
Landschaft der Ebene und mit dem Meer auseinandersetzte - von der Dienstzeit des Ersten
Weltkrieges, wo ihn zusammen mit anderen Künstlern beim „Ober-Ost" in Kowno das
Erlebnis der Schlachten und des Ostens entscheidend mitformte. Er sprach von den ersten
Gemeinschaftsausstellungen der „Brücke" in Braunschweig (1906), den Berliner Ausstellungen
bei Gurlitt und in der von Pechstein mitgegründeten „Neuen Sezession" (1910), deren Erfolge
ihn schließlich zur Übersiedlung nach Berlin veranlaßten. Ein wenig erstaunt erkannte ich bald,
daß dieser Maler, der so Gewichtiges in der Kunst der Moderne mitbewegen half, im Grunde ein
stiller, nachdenklicher Mensch war, dem die äußere Realität der Dinge wenig bedeutete. Aber
aus jedem Wort über Kunst sprach eine sehr dezidierte Meinung, ja - wenn man so will - ein
Sendungsbewußtsein, das seinen Weg immer begleiten sollte.
Aus den späteren gelegentlichen Begegnungen möchte ich nur zwei erwähnen, da sie bedeutsam
für den Menschen und Maler waren. Einmal war dies bei der Eröffnung der letzten „freien"
Akademieausstellung Amersdorffers 1936 am Pariser Platz: Mutig stellte sich Schmidt-Rottluff
an der Eingangstür auf. Und jeder der prominenten Besucher - das ominöse Malverbot war
schon ausgesprochen - mußte sich nun entscheiden, ob er ihn trotzdem mit Handschlag
begrüßte. Viele der alten Freunde taten es. Zum anderen besuchte ich den Maler zum ersten
Male nach dem Zusammenbruch im Hause seines Bruders in Rottluff bei Chemnitz 1945.
Begeistert und freudig bewegt, sah er nach den langen Jahren erzwungener Zurücksetzung dem
Wiedersehn mit Berlin, der neuen Arbeit an der Hochschule und der Akademie entgegen.
Mögen diese Hoffnungen in der zerstörten Stadt nicht alle in Erfüllung gegangen sein, es
bedeutete ihm wenig. Ebenso wie Richard Scheibe versuchte er unbeirrt, seinen Weg weiter zu
gehen, nahm als „graue Eminenz" Einfluß auf die verschiedensten Entscheidungen und baute
zusammen mit Prof. Reidemeister das heutige Brücke-Museum auf, ein Denkmal - wenn man
so will - für sich und die Weggenossen und das Gelingen einer neuen Kunst, der klassischen
Moderne.
Karl Schmidt-Rottluff an Wilfried Göpel, 24. Januar 1932 (gekürzt):
Es gibt eine Gruppe von Menschen, für die Kunst wirklich ein inneres Erleben bedeutet - diese
Gruppe ist klein ... Eine andere Gruppe ist die. die für Kunst insofern Interesse hatte und hat.
269
soweit sich Kunst in irgendeiner Hinsicht verwerten läßt. Diese Gruppe ist allerdings unter den
erschwerten wirtschaftlichen Möglichkeiten sehr zusammengeschmolzen. Eine dritte Gruppe, die
derjeweiligen Intention der Tagesströmung unterliegt, kann man von vornherein wohl gleich außer
Betracht lassen. Etwas anderes ist es nun, ßngere Menschen, jüngeres Kunstinteresse - das
erscheint mir sehr hoffnungsvoll. Diese Menschen setzen sich sehr ernsthaft mit der Kunst
auseinander - es ist in ihnen wieder ein Suchen nach den Quellen des Lebens, und es ist
überraschend, wie geschärft ihre Sinne sind, wie sie das Eigentliche vom Nicht-so-Eigentlichen
unterscheiden... Der Tagesirrtum, es wäre heute das Schaffen der 50- und 60jährigen nicht mehr
von Interesse, istja ein rechter gedanklicher Schlendrian. Jedes Schaffen muß ausreifen können wie jeder einzelne Mensch älter und reifer werden können muß. Wer zeit seines Lebens in Sekunda
sitzenbleibt, hat eben keine Entwicklungsfähigkeiten gehabt. Es gibt nun einmal Erkennnisse, die
erst einem späteren Alter vergönnt sind, man braucht doch nur an die späteren Rembrandts, Tizians
oder sonst wen zu erinnern...
Anschrift des Verfassers:
Wilfried Göpel, Prinz-Friedrich-Leopold-Straße 34,1000 Berlin 38 (Nikolassee)
'Zum Bau der Havelchaussee
Von Otto Uhlitz
Wer in den Archiven forscht, stößt mitunter auf Vorgänge, die mit dem zu bearbeitenden
Thema nichts oder nur am Rand etwas zu tun haben, die es aber gleichwohl im Interesse der
Landes- und Stadtgeschichtsforschung verdienen, aufgeschrieben und überliefert zu werden.
Einen Vorgang dieser Art teile ich nachstehend mit.
In der ersten Hälfte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde beschlossen, im
Gebiet des Grunewalds einige Chausseen anzulegen. Hierzu gehörte auch der Bau einer längs
der Havel entlangführenden Chaussee von Picheisberg (Endpunkt der zunächst fertiggestellten
sogenannten Westendchaussee, heute Angerburger Allee/Ecke Havelchaussee) bis zum
Forsthaus Wannsee am Kronprinzessinnenweg. Die Arbeiten für die etwa 10 km lange Strecke
wurden im Wege einer Ausschreibung dem Potsdamer Steinsetzmeister Wilhelm Heyn übertragen. In dem zwischen Regierung in Potsdam und Heyn am 31. März 1875 abgeschlossenen
Vertrag heißt es: „Der Chausseebau muß sogleich nach dem Abschluß des Vertrages begonnen
und spätestens bis zum 1. Oktober d. Js. vollendet werden. Für jede Woche, um welche die
Vollendung des Baues verzögert wird . . . verfällt der Unternehmer in eine Conventionalstrafe
von 1000 Mark, welche vom Baugeld abgezogen wird."
Der Unternehmer, der eine Kaution von 12 000 Mark hinterlegen mußte, hatte also ein halbes
Jahr Zeit. In einer ersten Fassung des Vertrages hatte man die Vollendung des Chausseebaues
sogar „binnen drei Monaten" vorgesehen. Wenn man bedenkt, mit welchen primitiven Mitteln
damals gearbeitet wurde, ist ein halbes Jahr eine kaum vorstellbare Zeit.
Es wäre schön, wenn ich berichten könnte, daß Heyn den vereinbarten Termin eingehalten hat.
Das war leider nicht der Fall, da der Beginn der Erdarbeiten wegen des außergewöhnlich langen
Frostes im Frühjahr hinausgeschoben werden mußte. In den Sommermonaten war es wiederum unmöglich, die etwa 600 m lange Strecke vom Anfangspunkt der Chaussee (heute:
Angerburger Allee/Ecke Havelchaussee) bis zur Höhe des Pichelsberger Restaurants Kaisergarten (kurz vor der dreißig Jahre später erbauten Stößenseebrücke) zu chaussieren, da infolge
270
der Eröffnung der Westendchaussee der Besucherverkehr zu den am Stößensee liegenden
Pichelsberger Vergnügungslokalen so stark zugenommen hatte, daß mit den entsprechenden
Arbeiten an diesem Streckenabschnitt erst am 15. September begonnen werden konnte. Heute
würde man, dessen bin ich mir ziemlich sicher, den Weg zu den Lokalen kurzerhand sperren
und die Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Existenz der Restaurateure ohne großes Herzklopfen in Kauf nehmen. Damals gab es das nicht. Es hätte auch eine kleine Rebellion gegeben,
wenn den Berlinern der Zugang zu ihren damals beliebtesten Ausflugslokalen gesperrt worden
wäre.
Die sogenannte Westendchausee begann übrigens an einem auf der heutigen Heerstraße
zwischen Theodor-Heuss-Platz und Bahnhof Heerstraße an der Grenze des forstfiskalischen
Gutsbezirks Spandauer Forst (seit 1903: Grunewald Forst) liegenden Punkt und folgte, natürlich viel schmaler, den Trassen der heutigen Heerstraße und Angerburger Allee nach Picheisberg.
Im Hinblick auf die von Heyn vorgetragenen Umstände erhob die Potsdamer Regierung die an
sich fällig gewordene Konventionalstrafe nicht. Der Unternehmer mußte aber mit einer
Kürzung der Verdingungssumme um 0,75 % einverstanden sein und sich verpflichten, die
Arbeiten bis zum 30. April 1876 endgültig zu vollenden.
Dieser Termin wurde eingehalten, obwohl durch das Tauwetter und starke Regengüsse nicht
unbedeutende Sandmassen aus den Schluchten des Grunewalds auf das Planum der neuen
Chaussee geworfen wurden, die ständig fortgeschafft werden mußten und vorläufige Sicherungsmaßnahmen erforderlich machten, für die ein Betrag von 469,13 Mark aus der Forstkasse
besonders angewiesen wurde. Die von Heyn vorgeschlagene Pflasterung der Schluchten wurde
zunächst aufgeschoben. Man war von der Notwendigkeit noch nicht überzeugt.
Am 25. April 1876 konnte der aufsichtsführende Kreisbauinspektor Wendt melden, daß die
Fahrbahn der neuen Chaussee bereits seit dem 15. April 1876 vollendet sei und Heyn seine
Verpflichtungen erfüllt habe. Es waren nur noch wenige durch den hohen Wasserstand der
Havel im März verursachte Schäden zu beseitigen. Die Verwaltung und Unterhaltung der
neuen Chaussee wurde der Abteilung für direkte Steuern, Domänen und Forsten der Potsdamer Regierung übertragen, die örtlich durch den zuständigen Oberförster des Reviers Spandauer Forst (seit 1903: Grunewald Forst) vertreten wurde.
Die Gesamtkosten des Chausseebaues betrugen 245 814,64 Mark. Veranschlagt waren 81000
Taler (= 243 000 Mark) 1 . Die geringfügige Überschreitung des Ansatzes wurde als gerechtfertigt
anerkannt. Später, am 19. April 1877, erhielt der Steinsetzmeister Heyn noch einmal 1320 Mark
für die „Befestigung der Böschung der Chaussee längs der Havel zum Forsthaus Wannsee".
Man war mit der Bauausführung durch Heyn so zufrieden, daß er sogleich den Auftrag für den
Bau der Chaussee von Beelitzhof nach Haiensee über Großen und Kleinen Stern und Königsallee erhielt2.
Der mit umfangreichen Holzabtreibungen und Erdbewegungen verbundene Bau der Chaussee
dauerte also etwas mehr als ein Jahr. Ich überlasse es der Phantasie der Leser sich vorzustellen,
wie lange ein solcher Straßenbau trotz der modernsten Hilfsmittel (Motorsägen, Motorlastwagen, Bulldozer usw. usw.) heute wohl dauern würde. Mit der Regulierung des Fürstenbrunner Weges ist man seit fünf Jahren beschäftigt.
Wenn man die Akten über Straßenbauten in früheren Zeiten, insbesondere auch im innerstädtischen Bereich, studiert, stellt man immer wieder fest, daß zur Zeit des verpönten preußischen „Obrigkeitsstaates" durch zweckdienliche Anordnungen sichergestellt wurde, daß
schnell und gut gearbeitet und vor allen Dingen das Publikum sowenig wie möglich belästigt
oder behindert wurde. Von alledem kann heute gewiß keine Rede sein. Beispiele brauche ich
271
hier nicht anzuführen. Alle Berliner wissen Bescheid, vor allen Dingen die, die die Stadtautobahn benutzen.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Otto Uhlitz, Westendallee 71, 1000 Berlin 19
Anmerkungen
1 Die Mark war erst seit dem 1. Januar 1876 alleingültige Geldeinheit im Deutschen Reich.
2 Quellen für vorstehende Ausführungen: Staatsarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 A, Regierung Potsdam,
Abt. III F Nr. 9191 ff.
Aus dem Mitglieder kreis
Hans Schiller 80
Ein langjähriges Mitglied und treuer Mitarbeiter und Mitgestalter unserer Bibliothek, Hans Schiller,
wurde am 8. Januar 1985 achtzig Jahre alt. Ob sommerliche Hitze, herbstlicher Regen oder winterliche
Kälte - von keinen wetterlichen Unbilden und von keinen kleinen Unpäßlichkeiten, wie sie das Alter nun
einmal mit sich bringt, ließ sich Hans Schiller abhalten, seinen Platz in unseren Büchereiräumen einzunehmen. Er kam und kam auch am Stock nach seiner kürzlich durch Sturz erlittenen schweren Verletzung
sehr bald wieder zu uns. Unermüdlich saß er an der Schreibmaschine und bibliographierte die allwöchentlichen Neuzugänge oder tilgte vor Jahren und Jahrzehnten begangene Unterlassungen an Titelaufnahmen.
Viele Bücher besprach er knapp, sachlich, gescheit in den „Mitteilungen". Unsere guten Wünsche für die
Zukunft gelten seiner Gesundheit, seinem Wohlbefinden, seiner Arbeitsfreude und Arbeitskraft. Wir
möchten Hans Schiller noch lange unter uns sehen.
G. K.
Karl Bullemer f
Karl Bullemer ist im gesegneten Alter von vollendeten 98 Jahren in seiner Wahlheimat Bad Reichenhall
verstorben - bis zuletzt allenfalls von den Jahren gebeugt, nicht aber von Krankheit gezeichnet. „Als unser
Jahrhundert eingeläutet wurde, trug Karl Bullemer schon lange Hosen" - so war einmal eine Geburtstagswürdigungauf den Verstorbenen begonnen worden. Plastischer läßt sich der Altersunterschied zu den
mindestens zwei Generationen nicht ausdrücken, die ihm inzwischen im Amt und im Leben nachgefolgt
sind.
Vier Ebenen kann man unterscheiden, wenn man Werk und Leistung des Verstorbenen in einem
Rückblick betrachten will. Da ist zum ersten sein Wirken in den Verbänden der Brauindustrie, das nach
vorangegangener Tätigkeit in der Actien-Bierbrauerei Falkenkrug (Detmold) im Jahre 1909 beim Berliner
Verband begann. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er zu dessen Generalsekretär und Geschäftsführer
bestellt und betreute seit 1925 nebenamtlich zunächst die Gruppe Nord des Verbandes der Deutschen
Ausfuhrbrauereien e.V., dessen Hauptgeschäftsführer er dann später wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg
stellte er sich dem „Bevollmächtigten für die Getränkeversorgung Berlins" zur Verfügung, wurde 1946
Geschäftsführer des Fachausschusses Brauerei und 1949 in gleicher Funktion in den neugegründeten
Wirtschaftsverband Berliner Brauereien e.V. berufen, wo er die Tradition des Vorgängerverbandes
fortsetzte. 1951 ist er aus dem aktiven Dienst ausgeschieden und war dann noch als alleiniges Vorstandsmitglied des Deutschen Versicherungsschutzes für Brauereien tätig.
Immer schon hatte er sich zur Geschichte der ihm anvertrauten Körperschaften und des Braugewerbes
hingezogen gefühlt. In größerem Umfang konnte er aber erst im Ruhestand zur Feder greifen, um aus
genauer Sachkenntnis und gestützt auf umfangreiche Recherchen eine Reihe grundlegender Arbeiten zu
schreiben, die in den Jahren 1953 bis 1974 in den Jahrbüchern der Gesellschaft für die Geschichte und
Bibliographie des Brauwesens E.V. (GGB) erschienen sind. Hier wären zu nennen „Die Entwicklung der
staatlichen Bierbesteuerung in Deutschland" (1953), „Beiträge zur Geschichte des Berliner Brauwesens
und seiner Organisation" (1959,1960,1961) und „Verband der Deutschen Ausfuhrbrauereien e.V. 1920 bis
272
1945. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bierexports" (1974). Die GGB hat ihrem langjährigen
Mitglied auf der Jahresversammlung 1984 die Ehrenmitgliedschaft verliehen.
Seine Aufsätze „Das Brauhandwerk als wesentliches Steuerobjekt in der Chur- und Mark Brandenburg"
(1954) und „Zur Geschichte des Berliner Brauwesens. Vergangenheit und Gegenwart" (erschienen im
Jahrbuch 1963 des Vereins für die Geschichte Berlins) waren Ausdruck seiner engen Verbindung zu diesem
traditionsreichen, 1865 gegründeten Verein. Ihm oblag es, als dessen Schriftführer die Hundertjahrfeier zu
organisieren und mit dem ihm eigenen Schwung zu gestalten. Als er 1968 dieses Ehrenamt in die Hände Dr.
Schultze-Berndts legte, stattete ihm der Verein für die Geschichte Berlins seinen Dank durch die Wahl zum
Ehrenmitglied ab.
Zum dritten war Karl Bullemer ein in der Wolle gefärbter Liberaler. Schon vor dem Ersten Weltkrieg
zählte er in jungen Jahren zu den Anhängern Friedrich Naumanns, war nach der Rückkehraus dem Krieg
lange Jahre stellvertretender Vorsitzender des Bezirksverbandes Wilmersdorf der Deutschen Demokratischen Partei und später bis zu deren zwangsweiser Auflösung der Deutschen Staatspartei. In dieselbe
Funktion rückte er nach dem Zweiten Weltkrieg ein, nachdem er 1946 der LDP/FDP beigetreten war.
Viele Jahre versah er das Amt des Rechnungsprüfers des FDP-Landesverbandes Berlin. Zu seinen
weiteren Ehrenämtern gehören seine Mitarbeit im Schlichtungsausschuß sowie als Beisitzer beim Landesarbeitsgericht und Oberverwaltungsgericht Berlin.
Als letztes sei das biblische Alter Karl Bullemers gewürdigt, das bis auf die letzten Jahre weder seinem
phänomenalen Gedächtnis noch seinem Mitteilungsbedürfnis am Telefon und in Briefen Abbruch tat.
Man hörte ihm gern zu, wenn er von Geheimrat Max Delbrück sprach, wie dieser beim Berliner
Brauerei-Verband für die Versuchs- und Lehrbrauerei der VLB eine Lanze brach, oder wenn er Geschehnisse aus einer Zeit wiedergab, die man heute sonst nur in Ausstellungen bestaunt.
Karl Bullemer hat es der noch verbliebenen Schar seiner Weggefährten und Freunde leichtgemacht. Ohne
langes Krankenlager und ohne Aufhebens hat er sich still aus dieser Welt verabschiedet. Er hatte sein
Leben vollendet. Es war ein exemplarisches Leben.
H. G. Schuhze-Berndt
Dietrich Franz jQuidquid agis prudenter agas et respice finem
„Was immer du tust, handle klug und denke ans Ende" - eine
Lebensweisheit, der sich Dietrich Franz immer nachzustreben
bemühte. Im Juni vorigen Jahres hatten wir noch seinen
80. Geburtstag feiern können, sehr schnell trat jetzt der Tod an
ihn heran: Unser langjähriger Vereinsfreund und unser Vorstandsmitglied Landgerichtsrat und Rechtsanwalt Dietrich
Franz verstarb am 20. November 1984. Er entstammte einer
alten Juristenfamilie, die 1790 aus Strasburg in der Uckermark
nach Berlin zugezogen war. Sein Vater war - viele Jahre nach
dem berühmten Streich des Schusters Voigt - Bürgermeister
von Köpenick, dann Stadtrat in Berlin. Sohn Dietrich bereitete
sich in Bonn, Berlin und Leipzig aufsein erfolgreiches Wirken
im Dienste Justitias vor. Die Gerichte in der Reichshauptstadt
wurden und blieben die Plätze seiner Arbeit. Er war kein Mann
der formalen, nur aus Paragraphen gewonnenen Gerechtigkeit,
der Sinn für diese schöne menschliche Tugend war ihm eingeboren, und mit Hilfe seiner Formulierungskunst bemühte er
sich unablässig, ihr zu dienen. Witzig und schlagfertig konnte
der kleine, drahtige Herr sein. Er liebte Musik, er liebte Tiere,
war zeitlebens ein begeisterter Reiter, und er liebte vor allem seine Heimat und sein Berlin. Er schätzte
unseren Verein und kam oft und gern zu dessen Vortragsabenden oder erfreute sich am Jahrbuch, dem
„Bären". Wir verloren einen guten Freund, den wir über das Grab hinaus immer dankbar im Gedächtnis
behalten werden.
G.K.
273
Fritz Bunsas t
Völlig unerwartet traf uns die Nachricht vom Ableben des Herrn Fritz Bunsas, unseres Mitarbeiters an der
Bibliothek des Vereins für die Geschichte Berlins, der im 68. Lebensjahr am 21. Dezember 1984 einem
Herzanfall erlegen ist.
Herr Bunsas besaß großes fachliches Interesse und ein umfassendes Wissen auf dem Gebiet der Geschichte
Berlins. Sein Aufgabengebiet war der Empfang und die Betreuung der Bibliotheksbesucher. Aufgrund
seiner steten Bereitschaft, keine Mühe zu scheuen, um auf die oft sehr speziellen Anliegen der Leser
einzugehen, ist er zu einem bestbewährten Mitarbeiter geworden, der nur schwer zu ersetzen sein wird.
Seine große persönliche Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die er jedermann bezeugte, hat ihn gleichermaßen zu einem hochgeschätzten und beliebten Kollegen werden lassen.
Herr Bunsas hat dem Verein seine Mitarbeit über einen Zeitraum von annähernd acht Jahren ehrenamtlich gewidmet. Der Vorstand des Vereins für die Geschichte Berlins und seine Arbeitskollegen werden
ihn in bestem Gedenken behalten.
Nachrichten
Mehr als 100 historische Museen in der DDR
In der DDR existieren 664 Museen, Gedenkstätten und andere museale Einrichtungen, die jährlich von
rund 32 Mio. Menschen besucht werden. Mehr als die Hälfte dieser Kulturstätten können als Heimatmuseen angesehen werden, 105 sind historische Museen. Weiter sind zu unterscheiden rund 50 Literatur-,
Theater- und Musikmuseen, ebenso viele naturwissenschaftliche und etwa 40 technische Museen, ferner
mehr als 70 Kunstmuseen.
SchB.
Neue Straßennamen in Berlins Stadtmitte
Im wiedererstehenden historischen Viertel rund um die Nikolaikirche, wo die Gerichtslaube aus dem
13. Jahrhundert, das vor 220 Jahren erbaute Ephraimsche Palais und auch die historische Gaststätte „Zum
Nußbaum" einen neuen Standort finden werden, sollen die Straßen traditionelle Namen erhalten. Diese
greifen auf die Berliner Geschichte zurück, auch wenn sich ihre Topographie verändert hat. Vorgesehen
sind Poststraße, Probststraße, Nikolaikirchplatz, Spreeufer und Am Nußbaum. Nicht ganz in den Kontext
dieser historisierenden Bemühungen gehört die Bezeichnung Marx-Engels-Forum, mit der der zwischen
Spandauer Straße und Spreeufer gelegene Abschnitt belegt werden soll, der bisher zu Rathausstraße
gehörte.
SchB.
Zunehmendes Interesse an alten Nahverkehrsmitteln und Verkehrsanlagen
in Ost-Berlin
Der 8. August 1924 gilt als der Geburtstag der Elektrifizierung der Berliner S-Bahn, weil an diesem Tag der
erste elektrisch betriebene S-Bahnzug von Berlin nach Bernau fuhr. Aus Anlaß des 60jährigen Jubiläums
der im wesentlichen bis 1929 abgeschlossenen Elektrifizierung äußerte sich Reichsbahn-Oberdirektor
Dr. Günter Götz, Vizepräsident der Reichsbahn-Direktion Berlin, im Organ des ZK der SED „Neues
Deutschland" Nr. 188 vom 8. August 1984. Danach werden gegenwärtig 23 Bahnhöfe modernisiert, von
denen die Stationen Pankow, Warschauer Straße, Wuhlheide, Treptower Park und Baumschulenweg sich
bereits wieder mit ansprechendem Äußeren zeigen. Noch 1984 wurden die Arbeiten an den S-Bahnhöfen
Nöldnerplatz, Pankow-Heinersdorf, Frankfurter Allee, Rahnsdorf, Karlshorst, Rummelsburg und Betriebsbahnhof Schön weide abgeschlossen. Beim Bahnhof Marx-Engels-Platz (Börse) wird darauf geachtet, daß architektonisch wertvolle Teile erhalten bleiben.
Das Gleisbett der S-Bahn wird 1984 auf einer Strecke von rund 60 km erneuert. Nachdem am 30. Dezember 1976 die S-Bahnabschnitte Friedrichsfelde-Ost/Marzahn, am 15. Dezember 1980 Marzahn/Otto-Winzer-Straße und am 30. Dezember 1982 Otto-Winzer-Straße/Ahrensfelde in Betrieb genommen worden
274
waren, soll Ende 1984 die S-Bahnstrecke von Springpfuhl über Gehrenseestraße nach Berlin-Hohenschönhausen verlängert werden. Für 1985 ist der zweigleisige Ausbau der S-Bahnstrecke bis Hohenschönhausen und die Verlängerung bis zum Bahnhof Wartenberg vorgesehen.
Nachdem eine Arbeitsgemeinschaft des Modelleisenbahn-Verbandes der DDR den historischen Straßenbahnwagen 1420 (Baujahr 1921) der ehemaligen „Großen Berliner Straßenbahn" wieder fahrtüchtig
gemacht hatte, konnte dieser am 23. September 1984 zwischen Grünau und Schmöckwitz verkehren.
Einen Tag zuvor fuhr eine historische Straßenbahn von Lichtenberg nach Karlshorst. Dies war Teil eines
erstmals in Lichtenberg veranstalteten „Tages der Heimatgeschichte und Denkmalpflege", bei dem auch
zwei Ausstellungen in der Frankfurter Allee zu sehen waren: „Dokumente aus der Lichtenberger Ortschronik" einerseits und „Berliner Miniaturen" von Hanshermann Schlicker nebst Fotos von Hellmut Greif
andererseits.
SchB.
Buchbesprechungen
Walther G. Oschilewski: Auf den Flügeln der Freiheit. Ausgewählte Aufsätze zur Sozial-, Kunst- und
Literaturgeschichte Berlins. Mit einem Vorwort von Willy Brandt. Verlag europäische Ideen, Berlin, 1984,
' 250 Seiten.
Unter dem schönen Titel „Auf den Flügeln der Freiheit" erschienen Aufsätze von W. G. Oschilewski, just
zu seinem 80. Geburtstag und gewissermaßen stellvertretend für ein umfangreiches und thematisch weit
gespanntes Lebenswerk im Zeichen der Freiheit der Gedanken des Autors, aber auch einer Freiheit, der
sich die einzelnen Männer und Frauen lebenslang ebenso verschrieben hatten wie die gesellschaftlichen
Kräfte und Bewegungen, denen W. G. O. immer wieder seine Studien widmete. Er stammte aus Berlin NO,
kam als gelernter Schriftsetzer - in diesem Beruf gleich so manchem anderen bedeutend gewordenen
sozialen Demokraten - mit dem gedruckten Wort in Kontakt und stellte sein autodidaktisch erworbenes
reiches Wissen und seine Kunst des Schreibens in den Dienst an der Arbeiterklasse und des Sozialismus
seiner Zeit. Der Sozialgeschichte und der Beobachtung des Geschehens „von unten" hatte sich W. G. O.
schon angenommen, als die herkömmliche „bürgerliche" (Stadt-)Historienschreibung ihr ausschließliches
Interesse an mittelalterlichen Bränden, Gebietserwerbungen, Vertragsabschlüssen, irgendwelchen Ratsentscheidungen oder Einweihungen nahm. Literatur, Kunst und allgemeine Kulturgeschichte bewegten
den unermüdlichen, immer hellwachen Geist, und wenn der Senat von Berlin ihm vor Jahren den
Professorentitel E. h. verlieh, so nicht zuletzt auch deshalb, weil W. G. O. einen sehr breiten Teil seines
schriftstellerischen Lebenswerkes auf Berlin abgestellt hatte. Um diese Stadt geht es auch bei allen im
vorliegenden Buch zusammengestellten älteren Arbeiten. Von Chodowiecki und Bettina von Arnim
spannt sich der Bogen bis zu Marc Chagall und Bert Brecht. Marx', Engels', Lassalles, Rosa Luxemburgs
Wirken in Berlin wird untersucht, die vielfältigen Probleme der Arbeitergesellschaft und ihrer politischen
Orientierung werden beleuchtet. Immer steht aber der Mensch im Mittelpunkt, aktiv oder passiv: wirkend,
gestaltend, leidend.
Wir beglückwünschen unser ehemaliges Vorstandsmitglied und den Herausgeber des Jahrbuchs „Der Bär
von Berlin" zu seinem Lebenswerk und zu seinem hohen Geburtstag, danken ihm für sein Wirken für
unseren großen Kreis und wünschen ihm die gesundheitlichen Kräfte, die zur Stille des Lebensabends
gehören und auf ein erfülltes Dasein zufrieden und dankbar zurückblicken lassen.
Gerhard Kutzsch
Gerhard Schlimpert: Brandenburgisches Namenbuch, Teil 5. Die Ortsnamen des Barnim. Mit einem siedlungsgeschichtlichen Beitrag von R. Barthel. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar, 1984, 455
Seiten, 11 Karten.
Das vorliegende Brandenburgische Namenbuch entstand auf der Grundlage einer ungewöhnlich intensiven, bis ins kleinste Detail durchgeführten Forschung von Gerhard Schlimpert. Das Werk vermittelt eine
umfassende Übersicht über die Besiedlungsgeschichte und die Entwicklung der Namensgebung sämtlicher
zum Kreis Barnim gehörenden Ortschaften, Siedlungen, Fluren, Wüstungen und Gewässer seit der Zeit
ihres Bestehens. Die Besiedlungsgeschichte hat Rolf Barthel geschrieben, beraten und unterstützt von einer
Reihe qualifizierter Mitarbeiter, wozu die Materialübersichten von K. H. Wels und F. Dehmlow herangezogen worden sind. Ausgrabungen führten zu der Erkenntnis, daß die frühesten slawischen Siedler sich in
275
der Gegend des heutigen Berlin-Kaulsdorf und Berlin-Marzahn schon im 6. Jahrhundert niedergelassen
hatten. Die Ära der slawischen Besiedlung währte bis ins 13. Jahrhundert und wurde durch die deutschen
Feudalmächte - Brandenburg, Magdeburg und die Wettiner - zumindest in Teilgebieten des Barnims
abgelöst. Erst ab Mitte des 13. Jahrhunderts gehörte der Barnim fest zur Mark Brandenburg und dem
Machtbereich der Askanier. Die ersten Eroberer rekrutierten sich aus Adligen, Bürgern und Bauern
wettinischer Herkunft, die um diese Zeit im südlichen Barnim, der Gegend des heutigen Köpenick, zu
siedeln begannen. Da schriftliche Überlieferungen zum Vordringen der deutschen Herrschaft und Siedlung in die slawischen Gebiete des Barnims fehlen, läßt Barthel es sich angelegen sein, aus dem Phänomen
der Ortsnamenübertragungen Rückschlüsse auf die Herkunftsgebiete der Siedler zu ziehen. Auch im
Bereich der Datierung des deutschen Vordringens in den Barnim fehlen urkundliche oder zumindest
schriftliche Belege, so daß auch hierauf andere Zeitbestimmungsmethoden zurückgegriffen werden mußte
wie auf Vergleiche von Baustilen alter dörflicher Feldsteinkirchen, die noch ganz oder teilweise erhalten
geblieben sind, aber auch ihrerseits keine exakte Datierung des Besiedlungsvorgangs zuließen. Im weiteren
Verlauf wird die Besitznahme des Barnims durch die Askanier, der Verbleib der slawischen Bevölkerung
und die Entwicklung von Burgen, Dörfern und Städten bis hin zur Gegenwart der sozialistischen
Verwaltungsform und -struktur behandelt. 150 Fußnoten im Text und ein 6 Seiten langes Quellen- und
Literaturverzeichnis, erweitert um 8 Karten, die über Funde aus der Stein- und der Bronzezeit sowie die
geographische Siedlungsverteilung der Slawen, der deutschen Erstsiedler und der Wüstungen aussagen,
schließen den 1. Teil des hochinformativen Werkes ab.
Im 2. Teil, der den Hauptinhalt des Bandes bildet, befaßt sich Autor Schlimpert mit der Herkunft des
Namens Barnim und weiterer 645 Örtlichkeiten, die bis zum Jahre 1800 entstanden sind. Der vermutlichen
Entstehung des Namens Berlin ist ein gesondertes Kapitel gewidmet, das mehr als 5 Druckseiten umfaßt.
Die Namen aller Berliner Stadtteile und Vororte sowie von Orten aus der näheren und weiteren Umgebung
Berlins finden mit Hinweisen auf eine etwaige Eingemeindung ebenfalls Berücksichtigung. Anschließend
werden die Flur- und Gewässernamen slawischer und deutscher Provenienz - sofern nachweisbar mit
Zeitangaben - angeführt. Großes Gewicht legt Schlimpert auf die linguistische Deutung slawischer Ortsund Gewässerbezeichnungen, was ihn veranlaßt, den Leser mit Aussprachefinessen von Vokalen und
Halbvokalen slawischer Wortbildungen vertrautzumachen, ein Trend, der bis hin zur Verwendung
kyrillischer Schriftzeichen zur Erläuterung und Deutlichmachung von Ortsnamen slawischer Abkunft
reicht. So ist es nicht verwunderlich, bei intensiver Konzentration auf die textlichen Erläuterungen des
Sprachforschers Schlimpert mit „entpalatalisierten harten Vorderzungenkonsonanten" konfrontiert zu
werden, was der mit der altslawischen Lingustik nicht gerade bestvertraute Brandenburg-Interessent
darunter auch immer verstehen mag. Vokalismus, Konsonantismus und Gutturalisierung sind Begriffe, an
die der Leser herangeführt wird, um die ursprüngliche Bedeutung und Funktion der slawischen Ortsnamen kennenzulernen. Der Herkunft der deutschen Namen ist gleichfalls breiter Raum zugemessen.
Detaillierte Aufschlüsse hierzu gibt ein Verzeichnis der zur Namensbildung verwendeten Grundwörter
(S. 382 bis 394). Die Ortsnamenübertragungen, denen einzelne Berliner Bezirke und Vororte ihre noch
heute gültigen Bezeichnungen verdanken, sind von M. Bathe und R. E. Fischer untersucht worden. Eine
weitere Liste nennt die Orte, deren urkundliche Erwähnung vor 1600 zeitlich belegt ist. Eine exakt erstellte
Liste der für den 2. Teil verwendeten Literatur und Quellen findet sich auf den Seiten 416-434, eine
Aufstellung der Abkürzungen, ohne deren Kenntnis ein intensives Studium des Textes nicht möglich ist,
und ein komplettes Namensregister sämtlicher erwähnter Ortsbezeichnungen beschließen den Band.
Jedem an der Thematik interessierten Leser bietet sich das Brandenburgische Namenbuch als Fundgrube
einer unerschöpflichen Fülle von Fakten aus dem Gesamtbereich der Landschaft des Barnims an, die nur
aufgrund intensivster, breitangelegter Forschungen profilierter Fachwissenschaftler ermittelt werden
konnten.
Hans Schiller
Günther Klebes: Die Straßenbahnen Berlins in alten Ansichten. 100 Jahre elektrische Straßenbahnen.
3., verbesserte Auflage, Verlag: Europäische Bibliothek, Zaltbommel/Niederlande, 1984, 156 Bildseiten,
28,80 DM.
Nicht zuletzt aufgrund der an dieser Stelle schon so oft ergangenen, teils flehentlichen, teil mahnenden
Rufe an die Autoren, der korrekten Betextung von Bildbänden größere Aufmerksamkeit zu schenken, hat
sich Autor Klebes erfreulicherweise vor Erscheinen der 3. Auflage des Bandes dazu entschlossen, die lange
Reihe von Fehlinterpretationen seiner Fotos der ersten Auflage (61 von insgesamt 156!) auszumerzen und
die Angaben - gestützt auf hieb- und stichfeste Hinweise des „Arbeitskreises Berliner Nahverkehr" - neu
zu fassen. Nach Vornahme dieses reinigenden Bades ist der Bildband mit seinen teils seltenen, oft 80 bis 90
276
Jahre alten Aufnahmen aus dem Bereich des Berliner Straßenverkehrs der ihm gebührenden Attraktivität
in vollem Umfang teilhaftig geworden.
Hans Schiller
i I'.(.. Das grüne Berlin. Ein Wegweiser von Norbert Ritter. Stapp-Verlag, Berlin, 1982, gebunden.
Reiseführer Berlin. Polyglott-Verlag München, 13. Auflage, 1982/83.
Berlin Stadtatlas. 10. Auflage, RV Reise- und Verkehrsverlag GmbH, Berlin, Stuttgart, Gütersloh, München, 1984/85.
Stadtgeographischer Führer Berlin (West). Bd. 7, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Gebrüder
Borntraeger Berlin, Stuttgart, 1981.
Ausflugs-Atlas. Umgebung von Berlin, Hauptstadt der DDR, VEB Tourist Verlag Berlin, Leipzig. DDR,
1979, 12,50 M.
KompaB-Rad-Wanderführer Berlin (West). Deutscher Wanderverlag Dr. Mair & Schnabel & Co., Stutt' (/ gart, 1982, gebunden.
Beim Durchblättern der Karten und Bücher über Wandermöglichkeiten in West-Berlin und Umgebung also DDR - bin ich zu dem Schluß gekommen: „Warum in die Ferne schweifen, sieh, das Gute liegt so
nah."
Nehmen wir zuerst „Das grüne Berlin" von Norbert Ritter in die Hand, einem uns durch seine Wanderbücher bereits vertrauten Verfasser. Im vorliegenden Band beschreibt er Berlins Dörfer und Villenkolonien, führt durch Parkanlagen und Wälder, alles - versteht sich - mit exakten Angaben der jeweiligen
Verkehrs Verbindungen. Im Kapitel „Berliner Wasser" erfahren wir nicht nur Geographisches, sondern
werden auch über Einkehr am Wege und diverse Badestellen unterrichtet. Besondere Leckerbissen wie die
Pfaueninsel und Klein-Glienicke werden unter der Rubrik „Spezialitaten" zusammengefaßt. Doch auch
Friedhöfe haben ihre eigene Anziehungskraft. So bemerkte schon Wilhelm von Humboldt: „Ich habe eine
eigene Neigung zu Kirchhöfen und gehe nicht leicht an einem vorüber, ohne ihn zu besuchen." So auch
Norbert Ritter. Er berichtet Bemerkenswertes zu historischen wie auch landschaftlich schön angelegten
Friedhöfen. Alles in allem ein übersichtliches und leicht in der Tasche zu verstauendes Buch.
Gleiches ist zu vermelden vom Polyglott-Reiseführer Berlin, 13. Auflage, 1982/83: Ein Kompendium für
den eiligen Berlinbesucher, kurz, knapp, präzise.
Nachdem allenthalben Radwege in der Stadt angelegt wurden, erschien im Deutschen Wanderverlag der
„Kompaß-Rad-Wanderführer" mit 40 der schönsten Radtouren, Ausflugsfahrten ins Grüne und Stadttouren. Der Rad-Wanderführer ist abgeradelt und beschrieben von Reinhard Kuntzke und umfaßt
Ausflugsfahrten mit Angaben der Verkehrs- und Parkmöglichkeiten, der Tourenlänge, Fahrzeit und
Höhenunterschiede. Außerdem ist eine genaue Tourenbeschreibung beigegeben. Auch dies ist ein informatives und handliches Buch, das man allen Radsportbegeisterten empfehlen möchte. Beigefügt sind noch
folgende Karten: 1:15000 Kompaß-Wanderkarte; 1:25000 Schwarz-Stadtplan Berlin und 1:50000
Radwegekarte Berlin.
Der „Stadtgeographische Führer Berlin (West)" ist 1981 mit seiner 2., überarbeiteten und erweiterten
Auflage erschienen. Die Beiträge sind aktualisiert, und neue Exkursionsbeschreibungen sind hinzugekommen, so u. a. die Beschreibung von Lichterfelde von Felix Escher. Sie reicht von 1865 bis in die heutige
Zeit einschließlich ihrer Bürgerinitiativen zur Erhaltung des bedrohten Ortscharakters.
Auf einen informativ bebilderten und mit zahlreichen Karten versehenen „Ausflugs-Atlas Umgebung von
Berlin, Hauptstadt der DDR" sei zum Schluß noch verwiesen. Allen, die es hinauszieht in die weitere
Umgebung, sei er empfohlen. Er enthält Auto- und Fahrradrouten mit genauen Kilometerangaben, ferner
Ausgangspunkte, Fahrtrouten und Ziele der „Weißen Flotte". Unter der Rubrik „Ausflugsziele" wird kurz
auf die Geschichte des betreffenden Ortes eingegangen; seine Sehenswürdigkeiten, Gaststätten. Parkplätze
und Tankstellen werden aufgezeigt wie auch Bademöglichkeiten und Möglichkeiten jedweden Sports.
Befremdet ist die Rezensentin, daß im Kapitel über Friedrichsfelde (S. 100) bei der Erwähnung des
Denkmals Mies van der Rohes für die gefallenen Revolutionsopfer wohl Karl Liebknecht, nicht jedoch
Rosa Luxemburg genannt wird.
Irmtraut Köhler
/S%o schön ist Berlin - Luftaufnahmen. Die Berliner Morgenpost hat vier Mappen mit je zehn Exklusivluftaufnahmen zumeist des westlichen Teils unserer Stadt herausgebracht, der neuen City ebenso wie der
Vororte und der Landschaft mit Wäldern und Seen. Günther Krüger, der Fotograf, hat seine Bilder aus
unterschiedlichen Höhen und Winkeln aufgenommen. Sie bestechen durch Klarheit und häufig ungewohnte Perspektiven. Diese Mappen mit den Momentaufnahmen der 80er Jahre können bei den Zweig277
stellen der Berliner Morgenpost zum Stückpreis von 10,80 DM bezogen werden. Wie attraktiv sie sind,
mag aus der Tatsache hervorgehen, daß sie in der Vereinsbibliothek schon zweimal spurlos verschwunden
sind.
SchB.
Potsdamer Schlösser - in Geschichte und Kunst. Hrsg.: Staatliche Archiwerwaltung der DDR, Staatliche
Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci. Ludwig Simon-Verlag, München, 1984,208 Seiten, 190 schwarzweiße und 53 farbige Faksimiles, 44 schwarzweiße und 32 farbige Fotos, 24 X 25 cm, Ln., 62 DM.
Bei dem hier anzuzeigenden hervorragend ausgestatteten Buch handelt es sich um eine Gemeinschaftsarbeit der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci, der Dienststelle Merseburg
des Zentralen Staatsarchivs der DDR und des Staatsarchivs Potsdam. In der Originalausgabe des Verlages
F. A. Brockhaus in Leipzig ist es auch in der DDR zum Preis von 40 M erhältlich.
Die Bearbeiter sind davon ausgegangen, daß die Potsdamer Schlösser nicht nur Kunstwerke sind, sondern
daß sie auch Wohn- und Regierungssitze preußischer Könige waren, in denen damals wichtige politische
Entscheidungen gefällt wurden. Es werden daher die großen künstlerischen Leistungen der Vergangenheit
im geschichtlichen Zusammenhang ihrer Zeit dargestellt. Daß dabei im Rahmen einer Neubesinnung auf
die deutsche Geschichte die preußische Geschichte objektiver geschildert wird als in manchen bundesrepublikanischen Schulbüchern, braucht heute nicht mehr besonders betont zu werden. Dabei dürfte es
sich nicht um einen billigen politischen Zweckopportunismus handeln. Man hat erkannt, daß für Marx,
Engels und sogar für Lenin Preußen auch ein Bahnbrecher des geschichtlichen Fortschritts war.
Der Bildband stellt mit der Darstellung der künstlerischen Leistungen der Vergangenheit und der
Wiedergabe von Dokumenten aus den Archiven eine meiner Ansicht nach in dieser Form einmalige und
beispielhafte Verbindung von Geschichte und Kunst in chronologischer Abfolge dar. Eine solche Synthese
erscheint auch deshalb geboten, weil das Potsdamer Ensemble von Schlössern, anderen Bauten, Kunstwerken und Gärten ganz wesentlich von den königlichen Bauherren beeinflußt wurde, die nicht nur über
Stilgefühl, sondern auch über Sinn für Maße, Proportionen und zeitlose Schönheit verfügten. In diesem
Zusammenhang sind vor allem Friedrich der Große und Friedrich Wilhelm IV zu nennen, von denen
einige eigenhändige Entwurfszeichnungen veröffentlicht werden. Den Bauleuten, die das Stadtgebiet
Berlins in den letzten Jahrzehnten mit „architektonischen" Scheußlichkeiten verschandelt haben, die
weiter nichts als einen Hang zur Originalität um jeden Preis, zur Asymmetrie und Proportionslosigkeit
erkennen lassen, hätte ein Bauherr wie Friedrich der Große wahrscheinlich die Baupläne so lange
zerrissen, bis sie mit seinen Vorstellungen übereinstimmten. Das hätte er ganz sicher auch mit den
Bauplänen für die im vorigen Jahrhundert neu aufgebaute Burg Hohenzollern getan, die ihm jetzt als letzte
Ruhestätte zugewiesen worden ist.
Auf Seite 65 ist eine eigenhändige Order Friedrichs an seine Generäle reproduziert, mit der er für den Fall,
daß er „Solte Tot geschosen werden", als seinen letzten Willen verfügte: „Ich wil das nach Meinem Thot
keine umbstände mit mihr gemacht werden, man Sol mihr nicht öfnen Sondern Stille nach Sansouci
bringen und in meinem Garten begraben lassen". Dementsprechend verfügte er in seinem persönlichen
Testament vom 8. Januar 1769 in Ziffer 1: „Gern und ohne Bedauern gebe ich meinen Lebensodem der
wohltätigen Natur zurück, die ihn mir gütig geliehen hat, und meinen Leib den Elementen, aus denen er
besteht. Ich habe als Philosoph gelebt und will als solcher begraben werden, ohne Trauergepränge und
Leichenpomp. Ich will weder seziert noch einbalsamiert werden. Man bestatte mich in Sanssouci auf der
Höhe der Terrassen in einer Gruft, die ich habe herrichten lassen." Diesem Wunsch des Königs wurde
damals nicht entsprochen. Wie wäre es, wenn man des Königs Wunsch heute erfüllen würde? Da müßten
aber wohl erst einige Leute im Westen und im Osten lernen, über ihre eigenen Schatten zu springen. Auf
der Burg Hohenzollern kann sich Friedrich unmöglich wohlfühlen. Da braucht man nur an die zu Unrecht
mit der Beseitigung von Erdbebenschäden der Burg in Verbindung gebrachte Spendenaktion für den
Ankauf des von Friedrich mit Staatsmitteln erworbenen Watteau-Gemäldes „Einschiffung nach Cythera"
zu denken. Ich erwähne das auch deshalb, weil in dem Buch (S. 164 ff.) auch eine Reihe von Dokumenten
zur Fürstenabfindung in den zwanziger Jahren publiziert wird.
Zu der heute so umstrittenen Frage, ob die deutschen Dinge noch offen sind oder nicht, enthält der
Bildband die Reproduktion eines interessanten Dokuments, nämlich die Eintragung von Wilhelm Pieck
im Gästehaus der Gedenkstätte Cecilienhof: „Das Potsdamer Abkommen verbürgt dem deutschen Volke
das Recht auf nationale Einheit und einen demokratischen Friedensvertrag. Möge jeder Deutscher von
dieser Gedenkstätte die Gewißheit mitnehmen, daß die gerechte Sache unseres Volkes siegen wird."
j
Dr. Otto Uhlitz
278
Neue Berlinliteratur
„Die Stadt Berlin im Jahre 1690". Gezeichnet von Joh. Stridbeck d. J., Faksimile in drei-bis neunfarbigem
Lichtdruck nach den Originalen in der Staatsbibliothek in Berlin, mit einem Kommentar von
Winfried Löschburg. 20 Aquarelle und Pinselzeichnungen im Format 40 x 30 cm. Verlag W.
Kohlhammer, Stuttgart, 1981,148 DM.
„Berlin". Deutsch, Englisch, Französisch. Von Hans Dreiser, Prisma Verlag GmbH Gütersloh, mit 50
Farbtafeln, etwa 20 DM.
„Steinerne Zeugen". Stätten der Judenverfolgung in Berlin. Von Wolfgang Wippermann. Hrsg. vom
Pädagogischen Zentrum Berlin 1982, Rembrandt-Verlag Berlin, geleimt.
Thomas Biller: Die Entstehung der Stadt Spandau im hohen Mittelalter. Verlag Richard Seitz & Co.,
Berlin, 1980,43 Seiten, 10 Abbildungen, 9,80 DM.
Vera Frowein-Ziroff: Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Entstehung und Bedeutung. Gebr. Mann
Verlag, Berlin, 1982, Ganzleinen, 85 DM.
Peter Paret: Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland.
Ullstein-Kunst-Buch, 1983, geleimt.
Friedrich Scholz: Berlin und seine Justiz. Die Geschichte des Kammergerichtsbezirks 1945-1980. Verlag
W. de Gruyter, 304 Seiten, 8 Abbildungen, Ganzleinen, 42 DM.
Dieter Hildebrandt: Die Leute vom Kurfürstendamm. Roman einer Straße. Carl Hanser Verlag, 400
Seiten, Leinen, 36 DM.
Martin Greiffenhagen: Die Aktualität Preußen. Fragen an die Bundesrepublik. Fischer
Taschenbuchverlag, 1981.
Große deutsche Dirigenten. 100 Jahre Berliner Philharmoniker. Biographien mehrerer Dirigenten, z. B.
Hans von Bülow, Richard Strauss, Herbert von Karajan. Mehrere Autoren, Verlag Severin und
Siedler, Berlin, 1982, 224 Seiten, mit 138 Fotos, Leinen, 42 DM.
„Richard von Weizsäcker". Profile eines Mannes, Hrsg. von W. Filmer und H. Schwan. Econ Verlag, 252
Seiten, 26 Abbildungen, gebunden, 36 DM.
Heinz Rühmann: Das war's. Ullstein Verlag, 320 Seiten, 53 Abbildungen auf 32 Tafelseiten, gebunden, 32
DM.
Die schönsten Bismarck-Karikaturen. Ein Bismarck-Album des Kladderadatsch. Olms Presse, 1981, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1890.
Fontane, Dichtung und Wirklichkeit. Zur Ausstellung vom 5. September bis 8. November 1981. Kunstamt
Kreuzberg.
Richard von Weizsäcker: Die deutsche Geschichte geht weiter. Siedler Verlag, 1983,320 Seiten, Leinen, 36
DM.
Fritz Hippler: Die Verstrickung. Einstellungen und Rückblenden vom ehemaligen Reichsfilmintendanten
unter J. Goebbels. Verlag Mehr Wissen, Düsseldorf, 300 Seiten, geleimt.
Fahr Rad in Berlin! Berlinatlas für Fahrradfahrer vom Fahrradbüro Berlin, 1983.
Im IV. Quartal 1984
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Gerhard Becker, Bankkaufmann
An der Wingertshecke 10,
6308 Butzbach-Mainau
Tel. (06081)2873
Gisela Scholz, Konrektorin i. R.
Arnulfstraße 132, 1000 Berlin 42
Tel. 7536401
H. Tülin Ünal, Krim.-Komm. z. A.
Stieglitzweg 6,1000 Berlin 47
Tel. 6024434
Ingrid Weis, Verwaltungsangestellte
Thomasiusstraße 22, 1000 Berlin 21
Tel. 3915496
(L.Franz)
(Gründahl)
(Borst)
279
Veranstaltungen im I. Quartal 1985
1. Donnerstag, den 31. Januar 1985, 17.00 Uhr: „Paul Wallot - Zeichnerischer Nachlaß".
Führung durch die Ausstellung Herr Dr. Ekhart Berckenhagen. Treffpunkt in der Eingangshalle der Kunstbibliothek, Jebensstraße 2. Fahrverbindungen: U-Bahn und Busse zum
Bahnhof Zoologischer Garten.
2. Mittwoch, den 6. Februar 1985,16.00 Uhr: „Von Berlin nach Germania - Über die Zerstörungen der .Reichshauptstadt' durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen". Führung
durch die Ausstellung Herr Dr. Hans-Joachim Reichardt. Treffpunkt in der Eingangshalle
des Landesarchivs Berlin, Kalckreuthstraße 1-2. Fahrverbindungen Busse 19 und 29,
U-Bahn bis Bhf. Wittenbergplatz oder Nollendorfplatz.
3. Sonnabend, den 16. Februar 1985, 18.00 Uhr: In Verbindung mit der Hugenottischen
Mittwochsgesellschaft anläßlich des Geburtstages des Großen Kurfürsten Festveranstaltung
im Schloßhotel Gehrhus, Brahmsstraße 4, 1000 Berlin 33 (Grunewald). Es spricht Herr
Günter Wollschlaeger über „Die Hugenottischen Architekten in Brandenburgisch-Preußischen Diensten". Menü-Preis etwa 25 DM. Telefonische Anmeldungen bis zum 12. Februar
ab 19.00 Uhr unter der Rufnummer 8 5127 39 erbeten.
4. Freitag, den l.März 1985, 19.00 Uhr: Vortrag von Herrn Dr. Hermann F.W. Kuhlow:
„Einführung in die Geschichte der Havelstadt Spandau". Pommernsaal des Rathauses
Charlottenburg.
5. Dienstag, den 19. März 1985, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Beispiele der Ausstattung des Schlosses Charlottenburg zwischen den beiden
Weltkriegen". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.
Beachten Sie bitte die verlegten Vortragstermine im Rathaus Charlottenburg, die wegen der
Wahlen und der Wahlveranstaltungen notwendig wurden.
Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19.
Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33,1000 Berlin 31, Telefon 323 28 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89,1000 Berlin 61, Telefon 6936791.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34302234. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
280
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MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
G E G R Ü N D E T 1865
81. Jahrgang
Heft 2
April 1985
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Titelblatt der letzten, noch von Bode selbst besorgten
Ausgabe der „Anleitung ..." (Kupferstich 1822)
Johann Eiert Bode - der bedeutende Berliner Astronom
Von Friedhelm Schwemin
Johann Eiert Bode wurde am 19. Januar 1747 in Hamburg geboren. Sein Vater, Joh. Jakob
Bode (1719-1799), unterhielt eine Kaufmannsschule, und Johann Eiert war dazu ausersehen,
einst die Nachfolge im Beruf seines Vaters anzutreten. Dies war auch der Grund, weshalb er nie
förmlichen Schulunterricht hatte; vielmehr übernahm sein Vater diese Aufgabe. Als Kind
kränkelte er viel, was zur Folge hatte, daß er sich mehr und mehr an häusliche Zurückgezogenheit gewöhnte. In dieser Lage begann er, sich allmählich für Mathematik und Geographie zu
interessieren, wobei er dann bald zur Astronomie kam.
Im Jahre 1765 sah der Arzt J. A. H. Reimarus Bode mit der Berechnung der Sonnenfinsternis
beschäftigt und nahm die Unterlagen des jungen Bode an sich, um sie seinem Freund, dem
Professor Busch, zu zeigen. Johann Georg Busch (1728-1800), Lehrer der Mathematik am
Hamburger Gymnasium, sollte fortan eine entscheidende Rolle im Fortkommen Bodes
spielen. Busch überließ ihm großzügig seine Bibliothek und Instrumentensammlung zur freien
Benutzung. Das weltoffene Haus Busch bildete den rechten Rahmen, um unseren Bode in den
frischen Wind der Öffentlichkeit zu führen, und es verwundert daher nicht, daß er schon ein
Jahr später, also mit 19(!) Jahren, mit seiner ersten Publikation ans Licht trat.
Ein weiteres Jahr später begann er mit der Abfassung eines Buches, das seinen Ruhm als
astronomischer Literat begründet hat: „Deutliche Anleitung zur Kenntniß des gestirnten
Himmels". Dieses Werk erreichte zu Bodes Lebzeiten 9 Auflagen und erschien noch 1858 in der
11. Ausgabe. Nach eigener Aussage war „der nächste Endzweck dieses Buches" folgender: „Die
Fixsterne unter den Bildern, in welchen man sich schon seit den ältesten Zeiten sich dieselben
vorstellt, im ganzen Jahr, ohne weitere Anstalten und Berechnungen, bloß durch den sinnlichen
Anblick kennen zu lernen." Bode wurde nun allmählich so bekannt, daß er außer Busch und
Reimarus auch C. D. Ebeling, M. Claudius und F. G. Klopstock, den großen Dichter, zu seinen
Gönnern zählen konnte. Bode hatte sich nun, 1768, vollends der Astronomie verschrieben,
ohne jedoch seine häuslichen Pflichten zu vernachlässigen.
Ende 1771 kam die zweite Auflage seiner „Anleitung" heraus. Dieses Ereignis sollte die Wende
in Bodes Leben einleiten. In dieser Ausgabe veröffentlichte er eine mathematische Beziehung,
welche die Abstände der Planeten von der Sonne gut darstellte; die sogenannte Titius-Bodesche
Reihe (1 AE = Entfernung Erde-Sonne):
Merkur
Venus
Erde
Mars
(?)
Jupiter
Saturn
4+ 0 =
4+ 3 =
4+ 6 =
4+12 =
4 + 24 =
4 + 48 =
4 + 96 =
4 (=
7(=
10 (=
16 (=
28 (=
52 (=
100 (=
0,4 AE)
0,7 AE)
1,0 AE)
1,6 AE)
2,8 AE)
5,2 AE)
10,0 AE)
Von besonderer Bedeutung war, wie wir noch sehen werden, die Lücke zwischen Mars und
Jupiter, in der Bode einen noch unbekannten Planeten vermutete.
Bode hatte diese „Progression" einem Übersetzungszusatz aus der „Betrachtung über die
Natur", erschienen 1766, entnommen, einer Übertragung von C. Bonnets „Contemplation de la
nature". Der Übersetzer war J. D. Titius, Professor in Wittenberg. Ein Vergleich des Titius282
Textes mit der Bode-Version läßt klar erkennen, daß Titius der Entdecker war. Wahrscheinlich erkannten auch Bodes Hamburger Freunde die Bedeutung dieser Stelle der „Anleitung",
denn Anfang 1772 forderten sie ihn auf, Exemplare seines Buches u. a. an Johann Heinrich
Lambert (1728-1777), den Berliner Akademiker, zu senden. Bode befolgte diesen Rat, und am
3. Februar erhielt er bereits ein Antwortschreiben Lamberts. Die Tatsache, daß hier ein junger
Mensch eine interessante mathematisch-astronomische Beziehung gefunden hatte, scheint für
Lambert den Ausschlag für sein weiteres Handeln gegeben zu haben, denn er erreichte, daß
Bode am 3. Juli, formell mit Genehmigung des Königs, eine Anstellung als astronomischer
Rechner an der Sozietät der Wissenschaften in Berlin erhielt.
Bode kam am 25. August 1772 in Berlin an und wohnte zunächst im Tempelhofschen Hause
Unter den Linden. Eifrig begann er mit den ihm übertragenen Arbeiten; zunächst waren dies
Rechnungen für den Schlesischen Kalender, in die ihn Christine Kirch einwies, die greise
Tochter von Gottfried Kirch, dem ersten Astronomen der Akademie in Berlin. Schon bald
darauf kam eine neue Aufgabe an ihn heran: Die Akademie hatte Lambert beauftragt, nach
dem englischen und französischen Vorbild ein präzise berechnetes astronomisches Jahrbuch
herauszugeben. Bode hatte nicht geringen Anteil an der Ausführung dieses Planes, und am
30. November 1773 konnte der erste Band dem König vorgelegt werden.
Neben seinen Beschäftigungen an der Akademie und bei der „Gesellschaft Naturforschender
Freunde", die er 1773 mitbegründet hatte, begann er noch 1775, astronomische Vorträge außer
Haus zu halten. Ende September 1777 starb Lambert, und Bode mußte von nun an auf eigenen
Füßen stehen. Nur mit dem praktischen Beobachten war wenig Staat zu machen: Er mußte
mehr schlecht als recht aus den Fenstern seiner Privatwohnung observieren. Dafür verlegte er
sich wieder mehr aufs Literarische; seine „Anleitung zur Kenntniß des gestirnten Himmels"
hatte ungeahnten Erfolg. Innerhalb von zwei Jahren - 1777 und 1778 - mußte er zwei neue
Auflagen besorgen. Außerdem verließ 1778 seine mehr wissenschaftliche „Erläuterung der
Sternkunde" die Presse. Nur das „Jahrbuch" machte Kummer: 1780 nahm die Akademie ihren
Auftrag zurück, und das Werk drohte einzugehen. Aber da intervenierte der große
J. L. Lagrange (1736-1813), der damals Direktor der mathematischen Klasse der Akademie
war, und Bode konnte das Werk 1781 in weitgehend eigener Regie fortsetzen. Aber das Jahr
1781 hielt noch ganz andere Überraschungen bereit.
Am 13. März 1781 entdeckte F. W. Herschel in England einen neuen Planeten, den er allerdings
zunächst für einen Kometen hielt. Anfängliche Schwierigkeiten bei der Bahnbestimmung
behob Bode mit einer Idee, die genial genannt werden muß. Er kam nämlich auf den Gedanken, daß schon vor Herschel andere Beobachter den Planeten als einen gewöhnlichen Fixstern
beobachtet und in ihren Katalogen notiert haben könnten. Im August 1781 machte er sich auf
die Suche und hatte tatsächlich Erfolg. In einem Sternkatalog von T Mayer in Göttingen fand
er eine Sternposition vom 25. September 1756, an der 1781 kein Stern mehr stand. Bode
errechnete, daß der neue Planet tatsächlich 1756 an diesem Ort gestanden hatte. Der Mayersche
Stern war also mit großer Sicherheit Herschels Komet, der neue Planet!
Einige Zeit später fand Bode mit Hilfe von P. Fixlmillner in Kremsmünster eine weitere, noch
frühere Beobachtung. Man hatte jetzt Örter zur Verfügung, die mehr als einen vollen Planetenumlauf erfaßten, und im „Jahrbuch" für 1787 veröffentlichte Fixlmillner neue Bahnelemente,
die die beobachtete Bahn dann auch für rund vier Jahre ausreichend genau wiedergaben.
Fixlmillners Wert für die mittlere Entfernung von der Sonne war 19,18 AE, welcher gut mit
Bodes Progression übereinstimmte, die einen Wert von 196 = 19,6 AE ergab. Noch wurde
Bodes Reihe allerdings, trotz dieser offensichtlichen Übereinstimmung, nicht international
diskutiert.
283
Frontispiz
zur 9. Auflage
der „Anleitung ..."
(Stich 1822
von F. W. Bollinger
nach einem Gemälde
von F. Gareis
um 1800)
Als man Ende 1781 begann, nach einem Namen für den Planeten zu suchen, war es Bode, der
sich mit seinem Vorschlag „Uranus" durchsetzte. Er wies darauf hin, daß dann alle Planeten
gewissermaßen eine einheitliche mythologische Familie bilden würden. Bodes Rolle in der
Uranus-Frage begründete seinen internationalen Ruf, und fortan war er aus dem Konzert der
Astronomen nicht mehr wegzudenken.
Im Zuge einer Neuorganisation der Akademie nach dem Tod Friedrichs des Großen wurde
Bode für die Akademie als Mitglied vorgeschlagen. Am 9. November 1786 wurde er feierlich
aufgenommen, und schon am 25. Januar 1787 las er seine erste Abhandlung vor. Da Bode nun
den einzigen Astronomen in Berlin darstellte, ließ eine andere Berufung auch nicht mehr lange
auf sich warten: Im April 1787 wurde ihm die Leitung der arg darniederliegenden Sternwarte
anvertraut. Der bisherige Direktor, J. Bernoulli III., hatte sich kaum um das Observatorium
gekümmert, aber auch Bode hat hier nichts Entscheidendes leisten können; zu sehr nahmen ihn
seine schriftlichen Arbeiten in Anspruch.
Als neuernannter „Königl. Preußischer Astronom" nahmen ihn nun auch wissenschaftliche
Gesellschaften auf, so u. a. 1789 die Londoner Royal Society. Inzwischen war Bode, bedingt
durch seine Arbeit am „Jahrbuch", mit nahezu allen Astronomen der Welt durch Korrespondenz bekannt. Sein Jahrbuch entwickelte sich mehr und mehr zu einer Art Zeitschrift, in der
z. T. bedeutsame Abhandlungen, Briefauszüge usw. erschienen. Bis zum Jahre 1798 war das
Jahrbuch das einzige zeitschriftenähnliche astronomische Periodikum.
Im August 1798 nahm Bode auf der neuen Seeberg-Sternwarte bei Gotha an dem berühmten
Treffen von 15 Astronomen teil. Wichtige Ergebnisse brachte dieser Kongreß nicht; man
beschränkte sich mehr auf allgemeinen Erfahrungsaustausch, zumal wichtige Leute aus politischen Gründen nicht teilnahmen. Bodes Hauptarbeitsgebiet in jenen Tagen war die Vorbereitung zu seinem kartographischen Hauptwerk, dem großen Himmelsatlas „Uranographia", der
mit einem Katalog von 17 240 Sternen im Jahre 1801 erschien. Dieses Prachtwerk in Großfolio
stellte den Abschluß der barocken Himmelskartographiekunst dar.
284
Wie Bode nun rings umher die neuen Sternwarten und fabelhaften Instrumente kennenlernte,
muß ihm seine eigene Warte, die, obwohl staatlich, nur jämmerlich in der Ausstattung war,
sicher viel Kummer bereitet haben. Kurz entschlossen nutzte er die momentane Gunst seines
Landesherrn nach dem Gothaer Treffen und schlug dem neuen König in einer schriftlichen
Eingabe vom 2. November 1798 einen Umbau der Sternwarte vor. Sein Plan sah im wesentlichen vor, die Beobachtungszimmer, die sich bisher im dritten Stock des Akademiegebäudes
befanden, auf den vierten Stock auszudehnen. Im Jahre 1800 begann der Umbau und wurde im
Juni 1801 vollendet. Trotz dieser Modemisierungsbemühungen konnte das nur eine der Not
gehorchende Maßnahme sein; die Sternwarte blieb zweitklassig, auch als Bode später neue
Instrumente aus England anschaffte. Man mußte 97 Stufen erklimmen, um in den Beobachtungssaal zu gelangen. Erst Bodes Nachfolger Encke konnte die Konsequenzen ziehen und
außerhalb der Stadt ein neues, großzügiges Observatorium errichten.
Am 20. März 1801 erreichte Bode ein Brief des Astronomen Guiseppe Piazzi (1746-1826) aus
Palermo, worin dieser ihm von seiner Entdeckung eines sich bewegenden Objektes im Sternbild
Stier in Kenntnis setzte. Piazzi schrieb von einem „Kometen", den er am 1. Januar 1801 entdeckt
habe. Bode war sofort der Meinung, daß es sich um den Planeten handeln müsse, der er schon
seit 1772 zwischen Mars und Jupiter vermutete, da seine Progression der Planetenabstände von
der Sonne hier eine Lücke aufwies. Die meisten deutschen Astronomen waren derselben
Meinung. Durch die Stellung des neuen Planeten, des ersten Kleinplaneten (Ceres), konnte
vorübergehend die Bahn nicht weiter verfolgt werden, und der Fund drohte im Wirrwarr der
Sterne verlorenzugehen. Diesem Übel half in einem Geniestreich C. F. Gauß, der später
berühmteste deutsche Mathematiker, ab, indem er eine völlig neue Methode der Bahnbestimmung von Himmelskörpern entwickelte, aufgrund deren Olbers im Januar 1802 den
Flüchtling wieder auffinden konnte.
Am 12. Januar erfuhr Bode brieflich von Olbers von dessen Wiederentdeckung. Gauß' erste
Elemente der Bahn legten den Abstand der Ceres von der Sonne auf 2,735 AE fest. Dieser Wert
harmonisierte glänzend mit Bodes Wert von 2,8 AE. Der Prophet war bestechend bestätigt
worden. Lange sollte die euphorische Freude jedoch nicht andauern. Herschel fand einen
überraschend kleinen Durchmesser für die Ceres; auch war die Bahnneigung höher als bei allen
anderen Planeten. Es kamen Zweifel auf, ob es sich wirklich um einen „Haupf'-Planeten
handelte, wie Bode in seinen Schriften hartnäckig behauptete. Eine völlig verblüffende Situation trat ein, als Olbers am 28. März 1802 einen weiteren kleinen Planeten fand: Pallas. Auch er
lief in einem Abstand von etwa 2,8 AE um. Man war allgemein fassungslos. Olbers schrieb am
7. Mai 1802 an Bode: „Was sagen Sie nun zu diesem außerordentlichen Weltkörper? Gewiß hat
die Pallas doch jetzt eben so viel Anspruch auf die Planetenehre, als die Ceres." Nun, Bode
zweifelte; sein doch so schönes System schien zu zerbrechen. Olbers wie Bode kamen bei dem
Versuch, die „Progression" zu retten, allmählich zu der Überzeugung, daß es sich bei den neuen
Planeten um Trümmer eines einstigen größeren Mutterplaneten handeln müsse. Man begann
also weiterzusuchen, und schon am 1. September 1804 gelang es K. L. Harding, einen neuen
Planeten - die Juno - zu finden. Den vorerst letzten Planeten (Vesta) entdeckte Olbers dann
noch Ende März 1807.
Alle diese Körper hatten etwa den gleichen mittleren Abstand von der Sonne. Die Bodesche
Progression geriet jetzt zunehmend in die wissenschaftliche Diskussion. Nachdem Gauß sein
begründetes Mißtrauen gegenüber dem Gesetz ausgesprochen hatte, war Bode bald der einzige,
der öffentlich mit der ihm eigenen Beharrlichkeit an „seinem" Abstandsgesetz festhielt. Nichtsdestotrotz war es aber der Wirbel, welcher um die Progression damals gemacht wurde, der der
285
Astronomie neue, fruchtbare Impulse in der Zeit um 1800 zuführte; auch spielte sie bei der
Entdeckung des Neptuns 1846 eine gewisse Rolle.
Bode stand nun auf dem Höhepunkt seines Ruhms; kaum ein gebildeter Deutscher, der seinen
Namen nicht kannte. Nach den sich überstürzenden Ereignissen im Zusammenhang mit den
Planetoidenentdeckungen trat eine Phase des Atemholens in der Astronomie ein. Bodes
Aktivitäten erlahmten allmählich; sein Wirken war fortan fast nur noch auf die Akademie und
besonders aufsein geliebtes Jahrbuch beschränkt. Im Januar 1810 wählte ihn die Akademie
zum Sekretär der mathematischen Klasse. Bode lehnte jedoch wegen Arbeitsüberlastung ab. Er
war so ziemlich der letzte der alten Schule; eine neue Zeit brach an. Männer wie Gauß, Bessel
und Encke sollten künftig die neue Astronomie errichten.
Als fest etabliertes, lebendes Monument erlebte Bode die folgenden Jahre, in die auch persönliche Kontakte mit seinen astronomischen Freunden fallen. Nachdem er im Juni 1806 in Berlin
zum ersten Mal Olbers persönlich kennenlernte, traf er im Sommer 1809 H. C. Schumacher
(1780-1850) in Altona und im April 1810 F. W. Bessel (1784-1846), der sich auf der Durchreise
nach Königsberg in Berlin aufhielt.
Auch das „Jahrbuch" war nicht mehr das, was es einmal gewesen war. Schon seit 1815
verlangten die Astronomen genauere Tafeln und Ephemeriden*, die die neuesten Fortschritte
im Instrumentenbau und in den Beobachtungsmethoden widerspiegelten. Selbst der
zeitschriftenähnliche Anhang im Jahrbuch wurde langsam überflüssig, da längst spezielle
Zeitschriften mit kürzerer Erscheinungsweise entstanden waren. Bald war Bode - um 1820 nur noch eine geachtete, aber kaum noch beachtete Gestalt innerhalb der internationalen
Astronomie.
Das Jahr 1822 brachte für ihn noch einmal eine Anhäufung von Ereignissen, die ihn in das
Rampenlicht der lokalen Öffentlichkeit rückten: seinen 75. Geburtstag, sein 50jähriges Dienstjubiläum und das Erscheinen des 50. Bandes des Jahrbuches.
Allmählich wurde nun die Zeit reif, um über eine Nachfolge Bodes nachzudenken, sollte die
Sternkunde in Berlin nicht gänzlich verkümmern. Man entschied sich intern für Bessel, der
damals die Sternwarte in Königsberg leitete. Doch der große Bessel ließ sich nicht dazu
verlocken, aus der Provinz in das glänzende Berlin zu kommen. Wissenschaftlich hätte für ihn
ein solcher Wechsel wohl auch einen Abstieg bedeutet. Bessel schlug statt dessen Johann Franz
Encke (1791-1865) vor, der damals Direktor der Seeberg-Sternwarte war und durch die
Bahnbestimmung des später nach ihm benannten Kometen berühmt wurde. Auch Bode selbst
wünschte sich Encke, der ihm wesensmäßig ähnlich war, als Nachfolger, und da die Verhältnisse auf dem Seeberg nicht zum besten standen, willigte Encke ein und reiste am 11. Oktober
1825 in Berlin an. Sicherlich verlockte ihn das Angebot, in Berlin eine neue, große Sternwarte
bauen und übernehmen zu können. Über die angetroffenen Zustände schrieb Encke an Olbers:
„Von der Sternwarte ist wenig zu sagen. Das Lokal ist hoch und unbequem. Sie besitzt indessen
doch einige gute Fernrohre ..."
Der Umgang mit Bode in seinen letzten Jahren war nicht besonders angenehm. Zu sehr war er
an strengste Disziplin und Zeiteinteilung gewöhnt. Wie hätte er es sonst auch schaffen können,
ganz allein und ohne Unterbrechung 50 Jahre und mehr seine Jahrbücher herauszugeben.
Encke übernahm nun - Ende 1825 - die Sternwarte, und Bode klammerte sich mit der
Beharrlichkeit des Greises an „sein" Jahrbuch. Im Herbst 1826 beendete er die letzten Arbeiten
an dem Band für 1829 und begann schon wieder den nächsten Jahrgang. Doch diesen Band
sollte er nicht mehr vollenden; der Tod nahm ihm den Rechenstift aus der Hand.
* Ephemeride: In der Astronomie ein Jahrbuch, in dem die täglichen Stellungen der Gestirne vorausberechnet sind.
286
Johann Eiert Bode starb am Abend des 23. November 1826. In seiner Zeitung hieß es: „Dann
führte der Engel des Todes sanft seinen Geist zu den Sternen, in denen er seit einem halben
Jahrhundert kein Fremdling war." Er, der dreimal verheiratet gewesen war, hinterließ 4 Kinder
und 9 Enkel. Am 27. November wurde er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt.
Bodes Nachlaß befindet sich heute im Archiv der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu
Berlin (Ost). Sein Platz in der Geschichte der Astronomie ist gesichert. Freilich ist seine
Bedeutung geringer als die seiner großen Zeitgenossen W. Herschel, Bessel oder Gauß;
zusammen mit Lalande, Piazzi, Olbers, v. Zach u. a. bildet er aber ein nicht geringes Glied in der
Übergangsperiode der Zeit um 1800. Die unermüdliche Bekanntgabe des Gesetzes der Planetenabstände von der Sonne, das zu Recht seinen Namen trägt, erscheint uns als die Leistung, die
bis heute nachwirkt. Dieses „Gesetz", das eigentlich gar kein Gesetz ist, ist auch heute noch
nicht aus der Diskussion, und kein Planetenentstehungshypothetiker wird an ihm vorbeigehen
können.
Sein Erbe wirkt so bis heute nach.
Quellen und Literatur (Auswahl)
Battre, H., u. Herrmann, D. B.: Astronomennachlässe u. -teilnachlässe im Archiv der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, in: Monatsberichte d. Deut. Akad. d. Wiss. zu Berlin 12 (1970),
S. 531 f.
Berlinische Nachrichten, Nr. 279 v. 28.11.1826 (Nachruf)
Bode, J. E.: Briefe an C. F. Gauß (61, Staatsbibl. Göttingen); F. W. Bessel (85, Archiv d. Deut. Akad. d.
Wiss. zu Berlin); W. Olbers (88, Staatsbibl. Bremen); H. C. Schumacher (22, Staatsbibl. Berlin)
Encke, J. F.: Gedächtnisrede auf Joh. E. Bode, in: Abhandl. d. Königl. Akad. d. Wiss. zu Berlin aus dem
Jahre 1827, Berlin 1830, S. XI-XXI
Gesellschaft Naturforschender Freunde (Hrsg.): Dem Herrn D. Joh. E. Bode, Berlin 1822
Hamel, J.: Zur Entstehungs- u. Wirkungsgeschichte der Kantschen Kosmogonie (= Mitt. d. ArchenholdSternwarte Berlin-Treptow, Bd. 6, Nr. 130), Berlin-Treptow 1979, S. 30-35
Harnack, A.: Geschichte der Königl. Preuss. Akad. d. Wiss. zu Berlin, 3 in 4 Bde., Berlin 1900, bes. Bd. 3,
S. 24 f.
Jaki, S. L.: Das Titius-Bodesche Gesetz im Licht der Originaltexte, in: Nachrichten der Olbers-Gesellschaft Bremen, Nr. 86, (Oktober 1972), S. 1-8
Köhler, R., u. Richter, W. (Hrsg.): Berliner Leben 1806-1847, o. O. (Potsdam) 1954, S. 113 f.
Koerner, B. (Hrsg.): Deutsches Geschlechterbuch, Bd. 107, Görlitz 1939, S. 127-152
(Lowe, M. S.) (Hrsg.): Bildnisse jetztlebender Berliner Gelehrten mit ihren Selbstbiographien, 1. Sammig.
(Berlin 1806), S. 1-32
Neuer Nekrolog der Deutschen, 4. Jg. 1826, 2. Teil, Ilmenau 1828, S. 688-696
Royal Society of London (Hrsg.): Catalogue of Scientific Papers 1800-1863, Vol. 1, London 1867, S. 449 f.
Schröder, H.: Lexicon der Hamburgischen Schriftsteller, Bd. 1, Hamburg 1851, S. 282-291
Schumacher, H. C : Bodes Tod, in: Astronom. Nachrichten 5 (1827), Sp.255 f. u. 367 f.
Schwemin, F.: Joh. E. Bode, Skizze zu Leben u. Werk, in: Sitzungsber. d. Ges. Naturforsch. Freunde zu
Berlin (N. F.), Bd. 22, Berlin 1982, S. 99-117
ders.: Joh. E. Bode, Leben u. Leistungen eines Astronomen der Goethe-Zeit, in: Sterne u. Weltraum 23
(1984), S. 184-188
Sticker, B., in: Dictionary of Scientific Biography, Vol. 2, New York 1970, S. 220 f.
Thieß, J. O.: Versuch einer Gelehrtengeschichte von Hamburg, Bd. 1, Hamburg 1780, S. 54-56
Wattenberg, D.: Die Sternkarten von Joh. E. Bode, in: Sternzeiten (Hrsg. G. Jakisch), Bd. 1, Berlin 1977,
S. 53-68
Wünschmann, F.: Die alte Sternwarte um 1800 unter Joh. E. Bode, in: Monatsber. d. Deut. Akad. d. Wiss.
zu Berlin 2 (1960), S. 250-257
Anschrift des Verfassers: Friedhelm Schwemin, Bambergstraße 86a, 4709 Bergkamen
287
Die Walkieferknochen der Pfaueninsel
Von Michael Seiler
Hat der Besucher den Boden der Pfaueninsel nach dem Verlassen der Fähre betreten und
wendet sich nach links, dem Hinweisschild „Schloß" folgend, so führt der Weg nach einer
kurzen Strecke rechts sich in zwei Laubengänge teilend, einmal steil, einmal allmählicher auf
die Höhe des Inselplateaus. Am Beginn dieser Teilung liegen verkannt drei große Knochenfragmente. Es handelt sich um Walkieferknochen. Wie kamen sie dorthin? Welche Rolle
spielten sie bei der Gestaltung der Insel?
Am 17. April 1821 schrieb der Kapitän Kolle mit der Absenderadresse Berlin, Lutter und
Wegener, Charlottenstraße Nr. 32, an den König:
„Voll Zutrauen zu Euer Königl. Majestät, wagte ich es in meiner allerunterthänigsten Vorstellung vom 30. Januar d. J. um die Erlaubnis zu bitten ein Paar Walfischbarden von seltener
Größe an einen von allerhöchst dieselben zu bestimmenden Orte aufstellen zu dürfen. Mit
diesen Walfischbarden bin ich nun hier angekommen, und würde es nicht wagen meinen
ehrerbietigsten Antrag zu wiederholen, wenn sie nicht ungefähr 24 Fuß lang wären, also von
einen so großen Fische herrührten, wie er seit mehreren Jahren nicht gefangen ist. Ich erwarte
demnach Euer königl. Majestät allerhöchsten Befehl wegen Ablieferung dieser Walfischbarden
in tiefster Ehrfurcht.
Euer königlichen Majestät allerunterthänigster J. F. Kolle"1
Schon am 29. April lieferte der Gartendirektor Lenne dem Intendanten der Schlösser und
Gärten, Herrn von Maltzahn, eine gründliche Erörterung über die mögliche Verwendung der
angebotenen Walkieferknochen. Er schrieb:
„Euer Hochwürden Hochwohlgeboren geruhten meine Ansichten und Vorschläge über den
Gebrauch und die passende Lokalität, zur Aufstellung der Seiner Majestät dem Könige von
dem Schiffskapitäne Herrn Kolle aus Hamburg, angetragenen Wallfischbarden, zu befehlen.
Nach meiner unmaßgeblichen Ansicht würde die Aufstellung dieser Wallfischbarden am
passendsten in der Nähe des Wassers stattfinden können, und bieten sich dafür nach meinem
Dafürhalten, nachfolgende Lokale als vorzüglich geeignet, dar.
nens Auf jgj pfauen-Insel unmittelbar am Ufer, wo gewöhnlich bei der Überfahrt gelandet wird.
2tcns Auf dem der Pfauen-Insel entgegengesetzten Ufer bei dem neuangelegten Landungsplatze,
in der Nähe des zu dem Russischen Hause hinführenden Weges.
In beiden Fällen, würden die beiden Wallfischbarden dem allerhöchsten Befehle gemäß, in der
Art aufgestellt werden können, daß sie einen, nach gothischer Form zugespitzten Thorweg oder
Portal bilden.
Der Vorschlag ad 1, hat die Vorzüge, daß die Umgebung hinlänglich Raum gewähren würde,
um passende Dekorationen, die mit diesem Portal in Verbindung gebracht werden könnten,
anzubringen. Zu diesen Verzierungen eignen sich vorzüglich schönblühende Schlingpflanzen,
die das eigenthümlich gestaltete Portal umwinden, wodurch ein grüner mit manchfaltigen
Blumen geschmückter Eingang bei dem Anfahrtsplatze auf der Pfauen-Insel gebildet würde.
Der Vorschlag ad 2 gewährt die genannten Begünstigungen, bezüglich auf Lokalität und
Decorationen nicht; und würde nur in so fern in Erwegung zu ziehen sein, als die Kiefern eines
Nordischen Seethieres mit einem Nordischen Gebäude in Verbindung gebracht werden.
288
Abb. 1: Pfaueninsel, Fragmente der beiden 1821 dorthin gebrachten Walkieferknochen, Foto Seiler 1984.
Ich habe mehrmalen in naturhistorischen Sammlungen ähnliche Wallfischbarden gesehen; so
imposant und gigantisch dieser Anblick auch ist; so ist der Anblick derselben doch nichts
weniger als angenehm, und würde die Aufstellung derselben als Thorweg in einem der Königl.
Gärten eher einen störenden als freundlichen Eindruck hervorbringen.
Über den Werth dieser Wallfischbarden von so seltener Größe muß ich mich jedes Urteils
enthalten; da ich hiervon gar keine Kenntnis habe; die pekuniäre Lage des Herrn KoUe, soll
jedoch nach zufällig von mir eingezogenen Erkundigungen der Art sein, daß der seiner Königl.
Majestät gemachte Antrag wohl nicht eines pekuniären Vorteiles wegen gemacht worden ist
und der p. KoUe vermutlich eine andere passende Auszeichnung vorziehen dürfte.
Sans-souci am 29tcn April 1821
Lenne"2
Dieser Schriftsatz macht deutlich, mit welchen Einzelheiten Lenne sich in den königlichen
Gärten beschäftigen mußte und wohl auch wollte. Er machte zwar den Vorschlag eines aus
Knochen gebildeten gotischen Portals, umrankt von blühenden Schlingpflanzen, riet aber
gleichzeitig von einer derartigen Gartendekoration ab. Am 2. Mai 1821 notierte Herr von
Maltzahn folgenden Vermerk: „Da die von dem Lenne gemachten Vorschläge die Wallfischbarden aufstellen (sie) von Sr. Majestät dem Könige nicht genehmigt sind, so schlage ich
allerunterthänigst vor selbige so lange zurückzulegen bis es gewiß ist, ob der von S. K. H. dem
Prinzen von Oranien angebotene Elephant ankommt, in welchem Falle sie am Eingange des
Vorhofes zu diesem Thier angebracht werden könnten. Sollte dieses auch nicht angenommen
werden, so würde ich vorschlagen, sie bei der Meierei im Neuen Garten aufzustellen, da wo man
von der Hirschbucht nach der Meierei heruntergeht, oder im Pfingstberge oben im Eingange
von der Mühle zu."3
Am 6. Mai teilte KoUe dem König aus Potsdam mit, daß er an diesem Tage die Walfischknochen auf der Pfaueninsel abgeliefert habe. Am 11. Mai 1821 ging das folgenden Schreiben
des Königs an den Schiffer KoUe: „Dem Schiffer KoUe bezeige ich auf die Anzeige vom 6. d. M.
für die Ablieferung der beiden Wallfisch-Kiefern auf der Pfaueninsel hierdurch meinen Dank,
mit welchem derselbe beykommende goldene Dose als ein Geschenk empfängt."4
289
Die Firma Lutter und Wegener bescheinigt am 16. Mai 1821, daß ihr für den Schiffsbesitzer
Kolle eine goldene Dose eingehändigt wurde. Am 1. Juni 1821 sandte Kolle aus Hamburg einen
Brief an den König, in dem er sich für die Dose bedankte.5
In seiner Beschreibung der Pfaueninsel von 1838 sagt Gustav Adolf Fintelmann, daß die
Walunterkiefer und ein Schulterblattknochen vor der Nische des Schlosses mit dem Ölbild
lagen. Fotos vom Ende des 19. Jahrhunderts zeigen die Walkieferknochen rechts und links vom
königlichen Landungssteg vor dem Kastellanshaus. Vor dem Zweiten Weltkrieg sieht man sie
dann auf einem Foto an der offiziellen Fährlandestelle vor dem Fährhaus. Von dort kamen sie
offensichtlich an ihren gegenwärtigen Ort. Es ist beabsichtigt, diese nun schon seit 164 Jahren
auf der Insel liegenden Knochen zu konservieren und an der Fassade des Fährhauses so
anzubringen, daß sie vor Beschädigungen durch das Publikum gesichert sind und den Vorstellungen Lennes entsprechend in einem Bezug zum Wasser stehen.
Die Pfaueninsel blieb nicht der einzige Garten in Preußen, der mit Walkieferknochen geziert
wurde. In dem von Lenne angelegten Park des Landrats Ziethen zu Wustrau am Ruppiner See
stand in Ufernähe ebenfalls ein Walunterkieferpaar, dessen Reste heute an der Wustrauer
Dorfkirche befestigt sind (Abb. 2). Ein Bild davon, wie Lennes nichtausgeführter Aufstellungsvorschlag auf der Pfaueninsel gewirkt hätte, kann man sich heute noch im Park des Schlosses
Mystakovice (früher Erdmannsdorf) machen (Abb. 3). 1831 erwarb Friedrich Wilhelm III.
Erdmannsdorf, Schinkel wurde mit dem Umbau des Schlosses beauftragt und Lenne mit der
Parkgestaltung. Die Abwicklung sowohl der Bau- als auch der Gartenarbeiten lag in den
290
Abb. 3: Mysiakovice, VR Polen (früher Erdmannsdorf), als Bogen aufgestelltes Walkieferknochenpaar
im Schloßpark, Foto A. Schendel.
291
Händen des Ministers von Rother, der auch Präsident der Preußischen Seehandlung war. So ist
es möglich, daß durch die exotischen Erwerbungen der Preußischen Seehandlung, die in erster
Linie für die Pfaueninsel bestimmt waren, Lenne dort ein zweites Mal in die Lage kam,
Walkieferknochen in einer Parkanlage anzubringen.
Anmerkungen
1.
2.
3.
4.
5.
ZStA Merseburg, 2.2.1 Nr. 20714, S. 37.
a.a.O. , S. 34, 35, 38.
a.a.O. ,S.33.
a.a.O. , S. 29, 39.
a.a.O. , S. 32, 30, 31.
Anschrift des Verfassers Michael Seiler, Pfaueninsel, 1000 Berlin 39
Bitte an unsere Mitglieder
Der Verein für die Geschichte Berlins plant anläßlich der 750-Jahr-Feier unserer Stadt eine
Ausstellung über die Vereinsgeschichte. Da Ausstellungen wesentlich vom Anschauungsmaterial
leben, bitten der Vorstand und der Ausschuß zur 750-Jahr-Feier diejenigen Mitglieder, die Fotos,
Landkarten, Medaillen, Programme auch von Fahrten in die Mark Brandenburg, Briefe oder
sonstiges aus der Vergangenheit unseres Vereinslebens besitzen sollten, diese doch freundlicherweise als Leihgaben zur Verfügung zu stellen.
Zur telefonischen Kontaktaufnahme in dieser Angelegenheit stehen die Geschäftsstelle, Frau
Lieselott Gründahl, Telefon 3 23 28 35, der Vorsitzende, Herr Dr. Gerhard Kutzsch, Telefon
3 625808, der Ausschußleiter, Herr Dr. Jürgen Wetzel, Telefon 60183 37, und der Veranstaltungsleiter, Herr Günter Wollschläger, Telefon 8 5127 39, zur Verfügung.
Der Ausschuß und der Vorstand würden sich über ein lebhaftes Echo aus dem Mitgliederkreis
sehr freuen.
Aus dem Mitgliederkreis
Ernst Alberts, langjähriger erster Vorsitzender des Grundbesitzer-Vereins Berlin-Frohnau e.V., wurde zu
dessen Ehrenmitglied ernannt.
SchB.
Nachrichten
Studienfahrt ins Ravensberger Land
Die diesjährige Studienfahrt unter Leitung des Schriftführers Dr. H. G. Schultze-Berndt führt vom 13. bis
15. September 1985 in das Ravensberger Land mit Herford als Standquartier. Das Programm sieht nach
dem Eintreffen die Besichtigung eines für diese Landschaft typischen Industriebetriebes vor. Am Sonnabend sind zunächst der Besuch der Stiftskirche und des Widukind-Museums in Enger vorgesehen, die
Besichtigung des Sattelmeierhofes Nordmeyer und das Mittagessen gleichfalls in Enger. Am Nachmittag
steht ein Besuch der Sparrenburg in Bielefeld auf dem Programm (Kaffeetafel am selben Ort). Der
Sonntagvormittag dient dem Kennenlernen der Stadt Herford und ihrer Geschichte. Die Gespräche zu
diesem Besuchsteil laufen noch. Das ausführliche Programm wird im Juliheft der „Mitteilungen" veröffentlicht.
SchB.
292
Im I. Vierteljahr 1985
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Borchardt, Wolf-Rüdiger, Dipl.-Ing.
Lindenallee 28, 1000 Berlin 19
Tel. 3023096/57
(Riedel)
Davies, Karin, Angestellte
Alt-Moabit 20, 1000 Berlin 21
Tel. 3945789
(Gründahl)
Dr. Klaus Dettmer, Archivar
Wilhelmshavener Straße 65, 1000 Berlin 21
Tel. 3952733
(Schriftführer)
Dorit Münchmeier, Dipl.-Bibl. i. R.
Tempelhofer Damm 74, 1000 Berlin 42
Tel. 7868437
(Rücken)
Dora Prentke
Calvinstraße 8, 1000 Berlin 21
Tel. 3936108
(Steffen)
Hans Joachim Teymann, Dipl.-Ing.
Rumeyplan 2, 1000 Berlin 42
Tel. 785 7553
(Riedel)
Michael Wagner, Dipl.-Ing.
Sesenheimer Straße 15,1000 Berlin 12
Tel. 3134733
(Bunsas t)
Rainer Wilke, Studienrat
Schönwalder Straße 23,1000 Berlin 65
Tel. 46134 58
(Wilke)
Denis Will, Dipl.-Ing.
Johann-Sigismund-Straße 11, 1000 Berlin 31
Tel. 8924622
(Gründahl)
Gertrud Will, Dipl.-Ing.
Johann-Sigismund-Straße 11,1000 Berlin 31
Tel. 8924622
(Gründahl)
Buchbesprechungen
Fritz Wegener: So lebten Ludwig Fritz Wegener, ein Berliner Kutschersohn, und Luise Lau, ein Landmädchen, bis zu ihrer Heirat, Berlin 1903. 1970. 52 S., 3 DM.
Ders.: So lebten wir 1913 bis 1933 in Berlin. 1971. 214 S., 11 DM.
Ders.: So lebten wir 1933 bis 1938 in Landsberg (Warthe). 1971. 117 S., 6 DM.
Ders.: So lebten wir 1938 bis 1945 in Dessau. 1972. 229 S., 11 DM.
Ders.: So lebten wir 1945 bis 1951 in Dessau und Berlin Ost/West. 1976. 259 S., 13 DM.
Ders.: Ahnenliste Wegener mit Exkurs: Die Lehmpfuhls, eine Schäferfamilie im Lande Lebus. 1985. 252 S.,
13 DM.
Selbstverlag Dr. Fritz Wegener, Ladenbergstraße 1, 1000 Berlin 33. Alle Hefte kartoniert, mit festem
Rücken, Format DIN A5, mit Abbildungen und Anmerkungen.
Es handelt sich um die Reihe A der familiengeschichtlichen Arbeiten unseres Mitgliedes Senatsrat a. D.
Dr. Fritz Wegener, von der soeben mit der Ahnenliste Wegener der letzte Band erschienen ist. (Die
Reihe B, auf die wir noch zurückkommen werden, behandelt die Vorfahren der aus der Charlottenburger
Familie Reimerdes stammenden Ehefrau des Verfassers.)
Die weit über die Familiengeschichte hinausgreifende Buchreihe verdient vorbehaltlose Zustimmung. Für
den Verfasser war die Beschäftigung mit der Geschichte seiner Familie nicht Selbstzweck. Er hat aus dem
zusammengetragenen Material wichtige Schlüsse gezogen und im Spiegel der Geschichte seiner Familie
ein Stück Heimat-, Orts-, Landes- und Zeitgeschichte lebendig gemacht. Einen besonderen Berlinbezug
haben die oben an erster, zweiter, fünfter und sechster Stelle genannten Bände. Der erste Band enthält eine
wirklichkeitsnahe Schilderung des Lebens hartarbeitender Menschen, der Eltern des Verfassers, in Berlin
und in der Neumark. Im zweiten Band schildert der Verfasser seine Kindheit in der Luisenstadt
(Kreuzberg). Wir lernen hier, wie die Welt um den Moritzplatz vor dem Ersten Weltkrieg und im Ersten
Weltkrieg einem Arbeiterkind erschien. Dieser Band vermittelt auch wichtige psychologische und soziologische Erkenntnisse. Es ist dem Arbeitersohn, der 1918 mit vierzehn Jahren auf die gerade neugegründete
Berliner Begabtenschule kam, 1924 die Reifeprüfung ablegte, anschließend als Werkstudent Volkswirtschaft studierte und magna cum laude zum Dr. rer. pol. promoviert wurde, zunächst nicht leicht gefallen,
sich in einer für ihn fremden, „vornehmen" Welt zurechtzufinden. Die sozialen Klassen waren vor sechzig
Jahren durchaus Realitäten, getrennt durch Schranken, die man innerhalb einer Generation nicht so leicht
und vor allen Dingen nicht ohne Schmerzen überwinden konnte. Im fünften Band werden die in der
damaligen sowjetischen Besatzungszone sowie in Ost-Berlin verlebten ersten Nachkriegsjahre geschildert,
in denen der Verfasser sich mit den verschiedensten Tätigkeiten durchschlug, bis sich die vielköpfige
Familie 1951 nach West-Berlin absetzen konnte. Der soeben erschienene sechste Band enthält nicht nur die
293
komplette Ahnenliste, sondern im Geflecht mit ihr in einem hundertseitigen Textteil „Bilder aus der
deutschen Vergangenheit", orts-, zeit- und kulturgeschichtlich Interessantes, das im Zusammenhang mit
den erfaßten Vorfahren erforscht werden konnte.
Die in jeder Hinsicht hervorragende, in einer klaren Sprache geschriebene, mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und in vorbildlicher Weise mit Anmerkungen, Quellen- und Literaturangaben sowie Registern
versehene Buchreihe ist ein glänzendes Beispiel für die Möglichkeiten genealogischer Forschung: Die
Geschichte einer einzigen Familie kann - wie hier - ein wichtiger Beitrag zur Orts-, Heimat- und
Zeitgeschichte sein.
Dr. Otto Uhlitz
Denkmal Berlin. 28 Zeichnungen Berliner Bauten (vom Schloß Charlottenburg bis zur Berliner Mauer)
von Kurth Thiede. Stadthaus Verlag, Schudomastraße 50, 1000 Berlin 44. September 1984.
Der pensionierte Architekt Kurth Thiede (Jahrgang 1904) hat sich die Aufgabe gestellt, die Baukunst
Berlins mit dem Zeichenstift festzuhalten. Als das Berliner Stadtschloß abgerissen wurde und mit dem Bau
der Mauer weitere historische Gebäude fielen, hatte er sich entschlossen, die noch vorhandenen Baudenkmäler Berlins zu zeichnen. Zunächst stellte er seine Arbeit unter das Motto „Die Mauer mit
nahestehenden Bauten von Kreuzberg bis zum Reichstag". Diesen 70 Stadtansichten ließ er 101 Bilder von
Baudenkmälern „Vom Reichstag bis zum Charlottenburger Schloß" folgen. Standbildern historischer
Persönlichkeiten im Tiergarten sind 39 Bilder gewidmet; Thiedes letzte Arbeiten umfassen alte Bauwerke
im früheren Rixdorf. Die hier vorliegende Mappe bietet einen guten Querschnitt durch das Schaffen des
Künstlers und bringt Beispiele aus den von ihm behandelten Gebieten diesseits der Mauer.
SchB.
Nikolas von Safft: Haltestellen des Lebens. S-Bahnhöfe in West-Berlin. 92 Seiten, 75 farbige Abbildungen,
14,80 DM.
Gemalte Illusionen. Wandbilder in Berlin. Herausgegeben von Gritta Hesse. 158 Seiten, 19,80 DM.
Jürgen Spohn: Kommen und Gehen. Treppenhäuser in Berlin. 107 Seiten, 19,80 DM.
Arnulf Kutsch und Hans Bohrmann: Berlin zu Kaisers Zeiten. Eine historische Foto-Dokumentation.
224 Seiten, 16,80 DM.
Die bibliophilen Taschenbücher Nr. 324, 384, 395, 398. Harenberg Kommunikation, Dortmund
1982/1983.
1838 wurde die erste Eisenbahnstrecke Preußens zwischen Berlin und Potsdam eröffnet. Die Berliner
Stadtbahn folgte 1882. Die erste elektrisch betriebene Versuchsstrecke entstand 1900 auf der Wannseebahn. Das Steckennetz der Reichsbahndirektion Berlin belief sich 1939 auf 1185 km, davon 536 km für die
S-Bahn. Bis zum 25. April 1945 fuhr die S-Bahn, die am 6. Juni 1945 den Verkehr wieder aufnahm. 80 ihrer
Viertelzüge bildeten den Anfang für die polnische Staatsbahn. - Die Aufnahmen dieses Bandes sind von
1978 an entstanden. Nikolas von Safft schreibt: „Ich wäre glücklich, wenn sie eines Tages nur mehr als
historische Dokumente gelten könnten ... dann nämlich, wenn die S-Bahn wieder wichtigstes Verkehrsmittel von Berlin ist." Bis auf den Superlativ ist die Hoffnung inzwischen in Erfüllung gegangen. Die
Abbildungen belegen die Vielfalt der Baustile. Das Datum der Errichtung oder der Eröffnung ist jeweils
mitgeteilt worden. Zu den Olympischen Spielen 1936 wurde nicht der Bahnhof Olympiastadion, sondern
Reichssportfeld eröffnet.
Die amerikanische „Street-Art"-Bewegung hat ihre Vorläufer in der mexikanischen Monumentalmalerei
und in den Wandbildern des Förderungsprogramms für Künstler zur Zeit des New Deal. In Berlin hat sich
die Stadtbemalung erst spät, aber mit erstaunlicher Vehemenz durchgesetzt. Die Zahl spontaner Malereien
ist groß und wächst, ihre technische Qualität ist aber häufig schlecht und die Lebensdauer kurz. In
Ost-Berlin ist man bei den Wandbildern vom erzieherischen Element zu einer (unverbindlich) freien
Themenwahl übergewechselt. Die Herausgeberin, Diplom-Bibliothekarin an der Amerika-Gedenkbibliothek, erklärt, auf vielfältige Weise ließe sich aus den Wandbildern ablesen, was die Berliner heute bewegt.
Im weitesten Sinne werden Illusionen widergespiegelt. Man darf gespannt sein, wie sich die Wandbilder in
den kommenden Jahren entwickeln werden. - Nicht nur ganze Fassaden werden auf den Farbfotos der
insgesamt 65 Objekte wiedergegeben, ebenso bemalte Türen oder Wandstreifen. Beliebtes Objekt ist auch
die Mauer. Der Standort wird in der Bildunterschrift mitgeteilt, die Auftraggeber reichen vom Land Berlin
bis zu Hausbesetzern. Auch Hausbesitzer sind darunter, so Bernhard Koslowski mit dem Till-Eulenspiegel-Motiv in der Glasgower Straße 31-33. - Das im Anhang abgedruckte Verzeichnis der Wandbilder
in Berlin ist von der Amerika-Gedenkbibliothek auch separat herausgegeben worden, die gleichfalls eine
Literaturauswahl „Wandmalerei heute und ihre Vorgeschichte" vorgelegt hat.
294
Jürgen Spohn, Jahrgang 1934, ist Professor für visuelle Kommunikation und Grafik-Design in Berlin. In
mehr als zwei Jahrzehnten ist er dieser Stadt auch mit seiner Kamera nähergekommen. Die von ihm zu
diesem Buch vereinten 100 Treppenhäuser sind vor allem im Westen der Stadt anzutreffen, selbst wenn die
Aussage bezweifelt werden muß, daß die „Boombauern... ihre Milliönchen in repräsentative Wohnkultur
investierten, z.B. ... in den Kurfürstendamm-Nachbarschaften". In den Treppenhäusern, „Nahtstelle
zwischen Drin und Draußen, zwischen Ein und Aus", faszinieren nicht nur die Facettenspiegel, die den
Luftkrieg überstanden, sondern auch Messingtürklinken, Schlösser und gedrechselte Treppengeländer, bis
diese von Bubenhand demontiert und auf dem Trödelmarkt versilbert werden. Mit den Trabantenstädten
hält es der Autor nicht - „vorprogrammierte (sie) Slums" nennt er sie und setzt ihnen seine Aufnahmen von
Treppenhäusern aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entgegen. Über deren Standort und Baujahr
erfährt man nichts. Nur einmal unterrichtet ein stummer Portier, daß es sich um das Haus Mehringdamm
Nr. 50 handelt.
„Berlin zu Kaisers Zeiten" wird in 107 Fotografien gezeigt, Bahnhöfe, Schulen, Museen, Postgebäude,
Kirchen, Verwaltungsgebäude, aber auch Wohnhäuser und Villen. Die als Lichtdruck reproduzierten
Fotografien Wilhelm Wickes aus Groß-Lichterfelde wurden von ihm im Selbstverlag veröffentlicht und
dienten den Architekturstudenten als Anschauungsmaterial. Die Herausgeber haben jeweils die Straße
aufgeführt, an der das Gebäude lag, und recherchiert, wann und von wem es errichtet wurde. Auch das
Schicksal der Bauten, etwa zerstört oder abgebrochen, wird mitgeteilt. Ein Register der Architekten und
Baumeister sowie ein Gebäuderegister sind ein gutes Hilfsmittel. Da auf historisch bedeutende und
deswegen vielfach fotografisch festgehaltene Bauten verzichtet wurde, aber auch Fabrikgebäude, Brücken
usw. vollständig fehlen, ist die Auswahl der von Wilhelm Wicke fotografierten Gebäude nicht repräsentativ. Aber auch so gewinnt das Berlin der Kaiserzeit Konturen.
H. G. Schultze-Bemdt
Eingegangene Bücher
(Berlinliteratur, Besprechung vorbehalten)
Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler Berlin/DDR, Potsdam. 524 Seiten, mit zahlreichen Grundrissen und Plänen, Ganzleinen, 42 DM.
Bildhandbuch: Berlin, Mark Brandenburg. 3., verbesserte Auflage, 100 Seiten Text, 16 Farbtafeln, 368
ganzseitige Bilder, Ganzleinen, 45 DM.
R. Handrick: Das alte Potsdam heute. 18 Farbaufnahmen, hrsg. im Henschelverlag, Kunst und Gesellschaft, DDR, 7,50 M.
Horst Krüger: Der Kurfürstendamm. Glanz und Elend eines Boulevards. Hoffmann und Campe Verlag,
120 Seiten, davon 80 Seiten Bildteil, gebunden, 28 DM.
Die Fahrzeuge der Deutschen Reichsbahn und der Berliner Stadtbahn im Bild. Eine von 1930 bis 1938
erschienene Schriftenreihe, hrsg. von Hermann Maey. Steiger Verlag, 1982, Ganzleinen, 230 Seiten,
250 Abbildungen, 58 DM.
1888. Ein deutsches Bilderbuch. Rembrandt Verlag GmbH, 1981, gesammelt und erläutert von Klaus
J. Lemmer. 124 Seiten, mit 96 Abbildungen, 34,80 DM.
Gültekin Emre: 300 Jahre Türken an der Spree. Ararat Verlag, 1983, 96 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen.
Alfred Dreifuss: Deutsches Theater in Berlin. Fünf Kapitel aus der Geschichte einer Schauspielbühne.
Henschelverlag, Berlin 1983.
Joachim Günther: Es ist ja wie verreist... Berliner Spaziergänge. Henssel Verlag.
Der Baum der Liebe. Liebesseufzer auf Neuruppiner Bilderbogen. Hrsg. von L. Riedel und W. Hirte. Arani
Verlag.
H. Schirmag: Albert Lortzing. Ein Lebens- und Zeitbild. Henschelverlag, Kunst und Gesellschaft, Berlin
1982.
Klaus Scholder: Die Mittwochsgesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932-1944. Verlag
Severin und Siedler, 1982.
Berlin. Von der Frontstadt zur Brücke Europas. Von Rainer Hildebrandt. Verlag Haus am Checkpoint
Charlie.
Machtergreifung Berlin 1933. Stätten der Geschichte Berlins, Bd. IL Rembrandt Verlag, Berlin 1982.
295
Tagesordnung zur Ordentlichen Mitgliederversammlung
1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und des Bibliotheksberichtes.
2. Bericht der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer.
3. Aussprache.
4. Entlastung des Vorstandes.
5. Wahl des Vorstandes.
6. Wahl von zwei Kassenprüfern und Bibliotheksprüfern.
7. Verschiedenes.
Anträge aus dem Kreis der Mitglieder sind bis zum 10. Mai 1985 der Geschäftsstelle einzureichen.
Veranstaltungen im II. Quartal 1985
1. Sonnabend, den 27. April, 18.00 Uhr: In Verbindung mit der Hugenottischen Mittwochsgesellschaft im Hinblick auf die Aufnahme der Hugenotten in Brandenburg durch den Großen
Kurfürsten Festveranstaltung im Hotel Berlin, 1000 Berlin 30, Kurfürstenstraße. Es spricht
Herr Hans Wagner, Kassel, über „Hugenotten in aller Welt - Wann, weshalb und wohin
fuhren sie?" Menüpreis 20 DM. Schriftliche Anmeldungen erbeten an Frau Erna Bailly,
Klosterstraße 33,1000 Berlin 20, bis zum 24. April 1985.
2. Sonntag, den 5. Mai 1985,10.00 Uhr: „Vom südlichen Pankow zur nördlichen Oranienburger
Vorstadt - die begrünte Weddinger Panke". Leitung der Führung: Herr Joachim Hans
Ueberlein. Treffpunkt: Wollankstraße/Nordbahnstraße (S-Bhf. Wollankstraße). Endpunkt:
U-Bhf. Reinickendorfer Straße. Sonstige Fahrverbindungen Bus 70, mit kurzem Fußweg
Bus 61.
3. Dienstag, den 14. Mai 1985, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Dr. Gero Kirchner:
„Spaziergänge in der Priegnitz, dem Havelland und dem Fläming". Bürgersaal des Rathauses
Charlottenburg.
4. Dienstag, den 4. Juni 1985, 19.30 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung, Bürgersaal des
Rathauses Charlottenburg. (Die Tagesordnung ist vorstehend abgedruckt.)
5. Dienstag, den 25. Juni 1985,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Michael Seiler: „Neuer
Garten, Paretz, Pfaueninsel - aus der Geschichte eines Landschaftsgartens". Bürgersaal des
Rathauses Charlottenburg.
Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19.
Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33,1000 Berlin 31, Telefon 32328 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
296
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Fachabt. der Berliner Stadtbibliothek
A 1015 F X
MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
81. Jahrgang
Heft 3
Oberpfarrer Dressel
Juli 1985
PJie Tagebücher und Chroniken des Charlottenburger Pfarrers
Johann Christian Gottfried Dressel
Von Henrike Hülsbergen
Im Rahmen der Vorbereitungen zur 750-Jahr-Feier Berlins wird eine umfangreiche Bibliographie zur Geschichte Charlottenburgs erstellt. Zu den wichtigsten noch aufzuarbeitenden
Quellen zur Frühgeschichte der Residenzstadt gehören die Chroniken und die Tagebücher des
Johann Christian Gottfried Dressel, Pfarrer der Gemeinde in Charlottenburg in den Jahren
von 1778 bis 1824.'
Die in den Archiven von Berlin (West) vorhandenen Aufzeichnungen weisen Dressel als einen
kritischen Zeitgenossen aus, der über das Leben in seiner Gemeinde, seine Amtszeit und zur
Geschichte Charlottenburgs ausführlich, teilweise anekdotisch, aber historisch zuverlässig
berichtet.
Dreizehn Jahre nach seinem Amtsantritt, 1791, hat Dressel mit seinen Lebensbeschreibungen
begonnen, die sechs Bände umfassen. Der dritte Band führt den Titel „Lebensbeschreibungen
oder vielmehr Tagebuch". Ein weiterer siebenter Band ist von seinem Enkel Johann Gustav
Dressel und dessen Sohn Johann Georg Dressel als Weiterführung der Familiengeschichte
geschrieben worden.2 Die beiden ersten Bände der Dresseischen Lebensbeschreibungen umfassen die Jahre bis zu seinem Amtsantritt in Charlottenburg im Jahre 1778. Der dritte Band
behandelt den Zeitabschnitt bis 1795, und die drei letzten Bände erstrecken sich bis in das Jahr
1824.3 Die ersten beiden Bände der Tagebücher befinden sich in der Verwaltungsbücherei des
Bezirksamts Charlottenburg. Über den Verbleib der übrigen fünf Bände werden Nachforschungen angestellt.
Im Jahre 1813 ergeht ein Befehl der Regierung Friedrich Wilhelms III. an alle Geistlichen, „die
Tagesgeschichte jedes Ortes aufzuzeichnen und für die Nachwelt aufzubewahren" .4 Da Dressel
auf seine Tagenbuchaufzeichnungen zurückgreifen kann, fällt es ihm nicht schwer, innerhalb
von zehn Tagen die Pfarrchronik niederzuschreiben. Schon der Titel dieser Pfarrchronik weist
auf das konzeptionell weitfassende historische Anliegen und über den engen Rahmen einer
reinen Gemeindegeschichte hinaus: „Die Geschichte Charlottenburgs von der Erbauung dieser
Stadt an bis auf die jetzigen Zeiten, besonders was das Kirch- und Schulwesen betrifft". Das
Original der Pfarrchronik, die bis in das Jahr 1813 reicht, befindet sich im Besitz der Luisengemeinde. Eine Kopie des Originals weist das Magazin der Stadtbücherei Charlottenburg auf.5
Mit der Neubearbeitung der Pfarrchronik, der sogenannten Rathauschronik, die Dressel auf
Wunsch des Magistrats verfaßte, wird schon im Titel seine Intention deutlich, die Geschichte
der Gemeinde mit der Stadtentwicklung Charlottenburgs zu verknüpfen: „Aufgezeichnete
Nachrichten vom Ursprünge, Ausbau und Vergrößerung des Königlichen Schlosses und der
Stadt Charlottenburg, gesammelt aus Rathäuslichen Acten und eigenen Erfahrungen, vom
zeitigen Oberprediger 1816 zu Charlottenburg, Johann Christian Gottfried Dressel". Dressel
hat die langatmige Einleitung der Pfarrchronik gekürzt und die Rathauschronik bis ins Jahr
1817 vervollständigt.6 Das Original der Rathauschronik liegt in der Verwaltungsbücherei, eine
maschinenschriftliche Kopie mit einem Registeranhang befindet sich im Bestand der Stadtbücherei Charlottenburg. Das Geheime Staatsarchiv Berlin Dahlem weist Schriften Dresseis
zum Schul- und Armenwesen auf.7 Das Archiv der Luisengemeinde besitzt die Kirchenbücher
aus der sechsundvierzigjährigen Amtszeit Dresseis, die mit vielen persönlichen Anmerkungen
versehen sind.8
298
Johann Christian Gottfried Dressel wird am 22. September 1751 in Krossen als Sohn des
Schulrektors Johann Christoph Dressel geboren. Er erhält, wie es in der Familie Tradition ist,
eine Ausbildung für das Lehr- und Pfarramt. Nachdem er 1773 in Werder an der Halle die
Schule geleitet hat, tritt er in Biesenthal eine Stelle als Rektor an. Nach dem Tode seiner Frau
verheiratet er sich dort in zweiter Ehe mit der Tochter des Amtsmannes Bötticher, mit der er
elf Kinder hat, wovon sieben überleben. Sein Schwager, der Kriegsrat und spätere Kammerdirektor Bötticher, empfiehlt Dressel, sich um die Stelle als Prediger in Charlottenburg zu
bewerben. Er tritt denn auch 1778 die Nachfolge des Pfarrers Eberhard an, eines Freundes und
Zeitgenossen der Aufklärer Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai, der nach vierjähriger
Amtszeit in Charlottenburg einem Ruf als Professor der Philosophie nach Halle folgt.9 1802
wird J. Ch. G. Dressel zum Oberprediger der Stadt Charlottenburg ernannt, nachdem er beim
Magistrat den Antrag auf Einstellung eines zweiten Predigers mit der Begründung der Arbeitsüberlastung gestellt hat. Sein Schwiegersohn, Rektor Engel, wird zum zweiten Prediger ernannt.10 Im Frühjahr 1814 wird Dressel zum Stadtverordneten gewählt, für kurze Zeit übernimmt er das Amt des Stadt verordneten Vorstehers." Am 16. Oktober 1824 stirbt er während
des Umbaus der Kirche, den er selbst noch in die Wege geleitet hat.
Als J. Ch. G. Dressel vor seinem Amtsantritt seinen Vorgänger Eberhard besucht, um Haus
und Pfarrstelle kennenzulernen, beseelt ihn sofort der Wunsch, „Besitzer dieses Hauses ... zu
werden".12 Bevor sich sein innigster Wunsch erfüllt, muß er noch gegen einige Mitbewerber
bestehen, vor allem gegen den von der Königin Elisabeth Christine begünstigten Feldprediger
Steinhardt. Aber weder die Protektion der Königin noch die Tatsache, daß Steinhardt bei
seiner Probepredigt „gewaltig schrie"13, nützten diesem. Dresseis Predigt gefällt dem Magistrat
besser, obwohl er „die ganze Predigt über auf Zehen stehen" muß, da der Küster es versäumt
Luisenkirche, 1826
299
hat, ihm einen Tritt hinzustellen, den sein ihn um einige Längen überragender Vorgänger
Eberhard nicht gebraucht hat. „Da es nun überaus warm an dem Tage war, so kostete durch
diese Anstrengung im Stehen auf den Zehen den Dressel viel Schweiß."14 Der Inhalt der Predigt
und nicht zuletzt seine Verdienste und Kenntnisse als Schulmann geben den Ausschlag für
Dresseis Ernennung. Am 3. Oktober 1778 bezieht er das Charlottenburger Pfarrhaus, und
binnen kurzem fühlt er sich „mit Leib und Seele Pfarrer und der Gemeinde verbunden".15
Die Theologen in Preußen zur Zeit Dresseis üben einen entsagungsvollen Beruf aus. Lange
Wartezeiten bis zum Erhalt einer Pfarrstelle, die dann häufig karg ausgestattet ist, und das
niedrige Einkommen zwingen die Pfarrer, sich entweder nach Nebeneinkünften umzusehen
oder den Lebensunterhalt durch häusliche Landwirtschaft etwas anzuheben.16 Obwohl die
Charlottenburger Pfarre noch zu den einträglicheren gehört, reichen die Einkünfte von
1000 Talern jährlich (1801) selbst bei größter Sparsamkeit kaum zum täglichen Leben aus. So ist
auch Dressel gezwungen, sich Nebeneinkünfte zu erschließen, wobei er sich als ausgesprochen
findig erweist, was ihm den Ruf einträgt, er sei den materiellen Dingen durchaus nicht
abgeneigt.17 Er unterscheidet sich von den durchschnittlichen preußischen Pfarrern, er ist
gebildet, belesen, den geistigen Zeitströmungen, dem aufklärerischen Gedankengut aufgeschlossen.18 So schreibt Ernst Kaeber über Dressel: „... der einzige Repräsentant höherer
Bildung im Charlottenburg des 18. Jahrhunderts, der Oberpfarrer Dressel, wurzelte mit seinen
Interessen ganz in der Hauptstadt, wurde Anhänger der in ihr zur Herrschaft gelangten Lehren
der philosophischen und theologischen Aufklärung."19 Nach Gundlach verharrt Dressel nicht
in seiner ursprünglich orthodox-protestantischen Religionsauffassung, sondern macht sich die
christliche Lehre in rationalistischer Auffassung zu eigen.20 Diese aufklärerische Religionsauffassung läßt ihn den unter Friedrich Wilhelm II. als Staatsminister und Chef der geistlichen
Angelegenheiten eingesetzten ehemaligen Prediger Johann Woellner heftig kritisieren. 1788,
kurz nach seiner Amtseinführung, hat Woellner ein Religionsedikt erlassen, das dem Vordringen aufklärerischer Gedanken in der Kirche Einhalt gebieten und - so Dressel - „die Orthodoxie unter den Geistlichen wieder herrschend machen" soll.21
Dressel setzt sich selbstbewußt über das Woellnersche Religionsedikt hinweg, das vorgesehen
hat, die alten orthodoxen Agenden wieder einzuführen, indem er seine selbstverfertigte Agende
und sein Lehrbuch der Religion beibehält. Die von den preußischen Herrschern, wenn auch mit
unterschiedlicher Intensität geförderte konfessionelle Toleranz und der religiöse Minderheitenschutz werden von Dressel täglich und tätig gelebt. Er zählt Juden zu seinem Freundeskreis,
ungeachtet der Tatsache, daß Charlottenburg Juden zeitweilig nicht einmal für eine Nacht
Unterkunft gewährt hat.22 Er spricht sich entschieden gegen „Proselytenmacherei"23 aus - er
toleriert die Katholiken ebenso wie die Reformierten in seiner Gemeinde. Daneben fördert er
alles, „was zur Hebung des gottesdienstlichen Lebens beitrug".24 Bereits im Jahre 1716 hat die
Einweihung der ersten Kirche zu Charlottenburg stattgefunden, aber erst 1780 kann Dressel bei
dem Brandenburger Orgelbauer Grünberg mit Hilfe von Spendengeldern eine Orgel bestellen.
Auch die Anlage eines Friedhofs und den Neubau des Kirchturms verdankt Charlottenburg
seinem unermüdlichen Bemühen. 1814 muß der Kirchturm, da er beim Läuten bedenklich
schwankt, abgetragen werden. Um die Gunst Friedrich Wilhelms III. für die Finanzierung des
Schinkelschen Entwurfs eines neuen Kirchturms zu gewinnen, führt Dressel die vom König
selbst entworfene und von den kirchlichen Parteien allseits abgelehnte Agende in Charlottenburg ein. Im Jahre 1822 kann mit dem Bau des Kirchturms begonnen werden.25
Die äußerst rege Tätigkeit, die Dressel in seinem Amt zum Wohl der Gemeinde entfaltet,
erstreckt sich auch auf das Schulwesen.
300
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird erstmalig die allgemeine Schulpflicht in Preußen eingeführt.26 Die inhaltliche und organisatorische Aufsicht über das niedere Schulwesen übernehmen die zuständigen Pfarrer. Häufig aber erteilen Dorfküster oder halbwegs lese- und
schreibkundige Dorfbewohner den Unterricht. Dressel findet bei seiner Pfarreiübernahme die
Charlottenburger Schulverhältnisse „in der elendesten Verfassung" vor.27 Die Kinder sind so
unwissend, daß er glaubt, „unter Heyden gerathen zu seyn".28 Die beengten Raumverhältnisse
fördern weder den regelmäßigen Schulbesuch noch die Durchführung eines ordentlichen
Unterrichts. Die Zahl der schulpflichtigen Kinder ist 1769 bereits auf vierhundert angestiegen.
Friedrich der Große hat seiner Residenzstadt die finanzielle Unterstützung zum Bau eines
Schulhauses verweigert, da er sich infolge seiner Kriege zu äußerster Sparsamkeit gezwungen
sieht. So finanziert Dressel den Bau mit Geldern aus der Lützower Kirchenkasse und gewinnt
den Magistrat der Stadt, ihm Baufreiheitsgelder zu gewähren.29 Schließlich wird 1786 das erste
Charlottenburger Schulhaus, das heute noch in der Gierkezeile steht, eingeweiht. Auch auf
pädagogischem Gebiet erweist sich Dressel als Reformator.30 Er zeigt sich mit den wichtigsten
pädagogischen Schriften seiner Zeit vertraut, mit den Werken Pestalozzis und Eberhard von
Rochows „Unterricht der Jugend auf dem Lande".31
Dressel bekämpft die „von alten Frauen und liederlichen Kerls besetzten und dirigierten
Winkelschulen" ,32 Im Jahre 1801 unterstützt Friedrich Wilhelm III. das Vorhaben der kurmärkischen Kammer, in fünf Städten, darunter auch in Charlottenburg, eine Industrieschule
einzurichten. Dressel spricht sich in der Rathauschronik gegen diese Verbindung von Lern- und
Arbeitsschule auf dem Dorf aus, denn „auf Dörfern brauchen Eltern ihre Kinder nöthiger...
Wolle und Flachs zu spinnen lernt jede Mutter ihre Kinder, und die armen Kinder kommen
früh genug ans Wollrad ... Zur Arbeit anzuwohnen ist wohl gut für die Kinder aber ihren
Körper durch freye Bewegung in der Luft zu stärken ist wohl auch nicht übel... es ist die Zeit
der Kindheit der sich der Arme in seinem Alter mit Freude erinnert."33 In den späteren Jahren
seiner Amtszeit setzt sich Dressel erfolgreich für die Einrichtung einer Abendschule für
arbeitende Jungen ein, für die Aufhebung des Schulgeldes und für die Finanzierung der
Lehrergehälter aus den Einkünften der Stadt. Neben der Neuordnung der Schulverhältnisse
verbessert er auch die städtische Armenpflege. Er erreicht durch den Bau eines Hospitals, daß
Altersversorgung und Krankenpflege unter einem Dach möglich werden.34
Neben dem energischen Eintreten für das Wohl seiner Gemeinde verfolgt Dressel mindestens
ebenso tatkräftig seine eigenen Interessen, die sich nicht immer mit der Würde seines Amtes
vereinbaren lassen. Er läßt keine Gelegenheit ungenutzt, seine Amtseinkünfte durch Nebeneinnahmen aufzubessern, nimmt Sommergäste in seinem Haus auf und erbaut in späteren Jahren
eine Pension für Sommergäste im Pfarrgarten.35 Als Spekulant und Makler bringt es Dressel zu
beachtlichem Wohlstand. Im Jahre 1802 verwaltet er zunächst das Eckardsteinsche Besitztum.
Nach dem Tode des Freiherrn von Eckardstein pachtet er die zum Besitz gehörende Meierei
und betreibt sie auf eigene Rechnung. Über die Lauterkeit der Leitung einer Milchwirtschaft
durch einen Prediger befallen ihn denn doch einige Zweifel, „ich muß gestehen, daß ich diese
meine Dienstfertigkeit etwas unschicklich bei meinem Amte selbst finde", die er aber sofort mit
der Rechtfertigung ausräumt, daß er sich am Ende nach seinem Tode „lieber den Vorwurf der
allzu großen Tätigkeit machen" lassen will, „als mein Grab mit den Tränen der Kreditoren
benetzen lassen, denen ich meine Schulden nicht bezahlen konnte".36
Die hier ausgewählten, kurz skizzierten historisch-literarischen Quellen zeigen deutlich, daß die
Tagebücher und Chroniken des Johann Christian Gottfried Dressel nicht nur „eine unschätz301
bare Quelle für die Erkenntnisse der Kulturzustände"37 Charlottenburgs sind, sie spiegeln auch
das Bild eines engagierten, eng mit den Problemen und dem Wohl der Gemeinde verbundenen
Pfarrers wider. Weder Rücker, der Dressel als einen „rastlosen Pionier für Sitte und Kultur"38
idealisiert, noch Gundlach, der ihm eine fast ausschließlich materielle Gesinnung unterstellt39,
werden dem eigenwilligen, engagierten und auch widersprüchlichen Prediger gerecht. Er
handelt nicht aus Opportunitätsgründen 40 , vielmehr erweist er sich während seiner Amtszeit als
mutiger Streiter wider den orthodoxen Zeitgeist. Er zeigt sich dem aufklärerischen Gedankengut gegenüber nicht nur aufgeschlossen, sondern verwirklicht die reformpädagogischen und
theologischen Ideen zielstrebig in seiner Charlottenburger Gemeinde. Trotz mancher langatmigen Ausführungen lassen sich die Chroniken Johann Christian Gottfried Dresseis gerade
wegen ihrer Widersprüchlichkeiten und Originalität gut lesen. Mit seinen umfangreichen
Aufzeichnungen gehört Dressel aber auch „in die erste Reihe der Geschichtsschreiber des
Berliner Raumes".41 Denn er hat nicht nur das Aufblühen Charlottenburgs und das Leben in
der Gemeinde festgehalten, er hat auch zu Staats- und weltpolitischen Ereignissen seiner Zeit
Stellung genommen.
Die 750-Jahr-Feier Berlins ist der gegebene Anlaß, die Chroniken und Aufzeichnungen des
Charlottenburger Pfarrers Johann Christian Gottfried Dressel zu überarbeiten, um sie einer
breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Anmerkungen
1 So schreibt W. Gundlach: „Johann Christian Gottfried Dressel müßte in jeder Geschichte der Stadt
Charlottenburg, auch wenn er sich um ihr Schulwesen und ihr Armenwesen nicht so hervorragende
Verdienste erworben hätte, gewürdigt werden, weil er von seinem Pfarrhause aus das Leben und
Treiben in der Stadt fast ein halbes Jahrhundert hindurch beobachtet... hat." In: Gundlach, Wilhelm,
Geschichte der Stadt Charlottenburg, Bd. 1, Berlin 1905, S. 225 (im folgenden: Gundlach, Geschichte,
Bd.l).
2 Diese Information habe ich im Laufe meiner Nachforschungen über den Verbleib der Tagebücher von
dem letzten direkten Nachkommen J. Ch. G. Dresseis, Frau Dorothea Dressel, erhalten.
3 „... und die drei letzten Bände bieten den ungeänderten, desto wertvolleren Rohstoff der selbst auf
Witterung und Kornpreise sich einlassenden Tagebuchaufzeichnungen, welche bis zum Ende des
Jahres 1823 sich erstrecken - die Jahreszahl 1824 ist von Dresseis Hand noch geschrieben ..."
Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 228.
4 Ders., a.a.O., S.229.
5 Eine Bearbeitung der Pfarrchronik ist 1877 mit angemessenen Kürzungen im IV. Jahrgang des „Neuen
Charlottenburger Intelligenzblattes" in einundsechzig Abschnitten abgedruckt worden. Gundlach,
Geschichte, Bd. 2, S. 388.
6 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 229, Bd. 2, S. XVIII. Kraatz Wilhelm, Geschichte der Luisengemeinde
zu Charlottenburg. Ein Rückblick auf zwei Jahrhunderte, Charlottenburg 1916, S. 1/S. 80.
7 Geheimes Staatsarchiv, Berlin-Dahlem, Pr. Br. Rep. 2B, Nr. 4898, J. Ch. G. Dressel, Zuschrift an
meine Gemeinde. Bei Gelegenheit eines neu erbaueten Schulhauses, Berlin 1786.
8 Siehe Eckelt, Klaus, Aus der Geschichte der Charlottenburger Luisenkirche und ihrer Gemeinde.
In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, Jg. 73, H. 1 (1977), S. 288.
9 Ders., a. a. O., S. 285. Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 206. Knobloch, Heinz, Herr Moses in Berlin. Ein
Menschenfreund in Preußen. Das Leben des Moses Mendelssohn, o. O., o. J., S. 220.
10 Rathauschronik, S.237. Kraatz, Wilhelm, Geschichte der Luisengemeinde, a.a.O., S.88.
11 Rathauschronik, S. 285-287. Kraatz, W., a. a. O., S. 79.
12 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S.226.
13 Rathauschronik, S. 106.
14 Ebenda, S. 109.
302
15 Eckelt, Klaus, a. a. O., S. 287.
16 Kirche und Schule als staatserhaltende Institutionen. In: Preußen. Zur Sozialgeschichte eines Staates.
Eine Darstellung in Quellen (Preußen - Versuch einer Bilanz, Bd. 3), bearb. von Peter Brandt, unter
Mitwirkung von Th. Hofmann und Reiner Zilkenat, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 152.
17 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 243.
18 „Die geringe theologische und menschliche Befähigung der durchschnittlichen Geistlichen war ein von
führenden Kirchenmännern bitter beklagter Mißstand." Kirche und Schule als staatserhaltende
Institutionen, a. a. O., S. 145.
19 Kaeber, Ernst, Vom Idyll zur Groß-Stadt. Eine Rede zur 250-Jahr-Feier Charlottenburgs. In: Der Bär
von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins 5 (1955), S. 9.
20 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 238. Vgl. auch: Kirche und Schule als staatserhaltende Institutionen,
a. a. O., S. 142 ff., weiter Heinrich, Gerd, Religionstoleranz in Brandenburg-Preußen. Idee und Wirklichkeit. In: Preußen - Beiträge zu einer politischen Kultur (Preußen - Versuch einer Bilanz, Bd. 2),
bearb. von Manfred Schlenke, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 62.
21 Rathauschronik, S.220. Das Woellner-Edikt gewährte den preußischen Herrschern in Fragen der
kirchlichen Inhalte und der religiösen Auslegung stärkere Eingriffsmöglichkeiten. Vgl. Schule und
Kirche als staatserhaltende Institutionen, a. a. O., S. 146.
22 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 238, Bd. 2, S. 363 und 393. Friedrich I. legte für Charlottenburg fest,
„... daß Reformatii und Lutherani ihre Gotteshäuser aufrichten ... Juden aber werden auf Ewig
hiervon ausgeschloßen und soll keiner derselben werden itzo noch künfftig darinnen zu wohnen oder
Gewerbe zu treiben verstattet werden." Aus Schultz, Ferdinand, Chronik der Residenzstadt Charlottenburg, Charlottenburg 1887, S. 85.
23 Rathauschronik, S. 127-129.
24 Kraatz, Wilhelm, Geschichte der Luisengemeinde, a. a. O., S. 79.
25 Rathauschronik, S. 289 f. Vgl. Kraaz, W., a. a. O., S. 46.
26 Kirche und Schule als staatserhaltende Institutionen, a. a. O., S. 160.
27 Rathauschronik, S. 147.
28 Neugebauer, Wolfgang, Schule und Stadtentwicklung. Zweieinhalb Jahrhunderte Schulwirklichkeit
in der Residenz- und Großstadt Charlottenburg. In: Ribbe, Wolfgang (Hrsg.), Von der Residenz zur
City, 275 Jahre Charlottenburg, Berlin 1980, S. 111.
29 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 209.
30 Neugebauer, Wolfgang, a. a. O., S. 110.
31 Ebenda, S. 110. Geschichte der Erziehung, Berlin (Ost) 1982,13. Aufl., S. 180 f.
32 Neugebauer, W., a. a. O., S. 114.
33 Rathauschronik, S. 224.
34 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 221.
35 Rathauschronik, S. 203. Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 230.
36 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 232 f.
37 Ebenda, S. 225.
38 Rücker, H., Joh. Christ. Gottfried Dressel. Ein Blatt aus der Vergangenheit Charlottenburgs. In: Der
Bär, Jg. 12, Berlin 1886, S. 242.
39 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S.243.
40 Ebenda.
41 Letkemann, Peter, Die Dresseische Chronik von Charlottenburg. In: Mitteilungendes Vereins für die
Geschichte Berlins, Jg. 72, H. 2 (1976), S. 166.
Anschrift der Verfasserin:
Henrike Hülsbergen, Beerenstraße 41,1000 Berlin 37
303
75 Jahre Gartenstadt Frohnau
Von Dr. Christiane K n o p
Wie Frohnau vor 75 Jahren gegründet wurde, ist anläßlich seiner Jubiläumsfeier im Mai 1985
vielfach erzählt worden.1 Die Rückbesinnung auf die Ortsteilgeschichte hat deutlich werden
lassen, daß Frohnau mehr noch als die südlichen und westlichen Villenvororte eine geplante
architektonische und gartenkünstlerische Einmaligkeit ist und bis auf einige häßliche Beispiele
der Zersiedlung im letzten Jahrzehnt so erhalten werden konnte. Darum hat auch seine
Bürgerschaft dieses Jubiläum besonders engagiert und dankbar ausgestaltet.
Das Gründungskonzept war durch das vom Fürsten Donnersmarck favorisierte städtebauliche „Projekt Freiluft" der Architekten Joseph Brix und Felix Genzmer vorgegeben. Von den
„Frohnauer [Bau-]Beschränkungen", die jede Art von Gewerbeeinrichtungen ausschlössen
und anfangs nur Einfamilienhäuser zuließen, ist viel berichtet worden, desgleichen von der
harmonischen Einfügung der mit vielen Bäumen bepflanzten Straßen ins wellige Waldgelände
sowie der Anlage der Schmuckplätze um das Ortszentrum am Bahnhof mit seinen Anlagen
samt Turm und den ersten Geschäftshäusern. Dabei ist erinnert worden an den intensiven
Werbefeldzug für die „steuerfreie Stadt" und an die vor der Besiedlung angelegten 40 km
granitgepflasterten Straßen.2 Das war eine hohe finanzielle Vorgabe aus Donnersmarckschem
Kapital, wie sie heute vergleichsweise undenkbar wäre. Berücksichtigt man ferner die von
Anbeginn an geplanten und vorfinanzierten sozialen Folgeeinrichtungen, wie Kirche, Schule,
Rathaus und Krankenhaus, zu denen der Fürst durch seine Immobilienfirma, die Berliner
Terrain-Centrale (BTC), den Anstoß gab, entsteht für den Chronisten eine gewisse Peinlichkeit: Der monarchischen und adligen Gesellschaft der Wilhelminischen Ära wird in ungewöhnlichem Maße Lob gezollt. Auch andere Besonderheiten, die den „Ortsteilforschern" zur Kenntnis gebracht wurden, verstärken diesen Zug.
Die Gründung Frohnaus weicht völlig vom Schema der Entstehung einer Gartenstadt ab. Als
1909/10 Mitglieder der „Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft e.V." englische Gartenstädte
besucht hatten, fanden sie dort nur zwei Typen vor, wie Hugo Nachtlicht 1910 in der „Bauwelt"
berichtete. Es war entweder die genossenschaftlich organisierte oder die Gartenstadt eines
Unternehmers (Lever/Port Sunlight), der das hineingesteckte Kapital in der intensivierten
Arbeitskraft seiner Werksangehörigen amortisiert sah. Eine dritte Möglichkeit wurde als
utopisch charakterisiert: „ein für die Idee begeisterter Großkapitalist, der ohne Aussicht auf die
Verzinsung die nötige Summe in das Unternehmen hineinsteckt". Das soziale und wirtschaftliche Verhalten des Fürsten Donnersmarck scheint dieser Utopie ziemlich nahegekommen zu
sein, so unglaublich dies auch erscheint. Über seine Motive kann heute nur spekuliert werden;
keine der gegebenen Deutungen trifft wohl ausschließlich zu. Freude an der Bodenspekulation
hat gewiß eine Rolle gespielt. Doch weist die Berufung des damals über Deutschland hinaus
bedeutenden Gartenarchitekten Ludwig Lesser darüber hinaus.3
Die Wiedergabe einer Ansprache, die der Fürst anläßlich der Ausschreibung des Wettbewerbs
vor den versammelten Städteplanern gehalten haben soll, hielten die Ortsteilforscher anfangs
für eine verehrungsvoll erfundene Legende, bis ihr Wahrheitsgehalt von einer Zeitzeugin
bestätigt wurde.4 „Hier bekommen Sie, meine Herren Baumeister, einen vielfachen Millionenauftrag. Platz ist reichlich da, noch dazu hüglige, schöne Landschaft mit alten Hochwaldbeständen. Geld ist da in Hülle und Fülle, und in der Nähe liegt die Riesenstadt mit den
berufsmüden Menschen. Zeigen Sie, was Sie gelernt haben! Bauen Sie eine Stadt, die so schnell
wächst, daß nicht zu viele Zinsen für all die Anlagen verloren gehen, die nun erst einmal
304
gemacht werden müssen. Man muß es dem ersten Gebilde von Ihrer Hand gleich ansehen
können, was das Ganze einmal werden soll."
Daß ihm ein ländlich anmutendes Ortsbild in Anpassung an moderne städtische Verhältnisse
vorschwebte, davon zeugt außer dem Werbespot seiner BTC „In der Stadt arbeiten und auf
dem Lande leben!" die Art, wie der zweite Ortskern, der sogenannte „Alte Gutshof' ausgestaltet wurde. Das war ein Wirtschaftshof für die Gartenverwaltung der BTC mit Ställen, Fuhrpark, Gespannen, Schmiede und Feuerwache, ferner die Villa für den Gartendirektor im
Forsthausstil (Ausführung von Heinrich Straumer).5
Selbst der Urenkel, Guidotto Graf Henckel Fürst von Donnersmarck, kann über die Beweggründe wenig aussagen und verweist nur auf das hohe Alter seines Vorfahren. Er brachte als
Achtzigjähriger Frohnau „auf den Weg". War er durch seinen Reichtum innerlich so unabhängig geworden, daß er es sich im Alter leisten konnte, etwas ganz Ungewöhnliches zu
schaffen, im Vertrauen darauf, daß seine Intentionen weiterwirken würden? Mit der Anlage des
Poloplatzes zog er vor 1914 Vertreter des Adels und der Hochfinanz zu Besuchen nach
Frohnau. Seine Anregungen für die Gartenstadt führte eine bürgerliche Einwohnerschaft
weiter.6
Dem Vorbild einer märkisch-ländlichen Bauweise paßten sich in allen Siedlungsphasen die
Villen an, die zuerst von Heinrich Straumer und Paul Poser nach englischem Muster gestaltet
wurden.7 Dort hatte man in Bedford Park und Letchworth zuerst mit diesen architektonischen
Elementen experimentiert. Später baute man in Frohnau in Anlehnung an die Neue Sachlichkeit, aber auch nach Architekturmustern, wie sie überall in Deutschland zu finden sind. Im
wesentlichen ist es qualitätsvoller Landhausstil.
Unterstützt vom Fürsten, führten die ersten Ansiedler, zusammengeschlossen im Grundbesitzerverein, ihre Selbstverwaltung durch, zunächst als Gutsbezirk, später als Ortsteil von GroßBerlin. Die junge Gartenstadt war eine glückliche Verbindung mit den umliegenden Dörfern
eingegangen; sie lieferten landwirtschaftliche Produkte und stellten Dienstleistungen für Hausund Gartenbau bereit und waren schließlich das landschaftlich reizvolle Umfeld. Frohnauer
Leben ordnete sich bis 1961 (Mauerbau) um die Markierungspunkte, die zu seinen „Mutterdörfern" führten, voran nach Stolpe, dessen Dorfkirche (Mutter-Parochie) man über eine
schöne Ahornallee durch die Felder erreichte. Ehe der von Berlin her Kommende Frohnau auf
der alten Reichsstraße 96 (Fernstraße an die Ostsee) erreichte, passierte er den Sandkrug in
Glienicke, eine alte Umspannstation für Pferdefuhrwerke; dann betrat er den Fürstendamm in
Frohnau unterhalb der hölzernen Glienicker Brücke, die Straumer entworfen hatte. Von
beiden Denkmälern zeugen heute nur Bilder und berichtete Erinnerungen. Die Brücke brannte
1945 ab, die Dörfer gehören zur DDR. Frohnau ist von drei Seiten durch die Mauer eingeschnürt; auch dies hebt es als eine Besonderheit von anderen Ortsteilen ab.8
War die Gründungsgeschichte ein Vorgang, den der Fürst und die ausführende BTC „nach
Plan" gestalteten, kamen nach 1920 (Eingemeindung nach Groß-Berlin) neue, verschiedenartige Kräfte ins Spiel, die seine Entwicklung weitertrieben: Die bauliche Entwicklung und
SiedlungsVerdichtung, die Erweiterung zur kirchlichen Verselbständigung beider Konfessionen, die Wirksamkeit des 1924 gegründeten Buddhistischen Hauses, die Entwicklung zum
Standort verschiedenartiger Schulen ist ein vielschichtiger Vorgang, der von neuen politischen
Voraussetzungen bestimmt wurde. Allerdings blieb bei allen Entscheidungen das Vorstellungsbild von der Gartenstadt immer wach.9 Auch die historisch-politische Entwicklung der
NS-Zeit und der Nachkriegsjahre kann hier nur gestreift werden; sie ist ausführlich dargestellt
worden.10
305
Es sei aber darauf hingewiesen, daß - wieder im Zusammenhang mit den Donnersmarcks sich Gegebenheiten aus der Gründerzeit zu besonderen Einrichtungen entwickelten, durch die
Frohnau von sich reden machte. Die erste ist das „Vereinslazarett Frohnau", das das Fürstenpaaar aus eigenen Mitteln unterhielt und persönlich führte." Die dabei gewonnenen sozialen
und medizinischen Erfahrungen münzte der Fürst 1916, jetzt 86jährig, in eine fortschrittliche
Idee um: die Stiftung einer Militärkuranstalt zur Rehabilitation langfristig Kriegsbeschädigter
mit modernster Therapie.'2 Er, der seit 1848 Herr eines Industrieimperiums und 1871 neben
Bleichröder Bismarcks Finanzberater gewesen war, hatte vorausberechnet, daß das Deutsche
Reich im Frieden Versorgungsansprüchen von solchen Ausmaßen nicht würde nachkommen
können, und sprang mit 1000 Morgen Wald und 3 Mio. Reichsmark aus eigenen Mitteln ein.
Der Plan ist bis 1919 nicht verwirklicht worden; das gestiftete Vermögen bildete aber den
Grundstock für die heutige Fürst-Donnersmarck-Stiftung zur Rehabilitation bewegungsgestörter Jugendlicher.
Auf einstmals Donnersmarckschem Gelände befindet sich die Invalidensiedlung, eine weitere
Frohnauer Sehenswürdigkeit. In ihr wird ein modernes Programm der Kriegsversehrtenfürsorge praktiziert. Mit der Tradition des friderizianischen Invalidenhauses in der Scharnhorststraße verbindet ihre Bewohner heute nicht viel mehr als der Name. In ihr formierte sich
aber im Dritten Reich ein wesentlicher Teil des Offizierswiderstandes, an dem ihr Kommandant Oberst Wilhelm Staehle und seine Frau maßgeblich beteiligt waren.13 Die Frohnauer
Jubiläumstage vom 10. bis 18. Mai 1985 lagen in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum 40. Gedenktag des 8. Mai 1945. Diese Rückbesinnung hat erneutes Fragen nach Anpassung und Widerstand evoziert; die Frohnauer wurden sich bewußt, daß bisher ein bedeutsames Ereignis
unbeachtet geblieben war. Deshalb haben Senat und Bezirksamt von Reinickendorf Gedenkfeiern in der Invalidensiedlung abgehalten; man beabsichtigt ferner, dort eine dauernde
Gedenkstätte für das Ehepaar Staehle zu errichten.
Frohnau ist ebenfalls oft als Wohnort der Künstler erwähnt worden. Viele haben ihn als
Lebensraum gewählt, weil das Wechselspiel von Zurückgezogenheit und Großstadtnähe
befruchtend auf ihre Kunstausübung gewirkt hat. Ein Beispiel mag für das Wirken vieler
stehen: das des Dichters Oskar Loerke, In seiner Erzählung „Maat" schildert er seine Ansiedlung in Frohnau im Jahre 1930: „Die dichten hohen Wälder des Berliner Nordens waren Wald,
als wir (den Ort) zuerst betraten, und haben sich jetzt in einen jungen Garten verwandelt."
Doch überhöht Loerke diese konkrete Schilderung Frohnaus in die Darstellung eines geistigen,
ja transzendenten Raumes; es gilt, in der Waldnatur die Zeichenhaftigkeit umfassenden Lebens
zu erkennen, nicht nur des menschlichen. „Sprachen unzähliger Leben umdrängen uns, und
wenn wir auf den Hochmut verzichten, sie menschlich zu deuten, so vermehren sie ihre
Vernehmlichkeit." Und er berichtet in dieser Erzählung, wie das kreatürliche Dasein sich im
Frohnauer Wald dem Werden und Vergehen hingibt „mit voller Lust und ganzer Angst, ohne
zu geizen und zu verschwenden."
Doch auch die „Arbeit der Großstadt nach ihrem rauhen Willen und Gesetz"14 hat er in
Frohnau getan. Er hat aufgrund seiner Position als Lektor im Fischer Verlag und als Sekretär
der Sektion Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste sein Frohnauer Haus zum
geselligen Ort gemacht, an dem sich bedeutende Geister wie Martin Buber, Thomas Mann,
Alfred Döblin, Gottfried Benn, Ricarda Huch und Renee Sintenis begegneten. Ernst Deutsch
hat in der alten Johanneskirche (Turnhalle) Loerkes Gedichte gelesen. Loerke hat sorgfältig
Tagebuch geführt. Die Notiz eines einzigen Tages bezeugt wie für viele andere Tage seine
intensive Tatkraft. Am 28. Dezember 1931 hat er unter Teilnahme von Prof. Julius Petersen im
Auditorium Maximum über Formprobleme der Lyrik gesprochen, mittags eine Pressekonfe306
Ältere Frohnauer berichten glaubhaft, dieses Haus am Hubertusweg sei für Kaiser Wilhelm II. 1912/13 als
Jagdhaus gebaut, aber nie benutzt worden. Es wurde dann von 1919 bis 1924 bewohnt von Prof. Dr.
M. P. Neumann, dem Leiter des Instituts für Müllerei an der Versuchs- und Forschungsanstalt für
Getreideverarbeitung in Berlin.
renz gegeben, danach eine Sitzung mit dem Kultusminister Becker geleitet, dann mit Eugenio
Pacelli (später Papst Pius XII.) konferiert, abends ist er mit Thomas und Golo Mann zusammengetroffen.
Seit 1933 hat er im Kulturleben zunehmend geistigen Verfall gespürt und darunter gelitten;
Sterbensgedanken kamen in ihm auf, er notierte: „Wie merkwürdig, daß dies Leben ausgelöscht wird und weniger ist als eine Schrift auf der Schiefertafel." Das eigene Leben wurde ihm
unter der Herrschaft der braunen Herren unwert; daraus erwuchs sein Wunsch nach namenloser Bestattung.16 Sein Begräbnis am 27. Februar 1941 schildert Elisabeth Langgässer17:
„Der Frohnauer Waldfriedhof liegt hoch, und der Blick geht weit hinaus über wartende
Felder... der Wind wehte leise und frisch ... und das Licht schien nur darauf zu warten, sich
über all das auszugießen. In der hölzernen kleinen Friedhofskapelle, wo der Sarg unter
unendlich vielen Frühlingsblumen aufgebahrt war, sprach der evangelische Pfarrer (Rackwitz)
über das Pauluswort: ,Wir sind mit Christus verborgen in Gott', wobei er Loerkes Leben auf
den tiefsten Grund als Gotteskind auszulegen bemüht war. Loerke hatte in seiner letzten
Stunde gesagt: ,Ich habe keinen Willen mehr.' Als die Männer den Sarg unter Orgelspiel
hinaustrugen, drang mit der Fülle des Lichts ein Strom von Heiterkeit herein. Freiheit! Und wir
gingen hinter dem Sarg her wie Hochzeitsgäste, nicht wie Trauernde."
307
Als dritte Besonderheit mag das Buddhistische Haus erwähnt werden. Über seine Entstehung
und Bedeutung wird im Frohnau-Buch berichtet.18 Sein Gründer, der Arzt Dr. Paul Dahlke,
führte in seiner Zeitschrift „Neu-Buddhistisches Leben" die geistige Auseinandersetzung mit
kulturellen Phänomenen der zwanziger Jahre, so mit Freud, Blüher, Keyserling. Er wollte seine
Gründung als Ort der Zuflucht verstanden wissen. In dieser Absicht entwarf er eine Hausordnung für alle dort Lebenden. In ihr heißt es unter anderem: „Es darf kein lebendes Wesen
des Lebens beraubt werden. Mit diesem Hause wollen wir uns alle eine gesicherte Stätte der
äußeren wie der inneren Reinlichkeit schaffen. Es soll keine bewußte Unwahrheit gesprochen
werden. Dinge, die dem Luxus dienen, sind verboten. Die Insassen müssen sich der Wachsamkeit befleißigen, sich täglich allein oder in Gemeinschaft eine gewisse Zeit mit der Lehre
beschäftigen."
Zum Ortsbild von Frohnau gehören seit etwa 20 Jahren die Behinderten des Fürst-Donnersmarc k-Hauses. Die um 1965 dort aufgenommenen Kinder sind inzwischen Erwachsene geworden. Vom Betreben ihres Namenspatrons wissen sie nicht viel. Nach anfänglichen Zögern sind
die Behinderten und die Frohnauer aufeinander zugegangen. Dazu gehören auch die vielen
Alten in den Seniorenheimen. So ist mit dem Gründernamen noch immer das Streben nach
praktischer Menschlichkeit verbunden.
Anmerkungen
1 B. und R. Hildebrandt, Christiane Knop, Gartenstadt Frohnau. Bürger erforschen ihren Ortsteil von
der Gründung bis heute, Haude & Spener, Berlin 1985. Max Mechow, Frohnau. Die Berliner
Gartenstadt, 2. Aufl., 1985. Der Nord-Berliner, Nr. 19, vom 9. Mai 1985.
2 Hildebrand/Knop, a. a. O., S. 15.
3 Über Lesser: Hildebrandt/Knop, a.a. O., S. 82 f.
4 Aus dem Schulaufsatz der Hildegard Weydemann, Tochter des Sanitätsrats Dr. Weydemann, dessen
Familie mit der des Fürsten Donnersmarck freundschaftlichen Umgang pflegte. Der Fürst hatte 1910
die Arztstelle für die „demnächst zu erwartende Kolonie" ausgeschrieben und dem Bewerber eines der
Musterhäuser der BTC so lange zur Verfügung gestellt, bis dessen eigenes Haus im Fischgrund fertig
war.
5 Hildebrandt/Knop, a. a. O., S. 195 ff. („Rund um den Alten Gutshof).
6 Dies., a. a. O., S. 116 ff. („Soziale Einrichtungen") und S. 17 (1. Ansiedlerverzeichnis).
7 Dies., a. a. O., S. 71 ff. („Häuser in Frohnau").
8 Dies., a. a. O., S. 179 ff. („Verkehr und Verbindungen").
9 Dies., a. a. O., S. 95 ff. („Frohnauer Geschäftsleben") und S. 139 ff. („Schulen in Frohnau").
10 Dies., a.a. O..S. 11-69.
11 Des., a.a.O., S. 118 ff.
12 Christiane Knop in „Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins", 79. Jg., Heft 2.
13 Dies., „Der Bär von Berlin. Jahrbuch 1984 des Vereins für die Geschichte Berlins".
14 „Erzählungen", Fischer Verlag.
15 Oskar Loerke, Tagebücher 1902-1939, hrsg. von Hermann Kasack, Heidelberg 1956, S. 177.
16 Tagebücher, a. a. O., S. 193.
17 Langgässer in: „Berlin", Prestel, München 1955, S. 380
18 Hildebrandt/Knop, a.a.O., S. 111 ff. In der Zeitschrift „Neu-Buddhistisches Leben" schildert
Dr. Dahlke. daß er die buddhistische Lehre an sich nicht wie eine Erweckung erlebt hat, sondern als ein
langsames Reifen, seit er 1898 zuerst die Südseeinseln und Indien erlebte. Dieser Prozeß war 1914
abgeschlossen. 1917 gründete er die erwähnte Zeitschrift, mußte aber wegen der Inflation 1923 ihr
Erscheinen einstellen. Danach hat er erkannt, daß eine „örtliche Sammlung" nötiger sei als literarische
Tätigkeit. Das Gelände wurde ihm 1923 durch die Direktoren Georg Bessler und Max Meyer von der
BTC vermittelt und unter finanzieller Mithilfe der Gräfin Lavinia Monts und indischer Spenden
gegründet. Er hat damit, wie er sagt, keine Klostergründung beabsichtigt, sondern einen Ort der
308
Nachdenklichkeit „in der Unrast der Zeit". - In dieser Zeitschrift rezensierte er den „Traktat über die
Heilkunst" von Hans Blüher (1925) und schrieb selbst „Indische Reisebilder", schöne Erzählprosa.
19 Dr. Dahlke in „Neu-Buddhistische Zeitschrift", Verlag Dr. Dahlke, Berlin-Frohnau 1925.
Anschrift der Verfasserin:
Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28
Die Offizierswohnhäuser zeigen den holländischen Charakter der Invalidensiedlung recht deutlich.
309
Die Ravenes
Von Konrad Beck
Eigentlich müßte die Ravenestraße am Wedding nahe dem Nettelbeckplatz „Straße der
Ravenes" heißen, denn jedes Mitglied dieser knapp seit dreihundert Jahren in Berlin ansässigen
Hugenottenfamilie hatte sich an der Spree einen bekannten Namen gemacht.
Die Spuren der Ravenes sind aus der Öffentlichkeit so gut wie verschwunden, von der
Stahlfirma mit Sitz in Tempelhof abgesehen. Bis auf das Mausoleum von Peter Louis Ravene
(1792-1861) auf dem Französischen Friedhof an der Chausseestraße (heute Ost-Berlin) und das
ehemalige Schloß Marquart am Schlänitzsee erinnert an Gebäuden nichts mehr an diese
geschäftstüchtige und über Berlin hinaus bekannte Familie.
Dabei ist die Geschichte der Ravenes in Ost-Berlin wieder aufgetaucht in Form einer Grundsteinkassette. Das Schatzkästlein kam am 23. August 1982 zutage, bei Aushubarbeiten an der
Wallstraße in der Nähe des Spittelmarktes. Dort hatte von 1894 bis 1945 das Kaufhaus Ravene
gestanden. Inhalt der Kupferkassette: Bilder der Familienmitglieder, Ansichten von Häusern,
Münzen, Rechnungen, Geschäftsbücher, Kataloge, Preislisten und eine Lohnbescheinigung.
Der Fund ist heute Inventar des Märkischen Museums.
Wer waren die Ravenes? Die Familie stammte aus Metz, von dort warder Strumpfweber David
Ravene nach der Aufhebung des Schutzedikts von Nantes am 8. Oktober 1685 aus Frankreich
nach Preußen geflohen. Sein Sohn Jacob (1751-1828) erlernte in der Stralauer Straße nahe dem
Molkenmarkt in der Eisenhandlung von Samuel Gottlieb Butzer das Kaufmannsgewerbe.
Nach dem Tode seines Chefs führte Jacob Ravene die Geschäfte weiter, verlobte sich mit
Butzers Tochter Dorothee, kaufte seiner künftigen Schwiegermutter den Laden ab und gab der
Firma seinen Namen: Jacob Ravene. Das war am 27. November 1775, dem Tag, an dem der
Hugenotte Bürger von Berlin und Mitglied der Französischen Kolonie geworden war.
Das Geschäft lief gut. Waren aus Eisen und Stahl, Nägel, Werkzeuge, Nähnadeln und vieles
andere wurden schwungvoll gehandelt. Dabei blieben Humor und das Gespür für Besonderes
nicht aus. Als der alte Ravene von einem Bauern gefragt wurde, ob er Mistgabeln im Etui habe,
ließ der pfiffige Kaufmann für seinen Kunden ein Futteral aus lila Samt anfertigen.
1824 übergab Jacob Ravene die Firma an seine Söhne Peter Carl (1777-1841), Peter Louis
(1793-1861) und an den Schwiegersohn Carl Meister aus Stettin. Peter Carl, der Ältere der
beiden, schied jedoch ein Jahr später wegen Zwistigkeiten aus und zog nach Potsdam. So trat
Peter Louis Ravene in den Vordergrund.
Der gelernte Goldschmied, der seiner korpulenten Meisterin jeden Morgen das Korsett
schnüren mußte, wurde zunächst einmal Soldat, später Disponent in Stettin, schließlich
Schwiegersohn seines Chefs. Der Handel in der Stralauer Straße blühte so, daß neue Räume in
der Wallstraße 93 bezogen werden mußten. Neben Stahl und Eisen (so lieferte Ravene die ersten
Schienen für die Potsdamer und die Anhalter Eisenbahn) ging es auch um Nürnberger
Lebkuchen, Moselwein und englischen Tee.
Mit einem handelte der Eisenkönig von Berlin nicht: mit wertvollen Gemälden; die sammelte er
selbst. Ausstellungsort waren seine Geschäftsräume. Speziell Düsseldorfer und Berliner Künstler aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden in Peter Louis Ravene einen Gönner und
Abnehmer ihrer Exponate. Die Sammlung bestand bis 1945. Sie war 1898 mit in das neue
Kaufhaus am Spittelmarkt umgezogen. Im Gegensatz zu anderen privaten Galerien (wie die
des Zeitungsverlegers Rudolf Mosse) wurde die Galerie Ravene nicht nur im „Grieben" oder
„Baedeker" erwähnt, sie ist auch Mittelpunkt des Romans „L'Adultera" („Die Ehebrecherin")
310
Mausoleum von Peter Louis Ravene auf dem Französischen Friedhof, Chausseestraße, heute Ost-Berlin.
Baustelle Wallstraße 5-8, Ost-Berlin. Hier stand das Kaufhaus Ravene, hier wurde die Grundsteinkassette
geborgen.
Fotos: K. Beck
311
von Theodor Fontane. Die Leidenschaft des Sammeins von Kunst hatte Louis Friedrich Jacob
Ravene (1823-1879) beibehalten. Seinem Vater August ließ er von August Stüler - gegossen im
Eisenhüttenwerk Lauchhammer - ein würdiges Grabmal auf dem Französischen Friedhof an
der Chausseestraße errichten. Im Gegensatz zum Friedhof an der Liesenstraße, wo Fontane
und andere Mitglieder der Familie Ravene liegen, abgeschnitten im Grenzgebiet, ist das
Mausoleum jederzeit zugänglich. Nach diesem Enkel des alten Jacob Ravene ist übrigens 1879
die Straße am Wedding benannt worden, weil sich dort einmal ein Lagerplatz der Firma
befunden hatte. Die Raveneschule in Tiergarten ist ebenfalls auf den Kunstliebhaber zurückzuführen. In der Werftstraße hatte Kommerzienrat und k. u. k. Botschafter L. F. J. Ravene eine
Villa samt Park und Gartenhaus stehen. Das Areal mußte in den achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts neuen Straßen weichen.
Das Haus in der Wallstraße 5-8 brachte der Hugenottenfamilie in der Hitler-Zeit erheblichen
Ärger ein. Ausgerechnet den „Volksgerichtshof wollte der „Führer" in diesem repräsentativen
Haus unterbringen. Bereits 1933 hatten die Nazis die Herausgabe von Menzels Ölgemälde
„Friedrich der Große auf Reisen" vorbereitet. Zunächst kam das Exponat unter „Nationalschutz" , ein Verkauf ins Ausland war damit verboten. Später sollte es „Geschenk an den Führer
werden", schließlich mußte Louis Ravene das Bild für einen Spottpreis abgeben. Das Gemälde
hing in Hitlers Führerresidenz in München, wurde im Krieg schwer beschädigt und befindet
sich heute im Besitz der Stadt München.
Louis Ravene und sein Sohn kamen in den Berliner Bombennächten des Zweiten Weltkriegs
ums Leben. Mit ihnen verschwanden auch das Haus und die Gemäldesammlung.
Anschrift des Verfassers:
Konrad Beck, Müllerstraße 138 c, 1000 Berlin 65
Das Einsturzunglück des S-Bahntunnels
zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor vor 50 Jahren
Von Werner Schaumann
Mit dem Bau des Bahntunnels vom Anhalter Bahnhof über Potsdamer Platz, Friedrichstraße,
Stettiner Bahnhof bis S-Bahnhof Humboldthain sollte die Verbindung zwischen dem Berliner
Süden und dem Norden hergestellt werden, um die Erholungsgebiete der Stadt für die Bevölkerung besser mit einem billigen und schnellen Verkehrsmittel zu erschließen.
Das Bauprojekt wurde 1933 bekanntgegeben. Zahlreiche Firmen bewarben sich bei der Deutschen Reichsbahn. Die Berlinische BaugesesUschaft erhielt den Zuschlag. Die älteren Berliner
werden sich noch an das Einsturzunglück während der Bauzeit des ca. 15 m tiefen Tunnels am
20. August 1935 entsinnen, bei dem 19 Arbeiter ums Leben kamen. Das Unglück hatte damals
die Gemüter der Berliner stark erregt. Es geschah gegen Mittag im Streckenabschnitt zwischen
Potsdamer Platz und Brandenburger Tor entlang der damaligen Hermann-Göring-Straße,
heute Stresemannstraße. In einer Länge von ca. 70 m brach die nach der Tiergartenseite
gelegene Schachtwand mit Donnergetöse zusammen und verschüttete in Sekundenschnelle den
gesamten Schacht. Riesige Staubwolken bildeten sich unmittelbar über der Einsturzstelle. Ein
gähnender Abgrund mit einem undurchdringlichen Gewirr von eisernen Trägern, verbogenen
312
Feldbahngleisen, geborstenen Betonpfeilern und zerbrochenen Stützbalken lag unter dem sich
langsam senkenden Staub. Schnell wurden Einheiten der Feuerwehr, des Heeres, des Arbeitsdienstes, der Technischen Nothilfe und des DRK herbeibeordert, sogar eine Kompanie des
6. Pionierregiments Küstrin wurde nach Berlin in Marsch gesetzt. Die Polizei hatte das
Katastrophengebiet hermetisch abgesperrt. Das ständige Nachrutschen von Erd- und Sandmassen und in der Tiefe unter Stromspannung stehende Kabel erschwerten die lebensgefährlichen Rettungsarbeiten. Um den Schacht nicht „absaufen" zu lassen, mußte die Feuerwehr
Grundwasser absenken. Da die Bergungs- und Aufräumungsarbeiten nur schrittweise vor sich
gingen und Eile geboten war, zog man noch zwei Bergarbeiterkolonnen aus Essen und
Hannover hinzu. Insgesamt arbeiteten 2500 Männer in drei Schichten Tag und Nacht an der
Bergung der Verunglückten. Erst nachdem ein 7 m breiter und 25 m langer Hilfsstollen
vorgetrieben war, konnten am 31. August 1935 die Arbeiten endgültig beendet werden.
In dem vor der 11. Großen Strafkammer des Schwurgerichts in Moabit eingeleiteten Verfahren
zur Klärung der Einsturzursache sagte später der mitangeklagte Bauleiter: „Ich ging über den
Bohlenbelag längs der Straßenbahngleise auf der Westseite des Tunnels ... Da hörte ich
plötzlich ein Pfeifen, als wenn ein Gegenstand durch die Luft schlägt und spürte eine Erschütterung im Bohlenbelag. Ich lief ein paar Schritte nach Süden und drehte mich dann um. Da sah
ich, wie der erste Baum in die Baugrube hineinstürzte. In dem Moment beobachtete ich, wie
sich in der Mitte der Baugrube auf der Westseite ein großer Trichter bildete. Sogleich erhob sich
die erste große Staubwolke. Als sie verzogen war, konnte man auf der Ostseite noch keine
Bewegung der Erdmassen sehen. Dann aber ging es Schlag auf Schlag hintereinander, bis die
Baugrube völlig zusammengestürzt war." Ein Oberleutnant vom Wachregiment sagte aus, daß
er sich am Unglückstag auf der vorderen Plattform der in Richtung Potsdamer Platz fahrenden
Straßenbahn befand und von dort aus gesehen habe, wie im Augenblick der Katastrophe die
unteren Sandmassen nach der Tiergartenseite in den Schacht wegrutschten und dann die
darüberliegenden Erdmassen nachgaben. Diese Aussage wurde durch weitere Zeugen bestätigt.
Der Geheime Oberbaurat und Reichsbahndirektor Schaper, der die Aufräumungsarbeiten
leitete, hatte geäußert, daß offenbar zu tief ausgeschachtet worden sei und daß handwerkliche
Mängel als Mitursache der Katastrophe in Frage kämen. Die Bergungsarbeiten lieferten den
Beweis, daß mehrere der Opfer auf der endgültigen Tunnelsohle lagen, während nach den
gegebenen Anordnungen über der endgültigen Tunnelsohle noch ein Bankett von l'/2 bis 2 m
hätte stehenbleiben sollen, damit die Rammträgerfüße gesichert wären. Der Landmesser mußte
die Tiefenlage nachprüfen. Das Ergebnis bestätigte vollauf die Annahme, daß tatsächlich
unzulässig tief ausgeschachtet worden war.
Nach mehr als 50 Verhandlungstagen schloß das Landgericht das Verfahren ab. Drei Bauräte
der Reichsbahn und zwei Bauführer wurden im Mai 1936 zu Gefängnisstrafen bis zu drei
Jahren verurteilt.
Anschrift des Verfassers:
Werner Schaumann, Sundgauer Straße 9, 1000 Berlin 37
313
Aus dem Mitgliederkreis
Mitgliederversammlung
Zur ordentlichen Mitgliederversammlung am 4. Juni 1985 im Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg
hatten sich 37 Mitglieder eingefunden, um den Tätigkeitsbericht und die Berichte der Prüfer entgegenzunehmen. Beanstandungen seitens der Prüfer gab es nicht. Die Bibliothek ist um 205 Bücher reicher
geworden, so daß sich der Bestand an Bänden auf 13 830 erhöht hat. Die Bibliothek erfreute sich eines
regen Zuspruchs. Es wurde angeregt, acht Regale zu beschaffen, um die Zugänge an Büchern ordnungsgemäß einstellen zu können. Herr Kretschmer beantragte die Entlastung des Vorstandes, die mit überwiegender Mehrheit erfolgte.
Der als Kandidat für den 1. Vorsitz vorgeschlagene Herr Kollat legte seine Ansichten über die Führung des
Vereins dar, schlug aber vor, die Neuwahl des Vorstandes zurückzustellen, um allen Beteiligten die
Möglichkeit zu geben, die Wahl noch einmal zu überdenken. Die Neuwahl des Vorstandes wurde daher
auf den 12. November 1985 festgelegt. Bis dahin bleibt der bisherige Vorstand im Amt.
Beanstandet wurden das Fehlen des Voranschlags für 1985 und Umfang und Erscheinungstermin der
„Mitteilungen".
Gründahl
*
Unserem Mitglied Axel Springer ist die Goldmedaille als höchste Auszeichnung des B'nai B'rith, der
ältesten jüdischen Weltorganisation, verliehen worden. Damit will der B'nai B'rith dem Verleger
A. Springer Dank und Anerkennung für sein Engagement für das jüdische Volk aussprechen.
SchB.
*
Unser Mitglied Alexander Langenheld wurde zum neuen Vorsteher der Bezirksverordnetenversammlung
Kreuzberg gewählt. Auch von dieser Stelle seien ihm zu diesem einstimmigen Vertrauensbeweis herzliche
Glückwünsche übermittelt.
SchB.
Nachrichten
Die Friedrichstraße wird wiederbelebt
Bis zur 750-Jahr-Feier Berlins 1987 sollen wesentliche Teile der rund 2 km langen Friedrichstraße zwischen
Leipziger Straße und Oranienburger Straße wiederbelebt werden. Die Arbeiten konzentrieren sich auf den
südlichen Abschnitt der Friedrichstraße zwischen den Linden und der Leipziger Straße sowie nördlich im
Gebiet der Weidendammer Brücke um den Friedrichstadtpalast unter Einschluß des Bahnhofs Friedrichstraße. Insgesamt ist daran gedacht, etwa 2500 Wohnungen mit Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen
neu zu bauen oder zu modernisieren. Rund 170 Geschäfte sowie 35 Restaurants, Bierstuben und Cafes
sollen das Angebot ergänzen. Der Bahnhof Friedrichstraße erhält ein neues Empfangsgebäude, gegenüber
dem Internationalen Handelszentrum sollen ein Uraufführungskino und ein Etablissement in der Art des
einstigen „Wintergartens" entstehen.
SchB.
Zunftzeichen in Ost-Berlin
Im Zusammenhang mit dem Schmuck von Häusern, in denen bedeutende Persönlichkeiten gewohnt
haben, durch Tafeln aus einer Stiftung der Sparkasse der Stadt Berlin West zur 750-Jahr-Feier unseres
Gemeinwesens verdient es Interesse, daß im Laufe des Jahres 1985 auch in Ost-Berlin 250 neue Zunftzeichen und Schilder an Handwerksbetrieben und Geschäften vornehmlich des Einzelhandels angebracht
werden. Hersteller dieses historischen Straßenschmucks ist das Kombinat Zentraler Industrieanlagenbau
der Metallurgie ZIM. Im Mai 1985 wurden die ersten derartigen Schilder in der Klement-Gottwald-Allee in
Weißensee angebracht. Ein Weinfaß symbolisiert beispielsweise Restaurants, eine Kaffeetasse führt zu
einem Cafe, Kuchen steht für Bäckereien und Nadel und Zwirn für Kurzwaren.
SchB.
314
28 000 Bände zur Geschichte Berlins in der Berliner Stadtbibliothek
Die Berlin-Bibliothek, eine Fachabteilung der Berliner Stadtbibliothek in Ost-Berlin, verfügt über einen
Fundus von rund 28 000 Bänden über die Geschichte und Entwicklung aller Lebensbereiche Berlins. Die
Bestände dieser stadtgeschichtlichen Sammlung reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück. Da es sich um eine
Präsenzbibliothek handelt, steht auch ein Disesaal mit zwölf Plätzen zur Verfügung.
SchB.
Berliner Bär im Wappen des neuen Fuldaer Oberhirten
Der bisherige Apostolische Pro-Nuntius in Liberia und Gambia und Apostolische Delegat für Guinea und
Sierra Leone, Erzbischof Dr. Johannes Dyba, ist am 4. September 1983 als neuer Oberhirte der Diözese
Fulda inthronisiert worden. Sein von ihm selbst gewähltes Wappen mit dem Wahlspruch „Filii dei sumus
(Kinder Gottes sind wir)" zeigt einen schwarzen Bären (rot bewehrt, d. h. rote Zunge und Krallen) auf
goldenem Grund (Berlin), schräg gegenüber drei goldene Kronen auf rotem Grund (Köln), auf den beiden
restlichen Feldern das Fuldaer Stiftskreuz. Erzbischof Dr. J. Dyba gab dazu die folgende Erklärung: „Der
Bär im Wappen weist auf Berlin als meine irdische Heimat hin, die drei Kronen weisen auf Köln, meine
geistliche Heimat."
SchB.
Ältestes Fachwerkhaus in Potsdam wird wiederhergestellt
Das älteste Fachwerkhaus Potsdams „Zum güldenen Arm" wird gegenwärtig wiederhergestellt. Es
entstand 1738 und war das Wohnhaus des Bildhauers Erhard August Melchior. Es gehört zu einer Gruppe
von insgesamt 12 Objekten, die erhalten werden. Bis Jahresende sollen darin rund 60 Wohnungen
eingerichtet werden. Das im Zentrum der Stadt gelegene Gebäude stammt aus der zweiten Stadterweiterung (1733-1742). Im Gegensatz zu den Nachbarhäusern mußte es keinem Neubau weichen und ist somit
einziger Zeuge barocker Fachwerkbaukunst in Potsdam. Einzigartig für ein solches Bürgerhaus ist auch
das reich geschnitzte Eichenholzportal, das ebenfalls erneuert werden muß.
SchB.
Dokumentation über alte Schwengelpumpen in Ost-Berlin
Die Interessengemeinschaft „Technische Denkmale", eine Gruppe von Amateurstadthistorikern des
Kulturbundes der DDR, hat eine Dokumentation über die noch erhaltenen alten Schwengelpumpen in der
Stadt vorgelegt. Dies hat dazu geführt, daß in Kürze derartige alte Pumpen nach neuangefertigten
Modellen wieder gegossen und funktionsfähig im historischen Stadtzentrum aufgestellt werden sollen.
Eine in der Binzstraße abgebaute alte Pumpe war die Grundlage für den Nachbau.
SchB.
Preisträger des Deutschen Preises für Denkmalschutz 1984
Im Simeonstift zu Trier wurden 13 Persönlichkeiten oder Gruppen ausgezeichnet, die sich um die
Erhaltung des baulichen Erbes bemüht oder auf seine Gefährdung aufmerksam gemacht haben. Mit dem
Karl-Friedrich-Schinkel-Ring wurde unter anderem ausgezeichnet: WolfJobst Siedler, Berlin. Wolf Jobst
Siedler hat durch seine publizistische Tätigkeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten entscheidend zur
Durchsetzung des städtebaulichen Denkmalschutzes in der Bundesrepublik Deutschland beigetragen. Er
hat sich dabei engagiert und wirkungsvoll gegen jene städtebaulichen Fehlentwicklungen der Nachkriegszeit gewandt, die zu weiteren umfangreichen Zerstörungen historischer Stadtgefüge führten.
Ein Reisestipendium erhielt: Dr. Richard Schneider, Sender Freies Berlin. Dr. Richard Schneider, Redakteur bei der Abendschau des SFB, hat im Jahre 1983 sechs Spaziergänge durch Berliner Stadtteile zum
Thema von kurzen Filmbeiträgen gemacht. Ausgehend von einem U- oder S-Bahnhof, führt er den
Zuschauer jeweils auf einem Rundweg zu beachtenswerten Bauwerken, auf deren wesentliche Eigenarten
er knapp und sachlich hinweist. Er schärft so den Blick für Sehenswertes, das - meist allzu gewohnt - oft
übersehen wird. Er weckt beim Zuschauer die Lust, diese Spaziergänge nachzuvollziehen und auch
selbständig auf Entdeckungen auszugehen. So fördert er die wichtigste Voraussetzung für eine wirksame
Denkmalpflege: die bewußte Zuwendung der Bürger zu den historischen Bauwerken ihrer Stadt. Die
Resonanz auf die „Spazierwege", die auch in gedruckter Form vorliegen, ist beträchtlich.
315
Mit besonderer Freude werden es die Teilnehmer an der Studienfahrt 1983 nach Göttingen vermerken,
daß mit der silbernen Halbkugel ausgezeichnet wurde: Dr. theol. Friedrich Eilermeier, 2. Burgmannshof,
Hardegsen. Mit außergewöhnlichem und finanziellem Engagement ist es Dr. Ellermeier in jahrelanger
Arbeit gelungen, den von der Gemeinde Hardegsen zum Abbruch bestimmten und auch von der
Denkmalpflege schon aufgegebenen 2. Burgmannshof zu neuem Leben zu erwecken. Durch unermüdliche
Forschung konnte der Bau erstmals auch zeitlich richtig eingeordnet und damit in seiner ganzen überregionalen Bedeutung gewürdigt werden. In vorbildlicher Weise wurde jeder Schritt der Wiedergewinnung
eines Baudenkmals dokumentiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
SchB.
Programm der Studienfahrt ins Ravensberger Land
Freitag, 13. September 1985
6.00 Uhr:
Abfahrt Hardenbergstraße (Berliner Bank)
12.30 Uhr:
Eintreffen in Herford, gemeinsames Mittagessen (Westfälisches Pfefferpotthast)
auf Einladung der Brauerei Felsenkeller Gebr. Uekermann
13.30 Uhr:
Besuch der Brauerei Felsenkeller Gebr. Uekermann
19.00 Uhr:
Zwangloses Beisammensein mit Abendessen im Hotel-Restaurant Waldesrand
Sonnabend, 14. September 1985
9.00 Uhr:
Rundgang durch Herford, die ehemalige Sancta Hervordia, Führung Otto Lewe und
Obervermessungsrat i. R. Günther Schlegtendal
12.00 Uhr:
Mittagessen im Elisabeth-Cafe des Stadtgartens Schützenhof Herford
(Schweineschnitzel, Salzkartoffeln, gemischter Salat, 11 DM)
13.30 Uhr
Fortsetzung des Stadtrundgangs in Herford
15.30 Uhr
Besichtigung des Widukind-Museums in Enger, Führung Museumsleiter Gerd Kaldewei
16.30 Uhr
Kaffeetafel im Schützenheim in Enger-Mitte
17.30 Uhr
Besichtigung der Stiftskirche Enger (12. Jahrhundert, mit dem Sarkophag Widukinds),
Führung Küster Rolf Hoffmann
18.30 Uhr:
Besuch des Wasserschlosses Oberbehme in Kirchlengem, Führung Frau Elisabeth von
Laer, geb. von Kleist
19.30 Uhr:
Abendessen „Brünger in der Wörde" in Enger (westfälische Spezialitäten ä la carte,
z. B. Westfälischer Lappen-Pickert mit Apfelmus und Butter, 7,50 DM, oder
Westfälisches Blind-Huhn mit geräucherter Mettwurst, 9,50 DM)
Sonntag, 15. September 1985
8.30 Uhr:
Abfahrt
9.00 Uhr:
Besichtigung des Sattelmeierhofs Nordmeyer in Enger-Mitte
10.30 Uhr:
Besuch der Sparrenburg Bielefeld, Führung Stadtarchivdirektor Dr. Vogelsang
12.00 Uhr:
Mittagessen im Restaurant Sparrenburg (gemischte Bratenplatte mit feinen Erbsen und
Möhren, dazu Salzkartoffeln, 15,50 DM)
13.30 Uhr:
Heimfahrt
ca. 20.00 Uhr: Ankunft in Berlin
Alle Mitglieder sind mit Begleitern herzlich zur Exkursion eingeladen. Meldeschluß ist der 8. August 1985,
die Meldungen sind zurichtenan den Schriftführer Dr. Hans G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, der unter der Telefonnummer 45 09-291 (tagsüber) auch gern Auskünfte erteilt.
Für die Übernachtung stehen im Hotel Stadt Berlin in Herford, Bahnhofsplatz 6, Zimmer zur Verfügung;
diese kosten je nach Ausstattung pro Nacht einschließlich Frühstück zwischen 49,50 und 72,00 DM
(Einzelzimmer) bzw. 103,50 und 117,00 DM (Doppelzimmer).
Der Teilnehmerbeitrag beläuft sich pro Person auf 77,00 DM. Er schließt die Omnibusfahrt, alle
Führungen und Eintrittsgelder ein.
Allen Teilnehmern werden spätestens in der ersten Septemberwoche brieflich die noch fehlenden Einzelheiten mitgeteilt und etwa noch nötige Informationen vermittelt. In der zweiten Augusthälfte weilt der
Schriftführer im Urlaub.
SchB.
316
Bitte an unsere Mitglieder
Der Verein für die Geschichte Berlins plant anläßlich der 750-Jahr-Feier unserer Stadt eine
Ausstellung über die Vereinsgeschichte. Da Ausstellungen wesentlich vom Anschauungsmaterial
leben, bitten der Vorstand und der Ausschuß zur 750-Jahr-Feier diejenigen Mitglieder, die Fotos,
Landkarten, Medaillen, Programme auch von Fahrten in die Mark Brandenburg, Briefe oder
sonstiges aus der Vergangenheit unseres Vereinslebens besitzen sollten, diese doch freundlicherweise als Leihgaben zur Verfügung zu stellen.
Zur telefonischen Kontaktaufnahme in dieser Angelegenheit stehen die Geschäftsstelle, Frau
Lieselott Gründahl, Telefon 3 23 28 35, der Vorsitzende, Herr Dr. Gerhard Kutzsch, Telefon
3625808, der Ausschußleiter, Herr Dr. Jürgen Wetzel, Telefon 60183 37, und der Veranstaltungsleiter, Herr Günter Wollschlaeger, Telefon 8 5127 39, zur Verfügung.
Der Ausschuß und der Vorstand würden sich über ein lebhaftes Echo aus dem Mitgliederkreis
sehr freuen.
Buchbesprechungen
Mappe „Das alte Berlin". 12 Handsiebdrucke, ein- bzw. zweifarbig, Querformat, Ladenpreis 38 DM.
Göpfert-Handpresse, Skalitzer Straße 101, 1000 Berlin 36, Telefon (030) 6182298.
Es ist auf diese Ausgabe von Handsiebdrucken mit Altberliner Motiven hinzuweisen, die inzwischen auch
in einer kartonierten Mappe zum selben Preis erschienen ist. Dieselbe Offizin gibt auch einen „BerlinCalender 1984" mit 12 ein- bzw. zweifarbigen Siebdrucken im Format 58 X 67 cm im Handsiebdruck
heraus. Der Preis beläuft sich auf 49 DM, mit 12 signierten Drucken auf 90 DM. Ausgewählte Sujets
vereinen sich auf diesen großformatigen Grafiken mit der Eigenart des Siebdrucks, für dessen Druckqualität die Handpresse Göpfert bürgt.
SchB.
Christoph Rueger: Soli Deo Gloria/Johann Sebastian Bach. Erika Klopp Verlag Berlin 1985, 285 S.,
90 Abb., Leinen, 29,80 DM.
Christoph Rueger, o. Professor für Musiktheorie und Tonsatz an der hiesigen Hochschule der Künste, in
Sachsen geborener Pfarrerssohn, war Mitglied des weltberühmten Leipziger Thomanerchors unter
Ramin, Tietze und Thomas, später schrieb er an der Leipziger Universität seine Dissertation über
Alexandr Skrjabin. Sein kluges, ungemein kurzweilig geschriebenes Bachbuch liest sich für den Fachmann
so interessant wie für den musikalischen Laien verständlich und informativ. Christoph Rueger, der selbst
komponiert, weiß, wovon er spricht, weiß in den 16 Kapiteln die Fakten so gut zu gestalten, daß nie
professorale Besserwisserei anklingt, obwohl er erstaunlich viel historischen Kontext einbringt, so daß sich
sein Buch wie eine ungemein unterhaltsame Zeitgeschichte liest, freilich mit dem Komponisten Johann
Sebastian Bach als Mittelpunkt. Jedem Barockmusikfreund, der mehr über das Leben und die Kunst
Johann Sebastian Bachs aus einem geistes- und kulturgeschichtlichen Zuammenhang erfahren möchte, ist
dieses Buch zu empfehlen.
K. H. Wahren
Die Entdeckung Berlins. Vierzehn Cartoonisten sehen die Stadt. Edition Jule Hammer. 112 Seiten, Format
22,3 X 24 cm. Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung GmbH, Berlin 1984. 19,80 DM.
In diesem Buch sind 80 Cartoons von F. W. Bernstein, Gerhard Brinkmann, Robert Gernhardt, Walter
Hanel, Hans Hillmann, Manfred Limmroth, Marie Marcks, Luis Murschetz, Chlodwig Poth, HansGeorg Rauch, Jules Stauber, Ivan Steiger, Bohumil Stepän f und Friedrich Karl Waechter versammelt.
Die Porträts der Künstler und der Lebensläufe (mit den üblichen kleinen Unrichtigkeiten - 1930 gab es
noch keine CSSR!) sind im Anhang abgedruckt. Das Vorwort steuerte Hans Christoph Knebusch bei, der
sich gegen den Vorwurf wehrt, diese Karikaturisten seien nicht in der Lage gewesen, bei ihrem einwöchigen
Berliner Aufenthalt die Charakteristika dieser Stadt zu erfassen und darzustellen. Es sind sämtlich
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westdeutsche Karikaturisten, die der Aufforderung oder Einladung folgten, in und über Berlin Arbeiten zu
schaffen.
So unterschiedlich Zeichenstift und Sicht der Künstler sind, so verschiedenartig ist auch das Bild, das sie im
wahrsten Sinne des Wortes von Berlin zeichnen. Ein guter Querschnitt ist es allemal.
SchB.
Gustaf Gründgens (1899-1963); Gedichte und Prosa. Hrsg. von Franz-Josef Weber. Vergessene Autoren
der Moderne V, hrsg. von Franz-Josef Weber und Karl Riha. Universität-Gesamthochschule Siegen,
Siegen, 1984, DIN A5, maschinenschriftlich, 39 Seiten.
Karl Riha ist bekannt für seine Ausgrabungen, zu denen jetzt auch Gustaf Gründgens gehört, selbst wenn
man ihn nur mit Vorbehalt zu den vergessenen Autoren zählen kann, weil man ihn nämlich als Autor gar
nicht kennt, Das Heft ist gerade zum 85. Geburtstag des bedeutenden Theatermannes erschienen, der fast
zwei Jahrzehnte (1928 bis 1947) und damit die Hälfte seiner Zeit als Schauspieler, Regisseur und Intendant
in Berlin zubrachte. Die meisten der hier wiedergegebenen Gedichte und kurzen Prosatexte sind in der von
Hans Reimann herausgegebenen Zeitschrift „Stachelschwein" erschienen. Daß damit zum ersten Mal die
literarischen Texte Gustaf Gründgens' gesammelt vorliegen, wie Franz-Josef Weber in seinem Nachwort
schreibt, erstaunt, weil man von ihm eigentlich mehr literarische Äußerungen erwartet hätte.
SchB.
Deutscher Bund für Vogelschutz.
In der Reihe „Brennpunkte des Naturschutzes", gefördert durch die Stiftung Naturschutz Berlin, legt der
Deutsche Bund für Vogelschutz, Landesverband Berlin e.V. (anerkannter Verband nach § 29 Bundesnaturschutzgesetz) seine vier ersten Hefte des Formats DIN A5 mit 18 bis 47 Seiten Umfang vor. Die ersten
beiden Schriften berichten aus der Arbeit der ornithologischen Feldbeobachter: „Die Brutvögel der Müllund Schuttdeponie am Hahneberg in Spandau" (Dr. Dieter Westphal) und „Bestandsentwicklung der
Mehlschwalbe (Delichon urbica) in Berlin (West) 1969 bis 1979" (Dr. Klaus Witt und Dr. Michael Lenz).
Das dritte Heft berichtet von der Arbeit der BLN (Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz e.V.):
„Die Tierwelt des Freizeitparkes in Berlin-Marienfelde (ab 1980)". Vor 1980 bestand hier eine Mülldeponie
der Berliner Stadtreinigung. Unter dem Titel „Die Vogelwelt der Pfaueninsel" wird schließlich von Hinrich
Elvers ein vogelkundlicher Führer vorgelegt. Der Einzelpreis der Hefte beträgt 1,20 DM mit Staffelpreisen
(vier Hefte 3,00 DM). Zu beziehen sind diese Schriften gegen Voreinsendung von Briefmarken beim
Deutschen Bund für Vogelschutz, Landesverband Berlin e.V., Geschäftsstelle, Werner Wunderling,
Bosestraße 30 a, Telefon 7 52 30 79, D-1000 Berlin 42.
SchB.
Wolfgang Menge: So lebten sie alle Tage. Bericht aus dem alten Preußen. Dokumentation und Mitarbeit
Emanuela Wüm. 255 Seiten, ca. 50 Abb., geb., Quadriga Verlag J. Severin, Berlin, 1984, 29,80 DM.
Im Frühjahr 1984 lief im Fernsehen die vom WDR ausgestrahlte Serie „So lebten sie alle Tage" mit dem
Untertitel „Geschichten und Berichte aus dem alten Preußen", deren fünf Folgen unter der Regie von
Ulrich Schamoni mit interessanten Themen und guten Schauspielern aufwarten konnten, u.a. Horst
Bollmann, Stefan Wigger und Hans Clarin. Das Buch des auch für das Drehbuch verantwortlichen
Wolfgang Menge, im Waschzettel als „bekannter Film- und Fernsehjournalist..., mit allen bedeutenden
Film- und Femsehpreisen ausgezeichnet", vorgestellt, folgte der Sendung auf dem Fuße. Mit einer Vielzahl
gut ausgewählter Abbildungen wendet es sich nach dem Willen des Autors nicht an diejenigen, die sich
ohnehin mit Geschichte befassen, sondern an jene anderen, deren Neugier geweckt werden soll. So ist auch
keine Geschichte des Alltags in Preußen des 18. Jahrhunderts entstanden, sondern es wurden nur Geschichten aus dem Alltag aneinandergereiht. Man spekuliert dabei auf das vom Fernsehen ausgelöste
allgemeine Interesse, „das sonst nur einer Minderheit vorbehalten bleibt". Dieser allerdings wäre eher
damit gedient, wenn man die dreispaltig in den Text eingefügten Verordnungen und Dokumententexte
nicht über den Leisten der Lesbarkeit geschlagen und auf den Nachweis der Fundstelle jedes Zitats
verzichtet hätte. Das Lesenswerte eines Stoffes und die weiterführenden Lesehilfen sind nämlich kein
Gegensatz.
Der Band, zu dem auch Marie Louise von Plessen mit einer Dokumentation beigetragen hat, führt als
Quellen auch Mitteilungen und Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins und unter der Sekundärliteratur dessen Jahrbuch „Der Bär von Berlin" auf. Er stellt Fragen und erweckt hohe Ansprüche. Ob sie
erfüllt werden, muß jeder Leser selbst beantworten.
H. G. Schultze-Bemdt
318
Georg Holmsten: Die Berlin-Chronik. Daten, Personen, Dokumente. Droste Verlag GmbH, Düsseldorf
1984, Leinen, 506 Seiten, 39,80 DM.
In seinem Vorwort bezeichnet unser Mitglied Georg Holmsten dieses Buch in der umfangreichen Literatur
über Berlin als „die erste Chronik, die einen zusammenfassenden Überblick über die Geschichte der Stadt
in der Art eines exakten Kalendariums gibt". Es werden genaue Angaben über Begebenheiten, Personen,
politische, wirtschaftliche, kulturellle und gesellschaftliche Verhältnisse im Gebiet unserer Stadt mitgeteilt.
Urkunden, Berichte von Zeitgenossen und andere Dokumente werden zitiert, zumeist unter Angabe der
Quelle. Dadurch wird die Chronik so lebendig, daß sie nicht nur ein gerade im Hinblick auf die anstehende
750-Jahr-Feier unentbehrliches Nachschlagewerk wird, sondern daß man in ihr auch mit Spannung und
Genuß lesen kann.
Je näher das Kalendarium der Gegenwart rückt, um so größer wird die Fülle der Daten, die G. Holmsten
klug auszuwählen und zu bändigen versteht. Für die Zeit von 1920 bis 1933 wird immer wieder das
Tagebuch des Bürgermeisters Friedrich Lange (SPD) herangezogen, das jetzt in einer neuen Ausgabe
vorliegt. Bemerkenswert erscheinen Zahlen wie etwa die 80000 Zuschauer im Olympia-Stadion, die am
11. Februar 1951 dem ersten internationalen Fußballstädtekampf nach dem Krieg beiwohnten (Berlin Zürich 2 :2) oder die mehr als 100 000 Berliner, die am 30. Dezember 1952 in einer Trauerkundgebung des
an der Grenze zur DDR bei Frohnau getöteten Polizisten Herbert Bauer gedachten - wie viele kämen
wohl heute? Nach der Spaltung wird die Geschichte beider Teile der Stadt getreulich festgehalten bis hin zu
so vermeintlich abwegigen Daten, daß das seit Ende 1982 mit 20 000 Ausstellungsstücken in einem alten
Gesindehaus im Pankower Ortsteil Blankenburg untergebrachte „Ostberliner Hundemuseum, das einzige
seiner Art in Europa, im ersten Jahr seines Bestehens von 8400 Personen besucht (wurde)".
Selten wünscht man sich Ergänzungen des Textes, etwa auf Seite 348, wo beim BVG-Streik 1932 das
gemeinsame Auftreten von KPD und NSDAP berichtenswert gewesen wäre, oder am 16. Dezember 1948,
wo der Name des französischen Stadtkommandanten (General Ganeval), der während der Blockade die
Sendetürme des Berliner Rundfunks in Tegel sprengen ließ, seines historischen Ranges wegen hätte
mitgeteilt werden können. Ob der Marmor der Reichskanzlei nun das Ehrentor des sowjetischen Ehrenmals im Tiergarten schmückt, wie angegeben, oder nicht doch vielleicht das Treptower Denkmal, sei hier
nicht untersucht. Angesichts des Umfangs ist auch die Zahl der Druckfehler als sehr gering zu bezeichnen.
Auf Seite 21 heißt der Edelherr Gans zu Putlitz. Der auf den Seiten 88 und 92 erwähnte Abt von Sponheim,
Johann Trittenheim (Trithemius), wird wohl so richtig geschrieben, und auch das bekannte Cafe
Spargnapani Unter den Linden sollte eine einheitliche Schreibweise finden (S. 202 und 233).
Als Beispiel für die Ausführlichkeit des Buches seien die Erwähnungen des Vereins für die Geschichte
Berlins aufgeführt, beginnend schon 1846 bei Ernst Fidicin, dem ersten Stadtarchivar Berlins, dessen
„Berliner Chronik von 1225-1571" 1868 von unserem Verein herausgegeben wurde. Im Wortlaut sei der
Bericht über die Gründung wiedergegeben: 1865,28. Januar. Verein für die Geschichte Berlins gegründet.
Die „Berlinischen Nachrichten" berichten über die Gründungsversammlung der bis heute bestehenden
Vereinigung: „Der praktische Arzt Dr. Julius Beer hat in den letzten Wochen den sehr anerkennenswerthen und erfolgreichen Versuch gemacht, einen Verein für die Geschichte Berlins ins Leben zu rufen.
Er hat mit diesem Gedanken nicht nur bei Denen, die sich von jeher die Forschung in der Geschichte
Berlins und der Mark Brandenburg angelegen sein lassen, sondern auch bei den Spitzen unsrer städtischen
Behörden und vielen andern Freunden der Wissenschaft lebhaften Anklang gefunden. So war denn am
vorigen Sonnabend (28. Januar) eine zahlreiche Versammlung im Cafe Royal unter den Linden zusammengekommen, um den Verein zu constituieren. Wir bemerkten unter den Anwesenden den jetzigen
Ober-Bürgermeister Geh. Rath Seydel, den frühem Ober-Bürgermeister Wirkl. Geh.Rath Krausnick, den
Polizei-Präsidenten v. Bernuth (weiter u. a.), Archivar Fidicin, Hofrath Schneider, Oberlehrer Holtze,
Dr. Kletke, Pol.-Secretär Ferd. Meyer, Lehrer Cotta und Andere, die sich um die Denkmäler und
Erinnerungen Berlins verdient gemacht haben." - Seit 1866findenöffentliche Vorträge des Vereins im
Hörsaal des Gymnasiums zum Grauen Kloster statt. 1875 erhält der Verein für seine Sitzungen und die
Bibliothek Räume im Deutschen Dom am Gendarmenmarkt.
Schließlich wird auch unter dem 29. April 1949, wenige Tage vor dem Ende der Blockade, die konstituierende Sitzung des Vereins für die Geschichte Berlins für festhaltenswert befunden, wobei der Kommentar, daß er seine Arbeit „zunächst nur in West-Berlin" wieder aufnimmt, eine gemeinsame Hoffnung an die
Zukunft ausspricht. Wenn in einer solchen Chronik, die man ein Standardwerk zu nennen nicht scheut,
dem Verein eine derartige Beachtung geschenkt wird, ist eine eigene Darstellung im Rahmen des Jubiläumsjahres 1987 sicher gerechtfertigt. Hier ist etwa an die angestrebte Ausstellung der Vereinsgeschichte
zu denken.
Hans G. Schultze-Berndt
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Veranstaltungen im III. Quartal 1985
1. Montag, den 29. Juli, 10.00 Uhr: 3-Stunden-Kanalfahrt über Spree und Landwehrkanal.
Treffpunkt: 9.30 Uhr, Hansabrücke, Altonaer Straße, Nähe U-Bahnhof Hansaplatz. Fahrpreis 7,50 DM. Möglichkeiten zum Imbiß an Bord. Telefonische Anmeldungen bis zum
26. Juli, .nadn 19.00 Uhr, unter der Rufnummer 8 5127 39.
Sommerpause im August.
2. Dienstag, den 3. September, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Dr. Clemens Alexander Wimmef: „Abriß der Geschichte des Charlottenburger Schloßparks". Bürgersaal des
Rathauses Charlottenburg.
3. Freitag, den 13. September, bis Sonntag, den 15. September. Studienfahrt 1985 in das Ravensberger Land. Leitung Herr Dr. Hans Günter Schultze-Berndt.
4. Donnerstag, den 26. September, 13.00 Uhr: Historische Busfahrt durch die Gartenstadt
Frohnau. Leitung Frau Dr. Christiane Knop. Treffpunkt: S-Bahnhof Frohnau am
Ludolfinger Platz. Nach der Fahrt geselliges Beisammensein im Restaurant Wintergarten,
Welfenallee. Telefonische Anmeldungen erbeten bis zum 15. September nach 19.00 Uhr
unter der Rufnummer 8 5127 39. Ein Kostenbeitrag ist hier nicht auszuschließen, da der Bus
eventuell gemietet werden muß.
Im II. Quartal 1985
haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:
Angelika Eckert, Lehrerin
Am Rathaus 2, 1000 Berlin 62
Tel. 7817885
Henrike Hülsberger, Angestellte
Beerenstraße 41,1000 Berlin 37
Tel. 8016275
Horst Kollat, Studienrat
Stegeweg 10,1000 Berlin 51
Tel. 495 35 85
(Gründahl)
(Dr. Kutzsch)
Ilse Pilz, Med.-techn. Assistentin
Luisenstraße 22,1000 Berlin 45
Tel. 7734735
Klaus Strakos, Beamter
Alt-Tegel 45 E, 1000 Berlin 27
Tel. 4335113
(Gründahl)
(Franz)
(Dr. Besser)
Dieser Ausgabe der „Mitteilungen" liegt ein Prospekt des Berlin-Antiquariats, Karl-Heinz Than,
Zimmermannstraße 17,1000 Berlin 41, bei. Wir bitten um freundliche Beachtung.
Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19.
Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 32328 35.
Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berün 65, Telefon 4509-291.
Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791.
Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21;
Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200.
Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berün 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00
bis 19.30 Uhr.
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865.
Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop.
Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM
jährlich.
Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.
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MITTEILUNGEN
DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS
GEGRÜNDET 1865
81. Jahrgang
Heft 4
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Oktober 1985
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Die Kleine Orangerie in Charlottenburg mit Steiners Wohnhaus
Originalzeichnung um 1820, Staatl. Schlösser und Gärten. Berlin 19
George Steiner, Königlich preußischer Hofgärtner
Von Dr. Clemens Alexander Wimmer
Bei meiner Doktorarbeit stieß ich auf eine Forschungslücke: Es gab keine Literatur über
Hofgärtner. Inzwischen konnte ich einiges über diesen Berufsstand im Katalog der Ausstellung
„Kraut und Rüben" schreiben, und der Berliner Gartendenkmalpfleger hat mir die gründliche
Erforschung aller preußischen Hofgärtner ermöglicht.
Jeder fürstliche Garten stand unter der Leitung eines Hofgärtners, dessen Stellung eine
gehobene und angesehene war. Hin und wieder ziehen einzelne Hofgärtnerschicksale die
besondere Aufmerksamkeit auf sich. So hat der große preußische Historiker Friedrich Backschat 1937 über das Leben Joachim Ludwig Heyderts geschrieben, des Hofgärtners zu Potsdam-Stadt.1 Eine weitere Biographie sei hier hinzugefügt.
In Potsdam lebte unter Friedrich IL der Gastwirt George Puhlmann. Sein Haus, das Weiße
Roß genannt, stand in der Allee nach Sanssouci an der Ecke des späteren Brandenburger
Platzes und erfreute sich großer Beliebtheit bei den zahlreichen Besuchern, die von nah und fern
kamen, um die Anlagen von Sanssouci zu bewundern.2 Im Jahre 1773 wurde Puhlmanns
Tochter Maria Sophia Elisabeth, genannt Mieke, damals 20 Jahre alt, schwanger. Von wem,
das wurde fast 200 Jahre lang verschwiegen, bis 1968 eine 78jährige Nachfahrin in einem Brief
eine Indiskretion beging: Der Prinz Friedrich Wilhelm war der Schwängerer. Dieser Brief, zur
sofortigen Vernichtung bestimmt, fiel 1982 in meine Hände.
Mieke Puhlmann mußte verheiratet werden. Im fünften Monat wurde sie am 17. Oktober 1773
dem 34jährigen Hofgärtner Johann George Steinert* angetraut.3 Dieser hatte zunächst beim
Prinzen Heinrich in Rheinsberg gewirkt, bis ihn Friedrich II. 1769 nach Sanssouci geholt hatte.4
Hier war ihm die Pisang-(Bananen)treiberei unterstellt worden, denn der König hatte gehört,
Bananensaft hülfe gegen seine Gichtbeschwerden. Steinert machte ein großes Geheimnis aus
seiner Kunst und